Skip to main content

Full text of "Mikrokosmus; Ideen zur Naturgeschichte & Geschichte der Menschheit"

See other formats




Google 





This ıs a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before ıt was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 


It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear ın this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 


Google ıs proud to partner with lıbraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 


We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text ıs helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users ın other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance ın Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 


About Google Book Search 


Google’s mission is to organıze the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 


atihttp: //books.gooqle.com/ 


LIBRARY 


ur LILR 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 


Keremmei (Cat + IN & . 


| Accessions No. 2% (2.35 Self No 


| nn — — u 








— 


— — — 


Mikrokosmus. 


Ideen zur Naturgeſchichte und Geſchichte 


der Menſchheit. 


Verſuch einer Anthropologie 


7. Die Geſchichte. 


von 


Hermann Fotze, 


Britter Band. 


8. Der Fortfchritt. 9. Der Zuſammenhang 
der Dinge. 





4* Jr * — m. oe \ 
(U a N 551 
Ei , 





. td Ä « = 
Leipzig 7 
Verlag von ©. Hirzel. 
1880. 





Das Recht der Ueberjegung ift vorbehalten. 


Inhalt. 


Siebentes Bud. 
Die Gefchichte. 


Erites Kapitel. 
Die Erſchaffung des Menfchen. 

Natur und Schöpfung. — Die Stetigleit ber Naturentwidlung und bie freien Eingriffe 
Gottes. — Das Rei der Natur und das Rei der Geſchichte. — Die natürliche 
Entſtehung der lebendigen Weſen und des — — Unmẽoglichkeit ihrer Dar⸗ 
ſtellung im Einzelnen — —— ee a ee A 


Zweites Kapitel. 
Der Sinn der Geſchichte. 


Die Geſchichte als Erziehung der Menſchheit. — Die Geſchichte als Entwidlung ber 
Idee der Menſchheit. — Bebingungen für ben Werth einer foldden Entwidlung. — 
Weber bie Verehrung ber Formen ftatt des Inhalts. — Die Geſchichte als göttliche 
Gedicht. — Die Leugnung alles Werthes ber biftorifhen Entwicklung. — Bedingung 
für bie Einheit ber Menſchheit und ven Werth ihrer Gefchidte . u: 


Drittes Kapitel. 
Die wirkenden Kräfte in der Geſchichte. 

Irdiſche ober göttliche Anfänge. — Organifche Eniftehung ber Bildung. — Beifpiel 
ber Sprache. — Die Bebeutung ber Perfönlichteiten. — Geſetze des gejchichtlichen 
Weltlaufs. — Statifti. — Vorherbeſtimmung und Freiheit. — Stetigkeit und 
Gegenſatz in der Entwidlung. — Daß Altern ber Völker. — Gewicht der Ueber: 
Steferung . BR ee ae se ee ee a ee ae 


Seite 


20 


Biertes Kapitel. 
Die äußeren Bedingungen der Entwidlung. 


Die Abftammungseinheit der Menfchheit. — Die Annahme urfprünglicher Vielheit ber 
Stämme. — Verſchiedenheit der geiftigen Begabung. — Lenkung ber Entwidlung 
durch Äußere Bebingungen. — Die geographiihen und klimatiſchen an 
und Hinberniffe. — Beilpiele der Naturvöller . » . . . ; —V 


Fünftes Kapitel. 
Der Verlauf des geſchichtlichen Lebens. 


Die ſeßhafte Cultur und die Nomaden im Morgenland. — Semiten und Indoger⸗ 
manen. — Das griechiſche und römiſche Alterthum. — Die Hebräer und das 
Chriſtenthum. — Die germaniſchen Völfer im Mittelalter. — Das Gepräge, bie 
Aufgaben und die Schwierigkeiten ber neuen Zeit. — ShuB . - » . .» 


Achtes Bud). 
Der Fortſchritt. 


Erites Kapitel. 
Die Wahrheit und das Wiffen. 

Stufen ber Weltbetrachtung: bie mythologifche Phantaſie; die Reflerionen ver Bildung; 
bie Wiffenfchaft. — Ueberfhätungen ber Iogifchen Formen unb ihre Berwechfelung 
mit ſachlicher Erlenntnig. — Beſchränkung bed Dentend auf Bearbeitung ber 
Erfahrungen; die eracten Wiffenfchaften. — Hauptitanbpuntte und Anftrengungen 
der Philoſophie zur Erkenntniß des Weſens ber Dinge. — Idealismus und 
MEOTIBMUB. > u a re ee er 


Zweites Kapitel. 
Lebensgenuß und Arbeit. 


DaB Glück und bie Zurüflungen zu ihm. — Das Patriarchenthum. — Heroifche Aben- 
teuer. — Die liberale Bildung des Altertfums und die Sklaverei. — Das Aufs 
fommen unb Uebergewicht ber arbeitenden Stände. — Die mobernen Kormen ber 
Arbeit und ihre gejelfchaftlihen Folgen - - 2 2 2 20 2 nn nn ne. 


Drittes Kapitel. " 
Das Schöne und die Kunft. 


DaB Kolofjale des Orients. — Die Erhabenheit der Hehräer. — Die Schönheit ber 
Griechen. — Eleganz unb Würbe ber Römer. — Das Gharakterifiifcge und Phan⸗ 
taſtiſche des Mittelalters. — Romantik. — Schönheit, Kunft und Aeſthetik im 
modernen Lebeenn. ae 


Seite 


124 


185 


244 





Seite 
Viertes Kapitel. 


Das religiöfe Leben. 


Natur und gefelliged Leben als Quellen religidfer Begriffe. — Weberwiegen des kob⸗ 
mologiſchen Elements im Heidenthum, bes fittlichen im Judentihum und Ghriftens 
t5um. — Wiederkehrendes Uebergewicht ber Kosmologie in ber neueren philofos 
phiſchen Dogmatil. — Die Kirche unb baß Leben . . 2 2 2 0 2 2 nn. . 889 


Yünftes Kapitel. 
Das öffentlihe Leben und die Gefellichaft. 


Familie und Geſchlechterſtaaten. — Die Reiche des Drients. — Der bevormunbenbe 
Despotismus. — Das politifche Kunftwerk ver Griechen. — Das bürgerliche Gemein 
weien und das Recht in Rom. — Die Selbftherrlichkeit der Geſellſchaft. — Ratios 
nales und Hiftorifcheß Recht. — Erfüllbare und unerfülbare‘ Vofiulate . » . . 380 


Neuntes Bud. 
Der Zufammenhang der Dinge. 


Erftes Kapitel. 
Bon dem Sein der Dinge. 


Einleitung. — Drei Anfänge unfereß Erkennen und Aufgabe ihrer Bermüpfung. — 
Das Sein ber Dinge ein Steben in Beziehungen. — Die Raturen ber Dinge vers 
gleihbar. — Nothwendigkeit fubftantieller ——— des endlichen Vielen in 
ber Einheit des Unenbliden - . > 2 2 2 200 ..ö666 


Zweites Kapitel. 
Die räumliche und die überſinnliche Welt. 


Die Lehre von der Idealität des Raums. — Die Correſpondenz der wahren intellec⸗ 
tuellen und der ſcheinbaren räumlichen Orte der Dinge. — Aufhebung auch der 
intellectuellen Beziehungen zwiſchen den Dingen; einzige Realität des Wechſel⸗ 
wirkens. — Begriff des Wide . 2 2 2 Ener nn. 489 


Drittes Kapitel. 
Das Reale und der Geift. 


Biberfprücde in dem Begriff des Dinge und feinen formalen Beitimmungen. — 
Idealiſtiſche Leugnung ber Dinge. — Alle Realität IR Geiſtigkeit. — Auseinander⸗ 
fegung über das, deſſen Gonftruction verfucht, unb dag, was ſchlechthin als gegeben 
anerkannt werben mu - > 2 2 0 re e 314 


VI 


Seite 
Viertes Kapitel. 


Die Perſoönlichkeit Gottes. 
Glaube und Denken. — Die Beweife für das Dafein Gottes. Unperſonliche Formen 


bes Höchften. — IH und Nicht⸗Ich. — Die Einwäürfe gegen bie Möglichkeit ber 
Berfdnlichleit beB Linenblihen. . . » - ——— 460 


Fünftes Kapitel. 
Gott und die Welt. 
Der Urfprung ber ewigen Wahrheiten und ihr Verhältniß zu Bott. — Die Schöpfung 
als Wille, als That, als Emanation. — Die Erhaltung und Regierung und bie 
Shealität der Zeit. — Der Urfprung bes Wirklihen. Daß Uebel und baß Die. — 
Das Ente, die Güter und die Liebe. — Die Einheit ber drei Principien in ber Liebe 580 


Siebentes Buch. 


Die Geſchichte. 


— — 











Erftes Kapitel. 
Die Erſchaffung des Menfden. 


Ratur und Schöpfung — Die Stetigfeit ber Naturentwidiung und bie freien Eins 
griffe Gottes. — Das Reih der Natur und das Reich ber Geſchichte. — Die 
natürlihe Entftehung ber Iebendigen Weſen und bed Menſchen. — Unmöglichkeit 
ihrer Darftellung im Einzelnen. 


Die Anfänge unfers Lebens find verborgen für uns alle; 
Hinter den wenigen Erinnerungen, die ſich nad) den erſten Streden 
unferer Kindheit zurückwagen, ſchlägt um fo tiefer das Dunkel 
eined weiten unbelannten Hintergrundes wieder zufammen. Und 
doch würde dieſes Dunkel gewiß nicht leer fein für den Blid, 
ver e3 durchdringen Fünnte; unzählige Bedingungen haben ohne 
Zweifel ihren Einfluß auf jene bildungsfähigfte Zeit unfers We- 
ſens ausgeübt und ihre nachwirkenden Erfolge in uns zurlidge- 
laſſen. Es mag fein, daß diefe blinden und unwillkürlichen 
Anfänge unferer Bildung vor der bejonnenen Selbiterziehung 
des fpäteren Lebens zurücktreten; aber doch im Guten wie im 
Schlimmen wird mancher veriworrene Hang, den wir in uns fin- 
ven und uns widerwillig zugeftehen, mancher emporftrebende 
Schwung unſers Herzens, dem wir wie einer Stimme höherer 
Eingebung folgen, ein Nachklang der Eindrüde fein, welche jene 
Vorgeſchichte unferer Entwicklung auffammelte Und wie Die 
Bergangenheit, fo liegt auch das Kommende für und im Dun= . 
fel; wohin unſer Lauf uns treiben wird, wir wiſſen es nid. 


Der Blick auf die nächften Ziele, die wir Bmählen, — uns 
Lotze III. 8. Aufl. 


einen Theil des Weges vor unfern Füßen vor; aber im Weiter- 
Ichreiten drängen ſich unzählige unvermuthete Eindrüde an uns 
an, zerftreuend, verlodend, neue Ziele ftellend, neue Strebungen 
erwedend, und am Ende unferd Weges finden wir und ganz an— 
derswo, als wohin unfere erfte Sehnfudht trieb, und ohne Ver— 
ſtändniß für Manches, wovon einft unfer ganzes Inpere lebendig 
erfüllt war. So feltfam ift e8 um jenes Ich beftellt, mit dem 
der endliche Geiſt fich jelbft anredet und von ſich ſpricht. In 
dem Vollgefühl unverlierbarer Gleichheit mit fi felbft glaubt 
er durch eigene Thätigfeit fich und fein Wefen von Grund aus 
zu geftalten, und er bemerkt es nicht, daß er felbit in den Zei— 
ten feiner bewußteften Entwidlung ſich faſt nur mit der ober— 
flächlichen Umbildung eines Kernes abmüht, welchen er, feines 
Urſprungs und feiner Zukunft gleich unkundig, in ſich vorgefun- 
den hat. 

Die Geſchichte der Menfchheit wiederholt in vergrößerten 
Umrifjen dafjelbe Schaufpiel. Weder die Fortjchritte der genauen 
Wiſſenſchaft, noch der erweiterte Umblick, den die allmählich ge— 
wonnenen höheren Standpunkte dem menfchlichen Nachfinnen ge= 
ſtatten, Tichtet da8 Dunkel der erften Entftehung unfers Gefchlech- 
te8 und des endlichen Ausgangs feiner Entwillung. Nur Das 
haben wir gelernt, daß unaufhaltfam und durch feine anderen 
erfeßbar jene anjchaulichen Gemälde des Anfangs und des Endes 
aller Dinge aus ihren Fugen gehen, zwifchen welche wie zwi— 
ſchen zwei feite Rahmen die ahnungsvolle Einbildungsfraft einft 
die wogende Flut der menfchlichen Geſchicke einzufriedigen 
dachte. 

Und vielleicht gehört dies Mißlingen mit zu dem Lebens— 
gefühl, das der Menfchheit beftimmt ift, und das fie felbft heim- 
lich fi) zu bewahren wünfcht: zu dem Gefühl, unendliche Wel- 
tenfernen durch Dämmerung verhüllt zu wiſſen, und in der Mitte 
der beiden tiefen Abgründe, der Vergangenheit und der Zukunft, 
durch ihre Verdeckung ficher gemacht, fih an dem begrenzten 
Tichtitreifen zu freuen, der über einige Sahrtaufende ihres Da= 











ſeins eine vielfach unterbrochne ahnungsvolle Ausficht aufthut. 
Faſt ſcheint es und wenigftens, al8 wagte fich menſchliche Ein- 
bildungsfraft an Die großen Räthſel unferd Urfprungs und un⸗ 
ſers Ziele8 nur darum fo wohlgemuth, weil fie ihrer. Erfolg- 
Iofigfeit im Boraus ſicher ift, und fie würde vielleicht erichreden, 
wenn ein kühner Sprung fie wirklich zu der Beantwortung der 
Fragen führte, mit denen fie zaghaft und verwegen fpielt. So 
lange völlige Nacht jene Außerften Gegenden deckt, können wir 
und die Umriffe des Verhüllten nad den Bedürfniſſen unfers 
Herzens deuten; überzeugt uns die eindringende Helligkeit, daß 
& jo nicht ift, wie wir uns dachten, fo dürfte leicht die nun 
eröffnete Ausficht zu grenzenlos, die aufgethanen Fernen zu maß⸗ 
[08 erfcheinen, um und die unbefangne Sicherheit länger zu ge= 
ftatten, mit welcher wir —— in dem Bau der Welt uns hei⸗ 
miſch fühlten. 

Aber wir brauchen 7* nicht zu reden, wie von Etwas, 
was geſchehn könnte, wenn ſehr unwahrſcheinliche Bedingungen 
ſich erfüllten; wirklich iſt vielmehr dieſe Mißſtimmung ſchon durch 
die erſten Schritte erzeugt worden, welche unſere Wiſſenſchaft 
zur Aufhellung des Urſprungs der Menſchheit gewagt hat. Dem 
Verlangen, das uns raſtlos zu dieſen Geheimniſſen zurückzieht, 
müſſen wir deshalb in ſo weit nachgeben, daß wir die mögliche 
Antwort auf eine allgemeine Frage von der unmöglichen Befrie⸗ 
digung einer ind Kinzelne gehenden Wißbegierde zu ſcheiden 
berfuchen. 


Höchſtens bei den fiumpffinnigiten Völkern entiprangen 
Meinungen über der Welt Urfprung nur aus der Unruhe der 
gewöhnlichen Neugier, die ohne Gefühl fir das verſchiedene 
Gewicht der Fragen bei jedem großen und kleinen Gegenſtand 
der Erfahrung ſich durch eine anſchauliche Geſchichte ſeiner Ent⸗ 
ſtehung zu befriedigen ſucht. Ueberall, wo ein gebildeter Sinn 
in dichteriſchen Sagen Anfang und Ende der Dinge ausdeutete, 
geſchah es aus der tiefer quellenden Sehnſucht, dies räthſelhafte 

1* 


Stück des Weltlaufs, die irdiſche Gefchichte, unmittelbar aus 
‘einer höheren Welt  hervortreten und nad) Erfüllung der Auf- 
gaben, die ihr geftellt find, eben dahin fich wieder zurückbeugen 
zu fehen. Wir find erzogen in der erhabenften dieſer Borftel- 
lungen. Unmittelbar aus göttliher Hand läßt unfer Glaube 
die Erde mit ihren Gefchlechtern hervorgehn, die einzige Wohn- 
ftätte des Lebens in dem unermeßlihen Raume; unmittelbar in 
die Hand Gottes legt der jüngſte Tag die Ergebniffe der trdifchen 
Geſchichte zurück, die alle Geidhichte ift, und die in keinem Au- 
genblide ihres Verlaufs dem auf fie gerichteten Blicke der Vor— 
ſehung entgangen war; Schöpfung und Weltgericht begrenzen 
abichliefend das veränderlihe Bild» des Werden, und fättigen 
unfer Herz mit dem Geflihle der Einheit des wandellofen Seins, 
in welchem aller Wechfel des Geſchehens umfaßt bleibt. 

St nun die großartige Sinneöweife diefer Auffaffung in 
der That dem Geifte unferer gegenwärtigen Wiffenfchaft unmög- 
lich geworden? oder hat fie, ein gewöhnliches Schidjal großer 
Gedanken, nur eine ungewohnte Form des Ausdrudd angenom-= 
men, unter der fie ungefchmälert fortlebt? Unſere Wiffenfchaft 
beginnt nicht mehr mit der Wüfte und Leere, tiber welcher der 
Geiſt Gottes ſchwebt, fondern vielleicht mit der erhitzten Dampf- 
kugel, die neben unzähligen andern ſich im Weltraum dreht; fie 
bezeichnet die Zeitabfchnitte der irdifchen Geftaltung nicht mehr 
nad) Tagewerken des göttlichen Schaffens, ſondern nach der Ab⸗ 
nahme der ausftrahlenden Wärme, der Bildung des Tropfbar- 
flüffigen, der Feſtigung der Kiefelrinde und ihren mannigfaltigen 
Berftungen; fie leitet die Entftehung der lebendigen Geſchöpfe 
nicht mehr von einem unmittelbaren Eingreifen Gottes ab, fon= 
dern fchreibt fie der allmählichen Weiterentwidlung der Erzeug- 
nifje zu, welche die natürlichen Kräfte der Urftoffe zuerft einfach, 
dann in immer reicherer Berwidlung der Geſtalten hervorgebracht 
haben. Iſt nun durch dies alles die große Frage: ob Natur, 
ob Schöpfung? wirklich entſchieden, und fo entfchieden, wie man 
es häufig flicchtet, zu Ungunften jenes gläubigen Berlangens ? 


5 


* 


* Ich denke nicht; vielmehr jene Sehnſucht, mit Vermeidung 
allẽt natürlichen Vermittlung die unmittelbare Schöpferthätig- 
feit Gottes in immer gefteigerter Ausſchließlichkeit hervorzuheben, 
wird fich zugeftehen müſſen, das gerade fie ſelbſt diefe Thätigfeit 
um fo enger, und nad) dem ungeeigneten Vorbild unfers menſch⸗ 
lichen Wirkens an einjchränfende Bedingungen knüpft. Es ge- 
nügt ihr nicht, daß es der Wille Gottes ift, nad) welchem die / 
Entwidlung der Natur gefchieht; von dem heimlichen Vorur— 
theil beherricht, e8 könne Etwas fein, was diefem Willen, wenn 
auch nur durch Trägheit, widerftrebe, möchte fie das eigne Hand- 
anlegen jehen, durch welches Gott entweder das Nichts zun Et- 
was macht, oder die ungeftalten Grundftoffe der Dinge orbnet. 
Aber es gibt ein Handanlegen nur für die ohnmächtigen Wefen, 
deren Wille an fich nichts bewegt, und die deshalb einen mit- 
telbaren Erfolg fuchen müfjen, indem fie Glieder eines Leibes, 
den fie ſich nicht gegeben, nach Geſetzen wirken laſſen, welche fie 
nicht geftiftet haben. Dieſe unverholenite BVerbildlihung zwar 
und diefe Berendlichung des göttlichen Schaffens wird man gern 
aufgeben, oder eifrig zurückweiſen; aber in den feineren Bor= 
jtellungen, die an ihre Stelle treten, wirft doch der urfprüng- 
liche irrige Antrieb fort. Wenn Gott nicht durch die Kraft 
‚feiner Hände die Welt geftaltet, muß es nicht wenigftend ein 
Haud) ſeines Mundes fein, durch den er fie befeelt, ein gebie= 
tendes Wort, das er ausfpricht, ein äußerlicher Anftoß irgend 
welcher Art, durch den es ihm allein gelingt, feinen Willen an 
die Dinge zu bringen? Wie hartnädig hält unfere Einbildungs=. 
fraft an folcyen Forderungen! Und doch find wir und während 
deſſen wohlbewußt, daß ja nicht die Gefchwindigfeit, mit der 
jener Hauch fich bewegte, nicht die Erjchütterung, welche die 
Schallwellen des göttlichen Wortes in die Welt brächten, die 
wirkſame Kraft des Schaffens bilden würde; immer würde dieſe 
Kraft doch nur in dem Willen Gottes liegen, den die Dinge nicht 
als von außen kommend ſinnlich zu hören und zu fühlen brauchen, 
um ihm, von dem fie innerlich durchdrungen find, zu gehorchen. 


6 


Wenn nun weder eine fihtbare Hand Gottes, noch fein 
fühlbarer Hauch oder fein hörbares Wort, fondern fein ſchwei— 
gender unfihtbarer Wille die Welt bildete: welchen Anblic 
würde der Vorgang der Schöpfung einem Geifte dargeboten ha— 
ben, der fo glüdlic, gewefen wäre, ihn zu beobachten? Den An— 
bi von Dingen, die, weil kein hörbarer Befehl fie aus einem 
Ihon vorhandenen Borrath heranrief, von felbft aus dem Nichts 
zu entitehen, oder aus unfichtbarer Verdünnung fic zur Sicht» 
barkeit zu verdichten ſchienen; den Anblick von Bewegungen, die, 
weil fein merkbarer Hauch fam, um fie mitzutheilen, von felbft 
aus dem Innern der Elemente und ihren unfichtbaren Wechfel- 
wirkungen zu entjpringen ſchienen; den Anblid von Geftalten 
endlich, die, weil feine eingreifende Hand ihre Beftandtheile zu— 
fammenfügte, durch das wechjelfeitige Suchen und Finden ber 
Elemente zuſammenzuwachſen fchienen. In Teiner Weife wiirde 
fid) mithin der Vorgang der Weltentftehung für denjenigen, der 
ih ihn durchdrungen von göttliher Schöpferthätigfeit dächte, 
anders darftellen, als er fi) auch für den ausnehmen wiirde, 
der in ihm nur die Aufeinanderfolge naturgefeklicher Entwid- 
lungen ſähe. Fühlen wir uns daher, von der Erfahrung aus- 
gehend, durch den Zufammenhang der Wiflenfchaft gezwungen, 
die Stetigkeit jolcher Entwiclungen bis zu den äußerſten Anfän- 
gen der Welt zurüdzunerfolgen, jo dürfen wir nicht beforgen, 
zu einer Auffaffung nothmwendig gedrängt zu werben, weldye Die 
Abhängigkeit der Welt von Gott ausfchlöffe Wir langen im 
Gegentheil bei derfetben Endvorftellung an, mit welcher der Glaube 
an eine göttliche Schöpfung, wenn er feine eigene Abjicht ver— 
fteht, uns von Anfang entgegen fommen muß. Denn eben je 
zeiner und größer wir diefe jchöpferifche Thätigkeit fallen, um 
0 weniger werden wir eriwarten, in irgend einem Augenblid den 
Finger Gottes noch beſonders neben oder zwiſchen den Erfchei- 
nungen zu jehen; vielmehr eben in der Stetigfeit naturgefegliches 
Wirkens werben, wir feine Allmacht unfcheinbar, aber — we⸗ 
niger wirkſam gegenwärtig glauben. 


Und hierdurch, wird man einmwerfen, wären unfere Zmeifel 
erledigt? Und es bliebe nicht der Stachel zurüd, daß Großes 
und Kleines, Erhabenes und Geringes, alles mit derſelben Gleich- 
gültigfeit aus den eigenen Kräften der natürlichen Elemente her- 
borginge? Zur Erzeugung der lebendigen Geſchlechter, die zu dem 
leidenſchaftlichen Ringen einer gefchichtlichen Entwidlung berufen 
find, hätte kein ausdrücklicherer Wille Gottes beigetragen, als zu 
der Gründung der ftarren Erdoberfläche, auf der fie dieſes Le— 
ben führen follen? Keine feierlicheren Umftände hätten den Be— 
ginn unſers Daſeins ausgezeichnet, fein Hereingreifen von Kräf⸗ 
ten, die dem einförmigen Ablauf naturgefegliches Geſchehens 
überlegen find, da einen Abfchnitt gemacht, wo die Träger Des 
geiftigen Lebens auf dem vorbereiteten Schauplage ihrer Thätig⸗ 
feit auftreten ? 

Ich fpotte nicht, indem ich Dies legte Verlangen erwähne; 
wir unterliegen alle der Anmwandlung, große Ereigniſſe erft für 
voll anzufehen, wenn ihr Eintritt durch eine auffallende Ver⸗ 
wandlung des Schauplages und der auf ihm handelnden Ge- 
ftalten verherrlicht wird; wir unterliegen ihr auch bier, obgleich 
wir und zugeftehen müßten, daß die Pracht des neuen Auftritts 
bier nutzlos verloren gehen wiirde, da ja Niemand nod) da ift, 
auf den fie Eindrud machen könnte. Um fo lebhafter müſſen 
wir jenem erjten Einwurf entgegnen, was er denn unter dieſen 
eignen Kräften der Elemente meine, aus denen er die Welt des 
Lebendigen jo ungern möchte hervorgehen jehen? In der That, 
Diejenigen, die und gern mitleidsvoll überzeugen möchten, wie 
ganz unmöglich die Schönheit und Bedeutfamfeit der lebendigen 
Geſchöpfe aus der bloßen Wechſelwirkung der Elemente ent- 
Ipringen könne, beftreiten und von Standpunkten, auf denen wir 
fefter als fie felbft zu ftehen glauben. Denn eben fie verrathen 
damit die irrige Borausfegung, ed könne überhaupt eine Wech— 
felwirfung der Elemente ftattfinden, jo lange fie ald einzelne 
und unbefaßt in dem Einen gedacht würden, und diefe Wechjel- 
wirkung könne zu etwas führen. Und nun, nachdem fie Diejer 


Weile des Seins und Wirkens, die fie fir möglich halten, den 
einen Theil der Natur unbedachtfam überlaffen haben, fuchen fie 
ihr zu ſpät und willfürlich den andern zu entziehen, erſchreckt 
durch die Ueberſchätzung von Schwierigkeiten, die jeßt nur noch 
der unmittelbare Eingriff einer göttlichen Macht befeitigen zu 
können fcheint. Zu fpät; denn wie werden Elemente, die durch 
eigne Natur und ohne Gottes Auftrag zur Ausübung gewiffer 
Wirkungen befähigt fein follen, nachher nod) in die Abhängig— 
feit von göttlicher Lenkung gerathben? Werden fie nicht jedem 
Anfinnen des göttlichen Willens, zu wirken, mas nicht in der 
Volgerichtigfeit ihres Weſens von felbft Liegt, allen Widerftand 
entgegenfegen, den nicht blos die Trägheit eines leidenden, ſon⸗ 
dern auch das jelbftändige Entgegenftreben eines wirkungsfähigen 
Weſens leiften fann? Und wie anders follte diefer Widerftand 
gebrochen werden, als zulegt dadurch, daß ein höherer Gejegfreis, 
fie Gott und die Dinge zugleich gültig, beide umfaßte und un— 
ter beitimmten Bedingungen dem Willen Gottes ein beftimmtes 
Mag der Yolgfamleit von Seiten der Dinge ficherte? Zu diefer 
Wirkungsweije, welche nicht die des unendlichen Gottes, ſondern 
die eines beſchränkten und endlichen Wejens ift, wird man im= 
mer zurüdgeführt werden, wenn man den Begriff der göttlichen 
Lenfung dadurch zu fteigern fucht, daß man fie al8 Äußeres Ein- 
greifen einer fir ſich wirkungsfähigen Welt gegenüberftellt und 
ihr andere Formen der Thätigfeit zufchreibt, ald eben diejenigen, 
in denen diefe Welt ſelbſt wirft. 

Wir würden indeffen Unrecht: haben, wenn wir die eben 
erwähnte Vorſtellungsweiſe als die einzige betrachteten, die man 
und entgegenftellt. Man kann im Gegentheil mit und darin ein⸗ 
verftanden fein, eben in den Formen des natürlichen Wirkens 
felbft die Thätigfeit Gottes zu erblidlen, und doch zugleich bezweifeln, 
daß diefe Thätigfeit fich auf jene Formen befchränfe und in ih— 
nen er[höpfe. Wenn wir die bilvlichen Vorftellungen von dem 
Bandanlegen Gottes zurückwieſen, wird man nicht geglaubt ha= 
ben, damit widerlegt zu fein.. Jenem Beobachter, den wir er= 


9 


dichteten, möge immerhin in der Entſtehung und Geſtaltung der 
Welt keine Hand Gottes noch zwiſchen den Erſcheinungen beſon⸗ 
ders ſichtbar geweſen fein, ſondern alles möge-ihm durch unficht- 
bare Kräfte des Wachsthums aus fich ſelbſt ſich zu bilden ge- 
ſchienen haben. Aber damit fei doch keineswegs bewiefen, daß 
jeder einzelne Augenblid dieſes Werdens in ſich ſelbſt alle noth— 
wendigen Bedingungen zur Erzeugung des nächitfolgenden befef- 
fen und nicht einer göttlichen Ergänzung bedurft habe, um zu 
dem vollftändigen Grunde der nur fcheinbar allein aus ihm ent- 
fpringenden Folge zu werben. Es ſei willfürlich anzunehmen, 
daß Gott naͤch der Schöpfung der Dinge und der Anordnung 
ihrer entwidlungsfähigen Verhältniffe fich für immer von der 
Welt zurücigezogen, möglich und mwahrfcheinlich dagegen, daß er 
den Dingen in jedem fpäteren Augenblide Leiftungen befehle, 
die nicht als felbftverftändliche Yolgen in ihrem früheren Auf- 
trage lagen, und zweifellos endlich, daß auch Diefe Gebote Got- 
tes, eben weil die Natur der Dinge und ihre Wirkungsfähigteit 
Nichts ift ohne Ihn, widerftandslofen Gehorfam finden müffen. 

Allein jene göttliche Ergänzung, würden wir entgegen, muß 
entweder eine regelmäßige fein, zu deren Hinzufügung in einem be= 
ftimmten Augenblide des Weltlaufs Gott ſelbſt ih von Anfang an 
nacheiner ewigen Folgerichtigleit feines Weſens entichloffen hat; oder 
fie muß eine unregelmäßige fein, welche er hinzufügt, ohne in ſich 
felbft oder in dem Weltzuftande, dem er fie gewährt, einen Grund 
zu finden, der ihn diefe und feine andere Art der Ergänzung 
wählen hieße. Im erften Falle ift diefer göttliche Beiſtand für 
unſere Anficht, die überhaupt Fein natürliches Wirken ohne den— 
felben Tennt, Tängft ſchon in den erweiterten Begriff der Na— 
turordnung aufgenommen; im zweiten, und diejfer freilich ift es, 
den die gewöhnliche Meinung bevorzugt, müfjen wir nad) dem 
Werth des Gutes fragen, das durch eine: folche Anficht gefichert 
werden fol, und für das fie mit eiferfüchtiger Vorliebe ſchwärmt. 
Wird Gott größer für uns, wenn feine Lenkung der Welt 
in eine Reihe zufammenhanglofer Entſchlüſſe auseinanderfällt ? 


10 


oder wird die Natur erhabener, wenn ihr Gejammtzuftand in 
jedem Augenblide oder auch nur in wenigen unzureichend tft zur 
Begründung des nachfolgenden? Worin liegt es, daß jene andere 
Form der göttlichen Wirkſamkeit, die einer ftetigen von innen 
herausgehenvden Entfaltung gelegter Keime, ftet8 in unferem 
Gemüthe mit der Vorliebe fiir unftetige, wiederholte, von außen 
fommende Eingriffe einer jchöpferifchen Thätigkeit zu kämpfen bat? 

Ohne Zweifel iſt e8 eben jene Folgerichtigfeit felbit, welche 
dem göttlichen Wirken zuzufchreiben einem geheimen Berlangen 
unferd Gemüthes widerftrebt. Darin, daß alle fpäteren Ent- 
ſchlüſſe nur nothwendige Folgen eines erften, alle fpätern Wirk⸗ 
ſamkeiten nur unabwendbare Folgen eines urfprünglichen Schö— 
pfungswillens fein follen, darin liegt ein Verzicht auf Freiheit 
‚des Handelns, der uns unverträglich mit dem Begriffe eines le— 
bendigen perjönlichen Gottes jcheint. Unaufhaltfam droht unfere 
Anfiht in einen Mikglauben zu münden, für den die Welt nur 
die unabfichtlich nothwendige Entwidlung eines aus fich felbft 
aufſchwellenden Urfeins ift, und für den zugleich alle Geſchichte 
ywiderfinnig zu werden jcheint, da das, mas einmal als noth- 
wendige Folge in feinem Anfange eingefchlofen ift, nichts We— 
fentliches mehr durch den Zeitverlauf gewünne, in welchem es 
als Werdendes noch beſonders aus ihm bervorträte. Die Fä— 
higfeit, zu tbun, was ohne dieſes Thun nie gejchehen wäre, zu 
hemmen, was ohne diefe Hemmung unfehlbar eingetreten fein 
würde, die Möglichkeit, zuzunehmen an Einfiht und Umfang des 
Willens und Später nicht zu wollen was man früher wollte, Das 
Bewußtſein endlich, nicht nur über der zukünftigen Geftalt der 
Außenwelt, in die man handelnd eingreifen will, ſondern jelbft 
über der Folgerichtigkeit der eigenen Natur immer noch als ein 
unabhängig entfcheidendes zu ſchweben: das ift ed, was wir in 
der lebendigen Perfönlichkeit juchen, in uns ſelbſt zu finden glau- 
ben, und in der Vorſtellung eines göttlichen Thuns, das fid 
ftetig an feine eigne Gefeglichkeit bände, zu vermiffen pflegen. 
Um diefe Güter der Freiheit und Lebendigkeit zu retten, für 


11 


Gott ſowohl als für uns, greifen wir zu Borftellungsweifen, 
deren Unklarheiten und Widerſprüche uns nicht entgehen. Des 
halb beworzugen wir den Gedanken an unftetige und zufammen- 
bangloje Thaten Gottes; denn uns freilich, den endlichen Wefen, 
ſcheint unfere Freiheit am deutlichſten durch die Unfolgeridhtigs 
feit bewährt, mit welcher wir unfere Entwidfung ändern und 
abbredhen. Deshalb ſcheuen wir jelbft die Gefahr nicht, Die 
göttlihe Thätigfeit zu der. äußerlichen Bearbeitung einer unvor- 
denklich gegebenen Stoffwelt herabſinken zu laſſen; denn aud) 
in dem Widerſpruch, in welchem unfere Beftrebungen fi zu den 
eigenen inneren Wirkungstrieben der Außenwelt befinden, glau= 
ben wir einen neuen Beweis unferer Freiheit und Willkür zu 
fühlen. Deshalb kehren wir fo oft zu dem Berfuche zurüd, 
das Gebiet naturgefegliher Entwidlung, da wir fie nicht ganz 
leugnen können, doc möglichft zu fchmälern, und eine fcharfe 
Grenzlinie zwilchen der Natur als dem Reihe der Noth— 
wendigfeit und der Geſchichte ald dem Reiche der Frei— 
heit zu ziehen. 

Eine Reihenfolge mechjelnder Begebenheiten liegt uns in 
beiden vor. Aber die Natur würde und doch jchließlich befrie- 
digen, auch wenn fie nur eine Sammlung von Ereigniffen wäre, 
die ohne zu dem planmäßigen Fortſchritt einer Entwidlung ver⸗ 
knüpft zu fein, immer nur als Beifpiele die beftindige Geltung 
gewiſſer allgemeinen Geſetze beftätigten und verfinnlichten. Nur 
in der geiltigen Entwidlung des Menfchengefchledhts fühlen wir 
ein urſprüngliches Bedürfniß, die Reihe der Begebenheiten als 
eine Gefchichte zu fallen, deren Ende werthvoller ift als ihr Ans 
fang, und deren Ganzes zugleich werthlos jein würde, wenn ed 
ohne Freiheit nur die zeitliche Wiederholung deſſen wäre, mas 
unzeitlich ſchon völlig vorgezeichnet in feinen Gründen vorhanden 
gewejen. Den ganzen leidenfchaftlichen Aufwand von Sehnjucht 
und Neue, Liebe und Haß, der die Gefchichte füllt, mögen wir 
nicht für verloren anſehn; und er wäre verloren, ja das ganze 
Borhandenfein dieſes innern Lebens würde und eine unbegreif- 


12 


liche Unregelmäßigfeit in einem Weltbau dünfen, in welchem 
nichts mehr zu ändern wäre, und der unbellimmert um all jenes 
Ringen der Geifter nur die gelaffene Entwidlung einmal gelegs 
ter Anfänge enthielt. Und nun, nachdem wir für die Gejchichte 
diefes geiftigen Lebens uns jene Freiheit vorbehalten haben, 
deren e8 zu bedürfen fcheint, iiberfpannen wir unfere Forderun= 
gen noch einmal über unfer Bedürfniß hinaus: auch nicht mehr 
unſer leibliches Daſein, nicht einmal mehr unfern Urfprung 
gönmen wir jener verhaßten Naturnothwendigkeit. Biel Lieber 
leiten wir ihn von dem Worte ab: Faffet uns Menfchen machen, 
ein Bild, das ung gleich ſei. Selbft in diefer Form eines Ein- 
falls ift ung die göttliche Schöpfertbätigfeit verftändlicher und 
vertrauter, fie jcheint und wärmer und lebendiger, unfer eignes 
Dafein edler und glüdlicher begründet, als wenn eine raftlos 
folgerihtige Entwidlung uns zufammen mit der Übrigen Natur 
hervorgebracht hätte. 

Gewiß num liegen in diefer Unterfcheidung der Natur und 
der Gefchichte wahre Bedürfniſſe unſers Geiftes, auf Deren Be- 
friedigung wir fpäter zurückkommen werden. Aber wir können 
und der Trennung diefer beiden Gebiete anſchließen, ohne der 
falſchen Grenzbeſtimmung beizutreten, durch welche ohne Noth 
und nicht im Einklang mit der Erfahrung der Urſprung der 
Menſchheit dem Bereiche der Naturentwicklung entzogen werden 
ſoll. Das Leben des Menſchen, wie es noch verläuft, zeigt uns 
die Erfahrung überall da, wo es in Beziehung zu der äußeren 
Naturordnung tritt, auch völlig den Geboten derſelben unterwor— 
fen. Die menſchlichen Geſchlechter entſtehen und vergehen nach 
denſelben Geſetzen und in denſelben Formen, wie die der Thiere; 
die äußern Kräfte der Natur ſind nicht zurückhaltender gegen die 
vornehme Erſcheinung des vernünftigen Geiſtes als gegen das 
vernunftloſe Geſchöpf; ihre zerſtörenden Wirkungen fallen über 
das geſchichtlich bedeutſame Daſein mit derſelben Gleichgültigkeit 
her, mit welcher fie die leblofen Verbindungen der Stoffe auf- 
(öfen; nirgends endlich verläßt die Natur dem Geifte zu Gefal- 


13 


len die Bahnen ihrer ftetigen Wirkfamfeit, um uns mit Wun⸗ 
dern eined goldenen Zeitalterd zu erfreuen, in welchem Alles 
gefchähe, was unfer Bedürfniß, und nicht bloß das, was unver- 
meidliche Folge feiner vorangegangenen Urfachen ift; keine un⸗ 
jerem innern Leben entfprechende Umbildung der Außenwelt er= 
folgt anders, als jo weit unfere eigene Thätigkeit fie durch 
Benugung natürlicher Hilfsmittel und in Anbequemung an bie 
Geſetze der Natur berporbringt. So im Dafein im Leiden und 
Bollbringen vollftändig in die Gewalt der Naturnothwendigfeit 
gegeben, würden wir wenig gewinnen, wenn wir den erften Ur- 
Sprung unfers Gejchlechts, der als ferne Vergangenheit uns nicht 
für die Gegenwart entſchädigen kann, diefer Notbwendigkeit abzu⸗ 
ſtreiten vermöchten. 

Ebenſo wenig fühlen wir unſere Anfprüche auf Freiheit noth⸗ 
wendig zu Grunde gehen, wenn wir diefen Verſuch aufgeben. Denn 
urjprünglich verlangten wir fie doch nur für unfer inneres Reben, 
und jelbft nur für einen Heinen Theil defjelben. Seine Anregungen 
bon der Natur empfangend und in feinen Rückwirkungen an ihre 
Hülfsmittel gebunden, tft dieſes geistige Leben nicht unmittelbar jelbft 
ein Beitandtheil der Naturordnung. Zwifchen jenen Anregungen 
und diefen Rüdwirkungen liegt als ein Gebiet eigenthiimlicher Art 
die innere Berarbeitung der gewonnenen Eindrüde. Unzähliges mag 
bier gejcheben, was mehr ift als eine ftetige Fortfegung der Wir⸗ 
tungen, welche die Außenwelt in ung angefangen bat; unzählige 
Berfnüpfungen der erhaltenen Anregungen mögen hier nach Geſichts⸗ 
puntten gejcheben, die über alle Natur binausliegen und jchließliche 
Antriebe zur Rückwirkung nad) außen erzeugen, auf welche ohne 
dieſes ergänzende Zwiſchenglied des geiftigen Lebens die Naturord⸗ 
nung allein niemals geführt hätte. Aber wie body man auch dies 
freie Walten des Genius in der Menjchheit anjchlagen mag, es 
wird immer groß genug gedacht fein, wenn es fich auf die innere 
Welt der Gedanken beichränkt; wirkffamen Zutritt zu der äußeren 
Natur wird ihm der allgemeine Zufammenhang der Dinge immer 
nur nach gewiflen Gejegen gejtatten. Und wie eigenthümlich man 


14 


die Gejchichte der Menjchheit ſich nach höheren Gefichtspunften 
göttlicher Weisheit geleitet Denfen mag, welche den Entwidlungs- 
weiſen der Natur überlegen find, wir werden immer befriedigt fein 
Können, wenn dieſe Leitung durch eine Wechſelwirkung Gottes mit 
dem geiftigen Innern der Menfchheit gefchieht, um durch die Ge- 
danfen, die Gefühle und Strebungen, welche fie hier anregt und 
zeitigt, auch Die äußere Lage der Menfchheit in der beſchränkten Aus- 
dehnumg umzugeftalten, in welcher überhaupt unferem Handeln die 
Veränderung der natürlichen Grundlagen unferes Dafeins geftattet 
ift. So iſt innerhalb der Natur und ihres ununterbrochnen Zu= 
fammenbangs allerdings eine Geſchichte möglich, für welche wir Die 
Geltung der Freiheit weder im Voraus zu behaupten berechtigt, 
nod) im Voraus zu verneinen gezwungen "find; aber die äußeren 
Geſchicke unferes Gefchlecht8 gehören ihr nur an, jo weit fie von 
unfern Handlungen abhängig find. 


Nach diefen Vorbemerkungen dürfen wir zu den beiden Fragen 
zurüdfehren, deren wir oben gedachten. Beantwortbar ift die Frage 
nad) dem Hergang im Allgemeinen, auf den wir die Entftehung der 
lebendigen Geſchöpfe überhaupt und mit ihnen die des menfchlichen 
Geſchlechtes zurüczuführen haben. Auch dies Ereigniß faflen wir 
unbedenklich al8 eine nothwendige Folge, die in einem beftimmten 
Zeitpunkt der Geftaltung der Erdrinde aus den damaligen Stel- 
lungen und Wechſelwirkungen der Stoffe mit derfelben einheimischen 
Nothiwendigkeit entiprang, welche jeßt nur noch Fortdauer und 
MWiedererzeugung des Lebendigen an die gegenwärtige Vertheilung 
der Mafjen und ihre Wechfelbeziehungen Mnüpft. Der Naturlauf 
zwar, aus dem wir und das Lebendige entiprungen denken, ift in 
unferem Sinne reicher, als das Heine Bruchſtück deffelben, welches 
die bisherige Wiſſenſchaft kennt. Er ift nicht befchränft auf Arbeit 
mit todten Stoffen, fondern fegt in feinen Elementen zugleich eine 
innere Regfamfeit voraus, deren Eigenthümlichkeit zu beftimmen 
und deren Einfluß auf Die äußeren Wirkfamfeiten der Dinge an 
Geſetze zu binden vielleicht den Ruhm der Zukunft bilden wird. 


15 


Auch behaupten wir nicht, daß Alles, was die Elemente zu Leiften 
vermögen, nad) dem beſchränkten Borbilde deſſen zu meſſen fei, was 
die jet zu Stande gekommene Feitigkeit der wejentlichften Natur⸗ 
verhältniſſe noch möglich gelaffen hat. Es mag fein, daß in frühe- 
ren Zeiträumen der Erbbildung, al8 alle Zuftände noch im Werben 
begriffen, ſich theils mit größerer Befchleunigung änderten, theils in 
jegt nicht wiederfehrender Weife fich verketteten, auc, die Elemente 
Wirkungen von anderer Form und Größe erzeugten, al8 zu welchen 
ihnen der gegenwärtige Raturlauf, befchränft auf die Erhaltung 
gleichartiger Zuftände, noch PVeranlaffung gibt. Wber diefe 
ſchwankenden und nie beftimmt umfchreibbaren Borftellungen er- 
wähnen wir keineswegs, um unfere Anficht fir das Auge unferer 
Gegner zu verfchönern, fondern vielmehr, um binzuzufligen, daß fie 
alle eben die Schärfe nicht mildern dürfen, vor welcher man zurück⸗ 
fchredt. Denn Eined werden wir doch immer fefthalten; auch Diefe 
ſchöpferiſchen Gewohnheiten des früheren Naturganges werden ge= 
fegliche Ergebnifje bleiben, einem Wirken entfprungen, das in feinem 
eignen Berlauf durch die Erzeugniffe feiner früheren Augenblide ſich 
neue Grundlagen für die gefteigerte und reichere Wirkfamfeit der 
Tpäteren ſchafft. Entweder nad ſtets unveränderlichen Gejegen wirkt 
die Natur von Anfang an, oder nach foldhen, die felbft geſetzlich fich 
ändern, jo wie der Thatbeſtand fid) ändert, der unter ihrem Gebote 
entftanden tft, und die mithin als regelmäßige und gejegmäßige 
Functionen ihrer eigenen Refultate zu betrachten find. 

Völlig unbeantwortbar find Dagegen die befondern Fragen der 
Neugier nad) dem anfchaulichen Verlauf der Vorgänge, Durch welche 
allmählich der Bau der organifchen Gefchöpfe und die Entftehung 
des Menfchen zu Stande fam. Eine Anficht, welche Died Ereigniß 
eben nicht von einer übernatürlichen und deswegen an fich unbe- 
fchreiblichen Einwirkung berleitet, fondern es von der Verfettung 
unzähliger Einzelheiten abhängig macht, wird fich unvermeidlich dem 
Borwurf willfürlicher und abenteuerlicher Erfindung preisgeben, 
wenn fie alle diefe Einzelheiten zu errathen fucht, zu deren wirklicher 
Beitimmung die Analogien unſers Erfahrungskreiſes nicht von 


16 


x 


fern ausreichen. Diefem Schickſal Hat feiner der Berfuche entgehen 
können, welche die allmähliche Entwidlung der höheren Formen der 
lebendigen Geſchöpfe aus den niederen, die Entjtehung diefer aus 
den unmittelbaren Wechfelmwirkungen der Elemente nachzuweiſen 
dachten. Aber denen gegenüber, welche aus diefer Rathloſigkeit der 
Naturwiffenihaft in Bezug auf die Einzelausmalung ihrer allge= 
meinen Ueberzeugungen einen Einwurf gegen diefe letzteren ſelbſt ent= 
nehmen, möchten wir doch zwei Bemerkungen nicht unterdrüden. 

Zuerft überzeugen wir uns leicht, Daß diefe Mißlichkeit der 
Darftellung eriter Urfprünge fein beſonderes Mißgeſchick unferer 
Auffaflungsweife, jondern ihr mit allen andern gemeinfam ift. Es 
klingt allerdings vorzugsweis jeltfam, wenn ein kühner Naturforjcher 
die im Meere entſtandene Blaſe befchreibt, die langfam ans Land ge= 
tragen, fich Dort zu einem vierfüßigen Thier oder zu einem Menſchen 
ausbildet; aber die Kümmerlichkeit dieſes Verſuchs liegt mehr in 
der Harmlofigfeit, mit der er ſich an die unauflösbare Aufgabe 
macht, al8 darin, daß andere Borausfegungen zu beſſeren Löſungen 
führten. So ift e8 ganz gleichgültig, ob wir das Lebendige aus der 
natürlichen Wechſelwirkung der Elemente, oder ob wir e8 aus einer 
bejondern Lebenskraft entitehen laſſen; die Vorftellungen, welche 
wir über den allmählichen anfchaulichen Fortjchritt feiner Geftaltung 
uns bilden können, bleiben in dem einen Fall fo fremdartig und be= 
denflich, wie in dem andern. Treten etwa nach der erften Annahme 
die Elemente von felbit zuerit zu einer Blafe oder einem Ei zufam- 
men, das dann fich weiter entwidelt, fo wird nad) der zweiten die 
Arbeit der Lebenskraft ſich auch nicht überredender veranſchaulichen 
laſſen. Denn natürlich werden wir auch von ihr nicht annehmen, 
daß ſie im Nu das fertige Thier mit allen ſeinen Gliedern aus den 
Elementen zuſammenſetze; ſuchen wir uns aber ihr Wirken durch 
einen Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren zu ver- 
deutlichen, ſo wird die Blaſe oder das Ei, auf welche wir auch hier 
zurückgerathen, um gar nichts geiſtreicher oder wahrſcheinlicher aus⸗ 
ſehen, als die beiden ihres Gleichen, die wir früher verſpotteten. 
Die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte braucht zwei verſchiedene Vor⸗ 


17 


ftellungen der Entſtehung. Zuerit jagt Gott: die Erde laſſe aufs 
gehen allerlei Kraut. Wird dies den Kräften der Erde libertragene 
Aufgehnlaffen der Gewächſe anders ausgefehen haben, als fo, wie 
es ſich die naturwiffenfchaftliche Anficht denken muß, fo daß die ein» 
zelnen Elemente der Erdrinde ſich zuerft zu Keimen, dieſe erft durch 
ihr Aufgehn zu Pflanzen geftalteten? Aber der Verſuch, diefe Vor⸗ 
ftellung ind Einzelne auszumalen, ift jo hoffnungslos wie jeder an« 
dere. Den Menjchen dagegen bildet Gott mit eigner Hand; aber 
wie wenig dieſes äußerte Gleichniß der gewöhnlichſten Arbeit ung 
befriedigenfann, bedarf feiner Wiederholung. Keine von allen diefen 
Borftellungsweijen erzeugt daher geringere Berlegenheiten als die 
andere, wenn es darauf anlommt, auf glaubliche und wahrfcheinliche 
Weile Borgänge zu verfinnlichen, die von unferm Erfahrungsfreife 
durch eine unausgefüllte Kluft getrennt find. 

Das Andere aber, was ich bemerken wollte, ift dies, daß eben 
eine und diejelbe Borftellung von uns doch gar zu verſchieden ge= 
Ihäßt zu werben pflegt, je nachdem fie als Bermuthung oder als 
Ausdrud einer Thatfache auftritt. Welche Reihenfolge Heiner in= 
einandergreifender Ereigniffe bietet der verwickelte Vorgang der 
Bildung Befruchtung und Entfaltung eines Pflanzenfeimes! Wie 
umjtändlich und in manchen ihrer Züge fir und noch ganz undeut- 
bar gefchieht die Entwidlung des Thieres durch Spaltung und 
Berihmelzung Sonderung und Verwachſung und mancherlei nach⸗ 
trägliche Yagenveränderungen von Theilen, deren einige wieder ver⸗ 
kümmern, nachdem fie in einem bejtimmten Zeitraume der Bildung 
ihre wenig befannten Dienfte geleiftet. Wer nun, ohne durch das 
Zeugniß des Mikroſkops geſchützt zu fein, eine ſolche Mannigfaltig- 
feit von Beranjtaltungen vermuthungsweis im Voraus befchrieben 
hätte, wie fehr würde er denen gegenüber, die das Xebendige nur 
aus dem duftigen zauberhaften Walten eines einzigen Triebes be= 
greiflich finden, den Vorwurf abenteuerliher umfjtändlicher und 
geiftlos Fümmerlicher Vorſtellungsweiſe auf ſich gezogen haben! 
Nachdem die Thatjachen des Generationsmwechjeld niederer Thiere 


durch Beobachtungen feftitehen, füllt e8 der USE 
Zope, III. 3. Aufl. 


18 


Speculation keineswegs ſchwer, hinterher finnvolle Geſichtspunkte 
für ihre Deutung aufzufinden, während man vorher jede Vermu⸗ 
thung, daß ähnliche Ereigniſſe ftattfinden Könnten, als eine dem 
Begriffe der Gattung und dem ganzen naturgefchichtlichen Haushalt 
wiberiprechende Unmöglichkeit wiirde abgewieſen haben. Ob die 
Urzeugung von Thieren und Pflanzen aus dem Zufammentritt un⸗ 
organifcher Elemente jemals ſich als eine noch jegt vorklommende 
Thatſache erweiſen laſſen wird, wiſſen wir nicht; an Dem Tage aber, 
an welchem fie etwa erwieſen werden follte, wird man fich plößlich 
erinnern, daß fie eigentlich ihrem Begriffe nach immer möglich war, 
und daß fie niemals den Widerfinn einfchloß, den man in ihr fieht, 
fo lange fie nureine wiflenfchaftliche Vermuthung tft, Die mancherlei 
Borurtheilen unbequem fällt. Ueberlaſſen wir daher auch unfere 
Frage der Zukunft; laſſen wir die Wiflenfchaft ſich weiter verfuchen; 
follte fie einft dahin gelangen, ein beftimmteres Bild von der Ent- 
ftehung des Lebendigen entiverfen zu können, fo wird man dann mit 
Gleichmuth fich Die Wirklichkeiten gefallen laſſen, die formell ganz 
ähnlich den Hergängen fein werben, welche man jest, da fie nur 
als Möglichkerten fi geben können, mißmuthig als armfelige 
Erfindungen einer niederen und ungehörigen Anſchauungsweiſe 
verwirft. 

Mit ſolchen Ueberzeugungen halten wir längeres Verweilen 
in dieſen Vorhallen der Geſchichte für unnüß, in denen unſere 
Wiſſenſchaft nur ſchattenhafte Umriſſe, keine klarbeſtimmten Geſtal⸗ 
ten zu erkennen vermag. Wir wollen nicht den aſtronomiſchen 
Forſchungen folgen, die den Bau der Welt zu enträthfeln, und zu 
entjcheiden verfuchen, ob die Bertheilung der Himmelskbrper und 
ihre Bewegungen einen gemeinfamen Mittelpunkt dieſes Weltalls 
wahrichetnlich machen, oder ob viele Syſteme von Geſtirnen, ſelb⸗ 
ſtändig für fich, durch die Kraft ihrer wechfelfeitigen Anziehungen 
nur um einen ibeellen Schwerpunkt Treifen. Was diefe Betrach- 
tungen Sicheres enthalten, würde und nur beftätigen, was wir 
ohnehin wiffen: daß es ein Kleiner, ercentrifcher und in der Unend- 
lichleit des Ganzen wie verlorener Punkt ift, auf dem fich Dies 


19 


Leben der Menſchheit mit all feiner hochſtrebenden Leidenfchaftlich- 
feit entwidelt, eine furze und ernfte Mahnung, die einen Abgrund 
unbefannter Möglichkeiten vor und auftbut, und und warnen mag, 
nicht unbefehen die irdifche Geſchichte mit der des Weltalls gleich 
zu feben. 

Wir wollen ebenfowenig den geologifchen Unterfuchungen 
nachgehen, um uns mit ihnen in die verfchievenen Zeiträume der 
Erdbildung und die Ueberlegungen darüber zu vertiefen, wie der 
altmählig verwandelte Zuftand des Luftkreiſes und der feiten Erd⸗ 
oberfläche ſtufenweis die Bedingungen zur Erzeugung ımd zum 
Unterhalt der verjchiedenen auf einanderfolgenden organifchen Schoö⸗ 
pfungen gewährte. Der ahnungsvolle Zauber, mit welchem die 
Schilderungen dieſer großen und dunklen Vergangenheit ſtets das 
Gemüth gefangen nehmen, würde meiner farbloſen Darſtellung 
Reize geben, auf welche zu verzichten ſchwer it. Aber unſicher in 
fehr vielen Borausfegungen und überladen mit Fehlerquellen, deren 
Bedeutung fich kaum annähernd beftimmen läßt, find dieſe Unter- 
juchungen gerade jeht, nachdem manche merfwürbige Entdedungen 
die Aufmerkſamkeit ohne enticheidende Aufklärung gereizt haben, 
am wenigften zur Zeftfiellung eines beftimmten Ergebniffed ange⸗ 
than. Noch immer fcheint es, daß der Menſch einer der fpätejten 
Säfte der Erde ift; mit völliger Sicherheit find noch immer Ueber- 
bleibfel unſers Geſchlechts nicht tiefer gefunden worden, als in den 
fpäteren Anſchwemmungen des Bodens, die noch jet ſich in den 
tiefer gelegenen Flächen der Erde langſam und ftetig durch Die 
fortfchreitende Anlagerung verwitterter Gebirgsmaſſen vermehren, 
deren Beltandtheile die ſtrömenden Gewäfler mit fich herabführen. 
Nicht eher fcheint daher der Menfch entjtanden zu fein als zu einer 
Zeit, in der die gegenwärtige Scheidung der Klimate bereits be= 
ftand und Pflanzen und Thierreich im Wefentlichen die Formen, 
die und noch jegt umgeben, fchon entwidelt hatten. Der Zukunft 
muß e8 iiberlaffen bleiben, ob fie auch diefe Behchränfung aufheben 
und eine viel größere Beitferne vor ung eröffnen kann, in der ſich 
vielleicht manche wiederholte Urſprünge von einander abweichender 

2* 


20 


Menfchengefchlechter verbergen. Ohne dieſe Ausficht jegt für Die 
wahrfcheinliche zu halten, haben wir und dennoch auf fie und auf 
die veränderte Stellung gefaßt zu machen, welche in diefem erwei⸗ 
terten und für unfere Phantafie faft grenzenlofen Dafein der 
Menfchheit der Heine Abfchnitt der uns befannten gefchichtlichen. 
Entwicklung einnehmen würde. 

Endlich mögen wir nicht zu vieles Gewicht auf jene Ahnungen 
über die Zukunft legen, zu denen ſich die jetzt gewachſene Einſicht 
. inden Zuſammenhang der verſchiedenen Naturkräfte verſucht fühlen 
kann. Ob die wechſelſeitige Verwandlung der Arbeitsformen dieſer 
Kräfte in einander, ob überhaupt die folgerechte Aufſammlung aller 
einzelnen Ergebniſſe des Naturlaufs allmählich ein bleibendes 
Uebergewicht ſolcher Zuftände und Bewegungsweiſen der Materie 
hervorbringen wird, mit denen die Fortdauer des Lebendigen un= 
vereinbar ift, oder welches Ende ſonſt diefem Erdball bevorfteht, 
darüber fo wenig als über den erften Urfprung können wir eine ge= 
wiffe Erfenntniß erwarten. Nehmen wir daher Abſchied von diefen 
unlösbaren Räthjeln und wenden wir uns von der äußeren Ge— 
Tchichte des menſchlichen Geſchlechts zu jener inneren Geſchichte der 
Menſchheit, die mannigfach wechjelnd in den langfameren Fortfchritt 
der äußeren Natur eingefchloffen ift. 


Zweites Kapitel. 
Der Sinn der Geſchichte. 


Die Geſchichte als Erziehung ber Menſchheit. — Die Geſchichte als Entwidlung ber 
Idee der Menſchheit. — Beringungen für deu Werth einer ſolchen Entwidlung. — 
Ueber bie Verehrung ber Formen ftatt des Inhalts, — Die Geſchichte als gött— 
liches Gedicht. — Die Leugnung alles Werthes der hiſioriſchen Entwicklung. — 
Bedingung für bie Einheit der Menſchheit und den Werth ihrer Geſchichte. 


Diefe innere geiftige Geſchichte des menfchlichen Gefchlechtes 
nun, was ift ihre Bedeutung? welches Die Gefee ihres Verlaufes, 
oder der Plan, der die bunte Fülle ihrer Erfcheinungen zu vernünf⸗ 


21 


tiger Einheit verknüpft? Auf diefe Frage eine Antwort zu wiffen, 
pflegt unfere Zeit ald ihren Vorzug zu rühmen; aber wie mißlich 
es auch iſt, an Vorſtellungsweiſen rütteln zu follen, an die, uns leb⸗ 
bafte und geiftuolle Beftrebungen gewöhnt haben, jo müſſen wir 
doch geftehen, daß es in der Betrachtung der Gefchichte noch jegt 
an ben entgegengefegteften Meinungen nicht fehlt, die einander felbft 
ihre einfachften Borausfegungen beftreiten. Ich will nicht bei der 
fühlen Berfiherung verweilen, daß Alles fchon dageweſen fei und 
daß nichts Neues unter der Sonne gefchehe; aber der gern ge= 
glaubten Behauptung eines geraden Fortſchritts der Menjchheit 
gegenüber bat doch auch eine vorfichtigere Meberlegung fich Tängft 
zu der Entdedung genöthigt gejehen, die Gejchichte winde fich in 
Spirallinien fort; Epicycloiden zogen andere vor; kurz, e8 fehlte 
nie an tieffinnigen Umhüllungen des Geftändniffes, daß der Ge— 
faommteindrud der Gefchichte Fein ungemifcht erhebender, fondern 
überwiegend ein wehmüthiger ift. Immer wird eine vorurtheilslofe 
Betrachtung zuerſt Hagend darüber erftaunen, wie viele Güter der 
Bildung und eigenthümlicher Lebensſchönheit mit jeder verfallenden 
Eultur zu Grunde gegangen find, um fo nie wiederzufehren, Mö- 
gen nachfolgende Zeiten durch andere, ja immerhin durch höhere 
Güter entfchädigen: fie ändern damit Doch Die Thatjache nicht, daß 
jene friiheren unmwiederbringlich dahin find; nirgends will der er= 
rungene Gewinn der Vorzeit fich fo ungefchmälert, wie e8 einem 
ftetigen Fortſchritt geziemte, mit der Arbeit der Nachlommen ver» 
knüpfen, fondern faft überall geht das neue Leben mit fchmerzlichen 
Aufopferungen aus den Trümmern des alten hervor. Ueber dieſen 
wehmüthigen Eindrud der ganzen Gefchichte tröften nur wenig Die 
gutgemeinten Vergleichungen, daß ja auch das einzelne Leben die 
Jugendblüthe ver Manneöfraft, dieſe der Greifenweisheit opfern 
müffe, und daß nur den glücklichſten Ländern befchieven fei, Früchte 
neben den Blüthen und Knospen auf demfelben Stamme zu fehen. 
Bermehren nicht alle diefe Vergleiche nur die Beranlaffungen uns 
ferer Klage? Wen fie aber tröften, tröften fie den nicht mit ber 
Entfagung, auch in der Gefchichte der Menſchheit nur einen Natur⸗ 


n 


22 


vorgang zu fehen, dem man fidy fügen muß, aber Den man nicht nach 
feinem Recht und feinem Zwecke fragen darf? Wer aber den Glau- 
den an eine Fügung fefthält, die dieſes Gewirr der Schidfale zu 
einem höheren Gute lenkt, wie wird er fid) den Anblid deuten, den 
ihm die Gefchichte bietet? 


Erziehung der Menfchbeit ift der erſte Ausprud, mit 
dem wir uns vorläufig beſchwichtigen. Und freilich, unerforfchliche 
Rathſchlüſſe einer erziehenden Weisheit find immer eine reiche 
Duelle, aus der alle befremdlichen Umwege des gefchichtlichen Welt⸗ 
Taufs fich müſſen herleiten lafſen. Genügt und indeſſen nicht ſchon 
ganz diefer allgemeine Troft, der unfere Zweifel mit der bloßen 
Berficherung des VBorhandenfeins einer Löſung niederfchlägt, ſuchen 
wir mwenigftens in den großen Umriffen der Gefchichte den Plan 
jener Erziehung zu verfolgen, wie Vieles hemmt und dann! Wir 
mwiflen zumeilen, was gefchehen ift, und können einfehen, mie es 
nothwendig zu den folgenden Zuſtänden der Dinge führte; die 
größere Vollkommenheit des Späteren mag uns häufig gewiß fein, 
oft auch dem blöden Sinne eine befondere Beranftaltung fichtbar 
werben, durch welche aus der vorhandenen Rage der Dinge der neue 
Gewinn geborgen wird: aber wer kann mit Sicherheit berechnen, 
was gejchehen fein würde, wenn einige Umftände fich anders gefligt 
hätten, oder von welchem Beileren, das möglich gemefen wäre, der 
wirkliche Verlauf der Ereignifle zu einem Minderguten abge- 
lenkt hat? 

Aber ich will Doch eigentlich nicht von den Schwierigkeiten der 
Ausführung, die für jede Anſicht am Ende drüdend genug übrig 
bleiben würden, fondern von den Zweifeln fprechen, die der Begriff 
einer Erziehung in feiner Anwendung auf die Menfchheit erweckt. 
Berftändlich iſt uns Erziehung doch nur, wo fie einem Einzelnen 
gilt, wo es einer und berfelbe ift, der beſſer wird, Die Nachtheile 
feiner Febltritte trägt, die Frucht feiner Buße genießt, und das 
früher bejeflene Gut, wenn e8 dem Yortichritte der Bildung geopfert 
werden mußte, wenigſtens al8 felbfterlebtes Glück in feiner Erin 


a 


nerung aufbewahrt. Es ift fein ebenfo klarer Gedarle, fih die Er⸗ 
ziehung auf die Reihenfolge der menfchlichen Gefchlechter vertheilt 
zu denken und ſpätere die Früchte gemießen zu laſſen, Die aus der 
unbelohnten Anftrengung, oft aus dem Elend ber früheren hexvor⸗ 
wachen. Bon edlen Gefühlen eingegeben iſt es dennodh eine unbe⸗ 
fonnene Begeifterung, die Anfprüche der einzelnen Zeiten und ber 
einzelnen Menſchen gering zu achten, und über all ihr Mißgeſchick 
hinwegzuſehn, wenn nur die Menfchbeit im Allgemeinen fortfchreite. 
Eben die Menfchbeit, die eines Fortſchritts fähig if, kann nie etwas 
Anders fein, als die Summe der lebendigen Einzelnen, und es 
kann feinen Portichritt für fie geben, der nicht ein Zuwachs an Glück 
und Bolllommenheit in denfelben Gemitthern wäre, welche vorher 
unter einem unvollkommenen Zuſtande litten. Jene Menſchheit da⸗ 
gegen, die man den Einzelnen gegenüberſtellt, Hi Nichts als der all⸗ 
gemeine Begriff der Menfchheit; aber nicht diefer Begriff, der weber 
etwas thun nod) etwas leiden, noch etwas erfahren, noch der Ge⸗ 
genftand irgend einer Entwidlung fein kann, ift der Träger der 
Geſchichte. Nur feine einzelnen Beifpiele, Die Menfchheiten der ver- 
fchiedenen Zeitalter, mögen unterfich verglichen, einen ftetigen Fort» 
fchritt zur Bolllommenbeit zeigen: aber die früheren wifjen Nichts 
von den Tünftigen, die fpätern wenig von ben frühern. Was be= 
rechtigt uns nun, dieſe auseinanderfallenden Glieder zu Einer 
Menſchheit zufammenzufaflen? und was wiirde eine Erziehung 
beveuten, die eben das, mas wir von aller Erziehung erwarten, 
nicht thut? die nicht in demſelben Zögling an die Stelle des Un- 
vollkommneren das Vollkommnere zu fegen fucht, fondern den Uns 
erzogenen wegwirft, um an einem Andern wachſende Erfolge der 
Bildung bervorzubringen? 

Und diefelbe Schwierigfeit wiederholt fich fogleich, mern wir 
nicht die Folge der Zeitalter, fondern jedes einzelne für fi ind 
Auge faſſen. Es hat nie eine Periode der Geſchichte gegeben, in 
welcher die ihr eigenthümliche Bildung die ganze Menfchheit oder 
and) nur Die Gefammtheit des einen Volles durchdrungen hätte, 
das deren vorzäglichiter Träger mar. Alle Stufen und Schatti- 


24 


rungen fittlicher Rohheit geiftiger Stumpfheit und leibliche Elends 
haben ſich ſtets neben der gebilbeten Feinheit des Lebens dem hellen 
Bemußtfein liber die Aufgaben des menfchlichen Dafeins und dem 
freien Genuß der Bortheile biirgerlicher Ordnung borgefunden. 
Die Menfchheit gleicht in den verſchiedenen Augenbliden ihres ge= 
ſchichtlichen Fortjchrittes nirgends einem zufammenhängenden Haren 
Strome, der mitgleiher Geſchwindigkeit aller feiner Theile flöffe; 
fie gleicht vielmehr einer Maffe, deren größere Hälfte zäh und lang- 

ſam fortfchreitend ſehr bald ſich in den gewöhnlichſten Hinderniffen 
des Ufers verfängt und dort zu unthätiger Ruhe erfiarrt; es ift 
immer nur ein dünner Stromfaden, der im Sonnenfchein glänzend 
fich mit unbefiegbarer Lebendigkeit durch die Mitte diefer trägen 
Schichten fortarbeitet. Es ift wahr, daß zumeilen feine Breite fich 
ausdehnt, und Died giebt jene glüdlichen Zeiten, in welchen wenig⸗ 
ften® für uns, die Fernſtehenden, eine allgemeine Freudigkeit der 
Bildung die Gefammtheit eines Volles zu ergreifen fcheint. Daß fie 
gleichwohl nie wirklich Alle ergriff, fehen doch auch wir noch; daß 
fie jehr tiefe Schatten der Trägheit der Vorkommenheit und des 
Elends nicht ausſchloß, würden wir näher ftehend noch deutlicher 
bemerfen. 

Nun ift Nichts einfacher, als hiervon eine Erflärung zu geben, 
wenn man die Gefichte nur als einen Berlauf von Ereignifien be- 
trachtet, Die aus dem Zufammenwirfen äußerer Bedingungen mit 
ben Gefegen des geiftigen Lebens entfpringen. Cine Bildung, die 
nicht bloß Güte des natürlichen Temperaments ift, fondern Kennt- 
niß der Dinge Beurtheilung menfchlicher Lebenslagen und Lebens- 
aufgaben Bewußtfein über den Zuſammenhang mit der Gefellihaft 
und der Geſellſchaft mit der Welt einfchließt, ift undenkbar ohne die 
mannigfadjite Einwirkung der Erziehung und des dauernden Um— 
gangs; zu Mar jedoch, um weiterer Erwähnung zu bevürfen, find 
Die in den äußern Berhältniffen des Dafeins begründeten Hinder- 
niffe, die ſich ſtets der Gleichförmigleit fo günftiger Bedingungen 
für Alle entgegenfegen. Dies, wie es ſcheint, unaufbebliche Vor⸗ 
handenſ ein eines maſſenhaften geiſtigen Proletariats bildet für die 





25 


Borftellung einer Erziehung der Menfchheit einen ſchwer zu bewäl- 
tigenden Einwurf. Menfchliches Wirken muß ſich begnügen, nur 
theilmeis feinen Erfolg zu erreichen; die göttliche Leitung der Ge- 
ſchichte Dagegen darf ihre Zwecke nicht nur durchſchnittlich oder im 
Allgemeinen verwirklichen. Zuftände der Menjchheit, die unabhän- 
gig von der Freiheit der Einzelnen mit unerbittlicher Nothwendig⸗ 
feit aus äußern Bedingungen folgen, würden ſich nicht als Miplin- 
gen, fondern nur als Abfichten jener Leitung deuten laffen. Und in 
der That bat diefe Deutung nicht gefehlt. So wie nicht allen Bäumen 
gleiche Rinde wachſe und jeder in der feinigen zufrieden grüne und 
blühe, fo fei die geiftige Begabung und äußeres Süd, mit ihnen 
die erreichbaren Bildungshöhen der Menfchen, verſchieden auöge- 
theilt; e8 fei Sortichritteß genug, wenn mit allen diefen unaufbeb- 
lichen Unterfchieven die Menſchheit doch als Geſammtheit höhere 
Standpunfte gewinne, genug jelbft dann, wenn auf der breiten 
Grundlage einer im Ganzen genommen immer gleichbleibenden Un⸗ 
bildung die Bildung einer geringen Minderzahl ſtets höher empor⸗ 
firebe. Was können wir diefer Auffafjung Anderes erwiedern, als 
daß fie einen Thatbeftand ausfpricht, den wir leider nicht in Abrede 
ftellen können, daß fie aber meder eine Erklärung beibringt, die ihn 
begreiflicher oder erträglicher macht, noch überhaupt uns belehrt, 
wie unter folchen Borausfegungen von Einer Gefchichte der Menſch⸗ 
heit Die Rede fein könne? 

Geben wir indeffen zu den vielen Räthſeln, die wir nicht zu 
löſen wiffen, auch das diefer ungleichen Begabung und Segnung 
der Menfchheit zu, und begnügen uns mit den Fortichritten der We= 
nigen. Wie groß num aber auch diefe Fortſchritte fein mögen, To 
würden wir doc, zulegt die Anficht, die wir bezweifeln, nod, immer 
fragen müſſen, wozu doc) eigentlich eine Erziehung der Menfchheit 
vonnöthen war, in Folge deren es Fortfchritte geben Tonnte, und 
warum und eine Beftimmung gefett fein mußte, die nur auf Dem 
weiten Wege gefchichtlicher Entwicklung zu erreichen ftand? Und 
nicht dies wiirde und befriedigen, daß der langfame Gang allmäb- 
licher Vervollkommnung und als die einzige Möglichkeit nachgewie⸗ 


26 


fen wiirde, welche die Natur des Menfchen und die Beichaffenheit 
der äußern Lebensbedingungen übrig gelaffen hätte Die göttliche 
Macht, Die diefe Erziehung leiten fol, ſchuf Die Welt und den Men⸗ 
fchen und alle feine Lebensbedingungen; in ihrer Hand fand es, 
ſie alle zu geftalten, wie fie wollte Wählte fie alfo den Weg ge= 
ſchichtlicher Erziehung, jo mählte fie ihn nicht, weil Ungunft der 
Umftände ihr die Ausftattung des Menſchen mit urſprünglicher 
Vollkommenheit verbot, fondern fie that es, weil fie wollte, Daß Ge⸗ 
ſchichte fei, und weil fie in der allmähligen Entwidlung uns ein 
größeres Gut verleihen wollte, al8 jenes geweſen wäre, das fie uns 
porenthielt. 

In der That ift num diefe Frage jo oft und fo einſtimmig be⸗ 
antwortet worden, daß wir vielleicht Anftoß erregen, wenn wir uns 
einem fcheinbar fo gewiſſen Punkte unferer Weltanficht fo weit» 
Ichweifig zögernd nähern. Werben folle der Menſch, was er tft, 
fagt man uns; wozu die Natur feines Geiftes ihn beftimmt Hat, 
das foll er nicht unbefangen und von Natur ſchon fein und bleiben, 
fondern mit Bewußtfein als feine eigne That es ftufenweis verwirk⸗ 
lichen. Darin liege Die Würde der Menſchheit, nicht wie die Thier- 
welt mit bewußtlojem Drange auszuführen, mozu unverftandene 
Beweggründe im Innern mit zuvorkommenden Begünſtigungen 
der Außenwelt ımerflärlih zufammenftimmen, fondern zweifelnd 
irrend und verbeſſernd follen wir unfere Ziele unfere Berpflich- 
tungen und unfere Mittel Iennen lernen. 

Der Ueberblick über unfer eignes Einzelleben überzeugt ums 
nun allerdings leicht, daß im diefer Form unferer Entwidlung 
vom unbefangnen Dafein aus bis zu dem bewußten Selbftbeftk 
anferer Ratur ein eigenthiimliches geiftiges Gut Tiegt; aber läßt 
fi) das, was wir in feinem Werthe für den Einzelnen begreis 
fen, in Wahrheit übertragen auf das Ganze der Menfchheit ? 
und leidet nicht diefe Uebertragung an derſelben Ungenanigfeit, 
die den Begriff der Erziehung auf die wechſelnden Geſchlechter 
unanwendbar machte? Denn diefe innere Entwidlungsarbeit, in 
deren zufammenfaflender bewußter Erinnerung jener fittlihe Ge⸗ 





27 


nuß des Lebens beitcht, kann fie von Einem übernommen wer- 
den für den Andern? von einem Geſchlecht für das andere? oder 
zeigt uns die Gejchichte eine ſolche Stetigkeit des Zufammen- 
hangs, daß die Gemüther ſpäterer Zeiten wenigftens die Umriffe 
der Entwicklungskämpfe wiederholen, von denen ihre Vorfahren 
bewegt waren? 

Nichts von alle dem feheint uns der Fall zu fein. Zunächſt 
ohne Zufammenhang mit der Vergangenheit tritt jeder Einzelne 
ind Leben mit den natürlichen Fähigleiten Bedürfniſſen und Leis 
denfchaften feiner Gattung, die wenig durdy den Berlauf der 
Geſchichte geändert werden, und Die, fo weit fie fich ändern, 
boch für den, der mit ihnen geboren wird, ebenfo eine unver- 
diente und beivußtlos empfangene Naturausftattung bilden, wie 
ihr Temperament eine folche für die Borfahren war. Mit die⸗ 
fen Mitteln ausgerüſtet, macht jeder feine Rebenserfahrungen, er⸗ 
fährt jeder feine Entwidlungsfämpfe, und aud) fie gleichen fich 
im Wefentlichen alle. Die Einwirkung der Gefchichte beginnt 
erft Damit, daß in den Zuſtänden, die er worfindet, in die er 
fich einzugewöhnen, die er zu benußen und zu befümpfen hat, 
jeder die Arbeitsergebniffe feiner unmittelbaren Vorfahren ans 
trifft. Ohne Zweifel ändert fi) damit im Berlauf der Ges 
ſchichte auch) die Form der Entwidlung, die der Einzelne erlebt; 
aber fie ändert fich keineswegs in der Weife, daß jedem Späteren 
eine um fo reichere, um fo bewußtere Veberficht des Bildungs- 
ganges der Menſchheit zu Theil würde, je länger bereit die 
Borzeit ſich bemüht hat, die einzelnen Stufen defielben zu liber- 
winden. Denn eben von dieſer innerlichen Arbeit, welche das 
errang, wovon er felbft gleich beginnen Tann, pflanzt ſich Das 
Bewußtſein nicht oder höchſt unvolllommen fort; nur die fer= 
tigen Ergebniffe treten als eine große Summe von Borurs 
theilen, deren Begründung vergeffen ift, in bie Bildung Des 
Späterlommenden ein. Oft mögen fie e8 ibm dann möglich 
machen, höher zu fteigen als die, die ihm worangingen; nicht 
viel feltner werben fie als vererbte Beſchränkungen feines Ge- 


28 


fichtöfreifes ihn felbft an der Entwidlung bindern, die ihm ohne 
dieſe gefchichtliche Abhängigfeit möglich gewejen wäre In bei= 
den Fällen aber führt die Art, wie die Bildung der Vorzeit faft 
allein iiberliefert wird, auf gradem Wege zu dem zurlid, deſſen 
Gegentheil der Zweck der gefchichtlichen Arbeit fein follte; ich 
meine zu ber Bildung eines Inſtinctes der Eultur, der immer 
mehr und mehr Elemente der Gefittung ergreift und fie als un 
lebendig gewordenen Befit der Selbſtthätigkeit entzieht, Durch Die 
fie einft errungen wurden. Kein Vermögen, fagt man, kommt 
ungefchmälert auf den dritten Erben; fehr natürlich: Denn der 
erite ift noch in der Anfchauung der Thätigleit geboren und er⸗ 
zogen, die e8 erwarb, und wenn ibm der Trieb zur Bermeb- 
rung abgeht, fo bleibt ihm doch meiftens der der Erhaltung; 
der zweite, im vollen Befit geboren, weiß nichts mehr von dem 
Werthe der Arbeit, die ihn jchuf; der dritte wird Deshalb 
vdenfelben Kreislauf von neuem zu beginnen haben. Es ift 
ähnlich mit dem Vermögen der Bildung, welches die Gefchichte 
anfammelt. Zwar die Ergebniffe verlieren ſich nicht fo ſchnell, 
wig fie anderfeits ſich auch nicht fo vollitändig vererben; aber 
die erhebende ahnungswolle Frifche und Freudigleit der entdeden- 
den und erfindenden Zeitalter pflanzt ſich nicht fort in die be- 
figenden. Alles, wifjenfchaftliche Wahrheiten, mühfam erfämpfte 
Grundfäge der gejelligen Sittlichleit, Offenbarungen religiöfer 
Begeifterung und Fünftlerifcher Anſchauung, Alles unterliegt dieſer 
Abtödtung; je höher fid) der Reichthum diefer Erwerbungen ven 
Ipätern Gefchledhtern anhäuft, deſto weniger werden fie innerlich 
erlebt, jelbit wenn fie, was nicht immer der Fall ift, äußerlich 
anerfannt und feftgehalten werden. Was eimjt in Wahrheit, da⸗ 
mals als es zuerft in den Geſichtskreis der Vorzeit trat, eine 
lebendige Befreiung des Gemüths und ein verftändnißvolles Inne- 
werden einer neuen Seite Der menfchlichen Beitimmung war, ift in 
den Händen der Nachkommen eine abgegriffene Münze, deren Werth 
man zwar benußt, aber fat ohne ihr Gepräge noch zu kennen. 

Auf feinem Gebiete ift der Fortfchritt der Menfchheit zmei- 





29 


fellofer als auf dem der Wiſſenſchaft, obgleich er auch bier 
nicht ftetig war, fondern die Unterbredung durch lange Zeit- 
räume zwiſchengeſchobner Barbarei zur Wiederentdedung vergef- 
fener Wahrheiten nöthigte. Aber zunächſt hat dieſer Fortſchritt 
nur das feltfame Ergebniß gebracht, Daß das Ganze des erwor⸗ 
benen Willens felbft für die unabfehbar geworben ift, die fich 
ausdrücklich mit feiner Pflege befchäftigen. Wie wunderlich und 
gleichwohl dem Verhalten der Sache ganz angemefjen ift e8 doch, 
bon einem hohen Stande der Willenfchaft in unferer Zeit zu 
ſprechen! Wer ift die Wiffenfhaft? Nicht die Wahrheit felbft; 
denn dieſe galt ſtets und bedurfte e8 nicht, Durch Die Anjtren- 
gung der Menfchen gemacht zu werden. Alfo nur das Wiſſen 
um die Wahrheit; dieſes Willen aber ift jo groß geworden, daß 
ed nicht mehr im Wiſſen umfaßt werden Tann. Ein fo ſonder 
bares Dafein hat die Wiffenfchaft jett wirklich: fie ift da, aber 
fie befteht für jeden Einzelnen nur in der Möglichkeit, jeden ih- 
rer Theile aufzufuchen und Tennen zu lernen; als Ganzes lebt 
fie in Seinem ganz, annähernd nur in Wenigen, gewiß nicht in 
der Mafje der Menſchheit. Im Gegentheil, wie in allen fri=. 
heren Zeiten, die eine ausgedehnte und vielgeftaltige Wiffenfchaft 
befaßen, fehen wir auch jegt die Menfchen ſich in ihre einzelnen 
Zweige theilen, und mit dem Bruchſtück, Das jeder ergriffen hat, 
die leidenſchaftlichſten Kämpfe durchfechten, die zumeilen felbit 
den ganzen Gewinn der menfchlichen Bildung wieder in Frage 
ftellen. Der Fortſchritt der Wiffenfchaft ift daher unmittelbar 
fein Fortſchritt der Menfchheit; er würde es fein, wenn mit dem 
Anwachſen des aufgefammelten Wahrheitsinhaltes auch die Theil- 
nahme der Menſchen für ihn, ihr Wiffen um ihn und die Klar- 
heit ihrer Weberficht über ihn zunähme Ohne zu leugnen, daß 
einige Zeiträume der Geſchichte diefe Forderungen einigermaßen 
erfüllen, können wir doch faum in dem Ganzen der Gefchichte 
in diefer Beziehung eine Stetigfeit des Beſſerwerdens bemerken. 

Man wird jedoch einwerfen, daß nicht nur in dem Fort— 
Üommung der Menſch⸗ 





30 


heit zu fuchen fei, fondern auch in den wohlthätigen Nachwir— 
fungen, welche die Wiffenfchaft, auch wenn fie felbft aus dem 
Bemußtfein der Menſchen wieder vwerjchwindet, doch in ihren 
Zuftänden zurüdläßt. Man ift jehr beredt geweſen, dieſe Nach⸗ 
wirfungen zu fchildern, und wir geben gern zu, daß felbit in 
jenem greifbaren Niederfchlag materieller Verbeſſerungen, welche 
bie fortfchreitende Erkenntniß dem gemeinen Leben zumwirft, neben 
den bloßen Bequemlichleiten und dem Zuwachs des Wohlbeha- 
gend auch ein gewiffes geiſtiges Gut umd eine gewiffe bildende 
Kraft liegt; das bloße Vorhandenſein einer vervofflommneten 
Lebensumgebung mag umjtimmend und veredelnd auf die unkla⸗ 
ren allgemeinen LXebensgeftihle wirken, die allen unfern Beſtre— 
dungen zum Hintergrunde dienen. Über wie wir den Werth 
diefes Fortſchritts nicht leugnen, fo mögen wir ihn auch nicht 
üiberfchägen. Die Gewohnheit vermindert ihn fchnel. Nachdem 
eine neue Erfindung einige Zeit lang lebhafte Theilnahme er⸗ 
wedt bat, tritt fie bald in die Reihe der natürlichen Gegenftände 
und Ereigniffe zurüd, Die und immer umgeben und deren innere 
- Räthfelhaftigfeit wegen Mangel an Neuheit feinen aufregenden 
Eindrud mehr auf und macht. Höchſtens zumeilen in einem 
Augenblick vorübergehender Vertiefung in die Sache erinnern 
wir ums, daß „doch eigentlich” diefe oder jene Erfindung jehr 
merkwürdig fei, oder wie weit ed Doch der menjchliche Verſtand 
gebracht habe. Das Gewöhnlichite aber ift, daß wir die Men- 
[hen mit einer gewiſſen undankbaren Rohheit des Gemüth3 Die 
Früchte der Erfindungen leichtfinnig genießen fehen, ohne einen 
Augenblid der Theilnahme und der Wißbegier für Die geiftige 
That übrig zu haben, aus der fie entfprungen find, und als 
beritiinde es ſich von ſelbſt, daß ihr ärmliches Leben durch fo 
unverftandene Segnungen geſchmückt werden müſſe. Und fo 
dürfen wir wohl abfchließend behaupten: wie groß auch die Fort⸗ 
Ichritte der Menjchheit fein mögen, fo gering ift das Bewußtſein, 
welches fie zu allen Zeiten won diefer ihrer eignen Bewegung hat, 
bon dem Orte ihrer Bahn, auf dem fie ſich eben befindet, von 





31 





der Richtung, aus der fie Fam, und von der, wohin fie geht. 
Iſt es ihre Beitimmung zum Bewußtfein deſſen zu fommen, was 
fie ihrer Anlage nad ift, jo kommt fie ziwar vielleicht zu diefem 
Bewußtfen, aber ohne defjen allmähliches Erwachen felbft zu be> 
obachten oder zu empfinden; man kann nicht won ihr fagen, daß 
fie das, was fie ift, mit Bewußtfein ihres Werdens werde, und 
mit der Erinnerung ihrer früheren Zuftinde Die Vorſiellung 
einer Erziehung, von dem Einzelnen, in Bezug auf den fie ver- 
ftänblich war, auf da8 Ganze der Menſchheit übergetragen, Töft 
daher feinen der Zweifel, in welche uns die Betrachtung der 
Geſchichte wirft. 


Wird fie ma eine andere Auffaflung beſſer Löfen, die fchon 
lange ungeckldig ift, daß wir nicht ihr, dem Lieblingskinde der 
jüngften Vergangenheit, uns zuwenden? Erziehung der Menfch- 
beit fei ein veralteter Ausdruck und unpaffend, obgleich er wohl 
das Richtige meine Er gebe den Anfchein, als ftelle eine will- 
kürliche Abficht Gottes der Menſchheit Ziele, die fie ihr auch 
Hätte nicht ftellen Tünnen, und führe fie auf Wegen, denen ſie 
andere hätte vorziehen können. Dadurch, verwickle und diefe An⸗ 
fiht im die Bein, Sinn und Bedeutung einer Folge von Er⸗ 
eigniffen angeben zu wollen, die doch als Erzeugniffe der Will- 
für dem Gedanken, der nur das Rothmendige begreifen Tann, 
unerforfchlich bleiben müſſen. In Wahrheit aber fei die Ge— 
ſchichte der Menfchhett, wie jede wahre Entwidlung, nur die 
Berwirklichung ihres eignen Begriffes. Jedes wahrhafte Dafein 
verrathe fich in lebendiger Aufhebung der unmittelbaren Natur- 
beſtimmtheit, in der es fich zuerſt findet, entfalte fi, in eine 
Fülle des Andersjeind und mannigfaltiger Erſcheinung, und ge= 
winne aus ihr fich felbft wieder, vertieft bereichert und über 
fich Feibft aufgeflärt durch die erlebte Arbeit der Entwidlung, 
deren Frucht e8 in ſich aufbemahre Bon demfelben Gefege werde 
auch die Menſchheit bewegt und zu der Entwidlung der Gejchichte 
getrieben. Als Selbftentfaltung des menſchlichen Geiſtes, als 


32 


fein eignes Verhängniß und | eine eigne innere Nothwendigfeit 
fei die Gefchichte weder eine Bewegung, in welche und nur bie 
Willkür einer höhern Abficht, noch eine foldhe, in welche und 
eine vernunftlofe Wirkſamkeit äußerer Thatfachen dränge Aus 
dem Begriffe der Menjchheit ſei fie begreiflih: in ihm liege 
auf einmal nicht nur der Grund eines zeitlichen Verlaufs über- 
haupt, ſondern aus ihm fei auch für jede einzelne ber geſchicht⸗ 
lichen Bildungsſtufen die ſtrenge und vollſtändige Formel ableit- 
bar, die das erklärende Princip aller ihrer Eigenthümlichkeiten 
bilde. Endlich, wie den regelmäßigen Fortfchritt, fo lehre daf- 
ielbe Geſetz auch die befremblichen Rückſchritte und Ummege 
deuten, welche die Stetigkeit defjelben zu unterbrechen fcheinen. 

Dies Letztere nun freilich Doch nicht; vielmehr gibt die Art, 
wie diefe Anficht eine unberechenbare Zufälligfeit und Willkür 
in der Gefchichte neben jener ftrengen Entwidlung bes Begriffe 
der Menſchheit zuläßt, den erften Anlaß, Die Triftigfeit ihrer zus 
verfichtlichen Behauptungen zu prüfen. 

Allen Ericheinungen gegenüber fühlen wir die boppelte 
Aufgabe, teils Schritt für Schritt Möglichkeit und Art ihres 
Zuſtandekommens aufzuklären, theils Die vernünftige Bedeutung 
zu entziffern, welche das Dafein derfelben jammt allen ihren be» 
gründenden Vorausfegungen rechtfertigt. Die Weltanficht, aus 
der die erwähnte Auffafjung der Geſchichte entfpringt, verhehlt 
nicht ihre Ueberzeugung, daß der Sinn oder die Idee, zu deren 
Verwirklichung jedes Ereigniß und jedes Geſchöpf beſtimmt iſt, 
ſein wahres Weſen bilde, und daß dieſen innerſten Lebenspunkt 
aufzuſuchen, die höchſte Aufgabe aller Unterſuchung, auch der ge— 
ſchichtlichen ſei. Aber fie kann gleichzeitig nicht verhehlen, jo 
gern fie e8 möchte, daß ihr eine beftimmte VBorftellung über Das 
- Berhältniß der Idee zu den arbeitenden Mitteln ihrer Verwirk⸗ 

Gchung fehlt. Sie muß zugeben, daß Mlles, was in der Ge— 
ſchichte geſchieht, doch nur durch die Gedanken Gefühle Leiden⸗ 
ſchaften und Anſtrengungen der Einzelnen zu Stande gebracht 
wird, und daß die, Richtungen, nach denen alle dieſe lebendig 


33 


thätigen Kräfte ftreben, gar nicht nothwendig mit der Entwicklungs⸗ 
richtung der allgemeinen Idee zufammenfallen. Aber fie weiß die- 
ſem Zugeſtändniß zulegt nichts hinzuzufügen, als daß troß in mit 
und unter allen diefen verworrenen wiberftreitenden und ausein⸗ 
andergehenden Anläufen fich die Idee doch auch, und im Großen 
jogar ausfchlieglich, gelten made. Diefe Rathloſigkeit führt leicht 
zu einer Geringſchätzung defjen, was man nicht zu verwenden weiß, 
und in der That hat daher diefe Anficht oft genug erklärt, daß Die 
einzelnen lebendigen Geifter eigentlich in der Gefchichte fir Nichts 
zu achten, daß fie Schall und Rauch jeien, daß weder ihre Strebun- 
gen, fofern fie nicht mit dem Entwicklungswege der Idee zufammen- 
fallen, an ſich Werth und Bedeutung haben, noch ihr Glüd und 
ihr Friede mit zu den Zweden der gefchichtlichen Arbeit gehöre. 
Der Berlauf der Geſchichte ſei die große furchtbare und tragifche 
Schlachtbank, auf welcher alles individuelle Glüd und Leben ge- 
opfert werde, damit Die Entwidlung der allgemeinen Idee der Menſch⸗ 
heit von Statten’gehe. Und hiermit ift in der That ber weſentliche 
Unterfchied ausgefprochen, welcher diefe Anfiht von der vorigen 
trennt, mit der fie fonft jo Vieles gemein hat. Wer von Erziehung 
ſpricht, will natürlich nicht einen Begriff erziehen, fondern das Le⸗ 
bendige, das diefer Begriff nur bezeichnet und benennt, und das 
allein feiner Entwiclung ſich freuen kann. Dieſe Theilnahme für 
ein erreichbare Gut, welches die Gefchichte verwirklichen fol, und 
für ein Reich von Wefen, welches das Glück diefer Bermirfli- 
hung genießen könnte, haben wir jegt abgethan, oder follen es 
lernen, fie der Berehrung einer bloßen Begriffsentfaltung aufzu- 
opfern. 

Wie viel wir hiergegen auf dem Herzen haben, wird man vor⸗ 
ausfehn., Bor allem kann fi mit jenem geheimnißvollen Zuſam⸗ 
mentreffen des Entwicklungsbedürfniſſes der Idee mit den Ergebniffen 
der von ihm unabhängigen Strebungen der Einzelnen nur begnügen, 
wer die Gefchichte als Räthfel verehren, aber nicht die Löſung ſuchen 
will. Wer dagegen diefe verlangt, kann zwei Wege gehen; auf bei- 
den freilich müßtejer zuerft deutlich) angeben, wer oder was denn und 

Loge, II. 3. Aufl. 3 


34 


wo befindlich jener Geift der Menſchheit ift, deſſen Entwidlung die 
Geſchichte bilden fol. 

Der erfte Weg würde mit der Erflärung beginnen, daß diefer 
Geift nur in der unendlichen Bielheit der gleichzeitigen und der auf- 
einanderfolgenden Lebendigen als der gemeinfame Grundzug ihrer 
Drganifation beftehe, ohne außer neben oder zwiſchen ihnen noch 
ein bejonderes Dafein flir fih zu befigen. Aus der Zergliederung 
diefes allgemeinen Gepräges der Menfchlichleit, denn Dies würde 
jet feine Bedeutung fein, und zugleich der äußern Bedingungen, 
welche die Erde ald Schauplaß des Lebens bietet, würden wir fol- 
gern, daß die Art und Höhe der Bildung, welche das größtmögliche 
Maß der Entwidlung und des Genufjes aller menſchlichen Fähig⸗ 
feiten enthielte, nicht in dem Ablauf eines Einzellebens, jondern nur 
in einer Reihenfolge von Gefchlechtern erreichbar ſei, deren jedes 
feine Laufbahn von dem Entwicklungsendpunkt des porangegangenen 
begönne. Dann würden wir uns erinnern, daß diefe Entwidlung 
werth[o8 fein wiirde, wenn fie mit der fehllojen Regelmäßigkeit ei= 
nes Naturvorgangs gefchähe, und daß die lebendigen Geifter nicht 
dazu gemacht find, eine fo willkürloſe Stetigfeit des Fortſchritts, 
auch wenn fie wünſchenswerth wäre, zu verwirklichen. Wir würden 
ausdrücklich auf Die ungebundene Eigenwilligfeit in allen den leben⸗ 
digen Elementen hindeuten, deren Zuſammenwirken gleichwohl eine 
Geſchichte von ftetigem Verlaufe begründen fol. Nun weiſt die 
Naturwiſſenſchaft zuweilen nach, daß die regellofen Heinen widerſtre⸗ 
benden Bewegungen der Heinften Theile einer Maſſe doch einegleich- 
förmige Gefammtbewegimg der ganzen Maffe nit nur nicht ver- 
ändern, fondern aus einfehbaren Gründen nicht verändern fünnen. 
Auf ähnliche Weife würden wir zu zeigen haben, daß jenes regellofe 
Wollen der Einzelnen in feinem Bollbringen ftets eingejchräntt iſt 
durch allgemeine der Willkür entzogene Bedingungen, die in den 
Geſetzen des geiſtigen Lebens überhaupt, in der feſten Naturordnung, 
an die es durch ſeine unveränderlichen Bedürfniſſe gebunden iſt, 
endlich in den Wechſelwirkungen liegen, die zwiſchen den Gliedern 
einer beſeelten Geſellſchaft unvermeidlich m: Weber diefe Aufgabe 


35 


ift neu, noch hat e8 an Berfuchen ihrer Löſung gefehlt. Vielmehr 
gerade in diefem Sinne pflegt der ruhige und erfahrene Beobachter 
der Menſchen und der Dinge die Gefchichte aufzufaſſen. Durch die 
im Wejentlichen immer gleiche Natur der Geifter, durch die Aehn- 
fichleit ihrer Bedirfniffe und durch die beftändige Analogie der Le— 
bensverbältniffe ift jeder Sturmflut der Willfür zulegt ein Damm 
gefeßt und nur die leiferen Fortbewegungen können dauern, die al- 
len diefen Bedingungen und ihren langfamen Veränderungen zu— 
gleich entiprechen. So erjchiene diefer Betrachtung die Geſchichte in 
der That als eine Entwidlung des Begriffs der Menfchheit, und 
zwar nicht nur in dem fich von felbft verſtehenden Sinne, daß fid) 
Nichts in ihr ereignen könne, was nicht als eine Möglichkeit in dem 
allgemeinen Charakter der menſchlichen Organifation gelegen hätte, 
fondern aud) in dem anderen, daß im Ganzen und Großen nur die— 
jenigen Entwidlungen Beftand haben und einander ablöjen, welche 
der Beitimmung des menfchlichen Geiſteslebens entſprechen. 

Die Anfiht, die wir beftreiten, verfchmähte diefen Weg. Es 
mißfiel ihr, aud) die Gefchichte nur als Ergebniß aus einer Vielbeit 
zuſammenwirkender Kräfte hervorgehn zu laſſen; ſie mochte ſie lieber 
aus der Einheit einer treibenden Macht begreifen, die den ganzen 
Verlauf ihrer Entwicklung durchdränge. Dann mußte jener Geiſt 
der Menſchheit, deſſen Selbſtentfaltung ſie bilden ſoll, allerdings 
anders beſtimmt werden. Aber es würde hier nicht weiter führen, 
ihn nur als das Unendliche, als das Abſolute, als den allgemeinen 
Weltgeiſt zu bezeichnen, ſofern dieſer, in dem umfaſſenderen Gange 
ſeiner eigenen Entwicklung begriffen, die Form des menſchlichen 
Daſeins annimmt, um nun in ihr die Reihe der Erſcheinungen durch⸗ 
zuleben, die ihm auf dieſer Stufe ſeines Werdens nothwendig ſind. 
Denn wenn dieſer Weltgeiſt ſich in unendlich viele einzelne Menſchen 
zerſplittert, ohne in einem einzigen von ihnen ganz zu leben, wie ver- 
mag er die Wechſelwirkung diefer Vielen, deren Willfürlichleit Doc) 
nicht zu leugnen ift, jo zufammenfaffend zu lenken, daß aus ihr eine 
Entwidlung entfpränge, die jeinem Begriffe gemäß wäre? Offen- 
bar würde er zu Diefem Erfolge beitragen, fofern er in allen einzel- 

3* 


36 


nen Menſchen als diefelbe, ihnen gemeinfame geiftige Organiſation 
vorhanden ift; aber dadurch würde er ihre Entwidlung nur in die 
Grenzen deſſen einfhränfen, was diefer Organifation möglich 
ift, ohne dagegen den Verlauf und die beftimmten Formen derfelben 
pofitiv worzuzeichnen. Will man mehr als dies, jo wird man die 
höhere Einheit der Gefchichte nur erreichen, wenn man in jenem 
Einen Geifte, der fie vorbedenkend und mit der Einheit feiner Ab- 
ficht durchdringen foll, in der That einen wirklich lebendigen Geift 
fieht, der fein Dafein für fich hat, zwilchen neben außer oder fiber 
den einzelnen Geiftern, nicht in die Nothwendigfeit ihrer Entwidlung 
verflochten al8 die Subftanz, an der diefelbe gefchieht, fordern iiber 
ihr thronend als die Macht, welche fie herborbringt. Mit andern 
Worten: diefer zweite Weg führt auf die Vorftellung einer gött- 
lichen Erziehung der Menfchheit zurück, fo wie der erfte Dazu führte, 
fie als einen Naturvorgang zu betrachten, in welchem Alles gefchieht, 
was unvermeidliche Folge der vorangegangenen Umftände if. In 
diefe zwei Haren Borftellungsweifen zerfällt die Lehre von der Ber- 
wirflichung der Idee in der Gefchichte; fie ſelbſt freilich wird zu 
behaupten fortfahren, daß fie nicht eine unklare Miſchung, fondern 
eine höhere fpeculative Einheit beider fei. 

Recht eigentlich aber einen Stein ftatt des Brotes giebt ung 
diefe Anficht mit ihrer Geringfhätung des individuellen Lebens 
gegenüber der Entwidlung der Idee; und über diefen Punkt müffen 
wir ausführlicher fein, da wir vorausſehn, wie Viele fich unbefan- 
gen zu ber Meberzeugung befennen werben, die wir tadeln. Kein 
Irrthum haftet fo feit in den Gemüthern der Menfchen, als ein fol- 
cher, in dem ſich Ungenauigfeit des Denkens mit edlen Gefühlen zu 
ſchwärmeriſcher Ueberfpanntheit verbunden hat. 

Die Klarheit der Erfenntniß verlangt, zu jedem Begriffe voll- 
ſtändig alle die Beziehungspunfte hinzuzudenken, ohne welche fein, 
Sinn unverftändlic wird; diefebhaftigfeit des Ausdrucks und der 
Keflerion dagegen brängt jehr allgemein dazu, jene Beziehungs- 
punfte unerwähnt zu laffen. Sehr viele Gedanken unferer vielfür- 
migen und verwickelten Bildung erfcheinen gerade darum geiftveich 


37 


und bon einer gewiflen vornehmen Eleganz und Einfachheit, weil 
fie Borftellungen, die und im gemeinen Leben vertraut find, wo wir 
geduldig und umftänblich alle den Fall ihrer Gültigkeit begründen- 
den Bedingungen ins Auge faffen, von diefem Boden [öfen und fie 
wie in einen leeren Raum ohne erflärende Umgebung verpflanzen. 
Unter anderen bat diefem Schickſal der Begriff der Erfheinung 
unterlegen. Um verjtändlich zu fein, fegt er offenbar nicht nur ein 
Weſen, welches erjcheint, ſondern gleich unerläßlich ein zweites vor⸗ 
aus, dem dieſe Erjcheinung zu Theil wird. Dies zweite fünnen wir 
den nothwendigen Ort der Erfcheinung nennen, denn nirgend fonft 
wo als in ihm findet fie ftatt, und fie iſt nie etwas Anderes als das 
Bild, welches dies auffaffende Wefen fich feiner eignen Natur gemäß 
von dem andern entwirft, deſſen Einwirkung es erfährt. Diefen Bes 
ziehungspunkt unterdrückt indeffen der gewöhnliche Sprachgebraud) 
faft durchaus, und wenn er Wefen und Erfcheinung einander entge- 
genfeßt, denkt er nur an das eine Weſen, welches die Erfcheinung 
wie eine Strahlung aus ſich entläßt, die dann für fi) da wäre und 
erichiene, ohne eines zweiten Weſens zu bedürfen und in deſſen In- 
nerem erſt, als ein Zuftand deſſelben, zur Wirklichkeit kommen zu 
müſſen. 

Gewiß iſt jeder Sprachgebrauch unſchädlich, der ſich ſelbſt ver- 
ſteht und ſich demgemäß Grenzen ſeiner Anwendungen und ſeiner 
Folgerungen zieht; beides vermiſſen wir bei dieſem. Was er Er⸗ 
ſcheinung nennt, iſt im Grunde nur der Vorgang, der zur Erſchei⸗ 
nung werden oder ſie veranlaſſen könnte, ſobald er auf ein der 
Wahrnehmung fähiges Weſen einwirkte; die Erſcheinung ſelbſt iſt 
dieſer Vorgang nicht. Nun knüpft ſich an den wahren Begriff der 
Erſcheinung eine Werthbeſtimmung, die ſich auf jenen Vorgang, 
der ihr vorangeht, keineswegs übertragen läßt. Es iſt nicht blos 
eine Thatſache, wie andere Thatſachen, ſondern es Liegt ein Element 
von Glück darin, daß ein Weſen nicht nur an ſich iſt, ſondern auch 
da iſt für ein anderes; nicht feine Eriftenz freilich, aber der Werth 
derfelben dünkt und erhöht und verdoppelt, wenn fein Bild in den 
andern widerſcheint, oder wenn überhaupt fein Inhalt nicht nur ift, 


38 


Sondern in der Auffaffung irgend Iemandes erfannt und zum Ge— 
genftand irgend welches Genufles, ſei e8 auch nur der des Berftind- 
niffes, erhoben wird. Wer da fragt: das Wefen, wär’ ed, wenn e8 
nicht erfchiene? der meint damit ſchwerlich blos, daß wahres Sein 
ein Herausgehn aus ſich felbft und eine nach außen gerichtete Aus= 
ftrahlung der Thätigfeit fei. Vielmehr wird dies Herausgehn aus- 
drücklich als ein Heraudtreten aus der Taubheit Blindheit und 
Nacht des Nichtgefanntfeins und der Bergefjenheit in den lauten 
hellen Tag des Wachens des Genannt= und Gekanntſeins ver- 
ftanden. Sowie für Die poetifche Naturbetrachtung der Aufgang 
der Sonne nicht blos dies ift, daß fie fich iiber den Horizont erhebt, 
unter dem fie vorher ftand, fondern daß fie fichtbar wird, Anderes 
fichtbar macht und über die Welt die Klarheit des gegenfeitigen Für- 
einanderſeins ausgießt, die den Tag, das Wachen, ja erft die volle 
Wirklichkeit des vorher gleihfam nur Möglichen bildet: To bedeutet 
die Erfcheinung des Weſens, auf die wirWerth legen und von derwir. 
wie bon einem großen Gute fprechen, ftet8 das Eintreten des That 
fühlichen in ein genießendes Bewußtfein. Diefe Erfeheinung kann 
nicht gedacht werden wie eine bloße Ausftrahlung des Weſens, die 
als ſelbſtglänzendes Mittel aus ihm hervorquölle, recht eigentlidy 
ähnlich jenem Lichte, das fich ſelbſt erleuchten fol und die Finfter- 
niß, und von dem diefe Philofophie fo viel, die Optik freilich gar 
Nichts weiß. Denn irrig bleibt es doch eben, den Glanz des Tich- 
tes, der nur in der Empfindung des Empfindenden, oder jenen 
Schein, der nur in dem Gewußtwerden, oder das Glüd des Er- 
Icheinens, das nur in dem Bemwußtfein dieſes Gewußtwerdens zu 
finden ift, jo zu behandeln, als feien das alles Ereigniffe, die im 
leeren Raume gefchehen könnten, nur ausgehend von dem einen We- 
fen, aber nirgends eingehend in ein anderes. 

Unfern alten Kampf gegen dieſe Borjtellungsweile haben wir 
auch hier wieder aufzunehmen. Wer in der Geihichte die Ent- 
wicklung einer Idee fieht, ift verbunden zu fagen, wen diefe Ent— 
widlung zu Gute komme, oder welches Gut durch fie verwirklicht 
werde; nicht fo natürlid), daß und nur auf den fpäteren Stufen der 


39 


Entfaltung als ihr Geminn ein früher nicht vorhandener Segen 
gezeigt würde, fondern dies eben wiirde nachzuweiſen fein, daß das 
höhere Gut in dem früheren Nichtuorhandenfein dieſes Segens und 
in feiner allmählichen Erlangung auf dem Wege diefer Entwidlung 
liege. Berftänden wir uns aber dazu, in der bloßen fortfchreitenden 
Erſcheinung einer Idee Glückes genug zu ſehen und auf ein weiteres 
Gut zu verzichten, dem fie dienen folle, fo würde doch felbft diefe 
Heerfchau vorbeiziehender Gedanken eine Welt von Zufchauern vor= 
ausfegen, fiir welche fie ein Schaufpiel wäre, Wer find nun dieſe 
Zuſchauer? Entweder die Menfchheit felbit, indem fie fich entwickelt, 
erjcheint fi in ihrer Entwidlung und genießt das Glück dieſes 
Bewußtſeins; oder Gott allein überfieht die Gefchichte, die Menfch- 
heit aber leidet fie unbewußt; oder es find endlich einzelne menfch- 
liche Geifter, in denen fid, ein Bewußtſein des geichichtlichen Fort⸗ 
ſchritts der Idee verdichtet, welchen Die übrigen nur in ihren 
Schickſalen und in ihren Lebensbeſtimmungen erfahren. 

Die erfte diefer Antworten wird man nicht geben Fünnen, 
Unftreitig bat die Menjchheit in jedem Zeitalter von ihrem eignen 
Wejen und ihrer Beftimmung eine gewiffe Meinung, welche ihr aus 
ihrer jedesmaligen Lebenslage und ihren Erfahrungen erwächſt. 
Wir wollen fie nicht deshalb ganz gering ſchätzen, weil fie fein ge= 
fammeltes Bewußtfein, fondern nur eine lebhaft gefühlte Stimmung 
bildet und höchſtens bei einzelnen Gelegenheiten fich zu einer auß- 
führlichen und dann noch immer einfeitigen Reflerion fteigert. Aber 
die gejchichtliche Begründung dieſes Lebensgefühls und feine be= 
deutſame Stelle in dem Ganzen der gefchichtlihen Entwidlung 
bleibt der Maffe der Menſchheit ganz unbelannt. Dunkle Ueberlie- 
ferungen von einer guten alten Zeit oder unzufrievene Hoffnungen 
auf eine befjere Zukunft bilden die Gefhichtsphilofophie der Menge, 
der feine Kenntniß der Thatfachen in irgend nennenswerthem Grade 
zu Grunde liegt; alle Yeinheit in der Aufeinanderfolge der Ent- 
widlungsmomente der gefchichtlichen Idee ift fiir das Bewußtſein 
der Menfchheit im Ganzen völlig nutzlos aufgewandt. 

Die zweite Antwort wird man leichter geben und williger an= 


v 


40 


nehmen, weil man fie leicht beffer deutet als fie if. Denn daß Gott 
allein den Sinn der Gefchichte volllommen durchſchaue, welche An= 
ficht würde nicht ſchließlich in dieſes befcheidene Bekenntniß ein= 
ftimmen? Aber es handelt ſich um Anderes. Indem die Gedichte 
als Entwicklung des Begriffs der Menjchheit gefaßt wird, die flir 
Gott allein ertennbar jei, foll ja zugleich auch allein dieſe Ent= 
wicklung Zweck und Abficht der Gefchichte bilden, während Alles, 
was die endlichen Weſen thun und leiden hoffen und fürchten er= 
fireben und abwehren erreichen oder verfehlen, nur zu der Mafchi- 
nerie und Decoration gehören würde, Die der göttliche Geiſt ver- 
braucht, um ſich das Schaufpiel dieſer Begriffsentwidlung vorzu= 
führen, Ich weiß wohl, daß Niemand leicht dieſe Anficht in ihrer 
unverbüllten Widerwärtigfeit als feine Ueberzeugung ausiprechen 
wird; aber der Ausübung der Gefchichtsphilofophie Liegt fie nur zu 
ſehr in diefer Weife zu Grunde 8 ift freilich nicht denkbar, daß 
bei dem Ueberblick über die tragifche Verfettung der Ereigniffe das 
Gemüth des Beobachters völlig theilnamlos bliebe und nicht zu— 
weilen menigftens von einem wärmeren Gefühl überraſcht würde; 
aber wie oft haben wir Doch die Lehre empfangen, tiber das weich- 
liche Bedauern dieſer empfindfamen Gefchichtöbetradhtung uns hin- 
wegzufeßen und zu lernen, daß e8 nur auf den nothwendigen Fort- 
ſchritt des Begriffes, nicht auf Glüd und Unglüd der Menjchen 
antomme! Allerdings wird ferner das Widrige des Bildes, das 
wir entiwarfen, weniger auffällig dadurch, dag wir felten von Gott, 
weit öfter von einem Weltgeift, von einem Abfoluten, von einer 
ſich ſelbſt erkennenden Idee ald dem Zufchauer jenes Schaufpiels 
reden hören. Die Unerträglichkeit einer Selbftfucht, welche die 
Belt der fühlenden Wefen nurzum Material erhabener Unterhaltung 
verbraucht, wird natürlich gemilvert, wenn die Natur des Selbftfiichti- 
gen To dunkel gefaßt und fo aus aller Aehnlichkeit mit uns felbft 
herausgerückt wird, daß wir jeden Maßftab fr die Beurtheilung 
fittliher Zurechnung verlieren. Im Uebrigen gewinnen wir Nichts 
burd) diefe Wendung. Denn ein unergründliches unperfönliches 
Urweſen anftatt des lebendigen Gottes könnte zwar als höhere 


4 


Macht die Welt und uns beberrichen, aber es könnte feine Verbind⸗ 
lichkeit und feine Pflichten begründen. Diefe Annahme wiirde 
daher, falls fie auch den äußeren Gang der Geſchichte wirklich er- 
Härte, Doch grade aus ihrem innern Zufammenhang eine der wirk⸗ 
famften Zriebfedern entfernen. Denn wie viele Zufälle auch die 
Entwidlung der Begebenheiten mit beftimmt haben mögen: etwas 
daran ift doch auch das Berdienft der aufrichtigen Bemühung des 
Menſchengeſchlechts, Das in dem Geflihle einer heiligen Berpflich- 
tung gegen die Nachwelt an der Bewahrung und Vermehrung der 
Güter gearbeitet bat. Müßten wir glauben, daß alles perfünliche 
Leben nur als Durchgangspunkt für die Entwidlung eines unper⸗ 
ſönlich Abfoluten benugt würde, jo würden wir entweder jene Be⸗ 
ftrebungen aufgeben, da wir feine Berpflichtung entdeden, zur 
Unterftügung diefes für fich fo wie für ums überaus gleichgültigen 
Borganges mitzuwirken, oder wir würden, falls wir den Schaf von 
Liebe Pflichtgefühl und Aufopferung feitbielten, den wir in uns 
finden, zugleich uns zugeftehen, daß ein menfchliches Herz in aller 
feiner Endlichkeit und Vergänglichkeit ein ungleich edleres reicheres 
und erhabneres Wejen ift, als jenes Abſolute fammt all feiner 
denknothwendigen Entwidlung. 

Die dritte Antwort dürfen wir furz übergehen. Niemand wird 
ernftlich glauben, die Gefchichte geſchehe, um von Philoſophen philo- 
ſophiſch aufgefaßt zu werden; vielmehrnachdem fie geſchehen ift, gibtes 
nichteinmal eine Bhilofophie derfelben. Abereine andereBetrachtung 
wird unferer Ablehnung aller diefer Antworten entgegengeftellt werden. 

Eine Idee, wendet man ein, bat dod, nicht allein Dafein in 
dem Bewußtfein deſſen, der fie denft oder nachdenkt; fie ift auch 
wirklich und wirkſam vorhanden in den Dingen und in den Be- 
ziehungen der Dinge felbft. Sie ift bier vorhanden als ein feiendes 
Berhalten, nod) ehe das Denken, fpäter hinzufonmend, feine Auf- 
merkſamkeit auf fie richtet, und offenbar würde fie fo dazuſein fort- 
fahren, und ihre Gültigkeit wiirde feinen Abbruch erleiden, auch 
wenn nie der Blid und das Nachdenken eines denfenden Weſens 

ſich auf fie richtete und ihren Inhalt fi) zum Bemußtfein brächte. 


42 


Menn deshalb auch nur wenige einzelne Geifter, wenn felbft Nie- 
mand ein Berwußtfein der Idee hätte, die in der Gefchichte wirffam 
ift, fo wiirde fie nichtsdeſtoweniger fortfahren vorhanden zu fein, 
um unbewußt und ungewußt die Schiefale des menſchlichen Ge- 
ſchlechts zu leiten. Die Menjchheit als Ganzes würde dann dem 
einzelnen Menfchen vergleichbar fein, der ohne Unterlag Schmerz 
oder Luft oder irgend welche anderen Empfindungen als Früchte fei- 
nes leiblichen Lebens erntet, ohne doch die Idee zu Tennen, nad) 
welcher die Kräfte feined Organismus zu wechſelwirkender Arbeit 
verknüpft find. Wir felbit aber würden uns den Phyfiologen ver- 
gleichen, welche die Geſetze dieſes Wirkens auffuchen, und wir wür- 
den die im Zufammenhange der lebendigen Berrichtungen mwaltende 
vernünftige Idee nicht deshalb für minder wirkſam oder für weni- 
ger der Unterfuchung würdig anjehn, weil fie dem Lebenden unbe- 
wußt zu bleiben pflegt, und uns bi8 zu dem Augenblid ihrer Ent- 
derung unbelannt geblieben tft. 

Wir dürfen diefe richtige Bergleihung nur weiter verfolgen, 
umden Einwurf zurückzuweiſen, den fie ftügen fol. Denn eben dies 
werden wir doc, nicht meinen, daß jene verborgen bleibenden Ber- 
hältnifje der organifchen Kräfte den Zweck des Lebens bilden, oder 
dag zur Verwirklichung im Dunklen arbeitender Zufammenhänge 
der Thätigfeiten der lebendige Leib beftimmt fei. In den Empfin- 
dungen, die wir auf unbegriffene Weife haben, in der Luft und Un- 
luſt, die das legte Ergebniß eines geheimen Wirkens unferer Organe 
find, in der Oelentigfeit der Glieder und dem frohen Genuß der 
auf unbekannten Wegen ung zugefallenen Herrſchaft über fie: darin 
befteht das Teibliche Leben. AU jenes unbekannte Wirken Dagegen 
gehört zu dem vermittelnden Mechanismus, der nicht um feiner felbft 
willen, fondern zur Verwirklichung dieſes Höheren als er jelbft 
vorhanden ift. In diefem Sinne möchte immerhin die geheime Ent- 
widlung einer Idee ald der leitende Faden der Weltgeichichte be- 
zeichnet werden, und immerhin möchte diefer Faden ewig unbemerkt 
bleiben, fobald nur die Reihe der Güter, die an ihm befeftigt ift 
und fortwächlt, genoffen und gewußt wird. Nur würde eine An- 


43 


ficht, welche diefe Deutung fich gefallen ließe, nicht weſentlich von 
jenen andern verfchieden fein, welche in der Gefchichte nur das noth⸗ 
wendige Ergebniß aus dem Zufammenwirken der geiftigen Natur 
in uns und der irdifchen Lebensbedingungen außer uns fehen. 
Darin allein würde fie eine Eigenthiimlichkeit von fehr zmeifelhaf- 
tem Werthe befigen, daß fie glaubt, die mancherlei Antriebe, Die 
dem Innern des menſchlichen Geiftes entfpringend in der Gefchichte 
wirffam find, in dem einen Namen des Begriffs der Menfchheit 
zufammenfaffen und die Einzelunterfuchung der allmählichen Ver⸗ 
änderungen, welche diefe Antriebe im Lauf der Zeit erfahren, 
durch die eine allgemeine Formel einer angeblich denknothwendigen 
Entwillung jenes Begriffs erfegen zu Fünnen. 

Aber eben diefe Deutung, die wir zugeben, ift keineswegs im 
Sinne jener Anfihten; nicht ein dienendes Mittel, fondern den 
legten Sinn und Zweck der gefchichtlichen Entwicklung, nicht einen 
Leitfaden, an dem die eigentlichen Güter des Lebens allmählich auf- 
gereiht werden, ſondern das Beſte diefer Gitter felbft glauben fie in 
jener verborgenen Selbftentfaltung der Idee gefunden zu haben. 
Und biergegen erneuern wir raſtlos einen fchon oft geleifteten 
MWiderftand. Ein nie aufzuflirendes Geheimniß darf im Weltlauf 
höchſtens die Mittel bededen, die er zu feinen Zwecken benußt, 
oder die Gefeße, nad) denen diefe Mittel wirken; aber die wider- 
finnigfte Form des Myiticismus würde die Berblendung fein, es 
könne Zwede im Weltbau geben, von deren Inhalt und Erfüllung 
Niemand wüßte und die doch Zwecke zu fein fortführen, oder Gii- 
ter, die fo geheimthuend verhehlt wiirden, daß Niemand ſie bemerfte 
oder fich ihrer erfreute, und die Doc) fortführen, Güter zu bleiben, 
ja um fo größere und heiligere vielleicht, je weniger jemals won ih⸗ 
nen dieſer unbegreifliche Schleier gehoben würde. Was ein Gut 
fein fol, hat den einzigen und nothwendigen Drt feines Dafeins in 
dem lebendigen Gefühl irgend eines geiftigen Weſens; Alles, was 
außer zwifchen vor und hinter den Geiftern liegt, Alles, was That- 
beftand Ding Eigenfchaft PVerhältnig oder Ereigniß ift, gehört 
zu dem Reiche der Sachlichkeit, das zwar Güter vorbereitet, aber 


44 


ohne je felbft ein Gut zu fein. So lange wir Athem haben, wollen 
wir fteeiten gegen dieſen nüchternen und doch fo furchtbaren Aber- 
glauben, der völlig in der Verehrung fir Thatfachen und Formen 
aufgehend die finnvollen Zwecke des wirklichen warmberzigen Lebens 
gar nicht mehr kennt oder mit unbegreiflicher Gelaſſenheit über fie 
hinwegfieht, um den tiefften Sinn der Welt in der Beobachtung 
einer geheimen Entwidlungsetifette zu fuchen. Und mie oft begeg- 
nen wir doch diefem Aberglauben! Wir haben ihn fchon gleich ei= 
ner berührten Mimofe.zufammenfchreden fehen, wenn die Betrach⸗ 
tung der Natur auf alle die wirkffamen Mittel wohlgemuth einging, 
die dem Thiere die Fröhlichkeit ſeines Dafeins gewähren, die Fülle 
feiner finnlichen Genüffe, das Gefühl feiner Rüftigfeit, die Freude 
an der bunten Abwechſelung feiner Zuſtände. Nicht darauf kam e8 
dieſem Mißglauben an, nicht Darauf, daß eine Fräftige ihrer jelbit ſich 
freuende Wirffichkeit, fondern darauf, daß ein Schein fei; fymbo- 
liſch follte alles Borhandenean das erinnern, was es felber nicht ift, 
anflingen an Thätigfeiten, die e8 nicht ausübt, an Schidfale, die e8 
nicht erleidet, an Ideen, die ihm ſelbſt unbekannt bleiben. Und 
wenn nun in der Gefchichte die taufendfarbige Glut und Leiden- 
Ichaftlichfeit des menfchlichen Lebens vor ihnen fich aufthut, die un- 
ergründliche Eigenthümlichkeit der einzelnen Gemüther, Die erſchüt⸗ 
ternden Verwicklungen der Gefchide, die vielfac, ähnlich in ihren 
Umriffen, doc unausdenkbar verjchieden in ihrer Beſonderheit find: 
wenn diefes große Bild ſich vor ihnen aufthut, dann machen fie fich 
auf und fragen, ob es denn gar fein Mittel gebe, auch dieſes Große 
wieder auf etwas Kleines und Kümmerliches zurüdzuführen? Ja— 
wohl zurückzuführen; denn zurück und nicht vorwärts kommen wir, 
wenn wir und als legten Sinn und Zweck der Welt die Bde Lang— 
weile einer denfnothiwendigen Entwidlung aufdrängen laflen. Und 
deshalb wollen wir beftindig gegen diefe Borftellungen ftreiten, die 
bon der Welt nur die eine und geringere Hälfte fennen wollen, nur 
das Entfalten von Thatfachen zu neuen Thatfachen, von Formen zu 
neuen Formen, aber nicht die beftändige Wiederverinnerlihung all 
dieſes Neußerlichen zu dem, was in der Welt allein Werth hat und 


45 


Wahrheit, zu der Seligkeit und Verzweiflung, der Bewunderung 
und dem Abſcheu, der Liebe und dem Haß, zu der fröhlichen Gewiß⸗ 
heit und der zweifelnden Sehnfucht, zu all dem namenlofen Hangen 
und Bangen, in welchem das Leben verläuft, das allein, Leben zu 
heißen vervient. Und gewiß wird unfer Streiten ganz vergeblich 
fein; denn fie werden immer wieder mit dem Gewande großartig 
entfagender Selbftentäußerung die Unvollitändigfeit ihrer Begriffe 
zu bebeden fuchen; fie werden immer wieder vorgeben, einen Sinn 
darin zu finden, daß Erfcheinungen nur gefchehen, auch wenn fie 
nicht gefehen werden, daß Symbole nur ftattfinden, wenn auch 
Niemand fie verfteht, daß Ideen nur ausgedrückt werden durch That- 
beftände, wenn es auch Niemanden gibt, auf den der Ausbrud Ein- 
drud machen könnte. Diefes tönende Erz und dieſe Hingende Schelle 
wird ſtets wieder von neuem geſchüttelt werden; oder vielmehr dies 
nicht tönende Erz und diefe nicht Hingende Schelle, denn aud) Tö— 
nen und Klingen bat ja für diefe Sinnesart feinen reinften und 
höchſten Werth, wenn e8 an fich betrachtet wird, fo wie es ift, wenn 
es don Keinem gehört wird. 


Aber befänftigt uns nicht eine andere Auffaflung, die wenig- 
ftend der unberechenbaren Mannigfaltigfeit und dem Reichthum der 
Geſchichte gerecht wird, und fie von der Aermlichkeit einer denk⸗ 
nothwendigen Begriffsentwidlung erlöft? Ein Gedicht Gottes 
fei fie, aus feiner ſchöpferiſchen Phantaſie mit der Freiheit und 
Wärme eines echten Kunſtwerks entfprungen. Weber die Kunſtgat⸗ 
tung konnte man zweifelhaft fein, der fie angehören foll: fie fchien 
dem einen den gleichförmigen Fluß eines Epo8 zu haben, dem andern 
Fataftrophenreidh wie die Tragödie; auch ein Luſtſpiel fand in ihr nicht 
felten Die geringfchäigende Laune einer pöttiichen Weltbetrachtung ;al= 
[en aber ſchien doch etwas damitgefagt zu fein. Indeſſen enthält zumächft 
jener Ausſpruch offenbar nur eine Bergleichung des Eindrucks, den und 
die Gefchichte, mit Dem verwandten, welchen ung die Dichtung macht. 
Deutlicher wird uns durch diefen Vergleich die eigenthümliche Für- 
bung diejes Eindruds: die Gründe, aus denen er in beiden Fällen 


46 


entfpringt, werden es nicht. Mit mehr Recht und nützlicher Könnten 
wir vielleicht umgelehrt fagen, daß die Dichtung ihre Gewalt von 
dem hat, was fie der Gefchichte ähnlich macht. Denn die Kunft ift 
nie ein bloßes Spiel mit Formen überhaupt; fie ift wahr und echt 
nur, wenn wir in ihren Formen diefelben wiedererfennen, in denen 
der Bau der Welt gegründet ift, in denen die Ereignifje verlaufen, 
deren Ganzes nicht blos in ihrer zeitlichen Folge, ſondern auch in 
der Breite ihrer gleichzeitigen Verfchlingungen gefehen, eben die 
Geſchichte ſelbſt iſ. Weil das Epos mit unbefangener Klarheit die— 
fen großen und breiten, mannichfach bewegten Fluß menſchlicher 
Geſchicke vorüberführt, ohne feine einzelnen Räthſel lehrhaft zu deu- 
ten, deswegen wirft e8 auf und wie die Gefchichte jelbft, Die mit 
gleicher Spröpdigfeit das Geheimniß ihres ganzen Sinnes hinter der 
Harbeleuchteten Kette jcharf gezeichneter Ereigniſſe verbirgt. 
Inſoweit ift der Vergleich der Gejchichte mit der Dichtung 
nicht mehr ald ein anmuthiges Gedantenfpiel, das von einem Un⸗ 
befannten zum andern hinüber⸗ und berüberläuft, und indem e8 das 
Eine in der Weile des Andern ausdrüdt, feines von beiden eigentlich 
deutlicher macht. Noch eine andere Abſicht hat indefjen dieſe Zuſam⸗ 
menftellung dennoch. Sie will nicht nur das fertige Gedicht mit der 
gefchehenen Geſchichte, fondern die Entitehung des Kunſtwerks aus 
der Phantafie des Künftlerd mit dem Urfprunge der Gefchichte aus 
einer gleich unberechenbaren Freiheit des göttlichen Geiftes verglei= 
hen. Hierin würde ein Gewinn liegen, wenn es gelänge, Die we— 
jentlihe Eigenthümlichkeit jener fünftlerifchen Phantafie in einer 
Weiſe zu bezeichnen, Die nicht felbft wieder blos der Bhantafie ver- 
jtändlich wiirde. Wir wiſſen nicht, daß dies gefchähen wäre. Denn 
in dem, was uns von dieſer geiftigen Thätigkeit berichtet wird, in 
der reiheit, mit melcher fie Schönes oder Häßliches Tchafft, indem 
fie denknothwendigen Gefegen mit unberechenbarer Willkür Fälle 
der Anwendung erfinnt, in der füihlbaren Gerecdhtigfeit ferner, mit 
der fie in der Berfnüpfung der willfürlich geftalteten Ereigniffe ver- 
fährt, ohne ſich Doch je Durch ein begreifenves Verſtändniß ausmef- 
fen zu laffen: in diefen und andern oft gejchilverten Zügen finden 


47 


wir zwar vollfommen das Geheimniß der Gefchichte wieder, nur 
leider noch eben jo geheimnißvoll wie früher. Weder iiber die Her- 
funft dieſer göttlichen Phantafie noch über ihre Zwecke, noch über 
die Art, wie ihr Begriff fi mit unfern übrigen Borftellungen 
von Gott oder mit dem fonftigen Ganzen unferer Weltanficht ver- 
nüpfen ließe, empfangen wir Aufflärung. Treten wir daher diefer 
Anficht gern in dem bei, was fie verneint, fo gewinnen wir Doch 
Nichts durch Das, mas fie bejaht. 


Und nun nad) fo vielen vergeblihen Anläufen, den Fortfchritt 
der Geſchichte zu deuten, wollen wir noch jener entgegengefeßten 
Behauptung gedenken, die alle Geſchichte in dem Sinne einer irdi= 
ſchen Fortentwicklung leugnet. Auch diefe Meinung ift feinesmegs 
eine bie und da vereinzelt auftretende Sonderbarfeit fich verirrender 
Gedanken; fie hat in alter wie in neuer Zeit fich zur ausdrücklich⸗ 
jten mit Begeifterung vollgogenen Abwendung von allenr Irdifchen 
gefteigert. Unzählige Büßer des Heidenthums und chriftliche Ein- 
fiedler haben in ihre Zurückgezogenheit die tiefe, ihr ganzes Ge— 
müth ausflillende Weberzeugung gefliichtet, daß das menfchliche Leben 
nicht in feiner irdischen Geſammtheit einem bier erreichbaren oder 
auch nur ihm vorgeftedten Ziele der Bolllommenheit entgegengehe, 
ſondern daß Alles eitel fei. Nur die beftändige unmittelbare Rück⸗ 
kehr des einzelnen Herzens zu Gott und zur Erhebung in die iiber- 
finnliche Welt fei ein Fortſchritt, alles irdiſche Leben im Uebrigen 
ein bejtändiger Kreislauf der alten Unvollkommenheiten. Auch dies 
iſt eine Philofsphie der Geſchichte. Sie beruht wahrſcheinlich auf 
weniger tiefjinnigen Gedanfenverbindungen, als die Meinungen, 
welche einen Fortſchritt deuten, den fie zu jehen glauben; aber fie 
ift um fo mehr durch unzählige Aufopferungen als die lebendigite 
Ueberzeugung bekräftigt worden, und wird unabläffig weiter befräf- 
tigt; denn eben fie pflegt unfer leßtes Belenntniß zu fein, wenn wir 
aus dem Leben fcheiden und alle Entwürfe hinter uns lafjen, deren 
Durchführung uns einft wie groß und wie widhtig erjchien! 

Sollen wir diefer Verneinung uns rüdhaltlos hingeben ? 


48 


Würde nicht aus ihr eine Gefinnung thatlofer Beſchaulichkeit fol⸗ 
gen, die durch zu frühzeitigen Verzicht auf irdifchen Erfolg auch die 
Bedingungen des Strebens nad) dem Ueberirdifchen aufhöbe ? Jene 
Flucht vor der Welt ift doch nur denkbar als Flucht vor der Welt, 
die man gefannt, vor dem Leben, das man mitgelebt hat. Nur die 
Erinnerung an den Reichthum des geiftigen Dafeins, an das Glück 
und Unglüd, die Hoffnungen und Täuſchungen, welche die gefellige 
Verkettung menſchlicher Strebungen einfchließt und herborbringt, 
fann jener einfamen Beſchaulichkeit einen.-Gegenftand des Nachden⸗ 
fen bieten, in deflen Betrachtung fie ihre Borftellungen des tiber- 
finnlichen Lebens ausbildet. Wer nichts erlebt bat, den macht die 
Einſamkeit nicht weifer, und der Umgang mit den Erfcheinungen 
der Natur und mit den Gedanken, die ein der menſchlichen Gefell- 
Ichaft entzogenes Gemüth noch hegen würde, könnte zu feinem ans 
dern Frieden, als zu dem führen, welchen das Thier befigt. 
In der That aber war es ja nicht nöthig, die Gering- 
ſchätzung des Irdiſchen bis zu diefer Verachtung aller lebendigen 
Thätigkeit zu fteigern. Man Tann es anerkennen, daß die gefel- 
ligen Berbältniffe des menfchlichen Lebens das einzige, obgleich 
undanfbare Material darbieten, an welchem der emporftrebenden 
Sehnſucht eine Ausarbeitung ihrer Ideale vergönnt ift; und diefe 
Anerkennung kann dazu anleiten, ſich mit aller Wärme des Herzens 
der Arbeit des irdifchen Dafeins zu widmen. Es liegt ein ver- 
tehrter Hochmuth unferer menſchlichen Begehrlichfeit darin, zum 
Handeln erjt Luft zu tragen und es dann erft zu ſchätzen, wenn uns 
verbürgt ift, daß die Ergebniffe unferer Thätigfeit in der Gefchichte 
des MWeltganzen ihre bleibende Stelle und ihren unvergänglichen 
Werth behaupten werden. Schäten wir demüthiger das, mas wir 
bier leiften, nicht höher als zu dem Werth eines Hebungsbeifpiels, 
fo können wir mit allem Ernfte der Vorbereitung zu einem hohen 
Ziele zugleich die ruhige Entfagung verbinden, die es fich gefallen 
läßt, daß unfere Verſuche hier ohne Fortfchritt und bleibende Folgen 
find. In demfelben Maße, in welchem wir dann das unmittelbare 
Derhältniß jedes einzelnen Gemüthes zu der überfinnlichen Welt 


49 





höher jchäßten, witrde der Zuſammenhang der Geſchichte der Menſch⸗ 
heit in feinem Werthe ſinken; wie fie auch fortrücken oder hin⸗ und 
herihwanfen möchte: die Gejchichte könnte durch alle ihre Bewe— 
gungen ein Ziel nicht erreichen, das nicht in ihrer eigenen Ebene 
liegt, und wir würden und der Mühe üiberheben, in ihrer Ränge 
einen Fortfchritt aufzufuchen, den fie nicht in diefer, fondern in 
jedem einzelnen ihrer Punkte nach der Höhe zu zu machen be= 
ftimmt iſt. 

Und wird nicht endlich dieſes ungefchichtliche Leben von dem 
größten Theile der Menfchheit wirklich gelebt? Denn alle jene 
Unrube und Mannigfaltigkeit beftändiger Ummwälzungen und Neu- 
geftaltungen, deren verfnüpfenden Sinn man fucht, ift doch am 
Ende nur die Gefhichte des männlichen Geſchlechts; durch all 
diefen Sturm und Drang wandeln faum berührt von feinen 
wechſelnden Beleuchtungen die Frauen und wiederholen in immer 
gleicher Weife die eimfachen und großen Lebensformen des menſch⸗ 
lichen Gemüths. Soll uns ihr Dafein für Nichts gelten, oder 
haben wir die Bedeutung defjelben nur in der Schulbegeifterung für 
die Idee der gefhichtlichen Entwidlung einen. Augenblid vergeffen? 

An ſolchen Betrachtungen ftärkt ſich die Hinneigung zu je— 
“ner ungeſchichtlichen Auffafiung der menſchlichen Lebensbeftim- 
mung; aber fie überwindet doch den Widerjpruch eines fittlichen 
Gefühles nicht, das und warnt, Etwas aufzugeben, was wir 
nicht begreifen, und das uns zuruft, doch auch in dem irdifchen 
Fortfchritt der Gefchichte ein wirkliches Gut zu ehren. Was 
in der wifjenfchaftlihen Betrachtung ihres Berlaufes und von 
diefer Anerkennung zurücdhielt, die Bertheilung der anmachjenden 
Güter an die Reihenfolge einander fremd bleibender Gejchlechter, 
eben das wird im Leben felbft nicht als ein Unglüd empfunden. 
Zu den bemerfenöwertheften Eigenthiimlichkeiten des menjchlichen 
Gemüths gehört im Gegentheil neben fo vieler Selbſtſucht im 
Einzelnen die allgemeine Neidlofigkeit jeder Gegenwart gegen ihre 
Zukunft. Und nicht allein, daß wir gem diefer Zukunft 
das größere Glück günnen, das wir felbft nur en ah⸗ 

Lotze, III. 3. Auflage. 


50 


nen; vielmehr ein Zug aufopfernder Arbeit zur Herftellung eines 
Befleren, das wir nicht mitgenießen werden, geht durch alle Zeiten 
bald in großartigen bald in alltäglichen Formen, bald in Geftalt 
einer mit Bewußtſein ſich widmenden Liebe, bald wenigſtens als ein 
natürlicher, feiner eigenen Bedeutung und beftimmter Ziele unbe- 
wußter Trieb. Dieſe wunderbare Erfcheinung mag wohl den Glau- 
ben in und befeitigen, daß es noch einen höheren Zuſammenhang 
gebe, in welchem das Vergangene nicht blos nicht ift, in welchem 
vielmehr Alles, was der zeitliche Berlauf der Gefchichte unerreichbar 
für einander trennt, in einer ungzeitlihen Gemeinſchaft mit und 
neben einander ift, in welchem endlich die Güter, die diefer Ber- 
lauf erzeugte, auch dem nicht verloren find, der fie gewinnen 
half, ohne fie zu genießen. 

Der Vorwurf freilich, durch eine Grundlage von Gelbit- 
fucht, die wir ihm geben, einen der fchönften Züge menjchlicher 
Sittlichfeit zu verderben, wird diefer Betrachtung nicht erfpart 
bleiben; jo wenig als die Zumuthung, von dem menſchlichen 
Herzen ſchlechthin die Großartigkeit einer Hingebung zu verlan— 
gen, die aus Liebe fiir Andere oder für das Ganze fich ohne 
den Nebengedanken eines Mitgenufjes aufopfert. Aber diefe Ent- 
gegnungen würden den Gegenftand mißverftehen, um den es ſich 
handelt. Bon den Bemweggründen unferd Handelns wollen auch 
wir jenen Nebengedanken entfernt halten; von der Betrachtung des 
Weltbaues können wir ihn nicht ebenfo ausfchliegen. So wie 
wir Werth darauf legen, die Grundfäge unfers Handelns in 
aller Reinheit der Selbftlofigkeit zu erhalten, jo haben wir ein 
gleiches Interefje daran, daß die Welt ſelbſt uns als ein finn- 
volles und würdiges Ganze erjcheine. Nicht um unſers Glückes 
willen verlangen wir unfer Glüd; fondern weil der Sinn der 
Welt fih in Widerfinn verfehren würde, weifen wir den Ge- 
danken zurüd, daß ins Endlofe die Arbeit vergehender Gejchlecdh- 
ter nur denen zu Gut komme, die ihnen folgen, für fie felbft 
aber unwiederbringlich verloren gebe. Die ganze Sehnfucht, in 
der vermorrenen Mannigfaltigleit der Geſchichte einen leitenden 


51 


Faden zu finden, entjpringt nur aus dem felbftlofen Wunfche, in 
der Wirklichkeit, in dem Bau und dem Laufe der Welt eine 
wertboolle und heilige Ordnung anerkennen zu dürfen. Andere 
Anfichten trieb dieſe Sehnfucht, der ewig neuen und ewig ſich 
gleihen Entwidlung eine Allgemeinen das felbftändige Glüd 
alles Einzelnen zum Opfer zu bringen; und treibt fie, da mir 
in folden Verſuchen nur eine Mißleitung des Gedankens zu 
erbliden glaubten, zu der entgegengejegten Forderung einer ewigen 
Erhaltung deſſen, mit deffen beftändiger Wiedervernichtung alle 
Entwicklungsmühe auch jenes Allgemeinen fruchtlos fein würde. 
Sich ſelbſt möge jeder, um die Reinheit feiner Gefinnung zu 
bewähren, von dem Glück diefer beftändigen Erhaltung ausjchließen; 
aber er wird nicht vermeiden können, fie fir Andere zu verlangen, 
wenn nicht die Welt ſelbſt mit dem ganzen Aufgebot ihrer ge= 
ichichtlichen Entwicklung als ein unverftändlicher und vergeblicher 
Lärm erfcheinen joll. 

Mit jener aufopfernden und vorſorgenden Xiebe, welche die 
edelſte Triebfeder des gefchichtlichen Lebens ift, gehört dieſer 
Glaube ald die Deutung der Erfolge deffelben zufammen. 
Die Ahnung, dag wir nicht verloren fein werben für die Zu⸗ 
kunft, daß Die, weldhe vor und gewefen find, zwar ausgeſchieden 
find aus diefer irdiſchen, aber nicht aus aller Wirklichkeit, und 
daß, in welcher geheimnißvollen Weife e8 auch fein mag, ber 
Fortſchritt der Geſchichte doch auch für fie gefchieht: Diefer 
Glaube erft geftattet uns, von einer Menjchheit und von ihrer 
Gefchichte jo zu [prechen, wie wir es thun. Denn diefe Menfchheit 
befteht nicht in einem allgemeinen Gattungscharakter, der fidh in 
allen Einzelnen wiederholte, gleichgültig, wie viele deren fein oder 
geweſen fein oder noch entjtehen möchten; fie befteht nicht in der 
Menge der unzähligen Einzelnen, die nur unfer Denfen zu 
einer Summe zufammenzöge, während die Wirklichkeit fie zerftreute 
und die einen fein ließe, wenn. die andern nicht find; fondern 
in jener realen und lebendigen Gemeinſchaft beiteht fie, welche die 
zeitlich auseinanderfallende Vielheit der Geifter gleichwohl zu 

- 4% 


52 


einem Ganzen des Füreinanderjeins zufammenfchließt, in welchem 
für Jeden, gleich als wären fie alle gezählt, feine eigenthümliche 
Stelle voraus berechnet und aufbehalten iſt. Und die Gefchichte 
ann nicht ein ſchmaler LTichtftreifen von Wirklichkeit fen, der 
zwiſchen zwei Abgrlinden völliges Nichtfeins, Zukunft und Ber- 
gangenbeit, fich fortbewegt und haltlos hinter fich in Das Nichts 
verfinfen läßt, was er dem Nichts wor fich abgerungen; eine 
bleibende Summe muß gezogen fein, die zu ewiger Gegenwart 
die Flucht des Werdens und Vergehens verdichtet... Wo das 
menſchliche Gemith fi in feinem Streben durch Berufung auf 
die Geifter der Ahnen oder auf die Palme der Zukunft ftärkt, 
geſchieht es in dieſem Sinne: Fraftlos ift jede Berufung auf 
Nichtfeiendes, mächtig nur die, Die lebendig von diefem Gedanken 
einer ſolchen Aufbewahrung und Wiederbringung aller Dinge 
durchdrungen ift. 

Nicht allen Zeiten ift diefer Glaube leicht. Als der be- 
ſchränkte Blid der Menfchheit nur noch auf geringer Zeitferne 
befannter Vergangenheit, nur auf der vertrauten Umgebung der 
Heimat und des Stammes ruhte, war e8 ein überredender Ge- 
danke, Dies einfache Leben zwifchen Schöpfung und Weltgericht 
als Prüfung einzugrenzen, an deren Ende die felige Gemeinfchaft 
aller begann, die der Verlauf der Zeit von einander gefchieden 
hatte. Uns, in deren auögeweiteten Geſichtskreis die Fülle ber 
verichiedenften Völker, das unentjchiedene Hin» und Herivogen einer 
langen gefchichtlichen Flut, das ewig gleichfürmige Wirken der 
Natur und die Unermeplichkeit des Weltraums eingetreten find, 
und kann weder eine fo kurze und häusliche Röfung der unendlich 
gewordenen Berwidlungen befriedigen, noc finden wir eine 
andere Form der Vorftellung, die der gefteigerten Aufgabe einer 
Beranfhaulichung des von uns geahnten Zieles entſpräche. Den— 
noch halten wir diefen Glauben feft und finden ihn nicht erfeßbar 
durch die Auffchlüffe, Die der Bildung unferer Zeit annehmlicher 
geſchienen haben; im Gegentheil, nur unter feiner VBorausfegung 
laſſen eben dieſe Anfichten ſich wenigſtens von den inneren Wider⸗ 


53 


fprüchen befreien, in die wir fie verwidelt fanden. Denn feine 
Erziehung der Menfchheit ift denkbar, ohne daß ihr Endergebnif 
einft auch denen zu Theil würde, die in diefer irdifchen Yaufbahn 
auf verichiedenen Stufen zurüdgeblieben find; feine Entwidlung 
einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zulett Allen offenbar wird, 
was fie zuvor ohne ihr Wiffen al8 Träger diefer Entwidlung 
erlitten haben. Wer in der Gefchichte einen Plan fucht, wird ſich 
unvermeidlich zur Anerkennung dieſes Glaubens zurüdgezmungen 
finden; feiner unbebürftig ift allein, wer in ihr nur Beifpiele all- 
gemeiner Geſetze des Geſchehens fieht, jedes durch Die Kräfte, Die 
hinter ihm find, Teines durch einen Zweck, der vor ihm ftände, 
hervorgebracht. 

In der That aber find es auch nur jene inneren Wider- 
[prüche, zu deren Hinwegräumung unfere Borausfegung zureicht; 
die wirkliche Aufzeigung des Planes, den die Gefchichte verfolgt, 
macht weder fie felbft noch unfere empiriſche Kenntniß möglid). 
Die legtere nicht: denn wir wiffen wohl, wie beichränft die Summe 
deften, wovon wir Kunde haben, im Vergleich zu der Fülle des 
Lebens ift, das unjer Planet gefehen, und wie menig dieſe und 
befannten Bruchſtücke uns eine Entzifferung des Ganges erlauben, 
den der Berlauf der ganzen irdiichen Gefchichte nehmen möchte. 
Und wüßten wir aud) dies alles, was wir nicht wiffen, zweifelhaft 
bliebe e8 doch, wie weit dies irbifche Leben als ein Ganzes 
in ſich felbft und aus fich felbft begriffen werden könnte; die 
Gliederung der Zuſammenhänge aber, durch welche e8 mit jenem 
umfafjfenderen Weltlauf verbunden ift, in welchem vielleicht feine 
Ergänzung liegt, fteht unferer wiſſenſchaftlichen Einficht unendlich, 
fern. Und fo erjcheint und die Gefchichte noch immer, wie 
fie allen Zeiten erjchienen ift, ald ein Weg von unbelanntem 
Anfang zu unbelanntem Ende und die allgemeinen Anfichten, die 
wir uns über ihre Richtung bilden zu müſſen glauben, Fünnen 
nicht dazu dienen, den Verlauf und Grund ihrer Wendungen im 
Einzelnen zu begreifen. 


54 


Drittes Kapitel. 
Die wirtenden Kräfte in der Geſchichte. 


Irdiſche oder göttlihe Anfänge — Organiſche Entſtehung ber Bildung. — Bet 
fpiel ber Sprade. — Die Bebeutung ber Perſönlichkeiten. — Geſetze des 
gefhichtlihen Weltlaufßf. — Statiſtik. — Borberbeftiimmung und Freiheilt. — 
Stetigkeit und Gegenſatz in der Entwicklung. — Das Altern der Völker. — 
Gewicht der Ueberlieferung. 


Auf den Urſprung der Lebensordnung, in deren Genuß es 
ſich fand, hat ſchon das Alterthum vielfach fein Nachſinnen zu— 
rückgewandt, und dieſelben äußerſten Meinungen, welche noch 
jetzt die Gemüther theilen, traten ſchon damals hervor. Dem 
erſten zuſammenfaſſenden Blicke bot ſich das Ganze der menjch- 
lichen Bildung fo wunderbar, daß feine Entſtehung ohne aus— 
drückliche göttliche Stiftung unbegreiflich ſchien. Frühzeitig fuch- 
ten fromme Sagen in Wohlthaten der Götter den Urſprung 
menſchlicher Lebensgüter, theils folcher, deren Herkunft noch uns 
räthfelhaft ift, Häufig auch anderer, die und den Kreis leichtbe- 
greifliher Entwidlungen menſchlicher Kräfte nicht würden zu 
überfteigen fcheinen. Die Empfindung gefelliger Mißſtände trat 
hinzu, um die wehmüthige Vorftellung eined goldenen Zeitalters 
der Vergangenheit zu befeftigen, in welcher einfältige® Herzens 
die harmloſe Menjchheit unter der Obhut der Götter mit fich 
und der Welt in Frieden gelebt, bi8 mit dem machjenden Welt- 
verftand Zwiſt und Begierde kam, oder dieje vielleicht die ſchlum⸗ 
mernden Fähigkeiten der Erfenntnig weckte. Dieſem Bilde des 
ſchönen Anfangs und des ſchlimmen Fortgangs trat früh das 
andere Gemälde anfänglic, thieriicher Rohheit gegenüber, aus 
der allmählich die Menfchheit, durch Leiden und Erfahrung ge= 
ſchult und diefe mit ſcharfer Aufmerkſamkeit benugend, zu dem 
Reichthum ihrer widerſpruchsvollen ebenfo bewundernswürdigen 
als unglückſeligen Bildung fortgeſchritten ſei. Beide Auffaſſungs⸗ 


95 


weifen hat die Folgezeit in unzähligen Schattirungen wiederholt; 
jelten ohne Vorliebe für Vorausfegungen, welche die unbefangne 
Beurtheilung trübten. 

Schon die alte Anficht, die dem göttlichen Urfprung die 
irdiiche Entwicklung entgegenfeßte, ging von ausdrücklicher Yeind- 
feligfeit gegen alle religidfe Anfchauung aus; die rationaliftifche 
Aufklärung, die in neuer Zeit lange die Meinungen beberrichte, 
war eben fo wenig frei von gefliffentlicher Mißachtung deſſen, 
was in den dunflen Anfängen der Geſchichte auf etwas mehr, 
als auf glüdliche Zufälle und auf die Erfindſamkeit anfchlägi- 
ger Köpfe binwies. Wenn fie den Staat auf einen von den 
Biedermännern der Urzeit gefchloffenen Vertrag, die Sprache auf 
eine Uebereinkunft, ſich gewiſſer Laute als der zmwedmäßigften 
Mittheilungsmittel zu bedienen, Die Satungen der Sitte theils 
auf allgemeine Anerkennung des zufällig für nützlich Befundenen, 
theils auf Vorjchriften mweiterblidender Erzieher, die Entſtehung 
der Religion endlich auf den natürlichen Hang zum Aberglauben und 
feine kunſtvolle Benugung durch priefterlihe Schlauheit zurid- 
führte: jo machte fie eine berechnende Ueberlegung, die nur ei= 
ner bereitö fortgejchrittenen Bildung geläufig fein kann, zur er= 
ſten Erzeugungsurſache diefer Bildung, und verfehlte darin die 
Löſung ihrer Aufgabe Aber nicht dies Schickſal, dem vielleicht 
fein anderer Verſuch entgehen wird, jondern das fichtliche Be— 
jtreben, Alles, was durch Menjchen freilich geſchehen mußte, in 
jedem Betracht ald willkürlich gemachtes Menſchenwerk zu fafien, 
hat die Abneigung der Gegenwart gegen dieſe Weife der Ge— 
ſchichtsbetrachtung gefchärft, von der wir nicht leugnen können, 
daß fie richtige Erklärungsbebürfniffe empfand, obgleich fie die- 
felben kümmerlich zu befriedigen fuchte. 

Ueber alles nothwendige Maß und Bedürfniß hinaus 
fnüpfte wiederauflebend die entgegengejeßte Anficht die Urge— 
ichichte der Menjchheit an überirdiſche Anfänge in Formen, die 
felbft, wenn man die fehlenden Beweggrlinde zu ihrer Bevorzu- 
‚gung ergänzen könnte, doch die erwarteten Vortheile nicht ge= 


56 


es 


währen würden. Indem id, diefe Meinungen beftreite, denke 
ich ihnen nicht zu wenig zuzugeftehen. Daß ein Urzuftand fitt- 
licher Heiligkeit und tieffinnigfter Weisheit dem gefchichtlichen 
Leben vorangegangen fei und daß alle Folgezeit nur in dem 
Berfall dieſer Herrlichkeit und in dem Kampf gegen diefen Ver- 
fall bejtehe: eine jo völlig umgefehrte Anſchauung der Gefchichte 
bat in der Gegenwart ſchwerlich Vertreter. Hätte, fie deren je- 
doch, fo würden in der That dieſe nicht vor dem Einwurf zu⸗ 
rückzuſchrecken haben, daß nur Entwicklung vom Unvollfommne- 
ren zum Bollfommneren, nicht die entgegengefeßte Richtung des 
Geſchehens, alle Analogien der Natur für fi habe. Wer die 
Geſchichte einmal für mehr als einen Naturvorgang, wer fie für 
einen Theil eines großen göttlichen Weltplanes zu halten entichloflen 
ift, wird im Stillen auch der Zuverficht fein, daß ihr Lauf viel- 
leicht tieffinniger fein dürfte, als die einfache Formel jenes grad- 
linigen Fortichritts. Vielleicht enthielte er manche Wendungen, 
die und nur dunkel verftändlich find, aber, einmal klar verftan= 
den, einen lebendig ergreifenden Sinn von unendlich höheren 
MWerthe enthüllen würden, als jene magere Compofition einer 
beftändigen Steigerung ohne Kataftrophben. Nicht umfonft haben 
verſchiedene Zeiten und Bölfer mit Andacht und Sehnſucht 
die Borftellungen von einem Abfall aus befierem Dafein, von 
dem gejhichtlichen Leben al8 einer Buße und von einer verſöh— 
nenden Rückkehr am Ende der Dinge ausgebildet; fie haben da— 
durch bezeugt, daß dem Geifte, wenn er fein eigned Sein und 
Wefen nicht über die Analogien des ungeiftigen Daſeins ver- 
gißt, noch ganz Anderes glaublich ift, al8 jener Fortfchritt, der 
nichts Verlornes zu beflagen hat, fondern alle Güter eigenhän- 
dig erſt hervorzubringen befchäftigt tft. Aber die gejchichtliche 
Unterfuchung, wie weit fie auch vordrang, ift dem irdiſchen Vor- 
hanbenfein eines idealen Urzuftandes nicht näher gefommen, und 
fie hat e8 kaum beftreitbar gelaffen, daß allerdings unjere Bildung 
aus einfachen und einheimilchen Anfängen auf dem Wege einer all- 
mählichen, mehrfach unterbrochenen Entwidlung emporgewachſen ift. 


57 


— 


Died Zugeſtändniß würde dennoch übernatürliche Anfänge 
nicht ausſchließen; nur an die Stelle der idealen Urmenſchheit 
würde der Gedanke einer göttlichen Erziehung treten, welche die 
natürlichen Fähigkeiten unſeres Geſchlechtes bis zur Möglichkeit 
ſeiner eignen Fortbildung geleitet habe. Der ausdrückliche oder 
ſtillſchweigende Zuſatz, daß von da an jene Führung aufgehört 
habe, zeigt uns, daß man ſie in der Urzeit unter ausgezeichneteren 
und ausdrücklicheren Formen ausgeübt denkt, als in dem Fort⸗ 
gange der Geſchichte, der ſich ihr eben ſo wenig ganz entzieht. 
Um dieſe Meinung zu beurtheilen, ſpalten wir ſie in beſtimmter 
gezeichnete Vorſtellungsweiſen. 

Bon dem Umgange mit Engeln, die in ſichtbarer Geſtalt 
auf Erden gewandelt, wird Niemand die Erziehung der Menſch— 
beit beginnen laffen. Wir finden in der Urzeit nicht eine fehl- 
loſe Weisheit, die von menſchlichem Standpunft unerzeugbar 
wäre, fondern Zeugniffe einer bald zutreffenden, bald irrenden 
Regfamkeit der Wißbegier; nicht eine volllommne Gliederung 
der Gefellichaft, die göttlicher Anordnung zuzufchreiben ſchiene, 
fondern einfachere Formen des Lebens, aus Naturverhältniffen 
und natürlicher Verträglichkeit leicht erflärbar, zufammengefegtere, 
aus Uebermuth und Furcht Liſt und Gemaltfamleit ſehr menjch- 
lich gemiſcht; nicht einen Glauben, deſſen uns font unerreichbare 
Wahrheit der Offenbarung bedurft hätte, fondern Religionen, in 
denen eine ihr Ziel fuchende Sehnfucht Borftellungen von fehr 
verfchiedenem Werthe entwidelt; feine Urfprache endlich von 
göttlichem Bau, fondern von Anfang an eine Menge verjchiebener 
Ausprägungen der gemeinfamen Sprachfähigkeit. Meangellofe 
Vollkommenheit in allen diefen Beziehungen könnte ihre Erffä- 
rung in dauernden Umgang mit höheren Weſen fuchen heißen; 
was wir wirklich finden, die geiftige Regſamkeit iiberhaupt, die 
erfinderifche Stimmung, die fruchtbare Geftaltungsfraft, die doch 
den Irrthum nicht ausſchließt, erfordert ſolche Annahmen nicht. 

Über eine verborgnere, obgleich eben jo umittelbare Ein- 
wirfung der Gottheit auf den Geift der Menſchheit Tann 


58 


vielleicht diefe unanwendbare Vorftellung erfegen. Der gegen- 
wärtige Hergang im menfchlichen Seelenleben fcheint nicht die 
zur eriten Begründung einer ſpäter leicht fortpflangbaren Bildung 
nöthigen Hilfsmittel zu befiten; ein anderer Gefammtzuftand 
aller geiftigen Fähigfeiten würde dieſem Beginne zu Grunde ge= 
legen und vielleiht durch die natürlichen Rückwirkungen des 
Fortſchritts felbft fich zu der gegenwärtigen Berfaffung des gei- 
ftigen Lebens umgewandelt haben. Zwei verjchiedene nä⸗ 
here Beftimmungen, beide wenig wahrſcheinlich, läßt dieſe 
Meinung zu. Daß zuerft die allgemeinen Gejege, nach denen im 
Geelenleben der Menfchen und Thiere fich die innern Ereigniffe 
verfnipfen, andere in der Urzeit geweſen feien al® jet, ift eine 
für uns unglaubliche, für jeden unfruchtbare Bermuthung. Denn 
andere Gejete des Borftellungsverlaufs, wenn nicht Durch andere 
Duellen auch inhaltlicher Erfenntniß oder durch ungewöhnliche 
geiftige Regfanıkeit unterſtützt, würden entweder nicht zu neuen 
fonft unzugänglichen, oder nur zu befremdlichen und fonderbaren 
Entwidlungen, nicht zu denen geführt haben, aus welchen ohne 
wefentliche Unterbrechung unfere gejchichtliche Bildung ja doch 
erwachſen ift. Und bafjelbe würde gegen die andere Auslegung 
gelten, welche nicht die allgemeinen Geſetze des geiftigen Lebens, 
wohl aber die Stimmungen, die Neigungen, die Empfänglichkeit 
und die Strebungen der Seele, die ſich ihnen als die lebendigen 
Gegenftände der Anwendung unterordnen, einft anderd geartet 
und gemifcht dächte, als in dem Temperament der jeßtlebenden 
Menichheit. Gewiß Tann dieſe inhaltuolle Natur der Seele, 
deren Aeußerungen durch jene allgemeinen Gefege zwar formell 
beftimmt und in ihte Folgen entwidelt, aber nicht erzeugt wer⸗— 
den, in Berfchiedenen eine fehr verjchiedene fein; wer jedoch Die 
Eigenthümlichkeit des geiftigen Urzuftandes bis zur Aehnlichleit 
mit dem thieriſchen Inſtinct, bis zur Beſeſſenheit durdy dämo— 
niſche Gewalt, bis zur Dunkelheit des hellſehenden Traumwan— 
delns ſteigert, der vergißt, daß wir jenem Urzuſtande nicht wild⸗ 
fremde und ſonderbare Erſcheinungen, ſondern die Anfänge un- 


59 


ferer wohlbefannten Entwidlung abgewinnen wollen. Ohne des⸗ 
halb zu leugnen, daß die Gemüthswelt der Urzeit zu eigenthiimlich 
geweſen fei, als daß wir uns völlig in fie zuriidverfegen könnten, 
finden wir doch diefe Annahme, in mäßigen Grenzen gehalten, 
nicht bedeutend vortheilhaft, ausjchweifend gefteigert nicht einmal 
mehr tauglich zur Erflärung deſſen, was wir erflärt wünfchen. 

Ich muß daffelbe Bedenken gegen eine Anficht richten, die 
borzugäweis in dem religidfen Leben oder in der Gegenwart 
Gottes im gläubigen Bemußtfein den Mittelpunkt jenes urzeit- 
lien Gemüthszuftandes fucht. Allerdings ift veligiöfe Ueberein- 
flimmung eined der wejentlichften Bande, welche die Zufammen- 
gehörigkeit eines Volkes begründen, und je ſtärker ihr Gegenfag 
gegen anders denfende Umgebung war, um fo unnacdhgiebiger 
bat fie häufig auch das Volksthum in feiner Reinheit erhalten. 
Dennod wird die Behauptung nicht zu begründen fein, daß ohne 
fie alle übrigen natürlichen Beweggründe zur Gefelligfeit nur 
binreichen, allenfalls eine Horde, nicht ein Volk zu bilden. Die 
Sprache, zuerft eine gemeinjchaftliche für die ganze Urmenjchheit, 
wird Durch die Uebereinftimmung des Glaubens weder in ihrer 
Entjtehung überhaupt, noch in der Art ihres Baues begreiflich, 
und ebenjo dunkel bleibt, wie es hätte zugehen miüffen, wenn 
eine aus unbelannten Gründen entitandene Spaltung jenes 
Glaubens zu einer Sprachverwirrung hätte führen follen, in der 
alle Gegenftände des gemeinen Lebens, die außer jedem nahen 
Bezug zu dem religiöfen Gedankenkreiſe ftanden, neue und ab— 
weichende Benennung erhalten hätten. Man kann leicht im 
Allgemeinen erwiedern, Nichts fei fo vereinfamt und vereinzelt 
im menſchlichen Leben, daß es nicht den Einfluß des religiöfen 
Glaubens und feiner Eigenthlimlichkeit erführe. Begnügt man 
fi) jedody nicht mit dem formlofen Andachtichauer, den dieſer 
unbeftimmte Ausdrud eines richtigen Gedankens erwedt, fo fällt 
ins Auge, wie abgeftuft und an verfchievene Maße gebunden 
diefer Zufammenhang der menfchlihen Dinge mit den göttlichen 
it. Weder im Leben noch in der Wiſſenſchaft ift e8 für wahre 


60 


Keligiofität möglich nothiwendig oder wünſchenswerth, die pro- 
fane Welt, die des Naturverlaufs und der menjchlichen Freibeit, 
zu unmittelbar zum Schatten und Abbild des Himmelreich8 zu 
machen, und ihr die verhältnigmäßige Selbftändigfeit abzuleug- 
nen oder zu mißgönnen, mit der fie ihre Erzeugnijfe zunächſt aus 
einheimifcher Entwidlungsfraft herbortreibt. 


Noch eine Anficht haben wir zu berühren, die, ein Lieblings⸗ 
find unferer Zeit, die Vorftellung eines geheimnißvollen Beginns 
der menfchlihen Bildung doch ſchon dem Gedanken natürlicher 
Entwidlung annäbert. Nachdem die rationaliftifche Gewohnheit, 
jedes zufammengehörige Ganze diefer Bildung aus einer Anzahl 
Heiner Zufälle und Erfindungen aufzubauen, als äußerlid) me- 
chaniſches Gebahren in Ungunft verfallen war, iſt e8 üblich ge= 
worden, die Formen der Gefellichaft, die Geftaltung der Sitte, 
den Bau der Spracde, den Zufammenhang des religiöfen Slau- 
bens einer organifchen Entwidlung zuzufchreiben. Zwei Punkte 
treten hervor, wenn wir nach der Bedeutung fragen, die bier 
diefem Namen zulommen fann, für den, wenn am Ende der 
Dinge Rechenſchaft für jedes unnüß gebrauchte Wort zu geben 
ift, die Verantwortung lang fein wird. Zuerſt nämlich foll 
das, was organiſch entteht, der bemußten Erfindung und jener 
Freiheit der Entjcheidung entzogen, die uns überhaupt zufteht, 
mit Nothwendigkeit fi) aus der angebornen Natur unferd gei- 
ftigen Weſens entwideln. Anderjeit8 aber foll auch das, was 
zwifchen werfchtedenen Einzelnen fich al8 ein gemeinfam von ihnen 
beſeſſenes Gut der Bildung verwirklicht, nicht aus ihrer be— 
wußten oder nachweisbaren Wechſelwirkung, fondern unmittelbar 
als das Erzeugniß eines ihnen allen gemeimfchaftlichen Geiftes 
entipringen. 

Nun bdarf das Walten einer unbemupten Nothwendigkeit 
in uns keines Beweifes. Jede einzelne Empfindung zeugt davon, 
denn wir wählen nicht, mit welcher wir dem äußern Neiz ant- 
worten wollen; jedes Gefühl einer Harmonie oder Diffonanz ift 


61 


der unwillkürliche Ausdrud von etwas, das unverftanden und 
ohne unfer Zuthun in uns gejchieht; die abgebrochene Tonfolge 
einer Melodie reizt uns zum Hinzufuchen ihres Schluffes, nicht 
weil wir begreifen, warum er hinzukommen müſſe, ſondern meil 
mit unbegriffener Gewalt unfer Gemüth aus feiner unabgefchlof- 
fenen Bewegung binausftrebt; nicht ander8 mögen auch hei zu= 
fammengefegteren Vorgängen unbewußt bleibende Beweggründe 
unfer Streben mweden und ihm-mit ficherer unwillkürlicher Ge⸗ 
walt feine Richtung geben. Vielleicht gelingt einft der mwiffen- 
Ichaftlichen Unterfuhung die Aufhellung diefer dunklen Vorgänge; 
aber wie viel fie auch bier erreichen möchte, die Schwierigfeiten 
der menjchlichen Bildungsanfänge würden jelbft durch folches 
Gelingen nicht vermindert. Sie liegen gar nicht darin, daß in 
einer einzelnen Seele fic) ein zufammenhängendes Ganze geiftiges 
Lebens entwidelt, fondern darin, daß folde Entwidlungen, in 
verichiedenen Seelen gefchehend, zu der Geftaltung eines intel- 
lectuellen Gemeinbefiges zufammentreffen. Und bier täufcht man 
fi) offenbar, wenn man in dem Bilde organifcher Entftehung 
die Aufflärung fiebt. i 

Faſſen wir das Beifpiel der Sprache ind Auge. Jeden 
Einzelnen mag der unbewußte Drang feiner Natur nötbigen, 
durch beftimmte Laute feinen innern Zuftand auszudrücken; zum 
Wort der Sprache macht diefen Ausdrud erſt Verſtändniß umd 
Anerkennung des Hörerd. Nun mag Erregbarleit Gedankenbau 
und Borftellungsverlauf in den Genoſſen eines Stammes nod) jo 
gleichartig fein: niemals wird doch dieſe Hebereinftimmung fie 
mit mafchinenmäßiger Gleichförmigkeit zur-Wahl derfelben Laute 
für Ddiefelben Borftellungen und derfelben Beugungen zum Aus- 
druck derjelben Beziehungen veranlaffen. Denn der fprachliche 
Laut bildet unmittelbar nicht die Gegenftände, die für alle Die 
nämlichen, jondern ihre Eindrüde ab, die für Verſchiedene ver- 
ſchieden find. Ja felbft für den Einzelnen ift nad) dem Wechjel 
der Stimmungen der Eindrud des gleichen Reizes nicht in allen 
Augenbliden der nämliche und die entftehende Sprache wiirde bie 


62 


Gegenftände mit ſtets wechfelnden Namen begrüßen, wenn nicht 
der einmal gegebene fo feit in unferer Erinnerung mit der Sache 
verfhmölze, daß er fpäter, auch wenn wir fie bon einer ganz 
neuen Seite fennen lernen, gleihjam als einer ihrer beftändigften 
und wichtigſten Eigenfchaften uns wieder gegenwärtig wird. Ge⸗ 
wiß alfo, wie feierlich dunkel man ſich das Walten des orga= 
nifhen Sprachtriebes denken mag, gewiß ift es Doch immer ein 
einzelner Mund mit dünnen oder diden Lippen geweſen, der das 
Wort zuerft ausgefprochen hat. Nur ihm, der e8 gebildet hatte, 
gehörte e8 urfprünglich; zum Gemeingut warb ed nur, wenn 
Andere feine Bedeutung erriethen und es in demfelben Sinne 
wiederholten. Wie dies geſchah, erklärt im Allgemeinen Die 
Empfänglichleit, mit der auch wenig begabte Kinder ohne geflif- 
fentliches Lernen ſich des Sprachſtoffs bemächtigen und fidh in 
die Analogien der Wortbeugungen eingewöhnen. Aber im Be- 
jondern bietet- doch die erjte Entitehung der Sprache ungelöfte 
Schwierigkeiten. 

Hätten jehr viele Einzelne zugleich und mit gleichen An- 
ſprüchen auf Beachtung fi) bei ihrer Bildung betheiligt, fo wür- 
den fie für viele VBorftellungen fehr viele verjchtedene von einan= 
der ganz unabhängige Worte, und damit einen Weberfluß ge= 
Ihaffen haben, den nur die Nothwendigfeit der Verſtändigung 
fpäter wieder ermäßigt hätte. - In gewiſſem Grade ift Die viel- 
leicht wirklich gefchehen; aus dem wechfeljeitigen Aufgeben und | 
Anerkennen der von Verſchiedenen unabhängig gebildeten Worte 
fann der gemifchte Schag von Wurzeln ftammen, den wir in den 
Sprachen antreffen. Dieſelbe einfache Vorftellung fcheint ur— 
ſprünglich durch mehrere lautlich verjchievene Wurzeln bezeichnet, 
die fich erft jpäter, eben weil fie über das Bedürfniß binaus- 
gingen, in die einzelnen Schattirungen jener Borftellung theilten; 
zufammengehörigen Vorftellungsreihen entſprechen nicht ebenfo 
zufammenhängende Wortreiben, fo daß etwa die Namen der Far— 
ben unter einander ähnlicher wären, als den Bezeichnungen an= 
derer Sinnegeindrüde, oder Daß Die Benennungen der Bäume 


63 


\ 


etymologifch einander näher ftünden, als denen der Vögel. Die⸗ 
fer foftemlofe Unzufammenhang des Sprachſtoffs würde freilich 
Ihon daraus folgen, daß eben ſelbſt auf die jprachbildende Phan— 
tafie eines Einzigen die Gegenftände nicht nad) ihrer Aehnlid;- 
feit ähnlich, fondern nad fehr zufälligen und wechfelnden Be- 
dingungen verfchieden wirken. Der Urjprung der Sprade aus 
den zufammenfließenden Beiträgen Vieler mußte die Beranlafjun- 
gen zu dieſer Buntheit vermehren; fie würde bis zur Unmög- 
lichkeit der Berftändigung gewachlen fein, wenn, wie wir oben 
annahmen, die Anzahl der gleichherechtigten Worterfinder beträcht- 
lich geweſen wäre. 

Aber ohne Zweifel entſtand die Sprache nicht wie die Sta— 
tuten einer plötzlich zuſammentretenden Geſellſchaft, ſondern lang⸗ 
ſam innerhalb einer Familie, einer Familiengruppe, eines Stammes, 
und in der natürlichen Abfolge der Geſchlechter wurde der be— 
reits gebildete Wortſchatz mit derſelben Autorität wie andere 
überlieferte Lebenseinrichtungen fortgepflanzt. Der ſchöpferiſche 
Trieb erliſcht in allen Gebieten ſchnell, ſobald er einmal Muſter 
vorfindet, durch deren Nachahmung er ſeine Bedürfniſſe decken 
kann. Das einmal beſtehende Wort verhindert daher die Ent— 
ſtehung anderer für denſelben Inhalt; oder entſtanden ſie, ſo 
verſchwanden fie auch gleich den vielen eignen Wort rfindungen 
unferer Kinder, die fich verlieren, wenn ihr Gedr.afengang in 
Zufammenhang mit dem der Erwachſenen tritt. So blieb nur 
diejenige Mannigfaltigfeit zurüd, welche die erfolgte gegenjeitige 
Ausgleihung zwiſchen den Beiträgen der nicht zahlreichen unab= 
hängigen fpradybildenden Familien etwa übrig gelaffen hatte. 

Immer Time man jedoch auf diefem Wege nur bis zu 
einem allgemein gebrauchten Wortichag, nicht zu dem gramma— 
tiihen Bau der Sprache. Sehr viele verjchievene Grundſätze 
gibt es, verfchiedene Beziehungen durch Zufammenfegung, Ber- 
fhmelzung und Umlautung der Wurzeln zu bezeichnen, und jedes 
diefer Mittel läßt wieder lautlich unzählig verfchiedene Anwen- 
dungen zu. Die Entftehung eines folgerechten Sprachbaues wird 


64 


bet dieſer Fülle gegebener Möglichkeiten räthſelhaft. Ste ift ohne⸗ 
hin nicht glaublich als das Erzeugniß kurzer Zeit und weniger 
Menfchen; gibt man ihr aber längere Seit, jo wird nicht begreif- 
licher, wie in der Aufeinanderfolge verjchiedener Geſchlechter und 
unter einer ſchon beträchtlicheren Volksmenge gerade ein einziger 
unter vielen möglichen Grundriffen des Baues zu allgemeiner 
Anerkennung und Herrichaft gelangen konnte. Man follte ver- 
muthen, daß auf fo langem Wege gar viele verfchiedene Yorm= 
bildungsverfuche von Vielen gemacht worden jeien, die felbit durch 
die Ausgleihung des gegenfeitigen Anbequemens ſich doch ſchwer⸗ 
ih zu der Einheit eines folgerichtigen Sprachgebäuded würden 
verſchmolzen haben. Iſt aber diefe Folgerichtigkeit in dem gram- 
matifhen Bau der Sprachen wirklich ausnahmslos vorhanden 
oder zeigt vielleicht aud) er Spuren feines wiellöpfigen Urſprungs? 
Menden nicht die meiften Sprachen verjchievene Bauftile neben 
einander an, Umlautungen der Wurzel neben Anſätzen an Anfang 
und Ende? Finden fich nicht verjchtedene, nad Sinn und Werth 
gleichbedeutende Formen der Declination und Conjugation? 
Könnten nicht in diefer Formenfülle, die allerdings in jeder aus— 
gebildeten Sprache zulegt den untgeftaltenden Einfluß eines herr- 
{hend gewordenen Princips-erfahren hat, Trümmer urſprünglich 
verſchiedener Sprachbaue liegen? Iſt der Ueberfluß der Caſus, 
der Tempora und Modi wirklich einer unausfprechlichen Feinheit 
des urfprünglichen Sprachgefühls zuzufchreiben, das gleich An— 
fangs aus Einem Guß mit fuftematifcher Bollftändigfeit fiir den 
Ausdrud der zarteſten Gedankfenfchattirungen forgte, und können 
nicht auch hierin Refte urfprünglich verſchiedener Sprachbildungs- 
verjuche liegen, die, weil fie fich erhielten, erſt in Folge ihres 
überflüffigen Dafeins zur Bezeichnung jener Spaltungen des Ge- 
dankens benußt wurden? Neuere Fortichritte der Sprachforſchung 
machen mir nicht mehr fo zweifelhaft als e8 mir früher ſchien, 
daß mandhe dieſer Fragen zu bejahen und manches der angeführten 
Beilpiele wirklich triftig fein mag; indeſſen follen bier meine 
Aeußerungen doch nicht fowohl ihren eignen Inhalt behaupten, 


65 


als den Sinn deſſen verdeutlichen, mas wir fuchen, und was 
ein geübtes Auge unter andern Formen vielleicht wirklich fände. 

Gleichviel nun, wie ed fi in dem befondern Falle der 
Sprache verhalte: unfere allgemeine Behauptung wird doch in 
Kraft bleiben. Die Entſtehung jedes geiftigen Gemeinbefiges ſetzt 
einen Zeitraum voraus, in welchem durch wechſelſeitiges Aneig- 
nen Aufgeben und Anbequemen die von den Einzelnen aus der 
Nothmendigkeit ihrer Natur organiſch erzeugten Beiträge zu 
einem zufammenhängenden Ganzen verfchmelzen. Nur die ein- 
zelnen lebendigen Geifter find die wirkfamen Punkte im Lauf der 
Geſchichte; alles Allgemeine, das fich verwirklichen und zu einer 
Macht werden fol, muß erft in ihnen ſich zu individueller Res 
bendigfeit verdichten, und dann durch einen Hergang der Wech⸗ 
felwirkung zwiichen ihnen fich zu allgemeiner Anerfennung aus- 
breiten. Wie alltäglich ift dieſe Bemerfung! Und doch find wir 
Durch den unverftändigen Gebrauch jenes Geichniffes von orga= 
nifcher Entitehung beinahe fo weit gelommen, als dächten wir 
und im Beginn der Sprache die einzelnen Worte wie Schnee= 
floden aus der Atmofphäre eined allgemeinen Bewußtfeins auf 
die Häupter der Einzelnen fertig herabfallen, oder als könnten 
Kunftwerfe, volksthümliche Dichtungen, wie Wölfchen am Himmel 
entftehen und fi) durch formlofe Dünſte von felbft vergrößern. 


Aber- nit nur diefen Mechanismus der Wechfelwirkung 
fondern mit ihm auch alles Zufällige möchte jene organifche 
Geſchichtsbetrachtung aus den Schidfalen der Menſchheit ent- 
fernen, und es gehört zu ihren auserlefenen Leiſtungen, von 
den Ereignifien, freilich erft nachdem fie gejchehen find, zu be— 
weifen, daß fie nothmendig geſchehen mußten, und daß fie als 
folgerichtige Entwicklungen des Zeitgeiftes durch feine individuelle 
Willkür fi hätten aufhalten laſſen. Nun Tann gewiß feine 
individuelle Kraft fich zur Geltung in der Gefchichte bringen, wenn 
fie nicht verfteht, irgend eine der allgemeinen Zriebfedern zum 
Handeln und einige der Neigungen zum Leiden, welche die menfdy- 

Zope. III. 8. Aufl. 5 


66 


liche Natur einfchließt, fich dienftbar zu machen. Aber eben fo 
menig find Doch die Fraftvollen Menjchen, die erfinderijch oder mit 
hartnädiger Willensftetigfeit in den Gang der Gejchichte ent= 
ſcheidend eingegriffen haben, nur die Kinder und Ausdrücke ihrer 
Zeit gewejen. In den meiften Fällen hat jener allgemeine Geift 
der Menfchheit, deſſen organifche Entwidlung wir preifen, es 
nur bis zu dem Gefühl des vorhandenen Druds, der ſehnſüch⸗ 
tigen Stimmung und dem frommen Wunſche der Aenderung ge= 
bracht; er hat die Aufgaben gejtellt, deren Löfung ein Bedürf⸗ 
niß war; aber die Erfüllung diefer Wünſche und die bejondere 
Geſtalt der Erfüllung iſt das Berdienft und die That weniger 
Einzelnen. In andern Yällen ift nicht einmal das ohnmächtige 
Gefühl des Bedürfniſſes vorangegangen, fondern erft die gelun- 
genen geiftigen Beitrebungen Weniger haben ben trägen ver⸗— 
ftändnißlofen Widerftand der Maffe mühſam bezwungen und ihr 
neue Ziele ihrer Bewegung gegeben. Und endlich, mo wirklich 
die indivibuelle Kraft die Aufgaben der Zeit aufnahm, da find 
doch unter ihren Leiftungen vielleicht nur wenige geweſen, die 
genau erfüllten, was der Augenblid verlangte; die meiften fügen 
im Guten und Schlimmen Vieles höchſt wirkſam Kinzu, mas 
iiber das Bedürfniß hinaus oder ganz neben ihm feitab geht. 
In zahllojen Fällen ift die porauszufehende Entwidlung unter- 
drohen worden; die geſchickte Berechnung weitfehender Geiſter 
hat oft jelbft eine tief aufgeregte Flut der Stimmung ganz ihr 
urfprüngliches Ziel vergeffen Laflen, und fie lange Zeit künſt⸗ 
lichen Zwecken dienſtbar gemacht. Vorſtellungsweiſen, unter 
günſtigen Umſtänden von großen Talenten gelten gemacht, haben 
Jahrhunderte lang mit unglaublicher Zähigkeit dem Fortſchritte 
widerſtanden. Kunſtformen, ohne ewig geltende Berechtigung 
von erhabenen Geiſtern ausgebildet, haben im Widerſpruch mit 
dem inzwiſchen veränderten Gemüthsleben der Menſchheit ihre 
Herrſchaft fortbehauptet; felbft in der Wiflenfchaft fchleppen fich 
ererbte Irrthümer wie eine lange Krankheit fort. Was fo im 
der beobachtbaren Geſchichte zu Tage liegt, nehmen wir auch für 


67 


die Erflärung ihrer Anfänge in Anſpruch. Gewiß batte bie 
Menfchheit gleichartige Anlagen und Beblirfniffe, aber in der Be- 
friedigung diefer Triebe ift der Antheil Aller nicht gleich gewe⸗ 
fen; die Keime der Bildung find nicht, wie der Aufwuchs eines 
jungen Waldes, mit organischer Notbwendigleit und Regelmäßig- 
feit auf großen Flächen zugleich aufgefchoflen, fondern der irrende 
unfäbige unfchöpferifche Drang der. Gefammtheit hat durch Die 
glücklichen Griffe Einzelner feine erften deutlichen Ziele und feine 
erfien weiter führenden Befriedigungen erhalten. 

Diefer Einfluß der Perſönlichkeiten ift indeflen ohne Zwei⸗ 
fel verjchieden groß nach der Berfchiedenheit der Gebiete menſch⸗ 
licher Thätigleit, nach dem abweichenden Charakter der gefchicht- 
lichen Zeiten und nad der Mannigfaltigfeit der Bedingungen, 
die für die Wechſelwirkung der individuellen Kraft mit der Maſſe 
der Menjchheit beftehen. Die Abhängigkeit von der Natur for- 
dert am allgemeinjten den menihligen Scharffinn zur Erfindung 
auf, und die Gedanken, die hier das Nothwendigſte leiſten, entſprin⸗ 
gen aus fo einfachen Combinationen gewöhnlicher Erfahrungen, 
daß der elementare Haushalt, den wir bei den verſchiedenſten 
Völkern finden, Waffen Geräthe Geflecht und Schmud, leicht 
aus allgemeinem Inſtinct ohne befondere Erfindung durch Ein⸗ 
zelne begreiffich if. Aber alle feineren und höheren Hülfsmittel, 
welche folgenreicher zur Weberwältigung der Natur geführt haben, 
knüpfen fih an die Namen einzelner Entdeder; zwijchen feinen 
erften Anfängen und dem Zeitraum allgemein verbreiteter Bil- 
dung, dem wir und vielleicht nähern, hat das Leben auch in 
diefer Beziehung fein Zeitalter der Heroen. Und wie auf ans 
dern Gebieten, jo geht e8 auch bier allmählig vorüber. Wenn 


irgend ein Gedankenkreis, wie jet die Naturwiſſenſchaft, zu eis. 


nem Ausbildungsgrade gelangt ift, der ihm nicht nur unzählige 

thatfächliche Kenntniffe, fondern auch allgemeine Unterfuchungs- 

weifen und deutliche Hinmweifungen auf Gegenden gewährt, in 

denen die fung noch vorhandener Räthſel Liegen muß, da 

treibt der einmal in Bewegung gerathene Strom der Forſchung 
5*r. 


68 


rafch nad) ‚einander eine Menge nütlicher Erfindungen empor, 
Die dem allgemeinen Geifte zu entfpringen fcheinen, weil bie 
Menge der thätig gewordenen Individuen und die Lebhaftigkeit 
ihrer Wechſelwirkungen den befondern Antheil jedes Einzelnen 
zuräcktreten läßt. Die allgemeinen Gefeße ferner, die jegt un= 
fere Wiffenfchaft dem großen Güterverkehr zu Grunde legt, find 
in ihrer Anwendung auf die einfachften Berhältniffe des gemöhn- 
lichſten Gefichtökreifes jedem geläufig; die üblen Folgen des Zu— 
widerhandelns wirken fo überzeugend auf das Leben jedes Ein- 
zelnen zurüd, daß eine große Anzahl Heiner Berichtigungen des 
Berfahrens unmittelbar dem verunglüdten Verſuche folgen wird, 
und fo fcheint das ganze Syftem unferer Bebürfnißbefriedigung 
ſich ſelbſt fortichreitend zu verbeflern, aus eigner Kraft und ohne 
von bahnbrechenden Erfindungen Einzelner geleitet werden zu 
müffen. Gleichwohl werden jene Geſetze, wie alle einfachen 
Wahrheiten, undeutlich, wenn fie im fteigenden Berlehr auf eine 
Geſammtheit vieler vielleicht noch unbelannter oder auf unbe— 
Yannte Weife einander umgeftaltender Berhältniffe angewandt 
werden müffen. Ihre Gültigkeit und die Art ihrer Gültigkeit 
auch unter ſolchen Umftänden nachgemwiefen zu haben, ift unftrei- 
tig eine große That der Wiffenfchaft, und fie ift nicht ohne per= 
fünliche fchöpferifche Talente Einzelner zu Stande gekommen 
Auch die Einrichtungen des gefelligen und des politifchen Lebens- 
haben dieſe beiden Entwidlungsitufen durchlaufen. Die allge- 
meine Gleichartigkeit der menfchlihen Natur und ihrer Bedürf⸗ 
niffe führt ohne Zweifel zuerft mit unerfundener Nothwendigkeit 
zu Ordnungen des Verkehrs, die fi} überall ähnlich entwideln 
und in ähnlicher Reihenfolge einander ablöfen. Könnte jedoch 
die rein einheimifche Yortentwidlung einer Gejellihaft in der 
That dem organifchen Zuſammenwirken ihrer eigenen Einzelfräfte 
überlaffen bleiben, fo würde Doch die politifche Leitung derfelben 
unter nicht leicht überjehbaren äußeren Bedingungen und bie 
Wahl des rechten Weges im rechten Augenblide immer wieder 
der Weisheit oder dem Irrthum Einzelner anheimfallen. Daher 


69 


ftellt das Alterthum an den Anfang feiner politifchen Geſchich— 
ten überall die Namen einzelner Gejeggeber, nicht, um die erfte 
Gründung einer Ordnung, die fi) nothmwendig nur aus der 
Wechfelwirkung einer Gefammtheit entwideln konnte, wohl aber 
um die erfte feſte Zufammenfaffung derſelben und die Schlich- 
tung der Widerfprüche, in welche fie mit den Berbältnifien ge 
rathen war, bon der individuellen Kraft eines überlegenen Gei- 
jtes abzuleiten. Kaum brauchen wir endlich hinzuzufügen, daß 
zwar oft unflare Formen der Schwärmerei von dunflem Ur- 
ſprung, aber nie Religionen in der Geſchichte ohne perfünlichen 
Stifter erſcheinen; auch hier fällt die Erfüllung von Bebürfnif- 
fen, die unter ähnlichen Verhältniffen gleichartig in der gleich- 
artigen Maffe der Menfchheit entftehen, der gefammelten Kraft 
einzelner Geifter zu. 

Die Unberechenbarkeit, mit welcher wenigftens fiir menfch= 
liche Augen die individuellen Größen in unfer Leben treten, 
kann die Folgerichtigfeit aller gefchichtlihen Entwicklung zu be- 
drohen und fie in beftändiges Schwanfen nad, unzufammenhän= 
genden Richtungen aufzulöfen fcheinen. Jede perfünliche Kraft 
bedarf indeffen zu ihrer Wirkſamkeit die Empfänglichleit der 
Maffen ; der Mangel derfelben oder das Vorhandenjein entgegen- 
fteebender Stimmungen läßt weder alle nüglichen noch alle ſchäd— 
fihen, und weder die nüßlichen noch die ſchädlichen Wirkungen 
allein, die in der Tendenz eines hervorragenden Geiſtes Tiegen, 
zu Stande kommen, am wenigften natürlich die, die augenbfid- 
lichen Bedürfniffen widerfprechen oder ihnen fremd find. Je leb— 
bafter Die gegenfeitige Berührung in der Gefellihaft, je ent= 
widelter ihr Gedankenaustauſch ift, umd je ausgebehnter über 
größere Bölferzufammenhänge beide ftattfinden, um Jo mehr än- 
dern fid) die Bedingungen für den Einfluß der Perfünlichkeiten. 
Der Schauplag ihrer möglichen Wirkungen vergrößert ſich aller- 
dings, aber die wahrjcheinliche Größe ihrer Wirkfamkeit nimmt 
ab in Bezug auf Alles was nicht unmittelbare Fortſetzung oder 
Erfüllung ſchon vorhandener Anläufe und Bedürfniffe ft. ‘Denn 


mel... 


dem allen tritt die gefammelte Kraft einer öffentlichen Meinung 
und Stimmung entgegen, die alle möglichen Lebensverbältniffe 
bereit3 in Betracht gezogen und etwas über fie feftgeftellt hat, 
und bie ſich nicht leicht Durch die Willkür eines individuellen 
Eingriffs von diefen zahlreichen Wurzeln, auf denen fie rubt, zu 
ganz neuen Entwidlungen fortreißen läßt. So entiteht, indem 
zugleich mit der Vervielfältigung der leitenden Perfünlichkeiten 
auch fir den äußern Anblick der Gefchichte ihre Uebergewicht 
verſchwindet, eine Gefammtarbeit anregender und angeregter Ele- 
mente mit dem Anſchein eines organischen Wachsthums. 


Je mehr nun die ganz umberechenbaren Anregungen der 
freien perfünlichen Geiſter in dem Erfolge durch die entgegen 
ftrebende Unveränderlichfeit der immer gleichen menfchlihen Na— 
tur und die immer ähnlichen irdifchen Lebensverhältniſſe über- 
wogen werden, um fo mehr ift es gerechtfertigt, nach allgemeinen 
Geſetzen zu fragen, denen der gejchichtliche Kauf der Dinge un 
terliegt. Die Annahme ihres Vorhandenſeins ift nicht under- 
einbar mit dem Gedanken eines Planes, der die Geſchichte be- 
herrſche. Denn obwohl ein folder Plan eine Einheit der Ge- 
ſchichte vorausſetzt, Die jedes Glied der Reihe nur einmal und 
unvertaufchbar enthielte, fo wird doch die erwähnte Gleichheit 
des Trägers aller Gefchichte des menjchlichen Geſchlechts, und 
die Analogie der auf dafjelbe wirkenden Kräfte Aehnlichkeiten in 
dem Berlaufe der einzelnen Entwidlungsftufen bedingen, die ſich 
in dem Ganzen der Reihe nad) und nach auf höherem Niveau, 
und dadurch freilich eigenthümlich von einander verſchieden wieder⸗ 
holen. Der Verſuch indeffen, dieſe Aehnlichkeiten zu allgemeinen 
gefchichtlichen Geſetzen auszuprägen, leidet jehr an der Schwie- 
rigfeit, den umgeftaltenden Einfluß zu beitimmen, den die Eigen: 
thümlichkeit jedes Gliedes jener Reihe auf denjenigen Berlauf 
der von ihm umſchloſſenen Ereigniffe ausübt, welchen man nach 
der Anleitung anderer Beifpiele erwarten follte So fehr daher 
die Gefchichte als Lehrerin der Menfchheit gepriefen wird, fo fel- 


71 


ten benutzt die Menſchheit ihre Lehren. Jedes Zeitalter glaubt 
bie Eigenthümlichkeiten feiner Bedürfniſſe und feiner Lage als 
neue Bedingungen anfehen zu müffen, welche Die Anwendbarleit 
der allgemeinen Gefichtäpuntte aufheben, die man der Betrach⸗ 
tung früherer verdankt. Und in der That find manche geſchicht⸗ 
lichen Gefeße, von denen man gefprochen Bat, von fehr zweifel⸗ 
hafter Geltung, und faum von einer Zeit auf die andere übers 
tragbar. Sie find oft nur triftig, wenn man alle die Bedin⸗ 
gungen der Einzelfälle, von denen man fie abfteahirt hat, wieder 
binzudenft; und dann Hören fie eben auf, Geſetze zu fein, und 
werden wieber Erzählungen deſſen, was unter beftimmten Um= 
ftänden gejchehen ift, und unter fcheinbar ähnlichen Umftänden 
durchaus nicht wieder mit Sicherheit ähnlich zu erwarten ifl. 
Diefe Ungenauigfeit kommt überall da zum Borfchein, wo man 
ohne auf die einzelnen bewirkenden Elemente eines zufammengen 
ſetzten Ereigniffes zurückgehen zu können, nur aus der Berglei= 
dung der Erfahrungen im Großen die Endformen zu ermitteln 
fucht, welche der Berlauf der Ereigniffe annehmen werde; fie 
wirbe bier nur auf demſelben Wege, wie liberal, zu vermeiden 
fein. Eine Mechanik ver Gefellfchaft thäte uns Noth, welche die 
Pfychologie über Die Grenzen des Individuum erweiterte und 
den Gang die Beringungen und die Erfolge der Wechſelwir⸗ 
tungen Tennen lehrte, die zwifchen den innern Zuftänden vieler 
durch natürliche und gefellige Berhältniffe verfnüpfter Einzelnen 
fattfinden müſſen. Wir würden durch fie zuerft nicht anfchaus= 
liche Bilder von dem Ausſehn einzelner gejchichtlichen Ent» 
wicklungsſtufen und ihrer Reihenfolge, ſondern Regeln erhalten, 
die au& den Bedingungen der Gegenwart die Zulunft berechnen 
lehrten; oder richtiger: nicht aus der Gegenwart die Zukunft, 
jondern aus der früheren Bergangenheit die fpätere. Denn aud) 
in der Entwerfung von Idealen ift es befler, fid) nicht maßlos 
zu überheben: auch jene Mechanik werden wir nie bis zur Be- 
herrſchung der Zufunft vervolllommnen; genug, wenn fie ung 
den Zuſammenhang des Geſchehenen erklärt, wenn es gefchehn 


72 


ift, und wenn fie für diefe Zukunft Wahrjcheinlichkeiten aufftellt, 
denen gemäß zu handeln vernünftiger ift als die Wahl jedes 
andern Weges. 

Es ift num natürlih, Daß man durch folche allgemeine 
Geſetze zunächit Heine Zeiträume zu beherrſchen fucht, innerhalb 
deren- die ganze Summe der Bedingungen, von denen der Lauf 
der Ereignifie abhängt, und welche wir nicht erſchöpfend zer- 
gliedern können, wenigſtens ald ein nahezu gleichbleibenvdes Un⸗ 
befannte ſich anfehen läßt. Und bier glaubt man gefunden zu 
haben, daß nur, wo unfer Blid an kleiner engbegrenzter Umge- 
bung bafte, diefe und den Schein der Freiheit und Unbeſtimmt⸗ 
heit gewähre; faſſe man dagegen die Ereigniffe nad) großen 
Zahlen und weiten Ueberfichten zufammen, fo finde man, daß 
nicht nur das leibliche Leben der Menſchheit fi in Geburt 
und Tod, in dem. Zahlenverhältnig beider Gejchlechter, in ber 
Zunahme der Bevöllerung mit Tängft gelannter Regelmüßigkeit 
bewege, fondern daß auch das geiftige Dafein bis auf Anzahl 
und Art der in gleichen Zeitabfchnitten verübten Verbrechen in 
feinen Yeußerungen durch allgemeine Gejege beftimmt_fei. Nicht 
durch unveränderliche Gefeße allerbings; denn ebenfo wie fich 
langfam jenes große Ganze der unbelannten Bedingungen ändere, 
unter denen die Ereigniffe ftehen, ändere fich au von Zeit zu 
Zeit die Formel, nad) der fie verlaufen Nichts würde indeſſen 
hindern, auch diefe Aenderungen der Gefehe einer anderen um= 
faffenderen Formel unterworfen zu denken, da ja jened Ganze 
von Bedingungen, von dem fie abhängen, fi falt nur durch 
die Nachwirkungen der felbt gefetlich verlaufenden gefelligen Zu⸗ 
ftände der Dienfchen ändert. Hat man einmal nad) der Methode 
der großen Zahlen das Lebensjahr beftimmt, in welchem durch⸗ 
fohnittlih der große Dichter fein größtes Werl bervorbringt, fo 
könnte man nidht nur zu ermitteln fuchen, wie viel herporragende 
Geifter jeder Art, in ganzen Zahlen oder in Decimalbrücden, auf 
jedes Jahrhundert fallen, fondern auch, wie in Jahrtauſenden fich 
dieſes Berhältnig geſetzlich ändere. Man kann fi, leicht denken, 


13 


wie auf diefem Wege allerhand Formeln für die Beichleunigung, 
die Breite Tiefe und Farbe des hiſtoriſchen Fortſchrittſtromes zu 
gewinnen find, die auf Einzelheiten angewandt zwar ganz unge- 
nau fein würden, aber Doc, den Anfpruch machen Könnten, das 
wahre Gejeg der von ftörenden Einzeleinflüffen gereinigten Ge⸗ 
ſchichte auszudrücken. 

Mit dieſer Betrachtungsweiſe würde von allen Anſichten, 
welche die Freiheit in der geſchichtlichen Entwicklung aufheben, 
eine der ſchlimmſten ſehr nahe zuſammenhängen. Die Verehrung 
der Formen anſtatt des Inhalts, der ſie rechtfertigt, einer der 
böſeſten Irrthümer unſerer Gedanken, kbnnte keine widerſinnigere 
Steigerung erfahren, als wenn wir ſchließlich damit endeten, die 
Verwirklichung ſtatiſtiſcher Verhältniffe für den Zweck und die 
belebende Idee der Gefchichte zu halten. Wer mit dem orien⸗ 
talifchen Pantheismus in dem Weltlauf einen ewigen Wechſel 
bes Entſtehens und Vergehens nicht blos thatſächlich zu finden, 
fondern diefe Form des Geſchehens zugleich als den tiefften Sinn 
und das wahre Geheimniß der Wirklichkeit anfehn zu dürfen 
glaubt, der kann menigftens mit verivorrener Gefühlsichwärmerei 
fi) in die erhabene und grauenvolle Luſt verfenten, mit welcher 
der Gedanke eines folchen Stromes der Begebenheiten uns er= 
faßt. Wer fonft in anderer Weife in der Gefchichte nur das 
Walten einer eifernen Nothwendigkeit zu fpitren glaubt, hält diefe 
doc für eine finnvplle; er fucht fie in irgend einer Art von 
Gerechtigkeit, mit welcher der Inhalt und die Natur eine Zu⸗ 
ftandes, weil er diefer ift, den Inhalt und die Natur nur 
diefer nachfolgenden Wirkung geftattet und fordert. Einer fol- 
hen Berfnüpfung der Dinge, die in den Beweggründen ihres 
Berfnüpfensd wenigſtens vernünftig ift, mag das Gemüth feine 
eigne Freiheit, wenn fie feinen Platz in ihr findet, aufopfern. 
Unerhört dagegen würde die Verkehrtheit fein, in der Herftellung 
regelmäßiger Zahlenverbältniffe, oder darin, daß die Ereigniſſe 
nach folchen verlaufen, die letzten leitenden Geſichtspunkte des 
Weltlaufs zu fehen. Dennoch ftreite ich bier wohl nicht ganz 


74 


gegen Rebelbilder, und meine Furcht tft kaum ohne Grund, daß 
auch dieſer Verſuch, und nur noch an Gejpenfter glauben zu 
Laflen, gemacht werden dürfte. Denn nicht felten begegwen wir 
fhon dem Beginne diefes Mißverſtändniſſes. Mean weiß fih et- 
was damit, und man fühlt einigermaßen den Andachtsſchauder, 
der die Entdedung eines Ießten Geheimnifjes begleiten mag, wenn 
man forgfältigen Unterfuchungen, deren Werth wir nicht jchmä- 
lern, nachſprechen kann, daß das Budget der jährlichen Berbre- 
hen mit größerer Regelmüßigfeit als das der politischen Abgaben 
von der Menfchheit bezahlt werde. Man glaubt offenbar, damit 
nicht nur eine Thatfache, die ein Ergebniß umbelannter Bedin⸗ 
gungen ift und mit diefen fich ändern würde, fondern ein Grund- 
geſetz ausgejprochen zu haben, welches mit geheimnigvoller Macht 
Die Mittel zu feiner Berwirflihung immer zu finden und ſich 
gegen jeden Widerſtand unglünftiger Bedingungen durchzuſetzen 
verſtehe. 

Als lehrmäßige Behauptung über die Bedeutung der Ge- 
ſchichte wird allerdings dieſe Mißanſicht kaum geäußert merden; 
aber unter der Hand ftört fie als eine Berirrung der Gedanken 
die richtige Beurtheilung dennoch, und um fo leichter, weil fie 
nicht in Bezug auf alle Ereignifkreife gleich ſehr im Unrecht ift. 
Denn unter den Erſcheinungen des menſchlichen Lebens, die fo 
regelmäßige Verhältniffe ihrer Wiederkehr zeigen, darf man ei- 
nige allerding8 als untergeoronete Zwede der Weltordnung oder 
als Mittel zur Verwirklichung höherer betrachten, und von ihnen 
wird in gewifler Ausdehnung gelten, mas wir eben im Allge- 
meinen beftritten. Die meiften jedoch wird man der hinderlichen 
Keibung vergleichen können, die nicht zu ber beabfichtigten Lei— 
fung einer Mafchine gehört, die aber doch, fo lange diefe Lei— 
fung nur durch mechanisch wirkende Mittel zu erreichen tft, ſtets 
zu der Größe berfelben in irgend einer gejegmäßigen Beziehung 
ſteht. Wie wenig indeffen auch diefe Unterfcheidung die vor= 
handenen Schwierigfeiten entfernt, verdient etwas näher ins Auge 
gefaßt zu werben. 


75 


Das Gleichgewicht der Anzahlen beider Geſchlechter darf 
man gewiß zu jenen Natureinrichtungen rechnen, in denen man 
beabfichtigte Mittel zu den Höheren Zwecken des Lebens ficht. 
Aber wie fhon die Urfachen unbelannt find, welche im einzelnen 
Falle Das Gefchlecht des Kindes beftimmen, To noch viel mehr 
die Umftände, welche diefe in den verſchiedenen Fällen zu ver- 
fchiedenen Folgen führenden Urfachen zur Erreichung jenes beftän- 
digen Gefammtergebnifjes abpaffen. ‘Die Iogifche Regel, welche 
uns verſchiedenen Möglichkeiten da, wo kein fachlicher Grund für 
die liberwiegende Verwirklichung der einen vorliegt, gleiche Häu- 
figfeit ihrer Tünftigen Realiſtrung zufchreiben heißt, ift allerdings 
file und die nothwendige fubjective Marime, nad) welcher wir für . 
Zwecke des Handelns unfer Zutrauen zu dem wahrjcheinlichen 
fünftigen Eintreten jener Fälle abmeſſen müſſen; aber fie ent- 
hält feinen Schatten von Aufllärung über den Mechanismus ber 
Bedingungen, durch welchen ein Gleichgewicht in der Häufigfeit 
zweier Yülle da, wo es ftattfindet, wirklich bergeftellt.wird. Auch 
unfere allgemeine Borausfegung, welche die Möglichleit aller 
Wechſelwirkungen überhaupt auf eine wmefentliche innere Ver— 
knüpfung alles Seienden gründet, hilft uns nit. Sie bietet 
und zwar einen allgemeinen formalen Grund zur Erwartung, 
daß jeder in einem Theile der Welt entitehende Zuftand feine 
geſetzliche Rückwirkung auf alle andern Theile derfelben haben 
werde; aber eben, weil ſo jchlieglich Alles in der Welt zufam- 
menhängt, erhalten wir dadurch Feine Aufklärung über die be= 
fonbern bevorzugten Zufammenhänge, die zwifchen einzelnen Thei⸗ 
Ien der Welt enger und wirkſamer als zwiſchen andern ftattfin= 
den, und auf deren Borhandenfein jedes einzelne beftimmte Ge⸗ 
Ichehen beruhen muß. &8 bleibt daher ganz dunkel, durch welche 
beftimmten Einrichtungen Die Menfchheit ein folches in ſich ab⸗ 
gefchlofiene Ganze bildet, daß bei übrigens fo großer Ungleichheit 
der äußern Lebensbedingungen und bei jo völligem Mangel eines 
angebbaren Weges der dazu nöthigen Wechſelwirkungen das zu- 
fällig hier entftandene Uebergewicht des einen Geſchlechts dort 


76 


fein verbeſſerndes Gegengewicht in einer gleichzeitigen oder nadı= 
folgenden Vermehrung des andern hervorrufen könnte. Und doch 
beftebt nicht blo8 die Thatjache, fondern wir find ohne Smeifel 
berechtigt, in ihr, wenn in irgend einer, einen Naturzwed zu 
feben, für deſſen Erfüllung e8 an vorbereiteten Mitteln nicht 
fehlen wird, 

Die Ereigniffe des geiftigen Lebens der Gefellichaft find noch 
dunkler. Auf eine beftimmte Anzahl von Handlungen einer be- 
ſtimmten Art in nächſter Zeit glaubt man allerdings in der beob- 
achteten Anzahl derfelben in einem eben verfloffenen gleichen Zeit- 
raume nur deswegen jchließen zu dürfen, weil die Geſammtſumme 
natürlicher und focialer Bedingungen, von der fie im letzteren ab= 
hingen, ſich nur langfam, für kurze Zeiträume gar nicht merklich zu 
ändern pflegt. Wo diefe Aenderung dennoch ſtoßweiße erfolgt, er= 
wartet man auch fein Zutreffen der nach dem Maßftab der Bergan- 
genen gemachten Vorberechnung. Aber dieſe Borficht hebt nicht alle 
Schwierigkeit. Auch jene gemäßigte VBorausfage wäre nur dann 
ganz gerechtfertigt, wenn wir jene Summe unbelannter Bedingun⸗ 
gen als eine Druckkraft betrachten künnten, der an ſich in beftimmter 
Zeit ein beftimmter Erfolg entſpräche; die ferner, weil der Geſammt⸗ 
widerftand, den fie fände, immer im gleichen Verhältniß zu ihrer 
eigenen Größe ftände, in jeder Zeiteinheit auch einen und denfelben 
Bruchtheil ihrer Wirkſamkeit auszuüben fähig wäre; Die dann von 
diefer Fähigkeit auch ftet8 wirflichen Gebrauch machen könnte, indem 
fie wie die Druckkraft einer gefpannten Flüſſigkeit immer die nicht 
widerftehenden Punkte fuchte und fände, wo fie auch liegen müch- 
ten; und von der endlich durch jeden Theil ihres Erfolgs, den fie 
bereit8 erzeugt hätte, ein entfprechender Theil ihrer Wirfungsfähig- 
feit zum Erlöfchen gebracht wird. Wie Vieles von diefen Bedingun⸗ 
gen ift num in unferem Fall gegeben? 

Nehmen wir als Beifpiel die Verbrechen gegen das Eigenthunt. 
Die Uebelſtände der gefelligen Gütervertheilung find eine wirkſame 
Kraft nur, fo weit ihr Drud empfunden wird. Gehen wir alſo 
nit von der Armuth, fondern fogleich von dem Gefühl des 


8 77 

Mangels aus, Fönnen wir dann von diefer wirkenden Kraft behaup- 
ten, es entſpreche ihr. als natürliche Wirkung eine'gewifle Anzahl 
von Entwendungen, ohne Rückſicht darauf, wie bedeutend der durch 
fie gemachte unredlihe Gefammtgewinn fei? Begegnete ferner bei 
einem gewiſſen Stande der Bildung diefer Kraft immer ein gleicher 
MWiderftand, woher wiirde zu erflären fein, daß fie zur Ausübung 
ftet8 diefelbe Anzahl günftiger Gelegenheiten fände, und daß diefe 
wieder ftet8 den widerſtandsunfähigen Gefinnungen fich darböten? 
Nähmen wir dagegen an, Daß der Gelegenheiten ſtets ſehr viel mehr 
vorkommen als benutzt werden, und Daß jene Gefinnungen nicht min⸗ 
der überflüſſig häufig feten, fo ift um fo weniger begreiflich, wie 
durch irgend eine Anzahl bereits begangner Verbrechen die Anzahl 
der noch begehbaren bis zur Erzielung einer beftimmten Geſammt⸗ 
fumme eingefchräntt werden fünne. Der fachliche Zufammenhang 
alfo, durch welchen die ftehenden Zahlen ſolcher Handlungen ver- 
mittelt' werden, ift und durchaus unbefannt. 

Gleich wenig ftellen manche Berfuche zufrieden, die Gultigkeit 
ſolcher Geſetze mit der Freiheit des perſönlichen Willens zu verei⸗ 
nigen. Betrachtet man, wie es wohl geſchehen iſt, die Verübung 
einer beſtimmten Anzahl ‚von Verbrechen als eine auf der Geſell⸗ 
ichaft Taftende unvermeidliche Nothiwendigfeit, fo hilft der Zuſatz 
gar nichts, daß diefe Nothwendigkeit nur die Handlungen fordere, 
aber nicht die Thäter vorausbeftimme. Wenn die menjchliche Frei= 
heit doch die Gefammtzahl der Thaten nicht abmwälzen Tann, fo 
find Durch jene Unbeftimmtheit nicht die Einzelnen frei gelaflen, 
fondern e8 bleibt nur noch fraglich, weſſen Unfreiheit im nächſten 
Augenblid benugt werden wird. Wenn ein Infect, bat man gejagt, 
irgendivo über den mit Kreide bezeichneten Umfang eines Kreijes 
kröche, jo würde e8 um ſich herum nur regellos zerftreute Kreide- 
punkte jehen, die fich doch für ein Auge, das fie aus der Ferne zu= 
fammenfaßt, in jene gefelich beftimmte Ordnung gruppiren. Wären 
biefe Buntte befeelte Wefen, fo könnte man fich vorftellen, daß fie 
im Kleinen einen binlänglichen Spielraum befüßen, ihre Stellung 
mit Freiheit zu wählen, während fie im Großen zur Verwirklichung 


718 


‚eines vorberbeftimmten Umriffes beitragen müffen. Wir antiworten: 
wenn eime gefegliche Ordnung vieler Elemente beiteht (weil man 
ja den Kreis gezogen hat), fo iſt freilich leicht begreiflich, daß 
diefe Ordnung doch nur von einzelnen Standpunkten ganz überſeh⸗ 
bar tft. Aber die Unoronung der Elemente, von andern Stand⸗ 
punkten aus gefehen, ift keine Freiheit derfelben. Alle jene Kreide⸗ 
punkte find in derjenigen Beziehung, die für die Geftalt des Ganzen 
von Bedeutung ift, vollitändig determinirt; fie Tiegen alle in einer 
ringförmigen ſchmalen Zone, die durch einen äußern und einen in= 
nern breitenlofen Kreisumfang eingefchlofien ift. Wie fie innerhalb 
diefer Zone gruppirt find, ift wenigftens in gewiſſen Grenzen fir 
die Geſtalt des Ganzen gleichgültig, und gerade in diefer gleichgül⸗ 
tigen Beziehung find fie auch unbeftimmt. Wären fie nun lebendige 
Weſen, fo lehrte dies Gleichniß nur die einfache Wahrheit, daß fie 
Freiheit für ihre Handlungen in denjenigen Richtungen haben, über 
welche fein allgemeines Geſetz etwas beftimmt; verlangt Daher das 
Geſetz etiwa von einer Geſellſchaft eine gewiſſe Anzahl Diebftähle, jo 
find die Thäter nicht in Bezug auf ihren Diebifchen Entichluß, ſon⸗ 
dern darin etwa frei, ob fie zu Pferde oder zu Fuß ftehlen wollen. 

Das Mißbehagen, mit welchem wir von Geſetzen des geiftigen 
Lebens hören, während wir das leibliche unbedenklich den jeinigen 
unterordnen, beruht darauf, daß wir theils zu viel von ber Freiheit 
unfers Willens verlangen, theils und zu fehr von jenen Geſetzen 
imponiren laſſen. Finden wir uns nicht gerade in Den ausgeſproch⸗ 
nen Streit zwifchen Freiheit und Nothwendigkeit verflochten, fo ha⸗ 
ben wir gar kein Arg daran, die Handlungen der Menfchen durch 
die Umftände beftimmt zu denken; ja alle Hoffnung der Erziehung 
und alle Arbeit der Geſchichte gründet ſich auf die Ueberzeugung 
von der Lenkbarkeit des Willens durd) das Wachsthum der Einficht, 
durch die Beredlung der Gefühle und die Verbefferung der äußern 

Lebensbedingungen. Bon der andern Seite würde die Betrachtung 
der Freiheit felbft uns lehren, daß ihr Begriff wiberfinnig wird, 
wenn er nicht die Empfänglichkeit für den Werth von Beweggrüns 
den einjchließt, und daß eben jo wenig diereiheit des Wollens die 


719 


unbedingte Fähigkeit des Bollbringens bedeuten kann, weder des 
Bollbringens im Kampf gegen die Widerſtände der Außenwelt, noch 
des anderen innerlichen Vollbringens, durch welches der Wille die 
entgegenſtrebenden Regungen der eignen Leidenſchaften unterdrückt. 
Nicht nur die möglichen Ziele der Abſichten, nicht nur die Vorſtel⸗ 
lung der Mittel zu ihrer Erreichung wird daher dem Gemüthe durch 
eine Menge in der Bildung des Einzelnen und der Geſellſchaft Tie- 
gender Anregungen an die Hand gegeben, jondern auch die wirkſam 
werdende Stärke des freien Willens, mit welcher er fich der Beſtim⸗ 
mung durch leidenjchaftliche Antriebe entzieht, ift abhängig von der 
Gefammtbildung der Geſellſchaft. Es würde daher allerdings Fein 
unlösbarer Widerfpruch zwilchen der Annahme einer Freiheit des 
Wollens und zwifchen der andern ftattfinden, daß die Summe der 
einwirkenden Bedingungen, die in dem jedesmaligen Zuſtande der 
Sefellichaft liegen, jenes freie Vollbringen in gewiſſem Maße hemme 
und eine nahezu gleichbleibende Größe bloßer Trieberfüllung her⸗ 
vorbringe. 

Ganz unglaublich würde trotzdem bleiben, daß der Kampf des 
Willens und des ſittlichen Bewußtſeins gegen alle dieſe hemmenden 
Elemente ſeinem Ergebniß nach ſo genau vorherbeſtimmt ſein ſollte 
wie es jene ſtatiſtiſchen Geſetze meinen. Denn in der That meſſen 
dieſe ja gar nicht das, dem man eine ſolche Vorherbeſtimmtheit zu⸗ 
trauen könnte. Entſprungen z.B. aus der Zuſammenſtellung ber 
abgeurtbeilten Verbrechen jeen fie voraus, daß die Summe der 
befannt werdenden Bergehen in einem unveränderlichen Verhält⸗ 
niß zu der Gefammtanzahl der begangenen ftehe; und fchon für 
diefe Annahme ift Fein irgenbiwie triftiger Beweis möglich; 
wenn fie aber in Bezug auf menjchliche Freiheit etwas bemeijen 
wollten, müßten fie noch überdies zeigen können, daß auch Die 
Anzahl der begangnen in eben fo bejtindigem Verhältniß zu der 
der gewollten verbliteten oder fehlgefchlagenen, ja überhaupt zu 
der ganzen Menge der im Innern der Gemüther aufgetauchten 
mehr oder weniger ernftlichen Verſuchungen ſtehe. Sie leiſten 
nicht blos dies nicht, fondern indem fie etwa Morde und Töd- 


80 


tungen nach Hunderten aufzählen, faffen fie unter diefen Klaffen- 
bezeichnungen Fälle von dem allerverfchiedenften fittlichen Werthe 
zufammen, deren bloße Anzahl ja gar feinen Maßitab für die 
Duantität des Böfen giebt, welches nad) irgend einer Richtung 
bin von einer beftimmten Gefellichaft in beftimmter Zeit erzeugt 
wird. Nur von diefer Quantität aber wäre annehmbar, daß 
fie al8 eine vom Leben und Fortſchritt der Geſellſchaft umzertrenn= 
liche Reibung nad) einem beftimmten Gefeße von der Bewegungs- 
größe diefer Gejellichaft abhinge; gar nicht dagegen wiirde dies 
von der bloßen Anzahl der Fälle gelten, in denen diefer ſchädliche 
Nebeneffect eine unter gewiſſe Begriffe von Verbrechen begreif- 
bare Form annimmt. Beftätigte daher die erneute Prüfung der 
Erfahrungen dennody auch diefe Zahlenbeitändigkeit, fo würden 
wir in ihr eine Thatſache zuzugefiehen haben, von der wir weder 
die Weife ihrer Bewirkung, noch ihren vernünftigen Sinn be= 
greifen; für ein Geſetz der Gejchhichte in dem Sinne einer Voraus⸗ 
beftimmung deſſen, was fein fol, würden wir fie niemals halten. 
Aber eben jene erneute Prüfung, an der es in legter Zeit nicht 
gefehlt, überzengt uns von der großen Voreiligkeit, mit welcher 
aus unzuverläffig geführten Berechnungen dieſer ftatiftiiche Mythus 
entitanden ift, an deffen Stelle wir von genaueren Unter- 
ſuchungen erft das wirkliche Material fiir gründlichere Ueber⸗ 
fegungen zu erwarten haben. 


Beſchränkten Zeiträumen galten -die bisher erwähnten Unter- 
ſuchungen. Die Aufeinanderfolge der größeren, geſchichtlich ver⸗ 
ſchieden ausgeprägten Perioden hat nicht minder beftimmte Geſetze 
zu verrathen gejchienen, über Die ich [hier kürzer hinweggehen kann. 
Sie find von Intereffe nur, ſoweit fie ſich auf die einzelnen Rich⸗ 
tungen des menſchlichen Lebens beziehen, deren wir fpäter Ju geden⸗ 
fen haben; je allgemeiner fie den Fortſchritt der Menfchheit zuſam⸗ 
menfafjen wollen, um fo weniger wirkliche Erklärung pflegen fie zu 
enthalten. So ſpricht man wohl von einem Gefete der Stetigfeit 


81 


in der Entwidlung, einem zweiten des Gegenfates in ihr; Andre 
zogen die Dreiheit von Theſis Antithefis Synthefis vor. Es dürfte 
Har fein, daß dies Alles nicht ſolche Formen des Verlaufs find, 
welche die Begebenheiten inne zu haltenfic, anftrengen müßten, als 
läge in ihnen felbit etwas, deſſen Verwirklichung der Mühe werth 
wäre. Sie find vielmehr, fo weit fie überhaupt find, Endformen, 
welche der Fortgang der gefelligen Wechjelwirkungen aus Gründen 
annimmt, denen man nachzuforſchen hat. Macht man hierzu den 
Verſuch, fo wird man den Sinn jener Gefeße theils fehr unbedeu⸗ 
tend, theild nicht von beweisbarer Allgemeingültigfeit finden. So 
diirfte ſich kaum die Mühe lohnen, mit dem Namen eines Geſetzes 
der Stetigfeit die ſehr einfache Beobachtung zu fchmiüden, daß die 
Bildung eines fpäteren Zeitalterd eine Weiterentwiclung der An- 
triebe zu fein pflegt, die e8 von feinem vorangehenden erhalten hat; 
nüglich mag es höchſtens fein, die einſchränkende Bedingung kurz zu 
betonen, die darin liegt, daß der Fortentwidlung eben die wirkliche 
Üeberlieferung des bereit8 Borhandenen vorangehen muß. Denn 
der gefchichtliche Fortfchritt ift nicht, wozu man zuweilen wohl 
Luft hat, einem Miasma zu vergleichen, das in der Luft läge 
und die Menfchheit unverjehens ergriffe, entweder gleichzeitig 
die ganze, oder abwechfelnd einzelne Theile; er hat ſtets nur 
innerhalb des engeren Völkerkreiſes ftattgefunden, in welchem gün⸗ 
ftige Umftände die geregelte Fortpflanzung erworbener Bildung 
und der auf Abhülfe bleibender Bebitrfniffe gerichteten Strebungen 
geftatteten, und nur fo weit hat er fich in die Breite aus— 
gedehnt, als vie geographiichen Bedingungen, die Wegfamteit der 
Länder, die Leichtigleit des Verkehrs, die Dichtigleit der Bevöl⸗ 
ferungen, vielfache Berührungen der Menfchen in Krieg oder 
Frieden veranlaßten. 

Das Gefeß des Gegenfages, das man zumeilen ganz harm= 
[08 zugleich mit dem vorigen gelten läßt, ohne Grenzen für die 
ftreitenden Anſprüche beider zu ziehen, ift nicht minder einfach. 
Es hat überhaupt nur da Geltung, wo einfache Lebensformen, 


die an ſich eine endloſe Gleichförmigkleit des nr geſtatten, 
Lotze, III. 8. Aufl. 


32 


auf irgend eine Weile geitört und das Gemüth der Menfchen im 
die Aufregung der Sehnfucht nach neuen Befriedigungen gerathen 
iſt. Damm erzeugt ihre erfinderifche Kraft eigenthümliche BiL- 
dungäformen, die den augenblidlichen Bedürfnifſen des Volke 
und der Sinnesart der Zeit entfprechen, ohne gleihmäßig allen 
Anforderimgen der menfchlichen Natur gemug zu thun. Je länger 
und reicher eine jo charafteriftiiche Bildung alles angeregt be- 
friedigt und erfhöpft hat, was an Empfänglichkeit fir fie m 
den Gemüthern vorhanden war, und je umfaffender fie alle 
äußern Berhältniffe der Gefellichaft und alle ihre Lebensgemohn- 
beiten in ihrem Sinne ausgeprägt hat, um fo empfindlicher 
fangen ihre Eimjeitigkeiten zu drücken an, und um fo Iebhafter, 
jeßt ihrerſeits zu unbilligem Webergewicht ftrebend, treten Die 
andern durch fie zurückgedrängten, no unabgenutzten Anfprliche 
des Geiftes hervor, und verfuchen eine entgegengejegte Lebens- 
geitaltung zu erzwingen. Die Gliederung einer Inngbeitandenen 
Cultur 'iſt jedoch ein zu weitverzweigtes und vielbewurzeltes 
Ganze, als daß in Bezug auf die Gefanuntheit des Lebens neu 
auflommende Tendenzen e8 ilberwinden und ihm leicht ein neues 
in ſich zuſammenhängendes Ganze anderer Weltauffaffung ent- 
gegenftellen könnten. Am häufigſten it ihre Einwirkung eine 
nur auflöfende und zerfegende; erft nach längerer Zwiſchenzeit 
gelingt eine neue Feſtfetzung, die nun nicht immer der Gegenjah 
der vorigen if, weil die Zeit inzwilchen die weitertreibenden 
Widerſprüche abgeftumpft bat. Deutlicher ift in Bezug auf ein» 
zelne Lebenskreiſe das Bedürfniß des Wechſels, dad den menfch- 
lichen Geift zu beftändiger Wiederanfhebung nicht nur feiner 
einſeitig geitalteten Lebenseinrichtungen, fondern auch zur Ab- 
neigung gegen altgewordene Wahrheiten treibt. So mie ein gutes 
Kleid, länger getragen, uns langieilt, ein längft bei Seite ge— 
legte8 dann mit einem wunderlichen Schein wiedergeborner Neu- 
heit reizt, fo ruft nicht nur die MWeberfättigung einer Seite 
unferer geiftigen Natur einen Heißhunger nad) ebenſo einjeitiger 
Befriedigung in anderer Richtung hervor, fondern eine allge- 


83 


meine Neigung zu paradorer Umkehr mach lange vergeffenen 
Stondpunkten Tommd hinzu, um Stimmungen und Meinungen 
in beftindigem Schwanlen zu erhalten. Stetig entwideln fich 
faft nım Diejenigen Wiſſenſchaften, welche einer praftilchen Ans 
werbung zur Beichkaffung unſerer Bedürfniſſe fähig find, und in 
denen ber freie Wechſel der „Auffafſungen und GStanbpunite“ 
fich dunch empfindlichen Schaden rächen würde; die Tebensanficht 
und der Ton der Gefellfchaft Dagegen, die künſtleriſchen Ideale, 
die Beurtheilungen des Weberfinnlichen, die Anſichten der Ge⸗ 
Tchichte, Dex Geſchmack im Genuſſe der Natur Jo wie in der Ges 
fteltung des religidfen Cultus, unterliegt der beitindigen Abwech⸗ 
felung empfindſamer oder mit Thatendvang lärmender, ahnungs⸗ 
vvil ſchwärmeriſcher oder realiftiſch nüchterner Stimmungen, und 
ver tiefſte Tieffinn ſcheint es oft, die Wahrheit da zu fuchen, 
wo fie Niemand vermuthet, nämlich in den Irrthümern, mit 
Deren Widerlegung die nächte Vergangenheit grade zu Ende ges 
Zonmen wor. So mtficht der Wechſel der charalteriſtiſchen 
Bildungsformen in der Geichichte, und jo begreift es fich, daß 
im Fortſchritt der Bervollkommnung nicht jede einzelne Lebens⸗ 
ſchönheit, auf deren ausſchließliche Ausbildung frühere Zeiten ihre 
gauze Kraft verwandt haben, mit gleicher Lebendigkeit forters 
halten werden kann, ſondern oft gänzlich andern Theilen ver 
menfchlichen Beſümmung aufgeopfert wird, welche Die Folgezeit 
ihrerſeits auch mit Recht hervorhebt. Als Wirkung menſchlicher 
Schwäche iſt nus diefe MWiederaufopferung früherer Gewinne er=‘ 
klärlich; daß fie nicht blos ein partielle Mißlingen des gejchicht- 
lichen Yortidwitts ſei, fondern ein mwelentliher Zug in Dem 
Berlauf, den dieſer Fortfchritt feinem Begriffe gemäß nehmen 
jolle, önnen wir mur für bie Behauptung einer Befangenheit 
anfehen, die alles Wirkliche zu vechtfertigen unternimmt. 
Befremdlicher ift es, daß nicht nur die Bildungsformen 
in der Geſchichte wechſeln, ſondern auch ihre Träger Nicht 
allein, daß nie Die Menſchheit als Ganges in gleichzeitiger Fort- 
ſchrittsbewegung angetroffen wird: auch die Nationen, wenigſtens 
| 6* 


84 


des Alterthums, die ein blühendes Leben entfaltet haben, find 
obne Ausnahme von ihrer Höhe in verjchiedene Tiefen der Bar- 
barei oder der Gemöhnlichkeit zurückgeſunken. Man übereilt ſich 
gewiß, wenn man diefe Thatfachen zur Aufftellung des hifto- 
riſchen Geſetzes benutzt, daß jedes Volk glei dem Einzelnen 
feine Lebensalter auf- und abfteigender Kraft habe; noch mehr, 
wenn man auf diefen Vergleich geſtützt, über die Zukunft von 
Völkern abzufprechen wagt, die man nad) dem Ablauf einer 
ihrer Gulturperioden in dem Zeitraum ungewiſſer Neubeftrebun- 
gen beobachtet. Weder die vernünftige Bedeutung würde Har 
fein, welche dieſes Altern der Völker für den Plan der Ge- 
Ihichte haben könnte, noch der innere Zufammenhang, durch den 
es auch nur als thatfächliches Ereignig allgemein hervorgebracht 
würde. Wir begreifen, daß es in dem einzelnen Menjchen, da 
es ja bier ein und bderjelbe Organismus ift, welcher alle Ein- 
drüde von außen und alle Rückwirkungen feiner eignen Thätig- 
fett auffammelt, gewiſſe Berhältniffe feiner wechſelwirkenden 
Beitandtbeile geben Tann, die jene Summirung der erlebten Zu= 
ftände nothwendig zur allmähliden Veränderung und Auflöfung 
ihres Trägers ausjchlagen laffen. Warum die Tebenstraft eines 
Bolfes nicht ewig frifch bleiben könnte, ift um fo unklarer; und 
wirklich bleibt fie ja bei denen frifch, die fett Jahrtauſenden ſich 
in der Einförmigkeit einfacher Bildungszuftände fortbemegen. Das 
Altern der Nationen ift offenbar nicht eine in dem Begriffe des 
Volkes vorherbeftimmte Nothmendigkeit der Entwidlung, fon» 
dern, wo es ftattfindet, ein Ergebniß befonterer Lebensbe⸗ 
dingungen, die nur zum Theil in der Eigenthümlichleit der er» 
reichten Bildung, zum andern in äußern Umftänden liegen. 
Die Natur fucht jede neue Generation wieder mit den alten 
Fähigkeiten der Gattung auszuftatten und der weiteren Entwid= 
lung immer wieder von Neuem frifche unbefangene Träger dar= 
zubieten. Es gelingt ihr nicht durchaus; durch die Schuld einer 
ausfchweifenden Vergangenheit mag die förperliche Rüſtigkeit und 
der geiftige Schwung der Nachkommen abnehmen ſelbſt ohne 





85 


diefe Schuld mag die lange Eingewöhnung in eine beftimmte 
nationale Eulturform auf unnachweisbaren Wegen die Geiftes- 
‚ anlagen der Generationen allmählich umgeftalten und e8 ihnen 
jhwer machen, wenn jene Eultur ſich durch das Aufbrechen 
ihrer inneren Schäden zerjegt, ein neues Gleichgewicht gefunder 
Lebenseinrihtungen zu finden; aber nirgends liegt doch ein 
Grund zu der Annahme, daß dieſe Krankheiten der Völker un- 
beilbar feien, und der einen verwelkten Blüte feine zweite folgen 
fönne. Haben die Völler des Alterthums diefe Hoffnung nicht 
gerechtfertigt, To lag ed daran, daß nicht nur ihre Eultur fich 
durch ihre inneren Mängel zerſetzte, fondern daß zugleich der 
Beitand der Völfer durch vernichtende Eroberungen eben nod) 
rüftigerer Gegner gebrochen wurde., Jede nationale Bildung be= 
darf zu ihrer Blüte auch der politifchen Macht und des irvifchen 
Reichthums; fo lange die allgemeinen Weltverhältniffe nicht bie 
Wiedererftarkung ber erften geftatten, oder fobald durch Er— 
öffnung neuer Handelöwege und Verödung der alten die friiheren 
Duellen des Reichthums verfiegen und zahllofe Anregungen der 
Betriebſamkeit hinmwegfallen, wird jedes von dieſen Schidfalen 
betroffene Bolt unheilbar zu verkümmern fcheinen; es wird 
wieder aufleben fünnen, wenn neue Gunft der mechlelnden Um⸗ 
ftände ihm zu Theil wird. 

Noch einen Zweifel reihen wir dieſen Betrachtungen iiber 
die in der Gefchichte wirffamen Kräfte an. Sollen wir die 
gleichartigen Elemente, die fih in Sitten und Sagen verſchie⸗ 
dener Völker finden, der Ueberlieferung von einem zum andern 
zufchreiben, oder follen wir fie als einheimifche Erzeugnifie be- 
trachten, die, vielfach neu entftanden, um der wejentlichen Gleich⸗ 
heit der menjchlichen Natur willen überall ähnliche Formen ans 
genommen haben? Doch Niemand wird zweifeln, daß im All- 
gemeinen beide Anfichten ihr Recht haben; ed handelt ſich nur 
um die Grenzbeftimmung fiir ihre beiderjeitigen Anfprüce An 
dem einzelnen Beifpiel' der weit tiber entlegene Völker ver» 
breiteten Flutſagen haben oft beide Auffafjungsmweifen fich ver- 


86 


fucht. Flußthäler mit häufigen großartigen Ueberſchwemmungen 
find vie Heimatfkitten aller älteften Culturen gewefen; Nichts 
lounte einfacher fcheinen, als daß die Erinnerung an dieſe größte 
Gefahr, welche die Elemente drohten, überall in den Sagen der 
Volker aufbewahrt blieb. Nicht eben fo leicht ſchien fich ohne 
Meberlieferung die große, obgleih nicht ausnahmsloſe Aehn⸗ 
lichkeit der beſonderen Nebenzüige zu erklären, mit denen bie 
Geſchichte dieſes Ereigniſſes von der Sage ausgeftattet wire; 
man neigte deshalb ſich zu der Beborzugung eine® gemeins 
famen Urfprungs der afiatifchen Berichte und der Annahme ihrer 
ſpäteren verichievenen Ausprägung. Aber au Die Indianer 
Amerikas erzählen davon; es war lberrafchend zu finden, daß 
auch bier in einer ihrer Sagen der gerettete Menſch Tespi wie 
Noah beim Abflug der Gewäſſer zuerft einen Geier ausſendet, 
der nicht wiederlehrt, weil er. fi an den Leichen ver Er- 
trunkenen fättigt, dann andere Bögel, die nicht minder aus⸗ 
bleiben; nur der Kolibri kehrt mit einem belaubten Zweige zus 
rüd. Die Webereinftimmung ift merkwürdig genug, um eine 
Mittheilung, vielleicht in fehr fpäter Zeit, zu vermuthen; zugleid) 
aber ift das ganze Gepräge der Sage fo indianiſch, daß ihr 
einheimifger Urfprung nicht im mindeſten unmwahrfcheinlid, ift, 
und wenn es die Beitrechnung litte, würden wir vielleicht eher 
an das Eindringen indianifcher Srinnerungen in den moſaiſchen 
Bericht, ald an eine umgekehrte Ueberlieferung denten. Der un= 
abhängigen Entftehung in vielen einander fremden Sagenbildungen 
ſcheinen daher auch fo auffallende Einzelheiten doch nicht unfähig. 

Sch geftehe jedoch mein Mißtrauen gegen die Verallgemeine⸗ 
rung dieſer Beurtheilungsweiſe. Es tft wahr, daß nahezu dies 
jelbe Natur die Yebensumgebung aller Bölfer bildet; aber daraus 
jelgt Doch nicht fo kurz, daß diefelben Erfebniffe um der Gleich—⸗ 
jeit der menschlichen Geiftesanlagen willen überall zu derſelben 
Beurtheilung der Begebenheiten, zu der Anktnüpfung derfelben 
Sedanken, endlich zu denfelben Mitteln des künſtleriſchen und 
bilnlichen Ansoruds führen müßten. Die Gefichtspuntte, welche 


rn‘ 





87 


der Menſch der Natur gegenitber einnehmen kann, bleiben mannig= 
fach genug; die mögliche Berfchievenheit der Eindrücke deffelben 
Borgangs nady Stimmung und Lage unabfehbar; die Richtung, 
nach weicher hin fie den Gedankengang aufregen, unberechenbar; 
jede Webereinftimmung, die fich weiter al® auf die unabweis⸗ 
barften Folgerungen aus den Thatfachen erſtreckt, fcheint ſtets 
einen befondern Nachweis ihrer Entftehung ohne Mittheilung 
oder Ueberlieferung zu verlangen. Man hat fi wohl auf all» 
gemeine pſychologiſche Geſetze berufen, nad) denen der Eindrud 
der Thatfachen, die ſich an ihn knüpfende Reflerion und der end— 
lihe Ausdrud durch Bild und Gleichniß nothwendig zufammen- 
Hängen ſollen; man hat gehofft, den Gang aller menjchlichen 
Phantafie an eine Art allgemeiner Symbolik feffeln zu können, 
die in den berfchiedeniten Mythologien gleichartige Einlleidungen 
gleicher Gedanken bedinge: aber auch in Bezug hierauf kehrt 
der Zweifel wieder, ob wir nicht in den Fällen, die diefe An= 
nahme zu beftätigen fcheinen, die Wirkung heimlicher Ueber⸗ 
fieferung fir einen Beleg unabhängiger Uebereinftimmung anjehen. 

Wie weit überhaupt in der Gefchichte Tradition reicht, iſt 
ſchwer zu ermeflen. Das Beitehen ganzer reicher Eulturen ift 
anf ihrem Heimatsboden ganz vergefien, und nur bruchitüd- 
weis ihr Gedächtniß durch Aufzeichnungen von Nachbarvölkern 
gerettet; große Zeiträume der Vergangenheit ſind für uns völlig 
leer. Anderſeits kehren einzelne Elemente früherer Bildungen, 
weder die wichtigſten noch die gemeinſten, aus dem allgemeinen 
Zuſammenſturz gerettet, bei den verſchiedenſten Völker wieder. 
Unfere Kindermärchen bewahren Ankläinge unſerer älteſten Vor⸗ 
zeit; dieſelben Thierfabeln üben das Nachdenken unſerer Jugend 
und wurden einſt in Indien, Perſien, Griechenland erzählt; 
mancher Bolksaberglaube von heut wurzelt in den Tagen bes 
Heidenthums. Für Bieles hiervon ift der Gang der Aufbewah⸗ 
sung und Mittbeilung bekannt, für Vieles nicht, und wir lernen 
daraus nicht nur die große Ausdehnung einer ünnachweislich 
fortfchleichenden Ueberliefernng ſchätzen, fondern bemerfen auch, 


88 


daß, mie in allen Ruinen, nicht immer das Größte, Feſteſte 
und Zufammenhängendfte fid) erhalten bat, fondern daß einzelne, 
in ihrer Bereinfamung befremblihe Trümmer eines früheren 
Gemeinbefites der Menjchheit ſehr wohl in ganz abweichende 
Bildungen fpäterer Völker verfprengt fein können. 


Biertes Kapitel. 


Die äußeren Bedingungen der Entwidlung. 


Die Abftammungdeinheit ber Menſchheit. — Die Annahme urfprünglicher Vielheit 
der Stämme. — Berfchiedenheit ber geiftigen Begabung. — Lenkung der Ent- 
willung duch Äußere Bebingungen. — Die geograpbifchen und klimatiſchen Be— 
günftigungen und Hinbernifie. — Beifpiele der Naturpölter. 


Geichichte in dem Sinne einer zufammenhängenden Entwid- 
lung verfnüpft nur wenige Theile der Menſchheit. Der Welten 
Aliens und die Küftenländer des Mittelmeeres find ausfchließ- 
lich, die Stätten geivefen , in denen feit Sahrtaufenden verfchteden- 
artige Formen der Gefittung auf einander folgten und eine der 
andern ihre Ergebniffe und die Antriebe zu neuem Fortjchritte 
ibertrugen. Außerhalb dieſes Brennraums der Bildung haben 
ungezählte andere Völker entweder durch Jahrhunderte hindurch 
nur das allgemeine Leben der Gattung unter günſtigen oder un 
günftigen Bedingungen ihrer Umgebung wiederholt, oder eigen=- 
thümliche Formen der Entwidlung zwar ausgeprägt, aber ohne 
Zuſammenhang mit jenem bevorzugten Völkerkreiſe, und ohne, als 
fie in deffen Gefichtöfreis traten, zu feinem weiteren Fortſchritt 
wejentlich beizutragen. Ein Ueberblid iiber die Gefchichte bietet 
uns daher nicht das Bild eines einzigen Stromes, welcher die 
ganze Menfchheit umfaßt und fie, wenn auch mit verfchiebener 
Geſchwindigkeit ihrer einzelnen Theile, in beſtändiger Wechfel- 
wirkung nach derjelben Richtung fortgeführt hätte, von verſchie— 
denen Mittelpunkten aus fcheinen uns vielmehr verjchiedene Strö- 
mungen auszugehen, lange ohne mechlelfeitige Einwirkung, bis 
eigentlich erjt Das Zeitalter der Gegenwart jedes Volk in den 





89 


Gefichtöfreis des andern zu rüden und eine allgemeine Wechfel- 
wirtung der verjchiedenen Theile der Menfchheit vorzubereiten 
anfängt. 

Dieſen Eindrud von der Lage und den Schidfalen bed 
menfchlichen Geſchlechts hatte ſchon das klaſſiſche Altertum, als 
politifhe Zufammenftöße und die Wißbegier der Reifenden auf 
dem engen Schauplag der damals bekannten Welt fo viele an 
Ausfehen Sprade und Sitten buntfarbig verſchiedene Völfer 
einander kennen lehrten. Dem Getite des Altertbums, dem das 
menschliche Daſein nur ein Erzeugniß der großen mütterlichen 
Natur war, aus deren Unendlichkeit e8 herwortritt und in die 
e3 wieder verjchwindet, hatte dieſer Eindrud nicht Befremdliches; 
nur zur borlibergehenden Freude des Lebens bejtimmt, nicht zur 
Löſung von Aufgaben ewiger Bedeutung, mochten die zahlreichen 
menfchlichen Gefchlechter jedes in feiner Heimat dem Boden ent- 
Iproffen fein, ohne einen urfprünglichen Zuſammenhang, ald man⸗ 
nigfaltige Zeugniffe der unerjchöpflichen Fruchtbarkeit, mit der die 
Natur in ihren Erzeugungen fpielt. Nurwo ein einzelner Stamm 
im Berlauf feiner gefelligen Entwicklung das Gefühl bleibender Zu⸗ 
fammengehörigfeit feiner Angehörigen gewonnen hatte, fucht eine 
volksthümliche Sage auch durch die Einheit des Stammvaters die⸗ 
ſes Gefühl zu Fräftigen; aber der Gedanke an die umfaflende Ein- 
heit der Menjchheit lag diefen Zeiten fo fern, daß eine aufgefundene 
Abftammungsverwandtichaft zweier Völker eben deswegen für einen 
Bund galt, weil fie jo wenig vorauszufegen war. Mit entſchiedener 
Klarheit hat erft die hriftliche Gefittung den Gedanken der Zufam- 
mengehörigleit aller Völker entwidelt, und aus dem Begriffe des 
menſchlichen Geſchlechts den der Menſchheit gebildet, dem wir nicht 
gewohnt find, einen ähnlich gemeinten Begriff der Thierheit an die 
Seite zu ſetzen. Denn eben dies drüdt der Name der Menjchheit 
aus, daß die Einzelnen nicht nur gleichgültige Beispiele eines Allge- 
meinen, fondern vorbedachte Theile eines Ganzen, daß die Wechfel- 
fälle der Geſchichte, welche fie erleben, nicht nur Belege für die 
Gleichartigkeit oder Unähnlichkeit von Erfolgen find, die unter glei- 


90 


hen oder verfchiedenen Bedingungen nach denſelben allgemeinen 
Naturgeſetzen Des Lebens entfpringen, fondern Kleine Abſchnitte einer 
großen zufammenhängenden Weltführung der VBorfehung, die zwi- 
ſchen den Endpuntten der Schöpfung und des Gerichts keinen Theil 
des Geſchehens aus der Einheit ihrer Abficht entſchlüpfen läßt 
Indem das Chriftenthunm diefe Ueberzengung entwidelte, ſchloß es 
fie zugleid an die Stammſage des hebrätjchen Volles an, in wel⸗ 
chem frühe ſchon ähnliche, dem klafſiſchen Alterthum eben ſo fremde 
als ihm überlegene Anſchauungen Macht gehabt hatten, ohne doch 
alle Befchränftheit volksthümlicher Auffaſſung abgeſtreift zu haben 
So wurden unſere Vorſtellungen über die Entſtehung unferes Ge⸗ 
ſchlechtes, über die Scheidung und Verbreitung der Völker begrün⸗ 
det. Der Wunſch, die mannigfachen Menſchenſtämme durch das 
Band gleicher Art und Gattung zuſammenzuhalten, ſteigerte ſich zu 
dem Berlangen, fie noch weiter auf eim erftes Aelternpaar zurück⸗ 
zuführen; auch dieſe Zweibeit hatte ſchon dem Sinne der mofatfchen 
Unkunde ein noch zu zerftreuter Anfang gefchienen; fie lief ſelbſt bie 
‚Mutter des menjchlichen Gefchlechts auf wunderbare Weiſe aus dem 
einzigen Stammbvater, diefen unmittelbar aus der Hand Gottes 
herborgehn. 

Die Lieblichleit und religiöfe Tiefe des Sinnes, aus dem diefe 
Borftellungen entfprangen, wird ihres Eindruds auf unfer Ge⸗ 
müth nie verfehlen; wenn es indeſſen zur nothwendigen Entiwid- 
lung der menſchlichen Bhantafie gehörte, in ſolchen Bildern unferem 
Dafein einen Anfang zu geben, jo bleibt ed doc zweifelhaft, ob fie 
mit dieſem Gemälde eine gejcjichtliche Thatfache errathen, ober 
einem unabweislichen Bedürfniſſe eineebenfo ausfchließlich berechtigte 
Befriedigung gewährt habe. Die Zweifel, welche läugft ſich gegen 
diefe Deutung unferer Urgefchichte gerichtet haben, rechtfertigen die 
furze Betrachtung, die wir hinzuzufügen im Begriff find. 

Wenn wirklich das Menfchengejchleht von einem Paare 
abftammte, welche fittliche Folgerung wiirde aus diefer Thatjache 
flteßen, und zugleich unmöglich werden mit der Leugnung derjelben ? 
In dem Berlaufe der Fortpflanzung ift die Zerſplitterung m Biel- 


91 


beit, weiche ver Einheit folgt, nicht minder eine Thatlache als Diefe 
felbf. So lange wir daher überhaupt gefchichtliche Thatjachen zu 
Quellen fittlicher Gebote machen, würde dieſe zweite ung ebenfo fehr 
zur Entzweiung, wie jene erfte zur Einigfeit verpflichten, ja mehr 
ats Diele, denn die Vielheit wächft nach der Seite der Zukunft hin; 
in biefer aber, richt im der Vergangenheit, liegt der Schauplatz oder 
doch Die Zwecke unferes Handelns. Anberjeits, wenn die Menſch⸗ 
heit aus vielen zerſtreuten Anfängen hervorging, aber ſo wie fie ift, 
sämtlich fo, daß ihre verichiedenen Stämme mit ähnlichen und doch 
nicht ganz gleuchen Anlagen ausgeltattet, nur in allfeitiger Wechſel⸗ 
wirkung ihre volle Entwicklung und ihr völliges Lebensgenüge fän⸗ 
den: wöre daun die Annahme weniger fidher, daß ihre fittliche Be= 
ſtimmung in der Bereinigung zu Einer Menjchheit liege? Gewiß 
nicht; Die Menſchen würden auch damı in demfelben Sinne Brüder 
fein, in welchen fie e8 überhaupt fein fönnen; denn da fie es im 
eigentlichen Sinne nım doch nicht find, fo bedeutet diefer Name 
nur die Anerkennung der geiftigen Organifation, die uns allen 
gleichartig gegeben ift, und des Werthes der Berfünlichleit, die wir 
auch in ihrer unbedeutendſten Erſcheinung zu achten haben. Nach 
dieſen Thatfachen, welche find, und jo weit fie find, haben wir 
unſer fittliches Berhalten einzurichten, niemals aber nach unges 
wiflen hiſtoriſchen Umſtänden, welche vielleicht geweſen find und 
deren Wirklichkeit die Dringlichkeit unferer Verpflichtungen um 
gar Nichts fteigern, deren Widerlegung aber, wenn fiegelänge, noth= 
wendig das Gemüth in Verwirrung feen würde, welches auf fie 
das Gefühl ferner Verbindlichkeit geſtützt hätte. 

Z3u den gewelenen Thatſachen aber rechnen wir mit Be- 
bacht jene Einheit des Urfprungs, falls fie ftattfand. Je lebhafter 
wir die Einheit der Menſchheit fuchen, um fo mehr müffen wir 
verlangen, daß die gefundene eine wirkliche lebendige ewig gegen 
wärtige fer; wer fie nur in dem Urpaar ſucht, findet fie ſtets nur 
als eine gemefene. Denn fortgewirft hat ja doch geſchichtlich dieſe 
Einheit nirgends. Site hat die Menſchheit nicht zufammergehal- 
ten, ihr weder beftänbige Gemeinheit ihrer Entwidlung, noch ein 


92 


gegenſeitiges Wiſſen ihrer verfchiedenen Glieder um einander gefichert; 
in die entlegenjten Theile der Erdoberfläche verichlagen, haben die 
einzelnen Bölfer, eines ohne Kunde vom Dafein des andern, hin- 
gelebt. Wo aber fie früh fich berührt haben, da finden wir über⸗ 
aM getreulich den Nationalhaß als Hliter der Eigenthiimlichkeiten, 
die fein Stamm dem andern aufopfern wollte; beftändige Kämpfe 
der Racen, felbft folcher, deren wirkliche Berwandtichaft gefchichtlich 
nachweisbar ift, haben die früheften Zeiten gefüllt; wie eine Mee- 
reswoge die andere vertreibt, fo ift in diefem wilden Getümmel 
Volk auf Volk zu Grunde gegangen. So wenig hat ſich jene vor- 
ausgefeßte Urfprungsgemeinfchaft in den äußeren Schickſalen des 
menfchlichen Geſchlechts bethätigt; fie ift eben fo wenig in feinen 
Gefühlen lebendig geblieben. Der Yremdling iſt den älteften 
Zeiten rechtlos; erſt fehr allmählich, je weiter die Geſchichte 
ſich von ihrem Anfang entfernt, bilden fich Vorftellungen eines 
allgemeinen Menjchenthbums, jo wie der Achtung aus, die wir 
ihm jchulden. 

Ein Blick auf diefes Verhalten führt ſehr natürlicdy zu der 
Frage, ob wir die Einheit der Menfchheit nicht vielmehr als ein zu 
erreichendes Ziel unſeres Handelns in die Zukunft verlegen, als fie 
in der Vergangenheit fuchen follen, in der fie doch niemals mehr 
al8 eine wirkungslofe ſchönverzierte Initiale unſers Dafeins fein 
würde? Was verlören wir auch, wenn wir eine Einheit des An- 
fange opfern müßten, der Doc, der Fortgang allenthalben wider- 
Iprochen hat? Das freilich wiirde nicht ſchwer fein, mit Dichte- 
riiher Phantafie eine Kette von Begebenheiten zu erfinnen, 
melde auch dieſen urjprünglichen Zerfall der Menjchheit als 
bedeutungsvolles Glied einer geheimen Abſicht der göttlichen 
Leitung erfcheinen ließen. Aber indem wir völlig den Werth der 
religiöfen Gedanken zugeftehen, die man in ſolchen Vorftellungen 
niederlegen Tann, würden wir doch, fobald fie Gefchichte ausdrücken 
jollen, den Beweis ihrer Wahrheit unabhängig von dem ihrer 
Bedeutſamkeit verlangen. | 

Die Annahme urjprünglich verſchiedener Menjchenarten, denen 


93 


die Natur mit der abweichenden körperlichen Bildung auch die gei= 
ftige Ausftattung verfchteden zugetheilt habe und deren jede in einer 
ihr zufagenden Heimat entitanden, zu der Art und Höhe der Bil- 
bung gelangt fei, die ihre Anlagen geftatteten, iſt nicht felten als 
dem Anblic, den uns die Gefchichte gewährt, einfacher entfprechend, 
jener Anficht von der anfänglichen Einheit der Menjchheit entgegen= 
geftellt worden. In verfchiedenen Formen hat man fie vorgetragen, 
deren jede ihr eigenthlimliche8 Intereſſe erweckt. 

Dan bat e8 zunächſt nöthig gefunden, zwei Zweige der Menſch— 
beit zu trennen, den thätigen der Weißen, den leidenden der farbigen 
Racen. Träumeriſch leivfam und läſſig follen die legtern, Heimat 
und Ruhe liebend, Nichts von der raftlojen erfinderifhen Unruhe 
befigen, welche das Erbtheil des weißen Stammes bilde; er allein 
babe, von dem Geifte des Fortſchritts getrieben, fich nad) allen Sei- 
ten bin anregend erziehend und Inechtend über die Länder ergoffen, 
und der Trägheit der farbigen Völker Keime der Gefittung gebracht, 
welche dieſe unfähig gewejen feien aus fich ſelbſt zu erzeugen. Selbft 
die Vergleiche haben nicht gefehlt, welche Die Leßteren mit den Mo= 
nolotyledonen des Gemächsreiches zufammenitellen, jenen Gräfern 
und Schilfen, die inungeheurer gleihförmiger Maſſe wuchernd ein= 
tönige Landichaften grün färben; die weiße Race allein erzeuge die 
gefchichtlichen Perfünlichkeiten, die einzeln zählen, fo wie das Diko⸗ 
tyledonenreid, allein die malerifchen Einzelgeftalten der Bäume. 
Wie ſchön ließe fich dieſer Vergleich durch Rüdficht auf die ausge— 
dehnten Kieferwaldungen des Nordens und auf die einzelnen Pal⸗ 
men des Südens bis zu einer Genauigkeit verbeflern, die ihn ganz 
etwas Anderes jagen laffen würde! Wir würden lernen, daß bie 
äußern Bedingungen der Heimat und des Klima wohl aud) Diko⸗ 
tyledonen zu einem Gefindel herabwürdigen, das nad) Taufenden 
zählt, und daß auch Monofotyledonen fich unter günftigem Himmel 
zu Geftalten ausbilden, die unfere Bewunderung erregen. Geftehen 
wir indeffen zu, daß diefe Anficht, ohne im Einzelnen richtig zu fein, 
doch im Ganzen eine wirkliche gefchichtliche Thatjache bezeichne; un 
folgerecht aber ift fie, wenn auch fie Doch die Einheit des menſch⸗ 


88 


fucht, Flußthäler mit häufigen großartigen Ueberſchwemmungen 
find die Heimatfkitten aller älteften Culturen geiwefen; Nichts 
konnte einfacher ſcheinen, als daß die Erinnerung an dieſe größte 
Gefahr, welche die Elemente drobten, überall in den Sagen der 
Böiter auſbewahrt blieb. Nicht eben fo Keicht ſchien ſich ohne 
Veberlieferung die große, obgleich nicht ausnahmsloſe Aehn⸗ 
lichkeit der befonderen Nebenzüge zu erklären, mit denen bie 
Geſchichte dieſes Ereignifies von der Sage ausgeſtattet wird; 
man neigte Deshalb fi zu der Bevorzugung eines gemein⸗ 
famen Urfprungs der afiatifchen Berichte und der Annahme ihrer 
ſpäteren verfchievenen Nusprägung. Aber au die Indianer 
Amerikas erzühlen davon; es war überrafchend zu finden, daß 
auch Hier in eimer ihrer Sagen der gerettete Menſch Tespi wie 
Noah beim Abflug der Gewäſſer zuerfl einen Geter ausfendet, 
der nicht wiederlehrt, weil er. fi) an den Leichen ver Er⸗ 
trunkenen fätligt, Dann andere Bögel, die nicht minder aus⸗ 
bleiben; nur der Kolibri fehrt mit einem belaubten Zweige zus 
ri. Die Mebereinftimmung ift merkwürdig genug, um eine 
Mittheilung, vielleicht in fer fpäter Zeit, zu vermutben; zugleich 
aber tft das ganze &eprüge der Sage fo indianiſch, daß ihr 
einheimifher Urfprung nicht im mindeften unwahrſcheinlich ift, 
und wenn ed die Zeitrechnung litte, würden wir vielleicht eher 
an das Eindringen indianifcher Erinnerungen in den mofaifchen 
Bericht, als an eine umgekehrte Ueberlieferung denken. Der un- 
abhängigen Entſtehung in vielen einander fremden Sagenbildungen 
fcheinen Daher auch jo auffallende Einzelheiten doch nicht unfähig. 

Ich geftehe jedoch mein Mißtrauen gegen die Verallgemeine⸗ 
rung diefer Beurtheilungsweife. Es iſt wahr, daß nahezu die⸗ 
felbe Natur die Lebensumgebung aller Völker bildet; aber daraus 
folgt Doch nicht fo kurz, daß dieſelben Erlebniſſe um der Gleich⸗ 
heit der menſchlichen Geiftesanlagen willen überall zu derfelben 
Beurtheilung der Begebenheiten, zu ver Anknüpfung derfelben 
Gedanken, endlich zu denfelben Mitteln des Fünftlerifchen und 
bildlichen Ausdruds führen müßten. Die Gefichtspunfte, welche 





87 


der Menſch der Natur gegenitber einnehmen kann, bleiben mannig= 
fach genug; bie mögliche Berfchiedenheit der Eindrücke deffelben 
Borgangd nad, Stimmung und Rage unabfehbar; die Richtung, 
nad) weicher Hin fie den Gedankengang aufregen, unberechenbar ; 
jede Uebereinftimmung, die fi meiter als auf die unabweis- 
barften Folgerungen aus den Thatfachen eritredt, fcheint ſtets 
einen bejondern Nachweis ihrer Entftehung ohne Mittheilung 
oder Ueberlieferung zu verlangen. Man hat fi wohl auf all= 
gemeine pſychologiſche Geſetze berufen, nach denen der Eindrud 
der Thatjachen, die fih an ihn knüpfende Reflerion und der end= 
liche Ausdrud durch Bild und Gleichniß nothwendig zufammen- 
Hängen follen; man hat gehofft, ven Gang aller menſchlichen 
Phantafie an eine Art allgemeiner Symbolik fefjeln zu können, 
die in den verfchiedenften Mythologien gleichartige Einklleidungen 
gleicher Gedanken bedinge: aber auch in Bezug hierauf Tehrt 
der Zweifel wieder, ob wir nicht in den Fällen, die diefe An= 
nahme zu beftätigen fcheinen, die Wirkung heimlicher Webers 
tieferumg für einen Beleg unabhängiger Uebereinftimmung anfehen. 

Wie meit überhaupt in der Gefchichte Tradition reicht, it 
ſchwer zu ermeflen. Das Beitehen ganzer reicher Culturen ift 
auf ihrem Heimatsboden ganz vergeflen, und nur brudjitüd- 
weis ihre Gedächtniß durch Aufzeichnungen von Nachbarvöltern 
gerettet; große Zeiträume der Vergangenheit find fir ums völlig 
leer. Anderſeits fehren einzelne Elemente früherer Bildungen, 
weder die wichtigften noch die gemeinften, aus dem allgemeinen 
Zufammenfturz gerettet, bei den verfchiedenften Völker wieder. 
Unfere Kindermärchen bewahren Anflänge unferer älteften Vor⸗ 
zeit; diefelben Thierfabeln üben das Nachdenken unferer Jugend 
und wurden einft in Indien, Perſien, Griechenland erzählt; 
mancher Bollsaberglaube von heut wurzelt in ben Tagen bes 
Heidenthums. Für Bieles hiervon ift der Gang der Aufbewah⸗ 
rung und Mittheilung befannt, fir Vieles nicht, und wir lernen 
daraus nicht nur die große Ausdehnung einer unnachmeislich 
fortichleichenden Weberliefernng ſchätzen, fondern bemerfen aud), 


88 


daß, wie in allen Ruinen, nicht immer das Größte, Feſteſte 
und Zufammenhängendfte fich erhalten hat, fondern daß einzelne, 
in ihrer Bereinfamung befremdliche Trümmer eines früheren 
Gemeinbefiges der Menfchheit jehr wohl in ganz abweichende 
Bildungen fpäterer Völfer verfprengt fein Können. 


Biertes Kapitel. 


Die Außeren Bedingungen der Entwidlung. 


Die Abftammungseinheit der Menſchheit. — Die Annahme urjprünglicher Vielheit 
ber Stämme. — Berfchiebenheit ber geiftigen Begabung. — Lenkung ber Ent- 
wicklung buch ãußere Bebingungen. — Die geographiſchen und klimatiſchen Be= 
günftigungen und Hinderniffe. — Beifpiele der Raturbölker. 


Geſchichte in dem Sinne einer zufammenbängenden Entmwid- 
lung verknüpft nur wenige Theile der Menfchheit. Der Weiten 
Afiens und die Küftenländer des Mittelmeeres find ausjchließ- 
lich die Stätten geweſen, in denen feit Sahrtaufenden verfchieden- 
artige Formen der Gefittung auf einander folgten und eine ber 
andern ihre Ergebniffe und die Antriebe zu neuem Yortichritte 
übertrugen. Außerhalb dieſes Brennraums der Bildung haben 
ungezählte andere Völker entweder durch Jahrhunderte hindurch 
nur das allgemeine Reben der Gattung unter günftigen oder un= 
günftigen Bedingungen ihrer Umgebung wiederholt, oder eigen=- 
thümliche Formen der Entwidlung zwar ausgeprägt, aber ohne 
Zufammenhang mit jenem bevorzugten Völlerkreiſe, und ohne, als 
fie in deffen Gefichtöfreis traten, zu feinem weiteren Fortfchritt 
wejentlich beizutragen. Ein Ueberblid iiber die Gefchichte bietet 
uns daher nicht das Bild eines einzigen Stromes, welcher die 
ganze Menfchheit umfaßt und fie, wenn auch mit verfchiedener 
Geſchwindigkeit ihrer einzelnen Theile, in beſtändiger Wechiel- 
wirfung nach derfelben Richtung fortgeführt hätte, von verfchte= 
denen Mittelpunkten aus fcheinen uns vielmehr verjchiedene Strö- 
mungen auszugehen, lange obne mechjeljeitige Einwirkung, bis 
eigentlich erit das Zeitalter der Gegenwart jedes Voll in den 


89 


Geſichtskreis des andern zu rüden und eine allgemeine Wechfel- 
wirkung der verfchievenen Theile der Menjchheit vorzubereiten 
anfängt. 

Dieſen Eindrud von der Lage und den Schickſalen des 
menfchlichen Geſchlechts hatte ſchon das Haffifche Alterthum, als 
politifche Zufammenftöße und die Wißbegier der Neifenden auf 
dem engen Schauplag der damals bekannten Welt jo viele an 
Ausfehen Sprache und Sitten buntfarbig verfchiedene Völker 
einander kennen lehrten. Dem Geifte des Alterthbums, dem das 
menfhlihe Dafein nur ein Erzeugniß der großen miitterlichen 
Natur war, aus deren Unendlichkeit e8 hervortritt und in Die 
e3 wieder verichwindet, hatte diefer Eindruck nicht Befremdliches; 
nur zur borlibergehenden Freude des Lebens beftimmt, nicht zur 
Löſung von Aufgaben ewiger Bedeutung, mochten die zahlreichen 
menschlichen Gefchlechter jedes in feiner Heimat dem Boden ent= 
fproffen fein, obne einen urjprünglichen Zufammenhang, als man⸗ 
nigfaltige Zeugniffe der unerjchöpflichen Fruchtbarkeit, mit der die 
Natur in ihren Erzeugungen ſpielt. Nurwo ein einzelner Stamm 
im Berlauf feiner gefelligen Entwidlung das Gefühl bleibender Zu⸗ 
fammengehörigfeit feiner Angehörigen gewonnen hatte, fucht eine 
volfsthiimliche Sage aud) Durch die Einheit des Stammvaters die⸗ 
ſes Gefühl zu kräftigen; aber der Gedanke an die umfafjende Ein- 
heit der Menfchheit lag diefen Zeiten fo fern, daß eine aufgefundene 
Abftammungsvermandtichaft zweier Völker eben Deswegen flir einen 
Fund galt, weil fie fo wenig vorauszufegen war. Mit entjchiedener 
Klarheit hat erft die hriftliche Gefittung den Gedanken der Zuſam⸗ 
mengehörigfeit aller Völker entwidelt, und aus dem Begriffe des 
menfchlichen Geſchlechts den der Menfchheit gebildet, dem wir nicht 
gewohnt find, einen ähnlich gemeinten Begriff der Thierheit an die 
Seite zu ſetzen. Denn eben dies drückt der Name der Menfchheit 
aus, daß die Einzelnen nicht nur gleichgültige Beifpiele eines Allge- 
meinen, ſondern vorbedachte Theile eines Ganzen, daß die Wechſel⸗ 
fälle der Gefchichte, welche fie erleben, nicht nur Belege für die 
Gleichartigkeit oder Unähnlichkeit von Erfolgen find, die unter glei= 


90 


hen oder verſchiedenen Bedingungen nach denſelben allgemeinen 
Naturgeſetzen des Lebens entfpringen, ſondern Heine Abſchnitte einer 
großen zufammenhängenden Weltführung der Borfehung, die zwis 
fchen den Endpunkten der Schöpfung und des Gerichts keinen Theil 
des Gelchehens aus der Einheit ihrer Abficht entichlüpfen läßt. 
Indem das Chriſtenthum diefe Heberzengung entwidelte, fchloß e# 
fie zugleid, an die Stammfage des hebräiſchen Volles an, iu wel⸗ 
chem frühe Schon ähnliche, dem klafſiſchen Alterthum eben jo fremde 
als ihm liberlegene Anfchauungen Macht gehabt hatten, ohne Doch 
alle Befchränttheit volksthümlicher Auffafiung abgeftreift zu haben 
So wurden unfere Borftellumgen über die Entftehung unferes Ge- 
ſchlechtes, über die Scheidung und Verbreitung der Völker begrün⸗ 
det. Der Wunſch, die mannigfadhen Menſchenſtämme durch das 
Band gleicher Art und Gattung zufammenzubalten, fteigerte fich zu 
dem Berlangen, fie noch weiter auf ein erftes Aelternpaar zurück⸗ 
zuführen; auch dieſe Zweiheit batte jchon dem Sinne der mofatjchen 
Unkunde ein noch zu zerftrenter Anfang gefchtenen; fie ließ ſelbſt Die 
‚Mutter des menfchlichen Gefchlechts auf wunderbare Weiſe aus dem 
einzigen Stammbvater, diejen unmittelbar aus der Hand Gottes 
hervorgehn. 

Die Lieblichkeit und religiöſe Tiefe des Sinnes, aus dem dieſe 
Borftellungen entiprangen, wird ihres Eindruds auf unfer Ge= 
müth nie verfehlen; wenn es indeffen zur nothiwendigen Entiwid- 
lung der menſchlichen Bhantafie gehörte, in ſolchen Bildern unferem 
Dafein einen Anfang zur geben, ſo bleibt ed doch zweifelhaft, ob fie 
mit dieſem Gemälde eine geſchichtliche Thatjache erratben, oder 
einem unabweislichen Bedürfniſſe eine ebenſo ausfchlieglich berechtigte 
Befriedigung gewährt habe. Die Zweifel, welche längft fich gegen 
dieſe Deutung unferer Urgefchichte gerichtet haben, rechtfertigen Die 
kurze Betrachtung, die wir Hinzuzufügen im Begriff find. 

Wenn wirklich das Menfhengejchleht von einem Paare 
abftammte, welche fittliche Folgerung wiirde aus diefer Thatſache 
fließen, und zugleich unmöglich werden mit der Leugnung derjelben ? 
Im dem Berlaufe der Fortpflanzung ift die Zerfplitterung in Viel⸗ 


91 


beit, welche ver Einheit folgt, nicht minder eine Thatfache als dieſe 
felbft. So Inge wir daher überhaupt geſchichtliche Thatfachen zu 
Quellen fittlicher Gebote machen, würde dieſe zweite ung ebenfo fehr 
zur Entzweiung, wie jene erfte zur Einigkeit verpflichten, ja mehr 
als Diefe, denn die Vielheit wächft nach der Seite der Zukunft hin; 
in biefer aber, nicht in ber Bergamgenheit, liegt der Schauplah oder 
Doch die Zwecke unferes Handelns. Anderſeits, mern die Menſch⸗ 
beit aus vielen zerfireuten Anfängen hervorging, aber fo wie fie ift, 
sämtlich fo, daß ihre verichiedenen Stämme mit ähnlichen und Doch 
richt ganz gleichen Anlagen ausgeftattet, nur in allfeitiger Wechfel- 
wirfung ihre volle Entwicklung und ihr nölliges Lebensgenüge fän⸗ 
den: wäre dann die Annahme weniger ſicher, daß ihre fittliche Be- 
flimmung in der Bereinigung zu Einer Menſchheit liege? Gewiß 
sicht; Die Menfchen würden auch dann in demfelben Sinne Brüder 
fein, in welchem fie e8 überhaupt fein können; denn da fie es im 
eigentlichen Stimme nım doch nicht find, jo bedeutet diefer Name 
nur die Anerkennung der geiftigen Organifation, die uns allen 
gleichartig gegeben ift, und des Werthes der Berfünlichkeit, die wir 
auch in ihrer unbedeutendften Erfcheinung zu achten haben. Nach 
diefen Thatfachen, welche find, und fo weit fie find, haben wir 
unſer fittliches Verhalten einzurichten, niemals aber nad) unges 
wifien biftorifchen Umſtänden, welche nielleicht geweſen find und 
deren Wirktichleit die Dringlichkeit unferer Verpflichtungen um 
gar Nichts fteigern, deren Widerlegung aber, wenn fiegelänge, noth= 
wendig das Gemüth in Verwirrung feßen würde, welches auf fie 
das Gefühl jener Verbindlichkeit geſtützt hätte. 

- Bu den gemwejenen Thatſachen aber rechnen wir mit Be= 
dacht jene Einheit des Urjprungs, falls fie ſtattfand. Je lebhafter 
wir die Einheit der Menſchheit fuchen, um fo mehr müflen wir 
verlangen, baß die gefundene eine wirkliche lebendige ewig gegen 
wärtige fer; wer fie nur in dem Urpaar ſucht, findet fie ftetd nur 
als eine geweſene. Denn fortgewirtt hat ja Doch geichichtlich Diefe 
Einheit nirgends. Sie hat die Menjchheit nicht zufammengehal- 
ten, ihr weder beftändige Gemeinheit ihrer Entwicklung, noch ein 


92 


gegenſeitiges Wiſſen ihrer verſchiedenen Glieder um einander gefichert; 
in die entlegenften Theile der Erdoberfläche verichlagen, haben die 
einzelnen Völker, eine ohne Kunde vom Dafein des andern, hin⸗ 
gelebt. Wo aber fie früh fich berührt haben, da finden wir iiber- 
all getreulich den Nationalhaß als Hüter der Eigenthümlichkeiten, 
die fein Stamm dem andern aufopfern wollte; beftändige Kämpfe 
der Racen, felbit folcher, deren wirkliche Verwandtſchaft gefchichtlich 
nachweisbar ift, haben die früheften Zeiten gefüllt; wie eine Mee—⸗ 
reswoge die andere vertreibt, fo ift in diefem milden Getiimmel 
Bolf auf Volk zu Grunde gegangen. So wenig hat fid} jene vor⸗ 
ausgejegte Urfprungsgemeinfchaft in den äußeren Schidfalen des 
menſchlichen Geſchlechts bethätigt; fie ift eben fo wenig in feinen 
Gefühlen lebendig geblieben. Der Fremdling ift den älteften 
Zeiten rechtlos; erſt fehr allmählich, je weiter die Gefchichte 
fi von ihrem Anfang entfernt, bilden fich Vorftellungen eines 
allgemeinen Menſchenthums, jo wie der Achtung aus, die wir 
ihm fchulden. 

Ein Blid auf dieſes Verhalten führt fehr natürlich zu der 
Frage, ob wir die Einheit der Menſchheit nicht vielmehr als ein zu 
erreichendes Ziel unfered Handelns in die Zukunft verlegen, als fie 
in der Bergangenheit juchen follen, in ber fie Doch niemals mehr 
al8 eine wirkungsloſe ſchönverzierte Initiale unſers Dafeins fein 
würde? Was verlören wir auch, wenn wir eine Einheit des An- 
fangs opfern müßten, der Doch der Fortgang allenthalben wider⸗ 
ſprochen hat? Das freilich würde nicht ſchwer fein, mit dichtes 
riſcher Phantafie eine Kette von Begebenheiten zu erfinnen, 
welche auch dieſen urjprünglichen Zerfall der Menſchheit als 
bedeutungsvolles Glied einer geheimen Abficht ver göttlichen 
Leitung erfcheinen ließen. Aber indem wir völlig den Werth der 
religidfen Gedanken zugeftehen, die man in ſolchen Borftellungen 
niederlegen kann, würden wir do, fobald fie Geſchichte ausdrücken 
jollen, den Beweis ihrer Wahrheit unabhängig von dem ihrer 
Bedeutſamkeit verlangen. 

Die Annahme urfprünglich verſchiedener Mienfchenarten, denen 


93 


die Natur mit der abweichenden körperlichen Bildung auch die gei- 
ftige Ausftattung verſchieden zugetheilt habe und deren jede in einer 
ihr zufagenden Heimat entjtanden, zu der Art und Höhe der Bil- 
dung gelangt fei, die ihre Anlagen geftatteten, ift nicht felten als 
dem Anblick, den uns die Gefchichte gewährt, einfacher entfprechend, 
jener Anſicht von der anfänglichen Einheit der Menfchheit entgegen 
geftellt worden. In verfchiedenen Formen hat man fie vorgetragen, 
deren jede ihr eigentbiimliches Intereffe erweckt. 

Man hat es zunächſt nöthig gefunden, zwei Zweige der Menſch⸗ 
heit zu trennen, den thätigen der Weißen, den leidenden der farbigen 
Racen. Träumeriſch leidſam und läſſig ſollen die letztern, Heimat 
und Ruhe liebend, Nichts von der raſtloſen erfinderiſchen Unruhe 
beſitzen, welche das Erbtheil des weißen Stammes bilde; er allein 
habe, von dem Geiſte des Fortſchritts getrieben, ſich nach allen Sei— 
ten hin anregend erziehend und knechtend über die Länder ergoſſen, 
und der Trägheit der farbigen Völker Keime der Geſittung gebracht, 
welche dieſe unfähig geweſen ſeien aus ſich ſelbſt zu erzeugen. Selbſt 
die Vergleiche haben nicht gefehlt, welche die letzteren mit den Mo— 
nokotyledonen des Gewächsreiches zuſammenſtellen, jenen Gräſern 
und Schilfen, die in ungeheurer gleichförmiger Maſſe wuchernd ein⸗ 
tönige Landſchaften grün färben; die weiße Race allein erzeuge die 
geſchichtlichen Perſönlichkeiten, die einzeln zählen, ſo wie das Diko— 
tyledonenreich allein die maleriſchen Einzelgeſtalten der Bäume. 
Wie ſchön ließe ſich dieſer Vergleich durch Rückſicht auf die ausge— 
dehnten Kieferwaldungen des Nordens und auf die einzelnen Pal⸗ 
men des Südens bis zu einer Genauigkeit verbeffern, die ihn ganz 
etwas Anderes fagen laſſen würde! Wir würden lernen, daß die 
äußern Bedingungen der Heimat und des Klima wohl aud, Diko- 
tyledonen zu einem Gefindel herabmwiürdigen, das nad) Tauſenden 
zählt, und daß auch Monofotyledonen ſich unter günftigem Himmel 
zu Geftalten ausbilden, die unfere Bewunderung erregen. Geftehen 
wir indeffen zu, daß diefe Anficht, ohne im Einzelnen richtig zu fein, 
doch im Ganzen eine wirkliche gefchichtliche Thatſache bezeichne; un⸗ 
folgerecht aber ift fie, wenn aud) fie doch die Einheit des menfch- 


94 


lichen Geſchlechts fefthalten zu können glaubt, obgleich fie emen vom 
Anbeginn nutzloſen At von dem einzigen fruchttragenden durch eine 
größere Kluft trennt, als abgejehen von dem Einfluſſe Der Züch⸗ 
tung und Erziehung jonft zwiichen zwei natürlichen Arten der näm⸗ 
lichen Gattung vorhanden zu fein pflegt. 

Uebereinftimmender mit ſich jelbtt läßt eine andere Meinung, 
die das Band der gemeinfamen Abſtammung aufgibt, Die verſchie⸗ 
denen Menfchenarten am verfchievenen Punkten der Erdpberfläche 
unabhängig von einander entftehen: neben der weißen Race viel- 
leicht nur die mongolifche in Der Mitte Aſiens heimifch, während 
das heiße Afrita den ſchwarzen Menſchen erzeugte, Amerika von 
Anfang an den rothen hegte, und ein unbekannter Mittelpuntt in 
der Nähe der Sundamfeln allmählich die Eilande und Geftade der 
Südſee ımd des ftillen Meeres bevöllerte. Auch dieſe Anficht Hat 
bisher weder fiegen fünnen, noch ift fie befiegt worden; nicht einmal 
den Inhalt ihrer eigenen Behauptung hat fie genau zu begrenzen 
vermocht. Denn weder die Unabftammbarkeit der Racen von glei⸗ 
cher Wurzel ift entfcheidend erwieſen, noch reichen Die Schwierigkeiten, 
welche der weiten örtlichen Berbreitung einer noch hülfloſen Menſch⸗ 
heit entgegenftehen, zum Beweiſe der Nothwendigkeit vereinzelter 
Entftehung jedes Bolles in feiner Heimat zu. Mancherlei That: 
Tachen fallen im Gegentheil noch oft in unfere Erfahrung, welche Die 
Möglichkeit meiter Wanderungen zu Land und See felbit unter den 
ungünftigften Umftänden beftätigen. Aber ebenfo fehlt e8 ander⸗ 
feit8 an einer zulänglihen Anzahl Harer Anzeichen iiber den wirk⸗ 
then Hergang jener VBerzweigung der Menfchheit in unähnliche 
Formen und über Die Wege, welche ihre Verbreitung über den Erd⸗ 
boden wirklich genommen hätte „Keine Ausfiht auf die Ext- 
deckung einer einzigen Urfprache ift bisher vorhanden; die gletchar- 
tigen Bildungselemente aber, die fidh bei räumlich ſehr wert 
getrennten Bölfern finden, fünnen theilweis wohl auf frühzettigen 
Berfehr und Mittheilung von Gedanken deuten, aber nicht den 
gemeinfamen Urfprung derer beweifen, die ihren Befig gegemfeitig 
austaufchten. Bei dDiefem Gleichgewicht der Gründe und der Gegen- 


95 


gründe kann erſt die Zukunft über die Gültigkeit jener Behauptung 
von einer unabhängigen Entjtehung der Racen entſcheiden; anderfeits 
aber blieb ihr eigner Inhalt bisher unbeitimmt um der Ungemig- 
heit willen, welche über die Anzahl der anzunehmenden urfprüng- 
lichen Menſchenarten, über den Gang ihrer Vermifchungen und 
über ihre in bejchränkter Ausdehnung vorkommenden Umartungen 
beſteht. Es war willfürlid,, daß wir jene fünf Stämme hervor- 
hoben; vielleicht würden noch andere mit gleichem Recht anzu= 
führen fein; e8 ift ebenfo willkürlich, wenn auch diefe Anficht doc 
gewöhnlich Die Entftehung der verſchiedenen Racen als eine nahezu 
gleichzeitige Schöpfung der Menjchheit denkt; vielleicht gehört viel- 
mehr jede von ihnen einer befonderen geologischen Beriode an. Dann 
fünnen denen, die wir kennen, manche andere in der üußerften Ur- 
zeit vorangegangen fein, von denen wir Nichts wiſſen, fei es, daß 
fie feine Spuren zurücdließen, oder weil die Denkmäler ihres Da- 
jeins in dem Boden der großen Feſtländer von Aften und Afrika 
ruhen, deren paläontologifche Durchforſchung kaum begonnen hat. 
Der gegenwärtige Zuftand der Wifjenfchaft erlaubt über Diefe Dinge 
feine feſtes Urtheil; unfere Auffafjung wird in beftändiges Schwan⸗ 
fen Durch unerwartete Entdeckungen verjeßt, die fich drängen und 
Die nicht eher ficher zu deuten fein werden, bis ihre mwachjende 
Anzahl ihren Zuſammenhang deutlicher macht. Bald eröffnen ſich 
ahnungsvoll ungeheure Fernſichten auf eine Vorgeſchichte unferd 
Geſchlechtes, die allen unfern bisherigen Vorftellungen fremd ift, bald 
Ichliegen fich Diefe Durchblicke wieder, und die großen Bilder, die fie 
boten, verkürzen fich zu Darftellungen geringfügiger Ereignifje inner- 
halb der kurzen gefchichtlichen Zeit, die wir kennen. In folchen 
Augenbliden iſt ed nuglos, um jeden Preis eine Entjcheidung er- 
zwingen zu wollen; nützlich nur, Die verſchiedenen Möglichkeiten ins 
Auge zu faflen und die Folgen vorzubedenken, welche die fpätere 
Beftätigung einer jeden für Die Gefammtheit unferer Weltanficht 
entwideln würde. 

Dies haben wir verfucht, und wenn wir gefunden zu haben 
glauben, daß die Urfprungseinheit des menfchlichen Gejchlechts nicht 


96 


zu den Gedanfen gehört, deren Wahrheit fir die Bedürfniſſe unfres 
Gemüthes unentbehrlich wäre, fo theilen wir anderfeits in Nichts 
die feindfelige Stimmung, mit der wir ihre gleichwohl mögliche 
Wahrheit jo oft beftritten fehen. Verlieren würde doch in der 
That die Menſchheit Nichts, wenn diefe Anſchauung richtig wäre, 
an der, fo wenig fie unentbehrlich ift, Doch lange Zeitalter ſich 
gläubig erfreut haben; und gewinnen wiirde fie ebenfo wenig, 
wenn ed gelänge, durch den Nachweis ihrer zerjtreuten und viel- 
fachen Entjtehung ihr Schidfal dem des Grafes auf dem Telde, 
deſſen Halme wir nicht zu einer Einheit zufammenzählen, äußer- 
lich ähnlicher zu machen. Nur begreifen können wir jene Feind— 
jeligfeit; fie wird überall fehr natitrlich entjtehen, wenn ein miß- 
verftändlicher Eifer für gemiffe Anfchauungsformen, in denen 
ausſchließlich Die religiöfe Wahrheit liegen fol, einzelne Fragen, 
an welche die Wifjenfchaft unter der Leitung der Beobachtung 
ein unzweifelhaftes Recht hat, im Boraus dem Urtheil derjelben 
zu entziehen fucht. Indem er die Wifjenfchaft beeinträchtigt, ge= 
winnt diefer Eifer Nichts fr fich felbft; denn da er die kom— 
menden Ergebniffe der Unterfuchung doch nicht abwenden Tann, 
fo wird er fich zulegt in die üble Lage verfegt finden, feinen 
Glauben nad) den Entdedungen des Tages richten zu müffen. 
Er würde diefem Schickſal fich entziehen, wenn er im Voraus 
fi deutlicher machte, daß die wahren Güter des Glauben! un= 
abhängig von den beitimmten Yormen des gefchichtlichen Ver— 
laufs der Dinge, und am wenigften ausſchließlich an eine einzige 
gebunden find. 


Mit der Annahme eines vielfüpfigen Urfprungs der Menſch— 
heit pflegt Die andere von urfprünglich verfchiedener Begabung 
der einzelnen Gefchlechter verbunden zu fein. Einen eigenthiim- 
lichen Widerfpruh findet diefe Verknüpfung bei einer Anficht, 
welche ohne Vorliebe für die gefchichtliche Urfprungseinheit der 
Menſchheit gleichwohl die Einheit der Gattung und die anfäng- 
liche Gleichheit ihrer Bildungsanlage feithalten zu müſſen meint. 


s 97 


Die Berfchiedenheit der Entwidlung, welche die einzelnen Völker 
erfahren haben, auf angeborne und feſtſtehende Unterfchiede ihrer 
leiblichen und geiftigen Organifation zurüdzuführen, ſei eine Ver⸗ 
fürzung der Wifjenfchaft,. deren Aufgabe vielmehr darin beftehe, 
durch den Nachweis aller" natürlichen und gefelligen ‚Einflüffe, 
welhe auf die gleichen Anlagen der Menfchheit eingemwirkt 
haben, ihr Auseinandergehen in verfchievene Lebensformen be= 
greiflich zu machen. Es ift gewiß überflüffig, auf die Wahrheit 
befonder8 binzumeifen, die ohne Zweifel in diefer Anforderung 
an die Wifjenfchaft liegt; räthlicher vielleicht zu erinnern, daß 
auch diefer richtige Grundfag der Forſchung ſich felbft über— 
treiben fann. 

Er ift völlig berechtigt in der Unterfuhung aller derjenigen 
Erfcheinungen, welche noch jegt für unſere Beobachtung, im Zu- 
fammenhang mit andern und durch andere bedingt, ſich wieder⸗ 
holen und von neuem wiedererzeugen; anderſeits kann er aber 
doch der Natur jelbft feine größere Einfachheit ihrer Anfänge auf- 
ziwingen, als dieſe fie wirklich beſitzt. Wer fir die Erſcheinungen 
des organischen Lebens eine eigenthiümliche Lebenskraft annimmt, 
fann ſich bald liberzeugen, daß deren vorausgeſetzte Wirkſamkeit 
auf allen Seiten durch phyſiſche Bedingungen bejtimmt ift, und 
darin liegt flir ihn die Nothwendigkeit, die Erfolge dieſer Kraft 
als Ergebniffe zu erflären, die aus zuſam menwirkenden Gründen 
nad) denfelben allgemeinen Gefegen entjpringen, denen jene äußern 
Einflüffe unterworfen find. Wer dagegen alle Pflanzen auf eine 
Urpflanze, alle Thiere auf ein Urthier zurüdführt, entfernt ſich 
einestheild von der Erfahrung, deren Thatfachen durch Nichte 
zu folcher Bermuthung auffordern, und behauptet anderſeits einen 
Borgang, der feineswegs, abgefehen von der Erfahrung, aus all- 
gemeineren Gründen nothwendig ift. Denn daß, ebenfo wie unfer 
Denken, auch die Natur felbit in ihrem Schaffen von dem Unvoll= 
fommenen zum PVolllommenen, vom Einfachen zum Zufammen= 
gefetten, von dem gleichartigen Wllgemeinen zu der Mannigfaltigkeit 
des Befonderen fortfchreite, ift nur infomeit eine glaubliche Ver— 

Loge, III. 3. Aufl. 7 


98 


muthung, ald Die Natur eben des Unvollfommenen Einfacdhen und 
Gleichartigen bedarf, um durch dafjelbe als wirkendes Werkzeug 
die mannigfaltigere Vollkommenheit des Einzelnen herzuftellen. 
Wo wir diefen ernfthaften fachlichen Nutzen nicht vorausſetzen können, 
den die Befolgung eines ſolchen Weges der Natur hätte bringen 
können, haben wir feinen Grund, ihr denfelben Gang als noth- 
wendig zuzumuthen, den unfere Gedanken hinterher bei der Bes 
trachtung Bergleichung und Claffification der bereits fertigen Wirf- 
lichleit nehmen. Die Natur fehafft nicht zuerft die Dinge und 
dann ihre Eigenfchaften; nicht zuerft die Stoffe und dann ihre 
Kräfte; ebenfo wenig muß fie nothwendig und felbitverftändlich 
den allgemeinen Gattungsbegriff, unter den fpäter unfer Denfen 
eine Bielheit von Arten zufammenfaffen Tann, zuerft in einer ein⸗ 
zigen Urgeftalt ausprägen, um Hinterher aus ihr durch nachträg⸗ 
liche Einwirkung hinzukommender Bedingungen jene Arten gefchichte 
lich zu entwideln. Sie kann vielmehr unftreitig mit der vollen 
Mannigfaltigfeit aller der Geſchöpfe beginnen, welche gleihmög- 
liche Fälle eines Allgemeinen find, und zu deren unmittelbarer Her- 
borbringung ihr die nothwendigen fachlichen Hülfsmittel nicht abgeben. 

Bertheidigen wir jedod die Möglichleit diefer Annahme, fo 
empfehlen wir Doch ihren leichtfinnigen Gebrauch nicht. Die Grund» 
füge, nad) denen wir geiſtiges Xeben iiberhaupt beurtbeilen müſſen, 
würden uns vor Allem niemals gejtatten, einzelne geiftige Ver⸗ 
mögen, ſolche, die nicht felbft deutliche Erzeugniffe der Bildung 
find, einzelnen Stämmen von Grund aus abzufprecdhen, andere 
durch ihre ausfchließliche Zuerfennung zu ſchmücken. So gemein 
gültig nicht nur für die Menfchen, fondern auch fiir die Thiere 
find die allgemeinften Gefege, nach denen die Ereigniffe Des 
Geelenlebens verlaufen, und fo eng und vielfeitig anderſeits ber 
Zufammenhang zwiſchen den verjchievenen Formen der geiftigen 
Thätigfeit, daß zwei Arten von Geiſtern, die in Bezug auf viele 
Kreife diefer Thätigleit eine fo vollkommene Gleichartigfeit dar⸗ 
bieten, wie fte bei den verfchiedenen Menfchenftimmen vorkommt, 
nicht wohl in Bezug auf einen andern Kreis derfelben durch das 





99 


Dafein oder den Mangel einer urjprünglichen Befähigung ge= 
ſchieden fein können. Gibt e8 eine Verſchiedenheit urfprünglicher 
Begabung, fo liegt fie ohne Zweifel in dem, was auch bie 
einzelnen Glieder eined und deffelben Stammes am auffälligiten 
unter einander feheidet: nicht in der Natur und Wirkungsweife 
der geiftigen Kräfte überhaupt, die für alle gemeinfam find, 
fondern in der Gemüthsart. Dieſe, die eigenthilmliche Miſchung 
der Antriebe, durch welche den geiftigen Kräften die Richtung 
ihrer Thätigkeit und ihre Ziele, die Lebhaftigkeit Vielſeitigkeit 
und Nachbaltigfeit ihrer Uebungen beitimmt wird, mag theils 
durch angeftammte Befonderheiten der organiichen Bildung, theils 
durch urjprüngliche Eigenheit der geiftigen Natur den verfchie- 
denen Stämmen verfchieden zugetheilt fein. Site aber ift es, 
welche die Größe der erreichbaren Entwidlung beftimmt, je nad) 
der Richtung, nad) der fie übermädtig das Intereffe der ganzen 
geiftigen Regſamkeit lenkt, je nachdem fie den Geift empfänglicher 
für Verhältniſſe der Dinge macht, deren Betrachtung und Behands 
fung ihn unvermeiblic, weiter führen muß, oder feine Befrie- 
digung ihn in Beichäftigungen und Lebensformen finden läßt, 
welche feinen treibenden Keim bes Fortfchritts enthalten. An der 
Schwierigkeit, ein nachhaltiges Interefle an den Gütern unjerer 
Bildung zu erweden, fcheitert weit mehr ald an dem Mangel 
der zu ihrem Verſtändniß nöthigen Einficht die Bemühung, höhere 
Sefittung über die Völker auszubreiten, die ihr bisher völlig 
fremd geblieben find. 

Ob nun in der That diefe Verſchiedenheiten der Gemüths⸗ 
arten unaufbebliche Unterfchieve der urfprünglichen Ausftattung, 
sder ob doch auch fie nur angefammelte Wirkungen langmwährender 
äußerer Lebenslagen find, fehmierig, aber allmählich dennoch zu 
überwinden: dieſe Frage kann die bisherige geſchichtliche Er— 
fahrung kaum entfcheiden. Die Völker, die bisher eine lange 
Rebensdauer gehabt haben, verrathen uns häufig, durch alle auf- 
fallenden Ummandlungen ihres Bildungszuftandes hindurch, die 
zäbe Fortdauer eigenthlimlicher Charakterzlige, die oft nur das 

7* 


100 


Feld ihrer Aeußerungen wechſeln. So ſchätzbar die Verſuche find, 
die Verſchiedenheiten der menſchlichen Entwicklung nur aus den 
Einwirkungen der Lebensbedingungen zu erklären, ſo machen ſie 
uns doch bis jetzt die Erlaubniß nicht entbehrlich, eigenthümlich 
verſchiedene Ausprägungen der allgemeinen menſchlichen Natur 
als die gegebenen Grundlagen annehmen zu dürfen, welche jenen 
Bedingungen ſich in den verſchiedenen Zweigen der Menſchheit 
verſchieden darboten. 

Unſere Urtheile über alle dieſe Fragen pflegen jedoch nie— 
mals allein von wiſſenſchaftlichen Gründen, ſondern zugleich von 
verſchwiegenen ſittlichen Bedürfniſſen und Zweifeln abzuhängen. 
Auch die Abneigung, jene Möglichkeit urſprünglicher Ver— 
ſchiedenheit gerade auf dieſes Beiſpiel, auf die Menſchheit, an— 
zuwenden, beruht auf einem Grunde ähnlicher Art. Wenn ver⸗ 
ſchiedene Gefchöpfe durch völlig verſchiedenes Gattungsgepräge von 
einander abweichen, fo findet man es nicht auffällig, daß dem 
einen die Vorzüge des andern fehlen; jedes von ihnen fcheint ſich 
billig mit dem begnügen zu follen, was ihm feine Natur bietet. 
Die Menfchenracen aber find durd) die überwiegende Aehnlichkeit 
ihrer wejentlichjten Züge einander fo nahe gerückt ald möglich, und, 
was noch mehr gilt, zu einem gemeinfamen Leben der Wechfel- 
wirkung inArbeit und Genuß befähigt; bier würde eine Verfchieden- 
heit der geiftigen Begabung, die nicht bloß Verſchiedenheit, ſondern 
Abſtufung des Mehrund Minder märe, die meniger begabten Stämme 
als ungerecht um einen Theil der Mittel verkürzt erfcheinen lafjen, 
auf die fie zur Erfüllung ihrer gleichen menfchlichen Lebensaufgaben 
gleihen Anſpruch hatten. Dies Bedenken iſt nicht ohne Gewicht; 
wir geben vielmehr die Räthjelhaftigkeit der Annahme zu, daß 
eine Menfchenart durch einen verborgenenen Mangel ihrer Organi= 
fation für immer von der Erreihung einer Bildung abgehalten 
fein folle, zu deren Gewinnung fie alle äußerlich erkennbaren 
Fähigkeiten zu, befigen fcheint; aber dieſes Räthfel ftellt uns die 
Geſchichte in noch viel drüdenderen Geftalten fo oft auch fonft 
por Augen, daß unfer Mangel an Berftändniß fiir daffelbe fidy 


101 


auch hier nicht zu der Leugnung feines Daſeins darf hinreigen 
laſſen. Denn noch undeutbarer als jene innerlihen Natur- 
behinderungen des Fortichritts find ung die zahlreichen Fälle, in 
denen theild Einzelne der bevorzugteiten Stämme weit unter der 
ſonſt vorfommenden Höhe der Begabung ihres Volles zurüd- 
bleiben, theil® ganze Nationen Jahrhunderte lang durch äußere 
Berhältniffe verhindert werden, eine Bildung zu entwideln, Die 
ihrer wirklichen geiftigen Begabung keineswegs überlegen ift. 
Können wir diefe Thatfache, Die Tyrannei der äußern Bedingungen, 
nicht ändern noch leugnen, jo haben wir ebenfowenig Grund, Die 
zurüdhaltende Gewalt der urfprünglichen Naturausftattung un= 
denfbar zu finden. 


Die Abneigung gegen das Zugeſtändniß einer angebornen 
Berfchiedenheit in der Gemüthsart der Völker hängt nicht undeut- 
lich mit der mehr und, mehr ſich ausbreitenden Anfchauungsweife 
zufammen, die womöglich alleBorherbeitimmung der künftigen Ent- 
wicklung in dem menfchlichen Geifte befeitigen und ihn als felbft- 
Iofes bildjames Material den äußern Bedingungen zur Erziehung 
überlaffen möchte. Wie in der Kunft der menfchliche Geſchmack 
wechfelt, fo audy in der Betrachtung der Gejchichte; und obgleid) 
man leicht zugefteht, daß jede der einander entgegenftrebenden An- 
fichten ihre bedingte Berechtigung habe, fehlt es doch nie an um- 
rechtmäßigen Ueberjchreitungen der Grenzen ihrer Gültigkeit. Der 
Idealismus der früheren Gejchichtsbehandlung verfuhr häufig jo, 
als lebe der menjchliche Geift auf Erden bebiürfniglos in einem 
reinen Yether, als laffe er, nur dem Drange feines eigenen Weſens 
laufchend, Die melodifche Neihe feiner finnvollen Entwidlungen 
unverfürzt durch irgend einen Widerftand aus fich hervorgehen, 
und beuge fi) nur nebenbei zu der Profa der irdiichen Verhält- 
niffe herab, um fie zu einem Spiegelbild feiner eignen Herrlich- 
feit zu verflären. Diefem Idealismus gegenüber macht der Rea- 
lismus unferer Zeit freilich mit Recht die anregende bejchränfende 
und leitende Macht geltend, welche eben jene irdiichen Verhältniffe 


102 


auf Das beblirfnißreiche und ungewiſſe Wejen der gebrechlichen 
Menſchheit ausüben. Aber weder jener tbvealiftiichen Anficht ift 
die übertriebene Faſſung unentbehrlich, die wir eben erwähnten, 
noch hat ihre Gegnerin Recht und Pflicht, ihre nothwendigen 
und wohlbegrüindeten Nachweifungen zu dem mephiftophelifchen 
Hohne zu fleigern, mit dem zumeilen allen edleren Triebfebern 
ber Entwicklung außer dem dringenpften Bedürfniſſe ihre Wirf- 
ſamkeit beftritten werden joll. 

Nur die Pflanze ift beftimmt, ohne Rüdwirkungen, welche 
das Gepräge der Thätigkeit trügen, von der Gunft der äußern 
Umftände zu leben, ihrem mäßigen Wechjel fich anzubequemen, 
größerem wehrlos zu unterliegen. Der Thierwelt fällt die Be- 
friedigung ihrer Bebürfniffe faum irgendwo ohne alle eigne Be- 
mühung zu, und ihre Regſamkeit erhebt fich in einzelnen Gattungen 
bi8 zu dem Inſtinct zufammengefegter gefelliger Arbeit. Aber 
eben in diefen Leiftungen, zu denen zwar äußere Eindrüde die 
Thiere anregen, deren Form fie aber nach einem unveränderlichen 
Antrieb ihrer Natur aus fich ſelbſt beftimmen, erjcheinen fie uns 
weniger frei und thätig, als in den minder auffallenden Ber- 
richtungen, durch die fie in engen Grenzen die Ausführung jener 
den veränderlichen Umftänden anpaflen. Die Menjchheit, durch 
feinen ähnlichen Naturtrieb auf ein beftimmtesGefchäft hingewieſen 
und beſchränkt, fieht Die ganze Erde als Feld ihrer Thätigfeit vor 
fih und muß durch vielfache Erfahrung erfinden lernen, was den 
Thieren die Natur einprägte: die nothwendigen Ziele die wirk- 
jamen Werkzeuge und die nüßliche Gliederung ihrer Arbeiten. 
Sie kommt zu diefer Aufgabe nicht ohne Mittel, aber ohne von 
Natur zu deren Anwendung einen Antrieb in einfeitiger Richtung 
empfangen zu haben; mit der unbefangenen Empfänglichleit ihrer 
Sinne, und mit der Fähigkeit, gewonnene Eindrüde in gegen: 
feitige Beziehungen innerer Zufammengehörigkeit zu bringen, wird 
fie durch ihre Bedürfniſſe genöthigt, unbefannte Quellen der Be- 
friedigung aufzufuchen. Zu der Befriedigung felbft nun flirt der 
Inftinet gewiß leichter, als die taufendfach irrende Ueberlegung, 


103 


die der Erfahrung folgt; aber jeder Irrthum, der ein vorgeſetztes 
Ziel verfehlt, findet auf feinem Wege andere Wahrheiten, die un- 
entdedt geblieben wären, wenn ein unfehlbarer Naturtrieb die 
Seele unmittelbar zu ihrem Zmede gefiihrt hätte Schon bie 
einfachiten Borlommniffe des täglichen Lebens entwickeln daher in 
den ungebilvetiten Böllern wenigſtens eine Summe von Gefchid- 
lichkeiten, die Eigenſchaften der Dinge nad) allgemein phufifchen 
Geſetzen zu benutzen, auch wenn nie diefe Geſetze, wie Die des 
Gleichgewichts oder des Hebels ausdrücklich zum Gegenftand 
eined auf fie gerichteten Bewußtſeins werden. Und alle diefe Er⸗ 
fenntnifle, eben weil fie nicht al8 angeborne Mitgift des Geiftes 
vorhanden waren, fondern im Zuſammentreffen mit den Dingen 
fi) bildeten, und fo erlebt wurden, werden wie Erzeugniffe der 
eigenen Thätigfeit gefühlt. 

Im Anfang nun mag der Einzelne durch eine Art von 
oberflächlichem Raubbau der nächiten Umgebung Schub und Un= 
terbalt abgewinnen; die anwachſende Gefellihaft mit der zuneb- 
wenden Menge ihrer Bedürfniffe und den neuen Anfpriichen, welche 
jie entwidelt, fieht fich genötbigt, Durch überlegte Theilung und 
Berknüpfung ihrer Kräfte auch die verborgenere Nutzbarkeit der 
Naturerzeugniffe auszubeuten. Indem fie größere Bodenftreden 
in zuſammenhängende Eultur jegt, entlegene Gegenden zum Aus⸗ 
taufch ihrer Güter verknüpft, durch mannigfache Bearbeitung der 
geiwonnenen den Reihthum und die Bequemlichkeit ihrer nächiten 
Lebensumgebungen fteigert, wandelt fie immer größere Gebiete 
der Erdoberfläche zu einer zweiten, wohnlichen Natur, zu Dem 
Schauplatz einer gefelligen Lebensordnung um. In demielben 
Maße, als dies gelingt, Lodert fich der Zufammenhang des Menſchen 
mit der elementarifchen Außenwelt; er gewöhnt ſich, Die meiftenjeiner 
Bebürfniffe nicht mehr unmittelbar von ihr, fondern aus dritter 
Hand durch das Ineinandergreifen der gejelligen Arbeit befriedigt 
zu ſehen; mit feinen Borftellungen, feinen Gefühlen Sorgen und 
Planen ift er weit mehr auf dieſe neue zweite Ordnung der Dinge, 
auf das verfettete Ganze der menfchlichen Geſellſchaft verwieſen, 


104 


als auf die urfprüngliche Natur, die immer mehr dem Blicke 
fich entziehende Grundlage feines Daſeins. 

Erft dann, wenn diefer erfte Fortſchritt den Schwerpunft 
des Daſeins aus der natürlichen Welt in die fünftliche Welt der 
Gefellihaft verlegt hat, beginnt das eigenthlimlich menfchliche 
Leben und die Möglichkeit feiner weitern Entwidlung. Denn aus 
dem Stegreif zu genießen, was die gejchaffene Natur freiwillig 
darbietet, find die Thiere mit uns gleichbefähigt; die auszeichnende 
Aufgabe der Menjchheit ift e8, die Welt erſt zu erichaffen, in 
welcher fie ihre höchften Güter finden fol. Die mannigfacdhen 
Möglichleiten des Daſeins und Benehmens, welche der Lauf der 
Dinge und unferer Triebe darbietet, hatte fie durch Gedanken 
des Rechts und der Billigfeit zu beſchränken; die Erzeugnifie 
der Natur fammt dem Boden der fie hervorbringt, mußte fie durch 
vielfache Bearbeitung in eine Welt von Gütern umwandeln, 
deren Gewinnung Bewahrung und Benubung die zerftreuten 
Kräfte der Einzelnen zu einem zufammenhängenden Ganzen auf 
einander berechneter Berufsarten verband; aus den gejelligen Be- 
gegnungen, welche der Naturlauf herbeiführt und die beginnende 
Gemeinfamkeit der Arbeit fteigert, follte fih eine Lebensgemein⸗ 
ſchaft entwideln, die manche freiheit opferte, welche Die Natur 
und geftattet und manche Berbinplichkeit fih auflegte, für 
welche dieſe feinen Grund weiß. So baute der menfchliche Geift 
über der greifbaren finnlichen Welt des thatfächlich Vorhandenen 
die nicht minder reiche Gliederung einer Welt von Berhältniffen 
auf, Die daſein follen, weil ihr eigener ewiger Werth ihre 
Verwirklichung gebietet. Und diefe ganze Fünftliche Ordnung des 
Lebens, die er zu der gefchaffenen Natur binzuerfchaffen Hatte, 
erichien dem Geifte der Menfchheit nur in einzelnen Augenbliden 
der Verzweiflung, die dem Bewußtwerden begangener Mißgriffe 
entiprangen, als ein willfürliches wideraufhebliches Gebilde feiner 
eigenen Erfindung; im Ganzen hat dem Gemüthe der Mienfchen 
die fociale Ordnung ganz in der Weile einer unaufheblich gege- 
benen Naturnothwendigkeit imponirt. 





105 \ na j 
Den Aufbau diefes geiftigen Univerfum Vu — 

offenbar nicht erwarten, ohne mancherlei auffordernde und 
leitende Einwirkung äußerer VBeranlafjungen, aus einer von 
felbft beginnenden Entfaltung des menjchlichen Geiftes erfolgen 
zu fehen. Ein Drang zum Fortſchritt Liegt in uns keineswegs 
von Natur wie eine gefpannte Triebfever, die fi) auszudehnen 
fucht; fondern wie die Körper, die aus ihrem Ruhezuſtand von 
felbft nicht heraustreten, aber in Bewegung gefeßt mit dieſer 
Bewegung auf Widerftände drüden, ebenfo erwächſt dem menfch- 
lichen Geift der Trieb zum Fortichritt, ſowie die Richtung, Die 
er nehmen wird, aus der Geſchwindigkeit der Entmwidlungsbe- 
mwegung, in der er bereit begriffen if. Gewiß dürfen wir die 
Ideale des Schönen Wahren Guten und Rechten als einen 
angebornen Beſitz unferd Gemüthes betrachten, aber Doch nur 
in der Weije, in welcher diefer Ausdrud überhaupt Anwendung 
zuläßt. Sie ftehen nicht von Anfang an als deutliche Bilder 
dem Bewußtſein gegenüber, ſondern nachdem viele Gelegenheiten 
unfere fittlihe Natur zur Billigung oder Verwerfung von man- 
cherlei Handlungen veranlaßt haben, befinnen wir uns päter erſt 
auf fie und erkennen in ihnen die Grundfäße, noch denen unfer 
Urtbeil vorher verfahren if. Und wären fie wirklich unferem 
Bewußtſein als urfprünglid, in ihm lebendige VBorftellungen einge- 
boren, welchen Werth würden fie für unjere Entwidlung gehabt 
haben? Die vergleichende Beweglichkeit unſers Denkens vermag 
zwar das Gefühl der Verehrung, mit der jedes einzelne Schöne 
Rechte und Gute uns durchdringt, von diefen einzelnen Urjachen 
feiner Anregung zu trennen und an die allgemeinen Begriffe des 
Schönen Rechten und Guten zu knüpfen: aber wie feines dieſer 
Ideale anderswo Wirklichkeit hat als in dem Körper beitimmter 
Berhältniffe, die e8 befeelt, jo wiirde feines won ihnen auch nur 
für unfere Borftellung einen deutlichen Inhalt beiten, wenn wir 
nit an einzelne Beifpiele feiner Verwirklichung zurückdenken 
könnten. Selbft von dem unergründlichen Reichthum des gött— 
lichen Weſens, wenn wir einerjeit8 den Werth aller Ideale in 


106 


ihm zu vormweltlicher Seligfeit vereinigt denken, pflegen wir Doch 
anderſeits zu erwarten, daß es in die Schöpfung einer mannig- 
faltigen Geftaltenwelt ausbrechen werde; erſt dieſe jcheint durch 
die anſchaulichen Beziehungen zwilchen ihren einzelnen Elementen 
der noch formloſen Allgemeinheit jenes ivealen Inhalts eine Fülle 
beftimmter Ausprägungen und damit jene volle Wirflichfeit zu. 
verfchaffen, Die Dem vorher in ſich ſelbſt verfchloffenen Doch noch zu 
fehlen ſchien. Der Geift der Menjchheit kann dieſe geheimniß⸗ 
volle Schöpferthat nicht vollziehen; ihm konnte nicht die Aufgabe 
geftellt fein, aus der geftaltlofen Stimmung heraus, in welcher 
für ihn etwa der angeborene Befit jener Ideale beftanden haben 
würde, mit erfindender Phantafie eine Welt von Fällen ihrer mög- 
lichen Anwendung zu erdenken. Darin geht vielmehr unfer gan= 
zes geichichtliches und ungefchichtliches Dafein auf, Die gegebenen 
Verhältniſſe der irdiſchen Welt, in die wir geftellt find, auf uns 
wirken zu laſſen als die Anregungen, die überhaupt Anfer Handeln 
erft hervorrufen, al8 die richtunggebenden Bedingungen, die ihm - 
feine möglichen Zielpunkte und feinen Inhalt beftimmen, als den 
Stoff endlich, in welchem wir das Vorbild des Ideals zu ftets 
einzelnen und beſchränkten Erfcheinungen ausprägen. Vieles Schöne 
vieles Gute und vieles Gerechte läßt fich verwirklichen; aber es 
bleibt ftet3 dasjenige Schöne, welches dieſe irdifche Welt, das Gute 
und Gerechte, welches dieſe irdiichen Verhältniſſe zwilchen ver— 
gänglihen Wefen zu fafjen und in fi aufzunehmen vermögen. 
Wer das Schöne an fid) verwirklicht fehen möchte, oder das Gute 
und das Gerechte, fo wie e8 an fich wäre, ohne durch ein thatjäch- 
liches Verhältniß, innerhalb deſſen e8 gelten ſoll, zugleich veran= 
laßt und vereinfeitigt zu fein, wird eben fo Widerſprechendes ver⸗ 
langen, als wer die Geſchwindigkeit eines Fahrzeugs, deſſen Be- 
wegung durch Reibung gegen den Boden zugleich erſt möglich ge— 
macht und zugleich verzögert wird, Durch völlige Hinwegräumung 
dieſes Widerftandes befchleunigen wollte. 

Der Beranlafiungen bedarf alfo die menſchliche Entwidlung, 
und der Idealismus der Gefhichtsbetrachtung hat Unrecht, wenn er 


107 


an diefer Abhängigkeit der gemachten Fortichritte von Bedingungen 
Anftoß nimmt, die der Geift der Menjchheit ſich nicht felbft er= 
dacht, fondern auf feinem Wege vorgefunden hat. Aber die 
Bedingungen des Anfangs und die des Fortgangs der Bildung 
find nicht ganz Die nämlichen. Bon einer bereits erreichten 
Stufe der Gefittung wird die Menfchheit überwiegend durch 
die drängende Macht dieſer Gefittung felbjt zu einer anderen 
Stufe getrieben, in weldyer fie mit dem bereit8 erwachten Bes 
wußtfein zu erreichender Ziele die Ergänzung ihrer noch un— 
befriedigten Bedürfniſſe fucht; die erften Schritte der Entmwid- 
lung dagegen konnten nur durch Naturbegünftigungen möglich, 
gemacht werden und empfingen von ihnen ihre nächſte Richtung. 
Kein Rechtöverhältnig ift am Anfange der. Bildung denkbar ohne 
unmittelbare Beziehung auf Gegenftände des Bedürfniſſes oder 
des Genuffes, deren Benugung zwiſchen verfchiedenen Anfprüchen 
getheilt werden muß; die Natur aber wird durch Kargheit oder 
Freigebigkeit den Werth der Erzeugniffe beftimmen, die dem be= 
ginnenden Rechtsgefühle Die erften Objecte feiner orbnenden Thä- 
tigkeit werden. Keine Entwidlung der Perfönlichkeit zu ftetiger 
Lebensführung ift ohne zufammenhängende Arbeit möglich; durch 
die Eigenthlimlichkeit der Stoffe, die fie anbietet, und Die DBe- 
dürfniffe, Die fie auferlegt, wird zuert die Naturumgebung den 
Antheil des Lebens, welcher der bloßen Friſtung deifelben geopfert 
werden muß, gegen den andern abgrenzen, der feinem Genuſſe 
zufällt; jie wird zugleich Durch die Art der Arbeit, die fie ge— 
ftattet oder zu melder fie auffordert, den menfchlichen Geiſt ent= 
weder in einem engen Kreife von Borftellungen und Zhätigfeiten 
gefangen halten, oder ihn zu einer vieljeitigen erfinderifchen Reg⸗ 
famkeit anfpornen. Die Ausbildung künſtleriſcher und veligiöfer 
Anfchauungen hängt gewiß nur zu einem kleineren Theile und 
nicht in den iwefentlichiten Beziehungen von dem unmittelbaren 
Eindrude ab, den die Naturumgebung auf die menſchliche Phan- 
tafie macht; mittelbar ift die Einwirkung diefer Umgebuug den- 
noch groß; denn nad) der Milde Anmuth und Beweglichkeit, die 


106 


ihm zu vorweltlicher Seligfeit vereinigt denken, pflegen wir doch 
anderjeit8 zu erwarten, daß es in die Schöpfung einer mannig- 
faltigen Geftaltenwelt ausbrechen werde; erſt dieſe ſcheint durch 
die anfchaulichen Beziehungen zwiſchen ihren einzelnen Elementen 
der noch formlofen Allgemeinheit jenes ivealen Inhalts eine Fülle 
beftimmter Ausprägungen und damit jene volle Wirklichkeit zu. 
verfchaffen, Die dem vorher in fich ſelbſt verichloffenen Doc, noch zu 
fehlen ſchien. Der Geift der Menfchheit Tann dieſe geheimniß- 
volle Schöpferthat nicht vollziehen; ihm konnte nicht die Aufgabe 
geftellt fein, aus der geftaltlofen Stimmung heraus, in welcher 
für ihn etiva der angeborene Befig jener Ideale beitanden haben 
würde, mit erfindender Phantafie eine Welt von Fällen ihrer mög- 
lichen Anwendung zu erdenken. Darin geht vielmehr unfer gan 
zes geichichtliches und ungefchichtliches Dafein auf, die gegebenen 
Verhältniſſe der irdiichen Welt, in die wir geftellt find, auf ung 
wirfen zu laffen als die Anregungen, die überhaupt ünfer Handeln 
erft hervorrufen, als die richtunggebenden Bedingungen, Die ihm - 
feine möglichen Zielpunkte und feinen Inhalt beftimmen, als den 
Stoff endlich, in welchem wir das Vorbild des Ideals zu ftets 
einzelnen und beſchränkten Erfcheinungen ausprägen. Vieles Schöne 
viele8 Gute und vieles Gerechte läßt ſich verwirklichen; aber es 
bleibt ſtets dasjenige Schöne, welches Diefe irdifche Welt, das Gute 
und Gerechte, welches diefe irdiſchen Berhältniffe zwifchen ver— 
gänglichen Weſen zu fallen und in ſich aufzunehmen vermögen. 
Wer das Schöne an fid) verwirklicht fehen möchte, oder das Gute 
und das Gerechte, fo wie e8 an fich wäre, ohne durch ein thatjäch- 
liches Verhältniß, innerhalb deſſen e8 gelten fol, zugleich veran- 
laßt und vereinfeitigt zu fein, wird eben jo Wiberfprechendes ver⸗ 
langen, als wer die Gejchwindigkeit eines Fahrzeugs, deffen Be- 
wegung durch Reibung gegen den Boden zugleich erſt möglich ge- 
macht und zugleic, verzögert wird, durch völlige Hinwegräumung 
dieſes Widerftandes befchleunigen wollte. 

Der Beranlafiungen bedarf alfo die menfchliche Entwidlung, 
und der Idealismus der Gefchichtöbetrachtung hat Unrecht, wenner _ 


107 


an dieſer Abhängigkeit der gemachten Fortichritte von Bedingungen 
Anftoß nimmt, die der Geift der Menſchheit ſich nicht felbft er- 
dacht, fondern auf feinem Wege vorgefunden hat. Aber die 
Bedingungen des Anfangs und die des Fortgangs der Bildung 
find nicht ganz Die nümlichen. Von einer bereit8 erreichten 
Stufe der Gefittung wird die Menfchheit überwiegend durch 
die drängende Macht diefer Gefittung felbft zu einer anderen 
Stufe getrieben, in welcher fie mit dem bereitd erwachten Bes 
wußtfein zu erreichender Ziele die Ergänzung ihrer noch un 
befriedigten Bedürfniſſe fucht; die erften Schritte der Entmwid- 
lung dagegen Tonnten nur durch Naturbegünftigungen möglich 
gemacht werden und empfingen von ihnen ihre nächſte Richtung. 
Kein Rechtsverhältnig ift am Anfange der. Bildung denkbar ohne 
unmittelbare Beziehung auf Gegenftände des Bedürfniſſes oder 
des Genufjes, deren Benugung zwiſchen verfchievenen Anfprüchen 
getheilt werden muß; die Natur aber wird durch Kargheit oder 
Sreigebigkeit den Werth der Erzeugniffe beftinnmen, die dem be— 
ginnenden Kechtögefühle die erften Objecte feiner ordnenden Thä— 
tigkeit werden. Keine Entwidlung der Perfönlichkeit zu ftetiger 
Lebensführung ift ohne zuſammenhängende Arbeit möglich; durch 
die Eigenthümlichkeit der Stoffe, die fie anbietet, und die Be— 
dürfniffe, Die fie auferlegt, wird zuerft die Naturumgebung den 
Antheil des Lebens, welcher der bloßen Friftung deilelben geopfert 
werden muß, gegen den andern abgrenzen, der feinem Genuſſe 
zufällt; fie wird zugleich durch die Art der Arbeit, die fie ge= 
ftattet oder zu welcher fie auffordert, den menſchlichen Geift ent» 
weder in einem engen Kreife von Borftellungen und Thätigkeiten 
gefangen halten, oder ihn zu einer vieljeitigen erfinderifchen Neg= 
famkeit anfpornen. Die Ausbildung fünftlerifcher und religiöfer 
Anſchauungen hängt gewiß nur zu einem Hleineren Theile und 
nicht in den wefentlichiten Beziehungen von dem unmittelbaren 
Eindrude ab, den die Naturumgebung auf die menſchliche Phan= 
tafie macht; mittelbar ift die Einwirkung diefer Umgebuug den- 
nod) groß; denn nad) der Milde Anmuth und Beweglichkeit, die 


108 


fie der Lebensfitte und den Formen des Umgangs erlaubt, richtet 
fih die Lebhaftigkeit und Vieljeitigfeit der geiftigen Wechjel- 
wirfungen innerhalb der Gejellfehaft, die der Ausbildung jeder 
zufammenhängenden Weltanficht unentbehrlich find. Wie endlich 
die Gedankenwelt ded Einzelnen verfümmert, wenn ihr die anre= 
gende Unterbrechung des Verkehrs mit fremden Meinungen fehlt, 
fo ift auch für die fortichreitende Bildung der Völker die Berüh— 
rung ihrer verfchiedenen Lebensanfichten, vielleicht nach einem oft 
vermutheten Naturgejege jelbft‘ die Förperliche Verſchmelzung ein= 
ander nicht allzu fremder Racen nothwendig. Wo die Natur des 
Landes durch gangbare Verkehrswege für dieſe Wechſelwirkung 
der Nationen geſorgt hat, ſehen wir die Bildung der Menſchheit 
am früheſten in Die Bewegung eines zuſammenhängenden Fort⸗ 
ſchritts gerathen; fie hat fid) Dagegen durch Jahrtauſende auf den= 
jelben gleichförmigen Stande erhalten in Gebieten, deren unwirth— 
liche und ſchwer überfteigliche Grenzen ihre Bewohner auf die ftete 
Benußung derjelben Hitlfömittel undLebensbedingungen einſchränkten. 

Alle diefe Gedanken haben felbft in ihrer ausfiihrlicheren 
Darftellung, auf die hier zu verzichten ift, Längft ſchon den Reiz 
der Neuheit verloren, feit der moderne Realismus der Gefchichts- 
forfhung jene Abhängigfeit der Eulturbemegung von den geogra= 
phifchen Verhältniffen der Erdoberfläche zu einem Lieblingsgegen- 
ftande feiner Unterfuchuugen gemacht bat. So dankenswerth diefe 
indeſſen find, jo wenig reichen fie doch völlig aus, um den eigen- 
finnigen Gang, den die Gefchichte wirklich genommen hat, ganz 
zu erflären. Das Unmdgliche kann die Menjähheit freilich nicht 
leiften; wir begreifen daher, daß in einen Lande, deffen Armuth 
und Rauheit dem Leben nur Schwierigfeiten bereitet, feine ein= 
heimiſche Eultur entjpringen, fondern nur eine anderswo großges 
zogene Wurzel faffen konnte Aber das Vorhandenfein günftiger 
Bedingungen an anderen Orten erklärt keineswegs ihre Benugung. 
Sp entwidlungsbegierig ift der Geift des Menfchen von Anfang 
an feineswegs, daß er Durch die Gunft der Natur fich zu allen 
Yortichritten, welche fie möglich macht, ſogleich wirklich hinreißen 


109 


ließe. Gleichgültig kann der Menſch lange Zeit hindurch Naturer- 
zeugniffe handhaben, Die zu einem beftimmten Gebrauch unmittel- 
bar einzuladen fcheinen, und kann dennoch dieſen Gebrauch nicht 
entdeden; nicht einmal die Noth macht in dem Sinne erfinderiſch, 
daß fie liberall durch ein Nachdenken, welches ſpäteren Fortſchritt 
einleiten könnte, Befriedigung der Bedürfniſſe fuchen hieße; fo 
groß it vielmehr die natürliche Trägheit des Menſchen, daß er 
zufriedengeftellt durdy die Abwehr des äußerſten Elends, lange 
Zeit die bejtändige Wiederfehr von Leiden erträgt, deren Abwen⸗ 
dung einer einigermaßen nachdenklichen Verwendung der Mittel, 
die ihm wirklich zu Gebote ftehen, keineswegs ſchwer fallen würde. 
Man täufcht fih daher, wenn man in der Gunft geographifcher 
Berhältniffe, deren Nutzbarkeit unferer geübten Aufmerffamteit 
fogleich entgegentritt, eine antreibende Macht zu fehen glaubt, die 
ohne auf eine glüdlihe Empfänglichkeit des Menſchen rechnen 
zu müflen, fie mit der Nothmendigfeit eines Naturprocefies in 
eine beftimmte Richtung und Gelchwindigfeit der Entwidlung 
hineingedrängt hätte Am wenigiten endlich wird fich die eigen 
thümliche Färbung, welche die entſtehende Cultur bei verfchie- 
denen Bölfern angenommen bat, vollftändig aus einer entipre= 
enden Eigenthümlichfeit der äußern Bedingungen herleiten laffen. 
Man wird zugeftehen müſſen, daß ähnliche Berhältniffe verichiedene 
Früchte gezeitigt haben, deren Keim man zunächſt in den gefhicht-. 
lichen Sciedjalen der Völker, zulegt in der unnachrechenbaren 
Summe der inneren Triebfedern juchen muß, die ihr Gemüths⸗ 
leben bewegten und felbft wieder jene Schickſale mit beftimmten. 


Werfen wir nun, ohne irgend einen Anfpruch auf Bolfitän- 
digkeit in der Aufzählung jo unendlich mannigfacher Thatfachen, 
einen Bli auf die Völferkreife, deren ungefchichtlich gebliebenes 
oder abgebrochenes gefchichtliches Leben uns feine Gelegenheit ge- 
ben wird, ihrer fpäter ausführlicher zu gedenfen, jo werden wir 
ihr Schidfal zum Theil wohl, aber nur zum Theil, aus den Be- 
dingungen ihrer äußern Lage begreiflich finden. Ohne eine ge= 


110 . 


wiffe Dichtigkeit der Bevölkerung, welche die Menjchen mit ihren 
Bedürfniffen und Anfprüchen, mit der VBerfchiedenheit ihrer Tem- 
peramente und ihrer Lebenserfahrungen nicht nut zu häufiger Be= 
gegnung, fondern zu Dauerndem Verkehr in Streit und Eintracht 
zufammendrängt, ift die Entftehung einer höheren menjchlichen 
Bildung unmöglich. Nur wenige Himmelsftriche boten der begin- 
nenden Gejellfchaft die hierzu nothmwendigen Begünftigungen, indem 
fie durch freiwillige Fruchtbarkeit des Bodens das Leben leicht 
machten, durh Miſchung von Gunft und Ungunft des Klima 
Beduürfniſſe weckten, ohne ihre Befriedigung zu verkümmern, end- 
lich durch Mannigfaltigfeit der Erzeugnifle und der Eindrücke, 
welche fie gewährten, eine hinlängliche Verfchiedenheit einander er- 
gänzender Arbeits- und Sinnesrichtungen begründeten. 

Der kalte Erdgüirtel kann nicht die Heimat feiner Bewohner 
fein, denen die Noth zwar den Scharfjinn zur Befriedigung der 
dringendften Bebürfniffe weckte, aber jeden Verſuch zu Schönheit 
und Yülle des Lebens vereitelte. Die Abhängigkeit von wenigen 
beftimmten Erzeugniflen einer fargen Natur hat die Arbeit zur 
Friſtung des Lebens ſchwer, und zu gleichfürmig für alle gemacht. 
Ohne den Seehund ift das Dajein des Grönländers kaum denkbar. 
In Seehund- und Rennthierpelz unförmlich vermummt, eingefchnürt _ 
in die Fellbefleivung des Kajak, des fchmalen fpigen nur einen 
Dann tragenden Fagdboots, durchſchneidet er mit unnahahmlichen 
Ruderkünſten das eifige Meer, den Seehund zu erlegen; zurückge⸗ 
krochen in die fenfter- und thürloſe Winterhütte von Stein Treib- 
holz Rafen und fell, bei dem Schein immer brennender Xampen, 
deren Moosdocht der Speck des Seehunds nährt, genießt er die 
fettreiche Beute, und der Stoff der Unterhaltung ift die Iebhaft 
gegebene und aufmerffam gehörte Schilderung der Jagd; fo ſaß 
er, und fo legte er ji aus und warf den Harpunenfpeer. Und 
in dem befjeren Ienfeits, bier in den Tiefen des Meeres geahnt, 
erwartet er Ueberfluß an Vögeln Filchen Seehunden und Renn⸗ 
thieren; nur daß er den furzen Sommer und Sonnenjchein feiner 
Heimat dort beftändig hofft, verräth feine Empfindung des Drudes, 


111 


unter den ihn fein Klima beugt. Wenig ändert fich dies düſtere 
Bild eines fiimmerlichen Lebens an dem ganzen Norbrand der 
alten Welt je nad) den örtlichen Berfchievenheiten der Tage und 
der Hilfsmittel; nirgends haben dieſe Einöden höheres menfch- 
liches Leben erzeugen können und nur in verfümmerten Spuren 
haben fie den Stämmen, die durch unbekannte Schickſale in fie 
abgevrängt worden find, Reſte einer Bildung gelaffen, die fie in 
glüdlicheren Wohnfigen früher erworben hatten. Die Spärlichkeit 
des Unterhalts auf ungeheuren Landftreden hat überall die für 
Anfänge ftaatlicher Bildungen nöthige Dichtigkeit der Bevölkerung 
verhindert; auf fehr gleichartige Beichäftigung alle angemiefen, 
durch die Schwierigkeit des Verkehrs von einander und von jeder 
fremden Bildung getrennt, haben die zerftreuten Familien weder 
zu einer erziehenden Arbeitstheilung fortfchreiten können, noch 
hatten fie Grund zur Entwidlung von Gefellfhaftsformen und 
Rechtöbegriffen, fiir welche die Fälle der Anwendung fehlten. 
Die Outartigkeit des Naturelld und manche geiftige Begabung 
haben nicht verhüten können, daß in dieſem Dafein voll Fürper- 
licher Mühſal die gröbften Genüſſe der Sinnlichkeit zulegt als 
die einzigen wirklichen Lebensgüter galten. 

Unter anmuthigen Yormen ftatt der abjchredenden find Die 
Bölfer der Siivfeeinjeln nicht mwejentlich weiter gelommen. Als 
man fie zuerjt fah, wie fie mit muthwilliger Behendigfeit fich im 
Meere wiegten, auf dem Lande in höflicher gaftfreier Gefelligfeit 
verfehrten, mit Tänzen Ringfpielen Geſang und Geplauder die 
Zeit kürzend, ohne emfige Arbeit zwar, doc ihre wenigen Pflan- 
zungen mit Geſchick beitellend, Wohnung und Kleidung faum be- 
bitrfend. aber geſchmackvoll in dem, was fie davon bejaßen, ge- 
fund und fchnellfeäftig, felbit die älteften Greife zufrieden und 
mwohlgelaunt: als man fie fo ſah, fchienen fie den Stand des Pa⸗ 
radieſes bewahrt zu haben. Nähere Belanntichaft zeigte die 
Schatten des ſchönen Bildes. Die Enge der Infeln hatte aller- 
dings die Bevölkerung zu lebhafterem Verkehr zufammengedrängt; 
aber die Gunft des Klima hatte die Arbeit zu wenig dringend, 


112 


feine Gleichförmigkeit und die feiner Erzeugniffe das Leben aller 
zu gleichartig gemacht. Zu Hein waren die Infeln zum Schauplag 
größerer Entwürfe, unerreichbar jedes größere Feſtland, das durch 
fremdartige Natur und Bewohner dem Geifte eine aufregende Er- 
weiterung feines Gefichtöfreifes geboten hätte; die oceanifche Ab- 
geſchloſſenheit konnte kaum Größeres als ruhiges Hinleben ent- 
wideln. Aber das Idyll ift eine haltbare Xebensform nur als 
zeitweilige Zurückgezogenheit aus einer Bildung, die man fennt: 
ed ift fein menſchenwürdiges Dafein, mo es Eins und Alles fein 
fol. Wo Jeder nur die natürlichen Fähigkeiten feiner Gattung 
als Einfag in den Verkehr bringt, ohne fie durch eigenthümliche 
Bildungsarbeit zu unvergleichbarer Individualität entwickelt zu 
haben, wird auch jeder nur als benutzbares und verbrauchbares 
Beiſpiel diefer Gattung gelten, und das Leben der Gefammtheit 
wird wie das einer Thierheerde, nur mit dem geiftuolleren Racen- 
gepräge des menfchlichen Geſchlechts, am Ende doch nur Die Genuß- 
quellen der natürlichen Ausftattung ausbeuten. Weder Wifjen- 
ſchaft noch Kunft noch Sittlichleit haben ſich Daher aus den nicht 
geringen geiftigen Anlagen diefer Infulaner entwidelt; auch jenes 
Idyll haben nur menige ſchuldlos gelebt; Gejellichaften zu maß- 
loſer Wolluft gefchloffen und zu Kindermord verpflichtet, konnten in 
der allgemeinen Gutmüthigkeit und Freundlichkeit des Verkehrs 
beftehen und Menfchenfrefferei war weit verbreitet. So fpielten 
fie als bübfche Naturprodukte mit einander mit aller Anmuth 
ihrer Gattung, um fchließlich einander zu verzehren. 

Eine andere Duelle des Elends, den Polarvölkern un— 
befannt, Tam hinzu. Von Nordweſten ber, wo auf der fagen- 
haften Inſel Bolotuh Götter ſich von unfterblichen Aetherfchweinen 
nähren, foll früh eine beilfarbige Race fich über die Infeln er- 
goffen und ihre dunklere Urbevölferung verdrängt und gefnechtet 
haben. Durch zahlloſe Mifchungen find die äußeren Unterjchiede 
der Racen verwiicht; aber eine ftrenge Kaftengliederung, nicht 
auf Unterfchiede der Bildung, faum auf ſolche der Beſchäftigung, 
fondern weſentlich auf die abgeftufte Reinheit der Abftammung 


113 


gegründet, hatte fi erhalten. Nur dem Abel der Eries gab 
fie Rechte ohne Pflichten, dem nieder Volke Pflichten ohne 
Rechte, nur jenen Unfterblichkeit und Vergötterung nach dem 
Tode, während fie dieſem nicht einmal eine menfchliche Seele im 
Leben zugeftand. Eiferſüchtig ihren Rang untereinander beivachend, 
behandelten die Edlen das Bolt im Allgemeinen nicht graufam, 
obwohl gelegentlich die Seelenlofen ohne Bedenken mordend; noch 
weniger war die Geduld der Unterworfenen zu erfchöpfen, deren 
Beſitz der Edle durch das Tabu, das feine Berührung mittheilte, 
für fie unberührbar und für fich verfügbar machte. Priefterlicher 
Einfluß überwog theilweis den der weltlichen Gewalt, mie bei 
allen Naturvölfern, denen vorgebliche geiftige Bevorzugung als 
das Seltenere höher gilt, als die häufige körperliche Niüftigfeit ; 
aber hier wie im Norden vertrat er nicht eine fittliche Wahrheit, 
fondern jenen Aberglauben, der aus dem Grauen vor den un= 
befannten Mächten der Natur entipringt, und von einer grund- 
faglofen Phantafie auf unberehenbare Bahnen getrieben, faft 
überall nur zur Häufung von Greueln, aber zu feiner vernünftigen 
Ordnung der Tebensverhältnifje geführt bat. So finden ſich hier 
ſpitzfindige Verwidlungen der gefelligen Ordnung, anmuthige 
Natürlichkeit des Dafeins, völliger Mangel an allen höheren 
Zielen des Xebens, zueinem widerſpruchsvollen Ganzen verſchmolzen. 

Die belebende Berührung mit fremden Bölfern Sitten und 
Lebensanfchauungen, die den Bolynefiern fehlte, ift den Negern 
und den Indianern Nordamerikas fruchtlo8 zu Theil geworden. 
Die Geftade des Mittelmeeres fahen nad) einander die glänzenden 
Culturen der Aegypter der Phönicier der Griechen Römer 
Saracenen; fie waren allerdings durch die breite Wüſte bon der 
Heimat der Neger getrennt, aber durch Jahrtauſende bindurd) 
fehlte e8 nicht an einem lebhaften Verkehr, der diefe Schwierigkeit zu 
überwinden wußte. Alle diefe gewiß tief in das Innere reichenden 
Einwirkungen gebilveter Völker haben Feine Civilifation der 
Tchwarzen Stämme, weder große Stantenbildungen, nod) Anfänge 


heimiſcher Kunft und Wiffenfchaft, kaum dürftige en 
Loge, IIL, 8. Aufl. 


- 


114 


zur Ausſchmückung des Lebens hervorgerufen. Diefelben Leiden 
ſchaften, welche die Meufchen überall bewegten, baben auch in 
Afrika feit alten Zeiten Kriege und wechſelnde Macht der ver= 
ſchiedenen Stämme herbeigeführt; aber während in der Gefchichte 
der weißen Race die Herrichaft jedes einzelnen großen Volles 
fi in bleibenden Denkmälern feiner Eigenthümlichkeit verewigt 
und in dem Zuſtande der Gefellfchaft einen unvergeklichen Abſchnitt 
gemacht hat, find alle Diefe Bewegungen der ſchwarzen Menſchheit 
erfolglos geweſen, und die Wellen fchlugen nachher ſtets ebenso 
wieder zufammen, wie bevor fie für den Augenblick durch eine 
ungewöhnliche Unternehmung getbeilt worden waren. 

In der Erflärung diefer großen gejchichtlichen Thatſache 
jtehen entgegengejegte Meinungen noch heute fchroff fich gegeniiber. 
Die Annahme einer geringern Bildungsfähigfeit der ſchwarzen 
Race verdient kaum eine Widerlegung, wenn fie in jenem über- 
triebenen Sinne gemadt wird, welcher die Scheußlichleit Der 
Sklaverei rechtfertigen fol. Die Erfahrungen, die ſelbſt unter 
diefen ungünſtigen Umständen in Amerifa zahlreich genug gemacht 
find, würden jedenfall verbieten, in einer unüberfchreitbaren 
Beihränkung der Berftandesbegabung ein Dauerndes Hinderniß fir 
die Entwidlung des ſchwarzen Stammes zu fehen. Nur in der 
Gemüthseigenthümlichkeit, welche überall Kraft und Richtung der 
Berwendung geiftiger Fähigkeit beftimmt, wiirde man Bedingungen 
fuchen können, melde dem Neger den felbftändigen Anfang der 
Bildung unmöglih, Das Aneignen einer fremden wenigſtens 
fchwer gemacht haben. Gutmüthigfeit, die ihn auszeichnet, ift 
nirgends im Anfange der Völkergefchichten das Erfinderiiche; 
weit mehr bat der böſe Wille der Herrſchſucht und des unbedenf- 
lichten Egoismus alle Kräfte des Geiftes zum Angriff angeipannt 
und alle Hülfsquellen zur Vertheidigung anffuchen laſſen. Nicht 
durch ihre größere Gittlichleit hat die weiße Race die Welt 
gewonnen, fondern durch die hartnädige Ausdauer, mit der fie 
über alle8 herfiel, was ihrem mitleidslofen Scharffinne und der 
Folgerichtigfeit ihrer überlegten Plane nur leidenſchaftliche Auf- 


115 


wallungen und zufammenhanglofe Aufopferungen entgegenzufegen 
hatte. Dem Neger verfpridt fein Temperament ſolche Erfolge 
nicht. Leichtblütig die Stimmung wechfelnd wird er von jedem 
neuen Eindrud angeregt und zerſtreut, und ift zu ftetiger Arbeit 
jo wenig geneigt, als zur Fortfegung von Gedankenreihen durch 
jene wichtigen Mittelglieder hindurch, dienicht Durch eignes Intereffe 
reizen und Doc Die unentbehrlichen Verknüpfungen des Werth- 
volleren find. Die Wärme feines Herzend macht ihn religiöfer 
Erweckung zugänglich, aber die Zügellofigfeit feiner Phantafie 
läßt auch diefe Gefühle leichter zum Beweggrund großer Auf- 
opferungen, als zum Anfang einer im Kleinen georbneten Lebens⸗ 
führung werden. In diefer Miſchung des Temperaments Tiegen 
ohne Zweifel viele dem felbitändigen Beginn höherer Bildung 
ungünftige Züge, aber auch einige, melde der Unterordnung 
unter kraftvolle und erfinderifche Geifter günftig genug find, um 
entweder die Nahahmung fremper Eultur oder aud die all- 
mähliche einheimifche Entwicklung unter dem zufammenhaltenden 
Drud eines einfichtigen Despotismus erwarten zu laffen. Beides 
hat bis jet nicht ftattgehabt. Die Unfähigkeit des haitinifchen 
Negerſtaats, zu dauernder Ordnung zu gelangen, hat allerdings 
in dem frifchen Urfprung beflelben aus einer dur Sklaverei 
verborbenen Maſſe zu viel natürliche Gründe, um flir immer die 
Erfolglofigleit ähnlicher Anläufe der Schwarzen Race zu bemeifen, 
zu denen günftigere Gelegenheiten ihr biöher fehlten. In Afrika 
felbft dagegen beweift das Vorhandenfein theild der despotifch, 
theils der mehr demokratiſch regierten Staaten, daß eine äußer⸗ 
liche formelle Ordnung der Gefellihaft dem Geifte der Race nicht 
unmöglich ift, nur daß der menfchenwirdige Inhalt des Lebens 
fehlt, der durch diefe Formen feine höhere Entwidlung fände. 
Daß der Neger diefen Inhalt nicht von der europäiſchen Civili- 
fation entlehnte, erklärt ſich theils aus der feinpfeligen Art, in 
ber diefe ihn auffuchte, theils aus dem allzugroßen Gegenfate, 
der zwilchen ihrer verwidelten Mannigfaltigfeit und feinen 
eignen einfachen Lebensgewohnheiten beſtand. Mit derfelben 
8* 


116 


Unempfänglichkeit fehen wir auch die mühevoll Iebenden Maſſen 
der weißen Völker fi vor der Bildung ihrer höheren Stände, 
wie vor der Lebensart einer andern naturgefchichtlichen Species, 
zurüdziehen und nach der ihrigen fortleben, die ihnen begreiflich 
it. Daß endlich die Neger nie in ihrem Vaterlande durch eignen 
Fortſchritt Keime höherer Gefittung entdedten, mag in den 
geographiichen Bedingungen ihrer Heimat gewichtige, obgleich 
ſchwerlich ganz zureichende Erflärungsgründe finden. Sie liegen 
theils in der erfchlaffenden Einwirkung der Hitze, welche weder 
förperliche noch geiftige Arbeit mit der Lebhaftigkeit erlaubt, Die 
ein gemäßigtes Klima geftattet, theil8 in der natürlichen Frucht⸗ 
barfeit des Landes, welche Die wenigen Bedürfniſſe des tropifchen 
Himmelöftrih8 zu mühelos befriedigt, theils in der Frühreife 
der körperlichen Entwidlung, weldye den Zeitraum der Erziehung 
verkürzt und die Selbftändigfeit des Lebens zu früh beginnen 
läßt; endlich allerdings auch in der Schwierigfeit des Verkehrs 
durch die ungegliederte Maffe des großen Continents, welche die 
ohnehin wenig verichievenen Tebensweifen der einzelnen Stimme 
weder unter einander noch mit den Anfchauungen ſtammfremder 
Völker in Hinlängliche Wechjelmirkung treten läßt. Ob nur aus 
diefen Umftänden jene Sinnesart der Negervöller hervorgegangen 
ift, welche fie fo wenig zum Portfchritt eignet, ob alfo unter 
befferen klimatiſchen Bedingungen Generationen, welche Zeit gehabt 
haben werben, das angeerbte Stammestemperament der Heimat 
zu ändern, jenen Yortichritt nachholen werden, oder ob eine 
unüberwindliche Schranfe der Organifation fie ftet8 auf einer 
niedrigeren Stufe der Gefittung feithalten muß: dieſe Fragen 
können nur fie jelbft durch ihre eigne Zukunft entſcheiden. Obne 
Zweifel ift es unbillig, aus dem bisherigen Mangel gejchichtlicher 
Entwidlung auf die nothwendige Fortdauer deſſelben zu fchließen, 
und ohne Berüdfichtigung der hemmenden Einflüffe nur in natür- 
licher Unfähigfeit feinen Grund zu fuchen; aber auch anderfeits 
ift e8 nicht überzeugend, wenn man, geleitet von der keineswegs 
notbwendigen Borausfegung gleicher Organifation der ganzen 


117 


Menfchheit und von dem Abſcheu vor den Greueln der Sklaverei, 
die höheren Leiftungen, die eben in den bisherigen Iahrtaufenden 
der Gefchichte noch vermißt werden, ohne weiteren Grund als 
in der Zukunft noch bevorſtehende Hinzuergänzt. Für die Sitten 
lehre, welche die Geſetze unſers künftigen Verhaltens beitimmt, 
mag dieſe lettere Annahme, als die, welche nicht Unrecht thun 
wird, vorgezogen werden; die Betrachtung der vergangenen 
Geſchichte wird an diefer Streitfrage keinen gleich großen Antheil 
nehmen; denn eine urfprünglicd vorhandene Fähigkeit, die Jahr⸗ 
taufende hindurch) von unglinftigen Bedingungen fo gehemmt worden 
ift, daß fie nie zur Entwidlung kommen Tonnte, ift gejchichtlich 
fein geringeres Räthſel, als e8 die urfprüngliche Minderbegabung 
derfelben Bölfer geweſen wäre. 


Abſichtlicher noch, als die Neger, haben größtentheils die 
rothen Stämme Nordamerilas der europäifchen Bildung wiber- 
ftanden und felbft feine eigene von erheblicher Bedeutung entwidelt, 
obwohl ihre Tage früher beſſer geweſen ſein mag, ehe das ebergewicht 
und die Treuloſigkeit der Weißen ihre geſelligen Verhältniſſe völlig 
zerſtörte. Die überlegenen Mittel der europäiſchen, in günſtigeren 
Gegenden erwachſenen Bildung haben aus Nordamerika ein reiches 
Land gemacht; einer einheimifch beginnenden Cultur bot das 
waldige, weitlich waſſerarme, öftlich kalte Gebiet Schwierigkeiten. 
Unfere Getratdefrüichte fehlten, der im Norden kärgliche Ertrag des 
Mais führte zu keinem ftändigen Aderbau; Kartoffeln und die 
Hausthiere der alten Welt waren unbelannt, die verwandten ein- 
beimifchen Arten wenig zähmbar. Aber an Wild gab es Ueberfluß, 
und das Jägerleben, überall um der Selbftvertheidigung willen 
bie erfte, blieb hier die einzige Lebensform. Die Folgen waren 
alle der Civiliſation ungünſtig. Ohne andere Hülfsmittel nährte 
die Duadratmeile des beften Jagdgrundes nur wenige Köpfe; die 
Bevölkerung erreichte nie die Dichtigleit, Die zur Ausbildung ber 
Geſellſchaft nöthig ift; fie war abgehalten vom feßhaften Leben 
und feinen erziebenden Wechſelwirkungen. Die Pein der Hungers- 


118 


nöthe, in ihren Sagen furchtbar genug gefchilvert, machte die 
Sorge für die Yamilie zur Laft; edle Freigebigkeit, die der Un- 
geſchicktere von dem glüdlichen Jäger erivartete, dieſer bereitwillig 
übte, nahm jenem den Trieb zu größerer Anftrengung, dieſem 
die nützliche Selbftfucht, die durch Freude am Anwachs des Er- 
werbe8 zu weiterblidlenden Entwürfen lockt. Die Nothwendigteit 
fteter Kampfbereitſchaft für den Mann wälzte alle gewöhnliche Arbeit 
auf die Frauen, denen doch die Armfeligfeit des zu verwaltenden 
Eigenthums feine Gelegenheit gab, weibliche Walten werth zu 
. maden. Die weite Zeritreuung und die Unkenntniß des Metall- 
gebrauch binderte höheren Gewerbfleiß. Auf vie Kindlichiten 
Berfahrungsmeifen des Reimend- und Bindens befchränft, felbft Die 
mühſam gejchliffenen Steinfchneiden der Aerte durch Lederftreif 
oder Pflanzenfafer in der Rinne des hölzernen Stiel befeftigend, 
übten fie ſich nur in zierlichen Geflechten und Geweben, Sachen 
der Geduld und einfaches Geſchmacks. Nur auf Waffen Schmud 
und unentbehrlichite8 Geräth wandten fie Mühe, zum Leiden 
überall mehr al8 zu umftändliher Abhilfe geneigt. Die Iagd- 
gewohnheit des Blutvergießens und die unvermeidlichen Zwiſte iiber 
die Grenzen der Jagdgründe, ernfthafte Dinge für ein Bolt, für 
welches das Waidwerk bittere Nothwendigkeit der Lebensfriſtung 
it, gaben ihrem Gemüth die Wildheit, die zu wechſelſeitiger 
Vernichtung führte So blieb ihr Leben ohne gefchichtlichen 
Sortjchritt, wie das Ringen eines Schwimmerd gegen ben 
Strom, das zwar hinreicht, ihn oben zu erhalten, aber ihn 
nicht weiter führt. 

Sie haben nicht immer die Duelle ihrer Uebel verkannt. 
Seht ihr nicht, fagt einer ihrer Häuptlinge, daß Die Weißen von 
Körnern, wir von Fleiſch leben? daß das Fleiſch über dreißig 
Monden zur Reife braucht und oft mangelt? daß jedesder wunder⸗ 
baren Körner, die fie in die Erde fteden, ihnen über hundert 
zuriidgiebt? daß das Fleiſch, von dem wir leben, vier Beine hat 
zum Entlaufen, wir nur zwei zum Berfolgen? daß die Körner 
da, wohin fie fallen, bleiben und wachen? daß der Winter für 


119 


uns die Zeit mühfamer Jagden, die der Ruhe fir die Weißen ift? 
Darum haben fie fo viele Kinder und leben länger als wir. 
Wahrlich, bevor die Cedern unfers Dorfes vor Alter abfterben, 
und die Ahornbäume des Thales aufhören Zuder zu geben, wird 
das Geſchlecht der Kornfüer das Geſchlecht der Fleifchefler vertilgt 
haben, wofern diefe Jäger fich nicht entjchließen auch zu ſäen. 
Wenige entſchloſſen fi. Das freie Leben in der Wildniß 
bat oft auch Eurspäer dauernd gefeffelt; die wahren Güter un- 
ferer Lebensordnung verſchwinden auch unter uns für Viele faft 
ungenofien unter der großen Anzahl Heiner Beichränkungen: 
dem Blide des Indianerd mußten um fo mehr diefe deutlicher 
als jene fein. Und eigenthümlich genug ift ohnehin die Ge- 
müthsart, mit der er dem fremden Einfluß entgegenfommt, jet 
fie nun urfprüngliche Mitgift der Race oder aus langer Ein- 
wirkung der Lebenslage entitanden. Die ftumme Haltung, Die 
nachdenflihe Stimmung, den unbeweglichen Stolz des rothen 
Kriegerd mag das Jägerleben mit feinen Geboten der Geduld, der 
Aufmerkſamkeit und Borficht, der Sammlung gegen Ueberrafchung, 
der Abhärtung gegen Leiden erzogen haben; aber Sitten und 
Sagen bezeugen doch einen Hang zur Schwärmerei, der weder 
allein aus diefen Gewohnheiten zu ſtammen, noch ganz nur das 
Hinbrüten eines unbejhäftigten Geiftes zu fein ſcheint. Ach mein 
Bruder, fagte ein Häuptling zu dem weißen Gafte, du wirft nie 
das Glück kennen, Nichts zu denken und Nichts zu thun; dies 
ift nächft dem Schlafe das Allerentzückendſte. So waren wir vor 
unferer Geburt, jo werden wir nach dem Zode fein. Wer gab 
deinen Leuten den fteten Wunſch, beſſer gefleivet und gefpeift zu 
fein, und ihren Kindern Schäge zu binterlaffen? Flirchten fie denn, 
Sonne und Mond möchten diefen nicht mehr leuchten, der Thau 
der Wollen und die Flüffe vertrodnen, wenn fie felbft dabinfein 
werben ? Gleich dem Felöquell ruhen fie nie; haben fie ein Feld 
geerntet, jo graben fie ein anderes, und als reichte der Tag nicht, 
fah ich ihrer, die im Mondſchein arbeiteten. Was ift Doch ihr 
Leben gegen das unfere, daß es ihnen Nichts gilt? Die Blinden, 


120 


fie laffen e8 vergehen! Wir aber leben in der Gegenwart. Die 
Bergangenbeit, fagen wir, ift nichts wie der Rauch, den der 
Wind verweht; die Zukunft aber, wo ift Die? Laßt uns alfo den 
heutigen Tag genießen; morgen wird er ſchon weit von uns fein! 
Das ift nicht die Rede des Stumpffinns. Im Gegentheil, 
läge fie uns in griechifchen Verſen vor, fo würden wir in latei⸗ 
niihen Anmerkungen die Feinheit bewundern, mit der fie die 
Berfehrtheit der weißen Nachbarn verfpottet, deren fo Viele tiber 
der Geſchwindigkeit des Vorwärtsgehens den Gedanken an ein 
Ziel vergeffen. Aber günftig freilich für die Entwidfung des 
gefelligen Lebens konnte dieſe Sinnesart nicht fein, fo lange 
fie beſtand und durch den vereinigten Einfluß der Lebensum- 
gebungen unterhalten wurde. Die Sehnjuht nad dem Süden 
indeffen, die in den Völkerwanderungen Europas lebte, hat auch 
diefe Stämme in alter Zeit getrieben, und während Nordamerika 
feine einheimifche Staatenbilvung fah, blendet uns in der Mitte 
des großen Feſtlandes das glänzende Bild des Reiches von Merico, 
und zahlreiche Trümmer bezeugen die einftige Blüthe noch anderer 
Mittelpunfte der Bildung, deren Gefchichte und verloren ift. 
Das milde Klima des Landes, das hier ſich zwiſchen beiden 
großen Meeren verengt, der vierhundertfältige Ertrag, den nicht 
felten der Mais gewährt, die Banane, die auf gleicher Bodenfläche 
mehr als den zwanzigfachen Nahrftoff des Waizens Liefert, geſtat⸗ 
teten bier das Anwachſen feßhafter Bevölkerung zu großer Dich— 
tigfeit. Die Scheidung des Lebens in Arbeit und Muße, die 
Theilung der Beichäftigungen wurde möglich; mit der Erzeugung 
bon Gütern und ihrem Angebot wuchſen die Bedürfniſſe; faft alle 
die Einrichtungen entitanden, die dem gefelligen Verkehr und dem 
Luxus des Lebensgenuſſes dienen. Zu ſorgfältigem Aderbau und 
der Pflege von Nutzbäumen und Heilfräutern gefellte ſich bereit8 
die Neigung zur Blumenzucht; die Weberei fchuf farbenreiche 
Prachtlleiver von Baumwolle mit eingewirktem Federflaum; vor 
Dbfidianfpiegeln konnte man fih mit Goldgefchmeide ſchmücken 
und mit Edelſteinen von tadellofem Schliff. Koftbare Geräthe 


121 


zierten ſchon die Tafel bei Gaftmälern, die unter zufammen- 
gefegtem Ceremoniell und mit allen Beigaben gebildeter Unter- 
haltung verkiefen; der Ton des Umfangs war böffich, anftändige 
mäßige Sitten herrſchten in dem werthgehaltenen Familienleben 
und waren Aufgaben der Erziehung Den Austauſch der 
Erzeugnifje vermittelten Märkte zu beitimmten Zeiten. In 
den großen volkreichen Städten, deren mehr als eine den 
Spaniern mit Granada in der Zeit feiner Blüthe zu metteifern 
fohien, bewegten fi an ſolchen Tagen viele Laufende durch Die 
ordnungsmäßig abgetheilten Verkaufsſtände der verfchiedenen 
Gewerbe, und ed fehlte dem lebhaften Berfehr weder die polizeiliche 
Aufficht, noch das ſtets figende Handelsgericht zur Entſcheidung 
entftandener Zwiſte. 

Die toktefifche Sage läßt als Stifter diefer Eultur den 
Heros Quetzalkohuatl, mit hellem Angeſicht und langem Bart, 
gefolgt von vielen Begleitern in langen Gewändern, aus unbe- 
fannter Ferne ber das Land betreten. Was auch der gefchichtliche 
Kern dieſer Ueberlieferung fein mag: die merifanifche Bildung 
ſcheint durch ihre Beſchränkungen ihren einheimifchen Urfprung zu 
bemeifen. Zu See war Quetzalkohuatl gelommen; aber Die See 
befuhren Mexikos fonft fo unternehmende Kaufleute nicht; Feines 
der Hausthiere der alten Welt, nicht einmal der Gedanke, einhei- 
mifche zu zähmen, war durch ihn in das Land gelommen ; menfchliche 
Träger beförderten die Waarenballen auf den großen Straßen des 
Reichs; unfere Cerenlien blieben unbelannt, Mais bis zur Er- 
oberung durch die Spanier bie einzige Getraidefrucht; das Eifen 
mußten die Merilaner nicht zu gewinnen, mit Kupfer und Bronce 
bearbeiteten fie ohne Zugthiere den Boden, die Körner ftedend, 
nicht fäend, durd, Deihe und Gräben auf Bewäflerung bedacht; 
endlich feine der Schriftarten älterer Culturvölker haben fie an= 
genommen, fondern eine eigene Zeichenfchrift entwidelt. So ift 
feines der Elemente, welche die Weberlieferung einer fremden 
Gefittung am leichteften mitzutheilen pflegt, ihnen von außen 
gefommen, und ihre Eultur darf als die einheimifche Entwicklung 


122 


gelten, welche der indianifhe Geift unter milderem Himme 
erfubr. 

Diefelbe Gunft der Natur geftattete jenfeit des Aequator dem 
peruanifchen Küftenland eine merkwürdige Blüthe der Bildung; 
aber die nomadifchen Hirtennölfer, die in der alten Welt zuerft die 
Aufgabe iibernommen zu haben fcheinen, die einzelnen Brennpunkte 
der Cultur in gegenfeitigen Verkehr zu verflechten, fehlten Amerika, 
und zwifchen Merito und Peru fand kein Zufammenbang ftatt. 
Die große Ofthälfte Südamerikas ihrerfeitd erbrüdte den menfch- 
lichen Geift durch die Uebermacht ihrer Naturerfcheinungen. Un⸗ 
geheure Ströme mit unwiderftehlichen Ueberſchwemmungen, un= 
überjehbbare pfadlofe Wälber, die unausrottbare Kraft der Bege- 
tation, die jedes Culturfeld bald durch wilden Wuchs überwuchert, 
die Menge der großen reißenden Thiere und die Unzahl ber 
Heinen, die geflügelt oder Triechend in Furzer Zeit ganze Ernten 
verzehren: alle diefe Hindernifie ſtehen noch jeßt der Entwidlung 
Brafiltend durch die längft erftarkte europätfche Betriebſamkeit 
entgegen und mußten um jo mehr die Anfänge einzelner Stämme 
vereiteln. 

Europa und Afien würden, wenn wir Grund hätten, an 
Bollftändigkeit diefer flüchtigen Schilderung zu denken, die Maſſe 
des ungejchichtlich gebliebenen Lebens durch viele Völferftimme 
vermehren, die noch jeßt mit denfelben Sitten ſich auf denſelben 
Schauplätzen bewegen, auf denen wir fieam Beginn unferer Kennt- 
niß antreffen. Sie wilrden uns aufs Neue beftätigen, daß von 
einer Geſchichte, welche die Menfchheit umfaßte, für die Ver— 
gangenheit nicht geſprochen werden kann, fondern daß nur in einem 
feinen Bruchtheil des menſchlichen Geſchlechts fich jene zufammen- 
hängende Reihe von Begebenheiten ereignet hat, die wir mit 
unbegriindeter Berallgemeinerung bald die Gefchichte der Menſchheit 
nennen, bald als Weltgeichichte mit der Entwidlung aller Wirk 
lichfeit und mit der Entfaltung des Weltgeiftes gleichjegen. Bon 
der Zufunft aber haben wir al8 das Befte, was fie bringen kann, 
die Ausbreitung der europäiſchen Bildung über die Erde zu 


123 


erwarten. Denn Die einzige eigenthlimlich beginnende Entwidlung 
der farbigen Racen in Amerika ift durch die blutige Hand der 
Europäer, nod) ehe die Zukunft über ihre Fortbildungsfähigfeit 
entichieden hatte, vollftäindig abgebrochen worden; von dem Neger 
aber wird Niemand glauben, daß er jeßt noch, nachdem er 
überall den Einwirkungen europätfcher Eultur auögefegt ift, eine 
eigenthümlich nationale Bildung entwideln werde. Doch hat 
der Neger wenigftend die gegründete Hoffnung, feinen Stamm 
fortzufegen, während eine fehr allgemeine Anficht Indianer und 
Polynefier durch den Geift der Gefchichte jelbft zum Hinfterben 
vor der Nähe der höheren Faufafifchen Race bejtimmt fein Täßt- 
In Wahrheit bat nur die furditbare Grauſamkeit der weißen 
Eroberer und die Menge der Krankheiten, die fie mitbrachten 
oder Die ſich aus unaufgeflärten Gründen bei dem erften Zu— 
fammenftoß jehr verſchiedener Menfchenracen zu entwideln pflegen, 
jene farbigen Stämme bi8 zur Ohnmacht geſchwächt. Sehr ühn- 
liche Schieffale hatten im Mittelalter die Völker Europas mehr 
als einmal; aber fie hatten Zeit fich zu erholen, denn es war 
eine noch kaukaſiſchere Race hinter ihnen, die mit gleicher Con- 
ſequenz theils natürlicher theils Doctrinärer Grauſamkeit ein an- 
gebliches Urtheil der Weltgefhichte an ihnen zu vollſtrecken fuchte. 
Wo eine gleiche Erholung den farbigen Racen geftattet worden 
it, find auch fie in langſamer Wiedervermehrung begriffen; wo 
fie in der That hinfchmelzen wie Schnee, liegen zunächſt furcht⸗ 
bare Geheimniffe europätfcher Colonialregierung, ein Urtheil ber 
Gefchichte aber nur für den vor, der jeden verwirklichten That- 
beftand unter die nothmendigen Entwidlungsmomente einer. 
weltbeherrfchenden Idee zählt. 


124 


Fünftes Kapitel. 
Der Berlauf des gefhichtlihen Lebens. 


Die ſeßhafte Eultur und die Nomaden im Morgenland. — Semiten unb Indoger⸗ 
manen. — Daß griechiſche und römifhe Altertum. — Die Hebräerr und das 
Chriſtenthum. — Die germantihen Völker im Mittelalter. — Das Gepräge bie 
Aufgaben und bie Schwierigkeiten ber neuen Zeit. — 


Auch die alte Welt läßt uns die Abhängigkeit der menfch= 
lichen Bildungsanfänge von den Begünftigungen der Natur 
erkennen. Zwiſchen Yantfefiang und Hoangho, in den Niederungen 
am Indus und Ganges, in der Ebene zwifchen Euphrat und 
Tigris, im Nilthal Liegen die Planzftätten uralter Culturen. 
Befruchtet durch regelmäßige Ueberſchwemmungen, in deren Bän- 
digung und Benugung ſich zum erften Male die Arbeitskräfte 
der Menſchen zu gemeinfamen Werken forgfältiger Waſſerbaukunſt 
berbanden, boten diefe Stromländer in lippiger Fülle die vege— 
tabiliichen Nahrungsmittel, die in dem milden alle Beblirfniffe 
vereinfachenden Klima dem Unterhalte genügten. Weit iiber hun⸗ 
dertfachen Ertrag gab der Reis in China und Indien; überreich 
war die Fruchtmenge der Dattelpalme in Mefopotamien und 
Aegypten; den vollen Wuchs des Waizend und der Gerfte in 
der babylonifchen Ebene preift Herodot; wie groß der Hirfe dort 
geveihe, will er verfchweigen, um nicht unglaubwürdig zu er— 
einen. Solche Fülle nahrhafter Naturerzeugnifie, denen jedes 
Land noch feine befondere der Cultur in anderer Weife förberliche 
Gabe hinzufügte, geftattete diefen Rändern eine Dichtigkeit feß- 
hafter Bevölkerung, die frühzeitig zu vielgegliederter Durchbildung 
der gefellichaftlichen Verhältniſſe gefiihrt hat. 

Die Berichte der Alten und die Betrachtung der wieder 
aufgefundenen Denkmäler überzeugen uns gleichmäßig, wie zeitig 
die hier beginnenden Culturen zu jener Vollſtändigkeit in der 


125 


Ausihmüdung und Ordnung der Lebensungebungen gelommen 
find, die wir zuweilen für ein Borrecht der erleuchteten Gegenwart 
halten. Bon dem Dunkel, das in unferer VBorftellung die graue 
Borzeit zu beveden pflegt, muß in ihr felbit nicht viel bemerklich 
geweſen fein: fie war laut und bunt und die Yeußerlichkeiten der 
Bildung an vielen Orten fo vollftändig entwidelt, wie fie nur 
irgend in Zeiten fein können, die fich ſelbſt erft als völlig erwacht 
im Gegenfaß zu dem Schlafwandel der Vergangenheit vorkommen. 
Zum Theil in große volfreiche Städte vereinigt, über deren 
rieſen hafte Trümmer wir erftaunen, in baummollene Linnene feidene 
Gewänder bald einfach bald mit Tunftreichiter Pracht gefleidet, 
wandelten jchon diefe Völker mit den empfänglichiten Sinnen für 
die füßen Gewohnheiten des Dafeins über die Erde; die Woh- 
nungen der Reichen mißten weder der mannigfadhen Hausrath, 
der einer verwöhnten Bequemlichleit unentbehrlich ift, noch die 
Zierden des Lurus und die taufend reizenden Kleinigkeiten, welche 
die Bhantafie zur Berjchönerung ihres Lebensgefühles verlangt; 
ihrer Gefelligkeit fehlte kaum eines der Erheiterungsmittel, die 
der Gegenwart geläufig find, noch ihrem Verkehr das Ceremoniell, 
welches den menfchlihen Umgang von dem Zuſammenleben der 
Thiere unterfcheivet. Aber diefem Glanze fehlte der Schatten nicht; 
vielmehr litten ſchon jene Zeiten, deren großartigen Nachlaß wir 
bewundern, unter dem Drud derfelben gefelligen Mißſtände, denen 
ih die Menſchheit im fpätern Verlauf ihrer Geſchichte nie ganz 
entrungen hat. 

Je geringer die unentbehrlichften Lebensbedürfniffe find, je 
leichter fie die Kruchtbarkeit des Bodens dedt und die Milde des 
Himmelsſtrichs ſich mit ihnen zu begnügen geftattet, je weniger 
endlich die noch unentwidelte allgemeine Gefittung zu vorausbe⸗ 
denkender Sorge fir Zulunft und Nachkommen verpflichtet: um fo 
lebhafter pflegt fich eine befiglofe Bevölkerung zu vermehren, die 
durch jeden augenblidlichen Ausfall ihres gewöhnlichen Unterhalts 
und durch jedes ungewöhnliche Mißgeſchick genöthigt wird, ihre 
Arbeitskraft den Beſitzenden mindeftfordernd zu Dienft zu ftellen. 


126 


Selbft wenn je eine Gejellichaft mit völlig gleichen Rechten und 
Anfprüchen fich zu gleichen Theilen in die wirthichaftlichen Hülfs⸗ 
mittel eines noch unberührten Landes getheilt hätte, wiirde der 
natürliche Yauf der Dinge durch die verfchiedene Vermehrung der 
Familien und durch taufend andere Zufälle bald diefe Ungleichheit 
des Beſitzes herbeigefüihrt haben. Aber kaum ift diefer Fall ein— 
getreten, jondern unter anderen Bedingungen, ungünftigeren in 
diefer Beziehung, jcheinen die erften dauernden Niederlaffungen 
herangemwachjen zu fein. 

Jene bevorzugten Flußthäler, deren Ueppigkeit zu bleibendem 
Anbau einlud, find in Afien von dem ungaftlichften Norden durch 
eine ausgedehnte Zone der Steppen und Weideländer gejchieden, 
die nur durch unzählbare Herden zähmbarer Nubthiere einer zahl- 
reihen Bevölkerung Unterhalt bieten. Hier wohnen feit undent- 
lichen Zeiten Hirtenwölfer, die noch jegt in vielfachen Einzelheiten 
an die Sitten erinnern, mit denen ihre Vorfahren im höchſten 
Alterthume in den Geſichtskreis der Gefchichte treten. Durch die 
geringe Bequemlichkeit des unfteten Lebens abgehärtet und zu 
friegerifcher Rüftigfeit erzogen, viele von ihnen Reiterwölfer, um— 
freiften fie in der Vorzeit wie jeßt als bewegliche Schwärme die 
Niederlaffungen der feßhaften Cultur. Unmegfame Grenzgebirge 
Ihüßten die Hauptftätten der Ießteren vor der unabläffigen 
Wiederholung Heiner Angriffe, denen fie vielleicht erlegen wären: 
aber jede dauernde Plage der Natur, die den Nomaden den Unter= 
halt der Herden fchmälerte, oder der Anwuchs der Bevölkerung, 
der reichere Hülfsquellen verlangte, lockte gefammelte Maffen der 
friegerifchen Hirtenftimme zum Einbruch in die Länder der 
entwidelten Bildung. 

Die Gefchichte Afiens ift vol von dem Kampfe diefer beider 
Lebensformen. Ungeheure ſcythiſche Reiterheere haben im Alter- 
thum mehrmals die reichen Länder Weftafiend niedergetreten; ' 
mongolifche Angriffe bedrohten Chinas wachfenden Wohlitand ; 
die fchon reich entwidelte Cultur Aegyptens unterlag auf Jahr⸗ 
hunderte dem Anſturm der Hylfos; von den ftreitbaren Nomaden 


127 


Mittelafiens ging der erfte Anftoß der Volkerwanderung aus, die 
nad) dem Sturze des mefträmifchen Reichs ein neues Zeitalter der 
Geſchichte fiir Eurppa begann; nicht viel mehr als ein halbes 
Jahrtauſend ift verfloffen, feit die legten Wogen des ungeheuren 
Aufruhrs, den Dſchingis Khans überlegener Geift mit der 
gejammelten Macht feiner wilden Reitervölker über die Welt 
beraufbeichworen hatte, fic) an den Oftgrenzen Deutfchlands brachen. 
Außerorventlich erjcheint daher die Größe des Anftoßes, welchen 
die ewige Unruhe diefer nomadifchen Stämme den äußerlichen 
Schickſalen der Menfchheit gegeben bat; in der Geſchichte der 
Bildung dagegen Mnüpft fi an ihren Namen feine Erinnerung 
eines Fortſchritts. Sie haben nur zerjtörend eingegriffen, und find 
dann entweder in ihr ungefchichtliches Hinleben zurückgeſunken, 
oder haben ſich der Bildung der Völker, mit denen fie ſich mifchten, 
angejchloffen, ohne derfelben neue Richtungen zu geben. Bon 
anderem Gehalt waren nur die arabifchen Nomaden, die glühenber 
Slaubenseifer in ftaunenswerther Schnelle zu Eroberern eines 
großen Theil der gebildeten Welt umfchuf. Ohne eigene höhere 
Cultur bejeffen zu haben, nahmen jie mit einer Empfänglichkeit, 
die fie vielleicht dem Urfprung aus fühlicherer Heimat verbanfen, 
viele Elemente der abendländifchen Bildung auf und gaben dem 
Aufgenommenen ebenfofehr das eigenthümliche Gepräge ihres 
eigenen Geiſtes. 

Diefe Ereignifle fpäterer Zeiten find gewiß auch den erſten 
Anfängen der Gefchichte nicht fremd geweſen. Die meilten Eul- 
turvölfer ericheinen fich in ihren Sagen al8 Einwanderer in. dem 
Lande, das fie berühmt gemacht haben. Sie famen in manchen 
Fällen mit ſchon entwidelter Bildung an und fanden Urbewohner 
vor fich, die in günftiger Naturumgebung doch die Rohheit 
des Naturzuftandes bewahrt hatten. So drängten die arifchen 
Indier, als fie im Süden des Himalaya fich auöbreiteten, 
einen eingeborenen ſchwarzen Stamm in die unzugänglichiten 
Gebirge des Dekhan ab; jo mag in Aegypten ein Negervolk 
die eriten Früchte des reichen Bodens genofien haben, aber erit 


128 


eine frühe Einwanderung Taufafilcher Race, die fich fpäter als 
eingeboren betrachtete, entwidelte das gefchichtliche Leben des 
Landes; auch Die Sagen von der Befiedelung der Mittelmeerküften 
find voll von dem Kampf einwandernder Civilifation gegen bie 
Bildungslofigkeit von Aboriginern. Aber auch entgegengefeßte 
Borgänge haben ftattgefunden; zu wiederholten Malen haben 
naturfräftige und entwidlungsfähige, aber noch unentwidelte 
Völker aus den Weidebezirfen oder den Bergländern fich ber 
die erfchlaffteren Bewohner der Ebenen geworfen und die Bildung, 
in deren Stiftung diefe ihnen zuvorgelommen waren, in ihrem 
eigenen Namen fortgeführt. Nicht der häufigere, fondern der 
feltenere Fall wird es fein, daß diejenigen Völker, die zuerft dem 
Bodens eines Landes ihre Mühe widmeten, fi auch fpüter in 
feinem Befite und an der Spike der Cultur erhielten, welche 
feine allmählich aufgefchloffenen Hülfsquellen möglih gemacht 
hatten. Diefe Ereigniffe waren von Einfluß auf die Geftaltung 
der gefellichaftlichen Ordnung. 

Jäger- nnd Nomadenftimme entwideln bei einiger Gefittung 
leicht eine Ariftofratie führender und beſitzreicher Familien; 
ebenfo natürlich pflegen fie die geiftige Begabung, die fich eines 
Zufammenhangs mit einer unfichtbaren Macht rühmt, mit größe- 


. rer Scheu zu betrachten, als körperliche Stärke und Friegerifchen 


Muth, die für fie alltäglicher find. Das nomadifche Leben bietet 
für dieſe Unterfchiede der Achtung nur wenige Anläffe, fich zu 
ſachlich werthvollen Vorrechten zu fteigern; bei dem Uebergang zu 
feßhaften Leben haben dagegen Stammeshäupter und Briefter 
überall die Iofen Bande, an denen fie die Ihrigen führten, ftraffer 
angezogen. In verſchiedenen Formen gelang es ihnen, den 
“ ertragsfähigen Boden in ihre alleinige Gewalt zu bringen, und 
die große Menge als befitlofe Arbeiter oder abhängige Pächter 
zu ihrem Dienfte zu nöthigen. Die Intereffen der Nomaden find 
zu gleichartig, und die Meberficht über ihre einfache Lebensweiſe 
Allen zu geläufig, als daß es dem auffeimenden Despotismus 

leicht fein Fünnte, fie künſtlichen Zwecken dauernd dienſtbar zu 


129 


machen; eine angefiebelte Bevölkerung, in vielfache tneinander= 
greifende Lebensverhältniffe verwidelt, verliert bald die Ueber- 
fiht defjen, was fie vermag und bedarf, und die Unficherheit der 
Berehnung, mit der jeder Einzelne auf gleichartige Abfichten der 
Andern fihliegen Tann, unterwirft fie alle zufammen leicht dem 
gefchlofjenen Standesintereffe der Wenigen, die einander verftehen. 
So unterlag in den blühendften Landſchaften das feßhafte Leben 
der Macht des Häuptlingsabels und der Priefterfchaft; der nächfte 
Fortſchritt brachte, wo die Natur des Landes ihn begünftigte, die 
Sammlung der weltlichen Herrichaft, die ſtets gegen Theilnehmer 
eiferfüchtig ift, in eine Hand, die Verknüpfung der geiftlichen, die 
ebenjo allgemein nur durch eine verbundene Bielheit wirken zu 
können ſich bewußt ift, zu der ſyſtematiſchen Gliederung mächtiger 
Sorporationen. Die Ungleichheit glänzender und elender Looſe, 
die fo in der Geſellſchaft entitand, wurde endlich nur gefteigert, 
wo ein eroberndes Volk die Unterjodhten mit dem Rechte des 
Stärferen und dem Stolze des befjeren Blutes niedergebrlict 
hatte. 

Erblichfeit der Beihäftigung ift der beginnenden Cultur 
natürlih. Theils mit dem Gegenftand der Bearbeitung, mie bei 
den Aderbauern, theild mit der Unterweifung, die da, mo nod) 
feine öffentliche Belehrung Kenntniſſe fortpflangt, mit der Fami⸗— 
Tienerziehung zufammenfällt, geht der Beruf von Eltern zu Kin⸗ 
bern über; die freie Wahl eines andern hindert ſowohl der enge 
Gefichtöfreis, der nur das Gewohnte kennt und ihm ſich anzu- 
ſchließen nöthigt, als die natürliche Eiferfucht, mit der nicht nur 
der gejellichaftlihe Stand, fondern auch die einzelnen Arbeits- 
kreiſe ſich abzufchliegen ſtreben. Diefe Gewohnheiten haben nod) 
vielfach die Bildung fpäterer Zeiten beberricht; fie fanden fich 
in jenen Anfängen in Aegypten und Indien; doch nur in Indien 
hat noch jchroffer als im Nilthal der Gegenſatz eines Erobe- 
rerftammes zur eingebornen Bevölkerung, anderfeits der Ein- 
fluß priefterlicher Weltanfchauung, fie zu jenen unaufheblichen 


Kaftenunterjchieden zugefchärft, welche die er Berufe 
Loge, III. 3. Aufl. 


130 


zugleich mit abgeftufter Verachtung der niederen durd) höhere 
drüden. China allein hat feiner betriebfamen Bevölkerung diefe 
Teffeln nie auferlegt und innerhalb allgemeiner ftaatlicher Bevor- 
mundung feine erblichen Unterjchieve des Standes und Berufes 
gefannt; vielleicht eine günftige Nebenwirkung des Mangels an 
religiöfer Meberjchwenglichkeit und Friegerifcher Ruhmbegier: Nur 
hier war der Zugang zu einer freilich wenig nußbaren Gelehr- 
ſamkeit Allen eröffnet, der Unterricht früh verbreitet und begün— 
ftigt; in Indien bewegte ſich das unendlich tieffinnigere geiftige 
Leben, das mit jeltfamer Mifchung ausfchweifender Bhantafie und 
feinfichtigen Zartgefühls die Geheimniffe des Himmels und den 
Tand des Erdenlebens umfaßte, nur in den bevorzugten Höhen 
der Gefellfchaft; in Aegypten und Babylonien hüteten Priefter _ 
die Wiflenfchaft und das mühſam entwidelte Mittel der Mitthei— 
lung, die Schrift. Dem gemeinen Leben fehlte die Anregung, 
welche ihm die geheimgehaltene Weisheit, diefer gewiß ebenfo 
fehr der Antrieb zum Wortichritt, den ihr die Wechfelmirkung 
mit den Gedanfen des Volkes hätte geben können. Die Betrieb- 
famfeit wurde durch Feine nennenswerthe Kenntniß der wirkenden 
Naturkräfte unterftügt; wenige technifhe Kunftgriffe erleichterten, 
fein freies künſtleriſches Streben begeiftigte fie. Nur die Aſtro— 
nomie war früh Gegenftand der Unterfuchung, aber fie lehrt ja 
nur, was geſchieht und nicht zu ändern ift; die Kenntniß der 
mechanifchen Kräfte, die der Menſch zu feinem Vortheil benugen 
fann, fehlte noch; man konnte glüdlihe Erfindungen hegen und 
überliefern, aber fein Bemußtjein der Prineipien des Wirkens 
forderte zu ihrer fortfchreitenden Verbefferung auf. Der Mangel 
an Werkzeugen, die unfern Mafchinen glichen, nöthigte mit unver= 
hältnigmäßigem Aufwand an Zeit und Kraft überall zu unmit= 
tefbarem Handanlegen, und jo groß der Lurus der Vermögenden 
war, jo wenig fonnte bei wachſendem Angebot der Preis fo 
mühfamer Erzeugniffe die aufgemwandte Arbeit lohnen. Die fünft- 
leriſchen Regungen waren früh in den Dienft der Religionen 
gezogen; von ihnen und von der Praditliebe der Despotien 


131 


empfingen fie, an feftgeftellte Formen gebunden, die Anregungen 
zu größeren Werken. Wenige von diefen, wie die Wafferbauten 
und Straßen, nützten der allgemeinen Wohlfahrt; die meiften, 
wie die Pyramiden Aegyptend, mie in der neuen Welt die Teo- 
callis Mericos, die ungeheuren Tempel und Balaftanlagen, bezeu- 
gen nur den harten Drud, der ohne fortgefchrittene Technik durch 
verfchwenderifchen Berbraud von Menſchenkräften jo Ungeheures 
erzwang. 

Mit wechſelnden Stimmungen verjeßen wir uns in Diele 
Zeiten. So lange nur ihre Werke vor unfern Blicken ftehen, 
bewundern wir; fie erjcheinen unferer Phantafie als Zeugniffe 
eines kraftvoll ftrebenden Bildungdtriebes, in welchem damals 
die Menfjchheit einmüthig gefchwelgt habe. Weberlegen wir bie 
Mittel, durch welche dies Alles zu Stande kam, fo erfcheint uns 
ein Zuftand der Gefellihaft unſäglich elend, der die tyrannifche 
Berwendung der hartgedrüdten Menge für jo zweckloſe phans 
taftifche Prachtliebe Weniger geftattete, die natürliche Gleichheit 
der Menfchen durch graufame Unterfchiedve aufhob und ihre Reg- 
ſamkeit durch unzählige hinderliche Vorſchriften befchränfte Aber 
es iſt zu bezweifeln, ob die Geſchichte Fortfchritte gemacht hätte, 
wenn ihr Anfang ein friedliches Stillleben geweſen wäre, in 
welchem Jeder den Bedarf feines genügjamen Dafeind in Ruhe 
erzeugt und verzehrt hätte; darauf eben mußte die Menfchheit 
aufmerffam werden, daß ihre Beitimmung nicht die bloße Ab- 
weidung der Natur iſt. Die berecdjnete Leitung, welche fie in 
Kaſten ſchied, beſchränkte fie allerdings, aber fie brachte auch 
zuerjt den Begriff eine® Berufe in die Welt und lehrte die 
Menſchen, ſich nicht bloß durch ihre natürliche Gattung fertig 
gemacht zu denken. Der eijerne Drud der Despotie verbrauchte 
fie als Werkzeuge, verband fie aber doc, auch zuerjt zu Gliedern 
eines Ganzen; der ausfchweifende Hochmuth der Herricher fchleppte 
fie zu welterobernden Zügen, aber diefer Gedanke der Weltherr- 
ſchaft war vielleicht die einzige Form, in welcher die noch feind- 
(ich ſich befehdenden Stimme theild zu dem Genuß einer ver- 

9 x 


132 


hältnigmäßigen Wohlfahrt durch äußere Ordnung und Sicherheit, 
theil® zu dem Gefühle einer Zuſammengehörigkeit der Menfch- 
heit gebracht werben fonnten, die mit verpflichtenden Geſetzen 
über der Willkür und dem Haffe der einzelnen Gefchlechter fteht. 
Die Heinlichen Beſchränkungen endlich, mit denen priefterliche 
Satzung das Leben allenthalben durchzog, haben auf die wirffamfte 
Weiſe dem Drient das Gefühl eines beftändigen Zufammenhanges 
des irdifchen Dafeins mit einer über feine Grenze binausrei= 
chenden Gefchichte der Welt gegeben und erhalten. Die Schule 
diefer erften Erziehung war hart und blutig; aber theild hat der 
Fortichritt der Menfchheit unter andern Formen noch lange die— 
felben focialen Mißſtände fortgeführt, theils wäre ohne fie der 
Anfang der Bildung weit weniger denkbar, als ihr Fortgang. 
Der erjte große Gehalt des Lebens erwuchs dem menfchlichen Ge- 
fchlechte Doch durch fie; von den einen gepriefen, von andern 
verwünſcht, der größten Menge wie eine Naturnothiwendigfeit von 
unvordenklichem Urfprunge imponirend, ftanden fefte gefellige 
Ordnungen da, die mit der Pracht ihrer Denkmäler die Phan- 
tafte, durch den Druck ihrer Gewalt den Willen für ſich gefangen 
nahmen. 

Dies ift ed, was wir al8 den gemeinfamen Charafter des 
Drients und feiner Weltanfhauung zu bezeichnen pflegen. Die 
Gliederung des Lebens, die fie geftiftet, iſt der Menfchheit als 
felbftverftändliche und unbedingte Nothwendigkeit, das Geſchöpf 
dem Schöpfer gegenüber getreten, und die freiheit des Einzelnen 
an der Uebermacht des Allgemeinen zu Grunde gegangen, deſſen 
borgezeichnete Umriſſe er nur mit auszufüllen hatte. Die focia- 
Ien Einrichtungen galten nicht für gefchichtliche wieder aufheb- 
liche Gebilde des irdifchen Lebens; fie trugen alle das Gepräge 
überweltlicher Heiligkeit; jei ed, daß die ganze Ordnung des 
Dafeins, wie in China, als der Abdruck eines unperjünlichen 
Himmels und feiner Regelmäßigkeit erfchien, deren Nachahmung 
jede Willtür perfünlicher Regſamkeit zur treuen Befolgung 
alterthiimlicher Sitte und hergebrachter Weisheit einfchränft; ſei 


133 


ed, daß, wie in Indien, Ergebung in das traurige Loos der Uns 
terdrüdung aus der myſtiſchen Meberlieferung gefchöpft wird, Die 
aus edlern und unedlern Theilen der Gottheit verjchiedene Men- 
ichenarten hervorgehen ließ; oder daß in den pomphaften In— 
ichriften, mit denen Negyptens und Perfiend Könige die Felſen 
bededten, der Herricher al8 der unmittelbare Vertreter des höch⸗ 
ften Gottes alle Welt in die Pflicht feiner Gebote nimmt. Und 
jo wenig der Einzelne für fich zählte, fo wenig dieſe Gebieter 
felbft; auch fie ftanden nicht al8 Perjonen, fondern als Träger 
ihrer Würde an der Spige der Menfchheit; mit den Inſignien 
der höchſten Macht, wenn fie von Einem zum Andern übergingen, 
hat ſtets auch im Orient der Gehorfam und die Unterthänigfeit 
ohne Treue gegen die Berfon fi von Einem zum Andern liber- 
tragen. Diefes Lebensgefühl, ſich von einer großen fchidffalbe- 
ſtimmten Ordnung umfchloffen zu wiſſen, wurde im Allgemeinen 
durch feinen Geift zerfegender Kritif geftört; die große Ausdeh- 
nung der Ränder, die Schwierigkeit des leiblichen und der Mangel 
an Mitteln des geiftigen Verkehrs, fegten ihm keine bewegliche 
fich fortbildende Bffentlihe Meinung entgegen. Durch Tradition 
erhielten fich vdiefelben Gewohnheiten und Gedankenkreiſe; Sitte 
und weltliches Recht ſchieden fi) nicht von der Religion und 
dem Cultus; jo jehr die Betriebjamteit fi) in einzelne Berufe 
Ipaltete, jo ungejondert lagen in der Leitung der Gejellichaft die 
verſchiedenſten Gejchäfte der Regierung in einander; allgemeine 
abftracte Geſichtspunkte für die Behandlung gleichartiger Auf- 
gaben entwickelten fich nicht, und felbit in ihren ſchlaueſt erfonnenen 
Einrichtungen zeigt die orientalifche Herricherfunft jo wie das 
Leben der Einzelnen eine naive Umftändlichleit, die ohne Abkür⸗ 
zung burd allgemeine Marimen unmittelbar auf ihr bejonderes 
Ziel losgeht. 

Diefer Geſammteindruck, den uns der Orient macht, fchliegt 
natürlich, da e8 ja doch, damals wie jeßt, ganze und eben ſolche 
Menſchen waren, die das Leben Iebten, viele Teidenfchaftliche 
Gegenſätze und Gegenftrömungen noch immer ein. So durdj= 


134 


aus unbeweglich und erjtarrt, wie und das Morgenland aus der 
Ferne vorkommt, ift e8 nicht gewejen. Seine alten Eulturftaa- 
ten haben Ummälzungen auch ihres Geifted erfahren, die nur flr 
uns jenen Totalanblid nicht weſentlich ändern, aber für Die Zei- 
ten, welche fie erfuhren, nicht minder eine Gefchichte von leb- 
haftem Fortſchritt waren, als Die europätfhe Entwidlung für 
uns if. Bon diefen Ereigniffen lenkt unfern Blid die Betrach⸗ 
tung ab, daß nur ſehr Weniges von ihnen der ſpätern Gefchichte 
der Menfchheit zu Gut gekommen ift. Faſt alle in fich ſelbſt 
abgefchloffen, haben jene @ulturen ihre Entwidlungen vereinzelt 
burdhlaufen; China von früh an am Oftrande des Feſtlandes 
außer Berührung mit der librigen Welt, Indien zwar mehrfach 
mit ihr in Zufammenftoß aber ohne bedeutende Nachwirkung; 
Aegypten und Borderafien allein haben die Elemente ihrer eignen 
Civiliſation großentheils dem Abendlande gefchentt. 


Nur zwei große Bölkerfamilien find, lange Zeit gegen ein 
ander ringend, in dem weiteren Yortgange der Gefchichte thätig: 
die femitifche und die indogermanifche; auch von ihnen haben 
manche Zweige fich abſeits von der Richtung der Entwidlung 
ausgebreitet, um theild altgewohnte Lebensformen fortzuführen, 
theild im Laufe der Zeiten unterzugehen. Bon den armenifchen 
Gebirgen an gehörte der Süden Weftafiend in alter Zeit ben 
Semiten. Laſſen wir dahingeftellt, ob auch die uralte Eultur und 
die Sprache Aegyptens ihrem Völferfreife angehört, fo bleibt doch 
die hohe Entwicklung Mefopotamiens, das große Babel, ein frühes 
Dentmal ihrer Kraft; von dem engen Küftenlande Phöniciens 
ergoffen fi) in Fühnen und abenteuerlihen Seefahrten ſemitiſche 
Kaufleute über alle Infeln und Geftade des Mittelmeered bis 
über die Meerenge von Gibraltar hinaus, und den Spuren ge= 
werbtbätiger Befievelung, die fie in dem noch Dunlelliegenden 
Europa zurüdgelafien hatten, konnte vielfach die jpätere Bildung 
der griechifchen Welt folgen. Als die reichen Stüdte des Heinen 


135 


Mutterlandes von der ſchwindelnden Höhe ihres Luxus und 
Lebensgenuffes geftürzt und dem Andrange mlchtigerer Völker 
erlegen waren, ftritt die Kolonie Karthago, die Herrſcherin des 
weftlichen Mittelmeere8 und feiner Küften, noch lange in unge- 
heuren Kämpfen gegen die emporwachſende Uebermacdht des rö- 
mifchen Geiſtes; nachdem auch dieſer Krieg entfchieven war, und 
die weltliche Macht der indogermanifchen Stämme tiber Europa 
feſtſtand, beugte fi nach und nad) das ganze Abendland unter 
Die geiftige Hoheit des Chriftenthbums, das in dem Schoße eines 
femitifchen Stammes feinen Anfang und feine erjten Bertheidiger 
und Verkündiger gefunden hatte; und felbft dann noch einmal 
Ichwanfte im Mittelalter die Wage, ob der orientalifch gebliebene 
Geiſt der Semiten, durch den Andrang der Araber, oder die 
erſt im Abendland völlig entwidelte Kraft der indogermanifchen 
Völker den Borrang in ‚der Weiterführung der Gefchichte be— 
baupten würde. 

Ob den Nationen, die jett Europa befigen, ein Urftamm 
anderer Race boranging, willen wir nicht; die Vergleichung der 
Spraden lehrt, daß mit wenigen Ausnahmen die europäifchen 
Bölfer Glieder eined Stammes find, der vor mehr als vier 
Sahrtaufenden in den gefegneten Landichaften am Wejtabhange 
des Himalaya feine Heerden weidete. Nach Süden fi aus- 
breitend gewann ein Zweig dieſes Stammes der Arja, der Treff: 
lichen, wie er fih nannte, ſchon funfzehnhundert Jahre vor unferer 
Zeitrechnung das Land am Indus, nnd kaum fpäter hatte ein 
anderer Zweig weſtlich im Hochland von Iran fich zu einem 
wohlgeordneten blühenden Reiche entfaltet. Indien trat bald aus 
dem gejchichtlichen Verbande in die Einfamfeit feiner phantaftifchen 
Entwillung zur Seite; die Völker von Iran dagegen unterlagen 
zuerft dem Andrange ihrer femitifchen Nachbarn im Weiten, bis 
in dem perfiichen Weltreid, ihr Stamm das bleibende Ueber—⸗ 
gewicht erlangte. Mangelt und fchon eine gefchichtliche Kunde 
über dieje erfte Scheidung der zwei Stämme, die nächftbenachbart 
im Raume, aud) in Sprache und Gedankenwelt einander und 


136 


dem Urftamme am nächften blieben, fo find dunkler nody Zeiten 
und Wege der Wanderungen, die andere nad) dem fernen 
Weſten führten. Bi8 an das atlantiihe Meer vorgejchoben, 
und daher wohl die früheften Einwanderer von denen, die durch 
das Feſtland Europas gezogen, haben die celtifchen Stämme ſich 
feine eigenthiimliche Stellung unter den großen Culturvölkern 
errungen. Ihre Entwidlung, in der fie einft wenigſtens in 
ihren galliichen Sigen den germaniſchen Nachbarn voran waren, 
wurde durch den Andrang der römifhen Kultur abgebrochen; 
die Reſte ihrer Sprachen und Sitten find im Erlöfchen. Später 
hat die germanifche Einwanderung, noch ſpäter die ſlaviſche, Die 
Mitte Europas erreicht; früher al8 beide hatte der noch bereinte 
griechiſch⸗ römiſche Zweig des arifhen Stammes über die ägäiſche 
Inſelſee den Hellespont und die Küſten des ſchwarzen Meeres 
ſich ausgebreitet und in die beiden Völker gefpalten, denen die 
erfte glänzende Entwidlung Europas befchteven war. 


Manches Gut der Erkenntniß, der Ordnung und der Lebens⸗ 
ſchönheit, haben gewiß ſchon die großen Culturkreiſe Aſiens ent- 
widelt; aber mit jenem hellen frifchen köſtlichen Wachen des 
ganzen Geiftes, das wir nadhempfinden können, hat die Menjch- 
heit doch exft im griechiichen Volke die Augen voll gegen die Welt 
und gegen den Himmel aufgefchlagen. Nach dunklen Anfängen 
haben die verfchievenen Stämme deffelben lange Zeit eine etmas 
zögernde Entwidlung durchlebt, bis die Anfpannung vereinter 
Kräfte, dem Andrange fremder Gewalt entgegen, den Aufſchwung 
zu jener bemundernswiürdigen Bildung befchleunigte, deren bald 
wieder welfende Lebensfraft gleichwohl noch lange und weithin 
die damalige Welt mit ihren Blüthen überſchüttete. 

Wie vielleicht ausgedehnte Lichtnebel ſich einft zu glänzenden 
Geftirnkernen zufammenzogen, jo fehen wir alle die ungeheuren 
Dimenfionen, an die der Orient gewöhnt war, in Griechenland 


137 


fi zu mäßigen und maßbollen Formen voll des intenfioften 
Lebens verkürzen. Der Schauplat der Entwidlung wirb ein 
Heiner Bezirk, der nie auch nur annähernd eine Fülle der 
Bevölkerung befaß, über die zu gebieten einem orientalifchen 
Weltherricher gentigt hätte. Den phantaftifchen Reichthum an⸗ 
Iodender und erfchredender Wunder, unter denen: dem Orient 
die befonnene Thatkraft erfchlaffte, die Phantafie ins Maßloſe 
ſchwärmte, befaß Griechenland. nicht; der Arbeit danfbar, doch 
nicht üppig, gewöhnte der Boden zur Thätigfeit; Milde und Klar- 
heit des Himmels begünftigte die freie Förperliche Entwidlung 
und die Erziehung der Sinne für aufmerlfame Beobachtung. 
Bon zahlreichen Gebirgen in Thalkeſſel zerfehnitten, drängte das 
Land Kleine Bollögemeinden zu innigem Zuſammenſchluß in ſich; 
die unvergleichliche Küftenbildung und die verfchmwenderifche Fülle 
der Inſeln begünftigte ihren Verkehr unter einander, während 
doch, wie überall, der dauernden Bereinigung unter eine Herr- 
ſchaft das Meer ſcheidend entgegenwirftee So erzog diefe Heimat, 
ein jeltene8 Kleinod der Erbbildung, viele unabhängige Ge— 
meinden, in deren Enge der aufgewedte redefundige Volksſtamm, 
dem Berftindigung durch Wort und Gründe der Vorzug bed 
Menſchen, menfchlicher Verkehr und gefelliger Umgang die Blüthe 
des Lebens fchien, frühzeitig ein überaus regſames üffentliches 
Leben entwidelte Anftandspolle Formen des Benehmens und 
der Erfcheinung befaß fchon das Zeitalter, das die heroifchen 
Großthaten als nächfte Vorzeit befang; in fteter Reibung und 
Wechſelwirkung ausgetaufchter Meinungen entzog fi) nad) und 
nad das Boll mit neugewonnenen Gefichtspunften der liber- 
lieferten Sitte, und begann alle feine Verhältniffe mit bemwußter 
Kunſt von Neuem zu geftalten; bald, an Zweifel und kritiſche 
Zergliederung gewöhnt, ftellte e8 alle Grundlagen des geordneten 
menfchlichen Dafeins in Frage und ging an dem fophiftiichen 
Uebermaß der freien Reflexion zu Grunde, die fich bier ebenjo 
fouverain über alle Feftigfeit gegebener Verhältniſſe und Ver— 
pflihtungen erhob, wie im Orient die tiberlieferte objective 


138 


Drdnung der Dinge alle Freiheit fubjectiver Veberzeugung ge= 
bunden batte. 

Einer jo vielverzweigten und lebensvollen Erfcheinung durch 
einen einzigen Ausdruck ihre gefchichtliche Stellung einigermaßen 
anzuweiſen, können wir blos hoffen, wenn wir nicht allfeitig ihren 
Inhalt erfchöpfen, fondern nur einfeitig ihren Unterfchied gegen die 
Vorzeit hervorheben wollen. . In diefem beichränften Sinne haben 
diejenigen ohne Zweifel Recht, die in dem griechifchen Leben das 
erfte jugendliche Sichfelbfterfaffen des menſchlichen Geiſtes und 
das erfte Aufflammen des Selbftbewußtfeind finden, mit dem er 
jeine eigene Beftimmung fo mie das Recht prüft, welches die ge- 
gebenen Berhältniffe der Natur über ihn gelten machen wollen. 
In den verfchiedenften Richtungen des Lebens bricht diefer Fritifche 
Trieb und zugleich feine Jugendlichkeit hindurch. 

Wie viele Kenntniffe Kunſtgriffe und Marimen frühere 
Völker befeffen und zur Ordnung ihrer gejelligen Berbältniffe 
wie zu ihren technifchen Leiftungen benußt haben mögen: der 
Gedanfe, die unbedingten Grundlagen aller Beurtheilung der 
Dinge zu fuchen und fie beweifend und ableitend in ein Syitem 
der Wahrheit zu vereinigen, die Stiftung der Wiſſenſchaft 
alfo, wird fir immer der Ruhm der Griechen bleiben. Was fie 
in diefer Richtung Unvergängliches geleiftet, gehörte allerdings, 
damals wie jet, Einzelnen, nicht der Menge. Indeſſen eben 
diefe Einzelnen, und hier doch nicht Wenige, fondern Viele her- 
borgebradht zu haben, die ſo Großes erftrebten und vollführten, 
würde jelbft ſchon, fei e8 zu dem Glüde oder zu dem Verdienſte, 
jedenfall zu dem gefchichtlichen Begriffe des Volkes gehören. 
Wirklich volfsthümlich aber war bei den Griechen ftetd jene 
Rührigkeit der Einfiht und jene Unbefangenbeit des Forfchungs- 
geifted, Die jede Thatfache nad) allen Seiten umwendet, jede 
Sagung prüft, jedes Vorurtbeil zergliedert, und die durd) Die 
unvertilgbare Neigung, alles Einzelne aus feinen allgemeinen 
Gründen und in feinem Zuſammenhange mit dem Ganzen zu 
verftehen, zur bewußten Ausbildung allgemeiner Begriffe, zur 


139 


Beweisführung, zur Claffification, kurz zu allen jenen metho- 
diſchen Gedanfenformen geführt bat, durch weldhe ſich Theorie 
und Wiflenichaft des Abendlandes auf immer bon dem phan= 
taftifchen Scharffinn und der geiftwollften Schwärmerei bes 
Orients trennen. 

Alle Gebiete durchdrangen fie mit dieſem Geiſte der Unter- 
fuhung. Wie fie die Anfänge der Logik und Mathematik in 
feltner Vollkommenheit legten, fo hatten fie gleichzeitig Sinn 
dafür, den wirthichaftlihen Haushalt des Einzelnen, Die 
Gliederung des politifchen Ganzen, die Aufgaben der fittlichen 
Erziehung als Gegenſtände ſyſtematiſcher Wiffenihaft zu durch⸗ 
forfehen. Ein offener vorurtbeilslofer Bli fir das Nächftliegende 
der Erfahrung unterſtützte fie Darin, fich der Trägheit angeerbter 
Borurtheile und der Leivenfchaftlichleit des Mberglaubens zu 
entziehen, der mit unflarer Glut göttliche und mienfchliche Dinge 
mifchend weder für jene friedvollen Glauben noch für dieſe 
verftändigen Gleichmuth geftatte. Der Myſtik des Drients, die 
überall wuchernd unbegreifliche drückende Geheimnifje in jedem 
Kleinften fieht und fcheut, entzogen fie ſich mehr und mehr, und 
fchufen zur Seite des Dithyrambus die Profa. Ich meine nicht 
die Proſa des Stils, die auch fie zulegt und mühſam entwidelten, 
fondern jene haltbare Weltbetrachtung, die das Begeifternde 
begeiftert, aber das Nüchterne nüchtern, das Irdiſche irdifch und 
das Mechanische mechanisch auffagt und nicht Alles mit gleicher 
Aufregung und gleihem Schwulft, fondern das Verfchiedene mit 
gelafjener Abwägung feiner abgeftuften Wichtigfeit behanvelt. 
So ſchieden fie früh, fo weit e8 zu fcheiden ift, das imeltliche 
Leben von dem religiöfen und entzogen ſich der Theofratie des 
Morgenlands; fo überwältigte ihr politifcher Freiheitsdrang nad) 
und nad) alle gefchichtlich auch ihnen überfommenen Unterjchiede 
menjchlicher Berechtigung; fo ließen fie jelbft in der Kunft von 
vielem großen und reichen Inhalt, den der Orient leidenſchaftlich 
begt, aber formlos ausdrückt, Lieber ganz ab, un maßvolleren 
Aufgaben je zu widmen, in denen fie den eigenen gejeglichen 


140 


Rhythmus der Schönheit fo voll zur Herrfchaft bringen fonnten, 
wie ihre Wiffenfchaft die Thatfachen den Gefegen der Wahrbeit 
zu unterwerfen ftrebte. 

Aber feiner eigenen Natur nad ift diefer Geift der Unter 
ſuchung doppelfinnig, Er muß ja eine unbedingte objective 
Wahrheit der Dinge felbft vorausfegen, denn ohne fie wäre feine 
fritiihe Bemühung zwecklos; aber das Subject foll e8 doch fein, 
das diefe Wahrheit erft durch feine Anerkennung und Beftätigung 
feftftellt. Dem zwiefpältigen Antrieb, der hierin Liegt, theils 
zur Pietät gegen das an fid) Wahre, theild zu gejchäftiger Er- 
findung eines immer wahreren Wahren, haben die Griechen fich 
nicht entziehen können, und aud hierin, wie in ber heitern 
fünftlerifchen Friſche des Dafeins, bezeichnen fie Die Iugend des 
menfchlichen Geſchlechts. Denn eben der aufftrebenden Jugend, 
wenn fie die träumerifchen Vorurtheile der Kindheit abwirft, ift 
ein übermüthiger Doctrinarismus häufig, der im Selbftgefühl 
der fich ermweiternden Einficht die Mittel der Erkenntniß übers 
hätt, die unmittelbare und unbeweisbare Evidenz fi auf- 
drängender Wahrheiten und Geflihle gering adhtet, und Ideale 
fuchend doch als Ideal nur anerlennen mag, was er durd) Beweis 
und Ableitung zum Erzeugniß feiner eigenen Vernunft zu machen 
vermag. Diefe Ueberſchätzung des reinen Denkens und feiner 
Mittel, der Logifchen Formen, hat felbft die Wiſſenſchaft der 
Griechen vielfach verfümmert; fie glaubten zu oft, die Sache er- 
kannt zu haben, wenn fie das Verfahren des Vorftellens zergliedert 
hatten, durch welches wir und der Sache zu nähern fuchen. Im 
Leben aber überwog die Verehrung vor der fubjeftiven Birtuofität 
des Denfens und der dialektifchen Gewandtheit im Umfpringen mit 
den Dingen gar jehr die Achtung vor der Natur der Dinge felbft. 
In fchneller Folge hatte ihr beweglicher Geift eine Fülle ver- 
ſchiedenartiger Standpunkte zur Beurtheilung aller menjchlichen 
Dinge aufgefunden, und bald galt ihnen die Kunft in deren 
Entwidlung und Begründung, bald felbft jede Paradorie der 
Neuheit mehr als die Zuftimmung des unbeftechlichen Gewiſſens, 


141 





das einfache Pflichtgefühl, die unmittelbare Ueberzeugung. Sie 
glaubten überall von Grund aus neu anfangen und Alles be- 
weijen zu fünnen umd zu dürfen; fie knüpften ihre Sittenlehre an 
theoretiſche Speculation und deren Ungemwißbeiten; fie hatten 
wenig Sinn für gefchichtliche Verhältniffe, die nicht durch einen 
theoretiihen Machtſpruch von felbft verjchwinden; jeder neue 
Einfall, dem irgend ein logischer Unterbau gegeben werben konnte, 
fchien ihnen berechtigt, als neues Princip verfucht zu werden. 
Scheu und Ehrfurcht vor den Ueberlieferungen der Väter, vor 
der gejchichtlichen Kontinuität der gejellfchaftlichen Zuftände hören 
wir fie oft einander einſchärfen; aber ein Blick auf die bunte 
Menge der im Laufe der Zeit angeftellten politiichen focialen 
und ethijchen Experimente zeigt, wie wenig diefe Mahnungen 
gehört wurden; und wo fie etwa Gehör fanden, verdankten fie 
auch ihrerſeits es dem Reize, wieder einen andern memaan 
neuen Geſichtspunkt barzubieten, 

Es war nicht immer fo gewefen. Bor den Perſerkriegen 
hatten die noch beſchränkten Verhältniſſe und ein arbeitſames 
Leben diefer Beweglichkeit des Geiftes ein Gegengewicht gehalten; 
aber in diefer Zeit waren die Griechen eben noch nicht auf der 
Höhe ihrer gefhichtlichen Aufgabe. Die wenigen Sahrzehnte, die 
zwifchen den Freiheitskämpfen und dem peloponnefiichen Kriege 
liegen, begrenzen die kurze fchöne Blüthezeit, in der der auf- 
ftrebende Geiſt der Freiheit noch nicht feine verderblichen 
Wirkungen entfaltete. Aber ein Dauernded Glüd war unmöglich; 
die ſchönſten Vorzüge des Volkes gingen an der Ungebundenbeit 
feiner Sophiftit zu Grunde. Keine ihrer Tugenden rührt und 
mebr und war neuer in der Geſchichte, als ihre Vaterlandsliebe 
und ihre Opfermwilligkeit für das Wohl eines Gemeinweſens, das 
auf der freien Wechſelwirkung der Bürger und auf dem Ber- 
ftändniß der Güter beruhte, welche der Verkehr in gemeinfamer 
Luft Arbeit Muße und Gefahr dem Menjchen bereitet. Aber fo 
body ihnen das Vaterland und feine Freiheit galt, fo veritand 
Jeder doch das Glück defjelben in feiner Weife, und fuchte e8 in 


142 


feiner Weife herbeizuführen; es fehlte nie an Ummälzungen, welche. 
die privatrechtlihen Verhältniffe in ſtetes Schwanken brachten 
und häufig fo wilde Greuel erzeugten, daß die blutige Gefchichte 
der Wirklichfeit einen traurigen Gegenſatz zu ber fchönen Ein- 
fit bildet, die wir in den nachgelaffenen Werfen des griechifchen 
Genius bewundern. Ohne jenen particulariftifchen Geift, ver 
die einzelnen Städte zum Wetteifer um den Preis der Bildung 
und des fünftlerifchen Glanzes trieb, würde Griechenland feine 
Höhe nicht erreicht haben; aber auch die veränderte Weltlage,- 
die diefe Zerftreuung der Kräfte nicht weiter geftattete, lehrte 
fie nicht, Die eigennüßige Eiferfuht zu unterdrüden, die fich 
jenem edleren Weide überall beigefellt hatte Wohl blieb 
ihre Phantaſie empfänglich für den großen nationalen Gedanten 
der Freiheit des ganzen Griechenlands; aber fie fannten zu viele 
Gefichtspunfte, aus denen ſich alles rechtfertigen ließ und das 
einfache Pflichtgefühl, das alle Sophiftif lähmt, war ihnen ab- 
handen gefommen. Schon früh hatten fie dem Perſerkönig einen 
Einfluß auf ihre inneren Angelegenheiten geftattet, den Rom 
niemal8 dem punifchen Reichsfeinde erlaubte; reich an Beifpielen 
des Verraths feiner ausgezeichneten Männer, durch ftete Zmie= 
tracht und fophiftifch gerechtfertigte oder frech geübte Sittenlofigkeit 
entvölfert, ohne ftetige Disciplin, endete Griechenland ruhmlos 
unter dem Angriffe Italiens. 


Das römische Volk find wir gewohnt als den ftarken welt— 
lihen Arm zu betrachten, der dem Geifte der Griechen, nachdem 
er ihre Selbftändigfeit gebrochen, Schu und Sammlung gewährte 
und ihm die überwundene Welt zu Füßen legte Und in der 
That ift bald aufgezählt, was die Römer aus eigenem Vermögen 
dem Schage der menſchlichen Bildung Binzufügten; aber die 
mangelnde Bieljeitigkeit ſchmälert den Werth ihres Beitrags nicht. 
Sie haben vermocht, was den Griechen nicht möglich war; fie 
haben die Völker des Erpfreifes zur Gemeinſamkeit eines großen 
Staatslebens verbunden und in den verjchiedenften Ländern Keime 


143 


der Bildung nicht nur leichthin ausgeftreut, ſondern fo tief be- 
wurzelt, daß ihre lebendige Verzweigung durd) die ganze Ge- 
Tchichte fpäterer Zeiten reicht. Wenn der macedonifche Alerander 
mit der endlich vereinten Macht Griechenlands, von einer Ber- 
ſchmelzung des Abendlandes und des Morgenlandes träumen, 
in fohnellem Siegesflug durch das überwältigte Afien griechifche 
Bildung bi8 an die Grenzen Indiens zu verbreiten fuchte, fo 
blendet uns der Glanz einer ungewöhnlichen und geiftuollen Ber: 
Tönlichkeit über Die Hoffnungslofigkeit eines Unternehmens, deſſen 
ganzer Reſt bald nur in den Sagen beftehen follte, in denen die 
erftaunten Nomaden Aſiens den Helden aus der Ferne feierten. 
Rom entwarf nie Pläne, die e8 fo weit von feinen natilrlichen 
Hülfsmitteln entfernt hätten; nachdem es in fchweren Kämpfen 
um jeine Unabhängigfeit Italien unterworfen und die Uebermacht 
der Punier von Europa abgewehrt hatte, fehritt e8 zögernd und 
durch die Ereigniffe gedrängt, langfam zu jener Weltherrichaft 
fort, die e8 dann durd Jahrhunderte zu fchirmen mußte So 
große geſchichtliche Erfolge deuten auf einen gefchichtlichen Sinn 
des Volkes jelbft. Und in der That Iebte im Vergleich mit ihm 
Griechenland von der Hand in den Mund, mit Leidenfchaft die 
nächſten Ziele verfolgend, während ein weiter, die Zukunft über— 
fpannender Blid und das Bewußtfein, fir fie beitimmt zu fein, 
die politifche Thätigfeit der Römer leitet. Wie auf einem 
irdiſchen Gegenbild des Olymp lebten die Griechen nur der 
Schönheit und dem Streit ihrer inneren Entwidlung; die Römer 
hatten diefe Erde, dieſe Kiftenländer des Mittelmeeres vor Augen, 
als das reale Arbeitsfeld, das ihnen bejtimmte Aufgaben der 
Ermwerbung der Schirmung der Verwaltung ftellte Aus alt- 
italifcher Cultur hatten fie die myſtiſche Anſchauung von einem 
geheimnißvollen Ablauf der Zeit durch Weltalter verfchiebenes 
Gepräges; fie fühlten fi, als Träger und Mitvollbringer dieſer 
gefchichtlichen Entwicklung, und ihre Dichter preifen faum fo laut 
Roms beftehende Größe, als fie ftetS feine ewige Zukunft betonen. 
Und fo tft e8 gekommen. Griechenland Lebt irdiſch untergegangen 


144 


wohl im Geifte der gebildeten Welt, aber ohne erhebliche Nach⸗ 
wirkung auf unfere Zuftände fort; auf Nom führen in ununter- 
brochner Tradition unzählige unferer gefelligen und politifchen 
Einrihtungen und ein großer Theil unferd geiftigen Lebens 
zurüd; und wo feine blühenden Städte ftehen, die ihm ihren 
Urfprung verdanken, dahin trägt doch die Sprache der modernen 
Eulturvölfer den bleibenden Eindrud, den fie ſelbſt von ihm 
empfingen; lateinifche Worte und Sprachformen erklingen an den 
Ufern des Ganges und mifchen ſich in amerifanifchen Gefilden 
unter die Gaumenlaute der indianifchen Stämme. 

Menſchliches Handeln läßt fich entweder unmittelbar durch 
das Bild eines erfehnten Erfolges leiten und heiligt dann leicht 
feine Mittel durch den Zweck, oder es folgt allgemeinen überall 
anzuerfennenden Grundſätzen und verfagt ſich die Erfüllung einer 
Abfiht, fo lange fie nur durch deren Berlegung möglich ift. 
Der Fünftlerifche Zug ihres Geiſtes machte die Griechen dem 
erfteren Wege geneigt; Die Römer Tennzeichnet die Ueberzeugung, 
daß die Haltbarkeit eines Ergebniffes nur durch Achtung vor 
den gefetlichen Beziehungen erreichbar ift, welche den zu feiner 
Erzeugung zufammenwirkenden Elementen ihre Natur vorzeichnet. 
Wir werden fpäter Gelegenheit haben zu fehen, mie weit dieſer 
Sinn ihr ganzes Leben und Leiſten durchdrang; jebt erinnert 
diefe flüchtige Ueberfiht nur an das Kleinod der römischen 
Bildung, die Entwidlung des Rechts. Für die Erkenntniß der 
Wahrheit, die in den Dingen und den Ereigniffen ift und wirkt, 
haben die Römer im Vergleich mit den Griechen nichts gethan; 
aber der Gedanke, daß die Welt der BVerhältniffe, die unfer 
Handeln ftiftet, nicht minder ihre unverbrüichliche, von unferer 
Willkür unabhängige reichgegliederte Geſetzmäßigkeit hat, wie bie 
äußere Natur fie in der allgemeinen Statif und Mechanik ihrer 
Kräfte befigt, diefer Gedanke iſt durch die Römer in die Welt 
gefommen. . Sie haben nicht, wie die Orientalen, beftehende 
Berhältniffe als unwiderrufliche Verhängniffe angejehen; ebenfo 
wenig haben fie in der Weiſe der Griechen gegebene Ordnungen, 


145 


beftehbende Saßungen, erworbene Rechte, wenn fie der Bermirk- 
lichung eines Ideals entgegenftanden, wie weiches Wachs geachtet, 
das man willfürlich umbilden könne; Tondern Beides, die Ber- 
änderung, welche die Bebürfniffe der menfchlichen Natur ver- 
Iangten, und den beftehenden Zuftand, der fie verweigerte, jahen 
fie als zwei geltende Mächte an, zwilchen denen auf dem Wege 
Rechtens abgelommen merden mußte Sie begannen nidht von 
der Spite des Gebäudes, von der idealen oder wünfchenswerthen 
Form des Staatöganzen, um aus ihm die zuläffigen Befugniſſe 
der Bürger abzuleiten, jondern die Verhältniſſe der Einzelnen 
gegen die Einzelnen, die im lebendigen Zufammenfein des Ber- 
kehrs entftehen, ftanden ihnen durch allgemeine Grundfäge zuerft 
feſt. Die realen Beblirfniffe, die Forderungen der Umftände 
waren ed dann, durch die fie zum Zweck der Wohlfahrt des 
Ganzen, das die Summe aller Einzelnen ift, fich zu Beichränfungen 
jener privaten Rechte treiben ließen und die erftrebte Endgeftalt 
des Gemeinwefend war in jeder Zeit die, welche die Geltung 
der liberlieferten Rechte, die Deckung der neuen Bedürfniſſe und 
die Bedingungen des Wachsthums und der Fortdauer des Ganzen 
zu einer befriedigenden Praris verband. So entipann ſich jener 
unvergleichliche fociale Kampf der Patricter und Blebejer, in 
welchem heftige Leidenfchaften, das ftolze Feſthalten der Borrechte 
dort, hier das Bewußtſein, ihren Mitgenuß erftreiten zu müſſen, 
durch die Achtung vor der nothwendigen Stetigkeit des politifchen 
Lebens, die Anerkennung der Heiligkeit auch des nur formellen 
Rechts, den unweigerlichen Gehorfam gegen die einmal erkannte 
Obrigkeit, endlich durch eine Strenge der Baterlandsliebe gezügelt 
wurden, die jedem Gedanken an Berrath fern blieb. 

- Die Folgen dieſes Entwicklungskampfes waren weniger 
glücklich, als die Sinnesart großartig, die in ihm zum Ausbrude 
Tom. Das Ungenligen der republilanifchen Gemeindeverfaflung, 
die den früheren beſchränkten Verhältniffen angemeſſen geweſen 
war, wurde bei der mwachfenden Ausdehnung des Staates nur 


ausgeglichen, jo lange die großen Pa, welche die 
Lotze, IU. 3. Aufl 


146 


patriciſchen Gefchlechter zahlreich herborbrachten, den ihnen ge- 
Iaffenen Spielraum freie8 Handelns mit glänzenden Beijpielen 
der Aufopferung und überlieferter politifcher Umficht füllten, 
Diefe ruhmvolle Ariftofratie trat zurüd, als die Berhältnifie mehr 
die Verdichtung der Macht in einer Hand, als die Zerſtreuung 
der Berechtigung über Alle erfordert hätten. Gegenüber einer 
neu ſich erhebenden Nobilität des Reichthums ohne adelnde 
Traditionen mehrte ſich das befiglofe Proletariat. Der faft un- 
unterbrochene Kriegäzuftand der Anfänge Roms hatte friedliche 
Arbeit und Induftrie nie begüinftigt; als fpäter griechifche Bildung 
und die Belanntichaft mit den Sitten fo verjchiedener Bölfer die 
alte Einfachheit und Strenge untergrub, ald Die Schäße des Orients 
und die Erzeugniffe der gewerbfleißigiten Linder herüberſtrömten 
und in den PBaläften der Reichen zahlreiche Sklavenſchwärme jede 
Kunftfertigleit übten, fand em Stand freier Arbeiter weder 
Achtung feiner Stellung noch einen Markt file feine Erzeugnifie ; 
felbft der alte Aderbau Italien und die Unabhängigkeit der 
Landbevölkerung litt unter der Vereinigung ungebeuter Güter in 
einer Hand und ihrer Verwendung zu unfruchtbaren Lurus- 
anlagen. Zwiſchen der Genußfucht und dem Ehrgeiz der Opti- 
maten und der Bettelhaftigfeit eines für verderbliche Pläne ge— 
winnbaren Pöbels ſchwand die Kraft des Staates, der freie 
Dürgerjtand, und nach langen blutigen ‘Kämpfen, durd das 
gewiſſenloſe Machtitreben Einzelner erfchüittert, verfiel Die Republik 
mit unentwidelten oder verkümmerten Formen des Staatsrechts 
der Herrſchaft der Kaifer. 

Jahrhunderte lang wechjelte in der Reihe diefer Gebieter 
Wahnfinn mit Befonnendheit, Graufamkeit mit Milde, und die 
römiſche Bildung konnte zeigen, welche Kraft der Fortdauer und 
des Widerftandes in ihr und ihren Schöpfungen auch nach dem 
Erlöfchen des belebenden Zriebes lag. Während der zunehmen- 
den Erichlaffung hat dennoch die Disciplin der römischen Heere 
nod) lange die äußern Feinde überwältigt; unter dem Drucke 
politischer Willfiicherrfchaft bildete fich dennoch das Rechtsbewußt⸗ 


147 


fein zu wiſſenſchaftlicher Klarheit und Gefchloffenheit fort; aus 
dem PBerfall der Sitten Ieuchten zahlreiche Beifpiele der Mann⸗ 
baftigkeit hervor und bezeugen die fortwirfende Macht einer 
großen Bergangenheit; durch übereinſtimmende Einrichtungen, 
durch große Verkehrsſtraßen, durch die allgemeine Verbreitung 
einer Sprache und einer in zahlreichen Schulen gelehrten Bildung 
waren alle Länder am Mittelmeer zu einem großen Ganzen 
gemeinfames Lebens verbunden, Das in den einzelnen glücklichen 
Zeiträumen des Friedens und wohlmollender Regierung fich mit 
Recht als eine früher unerreihte Stufe der Glüdfeligfeit des 
menſchlichen Geſchlechts fühlen und genießen durfte Wenn in⸗ 
deſſen dieſer Zuftend der Gefellfhaft noch Bedingungen der 
Fortdauer einſchloß, fo Tagen in ihm allerdings für inenfchliche 
Augen feine Bedingungen eines neuen Fortſchritts; von außerhalb 
des Völkerkreiſes, der die bisherige Bildung entwidelt hatte, kam 
in dem Chriftenthbum der Anſtoß, welcher die antike Welt abſchloß 
und eine andere Periode der Geſchichte begann. 


Unter den theofratifch georpneten Völkern des Orients er- 
feinen uns die Hebräer mie Nüchterne unter Trunfenen; dem 
Alterthum freilich dünkten fie die Träumer unter den Wachenden 
zu fein. Mit tieffinniger Phantafie hatten die Andern die Gründe 
der Welt, die Urfprünge ihres Werdens und Vergehens geichaut, 
und in ausfchweifenden Culten der Sinnlichleit oder der Selbit- 
peinigung begleiteten fie, die ſich als Theile des großen gött⸗ 
lichen Weltleibes fühlten, alle Zudungen feines geheimnißvollen 
Lebens, den jährlichen Wechfel der erfterbenden und mwieberauf- 
lebenden Natur, den Kampf der lichten und wohlthätigen mit 
den dunklen und feindfeligen Gemwalten. Und über diefe Weis- 
heit hinaus, die das tägliche Leben kannte, verſprach die zurück⸗ 
haltende Wiſſenſchaft der Priefter noch unzählige Geheimniffe. 
Dies Alles betrachteten die Hebriier mit äußerſter Gleichgültigfeit; 

10* 


148 


der ftarfe und eifrige Gott, der die Gerechtigkeit des Herzens 
will und die Sünde verfolgt und rächt um der Sünde willen, 
er hatte freilich auch die Welt gefchaffen und allerlei Kräuter 
und Thiere entjtehen laffen und das große und die Fleinen 
Himmelslichter gebildet, damit Alles gut fei; aber nicht in Diefe 
Schöpfung, in der feine Herrlichkeit doch nur nebenher zum Aus- 
druck kam, vertiefte fi) die Phantaſie des Volks; ihm mar Gott 
ein geihichtliher Gott, dem die Natur ein Fußſchemel feiner 
Macht, aber das Leben der Menichheit, feines auserwählten 
Volks, das einzige Augenmerk feiner Vorſehung if. Den ganzen 
Luxus naturphilofophifcher Myſtik, der jo nußlos die übrigen 
Religionen des Alterthums befchivert, hatten die Hebräer hinweg⸗ 
geworfen, um dem einen Räthjel der innern Welt, dem der 
Sünde und der Gerechtigkeit vor Gott, nachzuhängen; fie fühlten 
fich nicht in den Taumel eines ewigen Naturkreislaufs, jondern 
in den Yortfchritt einer Gefchichte verflochten; fie kümmerten ſich 
nicht um Geheimniſſe, welche nur vergangene Thatfachen bedeuten, 
aber um jo mehr um Die, welche die Aufgaben der Zukunft be= 
treffen; und nicht geheim follten diefe bleiben, fondern die gött- 
liche Eingebung trieb die Propheten, die fpäte Vollendung eines 
Himmelreichs zum Troſt und die Gebote Gottes zur Buße Allen 
zu verfündigen. Geit den Zeiten der Erzpäter, mit denen Gott 
feinen. Bund geſchloſſen, hatte die Lebensweiſe des Volks viele 
Wandlungen erfahren. Die patriarchalifchen Hirten der Vorzeit 
waren nad) dem ägyptiſchen Drude zu einem friegerifchen Wander⸗ 
ftamm geworden; fie hatten dann fich ſeßhaft niedergelaflen und 
bebauten das Land; endlich hatte fie der Handelögeift der femi- 
tiihen Nachbarn ergriffen, und gleich den Phöniciern waren fie 
durch Die ganze damals befannte Welt verbreitet; jenen Grund- 
gedanken ihrer Bolfsthiimlichkeit, den Bund mit Gott, das Bewußt⸗ 
fein einer weltgefchichtlichen Beitimmung und die Hoffnung auf 
ihre Erfüllung hatten fie nicht vergeſſen, fondern nach manchen 
anfänglichen Schwankungen mehr und mehr in fich befeftigt. - Die 
antife Bildung, der zu ihrer finnigen Mythologie und zu den 


149 


Gotteöbegriffen ihrer Philoſophie Nichts als der unmittelbare 
Glaube an deren Realität fehlte, begann auf ein Bolt aufmerkfam 
zu werden, das die lebendige Ueberzeugung, die ihr felbft abging, 
in fo hohem Maße beſaß und dem feine Borftellungen von Gott 
und feinem Reiche nicht als poetifche Randverzierungen einer völlig 
weltlichen Lebensanficht, ſondern als der tieffte Ernft der Wirklich- 
feit galten. In dem allmählich ſinkenden römijchen Reiche gemann 
der jüdiſche Glaube Achtung und Anhang, obwohl feine nationale 
Füärbung ihm Hinderlih war. Aber nun hatten fich ja plötzlich 
die meſſianiſchen Weiffagungen erfüllt; als eine gefchichtliche 
Wirklichkeit, nicht nur als eine neue Xehre zu den vielen Lehren 
der Bergangenheit, wurde bon begeifterten Jüngern der neue 
Bund mit Gott verkündet, und der Inhalt der Verkündigung 
widerfprach der Hoffnung nicht, in der lange vergeffenen Ber- 
nüpfung des weltlichen Lebens mit dem üiberweltlichen endlich 
die wahre Befriedigung der fuchenden Sehnfucht zu finden. Vor— 
züge und Schwächen der bejtehenden römifchen Bildung vereinten 
ſich mit einzelnen gejchichtlichen Ereigniffen, um die Ausbreitung 
des Chriſtenthums zu begünftigen; mehr als fie alle wirkte die 
Macht jeined eignen Inhalts durch feinen auffchredenden Gegen⸗ 
ſatz gegen die hergebrachte Weltauffaffung und durch feine tröftende 
Uebereinftimmung mit den heimlichen Gedanken, die ſich gegen 
dieſe auflehnten. j 

Jede Religion bietet ihre Gaben in Lehren dem Berftande, 
in Stimmung Zroft und Verheißung dem Gemiüth, in Geboten 
dem Willen. Der lehrhafte Inhalt, den das Chriftenthum ur- 
ſprünglich enthielt, war nicht mannigfach. Auch das Evangelium 
ließ alle jene Fragen über Entftehung Zufammenhang und Be- 
deutung der Natur unerörtert, die ſchon das Judenthum über 
gangen hatte. Bon dem Himmelreich allein ſprechend hob es 
die Gefammtheit des geiftigen Lebens als die wahre Wirklichkeit 
in das großartige Xicht einer Gefchichte empor, weldhe alle Welt 
umfaßt, und Tieß Die Natur mit ihrem Kreislauf fill in Die 
Stellung eines Schauplates der Vorbereitung zurlidigleiten, deſſen 


150 


innere Ordnung Zeit und Stunde enthüllen wird. Auch von 
göttlichen Dingen ſprach es nicht, als wollte e8 in Begriffen des 
menfchlichen Verftandes das Unendliche beweifend ausmefjen; über 
alle Fragen nach dem Berbältnig Gottes zur Menfchheit, die den 
Scharffinn der alten Eultur ſchon mannigfach bewegten, ging es 
mit Worten hinweg, die menfchlichen. Berhältniffen bildlich ent⸗ 
lehnt waren. So ſchien es faft weniger zu offenbaren, als jene 
Eultur ſchon gefunden hatte; aber indem es von der heiligen 
Liebe ſprach, weldhe die Welt um der Seligkeit willen will und 
ihre Gerechtigkeit durch verzeihende Gnade zurüdhält, hob es in 
biefer Verkündigung um fo gewiſſer den einen Gedanken hervor, 
deffen unbedingter ſich ewig jelbft bejahenver Werth die Be- 
währung des Beweiſes, der dem Wefen der Religion fern liegt, 
entbehren Tann, und deſſen Inhalt zugleich als das allein Ge- 
wiſſe die Gefchäftigleit des erfennenden Scharffinns in beftimmte 
Richtung lenkt. 

So bot das Chriftentbum dem Beritande unendlide An⸗ 
regung, ohne ihn durch einen engbegrenzten Gedankenkreis ab⸗ 
zufinden; e8 bot ebenfoviel dem Gemüthe. Denn eben das, was 
nur dem unmittelbaren Gefühle in feinem ewigen Werthe ver⸗ 
ftändlich ift, lehrte e8 als das einzige Wahre betrachten, als 
deffen Ausflug alle die Wirklichkeit mit ihren Geſetzen beiteht, 
bon der der Berftand zu dem Göttlichen zurüdgeben kann und 
bon welcher aus er e8 fo oft, wie das Beweisbare vom Beweis⸗ 
grund, ableiten möchte. Hierin traf es mit der alten Sehnfucht 
des menſchlichen Herzens zufammen und war völlig neu in der 
Weife, fie zu befriedigen. Das Bewußtfein der Endlichleit hatte 
die Menfchheit ftet8 gedrückt; aber fo viel fittliche Zerknirſchung 
die Schmärmeret der Indier, jo viel Scheu vor Selbftüberhebung 
die Belonnenheit der Griechen, fo viel Pflichttreue die Mann⸗ 
haftigfeit Der Römer enthielt: überall war doch dieſe Endlichkeit 
nur al8 ein Naturfchiefal empfunden, das den Geringeren in die 
Macht des Größeren gibt und fein Dafein unwiderruflich im, 
Grenzen einjchräntt, während innerhalb diefer Grenzen das End- 





151 


ice fein Höchftes durch eigne Kraft zu erreichen beftimmt: ift. 
Dur) Zaubermittel ungeheurer Büßungen fuchte der Indier Das 
ewige Sein zu erzwingen; der Grieche ſcheute ſich durch Ueber- 
muth den Neid der Götter zu mweden, aber ald Menſch dachte 
er fich jelbft zu vollenden und die Tugend fchien ihm lehrbar, 
wie jede Fertigkeit; der Römer, von feinem jeligen Leben der 
Götter über ſich wiffend, ging entfagend für die Pflicht in den 
Tod, ein ganzer Mann, dem auch fein Gott half, das zu fein, 
was er war. Den Zug der Demuth und der Hingebung, der felbit 
in den elegifcheiten Ausdrücken jenes Endlichkeitsgefühles dem 
Alterthum fehlt, brachte erft das Chriftenthum in das Gemüth 
der Menſchheit und mit ihm die Hoffnung. Es war Erlöfung, 
fi! nun zugeftehen zu dürfen, daß die menfchliche Kraft zur Er- 
füllung ihrer eignen Ideale nicht ausreicht; dafür war von nun 
an die Menfchheit nicht mehr eine einfam ftehende Gattung 
endlicher Wejen, durch die Natur fertig gebildet und beitimmt 
durch eingeborne Kräfte feitbeftimmte Ziele der Entwidlung aus 
ſich ſelbſt zu erreichen; aus dieſer Bereinzelung befreit, fich felbft 
Bingebend an den Strom der Gnade, der als eine immerfort 
geſchehende Geſchichte Unendliches und Endliches verbindet, Tann 
der Menſch Gemeinfchaft mit der ewigen Welt finden, außerhalb 
deren er ftand, fo lange er für fich allein fein wollte oder fein zu 
müflen glaubte. Und eben weil e8 nun nicht mehr die Gattung 
war, die von felbft heiligte oder verurtheilte, fondern weil das 
Heil ergriffen werden wollte von dem einzelnen Herzen, das fidh 
aufgibt um fich wieder zu gewinnen, fo begann num erjt jenes 
Bemwußtjein der Perjönlichkeit fich zu entwiceln, das von da ab 
mit allen feinen Räthſeln, der Freiheit des Willens und der 
Berufung, der Schuld und der Verantwortung, der Auferitehung 
und der Unfterblichkeit, den völlig anders gefärbten Hintergrund 
der menjchlichen Gemüthswelt gebildet hat. Zu der Klarheit 
friedvolles Verſtändniſſes iſt diefer gewaltige Inhalt allerdings 
nie der ganzen Menjchheit gelommen, der er verkündigt war; aber 
and) Die, die fich feiner zu erwehren juchten, haben ihn nie wieder 


152 


verdrängen können; er ift der Angelpunft geblieben, um ben fich 
in Hoffnung und Zweifel, in Gewißheit und Bangigfeit, in 
Begeifterung und Berfpottung, die Bildung der jpätern Zeiten 
ftet8 bewegt bat. 

Dem Blide, der jo die ewige Verknüpfung der Erde mit 
dem Himmelreich umfaßte, fonnte alle irdiſche Geſchichte nur als 
Borbereitung zu dem wahren Leben erfcheinen, weder werthlos, 
da fie ja dies Ziel fucht, noch von dem furchtbaren Ernſt des 
in aller Beziehung Unmwiderruflichen gedrückt. Dem Willen bielt 
daher das Chriftenthum. nur jene Gebote vor, welche das ewig 
Gute der Gefinnung fordern; die Drdnung der irdiihen Anz 
gelegenheiten in Ceremonien Geſetz und Berwaltung ftand ihm 
unmittelbar fen. Ihm war entbehrlid), was die Theofratien 
des Heidenthums fordern mußten; indem es für Gott verlangte, 
mas Gottes ift, konnte es dem Kaifer geben, was des Kaiſers 
it. So wie Gott von ihm nidht zuerft in der Natur gezeigt 
wurde in den mannigfadhen Formen feines Schaffens, um aus 
ihnen die Gründe feiner Verehrung zu entwideln, fo follte auch 
das Leben nicht zuerft eine fefiftehende Ordnung fittlicher Ber- 
hältniffe fein, innerhalb deren der Menfch ſich mit dem Gefühl 
der Sicherheit auf eingegrenzten Bahnen bewegte; jondern dem 
inneren Xeben wurde ed anvertraut, aus fich felbit heraus all- 
mählich auch die Formen der Geſellſchaft zu den Verhältniſſen 
zu veredeln, die feinem Geifte entfpracdhen. In die äußeren 
Zuftinde der Menjchheit trat Daher das Chriftenthum nicht als 
zerjtörende und umftürgende Macht, aber e8 entzog dem Ueblen 
alle Redhtfertigungen feiner beftändigen Fortdauer. Es hob nicht 
jogleih die Sklaverei auf, die es vorfand, aber indem es alle 
Menjchen zur Theilnahme an dem Reiche Gottes berief, ver- 
urtbeilte c8 fie dennoch; es Tieß Anfangs die Vielehe beftehen, 
wo fie bejtand; fie mußte von felbft verſchwinden, als der Geift 
des hriftlichen Glaubens fich in allen Beziehungen des Lebens 
fühlbar machte. Und Ddiefer Kampf währt noch fort in vielen 
Richtungen, denn die Verfehrtheit des menfchlichen Sinnes, die 


153 


von Natur immer die gleiche ift, jeßt dem befferen allen Wider- 
ſtand entgegen, den fie zu leiften fähig ift; Eines aber unter- 
ſcheidet doch als bleibender Gewinn die neu anbrechende Zeit von 
dem Altertbum. Das Befjere und Gerechtere hat allerdings auch 
im antiken Leben ſich Bahn gebrochen, aber faft nur dann, wenn der 
Unterdrückte mannhaft mit dem Unterdrücker rang; Die vorforgende 
Humanität, die ohne eigenes Glück zu fuchen, fiir die leivenden 
Theile ber Menfchheitauftritt, und Werke des Rechtes und der Barm- 
herzigkeit verlangt und ausübt, war der alten Welt jehr fremd und 
fie bat in der neuen feine ftärfere Wurzel als das Chriſtenthum. 
Im Kampfe mit den irdiſchen Verhältnifien und den menſch⸗ 
lichen Leidenſchaften und doch auf beide als die Mittel zu feiner 
Verwirklichung angemiejen, wird fein Ideal in dem Taufe ber 
gefchichtlichen Ausprägung feiner vollen Wahrheit treu bleiben. 
Das Chriftenthum, genötbigt, ſich mit der Bildung der alten 
Welt auseinanderzufegen, verwidelte fich in dem Beftreben, feinen 
Slaubensinhalt dogmatiſch feitzuftellen, in den hoffnungslofen 
Berfuch, feinen Bekennern anftatt der unerjchöpflichen Fülle 
lebendiger Gedanlen, die Jedem das Evangelium anregen fonnte, 
ein abgejchloffenes Ganze von Satzungen aufzudrängen, beren 
viele an Unfruchtbarkeit für das Leben den Erzeugnifjen der 
antiken Sophiftif gleich famen. Die einfache Geſchäftsordnung, 
die fi) in den Urgemeinden aus den Aufgaben der Gemein- 
famfeit in Gottesverehrung und Leben gebildet hatte, wandelte 
fih mit der fteigenden Ausbreitung des Chriſtenthums in eine 
Abftufung von bleibenden Aemtern um; dem allgemeinen menſch⸗ 
lichen Priefterthun des Evangeliums entgegen, ſchied fich von 
Neuem ein Stand der Priefter. von den Laien, und in dem 
Gebäude der Kierarchiichen Kirche erftarrte das Reich des heiligen 
Geiftes zu einem unfreten irdiſchen Mechanismus. Aber dieſe 
Mißformen des chriftlichen Lebens, die eine fpätere Zukunft zu 
heilen unternehmen Tonnte, waren die harte Schale, durch die 
allein es dieſem Leben gelang, ſich unter den Trümmern des 
zufammenftürzenden Römerreichs für jene Zukunft zu retten. 


154 


. Die germanifchen Bölfer, fett Jahrhunderten die oft fieg- 
reichen, oft. befiegten, nie unterjochten Feinde Roms, vollendeten 
endlich Das Wert, zu dem fie beftimmt fchienen, und löſten das 
taufendjährige Reich der alten Cultur auf. Aber fte waren nicht 
in der Berfaffung, aus eigner Kraft eine neue Bildung an die 
Stelle der verblühenden zu fegen. Der lange Todesfampf des 
römischen Reichs, das fie ſelbſt als tapferite der Hülfstruppen 
geraume Zeit hinfrifteten, hatte fie zwar in vieljeitige Berlibrung 
mit den Elementen der antilen Gefittung und den Lehren des 
Chriſtenthums gebracht; aber die Maffe der großen Nation, die 
fid) erobernd über die römischen Provinzen ergoß, war Doch dem 
einfachen Leben treu geblieben, das fie feit undenflichen Zeiten 
geſchichtlos dahingelebt Hatte. Niemand weiß, welche Ereigniffe 
ihnen die lange Reihe der Jahrhunderte angefüllt haben, Die 
zwifchen ihrer erften Abzweigung aus der aftatifchen Urheimat 
und ihrem Auftreten in dem Geſichtskreis der europäilchen Ent- 
widlung liegen. Wahrſcheinlich lange ohne fichere Heimat, 
gedrängt von nachrädenden Völkern, haben fie im Kampf um ihr 
Dofein zwar Zapferfeit und Triegerifche Rüftigleit bewahrt, aber 
in den nördlichen Wohnfigen, die fie endlich behaupteten, zu 
einer freundlichen Bildung des Lebens wenige Fortichritte gemacht. 
Zu derjelben Beit, da das römifhe Kaifertfum begann, und in 
allen Schätzen des befannten Erdkreiſes ſchwelgte, lebten die 
Germanen noch von der Jagd dem Ertrag ihrer Viehheerden 
und einem wenig entwidelten Aderbau; fie ſchweiften nicht mehr 
heimatlos umher, jondern hatten ſtändige Wohnfite; aber zerftreut 
angefiedelt und ohne Städte, befaßen fie nichts von der Induftrie, 
die ſich aus der Verdichtung der Bevölkerung und der Theilung 
der Arbeiten entwidelt. In Kleidung und Koft an ärmliche 
Einfachheit gewöhnt, jelbft mit dem Eifen für ihre Waffen 
geizend, da fie e8 nicht zu gewinnen mußten, troßten fie Der 
Raubeit des Klima in Funftlofen Hütten, von fehwereren Win- 

-teen felbft in unterirdiſche Höhlen vertrieben. Der Gefelligleit 
geneigt, fanden fie flir fie Do wenig andern Inhalt ale Kampf 


1 


155 


Spiel Zechgelage und das Anhören von Heldenlievern, welche 
die Großthaten defjelben einfachen Lebens wiederholten. Aber 
mit dieſer geringen Cultur verbanden fie doc, Eigenfchaften des 
Charakters, die unter güinftigeren Bedingungen einft der Gefchichte 
eigenthlimliche Güter zuführen jollten. Sie befaßen in hohem 
Grade die Liebe zur Freibeit, die fich genitgen läßt, fremden 
Einfluß auf die Willfür der eigenen Lebensführung abzumehren, 
aber fie hatten nicht den neidiichen Trieb nad) Gleichheit, der 
fremde Borzüge nicht ertragen kann. Jener Unabhängigkeit zu 
Liebe fcheinen die einfachen Einrichtungen ihrer Gefellihaft manchen 
Fortſchritt abfichtlich vermieden zu haben, der mit größerer Ent- 
wicklung des Lebendreihthums doch die Selbitändigfeit Vieler 
würde beeinträchtigt haben; aber der hervorragenden Kraft 
begabter Führer folgten fie mit freiem Entſchluß und vollendeter 
Treue, und ohne erblihe Fürſtengewalt oder Adel anzuerkennen, 
ehrten fie doc hoch das Blut berühmter Helvengefchlechter. 
Diefer Zug des freiwilligen Dienend und vollitindiger perfün- 
licher Hingabe ift weithin durch ihre Gefchichte bemerkbar, und 
wie er nur möglich ift in dem Berhältniffe von Perfon zu - 
Perſon, jo bat er auch fpäter die deutſchen Völker ſtets zu dem 
Zufammenfhluß in Heineren Kreifen geneigter gemacht, als zur 
Bereinigung in ein großes Ganze. Und eben jo ſchwer blieb 
es ihnen ftets, fich fir allgemeine Principien zu begeiftern, die 
ihnen nidht in perfünlicher Geftalt vor Augen fanden; um fo 
nachhaltiger war auch dieſe Begeifterung, denn fie verftanden es 
lange nicht, nur mit einem Theile ihres Gemüths, fie waren 
genöthigt, mit dem ganzen bei der Sache zu fein, der fie fich 
widmeten. Daß fie mit folder Sinnesart für die Aufnahme 
und innerliche Verarbeitung des Chriſtenthums wohlvorbereitet 
waren, kann man zugeitehen, ohne zu leugnen, daß in den erften 
Jahrhunderten deffelben die ſüdlicheren Nationen in allen römischen 
Provinzen jene Männer von hohem Geiſtesſchwung und tiefer 
Innerlichkeit hervorgebracht hatten, die als Väter der Kirche dem 
hriftlihen Leben im Norden borangingen. 


156 


Die ungeheure Bewegung der Völkerwanderung warf nun 
die germaniſchen Völker in einzelnen großen wiederholt über 
einander ftürzenden Strömen über alle Gebiete des römischen 
Reichs. Keine dieſer ſüdlichen Eroberungen konnten fie halten, 
überall in der Minderzahl gegen die einheimifche Bevölkerung; 
aber der Zufammenhang der gebildeten Welt war auf lange durch 
fie zerfprengt, und iiber die reichen Linder des Mittelmeers, die 
Rom in den Klaren Tag eines entwidelten Wechſelverkehrs ver- 
bunden Hatte, ſenkt fich eine lange Dämmerung, in der eines 
aus dem Gefichtäfreis des andern verichwindet und viele Elemente 
ehemaliger gemeinfamer Eultur verloren gehn. 

Schon in den leßten Zeiten der antiken Bildung hatte die 
bunte Mifchung der Völker und der Lebensweiſen, die der An⸗ 
wachs des römischen Reichs und die fteigende Entwidelung des 
Berfehrs herbeigeführt, den einfachen feiner ſelbſt gemiflen 
plaftiichen Geiſt des Alterthums geſtört, deſſen eine Bedingung 
die abgefchloffene nationale Entwidelung innerhalb der eignen 
Gemütbsrichtung geweſen war. Ein Kreis zufammenftimmender 
Weltanfichten hatte ehedem die Kunft abgerumdete Werke des 
ſchönſten Maßes gelehrt; Mare und begrenzte Lebensaufgaben 
hatten dem Leben felbit Gleichgewicht und Haltung gegeben; troß 
der unerſchöpflichen Mannigfaltigkeit im Einzelnen hatte doch das 
Ganze der Wirklichfeit mit den erftrebbaren Gütern, Die fie befikt, 
und den menjchlich wünſchenswerthen Lebensformen, die fie möglich 
macht, mit einer gewiſſen Bollftändigfeit und Abgejchlofienheit 
wie ein Gemälde mit klarer Mafjenvertheilung vor dem Blide 
gelegen. Doc hatte allerdings diefe Weltauffaflung die Bedürf⸗ 
nifje des menjchlichen Gemüths mehr zurücigedrängt als befriedigt. 
Die Unficherheit iiber fich felbft, die das griechiiche Leben ſchon 
früher ergriffen hatte, drang mit der Kaiferzeit auch in die 
römische Welt. Der unmittelbare Glaube an die Hoheit Roms 
wich Tosmopolitifchen Betrachtungen; den beſchränkten, aber tiich- 
tigen Gedankenkreis der nationalen Sitte zernagte philofophifche 
Reflerion; die Fünftlerifche Phantafie, die am menigften die 


157 


Ungewißheit des Gemüths verträgt, vertaufchte die ruhige 
Spiegelung mit unbefriedigtem Ieivenfchaftlichen Hinausgehen iiber 
die gegebene Welt und vermifchte die Formen der Darftellung 
in neuen Verſuchen. Der religidfe Glaube hatte längſt feine 
Zuverficht verloren; mit den mwefenlofeften Aberglauben verband 
fich Die Unrube, in allen bekannten und unbelannten Eulten der 
Erde die eingebüßte Gewißheit wieder zu gewinnen. Dann war 
das Ehriftenthum gekommen und feine neue geiftige Welt mußte durch 
den zerriffenen Gedankenbau der antiken Eultur hindurchwachſen; 
nun famen endlich die Ströme der germantichen Barbaren und 
zerichlugen den äußeren Beftand derſelben. Mußte dieſe Ver— 
miſchung aller denkbaren Kebensformen den Geift der noch Übrigen 
Trümmer der antiken Bölfer im Tiefften umftimmen, fo war 
e8 den Eroberern nicht weniger ſchwer, fich dieſer unermeßlichen 
Mannigfaltigfeit gegenüber zu faffen. Sie kamen eigentlich ohne 
beftimmte Zwecke, theils der Noth weichend, theils dem Aus⸗ 
dehnungsbeſtreben eines Träftigen Naturells folgend, das in großen 
gewaltigen aber doch ziellofen Spielen Stillung feines Thaten⸗ 
dranges ſucht. Nun lag die niedergetretene klaſſiſche Welt vor 
ihnen mit ihrem Reichthum an Gütern der Natur der Kunft 
nnd des Lebens und mit den zahllofen Elementen der Bildung, 
die fie immer noch einſchloß; indem fie auf diefem Kampfplatz 
fih tummelten, drüdten fie auf lange Zeit der Gelchichte das 
Sepräge des Abenteuerd auf, das mit feiner Vielheit losgebun⸗ 
dener charaktervoller Kräfte, feinem gleichgewichtslofen Streben 
nach großen leidenſchaftlich verfolgten einander widerſprechenden 
Zielen, der Mannigfaltigfeit feiner ercentrifchen Lebensformen und 
ihrer Zufammenhanglofigteit das Mittelalter von dem Alterthume 
ſcheidet. 


Als nad) drei Jahrhunderten die Flut der Völkerwanderung 
zum Stehen gelommen war, hatten fi in der Hand der frän⸗ 


158 


fifchen Herrſcher Gebiete vereinigt, in denen zwar germanifches 
Blut vorherrichte, deren Bewohner aber doch kaum anders, als 
fo lange fie im Heerbann vereinigt gegen den äußern Feind - 
ftanden, ſich al8 zufammengehörig fühlen fonnten. Namentlich in 
ben deutichen Ländern, die von der römischen Herrfchaft nır an 
ihren Grenzen berührt worden waren, dauerte bei dem Mangel 
der Städte das alte an gefelligen Wechfeliwirkungen arme Leben 
einer über das Land zerjtreuten Bevölkerung fort; die Verjchie- 
denheiten der Stammnafurelle, der Mangel gemeinfamer Verwal⸗ 
tungsintereffen und die Schwierigfeit des Gedankenaustauſches 
binderten die Entwidlung eines lebhaften Gemeinfinnd. Die 
perfönliche Kraft Karls des Großen konnte diefe Gebietsmaffe 
friegerifch zufammenhalten und in friedlicher Thätigkeit werthvolle 
Keime Später aufblühender Bildung in fie legen, aber fie konnte 
nicht die Lebenskraft eines ſich jelbit erhaltenden Staatsganzen 
einer Geſellſchaft von jo wenig entwideltem gegenjeitigen Bedürfniß 
und Perftändnig einhauchen. Als daher die Wiederberitellung 
der römilchen Kaiſerwürde in ihm der Welt ein Oberhaupt gab, 
war diefe neue Einheit des menfchlichen Gefchlechtd eben fo ſehr 
eine der Phantaſie dargebotene ideale Spite einer noch nicht 
vorhandenen Geſellſchaft, wie einft die erfte Stiftung derſelben 
Würde der jelbftverftändliche Abſchluß einer langen focialen Ge- 
ſchichte geweſen war, an die fie anfänglic, mit Vermeidung jedes 
Scheines der Neuheit ſich anſchloß. Und diefer Charalter ift 
dem mittelalterlichen Kaiſerthum immer geblieben; es bat nur 
porlibergehend Die Machtmittel befefjen, die feiner idealen Stellung 
entfprochen "hätten; aber wenn es ein Phantafiebild war, fo 
lebte e8 eben in der Phantafie der Menjchen wirklich; der 
Gedanke an die Majeftät eines einzigen weltlichen Regiments 
war troß feiner Undurchführbarfeit keineswegs ein leerer Traum, 
fondern ähnlicd dem Gewiffen, gegen welches Die Leidenfchaften in 
"beitändiger Auflehnung find, und deſſen Ausfprüche fie Doch nicht 
ganz zum Berftummen bringen, ſchwebte diefes ideale Bild, dem 
die fachliche Macht fehlte, dem Geifte des Mittelalters vor, und 


159 





die Ehrfurcht vor ihm bat immer noch viele 
fen gehalten und manche Wufopferung hervorgerufen. 

Die wirkliche Gliederung des Lebens freilich bildete fich 
nicht von dieſer einen Spike aus zur Einheit, fondern von unten 
herauf zu unzähligen Kleinen Kreifen, in verfchievenen Rändern 
mit verfchiedenen Graden der Langſamkeit und Schwierigkeit. 
Italien mit feinem altcultivirten Boden, den vielen aus dem 
Alterthum geretteten obgleich verwüſteten Städten, dem theils be= 
wahrten theils wiederaufblühenden Handel und der nie ganz 
vernichteten bürgerlichen Organifation fener Gemeinden, fummelte 
zuerft diefe reichen Trümmer ehemaliger Cultur, und entfaltete 
in vielen Heinen Staaten, deren Wetteifer der Bildung diente, 
während er bie politifche Einheit binderte, ein reiches geiftiges 
Leben. Die großen Binnenländer des Feſtlands litten dagegen 
an der Armuth der nördlichen Klimate, an der Schwierigfeit der 
innern Commumication, an dem Mangel großer Brennpunkte der 
Gejellichaft, an dem niederen Stande der Induſtrie und Der 
geringen Flüffigleit ihrer wirthichaftlichen Hilfsmittel, kurz an 
aller jener Schwerfälligfeit des Dafeins, in der das Dunkel 
befteht, das ſich in unferer PVorftellung gewöhnlich iiber Das 
Mittelalter auszubreiten fcheint. Auch fie konnten, aus Dielen 
andern Urfachen, zunächſt nur zu Geftaltungen Meines Umfangs 
. gelangen. 

Aus freien Grundbefigern hatte die urjprüngliche Volks⸗ 
gemeinde beitanden; durch Belehnung mit Grund und Boden war 
in eroberten Gebieten der Stamm der Sieger belohnt und feine 
Bedürfniſſe gededt worden; perjänliche Vertreter der oberften 
Gewalt, zuerjt wechſelnde dann ftändige, hatte die geringe Ent- 
wiclung der Gefellihaft zur Leitung der Angelegenheiten nöthig 
gemacht; auch fie waren theils mit Grundbeſitzthum theils mit 
Rechten an beitimmte Landfchaften abgefunden; zulegt verwar- 
delte ſich im ausgebildeten Lehnsweſen die einft gleichartige Volks⸗ 
gemeinde in eine verwickelte Stufenordnung Berechtigter und 
Verpflichteter, deren Rechte und Pflichten beide an die beſtimmte 


158 


kiſchen Herricher Gebiete vereinigt, in denen zwar germanifches 
Blut vorherrichte, deren Bewohner aber doch kaum anders, als 
fo lange fie im Heerbann vereinigt gegen den äußern Yeind - 
ftanden, fi) ald zufammengehörig fühlen fonnten. Namentlich in 
den deutſchen Ländern, die von der römischen Herrichaft nur an 
ihren Grenzen berührt worden waren, dauerte bei dem Mangel 
der Städte das alte an gejelligen Wechfelwirkungen arme Leben 
einer über das Land zerftreuten Bevölkerung fort; die VBerfchie- 
denbeiten der Stammnafurelle, der Mangel gemeinfamer Berwal- 
tungsintereffen und die Schwierigfeit des Gedankenaustaufches 
hinderten die Entwidlung eines lebhaften Gemeinfinnd. Die 
perfünliche Kraft Karls des Großen fonnte diefe Gebietsmaſſe 
Eriegerifch zufanmenhalten und in friedlicher Thätigfeit werthvolle 
Keime fpäter aufblühender Bildung in fie legen, aber fie konnte 
nicht die Lebenskraft eines fich felbit erhaltenden Staatsganzen 
einer Gefellfehaft von fo wenig entwideltem gegenjeitigen Bedürfniß 
und Verſtändniß einbauen. Als daher die Wiederheritellung 
der römifchen Kaiſerwürde in ihm der Welt ein Oberhaupt gab, 
war dieſe neue Einheit des menfchlichen Geſchlechts eben fo jehr 
eine der Phantafie dargebotene ideale Spike einer noch nicht 
vorhandenen Gefellfhaft, wie einft die erfte Stiftung derſelben 
Würde der jelbftverftändliche Abſchluß einer langen ſocialen Ge— 
ſchichte geweſen war, an die fie anfänglich mit Vermeidung jedes 
Scheines der Neuheit ſich anſchloß. Und dieſer Charakter ift 
dem mittelalterlichen Kaiſerthum immer geblieben; es hat nur 
vorübergehend Die Machtmittel bejefjen, die feiner idealen Stellung 
entfprodyen hätten; aber wenn es ein Phantafiebild war, fo 
lebte e8 eben in der Phantafie der Menſchen wirklich; ber 
Gedanfe an die Majeftät eined einzigen weltlichen Regiments 
war troß feiner Undurchführbarkeit keineswegs ein leerer Traum, 
fondern ähnlich dem Gewiſſen, gegen welches die Leidenfchaften in 
"beftändiger Auflehnung find, und deſſen Ausſprüche fie doch nicht 
ganz zum Verſtummen bringen, ſchwebte dieſes tveale Bild, dem 
die fachliche Macht fehlte,. dem Geifte des Mittelalterd vor, und 


159 





die Ehrfurcht vor ihm hat immer noch viele 
fen gehalten und manche Aufopferung hervorgerufen. 

Die wirkliche Gliederung des Lebens freilich bildete fich 
nicht von diefer einen Spige aus zur Einheit, fondern von unten 
herauf zu unzähligen Kleinen Kreiſen, in verfchiedenen Rändern 
mit verfchiedenen Graden der Langfamkeit und Schwierigkeit. 
Italien mit feinem altcultivirten Boden, den vielen aus dem 
Alterthum geretteten obgleich) verwüſteten Städten, dem theils be- 
wahrten theil8 wiederaufblüihenden Handel und der nie ganz 
vernichteten bürgerlichen Organifation femer Gemeinden, fummelte 
zuerft diefe reichen Trümmer ehemaliger Eultur, und entfaltete 
in vielen Heinen Staaten, deren Wetteifer der Bildung diente, 
während er die politifche Einheit binderte, ein reiches geiftiges 
Leben. Die großen Binnenländer des Feſtlands Titten Dagegen 
an der Armuth der nördlichen Klimate, an der Schwierigfeit der 
innern Commimication, an dem Mangel großer Brennpunkte der 
Geſellſchaft, an dem niederen Stande der Induſtrie und ber 
geringen Flüffigfeit ihrer wirthichaftlichen Hilfsmittel, kurz an 
aller jener Schwerfälligfeit des Daſeins, in der das Dunkel 
befteht, das ſich in unferer BVorftellung gewöhnlich über das 
Mittelalter auszubreiten fcheint. Auch fie konnten, aus dieſen 
andern Urfachen, zunächſt nur zu Geftaltungen Meines Umfangs 
.. gelangen. 

Aus freien Grundbefigern hatte die urfprüngliche Volks⸗ 
gemeinde beftanden; durch Belehnung mit Grund und Boden war 
‚in eroberten Gebieten der Stamm der Sieger belohnt und feine 
Bedürfnifje gedeckt worden; perjänliche Vertreter der oberſten 
Gewalt, zuerft wechfelnde dann ftändige, hatte die geringe Ent- 
wicklung der Gefellihaft zur Leitung der Angelegenheiten nöthig 
gemacht; auch fie waren theil® mit Grundbeſitzthum theild mit 
Rechten an beftimmte Landfchaften abgefunden; zulegt verwan⸗ 
delte fih im ausgebildeten Lehnsweſen die einjt gleichartige Volks⸗ 
gemeinde in eine vermwidelte Stufenordnung Berechtigter und 
Berpflichteter, deren Rechte und Pflichten beive an die beftimmte 


160 


Scholle Banden. Zahlloſe Burgen der ritterlichen Lehnsträger 
bededten das Land; in ihrer Einfamkeit gedieh allerdings der 
Sinn für die Zufammengehörigfeit der Yamilie, ihre Ehre, die 
Reinheit des Blutes und die Achtung alter Weberlieferung; die 
Stellung der Hausfrauen gewann an Bedeutung; ein Standes- 
geift, der fi) im Ritterthum einiger Aufgaben menjchlicher 
Bildung bewußt wurde, verband die Einzelnen zu gewifler Ge- 
meinfamfeit des Lebens; Traditionen abenteuernder Ehrfucht und 
unbedingter Mannentreue gaben dem Dafein einigen fittlichen 
Inhalt; jelbft der Sinn fiir Poefie lebte auf. Aber weder die 
allgemeine Bildung noch die Entwidlung des öffentlichen Lebens 
madte in dieſer Form der Gefellihaft Fortichritte Es gab 
fein Bolt mehr; die Kluft zwifchen dem Burgherrn und den 
hörigen Hinterfaffen wurde durd Fein anerkanntes Recht, felten 
durch wohlmollende Fürſorge ausgefüllt; zwifchen den einzelnen 
dienenden Gemeinden beftand fein Band des Gemeinbemußtjeins 
oder der rechtlichen Verknüpfung. Der Stand der Herren felbft, 
durch gleiche Lebensweiſe und gefelligen Verkehr verbunden, fühlte 
fih doch nur ald Stand, nicht als Beſtandtheil eines Staats- 
ganzen, deſſen Wohlfahrt ihn zu Opfern verpflichtete. Wenige 
Gebiete waren groß genug zur Entfaltung eines eignen Eultur- 
lebens ; da8 Zuſammenwirken mehrerer hinderte die Selbjtändig- 
feit der Herren, die Dunkelheit ihrer gegenfeitigen Verpflichtungen, 
der Mangel eines unzweifelhaften allgemeinen’ Rechtes, das fich 
mit diefen im Laufe der Zeit entſtandenen Verpflichtungen fort= 
entwidelt hätte, die Unmöglichkeit, Richterfprüche, wenn fie gefällt 
waren, ander als durch den Nachdruck der Gewalt zur Aus- 
führung zu bringen, die Leichtigkeit für die vielen an Macht faft 
gleichen Einzelnen, durch Bündniſſe der mühſam gefchaffenen 
gefeglichen Gewalt zu widerfiehen. Nur in den Fleinften Kreifen 
waren beftimmte überfehbare Berhältniffe, für das Leben des 
Staates nur die unbehülflichjte Mafchinerie vorhanden; die Sorge 
für die allgemeine Wohlfahrt erlahmte an dem Fehlen einer feften 
und geordneten Beftenerung; Die auswärtige Politi! an dem 


161 


Mangel des ftehenden Heeres und der Weitläuftigfeit der Bafallen- 
beeresfolge; für das Rechtsleben fehlten die ftändigen das all- 
gemeine Rechtsbewußtſein vertretenden Gerichtshöfe; faft jede 
Competenz war ftreitig oder wurde beftritten oder mußte ihre 
Anerlennung der Gewalt verdanlen. 

Trotz aller Zuchtloſigkeit fehlte dieſen Zuftinden ein eigen- 
thümliches Rechtsgefühl nicht. Die germanifchen Völker waren 
obne einen Schaß alter Bildung und ohne die aus folcher Erb- 
ſchaft fließende Gabe der Abftraction, ohne Auge für Principien, 
geſchichtlich in Berhältniffe gelommen, die zu rafcher Entwidelung 
drängten. Sie fonnten nicht aus dem Stegreif die allgemeinen 
Grundſätze des Rechtes finden, fondern eben jedes gefchichtlich 
gewordene Verhältniß galt ihnen in aller feiner Irrationalität 
als das zunächſt nun beftehende Recht; ed würde ſich ja nicht 
gebildet haben, wenn es nicht im Augenblid feiner Entſtehung 
den gegebnen Bedingungen entiprochen hätte Dazu kam, daß 
auch Das Chriſtenthum nicht ſowohl als Lehre, fondern als eine 
geſchehene Gefchichte ihnen gegenübertrat, als eine jener Hand⸗ 
lungen, durch welche die Borjehung, nicht die Natur der Sache, 
dem Berlauf der menjchlichen Dinge Gefege gibt. Auf göttlicher 
Stiftung auf menfchliher Einrichtung auf Belehnungen und 
Berträgen auf der Bedeutung einzelner Ereignifje beruhte dem 
Mittelalter Alles, was wir jet längft gewohnt find, nad) all- 
gemeinen Geſetzen des fittlihen und rechtlichen Lebens zu beur- 
theilen. Eine ſolche Begründung menfchlicher Zuftände ift bet dem 
Wechfel der gegebnen Bedingungen nothwendig die fruchtbarfte 
Duelle beftändiger Gegenftrebungen gegen das zum Unrecht 
werdende Recht: fie bat im Mittelalter die zahlojen Ausbrüche 
ungebundenfter Willkür hervorgerufen. Wo aber diefe Gegen 
ftrebungen einen frieblicheren Gang nahmen, gingen auch fie 
felten von abftracten Grundſätzen aus, fondern juchten nach den 
Forderungen der Lage die früheren Particularrechte durch neue 
ebenfo particulare Feitfegungen umzugeftalten. Diefe Gewohn⸗ 
heiten durchdrangen in den mannigfachſten Formen das ganze 

Lotze, III. 8. Aufl. 11 


162 


Leben. Als die Städte aufblühten und ihre Gebiete von ver= 
wickelten Pflichten gegen die Lehnsherren Iöften, als dann in 
ihnen. die Liebe zur Arbeit und die fittliche Vertiefung in thätige 
Berufstreife der ſchönſte Schmud des fpätern Mittelalterd wurde, 
fehen wir auch dieſes reiche Leben in einer Menge fcharf- 
begrenzter Körperfchaften Truftallifiren, jede durch vertragsmäßige 
Beitimmungen ſich in ſich felbft gliedern und mit andern recht: 
lich auseinander” feßen, fi mit zahlloſen Handwerksgebräuchen 
und Symbolen umgeben und in Allem ſich zu Organismen 
ausgeftalten, deren wefentliher Sinn durch viele irrationale 
nur gefchichtlich begründete Zuthaten zuweilen beeinträchtigt, im 
Ganzen aber zu höchſt intenfivem Leben individualifirt wurde. 
Und nicht blos die Menjchen, auch die Dinge hatten für die 
Phantafie des Mittelalters ihr eignes, nicht blos nad) Natur- 
eigenſchaften bemepbares, jondern gleichſam hiſtoriſches Recht; an 
Zeiten und Orte knüpften fid) Befugniſſe Verpflichtungen und 
Freiheiten aller Art. 

Innerhalb Diefes weltlichen Lebens war geiftige Bildung 
lange nur von der Kirche gepflegt worden. Schon das Römer- 
reich hatte nach der Anerkennung des Chriftenthums der fich 
allmählich abjchliegenden Geiftlichkeit hervorragende Stellungen 
im Staate gewährt; ihre von frifcher Begeifterung für einen 
großen Lebensinhalt oder von aufftrebendem Ehrgeiz angeregte 
Thätigfeit vertrat vielfach Die erfchlaffende bürgerliche Obrigfeit; 
reiche Bermächtniffe gaben ihr Selbftändigfeit und die Mittel zu 
guten Werfen; obgleich das Gebäude der Hierardhie noch lange 
nicht fertig war, wurzelte Doc im Abendland das Anfehn des 
römischen Stubles feit; die zahlreichen Miffionen, die von jeder 
neugegründeten Niederlafjung weiter ftrebten, fühlten ſich als 
Glieder eined Ganzen. Ohne diefe Organifation zur Kirche 
würde das Chriftenthbum faum die Stürme jener Zeiten über- 
dauert und wenige der ſegensreichen Einflüffe ausgeübt haben, 
die von ihm auch das weltliche Leben erfuhr. Durch die über- 
lieferte Bildung, durch ihre eignen Mittel und durch die 


163 


fremden, die ihre Autorität ihr zu Gebot ftellte, verinochte bie 
Kirche theild die eindringende Barbarei abzuhalten, theils felbft 
bordringend die noch verdunkelten nördlichen Länder mit jenen 
Öotteshäufern Klöſtern Bilchofsfigen und wirtbfchaftlichen 
Niederlaffungen zu füllen, aus denen mit der Baufunft der 
Obſtbau, mit den Elementen des Willens die der technifchen 
Geſchicklichkeiten fich verbreiteten, unter deren Mauern der all 
mählich aufblühende Verkehr feine Märkte hielt und in deren 
Hallen der Kranke und Müde Pflege oder Heilung fand. In 
vielfachen Beziehungen ftand jo am Anfange de8 Mittelalters - 
die Kirche an der Spike des Fortſchritts und der Civilifation; 
die meiften gemeinnüßigen Einrichtungen gingen von ihr aus; bei 
ihr fuchte die Unwiſſenheit Belehrung, denn fie allein befaß die 
Veberlieferung der Gelehrſamkeit; zn ihr allein konnte Die Sehn- 
ſucht nach Troſt und Gewißheit flüchten, denn fie allein hatte 
alle Berhältniffe des menfchlichen Lebens in Betracht gezogen 
und die Ergebnifje ihres Nachdenkens mit frifcher Begeifterung in 
das Ganze einer umfaffenden Weltanficht verbunden; zu ihr 
endlich Hatten die Bedrückten um Hilfe gerufen, denn fie allein 
war e8, die innerhalb der allgemeinen Zügelloſigkeit und bes 
abenteuernden Thatendranges eine für alle Menfchen gültige 
Wahrheit, eine von aller Willkür unabhängige göttliche Ordnugen 
der Dinge anerkannte und lehrte, fie in einem Leben voll Dis⸗ 
ciplin befolgte, und in nicht feltenen Fällen fie mit muthiger 
Aufopferung zum Beften der unterbrüdten Schwäche gegen die 
Gewalt der Mächtigen vertrat. 

Hinweggehend über die reiche Gefchichte der Kirche während 
des Mittelalters finden wir am Ende dieſes Zeitraums ihre 
Stellung zu dem meltlichen Leben fehr verändert: während dieſes 
in ausdrucksvoller Entwicklung vorwärts rang, war fie felbft 
zurüdigeblieben und zur Hinderung des Fortſchritts geworben. Gie 
ftand nicht mehr an der Spike der Wiſſenſchaft; die religiöfe 
Weltanſicht, die einft, der ausgedehnten ganz weltlichen Bildung 
des Alterthbums gegenüber, mit großem Segen alle Wirklichfeit 

11* 


164 


zu beberrfchen und alle Erkenntniß fich unterzuordnen geftrebt 
hatte, konnte nad) dem allmählichen Untergang jener Bildung 
doch Feine genligende Einficht in den Zufammenbang der äußern 
Welt geben; mas nebenbei von der profanen Weisheit des 
Alterthums fortgepflanzt wurde, verlor, durch bloße Ueberlieferung, 
nicht Durch neufchaffende Unterjuchung ‚gepflegt, an Ausdehnung 
und Genauigkeit; während das weltliche Xeben neue Berhältniffe 
ſchuf, neue Thatfachen entdedte, verarmte die Duelle der Be- 
lebrung in der Kirche. Auch ihre Seelforge hatte ihre Lebendig⸗ 
feit verloren. Mit eingehendem Eifer hatten einft die Väter der 
Kicche den Glaubensinhalt gegen alle Zweifel der antifen Cultur 
verfochten; der Unbildung der germanifchen Bölfer gegenüber war 
allerdings die Darbietung eines gefchloffenen Belenntnifjes heil- 
fam gemwefen; aber die feite Formulirung der Dogmen, die fie 
zum fertigen. Gegenftand der Tradition machte, minderte auch in 
dem Klerus die Intenfität des geiftigen Lebens; mas aber an 
folder Regſamkeit noch vorhanden war, blieb dem Volle durch 
die lateinifche Sprache und Durch die Behutſamkeit entzogen, mit 
welcher die Kirche die Geheimniſſe der Religion und die Ber- 
mwaltung der Gnadenmittel ſich ſelbſt vorbehielt, der Laienwelt 
aber das innerliche Erleben des Glaubens und die Wiedergeburt 
durch eignen Gemüthskampf nicht mehr predigte, ſondern verfagte. 
Schwere Gebrechen hatte ferner die Lebensweiſe des Klerus 
befallen und er war nit mehr das anerkannte Vorbild des 
Wandels, fo wenig als die Hoffnung des Unterdrüdten. Er war 
allerdings keine erbliche Priefterfafte geworden, jondern ergänzte 
fih, obgleich nicht mehr durch Wahl der Gemeinde, aus dem 
Bolt; aber der niedern Geiftlichfeit, Die mit dieſem lebte, fehlte 
Einfluß und Einfiht; die höhern Würdenträger, durch mancherlei 
Lehnöverhältniffe in politifche Stellungen gefommen, begünftigten 
zwar oft die Widerfehlichkeit gegen das weltliche Regiment, aber 
nicht die Freiheit der Gemeinden. 

Es hatte nie an lebhaften Kämpfen zwiſchen diefen beiden 
großen Mächten gefehlt. Der Streit zwiſchen dem Kaiſerthum 


165 


und der päpftlichen Kirche hatte zu Teinem entfcheidenden Siege 
des einen oder der andern geführt. Das Kaiſerthum mit feinem 
Anfpruch der Herrfchaft über Völker, zwifchen denen nur das 
Chriftentbum ein Vereinigungsband war, Tonnte nicht al8 ſolches 
fiegreich gegen die Kirche fein, welche unmittelbar im Namen 
defjelben Chriſtenthums dieſelbe Obergewalt verlangte; die Kirche 
hatte für ſich die natürlich einigende Macht der Religion, und 
benugte die nationalen Verfchiedenheiten, denen in ihrer mwelt- 
lichen Entwicklung Freiheit zulommt, gegen die mangelhaft be 
gründete Alleinherrſchaft einer weltlichen Gewalt. Aber als das 
Kaiſerthum längft diefe Anfprüche hatte fallen laſſen müſſen, 
hatte inzwifchen das weltliche Leben ſich in einer Mehrheit 
nationaler Entwidlungen einen eignen Inhalt gewonnen, als 
deſſen natürliche Vertreter die einzelnen Fürſten auch den Ueber- 
griffen der Kirche wirkfamer entgegentreten konnten. Die Ver⸗ 
theidigung gegen die Verſuche zur Erneuerung der Theokratie 
gelang dieſen weltlichen Gewalten in dem Maße, als fie fich mit 
den volfsthümlichen Leben ihrer Länder identificirten; fie lähmten 
fi) jelbft, wo fie zur Hemmung des Fortfchrittes ſich mit der 
geiftlichen Macht der Kirche verbanden. Dieſen Fortſchritt ſelbſt 
aber hatte theild die unvermerkte Weiterentwidlung der früheren 
Berhältniffe eingeleitet, theils begünftigte ihn eine Reihe auf- 
fallender gejchichtlicher Ereigniffe und Entdedungen. Die unaufs 
hörlichen Kriege, die nun doch nicht mehr Völkerwanderungen 
waren, hatten die Nationen in gegenfeitiger Berührung erhalten; 
die inneren Wechſelwirkungen ‚der Gefellfchaft fteigerten fich durch 
die Wiederbelebung des Handels und das Aufblühen her Städte; 
die Kreuzzüge vereinigten feit langer Zeit die chriftlichen Völker 
zu gemeinfamen Unternehmungen; nit nur Italien und Byzanz 
traten bei diefen Beranlafjungen mit ihrer überlieferten Bildung 
den nörblicheren Nationen wieder nahe, auch das Morgenland 
wedte mit feinen abweichenden Sitten feinen Schägen und 
Wundern die Luft der BVergleihung und den Zweifel an der 
Alleingültigfeit hergebrachter Zuftände; noch weiter wuchs ber 


166 


geographiſche Geſichtskreis durch die Entdedungen der portugie- 
fifchen Seefahrer; endlich öffnete die Auffindung Amerikas ber 
Phantafie dem abenteuernden Unternehmungsgeift und ber 
gewerbfamen Thätigleit der Menfchheit ungeahnte Bahnen, auf 
denen fie äußerlich wie in ihremi inneren Leben ſich vollitändig 
von den Meberlieferungen des Alterthums löſen follte Zunächſt 
freilich Mmüpfte fie im Gegentbeil an eben dieſes Altertbum an, 
deſſen Gedankenſchätze nie ganz aus dem Gedächtniß der Menſchen 
geſchwunden waren; jet aber fuchte fie theils die anwachſende 
Regſamkeit des geiftigen Lebens mit größerem Eifer auf, theils 
führte die zunehmende Bedrohung, dann der Fal von Byzanz 
durch den Halbmond, die Reſte griechiſcher Gelehrſamkeit häufiger 
nad) Italien. Jene Wiedererneuerung der Wiffenfchaften begann, 
die zuerft dem ungelenk gewordenen Gedanken formelle Biegſam⸗ 
feit und Gewandtheit wiedergab und das Leben gleichzeitig mit 
großen Ideen, allgemeinen Geſichtspunkten, zweifelnder Gering- 
ſchätzung alles Guten der Gegenwart und frecher Nachahmung 
der Fehler des Alterthbums überfhwemmte Die fchöpferifche 
Kraft, die in den neuen Formen einen ebenbürtigen Inhalt ent⸗ 
wickelt hätte, blieb in den meiſten Richtungen lange zurück; nur 
Italien tröſtete über die Verworrenheit ſeiner ſocialen Zuſtände 
durch einen herrlichen Aufſchwung ſeiner bildenden Kunſt; aber 
die Anfänge der höhern Mathematik und der Naturwiſſenſchaft 
wurden gelegt, aus denen einſt die wichtigſten Hülfsmittel der 
neueren Bildung erwachſen ſollten. Die Schwerfälligkeit endlich, 
die lange dem Gedankenaustauſch angehangen hatte, beſeitigte 
die Erfindung des Buchdrucks; von da an konnte die öffentliche 
Meinung ihre Wirkſamkeit auf alle Verhältniſſe des Lebens 
äußern, und dem erwachenden Geiſte der Kritik, dem die neu= 
anbrechende Zeit gehören jollte, war fein mächtigftes Werkzeug 
gegeben. ü i 


167 


In einer Reihe großartiger Ummälzungen gingen nach und 
nad) die mannigfaltigen Keime auf, die das Ende des Mittel- 
alter8 erzeugt hatte. Sie entfalteten fich nicht gleichzeitig und 
nicht durchgängig in Uebereinftimmung mit einander; das menſch⸗ 
liche Streben verträgt die Unfolgerichtigkeit, auf dem einen Ges 
biete diefelben neuen Anjchauungen zu verfechten, die e8 auf 
anderen, alter Gewohnheit nachgebend, Teidenfchaftlich verfolgt. 
Aber aus allen diefen widerfprechenden und rückläufigen Strömungen 
entwidelte fi) mit zunehmender Macht als der unterfcheidende 
Charakter der neuen Zeit jene zerftörende und wieder aufbauende 
Aufklärung, welche die Herrichaft alles Vorurtheils zu brechen, 
und jede grundlofe Geltung des Gegebenen zu untergraben 
fucht. Mit diefen Stihmorten hat der Geift der Gegenwart, 
dem es mejentlich ift, auch über fich ſelbſt in beftändiger Reflexion 
zu leben, oft genug ſelbſt feine Eigenthümlichkeit bezeichnet, 
und im Guten wie im Schlimmen dürfte diefe Bezeichnung zu= 
treffend fein. Denn die Vorzüge und die Schwächen unferer 
Zuflinde, die Hoffnungen und Befürchtungen für die Zukunft 
beruhen gleihmäßig auf dem entfeffelten Geifte der Kritik, der 
alle Berhältnifie des Lebens mit felbftbewußter Abfichtlichkeit 
durchforſchend leichter zu der unvermeidlichen Zerftörung des Irr⸗ 
thums, als zu dem Wiederaufbau des Wahren kommt, und dem 
e8 nahe liegt, in dem Eifer feines zerglievernden Eindringen 
unvermerft auch die nothwendigften Grundlagen des geordneten 
menſchlichen Dafeins zu verlegen. Vielleicht zeigt fih uns ein 
Grund, der Hoffnung fiir die Zukunft mehr als der Befürchtung 
Kaum zu geben; klar aber ift uns vor Allem, daß die Entwidlungs- 
fümpfe noch unvollendet find, in welche und die Antriebe jener 
legten Bergangenheit geworfen haben. 

Sie entzlindeten ſich zuerſt an den religidfen Bedürfniſſen. 
Aus der Berweltlihung der Kirche und der Beräußerlichung des 
kirchlichen Lebens fuchte die Reformation zu der Reinheit des 
urfprünglichen Chriftenthbums zurüdzuführen. War ihre pofitive 
Lehre, weit entfernt ſich fir ein Erzeugniß der fubjectiven Ber- 


168 


nunft auszugeben, in der That nur die Unterwerfung unter die 
, Autorität der Offenbarung, fo konnte fie doch, gefchichtlich im 
Gegenſatz gegen Beſtehendes auftretend, nicht vermeiden, die fub- 
jective Prüfung und Entſcheidung formell ald den Ausgangs⸗ 
punkt auch des religiöfen Lebens anzuerkennen. Ste befreite das 
Gewiflen von der Verpflichtung der Unterwerfung gegen alle 
Saßungen, die ihm nicht aus dem Evangelium felbit, ſondern aus 
Tradition und der Speculation der Kirche hervorgegangen, auf 
gedrängt werben follten; fie legte ihm die andere Verpflichtung 
zugleich als jein Recht auf, durch eigenen Entwidlungsfampf 
und perjönliche innere Erfahrung fi) den Inhalt des Glaubens 
anzueignen. Dabei fonnte fie hoffen, daß das Ergebniß des 
Kampfes die Uebereinftimmung mit dem fein werde, was fie ſelbſt 
als ewige Wahrheit feſtzuhalten dachte; aber fie mußte ſich zu= 
geftehen, das entgegengejegte Ergebnig zwar beflagen, doch nicht 
berdammen zu dürfen. Der Grundfag ber freien Forſchung im 
Evangelium Tonnte fich der Erweiterung nicht entziehen, die ihn 
zu völliger Yreiheit des Gewiſſens in der Annahme und Ber- 
werfung aller chriftlichen, zuletzt aller religiöfen Wahrheit üiber- 
Haupt ausdehnte, Lange hat auch die Reformation im Bewußt⸗ 
fein der Güter, die fie in ihrem Glaubensinhalt beſaß, ſich 
gegen dieſe Yolgerung gejträubt; die Neigung, um des Glaubens 
willen zu verfolgen, ift auch ihr nicht fremd geblieben. Nachdem 
nun Die Yreiheit der perfönlichen Meberzeugung durchgekämpft iſt, 
bleiben die Zweifel über den Umfang zurüd, in welchem fie 
berechtigt fein fol, fich gelten zu machen. Zuerſt in der er— 
neuerten Kirche ſelbſt. Schon die Forihung in der Schrift als 
der alleinigen Grundlage des Glaubens verlangte die Mitwirkung 
jubjectiver Auslegung; eine Kirche mit dieſem Princip Tonnte 
weder jeden Unterfchied Dogmatifcher Ueberzeugung ausfchließen, 
noch war es leicht, für alle Zukunft die duldbaren Berjchieden- 
heiten zwifchen gewiſſe Grenzen einzufchliegen. Mitten in diefen 
Zweifeln ftehen wir noch; ihrer jelbft gewiß find nur die äußerften 
Meinungen, die mit Aufopferung der Freiheit eine ftrengere 





169 


Einigung der Kirche oder mit Aufopferung der allgemeinen Kirche 
zu Gunften der perfünlichen freiheit die atomiftifche Zerfplitte- 
rung in unzählbare Meine Gemeinfchaften verlangen. Ziwifchen 
diefen beiden Ertremen hat der Proteſtantismus dennoch fortgelebt 
und fich entwidelt; indem er aller Berlegenheiten und Schwierig⸗ 
feiten feiner Tirchlichen Geftaltung ungeachtet das Princip der 
freien Forſchung feithielt, hat er fi die Anhänglichleit der ganzen 
reichen Bildung gefichert, die unter feiner Anregung und aus 
den Schulen, die er Hauptfächlich geftiftet, hervorgegangen: ifl. 
Das Berhältnig des religißfen Belenntniffes zum Staat 
nahm an den Wardlungen Theil, die diefer jelbft erfuhr, oder 
durch die er felbft fich erft bildete. Das Mittelalter hatte wir- 
fungsreihen Zuſammenhang des Lebens und das Bemwußtfein der 
Zufammengehörigfeit zu einem Ganzen faſt nur in den einzelnen 
Gemeinden gelannt, deren lebhafter und würdiger Gemeinfinn 
doch nicht für die mangelnde Größe und Bielfeitigleit der Ver⸗ 
hältniffe entfchädigen konnte, und deren wechfelfeitige Beziehungen 
unficher und unorganifirt geblieben waren. Aus diefer Zerfplitte- 
rung war der formell geordnete Staat mit feiner zuſammenfaſſen⸗ 
den Verwaltung verfchiedenartig ausgejtatteter und einander er⸗ 
gänzender Landichaften und mit feiner fyftematifirten Verwendung 
der Hülfsmittel zuerft in der Form jenes Abfolutismus hervor⸗ 
gegangen, der Rand und Leute als privatrechtlichen Beſitz der 
Herrſcher betrachtete, und beide entweder despotifch zur Verherr⸗ 
lihung des Thrones ausbeutete, oder mit gutmeinender Rückſichts⸗ 
loſigkeit bevormundete. Unftreitig lag ein Gewinn an allgemeiner 
Ordnung und Sicherheit in der Niederdrüidung der unzähligen 
Meinen Gewalten vor menigen großen; aber der Drud, ben 
jene nad unten ausübten, dauerte theils fort, theils ſchwand 
die Selbftändigfeit der Gemeinden vor diefer Centralifirung der 
Landesgewalt. Das Zeitalter der Revolution zerbrach mit dem 
Despotismus auch diefe Schranken der freien Bewegung, die er 
hatte beftehen lafjen; indem es gleiche Gerechtigfeit und gleiches 
Recht für alle, unbefchränftes Feld für jede Thätigfeit und offene 


170, 

Laufbahn für jedes Talent verlangte, wandte es fich zugleich 
feinvfelig gegen alle Beſonderheiten gefchichtlicher Entwidlung, in 
denen es nur Hindernifje jener Freiheit ſah, und ſetzte das Werk 
der Gentralifation bis zu möglichfter Nivellivung aller charakte⸗ 
riftifchen Unterjchiede fort. Nachdem in dem weiten Arbeitsfelve 
Amerikas die Menfchheit den Verſuch hatte gelingen ſehen, 
eine gefellichaftliche Ordnung ohne Befchränfung durch hiſtoriſche 
Ueberlieferungen aus den bloßen Bebürfniffen der Lage und mit 
feiner größeren Einengung der perfünlichen Freiheit aufzubauen, 
als eben diefe Bedürfniſſe nöthig machten; nachdem Frankreich 
zur Begründung feiner Zuftände auf die allgemeinen Menfchen- 
rechte zurücigegriffen und jelbft in den Aeußerlichkeiten des Lebens 
mit der Gefchichte gebrochen hatte, da fchien es, als würde für 
die Zukunft der Staat nur nod eine große Gefellichaft zur 
Ausbeutung der Natur und dem Austaufch der gegenfeitigen Lei— 
ftungen fein, begründet und regiert durch den Willen Aller und 
im Grunde ohne die fittliche Verpflichtung ihrer Selbfterhaltung, 
vielmehr in jedem Augenblid zu ihrer eignen Wiederauflöfung 
berechtigt, und doch in Wahrheit jede wirkliche Freiheit der Ein- 
zelnen durch den einförmigen Gefammtmwillen tyrannifirend. Der 
Ruhm der großen Maſſenwirkungen, welche Frankreich in feinem 
Bertheidigungsfampfe errang, führte jedoch fehr bald in bem 
Nationalftolz auf fie ein anderes und tiefered Bewußtſein ver 
ftaatlihen Zuſammengehbrigkeit zurüd; andere Länder hatten 
weniger den Mißgriff zu büßen, die Gleichheit über die perfönliche 
Freiheit gefeßt zu haben, aber fie famen auch langfamer zur Ent- 
wicklung der legtern und zur Abwerfung vieler gefehichtlich ent= 
ftandenen Schranken, die ohne unbedingtes Recht die gefellige 
Dewegung hemmen. 

Die abwechjelungsreiche Gejchichte diefer Kämpfe entzieht 
fi) hier unferem flüchtigen Ueberblid; daß aud) fie ihr Ende 
noch nicht erreicht haben, ift ein gemeinfames und drückendes 
Gefühl der Gegenwart. Siegreich ift der Geift der Kritik, der 
fie hervorgerufen bat, in der Verfechtung mancher allgemeinen 


171 


Grundſätze gemwejen, aber wenig glüdlich in der Erfindung ‚ber 
lebensvollen Formen, in denen diefe Grundſütze eine befriedigende 
Durchführung in der Wirklichkeit finden können. BDurchgefochten 
ift e8 wohl, daß der Staat nicht ein unaufheblich von der Ge- 
ſchichte vorgezeichneter Umriß iſt, den die lebendige Thätigkeit 
des Volkes nur auszufüllen habe, daß er vielmehr die umfchlie- 
Bende Endform darftellt, welche die gefellige Ordnung, um den 
geihichtlich möglichen Zwecken des Volkslebens zu genügen, an⸗ 
zunehmen hat; daß feine Leitung und Bermaltung ebenfo bie 
veränderlichen Bedürfniſſe jeder Gegenwart, al den Zufammen- 
bang mit der gefhichtlihen Vergangenheit, durch den das Bolt 
erſt Volk ift, berücfichtigen muß; daß eine Theilung der Ge⸗ 
walten nothwendig ift, die einerſeits der Menjchheit von heute 
die zu leben berechtigt ift, ihren verändernden und neuernden, 
anderjeit8 dem Vertreter der gefchichtlichen Entwiclungsftätigkeit 
feinen zuräcdhaltenden und lenkenden Einfluß zugeiteht; daß ber 
freien Bereinigung der Kräfte und der Selbftregierung der Ge— 
meinden Spielraum zu der Erzeugung aller Güter und zur 
Dedung aller Bedürfnifje gegeben werden muß, die fie naturge- 
mäß zu erzeugen und zu deden vermag, und daß ebenfo jehr 
diefe Freiheit fi) den beichränfenden Anforderungen unterorbnen 
muß, welche die Sicherheit des Ganzen an fie ftellt. Aber in 
den repräfentativen Berfaffungen unferer Zeit hat die Staats— 
kunſt entweder die zulänglichen Formen noch nicht gefunden, Die 
diefen idealen Abfichten ihre Erfüllung fichern Tünnten, oder 
die Formen find früher gefommen, noch ehe der Geift ausge— 
bildet ift, der fi) ihrer mit vollfommener Angemefjenheit zu 
bedienen wüßte. Noch ift, eine Nachwirkung des borangegange- 
nen Drudes, nicht das Vertrauen, fondern das Mißtrauen Die 
Seele des conftituwtionellen Lebens; noch überwiegt die eiferjlidh- 
tige Wahrung formeller politifcher Rechte das Verſtändniß und 
die Theilnahme für die reellen Zwecke, zu deren Erreihung die 
Geltung derfelben nothwendig ift; noch hat die Befähigung zum 
Antheil an den öffentlichen Gejchäften nicht in gleichem Maße 


172 


zugenommen als die Verallgemeinerung der Berechtigung. We⸗— 
ber Reben noch Erziehung gewöhnen das Bolt binlänglih an 
das Bewußtſein inhaltvoller nationaler Zwecke; die Gewandtheit 
des Zuſammenwirkens zu dem Betrieb einzelner Unternehmungen 
iſt ohne Zweifel gewachſen, aber die Natur der Geſchäfte, welche 
die Subſiſtenz des Einzelnen an eine mannigfache Verzweigung 
entlegener und auswärtiger Bedingungen knüpft, entwurzelt den 
Bürgerfinn früherer Zeiten, der, aus der Gemeinſamkeit des gan⸗ 
zen Lebens entiprungen, örtliche Gemeinden zufammenbielt; die 
Berbreitung der Kenntniffe hat allerdings Fortſchritte gemacht, 
aber die inneren Fortichritte des Willens waren um fo viel 
größer, daß dennoch der größte Theil der Bildung, auf welche 
die Nationen ftolz find, dem größeren Theile derfelben völlig fremd 
bleibt. Wie wenig nody die Grenzen deſſen feſt beftimmt find, 
was die Ordnung des Staates zu ihren Aufgaben rechnen oder 
der freien Thätigfeit feiner Angehörigen überlaffen darf, bezeugen 
die ungefchlichteten Streitigkeiten iiber die Freiheit des Unter- 
richte, über die ſtaatsbürgerlichen Rechte der verfchiedenen Glau— 
bensbelenntniffe, iiber die Nothwendigkeit oder Entbehrlichleit des 
Zufammenfalld der Staatsgrenzen mit denen einer ungemifcht 
nationalen Bevölkerung. 

Wie die Verhältniffe des Lebens, fo erfuhr auch die Wif- 
ſenſchaft den Einfluß der allfeitig erwachenden Kritif. Die Ueber- 
lieferungen des Altertbums hatten im Mittelalter die Geifter 
beberrfcht, und lange war wenig neuer Gewinn der Forſchung 
zu ihnen hinzugefügt worden. Bon nun an trat jener Fritifche 
Trieb der Aufklärung, der freilich der Wiffenfchaft nie fo ganz, 
wie andern Richtungen des Lebens, mangeln fonnte, in wachſen⸗ 
der Kraft hervor; die unbefangene Darftellung einer Wahrbeit, 
in deren Beſitz man ſich glaubte, wich mehr und mehr den Fra⸗ 
gen nad ihrer Erfennbarfeit überhaupt ‘und nad) den legten 
Principien aller Beurtheilung. Die Wiſſenſchaft nahm nun erft 
den Charakter einer Unterfuhung an, die mit vorfichtiger Ge— 
nauigfeit den Werth und die Zuverläſſigkeit ihrer Quellen prüft, 


173 


Die möglichen Wege des Fortſchritts überlegt, durch Verſuch und 
Gegenproben aller Art ihre Ergebniffe zu beftätigen, ſelbſt die 
Größe der Fehler, die fie zu begehn in Gefahr ift, abzufchägen, 
und in ihren Folgerungen auf fie Rüdficht zu nehmen bedacht 
if. Durch dieſe Form ihres Verfahrens bat die Wiſſenſchaft 
bis in die alltäglichften Vorftellungsäfreife der Menſchen den Ge- 
danken an allgemeine Geſetze, denen alle Bejonderheiten der Wirf- 
Iichfeit gehorchen, und die lebhafte Weberzeugung eingeführt, 
Erfolge nur durch eine Benutzung der Dinge, die jenen Gejeßen 
ſich anfchließt, erringen zu Fünnen. Sie hat dadurch den Aber⸗ 
glauben zwar nicht tödten Können, aber fie hat feine öffentliche, 
ehemals fo blutige Wirkfamkeit befchränft; fie hat durch ihre 
aftrongmifchen Entdedlungen der Phantafie einen andern erweiterten 
Hintergrund ihrer Weltanfchauung gegeben, durch die Ausbildung 
der Mechanif und Chemie eine unermeßliche Menge von Hilfs- 
mitteln zur Erzeugung neuer Güter zur Erweiterung des Verkehrs 
und damit des geiftigen Gefichtöfreifes überhaupt und zur VBer- 
mehrung der allgemeinen Wohlfahrt gejchaffen. Indem fie endlich 
neben der Äußeren Natur audy den Berlauf der Begebenheiten in 
der Gefellichaft in fteigender Ausdehnung zum Gegenftand der 
Reflerion machte, die Wechfelmirkungen der menfchlichen Thätig- 
feiten, die Hervorbringung und den Austaufch der Güter, auf 
allgemeine Geſetze zurüdzuführen juchte, erzeugte fie jenen vorwärts⸗ 
jtrebenden Geiſt bemußter Berechnung, der in Teiner gegebenen 
Lage und Richtung inſtinctiv verharren, fondern die Zukunft mit 
jelbftändiger Benugung aller dargebotenen Hülfsmittel geftalten 
will. Auch in diefem Kreife erfreulicher Fortfchritte der Menſch⸗ 
heit bezeugen indeflen die fleptiichen und materialiftiichen Welt⸗ 
auffafjungen und die Träume des Socialismus und Kommunismus, 
daß weder iiberall die feften Grundlagen der Erfenntniß, noch 
die ausführbaren Einrichtungen zur Abftellung unleugbarer Mebel- 
ftände der gefelligen Berhältniffe gefunden find. 


174 


Der flüchtige Ueberblid, den wir über den äußern Gang 
der menjchlichen Entwidlung gewagt haben, hat uns liberzeugt, 
wie wenig bi8 jest die Zuftände der Menſchheit zu jenem be⸗ 
friedigenden Gleichgewicht gelommen find, das wir als den Ab- 
ſchluß der gefchichtlichen Arbeit, nur noch der Erhaltung und des 
Ausbaues, nicht völliger Umgeftaltung bedürftig, betrachten 
könnten. Wird diefe Entwidlung einen ftetigen Fortichritt haben, 
oder wird fie das Schickſal der großen Gulturen theilen, die 
uns in der Gejchichte vorangegangen find und die, theild durch 
innere Zerſetzung theild durch äußere Gewalt zeritört, erſt all- 
mählich dur ihre Trümmer befrudtend auf die erneuerten 
Berjuche fpäterer Zeiten eingewirkt haben? Niemand wird die 
Zukunft voraus zu willen meinen, aber in größerer Menge, als 
dem Alterthbum, find doch fir menfchlihe Augen unferen Tagen 
Burgſchaften gegen die unberechtigten Ausfchreitungen und gegen 
die äußeren Gewalten gegeben, die den Fortbeftand der Bildung 
erſchüttern könnten. 

National abgeſchloſſen waren die Culturen des Alterthums; 
dem Mittelalter ſchmälerte die allgemeine Schwierigkeit der 
geiſtigen Wechſelwirkung die Früchte, die es aus der verbindenden 
Kraft des Glaubens hätte ziehen können; jetzt endlich ſtreben die 
einzelnen Welttheile, die ſo lange von einander geſchieden ihr 
Leben für ſich führten, für einander da zu ſein, und der überall 
vordringende Strom des eigennützigen Verkehrs und der ent— 
deckungsluſtigen Forſchung beginnt jenen äußerlichen Zuſammen⸗ 
hang des menſchlichen Geſchlechtes herzuſtellen, durch welchen die 
bisher zerſtreuten Entwicklungen ſeiner Theile ſich in Zukunft zu 
einer Geſchichte der Menſchheit verknüpfen können. Schon die 
weite Verbreitung einer im Ganzen gleichartigen Cultur, an der 
fo viele Völker mit allen Unterſchieden ihrer nationalen Tempera⸗ 
mente theilnehmen, wird die Störungen der Entwicklung, die 
einzelnen von ihnen widerfahren könnten, nicht zu allgemeinen 
Hemmungen des menfchlichen Fortſchritts werden laffen. Die 
Gewalt der Unbildung über die Bildung ift ebenfo gebrochen. 


175 


Den Culturen des Alterthums hatte die mangelhafte Entwidlung 
der Naturkenninig nicht die Machtmittel geliefert, durch welche 
fie die errungenen geiftigen Güter gegen die Rohheit der Barbaren- 
welt itberall fiegreich hätten vertheidigen können; die Bildung der 
Gegenwart ift durch die Fortjchritte der Technik zugleich eine fo 
gerüftete und Triegerifche, daß die Ueberflutung der Gulturländer 
dur) Naturvölfer längſt aufgehört bat, unter die drohenden 
Gefahren zu gehören; von Tag zu Tage wächſt vielmehr die 
Sicherheit des Einflufjes, welchen die Civilifatton im Großen tiber 
die Schickſale der Erdtheile ausübt, deren allzumweite Gebiete fie 
noch nicht im Einzelnen durchdringen Tann. 

Iſt nun durch diefe räumliche Ausdehnung die menfchliche 
Gefittung äußerlich auf eine zu breite Grundfläche geftellt worden, 
als daß ſelbſt hochgehende Wogen fie leiht ganz umftürzen 
könnten, fo hat fich auch innerlich als Gewinn aller jener Ent- 
wicklungskümpfe ein Gegengewicht gebildet, Das ihren Schwer- 
punkt tiefer als in der Vergangenheit unter die Oberfläche ver- 
legt, die von plöglichen Strömungen aufgeregt zu werden pflegt. 
Aus den beiten Elementen vieler im Einzelnen fehlgehenden 
Unterfuchungen der Wiſſenſchaft, aus der zunehmenden Klarheit 
der rückſchauenden Weberficht tiber die Gefchichte und die Irr— 
thiimer unſeres Gejchlechtes, aus den Erfahrungen des Lebens 
jelbft, das im Verkehr der Bedirfniffe Anerkennung des Fremden 
lehrt, aus der beivunderndwiürdigen Steigerung des Meinungs- 
austaufches, der die Kinfeitigfeiten befchränkter Geſichtskreiſe 
unterbricht und mannigfache Gedankengänge zu förderlicher Wechlel- 
wirkung bringt und zur PVergleichung der Dinge raftlos auf- 
fordert: aus allen diefen Wurzeln ift dem Geifte der neuern Zeit 
jenes eigenthiimliche Temperament oder jene herrichende Stimmung 
erivachfen, die wir mit dem Namen des modernen Humanidmus 
bezeichnen möchten. 

. Darin hauptjächlich beruht der Unterſchied menſchlicher Ent- 
wicklung von dem Dafein der Thierwelt, daß die thierifche Seele 
durch wenige Wahrnehmungen aus dem Stegreif zu plößlichen 


176 


und fragmentarifchen Regungen gereizt wird, während der menſch⸗ 
liche Geiſt, weit weniger von Natur mit ihres Zieles gewiſſen 
Trieben ausgerüſtet, eine reichhaltige Menge von Erfahrungen 
zuerſt lernend in ſich auffammelt, und aus ihrer ruhigen Ber- 
arbeitung allmählich fic, Die Beweggründe zn einem zufammen- 
hängenden Handeln bildet. Eine Steigerung diefer Zurüdhaltung, 
die das gefammelte menjchliche Wirken von dem thierifchen Auf- 
fahren unterfcheidet, iff in gewiflen Sinne und bis zu gewiffen 
Grade eine auszeichnende Eigenfchaft der modernen Bildung. 
Keineswegs freilich, weil eine größere Befonnenheit zu den perfün- 
lichen Borzügen des gegenwärtigen Menfchen gehörte, wohl aber, 
weil ohne ihr Verdienſt alle Berhältnifie des Lebens der Er- 
ziehung und der Weberlieferung, unter deren Einfluß fie fich 
befinden, voll verzögernder Motive find, welche dem freien Aus- 
bruch individueller Gelüfte nach außen ebenfo widerftehen, wie fie 
unzähligen aufregenden Eindrüden ihre Wirkung auf das Gemüth 
ſchmälern. Nachdem alle denkbaren Lebensintereffen von den 
verfchiedenften Standpunkten der Beurtheilung aus verhandelt 
worden, und alle diefe Reflerionen, wie abgeſchwächt und ver- 
dunkelt auch immer, in das allgemeine Bewußtſein übergegangen 
find, iſt die Welt ſchwer zu interefjiren und weniger leichtgläubig 
geivorden als vordem; zwar immer noch fruchtbar in der Er- 
zeugung fonderbarer Anfichten und ſchwindelnder Pläne, aber 
gemäßigter in ihrer Bewunderung und ihrer Hingabe für das 
Unmahrfcheinliche. In ihrer ſchlimmen Form, jener Blafirtheit, 
für welche alle höheren Zwede und alle Antriebe zum Handeln 
überhaupt ihre aufregende Kraft verloren haben, mag dieſe Eigen- 
thlimlichkeit der Gegenwart uns abftoßen, um fo mehr, als wir 
fie nur in der Gegenwart aus lebendiger Anſchauung Tennen 
lernen; in der That fehlte diefe Erfchlaffung eines großen Theile 
der Menjchheit in feinem der Zeitalter, die eine vielförmige und 
gegenfagreiche Eultur erzeugt hatten. Und niemals, weder jett 
noch früher, hat fie das ganze Geſchlecht ergriffen; aber jegt mehr 
als früher hat ſich neben jener unjchöpferifchen Leidenſchaftloſigkeit 


177 


auch eine ernftere Gefinnung der Duldjamleit der Behutfanleit 
und der Zurückhaltung entwidelt, die unter fo vielen durchaus 
unfertigen Geftaltungen der Gejellihaft uns dennoch ein Leben, 
reich an werthuollen Gütern, möglich macht und uns die Hoffe 
nungen auf einen ftetigen Fortjchritt unterhält. 

In den verfchiedenften Gebieten des Lebens macht fich dieſes 
verfeinerte Gewiflen der modernen Gefellichaft bemerklich. Nicht 
daß es mühelos feine Gebote dDurchfeßte, oder daß die Menfchheit 
von heute an Vollendung der perfönlichen Sittlichkeit unvergleichlich 
über der der Vergangenheit ftände; es ift vielmehr immer diefelbe 
menfchliche Natur, die mit all ihrer angeftammten Leidenfchaftlich- 
feit und Verkehrtheit, ihrer Bosheit und ihrem Unverftand aud) 
jegt gegen den aufgelegten Zügel fi fträubt. Aber eben den 
Zügel fühlt fie doch jebt firaffer angezogen; während jedes neue 
Gefchlecht mit den alten Trieben und den alten Unvolllommen- 
heiten feiner Gattung geboren wird, muß Doc, jedes fich darein 
fügen, die Wahrheit der fortichreitenden fittlichen Einficht anzu= 
erfennen, mit welcher die wachſende Bildung nach und nach alle 
Verhältniſſe des Lebens durchdringt, einem immer Tebhafter er- 
wachenden Gewiſſen ähnlich, deſſen Ausſprüche fich ungefucht auch 
dem Widerwilligen aufprängen. Hinter den gefteigerten An- 
forderungen, welche diefes Gewiſſen ftellt, bleibt Die gegenwärtige 
Menjchheit vielleicht weiter zurück, ald die der Vergangenheit 
hinter den einfacheren und weniger vielfeitigen des ihrigen, und 
eine trübfinnige Betrachtung mag die moderne Gefittung als 
oberflächlichen Anftrid und Heuchelei felbit gegen die offenbare 
naturwüchſige Wildheit der Vorzeit in den Schatten zu ftellen 
verfuchen: uns fcheint ein Fortichritt felbit darin zu liegen, daß 
die Heuchelei nothwendig gefunden wird, und daß vieles Schlind- 
liche jetzt wenigftens fi) zu verfleiden gezwungen ift, während es 
früher frei feine eigne Farbe befennen durfte Auf der beftändigen 
Fortentwicklung dieſes Gemiffens, auf dem Drud, den es auf 
Willige und Widerwillige ausübt, beruhen unfere Hoffnungen für 
die Zukunft; bis zu gewiſſem Grade wird die Menjchheit 

Loße, III. 8, Aufl. 12 


178 


genöthigt fein, fich ihm im Handeln anzubequemen. Es wird 
immer herrſchſüchtige Luft zur Unterdrüdung geben;' aber die 
Tage der Verſuche, Sklaverei als ſolche vor der üffentlichen 
Meinung zu rechtfertigen, find Dennoch gezählt; den politifchen 
Scidfalen der Völker mögen noch traurige Ummälzungen bevor- 
ftehen, denn zur handelnden Abwehr des Unrechts muß mit der 
allgemeinen Ueberzeugung ſich das Verftändniß der im einzelnen 
Valle beftehenden Sachlage und die Benugung des günftigen 
Augenblicks verbinden; aber gerichtet find dennoch hoffentlich alfe 
Angriffe auf die Freiheit und die Ehre des perfünlichen Lebens; 
manche Berfuche zur Bedrückung der Gewiflen, zur Wieber- 
herftellung verſchwundener religiöfer Dogmen und zur Erneuerung 
fonderbarer Eulte mögen gemacht werden; jte werden nie über eine 
Grenze hinaus dauernd gelingen, die jenen der Unabhängigkeitsfinn, 
diefen der wiſſenſchaftliche Geſchmack, den letzten das allgemeine 
ſittliche Schieffichkeitögefüihl des modernen Humanismus ziehen wird. 

Dies find unfere Hoffnungen für die Zukunft; aber das 
Ende von allem? Gibt e8 ein foldhes Ende in dem Sinn eines 
zu erreichenden Zieles, eined Zuflandes der Vollkommenheit, mit 
welchem bie bisherigen Beſtrebungen der Gefchichte als mit ihrer 
endlichen Erfüllung abſchließen werben, und wird dann biefer 
vollendete Weltzuftand in Emigfeit fortdauern? Diver gibt es 
fein folches Ziel und wird der Fortſchritt der Menfchheit nur 
aufhören, weil er einft alle äußeren Mittel des Fortfchreitend ers 
Ihöpft haben wird, und wird dann diefer unvollfommene Zuftand, 
iiber den hinaus Die inneren Mängel der menfchlidhen Natur 
nicht vorzudringen erlauben werden, die endlich gleihförmig ge= 
wordene Bewegung der Menjchheit fein, mit der fie fi, ins Un- 
enbliche forterhält? Oder zulegt, wird es nicht vielleicht ewig fo 
fein, wie es im biöherigen Berlauf der Gefchichte geweſen ift? 
Wird nicht jede Cultur, die für Die Ewigkeit gegründet ſchien, ftet8 
durch unvorhergefehene Schidfale wieder zertrümmert werden, und 
wird nicht mit jedem Fortfchritt nach der einen Seite hin ein 
Berluft nach der andern verbunden fein, fo daß die Summe ber 


179 


menſchlichen Bollfommenheit und des menſchlichen Glückes, die 
Erfolge mit der nothmwendigen Anftrengung, den Gewinn mit der 
Einbuße, den Keihthum des wachſenden Bildungsſchatzes mit 
der zunehmenden Schwierigfeit allfeitiger Theilnahme an ihm 
verglichen, eine ziemlid, beftändige Grüße fein bürfte ? 

Die Zeiten der Ueberhebung find wohl vorüber, in denen 
unfere Speculation die Antworten auf diefe Fragen zu beſitzen 
glaubte. Unfer Gefichtökreis ift allmählich wieder weiter geworden. 
Wir haben und befonnen, daß die Geſchichte, auf melche wir als 
auf eine für die Beurtheilung hinlänglich bekannte zurückblicken 
fünnen, von fehr geringer Ausdehnung ift; fie umfaßt die 
Haffifchen Völker, das Mittelalter Europas und die jüngfte Ver— 
gangenheit. In diefem kurzen durch "Meberlieferung verknüpften 
und zufammengehörigen Entwicklungsbruchſtück mochte e8 mohl 
gelingen, einen Yortjchritt zu erfennen. Zwar beflagen mir alle 
den Untergang der Lebensfchönheit des Alterthums, welche der 
neueren Zeit, die lange den Schauplaß der intenfiveren Entwidlung 
in nörblichere Ränder verlegte, unmwiederbringlich geblieben ift; aber 
da der Zerfall des antifen Lebens als eine vollendete Thatſache 
vor uns liegt, Tonnten wir leicht die Mängel der Bildung be= 
merfen, von denen er ausging. Das Mittelalter hat fie nur 
theilwei8 vermieden; der Glanz des Chriftenthums und die 
Mannigfaltigkeit individueller Entwidlung, fir die wir Sympathie 
empfinden, läßt uns diefe Zeit troß ihrer Zerfahrenheit und Zer- 
[plitterung, troß ihrer feltfamen Mifchung tieffinniges Gemüthes 
und unbejchreiblicher Rohheit, wenn nicht als höhere Stufe der 
Entwidlung, fo doch ald die hoffnungsvolle Zwiſchenbewegung 
nad) dieſem Ziele Hin erfcheinen; ſich jelbft kam dies Zeitalter 
wohl anders vor: mehr als einmal fchien dem von maßlofem 
Elend geängftigten Gemüthe der Völker der Untergang der Welt 
in nächfter Nähe beborzuftehen. Die allmählihe Ausbildung des 
neu = europäifchen Staatenfyftemd und der modernen Gefellfchaft 
war ohne Zweifel im Vergleich mit der zulegt vorangegangenen 
Vergangenheit wieder eine raſch auffteigende Welle der Entwicklung; 

, 12* 


180 


auf ihrem Gipfel getragen konnte die Speculation der Gegenwart 
einen Augenblid zu einer Anfiht der Geſchichte kommen, für 
welche feine weitere Zukunft bevorzuftehen, fondern die Entwidlung 
des menschlichen Geſchlechts wenigſtens der Art nad) ihren Ab- 
ſchluß gefunden zu haben und nur noch ein Wachsthum allfeitiger 
Ausbreitung übrig zu laffen ſchien. Aber gerade ſeitdem find 
wir ſowohl über die Vergangenheit al8 über die Zukunft wieder 
bedenflicher geworben. 

Die fteigende Bekanntſchaft mit den worklaffiihen Eulturen 
reicht eben fchon hin, uns die Ahnung zu erweden, daß mir fie 
vielfach unterfchägt haben. Sie enthielten offenbar ein fo reiches 
vielgeglicdertes vwielbewegtes Leben, daß fie unmöglich als ein un= 
bedeutendes Borfpiel der europäifchen Geſchichte betrachtet werden 
dürfen. Noch Tennen wir fie zu menig, da ihre Literaturen, die 
einzigen vollgültigen Zeugniffe für die Tiefe und Eigenthimlichkeit 
des Gemüthslebens, uns theild verloren, theild noch zu wenig 
zugänglich find; ohne Zweifel find wir daher der Gefahr der 
- Meberfhätung noch eben fo ausgefett, wie wir früher der einer 
leichtfinnigen Bernadhläffigung unterlagen. Aber eine Philofopbie 
der Geſchichte der Menſchheit kann feine ficheren Ergebnifje über 
den Gang und die Größe ihres wirflichen Fortſchritts geben, ehe 
dieſe ausgedehnte Vorzeit befannt und ihre Leiftungen mit dem 
verglichen find, was wir bisher als Gewinn jpäterer Perioden 
betrachteten. Auf der andern Seite haben die Fortſchritte der 
Technik, welche neue Hülfsmittel fchuf, und der ökonomiſchen 
Wiſſenſchaften, welche unjere Bedürfniſſe und ihre Befriedigung 
genauer mit einander verglichen, jegt mehr als je die Blide auf 
die Zufunft gerichtet; die Summe deffen, was zu thun zu ändern 
zu Schaffen und einzurichten fcheint, hat noch nie fo deutlich und 
fo groß vor dem Bewußtfein einer Zeit geftanden; feine hat fo 
jehr, wie die Gegenwart, in bejtimmten Plänen des Künftigen 
gelebt; den Fortfchritt herbeizuführen find wir nod) lebhafter 
angeregt, als fein bisheriges Stattfinden in der Geſchichte zu 
unterjuchen. 


181 


Sp dehnt fi) denn die Zukunft jegt wieder bedeutungsvoller 
vor und aus, und wir können fie mit Träumen eine maßlofen ' 
Fortſchritts füllen. Aber fo lange ift die Gefchichte doch ſchon 
verlaufen, daß wir im KRüdblid auf fie bald auch diefe Hoff- 
nungen auf ein befcheibeneres Maß zurüdführen werden; denn 
es find offenbar nur fehr beftimmte Gebiete, für melche Die 
Wahrfcheinlichkeit eines unbegrenzbaren Fortſchrittes groß ift, fie 
ift jehr gering für andere. Nachdem in den Naturwiſſenſchaften 
einmal der glänzende Anfang zur Beherrfchung der Stoffe und 
ihrer Kräfte gemacht ift, deſſen wir uns erfreuen, können wir 
auf eine rafche Yolge neuer Erfindungen rechnen, durch welche 
die Bequemlichkeiten des Lebens vielfach erhöht, Die Befriedigung 
unferer Bedürfniſſe abgekürzt, viele Gewohnheiten unferes Dafeins 
zwedmäßig umgeändert, einzelne günftig gelegene Länder durch 
vermehrte Ausbeutung der natürlichen Hülfsmittel bereichert, 
andere zu Wohnftätten der menfchlichen Bildung gewonnen, Die 
Bevölkerung des Erdkreiſes vermehrt, die Intenfität des Verkehrs 
mannigfach gefteigert werden mag. Alle Wiflenfchaften, welche 
nad) einfachen und Haren Geſetzen des Denkens Thatjachen der 
Erfahrung verknüpfen, haben die Ausficht beſtändiger Vervoll⸗ 
fommnung; fie werden nicht nur ihre Kenntniſſe der Einzelheiten 
ausdehnen, fondern aud) durch Auffindung neuer Geſetze den 
Zufammenhbang de8 Ganzen der Wirklichkeit beſſer verſtehen 
lernen. Bon diefen allgemeineren Ergebniffen darf man eine all- 
mählig fteigende glinftige Einwirkung auch auf die Wiffenfchaften 
hoffen, welche die Erfahrung überfliegend und das wahre Sein, 
Gott und göttliche Dinge fuchend, frühzeitig einen Schag werth- 
voller Gedanken errangen, aber feit Jahrtauſenden diefen frühen 
Erwerb nur unbeträchtlich zu vermehren im Stande geweſen find 
und nicht minder mag an diefem Fortfchritt die Lebensweisheit 
theilnehmen, welche die nothwendigen Zielpunkte unſers Handelns, 
bie verpflichtenden Gebote des Gewiſſens, die wünſchenswerthen 
GSeftaltungen des menſchlichen Zufammenlebens überlegt. 

Aber während ſich dieſe Welt der Wahrheit und der Ideen 


182 


mehrt, wird die menfchliche Natur fich nicht verändern, und der 
Zuftand des Lebens wird immer in weiten Abſtande hinter den 
Idealen zuritdbleiben, : welche fie den aufeinanderfolgenden Ge- 
ſchlechtern vorhält. Es wird nie Eine Heerde und Einen Hirten, 
nie eine gleichſörmige Bildung der ganzen Menfchheit und nie 
eine allgemeine Veredlung geben, jondern der Streit und die 
Ungleichheit der Looſe und die Lebenskraft des Böſen wird ewig 
Dauern. Und diefe Ausficht finden mir nicht verzweifelt; denn 
nicht alle Gefchichte fcheint und fo in Die Grenzen des irdiſchen 
Lebens eingejchloffen, daß wir auch ihre glänzende Schlußfcene, 
jene goldene Zukunft, von der wir träumen, einft auf Erden an— 
brechen zu fehen verlangen müßten. Im Gegentheil, fo lange 
die Menfchheit in körperlicher Organifation an äußere Bedürfniſſe 
des Lebens gebunden wandelt, wird aud) ihre Vollkommenheit und 
ihr Glüd an die Unvolllommenheit und an das Uebel gebunden 
fein, fo unerläßlich, wie jede unferer Yortbewegungsarten die 
Reibung nach außen zugleid worausfegt und zugleich bekämpft. 
Unfere Tugenden und unfer Glück gedeihen beide nur mitten in 
dem lebendigen Streit gegen das Unrecht, mitten unter den Ent- 
fügungen, weldye uns die Gefellichaft auferlegt, und unter den 
Zweifeln, in die uns die Unficherheit der Zulunft und des Aus- 
gangs unferer Beitrebungen wirft; käme jemal® eine Zukunft, in 
der jeder Anftoß geebnet wäre, fo würde die Menfchheit zwar als 
Eine Heerde, aber auch nicht mehr als Menſchheit, fondern als 
eine Heerde frommer Thiere die Güter der Natur wieder ebenfo 
unbefangen abmeiden, wie fie e8 am Anfange des langen 
Bildungsweges gethan hat, auf deſſen bisherigen Ertrag wir 
nun, nachdem wir der äußeren Schidfale des menfchlichen Ge— 
ſchlechts gedacht haben, einige vergleichende Blicke richten wollen. 


Achtes Bud. 


Der Fortfgritt. 


V 








Digitized by Google 


Erftes Kapitel. 
Die Wahrheit und das Wiffen. 


Stufen der Weltbetrahtung: bie mythologiſche Phantafle; bie Reflerionen ber Bilbung ; 
die Wiſſenſchaft. — Ueberfhägungen ber Iogifhen Formen und ihre Berwecfelung 
mit ſachlicher Erlemtinig. — Beſchränkung des Denkens auf Bearbeitung ber 


Erfahrungen; bie eracten Wiſſenſchaften. — Hauptſtandpunkte und Anftrengungen 
ber Philoſophie zur Erkenntniß des Welend ber Dinge. — Idealismus und 
Realismus. 


Aus der immer gleichen Natur des Geiftes als ihrer ge- 
meinfamen Wurzel entfpringend find die verſchiedenen Keimtriebe, 
aus deren Entfaltung das Ganze der menfchlichen Bildung 
erwächſt, ftet8 zugleich lebendig gewefen.. Man Tann einzelne 
Zeiträume der Gefchichte bezeichnen, in denen nad, einander die 
Religion die Kunft die Wiffenfchaft das Hecht und die Auf⸗ 
gaben der Gefellichaft zum erften Mal mit fo Harem Bewußtfein 
ihrer Bedeutung in dem Leben der Menſchheit hervortreten, daß 
fie jegt erft von ihr für die Zukunft entdedt oder erfunden zu 
werden fcheinen; aber felbit den Anfängen der Gefittung Tonnte 
feine der Regungen des menjchlichen Gemüthes ganz fehlen, bie 
fpäter mit gejonderten Richtungen deutlicher nach diefen verfchie- 
benen Zielen auseinandergehn. Und alle ftehen in beftiindiger 
Wechſelwirkung ihrer Bedürfniſſe und ihrer Erzeugnifje; am Ieb- 
bafteften eben in jenen Zeiten beginnender Bildung, in denen 


Digitized by Google 


Erftes Kapitel. 
Die Wahrheit und das Wiffen. 


Stufen ber Weltbetrachtung: bie mythologiſche Phantafie; bie Reflexionen ber Bilbung ; 
die Wiſſenſchaft. — Ueberſchätzungen ber logiſchen Formen und ihre Verwechſelung 
mit ſachlicher Erkenntniß. — Beſchränkung bed Denkens auf Bearbeitung ber 


Erfahrungen; bie eracten Wiſſenſchaften. — Hauptſtandpunkte und Unftrengungen 
ber Philoſophie zur Erkenninig bed Weſens ber Dinge — Idealismus und 
Realismus. 


Aus der immer gleichen Natur des Geiſtes als ihrer ge⸗ 
meinfamen Wurzel entjpringend find die verſchiedenen Keimtriebe, 
aus deren Entfaltung das Ganze der menfchlichen Bildung 
erwächſt, ftet8 zugleich lebendig gewefen.. Man Tann einzelne 
Zeiträume der Geſchichte bezeichnen, in denen nad) einander die 
Religion die Kunft die Wiffenfchaft das Hecht und die Auf=' 
gaben der Gejellfchaft zum erften Mal mit fo klarem Bewußtſein 
ihrer Bedeutung in dem Leben der Menſchheit hervortreten, daß 
fie jeßt erjt von ihr für die Zukunft entdedt oder erfunden zu 
werden fcheinen; aber ſelbſt den Anfängen der Gefittung Tonnte 
feine der Regungen des menfchlichen Gemüthes ganz fehlen, Die 
fpäter mit gefonderten Richtungen deutlicher nach dieſen verſchie— 
denen Bielen auseinandergehn. Und alle ftehen in beftändiger 
Wechſelwirkung ihrer Bedürfniffe und ihrer Erzeugniffe; am leb- 
bafteften eben in jenen Zeiten beginnender Bildung, in denen 


186 


noch feine von ihnen in der beherrichten Fülle eines bejondern 
Gebiete und in der Eigenthümlichkeit der Berfahrungsmeifen, 
welche deſſen Natur ihr nothwendig macht, Grund und Möglichkeit 
einer felbftändigen Weiterentwidlung gefunden hat. 

Berfuchen wir daher auf dieſes vielverfchlungene Ganze der 
menſchlichen Bildung die wenigen Blide zu werfen, die in dem 
Sinne unferer allgemeinen Abficht find, ſo können wir feinen 
ver Stämme, aus denen fie erwachſen ift, einzeln verfolgen, ohne 
Berzweigungen zu begegnen, mit denen jeder in die des andern 
eingreift. Eine gewifje bevorzugte Stellung nimmt indeffen doch 
in der Gefchichte der Entwidlung des ganzen Geiftes die Ent- 
widlung des Wiffens ein. Welches auch die eigenthiimlichen 
Wurzeln fein mögen, aus denen die fchöpferiichen Triebe der 
Kunft die fittlihen Meberzeugungen der religiöfe Glaube ent= 
jpringen: fie alle find in dem Reichthum und der Sicherheit 
ihrer Entfaltung theils von der Ausdehnung abhängig, in wel— 
cher das Wiffen die Wirklichkeit ihrem beberrichenden Einfluß 
unteroronet, theild von der Klarheit, mit der e8 über fich felbft 
feine Aufgaben und feine Mittel fid) verftändigt hat. Ihm, als 
der allgemeinen Form, in welcher alle Thätigkeiten des Geiftes 
einander wechjelfeitig prüfen, fich auf fich jelbft befinnen und ihre 
Ergebniffe zur Ueberlieferung zufammenfaflen, mag der Anfang 
diefer Betrachtungen gewidmet fein. Der Unermeßlichkeit des 
Gegenftandes weichend, werden fie nur mit Wenigem jener all- 
mählichen Ausdehnung der Erkenntniß gedenken, die mit jedem 
neu eroberten Gebiete nicht nur der menſchlichen Thätigkeit 
neue Biele, fondern auch dem Ganzen unferer Weltanficht ver- 
änderte Färbung gibt. Aber auch die fortfchreitende Verſtändi— 
gung des Wiſſens iiber fich jelbft, die Ausbildung einer bejtimm- 
ten Borftellung über die Wahrheit, die wir fuchen, und die Auf- 
Härung über die Mittel, die unferem Geift zu ihrer Erfaſſung 
zu Gebot ftehen, werden wir nur mit wohlbemußter Einfeitig- 
feit in fparfamer Auswahl für uns Pienlicher Gejichtspunfte 
verfolgen können. 


187 


Bon drei wefentlich verjchtedenen Stellungen, die das zum 
Erkennen erwachende Bewußtfein der Menſchheit fih der Wirf- 
lichkeit gegeniiber nad) und nad, gegeben hat, finden wir Die 
urſprünglichſte in jener Weltanfhauung der Mythologie, auf 
welche ſchon am erſten Beginn unferer Betrachtungen eine be= 
ſchränktere Beranlaffung unſere Aufmerkſamkeit " richtete Die 
Eindrücde der Wahrnehmung zu lebendiger Stimmung verdichtend, 
fügt hier meiterfchaffend die Phantafie zu der vorgefundenen 
Wirklichkeit jene Ergänzungen, deren diefe dem unflar empfun- 
denen Gefühl ihres Widerſpruchs gegen die heimlichen Voraus 
fegungen des Gemüthes bedürftig jcheint. Denn jeder Mythus, 
der eine gegebene Erjcheinung umbdichtet, iſt ein Zeugniß ber 
Regſamkeit des menjchlichen Erkennens, das fich felten mit der 
unmittelbaren Wahrnehmung begnügen kann, weil nur felten ihr 
Inhalt mit jenen ungergliederten Aufforderungen übereinftimmt, 
die unjer Geift, ſei e8 als angeborne Mitgift, fei e8 als ſchnell 
erworbene Yrucht früherer Erfahrung, zu der Auffafjung der 
Wirklichkeit mit binzubringt. Aber ein deutliches Bewußtſein 
hat die mythologifche Phantafie weder von dem vollen Inhalte 
der Wahrheit, die fie in den Erjcheinungen wiederfinden zu 
müffen glaubt, noch von den beitimmten Widerfprüchen gegen 
diefelbe, durch welche die gegebenen Thatjachen zu ihrer erflären- 
den Umdichtung auffordern. Froh im Genuffe ihrer eigenen 
Lebendigkeit und ohne Ahnung der mannigfadhen begründenden 
Bedingungen, die mühſam deren jcheinbar müheloſes, ſich von 
felbft verſtehendes Glüd erzeugen, gewohnt, aus ihrer eignen 
Regſamkeit Veränderungen der äußern Welt entipringen zu fehen, 
-Tennt die Seele noch Feine andere Wahrheit al8 das Leben, und 
feine andere Aufgabe der Erfenntniß, als eine Lebendigkeit, Die 
ihrer eignen ähnlich if, in allen Gebilden und Kreigniflen der 
Natur wiederzufinden. Nur das jcheint ihr einen Anſpruch auf 
Dafein zu haben, was, wenn es nicht felbft geiftige Lebendigkeit 


ift, doch als That eines Geiftes oder als zuriidgebliebenes Dent- - 


mal einer ſolchen That ſich faffen läßt; nur die Eigenfchaften, 


188 


nur die Ereignifje erfcheinen ihr natürlich, die aus der Regfam- 
feit einer lebendigen Seele entjprungen, oder doch im Neben- 
verlauf der Vorgänge entjtanden find, welche die Abficht oder 
“die unabfichtliche Lebensgemwohnheit einer Seele angeregt bat. 
Wohl mag die Ungewöhnlichleit einzelner Naturerfcheinungen 
grade auf fie die Aufmerkſamkeit der Phantafie vorzugsweis rich⸗ 
ten, aber der Reiz, der zu ihrer mythiſchen Umdichtung drängt, 
befteht Doch nicht Jo fehr in den einzelnen Zügen, durch die fie 
dem Gewöhnlichen widerſprechen, als darin, daß fie iiberhaupt 
unmittelbar da fein wollen, ohne eine Geſchichte zu haben, die ihr 
Dafein durch einen vermittelnden Zufammenhang mit geiftigem 
Leben rechtfertigte. Ohne Anerlennung bleibt die Vorftellung 
eines unbedingten thatfächlichen Seins, das auf fich felbft beruht; 
unanerfannt der Gedanke an eine Natur der Sade, die un— 
abhängig von allem Seelenleben und ihm als viel ältere Noth- 
wendigkeit vorangehend, aus eigner olgerechtigkeit die Reihe 
der Erfcheinungen begründete. Nicht, dag nicht auch diefe VBor- 
ausfegung eines fo geftalteten nothwendigen Zufammenbanges 
der Dinge beftändig dem Mythus bei der Verknüpfung feiner 
bichtenden Gedanken ihre verborgenen Dienfte leiſtete. Denn in 
der That kann ja nicht die kleinſte Erzählung eine auffallende 
Naturerfheinung durch eine Gefchichte ihrer Entftehung erklären, 
ohne zwijchen jedem eriten und zweiten Borgange, welche fie an= 
einander reiht, den Zuſammenhang den Uebergang und die Aus- 
einanderfolge als begreiflich nad, einem allgemeingültigen Laufe 
der Dinge vorauszufegen. Aber während fie in jedem Bunfte 
ihrer Dichtungen ſich ſtillſchweigend auf dieſe nothiwendige Ver= 
knüpfung aller Dinge ftüßt, auf die aud das alltägliche thätige 
Leben fich bei jedem Schritte verlaffen muß, fieht die Phantafie 
über dieſen Theil ihres eigenen Verfahrens vwolljtändig hinweg, 
und wird fich der unentbehrlichen Hülfe nicht bewußt, welche der 
Inhalt ihrer Dichtungen zu feiner Verwirklichung von Diefer 
Natur der Sachen bedarf; Alles, was finnvoll und bebeutfam 
ift, trägt für dieſe Auffaffung der Welt alle Bürgfchaften feiner 


189 


Wahrheit und feiner Wirklichkeit in fich felbft; ſinnvoll aber ift 
das Lebendige und was aus ihm entjprungen ift. 

Wäre diefe Weife der Weltbetrachtung eine Tchlechthin ver- 
gegangene, fo verdiente fie kaum diefe erneuerte Erwähnung; aber 
diefelben Antriebe, die am Beginn der Bildung zu ihr führten, 
wirken auch nach der Auffindung anderer Standpunkte in jedem 
menfchlichen Gemüthe fort. Zu allen Zeiten erflärt die Phan⸗ 
tafie des Volks ſich die Erfcheinungen der Natur als Rückſtände 
geichehener Gefchichten. Seit Dies oder jenes geſchah, ſeitdem 
fingt der Vogel diefes Lied, trägt diefe Pflanze weiße Blüthen 
ftatt der rothen; jeitdem hat die Bohne eine Nath und der Sala- 
mander feine fledige Haut. Aber diefe Neigung des Gedankens, 
die in folchen Beifpielen und als ein poetiſcher Irrthum erheitert, 
zu dem wie uns herablafien, feflelt_viel ernfter in andern Ge- 
ftalten. Für uns alle fommt eine Seit des Lebens, in der ein 
allgemeines Ungenligen die bi8 dahin arglos hingenommene und 
genofjene Wirklichkeit zu überjchatten beginnt, und doch ein ver= 
borgenes Licht dieſe Schatten zu verklären fcheint. Unzählige einzelne 
Wahrnehmungen haben, ohne daß unfere Aufmerkſamkeit fie ver- 
folgte, uns mit Ahnung der lebendigften Realität des Schönen 
Guten und Heiligen erfüllt; unzählige andere, ebenfo unzergliebert, 
haben zerftreute Eindrüde der Verworrenheit Zufälligfeit und 
Bergänglichkeit in uns zurückgelaſſen, unter deren Elend die ganze 
Wirklichkeit leidet. Nun ift uns dieſe Welt der Wahrnehmung 
nicht mehr die der Wahrheit, fondern die eines trüben Scheines; 
aber fie wird durchſichtig für eine andere befjere Welt des wahr= 
haften und ivealen Seins, in welche hiniiber die Begeifterung 
unſeres Gemüths ſich zu retten fucht. Uns nun, die wir in 
Erziehung und Lebenseinrichtungen von den Ergebniffen jahr- 
hundertelanger Gedankenarbeit wie von einer unbemerften At- 
mofphäre umgeben find, führt der Flug diefer Begeifterung nicht 
mehr zu einer Mythologie, die an dem Widerfpruch der täglichen 
Erfahrung fich verflüchtigen wiirde, Aber auf demfelben Wege, 
den die Phantafie nahm, als fie jene ſchuf, betreffen wir doch 


190 


auch und felbft in unfern jugendlichen Berfuchen, die wahrhaft 
feiende Welt unferer Ahnung in ein deutliches Bild der An- 
ſchauung zu verwandeln. 

Die Jugend ftrebt vom Einzelnen zum Ganzen, nicht zum 
Allgemeinen fort; den einen Sinn jeder Erfcheinung fucht fie 
lebhafter, al8 die vielen Bedingungen ihrer Verwirklichung, und 
immer viel früher möchte fie für die zufammenhanglofen Vruch— 
ſtücke des Weltlaufs die Einheit des Gedankens errathen, der fie 
neben einander als lebendige Glieder zu ſchöner Harmonie ver⸗ 
knüpft, ehe fie nad) den unfcheinbaren Bedingungen fragt, auf 
deren allgemeiner Geltung die Möglichkeit jedes Schönen und 
jeder Verbindung von Theilen zu einem Ganzen beruht. Uns 
allen werden unfere Erinnerungen fagen, daß unfere Sugend= 
träume diefe Wendung nahmen. Wir hätten fehwerlich zu jagen 
gewußt, worin eigentlid, die vorhandene Wirklichkeit und nicht 
genugthue; aber vor unferer unzergliederten Unzufriedenheit fonnte 
fie ſich nicht rechtfertigen, und noch weniger freilidh mit dem 
unbeſchreiblich ſchöͤnen Inhalt unferer Ahnung ſich mefjen, wie 
er in glänzender Unklarheit ung vorfchmebte Und nun machten 
wir und daran, aus diefem Glanze die ganze Fülle der Wirklichkeit 
nachſchaffend wieder zu entwideln; denn die Unruhe, die uns 
befeligte und unfere Phantafie zu Geftaltungen drängte, mas 
hätte fie Anderes fein können, als das fchöpferifche Princip felbit, 
das in diefe Welt der Erfcheinungen ſich verkleidet hat? Und 
es fchien nicht zu mißlingen, was wir verſuchten; wie ſich Töne 
widerſtandlos zur Melodie fügen, fo entjprangen Geftalten aus 
Geftalten, Gedanken aus Gedanken, und deuteten uns den heim—⸗ 
lihen Sinn und die innere Verknüpfung der Erfcheinungen. 
Mit der unbefangenften Zuverficht vertrauten wir der poetifchen 
Gerechtigkeit, die in unferen Schöpfungen herrichte, und ließen 
fie ſtatt des Beweiſes ihrer Wahrheit gelten, der uns fehlte; 
taub gegen jede Mahnung an allgemeine Geſetze, die, ohne das 
Höchite ſelbſt zu fein, das Höchite beichränfen zu wollen fchienen, 
ſahen wir mit vollfommner Sorglofigfeit über die Thatſachen 


191 


hinweg, mit denen die Wirflichfeit unfern Träumen widerſprach. 
So theilten wir mit der Mythologie die Ueberzeugung, daß das 
Werthvolle allein das wahrhaft Seiende fei; nur während jene 
den Werth alles Dafeins in der Luft eines bejeelten Lebens fuchte, 
das fie dem unfern ähnlich. dachte, hatte und die fortgefchrittene 
Entwidlung der Gedankenwelt zu andern vielleicht nicht wahre- 
ren aber weniger nahe liegenden Anfchauungen des Idealen 
geführt, das wir als unbedingte Macht über alle Wirklichkeit 
und al8 geheime Wurzel ihrer Entwidlungsfraft verehrten. Und 
ebenfo, wie die Mythologie den fremdartigften Gebilden der Natur 
die Analogien des menfchlichen Seelenlebens, fo haben wir der 
Natur der Dinge den Sinn und denjenigen Zufammenhang auf- 
gedrängt, den die ahnungsvolle Stimmung nunſers Gemüths als 
Befriedigung ihrer ungefichteten Bedürfniſſe von ihr verlangte. 
Und hierin Liegt die Stärke wie die Schwäche diefer Verſuche, 
die doch nicht allein der Jugend angehören, fondern die wir, ob- 
wohl in den befcheideneren Formen, welche ihnen eine zunehmende 
Lebenserfahrung aufnötbigt, von der Wiffenfchaft nicht felten 
wiederholt jehen. ihre Stärke; denn aus einer mächtigen Be— 
wegung des Gemüths entjprungen, die alle tieffte Sehnſucht 
des Geifte8 in einer warmen Stimmung verdichtet, find fie ganz 
anders wahre Erlebniffe, ald die Gedanken, welche mit größerer 
Zurüdhaltung fpäter die ruhigere Betrachtung äußerlicher an die 
Erfheinungen anfnüpft; manche Wahrheit, manche Zufammenges 
hörigfeit der Dinge mag dieſe Lebendige Anfchauung errathen 
haben, die das regelmäßiger vorfchreitende Denken mühfam over 
nie entdeden wirde. Denn e8 wird jchon fo fein, wie die 
Ahnung meinte, von der jene Träume belebt wurden: allerdings 
wird das Werthvolle das wahrhaft Seiende fein, und es wird 
eine Zeit fommen, wo das über fich verftändigte Gemüth zu 
diefer Anerkennung feines jugenvlihen Glaubens zurüdfehren 
darf. Aber die Schwäche wird es zu überwinden haben, die 
feine erften Verfuche irreleitete. Nicht befeffen darf e8 bon dem 
Inhalt feiner Ahnung bleiben, fondern muß ihn zu befigen ſuchen 


192 


nit aus einer leidenfchaftlihen Stimmung darf e8 in einer 
Reihe poetifcher Gebilde die Keime der Wahrheit mit denen der 
zufälligiten und imbividnelliten Irrthümer zugleich aufgehen Laffen, 
fondern muß lernen, den Lauf der Dinge auf dem Wege zu 
verfolgen, den er felbft nimmt. 


Gefördert durch die Gedankenwelt einer langen Vorzeit, aus 
deren reicher Weberlieferung wir ſchöpfen, können mir leicht einen 
ungenügenden Standpunkt aufgeben, von dem aus die geichicht- 
liche Entwidlung des menfchlichen Bewußtſeins einen langen Weg 
zur Gewinnung einer haltbareren Stellung zurlidzulegen hatte. 
Ein Zeitalter beweglicher vielfach um fich blickender Reflexion 
folgt in der Gefchichte und in dem Leben des Einzelnen jenem 
mythologifchen Anfange; nicht mehr die Welt dur Dichtung 
ergänzend, giebt fich Die Veberlegung betrachtend an den Kauf der- 
jelben bin, und arbeitet allmählich zu größerer Klarheit die Bor- 
ftellung von einer Natur der Dinge heraus, gegen welche 
dem menfchlichen Geiſte die Stellung eines fich beicheidenden 
Anerfennens zulommt. Nur der Gedanke des Schickſals Hatte 
in der mythologiſchen Weltauffaffung an eine Nothmwendigfeit 
erinnert, die in dem Zuſammenhange der Dinge herricht; aber 
nicht in einer Weile, welche die Ausbildung des Wifjens hätte 
begünftigen fünnen. Denn das Schidfal, völlig grundlos, band 
den Lauf der Dinge nicht an allgemeine Gefeke, die ald immer 
geltende Wahrheit in unzähligen Fällen gebietend ſich wieder— 
holten, fondern einzelne Ereignifje verknüpfte e8 mit einzelnen 
durch ein Band, das unbegreiflich bleiben muß, weil es princip- 
los if. Nicht das Wiffen, ſondern eine Sehergabe, nicht ein 
Denken, das aus Gründen Nothwendiges vorherberechnet, fondern 
ein Wahrnehmen, das aus Zeichen die ſchon nahende Thatfache 
inne wird, war das Organ, den diefe Nothwendigkeit ſich offenbart. 
Allmählich erft Durch Schritte, die fich gefchichtlich nicht verfolgen 


193 


aber glaublich ergänzen lafjen, geht die ungewiſſe Ehrfurcht vor 
dem unbegreiflichen Verhängniß in ven klareren Gedanken einer 
Nothwendigkeit über, die ald die Natur der Sache nicht mehr 
das Zufällige, Jondern das Zufammengehörige nach allgemeinen 
Geſichtspunkten verbindet. Der Antrieb zu dieſer Umgeftaltung 
der Auffaffung, mit welcher zuerft eine an ſich feiende Wahrheit 
als Gegenftand des Wilfens und ein anerfennendes Erkennen 
als Mittel feiner Erfaffung einander gegenübertreten, lag ohne 
Zweifel darin, daß das Leben ſelbſt theils zu betriebfamer Be— 
arbeitung der Natur theild zur Feſtſtellung geſelliger Verhältniffe 
drängte. Beide war unmöglih, ohne daß allgemeine Regeln 
der Beurtbeilung praftifch angewandt wurden, auf die ſich Tpäter 
die auffeimende Keflerion als auf die Grundſätze ihres Handelns 
zu befinnen hatte. Und diefe Regeln verneinten gleichmäßig ſowohl 
died principlofe Walten eine blinden Verhängniffes, als jene 
Selbſtgenügſamkeit, mit welcher alles Werthvolle die Macht feiner 
Verwirklichung an fich zu befigen geſchienen hatte. 

Im Gegenfag gegen die Stimmung der Tugend pflegt Diele 
neue Auffaffung der Welt als die Bildung, welche das Leben 
und die Erfahrung des Lebens gibt, in der Entwidlung des 
Einzelnen aufzutreten, und beide hegen gegen einander eine ſtille 
Feindfchaft. Der Idealismus der Jugend mit feiner Zuverſicht, 
alle Wirklichfeit unter die Kraft des fchönften Traumes beugen 
zu können, wird verlegt durch den Realismus des reiferen 
Alters, der ruhig auch das Unbedeutende anerkennt, dad er als 
Thatſache, ald eine der unabänderlichen Gewohnheiten des Welt- 
laufs finde. Denn aud dafür pflegt in unferem eben bie 
Zeit zu kommen, daß das Herz der Märchen müde wird und 
nad) Wirklichkeit fürmlich dürfte; eine unbeichreibliche Freude 
gewährt das Bemwußtfein, Einſicht gewonnen zu haben in einen 
Theil deſſen, was nicht nur unfere Sehnfucht reizt, jondern ung 
mit dem unbegreiflichen Zauber der Wirklichkeit umgibt und trägt; 
in diefem Gefühle weiß fich feinerfeitö der Geift des Beobachters 
unendlich erhaben über die Schönen aber haltlofen un 

Lotze, III. 3. Aufl. 


194 


die er einſt im fich mit erlebt bat. Dem Vorwurfe, unempfäng- 
Yich fiir die Ideale der Jugend geworden zu fein, erwidert er, 
nun vielmehr die Tugend der Entfagung erft gelernt zu haben, 
die nicht die Folgerungen fubjectiver Anſchauung in die Welt 
gewaltfam tberträgt, fondern mit zurüdhaltender Scheu aus der 
Bergleihung der Erfahrungen nur foviel von dem Wefen der 
Dinge lernen will, ald es ſelbſt von ſich offenbaren mag Und 
freilich Tann nun der Einzelne nicht erwarten, in feinem be- 
Ichränkten Geſichtskreis der Erfahrung die Räthjel der Welt noll- 
ftändig ſich enthüllen zu feben. An verfchiedenen Punkten die 
Wirklichkeit mit feiner Aufmerffamfeit anfaffend, wird er fich 
begnügen müſſen, auch nur für einzelne Kreiſe der Erfcheinungen 
die Grundlagen aufzufinden, auf welche fie zunächt zurüddeuten, 
ohne die legten entfernteiten Principien zu erreichen, von Denen 
ihre geſammte Mannigfaltigkeit abhängt. Dieſe fragmentarifche 
Weile haftet überall der Bildung des Lebens an. Diele Ge= 
danfenreihen, an einzelne Vorgänge der Natur anknüpfend, ver- 
folgen eine Zeit lang mit Xebhaftigfeit den Zufammenhang der= 
felben, aber fie enden, wenn fie die nächftliegenden allgemeinen 
Geſichtspunkte gefunden haben, iiber weldye hinaus die Abſtraction 
aus den Wahrnehmungen nicht mehr allein zu leiten vermag. 
Allerhand Marimen entjtehen aus der Betrachtung des fittlichen 
Lebens, oft mit feinfinniger Beobachtung verwandte Fragen 
zujammenftellend und beantwortend, aber doch unbefiimmert fo= 
wohl um die höchſten Principien, als um die Widerjprüche, in 
welche fie fic) gegen einander verwideln. Aber felbft in dieſem 
Mangel des. Zufanmenhangs und der Einheit liegt ein Reiz 
diefer lebendigen Bildung, in deſſen Genuß fie fi) wohl fühlt: 
der Reiz des Halbverhüllten. Berlieren fich die legten Höhen der 
Wirklichkeit in Nebel für unfern Blick, fo erfcheint ihr Ganzes 
defto größer und unendlicher; ſelbſt die Widerjpriiche, auf welche 
uns die Betrachtung ihrer verſchiedenen Theile leitet, verſtärken 
das Gefühl der demüthigen Sicherheit, mit welcher wir eine 
Welt betrachten und und ihr hingeben, die groß genug ift, um 


195 


an verſchiedenen Seiten, die fie und zumendet, fo verſchiedene 
Anblide darzubieten. Die Achtung vor der eignen Wahrheit des 
Gegenftandes ift größer in diefer Stimmung, als fie in der 
Begeifterung der Jugend war, und wer e8 erlebt hat, wird finden, 
daß die ahnungsvolle Poeſie Diefer Proſa tiefer und gefättigter ift, 
al8 der fprudelnde Schaum des jugendlichen Dithyrambus, 


In der Geſchichte der Menfchheit Liegt diefer Entwidlungs- 
gang des Bemwußtfeind für uns erkennbar nur in der allmählichen 
Ausbildung der griechiichen Wifjenfchaft vor. Bis zu ihrem 
Höhepunkt in Platon und Ariftotele8 ericheint die griechiſche 
Philofophie befchäftigt, in diefer Weiſe einer lebendigen Bildung 
von verſchiedenen Ausgangspunkten aus überhaupt das Be— 
wußtjein von dem VBorhandenjein einer Wahrheit zu wmeden, 
einer Natur der Dinge, die den möglichen Gegenftand eines 
menſchlichen Erfennens bildet. In vielfachen Verſuchen ftrebte 
fie errathend und die Analogien der Wahrnehmung mit mehr 
oder weniger Scharfblid benutend, für die Wahrheit einen vor— 
läufigen Ausdrud ihres Inhalts zu gewinnen, bis fie thren 
Blick auf das Bewußtſein felbft zurückwandte und, nad) der Natur 
und den Mitteln des menfchlichen Erfennens fragend, von der 
fragmentarifhen Regſamkeit der Iebendigen Bildung zu der ge=- 
ſchloſſenen Form wiflenfhaftlicher Unterfuchung überging. Gleich- 
gültig find fiir den rafchen Ueberblick, den mir bier verſuchen 
müffen, ihre einzelnen Lehren; erheblicher nur der allgemeine 
Stand der menſchlichen Bildung und Einfiht, der in ihrem 
Berfahren fich verräth. 

Die Ergebnifje der Tebenserfahrungen Hatte früh die Poefie 
in ergreifenden Bildern und in allgemeinen Betrachtungen aus— 
zufprechen gewußt. Ms nun die erften Weiſen Griechenlands 
mit Sprüchen auftraten, wie dem, der alles Uebermaß tadelt, 
oder an jede Berbürgung ein Verhängnig knüpft, oder der ſich 
jelbft zu erforfchen gebietet, ſcheinen fie dem Inhalt nad) viel 
weniger gefagt zu haben, als dem poetifchen Bemußtfein des 

13* 


196 


Volkes Tange befannt war, und fo Hinter der Bildung ihrer 
eignen Zeit zurüidgeblieben zu jein. Aber fie würden nicht die 
Bewunderung gefunden haben, die an ihren Namen den Anfang 
der Bhilofophie gefnüpft hat, wenn dem nur fo wäre. Das 
erfte Erwachen des wifjenfchaftlichen Geiftes überraſcht nirgends 
durdy ungewohnte Fülle neues Inhalts, Jondern durch die eigen- 
thümliche Betrachtung des alten. Gegen den Reichthum an Ge- 
banfen, den das Bewußtſein der Völker in ihrer Dichtung befigt 
und in ihrem Leben bethätigt, erjcheint jede beginnende Wiffen- 
ſchaft unbegreiflih arm; erſt eine hohe Vollendung befähigt fie, 
durch Entdedungen, die dann nur fie machen kann, der geiftigen 
Regſamkeit des. Lebens voranzukommen. Die reihe Mannig- 
faltigfeit Homerifcher Charaktere und die Seelenmalerei Sopho— 
Heifcher Kunft hatten jchon lange dem griedhifchen Volke alle 
Ziefen des geiftigen Lebens zu heller Anſchauung und warmen . 
Mitgefühl gebracht, als feine beginnende Speculation ſich die 
Frage, was nun bie Seele felbft fei, nur mit den unzuläng- 
lichſten und oberflächlichſten Einfällen zu beantworten wußte. Doch 
bedarf e8 jo einzelner Beifpiele nit. Die Sprache felbft bemeift 
in ihrem Bau und ihrem Gebrauch Die große Kluft zmifchen den 
Reichthum des unmittelbaren lebendigen Denfens und der Armuth 
der Reflerion, die fi, auf ihr eignes Thun befinnen will. Mit 
der Sicherheit eine Traumwandlers findet der ungebildetite Geiſt, 
ohne zu fuchen, zur Bezeichnung der feinften Unterfchtede in den 
Verhältniſſen der Dinge der Ereigniffe und der Gedanken die 
Ausdrudsformen, welche die Sprache für ihn erfunden hat; aber 
er würde gänzlich unfähig fein, auch mit dem reichlichiten Auf- 
gebot anderer umfchreibenden Redensarten fich felbft oder anderen 
genauere Rechenſchaft über den Inhalt des Gedankens zu geben, 
defien Darftellung durch jene lebendig angewähnten Spracdhformen 
er jo mühelos wie das Ein- und Ausathmen vollbringt. Bon 
dieſem denkenden Leben zu dem jelbftbemußten Denken thaten 
jene erften Weifen einen entſcheidenden Schritt. Als fie ihre 
längft befannten zum Theil trivialen Wahrheiten, abgelöft von 


197 


der Umgebung einer poetiihen Situation, als einfahe Sprüche 
ausdrüdten und bejtändig in dieſer nachdrucksvollen Einfachheit 
wiederholten, gaben fie ihrem Inhalt eine neue Form, mit diefer 
aber einen neuen Werth. Sie machten das Gemüth darauf 
aufmerffjam, daß jene allgemeinen Süße, mit denen ed. jo oft 
ſchon mie arglos gefpielt hatte, nicht blos Ruhepunkte für eine 
durch die Betrachtung der Dinge aufgeregte Stimmung, jondern 
daß fie in allem Ernft wirkliche Gefege des Weltlaufs find, ein 
Stüd jener an ſich feienden Wahrheit oder jener Natur der Dinge, 
zu deren Erfenntniß fid) das völlig erwachte Bewußtſein aufzu= 
machen hatte Bon einzelnen Beifpielen der Erfahrung auss 
gebend und an fie im Ausdruck ſich anfchliegend, Hatten daher 
jene Sprüche deutlich einen allgemeineren ſymboliſchen Sinn; fie 
ließen merken, daß auch auf anderen Gebieten, daß in aller 
Wirklichkeit Überhaupt, ähnliche Bedingungen die Verknüpfung 
der Ereigniffe beherrichen. 

Die Betrachtung der Natur ging diefelben Wege, wie Die 
des menfchlichen Lebens. Wenn wir die Gefammtheit der Er— 
fheinungen bald aus Waffer bald aus Luft, jest aus Feuer dann 
aus der Verworrenheit des Chaos, durdy Verdichtung und Ver— 
dünnung oder durch Sichtung des Ungefchiedenen ableiten ſehen, 
fo fällt uns die Magerfeit diefer Naturauffaffung auf im Gegen- 
faß zu der Mythologie, die ganz daſſelbe, aber noch viel mehr 
mußte und die Eigenthiimlichkeiten der Erfcheinungen mit viel 
tiefer eingehender Teinfinnigfeit wiedergab. Wir können es 
wunderbar finden, daß Anaragoras, als er den Geiſt für das 
Brincip der Welt erflärte, ohne doch dieſen Gedanken in die 
Einzelheiten der Wahrnehmung irgend einführen zu können, 
feinen Zeitgenofien etwas Großes und Neues zu fagen jchien; 
war doch die Mythologie von jeher nicht blos derfelben Anficht 
geweſen, jondern hatte auch veritanden, in ihrer Weiſe zu zeigen, 
wie der Geift in dem Einzelnen der Natur thätig if. Doch 
eben in ihrer Weife; man bemerkt leicht, daß bei aller Armuth 
ihres Inhalts die auffeimende Philvfophie neu mar durch die 


198 


andere Art, in der fie die Dinge nahm. Während die Bhantafie 
fonft die Schönen Erjcheinungen weiter geträumt hatte, wurde jebt 
das Nachdenken ſich immer mehr der allgemeinen Nothmendigfeit 
bewußt, die als die Natur der Sache dem Ganzen der Er- 
ſcheinungswelt Feltigfeit Spannung und Ordnung gibt; und 
raſch nad einander förderten die ungeſchickten Berfuche die all- 
gemad ſich Härenden Begriffe eines Urjtoffes einer Urkraft und 
allgemeiner Bewegungsformen zu Tage, aus denen als mannig= 
fache vermittelte Folgen die einzelnen Geſchöpfe und Ereigniſſe 
hervorgingen. Noch wirkte die Jugendlichkeit des Denkens nach, 
welche die Anſchauung liebt, und durch eine anſchauliche Ent— 
ftehungsgefchichte der Dinge von dem Nachſuchen nad) den legten 
Bedingungen ihrer Wirklichkeit abgezogen wird. Um den Inhalt 
des wahrhaft Seienden zu bezeichnen, das er zu fallen ftrebte, 
griff der Geift zunächſt nad, beveutenden Erjcheinungen ber 
inneren und äußern Erfahrungswelt; bob die verhältnigmäßig 
beftändigen, allgemeinen, in vielfacher Weiſe als Stoff oder 
Urfache die übrigen bedingenden als thatſächliche Principien der 
Welt hervor. Bon ſolchen Ausfprücen, daß das wahrhaft 
Geiende das Wafler die Luft fei, hat fich im Laufe der Zeit die 
gewandtere Keflerion zu abftracteren Beitimmungen erhoben: das 
Unendlihe das Eine das Maß und die Ordnung traten all- 
mählih an die Stelle jener finnlicheren Urbeftimmungen. Aber 
ihrer Form nach gehören alle dieſe wechſelnden Ausiprüche zu den 
zufälligen Anfichten der Iebendigen Bildung. Natürlich wurde 
jeded bon jenen Principien deshalb gewählt, meil fein Inhalt die 
Eigenschaften zu befigen ſchien, welche die VBorurtheile des natür- 
lichen Gedankenlaufs von dem fordern, was als Princip gelten 
fol. Aber zergliedert waren eben diefe Forderungen nicht, nod) 
in ihrer Bollftändigkeit zufammengefaßt; jo wie die eine oder die 
andere aus zufälligen Gründen im Bewußtſein an Klarheit über⸗ 
wog, wurde durch fie die individuelle Denkweiſe beherrfcht; ein= 
feitig ſah man als vollen Inhalt des höchſten Principe den einen 
Gedanken an, der diefem deutlichiten Bedürfniß entſprach, und fand 


797 OT 
199 Ur een 
o; 


daher das ganze Princip in der Erfcheinung v 
Gedanken am auffallenpften verfinnlichte. | = 
In diefem Berfahren des Nachdenkens zeigte fich noch die 
feifche Herkunft aus der mythiſchen Weltauffaflung; auch eine 
andere Erbichaft derſelben hatte es angetreten: jene Verehrung 
ſymmetriſcher und rhythmifcher Formen des Weltlaufs, melde 
ſehr natürlich entjtehen mußte, als das Gemüth in der Welt 
zwar nicht mehr ein unmittelbares Abbild feines eignen Seelen— 
lebens und feines Rebensglüdes fuchte, aber doch in der unab- 
hängigen Natur der Dinge, die e8 anzuerkennen anfing, gleich— 
fam als Erfaß eine ihr felbft eigene Vollkommenheit fefthalten 
wollte In dem mahrbaften Sein, das man fuchte, lagen 
daher nod) fo vermiicht die Begriffe des MWirklichen und die 
alles Guten und Echönen und Geligen, daß jene äfthetifchen 
Yormverhältniffe mit zu feinem weſentlichſten Wefen zu gehören 
ſchienen. Ohne Zweifel einen Kern von Wahrheit einfchließend, 
deflen genauere Begrenzung einer eingehenden Unterjuchung werth 
fein würde, hat dieſes Vorurtheil von der nothmwendigen Sym= 
metrie des wahrhaft Seienden in den Weltauffafjungen aller 
Zeiten ſich gelten gemacht und ift in der Gegenwart nicht macht⸗ 
loſer geworden; das frühe Alterthum war gänzlich von ihm be= 
herrſcht. Noc lange, nachdem man bon Gefeßen der Dinge zu 
ſprechen angefangen hatte, wurden doc, diefe Gefege nicht ale 
allgemeine Regeln des Verhaltens verftanden, die an fich Feine 
beftimmte Form des Verlaufs der Erjcheinungen befehlen, fondern 
die Entſcheidung hierliber der Eigenthümlichkeit der einzelnen 
Fälle überlaſſen, auf die fie angewendet werben; fie waren viel- 
mehr bejtimmte anfchauliche ſymmetriſch geordnete harmoniſche 
Ablaufsrhythmen der Erfcheinungen, die, weil fie alle Welt 
umfaflen, zur beherrfchenden Richtung für die Bewegung alles 
Einzelnen werden. Noch lange ging die Neigung der Betrachtung 
dahin, in große Dafeinsgewohnheiten der Welt die Schidfale 
des Einzelnen einzuordnen, ehe der Verſuch gemacht murde, aus 
dem Zuſammenwirken von einzelnen Creigniffen die Endform 





200 


des MWeltlaufs zu erflären. Der Gedanke des Ganzen, das mit 
vorberbeitimmter Form und Bildung den Theilen vorangeht, 
überwog vollſtändig den Gedanken an allgemeine Gefege, durch 
welche die Theile erſt befähigt werben, ein Ganzes zu bilden, 
oder das Ganze, fi aus Theilen zu verwirklichen. 


An den Namen des Sofrates knüpft die Veberlieferung die 
Erinnerung an den Schritt, durch welchen zuerſt die lebendige 
Keflerion in die methodiſche Bahn eines wiflenfchaftlichen Er- 
kennens geleitet wurde. Den Grund aller Dinge, die Natur der 
Sadje, hatte die frühere Speculation doch nur durch ein Er- 
rathen auffinden zu können gemeint, das durch allerlei Trübungen 
der Erfcheinung hindurchzudringen hatte, um in der ferne 
hinter ihnen das Weſen zu finden. Die Gegenftände der Natur, 
die und umgeben, und die Ereigniffe, Die zwifchen ihnen geſchehen, 
hingen zwar nicht mehr durch eine gejchehene, aber Doch durch 
- eine ftet3 gefchehende Gefchichte mit dem wahren Wefen zufammen, 
mochte dies nun in Gejtalt eined Elementes gefaßt werden, das 
durch viele Mittelglieder fi in die Mannigfaltigfeit der einzelnen 
Dinge umgewandelt habe, oder al8 eine Ordnung und ein 
Rhythmus, der nur an dem großen Ganzen völlig überfehbar ift, 
an dem Kleinen und Einzelnen in undeutbaren Widerjprüchen 
hin⸗ und hergehender Bewegung verläuft. Jetzt erſt wurde dem 
Geifte Har, daß die Natur der Sache tiberall gegenwärtig ift, 
daß fie nicht durch eine Gefchichte mit der gegebenen Welt zu= 
fammenhängt, fondern in ihr einheimiſch ift, daß fie überhaupt 
nicht in irgend einem Element, nicht in irgend einer beſtimmten 
Form des Dafeins, fondern in einer Wahrheit beiteht, Die 
ewig fich felbft gleich im Kleinſten und im Größten, alle Theile 
der Welt als Nerv des Zufammenhangs verknüpft. Erſt mit, 
diefem dritten Standpunkt begann die Möglichkeit des Erfennens, 
denn erſt jeßt gab e8 einen Grund und Boden des ewig gegen 


201 


wärtigen Denknothwendigen, anftatt der bloßen gefchichtlichen 
Weltthatfachen, die man vorher hatte errathen erzählen und 
anfchauen können, ohne fie zu begreifen. Gleichwohl hat es fehr 
lange gedauert, bis die Früchte dieſes Standpunkts einigermaßen 
teiften, und die ungünftigen Nachwirkungen dauern noch fort, 
welche die Unvolllommenbeit der erſten geichichtlichen Ausbeutung 
deſſelben der Nachwelt binterlaffen hat. 

Daß die Gegenftände unfrer Beobachtung und Die ver- 
ſchiedenartigen Gebilde unferer Gedanken fich unter allgemeine 
Oattungsbegriffe als deren einzelne Beifpiele zuſammenordnen 
laſſen, und daß der Inhalt jedes diefer Begriffe in eiwiger Treue 
ſich felbft gleich if, und ift, was er ift, befreit von alle dem 
Wechſel und der Veränderung, denen jene feine Beilpiele in der 
Wirklichkeit unterworfen find: dieſe beiden unfcheinbaren Ent- 
deckungen bezeichnen den Eintritt der neuen Zeit. Unſcheinbar 
beide; denn e8 wurde Durch fie nur gefunden, was der lebendige 
Gedankenlauf der Menſchen ſtets bejeffen hatte; aber beide auch 
folgenreiche Entdeckungen. Denn fo lange aud) die Sprache, 
wie fie ja nicht anders konnte, durch ihre Worte die allgemeinen 
Begriffe der Dinge bezeichnet hatte, fo wenig hatte das Bewußt⸗ 
fein fein eignes Thun verftanden; und noch den Zeitgenoffen des 
Sokrates fiel die Einficht ſchwer, daß die Bequemlichkeit, einen 
allgemeinen Namen fiir verfchiedene Dinge zu brauchen, auf einer 
Abhängigkeit derfelben von Etwas beruhe, was ihnen allen ge= 
meinfam und in ihnen allen fich felbft gleich if. Und fo fehr 
auch das Nachdenken wie das Iebendige Handeln die beftändige 
Gleichheit jedes Gedankens mit fich felbft und jeder Beltimmung 
der Dinge mit ihr jelbft hatte ftillfchweigend vorausfegen müſſen, 
fo hatte dennoch die theoretifche Betrachtung der Wirklichkeit zu 
verivorrenen Meinungen über einen ewigen Fluß aller Dinge 
hingeriffen, in welchem die Unbeftändigfeit des Wirklichen zugleich 
zur Unbeftändigfeit der Wahrheit geworden, und jede8 unverän— 
derliche Maß des Veränderlichen vergeffen war. Gegen jene 
Blödigfeit und dieſe Verwirrung erfchien die bewußte Hervor- 


202 


hebung einer allgemeingültigen Wahrheit, fo eng begrenzt auch noch 
die Ueberſicht ihres Inhalts fein mochte, ald Die erfte fichere 
und weiter dienende Grundlage; nachdem man fo lange aus dem 
Stegreif das Höchſte wahrhaft Seiende zu erfaffen geftrebt hatte, 
begann die Iogifche Periode des Denkens, das verjuchen konnte, 
zuerft die nothwendigen Forderungen Har zu machen, die e8 an 
das Biel feiner Sehnfucht ftellte, und dann erft zu fragen, ob 
und wo das zu finden fei, was diefe Forderungen befriedigte. 

Zwei Aufgaben ftellte dem weiteren Fortſchritt Die neu 
gewonnene Einficht: zuerit die, fi) der Formen und der Grund⸗ 
fübe des Berfahrens bewußt zu werden, die der Berfnüpfung 
unferer Gedanfen und unferer Beobachtung unentbehrlich find, 
um das zu erreichen, was unferen Denken als Wahrheit gelten 
fol; dieſe logiſche Wiffenfchaft hat das Alterthum meifterhaft 
begründet, aber weit von ihrer Vollendung gelaffen. Eben fo 
unerläßlich war die andere Frage nach dem Werthe, welchen alle 
biefe unferem Berftande unvermeidlichen Gefege des Denkens für 
die Erfafjung der Wahrheit und die Erfenntniß der Dinge felbft 
befigen; und dieſe Unterfuhung hat weder im Altertbum noch 
in der langen Entwidlung, welche die Wiffenfchaft ſeitdem durch⸗ 
laufen, das Ende vielfacdher Zweifel erreicht, deren wir in ihren 
allgemeinften Formen ſo weit gedenken müſſen, als fie außerhalb 
der Stetigkeit einer wifjenfchaftlihen Unterfuhung verftändlidy 
werden fünnen. 

Suden wir im täglichen Leben durch Vergleihung vorlie— 
gender Anzeichen, durch Benutzung mannigfacdher Analogien 
durch Rücdfchlüffe von gegebenen Folgen auf ihre Gründe eine 
bergeflene verborgene oder verheimlichte Thatfache zu ermitteln, 
fo zweifeln wir nicht, daß alle diefe erwähnten Ummege unfers, 
Gedankens nur Hülfsmittel find, welche uns allein, den Suchen⸗ 
den, die Stellung unentbehrlich macht, in welcher wir und dem 
Geſuchten gegenüber befinden: die Natur der Sache felbft, vie 
wir aufflären möchten, bat ſich nicht in ihrem Entftehen durch 
diefelbe Reihe derfelben Entwiclungsftufen hindurch bewegt. Der 


203 


Gang, den unfer Denten genommen hat, gilt und daber nur für 
unfere fubjective Verfahrungsmeife, durch die wir zwar als Er- 
gebniß eine die Natur unſers Gegenftandes erfaffende Ender⸗ 
fenntnig zu erarbeiten hoffen, ohne daß jedoch unfere Arbeit, 
während fie gejchieht, Schritt für Schritt den innern Entwid- 
lungsgang abbilvet, durch welchen der Gegenftand entjtand, oder 
den innern Zuſammenhang, durch den er in Wirklichkeit fich 
erhält. Dieſe Borftelung von dem Verhältniß des Denkens zu 
feinem Objecte, die fi) in folchen Fällen ungefucht einfindet, 
enthält vereinigt zwei Behauptungen, die zuweilen zu zwei ent- 
gegengejeßten Anfichten getrennt werden. Jedes nützliche Werk⸗ 
zeug muß die beiden Anforderungen erfüllen, einerjeitd handge— 
recht zu fein fir den, welcher ſich feiner bedienen will, anderfeits 
fachgerecht fidh nad) der Natur des Gegenstandes zu richten, zu 
deſſen Bearbeitung e8 verwendbar fein fol. Ganz ebenjo wird 
das Denken in feinem Berfahren zugleich durch die Natur des 
denfenden Subjectes und zugleich Durch Die feiner Objecte be- 
ftimmt fein müffen. Die Eigenthümlichfeiten aber, die e8 um 
beider Bedingungen willen bejigen muß, können nicht ganz 
diefelben fein. 

Der Beritand des endlichen Weſens fteht nicht im Mittel» 
punfte der Welt und kann nit auf ein Mal die Gefammtheit 
der Wirklichkeit in den wahren und natürlichen Abhängigleits- 
verhältnifien aller ihrer Theile durchſchauen; zwifchen die Erſchei⸗ 
nungen hineingeftellt, findet er ſich abgeleiteten Eigenfchaften der 
Dinge eher gegenüber als ihrem Wefen, den Folgen oft eher als 
den Gründen; das Zufammengehörige ift er genöthigt nad 
einander zu erfahren. So entftehen unferem Denken eine Menge 
bon nothmendigen Verrihtungen des Unterfcheidens des Zuſam— 
menfeßens des Beziehens, welche alle nur vorbereitende formale 
Mittel der Erfenntniß find, und denen wir keineswegs eine reale 
Geltung in dem Sinne zufchreiben Tünnen, daß ihre Reihenfolge 
eine gleiche oder ähnliche Abbildung der innern Ereigniffe Span- 
nungen und Wechfelwirkungen darböte, auf denen die Wirklichkeit 


204 


und die Entwidlung der Gegenftände felbft berubt. Aber eben 
jo Deutlich ift anderſeits, daß dieſe Formen des Dentens, fo 
bald fie doch zu einer Erfenntnig der Dinge führen follen, nicht 
blos fubjective Formen in dem gleich einfeitigen Sinne fein können, 
daß fie nur aus der Organifation unſers Geiftes als ihm angeborne 
Manieren feiner Thätigfeit entfprängen, ohne eine urfprlngliche 
Beziehung zu der Natur der Gegenjtände zu haben, zu deren 
Behandlung fie beitimmt find. Dadurch vielmehr fcheinen 
Denken und Sein allerdings zufammenzugehören, daß fie beide 
denfelben höchſten Geſetzen folgen: das Sein als Gefegen des 
Beftehens und des Werdens aller Dinge und reigniffe, das 
Denken als Gefegen einer Wahrheit, welche jede Berfnüpfung der 
Borftellungen beachten muß. Sg durchgängig und mit fo lüden- 
loſer Folgerichtigkeit hängt nad) diefen Gefegen die ganze Wirk— 
lichkeit in ſich felbft zufammen, daß unfer Denken jeden Punkt 
berfelben willkürlich als Ausgangspunkt benugen und nad) jeder 
beliebigen Richtung von ihm aus weiter fchreiten Tann, und 
immer wird es ficher fein, fo lange es feinerjeitd jene Geſetze zu 
Kegeln feines FortfchrittS nimmt, mit einem andern gefuchten 
Punkte der Wirklichkeit wieder zufammenzutreffen, gleichviel wie 
weit ſich die Richtung und Die Umwege feiner eigenen Bewegung 
zwifchen beiden Punkten von den realen Zufammenhängen unter= 
ſcheiden, durch welche die Wirklichkeit jelbft den einen ihrer Theile 
mit dem andern verfnüpft oder aus ihm hervorgehen läßt. Die 
Berechnung fpecieller Eigenfchaften einer vorgezeichneten Raum 
figur Tann als Beiſpiel diefed Verhaltens dienen. Wir ziehen 
in ihr Hülfslinien, die wir um jo weniger als natürliche fertige 
Beſtandtheile der Figur anfehen künnen, je mehr es häufig in 
unferer Willfür fteht, aus vielen gleich nüglichen Hiffsconftruc= 
tionen eine beliebige zur Benugung auszuwählen. Das richtige 
Ergebniß erhalten wir hier durch eine Verkettung von Süßen, 
welche gar feinen wirklichen Entftehungsgang der Sache nach— 
ahmt; aber fo unendlich ift die innerliche Confequenz aller geo- 
metrifchen Dinge, daß es für unfer Denken die mannigfaltigften 


205 


Wege gibt, auf denen es von jedem beliebigen Anfangspunfte 
aus das Gegebene mit einem Netze von Beziehungen überfpannen 
fann, und immer kann e8 darauf rechnen, an jedem Ruhepunft 
feiner Umwege mit irgend einem fachlichen Verhalten und am 
Ende feiner ganzen zwedmäßig geleiteten Bewegung mit der 
gefuchten Wahrheit richtig zufammenzutreffen. 

' Deutlich ift uns jedoch dieſes Verhältniß unfers Denkens 
zu feinen Gegenftänden nur, fo lange wir das verwidelte Ganze 
folder Ueberlegungen ind Auge faffen, wie fie uns eben als 
Beilpiele dienten; es entiteht dagegen der Anfchein eines ganz 
anderen Sachverhaltes, wenn wir auf die einzelnen Gedanken⸗ 
elemente zurlüdgehen, aus deren PBerknüpfung jenes Ganze 
erwachlen ift, auf die Formen der Borftellung des Begriffs des 
Urtheils des Schluſſes. Es wird uns fo vorlommen, als könne 
eine zufammengefette Ueberlegung nur deshalb in weiten Grenzen 
“einen willfürlihen Gang im Großen nehmen, weil fie in 
biefen ihren einzelnen Beſtandtheilen unmittelbar jene Geſetze 
zum Ausdrud und zur Geltung bringe, welche das Denen mit 
dem Sein gemeinfam habe, und nur deöhalb könne der Umweg 
unſers Gedankenganges zulegt mit der Natur der Sache wieder 
zufammenlaufen, weil jene einzelnen Beftandtheile mit ihr über— 
einftimmen, und daher nur foldye VBerbindungsweifen gejtatten, 
die bei aller übrigen Ungebundenheit doch innerhalb der Yolge- 
richtigkeit dieſer Natur der Sache‘ bleiben. Wenn alſo unfer 
Denten einzelne Borftellungen zu einem Ganzen verbindet, viele 
gleichartige zu einem allgemeinen Begriffe verfchmelzen Täßt, 
Begriffe zu Urtheilen zufammenfegt, und Urtheile zum Schluffe 
verfettet, fo wird es leicht glauben, durch dieſe Verfahrungsweiſen 
die eignen inneren Beziehungen feines Gegenftandes nachzuahmen, 
und jede diefer Iogifchen Formen wird ed um der Berhältnifie 
willen, in die fie ihre Beftandtheile zu einander jegt, für ein 
Abbild eines Elementes der Verhältniffe halten, melche zwiſchen 
den Beftandtheilen des Objects ftattfinden. 

Ich überlaffe fpäter anzuführenden Beifpielen den Beweis, 


206 


daß diefer Schein täuſcht; fegen wir für den Augenblid feine 
Trüglichkeit voraus, fo find die ſchädlichen Folgen Har, in die 
er und verwidelt. Denn fo oft wir uns über die gegenfeitigen 
Berhältniffe der Theilvorftellungen, die wir zu einem Borftel- 
Iungsganzen zufammengefegt haben, oder fo oft wir und über 
das Berfahren Rechenichaft geben Tünnen, durch welches wir, 
Merkmale hinmweglaffend oder hinzufligend, eine Vorftellung in eine 
andere umgeftalten, eben jo oft werden wir zu glauben geneigt 
fein, damit nicht nur den Bau unferer Borftellung, fondern aud) 
das innere Gefüge ihres Gegenftandes, nicht nur den Verlauf, 
den der Wechfel unſers VBorftellens nimmt, fondern auch den 
Weg begriffen zu haben, den das eigne Werden und die Ent- 
widlung des Objects einjchlägt. Diefe Verwechſelung der Ber- 
deutlichung unjerer Begriffe mit der fachlichen Sergliederung ihres 
Inhalts ift ein fehr natürlicher und in den allermannigfachften 
Geftalten immer wiederfehrender Fehler unferd Nachdenkens; 
am meilten mußte ihm eine Zeit ausgefeßt fein, welche, eben 
erſt auf das Borhandenfein einer für alle Wahrheit maßgeben=- 
den Gefeglichkeit in unferem Geifte aufmerkſam geworben, fehr 
leicht zur Ueberſchätzung einer fo folgereihen Entdedung hinge— 
riffen werden konnte. Bezeichnen wir die Erfenntniß der Dinge 
als die Aufgabe der Metaphyſik, die Xehre von den Formen bes 
Denkens, die der Erfenntniß dienen follen, als die der Logik, fo 
hat das Alterthum ſehr allgemein darin geirrt, daß e8 metaphy- 
ſiſche ragen durch logiſche Serglievderungen der Borftellungen 
beantworten zu können glaubte Hierin liegt der Grund der 
Unfruchtbarkeit, deren Eindrud wir, fobald wir um Förderung 
ſachlicher Erkenntniß uns an die antife Philoſophie wenden, ſtets 
zugleich mit dem einesbewundernswürdigen Aufwandes an geiftiger 
Kraft empfangen. Ganz außer Stand, in diefem flüchtigen 
Ueberblid ein Bild des leßteren zu geben, müſſen wir uns be= 
gnügen, einige der Abwege anzudeuten, auf welche der Einfluß 
des Alterthums auch die fpäteren Zeiten verleitet hat. 

Die Ideenlehre Platons war der erfte großartige, bergebliche 


207 


und dennoch lange nachwirkende Verſuch, in den Allgemeinbe- 
griffen unfer8 Denkens die Natur der Sache zu erfaflen. Bon 
zwei Seiten lag dazu die Veranlaffung nahe Zuerſt bat die 
Beobachtung der lebendigen Gefchöpfe zu allen Zeiten den Ge- 
danfen erweckt, nur der lebendige Allgemeinbegriff der Gattung 
könne die zufammenhaltende Kraft fein, welche in jedem Einzelnen 
Eigenſchaften und Schidfale zu dem Ganzen einer gefegmäßigen 
Entwicklung verknüpft, und in allen trotz der umgeftaltenden Ein- 
flüffe der veränderlichen und zufälligen äußeren Bedingungen 
dieſelbe Lebensform verwirklicht. Eben jo naheaber lag es, und 
im Gegenfaß zu der alles Pflichtgefühl auflöfenden Sophiftif 
mar es ein glänzendes Berdienft, darauf binzumeifen, daß auch 
der Werth der menfchlichen Handlungen nit von willfitrlicher 
Sagung örtlicher Gewohnheit oder veränderlihem Gefchmad 
wandelbar bejtimmt werde, fondern daß er von allgemeinen wan- 
delloſen fittlichen Ideen eines an fi) Guten an ſich Gerechten 
und an fi) Schönen abhänge, und nur in dem Maße vorhanden 
fei, in welchem diefe Ideen, die ewig fich felbft gleichen, in den 
mannigfadhen und veränderlichen Formen des Handelns wieder— 
ſcheinen. In diefen beiden Füllen handelt es ſich um Erſchei⸗ 
nungen und Ereigniffe, die wir leicht uns als Aufgaben oder 
Zwede der Wirklichkeit vworftellen können; den Gattungsbegriff 
lebendiger Gefchöpfe faffen wir ohne Widerftreben als ein Bor: 
bild, welches die Weltordnung in unzähligen Nachbildern zu 
verwirklichen ſuche; noch leichter huldigen wir der anderen 
jo oft begeiftert ausgefprochenen Veberzeugung, allgemeine Ur- 
bilder de8 Guten Rechten und Schönen als Die erhabenen Mu— 
fter zu denfen, denen unfere Handlungen nachzuahmen haben. 
Hier alfo möchten die Allgemeinbegriffe das Wejen der Sache 
zu faflen fcheinen, weil dies Weſen ſelbſt in der Allgemeinheit 
eines Ideals beftände, deſſen Beſtimmung die Verwirklichung in 
unzähligen Sonbderbeifpielen wäre. 

Aber nicht alle Gegenſtände unſers Nachdenkens, von denen 
wir allgemeine Begriffe bilden können, begünftigen dieſelbe Auf- 


208 


faflung; überfehen wir daher, dag die Natur des Inhalts in den 
angeführten Beifpielen die Form des Begriffd adelte, und be- 
trachten wir fie allgemein als Bezeichnung der welentlichen Natur 
ber Dinge, fo führt die Confequenz uns weiter als uns lieb ift. 
Daß alles einzelne Schöne und Gute und Gerechte nur dur 
Theilnahme an einer ewigen dee des an ſich Schönen des 
an ſich Guten und Gerechten ſchön gut und gerecht fet, dafür 
fonnte Platon fich begeiftern; daß aber auch der Tifh nur Tiſch 
und der Schmug nur Schmuß fein follte durdy Theilnahme an 
der ewigen Idee des Tiſches oder des Schmußes, daran ftieß 
auch er an, ohne doch den Anftoß zu befeitigen; dieſe Begriffe _ 
einer gemeinen Wirklichkeit, logiſch betrachtet fo legitime Begriffe, 
wie irgend welche anderen,- ließen fich doch nicht wohl ald un— 
fterbliche Urbilder in jene Idealwelt einreihen, von der die Welt 
der Erfcheinung ein trüber Abdruck ift. Aber eben fie hätten 
frühzeitig darauf aufmerffam machen können, daß das Reich ber 
Gedanken und Begriffe mit aller Gefeglichkeit feiner inneren Be- 
ziehungen doc, nicht ein Abbild von dem Reiche des GSeienden 
ift, fondern zu ihm in jener andern Beziehung fteht, deren wir 
oben gedachten. Die Willkür unfere® Handelns formt die 
Stoffe der Natur in mancherlei Weife fir unfere Zmede 
zurecht und bringt fo unter andern den Tiſch hervor, von dem 
es fein Urbild als integrivenden Beftandtheil der Weltorbnung 
gab; aber fo gejeglich hängt doch Alles in der Welt zufammen, 
daß von diefen Kunjtproducten, mit denen mir die Wirklichkeit 
bereichern, es eben folche Begriffe, wie von den urfprünglichen _ 
Beſtandtheilen derfelben geben kann, und daß auf dieſe Begriffe 
die allgemeinen logiſchen Geſetze nicht minder als auf Die Ideen 
jener anwendbar find. Willkürlich ferner vergleicht unfer Ge- 
danfengang Dinge mit einander, denen es ganz gleichgültig ift, 
verglichen zu werden, oder jegt fie in Beziehungen, die ihnen 
nicht minder unmefentlich find, und erzeugt fo den Begriff des 
Schmutzes, der gar kein Weſen irgend einer Sache ausbrüdt; 
dennoch tjt auch er ein rechtmäßig verwendbares Hilfsmittel unſers 


209 


Gedanfengangs; denn fo lange wir ibn innerhalb der Ueber- 
legung jener Beziehungen brauchen, aus deren willkürlicher Her⸗ 
vorhebung er entftanden ift, gelten auch von ihm alle Gefeke, 
die das Denken den Begriffen vorfchreibt, und feine Anwendung 
führt zu richtigen Folgerungen. 

Zwiſchen Wahrheiten, welche gelten, und Dingen, welche 
find,. machte die griechifche Philofophie ſtets fehr ungenügend 
den Unterſchied, welchen unfere Sprache fehr deutlich durch dieſe 
beiden Ausdrücke bezeichnet; Die geltende Wahrheit galt ihr immer 
für eine befondere Art des Seienden. Und eben auf dieſen 
Unterfchted kommt es bier an. Darauf, daß im letzten Grunde 
bon Sein und Denken diefelben höchſten Wahrheiten gelten, 
beruht die Möglichkeit ihres Yüreinanderfeins überhaupt; aber 
dies Fiireinanderfein befteht nicht darin, daß eine unveränderliche 
Anzahl von Begriffen feiend die Dinge, und gedacht die Vor— 
ftellungen der Dinge in uns bilden; die Begriffe unfers Dentens 
laſſen fich vielmehr ind Unendliche vermehren, ohne daß zugleich 
durch Diefe Vermehrung das Seiende zunimmt. Und von unzähligen 
willffürlich gewählten Standpunften aus können wir ferner durch 
verfchtedene nach der Verfchiedenheit Diefer Standpunkte ſich rich⸗ 
tende Zufammenfegungen von Einzelvorftellungen dafjelbe Ganze 
aufbauen, und fo einen umd denſelben Gegenftand durch viele 
Definitionen gleich rihtig und gleich erſchöpfend definiren. Seine 
dieſer Definitionen ift das Weſen des Gegenſtandes, aber jede 
gilt von ihm, umd jede gilt Deswegen von ihm, weil das Wefen 
feines Gegenftandes durch eine ifolirte zu allen andern bezieh- 
ungslofe und nur durch ewige Gleichheit mit fich ſelbſt charaf- 
terifirte Idee denkbar ift, fondern jeder Gegenftand ein Wefen 
und eine Wahrheit nur hat, fofern es allgemeine Gejeße des 
gegenfeitigen Verhaltens gibt, die von ihm und allen andern 
zugleich gelten, und nad) denen er nicht nur fich ſelbſt als zu- 
fammengehöriges Ganze von andern unterfcheidet umd fich auf 
fich ſelbſt zuridzieht, fondern auch ſich öffnend mit ihnen in 
Beziehung tritt. Wegen diefer Gefege kann das Denken, indem 

Loge, III. 3. Aufl. 14 


210 


es an ihrer Hand willlürliche Wege zwifchen den Dingen madıt, 
und jeder von ihm jo ausgeführten Bewegung fi) in der Bor- 
ftellung einer gewifjen Beziehung zwilchen ihnen bewußt wird, un- 
zählige neue Begriffe bilden, von denen Platons großer Nachfolger, 
Ariftoteles, etwa gefagt haben würde, daß fie zwar der Mög- 
Tichleit nach in der Natur des Seienden lägen, in Wirflichfeit 
aber erft durch das ſubjective Verfahren des Denkens realifirt 
würden. Die Beachtung dieſes Verhaltens wiürde zunächſt zu 
einer klareren Unterſcheidung zwiſchen jener Ariftofratie von 
Ideen geführt haben, welche, wie die Gattungsbegriffe des Xeben- 
digen und die fittlichen Werthbeftimmungen, als ewige Vorbilder 
Urbeftandtheile der Weltorbnung find, und zwifchen jenem Pro- 
letariat von Begriffen, das ſich endlos mehrt, je neugieriger 
das Denken mit der unendlichen Möglichfeit des Bergleichend 
und Beziehen der Dinge fpielt. Diefe Unterfcheidung aber, 
gegen deren erſtes Glied wir und wejentliche Bedenken auf fpäter 
verfparen, wiirde durch das zweite dahingedrängt haben, neben 
der Form des Begriffes auch die Denkform des Urtheild zu 
beachten, und die nur in biefer Form ausſprechbaren Wahrheiten 
aufzufuchen, ohne welche Tein Wechfelverfehr des GSeienden und 
feine Weltordnung vorftellbar ift, und durch die e8 unter andern 
auch geichieht, daß es gültige Begriffe geben Tann. 


Nicht nur mit der Wirklichkeit ließ dieſe Begriffswelt fich 
nur ungenligend in Berbindung bringen; auch in ſich felbft erlangte 
fie nicht die Gliederung, die einer vorbildlichen Idealwelt noth- 
wendig wäre Gie blieb eine Sammlung regungslofer Ideen, 
zwifchen denen Nichts gefchieht, Nichts Tünftig Gefchehendes vor- 
gezeichnet ift, und die nur durch Logische Beziehungen der Unter» 
ordnung und der Verträglichkeit oder Unverträglichfeit untereinan= 
der zufammenbängen. Alle Vebergänge, welche das Denken 
zwiſchen den Gegenftänden der Wahrnehmung vorfindet oder 
anftiftet, werden nur dazu mißbraucht, and, ihren Sinn in einer 
allgemeinen ewigen Idee zu verfteinern, die num ihren Platz ruhig 





211 


neben den andern einnimmt, ohne zu bedenken, daß ihre Auf- 
gabe ja nicht die war, felbft ein Glied der Kette, fondern die 
Copula zwiſchen andern Gliedern zu fein. So fteht die ewige 
ſich felbft gleiche Idee der Gleichheit neben der gleichfalls ewigen 
fich ſelbſt gleichen Idee der Ungleichheit und bei ihnen die ewig 
rubige Idee der Bewegung; feine von ihnen bemüht fich, fo zu 
eriftiren, wie e8 ihrem eignen Inhalt gemäß wäre, als prädica= 
tive Beziehung zwifchen zwei andern Punkten, oder als Be⸗ 
wegung von irgend etwas etwoher und etwohin. Ariftoteles 
empfand dieſe Mängel; Sinn für die Beobachtung der Natur 
und ſyſtematiſche Beichäftigung mit den Formen des Denkens 
machten ihn aufmerffam auf die mannigfacdhen Beziehungen, 
welche die einzelnen Elemente der Wirklichkeit zu einem leben- 
digen Ganzen verfnüpfen, und auf die Verfahrungsweiſen, durch 
die unfer Gedanke jene Beziehungen nachahmend ausdrückt. Er 
wußte, daß Ideen nicht find, fondern gelten, daß eine Wahrheit 
nicht durch einen Begriff, jondern nur durch einen Satz aus- 
ſprechbar ift; er juchte in dem Sprachgebraudy alle jene Aus⸗ 
drüde auf, durch welche wir die mannigfachen Verhältniſſe 
bezeichnen, die wir zwiſchen den Dingen vorfinden oder voraus- 
feßen; er unterſchied häufig die Abhängigleit, welche Die Glieder 
eines gedachten Inhalts für unfer Denken haben, von der Ord⸗ 
nung, in welcher die Elemente des feienden Inhalts einander 
bedingen. Aber die Praris feines Philoſophirens vermied Die 
Verwechſelung logifcher Gedankenzergliederung mit der Unterfuchung 
der Sache ebenfo wenig in Bezug auf die Form des Urtheils, 
als Platon fie in Bezug auf die des Begriffs vermieden hatte. 

Im Urtbeil verbinden wir zwei Borftellungen durch eine 
dritte; wir laſſen einen Gegenftand eine Eigenfchaft haben, oder 
einen Zuftand erleiden, oder eine Thätigfeit äußern. So lange 
diefe Prädicate als unveränderliche, zu dem Beltande des Sub- 
jects ein für alle Mal gehörige gelten, fo lange erzählen wir 
im Urtheil fein Gefchehen, ſondern zerglievern nur unfere Vor⸗ 
ftellung von einem ſich gleichbleibenden Inhalt; und fo lange 

14 


212 


kann e8 und entgehen, daß eine bejondere Frage daranf gerichtet 
werden müßte, was denn eigentlich in dem Gegenftande felbft 
demjenigen entſpricht, was wir mit offenbar bilblichen Aus- 
drüden fein Haben einer Eigenſchaft, fein Erleiden eines Zu- 
ftandes oder fein Aeußern einer Thätigleit nennen. Wenn wir 
dagegen ein Subject .veränderlid, Brädicate annehmen oder ver- 
lieren oder die früheren ändern laffen, wenn wir alfo ein Ereig- 
niß erzählen, da haben wir ein deutlicheres Intereſſe daran, zu 
willen, was eigentlich dem Subjecte, dem Gegenſtande ſelbſt, 
widerfahren fein muß, damit unfer ihn abbildender Gedanke 
berechtigt fei, ihn jetzt durch eine zweite Vorftellung zu denen, 
welche durch Hinzufligen neuer, durch Hinweglaffung alter Merk⸗ 
male aus der vorigen Borftellung deflelben Gegenſtandes entftan- 
den iſt. Man wird fchmwerlich finden können, daß die ariftotelifche 
Bhilofophie dieſes Bedürfniß zu befriedigen gewohnt ift. Viel⸗ 
befchäftigt mit den Begriffen der Veränderung und des Werden 
kommt fie über der Zergliederung derjelben zu Feiner Unterfuchung 
deſſen, mas uns berechtigt, fie anzuwenden. Wir hören wohl, 
daß in. der Beründerung immer Entgegengeſetztes in einander 
übergehe; einen Augenblid lang hoffen wir, daß Diefe Bemer- 
fung wenigftens den Weg und die Richtung, welche das Werben 
nimmt, als eine aus bloßem Denken nicht erzeugbare Wahrheit 
unmittelbar der Natur der Dinge abgelaufcht habe; es kommt 
jedoch bald Heraus, daß Nichts weiter gemeint war, als daß 
natürlich Nichts dasjenige werden kann, was es jchon ift, ſon— 
dern nur das, was ed noch nicht if. Dieſe etwas unbefrie= 
digende Belehrung zergliedert alfo nur unfere Borjtellung vom 
Werden und erörtert, daß in ihr zwei verfchiedene Einzelvorftel- 
lungen einander fo folgen, daß, wenn die eine kommt, die andere 
geht. Aber was ift das, mas im Sein, in der Wirklichkeit 
diefer. Abfolge unferer Borftellungen fo entjpridt, daß wir glau⸗ 
ben können, es durch diefelben abgebildet zu haben? Wir erfah- 
ren es nicht; die Umgeftaltungen, welche unfere Borftellung eines 
Dbject8 erleidet, wenn das Object fich ändert, merden Doch zu= 








213 


legt fo angejehen, als jeien ihnen die Aenderungen des Objects 
felbft, von denen fie abhängen, ganz ähnlich, und als könne ihre 
Kenntniß die der leteren mit erjegen. Wenn ein weißer Gegen⸗ 
ftand ſchwarz wird, fo heben wir in unferm Vorftellen aus dem 
Mofaikbild von Merkmalen, welches fein Denkbild war, gleichſam 
den Stift der weißen Farbe aus und erfeßen ihn durch den Stift 
der fchwarzen; fragen wir num, was dem Gegenftande felbft 
begegnete, damit wir fein Bild jebt durch dieſe Aenderung wieder 
ähnlich machen können, fo war es im Grunde ganz baffelbe: 
die Weiße ift aus ihm fortgegangen und die Schwärze fam an. 
Daß an der Sache die Eigenschaften ganz anders haften 
und zufammenhängen, als die Merkmale oder Theilvorftellungen 
. an dem Begriff der Sache: Davon mag bin und wieder wohl 
theoretifch eine Ahnung ausgefprochen fein, aber ohne alle durch⸗ 
greifende Wirkung auf die Praris der philofopifchen Unterfuchung. 

Die berühmten Begriffe von Dynamis und Energie, als 
Potenz und Actus noch jetzt Schoßkinder des philofophiichen Di- 
lettantismus, führen die Unfruchtbarkeit folcher Betrachtungen 
ſyſtematiſch in die Unterſuchung aller Gegenftände ein. Gebt ein 
Ding aus einem Zuftande in einen andern liber, fo liegen die: 
erzeugenden Bedingungen des fpätern Zuftandes nie ganz, aber 
ftet8 zum Theil in dem früheren; hätten fie ganz in ihm 
gelegen, jo wiirde Ddiefer frühere von allem Anfang nicht gewefen 
fein und der fpätere gleich ftattgefunden haben, ohne erft ent⸗ 
fteben zu müflen; da fie nur theilweis in ihm lagen, fo batte 
nun der frühere Zuftand etwas in fih, was den jpätern mit- 
begründet, ohne ihn Doch ſchon zu verwirklichen. Bergleichen wir 
nun beide, jo läßt die Gewandtheit unſers Denkens es fich nicht 
nehmen, die Möglichkeit der zukünftigen Entjtehung des zweiten 
Zuftandes gleich als ein ſchon vorhandenes Merkmal in den erften 
zu verlegen. Die fehwerer zu bebandelnde Natur eines fo ab- 
ftracten Begriffes, wie der der Möglichkeit, verdedt hier die Un— 
fruchtbarfeit dieſes Spieles, die in andern ähnlichen Beifpielen 
ſehr auffällig if. Wenn b größer al8 c und Kleiner als a ift, 


214 


fo hat das Alterthum auch diefe Beziehungseigenfhhaften, Die dem 
b nıtr in unferem Denken bei feiner Bergleihung mit a und ce 
als neue Ausdrücke fir feine ftets fich felbft gleiche Größe zu= 
wachſen, al8 urfprünglid in b vorhandene Merkmale angefehen, 
und fi) vielfach gewundert, daß dann b zugleich ein Größeres 
und ein Kleineres fei. Die Möglichfeit oder Dynamis des ſpä⸗ 
teen Zuftandes ift in dem früheren auf feine tieffinnigere Weile 
enthalten. Die wahre Aufgabe, die das Erkennen bei der Ber- 
gleihung beider zu löſen hat, ift Die beftimmte Bezeichnung defien, 
was der frlihere Zuftand war, und der Nachweis, daß er um 
deöiwillen, was er war, ein Theil jenes Kreiſes von Bedingungen 
war, welcher durdy den Hinzutritt anderer Bedingungen verboll- 
jtändigt, fpäter den ganzen Grund des zweiten Zuftandes bilden 
half, fpäter daher dieſen Zuftand verwirklichen Tonnte, früher 
nicht Tonnte, fo ange jene ergänzenden Bedingungen fehlten. 
Eine völlig nußloje, Die eigentlichen Aufgaben der Erfenntniß 
hinmwegtäufchende Rede ift e8 dagegen, zu jeder ſpätern Wirklich⸗ 
feit nur eine entiprechende Möglichkeit iiberhaupt voraudzufegen, 
ohne nachzuforfchen, welche wirklichen bereits beitehenden That— 
fahen es find, auf denen dies Eintretenfünnen des Späteren 
beruht. Ä 
Man kann einwenden, daß Dynamis und Energie oder Ente⸗ 
lechie Doch nicht bLo8 die mageren Begriffe von Möglichkeit und 
Wirklichkeit, ſondern tiefer gefchöpfte Anfchauungen find. Es ift 
wahr: wie Platons Ideen bald jeden Begriff als folchen, bald 
eine Auswahl fein follender Mufterbegriffe bezeichneten, eben fo 
wird die allgemeinere Bedeutung jener Kunſtausdrücke, die aus 
Aristoteles eignen Erläuterungsbeifpielen folgt, auf gewiſſe jach- 
lich bevorzugte Fälle eingefchränft. Nichts würde 3. B. hindern, 
au) den Ruheſtand eines Syſtems von Elementen als feine 
Entelechie, die zu ihm führenden Bewegungen als die Diynamis 
zu faffen, in der die Ruhe noch unwirklich Thon vorhanden ift. 
Aber dies ift nicht im Sinne des Ariftoteles. Lebendigkeit allein 
gilt dem Gemüth, das fich jeßt feiner fachlichen Vorausfegungen 


215 


über den Werth der Dinge erinnert, als die einzige fein follende 
Wirklichkeit, Unthätigleit nur als die noch verhüllte Bewegung. 
Mit dem Begriff der Dynamis als einer Möglichkeit, die an fich 
jelbft nicht nothwendig Fähigkeit zum Thun, fondern auch zum 
Nichtsthun fein könnte, verfchmilzt daher der Begriff der Kraft, 
die nicht mehr blos Möglichkeit, fondern Trieb zur Bermwirk- 
lichung, lebendiges Bermögen ift. Aber diefe Umgeftaltung des 
Begriffs macht ihn wohl verführerifcher, Doch nicht fruchtbarer; 
fie verleitet um jo mehr, fidy mit Aufflärungen zu begnügen, die 
feine Aufflärungen find. Die Seele ift in dieſem Sinne Die 
Entelechie des organifchen Leibes. Ueberſetzen wir dies jo, daß 
Alles, was im Körper als thatjächliches Verhältniß der Elemente 
feines Baues gegeben tft, im Seelenleben nad feinem Werth, 
feiner Bedeutung und feinen möglichen Folgen theild in bewußter 
Wahrnehmung, theils in Gefühlen der Luft und Unluſt, theils 
in willfürlicher Regſamkeit benugt verinnerlicht oder genoffen 
wird: jo enthält diefer Sag die Aufgabe, aber nicht Das gejuchte 
Refultat der Pſychologie. Denn daß es ſich fo verhält, wie er 
fagt, wiſſen wir ohne Philoſophie alle; das Gejchäft der Unter- 
fuchung beginnt erſt da, wo diefe Yormel endet: wir wollen 
wiffen, durch welche Verkettung beftimmter und nachmeisbarer 
Wechlelmirkungen jene Thatfache des Umfegend der organijchen 
Aeuperlichkeit in geiftige Inmerlichkeit zu Stande kommt. In 
ähnlicher Weife werden und nur zu oft logische Zergliederungen 
und Bergleihungen unferer Begriffe für fachliche Erklärungen 
ihres Inhalts angeboten. 

Theorien, die einen Kreis mannigfacdher Erfcheinungen durch 
Unterordnung verjchiedengeftalteter Umftände als Folgen allge- 
meiner Geſetze oder als Abwandlungen typifcher Mufter darftellen, 
hat das Altertum nicht nennenswerth auögebildet. Die Ber- 
wechſelung des Logifchen und des Metaphufifchen, die wir in Bezug 
auf Begriff und Urtheil fchon dort bemerkten, treffen wir des- 
halb in Bezug auf den Schluß und die fyftematifche Verknüpfung 
der Dinge erft fpäter in Blüthe. Denn allerdings werden aud) 


216 


diefe Fehler gemacht: die Formeln, die eine Berechnung der Er⸗ 
eigniffe auseinander geftatten, werden uns ald Nerven des inner- 
lichen Zufammenhanges im Gefchehen dargeftellt; die claffifica- 
torifche Ordnung, die und die Meberficht des Gegebenen erleich- 
tert, gilt häufig als der weſentliche Sinn des Dafeienden felbft; 
die Einreihung eines Inhalts an feinen fuftematifchen Ort, auch 
wo fie Nichts zu feinen fonft bekannten Eigenfchaften Hinzufügt, 
erſcheint nicht felten an fich ſelbſt als Zuwachs fachlichen Wiſſens; 
das ganze Fangnetz der Methode wird unmittelbar für die eigne 
Gliederung des Gegenftandes genommen, und nicht wenige philos 
fophifche Arbeiten halten die Gruppirung der Aufgaben fir bie 
Löſung bderfelben. 

Diefe Art der Ueberſchätzung logiſcher Formen ift vielleicht 
nicht die unſchädlichſte, aber die entſchuldbarſte. Wer die Be- 
ziehungen unferer Borftelungen im Begriff und Urtheil für wirk- 
liche Berhältniffe im Borgeftellten nimmt, fieht fiir einen Vor⸗ 
gang in den Dingen an, was fich feiner Natur nach in ihnen 
fo nicht ereignen kann, und irrt ſich völlig. Wer Dagegen einen 
Zufammenhang gefeglicher oder fuftematifcher Ordnung, den er 
auf das Gegebene iibertragen kann, für das wirklich bedingende 
Princip der objectiven Verknüpfung der Dinge anfieht, überſchätzt 
nur die Bedeutung einer fomohl ihrer Form als ihrem Inhalt 
nad gültigen Behauptung. Denn was die Form betrifft, fo 
zweifelt niemand, daß die Form des Gefeßes und der fyftemati- 
[hen Ordnung für den innern Zufammenhang der Wirklichkeit 
eben fo gültig und bindend ift, wieflir die Verknüpfung unferer 
Borftelungen; es fragt fich alfo nur, ob der Inhalt der von 
und angenommenen Gefege und Ordnungen gleichen Anſpruch 
auf objectiven Werth befige. Iſt nun a das und unzugängliche 
Princip, das als wirklicher bedingender Geſichtspunkt den Er— 
ſcheinungen m, n, o zu Grunde liegt, b aber ein unferer Beob- 
achtung zugänglicher Umftand, der als nothwendige Folge oder 
fonftwie mit a untrennbar verfnüpft ift, fo kann e8 uns gelingen, 
m, n, o auch al8 abhängig von b darzuftellen und dabei in be- 





217 


ftändiger Uebereinftimmung mit dem Gegebenen zu bleiben. Das 
Gefeß, welches diefe Abhängigkeit ausfpräche, wiirde vollfonmen 
gültig fein, obwohl e8 nicht in höherem Sinne wahr wäre, denn 
ed würde die Erfcheinungen nicht von ihrem wirklichen höchſten 
Princhp, fondern gleihjam von einem Bafallen deffelben ableiten. 
Diefe Giiltigleit aber, und nicht jene Wahrheit, fchreiben wir im 
Allgemeinen den. Öefegen und claffificatorifchen Ordnungen ber 
Wiſſenſchaft zu; im praktiſchen Gebrauch follen fie uns nur dienen, 
bon einem gegebenen Anfangspunkt zu einem Endpunkt zu führen, 
in welchem wir wieder mit dem Gegebenen zujammentreffen. Es 
ift unmefentliche Zugabe, wenn Jemand meint, durch das Gefek 
zugleich den eignen Berlauf der Wirklichkeit zwifchen jenen Punkten 
mitbeftimmt, oder durch das Syſtem den eignen innern Zufam= - 
menhang ded Mannigfaltigen ausgebrüidt zu haben. Da man 
bald Sieht, daß viele Gefege fich nach der Wahl des eingenom- 
menen Gefichtspunftes verjchieden ausdrücken, und daß Ddiefelbe 
Gruppe von Erfcheinungen fich in verfchienenen Claffificationen 
gleich bedeutfam anordnen läßt, fo gibt man diefen Anfpruch 
leicht auf. Man hält keine diefer Formen und Gefeße ausfchließ- 
‘Gh für die wahre Ordnung der Dinge, fondern begreift die 
MWirklichleit als ein Ganzes, das für ſehr verjchiedene Stand- 
punkte ſich in immer andern, aber immer gefeglichen Zufammen- 
hängen darftellt. Der Wanderer, der einen Berg umgeht, fieht, 
wenn er wiederholt vor= und zurück⸗, auf= und abwärts gebt, eine 
Anzahl verfchiedener Profile des Berges in vorausfagbarer Orb- 
nung wiederkehren. Keines von ihnen ijt Die wahre Geftalt des 
Berges, aber alle find gültige Projectionen derfelben. Die wahre- 
Geftalt felbft aber würde, eben fo mie alle jene fcheinbaren, in 
irgend einer Lagerung aller feiner Punkte zu einander beitehen. 
Diefe eigene Geftalt, der wirkliche innere Zufammenhang der 
Dinge läßt fich vielleicht auch finden, und gewiß würde man 
dann diefe wahre objective Gefeß der Wirklichkeit allen abgelei= 
teten und nur gültigen Ausdrücken defjelben vorziehen; einftweilen 
tröften wir uns mit diefer Natur der Wahrheit, daß fie unzählige 


* 


218 


ſcheinbare Geſtalten ihrer ſelbſt und ein gültiges Hin= und Her- 
gehen der Erkenntniß zwifchen dieſen möglich macht. 


In freier Phantafie hatte zuerft die Mythologie eine Welt 
wahrbaftes Seins zu der Welt der Erfcheinungen, die räthjelhaft 
geworden war, binzugefchaffen; entfagender hatte darauf die Re— 
flerion der vielfeitiger geübten Bildung eine Natur der Dinge 
geahnt, die fich nicht durch Dichtung in ihrem Mittelpunkt er- 
faffen, fondern nur an ihrem äußerften Umfang durch finnige 
Bergleichung des Gegebenen hie und da berühren ließ; endlich 
hatte die erwachende Wifjenfchaft das ungemwiffe Taften diefer Ver⸗ 
fuche durch eine methodische Unterfuchung erjegen wollen, Die von 
klarem Bemwußtfein liber die Bedingungen geleitet würde, unter 
denen unfere Gedanken Wahrheit enthalten können. Auf diefem 
für alle Zukunft eroberten und nicht wieder aufzugebenden Stand⸗ 
punkte war das menjchliche Wifjen durch mangelhafte Einficht in 
fein eignes Verhältniß zu der Natur der Dinge, Die es juchte, 
aufgehalten worden und hatte den Berwegungen des Denkens eine 
nicht vorhandene fachliche Bedeutung zugefchrieben. Erſt ſpät ift 
diefer Fehler wenigſtens in einigen Gebieten der menſchlichen Er- 
fenntniß deutlich empfunden und vermieden worden; niemalshaben 
allgemein die alten Irrthümer aufgehört, und nie hat e8 an ſcharf⸗ 
finnigen Geiftern gefehlt, die von dem edlen Roſt des Xlter- 
thums beftochen, welcher fie liberzieht, gerade in ihnen die Gold- 
körner einer heilig zu überliefernden und weiter zu entwidelnden 
Wahrheit erblidtn. 

Schon das Alterthbum ſelbſt hat die Frage nach der Wahr- 
heitöfähigleit unferer Erkenntniß zum Gegenftand ſehr umfäng- 
licher vielfach wiederholter Weberlegungen gemacht. Aber fie 
endeten in Skepticismus, nicht in einen pofitiven Fortjchritt; 
und jelbft in den Gründen, mit denen fie jene Wahrheitsfähig- 
feit beftreiten oder doch anzweifeln, verrathen fie häufig wieder 


219 


die Gewohnheit, Iogifche Beziehungen zwiſchen unfern Begriffen 
der Dinge für reale Zuftände der Dinge felbft anzufehen und 
dadurch Schwierigkeiten neu zu fchaffen, Die einer richtigeren Vor⸗ 
ausſetzung nicht begegnen würden. Ein erneuter und ſehr mäch- 
tiger Antrieb zur Fortfegung diefer Unterfuchungen entftand in 
der Gedankenwelt des Chriftentbums, als dieſes feinen erlebten 
Slaubensinhalt theild im Streit mit der heidnifchen Bildung, 
theils in natitrlicher Folge des unverlöfchbaren menfchlichen Er⸗ 
fenntnißtriebes, mit der Sinnesweife des weltlichen Willens zu 
vermitteln hatte. 

Der Gegenfaß der Welt. des Scheine zu der des wahr- 
haften Seind war im Altertum meift aus theoretifchen Motiven 
hervorgegangen, und zwar war e8 das wahrhaft Seiende, von 
dem fich bier das menfchliche Wiflen, das in ihm Nicht! weiter 
fuchte, al8 feine eignen Begriffe, eine genaue nnd klare Erfennt- 
niß zufchrieb; die Welt der Erfcheinungen überließ man ber 
Ihmanfenden und ungemiflen Meinung. Das Chriftenthum ent= 
widelte jenen Gegenſatz faft allein aus fittlichen Gefichtspunlten; 
nicht unbelannt, nicht inhaltlos, nicht ein Gegenftand des Suchens, 
jondern befannt durch die Offenbarung und erlebt im Glauben 
trat vor dem Bemwußtfein die Welt des wahrhaften Seins in 
ihrer Heiligkeit und Majeftät der Schöpfung gegenüber. Aber 
befannt und offenbar doch auch nur in dieſer ihrer Herrlichkeit, 
nicht in den Geheimniffen ihres Baues; ihrem Werthe nach dein 
Gefühl erlebbar, aber dem Denken fchwer faßbar, das die Be- 
ziehungen zu ermitteln fuchte, auf denen diefer Werth berubte. 
Und doch war diefe Aufgabe dringender als je; die wahre Welt 
war nicht mehr ein Feittagsgedanfe der Muße, dem man nach— 
hängen mochte oder nicht; je mehr fie dem Leben Aufgaben ftellte, 
um fo unerläßlicher war e8, ihren Zuſammenhang mit der All- 
tagswelt des Scheines zu fuchen, die man nicht mehr al8 Gegen⸗ 
ftand veränderlicher Meinung dahingeftellt laſſen fonnte, ſondern 
als das irdifche Arbeitsfeld des Geiftes zu durchforſchen batte. 
Diefer neue Ernft unterfcheidet die Unterfucdhungen der chriftlichen 


220 


Zeit; troß aller ſich mehrenden Ungelenfigfeit des Denkens er- 
fcheinen fie der vielfeitigen Gewandtheit des Alterthums gegen- 
über wie eine Lebensarbeit im Vergleich zu einem edlen Spiele, 
da8 die menſchliche Muße verfchönert. Faft durchaus mit Der 
ſchwierigſten Aufgabe befchäftigt, die unfer Denken fich ftellen 
fann, mit der Frage nach dem Zufammenhang der Welt der 
Werthe mit der Welt der Thatfachen, hat diefe langdauernde und 
große Anftrengung des menjchlichen Geiftes allerdings ihre Ziele 
nicht erreichen Innen, und Durch dieſe vorwiegende Richtung ihres 
Strebend wurde fie abgehalten, den Heberzeugungen eine pofitive 
Folge zu geben, welche fie itber das Verhältniß des Denkens zu 
dem Sein entwidelte. : 
Gewiſſen und Offenbarung bielten dem Berwußtfein Ideale 
des Handelns und des Dafeind vor, deren Wahrheit und ewige 
Gültigkeit in allem Schwanfen der menfchlichen Bernunft als der 
erfte und einzige feite Punkt erjchien; aber der Berfuch, den In⸗ 
balt diefer unmwiderruflichen Forderungen in Einklang mit den 
Denfformen zu feben, nad) denen wir die Wirflichfeit und ihren 
Zufammenhang zu faflen genöthigt find, entbedte die Unmöglich- 
feit, mit dieſen Mitteln dem an fich feſtſtehenden Ziele nahe zu 
fommen. Eine Menge Dogmen enftanden, in melden die tiefe 
Ueberzeugung von dem Werthe und der Wahrheit einer Anſchau⸗ 
ung, die man weniger bat, al8 fucht, mit der Unfähigkeit des 
Denkens ringt, das, was gemeint und gefucht wird, widerſpruchs⸗ 
los auszudrüden. Aber nicht dem Sein wird diefe Berworren- 
heit zur Laſt gelegt, fondern dem Erkennen; Behauptungen von 
der völligen Unerlennbarfeit Gottes, übertriebene Ausfprliche, 
welche das Kennzeichen der Wahrheit in der Wiberfinnigfeit 
ſuchen, bezeichnen gleichmäßig die Heberzeugung, daß zwar der 
Werth und Die wefentliche Wahrheit der höheren Welt im Glau- 
ben offenbart jet, aber der öfonomifche Zufammenbang, den fie 
in ſich felbft und mit dem irdiſchen Dafein hat, dem Wifjen un- 
erreichbar bleibe In der befchränkteren Frage nach der Geltung 
der allgemeinen Begriffe, welche zwilchen den verfchiedenen nomi- 


221 


naliftiihen und realiftifchen Parteien verhandelt wurde, treten 
diefe Unterfuchungen in engere Verknüpfung mit den Fragen, Die 
wir biöher betrachteten. Sind die allgemeinen Begriffe der Arten 
und Gattungen vor den Dingen ald ewige Muſterbilder, nad 
denen Gott Diefe gebildet, oder find fie in unferem Berftanbe 
nach den Dingen entitanden und leere Namen, die Nichts be= 
deuten, oder find fie, ohne das Wefen der Dinge als ihre Bor- 
bilder zu enthalten, doch jo in den Dingen, daß fie in Folge 
deſſen in uns als gültige Auffaffungsweifen derfelben entſtehen 
fonnten? Auch diefe letzte Meinung hat nicht gefehlt; aber der 
Keim des Richtigen, den fie enthielt, blieb unentwidelt; theils 
wandte die überlieferte Gemöhnung der unergiebigften Denkform, 
der des Begriffs, faft ausfchlieglich die Aufmerkfamkeit zu und 
309 fie von der Betrachtung des Urtheils und Schluffes ab, deren 
Weile, den Inhalt zu verknüpfen, den Unterfchiev einer Geltung 
der Wahrheit vor ihrer Identität mit dem Gegenftand deutlicher 
gemacht hätte; theils war die Unterfuchung der äußeren Erfah- 
rungswelt zu wenig fortgefchritten, um mit der erläuternden Kraft 
ihrer Analogien dem abftracteren Gedantengange beizuftehen. Erſt 
das Ende des Mittelalters ſah dieſe neue Form der Wiffenfchaft 
entjtehen, die, wohl würdig und beftimmt, aller Yorfchung eine 
neue Geſtalt zu geben, lange Zeit doch auf das Gebiet der Natur 
befchräntt geblieben if. Die Achtung vor der Erfahrung, der 
Begriff des allgemeinen Gefeßes und die Entfagung, in der ge- 
nauen Unterfuchung der Beziehungen zwifchen den Erfcheinungen 
einen Erſatz für die aufzuopfernde Erkenntniß des Weſens der 
Dinge zu fehen, bezeichnen den eigenthiimlichen Geift der neuen 
Richtung. j 

Dem Leben, das in der gegebenen Welt fich zurecht finden 
muß, batte die Erfahrung freilich nie gleichgültig fein können 
und die gering geachtete Weisheit des täglichen Verkehrs hatte 
ihr auch im Alterthum genug abgewonnen; aber die vornehmere 
Weisheit, die in den Schulen fich fortpflanzte, war in ihren Ber- 
juchen, die Welt im Denken nachzufchaffen, nicht darauf bedacht 


222 


geweien, durch Beobachtung und Verſuch die Geltung ihrer Bors 
ausfeßungen in der gegebenen Wirklichkeit nachzumweifen; es ge⸗ 
nügte, daß fie fich vor den Denken rechtfertigten, und der Schluß 
von der Denkmöglichkeit einer Behauptung auf ihre Geltung im 
BZufammenbange der Welt erregte felten Bedenken. So erfannte 
man zwar eine Natur der Sache an, Die den Gegenftand bes 
Willens bilden follte, aber ihren Inhalt beftimmte man einfeitig 
nach dem Wahrjcheinlichleitägeflihl des fubjectiven Denkens. Es 
liegt unftreitig eine tiefere Achtung vor der Wahrheit in dem 
neu gewonnenen Bewußtfein, daß zu ihrem Nachweis die Denk⸗ 
möglichkeit eines Gedankens durch den Beweis feiner Macht und 
Geltung in der gegebenen Welt ergänzt werden müffe; man em= 
pfand den Zauber der Wirklichkeit; an die Stelle jener ſeltſamen 
Ueberhebung, mit der das Alterthum durch Die Ausbildung einer 
reinen Gedankenwelt, die feinen Zufammenbang mit der Erfah- 
rung brauchte, etwas zu leiften glaubte, trat ie Meberzeugung, 
nur fo weit Erfenntniß erreicht zu haben, als e8 gelang, die im 
Denken erfaßten Verknüpfungen der Dinge Durch ausgiebige Ueber- 
einftimmung mit dem Beobachteten zu belegen. 

Hierin war die neue Naturforfchung ganz eines Sinned mit 
dem religidfen Nachdenken; fie ftüßte fich auf die äußere finn- 
lihe Erfahrung, ebenſo wie jenes auf die innere des gläubigen 
Lebens; was das Auge fah oder das Gemüth erlebte, ließen fich 
beide durch feine Kunſt des Denkens nehmen oder verkiimmern ; 
mit diefen im Boraus feften und unerjchütterlichen Bunkten mußte 
vielmehr jede Arbeit der Wiſſenſchaft in ihren Ergebniffen ſtim⸗ 
men. Aber die Naturforfchung war im Vortheil gegen die Unter- 
ſuchung des innern Lebens; den Sinnen bot fich eine unermeß- 
liche Mannigfaltigkeit ſehr ſcharf umriffener Erfcheinungen, genauer 
Meſſung zugänglich, nach Schließung leicht erfennbarer Yehler- 
quellen Allen gleichartig wahrnehmbar, in regelmäßigen Abfolgen 
wiederfehrend, die dem innern Zufammenhang entiprachen, durch 
willkürlich berechneten Verſuch von den Zweideutigkeiten befrei- 
bar, welche die Durchkreuzung verfchiedener Ereignißreihen in der 





223 


unmittelbaren Beobadytung übrig läßt. Die Erfahrungen des 
innern Lebens, weder regelmäßig wiederlehrend, nod) ablösbar von 
der unnachrechenbaren Eigenthümlichkeit des perfünlichen Geiftes, 
boten der Forſchung viel größere Schwierigkeiten, und das gläus 
bige Gemüth mußte fi, begnügen, fie im Widerfpruch oder Doch 
ohne hinlänglichen Zufammenbang mit den Anforderungen des 
Denkens feftzuhalten, während der Naturforfhung die Ausbildung 
pofitiver Methoden zur Beherrſchung ihrer Aufgaben gelang. 
Die Verknüpfung der Naturerfcheinungen zu einem zufam- 
mengebörigen Ganzen war auch dem Alterthume eine Lieblings- 
aufgabe; zwei verfchiedene Fragen wurden jedoch von ihm un- 
vortbeilhaft verſchmolzen. Man fuchte zuerjt eine beveutungsvolle 
Urthätigfeit oder eine Urthatſache des Gefchehend zu erfaffen, Die 
eben nicht blos gleichgültige Thatſache war, ſondern zugleich den 
äfthetifchen Eindrud eines in ihr liegenden Werthes machte; aus 
diefem Anfang ließ man die Einzelheiten der Wirklichkeit in einer 
Reihe hervorgehen, deren Ordnung die Doppelte Bedeutung haben 
follte, zu zeigen, theil8 wie ihrem Sinne nach jede Erjcheinung 
eine Yolge früherer, theild mie fie ihrem Zuſtandekommen nad) 
eine Wirkung berjelben if. Diefe Vermifchung idealer Deutung 
der Creigniffe und caufaler Erklärung konnte dem Alterthum die 
Früchte nicht tragen, die fie auch unferer Zeit ftet8 verweigert 
bat. Nur die Atomiftif betrat ſchon unter den Alten einen 
andern Weg; von dem Glück .beglinftigt, das nicht immer dem - 
Würdigften hold ift, haben in ihr untergeorbnete Geifter, weit 
zurüditehend hinter den unvergleichlichen Genien des Platon und 
Ariftoteles, gleichwohl den, fruchtbaren Gedanken gefunden, der 
für die Folgezeit ein bleibender Gewinn fein follte Ich ſpreche 
nicht von dem, was fie unmittelbar iiber die Natur der Dinge 
lehrten, von den Atomen und dem Xeeren und der im meiteren 
Berlauf rohen und ungejchietten Ausmalung diefer Borftellungen 
und ihrer Confequenzen; wichtig find vielmehr nur die metho- 
difchen Grundgedanken ihres Verfahrens. Sie begründeten zuerft 
die Ueberzeugung, daß die Entftehung die Erhaltung die Ber- 


224 


änderung und die Zerftörung der Naturdinge zunächft nicht aus 
Ideen erklärt werden dürfen, al8 reichte ein bedeutungspoller Sinn 
eines Ereigniffes ſchon bin, um es aus einem Poftulat in Wirk⸗ 
lichfeit zu verwandeln, daß vielmehr alles Gefchehen, gleich viel, 
welches fein Sinn und Werth fei, daß alfo Großes und Kleines, 
Edles und Gemeines, Seinjollendes und Nichtjeinfollendes in 
feiner Verwirklichung an die allgemeinen Regeln eines überall 
gleihmäßig wirkenden Mechanismus gebunden fe. Sie gewöhn⸗ 
ten ferner daran, in der umermeßlichen Mannigfaltigfeit matbe- 
matifcher Unterfchiede, denen die Eigenjchaften Zuftände und Be- 
wegungen der Elemente unterworfen fein fünnen, das Mittelglied 
oder die Sammlung unendlich variabler Mittelglieder zu eben, 
die als zweite Prämiſſen den allgemeinen Geſetzen «als erften Prä- 
miffen untergeordnet, diefen nicht nur beftimmte Richtungen auf 
die Begründung mannigfacher Erfolge überhaupt geben, fondern 
auch die ganze befondere Beitimmtheit dieſer Erfolge in jedem 
einzelnen Falle abzuleiten erlanben. 

Die Folgezeit lernte diefe Grundgedanken ausbeuten, indem 
fie die Borftellung . eined allgemeinen Naturgefeged ausbildete. 
Denn obgleich der Begriff des Geſetzes überhaupt nie einem ge— 
bildeten Volke unbelannt geweſen fein konnte, fo erforderte doch 
feine Anwendung auf die Unterfuchung des Seienden eine be= 
fondere Ausprägung, die ihm fpät zu Theil wurde. Stehen zwei 
reale Elemente in Beziehungen zu einander, welche fo veränder⸗ 
ih find, daß die verfchiedenen Werthe derfelben nach einem ge= 
meinfamen Maßftabe meßbar find; können ferner jene Elemente 
Zuftände oder Eigenfchaften erfahren, oder annehmen, die gleiche 
fall8 veränderlich Reihen von vergleichbaren Gliedern mit meß— 
baren: Unterfchieven diefer Glieder bilden; ift endlich überhaupt 
mit der Aenderung jener Beziehungen eine Aenderung in den 
Zuftänden oder Eigenfchaften der Weſen verbunden: ‚fo wird es 
entweder eine conftante Formel geben, nach welcher unmittelbar 
die Größe der Aenderung der Zuftinde von der Größe der 
Aenderung in den Beziehungen abhängt, oder eine andere con=. 


225 


— 


ſtante Formel, nach welcher der Maßſtab dieſer Abhängigkeit felbft 
geſetzlich mit der Veränderung irgend einer abſtuſbaren Bedingung 
wechſelt. Dieſer allgemeine Ausdruck, auf welchen jedes Natur⸗ 
geſetz zurückführbar fein würde, läßt uns deutlich die Be⸗ 
ſchränkungen ſehen, welche die Wiſſenſchaft ſich ſelbſt und ihren 
Aufgaben und Leiſtungen auferlegt. 

Zuerſt ihre Abhängigkeit von der Erfahrung. Denn ſie 
weiß nicht zu errathen, welche Elemente und welche Beziehungen 
zwiſchen ihnen der Weltlauf beſitzen müſſe; ſie erwartet darüber 
von der Beobachtung belehrt zu werden, und will ſelbſt Nichts 
ſein, als eine Entwicklung der Folgen, die nothwendig werden, 
wenn Umſtände thatſüächlich eintreten, die ohne Denkwiderſpruch 
ausbleiben konnten. Und es reicht nicht bin, dag die Erfahrung 
ihr beitimmte Elemente in beftimmten Beziehungen zeigt; denn 
auch das, was unter diefer Bedingung gefchehen muß, hat fie 
fein Mittel zu errathen; wieder die Erfahrung erſt lehrt fie, 
welche Art der Aenderung in den Zuftänden der Dinge durch 
das Vorhandenſein diefer beftimmten Beziehung überhaupt erzeugt 
wird, und erft die Vergleichung vieler Beobachtungen führt zur 
Kenntniß des allgemeinen Gejeßes, nach welchem bie Werthe 
diefer Folgen von denen ihrer Bedingungen abhängen. 

Aber der Befig eines allgemeinen Geſetzes wäre werthlos, 
follte e8 nur dienen, ihm die Einzelfälle wieder unterzuordnen, 
aus denen man ed abſtrahirt hatte. Darauf kommt es vielmehr 
an, den ganzen mannigfachen Inhalt jeder zufammengefegten Er- 
fcheinung zu begreifen, To wie fie im Lauf der Begebenheiten aus 
der Durchkreuzung vieler. verjchievenen Bedingungen verlinderlich 
entjteht und vergeht. Die Löſung diefer Aufgabe kann die Wiffen- 
ſchaft nicht durch Berücfichtigung defjen verfuchen, mas der Natur 

der Dinge innerlich Noth thut, was in den Bedürfniſſen ihrer 
Entwidlung oder in dem vernlinftigen Plane des Weltganzen 
liegt; fie weiß nicht, was in ‚allen diefen Beziehungen Rechtens 
ift. Aber fie weiß, daß das unbekannte innere Weſen der Dinge, 


fo weit es einmal in Eigenfchaften und un zu Tage 
Soße, III. 3. Aufl. 


226 


tritt, die nad) Größenverhältniffen vergleichbar find, auch die 
Folgen unvermeidlich tragen muß, die Allem, was einmal Größe 
ift, ans der Summirung des Gleihartigen, der Aufhebung Des 
Entgegengefegten, der Verſchmelzung des Berfchiedenen zu mitt- 
leren Ergebnifjen begegnen müſſen. An diefem zugänglichen Punkte 
allein faßt die Wiffenfhaft das Wirkliche, und Iegt fich deshalb 
die andere Beſchränkung auf, nur eine mathematifche, feine fpe- 
culative Entwidlung des ©egebenen zu fein. An eine einzelne 
Beziehung knüpft ſich thatfächlich, der Größe nach von ihrer 
Größe abhängig, in feiner Entftehung unverftanden, ein be— 
ftimmter Erfolg; durchkreuzen fich mehrere ſolche Beziehungen, 
fo leitet die Wiflenfchaft als Effect diefer Durchkreuzung eine 
neue Beziehung ab, aus der ein neuer, nach Form und Größe 
vorausbeſtimmbarer, feiner Entftehung nach gleich. unbekannter 
Erfolg hervorgeht. So ift die ganze Theorie ein Berjuch, wie 
weit fi), ohne auf die innere Natur der Dinge und ihre Be⸗ 
ftimmung einzugehen, aus empirifch erkannten beftändigen Be- 
ziehungen unbetannter Elemente die Ordnung des veränderlichen 
Weltlaufs begreifen läßt, die aus ihrem mechfelnden Ineinander⸗ 
greifen entjpringt. So weit Beränderlichkeit in den Ericheinungen 
reicht, iſt für fie jedes Ereigniß ein Erfolg, deſſen erzeugende 
Bedingungen fie auffucht; jobald fie Thatjachen und Beziehungen, 
die unveränderlich find und immer gelten, entweder in der Be- 
obachtung antrifft, oder als die. zur Erflürung des Gegebenen 
binlänglichen Borausfegungen erfindet, fieht fie in dieſen Die legte 
Grundlage, welche ihren Unterfuchungen genügt. Sie verfucht 
nicht, auch dieſes letzte Wirfliche noch abzuleiten, denn das Ge- 
biet des Gaufalnerus, welchem allein fie folgt, endet, wo das 
Werden endet; der Zufammenhang, den darliber hinaus die un- 
veränderlichen Elemente der Wirklichleit noch hätten, Fünnte nur 
ein foldher fein, der Die Ordnung und Verknüpfung derjelben Durch 
den Werth ihrer vernünftigen Bedeutung rechtfertigte. Einen fol- 
hen Zufammenhang zu leugnen, hat fie nicht die mindefte Ber- 
anlaffung, aber nicht auf ihn beziehen ſich ihre Unterfuchungen, 


227 


jondern auf die mirkfame Delonomie, durch welche die Erſchei⸗ 
nımgen in jedem alle verfnüpft fein müſſen, ſowohl wenn eine 
vernlinftige Idee der Welt Aufgaben ftellt, als dann, wenn ohne 
Ziel alles Gefchehen blos durch rückwärts Tiegende Urfachen in 
Bewegung gejekt wird. 

Als diefe Gedanken allmählich ausgebildet waren, hatte fich 
Manches umgekehrt. Die Welt der Erjcheinmgen, einft der 
Segenftand trüber veränderliher Meinung, war das Arbeitsfeld 
der genaueften Forſchung geworden. Platon und Ariftoteles 
hatten gegen Heraflitö Lehre vom ewigen Fluß der Dinge, die 
ihnen mit Unrecht zugleich alle Geltung einer feiten Wahrheit 
aufzuheben ſchien, darin lbereingeflimmt, daß e8 nur von dem 
ewig fich ſelbſt Gleichen eine Wiſſenſchaft gebe; die neue Zeit 
bob das Entgegengejegte hervor: nur jo weit es veränderlich if, 
hat das Wirkfiche Interefje für die Wiffenfchaft; von dem ewig 
ſich Gleichen gibt e8 nur eine Kenntnignahme; nicht in Geftalt 
einer rubenden Ordnung, in welcher das Bejondere dem All- 
gemeinen untergeordnet ftillfteht, haben Die ewigen Wahrheiten 
Werth, fondern nur als Principien eined Werdens, in weldyem 
Die Dinge, ihnen gemäß, ihre Zuftände wechleljeitig ändern. In 
diefem Gegenfage, deflen Andeutung hier nicht gegen jedes Miß— 
verftändniß geſchützt werden kann, liegt der wejentliche Fortſchritt 
der neuen Wifenfchaft; in dem Eingeftändniß, nur Erjcheinungen 
aus Erjcheinungen zu entwideln und dem Wefen der Dinge völlig 
fremd zu bleiben, die Einſchränkung, unter welcher jener Yort= 
ſchritt anzuerkennen if. Zu ſchildern, was auf Diefem Wege 
geleiftet worden ift, würde eben fo unnöthig als unmöglich fein; 
nicht allein die Naturfenntniß, auch die Unterfuchung des geiltigen 
und des gefelligen Lebens hat den Einfluß der neuen Gedanten- 
welt erfahren; auch da, mohin fie noch nicht mit allen inhalt- 
volleren Mitteln ihrer Forſchung reichte, hat fie wenigſtens bie 
Methoden und den Geift ihrer Unterſuchung bereitd einheimiſch 
gemacht. Die vielfältigen Berfahrungsweifen der Induction, die 
feinen Kunftgriffe des Experiments, der fruchtbare Scharfjinn der 

’ 15* 


228 


MWahrfcheinlichfeitsrechnung bilden den Schatz einer erfinderifchen 
und werkthätigen Erkenntnißkunſt, den der energifche prometheifche 
Geift der neuern Zeit der nicht minder bewundernswürdigen 
Schöpfung der antiken Logik hinzugefügt bat. Mit diefen Mit- 
teln fchreitet die Wifjenfhaft vorwärts, während leider die Ueber- 
Lieferung der philoſophiſchen Schulen wenig von ihnen weiß, fich 
mit beftändiger Neuliberlegung der alten Weisheit begnügt, und 
die Probleme zur Seite fhiebt, zu deren Förderung diefe nicht 
ausreicht. Und endlich, auch für Die Betrachtungen, die wir 
iiber das Ganze der Welt, über den Sinn ihrer Ordnung und 
das wahrhafte Sein fortgeführt wünfchen, find Doch dieſe Unter- 
fuchungen, die zunächſt nur den Erfcheinungen galten, nicht un— 
fruchtbar geblieben. Der empirifchen Forſchung und ihrer matbe- 
matifchen Auslegung verdanken wir im Oegentheil Die einzigen 
fiheren Anſchauungen liber die Größe und die Gliederung des 
Weltbaus, über den Zufammenhang der Wirkungen, der in ihm 
in der That ftattfindet, über den in fich gejchloffenen Kreis ein-. 
ander ausgleichender Vorgänge, die wirklich verlaufen; ungedeutete 
Thatfachen immerhin, aber Thatfachen, deren Kenntniß auch ber 
Philoſophie eine ganz andere Unterlage für ihre Auslegungen 
der Weltordnung gegeben bat, als die war, die fie fich im Alter- 
thum aus ihren eignen Vorausſetzungen über das nothwendige 
Weſen der Dinge und das wahre Sein bereiten Tonnte. wie 
Thatfachen zu kennen, ift nicht Alles, aber ein Großes; Dies 
gering zu jchäßen, weil man mehr verlangt, geziemt nur jenen 
Heſiodiſchen Thoren, die nie verftehen, daß halb oft .befler als 
ganz iſt. 


Die Philofophie ift eine Mutter, die durch Undanf ihrer 
Kinder gekränkt wird. Einft war fie Alles. in Allem geweſen; 
Mathematif und Aftronomie, Phyſik und Phyſiologie hatten nicht 
minder als Ethik und Politik in ihrem Schoße das Dafein em⸗ 
pfangen. Aber bald Hatten die Töchter, und jede um fo eher, 


229 


je lebhaftere ortfchritte fie unter dem miütterlichen Einfluffe ge- 
macht hatte, ihren eigenen reichlichen Haushalt gegründet; im 
Bewußtſein defjen, was fie jet durch eigene Arbeit fchafften, 
entzogen fie fich der Aufficht der Philofophie, die in die Einzel- 
heiten ihres neuen Lebens nicht folgen konnte und durch ein- 
fürmige Wiederholung unzureichender Rathſchläge läſtig warb. 
Und fo, nachdem. jeder lebensfühige Schößling der Unterſuchung 
fi von dem gemeinfamen Stamme zur Selbftändigleit abgezweigt 
hatte, blieb der Philoſophie das mißliche Roos, nur den noch 
unentwirrbaren Theil aller Aufgaben als ihr unbeftrittenes Eigen- 
thum zu behalten. Auf dieſes Altentheil gefegt, ift fie dennoch 
lebendig geblieben, ſtets die alten fchweren Räthſel von neuem 
überdenfend und immer auch wieder in ftillen Stunden von denen 
aufgefucht, welche die Hoffnung auf Einheit des menfchlichen 
Wiſſens fefthielten. | 

Die Verknüpfung der Erfcheinungen hatten die Erfahrungs 
wiſſenſchaften durchforfcht; fie zeigten, aus mie vielen und wie 
geftalteten Gliedern die Kette der Vorgänge befteht, die irgend 
eine Urfache mit ihrer Endwirkung verbindet; aber mas es ift, 
wodurch je zwei nächſte Glieder der Kette zufammenhängen, ent- 
ging ihnen; fie fagten weder, was die Dinge innerlid an fich 
jelbit find, noch worin jenes Wirken zwifchen ihnen befteht, durch 
melches doch allein die Tage des einen zur Beranlaffung einer 
Beränderung in der Lage des andern werden kann. Das religiöſe 
und fittliche Leben feinerfeit8 hatte den Glauben an ein unbedingt 
Werthvolles, ein Seinjollendes, entwickelt, das, wenn irgend Wirk- 
lichkeit Sinn haben foll, das Wirklichfte von Allem fein müßte; 
aber die Welt der Geftalten und der Thatfachen, in der allein 
ed ſich verwirffichen Tonnte, ftand ihm ganz fremd gegenüber, 
weder aus ihm ableitbar, noch, wie es fchien, auch nur mit ihm 
vereinbar. In diefer Lage der Sachen lagen Antriebe zu fteter 
Wiederholung der beiden Fragen nach der eigenen Natur des 
Seienden, deſſen Erfcheinungen fir uns wir beobachten, und nad) 
der Beziehung, in welcher dieſe Welt der feienden Wirklichkeit 


230 


zu der Welt der fein follenden Werthe fteht. Und alle Ver⸗ 
fuche, diefe beiden zu beantworten, regten ftet8 wieder zuerft Die 
dritte Frage an, nad) der Wahrheitsfähigfeit unſers Erkennens 
überhaupt und nach feiner Beziehung theils zu der feienden Wirf- 
lichkeit, theils zu dem, was in ihr und durch fie fein fol. 

Gewißheit erlangen unfere Gedanken dur Zurüdflihrung 
auf die früher beiwiefene Gemißheit anderer oder auf die bes 
Beweiſes weder bedürftige noch fühige Evidenz unmittelbarer Wahr- 
heiten. Das Bertrauen, das wir theild den Gefegen unfers 
Denkens, welche jene Zurückführung vermitteln, theil® den ein- 
fachen und unmittelbaren Erfenntniffen ſchenken, zu denen wir 
durch fie geleitet werden, läßt fich durch Wiederholung aufmerf- 
famer Prüfung vor der Hingabe an Vorurtheile von zufälliger 
und vergänglicher Ueberredungskraft behüten; vor einem Zweifel 
dagegen, der auch das ftetd als denknothwendig Befundene als 
möglichen Irrthum verbächtigte, würde es durch Feine Beweis⸗ 
führung mehr gefchligt werden fünnen. Ein Stepticismus in- 
deſſen, der nicht aus einzelnen angebbaren Widerſprüchen die Un- 
richtigfeit beftimmter Borurtheile und damit die Möglichkeit ihrer 
Berichtigung nachwieſe, fondern ohne Veranlaffung nur die übe 
Frage wiederholen wollte, ob nicht am Ende Alles ganz anders 
jet, als wir e8 nothwendig denken müſſen, wiirde mit der Ge— 
wißheit, Die er ganz aus der Welt verfchwinden ließe, auch allen 
Werth der Wirklichkeit aufheben. Daß aber dies nicht fein darf, 
daß die Welt nicht eine Ungereimtheit ohne Sinn fein Tann: 
diefe Ueberzeugung eines fittlichen Glaubens ift der legte Grund 
unferer Zuverficht zu der Wahrheitsfähigkeit unferer Erfenntnig 
und zu der Möglichfeit eines Wiffens überhaupt. Aber der Um— 
fang des Wiffens ift durch Diefe Meberzeugung noch nicht be= 
ſtimmt. 

Nur das eigne Daſein iſt uns durch unmittelbares Bewußt⸗ 
ſein gegeben; von einer Außenwelt beruht alle unſere Kunde auf 
Vorſtellungen, die nur wechſelnde Zuſtände unſer ſelbſt ſind 
Was verbürgt alſo, daß dies Bild einer Außenwelt nicht ein 


231 


einheimischer Traum in uns fei? Der Borfichtige fragt Dies; 
der Unvorfichtige behauptet e8: er vergißt, daß es fo fich ja in 
beiden Fällen verhalten müſſe, mögen Dinge außer uns fein oder 
nicht fein; auch eine wirkliche Außenwelt würde von uns nur 
in Bildern abgebildet werden können, die aus Erregungen unfers 
eignen Weſens zufammengefett wären. Die jubjective Natur alles 
unſers Vorſtellens entfcheidet Daher Nichts liber Dafein oder Nicht- 
daſein der Welt, die e8 abzubilden glaubt. Den Verſuch aber, 
das Weltbild als innerliches Erzeugniß des Geiftes allein zu 
faffen, bat der wiflenfchaftliche Geſchmack immer bald wieder auf- 
gegeben; er fand ftet8 zu dieſem Zwecke nöthig, in uns felbit 
eben fo viele, dem Weſen unfers Geiftes fremde und aus ihm 
unableitbare Antriebe anzunehmen, als die gemeine Anficht deren 
von der Außenwelt zu empfangen glaubte Späteren Gelegen- 
beiten vorbehaltend, was auch in dieſen Betrachtungen Wichtiges 
Tiegt, folgen wir file jeßt der Ueberzeugung, zu der die Philo- 
fopbie immer bald zurückkehrte, daß unfer Vorftellen aus ber 
Wechſelwirkung mit einer von und unabhängigen Welt entfpringe. 

Wenn es aber fo ift, kann dann unfer Borftellen mehr als 
eine Wirkung der Dinge, kann es ihr ähnliches Abbild fein? 
und kann die Wahrheit, zu deren Erfennini wir fähig find, in 
einer Webereinftimmung des Gedankens mit dem Seienden be- 
ftehen? Wir ſprechen von einem Bilde eines Gegenftandes, wenn 
irgend eine Zufammenftellung anderer Mittel auf unfere Anſchau⸗ 
ung denfelben Eindrud macht, welchen der Gegenftand jelbft ge- 
macht haben würde; durch Gleichheit feiner Wirkung wird aljo 
fir uns ein Ding zum Bilde eines andern. Aber dieſe Wirkung 
felbft, die fie beide in uns hervorbringen, kann fie jemals ihnen 
ſelbſt fo gleich fein, daß einem fremden beobachtenden Auge unfer 
Erkennen für ein Bild des Gegenftandes gelten würde? Wo 
irgend Wechfelwirkung ftattfindet, — und das Erkennen ift nur 
der befondere Fall folcher Wirkung zwiſchen den Dingen und dem 
borftellenden Geifte, — da geht nie das Weſen des einen Ele- 
. ments fich felbft gleich und unverändert in das andere iiber; 


232 


fondern jedes erſte Element dient jedem zweiten nur als Beran- 
laffung, damit diefes aus der Zahl der vielen feiner eignen Natur 
möglichen Zuftände einen beftimmten einzelnen verwirfliche, den- 
jenigen nämlich, der nad) einem allgemeinen Geſetze derſelben 
Natur ſich als Antwort auf die Art und Größe der eben von 
ihr erlittenen Reizung gebührt. Den auf und wirkenden Ur- 
fadhen entiprechen daher in unferem Inneren beftimmte Bilder, 
Die wir erzeugen, dem MWechjel-jener Urjachen eine Veränderung 
diefer unferer inneren Zuſtände. Aber feine einzelne Borftellung 
bildet die Urfache ab, deren Erzeugniß fie ift, und felbit Die 
Beziehungen, die wir zwifchen Diefen unbelannt bleibenden Ele— 
menten zu erfennen glauben, find zunächſt nicht die Verhältniſſe 
felbft, die zwifchen ihnen an ſich obwalten, fondern unfere For— 
men ihrer Auffafjung. Und dies Verhalten gilt uns nicht als 
menſchliche Schwäche, fondern Liegt in der Natur jedes Erfennens, 
das auf Wechfeliwirfung mit feinem Gegenftande beruht. Alle 
Weſen, Die diefer Bedingung unterliegen, tragen dieſe Folge; 
fie alle jehen nie die. Dinge, wie fie an fich find, wenn fie.Rie- 
mand fieht, jondern nur jo, wie fie ausſehen, wenn fie gejehen 
werden. 

Solchergeſtalt auf Erjcheinungen beſchränkt, entbehrt das 
Wiſſen doch nicht aller Beziehung zu dem Seienden felbft. Denn 
fo darf man über feine Trüglichkeit nicht Magen, als würde ihm 
nur ein Schein gezeigt, das Wefen aber, das den Schein würfe, 
füge völlig unvergleichlich mit ihm, ja zweifelhaft in feinem Da= 
fein, ganz außerhalb unjers Geſichtskreiſes. Man Tann nicht Die 
Srundanfchauungen unferer Erfenntniß für blos menfchliche Auf- 
faflungsformen halten, in welche die an fi) ganz anders ge- 
ftalteten Dinge nur für uns hineinfielen, ohne zuzugeftehen, daß, 
um in diefe Formen hineinfallen zu können, die Dinge doch fo 
zu ihnen paſſen müfjen, wie jeder Gegenftand zu den Mafchen 
des Netzes, in denen er fich fangen fol. Oder ohne Bild ge— 
fprochen: jede Erfcheinung, um auch nur erfcheinen zu können, 
fegt ein weſentliches Sein voraus, in deflen inneren Berhält« 


233 


niffen die beftimmenden Gründe flir die Form feines Erfcheinens 
liegen. Aus der Zergliederung der Anfchauungsformen, in denen 
unfere Wahrnehmung unmittelbar ihre Gegenftände faßt, Tann 
man wohl die Ueberzeugung gewinnen, daß diefe Formen, jo wie 
fie und geläufig find, nit auf die Dinge jelbft Anwendung 
leiden; aber immer werden wir in der Natur der Dinge und in 
ihren wahren gegenfeitigen Beziehungen die Bedingungen fuchen 
müſſen, die uns ihre Auffaffung in jenen Formen erlauben. So 
mag e8 zweifelhaft fein, ob nicht Raum und Zeit ald Raum und 
Zeit nur in der vorftellenden Thätigfeit beftehen, die Mannig- 
faches zufammenfaßt; aber es Tann nicht zweifelhaft fein, daß 
dann dad GSeiende an ſich einer unräumlicdhen und unzeitlichen 
Ordnung unterworfen fein muß, die auf uns wirkend von ung 
in die Form räumlicher und zeitlicher Ordnung überfegt wird. 
Gewiß ift Die finnlihe Empfindung, die irgend ein Gegenftand 
oder ein Borgang und verurfacht, ihrer Urſache nicht gleich; aber 
eben fo gewiß werden wir zwei Gegenftände oder Borgänge als 
„gleich ähnlich oder verſchieden betrachten, wenn ihre Eindrücke 
auf uns gleich ähnlich oder verfchieden find, und die Maße ihrer 
Berwandtichaft werden wir nach den Unterjchievsgrößen ihrer Ein- 
drüde ſchätzen. So faflen wir unvermeidlich das Icheinbare Sein 
und Geſchehen, welches unfere Wahrnehmung darbietet, als durch⸗ 
gängig proportional einem wahren Sein und Gefchehen, das den 
Dingen felbft gehörend oder zwiſchen ihnen fi) ereignend, Be— 
griffen von Wahrheit und Gefeglichkeit keineswegs unzugänglich 
if. Nicht ein Zuwachs an Genauigkeit, fondern eine fruchtlofe 
ſich ſelbſt widerfprechende Pein des Denkens würde der Verſuch 
fein, ſich dieſe Borausfegung zu verjagen. 

Wenn jedoch To der Schein auf Sein deutet, fo deutet er 
doch auch nur auf formelle Berhältniffe des Seienden und Deren 
Beränderungen; unerforfchlich bleibt das Wefen der Dinge, die 
in diefen Verhältniſſen ftehen und fich bewegen. Und eben weil 
das Weſen der Dinge unbekannt bleibt, fünnen wir auch das 

Stattfinden der Vorgänge‘ zwifchen ihnen nicht aus ihrer Natur 


234 


begreifen; nur der Schein, der Inhalt der Erfahrung, kann und 
anleiten, dies mahre Gefchehen zu erratben. So nimmt die philo- 
fophifche Unterfuchung denfelben Gang, den wir früher die Natur- 
wiflenfchaften einfchlagen fahen; fie beginnt von den einzelnen 
räthfelhaften und widerfprechenden Erjcheinungen, welche die Er- 
fahrung darbietet, und an der Hand allgemeiner Denkgeſetze ſucht 
fie diejenige Geftalt des wahren Seins und Geſchehens zu er⸗ 
mitteln, die zur Erklärung der Auffälligfeiten und Widerfprliche 
des Gegebenen dieſem als bewirfende Urjache untergelegt werden 
muß. Viele fchöne Erfolge mögen diefem Realismus, der fich 
befcheidet, gegebene Thatfachen des Scheins auf nothwendig an- 
zunehmende Thatfachen des Seins zurüdzuführen, auch innerhalb 
diefer Beſchränkung feiner Aufgabe vergönnt fein; nicht nur Die 
Aufhellung der bewirfenden Zufammenhänge in einzelnen zuſam⸗ 
mengebörigen Erjcheinungskreifen mag ihm gelingen, ſondern bie 
Bergleihung der gewonnenen Erfenntniffe wird auch ihn zu einer 
Ueberficht defien führen können, was al8 wahre Wirflichleit dem 
Ganzen der erfcheinenden Welt zu Grunde liegt. Aber auch dieſem 
letzten Ergebniffe wird er den Charakter einer bloßen Thatlächlich- 
feit feines Inhalts nicht nehmen, und dadurch wird er ſtets den 
Widerſpruch jener ivealiftiichen Neigung des menfchlichen Gemüths 
erweden, welche das wahre Sein nicht in Thatjachen anerkennt, 
bie nur find, weil fie find, oder angenommen werden müffen, weil 
Anderes ift, fondern allein in einer folchen, die durch den Werth 
des Gedankens, welchen fie darftellt, ihren Beruf ihre Hecht und 
ihre Kraft bezeugt, als das letzte Gegebene, ald das höchſte 
geftaltende Princip, an die Spike der Wirflichleit zu treten. 


Mit der kühnen Behauptung, daß Denken und Sein iden- 
tifch fei, tritt der Idealismus dem realiftifchen Belenntnig von 
der Unerfennbarfeit der Natur der Dinge gegenüber. Er meint 
nicht nothwendig damit, obgleich er auch zu Diefer Verwegenheit 
zumeilen fortjchritt, daß es dem menschlichen Erkennen je gelingen 
werde, das Weſen aller Dinge denfend zu durchichauen und in 


235 


Gedanken nachzuerzengen; zu deutlich find Die engen Grenzen, 
welche dieſer Ausdehnung unferer wirklichen Einficht die End⸗ 
Tichkeit unferer Natur entgegenftellt. Aber für ein Erfennen, das 
frei von diefen Beſchränkungen wäre, würden Die Dinge nicht 
mehr unaufldsliche Wirklichkeiten fein, nicht dem Denken fo un- 
nahbar und ungreifbar, wie etwa das Licht unbörbar, der Klang 
unſichtbar ift; als verwirklichte Gedanken wiirde fie vielmehr das 
Denken, fi) felbft alfo in ihnen wiedererfennen. So nicht eigent- 
ih als eine Behauptung tiber das Verhältniß unſers Wiffens 
zu feinem Gegenftande, fondern weit mehr als eine Üeberzeugung 
über die Natur des Seins an fich felbft gefaßt, gibt dieſer Satz 
fühlbar dem Sein oder dem Wefen der Dinge eine andere Be- 
deutung, als die ift, welche die gewöhnliche Meinung ihm gab. 
Denn jenen Inhalt, durch welchen fid) ein Ding als dieſes von 
einem zweiten als einem andern unterjcheivet, glaubt das natitr= 
liche Bewußtſein theild in dem finnlichen Eindrude, theild in 
Borftellungen unmittelbar zu befigen, die ſich zunäcdhft an Diefen 
knüpfen und feine Beftandtheile zufammenhalten. Um fo räthfel- 
bafter ſcheint e8 ihm, wie e8 zugehe, daß dieſer Inhalt Die Macht 
habe, als ein Daſeiendes Selbſtändiges Greifbares, als Ding 
überhaupt ihm entgegenzutreten ; wer diefe geheime Springfeber 
entdeckte, durch welche dem denkbaren Was des Geienden die 
Ausdehnung Fülle Härte und Elafticität der Dingheit gegeben 
wird, der würde, jo fcheint e8 der natürlichen Meinung, das 
wahre eigentliche Wefen des Dinges gefunden haben, nicht das, 
wodurch eine vom andern fich unterjcheidet, jondern das, worin 
fie alle gleich find, das Weſen ihres Seins, die Realität. Kann 
nun der Idealismus behaupten, diefe Aufgabe zu löſen? Gewiß 
nicht in größerem Umfange, ald aud) der Realismus ſich diefelbe 
Fähigkeit zufchrieb; morin e8 eigentlich liegt, daß Dinge find, 
und was e8 heißt, daß fie fich auf einander beziehen, mie es 
endlich gemacht wird, daß aus diefen Beziehungen etwas folgt, 
wie ein Gefchehen ein Werden und Wirken möglich ift: das 
alles bleibt dem Idealismus eben fo undurchdringlich wie feinem 


236 


Gegner. Vielleicht, um Alles zuzugeftehen, was wir Dürfen, ges 
lingt e8 ihm noch, wenn er auch nicht weiß, wie Dies alles 
gemacht wird, doc, einen Zuſammenhang nachzumeifen, nach 
welchem, wenn es auf unbegreiflihe Weife ein Sein, und zwar 
ein ſolches gibt, e8 auf gleich unbegreifliche Weile auch ein Wer- 
den und Wirken, und zwar ein ſolches und fein anderes geben 
müſſe; aber jelbft dann wiirde der Idealismus doch nur den 
Sinn und die vernünftige Verknüpfung der einzelnen Beftim=- 
mungen ergründet haben, die wir in jenem Namen des Seins 
zu einem Ganzen zufammenfaßten; völlig. unbegriffen bliebe es 
immer, wie diefer innere Zufammenhang der Realität eben fein 
könne. Und dieſe Leiſtung verfprach doch eigentlich die kühne 
und auffallende Faſſung des Satzes, weldher das Sein dem 
Denken identifch ſetzte; fie ließ vermuthen, eben das, wodurch 
das Sein als Sein fich von dem Denken oder dem Gedachtjein 
zuerſt unverjöhnlich zu unterfcheiden ſchien, werde ſich zuletzt als 
ein verfchwindender Unterfchied darftellen und dieſes Sein ſich 
ganz in Gedanken auflöfen. Nun zeigt ſich, daß auch der Idealis⸗ 
mus von den beiden Borftellungen, durdy deren Verſchmelzung 
‚wir da8 Seiende denfen, der des Was und der feines Geins, 
gerade das Sein jo unerflärt läßt, wie vorher. 

Aber fo unzwedmäßig e8 war, in jenem Satze vom Sein 
zu reden, fo wenig triftig ift es anderſeits, als das, dem es 
identifch fein fol, das Denken zu nennen; fo lange wenigftens, 
als diefer Name mit beftimmter Bedeutung eine Thätigfeit des 
geiftigen Lebens von andern unterfcheiden fol. Und dies fcheint 
doch gemeint zu fein, denn der finnlichen Anſchauung und Wahr- 
nehmung gefteht aud) der Idealismus nicht zu, daß fie die Wahr- 
heit der Dinge fafle; er gibt beide Preis und behält dem Denken, 
als einer eigenthümlichen und höheren Thätigfeit, das Vorrecht 
bor, hinter den Täuſchungen, mit denen ung jene umgeben, das 
echte Sein aufzufinden. Aber diefe Hoffnung beruht auf einem 
weitverbreiteten Irrtum. Wofür die Sprache einen Namen aus⸗ 
geprägt hat, dag find wir allgemein fehr geneigt, als ein Er- 


237 


zeugniß des Denkens aufzufaffen, obgleich deflen Beitrag zur Feſt⸗ 
ftellung des benannten Inhalts oft fehr gering ift, oft gänzlich 
fehlt. So lange es fih um ſinnliche Eindrüde handelt, über⸗ 
zeugen wir uns freilich bald, daß dem Blinden oder Tauben 
feine Kumft Iogifcher Operationen die Wahrnehmung der Farbe 
oder des Klanges erfegt, daß alſo blau und ſüß nicht Begriffe 
find, die wir denken, fondern Eindrüde, die wir erleben, ihre 
Namen nur fprachliche Zeichen, die und an einen Inhalt erinnern, 
an welchem das Denken höchſtens den Antheil bat, durch bie 
adjectiviſche Form, die es ihm gibt, feine unfelbftindige Natur 
bemerflih zu machen. Aber in den allgemeineren Begriffen, Die 
überall in unfere Wahrnehmungen eingeflochten find und ihnen 
Form und Haltung geben, in den Vorftellungen des Seins des 
Werdens des Wirkens und jeglicher Beziehung, die von einem *® 
Element zum andern überläuft, glauben wir um fo fidherer, echte 
Erzeugnifje des Denkens, und zwar des Denkens allein, zu finden. 
Und doch ift die Bedeutung des Seind durch feine conftruirende 
Thätigkeit des Denkens dem begreiflich zu machen, der nicht un= 
mittelbar weiß, was damit gemeint ift; nur zerglievernd Tann 
das Denfen, indem es alle Nebenvorftellungen entfernt, die nicht 
gemeint find, den nur in unmittelbarer Anfchauung zu erfaffen- 
den Sinn des Wortes finden lehren. Niemand wird von dem 
Werden eine Definition entdeden, die nicht unter anderem Namen 
das Weſentlichſte, die Vorftellung des Uebergehens von einem 
zum andern oder des Gejchehens überhaupt enthielte; das Denken 
kann auch zur Feſtſtellung dieſes Begriffes nur durch Verdeut⸗ 
lichung der beiden Punkte beitragen, zwiſchen denen das nur 
nennbare, aber nie weiter zerdenkbare Räthſel jenes Ueberganges 
ftattfindet. Und gleich unnahbar ift allen Logifchen Operationen 
der Begriff des Wirkens. Man kann ihn leicht noch auf den 
abftracteren des Bedingens zurüdzuflihren glauben, obwohl dann 
fraglich fein wird, ob nicht die umgefehrte Zurückführung rich⸗ 
tiger wäre; aber wird fih dann meiter durch Denken analyfiren 
laffen, was die Borftellung des Bedingens eigentlich fagen mil? 


238 . 


Scheinbar vielleicht, in der That gewiß nicht; Jondern unter dieſem 
oder unter jenem Namen wird das Denken zulegt ‚die Borftellung 
eined nothwendigen inneren Zuſammenhangs verjchiedener Ereig- 
niffe Doch nur bezeichnen, aber nicht durch feine eigene Thätigfeit 
erzeugen Tünnen. _ 

Und bier wird man mir einwerfen, daß ich Selbitverftänd- 
liche unnütz hervorhebe; natürlich fei das Denken als beziehende 
und verfnüpfende Thätigkeit genöthigt, die zu beziehenden und zu 
verknüpfenden Elemente als anderswoher gegebene vorauszufegen. 
Wirklich beabfichtige ih Nichts, als diefe Ueberzeugung für einen 
Augenblid recht lebhaft zu machen, und ihre Folgerungen zu 
ziehen. Denn bei einiger Aufmerffamfeit wird man fich bald 
überzeugen, daß Diejenigen Elemente, die das Denken foldyer- 
geftalt als anderswo erzeugte aufnehmen muß, nichts Geringeres 
enthalten, al8 die ganze Summe jener Erlenntniffe vom wahren 
Sein und Gejchehen, die man ihm vorher als Eigenthum zu= 
ichrieb. Ueberall ift das Denken nur eine hin⸗ umd bergehende 
vermittelnde Thätigleit, welche die urfprünglichen Anfchauungen 
der äußern und innern Wahrnehmung in Beziehungen bringt, 
die durch Grundvorftellungen und Geſetze von unnachweislichem 
Urfprung vorausbeftimmt find; eigentblimliche ihm felbft ange- 
hörige, eigentlich logiſche Formen entwidelt e8 nur in dem Be- 
müben, diefe in und vworgefundene Wahrheit auf die zerftreute 
Mannigfaltigfeit der Wahrnehmungen und der aus ihnen ent- 
widelten Conjequenzen anzuwenden. Nichts erjcheint deshalb 
weniger gerechtfertigt, al8 die Behauptung, dieſes Denken fei 
dem Sein identiih und vermöge rückſtandlos daſſelbe in ſich 
aufzuldfen; liberall bleiben vielmehr in feinem Strome völlig un 
auflöglich die einzelnen Punkte zurüd, welche die einzelnen Seiten 
des großen Inhalts darftellen, den wir mit dem Namen des Seins 
bezeichnen. Einfacher und wahrer hätten wir gefagt: das Sein 
ſchaue fich felbft an; wir, indem wir find, wir wiffen fühlen 
empfinden oder erleben fehr wohl, mas es heißt, zu fein; wir, 
indem wir wirken, willen fehr wohl, was wir Unfagbares meinen, 


239 


wenn wir nicht blos von einer Zeitfolge von Erfcheinungen, ſon⸗ 
dern von einem Bedingtfein der einen durch die andere ſprechen. 
Und in diefem Sinne hat alle Welt von jeher gewußt, was es 
mit dem Sein oder der Realität auf ſich habe, denn alle Welt 
hat den Sinn diefer Worte innerlich erlebt; fand man es aber 
immer jchwierig oder unmöglid, das durch Denkfbeitimmungen 
andzudrüden, was man fo deutlich erlebte, jo hat die Bhilo- 
ſophie diefen Mangel nicht getilgt; fie bat immer nur Namen 
für das Erlebte gefchaffen, und in Namen lebend und webend 
hat fie zuweilen ſelbſt weniger Har das miterlebt, was den Gegen⸗ 
ftand Diefer ihrer Bemühungen ausmachte. 

Auf alle ſolche Bedenken wird man im Sinne des Idealis⸗ 
mug verlangen, diefen Punkt nun endlich ruhen zu laflen: es 
jet ja zugeitanden, daß wir nicht wifjen, wie die Dinge jein und 
wirken können, aber ihr Wejen beſtehe nicht in ihrer Wirklich⸗ 
feit, fondern darin, was fie find und wirken. Iſt nun Diefer 
Inhalt der Dinge dem Denken wirklich zugänglicher, als jene Art 
feiner Segung? Was aud) das Denken fein möge: eg ift eine 
Thätigfeit im Geifte, und wenn nicht dies, doch jedenfalls eine 
veränderliche Reihe von Zuſtänden, die er erfährt. Wie Tann 
nun eine Reihe von Zuftänden etwas Anderes abbilden und re= 
produciren, als wieder Zuftäinde? Tann fie das Wefen fallen, 
dem biefe Zuftände widerfahren? Nur dann wird fie Died ver= 
mögen, wenn- wir weiter in unfern Annahmen gehen, und aud) 
nicht mehr das, was die Dinge find, fondern das, mas fie 
erfahren, als ihr eigenſtes Weſen und ihr wahres von ber 
Philoſophie gefuchtes Sein betrachten. So würde der Idealis⸗ 
mus auf einem Wege, deflen einzelne Schritte zu verzeichnen wir 
uns bier verfagen müfjen, zu dem Zugeſtändniß kommen, aller- 
dings weder zu wiflen, wie die Dinge find, noch was fie find, 
wohl aber, was fie bedeuten. Und dies ihr wahres Sein ſei 
zugleich erkennbar. Was jedes Ding in ſich felbft fer, jene feine 
Natur, durch die es überhaupt tft und fähig ift, wirkſam fich 
gelten zu machen und ein andere® zu fein als andere, dieſe möge 


240 


dem Denfen ewig unzugünglich bleiben. Aber in den Formen 
ihrer Schieffale ihrer Veränderungen ihrer Entwidlung ihres 
Wirkens und der Beiträge, die fie zu dem Zufammenhange der 
Wirklichkeit geben, in allen dieſen Beziehungen feien die Dinge 
für da8 Denken erfaßbar und unter einander vergleichbar; bie 
wefentliche Bedeutung eines jeden, fo fern fie Hierin befteht, fei 
an ſich erihöpfbar durch einen Gedanken, gleichviel ob wir Men— 
ſchen diefen Gedanken finden können oder nicht. So beichränft: 
fi) der Idealismus wie der Realismus auf ein Erkennen des 
Geſchehens in und zwifchen unbefannt bleibenden Dingen; aber 
in dem Sinn dieſes Geſchehens glaubt er alle mejentliche Wahr- 
heit zu befigen; die Dinge find nur da, um es zu verwirklichen.” 

Gleiche Weberzeugung hatte in andern Formen der religiöfe 
Glaube ftets gehegt und ausgedrückt, indem er die Welt als 
göttlihe Schöpfung faßte. Er leugnete damit eben fo Träftig 
wie der philofophifche Idealismus, daß in den Dingen irgend 
ein Weſen oder ein Theil ihres Weſens fei, welchen fie von ſich 
ſelbſt hätten. Alles, was fie waren, waren fie nad; dem Willen 
und der Abſicht Gottes; ihr eigentlichites Wefen beftand in dem, 
was Gott mit ihnen gemeint oder gewollt hatte, in ihrer Be— 
deutung flir die Einheit des Weltpland. Diejen Plan zu durch— 
Ihauen, behauptete der Glaube nicht, aber in feiner Voritellung 
von Gott Tagen verfchievene gleichfam einander beſtrahlende Kicht- 
punkte, Die auch auf die gefchaffene Welt ihre aufflärenden Scheine 
warfen. Dem unveränderlichen und gerechten Gott entfprach Die 
gefegliche Strenge der Erfcheinung, der unendlichen Fülle feines 
jeligen Weſens ihre Schönheit, feiner Heiligkeit die Orbnung der 
Begebenheiten in der fittlichen Welt. Auf viefe fchöpferiichen 
Kräfte in Gott alle Einzelheiten der Wirklichkeit zurüdzuführen 
wurde weder gewagt, noch fiir möglich gehalten; es genügte, un= 
beirrt Durch den Widerfpruch vieler Wahrnehmungen, an ihre 
Wahrheit im Allgemeinen zu glauben, und im Einzelnen aus 
einer Auswahl bevorzugter Erfcheinungen immer von neuem das 
lebendige Gefühl ihrer meltbeherrfchenden Wirkſamkeit zu fchöpfen. 


241 


Nach zwei Seiten hin fuchte der philofophifche Idealismus 
diefen Glauben zu überbieten. Er nahm zuerft Anftoß an der unbe 
fümmerten Weife, in welcher die Religion von dem ‚perfönlichen 
Gott ſprach, ihn die Dinge aus Nichts zu Wirklichkeiten machen 
und zu dieſen verwirklichten Nichtigkeiten in ein Verhältnig 
der Wechjelwirkung treten Tieß; die Metaphyſik aller diefer Bor- 
gänge ſollte gefunden ‚und aufgeflärt werden. Keine diefer Be⸗ 
mühungen, auf deren Inhalt und der Schluß unferer Betrachtungen 
genauer eingehen heißen wird, hat ihr Ziel erreicht; fie haben, 
indem fie alle Borjtellungen bemängelten, die fih der Glaube 
anthropomorphiftiich tiber das Verhältnig Gottes zur Welt ge- 
bildet hatte, in großentheils künſtlich verdunkelten Formen des 
Ausdrucks als Ergebniß nur die Behauptung zurlidgelaflen, daß 
eine einzige höchſte Idee, aber nicht die Erklärung, wie fie alle 
Erſcheinungen der Wirklichkeit geftaltend und maßgebend durch= 
dringe. Und eben, weil dem Idealismus höchſtens der Sinn der 
Welt, aber nicht die Begründung ihrer Wirklichleit zugänglich 
war, fo fiel aus feiner Betrachtung Das alles aus, mas an dieſes 
Räthſel erinnerte Es war nicht mehr von Gott die Rede, denn 
dieſer Name bedeutet Nichts ohne die Prädicate realer Tebendiger 
Macht und Wirkſamkeit; nur von der Idee Tonnte gefprochen 
werden, deren Inhalt, fei e8 nun auf diefe oder auf jene unbegreif- 
liche Weiſe, thatfächlich eben das Weſen und die Bedeutung der Welt 
ausmacht. Dafür hoffte man aber auch, den ganzen Gehalt dieſer 
Idee vollftändig und fuftematifh in Gedanken ausdrücken zu 
innen, und durch dieſe zweite Leiftung gar weit den Glauben 
zu überbieten, dem nur im Allgemeinen die im Einzelnen uner- 
forſchbare Abſicht Gottes bekannt war. 

Auch dieſes Verfprechen Tieß fih nur erfüllen, indem man 
an der Natur der Sache das abbrach, was dem Denten unfaßbar 
blieb. Denn freilich zeigten ſich die lebendigen Kräfte, die der 
Glaube in Gott angefchaut hatte, dem Denken eben jo unzugänglic), 
als die finnlichen Empfindungen, welche die Wahrnehmung bietet; 


auch für fie erzeugen wir Namen; ihren Inhalt erleben wir blos 
Loge, III. 3. Aufl. 16 


242 


und haben ihn nicht durch Denken. Was gut und böſe iſt, bleibt 
eben ſo undenkbar, als was blau oder ſüß iſt; erſt nachdem ein 
unmittelbares Gefühl uns das Vorhandenſein eines Werthes 
und Unwerthes in der Welt und die Schwere des Unterſchieds 
beider gelehrt hat, mag unſer Denken aus dem ſo erlebten Inhalt 
Kennzeichen entwickeln, die uns ſpäter irgend ein Beſonderes der 
einen oder der andern jener beiden allgemeinen Anſchauungen 
unterordnen laſſen. Iſt aus Begriffen der eigentliche lebendige Nerv 
der Gerechtigkeit zu finden? Man kann viel von Gleichgewichten, vom 
Entſprechen der erzeugten und erlittenen Zuftände, vom Rückgang des 
Wohl und Wehe zu feinem Urheber fpredhen; aber welcher Schritt 
des Denkens erflärt das Interefje, welches wir für diefe Formen des 
Geſchehens dann und nur dann hegen, wenn fie das bedeuten, 
was wir eine Vergeltung nennen? Liebe und Haß, find fie denf- 
bar? it ihr Weſen in Begriffen erfchöpfbar? in welcher Ber- 
einigung der Zweiheit zur Einheit, oder in welcher Spaltung deſſen, 
was Eines fein könnte, man ihre Bedeutung finden möchte: immer 
wird man damit nur ein Räthfel ausfprehen. Denn das Rüthjel 
ift Die Angabe von Kennzeichen, aus denen der wolle Iebendige 
Inhalt, dem fie zufommen, nicht von jelbit fließt, ſondern er= 
rathen werden muß, weil er nicht in ihnen liegt. Diefen ganzen 
[ebendigen Inhalt nun, den der Glaube an den perfünlihen Gott 
befaß, hoffte die Philofophie nicht nur im Denken nacherzeugen 
zu können; fie meinte ihm, der mehr ift als Alles, mas dee 
heißen Tann, eine ehrenvolle Läuterung angedeihen zu laſſen, wenn 
fie ihn aus der Trübheit des mit ganzen Herzen und ganzer Seele 
Erlebten zu der Würde eines im reinen Denfen gegenftändlich 
gemachten Begriffes erhob. 

Die natürliche und die fittliche Welt erfuhren gleichmäßig 
diefe Behandlung, die den wahren Gehalt aller Dinge und Er— 
eigniffe auf das Formelle ihrer Erfcheinungsweife zurüdführte 
und fie felbft nur als beftimmt dazu anfah, dieſe Formen zu 
verwirklichen. Die Gefchöpfe der Natur waren da, um in einer 
Staffification Plag zu nehmen und den Iogifchen Abftufungen 


243 


des Allgemeinen Befondern und Einzelnen eine Fülle von Erſcheinun⸗ 
gen zu verfchaffen ; ihre lebendigen Thätigleiten und Wechfelmirkun« 
gen fanden ftatt, um die Myfterien der Berjchiedenheit des Gegen- 
faßes der Bolarität und der Einheit zu feiern; der ganze Naturlauf 
hatte die Beitimmung, einen Rhythmus vorzutragen, in deſſen 
Schwingungen Bejahung Berneinung und Wechfelbefchränfung 
einander ablöften. Die Betrachtung der geiftigen Welt fah bald 
mit einer Art realiftiicher Anwandlung das Denken und alles gei— 
ftige Leben nur als höchſte Erfcheinungsform an, welche jene uner= 
gründlichen Mächte des Bejahens Verneinens des Gegenfages und 
feiner Aufhebung annehmen, bald ibealiftifcher hielt fie das Den⸗ 
fen für das wahre Wejen und Ziel aller Dinge, jene Formen des 
bloßen blinden Seins und Geſchehens fir unvolllommene Vor⸗ 
fpiele. Aber fie fam nicht darliber hinaus, als das MWefentlichfte 
des Geiftes das Denken, ald das Höchſte des Denkens das Den- 
fen des Denkens, die reine Selbitipiegelung der logiſchen Thä⸗ 
tigkeit anzuerkennen. Das Dafein und die Würde der fittlichen 
Melt war allerdings nicht vergefien; aber auch das Seinfollende 
mußte fich diefer Zurückführung auf das Formelle fügen; es jchien 
doch nur in dem Maße fein zu follen, in welchem es in. den 
Formen feiner Verwirklichung jene hochgehaltenen Beziehungen 
wiederholte, die fir das wahre Weſen des Seins galten. 
Mitten in der Erwähnung diefer Verirrungen breche ich ab. 
Bieles verſchweigend, was innerhalb der philofophifchen Schule 
für groß und wichtig gilt, war diefe kurze Schilderung parteiiſch, 
indem fie nur hervorhob, was dem erftrebten Ende dieſer Unter- 
ſuchungen zur Einleitung dienen konnte. Die Bhilofophie ift 
weder gegenwärtig ausſchließlich von dem falihen Idealismus 
beherrſcht, dem mir zulett gegenüber ftanden, noch ift e8 unmög= 
lich, Die Fehler zu vermeiden, die ihn entftellen; aber e8 gebührt 
noch nicht diefer Stelle, die Ueberzeugung zu entwideln, bei der 
wir ftehen bleiben wollen. Nur einen vorläufigen Ausdrud können 
wir ihr geben: das Weſen der Dinge befteht nicht in Gedanken 


und das Denken ift nicht im Stande, es zu fallen; aber ber 
16* 


244 


ganze Geift erlebt dennoch vielleiht in andern Formen feiner 
Thätigkeit und feines Ergriffenfeind den wefentlichen Sinn 
alles Seins und Wirkend; dann dient ihm das Denken als 
ein Mittel, das Erlebte in jenen Zuſammenhang zu bringen, den 
feine Natur fordert, und es intenfiver zu erleben in dem Maße, 
als er dieſes Zufammenhangs mädtig wird. 8 find fehr alte 
Irrthümer, die diefer Einficht entgegenftehen. Lange dauerte es 
einit, ebe die lebendige Phantafie in dem Denken den Zügel 
anerfannte, der ihrem Gange Stetigleit Sicherheit und Wahrheit 
gibt; vielleicht dauert e8 eben fo lange, bis erkannt wird, daß 
der Zügel die Bewegung nicht erzeugen Tann, die er lenken joll. 
Der Schatten des Alterthums, feine unheilvolle Ueberſchätzung 
des Logos, Tiegt noch breit Über und und läßt und weder im 
Realen noch im Idealen das bemerken, wodurch beides mehr ift 
als alle Vernunft. 


Zweites Kapitel. 
Lebendgenuß und Arbeit. 


Daß Gläack und bie Zurhftungen zu ihm. — Daß Patriarchenthum. — Heroiſche 
Abentener. — Die Liberale Bildung des Alterthums und die Sklaverei. — Das 
Aufkommen und Uebergewicht der arbeitenden Stände. — Die modernen Formen 
der Arbeit und ihre gefellfhaftlichen Folgen. 


ALS die großen Uebungsfelder aller Thätigleit lagen von je 
die Natur mit ihrer unveränderlichen Ordnung und die Gefell- 
ſchaft mit der Wandelbarfeit ihrer inneren Verhältnifle dem Men- 
Ihen vor. Hie wie dort. weckte das Bedürfniß, theils das dring⸗ 
lichere der Selbjterhaltung, theils das ftilere und doch nicht min= 
der mächtige der Gemüthöbefriedigung, mit dem erften Nachdenten 


245 


das erſte Handeln zugleih und erlaubte nicht die Verſchiebung 
des rückwirkenden Eingriffs bi8 zur Vollendung aller Wiſſen⸗ 
ſchaft. Mit unvolllommenen Kenntniffen mußte man die Dinge zu 
bearbeiten, die Berhältniffe der menſchlichen Geſellſchaft zu be— 
nugen oder zu geftalten unternehmen; aber der ungewiß taftenve 
Verſuch bereicherte durch feine Erfolge das Willen, die Zunahme 
des Wiſſens erweiterte den Kreis des Könnens und den Trieb des 
Unternehmend. So entwidelten ſich Wiffenfchaft und Leben in 
beftändiger Wechſelwirkung. Nur in dieſer Befhäftigung mit der 
ganzen Fülle der Erfahrung bildete das Willen nach und nad) die 
Mannigfaltigfeit feiner unterfuchenden zerglievernden und verknüpfen⸗ 
den Berfahrungsmweifen aus; nur in der Ausdehnung feiner An- 
griffe auf die verſchiedenſten Kreife von Gegenftänden entdedte e8 
feine eignen Hilfsmittel und lernte die Anfangs vereinzelt ihm 
zugefallenen Aufgaben in jenem Zufammenhang begreifen, den 
es zulegt als geſchloſſene Wiſſenſchaft in der Form einer fyfte- 
matifchen Verknüpfung aller Wahrheit abzufpiegeln fucht. Auf 
die Geſchichte dieſer Entwicklung, jo anziehend fie fein würde, 
müſſen wir dennody verzichten weiter einzugehen, als es in ber 
flüchtigen Ueberficht geſchehen fonnte, die wir beendigt haben. Auf 
die Gefammtheit der menſchlichen Bildung gerichtet, hat die all- 
gemeine Abficht unferer Betrachtungen nicht größeren Raum für 
die Darftellung der innern Gefegmäßigkeit und Schönheit, mit 
welcher fich der Bau der Wiſſenſchaft, ein ſich felbit genügendes 
Ganze, aus feinen Principien emporwölbt und gliedert; in höhe— 
rem Grade gilt unfere Aufmerkſamkeit dem andern Theil jener 
Wechſelwirkung zwifchen Willen und Leben: der anregenden Be- 
frudytung, die das Leben felbft, die Gewohnheiten des Handelns, 
der Geift der gejelligen Einrichtungen und der Genuß des Dafeins 
durch die allmählihe Entwicklung der Gedankenwelt erfuhr. 

In feinem Beftehen an die Natur gebunden, hat das menſch⸗ 
liche Leben zuerft durch die Befriedigung feiner äußerlichen Bes 
dürfniſſe die Aufgabe der Selbfterhaltung zu Iöfen, um in dem 
Genuſſe des Schönen der Nachempfindung des Heiligen und ber 


246 


Uebung des Guten feiner wahren Beitimmung nachhängen zu 
fönnen. Die Betrachtung der Bemühungen nun, die auf die Er- 
zeugung und Bervolllommnung, die Berwaltung und Ausbreitung 
diefer äußerlichen Lebensgüter gerichtet find, würde und leicht in 
ein großes und farbenreiches Feld. menfchlicher Wiſſensentwicklung 
locken, deſſen Berlihrungen mit dem Leben zahllos find, in bie 
Geſchichte der Naturwiffenfchaften. Wir vermeiden ed dennoch), 
zufammenhängend auf diefes Gebiet einzugehen. Denn warım in 
einem engen und unzureichenden Rahmen das wiederholen wollen, 
was unzählige Schilderungen ausführlich bieten? Die Triumpbe, 
welche der menſchliche Scharfjinn in der Erforfchung der Him- 
mel8räume und der Erdenfernen, in der Erklärung der chemijchen 
Wandelungen der Körper und der Lebensvorgänge, in der Be- 
ftimmung der Wirkungsbedingungen aller Kräfte und der Zer— 
gliederung ihres Zufammenbanges gefeiert bat, find unferer Zeit 
Lieblingögegenftände rühmender Darftellung und begieriger Auf- 
merkſamkeit; taufendfach gepriefen bedürfen nicht fie jondern nur 
der Segen Erwähnung, den fie dem menjchlichen Xeben gebracht 
haben. Und audy dies nicht fo, al8 könnte e8 der Mühe werth 
ſein, die Aufzählung jener zabllofen einzelnen Güter zu wiederholen, 
über die wir nad fo häufigen Darftellungen nun endlich fatt- 
ſam belehrt find, welchen Principien der Naturmifjenfchaften und 
welcher erfinderifchen Benutzung derfelben wir fie verdanfen. Neb- 
men wir alfo an, diefe Stelle, die ich bier leer laſſe, ſei Durch 
eine jener leicht zu habenden Schilderungen angefüllt, welche ung 
zeigen, wie der Yortichritt der Naturkfenntniß, anfangs zögernd, 
in den lebten Zeiten mit großer Befchleunigung dem Leben neue 
Geftalten gegeben hat, wie wir unzählige Widerftände überwinden 
gelernt haben, weldye die Natur der menfchlichen Thätigkeit ent- 
gegenfeßt, und wie die Bervolllommnung unjerer Einfiht in den 
Zufammenhang der natürlichen Wirkungen uns in den Stand 
Teßt, aus geringgeſchätztem Material, welches die Vorzeit weg⸗ 
warf, mit Leichtigkeit Genußmittel zu erzeugen, die jene entiveder 
nicht Fannte, oder nur mühſam aus wenigen von der Natur zu= 





247 


borlommender geöffneten Quellen zu gewinnen wußte Nehmen 
wir alfo an, dies Bild einer zunehmenden Herrfchaft des Geiftes 
über die Natur ftehe deutlich vor unfern Augen, worin liegt dann 
der Segen diefer Herrichaft? bei der es doch nicht allein auf die 
Thatſache des Gebietens, fondern auf den Vortheil anfommt, den 
die vergrößerte Gewalt über die Natur für die Erreichung der 
eigenthümlich menſchlichen Beftimmung darbietet. 

Irre ich nicht, ſo wird die Antwort auf dieſe Frage nicht 
übereinſtimmend gegeben werben. In den Augenblicken einer Ueber⸗ 
legung, in welcher wir zufammenfafjend diefe Thaten der menfch- 
lichen Intelligenz überblicken, mag der unläugbar in ihnen -gejche- 
hene Fortſchritt und mit dem Geflihle der Befriedigung beglücken, 
das natürlich aus jeder Zunahme an wirffamer Kraft entipringt. 
Suchen wir aber die nüglichen Ergebnifje dieſes Fortichritts im 
Ganzen des Lebens auf, fo kann es und zweifelhaft erjcheinen, 
ob nicht jene größere Herrichaft über die Natur, deren wir ung 
rühmen, für und zu einer größeren Abhängigfeit von ihr, Die 
wir beftändig befiegen, ausjchlägt. Denn jedes neue Gut, welches 
wir erzeugen, wird uns fofort zum Bebürfniß, und veriwidelt ung 
in eine endloje Kette neuer Anftrengungen zu feiner Beichaffung 
und Darftelung im Großen, zu feiner Erwerbung im Einzelnen. 
Jede neue Entdeckung der Wiſſenſchaft, je großartiger fie müh— 
fame Verfahrungsweiſen zur Erreihung eines beitimmten Zieles 
abkürzte, ließ fofort eine Menge neuer Ziele als nothwendig er- 
ſcheinen, zu deren Erreichung die neuen Hilfsmittel Iodten. Wenn 
daher viele Arbeiten allerdings wejentlich vereinfacht worden find, 
je befjer die Wiſſenſchaft die Mittel alles Wirkens verknüpfen 
‚Lehrte, fo iſt doch offenbar im Ganzen des Lebens der Arbeit nicht 
nach und nach weniger, fondern immer mehr geworden. Die alte 
Klage ber den großen Antheil an Lebenskraft und Lebenszeit, 
der der bloßen Erhaltung und Sicherung des Daſeins geopfert 
werden muß, ift nicht beſchwichtigt, fondern verjchärft worden; 
immer größeren Raum nehmen in der kurzen Spanne unſers Lebens 
die Vorbereitungen und Zurüftungen zum Leben ein; immer enger 


248 


zieht fi an unferm Geſichtskreiſe der ſonnige Abjchnitt der 
Muße zufammen und zurüd, in weldhem wir, der Sammlung in 
uns felbft und dem heiteren Verkehr mit Andern lebend, den end= 
Iihen menſchlich würdigen Reinertrag jo vieler Anftrengungen zu 
genießen hoffen. So fcheint es, al8 wenn die erweiterte Mög⸗ 
lichkeit, eine Menge von Bebürfniffen zu befriedigen, verglichen 
mit der Größe der zur Verwirklichung jener Möglichkeit dennoch 
nöthigen Arbeit, und im Ganzen nicht glüdlicher als die Zeiten 
machte, denen jene Bebürfniffe die Mittel zu ihrer Dedung und 
Die zu dieſer erforderliche Mühe gleich unbekannt waren. 

Nicht minder alt aber, als dieſe Klage, ift Die Entgegnung, dag 
es irrig fei, Arbeit und Genuß mit fcharfen Grenzen trennen zu 
wollen, als ſeien fie einander fo fremd, wie Die Waare dem Preife, 
der für fie gezahlt wird; nicht nur der Beſitz des Genufjes, fon= 
dern aud) die Empfänglichkeit für ihn entfpringe der Muße aus 
den Erfahrungen und den Erlebniffen der Arbeit: fie ſelbſt jolle 
der Gegenftand des Genuffes und nicht nur der Weg zu ihm 
fein. Die allgemeine Wahrheit diefer Bemerkung haben wir nicht 
nöthig auszuführen; fchon zahlreiche Veranlafjungen boten fich 
uns zu der Betrachtung, wie wenig der geiftige Rebensinhalt eines 
mühelojen Naturzuftardes und die Güter feiner Muße den Ber- 
glei) mit dem aushalten, womit die Cultur die Anftrengung 
mühjeliger Lebensarbeit; belohnt. Das menfchliche Gemüth gleicht 
nicht einer Pflanze, die nur die allgemeinen günftigen Bedin- 
gungen des Daſeins bedarf, um nacheinander die einzelnen Schön⸗ 
heiten ihrer Entwidlung, Knospe Blüthe und Frucht von jelbft 
hervorzubringen; nur der mannigfach mwechlelnde Kampf um die 
äußern Bedürfniſſe reizt uns zur Gewinnung von Erfenntniffen, 
die unferer Muße Gegenftände der Betrachtung gewähren, und 
vertieft zugleich unfere Schägung der gefelligen Verhältniſſe, welche 
die Naturordnung vorbereitet, bis zu jenem Zartgefühle des Ge— 
wiffens, welches in der Mannigfaltigfeit auszutaufchender Leben⸗ 
anfichten und in der Bewältigung feiner fittlicher Conflicte Das 
aufregendfte Intereffe und den würdigften Genuß des Lebens findet. 


249 


Selbſt innerhalb einer alten Kultur wünjchen wir dem Einzelnen, 
daß das Leben ihn erziehe; die überlieferten Ideale alles Schönen 
und Guten, obwohl in der Neberlieferung ſelbſt ſchon längſt mit 
den Bildern beftimmter Lebensverhältniffe verbunden, in denen 
fie zu verwirklichen find, fchweben doch noch formlos und ohne 
in ihrem Ernſt ergriffen zu fein, in einer unflar bewegten Stim⸗ 
mung, bevor unzählige Reibungen mit den Hindernifjen des Da— 
fein und mit den Anfprüchen fremder Beitrebungen die volle 
Bedeutung ihres Inhalts aufjchliegen und aus ihrer Betrachtung 
und Verwirklichung eine fich jelbjt genügende und belohnende 
Arbeit des Lebens machen. Ohne diefe Verwidlung und Ver- 
dichtung der Reize und der Hemmungen aber, welche die Eultur 
mit ſich bringt, würden die vereinzelten Exlebniffe und Thätig- 
feiten der Menjchen faum auch nur jene unbeftimmte Ahnung des 
wahrhaft Werthvollen erzeugt haben. So durchaus überlegen in- 
defien die Eultur im Allgemeinen dem Naturzuftande gegenüber 
fteht, fo ift doch nicht gleich unzweifelhaft, ob ihre inneren Fort- 
Schritte in fich ſelbſt eine beftändige Steigerung jener Lebensgüter 
einjchließen, und ob nicht ein Punkt ift, iiber welchen hinaus Die 
zunehmende Arbeit aller Art dahin führt, iiber dem Leben jelbft 
und feiner Erhaltung die Zwecke des Lebens aus den Augen zu 
verlieren. Wenigſtens pflegt in allen Zeitaltern vielgeftaltiger Bil- 
dung eine Sehnfucht nach den einfacheren Zuftänden der Vorzeit 
zurüdzubleiben, zum Beweiſe, daß es der Menfchheit nicht leicht 
ift, die Ergebniffe ihres eigenen Yortfchritt8 mit den Wünfchen in 
Einklang zu bringen, deren Erfüllung fie vom Leben verlangt. 
In den patriarchalifchen Zuſtänden, welche die Schriften des 
alten Teftaments ſchildern, liegt den chriftlichen Völlern ein In⸗ 
begriff jchöner Gewohnheiten des Dafeins vor, welcher durch Die 
Wealifirende Kraft der Zeitferne und der poetifchen Darftellung 
verflärt, diefer zurlicichauenden Sehnſucht wohl als ein Vorbild 
des Lebens erfcheinen kann. Allerdings lag Ueberlieferung früherer 
Bildung und die Möglichkeit der Berührung mit entwidelter 
&ultur der Nebenländer ſchon hier dem zu Grunde, was ung in 


250 


diefem Leben anmuthet, und jo ganz auf fich felbit beruhte es 
nicht, wie e8 in jenem Gemälde, berausgehoben aus feinen Um— 
gebungen, erfcheint. Aber fo locker waren die Beziehungen nach 
außen doch noch, dag ein freundliches Dunkel ringsum die Wel- 
tenfernen verhüllte, und alle Aufgaben und aller Genuß des Le- 
bens innerhalb eined engen und überjehbaren Geſichtskreiſes zu= 
fammengebrängt blieb. Leichte oder doch wenig verwidelte und 
wenig getheilte Arbeit, meift in der anfprechenden Pflege leben- 
diger Weſen beftehend, beichaffte Die Bedürfniſſe; eintretender 
Mangel ward mehr als Ungunft der Natur, weniger als %olge 
gejelliger Mipftinde empfunden. Die nody fehlende Spaltung der 
Berufsarten ließ das Leben nicht als ungewiffen erfinderifchen 
Kampf um die Eriftenz erfcheinen ; die Bahnen waren vorgezeich- 
net, in die jeder mit derfelben Regelmäßigkeit eintrat, mit welcher 
die Natur das Fürperliche Leben entfaltet; Die Verſchiedenheiten 
der gejelligen Geltung, die unvermeidlich früh eintraten, waren 
noch nicht mit einem Unterjchiede der Gedanken- und Gefichtöfreife 
verfnipft, welcher die Lebensintereſſen des Einen unverftändlich 
für den Andern gemacht hätte; aber fie waren, großentheil® an 
die Berhältniffe der Familie geknüpft, eben bedeutend genug, um 
in das Leben anftatt abjpannender Gleichheit aller Anfprüche eine 
Mannigfaltigkeit tief empfundener fittlicher Wechjelbeziehungen ein⸗ 
zuführen. In dem Haupte des Stammes vereinten fi alle Rich— 
tungen des Schaffend und Handelns, die dem menfchlichen Leben 
Werth geben; Vater und Haushere Geſetzgeber und Richter 
Fürſt und Priefter zugleich, empfand er in fich felbft den unge— 
ſchmälerten Bollgenuß der geiftigen Kraft, die den Menfchen iiber 
alle Natur erhebt, und ftellte den Seinigen diefe Einheit des gan 
zen Lebens in anfchaulicher Erjcheinung dar. Fügen wir hinzu, 
daß dem religiöfen Glauben diefer Zeit und diefer Stämme aud) 
der Zufammenhang mit Gott ein beftändig fich erneuerndes Er— 
lebnig war, fo können wir wohl zugeftehen, in dem patriardha-= 
liſchen Zeitalter eine Sammlung und Berdichtung des Bewußt⸗ 
feind und des Lebensgefühls zu finden, welche Fein erreichbares 


251 


Gut des Lebens und Feine feiner anerkannten Aufgaben der Auf⸗ 
‚merffamfeit des Einzelnen unbeachtet entjchlüpfen ließ. 

Nicht immer konnte ohne Zweifel diefe Form des Lebens 
ganz ich erhalten; die engere Zufammendrängung der Bölfer, der 
Uebergang zum jeßhaften Leben entwidelte neue Bedürfniſſe und 
verlangte neue Arbeiten, die zu andern gefelligen Dronungen 
führten; auch werden wir uns nicht verhehlen, daß in Wirklich- 
feit der geiftige Gehalt des patriarchalichen Lebens geringer ge= 
weſen fein muß, als er in der poetifchen Darftellung ericheint, 
die feine Glanzpunfte bervorhebt, und Die matteren Stellen zwi- 
ſchen ihnen verfchweigt. Mit feltenem Zartgefühl war allerdings 
die fittlihe Bedeutung aller einzelnen Lebensverhültniffe durch— 
drungen und überdacht, die Verhältniffe felbjt waren jedoch zu 
einfach, um jene vollſtimmigen und vielgegliederten Gedankenkreiſe 
berborzubringen, in deren Befit ſich die fortgefchrittene Bildung 
den fonft beneideten einfacheren Zuftinden doc, ſchließlich immer 
überlegen fühlt. Aber jene Form des Lebens, die Abgefchlofien- 
heit des Haufes und der Familie, die möglichft auf fich feldft 
beruhend alle Bedürfniffe des Dafeins in fich ſelbſt befriedigt, 
und alle wejentlichen Aufgaben in ihrem Kleinen Kreife zu löſen 
weiß, Ddiefe Form werden wir doch immer ald das Vorbild be— 
trachten, zu dem wir zurüdzufehren fuchen müſſen, im Gegenfat 
zu jener Haltlofigfeit, mit der in berwidelteren Umgebungen der 
Einzelne ſich als ein verlorenes Atom fühlt, das von völlig un— 
überfehbaren Kräften einer großen Alles berührenden und Alles 
ergreifenden Außenwelt hin⸗- und bergemorfen wird. Sehen wir 
nun zu, ob die wachlende Bildung die Bedingungen einer inner= 
lichen Bereicherung dieſer Lebensform, oder ob fie nur Veran⸗ 
laſſungen ihrer Zerftörung herbeigeführt hat. 


Ernten ohne gefäet zu haben ift naturgemäß die urfprüngliche 
Lebensweiſe der Menſchen. Als die einfachite Ausbeutung des Natur 


252 


nicht mehr Hinreichte, tft Doch die pflegende umgeftaltende er- 
zeugende Arbeit mit der Geduld Entfagung und Stetigfeit, welche 
fie erfordert, lange in Verachtung geblieben gegen die zerftörende 
Arbeit, die durch Jagd Raub und Kanıpf die fertigen Erzeug- 
nifje fi zum Genuß aneignete. Dem Naturzuftande folgte das 
heroiſche Zeitalter, die Nachahmung des Raubthierlebens, für 
welche dem wmenjchlichen Gemüth die Schwäche der Bewunde— 
rung nie ganz fehlen wird. Denn freilih der Kampf, in 
welchem das eigene Dafein gegen den rafchen Gewinn gejegt wird, 
und die Perſönlichkeit mit aller Lebendigkeit ihrer eigenen Kraft 
fih rührt, ſchwellt mit feinen Teidenfchaftlichen Aufregungen nicht 
nur da8 Bewußtſein des Kämpfenden ftolger an, fondern bietet 
der nachbildenden Poefie viel farbenreichere und verftändlichere 
Bilder, als der ftille Fleiß, der einen friedlichen Kreis nur durch 
Trägheit mwiderftrebender Gegenftände umbildet. Der Ehrgeiz, dem 
Löwen oder dem Aoler zu gleichen, entwidelte wohl die ganze 
Naturſchönheit der Race und alle jene Züge launenhaftes Edel- 
muths und grundjaglofer Großmuth, die gemifcht mit ebenfo un- 
begreiflichen Anfällen der Wildheit die Fürften der Thierwelt fir 
uns zu fo anziehenden Gegenftänden der Beobachtung machen; 
aber die menſchlichen Anlagen wurden ihren eigenthiimlichen Auf- 
gaben nicht zugebilvet. Zu allen Zeiten ift diefe Sinnesart mächtig 
genug gewejen; im höchften Altertum tritt fie offen als Räuberei 
zu Land und See hervor: Schwert und Lanze gilt dem griechi- 
Ihen Klephthen als der Pflug die Sichel und die Kelter, um zu 
jüen zu ernten und den Wein von der Rebe zu preffen; räube- 
riſche Vorfahren gab fih Rom in feiner Sage, und den germa— 
nifchen Völkern ſchien es unwürdig, durch Arbeit zu fuchen, was 
durd) das Schwert fich erobern ließ; der Wegelagerer des Mit- 
telalter8 und der reislaufende Landsknecht handelten aus demfel- 
ben Gefühle. Sie hatten alle darin Recht, daß die Arbeit durch 
ausſchließliche Beichäftigung mit Gegenftänden, deren Eigenthüm= 
lichfeiten man fich fügen muß, leicht den Geift unfrei macht, und in- 
dem fie feinen Gedankenkreis auf wenige Borftellungsreihen verengt, 


253 


theils die Empfänglichkeit fiir die mannigfachen Güter des Lebens 
ertödtet, theild die Elafticität der Kräfte lähmen kann, die natur= 
gemäß ſich zu vielfachen Hinausgreifen in die Wirklichkeit ſehnen. 
Aber fie vergaßen alle, daß doch nur die Arbeit einen zufammen- 
hängenden menfchlichen Charakter ausbildet, und daß jene ſchran⸗ 
lenloſe Kraftübung, die fie Schön fanden, erſt dann über die thie= 
riſche Wildheit fich erhebt, wenn fie Das Gepräge des Abenteuer, 
in welchem Kräfte nur zu fubjectivem Genuß gelibt werden, ab⸗ 
legt, und den Charakter eines fchirmenden Dienfte8 annimmt, 
welcher diefelben Kräfte zum Schutze an fich wertbuoller Lebens⸗ 
interefjen, und mit dem Geflihle der Verpflichtung, verwendet. 
Die Ziele des menſchlichen Lebens und die Mittel zu ihrer Er⸗ 
reihung haben die Griechen eifriger al8 andere Völker überlegt. 
In der Welt der homerifchen Gedichte erfcheint eine dunkle Schicht 
arbeitender Hörigen al8 die Grundlage, auf welcher der heitere 
und anmuthige Lebensgenuß der Edlen ruht; aber Bedürfniſſe 
und Bildung find noch zu wenig berfchieden, um dieſen Gegen- 
faß zu verbittern, oder die Weberlieferung doch für uns zu un= 
Har, um uns feine Schärfe deutlich zu machen. Die Arbeit, die 
noch nicht unliberfichtlich in viele einander bedingende Zweige ſich 
gefpalten hatte, war geehrt, und am meiften, jo weit fie den früh 
ſchon Fünftlerifchen Sinn des Volkes anregte, und nicht fremdem 
Berlangen, fondern der Bedürfnißbefriedigung eined großen ſich 
jelbft genligenden Hauswefens diente. ALS die glänzende Entwid- 
lung des geiftigen Lebens in Griechenland begann, änderten fid) 
allmählich diefe Verhältniſſe. Je inhaltsvoller und edler der Genuß 
wurde, den die fteigende Bildung dem verſprach, der für fie Zeit 
hatte, um fo kürzer fuchte man die Arbeit abzuthun, welche des 
Lebens Nothwendigkeit deckte; das eigentlich menfchliche Leben be= 
gann erft in der Muße, und die Muße menfchlich würdig aus⸗ 
füllen und genießen zu lernen, war die Aufgabe der griechiichen 
Erziehung, die zu diefem Zwecke eine große und lang dauernde 
Arbeit der Zucht nicht fcheute, ſondern mit Eifer auf fih nahm. 
Ich will nicht hier unterfuchen, ob die gleichmäßige Entfal- 


254 


tung und Uebung aller körperlichen und geiftigen Kräfte, welche 
die Natur in und gelegt hat, ob aljo die Erziehung zu ſchöner 
Menfchlichkeit in der That ein vollitändiger Inbegriff unferer Be- 
ftimmung beißen fann. Xichtig ijt e8 aber gewiß, wenn man den 
thatfächlichen Unterfchied zwifchen der Marime diefer antifen Er- 
ziehung und unferer modernen darin fieht, daß dort die Ausbil- 
dung ber Fertigfeit und ihr Beſitz höher galt al8 die Arbeit und 
bie Fruchtbarkeit der Arbeit, zu welcher fie verwendet wurbe. Jeder 
Einzelne follte zum volllommnen Eremplar feiner Gattung aus- 
gebildet werden, die Gattung ſelbſt hatte feine andere Aufgabe 
als dazufein und fich des Genuffes ihrer Anlagen zn freuen. Die 
Erziehung endete mit der vollendeten menfchlichen Haltung, mit 
der ruhenden plaftifchen Ausprägung des Charakters, die num in 
allen Vorkommniſſen des Lebens, die ihr begegnen und die fie 
an fich kommen läßt, unverändert ſich bewährt und ihre Gefchid- 
lichkeit bethätigt, mit den Dingen fertig zu werden. Diefer all- 
feitigen in fich gefchloffenen Ausbildung ift ohne Zweifel der Geift 
der modernen Erziehung weniger günftig; fie bevorzugt mehr als 
billig den Umfang inhaltlicher Kenntniffe vor der allgemeinen 
Gewanbdtheit des Erfennens, Die erzeugende einfeitige Arbeit vor 
der freien Hebung aller Kräfte, die Enge des beftimmten Berufs- 
firebens vor der Theilnahme an allen menfchlichen Berhältniffen. 
Gleichwohl liegt diefen Irrungen ein eigenthlimlicher unverächt⸗ 
licher Zug zu Grunde: die Meberzeugung, daß die Beſtimmung 
des Menjchen nicht die vollendete Darftellung aller Schönheit feiner 
Gattung, fondern die Entwidlung zu unvergleidhlicher Perfön- 
lichfeit ift, Die nicht durch, ein beftändiges edles Spiel mit den 
allgemeinen Fähigkeiten, fondern nur dadurch zu erreichen ift, daß 
dieſe Fähigkeiten in ernfter Arbeit der Durchführung einer indi- 
viduellen Tebensaufgabe gewidmet werden. Nur in diefer freimil- 
ligen Hingabe der Kräfte, die ihm die Natur gefchentt umd die 
Erziehung entfaltet hat, an die mühevolle Verfolgung eines be- 
ftimmten Ziele8 gewinnt der Einzelne die Gaben feiner Gattung 
zu perjönlichem Eigenthum fir fich, und bildet fie in einem das 


255 


ganze Leben erfüllenden Entwidlungsgange zu einer Eigenthiim- 
lichkeit aus, durch die er mehr als ein vollendetes Exemplar feines 
allgemeinen Begriffes wird. 

Wir verfennen feineswegs, daß der rege politifche Sinn bie 
Kunftliebe des griehifchen Volkes und feine Empfänglichkeit für 
Wiffenfchaft für ſehr würdige Beichäftigungen feiner Muße forgte 
und daß in der eifrigen und ftetigen Verfolgung großer Entwürfe 
oder in der beftänbigen ftilleren Theilnahme an den allgemeinen 
Interefjen das Leben Inhalt und Beruf genug fand. Aber die 
Verachtung der elementaren groben ernften Arbeit, die Gering⸗ 
ſchätzung alles Handwerks, die ſelbſt den Künftler mitbetraf, deffen 
Werke man bewunderte, verfehlte dennod, ihren ſchädlichen Ein- 
fluß nicht. So viel auch gearbeitet wurde, fo bildet ſich doch 
in feinem nennenswerthen Grade jene Tiebe zur Arbeit, die eifer- 
füchtig auf die Ehre des Handwerks Hält, innerhalb der engen 
Grenzen eines einförmigen Berufs genug Duellen innerlicher Be- 
friedigung zu finden weiß, mit Luft das ganze Xeben mit den 
Anfchauungsweifen des Berufes durchdringt, und feinen geiftigen 
Gehalt im Liede zu verberrlichen Tiebt. Großentheild aus diefem 
Grunde fehlte wohl auch dem öffentlichen Xeben jene freilich an 
Steifheit grenzende Pflichttreue umd Gewifjenhaftigfeit, die der 
ftetig getibte befcheivene Beruf ficherer anerzieht, als jener Stolz 
einer alle Geſichtspunkte überblickenden und an feinen von ihnen 
fittlich gefeffelten Bildung. Nur wo die Sitte auch im Geringen 
treu zu fein gebietet, wird das Große ficher beftellt fein. Auch 
das Kamilienleben entfremdete die neue Bildung den ſchönen Anfän⸗ 
gen der homeriſchen Zeit. Denn je mehr fie ausfchlieglich ihre Rich- 
tung auf politifche Intereffen und wiffenfchaftliche Beſchäftigung 
nahm, um fo weiter blieb das weibliche Geſchlecht in feiner Theilnah⸗ 
me an ihr zurück. Die Gefellihaft des alten Griechenlands wurde 
ausschließlich eine Männergefelfchaft Nur in den Berfammlungen 
der Männer pulfirte eigentlich das, was wir antikes Xeben nennen; 
die rauen lebten häuslich beichränft, nur in Sparta läſtiger Aufficht 
entzogen, auch Dort ohne an dem Geifte des Tebens, an dem fie Antheil 


256 


nehmen durften, viel zu gewinnen. Mit der mangelnden Gemein⸗ 
famfeit der Arbeit verſchwand das Gefühl menjchlicher Gleichbe— 
rechtigung und von dem Gewinn, den das weibliche Gemilth 
dem Leben zuführen Tann, ift dem Griechen wenig zu Gut ge= 
fommen. Nicht als wenn nicht die natitrliche Gutartigfeit des 
Volks aller der Liebe und Zärtlichkeit der Yamiliengefühle Raum 
gegeben hätte, die wir ja auch an den Thieren bewundern; aber 
der allgemeinen Meinung galt doch das weibliche Geſchlecht fiir 
die unvolllommnere Schöpfung. Seine Schönheit wußte die bil- 
dende Kunft zu wilrdigen, Alles, was an ihm reizend ift, Die 
Poefie; aber man darf ſich nur der böfen Sophismen erinnern, 
mit denen Aeſchylos, darin keineswegs alleinftehend, in den Eu— 
meniden den viel geringern Werth der Mutter im Gegenfaß zum 
Bater beweift, um die beleivigende Geringſchätzung zu erkennen, 
mit der im Ganzen die griechiiche Bildung auf die weibliche Welt 
herabſah. Nirgend bat fie ein Ideal erzeugt, das an Ernſt und 
menfchlichem Werthe dem verehrungswürdigen Bilde der römischen 
Matrona gleichitände. 

Indianiſche Rebensmweisheit theilt dem Manne die Mühe und den 
aufregenden Genuß des Kampfes, dem Weibe die ſchwere und ab⸗ 
ftumpfende Arbeit zu. So freilich teilten Die Griechen das Leben 
nicht; aber fie Löften die Aufgabe, das Verhältniß zwiſchen libe⸗ 
ralem Lebensgenuß und der Arbeit zu beftimmen, die doch gethan 
werden mußte, durch. die Einrichtung der Sklaverei nicht minder 
oberflählih und mechaniſch, nur ohne Anfchlug an irgend ein 
natürliches Verhältniß, das wie der Unterſchied der Geſchlechter 
oder der Menfchenracen einem ungebildeten Sinne wenigjtens einige 
. Berechtigung zu diefer Vertheilung zu gewähren fchien. Wenn 
Heltor und Andromache mit vorahnender Wehmuth das der Witwe 
und Waiſe beuorftehende Elend der Knechtichaft beklagen, fo ver⸗ 
ſöhnt uns nicht blos die elegifhe Schönheit der Poeſie, fondern 
in diefem heroifchen Zeitalter erfcheint wenigftens dies Elend als 
natürliches Verhängniß des Weltlaufs, für das die noch rathlofe 
ſociale Weisheit der Menfchen keine Abhilfe wußte; in der Blüthe 


Pd 


* 12. 
>” 4 E 
i —8 
Te N 2 
? > 


U Ir ma 
4 









257 


Griechenlands, ald man Tängft mit ————— 
Ordnung der Geſellſchaft erwägen gelernt hatte, empört die Ge⸗ 
laſſenheit, mit welcher ſelbſt die erhabenſten Geiſter die Sklaverei 
als jelbftverftändlichen Beſtandtheil ihrer Staatsgebäude betrachten, 
Wenn die Weberfchiffe fich von ſelbſt in Gang feßen werden, fagt 
Ariftoteles, dann werden wir keine Sklaven mehr brauchen. Nicht 
jener Borderfaß, in dem man fo oft eine geniale Borahnung der fünf- 
tigen Mafchinentechnil gefunden hat, fcheint mir merkwilrbig ; 
denn es ift keine Vorahnung, die Ariftoteles hier ausfpricht, fon= 
dern eine Erinnerung an die dädaliſchen Kunſtwerke, welche die 
Mythologie gepriefen hatte. Aber merkwürdig ift, wie die wei— 
tere Entwidlung, von dem Eindrude der zu erwartenden Vortheile 
beberricht, den widerfprechenden Begriff eines einſichtsvoll han⸗ 
delnden Werkzeugs, das gleichwohl nur Werkzeug bliebe, in dem 
Inftitute der Sklaverei zu realifiren fucht. Mit viel Berzie- 
rung durch logiſche Umſchweife verhüllt fie nur wenig den arifto- 
kratiſchen Egotsmus, der aus dem Selbftgefiihle des Bevorzugten, 
aus den Bedürfniſſen der edlen Liberalen Bildung des Einen 
die Selbftverftändlichleit der Knechtſchaft des Andern folgen 
läßt. Die Fähigkeiten der Menfchen find verſchieden; königliche 
Seelen unterfcheidet Ariftoteles, die aus eigner Kraft Schön und 
würdig zu leben wiffen, andere, die weder vernünftige Lebensauf⸗ 
gaben fich felbit ftellen, noch die Mittel ihrer Erfüllung finden 
fünnten. Aber nicht die fittliche Pflicht forgender Erziehung und 
barmberziger Liebe gegen die Schwachen wird um dieſes Unter- 
ſchiedes willen den Starken zugemuthet; der einmal gemählte 
Name königlicher Seelen führt unvermerft den Anſpruch der Herr⸗ 
ſchaft in dieſe Betrachtung ein, und die Schwachen werden zu 
verkäuflichem Beſitz der Starken. 

Diefe Begründung ift fchlimmer, als der wirkliche Hergang 
gewefen war. Kriegögefangenfchaft und Schulohaft waren überall 
die häufigften Urfachen der Sflaverei. Dort begreift fich die 
Härte des Sieger aus dem nachdauernden Halle des Kampfs, 


der mindeftend doch eine leidenfchaftliche ee iſt, 
III. 8. Aufl. 


258 


bier führt eine Reihe von Folgerungen, denen nicht aller Schein 
von Billigfeit fehlt, leicht dazu, Den erftattungsunfähigen Schuldner 
mit feinen Leiftungsfräften haftbar zu maden, dann um deren 
Benußung zu ſichern, feine Freiheit zu befchränfen, um fie endlich 
im Verkehr zu verwertben, feine Perjon zwar nicht unmittelbar 
zu verkaufen, aber fie, gegen Empfang der Forderung an ihn, 
_ einem Andern zu gleicher Arbeitsleiftung zu verpflichten. Im 
beiden Fällen fehlt die nothwendige Anerkennung, daß die Würde 
der menschlichen Perfünlichkeit weder jene Befriedigung der Leiden⸗ 
Ichaft, noch dieſe Durchführung von Rechtsanſprüchen geftattet ; 
die Kaltblütigleit jener fopbiftifchen Deduction des Ariftoteles 
aber entbehrt felbft der ſchwachen Entjchuldigung, die dieſen 
beiden gejchichtlichen Urfprüngen der Sklaverei zur Seite fteht. 
Die Prarid milderte nur zum Theil die Härte der Theorie. 
Welches war das Kennzeichen, das jene königlichen Seelen von 
den gebornen Knechtöfeelen unterſchied? Zunächſt allerdings galt 
der Nichtgrieche dem Stolze des Hellenen al8 naturbeftimmt zur 
Sflaverei; nicht wegen mangelnder Bildungsanlage, denn man 
bildete eben die barbariſchen Kaufflflaven, um fiegubenugen, fondern 
unmittelbar durch feine Abftammung. Aber in den endloſen 
inneren Kriegen wurden dennody die Benölferungen überwundener 
Städte ald Sklaven verkauft, Landsleute den Landsleuten dienſt⸗ 
bar gemacht, wenn auch die öffentliche Meinung der Unbetheis 
ligten es mißbilligte, hier und da das Gefet theils die Knechtung 
verbot, theils die Geftattung des Loskaufs forderte. Im Uebrigen 
war da8 2008 der Sklaven verfchieden genug. Grauſamkeit und 
Luft am Quälen find nicht vorwiegende Nationalfehler der alten 
Griechen; aber fie waren ebenjowenig ein ſanftmüthiges Geſchlecht; 
am meiften verhängnißvoll war ed, daß ihre. fittlihen Grund— 
füge ohne lebhaftes unmittelbare Pflichtgefühl von dem jedes⸗ 
maligen Zuftandeihrertheoretifchen Ueberzeugungen abbingen. Athen 
behandelte feine Sklaven mild und e8 mag fein, daß ihre Lage 
glüdlicher war, als die der freien Proletarier neuerer Zeiten; 
Sparta wurde durch die Marimen feiner Staatöflugheit zur Un— 


259 


menſchlichkeit doctrinär bewogen; die lakedämoniſchen Jünglinge, 
verborgen die Wälder und Fluren durchſtreifend, um die miß— 
vergnügten Heloten zu heimlicher Abſchlachtung anzuzeigen, bieten 
mitten in dem fchönen Griechenland ein echt indianifches Nacht- 
gemälde. 

Auf dieſen tiefen dunklen Schatten beruhte die glänzende 
Entwicklung liberaler Bildung, durch die Athen und einige andere 
Staaten für die Nachwelt ein unvergeßliches Muſter geworden 
ſind. Die Autarkie, das Selbſtgenügen, welches die griechiſche 
Philoſophie ſo oft als das Höchſte menſchlicher Vollkommenheit 
feierte, lag in dieſer Geſtaltung des Lebens am wenigſten; der Ge⸗ 
nuß der Einen beruhte auf der Arbeit der Andern. Wie groß daher 
auch die geiſtige Bildung ſein mag, die ſo errungen wurde, — 
und doch läßt ſich kaum beweiſen, daß ſie nur ſo errungen werden 
konnte, — ſo liegt darin jedenfalls ein erkennbarer und großer, 
obwohl langſam erfolgter und noch nicht beendeter Fortſchritt der 
Menſchheit, daß die Unverantwortlichkeit einer ſolchen Grundlage 
für das Höchſte dem allgemeinen Bewußtſein klar geworden iſt. 

Zunächſt entwickelte im Alterthum das römiſche Reich die 
verderblichen Keime nur weiter. Ein thätiger Sinn der italiſchen 
Völker, weniger auf mannigfaltige Betriebſamkeit gerichtet, ſchätzte 
deſto anhänglicher die regelmäßigen Beſchäftigungen des Landbaus; 
zu dieſer Arbeit wenigſtens kehrte noch lange auch der Römer 
mit Vorliebe und Achtung zurück. Der beſtändige Kriegszuſtand 
des wachſenden Staats hinderte jedoch das Aufblühen der Gewerbe 
und führte allmählich zu jener Gewohnheit, die Bedürfniſſe zu 
erobern, nicht zu erzeugen, die ſpäter den größten Theil des be- 
fannten Erdkreiſes nur als Vorrathskammer des römiſchen Volkes 
ausbeutete, und defjen eigenen Arbeitsfinn abjtumpfte Die Art, 
wie die römische Herrfhaft nicht in Raubzügen, fondern mit ge= 
ordneter Verwaltung und Erpreffung fich ausbreitete, erflärt na= 
türlich, daß der eroberte Gewinn Wenige zu unverhältnigmäßigemn 
Reichthum führte und die Menge verarmen ließ. Seine eigene 
Kraft Hatte das Volk in der Mühfal endlofer Kriegedienfte zu= 

17* 


260 


zufeßen und der heimgelehrte Veteran bejammerte, Teine Scholle 
eined Grumdbefiged mehr wieder zu finden, um fein Haupt zu 
betten, und feine Gelegenheit felbft für Iohnende Tätigkeit, feit- 
dem die Arbeit in den Händen der Menge friegserbeuteter Sklaven 
lag. Wiederholte Berfuche, durch Adervertheilungen die verlorne 
Grundlage eines wirthichaftlihen Gleichgewichtes wiederzugewinnen, 
erfchlitterten die Gefellfchaft; durch Geldfpenden und Speifungen 
mußte der Staat anftatt erarbeiteten Lohnes das verhängnißvolle 
Geſchenk unverdienter Almofen einer Menge zumwerfen, die bald 
nicht8 Anderes mehr als Brod und Schaufpiele verlangte An 
der großartigen politifhen Thätigkeit hatte allerdings das öffent- 
liche Leben noch lange einen bedeutenden und anregenvden Inhalt; 
die ftrenge Familienfitte der alten Zeit übte ihre erziehenden Wir- 
tungen nody lange aus; aber ein ftarrer Rechtsſinn hatte ſchon in 
den Anfängen des Staats die eigenen Angehörigen harten Freiheits⸗ 
befchräntungen und der Dienftbarkeit gegen ihrer Gläubiger unter= 
worfen, die väterlicdje und hausherrliche Gewalt wenigftens in der 
Theorie unbeſchränkt gemacht. Derfelbe Sinn, durd) feine Mannig- 
faltigfeit eigener humaniftifher Bildung gemildert, führte dann, 
nachdem er einmal die wahren fittlihen Grundjäge verfehlt hatte, 
in der rechtlichen und gefeglichen Ordnung der Sklavenverhältniſſe 
zu dem Aeußerften doctrinärer und theoretifch geregelter Grauſamkeit. 


Es war dem Altertfum nicht gelungen, die Bertheilung 
der Arbeit und der Güter zu allgemeiner Glüdfeligfeit oder Doc) 
ohne den Borwurf vermeidbarer Ungerechtigkeit zu ordnen. Aber 
ed war doch eine vielfeitige geiftige Ausbildung gewefen, in ber 
man dad Ziel des Lebens und feinen würdigen Genuß fuchte, 
und wenn die erziehenden Wirkungen der Arbeit dem Gemüth 
wenig zu Gut gekommen waren, fo hatte doch umgefehrt der ent= 
widelte Gefchmad jener liberalen Bildung dadurch fürdernd auf 
die Arbeit eingewirft, daß er ihr eine Flille anziehender Aufgaben 
ftellte. In der Anmuth künftlerifcher Durchbildung, in dem folge- 


261 


rechten Stile der Behandlung, der die zahlreichen Heinen Ueber- 
zefte antifer Arbeit noch für unjern Bid zu dem zufammen- 
hängenden Ganzen eine8 wohlgeoroneten Reichthumg fchöner 
Lebensumgebung verfnüpft, bemerlen wir dieſe Wirkung nicht 
minder, al3 an den großartigen Werfen, zu denen die organifi- 
rende Thätigfeit der politifchen Verwaltungen eine Menge dienender 
Kräfte zufammenfaßte. Die Stürme derBöllermanderungen ändern 
dieſes Verhältniß. Wieder geminnt der abenteuernde inhaltleere 
Trieb des Heroenthums die Uebermacht über die inhaltvolle gei— 
ftige Bildung; zwar die Sklaverei ald rechtlich beftehende Einrich— 
tung verliert ſich allmählich ; aber der arbeitende Theil der Menſch⸗ 
beit verfinft vor dem maffentragenden in eine Abhängigfeit, Die 
vielfach kaum geringer ift, als jene; die Arbeit felbft aber em= 
pfüngt weder im Kleinen noch im Großen belebende Aufgaben 
bon dem neu zur Herrfchaft gefommenen Element. Denn die 
Bedürfniſſe des Privatlebend waren weder jo mannigfach, noch 
fo fein, wie früher; der allgemeine Zerfall des Staatslebens in 
eine Menge von [oder verbundenen einander befehdenden Gebieten 
verhinderte alle die großen Unternehmungen, die der Stolz des 
Alterthums geweſen waren. Es erbielt fi) daher, fo viel fich 


erhalten fonnte, von der antiken Technik und ihren Erzeugniffen, - 


und dieſe überlieferten Reſte wurden ſpäter ein belebender Antrieb 
zum Wiederfortfchritt; aber lange entjtand wenig Neues, und 
feine Zeit ift an fürdernden Entdeckungen und Erfindungen fo 
arm, wie der Zwifchenraum, der den Sturz der claffiichen Welt 
bon der Wiedererwedung der Wiffenfchaften trennt. 

Und gerade die Arbeit follte doch durch ihre eigenthümliche 
Entwidlung namentlih in den nördlichen Ländern Europas die 
Geftalt des Lebens ändern und fie dauernd neu beftimmen. Als 
die völkerbewegenden Stürme fich beruhigt hatten, weckte der Handel, 
ber die Ränder wieder zu durchkreuzen anfing, durch die Erzeugniffe, 


die er zuführte, neue Bedlirfniffe und neue Anftrengungen, dieſe 


um den Preis eigner Erzeugniffe zu befriedigen. An den Sam— 
melpläßen des jo eingeleiteten Wanrenaustaufches bildeten ſich 


- 


262 


Niederlaffungen, an die allmählich die landesüblichen Gewerbe 
des Umkreiſes dauernd fich feffelten. Die Mängel der Rechts- 
fiherheit in jenen Zeiten und die Unvolllommenheit und Schwer 
fülligfeit der Verbindungen zwifchen entfernten Ländern nöthigten 
gleichmäßig zu engem Zuſammenſchluß der Gewerbe gleicher Art 
und gaben ebenjo früh diefen Vereinigungen einen Hang zur 
Ausſchließung des Arbeiterd, der nicht durch libernommene gleiche 
Pflichten der Genoſſenſchaft auch ihre Rechte erworben hatte. Diefe 
merkwürdigen gefchichtlichen Verhältniffe bewirkten, daß Die ge— 
wählte Arbeit in einen feiten Beruf überging, durch den der 
Einzelne feinen Stand in der Geſellſchaft erhielt; denn in der 
That war ihm die Arbeit nicht mehr ein bloßes Duantum 
abzuthuender Leiftung, durch welche ein ebenjo beftimmtes Maß 
von Lebendgenuß eingelauft wurde, fondern dadurch, daß er frei= 
willig für fein Theil ſich zu diefer Arbeit befannt hatte, war er 
aus einem Exemplar der Gattung erft zu einem berechtigten Ele⸗ 
mente der menschlichen Gefellichaft geworden. Diefelbe Gliederung 
der Geſellſchaft, die in den Kaften des Orients ſich zueinerunaufheb- 
lichen die Generationen einjchließenden Naturbeftimmtheit verfeitigt 
hatte, erzeugte fich bier wieder, aber al® eine Ordnung, in wel⸗ 
cher der Einzelne mit Freiheit feine Stelle zu fuchen berechtigt 
war. EineStelle überhaupt aber mußte er ſuchen; fo ſelbſtverſtändlich 
als jeder von Natur in eine Familie gehört, jo darf er auch als 
Glied der Gefellichaft nicht blos Arbeiten thun oder Geſchäfte über— 
haupt verrichten, fondern muß einem beftimmten Berufe leben, deffen 
Pflichten Rechte Lebensgewohnheiten und Genüffe er theilt. In 
ſolche Zünfte der Arbeit gliederte ſich Alles; wurden doch felbft 
Bettler und Vagabunden als Genoſſenſchaft gedacht, die ihr auch 
berechtigtes Daſein durch Beachtung gewifjer Gebräuche fichern mußte. 
Entftanden aus der Gemeinfamteit der Arbeit, wurden diefe Ver⸗ 
bindungen doch bald zu Gemeinfchaften aller Lebensintereſſen; 
an den Feſten der Gefelligfeit, an der Verwaltung der ſtädtiſchen 
Gemeinweſen betheiligte man ſich nicht unmittelbar als Menſch 
und ald Bürger, fondern aus dem Stande, dem man angehörte, 


263 


aus der Zunft, fühlte man nicht nur fein Recht an der Theil- 
nahme entjpringen, fondern fand aus diefer Duelle zugleich bie 
charakteriſtiſchen ausdrucksvollen Formen für fie. 

Vieles an dieſer Geſtaltung des Lebens kann uns jetzt als 
willkürliche Beſchränkung erſcheinen; aber das, worin wir uns 
jetzt durch ſie beſchränkt fühlen, beſtand damals nicht, oder kaum; 
und am Ende iſt zweifelhaft, ob wir in unſern Gefühlen ganz 
Recht haben. Daß man in die freie Geſelligkeit die Erinnerung 
an die Unterſchiede des Standes ſchleppe, dünkt uns leicht ver- 
fehrt; aber es gab damals feine allgemeine Bildung, die Dem 
Meinungsaustaufche Inhalt, feine allgemeine Sitte, die dem Ver— 
fehr fefte wohlthuende Formen geben konnte Noch weniger .leb- 
haft war das Bewußtſein einer Staatsordnung, welche über die 
örtlichen Intereffen der Gemeinde hinaus allgemeinere Gitter des 
gejelligen Lebens vertreten hätte, im Gegentheil eben die aus be- 
ftimmten Arbeitöfreifen entjtandenen Städtegemeinden waren die 
einzigen lebendigen Ganzen, die, durch gegenfeitiges Bedürfniß an 
einander ‘geknüpft, gemeinſame Zwecke verfolgten. So war e8 
natürlich, daß einzelnen Gewerben, da wo fie blühten, eine poli= 
tiſche Geltung zuwuchs, die der Natur der von ihnen vertretenen 
Arbeit gar nicht, aber recht wohl einer Genofjenfchaft von Men- 
ſchen zukommt, die untereinander durch gleiche Lebensgewohnheiten 
gegenjeitige Pflichten und Rechte verbunden jind. 

Der Arbeit jelbft, wie dem öffentlichen Leben, kamen viele Fol- 
gen dieſes Verhältnifjes zu Gut. Die Abſchließung des Gewerbes 
zu einer Zunft, die andere neben ſich bat, ermwedte den natür- 
lichen Wetteifer, mit dem, was. man als Stand gewählt hat, 
auch zu gelten. Jene tüchtige Gefinnung bildete ſich aus, welche 
‚die Ehre ihres Handwerks gegen außen aufrecht zu erhalten ſucht, 
und ſich mit ganzen Sinnen in die Arbeit vertieft, um ihre 
Trefflichfeit zu fteigern; langſam und mit Mühe, durch Teine 
Wiſſenſchaft noch zuvorkommend unterftüßt, eroberte auf dieſem 
Wege des finnigen Handwerks die Fünftlerifche Phantafie wieder 
Boden. Die Deffentlichleit gewann an Wohlfahrt und Schün= 


264 


heit durch die Anftalten der Milvthätigfeit, welche die Genoflen= 
fohaften zunächft für ihre Angehörigen ftifteten, und durch Die 
Beiträge, die fie wetteifernd zur Förderung des gemeinen Weſens 
leifteten; das Familienleben entwidelte, nachdem die alten natio= 
nalen Sitten längft abgekommen, hauptſächlich unter dem Ein- 
fluß diefer Arbeitfamleit die nene Form einer bürgerlichen Zucht, 
deren Strenge und Feftigfeit an die jchöne Zeit der römijchen 
Ehrenhaftigfeit erinnert, und die doc, einestheild von der be- 
freienden Gedankenwelt des Chriftenthums, anderjeit8 von dem 
Geifte der Arbeitsgemohnheit durchdrungen, in nicht wenigen 
Stüden einen unzweifelhaft erreichten Fortſchritt des menfchlichen 
Geſchlechts bezeichnet. 

No Lange ftand diefe Xebensform, die Arbeit und Genuß 
fo viel als möglich verjchmilzt, dem abenteuernden Sinn des 
Ritterthums gegenüber, dem in der allmählich fich befeftigenden 
Geſellſchaft der Stoff zu Thaten zu gebrecdhen anfing, und hatte 
fich felbft gegen die Angriffe deſſelben zu vertheidigen; aber bie 
neue Lebensanſchauung brach fih Doch Bahn, und weni fie nicht 
ſchnell zu politiiher Unabhängigkeit oder entiprechender Berecdh= 
tigung Tam, fo bat fie doch bald die allgemeinen Yormen der 
Sefellichaft zu beitimmen angefangen. Bon ihr war der mate- 
rielle Reichthum der modernen Ränder errungen worden; aus ihr 
ging jpäter Die wieder aufblühende Gelehrſamkeit und die Kunft her⸗ 
vor; jo gab fie faft allein dem Leben feinen Inhalt; es warnatürlich, 
daß fie ihm, bi auf die Tracht und den Geſprächston herab, auch 
fein äußeres Gepräge gab. Aber diefe Herrichaft erreichte fie exft, 
als einflußreiche Ereigniffe aller Art ihren Geift bereit3 weſent⸗ 
lich umzugeftalten angefangen hatten. s 


Die großen geographifchen Entdedungen, mit denen das 
Mittelalter ſchloß, der bald folgende Aufſchwung der Naturwiſſen⸗ 
haften, die außerordentliche Ausdehnung Beichleunigung und 
Erleichterung, welche die Erfindung des Buchdrucks der Gedan— 


265 


fenmittheilung,, die Ausbildung der Schifffahrt und zulett die 
Dampffraft dem materiellen Berfehr gewährte, haben dem Leben 
der Gegenwart in Arbeit Güteraustaufch und Genuß den größern 
Theil feines audzeichnenden Gepräges gegeben. 

Zum erjten Male find die Umriffe der Erdoberfläche mit 
einer Bollftändigfeit Tennen gelernt worden, welche der Zukunft 
feine überrafchenden Entdedungen übrig zu laſſen verfpridht, zum 
erften Male die verſchiedenen Völkergruppen, die den Erdball be- 
wohnen, wenigftend wechfelfeitig eine in den Gefichtöfreis der 
andern getreten. Noch bebedt tiefes Dunkel das Innere großer 
Feſtländer und ihre Hülfsquellen, noch fuchen viele Völker nad) 
Ausgangspunkten zur Anknüpfung dauernder gejelliger Verhält- 
nifje; aber überall begegnet uns ein Forſchungseifer, der nicht 
mehr blos die Einbildungsfraft durch Erzählung fernliegender 
Merkwitrdigfeiten unterhalten, fondern alle diefe unbefannten Fer- 
nen dem Verkehr unferd Culturkreiſes nußbringend anſchließen 
möchte. Die Aufklärung, welche die Wiffenfchaft über den großen 
Zuſammenhang der Naturwirfungen an der Oberfläche der Erde 
zu geben beginnt, gewährt diefen Beftrebungen bereits einen nütz⸗ 
lichen Anhalt, abenteuerliche Unternehmungen durch den Nachweis. 
ihrer wirtbichaftlichen Nuglofigkeit verhindernd, zu andern durch 
Hinweifung auf wahrjcheinliche Erfolge ermunternd. Der Handel, 
Bedarf und Angebot der entlegenften Gegenden mit einander ab— 
wägend, und im Stande, den wünfchenswerthen Austaufch mit 
fteigender Leichtigkeit zu bewirken, nähert fi) der Löſung feiner 
Aufgabe, die Erde zu einem einzigen Wirthichaftsgangen zu ver- 
einigen, die Kargheit der einen Zone durch den Neichthum der 
andern zu ergänzen, die gefährlichen Schwankungen, die in den 
Hungersnöthen des Alterthums und des Mittelalters der Beſtand 
der Geſellſchaft erlitt, zu verhüten, und fo weit die Natur nicht 
durd) Berfagung der unentbehrlichiten Tebensreize das Vordringen 
einſchränkt, die unwirthlichſten Gegenden wenigſtens zu zeitweiligem 
Aufenthalt menfchlicher Weſen einzurichten. Die Entwürfe der 
Politif, niemals den Rüdfichten wirtbichaftlicher Art ganz fremd 


266 


geweſen, find zu einer behutfameren Berechnung viel zahlreicherer 
Wechſelwirkungen genöthigt, von denen Macht und Wohlfahrt 
der Staaten abhängt... Vielleicht ift die richtige Beurtheilung 
deſſen, was bier frommt, am meilten noch in ihrer Kindheit; 
‘einigermaßen indefjen iſt doch die zurlichaltende Kraft deutlich, 
mit welcher da8 Bewußtſein diefes zu jchonenden Zufammenhangs 
verwidelter Berhältniffe auf die Friegerifchen Inftincte der Menfch= 
heit wirkt. Weder mit unfehlbarem Erfolg freilich, noch durch⸗ 
aus zum Vortheil. Denn wie wünſchenswerth auch die Bändi- 
gung rober nur zerftörender Kräfte, jo wenig ift e8 die Fellelung 
des ganzen Lebens durd, die materiellen Güter und durch jene 
Friedensliebe, die aus Furcht vor deren Gefährdung die Gebote 
der Ehre zuweilen gern überhören möchte. 

Bortbeilhaft hat in anderer Weiſe die Eröffnung der ungenteffe- 
nen Räume, welche die neuen Welttheiledarboten, auf Das politifche 
Leben gewirkt. Der Menſchheit, Die manche Durch lange Ueberlieferung 
überfommenen Zuftände wie eine jich fortfchleppende hoffnungsloſe 
Krankheit fühlte, war Gelegenheit zu umfafjenden Neubildungen 
gegeben; fie fonnte aus eigner frifcher Erfahrung lernen, welche 
Kraft und Thätigkeit des menfchliche Leben erfordert, wenn man 
zu den urfprünglichiten Arbeiten jeiner Begründung zurückkehren 
muß, welche vielleicht zu gering gejchäßten Güter die Mißſtände 
einer alten Cultur dennoch einfchliegen, welche neuen lebendfri- 
Tcheren Einrichtungen ſich endlich treffen laffen, wenn man unge= 
bunden durch Ueberlieferung fie unmittelbar aus der Natur der 
Tage treffen darf. Dem gefchichtlichen Leben ift fonft fo wenig als 
dem Arzte der belohnende Gegenverſuch möglich, wie ein vorlie= 
gender und in beftimmter Weife gepflegter Zuftand unter ganz 
anderer Behandlung verlaufen würde. Es war eine der eigen= 
thümlichſten Begünftigungen der neueren Zeit, neben der alten 
Welt eben dieſe neue Welt zu befiten und ohne plöglichen Ab= 
bruch ihrer eigenen Entwidlung die Ergebniffe und Lebenserfah- 
rungen verwerthen zu können, die auf jenen großen VBerfuchöfeldern 
fteebfamer Kräfte gewonnen wurden. 


267 


| Zu diefer großen und folgenreichen Ausdehnung des Schau=- 
plaßes wirthfchaftlicher Thätigfeit fügte der Anwachs der Natur- 
wifjenfchaft die nöthigen Mittel zur Bewältigung. Nubbare 
Erfindungen find zu allen Zeiten gemacht worden, aber nicht 
alle Zeiten hatten die Reizbarkeit der Einbildungsfraft, für Die 
jedes gewonnene Ergebniß ſogleich Ausgangspunkt zu neuen Un- 
ternehbmungen ift; im Alterthum und Mittelalter beſchränkt fich 
gewöhnlich Die Anwendung einer aufgefundenen natürlichen oder 
künſtlichen Kraft auf den nächſten Umkreis der Arbeit, die Ge- 
legenheit zu ihrer Entdedung gegeben hatte Es ift anders in 
unferer Zeit. Berfuchend und berechnend ift man wenigftens auf 
einigen Gebieten der Natur zu den wahren Gründen und Geſetzen 
des Wirkens der Kräfte gelangt; aus zahlreichen Beobachtungen 
bat man die verſchiedenen Erfolge kennen gelernt, welche Die 
Thätigfeit Diefer Kräfte unter willfürlich bergeftellten oder ab— 
geänderten Bedingungen ihrer Anwendung hervorbringt; jeßt 
tommen jeden neu entdedten Stoffe, jedem neu erkannten Natur- 
vorgange eine Menge allgemeiner Geſichtspunkte und Erinnerungen 
an früher Beobachtete entgegen, und erweden nicht nur fondern 
beantworten oft zugleich die Frage, welcher fernere Gewinn aus 
der Unterordnung des Neugefundenen unter beitimmte Bedin- 
gungen oder aus feiner Berfnüpfung mit befannten Kräften zu 
gewinnen fei. Daher das lebhafte Beftreben, jede friihe Ent- 
dedung fogleich in alle ihre möglichen Verwendungen zu verfolgen, 
die häufige Forderung, beftimmte Mittel des Fortfchritts, Die man 
bedarf, und von denen man genau angebbare Leiftungen erwartet, 
durch Auffuchung neuer Stoffverbindungen oder neuer Apparate 
der Kraftverfnüpfung berzuftellen; daher endlich das Bewußtſein 
über die Hinderniffe, die der Erfüllung einer mechaniſchen Auf- 
gabe noch entgegenftehen, und über die Richtung, nach welcher 
die Abhülfe juchende Forſchung fich bewegen muß. Dieje Vor— 
theile, auf dem Charakter unſerer Wiſſenſchaft und auf der Leichtigkeit 
beruhend, mit welcher die verbielfachte Gedanfenmittheilung das 
Zufammenarbeiten Bieler geftattet, haben und nicht nur mit einer 


268 


ungleich größern Menge nußbarer Güter beſchenkt, als Alterthum 
und Mittelalter deren befaß, fondern fie haben auch unfere Sin- 
nesart beftimmt. Vieles, was früher unmöglich ſchien, gilt uns 
jeßt nur noch als Frage der Zeit; an die ausgevehnteften Unter- 
nehmungen wendet fi} die verbundene Arbeitsfraft der Menjchen 
mit gleichmüthiger Meberzeugung des Gelingend. Indem fie nicht 
nur die unlebendige Welt umzugeftalten fucht, fondern auch das 
Reich der lebendigen Geſchöpfe als Beitandtheil einer nutzbaren 
Güterwelt auffaßt, und durch forgfältige Zucht ihre Geftalten nad} 
willkürlichen Abfichten abändert, fühlt fie fih immer mehr als 
Herrin über Die Natur, und aus der Arbeit verliert fich mehr 
und mehr der Reſt jener Scheu, mit der noch das Mittelalter 
die geheimnißvolle Eigenthümlichfeit der Naturftoffe betrachtete, 
und von den wunderbaren Entwidlungen derjelben, die man nur 
zagbaft einleitete, mehr Erfolg als von dem eignen wohlberedhne- 
ten Eingreifen erwartete. 

Auch über den Zufammenhang der Gejellihaft in fich jelbft 
und mit den Naturbedingungen erſtreckt ich diefelbe Betrachtung. 
Dem vielfachen und ſcharfen Nachdenken des Alterthums über diefe 
Fragen fehlte theil® die Unterlage einer große Zeiten und Räume 
umfafjenden Beobachtung, theild die Möglichkeit leichter Mitthei= 
lung der gefundenen Ergebniffe. Den reichen Stoff, den die Ge- 
genwart aus ihrem fehr vergrößerten Gefichtöfreife entlehnt, weiß 
jegt die Statiftit mit eigenthümlich ausgebildeten Methoden der 
Bergleihung zu verwerthen, und die vervielfältigten Mittheilungs- 
mittel machen diefe Gedanken zum Gemeingut größerer Kreife. Zu 
den eigenften Zügen der neuen Zeit gehört daher die wachfende 
Klarheit und die fteigende Verbreitung des Nachdenfens über Die 
Grundlagen der wirthſchaftlichen Gliederung der Gefellichaft, über 
die Geſetze des Verkehrs und die Zufammenhänge aller menjch- 
Iihen Thätigleit. Könnte jemald der menfchliche Geift ſich aus— 
Thlieglich in einer einzigen Richtung bewegen, fo würde die 
gegenwärtige Bevorzugung diefer Gedantenkreife ihre ſchädlichen 
Wirkungen noch deutlicher entfalten. Denn für fi allein be- 


269 


günftigt fie die Neigung, Alles mas geſchieht, nur als Beifpiel 
allgemeiner Gejege aufzufafen. Seine eigne Entwidlung, die ihm 
früher wenigftens zum Theil als die That feiner Freiheit erſchien, 
würde der Menfch ſich gewöhnen, als das Erzeugniß des Himmel- 
ftrih8, der Nahrung, natürlicher Anlage und ihrer naturgefeß- 
lichen Veränderung anzujehn. In diefem jo mechaniſch Haren Zu= 
fammenhange aller Dinge ift e8 fchwer, den Gedanken an Ideen 
höherer Zwecke lebhaft zu erhalten, Die berechtigt find, etwas An- 
deres zu verlangen, als die natürliche Verkettung von Urſachen 
und Wirkungen von ſelbſt hervorbringt. In der That bezeugt 
die Flut materialiftiiher Anfichten, Die uns überſchwemmt, dieſe 
zunehmende Neigung, dem Menfchen feine andere Beitimmung zu 
laſſen, ald den Anſchluß an feine irdifche Natur, die Ausbildung 
der Fähigfeiten feiner Gattung und die Vervielfachung der Güter, 
zu deren Genuß ihn diefe einladen. Und auch die befonnene Res 
flexion, deren Blick fich nicht fo verengt bat, unterliegt Doch der 
Berfuhung, Aenderungen der gejellichaftlichen Zuftände, zu denen 
fie natürliche Bedingungen drängen fieht, um dieſer ihrer Erflär- 
barkeit willen für gerechtfertigt zu balten und in thatlofer Ber- 
ebrung ſich vollendender und vollendeter Thatfachen dem Strome 


⸗ 


der Ereigniſſe zuzuſehen und jede Welle zu billigen, die er wirft. 


Der größte Antheil an der eigenthümlichen Geſtaltung, welche 
die Arbeitsverhältniſſe unſerer Zeit angenommen haben, gehört 
der Entwicklung der Maſchinentechnik. Die unendlich vielen mög⸗ 
lichen Arbeitsverrichtungen der menſchlichen Hand ſehen wir in 
den Maſchinen geſondert, jede einzelne an eine einzelne nur für 
ſie vorhandene Vorrichtung gefeſſelt, aber jede dafür mit größerer 
Kraft Unermüdlichkeit und Genauigkeit ausgerüſtet. Das Alter- 
thum erfreute ſich diefer Vortheile nur wenig; e8 befaß meiftens 
nur Werkzeuge, d. b. Vorrichtungen, welche zwar durch ihren Bau 
und ihre Anwendungsweiſe der menjchlichen Kraft einen bequemeren 
Angriff der Arbeitögegenftände verfchaffen, aber doch die Duelle 


270 


ihrer Bewegung und Leiſtung in der Stärke und Gejchidlichkeit 
des menſchlichen Armes finden. Erſt die Nußbarmachung des 
Waſſerdampfes feßte in zunehmender Allgemeinheit an ihre Stelle 
die Mafchine, welche die verwendbare Kraft zwar nicht aus Nichts, 
aber ebenfowenig aus einer bloßen Summirung oder Berwand- 
lung menſchlicher Thätigkeit, ſondern aus den eignen Wirkſam⸗ 
feiten der Elemente entwidelt, denen jene nur die Bedingung 
ihres nußbringenden Wirkens vorzeichnet. Und jelbit dieſes Ge- 
ſchäft erleichtert fich der Fortichritt der Technik; wie von jeher 
das anfängliche robere Werkzeug dazu diente, ein feineres herzu⸗ 
ftellen, fo find es Mafchinen felbft, welche die fchwer zu formenden 
Beitandtheile anderer Mafchinen bilden, oder fie felbft find es, 
die wenigftend zum Theil nad) den wechſelnden Bedürfniſſen der 
Arbeit ihren Gang ändern und die fchäblichen Nebenwirkungen 
deſſelben ausgleichen. 

Die Koftfpieligleit der Maſchine und ihres Betriebes macht 
in der Kegel nur die mafjenhafte und ununterbrochene Erzeugung 
ihrer Arbeit einträglich. Mit derjelben Nothwendigkeit, mit welcher 
ein Kreis beim Wachſen feines Halbmefjerd immer größere Flä⸗ 
henräume mit immer geringerem Anwachs feined Umfangs ums 
ſpannt, übertrifft bei den meiften Arbeiten mit dem Wachfen des 
Maßftabes, in dem fie unternommen werden, die Zunahme des 
nüßlichen Erzeugnifjes die des Aufwandes; zahlreiche Leiftungen 
erfordern, wenn viele gleichartige demfelben Werkzeug übertragen 
werden, kaum eine Berftärkung der Thätigfeit, die daſſelbe auch 
der einzelnen widmen müßte; bie meiften gewinnen felbft an Voll⸗ 
endung, wenn ihre einzelnen verfchievenen Theile einzelnen Kräften 
übertragen werden, bie fir fie ausfchlieglich geitbt find; eudlich 
wird diefe an fich wortheilhafte Theilung der Arbeit durch die will- 
fürlofe Genauigkeit der Mafchinenwirkung erleichtert, da die 
Sleichartigfeit ihrer Erzeugnifje deren ſpätere Verbindung zu einem 
Ganzen möglich mad. 

Die Bortheile, welche hieraus für die Producte der Arbeit 
jelbft und für ihre Vertheilung entfpringen, find eben fo oft 


271 


gerühmt, als die Nachtheile, die mit ihnen verfnüpft find, be- 
Hagt worden. Ohne Zweifel ift durch das Verdienſt der Mafchinen- 
technif eine große Menge von Mitteln. der Bequemlichfeit und der 
Wohlfahrt durch das Volt verbreitet worden, die der Bildung 
früherer Zeiten entweder ganz unzugänglid, oder um der Müh- _ 
famfeit ihrer Herftellung willen nur wenigen erreichbar waren. 
Bereitd hat jedoch diefe Betriebſamkeit Manches an fich geriffen, 
was früher der Kunft gehörte und aus ihren gleichfürmigen Er- 
zeugniffen verſchwindet, wenn nicht alles fünftlerifche Element, fo 
doch jene Lebendigkeit individueller Phantafie, die fich in fo vielen 
von ‚Einer Hand aus dem rohen Urftoff bis zu feiner Endgeftalt 
mit Liebe durchgebilveten Geräthen des Alterthums oder des Mit- 
telalter8 verräth. Die Ausftattung der Wohnungen mit zufam- 
menpaffendem Hausrath ift jchwerer als fonft; nur die geringe 
Anhänglichkeit, die wir und überhaupt dem allenthalben zufam- 
mengefauften Geräthe zu beweifen gewöhnen, lüßt uns iiber den 
Mangel an folgerechtem geiftigen Ausdruck unjerer gewöhnlichen 
Lebensumgebungen hinwegfehen. Die Wohlfeilheit der Mafchinen- 
erzeugniffe ift anderjeits im Vergleich zu der entwertheten menſch⸗ 
lichen Arbeitäfraft doch jo groß noch nicht, um den Beliglofen 
mit einiger Bollftändigkeit an diefer neuen Bequemlichkeit des Lebens 
theilnehmen zu laſſen. Inganz einfachen Gefellichaftszuftänden er— 
fcheinen die verjchiedenen Gemüthsarten, die e8 aud) da gibt, 
alle nebeneinander ebenfo bereditigt, wie die verſchiedenen Thier- 
arten, für deren feine e8 ein Vorwurf ift, zu fein, wie fie ift; erft 
die wachfende Gefittung ftellt ſich auch ihr Gegenbild, jene Ge- 
meinheit gegenüber, welche die neu entdedten und entwidelten 
fittlichen Berhältniffe alle kennt, und fie alle verachtet oder miß- 
braucht. Ganz ebenso ift die Armfeligleit der äußern Erfcheinung 
fein Vorwurf, häufig felbft poetifch auf einer Eulturftufe, Die 
wenig Bedürfniſſe fennt und fie auf die urſprünglichſte und ein— 
fachſte Weife befriedigt. Dagegen nimmt diefelbe Armuth den 
eigenthiimlichen Charakter der Berlumptheit an, wo fie in der 
Mitte einer Gefellfchaft auftritt, deren Leben auf ein fehr verwickeltes 


| | 272 


und reidy gegliederte Ganze der Bedürfnißbefriedigung begründet 
ift. Indem die Armuth dieſem Ganzen einzelne Bruchftüde ohne 
Zufammenhang entlehnt, macht fie ſich abhängig von Bedirfniſſen, 
für welche ihr eine fichere dauernde und anftändige Abhülfe un⸗ 
möglich ift, und tauſcht für die frühere Genügſamkeit und deren 
erfinderifche Einfälle nur die unbeholfene Unbehaglichleit einer 
lückenhaften Bequemlichkeit der Umgebung und einer liederlichen 
äußern Erfcheinung ein. Nur der Süden mit der Milde feines 
Himmels läßt dem Leben der Menge feine Anmutb; die große 
bedürftige Maffe der nördlichen Culturvölker bringt ihr Daſein 
noch jebt in Wohnungen Kleidungen und unter einem Haus- 
rath Bin, deren abftoßende Anmuthlofigleit kaum etwas vor den 
Hütten voraus haben Tann, in denen fid vor Jahrtauſenden die 
gedrüdten Völker Aſiens vor ihren Despoten verbargen. 

Noch ungünftiger ift die Rüdwirkung der neuen Formen der 
Arbeit auf die geiftige Entwidlung Was das Alterthum jo fehr 
fürchtete, die Verengung des menfchlichen Geſichtskreiſes durch 
geiftlofe Beihäftigungen, bedroht mit der fteigenden Arbeitsver⸗ 
theilung immer mehr die Maſſe des Bold. Schon in der Hand⸗ 
werfsipaltung der älteren Zeit bildete manches Geſchäft den ſtän⸗ 
digen Beruf des Mannes, das, wenn die Rüdficht auf die Freiheit 
der menfchlichen Entwicklung entfchiede, zu den vorlibergehenven 
Deihäftigungen der Hausarbeit gehören müßte Aber das felb- 
ftändige Handwerk enthielt doch meift noch eine Vielheit ver- 
wandter Aufgaben; e8 war möglich, einen Rohftoff durch verfchie- 
dene Stufen feiner Formung bis zu mandherlei Endgeftalten mit 
einer zufammenhängenden, ihres Fortſchritts und Erfolges fid) 
erfreuenden Thätigfeit zu begleiten. Zwar libte das gewöhnlich 
gehandhabte Werkzeug feinen Einfluß auf die Törperliche Aus- 
bildung das Benehmen die Sitten und den BVorftellungskreis 
des Arbeiter; aber dennoch war er nicht der Sklave des⸗ 
jelben: an den fertigen Erzeugniffen konnte er noch in jedem Um- 
riß ihrer Geftalt die Kraft und Feinheit der arbeitenden Bewe- 
gung wiedererfennen, die er hineingelegt hatte Die Theilnahme 


273 


des Menſchen an der Mafchinenarbeit befchränft ſich dagegen auf 
jehr einförmige Handanlegungen, die unmittelbar Nichts deftalten, 
fondern nur einem unbegriffenen Mechanismus eine unverfiandene 
Gelegenheit zu unfichtbaren Leiftungen geben. In die Hände 
und vor die Augen ded einzelnen Arbeiter8 gelangt ver be— 
arbeitete Gegenftand in einer Yorm, deren Entftehung er nicht 
mit angeſehen Hat, und entjchlüpft ihm wieder, um andere an= 
zunehmen, deren SHervorbringungsweife ihm gleichfalls dunkel 
bleibt. Daraus entfpringt die fchlimmfte mögliche Theilung der 
Arbeit, die Scheidung der fcharffinnigen Erfindung und Leitung, 
die mit der wachſenden Mannigfaltigleit, ineinandergreifender 
Mafchinerien immer größere Umficht verlangt, von der einfichts= 
Iofen Handlangerei, die in demjelben Maße, als jene ihre Auf- 
gaben löſt, alles Nachdenkens entbehren kann. Denn die einzige 
Bolllommenbeit, deren Ausbildung dem Arbeiter noch möglich, 
ift, die formale der Pünftlichleit ohne Bewußtfein über Die 
Ziele, zu denen gefommen werden fol, ift genau diefelbe Tugend, 
die man auch von der Machine felbft verlangt. Nur dem un 
gewöhnlichen Talente kann e8 gelingen, aus fo unglinftigen Be— 
dingungen fi) emporzubelfen und felbft in die Reihe der Erfinder 
zu treten; der mäßigen Fähigkeit ift die Arbeit weder Genuß 
noch Bildungsmittel mehr. Und eben diefe nachtheilige Folge 
fann nicht aufgewogen werden dur den Erſatz, den eine 
menfchenfreundliche Einficht durch reichlichere Gewährung und 
befjere Ausfitllung der Muße dem Arbeiter zu geben ſucht. Man 
mag ihm den Zugang zu wiſſenſchaftlichen Bildungsmitteln, zu 
belehrender Lectüre, zu anftändigen Bergnügungen eröffnen, ihm 
jelbft zu dem zeitweiligen Genuffe eines Lurus verhelfen, den 
eine auf maflenhafte Bertugung begründete Betriebfamteit aller 
dings auch ihm zugänglich machen kann: man ändert damit das 
Gefühl nicht, das eine geiftlofe Arbeit nur noch als Mittel zum 
Genuß auffaßt, feine Theilnahme und Hingabe für fie felbft 
begt, jondern fie eben nur abzuthun fucht, um zu ihren Früchten 
zu gelangen. Diefer bedauerliche Zerfall des in Arbeit 
Loge, IIT. 3. Aufl. 


274 


und Muße, die fih wie Tag und Nacht gegenliberjtehen, fohreitet 
unleugbar gegenwärtig weiter vor; wenn wir es als Gewinn 
unferer Zeit rühmen, daß jede Arbeit in ihr geehrt fei, fo beißt 
dies häufig nichts anders, als daß das Erringen von Genuß- 
mitteln durd, Anftrengung irgend welcher Art gelobt wird; nicht 
die Arbeit, fondern ihr Product wird gefucht; eine beftimmte 
Reihe von Jahren nimmt man e8 auf fi, Das widrige Jod) 
jener Anftrengung zu tragen, für die man fein geiftiges Interefle 
fühlt, um dann, reinlich davon abgegrenzt, den Reſt der Jahre 
in müßigem Genuß zu verbringen. 

Auch die gefelligen Berhältniffe, die von der Gliederung 
der Arbeit abhängen, entfalten neue Schattenfeiten. So lange 
die Erzeugniffe der Handarbeit einträglich bleiben, oder fo weit 
fi das Gewerbe mit Urproductionen bejchäftigt, deren Unent— 
bebrlichleit den Abfak fichert, bleibt eine beſcheidene Selb- 
jtändigleit dem guten Willen auch ohne Ueberfluß von Geiſt 
und Kapital möglich. Die umbildenden Gewerbe erfahren zu= 
erſt den unglnftigen Einfluß des erweiterten Weltverlehre, der 
Mafchinenarbeit und des Kapitals. Die größere Ueberficht über 
den Zuſammenhang der Bebürfniffe weiter Ländergruppen erlaubt 
jeßt der Nachfrage in viel größerem Maße zuvorzulommen , Die 
vervielfachten Verkehrsmittel geftatten einen leichten Bertrieb der 
im Großen mwohlfeil bergeftellten Erzeugniffe, die Größe der ver- 
mwendeten Mittel überdauert leichter Die Schwankungen der Nach⸗ 
frage und des Umſatzes; in vielen Fällen trägt felbft die größere 
Güte und Gleichförmigkeit der Majchinenerzeugniffe zur Ver⸗ 
brängung der Handarbeit bei.. Nicht wenige Handwerle werden 
von der jelbftändigen Erzeugung ihrer Artikel zu bloßen Aus- 
befierungen und Anpaffungen gelieferter Fabrikate herabgedrängt; 
andere müfjen jeden eigenen Betrieb aufgebend ſich als dienende 
lieder dem Ganzen großer Unternehmungen unteroronen. Die- 
felben Bedingungen, die überhaupt die Vereinigung gleichartiger 
Arbeiten in Ein Geſchäft lohnender machen, drängen in ver- 
ſtärktem Maße die Mafchineninduftrie zu dem fabrilmägigen Be- 


257 


trieb, der durch Bereinigung von Geift und Geld die Selb— 
- ftändigfeit der bloßen Arbeitötreue verhindert. Auf Zeit aller- 
dings ift dem Yabrifarbeiter die Sicherheit feines Erwerbes 
müheloſer verbirgt; aber während das freie Handwerk auf dem 
Bedürfniffe einer größeren Zahl von Kunden beruht, Die bei 
befchränfterem Verkehr ſich jelten plößlich ändert, hängt für jenen 
das Dafein theils von der Willkür und der Einficht eines 
Einzigen oder Weniger, theils von den Schwankungen des 
Weltmarktes ab, die er weder überſehen noch bekämpfen Tann. 
Für diefe Unficherheit Liegt Fein Erfaß in dem Gefühl, an einem 
großen Ganzen Theil zu nehmen; denn eben die Theilnahme be= 
zieht fich weder auf die Einficht noch auf den Gewinn, fondern 
beinahe auf die Gefahren allein. Nicht erfreulicher find die Aus- 
fihten auf allmähliches Vorwärtskommen. Zur Begründung 
fpäterer Selbſtändigkeit ift der Kohn meift unzureichend, ein 
Uebertritt in andere Beſchäftigungen unthulich, da lange Ein- 
gewöhnung erft für eine beftimmte Arbeit völlig tauglich zu 
machen und fir eine andere zu verderben pflegt. ‘Die befte er⸗ 
reichbare Lebenslage fcheint daher dem Fabrikarbeiter früh erreicht, 
das Trachten nad) Mehrerem nur den Genuß der Gegenwart zu 
verfümmern; der Trieb zur Sparfamleit erlifcht, und früh ge= 
fchlofjene Ehen, da ja der Aufichub Nichts Befjeres verfpricht, die 
Arbeitökraft der Kinder aber bald nützlich vermerthet werden kann, 
vermehren raſch das ausfichtslofe in einen und denfelben Kreis 
des Hinlebens gebannte Proletariat der Arbeit. Die oft vor . 
bandene oft fehlende Menfchlichleit der Fabrikherren kann ohne 
Aenderung in dem Princip der Arbeitögliederung dieſe Uebelſtände 
nicht ausgleichen; ſelbſt ein patriarchalifches Verhältnig zwiſchen 
ihnen und ihren Untergebenen wiirde nicht die vollftändige Löſung 
der Aufgabe fein, die nur in der Wiederherftellung einer auf- 
eigene Thätigfeit gegründeten Selbftändigfeit gefehen werden Tann. 

Nach anderer Seite hin hat Die Arbeit, zu vielem Vortheil 
und nicht ohne Nachtheil, Frühere Schranken gebrochen. Geſchicht⸗ 
liche Berhältnifie hatten den entjtehenden Arbeitszünften feiten 

18* 


276 


Zufammenhang in fi, Abgefchloffenheit nad) außen zum Ge— 
deihen nothwendig gemacht. Aber es war doch eine ganz aben- 
tenerliche Anfchauung, die fich hieraus im Lauf der Zeiten ent- 
widelte, daß alle menfchliche Arbeit mit der Geſetzlichkeit eines 
Reichs von Naturgefhöpfen in eine gejchloffene Anzabl von 
Gattungen zerfalle, deren jede auf einen beitimmten Kreis von 
Geſchäften ein ausjchliegliches Hecht befite. Das Auflommen 
neuer Arbeiten, die in dieſem Syſtem nicht unterzubringen waren, 
führte zur Aufhebung dieſer Beichränfungen, deren Fall aller- 
dings früher gebundenen ftrebfamen Kräften ein freies Feld der 
Arbeit öffnet; aber die allgemeine Lage verkürzt die Vortheile 
diefer Verbeſſerung. Da kaum ein Gefchäft die Möglichkeit eines 
fabrifmäßigen Betriebs völlig ausfchliegt, fo werden auch Diefe 
entfefjelten Kräfte fich in die beiden Klaſſen der Arbeitäherren 
und der unfelbjtändigen Arbeiter ſcheiden. Die Möglichkeit, 
bon einem Gefchäft zum andern liberzugehen, kann dieſes Er- 
gebniß verzögern, wird aber ihrerjeit8 Dazu beitragen, ven Be— 
griff eines Berufes noch mehr in Bergefienheit zu bringen, Die 
Stetigfeit und Sicherheit alter auf ihm beruhenden Sitten auf- 
zulöfen; das Leben wird ſich in eine Reihe vereinzelter Berfuche 
verwandeln, ſich durchzuſchlagen. 

Gegen dieſe Mängel hat die Gegenwart ein nicht Alles 
aber viel verſprechendes Mittel in den freien Vereinen für be— 
ſtimmte Zwecke hervorgebracht. In der Form von Verſicherungs⸗ 
geſellſchaften vertheilen ſie als zweckmäßige wirthſchaftliche Maß⸗ 
regel den unabwendbaren Nachtheil natürlicher Uebel auf die 
Tragkraft Vieler; als Actienvereine zur Herſtellung von Unter⸗ 
nehmungen, die der einzelnen Kraft überlegen ſind, ſind ſie die 
einzigen Mächte, denen durch Verknüpfung des Eigennutzens mit 
dem Gemeinwohl Werke gelingen, welche mit den koloſſalen 
Unternehmungen des Alterthums wetteifern können; in zahl⸗ 
loſen andern Formen werden fie geſchloſſen, um die zerſplit— 
terten Mittel der Einzelnen, die gleiche Bedürfniſſe haben, 
zu fammeln, durch Ankauf von Arbeitsmatertal im Ganzen, durch 


277 

vereinigten Vertrieb der Erzeugniſſe die nutzloſen Mehrkoſten des 
Kleingeſchäftes zu ſparen und dem kleinen Kapital verhältnig- 
mäßig die Ertragsfähigkeit des großen zu gewähren. Erfreuliche 
Erfahrungen bezeugen bereits den Werth der weiteren Fortbil- 
dung, deren dieſes Princip fähig iſt. Bedürftige Arbeiter, ihre 
geringen Erfparniffe zu einem Anlagefapital vereinigend, das 
ihnen die Unternehmung bon Arbeiten zu gemeinjchaftlichem Ge= 
winn ermöglichte, haben ihre befcheidenen Vereine zu blühenden 
Geſellſchaften ausgedehnt, welche die gefchäftlichen Vortheile des 
Großbetriebes zum Nußen aller Theilnehmer ausbeuten. An die 
Stelle des Einen Arbeitsheren tritt die verbundene Arbeitöge- 
meinde, die Abfindung der Arbeit durch einen Lohn, der ſich nur 
nad) dem Angebot unbefchäftigter Kräfte richtete, verwandelt fich 
in einen Mitgenuß des Gewinnes, den die Regſamkeit ver Ge⸗ 
fellfehaft erwirbt; die drückenden und entfittlichenden Wirkungen . 
des Verhältnifjes zwifchen dem alleinigen Herrn und den Dienen= 
den Händen weichen der belebenden und fittigenden Kraft der 
Theilnahme, die der Einzelne für das Gedeihen des ihm jelbft 
mit angehörigen Ganzen hegt. Ohne zu ausdrücklichen Ver⸗ 
boten greifen zu müflen, haben viefe Gefellichaften Laſter der 
Unmäßigkeit, die zu dem Ganzen ihres Geiftes nicht paßten, von 
ſelbſt ſich mildern fehen; der Trieb zu weiterer Fortbildung hat 
fih in ihnen durch Gründung von Unterrichtanftalten und An- 
ſchaffung von Lehrmitteln Tebhaft geäußert; ohne Unterftügung 
von Seiten des Staates und im Kampf gegen viele Hinderniffe 
haben fie ihren Mitgliedern einen Gewinn gebradyt, der ihre 
Eriftenz und ihr Familienleben fichert und behaglicher geftaltet. 
Es ift ſchwer, der Erfahrung vorgreifend, Die meitere Entwid- 
lungsfähigkeit dieſer Genoffenfchaften zu beftinnmen; was fie bis 
jet nicht gewähren, ift die Berufsfelbftändigleit des Einzelnen, 
dem fie nur die Sicherheit feines Auskommens verbürgen. Es 
ift die Frage, ob dieſes Ideal eines auf fich ſelbſt beruhenden, 
fih wirtbfchaftlich felbit erhaltenden und in feinem Wirkungskreis 
fi) abfchliegenden Familienlebens überhaupt unferer Zeit nod) 


278 


allgemein erreichbar ift, und nicht den veränderten Arbeits- 
verhältniffen aufgeopfert werden muß. Noch ift es vorhanden 
in dem aderbauenden Grundbeſitz; follte indeffen die Zeit des 
Dampfpfluges fommen, und fein Uebergewicht den Betrieb im 
Großen nöthig machen, der feiner Wirkungsweife allein bor= 
theilhaft zufommt, fo wird man die Neder zufammenlegen, alle 
Heinen Bertiefungen ausfüllen, alle einen Erhöhungen ab- 
tragen, die vergrößerte ertragsfähige Ebene, auch wenn die 
Eigenthumsrechte der Einzelnen an ihr fortdauern, einzelnen 
Berwaltungsausichüffen üübergeben, von denen man nach der Ab- 
erntung den gewonnenen Ertrag geliefert oder berechnet erhält. 
Der Zufammenhang des Menfchen mit der Natur und der auf 
fie verwendeten Arbeit wird auch hier immer weniger dem Auge . 
überfichtlich werden; auch die Erde wird dann nur noch ein Ob- 
ject nußbringender Ausbeutung fein, nicht der Gegenftand eines 
mit Hingabe und Liebe fortgeführten Berufes. 

Schon die örtliche Bereinigung verknüpft die Dörfliche oder 
ſtädtiſche Gemeinde zu einer Gemeinfamfeit der meiften Lebens- 
interefjen; noch mehr war in ihrer Blüthezeit die Zunft eine 
Genoſſenſchaft fir das ganze Leben, nicht fir die Arbeit allein; 
alle modernen Bereine haben biöher den Nachtheil, Verbindungen 
zu einzelnen Sweden zu fein, derer feiner den ganzen Menſchen 
fefjelt und beſchäftigt. So wie das Werkzeug den Mann ganz 
in Anfprudy nimmt, die Mafchine dagegen fiir ihn arbeitet, fo 
fchloß früher Der Beruf den Menfchen ganz ein, der gegenwär= 
tige Berfehr mit feinen Arbeitsformen gleicht der Mafchinerie, 
die von ihm Feine Hingabe, fondern nur pünktliche Erfüllung 
weniger Bedingungen verlangt. Formelle Tugenden werden reich— 
lich entwidelt; in dem Verkehr des Handels der Poſten der 
Eifenbahnen der Wechfel des Credites Tiegt eine großartige 
Zuverficht auf die Zuverläſſigkeit einer Mafchinerie, die fi aller 
perfönlichen Aufficht und allem "Einfluß der Einzelnen entzieht, 
und für ihn gleichfam im Finftern arbeitet; wozu Altertbum und 
Mittelalter eine Menge perfünlicher Bemühungen gemüthlicher 


279 


Beweggründe wirffam berechneter Meberredung und vielfachen 
Handanlegens bedurfte, das alles wird jegt mit dem geringften 
Aufwand von Aufregung, mit einer Sparſamkeit, die jelbft mit 
Worten geizt, dem für Alle Jorgenden Mechanismus des Ver— 
fehr8 anvertraut. Aber je mehr die eigene Natur des Geſchäfts 
begriffen und ihrem Begriff gemäß entwidelt wird, um fo mehr 
zieht ſich die perfänliche Hingabe und das Gemüth aus ihm zu— 
rück. Es ift wahr, daß ein großer Theil der guten Erfolge, 
die in früherer Zeit diefer lebendigen Betheiligung entfprangen, 
vortheilhafter auf dieſem Wege einer gefchäftlichen Verwaltung 
erreicht wird; daß durch Berficherungen, durch eine allgemeine 
Armenpflege, durdy Anregung eines verftändigen Eigennußes die 
Aufgaben, die fonjt der freien Mildthätigkeit zufielen, theils 
vermindert, theil8 ficherer gelöft werden; aber nachdem alle dieſe 
Gebiete menſchlicher Thätigkeit möglichft mechanifirt fein werben, 
wird die Frage mehr und mehr hervortreten, wo denn nun 
eigentlich das Leben felbft beginnt, wenn alles das, was jonft 
ed ausfüllte, der lebendigen Hingabe entrüdt und nur zu den 
Porbereitungen und Mitteln des Lebens gerechnet wird ? 

Der Genuß der Muße, die nach allen Anftrengungen übrig 
bleibt, ftellt jchmwerlich unfere Zeit im Ganzen fehr hoch. Sie 
kennt freilich wohl die faure Arbeit, aber fehr wenig die frohen 
Feſte. Mit dem Zerfall der Stände und Berufsfreife find die 
alten Sitten, die hergebrachten Gebräuche, der formenreiche In— 
halt Hffentlicher Seite und Beluftigungen, alle beveutfame Cere— 
monien des Umgangs im Abnehmen; die allgemeine Yormlofig- 
feit weiß mit der geivonnenen Muße nichts anzufangen, wenn 
fie nicht wieder an die Arbeit anfnüpft, die abgethan fein Tollte, 
oder zu dem finnlichen Genuß zurückkehrt, der immer zu haben 
iſt. Die Ausftellungen find die einzigen eigenthlimlich modernen 
Tefte, Zweckeſſen die Befräftigungsmittel der Begeifterung. ‘Dem 
Mangel der volksthümlichen Erfindungstraft fommt weder Staat 
noch Kirche zu Hülfe; jener begünftigt weder die politifche Reg⸗ 
ſamkeit der natürlichen Gefelligfeit, noch gefteht er gern gefellige 


280 


Teierlichleit dem politifchen Streben zu, das er noch billigt; 
diefe überläßt durch Verbote oder Mißbilligungen deſſen, was 
fih natürlich regt, die Einbildungstraft des Volkes ihrer eigenen 
Leere, ohne fie durch pofitive Entfaltung eines geiftigen Lebens 
zur Betheiligung an den Formen des Eultus, zum Genuß in 
Kunftichönheit zu gewinnen. 

Üeberbliden wir nun zufammenfaffend diefe gejchichtlicher 
Wandlungen, jo fcheint uns das menjchliche Leben fi mehr 
und mehr in einen Kampf um das Dafein zu verwandeln; Die 
Dervielfachung Kleiner Bedürfniſſe und die nicht in gleichem 
Map zunehmende Leichtigkeit ihrer Befriedigung verzehrt einen 
großen Theil der Kraft, die unbedingteren Zwecken hätte ge= 
widmet werden fünnen, ohne daß die Art der Anftrengung ihren 
Lohn oder doch einen Theil ihres Lohnes in fich felbit trüge. 
An die Stelle der Arbeit, die einft allerdings eine fich ſelbſt 
erquidende Uebung der Thätigfeit war, tritt mehr und mehr das 
Gejchäft, jenes wunderbare Geſchöpf der Gefellichaft, das mit 
feinem vielverzweigten Zufanmenbange, feiner von unferer Will- 
fir unabhängigen Naturgefeglichkeit gewiſſermaßen fein eigenes 
Leben führt und den inzelnen zu feinem keuchenden Diener 
macht. Große Fortfchritte der Einfiht, Erfindungen, gefell- 
Tchaftlihe Neubildungen aller Art, dienen dazu, theild dieſem 
Ungeheuer neue Kräfte zu geben, theild gegen die unerbittliche 
Volgerichtigleit feiner Entwidlung die Meenfchheit, die es ge— 
fchaffen hat, einigermaßen ficher zu ftellen; und wir pflegen das 
eine wie Das andere zu bewundern. Wir ftaunen nicht ohne 
Zufriedenheit’ über den Anwachs der Riefenftädte, in welche die 
Natur des Geſchäfts allınäblich die Bevölkerung zufammendrängt, 
und vergeffen oft, unter welche freudlofen und abfcheulichen 
Bedingungen des Daſeins hierdurch ein großer Theil der Menſch⸗ 
beit verfeßt wird; wir halten e8 für einen Fortſchritt, wenn Die 
zarte Kraft der Kinder zu nugbarer Arbeit verwerthet, oder dem 
meiblichen Geſchlecht Arbeitsfreife geöffnet werden, die der zu— 
nehmenden Anzahl der ehelofen die Möglichkeit des Beitehens 


281 


gewähren, und wir bevenfen nicht genug, daß im beften Falle 
diefe Einrichtungen doc nur erzwungene und völlig naturmwidrige 
Beitrebungen zur Ausgleichung ſchwerer Uebelſtände find, welche 
die fortfchreitende Verwicklung aller Xebensverhältniffe erft ge= 
ſchaffen Hat. 

Daß dies nothwendig fo der Welt Lauf ift, wenn fie fich 
jelbft überlaffen läuft, leugnen wir nicht, und geben denen Recht, 
die e8 für unpraftiiche Weichherzigkeit halten, Zuſtände zurlüd- 
zuwünſchen, die nicht zurüdzuführen find. Aber auch der andere 
Theil der Wahrheit muß dann gefagt werden, der nämlich, daß 
diefer Lauf der Dinge an fich feine Vervollkommnung ift. Die 
zahllofen Einzelfortfchritte des Willens und Könnens, die ohne 
Zweifel in diefer Erzeugung und PBerwaltung der äußern 
Güter gemacht worden find, haben ſich noch keineswegs zu einem 
Geſammtfortſchritte des Lebensglückes verbunden. Denn das 
Wahsthum dieſes Glüdes kann weder in der bloßen Verviel- 
fahung und Verbeſſerung der Erzeugniffe oder in dem zuneb- 
menden Lärmen der Induftrie, noch in dem Kunſtſtück gefucht 
werden, dafjelbe erträgliche Gleichgewicht zwiſchen Arbeit und 
VLohn unter immer Fünftlicheren und verwidelteren Verhältniſſen 
zu unterhalten. Nun ift höchſtens das Legtere der Fall. Jeder 
Fortſchritt brachte mit der Zunahme an Kraft, die er gemührte, 
auch eine entfprechende Zunahme des Drudes mit fi; je 
mannigfacher die einzelnen Elemente, die das Syſtem der Ge- 
ſellſchaft bilden, jegt in ihren ftraffer angezogenen Verbindungen 
einander berühren, um jo mehr gewinnen fie nicht nur durch 
die Bereinigung ihrer Kräfte, ſondern leiden auch um fo mehr 
von den Störungen anderer und von den innern Gegenſtre⸗ 
bungen aller. Nie ift daher fo lebhaft wie jegt der Widerſpruch 
aufgetreten, das ganze Leben, das man beeifert und emſig mit= 
lebt, doch im Grumde nicht für das wahre zu halten und von 
einem anderen fchöneren zu träumen, da8 man leben möchte und 
leben wird, fobald nur jenes Zeit laffen und einen Zugang zu 
ihm öffnen wird. 


282 


Sehen wir nun zu, ob mitten in diefem Geräufch der äußern 
Fortichritte dies beflere Leben ſich Doch erhalten und vielleicht 
durch feine eigne Bervolllommnung den Erfag für jene Mängel 
gefunden hat. 


Drittes Kapitel. 
Das Schöne und die Kunfl. 


Das Kelofjale des Orients. — Die Erhabenheit ber Hebrär. — Die Schönheit 
ber Griechen. — Eleganz und Würde ber Römer, — Daß Gharakteriftiihe und 
Phantaftifche des Mittelalter. — Romantil, — Schönheit Kunft und Aeſthetik im 
wmobernen Leben, 


Die einzelnen Richtungen der geiftigen Thätigfeit, Die fidy 
im Laufe der Gefchichte mit immer neuen und vielleicht immer 
volllommneren Mitteln Ddenfelben höchiten Zielen wibmeten, 
pflegen wir nicht mehr, wie einft die mythenbildende Phantafie 
that, zu perfünlichen Weſen zu verkörpern. Aber nachdem 
wir aud in ihren gefchichtlichen Wandelungen eine gefegliche 
Stetigfeit des Fortfchrittes zu entveden glaubten, haben wir in 
dem Namen und der Borftellung geiftiger Organismen ein Mittel 
gefunden, auch ihnen doc eine größere Selbſtändigkeit ihres 
Daſeins und ihrer Entwicklung zuzufchreiben, als ihrer Natur 
zulommt. Bon der Philofophie und ihrer Geſchichte ift lange 
fo geſprochen worden, als enthielte fie nicht allein die ftet® 
wiederkehrenden Anftrengungen des menjchlihen Denkens, die 
ewig in gleicher Weile geltende. Wahrheit zu fafjen, nicht allein 
die Reihe der Weltanfichten, durch welche das menſchliche Ge— 


283 


müth fi) über die Zwiefel, die Noth und Bedrängniß des 
Lebens hinmwegzuhelfen fuchte; vielmehr die Wahrheit ſelbſt fchien 
in ihr eine Entwidlung ihres eigenen Dafeins, ihres Inhalts 
und ihrer Geltung zu durchleben, gleich dem Wachsthum einer 
Pflanze, welche zwar unfere Sorgfalt und unfere Vorliebe pflegt 
und erzieht, die aber doch unter unferen "Händen nad) einem 
unabänderlichen eignen Bildungsgefege ſich entfalte. Auch von 
dem Reiche der Kunft find wir jet gewöhnt ſo zu fprechen, als 
läge e8 wie ein geheimnißvolles Gebiet des Zaubers zwar mitten 
im Leben, aber dennocd von ihm gefchieden, wenigen zugänglich, 
in eigenthlimlicher Gefetlichkeit und Ordnung der ewigen Schön= 
heit dienend, feine verſchiedenen Erzeugniffe zu einem gefchlofjenen 
Syſtem von Gattungen zufammenhaltend und in feiner zeitlichen 
Geſchichte durch ein einheimifches Geſetz feiner Entwidlung be- 
herrſcht. Wir beftreiten nicht gänzlich die Berechtigung einer 
folhen Auffaffung, nod) die guten Ergebniffe, welche fie für Die 
tiefere Würdigung alles Schönen gehabt bat, aber nicht diefer 
Drganismus der Kunft, für deſſen eigengefegliche Entfaltung die 
- Vebendige Leidenſchaft der Völker nur gleichfam den ernährenden 
Saft dargeboten hätte, ift der Gegenftand, dem wir einige Be— 
trachtungen zu widmen im Begriff find. Sie werden im Gegen- 
theil eben nur jenen wechſelnden Berfuchen der. Menſchheit gelten, 
bie Stimmung, von. der fie beherricht war umd das eigenthüm- 
liche Lebensgefühl, das ihre jedesmalige Lage ihr gewährte, fid) 
abzuflären, indem fie Allem, was fie that und erfuhr, dem Zone 
des alltäglichen Berlehrd wie dem, was als ewiged Denkmal 
zu dauern beftimmi war, das Gepräge desjenigen Schönen gab, 
das fie am lebhafteften begriffen hatte. Für die Nachwelt frei= 
lich pflegen es die Gebilde der Kunft zu fein, welche das ein=- 
leuchtendfte und belehrendfte Zeugniß tiber dies äfthetifche Leben 
der Borzeit geben; fo lange die Gegenwart Gegenwart ift, find 
die Werke der Kunft nur eine und nicht ſtets die fprechendfte 
feiner Offenbarungen; denn ihre Erzeugung und ihre Größe 
hängt von der Menge jchöpferifch geftaltender Geifter ab, melde 


284 


eine uns unbefannte Fügung nicht allen Zeitaltern in gleicher 
Anzahl zutheilt. Aber auch dieſe Geiſter können zerftreute 
Strahlen nit ſammeln, die noch nidht vorhanden find; auch 
ihr Erjcheinen fegt die Gegenwart einer allgemeinen Stimmung 
für diejenige Seite der Schönheit voraus, welcher fie Geftalt 
und Ausdrud zu geben berufen find. Wo deshalb Die großen 
Künftler fehlen und mit ihnen das plögliche Erwachen jener 
teiumenden Stimmung zu bellem Bewußtfein des Ideals, da 
wird doch noch immer das langfame Yortarbeiten dieſes weniger 
ſchöpferiſchen Dranges äfthetifch ausdrucksvolle Ausprägungen des 
Lebens bervorbringen. 


Im Großen lag für die älteften Völfer des Morgenlandes 
das Schöne vorzugsweis. Wohl mögen fie aud) für das Zarte 
und Anmuthige Sinn gehabt haben, wovon der Untergang ihrer 
Literatur uns die Zeugnifje entzogen bat; aber felbjt die indiſche 
Phantafie, die in ihren für uns geretteten Dichtungen in über- 
rafchendem Maße diefen Sinn bethätigt, bat doch faſt noch 
größere Vorliebe für die Ausfchweifung in das Maßlofe und 
Ungeheure. Die Verehrung des Koloffalen durchdrang diefe alte 
Welt; in unabfehbare Zeitfernen der Vergangenheit führte die 
Sage hinauf; über alles Maß deſſen hinaus, was von menſch— 
lichen Kräften zu erwarten und für menfchliches Bedürfniß zu 
fordern war, ftiegen die Bauwerke zum Himmel, debnten ſich 
über den Erbboden oder durchwühlten unterirdiſch feine Tiefen; 
in übernatürlicher Größe und zu zahlreichen Gruppen vereinigt 
fahen die Geftalten der Sculptur auf einen Verkehr herab, der 
nicht minder ind Maßlofe ftrebte; ungeheure Volksmengen füllten 
die Länder der Cultur; unzählbare Kriegsheere ſtanden der Ehr⸗ 
fucht der Eroberer zu Gebote, deren Sehnfucht ſtets zu dem 
Gedanken der Weltmonardhie aufſchwoll; durch geheimnißvolle 
Pracht über die Welt erhöht ‚beraufchten fich die Herricher in 


285 


dem Gefühl ihrer Göttlichkeit und fanden nur die Felfen meit 
über die Erde blidender Gebirge würdig, ihrem harten Grunde 
die Gedenffchriften ihrer Siegen anzuvertraen. 

Die großartige Wirkung, welche die Trümmer diefer Welt 
noch heute auf unfer Gemüth ausüben, überzeugt uns, daß fie 
in ihren Schöpfungen von einem wirklich äfthetifchen Gedanken 
ausging; fie hat nicht blos die Unfähigkeit, das feiner Art nad 
Schöne zu würdigen, durd, Uebertreibung des äußern Maßes ver- 
dedt, fondern in der Größe felbft unzweifelhaft einen einfeitigen 
aber wahren Ausdrud der Schönheit gefunden. Die Bergäng- 
lichkeit alles Menfchlichen, fein eilige8 Vorüberfchwinden an dem 
unermeßlichen Hintergrund der Natur, mußte der beginnenden 
Bildung ſchärfer und troftlofer auffallen, als einer fpäteren Zeit, 
die auf die Ueberlieferung einer reich gegliederten durch menjch- 
liches Streben gejchaffenen Gedankenwelt zurüchliden kann; für 
diefen geheimen Kummer jcheint das Gemüth Beruhigung darin 
gefucht zu haben, daß es mit um jo größerem Troße alle Bilder 
und Denkmale des menjchlichen Lebens bis zu jener Grenze der 
Größe hinauftrieb, welche fie aller Vergleihung mit fonftigen 
Mapftäben veränderlicher Bildungen völlig enthob. Mit Gewalt 
drängten fich die kolofjalen Bauwerke Aegyptens in die Reihe 
der umgeheuren Naturfchöpfungen als ebenbürtige Nebenbubler 
ein; wie fie Jahr aus Jahr ein unerjchüttert auf die Ueber⸗ 
ſchwemmungen des Nil und auf die beweglichen Wellen des Wüſten⸗ 
ſandes hinabjahen, gaben fie dem Beichauenden das Gefühl von 
der unendlichen Dauerbarkeit, mit mweldyer das menfchliche Ge= 
ſchlecht die Zeiten füllt; der religiöfe Eultus, die Todten feiernd 
und der Wieberfehr ihrer Seelen beitändig eingedent, unterhielt 
mit feiner den Ablauf der Emigkeiten für Nichts achtenden Fern⸗ 
ficht Died Gefühl, das die äußere Anfchauung der Kunftwerfe 
erwedt hatte, und aus dem fie felbit hervorgegangen waren. 
Wenn in aller Schönheit eine unmittelbare Gewißheit der Herr⸗ 
ſchaft des geiftigen Lebens über die bemußtlofe Natur Tiegt, an 
deren blindwirkende Mittel feine Erſcheinung geknüpft ift, fo 


286 


haben jene alten Völker diefem Gedanken den einfachften Aus⸗ 
bruc gegeben; fie haben vor Allem ſich Die Thatfache der Ueber⸗ 
windung ded Natürlichen durch den lebendigen Geift vor Augen 
zu Stellen gejucht, und indem fie in das Maßloſe, und doch feines- 
wegs überall in das Formlofe Hinausgingen, haben fie ſich 
gleihfam Raum und freie Luft gefhaffen, um darin, befreit von 
dem Drude, der jede endliche Wirklichkeit trifft, im Gefühle 
ihrer Unvergänglichleit aufzuatimen. Wie viel fie damit erreicht 
haben, wifjen wir nicht; denn von ihrem Gemüthsleben ift Teine 
Ueberlieferung zu uns gelommen. Nur die Schriftiteller des alten 
Teſtaments berichten von der Zügelloſigkeit der vorderaſiatiſchen 
Neiche, in denen das Leben der Luft in wilden hohen Wellen 
ging; Sardanapal's Denkmal aber mit feiner Inſchrift: — 18, 
trink und liebe, denn das Uebrige ift nicht viel werth — ſcheint 
die traurige Schlußbetracdhtung dieſes Zeitalters, das in feinem 
Streben zur Größe fi zwar der Kraft und Unvergänglichleit 
der Gattung verfihern konnte, für den Einzelnen aber Teinen 
ewigen Inhalt des Lebens gefunden hatte, fondern ihn neben 
der Koloffalität der menfchlihen Werke felbft verkleinerte. 

Nur das hebräifche Bolt hat uns redende Denkmäler feiner 
alten Gemüthswelt hinterlaffen. Eine reiche Literatur muß außer 
den Schriften beftanden haben, welche jeßt das alte Teitament 
vereinigt; nad) den Hindeutungen, die dieſes felbit enthält, mag 
fie jedoch mefentlich gleichartig dem gewejen fein, was wir noch 
befigen. Wir wiffen nicht davon, daß Neigung zu wiſſen⸗ 
T&haftlicher Unterfuhung dem Volke eigen geweſen fei; auch ift 
die Sprache weder fir diefen Zweck, noch zum Werkzeuge eines 
vielfeitigen, allerhand Gefihtöpunfte zur Geltung bringenden 
Berfehrs ausgebildet. Nicht als könnte in der. urſprünglichen 
Anlage einer Sprache, in den Grundzligen ihres Baues ein un- 
tiberfteigliches Hinderniß Tiegen, welches won der Entwidlung 
irgend einer Seite des geiftigen Lebens ausſchlöſſe; ſondern der 
Zuftand der Sprache, wie er ſich in irgend einer Zeit vorfindet, 
bezeugt nur, welche Richtungen dies geiftige Leben bis dahin 


287 


nicht genommen, und nach welchen bin es folglich die Ausbils 
dung der Mittheilungsmittel verfäumt hat. Die hebrätfche Sprache 
des alten Teſtaments, mit der geringen Anzahl ihrer für ab- 
ftracte Borftellungen ausgeprägten Worte und der großen Ein 
fachheit ihres Satbaues, tft weder der wifjenfchaftlichen Unter- 
fuchung noch der geiftreichen Converfation günftig; aber fie tft 
in demfelben Maße mehr befühigt zu der treueiten Schilderung 
der ewig wieberfehrenden Grundzüge des menfchlichen Lebens, 
wie zu dem majeftätifchen Ausdrude der Erhabenheit des Gött- 
lihen. Für Beides pflegt die Mannigfaltigkeit durchdachter und 
beberrfchter Gefichtöpunfte bald die Empfänglichkeit, bald wenig» 
ftens die Fähigkeit der Darftellung zu fchmälern; in Beidem find 
die Erzählungen und die Gefänge der Hebräer ein unfterbliches 
Mufter geworden. Die Schäße der Haffiihen Bildung öffnen ſich 
nur einzelnen Sreifen; aus jener Quelle de8 Morgenlandes da= 
gegen jchöpft eine unzählbare Menge der Menſchheit feit Jahrhun⸗ 
derten erhebende Troftfpriiche im Elend, finnige Lehren der Lebens⸗ 
weisheit, warmeBegeifterung für alles Hohe, und hat fich gewöhnt, 
in den Geftalten jener älteften Erzählungen und in ihren Schid- 
falen anſchauliche Vorbilder fir das menfchliche Leben und filr 
die verſchiedenen Charaktere zu erbliden, welche die Mannigfaltig⸗ 
feit feiner Verhältniſſe ausbildet. 

Auf das Große war die Phantafie des Volkes nicht mehr 
gerichtet; fie ftrebte einem Erhabenen nah, das zu feiner 
Wahrheit weder der Größe noch des Schmudes hinzubedarf. 
So ſchildert feine erzählende Poefie in der größten Einfachheit 
ded Ausdrudes Geftalten und Begebenheiten, ohne die mindefte 
gefuchte Verwicklung der Motive, liberal jene natürlichen Be— 
weggründe unbefangen ausfprechend, die, fo lange die Welt 
fteht, die wirklichen legten Antriebe aller menſchlichen Handlungen 
fein werben, gleichwiel, welche tiefjinniger fcheinenden Masten 
ihnen die jevesmalige Bildung der Zeit vorbängen mag. Nicht 
einmal jene bildlichen Bezeichnungen kennt dieſe Darftellung, mit 
denen der epiſche Stil der Griechen im Vorbeigehen die Gegen— 


288 


ftände auffchmüdt, deren er gedenkt, um fie dem allgemeinen 
gehobenen Zone der Schilderung gleichmäßig anzupaffen: viel= 
mehr dadurch eben wirken ihre Geftalten erhaben, daß fie ohne 
allen Schmud, in durchſichtigſter Natürlichfeit dahinwandeln, 
als gäbe ed gar Nichts in der Welt, was das Recht des Menjchen 
in Frage ftellen könnte, fo zu fein wie er ift, umd fo wie 
er ift, ſich ald die letzte Abficht der irdifchen Schöpfung zu 
wiffen. Nur in anderer Weife wiederholt die lyriſche Poefie 
diefelbe Erhabenheit; der Grund, auf dem fie auch in der Er— 
zählung beruhte, tritt hier nur unverhüllter hervor. Auf die 
Zufammengehörigfeit mit Gott befinnt ſich hier da8 Gemüth und 
weiß mit der ganzen Kraft des leidenfchaftlichten Ausdrucks alle 
tiefempfundenen Einzelheiten der Weltichönheit als Bezeugungen 
der göttlichen Allmacht zu preifen. Denn allerdings die Allmacht 
ift ed unter den göttlichen Eigenfchaften vor allen, die empfunden 
wird und die Färbung der äfthetifchen Phantafie beftimmt; un 
zählige Naturbilver begegnen uns wohl, im Einzelnen oft von 
jener unnachahmlichen Schönheit und Lieblichleit, welche die von 
taufend Nebengedanfen befangene Bildung fo jchwer erreicht; 
aber unbenugt zu der Entwidlung eines fortichreitenden Ge⸗ 
dankenganges werden fie Doch nur zufammengereiht, um gleich 
fam von verjchiedenen Seiten ber einander antwortend Die 
allgegenwärtige Geltung der göttlichen Wirkfamfeit, welche fie 
Ihildern, zu verberrlichen. 

Durhdrungen hat das Leben der Ernſt diefer religiöfen 
Stimmung des Gemüths auf das Erhabene allerdings; aber 
eine zufammenftimmende und vielfeitige Schönheit Tonnte er ihm 
nicht geben. Ueber den taufend Kleinigkeiten des Dafeins, zu 
deren Nichtigkeit gleichwohl das Gemüth fich freundlich herab- 
lafien muß, um jede nad ihrem eigenen Sinne zu heben und 
zu verflären, ging der Schwung dieſer Begeifterung zu hoch hin= 
weg, um fie wirkffam zu durchdringen. Nicht der freien Phan- 
tafie, ſondern lehrhaften Folgerungen aus dem großen Principe 
des veligißfen Glaubens blieb die Anoronung des Lebens 


289 


überlaffen; fie füllten es nicht mit Schönheit, fondern mit 
Geremonien und Geſetzeswerken, die durch unmittelbare Anz 
Mmiüpfung des Kleinften an das Größte allerdings dem hebrätfchen 
Volke in allen feinen guten Momenten den Charakter der Er- 
habenheit erhalten, aber für die ſchwungloſeren Augenblicke ges 
ringerer Spannung feine gleichmäßige Anmuth des ganzen Da— 
ſeins gewährt haben. 


Wie bemundernswürdig reich und beweglich das Geiftesleben 
der Griechen ſchon in fehr alter Zeit entwidelt war, bezeugt am 
eindringlichften ihre Spradhe. Ic denke dabei weder an den 
grammatifchen Yormenreihthum noch an den Wohlflang der 
Zautbildungen; beides macht eine Sprache intereflant, aber die 
Sprechenden nicht groß. Im Gegentheil, wie in den Jahren 
voller Stärke der Leib der Thiere manche Theile verwachfen 
verjchoben verödet zeigt, die früher der noch lange nicht lebens⸗ 
Fräftige in klarer Theilung bebeutfamer Symmetrie und erfüllt 
von lebendiger Thätigkeit bejaß, jo müſſen, um ein völlig bieg- 
ſames Mittel des geiftigen Lebens zu gewinnen, auch dem ge- 
jeglichen Leibe der Sprache die Knochen in Etwas gebrochen, die 
Gelenke etwas auögeweitet werden, und der Einfluß des gei- 
fligen Fortſchritts zeigt fi in ihr am meiften in Erſcheinungen, 
die ſchon der Wieverauflöfung ihres früheren Baues angehören 
Es liegt ſehr wenig daran, wie viele Cafus und Modi ſich er- 
halten haben: zum Ausdruck aller denkbaren Beziehungen würden 
fie Doch nicht ausreichen; fie aber bis zur Deckung der meiften 
Bedürfniſſe zu vermehren, tft an fich fein edleres Princip der 
Spradbildung, als das andere, zu Dem bei fteigenden Anforde= 
rungen an Teinheit des Ausdrucks zuleßt Doch immer gegriffen 
wurde, ich meine die felbftändige Bezeichnung der Verhältniſſe 
durch eigene Worte Daß hierin die griehiiche Sprache hohe 
Bollendung hat, ift eine alte Beobachtung; ihre a. find 

Loge, IH. 3. Aufl. 


290° 


ftet8 bewundert worden. Durch fie konnte die Rede außer dem 
fachlichen Inhalt auch die Schattirungen in der Stimmung des 
‚Sprechenden wiedergeben; durch fie wich das Gefühl einer künſt⸗ 
lichen Leiftung, das im Anfang der Eultur jede zufammenhän- 
gende Darftelung begleiten und ihr die feierlichere Form der 
gebundenen Rede natürlicher machen modte, dem andern Ge- 
fühle einer mühelos fliegenden Mittheilung, ähnlich wie in ben 
Sculpturen des Parthenon eine vollendete Kunft die frühere 
Steifheit nur andeutender Darftellung in die großartigfte Täffig- 
feit der vollen Schönheit auflöſt. 

In allen diefen Beziehungen fteht die Sprache Homers in 
einer reizenden Mitte zwifchen urfprünglicher IUngefügigfeit und 
fpäterer Verkünſtelung. Ihren reichhaltig gebrauchten Präpofi- 
tionen und Conjunctionen fühlt ſich Die frifche Herkunft von 
räumlich = zeitlichen Anfhauungen ab, von denen alle Spracden 
ihre Ausdrücke innerer Beziehungen entlehnten. Ihre Sagbildung 
reiht parataltiih) die Gedanken, ohne das Uebermaß hypotak⸗ 
tiſcher Verſchlingung, das fpäter üblich zwar dem fcharfen Obr 
ber claſſiſchen Völfer wohl verftändlich blieb, aber doch dem 
Mufterbilde einer Haren Rede nicht vorzugsweiſe entfpricht, Iſt 
hierin Homers Sprache jugendlich, jo tft Do ihr Geſammt⸗ 
eindrud überwältigend der einer Spradie, in der ſchon lange 
menfhlih von Menfchen geredet morden if. Nur nachdem 
fie dem Berlehr eines Volles von lebhafter Empfänglichkeit für 
alle Lebensintereſſen ſchon geraume Zeit gedient hatte, Tonnte fie 
diefen Grad der Hemmungslofigkeit ihres Gedankenausdrucks 
erreichen; ſelbſt der metrifchen Form mußte eine reiche Hebung 
ähnliches Geſanges vorangegangen fen, um die vollkommen 
reibungslofe Angewöhnung zwiſchen nn Borftellungslauf 
und Rhythmus zu erzeugen. 

Doc abgejehen von diefer blos ſprachlichen Seite bezeugt 
die bomerifche Rede auch als Rede eine früh erreichte Höhe 
menſchlicher Ausbildung. Die bomerifchen Helden fprechen gern 
und viel und wiffen nichts von der Grimmigkeit ſtummes Zu⸗ 


291 


ſchlagens, mit welcher barbarifche Thatkraft nur die Ungelenkig- 
feit verbirgt, mit den eigenen Gedanken fertig zu werden, und 
dad noch größere Ungeſchick, fi) auf ihren Ausdruck und ihre 
Rechtfertigung einzulafen. Die Gewohnheit der Berftindigung, 
die auf Gründe hört, leuchtet überall hindurch; Menfchen, die 
längſt gelernt, fih zu unterhalten, entwideln ihre naturgemäßen 
Meberlegungen einfady und geläufig, nicht überall ſich auf das 
Nächſte beſchränkend, fondern in Gleichniffen und Sätzen von 
fühlbar jprüchwörtlicher Geltung auf ein gejellichaftliches Ge⸗ 
meingut längft erworbener Lebensweisheit fich beziehend. Die 
Helbdenlieder unfer8 eignen Volles bieten bierin einen andern 
Eindrud; der geiftigen Tiefe, die wir an ihnen bewundern 
dürfen, fehlt die Beweglichkeit der Mittheilung. Der unent⸗ 
wickelte Sagbau, die farge Begründung der Gefühle und. Ent- 
ichlüffe, auf deren Ausorud allein fich oft Die Rede befchräntt, 
die zumeilen undurchfichtige felten den nächſten Gefprächögegen- 
ftand verlaffende Gedantenfolge, bezeichnen eine Bilvungsftufe von 
wenig entfalteter gejelliger Wechſelwirkung. Der Erhabenheit 
der poetiſchen Darftellung ift Dies harte Zufammenrüden von 
Ereigniffen und Thaten, zwiſchen denen ſich verſchwiegene Stürme 
des Gemiüthes ahnen laffen, zuweilen günftig, aber da das 
Leben nicht aus einer ftetigen Kette von Großthaten und Schick⸗ 
falen befteht, jo zeugt doch das freundliche Eingehen der griechi⸗ 
[hen Rede auf alle vermittelnden Glieder fir einen größeren 
Hortichritt in der gleichmäßigen humanen Beachtung und 
Geftaltung der kleinen und unſcheinbaren Beſtandtheile des 
Daſeins. 

Und die Griechen wußten, was ſie an ihrer Sprache hatten. 
Wo ihre Dichter einen Blick auf die Entwicklungsgeſchichte der 
Menſchheit werfen, da verfäumen fie nicht, die Gabe der Rede 
als großes Gefchent der Götter zu preifen; ſich ausfprechen zu 
können, ift das Unterfcheidende des Menſchen, Berftändigung 
durch Griimde, Leitung der Gemüther durdy Beredſamkeit ein 
Grundgedanke ihrer fpätern Entwidlung Nichts Schlimmeres 

19* 


292 


weiß Homer den ungefchlachten Eyclopen nachzufagen, als daß 
fie weder Marktverfamminngen nody Gerichtsverhandlungen fen- 
nen und feiner kümmere fih um den andern. Für den Griechen 
entiprang alle wahre Schönheit des Lebens aus der intenfivften 
Wechſelwirkung der geiftigen Kräfte in der Geſellſchaft; unbelaftet 
durch überlieferte Wiffenfchaft oder um die Kenntniffe fremder 
Nationen fich, wenig. fümmernd, konnte dies dialektifche Volk der 
Kunft der Gefprächsführung eine Wichtigkeit beilegen, in welche 
unter veränderten Verhältniffen Leine fpätere Zeit aufrichtig ein— 
ftimmen konnte, obgleich verftändniglofe Nachahmung auch Diefe 
Auffaffungen zu copiren pflegt. 

Die Wirkung diefer Stimmung, die fo früh ſich zur Be- 
obachtung und Ausbildung der menſchlichen Kräfte gewandt hatte, 
und von ihrer Entfaltung alles im Leben erwartete, zeigt ſich 
ſchon in der Stellung, welche fich die Griechen zur Natur gaben. 
Ihr feiner Blid konnte weder die Schönheit ihres Landes noch 
die bedentungsvollen Züge des Naturlebens überfehen, die in 
geheimnißvoller Symbolif das geiftige Xeben und feine Schidffale 
abfpiegeln; wirklich macht ſchon ihre Mythologie in breitefter 
Fülle die natürlichen Erfcheinungen zum Hintergrund und Aus— 
gangspunft religidfer Gedanken; die Poefie. überzeugt und mit 
einer Menge fcharfgezeichneter Gleichniffe von der Aufmerkfamteit, 
mit welcher ihr Sinn aud im Vorüberſtreifen die Eigenthümlich- 
Teiten der Naturfcenerie empfand; felbft die Anlage der Städte 
und ihrer Berfammlungsorte, der Theater und Ringpläge, bezeugt 
den Werth, den ihr Gefühl auf ſchöne und edle Naturumgebung und 
auf weiten Ausblid iiber fie legte. Aber fie empfanden doch die 
Natur hauptſächlich als Umgebung und fuchten ihre Schönheit 
mehr in dem Glüd der Stimmung, welche fie uns gewährt, be= 
trachteten ihre Erzeugniffe mehr als Mittel der Erfrifhung und 
Erheiterung unſeres Dafeins, als daß fie das eigne geheimnißvolle 
Leben derjelben mitzuleben verfucht Hätten. Die Blumen hatten 
doch zuleßt größeren Werth im Kranze um das Haupt des Menſchen, 
als an dem Strauche, der fie in der Einfamkeit trug; und das 


293 


Wort, das Platon dem Sokrates leiht, Bäume Iehrten ihm 
Nichts, aber Menſchen, drüdt gewiß ein allgemeines griechiſches 
Gefühl aus, dem menſchliche Gefellichaft weit im Werth über 
allem Berjenten in die Schönheit der Natur fand. Meder 
Malerei noch Poefie wandten der Landſchaft beſondere Gunft zu; 
wo die Schilderung der Naturfcenerie die Gefühle der Menſchen 
erläutern kann, da fehen wir die Dichter ſchon von Homer an 
fähig, fie mit wenigen nachdrücklichen Zügen meifterhaft zu 
ſchildern; aber fie wäre ihnen nichts geweſen, hätte nicht ihre. 
Schönheit zuleßt in der Stimmung des Genießenden erft ihre 
volle Lebendigkeit erlangt. Die Worte, mit denen Homer die 
furze Schilderung der Sternennadht, wunderſchön und ergreifend: 
in feiner Weife, ſchließt: und herzlich freut fich der Hirte, — 
geben den beftändigen Grundton des griechiſchen Gemüth's an, 
dem alle Herrlichkeit des Himmels nicht nur um die feſtliegende 
Erde ſich drehte, fondern auch alle Güter der Erde nur zum 
Schmud des menſchlichen Dafeins beſtimmt waren. 

Um fo vollftändiger aber haben die Griechen dieſe Erde, 
die ihnen als Schauplak des Menfchenlebens galt, wirklich zu 
ihrer Heimat gemadt. Sie waren darin durch die Rage ihres 
Landes begünftigt. In dem Gedränge eines Urmwaldes, ohne 
jemals mannigfache Lagenverhältniffe gleichzeitig zu liberbliden, 
würde der menfchliche Geift feinen Scharffinn nach andern Rich⸗ 
tungen ausbilden; große Ueberfichten des Mannigfachen, die das 
Auge nie gejchaut hätte, wiirden mwahrfcheinlich auch feiner Ge— 
danfenwelt fehlen. Wo Dagegen die reine Luft ungemefjene 
Fernen ‚auf einmal aufthut, das Auge von Küfte zu Küfte reicht, 
von Gebirgsrüden der Blid verfchiedene Meere zugleich, zwiſchen 
den vorrüdenden Landecken die verbindenden Waflerftraßen, an 
den Geftaden vielfache Niederlaffungen der Menſchen umfaßt; 
da erſt fcheint das Kicht feine Beftimmung wahrhaft zu erfüllen 
und über alle Theile der Welt die Helligkeit eines gegenfeitigen 
Füreinanderſeins auszugießen. Zwiſchen der Haren Mannigfaltig- 
feit folder Bilder wird ein empfängliches Geſchlecht nicht von 


294 


Jugend auf weilen, obne den Blick für räumliche Ordnung und 
mit ihm den Sinn für alle Klarheit und Weberfichtlichkeit zu 
fchärfen. Schon in den homeriſchen Geſängen überraſcht uns 
die Beftimmtheit der geographiſchen Anfchauung, fo lange das 
Lied uns innerhalb der damals feebefahrenen Welt umberführt. 
Kaum eine Stadt, die nicht durch eine ftehende Bezeichnung ihrer 
Lage, am Meer im Flußtbal auf felſigem Borgebirg, ſich als 
wohlbelannte Dertlichleit darftellte; die Wege der KReifenden 
werden mit einer Deutlichleit befchrieben, ‘die uns lehrt, daß 
fhon damals der Verkehr feite Straßen gefunden und die Rich— 
tungen der Seefahrt in wohlbekannter Mebung fanden. Die 
Welt lag anders vor den Griechen, als vor unfern Vorvätern 
da8 waldbewachlene Binnenland; Rhein und Donau ziehen wie 
zwei einfame Silberfäden, in deren Nähe e8 tagt, durch die 
Welt des Nibelungenliedes; entfernt won ihnen die Helden ein 
Kriegszug, jo ſchlägt hinter ihnen die Unflarheit der geographi- 
Then Anfchauungen wie eine pfadlofe Nacht zufammen. 

Und endlich diefes der Anfchauung wohlbefannte Land hatten 
die Griechen auch geiftig völlig in Befig genommen; an jede 
irgend ausgezeichnete Dertlichkeit hatte Die Sage Ereigniffe der 
Götterwelt und der Hervenzeit geknüpft und fie geheiligt; bald 
ſchloß an fie auch das rege gefchichtliche Leben Erinnerungen an 
zahlreiche Großthaten der Sterblihen an. So waren fie Eins 
mit ihrem Lande und fanden Genligen an der Erde; was über 
ihre Heimat binauslag, reizte wohl den erwerbfüchtigen Unter⸗ 
nehmungsgeift, aber beunrubigte nicht ihre äfthetifche Phantaſie; 
der Sig der Götterwelt lag noch erreichbar auf dem Olymp 
innerhalb der Grenzen ihres Gefichtöfreifes, der Zugang zur 
Unterwelt an deffen äußerſten Marten; alles Uebrige Tonnte 
Chaos bleiben, mit fabelhaften Weſen bevölkert, die als Rand— 
verzterungen ohne Eonfequenzen die Heimat umgaben. Nur das 
bebrätiche Volk hat vielleicht Aehnliches erreicht; die Kleinheit 
feines Landes, der nie vergeflene Zufammenhang feiner Stäm- 
me, Die Einheit feiner heiligen Vorgefchichte bat auch über 


295 


Baläftina diefen Reiz einer gefchichtlichen Helligkeit gegoffen, in 
welcher zahlreihe Punkte in Haren gegenfeitigen Verhältniſſen 
herborfreten. _ ’ 

Ein großer Theil des Zaubers, den DieBilder des antiken Lebens 
auf uns ausüben, beruht auf Naturbegäinftigungen, die noch jetzt 
über die Südländer unſeres Erdtheils eine dem Norden nie er- 
reichbare Freudigkeit des Dafeins ausbreiten. Unter diefem milden 
Himmel, der nicht zur Abfchliegung von der Natur zwang, hat 
ein Bolt von natürlicher Wohlgeftalt außer körperlicher Kraft 
und Rüſtigkeit, deren Pflege jeder beginnenden Cultur gemeinfam 
ift, auch den Adel der Geftalt den Anftand der Haltnng und 
die Anmuth des Bewegens als Lebensgüter und Aufgaben ber 
Erziehung betrachten lernen. Es ift überfläffig, zu preifen, was 
in diefen Bemühungen Schönes liegt, und unnüß zu unterfuchen, 
in wie weit die Wirklichkeit den Bildern entfprochen habe, die 
unfere gefällige Phantafie entwirft, wenn fie allen griechifchen 
Boden mit wandelnden fchönen Bildfäulen bevöllert. Die Spott⸗ 
{uft der einheimifchen Dichter hat dafür geforgt, auch von dem 
zahlreichen Vorkommen der Häßlichkeit und des Ungefchids uns 
Zeugniffe zu binterlaffen. Aber auch diefe ändern den allgemeinen 
Eindrud nicht; die Griechen haben es erreicht, noch der Nach— 
welt Vorbilder Schöner Menfchlichkeit zu fein; und wabhrfcheinlich 
fo Yange die Welt fteht, werden die Spartaner in den Thermo- 
pylen, die Athener bei Marathon und Salamis, der Tod bes 
Sofrates, die königliche Gejtalt Aleranderd des Großen, als die 
Haffifchen Erjcheinungen der Aufopferung des Heldenmuthes und 
des Unternehmungsgeiftes gefeiert werden. Nicht weil nicht 
andere Zeiten zahlreiche Beijpiele verfelben Thaten zum Theil aus 
edleren Beweggründen hervorgebracht hätten, aber nirgends hat 
der Werth der Handlung fi fo volllommen, wie in dem grie⸗ 
chiſchen Leben, in der Einfachheit einer ſchönen Erſcheinung aus⸗ 
geprägt, von der die Phantafie Feine widerfpenftige Sonderbar= 
feit der äußeren Schale abzulöfen braucht, um den Kern zu genießen. 

So kürnſtleriſch war das Leben bereits geftaltet, als mit dem 


296 


Höhenpunkt der politifchen Reife ziemlich zufammentreffend die 
Kunft zu ihrer Blüthe gelangte, diefe lebendige Schönheit ſam— 
melte und fie noch einmal auf das Leben zurüditrahlte Ich denfe 
nicht daran, ihre reihe Entwidlung auch nur im Umriß hier zu 
berühren; e8 muß hinreichen, anzubeuten, was die Kunft dem 
Leben war. 

Nun gehört zu den größten und liebenswürbigiten Eigen- 
fchaften des griechifchen Geiftes die Beweglichkeit der Phantafie, 
die dem eigenen Werth jeder Erfcheinung ſich bingibt, und ohne 
mitgebrachte beftändige Färbung der Stimmung der mechjelnden 
Natur der Gegenftinde und der Ereigniffe nachfühlend gerecht 
wird. Eine Grenze hat diefe Eigenfchaft dennoch; nicht nur die, 
welche felbft ein Ruhm ift: jenes unjagbare, aber fo deutliche 
Gepräge, das die verſchiedenſten Erzeugniffe griechifcher Kunft als 
zufammengehörige Leiftungen derjelben Nation Tennzeihnet, — 
fondern auch eine andere, welche zu tadeln mäßig, nachzuahmen 
verkehrt fein mwilrde, Der eigne Werth der Dinge war es doch 
nicht eigentlich, was die Griechen fuchten; er galt ihnen, fo 
weit er Mittel menfchlicher Entwidlung werden Tonnte Alles 
was fich dazu verwerthen läßt, wollendet harmoniſche Haltung 
ded ganzen geiftigen und finnlichen Menfchen hervorzubringen, 
Alles was bleibend diefer Haltung angebilvet oder durch fie zum 
Wiederausdrucke gebracht werden konnte, erregte ihre künſtleriſche 
nachahmende Theilnahme; weit weniger waren fie Dem zugeneigt, 
mas in feiner liberfchwänglichen Tiefe und Unberechenbarfeit nur 
anjchauende Unterwerfung und ‚Hingebung möglich mad. 

Wir kennen ihre Muſik nicht, ein glüdlicher Umftand, der 
wenigftend in diefer einen Kunft der modernen Zeit erlaubt hat, 
groß zu werden, aber nach allen Yeußerungen ihrer Denter 
waren e8 Maß und Harmonie, was fie vorzugsweiſe an ihr 
ſchätzten; das find die Elemente, von denen ſich eine nützliche 
Einwirkung auf das Temperament die Stimmung und das ganze 
Selbftgefühl des Menfchen, jowie ein Wiederausdrud diefer ver⸗ 
edelten Gemüthsfaffung in Geberde Haltung und Handlung 


297 


erwarten ließ. Nicht lag daher näher, als die enge Verbindung 
der antiken Mufit mit dem Tanze; die fchöne und zweckloſe Be— 
wegung der Glieder mar der einfachfte finnlichite Ausdruck und 
Beweis dafür, daß die vernommene Schönheit der Töne nicht 
übermächtig über die menſchliche Natur hinausgeht, daß vielmehr 
der Menfch fie als feine eigene Art zu fein fich aneignen und 
durch die Mittel feiner eigenen Organifation wiedergeben könne. 
Dem Gange der Melodie gegenüber bedeutet dieſe Fähigkeit nicht 
viel; die Verſchlingung der Zonläufe eine wahrhaft ſchönen 
mufifalifchen Werkes reißt und aus den bekannten und vertrauten 
Formen unſers Dafeins in die Hohe Flut eines allgemeinen, 
alle befondern Geftalten im fich auflöfenden Lebens binaus; 
einzelne Figuren und Wendungen entzücken und wohl noch durch 
die Erinnerung daran, daß auch diefe Schönheit nicht durchaus 
unnachahmlich durch die Haltung unferes eigenen menjchlichen 
Dafeins ift; aber dem Ganzen gegenüber find wir wehrlos und 
müſſen und ergeben; die Erfchütterung, die e8 erregt, läßt fid) 
formlos ausweinen, aber ihr Inhalt fich nicht plaftifch dar— 
ftellen. Diefes hohe Meer mieden die Griechen, oder ihre Aeſthe— 
tifer mißbilligten Die Verirrung, fich ihm anzuvertrauen. Die 
überaus nüchternen Gedanken, die mit feltener Hebereinftimmung 
ihre PBhilofophen über Mufit äußern, machen nicht mahrichein- 
lich, dag ihre wirflihe Kunftübung eine ergreifende Schönheit 
entwidelt hatte; die Art vielmehr, wie fie beftimmte Gemüths⸗ 
ftimmungen mit der Selbftverftändfichleit eines Katalogs der be= 
Tannteften Dinge als ftet8 zu erwartende Wirkungen beitimmter 
Tonweiſen verzeichnen, oder durch von Staantöwegen feitgejegten 
Charakter der Muſik die der Verfaffung entfprechende Gefinnung 
zu feftigen hoffen, alles Dies deutet an, daß man fid) in jener 
Armuth an Fünftlerifchem Inhalt bewegte, die gewöhnlich durch 
doctrinäre Ueberſchätzung Zergliederung und Deutung des Er⸗ 
reichten ſich ſchadlos hält. 

Bon der Liederfülle des gefangreichen Hellas ift uns wenig 
gerettet. Was wir vermuthen Tonnten, wird uns ausdrücklich 


\ 


298 


bezeugt: damald wie überall fangen Mütter ihren Kindern 
Schlummerliedchen, verkürzten Schiffer ihr mühfames Rudern, 
Hirt und Landmann die fchleichenden Stunden durch Gefang; 
diefe Volksdichtung iſt uns nicht überliefert. Das kunſtmäßige 
Tied, das wir kennen, bietet zwei eigenthlimliche Züge Der 
eine ift Die Vorliebe für die malerifhe Erwähnung von Ereigniffen, 
die wie eine Reihe lebender Bilder vorlibergeführt werben, nicht 
mit epifcher Ausführlichkeit, fondern wirkungsreich zuſammenge⸗ 
drängt, nicht ſowohl erzählt, als durch prächtige Bezeichnung 
der Hauptumriffe in plößliche Klarheit gerüicdt, nicht mit dem 
Gleichmaß des epifchen Verſes vorgetragen, fondern fi in 
Yeivenfchaftlich bewegten Rhythmen die lebendig anpafjende Form 
ſuchend. Die Neigung zu diefem Bortreten der Fabel mag 
einen tiefen Grund darin haben, daß alles menſchliche Dichten 
und Trachten Leben und Leiden, um der Poefie ein würdiger 
Gegenſtand zu fein, Borbild und Gleihniß in der heiligen Welt 
der Götter und der Mythe haben zu müſſen fchien, der jene 
Bilder entlehnt zu werben pflegten; anderſeits war es ohne 
Zweifel die Richtung auf die plaftifche finnliche Erfcheinung, was 
die griechifche Phantafie bewog, nicht unmittelbar bei dem In⸗— 
halt der Gefühle zu verweilen, fondern fie mittelbar durch Die 
Anſchauung Iebendiger Beijpiele zu verdeutlichen. Der andere 
Zug ift die Gewohnheit, Inhalt und Gewinn ber poetifchen Auf- 
regung ded Gemüths in irgend einem allgemeinen Satze, einem 
Spruche der Lebensweisheit niederzulegen, und auch auf dieſem Wege 
aus der Erihhütterung der Gefühle in die abfchliegende Ruhe 
einer gemeingültigen Weberzeugung zu flüchten. Dies gnomifche 
Element, bei Bindar und in den Chören der Tragiler beftändig 
abwechſelnd mit jenen lebenden Bildern der Gefchichte, tft ſchwer 
unparteiiſch zu ſchätzen. Gewiß liegt in den abgegriffenen Redens⸗ 
arten und in den Gemeinpläßen, mit denen wir im Leben uns 
oft ohne innern Antheil über Leid und Luft hinmeghelfen, an 
fih ein tiefer Inhalt; fie Könnten nicht zu Gemeinplätzen ge= 
worden fein, fchlöffen fie nicht etwas ein, was recht gefaßt eine 


299 


vollgüftige Beruhigung unferer Bewegung gewährte Führt uns 
nun der Dichter unvermerkt fo, daß wie durch zerriffenen Nebel 
plöglic, der unverlorene Gehalt einer fo zur Gewohnheit gewor- 
denen Betrachtung uns in feiner ganzen urfprünglichen herzlichen 
Meinung entgegenblidt, jo wird er die höchſte Wirkung durch 
Worte und Gedanken erzeugen, die in ihrer Unfcheinbarfeit dem 
uneingeweihten Sinne das Gewöhnlichſte auf Erden zu fein 
ſcheinen. Diefe hohe ernfte Schönheit begegnet uns nicht felten 
in den Gefäüngen Pindars und der Tragifer; aber zumeilen -ift 
nur ihre äußerliche Form vorhanden und die Dichtung bewegt 
ſich auf der Grenze, mo die wirkliche Profa durch die Weierlich- 
feit, mit der fie fich flir Poeſie gibt, beinahe wieder anfängt er» 
haben zu werden. Zwiſchen diefen Bolen prachtvoller Geſchichts⸗ 
malerei und eindringlicher Lehre fich bemegend, läßt die griechifche 
Lyrik die eigentliche Seele des Liedes weniger erfcheinen. In 
den zahlreihen Trümmern, die wir von ihr befiten, hören 
wir manchen ſchönen füßen leivenfchaftlichen und innigen Klang, 
aber es ift die Naturfchönheit der menjchlichen Race, die laut 
wird. Alles, was unfere Gattung in ihren gut gearteten Bei- 
fpielen an Lieblichfeit Zürtlichleit und mwiirdiger Anmuth her⸗ 
vorbringt, am meiften, fo weit es in finnlicher Erſcheinung der 
Geberde und des Benehmens Ausdrud findet, alles das hat Die 
Griechen bewegt und ihre künſtleriſche Phantafie hat es er- 
greifend nachgebildet. Die unausdenkbare Tiefe des individuellen 
Gemüths und feine unberechenbare Art, die Welt zu nehmen, thut 
fie nicht vor uns auf. 

Eine allgemeine Wahrheit der Lebenserfahrung an den 
Beifpielen großer Geſchicke zu verdeutlichen, blieb auch die Auf- 
gabe des griechiſchen Schaufpiels, und neben diefer Aufgabe 
tritt die volle Darftelung menfchliher Charaktere und ber 
eigenthümlichen Gerechtigkeit, mit der jeder fein undergleichbares 
Gericht findet, bemerffih zurüd. So wie der Mythus den 
Sinn der heroiſchen Geftalten einmal in den großen und feiten 
Zügen, wie fie ihm nothwendig waren, feftgeftellt hatte, nahm 


300 


das Drama ihn auf, ohne große Neigung, diefe Allgemein- 
bilder menfchlicher Gemüthsarten und Schidfale zu charakteriſtiſch 
individuellen Gebilven zu vertiefen. Man wird dies faum anders 
leugnen können, als wenn man Altes und Neue mit dop— 
yeltem Maße mißt, indem man dort mit milroflopifcher Fein- 
fichtigkeit die Schönheit der Kunſtwerke durch Belegftellen zu 
beweifen fucht, nur bei dem Neuen aber fi) mit Recht uner= 
bittlich auf den unmittelbaren Eindrud beruft, der erjt zu ent— 
ſcheiden habe, wie weit die bewiejene Schönheit äjthetifch wirf- 
fam if. Für die Wirkung der Kunft auf das Leben, die wir 
bier allein ins Auge faflen, war biefe Eigenthiimlichleit bes 
griechifchen Drama ein Vortheil. Die Feinheit pfychologifcher 
Zergliederung und Zeichnung, die in den Meifterwerfen der 
modernen dramatifchen Kunft in die tiefften Bezüige der menjch- 
lichen Perſönlichkeit einzubringen ftrebt, hat nie auf allgemeines, 
und ſelbſt in engern Kreifen nie auf gleichartiges übereinſtim⸗ 
mendes Verſtändniß zu hoffen; die großen monumentalen Züge 
dagegen, mit denen das Altertum, jene unausdenfbare Fülle 
verſchmähend, an verftändlichen Charakteren die Berhängnifje der 
Menſchheit zeichnete, fand in der lebendigen Theilnahme des 
Volks ein begreifendes Mitgefühl. Und dies um fo mehr, weil 
altes Herkommen Gegenftände und Behandlung beitimmte; dem 
Dichter ftand ed weder frei, feine Helden aus jedem vergefjenen 
Winkel der Welt zu holen, noch in feiner Darftellung die 
Sonderbarfeit feiner eigenen Laune: zum Grundton zu machen. 
Immer aus demfelben Kreife der heimifchen Hervenwelt ftammten 
die tragifchen Figuren; die Wiederholung derfelben Fabel durch 
verſchiedene Bearbeiter, der feftgehaltene Charakter der nationalen 
Weltanfchauung, innerhalb defjen fich dennoch die Eigenthümlich— 
feiten der einzelnen Dichter gelten zu machen wußten, dies alles 
wirkte ftetig erziehend auf das Volk und führte es in einem be= 
ftimmten Kreife äfthetifcher Anfchauungen ohne verwirrende Mannig⸗ 
faltigfeit zu einer Urtheilsfähigfeit, die nie wieder fo weit ver— 
breitet geweſen ift, wie in Athen. 


- 


301 


Unter den bildenden Künſten fcheint die Malerei, welches 
auch ihre damalige Kunſthöhe geiwefen fei, auf das Leben des 
Volks am wenigſten eingewirkt zu haben; unendlich wichtiger 
war die häufige Anfchauung der edlen und idealen Formen, 
welche den Griechen ihre Sculptur in einer nie mieder erreichten 
vollendeten Meifterfchaft vor Augen ftellte.e Einmal bis zu diefer 
Höhe entwidelt, bat diefe Kunſt neben den größten auch die ge= 
ringften Aufgaben in ihren Bereich gezogen. Uns, die wir ihre 
Reſte vereinzelt bewundern, erfcheint der Gedankengehalt manches 
antifen Kunſtwerks zu leicht zu wiegen im Vergleich mit der 
auf ihn verwandten Mühe monumentaler Behandlung; aber e8 
war damals beftimmt, mit gar vielen feined Gleichen zur harm⸗ 
ofen Zierde von Gebäuden zu dienen, bis in deren Heinfte 
Linien und Geräthe herab ein zufammenhängender Gedanke 
übereinftimmender Formenſchönheit berrichte, und deren Räume 
durchwandelt waren von Geftalten, die in Tracht Schmud und 
Geberde wie derjelbe lebendig gewordene Gedanke einherſchritten. 
Und das Größte und Schönfte diefer Kunftwelt war dem Bolfe 
nicht entzogen; auf die Tempel, die öffentlichen Verſammlungs⸗ 
pläße der Gemeinde, verwies das Herlommen die fchaffende Kraft 
der Kunft; dem Haufe des Bürgers gebührte nur befcheidener 
Schmuck. An jenen der Nation geheiligten Stätten, in jenen 
Veftlichleiten, in deren Anordnung die Griechen von feinem 
Vollke erreicht worden find, durchdrang alle Herrlichkeit der Kunft 
das Leben vollftändiger, als e8 irgend einer andern Zeit wieder 
zu bewirken gelungen ift; da traten die Götterbilder wie lebendig 
in den Kreis der verehrenden Gemeinde; ba erfchien Muſik und 
Zanz al8 der natürliche Ausdrud der Stimmung, welche bie 
Worte der heiligen Gefänge erwedten ımd in der Anjchauung 
der Bühnenſpiele Hang das aufgeregte Gefühl in die ruhigere 
Betrachtung menfchlicher Geſchicke ab, zu bleibender Erhebung 
über die Gewöhnlichkeiten des Tages. Und dieſes Leben In der 
Schönheit beftand bei den Griechen ohne jene Vergötterung der 
Kunſt, die unfern Zeiten fo gewöhnlich ift; fie vergdtterten Die 


302 


Schönheit, aber nicht die menſchliche Thätigkeit ihrer Herbor- 
bringung. Nicht einmal ein Wort befaßen fie, das die Kunſt 
von jeder handwerksmäßigen Geſchicklichkeit weſentlich unterfchieden 
hätte; fo fehr verftand es ſich ihnen von felbit, daß jede frei= 
geborne Seele für die Schönheit empfänglich ift, zu ihrer Wieder- 
erzeugung aber feiner geheimnißvollern Begabung bedarf ald die 
ift, welche in jedem Beichäftigungsfreife Das erzeugende Talent 
vor dem empfangenden auszeichnet. 


Strengflüffiger erjcheint die Sprache des Römers ber Des 
Griechen gegenäber. Geftaltet diefer die Worte jo, Daß jedes 
ohne Abſatz des Klanges dem vorangehenden und folgenden ich 
anfchließt, jo feheint faft ein entgegengefegtes Beitreben das Latei⸗ 
nifche zu befeelen. Die vocalifchen Auslaute find minder zahl- 
reich, die häufigen Beugungsendungen auf t, m, nt nötbhigen 
durch ihre Unverjchmelzbarkeit mit den meilten ftummen Wort- 
anfängen zu langſamerer Ausfpradde und geben den Eindrud 
einer individuellen Straffheit, mit der jedes Wort fich in ſich 
jelbft zufammengefchloffen von feinem Nachbar trennt. Auch die 
Berjchiedenheit der Bocale wirkt eindringlicher, da die Yautirung 
ſich zwiſchen einer geringern Menge ſchärferer Gegenfäge bewegt, 
und manche Zwiſchenlaute fehlen, welche die griechifche Rede 
Ichattiren. Den Artikel haben die Römer aufgegeben; jedes Wort 
tritt ohne diefe Stüge als feſtes Ganze auf; die Bewegungen des 
Zeitworts find ärmer an Formen, die des Hauptworts nur 
Icheinbar reicher durch den beibehaltenen Ablativ. Denn gegen 
über der griehiichen Bezeichnung durch Präpofitionen, die der 
Römer gleich reichlich weder befitt noch anmwenbet, deutet der 
Ablativ faft nur die Gegenwart einer Beziehung an, und über- 
läßt dem Hörer in meiten Grenzen ihre beftimmtere Natur zu 
erratben. Aermer noch ift Die Sprache an jenen im Griechiſchen 
jo häufigen Partileln zur Andeutung der leifen Gegenjäge Be— 








Dr 2 Ba 


> 


303 





ziehungen Beichränfungen und Spannungen 3 e Bor; 
ftellungen des Redenden, deren Ausdrud wenig zur Dit 
des Thatbeftandes, um jo mehr zur Verdeutlichung der Stimmung 
und der individuellen Meinung beiträgt, mit welcher er aufge- 
faßt wird. Dem leicht fließenden, die kleinſten Yaltungen bes 
Gedankens verrathenden Gewande der griechiichen Rede fteht 
daher die römiſche in fi zufammennehmender Haltung gegen= 
über; einfilbiger reiht fie die Angaben des Thatbeftandes an 
einander, von dem Hörer Ergänzung deſſen erwartend, was fie 
verjchmeigt. Und doc ift Diefe Sprechmeife nicht minder aus⸗ 
drucksvoll und eindringlich; durch Die Stellung der Worte, die 
eigenthüimliche Verkettung des Satzbaus, ſelbſt durch Weglaflung 
des Ausdrucks, den man erwarten konnte. Die Geberde, die 
font nebenhergehend jede unvolllommenfte Yeußerung zu ver= 
deutlichen weiß, ift bier gewiflermaßen in dem Bau der Süße 
jelbft enthalten; in jenen eigentbiimlichen Formen des Vortrags 
als eine deutliche harmoniſche Begleitung die karge Melodie der 
Rede durchdringend erzeugt fie die ernfle Pracht und Die ber- 
haltene Leivenjchaftlichkeit, durch welche die Lateinifche Sprache 
den Leſer ſtets zur Declamation auffordert und dem Hörer den 
Eindruf eines überaus vollfräftigen feine mächtigen Mittel mit 
Beionnenheit verwendenden Lebens gibt. 

Man pflegt die Fünftlerifche Begabung der Römer im Ber- 
gleich mit der der Griechen gering anzuſchlagen. Ohne dies 
wohlbegründete Urtheil zu beſtreiten, müſſen wir dennoch dem, 
was fie auch Hier in Webereinftimmung mit dem Geiſte ihrer 
Sprache leifteten, in anderer Weile eine kaum geringere ges 
Ihichtlihe Bedeutung beilegen, als die ift, welche der Kunft 
des griechiichen Volls zukommt. Den Griechen war an Hellig- 
feit des empfänglichen Blides und an Geftaltungsfraft zugelegt, 
was ihrer Phantafie an Wärme des Herzens und an Sehnfjucht 
vielleicht abging. Wie ihrer Bilpnerfunft fein lebendiger Aus- 
druck, kein verjtedtes Wohlverhältnig der menſchlichen Geftalt, 
feine Schönheit der lebendigen Stellung entging, jo fpiegelte 





304 


ihre Dichtung mit der frifcheften Klarheit neben den äußern Er- 
eigniffen aud alle Gewohnheiten des innern Lebens wieder. 
In jede Lage der Dinge wußte fie ſich gejchmeidig fo weit 
hineinzuverfegen, um darzuftellen, wie Die Menfchen fie zu nehmen 
pflegen; jedes Gefühl des Schmerzed oder des Glüdes, das der 
allgemeinen Sinnesart unferer Gattung aus den Erlebniffen 
unferd Daſeins entpringt, gab fie mit feiner eigenthlimlichen 
Värbung wieder; nirgends verlor fie fich in die Dunkeln Regungen 
individueller Sondergefühle, die dem einen Gemüth unabmweislich, 
dem andern unverftändlich find; nirgends trübt ihr eine gewaltige 
Sehnfucht über das Leben, wie e8 ift, zu einem höhern Frieden 
zu gelangen, die heimatliche Freude an ihm und den unbefangenen 
Gleichmuth in feiner Betrachtung. 

Das Gemüth der Römer fcheint anders angelegt. Schwer: 
blütiger und von beflommenerer Stimmung der Phantafie laſſen 
fie fid) weniger leicht an dem farbigen Abglanz des Lebens ge= 
nügen, hinter dem ſchon ihr religiöfer Glaube ein Net dunkler 
Zuſammenhänge der Dinge ſah, räthfelhafter Beziehungen, die 
um fo mehr auf das menfchliche Dafein drückten, als kein lebens⸗ 
friiher Götterkreis, aus deſſen nachfühlbaren Gewohnheiten fie 
hätten verftändlich werden Tünnen, der Welt einen Abſchluß 
verfühnender Schönheit gab. Auch als Menfchen gegen Menfchen 
bewiejen die Römer mehr Selbftgefiihl der eigenen Perfünlichkeit, 
mehr Scheu vor der Undurdhfichtigleit der fremden; die Griechen 
fühlten fi und nahmen einander weit mehr al8 Exemplare der 
Gattung, deren Ehrgeiz begreiflich darauf gerichtet fein Tonnte, 
in vergleichbaren Leiſtungen der Erfte, aber nicht darauf, als 
Einzelner etwas Unvergleichbares fir fich zu fein. So war ben 
Römern die Neigung zur Reflerion entitanden, bie lange aud) 
ihrer Dichtung in dem Urtheil der neuern Völfer vor der 
fülteren und objectiveren Ruhe der griechifchen eine Bevorzugung 
erwarb, welche fie fo nicht verdiente. Denn der größeren Wärme 
ihrer nachfinnenden und tiberlegenden Einbildungstraft gebrad) 
die künſtleriſche Geftaltungsfraft, die gerade dieſe Sinnesart in 


305 


höherem Maße zur Ergänzung bedurft hätte. Iſt e8 nun einem 
leivenfchaftlich bewegten Geifte ebenfo ungenügend, die Dinge 
unbefangen aufzunehmen wie fie find, als unmöglich), den un— 
rubigen Inhalt des eignen Innern zu einer zweiten ſchönen Na- 
tur auszugeftalten, fo bleibt ihm nur die Entfagung übrig, bie 
wenigitend dem Gemüth, das den Dingen gegenüberfteht, un— 
veränderliche Haltung und würdige Faſſung zu bewahren fucht, 
indem fie alle Erregungen von außen abwehrt und alle Aus= . 
brüche von innen unterdrüdt, welche Die gleichgehaltene Spannung 
männlicher Stimmung überwältigen könnten. Diefen Weg der 
Kefignation haben die Römer betreten, und er hat fie zur Aus- 
bildung einer äfthetifchen Darſtellungsweiſe von bleibendem ge= 
ſchichtlichen Werthe geführt. 

Die unbefangene Mittheilung pflegt nicht ängſtlich im Aus— 
druck zu ſein; nicht immer entſpricht unſern Gedanken über den 
Zuſammenhang der Dinge die Reihenfolge ihrer Ausſprache, ſon— 
dern von plöglichen Erregungen des Gefühls werden die Worte 
über die natürliche Entmwidlung der Sache vorausgetrieben oder 
rüdwärts zu dem gedrängt, worüber fie hinaus fein follten. Die 
griechifche Rede ift voll folcher Unzufammenhänge und Ungebun- 
denheiten, deren ſyntaktiſche Rechtfertigung oft eben fo ſchwer, 
als ihre pſychologiſche Leicht ift, und die in bequemer Ueberflüffig- 
fett, im Wechſel plögliches Abbrechens und jchleppender Nachträge 
die unbefangne oft reizende Unordnung des lebendigen Sprecdhend 
wiederholen. Der lateinifche Ausdrud nimmt fich mit weit mehr 
Abficht zufammen und ſelbſt wo er griechifche Mufter nachahmt, 
geht er den Gedanken nicht nach wie fie laufen, fondern auf 
Drdnung bedacht und auf eine Volljtändigfeit, die jeder weſent— 
lichen Beziehung ihr Recht gewährt und Unmefentliches fallen 
läßt, drängt er den fachlichen Inhalt in feitere und regelmäßi— 
gere Formen der Darftellung zufammen. Jeder andere, vielleicht 
jeder höhere äfthetiiche Vorzug mag dem griechifchen Stil ge= 
bühren, aber dem römischen weit mehr als jenem ſchwebt ein Ideal 


der Correctheit vor. Er wird durchdrungen von dem Ge⸗ 
Xoge, III. 3. Aufl. 20 


306 


fühl einer eignen Geſetzlichleit aller mitzutheilenden Dinge; ohne 
fi mit beweglicher Phantafie auf die Mannigfaltigkeit ihrer 
Natur nachbildend einzulafien, glaubt er ihnen gegenüber allge- 
mein rechtliche Formen beobachten zu müfjen, die ihrem JInhalt 
gleihfam aus der Gerne Adtung ohne Hingebung, aber auch 
Sicherheit diefer Achtung ohne Unterbrechung durch ſubjective 
Launen verbürgen 

Die Kunſtübung der Römer wiederholt in mancherlei Ge⸗ 
ftalten dieſe Eigenthümlichlkeit Alle Kunftformen der Griechen 
haben fie nachgeahmt, und allemal, felbft wo fie mit der Form 
den Inhalt entlehnten, wurde unter ihren Händen das Nachbild 
etwas völlig Anderes als das Borbid. Schon in den ältern 
Nahahmungen griechifcher Schaufpiele, von denen und Bruch⸗ 
ftiide geblieben find, verbreitet die Strenge des altrömijchen 
Charalters tiber den Stil ein wunderbares Gepräge von Kraft 
und Zuverläffigkeit; als die fortgefchrittene Bildung eine größere 
Beinheit der Formen geftattete, ging als die auszeichnende Eigen⸗ 
[haft der römifchen Kunftübung die Eleganz hervor, deren 
Name und Begriff hier zuerft erfcheint, und deren bewußte Werth- 
ſchätzung die fpätere Eultur an den binterlaffenen Beifpielen der 
Römer wieder gelernt hat. Die Griechen befaßen in ihrer Fähig- 
feit, ohne Vermittlung der Reflerion fi) in die volle Schönheit 
der Dinge zu verſenken und fie mit der Natürlichkeit des harm⸗ 
[08 Miterlebten wiederzugeben, ohne Zweifel eine Gabe von höhe⸗ 
rem künftleriichen Werth: aber in der Kunft wie im Leben jchließt 
das Höhere nicht das Niedere fo ein, daß nicht auch Diefes, 
wenn ihm Freiheit der Entfaltung wird, ſich zu einem eigen- 
thümlich unerfegbaren Gut entwideln könnte. So wie die fcharf- 
kantigen Geftalten der Kryſtalle neben der geheimnißvollen An— 
muth der Blumen ihren unverlierbaren Reiz behalten, jo befteht 
die Eleganz der Römer neben der Schönheit der Griechen und 
kann im Ganzen unferer Bildung nicht ohne Verluſt durch dieſe 
mitbertreten werben. 

Was fie ift, hat ihr großer Meifter Horaz durch Lehre und 





307 


Beiſpiel gezeigt. Wenn er von dem Dichter Gewöhnliches auf 
eigenthlimliche Weife gejagt verlangt, fo fordert er weder zu 
dem müßigen Spiel räthfelhafter Bezeichnungen, noch zu nutz⸗ 
Iofem Pomp der Worte auf, fondern zu einer Art von Gerech⸗ 
tigkeit gegen Dinge, gegen die wir ungerecht zu fein pflegen. Der 
Staub zu unjern Füßen reizt weder unfere Aufmerkſamkeit noch 
unfere Bewunderung, und doch findet der bewaffnete Blick in 
ihm kryſtalliniſche und pflanzliche Stoffe, deren charakteriftifche 
Geſtaltung uns wohl feſſeln würde, wenn die trübe VBermifchung, 
in der Dies alles unferm Blicke erfcheint, überhaupt Wahrneh- 
mung und Unterfcheidung geftattete. Nicht anders enthält die Welt 
und das Leben taufend Ereigniffe, die ihr öfteres Vorkommen 
in ihrem Werthe für uns herabgefeßt bat oder für deren eigen- 
tbiimliche Bedeutung die Eile, die und mit Recht zu Zielen von 
größerem Werth führt, nur einen gleichgültigen Seitenblid aus 
der Entfernung übrig läßt. Nur eine neue Ungerechtigkeit wiirde 
e3 fein, dies ungerecht Vernachläſſigte mit befonderer Vorliebe 
bervorzuzieben; aber Gerechtigkeit ift e8, doch nicht mit den ab- 
gegriffenen und verwaſchenen Redensarten der täglichen Gewohn- 
heit darliber hinmwegzugeben, fondern eben im Vorlibergehen felbft 
durch die glüdliche Schärfe eines eigenthlimlichen Ausdruckes an 
den vergefienen Werth des Verborgenen zu erinnern. Die Zu- 
gehörigfeit des Kleinen Unfcheinbaren und Verworrenen zu der- 
felben Welt, in der das Große Schöne und Klare lebt, Yäßt 
dieſe forgfültige und kurze Auffaffung wieder bemerfbar werben, 
ohne durch künſtliche Ueberhöhung Heiner Werthe die Wahrheit 
zu beleidigen. Das ift e8, was Horaz den eigenthümlichen Aus- 
drud des Gewöhnlichen nennt, und mit diefer künſtleriſchen Ab- 
fiht der Eleganz hängen die Mittel zufammen, die er braucht. 
So benutzt feine, wie alle, Dichtlunft Bilder nicht nur um 
denſelben Inhalt doppelt auszudrücken, auch nicht allein, um 
durch die unmittelbare Deutlichkeit eines gewählten Gleichniffes 
einem ſchwieriger darftellbaren Gedanken mühelos Klarheit zu 
geben; fie rechnet endlich nicht blos darauf, daß Gefühle, Die 
20* 


308 


— 


fie erregen möchte, und die fih von felbit an das Bild knüpfen, 
nun ohne befondere Aufforderung, die fie nicht ausfprechen darf, 
auch dem fich zumenden werden, dem das Gleichniß gilt; indem 
fie vielmehr das einzelne Ereigniß, das fie darftellen will, in 
andern ähnlichen wiebderfcheinen läßt, hebt fie dadurch feine Ver⸗ 
einzelung auf, und läßt e8 als einen berechtigten Theil der Welt 
herbortreten, in welcher die mefentlichften Züge feines Cha- 
rakters auch an andern Orten und unter andern Verhältnifien, 
in den allgemeinen Plan des Ganzen aufgenommen, vorfommen 
und gelten. In der Entwerfung diefer Bilder ift die römifche 
Phantafie genau; durch vollendete Sauberkeit ihrer kurzen tropi= 
ſchen Bezeichnungen erweckt fie ein Gefühl der Sicherheit und 
Zuverläffigfeit und ftärkt dieſes Gefühl noch ſelbſt durch Die Auf- 
fälligfeit der Conftructionen, die ſehr oft Die Verknüpfungen der 
Borftelungen von andern als den gewöhnlichen Standpunkten 
aus verfuchen; denn durch ihr Gelingen überzeugen und dieſe 
Verſuche von der Feitigkeit im Zufammenhang des Denkbaren, 
der von mandherlei Seiten betrachtet ſich doch nad) jeder bin 
immer wieder als gefchloffenes Ganze darftellt. Noch viele ähn- 
lihe Mittel dienen derjelben Abficht: das _befonnene Zumeffen 
der zierenden Prädicate, das Gleichgewicht in ihrer Bertheilung 
und in der Anordnung der Borftellungsmaffen überhaupt, zwiſchen 
denen ein mufitalifches oder malerifches Spiel der Beziehungen 
und Gegenſätze mit erfennbarer Mbfichtlichkeit gefucht wird; 
endlich die Vorliebe für die Ausarbeitung eines Gedankens bis 
zu jener monumentalen Einfachheit, in welcher er, alles Un- 
nöthige abftreifend, alles Nöthige auf das Schärffte ausprägend, 
für alle Zeiten als der Haffifche Ausdruck ſowohl für die Natur 
der Sache dafteht, als für Die richtige Faffung des Gemüths ihr 
gegeniiber. 

Leerer Formenglanz genug ift ohne Zweifel aus der Befol- 
gung diefer Vorſchriften durch wenig . begabte Dichter hervorge⸗ 
gangen; aber für die Lebenskraft und den Charakter des Volks 
legt doch diefe Form des Verfahrens ein günſtiges Zeugniß ab; 








309 


fie verräth felbjt in den Erzeugnifjen verfommener Zeiten und 
verwilderter Geifter den Hintergrund einer großartigen, nie ganz 
aufzuldfenden Disciplin der Gedanken. Und auch fonft ift 
die römiſche Eleganz unverächtlich neben der griechiſchen Schön- 
heit. Allerdings bemüht fie ſich bauptfächlich, das allzu Kleine 
Leichte und Unbedeutende Höher und gemwichtiger zu machen, 
um der Weltanficht und der Stimmung den gleihmäßigen Ton 
eines guten Gemäldes zu geben, und es ift wahr, daß fie in der⸗ 
jelben Abficht auch das Große dämpft; an die Stelle -der über— 
wältigenden Naturflänge lebendiger Leidenfchaft ſetzt fie meiſtens 
Das Fültere Nachbild, in welchem die Keflerion Gewinn und 
Berluft des ſchon beendigten Kampfes überichlägt. Aber wenn 
dieſem Verfahren das Höchſte der Poeſie unerreichbar tft, jo liegt 
Dafür in ihm eine großartige Stilifirung der Proſa des 
Lebens. Die Gefellichaft fo wie der Verkehr mit der Natur 
führt unzählige Lagen herbei, aus denen für das Geflihl jede 
wahrhaft durch fich ſelbſt ergreifende Schönheit völlig verſchwun⸗ 
den iſt; gleichgliltige Mittel zum Zwed und die nothmwendige 
Beihäftigung mit ihnen halten die Bewegungen des Gemüthes 
mit empfindlicher Stodung auf, eine Welt werthlofer Aeußerlich— 
feiten berfperrt den Weg zu dem, wonach das Gemüth ſich fehnt. 
Wo irgend ein Vorgang des häuslichen oder des öffentlichen 
Lebens aus feinem eignen Inhalte heraus, oder durch unmittel- 
bare Anfnüpfung an eine religiöfe oder äfthetifche Gedanfenmelt 
ſich verflären ließ, da haben die Griechen verjtanden, ihm eine 
ergreifende Weihe zu geben; aber der Proſa des Lebens, die hart- 
nädig Proſa bleiben will, durch die bloße Form der Behandlung 
Stattlichfeit der Erjcheinung und Intereffe zu geben, war das 
Berdienft der Römer, deren Sinnesart, wie fie fir die Kunft 
den eigentblimlichen Begriff der Eleganz ſchuf, auch in das 
Leben eine nicht minder eigenthiimliche Würde der formellen Be- 
handlung aller Dinge einführte Als mit der finfenden Lebens⸗ 
fraft des Volks die Achtung vor der Heiligkeit der rechtlichen 

Inftitutionen, einjt die ſchönſte Blüthe diefer Sinnesart, fich ab⸗ 


310 


ſchwächte und nur noch das Ceremoniell und die äußerliche Prunk⸗ 
ordnung fortgebildet wurde, waren auch dies noch Elemente, die 
nach dem Zufammenfturz des Reichs in die Formlofigkeit des neu 
beginnenden Bölferverfehrs den Gedanken, daß es für Alles feine 
befondere Art gebe, in der es recht gefchehe, hinüberretten halfen. 
Bon diefem römischen Nachlaß haben nachfolgende Jahrhunderte 
manchen Theil ihrer Lebensichönheit beitritten und noch jegt wirkt 
er, mit dem wir gefchichtlich verknüpft find, Trüftiger unter uns 
fort, als die Künftlerifch beveutfamere Erbichaft der Griechen, für 
die wir und nur in freier Nachahmung begeiftern. Zahlreiche 
Redeformen, die in die neuern Sprachen libergegangen find, das 
Gepräge unferer öffentlichen Feierlichkeiten, ja ſelbſt Die Schwie- 
rigfeit, für alle diefe Begehungen, für Infchriften der Denkmäler, 
für Zeugniſſe feierlicher Acte, für Kurze Sinnſprüche den Lapidar⸗ 
ſtil lateiniſcher Sprache und Sitte fchidlich durch die heimische 
zu erfeßen, bezeugt noch jest den nachhaltigen Einfluß der römi- 
fchen Bildung, dem wir faum erft, und noch ohne rechten Erſatz 
für die aufzugebenden Vortheile, uns zu entwinden im Begriff 
find. 


Zwifchen dem Untergang der antilen Welt und der Gegen- 
wart haben Lebensftimmungen Sitten und äfthetifche Geflihle der 
Menſchheit manche Wandlungen erfahren, die unfere kurze Ueber⸗ 
ficht, auf den bleibenden Gewinn diefer Entwidlungen gerichtet, 
verſchweigen muß. Gefteigerte Aufgaben waren der Phantafie ge= 
ftellt und bewegten fie leidenſchaftlich; aber die günſtigen Bebin- 
gungen fehlten, die dem claffifchen Altertum eine zuſammenſtim⸗ 
mende Ausprägung der Lebensfchönheit möglich gemacht hatten. 

Den Alten war Ausgangspunkt und Ziel aller menfchlichen 
Beitrebungen im Ganzen Har geweſen. Bor ihnen lag die Natur 
als die einzige Wirklichkeit; in unabläffigem Schaffen, das ihr 
Weſen ift, und ohne Ziele zu verfolgen, die jenfeit des Laufs ihrer 





311 


— 


Erjcheinungen gelegen hätten, brachte fie auch die menfchlichen 
Geſchlechter als die jchönften unter ihren vergänglichen Blüthen 
hervor: in Einklang mit diefer Natur zu leben, war zulekt der 
gemeinfame Gefichtspunft, zu dem von den verichtedenften An- 
füngen aus gefommen wurde Die Zrefflichleit des vollsthüm⸗ 
lichen Naturell8 und der offene Sinn eines regen Unterfuchungs- 
geiftes forgten dafiir, daß diefer Anfchluß an die Natur nicht in 
der Folgfamteit gegen jeden rohen und blinden Trieb geſucht, fon- 
dern jede edle und ſchöne Anlage der Gattung als die unter- 
ſcheidende Gabe gepflegt wurde, durch welche die Natur dem Men 
fchen feinen Weg über die Thierwelt hinaus vworzeichnete; dem 
fo ſich bildenden Ideal ſchöner Menſchlichkeit hatte eine wenig ge- 
ftörte nationale Entwidlung reiche zufammenftimmende Ausprägung 
in arakteriftifcher Sitte und Lebensgewohnheit gefichert. Dar⸗ 
über hinaus aber Ingen feine befannten Ziele; fo Tonnte ber 
Lauf der Dinge immer fortgehen: ins Unendliche hinaus mochte 
aus dem Schoße der Natur die vergängliche Menfchheit fich er= 
neuern und jede Generation nad) Erſchöpfung der Güter, die 
ihre Organifation ihr zu entwideln und zu genießen verftattete, 
in diefelbe allgemeine Natur zurückſinken. Nun wird allerdings 
ein geheimer Widerfpruch immer zwifchen diefer Selbftbingabe an 
die Natur und ihre Vergänglichkeit und zwifchen einer Bildung 
beftehen, die, je edlere Ziele fie anerkennt, um fo mehr im Stillen 
eine ewige Aufbewahrung alles Guten vorausſetzt; aber große und 
reiche Thätigfeit führt Teicht mit ihrem Schwunge an unaufgelöften 
Räthſeln vorbei, die den Müßigen drüden. So bat auch das 
Alterthum jenen Zwieſpalt in feiner Weltanficht theoretifch nicht 
überwunden, aber eben fo wenig feine Stimmung von ihm beherr- 
hen laſſen; e8 hat die höhere Welt weder gefucht noch gefunden, 
in deren Ewigkeit die Bergänglichkeit diefer mündet, aber e8 hat 
auch nicht wie der morgenländifche Pantheismus im Preiſen der 
Hinfälligkeit des Einzelnen fich gefallen: fondern glüdliche Bega- 
bung file die Geftaltung des irdiſchen Daſeins und die Freude an 
dem wachſenden Erfolg der Bemühungen halfen ihm über bie eine 


312 


große Entjagung hinweg, fiir die höchſte feiner Leiftungen, Die 
gebildete Entwidlung des menfchlihen Lebens, Teine andere Be- 
deutung als die eines zufunftlofen Naturereignifjed zu wiffen. 
So lange die ſchöpferiſche Thätigleit des Alterthums im aufitei- 
genden Bogen ihrer Bahn, Kunft und politifches Leben noch 
fruchtbar an neuen Formen zum Ausdrud ihres deals, die ge= 
Ihichtlihen Umftände noch günftig zum Verſuch feiner Verwirk⸗ 
lichung waren, fo lange führte auch bier die noch ſchwungvolle 
Gefammtbewegung der Eultur an jener unhaltbaren Stelle ver 
Weltanficht gefahrlos vorbei und die zweifelnden und verzmeifelten 
Anwandlungen einzelner Geifter und einzelner Augenblide än— 
derten wenig an dem allgemeinen Lebensgefühl. Dieſe günftigen 
Bedingungen verfagten im Laufe der Zeit, und das Alterthum, 
zu Ende mit feiner ſchöpferiſchen Kraft, entwidelte ungewiſſe ſehn⸗ 
ſüchtige widerfprechende Stimmungen, die von allen Seiten ber 
die bisherige Weltanfchauung beftritten. 

Der neuen Bildung, die auf den Trümmern diefer vergehen- 
den erwachſen follte, hatte das Chriftenthum von Anfang eine 
andere Grundlage gegeben. Die heitere Selbſtgenügſamkeit der 
irdischen Welt hatte e8 zerſtört; das Leben der Menfchheit, das 
den Alten wie ein endlos gleichfürmiger Strom erſchien, hatte e8 
zwiſchen Schöpfung und Weltgericht zu ernftem Dramatiichen Fort- 
Tchritt zufammengerafft, und dem Himmelreiche gegenüber zu einem 
Heinen Durchgangspuntt herabgedrüdt; Die menjchliche Beſtimmung 
lag nicht mehr als das Ziel vor Augen, zu dem unjere Natur 
von felbft hinverlangt, fondern war nur durch Kampf gegen ange- 
borene Regungen zu erreichen, deren edelfte faſt nur glänzende 
Lafter ſchienen; die große Natur felbft war nicht mehr der einzige 
Grund oder die erhabene Mutter der Dinge, fondern ein Mittel 
in der Hand der Vorſehung; und ſelbſt diefen Beruf batte fie 
verrathen: durch das Eindringen der Sünde waren ihre Züge 
verzerrt und es mifchten fich in ihr Erinnerungen an das Gött- 
liche mit undeutbarer Eigenwilligfeit und dem verlockenden Zauber 
böfer Mächte. Diefe farbenreichen Bilder einer unermeßlichen 





313 


Weltgeſchichte Drangen allgemeiner vielleicht und tiefer in die Phan- 
tafie der mittelalterlichen Völker als der geiftige Gehalt des Chri- 
ſtenthums in ihr Herz; auch wirkten fie nicht nur, wie ähnliche 
Weltgemälde des Morgenlands, die in unausdenkbaren Zeitfernen 
Anfang und Ende der Welt in mythiſcher Unflarheit verſchwim⸗ 
mend erbliden laſſen. In Elarer Hiftorifcher Zeit, erkennbar in 
den Einzelheiten feiner Umriffe, war hier das größte Wunder ber 
göttlichen Weltführung gefchehen und 309 alle mit ihm berbunde= 
nen Ereignifle der Vergangenheit und Zufunft, wie eben erft ge- 
weſene oder nah beuorftehende, in diefelbe blendende Realität 
empor. Man fah nicht Symbole vor fi, ungewiß, wie viel an 
ihnen Bildlichfeit, wie viel Ernft der Eigentlichkeit, fondern wirf- 
ih ftand man mitten in dem Strom der Gefchichte des Weltalls 
und fand ſich fühlbar von ihm fortgetragen, 

Während fo das Alterthum nur mit dem Auge der Knfaau- 
ung zu fehen brauchte, was die Dinge find und wohin ihre eigne 
Entwidlung fie treibt, bildete die PBhantafie der neuen Zeit den 
Did des Grübelns aus; fie hatte überall das zu ſcheiden, als 
was die Dinge erfcheinen, und das Andere, mas fie Bedeuten 
oder dem fie ale Mittel dienen; das Leben follte fie nach einem 
Borbilde ordnen, deſſen einzelner Inhalt erft aus der Ausdeutung 
eines hoch über aller Wirklichkeit jchwebenden Ideals zu errathen 
war; die hingebende Theilnahme aber fir Die Ordnung Diefes 
Lebens hatte zugleich mit der Entmuthigung gu kämpfen, die aus 
dem gleichzeitigen Bewußtſein des nur bedingten Werthes und 
der bloßen Einftweiligfeit alles irdischen Dafeins immer wieder 
emporquoll; dieſe ſchwere Aufgabe endlich war Völkern zugefallen, 
denen feine Erbſchaft Ianggepflegter Bildung zur Seite ftand. 
Das Chriftenthum erſetzte diefen Mangel nicht ſogleich; es hatte 
wohl, jo lange die ausgebildeten Lebensformen des Alterthums 
beftanden, diefe von innen vereveln fünnen; aber organifatorifche 
Gedanken zur Grundlage neuer Geftaltungen waren der Einfach— 
beit feines idealen Inhalts nicht mühelos abzugewinnen. Darin 
vielmehr haben vielleicht alle die charakteriftiichen Widerfprliche des 


314 


Mittelalters ihren Einheitägrund, daß der Lebhaftigfeit, mit der 
es ein hohes Ideal erfaßte, noch alle durchgebildete Einficht in 
die Bermittlungsglieder fehlte, die nöthig find, um ihm in der 
Wirklichkeit eine Stätte zu bereiten. Dem Altertfum war mit 
feinem Biele, zu entwideln, was die Natur vorgezeichnet, aud) 
der Weg zum Ziele gegeben; das neue Ideal dagegen, die Heili= 
gung, gegen welche alle Natur nichts gilt, ließ die Frage: was 
follen wir thun, um felig zu werden, ohne fo beftimmte Antwort; 
die nächſten Zwecke, der irdiſche Beruf des Menſchen, unterlag 
verichiedenen Deutungen; das Heil konnte auf verfchiedenen Wegen 
gefucht werden. Aber weder in der büßerifchen Abkehr von allen 
irdiſchen Lebensintereffen, noch in der Aufregung des ritterlichen 
Kampfes fand fich volles Genügen; beide Lebensweilen kämpften 
im beiten Fall gegen bedrohendes Böſe, aber fie erzeugten pofi= 
tin fein Lebensgut, dem der Schuß gelten konnte; die Arbeit ftillte 
eben jo wenig alle Sehnfucht; mit des Lebens Nothdurft beſchäf⸗ 
tigt, die ja nur nothwendig wird durch die irdiſche Unvollkom⸗ 
menheit, behielt fie lange ein Gefühl ihrer Niedrigfeit und konnte 
ſich nicht für unmittelbaren Dienft am Werke der Heiligung an- 
fehben. So kam das Leben zu feiner Klarheit über feine irdiſchen 
Aufgaben, weil 'es fie zu hoch fuchte; allmählich erft dämpfte ber 
Wiederaufbau der Gefellichaft die Aufregung des Vorurtheils, 
unmittelbar in diefem Leben leiften zu müfjen, was in der ganzen 
Weltordnung feinen unverlierbaren Platz hätte; ftatt fich zum be⸗ 
wußten Mitbau an dem Weltendome verpflichtet zu fühlen, lernte 
‘ man wieder in jeder Heinen Situation, welche ber menfchliche 
Verkehr herbeifüihrt, ein Uebungsfeld fittlicher Kräfte ſchätzen, in 
dem Leben ſelbſt aber nicht Höheres fuchen, als e8 gewähren Tann. 

Ein allgemeingültiges Vorbild menſchlicher Bildung hatte fich 
alfo nicht entwickelt; aber jever Stand ſchuf fich feine eigne Sitte 
und fuchhte in genauer Innehaltung überlieferter Satungen eine 
gefchichtliche Hechtfertigung feiner Lebensflihrung anftatt der man- 
gelnden idealen. Nie gab e8 mehr Obfervanzen, als in dem Ber- 
kehr Diefer aus vielerlei Sonderrichtungen zufammengefeßten Ge= 


319 


fellfehaft; aber auch dieſer Zuftand entfprach der theoretifchen Welt- 
betrachtung, die das Mittelalter im Gegenfag zum Altertum 
ausbildet. Den antiken Blick hatte das Allgemeine und Gleich- 
artige in dem Leben der Menſchheit und in der Natur gefeflelt, 
das in unerfhhöpflicher Mannigfaltigkeit der Ausgeftaltung immer 
wiederfehrt; zu einem Ganzen hatte er die Welt viel weniger zu- 
fammenzufaflen geftrebt. Die chriftliche Phantafie konnte für jenes 
Allgemeine weniger Theilnahme hegen; das wahrhaft Wirkfame 
in der Welt war für fie nicht die im Mannigfachen gleichartig 
verfahrende Natur der Dinge, fondern die göttliche Vorſehung, 
die mit jedem Einzelnen ihre jbefondere Abficht bat, und jedem 
aufträgt, was e8 zum Baue des Ganzen leiften fol. Auf diefe 
Einheit der Welt, die in dem Zufammenftimmen unzähliger Ein 
zelbeiten zu einem Plane befteht, war der Sinn fehr lebhaft 
gerichtet; jenes Zwifchenreich zwifchen dem Ganzen und dem Ein- 
zelnen, das Allgemeine der gleichartigen Wirkſamkeiten und der 
einfachen Gefete, durch melches jeder Bau erſt feine Baufteine zu 
einem Ganzen verbinden kann, vernachläfligte die theoretische Welt- 
betrachtung eben fo fehr wie das praftifche Leben. Als die Ueber- 
lieferung der Kenntniſſe aus dem Alterthum längft verarmt war, 
fuchte der mittelalterliche Unterricht noch encyklopädiſch Die Summe 
alles Wißbaren in ein große® Ganze zufammenzudrängen, in 
welchem jede Wiſſenſchaft da ihre Stelle hatte, wo ihr Gegenftand 
in. den göttlichen Weltplan eingereiht fchien. Der Erfolg blieb 
weiter hinter der Abſicht; aber auch Die äußerliche geziwungne und 
gefuchte Verfettung, zu der man gelangte, bezeugt die Tebhaftig- 
feit der Borausfegung, daß Alles, die weſenloſen Wahrheiten der 
Mathematik die Mannigfaltigfeit der Geſchöpfe und Ereigniffe in 
der Natur und die Geſchichte der Menſchen, nah zuſammenge⸗ 
hörende Theile einer göttlichen Weltordnung find. In diefem Welt- 
bau, der fein paralleles Hervorwachſen des Mannigfachen aus 
gleichartigem Grunde, fondern von einem geheimnißvollen Mittels 
punkt aus eine Zufammenfpannung der ungleidhartigften Glieder 
zum Ganzen war, fand auch diefe Gefellihaft mit ihren aus- 


316 


einander gehenden Sitten und Lebensberufen ihren natürlichen 
Platz. | 
Aefthetiichen Geftaltungstrieben konnte diefe Sinnesweife, für 
die Nichts mehr auf fich beruhte, Alles auf Anderes bindeutete 
oder bezogen war, nicht förderlich fein. ine grübelnde Hinnei= 
gung zur Symbolik legte einfeitig auf die Bedeutung der Er- 
Theinungen Werth und ſchwächte die Empfänglichkeit fir Formen— 
ſchönheit, die mefentlicher auf allgemeinen Geſetzen wechfelfeitiges 
Berhaltens vieler Elemente als auf dem ‚intelfectuellen Sinne des 
durch fie gebildeten Ganzen beruht. . Die Freude an der eignen 
blühenden Fülle des Dafeins blieb diefer Weltanficht fremd, und 
fie wiirde auch dem Zeitalter fremd geblieben fein, wenn jemals 
eine Weltanficht, wie tief fie auch bemwurzelt fein möge, die immer- 
gleichen natürlichen Neigungen des menfchlihen Geſchlechts ganz 
berändern könnte. So hatte freilich auch das Mittelalter neben 
dem drüdenden Ernfte feiner Vorftelung von dem Zufammen- 
hange der Welt feinen Hang zum Scherz und zur Freude, neben 
feiner Sucht fymbolifirender Umdeutung aud Gefallen an der 
felbftändigen Schönheit der Form. Aber felbft in den bildenden 
Künften gelangte e8 zu feiner freien Wiedergabe der Schönheit; 
lange blieben die Geftalten der Sculptur und Malerei nur Träger 
von Gedanken Gefühlen und Situationen, zuerft nur zu conven⸗ 
ttoneller Andeutung des Sinnes derjelben verpflichtet, fpäter zu 
natürlichem Fräftigem Ausdruck in Haltung und Bewegung; erft 
zulegt befann ſich die Kunft auf die Forderung, die Geftalten 
nicht nur zum Mittel der Handlung zu benugen, fondern zu 
Weſen von eigener ſchöner und charafteriftiicher Fülle der Reali- 
tät auszubilden. In der Baukunſt allein, deren Thätigfeit Die 
Birtuofität Der freien Hand weniger vorausfegt, konnten Nach⸗ 
ahmungen gegebener Mufter und der Sinn für die zugleich an⸗ 
ſchauliche und zugleich grüblerifh zu verwerthende Schönheit 
verwidelter Maßverhältniffe zu Werken von großem und eigenthüm⸗ 
lichem Verdienſt führen, die bald zu deutlich ausgedrückter Einheit 
eine Fülle verfchiedenartig ausgeprägter Glieder zufammenfaffen, 


317 


bald durch ein mehr malerifches und landfchaftliches als architek⸗ 
toniſches Princip der Gruppirung an die unüberfehbare charafte- 
riſtiſche Mannigfaltigfeit der Lebensrichtungen erinnern. Die 
Poefie, al8 redende Kunft, bedarf zu ihrer Blüthe die Ausbildung 
der Rede, die dDiefer Zeit lange fehlte; denn nicht nur die Spra= 
hen der Völker fetten fi) zum Theil langſam feft, und Latein 
blieb geraume Zeit das Mittel der gebildeten Mittheilung, ſon⸗ 
dern der unentwidelte Gejellichaftszuftand hatte noch mehr die 
Rede als Werkzeug der Converfation zuriücdhleiben laſſen. Es 
fehlte Die gebildete Sprache, die für uns dichtet und denkt, und 
deren bi8 zu gewiffem Maße vollendete Ausbildung allerdings 
eine nothwendige Vorausſetzung allfeitiger Vollkommenheit der poe⸗ 
tifchen Geftaltung ift. Tiefe Gefühle drüdte wohl das Volkslied 
kraftvoll aus, aber den reichen poetifchen Gehalt älterer Sagen= 
freife brachte ſelbſt die kunſtmäßige Erzählung nicht zu vollendeter 
Darftelung; die Form blieb hinter dem Inhalt zurüd. 

Und dies war das allgemeine Gefchic dieſes Zeitaltere. Es 
lebte ein Leben voll poetifcher Motive und litt unter deren Ge— 
walt; aber exit in dem Gemüth der Nachwelt entwidelte fich ein 
zufammenfafjendes Bewußtfein deſſen, was jene Zeit für fich hätte 
fein fünnen, wenn nicht alle jene Hemmungen fie an der Er— 
fenntnig und Verwirklichung ihres Ideals gehindert hätten. ALS 
das Leben in hohem Maße anfing, fich verftandesmäßig zu be- 
nehmen, kehrte die Bhantafie, die ſtets aus dem Dienfte der all- 
täglichen Zwecke einen unmittelbaren Rückweg zu dem Geheimniß 
des Ewigen fucht, mit Vorliebe zu dem Bilde des Mittelalters 
oder vielmehr zu dem idealen Gegenbilde defjelben zurück, das fie 
fi) entworfen hatte. Denn in gefhichtliher Wirklichkeit freilich 
fand beim Rückblick auch dieſe Romantik jene von ihr geliebte 
Zeit nirgends; das wahre Mittelalter war im Guten und im 
Schlimmen reicher geweſen, al8 ihre eigne träumeriſche, überall 
Unendliches im Endlichen fuchende, verftändlichen Zmeden abge= 
wandte Sinnesart; reicher an realen Intereffen, deren widerſpen⸗ 
ftige Eigenthlimlichkeit nicht ohne Reſt in ſymboliſcher Bedeut⸗ 


209 


ſamkeit aufging und reicher an naturwüchſiger Roheit und ver- 
ſchrobener Graufamteit, dem zufammenfließenden Erbtheil der ur⸗ 
fprünglichen durch das Chriftenthum noch lange nicht durchge⸗ 
bändigten Uncultur und jener fangtifchen Berirrungen, zu denen 
der Mißverſtand großer Ideale hinzureißen pflegt. Aber ein be- 
deutfamer Nachlaß tft Doch aus jener Zeit geblieben; das Unge- 
nügen an der Erfcheinung und Die Sehnfudht nach dem Unend⸗ 
lichen, der Grundton der äfthetifchen Stimmung der modernen 
Zeit und ihrer Poefie, obgleich fie felbft, die beiten Grundlagen 
ihres Lebens verkennend, nicht felten in der Nachahmung anderer 
Ideale größer zu werden glaubt, als in der Ausgeftaltung ihres 
eigenen. 


Die Denkmale romanifcher und gothifcher Baukunſt, Die volle 
Dlüthe der Malerei im funfzehnten und fechzehnten Jahrhundert, 
die fortfchreitende Entwidlung der Muſik, und die Schäße ber 
Poefte, die mit einander wetteifernd und einander ablöfend die ro- 
manifchen und die germanischen Völker Europas aufhäuften, über- 
zeugen uns bei flüchtigem Hinblid, daß weder Empfänglichleit Fiir 
dad Schöne noch künſtleriſche Geftaltungstraft beim Vebergang 
in die moderne Zeit dem menfchlichen Gefchlecht abhanden gelom- 
men ift. Ein vergleichendes Urtheil iiber die Größe beider bier 
und im Alterthum findet an ber Schwierigkeit der Sache gleich 
große Hinderniffe wie an vielen natürlichen und künſtlich erzeug- 
ten Borurtheilen; einftimmiger wird die Klage fein, daß der Wi- 
derhall, den auch das Beſte der neuen Kunft im Leben fand, 
unbergleichlich geringer, und felbft wo er bedeutend war, Doch von 
minder befriedigender Art als im Altertum angetroffen wird. 
Den Griechen wmenigftens hatte Verftändnig und Genuß ber 
Schönheit mit zu der Subftanz des Lebens gehört, und wenn ohne 
Zweifel die Bildung, die zu beiden befähigt, auch bei ihnen un- 
gleih ausgetheilt war, fo umfing doch wie die Atmofphäre, die 


319 


man athmet, der Rhythmus Fünftlerifch ausgeprägter Sitte aud) 
den minder Berftehenden. Für Die neuern Völker ift die luft 
zwiſchen Kunft und Leben größer geworden; abgelegen von der 
lebendigen Wirklichkeit bat man fi) ein Reich des Idealen vor- 
zuftellen gewöhnt, nach welchem binüberzubliden wohl möglich 
und ſüß fei, aber doch nicht zu den eigentlichen Aufgaben des 
Lebens, jondern zur Ausruh von ihnen gehöre. Unter den zahl- 
Iofen Merkwürdigkeiten, welche das Weltall beherbergt, und für 
die man, alle zu beachten unfähig, fich mit freier Auswahl inte- 
reffirt, wächſt und blüht auch die Kunſt, gleich einer erotifchen 
Pflanze, deren wunderbare von allen heimiſchen Muftern ab- 
weichende Geftaltungstriebe unfere Bhantafie zeitweis feffeln und 
zerftreuen. 

Allerdings finden wir die Kunft noch nicht außer allem Zu- 
fammenhang mit dem religiöfen dem öffentlichen und dem ge= 
jelligen Leben, aber die Art der gegenfeitigen Berührung bemeift 
die Aeußerlichkeit Derjelben. Dem Altertbum mar die Gottesver⸗ 
ehrung die lebendige That des vollksthümlichen Geiftes, welche 
der Poefie großentheild das Recht des Dafeins Inhalt und Form 
dab: uns dient die Kunft mit formellen Fähigkeiten, die fie ihrer 
eignen Natur zu verdanken glaubt, zur Verzierung des Cultug; 
noch jeßt mag fie in Augenbliden der Gefahr, welche das leiven- 
ſchaftliche Gefühl aufregen, zu würdigem Ausdrud des nationalen 
Bewußtſeins gelangen: aber in Zeiten der Ruhe findet fie kein 
für das Bolt feftftehendes Ideal der Sitte und des Lebens, aus 
dem fie Form und Inhalt ihres Spieles Tchöpfen könnte, nur 
der Einfeitigfeit der Parteitendenzen oder der Kleinheit der Privat- 
intereffen oder der Willkürlichkeit individueller Lebensanſchauungen 
ftellt fie ihre formellen Ausdrucksmittel zu Dienft; fie durchdringt 
nicht die Gefelligfeit jo, daß fie zum eignen Rhythmus derjelben 
würde, fondern unter den vielen Gerichten, welche der gejellige 
Verkehr zur Kürzung der Zeit aufträgt, bietet aud) fie ihre Lei— 
ftungen zur Abwechfelung und zur Ausbülfe an. Man würde 
diefe Bemerkungen mißverftehn, wenn man fie ald Leugnung des 


320 


eignen Werths der modernen Kunft oder der gewaltigen Wirkun« 
gen anfähe, die fie auch unter fo ungünftigen Umſtänden hervor= 
bringt; nur diefe Umftände felbft galt e8 hervorzuheben. Aber 
eben fo mißverftändlicy wiirde man das Geſagte nur auf die 
ftumpfe Menge anwendbar finden, die dem Schönen gegeniiber 
von jeher verſtändnißlos war; um die völlige Barbarei unferer 
Stellung zur Kunſt zu empfinden, müſſen wir und an Einrichtungen 
erinnern, die Durch Gewohnheit fir uns ſchon ganz unverfänglich 
geworden find. In Galerien ftellen wir Gemälde baufenmeis 
zufammen und tödten Eindrud durch Eindrud; dem Entichluffe 
zur Errichtung großer Baumwerfe folgt regelmäßig und harmlos 
die Debatte iiber den frei zu wählenden Stil; in Concerten, zu 
deren Ort und Stunde nur dem Unternehmer die Beranlafjung 
bewußt ift, wird das Gemüth des Hörers compendiös durch eine 
ganzen Reihe von Meifterwerfen geführt; von Sängerfchaaren über⸗ 
fallen hört ein friedliches Thal, obne zu wiflen warum jeßt ge= 
rade, plötzlich hundertitimmig feine Beilchen preifen, die jo lange 
verborgen blübten; faft allabendlich öffnet fich das Theater und 
erzieht durch buntefte Abwechſelung von Stoff und Stil, es bleibt 
zweifelhaft, ob mehr die Gefinnung oder den Gefhmad der Zu⸗ 
ſchauer; feltener zum Glück erneuert ſich die Luft de8 Carneval, 
in fich gerade fo zufammenbanglos wie ohne Wurzel im Leben, 
das feine urfprüngliche VBeranlaffung längſt vergaß. Alle Diefe 
Ausftellungen verjchiedenartiger Schönheit und Kunftfertigkeit find 
um ihrer willen jelbft da und bezeichnen feine bedeutfamen Augen⸗ 
blide des Lebens; fie binden den Kunftgenuß an beitimmte Stun- 
den eben fo, wie wenigftens der proteftantiiche Cultus die Gottes⸗ 
verehrung; wie bier ſechs Tage die Welt fich felbft überlaſſen 
läuft, am fiebenten aber „Kirche iſt,“ jo Liegt dort reinlich abge— 
grenzt des Lebens Proja neben den Stunden der Begeifterung. 

Zu ändern ift hieran Nichts. Der Tritiich prüfende umd 
zerlegende Geift der modernen Welt hat nun einmal alle Gebiete 
des Lebens auf rationale Grundlagen zurüdzuführen begonnen; 
mit bewußter Berechnung möchte er die Gefellfchaft nach Grund⸗ 


321 


fägen geftalten, die der eimft charakteriftiich verſchiedenen Mannig- 
faltigfeit ‘der Stände weder ein Recht des Dafeins, noch bebeu- 
tungsvolle Aufgaben übrig laffen; der Lauf der Dinge felbft, 
indem er unvermeidlich dem menjchlichen Nechte jeder Arbeit und 
jedes Arbeiter Anerkennung verichaffte, trug bis auf die Ein- 
förmigfeit der Tracht zur Nivellivung der Gefellichaft bei und 
feßte den Ton des gefelligen Verkehrs auf eine mittlere Stim- 
mung feit, Die Mühe hat, fich gegen das Eindringen allzu dum— 
pfer Elemente zu wahren, und kaum wieder erlauben wird, daß 
die äußeren Formen des Lebens fich mit Schönheit füttigen. Dar- 
auf vielmehr fcheint der allgemeine Inſtinet hinauszugehn, den 
Verkehr der Gefellichaft von allen poetifchen Elementen, die in 
feiner Gemeſſenheit nur als phantaftifche Ungleichheiten auffallen 
witrden, vollends zu remigen, alle Erregung und Begeifterung 
aber der Zurückgezogenheit und Einſamkeit des individuellen Still⸗ 
lebens vorzubehalten, in welches fich mehr als fonft der befte 
Theil unferer geiftigen Entwidlung, jede Kundgebung fait wie Ent- 
weihung flicchtend, zu flüchten pflegt. 

Sch bemerkte bereits, daß diefe Eigenheit unferer Zeit weder 
geoße Wirkungen der Kunft auf das Gemiüth, noch hohe Vollen- 
dung ihrer Leiftungen an fi) unmöglich macht; dennoch übt fie 
Einfluß auf beides. Je weniger Gedantenbeftand und Stil der 
Kunſt der ımmittelbare Ausdruck nationaler Weltanficht find, je 
mehr ihre Leiftungen als willkürliche Gebilde einer frei fich ver- 
ſuchenden Phantafie erjcheinen, um fo leichter vegen fie ftatt der 
Theilnahme für ihren Inhalt das Urtheil iiber das VBerdienft der 
Darftellung auf. Kritik ift zu allen Zeiten häufig geweſen und 
andrerfeits behaupte ich nicht, daß unfere Tage feine unbefangene 
Hingabe und Begeifterung für das Schöne mehr kennen: aber 
unfere vergleichende Aufmerffamfeit für die Kunſt, welche Die 
Schönheit darftellt, tritt doch faft noch mehr hervor; Die eigen- 
thümliche Luſt der Kennerſchaft, die Befriedigung, welche aus der 
verftändigen Einficht in Mittel und Manieren der Kunſt, Die 


gejchichtliche Entwicelung derfelben und ihre ne im ein⸗ 
oe, III. 3. Aufl. 


322 


zelnen Falle entfpringt, Das kritifch-Lterarifche Interefje für Die Ber- 
fahrungsweiſen der fchaffenden Phantafie dämpft unfere Grreg- 
barkeit fiir den unmittelbaren Eindruck, den dieſe doch allein fchließ- 
lich bezweckt. So wie der Sammler feine erworbenen Kumfiwerke 
in Mappen verfchließt, zufrieden fie zu beſitzen und zu willen, 
welche äfthetifchen Eindrücke man von ihnen haben fönnte, wem 
jemals der Augenblid unbefangenes Genufles füme, fo find wir 
auch im Allgememen mit dem verftändigen Bewußtſein deſſen 
begntigt, was in der Schönheit an beivegender Kraft ſchlummert; 
die Aeſthetik erfreut fich fteigender Theilnahme, je feltener die 
lebendige Bewegung des Gemüths durch Die Gegenftände ift, Die 
fie beurtheilt. 

Auch Die Kunſt felbft leidet von den Urſachen, welche viele 
Verhältniſſe erzeugten. Große Genien haben ber Menſchheit, 
feit vom Ende des Mittelalter an Die wieder zunehmende Klar- 
beit und Bielfeitigfeit der gefelligen Bildung ihnen Gelegenheit 
gab, fich zu beweifen, wahrlich nicht gefehlt. Mit Ausnahme ver 
Sculptur und des Epos, fir welche weientlihe Bedingungen des 
Gedeihens gebrachen, ift keine Kunſt, deren höchſte Gipfel nicht 
eben in diefem Zeitraume erreicht worden wären. (ine lange 
Reihe der erlauchteften Namen, vielfeitige Geifter, den größten 
des Alterthums ebenblirtig, ſchmücken die Annalen der italienischen 
Kunſtgeſchichte; einfamer freilich, aber um fo größer ftellt ihnen 
der Norden die erhabene Geftalt Shaleſpears gegenüber. Dennoch 
ft Die Klage häufig, welche an allen diefen großen Kräften 
und an Den glänzenden, welche die jpätere Zeit ihnen zugefellte, 
bei allem gewaltigen Inhalt ihres Strebend doch jene Haffifche 
Formvollendung vermißt, die das Altertbum allein zur mufter- 
gültigen Epoche der Kımft mache. Sch Kalte weder biefes Lob der 
Alten noch den Tadel der Modernen in der forglofen Allgemein- 
heit fir richtig, in der man beide auszudrücken pflegt. Die Alten 
fehlten ſelten aus individueller Willkür; die Gedankenwelt ihrer 
Kunft und die bevorzugten Arten ihrer Behandlung wurzelten 
fo einfach in ihrer nationalen Weltanficht und befeftigten ſich in 





323 


vielgelibter Ueberfieferung fo allgemeingliltig, daß zu Hbereinftim- 
mender Behandlung der Finftlerifchen Stilformen much der minder 
große Geift fo leicht gelangte, wie in umnferer Zeit zu tadellofer 
Uebung ſchicklicher Umgangsfitten; und eben dieſe Uebereinſtim⸗ 
mung der Behandlung in einer großen Menge von Kunſtwerken 
läßt ung Manches, was auch an der Antike conventionelle Da- 
nier ift, als fachlich nothwendige Bedingung der Schönheit an- 
fehen. Der neuen Kunft fehlte diefer Vortheil. Ste entwickelte 
fih aus leidenſchaftlichen Bedürfniſſen des Gemüths, welche ihre 
Befriedigung erſt zu fuchen hatten und fie weder in der damaligen 
Wiffenfhaft noch in der SZerfahrenheit des Verkehrs noch in 
ber politifchen Gliederung des Bffentlichen Lebens vorfanden. Es 
war daher nicht die einfache Aufgabe, eine erlebte Schönheit des 
Dafeins Fünftleriich wiederzufpiegeln, jondern Die doppelte, zuexft 
das Ideal, das der Sehnfucht genügte, und dann die Formen 
feiner Darftellung zu finden. Hierin konnte jelbft die Wieberer- 
weckung der Antife nur zum Theil fürden; an ihren Formen 
ließ ſich lernen, aber ihr Gehalt deckte nicht die Anſprüche, bie 
das Gemüth diefer Zeiten machte. Als die Wiederbelebung des 
antiten Geiftes in Literatur Kunſt und Politif eine Zeit lang 
das herrfchende Streben wurde, war auch Dies feine gefchichtlich 
nothwendige Entwidlung, fondern eben. auch nur ein abfichtlicher 
Griff, der zwifchen vielerlei Richtungen, die ſich als mögliche Wege 
der weiten Entwicklung darboten, freimählend den einen bevor- 
zugte. Diefer Mangel eines allgemeingültigen deals, die Noth— 
wendigleit fiir jeve Zeit jede Nation jeden einzelnen Genius, fidh 
die höchften Ziele und die Formen des Ausdrucks feftzuftellen, 
führte in die neue Kunſt die Mannigfaltigkeit ſchnell wechſelnder 
Stile und gab ihren Werfen im Vergleich mit denen das Wlter- 
thums vorwiegend das Gepräge des Geiftreihen. Denn fo 
dürfen wir wohl den Eimdrud nennen, den uns die Phantafie 
macht, wenn fie nicht, von der allgemeinen Stimmung Der Zeit 
getragen, unbefangen das Weltbild wiedergibt, das ung zur 
zweiten Natur geworden ift, fondern felbftändig forfchend und 
21* 


324 


zergliedernd eindringt, um eine neue Deutung der Wirklichkeit zu 
finden, deren Wahrheit anzuerkennen dieſe felbft nicht verfagen 
kann. Unfteeitig ift dieſes freie Schalten der Phantaſie äftheti- 
ſchem Mißlingen öfter ausgeſetzt, als ihre durch ein feſtſtehendes 
Ideal gebundene Thätigleit; unbegnügt an der Darſtellung der 
allgemeinen typiſchen Gattungsſchönheit, in alle früher unberührt 
gebliebenen Tiefen der menſchlichen Exiſtenz ſich verſenkend, ben 
großen Zuſammenhang der Welt mit mancher leidenſchaftlichen 
Frage nach ſeiner Bedeutung verfolgend, war die neue Kunſt in 
Gefahr, theils zu launenhaften Auffaſſungen zu kommen, welche 
die Wirklichkeit nicht als berechtigt anerkannte, theils über der vor⸗ 
wiegenden Selbſtthätigkeit ihrer Reflexion die Formenſchönheit der 
Darſtellung zu vernachläſſigen. In manchen Gebilden des Hu— 
mors der Ironie und übermüthiger Charalteriſtik bat dieſe 
Willkür der Phantaſie ohne Zweifel die Grenzen der Schönheit 
überſchritten; andrerſeits, wenn die Poeſie eine Geſchichte der Ent⸗ 
wicklungsgeheimniſſe der menſchlichen Perſönlichkeit nerfucht, die 
Malerei ſich nur genügt, wenn ſie den Abglanz derſelben Geſchichte 
in die Erſcheinung eines Augenblickes einſchließt, die Muſik unſere 
Gefühle mit Abſtreifung der Erinnerung an ihre irdiſchen Ber- 
anlaffungen zu namenlofem Spiel mit jenen allgemeinen Formen 
der Beziehung von Elementen ermeitert, auf denen alles Glüd 
und alles Leid einer Wirklichkeit beruht: fo ift es leicht, nad 
Abftractionen aus dem einfacheren Alterthum einen großen Theil 
diefer Fülle zu mißbilligen, ſchwer dagegen, ohne Borurtheil der 
hoben Schönheit, die fi, in dieſer verwickelteren Geftalt neue 
und eigene Formen der Erſcheinung gegeben hat, gerecht zu 
werden, unmöglich endlidy in jedem Fall, wieder aufzugeben, was 
wir an ihr befiten, und zu dem Einfacheren zurüdfehren, das 
unſer Herz nicht mehr befriedigt. 

. Ungeachtet de8 geringen Zufammenhangs mit den höheren 
Beitrebungen der Kunft fehlt e8 dem modernen Reben doch nicht 
an einem eigenthihnlichen äfthetifchen Element, das in mancherlei 
verfchiedenartigen Formen im Laufe der Zeit fich gelten gemacht 











325 


— 


hat. In Italien begann der moderne Geiſt der Kritik und der 
ſelbſtbewußten Reflexion am früheſten ſich zu entwickeln; allſeitige 
Ausbildung aller Erlkenntniß, formelle Birtuofität in allen Ge— 
ſchicklichleiten und Feinheiten des Stils in Sprache und Febens- 
verkehr waren die Siele, die er fich ftellte und in vielen glänzen- 
den Beiſpielen erreichte; die großen gehaltuollen Anſchauungen, 
melche die bildende Kunſt aus dem Mittelalter ererbt fefthielt und 
mit Schnell wachſender technifcher Vervollkommnung darzuftellen 
wußte, gaben der Ungebundenheit dieſes Geiftes der Subjectivität 
ein beilfames Gegengewicht. Politiiches Mißgeſchick unterbrach 
den Fortſchritt Diefer Entwicklung und Italien trat die lebendige 
. Herrichaft über die beginnende moderne Welt, die es eine Zeit 
lang unbeftritten bejejlen hatte, an Frankreich ab, wo die allmäb- 
lich vollendete Centralifation der Herrfchaft eine zufammenbän- 
gende excluſive Gefellichaft der Bornehmen gebildet hatte, die 
verhältnigmäßig zum Frieden unter einander genöthigt, eigener 
großer Lebenszwecke beraubt, aber mit reichen Mitteln ausgeftättet, 
ihre  geiftige Kraft an Aufgaben des gefelligen Berlehrs zu üben 
gezwungen waren. Die Zuſtände des Volle, welche Die bebin- 
gende Unterlage diefer Geſellſchaft abgaben, waren fo elend wie 
möglich, und Die ganze Epoche in teiner Weiſe ein goldenes Zeit- 
alter, das zurückzuwünſchen wäre, aber dem modernen Geifte bat 
die reiche zufammengedrängte und in ſich abgejchloffene Wechſel⸗ 
wirkung der begünſtigteſten Elemente eines großen Staates aller: 
dings zuerft einen charakteriftiichen äfthetifchen Ausdruck gegeben. 
Bor allem erfuhr die Sprache den Einfluß dieſer günftigen 
Bedingungen. Zwar nicht wie einft in: Griechenland, in der 
Deffentlichkeit eines großen politifchen Lebens, aber doch wie Dort 
in lebendiger Converſation entwidelt, Die alle denkbaren Stoffe des 
Nachdenkens von allen möglichen Gefichtöpunkten erfaßte und eben- 
fo zu hurzer und Harer Darftellung wie zu gefälligen Formen der 
Meinungsäußerung nöthigte, hat der franzöfiiche Stil ſich zu der 
vollendetſten Proſa ausgebildet, die dem menſchlichen Geifte bis 
dahin gelungen war. Es ift wenig poetiicher Hauch in ihm, wie 





326 


e8 dem Ausdrudsmittel einer Gefellichaft entfpricht, welche ihre 
tieferen individuellen Regungen in fich verfchliegt; aber er hat bie 
beſtimmte Hare gefegliche Haltung, die bewußte Achtung vor all- 
gemein anerlannten conventionellen Regeln, wie fie ebenfalls biefer 
Geſellſchaft nothwendig war; er bietet und nicht die intereffante 
aber ſchwerfällige Originalität, mit der mir oft in antiker Profa 
den mitzutheilenden Gedanken aus feinen Keimen entjtehen umd 
fih feine Form fuchen ſehen, fondern wie es dem Erben einer 
fett lange aufgehäuften Bildung der Reflerion anfteht, faßt er 
mit Gewandtheit das Verfchiedenfte unter bekannte Gefichtspuntte 
und konimt mit gemeingültigen Abftractionen und Berknüpfungs- 
weifen der Gedanken darüber hinweg; in allem entfpridät er ber 
Weiſe des modernen Geiftes, deſſen Kraft nicht in einem künſt⸗ 
leriſch ausgebildeten weit fichtbaren Schwunge, mit dem er fi), 
feine innerliche Erregung mitverrathend, auf feine Gegenftände 
ftürzt, ſondern in der Unfcheinbarfeit befteht, mit welcher er Schwie- 
rigkeiten gefchäftsmäßig abthut, für deren Löſung er fich bewußt 
iſt allgemeine Berfahrungsweifen längſt zu kennen. Es iſt nicht 
wunderbar, daß durch dieſen Geiſt der Klarheit und Präciſton 
die franzöſiſche Sprache die Herrſchaft über die Welt erlangte; 
fie verlor diefen Vorzug nur allmählig. In Deutfchland Hat 
eine Blüthe der höhern Kumft, fin welche ihr Stil nicht gejchaffen 
wor, ihre Geltung herabgefegt, aber kaum noch einen Erfaß für 
ihre Proſa geſchaffen. Es fehlte bier der lebendige Zuſammen⸗ 
hang der Geſellſchaft; das daraus entſtehende Uebergewicht der 
gelehrten Bildung und der Erbfehler, vom Alterthum nicht bloß 
zu lernen ſondern es nachzuahmen, iſt Urſache geweſen, daß die 
Proſa lange ungeſchickt und verwildert, die Sprache ſelbſt mit 
ihren Hülfsmitteln dem Vollke fremder als anderswo geblieben iſt. 
Denn täuſchen wir uns nicht: wenn auch das ganze Volk bei 
uns leſen und ſchreiben kann, glücklich bleibt doch, wer das eine 
nicht zu ſehen, das andere nicht zu hören braucht; zwiſchen der 
Bollendung unſerer Sprache in den Meiſterwerklen unſerer Dich⸗ 
tung und dem Stil des gewöhnlichen Lebens bleibt die Kluft groß. 


327 


Sie wird nur langfam gefüllt werden, wenn die Bildung der 
Kreife, die nicht aus dem Alterthum fchöpfen, fo weit zugenommen 
haben wird, daß fie ihren modernen Ausdrucksweiſen fir moderne 
Anfchauungen und Intereſſen felbft das gefegliche Gepräge und 
bie feſte Form geben Tann, die man von alten Muftern ganz 
vergeblich erwartet. 

Einen munderlicheren, doch nicht minder lebhaften Ausdruck 
fand die Eigenthiimlichleit jener Zeit an dem vielgefchmähten Ro— 
cpeoftil, der in dem Geremoniell ihrer Berfehrsfitte, in ihrer 
Tracht ihren Gebäuden und Geräthen, bi8 zur Anordnung der 
Gärten und der Landichaft hinab herrfchend wurde. Es ift Leicht, 
nad) den Belehrungen, die uns künſtleriſch bevorzugte Epochen der 
Geſchichte darbieten, dieſem Stil vorzumwerfen, daß er ohne Ge 
fühl fir Die eigne Wahrheit der Dinge ohne Ausnahme jeden 
Segenftand, den er zu verfchönern fuchte, ſeiner eignen Natur 
entfrembdete und jedem Gebiete des Lebens, in das er eindrang, 
mit bizarrer Laune willlikliche Formen und Geſetze aufbrängte; 
man wird jedoch nicht fagen können, daß dieſe Laune unzufanmens 
hängend und ohne Folgerichtigkeit geweſen je Allerdings hatte 
fie fein anderes Princip als das einer ſouveränen Willkür, mit 
melcher der fubjectine Geift alles Gegebene zum Geichöpf. feines 
eigenen Beliebens macht; aber dieſen Grundſatz wandte fie nicht 
bios in feltener Conſequenz gegen alle Dinge, fondern auch das 
eigene Leben beugte fie in ftrenger Disciplin unter Die felbftge- 
gebenen Geſetze der Etikette; allerdings waren die Geftalten, Die fie 
allen Gegenftänden und Berhältniffen aufprang, nad) keinem künſt⸗ 
leriſch berechtigten Formprincip zu begreifen, aber eben died war 
ber angeftrebte Triumph, in der vollen Willkürlichkeit dieſes &e- 
bahrens immer nod) anmutbig zu fein, und da wo alle in der Natur 
der Sache liegende Regel aufhört, durch Die Kraft des fubjectiven 
Geiſtes allein doch eine deutliche Gejeglichkeit des Wohlgefälligen 
wieder zu erfinden. Es wiirde Schulpedanterie fein zu leugnen, 
Daß dies in vielen Fällen gelungen ift; nicht nur in unzähligen 
‚einzelnen Geräthen Baumerfen und Trachten diefer Seit erfreut 


328 


uns der beitere graziöfe obgleich bedeutungslofe Schwung dieſer 
Willkür, fondern der ganze Stil fteht unter allen denjenigen, Die 
jemals das Leben nach allen feinen Richtungen durchdrangen, un⸗ 
ferer unbefangenen Empfänglichleit noch innmer am nächſten. Wer 
gäbe nicht zu, daß Haffifche und gothiſche Kumft eine ehrwürdigere 
und himmliſche Schönheit entfalten? ber zugleich möge man 
zugeben, daß fie und fremd find, und Daß namentlich jede Er- 
neuerung der Antife fi) in unſerem Leben wie eine gelehrte Ber- 
ftandesprätention ausnimmt, während wir allen äſthetiſchen Syitemen 
zum Troß mit dem Rococo noch immer ſympathiſiren. 

Auch Dies iſt vorlibergegangen; weit unfcdheinbarer zeigt fich 
jegt das, was der neueflen Zeit noch an üftbetifchen Elementen 
im Leben übrig geblieben it. Man fiihrt noch häufig den Aus— 
ſpruch an, daß Bauhmft gefrome Muſik fei; dies läßt auch mich 
auf einige Unfterblichleit hoffen, wenn ich noch einen Schritt 
weiter zurückthue und die Mathematif getrodnete Muſik neime. 
Dem was fehlt der Mathematik weiter als der friiche Klang? 
alle übrigen Elemente und Hilfsmittel hat fie mit der Mufil ge 
mein, oder richtiger, diefe entlehnt fie ja nur von ihr. Nun eben 
ein mathematiſches Element der Genauigfeit der Reimlichkeit der 
compendiöfen Nettigfeit und infachheit, der Befchneidung alles 
unnligen Weberfluffes, der gelenfen Beweglichleit, fcheint mir Der 
zurücigebliebene gute Genius umferer Zeit zu fen. Gegenüber 
der Umftänblichfeit und dem Ungeſchick unzähliger früherer Lebens- 
einrichtungen welche Vorliebe fiir die Eleganz der kürzeſten Auf- 
(öfung jeder Schwierigkeit! in dem Bau der Mafchinen welche 
knappe faubere Einfachheit, wie große Effecte durch geiftreiche Com⸗ 
bination weniger Mittel! Auch darin ift unzweifelhaft Schönheit, 
und auch an dem nicht mehr antik drapirten, nicht mehr träume- 
riſch Ianggelodten, fondern hırzgefchornen, kurz angebundenen Geift 
der Gegenwart kann man ſich herzlich erfreuen und ihm wünſchen, 
daß er aus diefem einen Keime einen großen Baum originaler 
Lebensſchönheit aufziehen möge. 


— — 


329 


Biertes Kapitel. 
Das religiöfe Leben. . 


Natur umb gejelligeß Leben als Duellen religiöfer Begriffe. — Weberwiegen des Eoß- 
mologifhen Element? im Heidenthum, des fittlihen im Judenthum und Ghriften- 
thum. — Wieberfehrenbeß Webergewicht ber Kosmologie in der neuern philoſo⸗ 

phiſchen Dogmatil. — Die Kirche und das Lehen. 


Das Morgenland iſt die Heimat aller Religionen, die fir 
die Geſchicke der Menſchheit entfcheivend geweſen find. Und nicht 
allein als das gemeinfame Vaterland aller meltgefchichtlich ge- 
wordenen Bölfer hat der Often die Anfünge der Religion, ale 
eine der früheften Entwicklungen des menfchlichen Geſchlechts, der 
Volgezeit vorweggenommen, fondern ein bleibender Unterfchted der 
Anlage und des Bildungsganges trennt auch fpäter in Diefer 
Beziehung das abendländifche Leben von dem des Orients. Dort 
war frühzeitig die Phantafie der Menſchheit fiir die zahlreichen 
Analogien empfänglich geweſen, mit denen bie fichtbare Wirklich⸗ 
teit über fich ſelbſt hinausweiſt, und hatte in großartigen Umriffen 
Bilder einer itberfinnlichen Welt entworfen, die Anfang und Ab- 
ſchluß Ergänzung und Erklärung des Dieffeit8 enthielt. Und 
der mannigfache Inhalt dieſes Glaubens war kein machtlojer 
Traum ſchwärmeriſcher Stunden geblieben; die Erinnerung an 
ihn durchdrang die Meinen Gebräuche des täglichen Lebens die 
Gewohnheiten des Verkehrs umd die Ordnungen der Sitte; Die 
verpflichtenden Gebote, die aus ihm zu fließen ſchienen, fanden 
bingebenden Gehorſam, mochten fie die fortgejegte Entfagung einer 
büßerifchen Lebensführung oder das Größte augenbliclicher Auf- 
opferungen verlangen; felbft die allgemeine Gliederung der Gefell- 
Schaft und die Ordnung des Staates wurde ohne Scheidung 
göttlihes und menschliches echtes durch Das ftet3 Tebendige 





Ie ausfchliegficher Die Phantafie ſich Daran richtet. im der 
Einheit eines Planes die Mannigfaltigleit des Würflichen zu eimeın 
Ganzen zulammenzijafien, um fo mehr wird, wenn Dies Unter 
nehmen gelungen ſcheint, in dem Mar verzeichneten Umrifſe dieſes 
Ganzen jedes Einzelne au feinen Ort geitellt md aufgehoben, 
beforgt und untergebracht fein Zum Fortichritte weist umS Die 


wir um8 finden, über deren Gefihtötreis hinaus nichts 
iegt. Zu dieſem frühen Abſchluß und zu dieſer 
Ruhe ift der Orient gefommen; gauz 


fein follte, nicht von felbft fäme; in der unabinderlichen Ordnung 
des Ganzen bleibt dem Menfchen Nichts übrig, als was er nicht 
vermeiden Tann: das Daſein der Welt zu feinem Theile mitzuleben 
mitzuleiden und mitzugenießen. Auch innerhalb diefer Grenzen 
freilich hat die menfchliche Natur, Die nie von der eigenen Welt⸗ 
anficht völlig durchgebändigt wird, Pla fir ungezähmte Leiden- 
fhaften, aber fiir dieſe felbft Doch kaum andere Ziele, als Traum— 
bilder des Stolzes und der Genußſucht, die mit ihrem Urheber 
wieder zerfallen und Hinter denen der alte und entwicklungsloſe 


331 


Weltlauf unverändert wieder anhebt. Sp bewegt daher auch Der 
Berlauf des morgenländifchen Lebens im Einzelnen fein mag: im 
Großen faßt ein breiter Schlußrahmen des entfagenden Quietis⸗ 
mus alle feine Regungen ein. 

Das Abendland entwickelte eine entgegengefegte Neigung um 
fo Tebhafter, je mehr e8 fich von den Weberlieferungen des Orients 
löfte. Seine Phantafie war nie ebenfo eifrig auf die zufammen- 
fafiende Anfchauung des Ganzen der Welt, um fo eifriger 
Dagegen auf Die allgemeinen Gefege gerichtet, auf denen Wirk⸗ 
lichleit und Bewegung derfelben in jedem einzelnen Punkte beruht. 
Jenes Bild des abgefchloffenen Beitandes der Welt und des Kreis⸗ 
laufs ibrer Erſcheinungen hätte ein unwiderruflich Bollendetes 
dargeftellt, dem Niemand etwas hinzuthun oder hinwegnehmen 
önnte: flir die Kenntniß dieſer allgemeinen Geſetze dagegen war 
die Welt ein Unvollendetes, an deſſen Vollendung fich noch ar- 
beiten läßt; denn fie Iehrten nicht blos den Beftand des Wirk- 
fichen, fondern auch die Möglichkeit vieles Unwirklichen begreifen, 
und eröffneten dem fortitrebenden Geifte die Ausficht, an ihrer 
Hand in engen Grenzen die äußere Natur, in viel weiteren das 
menfchliche Leben nad) eigenen Sweden neu zu geftalten. Für 
diefen Geift gab es eine Gefchichte, in welcher das Handeln der 
Menichheit die noch formloſe Zukunft zu neuen vorher nicht be= 
ftimmten Fortfegungen des Wirflichen ausprägen Tonnte. 

Man fagt von der Philsfophie, daß fie oberflächlich gekoſtet 
von Gott entferne, bis zur Tiefe erichöpft zu ibm zurückführe. 
Bielleicht gilt dieſes Wort gleich zutreffend von Diefer ganzen 
Sinnesart, welche der occidentaliſchen Cultur ihre eigenthümliche 
Unruhe, den raftlos alle Gebiete des Lebens umgeftaltenden Fort 
ſchritt und eben jener forfchenden und zerglievernden Geift der 
Philoſophie felbft erweckte. Denn deutlich fällt allerdings zuerit 
eine Abwendung von Gott und dem Göttlichen auf, an welcher 
im Großen der Berlauf diefer ganzen Culturepoche unabläffig 
gearbeitet bat. ine zunehmende Berengerung hat der Horizont 
der im Leben wirhſamen menfchlichen Phantafie in demfelben 


332 


Maße erfahren, in welchem die Helligkeit des Heineren Gefichts- 
feldes zunahm, auf welches fie fich befchränkte; mit der wachſen⸗ 
den Kenntniß der irdifchen Natur und dem gefteigerten Geſchick 
ihrer Bearbeitung ift die Einficht in ihren Zuſammenhang mit der 
überfinnlichen Welt nicht Harer geworden, fondern die Aufmerkſam⸗ 
feit Bat ſich entwöhnt, feiner als eines vorliegenden Räthſels zu ge 
denken; von dem Inhalte des religiöfen Glaubens als Duelle der 
Berpflichtungen bat das Leben und die Sitte ſich mehr und mehr 
getrennt und auf eigne weltliche Principien geftellt; den Idealen 
von umſaſſender und eiwiger Bedeutung abgeneigt, wandte fich die 
üfthetifche Empfänglichkeit vom Großen und Erhabenen zum Ele⸗ 
ganten und Correcten, dem geiftreichen Spiel; kaum da8 gefchichtlich 
Große weiß die Kunſt zu bewältigen, aber die Atome des Lebens 
bildet jie im Genre charalteriftiich ab; in der Wiſſenſchaft trat der 
Anſchluß an die Erfahrung an die Stelle der Speculation, Ele⸗ 
mente und allgemeine Wirkungsgeſetze verbrängten als Erllärungs 
mittel die vorherbeſtimmenden einheitlichen fchöpferifch geftaltenden 
Ideen; ganz entfprechend wird auf praftifchen Gebieten immer 
eifriger das atomiftiiche Hecht der Perfünlichkeit vor den Pflichten 
hervorgehoben, welche die Rüchkſicht auf das Ganze gebietet,; immer 
allgemeiner endlich kommt ver Grundſatz zur Geltung, jede ein- 
zelne Kraft ungehemmt gewähren zu laſſen und von dem Gleich— 
gewicht, in welches die verſchiedenen alle fich durch ihre Wechſel⸗ 
wirkungen von felbft feßen werden, die befriedigendſte Geftaltung 
menfchlicher Berhältniffe zu erwarten. 

Alle diefe Züge laffen dem Orient gegenüber die abenblän- 
diſche Bildung als ein völlig profanes oder weltliches Leben ex- 
ſcheinen, das zwar den allgememen Bedingungen und Geſetzen, 
die den Lauf der Dinge treiben, fich willig unterwirft und fie 
mit Geſchick file ſich arbeiten läßt, aber eines nothwendigen Zu- 
fammenhangs feines ganzen Dichtend und Trachtens mit dem 
Bau einer überfinnlichen Welt ſich wenig bewußt ift und von 
allem Göttlichen nur fo viel zu bedürfen und achten zu müſſen 
meint, als. ſich ebenfalls in Geftalt allgemeiner Gefege zur 


Rn 





333. 


Regelung des fittlichen Verhaltens ausprägen läßt. Unzweifelhaft 
war das indringen des Chriſtenthums im die abendländiſche 
Welt eine mächtig auffteigende Welle, welche dieſen Rückgang 
unterbrach, aber fie hat ihn nicht verhindert wieberzulehren. Dogma 
und Cultus find im gleichmäßiger Verarmung begriffen und ab- 
fichtliche Berfuche ihrer Wiederbereicherung finden ſich fteigendem : 
Widermwillen gegenüber; die religiöfe Frömmigkeit entweicht aus 
der Sitte, felbjt während diefe an humaner Ausbildung zunimmt; 
nicht nur die Gliederung der weltlichen Geſellſchaft entzieht fich 
jeder kirchlichen Aufficht, fondern auch der Beftand der Firchlichen 
Gemeinschaften wird durch die wachfenden Selbftändigfeitsanfprücde 
der individuellen Meimungen gelockert. Sind num diefe Zuftände 
Zeichen eines allgemeinen Rüdgangs der Menſchheit oder verbirgt 
fih in ihnen ein Tortfchritt, den wir. mm zunächft beichäftigt 
jehen, alte Formen bes religidfen Lebens zu zerbrechen, der uns 
aber nicht hoffnungslos. über einflige Wiedererzeugung neuer läßt? 


Die Natur pflegt und als erfte Führerin zu religiöfen An- 
ſchauungen zu gelten. Auf verichiedenen Wegen leitet ihre Be— 
obachtung! zu Verſuchen, den wahrnehmbaren Inhalt der Wirl- 
lichkeit durch, Yortfegungen zu ergänzen, die nur dem Blicke des 
Glaubens fihtbar werden. Theils nach der Vergangenheit gewandt 
ſucht die Phantafie m Gefchichten der Weltentftehung Aufklärung 
über die Wunderbarkeit des Vorhandenen, die aus dem noch 
fortgehenden Laufe der Ereigniſſe unentſpringbar ſcheint, theils 
auf die Zukunft gerichtet forſcht ſie nach einem Zuſammenhange 
der Dinge, in welchen das vergehende irdiſche Leben einmündet 
um fortzudauern; beide Ahnungsreihen verknüpft die mehr oder 
minder umfaſſende Kenntniß des Wirklichen zu einem Ganzen von 
größerer oder geringerer Gefchloffenheit.. Wären in diefem Werte 
mythiſcher Weltauffaffung nur theoretiiche. Interefjen der Erflärung 
thätig, fo würde es feine größere Theilnahme auf fich ziehen, 


— 


als die geologiſchen Lehrmeinungen der Neptuniſten und Bulca⸗ 
niften, oder als die einſt nicht minder verſchiedenen Vermuthungen, 
welche die unvollendete Aftronomie liber den Bau des geftirnten 
Himmels wagte. Aber immer fpricht in jenen kosmologifchen An- 
fhauungen das menjchliche Gemüth zugleich fein Urtheil iiber den 
Werth der Welt umd liber die Erfüllung, welche feinen eignen 
ununterdrückbaren Bedürfniffen der Zufammenhang der Dinge 
gewährt oder verfagt; und immer knüpft ſich an die Bilder, Die 
von den fchaffenden erhaltenden und Ienfenden Kräften entworfen 
iverden, eine mehr oder minder entwidelte Meinung über Die 
Stellung, die zu ihnen der Menfch bat oder handelnd fich geben 
fol. Nur um deswillen mag man mit Recht in jener Verknüp⸗ 
fung Ausdeutung und Ergänzung der Naturerfcheimmgen Die 
eriten Anfänge der Religion fuchen; den vollen Werth des Namens 
wird man erſt Weltauffaffungen zugeftehen können, in denen zum 
maßgebenden Ausgangspunfte wird, was bier nur verftohlen. mit- 
wirft: die bewußte Anerkennung der unbebingten Geltung und 
Wahrheit des Sittlichen und des Heiligen gegenüber alle dem, 
was Thatfache ift oder Thatfache zu fein fcheint. 

Lüge mm das Ganze der Natur vor uns,, fo wirden wir 
ihre Mannigfaltigleit in eine Einheit verknüpft jehen, die als 
vollftändiger Widerfchein deſſen, was fein fol, und über ihren 
eignen Sinn unjere Stellung in ihr und über die Biele unſers 
Lebens belehrte. Uber diefe Einficht ift dem Ende aller Tage 
vorbehalten. Jedem Bolle, das feine Bildung begann, bat die 
Natur nur emen Meinen Ausſchnitt ihres Ganzen zugewendet, 
verfchieden nad; Zone und Klima, in feinem Bufammenbange 
unverſtändlich ohne die Ergebniffe noch fehlender Forſchung, zur 
fiheren Grundlegung einer Gefammtanfiht der Welt um ver 
Zweideutigkeit der verfchiedenen Ergänzungen willen untauglich, 
welche der Beſtand des Beobachteten mit gleicher Leichtigleit ge— 
ftattet. Immer findet die Phantafie in dem Weltiuf Spuren 
einhelliger und glitiger Weisheit; immer neben ihnen auch andere 
der Biwietracht der Härte und Grauſamkeit; Bieles, wodurch 


335 


fie zum Glauben an eine heilige Vorſehung geleitet wird, Bieles, 
dem nur zu Trotz fie diefen Glauben fefthalten Tann. : In Die 
bunte Verwirrung diefer Thatjachen haben die Völfer fich mit 
verſchiedenen Graden geiftiger Regſamkeit mit verſchiedenem Tem⸗ 
perament und unter dem Einfluß ſehr abweichender Lebensweiſen 
verſenkt, und nach dem Maßſtabe dieſer Begabung haben ſie 
Weltanſichten von mehr oder minder Reichthum und Klarheit 
gewonnen. Aber ſelbſt die größte Fülle mit feinſinnigem Naturblick 
ausgebildeter kosmologiſcher Weisheit, wie fie und die Mytho— 
logien der Haffiichen Völler darbieten, war kaum jemals ein 
Segen für fie felbft. Dem fernen Beobachter erfcheint ihre farben- 
reihe und anfchauliche Ausführlichkeit als eine beneidenswerthe 
Sättigung des ganzen Lebens mit Gedanken, die alle feine Klein— 
heiten unabläffig an das Große der überfinnlichen Welt an- 
nüpfen, und fie erhöht für uns die äſthetiſche Bedeutſamkeit der 
Böller, in denen fie lebendig war; aber diefe Völker felbft find 
durch Die Fülle ihrer naturphilofophiichen Neligionselemente kaum 
je zu einem nüglichen Fortjehritt des Lebens und der Humanität, 
zu großen Verirrungen und zu nußlofer Bergeudimg menjchlicher 
Kräfte öfters angeleitet worden. 

Zur Ahnung irgend eimer überfinnlihen Macht, welche Die 
Ereigniffe beherrſcht, führt die Naturbeobachtung leicht, aber feine 
Naturbeobachtung lehrt fittlihe Wahrheiten. Sie Tann lehren, 
daß der Untergang jedes Einzelnen im Plane des Ganzen feinen 
Sinn babe, daß jedes niedergetretene eben der Urfprung eines 
andern werde, daß im unaufhörlichem Kreislauf alle Kräfte 
der Natur fich zu Beitändiger Erzeugung Wiedervernichtung und 
Neuerzeugung der -Erfcheinungen mit nie fehlender Regelmäßigkeit 
verbinden; mit alle dem läßt fie e8 aber ganz unentſchieden, ob 
die Schonung des Fremden und die Aufopferung des eignen Selbit 
und ob nicht umgekehrt die Niedertretung des Andern und Das 
Geltenmachen des eignen Daſeins unfere fittlihe Beitimmung 
fei; als bewußte Fortfegung des Weges, auf dem die Natur un- 
bewußt wandelt, läßt die eine Handlungsweiſe jo gut fich als die 


336 


andere deuten. Das, mas ift, Härt uns nicht auf über Das, mas 
wir follen, wern wir nicht vorherwifien, was das fol, was tft. 
Darüber aber, wie der Menſch diefe zweideutige Erſcheinungswelt 
nehmen und verftehen, ob er fie fi) zum Segen oder Unſegen 
auslegen ımd verwerthen wird, darliber entjcheidet das Auge, Das 
er fitr fie mitbringt; der Grad der Humanttät, welchen die fitt- 
lichen Wechſelwirkungen in der Gefellichaft ihm zu entwideln ver⸗ 
ftattet haben, umd auf deſſen Entwicklung, nicht als Lehrerin, 
fondern als begünftigende oder hemmende Summe realer Be 
dingungen, allerdings die Natur felbit einen nicht geringfligigen 
Einfluß ausitbt. 

Haben die gefelligen Beziehungen nur ärmlich für die Aus- 
bildung des fittlichen Bewußtſeins geforgt, fo fehlen der Natur 
und dem MWeltlauf gegenüber Bedürfniffe und Gefichtspuntte für 
eine zufammenhängende, einzelne Widerfprüche ausgleichende Auf- 
faffung, und damit auch das heilſame Gegengewicht, welches die 
Phantaſie Kindern könnte, fi) dem Eindrucke einzelner auffallen- 
der Erfcheinungen widerſtandlos binzugeben. Bon dem unbe- 
rechenbaren Windhauch zufälliger Borftellungsverfnüpfungen hängt 
ed dann ab, zu welcher Deutung diefer Erfcheinungen zuerft, und 
dann von ihr rückwärts zu welchen Marimen des Handelns, ob 
zu folchen von zwedisfer Empfindfamfeit oder zu andern von 
greuelhafter Rohheit, das haltlofe Gemüth Hingeriffen wird. Und 
eben diefe Gefahr ift eigentlich eine bleibende; fie droht auf: jeder 
Culturſtufe in wechfelnden Formen von Neuem. Sie droht auch 
dann, wenn eme lebhaft entwidelte Intelligenz, längft im Beſitz 
vieljeitiger Erfahrung und vielfacher Gefichtspunfte der Beurthei— 
lung der Dinge, ſich gar nicht mehr einfeitig durch einzelne Er- 
ſcheinungen imponiren läßt, fondern über manche Widerſprüche 
der Einzelheiten hinweg den allgemeinen und ewigen Rhythmus 
des Weltlaufs fich zum Berwußtfein bringt. Denn auch wenn 
diefer Verſuch fehlerlos gelänge, fo fchließt die richtige Erkenntniß 
des Thatfüchlichen nicht unbedingt Die richtige Schätzung feines 
Werthes ein. Im Gegentheil, je Höher unfere Gedankenreihen 





337 


zu immer allgemeineren Zujfammenfaffungen aufiteigen, um deſto 
Iabiler pflegt ihr Gleichgewicht zu werden; es bedarf nur einer 
leiſen Verfchiebung der Stimmung, und unjere bewegliche Phan⸗ 
tafie erblidt dieſelben Thatjachen, ohne daß fie felbit fich verän- 
dert hätten, in einer gänzlich entjtellenben Beleuchtung. Nur eine 
fichere fittliche Durchbildung des Lebens bietet dann ein Gegenge⸗ 
wicht von hinlänglicher Schwere, um dem praktiſchen Einfluſſe 
der abenteuerlichen Theorien zu widerſtehen, zu denen in ihren 
Verſuchen zuſammenfaſſender Weltbetrachtung die Speculation 'nur 
zu leicht hingeriſſen wird. Und endlich ſelbſt wenn die Ehrfurcht 
vor dem Inhalte der ſittlichen Ideen von keinem Zweifel getrübt 
den allgemeinen Geiſt beherrſcht und der unbeſtrittene Ausgangspunkt 
aller Verſuche iſt, den Zuſammenhang der Welt im Glauben da⸗ 
hin zu verfolgen, wohin keine Erfahrung reicht: ſelbſt in dieſen 
Zeitaltern eigentlich religiöſer Bildung wird immer die alte Ge— 
fahr in der Borkiebe für den Tosmologifchen Ausbau der» Welt- 
anficht Tiegen. Bon der Stinme unferd Gewiſſens und von dem, 
was wir als Offenbarung verehren, führen nur ſehr ſchwankende 
Brüden, die dadurch nicht fefter werden, daß man fie mit liber- 
mütbiger Zuverſicht betritt, zu umficheren Yernfichten auf den Bau 
und die Gliederung des Weltganzen. Noch umficherer werden die 
Rückſchlüſſe fein, die von dieſer Anſchauung der Welt, als böte 
fie ein zweifellojes Bild, fih auf das Leben zurückwenden, um 
für die Gefinnung beiligere Vorſchriften und Ziele aus einer 
überirdifchen Metaphyſik des Weltbaues abzuleiten, und vielleicht 
um ihretwillen den einfachen unbedingten und nicht univerſums⸗ 
fundigen Geboten des Gewiſſens Schweigen aufzulegen. 


Will man deshalb den Namen der Religion jener Richtung 


des geiftigen Strebens ausfchlieglich worbehalten, welche in ber 
Erkenntniß der göttlichen Weltordnung und in der Einordnung 
unfers Lebens in fie die Bedingung des Helles fieht, — und in 
biefem Sinne pflegt Religion der ungläubigen Sittlichleit gegen— 
übergeftellt zu werben, — fo würden wir nur eimen heil ber. 


Wahrheit jagen, wenn wir die Vervolllommnung des menjchlichen 
Loße, II. 8. Aufl. 22 


338 


Geſchlechts durch den Einfluß der Religion priefen; wie werben 
eben fo ſehr zugeftehen müffen, daß der Yortfchritt der Humani- 
tät, den die Wechſelwirkungen der Gefellihaft und die eigne Ent⸗ 
wicklung des weltlichen Lebens erzeugten, theils dem religiöfen 
Glauben neue Fragen und Gegenftände feiner Beachtung zuge- 
führt, theil® durch feinen allgemeinen ſtillen und hartnädigen 
Widerftand die ſchädlichen Spigen abgebrochen hat, in welche hin⸗ 
ein fi der weltausdeutende weltnachichaffende Flug der gläubig 
infpirirten Speculation übertrieben hatte. 


Welher Faden zufammenbhängender Weberlieferung oder 
welches erlennbare Geſetz fortichreitender Entwidlung die Reihen⸗ 
folge der Religionsformen beftimme, die nach und nach unter den 
Culturvölkern unferer Erdhälfte aufgetreten find, laſſe ich als eine 
bier richt zu erfchöpfende Frage dahingeſtellt. Aber felbft der 
flüchtigen Blicke, die wir zu der Beltätigung der gemachten Be- 
merkungen auf fie werfen wollen, dürfen nur wenige fein. 

Wo das gefellige Leben fehr wenig entwidelt war und ber 
Keflerion Die Weite des Gefichtöfreifes fehlte, welche ihr nur ein 
bewegte Leben und die ftete MWechlelmirfung eigner Gedanken— 
reiben mit fremden verfchafft, find die Ahnungen des Ueberfinn- 
lichen, die auch das Alltäglichſte eriweden Tann, formlos und un 
zufonmenhängend geblieben. Mit fehr natürlicher Unflarheit ver- 
ehrt der Fetiſchdienſt die geheimnißvolle Kraft in jedem Gegen- 
jtande, der den Sinnen zufällig auffällt, indem er fie eben fo 
wenig mit diefem ihrem Träger identificirt, als fie deutlich vor 
ihm fcheidet. Nicht dieſer Mangel an begrifflicher Klarheit febt 
in der Reihe der Religionsformen den Fetiſchismus fo tief, fon= 
dern die völlige Unbeftimmtheit, die er über das Weſen jener 
überfinnlichen Wacht beftehen läßt. Sie ift nichts als ein gewiſſes 
Maß geheimnigvolles Könnens überhaupt, aber feine angebbare 
Art eines beftändigen Wollens oder Wirken. Man kann fie 
in jedem Gegenftand fehen, und jeder andere Tann fie in noch 


339 


‚höherem Maße befigen; fie dem eigenen Nuten durch Bitten und 
Dpfer geneigt zu machen, ift mer die natürliche Gewohnheit menfch- 
licher Sitte menschlichen Willen gegenüber: in der Natur des ım- 
berechenbaren Dämon felbft liegt nicht einmal für diefen einfad- 
ften Eultus ein verftändlicher Beweggrund. Diefelbe Armuth ver 
Gedanfen betrügt um den Gewinn, den die Ahmıngen der Un- 
fterblichfeit dem Leben bringen könnten. Die Borftellung „völliger 
Bernichtung deflen, was einft in großer Fülle anfchaulicdher Wirk 
ſamkeit beobachtet wurde, ift dem umentiwidelten Gedankengang 
eben fo ſchwer eingänglich, als die einer völligen Entitehung aus 
Nichts; der Glaube an eine Fortvauer der Seele nach dem Tode 
it natürlicher und älter als der an ihre Vernichtung, der zu den 
eriten Leiftungen einer ſchon fortfchreitenden Bildung gehört. Aber 
einen Inhalt weiß die arme Weltanficht diefer Stufe jener Fort: 
dauer eben fo wenig zu geben, als ihrer Ahnung einer überſinn⸗ 
lichen Macht in den Dingen; wo das künftige Sein nicht als ein 
Nachbild der irdiſchen Befchäftigungen aufgefaßt wird, zerfließt 
die Seele in die Reihe jener dunkeln Naturgewalten, fie lebt als 
Gefpenft, d. h. mit den allgemeinen Formen des menſchlichen 
Seelenlebens, aber ohne menjchlich verftändliche Zwecke fort. So 
troftlofe Borftellungen können weder zu Quellen fittlicher Veber- 
zengungen werden, noch laſſen fie folche leicht an fich anknüpfen; 
aber fie ſelbſt würden anders ausgefallen fein, wenn eine größere 
fittliche Ausbildung das Gemüth veranlaft hätte, Anderes als 
die unbeftimmten Bilder eines frembartigen Seins und Könnens 
Hinter der Oberfläche der Exrfcheimungen zu ſuchen. Was Furcht 
und Mitleid lehren, das allenfalls kann dieſem Glaubensinhalt 
gegenüber zur praftifchen Borichrift, zu Anfängen eines Cultus 
werden; was dies aber fein wird, darüber enticheidet der zufäl⸗ 
figite Lauf einer zügelloſen Einbildungskraft und der Antrieb des 
Temperament; gedantenlofe Zaubereien und blutige Greuel ber 
Zodtenopfer find der gewöhnliche Unfegen diefes Aberglaubens. 
Eine der fremdartigften Verirrungen fchernt fir uns Die 
göttliche Verehrung der Thierwelt, und doch bat fie natürliche 
22” 


340 


Beranlaffung in dem ermachenden religiöfen Gefühl. Der ge 
fellige Verkehr lehrt die Menjchen einander von ehr profaner Seite 
fennen; fie finden emander durch Heine wechſelnde widerjprechende 
Intereſſen beichäftigt, die volllommen verſtändlich find und Die 
Nichts von der unklaren Großartigfeit haben, welche die Phan- 
tafie Schon in den bewußtlos wirkenden Mächten der Ratur be= 
wundert. Nachdem der Menfch einmal fich und feines Gleichen 
mit allen ſeinen Intereſſen in Gegenſatz zu der Welt ımd eimer 
fremden Macht in ihr, dem erften Gegenftand feiner unklaren 
Verehrung, geftellt hat, kann er für dieſe Macht feine ausdrucks⸗ 
vollere Erſcheinung finden, als die Lebendigkeit der Thierwelt, die, 
in allen ihren Aeußerungen typiſcher, durch ihre Stummheit und 
dur) unfern Mangel an Berftändnig für ihre auffallenden In— 
flinete uns imponirt. Allerdings kann auch diefe Anficht nicht 
ohne zufällige Sprünge der Phantafie ihrer Vorſtellung von dem 
Ueberfinnlichen einen beftimmten Inhalt geben, aber fie faßt es 
doch wenigſtens in der höheren Yorm eines GSeelenlebens, das nur 
iiber fremdartigen und unverjtändlichen Sweden brütet. Solchen 
Beratungen entiprang dann in emem Leben, das noch nicht 
durch Mannigfaltigkeit eigenthiimlich menſchlicher Berhältniffe von 
der Aufmerkſamkeit auf das natürliche Dafein abgezogen wurde, 
leicht die Vorftellung der Seelenwanderung, für den vergleichen 
den Scharffinn und die geftaltende Phantaſie ein reicher Gegen- 
ftand der Hebung Ohne Zweifel beherrichte einft diefe Borftellung 
im Emft die Gemüther und verfchiwendete eine Menge menfch- 
licher Aufmerkſamkeit und Thätigkeit an ganz beveutungslofe und 
fünftliche Zwecke. Nicht die Wiffenichaft bat fie fiir und mider- 
legt, fondern in der Mitte umferer Bildung, die ihren Schwer- 
punkt in dem Werthe der gejelligen und fittlichen Verhältniſſe hat, 
it fie an ihrer Intereffelofigfeit abgeftorben. Kaum achten wir 
die Thiere noch anders, als fofern fie für uns wirtbfchaftliche 
Dbjecte, Zierden der Landſchaft, Gegenftände der Naturgeſchichte 
find; daß fie ein manmigfaches Seelenleben führen, dem unferen 
verwandt, bringen mir zuweilen fchlichtern als eine glaubhafte 


341 


Bermuthung vor. Und eben fo gleichgültig wenden wir uns bon 
allem ab, mas erinnerungslo vor unferem irdifchen Leben liegt; 
für das aber, was darliber hinausliegt, verjchmähen wir irdifche 
Analogien wenigftend fo weit, al8 das bleibende Bedürfniß irgend 
einer Berfinnlichung des Ueberfinnlichen zuläßt. 

Ueberall, wo reich. entwidelte Culturen ſich zu umfafjenden 
Religionsfyftemen gipfelten, in Aegypten in Indien in Vorder- 
afien, führt die Unterfuhung auf die großen das ganze Natur- 
(eben umfpannenden Erfcheinungen am Himmelsgewölbe als 
Ausgangspunkte religiöfer Vorftellungen zurüd. Unfaßbar für 
irdifhe Berührung und ſchon dadurch in ihrer glänzenden Fremd⸗ 
artigfeit die Ahnung veizend, zogen die Geftirne noch mehr durch 
Die Regelmäßigkeit ihrer Bewegungen die Aufmerffamteit auf fich; 
ihre Verehrung galt nicht allein dem erfreuenden Glanze, fondern 
war die erfte Huldigung, die dem Gedanken einer Wahrheit, eines 
Gefeges, dem Gedanken der Ordnung, als dem wahrhaften In⸗ 
halt des Veberfirmlichen gebrächt wurde. Aber dieſer fruchtbare 
Keim ſcheint für die Entwiclung der Religion verloren gegangen 
zu fein. 
Aegypten verdantte ihm achtbare Anfänge der Ajtronomie 
und den Verſuch einer Conftruction der Weltordnung durch ſyſte⸗ 
matifche Verknüpfung zu göttlichen Weſen perjonificirter Natur- 
kräfte. Bon der Ausbildung dieſer Weisheit, an wmeldyer Die 
Prieſterſchaft ihren Scharffinn übte, hatte das Leben keinen Ge- 
winn, als die Ueberlaftung mit einem Cermoniendienft, der höch— 
ſtens das allgemeine Gefühl, daß er einer überfinnlichen Welt 
geleiftet werde, unterhalten konnte, deſſen ſymboliſche Bedeutung 
aber dem Bolfe fremd war. Zufammenhängend mit dem Laufe der 
Gejtirne mußten dagegen die wunderbaren Naturerſcheinungen des 
Nilthals allgemein die Aufmerffamfeit auf die regelmäßige Wirkſam⸗ 
feit der Naturkräfte lenken, die in ftetem Wechſel das Leben hervor⸗ 
Ioden und unterbrüden. Der Gegenfat der zeugenden und ber 
bernichtenden Macht reizte nicht nur das myſtiſche Nachdenken 
der Speculation, fondern wurde der Gegenſtand volfsthiimlicher 


342 


Mythologie und zahlreicher feierlichen Eulte. Doch ſcheint nicht der 
ganze religiöfe Gedankenkreis fo won ihm beberricht worden zu 
fen, wie in Babylonien, wo ähnliche Anläſſe die Bhantafie zu 
den ausjchweifendften @ulten der allgemeinen Zeugungskraft der 
Natur hinriſſen. In Aegypten hatte fich neben diefen kosmolo— 
giſchen Mythen und fir uns in keinem mehr als äußerlichen Zu- 
fammenhange mit ihnen eine religiöfe Anficht des menfchlichen Lebens 
ausgebildet. Die Ueberzeugung von der perjönlichen Unfterblich- 
Yeit der Seele zeichnete fie aus; verbimden mit der Borftellung 
eines Gerichtes, welches die Geifter der Guten zu feligem Leben 
beruft, die Böfen zu hölliichen Strafen und. zu Der reinigenden 
Buße verurtheilt, in thieriichen oder menfchlichen Leibern das 
irdiſche Dafein aufs Neue zu durchwandern, hat der Kreid diefer 
Slaubensfäge ſich am erfreulichiten von der Ueberwucherung durch 
naturphiloſophiſche Speculation befreit und die Elemente fittltcher 
Ueberzeugung gefammelt, weldye das reiche vielgeglieverte Leben 
des uralten Culturvolles entwickelt hatte. 

Diefem verhältnigmäßig gefunden Realismus gegenliber, der 
das menfchliche Dafein zwar an eine umfaſſende Weltordnung an- 
Inüipfte, aber feiner eignen Entwicklung und nicht der kosmolo— 
giihen Speculation die Beſtimmung feiner Zwecke überließ, führte 
m Indien das Uebermaß der legteren zu einem Idealismus, der 
mit der Bedeutung der Welt auch die des menjchlichen Lebens 
aufhob. Bon der wiprlinglichen Verehrung der himmlischen Er- 
fcheinungen wandte fich hier die Phantafte nicht zur Hervorhebung 
ihrer Geſetzmäßigkeit, ſondern zur einfeitigen Betonung ihrer Ber- 
äinderlichfeit und Vergänglichkeit und hob mit verhängnißvollem 
Scharfſinn die Nothwendigkeit eines einzigen ewigen Urſeins ber- 
bor, das unrichtig gedacht wiirde, wenn es ald irgend ein be- 
ftimmter Inhalt, und am wmrichtigften, wenn e8 als beharrliches 
ewig Ruhendes gefaßt würde. Bon diefem beitimmungslojen Sein 
fand die mdifche Speculation den Rückweg zur Welt fo wenig als 
die fpätere Philoſophie. Sie verfchmähte den Weg mythiſcher 
Genealogien güttlicher Weſen, die anderswo die Neihenfolge der 


343 


Stufen der Weltentftehung feititellen, und zugleih unter dem 
Bilde das Fehlen der Erklärung verſtecken, wie und von mem Diefer 
Stufengang zurüdigelegt werde. So kam fie dahin, unſern Man- 
gel an Einficht in den Grund der Weltentftehung in eine grundlofe 
Entftehung der Welt zu verwandeln: getäufcht Durch Mißverſtand 
feiner Sehnfucht entwidelt fi das Urfein in eine Welt, Die nicht 
wahrhaft ift und nur ihren eignen vereinzelten Gliedern wirklich 
ſcheint. Metaphyſiſch unzulänglid, — denn ein Schein, der 
grundlos entiteht und feinen eignen Beitandtheilen in gefeßlicher 
Weiſe erjcheint, ift nur ein anderer Name für eine Wirklichkeit, 
die unerflärt geblieben ift, — enthält dieſe Vorſtellungsweiſe an= 
drerfeit8 ein entjcheidendes Urtheil über den Werth der Welt; 
fie ift nicht Schein, weil fie nicht wirflich wäre, ſondern weil fie 
nicht fein fol. Gegen das Nichtjeinfollende gibt e8 feine andere 
Pflicht als das Beſtreben, e8 wieder aufzuheben; in der allge 
meinen Nichtigleit der Welt, deren Urtheil das Urſein felbft durch 
beftändige Wiedervernichtung alles Geſchaffenen jpricht, bat Das 
menschliche Leben feinen Werth und feine eigenen Zwecke; das 
Heil liegt nur darin,- ſich von ibm abzuwenden, durch Ertödtung 
aller Leidenschaften, zulegt aller Vorftellungen und alles Denkens, 
fih dem Einfluß der nichtjeinfollenden Scheinwelt zu entziehen 
und in ven leidloſen Zuftand des bemwußtlofen Urjeins zurückzu⸗ 
kehren. Diefe Verzweiflung am Leben fanıı nicht als Folge jenes 
fpeculativen Irrthums der Welterflärung gelten; fie mußte auf 
phychologiſchen Motiven der allgemeinen Stimmungen und des Lebens⸗ 
gefühls beruhen, die wir nicht mehr zerglievern können, denn fie 
durchdrang alle indifche Gedankenwelt und ſelbſt das praftiiche 
Leben mit einer Gewalt, die feinem durch den Vollsgeift unun⸗ 
terſtützten Lehrſatz eigen tft. Auch der Buddhismus, nachdem er 
die Geifter von den Feſſeln des Brahmanenthung, dem Ceremo- 
niendienft den Kaſtenunterſchieden den Schreien der Geelen- 
wanderung, die eine immer erneute Bein des Daſeins verhießen, 
zu .erlöfen gefucht, endete mit demfelben Gedanken und ſtrebte nur 
den Rückgang zum Nichts zu erleichtern. Pie Gemalt aber, 


344 


welche diefer Glaube über die Gemüther übte, bezeugt Die Luft 
am ascetifchen Leben, die Unzählige zum Stande der Büßer und 
zu imerhörter Selbitqual begeifterte. Die großen geiftigen Ans 
lagen des Volks verzehrten fich fruchtlos unter der Herrichaft diefer 
Anfichten. Das Wiffen entiwidelte ſich wenig; die Sittlichkeit, 
bei großem SZartgefühl des Gemüths, erkannte doch nicht Die 
unbedingte Heiligkeit de8 Guten; fie wußte auch nicht eigentlich 
vom Böfen, fondern nur vom Uebel, das die Urfache der Ge 
müthsunruhe ift; alle Tugend war demgemäß Ausbildung der 
Tertigleit, dieſem Uebel zu entgehen. Endlich wie alle Ueber- 
pannungen im Lauf der Zeit, da fie Doch ſich auf ihrer Höhe 
nicht halten können, eimen Bodenfag von gewohnheitsmäßigem 
Mechanismus der Schwärmerei niederichlagen, fo bat Brabmanis- 
mus und Buddhismus, der lettere fchlieglich noch umfangreicher, 
in dem Kilofterleben und bedeutungsloſem Ceremonienpomp fich 
zum zwedlofeiten Dafein verweltlicht. 

Ein kräftigeres Naturell ließ die iraniihen Stammverwandten 
der Indier aus dem gemeinfamen Religionskeime beffere Früchte 
zeitigen. Zoroaſters Lehre fügte zu dem verehrten Fichte einen 
kräftigen Schatten; ftatt der Täufchung, die das Urfein verwirrt 
und zur Weltfchöpfung verleitet, hat bier das ‘Dunkel des böfen 
Princip8 die berechtigte wahre Entwicklung des lichten Guten nur 
oberflächlich beſchränkt; am Ende des Streites zwiſchen beiden, 
der die Welt füllt, wird das Böſe dem Lichtreich unterliegen und 
dann das allein fein, was allein fein fol. An dieſem Streite 
hat der Menſch Theil zu nehmen. Die natürliche Symbol, die 
für alle Zeiten das Licht zum Bilde des Guten, die Finfterniß 
zum Gleichniß des Böſen gemacht bat, erlaubte, jede ſchädliche 
zmweideutige häßliche Naturerfcheinung dem Reiche des Ahriman 
zuzurechnen, und an den Haren Dualismus der Principien, der 
mit dem endlichen Siege des Ormuzd auch der Zukunft einen 
Maren Abſchluß gab, eine Menge praftifcher Gebote anzufchließen, 
die dem täglichen Leben verftändige Ziele, dem fittlichen Berhalten 
vernünftige Pflichten vorſchrieben. Auch diefe Religionsform unterlag 


345 


indefien dem Scidfale, ihre großen Gedanken durch die empor- 
fommende Priefterfhaft und ihre Ceremonialgelehrfamteit unter 
ein Uebermaß äußerlicher Formen verhüllt zu fehen. 


Andere Erfcheinungen begegnen uns auf europäifchem Boden. 
Auch die Griegen haben früher das Göttliche in feiner natür- 
lichen Erſcheinung geahnt, ehe fie es in dem Geſetz in unferem 
Innern wiederfanden. Aber ihre Gedanken verloren fich weder 
in dem Abgrund des allgemeinen Seins, m dem alle Geftalt 
verſchwindet, noch in den begrifflichen Geheimniffen, die jedes Ein- 
zelne an feinem Ort anzudeuten berufen wäre: fie hafteten an 
der Schönheit des Ganzen und jedes feiner Theile; je mehr ihre 
Bildung vorſchritt, um fo mehr verſchwand der Iehrhafte Inhalt 
der Mythen, den fie einſt mit ihren morgenländiſchen Stamm- 
verwandten getheilt, Hinter der charakteriftiichen Schönheit, zu 
welcher ihre Götterwelt fich verflärte Stetige ruhige Entfaltung, 
Beherrſchung Bunter Vielheit durch die Einheit eines fich wieder- 
holenden Rhythmus, alle Gemeflenheit Klarheit und Reinheit, die 
und die Sinnenwelt entgegenhält, alles dies find an fi noch 
nicht fittliche Begriffe, aber es find Formen des Sems und Be 
nehmens, die wir al8 Borbedingungen oder Folgen des Sittlichen 
im und zu verwirklichen, in der Außenwelt dann wiederzufinden 
fireben. Günftige Naturınngebungen, welche diefe Eindrücke dar⸗ 
bieten, mögen daher ihren Beitrag zur Zähmung der wilden 
Triebe, zur Mildigfeit und fchönen Haltıng des Gemüths geben, 
aber den größeren gibt ohne Zweifel eine glückliche Entwicklung 
des fittlichen Lebens in der Gefellichaft; durch fie erft wird dem 
Auge der empfänglihe Blick und das Intereffe fir die Schönheit 
der Äußeren Welt gegeben. Durch fie wurde den Griechen früh- 
zeitig die Aufmerkſamkeit von der Naturbeveutung ihrer Götter 
abgezogen, die fich für religidfe Entwicklung ſtets umfruchtbar ge 
zeigt hat; ihre Phantafie erfegte die verfchwindenden Myſterien 


346 


dieſes Geheimſinns durch die, Offenbarkeit der ausdrucksvollen 
Schönheit von Idealgeſtalten, deren charalteriſtiſche Verſchieden⸗ 
heiten das unendlich viel höhere Geheimniß der Manmigfaltigkeit 
des geiftigen Lebens wiederſpiegelten. Diefe VBermenfchlichung der 
Göttermelt führte, allerdings nicht ohne häufigen Mißbrauch der 
dichtenden Phantafie, zugleich zu ihrer Berfittlihung. So oft 
das volksthümliche Gewiſſen eine neue moralifche Verpflichtung, 
eine neue fittliche Idee, in ihrer Schönheit und Dinglichkeit erfannt 
hatte, ſuchte man theil® aus dem natürlichen Bedürfniß, das 
Größte in der Welt auch als das Volllommenfte fafjen zu dürfen, 
diefe Schönheit auch der Göttermelt als eine vorher nur unbe- 
fannt gebliebene Geite ihres Reichthums zu fichern, theild da⸗ 
buch, Daß man die erkannte Pflicht aus dem Willen der Götter 
ableitete, fie über die Schwankungen des individuellen Urtheils 
und der veränderlichen Stimmung binauszubeben. So verebelten 
die Griechen durch die Ergebniffe der lebendigen Bildung ihren 
Glauben; die tieffinnigften Dichter rangen darnach, den liberlie- 
ferten Inhalt deſſelben mit ihrem Bewußtſein Heiliger Gebote und 
Wahrheiten zu durchdringen und zu vertiefen. Und eben Dadurch 
ward zulegt das Gefühl von der Unzulänglichleit der Grundlage 
übermächtig, die man fo zu veredeln fuchte; man fand, daß Alles, 
was dem menjchlichen Leben Werth, gibt, fih zwar äußerlich an 
den Namen der mythiſchen Götter Inlipfen laſſe, aber in ihrem 
Begriffe Doch nicht wurzele.e Da kam der einfache Name Gottes 
oder des Göttlichen überhaupt zu Thren, um die wahre Quelle 
des Werthvollen zu bezeichnen, zu der fich ſuchend die lebendige 
Sehnſucht der edleren Geiſter zurückwandte. 

Zu dieſem Abſchluß kam die Religion Einzelner, nicht die 
des Bolfes; vor ihrem gänzlichen Untergang bat dieſe niemals 
die zufammenhängende Einheit eines orientaliihen Religionsiy- 
ſtems gehabt. Die Mythologie war weder aus einem einzigen 
noch aus ftetig fortwirkenden Antrieben entjtanden. Anſchauungen, 
die ſchon die afiatifche Vorheimat nicht ganz übereinftimmend er- 
zeugt hatte, waren in den europätfchen Sigen, in denen die einzelnen 


347 


Stämme längere Zeit abgefchloffen von einander hinlebten, noch 
weiter anseinandergegangen; Einwanderung und Weberlieferung 
hatten fremde Gottesbegriffe eingeführt, örtliche Erlebniffe manches 
früher gemeinfame Götterbild in mehrere Einzelgeftalten aufge- 
Löft, früh endlich war das Ganze diefer Anfchauungen in bie 
Hände der umbildenden Poefie gefallen. Diefe ganze Summe 
charaltervoller Idealgeſtalten ſymboliſcher Figuren altvolksthüm⸗ 
licher Sagen und freier Dichtung war eine zu unermeßliche Welt 
geworden, als daß vollkommne Uebereinſtimmung über ihren In= 
halt denkbar, ein dogmatiſcher Unterricht als Grundlage eines ab- 
geichloffenen Glaubensbekenntniſſes möglich geweſen wäre Die 
Götterwelt ftand in ihrer Grengenlofigfeit dem Bewußtſein wieder 
gegenüber, wie ihm gleich von Anfang die finnliche Natur gegen- 
überfteht; auch diefe kennt Niemand ganz, jeder ihre großen Um: 
riffe; für jeden gibt es einen kleinen Bereich, in Dem er fich 
anbaut und deſſen eigenthümlichen Werth er aus eigner Erfahrung 
begreift. So gab es au in ber weiten Götterwelt für jeden 
einen befondern Kreis von Stammesgottheiten, an die mit über- 
lieferten Gebräuchen der Verehrung ſich zu wenden, allerdingd ber 
Stoat Die Familie oder eine alte Cultgenoſſenſchaft allen vor= 
fchrieb, Die zu ihren Angehörigen zählen wollten. Aber e8 gab 
feine Kirche als Bewahrerin der reinen Lehre oder ald Aufſeherin 
tiber ihre Befolgung, keinen gejchloffenen Priefterftand mit irgend 
welcher Macht tiber die Gemwiffen. Der Briefter war der Sadh- 
verftändige, der die Geheimniffe des einzelnen Heiligthums Tannte, 
dem er diente, und der dem frommen Berehrer als Vermittler 
feiner Darbringungen zur Seite ftand. Wo eine religidfe Cenſur 
über Meinungen erging, war e8 die politifche Gemeinde, welche fie 
übte; die nationale Gottesverehrung, auf der wie auf einem uralten 
heiligen Bertrag die Wohlfahrt des Staates beruhte, wurde von ihr 
theils gegen das Eindringen unfittlicher Culte des Auslands, theils 
. gegen die auflöfende Aufklärung der heimifchen Philofophie vertheidigt. 

Ehe noch die fittliche Vertiefung des Begriffs der Gottheit 
eine ftetige Berehrung derfelben durch die Weiſe der Lebensführung 





348 


möglich machte, blieben Opfer Lobgefänge und Gebete wie über— 
all die einzigen Ausdrüde der Dankbarkeit der freien Bewunde— 
rung und der jcheuen Furcht, welche die Götter als wohlthätige 
als erhaben fchöne endlich als bedrohende Naturgewalten erweckten. 
Eine Miſchung jener Gefühle blieb die Stimmung, welche das 
griechifche Gewiſſen als Frömmigkeit, als Eufebie, den Göttern 
gegenüber verlangte. Bon diefer Stimmung ift noch ein weiter 
Weg zu den beftimmten Handlungen, in denen fie fi im Leben 
zu bewähren hatte. Den Willen der Götter kannte man nicht; 
ihn unbekannt zu ehren, auch die zerftreuten Offenbarungen zu 
achten, in denen er zumeilen ſich verkündet, in feiner Sache ſich 
zu überheben und zu vermeſſen, jondern fich zu mäßigen in dem 
Bewußtſein, daß die Lenkung aller Dinge in höheren geheimniß— 
vollen Händen liege: das allein mar Die meitere Entwicklung, 
die das griechiiche Gewiflen jener Eufebie geben konnte. Kine 
inhaltuollere Beziehung des menfchlichen Lebens zu göttlichen 
Rathichlüffen konnte die Mythologie nicht lehren; dazu hatte fie 
allzufehr die Erinnerung an die umfaflende Weltgefchichte wer- 
Ioren, in welche die orientalifche Phantafie die Menſchheit ver⸗ 
flochten hatte; Alles war ihe zu eimer ſchönen Gegenwart gewor— 
den, deren Vergangenheit in wenigen dunkeln Sagen verflang 
und die feine unausdenkliche Zukunft außer ihrer ſtets gleich- 
mäßigen Yortdauer Hinter fih hatte Wie verflärt man die Götter 
faffen mochte, fie waren doch nicht Schöpfer der Welt; fie blieben 
bedingte Wefen, die glücklichen Erſtlinge einer verborgen fchaffen- 
den Kraft, ideale Geſchwiſter der Menfchheit, die ſtärkeren Helfer 
in Schwierigleiten, die doch auch für fie Schwierigkeiten waren. 
Und eben darum ftürten die fittlichen Mängel, die ihre Bilder 
befledten, nachdem die urfprüngliche Naturſymbolik der Sagen ſich 
in Gefchichte perfönlicher Weſen umgebeutet hatte, die Aufrichtig- 
feit ihrer Verehrung nicht in fonft zu ermartendem Maße. Als 
ausdrucksvolle Charakterfiguren von edlerem oder uneblerem, im⸗ 
mer lebensfriſchem Naturell Tebten fie im Bewußtſein und man 
ſah auf fie als die überfinnlichen Vorkämpfer mit derſelben hin— 


349 


gebenden hoffnungsvollen Anbänglichkeit, mit welcher ein Heeres- 
gefolge feinen Feldherrn verehrt. | 

In den äußern Formen des Cultus hat der griedhiiche Geift 
die feierliche Schönheit der myſtiſchen Erhabenheit vorgezogen umd 
den ſinnlich fchmärmerifchen Taumel afiatifcher Gotteswerehrung 
bi8 auf wenige Spuren gemieven, Bon den althergebrachten Ge- 
bräuchen mar viele8 dem Volfe umverftändlich geworden. Obgleich 
jede Gottheit überall angerufen werden fonnte, fo mar doch ihr 
feterlicherer Dienft an beitimmte Orte gebunden, wo ihre Hülfe 
den Menfchen in beſonders denkwürdigen Augenbliden zu Theil 
geworden war, deren Gedächtniß nun in beziehungsreichen Be— 
gehungen erhalten werden follte, aber der Vergeſſenheit doch nicht 
entging. So blieben heilige Ceremonien als pflichtmäßiges Her- 
fommen an einzelnen Eultjtätten haften, faſt wie die jonderbaren 
Lehensverpflichtungen, die fett irgend einem vergeſſenen Abenteuer 
der Bafall des Mittelalters gegen feinen Lehnsherrn hatte. Sie 
dennod, gewifjenhaft aufrecht zu halten, trieb die Griechen eben 
jene Eufebie, mit der fie überall den unverftandenen Willen der 
Götter ehren zu müſſen meinten. 

Unverftanvden aber blieb in feinen leßten Geheimniffen den 
Griechen diefer Wille allerdings. Es ift eine milde ſchöne umbe- 
fangene Natürlichkeit in ihren religiöfen Anſchauungen, aber fie 
vertreten nicht gegen Die Welt ein Himmelreich, fondern gegen den 
Glanz orientalifcher Herrſchermacht und dumpfe Ueppigfeit die 
Schönheit eines maßvollen Karen und friedlichen Lebensgenuſſes, 
der aus der finnigen und veritändigen Ausbeutung und Bervoll- 
kommnung irdiſcher Berhältniffe entſpringt. Nur dies iſt es, 
was Solon dem Kröſus entgegenhält, indem er des Tellos fried- 
liches Leben und Kleobis und Bitons durch frühen feligen Tod 
Ihön abgefchloffene Jugend dem gerlihmten Herrſcherglück des 
Lydiers vorzieht. Keine Hindeutung Tiegt in feinen Worten auf 
ein Glück, das nicht von diefer Welt wäre, oder, in der Ruhe 
des Gewiſſens gelegen, äußerliches Unglüd aufwöge. Mit Dring- 
lichleit ermahnt Solon den König, das Ende zu bedenken, nicht 


350 


als ob ihm ein Geriht über Werth und Unwerth des Lebens 
folgen werde, fondern weil nicht wahrhaft glüdlich ift, wer es 
nicht immer ift. Auch ein fpätes Mißgeſchick ſchändet in der 
Borftellung des Griechen das ganze Glüd des früheren Lebens, 
wie Die Schönheit des ganzen Kunftwerts durch das Mißlingen 
bes Heinften Theil geftört wird. Auch dem Ende, das wirklich 
für das Ende galt, fuchte das merkwürdige Volk einen Tünftlerifch 
befriedigenden Abſchluß; eme Anknüpfung des Ganzen an em 
Jenſeits lag nie in feiner herrichenden Stimmung. Es mag fein, 
daß die Müfterien alte Unſterblichkeitslehren des Morgenlandes 
fortpflanzgten, und gewiß war dem gebildeten griechiichen Volke die 
Borftellung einer Fortdauer nicht unbelannt, die ja das arme 
Leben fo vieler rohen Stämme erleichtert. Aber eine tiefgreifende 
Wirffamfeit diefeg Glaubens würde, werm fie vorhanden geweſen 
wäre, ohne Beweis aus dem ummittelbaren Eindruck des ganzen 
nationalen Lebens uns entgegenfpringen. Diefer Eindruck jedoch 
fpriht entſchieden mm für das völlige Begnügtfein mit dieſer 
irdiſchen Welt. Die tiefe Kluft zwiſchen der griechifchen Lebens⸗ 
anfchauung und der des Chriftenthums Tann nicht durch Aufſuchung 
einzelner Schönheiten der Ahnung ausgefüllt werden, von denen 
wir nie recht gewiß werden, ob fie einen feften herzlichen Glauben 
ausdrücken oder ob fie als poetiiche Bilder ohne ernftliche Meinung 
dem äfthetifch gefittigten Volle mr als Verzierungen des Lebens 
dienten. 


Als den erften umbewegten Beweger aller Dinge, als den 
werithätigen Inbegriff der Ideen des Wahren de8 Schönen und 
Guten hatte Die griechiiche Speculation Gott in ihren edelſten 
Bertretern kennen gelernt; nur daß dem hellenifchen Geiſte, deſſen 
einfeitige Verehrung der Erfenmtnig durch das Selbfigefühl feiner 
wiſſenſchaftlichen Thaten unterhalten wurde, und dem Sünde nur 
als Irrthum begreiflich war, eben jenes höchſte Gute ohne eignen 


351 


Inhalt in Schönheit und Wahrheit wieder zerfloß. Mit welcher 
Theilnahme wir immer dieſes letzte veligidfe Ergebniß der Haffi- 
ſchen Welt betrachten mögen: groß als Frucht menfchlicher For⸗ 
hung gleicht es doch einem fehr befcheidenen Bache gegenüber 
dem vollen raufchenden Strome des Gottesbemußtfeind, der fchen 
lange vorher das Leben des hebrätfchen Voll durchdrang und 
in der heiligen Poeſie deſſelben mit einer Mächtigkeit flutete, gegen 
deren zweifellofe Realität der höchfte Schwung griechiicher Ahnung 
als problematifche Bermuthung erfcheint. 

In einzelnen Zügen der Sage und der Sitte, in der fünft- 
fertfchen und  ceremoniellen Ausbildung des hebrätfchen Cultus 
mag die gelehrte Forſchung Spuren ausländifcher Einflüffe auf- 
finden; den Kern ihrer veligiöfen MWeltanficht haben die Iſraeliten 
völlig der Einwirkung der heidnifchen Cultur entzogen, mit der 
fie zum Theil in Iangdauernder Berührung ftanden. Die natur⸗ 
philofophifchen Elemente, welche die Religionen des Orients ver- 
derblich überwucherten, find faſt völlig aus ihr verſchwunden, 
ethiſche Ideen, die dem Leben jener andern Völfer zwar nicht 
fremd waren, aber ihnen nicht den Ausgangspunkt der religiöfen 
Borftellung bildeten, find in ihr die treibende Kraft der Entwid- 
lung geworden. Mit welchem Scharffinn mögen die Aegypter, 
wenn dem ebenbürtigen Scharffinn moderner Ausleger ihrer 
Weisheit zu trauen ift, die Reihenfolge der kosmiſchen Potenzen 
beftimmt haben, aus denen die Weltordnung hervorging! Yür 
religiöfes Leben hat Dies alles ungefähr gleichen Werth mit den 
Lehren, welche unjere Geologie ungleich beſſer begründet iiber bie 
Schichtenfolge der Erdrinde aufftellt. Die mofaifchen Schöpfungs- 
berichte, Die nur ein ſonderbares Mißverſtändniß fir Naturge- 
ſchichte auszubenten fuchen kann, glänzen durch die Verachtung, 
die fie diefer kosmologiſchen Speculation beweilen. Keine Er- 
ſcheinung machen fie zur Entwidlungsgrundlage der andern; mit 
der höchſten Einförmigkeit wiederholen fie von jedem Geichöpf, daß 
Gott es gemacht habe, und felbft in der Reihenfolge diefer SchBp- 
fertiaten find fie kaum nothdürftig auf eine Ordnung bedacht, 


352 


die der Abhängigkeit entfpricht, in welcher einzelne ‘Theile der 
Wirklichkeit zu andern ſtehen. Genug, daß Alles von Gott ge= 
Ichaffen iſt und daß Alles gut war, fo wie er es ſchuf; gemug, 
daß der Menſch als der Erwählte diefer Schöpfung, fie ſelbſt als 
der Garten begriffen ift, in dem ex nach Gottes Vorbild zu leben 
beftimmt war. Zu höheren Ehren kam die Natur auch fpäter 
nicht; dem eimen lebendigen Gotte gegenüber hatte feine ihrer 
Erfcheinmgen einen andern Sinn, als den, Zeichen feiner Güte 
und Allmacht oder feines Zornes zu fen, und als folche wußte 
fie die Poefie in den ergreifendften Ausdrüden zu fchildern; nie 
vertiefte fi, dagegen die Phantafie anders als in flüchtigen Bil- 
dern in den Berfuch, Gottes Weſen, als wäre ihm dieſe Ausge- 
ftaltung nothwendig oder könnte ihm genügen, in der Ordnung 
der Natur fymbolifirt zu ſehen. Aber diefer Gott, der in der 
Natur felbft Feine ernten Zwecke verfolgte, fondern mit ihr nur 
in greoßartigem Spiele fchaltete, hatte mit der Menſchenwelt jene 
Abfichten; indem der kosmographiſche Gefichtäfreis der Hebräer 
ſich faſt idylliſch verengte und alle Ausfiht auf die Natur im 
Großen gleichgültig aufgab, hob ſich das gelobte Land zur Heilig- 
feit eined bejondern Wirkungskreiſes der Allmacht und wurde zum 
Schauplag einer Gefchichte göttlich-menſchlicher Wechſelwirkung. 
Mit jener Abwendung der Aufmerffamfeit von der eigenen 
Gliederung der Natur war die Gefahr vermieden, welche Die 
fosmologifch begründeten Xeligionen verlodt hatte; die Gefahr, 
zunächſt die natürlichen Uebel, dann das ſittlich Böſe als noth- 
wendige Beitandtheile der Weltordnung und als metaphyſiſche 
Conſequenzen des Weſens Gottes zu faſſen. Dem hebräifchen 
Glauben war Gott nur das Gute, und weder in ihm, noch in 
der Schöpfung, wie fie aus ferner Hand Tant, war ein Keim Des 
Uebels; die menjchliche Freiheit hatte, eben frei und durch kein 
metaphyſiſches Schieffal genöthigt, die Sünde in die Welt gebracht 
und als ihre Strafe den Tod und die Uebel des Lebens. Dies 
nun entjtandene Reich des Böſen mar Fein denknothwendiger Be 
ſtandtheil der Welt; es hätte auch nicht fein können, und es follte 


353 


nicht fein; das Gebot, heilig zu fein wie Gott heilig ift, galt 
dem Menfchen, und galt ihm als ein erfüllbares in der Furcht 
des göttlichen Geſetzes. Die Zweifel, zu denen die Betrachtung 
diefer höchiten Dinge das menfchliche Gemüth immer wieder zu— 
rüdführen mird, waren durch dieſen Glauben nicht theoretifch 
gelöft; aber dem eben gab ihre Zurüddrängung die erſte volle 
ftändig religiöfe Grundlage Die fittlihen Verpflichtungen, deren 
Bemwußtfein überall die focialen Wechſelwirkungen aus dem Gewiſſen 
entwideln, erjcheinen hier zufammengefaßt als ein Wille Gottes, 
den nicht der einzelne allein durch innere Gefinnung und äußere 
Werke, fondern den zugleich die Geſammtheit in theofratifch ge— 
ordnetem Gemeindeleben zu erfüllen und zu verherrlichen hat; die 
Geſchichte des Volls ift der Verlauf einer beftändigen Wechſel— 
wirfung mit dem Öotte der Gerechtigkeit, der an die Heiligung 
feines Willens Berheigungen der Gnade geknüpft hat und die 
Berftoctheit gegen ihn züchtigt. 

Meder die äußern Schickſale der Nation brachten die Er- 
füllung des Verheißenen, noch fand das Bolt in feinem Gewiſſen 
ein Zeugniß der eignen Gerechtigkeit; das Ende des Kampfes, 
den das Streben der Selbftrechtfertigung gegen Gott führte, Tag 
in der Zukunft und erfchien als eine irdiſche Herrlichfeit des 
ganzen Gefchlechtes, das als folches, mit unklaren Hoffnungen 
auf eine eiwige Bedeutung des einzelnen Geiftes, das Reich Gottes 
auf Erden zu bilden fich berufen fühlte. Als die Verwirklichung 
diefer Weiflagungen erjchten fich jelbit das Chriftenthum, von den 
Juden mißfannt; in-der Perſon Chriftt war in vertiefter Bedeu⸗ 
tung bereinigt, was vom Meſſias gehofft worden war: die ab- 
Ichließende Prophetie der endgültigen Offenbarnng, das hohprie— 
jterliche Mittleramt der Verſöhnung durch das Opfer, welches 
der Mittler felbft ift, die Königliche Gewalt des Herrn über die 
Gemeinde aller Zeiten. 


Loge, III. 3. Aufl. 23 


354 


Scheiden wir einen Augenblid, was die Lehre der chriftlichen 
Kirche zu Tcheiden nicht verftattet, den Inhalt, der durch Chriſtus 
geoffenbart ift, von dem Glauben an ben gefchichtlichen Vorgang 
feiner Offenbarung, fo werden wir in jenem ausſchließlich veli- 
gibſe Wahrheit in eben fo ausſchließlich religiöfer Faſſung ihres 
Ausdrucks finden. Die Ordnung der fidhtbaren Natur ift kein 
Gegenftand der Deutung und Erklärung; durchdrungen in allem 
Großen und in allen ihren Kleinheiten von dem vorfehenden und 
erhaltenden Willen Gottes bildet fie m ihrer Gefammtheit wohl 
ben Hintergrund unfers Lebens, auf den der Geilt, Zeugniß 
fuchend für die Wahrheit feines Glaubens, ſich auch berufen kann; 
aber ihren Bau zu kennen und ihre Gliederung gehört nicht zu dem 
Einen, was Noth thut. Im den Beſtimmungen des Gefebes hatte 
felbft das Judenthum noch der natürlichen Wirklichkeit eine Be 
deutung gegeben, die ihr nicht zukommt; obgleich e8 auf die Hei- 
gung der Gefinnung drang, ſah es Doch immer noch in dem 
Bollzug der Handlung eine Leiſtung, die fiir fich etwas bedeutete, 
und ohne deren Vollendung an dem Thatbeftande der Welt das 
fehlen wiirde, was menfchliches Thun hinzufügen follte Bon 
diefer bald troßigen bald verzagten Verehrung der Werke wendet 
fih das Chriftentfum ab und ganz der Gefimumg und ihrer 
Heiligung ausfchließlich zu; nicht irgend ein Zuftand der Dinge, 
felbft nicht ein Zuftand der Meenjchheit, in deren äußeren Orb- 
nungen fi) das Reich Gottes durch das Zuſammenſtimmen ver 
einzelnen Lebenskreiſe offenbare, ift in erfter Linie das Ziel des 
Strebend, fondern die Verklärung und Wiedergebint des ein- 
zelnen Menſchen, deffen unendliche Perjönlichkeit der Tempel Gottes 
werden foll, fir welchen auch das Judenthum doch nur die 
theofratifch geordnete Gefammtheit des auserwählten Volles ge- 
nommen hatte So wenig kosmologiſche Weisheit Daher das 
Chriſtenthum entwidelte, jo wenig much unmittelbar fociale Theo⸗ 
rien; im dem neuen innern Leben, das es forderte und möglich 
machte, gab e8 dagegen den mejentlichen Kern, aus welchem nicht 
zwar die Kenntniß, wohl aber die Wiirdigung der Natur, nicht 


355 


eine beitimmte Form menjchliher Gefellichaftsverhältniffe, aber 
die Wähigfeit, jede vorgefundene Lage der Umftlinde im rechten 
Sinne zu benugen und zu geftalten, fich entwickeln konnte. 

Tag diefer Eigenthiimlichkeit der chriftlichen Offenbarung ber 
Gedanke eines nur bedingten Werthes alles irbifchen Lebens zu 
Grunde, während die früheren Religionen des Orients e8 nicht 
als Votbereitung und Schule, jondern ald das eigentliche Dafein 
in den Plan der Welt eingereiht hatten, fo könnte man erwarten, 
wenigftend den Infammenbang der trdiichen Wirklichkeit mit dem 
Geheimnifie des göttlich geordneten MWeltganzen, des Thatfächlichen 
mit dem Heiligen, um fo deutlicher von ihr entwidelt zu fehen. 
Diefe Erwartung wird getäufcht, wenn fie auf eine erflärenve 
Erkenntniß des Baues der überfinnlihen Welt gerichtet war; fie 
wird, wie die Geſchichte von Jahrhunderten zeigt, volllommen er⸗ 
füllt, wenn fie Nichts begehrte als Gemißheit iiber die befeligende 
Bedeutung des Zufammenhangs, den jene Welt, welches auch ihre 
beftimmtere Geftalt fein mag, in fich felbft und mit der irdiſchen 
bat. Bon Gott als dem perjönlichen Geifte, der die allmächtige 
Liebe ift, ſpricht die Offenbarung, aber fie vertieft fih nicht in 
Beantwortung der Fragen nad) der metaphufifchen Form feiner 
Eriftenz, weldye die menſchliche Erfenntnig aufwirft, um in ihrer 
Weile die Möglichkeit, daß er dies fet, zu begreifen; fie ſchildert 
das Antlig, das Gott der Menſchheit zuwendet, aber die Herr- 
lichfeit, die nur Die Engel im Himmel fehen,. deutet fie an, ohne 
fie zu zerglievern. Ste betrachtet die Welt als die Schöpfung 
dieſes Gottes, aber über ihre Entftehung und tiber ihr Ende fligt 
fie dem alten Glauben keine mejentliche Erweiterung des Willens 
hinzu; fie ift durchdrungen von der Borausfegung der Uniterb- 
lichkeit des einzelnen Geiftes, aber die vorgreifenden Fragen nad) 
der Geftalt des Fünftigen Dafeins beantwortet fie ablehnend; 
Bieles fer zu fagen, was wir noch nicht tragen können. Denn 
eben je gewiſſer jenes künftige Dafein ift, um deſto meniger ift 
es nöthig, die Frlichte der höheren Erfenntniß, die e8 uns bringen 
wird, vorweg auf Erden zeitigen zu wollen, um jo einziger thut 

23” 


356 


ed Noth, für dieſe größere Zukunft uns zu bereiten. So kann es 
ſcheinen, als offenbarte die Offenbarung eigentlich wenig, und in 
der That ift fie als Lehre weder weitläuftig noch umſtändlich; fie 
bereichert nicht das Willen durch eine Fülle einzelner Wahrheiten, 
fondern ftiftet ein neues Leben auf dem Grunde einer Wahrheit, 
die nicht befeffen wird, wenn fie blos gewußt wird, fondern nur 
- wenn fie als beftändiges Lebensgefühl den ganzen Menfchen 
durchdringt. 

Diefen wmejentlihen Kern des Chriſtenthums ausführlicher 
zu bezeichnen, als wir in der kurzen Ueberficht des Verlaufs der 
Gefchichte verfucht haben, Tann nicht unfere Aufgabe fein, aber 
nach einzelnen Seiten hin möchten wir ſeines Verhältniſſes zu 
anderen Weltanſchauungen gedenken. Die menfchliche Natur ift 
fo gleichartig überall, daß bei hinlänglichem Reichthum der ge 
felligen Berührungen, durch welche ihre Anlagen entfaltet werden, 
auch die fittlichen Weberzeugungen fi) im Wefentlichen gleichartig 
überall entwideln. Aber zugleich ift die Fähigkeit, die Confe- 
quenzen der eignen Grundjäge allfeitig zu ziehen, und das Streben 
nad) vollftändiger Ueberemftimmung des Charakters fo gering in 
und und wird erft fo fpät durch die wachſende Reflerion geweckt, 
dag wir faft überall in der menſchlichen Bildung, wie fie nature . 
wichfig als nationale Culture des Lebens entftanden tft, harte 
Widerſprüche der fittlichen Grundfäge finden, iiber melche die Ge— 
wohnheit täuſcht. Es mag deshalb einerfeits leicht fcheinen, als 
habe auch das Chriftenthun feine anderen fittlichen Ideale in die 
Welt gebracht, als die, welche die Menfchheit durch fich ſelbſt 
ſchon entdedt hatte, aber man wird andrerfeit3 doch finden, daß 
jene Wirkſamkeit nicht darin aufgehe, Zufammenhang und Boll 
ftändigfeit in Die unfolgerichtigen Weberzeugungen der heidnifchen 
Ethik zu bringen. 

Der Grund aller fittlichen Verpflichtung wird anderd bon 
ihm gefaßt, al8 von dem Heidenthum, das in feinen roben An— 
fängen theil8 durch natürliche Gutartigleit, theils durch die Er- 
fahrung des Nutens zu fittlichen Gewohnheiten geleitet wurde, 





357 


in feiner höheren Bildung den fittlichen Geboten fich eben fo um- 
bedingt um ihrer felbft willen verpflichtetYfiihlte, wie es fich den 
Naturgejegen unbedingt unterworfen fand. Für das Chriftenthum 
war das Gebot, Gottes Willen zu thun, nicht: blos ein zufammen- 
faffender Ausdruck für den Inbegriff, ſondern zugleich ein recht- 
fertigender oder doch ein erflärender Grund fir die verpflichtende 
Kraft der einzelnen fittlichen Ideale. Die gewöhnliche Meinung 
einer mehr oder minder wilfenfchaftlichen Reflexion pflegt hierin 
einen Rückſchritt zu fehen gegen die philofophifche Auffaffung des 
Heidenthums, dem das Schöne und Gute durch feine eigne Kraft 
und Würde, nicht als Satzung, fei e8 aud) des höchſten Willens, 
verpflichtend ſchien. Das gläubige Gefühl des Chriften wird 
anders urtheilen. Es wird zugeben, die Auslegung des göttlichen 
Willend nur durch die Ausſprüche des Gewiſſens zu empfangen, 
und wird die Furchtbarkeit der Folgen ſcheuen, Die ſtets aus dem 
Borgeben eimer andern Duelle feines Verſtändniſſes entiprungen 
find; es wird fich nicht verhehlen, daß feine Ueberzeugung dem 
Denken neue Schwierigfeiten bereitet, Die ſchwer zu bejeitigen find; 
aber dennoch wird es behmupten, erſt durch fie die Thatfache des 
Gewiſſens zu verftehen. Denn dies wird ihm fchledhthin unbe 
greiflich fcheinen, daß durch eine unvordenkliche urſprungsloſe Noth- 
wendigfeit Geſetze beftänden, die unfer Handeln zwecklos verpflich- 
ten, zwecklos jo, daß ihre ganze Aufgabe nur in dem Dringen 
auf ihre eigene Erfüllung und Verwirklichung läge, dann aber, 
wenn die Erfüllung erfolgt ift, e8 bei ihr als einer neuen Thatſache 
fein Bewenden hätte, ohne daß eim Gut entitände, das früher nicht 
war. Diefem Arbeiten im Dienfte unperjönlicher Geſetze, dieſer 
bloßen Herftellung von Thatfachen fucht das chriftliche Geflihl zu 
entgehen; nur in dem Wohlgefallen, welches Gott an dem Gethanen 
hat, Liegt ihm das endliche Gut, um deswillen alle fittliche 
Arbeit Werth hat. Iſt die Liebe das höchſte Gebot, jo gehört zu 
ihm die Ergänzung, daß es auch um der Liebe willen ausgeführt 
werde; weder die Realifirung irgend einer Idee um ihrer felbft 
willen, damit fie, die empfindungslofe, nun verwirklicht fei, noch 


nr] 


358 


- 


die Häufung aller Vortrefflichfeiten in uns, diefe egoiſtiſche Ber- 
herrlichumg des eigenen Sch, fondern nur die Liebe zu dem leben- 
digen Gott, die Sehnfucht, nicht von uns, fondern von ihm ge= 
billigt zu werben, tft der Grund der chriſtlichen Sittlichkeit, und 
nie wird die MWiflenfchaft einen flareren oder das Leben einen 
ſicherern finden. 

Und mit diefem Grunde hängt e8 nah zufammen, daß dem 
hriftlichen Gebote nirgends die Verheißung fehlt; auch dies ein. 
Stein des Anftoßes fiir jenen Heroismus der reinen Vernunft, 
der fein Streben faſt fiir beſchimpft achtet, wenn das Himmelreich 
und die ewige Geligfeit ihm als Lohn geboten wird. Es würde 
frevelhaft fein, zu leugnen, daß das menjchliche Herz, auch ohne 
diefe Hoffnung fich einzugeitehen, der größten Aufopferung fähig 
fet; denn wir haben fein Recht, an den Beiſpielen, die und Ge— 
ſchichte und Leben dafür geben, zu zweifeln ober, in fie hinein 
Borausfegungen zu deuten, durch die fie uns erklarlicher würden. 
Allein indem wir das Verdienſt der Tugend anerkennen, die in 
aufrichtiger Hingebung an das ſittliche Ideal den Untergang der 
Befleckung vorzieht, halten wir eine Weltanſicht für unvollſtändig, 
die ein unvergoltenes Verſchwinden des Guten für möglich hält 
und durch dieſe Ueberzeugung, die ja für ſich ſelbſt nie em Motiv 
des Handelns fein kann, die Freudigfeit zum Handeln verküm— 
mern läßt. Doc, freilich, nicht allein damit die Welt in fi) zu— 
jammenftimme und vollkommen fei, knüpft das Chriftentuum die 
Seligfeit als Folge an die fittlihe Treue, fondern allerdings 
ftellt e8 die Krone des Lebens, die e8 veripricht, al das Motiv 
bin, welches jene Treue bis zum Tode ftärken fol. Können wir 
alſo denen, die gegen allen Eudämonismus eifern, das formelle 
Recht beftreiten, unter diefen Vorwurf auch die chriftliche Lehre 
zu begreifen und als erhabener ihr die andere vorzuziehen, te 
Tugend und Aufopferung ohne Lohn gebietet? Erhabener mım 
mag dieſe leßtere Forderung fcheinen; aber von dem Erhabenen 
ft nicht blos zum Lächerlichen, fondern auch zum Seeren und 
Widerfinnigen nur ein Schritt. Nicht den exften gewiß, aber 


359 





fahr laufen, wenn er mit fid) ſelbſt Ernft mat. Denn ohne 
em höchſtes Gut, dem das geringere geopfert wilrde, und nur als 
beftändige Arbeit zur Herftellung eines beftimmten äußeren That- 
beftandes oder eines beitimmten Zuftandes des innerlichen Men- 
chen, — wodurch würde ſich dann unſer fittliches Streben von 
jeber binden Wirkſamkeit einer Naturkraft unterfcheiden, außer 
durch das begleitende, dann aber unerflärliche Gefühl, etwas zu 
follen, was, wenn e8 num ift, Niemandem zu Gute kommt? In 
Wahrheit thut jedoch auch jener Tugendeiſer diefen Schritt doc) 
nicht; er weiß, daß auch er im Grunde einem höchiten Gute nach— 
ftrebt: der Selbitachtung; und gewiß wiirde er: jegliches fittliche 
Streben aufgeben, wenn ihm nicht dieſes Ergebniß zum Lohn fiele. 
Ja vielleicht wiirde gerade er weit meniger als der offenere Eu- 
bimonismus des Chriftenthbums geneigt fein, im Dienfte fittlicher 
Gebote zu handeln, deren Befolgung ihm das, worin er fein 
höchftes Gut fieht, nicht auf dem kürzeſten Wege möglichft un— 
mittelbar ſicherte. Darin aljo liegt der Unterfchied, Daß der 
fpröde und ftolzge Eudämonismus der Selbftachtung, die fich felbit 
genug it, dem Eudämonismus der Demuth gegenüberfteht, die 
ſich nicht genügt und die ihr höchftes Gut darin fucht, nicht vor 
ſich ſelbſt ſondern vor Gott zu beftehen und von ihm geliebt zu. 
fein. Aufopferungen gebietet zur Erwerbung der Seligfeit das. 
Chriſtenthum dem menfchlichen Herzen nicht geringere, als jene. 
ſelbſtgenügſamere Lehre ihm auferlegt; aber während dieſe vom 
Streben nach dem Erhabenen beginnt, und von ihm aus wenig 
Rückweg zu dem Weichen und Milven findet, beginnt jenes von 
dem rohen und Süßen, das doch gewaltig genug ift, um Das 
Erhabenfte nebenher aus fich zu erzeugen. Und daß diefer Weg 
allein der wahre ift, wiirde uns, da nun doch einmal unfer fitt- 
liches Urtheil von äſthetiſchen Einbrüden nur zu fehr abhängt, 
auch die Heberlegung jener Begriffe ſelbſt beftätigen. Sie wilrde 
uns zeigen, wie hohl alles Erhabene, das nur erhaben fein will, 
und wie unvollftändig e8 liberhaupt gedacht ift, wenn es außer- 





360 


halb feiner nothwendigen Beziehung auf ein beziehungslos Gutes, 
deflen Macht es bezeugt, verfelbftändigt wird. Dies Gut fieht 
das Chriftenthum nicht in dem bloßen Vorhandenſein einer nad) 
fittlichen Ideen geordneten Welt des Seins und Handelns, ſon⸗ 
dern allein in der Seligkeit, die der Genuß dieſer Welt ift; da— 
durch, daß es bis zu dieſer legten Conſequenz die Verehrung alles 
blinden thatfächlichen Seins aufhebt und den füßen Kern der 
Geligfeit als das letzte Geheimniß offenbart, um desiwillen ber 
ganze Aufwand einer Schöpfung ımd eines Weltlaufs gemacht 
ift: dadurch ift das Evangelium eine frohe Botfchaft; eine erhabene 
Botſchaft, eine grandiofe, hat ed nie fein wollen, und iſt es doch 
geivorden, weil e8 jene war. 

Das Judenthum und die Religionen des Heidenthbums, fie 
alle haben auch die Gebote der Sitte, die das Leben gelehrt hatte, 
als Forderungen Gotte8 oder der Götter gedeutet und Gegen 
von ihrer Erfüllung verheißen. Aber die Götter des Heiden- 
thums hatten zu viel in der Natur zu thun; ihre Sorge um 
das Geifterreich und die Menjchheit verfchwand neben ihrer Natur- 
herrlichleit, fiir deren dem menfchlichen Leben fremdartige Bedeut⸗ 
ſamkeit fie Verehrung forderten; in dieſer Welt, die eigentlich 
feine Beftimmung hat, erfämpfte der Menſch durch worfichtige 
Pietät gegen die reizbaren unbelannten Mächte Duldung für ein 
vergäingliches Glück. Auch dem Judenthum war Gott die umbe- 
ſchränkte Macht, deren Thaten, welche fie auch fein mögen, immer 
gerecht find, weil fie an femem höheren Maße des Rechten 
gemeſſen werden; Gegen verbieß Diefe Allınacht der eifrig ver⸗ 
langten Unterwerfung der Sterblichen, die Nicht find vor ihr. 
Das Chriftenthum hob nicht allein das Geiſterreich als die allein 
wahre Welt hervor, in der Gott wirkt, fondern der Menſch ift 
auch nicht mehr Nichts vor ihm. Die Hoffnung freilich, durch 
eigne Kraft felig zu werben, ift ihm genommen; aber in der Kind⸗ 
Ihaft Gottes weiß der Geringfte fich als Gegenftand ewiger Be. 
achtung der höchſten Macht, die jeßt der Glanz der fichtbaren 
Natur nur nebenher offenbart. Die Spuren diefer Verkündigung 





361 


find durch die Geſchichte hin überall fichtbar. Als Einzelne ihrer 
Gattung, als Glieder ihres Volks hatten fich font die Menſchen 
gefühlt und in der äAußerlichen Ordnung der politiichen Gefell- 
haft hatten fie die höheren Güter des Lebens zu verwirklichen 
gefucht, an denen der Einzelne nur als an dem gemeinfamen 
Werte feines Geſchlechts Theil nahm. Das Chriftenthum bat 
diefen Charakter theil zum kosmopolitiſchen erweitert, theild zum 
individuellen vertieft. Bor dem einen Gott verſchwanden alle 
Unterfchiede der irdiſchen Herkunft und des irdiſchen Berufs als 
unerheblich; die unmittelbare Beziehung zu Gott, die jedem gläu- 
digen Gemüth möglich ift, gab dem Einzelnen einen unaufheb- 
lichen Werth, der nicht exft aus feiner Stellung in der Gliederung 
der menschlichen Geſellſchaft entfpringt, und doch auch nicht das 
Werk der Natur, fondern fein eigenes if. Der Eine galt num 
dem Andern nicht mehr als Beifpiel der Gattung, durchſichtig 
und wohlbefannt in feinem ganzen Wefen, fondern e8 gab in 
dem Einzelnen ein Unberechenbares, ein Hetligthum, das Schonung 
verlangte. Berfchiedenheit des Charafter8 und des ganzen Ge- 
präges der Perfünlichkeit bat unter günftigen gejelligen Berhält- 
niſſen die Menſchheit freilich immer entwidelt; einen tieferen Grund, 
für fie Achtung zu fordern, die Reizbarkeit fir die Anerfennung 
der perfönlihen Ehre hat erſt das Chriftenthum durch die ewige 
Bedeutung gegeben, die ed dem Geifte des einzelnen Menſchen 
zugeſtand. 


Die herzliche freudige Zuverſicht zur Wahrheit dieſer Leh— 
ren, die demüthige Unterwerfung aller eignen Kraft unter die 
Gnade Gottes, das Bewußtſein nicht nur der natürlichen Unvoll⸗ 
kommenheit, die ihren Sinn in der Ordnung der Welt hat, fon= 
dern der Sündhaftigkeit, die immer tft und niemals fein follte, 
das Belenntnig der Unzulänglichleit alles eignen Verdienfte und 


362 


die Hoffnung auf Erlöfung won allem Uebel durch die Xiebe 
Gottes, die Niemand verdienen und doch Seder erwerben kann: 
diefe Berfaffung des inneren Menjchen haben zu allen Zeiten 
Biele für den bereditigenden Grund angefehen, ſich nach Chrifti 
"Namen zu nennen. Die chriftliche Kirche hat anders geurtheilt. 
Sie hat das Recht auf diefen Namen an einen Glauben gehrüpft, 
der nicht nur die Lehre, fondern auch den ganzen Zufammenhang 
des gejchichtlichen Hergangs befennt, durch den fie als Dffenba- 
rung in die Welt gefommen. Nicht die Lehre enthalte fir fich 
allein ſchon den Keim einer Erlöfung, die jedem Gemüth in jedem 
Augenblicke Durch gläubige Aneignung ſich erneuern könne, viel 
mehr einmal durch eine That, Die nicht der irdifchen, fondern der 
allgemeinen göttlichen Weltgefchichte angehöre, fei die Erlbſung 
vollzogen ‘worden, und ihr Geminn falle freilich nicht ohne die 
lebendige Aneignung der Lehre, aber auch nicht durch fie allein, 
fondern nur durch den Glauben an die Mittlerfchaft Chrifti den 
zufünftigen Gefchlechtern zu. Die fittlichen Lehren des Chriften- 
thums haben feine andere Anfeindung erfahren, als Diejenige, 
welche Bosheit und Unverftand von jeher jeglicher Religion ent= 
gegenfeßten, und- die befte Bildung der neuen Welt beruht mit 
Bemußtfein oder unbewußt oder mit Widerwillen auf ihnen. „Die 
Forderung dagegen, die fegenbringende Kraft derſelben durch den 
Glauben an die heilige Gefchichte zu verdienen, hat die wachſenden 
Widerſtände erfahren, die der Gegenwart den Vorwurf zumehmen- 
der Irreligiofität zuziehen. | 

Dem wejentlichiten Punkte, der Anertennung einer gefchicht- 
lichen That der Vorſehung, begegnet von Seiten diefer Bildung 
faum Abneigung, eher heimliches Bedürfniß. Nur einfeitige Gewöh— 
nung an Naturbenbadhtung könnte den Gedanken einer einmal fir 
immer feftgeftellten Weltordnung, nach deren conftanten Bedingungen 
nur ein kurz in fich zurückkehrender Kreislauf der Erfcheinmgen mög- 
lich wire, dem Begriff einer Weltgefchichte vorziehen, in deren ein- 
zelnen Augenblicken Gott nicht gleichartig wirkt, fondern Neues, 
vorher nicht Vorhandenes, dem Beftande der Welt durch ein wahr- 








363° 


haftes Wirken hinzufügt. Die Echiwierigfeiten, welche diefe Vor— 
ftellung einer Geſchichte der Welt einfchließt, wird die. unbefangene 
religiöfe Stimmung des Menfchen geneigt fein ſich zu verheblen, 
oder für fie eine ſpätere Töfung zu hoffen. Da einmal in den 
wechſelvollen Schidjalen der Menfchheit eine zeitliche Reihenfolge 
der Dinge vorliegt, die auf einen Kreislauf des Alten fich nicht 
ganz zurücführen läßt, jo wird faum ein ernftliches Widerftreben 
der Forderung begegnen, auch das PVerhältnig Gottes zur Welt 
als ein geſchichtlich weränderliches zu fallen, und daran zu glauben, 
daß er der Welt in einzelnen Augenbliden ver Gefchichte näher 
als in andern geweſen und daß feine Einwirkung einer zeitlich be= 
grenzten Periode in völlig unvergleichlicher Weife zu Theil gewor- 
den ſei. Aber die Bereitwilligleit zu diefem Bekenntniß befriedigt 
nicht; und dann freilich, wenn entweder Die ungefchmälerte Auf- 
nahme der Berichte der heiligen Schrift oder die Anerkennung der. 
Lehren gefordert wird, welche die Dogmatik der Kirche an fie ge 
nüpft bat, beginnt der Zwieſpalt, der nicht zu ſchlichten iſt. 
Durch die Majeftät ihres Inhalts und durch die großartige 
Schönheit ihres Ausdrucks, deſſen Einfachheit wirkſamer ift als 
jede bewußte Kunft, wird die heilige Schrift ſtets die Gemüther 
völlig gefangen nehmen. Die gänzliche Hingabe an ihren Buch— 
jtaben jedoch Hindert zuerft nicht die Unglaublichfeit ihrer Berichte, 
jondern die Bilvlichkeit ihrer Lehrdarſtellung, welche zum Verſtän— 
nig Deutung verlangt. In zweiter Linie erft, denn nur die Ver- 
ehrung der Lehre feffelt uns an die Schrift, erheben ſich die Zwei— 
fel gegen die Geſchichte der wunderbaren Begebenheiten, deren 
Glaubwürdigkeit für und nicht die gleiche fein kann, mie für die 
Zeit, aus der ihre Erzählung ftanımt. Durch Wunder und Zei— 
chen die Gegenwart Gottes beftätigt zu fehen, war für dieſe Zeit 
eine natürliche Forderung, deren Erfüllung dennoch weniger file 
fie bedeutete, al3 fie uns bedeuten würde. Denn dem Alterthume 
war der Gedanke einer Naturordnung fremd, die nad) allgemei- 
nen Gefegen ihre Erſcheinungen verknüpft; jede Kraft, die im 
der Natur zu Schaffen hat, galt als ein Trieb, der unmittelbar 


364 


von feinem Zwecke geleitet auch die Macht der Verwirklichung deſ⸗ 
felben befitt. Das Wunder lag daher nicht als Widerſpruch 
außer der Einrichtung der Natur, fondern war die ſelbſt natür= 
liche Bethätigung einer größeren Macht, die örtlich und zeitlich un— 
gewohnt in den Wirkungskreis Heinerer Kräfte tritt. In dieſem 
Sinne war die Naturorbnung auch den heidnifchen Göttern gegen- 
über nicht felbftändig; jeglicher Dämon Tonnte ihr Gewalt thun; 
jelbft dem Menfchen ftanden Zaubermittel zu Gebot, ihren Lauf 
zu ändern; und eben deswegen konnte fchon jener Seit das Wun- 
der nicht al8 der überzeugende Beweis fiir die Gegenwart und 
Wirkſamkeit des höchiten, des wahrhaftigen Gottes gelten. “Der 
modernen Naturauffaffung erft, welche feinen Zrieb Tennt, deſſen 
Erfolg nicht nach ‚allgemeinen Gefegen durch den Zufanmenhang 
der vorhandenen Vorbedingungen nothwendig wäre, wiirde Das 
Wunder als wirkliches Wunder erjcheinen. Gleichwohl ift gerade 
fie im Stande, feine Möglichkeit im Allgemeinen fo zuzugeben, 
wie fein Begriff einem Bedürfniſſe des Gemüths entjprechen mag, 
obgleich ihr der Glaube fehlt, e8 fo anzuerkennen, wie es berich- 
tet wird. Denn aller Naturlauf ift auch für fie Doch nur begreif- 
ich durch die beftändige Mitwirfung Gottes, die allein den Ueber- 
gang der Wechſelwirkung zwiſchen den einzelnen Theilen der Welt 
vermittelt. Nur jo lange diefe Mitwirkung in gleichartigen For- 
men erfolgt, tritt fie, eine conftante Bedingung in dem Lauf der 
Ereignifje, nicht ald eine Bedingung der Aenderung deſſelben ber- 
vor, und. fo lange erfcheint der Naturlauf als ein abgefchlofjenes 
Ganze, das fremde Eingriffe weder bedarf noch erfährt noch zu= 
läßt. Aber jede Anficht, die ein Leben Gottes befennt, welches 
nicht in beftändiger Identität erftarrt, wird auch jene feine ewige 
Mitwirkung als eine veränderliche Größe faffen können, deren um- 
geftaltender Einfluß in einzelnen Augenbliden hervortritt und Die 
Unabgejchloffenbeit des Naturlaufs bezeugt. Dann wird das Wun- 
der feine volfftändig bedingenden Gründe in Gott und der Natur 
zufammen und in der emigen, nicht principlofen, obgleich 
vielleicht nicht fehlechthin nach allgemeinen Geſetzen geordneten 





365 


Wechſelwirkung beider haben; und dies allein, nicht die völlige 
Zufälligkeit und MWillfiirlichkeit ift der Begriff, den ſich das Ge— 
müth von dem Wunder macht, wenn es in ihm einen Gegenftand 
feiner Verehrung jehen will. Aber die Anerkennung dieſes allge 
meinen Gedanfens führt die Naturwiffenfchaft noch nicht zur An- 
erfennung der Wiriichfeit des Wunderd in der Form, in welcher 
das religiöſe Bedürfniß es zu verlangen pflegt. So unermeßlich 
überwiegend fpricht der Eindrud aller Erfahrung für ftetige, Schritt 
für Schritt vworbereitende Entwicklung aller Naturereignifie, daß 


auch jenes allgemeine Zugeſtändniß doch nur dem ftillen unab⸗ 


läffigen Wirken Gottes in der Natur, aber nicht den plößlichen 
Unterbrechungen des natürlich begründeten Gefchehens durch augen- 
blickliche Eingriffe der göttlichen Macht Glauben verichafft. Nur 
dann würde diefer Glaube entftehen, wenn die ideale Bedeutung 
des Wunders im Zufammenhange des Weltgangen groß und deut⸗ 
lich genug wäre, um es als gejchichtlichen Wendepunkt des Ge- 
ſchehens zu faflen, zu deſſen Herbeiführung ſich unbemerkt die 
wirkenden Kräfte des Weltalls ftetig vorbereitet hätten. 

Und diefen Gedanken würden an ſich allerdings die munder- 
baren Ereigniffe erweden, die in der heiligen Schrift das Leben 
Chriſti verflären, wenn nicht theil® Die inzwiſchen veränderte 
Naturanſchauung, theild die Auffaffung des geiftigen Sinnes, den 
fie darftellen follen, uns ihre phyſiſche Realität zweifelhaft machte. 
Als der fichtbare Himmel über der flachen Erdſcheibe noch für den 
Wohnſitz Gottes galt, fonnte die Auffahrt zum Himmel dem Ge- 
müthe als eine reale Rückkehr des Göttlichen zu Gott erſcheinen; 
nachdem die Aftronomie um die Tugelfürmige Erde einen uner- 
meßlichen gleihartigen Weltraum Tennen gelehrt hat, fehlt dem 
Aufihwunge das veritändliche Ziel. Eine Zeit, Die das Ueber— 
finnlihe noch ſchwer vom Sinnlichen trennte, Tonnte Die körper⸗ 
liche Auferftehung des Heilandes al8 Bürgfchaft der eigenen Un- 
fterblichfeit verehren; uns ift nicht Diefe leibliche Wiederbelebung 
Gegenftand der Hoffnung; auch wirklich gefchehen würde fie uns 
nur die Yortdauer dieſes Lebens gemwährleiften, fo lange fein 


366 


Träger, ein Körper, beiteht; was und tröften fünnte, wäre der Be- 
weis eined fortvauernden Lebens des Geiftes, nachdem er in die 
unfichtbare Welt zurlicigetreten tft, die und in der fichtbaren ver- 
borgen umgibt. Der Rationalismus, indem er dieſe Ereigniſſe, 
‚die uns als äußere Thatſachen berichtet werden, als Gefichte der 
Erzählenden deutete, überſah indefien den Punkt, der hier ber 
Bilion mehr Werth geben kann, als der äußerlich realen That⸗ 
ſache. Einzig aus dem pſychologiſchen Vorſtellungsverlauf durch 
Erinnerung und ſubjective Stimmung erregter Gemüther ließ er 
Anſchauungen entſtehen, denen objectiv Nichts entſprach: eben dieſer 
intellectuellen Welt hätte er ſich erinnern ſollen, die überall un- 
geſehen da iſt und in welcher das, was in körperlicher Realität 
nicht exiſtirt, nicht minder real vorhanden iſt. Zwiſchen dieſer 
Welt und der ſinnlichen können Wechſelwirkungen, die dem ge— 
wöhnlichen Naturlauf fremd ſind, ausgetauſcht werden, und aus 
ihnen, die ein wahrer wirklicher lebendiger Eindruck des wirklich 
gegenwärtigen Göttlichen auf die Seele find, konnten jene Viſionen 
entjtehen, nicht als Gefichte des Nichtvorhandenen, ſondern des 
Vorhandenen, aber als unmittelbare innere Wirkungen des Gött⸗ 
lichen, nicht vermittelt Durch Mittel des phyſiſchen Naturlaufs, Deren 
Aufgebot feinen felbitändigen Werth bat, oder durch Störungen 
defjelben, die und unbegreiflich find. Nicht darin liegt die Ber 
deutung der Auferftehung, daß der Auferjtandene wieder wie Tonft 
eimen Körper trägt, der Lichtwellen in das Auge fendet, ſondern darin, 
Daß ohne diefen Umweg feine Tebendige eigene Gegenwart, nicht nur 
die Erinnerung an ihn, Die Seele innerlich ergreift und auf fie wirkend 
ihr in einer Geftalt erfcheint, deren wirklicher Wiederaufbau ge- 
ringeren Werth haben wiirde, als diefe Kraft des Erſcheinens. 
Aber der religiöfen Stimmung, aus der ſolche Berfuche der Erflä- 
rung entfpringen, verbietet ſich ihre Fortſetzung von ſelbſt; e8 ericheint 
unfromm, zum Uebungsfelde eines theoretijirenden Scharflinnes zu 
machen, was ungergliedert hingenommen nie feines tiefen Eindrucks 
verfehlt, Durch Zergliederung nie zur Gewißheit im Einzelnen zu 
bringen ift. Nicht gleiche Scheu ermweden die Dogmen, in melde 





367 


im Laufe der Gefchichte der chriftfiche Inhalt gefaßt worden ift. 
Zur Vertheidigung gegen ungläubige Bildung und zur Befriedigung 
des eignen Bedürfniſſes nach Einheit und Klarheit feiner Weltauf- 
faffung wird das Gemüth immer zur Erneuerung des Verſuchs ge- 
nöthigt fen, die im Glauben angeeignete Wahrheit in Formen des 
Willens feſtzuhalten; diefe Arbeit menjchlicher Speculation liegt uns 
in der Dogmatik vor, ehrwürdig durch den Ernſt ihrer Beftrebungen 
und durch den Zuſammenhang, in welchen fie alles irdiſche Leben mit 
dem Himmelreich und der göttlichen Ordnung der Welt bringt, aber 
als alte Philofophie der Kirche der Kritik ebenfo, wie jeder erneute 
Verſuch philofophiicher Welterflärung unterworfen. Der modernen 
Bildung, die durch große Fortichritte in weltlichen Dingen den reli- 
giöfen Intereffen abgewandt ift, hat ſich ihr Inhalt entfrembdet umd 
ericheint ihr häufig als ein Gebäude von Weberlieferungen ohne 
Wurzel in der Wirklicheit und ohne Bedeutung für Das menfchliche 
Leben; eine wohlmwollendere Aufmerffantfeit wiirde fich bald über- 
zeugen, daß im Gegentheil die Dogmatik Doc nur wenige künſtliche 
Aufgaben behandelt; ihre meilten Gegenftände find ernfte und ſchwere 
Fragen, deren ſich unſere Bildung oberflächlich entichlagen Tann, 
aber auf die doch jedes eindringende Nachdenken iiber die Be— 
ftimmung des Menfchen und feinen Zufammenhang mit Gott 
zurückführt. Aber ebenfo einfach, darf man behaupten, Daß eine 
dem Erkennen genigende Beantwortung diefer Fragen der Dog: 
matif weder gelungen noch eigentlich von ihr exftrebt ift; fie 
formulirt in ihren Sätzen da8 brennende und unauslöichliche Inte- 
reſſe, das wir an jenen großen Rätbjeln nehmen und drückt unfere 
Bedürfniſſe nady Erklärung aus, ohne fie zu befriedigen. 

Man mißdeutet dies Geſtändniß bes Unbefriedigtfeins, wenn 
man feinen Grund in der Forderung findet, das an ſich die 
Erflärungsverfuche menschlicher Vernunft Ueberfteigende in feiner 
Möglichkeit und dem Hergang feiner Verwirklichung erflärt zu 
fehn, und wenn man dieſer Ueberhebung gegenüber den Glauben 
verlangt, welcher fehle; vielmehr der vorhandene Glaube findet 
feinen eignen Inhalt nicht durch das Dogma gedeckt. Ex ver- 


368 


langt nicht Erklärungen des Wie, die nicht zu geben find, aber 
er muß die deutlichite Beſtimmung des Was verlangen, welches 
ihm dogmatiſch als der feite Wahrheitöfern feiner eignen un- 
deutlichen Ahnung dargeboten wird. Und dies eben wird ihm 
nicht geleiftet; das, deſſen wir uns im dunkeln Drange des 
Glaubens als des Rechten und Wahren wohl bemußt find, er- 
fährt auch in den Dogmen faft überall nur eine bildliche Wieder- 
gabe, die nicht unmittelbar das Was des Glaubens firirt, ſondern 
eine neue Interpretation verlangt, fir welche die Grenzen, inner- 
halb deren fie fich bewegen darf, Doch wieder nur durch jenen 
dunflen Drang bejtimmt werden. Wenn die chriftliche Dogmatik 
Chriftus den Sohn Gottes nennt, fpricht fie damit ohne Zweifel 
den unterfcheidenpften Sat ihres Bekenntniſſes aus; aber fie thut 
es in einer bildlichen Bezeichnung, deren eigentlichen Sinn fie auf 
feine Weiſe genau beftimmen Tann; was damit gejagt ift und gejagt 
fein foll, ift ohne die Dogmatifchen Beftimmungen, die fi) an das Bild 
gefnüpft haben, dem gläubigen Gefühl deutlicher als mit ihnen, 
denn es befteht nur in einer Werthbeftimmung über die Innig- 
feit des Verhältniſſes zwiſchen Gott und Chriftus, die dem Ge 
fühle Har ift, nicht in einer Erörterung der Form jenes Berhält- 
niffes, von welcher es fir ums feine adäquate Erfenntniß gibt. 
Für die erlöfende Kraft des Verſöhnungstodes Chrifti bringt das 
unmittelbare religiöfe Gefühl der Tirchlichen Lehre bereitwilligen 
Glauben entgegen, aber e8 wird von ihr durd) feine Bereicherung 
der Erfenntniß belohnt; an die Stelle der Vorftellung von einem 
Dpfer, zu welcher die unklare Gemüthsbewegung zuerft flüchtet, 
tritt feine andere, welche, ohne den Werth jenes Verſöhnungstodes 
zu fchmälern, feine erlöfende Kraft fir uns verdeutlihte Von 
dem Böen fühlen wir und alle zugleich ergriffen und durch unfer 
ganzes Geſchlecht geht wie eine unerflärbare Erbſchaft die Sünde; 
aber die Gedanken, die fich an dies Bewußtſein Tnüpfen und 
zu feinem klaren Schluffe kommen, finden diefen Schluß auch 
dogmatifch nicht; Vorftellungen, Die ſich bis zu ſolidariſcher Zus 
fammenfaffung der Menfchheit umd zu ftellvertretender auf das 


369 


ganze Gefchlecht fallender Verfündigung des Stammvaters ver- 
irren, können nicht durch ihr eignes Dunkel unfere Gedanken auf- 
Hören; fie find nur eine fchneidende Bezeichnung des Problems, an 
dem wir erfolglos uns bemühen. 

Außer den friih übereinstimmend entwidelten Lehren, melche 
die Kirche als Theile des Belenntniffes aufnahm, hat der fpecu= 
Iative Trieb unzählige Berfuche zur Welterflärung im Sinne des 
Chriſtenthums gemacht, deren größere Divergenz fie von gleicher 
Geltung ausſchloß. Die proteftantifche Theologie unferer Zeit, 
theilmeiß in der Ueberzeugung, an den Ergebniffen der modernen 
Philofophie neue früher unbelannte Hebel der religiöfen Wahrheit 
zu befigen, theild von einem Erkenntnißmuthe befeelt, fir deſſen 
Zuverficht ich die Quellen nicht kenne, ift thätiger, als fie feit 
langem in diefer Richtung geweſen iſt. Die Selbſtbeſchränkung, 
mit der die Philoſophie am Ende des vorigen Jahrhunderts auf 
die Erfenntniß des Ueberſinnlichen ganz verzichtete, hatte zu ratio- 
naliftifcher Hervorhebung einer Moral geführt, die eben, weil 
ihr zuletzt jede Anficht über die Stellung der fittlichen Welt im 
Zufammenhang des Ganzen abhanden kam, aller religiöfen Fär— 
bung am Ende ganz entbehrte.e Darin aber kann die höchſte Weis- 
heit nicht beitehen, daß wir allgemeinen Pflichtgefegen folgen, gänz⸗ 
(ich unbeliimmert darum, was fhlieglich aus ihrer Erfüllung Gutes 
entftehe; irgend eine Weberzeugung über den vernünftigen Zuſam⸗ 
menhang der Welt müſſen wir befigen, in welchem das Xeben 
eine Beltimmung, die fittlichen Beftrebungen eine unverlierbare 
Beveutung haben. Eine natürliche Reaction ließ diefen Drang 
zu kosmologiſcher Ausbildung der Weltanficht nach feiner Unter- 
drückung wieder hervortreten und hat ihn jeßt, wie mir fcheint, 
weit tiber die Grenzen hinausgetrieben, innerhalb deren er Hoff: 
nung auf Erfolg und auf heilfame Wirkffamfeit fir das chriftliche 
Leben bat. 

Denn nicht nur vn zweifeln wir, daß die Methoden der 
neuern Philoſophie möglich machen, was ftets unmöglich ar, 


fondern wir beflagen auch, daß Dogmatifche ge jelten 
oe, III. 9. Aufl. 


370 


ſelbſt den befcheivenen Gewinn, den diefe Philofophie vielleicht 
wirklich gebracht, gewiſſenhaft verwerthen. Unmittelbare Offen- 
barung über den Bau der Welt gibt das Chriftenthum nicht; der 
ethiſche Kern feiner Lehre und Worte der heiligen Schrift, die nur 
nebenher auf kosmologiſche Borftellungen deuten, find die benutz⸗ 
baren Ouellen chriftlicher Weltconftruction. Aus fittlichen Ideen 
aber wird die vworfichtigfte Forſchung immer nur Die allgemeinen 
Forderungen entwideln fünnen, denen der Weltbau geniigen muß, 
um nicht mit dem höchſten Princip des Guten in Wiverfpruch zu 
jein; Die beftimmten concreten Yormen feined? Zuſammenhanges 
aber, durch welche er jene Forderungen befriedigt, wird nur eine 
ſehr willkürlich jchaltende Phantafie aus jener Duelle errathen zu 
können glauben; nicht einmal der Erfahrungsmelt, die vorliegt, 
wird man auf Grund jener Ideen ihre Verlängerung über das 
Gegebene hinaus und den Abſchluß mit Sicherheit geben können, 
ven fie unferer Beobachtung verbirgt. Solchen Verſuchen Tiegt 
daher die Gefahr jehr nahe, nicht mehr zu fragen, was fen muß 
oder auch nur, was fen fann, fondern was am fchönften fein 
wide, wenn es wäre; über dieſes Schönfte aber entfcheiven Die 
"undiscipliniebaren Vorurtheile ganz individueller Stimmung. Und 
diefe Neigung wird noch durch eine Philoſophie unterftügt, Die 
ausdrücklich die Bedeutung der Dinge, ihre Idee, zugleich ohne 
Einſchränkung fir ihre werkthätiges Wejen anfieht, in ver Auf- 
ſuchung und Beitimmung diefer Ideen aber anftatt des ftrengen 
Beweiſes die poetifche Gerechtigkeit in dem Zufammenhange der 
Gedankenentwicklung als hinlängliche Bürgfchaft der Wahrheit be- 
trachtet. Unter folden Umftänden hat die Dogmatifche Forfchung 
unjerer Zeit theild mit großem Aufwand philoſophiſchen ZTieffinns, 
theil8 mit wenig Methode und viel Behagen ſich in Unterfuchun- 
gen vertieft, in welche auch nur einzutreten ber Geiſt unferer 
allgemeinen Bildung verweigert, nicht bloß. im Bewußtſein der Er- 
folglofigfeit, fondern doch auch aus Scheu, göttliche Geheimniffe, 
die er ehrt, durch übermüthige Zudringlichfeit des Alleswifiens 
zu verlegen. Uebereinſtimmung auc der Erfenntniß über Fragen, 


371 


über Die das gläubige Gefühl ſtets einig war, verfprechen die 
auseinandergehenden Ergebniffe dieſer Verſuche nicht; fie geben dem 
Ganzen der neuern Dogmatif nur den Charakter der Anarchie, 
gemildert Durch Unfruchtbarkeit. 

Denn unfruchtbar fiir das Leben find doch alle dieſe Ver- 
fuche, durch ungewiſſe Deutung ungemwiffer Schriften den Hergang 
der Schöpfung im Widerfpruch mit den Ergebniffen der Natur- 
forſchung zu detailliren, oder den Untergang der Welt und die 
genaue Geftalt des verflärten Lebens zu errathen, ohne Rückſicht 
auf unfere fortjchreitende Kenntniß der phyſiſchen Welt, die zwar 
nie ſolche Räthſel Iöfen, aber doch unferen Gedanken über fie einen 
Hintergrund geben Tünnte, der allzu willkürliche Ausfchweifungen 
eimengte. Unfruchtbar endlich und dem Geifte des Chriftenthums 
wenig angemefjen it die Borliebe für die Speculationen iiber die 
Dreieinigfeit Gottes, in welcher den Schlüffel aller religiöfen und 
weltlichen Erfenntniß gefunden zu haben, Biele zu tiefem Erſtaunen 
der Hörenden behaupten, ohne bisher durch die That Hoffnung 
af Erfüllung ihrer Berfprechungen zu erweden. In dem leben- 
digen Chriftus fah das gläubige Gemüth zwar nicht Gott, denn 
er felbft fagte es, der Vater fei größer ald er, aber den Sohn 
Gottes, der mit ihm Eins ift, auf eine Weife, deren Erkenntniß 
und mangelt, und der gefommen ift, nicht weil fein Kommen von 
Anfang an die nothwendige Conſequenz eines Naturgefeges der 
Weltordnung gemwejen wäre, fondern weil die Liebe Gottes, Die 
größer iſt als aller Mechanismus nothmwendiger Entwicklung, ihn 
fandte, den fie auch hätte nicht fenden können. Zu dieſer Zmei- 
heit göttlicher Perfönlichfeit fonnte der Glaube als Gegenftand der 
Berehrung noch den Geiſt des Troftes fügen, den Chriftus zu 
fenden verfprochen; aber weder eine geichichtliche Erfcheinung hatte 
diefer Geift in perjünlicher Geftalt gehabt, noch gab ed eine Nö— 
thigung, ihn anderd denn als eine der göttlichen Wirffamteiten 
zu fallen. Mit fchwacher Begründung in Stellen der heiligen 
Schrift, die mm das frühe Emdringen der Speculation in den 
hriftlichen Gedankenkreis bezeugen, hat Die Dogmatik aus dieſen 

24* 


372 


Grundlagen eine Metaphufit des göttlichen Weſens zu entwickeln 
verſucht, Die je weiter fie fortichreitet, um jo mehr von dem fich 
entfernt, was der unmittelbare Glaube als den Segen des Chri- 
ſtenthums feſthält. 

Ein natürliches Bedürfniß führt dennoch zu dieſen Verſuchen. 
Als unberechenbar geſchichtliche Zuthat zu einer für ſich abgeſchloſſe— 
nen Ordnung der Welt ſchien die göttliche Offenbarung, die 
das Gemüth zunächſt nur nach ihrem Werthe ergriff ohne nach 
ihrem Hergang zu fragen, doch auch in ihrem Werthe nicht voll 
erfaßt; fie ſchien rickwärts und vorwärts in die ganze Oekono— 
mie der Welt verflochten fein zu. müſſen, fo daß Nichts in dieſer 
wäre, was nicht in der Art und Wirklichkeit feines Daſeins von 
ihr abhinge. Das Bild des gefchichtlihen Chriſtus ermeiterte 
fich fo zu dem Gedanken einer vorweltlich wirffamen Macht in 
Gott; derſelbe Wille der Liebe Gottes, der in der gefchichtlichen 
That der Erlöfung zur Erſcheinung kam, war von Anfang an 
auch der ordnende Wille gewefen, durch den die Dinge find, was 
fie find. Diefe Sehnfucht des Gemüthes nun, inheit in dem 
Weſen und den Thaten Gottes zu jehen, wäre erfüllbar geweſen, 
wenn man in Gott den bewegenden Grund zur Erlöfung als 
einen ewigen, nicht zeitlich veranlaßten Gedanken gefaßt und 
geglaubt hätte; fie nöthigte nicht, dieſelbe Einheit durch die un- 
ausführbare Forderung des Einsjeins zweier Perſonen wieder zu 
gefährden; noch meniger lag in dem Inhalt des Glaubens für 
fi) ein zwingender Grumd zu gleicher Perfonification des heiligen 
Geiftes. Die weltliche Speculation der Philoſophie führt Dagegen, 
wie wir ſpäter fehen werden, zu einer ‘Dreiheit der Weltanfänge 
allerdings, zu Gefeßen, nad) denen, zu Kräften, durch melche, 
zu Sweden, um deren willen die Dinge find, wie fie find. Die 
Anerkennung diefer Dreiheit ift fein Triumph der Philofophie, denn 
fie ift eigentlich ein Bekenntniß der Unfähigfeit, im Erfennen das 
zu identificiren, was nad) der eigenen Forderung des Erfennens 
nothwendig Eins fein muß; wie man übrigens jene drei faſſen 
möge, fie find nie etwas Anderes, al8 auf einander nicht zurück⸗ 





373 


führbare Formen der göttlichen Thätigkeit. Dieſe Dreibeit hat 
die Philofophie ald ein verhängnißvolles Geſchenk der Theologie 
angeboten, und fie tt angenommen worden, obgleich weder. mit 
dem gejchichtlichen Chriftus und mit dem verfprochenen heiligen 
©eifte, noch mit den drei Perfonen der “Dreieinigfeit, wie fie das 
firchliche Bekenntniß Tennt, ihre einzelnen Glieder zufammen- 
treffen. Nun mag es fein, daß die Theologie im engften Sinne, 
die dogmatiſche Begriffsbeftimmung des Weſens Gottes, nicht 
ohne Rüdficht auf jene philofophifche Dreizahl weſentlich verſchie⸗ 
dener Principien vollendbar ift, aber alle Beihlilfe der Philo- 
fophie wird ſtets nur dem erften Artikel unſeres Glaubensbefennt- 
niffe gelten können; die Chriftologie gewinnt nichts durch fie 
wiſſenſchaftlich und büßt an Bedeutung fr den lebendigen Glau- 
ben ein. Denn an den lebendigen Chriftus, an die wolle, nicht 
bildliche, nicht in irgend ſymboliſchem Sinne genommene PBerjönlich- 
feit des Erlbſers fchließt fich das gläubige Gemüth an; wird Diefe 
ung als irgend ein nothmwendiges Wefensmoment Gottes, als 
irgend eine zweite Potenz des göttlichen Begriffs, als eine Anti- 
thefis innerhalb Gottes, als ein weltordnender Logos gedeutet, 
fo wird unfer Glaube nur geftört. Denn wir fehen nicht, warum 
wir Wirkſamkeiten, die wir als Eigenſchaften Gottes felbft zu 
denken gewohnt find, von ihm trennen follen, und wir Können 
nicht finden, daß die metaphyſiſche Herrlichfeit Chriftt als eines 
höchften übernatürlichen Naturgottes größer fein würde, als bie 
ethifche Majeftät des Erlöſers. Bon diefem Boden, auf den ums 
das Chriftentbum geftellt hatte, von dem Glauben an Die alleinige 
letzte Realität des Guten und Heiligen, ſcheint und dieſe Specu⸗ 
Iation auf den alten heidniſchen Boden der Kosmologie zurückzu⸗ 
führen, fiir welche Gott nicht in unergründlichen Thaten der Liebe, 
fondern nur in naturgeſetzlichen Emanationen feines Weſens be— 
greiflich iſ. Es fcheint uns fo; denn nicht im mindeften ver- 
hehlen wir uns, und mögen e8 eben fo wenig bier verſchweigen, 
daß den Verfuchen, die in diefer Richtung gemacht worden find, 
das entgegengejeßte Bedürfniß, eben alle Welt und alles Welt 


374 


liche der ethifchen Ordnung des Heild zu umterwerfen, maßgebend 
gewefen ift: weder die chriftliche Gefimumg, in der diefe Berfuche 
unternommen find, noch der Ernſt ihrer Durchführung ift uns 
zweifelhaft; nur dies beftätigen wir, daß auf viele Gemüther der 
Eindrucd ihrer Ergebniffe volllommen der entgegengejeßte des be= 
abfichtigten if. Mit Geringfhägung fchweigen wir Dagegen über 
Beitrebungen, die mit dem Begriffe der “Dreieinigfeit nur noch 
in pythagoreiſcher Zahlenmyſtik fpielen und beinahe die chriftliche 
Trinität deswegen hochzuhalten fcheinen, weil fie eim Beiſpiel der 
Dreizahl iſt. Mit gleichem Recht könnte man die Verehrung der 
PBrunzahlen oder der Quadratwurzeln in das Glaubensbelenntniß 
aufnehmen. 


Unfrucdhtbar nannten wir großentheil dieſe Speculationen; 
auf dieſen Borwurf uns beichränten zu können, verdanfen wir 
dem Widerftande, den die weltliche Bildung der Macht der Kirche 
feit langem geleiftet bat. Es iſt jet mit Auswanderungen 
chiliaſtiſcher Träumer getban, fonft lägen wohl noch andere Con— 
jequenzen in dem Rococo des Teufelöglaubens und ähnlicher 
Lehren, zu denen die dogmatiſche Renaiſſance unferer Zeit zurüd- 
neigt; der Humanismus, der mit der wiedererwachten Wiſſenſchaft 
und der fleigenden Ausbildung des Rechtsgefühls im Leben auch 
die Theologie längft heilſam durchdrungen hat, wird, wie wir 
hoffen, der Zukunft keine praftiiche Durchführung theoretiicher 
Verirrungen geftatten. Aber dieſe größere Gicherheit des per= 
ſönlichen Glaubens ift eben mit der zunehmenden Unficherheit des 
Gebäudes der Kirche verknüpft, über deſſen Niederreißung oder 
Neubefejtigung die Gegenwart ftreitet. | 

Das Heidenthum war durch Die überwiegende Naturbedeus 
tung feiner Götter verhindert, Das gange Neben der Menſchen 
als einen fortwährenden Dienft ihrer Herrlichleit angufehen; Die 
Bielheit der Gottheiten, an die einzeln die einzelnen Stämme fich 





375 


anfchloffen, erjchwerte Die Zufammenftellung der ganzen Menfch- 
beit oder auch nur des Volkes zu der engen Einheit einer für 
das innere Leben verbundenen religißjen Gemeinde; mo größere 
Einheit der mythologiſchen Lehre dies nicht verbot, trat Doch die 
religiöfe Zufammengebörigkeit nicht jelbftändig neben der politi— 
ſchen hervor, fondern das Glaubensbekenntniß war felbft national: 
es verlangte neben bitrgerlicher Sittlichfeit nur ceremonielle Werte 
und hatte feine Kraft, die Einzelnen als Angehörige einer höheren 
Welt zu verfniipfen; in. Indien, wo fih am meilten das reli= 
giöſe Gefüihl das Heidenthums in die Noth und die Beängftigung 
des Gemüths vertieft hatte, war die Verzweiflung am Leben, zu 
der e8 kam, fein Bindemittel einer Lebensgemeinſchaft. Die Kirche 
iſt dem Chriftenthum eigenthümlich. Weber alle Unterſchiede der 
Nationalität des Gefchlechtes des Standes und der Bildung hin- 
weg will fie die gefammte Menfchheit zu einem Gottesdienfte 
verbinden, der in der Führung des ganzen Lebens geleiftet wird. 

Sie begann als eine freie Gemeinichaft, ohne ein anderes 
Band, als das des gemeinfamen Glaubens und der Liebe; fie 
entwidelte wie jede wachſende Gejellichaft Formen des inneren 
Berlehrs und der Berwaltung, verbindlich fiir fie ſelbſt, ohne 
Anſpruch der Macht iiber die Menjchheit außerhalb, obgleich ſchon 
damals durch das Gefühl, fir Zwecke der Ewigleit verbunden 
zu fein, über alle zeitlichen Vereinigungen der Menfchen erhaben. 
AS die römiſche Bedrückung der Anerkennung gewichen war, ge= 
warn die Kirche das Bewußtſein einer Inftitution, in deren Glie— 
derung ſich zu fügen das irdiſche Leben der Nation verpflichtet ift, 
und von der fich zu Löfen kein formelles Recht freier Entichliegung 
mehr, ſondern ein der Strafgewalt erreichbare Verbrechen der 
Abtrünnigkeit if. Mit noch kühnerem Aufſchwung erhob fie ſich 
endlich aus der Stellung der irdiſchen Inftitution zu der Bedeu— 
tung einer fosmifhen Macht, der nicht nur auf Erden alle 
Hoheit über die Gewiſſen der Menfchen, über die Gewalt der 
Obrigleiten, über die Länder. der Heiden gegeben iſt, fondern die 
mit ihren Gnadenmitteln, die fie allein verwaltet und fpenbet, 


"376 


fiber das Leben hinausreicht, und den Zugang zur Seligleit und 
zur Verdammniß nicht nur finden und vermeiden lehrt, fondern 
felbft öffnet und ſchließt. So ift die Kirche der großartigſte und 
merfwiürdigfte Beſtandtheil jener zweiten Weltordnung geivorden, 
welche der Geift der Menfchheit zu dem Beftande der Naturord- 
nung ergänzend binzufügt. Gelbft die Gliederung des Staates 
beruht auf Objecten der fichtbaren Welt, auf dem Lande und 
feinen Grenzen, auf dem Ertrag des Bodens, dem Rechte an 
ihm und der Vertheilung der gewonnenen Güter, und nirgends 
reichen feine Machtanfprüche iiber die Erde hinaus; die Kirche 
allein verfnüpft Die geiftige Menſchheit und fättigt das ganze 
Leben mit dem durchdringenden Bewußtſein des Zuſammenhanges 
mit der jenfeitigen Welt. Sehr begreiflich ift daher die Bewun— 
derung, mit welcher der blendende Eindruck diefer gewaltigen Er- 
jhemung immer von Neuem empfängliche Gemlither gefangen 
nimmt, und die Sehnfucht, in dem feften Schirm dieſer ftarfen 
Gliederung der Zerriffenheit des ungewiß feine Ziele fuchenden 
Lebens zu entgehen. 

Allein je vollftändiger der Begriff irgend einer Einrichtung 
einen idealen Zuftand ausdrückt, um jo fchädlicher pflegt dieſe 
Einrichtung zu wirken, wenn fie als gebietende Form einem Leben 
aufgebrängt wird, welches zu ihrer freiwilligen Verwirklichung 
nicht geartet ift. Der verhängnißvollite Irrthum menfchlicher Be— 
ftrebungen bejteht darin, Abbilder des Vollkommnen voreifig 
da realifiren zu wollen, wo e8 fih mr um Organifation der 
Mittel handelt, dem Vollkommnen fi, nad) der Rage der Dinge 
jo weit als möglich wirklich zu nähern. Die Gliederung der 
Kicche enthielt dieſen Uebergriff; fie fuchte im Dieſſeits einen Zu— 
ftand, der nur im Jenſeits möglich ift, und unterdrückte Die freie 
Regfamkeit der Kräfte, die hienieden jened Ziel nicht erreichen, 
aber zu ihm vorbereiten können. Sie glaubte die Wahrheit ab- 
geichloffen zu heſitzen, und hinderte die Forfhung nad) ihr; fie 
übernahm im Glauben an diefen Beſitz Sorgen, die nur der 
Vorſehung felbft zuftehen; fie griff in Die allgemeinen weltlichen 





377 


Angelegenheiten der Menfchheit und in die Gewiffen der Einzel- 
nen gebietend und verbietend ein als unmittelbare Bevollmächtigte 
Gottes und Bewahrerin der Geſetze, nach denen Die ewige MWeid- 
beit die irdiſchen Dinge zu ordnen gedächte; fie fchrieb ſich em 
Recht der Strafe und einer Verfolgung alles deſſen zu, mas irgend 
einem Theile der weitläuftigen Gliederung ihrer Lehre und ihrer 
Einrichtungen widerftrebte, und alle diefe Weltherrichaft im Namen 
des heiligen Geiftes konnte fie Doch nur durch menfchliche Perſön⸗ 
fichfeiten flihren, deren unabänderlihe Gebrechlichkeiten an un 
zähligen Punkten im’ Widerfpruch mit der Heiligkeit ihres Auf- 
trages ftanden. Es ift der Geift des Orientalismus, der in diefem 
ungeheuren Unternehmen gipfelt, eine Weltordnung nicht nur 
zu lehren, fondern zu ftiften, und das menschliche Leben mit der 
ganzen Mannigfaltigfeit feiner Intereſſen in fie einzufchalten. 
Aber mie nicht das Morgenland,  fondern das Abendland dieje 
legte Höhe religiöfer Kosmologie erftieg, jo find ſeitdem auch alle 
Kräfte der occidentaliſchen Bildung in beftindigem Kampfe gegen 
dies von fern beglüdende und in der Nähe unfelige Traum— 
bild einer irdiſchen Antieipation göttlicher Ordnung thätig ge— 
weſen. 

Die proteſtantiſche Auffaſſung hat die kosmiſche Bedeutung 
der Kirche aufgegeben; die ſichtbare wenigſtens gilt uns wieder als 
irdiſche Inſtitution zum Dienſt des religiöſen Lebens. Aber der Lauf 
der Dinge hat dafür die Kirche in eine Verbindung mit dem Staate 
gebracht, deren ſchwer zu hebende Mißſtände ihr die Theilnahme 
der Gemeinde in ſteigendem Maße entzogen. Unter Einem Ober- 
haupte, mit fefter Lehre und höchſt gleichartigen Formen des Eultus, 
breitet ſich die Tatholiiche Kicche über die verſchiedenen Nationen 
aus und Tann ihren Angehörigen als eine große objective auf 
fi) beruhende Organifation erfcheinen. Hätte die proteſtantiſche 
Chriftenheit eine ähnliche Einheit des Bekenntniſſes des Gottes- 
bienftes und der Firchlichen Gefeßgebung fich erhalten fünnen, fo 
wirden die einzelnen Landeskirchen, in welche fie fich geipalten, 
der Lebendigkeit des religiöfen Gefühls geringeren Eintrag thun: 





378 


fie würden als Die local verfchiedenen weltlidyen Organifationen 
erſcheinen, welche die überall gleichen Heiligthlimer ſchützen. In 
der That ift nun Dies die Betheiligung, welche die Staatsgewalt 
fi) an religiöſen Dingen zujchreibt, aber jene Einheit war nie 
pollfftändig vorhanden. Daher, obgleich die Zeiten nicht wieder⸗ 
fehren werden, im welchen die Confeffion und ihr Wechlel den 
Unterthanen geboten werden Tonnte, bleibt doch in der Interpre⸗ 
tation des einmal herrichenden Bekenntniſſes viel Spielraum für 
die politiiche Negierungsgewalt und für die veränderlichen Bevor⸗ 
zugungen, welche fie den verſchiedenen von der proteftanttichen 
Freiheit zugelafjenen Standpunften zumendel. Der Mangel der 
einheitlichen Lehre, das Gefühl, ftatt in ihrem Namen vielmehr 
durch die fubjectiven Ueberzeugungen der einzelnen Geiftlichen ge 
leitet zu werden, die Wahrnehmung, daß der Charalter dieſer 
Ueberzeugungen in nicht unüberjehbaren Zeiträumen beträchtlich 
wechjelt, der nicht ſtets gerechte, aber nicht ſtets falſche Verdacht, 
daß auf dieſe Veränderungen der Drud politifcher Motive von 
Einfluß iſt: alle diefe Umftände laſſen die Kirche als eine Staats- 
einrichtung erſ cheinen, deren Druck mit Abneigung empfunden 
wird, weil er ein Gebiet trifft, auf dem der Gehorſa am nicht gegen 
die innerliche Ueberzeugung ſtreiten darf. 

Die Zukunft kann man nicht prophezeien, ſondern ſich nur 
auf ſie vorbereiten. Es iſt nicht zu hoffen und nicht zu wünſchen, 
daß die proteſtantiſche Freiheit religiöſer Ueberzeugung und Forſchung 
wieder unterdrückt werde oder ſich ſelbſt aufgebe; es iſt zu hoffen 
und zu wünſchen, daß eine beſcheidenere Zuverſicht der Dogmatik 
in ihre Erkenntnißkräfte die Zahl der willkitrlichen Deutungen 
des Undeutbaren vermindere, durch größere Uebereinftimmung in 
dem, was Noth thut, und durch Fallenlafjen unnützer Streitpuntte 
das Gefühl der Zuverläſſigleit des chriftlichen Glaubens in ber 
Gemeinde ftärke; es tft zu boffen und zu wünſchen, daß Das 
tieffinnige Zartgefühl des Gewiſſens in der Behandlung aller 
Tebensinterefien, die gefundefte Frucht, welche das lebendige Chri- 
ſtenthum in nicht wenigen Gemüthern getragen hat, für größer 





379 


anerkannt werde, als die dem Schünften und Beſten der neueren 
weltlichen Bildung fich abwendende Vorliebe fiir das unergründ⸗ 
liche Nutzloſe und für die Archaismen, die den Geſchmack belei- 
digen ohne den Glauben zu ftärfen; zu hoffen endlich und zu 
wünſchen, daß eine größere Betheiligung der Gemeinde an ber 
Führung ihrer Tirchlichen Angelegenheiten ihr die Theilnahme wie⸗ 
dergebe, die fie im ihrer biöherigen Yernhaltung verloren hat. 
Sp gewiß indeſſen der Fortbeſtand der Kirche als einer objectiven 
Wirklichkeit, in welcher das religiöfe Leben des Einzelnen feinen 
Ausgang nimmt, Bürgfchaft der Nichtigkeit feines Strebens, Be 
lehrung und Troſt für fein Seren findet, zu den minjchend- 
wertheften Gütern der Zukunft gehört, jo würden wir doch, wenn 
jene VBorausfegungen fich nicht erfüllen, den Verfall der Kicche, 
ben unfere Gegner uns als die unvermeidliche Conjequenz des 
peoteftantiichen Princips bezeichnen, für heilfamer halten, als den 
erneuerten Verſuch, in äußerlicher Realität eine Inftitution auf- 
recht zu halten, für deren Wahrheit Die innern Bedingungen fehlen. 
Schön und wünſchenswerth wird die nächſte Zukunft, die dann 
folgt, ohne Zweifel nicht fein; aber zuverläffig können wir dar- 
auf hoffen, daß nicht nur die lebendige Religiofität wachſen wird, 
wenn fie nicht mehr Streit mit unzutreffenden äußern Einrich- 
tungen bat, fondern daß das unvertilgbare Bedihfniß Des Men- 
chen, mit feinem Glauben nicht unanerfannt allein zu ftehen, zu 
freiwilligen Gründungen größerer firchlicher Gemeinfchaften, ohne 
den undurchführbaren Anſpruch einer Gewalt über die Nichtan- 
gehörigen, zurlidleiten muß. 


380 


Fünftes Kapitel. 
Das Öffentlide Leben und die Geſellſchaft. 


\ 


Familie und Geſchlechterſtaaten. — Die Reiche des Orients. — Der beuormunbenbe 
Despotismus. — Das politifce Kunftwert ber Griechen. — Das bürgerliche Ge— 
meinwefen und das Recht in Rom. — Die Selbfiberrlichkeit der Geſellſchaft. — 
Rationales und hiſtoriſches Recht. — Erfüllbare und unerfüllbare Voftulate. 


Am unmittelbarften auf natürliche Beziehungen begrlindet, 
hat die Familie ſtets für die umentbehrliche Grumdlage, häufig 
auch für Die erzeugende Duelle, und ihre Gliederung für das ſtets 
nachzuahmende Mufterbild aller gejelligen Ordnung gegolten. So 
weit gejchichtliche Wahrnehmung reicht, beftätigt fie Das eine und 
nicht das andere. Ohne durch die bildenden Einwirkungen 
eines? an mannigfaltigen Sntereffen reichen Lebens veredelt zu 
werden, haben für ſich allein Die Naturverhältniffe der Familie 
und ihre ausjchliegliche Beachtung weder eine tabellofe Blüthe 
der Sittlichkeit noch gefellige Einrichtungen erzeugt, die dem Fort⸗ 
jchritt förderlich oder den gerechten Anjprüchen der menſchlichen 
Perſönlichkeit gerecht geworden wären. Und Dies ift nicht wun— 
derbar; denn die Natur führt uns zwar in Berhältniffe, die in 
rihtigem Sinn und Geift benußt eine Fülle von Gelegenheiten 
zur Entfaltung fittliher Schönheit geben: aber dieſen Sinn und 
Geift erzieht in uns nur das Leben durch die vielfeitige Selbſt— 
befinnung, zu welcher und die Mannigfaltigfeit feiner Aufgaben 
und feiner Conflicte nöthigt. 

Bor uns liegt jest die Welt mit den vermwidelten Berhält- 
niffen des Dafeins, welche die menjchliche Gefittung in ihrem ge- 
ſchichtlichen Berlauf in fie gebracht hat, als ein unüberjehbares 
Feld, Das taufend Quellen des Glüdes, taufend des Unheils ber- 
birgt; in diefe dunkle Ferne, im die unjere Träume längſt fich 
ahnungsvoll vorgreifend gemagt haben, gemeinſam hinauszugehen, 





381 


mit dem Borjag, Freude und Leid zu tbeilen, und mit der Hoff: 
nung, daß übereinſtimmende Beurtheilung deffen, was die Zukunft 
bringen wird, Die mechfelfeitige Treue ftärfen werde: dieſer Ent- 
Ihluß, wenn er unſere Familien jtiftet, veredelt allerdings den 
Zug der Natur, der ihn veranlaßt. Je ärmlicher dagegen das 
Leben und je eintüniger die Vorausſicht der Zukunft, um fo ge 
haltlofer wird das Glück der Familie und wenig von dem ver- 
Ichieden jein, mas die Natur auch den Thieren gewährt; um fo 
deutlicher treten dann die unfittlichen Folgerungen hervor, zu denen 
die natürlichen Berhätniffe dem rohen Sinne auch Beranlaffung 
geben. Denn das Uebergewicht der männlichen Stärke iiber Die weib— 
liche Hülfsbeblrftigfeit und der entwidelten Kraft der Erwachſenen 

über die Berleglichkeit des kindlichen Alters, Dies find Yingerzeige 
ber Natur, welche von der Barbarei ungefitteter Zeitalter ſtets ver- 
ftanden und ausgebeutet worden find. Je geringer noch die Sicher- 
heit des Lebens und die Betriebfamteit des Verkehrs ift, deſto 
weitläuftiger häufen fich für das unſelbſtändig auf den Schuß 
des Mannes angewiefene Weib die Dienfte, die e8 dem Ulnter- 
halt der Familie zu leiften hat, und fo entjteht, zwar nicht Durch 
unmittelbaren Hinweis der Natım geboten, aber als nächftliegende 
Folge der natürlichen PVerhältniffe, die Vielehe mit ihrer Ent- 
werthung des weiblichen Geſchlechts überhaupt, den Abftufungen 
des Anjehens zwiſchen den verjchiedenen Frauen und den Unter- 
ſchieden der Berechtigung, die ſich auf ihre Kinder forterben. Die- 
jelbe Unfähigkeit, Naturbeziehungen zu veredeln, mißgeftaltet das 
Verhältniß zwifchen eltern und Kindern. Das tieffinnige Ge— 
heimniß der Weltordnung, welches die Gefchlechter ver Menſchen 
aus einander werden läßt, und die Erzeugenden mit dem Wunder 
begnadigt, unfterbliche Seelen gleich ihnen felbft in das irdiſche 
Leben einführen zu dürfen, ift dem rohen Sinne Nichts als ein 
Beifpiel der gewöhnlichſten Urfächlichkeit, und alle Gewalt, die 
dem Urheber iiber fein Erzeugniß zufteht, ſcheint ſelbſtverſtändlich 
den eltern, oder vielmehr, mit früher Nichtachtung des Mutter- 
rechts, dem Vater zuzulommen. Jene wäterliche Gewalt, die Das 


382 


Hecht über Leben und Tod des Kindes ebenfo unbefchränft be- 
fit, wie das der Verfligung iiber unlebendiges Eigenthum, bie 
feinen Unterfchied unmlindiger Jugend und beginnender Selbftän- 
digkeit kennt, nicht die heranreifende Perſönlichleit achtet, nicht 
durch Eingehen auf neu fich bildende Lebensanfichten die Bande 
der Berwandtichaft ftet8 geiftig von neuem knüpft, fondern immer 
nur auf die eine Thatſache der Vergangenheit, die leibliche Er- 
zeugung, zurückkommt: dieſe väterliche Gewalt ift die unmittelbare 
Ausnugumg der natürlichen Verhältniffe, welche die Familie be— 
gründen; wir finden fie deutlich in den Anfängen jeder Civili— 
fatton, und fehen fie in der Ausübung in dem Maße fich ver- 
fieren, in welchem die fteigende PVieljeitigfeit der Lebensverhältniſſe 
zu feinerer Abwägung der menfchlichen Rechte anleitet. 

Auch abgejehen von fo rohen Mißveutungen erzieht die 
Familie nicht zu gefelliger Sittlichkeit. Beſondere und unvergleich- 
bare Naturbeziehungen verknüpfen ihre Mitglieder durch Gefühle, 
die nicht aus allgemeinen Berpflichtungen der Menfchen gegen- 
einander fließen; Durch das Nebengefchent einer leidenſchaftlichen 
Innigfeit, im der ohne Zweifel ein Element des fchönften menfch- 
lichen Glückes Tiegt, bereichern dieſe Geflihle wohl das Leben, aber 
das Bewußtſein der allgemeinen fittlichen Verpflichtungen Bären 
fie nicht auf, fondern trüben es. Sie hemmen die Gerechtigfeit 
durch verzeihende Nachficht und vorforgende Zucht; fie verkürzen 
erziehend dem Einzelnen die Freiheit die ihm zufteht, und geftatten 
ihm manche auf die er nicht Anfpruch hat; felbft mo fie in Ge 
währungen und Forderungen mit dem allgemeinen Gebote der 
Sittlichfeit iibereimftimmen, Tiegt in ihrem Beweggrund der Pietät 
und Siebe eine der verpflichtenden Kraft der fittlichen Geſetze 
fremde Beimifchung. Denn was wir aus Pietät leiften, d. h. 
aus einem frommen Gefühl, das fich der Gründe und Grenzen 
wechjelfeitiger Verbindlichfeiten nicht klar bewußt ift, das erfcheint 
und, wie e8 denn in der That mr aus unferer Gemlthöftin- 
mung entfpringt, als Ausflug unferer frommen Berfünlichkeit, und 
ſelbſt mo jede Eitelkeit der Selbfterhebung fehlt, doch immer als 


383 


Etwas, das gar nicht in der Welt zu fein brauchte und in der 
That nicht in ihr fein wiirde, wenn unfere gute Gefinnung nicht 
wäre, keineswegs aber als ein Recht des Andern, das ewig gültig 
bliebe, auch wenn Niemand feiner achtet. Niemand verkennt ben 
Segen, den diefe Grundlage der Pietät fir das innere Leben der 
Familie hat, aber die öffentliche Sittlichkeit wird durch fie nicht 
gründe. Was der Menſch dem Menſchen ſchuldig ift, begreift 
er nur im Zufammenftoß mit denen, die ihn nichts angehn; nur 
wo alle auf jene befondern Naturbedingungen gegründeten An— 
ſprüche auf Beachtung Freundſchaft Liebe und Verehrung hin- 
wegfallen, werben die allgemeinen Pflichten und ihre nothmwendigen 
allgemeinen Motive klar. So lange deshalb die gejelligen Ber- 
hältniſſe eines anwachſenden Volksſtamms nad dem Mufter der 
Familienbeziehungen geregelt werden, begegnen wir zwar manchem 
ſchönen poetifchen Zuge des Lebens, aber kaum einem Fortjchritte 
zur Gerechtigkeit, fondern finden manche Spuren des Gegentheils. 
Ganz allgemein zum Beifpiel zeigt fi in den Anfängen der 
Cultur felbft bei jonft milden Temperament der Völlker eine um- 
gemeine Härte der Strafbeftimmungen; ohne Abwägung des ver- 
ſchiedenen Gewichtes der Vergehen und noch weniger auf bie 
Milderungsgrüinde achtend, die dem bejonderen Falle zu Gut 
fommen, verfährt die einmal verlegte Vietät der Volksſitte mit 
unabgeftufter Schonungslofigkeit," ganz natürlich für eine Gemüths⸗ 
ftimmung, die in ihren pofitiven Forderungen ſich nicht durd) 
anerkannte Rechte Anderer, jondern nur durch ihr eigenes Gefanmt- 
gefühl Ieiten Tieß, und die daher auch dann, wenn fie fich be- 
leidigt fühlt, eben nur ihre eigene Beleidigung empfindet und in 
der unbedingten Abwehr derſelben durch feine Erwägung verjchie- 
dener Sachverhalte mehr gemäßigt wird. 

Mit dem Erwachen eines zahlreichen Stammes aus ber 
Bervielfältigung der Familien verliert fi) das Gefühl der BVer- 
wandtichaftsbande und verwandelt ſich in Das andere einer Durch 
gleiche Sprache Sitten und Gedankenkreiſe begründeten Zufam- 
mengebörigfeit. Ie mehr fich ein folcher Stamm auf der Grundlage 





384 


ſehr eigenthümlicher Lebensbedingungen in ſich ſelbſt abſchließen 
kann, um ſo weniger entſpricht ſein Zuſtand der Beſtimmung 
der menſchlichen Geſellſchaft. Dem äſthetiſchen Gefühle mag im 
Vergleich mit den unſicheren Halbheiten, die jede verwickelte Cul⸗ 
tur zahlreich erzeugt, die Feſtigkeit und Sicherheit der Vollscha⸗ 
raftere gefallen, die fich bei der Zweifelloſigleit der ganzen Lebens⸗ 
lage leicht in allen Einzelnen gleichartig ausbilden; an fich aber 
ift diefer Vorzug nicht höher anzufchlagen, als die Racenſchönheit 
der Thiergattungen, die unter ähnlichen Verhältniffen fi aud 
ftetö erneuert. Es liegt in ihr fein Keim des Fortſchritts; die 
Sitte, die nur durch Gewohnheit entitanden ift, hat nicht die 
Biegfamfeit, welche ihr nur allgemeine Prinzipien geben könnten: 
als ſtarres Vorurtheil drüdt fie auf Die einzelnen uud verurtheilt 
jede individuelle, der Engherzigkeit des Herkommens entgegenlau- 
fende Regung, weldye die nicht zu tilgende Verſchiedenheit menſch⸗ 
licher Naturen hin und wieder dennoch entjtehen läßt. Ein Zug 
berftändnißlofer Unduldſamkeit iſt daher allen ſolchen rein natie- 
nalen Gulturen der Vorzeit eigen; er verliert fich erit, wenn die 
aufgenöthigte Wechſelwirkung mit fremder Sitte den Wahn von 
der Alleingültigfeit der eigenen zerjtört und die Menſchen zwingt, 
fich der allgemeinen fittlichen Verbindlichkeiten, ohne deren Aner- 
fennung feine menfchliche Gejellichaft beftehen kann, auch in all 
gemeiner Faſſung bewußt zu erben. 

Nomadifirende Stämme, deren Einheit überwiegend in der 
Erinnerung ihrer Gejchichte beruht, haben diefen Zuſammenhang 
der Blutsverwandtſchaft am meiften hochgehalten, und vielfach haben 
fie im Alterthum, als fie zum feßhaften Leben übergingen, auch 
bie politifche Gliederung, die aus der beginnenden Beziehung zu 
dem Erbftüc hervorging, welches fünftig das bleibende Object 
ihrer Thätigkeit werden follte, in diefem Sinne entworfen. In 
dem fie eroberte nun herrenloſes Land in abgemefjenen Ader- 
looſen an die Familienväter die Häupter der Geſchlechter die ein- 
zelnen Stämme vertheilten und durch mannigfaltige KRünftlichkeit 
der Gejeggebung diefer Vertheilung ewige Dauer zu geben fuchten, 


385 


prägten fie die genealogifche Gliederung des Staates, als 
eines Familienſyſtems aus gleicher Wurzel, auch in feiner natür— 
lichen Grundlage aus. Sie kannten, als fie folche Verfuche mach- 
ten, noch wenige reale Lebensaufgaben und ſahen nicht vorher, 
daß die neue Beziehung zum Grund und Boden, in die fie ein- 
traten, mit den Stimmungen und Plänen ftritt, von denen fie 
noch beherrſcht wurden. ‘Den Hebräern, als fie noch wandernde 
Hirten waren, galt die Erhaltung ihres Gefchlechts als die heiligite 
Pflicht, und ihr Gott hatte ihnen, als dem auserwählten Volle, 
die Vermehrung ihres Samens als urfprünglichen Segen ver= 
heißen. In der That, der Wanderftamm läßt feine Zeichen fei- 
- nes Lebens und feiner Thätigleit zurück, denn er erzeugt nichts 
Bleibendes; er wiirde ſpurlos von der Erde, aus der ganzen 
Wirflichleit verjchwinden und fein als wäre er nie geweſen, wenn 
er nicht in der immer wiederquellenden Weberlieferung einer nie 
abbrechenden - Nachkommenſchaft fortlebtee Auch die Griechen 
fannten diefe Sehnfucht nach Unfterblichleit in der Fortdauer Des 
Geſchlechts; aber ihre Gefchichte hatte ihnen feinen jo ununter- 
brochenen Rückblick auf die Reihe ihrer Vorfahren gelafien. Doc) 
erfeheinen die Dorier, als fie den fpartaniichen Staat gründeten, 
ebenfo eifrig bemüht, durch Tünftliche Regelung der Befigverhält- 
niffe einen eifernen Beſtand gleichbegüterter Familien zu fichern, 
die flir ewige Zeiten das fpartanifche Volt bilden follten. Beide, 
Semiten ımd Griechen, fuchten ihre Gebäude durch mandherlei 
Berhinderung freier Selbftbeftimmumg zu befefligen und den Fort⸗ 
beftand jeder Familie zum Theil ſelbſt durch Rechtöfictionen zu 
fihern; beide hielten dadurch die ſociale Entwidlung der Ihrigen 
lange auf, und beider politifche Kımftwerfe unterlagen zulegt dem 
natikrlichen Laufe der Dinge. Denn das jeßhafte Leben bringt 
den Menfchen in zu mannigfaltige Berührung mit der Natur ber 
Dinge, erweckt in ihm zu mächtig Borftellungen von Rechten, bie 
ihm aus feiner auf die Sachen gerichteten Thätigfeit entfpringen, 
als daß eine Familienfitte, welche dieſe Selbſtändigleit perfünlicher 
Rechte mißlennt, nicht zulegt von ihm ai follte ; 
Loge, III. 3. Aufl. 





386 


den ewig gleichen äußern Beſtand der Familie aber mill die 
Natur nicht; Kinderreichthum hier, Ausfterben dort wird ınıter 
der Beihlilfe von Gefeßen, die das Yamilienintereffe bevorzugen, 
viel eher zu ımerträglichem Gegenfag von Reichthum und Armuth 
führen, al8 er ohne diefe Einmifchung eingetreten wäre. 

Starkes Einheitsgefühl Hatte den blutsverwandten Stamm 
belebt; dies Gefühl war nicht mehr möglich, als Bedürfniß umd 
abenteuernder Thatendrang Vöoller feindlich auf eimander trieb, 
und die Unterjochung vieler durch eines Gefellichaften bildete, Die 
faum fo, noch weniger Staaten, fondern nır Reiche zu heißen 
verdienen. Denn nur die Herrichaft von oben, nicht Beweggründe, 
die von den Einzelnen her ſolche Gemeinſchaft verlangt Kitten, 
verband dieſe politifchen Geftaltungen, die das Möorgenland am 
häufigften, doch nicht ausſchließlich heroorgebracht hat. Daß ein 
fiegreiher Stamm Ueberwundene als rechtlos betrachtet und ihr 
Leben durch willkürlichen Befehl beftimmt, verfteht fich Teicht aus 
der allgemeinen menjchlichen Natur; aus den befferen Seiten der- 
felben Natur und aus den Umſtänden begreift ſich ebenjo, daß 
doch nicht fchlechthin Sklaverei die Befiegten traf, vielmehr vie 
Einzelheiten ihrer Lebensführung ihren angewohnten Sitten über- 
lofjen blieben und nur in wenigen Beziehungen unbedingte Un- 
terwerfung verlangt wurde. Daß jedoch innerhalb des herrichen- 
den Stammes das Anſehn eines einzigen Gebieterd fich ausbilden 
fonnte, macht nur das Zuſammenwirken mehrerer Bedingungen 
erflärlih. Der Friede des Stammeslebens Tonnte eine patriar- 
chaliſche Autorität begrlinden, glückliche Heereszlige dem Führer 
noch lebhaftere Anhänglichkeit verfchaffen; die Steigerung Diefes 
Anſehns zur Majeſtät des Herrichers fcheint dauernd mm durch 
den Mebergang zu jeßhaften Leben möglich), und durch eben jene 
Unterdrüdung fremder Gemeinfchaften erleichtert. Denn wie gering 
auch fonft noch Die politiſche Einficht fein mag, irgend eine Thä— 
tigkeit der Ordnung und Verwaltung gebietet ihr der Anfprud) 
der Herrichaft fiber weite Ränder mit verjchiedenen Lebensweiſen 
doch immer; Die gemeinfame Sicherheit empftehlt den Unterjochten 





387 


gegenüber die Einheit des gebietenden Willens; die größere Ver— 
wiclung der Verhältniffe endlic, erlaubt dem Führer, aus dem 
täglichen Verkehr in erhabene Unnahbarkeit zurückzutreten. Dieſe 
ſchien dem orientalifchen Herrſcherthum ftet3 dienlich, die Ehrfurcht 
vor dem Gebieter zu begründen und zu erhöhen, und dem eigenen 
Stamme freilich ſchwer, leichter den Gedanken der unteriworfenen 
diefe Herrichaft des Einen iiber Alle als unmiderrufliches Natur: 
verhängniß einzuprägen. Aller Gehorjam der Menge gegen eine 
Macht, gegen melche fie weder fittliche Verpflichtung noch gemüth- 
liche Anhänglichkeit fühlt, und die doch dem vereinigten Willen 
aller Einzelnen niemals eine hinlänglich zwingende phyſiſche Macht 
entgegenftellen könnte, beruht am meiften auf der Unflarbeit, in 
der ſich jeder Einzelne in Bezug auf die Gefinnungen und Inte 
veffen der anderen befindet. Wenige Regierungen hätten den 
Augenblik, wenn er je gelommen wäre, liberdauern können, in 
welchem eine allgemeine Durchlichtigkeit Jedem das Innere des 
Andern enthüllt hätte; e8 wäre offenbar geworden, wie wenig 
das Gebot mit dem wirklichen Willen der Menfchen ftimmt, und 
mit dieſer Entdedung hätte der wirkliche Wille fich ihm entzogen. 
Aber ſolche Kenntniß einer vielleicht vorhandenen Uebereinftimmung 
it nur in fehr einfachen Zuftinden ganz gleichartiger Lebensver- 
hältniffe oder bei großer Leichtigkeit des Gedankenaustauſches und 
forigefchrittener Entwidelung der üffentlihen Meinung möglich. 
Den Führern von Nomadenvölfern gelang e8 daher noch fpüt, 
durch den begeilterten Gehorjam ihrer Horden gegen ihren un- 
umſchränkten Willen die Welt in Schreden zu fegen; ihr Wille 
war Nichts als der zur Einheit verbichtete Ausdrud der Begier- 
den, die fie in ihren ungebilveten bedürfnißloſen Stämmen gleich) 
artig dorgefunden und gefteigert hatten; einer dauernden Deöpotie 
im Frieden entziehen ſich dagegen Völker dieſer Culturftufe über- 
al. Wo aber diefe Mebereinftimmung der Sitten bereit vor⸗ 
übergegangen, die Gemeinfchaft einer üffentlichen Meinung nod) 
nicht entitanden ift, da zieht Die Herrfchlucht des Gebieters ihre 
Macht aus der lähmenden Ungewißheit der Menſchen über ein= 
5 25* 


388 


ander. Denn immer wird Die Yügung unter ein ausgeſprochnes 
Gebot, das an Alle gerichtet ijt, dem Die meifte Sicherheit vers 
Iprechen, der die zum Widerſtand fähigen und bereitiwilligen Gegen- 
kräfte in der Geſellſchaft nicht kennt, weil fie fich nicht äußern, 
der nie willen Tann, welche feinem eignen Geſichtskreiſe fremden 
Intereſſen die ſonſt wohl als gleichartig vorauszufeßenden Ge- 
finnumgen der Anderen umftimmen, und der endlich, wüßte er 
dies Alles, doch nicht im Stande wäre, die ihm befannten Kräfte 
im paffenden Augenbli zum Handeln zufammenzufaflen. Hierin 
liegt das große Uebergewicht, welches jede beftehende Ordnung, 
welche fie auch fei, iiber alle Neuerungsverfuche zu haben pflegt: 
das fichere Uebel, in das man ſich zu finden gelernt bat, wird 
dem unficheren vorgezogen, welches fich nicht überſehen läßt. 
Andere Gefinnungen, als diefe, konnten die Völker der afia- 
tifchen Despotien gegen ihre Gebieter faum hegen. Nur die Macht 
der Gewohnheit kam noch hinzu und ließ dem Beherrichten Das 
Beherrſchtwerden als unwegdenkliches Schickſal, dem SHerricher 
das Herrſchen als natürliches Recht erſcheinen, jenem die Geduld, 
dieſem die Zuverſicht ftärkend. Der Inhalt, mit dem dieſe Form 
der Gefellfchaft ausgefüllt wurde, fiel verſchieden aus nach Dem 
Temperament der Völker und der Herricher. Im Orient brachte 
bie ſchwindelnde Höhe, zu welcher die Stellung des Gebieters 
hinaufgefchraubt war, kraftvollen Geiftern faft nur die Träume 
der Weltherrichaft, Die mit bemußter Abficht für die Organifation 
der Gefellfchaft nichts Ieifteten, aber in unbewußter gefchichtlicher 
Wirkſamkeit Doch den Gefichtsfreis und die Verbindungen ber 
Bölfer erweiterten und die Borftellung einer umfaffenden Ordnung 
überhaupt in den Menſchen erweckten. Da diefe Träume doch 
nur duch die Kraft der Unterthanen ausführbar waren, mußten 
die Hülfsmittel diefer gefchont und in georbneter Verwaltung zu⸗ 
fammengebalten werben; im Einzelnen fonnten Dies nur die unter- 
worfenen Völler felbft ausführen, Die ihre eignen Verhältniſſe 
fannten; deshalb ließ der Despotismus volksthümliche Einrich- 
tungen meift unangefochten und behielt fich nur Die unbeſchränkte 


389 


Berwendung der durch fie erzeugten Mittel vor. Der Zerfall 
der Reiche und der Uebergang der Herrfchaft an andere Stämme 
änderte Deshalb die allgemeine Phyſiognomie ver Geſellſchaft 
wenig; fie mar nur in Meineren Kreiſen, die fich forterhielten, 
organifirt, das Ganze des Reichs hatte ihr Teine Gliederung 
gegeben. 

Weit mehr als diefe afiatifchen Reiche verdienen den Namen 
der Staaten die alten politifchen Gefellihaften Chinas und ber 
Indianer Amerikas; an die Stelle einer inhaltlofen Willkür ift 
in ihnen der Gedanke einer geordneten Verwaltung der menfch- 
lichen Dinge getreten, zu deren Ausführung der Wille des Herr- 
ſchers bevollmächtigt iſt. Der aſiatiſche Despotismus hatte das 
Leben der Bölfer feinem eignen Stern oder Unftern überlaſſen; 
er hatte wohl geherrfcht, aber nicht regiert; China dagegen, Merico 
und Peru entbehrten weder einer ind Einzelne geregelten Admi⸗ 
niftration, noch allgemein gültiger Gefege und Traditionen, welche 
den Inhalt des Einzellebend mit der Wohlfahrt des Ganzen in 
Webereinftimmung zu bringen juchten; mit vorfichtiger Klugheit 
und zumeilen feinfinnigem Gefühle waren Pflichten und Befugniffe 
der Unterthanen Sitte und Erziehung beitimmt und an Regeln 
gebunden, denen ebenforwohl natürliche Billigkeit als zweckmäßige 
Politif zu Grumde Ing. Peru namentlich hatte manches von dem 
verwirklicht, was das platonifche Urbild des Staates verlangte, 
und zwar mit dem intereflanten Ueberſchuß charakteriftiich prafti- 
cher Einrichtungen, welche die aus gegebenen Umftänden wirklich 
hernorgegangenen Inftitutionen der Gejellichaft immer vor ven 
logiſchen Wolgerungen aus allgemeinen Grundſätzen voraushaben. 
Dennoch haben alle diefe Staaten nicht lange dem Fortſchritt ge 
dient; China bat feine Iſolirung bis jest erhalten, Merico war 
dem innern Zerfall fchon nahe, als der Untergang von außen 
kam; Peru konnte troß der Hingebung des Volle fiir die heimifche 
Ordnung dem Andrang der Europäer nicht widerſtehen. Denn 
alle diefe Staaten beruhten auf gutmeinender Verwaltung und 
geheiligten Traditionen, nicht auf einer Grundlage des Rechtes. 


390 


Sie Hatten Gefeße, und diefe waren nicht blos willfürliche Ber- 
ordnungen, aber doch floffen fie nur aus Gründen der Billigkeit, 
der Zmwedmäßigfeit und des Herkommens, nicht aus der Aner⸗ 
Yennung allgemeiner rechtlicher Grundfüge Sie hatten ein Ideal 
des focinlen Lebens und juchten e8 als Aufgabe des Staats in 
vielgliedriger Organifatton und ftraffer Centralifirung zu verwirk⸗ 
lichen; aber die Gefellfchaft ruhte ihnen nicht auf perfönlichen 
Einzelvechten, die immer Anerkennung erlangen, auch wo auf ihre 
Ausübung zum Wohl des Ganzen zu verzichten ift; jenen Staats- 
gedanken ſetzten fie vielmehr als das unabänderliche Ziel voran 
und leiteten atıs ihm alle Befugnif des Einzelnen und das Map 
jeder Berechtigung ab. Als daher diefe Form des Staates zer- 
fiel, in welcher wirklich einmal, wie die gewöhnliche Rede vom 
Drganismus geht, das Ganze früher war als die Theile, jo hatten 
die Theile feine eigne Lebenskraft zum Verſuch neuer politischer 
Geftaltungen. in Gebilde, das aus den eignen Kräften der 
Atome entfteht, erneuert ſich Durch deren ftets friſche Wechfel- 
wirkungen in irgend einer neuen Form, wenn die alte vergeht; 
jene organifchere Geftaltung der Gefellfchaft, in melcher alles 
Einzelne durch eine einzige Idee des Ganzen bepormundet wird, 
mag prächtiger ausfehn, fo lange fie befteht, aber fie verfällt um- 
ichöpferifcher Fäulniß, wenn ihr Beſtand einmal gelöft ift. Die 
europäiſchen Völker, denen theild eignes Naturell theils römiſcher 
Einfluß ein ſtarkes Bewußtſein perfönlicher Rechte gegeben, haben 
fih aus großen Berwirrungen der gejellichaftlichen Zuſtände mie 
der retten Fünnen; fiir den Peruaner beruhte die Möglichfeit des 
focialen Dafeins auf der Eriftenz feiner Incas und auf der Yort- 
dauer von taufend gefchichtlich überlieferten Inftitutionen: gewöhnt 
an eine beftimmte Form des Ganzen, mußte er nichts von der 
Macht des Allgemeinen, das unaufhörlich neue Ganze mög- 
lich macht. Unter der Herrſchaft fihrer wohlmollenden politifch 
Mugen ftaatswixrthichaftlich nicht ungemandten Fürſten mögen Diele 
Indianer fich immerhin erheblich glücklicher gefühlt haben, als 
das Scepter der Begriffsfiinftler, die Plato zum Throne berufen 


3 


391 


wollte, fie mwahrfcheinlich gemacht- hätte; aber die Probe der Wider⸗ 
fandsfähigleit gegen unvorhergefehene Störungen bat dieſer Or- 
ganismus der bevormundenden Despotie nicht beftanden. 


An den Ufern des Eurotas hatten ſich die Dorier als frie- 
geriſcher Wanderftamm niedergelaffen. Der rings von Teinden 
erngefchloffenen Trembdlingsgemeinde war e8 natürlich, auch im 
bleibenden Wohnfige jene Gewohnheiten fteter Waffenbereitfchaft 
ftraffes Zufammenhaltens und ftrenger Zucht beizuhalten, welche 
ihmen während ihrer Wanderung die Pflicht der Selbiterhaltung 
gelehrt Hatte, und die zugleich alte Einrichtungen ihres Stammes 
waren. Ein großer Theil der ſpartaniſchen Staatöverfaffung, 
befien was fie befahl und deſſen was fie verbot, ift hieraus er= 
Härlich; als bleibende Ordnung des Gemeinweſens verfeftigte fie 
Das, was für die Anfangsftellung des beginnenden Staates eine 
dem augenblicklichen Bedürfniß entfprecjende Einrichtung gewe— 
fen war. 

Moderne Gefinnung erwartet vom Staate nicht, daß er der 
Geſellſchaft inhaltwolle Lebenszwecke Iehre und durch feine Anord- 
nungen den Einzelnen zu ihrer Erreichung leite; es genügt und 
erfcheint milnfchenswerther, daß die öffentlichen Inftitutionen nur 
einen ſchützenden Schirm für jede berechtigte freie Regung der 
Perfünlichkeit bieten und daß fie nicht mehr als die Möglichkeit 
einer allgemein menjchlichen Ausbildung gewähren, welche jeder 
Einzelne dann nach feinem eignen Genius weiter bejondern mag. 
Der griechiihen Auffafjung war völlig allgemein die unabläffige 
Erziehung umd Leitung des Einzellebens ſowohl Recht als Pflicht 
des Staates; fie war in Sparta fo geordnet, daß im Dienfte Der 
Erhaltung des Ganzen jede individuelle Kraft ſich erichöpfen 
mußte, für ihre Sonderbeftrebimgen dagegen weder Berechtigung 
noch Aufmunterung fand. Es wurde nicht der blinde Gehorſam 
des Sklaven, fondern die bemußte Hingebung des Bürgers an 





392 


Das Gemeinweſen gefordert, deſſen Gejege und Weberlieferungen 
eine forgfältige Erziehung Allen einprägte; aber Freiheit gab es 
für den Einzelnen weder gegenüber diefem Geifte des Staates, 
noch auch nur neben ihm; jede der willtitlichen Selbftbeitimmung 
üiberlaffene Regfamteit der Kräfte fchien die Sicherheit des Ganzen 
zu bedrohen. Es gab keine Wahl des Berufs, deſſen mögliche 
Berichievenheiten alle vor der einförmigen Staatsaufgabe beftärt- 
diger Kriegöbereitfchaft verſchwanden; bis in Meine Nebendinge 
hinab war das Betragen des Einzelnen, die Berhältniffe der Fa— 
milie, felbft der Lebensgenuß des gefelligen Verlehrs öffentlichen 
Anordnungen unterworfen. 

Man wiirde völlig irren, wollte man um beöwillen dem 
ipartanifchen Leben jeden geiftigen Gehalt und jedes Glück ab- 
fprechen, an dem menfchliches Gemüth fich erfreuen kann. Eben 
jene ftrenge Zucht entwidelte fo viele und fo anerfennenswerthe 
Tugenden der Mannhaftigkeit, der Stanbhaftigfeit Mäßigkeit Be- 
ſonnenheit und Treue, daß fchon das Bewußtſein fo kräftig entwidel- 
ter Eriftenz ein hoher Genuß des Daſeins war, wie fie denn für 
Mitwelt und Nachwelt ein Gegenftand aufrichtiger Bewunderung 
gervorden if. Dennoch erhebt ſich die Frage nach dem unab- 
hängigen an fich werthuollen Gut, das diefer Staat, der dem Ein- 
zelnen die Wahl feines Lebenszieles entzog, um fo mehr verpflichtet 
ſcheint, Allen als ein gemeinfam zu erftrebendes dDarzubieten. Denn 
alle jene Tugenden, die wir nannten, find doch formale Bortreff- 
lichleiten, Vorbereitungen wirffamer Kräfte, die ſich nach einer Auf- 
gabe jehnen, in deren Dienft fie ihre menjchliche Weihe empfangen; 
an fich ftellen fie den Menfchen nicht entfcheidenv höher, als manche 
bevorzugte Thiergefchlechter, die auch mit angeborner Stattlichkeit 
ihrer Gattung und mit der ganzen Anmuth vollendeter Kraft tiber 
die Erde wandeln. Diefer geiftige Rebensinhalt fehlt dem fparta- 
niſchen Staate. Schrankenlofer Trieb nach Erweiterung der Er⸗ 
kenntniß beſeelte ihn nicht, ſondern war ihm verdächtig; für bie 
taufend Heinen Intereſſen, in deren Verfolgung die freie menſch— 
liche Bildung fid oft jpielend verliert, doch felten ohne jelbit im 


393 


Kleinen einen Bruchtheil ewiger Güter fich zu beglückendem Ge- 
nuß zu bringen, batte der doriſche Geift feine Milde der Theil- 
nahme, fondern nur die geringichäßige Weberlegenheit des Bedürf⸗ 
nißloferen über feiner organifirte Naturen; felbft die fittlichen 
Bolllommenheiten, die er lehrte, ſchienen meniger aus liebevoller 
Hingabe an das an ſich Edle und Schöne fließen zu follen, fie 
wurden mehr noch aus dem Gefichtspunft verlangt, formale Be— 
dingungen zu fein, deren Erfüllung die Sicherheit des Gemein- 
weiens Göttern und Menjchen gegenüber gemührleiften; ber intel- 
lectuellen und künſtleriſchen Ausbildung wenigſtens räumte Sparta 
mißtrauiſch nicht mehr Pla ein, als dieſer Geſichtspunkt zu ge 
ftatten rieth. 

Den fonderbaren Zirkel dieſes Staatslebens, dieſes Allge- 
meinen, das Feine Beſonderheiten duldet, dieſes Ganzen, deſſen 
Theile nur die Beitimmung haben, das Ganze zu bilden, drückt 
ſehr verftändlich Platon aus, indem er bei der Verzeichnung feines 
‘ an die Dorifche Wirklichkeit erinnernden Idealſtaates die aufrichtige 
Bemerkung hinwirft: es komme hier nicht auf irgend ein Wohl 
befinden der Theile, fonvdern darauf an, daß das Ganze, der 
Staat als folcher, die größtmögliche Kraft der Selbiterhaltung 
befite. Beide, Sparta und Platon, laſſen und die Frage übrig: 
wozu es denn eigentlich gut fei, daß etwas, wie ein ſolcher Staat, 
in ber Welt eriftire, und melches Intereffe man an einer Ma- 
ſchinerie nehmen könne, die alle ihre Kräfte zu ihrer Selbfterhal- 
tung verbraucht, ohne eine nüßliche Arbeit zu liefern? 

Die Geſchichte forgte dafiir, daß wir die erfte” Frage nicht 
ebenjo unbeantwortet laffen müffen, wie die zweite. Es ließe fich 
recht wohl ein Indianerftamm mit fpartanifcher Berfaffung, mit 
vielen einzelnen ihrer Einrichtungen und manchen der von ihr 
geforderten Tugenden denken, ohne daß mit Dem allen die In= 
dianer, umgeben von ihren Stammverwandten, die gewöhnliche Bil⸗ 
dungshöhe ihrer Race weit überſchreiten würden. Aber die Spar⸗ 
faner waren Griechen : und lebten in Griechenland. Ihre Ver— 
faffung begünftigte geiftigen Forſchritt nicht, aber fie unterdrückte 


394 





in ihnen die natürlichen Anlagen des hellenifcher Stammes . um 
fo weniger, je häufiger die Berlihrungen mit der fortgefchrittenen 
Entwicklung des übrigen Griechenlands waren. Die Veranlaffuns- 
gen, entgegengefeßte politifche Richtungen in ihren ſchädlichen Aus— 
ſchreitungen zu bekämpfen, fehufen dem Volfe die begeifternde Er- 
innerung gemeinfam vollbrachter Großthaten und fejtigten feinen 
Stolz auf die dabei erprobten Vorzüge feiner formalen Zugenden; 
fie erweiterten zugleich feinen Gefichtsfreis durch die Kenntniß Der 
Bildung, deren politiiche Conjequenzen e8 befümpfte. Beftändiger 
Friede oder dauernde Iſolirung würden das ſpartaniſche Staats- 
leben durch zunehmende Geiftlofigkeit und durch das wachſende 
Bewußtſein feiner Zwedlofigfeit untergraben haben; dieſe geſchicht⸗ 
lichen Beziehungen nach außen, die Nothmendigkeit, als Oppofition 
aufzutreten, gaben ihm eine Zeit lang einen Beruf, zu deffen 
Durchführung die Unterwerfung unter feine Zucht gefordert wer⸗ 
den fonnte und willig geleiftet wırde. Allmählich, zuerft lang— 
ſam dann mit Bejchleunigung, wirkten diefelben Urſachen aufs 
löfend; die ununterdrüdbaren Begierden der menfchlichen Natur 
wurden durch die eindringende Keuntniß eines Luxus geweckt, Den 
die alte Berfaffung mit Anftand zu entbehren, aber nicht mit An⸗ 
ftand zu genießen gelehrt Hatte. 

In den Ländern ionifcher Zunge hatten Anfangs die ges 
wöhnlichen Mißſtände, umgleiche Gütervertheilung und Mißbrauch 
ererbten Anſehens, Berfuche zur Neuerung hervorgerufen, die nicht 
bei der Erreichung der nächften Zwecke ftehen blieben. Das bes 
wegliche Naturell der gejelligeren durch Handel und Betriebfam- 
feit früh mit mannigfacher Bildung vertrauten Bevölferungen 
drängte zu allgemeiner ſelbſtthätiger Betheiligung an der Ver— 
waltung und Leitung ber üffentlichen Angelegenheiten. Die 
‚Natur des Landes ftand in Einflang damit; fie begünftigte Die 
unabhängige Entwicklung Meiner Volksgemeinden, deren geiftige 
Kröfte, in fteter zufammengedrängter Wechſelwirkung gelibt, an 
ein bejchränttes Gebiet vielfältige Erinnerungen gemeinfamer ruhm⸗ 
voller Arbeit Inüpften: die Vaterſtadt, geſchmückt mit den Denk 





395 


mälern ihrer Kumftbeftrebungen, wurde die allen fichtbare Er- 
ſcheinung eines geiftigen Eigenthums, das zu erhalten zu ver- 
theidigen zu vermehren die von den Borfahren übernommene 
Ehrenpflicht der Nachlommen war. Diefe Grundlage ihrer poli- 
tifchen Entwicklung hielten fie mit Bewußtſein feft; fie verlangten 
fir den Staat ein Gebiet, groß genug, um in wefentlichen Be 
därfniffen unabhängig vom Ausland zu fein, aber Hein genug, 
um die perjönliche Wechſelwirkung aller Bürger möglich zu laffen. 
Eine Bergrößerung des Staates, welche bei gleicher Berechtigung 
ber berbielfachten Bevöllerung die Führung der Gefchäfte der 
Kenntnig Aller entzogen und einer unüberfichtlihen Regierung 
tiberliefert haben würde, fehien ihnen der Anfang zur Unterdrü⸗ 
ckung der Freiheit. Zuſammenwirken größerer Kräfte war ihnen 
nur in der Yorm der Bündniffe möglich, bei denen doch häufig 
die Freiheit der minder mächtigen dem Intereſſe der leitenden 
Stadt geopfert wurbe. 

Diefe Kleinheit der Schaupläße, auf denen (0 lebhaft be⸗ 
wegte Gefellfehaften ihre Wechſelwirkungen austaufchten, beichleu- 
stigte Blüthe und Berfall. Die Theilnahme des Voll an dem 
Gange der öffentlichen Angelegenheiten ift gefahrlos nur in Zeiten 
beginnender und bollendeter politifcher Entwidlung; dort, wenn 
fefte nationale Sitten noch die Willkür der Einzelnen wirkſam 
bemmen und zugleich einfache ftehende Aufgaben das politifche Ver⸗ 
halten der Gefammtheit auf vorgezeichnete Wege verweilen; bier, - 
wenn lange Erfahrung durch Achtung vor endlih zum Bewußt- 
fein gelommenen nothwendigen Schranfen auch den Mißbilligen- 
den von boreiligem ingriff in den Lauf der Dinge abbält. 
Die erfte Periode duldet ohne Eiferfucht die leitende Autorität 
Weniger; die zweite wird e8 nothmwendig finden, daß der Staat, 
Dies lebendige gefchichtliche Ganze, welches Borfahren und Nach— 
fommen zugleich) mit der Gegenwart begreift, der Geſellſchaft, 
welche die Summe der Lebendigen it, als ein eigner nicht ganz 
mit ihr zufammenfallender Organismus, in weldjer Form auch 
immer, gegenüberftehe. Athen hatte Die erfte Periode durchlebt; 


396 


die zweite ift ihm nicht beichieden geweſen; die völlige Entfeffelung 
der Demokratie führte eine politifche Auflöfung herbei, aus der 
fich wieder neuzugeftalten das hereinbrechende äußere Unglück ver- 
bot. Noch im Elend bat allerdings das athenifche Bolt Beiſpiele 
bewundernswerther Aufopferung und Begeifterung gegeben, aber 
abmwechfelnd mit verhängnißvollen Webereilungen zeigen fich dieſe 
ſchönen Augenblide nur als Nachglanz befjerer Borzeit; aller- 
dings trat eine große Anzahl der begabteften Geiſter erſt in der 
Zeit diefes Verfalls hervor, aber alle wandten fich der Gegenwart 
ab, und blickten auf die einfachere Vergangenheit ſehnfuchtsvoll 
zurück; die ungezligelte Freiheit hatte Teinen Fortſchritt gebracht, 
aber nur Yangfam konnte fie alles Gute zu Grunde richten, was 
einft eine weiſe Gefeßgebung eine geiftvolle Tyrannis und Die 
beſonnene Begeifterung einer weniger felbitfüchtigen Generation in 
dem hochbegabten Volke gefchaffen hatte. 

Durch dieſes Doppelbeifpiel ‚entgegengefegter Richtungen 
deren Bervienft und Irrthum es fpätern Zeiten begeifternd und 
warnend vorhielt, ift auch für Die politiiche Entwiclung des Abend⸗ 
landes Griechenland der entfcheidende Wendepunkt geworden. Ihm 
gebührt der Ruhm, von flumpfer Fügung in überkommene Ber- 
hältniffe den menſchlichen Geift zu bewußter Theilnahme an Wohl 
und Wehe eines Gemeinweſens geführt, dag Kind eines Stammes 
zum Gliede eines Volles, den Unterthan eines Gebieterd zum 
Bürger eines Staates erzogen zu haben. Was andern Völlern 
Zufammenhalt und Ordnung gab, hatte auch bei den Griechen 
gewirkt; auch fie hatten mit dem Gehorfam gegen geichichtliche 
Meberlieferung begonnen, aber nicht in blinder Gewohnheit, fon- 
dern mit bewußter Pietät hielten fie fpäter davon feft, was Die 
veründerten Berhältniffe feftzuhalten geftatteten; auch fie kann⸗ 
ten den Zauber fehr wohl, der in dem KRüdbli auf eine lange 
Reihe der Vorfahren die Glieder einer Familie oder eines Ge⸗ 
ſchlechtes verfnüpft; allein langbauernde Theilnahme an demfelben 
Gemeinweſen galt ihnen doch für ein müchtigere® Band als ber 
Naturzufammenhang der Race oder des Blutes, und wenn fie ihr 








397 


vielgefpaltened® Bolt unter dem helleniihen Gefammtnamen ver 
Barbarenwelt entgegengefegten, fühlten fie ſich als den einzigen 
ftaatsfähigen Zweig der Menfchheit, nicht als Nachlommen irgend- 
welcher Stamnmwäter; auf Das Anfehn eines Geſetzgebers und 
Staatsordners endlich führten auch fie gern ihre Berfaffungen 
zurüd und heiligten fie durch Borftellungen einer göttlichen Mit- 
wirtung; aber nicht als fremde Satzungen hatten fie jene Orb- 
nungen aufgenommen, fondern nach Art eines Vertrags Göttern 
und Meenjchen gegenüber anerfannt, was in dem Empfangenen 
ihre Anerlennung herausgefordert hatte. Sp erfchien ihnen der 
Stant meder ald eine Naturordnung noch unmittelbar als eine 
göttliche Stiftung, fondern als ein Kunſtwerk der menfchlichen 
Bernunft, welche mit felbitbewußter Ueberlegung die vorgefunde- 
nen Berhältniffe im Sinne des göttlich und menfchlich Guten zu 
ordnen verſucht, deffen Offenbarung das nationale Gewiſſen war. 

Noch einmal auf die fchönen Früchte diefer neuen Auffaffung 
zurüdgulommen, wäre Ueberfluß; kaum minder deutlich tft die große - 
Gefahr, welche fie einfchließt, und am meilten damals einfchloß, 
als mit ihr zum erften Mal in der Gefchichte verfucht wurde, 
das politifche Leben, abgelöft von tbeofratifchen Grundlagen und 
von der Befangenheit inftinctives Gehorſams gegen bergebrachte 
Autoritäten, auf feine eigenen Principien zu ftellen. Es ift eine 
vielbehandelte Streitfrage der griedhiichen Sophiftil, ob das Ge 
rechte von Natur oder durch Satung beftehe. Dean knüpfte an 
fie die Yolgerung, daß das Recht, wenn e8 an fi), verpflichtend 
für alle, wenn durch Satung entitanden, nicht verbindend für 
die Macht fei, die e8 zu brechen vermöge Die Trage erlaubte, 
fo geſtellt, keine reine Antwort. An ſich gültige ewige Ideen 
mögen wohl die einfachſten Grundſätze der Geſinnung und Des 
Handelns beftimmen, die durch Die einzelnen Thätigkeiten des 
Lebens an einer durch die Umftände gegebenen Welt von Ob- 
jecten zur Geltung zu bringen find; aber iiber die Verbindlichkeit 
diefer fittlichen Ideen, fo weit fie das griechifche Vollsgewiſſen 
kannte, war fein Zmeifel, oder wurde wenigftend Zweifel nur 


398 


von der müßigiten Sophiftil, nur in der- Schule, nicht im Leben 
erhoben. Dasjenige Gerechte, um welches der Streit ſich bes 
wegte, waren die beftimmten, auf die vorhandenen Umſtände ges 
gründeten Rechte und Pflichten Gelege und Einrichtungen des 
gejellichaftlichen Lebende. In Bezug: auf dieſe aber kommt die 
Dialektik ftet8 zu kurz bei dem Verſuche, ihre Verbindlichkeit aus 
ihrer unmittelbaren Herkunft von der Majeftät der höchſten ethi- 
ihen Ideen zu ermeifen. Der Einrichtungen, durch welche Diele 
Ideen mit nahezu gleicher Vollkommenheit in das Leben einge 
führt werden können, find im Allgemeinen mehrere; was Davon 
befteht oder beitand, ift allemal durch Satzung entftanden, denn 
auch die allmähliche Entitehung aus unbewußter Wechjelwirkung 
der Beblirfniffe fällt in dieſer Gtreitfrage mit unter jenen Be 
griff einer durch menfchliche Willkür begründeten Lage der Dinge, 
Diefe Herkunft der concreten Rechtsbildungen aber fchien das 
Maß ihrer Verbindlichkeit zu vermindern, umd je mehr die Grie 
chen fühlten, dadurch, daß fie auf bewußte Sakung und Aner⸗ 
fennung die Ordnung ihrer Gejellichaft gründeten, den übrigen 
Bölfern voraus zu fein, um jo näher drohte ihnen der Irrthum, 
das Anerlannte als ſtets widerrufliches Geſchöpf ihrer Willkür, 
ſich ſelbſt als nicht verpflichtet durch feine Gebote zu betrachten. 
Diefer Irrthum, der nie wieder aus der Gefchichte des politifchen 
Lebens verſchwunden ift, verwechſelt die Gebiete des Wiſſens und 
des Handelns. Wahrheiten Iaffen fich nicht befchließen, fondern 
nur anerkennen, wie fie an fich gelten, und fie gelten ſtets ganz 
und voll, nie halb und annähernd in Bezug auf das Wirkliche 
Das dagegen, was fein fol, ift nur durch allgemeine Ideen an 
ſich beſtimmt, die, fo wie fie find, nirgends Wirklichkeit haben, 
jondern allemal von menfchlicher Willlür eine beftimmte bejon- 
dere Geftalt erwarten, durch welche fie in die Wirklichkeit einge- 
führt werben. In diefem Sinne ift alles Gerechte Menſchenwerk 
und kann nur al8 folches befiehen. Und allerdings eignet ihm 
nicht die Heiligkeit, die jenen höchſten Ideen ſelbſt zufommt; es 
hat Anfpruch auf Achtung nur fofern e8 ihr Widerſchein ift; aber 








399 


e8 wird nicht unverbindlich und nichtig durch feine menfchliche 
Bermittlung, Die der einzige Weg ift, ihm überhaupt Wirklichkeit 
zu verſchaffen. Wer nur die höchſten Ideen felbft verehrt und . 
alles pofitive Hecht um feiner menfchlichen Zuthat millen ver⸗ 
ſchmäht, verkennt vollkommen die Arbeit und die Beftimmung des 
Menfchen in der Geſchichte. Unfere Inftitutionen find nicht 
dazu da, um durch ihre ideale Vollkommenheit den Engeln bes 
Himmeld zu imponiren, fondern innerhalb der allgemeinen Man- 
gelhaftigfeit alles Irdiſchen, innerhalb deren e8 allein menfchliches 
Daſein Gefellichaft und Geichichte gibt, follen fie Zeugniffe und 
Werke der menfchlichen Vernunft fein, die nach beftem Wiſſen umd 
Gewiffen, fo viel fie von dem Ideal verftanden hat, zur Kegel 
ihres Wirken in dem Kreife der gegebenen Umftände zu machen 
ſucht. Für dieſes Wert hat fie Achtung zu fordern, denn fein 
Werth ift nicht deshalb nichtig, weil er nicht der denkbar höchſte 
ft. Es ift Unvollkommenheit oder Rückſchritt der politifchen Bil 
dung, die menfchlichen Inſtitutionen unmittelbar als Ausflüffe 
göttlicher Offenbarung oder als geheimnißvolle Confequenzen eier 
metaphyſiſchen Weltordnung ficherer ftellen zu wollen; man ver- 
eiwigt dadurch, mas fchlieplih doch Menſchenwerk ift; auch bier 
ijt die menschliche Aufgabe, im Kleinen treu zu fein, und durch 
die relative Geltung deſſen, was eine abjolute nicht haben Tann, 
ſich ſoweit verpflichtet zu fühlen, als e8 unſre Beſtimmung ver⸗ 
langt, in der Stetigkeit eines geſchichtlichen aa eine ber- 
nünftige Entwidlung zu durchlaufen. 

Dieſer richtige politiiche Inſtinct fehlte den ſchönen Anfün- 
gen der griechiichen Staatenbildung keineswegs; e8 gab in der 
That eine Periode, in welcher, wie der Bildhauer die Schönheit 
des von feiner eigenen Hand geichaffenen Götterbildes anbetete, 
To andy das Volk die Geſetze, die es felbft fich gegeben, mit reli⸗ 
gißfer Scheu und Gewiſſenhaftigkeit achtete; erſt die Sophiftif einer 
verderbten Zeit erhob jene Streitfrage, deren wir gedachten. Den⸗ 
noch waren die Antriebe, fie zu erheben, ſchon früher vorhanden 
geweſen. So lange die Veberlieferungen gleichartiger Sitte noch 








400 


mächtig waren, unterftüßte die Gewohnheit die Scheu vor dem 
Geſetz, und fein Bemußtfein, es felbft geichaffen zu haben, ftand 
ihr noch erheblich entgegen; aber fchon den erften großen Gefek- 
gebungen Lykurgs und Solons läßt die Sage durch beſondere 
perfünliche Verpflichtungen des Volles gegen ihre Urheber fo viel 
Dauer verbürgen, als hinreicht, jene Gewohnheiten der Achtung 
wieder zu erzeugen; als fpäter gefellfchaftliche Mißſtüinde und im- 
mer wiederfehrende Leidenfchaften die Formen der üffentlichen Ord⸗ 
nung häufiger umgeftaltet hatten, hoben zwar große Staatsmänner 
die Heiligleit des Gefeges, obwohl und weil e8 durch Die freie 
Zuftimmung der Gemeinde geftiftet ſei, nachdrücklicher als je her⸗ 
vor, aber den Sinn des Volles überzeugten fie nicht mehr. Wie 
jeder Zeit, welche das Unglüd häufiger Berfaffungsänderungen 
erfahren hat, erfchten auch dem fpätern Griechenthum das politifche 
Leben als ein Tummelplag willkürlicher Satzungen und Verſuche 
ohne verpflichtenvde Kraft. 

Ueber die Ordnung felbft nun, die fie ftifteten, dachten Die 
Griechen anders als wir. Im den modernen Culturvölkern haben 
mancherlet Bedingungen, unter denen der Einfluß des Chriſtenthums 
voranfteht, ein veizbares Gefühl von der Bedeutung der menjchlichen 
Perjönlichkeit entwickelt. Nicht nur der edlere Geiſt fieht fein wahres 
Leben in jenen Beziehungen zu dem Ueberfinnlichen, die er Durch eigne 
innere Arbeit fi} gegeben, und wehrt von diefem Geheimmiß fei- 
ner Perjönlichkeit jede Zudringlichleit der Neugier und der Be— 
auffichtigung ab; auch dem einfacheren Gemüth ift diefer Indint- 
dualismus natürlich geworden und ohne ſich der Gründe feines 
Anſpruchs bewußt zu fein, fühlt e8 Etwas in fi, dem nachzu= 
fragen feine Macht der Welt berechtigt ift; in feinem Yamilien- 
leben wenigſtens, in feiner Arbeit feinen Lieblingsneigungen und 
Launen, verlangt jeder unbehelligt zu fein, und empfindet die Ein- 
ſchränkungen, die ihn da zum Wohl des Gemeinwejens treffen, eben 
als Einfchränfungen Uns erfcheint daher der Staat als das 
Ganze der Einrichtungen, welche geftiftet werden mußten, um 
mit Rüdficht auf die Bedürfniſſe des menfchlichen Lebens und 





401 


\ 


auf die Mittel, welche die irdiſche Natur zu ihrer Befriedigung 
bietet, die freie Entwicdlung der Individualitäten dauernd zu 
fihern, und es ift unfre ftille Borausfeßung, daß diefe Sicherung 
durch die Meinftmögliche Beſchränkung gefchehen müſſe, welche der 
Freiheit jedes einzelnen Mitgliedes der Gefellichaft noch geftattet, 
mit der jedes andern zufammmenzubeftehen. -Die Griechen lebten 
nicht in dieſer Schägung und theilmeis Ueberſchätzung der Per- 
fünlichkeit. Ihnen erjchienen die Menſchen überwiegend als ver- 
gleihbare Naturerzeugnifje, die Charaktere abhängig von dem 
Maße ver Intelligenz; daß eme dritte Macht in uns fe, ein 
Wille, ver im Guten und Bifen dem Hange der Natur und der 
Einficht widerftreben könne, lag nicht in ihren Gedanfen; wie fie 
dem Räthſel der Willensfreibeit, auf welche unfere Zeit das Per- 
ſönlichſte der Perſönlichkeit zurücdzuführen liebt, im Denken wenig 
nachhingen, fo widerftrebte e8 ihnen auch im Leben nicht, als 
gleichartige BVeifpiele der menfchlihen Gattung zu gelten. Ver— 
tiefung in die Arbeit, in die liberfinnliche Welt des Glaubens, 
in die fremdartigen Gedankenkreiſe, die das einſame Grübeln in 
den Culturreſten vergangener Zeiten findet, pflegt unter uns bie 
eigenfinnige Eigenthiimlichkeit der perfönlichen Entwidlung zu be 
günftigen. Keine diefer drei Quellen floß reichlich fiir die Grie- 
chen, und fo hatten ſie nur Wenige, was fie ald unverleßbares 
Eigenintereffe dem öffentlichen Leben zu entziehen Antrieb gefühlt 
hätten. Der politifchen Ordnung fegten fie daher nicht jenes 
reizbare Ehrgefühl des Individualismus gegenüber, mit dem jever 
Einzelne nach feinem eignen unvergleihbaren Maße gemeflen 
fein will; ihnen erfchten der Staat als ein Ganzes gefelliger 
Einrichtungen, durch welche allein der Menſch überhaupt erft iiber 
thieriſches Dafein erhoben, feine Lebensaufgaben ihm gejtellt, feine 
Erziehung fir diefe Aufgaben vollendet und die Summe der Rechte 
und Pflichten beftimmt wird, die ihm gegen feine Nebenmenjchen 
zuftehen. Gewiß fehlten dem griechiichen Bewußtſein weder bie 
allgemeinen fittlihen Ideen, noch Vorſtellungen privatrechtlicher 
Bilfigkeit und Gerechtigkeit; beide mußte nothmendig das Leben 
Soße, II. 3. Aufl. 96 








402 


entwideln; aber beider Ausbildung entſprach nicht an Bollftän- 
bigfeit der politifchen Theorie, und war nicht unabhängig von ihr. 
Die ſtets feftgehaltenen Unterſchiede zwiſchen Griechen und Bar- 
baren, zwifchen Freien umd Sklaven, Fremden und Gaſtfreunden, 
Freunden denen wohlzuthun, Feinden die zu haſſen zieme, zeigen 
an, daß die Griechen die eigentlich fittliche unter den vier Voll⸗ 
kommenheiten, die fie priefen, Die Gerechtigkeit, nicht in der all- 
gemeinen Gefinmmg des Menfchen gegen Menfchen, fondern in 
der Leiſtung deſſen fuchten, was die gefellichaftliche Stellung dem 
einen gegen den andern auflegt. In die pribatredhtlichen Ver⸗ 
hältniſſe aber griff die Staatsorbnung fo ein, daß fie mandye na-= 
türliche Befugniß jchmälerte, manche zur Pflicht fteigerte, überall 
mehr als die Duelle zu verleihender, denn als Anerlennung vor⸗ 
handener Rechte erſchien. Selbit ald der wirkliche Zuſtand Die 
Zügel des Gejeges nicht mehr fo ftraff anzuziehen erlaubte, zeigt 
ſich bei den erleuchtetiten Geiftern noch der Hang, das Schalten 
mit dem Eigenthum, die Wahl der Beichäftigung, die Ehe, die 
Erzeugung und Erziehung der Kinder und eine Menge anderer 
Berhältniffe von Staatswegen reglementarifch zu ordnen, die das 
moderne Gefühl nicht einmal zum Gegenftand öffentlicher Er- 
wägung zu machen verftatten wilde. Nicht überall wurde wie in 
Sparta auch die Mannigfaltigleit der geiftigen Entwicklung ge- 
hemmt; aber die Freiheit derfelben trat auch in Athen erft in 
der Zeit des politifchen Rückganges berbor; früher mar diefe Ent- 
willung von felbft in Uebereinſtimmung mit dem öffentlichen 
Geifte geweſen; wo fie ed nicht war, da wurde fie, wie mandhe 
religiöſe Meinungen, nicht als Sünde gegen einen heiligen Geift, 
fondern als Vergehen gegen eine der Bürgfchaften der ftaatlichen 
Ordnung unterbrüdt; Berbannung endlich Tonnte den Einzelnen 
entfernen, deſſen Daſein auch ohne feme Schuld dieſer Ordnung 
Gefahr drohte. 

Diefe völlige Unterwerfung des Einzellebens unter eine all- 
gemeine Regel ift doch nicht dem Alterthum allein eigen. Sie 
ehrt nicht nur in den religiöfen Gefellfehaften und Orden wieder, 





403 


in denen fie ihre befonderen leicht erfennbaren Motive in dem 
bußfertigen Gefühle hat; auch mo die biirgerliche Gefellichaft 
‚nicht mit der Einzelbeflerung vorhandener Uebel fich begnligen 
zu können, fondern ihre ganze Ordnung neu conftituiren zu müſſen 
meint, fehen wir in der Ausführung dieſes Vorhabens, die felten 
it, und im den Plänen zu ihr, Die häufig find, den Trieb zu 
diefer übermäßigen Bergejeglichung des Lebens herbortreten. Seine 
Wurzeln find hier verborgener. Eine geheime Verlodung Tiegt 
im dem Gemüthe des Menſchen, die ihn, der feine perfünliche 
Selbftändigfeit ſonſt eiferfüchtig wahrt, doch auch wieder antreibt, 
fich ihrer zu. entäußern und das Leben als Eremplar der Gattung 
zu verfuchen; die ftete Anſpannung der Kräfte, die ihm die Er— 
haltung feines individuellen Lebensplans nöthig macht, löſt fich 
auf und wird Erholung, wenn er mit dem Strome in vorge 
zeichneten Ufern ſchwimmt. Die Muthlofigleit, die im diefem An— 
triebe liegt, wird verdeckt durch den äfthetifch erhebenden Ein- 
drud, den der Gedanke einer ftrengen allgemeinen Ordnung ber 
menschlichen Angelegenheiten macht, und mas nur zum Theil fitt- 
liche Unterordnung, zum Theil Erfhlaffung war, nimmt ben be- 
friedigenderen Anfchein der Aufopferung an. Ziehen dieſe beiden 
Beweggründe auch den Glüclicheren zu einer Hinneigung flir 
gleihförmigen Lebensmechanismus herab, fo finden die Unter— 
drückten in ihm Die einzige Hoffnung auf Erhebung; er wird fie 
wenigftend als Eremplare der Gattung, als Einige unter Bielen 
mitgelten laſſen und ihnen eine Lebensftellung fichern, Die ihrer 
eigenen Kraft unerringbar war. Alle diefe Antriebe wirkten aud) 
in Öriechenland; die neidifche Sucht nach Gleichheit drängte mächtig 
von unten; aufopfernder Sinn fie Geſetzlichkeit kam ihr von den 
edleren Geiftern entgegen: fo gejchah es, daß Freiheit nur dem 
Sarnen zukam als Autonomie, ald Fähigkeit ſich felbft Gejege 
zu geben; fir ben Einzelnen blieb fie mım übrig als das BE 
wurßtfein, in allem Thun und Laſſen durch vernünftige DrdmungeR 
des Gemeinweſens beftimmt zu fein. 

Sefellichaft und Staat deckten einander fo faſt ganz, Pr 

26* 


404 


fie Titten beide unter diefer Vermiſchung. Hätte die Geſellſchaft 
‚eine beftändige ihren Bedürfniſſen ſtets entfprechende Ordnung 
verwirklicht, oder Könnte fie jo erleuchtet fein, jeden nöthigen Weber- 
gang aus einer Rage in die andere auf dem fürzeften und gered- 
teften Wege zu thun, fo hätte der Stant nur geringe Wichtigkeit 
neben ihr. Aber die Entwicklung der Geſellſchaft ift naturgemäß 
ein Kampf eigenfiichtiger Intereffen, die in dem Streben nad) 
Befriedigung die echte Anderer, damit die Bedingungen ber 
Wohlfahrt des Ganzen, und fchließlich des eignen Heil verlegen. 
Für dieſe Gefellichaft it der Staat an Stelle des Gewiſſens. 
‚Hüter eines ‚allgemeinen Rechtes, das über allen Einzelinterefien 
fteht, fchligt er den Zuftand, der bisher beftand, gegen jeden Ein- 
griff, der ihn als nichtig befeitigen möchte, und erlaubt jeder neuen 
Entwillung, ihn auf dem Wege Rechtens zu bejeitigen; Bewahrer 
ver Marimen, welche da8 Gemeinmwejen in feinem Benehmen gegen 
außen geleitet, ift er gegen die phantaftiichen Einfälle taub, Die dem 
Bolfe unpaflende geichichtlich ihm nicht zufallende Aufgaben ftellen 
möchten. Dieſem Gewiſſen nun ift e8 ſchwer zu Worte zu kommen 
und zu richten, wenn es in der That nur in den verjchtebenen 
Einzelgewiſſen der ftreitenden Parteien lebt und nicht in emer 
deutlichen Berförperung als dritte höhere Macht ihnen gegenliber 
ſteht. Der Gegenwart ift diefer Genuß allzu freigebig, dem 
Altertbum war er zu fparfam beſchieden. Die Monarchie ver- 
törpert nicht nur in der einen Perjon des Herrfchers, dem bie 
gemeine Eiferfucht der Privatinterefjen fremd ift, Die unparteiiſche 
Gerechtigkeit des Staates; fie ftellt nicht nur in den Behörden, 
deren ineinandergreifende Thätigkeit die Aegierung bildet, dem 
Einzelwillen eine deutliche Gliederung des allgemeinen Willens 
entgegen, ſondern in einer Ueberzahl niederer Beamten tritt die 
Autorität des. Stanted der Beweglichkeit der Geſellſchaft fehr 
häufig als überfläffige und ärgerliche Hemmung entgegen; ber 
größege Umfang ber Staaten endlich, die unüberfichtliche Verwick⸗ 
fung ihrer Angelegenheiten, die wiflenfchaftlich reiche Ausbildung 
deß Rechtes, alle dieſe Bedingungen ſetzen zur Uebernahme der 











405 


Regierungsgefchäfte eine fachmäßige Vorbildung voraus, durch 
welche fich die Obrigfeit, als die perſönliche Erfcheinung des 
Staates, von der Geſellſchaft abgrengt. 

Welche Nachtbeile auch diefe Abgrenzung haben mag: der grie- 
chiſche Staat, der fie nicht kannte, Titt von ihrem Mangel. Wenig 
zahlreiche ehrwürdige Behörden, hervorgegangen theil® aus ber 
natürlichen Ariftofratie des Alters, theild aus der noch geachteteren 
der edlen Geburt, theil aus der des reichen Grundbeſitzes, ftan- 
den Anfangs regierend und richtend dem Volle gegenüber, bie 
alten Traditionen der Gerechtigkeit und Bildung zu vertreten. 
Der Fortfchritt der demokratiſchen Gefinnung und die zunehmende 
Macht des beweglichen Keichthums vwerwifchten alle jene Vorzüge. 
Die mangelnde Achtung vor eigener Arbeit ließ Teine Berufskreiſe 
entftehen, die der Gefellichaft eine ftändifche Gliederung gegeben 
und ihr eine Bertretung der verfchiedenen großen Intereſſen des 
menfchlichen Lebens nahe gelegt hätten; immer mehr fühlte jeder 
fih nur als Staatsbürger ſchlechthin, das Voll in feiner Ver— 
ſammlung fich identifch mit dem Staat; die Obrigfeiten, deren 
Anzahl zu vermehren die wachlende Eiferfucht und das Streben 
nad) Gleichberechtigung aller antrieb, traten in die Stellung von 
Geſchäftsführern einer Gefellichaft zurück, die in ihrer Beſchluß— 
faffung durch keine Achtung vor einem ausgebildeten allgemeinen 
Recht, fondern nur durch Traditionen der Vergangenheit, ſoweit 
fie vor dem Intereſſe des Tages zur Geltung kamen, gezügelt 
und von der Beredtſamkeit einzelner Führer zum Guten und Böfen 
getrieben wurde. Die Kämpfe, welche unter der Aufficht bes 
Staates die Geſellſchaft durchzufechten hätte, wurden fo auf das 
politifche Gebiet felbit biniiberverfegt und gefährdeten, indem jebe 
Partei das Staatsruder zu erfaffen fuchte, den Beſtand der Ber- 
faffungen und die von ihr mehr als billig abhängigen privatrecht- 
lichen Berhältniffe beſtändig. Der Kampf der Barteien nahm 
ſogar eine einförmigere Färbung an, al8 nad fo vielem Glanz 
geiftiger Bildung zu vermuthen war; er wurde ſchließlich nur 
noch zwiſchen Reichthum und Armuth gefiihrt, endete in Sparta 


‘ 


406 
mit dem unerträglichen Mebergewicht weniger reichen Familien, in 
dexen Hände aller Grundbeſitz des Landes gerathen mar, in Athen 
mit einer Herrjchaft der mittellofen Menge, die der abnehmenden 
Zahl der Wohlhabenden alle die Staatslaften zumälzte, die großen- 


theils aus ihren eigenen Beichlüffen entftanden und der Befrie- 
digung ihres Eigennutzes und ihrer politifchen Eitelfeit dienten. 


Zwwiſchen Griechenland und der Gegenwart fteht Nom; 
auf jenes find die Blicke der gebildeten Geifter oft zurückgewandt 
geweien, um Belehrung und Erhebung zu juchen; mit dieſem allein 
fteht die politifche Entwicklung der modernen Welt in wirklichem 
urjächlihen Zuſammenhange, theil8 durch manche einzelne ge 
Ihichtlihe Bande, deren bier nicht zu gedenken ift, theils durch 
eine große geiftige Erbichaft, die nicht wieder verloren gegangen 
it. Die Ausbildung des Rechts, der Rechtswiſſenſchaft und Des 
allgemeinen Rechtsbewußtſeins, hat der modernen Gefellichaft eine 
Grundlage gegeben, durch die fie auch in ihren Verirrungen fich 
noch wejentlih von den Staaten des frühen Alterthums unter- 
icheibet; und diefe Grundlage ift römifche Erbſchaft. 

Ein lebhafter gefelliger Trieb und die Neigung zu fpecula- 
tiver Uebung der Erfenntniß hatten die Griechen befeell. Der 
eritere leitete fie an, vor allem in Theorie und Prarid den voll- 
jtändigen Bauplan einer gejellichaftlihen Ordnung zu fuchen, Die 
ihren Bedürfniſſen der Mittheilung, des menjchlichen Verkehrs, 
des fich Geltenmachens unter ihres Gleichen, am meiften und 
Dauerndften Befriedigung gewährte; die andere Neigung führte 
fie zur Anerkennung und Sonderung fittlicher und äfthetifcher 
Idealbegriffe, die als höchſte Wufterbilder den Inhalt des ſchönen 
und würdigen Lebens beftimmten, welches fie al8 Ziel der menjch- 
lichen Entwicklung betrachteten. Keiner diefer beiden Gedanlen- 
freife begünftigte die Entwicklung des Rechtsbewußtſeins. 

Eigenthimliche Gefühlserregungen begleiten das billigende 








oder veriverfende Urtheil unſeres Gewiffend un 
aus fir verjchiedene Klaſſen der beurtbeilten : | 
für jede einzelne Klaffe derjelben. Unſere Bil | 
ft nicht eim bejahendes Urtheil ſchlechthin, 
andern, in welchem die Billigung bes Guten I 
das Object unterfchiede, welchen es gilt; fi 
der Art nach andere Erregung unfered ganzen 
eine andere die Anerfennung des Gerechten in 
des MWohlwollenden und Gütigen. Diefen fu 
den und das Beurtheilte macht, oder objectiv d 
des MWerthes, den wir ihm zufchreiben, drücke 
Namen des Guten Schönen Gerechten aus, 
gar Feine Antwort auf die Frage, wie denn ci 
müſſe, um jenen Eindrud zu madyen md in | 
Werth zu verdienen. Aus der der des Sci 
feine Aeſthetik das Einzelne entwiceln, dem 
fommt, und gleichwohl iſt nur dies Einzelne ſch 
gemeine Begriff des Schönen; die Idee der | 
nicht zur Kenntniß der Form, des Handelns, di 
wenig als der Begriff der Niglichkeit, dem 
gleichartig iſt, darüber aufflärt, was nützlich fe 
Borliebe für diefe inhaltleeven Allgemeinbegriffe 
tiſche Deduction aus ihnen nöthigt daher theil 
woraus man ableiten könne, in fie eimen Inh 
ein gebildeter Geſchmack, eine glückliche Infpirattı 
der paffend Tiefert, den aber feine umfichtige Bi 
Einzelnen als fiher nnd erſchöpfend verbürgt, 
die einzelnen Fälle, in denen das unbefangene €! 
feit jener Werthbeitimmungen anerfennen muß, d 
in em vorentworfened® Schema zu fügen, beide: 
fahr flir Die richtige Schäßung dieſes Beſondern, 
jenes Allgemeine allein Wirklichkeit hat. 

Bor diefer Gefahr ſchützte Die Römer ihr I 
Iativem Trieb. Daß es einen einzigen ewigen a 


’ 
—— — 
t 





gebe, um deswillen, mehr oder minder mittelbar, jedes Recht Recht 
jet, davon waren fie ebenfo kräftig überzeugt, als die Griechen; 
aber e8 kam ihnen nicht bei, dieſen Grund in Geftalt einer Idee 
des Rechts an fich zum objectiven Mbleitungsquell der beſonderen 
Formen des Gerechten zu machen; fie kannten ihn nur als Ein- 
ftimmigfeit der praftifchen Vernunft mit ſich jelbit, welche Ver⸗ 
nunft ihren Geſammtgedanken niemal® auf einmal ‚ganz aus- 
Iprechen Tann, aber, in Bezug auf einzelne Verhältniffe befragt, Ent- 
ſcheidungen der Billigung oder Mißbilligung gibt, die alle unter 
einander folgerecht zufammenhängen. Dieſes Organ der Rechts⸗ 
findung beuteten fie aus und gelangten fo auf demſelben Wege, 
auf dem bisher. jede Wiffenfchaft ihren Inhalt erlangt Kat, in 
den Befiß einer Menge von Rechtswahrheiten, welche zumächit 
ſich auf fehr Tpecielle VBerhältniffe des Lebens bezogen, in dieſer 
Bereinzelung aber dem natürlichen Rechtsbewußtſein unmittelbar 
viel ebidenter waren, als fie Durch ihre Ableitung aus einem All- 
gemeineren mittelbar hätten werden können. Als die Anhäufung 
des jo gewonnenen Kechtöftoffes es lohnte, und. veränderte Lebens⸗ 
gewohnheiten es nöthig machten, entwidelten fie großen Scharf- 
fin in der Auffindung der nächſthöhern allgemeinen Grundſätze, 
welche den einzelnen Gruppen der Rechtsſätze zu Grunde lagen, 
der Analogien, durch welche neue Dbjecte rechtlicher Beurtheilung 
unter die Regeln bereits bearbeiteter Fälle ſich unterorbnen ließen, 
endlich im der Abmeſſung ber mwechfelfeitigen Correctionen, welche 
verſchiedene in demfelben Falle fich durchkreuzende Grumbfäße ver- 
langen. Aber als fie zulekt, zum Theil durch den ſyſtematiſchen 
Geiſt der griechiichen Philofophie angeregt, die höchſten Principien 
auszudrücken verfuchten, auf denen ihr reicher Beſitz beruhte, haben 
fie fo wenig als die ganze fpütere mr etwas Enticheiden- 
des und Fruchtbares gefunden. 

- Diefen inductorifchen Sinn, der ſich an dem ſicheren Beſitz 
des Einzelnen allenfalls genügen läßt, wenn er das geſuchte All- 
gemeine nicht findef, aber Nichts von dem Allgemeinen hält, aus 
dem das Einzelne nicht zu gewinnen ift, unteritligte die Eigen⸗ 








av 


. thiimlichleit des politifchen Triebes der Röm 
bebiirfniß, wie fiir die Griechen, denen außerh 
fein menfchliches Leben denkbar fchien, war ber 
meinwejen nicht; am mwenigften erwarteten fie 
leihung oder Begründung ihrer perfünlichen 
hafte Bewußtſein der Ießtern, . alles deflen, ı : 
einzelnen Mannes als ihr natürliches Machtge | 
die Familie, deren Haupt er ift, ımd auf die | 
feiner Hand hat, in Anſpruch nimmt, ging a 
gungen voraus; dies Recht konnte nicht von ira ı 
fondern follte von Jedem anerkannt erben. 
Leben die Unmöglichkeit ungefchmälerter Durch : 
ſprüche und nöthigte zu gefellichaftlichen Ver | 
Ordnung der Gefellfchaft verlieh nicht Rechte : 
Iofe Subjecte, fondern entitand durch den Berz | 
zelnen auf eimen Theil ihrer Rechte leifteten. : 
auf der Einſchränkung der Ausübung principiell ı 
auf der Gewährung neu geftifteter Rechte Es 
einzufchalten, daß diefe Betrachtungen nicht die 
jtehung des römischen Staates, zu der, wie zu ı: 
riſchen Creigniffen, manderlei Gründe zufamm: ı 
follen; fie heben nur eine berrichende Gefinmum 
wir meinen, daß fie die römiiche Welt belebt 
Geſinnung, die zu einer mufterhaften Ausbildung 
und zu einer nichts weniger als abgefchloffe: 
Staatsrechts führte. 

Die wechfelnden Verhältniſſe, in welche der 
einzelne Berfonen zu einander bringt, find die rı 
des fich entwidelnden Rechtsgefühles. Täglich 
ſprüche Verſchiedener zufammen, fei e8 in der % 
Objecte, oder in Bezug auf Gegenleiftungen und 
die das Thun des Einen dem Andern aufle: 
Häufigkeit des Vorkommens gleichartiger und d 
Fälle fichert die richtige Beurtheilung; der balı 





410 


Mißerfolg eines falfchen Urtheils befchleunigt feine Verbeſſerung; 
die Beſorgniß, im nächiten Augenblide von derſelben faljchen Be 
ſtimmung zu leiden, unterdrückt die felbitflichtige Neigung, fie zu 
eignem Bortheil dennoch zu behaupten; von jelbit erheben ſich aus 
ber großen Anzahl der Beſonderheiten allgemeine Gejichtspuntte, 
von denen aus die Analogie neue Fälle zu beberrfchen vermag; 
und zugleid, lehrt die häufige MWieverholung den Irrthum er: 
fennen, den man durch unrichtige Gleichſetzung des Verſchiedenen 
beging, und fehärft jo die Diftinction des nur fcheinbar Gleichen. 
In diefelben oder doch ähnliche Berhältniffe führt ferner der 
Lauf des Lebens die verjchiedenften Subjecte, folche, Die ein enges 
Band der Pietät, folche, Die nicht einmal das Iofefte der Belannt- 
ſchaft verfnüpft, und die auf Fein beftimmtes mechjelfeitiges Wohl- 
oder Mebelmollen zu rechnen Grund haben. Um fo leichter wird 
es, die Regelung des Verhältniſſes, Die rechtliche Beſtimmung der 
jevesmaligen Wechfelleiftung von der Rückſicht auf die Geſinnung 
zu trennen, und fie ald das zu fallen, was Die Natur des Verhält⸗ 
niffes ſelbſt, ſofern e8 zwiſchen Menfchen vorkommt, denen auflegt, 
die in ihm ftehen, gleichviel welches fonft ihre Beziehungen zu ein- 
ander find. So fcheidet ſich allmählich Sitte und Recht, umd es wird 
klarer, wie viel von dem Gebote der Sitte durch die fachliche Natur 
des vorliegenden Yalles gefordert, und welche Mehrungen oder Min- 
derungen Diefer Forderungen eine freiwillige Zugabe der Pietät 
find. Und nicht nur die Mannigfaltigleit der Perjonen , zwiſchen 
denen privatrechtliche Beziehungen entitehen, fondern auch Die maf- 
Iofe Berjchiedenheit der Objecte, auf welche fie fich beziehen kön⸗ 
nen, it von Wichtigkeit. An einzelne dauernde oder in ihrer 
Art einzige großartige Objecte und Einrichtungen der Natur kann 
der Aberglaube leicht eine myſtiſche Bedeutung knüpfen, welche 
ihre richtige praftifche Behandlung ftört;. die ungemeine Menge 
der Dinge, Die, höchſt verſchieden profaifch unbedeutend an ſich 
doch jeden Augenblick Gegenftände ftreitender Anfpriche werden 
können, laſſen dieſe faliche Beleuchtung nicht zu; man gemöhnt 
ih in ihrer Handhabung, Sachen ald das was fie find, nicht 














De 
k 


EL 


ald Symbole für. Anderes anzufehen, und ud 
handlung darin, mit ihnen zu. verfahren, wie 
gefchehen muß, um borhandene Anfprliche co 
und dauernd ald möglich zu befriedigen. 

Die Organtifation der bürgerlichen Geſe 
die durch Beichränfung verträglich gemachten ' 
gewährleiften und wirkſam gegen außen chi 
Natur nach das entlegenfte Ziel, dem fich 
nähern kınn, dem Bedürfniß nach eines der 
reichen müßte Ihre Feſtſtellung begegnet gan 
keiten al8 Die der einzelnen privatrechtlichen 
Tann fie nicht wie dieſe im unzähligen Beifpie 
Nachtheile eines feitgefegten Irrthums zeigen | 
Zeit und. find nicht leicht uf ihre Du 
fie fol bleibende Verſchiedenheiten der Ständ 
hältniffe zufammenfaffen und vermeidet deshalb 
die aus dem bleibenden aber ungerechten Int 
ſellſchaftsllaſſen hervorgehen; fie entzieht fich 
meinen Borurtheilen, die in Bezug auf die Ve 
licher Lebensjtellungen und ihre gegenfeitigen V 
die Sitte gefchichtlich hergebracht find; fie fo 
die Summe der Privatrechte fondern auch Die 
bältniffen mit abhängige Wohlfahrt des Gamı 
außerdem durch ihre Einrichtungen dem Ehr— 
feitsprang Des Einzelnen eine pofitive Befr 
Diefe Aufgaben find unter ftets, wenn auch la 
den Umftänden zu Iöfen; ihre richtige Beurt 
Parteiinterefien ſtets geftört, die nicht fo wie 
Berhültniffen durch die Belichtung, im näch 
Nachtheil unbilliger Entjcheidung felbft trager 
dem Beſtehen auf der Unbill abgehalten mer 
recht konnte daher früh ald eine in der Natu 
Verhältniſſe begrlindete, ihnen eigne, unmant 
ericheinen; das Staatsrecht erſchien ebenjo 





412 


unabichliegbare menfchliche Uebereinkunft. Wurde Doch auch jenes 
in Rom nicht don Staatöwegen feftgefeßt, jondern durch das 
Gutachten von Sachverftändigen als von Organen des natiirlichen 
Rechtsbewußtſeins gefunden, während viele ftantsrechtliche Be 
ftimmungen gerade bier den Charakter eines Vertrags zwischen 
ftreitenden Parteien haben, deffen Inhalt nicht von Natur fondern 
dur; den vereinigten Willen der BVertragenden auf Widerruf 
gültig iſt. 

Die Hingebung an das Gemeinmwefen war troß diefer andern 
Begründung deſſelben in Rom nicht geringer als in Griechenland. 
Nachdem einmal duch Berzicht Aller auf ihre Unbeichränftheit 
die. Ordnung der Gefellichaft gebildet war, hing ihr der Einzelne 
nicht blos an, weil fie feine Intereſſen mit vertrat; die Em- 
pfänglichfeit für die Größe und Macht, welche nur die Gelammt- 
heit erreichen konnte, der Stoß auf die vollbradgten Thaten und 
das Bewußtſein der männlichen Tugenden, die jene Ordnung 
zum allgemeinen Xebenselement gemacht, erwarben dem Staate 
die aufopfernde Zuneigung der Bürger und jenen unmeigerlichen 
Gehorfam, mit welchem fie mandye Mängel der Berfaffung er- 
trugen und mehr al8 einmal dringende Befchwerden ohne erlangte 
Abhülfe fallen ließen, wenn die Obrigfeit das Formelle des Ge 
ſetzes gegen fie wandte und fie zu Leiftungen aufrief, Die jene 
Beſchwerden zu verfolgen hinderten. Die politifchen Stürme ber 
fpätern Zeit haben in Gewaltftreichen freilich jedes Necht miß- 
achtet, aber auch das Kaifertfum war dody feine Rückkehr zu 
aſiatiſchem Despotismus. In Wahrheit mar vielmehr von nun’ 
an das Leben der Menjchheit auf das Bewußtſein unveräußer- 
ficher Rechte gegründet, die zwar von dem zeitmeiligen Träger 
der politifchen Gewalt manche Beugung im Einzelnen erfahren 
fonnten, aber ohne daß ihre Gültigkeit principiell wieder in Frage 
geftellt worden wäre. 

Wir haben es angemeſſen gefunden, daß der Gefellichaft 
gegenüber . Die perfünlichen Rechte als anzuerlennende und zu be 
jchräntende, nicht als von ihr zu verleihende erfchienen. An fid 





ft dieſe Urfprünglichleit derfelben wohl fein 
danke; wir haben von Natur nur Fähigkeit 
das, was wir zuerſt als Pflicht gegen Ander 
auch als Pflicht des Anderen gegen uns betr: 
Auffaffung führt leichter dahin, das Hecht al 
faflen, an dem die Menjchheit iiberhaupt Theil 
In die Beſchränkung urfprünglicher Rechte w 
gegenüber, der den Willen zu gleicher Ver 
alfo gegenüber den Genofjen derfelben Rechte; 
wärtigen kommt die Theilnahme an dem Re 
Aufnahme in diefen Verband zu, und dieſe 
zu geitatten bleibt der Sitte und dem Vorurt! 
Einklang hiermit, ohne gerade dadurch allen 
jteht die politiſche Entwicklung Roms. Seine 
gemeinde wurde zwar durch den Kauf der Din 
dem beimilchen Recht, nach dem fie felbft lebt 
den Verkehr mit Nichtblirgern zu bilden, aber 
wachjenden Menge der Unteriworfenen gegeniib 
einzige Gebieterin, umd nur langſam breitet: 
Bürgerrecht über die Provinzen aus. Bis dal: 
zum Nuten der Hauptitabt ausgebentet und 

Tyrannei ihrer Beamten preißgegeben geweſen, 

fatferliche Imperium dieſe Bevorzugung der | 
wurden doch die Bande der SHaverei nicht | 
großer Theil der Bevöllerung jchmachtete. 

Nach langen „gefchichtlichen Wandelungeı 
römifche Recht die nationalen Rechtögewohn 
Bölfer wieder. zu bejchränten an. Es begeg: 
mals argwöhniſcher Abneigung, jondern noch 
Untergang vieler aus dem tiefften Geifte der Nat: 
Rechtsanſchauungen vorgeworfen. Es Tiegt mw; 
dieſer Meberficht ab, die Gültigkeitsgrenzen dieſe 
ſtimmen; uns kommt es mehr darauf an, der 
zu gedenken, welche nicht ſowohl die Einführ 


/ 


— — — — m. _— — — — —— 





u i A UN —— f 


414 


Rechts, als die Durchdringung aller Lebensverhältniſſe durch ben 
Get der von Rom ausgegangenen' Iurisprudenz gehabt - hat. 
Ihm haben mir zu danlen, Daß zwar die poetifchen tieffinnigen 
und das Gemüth anregenden Formen der Rechtspflege und ber 
Gerichtshegung, mit ihnen zugleich aber die rohe Gerechtigkeit 
verſchwunden ift, die umter fo phantaftifchen Gepränge gelibt 
wurde; feiner nüchternen Haren Logik ift zu danken, daß nicht 
mehr vollendete That, begonnener Berfuch, entfernte Abficht, deut- 
liche oder nur vorausgeſetzte noch thatloſe Geſinnung, ununter⸗ 
ſchieden den Gegenſtand einer einzigen Beurtheilung bilden; daß 
nicht ‚mehr unabgeſtufte enorme Strafmaße die verſchiedenen Ver⸗ 
gehen treffen, wie es Damals die Sitte, hierin ſtets überſtreng 
oder Beifpiele der biblifchen Gefchichte, einem aufgeregten an 
Diſtinctionen nicht gemdhnten Rechtsgefühle zu gebieten fohtenen. 


Durch die Stürme des beginnenden Mittelalters hindurd) 
hatte ſich nur in der Kirche ein Gedanke an die Zufammenge 
hörigkeit der Menjchheit Iebendig erhalten; auch er betraf indefien 
mehr das gemeinfame Ziel im Himmel, al8 den geordneten Aus⸗ 
tauſch der Wechfelmirtungen auf Erden. Das Kaiſerthum ver- 
fuchte Später mit ſehr unvollſtändigem Erfolg, die gefittete Chri- 
ftenheit wenigſtens auch politifch zufammenzufaflen; das Bewußtſein 
der allgemeinen wmenfchlichen Gefellichaft von fich felber war in 
der Menge der Völlerbruchſtücke, die mit Schwierigkeit und ohne 
Ueberſicht ihrer gegenfeitigen Lage gegen einander vangen, zu 
Grunde gegangen; es gab zwar Familien nnd Gefchlechter, Cor⸗ 
porationen und Gemeinden, Vollsftämme und Keiche, aber keine 
politiſche Bildung, die den Namen eines Staates verdient hätte. 
Aus dieſer Zerfahrenheit in Sonderexiſtenzen, die ungenchtet 
mancher ſchönen einzelnen Blüthe doch dem Wachsthum der Cul⸗ 
tur nicht förderlich war, riß die Gefellichaft erſt der auffommende 








415 


Abſolutismns der Fürftengewalt heraus, die | 
der Städte die Unabhängigkeit der Vaſallen 
diefe früher Die der gemeinen Freien vernicht : 
nach langem Kampfe auf einem großen 3 | 
war, konnte der Fürſt fich nicht mit Unred 
identificiren, denn das ftaatliche Band des Ga | 
in jener Perfünlichleit. Und dies zwar nicht | 
die Einheit feines Willens maßgebend war 
Theil des Inhalts, an deſſen Gemeinfam 
Bewußtſein ſich kräftigte, ging von ihm aus; $ı 
Berückſichtigung wirklicher Bedürfniſſe des Gar 
Sonderintereſſe geführt, gewöhnten doch die Bi | 
haft in fih und an jenen abichließenden Nati 
fein beginnender Staat groß wird; vielfache : 
Kunſt und Wiffenfchaft, obgleich aus Neigung | 
und andern mißleiteten Antrieben entfprungen, 
die Bildung durch die veichen Mittel, die ihr: 
ftellt wurden. 

Die Lage der Geſellſchaft wechſelte allerdu 
art und Einficht der Herricher; dennoch war 1 
feine Rücklehr zu dem Despotismus des Orten: 
von der Herrſchermacht wurzelte, wie ſonder 
und da ſich ausbildete, doch in Gebietern un 
andern Grundlagen. Der Fürſt war weder de 
ganzen Landes noch der alleinige Duell aller 
dann nicht Rechte fondern Gnadenverleihunge 
wie ſtarke und rohe Eingriffe auch in Diefes € 
den, fie gefehahen entweder als Gewaltſtreiche, 
vorher erlaffene Verordnungen begründet, Die, 
kürlich in ihrem Inhalt, doch bezeugten, daß nid: 
geundlofes Urtheil, das erft nach dem &efchel! 
und nur den einzelnen Ball trifft, fondern ein 
ſchrift, die das Zukünftige bedingt, Die Frege 
fein folle. Aber nicht blos die Gewalt der $ 





Diefer nicht zu umgebenden Anerkennung allgemeiner Rechte eine 
Schranke, fondern auch die Ansprüche ihrer Majeftät konnten als 
Unterlage die Achtung vor dem Volke nicht ganz entbehren, über 
welches fie fich erhoben. Es war nicht allem die Vornehmheit 
der Abftammung, die das Fürftenthum adelte, oder eben dieſe 
Vornehmheit jelbit beftand in Der Meberlieferung des Herrſchens, 
deſſen Werth und Würde fi) nach dem Werthe feines Gegen- 
ftands richtete. Nicht immer wurden daher die Hillfsquellen der 
Völker zu ihrem eigenen Beften, nicht ausichlieglich aber zu dem 
perſönlichen Nuben der Gebieter verwendet; das Bedürfniß wurde 
gefühlt, dem Namen des Landes Glanz zu geben, den man trug; 
unter diefem Namen vwerbarg fich der wieder auflommende Ge— 
danke des Staates, als deſſen Vertreter der Fürſt fich nach außen 
bin fühlte, während ihm dieſes Bemußtfein leichter im Verhältniß 
zu den Unterthanen abhanden kam. Ein bevormumdender Zug’ tft 
daher dieſem Abjolutismus eigen, und jehr zahlreich find- die Bei— 
ſpiele von Fürſten, welche die ganze Kraft ihrer Völker fiir Zwecke 
verwendbar zu machen fuchten, in denen fie nicht ihren perfün- 
lichen Vortheil, jondern den des Ganzen zu fehen glaubten; leicht 
begreiffich der fpätere Uebergang in die vielregierende Büreau— 
fratie, deren Gefchäftigleit weder dem Fürften noch der Wohlfahrt 
des Volkes Tonderlich zu ftatten kam, aber doch zur regelmäßigen 
Erhaltung jenes Staates erforderlich ſchien, deſſen Begriff feine 
richtige Stellung weder zu dem der Gefellichaft noch zu Dem der 
Regierung bereits gefunden hatte, 

Die Achtung vor der Fürftengewalt gründete fi in Den 
Gemüthern der Untergebenen jehr wenig auf allgemeine Lleber- 
zeugungen über die nothmwendige Ordnung der menfchlichen Dinge, 
und nicht ausſchließlich auf jene Pietät, welche die lange Gewohn⸗ 
heit des Zufammenlebens erzeugt. Wie fat -alle Schöpfungen 
des Mittelalters, jo beruhte auch jede Machtfülle auf gejchicht-” 
licher Ueberlieferung, ihre Berechtigung Begrenzung Erweiterung 
auf Berträgen Zugeftänpniffen Thatjachen, die, immerhin durch 
Gewalt herbeigeführt, nachdem fie einmal beitanden, wieder einen 





Nechtözuftand begründeten, der durch Berjähru ı 
Zange Hatten fo die Gerechtigfeiten der Einzel: 
gegen einander geftanden; als endlich Die Obergei : 
und fo weit fie fiegte, war auch fie wieder ein 
rechtigkeit, Die num in Die Gefchichte eingetreten 
fortwirkte. Auch die Kicche, wenn fie abmechfelnd || 
rität bejtätigte und befehdete, handelte nicht im | 
ner Rechtögrundfäße, jondern verfuhr Durch ein 
Thatſachen des Bindens und Löſens. Diefe al: 
der Zeit, die Verbindlichkeit eines vorhandenen 

aus einer allgemeinen Duelle alles Rechtes, fc 
Begründung durch die thatfächliche Gültigkeit |: 
berzuleiten, beglnftigte Die Entjtehung des Be | 
mität, einer Rechtmäßigkeit, die nicht auf natürl 
Recht, ſondern auf der gefchichtlichen Anhäu 
Rechte beruht. In der That ift Daher der Au 
timen illegitim, obgleich nicht zugleich unrechtli 
Beginn einer Gewalt aus fittlichen Triebfedern 

allfeitiger Uebereinkunft entjpringt, eignet doch ı 
rakter der Legitimität nur ihrem ſpäteren Fortbeſ 

In dem Maße, als ver Abfolutismus dei 

zwilchen den einzelnen Gliedern des Staates E: 
Zwiſchengrenzen aufhob, die ihre Wechfelmirkunge: 

er bie Sefellichaft fich als folche fühlen, und erre | 
gehende Beitrebungen, die feinem eigenen Beltant : 
den. Er hatte feine natürliche Aufgabe nit 
obwohl beitrebt, alle Kräfte des Volkes zu unmi ı 
dung des Staates ‚heranzuziehen, und deshalb ©: 
geordneten Rechtögewalt, die ihm diejelben theilt 
er doch nicht alle Diefe Hinderniffe ferner eigenen (i 
die zugleich Hemmniffe der freien Bewegung 

waren, und bie, wie er, auf geichichtlichem Herl 
aber nicht wie er im Stande waren, ihr Dei 


Dienfte, die fie dem allgemeinen Fortſchritte I 
Loge, III. 8. Aufl. 


III KEN 





418 


fertigen. Als nun der Kampf begann, trat in ihm bewußter als 
je vorher der Gegenfag eines umbebingten natürlichen und eines 
geichichtlichen Legitimen Rechts als Streitpuntt berbor; Die Partei- 
nahme filr eine8 oder das andere theilt noch Die Meberzeugungen 
unferer Zeit in Bezug auf die politifche Conftitution des Staates, 
in Bezug auf wöllerrechtliche Verhältniffe, in Bezug endlich auf 
die erziehende gebietende und firafende Gewalt, welche die Ge— 
ſellſchaft fich felbit über ihre Mitgliever zufchreibt. Dieſen fort- 
wirkenden ragen wenden wir noch einige Augenblicke unſere 
Aufmerffamteit zu und fchmweigen von der unermeßlichen Fülle 
verſchiedener focialer und politifcher Geftaltungen, welche Die Zeit 
zwiſchen dem Alterthbum und der Gegenwart gefüllt haben. 


Bon dem menfchlichen Gejchlechte fprach ſchon der Römer, 
wenn er feinen Bli über den Gefichtöfreis feines Reiches hin- 
aus auf den gleichartigen Anlagen ruhen ließ, mit denen bie 
Natur alle Bölfer ausgeftattet und zu eimer Einheit vorausbeftimmt 
zu haben jchien. Der chriftlichen Auffaffung ging Diefer Begriff 
in den der Menfchheit liber, Die nicht vorzugsweis Durch gleiche 
Naturgaben zu gleichem Genuß und Leiden, fondern durch gleiche 
übernatirliche Beitimmung zu dem zufammengefeßten Ganzen eines 
vielfach gegliederten Xebens berufen war. Den Namen der menjch- 
lichen Gefellfchaft endlich zieht die Gegenwart vor und deutet 
damit eine neue Aenderung der Anſchauungsweiſe an. Im dem 
Begriffe des menjchlichen Geſchlechtes überwog der Gedanke eines 
Allgemeinen, welches als Naturanlage den Einzelnen zu feinem 
Beifpiel, in dem der Menfchheit die Vorftellung eines Ganzen, 
das ihn zum Mittel feiner Verwirklichung macht; in der Gefell- 
ihaft tritt offen der Einzelne als Ausgangs und Mittelpimit 
hervor; fie ift nicht damit fie felbft fei und ihre Ordnungen find 
nicht Selbfizwede; fie wird gefchloffen und bildet ihre innern 
Verhältniſſe als Mittel, um theils die Mängel und Unzulänglich- 


319 


feiten der einzelnen Berfünlichleit auszugleichen, t 
derfelben zu wechſelſeitigem Vortheile zu verwer 
meine Ordnung aber, die aus ihrer Gliederung 
nur nad) dem Maße geſchätzt, in dem fie zu ei 
dad zu den Einzelnen zurückkehrend von biel 
noflen wird. 

In dem umverholenen Ausdrude diefer. Ve 
nicht ſelten auch Wohlmeinende einen ſtilldrohen 
gegen faſt alle die Formen, in denen fi Das 
bon jeher bewegt hat und noch jet fich bewegt: 
jegungen der Sitte, die in den Verhältniſſen der 
Verlehrs die Willkür der Selbitbeitimmung ei 
die itberlieferte Achtung vor dem Recht des Eig, 
gleich gegen jede Hinderung feiner freien Ausii : 
Zufammenfaffung und Scheidung der Völker dur 
Rüdficht auf foctale Bedürfniſſe entftandene Abgı 
den opferiwilligen Gehorfam, den der Staat alt 
Berbindlichleit feinen Bürgern, Generationen a 
auferlegt; gegen die Verpflichtung überhaupt, geſchi 
Zuftände zu achten, die dem augenblidlichen 2 
ſprechen; gegen Alles endlich, was die ſouveraine 
fellichaft, ihre Lage in jedem Augenblide von n 
in Frage ftellen könnte. Crränge diefe Anfchar 
tifche Geltung, fo fchiene fie mur die Duelle 
und Meiſterloſigkeit werden zu können, die fehr X 
Güter der Humanität wiirde zum Verſchwind 
gegenüber ſei die unbedingte Autorität an fich ver 
men des Daſeins aufrecht zu erhalten, Denen 
Glückſeligkeitsſtreben ſich als einer göttlichen Dr 
werfen habe. | 

Und allerdings, in Frage geftellt wird durch 
jenes alles; aber nicht um verneint, fondern meilt 
Gründen als bisher bejaht zu werben. ‚Die mol 
von der Geſellſchaft und ihren unverjährbaren 9 


A Dt‘ - 





420 


gefeßgebung it nicht neu ihrem Inhalt nad, fondern nur neu 
ald die endlich mit völligem Bewußtſein formulirte Faſſung einer 
Borausfegung, welche in allen Zeiten der Gejchichte zum Angriff 
auf beftehende VBerhältniffe trieb, und melche zugleich in dem Leben 
des Einzelnen faft unvermeidlich. auf einige Zeit zur Herrfchaft 
gelangt. Denn uns allen werden die Bejchränfungen, welche der 
Zuſtand der Gefellihaft unferer Regſamkeit nach mancherlei Seiten 
bin entgegenftellt, eher deutlich, ald die Gründe ihrer Berechtigung 
und als die. Gegenleiftungen zu unſerm Nuten, die diefer Zu- 
ftand fo allgegenwärtig und daher fo unbemerkt gewährt, wie die 
Atmofphäre den Drud, der unfern Körper zufammenhält; mit der 
befannten Vorliebe für die Vernachläſſigung aller Mittelglieder, 
die dem Idealismus aller Art eigen ift, pflegt Die Jugend für 
den Flügelſchlag ihrer freien Seele leeren Raum zu verlangen. 
Sie lernt allmählich den Werth des Widerftandes und der Rei— 
bung begreifen und erkennt dann in dem Drüdenden der menfd- 
lichen Berhältniffe den unvermeidlichen Abzug, den jedes Ideal 
bei ferner Verwirklichung in einem Zuſammenhange endlicher Weſen 
fi) gefallen laſſen muß. Derjelde Zug der Empörung gegen 
das Beftehende, zum heil durch unverantwortliche Mißſtände 
billig erregt, zum Theil durch Unklarheit der Leidenſchaft über 
feine natürlichen Ziele hinausgetrieben, hat in der Gefchichte Die 
Geſellſchaft im Großen vielfad, erſchüttert; aber wie oft auch ihr 
Sturm alle fir heilig gehaltenen feiten Formen der menfchlichen 
Berhältniffe zu vernichten drohte und auf Kurze Zeit wirklich ver- 
nichtete, immer find zulegt die Wogen wieder in diefelben Formen 
zufammengefunten, zum deutlichen Zeichen, daß mir der Mißver⸗ 
ſtand der Leidenfchaft fie nicht für das erkannte, was fie find: 
Gliederungen, welche die Gefellichaft felbft, eben um des Guten 
theilhaft zu werden, das fie fucht, fich würde mit Bewußtſein 
geben müſſen, wenn fie nicht längſt im Laufe der Geſchichte aus 
dunklem Drange fie fi unbewußt gegeben hätte. Was num 
unjere Zeit von früheren unterjcheidet, Das ift zumeiſt die aufßer- 
orbentliche Erleichterung des Austaufches der Meinungen, ver 


Anfichten und Erfahrungen, und die verhältnifmäßig hohe Klar- 
heit, mit der vor unfern Bliden in großen Zeiträumen der Ber- 
gangenheit ähnliche Bewegungen der menfchlichen Gejellfhaft mit 
ihren Motiven ihrem Recht ihren Fehlern uud ihrem Ausgang 
vor uns liegen. Nimmt daher die Gegenwart die Vorausfegung 
von der Selbitregiernng der Gefellfchaft wieder auf, fo fehlt es 
ihre nit an Warnungen vor Irrthümern, deren Verderblichkeit 
die Erfahrung längſt entſchieden hat; ift es ihr möglich, im Frie— 
den und ohne zu leidenjchaftlichen Meberjtürzungen gereizt zu wer- 
den, ihren Grundfag zu entwideln, jo haben wir zu hoffen, durch 
die neue Auslegung, welche fie dem Grunde der menschlichen Ver- 
pflichtungen gibt, den Fortbeſtand feiner der Yormen der Ord— 
nımg gefährbet zu fehen, auf denen von jeher der Werth des 
Lebens berubte. 

Aber freilich, nicht der thatfächliche Beſtand dieſer fittlichen 
_ Formen wird die Gegner der modernen Weife befriedigen; fie 
verlangen einen andern Grund ihrer Achtung. Nicht auf dem 
Beweis ihres Nutzens oder ſelbſt ihrer Unentbehrlichkeit für die 
Erhaltung der Gefellichaft foll die Geltung der großen Inſtitu— 
tionen des öffentlichen Lebens beruhen, fondern auf ihrem eignen 
unbedingten Rechte, das menfchliche Dafein, mie auch jene Be 
dürfniffe zeitlich wechfeln, zu geftalten; nicht als zuträglich fir 
das größte Gemeinwohl befunden follen fie nur die Bedeutung 
erfahrungsmäßig erprobter Durchichnittsmarimen der Ordnung 
haben, fondern durch ihre eigne Majeſtät verpflichtende Mufterbider 
fein, deren Befolgung dem Leben Werth gebe. Diefe Gegenreden 
indeß legen zuerft dem Streben der Gefellichaft, fich felbft zu ge— 
ftalten, eine einfeitige Sucht nad) äußerlicher Wohlfahrt unter. 
Gewiß neigt zu dieſer die Mehrheit der Menfchen immer, und 
gewiß find einzelne Seitalter, deren Betriebſamkeit die Verſäum 
niſſe früherer Unfunde over Läſſigkeit nachzuholen hat, ſolcher G 
fahr noch in größerem Maße ausgeſetzt. Aber weder der all 
meine Grundſatz gefellffchaftlicher Selbftgeftaltung ſchließt an 
die Befriedigung der edelften geiftigen Bedürfniſſe aus der ‘ 





unſrer Zwede aus, noch haben die praftiichen Beitrebungen diefer 
Art fie immer ausgefchloffen. Viele Aufopferungen haben Die 
Menſchen im Namen der Tyreiheit auf fich genommen, und viele 
große geiftige Güter find anderſeits aufgeopfert worden im Namen 
angeblich unbedingt zu achtender Ordnungen des menfjchlicyen 
Lebens. Welche Irrthümer auch die leidenfchaftliche Praxis be— 
gehen mag, die Theorie von der Selbjtherrlichleit der Geſellſchaft 
it von dem Vorwurfe der niederen Selbftfucht frei; den unbedingt 
verpflichtenden Ausſpruch des Gewiſſens kann fie ebenfo gern, wie 
jedes vorgefundene Naturbedürfniß, unter die thatfächlichen Be— 
dingungen rechnen, denen die Verſuche der Gefellichaft, jich die 
Art ihrer Ordnung zu betimmen, Genüge zu leiften haben. Auch 
ihr Liegt nicht die materielle Wohlfahrt und die Ungebundenheit 
des Einzelmwillens allein am Herzen; auch fie fucht, indem fie alle 
fittlichen äfthetifchen und finnlichen Bedürfniſſe zugleich zu befrie- 
digen mwünjcht, das Himmelreich auf Erden, oder doch die Annähe— 
rung dahin, die auf Erden möglich ift, aber fie ſucht Dies Alles 
freilich auf einem andern Wege, al8 ihr zumeilen zugemuthet wird. 

Den alten Streit, den wir ſchon fo oft geführt haben, er- 
neuern wir auch bier, den Streit gegen die Anbetung leerer For- 
men. Es ift beflagenswertb, wenn die Wiſſenſchaft das farben- 
veiche Wirfliche dazu herabwürdigt, Darftellungen eines interefje- 
Iojen Verhältnißſpieles zwiſchen Einheit und Bielheit, Endlichem 
und Unendlihen, Mittelpunft und Peripherie zu fein; es ift noch 
bedauernswürdiger, wenn Kunft und Religion, ftatt fi an dem 
zu begeiftern, was alle Herzen erwärmt, das Höchfte in Dogmen 
und Symbolen fuchen, deren Bedeutung, wenn fie endlich begriffen 
it, nur leere Staunen erzeugen Tann; aber es tft völlig uner- 
träglid), wenn auch das gefellige und politifche Leben in Formen 
gepreßt werden foll, die irgend Etwas bedeuten, aber dem Leben 
Nichts helfen. Und wie Vieles hat Doch in Diefer Beziehung ber 
Tieffinn unferer Zeit und zugemuthet; wie oft bat man verfucht 
aus Gleichniffen Analogien und Symbolen, deren Berechtigung 
und verpflichtende Beweiskraft unbegreiflih ift, das abzuleiten, 





was nur aus den praftiichen Beblirfniffen, di 
werden, fließen darf! Nach dem verfehlten G 
ſchon Platon den Staat einen Menjchen im 
mußten fich die Stände der menſchlichen Geſellſch 
eine Nachbildung der phyſiologiſchen Arbeitsfun: 
zu fein; als die Aſtronomie den Gemüthern 
die Abftufung vom entrallörper zum Planeten 
Mond, und die verichlungene Regelmäßigkeit i 
heimnißvoll das Muſter der Staatsordnung ein 
willkürlich verfuhr fchon, wer nicht in einem e 
jpiel, dem fich immer leicht ein entgegengefeßt 
ließ, jondern in dem Urgrund von Allem, in d 
in der Dreieinigkeit, in der gegenfeitigen Spann 
Eigenschaften das Vorbild fuchte, nach welchem 
gejelligen und ftantlichen Organismus auszugeltal 
Verſuche vergefien, Daß, was dem Einen recht i 
einem ungleichartigen Anderen, ja oft nicht einn 
erſcheinenden billig ijt; was in jenen Vergleichu 
das ift doch nicht vermöge der Analogie für u 
weil e8 ganz unabhängig und urjprünglich für 
gültig ift, läßt fich gelegentlich jene Analogie 
Rede über diefe Dinge, aber ohne meitere Bei 
den. Zäufchender, aber nicht minder grundloe 
lichen Einfälle, find Anfichten, welche die men 
nach Begriffen von umfaffenderer Geltung regel 
ſich ſelbſt ſich zu alleöbeherrichenden Princip 
deren Ausprägung in der Erſcheinung die Au 
Tichkeit fein zu müſſen ſcheint. Wie fich log 
dem Allgemeinen unterwirft, phyſiſch Ruhe 
wicht, Bewegung aus der Gegenwirkung un 
fpringt, äſthetiſch nur die Vielheit befriedigt, 
gefüthlte, Einheit ſich zufammenfaffen läßt, fo fi 
ſchaft verpflichtet, in der Sonderung und Untero 
in der Theilung der Arbeiten und der Rechte, 





424 


faffung des Ganzen unter die Einheit der Regierung, jene Grund- 
begriffe der Wirklichkeit zur Anſchauung zu bringen. Zur An— 
ſchauung zu bringen: denn allerdings nicht Dies fteht Diefen An— 
fihten in erfter Linie, daß jene gefelligen Einrichtungen nützlich 
nothwendig unvermeiblih find; fie jollen nicht ein Bedürfniß 
decken, ſondern dafein, damit in ihnen jene formalen Ordnungs⸗ 
begriffe widerſcheinen. Aber die menichliche Geſellſchaft ift nicht 
da, um Sprüchwörter aufzuführen, oder lebende Bilder zu ftellen, 
an deren ſymboliſchem Sinn ſich Zufchauer auf andern Sternen 
zu erfreuen hätten; das menfchliche Leben mit der Unendlichkeit 
von Beitrebungen Leidenfchaften Schmerzen und Sorgen, die ed 
einſchließt, ift viel zu ernft, um Dazu verwendet zu werben. Nur 
diejenige Ordnung kann für uns verpflichtend fein, die in einem 
wirklichen redlichen Cauſalzuſammenhange unerläßlich oder fürber- 
ich flir die Erfüllung unferer menfchlichen Beitimmung ift. Dies 
heißt nicht, daß Die Organifation der Gefellichaft ſich auf einige 
grobe Züge, dem dringendften Bedürfniß entfprechend, beſchränken 
und jede Einrichtung verichmähen foll, deren ideale Bedeutfamteit 
dem Leben Schmud geben Tünnte; fo weit dieſe Bedeutſamkeit 
lebendig gefühlt wird, ift fie vielmehr felbft unter jene wirkſamen 
Beförderungen unjerer Vervollkommnung zu zählen; aber gefühlt 
muß fie werden, um berechtigt zu fein. Jeder Form, deren fum=- 
boliſcher oder fpeculativer Sinn nur noch der Gelehrfamfeit ober 
einzelnen Augenblicken der Keflerion deutlich tft, ohne m wirk— 
lichen Leben irgend eine Thätigfeit anzuregen oder aufzuhalten, ift 
eine Künſtlichkeit ohne verpflichtende Kraft. 

Eine Ueberſchätzung menfchlicher Dinge überhaupt, an Der 
unfere Philofophie nicht ohne Schuld ift, erzeugt oder begünftigt 
diefe Irrthümer. Nachdem im Gegenfaß zu der unveränderlichen 
Ordnung der Natur das gefchichtliche Dafein Iange flir eine ver- 
worrene Flut gegolten, hat das Nachdenken, als es in ihm nicht 
minder als in der Natur die Spuren einer vernünftigen Ent- 
wicklung und Gliederung fand, die Formen, in benen diefe fid) 
ausprägt, ebenjo für Selbftzwede zu halten ſich gewöhnt, wie die 


A — — ⸗ — | 


425 


Sattungsbegriffe der Natur deren bezeichnen. So wie die Natur 
Thier und Pflanze erzeugt, nicht Damit Etwas anderes, fondern 
damit Thier und Pflanze jet, fo fchien auch der Staat ein durch 
feine ewige Idee vorherbeſtimmter und vorgezeichneter Entwicklungs⸗ 
zwed. Nicht um eines Andern willen follte auch er fein, ſondern 
die Aufgabe der Menſchheit war, unter andern Formen ihrer Or- 
ganifation, deren Begriffe gleichfall8 als ewige Selbitzwede Ziele 
ihrer Entwiclung waren, auch den Staat zu verwirklichen, damit 
der Staat ſei. Diefer Anficht ift eine verberbliche Neigung zu 
doetrinärer Ableitung politiicher Grundfäge natürlich; fie glaubt 
ja, daß e8 eine ewige Idee des Staates gebe, nicht nur in dem 
Sinne einer ftet3 gleichen Aufgabe, die er zu erfüllen habe, fon- 
‘ dern in dem Sinne eines Muſterbildes, deſſen ausführliche ftets 
gültige Gliederung unabhängig von jedem andern Zwecke eine um 
ihrer felbft willen fein follende Form der Wirklichkeit fe. Weber 
in Bezug auf den Staat können wir dieſer Auffaffung beiftinnmen, 
noch betreffs aller andern Formen des menfchlichen Lebens, welche 
man mit ihm zu einer Reihe von Entwidlungsitufen des Welt- 
geiſtes verbunden hat, die diefer in jenem Abſchnitt feiner Bahn, 
in dem er menfchliche Geftalt trägt, durchlaufe, um in jeder von 
ihnen fein eignes Weſen volllommner zu verwirklichen. Alle dieſe 
Formen fcheinen uns nicht einzelne Phafen und Tichtgeftalten, in 
deren Umriß und Zeichnung das Höchſte als Gegenwärtiges lebt, 
fondern Formen des menfchlihen Ringens, in denen es gefucht 
wird. Es gibt fein anderes wahrhaftes Subject, Teine andere 
Subftanz, Teinen andern Ort, in welchem irgend ein werthvolles 
oder heiliges Gut Wirklichkeit hätte, als das einzelne Ich, das 
perfönliche Gemüth; über das innere Leben des fubjectiven Geiftes 
hinaus mit feinem Bewußtſein von den Ideen, feiner Begeifterung 
für fie, feinem Streben nad) ihrer Verwirklichung, gibt es Fein 
an fich höheres Gebiet eines fogenannten objectiven Geiſtes, deſſen 
Geftaltungen und Gliederungen durch ihr bloßes Beſtehen werth⸗ 
voller wären als jenes. Alle Berhältniffe zwifchen den Einzelnen, 
— denn in lauter Formen des gefelligen Lebens follte jener ob- 


jective Geift fich offenbaren, — haben nur Werth, ſofern fie 
Berhältnifie zwifchen bewußten Weſen find, und eben deswegen 
nicht blos zwifchen ihnen im Leeren, fondern auch in ihnen 
beftehen, in dem lebendigen Gemüth ihrem Werthe nach gefühlt 
und genofjen werden. Es Tiegt gar Nichts Daran, daß Yamilie 
fei, wenn unter ihr nur der formelle Zufammenhang einer Ge— 
Ichlechtsfolge verftanden wird; im diefem Sinne find auch Die 
Thiere und viele Pflanzen eines Gartens eltern Brüder und 
Schweſtern, aber fie haben Nichts davon; was fein foll, ift die 
Summe der Gefühle, die jene formalen Verhältniſſe in den Ge 
müthern der Familienglieder erzeugen, gleichſam in Brennpunlten, 
in denen allein die Strahlen, die außerhalb Nichts beveuten, zu 
einem leuchtenden wirklichen Bilde zufammenfchießen. Und eben 
fo menig wiirde daran liegen, daß blirgerliche Geſellſchaft Staat 
Kirche fei, oder daß fie in dieſen oder jenen Formen ſich ent- 
wideln; gibt es fir fie nothmwendige Formen, deren Innehaltung 
verbindlich ift, jo beruht deren verpflichtende Kraft immer auf dem 
Maße, in welchem fie den beftändigen oder zeitweiligen Bedürf⸗ 
niffen der Menfchen entjprechen und Bedingungen für ihre eigene 
Vervollkommnung und die ihrer äußeren Zuftände enthalten. 


Der Gefellfchaft pflegt der Radicalismus atomiſtiſch den Ein- 
zelnen, den Befugniffen und Beſchränkungen, mit denen jene ihn be- 
dingt, unbedingte und umveräußerliche Rechte der Perfon gegen- 
über zu ftellen. Es gelimgt ihm jedoch nicht, den Einzelmenfchen 
als Subject von Rechten begreiflih zu machen. Den Mächten 
der Natur, dem Sturme der Krankheit dem wilden Thiere gegen- 
über, machen wir fein Recht auf Sicherheit unferer Eriftenz gel- 
ten; wir fühlen, daß wir von Natur nur mehr oder minder 
ausgedehnte Fähigkeiten und den Wunfch ihrer Ausübung befigen; 
aber zu Rechten werden unfere natürlichen Anfprüiche nur, wenn 
es Jemanden gibt, der fie anerkennen kann. Allerdings werben 











fie dann Rechte nicht nur in dem Maße, als 
wirllich erfolgt, denn fie kann fehlen, wo fie vor‘ 
aber eben fo wenig beiteht die Anerfennung, m: 
bloßen Gewahrwerden von Rechten, die olme c. 
wechfelfeitigen Verkehr fchon fertig an der ein 
Perſönlichkeit gehaftet hätten. Anſprüche Ande 
eine möglicherweiſe fich gegen und wendende 9 
fondern als ihr Recht zu achten, nöthigt ums 
einer fittlihen Berpflichtung, der Erfüllung m 
mung, die mer innerhalb der Gefellichaft mögli 
zicht auf die völlige Ungebundenheit unferer 
zu fein. Unfer Recht iſt das, was der Andi 
pflichtung gegen uns fühlt, und in Folge deſ 
Recht von und zurüderwartet. Sprechen wir dabe 
menfchlichen Perfünlichkeit, fo fallen wir dabe t' 
als Einzelnen, jondern haben in dem Begriffe 
gleih als Emmen im Verkehr mit Anderen gedac 
Gefellichaft, deren Elemente zwar nicht immer 
Wechſelwirkung ftehen, aber doch Rechte nur ge; 
fofern fie und fo lange fie ſich m einer ſolchen 
Es ift der Faffung des Gedankens nach 1. 
mag aber als hinlängliches Zugeftindniß bier ; 
wenn man zugibt, Die Gelegenheit, Rechte gelten : 
allerdings erft in der Gejellihaft, ihre Inhalt | 
feft al8 eine Reihe von Forderungen, welche d 
Menſchen zu ihrer Erfüllung im Boraus, ai! 
hältnifjen vorgreifend, erhebt. Es zeigt fh E. 
Praris bald, daß jene vorgreifenden Forderu 
fehr allgemeinen Anfprichen beftehen, die danr 
das gemeinfame Leben einer Vielheit in derſel 
gemeinfame Benugung ihrer Hilfsmittel und 
über ihre Genußqiellen Handelt, um durchfi 
vieler näheren bejchränfenden Beitimmungen b 
möchte man zwei Gebiete jondern, die in Wu | 





428 


dern find. Das gemeinfame Leben einer BVielheit erzeugt alltäg- 
(ich eine Menge immer in gleicher Art wiederlehrender Collifions- 
fälle der Anfprliche, die, um eine vernünftige Exiftenz überhaupt 
zu ermöglichen, allerdings den Einzelwillen zu einem beitimmten 
Berziht auf feine Ungebundenheit zwingen. Die Normen folcher 
Berzichtleiftung,, hauptfächlich die privatrechtlichen Verhältniffe um⸗ 
fafſend, feien verpflichtend, weil fie, im Allgemeinen wenigſtens 
als Ausfprüche emer immer gegenwärtigen in der Natur des 
Menſchen und in der Natur der Sachen begründeten Vernunft, 
in jedem Augenblid ſich von neuem felbft begründen. Anders 
verhalte es fich mit jenen gejeglichen Beftimmungen, in welche 
die Menjchheit gefchichtlich gekommen fei, und die, das ganze 
Leben der Menſchen umfaſſend und emfchliegend, ihrer Willkür 
Schranken Teen, für welche weder im dem Begriffe der menfch- 
lichen Beitimmung noch in der Natur der Dinge eine rechtferti— 
gende Begründung zu finden fe. Dieſe herkömmlichen Feſtſetzun⸗ 
gen in Geltung zu laſſen, widerftrebe dem ewigen Vernunftrecht, 
welches gebiete, in jedem Augenblidle die Zuftände der menfchlichen . 
Angelegenheiten unmittelbar nach feinen eignen unmanbelbaren 
Geſetzen zu geftalten. | 

Es verfteht fi, daß zu Ddiefen nur gefchichtlich erflärbaren 
Zuſtänden vor allem die politiichen Berhältniffe und Die Gliede— 
rung ‚der Gefellichaft in verſchiedene Stände gerechnet wird; aber 
sicht immer ift diefe Grenzlinie gewiß geweien; der Communis⸗ 
mus bemweilt, daß auch weſentliche Theile des Privatrecht leicht 
zu jenen Gefeßen und Rechten gerechnet merden, die ſich nur wie 
eine lange Krankheit fortichleppen. Eben dies zeigt die Unhalt⸗ 
barkeit jener ganzen Unterſcheidung. Könnte der Menfch feiner . 
Beitimmung in der Einſamkeit nachleben und träte nur nebenher 
in gejellige Beziehung, dann freilich würde feine gefchichtlich 
entſtandene Form der Gefellichaft für ihn bindend fein ohne 
feine perfönliche Zuftimmung. Aber der Menfch bat feine Ge— 
walt iiber Drt und Zeit feiner Geburt, die ihn beide fofort in 
ein.. Net  gefchichtlich entftandener Lebensbedingungen verflechten; 





zu der GSelbftändigkeit, die feine Natur ihm 3 
nicht ohne den Beiftand Anderer, die in diefer 
durch einen gefchichtlich begründeten Rechtszuſta 
geſchützt werden; jene geiftige Entwidlng n 
wenn derſelbe Zuftand der Gefellichaft ihm ni 
Wegen Bildungsftoffe zuführte und ihn in ih 
günftigte. Ehe er alſo die Perfönlichkeit wird, 
ftreiten fünnte, ift er den Einrichtungen dei 
Tiefſte für die Entwicklung eben diefer Perſön 
Und Gleiches gilt von der Geſammtheit. Ein 
Weſen ohne alle Herkunft, die plötzlich mit 
m gleihem Grade der Entwidlung im Leeren 
würde in willkürlicher Mebereintunft in jede 
Zuftände von frifchem geftalten können. “Die 
Schaft aber umfaßt unzählige Abſtufungen der tı 
alter zugleich mit ebenfo zahlreichen Abſtufung 
habens und des VBerpflichtetfeind, der vernünftis 
willenlofen Unmündigkeit; niemals ift fie daber a. 
ject, das in Wahrheit einen gleichartigen allgemei ı 
und gelten machen könnte; fie wird ſtets die ©: 
faßt, als verbindlich auch für diejenigen ihre: 
müffen, welche fie nicht mit fallen konnten, un 
nicht verweigern können, auch anderſeits geich ı 
Zuftände, an deren Stiftung fie nicht betheilig 
beſtehend anzuerfennen. Es findet ſich eben n ı 
fegung verwirklicht, die der Radicaliemus ma ı 
Staltung der menſchlichen Geſellſchaft von friſch 
unabhängig von dem Vergangenen fortgefahrer 
Indeſſen ift dies Doch mur Die eine Se ı 
Geſchichte jchreitet fort, und die. Bedingungen, 
alter das menschliche Leben zu ordnen dachte, 
aufheblich maßgebend für die Zukunft fein, 
Mittel zur Erreichung der menjchlichen Zr : 
Majeftät der fittlihen Gebote felhft. Nur ı 





Sicherheit des menfchlichen Daſeins aufhebender Irrthum fein, 
veraltende Einrichtungen als an ſich ungültig, unbillig werdende 
Rechte als von felbft erlöfchenn, Neuerungen, deren innere Ge— 
rechtigkeit unzweifelhaft, unmittelbar als rechtlich begrlindete An— 
ſprüche zu behandeln. Eben durch jene gejchichtliche Verknüpfung 
aller Dinge bleibt das Beraltende doch eine anzuerkenmende Macht, 
mit der auf dem Wege Rechtens abgelommen werden muß, und 
neue Entwiclungstriebe können nicht ımbefchränft wie in leeren 
Raum emporwachſen, fondern müfjen mit dem Beftehenden fich 
auseinanderſetzen. Nicht eimmal ein Zuftand, der in aller Weife 
durch unrechtmäßige Gewalt begann, Tann nach einiger ‘Dauer 
ohne Weiteres mit allen feinen Folgen als ungültig befeitigt wer- 
den; das Leben ver Gefellichaft hat nicht, während er beftand, 
pauſiren oder fich jeder Beziehung zu ihm enthalten können: Ber- 
pfliehtungen, an ſich löblich, Rechtsgeſchäfte von im fich zmeifellofer 
Berbindlichleit, Verdienfte um die Wohlfahrt der Gefellichaft, find 
eingegangen abgejchloffen erworben worden, welche alle formell 
auf Anerkennung oder Geltenlaffen des rechtswidrigen Zuſtandes 
beruhen und Die doch unmöglich mit der erzwungenen Grundlage 
wegfallen können, die fie benugen mußten. Noch weniger Tann, 
was einst Recht war, von felbft verichwinden, wenn der Geift der 
Zeiten ſich ändert; die Confequenzen des einftigen Rechtes haben 
nad unzähligen Richtungen bin die ganze Gefellfchaft mit per 
ſönlichen Verpflichtungen und Berechtigungen durchzogen, die nur 
durch Entfhädigung, durch Verzicht und Gegenverzicht der Be— 
theiligten, dem neu zu begründenden Zuftande geopfert werden 
können. Diefer Verſtändigung nicht zu wiberftreben, ift die fitt- 
liche Pflicht aller Parteien; das abſcheidende Geſchlecht kann nicht 
alle Zukunft an feine Lebensauffaffung binden, das ermachfende 
nicht für fich allein die Welt in Anſpruch nehmen, zu deren Be— 
herrſchung e8 nur Durch jenes erzogen ift. 





431 


‚Unter der Herrfchaft folcher Ueberzeugungen fehen wir die 
Gegenwart vielfach befchäftigt, gefeßliche Formen zu finden, melche 
ohne Unterbrechung der Rechtsitetigleit den nothwendigen Fort⸗ 
jchritt einzuleiten geftatten. Dieſe Bemühungen werden nur in 
einzelnen Richtungen Erfolg haben; die gefchichtliche Arbeit der 
Menſchheit läßt fich nicht bis zu dem Punkte ein für alle Mal 
abthun, daß von da an alle meitere Entwidlung Tampflos als 
jelbftverftändliche Folge des endlich feftgeftellten gefelligen Mecha⸗ 
nismus vor fi) ginge Es muß hinreichen, wenn allgemeine 
Grundfäge, die jener Abficht günftig find, zu leitenden Geſichts⸗ 
punkten werden; immer aber werden Schwierigkeiten zurückbleiben 
oder neu entitehen, die in dem Augenblide, wo fie am lebhafteften 
gefühlt werden, nur durch zeitweilige Nothbehelfe bejeitigt, nicht 
für alle Zukunft grundfäglic, gelöſt werden können. 

In jede Beichränkung fügt fi der Einzelwille leichter, fo- 
bald fie als unvermeibliche thatfächliche Vorbedingung des gefelli- 
gen. Zuſammenlebens erfcheint; er fühlt fich dagegen gereizt und 
beleidigt, wenn biefelbe Anforderung ohne Rückſicht auf dieſe ihre 
praftifche Bedeutung als em urfprüngliches Hecht der Gejellichaft 
gegen ibn gelten gemacht wird. Thatſächlich wird die Gefellichaft 
jtet8 eime erziehende leitende und bevormundende Macht iiber ihre 
einzelnen Glieder ausüben; zu den erjten jener allgemeinen Grund⸗ 
füge aber wird es gehören, daß fie formell diefe Wirkſamkeit nicht 
als ein ihr zuftändiges Recht behandele, und fie nicht, was dann 
leicht folgen wiirde, in viel größerer Ausdehnung, ald die Natur 
der Sache verlangt, zu ftehenden Einrichtungen fuftematifire. Bon 
dem, was Sitte und Beitgeift Gewohnheit ımd Mode verlangen, 
darf nicht mehr Geſetz werden, als unumgänglich nöthig ift, um 
das fociale Zufammenleben vor Uebergriffen roher Willlir zu 
ſchützen, und dieſe Geſetze merden die Form der Verbote, nicht 
die des Geheißes zu tragen haben. Ohne Zweifel hat die Ge- 
ſellſchaft ein Intereſſe auch daran, daß die Bildung ihrer Ange 
hörigen eine gewiſſe Höhe überhaupt erreiche und eine beitimmte 
Richtung vor anderen nehme, und nicht im Mindeiten widerjtreiten 





432 


wir denen, welche in dieſer überwachenden Theilnahme einen er- 
habenen gejchichtlichen Beruf der . Gefellichaft erblicken; aber fo 
wiünfchenswerth e8 ift, daß dieſe Ueberzeugung kräftig in den Ge 
müthern aller Einzelnen lebe und ihre Willfährigleit zur Erwer⸗ 
bung jener Bildung ſtärke, jo darf fie doch nicht als Duell einer 
Befugnig auftreten, mit welcher die Gejellichaft für die Gliederung 
eines von ihr vorzufchreibenden Bildungsganges Gehorfam bean- 
fpruchte. Der fittliche Geift, welcher die Menfchheit bejeelen fol, 
wird überall um fo volllomnmer fein, je unmittelbarer er von 
den höchſten Gefichtspimiten beherrſcht wird; der Mechanisuns 
ber gefelligen Einrichtungen dagegen bat nicht auf den höchſten. 
fondern auf den nächſten und zweifellofeften Grumdlagen zu be 
ruben. Der gefchichtliche Beruf eines Zeitalter und das nächlte 
Ziel feiner Bildung fteht nicht Allen fichtbar in den Sternen ge 
fchrieben, ſondern wird von Eimzelnen nach ihrem Verſtändniß 
gedeutet; den keineswegs fichern Inhalt Diefer Deutung zum Rechts- 
grund gefelliger Einrichtungen zu machen, läuft in eine Bebor- 
mundung Bieler durch Wenige aus, die ganz ruhig ertragen wird, 
jofern fie ſich von felbft macht, und ſtets beleidigt, wenn fie als 
Rechtsordnung auftritt. Die Gefellfehaft hat fich daher nicht mur 
zu enthalten, ihre Bildungsforderungen zu fehr ins Einzelne Hinein 
feftzuftellen, fondern auch Das, was fie verlangt, muß fie, ſofern 
fie e8 verlangt, als Bedingung einer Gegenleiftung fafjen, welche 
fie anzubieten vermag. Auf diefem nüchternen Grunde des gegen- 
feitigen und alljeitigen Intereſſes ruhen die öffentlichen Einrich- 
tungen ficherer, als auf dem PVorgeben einer Einficht in die ewige 
Weltordnung, die Niemanden zu ihrem ausfchlieglihen Ausleger 
beſtellt bat. | 

Auch die Gegenleiftungen der Gefellfchaft beitehen weit mehr 
in natürlichen Rückwirkungen der in ihr verbimdenen Intereffen, 
auf welche fie aufmerffam zu machen hat, als aus Bortheilen, 
welche fie abfichtlich und ausprüdlic, gewährt. Denn die Gefell- 
ſchaft jtiftet und verleiht nicht das Recht den Einzelnen, fondern 
erfennt e8 an und verbürgt die Möglichkeit feiner Ausübung um 


| 433 


den Preis gewiffer Berzichte auf feine unbeſchränkte Ausiibung. Nur 
die Befugniffe verleiht fie, die erſt aus ihr, fofern fie conftituirt ift, ent- 
fpringen, die obrigfeitlichen Aemter, die Teined Einzelnen natürliche 
Zuftändigfeit fein können, weil fie ſelbſt Schon auf gefchehenen VBerzich- 
ten Anderer beruhen; im Uebrigen ift ihre Macht befchräntend, ihre 
Thätigkeit, ſoweit gefeglich beitimmt, gewährleiftend und ſchützend. 

Das Maß der Beichränfungen, welche fie dem Eimzelwillen 
auferlegen darf, Tann felbft nur befchränft fein. Keine menfch- 
liche Ordnung darf das ganze Reben eines Menfchen unwiderruflich 
beherrichen wollen; aus dem Staate, aus dem gefellichaftlichen 
Stande und Berufe, aus der Kirche, aus dem Verbande feiner 
Nation auszutreten muß Jedem die Möglichkeit gelaffen fein, 
Jedem die Möglichkeit, geſchichtliche Abhängigkeitsverhältniſſe, in Die 
er hineingeboren ift, abzulöfen; nicht unbedingt zwar, und nicht 
ohne Gegenleiftungen für die Verpflichtungen abgetragen zu haben, 
die er gegen alle jene Ordnungen hat, aber auch nicht als Gnade, 
fondern als Recht foll ihm Dies zuftehen, als freie Berjönlichkeit 
wenigſtens nachträglich feine Zuſtimmung zu Lagen, in die er 
ohne Zuftimmung gerieth, zu geben oder zu verweigern. Un 
auch nicht immer kann die Freiheit auf dieſe Möglichkeit des 
Ausſcheidens aus mißliebigen Berhältniffen bejchränft fein, noch 
darf die Geſellſchaft tiberall verlangen, daß Jeder den Kreis ver- 
laffe, wo Geſetze herrfchen, die er nicht billigt; dem Eigenfinn 
und der Unbotmäßigfeit des Einzelnen gegenüber hierzu befugt, 
kann fie doch nicht gegen den breiteren Strom eines fich ändern- 
den Beitgeiftes fich ebenfo abweiſend und ablehnend verhalten. 
Sie bat nicht die Verpflichtung ſich neuen Anfprüchen kampflos 
zu fügen, aber wo fie ſelbſt ihre Einheit verliert und in mefent- 
lichen Ueberzeugungen zwiefpältig wird, kann eine conferbative 
Minderheit nicht dauernd eine difjentivende Mehrheit aus dem 
Mitgenuß der gefelligen Ordnung ausjchliegen, auf welchen Diele 
eine Menge gejchichtlicher Anſprüche hat, die nicht durch ihre Ab- 
weihung von dem, was feiner Natur nad nicht unabänderlich ift, 


erlöfchen können. Es ift leicht darliber zu ſpotten, daß auf Diele 
Xoße, III. 3. Aufl. 28 


434 


Weiſe die fo oft vernunftlofe Majorität der Stimmenzahl die 
menfchlichen Geſchicke entjcheiden würde, und zu verlangen, daß 
. man die Stimmen mwäge; man überfieht dabei Die nnbegreifliche 
Anmafung der Borausfegung, Daß ed irgendwo ein unfehlbaves 
Drgan gäbe, welches jene Wägung vollziehen könnte. Da aber 
ſchon die Mehrheit der Stimmen zu zählen fchwer genug ift, fo 
werden wir und im Wefentlichen mit dieſem unvollkommnen Hülfs- 
mittel der Entfcheivung zwar begnügen, aber in billiger Erfennt- 
niß feiner Unvollkommenheit dafür zu forgen haben, daß e8 wo 
möglich felbft feine eigene Correction ind Werk fee. Und Dies 
kann prattifch durch Nichts, als durch Die Verzögerungen gefchehen, 
welche Geſetz und Verfaſſung der Verwirklichung der neuen An— 
ſprüche bereiten. Bon der Gewalt der Zeit allein ift zu hoffen, 
daß fie in Folge des freien Austaufches der Meinungen, der ge- 
ftattet und befördert werden muß, Die Ueberzeugungen verbefjern, 
Uebereilungen mäßigen, Mißverftändniffe aufklären, unbeftimmte 
Träume zu ausführbaren Vorſchlägen geftalten, den bleibenden 
Kern der ungewiffen Beftrebungen feithalten und fo in Wahrheit 
dem größeren Gewicht der richtigen Meinung den Sieg über die 
bloße Mehrheit der Stimmen verfchaffen wird. Wohl ift e8 nicht 
unmöglich, und mag Einigen fehr wahrfcheinlich dünken, daß die 
Menjchheit dennoch dauernd delirire; aber dies würde ein gefchicht- 
liches Unglüd fein, dem man auf feinem Rechtswege begegnen 
kann. Es ift nicht von Jedem zu verlangen, daß er fich Diefem 
Unglüde füge; wir können die gejchichtlichen Helden preifen, die 
im Kampfe dagegen fiegten oder zu Grunde gingen, aber mit 
biefem Urtheile treten wir ganz aus den Grenzen ber Betradh- 
tung, die und hier bejchäftigt. Denn der gejchichtliche Kauf der 
Dinge bleibt allezeit unferer armen politifchen und focialen Kunſt 
überlegen und auch in Zukunft wird er nicht ohne vielfahhe Un- 
ftetigfeit durch Rechtsbrüche Staatsftreihe und gewaltſame Um— 
fehrung der Verhältniffe weiter gehen. Diefe geichichtlihen That— 
fahen, die nur bezeugen, daß augenblidlich die Leitung Der 
Angelegenheiten unferer vechtlichen Behandlung entjchlüpft iſt, mag 





435 


man nad) ihrem Erfolge als Segen over Unfegen beurtheilen; fo 
lange e8 ſich aber noch darum handelt, ob menschliche Vernunft 
den Lauf der Dinge beherrichen könne, dürfen fie niemals vorher 
als zuläffige Factoren feiner Geftaltung angefehen werden. Alles 
zufammenhängende Intereffe an den öffentlichen Angelegenheiten 
ber Menfchheit wird in feiner Wurzel gefchädigt, ſobald zu ihrer 
praftifchen Leitung Gedanken, die dem Recht widerfprechen, be— 
fugt erachtet werden; auf eine Willfür, die fih an die Stelle 
der Vorſehung fegt, Hoffnungen bauen tft nichts Anderes, als 
Heilung eines Ungemachs von der zweifelhaften Krifis einer künſt— 
lich erregten furchtbaren Krankheit erwarten. Schließen wir uns 
dem goldnen Worte Kants an: wenn es fein Recht mehr geben foll, 
fo bat e8 auch feinen Werth mehr, dag Menfchen auf Erden wandeln. 


Bon der menschlichen Gefellichaft haben wir geiprochen, als 
beftände fie, und als fei fie wirklich darin begriffen, fich die Glie— 
derung zu geben, die ihrer Beitimmung und ihren Beditrfniffen 
entfpricht. Aber als der Begriff der Gefellichaft auffum, Tebte 
feit Iahrtaufenden die Menjchheit im verſchiedene Staaten ver= 
theilt, zwiſchen denen feindliche Berührungen nie fehlten, und jeder 
Staat hatte Tängft durch eine Gliederung feines Lebens, die aus 
ganz andern Quellen floß, das Geſchäft vorweggenommen, welches 
die Theorie der Geſellſchaft erft beginnen möchte Daher kann 
e8 fcheinen, als jet e8 nutzlos, ihren Begriff von dem des Staates 
zu unterfcheiben, ber einzigen Form, in welcher bisher Gemein- 
ſchaften, welche alle Intereffen des menfchlichen Lebens umfafjen, 
zu beftehen vermocht haben. Dennoch war e8 nicht ohne Werth, 
zu überlegen, welcher der beiden Begriffe die Borausfegung des 
andern fei, ob der Staat als Grund der Möglichkeit aller menfch- 
lichen Gemeinfchaft und die Duelle aller Pflichten und Rechte, 
oder ob die Beitimmung der Gefellichaft als das Ziel anzu= 
ſehen ſei, zu deſſen Erreichung fie jelbft die Form des Staates 

28* 


436 


als nothmendige Bedingung verlangt. Im lektern Falle wird 
leicht die "Gefellfchaft unter dem Staate, die treibende Wurzel 
unter der entwidelten Baumfrone, fich ganz verbergen können; aber 
bei allen Stürmen, welche die lebtere bejchädigen, würde man 
Hoffnung umd Kath doch nur aus der Kenntniß des Lebenstriebes 
ſchöpfen können, der aus der erſteren quillt. Die vorangegangenen 
Betrachtungen laffen nicht mehr zweifelhaft, mie wir dieſe Frage 
beantworten; die eigenthümliche Entwicklung der neuen Zeit 
gibt ihr jedoch noch eine andere praltiſchere Bedeutung. Sie 
läßt es hoffnungsreichen Gemüthern wenigſtens als möglich er- 
cheinen, daß doch envlih an die Stelle der vielfachen Staaten, 
welche noch die gegenwärtige Welt theilen, eine allgemeine Gejell- 
ſchaft treten könne, die eben um ihrer Allgemeinheit willen nicht 
mehr ganz die Form des Staates tragen würde, deflen Aufgaben 
fie übernähme, oder daß mwenigftend ohne Aufhebung der beitehen- 
den politifchen Bildungen die Gefellichaft über fie eine Macht 
auszuüben berufen ſei, welche fie bisher num durch fie beiefien hat. 

In hohem Grade haben allerdings die ſich mehrenden Be- 
ziehungen der verfchtedenen Theile der Menſchheit die Bedeutung 
der ftaatlichen Abgrenzungen geändert und dem Gedanken des 
Kosmopolitismus neue Anregungen gegeben. Gleichartige Formen 
des geſelligen Verkehrs und der Lebensfitte, gleiche Begriffe von 
Ehre Pflicht und Anftand verbreiten ſich iiber die Länder und 
über die verjchtedenen Stände ihrer Bevöllerungen in dem Maße, 
als diefe in den allgemeinen Verkehr gezogen werden; Kinfte und 
Wiffenfchaften finden nicht nur eine ausgedehnte gleichartige Pflege, 
fondern ihre ausgezeichnetften Erzeugniſſe verknüpfen fich mehr 
und mehr zu dem Schatze einer Allen zugänglichen Weltliteratur; 
Yängft breitet fih, zwar nicht alle Intereſſen des Lebens um— 
faflend, aber feine edelſten und höchſten pflegend,, die Kirche iiber 
die Grenzen der Ränder aus, fie am meiften durch eine vielgliedrige 
weder an Territorien noch an Nationalität gebundene Organifa- 
tion ausgezeichnet; unzählige Affociationen zur Verfolgung wirth- 
ſchaftlicher Zwecke vereinigen längft Angehörige verfchienener Staaten, 








437 


möglich, gemacht durch die Achtung vor gefchäftlichen Verpflichtun— 
gen, die das wmechfelfeitige Intereffe unterhält; über einen großen 
Theil des Erdballs findet fo der Einzelne ſich unterftügt und be- 
ſchränkt durch einen Geift gefelligen Rechts, der nicht unmittel- 
bar einer politiichen Zujammengehörigfeit der an ihm Theilnehmen⸗ 
den verdantt wird. Man wird einwerfen, daß in dem glüclichen 
Tall freiwilliger MWechfelleiftung des Billigen dieſer internationale 
Berlehr die Beihilfe der Staatsgewalt nur ebenfo entbehren fünne, 
wie unter gleicher Bedingung der innere Verkehr der Einzelnen; 
feine Möglichkeit im Allgemeinen berube aber doc, auf der andern 
Möglichkeit, Durch Verträge die gefchloffene Staatsgewalt eines 
entfernten Landes zur Erreihung verjagter Gegenleiftungen zu 
Hülfe zu rufen. Allerdings ift e8 jegt jo; aber es ſei Doch, wird 
die fosmopolitifche Theorie einwerfen, nur deshalb fo, weil bisher 
der einzelne gefchichtlich entftandene Staat ſich für eine Scheide- 
Imie im Innern der Gefellichaft gehalten hat, und weil bei ber 
ebenfalls gefchichtlich entitandenen Verfchiedenheit der Rechtsge— 
wohnheiten, die jeder als für fich verbindlich anerkennt, feiner die 
Gewährleiftung jenes internationalen Verkehrs im Allgemeinen 
übernehmen konnte und wollte, fondern jeder der befonderen Ver— 
träge zur Grundlage feines Einfchreitens bedurfte Auch die all- 
gemeine Gefellichaft werde der vermwaltenden gefeßgebenden rich- 
tenden und erecutiven Gewalten nicht entbehren können, aber fie 
werde ſolche einrichten, deren Thätigfeit nicht durch Die Weitläuftig- 
keiten geftört wiirde, welche die jegige Vielheit der Staaten verurſacht. 

Wir folgen nicht in die Einzelheiten folder Entwürfe; für 
die Gliederung eines Gemeinweſens Mufterbilder zu verzeichnen 
ift immer mißlich. Aus einem Begriffe des Staats die nothwen⸗ 
digen Functionen feines Lebens ableiten, fir jede derjelben ein 
beſonderes Organ, für das Zuſammenwirken diefer Organe be= 
ftimmte Normen aufftellen: das alles ift ganz werthlos, wenn 
man nicht beweifen Tann, daß Menfchen fich dazu hergeben wer— 
den, das zu verrichten und das zu ervulden, was ihnen dieſe lo— 
gifch entwickelte Gliederung ihres Verkehrs zumuthet. Aber auch) 


438 


eine forgfältige Berückſichtigung der menfchlichen Natur und ihrer 
Gewohnheiten, wie nur vielfeitige Kenntniß des Lebens und ber 
Geſchichte fie möglich macht, Liefert feine Idealbilder, deren Reali— 
firbarfeit gefichert wire; denn die Achtbarkeit und Berechtigung 
menfchlicher Beftrebungen, welche ein noch entbehrtes Gut zu er- 
reichen fuchen, leiftet nirgends Gewähr für die Achtbarfeit und 
Zuläffigfeit des Gebrauchs, der von dem erreichten gemacht wer- 
den wird. Das allgemeine Gewiſſen der Menfchheit mag lang- 
fam an Einfiht in umfere Verpflichtungen und unfere Beftim- 
mung zunehmen; aber die Iebendigen Gejchlechter, die dieſe Be— 
ſtimmungen erfüllen follen, wachſen jedes von Friſchem mit allen 
Unvollkommenheiten und den gewöhnlichen Untugenden der Gattung 
empor, und felten zeigen fie fich, zur Macht gekommen, der wirt 
lichen Herftellung des Befferen gewachien, melches fie als Oppo— 
ſition gegen beftehende Mängel mit Recht verfochten. Bon gerin- 
‚gem Werth find uns deshalb ausgeführte Entwürfe einer künftigen 
Gliederung der Geſellſchaft; aber wichtig die allgemeinen Gedan- 
fen und Gefinnungen, die ſich in ihnen ausfprechen, denn dieſe 
werden unferer Behandlung der gefchichtlich vorliegenden Verhält— 
niffe auch dann eine beſtimmte Nichtung geben können, wenn die 
Erreihung jener allgemeinen Ideale felbft aufgegeben werden 
müßte Nun bat feit den älteften Zeiten der Streit der ver- 
ſchiedenen Staaten die Welt mit feinem Lärmen erfüllt, umd Die 
allgemeine Stimmung der Gegenwart, auf Entfaltung aller geifti- 
gen Kräfte und jeder phyſiſchen Wohlfahrt bedacht, kommt fehr 
natürlich zu Zweifeln an der Berechtigung politiicher Geftaltim- 
gen, Die einerjeitS mit ihrer Organifation das ganze menjchliche 
Leben zu umfaffen beanjpruchen und anderſeits den Gewinn des- 
jelben unabläflig den zerjtörendften Erjchütterungen ausfeßen. Und 
deshalb ift e8 der Mühe wertb, zu fragen, mas der Staat auch 
für die moderne Gefellichaft fei und bleiben müſſe und in mel- 
hem Sinne feine geſchichtlich entſtandene Geftalt zu größerer 
Uebereinftimmung mit dem wachſenden Bedürfniß nad) Freiheit 
ber Entwidlung umgeformt werden dürfe. 


439 


Gemeinſamkeit der Sprache ift eine unerlägliche Vorausſetzung 
für die Bildung der MHeinften Gemeinden, denn ohne unmittel- 
bares, auf alle Kleinigkeiten des täglichen Verkehrs fich erftreden- 
des und jedem Theilnehmer gleichmögliche® Verſtändniß ift eine 
Geſellſchaft nicht denkbar, die fiir alle Intereffen des Lebens ver- 
bımden fein fol. Die Berürfniffe der Bildung finden jedoch 
innerhalb dieſes kleinſten Kreifes nicht wolle Befriedigung; fchon 
die Belhaffung der materiellen Mittel nöthigt zu ausmärtigem 
Berlehr, nicht minder ſucht das geiftige Streben die einfeitigen 
Anregungen, welche der tägliche Umgang ihm gibt, durch vielfäl- " 
tige Berührung mit fremden, aber verftändlichen Lebenskreiſen zu 
ergänzen. Wo nicht geographiiche Bedingungen Anderes gebieten, 
nähern fich deshalb zuerft die ſprachverwandten Gemeinden; nicht nur 
gemeinfam anerkannte Rechtsanſchauungen und dem gegenfeitigen 
Verkehr dienende Einrichtungen, fondern auch das Bewußtſein 
eines geiſtigen Gemeinbefigeö verknüpft fie um jo inniger, je höhere 
Entwicklung Kunjt und Wiffenfhaft erlangen, zu wechfelfeitiger 
Theilnahme und zu löblichem Wetteifer. Wie jedoch der Ein- 
zelne erſt in der Fremde den Werth der Heimat voll empfindet, 
fo empfängt auch die volksthümliche Bildung und das Verwandt: 
Tchaftsgefühl des Zufammengehörigen feine legte Vollendung durch 
den Gegenfag gegen das Außerheimiiche. In geringerem Grade, 
fo lange der eigenen Eultur die fremde Umgebung nur Roheit 
entgegenftellt, in höheren dann, wenn innerhalb allgemeiner Civi- 
Ifation nicht mehr Menſchheit gegen Thierheit, ſondern die feinften 
und reizbarften Eigenthiimlichkeiten volfsthiimlicher Sitte und Em- 
pfindungsweife gegen einander ftehen. In der modernen Welt 
hat daher die weite Verbreitung vieler gleichartigen Bildungsele— 
mente die Gegenſätze der Völker nicht verwiſcht, fondern gefteigert 
und allgemein jene Einheitöbeftrebungen erzeugt, welche alle mate— 
riellen und geiftigen Kräfte eines fpracheinigen Stammes fo eng 
als möglich zu verknüpfen fuchen, um durch deren fo gefteigerte 
Wechſelwirkung theild dem Volle einen ehrenvollen Antheil an ber 
Bildungsarbeit der Menfchheit zu fichern, theil® um e8 gegen den 


) 440 


Uebermuth zu vertheidigen, mit welchem das Selbftgefühl jeder 
entwidelten Nationalität zur Unterbrüdung fremder neigt. 
Gemeinfamfeit der Abftammung Sprache und. Gitte begrün= 
det jedoch allein die Form des Staates noch nicht; dieſe Form 
. haben nicht nomadifirende, ſondern nur feßhafte Völker ihrem 
nationalen Leben zu geben vermocht. Und zwar ift das Terri= 
tortum nicht nur der räumliche Bezirk, in welchem die Nation 
bauft und zu finden ift, wie Pflanzenarten ihre Standorte und 
jede Thiergattung ihr Revier bat: es kommt weit mehr ald be— 
ftändige8 Object einer gemeinfamen Arbeit in Betracht, welche die 
fonft nur wie parallel verlaufenden Elemente des ſprach- und 
geſchlechtsverwandten Stammes erft zu einem feften und haltbaren 
Gewebe durcheinander fügt. Denn die Vertheilung dieſer Arbeit 
jcheidet die Berufszweige, deren unerläßliche Wechfelbeziehung die 
Nothmwendigfeit einer ftetigen umfafjenden vielgliedrigen Verwal⸗ 
tung fühlbar macht; die Ueberlieferung derſelben Arbeit von Ge 
ſchlecht zu Geſchlecht ſchafft dem Volke feine Geſchichte und das 
Bewußtſein einer geſchichtlichen Aufgabe, zu deren Erfüllung die 
beſten jener Thaten geſchehen, die dem menſchlichen Leben erheben⸗ 
den Werth geben; ſelbſt jene unausdrückbaren Schattirungen der 
Stimmung und der Lebensauffaſſung, die des Volkes geiſtiges 
Eigenthum bilden, hängen mehr oder minder mit den Gewehn- 
heiten feiner Arbeit zufammen. Ein Termitorium, groß genug, 
um innerhalb. feiner Grenzen eine Mannigfaltigkeit menfchlicher 
Tebensberufe zu geftatten, und reich genug, um nur zu entbehr- 
licher Berjchönerung des Dajeind der Fremde zu bebiirfen, Dies 
Territorium nicht im neuem, fondern in ererbtem Beſitz eines 
ipracheinigen Volkes, das an feine Heimat eine Fülle gefchicht- 
licher Ueberlieferungen knüpft, und das nım alle feine wirthichaft- 
fihen und geiftigen Kräfte unter fefter einheitlicher Regierung 
anfpannt, um feine eigenthlimliche Stelle in der Bewegung der 
Bildung auszufüllen: dies ift ein in ſich vollendetes Bild menſch— 
licher Gefellfchaft, daS weder eine maßlofe Erweiterung, ohne farb⸗ 
los, noch eine bedeutende Verengung zuläßt, ohne Heinlich zu werben. 





441 


So weit der gejchichtliche Beſtand den Stoff zu foldhen Ge 
ftaltungen und die Möglichkeit darbietet, fie ohne Rechtsbruch 
herbeizuführen, find die Beitrebungen zu ihrer Verwirklichung ges 
rechtfertigt und es ift weder zu vermuthen noch zu wünfchen, daß 
aus der Zukunft diefe farbenreichen Gegenfäge verſchwinden. Nicht 
zu winfchen: denn felbit das Verlangen, daß die fittlichen Ge- 
bote gleich mächtig die ganze Menſchheit beherrichen follen, ver⸗ 
räth, wenn aus ihm die Forderung einer Vertilgung jener Man⸗ 
nigfaltigfeit entjpringt, Doch nur von neuem jenes oft befämpfte 
‚Borurtheil, welches die Wirklichkeit zum bloßen Beifpiele der all- 
gemeinen Geſetze machen möchte, in deren Befolgung fie allerdings 
ihren lebendigen Inhalt allein entfalten kann. Das Ganze der 
Sittlichleit bejteht fiir den Einzelnen nicht ſchon darin, daß jeder 
nur überhaupt die fittlichen Gebote erfülle, mithin Einer gerade 
fo fei, wie der Andere; fonvern innerhalb dieſes Gehorfams gegen 
das Allgemeine foll jeder feine eigene Individualität entiwiceln 
und durch Das Gute, das nur er und Fein Anderer fo leiften 
kann, den unerjchöpflichen Reichthum der fchönen Folgen bezeugen 
und verwirklichen helfen, die aus dem Grunde der fittlichen Ideen 
entipringen können. Die Völlker haben feine andere Aufgabe: 
auch fie follen nicht nur charakterlofe Beifpiele menfchlicher Ge- 
meinfhaft überhaupt fein, die ohne Schaden in die Eintönigkeit 
einer allgemeinen Geſellſchaft verichmelzen könnten, fondern jedes 
hat eigenthiimliche Formen feines Lebens an fich felbit zu ent- 
wickeln, unbefchadet der Gemeinſamkeit fittliher Grundſätze, nad) 
denen alle ihre mechjelfeitigen Beziehungen fich regeln müflen. So 
wenig aber, wie zu wünſchen, ift jene Verſchmelzung zu erwarten- 
Alle noch zu hoffenden Erleichterungen des Verkehrs werden hin- 
reichen, um wirthichaftliche Mängel auszugleichen und auf wohl 
thätige Weiſe den Gefichtöfreis der Völker tiber die Engigfeit 
heimifcher Borurtheile hinaus zu erweitern, aber fie werden nie 
die großen Maflen der Menfchheit in fo durchgängige Berührung 
mit einander bringen, daß das wachſende Bewußtſein der Pflichten 
eines allgemeinen Verkehrs zur Abjtreifung alles volksthümlichen 


442 


Naturells werden könnte. Was von dem feßten Erfolge in Der 
That eingetreten ift, wie das Verfchwinden mancher äußeren natio— 
nalen Sitte in Umgang Tracht und Rebe, haben wir zu größe— 
rem Theil als baaren Verluſt, nur zu Heinerem als eine zur 
Erlangung jener Vortheile unentbehrlihe Aufopferung anzuſehn. 
Deshalb hoffen wir, der Fortjchritt der Bildung werde durch immer ſich 
vertiefende Ueberzeugung von der fittlichen und wirtbichaftlichen Ver— 
fnüpfung der Menſchheit jene allgemeine Gefellihaft mehr und mehr 
fo realifiven, daß ihr Dafein und die Sicherheit ihrer Gliederung 
jevem wohlthätig fühlbar wird, der fie aufſucht; aber anderſeits zmei= . 
feln wir nicht, daß dies Ganze der Welt ftet8 zu groß und unüber— 
fichtlich erjcheinen werde, um nicht dem Einzelnen die engere Heimat 
unentbehrlich zu machen, die er für all fein Fühlen Denken und 
Handeln nur in fenem Volke feinem Vaterlande feinem Staate findet. 

Nur eine Nation, der die Geſchichte die günstigen Bedingun— 
gen ihrer Eriftenz, die wir bisher vorausfeßten, gegeben oder gelaffen 
bat, befitt die Mittel und den natürlichen Trieb zur vollflomm- 
nen Bildung eines Staated. Verſchiedenſprachige Völkertrümmer, 
welche der Lauf der Dinge an Territorien gefeſſelt hat, deren 
ungünftige Lage die Kleinheit der Volkszahl nicht ausgleicht, mö— 
gen durch Starke wirthichaftliche Intereffen zu gegenfeitiger Ber- 
bindung gedrängt fein; aber ihre Vereinigung, obwohl fie eine 
weit ausgedehnte Gemeinfamkeit der Verwaltung und der Ber- 
theidigung einjchließen mag, hat doch den Charakter einer Aſſo— 
ciation mehr als den eines Staates. Den einzelnen Gliedern fehlt 
die Selbitändigkeit, dem Ganzen die bleibende und natürliche Ein- 
beit, denn auch die wirtbichaftliche Bedeutung der Ränder wechſelt 
im Laufe der Zeit und das früher Zufammengehörige kann Tpäter 
zum Auseinandergehen neigen. Die Rüdfiht auf Vortheile, melche 
ein internationaler Verkehr, richtig geordnet, von ſelbſt herbeiflihren 
würde, ift bier zum bejtimmenden Grunde geworden, eine politifche 
Einheit aufzubauen, für welche nicht alle wejentlichen Bedingungen 
gegeben find und nicht völlig durch die allerdings anzuerkennende eint- 
gende Kraft einer lange gemeinfam erlebten Gefchichte erjeßt werden. 


443 


Aus der Gejellichaft entmwidelt fi der Staat durch die An- 
erfennung einer gefchichtlichen Haftbarkeit der einzelnen Generatio- 
nen für die Erhaltung und Mehrung eines materiellen und geifti- 
gen Gemeinbefiges, den jedes lebende Gefchlecht als ein Fidei⸗— 
commiß der Vorzeit zu betrachten hat, und für deſſen Benugung 
und Entwicklung e8 der Nachwelt verantwortlich iſt. Jede frei 
eingegangene Affociation ift vollfommen fouverain in der Wahl 
ihrer Zwecke und Mittel und in jeder augenblidfichen Veränderung 
beider; fie hat nur die Verpflichtung, die Minderheit zu entichä- 
digen, die dem neuen Wege nicht folgen will, und da Niemand 
ein unablösbares Recht auf Theilnahme an einer willkürlich ge 
Ihloffenen Verbindung haben kann, fo wird die Minorität fich 
mit dieſer Entſchädigung begnügen müſſen. Das Ganze des 
menjchlichen Lebens ift fein freier Vertrag, fondern die Einzelnen 
werden in es hineingeboren; der augenblidlliche Beftand der Ge- 
ſellſchaft Hat nicht die Befugniß, die Rechtsbildungen der Ver- 
gangenbeit zu ignoriren oder alle Zukunft durch feine Beſchlüſſe 
zu vinculiven; er hat weder das Recht noch die Möglichkeit, Die 
zu entichädigen, die der Beweglichkeit feiner Meinungsänderungen 
nicht folgen wollen. Ein gedeihliches menfchliches Leben iſt nur 
möglih, wenn die Gejellichaft fich vor fich ſelbſt ficher zu Stellen 
ſucht, und alle wefentlichen Grundlagen ihrer Eriftenz, nicht nur die 
allgemeinen Rechtsgrundſätze ihres nationalen Gewiffens, fondern 
aud die ihrer Lage nothwendigen Diarimen der Verwaltung und jeg- 
licher Lebensgeftaltung durch Bildung emer ftarfen ftetigen alle 
Traditionen der Gerechtigkeit wahrenden Regierung über die Einflüffe 
ihrer eignen veränderlichen Stimmung hinaushebt. Dieſe vier Ele— 
mente find es, die den Staat bilden: das Tpracheinige Voll, das ein 
natürliches Intereffe feiner Einheit hat, das angeftammte Territorium, 
das ihm die Mittel zur Behauptung feiner Selbftändigfeit gewährt, 
die Regierung, welche die gefchichtliche Continuität des nationalen 
Geiſtes vertritt, endlich Die allgemeine Ueberzeugung, daß alle Frei= 
beit der Einzelentwiclungen, ihr Streit und ihr Fortſchritt, Durch 
rechtliche Vereinbarung des Volles und der Regierung erfolgen müſſe. 


444 


Auch dies ift ein Ideal, deflen Verwirklichung in verfchiede- 
nen Formen des Verhältniſſes zwifchen Regierung und Boll ge 
fucht werden kann. Gewiß ift jeve Berfaffung, die den Umftän- 
den zwedmäßig entjpricht, unter dieſen Umftänden jeder andern 
vorzuziehen, Die ihnen nicht entfpricht; aber eine Abftufung des 
Werthes verjchiedener Staatsformen ift hierdurch nicht im Allge- 
meinen verneint. Es liegt und fern, aus irgend welchen doctri- 
nären Gründen, die feine Bedeutung im Leben haben, die erbliche 
Monarchie als denknothwendige Einrichtung nachzumweilen, aber 
darin ftimmen wir dem modernen Bewußtſein bei, daß prattifch 
nur in ihr die Form der Regierung gefunden fei, welche an fich 
und unter den Bedingungen der Gegenwart die größte Bürgſchaft 
einer ftetigen Entwidlung darbiete. Durch feine Erfindung kann 
man hoffen, alle Krankheit alle Uebel und alles Unglück zu ver- 
hindern; Durch feine fociale Einrichtung läßt fich die Möglichkeit 
ihres Mißbrauchs und ihrer unvollfommenen Durdführung be 
feitigen, durch feine Verfaffung endlich den unruhigen und neidi- 
ſchen Wünſchen der Thorheit die volle Befriedigung fichern, auf 
welche der Wünfchende überhaupt nur als Glied der Geſellſchaft 
irgend eine Hoffnung hat. Nichts als das Mögliche zu verlan- 
gen, wird jeder Kegierungsform gegenüber nothwendig fein; won 
diefem aber gewährt die erblihe Monarchie mehr als andere. 

Bor allem fol der natürliche Kampf der Geſellſchaftsklaſſen, 
deren jede ihre bejonderen Intereſſen jo weit als möglich verfolgt, 
nicht zu einem Kampfe um die politifche Gemalt werden; und 
diefer eine Grund wird republikaniſche Verfaffungen nur ımter, 
fpeciellen Bedingungen heilſam fein laſſen. Wo ein Heiner Staat 
durch die Eigenthlimlichfeit feines Bodens und feiner Lage oder 
durch bejondere geſchichtliche Fügungen alle feine Angehörigen auf 
gleiche Erwerböquellen und gleiche Beſchäftigung angewieſen fieht, 
fönnen dieſe gleihartigen Intereſſen auch eine weitausgedehnte 
Betheiligung der Einzelnen an ihrer Vertretung zulaſſen. Es hat 
Ackerbaurepublilen Hirtenrepubliken Handelsrepubliken gegeben; 
doch keine von ihnen hat alle Zweige menſchlicher Bildung eher 








445 


gepflegt, bis fie reich geworden eine Artitofratie erzeugt hatte, die 
der Menge feinen nennenswerthen politifchen Einfluß übrig ließ. 
Eine größere Gefellihaft, mit einer Mannigfaltigleit in einander 
greifender Berufe, wird durch Annahme republifanischer Formen 
allemal eine merkliche Einbuße an Bielfeitigfeit ihrer Humanität 
erfahren und das durch Nichts zurückgehaltene Uebergewicht Des 
Reichthums oder der tonangebenden Xebensrichtungen wird Die 
politiichen Inſtitutionen einfeitig zu feinen Gunften ausbeuten 
oder durch Aufreizung des Wideritandes fie bejtändigen Schwan- 
fungen ausjegen. Es iſt billig, daß die verfchiedenen Klaſſen der 
Geſellſchaft mit ihren Wünfchen und Forderungen von der Re 
gierung gehört und beachtet werben, aber es ift nicht wünſchens⸗ 
werth, daß aus ihnen felbft die Regierung beftehe. Jede Form 
der Berfaffung, die aus Wahlen entweder ein zeitweiliged oder 
lebenslängliche8 Oberhaupt oder eine regierende Behörde herbor- 
gehen läßt, führt die Eiferfucht der verſchiedenen Berufsarten 
Stände Confeffionen zu einem ungehörigen die Stetigfeit der 
Staatsentwiclung unterbrechenden Einfluß; es ift weſentlich, daß 
der Belit der höchſten Staatögewalt über alle Bewerbung erhaben 
fei, Daß der regierende Wille keiner Gefellichaftsklaffe angehöre, 
daß er nicht genöthigt fei, Durch einfeitige Verfolgung irgend eines 
Intereſſes Unterhalt Gewinn und Schmud des Lebens zu fuchen, 
daß vielmehr die Ausnahmsftellung, die er genießt, ihm alle Gliter 
von Anfang an gewähre und jenem Ehrgeiz fein anderes Ziel nod) 
zu erreichen Yaffe, ald den Ruhm gemiffenhafter Verwendung feiner 
Gewalt zur Erhaltung und Mehrung des ihm Anvertrauten. 
Daß die Gejellichaft aus concentrifchen Kreifen, wie Die 
Einen jagen, aus verfchlungenen nad) der Meinung der Andern 
beftebe, oder daß fie pyramidal von einer breiten Grundlage auf: 
fteige, und daß alle diefe Geftaltungen einen untheilbaren Mittel- 
punkt oder Schlußpunkt fordern: das freilich ift fein Grund für 
die erbliche Monarchie, denn fie ift weder ein Gegenjtand der 
Geometrie, noch handelt e8 ſich mit ihr um die Compofition eines 
Bildes von maleriſchem Effect. Daß die Nation fich ſelbſt, ihre 


446 


Intereffen und ihren Genius in einer Perfünlichkeit verkörpert zu 
fehen fich fehne, gilt uns mehr; denn diefe Verkörperung ift in 
der That von pfychologifcher Wirkſamkeit, weil fie nicht eine bloße 
abftracte Symbolik ift, fondern ein Verhältniß von Perfon zu 
Perfon begründet, das in lebendigen Gefinnungen der Treue der 
Berehrung der Bewunderung der Liebe von der emen, der Ge 
vechtigkeit des Wohlmollens "und der Gnade von der andern Seite, 
mit feinem Segen die Heinften Berhältnijje des Lebens durchdringen 
kann. Doch iſt an fi diefe Berlörperung des Staates nicht 
an die Einheit des Oberhauptes gebunden; auch in einer Arifto- 
kratie, einem Patriciat leitender Familien könnte fie gedacht werden, 
und fo groß ift die natürliche Neigung der Menge, fih führen 
zu laffen, daß fie bei einiger Schonung ihrer Intereſſen und 
ihrer Gefühle auch in diefer Mehrheit von Perjonen die leibliche 
Erſcheinung des Ganzen verehren würde. Allein eine bevorzugte 
Geſellſchaft ift in ihren Vorurtheilen, die durch beftändigen inne= 
ven MWiderhall genährt werden, gewöhnlich befchräntter, in ihrer 
Geſinnung hochmüthiger, in ihren Bejchlüffen härter als der Ein- 
zelne, deſſen Stellung, über jeden Vergleich erhaben, feine Abwehr 
zubringlichee Gleichberechtigungsanfprüche bedarf. Bon dem Einen 
Fürſten ift Schonung und Audgleichung unbillige8 Drudes der 
Gefege und der Umſtände eher zu erwarten, als von ariltofrati- 
ſchen und demofratifchen Majoritäten, denen die Theilung der 
Berantwortlichkeit und die Unperfünlichkeit ihrer Entfchlüffe die größte 
Härte theils doctrinärer Conſequenz theil® graufamer Leidenfchaft 
leicht macht. Am meiften aber warnt uns die Gefchichte, Durch 
Bertheilung an mehrere gleichzeitige Träger die Staatögewalt für 
diefe zum Zielpunkt einer Bewerbung zu machen, welche den un— 
getheilten Beſitz derſelben durch Spaltung des Bolfes in Parteien und 
durch ungerechte Begünftigung der mächtigeren Intereſſen anftrebt. 

Aus dem Gefühl diefer Gründe ift die urfprüngliche Führer 
ichaft der Stammesfürften, nicht das ſpäter ausgebildete Künig- 
thum entftanden; aber fie find die Motive, die dauernd in den 
Völkern die Bereitwilligfeit erhalten, dem gefchichtlich entitandenen 


447 


Königthum die Leitung ihrer öffentlichen Angelegenheiten unter 
dem privatrechtlichen Titel eines erblichen Yamilienbefiges zugehörig 
zu benfen. Dem möglichen Mißbrauch diefer Staatsgewalt haben 
fie, je beftimmter fie dieſe Berechtigung der Legitimität anerfann- 
ten, um jo mehr file nöthig gehalten, eine Vertretung ‚ihrer eig- 
nen Rechte gegenüberzuftellen, und haben fo die conftitutionelle 
Monarchie, die Lieblingsichöpfung des legten Jahrhunderts, begründet. 


Es wäre intereffant, voraus zu willen, wie einft [pätere Zeiten 
über den Conftitutionalismus der Gegenwart urtheilen werden. Sie 
würden gewiß Unrecht haben, wenn fie feinen Grundgevanfen eines 
beftändig zu erneuernden Einvernehmens zwiſchen der lebenden Ge- 
neration und der Regierung wieder aufgeben wollten, welche, wem 
auch immer übertragen, die gefchichtliche Idee des Ganzen gegen- 
über den wechjelnden Intereſſen des Tages vertritt. Mit mehr 
Grund würden fie vielleicht zweifeln, ob der Compler der jet üb— 
lichen Formen des conftitutionellen Lebens aud) nur der glücklichite 
Behelf in der gejchichtlich bedingten Lage unferer Zeit geweſen ift; 
aber gewiß werden fie Recht haben, wenn ſie ihn nicht für ein 
Ideal in dem Sinne halten, in weldyen ein mwohlmeinender Doctri= 
narismus ihn als das Erzeugniß volllommner politiicher Einficht 
gepriefen hat. Höchft ungerechte Unterdrückung des dritten Standes, 
dem bei Ueberbürdung mit Laſten feine regelmäßige Vertretung ferner 
Intereffen zu Gebot ftand, hatte im” Zeitalter der Revolution einen 
leidenfchaftlichen Haß gegen alle Unterfchieve rechtlicher politifcher 
und gejellfchaftlicher Geltung entflammt; die nicht minder drüdenden 
Hemmungen, welche die veralteten Formen der Zünfte Innungen 
und Corporationen der freien Bewegung der Kräfte entgegenitellten, 
hat dann aud den frieblicheren Liberalismus veranlaßt, Die völlige 
Aufhebung diefer Einrichtungen ihrer dringlichen Umgeftaltung vor= 
zuziehen. So entftand der Begriff des Staatsbürgers, theoretiſch 
eine jonderbare Erfindung, üiberflüffig, wenn fie nur diejenigen be= 


448 


zeichnen foll, die, unter Teines Anderen Bormundfchaft, unmittelbar 
den gleichen Geſetzen für Alle unterftehen und unmittelbar zu den 
allgemeinen Leitungen verpflichtet find, aber jehr bevenklidh, wenn 
er diefe rechtlich gleichen Atome fofort auch für politifch gleich- 
werthige Elemente ausgibt. Mit den Lieblinggmeinungen unſerer 
Zeit bin ich freilich in völligen Widerſpruch, wenn ich diefe Gering- 
ſchätzung des corporativen Elements fiir unferen weientlichiten Fehler 
anfehe. Nicht dahin wollen wir natürlich zurüd, auf Körperſchaften, 
für deren Beftehen fchon kein probabler Grund zu finden ift, Pri- 
vilegien zu häufen, fiir die noch weniger ein begreiflicher Rechtsar- 
ſpruch beftände; wohl aber wiirde eineötheil eine lebendige Zu— 
fammenfafjung des Zufammengehörigen die Disciplin unterhalten, 
deren wir fo ehr bedürfen ımd die wir doch Durch allgemeine Ge— 
fege nicht erzwingen können; anderſeits würden diefe Verbmdungen, 
wie fie theils die weſentlichſten Berufe, Aderbau Induftrie Handel 
Kunft und Wiſſenſchaft, theils Iocal die eigenthlimlichen Lebensver⸗ 
hältniffe verfchiedener Landſchaften repräfentirten, die wahren Ein- 
beiten bilden, deren Vertretung durch Ausgleichung ihrer Intereffen 
die Bedürfniffe des Ganzen zu decken hätte. 

Sch will nicht durch den Verfuch ermüden, Zahl und Ordnung 
diefer Einheiten feftzuftellen; ich begnüge midy zu erinnern, daß fie 
weder an fich noch für jeden Staat von gleichem Gewicht unter 
einander fein können; die nähere Beitimmung ihres Zufammenwirfens 
ift nicht Die Aufgabe einer allgemeingültigen abftracten Staatslehre, 
jondern die einer concreten Politi. Auch hierin verſtoße ich gegen 
die beginftigten Auffaffungsiweifen unjerer Zeit. Dem Begriff des 
Staatsbürgers entfprechend betont fie auch den des Staates felbft 
in einer Weife, ald wären e8 nicht die Bölfer, die zum Zwecke ihres 
Lebens ſich ihre ftaatlichen Formen bilden, als wenn vielmehr an 
fih der Staat als der fefte Rahmen beftände, dem jedes nationale 
Leben fich anbeqiemen müßte Allerdings bedingen die gleichartigen 
Bedürfniſſe aller menschlichen Gefellichaften auch weitreichende Ana⸗ 
logien ihrer formellen Berfaffungen; allerdings gelten anderſeits Be- 
Ihlüffe nur im Bereich des einzelnen Staates, von deifen Bertre- 





449 


tung fie gefaßt werden, und nur durch die bier vorhandenen Ber- 
hältniffe pflegen fie veranlagt zu fein. Allein, wenn auch deshalb 
im Einzelnen nicht unmittelbar ſchädlich, fo gibt doch dieſe Ver- 
götterung des Staatöbegriffes unferen Beftrebungen eine faljche 
Färbung; fie veranlagt eine tiberflüffige Menge doctrinärer MWeis- 
heit, die Vieles von dem, was örtlich und zeitlich wandelbar fein 
müßte, unter dem Titel einer flaatlichen Function zu centralifiven 
und feftzufegen ſucht, mährend fie umgefehrt nur zeitweilig be- 
willigen und befchließen mag, was zu den unaufheblichen Noth— 
wendigkeiten des nationalen Lebens gehört. Die Einheit Deutfch- 
lands verdanken wir den Machtmitteln, welche die ftaatlichen Ge— 
walten gejchaffen hatten; aber die Opferwilligfeit, die den Erfolg 
ſicherte, beruhte auf der Liebe zu Deutfchland, nicht auf der Be— 
geifterung für „den Staat“, von welchen Allgemeinbegriffe und 
Europa ja die mannigfachften Beifpiele zur Auswahl bietet. In 
der That, je mehr wir diefe Abftraction als die höchſte Duelle 
unferer Kechte und als den Empfänger unferer Reiftungen anjehen, 
um fo zmweifelhafter wird der Grund zu unferer Verpflichtung, doch 
eben nur dem emen Staat diefe Dienfte zu gewähren und Die 
Unterftiigung eines ‘anderen al8 Verrath zu ſcheuen. Andere Völker 
leben nicht unter dem Eindrucke derfelben Vorſtellungsweiſe. Wenn ein 
dringlicher Augenbli eintritt, hören wir: Altengland erwartet, daß 
Jever feine Schuldigkeit thue, oder: Frankreich will es, oder das 
heilige Rußland und das Sternenbanner rufen die Ihrigen; nur 
die ftarfe Hand, der unfere auswärtigen Angelegenheiten anver- 
traut find, hält auch für unjer inneres Leben das nationale Banner 
hoch und dieſem werden wir folgen; die allgemeine Staatsfahne 
ohne Farbe und Embleme, die unfere Theoretiker und Parteiführer 
ſchwingen, wird ſchwerlich eine begeifterte Nachfolge erwecken. Nicht 
das beflagen wir, daß große Verkehrszweige in eine öffentliche Ver- 
mwaltung vereinigt werden follen; denn das Bedürfniß des Volkes 
ſelbſt kann diefe Maßregel rechtfertigen; aber darin fehen wir eine 
Berftaatlihung, die zu fürchten ift, daß die Nation ihr ganzes 


eigenes Leben von dem felbitgefchaffenen Staate a se nehmen 
Loge, III. 3. Aufl 


450 


will, daß man das gemeine Weſen einfeitig als ein Rechtsverhält⸗ 
niß auffaßt, umd folgerichtig durch eine bloße Staatsverwaltung, Die 
Regierung zu erfegen jucht, die ftetd eine mefentlich politifche Thätig- 
keit iſt. 

Dies ſind Theorien; wüßte ich die Maßregeln anzugeben, durch 
welche fie ohne Schwierigkeit praltiſch ausführbar würden, fo würde 
ich glauben, ein großes ſtaatsmänniſches Räthſel gelöft zu haben. 
Nur fo viel ift Kar, daß die beftehenden Einrichtungen zur Erfül- 
lung unferer Wünſche untauglic) bleiben würden. Durch eine Ver— 
tretung, welche aus den corporativ zufammengefaßten Berufszweigen 
herborginge, für jede Frage den fachverjtändigen Stimmen das ihnen 
zulommende Gewicht zu fichern, würde ohne Zweifel nur als ftraf- 
würdiger Angriff auf die ſtaatsbürgerlichen Rechte angejehen werben, 
die man fich nun einmal gewöhnt hat, nur in der Form einer Volle- 
vertretung fir ausübbar zu halten. Und doch lehrt eine einfache 
Berechnung, daß jeder Mechanismus directer oder indirecter Wahlen 
aus der ungefchiedenen Maffe des Volles zwar dem Einzelnen die 
Heine formelle Befriedigung gewährt, mit dabei geweſen zu fein, 
daß aber der meitere Erfolg gänzlich feinen Händen entichlüpft 
und die Entjcheidungen, ohne Rückſicht auf feine eignen. Wünfche 
und Erwartungen, in die Hände der „Ich und meine politifchen 
Freunde“ libergehen. Auch ift Har, daß Verhandlungen großer 
Berfammlungen wenigftens nicht mehr die einzige Form fein könnten, 
in welcher die Wechſelwirkung der Factoren ftattzufinden hätte, 
welche wir an die Stelle der vorhandenen gefegt wünfchen. Aber 
hierüber haben wir ja Erfahrungen gemacht, und ich begegne wohl 
nicht zu zahlreichem Widerſpruch, wenn ich eines Preifes würdig 
die Beantwortung der Frage finde, ob es nicht möglich ift, die wahren 
Güter eines conftitutionellen Staatslebens auch ohne die Form 
einer parlamentarifchen Volksvertretung zu erreichen? 

Bon anderer Seite her drängt gegen die bisherige Ordnung 
der Socialismus. an; auch er mit dem Berlangen, das gemeine 
Weſen auf ganz neue Grundlagen geftellt zu fehen. Er hat indeſ⸗ 
jen bisher nicht davon überzeugen können, daß die Einführung 


451 


des Neuen "gelingen fünnte, ohne den Drud, der jet allerdings 
die eine Seite des Volles trifft, mit gleicher Schwere auf die an- 
dere iiberzulaften; und ebenfo wenig davon, daß die gewünſchten 
Einrihtungen auch nur fo weit lebensfähig fein würden, daß der 
Berfuch, fie herzuftellen, gerechtfertigt wäre. Die Theorie des ab- 
ftracten Staates wird die Hülfe ebenfo wenig bringen; aus ihr 
laſſen ſich Befugniffe und Pflichten entwideln, aber feine Auskunft 
darüber, woher die Mittel kommen follen, nun jene zu benußen 
und diefe zu erfüllen. Wenn irgend wo, fo ift hier eine erfinve- 
riſche Phantafie nöthig, die fich nad) den Umftänden und nicht nach 
unabänderlichen Grundfäten richtet; fie allein wird nicht nur den 
Uebeln begegnen, die Die Natur verhängt, fondern vor allem das= 
jenige Elend zu lindern die Pflicht haben, Das eben aus der Ver— 
fettung der gefellichaftlichen Verhältniſſe felbft entſpringt. Es iſt 
noch feine Mafchine erfunden worden, die ohne alle Reibung fich 
bewegte, und die Mechanik fucht Dies unmögliche Refultat nicht, 
aber fie hat Mittel, um die ſtets entftehende zu verkleinern oder 
unſchädlich zu machen; auch diefen pofitiven Trieb der Hülfsleiftung, 
fo wie die Fähigkeit, aus der Nähe gefehenen Uebeln mit ebenfo 
befannten und geläufigen Mitteln entgegenzuwirken, würden wir 
corporativen Verbänden leichter zutrauen, als den unorganifirten 
Berfammlungen, die meift nur einige bekannte und in Bezug auf 
einzelne Fragen unentjchiedene pariemeuningen gegen einander 
ftreiten laffen. 


Ein großer Theil der politifchen Leiden liegt in den inter= 
nationalen Berhältniffen der Staaten und in dem völligen Mangel 
eines ausgebildeten und anerkannten Völkerrechts. Die Gültig— 
feitädauer und Verbindlichkeit der Verträge, dad Recht oder Unrecht 
ber Intervention in fremde Angelegenheiten, die Schwierigkeiten, 
in welche die dynaſtiſche Yamilienerbfolge durch Bereinigung oder 
Trennung der Stantögewalt liber fremde oder verwandte Völler 

29 * 


452 


führt, waren ftet8 und find noch jetzt Tyragepunfte, deren Ent- 
ſcheidung im einzelnen Falle nad) Gründen eines wohl- oder übel⸗ 
verftandenen Intereſſes zu erfolgen pflegt, und in Bezug auf 
welche fich beftändige Rechtsgrundſätze kaum erjt zu bilden be 
ginnen, noch weniger allgemeine Achtung gewonnen haben. 

Jeden Vertrag für unaufheblich zu halten, zu welchem zwei 
Willen ſich einmal vereinigt haben, wiirde die Prätenfion liber- 
menfchlicher Weisheit einfchließen; denn nur eine folche könnte 
porausfehen, daß nie Umftände eintreten werden, die den Willen 
ändern, feine Ausführung finnlos machen oder fie zu einer liber- 
mäßigen Beeinträchtigung des einen Theils ausfchlagen laſſen. 
Die Verträge der Nationen und ihrer Staatögewalten können 
nicht unaufbeblicher, fondern müſſen e8 noch weniger fein, da un- 
möglich der Wille der eimen Generation den der folgenden un— 
widerruffich binden kann. Nicht darum, weil vor Jahrhunderten 
ein alter Tractat die ewige Ungetheiltheit zweier Länder feſtſetzte, 
befteht fie jegt unlösbar zu Recht, fondern nur darum, weil die 
gegenwärtige Gefinnung des lebenden Gefchlechts für ſich dieſe 
Beitimmung anerfennt und mit ihrem eignen Willen jie will; 
fehlte diefer Wille, fo fehlte mit ihm die Kraft jenes Vertrags und 
nur die Sorge flir die Ablöſung der Rechtsanſprüche bliebe übrig, 
die auf dem Grunde ſeiner früheren Gültigkeit im Laufe der Zeit 
erwachſen ſind. Einen kündbaren Vertrag während der Dauer 
ſeiner Gültigkeit zu achten, muß den Völkern zugemuthet werden; 
unkündbare unterliegen unvermeidlich jener Logik der Thatſachen 
und Niemand darf über ihren endlichen Bruch klagen, da ihrer 
Eingehung vielmehr ſchon die rechtliche Begründung fehlte. 

Die ſittliche Pflicht zu dem Verſuche, den Streit zweier 
Willen beizulegen, findet ſchon im Privatleben ihre Schranke an 
der zu achtenden perſönlichen Selbſtändigkeit, welche die Einmi— 
ſchung des Dritten verbietet, ſo lange der Streit nicht deſſen eigne 
Intereſſen gefährdet. Doch pflegt Niemand dem Gegner das 
Recht zu leugnen, die thätige Parteinahme des Dritten anzuneh— 
men, noch dieſem die Berechtigung, den Kampf zu feinem eige- 





453 


nen zu machen; nur eine Befugniß, nicht als Partei, fondern als 
Schiedsrichter zwiſchen Beide zu treten, wird der Unterftüßte un— 
gern zugeftehen, der Andere ſtets entfchteden verneinen. Die 
Völker beurtheilen ihre Kämpfe ebenfo. Sie haben nie über Rechts- 
verlegungen geflagt, wenn Allianzen die Zahl ihrer offnen Geg- 
ner vermehrten, nie die Befugniß Anderer bezweifelt, ihre redlichen 
Feinde zu werden; aber der Begriff der Intervention, der bie 
Borausfegung einer jchiedsrichterlichen Gewalt des Auslandes über 
ihre inneren Angelegenheiten einfchließt, hat fie ftet8 gereizt und 
empört. Gleichwohl bildet die neuere Politif gerade die Lehre 
von diefer Befugniß mit Liebe aus. Wie einft die Blutrache der 
Einzelnen durch die üffentliche Gerechtigkeitspflege der Gefellichaft, 
fo follen mindeftens in der europäifchen Völferfamilie die blutigen 
Ausbrüche der Selbithülfe abgewandt oder unterdrückt werden durch 
den Spruch der Geſammtheit, die jeßt bei -der engen Verknüpfung 
der Nationen durch jeden Streit ihre gemeinfamen Intereſſen be= 
droht fieht. Nichts fehlt gegenwärtig diefer an fich vortrefflichen 
Theorie, als die Bedingungen ihrer Ausführbarfeit und die Auf- 
richtigfeit der Motive, die zu ihrer Aufitellung bewegen. Der 
Bölferareopag, deſſen unbeftechliche Gerechtigkeit dieſer Entwurf 
vorausſetzt, bejteht nicht, und er wird kaum jemald anders als in 
Geſtalt meniger Großmächte beftehen, die im Sinne ihrer fpeci- 
ellen Intereſſen iiber die Ansprüche der minder mächtigen richten. 
Könnte jedoch der Egoismus diefer Motive in der That dur 
eine allgemeine Repräfentation der Staaten in den befchließenden 
Congreſſen paralyfirt werden, jo würden der Analogie diefer Ge— 
richtöbarfeit mit der des einzelnen Staates über feine Unterthanen 
ftet8 noch wefentlihe Züge fehlen: die Möglichkeit vollitändiger 
Klarmachung der ftreitigen Nechtöverhältniffe vor einem Yorum 
auswärtiger Staatögewalten, die von andern Nationalgefüihlen 
und andern gefchichtlihen Erinnerungen beherricht, Werth und 
Dringlichkeit der gemachten Forderungen und Gegenforderungen 
nachzufühlen weder fähig noch willig find; Die feſte Regel eines 
allgemeingültigen Völkerrechts, an deſſen Stelle eine den Vortheil 


454 


des nächſten Augenblids allen bedenlende großer Geſichtspunkte 
entbehrende Diplomatie unhaltbare Erwägungen der Opportimität 
fest; die Unbetheiligtheit der Richter an der ftreitigen Sache, 
deren Stelle eine gegenfeitige Eiferfucht nicht vertreten Tann, Die 
ftatt des Willens der Enticheidung meift nur den der Verzögerung 
erzeugt; endlich die Möglichkeit ficherer Ausführung eines gefäll- 
ten Spruches gegen das Wiberftreben der Nichteinftimmenden. 
Nicht eines der großen internationalen Probleme, deren fich bis⸗ 
ber europätfche Congreffe angenommen, hat eine zufriedenftellende 
fung erfahren; nicht eine der politifchen Bildungen, welche fie 
geichaffen, fich als dauernd Iebensfähig erwiefen; nicht eine von 
denen, welche fie unterdrücken, ift fo vertilgt worden, daß fie nicht 
in immer erneuten Convulfionen die allgemeine Ruhe erſchütterte 

Niemand Tann fagen, wie die Geſchichte verlaufen wäre, 
wenn dieſe oder jene Bedingungen anders geweſen wären; aber auch 
darin befteht eine der Unvorfichtigfeiten unferer Zeit, daß wir fo 
oft in einem gefchichtlichen Röformement, das nur den wirklichen, 
nicht jenen möglichen Verlauf beachten kann, eine kurze Reihe 
guter Folgen, die wir bisher beobachteten, uns als Rechtfertigung 
vorhergegangener Berfehrtheiten gefallen laſſen und nicht bedenken, 
daß des nächften Tages Abend Die. verzögerte Vergeltung doch her- 
beiflihren kann. Und eben deshalb, weil wir die Zukunft nicht 
wiffen, muß es die Pflicht der Politik fein, unter allen Umftän- 
den das Recht zu achten, fo lange es irgend erfennbar ift; mo 
aber die menfchliche Weisheit nicht mehr ausreicht, e8 zweifellos 
zu erfennen, ift es vielleicht heilfamer, das um jeden Preis zu ver- 
treten, was man nach beftem Gewiſſen als Recht empfindet, und 
den Erfolg der Vorſehung anheimzuftellen; beilfamer, als felbft Vor⸗ 
ſehung zu fpielen und, durch Erhaltung eines unwahren Friedens, 
der Gefellichaft der Zukunft Die Schwierigfeiten zu mehren, Deren 
fie ohnehin felbft genug erzeugen wird. 








Reuntes Bud. 


Der Zulammenbang der Dinge. 










ZEN = 
— ee 
4 da v N a 





Erftes Kapitel, 


Bon dem Sein der Dinge. 


Einleitung. — Drei Anfänge unjered Erkennens und Aufgabe ihrer Verknüpfung. — 
Das Sein der Dinge ein Stehen in Beziehungen. — Die Naturen ber Dinge 
vergleichbat. — Nothwendigkeit Tubftantieller Verknüpfung bed endlichen Vielen in 
ber Einheit des Unenblichen. 


Ueber die Bedeutung der Welt, die uns umgibt, und unfere 
eigne Stellung in ihrer Mitte, über die Ziele, die ung im Zu— 
ſammenhang der Dinge geftellt und über die Güter, die unferer 
Zufunft vorbehalten find: über alle dieſe Räthſel unferer Herkunft 
und unferer Beitimmung ift zu allen Zeiten nachgejonnen wor— 
den, bald mit dem leidenfchaftlichen Eifer, der eine nie gefundene 
Löſung dennoch endlich zu finden hofft, bald mit der Genügfan- 
keit nachlaſſender Kraft, die den völligen Erfolg aufgebend ſich 
mit glaubhaften Meinungen über die Ferne zufriedenftellt. In 
den religiöfen Weltanfichten, ven philofophiichen Speculationen, in 
den allgemeinen Anſchauungen, welche. die Kunſt in verfchiedenen 
Zeitaltern befeelen, in den MWeberzeugungen, die fi in mannig- 
fachen Formen nationaler Sitte und Lebensgewohnheit ausprägen, 
Tiegen die Ergebniffe dieſer geiftigen Arbeit vor uns, farbenreich 
und anziehen, der wilrdigfte Gegenftand, in den unfere Betrad)- 
tung fich endlos vertiefen könnte. Ein anderes Ergebniß indeſſen, 
als unfere flüchtige Ueberficht bot, würde fie auch fo ſchwerlich 
gewinnen: es ift immer nur funzen, durch gefchichtliche Umftände 


458 


begünftigten Zeitaltern gelungen, über emer friſch ungeregten 
ſchwungvollen Thätigfeit des Lebens oder über der hoffnungsvollen 
Begeifterung für neue vielverjprechende Ideen die alten Zmeifel zu 
vergeffen; aber zu einer dauernden Löſung ift diefe Beſchwichtigung 
weder durch den Geift irgend einer Zeit, noch durch die Ent- 
deckungen irgend eined Einzelnen geworden. 

Und dennody wollen wir das Unmögliche noch einmal unters 
nehmen? und wollen in dieſem Abichluffe unferer Betrachtungen 
endlich die wahre Weltanficht zu begrlinden verjuchen, welche Die 
Zweifel der vergangenen Jahrtauſende für immer zerftreut? 

Allerdings fcheint es in gewiller Weife fo, und dennoch tft 
e8 anders, und der Vorwurf maßlofer Ueberhebung dürfte ung 
auch dann nicht mit Recht treffen, wenn der größte Theil Der 
Erwartungen, die wir unmillfürlich erregen, getäufcht werden 
müßte. Denn in dem Berfuche felbft haben wir den Leſer zum 
Mitihuldigen; fo lange die Welt ftehen wird, fo lange wird der 
menfchliche Geift an diefem Unmöglichen ſich abmühen und in 
ſolcher Bemühung vielleicht größeren Genuß finden, als in der 
Wiederholung und Fortſetzung der Arbeiten, welche die Erfahrung 
als vollendbare, zu zweifellofen Ergebniffen flihrende, bereits Yen- 
nen gelernt hat. Und wodurd auch könnte die Muße des Lebens 
würdig ausgeflillt werden, wenn von ihren Beichäftigungen alles 
Nachdenken ausgefchloffen bleiben follte, das näher oder ferner, 
vielleicht nie fein Ziel erreichend, aber doc, in ftetiger Bewegung 
jene Räthfel umfreift, denen wir noch viel rathlofer gegenüber 
ftehen, wenn wir in einzelnen Augenbliden, durch die Ereigniſſe 
des Lebens aufgefchredt, haftige Gedanken umftet und wereinzelt 
auf fie richten müſſen. Ich erhebe feinen höheren Anfpruch für 
den Reit meiner Darftellung, als diefen, den fie vielleicht recht- 
fertigen wird: fie mag die zufammenbängenden mir lieb gewor- 
denen Ergebniffe eines lange unterhaltenen Nachdenkens dem Leſer 
mit der Aufrichtigfeit darbieten, mit welcher in jeglicher ernfter 
Unterhaltung Jeder fein Beftes mittheilen fol, um Augenblicke 
der Muße zu Augenbliden bleibender geiftiger Sammlung zu 


459 „, 


erhöhen. Dies lebendige perfünliche Verhältnig zu dem Gemüthe 
des Leſers, wenn mir gelänge es herzuftellen, wirde mir mehr 
gelten, als das Glück, der Weltanficht, deren Umriſſe zufammen- 
zufaffen ich im Begriff bin, eine Stelle in der Entwiclungsge- 
fchichte der Philoſophie zugeftanden zu fehen. Denn einigermaßen 
bezweifeln wir jeßt wohl Alle die Triftigkeit des Glaubens, der 
vor nicht allzulanger Zeit den eigentlihen Marffaden der MWelt- 
geichichte in dem Fortſchritt der Philoſophie zu finden glaubte 
und bei jedem Wechfel fpeculativer Syſteme einen neuen Lebens⸗ 
abfchnitt des umbedingten Weltgrundes anbrechen fah. Und hätten 
wir felbft feinen Grund zu dieſem Zweifel, fo wilrde mir doch 
die Erwägung, ob eine auszufprechende MWeltanficht folgerecht in 
den eben begonnenen Rhythmus jener Entwicklungsgeſchichte paſſe, 
ob fie nicht verfpätet nicht verfrüht komme, ob fie nicht ganz neben- 
aus gehe und aus der regelmäßigen Reihenfolge der Sufteme zu 
verbannen fei: diefe und alle ähnliche ragen der Etikette wür— 
den mir unerheblich erfcheinen gegenliber der ernjthaften Beforg- 
niß, ob das, was ich mitzutheilen wüßte, im Stande fein möchte, 
durch Aufklärung irgend einer Dunkelheit durch fung irgend 
eines Zweifels durch Eröffunng irgend emer Fernſicht ein ge= 
gedrücktes Herz zu beruhigen zu erleichtern oder zu erfrifchen. Nicht 
darin, daß wir Entwidlung fpielen, fondern in dieſen Leiftungen 
des lebendigen Menſchen an den lebendigen befteht der Werth 
auch jener Speculationen, die ſich um die höchſten Wahrheiten 
bemühen. | 

Keine andere und feine höhere Abſicht Hatten die Darftel- 
lungen alle, zu deren endlichen Abſchluß mich die Theilnahme 
ermuthigt, welche ihr Anfang gefunden hat. Nur wiirde auch 
diefe Abſicht unerreicht bleiben, wenn ich nicht verſuchte, Die zer- 
ftreuten Fäden, die ich angefponnen habe, zu einem Geſammtbilde 
deſſen zu verknüpfen, was in der Beurtheilung aller jener Gegen- 
ftände erreichbar fcheint. Ich fühle um fo mehr die Nothmwendig- 
feit dieſes zufammenfafjenden Abichluffes, je weniger ich geglaubt 
habe, in meiner Darftellung von der Vorausfegung einer philo- 


460 


ſophiſchen Grundanſicht Gebrauh machen zu dürfen, als deren 
folgerichtige Entwicklungen die einzelnen Mittheilungen hätten er= 
fcheinen können. Ich hielt e8 fiir angemeffener und glaubte, wenn 
überhaupt, dadurch einigen Dank des Leſers verdient zu haben, 
daß ich überall mich mitten in Die Zweifel ftellte, wie fie das 
Leben in Bezug auf alle die einzelnen Fragen heruorbringt, die 
nad) und nach Gegenftand unferer Betrachtung murden; über— 
all babe ich mich bemüht, den theild verfchwiegenen theils nur im 
einzelnen Andeutungen hervorbrechenden Vorurtheilen nachzugehen, 
welche, aus äfthetifchen Interefien des Gefühls und andern Be 
dürfniffen des Gemüths entfprungen, die wahren Wurzeln find, 
mit denen die verjchievenften Meinungen in unferem Geifte haf⸗ 
ten. Nur geringer Gebraud, konnte deshalb von philofophiichen 
Begriffen und Grundfägen gemacht werden, welche großentheils 
erft zu jpäterer Dialeftifcher Begründung Bertheidigung oder 
MWiderlegung ſolcher Vorurtheile zugejchärft zu fein und den eigent- 
lichen lebendigen Werth derjelben für das menjchliche Herz wenig 
mehr erkennen zu lafjen pflegen. 

Diefer Gang meiner Arbeit Tonnte den Zufammenbang der 
Anfichten, Die ich vertrete, nicht hinlänglich darthun; ich werde 
jet zu zeigen haben, daß manche auffallend fcheinende Wider- 
ſprüche in ihm nicht beftehen, daß manche Spätere Wendungen des 
Gedankens ſchon den früheren zu Grunde lagen, mit denen fie zur 
ſtreiten fcheinen, und daß das Ganze der Veberzeugung, die ich 
hier mittheilen wollte, feinen Zufammenhang in dem hat, was 
ih am Anfang als den Zielpunkt meines ganzen Werkes bezeich- 
nete. Die Eigenthiimlichkeit dieſer Aufgabe möge die Unvoll- 
kommenheit dieſer legten Darftellung entfchuldigen, ſowohl die 
Wiederholungen, welche fie nicht ganz wird umgehen können, als 
die Verweifungen, welche, um jene nicht allzu fehr zu häufen, bie 
Aufmerffamteit des Leſers erfuchen, ſich zu früheren 
des Ganzen zurückzuwenden. 


461 


Für den tiefſten Grund der Schwierigkeiten, in welche fich 
unfere Beurtheilung des Zufammenhanges aller Dinge verwidelt, 
haben verfchiedene philofophifche Sufteme, von nicht ganz gleichen 
Standpuntten audgehend und im Laufe der Unterfuchung durch 
das befondre Intereſſe einer bevorzugten Frageftellung beherrſcht, 
mehr als einen erfchöpfenden Ausdruck zu finden geglaubt. Unſerer 
zufammenfaffenden Erinnerung an die Punkte, bei denen unfere 
früheren Betrachtungen anftießen, wird es fcheinen, als läge jenes 
größte Räthſel im dem gegenfeitigen Berhältniffe dreier Anfänge 
unferer Erkenntniß, auf welche wir alle unfere Beurtheilung der 


Dinge gründen müſſen, obne doch alle drei in einen gemeinfamen 


Gedanken vereinigen oder aus einem von ihnen die bejden andern 
al8 feine natürlichen Folgen ableiten zu können. (Alle unfere 
Zergliederung des Weltlaufs endet damit, unfer Denken zum 
Bewußtfein nothwendig gültiger Wahrheiten, unfere Wahr- 
nehmung zur Anſchauung ſchlechthin gegebener Thatfachen der 
Wirklichkeit, unfer Gemiffen zur Annerkennung eines unbedingten 
Maßſtabes aller Werthbeftimmungen zurüdzuführen. 

Aber Teine jener nothmwendigen Wahrheiten offenbart ung 
das, was ift; ‚ald allgemeine Gejege fprechen fie alle nur von 
dem, was fein muß, falls etwas Anderes ift; fie zeigen un, 


was unerläßlich aus Beringungen folgt, deren Eintritt ſelbſt fie‘ 


völlig zweifelhaft laſſen. Keine jener Anſchauungen anderfeits, Die 
und die thatfächlichen Züge der Wirklichkeit darftellen, läßt, uns 
diefe als nothmendige erjcheinen; wie ſchwer es auch unjerer 
Einbildungskraft fallen mag, fi) von dem Eindrud der Formen 
des Seins und Gefchehens zu befreien, an welche die Gefammtheit 
der Erfahrung uns gewöhnt hat, fo empfinden wir doch, daß in 
ihnen fein Grund ihrer Unerläßlichkeit Tiegt: fie könnten aud) 
nicht fein oder anders fein als fie find. Keine unferer Ideen des 
Werthvollen endlich, des Heiligen des Guten oder Schönen, läßt 
aus ſich ſelbſt heraus eime beitimmte Formenwelt als ihre" eigne 
Conſequenz entfpringen: felbft wo das Wirfliche ihren Inhalt 
deutlich wiederſcheint, bleibt doch Form und Färbung, in der dies 


RE v H. 


462 


gefchieht, nur eine aus vielen möglichen, bedingt durch Thatfachen, 
welche find und neben denen andere Thatfachen denkbar bleiben, 
die demfelben Inhalt andere Form und Farbe feiner Erſcheinung 
würden gegeben haben. Noch unklarer als dieſe Beziehung der 
denknothwendigen Geſetze einerſeits der werthbeftimmenden Ideen 
anderſeits zu dem thatfächlichen Beſtande der Wirklichkeit, verbirgt 
fich völlig für uns das Band, das jene beiden unter einander, die 
Ideen des Heiligen Guten und Schönen mit dem gleichgültigen 
aber unabänderlichen Inhalte der mathematifchen und metaphufifchen 
Wahrbeit verknüpfen könnte. 

Diefer Unzufammenhang hindert nicht nur die Vollſtändigkeit 
unferer Erkenntniß, fondern ift auch die Quelle der Zweifel, die 
unfer Leben drüden. So lange e8 uns fcheinen muß, als gehe der 
Welt wie ein unergründliches Schidfal das Gebot nothwendiger 
Geſetze voran, als finde fich dann mit einem neuen unableitbaren 
Anfang eine Wirklichleit ein, um fie zu befolgen, als treten 
Ideen des Geinfollenden zuleßt hinzu, um fo weit ſich zu 
verivirflichen, als es einerjeit8 die Schranlen jener unvordenklichen 
Geſetze anderfeits die Trägheit und der Widerſtand dieſes abkunft- 
Iofen Thatbeitandes geftatten: fo lange e8 uns fo fcheinen muß, 
hat unfere Weltanficht nicht die Einheit, die unfere Erfenntniß 
verlangen muß, und die Hoffnungen unferes Lebens entbehren der 
Beitätigung, die fie Träftigen könnte. Daß es nicht fo fei, daß 
nur Ein Anfang der Welt den gemeinfamen Grund ihrer Geſetze, 
ihrer Geftalten und ihrer Werthe enthalte, daß diefer Anfang nicht 
in dem an ſich Bebeutungslofen wenn auch Nothiwendigen lieg 
jondern daß das Werthuollite zugleich das Erfte und Letzte fei:. 
diefe Ueberzeugung halten wir feft, und fuchen jekt fir fie, die 
alle unfere bisherigen Betrachtungen belebte, fowohl den genaueren 
Ausdrud, der an die Stelle des eben gebrauchten treten muß, 
als die Begründung, welche ihr überhaupt gegeben werden Tann. 
Meder jener Ausdruck noch diefe Begründung werden vollitändig 
den Anforderungen genligen, welche wir font an wiflenfchaftliche 
Darlegungen mit Recht ftellen: wie werden uns häufig begnügen 


463 


müffen, Har zu machen, was wir meinen und verlangen, ohne 
nachweilen zu können, wie Das fein könne, was wir meinen und 
verlangen; wir werden nicht tiberall die Nothmwendigleit des Ge 
fuchten darthun und feinen ganzen Inhalt mit der Sicherheit einer 
ſchlußkräftigen Deduction aus unleugbaren Vorderfägen entmwideln, 
‚londern zufrieden fein müſſen, die Schwierigkeiten zu befeitigen, 
die dem lebendigen Glauben an fein Borhanvenfein entgegenftehen, 
und e8 felbft als den letzten Zielpunkt aufzumeifen, dem wir uns 
zu nähern haben, ohne ihn gleichwohl erreichen zu können. 

Doc, diefe Vorbemerkungen greifen den einzelnen Fragen, in 
deren Verfolgung ihr eigner Sinn erſt verftändlich werden Tann, 
nur in der Abficht vor, unerfüllbaren Anfprüchen durch das Ge— 
ftändnig des Unvermögend im Allgemeinen voraus zu begegnen; 
ich vermehre fie nur noch um eine, welche unfere nächite Aufgabe 
oder den nächſten Weg zu unferer Aufgabe bezeichnen mag. 
Lange genug haben alle unfere früheren Betrachtungen, überzeugt 
bon der formellen Tehlerhaftigleit der Anfichten, die zur Welt- 
erflärung einzig auf den belebenden Hauch einer Tchöpferifchen 
Idee achten zu dürfen meinen, auf der Seite des Endlichen 
gegen Das Unendliche, auf Seiten ber blinden Nothiwendigfeit 
des Naturmechanismus gegen die Freiheit Des geiftigen Lebens, 
auf Seiten des PVielen gegen das Eine geftanden; fie werden 
Manchem alles das hauptfächlich zu vertreten gejchienen haben, 
was Hein ift gegen das Große, dem fie fi vorläufig abwandten. 
Indem wir jett, ebenfo überzeugt von der vollkommenen Rechte 
mäßigkeit jener Anfprüche, die wir in der Form abweifen mußten, 
in welcher fie angebracht zu werben pflegen, den entgegengefeten 
Standpunkt auffuchen, könnte e8 uns kein Bortheil fcheinen, die 
Ausficht, die fi) von ihm aus darbietet, nur als eine auch vor⸗ 
handene, auch in der Lage der Dinge begründete, jener anderen 
gegenüberzuftellen. Nur dies würde Gewinn fein, wenn die frühere 
Betrachtungsweife, auf ihre eignen Grundlagen zurüdverfolgt, und 
von felbit den Weg einzufchlagen nöthigte, der zu Ddiefer anderen 
Anficht der Welt als zu unferem unvermeidlichen Ziele führt. Es 


464 


mag beglückend fein, aus dem frifchen Gefühl der Begeifterung 
heraus die Welt als die Erfcheinung eines unfagbar hohen und 
ſchönen Inhalts darzuftellen, von dem unfer Gemüth mehr befeffen 
wird, als daß e8 ihn befüße; aber je näher wir den Einzelheiten 
der Welt kommen, um fo mehr wird durch fie als Hinderniſſe 
der hohe Flug gezwungen fich zu ſenken; erhebender müßte es 
fein, wenn die rechte Beachtung diefer inzelheiten zu einer 
emportreibenden Kraft wiirde, Die und das Höchſte am Ende des 
Wegs, vor den nun überwundenen Hinderniſſen gefichert, ver= 
Tpräche. 

Der Weg, den wir andeuten, ift dem natürlichen Gedanten- 
gange wohlbekannt. Faſt jeden Berfuh, die Grundmwahrbeiten 
der religiöfen Weberzeugung zu rechtfertigen oder mitzutheilen, 
fehen wir durch die Behauptungen eingeleitet, daß, wenn Bedingtes 
jei, auch ein Unbedingtes, wenn VBeränderliches, auch ein Ewiges, 
wenn Vieles umd folches, das auch anders fein fünnte, dann auch 
ein Nothwendiges, Eines fein müfje Für feinen dieſer kurzen 
_ Sprüche würde e8 leicht fein, den triftigen Zuſammenhang 
zwiſchen Vorderſatz und Nachſatz aufzuweiſen; jo wie fie gemeinhin 
gebraucht werden, rücken fie zwei Endpunkte einer langen Gedanken⸗ 
bewegung zufammen und verfchmweigen die Kette der VBermittlungs- 
glieder, durch welche fie verbunden werben müfjen. Sie finden 
Beifall und fcheinen dem Hörenden evivent, weil auch ihn eine 
vielleicht nie zu Harem Bemußtfein ihrer Rechtsgründe gefommene 
Verknüpfung von Vorftellungen längft gewöhnt hat, von dem 
Gedanken des Enplichen zu dem des Unendlichen, von dem des 
Vielen zu dem anderen des Einen hiniiberzuftreben; welcher 
fahlihe Grund dagegen in dem Inhalt der einen Vorftellung 
liege, um deswillen. feine Wirklichkeit auch die Wirklichkeit des 
Inhalts „der entgegengefegten Vorftellung verbürge: dieſe Wieder- 
auffindung der berechtigenden Bindeglieder jener Sätze Tann al 
die nächlte und obliegende Aufgabe genannt werden. 


- 


465 


Dem erften Blide auf die Welt pflegen die Dinge, jedes 
eine zufammenftimmende Gruppe von Eigenfchaften, im Wefent- 
lichen als ruhige Ganze zu erſcheinen, unberührt im Grunde von 
dem Wechjel, den einige ihrer minder wichtigen Merkmale erfah- 
ven. Die beginnende Unterfuchung findet jedoch bald, daß Die 
Unruhe, welche nur leichthin ihre Oberfläche zu ftreifen ſchien, 
weit tiefer in ‚die Dinge eindringt und daß fie zuletzt Alles er- 
greift, was wir in ihnen beftändig und fich felbft gleich dachten. 
Jede ihrer Eigenfchaften zeigt fich fchließlich abhängig von Be— 
dingungen, mit. deren Aenderung fie fi) ändert, und alle biefe 
Bedingungen beftehen in wandelbaren Beziehungen mehrerer Dinge 
zu einander, in wechſelsweis ausgeübten und erlittenen Wirkungen. 
So erfahren wir im günftigften alle, wie die Dinge fich unter 
beftimmten Umständen verhalten und benehmen, aber nicht mas 
fie find, um fich jo verhalten und benehmen zu können. Doc) 
nicht nur der Inhalt delt was ift, aud) die Bedeutung feines 
Seins wird uns räthjelhaft: es löſt fich auf in lauter Gefchehen. 
Denn ſelbſt die beftändigften Eigenfchaften der Dinge, deren Be- 
harrung unjere Einbildungstraft wenigſtens als anfchauliches Bild 
eines wandelloſen Seind benutzen möchte, zeigen ſich der einbrin- 
genden Unterfuhung al8 ein fortgefeßtes Werden und Vergehen; 
jeder Augenblick ihres Beſtandes ift das hinfällige Ergebniß einer 
Wechſelwirkung zwijchen Vielem, einer teten Erneuerung derjelben 
bedürftig, um auch nur einen Heinen Augenblid mit fcheinbar 
ruhiger Dauer erfüllen zu können. Wo findet ſich alfo und 
worin befteht jenes gleichfürmige ruhende dauernde Sein, das wir 
vorher gleichfam als das feite Strombett anfahen, in welchem die 
Wellen des Geichehend verlaufen, und das wir auch jet nicht 
entbehren zn können meinen, da ja doch der Inhalt des einen 
Augenblids maßgebend für den des folgenden tft, irgend eine be- 
fändige Wirklichkeit alfo ſein muß, welche alle Momente des 
Werdens gleichförmig in ſich befaßt, und dem einen feine Kraft 
fihert den nächſten zu bedingen; was ift alfo und mo liegt die— 
ſes Sem? ’ 

Loge, III. 3, Aufl, 30 


4. 


..- 
* 


466 


Volgen wir, um bierin kurz zu fein, dem betretenen Wege, 
den und ein fcharffinnige8 Suiten der Gegenwart borzeichnet. 
Unfere erfte Frage nach dem Was der Dinge betrifft nicht die- 
jenige Natur derfelben, durch welche eines vom andern verſchieden, 
jondern die, durch welche alle einander gleich find und Dinge find. 
Aber diefer Name bezeichnet nichts Anderes, was und hier be= 
kannt wäre, al8 die Leiftungen, welche wir von ihnen zur Er- 
klärung der Wirklichkeit erwarten; fie find Dinge, fofern fie wenig- 
ftens im Genuß eined unveränderlichen unabhängigen Seins Die 
feiten Punkte darbieten, an welche fich, auf welche Weile auch 
immer, das veränderliche Geſchehen anknüpft. Einmal nun miß- 
trauiſch geworden gegen die Richtigkeit der Vorftellungen, die wir 
früher mit unbefangnem Zutrauen anmwandten, werden wir zuerft 
uns unfere Yorderung klar machen und überlegen müſſen, mas 
jene8 Sein tft, das wir von den Dingen geleiftet verlangen, 
damit an ihren unfere Weltauffaflung jenen feſten Grund finde; 
in zweiter Linie erft wollen wir fragen, wie die Dinge und was 
fie fein fünnen und müſſen, um dies Sein, deſſen Sinn mir 
gefunden haben werden, zu genießen. 

Der Inhalt eimfachfter Begriffe läßt Teimen Aufbau aus 
Beitandtheilen, ſondern nur Ausjonderung aus Beifpielen zu, in 
denen er vorkommt. Mit Recht mag daher damit - begonnen 
werden, daß in der Empfindung Jedem das Sein zuerft gegen- 
wärtig und verftändlich fei; dasjenige iſt, was geſehen gehört 
überhaupt empfunden wird, und nichts Anderes bedeutet in diefem 
eriten Augenblid das Sein der Dinge, als ihr Empfundenwerden 
durch und Aber derjelbe Augenblick genligt zu erlennen, daß 
diefe Erflärung des Seins nicht ausreicht, das auszudrüden, mas 
wir mit ihm meinen. Denn das Sein der Dinge bleibt, wie 
wir meinen, beftehen, auch wenn unjere Aufmerkſamkeit fich von 
ihnen abmwendet; während wir fie nicht empfanden, waren fie Doch, 
und eben darum ja können fie, wenn unfere Sinne fidh ihnen 
wieder zumenden, von neuem Gegenftände unferer Empfindung 
werden. Folglich muß ihr Sein, das und zuerjt nur in ihrem 


467 


Empfundenwerden lag, ihnen ohne Rückſicht auf unfer Empfinden 
zulommen; worin aber befteht e8 nun? Auch dieſe Frage be— 
antivortet die gewöhnliche Meinung leicht: während die Dinge 
bon und nicht empfunden, vielleicht von Niemand empfunden 
wurden, fuhren fie doch fort, untereinander in Beziehungen 
mannigfaltiger Art zu ftehen; dieſe Beziehungen find es, die jedes 
einftweilen in ber Wirklichkeit feithielten; in ihnen beitand fein 
Sein, bis zu dem Augenblide feines Wiederempfundenwerdens. 
Dies Empfundenmwerden felbit aber ift nichts Anderes, als eine 
neue Beziehung, welche zu den alten hinzukommt oder fie ablöft; 
bon größerer Wichtigkeit für und, weil uns nur durch fie die 
Wahrnehmung des Seins erwächſt, ift fie dem Seienden felbft 
zum Sein nicht umentbehrlicher, als jene, welche zwifchen ihm und 
anderen Dingen beftanden oder beftehen. 

Diefen Standpunkt pflegt die gewöhnliche Meinung nicht zu 
verlaflen; ihr gilt das Stehen in Beziehungen für Das Sein, 
welches fie meint; nur die philofophiiche Reflexion fucht Darüber 
hinaus in einer beziehungslofen Wirklichkeit, in einem völlig felbft- 
genügſamen Beruhen auf fi), das mahre veine Sein, das ben 
Dingen an fi zufomme und fie erft befähige, Anknüpfungspunkte 
für Beziehungen zu werden. Im beiten Glauben, die gemeine 
Meinung zu verbeffern, jcheint mir ihrerfeits dieſe philofophiiche 
RKeflerion ſich zu verirren. Und in der That, in gar Temen 
Beziehungen zu Anderem zu ftehen, weder erfannt zu werben 
noch zu erkennen, weder in einer räumlichen Lage noch in einer 
zeitlihen Ordnung zu Anderem befaßt zu fein, weder von irgend 
Etwas zu leiden noch fich durch irgend eine Wirkung bemerflicd, 
zu machen: eben die jcheint der gewöhnlichen Meinung das 
2008 des Nichtfeienden aber nicht die Natur des Seienden zu 
fein, und fie fragt mit Hecht, wodurch denn dieſes reine Sein 
ſich von dem Nichtjein unterfcheide, wenn nicht Dadurch, daß wir 
unter ihm das Gegentheil des Nichtjeins verftehen wollen? Nun 
würde freilich diefe Frage thöricht fein, wenn fie die Neugier ein- 
ichlöffe, den Hergang „der die inwendige Structur zu erfahren, 

30 * 


468 


durch welche jenem Sein die Wirflichfeit gemacht würde, Durch 
die e8 ſich vom Nichtfein umterjchiede; aber Die Unmöglichkeit, 
auch nur durch Gedanfenbeftinmungen das, was wir meimen, von 
dem zu trennen, was wir nicht meinen, deutet auf einen begangenen 
Fehler Hin, deſſen Auffindung wir verfuchen. 

Aus dem Gefammtgehalte einer Vorftellung, durch welche 
wir eine Thatfache der Wirklichkeit denken, fcheivet unfere zer- 
gliedernde Abftraction leicht Einzelvorftellimgen aus, welche zuläffig 
und richtig find, fofern fie im weitern Verlauf des Denkens mit 
anderen verknüpft zu Folgerungen führen, die mit dem That- 
beftande der MWirklichfeit wieder zufammentreffen, während fie an 
fi) doch Teine Gültigkeit derart haben, daß fie ohne folche Ver— 
Inlipfung für fi irgend eine Wirklichkeit bezeichnen Fünnten. 
Aus der Vorftellung der: Bewegung eines Körpers, Die in dieſer 
Bollitändigfeit gedacht eine der Beobachtung dargebotene Thatjache 
bezeichnet, laffen wir die Küdficht auf den Körper hinweg und 
heben die Borftellung der Bewegung allein hervor; wir zergliedern 
noch weiter dieſe ſelbſt und erzeugen Die Begriffe der Geſchwin— 
digkeit und Richtung, lauter Abitractionen, die richtig und nußbar 
find, weil ihr Inhalt für ſich einer Bearbeitung im Denken 
fähig ift, deren Ergebniffe, zurückbezogen auf die vollftändige 
BVorftellung der Bewegung eines Körpers, und eine Erweiterung 
der Einfiht in die Natur Diefer Bewegung verichaffen; aber fir 
ſich Tann weder Geſchwindigkeit ohne Richtung noch Richtung 
ohne eine Bewegung, die in ihr geichieht, etwas bezeichnen, mas 
für ſich wirklich fein könnte Daß zu diefen an fich gültigen, aber 
für ſich nicht erifticharen Begriffen auch der jenes reinen Seins 
gehöre, machen und am leichteften die andern Namen, die man 
ihm gibt, die der unabhängigen Setung oder Bejahung, deutlich. 

Bejahung würde die unzulänglichite Bezeichnung deſſen fein, 
. was wir unter dem Sein meinen; nur unfere Gewohnheit, Das 
MWirfliche und nicht das Unwirkliche ftillichmweigend als das zu denken, 
dem unſer Bejahen gilt, kann uns verleiten, durch den Begriff Der 
Afftirmation den des Seins erjchöpfen zu wollen. Offenbar nicht 


469 


in der Bejahung allein, fondern eben in der Bejahumg des Seins 
befteht das Sein, und fowohl fein eigner Sinn ald fein Unter 
ſchied vom Nichtſein bleibt völlig unberührt durch die Berufung 
auf eine Affirmation, die ja diefem feinem Widerfpiel eben fo gut 
gelten kann als ihm felbit. Nicht Beſſeres leiſtet der Begriff 
der Setzung. Mean pflegt bereitwillig zuzugeben, ein Etwas 
müſſe nothwendig mitgedacht werden, deſſen Setzung die Setzung, 
oder deſſen Bejahung die Bejahung ſei; aber auch dieſe Ergänzung 
verbollftändigt feinen der beiden Begriffe bis zur Möglichkeit der 
Geltung, die ihnen hier gegeben werden fol. Es hat feinen an⸗— 
gebbaren Sinn, emen einzelnen Begriff zu bejaben; nur eine 
Ausfage bejahen wir, die den Inhalt des einen. Begriffs in Be 
ziehung zu dem eines zweiten bringt; e8 hat eben jo wenig Sinn, 
bon einer Seßung überhaupt zu fprechen, ohne die Verhältniſſe 
mit zu denken und namhaft zu machen, im welche gebracht wor= 
den zu fein eben das ausmacht, mas durch Die Seßung dem Ge— 
feßten widerfährt. Nichts kann fchlechthin gefeßt werden, ohne 
eiwie oder etwohin, in irgend eine Lage oder Beziehung, gefegt 
zu werden, und die Behauptungen, welche das wahre Sein der 
Dinge als eine unbedingte unzurüdnehmbare abfolute Pofitton 
bezeichnen, können für die mangelnde Angabe deſſen, worin Diefe 
Setzung beitehe und mas fie leifte, nicht durch jene Prädicate 
entihädigen, durch welche fie die Wichtigkeit derfelben hervorheben. 
Gewiß läßt fich aus den Bejahungen werfchiedener Ausfagen der 
allgemeine Begriff der Bejahung, aus den mannigfachen Seßun- 
gen, Durch die wir DVerfchiedenes in verfchtedene Berhältniffe 
bringen, der allgemeine Begriff der Sekung ausfondern und 
beide werden brauchbare Abftractionen fein; aber weder in unſern 
Gedanken Tann eine inhaltlofe Bejahung oder diefe nadte Setzung 
vollzogen werden, noch Tann e8 außer umfern Gedanken eine 
Wirklichleit geben, die einer von beiden entſpräche. 

Eine mißlungene Definition hebt indeffen Die Gültigleit des 
Begriffes nicht auf, den fie verfehlt. Man wird daher leicht die 
Bergeblichkeit diefer Verfuiche zugeben, den wahren Sinn des Seins 


470 


durch die Begriffe leerer Bejahung oder Seßung zu deden; aber 
dur ſehr fcheinbare Weberlegungen wird man ſich berechtigt 
glauben, ihn dennoch in einer Beziehungslofigkeit zu fuchen, Die 
ung mit dem Nichtfein gleichbedeutend ſchien. Denn an eme be 
ftimmte Anzahl beftimmter und unveränderliher Beziehungen 
könne keine Anficht die Wirklichkeit der Dinge binden; dadurch 
eben feien fie Dinge, daß ihr Sein unangefochten den unaufbör- 
lichen MWechfel aller ihrer Verhältniſſe überdauert. Heben wir 
num auf einmal auf, was wir nacheinander und einzeln aufzu- 
heben zweifellos berechtigt find, verneinen wir alle Beziehungen, 
fo könne durch diefe Verneinung das nicht betroffen werden, was 
von dem Verneinten unabhängig war; es bleibe, als Gegenſtand 
einer deutlichen ihrer felbjt gewiflen Memung, jenes reine Sein 
zurüd, jeßt ohne Beziehungen noch diefelbe Wirklichkeit, Die es 
früher in ihnen mar, weniger befchreiblich zwar in feiner Eimfach- 
heit, als es in jeder feiner Beziehungen fein wire, die und Ge— 
legenheit gäben, etwas von ihm zu erzählen, aber etwas an ſich 
Gewiſſes und Pofitives darum nicht minder, weil wir fein Beruhen 
auf fich felbft nur durch Verneinung deffen fennzeichnen fünnen, mas 
ed ausſchließt. So beftätige fih, was man vergeblich anzuzmeifeln 
ſuchte: erſt müfjen die Dinge fein, um in den Beziehungen ftehen 
zu können, in welchen ihre Wirklichkeit allerdings uns allein wahr- 
nehmbar werden Tann; von dem Nichtjein aber bleibe aud) dies ihr 
verborgenes Sein unterjchieden durch Die Fähigkeit des Seienden, in 
jedem Augenbli in das Net der Beziehungen einzutreten, im denen 
feine Wirffichleit offenbar wird. 

Sch beanftande an diefer Gedantenreihe jene unfcheinbare 
Erf. Wenn wir die Einzelvorftellungen uns wiederholen, durch 
deren Verknüpfung wir uns den an fid, einfachen Sinn des Seins 
verdeutlichen, fo tritt fehr natürlich jene nicht weiter zu zerglie- 
dernde Borftellung der Wirklichkeit, eben weil fie in dem Begriffe 
jedes Seins enthalten ift, in dieſe bevorzugte Stellung eines 
Borangehenden, zu dem die verjchtevenen und veränderlichen Be— 
ftimmungen, welche das eine Sein vom andern unterfcheiden, erft 


471 


in zweiter Tinte als ein Nachfolgendes binzutreten. Wollte man 
dies dahin ausdrüden: um das Sein der Dinge zu denken, habe 
man zuerft jene Wirklichfeit oder Bejahung zu faffen, durch die 
alles Sein ſich vom Nichtfein unterjcheidet, dann aber als das, 
worauf jene Bejahung fällt, alle die Beſtimmungen und Bezie- 
bungen, durch welche ein beſtimmtes Sein von einem andern be- 
ftimmten verſchieden ift, jo würden wir feinen Einwand gegen 
diefe logiſche Rangordnung der genannten Begriffe zu erheben 
willen. Aber diefer Reihenfolge unferer Borftellungen, melche bei 
der Bergleihung vieler Beifpiele eines Allgemeinen immer in 
ähmlicher Weiſe entfteht, entjpricht nicht immer ein gleicher wirt 
licher Hergang in den Gegenftänden felbft, die wir verglichen, 
und eben in unferem Falle wird fich zeigen laſſen, daß die Pri- 
orität des beziehungslofen Seind vor dem bezogenen ſtets nur 
dieſe logiſche ift und nicht die metaphyſiſche, welche durch die Be— 
hauptung ausgedrückt wiirde, e8 gäbe eim beziehungslofes Sein 
in dem Sinne derſelben Wirklichkeit, Die wir dem bezogenen zu- 
ſchreiben. 

Wir ſprechen von den Dingen und ihrem Sein nur, weil 
und ihre Vorſtellung unentbehrlich zur Begreiflichleit der verän- 
berlichen Erſcheinungswelt ift. Nun fcheint e8 ganz unverfänglich 
anzunehmen, aus der völligen Beziehungslofigfeit, in welcher Das 
Ding jener jelbft ficher beruhe, aber noch Nichts zu dem Spiele 
der Ereignifle in der Welt beitrage, könne es in jedem Augen- 


blicke heraus und im jene Beziehungen zu anderen treten, im 


denen es zu dem Gefchehen in der Welt einen wirkſamen Bei— 
trag zu liefern vermag. Aber Nichts kann doch im Beziehungen 
überhaupt emtreten, ohne im eme beftimmte Beziehung mit Aus- 
ſchluß aller iibrigen einzugehen. Wo aber können die Entjchei- 
dungsgriimde für die Wahl diefer Beziehung liegen, wenn nicht 
in anderen Beziehungen, Die längft, wie unbemerkt auch immer, 
zwilchen jenem eimfamen Element umd der übrigen Welt beftan- 
den, am welche jet erft ganz new fich anzufchliegen es offenbar 
mer fchemen Tann? Geftatten wir uns, mit räumlicher Berbilds 


472 


\ 

lichung die Gejammtheit des Wirklichen als eine Kugel von un- 
endlichem Halbmefjer, jenes einfame Element aber, das noch zu 
ihr in feiner Beziehung ſteht, als wirklich im einem unräum⸗ 
lichen Dafein vorzuftellen, aus dem es in die räumliche Wirklich- 
feit übertreten wird, fo muß doch fein Eintritt in fie in einem 
beftimmten Punkte mit Ausfchluß aller übrigen ftattfinden; es ift 
unmöglih, für Die Wahl Diefes Ortes einen Grumd zu finden, 
wenn nicht in einer Richtung der Bewegung, die nad) ihm bin 
jenes einfame Element doc ſchon damals hatte, ald e8 uns in 
feiner Unräumlichfeit jeder beftinnnten Beziehung zu der räume 
lichen Wirklichkeit zu entbehren ſchien. Laffen mir daher dahin⸗ 
geftellt, ob der Begriff eine beziehungslofen Seins, abgetrennt 
von dem bezogenen Sein, in defjen Vorſtellung die feinige freilich 
enthalten ift, überhaupt zuläffig fer, jo müſſen wir doch behaupten, 
daß Alles, was jo beziehungslos wäre, auch nie in jene Be 
ziehungen eintreten fünnte, durch Die e8 ſich im der Wirklichkeit 
als ein MWirkliches neben anderen gelten machen mwürde Und 
eben jo wenig ift e8 möglich, daß ein Seiendes, welches einmal 
in Beziehungen zu anderen ftände, aus aller Beziehung zu der 
übrigen Welt heraustrete; es wird immer nur in eime größere 
Entfernung von ihr zurückgehen, die doch nicht minder eine Be 
ziehbung bliebe, als feine vorige Nähe. Es lag daher doch ein 
Irrthum in der Folgerung, ein wirkliches Sein werde übrig 
bleiben, wenn man alle Beziehungen verneint, weil es möglich 
war, jede einzelne zu verneinen. Auch das Bewußtſein bleibt 
unaufgehoben, wenn man jede einzelne Vorftellung für fich, aber 
es verſchwindet, wenn man alle zufammen aufbebt. 

Und fo ftände denn, wird man uns endlich einwerfen, gar 
Nichts feit, Da das Sein jedes Dinges das Sein des andern 
borausfegt, auf das es ſich beziehen fol, keines mithin fein kann, 
ehe fein Fundament, dad andere, ift? Der mißverftändlichite aller 
Einwürfe ift ohne Zweifel eben dieſer; er verfennt gänzlich bie 
Aufgaben der Philoſophie. Denn wir wollen ja nicht eine Ber- 
fahrungsmweife angeben, nach der die Welt gefchaffen werben könnte, 


473 


falls fie unglücklicherweiſe noch nicht exiſtirte; unfere Aufgabe ift 
nur, und bier am allermeiften nur die, den Zufammenhang der 
Welt, nachdem fie da ift, zu begreifen. Welche Schwierigleiten 
es für eine weltſchaffende Kraft haben möchte, diefe gegenfeitige 
Spannung aller einander vorausjeßenden Elemente Des ganzen 
Gewölbes hervorzubringen, unterfuchen wir nicht; vielleicht hätte 
es überhaupt feine, denn warum müßte diefe Macht fo einarmig 
fein, um immer nur ein Element auf einmal zu fegen? Eben. 
dies ganze Gewölbe auf einander bezogener Dinge iſt Die ur- 
fprünglihe Wirklichkeit, die den gegebenen und lediglich anzuer- 
fennenden Gegenftand aller unferer Unterfuchimgen bildet; zu 
fragen, nach welchen Geſetzen der Lauf der Veränderungen in ihr 
erfolgt, nachdem fie da ift, gilt uns für eine mögliche Aufgabe 
diefer_Unterfuchungen; zu fragen dagegen, durch welchen Kunſtgriff 
ed gemacht worden oder gelungen jet, daß iiberhaupt eine zufammen- 
hängende Welt und nicht lieber feine ift, halten wir für eine Ber- 
irrung ſich überfliegender Gedanken. Und deshalb wäre e8, neben- 
her gefagt, ein Bortheil, aus der Betrachtung des Seins jene Ausdrücke 
der Bejahung Pofittion oder Segung zu verbannen, die und oben 
bereit3 beläftigten. Ihrer Form nach Bezeichnungen einer Hanb- 
Img, unterhalten fie durch ihren Gebrauch das Vorurtheil, als 
ließe fich ein Vorgang angeben, durch den das Sein Des Seienden 
entftände, und als ereignete ſich im dem Sein felbjt die Aufein- 
anderfolge, die zwifchen unſeren Borftellungen ftattfindet, wenn 
wir e8 zu begreifen juchen. 

Und fo können wir und vielleicht am kürzeſten auf fol 
gendem Wege mit der entgegenftehenden Auffaſſungsweiſe ver= 
tragen. Wenn fie behauptet, an fich ſchwimme jedes reale Wefen 
vollkommen beziehungslos in feinem eignen reinen Sein, aber es 
könne nicht nur in Beziehungen zu andern eintreten, jondern 
es komme auch in Wirklichkeit unendlich häufig der Fall dieſes 
Eintretend vor, fo verlangen wir nur, Died thatfächlich zuge— 
ftandene mithin für möglich anerkannte Stehen in Beziehungen 
als die einzige Art des wirklichen Seins, jenes reine Sein da⸗ 


474 


gegen als ein nie und nirgends vorlommendes betrachten zu 
binfen. Meint jene Anficht, das Geiende bedürfe zu feinem 
Sein der auswärtigen Beziehung nicht, jo wollen mir binzu- 
fügen: e8 habe nun aber einmal ſolche Beziehungen über alles 
Bedürfniß hinaus und zwar allgemein und von Ewigkeit her, 
und Nichts fei thatfächlich in der Wirklichkeit zuriicigeblieben, was 
außer aller Beziehung fich in feinem reinen Sein ifolirte oder 
noch ifoliren fünnte Iſt alfo Nichts, was nicht in Beziehungen 
ftände, fo heißt dies eben: e8 gehört zu dem Begriff und Wefen 
des Seienden, in Beziehungen zu ftehen. Denn wer bezie- 
hungslos Seiendes fir denkbar hält, aber zugefteht, es gebe ber- 
gleichen nicht, Tpricht offenbar nicht metaphufiich won dem Seien- 
den, fondern logisch von einem Möglichen, welches nicht iſt, und 
deshalb gewiß nicht Das Seiende ift. | 


MWiederholt fanden wir früher Veranlaſſung, zwiichen Be 
ziehungen zu unterfcheiden, in denen und damals die Dinge an 
ſich ſelbſt zu Stehen fchienen, und anderen, m welche fie nur unfer 
Denken durch willkürliche Yufammenftellung bringt. Nur in ver 
erften Klaſſe wird man jeßt jene Beziehungen fuchen zu müſſen 
glauben, in denen zu ftehen dag Sein der Dinge ift; und doch 
ift nicht minder wichtig Die andere Klaſſe, die nur ſcheinbar dem 
Weſen der Dinge fremd ift. Denn durch willfürlihe Zufammen- 
Stellung Beziehungen ftiften, zu denen in dem Inhalt des Zu- 
jammengeftellten feine Beranlaffung läge, würde nicht Denken 
fondern Irren fein; auch jede Vergleichungsbeziehung, fofern fie 
rihtig iſt, winzelt in dem wirklichen Thatbeftande des Vergliche- 
nen. Nicht unfere Vergleihung macht ja Entgegengefeßtes Grö- 
ßeres und Kleineres zu Entgegengefegtem Größerem und Kleine 
ven, fondern Das Verglichene ftand, ‚bevor wir es beachteten, in 
der That in diefen Berhältniffen, die unfer Denken nur findet, 
nicht erfindet. Dennoch bleibt ein Unterſchied, ob Gegenſätze fich 


4715 


nır in unjerem Denken zufammenfinden und hier nur zeigen, 
daß fie entgegengefegt find, oder ob fie in der Wirklichkeit auf 
einander treffen und im Streit einander aufheben; ob das Grös⸗ 
fere nur in unſern Gedanken dem Kleineren gegenübertritt, ohne 
es zu ſchädigen, oder ob es im Kampfe diefem das Webergewicht 
feiner Macht fühlbar werden läßt. ine Berallgemeinerung Die 
fer Beifpiele läßt leicht erkennen, daß jene Bergleichungsbeziehun- 
gen beitimmte Gründe für Form und Inhalt eines fünftigen 
Geſchehens, dieſe andern die erzeugenden Bedingungen des wirt 
lichen Geſchehens ſelbſt find, in welchem die bezogenen Elemente 
das leiden und wirken, was jene ihnen vorgezeichnet. Dies Ber- 
hältniß iſt der Gegenſtand, dem wir zunächſt einige Aufmerfiam- 
feit zuwenden wollen. 

Daß das Gefchehen in der Welt Geſetzen gehorche, wird 
bereitwillig von Allen zugeftanden; geringer ift Die Webereinftim- 
mung über das, was Die, allgemeinften Gejege des Seins und 
Gefchehens dem Benehmen aller Dinge zur Pflicht machen. Gleich- 
wohl iſt e8 nicht die Verſchiedenheit der Anfichten iiber den letz— 
tern Punkt, was uns gegenwärtig reizt, fondern eben jene Bor- 
ausfegung, in der fie alle einig find. Indem wir jedoch eine 
befondere Frage nad) der Denkbarkeit diefer VBorausfegung von 
dem Beſtehen allgemeiner Gefege aufmwerfen, denen die Wirklich 
feit unterworfen fei, müſſen wir zunächſt den Sinn der Frage 
felbft gegen Mißverſtändniſſe ſchützen. Wir können natürlich nicht 
begehren, zu erfahren, wie e8 gemacht werde, daß eine urfprüng- 
liche Wahrheit, die nicht Folge einer andern iſt, eben mahr 
fein könne; ebenjomenig, wie es zugehe, daß eine allgemeine 
Wahrheit gültig ſei m allen Fällen, die wir als Beifpiele ihrer 
Anwendung hinzudenken; nur dies möchten wir und Far machen, 
wie ein Geſetz eben nicht nur eine gültige Wahrheit im Reiche der 
Gedanken, fondern auch eine beitimmende Macht in der Welt der 
Sachen fein fünne. Und auch diefe Frage thun wir nicht in der 
Hoffnung, eine anfchauliche Vorrichtung ausgemalt zu fehen, Durch 
welche die Unterwerfung der Dinge unter das Gefeß zu Stande 


476 


gebracht werde; nur eine Verdeutlichung aller Einzelgedanfen ver— 
langen wir, die ſtets mitgedacht werden, wenn der Begriff eines 
allgemeinen Geſetzes als einer gültigen Wahrheit gedacht wird; 
denn den Inhalt diefer Gedanken werden wir, fobald das Gefeß 
als beherrſchende Macht auf die Wirklichkeit iibergetragen merden 
fol, als Bedingung diefer Webertragbarfeit auch in der Natur 
des MWirklichen mitdenken müffen. 

Nun knüpft jeves Geſetz, als gültige Wahrheit betrachtet, 
eine beitimmte Folge an eine Beziehung, welche zwifchen zwei 
Elementen entweder immer befteht oder hergeftellt werden Tann. 
Um aber allgemein, und nicht der Ausdrud eines einzelnen Falles 
zu fein, ſetzt es voraus, daß nicht nur jene Folge und Die be 
dingende Beziehung, an welche fie gefnüpft ift, Glieder von Reihen 
find, die nad) irgend einem Maßſtab ſich abftufen; fondern auch 
in Bezug auf die Elemente, an denen der Zuſammenhang von 
Bedingung und Folge ftattfinden foll, gilt dieſe Forderung. Und 
zwar wilrbe eine leichte Weberlegung zeigen, daß nicht nur jedes 
einzelne diefer Elemente die Art einer Gattung, fondern daß aud) 
die beiden Gattungen felbit, die den beiden entfprechen, zwar nicht 
nothwendig Arten eines höhern gemeinfamen Allgemeinen, wohl 
aber Glieder irgend eines Berhältniffes fein müffen, in welchem 
fie beftimmte Plätze einnehmen. Unter diefen Bedingungen drückt 
das Geſetz die allgemeine Weiſe der Abhängigkeit aus, durch welche 
die Art und Größe einer Folge fiir jeden Einzelfall nach der 
hier gegebenen Art und Größe einer veränderlicd, vorausgefegten 
Beziehung und nad) der Eigenthimlichkeit der Elemente beftimmt 
ift, zwiſchen welchen dieſe ftattfindet. Der weiteren Ueberlegung 
diefer nur kurz angedeuteten Berhältniffe würden die allgemeinen 
Süße der Mechanik erläuternde Beiſpiele in Menge darbieten; 
ich hebe nur noch einmal hervor, mas bier für uns wichtig ift: 
nicht nur die Beziehungen zwifchen den Dingen müfjen einerfeits, 
die aus ihnen entjpringenden Wirkungen anderſeits, vergleichbar 
verfchievene Werthe allgemeiner Ereigniffe fein, jondern auch die 
Naturen der Dinge, aus deren Beziehung eine Wirkung entitehen 


477 


ſoll, können nicht maßlos und unvergleichbar verſchieden fein, fo 
lange der Beitrag, den fie zur Geftaltung des jedesmaligen Er- 
folges liefern, durch ein allgemeines Geſetz beftimmbar fein fol. 
Und zwar wiirde e8 nicht zureichen, ihnen nur diejenige Gleich 
artigfeit zuzugeftehen, die ihnen ihre gemeinfame Unterord- 
nung unter den allgemeinen Begriff des Dinges verfchafft, fon- 
dern auch die Eigenjchaften, durch melche eines vom andern fich 
unterfcheidet, müſſen vergleichbare Werthe allgemeiner Eigenfchaf-' 
ten fein. 

Indem wir dieſe Forderung, mühſamer als vielleicht nöthig 
ſchien, entwidelten, verlangten mir nicht eine Annahme, die nicht 
in der Praris der philofophiichen Welterflärung überall von felbft 
gemacht wiirde, wohl aber eine folche, deren Bedeutung, indem 
man fie macht, nicht binlänglid, empfunden wird. Denn es tft 
nur ein anderer Ausdrud für ihren Sinn, wenn wir behaupten, 
Daß fie jeden Gedanken an eine Gelbftändigfeit der Dinge un- 
möglich macht, die dem einzelnen erlaubt, das mas es ift, ohne 
Beziehung auf andere zu fein; daß fie vielmehr Die fpecifiche Natur 
jedes Dinges nur als beftimmtes Glied einer allgemeinen Reihe 
des eriltirbaren WeltinhaltS zu begreifen geftattet, in melcher die 
eben jo eigenthlimlichen Naturen der andern Dinge die librigen 
hinzugehörigen Glieder bilden. Daß diefe VBorausfegung ftill- 
ſchweigend überall gemacht wird, lehrt und das Verfahren derer, 
welche fie formell verleugnen. Völlig ungebunden feien die Dua- 
Itäten der realen Weſen, jedes könne fein was es wolle, wenn 
nur das mas es fei, einfach und pofitiv fei und, um zu fen 
was es ijt, Feiner Beziehung auf Anderes bedürfe. Sobald aber 
die Erflärung der Erſcheinungen eine Entjtehungsgefchichte der 
Folgen nothwendig macht, welche aus der dennoch eintretenden 
Beziehung zwiſchen zwei realen Weſen entjpringen, muß dieſe An- 
nahme ‚durch eine Verbeſſerung ergänzt werben, welche fie felbft 
unnütz macht. Den einfachen Naturen der Weſen, die nicht er- 
rathen laſſen, mie aus ihrem Zufammentreffen eine Folge ent- 
Ipringen könne, glaubt man unbejchadet ihrer Einfachheit Zufam- 


478 


menfeßungen mehrerer Eigenfchaften als gleichgeltende Ausdrücke 
ihres Inhalts fubftituiren zu dürfen; dieſe ftellvertretenden Aus⸗ 
drücke, indem fie die einfachen Oualitäten in gleiche entgegenge- 
feßte und andermweit verfchievene Beſtandtheile zerlegen, erlauben, 
da alles Entgegengefegte ſich aufzuheben ftrebe, eine Einficht in 
die Art, wie die wechſelwirkenden Naturen der Dinge zur Er- 
zeugung eines neuen Thatbeſtandes in einander greifen. Go 
fommt die Kunft zufälliger Anfichten auf einem Umwege und 
in einer Form der Fallung, die ihre eigenen Bedenken hat, zu 
der nämlichen Behauptung, Die und von Anfang an galt: daß 
die Naturen der Dinge nicht maßlos verfchieden, fondern ver- 
gleichbare Glieder einer Reihe oder eined Gewebes von Reihen 
find. Jede zwar für fi hat einen Werth, durch den fie unab- 
hängig bon andern ift, was fie ift, aber alle diefe Werthe ftehen 
dennoch im einer Beziehung, durch melde es erſt möglich ift, daß 
eine Zufammenfaffung mehrerer von ihnen der zureichende Grund 
einer beftimmten Folge werde. Jenen Umweg vorzuziehen hatte 
der Realismus ein erlennbares, aber unbilliges Intereſſe; vie 
Selbftändigfeit jedes einzelnen realen Weſens wollte er durch feinen 
Gedanken daran erfohüttern laffen, daß Commenfurabilität feiner 
Natur mit den Naturen der iibrigen zu jeinem Begriffe jelbft 
gehöre; nur als vollendete Thatſache, die auch nicht fein könnte, 
ließ er fich nachträglich diefe Vergleichbarkeit der Dinge gefallen. 
Aber er entgeht auch hier der Vermechfelung eines Logifchen Dent- 
verſuchs mit metaphujifcher Erkenntniß nicht. Denn voranzu- 
ſchicken, daß an ſich der Begriff eine8 Seienden der Vergleich⸗ 
barkeit defjelben mit anderen nicht bedürfe, Dann aber zuzugeben, 
daß thatfächlicd, das Seiende vergleichbar fer, bedeutet nur, daß 
eben jenes unvergleichhare Weſen nicht zu dem Seienden, fondern 
zu den Denfmöglichleiten gehört, mit denen unfere. Abftraction 
fpielt indem fie den Begriff des Wirflichen zerpflüidt und, was 
in ihm verbunden tft, für ihre Zwecke verfelbftändigt. 

Während nun die Praris der Welterflärung die Bergleich- 
barkeit der Dinge zugefteht, mißverfteht fie, wie wir oben bemerk⸗ 


479 


ten, die Bedeutung diefes Zugeſtändniſſes, indem fie feinen In- 
halt allzu natürlich und felbftwerftändlic, finde. Eben weil nichts 
die Naturen der Dinge nöthige, ſich in einem beitimmten Spiel⸗ 
raum der Verſchiedenheit zu halten, fei es eben fo möglich, daß 
fie alle vergleichbar, als daß jede von der andern maßlos ver- 
ſchieden ſei. Beſtehe in Wirklichkeit nur der erfte, nicht der an= 
dere Fall, jo finde doch deßhalb kein engeres Verhältniß, Ten 
Band zwifchen den einzelnen Dingen ftatt, welches ihre Gelbftän- 
digfeit irgendwie beeinträchtige; jedes fei ganz unabhängig vom 
andern die MWirklichleit feines Inhalts, jo wie jedes. Eremplar 
eines Allgemeinbegriffes ungeachtet ferner Aehnlichleit mit dem an⸗ 
dern doch von dieſem völlig unabhängig fei. Winde es fich da— 
ber, daß die Dinge eimander theilweis gleich theilmeis entgegen- 
gejegt find, fo liege in dieſem Thatbeſtande nichts Verfängliches, 
und eben fo verftehe ſich von felbft, daß ihre Wechfelmirkung den- 
jenigen Erfolg babe, welchen allgemein der Gegenfag oder die 
Gleichheit in einer beftimmten Beziehung aufeinandertreffender Nas 
turen haben müſſe. 

St nun Dies alles in der That felbftwerftändlich? oder wenn 
es das ift, beruht nicht ferne Selbftverftändlichkeit auf einer all- 
gemeinen Gemwöhnung, die und das Wunderbare weniger mehr 
empfinden läßt? Uns bat der vereinigte Eindrud der gefammten 
Erfahrung Tängft die Welt als ein zufammenhängendes Ganze 
fennen gelehrt, innerhalb deſſen jeder einzelne Inhalt jeder Zu⸗ 
ſtand jede Eigenfchaft jede Natur eines Dinges andere Inhalte 
Zuſtände Eigenſchaften und Naturen vdergeftalt antrifft, daß aus 
der Zufammenfaffung beider Theile der vollſtändige Grund einer 
neuen Folge entitehen kann: jet, nachdem wir dies willen, fcheint 
es und freilich felbjtverftändlich, daß jedes Einzelne, wie vereinzelt 
und unabhängig e8 auch Anfangs fcheinen mochte, doch in Das 
Gewebe diefer allgemeinen die Welt umfafjenden Wahrheit und 
Correfpondenz alles Seins aufgenommen fei; an ſich aber eröffnet 
diefe Thatſache eimen Abgrund der Verwunderung. Dean fchließt 
ihn gar nicht durch die kühlen Reflexionen, die wir eben anflihr- 


480 


ten; über gleiche und ungleiche Wahrfcheinlichkeit verſchiedener Fälle 
läßt fich fo, wie fie e8 thaten, eben auch nur reden, menn man 
jene Fälle felbft Schon als Beſtandtheile einer Welt betrachtet, in Bezug 
auf melche bereit8 die allgemeine Gültigkeit von Gefegen von An- 
fang an feftfieht, nach denen Mögliches von Unmöglichem unter- 
ſcheidbar und die verſchiedene oder gleiche Wahrſcheinlichkeit verſchiedener 
Fülle abſchätzbar ft. Nur dann, wenn wir bereits vorausſetzen, 
daß Eine Wahrheit in der Vielheit des Wirflichen gilt, mır wenn 
wir einmal fir immer und entjchliegen, fir Har anzufehen, was 
diefe Geltung bedeute, und nicht weiter nachzufragen, worin eigent- 
lich das Herrfchen der Wahrheit und die Unterwerfung des Sems 
unter fie bejtehe: nur dann erjcheint und in der Wirklichkeit jedes 
einzelne Verhalten, das ihr Genüge thut, jelbftwerftändlich und 
jeme Geltung durch die unbegreifliche der allgemeinen Wahrheit 
mit verbürgt. Aber was thun wir eigentlich), wenn wir jene 
Borausfegung machen? wie kommen wir zu der Sicherheit, ſelbſt⸗ 
verftändfich werde die Wahrheit, die einmal Wahrheit fei, ihre 
Herrichaft über alle Dinge durchſetzen, gleichviel worin nur immer 
die Natur diefer beftehen möge? 

Schon früher fanden wir mandye Beranlafjung, eine üble 
Borftellungsmweife diefer Dinge zu tadeln. Bon den Naturgefeßen, 
von der Weltordnung, pflegen wir jo zu jprechen, al8 ftänden beide, 
für fi) Etwas, zwischen außer oder iiber den “Dingen, bereit, ihre 
Gebote an ihnen zur Geltung zu bringen. Ein Blick auf gefel- 
lige Berhältniffe zeigte uns den begangenen Irrthum: wo war 
das Geſetz eines Staates, wenn alle feine Bürger fchliefen oder 
alle die Belt hingerafft hatte, oder alle Anderes wollten, als es 
gebot? In dem lektern Falle Hatte e8 wenigſtens als Gewiſſens⸗ 
borwurf im dem Bemußtjein der Ungehorfamen ein mwirffames 
Dafein; in den erften eriftirt es mm in Geftalt einer einftmeilen 
fortdauernden Ordnung der materiellen Zuſtände, Die e8 gefchaffen 
bat; im Allgemeinen hat es gebietende Wirkſamkeit nur, fofern 
e8 als bewußte Borftellung als Stimmung als perfönliche Ge- 
finnung und als entfprechender Wille in den Bürgern lebt; nie- 





481 


mals ift es zwifchen außer oder über ihnen. Die Gefeke der 
Dinge verhalten jich nicht anders. Nicht fie zwingen die Dinge 
fo zu wirken, wie fie e8 thun, fondern die Dinge wirken und fie 
thun e8 fo, daß unferem Nachventen ihres Wirkens möglich. ift, 
ein Gejeß zu finden, nad) welchen wir, aus gegebenen Zuftänden 
eine Folge vorausfagend, mit der Wirklichkeit wieder zuſammen⸗ 
treffen. Nachdem wir aber den Gedanken des Geſetzes ausgebil- 
det, das im Grunde nur die conftante Natur des Wirflichen umd 
feines Thuns felbft it, wächſt uns unter unſern Händen Dies 
Geſchöpf unſers Denkens und erfcheint und num leicht als eme 
an fich gültige Wahrheit, Die dem Wirflichen voranginge, und nun 
dünkt e8 uns jelbitverftändlich, daß dem, was an fich wahr und 
nothwendig fei, auch das Seiende gehorche. Die Selbfiverftänd- 
lichkeit mögen wir jet zugeben, aber nicht aus dieſem nur fehler- 
haft fie darftellenden Grunde; fie ift fir uns vorhanden, fofern 
e8 und urfprünglich zu dem eigenften Weſen der Dinge gehört, 
durch welches fie Dinge find, daß ihre Naturen nicht maßlos 
verfchteden, fondern vergleichbar find, daß feines von ihnen fchlecht- 
hin einzig in feiner.Art fei, daß felbft dasjenige, das ohne Gleichen 
wäre, doch fich nur durch die befondere Stelle, die e8 in der 
Reihe des ganzen Weltinhaltes einnimmt, oder durch eine eigen- 
thümliche Combination von Dualitäten unterfcheide, welche, ale 
Theile zufälliger Anfichten, auch außer ihm vorlommen und ihre 
beitimmten Verhältniffe unter fich und zu anderen haben. Unter 
diefen Borausfegungen allein ſcheint e8 uns denkbar, daß Eine 
Wahrheit die Vielheit des Wirklichen beherriche und daß die ver= 
öinderlichen Beziehungen zufammenpafjende Gründe erzeugen, aus 
denen ein geordneter Lauf von Folgen entipringt. 

Eine größere Bedeutung, als er haben Tann, legen wir 
diefem Sage von der denknothwendigen Correfpondenz aller Dinge 
nicht bei; er enthält Keinen Grund, die Zufammengehörigfeit ver 
Dinge noch enger zu faſſen, fie vielleicht zu gemeinfamer Entftehung 
aus Einem, oder zu fortdauerndem Beruhen in Einem zu fteigern. 


Aber jene ungebumdene Freiheit und a! in welcher 
Loge, III. 8, Aufl. 


en 


482 


jedes Ding auf fich ſelbſt beruhen jollte, hebt er doch mıf, und 
macht auf eine Zuſammengehörigkeit des Inhalts der Dinge auf⸗ 
merkfam, die man in den Berfuchen der Welterflärung, allenthalben 
vorausfeßt, ohne ſich ganz Mar zu machen, wie viel man mit 
diefer Vorausſetzung bereits zugefteht. 


Wir haben bisher nur von der Vergleichbarkeit der Dinge oder 
von den Verhältniſſen zwiſchen ihmen gejprochen, welche den Grund 
eines künftigen Ereigniſſes enthalten; noch nicht von jenen Be 
ziehungen, deren Eintritt die fo beichaffenen Naturen der Dinge 
nöthigt, in wirklicher Wechſelwirkung diefe möglichen Folgen in 
der That zu erzeugen. Indem wir uns diefem Gegenftande zu- 
wenden, laffen wir einige ragen vor der Hand zur Seite, Die 
ſich hier bereit zubrängen, aber unfere Aufmerkſamkeit unvortheil- 
haft theilen würden. Es mag dahingeftellt bleiben, im welcher an⸗ 
ſchaulichen Geftalt wir diefe Beziehungen, welche die Dinge zur 
Wechſelwirkung zufammendrängen, zu denken pflegen oder zu denken 
haben; und eben fo mag auf ſich beruhen, ob wir fie überhaupt als 
zumeilen eintretend zumeilen fehlend, und nicht vielmehr als ftet3 
beftehend, zu faffen haben, nur daß eine unendlich verichievene Ab⸗ 
ftufung ihrer Innigkeit oder Engigfeit und die entfprechende Größen- 
verfchiedenheit der von ihnen abhängigen Wirkungen ſie unferer 
Beobachtung bald aufvrängen bald entziehen. Nur davon wollen 
wir ausgehen, daß fie uns bisher eben als Beziehungen zwiſchen 
den Dingen erjchienen, um daran die Frage zu knüpfen, wie fie jo 
zwifchen den Dingen fein können, und wie fie, wenn fie e8 wären, 
dann auf die Dinge als bedingende Mächte einwirken könnten. 

Wenn wir im Denten Größeres und Kleineres vergleichen, 
und eine Differenz zwifchen beiden erfennen, jo beiteht das tren- 
nende und verknüpfende Zwiſchen, welches hier entiteht, in dem 
Bewußtſein einer Veränderung unferes inneren Zuſtandes, Die wir 


483 


erfuhren, als unfer Borftellen des Größeren in ein Borftellen des 
Kleineren überging. Diefe dritte Borftellung, in demfelben 
Sinne ein Zuftand unferes Inneren, wie Die beiden durch fie bes 
zogenen, genießt mit dieſen beiden Die gleiche Art der Wirklichkeit. 
Was ift es nun, mas jenem Zwiſchen, der Beziehung nämlich, 
welche Dinge felbft und nicht ihre Bilder im Vorſtellen verknüpfen ſoll, 
eine gleiche Wirklichteit geben könnte? Außer dem Seienden it 
nichts als das Nichtfeiende; was nicht die Dinge felbft oder in 
ihnen wäre, fondern zwifchen ihnen, würde haltlos in das völlig 
Leere verfinten, in welchen es weder tiberhaupt fein noch nit 
verſchiedenen beitimmten Werthen fein, am ienigften aber als 
bereinigende und verfnüpfende Macht über die Dinge beftehen 
könnte. Es iſt leicht, irgend einen verbindenden Hintergrumd aller 
Dinge vorzuftellen, an dem mie an einer haltbaren Unterlage 
die Beziehtingen von einem Dinge zum andern verlaufen könnten; 
der weiteren Ueberlegung aber wiirde, jo lange die Dinge nicht 
völlig dieſer Hintergrund felbft find, ſtets die Frage mwieberfehren, 
wie die Beziehung als Zuftand dieſes zwifchen den Dingen Tiegen- 
den Bandes eine Macht liber die Dinge fein könne, welche nicht 
dies Band jelbft fmd. Auch zwiſchen diefem Bande und den 
Dingen wilrde e8 ein Zwiſchen geben, iiber welches die Beziehungen 
hinmwegreichen müßten und doch nicht Könnten, weder went es 
leeres Nichts noch wenn e8 audgefüllt wäre durch eine den Dingen 
ſelbſt fremde Wirklichkeit. Diefe ſtets fich von neuem iiederer- 
zeugende Schwierigfeit wird uns fpäter zu der Erkenntniß nöthi⸗ 
gen, daß der Gedanke einer zwifchen den Dingen objectiv ftatte 
findenden Beziehung überhaupt unmöglich it, und daß liberal, 
was wir fo zu bezeichnen pflegen, ein Zuſtand oder ein Gefcheben 
in den Dingen iſt. In diefem Augenblide aber, wo die weitere 
Aufklärung diefer Behauptung und von unſerer nächſten Betrad)s 
‚tung abführen wiirde, begnügen wir uns mit der anderen Erfennt- 
niß, daß jedenfalls Beziehungen, welche zwiſchen den Wefen jtatt- 
fänden, fo lange bebeutungslos wären, als fie nur zwifchen 
ihnen beftänden und nicht einen inneren Zuftand in ihnen felbft 
31* 





484 


bereit3 erzeugt hätten. So lange die Dinge Nichts merken umd 
leiden von den Beziehungen, welche zwifchen ihnen ftattfänden, fo 
lange können diefe nicht den Grund. einer Veränderung in ihnen 
und ebenjowenig den einer wechſelſeitigen Wirkmg derſelben auf 
einander enthalten. Nur von dem, mas in ihm felbft wirklich ift, 
von feinem eigenen Leiden, Tann jedes Weſen zur Veränderung 
feiner Zuftände veranlaßt werden; nur fofern zwei Weſen dies 
Leiden einander anthun, können fie aufeinander wechſelwirkende 
Urfachen fein. Da fie aber Dies Leiden emander nicht durch 
Bermittlung von Beziehungen zwiſchen ihnen anthun können, fo 
muß die Veränderung, die wir in dem einen vorausfeken, une 
mittelbar ein Leiden des andern fein, und es fragt fich, unter 
welcher Vorausfegung die Erfüllung diefer Forderung denkbar ift. 

Der Trockenheit diefer Auseinanderfegung mm können wir 
Dur eine Verweiſung entgehen. Mehrfach hatten wir (I, 403) 
Beranlaffung, die Möglichkeit der Wechſelwirkung zwifchen ven 
Dingen und die Annahmen zu überlegen, welche zu ihrer Erklärung 
verfucht worden find. Wir überzeugten uns, daß alle Vorftellungen 
eines Einfluffes, der von einem Dinge zum andern überginge, in 
Unmöglichkeiten und Widerfprüche endeten. Kaum ließ fich deut⸗ 
lich machen, was eigentlich das fein follte, was überging: war es 
ein dritted reales Element, das von einem erften fich löſte, um zu 
einem zweiten ülberzugehen, fo mochte wohl feine eigne Bewegung 
zwilchen dieſen beiden vorftellbar fein, aber das Räthſel der MWech- 
ſelwirkung lag ungelöft und verdoppelt darin, wie Dies dritte Ele 
ment von dem erften in beſtimmter Richtung ausgefandt und wie 
feine Antunft bei dem zweiten für dieſes Grund eines Leidens 
werden Tonnte; war e8 eine Kraft eine Wirkung ein Zuftand, fo 
wurde feine von dieſen beiden Dunkelheiten klarer, fondern felbft 
dies undeutlich, was vorhin noch anichaulid war, wie nämlich 
dieſe alle, die nur als Atribute eines Weſens beftehen Türmen, 
fih don dem einen Iöfen, einen Augenblid lang in dem Leeren 
zwilchen zwei Elementen ſchweben und mit beftimmter Richtung Das 
andere als Endpunkt ihrer Bewegung finden follten, der zugleich 





485 


der Punkt ihres Wiedereintritts in das Gebiet des Seienden wäre. 
Alle diefe Schwierigkeiten hatten häufig zu dem Verſuche veran- 
laßt, die ımerflärbare Wechfelwirtung ganz zu leugnen, und an 
ihre Stelle eine vorbeftimmte Harmonie der MWeltordnung zu 
fegen, der zufolge die Zuſtände der verfchtedenen Dinge einander 
begleiteten und einander entfprächen, ohne ſich wechſelſeitig hervor⸗ 
bringen zu müſſen. Aber e8 war ganz eitel, eine Ordnung bor= 
zuftellen abgejondert von den Dingen, in deren Veränderungen 
fie allein Wirklichkeit haben Tann. Nur wenn der Ablauf aller, 
auch der Heinften Ereigniffe, unabänderlich präbeftinirt feftftinde, 
würde die Annahme einer präftabilirten Harmonie zwar auch 
dann Nichts erflären, aber doch die Thatſache leidlich bezeichnen. 
Unmöglich aber würde eine folche Harmonie fein, welche als allge= 
meine8 Geſetz nothwendige Folgen nur eventuell eintretender Er⸗ 
eigniffe vorausbeftimmte; dern fobald eine Beränderung irgend 
eined Elementes der Welt, (und in einer folchen wird zuletzt doch 
jede dieſer Folgen beftehen,) irgend einem Creigniß, das bald ges 
ſchieht bald nicht geſchieht, fo oft folgen und entfprechen foll, als 
es gejchieht, jo muß jenes Element durch ein Leiden, das ihm 
jenes Ereigniß anthut, das Eintreten deffelben von feinem Nichte 
eintreten unterfcheiden können, und der Vorgang des Wirkens, den 
man verbannen wollte, würde alfo nöthig fein, um diefe Harmo- 
nie zu begreifen, die ihn erfegen ſollte. Auch Die üußerften Ver⸗ 
fuche, in der fteten vermittelnden Wirkſamleit Gottes das Band 
zu finden, welches die Zuſtände des einen Dinges zu bewirkenden 
Gründen der Veränderung eines andern werben laſſe, Tonnten fo 
lange nicht unfere theoretifchen Bedenken befeitigen, als fie Gott 
und die Dinge ebenjo von einander fchieden, wie früher die 
einzelnen Dinge von einander gefchieven gemwejen waren. Denn fo 
verboppelten auch diefe Anfichten nur das ungelöfte Räthſel: fie 
brauchten eine Einwirkung der Dinge auf Gott und eine Rid- 
wirkung Gottes auf fie, und erflärten feine bon beiden. Un— 
umgänglich erfchien e8 uns, Ddiefe Trennung aufzuheben und in 
einer fubitantiellen Wejensgemeinfchaft aller Dinge die Möglichkeit 


486 


zu fuchen, daß die Zuftände des einen wirkſame Gründe der Ber- 
änderung des anderen find. Nur wenn bie einzelnen Dinge nicht 
felbftändig oder verlaffen im Leeren fchwimmen, über das Teine 
Beziehung hinitberreichen kann, nur wenn fie alle, indem fie endliche 
Einzelheiten find, Doch zugleich nur Theile einer einzigen fie alle 
umfaſſenden, fie'innerlich in fich begenden, unendlichen Subſtanz find, 
ift ihre Wechſelwirkung auf einander oder das, was wir jo nennen, 
möglih. Denn nur dann. wird die Veränderung, welche eines 
pon ihnen erfährt, zugleich ein Zuſtand des Unendlichen fein 
nnd nicht nöthig haben, über eine unausfüllbere Kluft hinüber 
Diefen Zuftand erft zu erzeugen; nur dann kann die folge, bie 
in dem Unendlichen gemäß der Wahrheit feiner eignen Natur 
aus jenem Zuftande entipringt, zugleich als eine Berlinderung 
anderer einzelner Dinge erfcheinen, ohne eine neuen Hergangs 
zu bebiirfen, welcher fie in ihnen hervorbrächte. 

Wie dies felbft nun denkbar fer, in welcher Geftalt jenes 
eine allumfaflende Weſen vorgeftellt werden und wie in feiner 
Einheit die Vielheit der endlichen Dinge enthalten jein könne: 
Dies behalten wir fpäteren Betrachtungen vor und find und deſſen 
wohl bewußt, daß wir bisher nur eine Forderung aufftellten, die 
und unvermeidlich war, ohne bereits ihre Erfüllbarkeit nachge⸗ 
wieſen zu haben. Aber feiner fpäteren Betrachtung behalten wir 
eine andere Frage vor, deren Wiederholung und nur von der 
Fruchtloſigkeit aller bisherigen Ueberlegumgen itberzeugen würde, 
die Frage: wie num auch nur innerhalb jenes einen Weſens das 
Wirken zu Stande kommen könne, welches wir doch auch hier 
vorausjegen müflen, um die Entitehung eines Folgezuftandes aus 
feinen Borzuftänden zu begreifen? Wäre e8 Doc, gelungen, ben 
widerfinnigen Zirkel deutlich zu machen, den grade diefe Wißbe⸗ 
gierde einfchliegt! Denn welchen Borgang fie auch erfinnen möchte, 
um in dem einfachiten Yalle die fcheinbare Kluft zwiſchen Urſache 
und Erfolg zu filllen, immer würde doc diefer Vorgang aus einer 
kürzeren oder längeren. Slette von Creigniffen beſtehen, deren je 
zwei aufeinanderfolgende durch daſſelbe unbegriffene Wirken ver- 





487 


bunden wären, deſſen Möglichkeit überhaupt man durch ihre Zu- 
fammenreihung erklären wollte! Nicht diefe unmögliche Erklärung 
war unfere Abſicht; wie eine Urſache es anfängt, ihre nächte 
Wirkung zu erzeugen, wie eine Bedingung es macht, um ihre 
unmittelbare Folge zu begründen, wird ewig unfagbar bleiben; 
dag es gefchieht, ift zu jenen einfachen Thatſachen zu rechnen, 
welche die eistmal gegebene Wirtlichkeit, ‘den Gegenftand aller 
unferer ferneren Unterfuchungen, zufammenfegen. Aber ein uns 
möglich zu duldender .Widerfpruch war die Annahme, wenn zwei 
Weſen völlig von einander unabhängig feten, könne doch das, mas 
in dem einen geſchieht, ver Grund einer Veränderung in dem 
andern fein; was einander nicht angeht, kann nicht zugleich eins 
ander jo angeben, daß Das eine ſich nach dem andern richtet. 
Dieer Widerſpruch mußte hinweggeräumt werden, damit nur 
Platz für die Anerkennung der Thatſache jenes an ſich ſtets 
unbegreiflichen Zuſammenhangs der Zuſtände geſchafft würde; 
niemals aber haben wir gemeint, daß durch Hinwegräumung 
eines Hinderniſſes, welches dem Zugeſtändniß ſeines Borkommens 
entgegenſtand, dieſer Zuſammenhang poſitiv in der Art ſeines 
Zuſtandekommens, um auch meinerſeits dieſen widerſinnigen Aus⸗ 
druck zu brauchen, begreiflicher werden könnte. 


Die Ausführlichkeit, mit welcher bei einer früheren Gelegen⸗ 
beit (I, 412) der letzte Theil dieſer Gedankenreihe erläutert 
worben ift, mag die verhältnigmäßige Kürze ihrer jeßigen Wieder- 
holung vedjtfertigen, die nur beftimmt war in Erinnerung zu 
bringen, was wir jest mit den übrigen Crgebnifien unferer 
Ueberlegung jo zufammenfafien. 

1. Alle Begeeiflichleit des Weltlmfs beruht für uns auf 
durchgüngigen Beziehungen, welche alle Dinge miteinander ver⸗ 
knüpfen. Allerdings müſſen die Dinge fein, um fich aufeinander 
bezieben zu können; aber dies noch beziehungslos gedachte Sein, 
das wir und ald Grund der Möglichkeit des bezogenen vorſtellen, 


488 


* 


iſt nicht eine für ſich vorkommende Wirklichkeit, aus der die 
Dinge in gegenſeitige Beziehungen treten, und in welche ſie ſich 
aus allen Beziehungen zurückziehen könnten; vielmehr beſteht es 
nur latent in den Formen des bezogenen Seins, unabtrennbar 
von dieſen, und iſt in Wahrheit nur die Bejahung die Setzung 
oder die Wirklichkeit dieſer Beziehungen ſelbſt. 

2. Auch das Was der Dinge, jenes ihr Weſen nämlich, 
durch welches jedes einzelne fich won jedem andern unterfcheibet, 
ift 618 zu dem Grade wenigftens für alle Dinge gleichartig oder 
vergleichbar, daß eine allgemeine Wahrheit in der Welt gelten 
kann, nad welcher aus beitimmten Beziehungen der Dinge be= 
ftimmte Folgen, aus anderen Beziehungen andere Folgen fließen. 
Die Möglichkeit, daß irgendwelche Combinationen der “Dinge 
zureichende Gründe einer angebbaren oder an ſich beftimmten 
Conjequenz werden, . verbietet anzımehmen, daß irgend ein Ding 
unbedingt einzig in der Art feines Inhalts, oder einzig und un— 
vergleichbar in feinem Weſen ſei; es Tann höchſtens das einzige 
wirkliche Beijpiel eines Inhalts fein, der, einfach oder zufammen- 
geſetzt, ſich als Allgemeines in verichievenen Beiſpielen vorkommend 
denfen und im Denken, nach allgemeinen Gefegen der Wahrheit 
mit anderen. Inhalten verbunden, als zureichender Grund irgend 
eines Dritten begreifen läßt. 

3. Nicht nur thatſächlich paſſen die Naturen der Dinge fo 
zufammen, daß fie einander zu Gründen von Folgen ergänzen 
- innen; fondern diefe Thatſache ihrer Correfpondenz muß aus 
einer beſtändigen fubitantiellen Einheit aller begriffen werben. 
“ Bene Correfpondenz ift nicht ein Glüdsfall, der aus vielen. müg- 
ichen aber unwirklichen Fällen des Nichtzufammenpaflend von 
einander unabhängiger und ihrem Wefensinhalte nach ganz jelbitän- 
diger Wefen einzig und allein zur Wirklichleit gefommen ift, ſondern 
fie beruht darauf, daß alles Seiende nur Ein unendliches Wefen 
it, das in den einzelnen Dingen feine ſtets gleiche mit ich 
identiiche Natır in zufammenpaffenden Formen ausprägt. Nur 
unter Borausfeßung diefer fubftantiellen Einheit ift das begreiflich, 


489 


was wir Wechjeliwirfung der verjchtedenen Dinge nennen, und was 
in Wahrheit ſtets ——— der verſchiedenen Zuſtände Eines 
und Deſſelben iſt. 


Zweites Kapitel. 
Die räumliche und die überſinnliche Welt. 


Die Lehre von der Idealität des Raums. — Die Correſpondenz der wahren intel⸗ 
lectuellen und ber ſcheinbaren räumlichen Orte der Dinge. — Aufhebung auch ber 
intellectuellen Beziehungen zwiſchen den Dingen; einzige Realität bed Wechſel⸗ 
wirfend. — Begriff bed Wirkens. 

Der Zufammenhang des fürperlichen und des geiftigen Lebens 
bot uns mehrfach Gelegenheit, die Frage nad) dem zu erheben, 
was fir das eigentliche Was und Weſen der Dinge zu halten 
it. Die vielfachen Wandelungen, die im Laufe unſers Nach— 
denkens die zuerſt zuperfichtlich gemagten Antworten zu erfahren 
pflegen, und die allmähliche Befeitigung der Vorurtheile, von 
denen wir und im Anfange gewöhnlich beherrichen lafjen, werben 
unfere früheren Betrachtungen hinlänglich gejchildert haben, um 
und zu geftatten, ohne Wiederholung derjelben an die Damals 
vorläufig gewonnenen Ergebnifje jetzt unfere weiterführende Ueber⸗ 
legung anzufnüpfen. Die Dinge der Sinnenwelt mögen unfere 
Aufmertfamteit zuerft bejchäftigen. 

Hinter und liegen längft die Standpunlte, von denen aus 
uns die Dinge zuerft unmittelbar in einer vereinigten Vielheit 
finnlicher Eigenfchaften zu beftehen, dann die ihnen allen zu Grund 
liegende Materie den Raum ftetig zu erfüllen ſchien; ſelbſt die 
Atome, in welche das Wirkfame der Sinnenmwelt aufzuldfen uns 
das Bedürfniß ver Naturerflärung mit Nothwendigfeit trieb, 
Ionnten wir nicht als gleichartige Verkleinerungen jener ftetig 
ausgedehnten allgemeinen Materie faffen; räumliche Ausdehnung 
Geſtalt und Größe konnten weder zu ihrem Weſen gehören, noch 
biel weniger aber der ganze umd erjchöpfende Inhalt ihres Weſens 


490 


fein. Nur dem Zuſammengeſetzten, nicht dem Einfachen aus 
deſſen Wiederholung es entjteht, fchienen uns biefe Eigenſchaften 
der Röumlichleit zuzulommen; unausgedehnte Weſen, von ver- 
ſchiedenen Punkten des Raumes aus wirlend, durch ihre Kräfte 
ihre Lage fich wechielfeitig worfchreibend und fie vertheidigend, er⸗ 
zeugten fiir unſere Anſchauung die Bilder ausgedehnter Stoffe, 
die mit mehr oder minder großer Intenfität ihres Zufammenhalts 
und ihrer Undurchdringlichkeit unter verfchiedenen Bedingungen 
verſchiedene Streden des Raumes ftetig zu erfüllen ſchienen. Die 
Natur jener einfachen Weſen ſelbſt Tiefen wir bahingeftellt; 
nur durch Ausdrücke von größtentheild verneinendem Sinn be 
zeichneten wir fie als itberfinnliche intellectuelle intenfive im Gegen- 
fat zu dem, was uns bis dahin mit der gewöhnlichen Meinung 
für das Was der Dinge gegolten hatte; nur andeutungsweiſe 
Ionnten wir die Natur der Seelen als erläuterndes Gleichniß 
beflen bezeichnen, was dieſe Worte fagen wollen (I, 366 ff.). 
In einem Punkte aber fchloffen wir uns durch alle jene Betrach⸗ 
tumgen hindurch der gewöhnlichen Mteimmg an: wir behielten bie 
Borftellung eines unendlichen Raumes bei, der zwiſchen den Dingen 
und außer uns fich hinerftredte, um den Dingen als Ort, ihren 
Wechſelwirkungen als Schauplat zu dienen, ald immer gegen- 
wärtiger Hintergrumd das Beftehen von Beziehungen zwiſchen 
ihnen zu ermöglichen, endlich durch den Wechfel der Entfernungen 
und Annäherungen, die er geftattet, bald als Widerſtand bald 
als Beglinftigung die Ausübung jener Wirkungen zu bedingen. Es 
ift jeßt an der Zeit, dieſe Vorausſetzung zu widerrufen, Deren 
einftweiliges Geltenlaffen damals zur Vereinfachung der Aufgaben 
nöthig und deshalb möglich war, weil die veränderte Anſchauung, 
die wir an ihre Stelle ſetzen müſſen, in allen &inzelbeiten der 
Naturbetrachtung die Wiederanwendung der auf ihr beruhenden 
Ausdrucksweiſen ohne Schaden geftatten wird. 
Obwohl verdunfelt durch den letzten Verlauf der neueren 
Philoſophie, die ihren Rückſchritt hierin für emen beſonders ge- 
Iungenen Fortſchritt hält, ift dennoch der modernen Bildung Kants 








491 


Zehre von der Idealität des Raums in noch fo frifcher Erinne⸗ 
zung, daß ich das Wefentliche meiner Anficht am einfachiten durch 
$urze Zuftimmung zu ihr ausdrücke: Raum und alle räumlichen 
Beziehungen find Tediglich Formen unferer fubjectiven Anſchauung, 
unanmwendbar auf die Dinge und auf die Berhältniffe der Dinge, 
welche die beiwirfenden Griinde aller unferer finnlichen Einzelan⸗ 
ſchauungen find. Sch wiirde glücklich fein, wenn ich ebenſo uns 
bevingt, wie diefem Kerne der Lehre, auch den Beweisgründen, 
durch welche Kant fie ſtützt, oder der Art zuftimmen könnte, in 
welcher er fie zum Geftaltung feiner Weltanficht verwerthet. Beides 
ift nicht der Fall, und ich bin, ohne auf Bekanntes verweilen zu 
können, zu dem Berfuch eines fehr kurzen Umriſſes meiner Webers 
zeugung gendtbigt, Deren Beweis, undenkbar ohne mühſame 
Prüfung unzähfiger Einwürfe, nur einer befondern wiſſenſchaft⸗ 
lichen Unterfuchung gelingen könnte. 

Unfere Borftellungen find nicht, mas fie bedeuten: Die Des 
Süßen nicht füß, die des Halben nicht Kalb. Auch unfere Ans 
ſchauungen des Räumlichen befigen nicht felbft die Eigenjchaften, 
welche ihren Inhalt bilden, und zwiſchen ihnen felbit finden bie 
räumlichen Beziehungen nicht ftatt, welche fie als zwiſchen ihren 
Objecten beftehenve bezeichnen. Unſere Borftellung des Größeren 
ift nicht größer als die des Kleineren, Die des Dreieckigen iſt nicht 
breiedig und die des Linken liegt nicht felber links neben ber Des 
Rechten in derfelben Lage und Entfernung, welche Durch beide Bor: 
ftellungen zwei verſchiedenen Punkten eines Gegenftandes beigelegt 
werden. Wie tiberzeugend daher auc immer vor unfern Sinnen 
der unendliche Raum fich außer und auszubreiten, wie felbitver- 
ſtändlich die beftimmten Brtlichen Beziehungen der Dinge, die wir 
wahrnehmen, außer uns und zwiſchen ihnen felbft ftattzufinden 
fcheinen: unſer Anfchauen dieſes Raumes, unfer Wahrnehmen 
diefer Beziehungen, geht gleihmohl aus der Wechjelmirkmg von’ 
Eindrücken oder inneren Zuftänden unſeres Weſens hervor, Deren 
feiner an fich felbft räumliche Geftalt bat und deren Verhältniffe 
imter einander räumlichen Lagenverhältniſſen nichts weniger als 


492 


ähnlich find. Formen unferes Anſchauens find daher Raum und 
Räumlichkeit nicht, nämlich nicht Formen, in denen Die geiftigen 
Thätigfeiten felbft fich bewegen, aus deren Arbeit unfer Raumbild der 
Welt entipringt; fie find mur Form unferer Anſchauung, wenn 
wir mit dieſem Namen das Erzeugniß, das fertige Bild jelbft, die 
unferm Bewußtſein vorjchwebende Erſcheinung der umendlichen Aus- 
dehnung im Gegenjaß zu den unräumlichen nur intenfio zu faſſenden 
Thätigkeiten des Vorſtellens bezeichnen, durch welche fie geſchaffen wird. 

Wenn nun fchon, die nächſten Wurzeln, welche die von uns 
angefchaute Raumwelt in unferem eignen Innern bat, ihr felbft 
pöllig" unähnlich find, fo Tann man leicht Hieraus zu fchließen 
verſucht fein, daß ihr ebenfo wenig, wo möglid) noch weniger 
jene Außenwelt gleichen werde, von deren Einwirkungen auf 
unfere inneren Zuftände die raumanſchauende Thätigleit unferer 
Seele gewedt wird. Geftaltiofe, darım jedoch nicht weſenloſe, 
fondern durdy die Mannigfaltigkeit ihres überfinnlichen Inhalts 
harakteriftifch verjchiedene Dinge, geordnet in einer Vielheit nicht 
räumlicher fondern intellectueller Berhältniffe, würden dann durch 
die unmittelbare Wechſelwirkung, in welcher fie mit dem Innern _ 
der Seelen ftänden, diefe Dazu nöthigen, in Formen räumliches 
Nebeneinanderjeind die mannigfachen Eindrücke, welche fie ihren 
zufügten, zu ©egenftänden ihres anfchauenden Bewußtſeins zu 
machen. Allein dieſer Echluß würde das Richtige auf unrich- 
tigem Wege gefunden haben; denn die Entſtehungsweiſe unferer 
räumlichen Anſchauung aus der Wechſelwirkung unräumlicher 
Eindrüde in uns entjcheidet Nichts über Räumlichkeit oder Un- 
räumlichfeit der Außenwelt, aus der jene Eimbrüde ftammen. 
Wir haben uns längjt überzeugt, daß auf diefem Wege unfere 
Anfchauung des Räumlichen immer würde entftehen müffen, möchte 
bie räumliche Welt außer uns vorhanden fein oder nicht. Dem 
auch wenn fie vorhanden wäre, fo würden in unfer inneres, 
welches fein Raum ift, niemald ausgedehnte Bilder der Dinge 
mit ihren Größen- und Lagenverhältnifien eingehn können; und 
wenn fie felbft eingingen, fo würde ihr nunmehrige8 Dafein in 


493 


der Seele noch nicht gleichbedeutend mit ihrem Angeſchautwerden 
fein. Auch die Eindrüde einer wirklichen Raummelt müßten fich, 
um fir uns bazufein, in eine geordnete Vielheit unriumlicher 
Erregungen unferer Seele verwandeln, und mm aus dieſer könnte 
in jedem Yale die Anſchauung der Raummelt wieder aufgebaut 
werden. Pſychologiſche Unterfuchungen des Weges, auf dem die 
Anſchauung des Räumlichen in uns entitehe oder nicht entitehe, 
fondern unferem Geifte vielleicht urſprünglich angeboren ſei, können 
daher die Frage nicht beanworten, die und befchäftigt. Nur eine 
metaphufifche Ueberlegung darüber, welche Art der Wirklichkeit dem 
Kaume, nachdem er gedacht und fo wie er gedacht wird, eben 
um deswillen zukommen könnte, was er dann ift oder bedeutet, 
kann feine Idealität oder feine Realität feftitellen. 

Ganz leicht iſt es nun augenfcheinlich nicht, zu fagen, wo— 
für wir eigentlich den Raum halten, wenn wir feine leere un⸗ 
endlihe Ausdehnung denken; der Verſuch dazu läßt uns bald die 
Einzigkeit diefer Vorftellung empfinden, zu deren Erläuterung es 
teine gleihartigen Analogien, fondern faft nur Bilder gibt, die 
ſelbſt der ganz eigenthlimlichen Natur des Räumlichen entlehnt 
find. Den Raum für ein ımendliche8 Ding oder für eine Eigen- 
fchaft der Dinge anzufehen, find Gedanken, zu deren Widerlegung 
Niemand jegt zurliczufehren file nöthig halten wird, da ſchon das 
Alterthum die Widerfprüche deutlich gemacht hat, in welche ung 
unter diefer Vorausſetzung theild das Sein der Dinge im Raum 
theil8 ihre Bewegung durch ihn hindurch vermwideln wiirde, Nur 
wenig mehr befriedigen jedoch die Gewohnheiten der modernen 
Bildung, ihn eine Form ein Verhältniß eine Ordnung der Dinge 
zu nennen; denn alles Dies ift er ja offenbar eben nicht: ges 
ſtaltlos an fich felbit könnte er nur für einen Hintergrund gelten, 
der fi dazu hergibt und feiner Natur nach dazu fähig it, un- 
endlich viele verſchiedene Formen in fich verzeichnen, unzählige 
Berhältniffe in fich beftehen, die mannigfachften denfbaren Drd- 
nungen eimer Bielheit in fich darftellen zu laſſen. Aber es ent- 
geht fchwerlih der Aufmerffamfeit, daß der Name des Hinter⸗ 


494 


grundes nur eme andere Bezeichnung des Raumes felbit iſt, und 
wir lernen daher auch durch dieſe Correction der gewöhnlichen 
Meinung richt fowohl, was der Raum ift, als welche Dienfte er 
unferer zufammenfafjenden und tbeilenden Anfchauung eines ge= 
dachten Mannigfachen Ieiften kann: er erfcheint als die Möglichtett 
des Nebeneinanderſeins einer Vielheit; was ex ſelbſt if, um diefe 
Möglichkeit darbieten zu Tünnen, bleibt doc unerklärt. Man kann 
Hinzufügen, daß felbft diefer letzte Ausdruck ſich im Kreiſe bewegt, 
denn Nebeneinanderfein ift eine Art des Zugleichſeins, die von 
andern Arten deſſelben ſich nur durch den im ihre bereit voll⸗ 
Ständig enthaltenen Charakter der Räumlichkeit unterfcheidet. 

Eben diefe Bemerkung aber kann uns auf den richtigen Weg 
bringen, zuerft nicht den Raum, fondern die allgemeinen Geſetze 
der Räumlichkeit ins Auge zu foffen, ihn felbft aber aus der An— 
wendung derjelben ebenfo entjtehen zu laffen, wie much pſycholo⸗ 
giſch feine Anfchauung als die eines unendlichen Ganzen ohne 
Zweifel das Spätere ift. Denn gegeben ift uns weiprünglich, fei 
es als angeborne Gabe oder als erftes Erzeugniß der Wechiel- 
wirkung unferer Eindrücke, wohl nichts Anderes als die Gemiß- 
heit, daß jeder Punkt von jedem andern aus durch eine und nur 
durch eine gerade Linie erreicht werden Türme, daß die ſämmtlichen 
Punkte diefer Linie, vollkommen gleichartig und gleichwerthig ihren 
beiden Endpuntten, in gleicher Beziehung zu jedem anderen Punkte 
ftehen, oder auf welche andere hier nicht aufzufuchende Weiſe man 
die Natur des Nebeneinander vollftindiger jo ausdrüden mag, daß 
darauf die Geometrie ihre erften Grundſätze ſtützen könnte. Der 
logiſchen Form nach ift unfer Ausdruck, wie jeder genauere, ben 
man an feine Stelle fegen möchte, ein allgemeines Geſetz; die 
Eigenthiimlichkeit feines Inhalts unterjcheidet ihn jedoch auch fors 
mell wejentlich von dem Bildungsgeſetze, welches jever Allgemein- 
begriff feinen befonderen Beiſpielen vorjchreibt. Der Allgemein> 
begriff verlangt nur, daß jedes feiner Exemplare fiir fich genoms 
“men eine beftimmte Gruppe von Merkmalen in beftimmter Weife 
verfniipft enthalte; er ordnet daher zwar feine einzelnen Beijpiele 


495 


fich Telbft unter, zwifchen ihnen dagegen ftiftet er keine inhaltuolle 
Beziehung, durch welche fie mwechfelfeitig auf einander wirkten und 
von emander litten. Denn was wir logiſch ihre Coordination 
nennen, bedeutet nur ihr ganz gleiches Schickſal, dem Allgemeinen 
fubordinirt zu fein und bat außer der Aehnlichkeit, die natür⸗ 
lich eben um diefer Unterordnung willen ihnen zukommen muß, 
feinerlei Einfluß auf ihr gegenfeitiges Verhalten, das durch fie 
vielmehr völlig umbeitimmt bleibt. Daffelbe gilt von allen andern 
allgemeinen Gefegen, welche eine Verſchiedenheit einzelner Fülle 
unter ſich begreifen; fie wollen in jedem diefer Fülle einzeln ge 
nommen gelten, aber fie bringen die verjchiedenen Fälle in feine 
gegenfeitige Verknüpfung. 

Dem vollkommen entgegengefegt verhält ſich das Geſetz des 
Nebeneinander. Wenn es zwiſchen zwei Punkten eine und nur 
eine gerade Linie flir möglich und nothwendig erflärt, behauptet 
e8 nicht nur allgemein, daß jedes zweite oder dritte Paar von 
Pımlten demfelben Schickſal der Verbindbarkeit unterliege, ſondern 
es gebietet zugleich, Daß das zweite Baar mit dem erften, über⸗ 
haupt jedes Baar mit jedem andern auf demfelden Wege und 
in derſelben Weiſe verbunden gedacht werde, wie Die Glieder jedes 
Paares unter einander verbunden find. Es verknüpft alfo die 
verjchiedenen Beifpiele feiner Anwendung zu emem Ganzen, 
welches nach derjelben Regel zufammenhängt, nach welcher je zmei 
beliebige feiner Theile fi) auf einander beziehen, und geftattet gar 
nicht, irgend einen Fall feiner Anwendung zu denken, der iſolirt 
wie in eimer Welt fiir fi} eriftirte, ohne fih als Theil an dieſes 
Ganze anzufchliegen. Erſt bier hat daher Nebenordnumg einen 
eigenthiimlichen Sinn; die einzelnen Räume find nicht nur als 
Beifpiele einem Allgemeinbegriff des Räumlichen fubordinit, ſon⸗ 
dern zugleid, als Theile eines einzigen Raumes nady den allge 
meinen Geſetzen der räumlichen Structur aneimandergefügt und 
eoordinirt.. Dadurch wird der Ram zu einem Bilde und darauf 
beruft e8, daß wir für ihn den Namen einer Anſchauung 
ftet8 der ein weſentlich anderes Verhalten bezeichnenden Benen- 


496 


mung eined Begriffes vorziehen und vorgezogen fehen. In Der- 
felben Eigenthümlichkeit des Gefeges der Räumlichleit oder des 
Nebeneinander, welche wir hervorhoben, liegt nun zugleich, wie 
in der Natur jever Reihe, die Möglichkeit eines endlofen Fort- 
fchritts, der ſtets an die gegebenen Beziehungsglieder neue nad) 
gleicher Formel anreiht; durch fie dehnt fich der Raum zur Un- 
endlichleit aus. Mit einer freilich ganz willkürlich gewählten 
geringſchätzigen Färbung des Ausdruds könnte man dies fo be 
zeichnen, daß der Raum nur durch innere Unfähigkeit der Selbit- 
begrenzung unendlich fei; auch dieſe Auslegung können wir und 
jedoch, ohne auf Streitigkeiten der Schule einzugehen, getroft ge- 
fallen Yaffen; ein Bedürfniß nach anderer Unendlichkeit des Raums 
fennen wie nicht, als die ift, welche wir behaupteten, und Die, 
. weil fie jedem Fortſchritt über augenblicklich angenommene Gren- 
zen nicht nur nicht widerſteht, fondern ihm beitimmte Wege an- 
weiſt, ohnehin fchwerlich als bloßes Fehlen einer befleren Eigen- 
ſchaft angefehen werben farm. Faſſen wir das Gefagte zufammen, 
fo erfcheint uns der Raum als eine Art von Integral, welches 
das Ganze angibt, dad aus der Summirung aller unendlich vielen 
Anwendungen des Geſetzes des Nebeneinander hervorgeht, wenn 
wir gänzlich von der Natur des Realen, das in den Beziehungen 
defjelben ftehen foll, abſtrahiren und anjtatt feiner die leeren Bil- 
der bezogeher Punkte einjegen. Nun, nachdem wir jene Anfchau- 
ung fo befigen, erfcheint und der Raum als das umfaffende Ganze, 
in welchem und durch welches die Mannigfaltigkeit aller der Ber- 
hältnifje möglid, fei, aus deren Summation er eigentlich felbft 
entftanden iſt. 

Wenn Died nun die Bedeutung des Raumes tit, jo bedarf 
Die Frage nach der Art feiner Wirklichkeit kaum mehr einer be 
fonderen Beantwortung. Schon wer ihn als leere Form anfah, 
welche die Dinge in fi aufnähme, mußte ſich jagen, daß leere 
Formen nur als geformte Stoffe, als Neales mithin, anderem 
Realen als eriftirend vorangedacht werden können, welches fie in 
ih faffen follen; als unreale Formen, durch Teinen Stoff ge 


497 


ftügt, deſſen Geftalt fie wären, Können fie natirlih nur in dem 
Denken vorhanden fein, das von dem Stoffe abftrahirt hat. Ebenfo- 
wenig würden Verhältniffe. und Ordnungen für id) vor den Dingen 
beftehen können, welche in fie eintreten follen; auch fie können, 


von dieſen abgelöft, den Ort ihrer Eriftenz nur in der Thätigkeit 


des Boritellend Haben, wmeldyes fie dent. Es ift kaum nöthig 
hinzuzufügen, daß noch weniger der Raum als Geſammtbild des 
Ergebnifjes unendlich vieler möglichen Beziehungen irgend anders- 
wo fein Dafein haben Tann, als in dem Anfchauen, welches fich 
dieſes Reſultates feiner vereinigenden trennenden und gliedernden 
Beziehungsthätigleit bewußt wird. Nicht zwifchen den Dingen 


und ihnen vorangehend eritirt der Raum fo, daß die Dinge in ihm 


wären, fondern in den Dingen, in den Seelen wenigftens, breitet 
er ſich als die nur für das Denken eriftirbare Ausdehnung aus, 
in welcher wir. den Eindrüden ihre Orte anweiſen, die wir durch 
innerliche Wechjelwirkung mit der Außenwelt d. h. mit den Dingen 
empfangen, welche nicht wir felbit find. Nur die übelangebrachte 
Berehrung eines antiken Irrthums könnte und entgegnen, daß 
auch dem Nichtfeienden doch ein Sein, aud) Beziehungen, die nichts 
Reales find, em objectives Beftehen außer unferem Denken zu- 
fommen könne. Es ift eine wohlfeile Weisheit, zu behaupten, 
daß auch der Schein, das Nichts der Irrthum, in gewiſſer Weiſe 
ft, Daß das PVergangne und das Zukünftige nicht in. dem Sinne 
sicht fei, wie das Niegewefene und das GtetSunmögliche; eben 
diefe gewifle Weile und den Sinn dieſes Seins haben wir in 
dem Borigen in Bezug wenigftend auf unfern Gegenftand, den 
Raum, beſſer als durch diefe unbeftimmten Ausdrücke feitzuftellen 
geſucht. Wir thaten e8, indem wir den Raum nicht einfach zum 
Nichtjein verurtheilten, fondern die Art der Wirklichkeit zu er⸗ 


mitteln fuchten, Die ihm zugeftanden werden kann. Und diefe be 


ftand eben darin, daß er als Auſchauung in den vorftellenden 
Weſen, nicht aber außer ihnen als daſeiendes Leeres vorhanden 
iſt. Nicht feine Wirklichkeit wird Hierdurch gejchmälert, ſondern 


die Art derſelben beftimmt; ſowie Ereigniffe wirklich gefcheben, 
Lotze, III. 3. Aufl. 32 


obgleich fie nie find, fowie das Licht wirklich glänzt, obgleich 
nie außer dem Sinne, der es empfindet, fowie die Macht des 
Geldes und die Wahrheit der mathematischen Geſetze wirklich gelten, 
obgleich jene außer der Schätung Der Menfchen, diefe außer dem 
benammten Realen, auf da® fie fich beziehen," nirgends find; ganz 
ebenfo hat der Raum Wirklichkeit, obgleich er nicht ift, fondern 
ſtets erfcheint. Denn Wirklichkeit ift wie eine Sonne, die über 
Gerechten und Ungerechten aufgeht; fie umfaßt nicht mm das 
Sein des Seienden, Tondern auch Das Werden des Geſchehenden, 
das Gelten der Beziehungen, das Scheinen des Erfcheinenden; 
verkehrt ift e8 nur, dem Einen von Dielen durchaus diejenige 
Art der Wirklichlert geben zu wollen, Die nur einem Andern zu= 
kommen Tann, und zu Magen, wenn jedem von ihnen der Ort 
und die befondere Art feiner möglichen Eriftenz angewieſen wird. 


Es waren andere Gründe, als die bisher angeflihrten, welche 
Kant zu femer Lehre von der Idealität des Raumes beitinmten, 
und eine weitere Ausmalung derfelben veranlaßten, der wir ums 
nicht anſchließen künmen. Nur kurz erwähnen wir aus den bier- 
hin gehörigen Gedanken die Gewohnheit, ven Raum als fubjective 
Form nur menfchlicher Anfchauung zur betrachten, und die Mög- 
lichleit hindurchblicken zu laſſen, daß andere erlennende Wefen 
ſich anderer Formen des Anfchauens, die wir nicht einmal ahnen 
könnten, bedienen möchten. Legt man hauptfächlih Gewicht dar- 
anf, im Gegenfate zu dem Inhalt der Erkenntniß, den uns Die 
Erfahrung zuführt, den Raum zu dem angebomen apriorifchen 
Beſitz unſres Geiſtes zu rechnen, fo tritt natürlich der Gedanke 
in den Vordergrund, daß feine Eigenthümlichkeit von der Natur 
des anſchauenden Geiftes abhängig ſei und daß in andersgearteten 
Geiſtern andersgeartete Formen der Anſchauung an feine Stelle 
treten. Der fpätere Verfuch Herbarts, die gefammten apriorifchen 
Formen unferer Erkenntniß als Refultate darzuſtellen, welche Die 






! 


499 





IN: 
Wechſelwirkung verfchiedener Borftellungen in jedem —— 
Weſen nothwendig hervorbringen müſſe, führte auch in Bezug 
auf den Raum zu der entgegengeſetzten Vorausſetzung; jedem 
Weſen, deſſen Erkenntnißweiſe auf einem Mechanismus wechſel⸗ 
wirlender Einzelvorſtellungen beruht, werde die Vielheit feiner Ein⸗ 
drücke in räumlichen Verhältniſſen erſcheinen müſſen. Eine end— 
gültige Entſcheidung über dieſen Zwieſpalt der Anſichten halte ich 
nicht für möglich. Keine der Deductionen hat, wie mir ſcheint, 
ihr Ziel erreicht, welche die Nothwendigkeit, daß überhaupt Raum 
jet oder angefchant werde, bald aus Borausfegungen nothwendiger 
Entwicklung des Weltinhaltes, bald aus felbftverftändlichen Gefegen 
der MWechjelmirkung alles Vorſtellens zu erweiſen gefucht haben. 
Sie alle haben, wenn fie den erften Weg betraten, aus dem. Ber. 
griffe eines ſich entwidelnden Abfoluten nur gewiffe abftracte Bo- 
ftulate abgeleitet, Die nicht felbft den Raum feßten oder aus fich 
erzeugten, fondern von denen nur. derjenige, der. den. Raum be- 
reits Tannte, errathen konnte, daß er es fei, durch den fie. be 
friedigt würden; oder wo fie den zweiten Weg: einfchlugen, haben 
fie den Raum nur zu erzeugen bermocht, indem fie einigen. von: 
ihm entlehnten bildlichen Ausdrüden, die fie anfänglih mm im 
abftract unräumlihen Sinne zu brauchen behaupteten, im Verlauf 
der Deduction irgendwo den eigentlichen räumlichen Sinn wieder 
unterjchoben. Bewieſen ſcheint e8 mir. Daher nicht, Daß in. jedem 


vorjtellenden Weſen, deſſen Erkenntnißweiſe fich der unjern were 


gleichen ließe, die Anfehauung des Mannigfachen überall in der 
Form des Raums geſchehen müſſe; ich möchte nicht eben behaupten, 
aber ich vermuthe, Daß diefer bisher ftet3 mißlungene Beweis 
unmöglich fei. | 

Diefer Raumwelt nun als einer Erſcheinung die Welt des 
wahrhaft Seienden entgegenzufegen, war natürlich und berechtigt, 
aber fehlerhaft die andere Gewohnheit, den Unterſchied beider bin 
zur völligen Unvergleichbarfeit zu übertreiben, und wie dies na= 
mentlich die populäre Bilvung: that, als der Lehrfa von der 
Idealität des Raumes in fie eingedrungen war, in dem Gedanken 

32* 


— er Ze i 
—— * =) er 

£ Di Tora a 
— 


„m... m, re »7 

EX J 7 ĩ⸗ 4 

—8 —R Ey Ba . 
“ r R N 


'. r 





500 


diefer Unvergleichbarfeit, als läge in ihm die Bürgſchaft für alle 
höchften Güter, förmlich zu ſchwelgen. Es war trrig, den Raum 
als eine Form unferer Anſchauung anzufehen, in mweldye die Dinge 
fielen, während fie an ſich in ihrer Reinheit aller Räumlichkeit 
völlig fremd wären; denn Nichts kann doch am Ende in eine 
Form fallen, für die e8 nicht irgendwie paßt. Gleich ungenau 
war Kants eigner Ausdrud gemwejen: nachdem jo lange die Er- 
kenntniß die Gefege ihrer Beurtheilung der Dinge fi) von Der 
Erfahrung habe geben laffen, komme es auf den Verſuch an, ob 
wicht umgekehrt die Erkenntniß den Dingen Gefege, wenn auch 
nur ſolche ihres Erſcheinens, vorfchreiben könne; denn offenbar 
mag der erfennende Geift wohl das Colorit im Allgemeinen be- 
ftimmen, in welchem ihm das MWirfliche erfcheinen fol, aber um 
überhaupt noch zu erkennen, wird er Doch die bejondere Zeichnung 
wenigftens, welche das Erfcheinende haben foll, von der Natur 
deffen erwarten müffen, was ihm erjchent. Allgemeiner ausge- 
drückt lag die Unzulänglichkeit dieſer Anficht darin, daß fie dem 
Geifte zwar die Anſchauung des Raumes als angebornen Beſitz 
zufchrieb, aber nicht verfuchte, die Benugung dieſes Beſitzes zu 
erflären. Wir haben nicht nur eine Anſchauung des leeren Raumes, 
fondern eine räumliche Anfchauung der inhaltvollen Welt, und 
e8 war nachzuweiſen, wie in jener leeren Form, Die wir, wie 
man fagte, dem Wirflichen der Erfahrung entgegenbringen, dieſes 
MWirfliche feine beftimmten Plätze ein- und feine beſtimmten Ge- 
ftalten annimmt. Die Löfungdiefer Aufgabe war unmöglich ohne 
die Vorausfegung, daß zwifchen den Dingen ſelbſt mannigfache 
Beziehungen beſtehen, deren eigenthümliche Unterjchiede und Be— 
deufungen durch entfprechende Formen räumlicher Beziehung fich 
abbilden oder in fie, in die Sprache des Raumes, überfegen laſſen; 
wie unbefannt und unerforfchlich man auch fonft Die Natur der Dinge 
an Sich ſchätzen mochte: dieſes Maß eines Wiffens um fie konnte man 
fi) nicht ohne Wiederaufbebung der eigenen Anficht abiprechen. 

Um nun auf diefem Standpunkte der Betrachtung, auf den 
wir uns oben jogleich ftellten und den wir nicht immer ganz inne 





501 


behalten werden, fo weit. heimifch zu werden, als zum Berftänd- 
nig nöthig ift, Dürfen wir nur daran erinnern, wie zu unfern Ver⸗ 
gleichungen aller denkbaren Inhalte räumliche Bilder ſich immer 
von ſelbſt zudrängen, um dem, was wir dachten, durch Veran— 
Thaulichung die legte Klarheit zu geben. Wir können eine Biel- _ 
heit des Unräumlichen wohl denken, aber wir ftellen fie nie vor, 
ohne das Biele an verfchtedene Orte eines mitworgeftellten Rau- 
mes zu vertbeilen; jede Einheit verdeutlichen wir durch räumliche 
Grenzlinien, durch die fie von Anderem abgejchloffen, in fich zu= 
fammengefchloffen wird; keine Berfchiedenheit und feinen Gegen— 
fag, teinen Grad der Verwandtſchaft ftellen wir vor, ohne durch 
Bilder ‚verfchiedener räumlicher Tage Geftalt Richtung und Ent- 
fernung den abftract gemeinten Inhalt dieſer Begriffe ung zu an- 
ſchaulicher Erjcheinung zu bringen. Und auch diefe Worte, wie 
Inhalt Gegenfag Borftellimg, ſowie unzählige fprachliche Bezeich- 
nungen von Beziehungen verrathen etymologiſch ganz deutlich, 
daß ſelbſt fie, denen der Fortſchritt der Bildung nad) und nad 
ihre abftracte Bedeutung angewöhnt hat, urjprünglich doc, dem 
Kreife räumlicher Anſchauungen entfprungen find. Kaum ift e8 
daher ein Bedürfniß, noch weiter diefe Fähigkeit des Raumes zu 
beweifen, durch die unbegrenzte Mannigfaltigleit der möglichen 
Beziehungen feiner Punkte die vielfachite Verfchiedenheit und Ab- 
ftufung intellectueller Verhältniffe zu verfinnlichen; viel eher könnte 
ein Bedürfniß vorliegen, die an dieſe Verbildlichung gewöhnte 
Einbildungstraft zu überzeugen, daß eben jene Beziehungen, welche 
fie räumlich vorzuftellen liebt, enten eignen Sinn für ſich haben, 
der in dieſer räumlichen Geftalt nur widerſcheint, ohne an fie 
gebumden zu fein. Die Gliederung der Tonwelt oder die der mathe- 
matiſchen Wahrheit Tann zur Erläuterung diefes Verhaltens dienen. 
Ohne die räumlichen Bilder "der Höhe der Tiefe der Intervalle 
werden uns die Beziehungen der Töne nicht Har im Denlen, ob- 
wohl wir im Empfinden uns ihrer bloß qualitativen Natur be 
mußt find; die mathematischen Wahrheiten oder die Verhältniſſe 
der reinen Zahlen faffen wir, da fie lem finnliches Bid zuſam⸗ 


502 


menfegen, leichter als das, was fie wirklich find, als Syiteme von 
Gliedern, deren höchſt mannigfach abgeftufte wechſelfeitige Ab— 
hängigleit durchaus abſtracter Natur iſt und der räumlichen Ber- 
bildlichung weder zu ihrem Beſtehen bedarf noch ausnahmslos 
eine ſolche zufäßt. Dieſe Beiſpiele werden hinreichen, vorläufig 
jene intellectuellen Beziehungen zu verdeutlichen, welche wir als 
beſtehend zwiſchen den mannigfachen Dingen vordusſetzen. Wel⸗ 
ches auch die Naturen der Dinge und welches die allgemeine Art 
ihrer Beziehung fein möge, jene werden nicht unvergleichbar, 
diefe wird unbegrenzter Abſtufung der Engigfeit fühig fein; Durch 
feine Natur und die Gefammtheit feiner Beziehungen zu allen 
übrigen wird daher jedes Ding nicht nur von allen andern un— 
terfchieden ımd dadurch iſolirt, fondern gleich dem Zone, der feine 
unverrüdbare Stelle in der: Scala. hat, gleich der Wahrheit, die 
an emem bejtimmten Orte des Syſtems zwiſchen foldhen, von 
denen fie abhängt, und folchen liegt, welche fie ſelbſt begründet: 
fo hat jedes Ding auch feinen beftimmten Pla in der Gefammt- 
reihe des Wirklichen zwiſchen anderen, die mit abgeftuften Graden 
der Verwandtſchaft umd des Gegenfates ihm näher oder ferner 
ftehen. Dieſer intellechieflen Ordnung entfprechend wird jedes 
Ding auch einer Seele, in der feine Einwirkung Geneigtheit zu 
räumlicher Anſchauung anteifft, an dem beitinnnten Plage zwiſchen 
den Bildern der übrigen Dinge erfcheinen, den ihm bie Geſammt⸗ 
heit jeiner intellectuellen Beziehungen zu dieſen anmweift, und dieſer 
fein Ort wird fich ändern, es felbft alfo im Bewegung durch wen 
angeſchauten Raum begriffen fcheinen, wenn fich jene feine Be 
ziehungen zu dem Gefammtinhalte der Welt ändern. 

Die räumliche Erſcheinung der Welt ift nicht fchon fertig 
durch das Beftehen der intellectuellen Ordnung zwildden den 
Dingen; fie wird erft fertig durch die. Einwirkung Ddiefer Ord⸗ 
nung auf diejenigen, benen fie erſcheinen jol. Sie kann decher 
nicht fir alle Anſchauenden dieſelbe fein; denn die Seelen ſelbſt 
fiehen in jenem intellectuellen Ganzen Der Welt an verſchiedenen 
Bunkten femes Baues; anf diefe verſchiedenwerthigen Theile wirkt 


— 


503 


das Ganze verfchieden und erfcheint ihnen demgemäß verſchieden: 
jedem von ihmen überhaupt nur ein Ausfchnitt, und diefer in der 
eigentbiimlichen Verſchiebung feiner PBrojection, welche dem Unter⸗ 
fchiede der Weltftellung dieſes Weſens won der feines nächften 
Nachbars in der intellectuellen Dronung der Dinge entipricht. 
So fehen wir zwar im Großen diejelbe Welt, jeder aber fie ver- 
ſchieden im Kleinen; genau diefelbe Anſchauung könnte Einer mit 
dem Andern nur theilen, wenn er aus feinen Verhältniſſen zur 
Gefammtheit der Welt in Diejenigen einrückte, im denen der An- 
dere fich vorher befand, eine Veränderung, die ihm jelbft als räum- 
liche Bewegung feiner jelbft durch die um ihn erfcheinende Raum⸗ 
weit vorkommen müßte Eine leichte Fortſetzung Diefer Ueber⸗ 
legumgen lehrt, was bier beſonders barzuftellen itbermäßigen Wuf- 
wand von Worten erfordern wiirde, daß die räumlichen Welt⸗ 
bilder, welche die verfchiedenen Seelen um ſich entwerfen, wie 
einerſeits nicht identiſch, fo anderſeits nicht ohne Zuſammenhang 
find. Jeder erfcheint dem Andern an emer beftimmien Stelle 
der von dieſem Andern angejchauten Raumwelt, jeder gibt zugleich 
in der Raumwelt, die er fchaut, feinem eigenen Bilde feine 
Stellung zu dem Bilde des Andern fo, daß beiden zur Vertauſchung 
ihrer Platze entgegengejeßte Bewegungen in derſelben Linie noth- 
wendig erſcheinen .müflen; Beide werden daher innerhalb ber 
Raumwelt, die jedem von ihnen zwilchen ihm und dem andern 
ſich auszubreiten ſcheint, mährend fie m Wahrheit nur in ihnen 
ſelbſt ſich ausdehnt, gleichwohl einander aufzufinden umd in ge 
ordneter Bewegung zur Wechſelwirkung zufanmnenzutveffen wiſſen. 
Es ift nothwendig, fich dies hollitändig durchzudenken; denn phi- 
loſophiſche Theorien haben wenig Werth, wenn fie nur innerhalb 
der Schule mühſam beweisbar, im Leben Dagegen, wegen mangeln- 
der Leichtigkeit :des Anſchluſſes an deſſen tägliche Vorlommmiſſe, 
unglaublich bleiben. Ohne felbft den Verſuch bier meitläuftig ‘zu 
machen, Darf ich hoffen, daß eine weitere Verfolgung der gemachten 
Andeutungen den Anſchein der Paradorie völlig zerſtreuen werde 
den anfünglich der Lehrſatz von ber Idealittit des Raumes für 





504 


das gewöhnliche Bewußtſein zu haben pflegt. Wir befiten in der 
That an dem unter den oben verdeutlichten Bedingungen nur 
jubjectiv angefchauten Raume vollfommen dafjelbe, mas und eine 
wirkliche objective Eriftenz deſſelben, wäre fie überhaupt möglich, 
leiften Könnte; fein Theil des gewöhnlichen Scheine® und feiner 
üiberredenden Evidenz bleibt unferer Annahme über das wahre 
Berhalten unerflärlich, nicht einmal eine gewaltſame Veränderung 
der berfümmlichen Ausdruds- und Vorſtellungsweiſe macht unfere 
Borausfegung im Einzelnen nöthig, fobald fie emmal im Ganzen 
principiell zugeftanden if. So wie wir ftet8 vom Aufgang und 
Untergang der Sonne fprechen und nie unjere Ausdrücke ſchwer⸗ 
fällig nad) dem wohlerfannten wirklichen Thatbeftande formen 
werden, jo können wir in allen Einzelheiten der Weltbetrachtung 
fortfahren, den Raum ſich außer und ausdehnen zu laflen und 
uns ſelbſt als ſchwimmend in ihm zu betrachten; nur da, wo es 
darauf ankommt, die oberften Grundfäße feftzuftellen, nad) denen’ 
aller Zufammenhang des Scheines zu beurtheilen ift, werden wir 
eben fo wie die Aitronomie genöthigt fein, auf das wahre Ber- 
halten als Grundlage aller Regeln des Erſcheinens zurückzu⸗ 
fommen. 

. Aus dem Zuſammenhange unferer Betrachtung fcheide ich 
an diefer Stelle einen Kreis von Gedanken aus, deren Entwick⸗ 
fung, zwar an fich wichtig, doch file unfere Zwecke Die Weit- 
Täuftigkeit, zu welcher fie uns nöthigen wirde, nicht vergüten 
fönnte Die Grundbegriffe nämlich, welche wir naturphilofophtich 
iiber die Verkettung Der phyſichen Ereignifje faſſen müſſen, fallen 
offenbar ſehr verfchieden aus, je nachdem wir den Raum für eine 
wirkliche Bühne, auf der alles Gefchehen vorgeführt wird, oder 
für einen Schein anfehen, in deffen Tracht fich ext fecundär ein 
urfprünglich ganz anders geartetes wahres Geſchehen zwifchen ben 
Dingen verfleivet. Uns kann nicht mehr die räumliche Bewegung 
als eine Leiftung erfcheinen, durch welche eine Entfernung, als 
wäre fie eine Wirklichlett, überwunden wird; wir können nicht 
bon Kräften Sprechen, deren Tendenz es wäre, die Körper räum⸗ 





305 


lich einander zu nähern oder zu .entfernen, oder die an einem 
Duantum der Entfernung einen beitimmten Widerftand ihres 
Wirkens finden könnten. Alle diefe .einfachiten Anfchauungen der 
Naturphilofophie bediirfen für uns eines Wiederaufbaues auf neuer 
Grundlage, den wir bier nicht verfuchen und .von dem wir mur 
nebenher bemerken, daß fir ihn manche oft behandelten Schwierig- 
feiten m Nichtd verichwinden, und dafür andere fih an Orten . 
erheben, die der bisherigen Auffaffungsweije durchaus nichts Ver— 
dächtiges einzufchließen fchienen. Aber unfere augenbliclichen Auf- 
gaben drängen und nad) einer ganz andern Richtung hin. 


Geftehen wir zu, daß in gewiſſem Betracht der Leſer ges 
täuſcht worden ift, als wir die intellectuelle Ordnung der Dinge, 
von welcher mir die Ordnung ihres räumlichen Erſcheinens ab- 
hängig dachten, den Berhältnifien der Tonmwelt oder der &liede- 
rung eines Syſtems abftracter Lehrſätze verglichen. Es kam auf 
vorläufige Verdeutlichung an, und ihr opferten wir für den 
Augenblick die Genauigkeit, zu der wir jetzt zurücklehren müſſen. 
Jene beiden Bergleihe find um deswillen untriftig, weil ſie un- 
veräinderliche ewig gültige Ordnungen mit einer veränderlichen 
tbatfächlichen zufammenftellen. Em Syſtem von Wahrheiten hat 
nur einen und ftetS denfelben Zuſammenhang; wir können von 
verichieden gewählten Ausgangspunften aus feine einzelnen Theile 
in mannigfachen Verknüpfungen zu bejonderer Aufmerkſamkeit ber- 
vorheben und und die daraus begründeten Folgen verdeutlichen; 
aber dieſe Folgen entftehen nicht hierdurch; fie gelten .ewig, 
und nur unſer Bewußtſein von ihnen, der wirkliche Zuftand eines 
wirklichen Weſens alfo, nämlich unferer wiſſenden Seele, erfährt 
etwas, was nicht immer mar. Auch ‚die Gliederung der Tonwelt 
ift ewig Diefelbe; fie könnte, wie die des Syſtems der Wahrheiten, 
wohl den Stoff für eine, aber auch nur für eine räumliche 
Symbolifirung bieten. Richtig entworfen würde diefe für immer 


506 


die unmwandelbare Organifation der Scala ausdrücken, und ftaft 
diefer felbft als Gegenftand der Betrachtung vorgelegt werben 
können, deſſen ganzen auf einmal vorhandenen Reichthum innerer 
Beziehungen wir dann wieder mit bin und ber gehender Will⸗ 
Kir der Aufmerlfamfeit zu vertinberlicher Kenntniß brächten 
Die Dinge dagegen bilden kein ruhendes Syſtem des Mamrig- 
fachen, in welchem jedes einzelne Element vermöge feiner beſtän⸗ 
digen Natur und feiner unveränderlichen Geſammtbeziehung zu 
allen andern eine ımmandelbare Stelle einnähme; fie find viel⸗ 
mehr in Bewegung begriffen und ändern ihre Orte offenbar m 
dem intellectuellen Ganzen der Welt nicht minder, al8 ihre er- 
fcheinenden Bilder die ihrigen im Raume. Entweder ihre Na- 
turen können deshalb nicht unberänderlich), ſondern müſſen ver- 
änderlich fein, damit ver ihrem Wechſel entſprechende Wechſel 
ihrer gegenfeitigen Beziehungen die Veränderlichleit ihrer riünum- 
lichen Erfcheinungen erfläre, oder die Beziehungen, in welchen 
Die Dinge zu einander ftehen, müſſen felbitinvig einer Berin- 
derung zugänglich fen, von der die Natur der Dinge nicht meit- 
getroffen wird. 

Wem man zu dieſer Alternative durch das Beſtreben ge- 
führt wird, Die räumlichen Orte der fcheinbaren Dinge mus den 
mtellectuellen der wahren abzuleiten, fo it wohl kaum :zneifelhait, 
daß man mit Vorliebe zuerit ihr zweites Glied zu bejühen "er 
fuchen wird. Schienen doch auch Die Bilder der Dinge im Raume 
fi) ohne Veränderung ihrer Natur zu beivegen, ober wenn fie 
einer ſolchen ıumterlagen, war es eben ein Wechſel ihrer Orte ge- 
weſen, welcher dieſelbe einleitete und den Grund ihres Entſtehens 
bildete. Aber indem wir uns ſo die Dinge eingefangen in ein 
Netz veränderlicher intellectueller Beziehungen oder in diefem Ge⸗ 
webe beweglich denken, erzeugen wir im (runde ganz dieſelbe 
Dentunmöglichleit wieder, die wir bisher, jo fange fie den Namen 
einer leeren und doc un fich wirllichen Ausdehnung ‚tusg, .zuriisl- 
zuweilen bemüht waren. Denn micht um feiner fpeciellen geomse- 
triſchen Natur willen hielten wir einen objectiven Raum flir un- 








en. 


denfbar, fondern weil er ein Ganzes von leeren Beziehungen per- 
felbftändigt darftellte. Alte Beziehungen aber, — dieſe früher 
angedeutete Betrachtung greifen wir jet mieder auf, — haben 
als ſolche Daſein und Wirklichkeit nur in dem Bewußtſein befien, 
welcher die beftimmte That des Beziehend ausübt; abgeſehen kom 


Bewußtſein haben fie felbft nicht zwifchen dem Bezogenen oder 


Beziehbaren ein Dafein fir fich, fondern nur ein Grund zu ihnen 
befteht in den Naturen der Dinge, die jo geartet find, daß ihre 
Einwirkung auf das Bewußtſein diefes nöthigt und befähigt, feine 
von ihnen empfangenen Emdrüde durch jene Beziehungen zu ver⸗ 
fnüpfen und zu beurtheilen. Auch in ber intellectuellen. Welt 
alſo Liegt Nichts zwiſchen den einzelnen Weſen, Nichts, deſſen 
Beränderung fie felbft einander entfernen oder nähern, ihre 
Wechfehvirkungen entzünden oder verhindern könnte, fondern auch 
alle diefe Beziehungen gehören zu dem Scheine, den‘ das Ganze 
der intellectuellen Welt für jeden feiner Theile wirft, dem über⸗ 
haupt etwas ſcheinen kann; auch durch fie interpretixt ſich nur 
das innerhalb der einzelnen Wejen auftauchende Wejen die Mannig⸗ 
faltigleit der inmeren Wechſelwirkungen, welche in Wahrheit ohne 
alle Bermittlungen folder Zwiichenglieder. die Dinge unmittelbar, 
Weſen gegen Wejen, aufeinander ausüben. 

Der Anſchauungsweiſe, in welche ums alle Die Betrachtung 
der täglichen Erfahrung eingemöhnt Hat, muß die Ausführung 
der Abftraction, die wir bier verlangen, nothwendig ſchwer fallen, 
und es tft der Mühe werth, fie zunächſt durch einige Rebenbe⸗ 
merhmgen zu erläutern, ehe wir ihre weiteren Confequenzen ziehen. 
Uns allen erfiheint e8 fo ſelbſtverſtändlich, daß Das Entſtehen 
einer Wirkung, die früher nicht mar, eines wermittelnden Her⸗ 
gangs bebitrfe, durch den fie zu Stande komme, und alle unfere 
früheren Weberfegungen haben noch außerdem jo ausdrücklich und 
fo wiederholt die Aufinchung der mechanifchen Mittelgliever jedes 
Wirkens zur Pflicht gemacht, dag nicht nur im Allgemeinen, ſon⸗ 
dern noch viel mehr gerade im. Zuſammenhang unſers Gedanken⸗ 
ganges die jegt bon uns gemachte Forderung desorientierend 


508 


wirken wird. Gleichwohl war fie längft vorbereitet. Schon oft 
haben wir aud) das Entgegengejette hervorgehoben, daß nicht ing 
Unendliche zurück Zwiſchenmaſchinerien zur Herſtellung jedes ein- 
fachſten Erfolges, zur Erklärung jeder einfachften Wirkung ver— 
Yangt merden dürfen; irgendwo muß die Kette der Vermittlungen 
‚aus emfachen Gliedern beitehen, welche unmittelbar zufammen- 
hängen und nicht eines neuen Bandes benöthigt find; irgendwo 
muß es einfache Vorgänge des Wechſelwirkens geben, die darin 
beftehen, daß der innere Zuftand eines Weſens, fobald er vor- 
handen ift, ſchlechthin der erzeugende Grund eines neuen .inne= 
ren Zuſtandes in einem zmeiten Weſen ift; irgendwo muß im 
der That jener ſympathetiſche Rapport des Seienden unter ſich 
ftattfinden, den em weitverbreiteter Aberglaube leider nur da 
zu fehen glaubt, wo er nad) dem vereinigten Zeugniß der Er- 
fahrung nicht beſteht. Oft genug haben wir uns fchon über- 
zeugen müſſen, daß alle Bemühungen, diefe einfachiten Elemente 
des Wirkens und Gefchehens noch weiter zu erklären, fie durch 
Angabe der Art ihres Hergangsd zu erläutern, immer fcheitern ; 
fie ſcheitern aber nicht um der Unvollkommenheit unjerer Erkennt⸗ 
niß willen, fondern weil es das gar nicht geben kann, was fie 
mißverftändlich fuchen. 

Es gibt nicht einen Vorgang des Wirkens, welcher beftimmt 
wäre, vollftändig begründete, aber noch unmwirkliche Ereigniſſe zum 
Geſchehen zu bringen, fondern nur emen Borgang allmählicher 
Bervollftändigung unvollftändiger Gründe zu ihnen. Iſt irgend 
ein innerer Zuſtand eines Weſens der zureidhende Grund zur 
Veränderung eines andern, fo erfolgt dieſe Veränderung und be 
darf eine® Proceſſes der Verwirklichung nicht; ift jener Zuftand 
der zuveichende Grund nicht, fo würde kein Borgang des Wirkens 
ihm eine Folge anziwingen, die nicht aus ihm fließt; Tann endlich 
derfelbe Zuftand durch eine Keihe von Mittelglieven in emen 
zweiten übergehen, welcher den vollſtändigen Grund jener Folge 
bilden wiirde, und ift eine Bewegung der Zuftände vorhanden, 
welche dieſen Uebergang ausführt, jo wird zubor jedem von jenen 








509 


Zwilchengliedern dasjenige Ereigniß folgen, welches als Folge 
ihm als Grunde entipricht, und erft nach Vollendung dieſer Reihe 
wird auch jenes Ereigniß eintreten, welches aus dem inzwifchen 
hergeftellten Endzuftande des wirkenden Weſens als deſſen noth-, 
wendige Confequenz fließt. Durch jene Zwiſchenereigniſſe führt 
alfo der einzige Weg, auf welchem der anfangs gegebene Zuftand 
feine Endwirkung erreichen kann; fie bilden zufammen und in ber 
Ordnung ihrer Reihenfolge das, was wir den Mechanismus der 
Berwirklichung eines Erfolges nennen. Nie können wir Daher von 
einem Mechanismus fprechen, um die Entftehung einer Folge zu 
erflären, welche im wirklichen Zuftänden wirklicher Dinge fchon 
vollftändig begründet ift, und ſtets werden wir einen Mechanis⸗ 
mus verlangen müffen, um ein Anfangsglied in dem wirklichen - 
Geſchehen mit einem Endgliede zu vermitteln, deſſen vollftindigen 
Grund jened noch nicht in Geftalt innerer Zuftände des Wirk⸗ 
lichen verwirklicht Hatte. Denn darin liegt die Bedeutung des 
Mechanismus niemals, ein zauberhafter Kunſtgriff zu fein, der 
dem vollitändig begründeten Ereigniffe jein dennoch unbegreiflicher- 
weiſe zögerndes Geſchehen verfchaffte; er wird liberall nur um 
Intereſſe der Stetigkeit und Gefeglichleit des Weltlaufs verlangt, 
welche nicht nur zu jedem wirklichen Gelchehen feinen zureichenden 
Grund fordert, fondern auch gebietet, daß jedes Zwiſchenglied, 
durch welches der Amzureichende in den zureichenden übergehen - 
Könnte, al8 wirklicher Zuftand im Innern eines vealen Weſens 
vorher felbjt vealifirt werde. Denn nur fo ift jedes diefer Glieder 
jelbft an jenem Theil eine wirkende Urfache, welche das nächſte 
Glied hervorzubringen vermag; aber ebenfalls ift es fo gedacht 
zugleich eine felbitändig wirkende Urfache, welche nicht allem 
innerhalb des Weſens, deſſen Zuftand es felbft ift, die Ver— 
inderung der inneren Zuſtände dieſes Weſens fortfegt, ſondern 
auch Fir andere Weſen zum Grunde von Beränderumgen in 
ihnen wird. | 

Die bisherigen Bemerkungen follten zeigen, daß Die Denk⸗ 
barkeit der Wechjelwirkung nicht vermindert wird, wenn wir 


510 


zwiſchen der Weſen Nichts mehr fein lafien, mas fie trennte ver- 
Inipfte oder auf einander bezöge. Die Bermittlungen, melche da? 
Geſchehen bedarf, waren feine äußerlichen; fie beftanden nicht in 
‚einem marmigfachen Colportiven von Anftößen Reizen Wirhſam⸗ 
leiten von bier dahin und von Da dorthin ; dieſes ganzen Lärmens 
find wir durch die Erkenntniß überhoben, daß die ‘Dinge, ſämmt⸗ 
lich Theile eines fubftantiell fie verfnüpfenden Unendlichen, keines 
andern Bandes als eben dieſes bebiirfen, damit Die Zuſtände 
des einen beitimmende Bedeutung haben für die des andern 
Jene Bermittlungen ‚waren ſelbſt innerlicher intellectueller Art; 
- das, was gemäß der allgemeinen metaphufiichen Gerechtigfeit dieſes 
Unenofichen fenem Sinne nach unmittelbar auseinander mit 
folgen Tann, dem geben fie Wirklichkeit durch Verwirklichung der 
Mittelgliever, durch die es diefem Sinne nad, auseinander folgber 
wird. Es iſt alfo gar nichts Anderes, als em ewiger allge 
meiner innerlicher Strom von Wechfelwirkung im den Dingen; feine 
einzelnen Wellen werden nicht veranlaßt durch Anſtöße, Die von 
außen auf die Dinge geichähen, fie entfpringen aus der einher 
miſchen Folgerichtigkeit, nach welcher jeder Borzuftand des einen 
Weſens, das von dem Innern des andern durch feine Kluft getrennt 
iſt, unmittelbar der Folgezuſtand dieſes andern wird; für immer 
befeitigt Toll nicht nur jeder Gedanke an räumliche Beziehungsge⸗ 
webe fein, an denen ziwifchen den Dingen die Bedingungen des 
Geſchehens hin⸗ und berliefen, fondern auch jede BVorftellung an 
überfinnliche intellectuelle Beziehungsfäden, Die außerhalb ber 
Dinge liegend, und, bald fich verkürzenb bald ſich verlängernd, 
die Dinge jet zur Begründung eines Gefchehens einander näher 
ten, bald die zur Wechſehwirkung gehörige EI derfelben 
wieder aufhöben. 

Iſt es mir nun gelungen, deutlich zu machen, was ich meine, 
jo erwartet mich ohne Zweifel noch eine Frage. Die gewöhn⸗ 
liche Anficht war bemüht, jede Verunderung bon dem Innern ber 
Dinge abzuhalten, und nur einen Wechſel äußerer Beziehungen 
glaubte fie zugeben zu dürfen. Wie kann mm ımfere jetzige Auf- 





511 


faffung, die fo vollftändig alles Gefchehen in die Dinge verlegt, 
und Bertinderlichkeit ihrer Zuftände ganz allgemem vorausſetzt, 
ſich noch) mit der Annahme der Einheit vertragen, die wie jelbit 
doch vielfach als der Natur jedes Dinges weſentlich bezeichneten ? 
Ih Könnte billig diefe Frage übergehen, wenn ich fie weniger 
ernſt nähme; dem mit der Einfachheit der Natur des Dinges 
haben auch die Anfichten, welche fie am lebhafteften betonten, 
nicht nur einen Wechjel, fondern auch gleichzeitige Vielheit innerer 
Zuftände fchlieglich verträglich finden müffen, um fitr die Er- 
klärung der Ereigniffe überhaupt eine ergiebige Duelle zu ge= 
winnen. Dieſer Ausflucht begebe ich mich, aber beantworten 
kann ich im Augenblid die geftellte Frage nicht völlig; ich geftehe 
vielmehr ausdrücklich zu, nur vorläufig mich ihrer entledigen zu 
wollen, wenn id) liber den Sinn der Einheit, welche von dem 
Dinge zu verlangen wir wirklich Grund haben, auf eine frühere 
Auseinanderjegung verweiſe (I, 188 ff. II, 148 ff). Sie lehrte 
und, ihn nur in der Confequenz zu fuchen, mit welcher wechſelnde 
Zuſtünde jedes Dinges fich ſo aneinanderknüpfen, daß fie, Rück⸗ 
ſicht genommen auf die Bedingungen, unter denen ſie entſtanden, 
als veränderliche und mannigfache Ausdrücke eines und deffelben 
Gedankens erſcheinen, deſſen Verwirklichung eben das Weſen des 
Dinges iſt. Niemals konnten wir dagegen von der Natur des 
Dinges Ein fach heit in dem Sinne verlangen, in welchem wir 
von der Monotonie einer durchaus ſich felbſt gleichen Qualität 
dieſen Ausdruck zu brauchen pflegen; Einfaches diefer Art Tann 
niemals real fein, fondern ift ſtets Eigenjchaft eines andern Realen, 
und felbft dies nicht in der Bedeutung, als Tünnte e8 jemals auch 
nur em Theil der Natur diefes Realen fein, es ift vielmehr 
überall nur eine partielle Erjcheinung, welche dieſes m der An⸗ 
ſchauung eine8 Bewußtſeins annimmt. Jede einfache Qualität 
exiſtirt nur in dem Augendfidle ihres Empfundenwerdens für Den, 
der fie empfindet; könnte fie aber außer dem Empfindenden exiſtiren, 
fo wäre fie gewiß nicht Natur emes Dinges, denn fie eben in 
ihrer Einfachheit kann mm entweder fein oder nicht fen; fie kann 


512 


ih nicht fo ändern, daß fie in einen andern Zuftande ihres 
Dafeins viefelbe bliebe, melche fie in emem früheren war. Dies 
aber müſſen die Dinge, um Dinge zu fein: nur das, was Der 
Veränderung fähig ift und fie erträgt, kann Subſtanz fein; Das 
Unveränderliche, das nur entweder fich ſelbſt gleichbleibend 
fein, oder zu Grunde gehend einem Andern weichen Tann, Das an 
feine Stelle tritt, das alfo zwar mit anderen im Sein abwechſeln, 
aber nicht ſich verändern kann, ift ſtets das Unſubſtantielle, 
das wohl Prädicat, aber nie Subject zu Prädicaten it. Aber 
vollflommen freilich ift hierdurch der Zweifel noch nicht beant- 
wortet, den wir felbft uns hierüber für eine bald kommende 
Gelegenheit verfparen. 


Nachdem dieſe ausflihrlicheren Auseinanderjegungen voran- 
gegangen find, können wir jekt kürzer und in etwas veränderter 
Ordnung die neuen Ergebniſſe den friiheren anreihen. 

4. Die Natur jedes Dinges, durch Die e8 ſich von andern 
Dingen ımterfcheidet, ift Eine im Sinne der Confequenz, aber 
niemal3 einfach in der Bedeutung einer unterſchiedloſen Qualität. 
Eine adäquate Erkenntniß derjelben, wenn es eine folche gäbe, 
würde fie in der Form eines Gedankens oder einer Idee auffaflen, 
für Deren gleichbleibenden Sinn es unzählige. verjchievene Aus- 
drücke Erfcheinungen oder Bewährungen unter verſchiedenen Be— 
dingungen gibt. Innerhalb diefer Grenze, nie etwas zu fein oder zu 
hemmen, zu thun oder zu leiden, was nicht folgerechter Ausdruck 
des Grundgedanfens wire, welcher das Wejen jegliches Dinges 
bildet, innerhalb diefer Grenze ift jedes Ding veränderlich, und nur 
auf dieſe Weife Veränderliches kann Ding oder Subitanz fein. 

5. Die objectiven Beziehungen, durch welche die untereinan- 
der commenfurablen Naturen der einzelnen Dinge zur Verwirk 
lichung der Folge zufummengebracht werden, welche ihr zufam- 
men gedachter Inhalt begründet, Beftehen nicht in räumlichen 
Bewegungen. Nicht die Dinge find in einem Raume, in dem 


513 


fie fi) bewegen könnten, jondern der Raum ift in den Dingen, 
als Form einer Anſchauung, in welcher fie ihre überfinnlichen Be- 
ziehungen zu emander ſich felbit zum Bewußtſein bringen. “Die 
Stelle, welche ein Element in einem beitimmten Augenblide durch 
die Geſammtheit feiner eben beftehenden Beziehungen zu allen 
übrigen in der imtellectuellen Ordnung der Welt einnimmt, ent⸗ 
jcheidet über den räumlichen Drt, an welchem dies Element in 
der Anfchauung der librigen erfcheinen muß; der Veränderung, 
welche jene intellectuelle Weltftellung des Elements erfährt, ent- 
ſpricht in der räumlichen Anſchauung die Bewegung, die mithin 
al8 Veränderung des Ortes, micht aber, wenigſtens nicht ur- 
ſprünglich, al8 Durchlaufung des Raumes aufzufaffen ift. 

6. Die üiberfinnliche Ordnung, von welcher die der räume 
lichen Welterfcheinung abhängen fol, darf nicht als ein blos in- 
tellectuelle8 Gegenbilb des Raumes derart gebacht werden, daß 
auch fie, als ein Gewebe an fich feiender und fich verändernder 
nur unräumlicher Beziehungen, die Dinge eben fo in fich faßte 
und zwifchen ihnen fich ausbehnte, wie früher der Raum als ums 
ſchließender Hintergrund ımd leere Ausdehnung für fich beitehen 
follte. Alle Beziehungen, auch diefe intellectuellen, eriftiren als 
Beziehungen nur im dem Geifte des Beziehenden in dem Augen- 
blicke feiner beziehenden Thätigkeit. Die überfinnliche Ordnung 
der Welt befteht daher nicht in einem Geflecht verfchlungener bald 
fi) verfihzender bald ſich verlängernder Beziehungen zwiſchen 
den Dingen, fondern nur in der Gefammtheit der in jedem Augen- 
blick in der Welt gejchehenven Wechfelmirkungen der Dinge. Diefe 
Wirkungen werden nicht durch eine Menge zwiſchen den Dingen 
verlehrender Anftöße hervorgebracht verändert und fpitematifirt, 
fondern fie felbft, vergleichbar ihrem Sinne nach und deshalb all- 
gemeinen Geſetzen unterworfen, erzeugen eimander ohne Hülfe 
irgend eines Zwiſchenmechanismus verwirklichender Impulſe, und 
ftellen fich ihrem Sinne nach als einander fordernde Beſtandtheile 
des Weltinhalts in jene intellectuelle, von ihnen geltende, nicht 
aber zwilchen ihnen beftehende Ordnung. 

Lotze, III. 3. Aufl. 33 


514 


Drittes Kapitel 
Das Neale und der Geift. 


Wiberſprũche in bem Begriff des Dinges und feinen formalen Beſtimmungen. — Idea: 
liſtiſche Leugnung der Dinge. — Alle Realität iſt Geiſtigkeit. — ne 
fegung über das, beffen Eonftruction verſucht, und bad, waß ſchlechthin als gegeben 
anerkannt werben muß. — 


Was wir bisher als Ergebniffe unſers Nachdenkens verzeich— 
neten, beſtand weſentlich in Erkenntniſſen von formaler Bedeutung; 
die Bedingungen haben wir uns klar zu machen geſucht, unter 
denen uns die Wirklichkeit des Seins irgend einem Weſen, wel⸗ 
ches auch feine Natur fein möge, die Wirklichkeit des Geſchehens 
einem Creigniffe, welches auch fein Inhalt jein möge, zulommen 
zu können ſchien; was aber das fei, was diefen Bedingungen ge 
mäß tft oder gefchieht, haben mir noch nicht zu beitimmen gefucht. 
Einigermaßen haben wir dabei das Gefühl des reichen Mannes 
gehabt, dem es im Augenblid noch nicht darauf ankommt, feinen 
Befig im Einzelnen aufzuzählen, fondern der ſich begnügt, feine 
weitläuftigen Heerden, worin fie auch beftehen mögen, vorläufig 
zu zeichnen, um im Fall des Berlirfniffes fein Eigenthum zu 
fennen und zu finden. Ein gewiffes Gefühl der Verlegenheit da⸗ 
‚gegen ergreift und jeßt, wenn wir den Beſtand unferes Beſitzes 
wirklich zeigen und darüber Rechenfchaft geben follen, mas denn 
nun eigentlich die Dinge find, und welches die Ereigniffe, die in 
ber Wirflichleit feiend oder geſchehend ˖ jenen für fie entworfenen 
Bedingungen Genlige thun. Wohin wir auch bliden mögen: es 
Icheint ſich Nichts vorzufinden, mas wir angeben könnten: Alles 
was der gewöhnlichen Meinung den Inhalt der Wirklichkeit bil- 
dete, die buntfarbigen Eindrücke der Sinnlichkeit und die mannig- 
fachen Geftalten und Bewegungen der Raummelt, haben wir für 
Erſcheinungen erklären müſſen, die wohl wechjelnde Verhältniſſe 
des wahrhaft Wirklichen verrathen, aber nicht andeuten, worin es 
jelbft befteht. 





515 


Nun könnte man diefer Berlegenheit durch das offene Be— 
fenntnig menschlicher Unfähigkeit Herr zu werden glauben: was 
die Dinge an fich find, und mas fie eigentlich wechſelwirkend ein- 
ander zufligen und von einander erfahren, bleibe und ewig unbe- 
lannt; nur aus den veränderlichen Berhältniffen des Scheines fei 
und überhaupt möglich, auf formal entfprechende jedoch ihren 
eignen Inhalte nach niemals erlennbare Beränderumgen dieſes 
Unbelannten zurücdzufchliegen. Allen je ficherer uns dies Ge- 
ſttindniß irgendwo bevorſteht, um jo nothmwendiger ift e8 auch, es 
nicht zu verfrühen und nicht durch Daffelbe Unterfuchungen abzu- 
lehnen, die noch zu unſerer Pflicht gehören, ſelbſt wenn fie viel- 
leicht kein anderes Ergebniß außer der Einficht verſprächen, daß 
wir fchon in demjenigen irrten, was jened Belenntnig als bie 
höchfte noch mögliche Leiftung unfers Erkennens annahm. 

Zwei Arten des Nichtwiffens thun wir mohl zu unterfchei- 
den. Bon irgend eimem Gefuchten, durdy welches wir eine be 
fimmte Forderung des Erfennens erfüllen wollen, kann uns der 
Allgemeinbegriff, durch den e8 zu denken ift, Mar fein, und es 
mangelt und vielleicht nur der Grund zu entjcheiden, welcher der 
verfchiedenen Arten dieſes Allgemeinen wir das Geſuchte gleich- 
zufeßen haben. Es kann aber aud) kommen, Daß und nur Das 
Bedürfniß deutlich tft, welches wir durch das Gefuchte zu befrie- 
digen wiünfchen, Dagegen von der fachlichen Natur deſſen, was ge- 
eignet fein könnte, diefe Befriedigung zu gewähren, uns auch nicht 
einmal im Allgemeinen eine Anſchauung zu Gebot fteht, welche 
durch die That die Möglichkeit des Gefuchten bewiefe. Befänden 
wir und in Bezug auf unfere gegenwärtigen Aufgaben in dem 
erften alle, jo wilden wir uns zufrieden ftellen. Wir müßten 
dann, um bildlich zu ſprechen, zwar nicht, welche farbe bie 
Dinge und die Ereignifle trügen, aber wir müßten, daß fie liber- 
haupt eine Yarbe hätten, d. h. daß ihre Natur durch irgend eine 
Art eines und wohlbelannten Allgemeinen beftimmt fei, von wel⸗ 
dem und eben die Anſchauung, die wir von ihm bejigen, ver⸗ 
bürgt, daß es bafjelbe itberhaupt gebe. 

33 * 


516 


Allerdings glaubt man nun häufig in Bezug auf die Begriffe, 
burch welche bisher das Weſen der Dinge zu beftimmen verfucht 
worden ift, in dieſem verbältnigmäßig glinftigen Falle zu fein, 
und an ihnen Wahrheiten zu befißen, die das Allgemeine der 
MWirklichleit richtig bezeichnen und nur das befondere Colorit 
unbeftimmt Iaffen, auf deſſen Kenntnig wie allenfall8 verzichten 
könnten. Mir fcheint es dagegen, als befänden wir uns in Dem 
ungünſtigen zweiten Falle und glichen einem Geometer, der fir 
das Ergebniß einer analytiſchen Rechnung gar feine geometrifche 
Conſtruction auffinden kann, welche das anſchaulich darftellte, was 
jene abftract verlangt. Für die formellen Forderungen, welche wir 
an das Seiende und Gefchehende richten, feheinen wir nicht mr 
außer Stand, aud mr im Allgemeinen ein fachliche Verhalten 
des Realen anzugeben, durch welches fie befriedigt werben könnten, 
fondern jene Forderungen felbft dürften in Bezug auf das Wirk 
liche Mehrere verlangen, von dem fich entweder einfehen läßt, 
daß e8 nur gedacht werben, nicht aber ungedadht fein und ge 
ſchehen Tann, oder von dem ſich wenigſtens nicht einfehen läßt, 
wie e8 mehr als gedacht werben, mie es von dem MWirklichen 
felbft gelten oder won ihm geleiftet werben fönne. Das Gewicht 
diefer Bedenken will ich mit Kurzen Rückblicken auf Früheres an 
den Gedanken verdeutlichen, welche wir über das Was der Dinge, 
über ihre Einheit und über die Art ihres Seind nach und nad) 
entwidelt haben. 

In finnlihen Oualitäten fah die gewöhnliche Meinung 
zuerft die Wefenheit der Dinge. Bon ihnen wurde indeffen bald 
deutlich, daß fie nur Zuſtände unſeres Empfindens find, im 
günftigften Falle aus der Wechſelwirkung der Dinge mit uns 
entiprungen, aber weder fähig, außer dem Empfindenden zu fein, 
noch geeignet, felbft wenn fie außer ihm wären, die Natur eines 
Dinges zu bilden. Wir flüchteten zu überfinnlichen intellectuellen 
"Dualitäten. Daß diefer Name feine gegenftandlofe Worwer⸗ 
bindung fei, daß es etwas gebe, was ihm entipreche, konnten wir 
durch Berufung auf geiftige Eigenfchaften zu bemeilen glauben, 





517 


welche, wie gut böfe heilig, in der That Beifpiele eines über⸗ 
finnlichen, und zugleich an einfacher anfchaulicher Beſtimmtheit den 
finnlichen Qualitäten ähnlichen Inhalts darzubieten fchienen. Doc 
war dies mır Schein. Mit Rückſicht auf eine conftante Art feines 
Handelns, welche man aus vergangenen Beifpielen kennt, oder für 
die Zulunft als conftant vorausfegt, Tann man jene Wttribute 
einem Weſen beilegen, und im Gegenfat gegen die einzelne „Hand- 
lung, die ihnen gemäß erfolgt, nehmen fie fi dann wie urſprüng⸗ 
liche einfache Dualitäten aus; an ſich bezeichnen fie indeſſen doch 
mm eine Art des Verhaltens der Dinge, nicht, was wir fuchten, 
das was die Dinge find, um ſich fo verhalten zu können. Und 
jegt konnte man einen Augenblick Yang daran denken, von allen 
erläuternden Beiſpielen abzufehen, und in einer ganz andern Art 
von Dualitäten, nämlich in einer ſolchen, von der fich Niemand 
die geringfte Borftellung machen kann, das Wejen der Dinge zu 
ſuchen. Und damit eben wilrde man jenen oft gerligten Fehler 
begangen haben, das Ausfprechen unferer Denkbedürfniſſe mit 
fachlicher Erkenntniß des zu bedenkenden Gegenftandes zu ver⸗ 
wechfeln, und duch Firtrung in einem ſprachlichen Ausdruck 
Forderungen erfüllt zu glauben, welche durch das Wirfliche, an 
das fie gerichtet werben, entweder nicht nachweislich erfüllbar oder 
nachweislich nicht erfüllbar find. Denn der Name der unbelann- 
ten Oualitäten drückt freilich, indem er fie unbekannt nennt, nur 
unfere Unfähigkeit fie zu erfennen aus; aber indem er doch fortfährt, 
fie Qualitäten zu heißen, unterhält er den irrigen Schein, als fei 
und wenigſtens der Allgemeinbegriff gegeben, durch den dies Un- 
befannte, als eine feiner Arten, richtig gedacht wiirde. Nun willen 
wir aber keineswegs blos dies nicht, welche Art von Qualität 
das Weſen der Dinge bilde, fondern wir imen uns fchon darin, 
daß wir dasfelbe auch nur unter den Allgemeinbegriff der Ouali- 
tät ſubſumiren zu dürfen glauben. Denn diefer Name, jo lange 
er überhaupt eine beftimmte Bedeutung haben foll, bezeichnet ſtets 
etwas, was feiner Natur nach nur als Empfindungszuftand eines 
empfindenven Weſens Wirklichleit hat, außerhalb des Empfinden- 


518 


den aber, unempfunden, weder filr fi) noch an einem Andern 
fein kamn. 

Sp bliebe denn zunächft nichts übrig, als das Weſen ber 
Dinge nicht fiir eine unbelannte Qualität, fondern ſchlechthin für 
unbefannt zu erflären. ber auch diefer völlige Berzicht anf 
Erlentnnig war ımhaltbar; denn fo Iange überhaupt von Dingen 
die Rede fein foll, — und e8 mar nicht abzufehen, wie wir ohne 
fie die Erfcheinungen begreifen follten, — fo lange mußten wir 
auch eine Natur derſelben vorausjegen, weldye fähig war, umter 
verſchiedenen Bedingungen verfchtedene Erſcheinungen zu erzeugen 
Auch in diefem Betradyt wäre, wie Damals fchon erinnert wurde, 
eine einfache Qualität, auch wenn fie hätte fein können, unfähig 
gewejen, das Weſen der Dinge zu bilden: nur in dem glei. 
bleibenden Sinne eined Gedankens ſchien e8 uns jet beftehen 
- zu können, der, ohne feine Bedeutung zu ändern, unter vericie 
denen Bedingungen ſich auf verſchiedene Weiſe äußert. Nun be 
deutet Gedanke doppelſinnig einestheild die Thätigkeit des Denken⸗ 
‚ven, durch die alle feine Gedanken Gedanken find, anderntheils 
den gedachten Inhalt, durch den eim Gedanke ſich vom andem 
unterfcheidet. Natürlich waren wir fogleid, bereit, nur die zweite 
Bedeutung bier anzuwenden; die Dinge follten nicht Gedanken 
eines Denkenden, fondern ihr Wefen follte nur fo befchaffen fein, 
daß, wenn es überhaupt eine Erkenntniß feines Inhalts gäbe, 
diefe adäquat nur in der Form eines vielerlei Einzelvorftellungen 
in beſtimmten Beziehungen zu einem Geſammtſinn vereinigenden 
Gedantens ausflihrbar wäre; an ſich aber follte diefe Natur der 
Dinge doch eine ungetheilte Einheit bleiben und keineswegs au 
der Bielheit von Beziehungen und Beziehungspuntten beſtehen 
Die wir zu ihrer Abbildung im Erkennen bedürfen. Daß nım 
auch dieſe Vorſtellungsweiſe ihre geheimen Mängel habe, verrieth 
die Mühe, die wir hatten, Bedenken gegen fie mehr zu beichwid- 
tigen, als zu widerlegen. Die Frage, wie doch das, was in und 
Inhalt eines Gedankens ift, außer uns Ding fein könne, wieſen 
wie durch die an fich richtige Bemerkung ab, daß diefe Schiwierig- 








519 


feit in jedem alle wiederkehre; welches Denkbild wir und auch 
immer von der Natur der Dinge machen mögen, immer läßt fich 
fragen, wie das, mas in und Denkbild ift, außer uns Ding fein 
könne; man folle darum nicht wifjen wollen, wie Wirklichkeit gemacht 
werde, genug, wenn man den Inhalt kenne, der auf ſtets unbe 
greifliche Weiſe verwirklicht das Reale fe. Diefe Ausrede ift 
doch nicht ganz triftig; zu jenem Gedanken fehlt, damit er Ding 
werde, nicht blos dieſe Poſition der Wirklichkeit, die ihn nur fo 
zu nehmen und zu fegen brauchte, wie fie ihn fünde, fondern ihm 
felbft fehlt etwas, um das zu fein, was, wenn es durch fie ge- 
jegt wäre, ein Ding wiirde. Wie auch immer bejaht gejeßt oder 
verwirklicht: er würde immer ein feiender Gedanke bleiben, und 
daß. Dies nicht ganz Das iſt, was wir mit dem Namen des 
Dinges meinen, fühlen wir wohl, obgleich wir ſchwer finden mögen, 
den Mangel zu bezeichnen. Er wird uns vielleicht am leichteften 
deutlich, wenn wir einer Anficht gedenken, die, wenig durch folche 
Bedenken gehemmt, das Weſen des Dinges in aller Kürze als 
werkthätige Idee zu bezeichnen liebt. Das ift es, was uns fehlt: 
die Möglichkeit der Werkthätigleit geht jenem veriwirklichten &e- 
danken ab, wenn er nicht mehr ift, als ein foldher. Jene von 
und vorausgefegte Identität des Gedankeninhalts mit ſich felbit, 
die ſich in den verfchiedenften Formen feines Ausdrucks oder feiner 
Erſcheinung bewähren follte, hat eigentlich doch Wirklichkeit nur 
fofern wir fie denlen und fie in einem Denken verfolgen, das ſich 
feiner verfchiedenen Schritte zufammenfaflend bewußt werden kann; 
wir, die Denkenden, indem wir eine beitimmie dee uns als 
Motiv für die Richtung unſres Nachdenkens gefallen laſſen, oder 
indem wir die wirkliche lebendige Kraft unſerer Ueberlegung jener 
Idee gleichjam zur Verfügung ftellen, wir allein verwirklichen ihre 
Identittit mit fich dadurch, daß mir fie auffuchen und auffinden; 
wir find es, Die dadurch der Idee, die allerdings auch ohne unfer 
Zuthun eine gültige Wahrheit mar, die einzige ihr überhaupt 
zulömmliche Art der Wirklichleit geben, nämlich die, ein wirklich 
gedachter Gedanke eines Denlenden zu fein. Nur unſer Wille und 


v 





520 


unſer lebendiges Streben, den Sinn der Idee entweder theoretiſch 
in allen ihren Beifpielen over Folgen als fich felbft gleich zu 
erlennen umd alle fcheinbaren Ausnahmen dieſer Confequenz hir⸗ 
mwegzuräumen, oder praftifch die Idee unter den werfchiedenften 
Umftänden durchzufegen, die Widerftände gegen fie zu entfernen 
und unter den verſchiedenſten Bedingungen ihrem wejentlichen Ge 
halt einen genligenden Ausdruck zu verichaffen: mer dieſes unfer 
eignes Thun leiht der Idee einen Schein der wirklichen Werl 
thätigkeit, der Selbfterhaltungstraft, des Entwiclungstriebes; . fie 
hat dies alles gerade nur fofern fie von ums gedacht wird, und 
fie follte nach unferer vorigen Meinung alles das gerade haben, 
fofern fie ungedacht, als ein objectiver, nur nebenbei freilich auch 
denfbarer Inhalt Dinge bildet. Diefe Forderung tft unerfüllbar; 
denn darin wird der bleibende greiffiche Unterfchien zwiſchen Ge 
danken und Dingen beftehen: Gedankeninhalte können verſchieden 
gleich ähnlich entgegengefeßt fein, aber fie thun deswegen ein 
ander Nichts; die Dinge dagegen ftören einander und mehren fi; 
allerdings nad) Maßgabe des Inhalts ihrer Natur, der fich vie- 
leicht durch Gedanken ausdrücken läßt, aber diefe Streitfähigkeit 
und Werkthätigkeit haben fie nicht von diefer Idee ihres Weſens, 
welche fie durch Diefelbe wertheibigen. Died alfo mar es, was 
uns fehlte; drüden wir nım das Wefen der Dinge als werk 
thätige Idee aus, To bezeichnen wir zwar recht wohl Damit das, 
was wir bebürfen, aber fachlich wächlt deshalb die Werkthätigfeit 
nicht eben fo gefchwind der Idee zu, wie wir fie fprachlich zu 
ihr als Beiwort Hinzuconftruiren Es bleibt vielmehr fraglich, 
ob der Name werfthätiger Ideen ohne weitere Zuthat over 
Himvegnahme etwas bezeichnet, was es. geben kann oder gibt; 
die. Bermuthung aber ift gegen feine Gültigkeit, denn zunächſt 
tragen wir durch ihn offenbar eine Kraft, welche einer Idee mu 
bann nachweislich zukommt, wenn fie gedacht wird, auf Ideen 
iiber, die wir als ‚nicht gebachte fondern feiende betrachten. 

Nicht nur verwandt, fondern auch font in engem Zuſam⸗ 
menhang mit dem Erwähnten find die Schwierigkeiten, welden 








521 


die Borftellung von der Einheit des Dinges im Laufe feiner Ber- 
änderungen unterliegt. Nachdem wir und fiberzeugt hatten, daß 
umbedingte Starrheit völliger Unveränderlichkeit die Dinge nicht 
mehr wiirde Dinge fein laſſen, fanden wir ihre Beitändigkeit nur 
noch in der TFolgerichtigfeit ihrer inneren Zuſtäände. Was find 
aber doch eigentlich Zuftäinde eines Weſens? Im zwei Fällen 
willen wir, was wir mit diefem Ausdrude wollen: zuerft, wo es 
fih um veränderliche Anordnungen einer Vielheit handelt; Diefe 
Anordnungen freilich nicht als verjchtedene Thatfachen iiberhaupt, 
fondern als verjchiedene Zuſtände dieſer Vielheit zu faffen, bat 
man nur Grund, fofern man fich bereit8 berechtigt weiß, Das 
Biele als zufammengehöriges Ganze und eine Anfangsordnung, in 
der es fich- befand, als wurfprüngliches, zur Selbfterhaltung be 
ftimmtes Gefeß dieſes Ganzen zu betrachten. Den andern Fall 
bietet unfer eignes inneres Leben; in ibm erjcheinen unſere Bor- 
ftellungen Gefühle und Strebungen ihrer Natur nach als Zuſtände 
eines Weſens, deſſen nothwendige Einheit ihnen gegeniiber wir 
unmittelbar mitempfinden. Der erfte Yall bat kein Intereſſe für 
und; was aber im zweiten Die inneren Zuftände möglich macht, 
ſcheint vom Ich nicht übertragbar auf Das Nicht-Ich. Denn als 
Zuſtände erjcheinen uns Diefe inneren Ereigniffe doch nur durch 
die wunderbare Natur des Geiftes, welcher jeve Borftellung jedes 
Gefühl jedes Leiden mit anderen vergleichen kann, und eben als 
ſolche beziehende Thätigleit ihnen allen gegenüber fich jelbit als 
das beftändige Subject weiß, aus dem fie umter verſchiedenen 
Bedingungen folgen. 

Nun könnte man jagen: wenn audy dem Dinge wegen 
Mangels des Bemußtfeind nicht möglich ift, feine Zuſttinde fo 
als die feinigen zu wiſſen, wie wir unjere als die unferen, fo 
können doch immer in der Einheit des Dinges feine Zuſtände 
fein; dem auch Die unferen werden doch nicht erft unfere Zu— 
ftände dadurch, daß fie und erfcheinen. Aber eine foldhe Rede 
würden wir nicht können gelten laſſen. Wenn ein Ding inner- 
halb jener Grenzen, die wir feiner Veränderlichkeit zugeftanden, 





522 


von einem Anfangswerthe a an nad) und nach die Wertbe b, c, 
d ... annähme, fo könnte unſer dieſe Werthe vergleichendes 
Denken in ihnen immerhin Glieder einer Reihe erkennen, die 
ſämmtlich nach der Conſequenz eines identiſchen Bildungsgeſetzes 
zuſammenhingen: aber wodurch würde bewieſen, daß jene Werthe 
mehr ſind, als die neben oder nach einander, jedoch von einander 
unabhängig, verwirklichten Glieder dieſer Reihe? daß ſie nicht als 
verſchiedene Wirklichkeiten, die einander ablöſen, ſondern als Zu- 
ftände Eines Weſens zu denken find, das ſich in ihnen verändert 
und fie durch die Continuität feines Vorhandenfeind in ihnen zu⸗ 
fammenhält? Es nützt gar nichts, zu fagen: man denke fich eben, 
daß es jo fei, und habe es niemals anders gemeint; darauf kommt 
es vielmehr an, daß man gewiß fei, in dem MWirklichen dann auch 
die Bedingungen erfüllt anzutreffen, unter denen fi das, mas 
man jo denkt, leiten läßt. Nun beruht die Möglichkeit, unfere 
innern Erlebniffe al8 unfere Zuftände anzufehn, gar nicht 
auf dem allgemeinen und leeren Prädicat der Einheit, welches 
jeder Subſtanz, nicht dem Ich allein, fondern auch den Dingen 
zufüme, fondern auf der befondern Natur des Bewußtſeins, durch 
die fi) Ich vom Nichtich unterfcheivet. Nur dadurch), daß Ge 
dächtnig und Erinnerung Vergangene neben das Gegenwärtige 
jtellen, nur dadurch, daß eine beziehende Aufmerkſamkeit das Ber- 
chiedene überhaupt zufammenfafjen und ihnen gegenüber die Vor— 
ftellung des beftändigen Ich erzeugen kann, nur Dadurch alfo, daß 
wir uns als Einheit erfcheinen, find wir in Wahrheit Ein- 
heit. Erzeugte ein Geift zwar in jedem Augenblide auf äußere 
Reize Rückwirkungen, welche zufammengenommen fir einen zweiten 
Beobachter eine Reihe bildeten, fo confequent in ſich zufammen- 
hängend, wie die folgerichtigfte Melodie: er felbft aber wüßte 
davon Nichts, ſondern verlöre gedüchtniglos in jedem Augenblicke 
fich felbft in die augenblikliche Form feines Wirkens und in jedem 
nächſten Augenblicle iiber der neuen Rückwirkung die Erinnerung 
der vorigen, fo wiirde dieſer Geift nicht mehr eine ſich verändernde 
Einheit, nicht eine Subftanz fein, die ſich in der Veränderung 





523 


erhält, fondern eine Reihe in der Wirklichkeit nad) einem beftimm- 
ten Geſetze einander ablöfender Exiſtenzen, von denen gar nicht 
zu jagen wäre, wodurch ihre Aehnlichkeit ſich von der Aehnlichkeit 
urfprüinglich verſchiedener und verſchieden bleibender Subftanzen 
unterſchiede. Nicht der geringfte Grund würde daher vorhanden 
fein, die Glieder diefer Reihe Zuſtände Eines Weſens zu nen- 
nen, und diejenige Einheit, die wir meinen, wenn wir von Zu⸗— 
ftänden eines Weſens fprechen, läßt fich deshalb von dem Ich, 
in welchem fie jenen bejondern Grund ihrer Wirklichleit hat, nicht 
einfach auf die Dinge überhaupt übertragen, in denen ihr diefer 
Grund fehlt. 

Gehen wir endlich noch zu dem dritten Beifpiele unferer 
Berlegenheit über. Das Sein der Dinge hatten wir geglaubt, 
ein Stehen in Beziehungen nennen zu müſſen. Als wir jedoch - 
biefe Beziehungen namhaft zu machen juchten, zeigte ſich, daß die 
raumlichen Berhältniffe, welche uns eigentlich das einzige an- 
ſchauliche Beiſpiel defjen boten, was wir mit dem Namen der 
Beziehung meinten, von dem Seienden nicht, fondern nur von 
feiner Erſcheinung für und galten. Wir fegten an ihre „Stelle 
überfinnliche intellectuelle Beziehungen; daß diefer Ausdrud wirt 


lich etwas bedeute, mas es gibt, glaubten wie bezeugt durch alle 


die abgeftuften Verwandtſchaften Aehnlichkeiten und Gegenſätze, 
die wir zwiſchen unräumlichen Sinnesqualitäten oder abftracten 
Wahrheiten finden. Aber genauer angefehen waren alle biefe 
Beilpiele etwas Anderes, als wir hier bevurften. Sie alle be 
jtimmten zwar al8 Gründe den Inhalt eines künftigen Ereigniffes 
als ihrer Folge; aber fie konnten nicht, wie einft die räumlichen 
Beziehungen, als veränderliche Beringungen angejehen werben, 
welche die gleichbleibenden Naturen der Dinge bald zur VBerwirk- 
lichung der in ihnen begründeten Folge zufammendrängen, bald 
fie an dieſer Verwirklichung hindern. Und jest hätten wir 
wohl wieder einen Augenblid lang Luft gehabt, veränberlidhe 
Beziehungen ganz anderer Art, nämlich einer foldhen, von ber 
ſich Niemand eine Borftellung bilden Tann, zwiſchen die Dinge 





524 


zu fchieben und von ihrer bald wachſenden bald abnehmenden 
Engigfeit das veränderliche Wirken der Dinge abhängig zu machen. 
Aber bier erinnerten wir und, wie vollkommen vergeblich es fein 
würde, eine befondere geheimnißvolle Art der Beziehung fiir diefen 
Zweck zu erfinnen; der ganze Allgemeinbegriff der Beziehung 
überhaupt widerſprach jedem Verfuche zu folcher Objectivirung. 
Keine Art von Beziehung durfte als zwiſchen den Dingen be- 
ftehend, als auf fie wirtend, als ihr Wechſelwirken bedingend 
vorbereitend begünftigend oder hemmend angenommen werben: 
der Wechſelwirkung felbft vielmehr, das Leiden und Thun ber 
Dinge, mußte an ihre Stelle treten. Eben wenn und fofern Die 
Dinge auf einander wirken, beziehen fie fich aufeinander; andere 
objective Beziehungen außer dieſem lebendigen Thun und Leiden 
gibt e8 nicht, am wenigften folche, in denen die Dinge, innerlich 
durch einander noch unberührt, vorläufig blos ftänden, um in 
Folge deſſen fpäter wirken zu müffen; eine bilvliche Ausdrucksweiſe, 
deren vollkommene metaphyſiſche Sinniofigkeit uns jett nicht 
mehr zweifelhaft ift. 

Sind wir aber num zu Ende? Schwerlich; denn was konnten 
wir unter dem Wirken eined Dinges weiter verjiehen, als Die 
Thatfache, Daß auf die Veränderung feiner Zuftinde eine Ber- 
inderung der Zuftände eines andern Weſens folgt? dieſe Suc- 
ceffion veranlagt wohl unfere vergleichende Reflexion, das zweite 
Ereigniß als herrührend von dem erften anzufehen, weil feine 
Wahrnehmung durdy die des erften bedingt ift; aber zwiſchen den 
Dingen befteht noch fein nachgewiefener Zufammenhang derart, 
daß der Zuftand des einen ein Werk der Thütigfeit des andern 
wäre. Wenn wir das wirkende Element wirkend nennen, fo fagen 
wir bon ihm eigentlih gar Nichts, ſondern nur dies behaupten 
wir, daß in Folge feiner Zuſtände ein zweites Weſen leidet. 
Aber ift dies Leiden ſelbſt klarer und beveutfamer ald jenes Wir- 
fen? welchen Sinn hat doch auch dieſer Ausdruck, wenn er im 
ſolcher Allgemeinheit auf Zuftandsänderungen eines beliebigen 
Seienden bezogen wird? Wir flirchten, feinen angebbaren. Denn 


525 


indem wir die Veränderung des Weſens nicht nur als Eintreten 
eines neuen Thatbeftandes an die Stelle eines verſchwindenden 
früheren, fondern eben als Leiden bezeichnen, haben wir offenbar 
die Abſicht anzubeuten, Daß die Einheit des Weſens die zuge- 
muthete Veränderung als Beeinträchtigung feiner bleibenden Natur 
empfinde und abwehre. Aber dies, was wir fo verlangen, wird 
niemal® von emem Weſen geleiftet werden können, in deſſen 
Natur wir nichts weiter vorausfegen als die Fähigkeit, geändert zu 
werden, umd zugleich bie andere, nicht ganz geändert zu werden, 
fondern mit einem bleibenden Theile feines thatfächlichen Inhalts 
ſich gegen die Aenderung zu erhalten oder aus ihr wieberherzu- 
ftellen: nur wir, inden wir Schmerz und Treude Luſt und 
Unluft empfinden, meſſen dadurch den Werth unferer inneren 
Zuftände für unfer Weſen. Nur in diefem Gefühle hat das 
eigentliche LXeiden, das wir hier im Stillen meinten, den Ort 
feiner Wirklichteit, und bei jeder Uebertragung auf bemußtlos 
Seiendes geht mit dem eigentlichen Sinne des Namend auch Das 
verloren, um deswillen wir ihn übertragen zu dürfen wilnfchten. 
Das, was nicht Wohl und Wehe fühlt, leidet fo wenig, als es 
wirkt; was aber nicht leiden ann, das ift auch feine reale Ein- 
beit, das iſt nicht für fih fondern nur fr die Auffaffung eines 
Andern ein Ganzes, welches mit Einem Namen genannt zu 
werden berdient. 





Faſſen wir das Ergebniß der vorigen Bemerkungen zufam- 
men, beren Trockenheit nicht wohl zu vermeiden war, fo ſahen 
wir uns gendtbigt, über die Natur der Dinge, die zur Begreif- 
fichfeit des MWeltlaufd anzunehmen waren, beitimmte Boraus- 
fegungen zu machen, waren aber nicht nur außer Stand zu fagen, 
wie die Dinge e8 anfangen könnten, diefen VBorausfeßungen zu 
genügen, fondern mußten uns befennen, daß die Natur der Dinge, 
ſo gedacht mie wir fie denken, der Erfüllung der an fie geftellten 


526 


Forderungen widerſpricht. Drei Folgerungen, die einander aus⸗ 
zufchliegen fcheinen und Doch fchließlich zu demfelben Ziele führen, 
läßt diefer Zuftand unferer Meberzeugung möglich. Entweder wir 
begnügen uns damit, unferen Begriffen von den Dingen, ebenfo 
wie friiher der Anfchauung des Raums, nur die fubjective Gül—⸗ 
tigfeit zuzugeftehen, Formen zu fein, in denen uns der an fid) 
in feiner wahren Geftalt unerfennbare Zufammenhang des Wirk 
lichen erfcheine; oder wir geben den Gedanken der Dinge auf, 
mit dem wir nicht fertig werden können und fuchen den Weltlauf 
ohne fie begreiflich zu finden; ober endlich, wir vervollſtäͤndigen 
den Begriff der Dinge fo, daß er die Beringungen einfchließt, 
unter denen die von und nicht zurückzunehmenden Forderungen, 
die wir an ihre Natur richteten, durch dieſe erfüllbar werden. 
Gegen die Wahl des erften diefer drei Wege ift dann Nichts 
einzumenden, wenn fie die Bedeutung eines völligen Abbruchs der 
Unterfuhung und emes unbedingten Verzichtes auf Erkenntniß 
‚haben fol; als ein Sat Dagegen, welcher felbjt ein bleibenves 
Ergebniß der Erfenntnig in der Form emer Behauptung ent- 
halte, läßt fi die Meinung, aus welcher dieſe Refignation her⸗ 
vorgeht, nicht ausfprechen. Denn wie fehr man fich auch Die 
Natur der Dinge an fich außerhalb des Bereiches aller Erfenntnig 
geftellt denten mag, fo daß felbft die unbedingteiten und gewifleften 
Ausiprüche, welche Die lettere über die Dinge gibt, doch nur 
als fubjective Art zu betrachten wären, wie fie dem Erfennenden 
ericheinen: jo wird man doch ſelbſt diefe Behauptung nicht ver- 
ftehen, ohne immer wieder ein Sein der Dinge und eine Wechjel- 
wirkung derfelben mit und vorauszufeßen, um auch nur bem 
Begriffe ihres Erfcheinens für uns einen verftändlichen und an- 
gebbaren Sinn zu verichaffen. Stets würden wir daher in Einem 
Athen die Erkennbarkeit ſelbſt der allgemeinften Natur der 
Dinge und des Gefchehend leugnen und zugleich, um bon ihrer 
Erſcheinung veven zu können, die Gültigkeit unferer allgemeinften 
Beitimmungen beider wieder vorausſetzen; ein bekannter Cirkel, 
dem ſich dieſe Anficht des fubjectiven Idealismus nie bat entziehen 





527 


fünnen. Nun könnte man auch diefen Cirlel mit zu der anzu- 
erfennenden Unvolltommenbeit unfers Erkennens rechnen, und zu= 
geben, daß wir allerdings und die Entftehung einer Erſcheinung 
der Welt fir uns nicht anders als durch irgend eine Einwirkung 
von Dingen auf uns erflären können, daß aber doch dieſe Be— 
griffe von Wechſelwirkung den Grund jener Erſcheinung nicht in 
Wahrheit, jondern nur in einer uns faßlichen Weiſe bezeichnen. 
Allein dann würden die von und vorausgeſetzten Dinge und Das 
zwifchen ihnen angenonmene Geſchehen, alles eigenen Inhalts 
völlig entleert, jeder Anſchauung unzugänglich, ja ſelbſt fchon mit 
Unrecht durch die Namen der Dinge und des Geſchehens bezeichnet, 
eigentlich gar Nichts mehr bedeuten, als den völlig unbefannten 
Grund oder vielmehr unſer Verlangen nad) einem bedingenven 
Grunde unferer Weltmahrnehmung. Die ganze Behauptung 
dieſes Standpunktes würde die fein: das Denken ſei genöthigt, um 
feine eigenen Thätigkeiten begreiflich zu finden, einen erzeugenden 
Grund derfelben zu denken und deſſen bedingende Kraft fich als 
ein veränderliches Einwirken äußerer Dinge auf es ſelbſt vorzu- 
ftellen, zugleich jedoch diefe ganze Borftellungsweile nur als jene 
eigene in Wahrheit nicht zutreffende Deutung jened Grundes oder 
jeineß eignen jenem Grunde zugefchriebenen Leidens und Thuns 
anzuerfennen. Dann gehört der Begriff der Dinge auch mit zu 
den Borftellungen, durch welche wir unfere Weltwahrnehmung zu 
deuten ſuchen; nicht er allem fteht durch eine befondere Dffen- 
barung von Anfang an feit, fo daß nur unfere weiteren meta- 
phyſiſchen Gedanken über die Einheit ımd die Wechſelwirkung der 
Dinge unfähig wären, ſich mit ihm als feitftehender Wahrheit zu 
verfnüpfen; auch er iſt vielmehr ein Product unfers Dentens, 
deſſen Nothmendigfeit und Gültigkeit der Gegenftand einer Frage 
fein Tann. Ä 
Und biermit lenken wie ebenfo, wie es die gejchichtliche 
Entwidlung der Philoſophie gethan bat, in den zweiten der oben 
bezeichneten Wege, in den des Idealismus ein. Daß alle finn- 
lichen Eindrücke, welche den Inhalt, und alle BVorftellungen von 


528 


Berbältnifien, welche die Ordnung unſeres Weltbilves liefern, 
fubjective AZuftinde und Xhätigleiten unfers Geiftes find, dieſe 
Beobachtung bat uns frliher (III, 230 ff:) nicht ausreichend zur 
Begründung der Veberzeugung gefchienen, daß die ganze unferem 
Bewußtſein vorfchiwebende Welterfcheinung nur Erzeugniß eines 
geheimnißvoll geſetzlichen Spieles unferer Einbildungskraft ſei 
Wir kommen zu einer verwandten Anſicht jetzt mit beſſerem Grunde: 
nicht der ſubjective Urſprung unſerer Vorſtellung von der Welt, 
ſondern ihr eigner Inhalt, ſo wie er von uns gedacht werden zu 
müſſen ſcheint, verbietet uns, ihr eine andere Wirklichkeit als Die 
einer Erſcheinung in uns zugeſtehen. Indem wir dieſem Idealis⸗ 
mus jetzt eine Strecke weit folgen, nehmen wir an, einen Augen⸗ 
bit allerdings fei der einfame Denker verſucht geweſen, alle 
natürliche und geiftige Wirklichkeit als geſetzlichen Traum feines 
perfönlichen individuellen Sch, Des einzigen Realen, welches er 
unmittelbar Tennt, anzuſehen; fein wiflenfchaftlicher Geſchmack 
jedoch babe ihn durch einige leicht zu ergänzende Mittelglieber 
wenigftend jo weit der gewöhnlichen Meinung wieder genähert, 
daß die Wirklichleit der andern perfönlichen Geifter, mit Denen 
das Leben ibn in Berührung bringt, ibm nicht zweifelhafter als 
ferne eigne if. Nur das Reich der Dinge, das der gemeinen 
Meinung fich zwilchen den Geiftern auszubreiten und ihr inneres 
Leben durch feine eignen Beränderungen einzuleiten zu unter 
halten und zu lenken fcheint, nur dieſes Zwiſchenreich erflärt der 
Idealismus für eine bloße Erfeheinung innerhalb der Geifter. 
Den Zufammenbang ihrer eignen unmittelbaren Wechſelwirkungen 
interpretiren fi die bewußten Weſen dur) das Bil einer 
zwiſchen fie gefchobenen veränderfichen und auf fie einwirlenden 
Dingwelt ebenfo, wie fie nach unferer früheren Annahme in den 
räumlichen Anſchauungen fi) die intellectuelle Ordnung einer 
damals noch von und vorausgefegten Welt der Dinge an fid 
zu dem Bilde einer fie ſelbſt mitumfaffenden Raummelt um- 
deuteten. 

Allerdings, behauptet diefer Idealismus, kann die Welter- 








529 


ſcheinung, die allen Geiftern iihereinftimmend, und Doch den ver⸗ 
jchiedenen mit zu einander paffenden Berfchiebungen zu heil 
wird, ihren Grund nicht in den einzelnen als foldhen haben. 
Warum aber follen wir diefen Grund durchaus nur in dem 
Außerunsvorhandenfein einer Menge von Dingen fuchen, wenn 
einerfeit8, was diefe zur Erklärung des Weltlaufs leiſten, auch 
ohne fie möglich ift, anderſeits e8 aber ſtets mißlingt zu be— 
greifen, wie fie gerade das leiften könnten, was fie müßten, um 
Dinge zu fen? Denn einen andern Nutzen hat doch zulegt die 
Annahme der Dinge für und als den, daß fie uns einzelne fefte 
Punkte der Wirklichteit bezeichnen, in denen fid) Gründe zur Ente 
jtehung von Folgen verfammelt und verwirklicht finden, Ausgangs- 
punkte fir Ereigniffe, die wir dann ihre Wirkungen, Zielpunkte 
für andere, die wir dann ihre Zuftände nennen, obgleid, wir 
nicht Mar zu machen wifjen, wie diefe Dinge ein Inneres befiben 
könnten, aus dem wahre Wirkungen berborbrechen oder dem ein 
wahres Leiden widerfahren möchte. Diefe in ſich felbft völlig leeren 
und felbftlofen Durcchichnittspuntte des Geſchehens, die auf der 
einen Seite zu fammeln fcheinen, was fie nad) der andern bin 
wieder zerftreuen, als reale Wejen zu betrachten, mag flir Die 
Ueberficht des Zuſammenhangs der Erfeheinungen eine bequeme 
Fiction. fein, darf aber nicht bleibende Lehrbehauptung werden 
wollen; vielmehr muß dieſe Annahme jeder andern weichen, 
welche die nämliche Begreiflichkeit des MWeltlaufs gewährt, ohne 
die undurchführbare VBorausfegung einer Realität deſſen zu er- 
fordern, dem alle innern Bedingungen der Realität abgehen. 

Eine ſolche Annahme nun bietet fih dem Idealismus in 
der Weberzeugung, zu der wir fchon auf anderem Wege gelangten, 
daß alle einzelnen Dinge nur als Modificationen eines einzigen 
unendlichen Weſens denkbar find. Wir Tießen damals unllar, 
was diefer Name der Modification pofitiv bedeute; es reichte Hin, 
daß er die Selbftändigfeit der Dinge dem Unenblichen gegeniiber 
verneinte. &o freilich war er ſchon damals nicht gemeint, daß 


das Unendliche nad) Analogie eines formbaren ae gedacht 
Zope, III. 8. Aufl. 


530 


wiirde, aus deſſen ——— Theilen durch verſchiedenen Zuſchnitt 
Die mannigfachen Dinge als nun ſelbſtändige Gebilde entitänden; 
aber auch wenn wir jeßt jenen Namen dahin deuten, Daß Die 
Dinge Zuftände des Leidens und der Thätigleit des Unendlichen 
feien, meinen wir doch nicht, Daß fie mn, zwar ohne die Gelb- 
ftändigkeit auf ſich beruhender Subſtanzen zu erreichen, gleichwohl 
als ſolche Zuftände des Unendlichen außerhalb der Geifter 
Wirklichkeit hätten; fie gelten uns vielmehr für Thaten des Un⸗ 
endlichen, die nur innerhalb der Geifter gethan werben, oder flir 
Zuſtände, die e8 nur in ihnen erfährt. In den eingelnen Geiſt 
fi) dahingebend und im ihm wie in allen feines Gleichen als 
Grund ihres Lebens wirffam, entwidelt das Unendliche eine 
Reihe von Thätigleiten, von denen, wie fie gefchehen, dem end- 
lichen Bewußtjein unfaßbar bleibt, während ihr Product, indem 
fie gefchehen, von ihm in Geſtalt einer mannigfachen uewinder- 
lichen Sinnenwelt angefchaut wird. In Diefer Erſcheinung, Die es 
por dem Blicke des Geiftes erzeugt, bethätigt das Unendliche feine 
eigne Einheit auf doppelte Weile. Denn dem beobachtenben Be⸗ 
mußtfein zeigt es zuerft an gleiche Gründe gleiche, an verſchiedene 
verſchiedene Folgen gelnüpft und verräth dadurch Die Folgerichtigkeit 
ſeines Handelns, das von allgemeinen Geſetzen fich bekersichen 
Yäßt; dann aber zwiſchen den veränderlichen Erſcheinungen, bie es 
durch Das wechſelnde Spiel feines Wirkens erzeugt, läßt es Die 
Bilder der Dinge mit ihrer beitändigen Natur als Zeugniſſe 
gewiſſer beharrlicher Thätigleiten herbortreten, die es ſtets in fich 
unterhält, und deren Reichthum an Inhalt und gegenfeitiger 
bedeutungsvoller Beziehbarkeit e8 in der Mannigfaltigleit jener 
veränderlichen Creigniffe auseinanderlegt. In allen einzelnen 
Geiftern endlich als die Eine Macht wirkſam, welche fich in ber 
Gefammtheit der Geifterwelt unzählige zufammenftimmende Weifen 
ihrer Eriftenz gegeben hat, bewirkt das Unendliche nicht nur, daß 
die verichiedenen MWeltbilder, Die e8 in den verjchievenen entſtehen 
läßt, fämmtlich die Herrichaft derſelben allgemeinen Gefage be⸗ 
zeugen, jondern auch jene beftäindigen Thätigleiten, bie jedem 





531 


eingelnen Geifte ald reale Kreuzungs⸗ und Durchſchuittspunlte 
der Ereigniſſe umerhalb feiner Welt erjcheinen, übt es fo zu= 
fammenpaflend in allen aus, daß dieſelben Dinge allen, oder doch 
Diefelbe Welt der Dinge allen als gemeinfamer Gegenftand der 
Anſchauung, als eine gemeinfame fie alle verknüpfende äußere 
Wirklichkeit. erjeheint 

Einige Dunlelbeiten, Die wir hier noch nicht bemerken wollen, 
würde diefe Welterflärung des Idealismus in Bezug auf das 
Berbältuig der einzelnen Geifter zu dem Unendlichen übrig laſſen; 
aber die Annahme realer Dinge, denen doch alle inneren Exfor- 
derniſſe der Realität gebrächen, würde fie allerdings überflüffig 
machen. Während jedoch fo der Idealismus zu Schein herab- 
jet, was jo, wie ed gedacht wurde, nicht Wefen fein konnte, 
hielten wir einen dritten Weg fir möglich, der darauf binausliefe, 
umgelehrt an unferer Vorftellimg von den Dingen das zu er- 
glänzen, was ihrem Inhalt zur Möglichkeit der Realität zu fehlen 
ſchien. In der That, wenn die Behauptung des Idealismus, 
wie fie doch ftillichweigend that, die Realität, welche fie den 
jelbftiofen Dingen abfprach, den geiftigen Weſen vorbebielt, warum 
follen wir nicht in eben diefer Natur der Geiftigfeit jene Er- 
gänzung fehen, welche zu dem vorhin leeren Begriff der Dinge 
binzugedacht werden muß, damit er zu dem vollen Begriff eines 
Realen werde? warum jollen wir den Ausſpruch, dag mm die 
Seifter real feien, nicht in den andern umkehren, daß alles Reale 
Geiſt fei? daß alſo auch die Dinge, die unferer fie von außen 
betrachtenden Beobachtung nur als blind wirkende, bewußtlos 
leidende, durch die unbegreifliche Verknüpfung von Selbftlofigfeit 
und Realität fich jelbft widerſprechende erjchienen, innerlich Doch 
alle beffer find, als fie äußerlich ausfehen? daß auch fie nicht 
nur fiir Andere, fondern fir ſich find, und durch Dies Fürfichfein 
fo zu fein vermögen, wie wir e8 von ihnen bisher ohne Hoffnung 
auf Erfüllung unferer Forderung verlangen mußten? 

Biel näher als die Fünftlichere Vorſtellungsweiſe des Idea⸗ 
lismus würde der gewöhnlichen Meinung dieſe Annahme der 

34” 


532 


allgemeinen Bejeelung aller Dinge ftehen; auch uns haben früher 
andere Beranlaffungen zu ihr geführt, und fie hat fo viele Wur- 
zeln in dem menſchlichen Gemüthe, daß von den verſchiedenſten 
Geſichtspunkten aus fich Gelegenheit zur Schilderung der be 
friedigenden und anmuthenden Yernfichten böte, melde fie ums 
über den Zufammenhang der Dinge eröffnet. An allen Diefen 
Anreizen wollen wir jedoch jetzt theilnahmlos vorübergehn, und 
einigen andern ragen nachhängen, welche die Vergleihung ber 
beiden zuletzt entwidelten Auffaffungen anregt. Ich babe früher 
erwähnt, daß fie in ihren Behauptungen einander viel näher 
ftehen, als fie anfänglich ſcheinen, und ich beforge, daß man 
zwiſchen beiden einen Unterſchied fefthalten möchte, der auf einem 
unzuläfiigen Vorurtheil beruhen würde. Den Dingen, wird mar 
jagen, fpricht der Idealismus die Realität ab, und hält fie ihrer 
Natur nah nicht fiir fähig, fi aus dem Unendlichen, an dem 
fie Zuftände find, zur vollen Selbftändigfeit abzulöfen; die letztere 
Anficht dagegen gewährt den Dingen Realität, weil ſie diefelben 
für Geifter hält, Geifter aber in dem Fürfichfein, welches die 
entſcheidende Kigenthlimlichkeit ihres Weſens bildet, das befiken, 
was fie befähigt, nicht nur ald Zuftände am Unendlichen oder in 
ihm, jondern von ihm abgelöft an fich zu beitehen. Diefe Aus- 
drucksweiſe würde den Nebengedanfen einjchließen, daß die Geiftig- 
feit nur der Rechtsgrund fei, um defjen willen die Geifter die 
Realität, als eine von jenem Fürſichſein noch unterjcheidbare 
Form des Seins erjt noch erwerben Tünnten. Man begegnet dem 
Einfluß dieſes Nebengedankens häufig in religiöfen Gedanken— 
treifen, wo er die befannte Frage erzeugt, ob die Welt oder bie 
Dinge, deren gänzliche Abhängigkeit von Gott ihrem Weſen ımd 
Dafein nad) von Anfang an zugeftanden wird, eigentlich in oder 
außer Gott feten, ihm immanent oder nicht? Die Beantwortungen 
diefer Frage, mögen fie das eine oder das andere bejahen, ver= 
rathen deutlich die Meinung, daß ein Sein in Gott nicht, ſondern 
nur eine8 außer Gott, ſei e8 urfprünglich oder durch Gottes 
Schöpferthat entftanden, die volle Realität der Dinge ungmeifel- 


533 


baft machen würde. Sie betrachten alfo Realität als ein be 
ftimmtes formales Verhältniß zu Gott, welches fie durch allerdings 
ganz unzureichende räumliche Bilder bezeichnen; won dieſem Ver—⸗ 
hältniß fegen fie im Allgemeinen voraus, daß es jedem Inhalte, 
der in ihm ftände, jelbjtändiges Dafein gewährte, und nur theil- 
weiß werden fie im Bejonderen zugeben, daß nicht jeder Inhalt 
in diefem Verhältniß ftehen könne, fondern das Recht und Die 
Fähigkeit dazu durch eigenthlimliche Vorzüge feiner Natur erwer— 
ben müfle Daß dies nicht unfere Anficht fein könne, und warım 
nicht, wird am einfachiten aus folgender Betrachtung erhellen, 
in welcher wir der Kürze halber zum Theil den Sprachgebrauch 
jener religiöfen Unterfuchungen, obwohl an dieſem Orte unferes 
Gedankenzuſammenhanges noch nicht ganz gerechtfertigt, beibehalten 
wollen. 

Nehmen wir an, in Gott fei der Gedanke eines beftimmten 
Inhalts fo gedacht, daß zugleich alle Die Conſequenzen mitgedacht 
werden, mit denen jener in die übrige Gedankenwelt Gottes ein- 
greift, diefe Gedanken Gottes aber feien eben die Macht, melche 
zugleich in den endlichen Geiftern wirfam die Anſchauung der 
Welt entſtehen läßt; oder anders ausgebrüdt: nehmen wir an, 
dag im dem Unenplichen eine beitimmte Thätigfeit jo ausgeitbt 
werde, daß zugleich, wie Dies in der Einheit desfelben nicht anders 
fein kann, alle die andern Thätigleiten folgerecht mitgelibt werden, 
die nach der allgemeinen Gejeglichkeit des unendlichen Thuns aus 
jener fließen müflen, und dieſe Regſamkeit des Unendlichen fei 
wieder die wirffame Macht, welche in den einzelnen Geiftern das 
Bild einer Außenwelt erzeugt; nehmen wir die an, fo find nad) 
der Meinung des Idealismus dieſe innerlichen Thaten des Unend- 
lichen die wirffichen realen Kräfte, welche innerhalb des Unendlichen 
in der That wirkſam, eine die andere gejeßlich hervorrufend und 
bedingend, das wahre Gejchehen erzeugen, welches zugleich neben- 
ber von den einzelnen Geiſtern als eine fie alle umfchließende 
Welt äußerer Dinge wahrgenommen wird. Und nun wollen wir 
ung fragen, was denn diefe Gedanken Gottes oder dieſe Zuftände 


594 


des Umnendfichen, melche Beide jegt Gott und dem Unendlichen 
Immanent, nämlich ails Zuftände Des einen oder des andern ges 
dacht worden find, eigentlich noch dadurch geminnen Könnten, ba 
fie nad) dem Sprachgebrauch diefer Weberlegungen auch außer 
Gott wären, oder welchen Gewinn man für fie eigentlich dadurch 
noch glaubt erſchwingen zu Können, daß man unzufrieden mit 
diefer ihrer Immanenz in Gott noch ein transfcendentes Sein flfr 
fie auffände? worin endlich würde dieſes Sein außer Gott ſchließ⸗ 
fi beftehen können und welches würde der wirflihe Sim 
vesfelben fein, den man bildlich durch diefen räumlichen Ausdruck 
des Außer bezeichnet? | 

Wenn man diefen Fragen nachdenkt, jo wird man finden, daß 
man fir felbftlofe bewußtloſe Dinge nicht das Mindeſte gewinnt, 
fondern eher verliert, wenn man ihnen jenes Sein außer Gott 
zufchreibt; alle die Feſtigkeit und alle die Wirkſamkeit, melche fie 
als wirkende und bedingende Kräfte in den: Beränderungen des uns 
fichtbaren Weltlaufs bewähren, beten fie, als bloße Zuſtände 
des Unendlichen gedacht, ganz in derſelben Füllle, als wenn fie als 
Dinge außer ihm beftänden; ja vielmehr eben mm durch ihre 
gemeinfame Immanenz im dem Unendlichen haben fie überhaupt, 
wie wir früher gefehen, dieſe Fähigkeit der Wechſelwirkung auf 
einander, die ihnen al8 iſolirten, von jenem ſubſtantiellen Grunde 
abgelöften Weſen nicht zufommen würde. Für das alfo, was bie 
Dinge fiir einander und im Zufammenhang unter einander fein 
und leiften follen, gewinnen wir durch Aufhebung ihrer Immanenz 
in Gott Nichts; aber wahr ift es, daß die Dinge, fo lange. fie 
nur Zuftände des Unendlichen find, Richts für ſich ſelbſt find. 
Für ſie ſelbſt ſoll Etwas gewonnen werden; dies iſt offenbar der 
Wunſch jenes Drängens auf Sein berſelben außer Gott; aber 
diefe echtere wahrere Realität, fir ſich Etwas zu fein, oder über⸗ 
haupt file fich zu fein, erlangen die Dinge nicht Dadurch, daß fie 
außer Gott geſetzt werden, als wäre diefe Transfcendenz, deren 
eigentlichen Sinn anzugeben durchaus unmöglich fein würde, Die 
borangehende formale Bebingung, an der das Fürſichſein als 


535 


Confequenz hinge: jondern indem etwas fir ſich ift, fich auf fich 
felbft bezieht, ſich als ein Ich begreift, löſt es fich eben Dadurch, 
eben durch diefe feine Natur, von dem Unenblichen ab, erwirbt 
nicht dadurch, fondern bat daran jenes Sein außer dem Unend⸗ 
lichen, erfilllt nicht Dadurch, eine Bedingung, unter der ihm volle 
Realität als eine Art des Dafeind, die noch irgend etwas An- 
deres eimfchlöffe und gemährte, erft zufime: ſondern Fürſichſein 
oder Ichheit ift die einzige Definition, weiche den fachlichen In— 
halt und Werth desjenigen ausdrückt, was wir von zufälligen 
iibelgewählten Standpunften aus formell ald Realität oder felb- 
ftändiges Sein außer Gott im Gegenfage zur Immanenz bezeich- 
nen. Wer daher, wie es allerdings nothwendig ift, auch Die 
Geifter gleich den Dingen als Zuftände Gedanken oder Modifi— 
cationen Gotte8 oder des Unendlichen anfieht, jedoch als folche, 
die nicht nur dazu dienen, im Zuſammenhang unter einander als 
Glieder einer Kette die Confequenzen der Natur des Unendlichen 
von Punkt zu Punkt fortzupflanzen, ſondern die zugleich, was fie 
thun und leiden, in irgend einer Form der Zurückbeziehung auf 
ſich felbft wieder ald ihre Zuſttinde, als Erlebniſſe ihres eignen 
Selbft genießen: wer Died annimmt, und Dann doch noch glaubt, 
fir diefe Gott immanenten lebendigen Geiſter, damit fie im vollen 
Sinne real feien, ein Sein außer Gott nachweiſen zu müſſen, der 
ſcheint uns nicht mehr zu wiffen, was' er will, nicht zu wiſſen, 
daß er längft den ganzen vollen Kern hat, zu dem er ängftlich 
die Schale fucht. 

Das Ergebniß diefer Betrachtung läßt noch emen andern 
Ausdrud zu. Bleiben wir bei dem Sprachgebrauch, nach welchem 
wir früher Wirklichkeit jene allgemeine Bejahung nannten, die 
auch dem Gefchehen zufommt, fo ift Realität die bejondere Art 
dev Wirklichkeit, melche wir den Dingen als Ausgangs- und Ziel- 
punkten des Gefchehens beilegen oder für fie fuchen. Dieſe Reali⸗ 
tät bat ſich uns abhängig gezeigt von der Natur defjen, dem fie 
zulonsmen fol; fie ift das Dafein des Fürfichfeienden. Den 
Namen des Fürſichſeins aber brauchen wir, um auf allgemeinere 





556 


Weiſe die Natur der Geiftigfeit zu bezeichnen, die in dem Selbft- 
bewußtſein des Wefens, das ſich als Ich weiß, nur ihre höchſte 
Stufe der Vollkommenheit erreicht, ohne deswegen in dem zu 
fehlen, was von der Klarheit dieſes Bewußtſeins meit entfernt, 
doch in irgend einer dumpferen Form des Gefühls fiir fich felbft 
ba tt und fein Sein genießt. Der Realität in diefem Sinne 
können wir daher verfchievene Abſtufungen der Intenſität bei- 
legen; nicht alles‘ ift nur iiberhaupt entweder real ober nicht⸗real, 
fondern mit verfchiedenem Reichthum und ungleicher Mannig- 
faltigteit ihres Fürſichſeins von dem Unendlichen fich löſend, find 
die Weſen in verfchtevenen Graden real, immanent dem Unend- 
lichen bleiben fie alle. Der Unterjchied des zulegt von uns ein= 
genommenen Standpunftes von dem des Idealismus befteht Daher 
nicht darin, daß wir den Dingen ein transfcendentes und deshalb 
reales, der Idealismus dagegen ihnen nur ein immanentes und 
deswegen nur fcheinbares Dafein zufchriebe; vielmehr ift zwiſchen 
beiden die andere Differenz, daß die idealiftiiche Meinung, von 
der GSelbitlofigleit der Dinge überzeugt, ihnen deswegen nur als 
Zuftinden des Unendlichen zu fein geftattet; wir Dagegen, im 
Princip hiermit übereinstimmend, laſſen als eine Sache, die wir 
nicht willen können, dahingeftellt, ob die Vorausſetzung jener 
Selbſtloſigkeit zutrifft, Halten e8 aber fiir mahrjcheinlicher, daß 
fie nicht zutrifft, und daß alle Dinge wirklich in verjchiedenen 
Abftufungen der Vollkommenheit die Selbitheit befigen, durch 
welche eine immanente Production des Unendlichen zu dem wird, 
was wir ein Reale nennen. 


Aus der Rathlofigkeit, die wir im Anfange dieſes Kapitels 
eingeftanden, fcheinen wir und einigermaßen emporgearbeitet. zu 
haben. So ganz unbelkannt und unaufzeiglich, wie damals, iſt 
und das Weſen des Kealen nicht mehr; nicht mehr fo ganz find 
wir darauf bejchräntt, mit lauter formalen abftracten Begriffen 


537 


. der Realität der Einheit der innern Zuſtände des Leidens und 
Wirkens nur aus der Ferne um es herumzugehen, ohne die leben⸗ 
dige Bedeutung eined dieſer Begriffe durch Hinweiſung auf eine 
befannte inhaltuolle Anfchauung Kar machen zu können. Auf die 
Natur des Geiftes, des Ich, das fich felbft erfaßt, im Gefühle 
leidet, im Wollen thätig, in zufammenfaflender Erinnerung Eines 
ift, Können wir jet entweder wie auf ein Gleichniß deffen, was 
das Weſen jedes Realen ift, verweiſen, oder unmittelbar und ohne 
Gleichniß die Sache jelbft, das Weſen aller Realität in dieſem 
lebendigen Fürſichſein zu finden glauben. Ich will dahingeſtellt 
laſſen, ob diefe Wahl zwilchen Gleichniß und Eigentlichfeit und 
wirklich freifteht; um die MWeitläuftigfeiten zu kürzen, in Die und 
diefe Weberlegung verwideln wiirde, wollen wir zufrieden ſein, 
wenn und zugeftanden wird, daß wir im Geifte wenigſtens Die 
Natur Eines Realen verftehen, möge und immerhin die der Dinge 
nicht eigentlich, jondern nur unvolllommen bildlicdy durch die Ana— 
Iogie des geiftigen Dafeins klar fein. 

Aber werden wie auch nur dieſes Zugeſtändniß erlangen ? 
und nicht anftatt feiner vielmehr den Vorwurf hören, als ur- 
fprüngliches Wefen ver Dinge bezeichnet zu haben, was als ein 
jpäte8 und vermitteltes Ergebniß gerade am allermeiften der er- 
Hörenden Conftruction aus einem einfacheren und wejentlicheren 
Sachverhalt bedürfte? Denn das Borftellen das Fühlen Das 
Wollen das Selbſtbewußtſein, find das nicht alles Ereigniſſe, 
deren Möglichkeit man erſt begreifen Tann, wenn mun die an ſich 
nicht vorftellende fühlende oder wollende Natur eines realen be 
wußtlojen Weſens vorausfeßt, fie Durch mancherlei. Reize erregt 
werden und aus den Rückwirkungen, mit denen fie ihrer unbe 
Iannten Eigenthlimlichleit gemäß auf die Erregungen antwortet, 
jene befannten Erſcheinungen des geiftigen Lebens als Producte 
hervorgehen läßt? Hat nicht eben an dieſe Aufgabe die erleuch- 
tetere Pfuchologie der neueren Zeiten alle ihre Kräfte, theils ſchon 
mit ſchätzbaren Erfolgen, theils freilich noch erfolglos verwendet? 
Muß alfo nicht diefe Geiftigfeit, dies Fürſichſein, das wir hier 


538 


unbedachtſam geradezu als das Weſen der Realität bezeichnen 
vielmehr als eines der Erzeugniſſe gefaßt und erklärt werben, bie 
ans Bedingungen entjtehen, welche auf eine am ſich viel verbor⸗ 
genere, gar nicht anfchauliche, nur in den feinften ontologifchen 
Abſtractionen feitzuhaltende Ratur des eigentlichen Realen eins 
wirten? 

Ich werde leicht dem größten Theile meiner früheren Dar- 
ftellung zu wiberfprechen fcheinen, wenn ich dies auf folche Weiſe 
uns zugemuthete Unternehmen für einen entfchiedenen Schritt im 
die verkehrte Welt jener Unterſuchungen erfläre, welche wiſſen 
wollen, durch welche Maſchinerie die Wirklichkeit gemacht wird, 
ohne zu bedenken, daß es nicht wohl eine Mafchinerie geben Kamm, 
wenn nicht zuerft eine Wirklichkeit vorangeht, aus deren Beſtand⸗ 
theilen und nach deren bereitS geltenden Gefegen fie zufammen- 
gefeßt werden könnte. Wir find überall in Verſuchung Diefen 
Schritt zu thun, wo das erfte Intereſſe unferer Unterſuchungen 
durch Die veränderlichen Werthe gewiſſer Geunderfcheinungen oder 
Grundthatfachen angeregt worden ift, fiir deren wechſelndes Auf- 
treten es verjchievene Bedingungen geben muß, die bald den 
emen bald den andern nothmendig machen. Haben wir nun 
‚ vollends Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß auch verſchiedene 
Erſcheinungen, die durch ihren abweichenden Inhalt zuerft jeve 
etwas Beſonderes für fich zu fein ſchienen, gleichwohl an bloße 
Größenveränderungen gleichartiger Bedingungen geknüpft find, fe 
bemädhtigt ſich unſer eine gewiſſe Leidenfchaft des Conſtruirens, 
bor der Richts mehr ficher ift, und die zuleßt den ganzen poſikiven 
Inhalt des Wirklichen felbft, deſſen Schichſale freilich zu erflären 
find, aus bloßen Meodificationen der Yomnalten ableiten möchte, 
welche den Wechfel jener Schickſale bedingen. Ich muß jebedh 
diefe Bemerkung, wenn fie und nützen fell, an einzelnen Wei 
Ipielen, dle unferem Zuſammenhange doc m” fand fein werden 
zu verdeutlichen fuchen. 

Unfer Auge fieht bald Licht bald Schatten und verſchiedene 
Farben nacheinander. Wenn nun der Schiller gelernt hat, daß 


— 


339 


dieſe wechſelnden Empfindungen von mathematiſchen Verſchieden⸗ 
heiten der Lichtwellen herrühren, pflegt er bereits zu der Behaup⸗ 
tung zu neigen, die Farben ſeien gar Nichts als verſchiedene 
Schwingungen des Aethers; doch beſinnt er ſich vielleicht auf dieſer 
Stufe ſeines Wiſſens noch und gibt zu, daß ſie zwar von jenen 
Schwingungen herrühren, an ſich aber doch etwas Neues und 
Anderes find, nämlich eigenthümliche Zuſtände pſychiſcher Erregung 
in uns. Aber nun erfährt er vielleicht in der Pſychologie, man 
habe Grund, auch dieſe qualitativ verſchiedenen Eindrücke, ja ſogar 
die unvergleichlich verſchiedenen Empfindungen aller Sinne, nur als 
Erſcheinungsformen zu betrachten, unter denen die Seele die un— 
zählige Menge ihrer qualitativ ganz gleichartigen und nur quantitativ 
oder formell verfchiedenen Erregungen wahrnehme; es entfpreche 
vielleicht der Furbenempfindung im Unterfchted von dem Hören 
eines Tones nur eme intenfivere Erſchütterung oder eine folche, 
die nad) eitem anderen Rhythmus der Yufeinanderfolge ihrer 
einzelnen Impuffe verlaufe, aber der Art nach fei diefe pfychifche 
Srregung oder Bewegung in beiden, ja in allen Fällen von 
Empfindung Aberhaupf, immer diefelbe. Und mm, fobald mar 
dies gelernt bat, gemöhnt man fich leicht, die bunte qialitative 
Mannigfaltigkeit der geiftigen Erſcheinungen mit einer gewiffen 
Emperiorität von oben herab zu betrachten als eine Art bon 
Gaulelſpiel, Hinter deſſen Geheimniß man gelommen fei, und drückt 
Died wohl fo ans: eigentlich feten die inneren Erfcheinungen 
ger nicht wirklich verſchieden, fondern fie ſcheinen und nur fo, feten 
aber in Wahrheit doch nur formale Modificationen eines überall 
wefentlich gleichartigen Procefjes. | 

Ich glaube nicht, daß ich dieſe Verkehrtheit zu grell ſchildere; 
in der That benehmen fich doch Biele fo, als glaubten fie, im 
dem Momente, da diefe Gleichartigkeit ihres Urſprungs eingeſehen 
fet, habe die Ungleichartigleit der pſychiſchen Vorgänge zu eriftiren 
aufgehört; fie vergefien ganz, daß die Art, wie ums jene an= 
geblichen Modifieationen des gleichartigen Proceſſes erſcheinen, 
Hier eben die Sache ſelbſt tft, um die es ſich Handelt. Mögen 


540 


taufendmal die Empfindungen des Lichts und die des Klanges 
auf zwei pfuchifchen Erſchütterungen beruhen, die von einander 
höchſtens fo quantitativ und formell verjchieden find, wie Aether⸗ 
wellen von Schallwellen, fo ift doch dadurch die Unvergleichlichkeit 
beider Empfindungen, fofern fie empfunden werden, nicht aus der 
Welt geichafft, fondern fie dauert fort nach wie vor; ihr Werth 
und ihre Wirklichfeit wird dadurch nicht vermindert, daß beide 
Empfindungen nur Arten find, wie uns jene Proceſſe ericheinen; 
diefe Arten des Erfcheinens find vielmehr wirkliche bleibende 
Thatfachen im Innern, zu denen jene äußeren Thatſachen der 
phyſiſchen Sinnesreize oder die ihnen entfprechenden pſychiſchen 
Erjchütterungen zwar veranlaffende Urfachen find, deren Natur 
aber durch diefe Urſachen nicht beftummt, deren Differenz durch die 
geringere Differenz der Urſachen nicht um das Kleinfte gemindert 
wird. Oder, wenn wir hören, daß Gefühle und Regungen des 
Willens eigentlich Nichts weiter, als mannigfache Preffungen 
und Bewegungen von Borftellungen find, welche diefe einander 
durch ihre Wechjehvirkungen zufligen, werden wir dieſes „weiter 
Nichts“ wohl zugeben follen? hört darum, weil wir Die einge 
jehen hätten, der Schmerz auf, weh zu thun, oder können wir die 
Thatſache aus unferem Bewußtſein berausreißen, daß eine Regung 
unſers Willens immer und ewig etwas ganz Anderes ift und 
bleibt, als ein willenlofes Auf- umd Abfteigen unferer Borftel- 
ungen? Selbſt wenn fie richtig find, Lehren folde Erklärungen 
nur die Beranlaffungen des Eintritts, nicht die Erzeugungsur⸗ 
fahen des charakteriftiichen Inhalts der geiftigen Creignifje; fie 
lehren Bedingungen kennen, an deren Veränderung fich auch ein 
Wechſel dieſer an fie gefnlpften Folgen anjchließt, aber auch er 
nah fo eigenthümlichem Maßſtabe, daß aus der Bergleichung 
zweier Werthe der Bedingung fein Denken ohne Benutzung anderer 
Data errathen Tann, wie die Differenz der beiden Ereigniffe aus- 
jehen werde, welche der gegebenen Differenz jener Beringungs- 
werthe entfpricht. So weit alfo ein veränderliches Gefchehen von 
wechjelnden Bedingungen abhängt, fo weit bat in dieſem Sinne 





541 


die Wiffeufchaft iiberhaupt, jo weit auch die Pfychologie Aufgaben 
der Erklärung ımd der Eonftruction zu löſen. Fir die verfchie- 
denen Formen des Vorftellend des Fühlens des Wollens, für 
die bald fo bald anders verlaufende Reihenfolge diefer wechjelnden 
Ereigniffe und die mannigfachen Erzeugniffe ihrer gegenfeitigen 
Einwirkungen mag fie Die veranlaffenden Bedingungen auffuchen; 
wie e8 aber iiberhaupt zugehe, daß vorgeſtellt gefühlt gewollt 
werden könne, daß ein innerer Zuſtand auf den andern wirke, 
muß fie nicht wieder irgend woraus conftruiren zu können hoffen, 
noch weniger aber glauben, in der bloßen Darlegung einer her- 
beiführenden Mafchinerie den wejentfichen Sinn der inneren Er- 
eigniffe oder das ergriffen zu haben, mas fie eigentlich und in 
Wahrheit find, im Gegenfaß zu dem, mas fie und in unmittel- 
barer innerer Erfahrung fcheinen. 


Ich fühle, daß dieſe Bemerkungen bisher nur zugeftandene 
Mißverftändniffe tadelten, die Eigenthümlichkeit des vorliegenden 
Falles aber nicht hinlänglich beriicfichtigten. Man gebe unbe= 
denklich zu, daß alle Erklärung nur die innere Gefegmäßigfeit 
ausemanderlege, welche eine gegebene Wirklichkeit in ihrer ver- 
änderlihen Entwidlung befolgt, und daß fie weder die einfachen 
Atome des Gefchehens, deren Verknüpfungen fie erforfcht, noch die 
Urproportionen zwiſchen ihnen, deren Conjequenzen fie nachgeht, 
ins Unendliche rückwärts durch neue Ableitungen erzeugen könne. 
Aber innerhalb der fo gezogenen Schranken Tiege dennoch hier 
noch eine Aufgabe der Conftruction. Denn jene verjchiedenen 
Grunderſcheinungen des geiftigen Lebens feien uns in der Er- 
fahrung nicht als unverbundene Ereigniffe gegeben, deren jedes 
fi) unter dem Wechſel nur ihm geltender Bedingungen nad) 
feiner eignen Skala verändere und verwickele; als Zuftände von 
Weſen vielmehr und zwar alle als Zuſtände Eines Wejens treten 
fie in unferer Beobachtung auf, oder ‚haben wenigſtens nur als 





Inn IHN Ti? 
IHIUNSF 
lan 





541 


2 Wiffeufchaft iiberhaupt, fo weit auch Dee Pieckainze Ihrianben 
r Erklärung und der Conftruction zu löfen. Für rue verichie 
nen Formen des Borftellend des Fühlens des Wellens, tür 
e bald fo bald anders verlaufende Reihenfolge Tiefer medhieinten 
reigniffe umd die mannigfachen Erzeugniſſe ihrer gegenfertigen 
inwirkungen mag fie die veranlaffenden Bedingungen aufiuchen: 
ie e8 aber überhaupt zugehe, Daß vorgeftellt gefühlt gewollt 
erden könne, daß em innerer Zuſtand auf den andern wirfe, 
iuß fie nicht wieder irgend woraus conftruiren zu fennen hefien, 
och weniger aber glauben, in ber bloßen Darlegung einer her 
eiführenden Mafchinerie den weſentlichen Einn der inneren Er- 
igniffe oder das ergriffen zu haben, was fie eigentlich und in 
Wahrheit find, im Gegenfat zu dem, mas fie und in unmittel⸗ 
Jarer innerer Erfahrung jcheinen. 


Ich fühle, daß dieſe Bemerkungen bisher nur zugeftandene 
Mißverftändniffe tadelten, die Eigenthlimlichleit des vorliegenden 
Falles aber nicht hinlänglich berüchſichtigten. Man gebe unbe⸗ 
denklich zu, daß alle Erflärung nur Die innere Geſetzmäßigleit 
auseinanderlege, welche eine gegebene Wirklichkeit in ihrer ver⸗ 
änderlichen Entwicklung befolgt, und daß ſie weder die einfachen 
Atome des Geſchehens, deren Verknüpfungen fie erforfcht, noch Die 
Urproportionen zwifchen ihnen, deren Gonfequenzen fie nachgeht, 
ins Unendliche rücdwärtägg ii" neue Ableitungen erzeugen fünne 
Uber innerhalb der Schranlen liege dennoch bier 


22 eine Ran | Denn jene verſchiedenen 
Grunderſchei u. feien uns in der @r 









gniſſe gegeben, deren Aw 

geltender Bedingungen MP 
> ‚rividele; alt Fun ⸗ 
oftände Gers 
Gaben nnd 





542 


folche angejehen fir uns Sinn und Bedeutung. Wie num bie 
Möglichkeit zu fo verfchiedenen Aeußerungen in Einem Weſen 
liegen und fo Liegen könne, daß unter dieſen Umſtänden dieſe, 
unter anderen andere von ihnen hervortreten, Died ſei nicht von 
ſelbſt Har, ſondern vechtfertige den Verſuch, die innere Structur 
zu erforchen, die dies Weien haben müſſe, um Geift zu fein; 
Nichts ſei minder zuläffig, als Diefe Natur der Geiftigfeit, wie 
wenn fie gar fein Räthſel einfchlöffe, für die ſchlechthin anzuer⸗ 
fennende urfprüngliche Natur Des Realen überhaupt auszugeben. 

Ich beitehe dennoch auf meiner Meinung; nur begreife ich 
die Schwierigfeit, Die entgegenftehenden Vorurtheile zu widerlegen, 
weil ich mir der Mächtigfeit der Antriebe wohl bewußt bin, die 
ſtets wieder zu ſolchen Conftructionsverfuchen verleiten. Wir find 
eben unabänderlich geneigt, die Gelege, unter welche wir die 
Entwiclung eines Wirklichen zufammenfaflen können, weil es ſich 
fo und nicht anders entwidelt, als vworangehende Bedingungen 
anzufehn, um deren willen e8 fich jo entwideln müſſe; unabänder- 
lich geneigt ferner, die zufälligen Anfichten, Die Sergliederungen 
Hülfsbegriffe und Beziehungen, durch die e8 uns gelingt, den 
Zufammenhang des Wirflichen zu denken, nachdem e8 da iſt, 
als reale Maſchinerie zu betrachten, durch Die es ihm gelinge, 
zu fein; wird find endlich noch bejonders geneigt, Analogien, an 
welche uns der Verkehr mit der Sinnenwelt gewöhnt bat, als 
allgemeingültige Mufter zu verehren, nad) denen alle Wirklichkeit 
fich zu geftaften Hat. Der erften Neigung enifpringt die Gemohn- 
heit, überhaupt von einer Welt der Wahrheiten zu ſprechen, bie 
der Welt der Wirklichkeiten als, em dem Begriffe nach Früheres 
porangebe, ein Irrthum, iiber den ich bald ausführlicher zu jprechen 
Beranlaffung haben werde; die dritte jener Neigungen erzeugt die 
materialiftiichen Auffaffungen der geiftigen Welt, zu deren Wider⸗ 
legung noch einmal zurüdzufehren wir verzichten; aus Dem zweiten 
Hange, den wir erwähnten, entjteht diefe Sucht, dem Wirklichiten 
und Urfpinglichften ein ſicheres Fundament aus feinen eigenen 
Conſequenzen ımterzubauen. Wie Died zu verjtehen fei, verſuche 


- 








543 


ich mit den Mitteln zu verdeutlichen, iiber welche diefe Darftellung 
verfügen darf. 

Nicht genau, aber zur Verſtändigung dienlich können wir 
fügen, in allen jenen Begriffen vom Dinge, feiner Einheit feinen 
Zuſtänden Leiden umd Wirkungen, durch welche wir Orbnung 
zw Zuſammenhaug in unjere Wahrnehmungen bringen, bilde der 
Geiſt im Grunde sur die allgemeinen Züge feines eignen Weſens 
ab; und weil er ſich felbft und feine Wirklichleit durch fie be 
ſtehend und in ihnen enthalten fühle, verfuche er fie als die ein . 
gigen ihm befannten Charaktere des wahren Seins auch auf die 
außere Wirkfichleit zu übertragen und in fie hineinzuarbeiten. Bei 
dieſer Mebertragung verlieren indeſſen diefe Züge den lebendigen 
Inhalt, den fie im Selbftgefüihle des Geiftes hatten, und ben ihm 
das nur von außen beobachtbare Nicht= Ich nicht ebenfalls in fich 
zu begen fcheinen kann; fie verwandeln fich in inhaltleere Formen, 
welche nur noch die Beziehungsweiſen conſerviren und ausdrücken, 
in denen das Mannigfaltige im Geiſte zu einander und zu ihm 
ſtand. Im Selbſtbewußtſein wird unmittelbar das Ich als 
Träger des innern Lebens ſo erlebt, daß eben auch dies miterlebt 
wird, was es heiße, ein ſolcher Träger zu fein; jetzt gewöhnt ſich 
die Erkenntniß, die lebendige Anſchauung des Ich in den formellen 
Begriff einer Subſtanz abzuſchwächen, die, in einer uns freilich 
nicht nachempfindbaren Weiſe, einer Mannigfaltigkeit äußerer Er- 
ſcheinungen den gleichen Dienſt eines zuſammenhaltenden Trägers 
leiſte; die Erinnerung, mit welcher die Seele wirllich ihre zeit⸗ 
lich auseinanderfallenden Erlebniſſe in ein ſammelndes Bemußt- 
ſein verknüpft, wird zu dem formellen Begriff einer Einheit mit 
ſich abgeblaßt, Die auf irgend eine freilich gar nicht mehr nach— 
fühlbare Weife auch jenen unbemwußten und felbftlofen Subftanzen 
zulomme; Begriffe von Zuftänden und Wirkungen entitehen als 
leere Schattenbilder der lebendigen Erfahrungen gefühlter Leiden 
und werkthätiges Wollens, und ftiften zwiſchen den Schatten ber 
Dinge  mandherlei Schatten won Beziehungen. Und nun nachdem 
die Seele ſich im Verlehr mit der Sinnenwelt an den Gebrauch 


544 


dieſer Abftractionen gewöhnt bat, wendet fie ſich gewiſſermaßen 
ſelbſtmörderiſch gegen ſich felbft zurlid und glaubt ihr eignes Weſen 
erft durch Hülfe diefer ontologiihen Begriffe zu fallen, Die von 
Anfang an nur Bedeutung hatten, fofern fie, freilich abgeſchwächt, 
MWiderfcheine der geiftigen Natur waren. Jetzt kommt fie dazu, 
ihr eigen Selbft nicht mehr zu verjtehen und verfällt darauf, fich 
durch einen Kern unbewußter Subitanz zu verzieren, den fie in 
fi) Hineindichtet, und durch ſcharfſinnig ausgedachte Einwirkung 
von Reizen dahin zu bringen ſucht, ſich ſelbſt gewahr zu werben. 

Daß dies immer jo gejchehen werde, daß die Seele ein zu 
ihrer Natur gehöriges Bedürfniß habe, alle Wirflichleit und damit 
auch ihr eignes Leben ſich unter diefen Formen zum Gegenftand 
der Reflexion zu machen, leugnen wir nicht und haben früher 
bereit8 dieſer Unvermeidlichleit gedacht (II, 248); in ihr eben 
liegen die Schwierigfeiten, die wir hier zu befämpfen Haben. 
Möglich ift e8 aber Doch, fich deſſen bewußt zu werben, daß alle 
jene ontologifhen Begriffe nur Erzeugniffe des Denkens, nicht 
Bedingungen der Möglichkeit des Denkenden oder des Gedachten 
find, nur Projectionen der Wahrheit für den Standpunkt des 
endlichen Geiſtes, nicht die eigne Geftalt der Wahrheit ſelbſt; und 
biefer wahre Sachverhalt drängt ſich und bei verfchievenen Ge— 
legenheiten mit verſchiedenen Graden der Klarheit auf. So ent- 
ſchlüpft e8 und wohl zuweilen zu fagen, unfer Ich habe Bewußt⸗ 
fein; betroffen über die Berfehrtheit, das Weſen zum Beſitz feiner 
jelbft und den weſentlichſten Zug feiner Natur wieder zum Beſitz 
dieſes Beſeſſenen zu machen, beflern wir dann wohl den Ausdrud 
und fagen: Sc bin Seele; aber auch jo haben wir die bleibende 
Berlegenheit nur verhüllt; wir wiffen jeßt fo wenig als früher, 
in welchem fachlichen Verhältniffe Subject Copula und Präbdicat 
diefes Urtheils ftehen könnten, fo lange fie als ſolche unterſchieden 
werden follen. Wir entſchließen und dann wohl zuzugeben, e8 fer 
ein mißlungener Verſuch, in der Form eines Urtheiß zu trennen, 
was Eins ift, und durch Wiederverfnüpfung eime Einheit wieder⸗ 
aufzubauen, "die nur in unmittelbarer Anſchauung erlebt werden. 


545 


kann. Gleichwohl wird e8 immer fo fortgehen und diefer Verſuch 

wird immer wieder gemacht werden. So oft wir eine einzelne 
Handlung eines Weſens ins Auge faſſen, erfcheint und feine übrige 
Natur als das Bleibende, aus dem fie hervorgeht; mm ſetzen 
wie fo fortfahrend zulegt die Gefammtheit uller feiner Handlungen 
und Eigenſchaften in Gegenfak zu einer beftändigen Wurzel, aus 
der fie entjpringen, und theilen das Weſen in ein Etwas, das 
noch Nichts iſt Nichts leidet und Nichts thut, und in einen 
Schwarm von Oualitäten und Handlungen, die dann doch aus 
ihm hervorbrechen. Dann fpalten ſich bei einiger Weberlegung bie 
Anfichten; die einen löſen haltlos das Weſen in lauter Thätigfeit 
ohne Thätiges auf, die andern knüpfen unbegreiflich die Thätigkeit 
an Unthätiges; antwortet man beiden, das Weſen fei das Thuende 
jelbit, fo enthält auch diefer Ausdruck und jeder ähnliche noch die 
Berleitung, den Artifel als die Bezeichnung des wahren Wefens 
zu faflen, das an dem Thun nur participire. Wenn eine Em- 
pfindung auf äußeren Reiz entiteht, fcheint es und unvermeidlich, 
ihr als einer Reaction der Seele ein Leiden vorangehn zu laſſen, 
das fie hervorruft und dem fie entſpricht; jo erfinnen wir unbe- 
wußte Erregungen der Seele, Eindrücke, denen erjt fpäter wie 
eine elaftifche Rückwirkung die Empfindung folge; anderjeit3 be— 
finnen wir uns, daß, wenn die Rückwirkung aus dem Leiden 
hervorgehen foll, e8 doch einen Augenblid geben muß, in welchem 
fie beide zu einem ungetheilten Gejchehen zufammenfallen; warum 
alfo nicht immer? und warum nicht zugeftehen, daß der Unter- 
chied zwifchen Erregung und Reaction eine theoretifche Fiction tft, 
zu vielen Zwecken des vergleichenden und verfnüpfenden Erfennens 
eben fo unentbehrlich, aber fachlich ebenjomenig wirklich, wie zwei 
Geitenbewegungen, in welche wir mit willfürlicher Wahl eine 
gegebene einfache Bewegung zerfüllen? Wenn eine Borftellung 
eine andere inhaltlich won ihr verjchiedene, vielleicht nicht mit ihr 
vergleichbare, im Bewußtſein hemmt oder verbunfelt, oder wenn 
in der äußern Natur zwei ihrer Erſcheinung nach verſchiedene 
Stoffe einander in Bewegung oder in Ge jeßen, fo 

2oße, II. 8. Aufl. 


⸗ 


546 


folgern wir, daß beide, um aufeinander wirken zu können, doch 
eine verborgene Gleichartigkeit haben müſſen, und betrachten ſie 
als verſchiedene Größenwerthe eines gleichen Vorgangs oder einer 
gleichen Materie. Warum aber nicht zugeſtehen, daß eben in 
ihrer Fähigkeit wechſelſeitiger Wirkung die Gleichartigkeit beſteht, 
die ihnen zukommt? daß fie nämlich in Wahrheit nur äqui— 
valent find und nicht gleichartig in dem Sinne des wirklichen 
Beitehend oder Entſtandenſeins aus einem gemeinſamen Dritten? 
Daß diefe Reduction der qualitativ verjchtedenen, aber im Wirken 
iquivalenten Elemente auf verjchtedene Maſſen eines identifchen 
Subftrate8 zwar für unfere Berechnungen eine fehr bequeme 
Fiction ift, aber allemal eines beſondern Nachweiſes ihrer ſach— 
lichen Wahrheit bedarf, wenn fie flir ſolche gelten fol? 

Es wirde leicht fein, dieſe Beiſpiele zu häufen; überall und 
unvermeidlich fucht fich das Erkennen den innern Zuſammenhang 
der lebendigen Natur des Wirklichen gleichfam durch Zerfällung 
oder Beziehung auf Coordinaten zu verdeutlichen, die ihm, dem 
Erkennen, bequem find, und die es dann leicht als ſachliche Be— 
fiimmungen des Weſens der Dinge anſieht. Die Verlockung 
dazır tft nicht gleich groß in allen Fällen. Häufig geftattet die 
Natur der Wahrheit, die von allem Wirflichen gilt, von verſchie⸗ 
denen Anfangspunkten aus und auf verfchtedenen Wegen zu dem⸗ 
jelben Ziele zu gelangen und dann überzeugen wir uns leicht, 
daß keiner diefer Wege der Weg der Sache jelbit iſt und daß fie 
ſich gleichgültig verhält gegen die Coorbinatenfyfteme, mit deren 
Hülfe wir fie zu beſtimmen fuchen; in andern Fällen, und hierzu 
gehören eben die einfachften und allgemeinften ontologifchen Begriffe, 
bon denen wir fprechen, haben wir ſolche Auswahl nicht, fondern 
find gezwungen, immer wieder zu denfelben Formen der Auffaffung 
des Wirklichen zurückzulehren. Dieſe erjcheinen uns dann under- 
meidlich als Bedingungen, welche nicht nur unfere Erkenntniß der 
Sache, fondern die Sache ſelbſt möglich machen; und dies ift in 
dem Grade der Fall, daß ohne Zweifel diefe meine lange Aus⸗ 
einanderjegung am Schluſſe mit der ungläubigen Frage belohnt 


547 


werden wird: aber irgendiwie muß es doch zugehen, daß das Weſen 
des Geiftes diefe Zuftände leiden, dieſe Rückwirkungen entfalten 
Iınn? Dies iſt wieder die Frage, die wiſſen will, wie Wirklichkeit 
gemacht wird; wir antworten ihr noch einmal, daß es uns eben 
nicht fo ſcheint, als müſſe e8 irgendwie zugehen, daß dies fo fein 
fünne, fondern nachdem es fo ift, ift es jo, daß es im Einzel- 
nen von Punkt zu Punkt einen Hergang der Entjtehung der Er- 
eigniffe auseinander gibt. Eine bald kommende Gelegenheit führt 
und auf dieſe Trage zurück; wie wollen ihr auffparen, aufzu- 
Mären, was noch dunkel an diefen Betrachtungen fein kann, deren 
Ergebnifje wir jet in ähnlicher Weife wie die früheren zu fors 
muliren furchen. 


7. Die Begriffe, durch die wir Natur und Zufammenhang 
der Dinge zu beitimmen -fuchen, ftellen Forderungen, von denen 
ſich theils nicht begreifen läßt, wie die Dinge, als ſelbſtloſe ge— 
dacht, es anfangen follen, fie zu erfüllen, und won denen anders: 
theils felbft deutlich ift, daß die Natur der Dinge, jo gedacht, wie 
ſie bisher gedacht wurde, ihre Erfüllung ausſchließt. Denn Alles, 
was wir und als eine nicht blos verlangte und in abftracten 
Formeln angebeutete, fondern als eine geleiftete, concret anſchau⸗ 
liche Erfüllung diefer Poftulate vorftellen können, ift nur im Geifte 
vermöge der eigenthümlichen Natur möglich, die ihn von dem 
unterjcheidet, was nicht Geift ift. 

8. Wenn nun, was wir von den Dingen als Subjecten ber 
Erſcheinungen verlangen müſſen, gleichwohl von ihnen, fo lange 
fie Dinge find, nicht geleiftet werben Tann, fo müſſen entweder 
die Dinge nichtfein oder andersfin als fie bisher gedacht wurden. 
Entweder nım die Geifter find und die ganze Welt der ‘Dinge 
ift eine Erfcheinung in ihnen, oder auch die Dinge, die uns als 
beharrliche und doch felbftlofe Ausgangs-, Durchſchnitts⸗ und Ziel- 
punkte des Gefchehens erfcheinen, find Wefen, welche in verſchie— 

35 * 


548 


denen Abftufungen mit den Geiftern den allgemeinen Charakter 
der Geiftigfeit, das Fürſichſein, theilen. 

9. Realität und Fürfichfein der Dinge find vollkommen gleich: 
bedeutende Begriffe Zweierlei ſoll damit gejagt fein. Zuerſt, 
daß ein Geift, der dem Unendlichen als deſſen Zuftand Thätig- 
feit oder Modification immanent bleibt, ſobald er gleichwohl für 
fih ift, eben in diefem Fürſichſein die vollſte Realität bereits be 
fit, fie aber nicht durch eine Ablöſung vom Unendlichen zu ber 
Unabhängigleit eine8 Seins außer demſelben exit erwirbt; das 
Fürſichſein tft der pofitive Inhalt dieſer gefuchten Unabhängigfeit, 
deren Sinn ganz unbegreiflih wird, wenn man fie ald ein an— 
dermeitiges formales Verhältniß betrachtet, in welches das Yiir- 
fichfetende zu dem Unendlichen erft noch zu treten habe. Zweitens 
aber, und freilich im engften Zuſammenhange mit feiner erften 
Bedeutung, behauptet der Sag: Wealität fei nicht als eine an 
das Fürſichſein gefnlipfte, von ihm zu verdienende, aljo von ihm 
felbft noch verſchiedene Confequenz zu faſſen. Selbſt der Aus- 
druck, der Geift fei real durch fein Fürſichſein, hat in dieſem Be— 
tracht nicht Die wünſchenswerthe Genauigfeit; denn jenes Durch 
läßt die Mißdeutung übrig, als hinge Realität von gewiſſen all- 
gemeinen Bedingungen ab, deren Erfüllung dem Geifte zwar durch 
fein Fürfichfern, Anderem aber, 3. 2. felbftlofen Dingen, auch auf 
andere Weile gelingen fünne. ber es gibt foldhe Bedingungen 
nicht; es gibt überhaupt nicht ein aller Wirklichkeit vorangehendes 
Recht, nach deſſen Vorfchriften Realität und Unrealität am Das 
Denkbare vertheilt witrde. Nur der lebendige Geift ift, und Nichts 
ift vor ihm oder außer ihm; aber er tft fo, daß er fein eignes 
Sein und Wirken, das er ift und erlebt, fich zum Gegenftand 
denkender Reflexion nur macht, indem er der Mannigfaltigfeit deſ⸗ 
felben das Gerüſt jener trennenden verfnlipfenden und gliedernden 
Abftractionen Beziehungen und Hülfsconftructionen unterzieht, 
welche ihm dann leicht nicht nur als Bedingungen feines Denkens 
tiber fich, fondern auch als Bedingungen feiner Wirklichkeit erfcheinen. 


Ed 


549 


Biertes Kapitel. 
Die Berfönlichkeit Gottes, 


Glaube und Denken. — Die Beweiſe für das Daſein Gottes. Unperjönlide Formen 
bes Höhften. — Ih und Nicht⸗Ich. — Die Einwürfe gegen bie Möglichkeit ber 
Perſonlichkeit des Unendlichen. 


Leicht zu ergänzende Mittelglieder zu verſchweigen, muß der 
Kürze dieſer zu Ende eilenden Darſtellung zugeſtanden werden. 
Unſere bisherigen Ueberlegungen haben ſich um die Natur der 
endlichen Dinge und die möglichen Auffaſſungen ihres gegenſeitigen 
Zuſammenhanges bewegt, aber ſie haben noch wenig den Begriff 
jenes Einen Weſens aufzullären verſucht, welches fie unter dem 
Namen des Unendlichen gleichwohl als die unentbehrliche Voraus⸗ 
ſetzung aller Begreiflichleit des Endlichen betrachteten. Der Ber- 
lauf der Unterfuchung würde von felbft jet zu dieſem Verſuche 
überführen müffen; denn wie beharrlich wir auch jede Zumuthung, 
zu erklären, wie Wirklichkeit überhaupt gemacht wird, ablehnen 
müffen, fo liegt doch in der Behauptung einer Abhängigkeit des 
endlichen Bielen von dem unendlichen Einen zugleich die Behaup- 
tung eines fortbeftehenden Berhältniffes von Wirklichem zu Wirk 
lichen, deſſen Sinn fomweit möglich zu beftimmen wir als eine 
zuläffige Aufgabe anerfennen müſſen. Aber e8 wiirde nicht vor⸗ 
theilhaft fein, diefe Unterfuchung gerade bier fireng aus den blos 
metaphyſiſchen Antrieben, die ihr bisher zu Grunde lagen, meiter 
zu entwideln; wir finden fie in den religiöfen Gedantentreifen 
bereit3 zu reichen Inhalte ausgebildet vor und in einer Geftalt, 
die eben deömwegen, weil fie außer den Bedürfniſſen der theore- 
tiichen Erkenntniß auch die des Gemüthes und des Gewiſſens zu 
befriedigen fucht, unfere Aufmerkfamfeit in hohem Grade auf fich 
ziehen muß. An diefen bekannten Inhalt wollen wir anknüpfen, 
und anftatt des metaphufiichen Poftulats des Unendlichen vielmehr 


550 


den vollen Begriff Gottes, der dies Poſtulat mitzuerfüllen be— 
ftimmt ift, zum Gegenftande unfere® Nachdenkens machen. 

| Mit Einem Worte wenigftens müſſen wir des Zweifels ge— 
denen, der uns fogleih bier an die Erfolgloſigkeit philojophifcher 
Unterfuhungen über jene höchſten Tragen erinnern möchte, zu 
deren Beantwortung nur das neue und eigenthümliche Organ 
des Glaubens zureihe.. Wie man auch iiber ven Urfprung Der 
religiöfen Wahrheiten denken mag, jede Auffafjung wird Doch dem 
wilfenfchaftlichen Erkennen Arbeit übrig laffen. Wäre die Religion 
reine Erzeugniß der menschlichen Vernunft, jo würde Philoſophie 
das einzige zulängliche Organ ihrer Erfindung und Auslegung 
fen. Iſt die Bernumft nicht fähig, durch fich felbft die höchſte 
Wahrheit zu finden, bedarf fie vielmehr einer Offenbarung, die 
entweder in Einer gejchichtlichen That Gottes befchloffen ift, oder 
unaufhörlih fih im den Gemüthern erneuert, fo muß dennoch 
die Vernunft im Stande fein, die offenbarte Wahrheit ſoweit 
wenigſtens zu verftehen, daß fie in ihr den befriedigenven und 
überzeugenden Abſchluß der aufftrebenden Gedankengänge wieder— 
erfennt, welche fie felbft, von ihren Bedürfniſſen geleitet, begonnen, 
aber nicht zu Ende zu bringen vermocht bat. Denn alle religiöfe 
Wahrheit fol ein fittliches Gut, nicht Beſchäftigung der Neugier 
fein. Sie mag daher einzelne der Bernunft unzugängliche 
Myſterien enthalten, aber doch nur fofern dieſe unentbehrlich 
find, um andere offenbare Punkte von hohem Werthe zufrieden- 
ftellend zu verknüpfen; an ſich ift die Heimlichleit eines Myſteriums 
fein Grund, e8 zu verehrten; die dauernde principiell verewigte 
Heimlichleit aber würde nur ein Grund der Gleichgültigkeit gegen 
das fein, was auf ſolche Weife mit den Bedürfniſſen des Geiſtes 
in Zufammenbang zu treten verfchmähte; am allerwentgften endlich 
könnte e8 dem Begriffe einer Offenbarung entipredhen, in Ge 
heimniffen zu fehwelgen, die Geheimnifje zu bleiben beftimmt find. 

Iſt denn aber iiberhaupt Geheimnig, was für das Erkennen 
Geheimnig ift? Befteht nicht eben darin die Natur des Glau- 
bend, daß er eine Gewißheit deſſen gewährt, was fein Erkennen 





551 


faßt, ſowohl deſſen, was es ift, als deſſen, Daß es ift? Und 
kommt nicht alle Wiffenihaft ſelbſt am Ende ihrer Unterfuchun- 
gen des Einzelnen darauf zuriick, in einem Glauben, deſſen Ge- 
wißheit unbeweisbar und doch unmiderleglich ift, die höchften Wahr- 
heiten zu erfaffen, von denen alle Beweiſe anderer Erkenntniſſe 
abfliegen? Gewiß Liegt in Ddiefer Entgegnung ein Stern des 
Nichtigen; aber nicht minder deutlich ift der wefentliche Linter- 
ſchied, der jenen wiffenfchaftlichen Glauben vom religiöfen tremnt. 
Allgemeine Säge, welche in unzähligen denfbaren Fällen Die 
unter beftimmten Bebingungen eintretenden Beziehungen eines 
Mannigfaltigen vorzeichnen, find e8 allein, denen der wiſſenſchaft⸗ 
liche Glaube unmittelbare Zutrauen ſchenkt. Wenn er behauptet, 
daß jedes Denfbare fich felbft gleich ſei, Gleiches unter gleichen 
Bedingungen gleiche, unter ungleichen ungleiche Yolgen gebe, jeder 
Beränderung eine Urfache vorangehe, jo find alle Diefe Ste 
allgemeine Wahrheiten, die wohl fagen, mas eventuell noth- 
wendig gefchehen oder ftattfinden müſſe, wenn e8 einen Fall ihrer 
Anwendung gebe, die aber gar Nichts von einem Wirflichen er- 
zählen, welches ftattfinde. Die meientlichen Wahrheiten der Re— 
ligion tragen alle einen entgegengefeßten Charakter; fie find Ver⸗ 
fiherungen der Wirflichleit, fei es eines Wejend oder eines 
Ereigniſſes oder einer Reihe von Ereigniffen, Berficherungen einer 
Wirklichkeit, deren Inhalt, nachdem er anerkannt tft, mittelbar 
allerdings wieder zur Duelle allgemeiner Gefege werben kann, 
für fih aber nicht Gefeß, ſondern Thatſache if. Vene all- 
gemeinen Wahrheiten nun, denen das willenfchaftliche Erkennen 
unbedingten Glauben jchenft, find im Grunde nur Die eigene 
in Form von Grundfägen ihres Berfahrend ausgedrückte Natur 
der erfennenden Vernunft felbft, und es ift begreiflih, daß Die 
Bernunft, ihrem eigenen Weſen zu entfliehen umfähig, bon Der 
Evidenz diefer fir fie unausmeichlichen Regeln ihres Denkens 
überwältigt wird. Mehr aber, als fein eigenes Weſen, kann 
dem Geifte nicht zu unmittelbarem Bewußtſein kommen; er kann 
nicht angeborene Offenbarungen von Thatfachen haben, die nicht 


552 


er jelbft find, wie groß und unvergleichlich auch Werth und Be 
deutung dieſer Thatfachen fein mögen. 

Nicht dieſer unmittelbaren Evidenz der letzten Grundſätze, 
fondern emem anderen Elemente, das zum Bau der Erkenntniß 
mitwirkt, würde der religiöfe Glaube zu vergleichen fein: ver 
Anfhauung,. durch welche jenen Grundfägen der Inhalt, den 
allgemeinen Gefegen die Fälle der Anwendung gegeben werben. 
Schon die Sinnlichkeit fchenkt uns den Inhalt ihrer Empfindum- 
gen völlig wie Offenbarungen, die nur angenommen werden Tönnen, 
wie fie find; weder die Wirklichfeit eines Yarbeneindrudes zu be 
weifen haben wir Grund Bedürfniß oder Mittel, noch gibt es 
für die Erkenntniß irgend eine denkbare Arbeit, Darauf gerichtet, 
zu zeigen, wie dieſe Farbe ausfehen müfle Sie ift, und ift wie 
fie ift, durch unmittelbare Offenbarung, der wir zuſehen. Was 
wir nun bier unter dem Einfluffe phyſiſcher Reize erfahren, das 
Gleiche können wir ımter unmittelbarer göttliher Einwirkung auf 
das Innere unferes Gemüthes erleben; der Glaube würde bie 
Anſchauung der überſinnlichen Thatfachen fein, welche diefe Ein⸗ 
wirhmg uns offenbart. Auch hierin liegt Wahrheit, und mehr 
als in jener erſten Vergleichung. Allein jeder finnlihe Eindruck 
it, für ſich betrachtet, nur eine Art unſeres Erregtſeins, unferes 
Befindens; er gibt für ſich keine Erkenntniß irgend eines That⸗ 
beftandes, bildet für fich allem feine Erfahrung. Es ift doch 
wieder nur unfer ‘Denen, welches der mannigfachen finnfichen 
Offenbarungen fich bemächtigend, fie vergleichend verknüpfend oder 
ihre gegebenen Verknüpfungen deutend, aus ihnen die Erkenntniß 
einer Thatſache zu Stande bringt. Die Einwirtungen Gottes 
auf das Gemüth könnten wir uns kaum anders, als nad) dem- 
jelben Vorbilde denlen; die Erfenntniß irgend einer Thatſache 
läßt ſich nicht als ein mittheilbareg Etwas denken, das an den 
Geift ohne Selbſtthätigkeit ſeinerſeits bereits fertig gelangte, nur 
die Beranlaffung Tann ihm gegeben merden, fie durch Aufbietung 
diefer Tätigkeit zu erzeugen, und nur darin beiteht jede Aneig- 
nung eier Wahrheit. Wie die Sinnlichkeit an ſich mm cinen 


553 


Eindrud- gewährt, jo würde auch dieſe göttliche Einwirkung nur 
ein Gefühl eine Stimmung eine Art des Ergriffenfeins erzeugen; 
zur Offenbarung würde Diefe8 Erlebniß nur durch eine Arbeit 
des Nachdenken, welche feinen Inhalt zu einem Zuſammenhange 
deutlicher und an unfere Vorftellungen von der wirklichen Welt 
anknüpfbarer Begriffe zergliederte. 

.. Nicht immer wird dies gefchehen künnen; vieles von diefem 
inneren Leben des gläubigen Gemüthes wird ſtets ſubjectives 
Erlebniß bleiben müffen, und keineswegs wird in dieſen unfag- 
baren Zuftänden nur das minder Werthvolle des Glaubens Tiegen; 
das Beite Schönfte und Fruchtbarite vielmehr, das wir erfahren 
fünnen, wird allggeit, den Formen der Erfenntniß überlegen, nur 
in Geftalt diefer lebendigen Erregungen in uns wirklich fein. Es 
kann unfere Aufgabe nicht fein, diefen Reichtum innerer Er- 
fahrungen auszudeuten; weder das, was in ihm die Erkenntniß 
überfteigt, noch das, was in ihm zu gering ift, um in fie ver- 
wandelt zu werden. Nur das kann unfere Aufmerkſamkeit feſſeln, 
was nicht nur der Eine in feinen Entzückungen unſagbar fieht, 
fondern was Jeder dem Anderen als mögliches Gemeingut mit- 
tbeilen und als Wahrheit oder überzeugende MWahrjcheinlichkeit 
duch Gründe, deren Kraft jede menfchliche Vernunft anzuerkennen 
hat, entweder beweifen oder durch Widerlegung drohender Ein- 
wirfe dem Glauben als eine mögliche Löſung uns bebrängender 
Räthſel beftätigen rn 


“ 


In Beweifen fir das Dafein Gottes fuchte einft die Ver— 
nımft den wefentlichen Theil diefer Aufgabe der Deutung umd 
Bertheidigung des Glaubensinhaltes zu löſen. Man würde un- 
billig Ddiefer Form des Verfahrens den Widerſpruch vorwerfen, 
daß fie das Höchfte, nach ihrer eigenen Vorausſetzung Unbedingte, 
gleichwohl als nothwendige und bedingte Folge von Wahrheiten 
_ aufzuzeigen verfuche, deren Gültigfeit, da fie als Beweisgründe 


554 


auftreten follen, früher und principteller fein müſſe, als die Wirk⸗ 
Iichleit des durch fie Bewieſenen. Obgleich nicht immer dieſer 
Fehler vermieden worden ift, ſo haben doch jene Beweife, wie alle 
rücläufigen von den Folgen zu den Grlinden ſtrebenden Unter⸗ 
fuchungen, nur den Sinn, unſere Erkenntniß des Principe 
aus der feiner gegebenen Confequenzen zu vermitteln, und eben 
in dieſer Abficht feßen fie die unbedingte Gilftigleit einer alle 
Welt verfnüpfenden Wahrheit voraus, die das der Sache nad) 
Erite auch aus dem Letzten der Wirklichkeit zu erratben geftatte. 
Die Ausflihrung des Unternehmens fcheint jedoch bewiefen zu 
haben, daß der menſchlichen Einficht nicht vollſtändig genug jene 
Data der Wirklichkeit gegeben find, deren fie bedürfte, um unter 
der Führung allgemeiner Grundfäge der Vernunft genau und 
vollftändig das Ziel zu erreichen, zu dem fie binftrebt, noch ab- 
gejehen von den zufälligen Berirrungen, die eine mangelhafte 
Kritit des eigenen Berlangens auf dem Wege zu ihm verſchuldet 
hat. Nur mit wenigen Rückblicken faffen wir jett diefe Gedan- 
fenfreife noch einmal in's Auge, in welche einzutreten unfere 
früheren Betrachtungen uns bereit8 binlängliche Gelegenheit ge- 
boten haben. 

Bon der Zufälligfeit und Bedingtheit aller Welt fchließt 
der Tosmologifche Beweis auf das Dafein eines nothiwendigen 
und unbedingten Weſens, und nur ein fchlechthin volllommenes 
Weſen fcheint ihm dies unbedingte fein zu können. Zufällig 
nennen wir das, was bei der Verwirklichung einer Abficht als 
unbeabfichtigter Nebenerfolg mit entfteht, meil die Mittel, die wir 
verwenden müſſen, außer den Eigenjchaften, durch die fie unferer 
Abficht dienen, ſtets noch andere unſerem Zwecke gleichgültige oder 
ſelbſt hinderliche befigen, Die aber, nachdem fie einmal da ſind, 
nicht abgehalten werden fünnen, auch ihrerfeitd fo viel zu wirken, 
als fie nach allgemeinen Gefegen wirken können. Uebertragen 
auf den Naturlauf, dadurch dag wir ihm einen abfichtlichen Plan 
ſeines Zufammenhanges unterlegen, bedeutet zufällig Alles, 
was nicht als Naturzweck, fondern nur als unvermeidliche Con- 





555 


fequenz der Mittel und Geſetze gilt, mit denen die Natır im 
jedem Augenblide verführt. Ohne Zwei und Ziel hat daher 
das Zufällige nur Gründe und Urfachen, durch die e8 im Zu—⸗ 
fammenhange der Wirklichkeit erzeugt wird; außerhalb dieſes Zu- 
fammenhanges aber Tann ein Sein und Gefcheben, für fi be 
trachtet, überhaupt weder zufällig noch nothwendig fein. Denn 
Das, was Dann noch der Name des Aufälligen beveuten foll, das 
Sein, welches auch nicht fein oder anders fein fünnte, als es ift, 
iſt nicht eine befondere und zwar unvollfommenere Art des Seins, 
der gegeniiber eine andere beffere denfbar wäre, fondern ſchlechthin 
alle Wirklichkeit ift in ihrer Vereinzelung betrachtet in dem Sinne 
zufällig, daß ihr Nichtfein oder ihr Andersfein denkmöglich bleibt. 
Nothwendig aber und nicht nichtfein könnend, ift nur das Be— 
bingte, das als Folge durch einen Grund, als Wirkung durch 
feine Urſachen, als Mittel durch feinen Zweck beftimmt wird; 
ganz unmöglich Dagegen der Begriff eines vereingelten, durch 
Nichts bedingten Weſens, dem gleichwohl nothmwendiges Dafein 
zukäme. Wenn dennoch von dem höchſten Grunde der Welt 
Zufälligkeit fo häufig abgewehrt, Nothwendigkeit fir ihn fo eifrig 
verlangt wird, jo gefchieht es, weil beide Ausdrücke mit Berluft 
ihrer theoretiſchen Bedeutung zu Bezeichnungen von Werthbeitim- 
mungen geworben find. Zufällig heißt dann, mas zwar ift, aber 
femen Sinn hat, um beswillen es fein follte; nothwendig das, 
was zwar nicht fein muß, aber jo unbedingt werthvoll ift, daß 
es durch Diefen feinen Werth auch unbedingte® Dafein zu ver- 
dienen fcheint. Nur in diefem Sinne kann man verlangen, daß 
das höchſte Princip der Welt ein nothwendiges ſei. Ein ganz 
mißverftändliches, Die Begriffe verwechſelndes Verlangen wiirde 
e3 dagegen fein, Gott nicht nur als wirklich feiend, fondern als 
fen müſſend darzuftellen. Alle religiöfen Bedürfniſſe würden 
vollftändig durch den Nachweis feiner Wirklichkeit befriedigt fein; 
feine Nothwendigleit bemeifen zu wollen, wiirde nicht nur eime 
völlig nußlofe Ueberfpannung unferer Torderungen fein, jondern 
in der That zu dem Wiberfpruche flihren, Gott von einem 





556 


Höheren. abhängig zu denken, welches den zwingenden Grund 
ſeines Daſeins enthielte. 

Zu ähnlichen Bemerkungen gibt der andere Theil des Tos- 
mologifchen Beweifes Anlaß. Volllommenheit ift nur dann ein 
unzweideutiges Prädicat, wenn fie die Uebereinftimmung zwiſchen 
der Natur eines Gegenftanded und einem Maßſtabe bezeichnet, 
der für dieſe Natur verpflichtend if. Nur der Mangel einer 
ſchuldigen Leiftung ift daher Unvollkommenheit, aber nicht das ift 
unvollkommen, an dem eine nur überhaupt denkbare Borziiglichkeit 
mt anzutreffen ft. Daß wir dennody auch in diefem Falle von 
- der Unvolllommenbeit Tprechen, rührt davon ber, daß auch der 
Name, des Bolllommenen feine theoretifche Bedeutung der Ueber- 
einftimmung mit emem Maßftabe verloren hat, und in die um- 
abhängige Bezeichnung des unmittelbar Löblichen und an ſich 
Werthvollen übergegangen if. Was nun den Berpflichtungen 
feiner eigenen Natur nicht genügt, von dem mag man vielleicht 
Grund Haben anzunehmen, daß e8 an der Erreichung feiner Be- 
fimmung durch fremde Gewalt abgehalten fei; aber die bloße 
Abweſenheit einer denkbaren Schönheit oder Vorzüglichkeit beweiſt 
nicht die Abhängigleit oder Bedingtheit des in diefem Sinne 
Unvolllommenen. Bielmehr kann unbedingtes Dafein dem Gleich- 
gültigen und Kleinen ebenfogut, al8 dem Bedeutungsvollen und 
Großen zulommen und iſt nicht ausfchließliches Vorrecht des Bor- 
züglichiten. 

Sp würde denn der kosmologiſche Beweis nur von der Be 
dingtheit und bedingten Nothwendigleit alles einzelnen Wirk 
lichen der Welt auf ein letztes Wirkliches jchliegen können, Das, 
ohne durch Anderes bedingt zu fein, ſchlechthin ift und ſchlechthin 
das ift, was es ift, und endlich fich zugleich als der zureichende 
Grund anfehen Täßt, duch den alle einzelne Wirklichkeit ift und 
das ift, was fie iſt. Und diefe Faſſung des Beweiſes macht mm 
deutlich, daß er aus eigener Kraft nicht zu dem religiöſen Be 
griffe Eines Gottes, fondern nur zu dem metaphyſiſchen eines 
Unbedingten gelangt. Nicht einmal die Einheit dieſes Unbedingten 





557 


wiirde er feitzuftellen binreichen. Es ift wohl möglich, daß in 
weiterer Entwicklung mit der Forderung irgendwelches Unbe⸗ 
Dingten auch die feiner Einheit zufammenbänge, aber diefen Zu— 
fammenbang bat der erwähnte Beweis nicht aufgededt, und 
fo widerlegt er die Armahme einer ıumbeftimmten Bielheit der 
Meltanfänge nicht, einer Vielheit unbebingter realer Weſen, in 
welcher anderſeits die Naturbetrachtung den Erflärungsgrund ver 
mannigfachen Erjcheinungen viel leichter als in der Einheit des 
höchften Princips zu finden hoffen wird. 

Bon der Zwedmäßigleit der Welt aus fucht der teleolo- 
giſche Beweis zu der Gewißheit der MWirklichfeit Gottes zu ge- 
langen. Um zu liberzeugen, würde er mehrere Forderungen ftreng 
zu erfüllen haben, von denen wir längft gejehen, daß er ihnen 
nur mit verfchtedenen Graden der Wahrſcheinlichkeit geniigen kann. 
Er würde zuerft zeigen müffen, daß in der Welt ein zweckmäßiger 
Zufammenhang ftattfindet, der aus abfichtslofen Zuſammenwirken 
von Kräften nicht entipringen Tann, fondern aus der Abficht 
einer Intelligenz entfprungen fein muß. Aber wir haben gefehen, 
dag auch der bewußten Abficht die Verwirklichung des Zweck⸗ 
mäßigen nur durch Mittel gelingt, aus deren Berknipfung das 
Gemwollte ald nothmwendiger Erfolg hervorgeht und daß felbft die 
Berfnüpfung der Mittel zu diefer Leiftung mm möglich tft, wenn 
die verfnüpfende Mbficht auf jedes derſelben gleichbebeutend mit 
einer blinden Kraft wirkt, welche nad) allgemeinen Geſetzen im 
Stande ift, baffelbe fo zu bewegen, wie es nöthig ift, damit e8 
in jene Berfnüpfung mit den librigen eintrete. Unwahrſcheinlich 
mag e8 daher in hohem Grade fein, aber möglich bleibt es ftets, 
daß ein abficht8lofer Naturlauf alle die Schritte von felbit gethan 
habe, die er umter der Leitung einer Abficht doch hätte thun 
müſſen, um das Zweckmäßige zu verwirklichen, und dieſe erfte ge— 
ftellte Forderung ift daher unerfüllbar. 

Nicht beffer gelingt und die Erfüllung ver zweiten, ber 
Nachweis, daß Zweckmäßigkeit nicht nur bie und Da zerftreut vor⸗ 
komme, fondern itbereinftimmend und ausnahmslos die ganze Welt 


558 


durchdringe, daß alfo nicht nur Thaten der Intelligenz überhaupt 
in ihr gefchehen, fondern die Einheit Einer höchſten Abficht Alles 
umfpanne. Wie wenig reicht unfere wirkliche Erfahrungskenntniß 
zu foldhem Nachweis zu! Wie Vieles erjcheint und ganz undeutbar, 
zwecklos, felbft den fonft vorausgeſetzten Zweden hinderlih! Die 
wenigen glänzenden Beilpiele einer auch uns theilweis wenigſtens 
erfennbaren Harmonie, die und das Reich der lebendigen Ge- 
ſchöpfe vorzugsweiſe darbietet, mögen wohl den fchon gewonnenen 
Glauben an Gott in der Ueberzeugung ftärken, daß auch in dem, 
was wir noch nicht verſtehen, die Einheit derjelben Weisheit 
zwedmäßig wirken möge; aber um jenen Glauben unanfechtbar 
erft zu geiwinnen, bietet die empiriſche Kenntniß der Zweckmäßig⸗ 
feit in der Welt nicht Die ausreichenden Mitte. Für fih allein 
würde fie viel leichter die polytheiftiiche Anfchauung einer Mehr- 
heit göüttlicher Weſen erzeugen, deren jedes ein bejonderes Gebiet 
der Natur mit feinem befonderen Genius beherriht und deren 
verſchiedenartiges Walten zwar zu einer gewiſſen allgemeinen Ber- 
träglichleit, aber nicht zu ausnahmsloſer Harmonie zufammen- 
ſtimmt. 
Nicht blos Mangelhaftigkeit des Erfahrungswiſſens, ſondern 
auch innere Schwierigkeiten hindern ferner die Erfüllung der 
dritten Forderung, zu zeigen, daß die ſchöpferiſche Weisheit in 
ber Durchführung ihrer Abfichten nirgends einen Widerftand er- 
führt und nirgends auch nur zur Erzeugung deſſen, was ihrer 
Abſicht gleichgültig ift, genöthigt wird; nur fo würde die Weisheit 
zugleih allmächtig fein. Aber nicht nur die Beboachtung zeigt 
und Vieles, was wenigſtens unfere befchräntte Erkenntniß nur 
als zufälligen Nebeneffect des Kampfes einer geſtaltenden Abſicht 
mit der unabhängigen und widerſtrebenden Natur eines zu ge 
ftaltenden Stoffes zu faſſen vermag; auch unfer allgemeines Nach— 
denfen weiß mit dem Begriffe einer Abſicht nicht in's Klare zu 
fommen, ohne ihr ein von ihr unabhängiges Material gegenüber 
zu denfen, in deſſen Bearbeitung fie ihre Verwirklichung findet; 
und fo führt alle Betrachtung der Zweckmäßigkeit und mm zu 








559 


dem Begriffe eines Weltordners ftatt zu dem eines Schöpfers, 
den wir fuchten. 

Wie wenig endlich die Erfüllung der vierten Forderung, der 
Nachweis des unbebingten Werthes und der SHeiligfeit der Ab- 
fichten gelingt, die wir nachweislich in der Welt verfolgt fehen, 
lehrt ein Blick auf die Entwidlung der Lehren, die ibn ver 
fuchen. Hat uns doch Häufig die Philoſophie als höchſte unbe 
dingt heilige Weltzwecke manches genannt, worin das lebendige 
Gefühl jeven Werth vermißte; bat doch der Glaube des Volles 
und die Dogmatit in den Uebeln der Welt und in der Folge— 
richtigfeit, mit der das Böſe fich entwidelt, Veranlaffung gefunden, 
die Herrichaft ver Welt zwilchen Gott und dem Teufel zu theilen, 
über den fcheinbaren Zwieſpalt fich mit der Ueberzeugung tröftend, 
daß es auch fir ihn eine menfchlicher Einſicht unzugängliche 
Löſung gebe. Aber was menſchlicher Einſicht nicht zugänglich iſt, 
kann wohl Gegenſtand des Glaubens, aber nicht Beweisgrund 
ſeiner Wahrheit ſein, und ſo entbehrt der teleologiſche Beweis 
jeder zwingenden Kraft, wie groß auch die nie zu verkennende 
Wirkſamkeit ſein mag, mit welcher er das Beſte unſerer Welt⸗ 
kenntniß zur Stärkung unſerer Ueberzeugung zuſammenfaßt. 

Vielleicht, wenn wir auf einmal weniger verlangen, erreichen 
wir im Ganzen mehr, und die Grundgedanken, welche dieſe Be— 
weiſe beleben, dürften einer anderen Verwerthung nicht unfähig 
fein. Den kosmologiſchen Beweis trieb fein Verlangen nach dem 
vollen Begriffe Gottes zu früh zu der Behauptung der höchiten 
Vollkommenheit des Unbedingten, noch ehe er deſſen Einheit 
fichergeftellt hatte. Und dies hätte er thun können, wenn er ein- 
gehender itberlegt hätte, was der Gedanke des Bebingtjeind der 
Dinge, der Gedanfe eines Weltlaufs iiberhaupt, in ſich fchließt. 
Nicht die Zweckmäßigkeit der Welt, denn fie unterliegt zweifel⸗ 
hafter Schäßung, fondern die Thatfache, daß überhaupt ein Welt- 
lauf vorliegt, in welchem Ereigniſſe ſich nad) Geſetzen verfetten, 
hätte ihn auf die nothwendige Einheit des fubftantiellen Welt⸗ 
grumdes fiihren müſſen. Aber diefe Ueberlegung, die mir jchon 


560 


früher gepflogen, und der wir den Anfang diejer lebten Unter⸗ 
fuhungen von Neuem gewidmet haben, wiederholen wir nicht noch 
einmal. Wir glaubten die Unmöglichkeit jeder pluraliftiichen Welt⸗ 
anficht gefunden zu haben, welche eine Bielheit von einander un⸗ 
abhängiger realer urjprüngliher Weſen vorausfegt und dann 
doch glaubt, aus ihren Wechſelwirkungen nad, allgemeinen Gejeßen 
einen Weltlauf erzeugen zu können. Hätte fie fih in den Ab— 
grund der Betrachtumg vertieft, mad es doch fagen wolle, daß 
von Bielen Eine Wahrheit gelte, und daß es für die Bielen, 
deren jedes Anfangs in emer Welt fir fich beitand, gleichwohl 
die Möglichkeit eine Zufammen gebe, in welchem fie zur Wech— 
ſelwirkung gelangen, fo wiirde fie gefunden haben, daß beides 
undenkbar ift ohne die urfprlingliche Weſenseinheit alles Wirk⸗ 
lichen, deren Thätigleit, nachdem fie wirkt und inden fie wirft, 
als gejeglich durch eine allgemeine Wahrheit gebundenes und durch 
Beziehungen zwifchen den einzelnen Elementen berbeigeflihrtes 
Wirken ericheinen Tann. Nachdem diefe Einheit des Unbebingten 
und alles Endlihe Bedingenden feftitand, konnte man fuchen, 
jenen Begriff durch die inhaltunlleren Prädicate zu beftimmen, 
die ihn, den Begriff eimer unendlichen Subftanz, zu Dem des 
einen lebendigen Gottes verflärten. 

Was Hierzu der teleologifche Beweis beizutragen verfuchte, 
ſcheint mir nachdrucksvoller in ber verachteten Form des onto- 
logiſchen ausgejprochen. Die ſchulmäßige Faſſung freilich, Die 
ihm zu Theil geworden ift, Iäßt wenig davon erfennen. Daß 
der Begriff des allervollkommenſten Weſens auch Wirklichkeit als 
eine feiner Bolllommenheiten einjchließe, daß mithin das voll 
fommenfte Wefen nothwendig fei, ift ein fo deutlicher Fehlſchluß 
daß nach Kant's einfchneidender Widerlegung jeder Verfuch der 
Bertheidigung nutzlos fein würde Anſelm hatte in freierer Form 
der Reflerion den Gedanten Hin und milder bewegt, daß das 
Größte, was wir denken können, wenn wir e8 nur als gedacht 
benfen, Kleiner fer, als dasſelbe Größte, wenn wir e8 als feiend 
benfen. Einen logiſch triftigen Bewei wird auch aus dieſer 





561 


Ueberlegung Niemand entwideln können, aber ihre Faſſungsweiſe 
foheint einen anderen Hauptgedanfen zu verrathen, der feinen Aus- 
druck ſucht. Denn was wäre ed nun, wenn im der That das 
gedachte Vollkommenſte als Gedachtes geringer wäre als irgend 
eine Wirklichkeit? Warum wiirde dieſer Gedanke beunruhigen? 
Darum offenbar, weil es eine unmittelbare Gewißheit iſt, daß 
das Größte das Schönſte und Werthvollſte nicht bloßer Gedanke, 
ſondern Wirklichkeit ſein muß, weil es unerträglich an ſich ſein 
würde, von dem Ideal zu glauben, daß es eine Vorſtellung ſei, 
die das Denen wohl in feiner Arbeit erzeugt, die aber in der 
Mirklichleit kein Dafein keine Macht und keine Gilltigfeit habe. 
Nicht aus der Bolllommenheit des Bolllommenen wird als Logifche 
Sonfequenz zunächft feine Wirklichkeit gefolgert, ‚fondern ohne Um- 
ſchweif einer Folgerung wird unmittelbar die Unmöglichkeit feines 
Nichtfeind empfunden und aller Schein fullogiftiicher Begründung 
dient mur dazu, die Unmittelbarkeit diefer Gewißheit deutlicher zu 
machen. Wäre das Größte nicht, fo wäre das Größte nicht, 
und es ift ja unmöglich, daß das Größte won allem Denkbaren 
nicht wäre. 

Man Tann noch viele andere Verſuche machen, die innere 
Nothwendigleit dieſer Ueberzeugung als eine logiſch erweisliche 
darzuſtellen; fie werben alle mißlingen. Wir konnen nicht den⸗ 
fend beweifen, fondern nur erleben, daß irgend ein Schönes ſchön 
fei, oder daß eine Geſinnung die Billigung des Gewiſſens finde, 
jene leichtverftändlichen Fälle ausgenommen, in denen wir em 
Zufammengefegtes Abgeleitetes oder noch Unklares durch eine 
furze logiſche Arbeit der Zergliederung einem Allgemeinen unter- 
ordnen, an welches früher ein unmittelbares Gefühl jene Beſtim— 
mungen des Werthes bereits geknüpft hatte Und ebenſowenig 
können wir nun aus irgend einer allgemeinen Wahrheit das Recht 
bemeifen, mit dem wir dem Werthvollen jenen Anfprud auf 
Wirklichleit beilegen; auch die Gewißheit dieſes Anfpruches ge⸗ 
hört vielmehr zu den inneren Erlebniffen, auf welche, als auf‘ 
den gegebenen Gegenftand ihrer Arbeit, Die mn er 

Loße, TIL. 3. Aufl. 





562 


begrenzende Xhätigleit unſeres Erfennens ſich nachher bezieht. 
Als ſolche unmittelbare Gewißheit liegt dieſe Ueberzeugung dem 
ontologifchen Beweife zu Grunde; . fie ift e8 auch, die ben teleo- 
Iogifchen weit über bie Folgerungen binausführt, welche feine un« 
zugänglichen Borausfegungen an fich geſtatten würden. Demn 
nachdem einmal die Herrjchaft zwedimäßig wirkender bedeutungs- 
voller fittlicher Mächte auch nur in einem Heinen Theile der 
Welt erfahrungsmäßig beftätigt ift, beruht bie ftillichweigende Er⸗ 
weiterung diefer Erfahrung zu der Behauptung einer alle Welt 
ausnahmslos durchdringenden Weisheit Schönheit Glite und 
Vollkommenheit in diefem alle nicht blos auf dem gewöhnlichen 
logifchen Fehler einer VBerallgemeinerung der im Beſonderen als 
gültig eriwiefenen Wahrheit, fondern wird unterftügt durch das 
lebendige Gefühl, daß gerade diefem Bolllommenften und Größten 
gebührt, volllommen und allumfaffend wirklich zu fein. 

So lebhaft indeſſen diefe Ueberzeugung und fo genligend 
uns ihre Gewißheit fein mag, fo theilt fie doch mit den andern 
innern Erlebniffen des Glaubens die formale Unbeftimmtheit ihres 
Inhalts. Denn welches die Wirklichleit fei, die das Höchſte und 
Werthvollſte befigen müfle, dariiber läßt fie uns in Zweifel; nur 
dies Eine glaubt fie zu willen, daß es Eins fein müſſe mit dem 
Unendlichen, welches die theoretiſche Weltbetrachtung als das 
wahrhaft Wirkliche anzuerkermen ſich genöthigt ſah. ‘Die Gründe, 
welche diefen Verſuch der Berfchmelzung des Seienden mit dem 
Merthuollen zu dem Begriffe des lebendigen Gottes vechtfertigen, 
gehören indefien zu den Mittelgliedern des. Gedankenganges, die 
unfere Betrachtung, billig überfpringen darf, umfomehr, als die 
folgende Weberlegung. ver Exrlebniffe, zu denen der Verſuch geführt 
hat, unſere Meinung über ihr. Recht und Unrecht ohnehin ein- 
ſchließen wird.. 


563 


Zwei unterfchiedene Reihen von Eigenfchaften, durch welche 
man das Weſen Gottes zu erfaflen ftrebt, erinnern an die beiden 
Antriebe, aus denen fein Begriff und der Glaube an ihn ent- 
ſtand. Metaphyſiſche Kigenfchaften der Einheit Ewigkeit All 
gegenwart und Allmacht beſtimmen ihn als den Grund aller 
Wirklichkeit des Endlichen, ethiſche der Weisheit Gerechtigkeit und 
Heiligkeit genügen dem Verlangen, in dem höchſten Wirklichen 
auch das Höchſte des Werthes wiederzufinden. Wir haben feinen 
Grund, vollftändig diefe Attribute zu erwähnen oder Streitfragen 
zu berühren, die itber ihre gegenfeitige Abgrenzung ſchweben; von 
entſcheidendem Werthe tft fir uns nur dies, eme Weberzeugung 
über die Form der Eriftenz zu erlangen, die diefem Inbegriff 
alles Bollfommenen feine beftimmte Faflung und damit freilich 
vielen jener Eigenfchaften ihre befondere Bedeutung zu geben bat. 
Es wäre leicht möglich, wenn diefe zum Ende ftrebende Betrach⸗ 
tung noch einmal ſich in die Langſamkeit ſyſtematiſcher Vollſtän⸗ 
digkeit ausbreiten dürfte, aus den vorangegangenen Unterfuchungen 
über die Natur des Seienden die Antwort ftetig zu entwideln, 
welche wir auf diefe legte Frage nach der Natur jenes Unend⸗ 
lichen, da8 wir dort gefunden, würden zu geben haben. Aber 
eben weil e8 leicht iſt, diefen Uebergang in der Stille zu er- 
gänzen, wollen wie den Sielpunft, zu dem er fiihren würde, ben 
Begriff des perfünlichen Gottes, als erreicht anfehen und ihn 
gegen die Bedenken, welche feine Möglichkeit bezweifeln, als den 
einzigen folgerichtigen Abſchluß, der unferen Betrachtungen ges 
geben werden Tann, zu vertheidigen ſuchen. 

Der Sehnfucht des Gemüthes, das Höchfte, mas ihm zu 
ahnen geftattet ift, als Wirklichkeit zu faflen, kann feine andere 
Geftalt feines Dafeins, als die der Perfünlichkeit geniigen oder 
nur in Frage kommen. So fehr ift fie davon überzeugt, Daß 
lebendige fich felbft befigende und genießende Ichheit die umab- 
weißliche Vorbedingung und die einzige mögliche Heimat alles 
Guten und aller Güter ift, fo fehr von ftiller Geringſchätzung 
gegen alles anſcheinend lebloſe Dafein erfüllt, daß wir ſtets die 

36* 


564 


beginnende Religion in ihren mythenbildenden Anfängen beichäf- 
tigt finden, die natürliche Wirklichkeit zur geifligen zu verflären; 
me hat fie Dagegen ein Bedürfniß empfunden, geiftige Lebendig⸗ 
fett auf blinde Realität als fefteren Grund zurüdzudeuten. Bon 
diefem richtigen Wege lenkte erjt die fortfchreitende Ausbilvung 
des Nachventens eine Zeit lang ab. Mit der zunehmenden Welt⸗ 
lenntniß wuchfen deutlicher Die Forderungen hervor, die man an 
den Begriff Gottes ftellen mußte, wenn er alles Größte und 
Werthvollſte nicht mr in fich enthalten, ſondern fo enthalten follte, 
daß er zugleich als ſchöpferiſcher und geftaltenver Grund aller 
Wirklichkeit exfchten; mit der verfeinerten Beobachtung des geifti- 
gen Lebens anderſeits wurden die Bedingungen deutlich, an 
welche in uns endlichen Wejen die Entwidelung der Perſönlich⸗ 
feit geknüpft ift; beide Gedankenreihen fchienen ſich dahin zu ver- 
einigen, daß mit dem Begriffe des höchſten Seienden die Form 
bes geifligen Lebens ober mit dem des unendlichen Geiſtes die 
der perfönlichen Eriftenz unverträglih fe. Nun Inmen die Ber- 
fuhe auf, im Borfiellungen einer ewigen Weltorbnung, einer 
unenblichen Subftanz, einer ſich entwidelnden bee geniigendere 
_ Arten der Eriftenz für das Höchſte zu fuchen und die Form des 
perfünlichen Seins gering zu ſchätzen, die dem umbefangenen Ge- 
mäüthe früher als die einzig würdige gegolten hatte Aus den 
unendlich mannigfachen Schattirungen, welche dieſe Anfichten er- 
fahren haben, begnügen wir uns, Die drei erwähnten zu kurzer 
Berbeutlichung der Gründe ihrer Unhaltbarkeit hervorzuheben. 

Wie edle Beweggründe und welch fittlidyer Ernſt dazu füh- 
ren kann, im Gegenſatz zu roher Vermenſchlichung des göttlichen 
Weſens feinen Begriff in den einer moraliichen Weltordumg auf- 
zulöfen, ift dieſer Zeit noch in frifcher Erinnermg. Dennoch 
batte Fichte nicht Recht, wenn er mit begeifterten Worten dem 
gewöhnlichen, engherzig entworfenen Bilde des perfünlichen Gottes 
die Erhabenheit feiner eigenen Auffaſſung gegenüberftellte; er 
glaubte das Erhabenfte in ihr zu befigen, weil er es fuchte; er 
wiirde e8 als unerreichbar auf diefem Wege erkannt haben, wenn 





565 


er ſchon damals ihn bis zu Ende gegangen wäre. Die Frage, 
wie denn Doc eme Weltordnung als höchſtes Princip denkbar 
fei, kann nicht durch Berufung darauf abgelehnt werden, daß 
nicht von dem Princip felbft eine Gefchichte feiner Entftehung zu 
verlangen fei; wer der Perfünlichkeit als einer unmöglichen eine 
andere Faſſung der Gottheit worzieht, wird wenigftens die Wider⸗ 
ſpruchsloſigkeit der feinigen zu ermweifen haben; denn e8 kann nicht 
fördern, eine Unmöglichkeit durch eine andere Annahme von un= 
bewiejener Möglichleit zu erjegen. Nun liegt freilich der zu= 
reichende Grund, der immer verbieten wird, an die Stelle Gottes 
eine Weltordnung zu fegen, in dee That im dem einfachen Ge⸗ 
danken, daß feine Ordnung von dem Geordneten, das in ihr 
fteht, abtrennbar fein, noch weniger al8 eine bedingende oder er⸗ 
fchaffende. Kraft ihm vorangehen Tann; fie bleibt ftet8 ein Ver- 
hältniß beflen, mas tft, nachdem es iſt, oder indem es iſt. Sit 
fie daher Nichts als Ordnung, wie ihr Name fagt, fo ift fie 
niemal® das Ordnende, das wir fuchen und das der gewöhn- 
liche Gottesbegriff, wie unzureichend auch fonft, darin wenigftens 
richtig beftimmte, daß er in ihm ein reales Weſen, nicht ein Ver⸗ 
hältniß ſah. 

Aber in Betrachtungen über dieſe höchſten Dinge, die uns 
die Mangelhaftigkeit menſchlicher Sprache oft genug fühlbar ma— 
chen, bedeuten Namen ſelten genau das, was ſie ſagen, meiſt 
mehr oder weniger; nur trifft es ſich am häufigſten, daß das— 
jenige, was wir hinzudenken oder weglaſſen jollen, ohne Wider- 
ſpruch mit dem beibehaltenen Reſte ihrer Bedeutung nicht ver- 
. einigt oder von ihm abgezogen werden kann. Aus diefem Grunde 
werden alle die vielfältigen Anfichten, die wir bier zufammen- 
faflen, unfere Auslegung ihres Sates, Gott fei die Weltorbnung, 
als Mißverſtändniß anklagen. Denn zuerſt: in jene Stellung 
der Welt gegenüber, die der gewöhnlichen Meinung der außer- 
weltliche Gott einnimmt, folle die Weltordnung nicht treten; 
diefe Stelle müffe leer bleiben, denn fie fer ein unmöglicher Drt, 
den Nichts einnehmen könne. Dann aber: Ordnung nur als 


566 


ein durch einen Ordnenden geftiftetes Berhältnig zu kennen, 
verratfe nur die Unfähigkeit zum Berftändniffe der wahren 
Wirklichkeit, Die durch und durch, ohne Rüditand einer todten 
Subftanz, Lebendigkeit Geſchehen und Werden fei, nicht ein 
unbeftimmtes freilich, fondern ſich felbft in wandelloſer Folgerichtig- 
feit zu dem Zuſammenhange Eines Sinnes beitimmendes. Aber 
dennoch: werden dieſe enthufiaftifchen Borftellungen, wenn wir 
deutlicher zergliedern, was fie denken müſſen, um das zu denfen, 
was fie meinen, nicht Doch wieder zu dem zurüdtehren müſſen, 
was fie fliehen? Wir waren frliher veranlaßt, zu erörtern, wie wenig 
es möglich fei, durch den Begriff eines Naturgefeges bloßer Er- 
jcheinungen die Annahme emer Wechſelwirkung der Dinge zu 
vermeiden, oder ihre ſcheinbaren Wirkungen zu erflären: wäre es 
auch Har geweſen, was es heißen wolle, daß ein Geſetz gebiete, 
fo war doch ımbegreiflich, wie Dinge oder Erſcheinungen dazu 
fommen, ihm zu gehorchen; nur eine wejenhafte Einheit alles 
Seienden Tonnte machen, daß Zuftände des Einen wirkſame Be 
dingungen für Berlinderungen des Andern wurden. Die allge 
meine Weltordnung, die hier mit dem Anfpruche, auch die fitt- 
liche Welt mit zu beherrfchen, an die Stelle jenes Geſetzes tritt, 
unterliegt der gleichen Beurtheilung. Auch uns ift e8 nicht zimei- 
felhaft, „ſondern das Gewiſſeſte, ja der Grund aller andern Ge 
wißheit, daß es diefe moraliihe Weltordnung gibt, daß jedem 
vernünftigen Individuum feine beftimmte Stelle angewiefen und 
auf feine Arbeit gerechnet ift, daß jedes feiner Schickſale Kefultat 
it von dieſem Plane, daß ohne ihn Fein Haar fällt von feinem 
Haupte und in feiner Wirkungsiphäre fein Sperling vom Dache, 
daß jede gute Handlung gelingt, jede böfe ficher mißfingt, und 
daß denen, die nur das Gute recht Lieben, alle Dinge zum Beſten 
dienen müffen.” (Fichte, S. W. V. 188.) Wber wie ann doch 
Dies alles gedacht werden? oder richtiger: was denken wir, in- 
dem wir es denken? Könnte jene Weltordumg jemals eine 
Vielheit zur Einheit irgend eines beftimmten Verhältniſſes zu— 
fammenfaffen oder in diefer Einheit erhalten, wenn fie nid, 





567 


gegenwärtig in jedem Einzelnen der Bielen, zugleich reizbar wäre 
für jeden Thatbeftand, der in allen übrigen Einzelnen ftattftndet, 
und zugleich fähig, die gegenfeitigen Verhältniſſe Aller in die 
beabfichtigte Yorm durch eine Verrückung ihrer Lagen zu brin- 
‚gen, welche ihrer Abweichung von diefem Ziele angemeffen it? 
Dies ift nicht eine Mügelnde Conftruction, Durch welche wir zu 
eigen verſuchten, wie jene Ordnung gemacht wird, fondern es ift 
die Zergliederung deſſen, was wir denken müſſen, um das zu 
denken, was ihr zugelchrieben wird. Und nun nadı Allem, was 
wir hierüber ausführlich erörtert haben, wüßten wir nicht zu 
jagen, wodurch eigentlich dieſer Begriff einer Ordnung, die bon 
den Thatfachen leidet und ihrem Leiden ımd ihrer Natur gemäß 
zur Henderung der Thatfacdhen zurückwirkt, ſich noch von dem 
wahren Begriffe eines Weſens unterjcheiden fünnte- Sie dennoch 
nur Ordnung zu nennen, ift das Mißverſtändniß einer Op- 
pofition, welche die irrigen Auffafjungen des Weſens fcheute und 
die richtigere, welche fie ſelbſt bejaß, nun hartnädig an einen 
Begriff zu knüpfen fuchte, mit deſſen übrigem Sinne fie gänzlich 
unvereinbar iſt. 

Geht num formell der Begriff einer thätigen Ordnung tiber- 
haupt unmufhaltfam in den des orbnenden Weſens zurüd, jo führt 
der Begriff einer moralifchen Ordnung weiter. St. e8 möglich, 
ein Weſen zu denken, das mit abfichtslofer blind wirkender Thä- 
tigfeit dem MWeltlaufe, gereizt durch den Thatbeſtand, deſſen Ein- 
wirkung e8 erfährt, in jedem Augenblicke die werbeflernden An- 
triebe mittheilte, durch welche jene durchgängige Herrichaft des 
Guten fichergeftellt wiirde? ein Wejen, welches nicht mit Be 
mwußtfein Jedem feine Stelle anweiſen oder auf feine Arbeit rech⸗ 
nen, oder das Gute der guten Handlung von dem Schlechten der 
fchlechten unterfcheiden, nicht mit eigener Tebendiger Liebe das Gute 
wollen und verwirklichen könnte, aber gleichwohl fo verführe, als 
ob es Dies alles vermöchte? Der Theorie tt es micht erlaubt 
die Beantwortung diefer Frage abzulehnen, dem die nothwendi⸗ 
gen Beziehungspuntte muß jede Anficht mitdenken, ohne welche ihre 


568 


eigene Meinung unbvollftändig bleibt; wer fie aber dadurch zu 
beantworten fuchte, daß er einen bewußtlofen blinden unperjön- 
lichen Mechanismus erfänne, deſſen bewegende Triebfeder gleich 
wohl das Gute fei, wiirde tief in jene undurchführbaren Klüge⸗ 
leien fich verftridlen, zu denen der große Geiſt, deſſen Irrthum 
wir bier beffagen, die Ueberzeugung von der Perjünlichkeit, als 
der einzigen denkbaren Form des höchſten Weltgrundes, glaubte 
rechnen zu müflen. Ob dem Leben die Beantwortung jener Trage 
gleich nothwendig fei, kann zweifelhaft erjcheinen; ich glaube es. 
Zur Richtſchnur unferd Handelns und zum Troſt über feine 
ſcheinbare Erfolglofigfeit mag die Ueberzeugung von der Geltung 
jener Weltordnunng binreichen; aber das Höchſte in der Geftalt 
des perfünlichen Gottes zu faffen, dazu wurde Das religiöfe Ge 
müth aud durch Beblirfniffe der Demuth und durch Die Sehn- 
ſucht geführt, verehren umd lieben zu können, Beweggründe, denen 
jene Religion der ſtrengen Pflichterfüllung zu wenig Gehör ge 
ſchenkt hat. 

Auch nicht Die geringe Ausführlichkeit, mit welcher wir Diefer 
Anſichten bier gedenken konnten, ſteht uns fiir die librigen zu 
Gebot, die wir oben erwähnten. Wit ber pantheiftiichen Ber- 
ehrung der ımendlichen Subftanz verbindet uns nur ſcheinbar das 
gemeinfame Zugeſtändniß der fubftantiellen Einheit des Welt- 
grundes; die Begriffe, die wir uns über die Bedeutung des Rea⸗ 
len gebildet haben, entfernen uns übrigens zu weit von den Ge 
dankenkreiſen des Pantheismus, als daß eine turze Berftändigung 
über unfer Verhältniß zu ihm noch möglich wäre. Ihm gilt als 
Sein, was uns nur ala Erſcheinung denkbar ift: die räumliche 
Welt mit ihrer Ausdehnung ihren Geftalten ihren unabläffigen 
Bewegungen; ihm ift e8 denkbar, daß eine unerſchöpfliche Lebens⸗ 
Eraft des Unbedingten und Einen fi) in dieſen Gebilden und 
ihren Veränderungen Luft made, als leifte fie dadurch Etwas; 
ung war ‚alles Died nur Schatten eines wahren und überſinn⸗ 
a Seins und Geſchehens; ihm konnte es daher möglich biln- 

‚ bie.geiftige Welt als eine vereinzelte Blüthe an dem ſtarken 


569 


Stamme materieller blindwirkender Realität zu fallen, uns war 
es undenkbar geworden, Geift aus dem entftehen zu laflen, was 
nicht Geiſt ift, unabweisbar dagegen, alles beiwußtlofe Dafein und 
Geſchehen als einen Schein anzufehen, deffen Form und Inhalt 
aus der Natur des geiftigen Lebens entſpringt. Metaphyſiſch 
wilrben wir nur demjenigen Pantheismus als einer möglichen 
Auffaffung der Welt beiftimmen können, der jeder Neigung ent- 
fagte, das unendliche Reale in einer andern Form als der des 
©eiftigen zu begreifen; religids aber theilen wir bie Stimmung 
nit, welche die phantheiſtiſche Phantafie zu heherrichen pflegt: 
die Niederdrückung alles Endlihen gegen das Unendliche, Die 
Neigung, Alles was Werth für das lebendige Gemüth hat, nım 
als vergänglich nichtig und Hinfällig zu betrachten gegeniiber ber 
Majeſtät des Einen, auf deffen formale Eigenfchaften der Größe 
Einheit Ewigkeit und Unerfchöpflichleit fie alle Verehrung con- 
centrirt. Doch dies ſowohl, ald der Grund, welcher uns abhält, 
das Höchfte der Welt in der unendlichen ihrer ſelbſt bewußten 
dee zu feben, findet fpäter eine Stelle, ſoweit e8 möglich ift, 
Gegenftände fo endloſen Streites im Borlibergehen zu berühren. 


Ich fer nicht denkbar ‚außerhalb des Gegenſatzes zu einem 
Nicht⸗Ich; deshalb könne perfünliches Daſein von Gott nicht be 
bauptet werden, ohne auch ihn in die ihm miderftreitenden Schran⸗ 
fen der Bedingtheit durch Anderes herabzuziehen. Auf biefen 
Gedanken kommen die Einwiürfe zurück, welche von Seiten der 
theoretifchen Erkenntniß gegen die Perfünlichleit Gottes gemacht 
werden; um ihr Gewicht zu beurtheilen, werden wir den jchein- 
bar Haren Inhalt des Satzes, den fie zum Ausgangspunfte neh⸗ 
men, zu prüfen haben. Denn unzweideutig ift er doch nicht; er kann 
behaupten wollen, was der Name des Sch bezeichne, fei der zer⸗ 
gliedernden Weberlegung nur durch Beziehung auf Nicht⸗Ich be 
greiflich; er kann ebenſo meinen, es ſei nicht denkbar, Daß dieſer 





570 


Inhalt des Sch erlebt werde, ohne daß mit ihm zugleich jemer 
entgegengefeßte erlebt werde; er kann endlich Dafein und wirkt 
famen Einfluß eines Nicht- Ich als die umerläßliche VBorbedingung 
der Ichheit für dasjenige Weſen bezeichnen, auf welches dieſer 
Einfluß wirte. 

Die Beziehungen, welche unfer Vorftellen zur Verdeutlichung 
feine Gegenftandes bedarf, entjcheiden im Allgemeinen nicht fiber 
deſſen Natur; fie find nicht ebenfo Bedingungen der Möglichkeit 
der Sache, wie fie fiir uns Bedingungen der Möglichkeit ihrer 
Borftellung find. Aber die befondere Natur des vorliegenden 
Falles fcheint herbeizuflihren, was der allgemeine Fall nicht ein- 
ichließt: denn eben in einer That des Vorftellens befteht Die Ich- 
heit, und mas dem Borftellen nöthig ift, fie auszuführen, ift 
daher Hier zugleich Bedingung der Sache. Die beiden erfien 
Auslegungen, die wir jenem Satze gaben, fcheinen daher zu der 
gemeinfamen Behauptung zu verfchmelen, daß Ich nur im Ge 
genfate zu Nichte Ich etwas bedeute und nur in dieſem Gegen- 
fage erlebbar fi. Es wird zum Theil von der Feſtſetzung der 
MWortbedeutungen abhängen, ob wir biefer Behauptung beizu- 
pflichten finden. So viel fehen wir zuerft, daß Ich und Nicht 
Ich nicht zwei Begriffe fein können, deren jeder feinen ganzen 
Inhalt nur dem Gegenfage zum andern verbankte; fie würden 
beide auf Ddiefem Wege inhaltios bleiben, und es würde, falls 
feiner von ihnen, abgefehen won dem Gegenfabe, ſeinen feften 
Sinn für fich Hätte, nicht blos jeder Grund zur Entjcheibung, 
fondern ſelbſt jede Bedeutung der frage verloren gehen, welcher 
von beiden innerhalb des Gegenfaßes die Stelle des Ich, welcher 
die des Nicht-Ich einzunehmen habe. Nur dem Ich Bat der 
ſprachliche Ausdruck feinen eigenen unabhängigen Namen, dem 
-Nicht-Ich nur die verneinende Bezeichnung gegeben, Die das Ich 
ausfchliegt, ohne eimen eigenen Inhalt zu nennen. Jenes Weſen 
daher, dem es beſtimmt ift, innerhalb des entſtandenen Gegen- 
ſatzes Ich zu fein, trägt den Grund diefer Beftimmung‘ in feiner 
vor dem Gegenfate vorhandenen Nahır, obgleich, bevor der 


571 


Gegenſatz vorhanden tft, ihm auch dies Prädicat noch nicht zu⸗ 
fommt, das es in ihm gu erwerben hat. Soll dies nun bie 
Bedeutung des Namens bleiben, foll das Weſen nır Ich fein 
im Augenblide, da es fich ſelbſt vom Nicht= Sch unterfcheivet, fo 
haben wir Nichts gegen diefen Sprachgebrauch einzumenden, «aber 
wir ändern dann den unfrigen. Denn nicht unfere, fondern nur 
unfrer Gegner Meinung it es, Berjönlichkeit ausſchließlich da zu 
finden, wo das Selbſtbewußtſein fich ſelbſt als Ich dem Nicht Ich 
vorftellend erttgegenfeßt; uns genügt, um die Selbftbeit zu be= 
gründen, die wir zundichſt fuchen, eben jene Natur, durch die in 
bem entſtehenden Gegenfage das Wefen zum Ich wird, und fie 
genügt uns, noch ehe dieſe Entgegenfeßung geſchieht. Jedes Ge- 
fühl ver Luft oder Untuft, jede Art des Selbftgenuffes, enthält 
fiir und den Urgrund der Perſönlichkeit, jenes unmittelbare Für⸗ 
fichfein, das alle fpäteren Entwidlungen des Selbſtbewußtſeins 
wohl durch Gegenfäge und Vergleichungen dem Denken ver- 
beutlichen und in feinem Werthe durch diefe Verdeutlichung ftei- 
gern mögen, das ‚aber nicht fie erft durch dieſe Künſte erzeugen. 
Mag es immerhin fein, daß Sch zu fich nur der fagen könne, 
der fich ein Nicht-Ich gegenüber denkt, von dem er fich unter- 
fcheidet, fo muß doch, damit er in diefem Unterfcheiven ſelbſt ſich 
nicht vergreife und fich felbft mit dem Nicht-Ich vermechiele, 
diefes fein unterfcheidertves Denken von einer unmittelbar erlebten 
Gewißheit feiner felbft geleitet werden, von einem Fürſichſein, 
welches, früher tft, als die unterjcheidende Beziehung, durch die 
e3 dem Nicht-Ich gegenüber Ich wird. Zu demfelben Ergebnif 
hat uns früher (I, 270 ff.) auf leichterem Wege eine andere Be- 
trachtung geführt, auf welche zur Ergänzung und Berftändigung 
bier zurückzuverweiſen erlaubt fe. Ste zeigte und, Daß alles 
Selbftbemußtfein auf dem Grunde eines unmittelbaren Selbitge- 
fühl ruht, welches auf keine Weile aus dem Gewahrwerden eines 
Gegenſatzes gegen die Außenwelt entftehen kann, fondern feiner- 
ſeits die Urfache davon ift, daß dieſer Gegenſatz als ein beijpiel- 
Iofer, keinem andern Unterjchtede zweier Objecte von einander 


572 


vergleichbarer, empfunden werden lann. Das Selbſtbewußtſein 
ft nur die fpäter kommende Bemühung, mit den Mitteln ver 
Erkenntniß dieſe erlebte Thatfache zu zerglievern, von dem Ich, 
das in dieſer mit aller Lebendigkeit des Gefühls fich felbft er⸗ 
greift, ein Gedankenbild zu gewinnen und es auf Diefe Weiſe 
ünftlich fir die Betrachtung in die Reihe der Gegenftände zu 
verjeßen, in die e8 nicht gehört. Und fo würden wir denn zu 
den beiden erften Deutungen des Sabes, von dem wir Tprechen, 
unfere Stellung fo nehmen, daß wir zugäben, Ich fet denkbar 
nur in Beziehung auf Nichte sch, aber hinzufügten, es ſei vorher 
außer jeder ſolchen Beziehung erlebbar, und hierin eben Tiege 
die Möglichkeit, daß es ſpäter in jener Form denfbar werde, 
Aber nicht dieſe beiden Auslegungen, fondern die dritte ift 
dem Glauben an die Perfünlichkeit Gottes, den wir zu begrün- 
den fuchen, die hinderlichſte. In der einen Form freilich, in 
welcher fie zumeilen vorkommt, wiirde fie fir uns nicht Gegen- 
ftand erneuter Prüfung zu fein brauchen: dies dürfen wir viel- 
mehr als endlich für uns feftjtehend betrachten, daß einem Weſen, 
in deſſen Natur nicht als ein unableitbar Erſtes dies Fürſichtſein 
gegeben wäre, fein noch fo wunderbarer Mechanismus begünſti⸗ 
gender Bedingungen die Selbftheit verleihen würde. Mit völli- 
gem Schweigen können wir daher alle jene Verfuche übergehen, 
welche nach übelgewählten Analogien der Sinnenwelt zu zeigen 
denfen, wie eine urfprünglic nur nach außen gerichtete Thätig- 
feit des noch felbftlofen Weſens durch den Widerftand, den ihr 
die Welt des Nicht-Ich wie eine Fläche dem Lichtftrahl leifte, in 
ſich zurlidgelenft und dadurch in das fich felbft erfaſſende Licht 
des Selbſtbewußtſeins verwandelt werde. Alles ift willkürlich an 
ſolchen Borftellungen und fein Zug des gebrauchten Bildes gültig 
fir das eigentliche Verhalten, das es verbeutlichen foll; be 
deutungslofe Einbildung jene nad) außen gehende Thätigkeit, un- 
nachweislich der Widerftand, den fie finden ſoll, unbegründet bie 
Folgerung, daß fie durch ihn in ihren eigenen Weg zurückgelenkt 
werde, ganz ımbegreiflich, wie fie durch dieſe Neflerion ihre Natur 


573 


verwandeln und aus blinder Thätigleit zur Selbftheit des Fiir- 
fihfeins werden könnte. 

Bon diefen Thorheiten abgefehen, die mehr als billig den 
Gedankenkreis unjerer Philoſophie beherricht haben, finden mir 
eine achtbarere Form der Meinung, die wir beftreiten, mit dem 
Nachweis beichäftigt, daß jenes Fürſichſein dem Weſen freilich, 
deſſen Natur ed nicht wäre, durch feine äußere Bedingung an- 
erzeugt werden, aber auch in demjenigen, deſſen Natur zu ihm 
fähig wäre, niemals fich entwiceln könne ohne die Mitwirkung 
einer Außenwelt umd ibrer erziehenden Einflüffe Denn von 
Eindrücden der Außenwelt, die wir erwarten müſſen, ftammt ums 
nit nur aller Inhalt unjerer Vorftellungen, fondern auch Die 
Gelegenheit zu allen jenen Gefühlen, in denen noch ohne bewußte 
gegenfügliche Beziehung gegen ein Nicht-Ich Das Ich fir ſich 
fetend fich felbft genießen könnte Es iſt kein Gefühl denkbar, 
das nicht im eimer bejtimmten Form der Luft und Unluft eine 
beftimmte Lage des Wejens, eine befonvdere Phaſe feiner Thätig- 
fett und feines Leidens genöffe; aber weder Leiden tft möglich 
ohne einen fremden Eimdrud, der e8 hervorruft, noch Thätigkeit 
ohne einen fpannenden Punkt außerhalb, der ihr Ziel und Rich— 
tung gibt. Und wie im Einzelnen, fo im Ganzen. Im jedem, 
einzelnen Gefühle befitt das Fürſichſeiende fih nur zum Theil; 
ob es in Wahrheit und vollſtändig file fich fei, hängt von der 
Mannigfaltigleit der äußern Antriebe ab, die den ganzen Reich— 
thum feiner Natur allmählich anregen und zu Selbſtgenuß ver- 
werthen: fo it die Ausbildung aller Berjünlichkeit an das Da— 
jem und die Einwirfung einer Außenwelt und an die Mannig- 
faltigkeit und Reihenfolge dieſer Einwirkungen gebunden; fie 
würde auch für Gott nur umter gleichen Bedingungen mög- 
lich fein. 

Es reicht nicht hin, das Gewicht dieſes Einwurfs durch Die 
Behauptung abzuſchwächen, daß nur dem enplichen und veränder- 
lichen Weſen dieſe erziehende Anregung nöthig fei, nicht der Natur 
Gottes, die in ewiger Unveränderlichkeit als ſich felbft wiſſende 





574. 


Idee allen ihren Inhalt unabläffig in ungetbeilter Einheit zufammen- 
beige. Obwohl das Richtige ftreifend, wiirde diefe Behauptung 
doch im diefer Form unſere Borftellung von Gott auf ambere 
Weife jchädigen, denn fie würde fein Weſen einer ewigen Wahr- 
heit gleichfegen, einer folchen freilich, Die nicht nur gälte, ſondern 
fich felbft ihrer bewußt wäre. Wie weit jedoch dieſe Perſonifi— 
cation eine Gedankens von der lebendigen Perjönlichkeit entfernt 
fei, die wir fuchen, fühlen wir unmittelbar; nicht: nur die Kunft 
langweilt uns, wenn fie uns zumuthet, allegoriiche Statuen der 
Gerechtigkeit oder der Liebe zu beivundern, fondern auch Die 
Speceulation regt fofort unfern Widerfpruch auf, wenn fie etwa 
einen fich felbft wiſſenden Sag der Identität oder eine felbftbe- 
wußte Idee des Guten uns als den vollitändigen Ausdrud einer 
Perfönlichkeit anbietet. Es fehlt diefem Inhalte offenbar an 
einer wejentlichen Bedingung aller mahrhaften Realität: an ber 
Fähigleit zu leiden. Jede Idee, durch Die wir in unferem 
nachbildenden Erfennen die Natur eines Weſens zu erfchöpfen 
fuchen, bleibt immer nur die Angabe einer Denkformel, durch 
welche wir fir unfere Reflerion den inneren Zuſammenhang 
zwifchen ven lebendigen Thätigleiten des Realen firiren; das 
Wirkliche ſelbſt ift das, mas diefer Idee fich annimmt, den Wider 
ſpruch gegen fie als feine eigene Störung empfindet, ihre Ber 
wirklichung als fein eigenes Streben unternimmt und will. Nur 
diefer in Gedanken unauflösliche Kern, deflen Sinn und Bedeu⸗ 
tung wir eben nur in der unmittelbaren Selbfterfahrung unjeres 
geiftigen Daſeins erleben und ftetS mißverftehen, wenn wir ihn. 
irgendwoher zu confteuiren verjuchen, ift das lebendige Subject 
der Perfönlichleit, die deshalb nie einer unveränderlich gültigen 
Wahrheit, fondern nur dent veränderfich Leidenden und Zurück⸗ 
wirfenden eigen fein fann. Nur flüchtig deuten wir nebenher auf 
bie unüberwindlichen Schwierigkeiten hin, die dem Verſuche folcher 
Perjonification von Ideen entgegentreten wilrden, wenn .e& fich 
weiter Darum handelte, das Berhältni zu beftimmen, in welchem 
die jo perfonificirten zu dem veründerlichen Weltlaufe fländen; 





575 


es würde fich fofort zeigen, daß fie fo wenig, als die früher be 
ſprochene Weltordnung der Wiederergänzung zu einem leidenden 
und wirkenden Weſen würden entbehren künnen. 

Dennod) ijt die Webertragung der Bedingungen endlicher 
Perfünlichkeit auf die des Unendlichen nicht im Recht. Denn 
davor müffen wir und doch hüten, in der Fremdheit der Außen⸗ 
welt, darin, daß fie nicht Sch ift, die Duelle der Kraft zu 
fuchen, mit welcher fie die Entwidlung des Ich hervorlockt; nur 
dadurch ift fie wirffam, daß fie dem endlichen Geifte veranlaffende 
Anregungen zur Thätigkeit zuführt, welche dieſer aus feiner 
eigenen Natur nicht erzeugen kann. In dem Begriffe des env- 
lichen Weſens liegt es, feine beftimmte Stelle im Ganzen zu 
haben, das alfo nicht zu fein, was das Andere ift, und doc, 
zugleich als Glied des Ganzen in feiner ganzen Entwidlung auf 
dies Andere bezogen und zur Webereinftimmung mit ihm genöthigt 
zu fein. Die Formen feiner Thätigfeit quellen auch dem endlichen 
Weſen aus feinem eigenen mern, und weber der Inhalt 
feiner Sinnesempfindungen noch feine Gefühle noch die Eigen- 
thiimlichkeit irgend einer andern feiner Aeußerungen wird ihm 
bon außen gegeben; aber die Anreize feines Handelns treten 
ihm allerdings alle aus jener Außenwelt entgegen, zu der es 
durch die Endlichkeit feiner Natur in die Stellung des Theiles 
gebracht ift, welcher von dem beitimmenden Ganzen Ort Zeit 
und Art feiner Entwicklung vorgezeichnet erhalten muß. Bon 
dem unendlichen Weſen, das alles Enbliche in ſich befaßt und 
ibm der Grund feiner Natur und feiner Wirklichkeit ift, gilt 
nieht dieſelbe Betrachtung; e8 bedarf nicht, wie wir zuweilen mit 
fonderbarer Verſchiebung des richtigen Standpunkte meinen, eines 
äußeren Antriebes feines Lebens, fondern von Anfang an liegt 
in feinem Begriffe der Mangel nicht, der uns für das endliche 
Weſen jenen Antrieb nothwendig und die Wirkſamkeit deſſelben 
benfbar macht. Ohne alle Verpflichtung irgend einer Ueberein⸗ 
ftimmung mit dem, was. nicht Es felbft wäre, wird e& voll 
fommen felbfigeniigfam auch die Gründe für jeden Entwicklungs⸗ 


576 


ſchritt feines Lebens in feiner eigenen Natur befigen. Ein ſchwaches 
Gleichniß, und doch nicht ganz unweſentliches Gleichniß, Tondern 
zum Theil Beiſpiel der Sache felbit, bietet uns auch der ent- 
liche Geift in feinem rinnerungslaufe. Anfangs allerdings 
von äußeren Eindrücken angeregt, breitet ſich auch unſere Bor- 
ftellungsmwelt zu einem Strome aus, der ohne neue Anregungen 
der Außenwelt durch die fortiwogende Wechſelwirkung feiner eige 
nen Bewegungen ded Neuen genug erzeugt, und in Werken ber 
Phantafie in Erfindimgen der Ueberlegung in Kämpfen ber 
Leidenfchaft ein gutes Theil lebendiger Entwidlung, nämlich ebenfo 
viel zu Stande bringt, als der Natur des endlichen Weſens ohne 
beftändig erneuerte Drientirung durch Wechſelwirkung mit dem 
Ganzen zu Theil werden Tann, in dem es befaßt ift; mit dem 
Wegfall diefer Schranken der Enpfichkeit fällt daher leine erzeu⸗ 
gende Bedingung der Perfünlichkeit hinweg, die nicht in der 
GSelbftgenüigfamleit des Unenblichen ihren Erfab fände, fondern 
das, mas dem endlichen Geifte nur amähernd möglich it, die 
Beringtheit feines Lebens durch ihn felbft, findet fchrantenlos in 
Gott ftatt, und es bedarf Feines Gegenſatzes zu einer Außenwelt 
für ihn. 

Natürlich bleibt die Frage noch zurück, was nun in Gott 
dem erften Anftoße entjpreche, den der Borftellungslauf Des end- 
lichen Geiſtes von der Außenwelt empfange? Aber die Frage 
ſelbſt fchließt doch die Antwort -ein. Denn menn durch den von 
außen empfangenen Anſtoß das innere Leben bes Geiſtes den 
Anfang feiner Bewegung erhält, die es ſpäter durch eigene Kraft 
fortfegt, woher rührt dann die Bemegung der Außenwelt, durch 
bie fie jenen Anftoß zu geben fähig wiirde? Eine kurze Ueber: 
legung reicht hin, um uns zu überzeugen, daß unfere Weltanſicht, 
wie fie auch ausfallen möge, irgendwo und irgendwie bie ge 
ſchehende Bewegung felbft als urſprünglich gegebene Wirklichkeit 
anerfennen müſſe und nie fie aus Ruhe zu erzeugen vermöge. 
Und diefer Hinweis mag hier genligen, wo wir es vermeiden 
wollen, Dich Eingehen auf die Frage nach der Natur der Zeit 


577 


die vorhandenen Schwierigfeiten zu vermehren. Wenn wir’ das 
innere Leben des perjünlichen Gottes, den Strom feiner Ge- 
danken feiner Gefühle und feines Willens, als einen ewigen und 
anfangslofen nie in Ruhe gewefenen und aus feinem Stillftand 
zur. Bewegung angeregten bezeichnen, jo muthen wir der Einbil- 
dungsfraft feine andere und größere Leiſtung zu, als die, welche 
ihr von jeder matertaliftiichen oder pantheiftifchen Anficht angefonnen 
wird. Ohne eine ewige urfacdhlofe Bewegung der Weltfubftang 
oder ohne die Vorausſetzung bejtimmter ſchlechthin anzuerfennen- 
der Anfangöbewegungen der unzähligen Weltelemente kann weder 
diefe noch jene zu einer Erklärung des bejtehenden Weltlaufs 
gelangen, und alle Parteien werden ſich überzeugen müſſen, daß 
die Zerfplitterung der Wirklichkeit in ein ruhendes Sein und eine 
Bewegung, von der es Später ergriffen wird, zu jenen Fictionen 
gehört, die nur für die gewöhnlichen Unternehmungen unferer 
- Keflerion ihre Bortheile haben, aber ihre völlige Unzuläffigkeit 
verratben, jobald wir über den Wechfelzufammenbang der Welt- 
einzelheiten zu den erften Anfängen des Ganzen aufzufteigen 
verſuchen. | 

Die gewöhnlichen Bedenken gegen die Möglichkeit perfün- 
licher Eriftenz des Unendlichen haben und nicht in unferer Ueber- 
zeugung wanken gemacht. Aber indem wir fie zu widerlegen 
juchten, haben wir das Gefühl gehabt, ‚einen Standpunkt einzu- 
nehmen, den überhaupt nur die wunderlichſte Verkehrung aller 
natürlichen Berhältniffe hervorbringen konnte. Der Lauf der 
philofophifchen Gedankenentwicklung bat uns in die Lage gebracht, _ 
nachweiſen zu müffen, daß dem Unendlichen die Bedingungen der 
Perfönlichkeit nicht entgehen, die wir in dem Endlichen antreffen; 
der natürliche Zufammenhang der Sache müßte uns vielmehr zu 
dem Nachweis anregen, daß von der vollen Perjünlichkeit, Die 
mr dem Unendlichen möglich ift, ein ſchwacher Abglanz ud 
dem Enblichen gegeben fei; denn nicht erzeugende Bedingungen 
des Fürſichſeins fondern Hinderniffe feiner unbedingten Ent- 
wicklung find die Eigenthümlichkeiten des Endlichen, auf die wir 

Lotze, II. 3. Aufl. 37 





578 


‚mit Unrecht feine Befähigung zu perfünlichem Daſein zuriidzu- 
führen pflegen. Das endliche Weſen wirkt überall mit Kräften, 
die e8 fich nicht gegeben, und nach Geſetzen, die es nicht geftiftet 
hat, mit den Mitteln einer geiftigen Organiſation alfo, die nicht 
in ihm allein, fondern in unzähligen feines Gleichen verwirklicht 
“it. Daher fcheint es ihm in feiner GSelbfibetrachtung leicht 
fo, als läge in ihm felbjt eine dunkle unbelannte Subftanz, 
Etwas, mad im Ich doch nicht Ich felbft ift und woran, als an 
ihren Träger, die ganze perfönlihe Entwicklung geknüpft  ift. 
Daher jene nie ganz zu beſchwichtigenden ragen, mas denn Dod) 
wir felbft find, mas unſere Seele, was jenes dunkle, uns felbit 
unbegreiflihe, in unfen Gefühlen unſern Leidenſchaften ſich 
regende, nie in vollkommenes Selbftbewußtjein aufgehende Weſen 
unfer felbft. Daß diefe Fragen auftauchen Tünnen, beweiſt, wie 
wenig in uns Berfönlichkeit in dem Maße entwidelt ift, das ihr 
- Begriff zuläßt und verlangt. Sie Tann vollfommen nur fein in 
dem unendlichen Wejen, das beim Weberblid aller feiner Zu- 
ſtände oder Handlungen nirgends einen Inhalt feines Leidens 
oder ein Geſetz feines Wirlens findet, deſſen Sinn und Urfprung 
ihm nicht ganz durchfchaulich und aus feiner eigenen Natur er- 
flärlih wäre. Die Stellung des endlichen Geiſtes ferner, Die 
ihn als Glied des Ganzen an einen beitimmten Ort der Well- 
ordnung feflelt, bringt e8 mit fich, daß fein inneres Leben durch 
allmäblih von außen an ihn herantretende Reize geweckt void, 
und nach Geſetzen eines pſychiſchen Mechanismus verläuft, ver 
den einzelnen Borftellungen Gefühlen und Strebimgen einander 
zu drängen und zu berbrängen gebietet. Nie gibt es deshalb 
eine Zuſammenfaſſung des ganzen Selbſt in Einem Augenblid, 
niemals bietet und unfer Selbftbewußtjein ein vollendetes Ge 
fammtbild unſers Ich, weder feiner gleichzeitigen Natur, noch 
viel weniger der Einheit in feiner zeitlichen Entmwidlung. Immer 
er[heinen wir uns felbft von einem einfeitigen Gefichtöpuntte 
aus, auf den uns die eben verlaufenden Bewegungen unſers 
Innern geftellt haben, und der nur einen geringen Theil unſers 


579 


Weſens überſehen läßt; immer wirken wir auf an uns kommende 
Neize nach den einfeitigen Antrieben dieſes zufälligen partiellen 
Selbftbewußtfeins zurüd; nur in beſchränktem Maße können wir 
mit Recht fügen, daß wir handeln; meiſtens wird in uns ge= 
Handelt durch die einzelnen Vorſtellungsgruppen oder Gefühle, 
welchen der pſychiſche Mechanismus in jedem Augenblide das 
Uebergewicht gab. Noch weniger find wir zeitlich ganz für ung. 
Dem Gedächtniß verjchwindet Bieles, aber am meiften entgehen 
ihm nad) und nach die individuellen Stimmungen. Viele Ge 
danlenkreiſe, in denen ımfere Jugend heimifch war, können wir 
und im Alter nur noch wie fremde Erjcheinungen vergegenwär⸗ 
tigen; zu Gefühlen, in denen wir einft begeitert ſchwelgten, fin- 
den wir kaum noch einen Rückweg mehr, kaum einen Nachglanz, 
der und die Macht nachempfinden Tieße, die fie einft über ums 
ausübten; Beftrebungen, die einft den unveräußerlichiten. Kern 
unferd Ich zu bilden meinten, erjcheinen auf dem andern Wege, 
ben und das fpätere Leben führte, als undeutbare Berirrungen, zu 
denen die Antriebe uns längſt nicht mehr begreiflich find. In der 
That, wir haben wenig Grund, von der Perfönlichkeit envlicher 
Weſen zu fprechen; fie ift ein deal, Das, wie alles Ideale, nur 
dem Unendlichen eigen ift in feiner Unbedingtbeit, uns aber, wie 
alles Gute, nur bedingt und darum unvolllommen zu Theil wird. 


Der einfachere Inhalt dieſes Abſchnittes bedarf kaum der 
furzen wiederholenden Zufammenfajlung, Durch welche wir jebt 
jeme Ergebniffe den früheren amfchliegen. 

10. Selbſtheit, das Weſen aller Perjönlichkeit, beruht nicht 
auf einer gefchehenen oder gefchehenvden Entgegenfegung des 
Ich gegen ein Nicht-Ich, ſondern befteht im einem unmittelbaren 
Fürſichſein, welches umgelehrt den Grund der Möglichkeit jenes 
Gegenfages, da, wo er auftritt, bildet. Selbſtbewußtſein ift bie 
duch die Mittel der Erkenntniß zu Stande kommende Deutung 

37* | 


‚580 


diefes Fürſichſeins, und auch dieſe ift keineswegs nothwendig an 
- die Unterfcheivung des Ich von einem ——— ihm gegenüber⸗ 
ſtehenden Nicht⸗Ich gebunden. 

11. In der Natur des endlichen Geiſtes als ſolchen liegt 
der Grund, daß die Entwicklung ſeines perſönlichen Bewußt⸗ 
ſeins nur durch Einwirkungen des Weltganzen, welches er nicht 
iſt, alſo durch Anregung des Nicht-Ich geſchehen kann, nicht 
deshalb, weil ex des Gegenſatzes zu einem Fremden bedirrfte, 
um für fich zu fein, fondern weil er auch in diefer Rückſicht, 
wie in jeder andern, die Bedingungen feiner Eriftenz nicht. in 
fich felbft bat. Diefe Beſchränkung begegnet uns nicht in dem 
Weſen des Unendlichen; ihm allein ift deshalb em Fürſichſein 
“ möglich, welches weder der Einleitung noch der fortdauernden 
Entwidlung durch Etwas bedarf, mas nicht Es felbft ift, fondern 
in ewiger anfangslofer innerer Bewegung fi) in ſich ſelbſt erhält. 

12. Bolllommene Perjönlichkeit ft nur in Gott, allen end⸗ 
lichen Geiftern nur eine ſchwache Nachahmung derſelben beichieden; 
die Endlichkeit des Endlichen ift nicht eine erzeugende Bedingung 
fire fie,. fondern eine hindernde Schranke ihrer Ausbildung. 


Yünftes Kapitel, 
Gott und die Welt. 


Der Urfprung ber ewigen Wahrheiten und ihr Verhälnig zu Bott. — Die Schöpfung 
als Wille, als That, als Emanation. — Die Erhaltung unb Regierung unb 
bie Spealität der Zeit. — Der Urfprung des Wirklihen. Das Uebel unb das 
Boͤſe. — Das Gute, bie Güter und bie Liebe. — Die Einheit ber drei Brins 
eipien in ber Liebe. 


Auf Einen unbedingten Urgrund führten wir die Mannig⸗ 
faltigfeit des Wirklichen zurück; nicht in einem Geſetz, nicht in 
einer Idee, nicht in einer Weltordnung, fondern mm in einem 
Weſen, welches zu wirken und zu leiden fähig tft, fanden wir 


581 . 


dann dieſes Eime, das der Bielheit des Endlichen Zufammen- 
bang und den einzelnen Dingen die Möglichkeit der Wechfel- 
wirkung gebe; nur in emem Geifte endlich, der fich ſelbſt befigt, 
und für ſich it, nicht im einer Subftanz, die mit blindem Triebe 
fih entwidelt, entvedten wir m Wahrheit die Wefenhaftigfeit, die 
wir für dies Höchfte verlangen mußten. Der rafche Schritt, mit 
welchem wir dieſes Ziel unferer Gedanken zu erreichen fuchten, 
hat uns an Schwierigkeiten worübergeführt, zu denen wir zurück⸗ 
fehren. 

Befriedigen können unfere Borftellungen auch iiber Gott und 
göttliche Dinge nur dann, wenn fie den allgemeinen Geſetzen des 
Denkens und jenen Wahrheiten entfprechen, welche unfere Ver— 
nımft uns als verpflichtend fir jeden Gegenftand unſerer Beur- 
theilung vorhält. Auch das Höchite, das wir als unbebingten 
und fchöpferfihen Grund aller Wirklichkeit verehren, unterliegt 
daher, fobald es Gegenftand unjerer Unterfuchung wird, leicht 
dem Scheine, durch allgemeine Wahrheiten und Gelee bedingt zu 
fen, die unabhängig von ihm eine ihm jelbft vorausgehende Gül⸗ 
tigkeit befäßen. Nicht anders fcheinen wir von der Weisheit 
Gottes fprechen zu können, ald fo, daß wir. auch ihr gegenüber 
eine Wahrheit denken, deren fiir fich gültiger Inhalt von Gott 
erkannt, alſo worgefunden wird; nicht anders von feiner Geredj- 
tigkeit oder irgend einer: feiner ethiſchen Vollkommenheiten als fo, 
daß auch fie nur die unmwandelbare und ausnahmlofe Angemefjen- 
heit feines Weſens zu einem deal alles Guten ausdrücke, deſſen 
ewiger Werth fiir fich feititeht; felbft die fchöpferiiche Thätigkeit, 
indem fie die Geftalten des Wirklichen heruorbringt, wird uns 
verſtändlich faft nur al8 eine überlegende Wahl, die aus der Fülle 
an fich denkbarer und durch fich möglicher Formen des künftig Seien- 
den, wie aus einem ihr dargebotenen Schatze, die, welche fie will, 
zur Wirklichkeit beruft. Vereinbar ift Dies alles mit jener Un- 
bedingtheit nicht, die dem höchſten Wirklichen nicht nur in Bezug 
auf fein Dafein, fondern auch jo zufommen muß, daß es. Form 
und Gegenſtand ‚feiner Thätigleit nur durch ſich felbit beſtimmt 


582 


Wir fpalten die Exörterung dieſer Schwierigleiten und vereinigen 
in einer Frage nach dem Urfprung der ewigen Wahrhei- 


ten die Erläuterung des Verhältniſſes, im welchen zu dem We 


fen Gottes die Geſetze des Erfennend nnd des Geſchehens einer 
feit3, die der fittlichen Werthbeſtimmung anderſeits ftehen; erft 
fpäter wenden wir uns der Ueberlegung zu, in welcher Weiſe Die 
Formen der Wirklichkeit in derſelben göttlichen Natur begründet 
zu denken find. 


Die unbefangene Betrachtung der Welt pflegt arglos To zu 
verfahren, al8 bewegte fich ſelbſtverſtändlich auch Gottes Wirken 
innerhalb der Grenzen, welche die allgemeinen Geſetze alle Seins 
und Geſchehens überhaupt als Spielraum jeder denkbaren Thä⸗ 
tigfeit freilaffen. Ausdrücklich hierüber befragt, mag der religiöfe 
Glaube zuweilen etwas zögern; aber meift gibt er doch dieſe 
ſtillſchweigende VBorausfegung zu und erlennt die ewigen Wahr- 
heiten als eim unbedingt Erſtes an, als eine fchlechthin gültige 
Nothmendigfeit, der auch die Iebendige Wirklichkeit Gottes unter- 
worfen fei. Sehen wir jett ab von dem Widerfprudh, den Diefe 
Meinung offenbar gegen die Unbedingtheit Gottes einfchließt, fo 
ift fie nicht minder unmöglich) um des andern willen, den fie 
gegen das Weſen der Wahrheit enthält. Nur dem einzelnen 
endlichen. Dinge gegenüber Tann ein einzelnes Gefeß, noch ehe 
es in ihm verwirklicht ift, als eine außer ihm beftehende Macht 
ericheinen; denn feine Wirklichkeit hat dann Dies Geſetz in 
der Gefammtheit der übrigen Dinge, in deren Zuftänden es 
verförpert vorliegt, und durch deren zufammenbängendes Wirken 
es ihm möglich wird, auch das fich zu umterwerfen, mas augen 
bficklich feiner Botmäßigkeit fich noch entzieht. Dem Ganzen der 
Wirklichkeit Dagegen oder dem höchſten Einen, aus dem fie flieht, 
farm nicht die Gefamintheit der Wahrheit als eine dann im 
Leeren für fich beitehende Macht vorangehen; denn Wahrbeiten 


583 


find nicht, fondern gelten nur. Sie ſchweben nicht zwiſchen 
außer oder über dem Setenden; als Zufammenbangsformen man- 
nigfaltiger Zuftände find fie vorhanden nur in dem Denken eines 
Denlenden, indem e8 denkt, oder in dem Wirken eines Seienden 
in dem Augenblid feines Wirkens. Beherrfchen fie nicht nur Die 
Gegenivart, fondern auch die Zufunft mit, fo vermögen fie doch 
auch dies nicht, weil fie über und außer allem Wirflichen und 
allem Beitverlauf in emwiger Glorie thronten, fondern nur, meil 
fie, in dem Wirklichen wirklich, durch deflen Wirken jeven Augen- 
blick neu entitehen. Im unabgebrocdhener Stetigfeit erhält durch 
fein Wirken das Seiende, und überliefert gleichſam fich felbit von 
Augenblick zu Augenblid, diefelben Formen feines Seins feiner 
Zuftände und des Aufammenhanges derfelben, und erzeugt fo in 
jedem Moment die Bedingungen der Macht wieder, welche Die 
Wahrheit auf es felbft ausübt. Wäre e8 denkbar, daß der Welt- 
lauf im einem Augenblic die bewirkenden Urjachen deſſen nicht 
entbielte, was die Wahrheit geböte, fo wäre dieſe Wahrheit 
nicht mehr in der Welt, und gewiß, mer fie auch dann nod, 
außer der Welt, in ihrer ftillen Gültigkeit beſtehend denken 
wollte, wilrde nicht zu jagen willen, wie es geichehen könnte, Daß 
die Wirklichkeit ihr wieder unterworfen würde. Unmöglich ift es. 
daher, daß in irgend einer Weiſe ein Reich ewiger Wahrheiten 
außer Gott als Gegenftand ferner Anerkennung, oder vor ihm 
als Nichtichnur feines Wirkens beftehe, und diefe Unmöglichkeit 
verſchwindet nicht, wenn wir die beiden räumlich=zeitlichen Aus— 
drüde vermeiden, deren bildlichen Gebraudy wir und. eben ver= 
ftatteten. Nur ein nutzloſer Wechfel der Bezeichnung würde es 
fein, wenn wir jene Wahrheiten nicht außer und vor Gott, fon- 
been in und mit ibm fein ließen; als allgemeine Nothmwendigr 
feiten gedacht, denen Das göttliche .Wefen nur als ein Beiſpiel 
neben anderen unterläge, wilden fie aud) dann noch jene un— 
mögliche iiber alle Wirklichkeit hinausreichende und ihr borgn- 
gehende Geltung beanfpruchen, die wir ihnen abiprechen mußten, 
und würden ebendeshalb zugleich fremde beſchränkende Bedin— 


gungen fiir das fein, wodurch das Weſen Gottes fich von allen 
anderen Beifpielen ihrer Macht unterjchiebe. 

An die verkehrte Borftellung einer felbftändigen Wahrheit, 
die der Wirklichkeit Gefete gäbe, ift unfer Gedankengang zu fehr 
gewöhnt, um an ihren Widerfprüchen Anftoß zu nehmen. Um 
fo mehr findet ſich das natürliche Gefühl durch den offenbaren 
Abbruch beleidigt, welchen die nothwendig feftzubaltende Unbe⸗ 
dingtheit Gotted durch feine Unterwerfimg unter eine von ihm 
unabhängige Wahrheit erfährt. So entfchliegt denn eine zweite 
Form der Auffaffung ſich dazu, auch Die ewigen Wahrbeiten als 
Geſchöpfe Gottes zu betrachten, die Gott auch hätte nicht chaffen 
oder anders Schaffen können als fie find. Auch Diefe Meimmg 
endet raſch in Widerfinn und ift unverträglich mit dem Begriffe 
der Wahrheit. Denn fo wenig Wahrheiten fiir ſich beftehen kön⸗ 
nen außer dem Wirklichen, fo wenig laffen ſie ſich machen, und 
nie wird ein Gedanke von noch fraglicher Gültigkeit durch den 
Willen durch die Anerkennung durch Das Gebot irgend Je 
mandes zu einer Wahrheit, die er vorher nicht geweſen wäre. 
Satzungen laffen ſich ftiften; aber Sabungen find mm Gebote, 
die eine an ſich denkbare Ordnung eines Verhältniffes aus einer 
Menge anderer gleich denfbarer wählen, und fie geben ver ge 
wählten zwar wirffame Geltung, aber nie die innere Nothiven- 
digfeit, die ihrer Natur fehlt. Damit aber die Satzung jelbit 
geftiftet werden könne, muß eime an fi) umd durch fich ſelbſt 
gültige Wahrheit vorangehen, nad) deren Ausſpruch Mögliches 
bon Unmöglichem, und die Fälle, denen die feitzufegende Ordnung 
gilt, von denen unterfcheiobar werden, welchen fie nicht gilt. Iſt 
nun undenkbar, daß durch Schöpfung irgend eine Wahrheit 
entftehe, ſo ift noch unfaßbarer eine fehöpferifdhe Thatigkeit, die 
auf ein fo unmögliches Ziel gerichtet wäre, alle Wahrheit erft 
zu erzeugen. Dem wie man fie auch denken möge: fo lange 
durch fie etwas entftehen foll, was ohne fie nicht wäre, fo lange 
muß fie irgend einen Hergang bilden, in welchem fie als er 
zeugende Bebingung ihre Folge zu Stande bringt. In einer 








209 


Welt aber, in der es noch feine Wahrheit gäbe, was wiirde in 
diefee Welt, wenn fie denkbar wäre, Bedingung heißen können, 
und was Folge diefer Bedingung? worin wiirde die Bürgſchaft 
dafiir liegen, daß Eines mit dem Andern zufammenhinge, daß 
irgend - ein Thun emen Erfolg überhaupt hätte und zwar den 
einen, auf den es zielt, den andern nicht, auf den es nicht zielt? 

Das Miplingen dieſer beiden äußerften Auffafjungen fucht 
eine vermittelnde dritte zu vermeiden, indem fie die ewigen Wahr- 
heiten weder für Gegenftände der Anerkennung noch für Ges 
ſchöpfe der Willkür Gottes, fondern für die nothwendigen Con— 
fequenzen feines eigenen Weſens erklärt. Sie täufcht ſich jedoch, 
wenn fie durch diefen Ausdruck die Schwierigfeit befeitigt glaubt. 
Sol es Sinn haben, daß irgend Etwas aus Gottes Natur 
folgerecht entfpringe, jo müfjen wir in Gedanken wenigftens ihm 
ein ‘andere Etwas gegenliberftellen, deſſen Entipringen aus der⸗ 
jelben Natur unfolgereht gejchehen mwilrde Um beides zu unter- 
ſcheiden, bebiirfen wir irgend eines allgemeinen, durch fich felbit 
gültigen Maßftabes, mit welchem gemefjen oder verglichen das 
Eine ſich als folgbar aus einem beftimmten Grunde, das Andere 
fich al8 nicht folgbar aus demſelben Grunde erfennen läßt. Auf 
ganz kurzem Wege finden wir uns daher zu der Nothivendig- 
keit zurlicigeführt, eine unbebingte erfte Wahrheit als auch für 
Gottes Weſen verbindlich vorauszufegen, um nad ihrem Aus- 
ſpruch jene andern ‘ewigen MWährheiten, denen Ddiefe Ableitung 
gelten follte, als folgerichtige Erzeugniffe der göttlichen Natur 
begreifen zu fünnen. So fühlbar e8 uns auch fein mag, daß 
diefer Verſuch einem richtigen Antriebe folgt, fo ift doch dieſe 
Formulirung feines Ergebniffes verfehlt umd es bedarf anderer 
Ueberlegungen, um fruchtbar zu machen, mas er Gutes enthält. 

Die Erfolglofigkeit aller diefer Auffaffungen, welche wir in 
den ſchroffſten und deswegen verſtändlichſten Formen vorführten, 
die fie angenommen haben, wird durch Die verſteckte Doppelfin- 
nigleit verſchuldet, mit welcher fie den Namen Gottes verwenden. 
Wenn wir zweifeln, ob Gott die Wahrheit finde oder ftifte, ob 


586 


Er das Gute wolle, oder ob gut werbe, was kr will, fo müſſen 
wir zuerft Klarheit über die Yrage haben: ift der Gott, den dieſe 
Sähe nennen, ſchon ald der volle und: ganze Gott gedacht, den 
unfer religiöfes Bewußtſein fucht und befennt, und find in feinem 
Begriffe die Thätigkeiten oder Eigenfchaften, welche die Prädicate 
derſelben Sätze bilden, fo bereit3 eingefchloffen, daß die Form 
des Satzes mr dient, fie nadı Art analvtifcher Urtheile zur Ber- 
deutlichung noch einmal auszufondern? oder tft der Name Gottes 
bier nur eime vorläufige, Künftiges vorausnehmende Bezeichnung 
eines Weſens, dem der Inhalt diefer Prädicate noch nicht zu= 
fommt, jo daß die Süße in der Weife ſynthetiſcher Urtheile 
irgend einen Vorgang ausdrücken, irgend eine Thätigleit oder ein 
Gefchehen, das darauf gerichtet wäre, jenes Weſen mit diefen Prä- 
Dicaten erjt noch auszuftatten? Daß nun die zweite diefer Annahmen 
religiös bedeutungslos und an fich undenkbar fer, verfuchen wir an 
zwei bekannten Tragen zu verdeutlichen, um welche ſich, wie um zwei 
Bertreter der metaphyſiſchen und der ethifchen Schwierigkeiten in 
diefer Sache, der Streit der Meinmgen ‚zufammengezogen hat. 

Die erfte von ihnen, ob Gott anerlenne oder bewirke, daß 
2x2 = 4 ift, und ob er bewirlen könne, Daß 2x2 =5 
jet, iſt nicht glücklich im Ausdrucke defien, was bier in Frage 
fteht. Sie gibt den Eindruck, als handle es fi darum, ob 
Gott anftatt der einen Gleichung, die jeßt Wahrheit ift, die 
andere, welche faljch ift, willkürlich zum Range einer Wahrheit 
erheben könne. Aber damit wiirde er die Wahrheit. überhaupt 
nicht Schaffen, fondern vorausſetzen. Dem damit irgend ein 
Sag in der Form einer Gleichung ausgefprochen werben könne, 
damit alfo die richtigen fraglichen oder irrigen Süße a — a, 
a — b, a — non a iiberhaupt einen vorftellbaren Sinn haben, 
bon defien Wahrheit oder Unmahrbeit die Rede fen könnte, dazu 
ift unerläßlich, daß jeder dieſer Buchſtaben einen Inhalt. bezeichne, 
der für ſich etwas Beſtändiges fich felbft Gleiches und von Anderem 
Unterfchiedenes ift, und deshalb mit einem. nur ihr. allein am-- 
gehörigen Namen genannt werden Tann. Bon. jedem einzelnen 


587 


Elemente alfo, das zu einem andern in irgend eme wahre oder 
falfche Beziehung gedacht werden foll, muß das Gejeß der Iden⸗ 
tität mit fich ſelbſt als die einfachſte Wahrheit vorher gelten, 
ohne die e8 weder andere Wahrheiten, noch Unwahrheit geben 
kann. Allgemeiner ausgedrüdt würde daher jene Yrage bedeuten: 
kann der Wille Gottes das Gefeß der Identität überhaupt feft- 
ftellen, um auf Grund desfelben ein einzelnes Berhältniß wahr 
zu machen, welches ihm widerjpricht? Aber die Beantwortung 
diefer Frage hat durchaus kein Intereffe; e8 gibt fein natürliches 
und unvermeidliches Motiv, fie aufzumerfen. Wer fie zu Gun- 
ften einer unbedingten Allmacht Gottes glaubte bejahen zu müſſen, 
wiirde in Frage und Antwort immer wieder die Begriffe des 
Widerjprechenden und des Nichtwiderfprechenden als mit beitimm- 
ter Bedeutung jchon feftitehende behandeln, ehe noch jene All 
macht fich entichiede, wie fie fich zu ihnen verhalten wolle. Ent- 
ſchiede fie fih num, dafür, das Widerfprechende, d. h. das, was 
por ihrer Entſcheidung bereits Widerſprechendes war, zu einer 
Wahrheit zu machen, fo wiirde fie nicht alle Wahrheit ſchaffen, 
nicht den Begriff der Wahrheit gründen, fondern nur eine Will 
für fein, welche die vorgefundene Wahrheit möglichit wieder zu 
verderben ftrebte. Kein veligiöfes Bedürfniß veranlaßt und, eine 
fo finnlofe Allmacht in Gott zu fuchen. Man muß daher den 
zweiten Theil jener vielaufgeworfenen Frage fallen laſſen und auf 
den erften fich befchräntend nur daran denfen, ob die Wahrheit, 
welche noch nicht ift, durch Gott geftifte werden könne. Kine 
Allmacht num, welche nur alles Mögliche vermöchte, wiirde freilich 
nur die größte unter allen endlichen Mächten fein, aber eine folche, 
welche das Unmögliche könnte, wäre nicht minder endlich; denn 
fie wiirde ein an ſich, d. h. ohne ihr Zuthun Unmögliches vor- 
ausfegen, das fie. zu ermöglichen im Stande wäre; die wahre 
Allmacht kann nur diejenige fein, welche das ganze unnennbare 
Gebiet erft hervorbringt, innerhafb deſſen e8 einen vorher nicht 
vorhandenen Unterfhied des Wahren und des Unmahren des 
Möglichen und des Unmöglichen gibt. 


588 


Sei dies nım der eigentliche Sinn des Schaffens der Wahr- - 
heit, wer iſt dann der Gott, dem ihre Schöpfung von und zu= 
gefchrieben wird? Iſt e8 nicht Der ganze volle Gott, in deſſen 
Weſen wir alle Wahrheit bereits mitdenken, gilt vielmehr die 
Wahrheit fiir ihn, der fie Schaffen wird, noch nicht, worin be 
fteht dann fein Weſen und feine Allmacht anders, als in einem 
inhaltloſen richtungslofen Können überhaupt, das allerdings völlig 
unbefchräntt erfcheint, weil e8 weder Gegenftände vorfindet, auf 
die e8 fich beziehen könnte, noch Regeln, die e8 feinem Berfahren 
borzeichnete? Aber dieſe Vorftellung bedeutet Nichts, was fein 
könnte. Wenn wir aus Beispielen verfchiedenartiger Leiſtungen den 
allgemeinen Begriff der Fähigkeit oder der Macht bilden, fo haben 
wir an ihm zwar eine logiſch zuläffige und im Denken verwenb- 
bare Abftraction, deren Inhalt aber nicht eher etwas. Erxiſtirbares 
bezeichnet, bi8 wir ergänzen, was wir vorher abftrahirt haben. 
Wie es Feine Bewegung gibt ohne Geſchwindigkeit und Richtung, 
und feine, die, nachdem fie bereits wäre, Geſchwindigkeit unt 
Richtung erſt erhielte, fo iſt feine Macht denkbar ohne Berfah- 
rungsweiſe, kein leeres Können, das erft im Verlauf feiner Leer⸗ 
heit beftimmte Arten feines Wirkens fünde. Auch Gottes Macht 
fann deshalb nicht inhaltlos und ohne Richtung, die fie nähme, 
gedacht werden; und gerade flir fie ift Die beftimmte Handlungs- 
weile, in der fie dann befteht und welche für unfere Reflerion 
jede andere denkbare Handlungswetje ausfchließt, keineswegs als 
eine Beſchränkung ihrer Unbedingtbeit zu faſſen. Für .ein end- 
liches Weſen allerdings wiirde dieſer Gefichtspunft gelten; denn 
dieſes findet die Wirkungsweiſen, in die es feiner -eigenen Natur 
nah ‚nicht eingehen kann, als wirkliche Machtgebiete anderer 
Weſen neben fi) vor, als folche, die ihm felbit verſchloſſen find, 
und die deshalb uniberfteigliche Grenzen feiner eigenen Wirkſam⸗ 
feit bilden. Nichts der Art befteht für das Unendliche; ſelbſt der 
Grund aller Wirklichkeit, begründet e8 auch die verfchiedenen 
Möglichkeiten mannigfaches Wirkens in ihr; ihm Tann feine andere 
Art des Wirkens außer der feinigen als eine von ihm unab⸗ 





589 


hängige, am wenigſten als eine ihm jelbft unzugängliche und ver- 
ſagte Wirklichkeit gegenüberftehen. Sollte enblih nicht nur in 
der. Wirklichkeit, ſondern ſchon in der Denkbarkeit eines andern 
Wirkens, als dasjenige tft, melches die Natur der göttlichen All 
macht bildet, eine Beeinträchtigung ihrer Unbebingtheit gefunden 
werden, jo widerfprechen wir auch dem, und eben biefer Wider- 
ſpruch wird geeignet fein, den Sinn unferer Meinung vollkommen 
deutlich zu machen. 

Denn von diefer Nothmwendigleit, in dem Begriffe jeder 
Macht eine beftimmte Art und Weife ihres Wirkens mitzudenken, 
machen wir den Gebrauch, zu behaupten, daß eben das, was mir 
ald Summe der ewigen Wahrheiten Tennen, diefe Wirkungsmeife 
der Allmacht fei, nicht aber von ihr gefchaffen werde, oder 
daß fie ihre Wirkungsweiſe, nicht ihe Product fei. Dies 
bedeutet zuerft, daß Allmacht ein unvollftändiger und nichts Wirk 
liche8 bedeutender Begriff bleibt, wenn nicht die ewige Wahrheit 
al8 die Richtung und Art ihres Wirkens mitgedacht wird; es 
bedeutet ferner, daß ebenjo die Wahrheit für fich nicht, fondern 
nur als Natur und ewige Gewohnheit des höchſten Wirkens 
wirklich ift; e8 bedeutet endlich, daß Wahrheit als Wahrbeit, d. h. 
als. ein. Ganges. in fich verbundener und einander .bedingender 
Gedanken gefaßt, nur ein abgeleitetes und fecundäres Dafein in 
dem Denlenden bat, melcher fie dent. Ein Verſtand, der als 
Theil der Wirklichkeit ſeinerſeits felbft von diefen ewigen Gewohn⸗ 
heiten alles Wirkens beherricht wird, findet bei der. Bergleichung 
- ber. verjchtedenen Beifpiele des Seins und Gefchehens ‚die Wahr- 
heiten als die allgemeinen Borftellungen auf, durch welche der 
Zufammenbang des Einzelnen der Wirklichkeit, nachdem’ ihr 
Ganzes ift, fiir ihn begreiflich wird. Für diefen Verſtand ent- 
fteht dann erſt der trügerifche Schein, als fei dies Allgemeine, 
welches feinen Gedanken des Einzelnen als das frühere und be 
Dingende Princip vorangedacht werden kann, auch aller Wirklich⸗ 
feit als. ein im fchattenhaften Leeren der Unmirklichleit dennoch 
ſchon beftehendes und gebietendes Schickſal vorangegangen; für 


J 





590 


ihn entfteht der Schein, als habe es, ehe dem die Welt und 
Gott war, bereit8 ein geordnetes Reich der Möglichkeiten und 
der Nothmwenbdigfeiten gegeben; fiir ihn der Schein, ald fer Das 
dann erft nachlommende Wirfliche, indem es eine dieſer fertigen 
Yormen annahm, eine diefer Möglichkeiten realifirte, dadurch der 
Endlichkeit und Befchränftheit verfallen und nach dem Gebote 
jener fchon beftehenden Nothwendigleit nun Davon ausgejchloffen, 
das andere Mögliche zu fen, das an einem unfagbaren Orte außer- 
halb aller Welt und Wirklichkeit auf eine umfagbare Weile fort- 
während ein unſagbares alle Wirklichkeit begrenzendes und be- 
fchränfendes Dafein befike. 

Es ift ein völlig entjcheidender Punkt unferer Weltanficht, 
den wir bier berührt haben; aber nachdem er fo oft und im 
mancherlei Geftalten Gegenftand unferer Ueberlegung geweſen ift, 
genügt fir ihn der Ausorud, den wir ihm eben gaben und durch 
den außer der erjten auch die zweite der aufgeivorfenen Yragen 
mitbeantwortet if. Denn fo unmöglich es fich zeigt, die Wahr- 
heit als Geſchöpf einer Allmacht zu denken, für welche fie noch 
nicht gilt, fo unmöglich ift es, fie ald Object der Anerkennung für 
ein Weſen aufzufaffen, das nicht durch fich felbft ihrer theilhaft 
wäre. AS Wahrheit anerkennen kann nur der die Wahrheit, für 
den fie wahr ift. Eine Intelligenz, die ohne eigene eingeborene 
Kegel ihres Verfahrens. nur als ein Spiegel diente, jegliches 
außer ihre Borhandene zum’ Gemwußtwerden zu bringen, wiirde, 
wenn überhaupt möglich wäre, fie vorzuftellen, Wahrheit und 
Irrthum mit gleicher Unparteilichkeit abbilden ohne ihren Unter⸗ 
fchted zu bemerken. Wahrheit kann der Verftand nur finden, wo 
er den Inhalt feines Denkens itbereinftimmend mit einem Maf- 
ftabe fieht, den er in fich jelbft trägt, d. b. übereinſtimmend mit 
den Gefegen feines eigenen Verfahrens in der Verknüpfung des 
Gegebenen. Er erkennt fie alfo nur an, ſofern fie von allem 
Anfang an zu feinem eigenen Weſen gehört; eine Wahrheit, die 
ihm urjprünglich gegenüberftände, würde er weder als folche be 
greifen, noch fie thatfächlich fo anerkennen, daß fie fpäter zur 











591 


Kegel feiner Berfahrungsweife würde. Und fo zeigt es fich denn 
in jeder Weife unmöglich, einen Gott, dem die Wahrheit noch 
nicht gilt, ſei es als ihren Schöpfer oder ſich ihr anbequemend, 
gegenüberzuſtellen; fie Tann nicht duch jene That gefchaffen 
werden, fondern nur durch fein Sein beiteht fie; fie kann nicht 
außerhalb defjen fein, der fie anerkennen foll, jondern ihre An- 
erfennung ift nur denkbar als Erkennung des eigenen Seins in ihr. 
Es iſt überflüffig, mit gleicher Weitläuftigleit das zweite 
Beilpiel, deſſen wir gedachten, zu zerglievern. Auch das Gute 
kann weder Stiftung noch Gegenftand der Anerkennung fir einen 
göttlichen Willen fen, der e8 nicht auf gleiche Weile, mie Die 
Wahrheit, bereit3 in fih enthielte Wäre Gott, ohne durch 
etbiiche Prädicate beftimmbar zu fein, nur eme Macht, die in 
irgend welcher Form der Lebendigkeit ſich entwidelte, oder. ein 
Wille, der nach irgend einer Richtung hinaus von Anfang an 
wirkte, jo würde zwar Uebereinftimmung mit jenen Yormen feiner 
Entwidlung oder Eingehen auf diefe Richtung feines Wirkend eine 

- Bedingung des Beſtehens und der Wohlfahrt für alles Endliche 
fein, das von ihm abhinge; und wenn in dieſem Enblichen ein 
Bemußtfein feines Dafeins und feiner Lage Keftände, fo würden 
ihm jene Bedingungen als Gebote erjcheinen, deren Bernachläffi- 
gung durch Furcht widerrathen und durch Reue beftraft würde. 
. Aber der Begriff des Guten, als eines durch feine eigene Ma- 
: jeftät verpflichtenden deals, könnte dann nur durch einen fchwer 
begreiflichen Irrthum der beſchränkten Eimficht des Endlichen ent- 
ftehen; nicht ableiten könnte man e8 aus emem foldhen Willen, 
fondern müßte es fir Täuſchung erflären, an feine unbedingte 
Hoheit zu glauben. Aber auch Gegenftand der Anerfenmung 
kann aus demfelben Grunde das Gute nicht für. Gott fein. Auch 
wenn feine Schmälerung der Unbebingtheit des göttlichen Weſens 
darin läge, daß außer ihm und von ihm unabhängig darliber 
entſchieden fein follte, was gut und nicht gut fei, jo würde Dod) 
der Wille den Werth des fo gegebenen Guten nur anertennen 
können, wenn er felbft um feiner eigenen Natur willen Tängft 


592 


denfelben Werth darauf gelegt hätte, ganz ebenfo wie der Ber- 
ftand die gegebene Wahrheit nur als Wahrheit begreift, meil fie 
für ihn felbft wahr if. So zeigt fich denn hier wie Dort jene 
Spaltung unzuläffig, welche die weſentlichſten Vollkommenheiten, 
buch die der Begriff Gottes erft vollendet wird, Dennoch von 
ihm trennen und eine dann ſtets unbegreiflich bleibende Natur 
Gottes als das ſchon beftehende Weſen vorausfegen möchte, dem 
nachher durch eine That, Die auch ungethan, oder durch eine Ge- 
ſchichte, Die auch ungefchehen bleiben könnte, jene Vollkommen⸗ 
beiten noch zuftimen. ever foldher Verſuch verfennt die willkür⸗ 
fihen Ummege, die unfer Denken bei ber Betrachtung feines 
Gegenftandes macht, für eine Bewegung des Gegenftandes felbft, 
der ewig fich felbft gleich auf einmal Das tft, was unfere Gedanken 
nur nad) einander begreifen. 


In Schöpfung Erhaltung und Regierung zerlegt das re= 
ligiöſe Nachdenken die Beziehung Gottes zur Wirklichkeit, und 
biefe drei Begriffe von göttlichem Walten machen wir zunüächſt 
zum ©egenftand einer Frage nach dem Formellen des Berhält- 
nifjes, welches fie zwifchen Gott und der Welt bezeichnen; noch 
unberührt laſſen wir den Urjprung des erfinderiichen Gedankens, 
durch den Gott dem Gefchaffenen Juhalt, dem Beftehenden Orb- 
nung, dem Gejchehen Plan und Richtung gegeben hat. 

Die Schöpfung kann nicht in dem ‚Sinne Gegenftand der 
Forſchung fein, daß wir einen Hergang ihres Zuftandelommens 
fuchten; es giebt folche Hergänge nur innerhalb einer fchon be— 
ftehenden Welt, deren wirkungsfühige Elemente geſetzlich zur Er- 
zeugung eines Erfolgs verbindbar find. Wber Schöpfung, als ge— 
icheben gedacht, begründet auch ein bleibendes Verhältniß zwischen 
Schöpfer und Gefchöpf, deſſen Sinn und religidfen Werth wir 
um fo mehr zu überlegen Haben, als er nicht übereinſtimmend 
von Allen gedeutet wird. Iſt die Wirklichkeit ein Erzeugniß des 








503 


göttlichen Willens allen? oder ift fie eine That Gottes? - 
oder endlich ein willenlofer Ausfluß jener Natur? Indem 
wir die erfte dieſer ragen bejahen, haben wir die Beitimmung 
des religiöfen Gefühls nur theilmeis fir uns; in der Gegenwart 
namentlich dürfte fie geneigter fein, mir in einer That Gottes 
das zu finden, was fie mit dem Begriffe des Schaffens über— 
haupt will. Denn einen lebendigen Gott, nad) dem es fich fehnt, 
glaubt das Gemith nur dann zu befiken, wenn ihm erlaubt ift, 
bon einer Schöpferarbeit zu fprechen, in welcher Gott, jeden 
Heinften Theil der entjtehenden Wirklichkeit mit feinem lebendigen 
Weſen durchdringend, erft im Wahrheit erzeugen wiirde, was 
nach unferer Auffaffung nur bei Gelegenheit feines Willens wie 
aus fich felbft entftehen wiirde. 

MWenn eine Bewegung unferer Glieder auf unfern Willen 
nur zu folgen fchiene, jo würden wir fie faum mehr für unfere 
anfehen; fie wiirde unferem eignen Wejen jo fremd fein, wie ung 
m der That die weiteren Erfolge erfcheinen, die unfer Thun in 
der Außenwelt fortwirkend hervorbringt: fie rühren zwar von 
und ber, aber wir find nicht mehr in ihnen gegenwärtig. Nun 
it es nicht fo; ganz ummittelbar glauben wir vielmehr im Augen- 
blicke der Bewegung zu fühlen, wie unfer Wille felbitarbeitend in 
die Glieder übergeht; ganz unmittelbar meinen wir jeden Heinften 
Nachlaß oder Zuwachs der Spannung milzuempfinden, den er 
von Moment zu Moment wechſelnd in den lebendigen Gliedern 
herporbringt; und alles Dies gefchieht nicht mie fern von ums, 
fo daß wir es mittelbar erflihren, fondern wir felbft glauben an 
jeden Punkte gegenwärtig zu fein, an welchem fich dieſe Vorgänge 
ereignen; ja es ſcheint uns, als fühlten wir deutlich, wie unſere 
thätige Kraft auch in den behandelten fremden Gegenftand wirk⸗ 
fam übergeht und das Nicht⸗Ich gleichjam in feiner eigenen Het- 
mat durchdringt und bändigt. Diejer Selbftgenuß ber eigenen 
lebendigen Wirkſamkeit ift e8, was die Anficht, welche Schöpfung 
nur als That betrachten möchte, in dem Begriffe Gottes nicht 


miffen will, ımd man wirb dies religiöſe — in ſeinem 
Lotze, III. 3. Aufl. 


594 


Werthe anerlennen können; obgleich man diefe Weile feiner Be 
friedigung irrig finden muß. 

Denn eine befannte pſychologiſche Täuſchung hat hier vwer- 
leitet, den Unterjchted zwiichen der That und dem, mas nur aus 
uns folgt, da zu fuchen, wo er nicht Liegen kann. Das Gefühl, 
welches unfere Bewegungen begleitet, ift eben nicht die Empfindung 
unfers Willens in dem Schwunge feiner den Erfolg erzwingenden 
Thätigkeit, fondern die Wahrnehmung der Effecte des Willens, 
nachdem fie auf völlig unwahrnehmbare Weiſe hervorgebracht 
find. Unfer Wille erzeugt nicht eigentlich Die Bewegung in Dem 
Sinne, welchen jene Anficht beſtändig meint; ſondern an jeden 
augenblidlichen Willen, fofern derſelbe ein beftimmter Zuftand der 
Seele ift, knüpft fi) gemäß einem Zuſammenhange der Natır- 
wirfungen, der unferer Einſicht ebenfo fehr wie unſerer Willkür 
entzogen ift, als unvermeidliche Yolge eine beftimmte Bewegung 
an. Indem Diefe Bewegung gejchieht oder nachdem fie gefchehen, 
erhalten wir von dem veränderten Zuftande der Glieder, den fie 
herbeigeführt oder in dem fie befteht, zu uns zurückkehrende 
Empfindungen, Die und wohl verrathen, was als Folge des Willens 
in uns entjtanden ift, aber nicht Die mindeſte Andeutung über 
die Art und Weile geben, in welcher diefe Folge zu Stande ge 
bracht worden if. Was unfere That zu unſerer That macht 
und fie von dem unterjcheidet, wad aus und, wäre e8 auch aus 
unferem Willen, nur folgt, das beftebt nicht in einem folchen 
Herausgehen des thätigen Wefens iiber die Grenzen feines eigenen 
Selbſt, daß e8 in dem fremden Object feiner Wirffamfeit, worein 
e8 ſich arbeiten ergöffe, noch es ſelbſt bliebe; Folgen des 
Willens, unvermeidliche und eines bejonderen Bermwirklichungs- 
anftoße8 unbediürftige Confequenzen deſſelben, jobald er ſelbſt 
einmal bejtimmt vorhanden ift, find alle Thaten, und fie gleichen 
in diefer Art ihrer Entftehung dem volllommen, was aus anderen 
Zuftänden unferes Innern willenlos, oder aus einem auf andere 
Ziele gerichteten Willen nebenbei entſpringt. Das Wefentliche 
ber That ift nur, daß fie Folge eines Willens ift, der fie umd 


595 


feine andere wollte, nicht Folge eines Gefühls, einer Vorftellung 
oder irgend eines anderen inneren Zuftandes, welcher nicht Wille 
ft. An der wirklichen Erzeugung feines Erfolgs Tann der Wille 
verhindert werden; aber mehr als den feften und durch feine andere 
Neigung gehimderten Willen Tann Niemand beitragen, um den 
Erfolg zu feiner That zu machen; fie gehört uns dadurch zu, 
dag wir fie wollen und nicht durch zweideutiges Wollen ſelbſt 
dem Mechanismus Hinderniffe bereiten, der fie als nothmendigen 
Erfolg aus unferm Willen berborgehen läßt; nirgends aber gibt 
ed eine Arbeit, durch welche wir noch einmal thätig unſerem 
Willen feinen Erfolg zu verichaffen vermöchten oder nöthig hätten. 

Arbeit ift für das endliche Weſen die Summe aller der ver- 
mittelnden Wirkungen, Die e8 anregen muß, weil fein Wille nicht 
unmittelbaren Einfluß auf die fremden Objecte hat, welche feine 
Abficht umzuformen ftrebt; es fühlt fich aber das endliche We 
fen arbeitend m dem Maße und foweit, als der Zuſammenhang 
der Naturwirkungen ihm unmittelbare Empfindungen von den 
Folgen feines Thuns zuführt; daher erjcheinen die Bewegungen 
unferd eigenen Leibes uns ausfchließlih als unfere Arbeit am 
Erfolge, die erzielten Veränderungen der Außenwelt nicht, weil 
wir fie nur mittelbar als gefchehene Thatfachen, nicht durch ein 
directes Gefühl als unfere Anftrengung wahrnehmen. Fiir Gott 
aber kann Arbeit in diefem Sinne nicht ftattfinden, denn fein 
Wille findet nicht an einer Fremdartigkeit der Objecte feines 
Handelns Diefelbe Schranke, wie der unfere; jener Selbſtgenuß 
der eigenen Xebendigfeit und Wirffamfeit aber kommt aus dem- 
jelben Grunde dem göttlichen Weſen ſchrankenlos zu; denn in 
unabgeftufter und gleich inniger Beziehung zu allen Theilen der vor= 
handenen oder der beginnenden Wirflichleit ftehend, wird es jede 
Folge, die aus feinem Willen entjpringt, unmittelbar als Das 
inne werden, was fie tft, und nirgends tft für Gott ein aus 
feinem Willen fließende Ereigniß denkbar, welches für ihn eine 
fo fremde Entwicklung eine Weußeren wäre, wie e8 für uns 
allerdings die letzten Verzweigungen einer bon und angeregten 

| 38* 











596 


Reihe von Creigniffen fein müſſen. Abſchließend Türmen wir 
daher behaupten: lebendiger wird Gott dadurch nicht gefaßt, daß 
man fein Schaffen als Arbeit bezeichnet, denn alle Arbeit, fofern 
fie mittelbare Wirken tft, gehört nur dem Enblichen; Der gött⸗ 
liche Wille erarbeitet nicht den Erfolg, fondern ift Diefer Erfolg; 
lebendiger wird er auch dadurch nicht gefaßt, daß man die Schd- 
pfung als feine That, nicht als bloße Folge feines Willens be- 
zeichnet, denn dieſer Unterſchied befteht nicht, fondern jede That 
it nur die Folge des Willens; eben dann aber, wenn man 
jeden Begriff eines vermittelnden Wirkens oder einer Arbeit oder einer 
ans fich herausgehenden That fallen läßt und göttliches Wollen 
und Bollbringen gleichfegt, ift die lebendige Durchdringung des 
Geſchöpfes durch den Schöpfer und jener Selbftgenuß der eignen 
Wirkſamkeit ſchrankenlos in Gott mitgedacht, Der und endlichen 
Weſen nur auf dem Ummege der freundlichen pfuchologifchen 
Täuſchung, deren wir gedachten, zu Theil wird. 

Faſſen wir mın die Schöpfung nit als That, wie ver- 
halten wir uns dann zu jener andern Anficht, welche fie als 
Ausflug der göttlichen Natur oder in der beftinnmteren Form, 
die uns allem noch intereffiren könnte, als Emanation aus ber 
göttlichen Intelligenz betrachtet? War es unfere Abſicht, der 
Meinung beizutreten, welche die Phantafie Gottes zwar als Er- 
finderm und VBorzeichnerin des möglichen Weltinhaltes anfieht, 
aber die Berwirkfichung defielben von dem Willen erwartet, ber 
aus vielen vorjchiwebenden möglichen Welten nur eine, die befte, 
zum Dafein berufe? Auch diefe Spaltung der göttlichen Thä⸗— 
tigkeit müſſen wir im Gegentheil als einen Irrthum bezeichnen. 
Bor Mlem würde && doch nicht der Wille, fondern wieder 
die Einſicht Gottes fein, welche unter vielen möglichen. Welten 
die beite auffände; nicht die Wahl, fondern nur die Verwirk⸗ 
lichung der gewählten würde das Werk des Willend fein. Aber 
ich fürchte, daß für dieſes Werk nur derjenige einen eigenthilm- 
lichen Inhalt angeben könnte, der Wirklichkeit in einem fir ums 
vollſtändig unbegreiflihen Hinaustreten oder Hinausfegen der 








597 


Welt aus Gott fucht. Laflen wir Dies unmögliche räumliche 
Bild fallen, wodurch unterfcheiden wir dann die verwirklichten 
Gedanken Gottes von denen, die unverwirklicht nur feiner Bhan- 
tafie vorſchweben? Doch mohl mm nad) Analogie Dderjelben 
Weile, in welcher wir auch unfere eigenen PVorftellungen leerer 
Möglichkeiten von Wahrnehmungen des Wirklichen, unausgeführte 
Entwürfe von wirkſam gewordenen Berweggründen unſers Han⸗ 
delns unterſcheiden. Auch alle dieſe leeren Möglichkeiten haben 
die Wirklichkeit, deren ſie ihrer Natur, der Natur ihres Inhalts 
nach, fähig find; ſie beſtehen als unſere Gedanken, als Beine 
gungen unſers Gemüths, und wirken in uns fo viel, als ihnen 
ihr Inhalt und diefe Form ihrer Eriftenz, unfere Zuftände zu 
fein, geftattet. Aber e8 zeigt fich fpäter, daß fie ald Beweggründe 
unſers Handelns gedacht die zureichenden Gründe eines wünſchens⸗ 
werthen Erfolge nicht fein würden, und deswegen werden fie 
wirffame Beweggründe unſers Handelns nicht; oder es zeigt 
fich, daß fie, als Wahrnehmungen betrachtet, Gründe der Folgen 
in der Erſcheinungswelt nicht find, die wir ihnen zutrauten, und 
fo erfcheinen fie uns als Täuſchungen; nicht, weil fie überhaupt 
Nichts wären oder nicht wären, fondern weil fie m dem Zu— 
ſammenhange der Dinge außer und wirkungslos find. Auch in 
Gott unterſcheiden wir die umwwerwirllichten Gedanken nicht ans 
ders von den verwirklichten; nicht dadurch, daß viele gleich mög» 
liche Welten ihm vorfchwebten und der Wille eine von ihnen 
durch eine That, deren Inhalt ganz unangebbar bleiben müßte, 
zur Wirklichkeit machte. Denn als gleich mögliche Hätten fie alle 
ſchon Wirklichkeit gehabt und ed gäbe nichts Denkbares mehr, 
wodurch der wählende Wille als durch eine nun erſt zu ex= 
zeugende Wirllichkeit eine vom ihnen noch hätte bevorzugen können. 
Was unverwirklicht geblieben ift, das ftand, wenn überhaupt 
hiervon in menfchlicher Weile zu reden erlaubt it, von Anfang 
an vor dem Willen Gottes deutlich in feiner Folgenloſigkeit, in 
femem Mangel an Conſequenz, durch die es Grund einer fort 
wirfenden Weltordnung bätte werben Tünnen, in jener Under⸗ 


598 


einbarkeit mit dem, was Gottes Wille zum Inhalt der Schöpfung 
beftimmte. In uns endlichen Weſen Tann es dauernde Täu— 
[chungen und unausführbare Entwürfe geben, denen wir dennoch 
nachhängen; denn und werden die Zielpunkte unſers Handelns 
mit unvollftändiger Weberficht ihrer Erjprießlichkeit durch den Lauf 
äußerer Umftände dargeboten, unjere Kenntniß der Wirklichkeit 
aber nicht durch unmittelbar die Sache durchdringendes Willen, 
fondern durch Ausdeutung jubjectiver Erregungen erworben. Nicht 
fo in Gott; und nicht von gleicher Möglichkeit, fondern von ur- 
fprünglich erfannter Unmöglichkeit deſſen, was nicht gefchaffen ift, 
müfjen deshalb unfere Gedanken über fein fchöpferiiches Walten 
ausgehn. 

Aber fie bedürfen, fo ausgebrüct, noch einiger Berichtigung 
und Erläuterung. Nicht dies können wir vor Allen meinen, daß 
vor Gottes Wiffen die Bilder verjchiedener Welten als an ſich 
mögliche oder unmögliche ebenjo geftanden haben, wie uns, kraft 
unferes Berwußtfeind von den Geſetzen einer von und unabhän- 
gigen Welt, manche Combinationen unferer Borftellungen als an 
fih unmögliche oder in dieſer Wirklichkeit unausführbare er- 
ſcheinen. Es gab für Gott nicht eine Wirklichkeit, in welcher 
er feine Schöpfung zu verwirklichen . hatte, noch Geſetze, die vor 
ihm Mögliches und Unmögliches an ſich beftimmten. Sondern 
indem Gott den Gedanken feiner Welt dachte und wollte, ſchuf 
er in ihm die Confequenz mit, durch die e8 gefchehen konnte, daß 
leere Bilder anderer Wirklichleiten als unvereinbar mit Diefer 
Melt mit entftanden; der Grund und Boden, auf dem es einen 
Unterjchied des Möglihen vom Unmdglichen und vom Wirklichen 
gibt, ift ein Spätere, als die Wirklichkeit des erften Wirklichen. 
Und ferner meinen wir nicht, zwiſchen biefen beiden Gedanlen- 
freifen des Gewollten und des ihm Fremden habe Gott fo un⸗ 
terfchieden, daß er den Inhalt des erften verwirklicht, den des 
zweiten durch Vorenthaltung feiner verwirklichenden Thätigleit in 
der ewigen Nichtigkeit eines leeren, eines bloßen Gedankens 
zurüdgehalten habe; wir wiederholen: es iſt ſchlechthin unfagbar, 








599 


worin der Unterſchied beider Looſe beftehen fünnte, wenn man 
ihn durch eine That Gottes geftiftet denkt und nicht feine Be 
deutung in dem Unterſchiede deſſen fucht, mas das Verwirklichte 
und das Nichtverwirklichte iſt. Gottes Gedanken find fie beide; 
aber die Gedanken des Nichtfeienden find die, die um ihres In— 
halts, um ihrer eigenen olgelofigkeit, ihres Unzufammenhangs 
und der Fortganglofigfeit ihrer Beitandtheile willen weder Welten 
bilden, nody mit den Gedanken des Seienden, welche die des Zu— 
jammenhanges und der Confequenz find, in Verknüpfung treten 
können. So erjcheinen fie vor Gottes Bewußtſein als umnver- 
bunden mit der Welt, die er will und in die ihr eigener Inhalt 
wirffam einzugreifen fie unfähig macht, und dem endlichen Wefen 
erfeheinen fie als nichtfeiend. Denn fein Denken zwar kann die 
leeren Bilder derſelben ebenfalls erzeugen, aber nirgend entdeckt 
e8 eine Spur ihre wirffamen Zufammenhanges mit der Ord— 
nung der Dinge, welche ihm, dem endlichen, von feinem Stand⸗ 
punft aus die Wirklichkeit heißt, weil fie der Gedanke Gottes ift, 
in dem es felbft fernen Ort hat und der auf es mit der Fülle feiner 
Confequenz wirkt. Ihm erft entiteht num die Täuſchung, als ſei 
diefe Wirklichteit, d. h. die Wirkſamkeit des Wirklichen, welche bie 
Folge feines Inhalts ift, durch einen ftet8 undefiniebar bleibenden 
Act der Verwirklichung des an fih nur Möglichen herbeigeführt. 

Und endlich dürfen wir wohl nicht mehr befürchten, dahin 
mißverftanden zu werden, als hätten wir jet eben die Welt als 
Emanation aus der göttlichen Intelligenz dargeſtellt, nicht fie 
aus feinem Willen ftammend gedacht. Als Erzeugniß feines 
Willens freilich möchten wir fie nicht bezeichnen, um nicht von 
Neuem den zurückgewieſenen Gedanken einer bejondern Berwirk- 
fihungsthat zu wecken. Gemwollt aber nennen wir die Welt den- 
noch durch Gott, und eben erft haben wir mehrmals diefen Aus- 
druck vorgreifend gebraucht. Nur fir das endliche Weſen ift der 
Mille vorzugsweis Trieb zur Veränderung, zur Herftellung deſſen 
was nicht war; feine eigentliche Natur aber ift Doch nur jene 
Billigung, durch welche der Wollende das Gewollte fich ſelbſt 


600 


zurechnet, gleichbiel ob e8 ein m Zukunft erft zu Verwirklichendes 
oder ein in eiwiger Wirklichkeit Seiendes ift. Dem endlichen 
Geifte führt ein don ihm unabhängiger Weltlauf die Objecte 
feines Thuns nachemander zu; um fo mehr fucht er fein Wollen 
m der Beweglichkeit, die Nichtſeiendes erzeugt, Seiendes ändert 
oder aufhebt und wenigftens durch ihr Benehmen fich felbftändig 
gegen die Veranlaſſungen beweiſt, welche fie nicht ebenjo felbjtändig 
herbeiführen fonnte Und doc liegt am Ende auch für den 
menjchlichen Geift das Bedeutſamſte des Willens nicht im Diefer 
Beweglichlet des verändberungerzeugenden ZTriebes, ſondern in 
der Billigung oder Mißbilligung, mit welcher der ganze Menſch 
ſich ſelbſt will oder nicht will, fich felbft annimmt oder verwirft. 
Diefen gleichförmigen und wandelloſen Willen haben wir mit dem 
göttlichen Gedanken der Welt verbunden oder ewig auf ihm 
ruhend gedacht; als bloßes Schlußgliev einer Weberlegung, Die 
nur die willenlofe Einfiht Gottes in fich durchgeführt hätte, 
tonnten wir ihn nicht fallen, ohne das göttliche Weſen dem Bilde 
des endlichen Geiſtes ungehörig zu verähnlichen. Und nicht un— 
möglich wäre der Nachweis, daß überhaupt willenlofe Intelligenz 
jo wenig, als einfichtlofer Wille denkbar ift; ihn hier zu führen 
hält uns die Erinnerung daran ab, wie weit wir bereit in em 
Gebiet uns eingelaffen haben, auf welchem zahliofe Mißverſtänd⸗ 
niffe ſich an jeden der unvolllommenen Ausdride knüpfen Können, 
die wir bier anwenden mußten, um die nicht zu vermeidenden 
äußerften Grenzen des menſchlich Vorjtellbaren überhaupt nur zu 
bezeichnen. 


Erhaltung und Regierung, foweit fie Natur und Naturlauf 
betreffen, waren ſchon mehrmals Gegenftand unferer Betrachtung 
(If, 48; ID, 7). Und nur imfomweit gehörten fie zu unferer Auf 
gabe, zu der wir es nie rechneten, Die Beziehung Gottes zu dem 
geiftigen Weltall, zu Sinn Zweck und Beſtimmung aller Dinge 





601 


zu erichöpfen. Ein einzelner Punkt dieſer weitläufigen Gedanken— 
welt veranlaßt und indeſſen zu eimer Ergänzung, deren auch das 
Borangegangene bedarf. Wäre die Welt mr eine Kette fid) 
bedingender Ereignifle, alles Zukünftige folgerichtige Entwicklung 
der Vergangenheit, jo würden Erhaltung und Regierung, ohne 
ihnen eigenthlimliche Schwierigfeiten, nur verjchtedene Ausdrücke 
für die göttliche Schöpferthätigleit fein. Der religidfe Glaube findet 
jedoch einen ſolchen Mechanismus des Weltlaufs weder feinem 
eignen Bedürfniß entfprechend, noch würdig, Gottes Schöpfung zu 
fen; er jegt voraus, Daß die Freiheit endlicher Weſen neue An- 
fünge des Gefchehens in den Weltlauf einführe, die, einmal ent⸗ 
ftanden, nach den allgemeinen Gefegen deſſelben fortwirken, jelbft 
aber in dem Vergangenen einen zwingenden Grund ihres Eintritts 
wicht haben. So erft gewinnen Erhaltung und Regierung eigene 
Aufgaben. Aber wie ftimmt diefe Vorausfegung mit der Unbe— 
dingtbeit und Bolllommenbeit, wie mit der Allmiffenheit Gottes, 
die dieſer Vollkommenheit nicht fehlen und ohne Borausficht der 
Zukunft nicht beftehen könnte? Durch Schlüffe das Künftige 
zu erkennen, welches im Gegenwärtigen feine Gründe hat, Diefe ung 
in befchränkten Maße mögliche VBorausficht wird Gott ſchranken- 
[08 eignen; aber mas könnte e8 heißen, daß Gott, wie man fagt, 
auch das Tyreie der Zuhunft vorauswiſſe, nicht als Etwas, Das 
fommen muß, fondern als Etwas, das kommen wird? Sit das 
Kimftige nicht, wie Könnte dies Nichtjeiende, außer wenn ed im 
Gegenwärtigen durch feine Gründe repräfentixt und alfo nicht, 
frei wäre, zu irgend einem Erkennen in einem andern Verhältniß 
ftehen, al8 das, mas niemals fein wird, wie alfo von Ddiefem un= 
terfchieden werden ? 

Ein feltfames Unterfangen ift es nun gewiß, wenn wir, end- 
liche Weſen die jo oft an die Grenze ihres Wiſſens gemahnt wer⸗ 
den, nad) Möglichkeit und Bedingungen der Allmwifjenheit fragen 
und auf unfere Frage Antwort hoffen. Wir können vorausfehen, 
daß wie mit einem Poftulat endigen werben, deſſen Erfüllung wir 
nicht zu befchreiben verftehen, zufrieden, wenn die Ueberlegungen, 


[2 





602 


von denen wir ausgehen können, Die unbekannte Erfüllung nicht 
als völlig widerfinnigen Traum erjcheinen laffen. 

Man hat verfucht, die Freiheit neuer Anfänge mit der Al- 
wiſſenheit durch die Annahme vereinbar zu machen, auch Die Zeit 
ſei nur eime Form der Anfchauung, in welcher und Die Welt er- 
icheint, aber in welcher fie nicht if. Dieſe Umkehrung der ge= 
wohnten Auffafjung ift indeſſen nicht ebenfo ausführbar, als Die 
gleiche in Bezug auf den Raum; ihn Tonnte man aufgeben, weil 
noch immer eine vielfach gegliederte Welt intellectueller Wirklichkeit, 
und deutlich an dem Beifpiel unſers innern Lebens, zuriidblieb ; 
aber um zeitlich erfcheinen zu können, jegt hierzu nicht jedes Er- 
eigniß doch einen wirklichen Verlauf feiner Momente, oder Doch 
wenigſtens eine wirklich zeitliche Abfolge der Vorftellungen in uns 
voraus, Durch Die ihm Die dann nur Idjeinbare Succeſſion Diefer 
Momente. beftimmt würde? 

Manches läßt fich gegen dieſen natürlichen Einwurf ent 
gegnen, ohne ihn Doch zuleßt zu entkräften. Es ift wahr: eine Ieere 
Zeit, in welcher die Ereigniffe verliefen oder ein Strom leerer Zeit, 
der jelbft verflöffe, könnte fir den Lauf der Ereigniffe weder eine 
richtungbeftimmende noch eine erzeugende Bedingung fein. Nicht 
die fließenden Augenblicke könnten doch das Wirkliche mit fid) 
führen, nicht fie die Auswahl deffen treffen, mas dauern oder ver- 
gehen, nicht fie den Ort beftimmen, an dem jedes in ihren Strom 
eintreten folle. Nur durch die Stelle, die in dem Ganzen jedes 
Einzelne vermöge feines Sinnes, feiner Bedingtheit durch das Eine, 
feiner bedingenden Kraft gegen das Andere emnimmt, wird ber 
Punkt feines Eintritt in die Zeit und jene Dauer in ihr be 
ſtimmt. Liegt nun dies eine Mejentliche des Gefchehens, die Rich— 
tung die e8 nimmt und die Ordnung die e8 befolgt, nur in dem 
Dedingungsverbande des geſchehenden Inhalts, fo Tann die leere 
Zeit ebenfo wenig dazu dienen, aus diefem an fich zeitlofen Zu— 
fammenhange die Bewegung und Succeſſion des Geſchehens zu 
erzeugen. An dem Ende ihres Verlaufs ift jede Strede ber 
leeren Zeit vollkommen gleich ihrem Anfange; wie groß oder Hein 








603 


man fie fich denken möge, Nichts ift durch ihren Ablauf gefchehen, 
wodurd, fir den Eintritt eine begründeten Ereigniffes num eine 
genligendere Bedingung oder eine zwingendere Nothwendigkeit ge 
Ichaffen wäre, als fie ſchon am Anfang diefes vergeblichen Zeit- 
aufmandes beftand. Bermochten damals die Gründe, die in dem 
Zufammenhange des Inhalts Tagen, die Verwirklichung des Ereig- 
niſſes nicht zu erzwingen, jo wird kein noch fo langer Verlauf 
leerer Zeit hinreichen, diefe mangelnde Triebfraft zu erjegen. Solche 
Ueberlegungen begünftigen den Verſuch, die wahre Wirklichkeit nur 
in der bedingenden Kraft zu fuchen, die jedes Ereigniß auf feine 
Conſequenz ausübt, die Zeit aber, die unferer Phantafie als die 
endloſe Umfaffungsform diefer Gliederung erſcheint, als eine bloße 
Form der Auffaflung anzufehen, in die fich nur fir ung der zeitlofe 
Zuſammenhang des Weltinhaltes ausbreite. Und es ift möglich), 
bi8 zu einem gewiſſen Punkte, auch dieſer ungewöhnlichen Dent- 
weife Deutlichfeit zu geben. An fi ift Vergangenes Gegen- 
wärtige und Zufünftiges nicht zeitlich verjchieden, fondern gleid)- 
zeitig, wenn wir zur Verſtändlichkeit dieſen an fich unvichtigen 
Ausdruck zulaffen wollen; Nichts verläuft in diefem Ganzen der 
Wirklichkeit; aber dies Ganze ift ein Ganzes einander bebingender 
Glieder, allenfalls einem Syfteme von Wahrheiten vergleichbar, 
deren eimfachfte alle iibrigen bedingen und ihnen, wie eine natür⸗ 
liche Symbolik uns bier fagen läßt, vorangehn, nicht der Zeit, 
fondern der Geltung nad; von ihnen aus geht die Reihe der 
Folgerungen nicht nur geradlinig weiter, fondern alle Süße, die 
in gleichem Grade der Abhängigkeit von jenen Principien ftehen, 
erjcheinen als coordinirte, gleichwerthige und gleichzeitige. Die 
Wirklichkeit ift, wie wir wiſſen, fein Syftem von Wahrheiten, und 
man wird das Unzulängliche des Vergleichs abrechnen müſſen; 
aber in folchen Bebingumgsverhältniffen ift fie allerdings gegliedert, 
daß jeder ihrer Theile fich eine unabjehbare Reihe von Grlinden 
vorausſetzt, eine gleiche Reihe von Folgen nach fich zieht und mit 
Unzähligem in gleicher Entfernung von den erften Gründen ober 
von irgend einem Glieve des Ganzen fich befindet. Diele Glie- 


604 


derung ift e8, die dem Erkennen in zeitlicher Succeſſion anſchaulich 
wird; die Beringung dem Bedingten vorangehend, dieſes nad} 
folgend, die näcdhftzufammengehörigen Gründe und Folgen in un— 
mittelbarem Nacheinander, die entferntere Folge von ihrem mittel- 
baren Grunde durch eine Zeitſtrecke geſchieden, welche der Reihe 
nad) von den vermittelnden Gliedern ausgeflillt wird, Die bis zu 
ihr bon jenem hinüberleiten. Und dieſe Gliederung erſcheint ſo 
einem Erkennen, das nicht außerhalb ihrer ſtehend ſie wie ein 
fremdes Spiel betrachtete; alle endlichen Weſen ſind ſelbſt Glieder 
dieſer Reihe, und jedem erſcheinen je nach ſeinem Platze in ihr 
feine eignen Vorausſetzungen, ſo weit es fie lennt, als vergangene, 
ſeine Folgen, ſo weit es ihrer gewiß iſt, als künftige; im Uebrigen 
als endloſe Vergangenheit und Zuhmft die Summe feiner ımbe= 
kannten Urfachen und feiner unüberſehbaren Wirkungen. 

So weit erlaubte diefe Anficht eine Entwidlung, und fie ift 
in ihrem Rechte in Allem, was die Ordnung und den Zuſammen⸗ 
bang des gejchehenven Inhalts betrifft; allein, wenn fie volllommen 
triftig das Beftehen einer unendlichen leeren Zeit leugnet, die ja 
eigentlich auch die natürliche Borftellungsweife niemals jo beftehen 
fondern unabläffig vergehen und mieder entſtehen läßt, jo Tann fie 
doch eben diefen unabläffigen Berlauf, Die zeitliche Folge der 
Ereigniffe, durch feine Bein des Gedankens wirklich vermeiden. 
Nicht deshalb freilich fcheitert fie, weil die Borftellung deſſen, mas 
wir als Früheres denken, zeitlich in uns der Borftellung deſſen 
borangehen müßte, was uns das Spätere jcheint; im Gegentheil; 
nur ein Bewußtſein, das in einem völlig umtheilbaren Acte beide 
zufammenfjaßt, ift in der Lage, fie zu vergleichen und ihnen in ber 
ſcheinbaren Ausvehnung der Zeit ihre verſchiedenen Pläte anzu⸗ 
weiſen; aber eben diefe in ſich untheilbaren Acte wiederholen ſich 
doch und folgen auf einander. In einem zeitlofen Zuſammenhange 
an einen beſtimmten Ort geftellt, wiirde jedes enbliche Weſen ſtets 
denjefben Haren oder dunklen Inhalt als feine Zulunft, denfelben 
anderen al8 feine Bergangenheit vor fich ſehen müſſen; das Leben, 
dad uns jene ſich nad) umd nach lichten, diefe allmählich verblaſſen 





605 . 


läßt, ift nicht ohne einen wirklichen Verlauf denkbar, der das Be 
wußtſein an dem Inhalt der Welt oder diefen an ihm vorliber- 
führt oder beide zufammen fich verwandeln läßt. 

Aber diefe nothmwendige Anerkennung des zeitlichen Verlaufs 
iſt doch in uns mit dem lebhaften Gefiihl verbunden, daß mit ihr 
nicht das letzte Wort ausgefprochen ſein könne. Wir rufen fo 
leicht aus: bin ift hin! find wir der Schwere dieſes Ausrufs ung 
vollfommen bewußt? Die reiche Vergangenheit, ift fie gar nicht? 
ganz aus dem Zufammenhange mit der Welt ausgebrochen und 
in Teiner Weiſe für fie erhalten? und die Weltgefchichte wäre nur 
der ımendlich ſchmale ewig wechjelnde Lichtftreif der Gegenwart, 
ſchwebend zwifchen einem Dunkel der Vergangenheit, die abgethan 
und gar Nichts mehr ift, und eimem Dunkel der Zukunft, die auch 
Nichts if? Und indem ich diefe Fragen fo ausdrücke, folge ich 
Doch immer wieder ſchon Dem Hange der Phantafie, der das Un- 
geheure zu mildern fucht, das fie enthalten. Denn dieje beiden 
Abgründe der Dunkelheit, mie geſtaltlos und leer auch immer, fie 
wären doch da; fie würden doc immer eine Umgebung bilden, 
die in ihrem unbefannten Innern noch eine Art Wohnftätte flir 
das Nichtfeiende darböte, wohin e8 verfchwunden wäre oder woher 
es Time. Nun aber verfuche man, auch diefe Bilder zu entbehren 
und felbit die beiden Leeren nicht mehr mitzudenken, welche das 
Sein begrenzen, und man wird empfinden, wie unmöglicd, e8 uns 
ft, mit dem nadten Gegenfa von Sein und Nichtfein auszu- 
fommen, und wie unaustreiblich das Verlangen, auch Nichtſeiendes 
irgendwie ald wunderbaren Beftandtheil der Wirklichkeit anſehn 
zu dürfen. Deswegen fprechen wir von Fernen der Zukunft und 
der Vergangenheit, durch dies räumliche Bild das Bedürfniß be 
friedigend, Nichts völlig aus dem größeren Ganzen der Wirklichkeit 
entichlüpfen zu laſſen, was der Gegenwart nicht angehört. 

Sp wenig wir nun anzugeben willen, wie der Berlauf der 
Zeit gemacht wird und wie der Zuſtand des einen Augenblides 
aus Sein in Nichtfein übergeht, um dem des nächiten Augenblides 
Pla zu machen, ebenfo wenig würden wir fagen fünnen, wie nun 


606 


umgelehrt dieſe Zufammenfafjung des Verfließenden in eine gleidy- 
zeitige ober liberzeitliche Wirklichkeit zu Stande kommt. Aber ge 
wohnt, die Welt größer und reicher zu finden, als das Denten, 
bas ihren wunderbaren Bau nachzubilden fucht, hege ich feinen 
Zweifel an der Erfüllung diefes Poftulates, von der mir freilich 
nur in menjchlich befchränkter Weife reden können. Fiir Gott 
befteht die Bedingung nicht, die und im Ganzen der Welt an 
einen bejtimmten Punkt feſſelt, und Alles, was außer uns ift und 
geſchieht, als vergangen oder künftig auf dieſen Bereich unfers 
‚unmittelbaren Erlebens, unjere Gegenwart, beziehen läßt; nicht ein 
Glied felbft, ſondern die umfaffende Weſenheit des Ganzen, ifl 
Gott jedem Theile diefer Wirklichkeit gleih nahe mie jedem an- 
dern, und obwohl jenem durchſchauenden Wiſſen die inneren Be- 
ziehungen offen Tiegen, durch welche dieſes Ganze ſich in eine 
zeitliche Ordnung gliedern würde, fo hat fiir ihn doch Teiner ihrer 
einzelnen Punkte ausfchlieglich den fpecifiichen Werth der Gegen- 
wart; ihn befikt fin Gott das unendliche Ganze. 

Und in diefer unzeitlichen Wirklichkeit endlih — um auf die 
Beranlaffung diefer Betrachtung zurückzukommen — finden die 
freien Handlungen nicht minder ihre Stelle; nicht als nichtſeiende 
und Tünftige, fondern als ſeiende. Denn- obgleich durch VBergan- 
gene8 nicht bedingt, hätten fie doch feinen Sinn, wenn fie nicht 
auf gegenwärtige Veranlaſſungen ſich bezögen, die ihnen Zielpunkte 
gäben, und wenn fie nicht dadurch zur Wirklichkeit würden, daß 
fie Folgen hätten. Ihr Pla in jenem zeitlofen Sein ift daher 
zwar nicht durch Glieder, die ihnen als bebingende vorangingen, 
wohl aber durch folche beitimmt, die ihnen als bedingte folgen 
oder als coordinirte gleichftehn; und fo mag die Allwiffenheit das 
Freie nicht vorausfehn als Etwas, das fein wird, fundern be 
merfen als ein Wirfliches, das in zeitlicher Erſcheinung feinen Ort 
an einem beſtimmten Punkt der Zukunft bat. 





607 


Die Unableitbarfeit des erfinderifchen Gedankens, aus welchem 
die Formen der natürlichen Wirklichkeit, und wir können jekt 
hinzufügen, auch die des gefchichtlichen Weltlaufs entipringen, gaben 
wir zu vollitändig zu, um einen erneuten Verſuch in dieſer 
Richtung zu wagen (I, 433). Aber von den Motiven, die über— 
haupt zu folchen Beitrebungen drängen, it das eine für uns 
unwirkſam geworden. Ein Reich ewiger Wahrheiten, formeller 
Nothwendigkeiten, abftracter Grundlinien aller fpätern Wirklichkeit, 
geht und nicht mehr als ein abſolutes Prius in dem göttlichen 
Weſen jo voran, daß die bunte farbenreiche Formenwelt des 
Wirklichen ihm gegenüber als ein gänzlich Neues, eine That der 
Freiheit erjcheinen müßte, die in unberechenbaren Geftalten fpie- 
lend fich Ddiefem Fremden untermürfe. Die ewigen Wahrheiten 
find für und nur die BVBerfahrungsweilen des Schaffens” felbft; 
micht vor ihm, fondern nach ihm beftehen fie als Geſetze, denen 
die Erzeugniffe der fchöpferifchen Thätigkeit unterthan erjcheinen. 
Und zwar holen wir jet im Vorbeigehen eine genauere Beſtim⸗ 
mung nad, die wir oben der Deutlichkeit opferten. Nicht un— 
mittelbar Tann eigentlich ein Gefeß oder Tann die Summe der 
ewigen Wahrheiten als VBerfahrungsmeife irgend einer Macht 
gelten; denn Wahrheiten und Gejege beftimmen nur das gegen- 
feitige Verhalten ver verichievenen Thaten einer Kraft, aber fie 
geben den Inhalt felbft nicht, der in dieſe Verſchiedenheiten zer- 
fallen ann. Erſt wenn die Macht dadurch, daß fie Beſtimmtes, 
Died und fein Andere8 erzeugt, einen concreten Inhalt hat, 
nennen die Geſetze die Bedingungen der Abänderung .diefer ihrer 
lebendigen Thätigkeit. Iſt daher allerdings aus den allgemeinen 
nothwendigen Wahrheiten der Grund nicht ableitbar, warum diefe, 
nicht eime andere Wirklichkeit befteht, jo iſt anderſeits dieſer 
Verſuch fir uns auch feine Aufgabe mehr: die Richtung der 
ewigen Macht, welche zu diefer beftehenden Formenmelt führte, 
ift vielmehr die urfprüngliche erfte umd einzige Wirklichkeit, und 
indem oder nachdem fie wirkt, ericheint fie dem Denken, das ſelbſt 
als ihr Erzeugniß in fie eingejchloffen ift, unter dem doppelten 


608 


Gefichtspuntte eines Tebendigen Schaffens nach beitimmter Nich- 
tung und einer Thätigfeit, die in ihrem Berfahren allgemeinen 
Geſetzen folgt; nun erſt ift dem Denken die Beranlaffung gegeben, 
auch von anderen Richtungen jenes Schaffens zu träumen, Die 
nicht find, und welche iiberhaupt num denken zu können bereits auf 
ber Wirklichkeit der Richtung, welche iſt, und auf ber inneren Ge- 
feßlichfett beruht, welche die jchaffende Kraft in ihr befolgt. 
Bolltommenen Abſchluß gewährt jedoch Diefe Betrachtung 
nicht. Selbft unter der VBorausfegung, daß ed ſich nur um eine 
natürliche Weltordnung handelte und von einer Welt der Werthe 
und des Guten feine Rechenfchaft zu geben wäre, wiirde fie Doch 
nur befriedigen, wenn einleuchtend zu machen wire, wie aus dem 
Inhalt, den die fchaffende Kraft zu verwirklichen ftrebt, die Summe 
der ewigen Wahrheiten als eine Abjtraction folgt, welche das 
allgemeine, in Erzeugung aller Theile diefes Inhalts ſelbſt⸗ 
verftändfiche Verfahren der Kraft ausſondert. Es ift feine Hoff- 
nung auf eine foldhe Leiftung vorhanden. Zwar wird man mit 
Recht eine Schwierigfeit hervorheben, welche fie fiir uns unmög— 
lich machte, auch wenn der nachzuweiſende“ Zuſammenhang an fich 
beftände: wir Tennen nur einen fehr geringen Theil der Wirklich- 
fett, nur die irdiſche Natur; nicht die Formen des Dafeind und 
Geſchehens, welche anderswo beitehen, nicht den Zuſammenhang 
zwiſchen ihnen und unferem Erfahrungsfreife; wir können alſo bie 
Tendenz der fchöpferifchen Kraft, den erfinderiichen geftaltenden 
Gedanken, dem fie folgt, gar nicht in einem Begriffe faflen, wel- 
her ihn vollitändig, erichöpfend und ohne Einjeitigfeit bezeichnete ; 
unmöglich ift e8 und deshalb, aus der fragmentariſchen Anficht, 
die uns allein von dem Zuſammenhang und dem Sinn der Natur 
gegeben ift, die allgemeinen Gejege ihres Berfahrens ebenſo ab- 
zuleiten, wie fie aus dem bolljtändigen Inhalte der fchaffenden 
Idee für den, welcher dieſe kännte, als abftracter Ausprud ihres 
Wirkens hernorgehen würden. Sch zweifle num nicht daran, daß 
eine jo allesumfaflende Kenntniß des Naturzuſammenhanges eine 
Menge unferer gewöhnlich eingenommenen Geſichtspunkte zu ver 


609 


Yaffen nöthigen, viele Räthſel zum Verſchwinden bringen, manche 
Fragen ganz umgeftalten würde; allein die jchwierige Ueberlegung, 
ob fie auch jene ihr zugetraute Leiftung ermöglichen werde, darf 
ich mir erfparen, weil ich mit dem Leſer die Weberzeugung zu 


theilen hoffe, daß eben diefe ſchrankenloſe Einfiht in die Natur 


die Ungültigkeit jener Vorausſetzung zeigen würde; e8 wiirde fih 
finden, daß eine bloße Geſtaltungskraft in der Welt nicht wirkt, 
fondern daß der erfinderifche Gedanke, der ihre Formen beftimmt, 
in unauflöslicher Berfettung mit dem Reihe der Werthbeftim- 
mungen und des Guten fteht. Die geringere Frage, wie die all- 
gemeinen Gefege mit dem formgebenden Gedanken zufammenhängen, 
geht daher in der höheren unter, in welcher Beziehung beide zu 
dem ewig Werthyvollen ftehen. 

Der religiöfe Glaube pflegt ein höchſtes Gut als den lei— 
tenden Zweck, eine freie fchöpferiiche Phantafie Gottes als das 
Mittel, dem Zwede Wirflicheit zu geben, die ewige Wahrheit 
als das Geſetz zu betrachten, nach welchem diefe Phantafie und 
die won ihr geichaffenen Erzeugniffe wirken. Böte uns num die 
Welt den unzweideutigen Anblick einer mangellofen Uebereinftim- 
mung dieſer drei PBrincipien, jo könnte man den Berfuch ihrer 
Bereinigung für ausführbar halten. Zwar bie fchöpferifche Phan- 


tafie würde man nie eigentlich aus dem höchſten Gut ableiten 
können; denn kein Zweck, abgefonvert für fich betrachtet, beftimmt 


mehr als gemiffe allgemeine orderungen, die durch mancherlei 
Mittel erfüllbar erjcheinen; und ebenjomenig möchte die Ableitung 
der Gefetze aus der Richtung gelingen, welche jene Phantafie ge- 
nommen hätte Aber e8 wäre vielleicht erweisbar, daß ebenfo 
wie die Macht nicht an fich, fondern nur als wirkſam nad) be 
ſtimmter Richtung denkbar ift, fo auch das Gute, in feiner All— 
gemeinheit gedacht, nım eine ſpätere Abitraction aus einem beftimm- 
ten geformten Guten fei, welches dann nicht al8 ein geftaltlofer, 
die Art feiner Ausführung noch erivartender Zweck der kommenden 
Wirklichkeit gegenüiberftände, fondern unmittelbar identiſch wäre 


mit dem, was wir die Richtung der ff ee Phantaſie 
Lotze, III. 8. Aufl. 








610 


nannten. Nur Eines wäre dann: nur die eine wirkliche Macht, 
die uns unter dem dreigeftaltigen Bilde eines zu verwirklichenden 
Zweckes erſchiene: zuerft ein gemwollter beitimmter Werth, um 
biefer Beftimmtheit willen eine geformte und fi) formende Wirt- 
lichkeit, endlich in diefem Wirken eine-ewige Gefeßlichkeit zu fein. 
Ehe ich diefer Auffaflung, in welcher ich meinen philoſo— 
phifchen Glauben ausdrücke, die legte Erläuterung gebe, die ich 
ihe geben Tann, hebe ich das entſcheidende volllommen unüber⸗ 
fteigliche Hinderniß hervor, welches ihre wifjenfchaftliche Durch⸗ 
führung hindert: das Dafein des Uebels und des Böſen in 
der Natım und in der Geſchichte. Es ift ganz nutzlos, die ver⸗ 
ichtedenen Verſuche zur Löſung diefer Frage zu zergliedern: den 
rettenden Gedanken hat hier Niemand gefunden, und ich weiß ihn 
auch nicht. Man mag fagen, daß nur im Kleinen das Uebel 
fich zeige, für die Anficht des großen Ganzen verichwinde; aber 
was hilft ein Troſt, deffen Kraft von der Anordnung der Periode 
abhängt? denn was wird aus ihm, wenn wir ihn umkehren: im 
Großen zwar tft Harmonie, aber näher betrachtet die Welt voll 
Elend? Wer das Uebel als Mittel göttlicher Erziehung recht⸗ 
fertigt, denkt nicht an die Leiden der Chierwelt, nicht an Die 
unbegreiflihe Verkümmerung jo vieles geiftigen Lebens in der 
Geſchichte, und beichränft Gottes Allmacht; denn jede Erziehung 
wendet Uebel nur an, weil es anders nicht geht. Wer endlich 
diefe Beſchränkung nicht verftohlen, fondern offen zugibt, mit 
Leibnig in jedem unvermeidlichen Zwieſpalt zwilchen der Allmacht 
Gottes und feiner Güte für die letztere fich entfcheiden zu müffen 
glaubt und das Uebel aus den Schranken exrflärt, welche die un- 
vordenkliche Nothwendigkeit der ewigen Wahrheiten auch der 
freien Schöpferthätigleit Gottes entgegenfege, auch der befriedigt 
und nicht. Denn e8 iſt die ımermweislichite aller Behmuptungen, 
daß an dem Uebel in der Welt die Gültigkeit der ewigen Wahr- 
beiten Schuld fei; für jeden unbefangenen Blick auf die Natur 
hängt e8 im Gegentheil von den beftimmten Einrichtungen der 
Wirklichkeit ab, neben denen auf Grund derſelben ewigen Wahr- 











611 


heiten auch andere Einrichtungen denkbar find. «Hält man jene 
Trennung, die wir nicht zugeben, zwiſchen den nothmendigen 
Gefegen und der fchöpferifchen Freiheit Gottes feit, jo gehört 
für uns zweifellos das Uebel zu demjenigen, was nicht fein 
mußte, ſondern durch die Freiheit geichaffen if. Aendern wir 
daher jenen Leibnigifchen Kanon ein wenig: wo ein unvereinbarer 
Widerſpruch zwiſchen Gottes Güte und feiner Allmacht vorliegt, 
entjcheiden - wir uns daflir, daß unfere menfchlihe Weisheit 
zu Ende ift, umd daß wir die Löſung nicht begreifen, ‘an bie 
wir glauben. 


— 


Es iſt wohl unrecht geweſen, daß ich damals, als ich zuerſt 
dieſe Betrachtungen der Theilnahme der Leſer anbot, mit ſo kurzen 
Worten, obgleich ſie mir nachdrücklich genug ſchienen, über dieſe 
unausfüllbare Lücke unſerer Weltanſicht hinweggegangen bin. Nicht 
die Hoffnung, ſie nun dennoch ausfüllen zu können, bewegt mich 
zu den folgenden Aeußerungen, ſondern der Wunſch, keinen Zweifel 
über den Sinn und Zweck aller der Ueberlegungen zu laſſen, in 
die man ſo freundlich geweſen iſt mir bis hierher zu folgen. Ich 
habe nie die Zuverſicht genährt, die Speculation beſitze geheimniß- 
volle Hülfsmittel, ji vor den Beginn aller Wirklichkeit zu ftellen, 
ihrer Entftehung zuzufehen und die nothmwendige Nichtung ihrer 
Bewegung vorauszubeftimmen; nur nachdem dieſe wunderbare Welt 
iſt und wir in ihr, ſchien mir die Philofophie die menjchlihe Be⸗ 
mühung zu jein, in rüdläufiger Bemühung die Thatſachen der 
äußern und der innern Erfahrung fo. weit in Zufammenhang zu 
ſetzen, als es unſere gegenwärtige Stellung in der Welt möglich) 
macht. Sch bekenne mich vollfommen der altwäterifchen Weber 
zeugung ſchuldig, nicht nur daß unfer Wiſſen Stückwerk ift, fon- 
dern auch, daß es Wege gibt und zur Klarheit zu führen, bie 
uns noch verborgen find; nicht eine große kosmiſche ſondern die 
beſcheidene terreftrifche Aufgabe hat unfere Philofophie, das Bild 

39” 


x 


612 


der Welt fo zu conftruiren, wie e8 fi) auf die Ebene umferer 
irdiſchen Eriftenz proficiren läßt. Ich Könnte num dies Gleichniß 
ausbeuten und auf Die reicheren Dimenfionen der wahrbaften 
Wirklichkeit mich berufen, Die in ihr zur Dedung zu bringen er- 
Tauben, was fir unfere Anfiht ewig auseinander fallen wird, Die 
höchfte Güte und das Dafein des Uebels; aber mit diefem Spiel 
von Worten wiirde ich doch nur das Geſtändniß verbüllen, das 
wir unumwunden ausfprechen müſſen, das Geſtändniß, daß mir 
nicht einmal die Richtung zu ahnen vermögen, in meldyer die un— 
befannte Verſöhnung dieſes Zwieſpaltes zu fuchen märe. 

Wenn ich dennoch die Zuberficht auf das Vorhandenfein der 
Löſung fefthalte, die wir nicht kennen, fo fpreche ich nicht eine 
lehrhafte Behauptung aus, die ich mit irgend welchen theoretiichen 
Mitteln zu ftüßen wißte, fondern nur die Loſung zu einem 
Kampfe, an dem ich meine Xefer zu Theilnehmern wünſche, dem 
Kampfe gegen die zuverfichtlichen Anfichten, die den Glauben ärmer 
aber das Willen wahrlich nicht reicher maden. Denn den Lauf 
der Welt ald die Entwicklung einer blinden Macht zu betrachten, 

"die ohne Einſicht und freiheit und ohne Theilnahme fir Gut und 
Böſe nad) allgememen Geſetzen ſich fortbewegt: follen wir dieſe 
unberedjtigte Verallgemeinerung einer in ihren Grenzen triftigen 
Auffaffung für die höhere Wahrheit halten? und ift fie nicht viel⸗ 
mehr die unbefriedigende Auskunft, auf die der ermiidende Gedante 
fih in jedem Augenblide zurückziehen kann, wenn er fein unerreid;- 
bares aber darum nicht minder ficheres Ziel aufgiebt? Alles aber, 
was gut und fchön und Heilig ift, wird die Entſtehung dieſes 
Lichten aus dem Dunkel blinder Entwicklung wirklich begreiflicher 
als für uns der Schatten des Uebels in der Welt ift, die wir 
dem Lichte zu danken glauben? 


Wenn wir auf die Thatfachen zurüdgehen, die und zur 
Bildung der Begriffe de8 Guten und de8 Gutes veranlaflen, 
fo finden wir, daß unfer Gewiſſen beftimmte Formen des Wollens 





613 


und der Gefinnung billigt und gebietet: als fo gebilligte heißen 
fie gut; daß unfer Gefühl ferner Gegenftände und ihre Eindrücke 
auf uns ald förderlich und angenehm empfindet: als jo fürder- 
liche heigen fie Güter, wenn fie einem beftändigen und allge 
meinen Bedürfniß unferer Natur, nüglich aber, fo weit fie nur 
einem einzelnen Zwed von dahingeftellt gelaffener Bedeutung für 
das Ganze unferer Beitimmung entgegenfommen. Gewiſſen und 
Gefühl theilen Durch ihre unbeweisbaren und nicht abzuändernden 
Ausſprüche dieſe Werthe unmittelbar ſehr Verſchiedenem zu; die 
Gleichartigleit derfelben drängt uns anderjeits, in diefem Ber- 
ſchiedenen dennoch gleichartige Gründe zu fuchen, durch welche 
fie verdient werden. Diefer Weg der Abftraction führt dahin, 
‚aus der Bergleihung des Einzelnen die allgemeine Bedingung zu 
finden, unter der e8 irgendwelchen Inhalt zufommt, gut nützlich 
oder ſchön zu fein. Das Ende diefes Weges aber ftellt man ſich 
zweifach vor. Entweder findet ſich als folche Bedingung nur 
eine allgemeine formale Beziehung, die in dieſer ihrer Allgemeinheit 
gar nicht, fondern nur in einer der einzelnen Formen Wirklichkeit 
hat, aus denen man fie abftrahirte; oder man hofft, ein All⸗ 
gemeine zu erreichen, welches auch im diefer Allgemeinheit wirklich 
jet und zwar das jet, was es an dem einzelnen Wirflichen als 
Eigenſchaft bebeutet. 

In Bezug auf das Nüsliche und das Angenehme glauben 
wir Alle uns in dem erften Falle zu befinden, und das Nitgliche 
an ſich oder das Angenehme an ſich zu ſuchen, Liegt nicht 
mehr fo in dem wiſſenſchaftlichen Geſchmack unferer Zeit, wie e8 
wohl in dem des Alterthums lag. Wir beicheiven ums, von 
beiden nur Allgemeinbegriffe finden zu Können, die das nicht an 
fich find, was fie an Anberem bebeuten. Denn wie im Wlige- 
meinen kein Begriff das iſt, was er bezeichnet, der des Rothen 
nicht roth, der des Süßen nicht füß, fo find auch die Inhalte 
der Allgemeinbegriffe des Nützlichen und Angenehmen nicht felbit 
angenehm oder niütlich, ſondern fie find Bedingungen, unter 
denen an einem Andern, nämlich an dem einzelnen Wirk— 





614 


lichen, welches diefe Bedingungen erfüllt, Arnmehmlichleit oder 
Nützlichkeit als Prädicate auftreten. Das Schöne an ſich da— 
gegen und das Gute an fi) find noch immer Zielpunfte, ja 
Ausgangspunfte vielfacher Speculationen. In diefen beiden Fäl⸗ 
Ien fucht man in dem Allgemeinen nicht nur Bedingungen, unter 
denen ein Anderes, welches fie erflillt, ſchön oder gut fei, ſondern 
man hofft ein ſolches finden zu können, welches an ſich Die 
Schönheit oder Güte fei, die wir urfprlinglicd nur als Eigen- 
Ihaft an dem Einzelnen kennen. Sch iiberlaffe das Schöne Dem 
Nachdenken des Leſers und verfolge nur die Frage, ob umd wie 
die eigenthilmliche Natur des Guten diefe im Allgememen nicht 
ausführbare Aufgabe erfüllbar macht. 

Gut find nicht die Handlungen als gejchehende Ereigniſſe, 
nicht ihre Erfolge al8 geftiftete Thatſachen, fondern nur der Wille 
ber fie erzeugt. Auch er nicht als blos vollbringender Trieb, 
jondern als Ausflug einer Gefinnung, die nicht mr Willen um 
ein Gebot, fondern Webereinftimmung mit ihm, und nicht, wie die 
Folgſamkeit einer Naturkraft gegen ihr Geſetz, nur thatfächliche 
Uebereinftimmung mit ihm, fondern Unterwerfung mit der Mög- 
lichfeit der Nichtumterwerfung iſt. Und nicht nur als Möglich- 
feit muß der Ungehorfam der Einficht vorſchweben, jondern durch 
eignen Werth, den er dem Werthe der Gebote entgegenfegt, dem 
Willen zur Unterwerfung Widerftand leiſten. Werthe aber be 
ftehen nur für den Fühlenden; was auch immer von eimer gleidy- 
gültigen und leidloſen Intelligenz und einem durch fie geleiteten 
Willen ausginge, es wiirde keine fittliche Beurtheilung auf fich 
ziehen. Und endlich ſelbſt die Gefinnung deſſen würden wir nod) 
nicht gut nennen, der durch eine Wahl ohne Opfer mr den 
größeren Werth, der fiir ihn der größere wäre, dem kleineren 
vorzöge; das vielmehr, was file den flihlenden Geift der drin- 
gendfte und nächte Werth ift, muß einem Andern aufgeopfert 
werden, das fir ihn em folcher nicht ift: das eigne Wohl dem 
Inhalte des erkannten Gebotes. j 

Bon hier fcheidet fih unfer Weg bon dem der verbreitetften 





615 


Meimung, mit welchem er bisher in diefer flüchtigen Erinnerung 
an bekannte Geſichtspunkte wohl zufammenging. Denn denen 
ſtimmen wir, wie wir längft eingeftanden, nicht bei, die nun doch 
wieder diefen höhern Werth in eimer dee des Guten fuchen, 
welche irgend ein formelle Berhältnig der Willen zu einander 
oder die Verwirklichung eines irgendwie geftalteten Thatbeftandes 
als ſchlechthin verbindliche Pflicht zu erfüllen oder als höchſtes 
Gnt zu erftreben gebiete. Sein noch fo tiefjinniges Verhältniß 
zwiſchen Zuftänden und Ereigniffen, die nur gefchähen, ohne daß 
ihre Harmonie von irgend Jemand genoffen würde, ift an fich 
ein Gut, und fein Wille wird dadurch gut, daß er mit dem Be- 
wußtfein der völligen Unfruchtbarkeit der Herftellung folcher Ver⸗ 
Hältniffe fich dennoch ihr widmet. Sol die Gefinnung das eigne 
Wohl einem Andern nachlegen, fo kann dies Andere nur in frem⸗ 
dem Glück gefunden werden, und fie ift gut nur durch diefen Bes 
weggrund ihrer Hingabe. Gutes ımd Güter beftehen nicht als 
Güter und Gutes außerhalb des fühlenden wollenden und wiffenden 
Geiftes; fie haben nur als feine lebendigen Bewegungen Wirklichkeit. 
Das Gut an fich iſt Die genoffene Seligfeit; die Güter, die wir 
fo nennen, find Mittel zu diefem Gut, aber nicht felbft das Gut, 
ehe fie in ihren Genuß verwandelt find; gut aber ift nur die 
lebendige Liebe, welche die Seligkeit Anderer will. Und fie ift 
eben das Gute an fich, das wir fuchen; fie, indem fie Wirk 
fichfeit bat als eine Bewegung des ganzen lebendigen Geiftes, 
melche ſich jelbft weiß fich fühlt und ſich will, ift eben besiegen 
nicht nur eine formale allgemeine Bedingung, umter der irgend. 
einem Andern, das fie erfüllte, zukäme gut zu fein, ohne daß fie 
ſelbſt es wäre; fondern fie tft das Einzige, das in eigentlichen 
Sinne diefen Werth bat oder diefer Werth ift, und alles Andere, 
Entſchlüſſe Gefinnungen Handlungen und befondere Richtungen 
des Willens, alles Dies trägt nur abgeleiteter Weiſe mit ihr 
denfelben Namen des Guten. Wir, die endlichen Wefen, in einer 
Welt befaßt, deven Plan unferer Einfiht nicht offen liegt, können 
die wohlmollende Liebe nicht unmittelbar in der Hoffnung wirken 





616 


laſſen, daß jede Richtung, die unfere mangelhafte Borausficht ihr 
gäbe, zu dem Gute führen wiirde, das fie erftrebt; ung hält unfer 
Gewiſſen in einer Mehrzahl fittlicher Gebote die allgemeinen 
Gefege vor, nach denen geleitet unfer Handeln unter den ver 
ichiedenartigen Beranlaffungen, die ihm gegeben werden, des 
rechten Weges ficher ift: dem göttlichen Weſen fteht nicht im 
gleicher Weife em an fich Gutes als ein auch ihm geltendes 
Gebot gegenüber. Keinerlei wejenlofe unmirflihe und dennoch 
an fih ewig gültige Nothwendigkeit, weder ein Reich der Wahr- 
heiten noch ein Reich der Werthe, tft früher als das erfie Wirk 
liche, fondern das Wirkliche, welches Die lebendige Liebe ift, ent- 
faltet ſih in die Eine Bewegung, die dem endlichen Erkennen 
fi in die drei Seitenträfte des Guten, welches ihr Ziel ift, des 
Geftaltungötriebes, der e8 verwirklicht, und der Gefeglichkeit zer- 
legt, mit welcher diefer die Richtung nach feinem Zwecke innehält. 

Indem ich jeßt zum legten Male zu dieſem Gedanken zu- 
rüdfehre, der dieſen Schlußbetrachtungen von Anfang an vor 
ihwebte, erinnere ich an das damals gethane Geſtändniß feiner 
wiſſenſchaftlichen Undurchführbarleit (III, 458 ff). Mancherlei 
Berfuche, achtbar in ihrem Beftreben und im Einzelnen nicht ohne 
mandye fchöne Frucht der Aufflärung und Sicherung unferer 
Ahnungen, betätigen im Allgemeinen dieſe Grenzen unſers Ber- 
mögensd, Am befriedigendften wird e8 verhältnigmäßig der chrift- 
lichen Ethik gelingen, die einzelnen fittlichen Ideen als bie ver⸗ 
ſchiedenen Formen darzuftelen, welche die thätige Liebe ihrem 
Berhalten vorzeichnen muß. Sie wird zeigen können, daß alle 
die firengeren jcheinbar erhabeneren Geftalten des Sittlichen, 
welche ber Heroismus des Heidenthums, die Seligfeit verfchmä- 
hend, hervorhob, dennoch Nichts find gegen die Milde der Liebe 
und Nichts, ohne in ihr zu wurzeln; daß alle Gebote, welche, 
durch Die Beitimmtheit ihres Inhalts und durch die Leichtigkeit, 
fh in eine Weihe fcharfumfchriebener Conſequenzen zu gliedern, 
unfere Aufmerkſamkeit wiſſenſchaftlich mehr auf fich ziehen, gleich- 
wohl nur einen Mechanismus bilden, den das ummittelbar geftalt- 





617 


Iofere und wie träumend erſcheinende Princip der Liebe zu feiner 
eignen Entfaltung erfindet. Biel geringer wird Dagegen ſtets die 
Ueberzeugungsfraft der Berfuche fein, die beftehende Wirklichkeit 
aus demfelben Principe zu deuten. Keiner von ihnen bat vor 
Allem, um nur überhaupt einen Ausdruck für das zu finden, 
was er meint, vermeiden können, in der Bezeichnung der Auf⸗ 
gaben und Bebürfniffe der ewigen Liebe, die aller Welt Urſprung 
fein ſoll, die Analogien des menjchlichen Seelenlebens in einer 
Ausdehmmg zu bemugen, welche dem wiffenfchaftlichen Geſchmacke 
nothwendig mißfallen muß. Nur ungern fünnen wir den Kern 
unferer Ueberzengung, deſſen wir in feiner Einfachheit ficher find, 
zu einem Syſtem entwidelt ſehen, falls dieſes den Urfprung der 
Dinge durch Borftellungen erläutern muß, deren Sinn erit aus 
viel fpäter im Laufe der zu erflärenden Welt fich einfindenden 
Beziehungspunkten deutlich wird, und deren bilblichen Ausdruck auf 
die mit Recht in dieſem Fall zuläffige eigentliche Bedeutung zu⸗ 
rüdzuführen eine faum zu Ende zu bringende Aufgabe fein würde. 
Diefe allgemeine Unficherheit wird gefteigert durch das häufige 
Beitreben, aus einzelnen Antrieben welche man in der Natur des 
höchſten Princips zu entdecken glaubt, einzelne Formen der Wirt 
lichkeit unmittelbar abzuleiten. Welches auch die Welt fein mag, 
in welcher die erſchaffende Liebe ſich äußert: gewiß iſt fie doch 
bon ihr als ein Ganges entworfen; von dem Ganzen des Ideal⸗ 
bilves, welches die fchaffende Liebe fich vorzeichnet, empfängt das 
Ganze der Natur und der Gefchichte das Ganze feiner Aufga- 
ben und vollzieht fie durch die Mittel eines zufammenhängenden 
Verwirklichungshaushaltes. Darauf müßte die Mühe der Ab- 
leitung gerichtet fein, aus dem Begriffe der höchften Liebe zu= 
erft Das Dafein eines allgemeinen Mechanismus in dem Hergang 
allee Dinge, und daun aus dem Gefammtinhalt defien, was die 
Liebe will, die beftimmte Form dieſes Mechanismus zu 
entwideln, welche der Erzeugung aller Wirklichleiten mit immer 
gleicher Treue und beſtändiger Gejeglichleit genügt. Schwerlich 
iſt die Löſung dieſer Aufgabe, wie wir früher ſchon erwähnten, in 





618 


der Form einer vom Princip beginnenden Deduction, ſie wird 
nur in beſcheidenerem Maße als Zurückdeutung des erfahrungs- 
mäßig gefundenen Thatbeitandes möglich fein. Denn weder für 
Natur noch fiir Gefchichte befizen wir diejenige Vollſtändigkeit der 
Kenntnig, welche und das Ganze des göttlichen Weltplaned zu 
errathen verftattete; die Verſuche, ihn aus der dürftigen irdiſchen 
Erfahrung zu beftimmen, verrathen nur zu ſehr die Ungunft 
unfere8® Standpunktes, der mit der ganzen Einfeitigfeit feiner be= 
ſchränkten Ausficht fich fir den höchſten Gipfel, vor dem die Welt 
offen läge, ausgeben möchte Diefer Mangel an Ueberblid läßt 
jene Berfuche zu oft in der Abfchägung der Wirklichkeit ihrer 
einzelnen Gegenftände irren; fie ftellen als unmittelbare Ziele der 
Ichaffenden Idee dar, was fiir eine empiriſche Kenntnig der Dinge 
nur eine ſehr beiläufige Folge allgemeiner Geſetze ift, und jo ge— 
rathen fie in beftändige Mißverhältniſſe zu der Naturwiſſenſchaft, 
bie ihr immerhin werigerhochgelegenes Gebiet mit unvergleich- 
lich größerer Energie des genauen Wiffens beherricht. 

Aber nicht nur die verſchiedenen fittlichen Ideen und bie 
Formen der Wirklichkeit, auch die ewigen Wahrheiten vielmehr, 
die Summe deffen, was uns als denknothwendig und nicht an= 
vers fein könnend erfcheint, müßte aus bemfelben Grunde der 
ewigen Liebe erklärt werden. Schiene mir die wiffenjchaftliche 
fung diefer Aufgabe möglich, fo wiirde ich alle Kraft an ihre 
Ausführung ſetzen; denn erſt dann würde ich den vollen Beweis 
fr meinen Glauben gegeben haben, daß die Gültigkeit des Me- 
chanismus ſchrankenlos, aber feine Bedeutung tiberall eine unter 
geordnete iſt. Ich wiirde nachzuweiſen haben, wie die Thatjache, 
daß es iiberhaupt Wahrheit gibt, file fi) unverſtändlich und nur 
begreiflich it in einer Welt, deren ganze Natur von dem Princip 
de8 Guten abhängt, das wir in ber lebendigen Liebe Tennen 
lernten, und ich wiirde nicht weniger hervorzuheben haben, wie 
es dieſer Liebe weſentlich und gleichſam nur die erſte ihrer Schöpfungen 
it, eine allgemeine Ordnung und Geſetzlichkeit zu gründen, inner 
halb deren manmigfaches Einzelne, vergleichbares Weſens, zu in- 


— 











619 


einandergreifenden Wechſelwirkungen verbindbar wird. Läge der 
Welt nicht dies ewig Werthuollfte und Heilige ver Liebe zu 
Grunde, ımd wäre dann eine Melt noch denkbar, von der wir 
reden Tönnten, fo würde diefe mir fcheinen auch ohne Wahrheit 
und Gefeßlichleit ausfommen und das fein zu können, was fie 
etwa wäre. Ich würde ferner erinnern müſſen, daß der feſteſte 
Pfeiler aller Wahrheit, das Geſetz der Identität, uns freilich, 
die wir feiner in der Verwidlung ver legten widerſpruchsreichen 
Erfcheinungen der Wirklichkeit uns als eines rettenden Haltes 
bewußt werden, leicht al8 eine Durch ſich grundlos geltende Wahr- 
heit vorfommt; daß aber auch fein Inhalt doch nur die formale 
Abipiegelung der inhaltvollen Treue gegen ſich ſelbſt ift, deren 
unmittelbaren Zufammenhang mit dem höchften Werthe des Gu— 
ten wir wieder fehr wohl empfinden, wenn wir von Gott die 
ewige Identität mit fich felbft nicht blos als Ingiiche Vollkom⸗ 
menbheit feines Begriffs, fondern als ethiſche Vollkommenheit feines 
Weſens vorausfegen. Ich würde dann zu zeigen haben, was es 
heiße, daß es etwas gibt, was wir zureichenden Grund und ur- 
fächliche Verknüpfung nennen; wie unvorbenffih uns auch beide 
ericheinen mögen, ebenfo unmittelbar find wir und doch aud) 
deffen bewußt, daß die Welt finnlos fein würde, in ‚welcher Eins 
das Andere begründete oder hervorbrächte, nur damit dies jo fei 
und geichehe. Wenn die Naturen der Dinge fo find, Daß zwei 
ich durch irgend eine Beziehung zu dem vollftändigen Grunde 
eines Dritten zufammenthun können, fo ift auch dies Wunder 
mir nur in einer Welt verftänblich, in der e8 nicht blos auf 
Geſchehen, ſondern auf Thaten abgefehen iſt, deren Abſichten 
Erfolge haben ſollen, und deren Freiheit ausnahmsloſe Gejek- 
lichkeit ſowohl, als Fruchtbarkeit in Erzeugung neuer Ergebniſſe 
in der Welt der Dinge vorausſetzt, die dieſer Freiheit als Ziel⸗ 
punkte und Gegenftände ihres Strebens dienen. Von dieſer Be⸗ 
trachtung der metaphyſiſchen Grundſätze alles unfers Erkennens 
würden wir ſelbſt zu den mathematiſchen Wahrheiten und ihrer 
Geltung m der Wirklichkeit überzugehen haben. Wir würden 





620 


zwar nicht den guten Geſchmack dadurch beleidigen, daß mir 
mathematifhe Sätze ummittelbar aus anderen Principien als 
den einheimiſchen Grundvorſtellungen der Mathematit abzuleiten 
ſuchten; aber von jenen Grundporiiellungen jelbft, Denen 
ber Größe der MWieverholbarfeit des Gleichen der Einheit 
Vielheit Vereinbarkeit und Theilbarkeit wilrden wir zu zeigen 
haben, daß die Thatſache ihrer Denkbarkeit doch nicht bloße 
grundloſe Thatfache, jondern wefentliche Borausjegung der Oxrb- 
mung ift, welche als höchſtes Princip das Gute der Welt auf- 
erlegt, ein anderes Princip, wenn wir ber Deutlichkeit halber 
diefen leeren Gedanken äußern follen, ihr nicht in gleicher Weife 
auferlegen würde. Die Herrfchaft der mathematischen Wahrheit 
über die Wirklichkeit aber würden wir mit dem Hinweiſe zu 
berühren haben, daß nur einer Periode noch unvollkommener 
Durcharbeitung der mechaniſchen Wiſſenſchaft die Geſetzlichkeit 
der Natur von einer ganz beſondern Art zu fein jchien, nur 
erfennbar durch zauberhafte Zwangsmaßregeln einer formelreichen 
und auf einfache Begriffe nicht zurüdzufüihrenden Rechenkunſt; 
je weiter die Mechanik fortjchreitet, um jo mehr ſehen wir ihre 
allgemeinften Ergebniffe wieder die Form von Süßen annehmen, 
deren leichtverftändlicher Sinn, da er überall das Einfachſte und 
Bernünftigfte als das Geſetz des Gejchehens bezeichnet, in Begrif- 
fen ausdrückbar wird und der mathematifchen Einkleivung nur 
bedarf, um die Bedeutung diefer Begriffe mit den genauen Maß- 
beftimmungen in Zuſammenhang zu fegen, die fie m der An— 
wendung auf das Wirfliche erfordern. Sp kann denn auch bie 
Zeit noch kommen, wo dieſe fo vereinfachten Grundſätze aller 
Mechanik ſich näher an das höchſte Princip anfchließen und als 
legte formelle Ausläufer des Guten deuten laſſen werden, welches 
aller Welt Anfang und Ziel ift. 

Vieles Tieße fich wohl hierüber noch reden; aber ich will 
von dem Leſer nicht mit der Täufchung fcheiden, als he 
hielte ich über diefe Fragen eine große Weisheit zurüd, Im 
Segentheil, welche weitere Ausfiihrung wir auch dieſen Gedanken 











621 


- zu geben verſuchten, fie wiirde uns nicht befriedigen, ſondern in 
ihrer unvermeidlichen Unfertigleit nur dem Vorwurf einer fenti- 
mentalen Spielerei ausgeſetzt fein. Ich theile vollkommen den 
wiflenjchaftlichen Gefchmad, aus dem diefer Vorwurf entfpringen 
würde, und wie ich mich überall in dieſen Betrachtungen mit der 
Erörterung der begrifflichen Brincipien begnügt babe, die zum 
Beurtheilung unferer Zweifel dienen können, in die weiten Re 
gionen Dagegen nie eingegangen bin, Die ſich nur durch Ahnun⸗ 
gen einer dichteriſchen Phantafie bis jett erfüllen Iafien, fo mag 
e8 auch bier genügen, den Glauben an ein Ziel noch einmal 
auszufprechen, von deſſen Berührung und eine unausfüllbare 
Kluft zurückhält. 


Gelten haben wir nad langer Wanderung die Genugthu- 
ung, uns fagen zu dürfen, daß wir feinem Gipfel vorbeigegangen 
find, der eine Ausficht verjprach, jeden von feiner günſtigſten 
Geite betreten, und nie durch Heine Reize an eine Stelle länger 
als billig gefeffelt, Die bedeutungsvollere Fernſicht einer benad- 
barten aufzufuchen verfäumt haben. Noch weniger wird e8 un 
gelingen, die mannigfadhen Stimmungen und Gedanken, die und 
im Laufe des Wegs entftanden, zu einem einfachen Erinnerungs- 
bilde zufammenzufaffen, ohne in ihm Vieles von dem wieder auf- 
geben zu müffen, was in feiner lebendigen individuellen Färbung 
und anzog und feflelte Ich fühle jene Selbſtvorwürfe und dieſe 
Schiierigfeit, indem id) von einer Arbeit fcheide, deren mejent- 
lichen Sinn ich gern, unbelaftet von den Eingelerörterungen, in 
welche fie eimging, noch einmal ausdrüden zu können wünſchte. 
Es würde vergebens fein, dies anders als dadurch zu verfuchen, 
daß ich die leitende wiſſenſchaftliche Gefinnung noch einmal her- 
vorhebe, die dem Ganzen zu Grunde lag: den Streit eimerfeits 
gegen alle Verehrung leerer Formen und gegen die Werthlber- 
höhung deſſen, was nur Vorausſetzung oder Folge, Mittel oder 





’ 622 


Erſcheinungsweiſe des wahrhaft Werthvollen Lebendigen - und 
Weſenhaften ift; und damit verſchwiſtert den andern Streit gegen 
jede Schwärmerei, welche das Höchſte in anderer Weife lieber 
wirkſam jehen möchte, al8 in ber, die es fich felbft gemählt, oder 
die e8 auf kürzerem Wege erreichbar glaubt, ald auf dent Ummege 
formaler Gefeßlichkeit, in melche es ſelbſt fich dahingegeben hat. 
Aus diefer Gefinnung entjprang die Achtung vor dem wil- 
jenfchaftlichen Werth mechanischer Forſchung in Natur und Ge— 
Ihichte, aus ihr zugleich die hartnädige Ablehnung, in allem 
Mechanismus mehr zu fehen, als die im Denken iſolirbare Form 
des Berfahrens, die das höchſte Wirkliche der lebendigen Ent- 
wicklung feines durch fie allen nie erfchöpfbaren Inhalte gibt. 
Und nicht gegen die materialiftiichen Anfichten allein galt uns 
diefer Kampf, fondern ebenfo ſehr gegen jenen Idealismus, der 
ihnen gegenüber die beſſere Sache zu verfechten glaubt. Es fchien 


"uns völlig gleichgültig, ob der weſentlichſte Kern der Wirklichkeit, 


| 


aus dem alles Andere wie felbftverftänpliches Nebenwerk hervor⸗ 
jprießen fol, in feelenlofen Atomen blinden Kräften und mathe 
matifchen Geſetzen des Wirkens, oder ob er in denknothwendigen 
Begriffen irgendwelcher Art, in relativen oder abfoluten Ideen 
und den Gaukeleien ihrer dialektiſchen Bewegungen, gefucht wird. 


Alle dieſe Anfichten wirdigen ganz gleichmäßig die Natur und 


die Gefchichte dazu herab, Darftellungen des unbedingt Gleich— 
gültigen und Werthlofen zu fein, deſſen Vorhandenſein in der 
Welt des Denfbaren nur begreiflich ift, wenn es als der lebte 
formelle Widerfchein des lebendigen Geiftes und feiner lebendigen 
Thätigkeit gedacht wird. 

Und wie in der Erkenntniß, fo fchien es uns im Leben die 
Summe der Weisheit, das Geringe nicht zu vernachläffigen, aber 
es nicht fir groß auszugeben; nur für das Große fich zu be= 
geiftern, aber im Kleinen getreu zu fen. Beiſtimmung batten 
wir weder für Beftrebungen, welche ohne Achtung vor dem all- 
gemeinen geiftigen Mechanismus des Rechtes die menschlichen 
Berhältniffe nach geiftuollen Eingebungen ordnen möchten, noch 


623 


für jene, die in dem Dienfte dieſes Mechanismus erftarrt, nur die 
Herftellumg gefeglicher Thatbeftände fordern. Als das Geringere 
erichten uns überall dem Befondern gegenüber das Allgemeine, 
mit dem Einzelnen verglichen die Gattung, jeder Thatbeftand 
geringfügig gegen das Gut, das durch feinen Genuß entjteht. 
Denn jene alle gehören zu dem Mechanismus, in den fich das 
Höchfte zur Erreihung feiner Zwecke gliedert; das wahrhaft 
Wirkliche, das ift und fein foll, iſt nicht der Stoff und noch 
weniger Die Idee, fondern der lebendige perjönliche Geift Gottes 
und die Welt perfünlicher Geifter, die er geichaffen hat. Gie 
allein find der Ort, in welchem e8 Gutes und Güter gibt; für 
fie allein befteht die Erfcheinung einer ausgedehnten Stoffmwelt, 
durch deren Formen und Bewegungen fich der Gedanke des MWelt- 
ganzen der Anſchauung jedes endlichen Geiftes zu feinem Xheile 
verſtändlich macht. 

Man mag dies Ende ſchwärmeriſch finden; wir aber wieber- 


holen ein früheres Geftändniß: der Anblid des Weltganzen iſt 


überall Wunder und Poeſie, Brofa find nur die befchränften und 
einjeitigen Auffaffungen Heiner Gebiete des Endlichen. Aber bin- 
zufügen wollen wir da8 Andere: es tft nicht die Aufgabe des 
Menſchen, den Namen diefed Wunder unnützlich zu fiihren umd 
in feiner beftändigen Anfchauung zu ſchwelgen, fondern vor Allem 
das befcheidenere Gebiet jenes Willens zu pflegen, deſſen Kraft uns 
zwar nie bis zum Beſitze des gelobten Landes führen, aber die 
Richtung nad) ihm vor allzu weiter Abirrung bebüten Tann. 





— 


£ * ® r 
Drud von Hunbertftund & Prieß. 


Pf, 





au mid We 








ITNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY, | 
BERKELEY = 
THIS BOOK 18 DUE ON THE LAST DATE 


Books not returned on time are subject to s fine of 
50e per volume after the third ı overdue, inereasing 
to #1,00 per volume after the sixth day. Books not In 
demand may be renewed if appliestion is made before 
expiration of loan period. 


uw 10 17 


1hm-4,'34 





ET BERKELEY LIBRARIES 


NUN