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Full text of "Mémoires de l'Académie impériale des sciences de St.-Pétersbourg"

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NÉMOIRES 


DE 


ACADÉMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES 


DE 


SAINT-PÉTERSBOURG. 


VIE SERIE. 


TOME I. 


(Avec 27 Planches.) 


5 # 


SAINT-PETERSBOURG, 1860. 


Commissionnaires de l’Académie Impériale des sciences: 
à St.-Pétershourg, à Riga, à Lelpzig, 
MM. Eggers et Comp., M. Samuel Schmidt, M. Léopold Voss. 


Prix: 7 Roubl. 45 Кор. arg. = 8 Thir. 8 Мот. 


Imprimé par ordre de l'Académie. 


Mai 1860. 
C. Vessélofski, Secrétaire perpétuel. 


Imprimerie de l'Académie Impériale des sciences. 


TABLE DES MATIÈRES 
DU TOME 1. 


N° 1. 

Pulkowaer Beobachtungen des grossen Cometen von 1858. Erste Abtheilung. Beobachtungen am 
Refractor angestellt von ®tto Struve, Mitgliede der Akademie. Zweite Abtheilung. 
Beobachtungen am Heliometer nebst Untersuchungen über die Natur des Cometen 
von Dr. А. Winnecke. Adjunct-Astronomen der Hauptsternwarte. (Mit 6 Tafeln.) 


69 pages. 
№ 2. 
Missbildungen. Erste Sammlung. Von Dr. med. et chir. Wenzel Gruber. (Mit 8 Tafeln.) 80 pages. 
№ 5e 


Beitrag zum Verständniss des Liber Census Daniae. Von С. Schirrenm. Analyse und Kritik der 
Schrift Georgs von Brevern: Der Liber Census Daniae und die Anfänge der Geschichte 
Harriens und Wirlands (1219—1244). 6 et 137 pages. 


№ 4. 
Beitrag zur Feststellung des Verhältnisses von Keppler zu Wallenstein von ®tto Struve, Mit- 
gliede der Akademie. 36 pages. 


№ 5. | 
Anhang zu der Abhandlung «Über die russischen Topase» (Mémoires de l’Académie, VI° Série, 
Sciences mathématiques et physiques, T. VI). Von №. v. Kokscharow, Mitgliede 
der Akademie. (Mit 4 Tafeln.) 11 pages. 


№ 6. 
Die Makrokephalen im Boden der Krym und Österreichs, verglichen mit der Bildungs-Abweichung, 
welche Blumenbach Macrocephalus genannt hat. Von №. №. v. Baer, Mitgliede der 
Akademie. (Mit 3 Tafeln.) 80 pages. 


№ 7. 
Beiträge zur Kenntniss der sedimentären Gebirgsformationen in den Berghauptmannschaften Je- 
katherinburg, Slatoust und Kuschwa, sowie den angrenzenden Gegenden des Ural. Von 
Dr. M. у. Grünewaldt. (Mit 6 Tafeln.) 144 pages. 


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MÉMOIRES 


L’ACADEMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES DE ST.-PETERSBOURG, VH° SÉRIE. 
Tone II, N° 4. 


PULKOWAER BEOBACHTUNGEN 


DES 


GROSSEN COMETEN VON 1858. 


ERSTE ABTHEILUNG. 
BEOBACHTUNGEN AM REFRACTOR 


angestellt von 
Otto Struve, 
Mitgliede der Akademie. 


ZWEITE ABTHEILUNG. 
BEOBACHTUNGEN AM HELIOMETER 


nebst 
UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE NATUR DES COMETEN 


von 


Dr. A. Winnecke, 


Adjunct-Astronomen der Hauptsternwarte. 


Mit 6 Tafeln. 


Gelesen am 29. April 1859. 


St. PETERSBURG, 1859. 
Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: 


in St. Petersburg n Riga in Leipzig 
EggersetComp., Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Preis: 1 ВЫ. 50 Кор. = 1 Thlr. 20 Мот. 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 
K. Vesselofski, beständiger Secretär. 
Im December 1859. 


Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 


ERSTE ABTHEILUNG. 


BEOBACHTUNGEN AM REFRACTOR 


ANGESTELLT 


von Otto Struve. 


Der Comet wurde in Pulkowa zum ersten Mal am 16. August im Refractor in gerin- 
ger Höhe über dem Nordhorizonte gesehen. Seine Erscheinung bot damals ausser der über- 
raschenden Helligkeit nichts bemerkenswerthes dar. Am 19. August erkannten wir ihn 
zum ersten Mal mit blossem Auge. Während des ganzen Augusts hinderten, mit Ausnahme 
der genannten beiden Tage, dichter Rauch, der von den in der Umgegend Pulkowa’s bren- 
nenden Morästen aufstieg, jede Beobachtung. Die Aufzeichnungen in meinem Tagebuch 
beginnen daher erst den 2. September. 

In dem nachfolgenden sind die Zeiten durchweg in Pulkowaer Sternzeit ausgedrückt. 
An den einzelnen Tagen sind Messungen und Schätzungen durcheinander aufgeführt. Hiezu 
ist zu bemerken dass sämmtliche angegebenen Richtungen auf effectiven Messungen und 
Ablesungen am Positionskreise beruhen; von den Distanzen ist aber ein grosser Theil ge- 
schätzt. Behufs dieser Schätzungen wurden die Micrometerfaden, die sich immer deutlich 
auf den durch den Cometen gebildeten Hintergrunde sehen liessen, in bestimmte Abstände 
von 10”, 20", 30”oder auch von ganzen Minuten, je nach dem Bedürfnisse, gestellt und das 
zu bestimmende Stück mit diesen Abständen verglichen. Nur in wenigen Fällen, die auch 
jedesmal besonders angegeben sind, wurde der bekannte Durchmesser des Feldes als Ver- 
gleichsgrösse benutzt. Welche Distanzen geschätzt sind und welche auf vollständigen Mi- 
crometermessungen ber&ähen, erkennt man leicht daran, dass bei den gemessenen Quanti- 
täten sich auch ihr Werth in Umgängen der Micrometenschraube ausgedrückt findet, wäh- 
rend bei den Schätzungen nur die Secunden, ohne Bruchtheile, angegeben sind. 


Memoıres de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Série. 1 


2 Отто STRUVE, 


September 2. 20% 30"— 20/50". 


Der Abstand des Kerns vom Südende des Cometen auf 1/5 geschätzt. Die Breite des 
Cometen auf dem Parallel des Kerns beträgt 3/5. Die mittlere Richtung des Schweifs, in 
wenigen Minuten Abstand vom Kern, wurde gemessen: auf der vorangehenden Seite zu 
35079, auf der nachfolgenden zu 21,7. Der Durchmesser des kreisrunden Kerns geschätzt 
auf 2’— 3”. 


Anmerkung. Eine während der Beobachtung eilig hingeworfene Skizze stimmt mit 
diesen Angaben sehr gut überein und deutet zugleich darauf hin dass ein dunklerer Zwi- 
schenraum in der Mitte des Schweifs schon in 3° Entfernung vom Kern bemerkt wurde. 


September 12. 21" 30”. 


Der Himmel leicht bewölkt, aber der Schweif konnte doch durch zwei Durchmesser 
des Suchers verfolgt werden. Aus Ablesungen am Declinationskreise wurde seine Länge 
275 gefunden. Der Schweif auf der vorangehenden Seite ein wenig concav ausgebogen und 
weniger scharf begränzt als auf der nachfolgenden. Der Kern erscheint elliptisch, die grosse 
Achse, auf 6” geschätzt unter dem Positionswinkel 777, die kleine Achse 3,5. Keine Spur 
von Ausstrahlungen am Kern. Abstand des Kerns von der südlichen Begränzung der Ne- 
belmasse zu ein Viertel Feld von Vergr. III oder zu 1/7 geschätzt. Auf dem Parallel des 
Kerns, Breite der Nebelmasse = 0,6 Feld von Vergr. III oder 4,0. 


Anmerkung. Die bemerkte Ellipticität des Kerns ist möglicherweise durch seine 
nur wenige Grade betragende Erhebung über dem Horizonte hervorgebracht. Eine beige- 
fügte Skizze zeigt den Cometen viel mehr in die Länge gestreckt als am 2. September. 


September 13. 19" 40”. 


Bei höherem Stande des Cometen ist der Kern sehr schlecht begränzt. Was etwa als 
Kern zu bezeichnen wäre, zeigt keine sichere Abweichung von der Kreisform. Der Durch- 
messer dieses Kreises ist nur auf 4” bis 5” zu schätzen. 


September 17. 20” 0”. 


Der Kern auf 3”—4” im Durchmesser geschätzt, kreisrund aber nicht sehr bestimmt. 
Abstand des Kerns von der Spitze des Nebels kaum 0,5, aber ein schwächerer Nebeldunst, 
etwas länglich in der dem Schweif entgegengesetzten Richtung, bis auf 3° Abstand vom 
Kern erkannt. Letzteres war schon von mir am Abend vorher an einem dreifüssigen Mün- 
chener Fernrohr bemerkt. Der Schweif auf der vorangehenden Seite viel schwächer und 
unbestimmter als auf der nachfolgenden; in der Mitte zwischen déh beiden Schweifhälften 
entschieden dunklerer Zwischenraum, der nur mit schwacher Nebelmasse gefüllt zu sein 
scheint. 


PurkowaER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN Von 1858. 3 


September 18. 18°50”—20* 10”. 


Der Kern erscheint bei heller Dämmerung, trotz seines niedrigeren Standes, dem 
blossen Auge heller als а Ursae maj. 

Am Kern erscheint, erheblich heller als der übrige Comet, ein fächerförmiger Ansatz, 
durch den sich in zwei Richtungen hellere Lichtstreifen durchziehen. Abwechselnd mit 
Vergr. II und IV wurden folgende Schätzungen erhalten: 


Durchmesser des Kerns 2”. 
Abstand, Kern bis Spitze des Cometen 25”. 
Breite der Nebelmasse auf dem Parallel des Kerns 1,5. 
le) » bei 4’ Abstand vom Kern 3/0. 
Richtung der hellsten Ausstrahlung im Fächer 221°. 
Ausdehnung derselben 12”. 
Nächsthelle Ausstrahlung in der Richtung 142°. 
Richtung der äussersten Spitze des Fächers 
auf der vorangehenden Seite 246° 
» » nachfolgenden » 112°. 
Entfernung der Spitzen vom Kern 8”. 
In der Entfernung einer Minute vom Kern beginnt die Theilung des Schweifs. 
Die schwache nach Süden gerichtete Nebelhülle hatte ihre grösste Ausdehnung, von 
ungefähr 3’, in der Richtung 162°. Auf dem Parallel des Kerns war sie 4 breit, wovon 1,5 
auf die vorangehende Seite, 2/5 auf die nachfolgende fallen. 


September 24. Taf. П. 


Der Comet wurde mit blossem Auge aufgesucht und erkannt um 18* 33”, wo die 
Sonne also nur 6 bis 7 Grad unter dem Horizonte stand. Das Aussehn des Fächers am 
Kern hat sich seit der letzten Beobachtung erheblich verändert, indem er sich besonders 
nach der nachfolgenden Seite hin in eine scharfe Spitze verlängert hat. Im Innern des 
Fächers wurde nur eine hellere Ausstrahlung bemerkt. Ausserdem zeigt sich heute in 
grösserer Entfernung vom Kern ein heller fast linienartiger Bogen, dessen Scheitel genau 
nach Süden liegt, der Glanz dieses scharf begränzten Bogens übertrifft erheblich den der 
angrenzenden Nebelmasse; an seinen Enden geht er aber allmälig in den Schweif über, so 
dass letzterer gewissermassen die Fortsetzung desselben zu bilden scheint. 


Messungen und Schätzungen 
1. Am Kern und Fächer. 


1855” Durchmesser des Kerns 2” 
Vorangehende Spitze des Fächers. Richtung 247°, Abstand 8” 


4 Отто STRUVE, 


Hellste Richtung 200°, dabei eine Ausdehnung von 12” 

Anfangsrichtung der Fächergränze auf der nachfolgenden Seite 91° 
dabei Ausdehnung 12” 

Nachfolgende Spitze: Richtung 49°, Abstand 16”. 


2. Am Halbbogen. 


19° 34” In der Richtung nach Süden und gleichfalls auf beiden Seiten im Parallel des 
Kerns: Abstand 25”. 
Ende des Bogens auf der vorangehenden Seite: Richtung 300°, Abstand 40” 
De.» » » » nachfolgenden » Richtung 70°, Abstand 45”. 


3. Am Schweif. 


Richtung der Tangente: 
Auf dem Parallel des Kerns, vorangehend 330° 
» » » » » nachfolgend 39° 

In 2’ Abstand vom Kern, vorangehend 340° 
nachfolgend 29° 

In 6’ Abstand vom Kern, vorangehend 348° 
nachfolgend 14° 

Breite des Schweifs bei 2’ Abstand ungefähr 2,5 
» » » » 6 » » 5 


Die Theilung des Schweifs fängt erst an bei 2 bis 3 Minuten Abstand vom Kern. 


4. An der südlichen Nebelhülle. 


Hauptrichtung unter 169°, dabei Ausdehnung 3° 
Ausdehnung auf dem Parallel des Kerns, vorangehend 1,5 
nachfolgend 2,5 

Anmerkung. Ueber die äussere Begränzung des Cometen in der Nachbarschaft des 
Kerns, wurden um 19* 15” einige Schätzungen angestellt. Später ergab sich dass damals 
noch die Dämmerung zu stark gewesen war, so dass ich theilweise den hellen Halbbogen 
für die Begränzung angesehen hatte. Am folgenden Tage ergänzte ich aus der Erinnerung: 
Abstand der äusseren Gränze des Cometen im Parallel des Kerns auf der vorangehenden 
Seite 35”, auf der nachfolgenden 50”, und diese Angaben, für deren Genauigkeit ich nicht 
einstehen kann, sind in der Zeichnung II benutzt worden. 


September 27. 20° 35”. 


Der südliche Auswuchs des Cometen war heute im Sucher leicht zu erkennen. Seine 
grösste Längenausdehnung betrug ungefähr 5’, in der Richtung 172°, welche auch nahezu 
mit der Richtung der hellsten Ausstrahlung im Fächer zusammenfiel. Der Halbbogen war 
mehrere Secunden breit und durchaus symmetrisch um den Kern belegen. 


PuLKkowAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 


Qt 


September 29. 18" 55" — 20/0". 


Im Innern des ersten Fächers hat sich jetzt ein zweiter gebildet, der in seiner Achse 
mit der das letzte Mal bemerkten helleren Ausstrahlung im Fächer nahezu zusammenfällt. 
Der symmetrisch um den Fächer belegene Halbbogen hat an Breite erheblich zugenommen 
und zwar nach innen zu, so dass er sich dem Fächer genähert hat, und das ihn von dem- 
selben trennende dunklere Intervall viel kleiner geworden ist, als wie es zwei Tage früher 
war. Wolken und Wind stören die Messungen. 


Messungen und Schätzungen. 
1. Am Fächer. 
Vorangehende Spitze, Richtung 315°, Abstand 7” 


Nachfolgende » » бы Я 
Abstand auf dem Parallel des Kerns, vorangehend 12” 
» » » » » » nachfolgend 147 


» in der Richtung nach Süden 14” 
Vorangehende Spitze des innern Fächers 244° 
Nachfolgende » » » » 165° 


2. Am Halbbogen. 
Aeussere Begränzung, Abstand in der Mitte 2780 = 27,3 


» » » auf dem Parallel des Kerns, vorangehend 3713=30,5 
» » » » » » » » nachfolgend 3,40=33,1 
Vorangehendes Ende, Richtung 313°. 
Nachfolgendes » » 69°: 


Richtung der Tangente in der Mitte 97°. 


Die Breite des Halbbogens ist gleich der Breite des dunkleren Intervalls, das ihn 
vom Fächer trennt. Sein Glanz ist in der Mitte am stärksten. 

Der die beiden Schweifhälften trennende dunkle Zwischenraum, beginnt beim Kern 
selbst und ist scharf begränzt. Seine Breite beträgt im Anfange 12”, die Richtung der vor- 
angehenden Seite wurde gemessen zu 5,3, die der nachfolgenden Seite zu 1058. 


September 30. Taf. II. 
Das Aussehn des Cometen hat sich seit gestern wenig verändert. Zwischen 18" 50” 
und 19* 40” wurden folgende Schätzungen und Messungen erhalten. 
1. Am Fächer. 


Vorangehende Spitze, Richtung 313°, Abstand 10" 
Nachfolgende » » Bose 20" 


6 Отто STRUYE, 


Abstand auf dem Parallel des Kerns, vorangehend 13” 


» » » » » » nachfolgend 16” 
Vorangehende Spitze des innern Fächers, Richtung 247°, Abstand 13” 
Nachfolgende »  » » » » 155%. Mnuitles 


2. Am Halbbogen. 


Richtung der Tangente in der Mitte 94° 
Abstand in der Mitte 2795 = 28,8 
» auf dem Parallel des Kerns, vorangehend, 3723 — 31,5 
» » » » » » nachfolgend, 4,08 = 39,7 
Breite des dunklen Zwischenraums zwischen Fächer und Halbbogen = 6”. 


Die Richtung der vorangehenden Seite des dunklen Zwischenraums zwischen den bei- 
den Schweifhälften wurde heute gemessen zu 970, die der nachfolgenden Seite zu 1753. 
Um 19” 40” war der Kern des Cometen einem nördlich folgenden Sterne 9!" Grösse so 
nahe gerückt, dass er gut mit demselben verbunden werden konnte. Diese Verbindung 
wurde durch Messung von 8 Distanzen und 12 Positionswinkeln, zwischen 19* 40” und 
20” 15” ausgeführt. Diese Messungen, auf ein mittleres Moment reducirt, geben: 


für 19 55” 48° Pulk. Sternzt. Richtung des Cometen vom Stern aus = 209° 54/1, 
Distanz » » » » » —4 3801, 
oder AR——92"40;1 ADec. = — 4 150 

Bei der Reduction ist auf Refraction Rücksicht genommen; für Parallaxe sind aber 
noch die Correctionen anzubringen in AR + 0,606 р, in Decl. + 0,851 р. 

Der Vergleichstern kommt in den Bessel’schen Zonen Nr. 468 vor. Von der dort 
gegebenen Position ausgehend, finden wir für den heutigen Tag die scheinbare Position des 
Sterns’) Ж == 13" 9" 6:38, Decl. = + 30° 5’ 4431. 

Nach Anbringung der oben gegebenen Differenzen (für AR in Zeit verwandelt), haben 
wir somit um 19* 55” 48° Pulk. Sternzeit 

AR Com. = 13" 8" 55°70 + 0,0404 р. 
Decl. Com. = -н 30° 14351 + 0,851 р. 
Nach beendigter Ortsbestimmung wurden noch folgende Beobachtungen über das Aus- 
sehen des Cometen gemacht: 
Abstand des Kerns von der Südspitze des Cometen 45” 
» » » »  » äusseren Begränzung des Cometen 
auf dem Parallele des Kerns, vorangehend 60” 
» » » » » nachfolgend 80”. 
1) Aus zwei Beobachtungen am hiesigen Meridiankreise hat Dr. Winnecke für den mittlern Ort dieses Sterns 


1858,0 gefunden: « = 13% 9M 58,11, 6 = + 309 5' 550. Hieraus ergiebt sich für den oben angeführten scheinbaren 
Ort des Vergleichsterns, so wie des Cometen, eine Correction von -н 05,11 in AR und von +01 in Decl. 


Puzkowarr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1358. 7 


Der schwache südliche Nebeldunst hatte seine Hauptrichtung unter 169° und konnte 
in derselben bis auf 8° Abstand vom Kern verfolgt werden. 

Zur Bestimmung der Dimensionen des Cometen in der Nachbarschaft des Kerns und 
der anfänglichen Richtung des Schweifs können noch folgende Beobachtungen über die 
Stellung des Vergleichsterns in der Nebelmasse dienen. 


Um 19” 42” 12° Pulk. Stzt., Vergleichstern am nachfolgenden Rande des Schweifs 


» В » » in der Mitte der nachfolgenden Schweifhälfte 
120 358 > » » am nachfolgenden Rande des dunklen Streifen 
» От » » »- am vorangehenden » » » » 

» 29 33 » » am vorangehenden Rande des Schweifs. 


Die nachfolgende Begränzung des Schweifs erschien durchweg sehr scharf, während 
die vorangehende schon in wenigen Minuten Entfernung vom Kern sehr verwaschen war, 
indem das Licht allmälig abfiel. Aus diesem Grunde kann die letzte Zeitangabe nur auf 
eine vergleichsweise geringere Genauigkeit Anspruch machen. 

Heute wurde, zum ersten Mal mit blossem Auge, deutlich ein mit dem Hauptschweife 
einen spitzen Winkel bildender schmaler Nebenschweif gesehn, welcher um 20” 20” Stern- 
zeit gerade auf n Ursae maj. gerichtet war und auch bis in die Nachbarschaft dieses Sterns 
verfolgt werden konnte. Seine hellste Stelle hatte er nicht etwa auf dem Punkte, wo er 
von dem Hauptschweife abzweigte, sondern etwa auf ein Drittel der Entfernung von dem- 
selben bis n Ursae. Seine Breite verändert er nur sehr wenig in der ganzen Ausdehnung. 

Zur genaueren Verzeichnung des Schweifes wurden heute noch folgende Einstellun- 
gen verschiedener Puncte seiner Begränzung, am Sucher des Refractors gemacht, die für 
die mittlere Epoche 21” 5” gelten. 


Kern, Ж = 13” 9" 36° Пес]. = 29° 58’ 


№ Пес. № 
vorangeh. Begränzung gemeinschaftlich nachfolgende Begränzung 
13197285 30%.10' 130410” 16° 
9435 30 20 1.0837 
9 40 30.435 al 
Auf diesem Parallel verschwand 
9 4 7: 3 0 5 5 1 1 3 5 a Spur der Theilung des 
RE SL EU a ne an 
92531 32 53 15H30 
1.012 JAN 15 0 
REN 36.287 1929 
8 38 BU DO 152259 
42 lo | Bei diesen beiden Einstellun- 


Г gen auch die nachfolgende 


44 7 10 59 ) Seite schon sehr unbestinmt. 


8 Отто STRUVE, 


Die Stelle der nachfolgenden Begränzung des Schweifs, deren Position durch R= 
13" 15” 59°, Decl. = 37° 59’ gegeben ist, bezeichnet nahezu den Ort, wo der auf n Ursae 
maj. gerichtete Nebenschweif seinen Anfang nimmt. 

Anmerkung. Die beiden letzten Einstellungen bei beiden Schweifhälften, dürfen 
wohl nicht als äusserste Begränzungspunkte des Schweifs gelten, sondern bezeichnen nur 
näherungsweise die Richtung der Gränzen des hellsten Lichts in demselben; während die 
ersten Bestimmungen, wo die Gränze scharf zu erkennen war, wirklich dazu dienen können 
die Form und Ausdehnung des Cometen zu ermitteln. 

Mit dem blossen Auge konnten die letzten Spuren des Schweifs bis in die Nachbar- 
schaft der Sterne & und € Ursae maj. verfolgt werden. Hieraus würde sich die Länge des 
Schweifs auf beiläufig 25° ergeben und seine Breite am Ende auf ungefähr 4°. 


October 4. 

In der Nacht wurde es spät auf kurze Zeit klar. Um 2” Morgens reichte der Schweif 
entschieden über © Bootis hinaus, während der Kern noch unter dem Horizonte sich be- 
fand. Hiernach wäre die Länge des Schweifs auf mindestens 35° zu schätzen; wahrschein- 
lich darf sie aber noch erheblich grösser angenommen werden, da die Luft nicht vollkom- 
‚men durchsichtig war. 

October 5. Taf. ПТ. 

Beim Beginn der Beobachtungen befand sich der Kern nahezu auf dem Parallel von 
Arcturus, anfangs etwas nördlich, später südlich vorangehend. Zur Verbindung der beiden 
Himmelskörper beobachtete ich 4 Paar Differenzen der AR und 3 der Decl., welche mir 
folgende Relation ergaben: 

Um 19* 44” 4° Pulk. Stzt. AL = Ж Arcturus — 2" 8:122 
Decl.# = Decl. Arcturus — 0’ 12780 

Da die beiden Objecte so nahe auf demselben Parallele waren, kann der Einfluss der 
Refraction vernachlässigt werden. Unter zu Grunde Legung der Position von Arcturus 
nach dem Nautical Almanac haben wir somit um 
19% 44” 4° Pulk. Stzt. RL = 14" 7” 4539 +0,0378 р. Decl.£ = + 19° 55’ 030 +0,846p. 

Den Durchmesser des Kerns schätzte ich heute zu 5”. Am Fächer und Halbbogen 
wurden folgende Schätzungen und Messungen erhalten: 

20* 0” — 20" 15” 
1. Ат Fächer. 
Vorangehende Spitze, Richtung 329°, Abstand 12” 
Nachfolgende » » 88° > 2! 127 
Abstand, auf dem Parallele des Kerns, vorangehend 17” 
» in der Richtung nach Süden 14”. 


PULKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 9 


2. Am Halbbogen. 


Abstand, auf dem Parallele des Kerns, vorangehend, 4722 = 4150 
» м » » » nachfolgend, 599 — 51,8 
» in der Richtung nach Süden 3776 = 36,6 


Der Halbbogen war erheblich breiter als früher, und nur durch einen, kaum 4” brei- 
ten, etwas dunkleren Zwischenraum vom Fächer getrennt. 

Die südliche schwache Nebelhülle hatte heute eine Ausdehnung von wenigstens 10”, 
in der Richtung 185°. Der dunkle Zwischenraum zwischen den beiden Schweifhälften ist 
heute erheblich breiter als Sept. 30., aber an den Rändern mehr verwaschen und theil- 
weise mit Nebelmaterie gefüllt. Er beginnt gleich beim Kerne und schliesst sich fast der 
ganzen Breite nach an die nördliche Begränzung des Fächers an. Seine mittlere Richtung 
wurde an der vorangehenden Seite zu 3370, an der nachfolgenden zu 3875 gemessen. 

Die Breite des Cometen betrug, in 5 Minuten Abstand vom Kern, ungefähr 6’, von 
welchen 1/5 auf die vorangehende Schweifhälfte, 1,5 auf den dunklen Zwischenraum und 
3,0 auf die nachfolgende Schweifhälfte kommen. 

Auch dem blossen Auge erschien heute die vorangehende Seite des Schweifs viel 
verwaschener wie früher. 

Der am 30. Sept. bemerkte Nebenschweif, wurde auch heute sehr deutlich gesehn. 
Um 20* 15” hatte ег eine vollkommen verticale Richtung, indem er sich vom Haupt- 
schweife an einer Stelle abzweigte die etwa einen halben Grad nach Norden von = Bootis 
abstand. Der Hauptschweif erstreckte sich auch heute über © Bootis hinaus und hatte an 
seinem Ende eine Breite, die dem Abstande von = bis € Ursae ma]. gleich kam, also min- 
destens von 4°, 

Anmerkung. Durch die Verbindung des Cometen mit Arcturus, war an diesem 
Abende die günstigste Zeit für die Beobachtung der Erscheinungen am Kopfe desselben, 
für diesen Zweck unbenutzt geblieben. Nach Beendigung jener Verbindung zeigten sich 
schon am Horizonte Wolken und es musste daher geeilt werden die vorstehenden Bestim- 
mungen zu sammeln. Möglicherweise sind mir aus diesem Grunde einige Details entgan- 
gen. Um 20*20” verschwand der Comet hinter dichten Wolken. 


October 7. Taf. II. 


Seit der letzten Beobachtung scheinen wesentliche Veränderungen am Kopfe des 
Cometen vorgegangen zu sein. Der Kern erscheint elliptisch und im Fächer ist eine dunkle 
enge halbkreisförmige Spalte zu bemerken, deren Zusammenhang nur durch einen vom Kern 
ausgehenden mehrere Secunden breiten helleren Strahl unterbrochen wird, der, allmälig 
an Intersität verlierend, bis über den äusseren Halbbogen hinaus verfolgt werden kann. Auf 
dem von dieser Spalte nach innen belegenen Theile des Fächers ist das Licht nicht gleich- 
förmig, sondern zeigt, ausser dem erwähnten Strahle, einen erheblich helleren Fleck, von 4 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences. УПе Serie. 2 


10 Отто Stauve, 


Durchmesser, in nordwestlicher Richtung vom Kern. Auf der nachfolgenden Seite läuft der 
Fächer in zwei Spitzen aus, die nahezu von gleicher Helligkeit sind. Von den drei Spitzen 
des Fächers ziehen sich Lichtfäden zu den hellsten Stellen des Schweifs hin. Der Halbbo- 
gen geht allmälig in den Schweif über. 


Messungen und Schätzungen. 
20° 0" — 20° 45”. 
1. Am Kern und Fächer. 


Grosse Achse des Kerns, Richtung 237°, Ausdehnung 6” 
Kleine » ›»  » Ausdehnung 3” 
Heller Fleck im Fächer, Richtung 290°, Abstand 6” 
Mittlerer Abstand der dunklen Spalte, vorangehend 12” 

» » » » » nachfolgend 10” 
Richtung des vom Kern ausgehenden langen Strahls 22255 

» der nordwestlichen Spitze des Fächers 323° 

» » südöstlichen » » » 122 

» » nordöstlichen » » » 7) 
Begränzung des Fächers 

in der Richtung 323°, Abstand 2757 = 25,0 


» » » 303 » 2,62 — 25,5 
ст » 227 » 2,30 = 22,4 
» » » 1,87 » 2,321 
Du) » 129 » 3,25 — 3165 
DE) » 1 » 1,965 19.1 


2. Am Halbbogen. 


Richtung der äussersten deutlich erkennbaren Theile des Halbbogens 
auf der vorangehenden Seite 359° 
» » nachfolgenden » 101 
Begränzung des Halbbogens 
in der Richtung 355°, Abstand 7733 — 71,3 


»» » 516 » 5,47 = 53,2 ° 
D: tn » 244 » 4,36 = 42,4 
plie » 189 » 4,55 = 44,2 
»» » 10] » 7,80:= 75,9 


Die Breite des dunklen Zwischenraums zwischen Fächer und Halbbogen beträgt heute 
nahezu die Hälfte von der des hellen Halbbogens oder beiläufig 7”. 


PULKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 11 


Der südliche Nebeldunst hat heute nur eine Ausdehnung von 8° in der Richtung des 
Declinationskreises. 

Für den dunklen Zwischenraum zwischen den beiden Schweifhälften, der jetzt viel 
breiter geworden, aber zum Theil mit Nebelmaterie gefüllt ist, wurde gefunden: 


Richtung der vorangehenden Seite 35,0 
» » nachfolgenden » 50,0 


Diese Richtungen sind die mittleren bis etwa 6 Abstand vom Kern. 

Mit blossem Auge wurden noch folgende Beobachtungen über den Schweif hinzuge- 
fügt. Der Nebenschweif ging einen halben Grad nördlich bei я Coronae vorbei und er- 
streckte sich durch das ganze Sternbild der Corona. Die Breite des Hauptschweifs ist in 
der Höhe von & Coronae gleich dem Abstande zwischen & und © Coronae oder nahezu 6°. 
Die letzten Spuren des Hauptschweifs lassen sich verfolgen bis etwa 2° jenseits ı Draconis. 


October 8. 


Vom 7. auf den 8. October hat sich das Licht des Halbbogens sehr concentrirt, so 
dass derselbe der Breite nach kaum die Hälfte des dunklen Zwischenraums, der ihn vom 
Fächer trennt, einnimmt. Im Aussehen des Fächers und der ihn begränzenden Theile sind 
keine wesentlichen Veränderungen bemerkt. Aber der Kern erschien heute wieder kreis- 
rund. Der vom Kern ausgehende helle Strahl, der gestern bis über die äussere Begränzung 
des hellern Halbbogens zu verfolgen war, erstreckte sich heute, mit abfallendem Lichte, 
nur bis zur Mitte des dunklen Zwischenraums. Messungen und genauere Wahrnehmungen 
konnten heute keine gewonnen werden. 


October 9. Taf. IV. 


Bei günstiger Luft konnten heute die Details der Erscheinungen am Kopfe des Co- 
meten recht scharf wahrgenommen werden. Kern sehr präcise und kreisrund. Der vom 


Kern ausgehende Strahl konnte wieder bis einige Secunden jenseits der äussern Begrän- 
zung des hellen Halbbogens verfolgt werden. Ein anderer noch intensiverer aber kürzerer 


Strahl ging, am Kern einen spitzen Winkel mit dem längern Strahle bildend, diesem voraus, 
und in fast nördlicher Richtung, etwas aus der regelmässigen Begränzung des Fächers 
heraustretend, lag noch ein heller Lichtpunkt (a), in wenigen Secunden Abstand vom Kern 
und von geringem Durchmesser. Die vorgestern bemerkte Spalte war heute auf der nach- 
folgenden Seite verschwunden und hatte auf der vorangehenden eine unregelmässige Ge- 
stalt angenommen. Näher zur Peripherie des Fächers und ungefähr in der Richtung des 
kurzen hellen Strahls, zeigte sich noch eine dunklere Stelle, gewissermassen ein Loch im 
Fächer, dessen Gränzen aber verwaschen und unbestimmt waren. Zwischen diesem Loch 
und der Spalte war ein auffallend heller Punkt (b) zu sehen, von ein Paar Secunden Durch- 
messer, aber nicht scharfer Begränzung. Auf der nachfolgenden Seite des Fächers waren 


* 


12 


noch die beiden Spitzen zu erkennen; die nordöstliche hatte aber sehr an Licht abgenom- 
men und war entschieden sehr viel schwächer als die östliche. Ueber den dunklen Zwi- 
schenraum zwischen Fächer und Halbbogen finden sich keine spezielleren Angaben in mei- 
nem Tagebuche; nach der noch denselben Abend angefertigten Zeichnung muss aber ge- 
schlossen werden dass dieser Zwischenraum wenig auffallend gewesen ist; es scheint dass 
der helle Bogen sich nach innen ausgedehnt hat und mit allmälig abnehmendem Lichte dem 


Fächer anschliesst. 


Messungen und Schätzungen 


Durchmesser des Kerns 0728 = 257 
Hellster kurzer Strahl, Richtung 243°, Ausdehnung 0766 — 6,4 


Отто STRUVE, 


19,107 20° 407. 


1. Am Kern und Fächer. 


Langer Strahl, Richtung 218° 


Heller Punkt (a), Richtung 340° 


» » (5), Richtung 290°, Abstand 159 = 15,5 


Nördlich vorausgehende Spitze des Fächers, Richtung 344° 
» 126° 


Südlich folgende 


» 


Begränzung des Fächers: 
in der Richtung 337°, Abstand 406 — 39,5 


Aeussere Begränzung des Halbbogens: 


304 
253 
211 
192 
125 


» 


» 


» 


3.60, 3550 
3:01 29,3 
2,53 — 24,6 
2,45 — 26,8 
4,18= 40,7 


2. Am Halbbogen. 


in der Richtung 348°, Abstand 781 = 76,0 


Bei den 4 Richtungen 230° 


317 
279 
250 
199 
178 
119 


— 119°, war die Begränzung viel weniger bestimmt als 
bei den vorhergehenden Richtungen, und besonders bei der letzten Richtung ist der ange- 


gebene Abstand nur als Schätzung anzusehn. 


5,85 — 56,9 
5,32 — 51,8 
4,38 — 42,6 
4,50 — 43,7 
5,35 — 59,1 
8,54 — 83,1 


Pu1LkowAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN voN 1858. 13 


Der südliche Nebeldunst hat sein Aussehn seit vorgestern nicht verändert. 

In 5 Minuten Abstand vom Kern wurde die ganze Breite des Schweifs auf 6’ geschätzt. 
Von diesen kommen 1/5 auf den vorangehenden hellen Theil, 2’ auf den dunkleren Streif, 
und 2,5 auf den nachfolgenden hellen Theil. Der dunklere Streif ist sehr unbestimmt 
begränzt und viel mehr mit Nebelmaterie gefüllt, wie früher, daher auch keine Messungen 
über seine Richtung angestellt werden konnten. 

Um 20” 40” machte Lieutenant Smysloff mit blossem Auge eine sorgfältige Ver- 
zeichnung der Sterne, durch welche der Schweif passirte. In demselben waren besonders 
zwei dunklere Streifen auffallend, welche sich in der Nachbarschaft von x Coronae zu einer 
Spitze vereinigten und nahe bei x und 5 Coronae vorbeigingen. Vom Nebenschweif wurde 
heute nichts bemerkt. 


October 13. 


Der Kern hat seit der letzten Beobachtung sein Aussehn und Grösse nicht geändert, 
aber das Aussehn aller Theile am Kopfe des Cometen ist wesentlich verschieden. Beson- 
ders ist auffallend, dass die ganze Nebelmasse, um Kern und Fächer, bedeutend an Ausdeh- 
nung zugenommen hat. Vom Kerne ausgehend zeigen sich deutlich zwei Strahlen, die fast 
senkrecht zu einander stehn und den Fächer in drei Sectoren theilen, von denen der mitt- 
lere merklich helleren Glanz hat, als die beiden Seitenflügel. Die innere Begränzung des 
linken Seitenflügels ist sichtlich mehr gekrümmt, als die des rechten Flügels. Die äussere 
Begränzung des Halbbogens ist an beiden Seiten noch ziemlich deutlich zu erkennen, in der 
Mitte aber verschwimmt sie ganz mit der umgebenden Nebelmasse. Die Breite des dunk- 
leren Zwischenraums zwischen Fächer und Halbbogen, wurde etwa auf die Hälfte der 
Breite des Halbbogens geschätzt, doch war auch dieser Zwischenraum theilweise mit Nebel 
gefüllt und daher weniger abstechend. Die Begränzung des helleren Halbbogens konnte auf 
beiden Seiten bis zu dem vom Kern durch die Fächerspitzen gezogenen Richtungen verfolgt 
werden und verfloss weiter hin ganz mit den hellsten Schweiftheilen. 


Messungen und Schätzungen. 
HAS. 2000 
1. Am Kern und Fächer. 
Durchmesser des. Kerns 3" 
Vorangehende Fächerspitze, Richtung 19°, Abstand 3705 = 29/7 


Nachfolgende » >», 9278 и. 5: Й 
Richtung des nordôstlichen Strahls 307° 
» » südöstlichen » 01, 912 


Begränzung des Fächers: 
in der Richtung des nordöstlichen Strahls 214 = 20,8 
m » » südöstlichen juin, 62 =nl5:8 


14 Отто STRUYE, 


Der nordöstliche Strahl ist in seinem Beginn heller als der südöstliche, sein Licht 
fällt jedoch rasch ab, so dass er nur bis wenig über die Begränzung des Fächers hinaus- 
ragt, während der andere noch durch den ganzen helleren Halbbogen hindurch verfolgt 
werden kann und sich erst in der äussern Nebelumhüllung verliert. 


2. Am Halbbogen. 


Aeussere Begränzung des Halbbogens: 
in der Richtung 19°, Abstand 6717 = 60.0 


» » » 303 » 4,48 = 43,6 
Dil, » О » elle. 
» » » 155 » 4.95 = 48.2 


In der Richtung der nachfolgenden Fächerspitze, oder bei 128°, konnte der Abstand 
des Halbbogens nicht mehr sicher gemessen werden, er schien etwas grösser zu sein als in 
der Richtung der vorangehenden Spitze. 

Bei der Richtung 336° oder 156° vom Kern aus, schätzte ich die Breite der ganzen 
Nebelmasse auf der vorangehenden Seite — 1,6 des Abstandes vom Kern bis zur äussern 
Begränzung des Halbbogens, auf der nachfolgenden Seite zu 2,5 Mal denselben Abstand 
Hieraus ergiebt sich, da jener Abstand auf den beiden Seiten respective, nach den vorste 
henden Messungen, zu 50” und 48” angenommen werden muss, für die angegebene Richtung 
die Ausdehnung des Cometen 

auf der vorangehenden Seite zu 80” 
» » nachfolgenden »  » 120” 


In dem Abstande von 3 wurde die Breite des Cometen auf 6 — 7 geschätzt. Von 
diesen kommen beiläufig 1’ auf die dem Schweife vorangehende schwache Nebelmasse, 1,5 
auf den hellsten Theil der vorangehenden Schweifhälfte, 2° auf den dunklen Zwischenraum 
und 2/5 auf die nachfolgende Schweifhältte. 

Um 20” 20” mussten die Beobachtungen am Fernrohre, wegen der Unruhe und Un- 
deutlichkeit der Bilder in der Nähe des Horizonts geschlossen werden. Lieutenant Smys- 
loff verzeichnete aber noch mit blossem Auge den Lauf des Schweifs zwischen den Ster- 
nen. Die letzten Spuren desselben glaubte ich auf halbem Wege zwischen « Herculis und 
a Lyrae zu erkennen. Die Breite des Schweifs hatte seit dem 9. October noch merklich 
zugenommen; von dunklen Streifen in denselben war heute nichts zu erkennen. 


ZWEITE ABTHEILUNG. 


BEOBACHTUNGEN AM HELIOMETER 


NEBST 


BEMERKUNGEN UBER DIE NATUR DER COMETEN 


VON 


Dr. А. Winnecke., 


Die auffallenden Gestaltsveränderungen, welche manche Cometen während der kurzen 
Zeit ihrer Sichtbarkeit uns darbieten, haben zu einer beträchtlichen Anzahl von Versuchen 
geführt, in das Wesen dieser Erscheinungen einzudringen; aber es hat lange gedauert, bis 
man dahin gekommen ist, selbst in rohen Zügen die Mehrzahl der complicirten Einzelnheiten 
des Phänomens nach bestimmten Annahmen über das Gesetz der wirkenden Kräfte zu con- 
struiren, um dann aus der Uebereinstimmung dieser Construction mit den Beobachtungen 
die Entscheidung über die Richtigkeit der gemachten Annahmen zu erhalten. Es scheint, 
als ob der erste einigermassen gelungene Versuch, eine derartige Entscheidung zu erlan- 
gen, Brandes zuzuschreiben ist, der in mehreren sehr lesenswerthen Aufsätzen diesen Ge- 
genstand behandelt hat. Er geht dabei von Ideen über die Natur der wirkenden Kräfte nach 
Olbers aus, Ideen, die sich übrigens zum Theil schon bei frühern Schriftstellern, nament- 
lich bei Hooke, finden, freilich nicht ausgesprochen mit der dem grossen Bremer Astro- 
nomen eigenthümlichen Klarheit. Auf gleichem Fundamente beruht die meisterhafte Theorie 
der Erscheinungen eines Cometen, welche Bessel bei Gelegenheit der Wiederkehr des 
Halley’schen Cometen im Jahre 1835 entwickelt und mit so glänzendem Erfolge auf seine 
Wahrnehmungen an diesem Gestirne angewandt hat. Wollte man zugeben, dass sie wirklich 
alle damals beobachteten Phänomene erklärte, was nicht der Fall ist, so sind doch die be- 
kannt gewordenen Beobachtungen nicht vollständig genug, Auskunft über manche Erschei- 
nungen zu geben, die der Theorie nach stattfinden sollten. Hieraus folgt, dass die Wahr- 
nehmungen an andern Cometen zu Rathe gezogen werden müssen, um die Wahrscheinlich- 
keit der dieser Theorie zu Grunde liegenden Annahmen ins rechte Licht zu setzen oder die 
Nothwendigkeit der Hinzufügung gewisser Motoren klarer erkennen zu lassen. Es ist 
aber das vorliegende Material in dieser Beziehung äusserst dürftig und es wird nur für 
wenige frühere Cometen gelingen, Gründe für und wider mit Gewissheit aus den spärlichen 
Beobachtungen abzuleiten. 


16 А. WINNECRE, 


Für den grossen Cometen von 1858 hat Dr. Pape eine Vergleichung der Erscheinun- 
gen mit der Theorie nach Bessel in einer vortrefflichen Abhandlung, Astr. Nachrichten 
1172—1174 gegeben, auf die ich im Folgenden öfter zurückkommen werde, sei es um et- 
was hinzuzufügen, sei es um Zweifel gegen die Legitimität einiger Deductionen vorzubringen, 
die aber in den meisten Fällen sich auf das Fortführen der Untersuchung bis zum bestimm- 
ten numerischen Resultate beziehen, also das Wesen nicht berühren. Eine vollständige 
Vergleichung der Bessel’schen Theorie mit den Erscheinungen dieses Cometen, muss aber 
verschoben werden, bis alle Wahrnehmungen vorliegen, um das Subjective vom Objectiven 
sicherer trennen zu können. Um sie auszuführen, ist eine weitere Entwickelung der Theorie 
nöthig, da letztere bei dem "in diesem Falle stattfindenden Werthe der Constanten, in 
dem Endresultate, wegen der nur genähert ausgeführten Umformungen, nicht alle wün- 
schenswerthe Schärfe gewährt. Die Bemerkungen, die meinen Beobachtungen nachgefügt 
sind, bitte ich anzusehen, als Beiträge zu einer solchen Vergleichung, hervorgegangen aus 
dem Bedürfnisse, jene Wahrnehmungen in dem Zusammenhange zu übersehen, der nach 
dem Zustande unserer jetzigen Kenntnisse über diese Dinge zu erreichen ist. 


Die Form, in der ich die Beobachtungen des Cometen von 1858 angeben werde, ist die 
einer getrennten Aufführung der Wahrnehmungen über die einzelnen Bestandtheile dessel- 
ben in chronologischer Ordnung, eine Trennung, die zur leichtern Uebersicht wesentlich 
beiträgt. Die gegebenen Beschreibungen sind bloss Abschriften der Notizen, die an den be- 
treffenden Abenden gemacht wurden, freilich nicht am Fernrohre selbst. Es sind jenes 
vielmehr Ausführungen der unmittelbar bei der Beobachtung niedergeschriebenen kurzen 
Bemerkungen, deren Sinn und Deutung dem Gedächtnisse dann noch völlig gegenwärtig 
war. Nur in einzelnen, wenigen Fällen, habe ich mir eine Aenderung erlaubt, dann näm- 
lich, wenn der Ausdruck zu Missverständnissen hätte Anlass geben können. Selbst Worte, 
die ich bei reiflicher Ueberlegung nicht zur Bezeichnung eines gesehenen Phänomens an- 
wenden würde, z. B. Loch, für den dunklen Fleck im Sector, habe ich unverändert darin 
aufgenommen; sie geben wenigstens eine Vorstellung des unmittelbaren Eindrucks und ich 
denke, diese Erwähnung genügt, um vor Missdeutung gesichert zu sein. Den Beobachtun- 
gen über die physische Beschaffenheit des Cometen habe ich die Ortsbestimmungen des 
Gestirnes am Meridiankreise und die nur ausnahmsweise angestellten Vergleichungen mit 
Fixsternen an den Ringen des Heliometers, vorangeschickt. Die für die Beobachtungen der 
physischen Eigenthümlichkeiten selbst angewandten Hülfsmittel muss ich etwas näher be- 
schreiben, da die Beurtheilung der Wahrnehmungen und Messungen selbst davon beein- 
flusst wird. 


Das Fernrohr des Heliometers hat, bei 7,4 Zoll Oeffnung, 10,2 Fuss Brennweite und 
kann in Bezug auf die Schärfe der Bilder zu den recht guten gerechnet werden. Zu der 
schwächsten vorhandenen Vergrösserung, die sehr nahe 60 f. ist, wurde ein neues Dia- 
phragma angefertigt und in diesem ein Netz aus je drei sich rechtwinklig kreuzenden, 


PuLKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN Von 1858. 17 


‚dicken Fäden ausgespannt, so dass die Seiten der dadurch im Gesichtsfelde gebildeten Qua- 
drate je fünf Minuten waren. Diese Fäden zeigen sich selbst bei ganz dunklem Himmel 
ohne jegliche künstliche Erleuchtung völlig deutlich im Felde, geben also eine Scale zur 
Abschätzung der Dimensionen von Nebelgebilden, die jeder directen Messung spotten. Die 
scheinbare Dicke eines Fadens ist 21/5 und es sind durch Vergleichung damit einzelne Be- 
stimmungen kleiner Quantitäten gemacht, jedoch nur bei so grosser Helligkeit des Himmels- 
grundes, dass die Fäden ganz scharf gesehen wurden. Bei den in München construirten He- 
liometern ist auch der Ocularkopf um die Axe des Fernrohrs beweglich und besitzt einen 
getheilten Positionskreis, den man bis auf die Minute ablesen kann. Es gaben also diese 
dicken Fäden zugleich ein treffliches Mittel, die Richtung des Schweifes in der Nähe des 
Kernes zu bestimmen, und mit Ausnahme zweier, sind alle später aufgeführten Messungen 
der Position des Schweifes auf diese Weise angestellt. In analoger Weise hatte die zweite 
122 f. Vergrösserung ein Kreuz aus sehr feinen Fäden erhalten, womit durchweg die Be- 
stimmung der Richtungen der Sectoren und Gebilde im Kopfe ausgeführt ist, während der 
Himmelsgrund noch hell genug war, sie deutlich zu zeigen. Diese Messungen durch den 
eigentlichen Heliometerapparat selbst auszuführen würde höchst schwierig gewesen sein, 
bei der eigenthümlichen Perturbation des Urtheils und des Sehens, die bei dem Messen mit 
Doppelbildmicrometern entsteht, so oft sich zwei lichte Scheiben theilweise decken, vor- 
züglich aber zu zeitraubend. 


Die Ausmessung der Dimensionen der Sectoren und des Kernes beruht allein auf dem 
Heliometer als solchem, unter Anwendung verschiedener Vergrösserungen, je nach dem 
Zustande der Luft, bis zu der stärksten vorhandenen, nahe 335 f. Die Bestimmungen des 
Kerndurchmessers sind jedoch fast immer mit 237 f. Vergr. ausgeführt. Zu den Beobach- 
tungen des Schweifes und den Einzeichnungen desselben auf den Harding’schen Atlas habe 
ich mich eines Münchener Cometensuchers von 3 Zoll Oefinung bedient, unter Anwendung 
einer 15 f. Vergr.; nur ganz ausnahmsweise wurde ein 30mal vergrösserndes Ocular ge- 
braucht. Auch der Sucher des Heliometers von 1,9 Zoll Oeffnung, der bei 19 f. Ver- 
erösserung 1° 52’ Gesichtsfeld hat, wurde im Anfange der Erscheinung zur Abmessung der 
Dimensionen des Schweifes angewandt. 


Ortshestimmungen des Tometen. 


Im September war die Höhe des Cometen bei seiner untern Culmination während 
einiger Wochen grösser als 5°, so dass der Versuch, seine Position am Meridiankreise zu 
bestimmen, nicht allzu gewagt erschien. Von grossem Nutzen war bei der Mehrzahl dieser 
Beobachtungen ein schwächeres, nur 90fach vergrösserndes Ocular, welches Herr Brauer, 
der Mechaniker der Sternwarte, eigends zu diesem Zwecke für das Fernrohr des Repsold’- 
schen Meridiankreises construirt hat. Selbst mit dieser Vergrösserung erschien der Comet 
am 2. Sept. bei hinreichender Beleuchtung des Feldes ziemlich schwach, so dass mit den 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 3 


18 А. WiINNECKE, 


stärkern Ocularen wahrscheinlich eine Beobachtung nicht möglich gewesen wäre. Um die 
Unsicherheit einigermaassen zu eliminiren, die unsere Refractionstafeln bei der Reduction 
so beträchtlicher Zenithdistanzen auf wahre, zurücklassen, wurden an jedem Tage mehre 
Sterne mit beobachtet, die entweder in den Catalogen scharf bestimmt sich vorfanden, oder 
deren genaue Position sich aus den frühern Pulkowaer Beobachtungen bei ihrer obern Cul- 
mination herleiten liess. Im Allgemeinen hat sich gezeigt, dass in den Refractionen keine 
beträchtlichen Unregelmässigkeiten stattgefunden haben, und es ist der Betrag der an die 
Cometenpositionen angebrachten Correctionen, die aus der Vergleichung der so bestimmten 
Abweichung dieser Sterne mit den Declinationen nach den Catalogen folgen, meist weit 
geringer als ihr wahrscheinlicher Fehler. 

Um einen beiläufigen Ueberblick über die Sicherheit der absoluten Positionen zu er- 
halten, habe ich den wahrscheinlichen Fehler einer Beobachtung des am häufigsten ange- 
wandten Sternes 31 Leon. min. aus der Uebereinstimmung der einzelnen beobachteten 
Coordinaten untereinander abgeleitet. Es wurde für den mittlern Ort des Sternes gefunden: 


1858 September 2 Rectasc.—= 10” 19” 39:77 Decl.— + 37° 25’ 61/9 


ТИ 39,49 60,5 
12 39,74 60,4 
16 39,69 61,3 
18 39,76 57,9 
24 39,57 53,1 
Im Mittel 1858,0 10* 19” 39:67 + 37°25 59,2 


und daraus der wahrsch. Fehler einer Beobachtung in Rectascension = 0°076, in Declina- 
tion + 2/19; der Ort des Sternes nach den Catalogen ist 1858,0 10* 19” 39°68 + 37° 
255958. 

Es wird nun der wahrscheinliche Fehler eines Cometenortes einerseits beträchtlich 
geringer sein, weil er relativ bestimmt ist, andererseits wird aber die Beschaffenheit des 
Cometenkernes, seine grosse Verwaschenheit in so beträchtlicher Zenithdistanz und die da- 
durch herbeigeführte Unsicherheit der Pointirung, denselben vergrössert haben und ich bin 
zu der Meinung geneigt, dass der wahrscheinliche Fehler der nachstehenden Meridianbe- 
obachtungen vielleicht grösser ist, als der für 31 Leonis gefundene Werth. Jedenfalls 
werden gute Micrometermessungen aus jener Zeit genauere Resultate geben können, vor- 
ausgesetzt, dass die Vergleichssterne neu bestimmt sind. Den Meridianbeobachtungen füge 
ich noch die wenigen Micrometermessungen hinzu, die ich angestellt habe; sie beruhen auf 
Vergleichungen des Cometen an verschiedenen Ringen des Heliometer mit Sternen, deren 
Ort von mir im Meridiane neu bestimmt ist, wo es nöthig schien. 


Puzxowarr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 19 


Meridianbeobachtungen des grossen Cometen von 1858. 
Datum.  Miul. Zt. Pulk. a и log. f. p. 
1858 Sept. 2 11^54" 48:7 10’41” 48°81 + 34°28’43/2 9,999 
IN AAA AGENT EN 1983505 759,8 9,998 
1211194492 MT О 5 75008 36% 15146,9: 9,998 
MIO MSP AR 27 175003626 12,0 19,997 
2217011 BR 113 20.02,22 13627129, 19,997 
HS IRA 70 61113709804 3626 30,1 19,997 
HAN 40516341 2915136}73 == 35 18119,819,999 


Ringmicrometerbeobachtungen. 


pa | 
Ми. Zt. Рик. Aa "a оф log. f. p. 3L log.f.p. Vergl. 


Sept. 30 6*50"52°6 —0"23:41—9'23)1 13” 8"43°08 8,588+30° 32171 9,879 4 
Oct. 57 6 13,7—1 58,40—2 17,8 14 7 14,10 8,553 19 52 55,9 9,908 2 
9727 42,0—0 36,73+0 50,4 14 57 26,27 8,527+ 7 16 21,4 9,931 3 
0059134728 18.23 -159 03771544 10,30 8,504-— 6 41 1,0 9,943 1 


Mittlere Positionen der Vergleichssterne für 1858,0. 


Sept. 30 13” 9” 5‘11+ 30° 555,0 Reps. Meridkr. 2 Beob. 
Oct. 5 14 9 11,15—+ 19 55 25,3 Tabulae reduct. 

— 9 1458 1,44+ 7 15 41,1 Reps. Meridkr. 2 Beob. 
— 15 15 52 26,70— 6 42 54,0 » » 3 Beob. 


Bemerkungen: 

Sept. 11. Die volle Secunde der Rectascension unsicher. 

Sept. 12. Eine Wolke, die den Cometen bedeckte, ging gerade vor dem Mittelfaden von 
ihm weg. 

Sept. 16. Sichere Beobachtung. r 

Sept. 18. Unruhige Luft. Sterne gross und verwaschen. 

Sept. 24. Ausserordentlich unruhig. Der Kern des Cometen scheinbar über 30” gross. 

Oct. 9. Der Vergleichsstern 8" wurde beim Eintreten in den hellen Schweifmantel um 
20° 457 Sternz. fast unsichtbar, so dass die Vergleichungen nicht fortgesetzt 
werden konnten. 

Oct.13. Nur eine Vergleichung bei 33° Höhe des Cometen. 


Kern des Cometen. 


Sept. 2. 21” Sternz. Der Comet stand heute in der Nähe von 46 und 47 Fl. Leon. 
min., so dass die Helligkeit des Kernes bequem und sicher mit diesen Sternen verglichen 


werden konnte. Im Sucher macht der Kern einen etwas stärkern Lichteindruck als 47 F1., 
* 


20 A. WiINNECKE, 


nach Argelander Gter Grösse, und nach Art der veränderlichen Sterne mit einander ver- 
glichen, würde ich den Kern 4—5 Stufen heller schätzen. Er war sehr beträchtlich 
schwächer als 46 Fl., 4. Grösse nach Argelander. Dem blossen Auge erscheint der Kopf 
des Cometen viel heller als 46 Fl. Als der Comet und Cor Caroli gleiche Höhe hatten, 
waren sie für das blosse Auge an Helligkeit nahe gleich, Cor Caroli ein wenig heller. 

Sept.4. 20° 9” Sternz. Comet sehr schön gesehen; mit der stärksten 335 f. Ver- 
grösserung ist ein schlecht begränzter, doch entschieden scheibenartiger Kern da. Durch- 
messer nach drei gut harmonirenden Messungen 6,55 in einer Richtung nahe senkrecht 
auf die Schweifaxe. 

Sept. 11. 20° 10”:Sternz. Der Kern ist eine gut begränzte planetarische Scheibe, 
die vielleicht ein wenig heller in der Mitte ist. Durchmesser = 7,47. 2 Beob. 

Sept. 12. Im Sucher ist der Kern fast genau so hell, als Е Ursae maj., beträchtlich 
schwächer als у Ursae. Den ersten nennt Argelander 4. 3", den zweiten 3. 4”. Durch- 
messer = 7,29. 4 Beob. Der Kern scheint genau kreisförmig zu sein. 

Sept. 13. 19” 40” Sternz. Gleich beim Hineinsehen in das Fernrohr erscheint mir 
die planetarische Scheibe erheblich kleiner, als die Tage vorher, was die Messungen be- 
stätigen. Kern gut begränzt. Durchmesser in der Richtung des Schweifes 4,03. 4 Beob. 
Senkrecht auf diese Richtung 4,43. 4 Beob. 

Sept. 16. Dem blossen Auge macht der Kern den Eindruck eines Sternes heller, als 
die glänzendsten der beträchtlich höher stehenden Bärensterne. Im Sucher scheint der 
Kern so ziemlich die Helligkeit von v Ursae maj. zu haben, doch ist die Vergleichung aus- 
serordentlich schwierig wegen der grossen Verschiedenheit des zu vergleichenden Lichtes. 
Oben erscheint er etwas röthlich, wahrscheinlich eine Folge der Diffraction. Durchmesser, 
wie immer, wo nicht ausdrücklich das Gegentheil bemerkt ist, in der Richtung des Schwei- 
fes — 3,46. 2 Beob. 

Sept. 18. D = 1,63. 3 Beob. bei ruhiger und schöner Luft. Der Kern erschien heute 
so klein, dass ich den vierfachen Durchmesser mass, eine Methode, deren Anwendbarkeit 
Messungen der Jupitersatelliten zeigen, die ich auf diese Weise am Bonner Heliometer 
ausgeführt habe. Die Begränzung desselben war vortrefflich; der Durchmesser sicher grös- 

ser als die Scheibe der hellen Bärensterne. 
| бер. 19. D= 2,60. 2 Beob. Luft ziemlich unruhig. 

Es wurde heute wieder der vierfache Durchmesser gemessen, so wie von jetzt an im- 
mer. Der Kern scheint mir ganz rund zu sein und ist ziemlich gut begränzt. 

Sept.22. 19* 15” Stern. О = 2,31. 2 Beob. Luft sehr unruhig. 

Sept.24. 19” 28” Stern. D= 1,98. 2 Beob. Der Comet war bei der unreinen 
Luft schwach und äusserst unruhig. 

Sept.29. 19" 33” Sternz. D= 2,69. 2 Beob. 

Kern ziemlich scharf begränzt und mit schwächerer Vergrösserung schwer von dem 
sehr hellen Lichte des innern Sector zu unterscheiden. Die Helligkeit desselben im Sucher 


PuLkowAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 3 


ist bei weitem geringer, als die von Cor Caroli, gar nicht nach Art der veränderlichen 
Sterne durch Stufenschätzung vergleichbar; der Unterschied beträgt wohl 3 Grössen. 

Sept. 30. 18*48” Sternz. D = 2/04. 3 Beob. 

Der Comet ist 36” nach Sonnenuntergang schon vortrefflich dem blossen Auge sicht- 
bar. Kern gut begränzt im Fernrohre; Messungen mit 335 f. Vergr. Im Cometensucher 
zeigt er sich bedeutend schwächer als Cor Caroli. 

Öct.5. Der Kopf war für das blosse Auge fast so hell als der dicht daneben stehende 
Arctur; im Fernrohre der Kern ungemein viel schwächer. 

Oct. 7. 19*11”Sternz. D= 2/62. 3 Beob. 

Oct. 8. 20” 0” : Sternz. D == 345. 2 Beob. 

In heller Dämmerung ziemlich gut begränzt, rund und planetarisch. Ein Planet wür- 
de in dieser Zenithdistanz nicht besser begränzt erscheinen. 

Oct. 9. D= 2,79. 3 Beob. 

Kern in heller Dämmerung rund und gut begränzt; mit der zweitstärksten Vergrösse- 
rung messe ich den Kern so, dass er bestimmt nicht zu klein gemessen wird. Herr Wag- 
ner fand später aus einer Einstellung D= 3,18. Als es dunkler wurde kam es Herrn 
Wagner und mir vor, als sei der Kern elliptisch, die grosse Axe etwa senkrecht auf die 
Richtung des Schweifes; die Begränzung der Bilder war aber weit schlechter geworden. 

Oct. 13. 19*50”:Sternz. D = 3/23. 2 Beob. 

Der Kern scheint der Erinnerung nach beiläufig dieselbe Grösse zu haben, wie früher; 
seine Begränzung war für den tiefen Stand ganz erträglich. 


Kopf des Cometen. 


Im Anfange meiner Beobachtungen mittelst des Heliometers zeigte der Kopf des Come- 
ten keine auffallenden Erscheinungen; der Kern hob sich als eine sehr plötzlich bedeutend 
hellere, schlecht begränzte, planetarische Scheibe von einem ziemlich gleichmässig hellen 
Nebelstoffe ab, der in der Richtung zur Sonne gut begränzt erschien und gegen anderthalb 
Minuten vom Kerne abstand; die äussere Begränzung hatte eine annähernd parabolische 
Krümmung, vergl. Fig. von Sept. 2. 

Sept. 4. Scheitelradius der Coma 1,3. 

Sept. 12. Scheitelradius der Coma 1,7. 

Sept. 16. Das Aussehn des Schweifes und der Coma hat sich nicht unwesentlich 
verändert. Während früher keine irgend erhebliche Lichtansammlung stattfand, ist heute 
die folgende Seite des Kopfes bedeutend heller, als die vorhergehende. Der Kern ist umge- 
ben von einer sehr hellen Nebelmasse, die in der dem Schweife entgegengesetzten Richtung 
sich auf etwa 40” vom Kerne entfernt, dann umbiegt und den eigentlichen Schweif bildet. 
Ausserdem bemerke ich eine zweite sehr viel schwächere Umhüllung, die sich etwa 2,5 in 
der Richtung zur Sonne vom Kerne entfernt und die hellere Nebelmasse umgiebt, so aber, 
dass sie auf der nachfolgenden Seite erheblich breiter ist, als auf der vorhergehenden. 


39 А. WInNEcKE, 


Dort unterscheidet man sie in einigen Minuten Abstand vom Kopfe nicht mehr, während 
sie hier auf ein halbes Feld der 60 +. Vergr. (13°) zu verfolgen ist. Siehe Skizze für Sept. 
16. Diese Umhüllung scheint mir in südöstlicher Richtung etwas aufgewulstet zu sein. Im 
Durchschnitte des Kernes ist die helle Nebelmasse 1,5 breit, die schwache aber gegen 4. 

22" 5” Sternz. Im Cometensucher bemerkt man von diesen Eigenthümlichkeiten des 
Kopfes Nichts. 

Sept. 17. Auch heute ist die nachfolgende Seite des Kopfes die hellere. 

Länge des Scheitelradius der hellern Nebelmasse 25°, Breite im Durchschnitt des Kernes 1/3 

» » » » schwachen » 5) 5 on » » » » » Au, 
Es bezog sich so rasch wieder, dass der Durchmesser des Kernes nicht gemessen werden 
konnte. 

Sept. 18. 19" 30” Sternz. Das Aussehen des Cometen ist überraschend, vergl. die 
Figur für heute. Die rechte Seite ist viel heller; während die grössere Helligkeit rechts 
ziemlich stetig schwächer wird, je mehr man sich vom Kerne entfernt, hört sie links eine 
oder anderthalb Minuten unter dem Kerne fast plötzlich auf. 

Den Abstand der hellern Nebelmasse у. Kerne in der Richtung des Schweifes schätze ich zu 20” 


» » » schwachen » »» » » » » » » о’. 951 
In der hierauf senkrechten Richtung durch den Kern, Breite der hellen Nebelmasse 1,5. 
» D) » » » » » » » » schwachen » 5 р 5. 


Sept. 19. Zu einer beiläufigen Skizze ist nur notirt: der Raum in der Mitte zwischen 
den beiden Schweifästen in heller Dämmerung sehr schwach. 

Sept. 22. Der Kern schien heute eine fächerartige, breite Ausstrahlung zu haben 
(vergleiche die Figur für Sept. 22); es bewölkte sich aber so rasch, dass nichts Sicheres er- 
mittelt werden konnte. Heller Mondschein und Dämmerung. 

Sept. 24. 18" 31” Sternz. Der Comet zeigt beim Einstellen sich in der Gestalt abek, 
(siehe die Figur). Keine Spur der Schweifumhüllung, Vergrösserung 169 f. Als es dunkler 
wurde kam allmälig die früher gesehene Figur der Umhüllung des Kernes ebenfalls zum 
Vorschein; die ausgeführte Skizze gilt für 19” 14” Sternzeit. Gemessen wurde: 

Richtung ka = 17555 5 Beob. 
»y 106=298945 » 
Länge ka = 16”, kb— 9", ke — 15", km— 34, nach Schätzungen durch Ver- 
gleichung mit den dicken Fäden auf die früher angegebene Weise. 

Die Linie bc ist im Originale definirt: als die Linie vom äussersten Punkte links unten 

am Sector nach dem symmetrisch gelegenen Punkte der rechten Seite. 
Länge on — 1,3. 

Von der schwachen Umhüllung konnte ich heute Nichts erkennen. Heller Mondschein. 

Sept. 25. 18” 54” Sternz. Wesentlich hat sich das Aussehen des Cometen nicht ge- 
ändert; ka — 17”, kb = 8", ke = 16”, Bedeutung der Buchstaben wie gestern. Starker 
Sturm und nicht ganz reiner Himmel. 


- 


PuLkowaER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 23 


2045". ka — 21,0, 2 Einstellungen am Heliometer. 

Es ist jetzt sehr klar und man sieht trotz des tiefen Standes die schwache Hülle; sie 
ist aufgebläht in der Richtung 140°, 1 Mess. und scheint concentrisch mit dem kleinen 
Sector. Es wird dieser Positionswinkel und die Bemerkung durch die um 18" 45” gemachte 
Skizze vom Sector bestätigt, bei der die Richtung des Parallels angegeben ist; daraus 
würde p = 145° folgen. 

Abstand der schwachen Umhüllung vom Kerne in dieser Richtung 3’, im Parallel des 
Kernes, vorgehend 2’, nachfolgend 3. 


Sept. 27. Es wurde erst ordentlich heiter, als der Comet schon sehr tief stand; die 
Unruhe der Luft erlaubte keine Detailbeobachtungen über die Ausstrahlungen, die übri- 
gens wesentlich sich nicht geändert zu haben scheinen. So die Notiz jener Nacht. Zwei 
gleichzeitig entworfene Skizzen zeigen aber übereinstimmend beträchtliche Aenderungen 
gegen früher; denn nach ihnen waren Erscheinungen, die am 29. Sept. beschrieben sind, 
schon damals vorhanden; ich meine die Andeutung eines grössern Sectors, oder besser einer 
ringförmigen Verdichtung in der Schweifmaterie vor dem Sector. Da aber bei der schlech- 
ten Luft keine erträgliche Bestimmung der Dimensionen möglich gewesen ist, so gebe ich 
diese Skizzen nicht. 

Abstand der schwachen Hülle vom Kern in der Richtung der Aufblähung 2,7 — 3. 
Im Parallel des Kernes vorgehend 1/3, folgend 2/5. Breite des hellen Stromes in dieser 
Richtung 137. 

Sept. 29. 19" 20” Sternz. Die Excentricität des Kernes gegen die Sectoren, in der 
Richtung (beiläufig) senkrecht auf den Schweif, hat sich sehr verkleinert; er war mit 
schwächerer Vergrösserung von dem sehr hellen Lichte des innern Sector schwer zu un- 
terscheiden. Dieser letztere erschien mir ziemlich gleichmässig hell; wenn eine Diffe- 
renz vorhanden war, so möchte die vorangehende Seite die hellere sein. Die Begränzung 
des Sectors war scharf abgeschnitten nach allen Seiten. Unmittelbar daran schloss sich ein 
zweiter, nahezu symmetrischer Sector von schwächerm Lichte, dessen Intensität aber noch 
die des Schweifes in seinen hellsten Theilen übertraf. Die Begränzung dieses Sectors be- 
stand aus einem beträchtlich hellern, nach aussen sehr scharf abgeschnittenen Ringe von 4” 
Breite. Ob davor ausser der schwachen Umhüllung, noch Nebelmasse war, wie eine gleich- 
zeitig entworfene Skizze zeigt, erinnere ich mich nicht bestimmt). 

Abstand des Randes des hellen Sectors vom Kerne in der Richtung des Schweifes 
d= 11,8. 2 Beob. 


1) Diese Notiz wurde 9% Abends niedergeschrieben; am Morgen heiterte es sich wieder auf und ich finde 
zu dieser Stelle bemerkt: 

17% 19" Mittl. Zeit. Vor dem zweiten Sector ist allerdings noch Nebelmasse und ich schätze die Breite der- 
selben zu 4 — 1 des Abstandes der beiden Sectoren von einander, also 4— 5’; und ferner hierzu am 30. Sept.: 

Dies ist doch wohl ein Irrthum; heute ist ausser der schwachen Umhüllung vor dem zweiten Sector be- 
stimmt kein Nebel. 


24 А. WiNNECKE, 


Abstand des äussern Randes des Ringes vom Kerne in gleicher Richtung: 

d'= 26,5. 3 Beob. | 

Es bewölkte sich leider so rasch wieder, dass die Zeit nicht hinreichte, auch über die 
äussere schwächere Umhüllung etwas zu ermitteln. 


Sept. 30. 18” 50” Sternz. Der innere Sector ist über 252°3, 3 Beob., ausgebreitet; 
die absolute Richtung seiner Begränzungen nach links und rechts lässt sich aus den Ein- 
stellungen nicht ableiten, weil der Nullpunkt nicht bestimmt wurde. Eine halbe Stunde 
später erhielt ich: 


O 
Positionswinkel Kern bis äusserste Spitze des innern Sectors À И. : р < sun } 
ео = 


Ferner wurde gefunden d= 14,4. 3 Beob. 
4 = 26/3. 3 Beob. 
Letztere Messung ist weniger sicher als gestern, weil es schon ziemlich dunkel wur- 
de. Die Bedeutung der Buchstaben ist dieselbe, wie Sept. 29; ich werde diese Bezeichnung 
auch im Folgenden anwenden. 


Schwache Umhüllung: Richtung der Aufblähung 164,6, 1 Beob., Abstand vom 
Kerne in dieser Richtung 4/7. 

Abstand vom Kerne in der dem Schweif entgegengesetzten Richtung 4/3. 
folgend 5,3 
vorgehend 3,5. 

Im Cometensucher war sie trefflich zu sehen und ihre Farbe erschien darin im Ver- 
gleich zu dem gelblichen Lichte des Schweifes und Kopfes bläulich. Contrast? 


Oct. 5. 20/0”. Es heiterte sich auf eine halbe Stunde auf, jedoch nicht völlig, da 
der Comet häufig von Wolken bedeckt war. Der innere helle Sector hat seine Form be- 
trächtlich verändert; er ist nicht mehr durch Bogen begränzt, die sich der Kreisform nä- 
hern, sondern in der auf die Axe des Schweifes senkrechten Richtung etwas eingedrückt, 
so dass die Begränzung Aehnlichkeit hat mit dem nicht geschlossenem Theile der Glocken- 
linie. Im Innern des Sectors war eine sehr merkwürdige dunklere Stelle, etwa unter dem 
Positionswinkel 270° vom Kerne ab, deren nähere Untersuchung die Kürze der Zeit ver- 
hinderte. Die Spitzen der Sectoren waren heute nicht so weit unterhalb des Kernes ver- 
längert, als am 30. Sept. 


In der Richtung senkrecht hierauf durch den Kern { 


Der zweite Sector hat sich nicht so stark verändert, die Figur scheint dieselbe zu 
sein, nur ist der dunklere Ring unmittelbar am innern Sector schmäler geworden. 
Es ergab sich 4 = 13,8 2 Beob. 
d—31,4 1 Beob. 
Die äussere Umhüllung schien mir sich gar nicht verändert zu haben; der Abstand 
der Begränzung derselben in der Richtung der Aufblähung war 5°. 


Oct. 7. Bei heftigem Sturme klärte es sich nach einem starken Regengusse um 6* 


PuzxowaEr BEOBACETUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 25 


auf; der Comet war, als ich ihn um 19* 0” Sternz. einstellte, schon sehr gut mit freiem 
Auge zu sehen und sein Schweif etwa 1° weit zu verfolgen. 


Innerer Sector. 1940". d= 20,0. 2 Beob. 
rechts 13076. 3 Beob. 


Positionswinkel: Kern bis äusserste Spitze À links. 336,8. 3 Веб. 

Es ist heute ein zahnförmiger Auswuchs an der rechten Seite des innern Sectors. Die 
vorangehende Seite des Zahnes ist vom Kerne um einen seiner Durchmesser — 3”entfernt 
und es beträgt die Breite desselben an der Basis 0,3 — 0,4 des Abstandes der äussersten 
rechten Spitze des Sectors vom Kerne. 

Länge desselben gleich Dreiviertel vom Scheitelradius des Sectors. 

Positionswinkel der äussersten Spitze des Zahnes vom Kerne: 67,4. 2 Beob. 

Positionswinkel der Richtung des Zahnes selbst: 61,4. 2 Beob. 

Die Lichtstärke dieser Erscheinung war vielleicht etwas schwächer, als die des Sec- 
tors selbst. 


Das Loch und der secundäre Kern. Um 19* 15” bemerkte ich eine Ausströmung 
vom Kerne innerhalb des kleinern Sectors in der Richtung 31859. 3 Beob. Als es dunkler 
wurde, nahm diese Ausströmung mehr die Form eines secundären schwächern Kernes an, 
dessen Entfernung vom Hauptkerne 2,7 (einen Durchmesser des Kernes) betrug. 

19* 50”. Positionswinkel des secundären Kernes vom Hauptkerne aus: 303°1. 2 Beob. 

Dieser Lichtknoten war umgeben von einem halbkreisförmigen Raume, dessen Hellig- 
keit bei weitem schwächer war, als die des übrigen Sectors. Die Lage des secundären 
Kernes darin war analog der des hellern Kernes im hellen Sector. 

Richtung des Scheitels dieses dunklen Sectors vom Hauptkerne ab = 29555. 3 Beob., 
der Scheitelradius desselben beträgt etwa 2 von dem des hellen Sectors. Im nordöstlichen 
Theile des Sectors war noch ein dunkler Fleck; Herr Wagner, welcher ihn zuerst be- 


merkte, sah ihn mit mehr Bestimmtheit als ich. 


Grosser Sector. 20” 0”. d'— 38/3. 3 Beob. 

Er hat sich nicht wesentlich geändert; der lichte Streif rings in ihm, war etwa halb 
so breit, als der Abstand seiner äussern Begränzung vom innern Sector. Correspondirend 
der dunklen Stelle im innern Sector zeigte sich in derselben Richtung eine nicht unbedeu- 
tende Schwächung des Lichtes im äussern Sector, aber im Verhältniss bei weitem schwä- 
cher. Der Schweif ging bestimmt nicht um den äussern Sector; er schloss sich an die Sei- 
ten desselben an, wie es in der Figur für diesen Tag angegeben ist. Später, bei tieferem 
Stande konnte man übrigens diese Gewissheit nicht erlangen und Herrn Wagner schien 
er bis vor den Sector zu liegen, obgleich dieser zuvor eher der Meinung war, dass die ver- 
längerte Richtung der Schweifbegränzung den Sector schnitte. 


Die schwache Umhüllung wie früher. Positionswinkel der Aufblähung 17555, 
Abstand vom Kerne in dieser Richtung 7,5. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 4 


26 А. WiINNECKE, 


vorgehend 3° 
folgend 655. 

Oct. 8. Es wurde gegen Abend ganz schön heiter, Comet eingestellt um 18” 40” 
Sternzeit; ausser dem Kerne und dem innern Sector Nichts weiter sichtbar. 

Innerer Sector. 1930" d— 23/3. 3 Beob. 
rechts 12072 
links 330,0 

Die Fläche desselben erscheint nicht mehr gleichmässig, sondern gefleckt, ohne dass 
man jedoch ausser dem grössern dunklen Loche Bestimmtes erkennen könnte. Vom Kerne 
ging ein heller Streifen aus, etwa in der Richtung des Apex des Sectors, aber so ungewiss, 
wenn man die Richtung einstellen wollte, dass eine Messung nicht gelang. Der dunkle 
Fleck war wohl noch symmetrischer zum Nebenkerne geworden, als gestern, auch hatte 
er sich offenbar vergrössert. Vom andern gestern gesehenen Flecke konnte ich heute keine 
(Gewissheit erlangen. Die Begränzung des Sectors nach dem Schweife zu, war bei weitem 
nicht so scharf als früher. Es erscheint die ganze Trennungslinie ausgezasert, gleichsam, 
als wenn die Materie des Sectors dort jetzt an der ganzen Fläche in den Schweif über- 
strömte. Der Zahn, vielleicht der erste Durchbruch, war gänzlich verschwunden. 

Der secundäre Kern. Bei dem ersten Hineinblicken in das Fernrohr auffallend und 
der Positionswinkel messbar; vier Einstellungen ergaben ihn 30632, Abstand vom Kerne 
14 Durchmesser dieses. Sein Licht war übrigens bei weitem matter, als das des Hauptker- 
nes, auch sein Durchmesser kleiner. 

Aeusserer Sector 19* 30”. d = 37,3. 3 Beob. 

Vorn sehr gut begränzt, auch an den Seiten. Die Enden scheinen sich jetzt viel all- 
mäliger in den Schweif zu verlaufen, als früher; sie reichen auch weiter hinab. Die Breite 
der hellen und dunklen Zone des Sectors (Ring) gleich. Siehe die Figur. Eine dem dunklen 
Theile im innern Sector entsprechende Lichtabschwächung bemerkte ich heute nicht. Ob 
sich Materie des Schweifmantels bis vor den äussern Sector erstrecke, liess sich nicht mit 
Gewissheit wahrnehmen. In der Dämmerung schien es mir so, später konnte ich sie nicht 
bemerken. 

Die äussere Umhüllung. Positionswinkel der Aufblähung — 180°. 1 Beob., Abstand 
der Begränzung derselben vom Kerne in dieser Richtung 9'. 


Abstand vom Kerne in der Senkrechten auf die Schweifaxe durch den Kern 


Positionswinkel. Kern bis äusserste Spitze 


Abstand vom Kerne in der Senkrechten auf die Schweifaxe durch den Kern о 2 
Oct. 9. 4= 29/1. 3 Beob. 


O 
Positionswinkel. Kern bis äusserste Spitze | Rage) Ha BED 


links 346,7. 3 Beob. 

Der secundäre Kern verdient heute diesen Namen kaum; es ist vielmehr das äussere 
hellere Ende der jetzt noch mehr verdichteten Nebelmaterie, die den untern linken Rand 
des Sectors bildet und in den Fleck hinein pyramidenförmig sich zuspitzt. Abstand dieser 
Spitze vom Kerne 24 Kerndurchmesser. Unmittelbar am Kerne liegt ein nierenförmiges, hel- 


Роткомлев BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 27 


les Gebilde, das zum Theil den dunkeln Sector begränzt. Die Begränzung desselben ist 
überhaupt wulstförmig. 

Der dunkle Fleck hat sich vergrössert, so dass jetzt der kleinste Abstand zwischen 
den äussern Rändern von Fleck und innerm Sector nur einen Kerndurchmesser beträgt. 
Vom Kern geht ein hellerer Strahl aus, ungefähr in der Richtung zum Apex des Sectors. 

Aeusserer Sector d = 39/6. 1 Beob. 

Die beiden Zonen desselben sind noch gleich breit. Die Verwaschenheit beider Sec- 
toren nach dem Schweife hin hat zugenommen. Vor dem äussern Sector glaube ich heute 
den Schweifmantel noch zu erblicken, aber sehr schmal, nur wenige Secunden breit. 

Die äussere Hülle. Positionswinkel der Aufblähung 184°. 1 Beob. Abstand des 
äussern Randes vom Kerne in dieser Richtung 8/5, senkrecht auf die Schweifaxe durch 


{links 3/5 
den Kern \ rechts 9/5. 


Oct. 13. 19/50" ÆSternz. Nach einem warmen, stürmischen Tage heiterte es sich 
plötzlich von Nordwest auf; der Comet war schon gut mit blossem Auge zu sehen, als die 
Wolken ihn verliessen. 


Innerer Sector d— 18/4. 2 Beob. 
rechts 13655. 2 Beob. 
links 0,1. 2 Beob. 


Er verlief sich nach links (nördlich) in eine lange gebogene Spitze in den Schweif hin- 
ein; die Länge war wohl anderthalbmal so gross, als der Scheitelradius des Sectors. Nach 
rechts ist die Begränzung nach dem Schweife zu ziemlich geradlinig. Das Loch im linken 
Theile des Sectors glaube ich noch zu erkennen, jedoch war es nicht mehr möglich völlige 
Gewissheit hierüber zu erlangen. , 

Am Kern zeigte sich da, wo früher der nierenförmige Auswuchs gewesen war, eine 
längliche Verdichtung und der ganze Theil des Sectors in dieser Richtung р = 30552, 2 
Beob., war heller als die andern Partien. 

Aeusserer Sector 4 = 34,5. 2 Beob. schwierig. 

Dieser sowohl, wie der innere Sector, waren noch wohl begränzt; die hellere Zone 
des äussern Sectors war aber jetzt nur 3 des Abstandes des äussern Randes vom innern Sector. 


Kern bis äusserste Spitze | 


Schweif des Cometen. 


Sept. 2. Ueber Ausdehnung und Aussehen des Schweifes ist heute Nichts notirt; der 
Positionswinkel p des Schweifes ist zu drei verschiedenen Malen gemessen und die geringe 
Uebereinstimmung der Resultate beweist, dass die Auffassung der Mittellinie des Schwei- 
fes grössere Schwierigkeiten gemacht hat, als an spätern Tagen. Ich bemerke hier gleich 
zu Anfange der Bestimmungen über die Richtung des Schweifes, dass ich mich immer be- 
strebt habe, die Mittellinie der Figur desselben einzustellen. Bei andern bekannt gewor- 
denen Messungsreihen, die denselben Gegenstand betreffen, ist die Richtung des dunkeln 
Raumes im Schweife eingestellt, welche mit der von mir gemessenen Richtung keineswegs 

* 


28 А. WINNECKE, 


zusammenfiel. Die zu den Betrachtungen und Messungen über den Schweif angewandte Ver- 
grösserung des Heliometers war fast immer die schwächste vorhandene; nur wenige Male 
sind stärker vergrössernde Oculare angewandt. Das schon früher erwähnte Netz aus dicken 
Metallfäden machte die Bestimmung der Richtung des Schweifes ziemlich leicht, da sie auf 
dem hellen Grunde immer vortrefflich ohne jegliche Beleuchtung sichtbar waren; nur zwei- 
mal habe ich mich des eigentlichen Heliometerapparates bedient, um die Richtung des 
Schweifes zu bestimmen. Ich fand, dass die Sicherheit der Beobachtungen damit durchaus 
nicht grösser war; denn die Helligkeit des Kopfes überwog das Licht des Schweifes in den 
entferntern Partien zu sehr. Wohl aber war der dadurch herbeigeführte Zeitverlust ein 
so bedeutender, dass bei der kurzen Dauer der vortheilhaften Sichtbarkeit des Cometen, 
zumal in den letzten Tagen seiner Erscheinung, die nöthige Zeit nur durch Aufopferung 
anderer Bestimmungen hätte gewonnen werden können. 
Die Messungen vom 2. Sept. sind: 


Pulk. Sternz. 20° 35" p=5°35 4 Beob. 
0 24 0982650 
0 51 ANTON 


Die letzte Bestimmung wurde mit dem Heliometer als solchem gemacht, ist aber nur 
einseitig gemessen, wesshalb ich sie im Folgenden nicht weiter gebrauchen werde, son- 
dern als Resultat dieses Abends р = 3216 für 22” 29” Sternz. gültig, annehmen werde. 

Sept. 4. 20° 29” Sternz. р = 1?54. 8 Einst, 

Es wurde der Positionswinkel durch Einstellen des Cometenkopfes in die Mitte des 
Schweifes 18’ vom Kerne entfernt, gemessen. Die Länge des Schweifes beträgt fünf bis sechs 
Zehntel vom Durchmesser des Feldes im Sucher des Heliometer, also 1°2’. Unmittelbar 
nach dieser Bestimmung starker Nebel, der bei dem tiefen Stande des Cometen ihn völlig 
auslöschte. 

Sept. 11. 20” 10” Sternz. р = 356289. 6 Beob. 

Sept. 12. 20* 15” Sternz. р = 354215. 6 Beob. 

Für’s blosse Auge erstreckt sich der Schweif bis auf 2 der Entfernung des Cometen 
von ф Ursae maj. und seine Richtung geht knapp 3° links von diesem Sterne vorbei; daraus 
Länge = 378, р = 354°. Im Sucher des Heliometer konnte ich ihn durch 1,6 Felder ver- 
folgen, also Länge 350. 

Gegen Morgen betrachtete ich den Schweif im Cometensucher. Er reicht darin durch 
das ganze Gesichtsfeld, aber auch nicht weiter, woraus sich die Länge zu 352 ergiebt. Seine 
Helligkeit scheint mir in der Richtung senkrecht auf die Längenaxe allenthalben genau 
gleich zu sein; wenn ein Unterschied da ist, so ist die Mitte heller. An beiden Seiten des 
Schweifes ist ein schmaler sehr schwacher Lichtstreif. 

Sept. 13. 20* 10” Sternz. р = 354546. 1 Beob. 

Sept. 16. 20* 50” Sternz. p— 354577. 6 Beob. 


PuULKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 29 


Die Vertheilung der Helligkeit im Schweife hat sich wesentlich verändert; die nach- 
folgende Seite desselben ist beträchtlich heller, als die vorgehende. Die letztere zeigt sich 
auch im Cometensucher bei grösserer Entfernung vom Kopfe weniger scharf begränzt, als 
die erstere. Eigenthümlich ist, dass die freilich sehr vage Trennungslinie der hellern Ma- 
terie von der schwächern nicht in der Axe des Schweifes liegt (vergl. Fig. 1} sondern schräg 
hindurch geht und ein spitz zulaufendes, gleichsam keulenförmiges, helleres Stück aus dem 
Schweife absondert, dessen Länge 0,7 des Cometensucherfeldes — 272 beträgt, während 
die schwächern Theile sich fächerförmig ausbreiten und wohl noch 0,8 Feld = 275 weiter 
zu verfolgen sind. 

Länge des Schweifs im Sucher des Heliom.— 1,95 Feld = 377, im Cometens. = 499, 
fürs blosse Auge 575. 

Breite des Schweifes nach Schätzung im Heliometer: 


Abstand vom Kopfe: Breite des Schweifes: Breite der schwächern Umhüllung: 


Dar OWEN ee 8,3 
цы. и PR ui 10,3 
а, Е ne. ? 


In 26’ Abstand war die schwächere Umhüllung nicht mehr sicher von der hellern Nebel- 
masse zu unterscheiden. 

Sept. 17. 20” 0” Sternz. p— 355°70. 2 Einst. 

0 15 » 355,80. 6 Einst. 
Es bezog sich nach den beiden ersten Einstellungen völlig, wurde aber später wieder heiter, 
so dass eine neue Messungsreihe anzustellen möglich war. 

2" 15” Sternz. Im Cometensucher ist der Schweif wohl einen Grad weiter, als gestern 
zu verfolgen, wie sich aus seiner Lage gegen die ihn Tags vorher begränzenden Sterne er- 
giebt. Ich bemerke aber noch einen sehr schwachen Ausläufer, der vier Grad weiter geht 
und in der Richtung des hellern Theils des Schweifes liegt, von ihm aber durch einen 
dunklen Raum von 20 Länge getrennt. Dieser neue schwache Schweif endigt einen Grad 
links (im Fernrohre) von 59 Ursae maj. Etwa ebenso weit lassen sich auch die äussersten 
Schweifspuren mit blossem Auge verfolgen. Positionswinkel des Nebenschweifes hiernach 
350° +, Länge 8°. 

Sept. 18. 20° 10” Sternz. р = 356°31. 6 Beob. 

Die Farbe des hellen Schweifes ist gelblich, die des matten scheint mir etwas in’s 
Bläuliche zu spielen. Endpunkt der Mitte des schwachen Schweifes а, = 172° 47 à = + 
44° 24" (Aeq. 1800, wie bei allen derartigen Angaben im Folgenden), Breite am Ende 18°. 
Verlängert man die Richtung dieses Schweifes bis an die nachfolgende Seite des Haupt- 
schweifes, so erhält man für den Absprossungspunkt «— 173° 13° 3 — + 40° 36. 

Sept. 19. 19* 35” Sternz. р — 356°47. 6 Beob. 

1478 Mittl. Zeit. Endpunkt der Mitte des schwachen Schweifes à == 174° 20’ 
$ = +44°3. 


30 А. WınneEcks, 


Sept. 24. 23* 15” Sternz. p=4°55. 6 Beob. 
Der Comet war bei der unreinen Luft schwach und äusserst unruhig. 
Sept. 25. 20” 30” Sternz. р = 4947. 6 Beob. 
Der Schweif ist in der Mitte viel dunkler als an den Seiten; diese verlaufen allmälig 
in den Himmelsgrund. Im Heliometer wird geschätzt: 
5 Abstand vom Kopfe, Breite des Schweifes 6/3 
10 » » » » » » 9 
26 » » » » » » 11,7 
Sept. 26. Es wurde gegen Morgen klar, bezog sich aber wieder, als ich den Schweif 
kaum mit Hülfe des Cometensuchers in den Harding’schen Atlas eingetragen hatte. Man 
kann aus dieser Einzeichnung ableiten: 
af = 187° 38° 54 = + 34° 8’ 


Coordinaten des folgenden Schweifrands:  а= 188° 2 d= + 36°0 
188 4 : 38 0 
187055 40 0 
Coordinaten des vorgehenden Schweifrandes: «= 187° 42 3— + 36° 0 
187 14 38 0 
186 56 40 0 
Abstand vom Kerne: Breite des Schweifes: 
ONE RE ER 10° 
EN Е, 1% 
ера. 17' 
ней 2,35 
о 30' 
DEN. N: 36' 
Е Ани 41 
ке 46' 


Sept. 27. 22*15"Sternz. р = 8966. 8 Beob. 
Im Heliometer: Entfernung vom Kerne: 5’ Breite des Schweifes: 6' 


[4 

» » » +10 » » » 8,5 
‚ 

» » » 26 » » » 11° 
7 

» » DD » » » 13,5 


Die dunkle schmale Zone in der Mitte des Schweifes, in fast dem Himmelsgrunde 
gleichem Lichte, ist heute sehr auffallend. 

Sept. 29. 19" 45” Sternz. р = 14964. 6 Beob. 

Der fast schwarze Streif in der Mitte des Schweifes, der jetzt erheblich mehr hervor- 
tritt, als zu Anfange seiner Erscheinung, war sehr auffallend. Die Richtung desselben fällt 
nicht völlig mit der des Schweifes zusammen, sondern der Bositionsnyinzel ist etwa 5° klei- 


PuzxowaEr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 31 


ner, also p— 11°. Seine Dunkelheit wird je näher zum Kopfe, je grösser und unmittelbar 
am Kerne ist diese Zone nicht viel heller, als der umgebende Himmelsraum, wobei 
jedoch die Wirkungen des Contrastes zu berücksichtigen sein werden. Als es später in der 
Nacht wieder heiter wurde, trug ich mit Hülfe des Cometensuchers die Lage des Schwei- 
fes in die Harding’schen Charten ein. Die nachfolgende Seite des Schweifes erschien im 
Cometensucher viel besser begränzt als die vorgehende und heller; der schwarze Streif war 
auch in diesem Fernrohre sehr auffallend. 

In der Einzeichnung des Cometen ist für Rectasc. ein Fehler begangen, wegen der 
Leerheit der Harding’schen Charten in dieser Gegend, so dass für Dimensionen in der 
Nähe des Kopfes nichts Sicheres daraus abzuleiten ist. Für weiter entfernte Punkte er- 


giebt sich: 
Coordinaten des Schweifrandes: à = 34° 0’ folgend: и = 195° 2’ vorgehend: а = 194° 17° 
36 0 » 195 20 » 194 19 
38 0 » 195.30 » 194 16 
40 0 » 195 28 » 194 14 
Abstand vom Kerne: Breite des Schweifes: 

DONE eee 93, 

ee 81 

ST en RIRE 36 

ADR eo Da Lens 40° 

SOUDE PANNE ME 47 

Bee MR SE 52 


Sept. 30. 19* 55” Sternz. р = 17944. 5 Beob. 

Die schmale dunkle Zone theilt den Schweif in zwei ungleiche Hälften, so dass die 
vorangehende die kleinere ist; den Positionswinkel derselben ergaben drei Einstellungen 
zu. 15,1. 

Im Heliometer fand sich: Abstand vom Kopfe: 5’ Breite des hellen Schweifs: 5 

» » » 10 » » » » т. 
» » » 26 » » » » 14,5 
die schwache Umhüllung steht von der hellen ab: 
Entfernung vom Кор: 5’ vorgehend: 2’ folgend: 4/0 
» » OO » 1 » 2,9 
In 26’ Abstand nieht mehr bestimmbar. 

Das allmälige Auslaufen der vorangehenden Schweifseite und die viel schärfere Be- 
gränzung der folgenden wird immer auffallender. 

Aus den Einzeichnungen des Schweifes in den Harding’schen Atlas ergaben sich 
folgende Daten: 

Coordinaten des Schweifrandes: 5 — 34° 0’ folgend: « = 197° 45’ vorgehend: à = 196°42 
36 0 » 198002 » 196 34 


32 А. WiNNECKE, 


Coordinaten des Schweifrandes: 5 = 38° 0° folgend: « = 198° 9° vorgehend: а = 196°21’ 


40 0 » 196109 » 196 10 

42 0 » 198 4 » — 

44 0 » 197 47 » a 

46 9 » 197 16 » - 
Breite des Schweifes: 

Abstand vom Kerne: Breite des Schwerfes: 
LOCAL. 1e CREER 43" 
А 52 
SLI A N. Le LL LEE 64 
SINN ER RER re: 
MOORE di 
о А 82" 

Endpunkt der Mitte des schwachen Schweifes 200° 36° -+42°2° Breite 16. 
Coordinaten der Mutter ne. 198029 36 0 

199 12 38 0 

199,52 40 0 
Absprossungspunkt vom Hauptschweife: 1975 8.0.2 937.98 


Länge des Schweifes fürs blosse Auge 19°. 

Oct. 5. 20* 12” Sternz. р = 38°31. 4 Beob. 

Breite des Schweifes im Helivm. Abstand vom Kerne: 5’ Breite: 5,5 
» » sel, » 8’ 
» » > 0002 6 ET 


Der dunkle’ Raum in der Mitte des Schweifes war bedeutend breiter geworden; er 
schloss sich, wie immer, unmittelbar an den Kern an. Mit blossem Auge gesehen, gewährte 
der Comet einen überaus prachtvollen Anblick. Der gelbliche, starkgekrümmte Haupt- 
schweif war bis etwa einen Grad über die Sterne ®, t, x Bootis zu verfolgen und ging durch 
diese Gruppe, so dass seine Länge in gerader Linie gemessen über 34° betrug. 

Den zweiten Schweif sah ich heute zum ersten Male mit blossem Auge; er ging in der 
Mitte zwischen p und В Bootis hindurch, war 20°— 30° breit und stand, so weit sich 
beurtheilen liess, vertical. 

Punkt in der Axe: а —226°54" d=-+ 40° 0° Aeq. 1840,0. 

Die Stelle, wo seine Verlängerung den nachfolgenden Schweifrand traf, lag etwa 5° 
vom Kerne entfernt; die Helligkeit des Hauptschweifes löschte sein mattes Licht auf 1°—2° 
Abstand von ihm, aus. 

Oct. 7. 19* 55” Sternz. р = 48211. 6 Beob. 

20° 15”. Der schwache Schweif geht fürs blosse Auge 3° rechts von а Coronae vor- 
bei. Der helle Schweif endete erst einen Grad jenseits x und ‹ Bootis, die in ihm standen, 


Реткомлев BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 39 


war also über 40° lang. d Herculis und В Bootis standen gleichzeitig in ihm, so dass seine 
Breite in 27° Abstand vom Kopfe 8°— 9° betrug. 


Oct. 8. 19° 45” Sternz. р = 54979. 6 Beob. 


Die Zone im Innern des Schweifes ist heute bei weitem nicht mehr so dunkel als 
früher; an den Rändern des Schweifes und auf zwei bis drei Minuten Abstand von ihnen ist 
die Helligkeit, wie immer, sehr viel grösser. 

Im Abstande vom Kerne 13 Breite des Schweifes 13 

» » » » 26° » » » 15° 


Der Schweif liess sich bis 2° über ф Herculis hinaus verfolgen, woraus seine Länge 
sich zu 35° ergiebt. In der Nähe von « Coronae, das auf der linken Schweifgränze stand, 
also in 20° Entfernung vom Kerne, war der Schweif 7° breit. Höchst auffallend war die säu- 
lenartige Schichtung der obern Schweifpartien. Den zweiten Schweif konnte ich durchaus 
nicht wahrnehmen. 

Oct. 9. 20° 16” p= 60°17. 6 Beob. 

Die gleichmässige Färbung der Axe des Schweifes hat noch zugenommen. 


Fürs blosse Auge beträgt die Länge des Schweifes 37°; es hatte sich die gestern be- 
merkte Schichtung und säulenartige Structur des obern Theiles vom Schweife noch mehr 
ausgebildet. Die beiden hellsten Säulen hatten eine gemeinschaftliche Spitze in « Coronae, 
von wo sie divergirend aufstiegen, so dass die eine durch + Coronae, die andere durch x 
Coronae ging. Dort waren sie 4°— 3° breit. Sie hatten viel Aehnlichkeit mit Nordlicht- 
strahlen und verlängerten und verkürzten sich wie diese mit grosser Schnelligkeit. Später 
als der Comet untergegangen war, bemerkte man von diesen Strahlen Nichts; der nörd- 
liche Himmel war aber durch Nordlichtschein sehr hell. 

Oct. 13. 20°1” p= 82913. 5 Beob. 


Der Schweif ist entschieden schwächer geworden, jedoch konnte man noch Spuren 
davon jenseit а. Herculis wahrnehmen, woraus eine Länge von 30° folst. 


Vom Merne nach Dimension und HMelliskeit. 


In nachstehender Tabelle findet sich die Zusammenstellung der beobachteten Durch- 
messer des Kernes, nachdem sie mittelst der nach meinen Elementen des Cometen (Bulle- 
tin de l’Académie, tome XVII pag. 299) berechneten Abständen A desselben von der Erde 
auf eine Entfernung gleich der mittlern der Sonne von uns reduzirt sind. 


Die Richtungen, in denen diese Durchmesser beobachtet wurden, sind der grossen 
Mehrzahl nach die der Axe des Schweifes; eine merkbare Abweichung der Figur des Ker- 
nes von der Kreisgestalt habe ich bei guter Begränzung der Bilder nicht bemerkt. Bei un- 
ruhiger Luft schien zuweilen eine Elliptieität angedeutet. Am 13. Sept. beziehen sich die 
Durchmesser auf die Richtung der Schweifaxe und der hierzu senkrechten. 


Mewmoires de l’Acad. imp. des sciences, Vlle Serie, 5 


34 А WiINNECKE, 


Scheinbare Durchmesser des Kerns in der Entfernung — 1. 
1858 Sept. 4 10313 3 Beob. log. А = 0,1896 


11 IR 76 0,1256”, 
12 9,49 4 » 0,1148 
13 5,12 4 » 0,1043 
13 5,63 4 » 0,1041 
16 4,05 DE 0,0681 
18 1,80 3 » 0,0427 
19 2,78 2» 0,0289 
22 2,22 р 9,9831 
24 1,85 LIEU 9,9694 
29 1598 DT 9,8862 
30 1,44 us 9,8491 
Oct. 7 1,46 34% 9,7459 
8 1,89 Я 5) 9,7380 
9 1,51 3» 9,7335 
9 Да Ва 9,7335 
13 1,78 ED 9,7421 


Es zeigt sich hier ein auffallender Gang in den Zahlen. Von Sept. 4— 12 scheint die 
Grösse der planetarischen Scheibe im Kopfe sich nicht wesentlich geändert zu haben; we- 
nigstens ist die Uebereinstimmung der in diesem Zeitraume beobachteten Durchmesser 
des Kernes durchaus befriedigend bei Annahme der Constanz derselben. Aber vom 12. auf 
13. Sept. zeigt sich eine gewaltige Verminderung des wirklichen Durchmessers und diese 
Verminderung dauert fort bis zum 18. Sept. Von diesem Tage an bis zum Schlusse der 
Beobachtungen ist die Uebereinstimmung der einzelnen Messungen der Art, dass man mit 
Rücksicht auf die Schwierigkeit der Beobachtungen, veranlasst durch die immer be- 
trächtliche Zenithdistanz des Cometen und die ihn ungleichartig umgebenden Lichtmassen, 
wohl die Beständigkeit des wirklichen Durchmessers des Cometenkernes in dieser Periode 
aus ihnen folgern darf. Zieht man die nach Sept. 16 vorhandenen 11 Bestimmungen in ein 
Mittel zusammen, so ergiebt sich: 

Durchmesser des Cometenkernes in der Entfernung 1 = 1,86, 
oder nahe 186 geogr. Meilen. 

Der mittlere Fehler eines Durchmessers wird 0,28, also der mittlere Fehler des Re- 
sultats 0,09. Bei der Unmöglichkeit die constanten Fehler der Durchmesser zu berück- 
sichtigen, wird die Unsicherheit aber weit grösser sein. Wollte man den Versuch machen, 
den constanten Fehler nach bekannten Methoden zu eliminiren, so würde man auf ein ab- 
surdes Resultat geführt werden, wie auch ohne weiteres Rechnen schon der Ueberblick 
sämmtlicher Zahlen, verglichen mit den jedesmaligen Abständen des Cometen von der Er- 


PULKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 35 


de, lehrt. Das fast plötzlich eintretende Verringern des Durchmessers des Kernes scheint 
sicher durch die Beobachtungen constatirt und es ist höchst merkwürdig, dass es der Zeit 
nach sehr nahe mit dem Beginne der stärker hervortretenden Ausströmungen in der Nähe 
des Kernes und den eigenthümlichen Lichtanhäufungen im Schweife zusammenfällt. 

Ende September und Anfang October habe ich das Licht der kleinen Kernscheibe 
immer als gleichförmig hell gefunden, während in den ersten Beobachtungen über den Kern 
sich ein Hellerwerden der planetarischen Scheibe nach der Mitte zu angedeutet findet. 
Ist dies vielleicht das Durchschimmern des später gemessenen eigentlichen Kernes durch 
eine grössere sehr condensirte Nebelumhüllung, welche später in die Schweifmaterie über- 
ging, oder war die Beschaffenheit des Kernes Anfang September und in spätern Tagen 
identisch und sein Kleinerwerden nur Folge der Ausströmungen? Vielleicht geben die 
Beobachtungen des Cometen mit sehr grossen Instrumenten Anlass, hierüber zu entschei- 
den, insofern in ihnen auch noch später möglicherweise das ungleichförmige Aussehen des 
Kernes wahrgenommen ist, was sich mittelst der wenig starken Vergrösserungen des He- 
liometers bei so geringen Dimensionen der Scheibe nicht mehr erkennen liess. 

Die Messungen des Kernes gelangen am besten in der Dämmerung, vorzüglich im 
October, wo bei grösserer Dunkelheit das helle Licht des innern Sectors sehr störend 
wurde. Es ist mir überhaupt auffallend gewesen, wie die feineren Details der verwickelten 
Lichtgebilde im Kopfe so unvergleichlich viel schwerer bei weiter vorgerückter Nacht zu 
erkennen waren. 

Aus der Vergleichung des Kernes mit benachbarten Fixsternen in kleinern Fernröhren 
ergiebt sich nachstehende Zusammenstellung seiner scheinbaren Helligkeit: 

Sept. 2 574 Abstand von der Sonne 0,836 


12 3,8 » »» » 0,700 
16 3,6 » D » 0,655 
18 3,4 » »» » 0,635 
29 35H » DM) » 0,579 


30 NOT » DU, » 0,579 

Später sind bei der überwältigenden Menge merkwürdiger Erscheinungen, welche der 
Comet darbot, diese Vergleichungen nicht weiter fortgesetzt. Von Stampfer sind vor 
mehren Jahren die Formeln, welche den Zusammenhang zwischen Helligkeit, Durchmesser 
und der sogenannten Weisse (Albedo) eines Himmelskörper geben, in einem sehr interessan- 
ten Aufsatze auf die Planeten und ihre Systeme angewandt. Ganz besonders merkwürdig 
scheint mir das darin gefundene Resultat, dass mit Ausnahme von Mars, diese Albedo für 
alle Planeten und Monde nicht sehr verschieden sein kann. Es lassen sich allerdings gegen 
einzelne Daten, die Stampfer zu Grunde legt, z. B. die mittlere Helligkeit der Jupiters- 
monde, Einwendungen machen: immerhin wird man keine bedeutenden Differenzen in der 
Reflectionsfähigkeit der Planeten und Monde unsers Systems finden, wenn man auch schär- 
fere Bestimmungen anwendet. 


36 A. WINNECKE, 


Ganz verschieden verhält es sich mit den sogenannten Kernen der Cometen; ihre Re- 
flectionsfähigkeit scheint durchweg sehr viel geringer, als die der Planeten zu sein. Nennt 
man x das Verhältniss zwischen der von Stampfer für die Mehrzahl der Planeten gefun- 
denen Albedo und der unseres Cometenkernes, so findet sich: 


Sept. 2 1 — 9.0013 
» 19 0,0028 
» 16. 0,0137 
» 18 0,0645 
» #129 0,0161 


es ist also x immer ein sehr kleiner Bruch. Trotz der зо bedeutenden Sprünge der Zahlen') 
scheint angedeutet zu sein, dass die Reflectionsfähigkeit bei der Annäherung zur Sonne 
zugenommen hat, ein Resultat, welches aus andern Gründen keineswegs unwahrscheinlich 
wäre, aber dennoch nur mit grosser Vorsicht aufzunehmen ist, weil Lichtentwickelungen 
im Cometen selbst, für deren Dasein Manches spricht, dabei nicht berücksichtigt sind. Ich 
führe diese Folgerung nur an, weil sie vielleicht Veranlassung geben könnte, in Zukunft 
diesen Punkt mehr zu beachten. 

Aus der geringen Grösse der Constante folgt ferner, dass es nicht möglich war, den 
Cometen am Tage in unsern Mittagsfernröhren bei seiner obern Culmination wahrzuneh- 
men. Dawes hat den Cometen einmal, Oct. 8, einige Zeit vor Sonnenuntergang aufgefun- 
den und in Berlin ist es Dr. Bruhns gelungen, denselben noch eine Stunde nach Sonnen- 
aufgange im Fernrohre wahrzunehmen; aber die Versuche seine obere Culmination zu be- 
obachten, scheinen allenthalben misslungen zu sein. Mit dem Fernrohre des Pulkowaer 
Meridiankreises von 5,8 Zoll Oeffnung, versehen mit einer 90 f. Vergrösserung, war der 
Comet bestimmt bei seiner obern Culmination nicht wahrnehmbar, obgleich es bei ruhigen 
Bildern keine Schwierigkeit macht, Sterne sechster Grösse zwei und eine halbe Stunde vor 
Sonnenuntergang damit zu beobachten. Ich habe ihn öfters eingestellt, zuletzt am Tage sei- 
nes Perihels, wo die Luft ausgezeichnet rein war und keine Vorsichtsmaassregel (als lange Auf- 
satzröhren, Bedecken des Kopfes mit einem Tuche, etc.) versäumt wurde, ihn zu erblicken. 


Vom Kopfe. 


Die Beobachtungen des Kopfes enthalten so viel völlig Neues, dass es vergebene Mühe 
wäre, auf eine Erklärung der Gesammterscheinungen zu sinnen, ehe alles Dahingehörige, 
was vor und nach dem Perihele wahrgenommen ist, bekannt wird; besonders werden die 
Erscheinungen von Wichtigkeit sein, die der Comet während der vielen Wochen gezeigt 
hat, wo man ihn auf der Südhemisphäre bei zunehmenden Abstande von der Sonne beobach- 
ten konnte. Nichtsdestoweniger werden einige Betrachtungen über diese Phänomene auch 
schon jetzt nicht ohne Interesse sein. 


1) Der Werth für Sept. 18 ist vorzugsweise durch den von den übrigen Messungen beträchtlich abweichenden 
scheinbaren Durchmesser des Cometen so gross ausgefallen. 


PezKxowaEr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 


2 
[9] 


- 
( 


Stellt man die Abstände des Kernes vom Scheitel der hellen Umhüllung zusammen, so 
ergeben meine Beobachtungen folgende Werthe für diese Grösse: 


d log. A n 
Sept. Are МАНА ее 0,492 
DIRT К ОИ. 0,694 
и D D AMEN OBEN. M 0,972 
DANS CEE И. Об. 0,998 
а о рол, EZ 0,993 
OCEAN u ae, 0,922 
» TIEREN Ооо. ЭН Tan 0,895 
Иа TENUE И Чат: 0,887 
ИО. АСР BONN. Зи 0,885 
SN TAN ul Sam №2 NED TANT 0,925 


A ist die Entfernung des Cometen von der Erde, n die jedesmalige perspectivische Verkür- 
zung einer nahezu in der Richtung zur Sonne vom Cometen aus gelegenen Linie. Damit 
finden sich die auf die Entfernung von uns = 1 reducirten unverkürzten Werthe der Quan- 
tität d, denen ich das Quadrat der jedesmaligen Entfernung r des Cometen von der Sonne 
beifüge: 


Ad 
НС rr 
Sept rs: A 0,649 
DH D et jo DDR LADA 0,489 
И И SN NE „. 0,352 
ORT BE LORIE EE 0,335 
НАК Е 0,335 
и. Иа 0,349 
ИИ DA Ti а, 0,361 
DO NN ie D AO EEE net 0,369 
ЕЕ в 0,378 
SL TE PR LL L БОТ би... 0,423 


Eine ganz ausserordentliche Verkleinerung dieser Grösse mit der Annäherung zum 
Perihele ist also durch die Beobachtungen bewiesen. In der obigen Zusammenstellung habe 
ich mehre zwischen Sept. 12—24 geschätzte Werthe, die man übrigens unter den Beobach- 
tungen der einzelnen Tage findet, übergangen, weil mir die Art und Weise der Schätzung 
an diesen Tagen zu unsicher schien. Von Sept. 29 sind die angesetzten Werthe die helio- 
metrisch gemessenen Abstände des grossen äussern Sectors vom Kerne; es ist möglich, 
dass sich an einzelnen Tagen noch hellerer Nebelstoff vor ihm befand; trotz meiner be- 
ständigen Aufmerksamkeit hierauf ist es mir aber nicht gelungen, völlige Gewissheit darüber 
zu erlangen (siehe unter andern die Beob. Sept. 29 und Sept. 30). An andern Tagen scheint 


38 А. WINNECKE, 


sogar ein Ueberragen dieses Sectors über das Schweifparaboloid stattgefunden zu haben, 
so dass die Zahlen von Sept. 29 bis zu Ende, wohl nicht mehr als einige Secunden fehler- 
haft sein können, wenn man sie als Ausdruck der grössten Entfernung des hellen Schweif- 
nebels vom Cometenkerne nach der Sonne zu auffasst. Nach der von Bessel gegebenen 
Theorie der Cometenschweife findet zwischen dieser grössten Entfernung = €, der Ge- 
schwindigkeit = g, mit der die Theilchen aus der Wirkungssphäre des Cometen austreten 
und der Kraft №, mit welcher die Sonne auf die Theilchen wirkt, der einfache Zusam- 
menhang statt, dass 


rr 

sn 

f bezeichnet den Radius der Wirkungssphäre des Cometen, r seine Entfernung von der 
Sonne. Sämmtliche Bessel’sche Entwickelungen beziehen sich nur auf Erscheinungen, die 
ausserhalb dieser Wirkungssphäre des Cometen vor sich gehen, und so liegt auch bei dieser 
Formel die Hypothese zum Grunde, dass e, jene weiteste Entfernung, fübertrifft. Die Ver- 
gleichung des Ausdrucks mit den oben angeführten gemessenen Werthen von e giebt zu 
einigen nicht zu übergehenden Betrachtungen Veranlassung. Die einzige darin enthaltene 
Grösse, deren Veränderungen bekannt sind, ist der Radiusvector des Cometen; das Qua- _ 
drat desselben habe ich für jeden Tag in der oben angeführten Uebersicht der Werthe von 
e den Beobachtungen hinzugefügt. Ein Blick auf diese Zahlenreihe genügt, um zu zeigen, 
dass die Variationen desselben nicht genügen, die beobachteten Veränderungen zu erklären, 
dass man also, vorausgesetzt die Formel sei anwendbar, g oder р. ebenfalls als veränderlich 
ansehen muss. Man sieht nun leicht, dass die Quantität 1— и. positiv bleiben muss, so lange 
Theilchen, die bei ihrem Ausströmen aus der Wirkungssphäre einen spitzen Winkel mit der 
Richtung des Radiusvector machen, später von der Sonne aufwärts sich bewegen, wie es 
bei unserm Cometen der Fall war. Man muss also entweder eine sehr bedeutende Ab- 
nahme von g oder eine beträchtliche Vergrösserung von 1—.y zulassen. Die letztere An- 
nahme erscheint sehr unwahrscheinlich. Herr Dr. Pape hat in seiner in der Einleitung ange- 
führten Abhandlung überzeugend gezeigt, dass die Grösse p von Sept. 28— Oct. 8 constant 
geblieben ist für Theilchen, die in den ersten Septemberwochen den Kern verlassen und 
den Bestandtheil des hier besprochenen Kopfnebels gebildet haben müssen; aber gerade für 
jene Zeit müssten wir diese Verschiedenheit annehmen, was also nicht gestattet ist. Nennt 
man den Winkel mit dem Radiusvector unter dem ein Theilchen die Wirkungssphäre des 
Cometen verlässt @, so ist, wie ich später zeigen werde, die Gränze der Quantität g sin @ 
von Sept. 12 — Oct. 8 eine Constante gewesen, wenigstens sehr nahe constant, um nicht 
zu viel zu sagen. Will man also die Abnahme von e durch die Abnahme der Ausströmungs- 
geschwindigkeit erklären, so muss man annehmen, dass anfänglich die Theilchen zur Sonne 
in beträchtlich spitzern Winkeln mit der Richtung des Radiusvectors aus der Wirkungs- 
sphäre ausgeströmt sind, als später. Dies hat nun in der That stattgefunden; trotzdem hat 
eine derartige Compensirung in unserm Falle sehr wenig Wahrscheinlichkeit, wenn man 


= — 


Puzxowarr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 39 


die Veränderungen der Zeitfolge nach genauer betrachtet. Mir scheint vielmehr das Er- 
gebniss dieser Bemerkungen zu sein, dass die der Theorie entnommene Formel den Modus 
der Veränderungen nicht wiedergiebt, sei es, dass die ihr zu Grunde liegende Voraussetzung, 
es liege dieser grösste Abstand vom Kerne ausserhalb der Wirkungssphäre des Cometen, 
irrig ist, sei es, dass der Theorie noch Etwas hinzugefügt werden muss. 

Was den ersten Punkt betrifft, so wird sich schwerlich etwas nur einigermaassen 
Sicheres darüber sagen lassen. Bessel stellt in seiner Abhandlung über den Halley’schen 
Cometen eine hierauf bezügliche Rechnung an, nämlich bis wie weit sich die Attractions- 
sphäre dieses Cometen von der Erde aus gesehen, erstreckt haben würde, wenn er die 
Masse gehabt hätte, die nach Laplace die Gränze der Masse des merkwürdigen Cometen 
von 1770 gewesen ist, und findet dann, dass die äussersten Schweiftheilchen des Cometen 
auf der Sonnenseite sich allerdings schon beträchtlich weiter vom Cometen entfernt hatten, 
als diese Entfernung. Es scheint mir aber, als habe diese Betrachtung nicht einmal den 
geringen Werth, den Bessel ihr zweifelnd zugesteht; denn zwischen Masse und Repulsiv- 
kraft des Kernes besteht durchaus kein Zusammenhang, über den wir irgend eine Aufklä- 
rung hätten und wenn wir etwas vermuthen können, so ist es, dass die Repulsivkräfte die 
Attractionskräfte der Intensität nach ausserordentlich überwiegen. 

In Betreff der andern Möglichkeit bemerke ich, dass allerdings ein Umstand existirt, 
auf den Bessel bei der Darlegung seiner Ansichten durchaus keine Rücksicht genommen 
hat; ich meine die ursprüngliche Beschaffenheit des ganzen Cometenkörpers, seine Consti- 
tution. Bessels Theorie ist eine partielle Entwickelung der Erscheinungen, welche der 
Comet während einer im Verhältniss zu der Umlaufsperiode, die man im Allgemeinen an- 
zusehen hat als Cyclus der in analoger Weise wiederkehrenden Entwickelungen, kleinen 
Zeit zeigt. Für einen beliebigen Zeitpunkt nehme man an, dass die Ausströmungen des 
Kernes beginnen: seine Theorie wird uns während jenes Zeitraumes in den Stand setzen, die 
Lage der ausgeströmten Theilchen im Weltenraume anzugeben, natürlich nur insofern, als 
vernachlässigte Factoren, wie gegenseitige Einwirkung der Theilchen auf einander, wider- 
stehendes Mittel etc., wirklich einen verschwindenden Einfluss haben. Aber in dem Augen- 
blicke, wo wir die Ausströmungen beginnen lassen, war der Comet nicht bloss Kern, wie 
mit Gewissheit aus allem über Cometen vorliegenden Materiale gefolgert werden kann, und 
über die Veränderungen, welche die andern Theile des Cometen erleiden, giebt die Theorie 
keinen Aufschluss. In grössern Entfernungen von der Sonne sind die Cometen sich der 
Kugelgestalt nähernde Nebelmassen, mit mehr oder weniger grösserer Verdichtung in der 
Mitte; durch die Einwirkung der Sonne scheint dann bei der Annäherung zu ihr eine Stö- 
rung des Gleichgewichts der Kräfte im Cometenkerne zu entstehen, die zu bisweilen ausser- 
ordentlich energischen Ausströmungen Anlass giebt. Dadurch bildet sich der Schweif. Was 
wird aber inzwischen aus der Nebelumhüllung, der sogenannten Atmosphäre des Kernes, 
deren Vorhandensein beim Gleichgewichte der Kräfte, die jene ungeheuren Ausströmungen 
veranlassen, wohl keinem Zweifel unterliegt? Es möchte schwer sein, darüber etwas eini- 


40 А. WınnEcke, 


germaassen Sicheres beizubringen, da den Vermuthungen durch Messungen fast gar kein 
Anhaltspunkt gegeben ist. 

Bei dem grossen Cometen von 1858 ist der Hergang der Veränderungen etwa folgen- 
der. Donati beschreibt den Cometen bei seiner Entdeckung als einen Nebel von nahe 3 
Durchmesser von durchaus gleichförmigem Lichte"); dieses Aussehen scheint er auch wäh- 
rend der Monate Juni und Juli beibehalten zu haben. Als ich den Cometen zuerst am 16te2 
August im grossen Refractor der Sternwarte sah, war schon eine sehr bedeutende Verdich- 
tung der Nebelmasse gegen die Mitte vorhanden, die mit der Helligkeit eines Sternes fast 
sechster Grösse glänzte. So weit ich mich erinnere war eine bemerkeuswerthe excentrische 
Lage nicht wahrzunehmen. Ueber Dimensionen sind damals keine Beobachtungen gemacht; 
sie würden auch bei der dem Horizonte so äusserst nahen Lage des Cometen keinen Werth 
haben. Anfang September war ein leidlich begränzter Kern vorhanden, der Schweif schon 
beträchtlich entwickelt und es trat die enorme Abnahme des Scheitelradius der Nebelhülle 
ein, die die obenstehenden Beobachtungen ergeben. Ich bin äusserst gespannt, was die 
Beobachtungen nach dem Perihele über die Ausdehnung der Nebelmaterie vor dem Kerne 
tehren werden; einstweilen kann man nur nach analogen Erscheinungen bei älteren Come- 
ten suchen. Nun zeigte nach den Beobachtungen John Herschels der Halley’sche Co- 
met nach dem Perihele im Januar 1836 Erscheinungen, die so frappant das Inverse von 
dem sind, was die Beobachtungen für den Donati’schen Cometen vor dem Perihele an- 
deuten, dass der Gedanke an eine gemeinsame Erklärung derselben gerechtfertigt erscheint. 

Der Halley’sche Comet wurde am Cap der guten Hoffnung erst im letzten Drittel 
des Januar wieder aufgefunden und eins der merkwürdigsten Phänomene, welches sogleich an 
ihm bemerkt wurde, war eine Zunahme des Abstandes des Scheitels der paraboloidisch 
den Kern umgebenden hellern Nebelmasse von diesem von täglich fast 21”,”) so dass an eine 
directe Verbindung dieser Veränderungen mit der Zunahme des Abstandes des Cometen 
von der Sonne ebensowenig zu denken ist, als bei den Veränderungen die der Donati- 
sche Comet in den ersten Septemberwochen gezeigt hat. Indirect wird sie allerdiugs der 
Grund sein und John Herschel hält für die wirkende Ursache eine bei der Entfernung 
von der Sonne allmälig eintretende Abkühlung des Cometenkernes bis zu einem Punkte, 
wo die um ihn vorhandenen gasartigen Dünste anfangen, sich auf ihm zu condensiren. 


1) Comptes rendus, Vol. XLVIÏI. Nr. 17. 

2) Results of astr. observ. made at the Cape of good Hope, pag. 404 sqq. Herschel zieht aus der raschen Zu- 
nahme der Dimensionen der Umhüllung verbunden mit ihrer Grösse am 25. Jan. den Schluss, dass am 21. Jan. Mit- 
tags der Comet nur aus dem Kerne und einer mehr oder weniger hellen Coma bestanden haben könne und führt eine 
an keinem andern Orte zu findende Beobachtung von Boguslawski an, wonach dieser am Morgen des 22. Jan. 
den vometen als einen Stern 6”, als hellen verdichteten Punkt, der mit 140 f. Vergrösserung eines 4 f. Fern- 
robres keine Scheibe zeigte, gesehen hat. Am andern Morgen war dieser Stern nicht mehr-da; es wird aber nicht 
gesagt, ob und in welcher Gestalt Boguslawski dann den Cometen gesehen hat. Beobachtungen aus jener Zeit 
scheinen sehr selten zu sein. Nach vielem Suchen habe ich endlich Messungen von Müller in Genf gefunden, wo- 
nach mir die an sich sehr unwahrscheinliche Wahrnehmung von Boguslawski höchst zweifelhaft wird; völlig 
ist sie allerdings nicht dadurch widerlegt, da am betreffenden Morgen der Comet in Genf nicht beobachtet ist. 
Man findet Müller’s Ortsbestimmungen in den Memoirs of the Royal astr. soc. Vol. XII. 


PuLKkowAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 41 


Es bildet sich also zuerst eine Nebelschicht unmittelbar in Berührung mit dem Kerne, die 
allmälig bis auf immer grössere Entfernung vom Centralkörper sich erstreckt und ähnlich 
wie die Nebel, welche in sehr stillen Nächten unsere Thäler und Ebenen bedecken, eine 
wohlbegränzte Oberfläche hat. Auf analoge Weise würde man den Hergang der Sache 
bei der Annäherung zur Sonne sich zu denken haben, so dass vielleicht die Haupteinwir- 
kung derselben auf den Kern dann erst beginnt, wenn die schützende Hülle zum Theil in 
Gasform übergegangen ist, wie die Erscheinungen bei unserm Cometen anzudeuten schei- 
nen. Mehr als diese ganz allgemeinen Umrisse zu geben, erlaubt die Mangelhaftigkeit der 
vorhandenen Beobachtungen nicht; es scheint jedoch, als hätten die Ausströmungen des 
Kernes schon begonnen, bevor die Modification des Aggregatzustandes der Hülle stattge- 
funden hat, obgleich die gewaltigen Licht- also auch wohl Stoffausstromungen vom Kerne 
sich erst nach dem Verschwinden der Nebelmasse vor demselben zeigten. Es wird von ho- 
hem Interesse sein, bei künftigen Cometenerscheinungen die Lichtabstufungen in der Ne- 
belmasse von Tage zu Tage mit gewaltigen Fernröhren zu untersuchen, da es hiernach nicht 
unmöglich sein dürfte, die ersten Entwickelungen des Schweifes schon dann zu beobachten, 
wenn der Comet noch seine gewöhnlich runde oder ovale Form nicht verloren hat'). 

Der Comet von 1744, der in so vieler Beziehung die grösste Analogie mit dem Do- 
nati’schen gezeigt hat, bot Cheseaux ähnliche Erscheinungen dar. Seine Worte darüber 
sind folgende: 

«J’ai remarqué que l’atmosphere de la comète est toujours allé en diminuant de 
grandeur, dès le 13 Dec. jusques au 29 Ебуг..... les vapeurs de l’atmosphere, qui en 
Déc. et au commencement de Janvier environnaient la tete presque de tous côtés égale- 
ment et sphériquement, se sont peu à peu retirées derrière, comme si elles eussent été 
entrainées parmi celles de la queue, en sorte, que le 17 Février il ny en avait presque 
point sur le devant de la tête ete.»°). 

Nach den angeführten Beobachtungen über die Variation des Abstandes der Nebel- 
materie vom Kerne und den Betrachtungen, die daran geknüpft sind, scheint mir die weitere 
Erörterung unnöthig, dass die Formel, welche diesen Abstand mit x und 9 in Verbindung 
setzt, zur Bestimmung dieser Grössen aus den Beobachtungen jener Abstände nicht geeig- 
net ist. Es sind also die von Bessel im 11ten und 13ten Paragraphen seiner Schrift, von 
Pape im 11ten Abschnitte seiner Abhandlung hierauf gegründeten Zahlenangaben, vorzüg- 
lich aber die weitern g sin @ betreffenden Schlüsse nur mit der allergrössten Zurückhaltung 
aufzunehmen, wenn man sie nicht lieber ganz verwerfen will. Bei der Besprechung der 
schwachen Umhüllung werde ich hier Hingehöriges noch einmal berühren. 


1) Vergleiche die merkwürdigen Zeichnungen des Biela’schen Cometen aus dem Jahre 1852 von Otto 
Struve Recueil de mémoires des astr. de Poulcova, Vol. II. Leider sind sie, weil die Richtung vom Cometen zur Sonne 
beiläufig mit der Verbindungslinie der beiden Köpfe zusammenfiel, nicht völlig entscheidend, da man auch an gegen- 
seitige Wirkung dieser auf einander denken kann. 


2) Chescaux, traité de la comète, qui a paru en 1745 et 1744, pag. 145. 
Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences. УПе Série. 6 


49 A. WINNECKE, 


Die Bemerkungen, welche ich den Beobachtungen über die wunderbaren Lichterschei- 
nungen im Kopfe hinzuzufügen habe, sind, wie schon erwähnt, nur wenige. Gleich zu An- 
fange trat die Analogie mit den Wahrnehmungen hervor, die über Ausstrahlungen am Kerne 
des Halley’schen Cometen und des im Jahre 1744 erschienenen, vorliegen und führte zur 
Aufmerksamkeit auf Erscheinungen, durch welche man hoffen durfte, Aufschluss über die 
Zulässigkeit der damals von Bessel so meisterhaft durchgeführten theoretischen Erklärung 
derselben zu erhalten. Die Ausströmungen des Halley’schen Cometen sind übrigens schon 
im Jahre 1682 von Hooke bemerkt und ausführlich beschrieben; trotz eines vortrefflichen 
Auszuges aus diesen Beobachtungen von Robert Grant') der damit von neuem auf sie 
aufmerksam zu machen suchte, scheint man dieselben weniger beachtet zu haben, als sie 
bei ihrer Wichtigkeit verdienen’). Im Jahre 1835 hatte Bessel auffallende Veränderungen 
der Richtungen, in denen die Lichtmassen ausströmten, bemerkt und es wahrscheinlich ge- 
macht, dass diese Veränderung zurückzuführen sei auf eine pendelartige Schwingung des 
ausströmenden Kernes um die Richtung zur Sonne in der Ebene der Bahn. Man hat diese 
Folgerungen hie und da als etwas unumstösslich Bewiesenes aufgestellt; hinwiederum fehlt 
es nicht an gewichtigen Stimmen, die gegen die überzeugende Beweiskraft der damaligen 
Beobachtungen sich ausgesprochen haben. Ein sorgfältiges Vergleichen der um jene Zeit 
an verschiedenen Orten angestellten Beobachtungen hat mich ebenfalls um die Ueberzeu- 
gung von ihrer beweisenden Kraft gebracht, welche ich vormals hatte und ich denke ein 
aufmerksames Durchlesen der Worte von Bessel am Schlusse des betreffenden Paragraphen 
seiner Abhandlung’) zeigt, dass er selbst keineswegs seine Beobachtungen für so überzeu- 
gend hielt, wie es seine Meinung nach andern Stellen des Aufsatzes zu sein scheint. Es ist 
nicht meine Absicht, hier näher in eine vergleichende Zusammenstellung der Beobachtungen 
des Halley’schen Cometen aus jener Zeit einzugehen; es genügt die Bemerkung, dass Ein- 
wendungen, die sogleich gegen Beobachtungsreihen über die Richtungslinien der Sectoren 
des grossen Cometen von 1858 vorgebracht werden sollen, in demselben, wenn nicht grös- 
serm Maasse, auch für den Halley’schen Cometen gelten. 

Eine Hauptschwierigkeit zeigt sich, sobald man bei unserm Cometen die zu messende 
Mittellinie des Lichtscheines definiren soll, oder angeben will, welche Richtung an einem 
bestimmten Tage dafür einzustellen ist. Ein Blick auf die Figuren, besonders auf die nach 


1) Monthly Notices of the Royal astr. Society. Vol. XIV, pag. 77 394. 

2) Posthumous Works of Robert Hooke, pag. 160 sqq. Die ausführlichen Beschreibungen und die Gleichnisse von 
Hooke «like a stream of flame, blown of a candle by a blowpipe, ascending or bending upwards just as such 
blown flame of a candle will do, if it be made with a gentle blast» dike a stream of light, or flame, or fuzee» 
lassen gar keinen Zweifel über das anıloge Verhalten dieser Ausströmungen im Jahre 1682 und 1835. Im Jahre 
1835 vergleichen verschiedene Beobachter die Ausströmung einer Flamme, einer brennenden Rakete etc. In Be- 
zug auf das erste Gleichniss hat die Zusammenhaltung mit Struve’s prächtigen Zeichnungen, welche den in ei- 
nem besondern Werke erschienenen Beobachtungen des Halley’schen Cometen im Jahre 1835 beigefügt sind 
besonderes Interesse. Hooke’s physische Beobachtungen vom Cometen des Jahres 1680 zeigen ebenfalls Wahr- 
nehmungen ungewöhnlicher Lichterscheinungen. 

3) Astron. Nachrichten. Bd. XIII, pag. 196. 


PuLKOWAEK BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 43 


den Beobachtungen Otto Struve’s ausgeführten, wird genügen diese Behauptung zu 
rechtfertigen. Die äussere Begränzung der Sectoren wich meistens sehr wesentlich von 
der Kreisform') ab und die immer excentrische Lage des Kernes war im Verlaufe der 
Erscheinung beträchtlichen Veränderungen unterworien. Ausserdem traten Modificationen 
in der Helligkeit der verschiedenen Theile ein, die das Urtheil stören mussten, so dass 
ich der Ueberzeugung bin, dass diese sogenannte Mittellinie, wenn man sie einstellen 
will, sich auf correspondirende Punkte der Sectoren nicht beziehen kann, also Rück- 
schlüsse auf vielleicht vorhandene Schwingungen des Kernes nicht erlaubt. Es liegen zwei 
ausgedehnte, mit grosser Sorgfalt auf den Sternwarten zu Altona und Dorpat ausgeführte 
Messungsreihen über die Mittellinie der Sectoren vor. Man kann keinen bessern Beweis für 
die eben aufgestellte Meinung finden; es zeigt sich ganz evident, dass verschiedene Beobach- 
ter in verschiedenen Fernröhren hier ganz andere Mittellinien der Sectoren eingestellt ha- 
ben. Ist nun die grössere optische Kraft des einen Fernrohrs in diesem Falle genügender 
Grund, die damit bestimmten Richtungen als die wahren aufzufassen? ich denke, nicht, son- 
dern die Ursache der Divergenz liegt in der oben angedeuteten Unmöglichkeit, diese Mit- 
tellinie scharf zu definiren. Aenderungen der Richtung der Sectoren erscheinen übrigens 
nach den Beobachtungen als nicht ganz unwahrscheinlich, aber eine Spur von Gesetzmässig- 
keit wird schwerlich in ihnen gefunden werden. 


Auf die besprochene Schwierigkeit in der Bestimmung der Richtung des Sectors war 
ich gleich in den ersten Tagen unmittelbar durch die Messungen selbst geführt worden, so 
dass ihre Einstellung aufgegeben und dafür die Richtung der Begränzung der Sectoren nach 
dem Schweife zu, beobachtet wurde. Es scheint, als wenn man hierdurch während der er- 
sten Woche nach dem Perihele zu ziemlich sicheren Resultaten hat gelangen können, da die 
Krümmung dieser Begränzungslinien nicht sehr stark und einigermaassen einander ähnlich 
war. Wollte man nun noch annehmen, dass die vorhandenen Veränderungen des Sectors 
an angulärer Ausdehnung gleichartig auf beiden Seiten der Mittellinie gewesen seien, so 
würde man aus dem Mittel der beiderseitig beobachteten Richtungen auf reelle Verände- 
rungen in der Lage des Sectors schliessen können. Wie weit diese Voraussetzung richtig 
sein mag, wage ich nicht zu beurtheilen. Jedenfalls ist der Umstand sorgsam zu beachten, 
dass im Anfange der Erscheinung die rechte Seite des Sectors eine beträchtliche, commaför- 
mige Verlängerung im Vergleich mit der linken zeigte, was sich allmählig umkehrte, so 
dass am 13. October die linke (nördliche) Seite sehr bedeutend im Vergleich mit der 
rechten verlängert war. Die Anknüpfung dieser Thatsache an die nach der Bessel’schen 
Theorie erforderliche Art und Weise des Ueberströmens der vom Kerne ausgehenden Theil- 


chen in den Schweif, über die Näheres bei Gelegenheit der Besprechung der Lichtverthei- 
lung im Schweife gesagt wird, liegt auf der Hand. 


1) Hierin irren einzelne, mir zu Händen gekommene Abbildungen des Cometen, welche fast genaue Kreisform 
für die Umrisse der Sectoren geben, sehr wesentlich. 


* 


44 A. WINNECKE, 


Eine Zusammenstellung der beobachteten Richtungen der Begränzung des Sectors ist 
folgende: 
Richtungswinkel Kern bis äusserste Spitze rechts: 


Sept 30 поз. Вера = Dee Diff. 5158 
Oct ATEN EL SA оса BIER 771 
» В. 120) ere re DORE EEE » 60,6 
» Gehe ПЗ Der DM D or eee Bene » 50,0 
о, 190,607. Pa Rae Эван » 50,7 
Richtungswinkel Kern bis äusserste Spitze links: 
Sept 20... 3289-0000 2 Beob er. oi lens à ee Diff. 30978 
Der .. At SE UE Le 53.520. » 283,3 
NS 330.0. EN о, ee, » 270,4 
RE BaRn - ER Е 65,9 Le » 280,8 
Dane Vila 88 De DIE re 80. Sp » 274,3 


Die Richtung vom Cometen zur Sonne ist mit © bezeichnet. 
Nimmt man die halbe Summe je zweier zusammengehöriger Richtungen, so findet sich: 


Sept. 30..... 199°3 + 08 
QE ant en Differenz mit der Richtung Bl 
if а LOUE. 
BEN 935,1 5 ‘| — 10,8 
RUN 248 3 ere 


Die anguläre Grösse der Sectoren ergiebt sich ferner aus der Differenz der beiden 
ersten Reihen: 


Sept 3060 re 8 25850 
OA а 206,2 
Da SH Aare 209,8 
a. 923,1 
Da rer 223,6 


Ich stelle in gleicher Weise hier die beobachteten Abstände der äussern Begränzung 
der Sectoren vom Kerne, gemessen in der Richtung des Schweifes, zusammen: 


Innerer Sector: 

Sept. 24....18*42" Sternz..... О. Schätz. 
р Бо В, ББ». 1. A Tee » 
95:20 95 » ото ве 
229.159 20 D. dl, Bone 
ВО РОО Хе AA аи ов 

Oct. 5420880 Dinde 19,32 Ве Di? 


Рогкомлев BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 45 


Oct. rm t4o Ste ec Ba URS EN 2 Beob. 
DRS RN DE DIE Dielen 37) 
» 920 DD ие 318) 
2713 1940 DUMAS Ent 2, pt 
Âusserer Sector: 

Sept 9402219 ATOS tennz 2.20 0 2 Beob. 
2.50.28 0 ml 0 бк D D 

О О due de 2 » 
о TRAIN F0 DER: NE 00, Ole era ce 2°)» 
Diet De, Ball, Bat. 20,4 
Dino 20 a 40 pate Or. р. 
о-в 9-40 Di ne DA АЕ 9» 


Die einzelnen Einstellungen stimmen mit seltenen Ausnahmen bis auf die Secunde 
unter einander, so dass die Schwankungen in der Grösse des innern Sectors reell sind. Die 
Deutung derselben hat keine Schwierigkeit, seit durch Beobachtungen auf südlicher gelege- 
nen, so unvergleichlich mehr vom Wetter begünstigten Sternwarten, ein Loslösen und Ent- 
wickeln mehrer Sectoren vom Kerne aus, constatirt ist. 

Die Erklärung des den äussern Sector begränzenden hellern Reifen, führt zur Annahme 
der sich einer Kugelschale nähernden Gestalt des Sectors; der ringförmige hellere Streif 
wurde anfänglich nicht wahrgenommen, es müssen sich also die Wände dieser Schale allmä- 
lig verdünnt haben. Die Analogie führt auf eine ähnliche Gestalt für den oder die innern 
Sectoren, bei denen die Verdünnung der Wände später wahrscheinlich auch eingetreten ist. 
Es giebt dieses eine Anschauung über die Art der Entstehung des merkwürdigen dunklen 
Flecks, die ich aber nur angedeutet haben will, ohne sie im Entferntesten zu vertreten. Eher 
möchte ich der Ansicht sein, dass der mit dem Namen secundärer Kern bezeichnete Licht- 
knoten, gleichfalls mit Repulsivkräften in Bezug auf die den Sector constituirenden Massen 
begabt gewesen sei. Das mit Gewissheit bemerkte Aufwulsten der Ränder des dunklen 
Flecks am 9. Oct. scheint auf etwas Derartiges hinzudeuten. Der secundäre Kern, der die- 
sen Namen am 7. und 8. October mit einigem Rechte verdiente, hat sich in den Tagen, wo 
ich ihn sah, fortwährend vom Hauptkerne entfernt. Es wurde seine Relation zum Haupt- 
kerne gefunden: 


Oct. 7....p— 30371... .Entfernung = 1 Durchmesser des Hauptkernes 


DER Se 306,22... » IN » » » 
Den 20610. » р » » » 
DR RUE AE à Зы: » о » » » 


Die Richtung zur Sonne hat sich in dieser Zeit um 33° verändert; die Beobachtung 
vom 13. Oct. gehört eigentlich nicht mehr hierher, da der secundäre Kern verschwunden 


46 А. WINNECKE, 


war und sich in der angegebenen Richtung nur eine starke Verdichtung der Nebelmasse 
zeigte. 

Der grosse Fleck und sein excentrischer Lichtpunkt scheinen aber nur deutlicher her- 
vortretende Erscheinungen von Veränderungen in der Textur der Sectoren gewesen zu sein. 
Ihr Licht wurde ungleichförmiger, sie erschienen gefleckt, hellere Streifen durchzogen sie 
und es verlor sich die scharfe Begränzung nach dem Schweife zu; die letztere Erscheinung 
schien durch das merkwürdige zahnartige Gebilde vom 7. Oct. eingeleitet zu werden. 


Von der schwachen Umhüllung. 


Am 16. Sept. bemerkte ich zuerst, dass der Kopf des Cometen eingehüllt war in eine 
sehr zarte, bläuliche Nebelmasse, deren Wahrnehmung in Vergleich mit der Sichtbarkeit 
des hellen Nebelstoffes, der den Kern in parabolischer Form umgab und den eigentlichen 
Schweif bildete, Schwierigkeiten machte, so dass ich im Cometensucher an diesem Abende 
noch Nichts davon bemerken konnte, obgleich ich das Dasein am Heliometer bei schwacher 
Vergrösserung kurz vorher constatirt hatte. Der äussere Umriss hatte gleichfalls eine pa- 
rabolische Form; von einer scharfen, bestimmten Begränzung war jedoch keine Rede. In 
der Richtung zur Sonne entfernte sich die Umhüllung beträchtlich weiter vom Kerne des 
Cometen, als der helle Schweifnebelstoft, erreichte jedoch den grössten Abstand von dem- 
selben nicht in dieser, sondern in einer etwa 30° verschiedenen Richtung, wodurch die 
Lage zu Kern und Hauptschweif unsymmetrisch wurde. Die Schenkel des Schweifes diver- 
girten stärker, als die der schwachen Umhüllung, so dass jene sich in geringer Entfernung 
unterhalb des Kopfes schon an den Schweif anschloss und nicht weiter von ihm zu unter- 
scheiden war, eine Entfernung, die aber vermöge der erwähnten Nichtsymmetrie verschie- 
den war auf den beiden Schweifästen. 

Die Erscheinung, dass der Kern in der schwachen Umhüllung beträchtlich excentrisch 
lag, hat sich während der ganzen Dauer der Erscheinung des Cometen erhalten. Bis Sep- 
tember 25 finde ich keine directe Schätzung des Abstandes der Ränder vom Kerne in einem 
Durchschnitte senkrecht auf die Axe des Hauptschweifes aufgezeichnet; es sind nur bei- 
läufig die Abstände vom Kerne angegeben, in denen sich die matte Umhüllung nicht mehr 
von der hellen Nebelmasse unterscheiden liess. Für die spätern Beobachtungen sind die 
Schätzungen folgende: 


Sept.25 vorgehend: 2’, folgend: 3° = 0,67 


» 27 » 1,3. 70» 2,5 0,52 
зо » 3 р 0 0,66 
Oct. 7 » в) »1416,0 0,46 
» 8 » 4 » 8 0,50 
DO) » 3:0 99222955 0,37 


Wenn auch die absolute Leichtigkeit der Wahrnehmbarkeit der Umhüllung eine sehr 


PuLkOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 47 


verschiedene war, hervorgerufen durch Mondschein und Veränderlichkeit der Höhe und 
des Standes des Cometen zur Dämmerung, so werden doch die Relativzahlen nn einiger- 
maassen frei von diesen Einflüssen sein. Bei der Schwierigkeit der Schätzung jener Ab- 
stände wird man die angedeutete Zunahme der excentrischen Lage als nicht unzweifelhaft 
erwiesen ansehen können: die Beobachtungen lassen aber eine Abnahme dieser Excentrici- 
tät als ziemlich unwahrscheinlich erscheinen. Hierdurch wird ein Erklärungsgrund für die 
Erscheinung zurückgewiesen, der in dem nach der Bessel’schen Theorie geforderten Hin- 
überströmen der Theilchen nach der in der Bahn vorgehenden Hälfte der Cometenhülle 
vor dem Perihele gefunden werden könnte, indem die dadurch bedingte grössere Lichtstärke 
dieser Hälfte bei so schwachen Erscheinungen sich hauptsächlich durch eine grössere Aus- 
dehnung ihrer Sichtbarkeit geäussert haben könnte. Es hätte dann aber bei den letzten Be- 
obachtungen, die schon beträchtliche Zeit nach dem Perihele angestellt sind, sich eine Mo- 
dification zeigen müssen; wenigstens war die entsprechende Umwandlung im Hauptschweife 
schon eingetreten. 

Den Positionswinkel p der Richtung des grössten Abstandes der schwachen Umhül- 
lung vom Kerne habe ich an mehren Tagen genähert bestimmt. Die Schätzung Sept. 16 
führe ich in nachstehender Zusammenstellung nicht auf, da sie kein Vertrauen verdient. 


Sept. 18...p — 135°... Zeichnung. .p,— 177°...p,—p— +42° 


D ER Auer 1200.28 Beobl UNE LEHRER a: + 46 
DB EN 165 SES as er ER A SA + 34 
OCEAN LADITE NE » RU LIVRE DE DIS kr FETE + 58 
DANS SAN à 180 Я Ли и — 60 
DL ARE ALL ER 184 Be SDR Ur EHESTEN à — 62 


p, ist der Positionswinkel der Richtung zur Sonne. 


Supponirt man, wie es genähert gestattet sein wird, dass die Linie, deren Positions- 
winkel durch vorstehende Messungen fixirt ist, in der Bahnebene des Cometen sich befun- 
den hat, so findet sich folgende Zusammenstellung der Richtung dieser Linie in jener Ebene: 


и 9145200 — 10,2, .. .и— u = 56,0 


DE N N NE SDL su 69,5 
С RN SPA И ae 61,2 
ON. NN Ben 69,5 
оо и о LE NA 67,2 
> RN 0 TEN AE NE О AM 65,6 


и und м, sind die р und р, entsprechenden, auf die Ebene der Cometenbahn reducirten 
Richtungen. 

Bedenkt man die Unsicherheit, der diese nur auf je einer Einstellung der immer 
schlecht zu bestimmenden Richtung beruhenden Messungen unterworfen sind, so wird man 
die Unterschiede dieser letzten Zusammenstellung ohne weiteres den Messungen zuschrei- 


48 A. WiINNECKE, 


ben können. Die Beständigkeit der Relation der fraglichen Richtung zur Richtung des jedes- 
maligen Radiusvectors ist ein bemerkenswerthes Ergebniss. In einem spätern Theile die- 
ser Bemerkungen werde ich ein analoges Resultat für die Anfangsrichtung des Haupt- 
schweifes ableiten, dessen Constatirung von Bedeutung für die Anschauung über die Wir- 
kung der Sonnenkraft ist. 

Den grössten Abstand vom Kerne auf der Vorderseite des Kopfes lässt nachfolgende 
Zusammenstellung übersehen: 


Grösster Abstand der schwachen Umhüllung vom Kerne: 


Sept. 16... бе Ent 1.02 2340 
N a nö » 7. ИО 
DONS LE TER » NORD 
ee » 256 
DAT AN TE Er » AA A 


Ro » ah: 
Oct ОБ оо OR LE » LIND 
Ао » LD 
DAMON TU mer » eo 
DIET О » 988 31171 


Hinzugefügt ist der auf die Entfernung = 1 reducirte Werth der jedesmal geschätz- 
ten Grösse. Sept. 25, 27, 30 störte der Mond sehr; auch Sept. 17, 18 war er noch über 
dem Horizonte, so dass keine Andeutung einer merklichen Variabilität dieser Grösse durch 
die Beobachtung gegeben ist. Hierin besteht eine wesentliche Differenz zwischen dem Ver- 
halten dieser Umhüllung und der dem Ansehen nach aus ähnlichem Stoffe, wie der Haupt- 
schweif bestehenden innern Enveloppe, von der schon die Rede gewesen ist. Ich muss hier 
darauf aufmerksam machen, dass die Distinction zwischen diesen beiden Nebelmassen, wie 
sie von mir gemacht ist, mir unumgänglich nothwendig erscheint. Eine solche Verschieden- 
heit des Lichtes nach Intensität und Farbe, wie die bei diesen Umhüllungen stattfindende, 
deutet mit Bestimmtheit darauf hin, dass die Verschiedenheit auch dem Stoffe nach vor- 
handen ist, so dass bei Schlüssen auf die bewegenden Kräfte eine Unterscheidung strenge 
gefordert wird. Es ist dieses ein Fundamentalsatz, der vielleicht schon bei Besprechung 
der Variationen in den Abständen des Scheitels des hellen Schweifparaboloids vom Kerne, 
hätte vorangestellt werden sollen. 


Vom schwachen, schmalen Schweife. 


Das Wahrnehmen der schwachen Umhüllung am 16. Sept. führte mich auf die Idee, 
ob sie vielleicht die erste Spur der Entwickelung eines zweiten Schweifes sei in der der 
Sonne zugewandten Richtung, eine Erscheinung, die so viel mir bekannt, nur bei den Co- 
meten von 1680, 1824, 1845 und 1851 wahrgenommen ist. Die Folge davon war ein 


Puzxowarr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 49 


sorgsames Untersuchen der Nachbarschaft des Cometen in Bezug auf sehr schwache 
Schweifspuren, das allerdings zu einem negativen Resultate für jene erste Idee führte, aber 
Veranlassung wurde zur Auffindung eines schmalen, schwachen Ausläufers aus dem Haupt- 
schweife, dessen Existenz sich am 18. und 19. Sept. bestätigte. Das Aussehen des Come- 
ten an diesen Tagen zeigen Fig. 2 und 3. 

Die Lichtstärke des neuen Schweifes war in seiner ganzen Ausdehnung ziemlich gleich; 
auch senkrecht auf die Axe konnte kein deutlicher Unterschied der Helligkeit bemerkt wer- 
den, weder damals, noch später, als er sich zugleich mit dem Hauptschweife zu enormer 
Länge ausgedehnt hatte. In unmittelbarer Nähe des Hauptschweifes war keine Spur von 
ihm zu sehen nach einstimmigem Zeugnisse der Gesammtheit der Beobachtungen, was wohl 
einfach der so erheblich grössern Lichtstärke jenes zuzuschreiben ist, welche den überhaupt 
kaum wahrnehmbaren Schein in grosser Nähe auslöschte. Verlängert man die Richtung des 
Nebenschweifes aber, so erhält man für die Entfernung des Absprossungspunktes vom Kopfe: 


И 4.203 9 Ente — 1.22... 2] 
Da MO ME 3 Stun. » ee 
DE ODE a » 50,0 

(ee ee O EEE » iD 


Es ist das Kleinerwerden des Abstandes des Punktes, wo von der Erde aus gesehen 
die beiden Schweife aus einander liefen, vom Kopfe, eine nothwendige Folge der verän- 
derten Lage der Erde gegen die Ebene der Cometenbahn, wenn die Mittellinien beider 
Schweife als darin liegend angesehen werden. Am 18. Sept. stand die Erde dieser Ebene 
noch sehr nahe und einige Tage früher wäre es unter jener Voraussetzung ganz unmöglich 
gewesen, die beiden Schweife getrennt zu erblicken. 


Aus den Seite 29 — 33 angeführten Beobachtungen lassen sich die Positionswinkel 
p dieses Schweifes ableiten; s sei die zugehörige Entfernung des beobachteten Punktes im 
Schweife vom Kopfe, p, die Richtung zur Sonne um die Beobachtungszeit. 


В ВИ D 354755... .р— 35 И. рр +. 2.12 


ИОНЫ Е: Зоб en. HINEIN HN een GS + 1 36 
DOS OU DD Cr Вок IH Ds. ее —= 4 28 
DNS UE EE т USER RER TS Koran) Zn HERE SR + 4 54 
ео бе Wa IRAHE AM re + 11 58 
DRE Te ve 180 Tora: II Te a DOMAINE ен — 9 57 


Der Schweif war also rückwärts gebeugt gegen die Verlängerung des Radiusvectors. 
Der Gang in diesen Zahlen verschwindet, sobald man von p und p, zu den entsprechenden 
in der Bahnebene des Cometen gelegenen Winkeln u und u, übergeht: 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 7 


50 A. WiNNECKke, 


12 


Sept. 18... .u= 179°17"...u,—191° 0'...u,—u= + 11248 


INA LE AR ER 1SOMRSREMUR IE DDR + 8 14 
азии: а ое 225 ABC M ARIANE 2 10-9 
OCEAN DIEBE N 241 726 I RR + 14 48 
ан ое. DAT DREIER +10 10 


Nach der Bessel’schen Theorie ist man im Stande aus der Grösse der Rückbeugung 
der Axe des Schweifes, die man in beträchtlichen Entfernungen vom Kopfe beobachtet 
hat, die Grösse der auf die Schweiftheilchen wirkenden Sonnenkraft y. zu bestimmen. Es 
sei o die beobachtete Zurückbeugung, & die Projection der zugehörigen Entfernung auf 
den Radiusvector, so ist diese Verbindung gegeben durch: 


tang o = 991 @ | —— I ya 5 


| r V2 Aresinv | , 2V2r уе 
| УИ-шуУЕ ЗУРаЪ-ь 


9, @, haben dieselbe Bedeutung, wie oben und г, v, е, р sind die durch die Elemente des 
Cometen gegebenen Grüssen: Radiusvector und wahre Anomalie zur Beobachtungszeit, Ex- 
centrieität und Parameter. Diese Formel will ich mit den obigen Daten vergleichen. 

Die beiden ersten Beobachtungen werde ich ausschliessen, da wegen der ungünstigen 
Lage der Erde zum Cometen die Beobachtungsfehler zu bedeutend vergrössert auf ф über- 
gehen, dagegen drei Gleichungen nach Herrn Dr. Pape’s Berechnung mit anführen, die 
aus Herrn Auwers Beobachtungen dieses Schweifes folgen. Man hat dann nachstehende 


Gleichungen, wenn Kürze halber ge — a und g sin @=$ gesetzt wird. 
Sept. 30 В(2,476а— 0,013 a”) + 0,541“ =0,179 I=-+0,013 П==—-0,009 
Oct. 1 8(1,509a— 0,054 a’) + 0,949 а — 0,258 + 0,039 + 0,041 
» 4 В(1,486а— 0,170 &°) + 0,964 а = 0,290 —+ 0,010 + 0,014 
» 5 B(1,713a—0,206a’)+ 0,781 a = 0,264 — 0,014 — 0,018 
» 7 B(1,999 a — 0,289 a’) + 0,671 « = 0,179 0,032 + 0,032 
» 10 8(1,604a— 0,395 a”) + 0,893 а = 0,355 — 0,076 — 0,074 


Von Herrn Dr. Pape ist in seiner mehrfach erwähnten Abhandlung die Constanz der 
Grösse à für den Hauptschweif während des Zeitraumes Sept. 23 — Oct. 8 völlig erwiesen; 
an spätern Tagen traten augenscheinlich wesentliche Aenderungen in demselben ein, so dass 
die Rückschlüsse auf « zu unsicher werden. Bei dem schwachen Schweife wird man hiernach 
mit grosser Wahrscheinlichkeit ebenfalls « als constant annehmen können. Wenn die be- 
obachteten Punkte der Axe des Schweifes entsprächen, so wäre В — 0 zu setzen; nach der 
Bessel’schen Theorie muss man aber schliessen, dass auch bei dem Nebenschweife die in 
der Bahn vorgehende Seite die hellere gewesen ist und dass die schwächern Partien dieses 
Schweifes uns ganz entgangen sind, so dass sich die obigen Gleichungen nicht auf die Axe 
beziehen, sondern ihnen vielmehr ein kleiner positiver Werth von 8 zukommt. Die Grösse 


PuLKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 51 


ß wird man ebenfalls als wesentlich constant anzunehmen haben nach Analogie mit dem 
Hauptschweife, für den die Beständigkeit der Gränzen von g sin @ später nachgewiesen 
werden soll. Durch die Einführung eines kleinen positiven Werthes von В gewinnt die Dar- 
stellung der Gleichungen allerdings ein wenig, aber so unbedeutend, dass jene Ansicht 
hierdurch durchaus nicht unterstützt wird. 

Es würde bei allen diesen Voraussetzungen, zumal wenn man die geringe Schärfe der 
Beobachtungen bedenkt, unnöthige Mühe sein, die Grössen von В und & zu suchen, welche 
in aller Strenge als die wahrscheinlichsten sich aus den Gleichungen ergeben; ich habe 
mich daher mit einer genäherten Auflösung begnügt und finde dass В = + 0,05 und 
а — + 0,29 ihnen Genüge thun. Es bleiben dann die unter I angesetzten Fehler übrig. 
Nimmt man В = 0, so lässt 4 = + 0,315 die unter II angegebenen Fehler zurück. 

Die Darstellung der Beobachtungen des schwachen, fast geradlinigen Schweifes er- 
fordert also eine enorm grosse abstossende Kraft der Sonne; dem zuerst gegebenen « ent- 
spricht р. = — 10,9. Man könnte nun weiter gehen und die Geschwindigkeit der Theil- 
chen bestimmen, wenn man die Ausdehnung des diesem schwachen Schweife zugehörigen 
Nebels auf der Sonnenseite des Kernes kennte. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass 
die schwache Umhüllung die ihm entsprechende Nebelmasse ist; da aber auch gewichtige 
Gründe dagegen vorzubringen sind, und ich die Entfernung, bis zu der man die schwache 
Hülle wahrnehmen konnte, für etwas Subjectives halte, so führe ich die daraus sich erge- 
bende sehr beträchtliche Geschwindigkeit der aufsteigenden Schweiftheilchen nicht an. 
Herr Dr. Pape hat die betreffenden Zahlen in seiner Abhandlung für den Haupt- und Ne- 
benschweif zusammengehalten. Es findet ein auffälliges Uebereinstimmen zwischen der Zeit 
des ersten Sichtbarwerdens des Hauptschweifes und den Momenten, wo Anfangs October 
am Ende des Hauptschweifes befindliche Theilchen den Kern verlassen haben müssten. 
Auch die äussersten, Mitte September wahrnehmbaren Theilchen des Nebenschweites, also 
zur Zeit der ersten Sichtbarkeit desselben, hätten danach etwa um dieselbe Zeit den Kern 
verlassen. Es ist aber dieses nicht mehr als ein zufälliges Zusammenfallen. Denn nach dem, 
was so eben bemerkt wurde und was früher über die Variabilität der Grösse = gesagt ist, 
würde es ein Leichtes sein, für die Zeiten, welche die Schweifpartikelchen zum Aufsteigen 
gebraucht haben, ganz bedeutend verschiedene, gleich wahrscheinliche Werthe zu geben 
je nachdem man eine dieser Grössen für einen bestimmten Tag anwendete. Es ist ferner 
nicht zu übersehen, dass dem abgeleiteten Resultate ausserdem noch eine Annahme über 
den Winkel @ zu Grunde liegt, die man augenblicklich schwerlich über die Subjectivität 
der Meinung erheben kann. Dass man den schwachen Schweif erst Mitte September wahr- 
genommen hat, dafür ist schon oben als Ursache die Projection auf den Hauptschweif im 
Anfange der Erscheinung angegeben; hinreichenden Grund für seine Nichtsichtbarkeit 
würde auch ohnedies in dem ungünstigen Stande des Cometen zur Dämmerung zu finden 
sein. Das Gleiche muss man für die Wahrnehmung der ersten Spuren des Hauptschweifes 
anführen. Es kommt noch hinzu die beträchtliche perspectivische Verkürzung, in der der 


* 


52 А. WiNNECKkE, 


Schweif uns im August erscheinen musste; denn Aug. 4 sah man die wirkliche Länge des 
Schweifes bis auf ein Achtel verkürzt, Aug. 19 bis auf ein Fünftel. Es hat vielleicht eini- 
ges Interesse die Verkürzungen n des Schweifes während der Dauer seiner Sichtbarkeit 
übersehen zu können. Nachstehende Tafel enthält dieselben unter der Voraussetzung einer 
Zurückbeugung der Anfangsrichtung des in der Bahnebene gelegenen Schweifes von 6° ge- 
gen die Richtung zur Sonne für dem Kopfe nähere Theile. 


Dept 2. и — 0.453 Sept. 16. ...2.— 0,801 Sept. 30...п = 0,993 


Nr Ba 0,471 DATE u 0,827 Oct. ALERTER 0,984 
а 0,492 Зона 0,852 РИО ие 0,301 
De ER 0,515 Du IP Pan 0,876 De LE 0,956 
N er 0,539 DD DE er: 0,898 моль 0,940 
р... 0,564 о 0,919 DE 0,922 
DE 0,590 DER De ee 0,939 N EE 0,907 
DREI. 0,616 НН 0,957 » МЕ. 0,895 
о ес 0,642 а 0,972 А 3 0,887 
О УС 0,668 ое 0,984 и Но 0,885 
р. 0,694 о о 0,993 es 0,887 
DHL. Lee 0,721 PATES ne 0,998 De Moe 0,895 
Di A 0,748 DIRD Be 1,000 DE RER BR 0,908 
DD 0,775 DD IN TER 0,998 Dar. 0,925 


Die Erscheinung von zwei oder mehren deutlich getrennten Schweifen, welche von 
der Sonne abgewandt sind, scheint eben so selten zu sein, als die schon erwähnten merk- 
würdigen Wahrnehmungen von der Sonne zugekehrten Cometenschweifen. Es liegt das 
wohl im Wesentlichen in der beträchtlichen Schwierigkeit, die Nebenschweife bei ihrer 
grossen Lichtschwäche wahrzunehmen, zumal die Cometen in der Zeit, wo diese Erschei- 
nungen am leichtesten zu bemerken sein würden, meistens eine solche Lage zur Erde ha- 
ben, dass sie in dunkler Nacht nicht beobachtet werden können. Ich bin überzeugt, dass 
man bei grösserer Aufmerksamkeit in Zukunft diese interessanten secundären Schweife 
öfter wahrnehmen wird. Wie leicht diese schwachen Scheine dem Beobachter entgehen, 
davon ist der geradlinige Schweif des Donati’schen Cometen Zeuge, über den, soviel mir 
bekannt, nur noch Beobachtungen aus Göttingen und Cambridge U. S. vorliegen. Die Zer- 
theilung des Hauptschweifes am obern Ende im October, der man den Namen von Neben- 
schweifen gegeben hat, ist von diesem, seit Mitte September wahrgenommenen, aber ohne 
Zweifel schon länger vorhandenen zweiten Schweife ein total verschiedenes Phänomen. 
Jene Zerspaltung der obern Partien des Schweifes, seine säulenartige Schichtung, wurde 
hier ebenfalls bemerkt. Siehe die Beob. Oct. 8 und 9. 

Bei dem grossen Cometen von 1811 findet sich ein zweiter Schweif nur von einem 
der vielen Beobachter, von Olbers erwähnt, der seit dem 9. October deutliche Spuren da- 


PuLkowAER BEUBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 53 


von wahrnahm. Olbers geht auf seine Beobachtungen über die Schweiferscheinungen nur 
ganz beiläufig ein und beschränkt sich hauptsächlich auf das, was der Kopf gezeigt hat, ein 
Umstand der sehr zu bedauern ist bei dem Werthe, den diese Notizen haben würden. So 
sagt er nicht einmal, auf welcher Seite des Hauptschweifes er den Nebenschweif erblickt 
habe. Es lässt sich nur eine Vermuthung darüber aufstellen, indem er erwähnt, dass ihm 
die von Cheseaux gegebene Erklärung der winklichten Einbucht bei dem Cometen von 
1744 ') auf den Cometen von 1811 zu passen schiene, der auf der rechten (nachfolgenden) 
Seite eine analoge Erscheinung gezeigt habe. Es wurde aber der zweite Schweif bei dem 
prächtigen Cometen von 1744 auf der nachfolgenden Seite (der wahren Bewegung nach) 
wahrgenommen. 

Bei dem Cometen von 1577 hat Cornelius Gemma vom 28. Nov. an mehrfach einen 
zweiten Schweif wahrgenommen’), der, wie die beiden eben besprochenen, beträchtlich mehr 
zurückgebeugt war, als der Hauptschweif, so dass die Sonnenkraft eine erheblich kleinere 
für ihn sein musste, als für diesen. Die einzige, dem schmalen Schweife des Donati’schen 
Cometen völlig entsprechende Erscheinung, ist die des Cometen von 1807. Er zeigte einen 
geraden, schmalen und schwachen Schweif, bei weitem weniger zurückgebeugt, als der 
gekrümmte hellere und übertraf den Hauptschweif an Länge, wie es bei unserm Cometen 
gleichfalls stattfand. Auch der Comet von 1843 hat nach indischen Berichten?) am 11. 
März zwei Schweife gehabt. Der neue war fast doppelt so lang, aber schwächer als der 
seit März 6 gesehene ältere Schweif; die Nachricht ist aber so unvollkommen, dass man 
nicht einmal mit Bestimmtheit daraus ableiten kann, auf welcher Seite des Hauptschweifes 
sich dieser Ausläufer gezeigt hat. Vierzehn Tage später war der Nebenschweif nicht wahr- 
nehmbar, falls die Mittellinie beider Schweife, wie zu vermuthen ist, in der Bahnebene des 
Cometen lag, so dass man in Europa eine derartige Erscheinung nicht bemerken konnte. 


Vom hellen Schweife. 


Aus den beobachteten Dimensionen des Cometenschweifes in der Nähe des Kopfes 
werde ich zuerst einige Folgerungen ziehen. Ueber die Art wie diese Schätzungen gemacht 
wurden, ist das Nöthige gleich zu Anfange erwähnt; es folgt daraus unmittelbar, dass die 
Genauigkeit der Messungen beschränkt ist, was vorzüglich für die Abstände a vom Kopfe 
des Cometen gilt, falls sie 15’ beträchtlich überschreiten, übrigens zum Theil in der Natur 
der Sache begründet ist. Ich lasse jetzt hier die Messungen in chronologischer Ordnung 
folgen, wobei ich mit b die geschätzte Breite bezeichne: 


1) Cheseaux, traité de la comète etc. pag. 153 ... je remarque encore, que cette espèce de coude, que j'avais 
aperçu dans la queue de la comète le 9 Janv. et quelques autres jours, n’était autre chose, que cette seconde queue, 
qui dans ses commencements était beaucoup moins séparée de la première.» Man kann eine Erklärung aus ähn- 
lichen Gründen auch für einen am Cometen von 1858 bemerkten Knick gelten lassen. Siehe Beobachtungen von 
Heis, Astr. Nachr. Nr. 1169. 

2) Beschreibung und Abbildung pag. 26 seiner Schrift: De prodigiosa specie naturaque cometae etc. anni 1577. 

3) Astron. Nachr. 493, nach Beobachtungen von Clerihew, teacher of astronomy and physics to native youth. 


54 А. WINNECKE, 


Beobachtete Dimensionen des Schweifes in der Nähe des Kopfes. 


Sept. 12...а—=10’...6 —6,5...а — 188... 85 


STAR Ben aa: о 8,2 
ar RL NO OMS a 
TEE RN HORSE 16,4 
и DR EEE AA RE 5,4 
о Е SET 7,8 
DI ea RT Do 10,1 
Варе lee НИ = Ge. sn AO 4,8 
TOME НЕ 8 бр 200: 6,7 
Обь Ile alter 20,6 8,7 
53 1 SE № A 10,8 
3 ЗО Bankls м. ER 3,5 
11 PONS TR De 4,9 
оба В eu 10,2 
Об Ва БМ SO ML 3,2 
JE A DEC gb rl N 4,7 
ОВ. аки 165. а 8,2 
я TR TREE ER re Go 
DR ae Ws 8,2 


Die zweite und dritte Columne enthält die Messungen, wie sie schon oben unter den jedes- 
maligen Daten aufgeführt sind, die vierte und fünfte hieraus abgeleitete Grössen, die un- 
mittelbar unter einander vergleichbar sind. Sie sind auf die Entfernung = 1 des Cometen 
von der Erde und die senkrechte Lage seiner Schweifaxe gegen unsere Gesichtslinie bezogen. 

Aus dieser Zusammenstellung ergeben sich durch einfache Interpolation für den Ab- 
stand a — 15° vom Kerne des Cometen folgende Werthe der zugehörigen Breite b des 
Schweifes: 


БО ПВ Ча Ve) 
» 16 еее ei te ® еее © 10 
TITTEN oh 9 
Da ONE Mt etats. мены: 8 
О еее 9 

OCTO ee 8 
Е КЕ 8 


Mit Rücksicht auf die Schärfe der Messungen kann hieraus mit beträchtlicher Sicher- 
heit die Constanz der Durchmesser des auf die Axe des Cometen im angegebenen Ab- 
stande vom Kopfe senkrechten Querschnitts gefolgert werden. Es hat sich aber im Ver- 


U 


PurLkowaER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 51 


laufe der fast vier Wochen umfassenden Beobachtungsreihe die Lage unserer Gesichtslinie 
sehr erheblich geändert. Am 8. September ging die Erde durch die Ebene der Cometen- 
bahn, so dass jene Breite des Schweifes anfänglich nahe für .die auf der Bahnebene senk- 
rechte Richtung gilt; gegen die Mitte October aber sahen wir den Durchmesser, der in der 
` Cometenbahnebene selbst lag. Die einfache Folgerung hieraus ist, dass der auf die Axe 
senkrechte Durchschnitt des Schweifes in der Nähe des Cometenkopfes kreisförmig war, 
zugleich aber auch, dass die Gränze von g sin @ während dieser Zeit constant geblieben 
ist, falls man sich nicht zu der höchst unwahrscheinlichen Hypothese bequemen will, die 
Schwankungen der Gränze von g sin @ seien derartig gewesen, dass sie die durch die Ab- 
weichungen des Querschnitts von der Kreisform herrührenden Veränderungen des proji- 
cirten Durchmessers aufheben. 

Herr Dr. Pape folgert aus seinen Beobachtungen, dass der Schweif in sehr beträcht- 
licher Entfernung vom Kopfe in der Ebene der Bahn eine erheblich grössere Ausdehnung 
gehabt habe, als in der darauf senkrechten Richtung. Ich sehe in der That nicht recht, 
wie man diese Folgerung vermeiden kann für die Theile des Schweifes, die weit vom Kopfe 
entfernt waren; denn jene enorme Zunahme der Breite des Schweifes Ende Sept. und An- 
fang Oct. durch eine Zunahme der Gränze von g sin G erklären zu wollen, geht nach dem 
oben Beigebrachten nicht. Wir werden also auf eine merkwürdige Figur des Schweifes 
geführt: in der Nähe des Kernes sind die Querschnitte Kreise, in grösserer Entfernung da- 
von beträchtlich abgeplattete Curven, deren grösster Durchmesser wahrscheinlich in der 
Bahnebene liegt. 

In den ersten Tagen meiner Beobachtungen habe ich über die Vertheilung der Hellig- 
keit im Schweife keine Aufzeichnungen gemacht, wahrscheinlich weil sich nichts Auffallen- 
des in dieser Beziehung zeigte. Erst am 12. Sept. findet sich die Bemerkung, dass der 
Schweif im Cometensucher in der Richtung senkrecht auf die Längenaxe überall gleich hell 
sei, vielleicht sogar in der Mitte heller als an den Seiten. Es ist diese Bemerkung in ent- 
schiedenem Widerspruche mit den Angaben einiger englischen Beobachter für denselben 
Tag, deren einer (Breen) den Schweif «considerably fainter near the axis than at the sides» 
nennt, der andere (Burr) sagt: «the sides of the tail were more brilliant than the central 
portions». Ich erkläre mir diese Verschiedenheit daraus, dass meine Angabe für Sept. 12 
sich auf weiter vom Kopfe entfernt liegende Theile des Schweifes bezieht, als die der er- 
wähnten Beobachter; denn auch später, als die Verschiedenheit des Lichtes sehr gross 
ward, waren die Nüancirungen in grösseren Entfernungen vom Kopfe nicht so scharf aus- 
gesprochen. Jedenfalls kann man hiernach annehmen, dass an diesem Tage der Unterschied 
der Helligkeit an den Rändern und in der Axe noch nicht sehr bedeutend war. Am 16. 
September hatte sich das schon geändert. Die vorhergehende Seite war beträchtlich 
schwächer, als die nachfolgende, ganz wie es nach der Bessel’schen Theorie der Verthei- 
lung der vom Kern ausströmenden Massen der Fall sein musste. Wenige Tage vorher wa- 
ren die Ausströmungen des Kernes für uns sichtbar geworden und hatten an Inten- 


56 А WiNNECKE, 


sität zugenommen. Auf die eigenthümliche Form des hellern Theils des Schweifes, der 
gleichsam als ein Sonderschweif (vergl. Fig. 1) im andern darin zu stecken schien, glaube 
ich noch in so fern aufmerksam machen zu müssen, als analoge Erscheinungen gegen Oct. 8 
in weit bestimmteren Zügen sich dem Beobachter aufs Neue darboten. 


Am 19. Sept. wurde der Comet ziemlich früh am Heliometer eingestellt und die Mitte 
noch sehr schwach gefunden, während zu beiden Seiten die Schweifmasse schon vortrefflich 
sichtbar war. Zwei damals gemachte Skizzen zeigen die rechte Seite als viel heller und über 
doppelt so weit sichtbar in der hellen Dämmerung, als die linke. Der dunkle Raum in der 
Mitte ist sehr erheblich breit gezeichnet im Vergleich mit der Breite der Schweifäste. Die 
Figuren habe ich jedoch nicht copirt da sie von keinen Abschätzungen der einzelnen Theile 
begleitet sind. Das bedeutend stärkere Hervortreten des rechten Schweifastes nach Breite 
und Helligkeit findet sich im September fast immer notirt; später finde ich keine Notizen 
darüber, aber die Skizzen zeigen, dass im October das Verhältniss nahe gleich gewesen ist, 
vielleicht sich sogar umgekehrt hat, wie es der Theorie nach der Fall sein soll. Der Comet 
passirte Ende September sein Perihel und von da an beginnt das vorwiegende Ueberströ- 
men der Theilchen nach dem linken (im astr. Fernrohre) Schweifaste'). Die dunkle Zone 
in der Mitte des Schweifes, trat vom 19. Sept. an immer auffälliger hervor und wurde all- 
mälig schmaler. Die grösste Schmalheit und zugleich stärkste Dunkelheit erreichte sie etwa 
um die Zeit des Perihels des Cometen; am 29. und 30. September war sie sehr schmal und 
fast scharf abgeschnitten von der beiderseits anliegenden hellern Nebelmasse. Die seit- 
lichen Lichtströme nahmen gegen den Rand hin noch allmälig an Licht zu. Die Schärfe 
der Begränzung, sowie die intensive Dunkelheit des Kanals verringerte sich bei grösserm 
Abstande vom Kern beträchtlich, ähnlich wie die Helligkeit der leuchtenden Nebelmasse 
des Schweifs ein Maximum in der Nähe des Kerns erreichte und allmälig sehr viel schwä- 
cher wurde. In wie weit hier Contrast noch mit ins Spiel kommt, wird sich schwer ermit- 
teln lassen. Als am 5. Oct. sich der Himmel auf kurze Zeit aufheiterte, war die dunkle 
Zone schon wieder sehr viel breiter geworden und dieses Zunehmen der Breite in der auf 
die Längenrichtung des Schweifes senkrechten Richtung dauerte in den darauf folgenden 
Tagen fort. 

Die Erklärung, die man von der im Schweife sehr vieler Cometen bemerkten dunklen 
Zone gegeben hat, ist bekannt. Man hat sich danach den Schweif des Cometen als einen 
conoidischen Mantel, gleichmässig angefüllt mit Nebelmasse, vorzustellen, dessen Dicke im 
Vergleich mit dem Durchmesser des conoidischen Körpers gering ist. Ferner nimmt man an, 
dass die Nebelsubstanz völlig durchsichtig ist, eine Annahme, die, wenngleich gewiss nicht 
streng richtig, sich der Wahrheit doch genügend für diese Betrachtungen nähern wird. Es 
hat unter dieser Voraussetzung, sobald man einmal eine Annahme über die Dicke des 


1) Siehe den Ausdruck für die auf die Richtung des Radiusvectors senkrechte Coordinate Astr. Nachr. Bd. ХШ, 
pag. 219. L 


PuLKkOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 57 


Schweifmantels im Verhältniss zum Radius des Schweifkörpers gemacht hat, keine Schwie- 
rigkeit die Vertheilung der Helligkeit im Schweife zu berechnen. 

Betrachten wir die Vertheilung des Lichtes in einem zur Axe des Schweifes senkrech- 
ten, unendlich dünnen Querschnitte, dessen Figur sich in den dem Kerne nähern Theilen 
des Schweifes von der Kreisform bei unserm Cometen nicht wesentlich entfernt haben kann, 
und nehmen an, dass die Schweifaxe senkrecht auf die Gesichtslinie steht, sowie dass der 
Durchmesser des Querschnitts im Verhältniss zur Entfernung vom Beobachter unbedeu- 


tend ist. Es sei dann das Verhältniss der Dicke des mit leuchtender Schweifmaterie ange- 
1 

а? 
keit — V(2 d— 1) in dem Abstande = vom Rande des Schweifes und allgemein wird die 


füllten Raumes zum Radius des Querschnitts so sehen wir das Maximum der Hellig- 


Helligkeit № für die Entfernung von der Mitte = sin b 
h=dcosb— (d— 1)cosŸ 
wobei zwischen ф und die Gleichung stattfindet: 
sind = (1 — за ф' 


Als Einheit der Lichtstärke liegt die Helligkeit in der Axe zu Grunde. Fig. 5 veranschau- 
licht die Vertheilung der Helligkeit in der Projection des Querschnitts, die hiernach statt- 
finden würde, wenn d — 10 genommen wird, für die eine Hälfte des Schweifes. Die Ordi- 
naten sind den Helligkeiten proportional, die zu den als Abscissen aufgetragenen Entfer- 
nungen von der Axe gehören. 

Ein Blick auf diese Figur und die Zeichnungen des Cometen reicht hin, um zu zeigen, 
dass diese Vertheilung der Helligkeit der wirklich beobachteten durchaus nicht entspricht. 
Der Comet zeigte breite, helle Streifen zu beiden Seiten des dunklen Kanals, so breit, 
dass sie während längerer Zeit die Breite der dunkeln Zone sehr erheblich übertrafen: 
unsere Figur giebt nur schmale helle Streifen, deren Dimensionen von dem dunklern 
Theile des Schweifes vielmal übertroffen wird. Eine Veränderung in der hier willkührlich 
angenommenen Dicke des Mantels nähert die berechnete Vertheilung des Lichtes der 
wirklich beobachteten nicht. Für eine grössere Dicke rückt allerdings das Maximum der 
Helligkeit mehr nach innen; aber auch die Differenz der Helligkeiten wird geringer, was 
gewiss nicht der Fall bei unserm Cometen war und es bleibt die Vertheilung noch immer 
weit von derjenigen, die wirklich stattgefunden hat, entfernt. Für eine geringere Dicke rückt 
das Maximum der Helligkeit noch mehr nach aussen und die helle Zone wird schmäler. 

Es entspricht also bei näherm Eingehen die einfache Hypothese den Beobachtungen 
unsers Cometen durchaus nicht; die Sache wird aber eine andere, wenn man einen Schritt 
weiter geht und gestützt auf Beobachtungen bei ältern Cometen, wo mindestens zwei 
Schweifconoiden in einander gesteckt haben müssen, annimmt, dass der Schweif aus sehr 
vielen, in einander gesteckten Mänteln bestanden hat, deren Dicke sehr gering war und 
die durch einen verhältnissmässig grossen Raum von einander getrennt wurden. Es ist dies 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 8 


58 А. WınnEcke, 


eine Hypothese, welche durchaus im Einklange ist mit den Ideen, die über Schweifbildung 
der Cometen von Olbers und Bessel geäussert sind, in so fern auch danach eine hierdurch 
bedingte Verschiedenartigkeit der emittirten Stoffe zur Erklärung mancher andern Erschei- 
nungen verlangt wird. Die Vertheilung der Helligkeit in einem Querschnitte unter den 
obigen Annahmen zu berechnen, hat wiederum nicht die geringste Schwierigkeit, sobald 
man sich über die willkührlichen Grössen geeinigt hat. Figur 4 zeigt die Helligkeitscurve 
für den einfachen Fall, wo 5 für alle Conoiden constant und ein Hunderttausentel des Ra- 
dius des grössten Conoides beträgt; ausserdem ist angenommen, dass 80 Conoiden in ein- 
ander stecken, je ein Hundertel des Radius von einander entfernt, so dass im Innern ein 
Raum, dessen Radius zwei Zehntel des grössten Halbmessers beträgt, von leuchtender Ne- 
belmasse leer bleibt. Wie man sieht, entspricht die auf diese Weise erlangte Vertheilung 
der Helligkeit schon ziemlich nahe derjenigen, die unser Comet in den letzten Tagen Sep- 
tembers zeigte. Vielleicht müsste der Uebergang von der dunkeln Zone zum breiten, 
lichten Seitenstrome weniger schroff sein; das zu erreichen hat aber gar keine Schwierig- 
keit, wenn man die für alle Conoide als gleich angenommene Dicke aufgiebt. Näher darauf 
einzugehen würde aber ganz unnöthige Weitschweifigkeit sein bei der Unvollkommenheit 
der vorliegenden Data. 

In der Curve geben die Punkte die Stellen an, wo wirklich die der dadurch bezeichneten 
Ordinate proportionalen Helligkeiten stattfinden; in dem Raume zwischen je zwei Punkten 
ist die Helligkeit eine bedeutend geringere. Es müssen also hiernach die lichten seitlichen 
Ströme des Schweifs aus abwechselnd hellen und dunkeln Streifen bestehen, deren Breite 
abhängig ist von der Dicke des mit 'Nebelstoff angefüllten Mantels und dem Abstande je 
zweier von einander. Nimmt man diese Entfernung so klein, dass die undeutlichen Bilder 
der einzelnen hellen Streifen im Fernrohre in einander fliessen, so wird man ein conti- 
nuirlich gegen den Rand hin an Licht zunehmendes helleres Band erblicken'), im andern 
Falle muss man den Schweif streifig sehen mit grösserer oder geringerer Deutlichkeit, 
die also Function jenes Abstandes und der Kraft der angewandten Telescope ist. 

Der Donati’sche Comet hat wirklich dieses streifige Aussehen gezeigt’), wenngleich 
nicht sehr auffällig, so dass es von vielen Beobachtern nicht erwähnt wird. Sehr auffällig 
ist aber die Erscheinung bei dem schönen Cometen von 1769 gewesen. Messier in seiner 
Beschreibung dieses Cometen kommt mehrfach darauf zurück und ich kann nicht umhin, 
einige der betreffenden Stellen hier anzuführen”): 

«Sept. 4. La queue depuis le noyau jusqu’à huit degrès de distance environ était par- 
tagée suivant sa longueur par de parties lumineuses et par d’autres, qui étaient obscures; 
ces traces lumineuses et obscures étaient dans des directions parallèles. 


1) Ist der Abstand im Verhältniss zur Dicke nicht klein, so treten am äussern Rande einige leicht zu über- 
sehende Modifieationen gegen Fig. 5 ein. 

2) The Substance of the tail appeared streaky in the direction ofitslength, Lassell. Monthly Notices Vol. XIX, 
pag. 21. 

3) Mémoires de l’Académie de Paris pour 1773 pag. 401 seqq. 


PüLKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 59 


Sept. 5. La queue depuis le noyau jusqu’à dix ou douze degrès de distance était for- 
mée par des rayons de lumière parallèles entr’eux; ils étaient très sensibles à la lunette 
achromatique de trois pieds et demi; le milieu de la queue était obscurci. 

Sept. 8. Les deux bords de la queue étaient d’une lumière très vive, composés de 
rayons lumineux et dirigés en ligne droite, comme je l’avais observé la nuit du 30 Août et 
les jours suivants; ces effets étaient ce matin bien plus sensibles, que les nuits précédentes. 
Le milieu de la queue dans cette étendue de quinze degrès était obscurci. 

Oct. 26. La queue de la Comète était brillante auprès du noyau, mais il ne fut раз 
possible d’y remarquer les mêmes effets, que J'avais observés la nuit du 30 Août et les jours 
suivants, ce qui pouvait provenir, de ce que la queue n’avait pas assez de lumière et qu’elle 
était moins longue». 

Man kann hierher in gewisser Weise auch die Beobachtungen von Cheseaux über 
den Schweif des grossen Cometen von 1744 rechnen, auf die ich später noch einmal zu- 
rückkommen werde '). 

Bei dem Cometen von 1811 scheint die einfache Hypothese eines hohlen Conoids 
die Erscheinungen im Allgemeinen recht gut zu erklären; auch erkannte Herschel durch 
seine mächtigen Telescope keine Andeutung von streifigem Aussehen, obgleich er die Ne- 
belmasse des Schweifes in dieser Beziehung aufmerksam untersucht hat. Er vergleicht sie 
vielmehr mit der «milky nebulosity of the nebula in the constellation of Orion)». 

Fasst man nun unter Zugrundelegung der obigen Hypothese die Gesammtheit der Er- 
scheinungen der Lichtvertheilung im obern Theile des Schweifs der Zeit nach zusammen, so 
wird man finden, dass unter nicht unwahrscheinlichen Annahmen über die Entfernung der 
Schweifmäntel und ihrer Dicke Alles in Einklang zu hringen ist. Man hat sich vorzustellen, 
dass die Ausströmungen in der Weise begannen, dass sie anfangs einen beträchtlich dicken 
conoidischen Mantel bildeten, welcher später sich in eine Anzahl von einander gesonderter 
Mäntel theilte, deren Abstand von einander etwa bis zur Zeit des Perihels im Wachsen be- 
griffen war, so wie die Dicke derselben im Abnehmen. Nach dem Perihele trat das umge- 
kehrte Verhältniss ein. 

Die Mitte der dunkeln Zone fiel mit der die äussere Begränzung der Schweifäste hal- 
birenden Linie nicht zusammen. Am 29. Sept. schätzte ich die Differenz der Richtungen 
zu 5°, so dass der Positionswinkel des Kanals der kleinere war; am 30. September betrug 
die Differenz der gemessenen Positionswinkel beider Richtungen 2,3 in demselben Sinne. 
Es ist dies übrigens im Grunde nur die schon früher erwähnte Erscheinung des stärkern 
Hervortretens der nachfolgenden Schweifhälfte und die dort gegebene Erklärung bezieht 
sich auch unmittelbar hierauf. Ich bin leider nicht auf die wiederholte Messung dieses Un- 
terschiedes bedacht gewesen, der durch die Art seiner Variation zu einer interessanten 
Bestätigung des angeführten Grundes hätte Anlass geben können. 


1) Cheseaux, traité de la Comète etc. pag. 158 seqq. 
2) W.Herschel, Observation of a comet, London 1812, pag. 14. 


60 А. WINNECKE, 


Auf die Bestimmung der Richtung des Schweifes habe ich während der ganzen Dauer 
der Erscheinung des Cometen viel Sorgfalt verwandt, da sie für die Beantwortung mancher 
Fragen, welche die nach Bessel zu supponirende Polarkraft der Sonne betreffen und für 
die Feststellung der keineswegs bislang erwiesenen Annahme, dass die Axe des Cometen- 
schweifs sich in der Bahnebene des Cometen befindet, von grosser Wichtigkeit ist. Unter 
Axe verstehe ich die Mittellinie der wirklichen Figur des Cometenschweifs, für die also, 
wenn man voraussetzt, dass der Kern auf beiden Seiten des Radiusvectors gleichmässig in 
den Schweif ausströmt, das erste Glied der von Bessel gegebenen Formel für die Tangente 
des Winkels, welchen die Linie von einem Punkte im Schweife zum Kerne mit der Ver- 
längerung des Radiusvectors macht, verschwindet. Kann man annehmen, dass die Figur 
des Cometenschweifs die eines durch Rotation um die Längenaxe entstandenen conoidischen 
Körpers ist, wie nach dem früher Angeführten für unsern Cometen in der Nähe des Kernes, 
worauf sich die nachfolgenden Betrachtungen beschränken, erlaubt ist, so ist die Mitte der 
scheinbaren Figur die Projection dieser Axe, vorausgesetzt, dass die Entfernung des Cometen 
von uns sehr gross im Vergleich mit dem Durchmesser des Schweifes ist. Meine Messun- 
gen beziehen sich alle auf diese Mittellinie der scheinbaren Figur und ich glaube, dass die 
Annahme der Mitte der dunkeln Zone für die Richtung der Axe irrig ist. Man könnte es 
vielleicht für nicht ganz unwahrscheinlich halten, dass der Schweif durch die Ebene der 
Cometenbahn dergestalt in zwei Hälften zerlegt wird, dass sie sich nicht der Figur, son- 
dern der Masse nach gleich sind; aber in diesem Falle ist die verworfene Annahme in 
unserm Falle noch mehr fehlerhaft. Ein näheres Eingehen auf die erwähnte Möglichkeit 
ist aber bei dem Mangel aller hiezu brauchbaren Beobachtungen völlig unmöglich. 


Es möge nun zunächst hier die Zusammenstellung aller beobachteten Positionswinkel 
der Anfangsrichtung des Schweifes folgen: 


Sternz. p р. P,—p 


Sept оО: вебе 1357850. 1% —5 66 
or AMOR IN. ob ТБ. SD иво баны БР 
BL UM OO MON 35689. оби За EEE LAES 
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PULKOWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 61 


Sternz. p P, PP 

бер 99. 190 AH Far 149645. 6 ВебЪ... u 15378... +114 
ЗО TOME Wr ео» Lu. 218,82, E38 
Фе. ли. обо ао aut 1,7332 
DT ба АВ бон, се 809,50; 46 5:39 

D'LA RR ALIAS ЗИ Pb 53259.65 5, «2 486 

DO MOMIE ER OL FE E63 65,87 70 
PS СО ее ЗО Эл. 158 85,77....-н 3,68 

Die fünfte Columme enthält die für die N Zeit der Beobachtung berechneten 
Positionswinkel p, der Verlängerung des Radiusvectors des Cometen, die sechste die Diffe- 
renz der Columnen fünf und drei, welche verschwinden müsste, wenn der Schweif der 
Sonne genau entgegengesetzt gewesen wäre. 

Der aufsteigende Knoten der Cometenbahn liegt in 165° 19’; es befand sich also die 
Erde am Morgen des 8. Sept. in seiner Bahnebene, so dass wir durch obigen Beobachtungen 
in den Stand gesetzt sind, zu prüfen, ob die Axe des Cometenschweifs wirklich in dieser 
Ebene gelegen ist. Es muss nämlich für diesen Tag unter jener Voraussetzung р, = р sein 
und für die Zeit vorher die Differenz der beiden Grössen das entgegengesetzte Zeichen 
haben, wie nachher. In der That sind die Werthe p,—p Anfang September negativ und 
werden vom 15. September an positiv. Eine kleine Ausweichung der Axe aus der Bahn- 
ebene scheint jedoch angedeutet zu sein, wenngleich die Beobachtungen der ersten Tage 
noch nicht die später erreichte Sicherheit haben. 

Es hat mir von Interesse geschienen, die vorhandenen dürftigen Notizen über die 
Richtung von Cometenschweifen durchzugehen, um auch bei andern Cometen die Verifi- 
cation der Hypothese über die Lage des Schweifes in der Bahnebene zu versuchen. Die 
Annahme des Stattfindens jener Lage ist für viele Untersuchungen über die Figur der 
Schweife unumgänglich nothwendig; sie würden nicht ausführbar sein, wenn sich ihre 
Unrichtigkeit ergäbe, vorausgesetzt, dass es nicht während der Dauer der Beobachtungen 
des betreffenden Cometen gelungen wäre, die Lage der Ebene, in welcher die Axe des 
Schweifes wirklich liegt, zu ermitteln; ein im Allgemeinen nicht wahrscheinlicher Umstand. 
Ueber ältere Cometen finden sich einige hierher gehörige Daten in dem sehr lesenswer- 
then Aufsatze über Gestalt der Cometenschweife von Brandes, der in dem zweiten 
Hefte seiner «Unterhaltungen für Freunde der Physik und Astronomie» enthalten ist. Die 
beiden ersten Notizen sind diesem Werke entnommen. 

Für den Cometen von 1590 scheinen die Beobachtungen anzudeuten, dass die Erde 
etwas später durch die Ebene des Schweifes gegangen ist, als durch die Ebene der Bahn; 
die Beobachtungen zeigen aber nicht die Uebereinstimmung, wonach diesem Resultate 
grosses Gewicht gebührte. 

Bei dem Cometen von 1618 geben Cysat’s Zeichnungen und Beschreibungen mit 
ziemlicher Sicherheit zu erkennen, dass die Mittellinie des Schweifs in der Bahnebene lag. 


62 A. Wınnsecke, 


Von dem ersten Galle’schen Cometen finde ich in den Berliner Beobachtungen’) fol- 
gende Messungen der Richtung des Schweifs: 


1839 Dec. 10. .р= 293° 30’. .р, = 289° 50°..p, —p=— 3°40' 
1840 Лат. Ее, a о: SEI WERE +12 24 
Tone SDOMLON 318: 3600 MUR AM ya. 
RER 316 DI SAS LOMME EAN + 1 37 
DATE AM BUS on 31780: N 00 


p, ist wieder die Richtung zur Sonne. Die Beobachtung vom 7.Jan.ist wohl 10° irrig. 

Der aufsteigende Knoten der Bahn liegt nach Peters und О. Struve in 119° 58’, 
so dass die Erde am 20. Januar durch diese Ebene ging. Die Messungen scheinen keine 
Andeutung der Lage des Schweifs in einer andern, als der Bahnebene, zu enthalten. 

Der berühmte Comet von 1843 gehört ebenfalls hierher; die Erde befand sich am 
22.März in seiner Knotenlinie, zu einer Zeit, wo er der Gegenstand der Beobachtung von 
fast allen damals lebenden Astronomen war. Merkwürdigerweise bin ich aber nicht im 
Stande gewesen, mehr als eine einzige hinreichend bestimmte Angabe über die Richtung des 
Schweifes aus jener Zeit aufzufinden. Knorre in Nikolajew beobachtete am 17. März das 
Ende des Schweifs in 87° 30° AR und — 13° 30’ Deel., 46° vom Kerne entfernt. Den Po- 
sitionswinkel dieses Punktes am Cometenkopfe findet er 99° 6, nur 33’ verschieden von 
dem Positionswinkel der Verlängerung des Radiusvectors. Auch bemerkt er, dass er keine 
Abweichung des Schweifes, vom grössten, durch Sonne und Comet gehenden, Kreise habe 
erkennen können’). Die Mittellinie des Schweifes muss also sehr nahe sich in der Bahn- 
ebene befunden haben. Die Nähe der Erde bei der Knotenlinie scheint mir ein Umstand 
zu sein, der von mehren Astronomen bei Betrachtungen über die Natur dieses Schweifes 
übersehen ist. 

Der Comet von 1844 — 1845, dessen Erscheinung auf der Südhalbkugel eine sehr 
prachtvolle gewesen ist, hat zwei Schweife gezeigt, von denen der eine schwächere der 
Sonne nahezu entgegengesetzt war, der andere hellere sich von ihr abwandte. Die Erde 
ging am 18. Januar 1845 durch die Bahnebene des Cometen und es finden sich Angaben 
von Maclear über den Positionswinkel des Cometenschweifs sowohl vor dieser Zeit als 
nachher; leider löschte der helle Mondschein von Januar 18—27 das Licht der beiden 
Schweife völlig aus. 

Die Messungen über die Richtung des Schweifs und ihre Vergleichung mit dem Posi- 
tionswinkel der Richtung zur Sonne, sind folgende°): 

1844 Dec. 30. .p= 112°30'..p,=115°35..p —p=+ 3° 5 


D Ole: 111, Ideen AMEN 3 ee + 2 48 
1845 Jan. 6..... LOIRE 705 7) 2er 240 
Do a à 8 94 24...... В вас — 13 11 


1) Berliner Beobachtungen, Bd. II, pag. 190. 
2) Astr, Nachrichten Nr. 477. 
3) Monthly Notices Vol. VI, Nr. 16, 17. 


PuLKoWAER BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 63 


1845 Jan.30..p=92°48..p,=81° 5'oup,—p=t11943/ 
le 90 531.0 ОД etat — 9 54 
Перлы IA ABOU ВО лини -— 18164 


Die Messung vom 31. Januar ist die sicherste, die beiden Daten für Jan. 29 und 30 wer- 
den beträchtlich unsicher genannt. 

Für den zweiten Schweif fehlen die Positionswinkel vor Jan. 29 ganz; am 11. Januar 
wird angegeben, dass er der Richtung des Hauptschweifs entgegengesetzt gewesen sei; die 
spätern Messungen beziehen sich nicht auf die Axe der Nebelmasse, so dass im Allgemei- 
nen nur daraus hervorgeht, dass die Schweife einen von 180° abweichenden Winkel mit 
einander gemacht haben. Herr Waterston, der diesen Schweif in Bombay ebenfalls be- 
merkt hat'), nennt ihn am 16. Januar «almost directly opposite to the proper tail», bemerkt 
aber, dass Jan. 25 die beiden Schweife einen merklichen Winkel mit einander gebildet hät- 
ten. Man kann aus diesem Allen auf die Lage der Axe beider Schweife in der Ebene der 
Cometenbahn schliessen. 

Von Oudemans’) besitzen wir eine Reihe trefflicher Messungen der Positionswinkel 
des Schweifs vom dritten Cometen des Jahres 1853. Ich führe hier nur diejenigen auf, 
welche directen Bezug auf den hier verfolgten Zweck haben: 


1853 Aug. 5..p— 69235" ..p.— 59049". р —p = — 9946’ 
об 1 BO WANNE, — 6,56 
Е боле О ааа site 
au ali Oo nt DAS GLS oies SAME el 55 eu 
D EI PAR ие БИ би к О Я + 0 25 


Die Oudemans’schen Beobachtungen brechen hier ab und die der Zeit nach nächste 
Bestimmung, welche ich habe finden können, ist eine Einstellung des Cometenkernes in 
die Mitte des Schweifs am Königsberger Heliometer von Peters?). Sie giebt: 

Aue 20: SE 505905 pe SE à 

Nach den Leidener Messungen hat sich die Erde am 10. August in der Ebene des 
Schweifes befunden und es wird das Zutrauen, was dieses Resultat nach der vortrefflichen 
Uebereinstimmung der Beobachtungen unter einander zu verdienen scheint, nur durch die 
Beobachtung von Peters etwas beeinträchtigt, die zu erkennen giebt, dass der Gang der 
Zahlen р, — р vielleicht zu gross aus den Leidener Einstellungen hervorgeht. Es ist aber 
nicht zu übersehen, dass sich die Messungen von Oudemans auf die Anfangsrichtung des 
Schweifes beziehen, während die Messung von Peters für einen nicht unbeträchtlich vom 
Kerne entfernt liegenden Punkt gilt. Die Erde war am 13. August Mittags in der Knoten- 
linie, so dass auch bei diesem Cometen, ähnlich wie bei dem diesjährigen, eine geringe Nei- 
gung der Bahnebene gegen die Ebene, in welcher die Axe des Schweifes lag, angedeutet ist. 

1) Monthly Notices. Vol. VI. Nr. 14. 


2) Astron. Nachrichten. Nr. 885. 
3) Astron. Nachrichten. Nr. 946. 


64 A. WiINNECKE, 


Die Zeit der Beobachtungen des Cometen 1857 VI schliesst den Durchgang der Erde 
durch die Bahnebene des Cometen nicht ein; da aber während längerer Zeit die Richtung 
des Schweifes so gut wie genau mit der Verlängerung des Radiusvectors zusammenfiel und 
die Erde in den letzten Tagen der Bahnebene schon recht nahe stand, so darf man auch 
diesen Cometen wohl als Beweis für die beiläufige Richtigkeit der besprochenen Hypothese 
anführen. 

Aus Allem, was hier zusammengestellt ist, kann man den Schluss ziehen, dass die Axe 
der Cometenschweife nahezu in der Bahnebene liegt, aber in manchen Fällen einen kleinen 
Winkel damit bildet, der sich bei günstiger Gelegenheit der Bestimmung durch Beobach- 
tung gewiss nicht entziehen wird, nachdem man einmal aufmerksam darauf geworden ist. 
Wie man sich in diesen Fällen eine solche Erscheinung erklären könnte, ist Seite 60 schon 
angedeutet. 

Die Beobachtungen des Positionswinkels der Anfangsrichtung des Schweifes des grossen 
Cometen von 1858 aus den ersten Tagen Septembers können zu Schlüssen über die wirk- 
liche Zurückkrümmung des Schweifes in der Ebene der Cometenbahn nicht dienen, da 
kleine Beobachtungsfehler ungemein vergrössert werden, auch die angedeutete Auswei- 
chung der Axe aus der Bahnebene das Resultat enorm entstellen würde. Ich habe daher 
die Messungen erst vom 16. September ab den zur Erkennung der Rückbeugung nöthigen 
Reductionen unterworfen, wodurch folgende Werthe gefunden wurden: 

Sept. 16. .и == 179° 30. .и, = 185° 16. .u,—u= + 5°46' 


И Вов Пе о LOL PERS +3 15 
a Le oo SOLS LESC 18322802229 0: +2 50 
DISC LS 09) ООВ О О о ооо —3 12 
DEN CSS 196 55. 192 25а +5 50 
DR SO DIE ое. =. 207 ЗА. ЕЕ — 0 58 
a Ay En 205 45 ...... DO SERIE +4 33 
Don > de DD NEA RER EEE 216 Ао. —4 38 
D 20) dar 0 DOME CEE 22230. +2 45 
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ню ЕР 28: 23m 38 Creer DAT Ibn —3 53 
DEN. 241 55...... 247 212. oc +5 26 
О: 24 245 36...... оО ее +4 35 
Dodo РАЗ ee EX) > +5 9 
D, See 260: 62.2.2 в 520000003 +3 44 


Der auf die Bahnebene reducirte beobachtete Winkel ist mit u bezeichnet, и, entspricht 
der Verlängerung des Radiusvectors. Die Uebersicht der Zahlen и, — u führt auf das 
interessante Resultat, dass die Zurückbeugung oder die Neigung der Anfangsrichtung des 
Schweifs gegen den Radiusvector einen nahezu beständigen Werth während der Dauer die- 
ser Messungen gehabt hat, wie es nach dem oben angeführten Ausdrucke für diese Neigung 


PuLkowaEr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VON 1858. 65 


um die Zeit des Perihels genähert der Fall sein muss, falls x sich nicht ändert. Das Mittel 
aus allen Differenzen ist + 3°46. Herr Dr. Pape, der auf diesen bemerkenswerthen Um- 
stand schon aufmerksam gemacht hat, findet ein etwas grösseres Resultat; diese Vergrösse- 
rung ist durch die Hinzuziehung von auf die Axe des dunkeln Kanals im Schweife bezo- 
genen Positionswinkeln entstanden. Der Rückschluss auf die Constanz der Grösse в. oder 
der auf die Schweifpartikel wirkenden Sonnenkraft, ist ein sehr wichtiges Ergebniss dieser 
Untersuchung. Ich glaube aber nicht, dass man weiter gehen und die Näherungsformel, die 
nur für beträchtliche Werthe von 5 gilt, zur Schätzung des numerischen Werthes von & 
anwenden darf. Die Figur des Cometen in der Nähe des Kopfes war so beschaffen, dass 
man für sehr erheblich verschiedene Abstände vom Kerne fast genau dieselben Positions- 
winkel des Schweifes bekam; Messungen bei 3 und 30 Abstand müssen noch ziemlich iden- 
tische Resultate gegeben haben, besonders, wenn man wirklich den dunklen Kanal als Axe 
des Schweifes annehmen wollte, da dieser längere Zeit in der Nähe des Kopfes ganz gerade 
war. Man könnte also für p. ungemein verschiedene Werthe erhalten, da @ Function der 
Variabeln & ist, je nachdem man die Messungen für einen dieser Punkte als gültig ansähe. 
Aus den obigen Beobachtungen lässt sich aber direct die Ungültigkeit der Formel für so 
kleine Werthe von & ableiten. Vernachlässigt man nämlich die verhältnissmässig geringe 
Variation von г in dem Zeitraume jener Beobachtungen, so müsste die Grösse p sich der- 
art geändert haben, dass sie die Aenderung von & genau compensirt hätte, wenn & im 
Verlaufe der Beobachtungen variabel gewesen ist, wie es wirklich der Fall war. Denn 
es beziehen sich meine Messungen immer auf einen 13 vom Kerne des Cometen entfernt 
liegenden Punkt und dieser Entfernung entsprechen bei den verschiedenen Abständen des 
Cometen von der Erde und den Aenderungen in der Projection beträchtlich verschiedene 
Werthe von Е. Die oben geforderte Ausgleichung zwischen diesen Aenderungen von & und 
y. ist aber mehr als unwahrscheinlich. 


Ueber das Aussehen des Cometenschweifs fürs blosse Auge habe ich wenig mehr zu 
sagen, als in der Beschreibung der Erscheinungen enthalten ist. Herr Dr. Pape hat seine 
Beobachtungen, welche sich hierauf beziehen, mit der Bessel’schen Theorie in Verbindung 
gebracht und dadurch eine treffliche Bestätigung mancher darin theoretisch begründeten 
Sätze durch die Erfahrung erhalten, so dass die Theorie selbst dadurch wesentlich an Wahr- 
scheinlichkeit gewonnen hat. Eine beträchtliche Verbesserung der so gefundenen Resultate 
wird man erst erhalten können, wenn die auf verschiedenen Punkten der Erde während 
der ganzen Zeit der Sichtbarkeit des Cometen gesammelten Beobachtungen über den 
Schweif vorliegen werden und die Unsicherheit aus den Bessel’schen Formeln entfernt ist, 
die durch die Voraussetzung eines beträchtlichen Werthes von |. im Vergleich mit g sin @ 
entsteht. 


Sehr merkwürdig erscheint mir die eigenthümliche, säulenartige Schichtung. welche 
der Schweif in seinen obern Theilen vom 8. October an zeigte und deren Aehnlichkeit mit 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences. Vile Serie. 9 


66 A. WINNECKE, 


Nordlichtstrahlen durch das scheinbare Verlängern und Verkürzen derselben in sehr kur- 
zen Zeiträumen noch mehr hervortrat. Leider war die Erscheinung so schwach, dass sie 
sich einigermaassen exacten Beobachtungen ganz entzog; besonders war es nicht möglich, 
über die Vertheilung des Lichtes senkrecht auf die Längenaxe etwas zu ermitteln. Für 
durch Beobachtung hinreichend sicher entschieden halte ich aber, dass der Convergenz- 
punkt der Strahlen nicht im Kopfe des Cometen lag, sondern beträchtlich oberhalb. Es ist 
dies ein Grund, weshalb die Wahrnehmungen am Schweife des grossen, so unvergleichlich 
viel hellern Cometen von 1744 durch Cheseaux und mehr als 20 anderen Personen in Lau- 
sanne und Bern in den Nächten des 8. und 9. März, vielleicht nicht die Analogie haben, 
dass eine Zusammenstellung Aufklärung für unsern Cometen verschaffte. Bei den Beobach- 
tungen von Cheseaux war aber der Kopf des Cometen sehr tief unter dem Horizonte und 
die Bemerkung: «que ces rayons étaient dirigés à un point sous l’horison, tel à peu pres, 
que celui où devait être la Comète» (pag. 164) hat daher nicht die gehörige Beweiskraft. 
Die Beobachtung von Cheseaux ist von einigen Astronomen aus Gründen bezweifelt wor- 
den, die positiven Wahrnehmungen von unbefangenen und glaubhaften Beobachtern ge- 
genüber nicht haltbar sind, und als solchen wird jeder Cheseaux anerkennen müssen, der 
seinen Traité de la comète, qui a paru en 1743 et 1744 nebst den beigefügten schätzbaren 
Anhängen studirt hat. Zur Vergleichung mit den vom grossen Cometen des Jahres 1858 
dargebotenen eigenthümlichen Erscheinungen im obern Theile des Schweifes setze ich seine 
Wahrnehmung im Auszuge aus der etwas seltenen Schrift hierher. Cheseaux erzählt, dass 
er mit einem Freunde in einen Garten hinabgestiegen sei, von dem man freie Aussicht 
nach Osten gehabt, um den Cometen zu beobachten. Dieser habe zuerst den Cometen er- 
blickt, den ihm noch Gebäude verdeckt hätten und zu seinem Erstaunen gesagt, dass er statt 
zweier Schweife jetzt deren fünf erblicke. Er beschreibt dann die Erscheinung folgender- 
maassen: | 

«Je découvris en effet cinq grandes queues, en forme de rayons blanchätres, qui 
s’elevaient les unes plus, les autres moins obliquement sur l’Horison jusques à la hauteur 
de 22° et en occupant autant en amplitude. Ces rayons avaient environ 4° de largeur, mais 
ils s’étrécissaient un peu par le bas. Leurs bords étaient assez distincts et rectilignes: 
chacun d’eux était composé de 3 bandes; celle du milieu était plus obscure et le double plus 
large que celles des bords .... L’entre- deux des rayons était sombre comme le reste 
du Ciel. Cependant dans le bas il y avait une lumière semblable à celle de l’extrémité de 
ces rayons, comme si elle eût été l’extrémité d’autres rayons plus courts. Outre ces cinq 
queues bordées de bandes blanches il y en avait une sixième fort courte, dans la quelle on 
ne remarquait pas des bandes, peut être parce qu’elle était fort basse)». 

Es werden dann detaillirt die Sterne angegeben, durch welche die einzelnen Strahlen 
gegangen und das Ganze durch zwei Zeichnungen erläutert. Die ersten Spuren von einer 


1) Cheseaux, traité de la comète, pag. 158 344. 


Реком’ дев BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN von 1858. 67 


eigenthümlichen Zerstreuung des Schweiflichtes in den obern Partien und der Trennung 
des Schweifes in mehre Arme findet sich übrigens in Cheseaux Bemerkungen schon Mitte 
Januar erwähnt. + 


Bemerkungen zu den Lithographien. 


Es ist von mehren Astronomen versucht worden, die merkwürdigen vom Donati- 
schen Cometen entwickelten Erscheinungen durch bildliche Darstellungen zu fixiren. Ob- 
gleich bislang nur ein Theil dieser Abbildungen nach Pulkowa gelangt ist, so lässt sich 
doch im Allgemeinen schon sagen, dass bei weitem nicht alle diese Darstellungen in spä- 
terer Zeit erfolgreich bei den Betrachtungen über die Natur des Cometen angewandt wer- 
den können. Zum Theil lassen sich auffallende Unrichtigkeiten direct nachweisen, entstan- 
den entweder durch nicht hinreichende optische und micrometrische Hülfsmittel oder durch 
Täuschungen bei zu niedrigem Stande des Cometen. Als ein auffallendes Beispiel der letz- 
tern Classe sind die beiden ersten Zeichnungen des Cometen nach Beobachtungen auf dem 
Collegio Romano anzuführen. Am 4. September ist der Comet als ganz rund gezeichnet, 
ähnlich den Nebelflecken, die von Herschel plötzlich sehr viel heller und kernig in der 
Mitte genannt werden. An diesem Tage war hier der Schweif des Cometen schon fürs blosse 
Auge sehr auffallend und seine Länge wurde im Sucher des Heliometers auf mehr als einen 
Grad geschätzt. Die Zeichnung für den 12. September giebt den allgemeinen Umriss der 
Figur als eiförmig, was ganz bestimmt nach den gleichzeitigen Pulkowaer Beobachtungen 
und Zeichnungen irrig ist; auch die Gestalt des Kopfes für den 16. September ist ohne 
Zweifel falsch. Es kann nicht die Absicht sein, hier eine kritische Betrachtung der ver- 
schiedenen Darstellungen zu geben: nur dies eine sei noch bemerkt, dass die Zeichnungen 
von Bond diejenigen sind, welche in jeder Beziehung alle andern bislang bekannt gewor- 
denen weit überragen. 

Manche der in den vorliegenden Abbildungen vorhandenen Fehler werden nicht dem 
Astronomen, sondern dem Künstler, welcher die Übertragung der Zeichnungen ausgeführt 
hat, zur Last fallen, oder in der Natur des angewandten Vervielfältigungsmodus begründet 
sein. Die beigefügten Abbildungen nach den Pulkowaer Zeichnungen entsprechen aus 
gleichen Gründen zum Theil den gehegten Erwartungen ebenfalls nicht; denn trotz wieder- 
holter Correcturen und Retouchirungen ist es nicht gelungen, einmal begangene Fehler 
völlig zu beseitigen, sowie auch der allgemeine Ton der Figuren sich bei den wirklichen 
Abdrücken im Vergleich mit dem der vorgelegten Correcturblätter sehr verschlechtert hat. 
Um diese Uebelstände soviel als möglich unschädlich zu machen, möge Folgendes hier 
erwähnt werden. 

Tafel I. Die Abdrücke dieser Platte sind höchst verschieden ausgefallen. Während 
bei manchen kaum etwas zu wünschen übrig bleibt in der Art und Weise des Verlaufens 
des Cometenschweifes in den Himmelsgrund, der Schwäche der obern Partien des Haupt- 


68 A. Wınnecke, 


schweifes und dem Hervortreten des Nebenschweifes, sind auf andern Abdrücken die 
Lichter so stark ausgefallen, dass sie für die obern Theile des Schweifes eine völlig irrige 
Vorstellung von dem Cometen geben. Auch tritt auf diesen Abdrücken der schwache 
Schweif viel zu sehr, so wie die hellern Theile, die den Kopf bilden, bei weitem nicht stark 
genug hervor. 

Tafel II. Figur für Sept. 24. Die linke Schweifhälfte ist in den mittlern Partien zu 
schwach gehalten; der dunklere breite Hof um den Kern im Fächer ist Phantasie des Li- 
thographen. Figur für Sept. 30. Das Verlaufen der linken Schweifhälfte in den Himmels- 
grund hat man sich ähnlich, wie dasjenige der rechten vorzustellen; auch ist der dunkle 
Reifen, nahe der äussern Begränzung, oben rechts (im Positionswinkel von 130°) zu tilgen. 

Durch ein eigenes Zusammentreffen von Umständen wurden erst die Originalzeich- 
nungen für diese Platte bei einer Feuersbrunst zerstört und nachdem sie wieder so gut als 
möglich hergestellt waren, traf die danach angefertigten positiven Copien bei dem Litho- 
graphen das gleiche Schicksal. Bei dem letztern Brande wurden auch die andern Originale 
für Platte I—IV so schwer beschädigt, dass einzelne der gleichzuerwähnenden Irrthümer 
wahrscheinlich daraus entstanden sind. 

Tafel III. In der Figur für October 5 ist der schmale helle Bogen über dem 
Fächer völlig zu tilgen und der Halbbogen etwa bis dorthin nach innen ausgedehnt zu 
denken. Die Figur für October 7 ist folgendermaassen zu modificiren. Man denke sich die 
schräge Stellung des Cometenkörpers fort, so dass die Lage des Schweifes analog der der 
nebenstehenden Figur wird und verstärke die Helligkeit der rechten Schweifhälfte in seinen 
untern Partien ein wenig. Der dunkle Kanal neben dem schwalbenschwanzartigen Gebilde 
an der rechten Seite des Fächers ist ganz zu tilgen und die gekrümmte Gestalt des Strahls 
beträchtlich der geradlinigen zu nähern. Ausserdem sind die Abstände der äussern Be- 
gränzung des Halbbogens vom Kerne nach den Seite 10 angeführten Messungen zu bestim- 
men, wonach also die begränzende Linie um etwa die Hälfte der Breite der gezeichne- 
ten Ausdehnung nach innen fallen würde. Den nach aussen übrig gebliebenen Raum hat 
man sich als mit ganz schwachem Nebeldunste angefüllt vorzustellen. 

Tafel IV. Der zahnförmige Auswuchs an der rechten Seite des Fächers in der Figur. 
für October 9 ist bei manchen Abdrücken unverhältnissmässig lichtstark ausgefallen; er 
war nur mit Mühe wahrnehmbar. Dagegen tritt der Nebenkern nicht bestimmt genug her- 
vor, so wie denn überhaupt auf allen Platten die Lichtstärke des Kernes und der Sectoren 
im Vergleich zu dem Schweiflichte nicht stark genug hervortritt. 

Tafel V. Es sind hier im Allgemeinen die scharfen Striche, welche zuweilen die Ge- 
bilde des Kopfes begränzen, zu tadeln; auch ist der Kern häufig nicht scharf genug heraus- 
gekommen, sowie das Verhältniss der Helligkeiten des den eigentlichen Schweif constitui- 
renden Nebelstoffs zur schwachen Umhüllung nicht richtig getroffen ist. Die letztere ist 
verhältnissmässig viel zu lichtstark, auch zu gut begränzt gerathen. In Betreff des jedes- 
maligen Maassstabes werden die Originalmessungen etwaige Undeutlichkeiten beseitigen. 


Purxowarr BEOBACHTUNGEN DES GROSSEN COMETEN VoN 1858. 69 


Tafel VI. In der Figur für Oct. 7 tritt der kleinere dunkle Fleck viel zu bestimmt 
hervor; er war nur mit grosser Mühe wahrnehmbar. Der secundäre Kern ist durch eine 
anliegende irrige, dunklere Schattirung zu bestimmt gerathen. Die Zeichnung für Sept. 16 
drückt gar nicht aus, was sie soll. Es lag ein helleres Stück im Cometenschweife, dessen 
begränzende Linie etwa dem Rectascensionstriche für 171° entspricht; auch tritt der Kern 
nicht stark genug hervor. In der Zeichnung für Sept. 19 ist die Richtung des schwachen 
Schweifes verfehlt, in der Originalzeichnung geht allerdings die verlängerte Richtung des- 
selben ebenfalls nicht durch den Kopf des Cometen, aber entfernt sich bei weitem nicht so 
beträchtlich davon als in der Copie. 


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MÉMOIRES 


L’ACADEMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES DE ST.-PÉTERSBOURG, VI SÉRIE. 
Tome Il, N° 2. 


MISSBILDUNGEN. 


ERSTE SAMMLUNG. 


(Mit 8 Tafeln.) 


Von 


Dr. med. et chir. Wenzel Gruber. 


Der Akademie vorgelegt am 12. August 1859. 


St. PETERSBURG, 1859. 


Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: 
in St. Petersburg in Riga in Beipzig 
Eggers et Comp., Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Preis: 1 ВЫ. 40 Кор. = 1 Thlr. 17 Ner. 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


K. Vesselofski, beständiger Secretär. 
Im December 1859. 


Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


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№ 


VI. 
VII. 
vm. 


Inhalt. 


Anomalien bei Finger- und Zehen-Ueberzahl ....................... ее 


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Broencephalussmit@Defe CEE e eee воно восоовобовосо ново ве о вово ово ово воза ereialeip tee. 


Aortenwurzel und Lungenarterie ein gemeinschaftlicher Stamm. — Communication der Herzkam- 
mern durch ein Foramen anomalum in dem dem Conus arteriosus entsprechenden Theile des 
Septum ventriculorum bei einem an Cyanose verstorbenen Jünglinge ...................... 


Herz mit Defect seines Septum ventriculorum. — Fortsetzung der Arteria pulmonalis communis nach 
Abgabe beider Arteriae pulmonales und beider Arteriae subclaviae als Aorta descendens. — 
Theilung der Aorta ascendens in beide Arteriae carotides allein. — Duplicität der Vena 
GAYASSUPERIOLLUNGLVIENALAZYSOS vers о eee cesser 


Kanalartige Spalte im Septum ventriculorum des Herzens über seiner Spitze bei einem an Суавозе 


VELSIOLDENENKSHJÄNTIGENU Mannen see siemens also оао se ee eco vins eee ss ct eee ee - 
Fälle einseitigen Nierenmangels bei Erwachsenen............................................ у 
Fälle tiefer Lage der rechten Niere bei Erwachsenen.............................. ........... 


IHölleEvonwIihoracogastnodidymussresterertetre messe eee eee а о ое еее не еее 
I. Fall. Mit einem kegelförmigen Höcker zwischen beiden Hälsen, einem After ............ 


П. Fall. Ohne Höcker zwischen beiden Hälsen, aber mit einer doppelten Geschlechtsöffnung 
UN AC INEMMAIOPPElTENT А ео ее еее ое ры 


Anatomisches Institut. St. Petersburg im August 1859. 


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MISSBILDUNGEN. 


Von 


Dr. med. et chir. Wenzel Gruber. 


1. 


Anomalien bei Finger- und Zehen-ÜUeberzahl. 


Ueberzahl der Finger und Zehen, sei es an Individuen, die mit anderweitigen 
Missbildungen behaftet waren, oder auch nicht, ist oft beobachtet worden. Dieselbe kann 
nur an einer Hand oder einem Fusse, aber auch an beiden Händen und beiden Füssen 
eines und desselben Individuums vorkommen. Mehr als 7 Finger an einer Hand und mehr 
als 9 Zehen an einem Fusse sind nicht beobachtet worden. In den meisten Fällen ist nur 
ein Finger oder eine Zehe überzählig. Normale Anzahl der Mittelhand- und Mittelfuss- 
knochen ist dabei öfterer, deren Ueberzahl seltener vorhanden. In beiden Fällen können 
letztere normal, aber auch einer oder einige davon aus zwei bestehen, die in verschiede- 
nem Grade mit einander verschmolzen sind. Die Zugabe soll häufiger am Ulnarrande der 
Hand oder Fibularrande des Fusses, weniger häufig an den entgegengesetzten Rändern, 
seltener zwischen den Fingern oder Zehen oder ausser der Reihe stattfinden. Die über- 
zähligen Finger oder Zehen sind bald rudimentär, bald vollkommen ausgebildet und stehen 
mit den Mittelhand- oder Mittelfussknochen an verschiedenen Stellen derselben, meistens 
an deren Finger- oder Zehenende, oder selbst mit einer Phalange eines der äussersten Fin- 
ger oder einer der äussersten Zehen, entweder durch ein Gelenk oder durch einen Haut- 
stiel in Zusammenhang. Finger- und Zehen-Ueberzahl scheint häufiger mit anderweitigen 
Missbildungen als ohne diese vorzukommen. Die Neigung dieser Missbildung zur Erblich- 
keit ist durch fremde und eigene Erfahrung constatirt. 

Unter einer Reihe von Fällen mit der Zahl 6, die ich unter verschiedenen Modifica- 
tionen bei Embryonen, Kindern und Erwachsenen beobachtete, sah ich mehrmals Dupli- 
eität der Endphalange des Daumens. Diese Art Duplicität sah ich ausser anderen Fällen 
auch bei einem 23jährigen Artillerie-Unteroffizier als Beweis, dass sie zum Kriegsdienst 
nicht untauglich mache. Die überzählige Endphalange war fast so gross als die normale, 
articulirte an der Radialseite des Grundes der letzteren und mit dieser gemeinschaft- 
lich an der Grundphalange. Beide Endphalangen und die Grundphalangen waren durch 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VII. Serie. 1 


Le) 


WENZEL GRUBER, 


eine gemeinschaftliche Gelenkkapsel vereinigt. Zwei überzählige Zehen an einem Fusse 
sah ich bis jetzt nur in einem Falle. Diese Ueberzahl betraf den linken Fuss eines in 
Prag lebenden Idioten, an dem ich deutlich 6 Mittelfussknochen und 7 Zehen unterschei- 
den konnte, während der andere Fuss und die Hände normal gebildet waren. Die 2. und 
3. Zehe war am 2. Mittelfussknochen eingelenkt, der selbst wieder aus zwei mit einander 
verschmolzenen bestand. 

1851 wurde mir aus der Entbindungsanstalt des Erziehungshauses in St. Petersburg 
von dem Director derselben, Professor J. Schmidt, ein vollkommener ausgetragener 
männlicher Embryo zugesandt, der ausser 6 Fingern an jeder Hand und 6 Zehen 
an jedem Fusse mit einem Hirnbruche an der rundlichen Hinterhauptsfontanelle, des- 
sen Bruchsack die Hirnhäute ohne Curs, und dessen Inhalt eine kleine Portion des rechten 
Hinterlappens des Gehirnes und der hineingeschobene Processus [alcıiformis major der Dura 
mater bildeten, und mit einer Spalte im hinteren Theile des Gaumens behaftet war. 
Die Missbildung wurde von mir, nach vorausgeschickter Gefässinjection, einer Untersu- 
chung unterzogen, um zu erfahren, wie es sich denn eigentlich mit den Muskeln, 
Gefässen und Nerven in solchen Fällen verhalte. Die Untersuchung des Halses, 
der Brust, des Bauches, des Beckens und der Extremitäten bis zur Ellenbogen- und Knie- 
region lieferte allerdings nichts Abweichendes. Allein am Kopfe fand ich den seltenen 
Fall der Theilung des linken Parietale durch eine Quernath in zwei Hälften, und 
an den Unterarmen, den Händen, den Unterschenkeln und den Füssen mehrere 
Anomalien, die genug interessant sind, um bekannt zu werden. 


Knochen-Anomalien. (Tab. I. Fig. 1.) 


Die Knochen des Kopfes waren auf beiden Seiten nicht gleich. Der Kopf war des- 
halb schief, rechts mehr nach vorn, links mehr nach hinten ausgedehnt. Am Gaumenge- 
wölbe rückwärts sah man eine Längsspalte. 

Unter den Schädelknochen, welche in ihrer Entwickelung ungewöhnlich vorge- 
schritten erschienen, so dass mit Ausnahme der Hinterhauptsfontanelle die übrigen Fon- 
tanellen ganz oder fast ganz verstrichen waren, zeichnete sich nur ein einziger, d. 1. das 
linke Parietale, durch ein ganz seltenes anomales Verhalten aus. Das linke Pa- 
rietale war nämlich durch eine von vorn nach hinten gehende, vollständige Quernath 
(«) in zwei Stücke, ein oberes (a) etwas grösseres und ein unteres (b) getheilt'). Da- 
durch gewinnt vorliegender Fall um so mehr an Interesse, als bis jetzt meines Wissens 
und wenn man von den Fällen bei hydrocephalischen Köpfen (Murray, Meckel) absieht, 
nur noch 4 — 5 Fälle mit durch eine Quernath ganz getheilten Parietalia bekannt 
sind. So besass Winslow ein Parietale eines Erwachsenen mit einer Quernath, von 


1) Ich erwähnte dieses Falles bereits in meinen Ab- | nach Berlin 1851 sandte, damals zum Drucke in Mül- 
handlungen а. d. menschl. u. vergl. Anat., St. Petersburg | ler’s Archiv bestimmt hatte. 
1852, 40 р. 113., weil ich vorliegenden Auf atz, den ich 


MissBILDUNGEN. 3 


welchem Tarin ') eine Beschreibung und Abbildung lieferte; so gedachte van Doeveren’) 
eines Kindskopfes, an dem das linke Parietale auf eine ähnliche Weise getheilt war; 
endlich wurde in der Knochensammlung des Prof. Gotthardt zu Bamberg ein Kopf von 
einem 30 — 50jährigen Manne mit einer solchen Quernath an den Parietalia aufbe- 
wahrt, den J. Е. Meckel erwähnte und später Sömmerring?°) beschrieb und abbildete. 
Vielleicht gehören hierher auch die Scheitelbeine an dem Kopfe des sechsmonatli- 
chen Kindes, über den J. F. Meckel‘) ausführlich spricht. Dazu zu rechnen ist ein 
theilweise erhaltener Schädel mit einer Quernath des einen Parietale, der zu meiner 
Zeit im anatomischen Museum zu Prag sich befand. 

Die Mittelhand enthielt 6 Knochen, die ganz vollständig gebildet waren. Dagegen 
glich der 6. dem 5., der 5. und 4. dem 4. gewöhnlicher Fälle. An dem 3. mangelte der 
Fortsatz der Basis. Deren Verbindung mit den einzelnen Knochen der unteren Handwur- 
zelreihe erwies sich, mit Ausnahme des 1., als eine von der gewöhnlichen verschiedene. 
So verband sich der 2. mit dem Os multangulum majus und minus, der 3. mit dem letzteren 
und dem О. capitatum, der 5. und 6. mit dem О. unciforme. Von den 6 wohlgebildeten 
Fingern der Hand hatte auch der 6. drei Phalangen. Dieser erreichte mit der Spitze 
seiner Endphalange die Mitte der Mittelphalange vom 5. Finger. 

Der rechte Mittelfuss besass 6 Knochen, wovon der 5. die Fusswurzel nicht er- 
reichte, sondern mit seinem auf Kosten der seitlichen Flächen zugeschärften hinteren Ende 
zwischen die sich berührenden Bases des 4. und 6. eingeschoben war. Die Verbindung 
des Mittelfusses mit der Fusswurzel war nur in so fern eine anomale, als statt des 5. der 
gewöhnlichen Fälle hier der 6. die Verbindung mit dem Würfelbeine einging. Der linke 
Mittelfuss hatte nur 5 Knochen, also die normale Anzahl, nur war der 5. ungewöhnlich 
dick, besonders an dem Köpfchen, das gleichsam doppelt erschien. Jede der Zehen eines 
jeden Fusses hatte die normale Phalangen-Zahl, jede Phalange war normal entwickelt. 
Rechts entsprach je eine Zehe je einem Mittelfussknochen, links artikulirten die 5. und 6. 
am 5. Mittelfussknochen. 


Muskel-Anomalien. 


а. An der Rückenseite des rechten Unterarmes. 

Extensor ulnarıs. Inserirte sich an den 6. Mittelhandknochen. 

Extensor radialis longus. Seine Sehne theilte sich in zwei, wovon die eine in den 
Daumenkopf des Interosseus ext. I. sich verlor. 

Extensor digitorum. Hatte drei Bäuche, deren jeder nur in eine Sehne für den 2., 
3. und 4. Finger überging. 

Extensor dig. minim. proprius. Spaltete sich nach seinem Durchtritte durch die 

1) Östeograph. Paris 1752 praef. р. 28. pl. У. 3) Tiedemann’s und Treviranus Zeitschr. Bd. II. 


?) Spec. observ. acad. Groning. её Газа. Batav. 1765. | H. 1. 1826. р. 1. Tab. 1 — 2. 
р. 195. 4) Handb. d. pathol. Anat. Bd. I. 1812. p. 338. 
* 


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5. Scheide des Lig. carpi dorsale in drei Sehnen, wovon zwei am 5. Finger sich inserirten, 
die dritte am 6. Finger sich ansetzte. 

Extensor dig. ind. proprius. War nur rudimentär, indem er schon am Lig. carp. 
dorsale, entsprechend der Scheide, die sonst dieser Muskel passirt, endigte. 

An der Hand wurde letzterer durch einen überzähligen, zweiköpfigen Muskel, 
Е. 4. 1. р. biceps supernumerarius, substituirt. Derselbe entstand mit zwei bandartigen 
Köpfen, und zwar mit dem einen von dem Lig. carp. dorsale, dort, wo der eigentliche, 
aber hier rudimentäre Muskel endigte, mit dem anderen von der Basis des 6. und 5. 
Mittelhandknochen und dem Hackenbeine; jener lief in schiefer, dieser in querer Rich- 
tung zur Basis des Zeigefingers, woselbst sie sich vereinigten und bald darauf in eine 
Sehne übergingen, die auf normale Weise am Zeigefinger sich ansetzte. 


b. An der Rückenseite des linken Unterarmes. 


Extensor digitorum. Theilte sich in vier Bäuche, wovon drei in eben so viele Seh- 
nen für den 2., 3. und 4. Finger, der vierte aber in zwei für den 5. und 6. Finger über- 
gingen. 

Extensor dig. minim. proprius. Fehlte vollständig, so wie die für diesen bestimmte 
Scheide im Lig. carp. dorsale. 

Abductor poll. longus. War doppelt. 

Extensor poll. minor und der Extensor dig. ind. proprius. Fehlten gänzlich. 

Der Mangel dieser drei fehlenden Muskeln am Rücken des linken Unterarmes (einer 
in der ersten, die anderen in der zweiten Schicht) wurde durch einen dem Extensor digi- 
torum pedis brevis analogen Muskel ersetzt, den ich auch Extensor digitorum manus 
brevis anomalus nenne. Derselbe hatte die Gestalt eines länglichen Vierecks, von dessen 
vier Winkeln eben so viele Muskelbäuche nach vier Richtungen divergiren. Sein Mus- 
kelkörper lag auf der Handwurzel und den Bases des 3. und 4. Mittelhandknochen, ohne 
mit diesen zusammenzuhängen, vielmehr durch etwas Bindegewebe und Fett getrennt, in 
schiefer Richtung von dem Ende der Ulna nach vor- und abwärts zu den bezeichneten Mit- 
telhandknochen, bedeckt von den Sehnen des Axtensor digitorum (longus). Die vier Bäuche 
liessen sich in zwei vordere oder Radial- und zwei hintere oder Ulnarbäuche schei- 
den. Jene sind platt, spindelförmig; diese bandartig und breiter. Der obere grössere 
Radialbauch ging bald in eine lange Sehne über, die hinter dem Extensor poll. major zum 
Daumen verlief und daselbst so, wie der Extensor poll. minor der gewöhnlichen Fälle, en- 
digte, war also dessen Substitut. Der untere Radialbauch ging auch bald in eine aber 
zartere Sehne über, welche sich am Zeigefinger, wie die eines normalen Ext. ind. proprius, 
inserirte, ersetzte sonach diesen Muskel. Der untere Ulnarbauch verlief in querer 
Richtung an der Handwurzel, oberhalb der Verbindung dieser mit der Mittelhand, nach 
rückwärts gegen den Ulnarrand der letzteren, war bis dahin fleischig, ging, am 6. Mittel- 
handknochen angekommen, in eine Sehne über, die zwar mit der des Extensor digitorum 


MissSBILDUNGEN. 5 


sich verband, jedoch am 6. Finger im ferneren Verlaufe sich so verhielt, wie der gewöhn- 
liche Ext. dig. minim. proprius am 5., daher als Ersatz für diesen anzusehen ist. Er war 
zugleich der längste Bauch. Der obere Ulnarbauch war der kürzeste, breiteste und 
dickste, endigte am Lig. cerpi dorsale und der Handgelenkkapsel fleischig, an der Sehne 
des Extensor ulnaris sehnig. Am Muskelkörper ging zwischen den Faserbündeln der ein- 
zelnen Bäuche zugleich eine Kreuzung vor sich. Die des oberen Ulnarbauches setzten 
sich in die beiden Radialbäuche fort, die des unteren, nachdem sie den unteren Radial- 
bauch gekreuzt hatten, in den gleichnamigen oberen. Nimmt man den oberen Ulnarbauch 
als solchen an, so wäre der Muskel ein radialfaserig vierbäuchiger; erklärt man aber 
denselben als Ursprungstheil des ganzen Muskel’s, so hat man es mit einem drei- 
bäuchigen gegen die äussersten Finger ausstrahlenden Muskel zu thun, dessen Stütz- 
punkt am Ende des Unterarmes sich befindet, was offenbar das Richtigere ist. Da dieser 
Muskel mit seinen drei Bäuchen drei eigene Strecker (des Daumens, Zeige- und 
kleinsten Fingers) substituirt, die hier nicht nur anomaler Weise zu einem gemeinschaft- 
lichen Muskel sich vereinigen, sondern auch als solcher zu einem Handmuskel sich ver- 
kürzt haben; so wird er dadurch an der Hand ein Analogon des Extensor digitorum 
brevis am Fusse. 


c. An der Volarseite beider Unterarme. 


Palmaris longus. Fehlte beiderseits. 

Flexor digitorum sublimis. Schickte rechterseits vier Sehnen für den 2. bis 5. 
Finger, linkerseits nur drei für den 2. bis 4. Finger; gab somit rechterseits dem 6. Fin- 
ger, linkerseits dem 5. und 6. Finger keine Sehne. 

Flexor poll, lonyus. Vereinigte sich beiderseits mit der Sehne des Flexor digitorum 
profundus zum Zeigefinger. 

Flexor digitorum profundus. Theilte sich beiderseits in 4 Bäuche, wovon drei in 
eben so viele Sehnen für den 2. bis 4. Finger übergingen, der vierte eine Sehne abschickte, 
die nach nochmaliger Theilung an den 5. und 6. Finger sich ansetzte. 


d. An der Rückenseite beider Hände. 


Interosseiexterni. Ап jeder Hand sind fünf vorhanden. Davon inserirte sich der 
I. an die Radialseite der ersten Phalange des 2. Fingers und die Sehne des Axtensos digi- 
torum, der II. an dieselbe Stelle des 3. Fingers, der III. an die Ulnarseite desselben, der 
IV. und V. an die Ulnarseite des 4. und 5. Fingers. Rechterseits setzte sich der III. mit 
einem zweiten Fäscikel auch an die Radialseite des 4. Fingers. Sonach besass der 2., 4. 
und 5. Finger nur einen Interosseus ext., der 3. aber zwei. Die Achse der Hand kann daher 
auch im vorliegenden Falle durch den 3. Finger gezogen gedacht werden. 
| In diese Region gehört auch der oben beschriebene anomale Extensor dig. ind. 
propr. biceps supernumerarius, der den Extensor dig. ind. proprius des rechten Unter- 


6 WENZEL GRUBER, 


armes ersetzt, so wie der oben beschriebene Ezxtensor digitorum brevis anomalus, der 
die drei Extensores proprü des linken Unterarmes substituirt. 


e. In der Hohlhand beider Seiten. 


Muskeln des Hypothenar. Diese und der Palmaris brevis entsprachen dem 6. Fin- 
ger eben so, wie dieselben in gewöhnlichen Fällen dem 5. Finger. 

Lumbricales. In jeder Hand sind vier. Sie inseriren sich zum Theil auf anomale 
Weise. So gingen der I. und II. allerdings an die Radialseite des 2. und 3. Fingers, allein 
der III. war in zwei Fascikel getheilt, wovon der eine an der Ulnarseite des 3., der andere 
an der Radialseite des 4. endigte, und der IV. inserirte sich an die Ulnarseite des 4. Für 
den 5. und 6. Finger fehlten dieselben. 

Interossei interni. Ап jeder Hand sind vier. Davon war der III. zweiköpfig. Der 
I. inserirte sich an die Ulnarseite des 2., der II. an die Radialseite des 4., der III. vom 
4. und 5. Mittelhandknochen, also zweiköpfig entsprungene, an die Radialseite des 5., der 
IV. an die Radialseite des 6. Fingers. 


f. An beiden Unterschenkeln. 
Extensor digitorum pedis longus. War jederseits um eine Sehne für die 6. Zehe 
vermehrt. 


Peroneus Ш. War rechterseits mit seiner Insertion auf den 5. und 6. Mittelfuss- 
knochen nach aussen gerückt. 


Plantaris. Fehlte beiderseits. 


Flexor digitorum longus. Hatte rechterseits eine 5. Sehne mehr für die 6. Zehe.: 


g. An der Rückenseite beider Füsse. 


Extensor digitorum brevis. Hatte beiderseits vier Bäuche, wovon der äusserste die 
Sehnen für die 4. und 5. Zehe, aber keine für die 6. abschickte. 

Interossei externi. Wie im normalen Zustande waren drei, die an die Fibularseite 
der 2. bis 4. Zehe auf die bekannte Weise sich ansetzten. Der Interosseus externus IV. fehlte 
auch rechts, weil daselbst der 5. und 6. Mittelfussknochen gegen die Rückenseite einander 
fast völlig genähert waren. 


h. Am Plattfusse beider Seiten. 


Flexor digitorum brevis. Schickte beiderseits drei Sehnen zur 2. bis 4. Zehe ab. 

Lumbricales. Waren vier. 1 

Interossei interni. Waren rechterseits fünf, linkerseits vier. 

Die Muskeln des äusseren Ballens entsprachen rechts dem 6. Mittelfussknochen 
und der 6. Zehe, links dem 5. Mittelfussknochen und der 6. Zehe. 


\ 


NI 


MiSSBILDUNGEN. 


Gefäss-Anomalien. 


a. Beider Unterarme und Hände. 


Die Arterien waren an beiden Extremitäten gleich anomal angeordnet. Eine 
davon hatte einen höheren Ursprung. Auch war ihre Zahl um 2 vermehrt. 

Durch einen höheren Ursprung machte sich die Radialis bemerkbar. Sie entstand 
von der Brachialis noch im Sulcus bieipitalis internus der Oberarmregion oberhalb jenes apo- 
neurotischen Fascikels, den die Sehne des M. biceps zum inneren Muskelvorsprunge der 
Ellenbogenregion abgiebt. 

Die überzähligen Arterien waren die Mediana (profunda) und eine dicke Ana- 
stomose (inosculatio) zwischen der Interossa interna und der Ulnaris. Erstere war eine 
von den Endästen, in die sich die Brachialis in der Ellenbogenregion theilte, verlief mit 
dem N. medianus an dessen Radialseite in die Hohlhand; letztere entstand aus der In- 
terossea interna, bevor sich diese unter den M. pronator quadratus verbirgt, lag im unteren 
Theile des Sulcus ulnaris des Unterarmes und vereinigte sich mit der Ulnaris, bevor diese 
die Hohlhand erreichte. 

Die Mediana und der Ram. vol. superf. art. ulnarıs gaben zwar die oberflächli- 
chen Hohlhandgefässe ab, allein zur Bildung eines oberflächlichen Hohlhandbogens kam 
es nicht. Eine jede theilte sich in ihre Aeste, die nach wiederholter Theilung als Palmar- 
arterien ап den Fingern sich verzweigten. Die Mediana theilte sich in zwei Aeste, wo- 
von der eine drei Zweige für die beiden Seiten des Daumens und die Radialseite des 2. 
Fingers, der andere zwei für die Ulnarseite des 2. und die Radialseite des 3. Fingers 
abgab. Der Ram. vol. superf. art. ulnaris spaltete sich in vier Aeste, wovon die erste- 
ren drei, gabelförmig in je zwei Zweige getheilt, für die Ulnarseite des 3. bis für die Ra- 
dialseite des 6. Fingers bestimmt waren, der letzte, ohne weiter getheilt zu werden, als 
Palmararterie am Ulnarrande des 6. Fingers endigte. 


b. Beider Unterschenkel und Füsse. 


Unter den beiderseits gleich angeordneten Arterien war nur die Tibralis antica 
und die Peronea anomal. Erstere endigte bereits in der Unterschenkelmuskulatur, letz- 
tere ersetzte mit dem das Lig. inierosseum durchbohrenden und sehr starken auf die Rücken- 
seite des Fusses tretenden Aste daselbst vollkommen die Tibialis antica und wurde sonach 
Pediaea. 

Die Venen zeigten nichts Ungewöhnliches. 


Nerven-Anomalien, 


a. Beider Unterarme und Hände 


Anomalien wiesen nur die an der Ulnarseite der Hand sich vertheilenden durch 
Mehrzahl won Zweigen nach, und zwar für die Hshlhand der Ram. vol. superf. nerv, 


8 WENZEL GRUBER, 


ulnarıs, für den Rücken der Ram. dorsalis desselben. Ersterer spaltete sich in drei Aeste, 
also um einen mehr als gewöhnlich. Davon gab der eine für die Ulnarseite des 4. Fingers 
und die Radialseite des 5. Fingers, der andere für die Ulnarseite des 5. und die Radial- 
seite des 6., der dritte für die Ulnarseite des 6. je einen Hohlhandzweig. Letzterer 
theilte sich in 7, also um 2 mehr als gewöhnlich, die, von der Ulnarseite des 3. Fingers 
angefangen, die Seiten aller übrigen bis zum 6. mit Rückenzweigen versahen. 


b. Beider Unterschenkel und Füsse. 


Der Cutaneus surae versorgte jederseits die äussere Hälfte des Fussrückens, so wie 
alle äusseren Zehen, von der Fibularseite der 3. angefangen, mit Dorsalzweigen. Der 
Plantaris externus gab durch seinen Ram. superf. den äussersten Zehen, von der Fibular- 
seite der 4. angefangen, die Plantarzweige. 

Vorliegender Fall mit Finger- und Zehen- Ueberzahl gehört zu jenen, die zu- 
gleich mit anderweitigen Missbildungen vorkommen. 

Durch das Vorkommen einer queren Theilung seines linken Parietale in zwei 
fast gleiche Hälften, reihet er sich den grösseren Seltenheiten an. An der Hand scheint 
eigentlich der 4. Finger mit dem entsprechenden Mittelhandknochen der überzählige 
zu sein, wofür sein Bau, so wie jener dem normalen ganz ähnliche Bau des 5. und 6. Mit- 
telhandknochens und deren Artikulation am Hakenbeine sprechen, die sich gerade so ver- 
hält, wie die zwischen letzterem und dem 4. und 5. Mittelhandknochen gewöhnlicher Fälle. 
An dem Fusse ist die 5. Zehe die überzählige, wofür die unvollkommene Entwickelung 
des 5. Mittelfussknochens rechterseits, so wie die Articulation des 4. und 6. mit dem Wür- 
felbeine einsteht, die so wie die zwischen dem letzteren und dem 4. und 5. Mittelfuss- 
knochen normaler Fälle sich verhält. 

Die Muskulatur zeigt die meisten und darunter mehrere ganz neue Anomalien, 
besonders an den oberen Extremitäten. 

Einzeln vorkommender Mangel eines der drei Extensores, 4. 1. des Extensor dig. ind. 
proprius, Extensor poll. minor oder Extensor dig. minim. proprius, ist eben so eine bekannte 
Sache, wie der Ersatz dieser durch andere, entweder normale, oder selbst anomale eigen- 
thümliche Muskeln. Niemals wurde aber der Mangel dieser drei Extensoren an einer 
und derselben Extremität eines und desselben Individuums und deren Ersatz durch 
einen gemeinschaftlichen und auf die Hand verkürzten beobachtet. Diese Beobach- 
tung ist um so interessanter, als man dadurch über die Bedeutung und Analogie der drei 
angeführten Extensores рторти der gewöhnlichen Fälle beziehungsweise zur Muskulatur der 
unteren Extremität Aufschluss erhält. Lage, Ursprung, Theilung und Insertion des neuen 
anomalen Muskels sprechen für eine Analogie mit dem Extensor digitorum pedis brevis, 
wesshalb ich jenen auch Extensor digitorum manus brevis anomalus nannte, Während 
dem also ein Muskel aus einer oberflächlicheren Sch chte der Beugeseite des Unterarmes in 
dem auf dem Plattfuss verkürzten Flexor digitorum ped. brevis an der unteren Extremität 


MissRILDUNGEN. 9 


sich wiederholt, haben die angegebenen drei Muskeln, grösstentheils aus einer tieferen 
Schichte der Streckseite des Unterarmes, ihr Analogon an der unteren Extremität in dem 
auf den Rücken des Fusses verkürzten Extensor digitorum pedis brevis. Der Muskel an der 
Beugeseite des Unterarmes kann sich nie auf die Hand verkürzen, was bei jenen an der 
Streckseite ausnahmsweise, wie vorliegender Fall beweiset, geschehen kann. 

Auch ist ein auf die Hand verkürzter Extensor dig. ind, propr. biceps bei Vorkom- 
men des gewöhnlichen, wenn auch rudimentären, noch nicht beschrieben worden. 

Die Anordnung der Interossei ist allerdings anomal, allein nicht anders, als sie auch 
schon in anderen und sonst normalen Fällen beobachtet wurde. Sie beweiset, dass die 
Achse der Hand durch den 3. Finger, die des Fusses durch die 1. Zehe gehe. 

Die Muskulatur des Ulnarballens der Hand und des Fibularballens des Fusses ent- 
spricht dem 6. Finger und der 6. Zehe. Desshalb dürfte in ähnlichen Fällen, die am Le- 
ben bleiben, bei gewünschter Entfernung des einen überzähligen Gliedes gerade die,des 
äussersten Fingers oder der äussersten Zehe, abgesehen von grösserer Verunstaltung, ohne 
Beeinträchtigung der Function der ganzen Hand oder des Fusses kaum möglich sein, was 
durch Entfernung des zunächst gelagerten Fingers oder der zunächst gelagerten Zehe ver- 
mieden werden könnte. 

Die beschriebene anomale Anordnung der Gefässe an den oberen Extremitäten 
kommt allerdings auch an sonst wohlgebildeten Individuen öfters vor. Die Mediana 
wurde längst beschrieben; das Vorkommen einer dicken Anastomose zwischen der Interos- 
sea interna und Ulnaris in seltenen Fällen habe ich bekannt gemacht). Allein in sofern 
bietet diese Beobachtung einiges Interesse, als sie dafür zu sprechen scheint, dass Ueber- 
zähligkeit der Finger nicht bloss Abgabe überzähliger Zweige der sonst normalen Gefässe 
der Hand, sondern Ueberzahl der Gefässe bereits am Unterarme und Anomalien 
schon am Oberarme bedinge. Auch hat Otto”) an der linken oberen Extremität eines 
Monstrum perochirum et peroscelum, das aber 6 Finger an jeder Hand besass, den Ur- 
sprung der Radialis schon aus der Axillaris und eine überzählige Anomala (Mediana) am Un- 
terarme beschrieben und abgebildet. 

Eben so bekannt ist das angegebene Verhalten der Arterien der unteren Extre- 
mitäten auch bei sonst normalen Fällen; bleibt aber doch interessant, da es beiderseits 
symmetrisch war und sonst nur selten vorkommt. 

Das beschriebene Verhalten der Nerven liess sich wohl schon im Voraus diagnos- 
ticiren. 


1) W. Gruber. Neue Anomalien. Berlin 1849. p. 22. 
2) A. G. Otto. Monstr. sexcent. descript. anat. Vratislaviae 1841. p. 147. Tab. XIX. Fig. 3. Fol. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VII-e Serie. 2 


10 WENZEL GRUBER, 


IL. 
Proencephalus mit Defecten. (Tab. Г. Fig. 2.) 


Im Juli 1854 erhielt ich von Dr. Krassowsky in St. Petersburg einen völlig ausge- 
tragenen männlichen Fötus, der durch Hydrenencephalocele, Spaltbildungen und 
Defecte missgebildet war. 

Ich zergliederte dieMissbildung, nach vorhergegangener Gefässinjection, in allen . 
ihren Theilen. Von den damals aus meinen Untersuchungen gewonnenen Resultaten 
werde ich im Folgenden nur die mittheilen, welche irgend eine Abweichung ergaben. 

Die Missbildung hat an ihrer Stirnregion einen grossen Sack hängen; zeigt eine 
rechtseitige Nasenflügelspalte, eine linkseitige Lippenspalte zugleich mit link- 
seitiger Gaumenspalte; weiset Defecte der rechten oberen Extremität mit Aus- 
nahme der Schulter, Defecte am linken Zeigefinger und linken Ringfinger, Defect 
des rechten Fusses, Defect des linken Unterschenkels und Fusses auf; und be- 
sitzt am rechten Unterschenkel ein knollenartiges Anhängsel. 

Der Sack der Stirnregion steht durch einen Stiel mit dem Schädel in Verbindung. 
Der Stiel sitzt entsprechend der Stirnnath und darüber nach rechts hinaus auf, unmittelbar 
über der Nasenwurzel bis gegen die Stirnfontanelle. Derselbe fluctuirt, ist mässig gefüllt, 
daher etwas zusammengefallen. Die Haut des Schädeldaches setzt sich auf ihn ohne Un- 
terbrechung fort und seine Wände bestehen ausser dieser aus den Hirnhäuten, welche 
durch eine Spalte in der Stirnnath mit einem grossen Theile aus der Schädelhöhle als 
Hernialsack vorgelagert sind. Der Inhalt des Sackes ist theils Serum, theils der grösste 
Theil der Vorder- und Oberlappen des Gehirnes. Bei horizontaler Lage misst der Sack 
vom Stiele zu seinem Ende 5'/, und in querer Richtung 5”. Bei derselben Lage misst der 
Stiel in querer Richtung 1%,”. Der Umfang des Sackes beträgt 12”, der des Stieles 4%". 
Die Spalte am Schädel ist ein 1” weites Loch, das unmittelbar über der Nasenwurzel und 
8” von der Stirnfontanelle entfernt sitzt. Der Sack war ein angeborenes Hydrenencepha- 
locele. | 

Wegen vorhandener linkseitiger Gaumenspalte stehen die Mund- und linke Nasen- 


höhle im Zusammenhange. 
Die defecten Finger haben keine Nägel. 


Der knollenartige Anhang am rechten Unterschenkel hängt durch einen schma- 
len Stiel mit der Crista tibiae, 5 — 6" oberhalb dem unteren Ende der Та, zusammen. 
Derselbe besteht aus der Haut, Fett und Bindegewebe. 


Knochen. 


Dem rechten Schulterblatte fehlt der Gelenkknopf; die übrigen Knochen der 
rechten oberen Extremität fehlen ganz. Der rudimentäre linke Zeigefinger ent- 


MiSSBILDUNGEN. 11 


hält nur die obere Hälfte der Grundphalange. Der rudimentäre linke Ringfinger hat 
eine vollständige Grundphalange und das Basalstück der Mittelphalange. Die Enden der 
rechtseitigen Unterschenkelknochen sind abgerundet. Das untere Tibiofibular- 
gelenk zwischen beiden ist zugegen. Das Ende des linken Oberschenkelknochens 
besitzt keine Condyh, ist abgerundet und seitlich comprimirt. Die übrigen Knochen der 
linken unteren Extremität, so wie die des Fusses der rechten unteren Extremi- 
tät fehlen. 


Muskeln. 


М. latissimus dorsi dexter. Er entspringt normal, inserirt sich anomal. 1” vor sei- 
nem Ende wird er sehnig und ist daselbst 8” breit. Damit setzt er sich an den 4. Rippen- 
knorpel und an den Brustbeinrand im Zwischenraume des 3. und 4. Rippenknorpels. Er 
schliesst sich an den unteren Rand des M. pectoralis major an und seine Sehne verwächst 
mit der des letzteren. 

M. serratus anticus major dexter. Er entspringt von allen 12 Rippen, ist somit un- 
gewöhnlich entwickelt. 

M. pectoralis major dexter. Er entspringt normal mit der Porto clavicularis, nur 
bis zum 4. Rippenknorpel herab von dem Brustbeine und von den oberen vier Rippenknor- 
реа mit der Portio sternocostahis. Er inserirt sich an die untere Hälfte der hinteren Lippe 
des äusseren Randes und an die hintere Fläche des unteren Winkels des Schulterblattes. 
Die untersten Fasern der Portio sternocostalis gehen in den M. serratus anticus major über. 

M. pectoralis minor dexter. Fehlt. 

M. deltoideus dexter. Hat keine Clavicularportion. Er ist mit der Portio clavicularis 
des M. pectoralis major am Ende verwachsen und inserirt sich an das mittlere Drittel der 
hinteren Lippe des äusseren Schulterblattrandes. 

M. subscapularis dexter. Er ist wenig entwickelt. Seine Fasern entspringen vom 
unteren Theile des äusseren Schulterblattrandes, und inseriren sich an den oberen Schul- 
terblattrand, an den oberen Schulterblattwinkel und an den inneren hinteren Schulter- 
blattrand. 

M. supraspinatus dexter. Er ist sehr entwickelt. Er inserirt sich an die untere 
Fläche des Acromion. 

M. infraspinatus und teres minor dexter. Sind mit einander verschmolzen und 
inseriren sich an die Wurzel des Acromion. 

М. coraco-scapularis dexter. Ersatzmuskel der sonst vom Processus coracoideus ent- 
stehenden Muskel. Er entspringt sehnig vom Processus coracoideus und inserirt sich an die 
grössere untere Hälfte der inneren Lippe des äusseren Schulterblattrandes bis zum un- 
teren Winkel herab. Er ist dreieckig und dick. 

Vom Caput longum des M. biceps brachit dexter ist keine Spur zu sehen. 

Die Sehne des M. flexor digitorum sublimis geht am verkümmerten linken Ring- 


* 


12 WENZEL GRUBER, 


finger in das Hautanhängsel des letzteren über; setzt sich am verkümmerten linken Zeigefinger 
an das Ende der rudimentären Grundphalange. Die Sehne des M. flexor digitorum pro- 
fundus inserirt Sich am verkümmerten Ringfinger an die rudimentäre Mittelphalange, am 
verkümmerten Zeigefinger an das Ende der rudimentären Grundphalange. Der M. extensor 
digitorum schickt auch zu den verkümmerten Fingern seine Sehnen. Der M. extensor di- 
ди andicis proprius schickt seine Sehne zur rudimentären Grundphalange des verkümmerten 
Zeigefingers. 

M. tensor fasciae latae sinister. Fehlt. 

M. gracilis sinister. Ist mit dem M. adductor magnus femoris verschmolzen. 

M. sartorius sinister. Ist ganz rudimentär, entsteht membranös von dem äusseren 
Drittel des Arcus cruralis und vereinigt sich mit dem Anfange der Endsehne des M. adduc- 
tor magnus femoris. 

М. extensor quadriceps cruris sinister. Endiget am vorderen, dem äusseren und 
inneren seitlichen Umfange des unteren Endes des Oberschenkelknochens. 

Mm. semitendinosus, semimembranosus und biceps femoris sinister. Sind zu einer 
einzigen Muskelmasse verschmolzen, deren sehniges Ende in zwei Portionen getheilt ist, 
wovon die äussere grössere an den äusseren Umfang des unteren Endes des Oberschenkel- 
knochens, die innere kleinere, mit der Sehne des M.adductor magnus verschmolzene, an den 
inneren Umfang dieses Endes sich ansetzt. Das Caput breve des M. biceps femoris fehlt. 

М. tibialis anticus dexter. Eundiget am unteren Ende der Туда. 

Mm. extensor hallucis longus und extensor digitorum dexter. Sind verschmolzen 
und endigen sehnig theils an der Tibia, theils an der Fibula. 

Mm..peroneus longus und brevis dexter. Sind verschmolzen und endigen am un- 
teren Ende der Fibula. 

Mm. gastrocnemius externus, gastrocnemius internus und soleus dexter. Sind von 
einander isolirt, entspringen wie gewöhnlich und gehen in eine breite Achillessehne über, 
welche am unteren Unterschenkelende endiget. 

M. plantaris dexter. Seine Fleischportion ist lang, stark, bis 3” breit. Er entspringt 
vom Planum popliteum des Oberschenkelknochens 3", — 4” über dem Ursprunge des М. 
gastrocnemius externus und einwärts von diesem, endiget in eine Sehne, welche mit dem in- 
neren Rande der Achillessehne sich vereiniget. Dieser Muskel tritt somit mehr als 3. 
Kopf des M. gastrocnemius auf. 

Die tiefe Schicht der Muskeln der hinteren Unterschenkelregion ist zu einer 
sehr dünnen Muskelmasse verschmolzen, an der sich keiner der diese bildenden Muskeln 
für sich isoliren lässt. 


Gefässe. 


Arteria anonyma. Sie ist weniger dick als die Art. carotis sinistra. Bevor sie sich 
in ihre zwei Aeste theilt, giebt sie von ihrer linken Seite die Art. thyreoidea ima {Neu- 


MISSBILDUNGEN. 13 


baueri) ab. Diese verläuft zuerst quer vor der Luftröhre nach links hinüber, biegt sich 
dann rechtwinklig um und steigt zur linken Seite der Luftröhre im Sulcus Anachongesanhgr 
geus zum linken Schilddrüsenlappen aufwärts. 


Art. subsclavia dextra. Sie hat einen geringeren Durchmesser als die linke, giebt 
dieselben Aeste, wie die der normalen Fälle, und auch die Art. transversa scapulae ab. 


Art. axillaris dextra. Sie ist schwächer als die linke. Ihre beiden Endäste sind 
die Art. subscapularıs und thoracica longa. Erstere theilt sich in die Art. circumflexa scapulae 
und deltoidea. 


Art. radialis sinistra. Sie giebt in der Gegend der [Insertion des M. pronator teres 
einen anomalen Zweig ab, der den Ramus superficialis nerv. radialis begleitet und in der 
Haut des Handrückens endiget. 


Art. mediana antibrachii profunda sinistra. Sie begleitet, wie in anderen Fällen, 
den Nervus medianus in die Hohlhand und theilt sich in die Hohlhand-Fingerarterien für 
den Daumen, den verkümmerten Zeigefinger und die Radialseite des Mittelfingers, wäh- 
rend der Bam. vol. superficialis art. ulnaris, welcher sich mit ersterer zum oberflächlichen 
Hohlhandbogen nicht verbindet, die Hohlhand-Fi ingerarterien für die Ulnarseite des Mittel- 
fingers, für den verkümmerten Ringfinger und den kleinen Finger abschickt. 


Art. renales. Rechtseitige sind zwei, wovon die überzählige, obere, kleinere im 
Bereiche des Ursprunges der Art. mesenterica superior von der Aorta abdominalis entsteht. 
Beide dringen durch den Aus in die Niere. Linkseitige sind drei, wovon die obere und 
mittlere die überzähligen sind. Die mittlere entsteht von der Aorta abdominalis im Be- 
reiche des Ursprunges der Art. mesenterica superior; die obere von derselben im Bereiche 
des Ursprunges der Art. coeliaca. Die mittlere und untere verlaufen durch den Æilus in die 
Niere; die obere senkt sich in diese durch die vordere Seite des oberen Endes ein. 


Art. заса externa sinistra. Ihr Durchmesser ist kleiner als der derselben an der 
rechten Seite. 


Art. cruralis sinistra. Ihr Durchmesser ist kleiner als der derselben an der rechten 
Seite. Sie endiget mit zwei Zweigen, wovon der kleinere durch den Canalis femoro-popli- 
teus verläuft, der grössere eine Art. perforans ist. Beide verlaufen, bedeckt von der Sehne 
der hinteren Muskelmasse des Oberschenkels, abwärts, vereinigen sich bogenförmig und 
bilden am Ende des verkümmerten Oberschenkels ein Netz. 


Art. profunda femoris sinistra. Sie verhält sich ganz normal. 


Art. tibialis antica und postica dextra. Sie verzweigen sich in der Musculatur und 
Haut des Unterschenkels. 


Art. peronea dextra. Fehlt. 
Vena cruralis sinistra. Ist doppelt. 


Vena saphena interna sinistra. Fehlt. 


14 WENZEL GRUBER, 


Nerven. 


Plexus axillaris dexter. Endiget mit zwei Aesten. 

Am verkümmerten rechten Unterschenkel sind alle Nerven vorhanden, die in nor- 
malen Fällen gefunden werden. 

Nervus ischiadiacus sinister. Endiget in der verschmolzenen Muskelmasse der hin- 
teren Oberschenkelregion. 

Nervus saphenus major sinister. Fehlt. 


Ш. 


Aortenwurzel und Lungenarterie ein gemeinschaftlicher Stamm. — 
Communication der Herzkammern durch ein Foramen anomalum 
in dem dem Conus arteriosus entsprechenden Theile des Septum 
ventriculorum bei einem an Cyanose verstorbenen 15 jährigen 
Jünglinge. (Tab. I. Fig. 1 —5.) 


Am 10. August 1854 übersandte mir Dr. Кайе, praktischer Arzt in St. Petershurg 
und Arzt im Marien-Hospitale daselbst, das Herz eines jungen Individuums, welches an 
Cyanose gestorben war. Das Herz war, ohne Nachtheil für die Untersuchung, an zwei 
Stellen eingeschnitten. Die grossen Gefässe waren theils über ihrer Einmündung in das 
Herz abgeschnitten, theils eine kurze Strecke unberührt erhalten. Die Arteriae pulmonales 
waren bald nach ihrem Ursprunge quer, der Arcus aortae links von der Arteria anonyma 
mit Erhaltung der Insertion des Ligamentum aorticum, schief durchschnitten. 

Der Mittheilung der Resultate meiner Untersuchungen werde ich die Krankenge- 
schichte vorausschicken, die mir der behandelnde Arzt Dr. Kade eingesandt hat. 


A. Krankengeschichte. 


Michael Iwanow aus Kronstadt, 17 Jahre alt, trat am 2. August 1854 in das Ma- 
rien-Hospital ein. 

Stark entwickelte Cyanose des Gesichts und der Hände; kurze beschleunigte und 
erschwerte Respiration, Herzklopfen: schwache heisere Stimme; Schmerz beim Drucke 
auf die Regio epigastrica und mässiger Durchfall waren die Symptome beim Eintritte des 
Kranken. Sie konnten bei der damals bestehenden Epidemie den Verdacht der Cholera 
erzeugen. Dieser Verdacht wurde durch die Anamnese und die Resultate der weiteren 
Untersuchung aufgehoben. 

J. litt von Kindheit auf an Herzklopfen, Athmungsbeschwerden und cyanotischer 


MissBILDUNGEN. 15 


Hautfärbung. Die Endglieder der Finger zeichneten sich durch eine Trommelklöppel ähn- 
liche Gestalt mit übermässiger Convexität ihrer Nägel aus. In der letzten Zeit hatte er 
einige Male an unbedeutenden Blutungen aus der Nase gelitten. Die Zunge hatte eine 
livide Färbung, war aber warm. Die Pulsationen des Herzens waren verstärkt. Schon 
bei aufgelegter Hand war eine ungewöhnliche Erschütterung der Thoraxwand durch die- 
selbe fühlbar. Bei der Auscultation ergab sich eine bedeutende Verstärkung des Herz- 
schlages; ein in so fern gestörter Rhythmus der Herztöne, dass der erste Ton vorwaltend, 
der zweite ungewöhnlich kurz und die Pause kaum wahrnehmbar war; aber kein Geräusch 
trotz wiederholter Untersuchung. Ausser grossblasigem Knistern in den untersten, hinter- 
sten Partien, wie bei Oedem, ergab sich in den Lungen nichts Abweichendes. Erbrechen 
und Krämpfe fehlten gänzlich. Der Kranke befand sich in dem äussersten Zustande der 
Prostration. Aus diesem Symptomencomplex schloss Dr. Kade auf einen angeborenen 
Herzfehler — vermuthete aber Offengebliebensein des Foramen ovale oder des Ductus arte- 
riosus Во. — 

Am 3. August war der Zustand derselbe. Gegen Abend nahm aber der Durchfall zu. 

Am 4. August trat verstärkter Durchfall und noch grössere Prostration, gegen Abend 
Sopor, Bewusstlosigkeit und Sprachlosigkeit ein. 

Am 5. August wurde vollständige Bewusstlosigkeit beobachtet und der Puls nur noch 
etwas gefühlt. Um 2 Uhr Nachmittags erfolgte der Tod. 

Am 7. August nahm Dr. Kade die pathologisch-anatomische Section der Leiche 
vor. Welche Resultate diese lieferte, weiss ich nicht. Dr. Kade schickte mir aber das 
herausgenommene Herz zur Untersuchung, deren Resultate im Nachstehenden enthalten 
sind. 


B. Befund des Herzens und der grossen Gefässe. 


Das Herz (Fig. 1. A.) ist an seiner Spitze ungewöhnlich stumpf, an der vorderen 
Fläche seines Kammertheiles ungemein und auffallend gleichmässig convex. Durch er- 
steres unterscheidet sich seine Gestalt von der gewöhnlicher normaler Herzen, durch 
letzteres gleicht sie der hypertrophischer Herzen. Sonst weicht seine Gestalt von der ge- _ 
wöhnlicher Herzen nicht ab. 

Die vorgenommenen Messungen ergaben folgende Resultate: 


по Ме Herzens na re — 4" 9” Par. М. 
« Höhe « « am’ Viorkammertheile лини. = 1 4—6 

« Länge « « amıKammertheile tan sen. —3%3==5 

« Breite « « amıViorkammertheile sénat. ess un 2, —= 3 

« grösste Breite des Herzens am Kammertheile............. == 6 


« grösste Dicke des Herzens am Kammertheile ............. = 


4 
« Dicke des Herzens am Vorkammertheile .........,....... =] 4 
3 
«Hohetder rechten Vorkammer me tn. use sn 0e. — | 


16 WENZEL GRUBER, 


Die ‘Höhe der InkenVorkammer da. Hr RE 


« Breite « rechten « hinten... NT 
« « « linken « RUE EE LAON 
« Dicke der rechten « ohne! Herzohr... PRET ber 
« « « linken € « CN ORNE 
»IPDüngeterrechten Kammer vorm I. 2. 2a Me 
« EI « IRRE 2 ee LING ae 
« « « linken О N En TE ALLEN! 
« eG < SHRMIILEN Er: 26er BB АА TEN 
« Breite « rechten CMAVOTIT а D HAL SLA LE 
« OR « < hinten... RR: 
« « © linken О ete = 2) nel ran NEN PRONS 
« « « « « hinten. „en, RE Se 
« Länge desrechten unteren Kammerrandes.......... м 
« « « linken oberen Kammerrandes .............. 
« grösste Entfernung des rechten Kammerrandes von der vor- 
deren Tängsturchen о A Ab, AA , 
« grösste Entfernung des linken Kammerrandes von der hin- 
teren Bängstunchege "1:02... С 
« grösste Entfernung des rechten Kammerrandes von der hin- 
teren Längsfurche ...:...: Е, a 1 С 
«a grösste Entfernung des linken Kammerrandes von der hin- 
teren Längsfurche ........ EEE NER ne N 
Der Umfang der rechten Kammerbasis von einer Längsfurche 
ZUr AN TC N eee De dore ee NEE OR Pa Te 
« Umfang der linken Kammerbasis von einer Längsfurche 
zur- andernim. и. AN NIE ROTER AL 
« Umfang der rechten Kammer vom vorderen zum hinteren 
Theile der Kreisfurche ....... Е à 
« Umfang der linken Kammer vom vorderen zum hinteren 
Theile der Kreisfurche ........ PR RS BTE я 


Die Länge der Kammerscheidewand von deren membranösem 
Theile zur Herzspitze in der rechten Kammer........ 

« Länge der Kammerscheidewand von deren membranösem 
Theile zur Herzspitze in der linken Kammer......... 

« Länge der Kammerscheidewand von dem anomalen Loche 
zur Herzspitze in der rechten Kammer............. 

« Länge der Kammerscheidewand von dem anomalen Loche 
zur Herzspitze in der linken Kammer.............. 


SEES SD 


so 


MissBILDUNGEN. 17 


Die Dicke der Wände der rechten Vorkammer ............ == bis 1%," Par. M. 
« « « « « linken « ARE Re — ИА 
т а « _« rechten Kammer an ihrer Basis... = 5/—6 
О а « @& « «  %."überihrer Spitze =  8/—9 
a pe «< < « Е Spies = 3/,—4 
« « « « « linken « an ıhrer Basis... == 4, 
« « « 4 « « « A über ihrer Spitze — 5 
« « « « « « « an ihrer Spitze... = 2 
« « « Kammerscheidewand, die dem grösseren Theile 
der rechten Kammerhöhle entspricht. .............. = 3 — 6 


« 


Dicke der Kammerscheidewand, die dem kleineren Theile 


der rechten Kammerhöhle oder dem arteriösen Kegel 
о ee ee PR er a — 4—8 


Aus diesen Messungen geht hervor: 


1. Das Herz unseres Individuums ist so lang als das eines Erwachsenen, bestimmt aber 


breiter und dicker als das normale eines Erwachsenen, jedenfalls übermässig gross 
für ein 17jähriges Individuum. 


2. Der Vorkammertheil ist verhältnissmässig zum Kammertheile zu niedrig. 
3. Die Dicke der Seitenwände der linken Kammer gleicht der des normalen Herzens 


eines Erwachsenen, die Dicke der Wände der Vorkammern überwiegt die des nor- 
malen Herzens eines Erwachsenen nur um ein Geringes, die der Seitenwände der 
rechten Kammer die derselben eines Erwachsenen aber um das Zwei- bis Dreifache, 
und die der Kammerscheidewand die dieser eines Erwachsenen um И — 3%. Jeden- 
falls überwiegt die Dicke der Wände an allen Stellen mehr oder weniger übermässig 
die der Wände eines normalen Herzens eines 17jährigen Individuums. 


. Das Herz würde somit, falls es einem Erwachsenen angehört hätte, mit partialer, 


d.i. mit rechtseitiger Kammerhypertrophie behaftet gewesen sein; und ist, mit Rück- 
sicht auf die Jugend des Individuums, dem es angehört, total hypertrophisch. 


Die Capacität der Vorkammerhöhlen ist geringer, die der Kammerhöhlen aber gleich 


der derselben Höhlen eines Erwachsenen. Es würde somit, wenn das Herz einem Erwach- 
senen angehört hätte, einfache rechtseitige Kammerhypertrophie zugegen gewesen sein. 
Jedenfalls ist die Capacität aller Höhlen grösser, als die des normalen Herzens eines 
17jährigen Individuums. Es ist somit totale Dilatation mit excentrischer Hypertrophie zu- 


gegen. 


Das Gewicht des Herzens beträgt 11 Unc. Das Herz war somit um /, Une. schwe- 


rer als das normale Herz eines 70jährigen Greises, und um 2%, Une. schwerer als das 
eines Individuums von 15 — 20 Jahren, wenn wir uns an das von Clendinning aufge- 
stellte mittlere Gewicht halten. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Série. 3 


18 WENZEL GRUBER, 


Die Vorkammern (Atria). 


Die Sinus (Fig. 1. 2. a. 6.) und die Auriculae (Fig. 1. 2. а. В.) derselben sind nor- 
mal gestaltet. Ihre Wände sind stellenweise etwas dicker als die bei einem Erwachsenen. 
Die Capacität derselben ist grösser als die eines Individuums von gleichem Alter, aber 
geringer als die eines Erwachsenen. Die Auricula dextra (Fig. 1. 2. «.) ist 11” lang, 
von oben nach unten 9” breit und bis 6” dick. Die Auricula sinistra (Fig. 1. 2. 8.) ist 
1/, lang, von oben nach unten 7” breit und 5%” dick. An jeder Vorkammer werden 
dieselben Oeffnungen und an denselben Stellen, wie in gewöhnlichen Fällen, be- 
merkt. Nur zwischen den rechten Lungenvenenöffnungen der linken Vorkammer kommt 
eine dritte kleine überzählige (Fig. 2. y.) vor. Die Vena cava superior hat eine Weite 
von 7— 8”, die Vena cava inferior eine Weite von 9— 10” und die Vena coronaria 
magna eine Weite von 4”. Die Valvula Eustachii ist stark, undurchbrochen und bis 
3” breit. Die Valvula Thebesii ist sehr dünn, siebförmig durchbrochen, aber so breit, 
dass sie die Oeffnung der Vena coronaria magna grösstentheils bedeckt. Das Tuberculum 
Loweri ist gut ausgeprägt. Das Septum atriorum ist vollständig, nirgends durchbohrt. 
Die Fossa ovalis an dem Septum des rechten Sinus ist von einem deutlichen Annulus 
Vieussenii umgeben. Die Valvula foraminis ovalis hat das Foramen zur Bildung der 
Fossa ovalis vollständig geschlossen. Eine vorn in der Fossa befindliche Spalte, die die 
Valvula und der Annulus bilden, endiget blind. 

Mit Rücksicht auf die Jugend des Individuums sind beide Vorkammern als mässig 
dilatirt und in ihren Wänden als hypertropisch anzusehen. 


Die Kammern (Ventriculi). 


Diese sind normal gestaltet. Die Capacität ihrer Höhlen gleicht der derselben 
bei einem Erwachsenen. Die Spitze der Höhle der rechten Kammer überragt die der lin- 
ken. Die Wände beider Kammern (Fig. 3. 4. à.) sind absolut dicker als die eines Her- 
zens eines gleich alten Individuums; die Seitenwände der rechten Kammern und das 
Septum ventriculorum sind sogar absolut dicker als die eines Erwachsenen. Der Conus 
arleriosus der rechten Kammer ist gegen seinen Ausgang enger. Seine hintere Wand, 
welche von der vorderen, oberen und kleineren Abtheilung des Septum ventricu- 
lorum (Fig. 3. 8.) dargestellt wird, ist kürzer als gewöhnlich und oben defect. Dieselbe 
erscheint in der rechten Kammer als ein Dreieck, dessen vorderer und hinterer Rand 1%” 
lang und dessen oberer Rand 10 — 12” breit ist. Der Defect dieses Septumtheiles wird 
durch einen tiefen und weiten Ausschnitt hervorgebracht, der vom oberen Rande dessel- 
ben bis 11 — 12”, von seinem unteren Winkel nach abwärts durch seine ganze Dicke 
dringt (Fig. 3. y.). Die Musculi papillares und Trabeculae carneae verhalten sich so, 
wie in anderen und gewöhnlichen Fällen. Die sogenannte Pars membranacea der grös- 
seren Abtheilung des Septum ventriculorum sitzt an der gewöhnlichen Stelle, ist durchschei- 


MisSBILDUNGEN. 19 


nend, aber kleiner als gewöhnlich. Dieselbe liegt vom Defecte oder Ausschnitte der klei- 
neren Abtheilung 6 — 7” entfernt, und ist davon durch eine so breite und 2— 2,” dicke 
Muskelmasse geschieden. Jede Kammer hat ihr eigenes Ostium venosum s. atrio-ven- 
triculare, das rechts mit der Valvula tricuspidalis (Fig. 3. à.), links mit der V. bicuspidalis 
(Fig. 4. y.) versehen, und überhaupt jederseits ganz normal eingerichtet ist. Der Um- 
fang des rechten beträgt 23/”, der des linken 2'%”, ist also um 1” geringer als der bei 
einem Erwachsenen, aber grösser als bei einem gleich alten Individuum. Jede der Kam- 
mern hat einen Ausgang neben der Scheidewand. Derselbe ist rechts abgerundet drei- 
eckig, links oval; hat dort einen Umfang von 2" — 2” 2”, hier einen solchen von 2” 4” — 
2" 6”. Beide Ausgänge und dadurch beide Kammern communiciren durch den 
oben genannten und als abgerundet dreieckiges oder halbovales Loch (Fig. 3. y., Fig. 4.8.) 
auftretenden Defect des vorderen oberen und kleineren Theiles des Septum ventriculorum 
mit einander, sind aber nicht die eigentlichen Ostia arteriosa. Ueber diesen Ausgängen und 
dem Loche zwischen beiden liegen erst dieselben, aber sie sind zu einem einzigen Ostium 
arteriosum commune verschmolzen. Das Ostium arteriosum commune ist ein querovales 
Loch, dessen Durchmesser von einer Seite zur andern 1%”, von vorn nach hinten 1”, 
und dessen Umfang etwa 4”, 4.1. etwa 1” weniger als der Umfang beider Ostia arteriosa 
eines Erwachsenen, beträgt. Dasselbe besitzt nur zwei, aber sehr grosse, dicke, keine 
Noduli aufweisende Valvulae semilunares (Fig. 3. 4. e. &., Fig. 5. a. b.), wovon die eine, 
die rechte (=. a.), die rechte Hälfte des Umfanges, die andere, die linke (£. b.), die linke 
Hälfte des Umfanges desselben einnimmt. Jede Va/oula ist 1” breit und an ihrem freien 
Rande 1'% lang. Der mittlere Theil der rechten kann über die linke ",’ nach links, und 
der der linken kann unter der rechten И” nach rechts hinübergezogen werden. Wegen 
ihrer zu bedeutenden Grösse für den Umfang des Ostium arteriosum commune erscheinen sie 
schlaff, in ihrer Quer- und Längsrichtung gerunzelt. Desshalb können sie auch in die 
Kammern umgeschlagen werden, wodurch Klappen-Insufficienz bedingt ist. Auf der un- 
teren Fläche des vorderen Endes der Valvula semilunaris sinistra und somit an dem in 
die rechte Kammer sehenden Theile sitzt eine runde, 3 — 4” im Durchmesser haltende, 
sogenannte Klappen-Vegetation. Die Spalte (Fig. 5. «.) zwischen beiden entspricht 
der Mitte des Ostium arteriosum commune und zwar in der von hinten nach vorn und etwas 
nach links gehenden Richtung. An ihrem vorderen und hinteren Drittel stossen die 
freien Ränder der Valvulae semilunares an einander, an ihrem mittleren Drittel deckt aber 
die Valvula dextra die У. sinistra von oben her. Die Spalte hat einen geschlängelten Ver- 
lauf. Da der freie und zur Bildung eines Loches zwischen beiden Kammern ausgeschnit- 
tene Rand des Septum ventriculorum von rechts nach links und vor dem grössten Quer- 
durchmesser des Ostium arteriosum commune unter diesem vorbeizieht, so wird die vordere 
kleinere Hälfte des Ostium der rechten Kammer die hintere grössere Hälfte der linken 
Kammer; der vordere Theil der Spalte und der Valvulae semilunares über der rechten Kam- 
mer (Fig. 3.), der mittlere Theil derselben über dem anomalen Loche zwischen der rech- 


* 


20 WENZEL GRUBER, 


ten und linken Kammer, und der hintere grössere Theil derselben über der linken Kammer 
(Fig. 4.) zu liegen kommen. Das abgerundet dreieckige oder halbovale Foramen anoma- 
шт zwischen beiden Kammern (Fig. 3. y., Fig. 4. В.) wird oben von den Valvulae 
semilunares, seitlich und unten an seiner Spitze von dem 2 — 4” dicken Ausschnitt der 
vorderen und oberen Abtheilung des Septum ventriculorum begrenzt Dasselbe ist oben in 
transversaler Richtung 6 — 7” und dann auch in vertikaler Richtung 6 — 7” weit. Sein 
rechter Rand liegt, wie gesagt, 6 — 7” von der Pars membranacea der grösseren Abthei- 
lung des Septum ventriculorum, und seine Spitze 11 — 12” von dem unteren Winkel der 
kleineren Abtheilung des Septum ventriculorum, oder dem Eingange in den Conus arteriosus 
der rechten Kammer, entfernt. Das Foramen anomalum dieses Falles ist wohl zu unterschei- 
den von dem Foramen anomalum in der grösseren Abtheilung des Septum ventriculorum, wel- 
ches in anderen Fällen zuweilen in Folge des Defectes der Pars membranacea septi ventricu- 
отит auftritt. Wie das Ostium arteriosum commune vorliegenden Falles durch theilweisen 
Defect beider arteriöser Faserringe an der Stelle, wo sie an einander stossen, mit der 
oberen vorderen kleineren Abtheilung des Septum ventriculorum in Zusammenhang stehen 
und die Valvula semilunarıs sinistra der Art. pulmonalis und die V. semilunaris dextra (anterior) 
der Aorta sitzt, bedingt wird; eben so ist auch das Foramen anomalum unter demselben 
durch diesen Defect und die dadurch herbeigeführte Unmöglichkeit einer Verei- 
nigung des genannten Theiles des Septum ventriculorum mit den arteriösen Fa- 
serringen bedingt. 

Mit Rücksicht auf das Alter des Individuums sind beide Kammern dilatirt, beide, 
namentlich aber die rechte, sehr bedeutend excentrisch hypertrophisch. 


Die Gefässe. 


Das Ostium arteriosum commune mündet in einen einzigen gemeinschaftlichen Ge- 
fässstamm (Fig. 1. B.), der durch Verschmelzung des grössten Theiles des Stammes der 
Arteria pulmonalis und der Radix aortae entstanden ist. Das gemeinschaftliche 
Gefässrohr ist im Durchschnitte queroval, von vorn nach hinten comprimirt. Dasselbe 
zeigt an seinem Bulbus einen rechten und linken Sinus Valsalvae (Fig. 5. a. b.), deren 
jeder bis 10” tief ist, ist darüber 1” 6” und vor seiner Theilung 1” 8” von einer Seite 
zur anderen, 1” von vorn nach hinten dick. Es ist 1%” lang, theilt sich dann in zwei 
Aeste, einen rechten und einen linken. Der rechte Ast ist der Arcus aortae (Fig. 1.е.), 
der linke das Endstück der Art. pulmonalis (Fig, 1. [.). Jener ist 11” breit und 10” 
dick, dieser 10” breit und 9” dick. Der Arcus aortae giebt 10 — 12” über seinem 
Ursprunge die Art. anonyma (Fig. 1. g.}ab. Das Endstück der Art. pulmonalis ist 
4—6” lang und theilt sich dann in die 6” dicke Art. pulmonalis dextra (Fig. 1. 2. h.) 
und in die 5” dicke Art. pulmonalis sinistra (Fig. 1. 2. i.), deren Richtung des Ver- 
laufes eine normale ist. Von der Mitte der vorderen Wand des Anfanges der Art. pulmo- 
nalis sinistra entsteht das Ligamentum aorticum o. der obliterirte Ductus arteriosus 


MisSBILDUNGEN. Al 


Botalli (Fig. 1. 2. 3. k.), welcher an der concaven Seite des Arcus aortae, 10 — 12° nach 
rechts vom Ursprunge der Art. anonyma, aus der convexen Seite, entfernt, sich inserirt. 
Er ist 5— 6” lang. Die Art. coronaria cordis dextra (Fig. 5. В.) entspringt über dem 
rechten Sinus Valsalvae, 3” hinter dem vorderen Ende der Valvula semilunaris 
dextra. Die Art. coronaria cordis sinistra (Fig. 5. у.) entsteht über dem hinteren Ende 
des linken Sinus Valsalvae und ',— 1” über der hintersten Insertion der Valvula se- 
milunaris sinistra. Wie sich ausser der Art. anonyma die übrigen Stämme aus dem Arcus 
aortae verhalten haben, weiss ich nicht, da sie bereits abgeschnitten waren. 

Verschmelzung der Radix aortae mit dem grössten Theile der Arteria pulmonalis zu 
einem Stamme, nebst Communication beider Kammern unter seinem Ursprünge aus bei- 
den, bedingten Cyanose. Sie und Klappen-Insufficienz erzeugten Dilatation, sie 
und die Art Stenose der Ausgänge der Kammern in das Ostium arteriosum commune 
Hyperthrophie des ganzen Herzens. 


IV. 


Herz mit Defect seines Septum ventriculorum. — Fortsetzung der 

Arteria pulmonalis communis nach Abgabe beider Arteriae pulmo- 

nales und beider Arteriae subeclaviae als Aorta descendens. — Thei- 

lung der Aorta ascendens in beide Arteriae corotides allein. — Bu- 
plicität der Vena cava superior und Vena azygos. 


Den bekannten und seltenen Fällen, in welchen die Arteria pulmonalis als 
Aorta descendens sich fortsetzt, nachdem sie früher entweder die Lungenäste allein, oder 
diese und zugleich die Subclavia sinistra, oder die Lungenäste, die Carotis sinistra und Sub- 
clavia sinistra abgegeben hat, kann ich einen neuen Fall zugesellen, der sich von jenen 
dadurch unterscheidet, dass ausser beiden Lungenästen beide Subclaviae abgegeben 
werden, während die Aorta (ascendens) nur in die beiden Carotides sich theilt und durch 
keinen Ast mit der Arteria pulmonalis communis und ihrer Fortsetzung der Aorta descendens 
in Verbindung steht, dass dabei Mangel des Septum ventriculorum cordis, Duplicität 
der Vena cava superior und der Vena azygos zugegen ist (Tab. III. Fig. 1.). 

Unter mehreren Leichen von neugeborenen Kindern, die mir von der Entbindungs- 
anstalt des Findelhauses am 19. Januar 1859 zugeschickt wurden, und die ich den Stu- 
direnden zu ihren Präparirübungen bestimmt hatte, fand ich, bei meiner Revue, bei der 
Leiche eines weiblichen Kindes Deformität des Herzens und der grossen Gefässe. Die 
Kinderleiche wurde den Studirenden abgenommen, injieirt und untersucht. Die Resul- 
tate dieser Untersuchungen theile ich im Folgenden mit: 


[Le] 
[55 


WENZEL GRUBER, 


Das Kind hatte geathmet und mochte eine längere Zeit nach der Geburt gelebt ha- 
ben, war wohl genährt, ohne cyanotische Färbung, ohne äusserliche Deformitäten, aber 
mit Staphyloma corneae beider Augen behaftet. Die Länge seines Körpers betrug 19” Par. M. 

Unter der Dura mater befand sich ein beträchtlicher Bluterguss. Das Gehirn zeigte 
nichts Abweichendes. Der Speisekanal, die Leber, die Milz und das Pancreas verhielten 
sich normal. Dasselbe kann von den Respirationsorganen, von der Schilddrüse und der 
Thymus gesagt werden. Am rechten Lungenflügel war der obere vom mittleren Lappen 
vorn nicht geschieden. Die Harnwerkzeuge waren normal mit Ausnahme der zu tiefen 
Lage beider Nieren, namentlich der rechten, von der durch einen Zwischenraum getrennt, 
die rechte Nebenniere an gewöhnlicher Stelle gelagert war. Die Geschlechtstheile ver- 
hielten sich normal. 

Bedeutende Deformitäten, oder doch Abweichungen, zeigten aber das Herz 
und die Gefässe. 

Das Herz (Nr. 3.) hat eine Länge von 1%, ; eine Breite von 1”, an der breitesten 
Stelle seines Ventrikeltheiles und eine Dicke von bis %,'. Seiner vorderen Fläche fehlt 
der Sulcus longiudinalis. Mehr entwickelt ist die rechte als die linke Herzhälfte. Es ent- 
hält wie gewöhnlich 4 Kammern, d. 1. 2 Atria und 2 Ventriculi. 

Das rechte Atrium (Nr. 3°) ist unverhältnissmässig zum linken gross, dilatirt und 
hat eine sehr weite Auricula. Seine Länge von vorn nach hinten beträgt 1'/”, wovon 8” 
auf die Auricula kommen, seine hintere Höhe und Breite betragen 8”. Die Auricula ist 
von oben nach unten bis 7” breit und 4 — 5” dick. Von den gewöhnlichen Ostia geht 
eins ab und ein neues kommt hinzu. Es fehlt nämlich ein besonderes Ostwum für die 
Vena coronaria cordis, und es kommt das Ostium für die Vena cava superior sinistra hinzu, 
das am linken Ende seiner hinteren Wand und 6” von dem Ostium für die Vena сага su- 
perior dextra entfernt liegt. Die Valvula Eustachü fehlt. Das linke Atrium ist kleiner, hat 
nur еше 4 — 5" lange und 3” von oben nach unten breite Auricula. Es hat nur 3 Ostia, 
nämlich 2 Ostia für die 4 Lungenvenen, wovon je 2 in einen Ast verschmolzen einmün- 
den, und das Foramen ovale. Das Ostium atrio-ventrieulare fehlt und ist nur durch einen 
kurzen, trichterförmigen Blindkanal angedeutet. Das Septum atriorum ist durch ein 3” 
weites Foramen ovale durchbohrt. 

Der rechte Ventrikel ist gross, dilatirt; der linke ist klein. Jener hat bis 2”, die- 
ser bis 31%” dicke Wände. Der rechte Ventrikel hat einen Conus arteriosus, an dem die 
Wand, welche die kleinere, vordere obere Abtheilung des Septum ventriculorum gewöhn- 
licher Fälle darstellt, 3— 5°” koch und 1'4” dick ist. Derselbe hat ein Ostium venosum s. 
atrio-ventriculare und ein Ostium arteriosum. Ersteres ist sehr weit, mit der Valvula tricus- 
pidalis versehen, letzteres führt in die Arteria pulmonalis und zeiget 3 Valwulae semilunares. 
Der linke Ventrikel hat nur ein Ostium arteriosnm, das in die Aorta führt, enger als das 
des rechten ist, aber wie gewöhnlich 3 Valwulae semilunares besitzt. Sein Ostium venosum 
und die Valvula bicuspidalis fehlen vollständig. Der Zugang zu beiden Osta arteriosa 


MissBiLDUNGEN. 23 


ist durch die übrig gebliebene kleinere, den Conus arteriosus des rechten Ventrikels ergän- 
zende Abtheilung des Septum ventriculorum geschieden. Die grüssere Abtheilung des 
Septum ventriculorum fehlt, wodurch eine Spalte entsteht, durch die beide Ventrikel 
mit einander communieiren. Durch ein starkes, aber durchbrochenes Muskelbalkennetz 
in der unteren Hälfte der Spalte und zwei, aus der Spitze derselben hervorstehende, 
grosse Musculi papillares, welche Sehnenfäden zum Scheidewandzipfel der Valvula tri- 
cuspidalis abschicken, ist dieses Septum theilweise noch rudimentär vorhanden, 

Aus dem Herzen entspringen, wie gewöhnlich, zwei Arterien, d. i. die Aorta und 
die Arteria pulmonalis communis; allein erstere existirt nur als Aorta ascendens, die 
sich nur in die beiden Carotides theilt, keinen Arcus aortae bildet und nicht als Aorta des- 
cendens sich fortsetzt, während letztere, nach Abgabe der Art. pulmonalis dextra und si- 
nistra, mit ihrem offen gebliebenen Ductus arteriosus als rechte permanent gebliebene Aorta 
einen Arcus darstellt, der anomaler Weise beide Subclaviae absendet und als Aorta des- 
cendens weiter verläuft. 

Die Aorta ascendens (4.) entspringt wie die Aorta gewöhnlicher Fälle aus dem lin- 
ken Ventrikel, wird dann vom Anfange der Arteria pulmonalis communis gekreuzt, steigt von 
links und unten, mit einer starken Krümmung nach vorn und einer schwachen Krümmung 
nach rechts, vor der Art. pulmonalis dextra und dem unteren Drittel der Trachea aufwärts 
und theilt sich unter dem mittleren Drittel der Länge der letzteren spitzwinklich in die 
gleich starken Carotis dextra (a.) und sinistra (a’.). Ihr Bulbus hat, wie gewöhnlich, 
3 den 3 Valvulae semilunares entsprechende Sinus Valsalvae. Ueber dem rechten, vorderen 
ist eine Oeffnung, die in die einzige Arteria cordis coronaria führt. Letztere ent- 
spricht der A. с. с. dextra der gewöhnlichen Fälle; eine der A. с. с. sinistra entsprechende 
fehlt. Beide Carotides verzweigen sich auf normale Weise. Zwischen der Aorta uscen- 
dens und der Arteria pulmonalis communis existirt kein Verbindungszweig. Die Aorta 
ascendens ist bis zur Theilung in die Carotides 1” lang und 3'4” dick (im injicirten Zu- 
stande). Der Durchmesser jeder Carotis beträgt 1'%". 

Die Arteria pulmonalis communis (B.) entspringt aus dem rechten Ventrikel und 
zwar aus dessen Conus arteriosus, kreuzt von vorn her und von unten und rechts nach oben 
und links den Bulbus aortae, liegt dann neben der Aorta ascendens links, verläuft auf-, dann 
rück- und endlich ab- und lateralwärts über den Bronchus sinister, erreicht in der Gegend 
des 4. oder 5. Brustwirbels die linke Seite der Wirbelsäule und setzt sich von da als 
Aorta descendens (В”.) weiter fort. Dadurch bildet sie einen Arcus (B’.), der eine obere, 
untere, vordere linke und hintere rechte Seite zeigt. Sie ist 4, — 5” dick. 

Ihr Anfang besitzt 3 Sınus, denen die 3 Valvulae semilunares im Innern entsprechen. 

Von ihrem Ursprunge '/’ entfernt, entstehen einander vis-à-vis von ihren Seitenwän- 
den gleich über ihrer unteren Wand die Arteria pulmonalis dextra (b.) und sinistra(b.). 
Diese haben einen ganz normalen Verlauf. Die А. р. dextra ist 8 — 9°” lang und 2” dick; 
die А. р. sinistra ist 5” lang und 1%” dick. 


24 WENZEL GRUBER, 


Vom Ursprunge der Art pulmonates 9” nach rückwärts und abwärts entfernt, zur lin- 
ken Seite der Trachea und des Oesophagus, auch theilweise hinter diesen, entstehen von der 
hinteren rechten Seite des Endes des Arcus und über dessen Uebergang in die Aorta des- 
cendens die Arteriae subclaviae knapp neben einander, und so, dass die A. s. sinistra (c’.) 
etwas höher und links, die A. $. dextra (c.) etwas tiefer und rechts abgeht. Beide Sub- 
claviae liegen im Anfange auf der Wirbelsäule hinter dem Arcus art. pulm. communis. Sie 
divergiren unter spitzen Winkeln vom Arcus, und von einander bogenförmig nach auf- und 
lateralwärts. Die Subelavia sinistra verläuft weniger, die 5. dextra aber mehr gekrümmt. 
Die Subclavia sinistra steigt 2— 3° lateralwärts von der Trachea und dem Oesophagus, 
mit ihrer unteren Hälfte bis 3” Abstand vom Arcus art. pulm. comm. entfernt, bogenförmig 
nach aufwärts und links. Die Subclavia dextra aber steigt hinter der Trachea und 
dem Oesophagus nach aufwärts und rechts. Jede Subclavia giebt 2, — 3” medianwärts 
die Arteria vertebralis und alle die Aeste und Zweige ab, die die Subclavia normaler Fälle 
absendet. Die Subelavia dextra ist bis zur Lücke zwischen den Mm. scaleni 1'/”, die 5. 
sinistra bis zur selben 1” lang. Jede beider ist 2” dick. 

Die Arteria axillaris und die übrigen Arterien beider oberen Extremitäten 
verhalten sich normal. 

Die Aorta descendens hat einen gewöhnlichen Verlauf. Die Aeste ihrer Pars tho- 
racica verhalten sich normal. Unter den Aesten der Pars abdominalis sind aber einige 
anomal. So entstehen die Art. coronaria ventriculi sinist. sup. mit der Art. lienalis 
von dem einen, die Art. hepatica und Art. mesenterica superior von einem anderen ge- 
meinschaftlichen Aste. So entspringen die Art. renales viel tiefer als gewöhnlich, 
erst über der Theilung jener Pars abdominalis in die Art. iliacae, und zwar die А. г. dex- 
tra 1” darüber von der vorderen Wand, die А. г. sinistra von der linken Seitenwand der- 
selben. Unter den Aesten und Zweigen der Art. iliacae bieten nur die Art. umbilicales 
Abweichungen dar, indem die A. umbilicalis sinistra ganz fehlt und nur die A. u. dex- 
ira vorhanden ist. 

Unter den Venen sind nur die Stämme der Vena cava superior, der V. azygos 
und der Г. cava inferior anomal. 

Die Venae anonymae vereinigen sich nicht wie gewöhnlich, sondern jede mündet 
für sich in das Atrium dextrum des Herzens. Es tritt somit der Fall ein, den man Dupli- 
eität der Vena cava superior zu nennen pflegt. Die Vena cava superior deætra (C.) hat 
einen der gewöhnlichen Cava superior analogen Verlauf, und eine gleiche Einmündung in 
das Atrium dextrum. Die Vena cava superior sinistra (C’.) steigt schief nach einwärts 
herab, liegt dann auf der linken Seite des Arcus der Art. pulmonalis communis, später vor 
der Art. pulmonalis sinistra und den Venae pulmonales sinistrae an der linken Seite des Sinus des 
Atrium sinistrum hinter seiner Anricula, krümmt sich dann um den Stamm beider linken 
Venae pulmonales zur hinteren Wand des Atrium sinistrum, verläuft an dieser quer nach 
rechts und mündet in das linke Ende der hinteren Wand des Atrium dextrum. 


MissBILDUNGEN. 25 
Wie auf der rechten Seite eine Vena azygos dextra (f.) in die Vena cava superior 
dextra in deren hinterer Wand mündet, indem sie früher einen Bogen über dem rechten 
Bronchus bildet, eben so mündet auf der linken Seite eine Vena azygos sinistra (f’.), 
nachdem sie einen Bogen über dem Bronchus sinister und der Art. pulmonalis sinistra gebil- 
det hatte, in die hintere Wand der Vena cava superior sinistra. Es ist somit in unserem 
Falle auch ein Verhalten zugegen, das man als Duplicität der Vena azygos bezeichnet. 
Die Venae iliacae communes vereinigen sich erst in der Gegend des Abganges des 
gemeinschaftlichen Astes für die Art. hepatica und mesenterica superior aus der Aorta abdo- 
minalis, und nachdem jede die Vena renalis und suprarenalis der entsprechenden Seite auf- 
genommen hatte, zur Vena cava inferior. Dabei geht die Г. 1. sinistra unter jenem Ar- 
terienaste vor der Aorta nach rechts zur Vereinigung mit der У. г. dextra hinüber. 


Ye 


Kanalartige Spalte im Septum ventriculorum des Herzens über sei- 


ner Spitze bei einem an Tyanose verstorbenen 36jährigen 
Menschen. 


In einer der Kliniken, später in einer der Abtheilungen des Hospitales der medico- 
chirurgischen Akademie, in St. Petersburg lag ein 36jähriger Soldat, S. J., an Cyanose 
vom 21. April bis 10. Mai 1858 krank. Derselbe starb an zuletzt genanntem Tage. 

Die eingesandte Krankengeschichte enthielt über das, worüber ich gern Aufschlüsse 
erhalten hätte, nichts. Ich kann sie wegen Mangelhaftigkeit überhaupt nicht mittheilen. 
Nach anderweitigen Erkundigungen soll der Kranke früher nie cyanotisch gewesen sein. 
Seit 10 Jahren litt er aber an Dyspnoe, was man auf einen Schlag schob, den er damals 
auf die Brust erhalten hatte. Derselbe war in dieser Zeit Koch und hatte sich sehr dem 
Trunke ergeben. 

Die Leiche sollte, aus mir unbekannten Gründen, nicht secirt werden. Ich drang auf 
die Section, welche folgende Resultate lieferte: 

Der Körper ist robust, oedematös; das Gesicht von bläulicher Färbung. 

Die Sinus der Dura mater, die Gefässe der Pia mater strotzen vom schmierigen Blute. 
Das Gehirn ist sehr blutreich, schlaff, zähe. Die Hirnhöhlen enthalten eine mässige Quan- 
tität Serum. 

Die Venen des Halses strotzen von Blut. 

Beide Lungenflügel sind stark emphysematös. Am äusseren Umfange des oberen linken 
Lappens ist eine narbige Einziehung und darunter ein verkreideter Tuberkel zu sehen. Der 
rechte Lungenflügel ist ganz, der linke rückwärts fest mit der Brustwand verwachsen. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 4 


26 WENZEL GRUBER, 


Im Peritonealsacke ist eine bedeutende Menge Serum enthalten. Die Schleimhaut des 
Magens ist hypertrophisch und zeigt an dessen Grunde eine Ёгозюп. Die Schleimhaut des 
Darmkanales ist normal. Die Leber, die Milz und das Pancreas sind nicht verändert. 

Die Harn- und Geschlechtswerkzeuge verhalten sich normal. 

Das Herz ist länger, besonders breiter und an seiner Spitze stumpfer als gewöhnlich. 
Es ist schlaff, seine Höhlen sind dilatirt, seine Wände eher dünner als gleich dick denen 
eines normalen Herzens. Dasselbe ist 5,” Par. M. lang, am Kammertheile bis 4” breit, 
an den Seitenwänden der rechten Kammer 1, — 2”, an den Seitenwänden der linken 
Kammer bis 4”, am Septum ventriculorum 4— 5" dick. Das Septum atriorum ist vollstän- 
dig. Die Vorkammern, die Kammern, ihre Ostia, Klappen sind ganz normal. Die grossen 
Gefässe sind normal. Die Klappen sind sufficient. Der Ductus arteriosus Botalk ist obliterirt. 

Schon glaubte ich auf das Auffinden einer Krankheit oder eines Bildungsfehlers des 
Herzens und der Gefässe, die Cyanose bedingen oder bedingen sollen, verzichten zu müssen, 
als ich bei ganz genauer Untersuchung des Septum ventriculorum auf eine Communication 
beider Kammern stiess. Bei der Untersuchung der Maschen der von starken Balkenmus- 
keln gebildeten Netze des Septum ventriculorum in der rechten Kammer über der Herzensspitze 
mit einer Sonde, konnte ich sie aus weiteren in engere Maschen und endlich durch eine 
kanalartige Spalte bis in die linke Kammerhöhle führen. Nach Durchschneidung der 
oberflächlichen Balkenmuskelnetze in der rechten Kammer sieht man gegen den hinteren 
Rand des Septum, 6” über der Herzensspitze, eine enge spaltenförmige Oeffnung als rech- 
ten hinteren Eingang in die kanalartige Spalte. Die kanalartige Spalte durchdringt 6" 
über der Herzensspitze von hinten nach vorn und von rechts nach links das Septum, um 
mit einer Oeffnung als linker vorderer Ausgang in einer engen Masche des Balkenmuskel- 
netzes der linken Kammerhöhle 6” über der Herzensspitze auszumünden. Die kanalar- 
tige Spalte ist 6— 7” lang und so weit, dass sie eine Sonde von 1',” Durchmesser 
fassen kann. Das Herzfleisch ist hier nicht erkrankt, auch ist keine Spur eines etwaigen 
Risses nachzuweisen. Die kanalartige Spalte ist daher ein angeborener Bildungsfehler. 

Die Frage «ob die kanalartige Spalte eine der Cyanose bedingenden Ursachen 
gewesen sei oder nicht» möchte ich eher mit «Nein» als mit«Ja» beantworten. Die Spalte 
in unserem Falle ist wohl viel zu eng und durchdringt viel zu schief das Septum, als dass 
sie eine zur nachtheiligen Vermischung beider Blutmassen genügende Blutmenge hätte 
durchlassen können. Diess ist um so mehr anzunehmen, als nach Rokitansky Mangel- 
haftigkeit des Septum ventriculorum Cyanose nicht bedingen muss. 

Als Ursache der Cyanose in unserem Falle würde somit nur noch das Lungenemphy- 
sem übrig bleiben. . 


MissRILDUNGEN. 7 


УТ. 


Fälle einseitigen Nierenmangels bei Erwachsenen. 


Wahrer einseitiger Nierenmangel bei übrigens wohlgebildeten Individuen 
ist bisweilen beobachtet worden. Es scheint, dass derselbe dennoch nur selten vorkomme, 
namentlich nur selten bei Individuen, welche ein höheres Lebensalter erreicht haben, an- 
getroffen werde. Mir wenigstens sind seit 17 Jahren nur zwei bis drei Fälle mit einseitt- 
gem Nierenmangel bei Männern vorgekommen. 

Wegen der Seltenheit dieses Mangels bei erwachsenen und anderweitig nicht oder 
scheinbar nicht missgebildeten Individuen, nehme ich keinen Anstand, die von mir beob- 
achteten Fälle zu beschreiben. 


1.Fall. 


Linkseitiger Nierenmangel bei einem 40jährigen Manne. 


In das anatomische Institut der medico-chir. Akademie in St. Petersburg wurde i. J. 
1850 die Leiche dieses Mannes gebracht, der im Hospitale für Arbeiter an Lungenentzün- 
dung gestorben war. Die Leiche wurde wegen ihres guten Aussehens zur Präparation für 
meine topographisch-anatomischen Vorlesungen bestimmt. Da ich aber bald vom linksei- 
tigen Nierenmangel mich überzeugte, so stand ich von der Präparation zur Vorlesung ab, 
und benutzte sie einzig und allein zur Ausmittelung der Art und Weise des genannten 
Defectes. 

Die linke Niere und der linke Harnleiter fehlten vollständig. Von irgend 
einem Rudimente derselben war keine Spur. Die linkseitigen Nierengefässe fehlen 
auch vollständig. Vorhanden sind: die rechte Niere, die beiden Nebennieren und der 


rechte Harnleiter. 
Die rechte Niere hat die gewöhnliche Lage. Sie reicht bis zur Höhe des oberen 


Randes der rechten 11. Rippe und des oberen Randes des 12. Brustwirbels aufwärts und 
steht abwärts 1%," vom Kamme des Darmbeines entfernt. Sie hat eine Länge von 4", 
eine Breite von 2” und eine Dicke von 1". Sie kann somit grösser als die gewöhnlicher 
Fälle nicht angenommen werden, obgleich beginnender Morbus Brightu ihrer Textur nicht 
zu verkennen ist. Ihre Gestalt, die Lage ihres Hilus weicht nicht von jener der Nieren 


gewöhnlicher Fälle ab. 

Das rechte Nierenbecken ist normal. Der rechte Harnleiter ist auch normal 
bis hinab zur Kreuzung mit den Vasa ihaca; von, da aber bis И” von seiner Einsenkung in 
die Harnblase hier und da erweitert. Die der Harnblase zunächst gelegene Erweiterung 
hat И” im Durchmesser. Das genannte , lange Endstück ist wieder verengert. Er durch- 
dringt wie gewöhnlich die Blasenwand und mündet an der rechten Seite und an der ge- 


wöhnlichen Stelle des Grundes in die Harnblase. 


* 


28 WENZEL GRUBER, 


Die rechte Nebenniere ist so wie im gewöhnlichen Zustande beschaffen. 

Die linke Nebenniere liegt am Lendentheile des Zwerchfelles, entsprechend der 
unteren Hälfte des letzten Brustwirbels, dem letzten Lendenwirbel und der Region des 
oberen Randes der letzten Rippe, von der Mittellinie eben so weit entfernt als die rechte, 
schief von hinten, aussen und oben nach vorn, innen und unten. In dieser Richtung ist sie 
2" lang, in der von oben nach abwärts 1'/% breit. An dem abgerundeten, äusseren hinte- 
ren oberen Ende besitzt sie einen ähnlichen Eindruck, wie die rechte am unteren inneren; 
an dem inneren vorderen unteren Ende erscheint sie fast quer abgeschnitten. Sie hat eine 
länglich runde Gestalt und zwei Flächen, ist platter als die rechte. 

Die rechten Nieren- und Nebennierengefässe verhalten sich so, wie sie auch 
in anderen und gewöhnlichen Fällen sich verhalten können. Es sind nämlich zwei Nie- 
renschlagadern da, eine hintere grössere und eine vordere kleinere. Erstere ent- 
steht wie die einfache normaler Fälle an gewöhnlicher Stelle von der Aorta abdominahs. 
Letztere geht vor dieser von dem vorderen, seitlichen Umfange der Aorta abdominalis ab, 
theilt sich in zwei Aeste, wovon der eine für die Niere als deren überzähliger Ast be- 
stimmt ist, der andere als mittlere Nebennierenschlagader, die sonst unmittelbar aus 
der Aorta abdominalis entspringt, zur Nebenniere verläuft. Die Nieren- und Nebennie- 
ren-Blutadern verhalten sich normal. 

Die linken Nebennierengefässe bestehen aus einer Nebennieren-Schlagader und 
einer Nebennieren-Blutader. Die Nebennieren-Schlagader entspringt vom vorderen 
seitlichen Umfange der Aorta abdominalis, gegenüber dem Ursprunge der überzähligen vor- 
deren rechten Nieren-Schlagader. Sie verläuft quer nach links, liegt mehr nach ab- und 
rückwärts als die entsprechende Blutader, und verliert sich zuletzt an der vorderen und 
besonders an der hinteren Fläche der Nebenniere und in dem diese umgebenden fetthalti- 
gen Bindegewebe. Dieselbe ist 1” lang und %—°/," dick. Sie entspricht der Art. supra- 
renalis media $. aortica gewöhnlicher Fälle. Die Nebennieren-Blutader kommt aus dem 
vorderen Ende der Nebenniere, verläuft in etwas schiefer Richtung von links nach rechts 
und abwärts vor der Aorta abdominalis zur Vena cava inferior, um an deren linkem Umfange 
und tiefer unten als die rechte Nieren-Blutader einzumünden. Die Richtung ihres Ver- 
laufes ist eine von der gewöhnlicher Fälle etwas verschiedene. Dieselbe ist 1°,” lang, 
2 — 3” 4. 1. zweimal weniger dick als die rechte Nieren-Blutader. 

Die Harnblase hat eine Länge von 5”, am Grunde eine Breite von 4", allmälig 
gegen den Scheitel eine solche von bis 3” und eine Dicke von 2'/”. Ihr Grund ist rechts, 
d. i. an der Seite der Einmündung des einzigen Harnleiters als eine stumpf zugespitzte und 
mächtige Ausbuchtung ausgezogen, von welcher die rechte Wand in schiefer Richtung 
zum Scheitel aufsteigt. Die linke Blasenhälfte ist grösser als die rechte, ihr fehlt die 
Grundausbuchtung, sie ist gleichförmiger weit als die rechte und hat eine steil aufstei- 
gende Seitenwand. Sie gleicht einer weiblichen Harnblase, welcher die linke Grundaus- 
buchtung mangelt. Der solide Urachus liegt in einer ungewöhnlich breiten Bauchfellfalte 


MisSBILDUNGEN. 29 


und bildet damit nicht nur ein ungewöhnlich breites, sondern auch ein ungewöhnlich star- 
Кез Ligamentum suspensorium. Er entsteht °/, unterhalb dem Scheitel und '/” von der Mit- 
tellinie nach rechts gerückt von der vorderen Blasenwand. Die mittlere Längsfaserportion 
der äusseren der drei Schichten der Muskelhaut verläuft von der vorderen Blasenwand zur 
hinteren um den rechten Umfang des Scheitels. Im Blasengrunde ist nur eine einzige, 
d. i. die rechte Harnleiteröffnung zu sehen, die an gewöhnlicher Stelle in der rechten 
Hälfte des Blasengrundes sitzt. Da nur ein Harnleiter, d. i. der rechte, durch die Blasen- 
wand dringt, so ist auch nur die rechte Harnleiterfalte zugegen; da nur die Blasen- 
öffnung des rechten Harnleiters zugegen ist, so ist auch nur der rechte Schenkel des 
Trigonum vesicae Lieutaudii vorhanden, welcher, wie gewöhnlich, ‚schief nach ein- und vor- 
wärts zum Eingange in die Pars prostatica urethrae sich fortsetzt, aber sehr entwickelt ist. 
Die linke Harnleiteröffnung, die linke Harnleiterfalte und der linke Schenkel 
des Trigonum Lieutaudii fehlen vollständig. 

Die Harnröhre ist normal. Der Colliculus seminalis der Pars prostata hat auf sei- 
ner Höhe die gewöhnlichen drei Oeffnungen. Allein die des linken Ductus ejaculato- 
rius ist sehr verengt, die des rechten Ductus ejaculatorius und die des kleinen We- 
ber’schen Organ’s (Vesicula prostatica) sind auffallend weit, letztere ist spaltenförmig 
und ein- bis zweimal grösser als die anderer Fälle. 

Unter den Geschlechtstheilen zeigen einige davon Abweichungen. So ist der 
linke Hode in Folge eines chronischen Hydrocele grossentheils verödet; der linke Sa- 
mengang bis zum Ductus ejaculatorius obliterirt und in einen sehr dünnen Faden umge- 
wandelt; die linke Samenblase bis auf ein kleines Rudiment verkümmert; der linke 
Ductus ejaculatorius zwar durchgängig, aber ungemein verengert; der rechte Samen- 
gang an seiner Zusammenmündung mit der Samenblase ungewöhnlich erweitert; die rechte 
Samenblase 3” lang, der rechte Ductus ejaculatorius sehr ausgeweitet. 

Unter den übrigen Organen zeigen die meisten keine Abweichung. Pathologisch ver- 
ändert sind die Lungen und die Milz; jene sind hepatisirt, diese ist zu einem mässig 
grossen und verhärteten Tumor degenerirt. Pneumonia war die Todesursache. 


II. Fall. 


Linkseitiger Nierenmangel bei einem 35jährigen Manne. 


Am 7. Februar 1855 kam die Leiche dieses Mannes, der plötzlich gestorben war, 
zur gerichtlichen Section, die im anatomischen Institute der medico-chir. Akademie vor- 
genommen wurde. Bei der Untersuchung der Bauchhöhle vermisste man in der linken 
Nierenregion die Niere. Der damalige Professor der gerichtlichen Medicin, Eug. Pelikan, 
liess mich zur Section rufen, um zu untersuchen, wie es sich mit der linken Niere ver- 
halte. Prof. Pelikan stand von der Section der Harn- und Geschlechtsorgane ab, und 
überliess mir diese zur weiteren Untersuchung. 


30 WEnzEL GRUBER, 


Die Resultate meiner Untersuchung sind folgende: 


Die linke Niere und der linke Harnleiter fehlen vollständig. Zugegen sind 
die rechte Niere, beide Nebennieren und der rechte Harnleiter. 


Die rechte Niere liegt an gewöhnlicher Stelle. Sie ist 6” lang, am oberen Drittel 
3", am mittleren und unteren Drittel 2%” breit und 1%" dick. Sie ist somit vergrössert, 
und zwar in Folge des mehr als im I. Falle vorgeschrittenen Morbus Brighti. 

Beide Nebennieren liegen an gewöhnlicher Stelle, sind eher kleiner als die nor- 
maler Fälle. 


Von linken Nierengefässen ist keine Spur vorhanden. 


Das rechte Nierenbecken ist vergrössert, namentlich sehr lang. Der rechte 
Harnleiter ist an verschiedenen Stellen 2/,— 4” weit. Er senkt sich an gewöhnlicher 
Stelle in die rechte Hälfte des Harnblasengrundes ein. 


Die Harnblase ist kegelförmig, von vorn nach hinten nur etwas comprimirt. An 
der rechten Seite ihres Grundes fehlt eine Ausbuchtung, ihre linke Seite ist etwas mehr 
gewôlbt als die rechte. 


Der rechte Hode ist vergrössert, der linke verkleinert. Der linke Nebenhode 
ist bis auf seinen Kopf verkümmert. Der rechte Samengang und die rechte Samen- 
blase sind ebenfalls vergrössertt. Vom linken Samengange und der linken Samen- 
blase existirt auch nicht eine Spur. 


Acutes Lungenoedem wurde als Ursache des Todes aufgestellt. 


Die Unmöglichkeit ein Nierenrudiment mit oder ohne ein solches des Harnleiters auf 
irgend einer Seite als Folge von Bildungshemmung aufzufinden; die Unmöglichkeit ein 
Nieren- oder Harnleiterrudiment als Folge einer Atrophie bedingenden Krankheit nachzu- 
weisen; der Mangel der linkseitigen Nierengefässe und der Abgang jeder Spur irgend wel- 
cher dagewesener, später aber obliterirter Gefässe; endlich das Fehlen der linkseitigen 
Harnleiteröffnung in der Harnblase und des linken Schenkels des Trigonim Lieutaudü spre- 
chen für wahren und vollständigen einseitigen Nierenmangels in beiden Fällen. 


Die bemerkenswerthen Veränderungen, welche der Hode, Nebenhode, der Samen- 
gang und die Samenblase der linken Seite in beiden Fällen erlitten haben, können allerdings 
mit dem linkseitigen Nierenmangel in keinem Zusammenhange stehen. Im I. Falle 
sind sie durch das Hydrocele, welches Atrophie und Obliteration bedingte, erklärt; im II. Falle 
hat man es mit wirklichen Defecten zu thun. Sind sie nur reine Zufälligkeiten? 

Die Granularentartung der vorhandenen Niere in beiden Fällen scheint zu be- 
weisen, dass diese, in Folge der Uebernahme der Function der fehlenden Niere, mit der 
Zeit leiden müsse. f 


MissBILDUNGEN. 31 


IH. Fall. 


Rechtseitiger Nierenmangel bei einem Manne. 


Ende des Jahres 1852 fand ich bei einem Manne die linke Niere mit einem Harn- 
leiter. Zu dieser gingen zwei Arterien. Sie war vergrössert, 6° 8” lang. Die rechte 
Niere vermisste ich. An ihrer Stelle fand ich Fett. Beide Nebennieren waren zugegen. 

Diese wenigen in meinen Tagebüchern über diesen Fall aufgezeichneten Bemerkun- 
gen lassen schliessen, dass es mir nicht gestattet war, ausreichende Untersuchungen darü- 
ber vorzunehmen. Sie sind unzureichend, um zu bestimmen, ob der Nierenmangel wirk- 
lich ein angeborener war. Es muss desshalb unentschieden bleiben, ob dieser Fall hierher 
zu rechnen sei, oder nicht. 


УП. 


Fälle tiefer Lage der rechten Niere bei Erwachsenen. 


Angeborene tiefe Lage der rechten Niere habe ich in letzterer Zeit in zwei 
Fällen bei Männern beobachtet. 


I. Fall. 


Lage der rechten Niere über dem Beckeneingange bei einem alten Soldaten. 


Im November 1858 benutzte ich die Leiche dieses Mannes zu meinen Vorlesungen 
über Splanchnologie. Bei der Präparation fand ich die linke Niere und die beiden Neben- 
nieren an den gehörigen Orten. In der rechten Nierenregion vermisste ich die Niere. 

Die rechte Niere lag im Beckeneingange, und zwar in dem Winkel, den der rechte 
M. psoas major mit dem Lendenstücke der Wirbelsäule bildet. Dieselbe reichte bis zum 
Ligamentum intervertebrale zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel aufwärts, bis 
unter das Promontorium abwärts, und an dem vierten und fünften Lendenwirbel bis zur Me- 
dianlinie einwärts. Sie bedeckte die Газа vliaca communia, den Anfang der Газа tliaca ex- 
terna und interna und die Vena cava inferior. Durch Hydronephrose ist dieselbe bei fast gänz- 
lichem Schwinden ihrer Substanz zu einem ovalen 3%, — 4” langen Sacke entartet, der an 
dem unteren Drittel seiner vorderen Fläche (Stelle des Hilus renalis) in das Nierenbecken 
sich fortsetzte. 

Der rechte Harnleiter mit dem Nierenbecken hatten eine Länge von+7'. 

Diese rechte, zu einem Sacke entartete Niere erhielt zwei Arterien, deren geringer 
Durchmesser durch Umwandlung der Niere in einen Sack bedingt wurde. Die obere davon 


82 WENZEL GRUBER, 


entsprang von der Aorta abdommalis, Ÿ!" unter dem Ursprunge der Art. mesenterica inferior. 
Die untere entstand 4” unter der ersteren von der Aorta abdominalis und "/ über deren 
Theilung in die Art. 1hacae communes. Erstere verlor sich im oberen Ende des Sackes, 
letztere in seiner hinteren Wand. Die Vene mündete in die Vena cava inferior. 


IL Fall. 


Lage der rechten Niere in der Beckenhöhle bei einem Soldaten mittleren 
Alters. 


Bei der pathologisch-anatomischen Section der Leiche dieses Mannes, welche von 
Dr. Besser im Mai 1859 vorgenommen wurde, stiess man auf eine anomale Lage der 
rechten Niere. Dr. Besser setzte mich davon sogleich in Kenntniss, und unterliess auf 
mein Ersuchen die Fortsetzung der Section. 

Ich nahm die Injection der Gefässe vor meiner Untersuchung vor, und werde die 
Resultate der letzteren im Nachstehenden mittheilen: 

Die linke Niere hat die gewöhnliche Lage. Ihre Gestalt ist fast normal, nur be- 
findet sich der Hilus mehr an der vorderen Fläche. Ihre Länge beträgt 4, ihre Breite 
2, ihre Dicke 8”. Dieselbe zeigt keine pathologische Veränderung. 

Der linke Harnleiter ist 10% — 11" lang. 

Beide Nebennieren befinden sich am gehörigen Orte. Somit ist die rechte Neben- 
niere mit der entsprechenden Niere nicht mit in das Becken hinabgerückt. 

Die rechte Niere hängt an den Nierengefässen wie eine Frucht an ihrem Stiele. 

Sie liegt im rechten hinteren Seitenwinkel des Einganges und der oberen Hälfte der 
Beckenhöhle vor der rechten Symphysis sacro-ihaca, hinter der Harnblase rechts neben dem 
Rectum, vor dem Promontorium und dem Kreuzbeine, über die Medianlinie des letzteren 
hinaus nach links, ausserhalb dem Bauchfellsacke. Ihr oberes Ende liegt 1°,” unterhalb 
der Theilung der Aorta abdominalis in die Art. iliacae communes, medianwärts von dem Ur- 
sprunge der Art. заса externa und dem M. psoas, vor der Theiluug der Art. ihaca 
communis dextra in ihre beiden Aeste und vor der unteren Hälfte des rechten Seitentheiles 
des Körpers des 5. Lendenwirbels. Ihre vordere Fläche ist vom Bauchfelle überzogen und 
durch die Excavatio recto-vesicalis des Bauchfellsackes von der Harnblase geschieden. Die 
Mitte ihrer hinteren Fläche stösst an die Газа hypogastrica. 

Dieselbe hat die Gestalt eines ovalen, von vorn nach hinten comprimirten Körpers. 
Ihr Hilus befindet sich in der Medianlinie der oberen Hälfte der vorderen Fläche. 

Sie erstreckt sich von der Mitte der Höhe des Körpers des 5. Lendenwirbels bis zum 
2. oder 3. Kreuzbeinwirbel abwärts, ist 4” lang, 2%” breit und ,” dick. 

Beim Aufblasen der Harnblase wird sie um die Höhe eines halben Zolles aus der 
Beckenhöhle allmälig herausgeschoben, ist somit eine Art beweglicher Niere. 

Ihre Substanz ist normal. 


MisSBILDUNGEN. 33 


Der rechte Harnleiter verläuft vor der Medianlinie der unteren Hälfte der Niere 
zur Harnblase und ist 5” lang. 

Die rechte Niere besitzt eine Arterie und eine Vene. Die Art. renalis dextra 
hat einen Durchmesser von 3”. Sie entspringt aus dem Winkel der Theilung der Aorta 
abdominalis in die Art. iliacae communes, oder theilweise von da und theilweise von der Art. 
iliaca communis dextra vor und rechts von der Art. sacralis media, die von der hinteren 
Seite der dorta abdominalis über ihrer Theilung, oder von dem Anfange der Art. ihaca com- 
munis sinistra entsteht, und auf der vorderen Fläche des Kreuzbeines neben der Median- 
linie nach links ihren Verlauf fortsetzt. Sie verläuft von da fast vertikal zur Niere ab- 
wärts und theilt sich 4° über deren oberem Ende in zwei Aeste, einen vorderen und 
einen hinteren. Der vordere etwas stärkere Ast begiebt sich zum Zilus der Niere, 
theilt sich %, unter seinem Ursprunge aus dem Stamme in zwei starke Zweige, einen 
äusseren und inneren, wovon jener am äusseren Rande, dieser am inneren Rande des 
Hilus, in mehrere Nebenzweige getheilt, in die Niere sich einsenkt. Der hintere Ast, 
welcher nur 4— 6” lang ist, dringt in das obere Ende der Niere ein. Die Vena renalis 
dextra kommt mit ihren Zweigen, die vor der Arteria liegen, aus dem Hilus, verläuft mit 
ihrem Stamme medianwärts von der Arteria aufwärts und mündet in die Vena 1liaca com- 
munis sinistra 9— 10° unterhalb der Vereinigung dieser mit der У. г. с. dextra zur Vena 
cava inferior. Die Art. renalis dextra ist bis zum oberen Ende der Niere 1%, bis in den 
Hilus renalis 2°), — 3" lang und 3” dick. Die Vena renalis dextra hat etwa eine Länge 
von 2” und ist an ihrer Einmündung nur 3” dick. 


VIH. 


Zwei Fälle von Thoracogastrodidymus. 


Eine der Varietäten der Zwillingmissbildungs-Art «Thoracogastrodidy- 
mus» hat folgende Kennzeichen: 

«Zwei Köpfe, zwei mehr oder weniger geschiedene Hälse, seitlich verschmolzene ein- 
fache, aber sehr breite Brust, Bauch und Becken, zwei obere und zwei untere Extremitä- 
ten, bei normaler Flächenansicht des ganzen Körpers, und normalem Baue der Köpfe, 
Hälse und der Extremitäten». 

Ich hatte Gelegenheit, einen männlichen Fall dieser zwar bekannten, aber seltenen 
Varietät in Prag 1844 zu zergliedern. Die Resultate seiner Zergliederung habe ich in 
einer ausführlichen Monographie veröffentlicht '). 


1) W. Gruber. Anatomie eines Monstrum bicorporeum «eigenthümlicher Thoracogastrodidymus». Prag 
1844, 4°. Mit 6 Tafeln. 


Mémoires de l’Acad. Пир. des sciences, УПе Serie. к 


34 WENZEL GRUBER, 


Seit dieser Zeit habe ich, und zwar in St. Petersburg, noch zwei aber weibliche 
Fälle zur Zergliederung erhalten. 

Diese 3 Fälle weisen viele Gleichheiten, aber auch so manche Unterschiede 
auf. Um letztere zu erfahren, werde ich der Beschreibung des Prager Falles die der 
beiden St. Petersburger Fälle vergleichungsweise anreihen. Ich glaubte dies um so 
mehr thun zu müssen, als diese Varietät in dieser Anzahl zur allseitigen und beliebigen 
Verwendung nicht leicht einem und demselben Anatomen zu Gebote stehen dürfte. 


I. Fall. 
Weiblicher Thoracogastrodidymus. (Tab. II. Fig. 2. Tab. IV. Fig. 1—5.) 


Kennzeichen: Die der Varietät, aber ein kegelförmiger Höcker zwischen beiden 
Hälsen, einfacher After. 
Todt geboren im Mai 1858 in der Staniza Presnogor’kowskaja des 3. Linienregi- 
mentes des Sibirischen Kosakenheeres von der 42jährigen Kosakenfrau Maria Ossipowa; 
im anatomischen Institute im März 1859 angelangt. 


Arzt Kostriz sandte diese Zwillingsmisshildung nebst einem Berichte an die 
medico-chirurgische Akademie. Derselbe hatte die Zwillingsmissbildung leider schon theil- 
weise secirt, Manches zerschnitten und entfernt, was in seiner Ganzheit hätte erhalten bleiben 
müssen. Der Schnelligkeit, mit der die Section vorgenommen worden zu sein scheint, hat 
man es wahrscheinlich zu verdanken, dass Vieles übrig blieb, was noch zur Untersuchung 
geeignet war. Aus dem eingelieferten Berichte erfährt man nur Weniges. 

Bewegungen der Missbildung sollen noch im Anfange des Geburtsactes gefühlt, zuerst 
die Füsse und zuletzt die Köpfe geboren worden sein, und die Dauer der Geburt 6— 7 
Stunden betragen haben. Vor 13 Jahren soll die Mutter ein Mädchen geboren haben, 
Ob dieses normal oder missgebildet war, wird im Berichte nicht angegeben. Der Sec- 
tionsbefund, den Kostriz beifügte, laborirt an Unrichtigkeiten, muss somit unberück- 
sichtigt bleiben. Immerhin sind wir Herrn Kostriz für die Zusendung dankbar. 


Aeussere Formation. 


Die äussere Formation ist die der Varietät. Es sind zwei Brustwarzen, ein 
einfacher Nabel, einfache, normale äussere Geschlechtstheile zugegen. Die Hälse sind aber 
bis zu ihrer Basis geschieden, und am oberen Ende des Brustkorbes sitzt ein kegelför- 
miger Höcker (Tab. Ш. Fig. 2. a.), der hinten zwischen die Hälse aufwärts raget. Da- 
durch ist dieser Fall von dem Prager und dem anderen Petersburger Falle ver- 
schieden. Der kegelförmige Höcker ist von vorn nach hinten etwas comprimirt, 9" 
hoch, 1” 9” an seiner Basis breit und 1” 3” an derselben dick. Die Länge der Missbildung 


m 


beträgt 16” Par. M., die Breite in der Schulterregion derselben beläuft sich auf 6° 9”. 


MisSBILDUNGEN. 35 


Innere Formation. 


Knochen. (Tab.IV.) 


Das Skelet besteht aus: 2 normal ‘gebauten Köpfen; 2 normal gebauten Wirbel- 
säulen; 1 einfachen, aber breiteren Brustbeine; 24 Rippen, die stärker und länger sind als 
gewöhnlich; aus sämmtlichen Knochen 2 oberer und 2 unterer Extremitäten, unter wel- 
chen nur die Schlüsselbeine länger und die Hüftbeine grösser sind; ferner aus 12 interme- 
diären Rippenbögen; 2 Zungenbeinen; aus 1 intermediären Schlüsselbeine mit 1 interme- 
diären Schulterblatte. 

Die Wirbelsäulen (Fig. 1.2.) kehren ihre Flächen und Seiten so, wie die eines nor- 
malen Individiums ihre Flächen und Seiten richten. Die linke Seite der rechten Wirbelsäule 
sieht gegen die rechte der linken. Am Kreuzbeine stossen die Wirbelsäulen an einander, 
von da auf- und abwärts divergiren sie von einander. Am Halstheile sind sie durch einen 
bedeutenden Zwischenraum völlig von einander geschieden, am Brusttheile werden sie 
durch die intermediären Rippenbögen (Fig. 1. c., Fig. 2.6.) von einander gehalten, am 
Lendentheile sind sie durch quere Bänder (Fig. 1. d., Fig. 2. c.), die von den Querfort- 
sätzen der einen Wirbelsäule zu den der anderen hinüberspringen, vereiniget, am Steiss- 
‚ beintheile endlich durch einen einem halbovalen Ausschnitt gleichenden Zwischenraum 
getrennt. Nur der 8. Brustwirbelkörper der rechten Wirbelsäule ist gebrochen. 

Das einfache, aber sehr breite knorplige Brustbein (Fig. 1. a., Fig. 3. d.) hat an 
seinem Manubrium jederseits ein Schlüsselbein eingelenkt. Von dem mittleren Drittel sei- 
nes oberen, zwischen den Schlüsselbeinen 15” breiten Randes schickt dasselbe einen plat- 
tenartigen, ganz knorpligen Fortsatz (Fig. 1. «., Fig. 3. à., Fig. 4.6.) nach auf- und 
rückwärts. Dieser ist 6” hoch, an der Basis am Brustbeine 5”, gegen sein oberes 
Ende allmählig 3”, an diesem aber wieder 4”” breit, und so dick wie das Brustbein selbst. 
An seinem quer abgestutzten Rande sitzt jederseits eine Gelenkgrube zur Articulation 
mit den vorderen Gelenkköpfen des intermediären Schlüsselbeines. 

Die intermediären Rippenbögen (Fig. L.c.c.c.c.c.c., Fig. 2. b.b.b.b.b.b.) ent- 
sprechen 12 mit einander verschmolzenen Rippenpaaren, d. i. den verschmolzenen 12 lin- 
ken Rippen des rechten und den rechten 12 Rippen des linken Körpers. Jeder Rippen- 
bogen hat an jedem Ende ein Capitulum und Tuberculum, welche sich mit den Wirbelsäulen 
auf gewöhnliche Weise durch Gelenkkapseln vereinigen. Jeder Rippenbogen, mit Aus- 
nahme des untersten, ist von oben nach unten comprimirt, an seiner oberen Seite schwach 
convex, an der unteren Seite schwach concav und so gekrümmt, dass der vordere concave 
Rand nach vorn in die Brusthöhle, der hintere convexe Rand nach hinten sieht. Der hin- 
tere Rand der oberen Rippenbögen besitzt in seiner Mitte einen breiten, dreieckigen, plat- 

.tenartigen, die folgenden bis zum 10. einen dreiseitig pyramidalen, der 11. einen abge- 
stutzt vierseitigen, seitlich comprimirten Fortsatz. Der 12. Rippenbogen ist schmal mit 
vorderer concaver und hinterer convexer Fläche, an der in der Mitte ein kleiner Höcker 


* 


36 WENZEL GRUBER, 


sitzt. Die hinteren Ränder und ‘deren Fortsätze an den 10 oberen Rippenbögen sind wie 
etwas dachziegelförmig über einander gelagert. Ihre Fortsätze liegen unter einander wie 
die Processus spinosi der Wirbel. Sämmtliche Bögen sind an ihrem Körper und Fortsatze 
verknöchert. Ihre Länge nimmt von oben nach unten ab, eben so die Breite. Erstere 
varürt von 6° — 1”, letztere von 1" — 3". 

Das intermediäre Schlüsselbein (Fig. 1. b., Fig. 3. a., Fig. 4. a.) ist ein mässig 
gekrümmter (oben convex, unten concav), völlig knöcherner starker Balken, der das An- 
sehen wie das eines Röhrenknochens hat, der über der Mitte der Brustapertur und des 
oberen intermediären Rippenbogens in sagittaler Richtung liegt, und vom Fortsatze des. 
"Manubrium des Brustbeines bis zu den Processus acromiales des intermediären Schulter- 
blattes sich erstreckt. Dasselbe ist durch Verschmelzung des linken Schlüsselbeines des 
rechten Körpers mit dem rechten des linken entstanden, deren Scheidung durch einen en- 
gen Spalt zwischen den vorderen und hinteren Gelenkköpfen angedeutet ist. Man unter- 
scheidet an demselben einen Körper («), ein vorderes und ein hinteres Ende. Die vordere 
Hälfte des Körpers ist dreiseitig prismatisch mit oberer convexer Fläche und einem un- 
teren sehr scharfen Kamm. Das hintere Drittel desselben ist von oben nach unten com- 
primirt, unten convex, oben concav. Die obere Fläche besitzt gegen das vordere Ende 
eine tiefe Rinne, welche zwischen den Condyli anteriores in den Spalt des vorderen Endes 
sich fortsetzt. Jedes Ende besitzt 2 Condyli. Die Condyli anteriores (Fig. 3.,4.В. В.) 
sind von einer Seite zur anderen comprimirt, höher (3’”) als dick (1), sehr abgerundet 
an ihren überknorpelten Gelenkflächen und stärker als die hinteren. Die Condyli pos- 
teriores (Fig. 3., 4. y.y.) sind von oben nach abwärts comprimirt, breiter oder dicker i2”) 
als hoch (1%), mit platten oder schwach concaven Gelenkflächen versehen, die schief 
gegen einander gestellt sind. Die Condyli anteriores articuliren an den Gelenkgruben 
des Fortsatzes des Manubrium des Brustbeines und sind damit durch zwei schlaffe, von 
einander geschiedene Gelenkkapseln, verbunden. Die Condyli posteriores articuliren 
an den Enden der Processus acromiales des intermediären Schulterblattes, und sind damit 
durch zwei straffere von einander getrennte Gelenkkapseln vereiniget. Das Schlüs- 
selbein ist 1” 10° — 2” lang. Seine Breite in der Mitte und hinter dieser beträgt 
1— 1% und nimmt an den Enden allmälig bis 4” zu. Seine Dicke von oben nach ab- 
wärts beträgt vorn 3”, vor der Mitte 2”, an der Mitte 1',”, hinter der Mitte 1”, hinten 
1%, , wird also gegen die Enden allmälig breiter und dicker. 

Das intermediäre Schulterblatt (Fig. 2. a., Fig. 3. с., Fig. 4. c., Fig. 5.) ist durch 
Verschmelzung zweier Schulterblätter, d. i. des linken vom rechten Körper und des 
rechten vom linken Körper, entstanden. Diese haben sich an ihren äusseren Rändern und 
an den Processus coracoidei vereiniget. Dasselbe hat seine Lage am Rücken der Zwillings- 
missbildung zwischen den beiden Wirbelsäulen, hinter den oberen intermediären Rippen- 
bögen, erstreckt sich aber theilweise darüber hinaus auch aufwärts in den Zwischenraum 
der Hälse, um daselbst mit dem hinteren Ende des intermediären Schlüsselbeines dem oben 


MissBILDUNGEN. 37 


genannten kegelförmigen Höcker zur Grundlage zu dienen (Fig. 1. 2.). Es ist eine ge- 
krümmte Knochenplatte von der Gestalt eines halbirten runden Schildes mit zwei 
Flächen, zwei Rändern, zwei Winkeln und drei starken in drei lange Fortsätze endigen- 
den Kämmen. Von den Flächen ist die vordere concav, ohne Leisten (Fig. 3. c.); die 
hintere convex, mit drei Kämmen versehen (Fig. 5.). Die vordere bildet eine flache 
Grube, Fossa subscapularis communis. In ihrer Medianlinie oben besitzt sie ein Foramen 
nutritium. Die hintere ist durch die drei Kämme in vier Gruben, zwei laterale und 
zwei mediane getheilt, wovon dieersteren die Fossae supraspinatae (Fig.4.X., Fig. 5.ee.), 
die letzteren die Fossae infraspinatae (Fig. 4. л., Fig. 5.6. 6.) sind. Alle vier sind 
dreieckig, convergiren gegen den oberen Rand und die Medianlinie und werden allmälig 
enger und tiefer. Jede der lateralen hat gegen das innere Ende ein Foramen nutritium. 
Gegen das obere Ende hat die rechte mediane ein, die linke mediane drei Foramina nutri- 
ta. Kleiner sind die lateralen, grösser die medianen Gruben. Von den beiden Rändern 
ist der obere (Fig. 4. à., Fig. 5. a. a.) durch einen Fortsatz in zwei, einen rechten und 
einen linken, getheilt, deren jeder etwas schief nach aus-, vor- und abwärts verläuft, und 
ein- bis zweimal ausgebuchtet und scharf ist; der untere und seitliche (Fig. 4.e., Fig. 5.6.) 
halbkreisförmig und mit einem Randknorpel belegt, der in der Mitte 27 breit ist, und 
gegen die Winkel des Schulterblattes allmälig sich verschmälert. Die beiden Hälften des 
oberen Randes sind analog den oberen Rändern zweier normalen Schulterblätter; die bei- 
den Hälften des unteren seitlichen Randes sind analog den inneren Rändern derselben. 
Jeder der beiden Winkel (Fig. 5. y. y.) ist ein abgerundeter und fast rechter. Sie sitzen 
seitlich an der Grenze zwischen dem oberen und dem unteren seitlichen Rande und ent- 
sprechen den oberen Winkeln zweier normalen Schulterblätter. Von den drei Kämmen 
liegen der mediane (Fig. 5. e.) in der Mittellinie der hinteren Fläche, die lateralen 
(Fig. 5. d. d.) näher dem oberen Rande als der Mittellinie. Der mediane steigt gerade 
aufwärts, beginnt über dem Randknorpel niedrig, wird allmälig höher und nach rückwärts 
vorspringender, und setzt sich über den oberen Rand des Schulterblattes hinaus als mitt- 
lerer Fortsatz desselben fort. Die lateralen und noch stärkeren Kämme sind schief ste- 
hende dreieckige Platten, welche gegen das obere Iinde des medianen Kammes und gegen 
die Mitte des oberen Randes, ohne beide zu erreichen, convergiren. Sie beginnen niedrig 
am Randknorpel, werden schneller als der mediane höher und rückwärts vorspringender, 
-sind mit ihrem Rande nach auf- und rückwärts, mit ihrer vorderen Fläche nach aufwärts, 
mit ihrer hinteren Fläche nach abwärts gekehrt, und als seitliche hintere Fortsätze aus- 
gezogen. Der mediane Kamm ist gleich den verschmolzenen hinteren Lefzen der äusseren 
Ränder der Schulterblätter; die lateralen Kämme aber sind die Spinae scapularum. Von 
den drei Fortsätzen ist der mittlere (untere vordere) hakenförmig, die beiden seit- 
lichen (hinteren oberen) hornförmig. Der mittlere Fortsatz (Fig. 4. &., Fig. 5. а.) er- 
hebt sich zuerst vertikal und beugt sich dann rechtwinklig nach vorn um. Sein verti- 
kaler Schenkel ist dreiseitig prismatisch mit einer vorderen und zwei seitlichen Flächen, 


38 WENZEL GRUBER, 


sein horizontaler Schenkel aber mehr abgerundet und seitlich etwas comprimirt. Ganz 
knorplig ist der letztere, nur am oberen Ende knorplig der erstere. Der mittlere haken- 
förmige Fortsatz ist gleich den verschmolzenen Processus coracoidei её condyloider sca- 
pularum. Die seitlichen längeren und stärkeren Fortsätze (Fig. 1. В. ß., Fig. 3. =. e., 
Fig. 4. ô., Fig. 5. В. В.) sind Verlängerungen des inneren hinteren Winkels der Spinae 
scapularum, die um ihre Achse und dann hornförmig nach auf- und vorwärts gekrümmt 
erscheinen. Sie sind länglich vierseitige, am Ende abgerundete Platten, welche zuerst von 
unten nach oben und dann seitlich comprimirt sind. Ihre untere hintere Fläche, welche 
die Fortsetzung derselben an der Spina scapulae ist, wird durch Achsendrehung allmälig 
zur bleibenden äusseren, und ihr freier Rand zum concaven unteren Rande. Man kann an 
jedem einen rückwärts und aufwärts steigenden und einen nach vorwärts gekrümm- 
ten Theil unterscheiden. Ersterer ist ganz knöchern, letzterer noch knorplig. Die 
rückwärts und aufsteigenden Theile beider convergiren hinter dem mittleren Kamme 
gegen einander, ohne sich zu erreichen, und begrenzen dadurch seitlich ein kartenherz- 
förmiges Loch (Fig. 5. à. à.), durch das an der vorderen Basis der mittlere Kamm zum 
mittleren Fortsatze seinen Verlauf fortsetzt. Der vorwärts gekrümmte Theil verläuft 
parallel neben dem der anderen Seite, davon durch eine lange und enge Spalte geschieden. 
Das Ende beider Fortsätze articulirt an einer Gelenkfläche der Condyli posteriores des 
intermediären Schlüsselbeines, und ist damit durch straffere Gelenkkapseln vereini- 
get. Die seitlichen Fortsätze des intermediären Schulterblattes sind die Processus 
acromiales. ` 
Es betragen: 


Die Höhe des intermediären Schulterblattes. ..........,..... — 

« Breite « « Gicht Yan оба =. fl DK 

« « seines Randknorpels in der Mitte ................. == 2 

«tt Höhe des; mittleren Kammes. .. RER EN Senne: bis == 1%, 

« Länge jedes lateralen Kammes mit dem Processus acromialis... — 1 8 

« «des Processus acromialisallein PRE ER EM eisen“ = 9— 10 

« « des ganzen hornförmigen Theiles desselben ......... — 6— 7 

«ww «udesknorpligen Theiles: desselben. ия ее нее нь == 5 

« Breite,jedes,lateralen Kammes.... Suse наф bis = DA 

« « des knöchernen aufsteigenden Theiles des Processus acro- 
пай» эп: der Wurzel. lasst Berka — 1% 

«„.Breiteran,dem,Einde ‚desselben .... 1, 444 er следы — 9% 

« « von oben nach unten des knorpligen Theiles desselben. = 2 

« Dicke des knöchernen Theiles desselben ..,.......,.,.,... = Ya 

< « des knorpligen Theiles desselben.........,....... == 1 

« Höhe des mittleren Fortsatzes. .....,......... län — Bu 


7 1 
« «des Knorpels davon... ei... ee. Ново ва URL CE = 1% 


MissBILDUNGEN. 39 


Die Höhe des vertikalen Schenkels............. лажа =2” 
Breiterdesselben vorm mb Ma AR. И IN == 9", 
« « « ЭОС. MIDI сало ВЕ м ЛИПЫ Нав НЕЮ 
Länge desthorizontalenISchenkels nu и нь, = 
« des theilweise frei als horizontaler Schenkel vorstehenden, theil- 
weise auf dem vertikalen Schenkel aufliegenden Knorpels .... = 4, 
« Breite der Basis jeder lateralen Grube.................... ROMA: 6 
« ou «wc jederimedianen Grube. . .i........ MIE Er 18 
Höhe des herzförmigen Loches zwischen den Processus acromiales ..... — a, 
Breite desselben. N HI WR AL EE RE GAL EL Ds TE =], 


Vergleichen wir das Skelet des Petersburger Falles mit dem des Prager Falles, 
so ergeben sich folgende Unterschiede: 

1. Das intermediäre Hüftbein des Prager Falles fehlt im Petersburger vollständig, 
so dass das Becken nur aus 2 Hüftbeinen, 2 Kreuzbeinen und 2 Steissbeinen besteht. 

2. Statt des rudimentären auf dem Manubrium des Brustbeines vertikal sitzenden inter- 
mediären Schlüsselbeines des Prager Falles, das ich damals unrichtig als zweites 
Brustbein gedeutet hatte, ist im Petersburger Falle ein vollkommen ausgebildetes 
und sagittal liegendes Schlüsselbein zugegen. 

3. Statt des kleinen das rudimentäre intermediäre Schulterblatt repräsentirenden Knor- 
pels des Prager Falles ist im Petersburger Falle ein vollkommen ausgebildetes 
knöchernes intermediäres Schulterblatt zugegen. 

4. Im Prager Falle bilden nur die 8 oberen der 12 Paare medialer Rippen völlige 
Bögen, im Petersburger Falle ist aber jedes Paar derselben zu einem Bogen ver- 
schmolzen, und es sind somit 12 intermediäre Rippenbögen vorhanden. 


Muskeln. 


Darüber habe ich nur Weniges mitzutheilen, weil diejenigen Stellen, wo Verschie- 
denheiten vorkommen konnten, bereits theilweise zerschnitten waren, die übrigen Stellen 
nur normale Anordnung der Muskulatur nachwiesen. 

Die Mm. subeutanei colli mediales gehen in der Mitte in einander über, überkreu- 
zen sich vorn und hinten. 

Die Mm. sternocleidomastoidei mediales setzen sich an den Brustbeinfortsatz und 
an das vordere Drittel des intermediären Schlüsselbeines. 

Die Mm. sternohyoidei und sternothyreoidei mediales kommen vom vorderen Ende 
des intermediären Schlüsselbeines und von dem Brustbeinfortsatze. 

Die Mm. omohyoidei mediales haben statt des unteren Bauches eine lange Sehne, 
womit sie sich an den oberen Rand des intermediären Schulterblattes inseriren. 

Die Mm. scaleni mediales verbinden sich bogenförmig unter dem intermediären 
Schlüsselbeine. 


40 WENZEL GRUBER, 


Die Mm. cucullares mediales heften sich mit einer Portion an das hintere Drittel 
des intermediären Schlüsselbeines; die an das Schulterblatt sich ansetzende Portion war 
abgeschnitten. 

Die Mm. levatores scapulae mediales inseriren sich an die Winkel und an die seit- 
lichen Theile des unteren und seitlichen Randes des intermediären Schulterblattes. 

Der membranartige Muskel, welcher die Fossa subscapularis communis ausfüllt, ent- 
springt vom unteren seitlichen Rande des intermediären Schulterblattes. Seine meisten 
Fasern verlaufen quer, die oberen scheinen sich jederseits an eine auf dem mittleren Fort- 
satze liegende Kapsel anzusetzen. Er ist der М. subscapularis communis. 

Die Mm. supraspinati und infraspinati mediales, wovon nur noch die Insertions- 
theile übrig, die anderen abgeschnitten waren, inseriren sich an die Kapsel am mittleren 
Fortsatze. 

Zwischen den medialen Rändern der Steissbeine ist ein membranartiger querer 
Muskel ausgespannt. 

Wie sich noch andere Muskeln, welche an den medialen Seiten beider Körper, von 
dem Zwischenraume beider Hälse abwärts, liegen, verhalten haben, weiss ich oben ange- 
gebener Gründe halber nicht. 


Eingeweide. 


Ich kann nur über jene berichten, welche ich noch vorgefunden habe. 

Zunge, Pharynx, Oesophagus, Magen sind doppelt. Das Duodenum ist auch 
doppelt, am Ende aber verwachsen und ein durch eine Scheidewand in zwei Hälften geschie- 
denes Rohr. Wie sich der Dünndarm und der Dickdarm, mit Ausnahme des Mastdarmes, 
verhalten habe, weiss ich nicht. Der Mastdarm ist einfach. Wie sich die Leber verhalten 
habe, weiss ich nicht; sie war nach Kostriz einfach, mag aber so wie die im Prager 
Falle beschaffen gewesen sein. Milz und Pancreas sind doppelt. | 

Kehlkopf, Luftröhre, Lungen, Schiddrüse und Thymus sind doppelt. Wie im 
Prager Falle ist der rechte Ast der rechteu Luftröhre und der linke Ast der linken 
der längere und weitere. Jede Lunge hat zwei Flügel. Der rechte der rechten Lunge hat 
4, der linke derselben hat 2 Lappen. Jeder Flügel der linken Lunge hat 2 Lappen. Jeder 
Lungenflügel liegt in seinem eigenen Pleurasacke. Im Prager Falle hatte jede Lunge 
zwei Flügel, doch waren nur 3 Pleurasäcke, weil der mittlere derselben die zwei medianen 
Lungenflügel beherbergte. Die rechte Schilddrüse hat ein mittleres Horn. Jede 
Thymus besteht aus zwei Hälften. 

Nieren giebt es zwei, eine rechte für den rechten Körper und eine linke für den 
linken Körper. Letztere ist normal und liegt zur linken Seite der Wirbelsäule; erstere 
hat den Hilus an der vorderen Fläche und liegt in der Beckenhöhle zur rechten Seite 
des Mastdarmes. Der rechte Harnleiter ist 1%, der linke 3%” lang. Harnblase und 
Harnröhre sind normal. Nebennieren sind zwei, eine rechte für den rechten Körper 


MissSBILDUNGEN. 41 


und eine linke für den linken Körper. Erstere liegt zur rechten Seite der rechten Wir- 
belsäule, letztere zur linken Seite der linken Wirbelsäule an den gewöhnlichen Stellen. 
Die Geschlechtstheile sind weiblich. Sie verhalten sich denen normaler Fälle 


gleich. 


Doppeltes Herz. 


Es sind zwei Herzen, ein rechtes und ein linkes, zugegen. Sie liegen in einem 
gemeinschaftlichen Herzbeutel, der vor den medianen und zwischen den lateralen 
Pleurasäcken seine Lage hat. Beide stehen durch Verschmelzung ihrer Vorkammern 
mit einander in Verbindung; und sind so gekehrt, dass sie ihre Lungenherzen median- 
wärts zu einander, ihre Körperherzen aber lateralwärts kehren. Die Abtheilungen des 
linken Herzens haben desshalb eine normale, die des rechten Herzens aber eine ver- 
kehrte Lage. 

Das rechte Herz, welches breiter und kürzer ist als das linke, besteht nur aus 2 
Kammern, d. i. aus 1 Vorkammer und 1 Herzkammer. Aus demselben entspringt nur 
1 Arterie, in dasselbe mündet nur 1 Vene. Nur das mediale Ende der Vorkammern 
steht durch 2 Oeffnungen mit dem linken Herzen im Zusammenhange. Die Vorkammer 
ist in querer Richtung 1” breit und ist gleichbedeutend der Lungenvenen- und Hohlvenen- 
kammer eines normalen Herzens, dem das Septum atriorum, ohne Zurücklassung irgend 
einer Spur, fehlt. Dieselbe hat ausser einer vorderen lateralen (rechten) und vorderen 
medialen (linken; Auricula noch eine hintere mediale. An ihrem medialen (linken) 
Ende steht sie mit der medialen (rechten) Vorkammer des linken Herzens durch zwei 
Oeffnungen, eine vordere kleinere und eine hintere grössere, in Verbindung. Dieses 
Ende ist von dem der Vorkammer des linken Herzens theilweise durch einen vertikalen, 
seitlich comprimirten, von vorn nach hinten oben 2— 3”, unten 1” breiten und 5 — 6" 
hohen Muskelbalken geschieden, der zwischen den genannten Oeffnungen gelagert ist. 
In der lateralen (rechten, aber Lungenvenen-) Hälfte der oberen Wand ist eine Oeff- 
nung für sämmtliche Venen der rechten Lunge. In der unteren Wand, aber mehr im 
medialen (linken, aber Hohlvenen-) Theile sitzt die venöse Oeffnung (Ostium atrio-ventri- 
culare) der Herzkammer. Eine grössere Oeffnung für die Kranzvenen des rechten 
Herzens ist nicht aufzufinden. Die Herzkammer wird durch eine sehr schmale, mehr 
medianwärts als lateralwärts gelagerte Scheidewand, die aber nur bis zur Mitte ihrer 
Höhe aufwärts reicht, in zwei, oben durch eine hohe Spalte mit einander communicirende, 
ungleiche Hälften, eine grössere laterale (rechte, aber Aorten-) und eine kleinere me- 
diale (linke, aber Lungen-) Neben-Kammer abgetheilt. Dieselbe hat nur 2 Oeffnungen, 
1 Ostium arteriosum und 1 Ostium venosum. Das Ostium arteriosum liegt am latera- 
len (rechten) Winkel seiner Basis, ist mit 3 Valvulae semilunares versehen, entspricht der 
lateralen Nebenkammer und führt in den gemeinschaftlichen Stamm für die Art. pulmonalis 
und Aorta des rechten Körpers. Das Ostium venosum s. atrio-ventriculare befindet sich 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VIIC Serie. 6 


49 WENZEL GRUBER, 


medianwärts vom letzteren an der Basis der Herzkammer und am hinteren Umfange der 
6 — 7” hohen Spalte, wodurch beide Nebenkammern über dem rudimentären Septum 
ventriculorum mit einander communiciren. Dasselbe kann ein Rohr von 4%" Durch- 
messer fassen. Es ist von einer vielzipfligen Klappe umgeben, die durch viele Sehnen 
mit 8 starken und langen Musculi papillares zusammenhängen, welche an der vorderen 
Wand der Herzkammer seitlich von der Communicationsspalte ihrer Nebenkammern sitzen. 

Das linke Herz ist vollkommen normal, mit Ausnahme der Verschmelzung und 
Communication des hinteren Endes seiner medialen (rechten, Hohlvenen-) Vorkammer 
durch 2 Oeffnungen mit der Vorkammer des rechten Herzens. Seine ganze Länge beträgt 
1" 10” — 2”, wovon auf den Herzkammertheil 1” 4— 5" kommen. Seine Breite am letz- 
teren misst 1”. Es ist somit länger und schmäler als das rechte Herz. Sehr weit und 1'% 
von vorn nach hinten lang ist die mediale (rechte, Hohlvenen-) Vorkammer, weil die ein- 
fache Vena cava superior und inferior, die sie aufnimmt, die gemeinschaftlichen Venen für 
beide Körper sind, die zunächst ihr Blut in den Hohlvenensack des linken Herzens er- 
giessen. Die mediale (rechte) Vorkammer hat ausser den Communicationsöffnungen in 
das rechte Herz ein Ostium ven. cav. sup. in der oberen, und ein Ostium ven. сах. inf. in der 
hinteren Wand. Eine besondere Oeffnung für die Kranzvenen dieses Herzens war 
nicht aufzufinden. Die laterale (linke) Vorkammer hat 4 Ostia ven. pulm. der linken 
Luuge. Jede derselben hat eine Auricula, wovon die der medialen (rechten) ungewöhnlich 
gross ist. Das Septum atriorum ist vom Foramen ovale durchbohrt, das an seinem oberen, 
hinteren und unteren Umfange eine sehr dünne und schlaffe Valvula for. oval. sitzen hat. 
Beide Herzkammern sind ganz normal und durch ein vollständiges Septum ventri- 
culorum geschieden. Jede hat ein Ostium arteriosum und venosum, jenes jederseits mit 3 
Valvulae semilunares, dieses an der medialen (rechten) mit der Valvula tricuspidahs, an der 
lateralen (linken) mit der Valvula bicuspidalis versehen. Jenes führt aus der medialen (rech- 
ten) Herzkammer in die Art. pulmonalis, aus der lateralen (linken) in die Aorta. 

Vergleichen wir das doppelte Herz des Petersburger Falles mit dem des Pra- 
ger Falles, so ergeben sich folgende Unterschiede und Analogien: 

1. Die Lage beider Herzen zu einander war in beiden Fällen gleich. Das doppelte 
Herz befand:sich in beiden Fällen in einem gemeinschaftlichen Herzbeutel. Die 
Verschmelzung der Herzen war im Prager Falle vollkommener. 

2. Das rechte Herz im Petersburger Falle war breiter und kürzer als das linke; um 
die Hälfte des linken kleiner im Prager Falle. Es hatte im Petersburger Falle 
2; im Prager Falle 3 Kammern. Die theilweise in zwei getheilte Herzkammer des 
Petersburger Falles hatte 2 Ostia, 1 arteriosum und 1 ve nosum; die einfache Herz- 
kammer des Prager Falles hatte 3 Ostia, 2 arteriosa und 1 venosum. In beiden Fäl- 
len war nur 1 Ostium für die Lungenvenen des rechten Körpers zugegen. 

3. Das linke Herz im Prager Falle war beziehungsweise zum rechten viel grösser als 
im Petersburger Falle. Der Hohlvenensack verschmolz mit dem des rechten Her- 


MissBILDUNGEN. 43 


zens im Prager Falle zu einem beiden Herzen gemeinschaftlichen; im Petersbur- 
ser Falle mündete einer in den anderen durch Durchbruch ihrer Wände. Sonst 
war in beiden Fällen dieses Herz vollkommen normal. 


Gefässe. 


Von den Gefässen kann ich, aus angegebenen Gründen, nur die wichtigsten Stämme 
beschreiben. 


Der rechte gemeinschaftliche Schlagaderstamm für die Art, pulmonalis und Aorta 
krümmt sich über den lateralen (rechten) Bronchus der rechten Luftröhre zur lateralen 
(rechten) Seite der rechten Wirbelsäule, verläuft eine Strecke abwärts, geht dann vor die- 
ser medianwärts in den Wirbelsäulen-Zwischenraum, um mit der Aorta thoracica des linken 
Körpers zur gemeinschaftlichen Aorta thoracıca zu verschmelzen. Derselbe giebt über der 
hinteren und über der medialen (linken) Valvula semilunaris und den entsprechenden Sinus 
Valsalvae die beiden Art. coronariae cordis ab. Von seinem Ursprunge °/, entfernt ent- 
steht in der Gegend des unteren Endes der Luftröhre von der Convexität seines Arcus ein 
kurzer aber starker Ast, der sich in drei Zweige, 4. 1. in einen oberen, die A. carotis 
medialis dextra (sinistra des rechten Körpers), einen mittleren, die rudimentäre 4. 
subclavia medialis dextra (sinistra des rechten Körpers) und einen unteren, die A. pul- 
monalis medialis dextra (sinistra des rechten Körpers) theilt. Gleich neben dieser lateral- 
wärts entsteht die A. carotis lateralis dexira (dextra des rechten Körpers). Noch weiter 
lateralwärts, aber von der concaven Seite des Arcus entsteht die A. pulmonalis lateralis 
dextra (dextra des rechten Körpers). Weiter abwärts, aber von der convexen Seite und 
3” unter der A. carotis lateralis dextra entspringt die starke A. subelavia lateralis dextra 
(dextra des rechten Körpers). Bis zur gemeinschaftlichen Aorta thoracica ist der gemein- 
schaftliche rechte Schlagaderstamm 2°, lang und in seinem Anfangstheile bis 4” dick. 


Die linke Aorta ist bis zur Aorta thoracica communis so lang wie der rechte gemein- 
schaftliche Schlagaderstamm, aber nur 3°” weit. Sie entspringt aus der lateralen (linken) 
Herzkammer des linken Herzens, krümmt sich über den lateralen Bronchus der linken Luft- 
röhre, verläuft an der lateralen Seite der linken Wirbelsäule abwärts, geht vor dieser me- 
dianwärts und vereiniget sich zur Aorta thoracica communis mit dem rechten gemeinschaft- 
lichen Schlagaderstamm. Ueber der medialen (rechten) und der lateralen (linken) Гаю! 
semilunaris und Sinus Valsalvae giebt sie die beiden Art. coronariae cordis wie im ge- 
wöhnlichen Zustande ab. 7—8” über ihrem Ursprunge aus dem Herzen entsteht ein 
Ast von 2” Länge und 2,” Breite, der sich in zwei, 4. 1. in den Truncus anonymus und 
in die A. carotis lateralis sinistra (sinistra des linken Körpers) theilt. Die medianwärts 
von letzterer gelagerte A. anonyma ist 4” lang und spaltet sich in die A. carotis medialis 
sinistra (dextra des linken Körpers) und in die rudimentäre 4. subclavia medialis si- 
nistra (dextra des linken Körpers). Von der convexen Seite des Arcus und 4” lateralwärts 


* 


44 WENZEL GRUBER, 


und abwärts vom Aste für die A. anonyma und А. carotis lateralıs sinistra entspringt die A. 
subclavia lateralis sinistra (sinistra des linken Körpers). 

Die Aorta thoracica communis ist 1'/, lang und setzt sich durch ein einfaches Os- 
hum aorticum des Zwerchfelles in die einfache gemeinschaftliche Aorta abdomtnalis fort. 

Die gemeinschaftliche Aorta abdominalis verläuft vor der Medianlinie des Zwi- 
schenraumes der Lendentheile der Wirbelsäulen abwärts und theilt sich in zwei Aeste, 
einen rechten und einen linken, die A. iliacae communes, welche vorzugsweise als A. 
umbilicales (dextra und тата) sich fortsetzen, und ausser einigen unbedeutenden über- 
zähligen Zweigen dieselben abgeben, wie die A. vliacae communes gewöhnlicher Fälle. 
Die einfache A. coeliaca entspringt von derselben an gewöhnlicher Stelle und theilt sich 
anfänglich auch nur in 3 Aeste. Die einfache A. mesenterica superior entsteht 2/—3" 
unterhalb der ersteren. Diese giebt gleich nach ihrem Ursprunge die 1." lange A. rena- 
lis sinistra ab. Die einfache A. mesenterica inferior entspringt ', über der Theilung 
der Aorta abdominalis in die A. iliacae communes. Gleich über dem Theilungswinkel der 
Aorta abdominalis kommt von deren vorderer Wand die /, lange A. renalis dextra, an 
der die rechte Niere, wie eine Frucht am Stiele, hängt. 

Das Verhalten der Arterien für die rechte Lunge ist oben angegeben. Die Ar- 
terra pulmonalis sinistra (communis) entspringt, verläuft und theilt sich wie die eines 
normalen Falles, giebt also die Art. pulmonalis тела; sinistra (dextra des linken Kör- 
pers) die A. р. lateralis sinistra (sinistra des linken Körpers) ab und setzt sich mit dem 
weiten Ductus arteriosus Botalli zur Aorta sinistra fort. 

Die Vena cava superior und die Vena cava inferior sind einfache, beiden Körpern 
aber gemeinschaftliche Stämme. Die Vena azygos dextra geht durch ein eigenes Loch 
des Zwerchfelles neben dem Ostium oesophageum dextrum desselben und lateralwärts von 
diesem, und mündet in den Stamm der Venen der rechten Lunge. Dass die vier Venen 
der linken Lunge mit vier Ostia in die laterale Vorkammer des linken Herzens, also 
normal, münden, habe ich oben angegeben. Die vier Venen der rechten Lunge verei- 
nigen sich zu einem '% langen Stamme, welcher durch ein einfaches Ostium in die Vor- 
kammer des rechten Herzens mündet und gleich nach seinem Entstehen die Vena azygos 
dextra aufnimmt. 

Viele andere Gefässe muss ich übergehen, weil diejenigen, welche sich normal 
verhalten, unberücksichtigt gelassen werden können, diejenigen aber, welche an missgebil- 
deten Stellen vorkamen, wegen Zerschnittensein der letzteren, nicht mehr untersucht wer- 
den konnten. 

Vergleichen wir diese Gefässe des Petersburger Falles mit denen des Prager 
Falles, so ergeben sich folgende Verschiedenheiten und Analogien: 

1. Im Petersburger Falle entspringt aus dem rechten Herzen ein einfacher Schlag- 
aderstamm; im Prager Falle zwei, eine A. pulmonalis und Aorta. Der gemeinschaft- 


MissBILDUNGEN. 45 


liche Stamm des Petersburger Falles giebt dem rechten Herzen zwei Art. coronariae; 
die Aorta des Prager Falles giebt demselben Herzen nur eine Art. coronaria. 

2. Im Petersburger Falle sind in der oberen Hälfte zwei Aortae thoracicae, in der un- 
teren Hälfte eine gemeinschaftliche Aorta thoracica; im Prager Falle waren zwei 
Aortae thoracicae. 

3. Im Petersburger Falle ist nur eine Aorta abdominalis; im Prager Falle sind de- 
ren zwei etc. 

4. In beiden Fällen verhalten sich die Lungenvenen beider Körper etc. ähnlich. 

Die Nerven müssen, aus oben angegebenen Gründen, übergangen werden. 


11. Fall. 
Weiblicher Thoracogastrodidymus. (Tab. V.— VIIL) 


Kennzeichen: Die der Varietät, kein Höcker zwischen beiden Hälsen, aber eine dop- 
pelte Geschlechtsöffnung und ein doppelter After. 
Todt geboren, von der Polizei aufgefunden, zur gerichtlichen Section im April 1857 
in das anatomische Institut der medico-chirurgischen Akademie gebracht, von dem Pro- 
fessor der gerichtlichen Medicin, Eugen Pelikan, mir zur Untersuchung überlassen. 


Aeussere Formation. 


Die Köpfe sind an ihren medialen Seiten plattgedrückt, der rechte ist aber dicker 
von einer Seite zur anderen, und der linke höher als der andere. Die Hälse sind wie im 
Prager Falle nur an ihrer oberen kleineren Hälfte von einander geschieden. Der breite 
und dicke Thorax zeigt zwei Brustwarzen. Der breite Bauch weiset einen einfachen 
Nabel auf. Die rechte Rumpfhälfte ist etwas voluminöser als die linke; im Prager 
Falle war die linke die entwickeltere. Der Schamberg (Tab. VI. Fig. 1. a.) ist eine 
1” breite, flache Erhöhung, von der jederseits ein labienähnlicher Wulst (Tab. VI. 
Fig. 1.6.6.) ausgeht, der halbmondförmig gekrümmt zum entsprechenden After nach rück- 
wärts verläuft und hier verflacht endiget. Jeder Wulst ist 15” lang, 3—4” dick und 
3 — 4” vorspringend. Beide Wülste stehen vorn 3 — 4, in der Mitte ihrer Länge 7”, 
hinten 6” von einander ab. In dem Raume zwischen den Wülsten liegen die Labia та- 
jora (Tab. VI. Fig. 1. c.c.), welche hinten durch eine Commissur nicht sich vereinigen. 
In der Schamspalte sind wie bei einem normal gebauten Kinde die Labia minora(Tab. VI. 
Fig. 1. d. d.), die @lans der Clitoris, der Scheidenvorhof (Tab. VI. Fig. 1. e.), die 
einfache Harnröhrenmündung und der Scheideneingang mit einem circulären Hy- 
men (Tab. VI. Fig. 1. f.) befindlich. Dieser Scheideneingang muss zum Unterschiede 
eines zweiten, vorderen, {ntroitus vaginae ant. genannt werden. Hinter der Scham- 
spalte, diese an ihrem hinteren Theile bedeckend, hängt vom Perineum zwischen den hin- 
teren Enden der genannten Wülste ein viereckiger Hautlappen (Tab. VI. Fig. 1. h.) 


46 WENZEL GRUBER, 


nach vor und abwärts herab. Derselbe ist in querer Richtung 5”, in der anderen Rich- 
tung 4” breit und 1'% dick. Er zeigt zwei freie Flächen und drei freie Ränder. Der hin- 
tere mit dem Perineum verwachsene Rand ist davon durch eine Querfurche abgegrenzt. 
Schlägt man den Hautlappen zurück, so sieht man zwischen der vorderen Seite seiner Ba- 
sis und dem vorderen Scheideneingange eine trichterförmige Vertiefung, die in einen zwei- 
ten Scheideneingang von 1), —1', Durchmesser, der hinterer, Introitus vaginae 
post. zu nennen ist (Tab. VI. Fig. 1. g.), endiget. Der Hautlappen schützt den Eingang 
zu den hinteren inneren Geschlechtstheilen, wie die Labia den Eingang zu den vorderen. 
Hinter den Hautlappen liegt eine 10” lange, 6 — 8” breite, flache, viereckige Erhö- 
hung (Tab. VI. Fig. 1. k.), welche vorn und seitlich von Rinnen eingefasst ist, hinten in 
eine seichte Depression übergeht. In jeder Seitenrinne ist eine elliptische Spalte, 
die 3” hinter dem Hautlappen liegt und einen Cylinder von 2'/,” fasst, zu sehen. Es sind 
das die beiden After (Tab. VI. Fig. 1. e. 2.). 

Der vorliegende Fall ist somit durch zwei hinter einander liegende Scheiden- 
eingänge, die zu zwei von einander geschiedenen inneren Geschlechtsapparaten füh- 
ren, und durch zwei After, die die Endigungen zweier Mastdarme sind, ausgezeichnet. 
Dadurch unterscheidet sich derselbe von dem Prager und dem I. Petersburger Falle; 
durch den Abgang eines Höckers zwischen den Hälsen ist er ausserdem von letzterem 
verschieden. Abgesehen vom Geschlechte gleicht er übrigens am meisten dem Prager 
Falle. 


Die Messungen der Missbildung lieferten folgende Resultatate: 


Bänge amirechten Körper: .... 2% SERl.n AM AN — 14" om 
« ‹ linken CORP LE A éd. — 

Höhe der oberen Spalte (zwischen den Köpfen und Hälsen) .. = 3 6 

Länge des Rumpfes von der oberen Spalte bis zur Schamfuge = 5 3 
« « « CRE « « « zum Perineum = 6 3 
« der unteren Spalte (zwischen den unteren Extremitäten = 5 

Breite von einer Schulter zur anderen.................. и 
« der Brust von einer Achselhöhle zur anderen ........ nl! 

GrossterBreite derDrust. +... NME RER С: 6 
« CPE BAuUChES". пр тает SREERSUR Seh 9 

CGrosstern Abstandider Hüften‘. уе REN — 3 — 373 
« « CH Роспатент == NO 4 


Innere Formation. (Tab. VI. Fig. 2. 3. 4.; Tab. VII., УШ.) 


Kochen. (Tab. VI. Fig. 2. 3. 4.) 


Das Skelet besteht aus 2 Kôpfen, 2 Wirbelsäulen, 1 Brustbeine, 12 Paaren lateraler 
Rippen und 12 Paaren theilweise zu intermediären Rippenbögen verschmolzenen medialer 


MissBILDUNGEN. ДТ 


Rippen, 2 Zungenbeinen, 2 vollständigen oberen und 2 vollständigen unteren Extremitä- 
ten, 1 intermediären Schlüsselbeine, 1 intermediären Schulterblatte und 1 intermediären 
Hüftbeine. 

Die Knochen jedes Kopfes sind vollzählig und normal. 

Jede Wirbelsäule besteht aus der gewöhnlichen Anzahl normaler Wirbel, d. i. aus 
7 Hals-, 12 Brust-, 5 Lenden-, 5 Kreuzbein- und 4 Steissbeinwirbeln. Jede Wirbelsäule 
zeigt ausser den 4 normalen Krümmungen in der Medianebene noch 4 Seitenkrümmun- 
gen, d. i. die erste an ihrem Hals- und dem oberen Brusttheile, die zweite an ihrem 
Lenden- und unteren Brusttheile, die dritte an ihrem Kreuztheile und die vierte an 
ihrem Steisstheile. Die erste und die dritte kehren ihre Convexität medianwärts, also 
denselben der anderen Wirbelsäule zu; die zweite und vierte kehren ihre Convexität la- 
teralwärts. 

Nur an dem oberen Theile des Kreuztheiles, d. i. an dem ersten und zweiten 
Kreuzbeinwirbel stossen die Wirbelsäulen seitlich an einander und sind daselbst durch eine 
Gelenkskapsel vereiniget. Im Brusttheile werden sie durch die medialen Rippen, am 
3.und4. Kreuzbeinwirbeldurch dierundliche Abtheilung des intermediären Hüftbeines 
auseinander gehalten und mittelbar mit einander gelenkig vereiniget. Am Halstheile, am 
Lendentheile, am untersten Kreuztheile und am Steisstheile sind sie durch mehr 
oder weniger grosse Zwischenräume völlig von einander geschieden. Sie divergiren 
von ihrer Kreuzbeinverbindung auf- und abwärts. Der Abstand der Divergenz wird aber 
keineswegs um so grösser, je höher oben oder tiefer unten die Stellen der Wirbelsäulen 
von deren Verbindung an den Kreuzbeinen liegen. Sie entfernen und nähern sich viel- 
mehr stellenweise. Von der Verbindung bis zu den 1. Lendenwirbeln aufwärts nimmt der 
Abstand beider Wirbelsäulen allmählig zu und beträgt hier 2” 3”; von da bis zu den 2. 
und 3. Brustwirbeln nimmt der Abstand allmählig ab und misst hier 9, — 10”; von da 
bis zu den Köpfen aber wieder allmählig zu. Unter der Verbindung beträgt der Abstand 
zwischen den 3. Kreuzbeinwirbeln 1°, — 2”, zwischen den 4. Kreuzbeinwirbeln 4”, zwi- 
schen den 5. Kreuzbeinwirbeln 5”. Der Abstand steigt zwischen den 1. Steissbeinwirbeln 
plötzlich auf 1”, beträgt zwischen den 2. und 3. Steissbeinwirbeln 1” 1”, wird aber zwi- 
schen den 4. Steissbeinwirbeln wieder kleiner, 4. 1. 11”. Die Wirbelsäulen beschreiben 
durch ihre schlangenförmigen Seitenkrümmungen und deren symmetrische Stellung die 
Figur einer Lyra. Keiner der Wirbel ist gebrochen. In den beiden anderen Fällen war 
Bruch des einen Wirbels zugegen. 

Das Brustbein ist ungewöhnlich breit und noch ganz knorplig. Die medialen 
Rippen (Fig. 2. No. 1— 12) zeigen nachstehendes Verhalten: 

Sie liegen am Rücken zwischen den Brusttheilen der Wirbelsäulen, mit deren medialen 
Seiten sie durch die gewöhnlichen Gelenkskapseln und Bänder vereinigt sind, die unteren 
aber auch theilweise im Lendenzwischenraume der Wirbelsäulen. Das 1. Paar ist zu einem 
10” langen, 2°” breiten und 1,” dicken Querbalken, das 2., 3. und 4. Paar sind zu Bögen 


48 ; WENZEL GRUBER, 


von 8”, 10” und 14” Länge, von einer dem 1. Paar ähnlichen Breite und Dicke, und das 5. 
Paar ist zu einem Vförmigen knöchernen Triangel verschmolzen, dessen Schenkel 15” 
lang, 4'/, breit, 1” dick und dessen einem Fortsatze ähnliche Spitze 8” lang sind. Das 
6.Paar, wovon jedes 1" 8°” lang, 2” breit und 1” dick ist, bildet durch Verwachsung des 
6” langen Endes jeder Rippe ebenfalls einen nach oben offenen Triangel, und steht mit 
dem anderen Ende des ihm, dem 7. und 8. Paare gemeinschaftlichen Rippenknorpels in 
Verbindung, der unten in der Mitte einen Verknöcherungspunkt von der Grösse eines 
Stecknadelkopfes bestitzt. Das 7. Paar ist von zwei von einander getrennten, aber mit 
dem oberen Theile des Seitenrandes des gemeinschaftlichen Rippenknorpels vereinigten, 
ähnlich langen, breiten und dicken Rippen gebildet. Das 8. Paar ist ähnlich beschaffen, 
und am unteren Theile jedes Seitenrandes mit dem gemeinschaftlichen Rippenknorpel ver- 
einigt. Das 9. Paar besteht aus zwei isolirten Rippen von 1” 8” Länge, 1” Breite und 
Dicke, deren Knorpel durch ein kleines Zwischenknorpelstück unter einander vereinigt 
sind. Das 10.,11. und 12. Paar bestehen aus isolirten, mit Knorpeln versehenen Spitzen, 
wovon jede des 10. Paares 1” 8” lang, bis 2°” breit und 1” dick, jede des 11. Paares 1/4” 
lang, 1” dick und breit, jede des 12. Paares 9” lang 1” breit und 1’, dick ist. Die Bö- 
gen des 2.— 5. Paares sind von oben nach abwärts wie in einander geschoben. Die 
Schenkel des 5. und 6. verwachsenen Paares und alle Rippen der übrigen Paare con- 
vergiren mit ihren unteren Spitzen gegen die Medianlinie. Die zunächst obere ist in den 
Zwischenraum jeder zunächst unteren von oben nach unten eingeschoben. Unter allen 
Rippen ragen das 10. und 11. Paar am meisten abwärts.. Die isolirten medialen Rippen 
gleichen im Baue den normalen Rippen. Die Bögen, zu welchen manche Rippenpaare ver- 
schmolzen sind, haben 2 Capitula und 2 Tubercula. Die medialen Rippen bilden den mitt- 
leren Theil der hinteren Wand des Brustkorbes und mit den Enden und Knorpeln der 
unteren Paare auch theilweise den mittleren Theil der hinteren Wand des Gerüstes des 
Bauches. 

Das Verhalten der medialen Rippen in diesem Falle ist von dem der medialen 
Rippen im Prager und I. Petersburger Falle dadurch verschieden, dass im ersteren 
nur die 4 oberen Paare zu intermediären Rippenbögen und überhaupt nur die 6 oberen 
Paare mit einander verwachsen sind, während im Prager Falle die 8 oberen Paare und 
im I. Petersburger Falle sogar alle 12 Paare zu ebenso vielen intermediären Rippen- 
bögen sich vereinigt haben. 

Die Zungenbeine sind normal. 

Jede der oberen und der unteren Extremitäten hat die normale Anzahl Knochen. 

Das intermediäre Schlüsselbein (Fig. 2. No.13., Fig. 4. a.) ist ein rippenähn- 
licher, seitlich comprimirter, schwach gekrümmter, oben convexer, unten concaver, oben 
abgerundeter, unten zugeschärfter, 1” 3” langer, °° dicker, vorn 1'/,”, in der Mitte %, — 
1”, hinten vor seinem Ende 2” von oben nach unten breiter Knochenbalken. Dasselbe 
liegt in sagittaler Richtung im Grunde der oberen Körperspalte, unter der Halscommissur, 


7! 


MissBILDUNGEN. ` 49 


nur von der Haut und den Musculi subeutanei colli mediales bedeckt, 1" 3” über der oberen 
Apertur des Brustkorbes. An sein vorderes Drittel setzen sich die Musculi sternocleidomas- 
toidei mediales an, an sein hinteres Ende auch die Sehne eines tiefen Bündels vom М. cu- 
cullaris medialis dexter. Sein vorderes Ende liegt tiefer, sein hinteres höher. Jenes ist 
durch das Ligamentum sterno-claviculare an die Mitte des Manubrium des Brustbeines, dieses 
durch das Ligamentum scapulo-claviculare an das intermediäre Schulterblatt angeheftet. 

Das Lig. sterno-claviculare (Fig. 4. d.) ist ein biscuitförmiges, von vorn nach hin- 
ten comprimirtes, fast vertikal stehendes Band. Es entsteht theils am vorderen Ende des 
Schlüsselbeines, theils aus den Sehnen der Mm. sternocleidomastoidei mediales und endiget am 
mittleren Drittel des oberen Randes des Manubrium des Brustbeines. Dasselbe ist 6 — 7” 
lang, am oberen Ende 2”’, über der Mitte seiner Länge 1°”, am unteren Ende 3, — 4 
breit. Das Lig. scapulo-claviculare (Fig. 2. y.) ist ein längeres und dünneres, mem- 
branartiges Band, das von dem hinteren Ende des Schlüsselbeines zur Spitze und den Sei- 
tenrändern des intermediären Schulterblattes abwärts steigt und daselbst sich befestigt. 

Das intermediäre Schlüsselbein dieses Falles ist durch seine Lage, Gestalt, 
Grösse, Verbindung und Vollkommenheit wesentlich verschieden von dem der beiden 
anderen Fälle. Es liegt nämlich zwar sagittal wie das des I. Petersburger Falles, 
allein mehr nach aufwärts gegen die Köpfe gerückt, während es im Prager Falle vertikal 
am Brustbeine sitzt. Es ist ein rippenähnlicher, im Prager Falle aber ein dreieckiger 
und im I. Petersburger Falle ein Knochen, der das Aussehen eines Röhrenknochens 
hat. Es ist kleiner als das des I. Petersburger Falles und grösser als das des Prager 
Falles. Es steht mit dem Brustbeine und dem intermediären Schulterblatte nur mittelbar 
in Verbindung, während dasselbe im Prager Falle am Brustbeine, im I. Petersburger 
Falle sogar am Brustbeine und Schulterblatte articulirt. Es ist nur rudimentär wie 
das des Prager Falles. 

Das intermediäre Schulterblatt (Fig. 2. No. 14.) ist еше dreieckige, mit einem 
runden und Du, breiten Verknöcherungspunkte versehene, von vorn nach hinten compri- 
mirte Knorpelplatte, also nur ganz rudimentär. Dasselbe liegt unter der Haut in der 
Musculatur, hinter den zwei oberen intermediären Rippenbögen mit seiner unteren Hälfte 
und den Mm. scaleni mediales mit seiner oberen Hälfte, ' 


41 


/, unter dem hinteren Ende des 
intermediären Schlüsselbeines, daselbst durch das Lig. scapulo-claviculare und mehrere an 
dasselbe sich inserirende Muskel aufgehangen. Dasselbe zeigt eine obere Spitze, eine un- 
tere auf den zweiten intermediären Rippenbogen gestützte Basis, zwei Seitenränder, eine 
vordere und hintere Fläche. Dasselbe ist von der Spitze zur Basis etwas wellenförmig 
gekrümmt. Seine Länge beträgt 7”, seine Breite an der Basis 5”, seine Dicke /,— 11". 

Es hat Aehnlichkeit mit dem knorpligen intermediären rudimentären Schulter- 
blatte im Prager Falle, ist aber völlig verschieden von dem im I. Petersburger 
Falle, wo es aus zwei völlig ausgebildeten, aber verschmolzenen Schulterblättern besteht. 

Das intermediäre Hüftbein (Fig. 2. No. 15., Fig. 3. f.) ist eine von vorn nach 


Mémoires de l’Acad. Гор. des sciences, УПе Serie. 7: 


50 u WENZEL GRUBER, 


hinten comprimirte Platte von einer ganz eigenthümlichen Gestalt, die nicht im Ent- 
ferntesten eine Aehnlichkeit mit der eines Hüftbeines hat, obgleich dasselbe nur als Rudi- 
ment der beiden medialen mit einander verschmolzenen Hüftbeine gedeutet werden kann. 
Die Platte hat nämlich die Figur eines Kartenherzens, das seine Spitze nach aufwärts, 
seine Basis nach abwärts kehrt und an der Mitte der letzteren eine runde kleine Platte 
angewachsen hat. Die grosse obere kartenherzförmige Abtheilung («.) zeigt eine 
obere Spitze, eine untere Basis, zwei Seitenränder, die unter abgerundeten Winkeln in 
letztere übergehen, und zwei Flächen, eine vordere und eine hintere. Die Spitze ragt bis 
zur Höhe des oberen Umfanges der 3. Lendenwirbel hinauf. Die Basis ist tief ausgebuchtet 
und hat in ihrem mittleren Drittel die rundliche untere Abtheilung aufsitzen. Die 
Seitenränder sind Sförmig gekrümmt, oben concav, unten convex. Die vordere Fläche ist 
in der Richtung von oben nach unten und von einer Seite zur anderen schwach convex, 
und an den mittleren * des unteren Drittels eine Gelenkfläche; die hintere in diesen 
Richtungen seicht concav. Mit den oberen ° ihrer vorderen Fläche liegt dieselbe über 
der Kreuzbeingegend, mit dem unteren '/; derselben hinter und auf den medialen Theilen 
des 1. und 2. Wirbels beider Kreuzbeine, damit seitlich durch einen Bänderapparat ver- 
bunden. Mit ersterer Portion hilft sie den mittleren Theil der hinteren Wand des Gerüstes 
des Bauches bilden, mit der letzteren Portion die hintere Wand der Beckenhöhle verstär- 
ken. Die untere kleine rundliche Abtheilung (ß.) ist, wie gesagt, mit der Mitte der 
Basis der oberen grossen verwachsen, und an der Verwachsungsstelle etwas eingeschnürt. 
Dieselbe zeigt eine vordere kleinere, concave oder platte, in die Beckenhöhle sehende 
Fläche und eine hintere grössere, convexe Fläche, so wie einen unvollständig kreisrunden 
Rand, der unten frei, seitlich mit Gelenkflächen versehen, und daselbst auf Kosten der 
vorderen Fläche vor- und medianwärts zugeschnitten ist. Diese Abtheilung ist zwischen 
die 3. und 4. Wirbel der Kreuzbeine von hinten bis in die Beckenhöhle keilförmig einge- 
schoben und hilft die hintere Wand der Beckenhöhle und den Beckenausgang ergänzen. 
Das intermediäre rudimentäre Hüftbein liegt somit mit der oberen Hälfte seiner 
Länge über der Kreuzbeingegend hinter und im Lendenzwischenraume der Wirbelsäulen; 
mit dem oberen Theile der unteren Hälfte in der Kreuzbeingegend hinter den beiden 
oberen Wirbeln, mit dem unteren Theile derselben zwischen den 3. und 4. Wirbeln der 
beiden Kreuzbeine. Dasselbe hat eine Höhe von 13”, wovon 9” auf die kartenherzför- 
mige Abtheilung und 4” auf die rundliche Abtheilung kommen, eine Breite von 6” an der 
Basis der ersteren und von 4” an der Mitte der letzteren und eine Dicke von 1, — 2”. 
Dasselbe ist am grössten Theile der kartenherzförmigen Abtheilung noch knorplig, sonst 
schon knöchern. Der verknöcherte Theil ist biscuitförmig 5/,” lang; oben 4”, in der 
Mitte 3”, unten ЗМ,” breit. Dasselbe articulirt durch die Gelenkfläche an der karten- 
herzförmigen Abtheilung mit der hinteren Fläche der medialen Theile der 1. und 2. Kreuz- 
beinwirbel, durch die Gelenkflächen am Rande der unteren rundlichen Abtheilung mit den 
medialen Enden der 3. und 4. Kreuzbeinwirbel. 


MissBILDUNGEN. à 51 


Im Prager Falle war ein dem Hüftbeine dieses Falles analoger Knochen 
zugegen. Letzterer hatte aber die Gestalt des Manubrium des Brustbeines mit einem 
viereckigen Fortsatze an dem oberen Rande, und war ganz zwischen die Kreuzbeine ein- 
geschoben. Im I. Petersburger Falle fehlte derselbe gänzlich. 

Den Brustkorb bilden 67 Knochen, d. i. 12 Paare Brustwirbel, 12 Paare lateraler 
Rippen, 4 intermediäre Rippenbögen + 2 Paare verwachsener medialer Rippen + 6 Paare 
isolirter Rippen und 1 Brustbein; während im Prager Falle nur 65, im I. Petersbur- 
ger Falle nur 61 denselben zusammensetzten. 

Wie im Prager Falle tragen auch in diesem Falle, ausser den 5 Paar Lenden- 
wirbeln, die unteren medialen Rippen und das intermediäre Hüftbein zur Bildung 
des an der hinteren Wand des Bauches befindlichen Gerüstes bei. 

Das Becken (Fig. 3.) bilden, wie im Prager Falle, 2 Hüftbeine, 2 aus 5 Wirbeln 
bestehende Kreuzbeine, 2 aus 5 Wirbeln bestehende Steissbeine und 1 intermediäres Hüft- 
bein, allein letzteres trägt zur unmittelbaren Begrenzung der Beckenhöhle nur mit einem 
Theile der kartenherzförmigen Abtheilung und der unteren rundlichen Abtheilung bei. Die 
Knochen des Beckens hängen, ausser der Synchondrosis pubis, den Capsulae der beiden Ar- 
ticulationes sacro-iliacae laterales und anderen Bändern, noch durch die Capsula art. sacro- 
iliacae intermediae zusammen. In der Art. sacro-iliaca intermedia stossen die Gelenk- 
flächen beider Kreuzbeine und des intermediären Hüftbeines so an einander, dass von der 
Beckenhöhle aus eine Gelenkspalte sichtbar wird, die sich unten in zwei von einander di- 
vergirende Schenkel theilt (y.). Oben articuliren nämlich die ersten beiden Wirbel beider 
Kreuzbeine an einander, und an ihrer hinteren Fläche mit der kartenherzförmigen Abthei- 
lung des intermediären Hüftbeines; unten articuliren die 3. und 4. Wirbel beider Kreuz- 
beine mit der zwischen sie geschobenen rundlichen Abtheilung des intermediären Hüft- 
beines. 


Muskeln. (Tab. VI. Fig. 4.) 


Die Muskeln der Köpfe, sämmtliche laterale Muskeln des Doppelstammes, viele me- 
diale Muskeln des letzteren, alle Mukeln der oberen und der unteren Extremitäten sind 
normal. 

Unter den Muskeln an den Hälsen sind folgende anomal: 

Die Um. subeutanei colli mediales. Sie gehen mit ihrer mittleren grossen Portion 
in einander bogenförmig über, überkreuzen sich mit der kleineren vorderen und hinteren 
Portion, und verlieren sich mit den kleineren vorderen Portionen zwischen den lateralen 
am Brustbeine und in der Fascie des M. pectoralis major. Ihr Verhalten gleicht dem der- 
selben Muskeln in den beiden anderen Fällen. 

Die Mm. sternocleidomastoidei mediales (e.e.). Sie bestehen nicht aus zwei beson- 
deren Portionen und endigen am vorderen Drittel des intermediären Schlüsselbeines 5” 


breit und kurzsehnig, theilweise im Lig. sterno-claviculare, das sie verstärken helfen. Durch 
* 


52 WENZEL GRUBER, 


ihr Nichtgeschiedensein in zwei Portionen und den Mangel einer unmittelbaren Insertion 
an das Brustbein sind sie von denselben Muskeln der beiden anderen Fälle ver- 
schieden. 

Die Mm. sternohyoidei mediales (f.f.). Sie gehen hinter dem vorderen Drittel der 
Länge des Schlüsselbeines unter diesem, und ohne sich an dasselbe zu inseriren, in ein- 
ander über. Der durch ihre Verschmelzung gebildete Muskelbogen ist 2" 3”’ lang, 1, — 
2” breit. Durch diesen bogenförmigen Uebergang in einander und ihren Nichtansatz an 
das intermediäre Schlüsselbein sind sie von denselben Muskeln der beiden anderen 
Fälle verschieden. 

Die Mm. omohyoidei mediales (g.g.). Sie gehen gleichfalls unter dem Schlüssel- 
beine, ohne sich an dasselbe anzusetzen, fleischig in einander über. Der dadurch gebil- 
dete Muskelbogen liegt knapp hinter dem von den Mm. sternohyoidei mediales gebildeten, ist 
so lang wie der Bogen der letzteren, aber nur 1” breit. Sie verhalten sich ähnlich wie 
dieselben des Prager Falles, aber verschieden von denselben des I. Petersburger 
Falles, in welchem sie in eine Sehne endigen, die sich an das intermediäre Schulterblatt 
ansetzt. 

Die Mm. sternothyreoidei mediales (h.h.). Dieselben liegen hinter dem Lig. sterno- 
claviculare, unter dem vorderen Drittel des intermediären Schlüsselbeines und unter den 
von den Mm. sternohyorder und omohyoider gebildeten Bögen. Jeder derselben entspringt 
2— 3” breit von der gewöhnlichen Stelle der Cartilago thyreoidea und strahlt gegen die 
Medianlinie und gegen das Brustbein aus. Die Fasern der oberen Bündel beider gehen 
bogenförmig in einander über, die der unteren Bündel setzen sich an das Manubrium des 
Brustbeines, wohl auch an das laterale Schlüsselbein an, nachdem sie sich früher theil- 
weise überkreuzt hatten. Durch ihre Verschmelzung und Ueberkreuzung bilden sie eine 
Art vierseitigen, am oberen und den seitlichen Rändern ausgebuchteten Vorhanges, der 
am oberen Rande 2” 4 ИС 


m 


— 2” 6”, an den seitlichen Rändern 1” 10” lang und in seiner 
Medianlinie eine Höhe von 1” 3” besitzt. Im Prager Falle gingen dieselben allerdings 
auch theilweise in einander über, allein sie setzten sich an das intermediäre Schlüsselbein, 
nicht an das Brustbein. Im I. Petersburger Falle setzten sie sich an das intermediäre 
Schlüsselbein und an den Brustbeinfortsatz, allein sie gingen nicht in einander über. Das 
Verhalten dieser Muskel ist somit von demselben der beiden anderen Fälle verschieden. 

Die Mm. scaleni mediales. Sie bilden jederseits nur eine Muskelmasse, welche oben 
bogenförmig oder quer in die der anderen Seite übergeht, unten, sich überkreuzend, an 
den 1. intermediären Rippenbalken sich ansetzt. Die Muskelmasse sieht wie eine quere, 
zwischen den Halstheilen beider Wirbelsäulen ausgespannte und vertikal über den 1. inter- 
mediären Rippenbalken stehende Wand aus, die 7 — 8’ hoch, oben 10”, unten 6” breit 
und 1” dick ist. Ihre Anordnung ist gleich der derselben im I. Petersburger Falle; 
unterscheidet sich aber von der derselben im Prager Falle. Im letzteren waren näm- 
lich die Mm. scaleni antici mediales isolirte Muskeln, die sich normal verhielten. Nur die 


MisSBILDUNGEN. 53 


zwei anderen waren zu einer Muskelmasse verschmolzen, die ähnlich der im vorliegenden 
Falle angeordnet war. 


Die Mm. levatores scapulae mediales. Jeder entspringt mit zwei Bündeln von den 
Querfortsätzen des 1. und 2. Halswirbels und mit einem kurzen Bündel von dem Quer- 
fortsatze des 7. Halswirbels, und inserirt sich an das mittlere Drittel des Seitenrandes 
und an den oberen Theil der vorderen Fläche des intermediären rudimentären Schulter- 
blattes. Ihre Anordnung ist, was Zahl und Ursprung der Bündel anbelangt, von dem Pra- 
ger Falle verschieden. 


Unter den Brustmuskeln sind als anomal hervorzuheben: 

Die Mm. serrati antici majores mediales. Sie liegen am Rücken der Missbildung 
und sind sehr rudimentär. Jeder entsteht mit nur 2 Bündeln, nämlich mit einem obe- 
ren ganz kurzen 4 — 7” langen und 1 — 2” breiten und einem unteren sehr langen. 
Das obere Bündel entsteht von der Mitte des 1. und 2. intermediären Rippenbogens, 
knapp ueben dem der anderen Seite, und inserirt sich an der vorderen Fläche des inter- 
mediären Schulterblattes. Das untere entsteht von der 8. und 9. medialen Rippe, ver- 
schmilzt mit dem der anderen Seite und inserirt sich an den unteren Rand des interme- 
diären Schulterblattes. Im Prager Falle fehlten diese Muskeln. 


Die Mm. intercostates mediales. Sie sind verticale oder schiefe Bündel, welche zwi- 
schen den intermediären Rippenbögen und den intermedialen Rippen ausgespannt sind. 


Unter den Bauchmuskeln sind anomal: 


Die Mm.recti abdominis mediales. Sie sind zu einem unpaaren Muskel verschmolzen, 
der von der die hintere Fläche des kartenherzförmigen Theiles des intermediären Hüft- 
beines überziehenden Fascie schmal entspringt, zuerst hinter und auf dem vereinigten Ur- 
sprunge der Mm. obliqui abdominis externi mediales liegt, dann in den dreieckigen Raum 
zwischen diesen und den Mm. obliqui abdominis interni mediales vor dem М. transversus abdo- 
minis medialis aufwärts steigt, und sich mit 6 — 8 Bündeln an die unteren medialen Rip- 
pen inserirt. 


Die Mm. obliquri abdominis externi mediales. Sie entspringen, mit einander ver- 
wachsen, von der Spitze und den Rändern der kartenherzförmigen Abtheilung des inter- 
mediären Hüftbeines. Nachdem sie sich in der Medianlinie überkreuzt und getheilt haben‘ 
steigt jeder schief aus- und aufwärts zu den medialen Rippen, von dem der anderen Seite 
durch einen dreieckigen Raum geschieden, empor, um sich daselbst anzusetzen. 

Die Mm. obligui abdominis interni mediales. Sie entspringen vor den Mm. obhiqu 
extern? von den Seitenrändern und der vorderen Fläche der kartenherzförmigen Abtheilung 
des intermediären Hüftbeines, ohne sich zu überkreuzen, steigen vor den Mm. obliqui ex- 
terni schief nach auf- und auswärts zu den medialen Rippen, durch einen dreieckigen Raum 
von einander geschieden, empor. 

Die Mm. transversi abdominis mediales. Sie sind zu einem unpaaren, queren Mus- 


54 WENZEL GRURER, 


kel verschmolzen, der seitlich vor den Mm. obliqui intern, in der Mitte vor den Mm. 
rech liegt. 

Die Mm. quadrati lumborum mediales. Sie entspringen von der vorderen Fläche 
der kartenherzförmigen Abtheilung des intermediären Hüftbeines, steigen vor dem M. trans- 
versus hinauf und inseriren sich an die untersten medialen Rippen. 

Die Anordnung der unten in 5 Schichten, oben in der Mitte in 2, seitlich in 4 Schich- 
ten liegenden Bauchmuskeln dieses Falles gleicht in vielen Stücken der derselben des 
Prager Falles; allein dadurch, dass die Mm. recti zu einem unpaaren Muskel verschmol- 
zen sind, der nicht vom intermediären Hüftbeine entsteht, dass die Mm. obliqui intern von 
den Mm. transversi getrennt sind und letztere nur einen unpaaren Muskel darstellen, ist sie 
von der des letzteren verschieden. 

Das Diaphragma hat die Gestalt eines Halbmondes, dessen concaver hinterer Rand 
mit dem mittleren Theile der hinteren von den medialen Rippen gebildeten Wand des 
Brustkorbes ein grosses Loch bildet, in dem die hintere Abtheilung der Leber liegt. Das- 
selbe besteht aus einem doppelten Lumbaltheile, einem rechten und linken Costaltheile, 
einem medialen Sternaltheile und einem einfachen einem Kleeblatte ähnlich geformten Cen- 
trum tendineum. Jeder Lumbaltheil besteht aus einer lateralen und medialen Hälfte mit den 
gewöhnlichen drei Schenkeln. Es zeigt ein Foramen venae cavae inf., zwei Hiatus aortici und 
zwei Foramina oesophagea. Das Foramen venae cavae liest in der Medianlinie und durch- 
bohrt die Basis des mittleren Lappens des Centrum tendineum vor dessen hinterem Rande. 
Die Hiatus aortici liegen an gewöhnlicher Stelle. Die Foramina oesophagea vor diesen 
und lateralwärts. 

Die Anordnung des Diaphragma in diesem Falle ist von der desselben im Prager 
Falle verschieden. So war im Prager Falle das Loch zwischen dem Diaphragma und 
der mittleren hinteren Wand des Brustkorbes durch eine aus Bindegewebe und wenigen 
Muskelfasern bestehende, stärkere Membran ausgefüllt. Auch lagen die Foramina oeso- 
phagea vor den Hiatus aortici medianwärts. 

Unter den Rückenmuskeln erweisen sich als anomal: 

Die Mm. cucullares mediales. Jeder Muskel entspringt auf normale Weise. Die 
obere Hälfte der oberen Rückenportion verliert sich im Bindegewebe unter der Haut zwi- 
schen den Hälsen. Die untere Hälfte der Rückenportion geht bogenförmig in die der an- 
deren Seite über. Nur ein tiefes Bündel des rechten Muskels setzt sich mit einer schma- 
len 4” langen Sehne an das hintere Ende des intermediären Schlüsselbeines an; ein an- 
deres mit einer membranartigen Sehne an die Spitze des intermediären Schulterblattes. 
Die untere Brustportion endiget kurzsehnig Ai breit neben der Medianlinie der hinteren 
Fläche des intermediären Schulterblattes. | 

Ihre Anordnung unterscheidet sich von der derselben im Prager Falle dadurch, 
dass im letzteren die Bündel zum intermediären Schlüsselbeine und Schulterblatte fehlten. 

Die Mm. latissimi dorsi mediales. Sie liegen in dem dreieckigen Raume zwischen 


MissBILDUNGEN. 55 


den Brustportionen der Mm. cucullares. Jeder entspringt von der Fascia lumbodorsalis und 
mit Zacken von den vier unteren medialen Rippen, verläuft medianwärts, geht hinter der 
Insertion der zu einem unpaaren Muskel verschmolzenen Mm. recti abdominis mediales theils 
bogenförmig in den Muskel der anderen Seite über, theils überkreuzt er sich mit demsel- 
ben und bildet von da an einen unpaaren Muskel. Dieser steigt in der Medianlinie verti- 
Ка] aufwärts, kreuzt die mit einander verschmolzenen unteren Portionen der Mm. rhombor- 
dei majores und inserirt sich an das untere Ende der hinteren Fläche des intermediären 
Schulterblattes. Die Breite am unpaaren Theile beträgt 1 — 2”. 

Im Prager Falle inserirten sich diese Muskeln an die medialen Rippen und Rippen- 
bögen, waren dort somit noch verkümmerter. 

Die Mm. rhomboidei minores mediales. Sie entspringen normal und inseriren sich 
an das untere Drittel des Seitenrandes des intermediären Schulterblattes. Sie sind am Ur- 
sprunge 5”, am Ansatze 3” breit. 

Die Mm. rhomboidei majores mediales. Sie entspringen wie gewöhnlich und sind 
am Ursprunge 10” breit. Mit den oberen Bündeln setzen sie sich an die Winkel des in- 
termediären Schulterblattes, mit den unteren, /,' breite Schicht bildenden Bündeln aber 
gehen sie in einander über. 

Das Verhalten der Mm. rhomboidei ist ähnlich dem derselben im Prager Falle. 

Die Mm. serrati postici superiores mediales. Sie entspringen auf gewöhnliche 
Weise und inseriren sich an die vier oberen intermediären Rippenbögen. 

Im Prager Falle beschränkt sich ihre Insertion auf die oberen drei intermediären 
Rippenbögen. 

Unter den Muskeln der Regio ano-perinealis sind merkwürdig: 

Die Um. sphincteres ani externi. Von jeder Steissbeinspitze entspringt ein Muskel 
welcher an der medialen Seite des entsprechenden Afters vorwärts verläuft, vorn theilweise 
in den Constrictor cunni etc. endiget, theilweise auf die laterale Seite des entsprechenden 
Afters sich umbeugt, gegen die Steissbeinspitze rückwärts verläuft, hier seinen Ursprung 
durch- und überkreuzt und hinter dem Raume zwischen den beiden Aftern in den Muskel 
der anderen Seite übergeht. 

Zwischen beiden Aftern liegt ein vierseitiger Muskel, der vielleicht als ein aus 
der Verschmelzung der Mm. levatores ant mediales entstandener zu deuten ist. 

Unter den Hüftmuskeln sind folgende als anomal hervorzuheben. 

Die Mm. psoae majores mediales. Sie sind schwache Muskeln, welche auf gewöhn- 
liche Weise entspringen und an die vordere Fläche der kartenherzförmigen Abtheilung des 
intermediären Hüftbeines sich ansetzen. Ihre Anordnung ist ähnlich der derselben im 
Prager Falle. 

Die Mm. iliaci interni mediales. Sie sind zu einem schwachen, unpaaren, läng- 
lich dreieckigen Muskel verschmolzen. Dieser unpaare Muskel entspringt theils von der 
Spitze und unter dieser von der vorderen Fläche der kartenherzförmigen Abtheilung des 


56 WENZEL GRUBER, 


intermediären Hüftbeines, theils von den untersten Bündeln des unpaaren M. transversus 
abdominis medialis, steigt auf der Medianlinie der vorderen Fläche der genannten Abthei- 
lung des intermediären Hüftbeines herab und verliert sich vor den beiden Kreuzbeinen im 
Bindegewebe der Beckenhöhle. 

Im Prager Falle fehlten diese Muskeln ganz. 

Die Mm. glutaei mediales. Am Beckenausgange und dem Raume, welcher hinten 
und oben von dem intermediären Hüftbeine, seitlich von den beiden unteren Kreuzbein- 
wirbeln und den beiden Steissbeinen gebildet wird, sich zwischen beiden Aftern nach ab- 
und vorwärts fortsetzt und mit dem viereckigen vom vorderen Rande des Perineum herab- 
hängenden Lappen endiget, liegt unter der Haut eine Muskelmasse, die aus sich über- 
kreuzenden Schichten besteht. Sie entsteht von den oben genannten Knochen und verliert 
sich im genannten Hauptlappen. Diese Muskelmasse ist als die Mm. glutaei mediales zu 
deuten, die unter einander verschmolzen sind. 

Im Prager Falle waren sowohl die Muskeln beider Seiten als die einzelnen Strata 
derselben besser geschieden, auch ihre Endigung eine andere. 

Von den medialen Muskeln fehlen, wie in den anderen beiden Fällen: die Mm. 
subclavii, Mm. serrati postici inferiores mediales und Mm. pyramidales abdominis. 
Auch fehlten: die Mm. scapulares mediales, deren mehrere im I. Petersburger 
Falle sich vorfanden. 


Eingeweide. 
Verdauungsorgane. 


Zunge etc., Schlundkopf, Speiseröhre, Magen und Darmkanal sind doppelt. 
Die Leber ist einfach. Pancreas und Milz sind doppelt. Das Peritonaeum bildet sie- 
ben Säcke. 

Die Zungen etc. und Schlundköpfe sind normal. 

Jede Speiseröhre liegt hinter der Luftröhre mehr medianwärts, hinter dem media- 
len Luftröhrenaste, medianwärts von der Pars descendens des Arcus aortae (die rechte) oder 
des Arcus arteriae pulmonalis (die linke), kreuzt die Aorta thoracica und dringt vor- und la- 
teralwärts vom Hiatus aorticus durch das Foramen oesophageum des Diaphragma. 

Beide Magen sind normal gebaut. Sie liegen in der Regio epigastrica, der eine in der 
rechten, der andere in der linken Hälfte derselben, quer und so, dass sie ihren Grund la- 
teralwärts, ihren Pylorus medianwärts gegen einander kehren. Durch die dazwischen ge- 
schobenen oberen Querstücke der beiden Duodena sind beide von einander getrennt. Sie 
verhalten sich so, wie in den beiden anderen Fällen. 

Jeder Darmkanal besteht aus einem Dünndarme und einem Dickdarme. Jeder 
Dünndarm beginnt vom entsprechenden Magen mit einem kurzen oberen Querstücke des 
Duodenum, das gegen dasselbe des anderen medianwärts verläuft, damit verschmilzt, recht- 


MiIsSBILDUNGEN. 57 


winklig in seinen absteigenden Theil übergeht, aber ohne ein unteres Querstück zu bilden, 
in das Jejunum und dieses in das Пеит sich fortsetzt. Jeder Dickdarm weiset ein Coe- 
cum, drei Colonstücke und ein Rectum auf, welches durch seinen eigenen After ausmündet. 
Beide Darmkanäle sind theils isolirt, theils mit einander verschmolzen, im letzteren 
Falle aber doch durch eine Scheidewand im Innern in zwei Darmrohre getrennt. Er- 
steres ist an den oberen Querstücken der Duodenua, an den unteren %, der Dünndärme 
und an den '%' langen Endportionen der Recta; letzteres ist an dem noch übrigen Dünn- 
darmstück und fast an dem ganzen Dickdarme der Fall. Die Scheidewand im verwach- 
senen Dünndarme ist 10” von ihrem Anfange entfernt, in einer Strecke von 4” nach und 
nach von 9 runden, 2” weiten Löchern durchbohrt, wodurch beide Darmkanäle mit ein- 
ander communiciren. Die Scheidewand im Dickdarme ist vollständig. Der Lage dieser 
Scheidewand im Innern entsprechend ist der Darm vorn und hinten am äusseren Umfange 
mehr oder weniger tief gefurcht. Die Scheidewand besteht aus der Schleimhaut und den 
circulären, nicht den longitudinalen Muskelfasern beider Darmkanäle. Jeder Darmka- 
nal hat im absteigenden Theile des Duodenum eine Oeffnung für den Ductus choledochus 
und pancreaticus und ist übrigens so, wie im normalen Zustande, gebaut. Beide Dünn- 
därme liegen mit ihrem Anfange zwischen den medialen Enden der Mägen, 4. 1. in der 
Medianlinie; mit ihrem unteren Ende vor dem unteren Ende der linken Niere, d. i. in der 
linken lateralen Längsgrube der hinteren Bauchwand, und mit ihren Windungen in der 
ganzen Bauchhöhle und vor den Dickdärmen. Beide verwachsenen Dickdärme be- 
ginnen vor dem unteren Ende der linken Niere in der linken lateralen Längsgrube der hin- 
teren Bauchwand mit den Coeca, liegen mit den Cola und der Flexurae coli vhiacae in der 
medianen Längsgrube der hinteren Bauchwand, mit den Recta in der Mitte der Becken- 
höhle, zwischen dem vorderen und dem hinteren inneren Geschlechtsapparate und endigen 
mit den unter der Fascia pelvis getrennten, dritten Portionen der Recta durch zwei After. 
Die Cola ascendentia liegen an der medialen Seite der linken Wirbelsäule, die Cola des- 
cendentia hinter den Flexurae coli ihacae an der medialen Seite der rechten, die Cola trans- 
versa oben, unter der hinteren Leberabtheilung. Die Darmkanäle haben daher eine von 
der normaler Fälle verschiedene, verkehrte Lage. Jeder Darmkanal ist 6° 8” lang, wo- 
von 5 5” auf den Dünndarm, 1° 3” auf den Dickdarm kommen. Es verhält sich somit die 
Dünndarmlänge zur Dickdarmlänge wie 4,833 : 1 und die Darmlänge überhaupt zur Kör- 
perlänge wie 5,333:1. 

Durch totale Verdopplung und verkehrte Lage des Darmkanals zeichnet sich 
dieser Fall aus. Im Prager Falle war nur der grösste Theil des Dünndarms doppelt, 
und, mit Ausnahme der oberen Querstücke der Duodena, zu einem, durch eine vollstän- 
dige Scheidewand in zwei besondere Darmrohre getheilten Darmkanal verwachsen, das 5” 
lange Endstück des Dünndarmes und der Dickdarm waren aber einfach. Auch hatte der 
Darmkanal eine Lage, die der normaler Fälle ähnlich ist. Im I. Petersburger Falle 
mag der Darmkanal sich ähnlich verhalten haben. Bestimmt nur einfach war das Rectum. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VII Série. 8 


58 WENZEL GRUBER, 


Die Anordnung der Darmkanäle in diesem Falle ist somit von der derselben in den bei- 
den anderen Fälle wesentlich verschieden. 


Die einfache, aher mit zwei Gallenblasen versehene Leber ist gleich weit nach 
rechts und links gelagert. Durch die Fossa transversa wird sie eine 3, — SA in querer 
Richtung, 1° in der anderen breite und %, — 1” dicke vordere grosse und in eine 14" 
in querer Richtung, 1,” in der anderen breite und 1” dicke, mit dem mittleren Theile des 
hinteren oberen Randes der ersteren vereinigte hintere kleinere Abtheilung geschie- 
den. Die vordere grosse Abtheilung liegt unter dem Diaphragma, an dasselbe durch das 
Ligamentum suspensorium aufgehangen, welches deren obere vordere Fläche in zwei ganz 
gleiche Hälften scheidet. Die hintere kleinere Abtheilung liegt theilweise in der Bauch- 
höhle, theilweise in dem Loche zwischen dem Diaphragma und dem medianen, von den me- 
dialen Rippen gebildeten Theile der hinteren Brustwand und darüber in der Brusthöhle, 
dort vom Peritoneum. hier von der Pleura überzogen, im Loche von beiden befestigt. Die 
vordere Abtheilung besitzt ausser einer seichten Längsgrube für die Gallenblasen, welche 
an der Mitte des hinteren Theiles der unteren Fläche, °/, über dem vorderen unteren 
Rande, befindlich ist und ausser zwei warzenförmigen Erhöhungen zur Seite dieser 
Grube, keine anderen Furchen und Erhöhungen, Die Vena umbilicalis, welche in den 
rechten Ast der Vena portae mündet, durchbohrt nämlich diese Leberabtheilung in der 
Mitte vom vorderen Rande bis zum rechten Ende der Porta, liegt somit in einem Kanale, 
nicht in einer Furche. Die hintere Abtheilung hat an ihrer unteren Fläche zwei Tuber- 
cula caudata, an ihrer kegelförmigen, in der Brusthöhle liegenden Spitze zwei, durch 
senkrechte Spaltung der letzteren, entstandenen Läppchen. Die Vena cava inferior 
durchbohrt diese Abtheilung und der Ductus venosus verläuft zur rechten Seite derselben 
vom rechten Aste der Vena portae zur Vena cava inferior. 


Die normal gebauten Gallenblasen liegen in der genannten Längsgrube neben ein- 
ander. An dem Grunde, der allseitig frei über die Grube hervorragt, mit dem Peritoneum 
überzogen und '4 vom vorderen unteren Leberrande entfernt ist, sind sie von einander 
geschieden, am Körper und Halse, die nur an der unteren Seite einen Peritonealüberzug 
erhalten, verwachsen, ohne dass ihre Höhlen mit einender communiciren. 


Aus jeder Gallenblase entsteht ein Ductus cysticus, der mit einem lateralwärts hinzu- 
kommenden Ductus hepaticus einen Ductus choledochus bildet. Die beiden Ductus choledochi 
steigen neben einander in der Mitte des Lig. hepatico-duodenale commune ab, divergiren am 
Ende und münden nach früherer Aufnahme des entsprechenden Ductus pancreaticus in den 
absteigenden Theil der Duodena, der rechte in das rechte, der linke in das linke Duodenum. 
Sie haben lateralwärts die Arteria hepatica dextra und sinistra, rückwärts und etwas rechts 
den einfachen Stamm der Vena portae neben sich. Der Stamm der letzteren entsteht aus 
zwei Venae mesentericae, zwei Venae lienales etc. und theilt sich in der Porta hepatis in einen 
rechten und linken Ast. 


MisSPRILDUNGEN. 59 


Die Leber dieses Falles hat viele Aehnlichkeiten mit der im Prager Falle. 
Der I. Petersburger Fall mochte sich auch auf ähnliche Weise verhalten haben. 


Das Pancreas ist doppelt wie im I. Petersburger Falle. Im Prager Falle 
fehlte es. 


Die Milz ist doppelt wie im I. Petersburger Falle. Im Prager Falle war nur 
die linke zugegen. 

Das Omentum minus und das O. majus sind doppelt. Die Omenta minora hängen 
durch das Lig. hepatico-duodenale commune mit einander zusammen. Jederseits ist eine 
Bursa omentalis minor und В. 0. major zugegen, die mit einander durch das Foramen 
pancreatico-gastricum, im gut ausgebildeten Lig. pancreatico-gastricum, und mit jenen der an- 
deren Seite durch ein Foramen hinter dem Lig. hepatico-duodenale, nicht aber mit dem gros- 
sen Peritonealsacke zusammenhängen. 


Das Mesenterium ist ebenfalls doppelt. Jedes geht von der linken Wirbelsäule aus. 
Das rechte setzt sich oben in das linke Mesocolon und das linke in das rechte Mesocolon fort. 
Beide convergiren, wodurch zwischen beiden der Mesenteriumsack des Peritoneum ent- 
steht. Die Portionen, welche sich zu dem aus zwei Därmen verschmolzenen Dünndarm- 
stücke begeben, vereinigen sich erst am Darm, die anderen vereinigen sich schon früher, 
theilen sich aber neuerdings und gehen zu den isolirten Dünndärmen. Diese Vereinigung 
der Mesenteria geht an zwei Stellen, die nicht weit von den Coeca entfernt sind, gar nicht 
vor sich. Dadurch entstehen Löcher, durch die der Mesenterialsack mit dem grossen 
Peritonealsack communicirt. 


Das Mesocolon und das Mesorectum sind auch doppelt. Das rechte schmälere Me- 
socolon geht von der medialen Seite der rechten Wirbelsäule, das linke Mesocolon von der 
medialen Seite der linken Wirbelsäule; das rechte Mesorectum von dem rechten Kreuzbeine 
und das linke Mesorectum von dem linken Kreuzbeine aus. Das rechte Mesocolon setzt sich 
oben in das linke Mesenterium, unten in das rechte Mesorectum; das linke oben in das rechte 
Mesenterium, unten in das linke Mesorectum fort. Die medialen Blätter beider Mesocola ta- 
peziren die mediane Längsgrube der Bauchhöhle, und die medialen Blätter beider Mesorecta 
den hinteren mittleren Beckenraum aus. Beide Mesocola und Mesorecta convergiren gegen 
den aus zwei Därmen verschmolzenen Dickdarm und geben ihm den serösen Ueberzug. 
Dadurch entsteht hinter den Cola und hinter den Recta der Mesocolonsack des Регио- 
neum, welcher in der medianen Furche des Bauches bis in die Beckenhöhle herab seine 
Lage hat und an seinem oberen Ende links mit dem Mesenterialsacke und durch diesen 
mittelbar mit dem grossen Peritonealsacke communicirt. 


Das Peritoneum bildet somit in diesem Falle, ausser dem grossen Sacke, vier Omen- 
tal-, einen Mesenterium- und einen Mesocolon-Sack, d. i. sieben Säcke. Im Prager Falle 
fehlte der Mesocolonsack; der Mesenteriumsack aber communicirte mit den Bursae omen- 
tales beider Seiten. 


60 WENZEL GRUBER, 


Respirationsorgane. (Tab. УП. Fig. 2., Tab. VII.) 


Kehlkopf, Luftröhre, Lungen, Schilddrüse und Thymus sind doppelt. Die 
Pleurasäcke sind dreifach. 

Wie in den beiden anderen Fällen ist der laterale Luftröhrenast der längere und 
stärkere. 

Jede Lunge hat zwei Flügel, wovon der laterale der kürzere, breitere und dickere, 
der mediale der längere und schmälere ist. Die lateralen Flügel beider Lnngen haben 2 
Lappen, der mediale rechte hat nur 1, und der mediale linke 2 Lappen. Die medialen 
Flügel liegen höher als die lateralen. Der rechte laterale Flügel ist der voluminöseste, kleiner 
ist der linke laterale, noch kleiner der linke mediale, am kleinsten der rechte mediale. 
Im Prager Falle war die Lungenflügellappung eine andere. 

Beide Schilddrüsen sind normal. 

Die rechte Thymus hat 3 und die linke 4 über einander liegende Lappen (Tab. VII. 
Fig. 2., Nr. 5. 5.). Im I. Petersburger Falle waren auch 2, im Prager Falle nur 
1 Thymus. | 

Die Pleurae bilden 3 Säcke, 2 Mediastina und 3 Cava mediastinorum. Von den 
drei Pleurasäcken sind zwei die lateralen, einer der mediane. Die lateralen verhalten 
sich denen eines normalen Kindskörpers gleich. Der mediane liegt im hinteren Theile des 
mittleren Brustraumes, hat vorn das Pericardium, hinten die mediane Längsgrube des Brust- 
korbes und seitlich beide Wirbelsäulen zur Grenze. Er endiget über der oberen Brust- 
apertur nicht abgeschlossen, sondern fliesst innerhalb derselben mit seiner ganzen Weite, 
mit dem Halstheile des Pericardium zusammen, um damit einen gemeinschaftlichen Sack 
(Tab. УП. Fig. 2. A. A.) zu bilden. Jeder laterale Sack enthält einen lateralen Lungen- 
flügel, der mediane Sack aber beide mediale Lungenflügel, die sich theilweise in die 
ihm und dem Pericardium gemeinschaftliche Abtheilung hinauf erstrecken. Die drei Pleura- 
säcke bilden zwei Mediastina, beide Mediastina aber drei Cava mediastinorum, zwei 
laterale hintere und ein medianes vorderes. Die lateralen entsprechen den Cava mediasti- 
norum posteriora zweier Körper, das mediane aber den Cava mediastiorum anteriora derselben, 
die, zu einem einzigen unpaaren verschmolzen, den Brusttheil des Herzbeutels mit dem 
Kammertheile des Herzens, beide Thymus u. s. w. enthalten. 

Im Prager Falle waren auch drei Pleurasäcke zugegen, allein der mediane mündete 
nicht in das Pericardium. Im I. Petersburger Falle waren hingegen vier Pleurasäcke, 
zwei laterale und zwei mediane vorhanden, wovon jeder einen Lungenflügel enthielt. 


Harnorgane. (Tab. VII. Fig. 1.) 

Nieren (No. 1. 1’.) sind zwei zugegen, wovon die eine dem rechten, die andere dem 
linken Kindskörper entspricht. Jede liegt zur lateralen Seite ihrer Wirbelsäule an gehö- 
riger Stelle. 

Aus jeder Niere kommen 2 Harnleiter, die mit 2 Nierenbecken beginnen, so 


MiSSBILDUNGEN. 61 


dass 4 Harnleiter und 4 Nierenbecken vorhanden sind. Die zwei Harnleiter der rechten 
Niere (No. 2.) verschmelzen unter der Mitte ihrer Länge zu einem einfachen, aber erwei- 
terten, welcher durch eine einfache Oeffnung an gehöriger Stelle in die Harnblase 
° mündet. Die zwei Harnleiter der linken Niere (No. 2’.) bleiben vom Anfange bis zum 
Ende getrennt und münden durch zwei besondere, unter einander liegende Oeffnungen, 
linkerseits in die Harnblase. 

Die Harnblase (No. 3.) ist einfach, hat 3 Harnleiteröffnungen, nämlich eine rechte 
und zwei linke, ist sonst normal nur grösser. 

Die Harnröhre ist einfach, normal und mündet an gewöhnlicher Stelle über und vor 
dem Introitus vaginae der vorderen inneren Geschlechtsorgane. 

Nebennieren giebt es zwei, eine rechte und eine linke, welche auf und über den 
entsprechenden Nieren an gewöhnlichem Orte liegen. 

In beiden anderen Fällen lagen die rechten Nieren tiefer, und zwar im Prager 
Falle über dem Becken, im I. Petersburger Falle im Becken. In diesen beiden Fällen 
waren nur zwei Harnleiter zugegen. 


Geschlechtsorgane. (Tab. VII. Fig. 1.) 


Die weiblichen Geschtsorgane sind doppelt. Sie liegen hinter einander und sind 
desshalb vordere und hintere zu nennen. In der Beckenhöhle sind sie durch die Recta 
von einander geschieden, am Ausgange des Beckens aber stossen die Vaginae beider an 
einander. Jeder dieser Apparate mündet durch eine besondere Oeffnung nach aussen. 

Die vorderen Geschlechtsorgane (No. 4.) entsprechen vollkommen den der nor- 
malen Fälle. Die Ovarien (a.a.), die Tubae Fallopianae (b.b.), der Uterus (d.) mit seinen 
Ligamenta lata und rotunda (с.с.), die Vagina (e.), der Mons Veneris, die Labia majora, die 
Labia minora, das Vestibulum, der Hymen, die Clitoris, die Bartholinischen Drüsen (y.) ver- 
halten sich, bis auf unwesentliche Abweichungen, normal. So ist der Mons Veneris 
ungewöhnlich breit, so fehlt den Labia majora ihre Commissura posterior, so ist der Hymen 
ein H. cércularis, so sind die Bartholinischen Drüsen ungewöhnlich gross. Die Ovarien, die 
Tubae, der Uterus erhalten wie gewöhnlich vom grossen Bauchfellsacke ihren serösen Ueber- 
zug, und letzterer ist durch die gewöhnlichen Excavationen von der Harnblase und den 
Recta geschieden. 

Die hinteren Geschlechtsorgane (No. 6.) sind im nur verkümmerten Zustande 
zugegen. Sie bestehen: aus zwei Ovarien, zwei Tubae, einem Uterus, einer Vagina und 
einem viereckigen, vom Perineum herabhängenden, den /ntrortus dieser Vagina bedeckenden 
Hautlappen. Sie liegen auf dem medianen Theile der hinteren Beckenwand und über dem 
Felde des Beckenausganges, das sich vom intermediären Hüftbeine, zwischen den Steiss- 
beinen und beiden Aftern bis zum hinteren Ende der Schamspalte der vorderen Ge- 
schlechtsorgane erstreckt, mit den Ovarien und Tubae hinter dem Mesocolonsacke des Pe- 
ritoneum, mit dem Uterus unter dessen Ende, und mit dem unteren Theile der Vagina hinter 


62 WENZEL GRUBER, 


und unter der Vagina der vorderen Geschlechtsorgane zwischen den Endportionen beider 
von einander divergirenden Recta. 

Jedes der Ovarien(a’.a’.) ist ет halbmondfürmig gekrümmter, 8 — 9” langer 
1,— 2" breiter, von vorn nach hinten comprimirter und ", dicker Körper, welcher 
seinen concaven Rand dem der anderen Seite zukehrt und mit seinen Enden die der an- 
deren Seite fast erreicht. Beide liegen vertikal auf der kartenherzförmigen Abtheilung des 
Hüftbeines, hinter dem Mesocolonsacke des Peritoneum. 

Die Tubae (b’. b’.) erscheinen als solide, von vorn nach hinten comprimirte, 7 — 9” 
lange, Wh breite Stränge, welche an der hinteren Seite der Ovarien beginnen, ver- 
tikal nebeneinander und theilweise vor einander zum Uterus abwärts steigen und mit diesem 
verschmelzen. Sie liegen vor der Articulatio sacro-iliaca intermedia der beiden Kreuzbeine, 
vor dem rundlichen Theile des Hüftbeines und hinter dem Mesocolonsacke des Peritoneum. 

Der Uterus(d’.) ist ein von vorn nach hinten comprimirter, 9 — 10” langer, am Kör- 
per 4°”, am Halse 1 — 2” breiter, 1,” am Körper, >” am Halse dicker rhomboidaler 
solider Körper, der unter dem Mesocolonsacke, an dem oberen Ende noch mit einem 
Ueberzuge von diesem versehen, hinter den Recta liegt. 

Die Vagina (e’.) ist am oberen Drittel ein solider, ven vorn nach hinten compri- 
mirter, dreiseitiger, plattenartiger Körper («.), welcher verschmälert in den Uterus sich 
fortsetzt; an den unteren zwei Dritteln aber ein Kanal (8.), der mit einer besonderen 
Oeffnung, Пигойиз vaginae post., hinter dem /ntroitus vaginae ant. ausmündet. Der solide 
Theil liegt knapp hinter den verschmolzenen Recta; der kanalförmige Theil aber unter 
und hinter der Vagina der vorderen Geschlechtsorgane, damit verwachsen, und zwischen 
den geschiedenen Endportionen der Recta (No. 5.). Der solide Theil ist 4” lang, unten 
3%, , allmählig nach oben 1” breit; der kanalförmige Theil ist 8” lang, am Introitus 
1%, — 1), ‚übrigens‘'34' weit. 

Die Schleimhaut des letzteren zeigt viele Falten, die in Gestalt von Bienenwaben 
Netze und Zellen bilden. Der Introitus vaginae post. besitzt kein Hymen. 

Der viereckige, den /ntroitus vaginae post. von hinten und unten her bedeckende 
Hautlappen ist schon oben beschrieben worden. Er kann vielleicht als verkümmerte und 
verschmolzene Labia gedeutet werden. 

Im Prager und I. Petersburger Falle waren nur einfache, dort männliche, hier 
weibliche Geschlechtsorgane zugegen. 


Herz und Gefässe. (Tab. VII. Fig. 2., Tab. VIII.) 
Herz. (Tab. УП. 2. B., Tab. VIII. Fig. 1.2. No. 1.) 


Es ist nur ein Herz zugegen, welches durch seine eigenthümliche Gestalt, ungewühn- 
liche Grösse, merkwürdige Eintheilung, besondere Lage, durch Abgabe und Aufnahme 
einer grösseren Zahl von Gefässstämmen von einem normalen verschieden ist. 


ГР 


MissBILDUNGEN. 63 


Das Herz hat bei der Ansicht von vorn die Gestalt einer Sanduhr (Tab. УПТ. 
Fig. 1.) mit eiförmigen, oben in sagittaler, unten in transversaler Richtung verlängerten 
Hälften; bei der Ansicht von hinten die Gestalt eines aus vier Säcken, d. i. einem 
oberen und unteren eiförmigen und zwei lateralen würfelförmigen, bestehenden gemein- 
schaftlichen grossen Sacke (Tab. VII. Fig. 2.). 
Seine grösste Länge misst vorn 2” 3°”, hinten 2” 9”; seine grösste Breite 2" — 2" 4”: 
. Fr . п 44 
seine grösste Dicke 1 4 . 


Durch den Sulcus circularis, welcher fast in der Mitte sich befindet, wird das Herz 
schon äusserlich in einen oberen oder Vorkammerabschnitt und in einen unteren 
oder Kammerabschnitt getheilt. Durch Einschnürungen am Vorkammerabschnitte 
wird auch dieser schon äusserlich in einen eiförmigen Sack, d. i. in das Atrium ve- 
narum cavaram commune, und in zwei würfelförmige seitliche Säcke, 4. 1. in das 
Atrium pulmonale dextrum und sinistrum, geschieden und jede der letzteren durch eine 
tiefe Einschnürung wieder in Nebensäcke, in einen Sinus pulmonalis und eine Auri- 
cula abgetheilt. Wegen Mangel an Furchen lässt der Kammerabschnitt äusserlich 
nicht erkennen, in welche Abtheilungen seine Höhle geschieden ist. 


Das Herz liegt ganz vertikal und so, dass die Medianlinie des Körpers dasselbe 
in zwei ganz gleiche Seitenhälften schneiden würde, wonach es sich von der Medianlinie 
gleich weit nach rechts und links erstrecken muss. Es liegt mit dem Kammerabschnitte 
in der Brusthöhle; mit dem Sulcus céreularis vorn au niveau der oberen Brustapertur, 
seitlich und hinten unter dieser; mit dem eiförmigen Sacke des Vorkammerab- 
schnittes am Halse und reicht vom Zwerchfelle bis unter die Halscommissur und das 
intermediäre Schlüsselbein aufwärts. Es liegt mit dem Kammerabschnitte in der vor- 
deren medianen gemeinschaftlichen Höhle der Mediastina, hinter der vorderen Wand 
des Brustkorbes, vor dem medianen Pleurasacke; mit dem Vorkammerabschnitte in 
dem gemeinschaftlichen, vom Herzbeutel und dem medianen Pleurasacke gebildeten Sacke, 
theils in der Brusthöhle, grösstentheils im medianen Theile der verwachsenen Hälse, hin- 
ter dem von den Mm. sternothyreoidei mediales gebildeten Vorhange zwischen den Luftröh- 
ren, Speiseröhren, den Thymus, den medialen Lungenflügeln und gewissen Gefässen und 
Nerven, vor den medialen Seiten der Wirbelsäulen und der sie vereinigenden und durch 
Verschmelzung der Mm. scaleni mediales beider Seiten entstandenen medianen Scheidewand 
unter der Halscommissur und den daselbst befindlichen Theilen: als unter dem Schlüssel- 
beine, gewissen Muskeln, Gefässen und Nerven. 


Das Herz erhält für seine Substanz vier Arterien, d. i. die Coronaria dextra 
ant. aus der Aorta ascendens dextra; die Coronaria sinistra ant. und С. sinistra post. aus 
der Aorta sinistra; und endlich die Arteriola atrii pulm. sinist. aus der Pulmonalıs latera- 
hs der Pulmonalis communis sinistra. Aus seiner Substanz kommen die Vena cordis mediana 
und andere kleine Venen. 


64 WENZEL GRUBER, 


Vorkammerabschnitt. (Tab. УП. Fig. 2. B., Tab. VIII. Fig. 1. 2. A.) 


Der Vorkammerabschnitt ist ein aus 3—5 Säcken und Nebensäcken bestehen- 
der, gemeinschaftlicher, in seiner Wand /” dicker Sack, der 12 Oeffnungen besitzt, d. 1. 
4 Körpervenen-, 6 Lungenvenen- und 2 Atrio-ventricular-Oeffnungen, und im Innern allent- 
halben mehr oder weniger starke Trabeculae carneae zeigt. 

Seine grösste Höhe beträgt vorn 1” 1”, hinten 1” 9”; seine grösste Breite 2” 4”; 
seine grösste Dicke 1” 4”. 

Der mittlere oder obere oder vordere Sack ist das Atrium venarum cavarum com- 
mune (Tab. VII. Fig. 2. B.; Tab. VII. Fig. 1. A., Fig. 2. A.a.). Dasselbe liegt über der 
Mitte des Kammerabschnittes, an seiner Basis vorn zwischen den Arterienstämmen des 
Herzens, hinten zwischen den Atria pulmonalia. Es hat die Gestalt eines Eies, das in sa- 
gittaler Richtung länger als in transversaler Richtung breit ist. Es ist grösser als die Atria 
pulmonalia. Seine Höhe beträgt 12 — 13”; seine Dicke in sagittaler Richtung 16”, diese 
in transversaler Richtung 14”. Ausser zwei weiten seitlichen Eingängen in die Atria pul- 
monalia, besitzt dasselbe noch 5 Oeffnungen, nämlich: die Oeffnung für die Vena cava su- 
perior, für die Vena cava inferior, für die Vena coronaria mediana und 2 Oeffnungen in den 
Kammerabschnitt. Das Ostium ven. cavae sup. sitzt in der Mitte der Grenze zwischen 
der oberen und hinteren Wand, und ist 3%” weit. Das Ostium ven. cavae inf. sitzt an 
der hinteren Wand zwischen den Atria pulmonalia, 1” unter dem Ostium ven. cavae sup., 4" 
über dem Suleus céreularis und ist 4” weit. Das Ostium venae cordis medianae sitzt rechts 
unter dem Ostium venae cavae inf. als halbmondförmige Spalte, welche eine Sonde von 1," 
Durchmesser fasst. Die zwei Ostia atrio-ventricularia liegen unten in seiner Basis. 
Weder eine Valvula Eustachii noch eine Valvula Thebesii sind vorhanden. 


Die seitlichen oder unteren oder hinteren Säcke sind die Atria pulmonalia (Tab. 
УШ. Fig. 2. A. 6. b’.) deren jeder wieder in den Sinus pulmonalis und die Auricula 
durch eine tiefe Einschnürung abgetheilt wird. Jedes Atrium pulmonale (b.b’.) liegt 
über dem seitlichen Theile der Basis des Kammerabschnittes zur Seite der Basis des Atrium 
venarum cavarum commune in dem Winkel zwischen dem ersteren und dem letzteren, hinter 
den aus dem Herzen tretenden Arterienstimmen, von einander hinten durch еше 9°” hohe 
und 4” breite, das Ostium ven. cavae inf. enthaltenden, Furche geschieden. Dasselbe hat 
die Gestalt eines von vorn nach hinten comprimirten Würfels, dessen mediale Seite mit 
dem Atrium venarum cavarım commune und dessen untere Seite mit dem Herzkammerab- 
schnitte verwachsen, dessen übrige Seiten aber frei sind. Die Höhe eines jeden beträgt 10”; 
die Dicke in sagittaler Richtung 7 — 9”, die Dicke in transversaler Richtung bis 1”. Jede 
Auricula (а. о’.) entwickelt sich von dem unteren lateralen Theile der hinteren Wand des 
entsprechenden Atrium, knapp über dem Sulcus circularis, steht quer und etwas gekrümmt 
lateralwärts hervor, und bedeckt von hinten her die Wurzel der aus dem Herzen treten- 
den Arterienstämme. Die Auricula dextra ist 6” in transversaler Richtung, 5” in vertika- 


Ara 


MiISSBILDUNGEN. 65 


ler Richtung und 3” in sagittaler Richtung dick. Die Aurieula sinistra ist vor ihrem Ende 
beträchtlich eingeschnürt, 7— 8” in transversaler Richtung lang; 4” an der Basis und 
7” am Ende in vertikaler Richtung und 3” in sagittaler Richtung dick. Ausser den zwei 
Eingängen, dem weiteren in das Atrium ven. cavarum commune, dem engeren in die Auricula, 
hat der Sinus dexter 4, und der Sinus sinister 3 Oeffnungen. Von den vier Oeff- 
nungen des Sinus dexter ist die eine das Ostium ven. cav. accessoriae, die anderen 
drei sind die Ostia ven. »ulm. dext. Das Ostium ven. cav. accessoriae sitzt an dem obe- 
ren hinteren Theile der lateralen Wand des Sinus und ist 2” weit. Von den Ostia ven. 
pulm. sitzen: das grössere Ostium ven. pulm. commune des lateralen rechten Lun- 
genflügels an der lateralen oberen hinteren Ecke; das Ostium ven. pulm. inf. des me- 
dialen rechten Lungenflügels knapp daneben und das Ostium ven. pulm. sup. des- 
selben Lungenflügels, ziemlich weit davon entfernt, an der oberen Wand. Von den 
drei Oeffnungen des Sinus sinister liegen: das Ostium ven. pulm. commune des la- 
teralen linken Lungenflügels an der lateralen oberen hinteren Ecke; das Ostium ven. 
pulm. inf. des medialen linken Lungenflügels hinten neben dem lateralen Rande der 
oberen Wand, und das Ostium ven. pulm. sup. desselben Lungenflügels vorn neben 
dem lateralen Rande der oberen Wand. 


Kammerabschnitt. (Tab. VII. Fig. 1. B., Fig. 2. В.) 


Der Kammerabschnitt stellt, wie gesagt, einen transversal gelagerten, von vorn 
nach hinten comprimirten, vom unteren Rande nach aufwärts und von den Enden zur 
Mitte allmälig dicker werdenden eiförmigen Sack; oder kurzen, breiten, von vorn nach 
hinten comprimirten Hohlkegel dar, dessen Wände bis 17.9 dick, viele Trabeculae car- 
neae, wenige Musculi papillares zeigen. An demselben unterscheidet man: eine vordere 
convexe und eine hintere platte Fläche; einen unteren convexen, stumpfen Rand, eine 
obere Basis mit einem vorderen und hinteren convexen Rande und 6 Oeffnungen, 
4.1. 4 Ostia arteriosa und 2 Ostia atrio-ventricularia. Weder die vordere noch die 
hintere Fläche zeigt einen besonders ausgeprägten Sulcus. Der untere Rand ist an sei- 
ner Mitte nicht ausgeschnitten. Es liegen: über der Mitte der Basis das Atrium ven. 
cav. commune; hinten über den Seitentheilen derselben die Atria pulmonalia; vor 
den Atria pulmonalia in den Seitentheilen der Basalwand jederseits die 2 Ostia arte- 
riosa; zwischen diesen und den Atria pulmonalia in der Basalwand die Ostia atrio- 
ventricularta. 

Seine Grösse ist aus Nachstehendem ersichtlich: 


Die Höhe der Mitte vorn beträgt................. ЕЙ 
CAS NEO Antenne] 1 
Breite Detras et Nee 
ChDickerantder Basislbetrigi AN Ar ON 
« Länge des unteren Randes beträgt............., 2 4 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 9 


66 WENZEL GRUBER, 


Die Länge des vorderen Randes beträgt ..........:....,... м I 
« « « hinteren « « В En CRIER À PSE DE N ‘+ 24% 
« « « Theiles des vorderen Randes zwischen dem Ursprunge der Ar- 
terienstämmenbeträethn m. nn st, AU ED Un SP 1 
« Länge jedes Theiles dieses Randes vor dem Ursprunge der Arterienstämme 
beträgt Er RN NN RR IE He NSP 2% 8 


Durch 4 unvollständige Septa, wovon die 2 der Medianlinie näheren mediale, 
die 2 davon entfernteren laterale genannt werden künnen, wird die ganze Kammer- 
höhle in 5 kleinere Höhlen geschieden, wovon die mittlere die mediane, die zunächst 
liegenden 2 mediale und die an den äussersten Enden gelagerten 2 laterale genannt 
werden können. Die Septa steigen von der Basis zum unteren Rande in vertikaler Rich- 
tung und von der vorderen Wand zur hinteren in sagittaler Richtung durch die Höhle. 
Am oder doch gegen ihr oberes Ende sind sie defect und mit einem Loche versehen. 
Die medialen Septa sind länger und breiter und haben grössere Löcher, die lateralen 
Septa sind kürzer und schmäler und besitzen kleinere Löcher. Die medialen Septa 
stehen von der Medianlinie 4°” und von einander 8”, die lateralen Septa stehen 4—5” 
von den medialen Septa und 3” von der lateralen Wand der Kammerhöhle ab. Die me- 
diane Höhle ist die weiteste; um die Hälfte weniger breit und auch kürzer sind die me- 
dialen Höhlen, am engsten und kürzesten aber sind die lateralen Höhlen. Die me- 
diane und die medialen Höhlen sind in Hinsicht ihrer Gestalt einem vierseitigen 
Keile nicht unähnlich, die lateralen aber haben eine kegelförmige oder dreiseitig 
pyramidale Gestalt. 

Von den 6 Ostia der Basalwand der Kammerhöhle will ich die 2 mittleren me- 
diana, die 2 angrenzenden medialia, und die 2 am seitlichsten gelegenen lateralia nen- 
nen. Die Ostia mediana, welche in das Atrium ven. cav. commune führen, sind die Ostia 
atrio-ventricularia; die medialia, welche in die Aortae leiten, die Ostia arteriosa aor- 
tica; und die Ostia lateralia, durch die man in die Arteriae pulmonales gelangt, die Ostia 
arteriosa pulmonalia. 

Die Ostia atrio-ventricularia liegen in der Mitte, die Ostia arteriosa seitlich und 
vorn an der Basalwand. Von den Ostia atrio-ventricularia ist das eine sehr gross, das 
andere klein. Das Ostium atrio-ventriculare magnum (s. sinistrum) ist quer elliptisch in 
transversaler Richtung 8 — 9”, in der anderen etwa 4— 5°” weit und mit einer Valvula 
multicuspidalis versehen, deren Sehnen von Muskelbalken und Papillarmuskeln beider 
Wände, namentlich der hinteren, des Kammertheiles des Herzens entstehen. Dasselbe ver- 
bindet den Ventr. med. mit dem Atr. ven. cav. comm. Das O. atrio-ventr. minus (s. dextr.) 
liegt neben dem rechten Pole des О. atrio-ventriculare magn., ist rundlich, 2'%, weit und mit 
einer Valv. multicuspidalis versehen. Sie führt aus dem hinteren medialen Theile der Ba- 
sis des Ventriculus medialis dexter in das Atrium ven. cav. commune. Von den Ostia arte- 
riosa, die rundlich sind, entsprechen die aortica den Ventriculi mediales, die pulmonalia 


MisSRILDUNGEN. 67 


den Ventriculi laterales. Das Ostium arteriosum aorticum dextrum besitzt 2, das Ostium arte- 
riosum aorticum sinistrum und jedes der Ostia arteriosa pulmonalia je 3 Valvulae 
semilunares. Die Ostia atrio-ventricularia verbinden somit das Atrium ven. cav. commune un- 
mittelbar mit dem Ventriculus medianus und dem Ventriculus medialis dexter. Nur der Ventri- 
culus medialis dexter hat zugleich ein Ostium atrio-ventriculare (medianwärts) und ein Ostium 
arteriosum (Jateralwärts). Nur 2 Osta haben die Ventriculi laterales, wovon das eine in den 
Ventriculus medialis, das andere in die Arteria pulmonalis führt; 3 Osta besitzt der Ventricu- 
lus medianus, wovon das obere in das Atrium ven. cav. commune, die seitlichen in die Venıri- 
culi mediales leiten; 3 Ostia hat auch der Ventriculus medialıs sinister, wovon das obere in die 
Aorta, das mediale in den Ventriculus medianus, das laterale in den Ventriculus lateralis sinister 
führt; 4 Ostia endlich hat der Ventriculus medialis dexter, wovon das basale mediale ihn mit 
dem Atrium ven. cav. commune, das basale laterale ihn mit der Aorta dextra, das (untere) me- 
diale ihn mit dem Ventriculus medianus, das (untere) laterale ihn mit dem Ventriculus latera- 
hs dexter in Verbindung setzt. 


Herzbeutel. 


Der Herzbeutel hat im Bereiche der oberen Brustapertur eine quer ovale Oeff- 
nung, wodurch er mit dem medianen Pleurasacke zusammenfliesst, und mit diesem am 
Halse einen gemeinschaftlichen Sack von 1’ 3” Höhe und 1” 9” Breite bildet, wel- 
cher bis zur Halscommissur und dem intermediären Schlüsselbeine aufwärts, bis zu den 
Luft- und Speiseröhren, zu den medialen Halsgefässen und Halsnerven seitwärts sich er- 
streckt. Sein Brusttheil liegt im medianen, gemeinschaftlichen, vorderen Mittelfell- 
raume, und enthält den Kammerabschnitt des Herzens. Sein mit dem medianen Pleura- 
sacke zusammengeflossener Halstheil (Tab. VII. Fig. 2. A. A.) erstreckt sich bis zur Hals- 
commissur und dem intermediären Schlüsselbeine aufwärts, bis zu den Luft- und Speise- 
röhren und zu den medialen Halsgefässen und Halsnerven lateralwärts. Derselbe enthält 
den Vorkammertheil des Herzens, die Anfänge der Arterienstämme, einen Theil des Stam- 
mes der Vena cava superior und die oberen Theile der medialen Lungenflügel. 

In den beiden andereren Fällen war ein doppeltes Herz mit einem einfachen, 
aber geschlossenen Herzbeutel zugegen, folglich existirt in Beziehung dieser Organe 
zwischen jenen und diesem Falle keine Analogie. 


Gefässe. (Tab. VII. Fig. 2., Tab. VIII Fig. 1. 2.) 
Arterien. 


Aus jedem seitlichen Theile des Kammerabschnittes des Herzens entspringen 
symmetrisch zwei Arterienstämme, ein medialer und ein lateraler. Beide steigen 
jederseits neben einander und vor dem Atrium pulmonale und seiner Auricula derselben 
Seite aufwärts, jedoch so, dass der mediale Arterienstamm mehr nach rückwärts gelagert 


ist als der laterale. Die Arterienstimme der einen Seite divergiren allmälig im Aufstei- 
* 


68 WENZEL GRUBER, 


gen von denen der anderen Seite. Ihr oberer Abstand beträgt je 17 3— 4”, während ihr 
unterer Abstand nach ihrem Ursprunge, am Sulcus circularis des Herzens nur 1” misst. 
Die rechten Arterienstämme sind etwas schwächer als die linken. Von den rechten ist der 
laterale, von den linken der mediale der stärkere. In Hinsicht ihrer Stärke folgen sie so 
auf einander: Rechter medialer (27, im Durchm.), rechter lateraler (37, — 3'%”), linker 
lateraler (3%), linker medialer (3, — 4”). 

Die medialen Arterienstämme sind die Aortae, die lateralen die Arteriae pul- 
monales communes. Es wird somit eine rechte und eine linke Aorta; eine rechte und 


eine linke Arteria pulmonalis communis zu beschreiben sein. 


Rechte Arterienstämme und ihre Verzweigungen. 


Rechte Aorta (rechter medialer Arterienstamm). 

Die Aorta dextra (Tab. УШ. Fig. 1. С.) entspringt aus dem Ventriculus medialıs 
dexter, steigt medianwärts von der Pulmonalis communis dextra, dann etwas gekrümmt vor 
dieser, ferner vor dem Bronchus medialis dexter und vor dem unteren '/ der Trachea dextra 
aufwärts, um sich in die Carotis lateralis(a.) und die Carotis medialis dextra (a’.) spitz- 
winklig zu theilen. Gleich über ihrem Ursprunge über dem Sinus anterior und der Valvula 
semilunaris anterior giebt sie die Coronaria cordis dextra anterior (a.) ab. Die Carotis 
" über ihrem Ursprunge den Ductus 
Botalli (с.) auf, und die Carotis medialis dextra (sinistra der norm. Е.) giebt 8—3” 
über ihrem Ursprunge von ihrer hinteren Wand die Thyreoidea medialis dextra (sinistra 
der norm. F.) (k.) ab. Uebrigens verzweigen sich beide 1%, — 2” (injicirt) dicke Carotides 
so, wie die Carotis dextra und sinistra der normalen Fälle. 

Die Aorta dextra bildet somit keinen Arcus und setzt sich nicht als Aorta des- 
cendens fort. Sie vertritt nur den Theil des Anfangsstückes der Aorta normaler 
Fälle, der Aorta ascendens oder Radix aortae genannt wird. 


lateralis dextra (dextra der norm. Fälle) nimmt 1”, 


Rechte Arteria pulmonalis communis (rechter lateraler Arterienstamm). 


Die Pulmonalis communis dextra (Tab. VII. Fig. 1. D’, D”; Fig. 2. Е.) entspringt 
aus dem Ventriculus lateralis dexter und liegt lateralwärts neben und vor der Aorta ascen- 
dens derselben Seite. Sie steigt zwischen der Aorta ascendens und Vena cava accessoria auf-, 
vor- und lateralwärts, krümmt sich über dem Bronchus lateralis dexter und über der Pul- 
monalis lateralis dextra nach rückwärts und steigt zwischen der Vena azygos (lateralwärts) 
und dem Oesophagus dexter (medianwärts) zur lateralen Seite der rechten Wirbelsäule herab, 
um diese an deren 4. oder 5. Brustwirbel zu erreichen, und als Aorta descendens (Fig. 1. 
D’”.), die schwächer als die der anderen Seite ist, sich fortzusetzen. Sie übernimmt somit 
dadurch, dass sie den Arcus und die Aorta descendens bildet, die Rolle der eigentli- 
chen Aorta. 

Die 6” lange Pars ascendens des Arcus (Fig. 1. D’.) giebt von der hinteren Wand 


MiSSBILDUNGEN. 69 


ihres Endes die zwei Pulmonales, die P. lateralis dextra (Fig. 2.h.) und P. medialis de x- 
ira (Fig. 2. g.) ab. Erstere entspringt knapp über der letzteren, jene zugleich lateral- 
wärts, diese medianwärts. Die 2” dicke P. lateralis dextra läuft vor, dann über den 
Bronchus lateralis dexter unter dem Arcus der Vena azygos zum lateralen rechten Lungen- 
flügel. Die schwächere P. medialis dextra läuft quer zwischen der Aorta ascendens vor 
dem Bronchus medialis dexter zum medialen linken Lungenflügel. 

Vom eigentlichen Arcus (Fig. 1. D’”.) entstehen der Ductus Botalli; ein gemein- 
schaftlicher Ast für die Subclavia lateralis dextra, Mammaria interna dextra und 
Thyreoidea inferior lateralis dextra; die Vertebralis lateralis dextra und die rudi- 
mentäre Subclavia medialis dexira. 

Der Ductus Botalli (Fig. 1. с.) entspringt von der medialen und theilweise von der 
concaven Seite des Arcus 4 — 5” über dem Ursprunge der Pulmonales, läuft quer median- 
wärts und senkt sich in den Anfang der Carotis lateralis dextra ein. Derselbe ist 2” lang 
und 1), dick. Der genannte gemeinschaftliche Ast (Fig. 1.d.) entsteht weiter rück- 
wärts als dieser und von der oberen convexen Seite des Bogens. Er theilt sich sogleich 
in einen lateralen und medialen, wovon ersterer die Subelavia lateralis dextra 
(Fig. 1. e.), die sich zur rechten oberen Extremität auf gewöhnliche Weise fortsetzt und 
daselbst normal sich verzweigt, letzterer die Mammaria interna (Fig. 1. g.) und die 
Thyreöidea inferior lateralis dextra (Fig. 1. f.) abgiebt. Die Vertebralis lateralis 
dextra (Fig. 1. 1.) entspringt 1” hinter dem Ursprunge dieses Astes und 2'% hinter dem 
des Ductus Botalli von der medialen Seite des Arcus. Sie ist 1— 1), dick. Die rudi- 
mentäre Subclavia medialis dextra (Fig. 1. т.) entsteht, 2, — 3” von dem Ursprunge 
der Vertebralis lateralis dextra entfernt, in der Gegend des 2. Brustwirbels, an der Grenze 
seiner hinteren und medialen Wand, verläuft schief vor der Wirbelsäule und hinter dem 
Oesophagus dexter nach ein- und aufwärts zur intermediären, beide Hälse vereinigenden, 
musculösen Wand, vertheilt sich in mehrere Zweige und endigt als Vertebralis medialis 
dextra. Sie ist 1” dick. 

Die Aorta thoracica dextra (Fig. 1. D’”’.) läuft wie gewöhnlich in der Brusthöhle 
vor der rechten Wirbelsäule herab, und durch den Низ aorticus dexter des Diaphragma in 
die Bauchhöhle, wird zuerst von dem Oesophagus dexter gekreuzt und liegt zuletzt rück- 
und medianwärts von demselben. Dieselbe giebt dieselben Zweige, wie die normaler 
Fälle ab. 

Die 1°,” dicke Aorta abdominalis dexira verläuft vor der rechten Wirbelsäule 
herab und theilt sich am 4. Lendenwirbel in zwei Aeste, in einen sehr starken latera- 
len als ihre Fortsetzung, 4.1. die ПШаса communis lateralis dextra, und in einen schwa- 
chen medialen Ast, 4. 1. die rudimentäre Iliaca communis medialis dextra. 

Von ihrem Anfange bis zu ihrer Theilung giebt sie ihre Aeste in nachstehender 
Reihenfolge ab: Die Coeliaca dextra, welche sich in die gewöhnlichen vier Aeste spaltet; 
gleich darunter die rudimentäre Mesenterica superior dextra, welche die mediane 


70 WENZEL GRUBER, 


Längsgrube der hinteren Bauchwand überspringt und mit der Mesenterica superior sinistra, 
', nach deren Ursprunge, sich vereiniget; unter dieser, 2°” davon entfernt, von ihrer la- 
teralen Seite die einfache Renalis dextra; noch 9 — 10” tiefer von ihrer vorderen und 
lateralen Seite die Mesenterica inf. dextra, deren Ende mit dem der anderen Seite im 
Becken durch eine grosse Schlinge sich vereiniget u. s. w. 

Die Iliaca communis lateralis dextra ist 7 — 8" lang und theilt sie wie gewöhn- 
lich in zwei Aeste, deren Fortsetzungen und Verzweigungen im Becken und an der rech- 
ten unteren Extremität sich so verhalten, wie dieselben normaler Fälle; aber ihre Hypo- 
gastrica giebt keine Umbilicalis ab. Die rudimentäre /liaca communis medialis 
dextra ist ein schwacher Zweig, der 6” unter der Mesenterica inferior dextra von der Aorta 
abdominalis abgeht, medianwärts und abwärts zum intermediären Hüftbeine und von da 
ins Becken herabsteigt, um sich daselbst und an den hinteren inneren Geschlechtsorganen 
zu verlieren. Nicht weit von ihrem Ursprunge giebt sie die Sacralis media dextra ab. 


Linke Arterienstämme und ihre Verzweigungen. 


Linke Aorta (linker medialer Arterienstamm). 

Die Aorta sinistra (Tab. VII. Fig. 1. ©’. C”., Fig. 2. Е.) ist viel stärker als die 
rechte und stärker als alle Arterienstämme überhaupt. Dieselbe entspringt aus dem Ven- 
triculus medialis sinister, steigt medianwärts von der Pulmonalis communis sinistra, vor dem 
Sinus cordis sinister und der Auricula sinistra, weiter oben vor der Pulmonalis medialis sinis- 
tra, dem Bronchus medialis sinister und dem unteren Theile der Trachea sinistra auf-, vor- 
und lateralwärts, krümmt sich über dem Bronchus lateralis sinister und die Pulmonalis late- 
ralıs sinistra nach rückwärts, und steigt endlich, neben dem Oesophagus sinister lateralwärts 
gelagert, zur linken Wirbelsäule abwärts, um deren laterale Seite in der Gegend des 4. 
oder 5. Brustwirbels zu erreichen und von da als Aorta descendens sinistra (Fig. 1. (”.) 
sich fortzusetzen. Sie bildet somit, wie in gewöhnlichen Fällen, einen Arcus und die 
Aorta descendens. | 

Die 8— 9” lange Pars ascendens des Arcus (Fig. 1. С.) giebt über dem Sinus Val- 
salvae anterior und über der Valvula semilunaris anterior: die Coronaria cordis sinistra an- 
terior (Fig. 1. В.) und aus dem Sinus Valsalvae lateralis selbst die Coronaria cordis si- 
nistra posterior (Fig. 2. y.) ab. 

Vom eigentlichen Arcus (Fig. 1. С”.) entstehen: die Carotis lateralis (Fig. 1. b.) 
und medialis sinistra (Fig. 1.b’.); ein kurzer gemeinschaftlicher Ast für die Thyreov- 
dea inferior lateralis sinistra, Subclavia lateralis sinistra und Mammaria interna 
sinistra; die Vertebralis lateralis sinistra und die rudimentäre Subclavia medialis 
sinistra. Derselbe nimmt aber auf: den Ductus Botalli. 

Die beiden Carotides entstehen von der convexen Seite des Anfanges des Arcus und 
sind so dick, wie die der anderen Aorta. Auch giebt die Carotis medialis sinistra wie 
die Carotis medialis dextra von ihrer hinteren Wand und 3— 3", über ihrem Ursprunge 


MissBILDUNGENn. al 


die Thyreoidea inferior medialis sinistra (Fig. 1.1.) ab. Der genannte gemeinschaft- 
liche Ast (Fig. 1. d’.) entspringt 4— 4", hinter dem Ursprunge der Carotides an der 
Grenze zwischen der convexen und medialen Seite des Arcus. Derselbe theilt sich sogleich 
in einen medialen und lateralen Ast. Der mediale Ast ist die Thyreoidea inferior 
lateralis sinistra (Fig. 1. f’.). Der laterale Ast theilt sich wieder in zwei, einen vor- 
deren, Mammaria interna sinistra (Fig. 1. g’.), und einen hinteren, Subelavra lateralis 
sinistra (Fig. 1. e’.). Die Mammaria interna sinistra giebt die Transversa scapulae 
(Fig. 1. h.) ab. Die Subclavia lateralis sinistra verläuft und verzweigt sich an der obe- 
ren linken Extremität auf normale Weise. Die Vertebralis lateralis sinistra (Fig. 2. k.) 
entspringt knapp hinter dem gemeinschaftlichen Aste. Die rudimentäre Subelavia me- 
dialis sinistra (Fig. 1. m’., Fig. 2. 1.) entsteht 3— 3", weiter abwärts von der media- 
len Seite, verläuft und vertheilt sich wie die Subclavia medialis dextra und endiget wie diese 
als Vertebralis medialis sinistra. Der Arcus nimmt 3” rückwärts vom Ursprunge der Ca- 
rotides an seiner lateralen und concaven Seite den Duetus Botalli (Fig. 1. c’.) auf. 

Die Aorta thoracica sinistra (Fig. 1. C””.), als Fortsetzung der Aorta, verläuft und 
vertheilt sich auf ähnliche Weise wie die Aorta thoracica dextra, als Fortsetzung der Pul- 
monalis communis dextra. 

Die Aorta abdominalis sinistra ist 3”, also doppelt so dick als die Aorta abdomina- 
lis dextra. Die beträchtliche Dicke dieser Aorta ist in der Abgabe der unpaaren Umbili- 
calis begründet. Sie läuft vor der linken Wirbelsäule herab und verschmälert sich vom 
5. Lendenwirbel an plötzlich in die auf dem linken Kreuzbeine herabsteigende Sacralis 
media sinistra. Ihre Aeste entstehen in nachstehender Reihenfolge: Die Coeliaca si- 
nistra von ihrer vorderen Seite; 1” tiefer die starke Mesenterica superior sinistra von 
ihrer vorderen Seite; wieder 1” tiefer die Renalis sinistra superior von ihrer lateralen 
Seite; 8” unter dieser die Renalis sinistra inferior; 2” unter dieser die Mesenterica 
inferior sinistra von ihrer vorderen und medialen Seite u. s. w.; endlich am 4. Lenden- 
wirbel von ihrer lateralen Seite ihre Fortsetzung die /liaca communis lateralis sinistra, 
welche sich in die gewöhnlichen zwei Aeste spaltet, deren Zweige im Becken und an der 
linken unteren Extremität auf normale Weise sich verhalten. Ihre Hypogastrica giebt 
die sehr starke unpaare Umbilicalis sinistra, ab. Die [liaca communis medialis si- 
nistra fehlt. 


Linke Arteria pulmonalis communis (linker lateraler Arterienstamm). 


Die Pulmonalis communis sinistra (Tab. УШ. Fig. 1. D., Fig. 2. Е.) ist 13” lang. 
Sie entspringt aus dem Ventriculus lateralis sinister, steigt lateralwärts von der Aorta sinistra, 
unten mehr nach vorn, oben mehr nach hinten gerückt, vor dem lateralen Theile des Sinus 
ати sinistri und der Auricula sinistra aufwärts und senkt sich in die laterale und concave 
Seite des Arcus aortae. Sie giebt 4 — 5” über ihrem Ursprunge, von ihrer medialen Seite, 
nahe der concaven Seite die т dicke Pulmonalis medialis sinistra (Fig. 2. g’.) ab. 


72 WENZEL GRUBER, 


Diese läuft hinter der Pars ascendens der Aorta sinistra, vor dem Oesophagus sinister und dem 
Bronchus medialis sinister zum medialen linken Lungenflügel, 3”” nach Abgabe dieser Arterie 
theilt sich die Pulmonalis communis in einen lateralen vorderen und medialen hinteren 
Ast. Der laterale vordere ist der 4— 5°” lange, 2" dicke Ductus Botalli (Fig. 1.c.), 
welcher auf beschriebene Weise endiget; der mediale hintere ist die 1/,— 2” dicke Pul- 
monalis lateralis sinistra (Fig. 2. №.). Diese krümmt sich gleich nach ihrem Ursprunge 
lateralwärts und verläuft hinter dem Ductus Botalh vor dem Bronchus lateralis sinister zum 
lateralen linken Lungenflügel. Von der medialen Seite ihrer Krümmung giebt diese Pul- 
топайз lateralis sinistra eine kleine Arteria cordis (Fig. 2. В.) ab, welche an der hinteren 
Fläche des Sinus иги’ sinistri sich verzweiget. 


Venen. (Tab. УП. Fig. 1., Tab. VIII. Fig. 1. 2.) 


Körpervenen. 


Die Vena cordis mediana (Tab. VIII. Fig. 2. à.) Sie verläuft in der Medianlinie 
der hinteren Fläche des Kammerabschnittes aufwärts, und mündet durch ein spaltenför- 
miges Ostium in das Atrium venarum cavarum commune unterhalb dem Ostium ven. cav. inf. 
Ausser dieser giebt es noch andere kleinere Herzvenen, die in den Vorkammerabschnitt 
münden. 

Die Vena cava superior (Tab. VII. Fig. 2. a.; Tab. VIII. Fig. 1. E., Fig. 2. C.). 
Dieselbe ist ein 9” langer, 2/,— 3%, weiter Stamm, der unter der Halscommissur und 
unter dem intermediären Schlüsselbeine beginnt, vertikal in der Medianlinie der Doppel- 
missbildung am Halse abwärts steigt und an diesem im Atrium venarum cavarum commune 
cordis, an der Grenze zwischen der oberen und hinteren Wand desselben, ausmündet. Ihre 
unteren zwei Drittel liegen in dem von dem Halstheile des Herzbeutels und des me- 
dianen Pleurasackes gebildeten gemeinschaftlichen Sacke (Tab. УП. Fig. 2. 4. A.); ihr 
oberes Drittel aber ausserhalb dieses Sackes. Der genannte Sack schickt nämlich 
vom oberen Theile der hinteren Wand in der Medianlinie eine vertikale Duplicatur, Liga- 
mentum ven. cav. sup , nach vorwärts, die sich in ihre Blätter theilt und die Vena cava 
superior einhüllt. Sie führt das Blut aus dem ganzen linken Kopfe, ganzen linken Halse, 
der linken oberen Extremität, der medialen Hälfte des rechten Kopfes und des rechten 
Halses, des medianen und linken lateralen Theiles der Brust zurück. Sie entspricht somit 
so ziemlich der Vena cava superior des einen Körpers + den Aesten der Vena anonyma si- 
nistra eines zweiten Körpers. 

Die vorzüglichsten Stämme und Aeste, die sie aufnimmt, sind folgende: 

Die Azygos intermedia (Tab. УШ. Fig. 2. e.). Sie läuft in der Mitte der medianen 
Längsgrube der hinteren Wand der Brusthühie aufwärts und öffnet sich in der hinteren 
Wand der Vena сага, 3°” über deren Ausmündung in das Atrium venarum cavarum commune. 
Ihre Verzweigungen entsprechen jenen der Vena azygos und Vena hemiazygos des einen Kör- 
pers + der Vena hemiazygos eines zweiten. 


MissPRILDUNGEN. 73 


Die /ugularis interna medialis dextra (Tab. УП. Fig. 2. с.; Tab. VII. Fig. 1. n., 
Fig. 2. e.). Sie öffnet sich an der rechten Wand des oberen Endes der Vena cava. 

Ein Communicationsast (Tab. УП. Fig. 2. e.e.; Tab. VIII. Fig. 1. o., Fig. 2. р.) 
zwischen der Jugularis interna lateralis dextra und der Vena cava superior. Derselbe entsteht 
von der Jugularis interna lateralis dextra (Tab. VII. Fig. 2. f.), 2” über ihrer Verbindung 
mit der Subclavia dextra, verläuft über dem Arcus der Pulmonalis communis dextra vor den 
beiden Carotides und der Trachea unter der Glandula thyreoidea nach auf- und medianwärts, 
nimmt zwei Subthyreordeae auf, und mündet unter der fugularis interna medialis dextra in die 
Vena cava. 

Ein 4” langer gemeinschaftlicher Ast (Tab. УП. Fig. 2. 6.; Tab. VIII. Fig. 1.p., 
Fig. 2. d.), der sich an der linken Wand des oberen Endes der Vena сага öfinet und aus 
der /ugularis interna medialis sinistra (Tab. УП. Fig. 2. ©; Tab. VII. Fig. 1. 4., 
Fig. 2. e’.) und der Anonyma sinistra entsteht. 

Die Anonyma sinistra (Tab. УП. Fig. 2. d.; Tab. УШ. Fig. 1. r., Fig. 2. f.) nimmt 
aber: die Jugularis interna lateralis sinistra (Tab. УП. Fig. 2. f”.), die Subelavia si- 
nistra (Tab. VII. Fig. 2. g’.), die Mammaria sinistra (Tab. УП. Fig. 2. &.) u. s. w. auf, 
läuft wie der Communicationsast, zwischen der /ngularis interna lateralis dextra und Vena 
cava, auf- und medianwärts, ist aber viel stärker wie dieser. 

Die Vena cava inferior. Dieselbe ist ein 2” langer und 4'/” weiter Stamm, wel- 
cher aus der Vereinigung der Iliaca comm. later. sinistra, aus der rudimentären /liaca 
comm. med. sin. und aus dem medialen Aste der /№аса comm. dext. etc. entsteht. Die /liaca 
comm. later. sin. entsteht aus der Шаса ext. und Hypogastrica, die die gewöhnlichen 
Aeste und Zweige von der unteren linken Extremität und aus dem Becken aufnehmen, 
verläuft lateralwärts von der Aorta abdom. sin. bis 3” unter dem Ursprunge der Art. mesen- 
terica superior herauf, dann unter dieser und vor der Aorta medianwärts, um, bevor sie die 
Aorta kreuzt, die zwei Renales sinistrae und die Suprarenalis sinistra einmünden zu lassen, 
und, nachdem sie dieselbe gekreuzt hat, sogleich die schwächere und rudimentäre /liaca 
communis mediahs aufzunehmen, welche ihre Zweige aus dem Becken und aus der media- 
nen Längsgrube der hinteren Wand des Bauches erhält. Der dadurch entstandene 14” 
lange Stamm steigt in genannter Längsgrube schief aufwärts und dringt in die hintere Le- 
berabtheilung vor ihren hinteren ”,, um hier sogleich den 6 laugen medialen Ast der 
Iliaca communis lateralis dextra aufzunehmen. Die so gebildete Vena cava inferior 
liegt nun mit ihren unteren °/, (1/,) theils in der kleineren Leberabtheilung, wo sie 
kleinere Lebervenen aus dieser und den Ductus venosus aufnimmt, theils über und 
hinter der Mitte der grossen Leberabtheilung, von der sie zwei grosse Leberve- 
nen empfängt, dringt dann durch das Foramen quadrilaterum des Zwerchfelles, steigt mit 
ihrem letzteren Y, (6”) im Herzbeutel, nur vorn von dessen serösem Blatte überzogen, 
vertikal aufwärts und mündet 1” unterhalb der Vena cava superior in der Mitte der hinteren 
Wand des Atrium ven. cav. commune in dessen Höhle (Tab. VIII. Fig. 2. D.). 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VII" Serie. 


10 


74 WENZEL GRUBER, 


Die Vena cava accessoria (Tab. VIII. Fig. 1. F., Fig. 2. H.). Dieselbe ist ein 4” 
langer, 2/,— 3” dicker Stamm, der durch Vereinigung der Anonyma dextra und der 
Vena azygos (dextra) als Fortsetzung des Hauptstammes der Iliaca communis late- 
ralis dextra entstanden ist. Die /liaca communis lateralis dextra entsteht aus der 
Ihaca externa und Hypogastrica, deren Aeste und Zweige sich wie gewöhnlich verhalten, 
verläuft lateralwärts von der Aorta abdominalis dextra aufwärts und theilt sich in der Ge- 
gend des 3. Lendenwirbels in einen schwachen medialen und starken lateralen Ast. 
Der mediale Ast läuft hinter der Aorta medianwärts, nimmt die Vena suprarenalis dex- 
tra auf und verbindet sich mit der Vena cava inferior. Der starke laterale Ast, nachdem 
er über und unter dem Abgange des medialen Astes je eine Renahs dextra aufgenommen 
hatte, dringt an der lateralen Seite der Aorta durch den Hiatus aorticus dexier des Dia- 
phragma, und setzt sich in der Brusthöhle lateralwärts von der Aorta thoracica dextra als 
Azygos dextra (Tab. VII. Fig. 1.t., Fig. 2.@.) fort. Diese krümmt sich über dem Bron- 
chus laterahs dexter nach vorn und verbindet sich mit der Anonyma dextra (Tab. УП. 
Fig. 2. h.; Tab. УШ. Fig. 1. s.), welche die mit der Vena cava superior durch einen lan- 
gen Ast verbundene /ugularis interna lateralis dextra (Tab. УП. Fig. 2. f.), Subelavia 
dextra (Tab. VII. Fig. 2. g.) aufnimmt. Beide bilden die Vena cava accessoria, welche 
vor dem Bronchus lateralis dexter und den Vasa pulmonalia lateralia dextra lateralwärts und 
etwas rückwärts von der Arteria pulmonalis communis dextra abwärts steigt und am oberen 
Theile der lateralen Wand des Sinus pulmonalis dexter cordis in desssen Höhle sich öffnet. 


Lungenvenen (Tab. VIII. Fig. 2.). 


Pulmonales giebt es 6, wovon 3 der rechten und 3 der linken Lunge angehören, 
die der rechten in den rechten Sinus pulmonalis cordis, die der linken in den linken Sinus 
pulmonalis cordis münden. Von den 3 ist die eine die Pulmonalis lateralis, die anderen 
sind die Pulmonales mediales. Jeder der 2 Pulmonales laterales(o.o’.) entsteht aus dem 
lateralen Lungenflügel mit zwei Zweigen, die sich zu einem 2” langen gemein- 
schaftlichen Aste verbinden, der in dem oberen hinteren lateralen Winkel je eines Si- 
nus pulmonalis cordis sich öffnet. Die Pulmonales mediales kommen von den medialen 
Lungenflügeln, wovon die 2 Pulmonales mediales dextrae (m.n.) an der oberen Wand 
des Sinus pulmonalis dexter, die Pulmonales sinistrae (m’.n’.) an derselben Wand des Sinus 
pulmonalis sinister ausmünden. 

Lymphgefässe. 
Konnten nicht untersucht werden. 
Das Gefässsystem dieses Falles ist verschieden von dem der beiden ande- 


ren Fälle. 
Nerven. 


Sie verhalten sich auf ähnliche Weise wie die im Prager Falle. 


MissBILDUNGEN. 


Erklärung der Abbildungen. 


Tab. I. 


Fig. 1. 
Linkes durch eine Quernath getheiltes Parietale 
eines Embryo. 
a. Oberes Stück. 
b. Unteres Stück. 


я Quernath. 
Fig. 2. 
Proencephalus mit Defecten. 
Tab. IT. 


Herz mit einem Foramen im Septum ventri- 

culorum. Verschmelzung der Radix aortae 

und der Arteria pulmonalis communis zu 
einem gemeinschaftlichen Stamme. 


Fig. 1. 
Vordere Ansicht. 
Herz. 
Gemeinschaftlicher Stamm f. d. Radix aortae 
und Art. pulm. communis. 
_ Rechtes Atrium. 
Linkes Atrium. 
Rechter Ventrikel. 
Linker Ventrikel. 
Arcus aortae. 
Art. pulm. communis. 
Art. anonyma. 
Art. pulm. dextra. 
Art. pulm. sinistra. 
Ligamentum aorticum. 
Vena cava superior. 
m.m.Ven. pulm. sinistrae. 


w à 


мл SS DT &R 9 S 8 


о. Rechte Auricula. 
ß. Linke Auricula. 
Fig. 2. 
Hintere Ansicht. 
a.— m.m. wie Fig. 1. 
n.n. Ven. pulm. dextrae. 
о. Ven. cav. inferior. 
a.—$. wie Fig. 1. 
у. Ven. pulm. tertia dextra. 


Fig. 3. 
Ansicht der rechten Ventrikelhöhle. 


a. Rechter Ventrikel я 

Е у aufgeschnitten. 

с. Rechtes Atrium. 

d. Linke Auricula. 

e. Gemeinschaftlicher Stamm f.d. Radix aortae 
und Art. pulm. communis. 

|. Arcus aortae. 

g. Art. pulm. communis. 

h. Art. pulm. dextra. 

© Art. pulm. sinistra. 

k. Lig. aorticum. 

1. Art. anonyma. 

m. Ven. cav. superior. 

a. Grössere Abtheilung des Septum ventricu- 


lorum. 

8. Kleinere Abtheilung des Septum ventricu- 
lorum. 

у. Foramen anomalum im Septum ventricu- 
lorum 


5. Valvula tricuspidalis. 


г. Valvula semilunaris dextra. 
{ Valvula semilunaris sinistra. 
Fig. 4. 
Ansicht der linken Ventrikel-Höhle. 

a. Linker Ventrikel. 
Lappen der vorderen Wand des aufgeschnit- 

tenen rechten Ventrikels. 
Linker Sinus. 
Linke Auricula. 
Arcus aortae. 
Art. palm. communis. 
Art. pulm. dextra. 
Art. pulm. sinistra. 
Ven. pulm. sinistrae. 
Ven. cav. inferior. 
Septum ventriculorum. 
Foramen anomalum im Septum ventricu- 

lorum. 
Valvula tricuspidalis. 
Ostium atrio-ventriculare sinistrum. 
Valvula semilunaris dextra. 
Valvula semilunaris sinistra. 


> 


<>. 


ARR TR 


nom. 


Во. 5. 
Querdurchschnitt des gemeinschaftlichen Stam- 
mes f. d. Radix aortae und Art. pulm. commu- 
nis über dem Bulbus. 
a. Valvula semilunaris dextra und Sinus Val- 
salvae. 

6. Valvula semilunaris sinistra und Sinus Val- 
salvae. 

и. Spalte zwischen beiden. 


В. Oeffnung der Art. coronaria cord. dextra. 
a « « « « « sinistra. 
Tab. Ш. 

Fig. 1. 


Herz mit Defect seines Septum ventriculorum, 
zugleich mit wichtigen Anomalien der Arterien- 
und Venenstämme. 


1. Schilddrüse. 

2.  Luftröhre. 

3. Herz. 

3. Rechtes Atrium. 
3". Linke Auricula. | 


WENZEL GRUBER, 


3”, Ventrikel-Abschnitt. 
4.4. Lungenflügel. 

5. Speiseröhre. 

A. Aorta ascendens. 

B. Art. pulm. communis. 
. Arcus derselben. 

. Aorta descendens (von derselben gebildet). 
C. Ven. cav. superior dextra. 

С’. Ven. сах. superior sinistra. 


a. Art. carotis dextra. 

a’. Art. carotis sinistra. 

b. Art. pulm. dextra. 

b. Art. pulm. sinistra. 

c. Art. subclavia dextra. 

с’. Art. subclavia sinistra. 

d. Ven. jugularis int. dextra. 
Ф. Ven. jugularis int. sinistra. 
e. Ven. subelavia dextra. 

г. Ven. subelavia sinistra. 

|. Ven. azygos dextra. 

Г. Ven. azygos sinistra. 

a. Art. vertebralis dextra. 

©. Art. vertebralis sinistra. 

В. Art. thyreoidea inf. dextra. 
8. Art. thyreoidea inf. sinistra. 
y. Ven. subthyreoidea dextra. 
у. Ven. subthyreoidea sinistra. 


Fig. 2. 
Thoracogastrodidymus. I. Fall. 
a. Höcker zwischen den Hälsen. 


Tab. IV. 
Thoracogastrodidymus. I. Fall. Skelet. 
Fig. 1. 

Kopf- und Stamm-Skelet. Vordere Ansicht. 

a. DBrustbein (knorplig). 

b. Intermediäres Schlüsselbein. 

c.c.c.c.c.c. Intermediäre obere Rippenbögen. 

d.d.d. Ligamenta zwischen den medialen Quer- 
fortsätzen der Lendenwirbel beider Wir- 
belsäulen. 

a. Knorpliger Brustbeinfortsatz. 

8. В. Processusacromialesdesintermediären Schul- 
terblattes. 


а. 


6.5. 


MissSBILDUNGEN. И 


Fig. 2. 
Dasselbe. Hintere Ansicht. 


Intermediäres Schulterblatt. 
b.b.b.b. Intermediäre untere Rippenbögen. 


с. с. с. с. c. Ligamenta zwischen den medialen Quer- 


fortsätzen der Lendenwirbel beider Wir- 
säulen. 


Fig. 3. 


Intermediäres Brust-, Schlüsselbein-, Schulter- 


а ря >в 


@ 
. 


CA 


K 5 


re 


gerüst. Ansicht von oben und vorn. 
Intermediäres Schlüsselbein. 
Brustbein. 
Intermediäres Schulterblatt. 


. Laterale Schlüsselbeine. 


Schlüsselbeinkörper. 


.В. Processus condyloidei anteriores desselben. 


Processus condyloidei posteriores desselben. 
Knorpliger Brustbeinfortsatz. 


. Processus acromiales des intermediären 
Schulterblattes. 
Fig. 4. 
Dasselbe. Seitliche Ansicht. 


Intermediäres Schlüsselbein. 

Brustbeinfortsatz. 

Intermediäres Schulterblatt. 

Körper des intermediären Schlüsselbeines. 

Processus condyl. ant. dexter desselben. 

Processus condyl. post. dexter desselben. 

Oberer rechter Randdes intermediären Schul 
terblattes. | 

Unterer Rand des intermediären Schulter- 
blattes. 

Verschmolzene Processus coracoideus und 
condyloideus desselben. 

Spina dextra desselben. 

Processus acromialis dexter desselben. 

Mediane Crista der hinteren Fläche desselb. 

Ausschnitt zwischen dem Processus acromia- 
lis dexter und dem verschmolzenen Pro- 
cessus coracoideus und condyloideus. 

Fossa supraspinata dextra. 

Fossa infraspinata dextra. 


Fig. 5. 


Intermediäres Schulterblatt. Hintere Ansicht. 


a.a. Obere Ränder. 


Unterer Rand. 
Mediane Crista. 


d. d. Spinae. 


Verschmolzene Processus coracoideus und 
condyloideus. 


В.В. Processus acromiales. 
у. у. Winkel. 
5.5. Kartenherzförmiges Loch zwischen den Wur- 


zeln der Processus acromiales. 


e.c. Fossae supraspinatae. 
6.6. Fossae infraspinatae. 


Tab. V. 
Thoracogastrodidymus II. Fall. 


Fig. 1. 
Vordere Ansicht. 


Fig. 2. 
Hintere Ansicht. 


Tab. VI. 
Thoracogastrodidymus II. Fall. 


Fig, 1. 
Regio ano-perinealis. 
Mons veneris. 


5.6. Labienähnliche Wülste. 
c.c. Labia majora. 
d.d. Labia minora. 


Vestibulum. 

Introitus vaginae ant. 

Introitus vaginae post. (in der eine Sonde 
steckt). 

Viereckiger Hautlappen am Perineum. 


1.1. After. 


Flache Erhöhung zwischen den Aftern. 


Fig. 2. 
Stamm-Becken-Skelet. Hintere Ansicht. 


1 — 4. Intermediäre obere Rippenbögen. 
5— 6. Triangelförmige Rippenbögen. 
7— 12. Mediale Rippen. 


78 


WENZEL GRUBER, 


13. Hinteres Ende des intermediären Schlüssel- | 6.6. Tubae Fallopianae des vorderen Geschlechts- 


beines. 
14. Intermediäres Schulterblatt. 
15. Intermediäres Hüftbein. 
и. Kartenherzförmige Abtheilung desselben. 
8. Rundliche Abtheilung desselben. 
y. Lig. scapulo-claviculare. 
Fig 
Becken. 
a.a. Lendentheile der Wirbelsäulen. 
b.b. Kreuzbeine. 
с. с. Steissbeine. 
4. 4. Laterale Hüftbeine. 
е.е. Oberschenkelknochen. 
f. Intermediäres Hüftbein. 
a. Kartenherzförmige Abtheilung. 
ß. Rundliche Abtheilung. 


Fig. 4. 
Musculatnr der intermediären Halsregion. 
a. Intermediäres Schlüsselbein. 
$. Brustbein. 
c.c. Laterale Schlüsselbeine. 
d. Lig. sterno-claviculare. 
e.e. Mm. sternocleidomastoidei mediales. 
f.f. Mm. sternohyoidei mediales. 
9.9. Mm. omohyoidei mediales. 
h.h. Mm. sternothyreoidei mediales. 
1.1. Mm. sternohyoidei laterales. 
k.k. Mm. sternothyreoidei laterales. 
1.1. Mm. sternocleidomastoidei laterales. 


Tab. VII. 
Thoracogastrodidymus II. Fall. 
Fig. 1. 
Harn- und Geschlechtsorgane. 

. Rechte Niere. 
. Linke Niere. 
. Rechte Harnleiter. 
’. Linke Harnleiter. 
. Harnblase. 

Vordere weibliche Geschlechtsorgane. 
.  Recta. 
. Hintere weibliche Geschlechtsorgane. 


1 
1 
2 
2 
3 
5 
6 
a. a. Ovarien des vorderen Geschlechtsapparates. 


apparates. 
c.c. Ligamenta rotunda 
schlechtsapparates. 
d. Uterus des vorderen Geschlechtsapparates. 
e. Vagina des vorderen Geschlechtsapparates. 
a’.a’.Ovarien des hinteren Geschlechtsapparates. 
р. р’. Tubae Fallopianae des hinteren Geschlechts- 
apparates. 
d’. Uterus des hinteren Geschlechtsapparates. 
г. Vagina des hinteren Geschlechtsapparates. 
a. Solider Theil der Vagina post. 
8.  Kanalartiger Theil der Vagina post. 
у.  RechteGlandula Bartholiniana d. Vagina ant. 


des vorderen Ge- 


Eig. 2. 
Halsorgane. 


1.  Brustbein. 

2.2. Laterale Schlüsselbeine. 

3.3. Schilddrüsen. 

4.4. Luftröhren. 

5.5. Thymus. 

6. 6.6.6. Art. carotides. 

7.7. Art. subelaviae laterales. 

8.8. Plexus axillares. 

А.А. Gemeiuschaftlicher Sack des Halstheiles des 
Herzbeutels u. des medianen Pleurasackes 

B. Atrium venarum cavarum commune. 

C. Linker medialer Lungenflügel. 

a. Ven. сах. superior. 

b. Gemeinschaftlicher Ast 4. Ven. jug. int. me- 
dialis sinistra u. d. Ven. anonyma sinistra. 

с. Ven. jugularis int. medialis dextra. 

с’. Ven. jugularis int. medialis sinistra. 

d. Ven. anonyma sinistra. 

e.e. Communicationsast zwischen der Ven. cav. 
sup. u. d. Ven. jug. int. lateralis dextra. 

. Jugularis int. lateralis dextra. 

. Jugularis int. lateralis sinistra. 


g. Ven. subclavia dextra. 

$. Ven. subclavia sinistra. 

h. Ven. апопуша dextra. 

a Ven. mammaria interna sinistra. 
B.B.B.ß. Ven. subthyreoideae. 

8.8.8”. Ven. thyreoideae mediae. 


MissBILDUNGEN. 79 


Tab. VII. 


Thoracogastrodidymus II. Fall. Respirations- 


12 
2.2. 
3. 3. 
4. 4. 
4.4. 
47.47. 
5. 5. 
А. À’. 
À. 

A’. 


organe, Herz, Gefässe. 


Fig. 1. Vordere Ansicht. 


Herz. 

Schilddrüsen. 

Luftröhren. 

Lungen. 

Mediale Lungenflügel. 

Laterale Lungenflügel. 

Speiseröhren. 

А”. Vorkammerabschnitt. 

Atrium ven. cav. commnne. 

Auricula dextra. 

Auricula sinistra. 

Kammerabschnitt. 

Aorta ascendens dextra. 

Aorta sinistra. 

Arcus aortae sin. 

Aorta descendens. 

Art. pulm. communis sinistra. 

Art. pulm. communis dextra. 

Arcus derselben. 

Aorta descendens derselben. 

Ven. cav. superior. 

Ven. cav. accessoria. 

Art. carotis lateralis dextra. 

Art. carotis medialis dextra. 

Art. carotis lateralis sinistra. 

Art. carotis medialis sinistra. 

Ductus Botalli dexter. 

Ductus Botalli sinister. 

Gemeinschaftlicher Ast der Art. subclavia, 
thyreoidea inf. u. mammaria int. der rech- 
ten Seite. 

Gemeinschaftlicher Ast der Art. subclavia, 
thyreoidea inf. u. mammaria int. der lin- 
ken Seite. 

Art. subelavia lateralis dextra. 

Art. subclavia lateralis sinistra. 

Art. thyreoidea inf. lateralis dextra. 

Art. thyreoidea inf. lateralis sinistra. 

Art. mammarıa interna dextra. 

Art. mammaria interna sinistra. 


SEIN TPT > 


8 RRE Sr 


LT 
2. 2. 
2.2. 
аа. 
3. 

Э. 


Ce 


SRRN=RTORE 


RS = 


Art. transversa scapulae sinistra. 

Art. vertebralis lateralis dextra. 

Art. thyreoidea inferior medialis dextra. 

Art. thyreoidea inferior medialis sinistra. 

Art. subelavia medialis dextra. 

Art. subclavia medialis sinistra. 

Ven. jugularis int. medialis dextra. 

Communicationsast zwischen d. Ven. cav. 
superior und Ven. jug. interna lateralis 
dextra. 

Gemeinschaftlicher Ast der Ven. jug. in- 
terna medialis sinistra und anonyma si- 
nistra. 

Ven. jugularis int. medialis sinistra. 

Ven. anonyma sinistra. 

Ven. anonyma dextra. 

Ven. azygos (dextra). 

Ven. jugularis int. medialis dextra. 

Ven subclavia dextra. 


Fig. 2. 
Hintere Ansicht. 


. Herz. 

Lungen. 

Mediale Lungenflügel. 

. Laterale Lungenflügel. 

Linke Luftröhre. 

Lateraler rechter Bronchus. 

Lateraler linker Bronchus. 

Vorkammerabschnitt. 

Kammerabschnitt. 

Ven. cav. superior. 

Ven. cav. inferior. 

Aorta sinistra. 

Art. pulm. communis dextra. 

Ven. azygos (dextra). 

Ven. cav. accessoria. 

Atrium ven. cav. 

Atrium pulmonale dextrum. 

Atrium pulmonale sinistrum. 

Ven. azygos intermedia. 

Gemeinschaftlicher Ast der Ven, jugularis 
interna medialis sinistra und anonyma 
sinistra. 

Ven. jugularis int. medialis dextra. 


80 


RES 


5 


= 


Sr». 


re, 


WENZEL GRUBER, MiISSBILDUNGEN. 


< 
. 


Ven. pulm. medialis sinistra superior. 


Ven. anonyma sinistra. m 
Communicationsast zwischen der Ven. cav.|n. Ven. pulm. medialis dextra inferior. 
superior und Ven. jugularis interna la- |n’. Ven. pulm. medialis sinistra inferior. 
teralis dextra. o. Stamm der Ven. pulm. laterales dextrae. 
Art. pulm. medialis dextra. 0’. Stamm der Ven. pulm. laterales sinistrae. 
Art. pulm. medialis sinistra. я. Auricula dextra. 
Art. pulm. lateralis dextra. œ.  Auricula sinistra. 
Art. pulm. lateralis sinistra. 8. Ramus art. pulm. lateralis sinistrae zum 
Art. subelavia lateralis sinistra. Atrium pulm. sinistrum. 
Art. vertebralis lateralis sinistra. Y. Art. coronaria cord. sinistra posterior. 
Art. subelavia medialis sinistra. 5. Ven. cord. mediana. 
Ven. pulm. medialis dextra superior. 
Ip OA — 
Berichtigungen. 
8. 46. И. 8 v. u. 1. Knochen st. Kochen. 
S. 61. Z. 17 v. о. 1. Geschlechtsorgane st. Geschtsorgane. 


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TORRES 


MÉMOIRES 


L’ACADEMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES DE ST.-PETERSBOURG, VI SÉRIE. 
Tome I, №3. 


BEITRAG ZUN VERSTÄNDNISS 


LIBER CENSUS DANIAE. 


Vox 


€. Schirren. 


Analyse und Kritik 


der Schrift Georgs von Brevern: Der Liber Census Daniae und die Anfänge der 
Geschichte Harriens und Wirlands (1219—1244). 


Der Akademie vorgelegt am 20. Mai 1859. 


St. PETERSBURG, 1859. 


Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: 
in St. Petersburg in Riga in Leipzig 
Eggers et Comp, Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Preis: 1 В. 15 Кор. = 1 Thlr 8 Мот. 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. р 
К. Vesselofski, beständigeı 


Im December 1859. 


Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


Vorbemerkung. 


Die nachfolgende Analyse und Kritik hatte zunächst die Aufgabe, den akademischen Richtern 
über den Preis Demidow die Beurtheilung eines aus Specialuntersuchungen mühsam hervor- 
gearbeiteten Werkes zu erleichtern. Demnächst mochte bei der historischen Bedeutung des Liber 
Census Daniae die Veröffentlichung dieses «Beitrages zu seinem Verständniss» gerechtfertigt er- 
scheinen, so wenig es auch im Verlaufe dreier ihm zugemessener, durch Berufsarbeiten ohnehin 
lebhaft in Anspruch genommener Monate dem Verfasser hatte gelingen können, bei Behandlung 
eines sehr spröden Stoffes, strengeren Ansprüchen auch in der Form gerecht zu werden. Wenn 
dann vollends die Kaiserl. Akademie der Wissenschaften ihm die Ehre hat anthun wollen, 
seine Schrift in den Bestand ihrer Memoiren aufzunehmen, so kann nur eine sechsmonatliche 
Abwesenheit aus dem Reiche erklären, wie der Verfasser es sich habe versagen müssen, die hastig 
abgefasste Schrift vor der Veröffentlichung einer Revision und Feile zu unterwerfen. Es war ihm 
nach der Heimkehr nur vergönnt, einige Beiträge zum Druckfehlerverzeichniss zu liefern und in 
dieser kurzen Vorrede dringend um dessen Benutzung zu bitten, vor Allem zu folgenden Correc- 
turen: 5. 86. 2.17. у. u. st. zur Zeit 1. zum Zins; В. 120. Z. 16. v.o. st. Namen 1. Normen. Das 
expttit aber auf SS.125 und 126. wird verständlich nur bei Vergleichung mit dem Facsimile auf 
846227. 17. 


Dorpat, im November 1859. 


LE tnt 


+ 


Kurze Inhaltsübersicht. 


Seite 
Einleitungs er nein era sehecmsesmeneuesscessacamen neue sise een 1— 2 
A. Analytischer Theil ............,... else seele lernen ока 3— 26 
Bsekritischer.Lheil-r oe esse seines osseuse es Ds nee ee dise ose 06 19—128 
Einleitung. Kritik der Methode des Verfassers ........... ere 19— 34 


I. Kritik der Deductionen des Verfassers zur Zeitbestimmung des Liber 
ESS о сос ооо ооо ооо ооо оао С 35— 65 
II. Kritik der Auffassungen des Verfassers vom dänisch-estnischen 
Lehnssystem, den kirchlichen Dotationen und den Infeudationes 
dECHHArUMI. ее еее вены Зоо .. 16— 95 
Ш. Kritische Erörterungen über Character und Ursprung ‚des Lib. Cens. 96—128 
Зена че ола паре еее > 129—137 


S. 6 Z. 14 v. 
- 22 - 18 у. 
- 23 - 11 v. 
- 26 - 16 v. 
=26 - Эу. 
50-1 м: 
- 88 - 9 v. 
- 48 - Ту. 
- 46 - 9 v. 
-53 - 4v. 
- 54 - Av. 
- 54 - 11 v. 
- 56 - 10 v. 
- 57 - 14 v. 
- 57 - 20 v. 
- 74 - 12 v. 


Druckfehler. 


u. st. Rückhalte 1. Rückhalt. 


u. 
0. 


Я 


- der Nachtrag 1. den Nachtrag. 

- hist. L. 1. hist. Г. 

- Wenn die 1. Wenn dann. 

- leben 1. lebten. 

- in seinen 1. seinen. 

- Suertoghae 1. Suortoghae. 

- vermuthlich 1. vornemlich. 

- diese besonderen 1. diesen beson- 
dere. 

- entwickeln 1. ermitteln. 

- ruinarum ]. ruianorum. 

- sie bereiten vor 1. bereiten sie vor. 

- zu einem ]. zu jenem. 

- festern 1. festen. 

- darvedir 1. darvndir. 

- Urkunden 1. Urkunde. 


75 2.17 v. 
88 - 1у 
86 - 17 v. 
89 - Av 
99 - 17 v. 
102 - 12 v. 
103 - 15% 
105 - 10 v. 
105 - Шу. 
110 - 1v 
118 - 16 v. 
120 - 16 у. 
127 - 13 v. 
129 - 4v 
129 - 17 v. 
131 - Av 


So2eE2229 228585850 


© 


st. reichten 1. reichen. 


- de zene 1. de Jene. 

- zur Zeit 1. zum Zins. 

- Hermodus 1. Hermodus, 

- in der Frage 1. der Frage. 

- toil 1. Koil. 

nach 1. noch. 

- Uutial 1. Untial. 

- dominus 1. dominus rex. 

- Besitztitel 1. Besitzer. 

- patronynisch 1. patronymisch. 

- Namen 1. Normen. 

- sonst nur aus 1. sonst aus. 

- angedeutet, ljegen 1. angedeutet 
liegen. 

- gut geführtes 1. gut gefügtes. 

- in kraft 1. in Kraft. 


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BEITRAG 


ZUM 


VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 


Von €. Schirren. 


Eınleitung. 


Die Einsicht erst, wie Staaten und Colonien geworden sind, eröffnet das volle Ver- 
ständniss ihrer Entwickelung, und so lange historische Continuität ihr Recht behauptet, wird 
die Gegenwart Licht verlangen und empfangen auch von der ältesten Zeit. Aus diesem 
Verlangen erklärt sich die Ungeduld, mit welcher die Nachkommenschaft jener Männer, 
die vor sieben Jahrhunderten in den nunmehr russischen Ostseeprovinzen eine deutsche 
Colonie zu gründen unternahmen, der zusammenhängenden Darstellung der Ereignisse 
entgegensieht, welche vom Anfang herabgeführt haben zu dem, worin heute das Geschick 
dieser Landschaften sich vollzieht. Dieser Ungeduld begegnet seit langem ein bedächtiges 
Vorarbeiten, zu langsam, um überall gewürdigt zu werden, zu erfolgreich, als dass beson- 
nene Richter sich täuschen könnten über Ziel und Wege. 

Es ist von glücklicher Bedeutung für den Fortgang ernstgemeinter Forschung, dass 
dem jüngsten Werke, welches die livländische Geschichte darzustellen unternimmt, gleich- 
zeitigeine jener gründlichen Untersuchungen“) zur Seite tritt, welche eine Fülle bewegten 
Lebens vor Augen ruft dort, wo der historische Tourist nur einem armseligen Schein der 
Oberfläche vorüber geeiltist. Auf den ersten Blick freilich scheint es eine unfruchtbare Mühe. 
Um die Geschichte einer kleinen Provinz zu entziffern, werden selten benutzte Pergament- 
blätter und einige hundert Urkunden zergliedert, verglichen und vielfach erörtert: Namen 
reihen sich an Namen; Hypothese wird gegen Hypothese gewogen; allein der Gewinn ist 


*) Studien zur Geschichte von Liv- Est- und Kurlands von Georg von Brevern. Ister Band. Der Liber Cen- 
sus Daniae und die Anfänge der Geschichte Harrien und Wirlands (1219-1244). Dorpat (Leipzig bei Г. Voss) 1858. 
1 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 


2 EINLEITUNG. 


nicht ein trocknes Nichts: eine erinnrungsreiche Vergangenheit tritt uns vor die Seele und 
wo es ihr an lebendiger Wahrheit etwa gebricht, da trägt nicht die nüchterne Untersu- 
chung die Schuld, vielmehr die Untersuchung ist nicht nüchtern genug geblieben. 

An drei Documente vorzüglich ist die älteste Geschichte der drei Ostseeprovinzen 
gebunden; an das älteste, an die Chronik Heinrich’s des Letten, Livland; an das jüngste, 
die Reimchronik, Kurland'); zwischen beiden fällt Estland der «Liber Census Daniae» zu. 
Für die Geschichte erschöpfend ausgebeutet ist noch keines, am wenigsten das Document, 
auf dessen Deutung die Einsicht beruht in die ältere Geschichte der deutschen Colonie in 
Estland. Seit Suhm es veröffentlichte in den Scriptores Rerum Danic. VII, seit Knüpffer und 
Paucker es wieder abdruckten, und die Antiquités Russes”) ein Facsimile, das Livländische 
Urkundenbuch”) eine Nachbildung des Facsimile brachten, hat fast nur ein Gelehrter 
im Lande es hineingezogen in seine Forschung‘). Freilich so bedeutsam es schien , so 
schwierig war es zu deuten; war es doch auch dänischen Gelehrten nicht gelungen, den 
Schlüssel zu finden. Und welchen Gewinn für die livländische Geschichte mochte eine tie- 
fer eingehende Forschung versprechen, sobald man nur wusste: es war ein officieller Ka- 
taster, begonnen unter Waldemar II., hinausgeführt bis in das 5te, 6te, 7te Jahr- 
zehent des XIII. Jahrhunderts? Erst, wer die Geschichte Harriens und Wirlands im Ein- 
zelnen zu erforschen unternahm, der wurde gezwungen, sich an die Lösung zu wagen. 

Nicht erst heute hat sich der Verfasser der vorliegenden Arbeit dieser Geschichte zu- 
gewendet. Seit seinen Untersuchungen vom Jahr 1842°) hat er sie nicht aus den Augen 
verloren und mit gereifter Vorliebe kehrt er zu ihr zurück, jetzt wo er eine Reihe neuer 
Untersuchungen eröffnet, welche bestimmt sind, die drei Ostseeprovinzen zu umfassen und 
vielfach einzugreifen in die Geschichte der Nachbarstaaten, namentlich Russlands. 


T) Beide in den Scriptores rerum Livonicarum. 1ter Band. Riga und Leipzig 1853. 

2) Tome deuxième. Copenhague 1852. 

3) Liv- Est- und Curländisches Urkundenbuch nebst Regesten. Herausgegeben von Georg von Bunge. Iter 
Band. Reval 1853. 

+) Busse in den Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv- Est- und Curlands, herausgegeben von 
der Gesellschaft für Geschichte der russischen Ostseeprovinzen. 

5) Archiv für die Geschichte Liv- Est- und Curlands. Band I. 


А Analytischer Theil. 


Der erste Band dieser Studien bringt Untersuchungen über den Liber Census Daniae 
und die Anfänge der Geschichte Harriens und Wirlands von 1219—1244. Er zerfällt in 
drei coordinirte Abtheilungen, davon die erste die in der Landrolle vorkommenden Namen, 
die zweite die in der Landrolle erkennbaren historisch-politischen Momente, die dritte 
die Geschichte Estlands in den angegebenen Ort- und Zeitgrenzen behandelt. Vorausge- 
stellt ist eine Einleitung (S. 1—14) mit dem Zweck, den Character des Documents zu be- 
stimmen, welches den Mittel- und Stützpunkt der ganzen Untersuchung bildet. Die seit 
Jahrhunderten in Estland hergebrachten Landrollen erscheinen dem Verfasser gleichsam 
als eine den veränderten Verhältnissen je sich anpassende neue Ausgabe des alten Liber 
Census, dem selbst wieder ein »älteres Verzeichniss dieser Art» vorausgegangen sei. So 
bildet jenes älteste uns erhaltene Document ein Ganzes für sich, auch ohne Zusammen- 
hang mit den übrigen Bestandtheilen des L. C. D. Und nicht einmal Alles, was heute zu 
jener estnischen Landrolle gerechnet wird, ist gleichzeitigen und gleichartigen Ursprungs. 
Das Verzeichniss estnischer und litauisch-preussischer Landschaften auf Fol. 41a. ist aus 
inneren Gründen in frühere Zeit zu setzen und «wol nur die historische Notiz eines Pri- 
vatmannes.» Ist es nun aber, nach Suhms Angabe, im Stockholmer Codex von derselben 
Hand geschrieben, so folgt: in der ganzen Handschrift liegt nur eine Copie vor, welche 
nach Klemming’s Meinung (Antiq. Russ. II. p. XV.) immerhin der Zeit von 1260—1270 
angehören mag, während das Original viel früher entstanden sein kann. Aus äusseren, na- 
mentlich paläographischen, Gründen wird darum das Alter des Documents nicht wohl sich 
bestimmen lassen; «von grösserer Wichtigkeit dafür wird sein Inhalt sein.» Denn «einmal 
lässt sich voraussetzen, dass in der Landrolle vorkommende Orts- und Personennamen 
gleichfalls in andern Urkunden vorkommen. Dann aber werden auch die aus der Landrolle 
erkennbaren historisch-politischen Momente nothwendig in irgend welchem Zusammen- 
hange mit der uns bekannten Entwickelung der Ereignisse in Harrien und Wirland stehen.» 
Aus den angedeuteten Momenten das Alter der Landrolle zu ermitteln, ist nun die nächste 
Aufgabe des Verfassers. 


* 


4 C. SCHIRREN, 


Erste Abtheilung. 
Die in der Landrolle vorkommenden Namen 5. 14—63. 


Ш 10 88. und einem Anhange werden diejenigen Namen besprochen, welche in Ur- 
kunden des XIII. Jahrhunderts sich wiederfinden, so dass aus Combinationen mehr oder 
weniger sichre Schlüsse zu erwarten sind. Vornan stehen Ulricus Balistarius und Ro- 
bert de Sluter, beide im L. C. als Besitzer von Gütern genannt, welche 1249 dem 
Bisthum Reval eingewiesen wurden. Nun aber lässt sich aus verschiedenen Andeutungen 
folgern, der König Erich Plogpenning habe damit eine ältere Dotation Waldemar’s 
nur bestätigt, und damit wird für die Abfassung der Landrolle der äusserste Termin 
vom Jahre 1249 zurückverlegt in das Jahr 1241 als das Todesjahr Waldemar’s 
oder, da der König bereits im März starb, die Verbindung aber zwischen Reval und Scho- 
nen mit dem Herbste nothwendig aufhörte, so wird die Landrolle, welche von dem An- 
spruch der Kirche auf jene Güter noch nichts verzeichnet, im Herbst 1240 bereits abge- 
fasst gewesen sein. — Ferner bezeichnet der L. C. unter den Güterbesitzern in Harrien 
wie in Wirland, auch das Kloster Guthvallia auf Gothland. Eine Urkunde Erich Glip- 
pings vomJ. 1259 verleiht ihm die vom Herzog Kanut oder von den Deutschen (a Theu- 
tonieis) erworbenen und gekauften Güter. Unter Theutonici wird die Urkunde wol die 
deutschen Besitzer vor 1238 verstanden haben; ein Kloster aber hat den Uebergang Est- 
lands an dänische Herrschaft sicher nicht vorübergehen lassen, ohne für seinen Landbesitz 
die königliche Bestätigung einzuholen. Nun verzeichnet der L. C. unter allen Gütern nur 
bei einem den Kauf als Besitztitel: die früheren Käufe somit mussten durch Lehnbriefe be- 
reits bestätigt gewesen sein. Der Kauf jenes einen Guts gehörte demnach wol in die Zeit 
des Uebergangs von einer Herrschaft zur andern, und er kann nicht viel älter sein, als die 
Landrolle, weil sonst eine Belehnung schon wäre erworben worden. Nach dem Tode Vol- 
quin’s im Sept. 1236 wird der Schwertorden Belehnungen nicht mehr ertheilt haben. Der 
D. 0. hat das in Harrien und Wirland sicher noch weniger gethan, da Hermann von 
Salza dem Papste die Abtretung dieser Landschaften an Dänemark zugesagt hatte. Alle 
diese Erwägungen veranlassen, die Aufnahme der Landrolle nicht später anzusetzen, 
als 1240. 

Durch ähnliche Combinationen nun sucht der Verf. die Verhältnisse zu fixiren und 
dabei die Zeit zu ermitteln, wie und wann noch andre Besitzer in ihren im L. C. verzeich- 
neten Besitz getreten sein mögen, und er hebt in ausführlicher Untersuchung hervor den 
Dux Canutus, den Mag. Burguardus, Nicolaus den Bruder des B. Balduin, Theod. 
de Kivael, die Buxhövden, Thider. de Cokaenhus und zum Schluss die Domini Saxo, 
Tuvo Palnisun, Tuco, Henricus de Brakel. Der Anhang verzeichnet Harrisch-Wi- 
rische Vasallen, deren Geschlechts- oder Beinamen in der Landrolle oder in Urkunden 


ИИ 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LißER CENSUS DANIAE. 5 


bis an den Ausgang des XIII. Jahrhunderts angegeben sind, oder die den Titel Domini 
oder Milites führen. Aus allen Betrachtungen ergiebt sich dem Verfasser das Resultat: die 
Landrolle gehöre der Zeit unmittelbar nach Abschluss des Vertrags von Stenby (1238) an. 


Zweite Abtheilung. 


Die in der ZLandrolle erkennbaren historisch-politischen Homente 
S. 64—92. 


Für dieses Resultat nun bietet die zweite Abtheilung weitere Belege. Bei der Be- 
trachtung der Landrolle nämlich drängt sich gleich anfangs die Ueberzeugung auf, wie ihre 
Abfassung «in allen Einzelheiten aus einem und demselben Gedanken hervorgegangen, wie 
sie nur einem bestimmten, ganz eigenthümlichen Gesichtspuncte der Landesgeschichte an- 
gehören kann.» Sie bringt Angaben, welche für eine gewöhnliche Landrolle keine Bedeu- 
tung hätten. Nicht nur, dass die Landeseintheilung, welche ihr zu Grunde liegt, in dieser 
Weise nach 1238 nicht wieder hervortritt, nicht nur, dass nach den Aufzeichnungen des 
L. C. der König an Domänen nur 830 Haken besitzt, während eine Randbemerkung 1895 
Haken vom Orden an ihn übergehen lässt, — der Verf. schliesst daraus auf eine Massen- 
belehnung von Seiten des Königs unmittelbar nach dem Vertrage von Stenby, — bei wei- 
tem tiefer ein greift die Angabe umfassender Besitzveränderungen: das Verzeichniss zahl- 
reicher expulsi und remoti, ein Verzeichniss, welches der Anfertigung der Landrolle un- 
mittelbar musste vorher gegangen sein. Denn «waren einmal nach der oberherrlichen Sanc- 
tion der gerade bestehenden Besitzverhältnisse ein paar Jahre ins Land gegangen, so hatte 
eine derartige Erinnerung weiter keinen verständlichen Zweck. War es doch nicht um hi- 
storische Notizen zu thun, sondern um eine sichere Kenntniss der Personen, die zur Le- 
hensfolge verpflichtet waren, um Kenntniss der Grösse ihres Besitzes, als Massstab der 
Verpflichtung eines Jeden.» Da ist es nun doppelt bezeichnend, wie das Verhältniss jener 
Besitzveränderungen verschieden ist in den beiden Landschaften. «In Harrien finden wir 
15 Vasallen, die offenbar in dieser Weise gewaltsam in den Besitz von Gebieten gekom- 
men. Dagegen erscheinen in Wirland nur 7 an die Stelle Vertriebener getreten. Von den 
15 harrischen Vasallen werden an dem Namen als Dänen 6, die übrigen 9 als Deutsche 
erkannt. In Wirland sind von den 7 nur 2 Dänen, die übrigen 5 Deutsche. In beiden 
Landschaften aber sind sie aus angesehenen Geschlechtern; entweder sie führen bekannte 
Geschlechtsnamen oder ihrem Namen steht der Titel Dominus vor. Und auffallender noch 
ist die zwischen beiden Landschaften bemerkte Verschiedenheit in Betreff der Vertriebe- 
nen selbst. In Harrien tritt meist nur ein neuer Vasall an die Stelle von 5 oder 6 Vertrie- 
benen. In Wirland gestaltet sich dies ganz anders, indem hier überhaupt höchstens 8 sol- 
cher früheren Besitzer genannt werden.» Nur darin ist Uebereinstimmung: in Harrien, 
wie in Wirland zeigen die Namen der Vertriebenen Deutsche an und, da fast allen der 


6 C. SCHIRREN, 


Geschlechtsname fehlt, sowie der Titel Dominus, so liegt die Vermuthung nahe: es waren 
Deutsche geringen Herkommens. Nicht alle ferner sind in gleicher Weise um den Besitz 
gekommen; die einen heissen expulsi, die andern nur remoti. Läge eine Reihe allmälig er- 
folgter gewaltthätiger Besitznamen vor, so wäre eine solche Unterscheidung nicht wohl be- 
greiflich. So aber erscheint eine grosse Zahl Besitzlicher gleichzeitig von demselben Loose 
betroffen und nur, je nachdem sie sich zeitig fügten oder einen vergeblichen Widerstand 
versuchten, werden sie verschieden bezeichnet. «Prüft man nun die Geschichte der beiden 
Landschaften vor dem Vertrage zu Stenby und bis zum Schluss der 60er Jahre des Jahr- 
hunderts, über die hinaus man die Landrolle doch unmöglich ansetzen kann, so findet sich 
durchaus keine andre Begebenheit, die uns die Schlüssel zu jenen Besitzveränderungen 
geben könnte, als dieser Vertrag selbst. Durch ihn erhielt König Waldemar die Land- 
schaften Harrien und Wirland zurück, die er 1219 erobert. Letztere war ihm schon 1225 
von den auf eigne Faust kämpfenden deutschen Pilgern und Stiftsvasallen entrissen wor- 
den, während er Erstere um 2 Jahre später an die Schwertbrüder verlor, die dann die 
Oberherrschaft in beiden Landschaften sich aneigneten. Der Besitztitel des Ordens in Be- 
treff der Landschaften war ein verschiedener. Wirland war, nach der Besitznahme durch 
die Deutschen, von der dänischen Statthalterschaft dem Legaten Wilhelm, später, unter 
päpstlicher Autorisation, dem Orden übergeben worden. Auf Harrien hatten die Dänen dage- 
gen eigentlich nie, auch nicht einmal zu Gunsten des Legaten, verzichtet. So war Waldemar 
in seinem Rechte, wenn er in Harrien keine von allen dort seit 1227 vorgekommenen Be- 
sitzverleihungen anerkannte.» Liess er den einen oder den andern der deutschen Vasallen 
sitzen, wie jenen Rob. de Sluter, so mochte er dazu bewogen sein durch besondre Ver- 
wendung. In Wirland dagegen war die Verleihung gewissermassen gedeckt durch die 
päpstliche Autorität. Auch waren des Ordens Vasallen in Wirland «wol bessrer Herkunft», 
als die geringen Deutschen in Harrien: wo diese hilflos der dänischen Restauration gegen- 
überstanden, da fanden jene Rückhalte an den mächtigen verwandten Geschlechtern der 
livländischen Stifter. Es war dann nur die Wirkung der ersten, wilden Zeit jener Restau- 
ration, wenn doch auch einige Wirländer von ihrem Besitz kamen. Der ganze Umschwung 
aber begreift sich nur dann, wenn man ihn nicht ansieht als die erste Wirkung und unmit- 
telbare Folge der dänischen Restauration, wie der Tractat von Stenby sie ermöglichte. So- 
dann gedenkt der L. C. in einigen Fällen als Besitztitels des Kaufes: war aber die Lehns- 
bestätigung — und den Ansichten jener Zeit nach war sie der beste Rechtstitel, wie heute 
die vollzogene gerichtliche Corroboration — bereits vor längerer Zeit erfolgt, so hatte 
eine solche Erwähnung durchaus keinen Grund. «Konnten somit die in der Landrolle an- 
gegebenen Vertreibungen und Entfernungen nur in Folge des Vertrags von Stenby gesche- 
hen, mussten die Käufe dagegen demselben vorangegangen sein -— während nach dem 
J. 1240 Niemand mehr ein practisches Interesse an einer Kenntniss dieser Verhältnisse 
hatte, — so möchte wol anzunehmen sein, wie die Landrolle jedenfalls zwischen dem Herbst 
1238 und dem Herbst 1240 angefertigt sein müsse.» Und das wird dann weiter noch 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. у: 


wahrscheinlich aus der Notiz: поп a rege, absque rege, sine rege, wie sie sich in Harrien 
bei 9, in Wirland bei 13 Grundbesitzern findet, bei denen sonst keines vorhergegangenen 
Besitzwechsels, noch eines gegen sie erhobenen Rechtsanspruchs erwähnt wird, so dass 
die Notiz nur soviel bedeuten kann, «es habe der Besitzer für diese Haken zwar einen frü- 
heren Lehnbrief, vom dänischen König indessen die Belehnung noch nicht erhalten.» Ein 
Zustand aber, wie er sich in diesen Angaben darstellt, kann nur ein ganz provisorischer 
gewesen sein und lässt somit wiederum nothwendig auf die Zeit gleich nach dem Vertrage 
von Stenby schliessen. Für das Uebergangsmässige in den von der Landrolle notirten Be- 
sitzverhältnissen sprechen nicht minder die verschiedenen Besitztitel derselben Personen, 
wie sie bald als Vertriebene, bald als Verkäufer, bald als Aftervasallen erscheinen, mitten 
unter dem Drang einer Zeit, wie der Vertrag von Stenby sie zum Theil kennzeichnet, zum 
Theil herbeiführt. Und ganz unter derselben Ungunst noch nicht consolidirter Verhältnisse 
erscheint der Besitz der Kirche an ihren Gütern, deren viele in Händen Privater sich 
finden, woraus dann der Schluss gerechtfertigt erscheint, der L. C. sei aufgenommen vor 
der Ernennung Thorkill’s zum Bischof und vor seiner Dotirung von dänischer Seite im 
Herbst und Sommer 1240. Denn der König dotirt ihn mit neuen Gütern und lässt die Va- 
sallen im Besitz des von ihnen ergriffenen Kirchenlandes. Aber nicht nur das Dotations- 
gut des Stifts, auch die Güter von Parochialkirchen erscheinen im Besitz von Usurpatoren 
und, wenn die Landrolle gelegentlich bemerkt, ein bewohnter Ort sei wohigecignet zur An- 
lage von Kirche und Gottesacker, so spricht sich darin die Absicht der dänischen Ver- 
waltung aus, dieZahl der Kirchen zu vermehren, eine Absicht, die nur noch nicht zur Aus- 
führung hat kommen können. Wird endlich mit der Notiz, bei Waerkaela liege ein heiliger 
Hain, auf eine gewissermassen officielle Bedeutung des Heidenthums hingewiesen, wie sie 
später in einer Landrolle wohl schwerlich am Orte war, so lässt sich schon daraus in Ver- 
bindung mit der «Nichterwähnung irgend welcher bischöflichen Güter der Schluss ziehen, 
die Landrolle sei angefertigt, bevor B. Thorkill nach Reval gekommen, überhaupt an eine 
nähere Ordnung der kirchlichen Verhältnisse gedacht worden.» 

Alle Unsicherheit aber im Besitz, aller Besitzwechsel privater, wie kirchlicher Gü- 
ter verlangte dringend eine Ordnung, als die lange bestrittenen Landschaften durch den 
Vertrag von Stenby im J. 1238 förmlich an Dänemark fielen. Die erste Bedingung zur 
Ordnung war Einsicht in die bestehenden Verhältnisse und ihren begonnenen Umschlag. 
Diese Einsicht konnte gewonnen werden nur durch Erneurung einer älteren Landrolle im 
angegebenen Sinne. Die detaillirte Verzeichnung der unsichern oder noch schwankenden 
Besitztitel war unerlässlich, denn «noch zur Zeit der Redaction des Waldemar-Erich- 
schen Lehnrechts (1315) war die Belehnung eine rein persönliche; sie konnte nicht sämmt- 
lichen Vasallen einer Landschaft in Bausch und Bogen durch einen Act ertheilt werden, 
sondern war jedem Vasallen insbesondere für seinen Besitz zu verleihen.» Erst wenn der 
Besitz gesichert war, trat die Verpflichtung zur Leistung der Dienste, die sich auf ihn be- 
gründete, in Kraft. Im Herbste 1240 nun rücken bereits die harrisch-wirischen Vasallen 


8 C. SCHIRREN, 


unter des Königs Banner zu einem Angriffskriege gegen Pleskau. «Die Anfertigung der 
Landrolle wird daher wahrscheinlich im Jahr 1239, spätestens im Frühjahr 1240, been- 
det gewesen sein. » 


Dritte Abtheilung. 


Die Anfänge der Geschichte Harrien’s und Wirland’s (1219-1244). 
S. 93—300. 


Die dritte Abtheilung zerfällt in 4 Abschnitte, davon der erste die Eroberung Est- 
lands durch die Dänen (1219—1225), der zweite die päpstliche Statthalterschaft in Wir- 
land (bis 1227), der dritte die Herrschaft des Ordens in Harrien und Wirland (bis 1238), 
der vierte die dänische Restauration in den genannten Landschaften (1238-1244) behandelt. 


I. Eroberung und Besetzung Harrien’s und Wirland’s durch die Dänen 
(1219—1225). 5. 93—131. 


Im August 1216 erscheint zum ersten Male ein grösseres, deutsches Heer vor den 
Dörfern der Repeler: drei Jahre darauf landet Waldemar und baut die Burg bei Reval. 
So begegnen sich im Osten des baltischen Meeres die Deutschen und Dänen, die schon im 
übrigen, wendischen Quartier an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten feindlich 
gegen einander gestanden. Es ist ein Kampf um die Herrschaft über die See; von Däne- 
mark mit allen Chancen des Erfolgs begonnen, mit einheitlichem Nachdruck, im Besitz des 
südlichen Schwedens, der westlichen Inseln, Jütlands, zum Theil noch des baltischen Süd- 
ufers, während die Deutschen auf getrennten Kampfplätzen isolirt erscheinen, in verschie- 
denen Landschaften, in wechselnden Gruppen, nicht selten mit auseinanderfahrenden In- 
teressen. Die Operationen der feindlichen Mächte unterscheiden sich frühe schon darin: 
die Dänen kommen und gehen; die Deutschen beginnen sofort, wenn auch anfangs nur 
spärlich, sich bleibend niederzulassen. Darin aber wieder begegnen sich ihre Tendenzen: 
die Unterwerfung des heidnischen Landvolks beginnt mit der Knechtung unter den geist- 
lichen Zehnten. Den Bischöfen in Livland setzt Waldemar in Harrien und wol auch in 
Wirland dänische Bischöfe entgegen. Den deutschen begegnen dänische Missionäre neben 
den geistlichen mit weltlich-politischen Ansprüchen. Den deutschen Verkündern des Worts 
geht mehr als einmal das Ordensheer zur Seite oder eine Schaar kühner Parteigänger. So- 
fern dadurch den Dänen vorgearbeitet wird in der Unterjochung der Esten, betheuern sie 
ihre Erkenntlichkeit, sofern dadurch deutsche Herrschaft sich ausbreitet, antwortet Wal- 
demar durch Schliessung des Hafens von Lübeck; er hält jenseit der See deutsche Bi- 
schöfe und deutsche Pilger zurück. Die deutsche Colonie kommt in so grosse Bedrängniss, 
dass B. Albert selbst dem König die Obervogtschaft anträgt; allein Widerwille der An- 
siedler, eigne Мо vor Esten uud Oeselern, zwingt die Dänen, dem Anspruch freiwillig 
zu entsagen. Im J. 1223 wird dann ein Aufstand des Landvolks im Norden nur mit Hilfe 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANIAE. 9 


der Deutschen niedergeschlagen; im Frühling desselben Jahres geräth der König in die 
Gefangenschaft des Grafen Heinrich; während seiner Haft rücken die Deutschen gegen 
Odempäh vor, erobern Dorpat, züchtigen die Heiden ringsum: das Land erfreut sich vor- 
übergehender Ruhe; selbst die Dänen unter der Wirkung dieser Ereignisse gehen daran, 
ihre junge Eroberung zu organisiren; dänische Vögte lassen sich unter den Esten nieder; 
damals wahrscheinlich wurden die estnischen Landschaften in Kirchspiele getheilt, wur- 
den Kirchen erbaut und dotirt, als die Niederlage bei Möln Lübeck aus der dänischen 
Herrschaft befreit und bleibend den Verkehr sichert zwischen dem deutschen Mutterlande 
und seinen entfernten Colonien. 


II. Bischof Wilhelm von Modena und die päpstliche Statthalterschaft in 
Wirland (1225—1227). S. 131—159. 


Um diese Zeit, wol im Frühling 1225, landet als päpstlicher Legat, von Bischof Albert 


erbeten, die Landtheilungen zwischen den Bischöfen und dem Orden zu bestätigen und zu 
beenden, Wilh. v. Modena, in Riga. Er durchzieht die neubekehrten Landschaften, pre- 
digend und ermunternd, sucht den Frieden zu befestigen zwischen Eroberern und Unter- 
worfenen, zwischen Bischöfen und Rittern, zwischen Deutschen und Dänen. Schon damals 
mochte er wähnen, «hier an der fernen baltischen Küste einen christlichen Staat aufrichten 
zu können, in dem Liven, Letten, Esten, Dänen und Deutsche nebeneinander, durch den 
Glauben unter kirchlicher Herrschaft vereint, in Frieden wohnten». Die Täuschung frei- 
lich währte nur kurz. Die’Esten sannen wieder auf Empörung. Ihre Aeltesten aus Wir- 
land sandten gegen die Dänen um Hilfe nach Ungannien an die Deutschen. Das waren 
kühne Parteigänger, bestimmt die dänische Colonie aus ihren Fugen zu bringen und auf 
eigne Faust die deutsche Confüderation auszubreiten bis an den finnischen Meerbusen. Von 
Odempäh drangen sie in Wirland ein: Lehnsleute des Bischofs, mit reisigen Knechten, wahr- 
scheinlich begleitet von einer Schaar Pilger, mit ihnen Johann von Dolen. Die Burgen 
wurden genommen, die Dänen verjagt, und als der Legat, um Frieden zu stiften, von den 
Streitenden die Landschaften Wirland, Jerwen, Harrien und die Wieck überantwortet ver- 
langt unter päpstlichen Schutz, da müssen sich die Dänen dem Ansinnen des Deutschge- 
sinnten fügen; nur die Burg Reval halten sie einstweilen besetzt. Im Januar des J. 1226 
tritt der Legat seine zweite Reise an in die nunmehr dem Papst gewonnenen Landschaften; 
er ordnet die Verhältnisse; er überlässt den Dänen Harrien, dem Bischof Albert die 
Wieck; über Rotalien, Jerwen und Wirland setzt erzum päpstlichen Statthalter den Magister 
Johannes. So glaubt er alle Interessen zu versöhnen und kehrt im März nach Riga zu- 
rück. Allein die Deutschen brechen den Frieden. Joh. von Dolen überfällt Wirland mit 
seinen Genossen und fast gleichzeitig setzen sich die Dänen gegen Rotalien und den Mag. 
Johannes in Bewegung und gerade, als der Kampf wieder ausbricht, muss der Legat die junge 
Colonie verlassen. Die Bewegung ist wieder allgemein und die Beute dem Stärksten sicher. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. о 


10 C. SCHIRREN, 


In dieser Bewegung nun sucht der Orden, sich neu zu consolidiren. In den dänischen 
Landschaften hofft er ungetheilten Besitz zu erobern. Gegen die Dänen ruft ihn der Mag. Jo- 
hanneszu Hilfe. Kraft päpstlicher Stellvertretung wirdihm die Vogtei übertragen über die 
päpstlichen Landschaften. Von zwei Seiten erneuert sich der Angriff: die Deutschen aus 
Wirland, die Schwertbrüder mit ihren Pilgerschaaren aus Jerwen vereinigen sich vor Reval; 
die Burg muss sich ergeben; die Dänen verlieren den letzten Fussbreit Landes. Im päpst- 
lichen Namen nimmt der Orden Besitz von Jerwen und Wirland: über Repel und Harrien 
herrscht er unbeschränkt nach dem Recht des Eroberers. 


Ш. Herrschaft des Ordens in Harrien und Wirland (1227—1238). S. 160-258. 
$ 1. Uebergang von der Vogtei zur Herrschaft (1227—1228). 5. 160-178. 


Allein das Recht des Ordens zur Herrschaft bleibt nicht unbestritten; die Dänen be- 
haupten, alles Land ihm geräumt zu haben «nur zu Handen des Papstes». Zweierlei ist 
nun dem Orden zur Aufgabe gestellt: im factischen Besitz sich zu behaupten, im rechtlichen 
sich bekräftigen zu lassen. Um zunächst das Gewonnene zu behaupten, fesselt er die Deut- 
schen, die mit ihm gezogen sind, an sich durch Belehnung mit Land und Leuten, mit Zins 
und Zehnten. Als dann die Dänen das Landvolk zum Aufstand bringen, der Aufstand un- 
terdrückt wird, da darf sich der Orden jeder Rücksicht gegen den alten Feind entbunden 
erachten. Unter welcher Bedingung auch ihm die dänischen Landschaften übertragen waren, 
der Friedensbruch hebt jeden älteren Tractat auf; Bischof Albert selbst enthält sich des Ein- 
spruchs und König Heinrich bestätigt dem Orden die gewonnenen Landschaften zu ewigem 
Besitze. Mag auch der Orden vom Kaiser mehr gehofft, mag er, in seiner Erwartung der 
Reichsstandschaft getäuscht, schon damals, vielleicht im Einverständniss mit dem Bischof, an 
eine Verbindung mit den Rittern des deutschen Hauses zu Jerusalem gedacht, mag andrer- 
seits der König Waldemar schon damals am päpstlichen Stuhl um einen Ausspruch zu 
dänischen Gunsten geworben haben: es liegen die Merkmale vor, wie rüstig der Orden 
fortfuhr, sich in dem neuen Besitze zu befestigen, als sollte er ihn nie wieder verlieren. 


82. Innere Zustände und Entwickelungen. В. 178-205. 


Immer fester vor Allem wollte er die deutschen Parteigänger an sich binden. Lange 
Zeit waren die Pilger meist so rasch fortgezogen, als gekommen; spärlich liessen einige 
sich nieder in den Stiftern, dann mehrere, und im J. 1228 werden die Vasallen Alberts 
schon nicht ohne Einfluss gewesen sein. Mächtiger noch waren sie seit 1224 im Stifte Dor- 
pat. War doch ihr Stand gleichsam zusammen mit dem Bisthum ins Leben getreten; «Be- 
stehen und Sicherheit des Stifts, gegenüber den eben bezwungenen Esten und so nah an 
der russischen Grenze, beruhten hauptsächlich auf der Macht der Vasallen». Am zahlreich- 
sten aber hatten die Deutschen sich niedergelassen in Harrien und Wirland, dort schon 
unter der dänischen Herrschaft, später auch im Gefolge des Ordens, nicht alles angesehene 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 11 


Geschlechter, «denn dazu war die Stellung des Ordens um jene Zeit noch zu gering, zu 
wenig unabhängig» und «dem Orden war durch die Lage der Dinge verwehrt, wählerisch 
zu sein». Anders in Wirland. «Ministerialgeschlechter des Bremischen Erzstifts, so wie 
andre Niedersächsische, Holsteinische und auch Westphälische Vasallen und Stadtbürger 
finden sich hier in der 10 Jahre später abgefassten Landrolle. Sie hatten auf eigne Faust 
das Land besetzt, anfangs gegen den Willen des päpstlichen Legaten, hernach mit Zustim- 
mung des von ihm eingesetzten Statthalters. Von diesem hatten sie ihre Lehnbriefe». — 
«Dazu standen sie in engster Verbindung mit den Vasallen in den beiden Stiftern (Dorpat 
und Riga)». — «Die Harrischen Vasallen des Ordens hatten von ihm erst Land und Leute em- 
pfangen. Die Wirländer dagegen brachten ihm Land und Leute». — «Ihre sociale, wie ihre po- 
litische Stellung war dem Orden gegenüber daher eine ganz andre, alsdie seiner Harrischen 
Vasallen. Sie mögen sogar sich zum Lehnseide gegen ihn gar nicht verpflichtet haben, so 
lange er noch nicht von König Heinrich, im Namen des Reichs, Wirland zum Geschenke 
erhalten». — «In dieser ihrer eigenthümlichen Lage war der Boden gegeben für frühzeitige, 
kräftige Entwickelung politischen Corporationsgeistes, der als Keim nun einmal überall in 
den Deutschen jener Zeit lag». «Zwar von einer Harrisch-Wirischen Ritterschaft kann im 
J. 1228 noch nicht die Rede sein». «Die Landschaften, seit 1228 nie wieder unter ver- 
schiedener Herrschaft, sind sich erst nachmals so nahe getreten, obzwar ihre gesonderte, 
ritterschaftliche Verfassung auf so kleinem Raume fortdauerte, als Wirkung jener anfäng- 
lichen, schroffen Unterschiede». «Welcher Art freilich sich die innere Verfassung der Wir- 
ländischen Vasallen gestaltet, ist jetzt nicht mehr zu erkennen». «Nur dass sie beim Ueber- 
gehen unter die dänische Herrschaft den Kern abgaben für die landständische Stellung, 
welche die estnischen Vasallen schon um die Mitte des Jahrhunderts einnehmen. Auf ihrem 
festen Grunde sollte später das deutsche Element die nach dem Frieden von Stenby sich 
eindrängenden Dänen vollständig assimiliren». 

Ich habe diese Stellen wörtlich citirt, weil sie den Kern von der Auffassung des Ver- 
fassers enthalten; sie geben das Thema inmitten aller Variationen. In ihnen bietet der Ver- 
fasser den Schlüssel zum Verständniss sowol jener älteren Geschichte, wie des Documents, 
mit dessen Prüfung er seine Untersuchungen eröffnet. Von ihnen aus wendet er sich all- 
mälig wieder dem Ausgangspunkte, dem L. ©. D., entgegen und den Verhältnissen, welche 
in diesem sich abspiegeln. 

Denn für die Normirung der Stellung, in welcher die wirischen Vasallen fortan zu 
ihre Lehnsherren stehen sollen, ist nun die Zeit der Ordensherrschaft entscheidend. Die 
Belehnungen waren nicht allmälig erfolgt; sie machten sich massenweise. Da konnte nicht 
jeder Lehnbrief in jedem einzelnen Falle die Stellung normiren. Wenn schon 1252 der 
dänische König ein Landrecht anerkennt, ein deutsches und nicht, wie selbstverständlich 
ist, ein dänisches, so deutet das auf eine durchgreifende Consolidirung der Lehnverhält- 
nisse, mindestens in Hinsicht des Erbrechts. Die Grundsätze, welche nachmals im Wal- 
demar-Erichschen Recht (1315) nur bestätigt werden, sind meist wolunter Volquin, zwar 

* 


12 C. SCHIRREN, 


nicht erst gefunden, aber durch »mündlichen oder schriftlichen Vertrag formulirt worden». 
Und auf einen solchen Vertrag deutet die alte Erzählung bei Brandis von einem Land- 
tage im J. 1228. Ein Landtag war geboten, um äussere, wie innere Verhältnisse zu ord- 
nen. Die neue Stellung, welche der Orden einnahm, seine Vogtei namentlich über Wirland 
und Jerwen, bedurfte der Bekräftigung der Mitstände. Dazu waren ihm die estnischen 
Landschaften vom König Heinrich erst eben übertragen; er musste sich zu Recht setzen 
mit seinen mächtigen Vasallen. Damals wol entschied sich ihre Stellung. Und nach der 
Norm, wie sie der Landtag von 1228 gab, hat selbst Bischof Nicolaus, der Nachfolger 
Alberts, den Vasallen des Stifts jene Urkunde von 1232 erlassen, in welcher ihr Erb- 
recht gesichert wird. Für die von Harrien und Wirland aber wird essicher zumehr gekom- 
men sein, als zu Bestimmungen über das Erbrecht. Zur Entscheidung streitiger Lehnsfälle 
ist wol damals schon der Landesrath in Wirland entstanden, gewählt von den Vasallen, 
zugleich um sie politisch zu vertreten. Denn weder einen Fürsten, noch einen Statthalter, 
noch, bei der erst geringen hierarchischen Ausbildung des Ordens, einen Ordensgebietiger 
hatten die Wirischen im Lande. Vielleicht wurden selbst Mannrichter, judices vasallorum, 
eingeführt. Der Landesrath aber war wol der oberste Lehnshof, von ihm ging die Beru- 
fung an die allgemeine Landesversammlung, an die livländischen Stände. Wie keinen Für- 
sten, noch Statthalter, so gab es in Wirland wol auch keine Vögte, und wenn überdies die 
Esten als «subditi» der Vasallen bezeichnet werden, so scheint diesen schon vor 1228 die 
Gerichtsbarkeit über das Landvolk zugestanden zu haben. Auch dieses Ausnahmerecht be- 
durfte beim Uebergang unter die Ordensherrschaft der förmlichen Bestätigung. Nur mochte 
zur selben Zeit, um die Willkür des Gerichtsherren zu beschränken, das älteste, sog. livi- 
sche Bauerrecht, (Paucker Quellen ff. S. 84 ff.) für Harrien und Wirland recipirt worden 
sein, ein vorletzter Schritt in die volle Rechtsgemeinschaft dieser Landschaften mit dem 
übrigen Livland. Denn auch damit finden die Wechselbeziehungen noch nicht ihren Ab- 
schluss. In oder vor das J. 1228 gehört sicher noch der Entwurf eines dem rigischen nachge- 
bildeten Stadtrechts (Bunge Archiv I, 3 ff.), da im Eingange beim Namen des Bischofs Albert 
der Zusatz«piae memoriae» fehlt. Zwar hat man den Satz: si quis burgensium conqueritur prin- 
cipi, aufden dänischen König bezogen, allein der «princeps» ist um so weniger durchaus nur 
der König, als dieser der Stadt, welche 1248 überdies das lübische Recht erhalten sollte, 
schwerlich von seinen Feinden ein Recht erborgt hätte. Es hat dies Document vielmehr 
zu gelten als ein Manifest der Reveler und Wirländer über die Stadtrechte, die sie anneh- 
men wollen «inRevalia et in eircumpositis regionibus», zu einer Zeit, wo sie wolgedachten, 
in Wirland sich einen Sammelpunkt zu schaffen, und wir besitzen in ihm die erste Andeu- 
tung für die Gründung Wesenbergs, das schon durch den Namen deutschen Ursprung ver- 
räth. — Wenn so in der kurzen Zeit der Ordensvogtschaft die Organisation der estnischen 
Landschaften in merkiicher Energie sich vollzieht, so vermisst man die Ordnung nur eines 
Verhältnisses: was war aus der Kirche geworden in dieser Zeit weltlicher Händel? «Die 
Dänen hatten, so lange sie im Besitze von Harrien, Repel und Wirland waren, in verschie- 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 13 


denen Gegenden des Landes, in den Dörfern Kirchen und Kapellen erbaut, Geistliche ein- 
gesetzt, ihnen Einkünfte aus dem Kirchdorie, den Zehnten von andern Dörfern zugewie- 
sen». Ob Wirland freilich schon damals von ihnen die Parochialeintheilung erhalten, von 
welcher der L. C. Zeugniss ablegt, wird billig bezweifelt. Jedenfalls waren von den Deut- 
schen die dänischen Priester verjagt worden, wie später aus Reval der dänische Bischof. 
Der L. C. giebt den Beleg, wie am Schluss der Ordensperiode die Kirchdörfer des wir- 
ländischen Antheils von Repel und des eigentlichen Wirlands fast insgesammt in Privat- 
händen waren; von dänischen Dotationen der Bischöfe enthält er überdies keine Spur. Zog 
nun auch der Orden — dazu gezwungen durch die geistlichen Bedürfnisse der Zeit — 
deutsche Priester ins Land, ja, liess er die von den Dänen herbeigezogenen Cistercienser 
von Guthvallia nicht nur in Besitz, sondern gestattete ihnen, ihren Besitz noch zu mehren: 
für Herstellung bischöflicher Gewalt in beiden Landschaften scheint er nichts unternom- 
men zu haben. Auch war die Aufgabe schwierig. Die Metropolitangewalt von Lund anzu- 
erkennen, dazu mochten sich die Deutschen am wenigsten verstehen. Ob Bischof Albert die 
päpstliche Vollmacht, Bischöfe zu consecriren, auf jene einem andern Erzstift untergeordne- 
ten Landschaften auszudehnen das Recht hatte, war mindestens zweifelhaft. Auch strebte 
der Orden vor Allem nach Freiheit von bischöflicher Obergewalt; mit dem Bischof von Oesel 
hatte er 1228 einen Vertrag geschlossen, der ihn dort wenigstens von der weltlichen Su- 
prematie der Kirchenfürsten befreite. Möglich, dass er demselben Bischof die geistliche 
(Gewalt in Harrien und Wirland zu übertragen gedachte, wie später, 1241, in Watland. So 
lange er noch nicht reichsfürstliche Hoheit besass, durfte er kaum einen eigenen Bischof 
herbeiwünschen in seine Territorien. 


83. Aeussere Geschichte bis zum Vertrage von Stenby (1228—1238). S. 205-258. 


Denn die grössere Gefahr — er hat es zum öftern erfahren — droht ihm nicht von 
weltlichen, sondern von geistlichen Feinden. Gegen jene hat er sein Schwert, und König 
Waldemar berechnet zu klug, um mit Gewalt zu erzwingen, was er ohne Schwertstreich 
vom päpstlichen Hof sich zugesprochen erwartet. Während der Orden in Estland seine 
Herrschaft befestigt und sich sein Recht bekräftigen lässt von den Kaisern, ist die dänische 
Politik thätig in der römischen Curie. Im J. 1229 erscheint als päpstlicher Legat der Car- 
dinal Otto in Dänemark. Er ist den Kaiserlichen so verhasst, dass er in Deutschland ihren 
Nachstellungen kaum noch entgeht. Von diesem Feinde des Kaisers und Reiches wird auf 
die Nachricht von Bischof Alberts Tode der Mönch Balduin v. Alna nach Riga gesandt. Im 
J. 1232 hat ihm dänischer Einfluss vom Papst das Bisthum Semgallen und die Legaten- 
würde für Estland und Livland eingetragen. Nur wenige Tage später weist eine päpstliche 
Bulle die Bischöfe Nicolaus und Hermann, sowie den Orden an, diesem neuen Stellver- 
treter des Papstes die zwischen Deutschen und Dänen streitigen Landschaften zu überge- 
ben. Der päpstlichen Drohung zu begegnen, sucht der Orden noch einmal Schutz beim 
Kaiser für sich und seine Vasallen (homines suos); seine einzigen Vasallen aber sind die 


14 C. SCHIRREN, 


Deutschen in Harrien und Wirland. Der Kaiser verheisst ihm den erbetenen Schutz; nur 
der «homines» gedenkt die kaiserliche Resolution nicht weiter ; ja, sie zählt die Landschaf- 
ten des Ordens auf und vergisst zwar nicht Jerwen, allein Harrien, Repel und Wirland 
fehlen. In so bedrängter Lage setzt der Orden seine Hoffnung noch einmal auf den Papst; 
auch lässt sich die Curie bereden. Der feindliche Legat muss weichen; von Neuem wird 
Wilh. v. Modena nach Livland beordert; selbst über die Bisthümer Reval und Wirland 
soll er verfügen: der Metropolitanrechte von Lund wird nicht mit einer Silbe gedacht. 
Freilich, rasch wie der Umschlag, folgt wieder der Rückschlag. Vielleicht hatte der feind- 
liche Mönch in Rom doch noch den dänischen Sieg entscheiden helfen. Im Nov. 1234 er- 
ging eine päpstliche Vorladung an den Bischof von Riga, an die Stadt, an den Orden: sie 
sollten unter Anderm «die eigenmächtige Besitznahme unter Schutz des heil. Petrus stehen- 
der Landschaften verantworten». Jede Appellation war ausgeschlossen, die Vorgeladenen 
mussten erscheinen. 

Im Sept. 1235, zu Viterbo, wurde der Process instruirt; der Kardinalbischof von Sabina 
führte die Untersuchung, die Anklage Balduinv. А та. Im Febr. 1236 Ще дет Papst das Ur- 
theil: «Es sollte der Orden dasSchloss von Revel und die Landschaften Repel, Harrien, Wirland 
und Jerwen dem Legaten Wilhelm zu Handen des Römischen Stuhls übergeben». Alle 
in diesen Landschaften von den Bischöfen, vom Mag. Johannes, von dessen Vicar Her- 
modus vergabten Zehnten waren zu widerrufen. Es schien der herbste Schlag zu sein für 
den Orden, für seine Vasallen. Denn jener verlor grade die Landschaft, auf welche er ge- 
hofft hatte, seine politische Selbstständigkeit zu gründen, und diese verloren mit dem Zehn- 
ten den Rechtstitel ihrer Lehen. Allein so einfach durch päpstlichen Spruch wurden tief- 
begründete Verhältnisse nicht umgeworfen. «Zum mindesten abenteuerlich war es, wenn 
man den Deutschen zumuthete, ihr Blut an den fernen baltischen Gestaden vergossen zu 
haben, mit keinem andern Zwecke, als dort einen rein geistlichen Staat zu gründen». Am 
wenigsten vom Legaten Wilhelm konnte man erwarten: er würde dazu die Hand bieten. 
Es trat eine Zeit ein unentschlossenen Harrens. Ereignisse erst sollten entscheiden für 
oder gegen. Und da nun war es von tiefster Bedeutung auch für die Geschichte von Har- 
rien und Wirland, als am 22. Sept. 1236 das deutsche Heer der Schwertritter fast ver- 
nichtet wurde von den Litauern. Denn da der nun fast leiblose Orden die zuvor schon vergeblich 
angestrebte Vereinigung mit dem deutschen Orden um jeden Preis zu erlangen gedrängt 
war, entschloss er sich, des Papstes Zustimmung zu erkaufen und als Preis Reval und die 
estnischen Landschaften zu zahlen. König Waldemar sollte sie wiederhaben. Band doch den 
Hochmeister keine Ehrenpflicht an den Besitz der estnischen Landschaften; lag ihm doch 
weniger an dem Besitz der nördlichen Küste, als daran, die baltischen Heiden von der 
Düna her im Rücken fassen zu können und mit Dänemark in gutem Einvernehmen zu blei- 
ben. «Im Mai (1237) war die Vereinigung vollzogen und besiegelt. Der livländische Orden 
hatte das beste Fundament seiner weltlichen Herrschaft verloren». Allein er war mit dem 
deutschen Orden nicht sowol verbunden, als absorbirt von ihm; seine Geschicke vollzogen sich 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 15 


jetzt nicht einzig mehr in Livland. Anders war die Stellung der harrisch-wirischen Vasal- 
len. Für sie war der Hochmeister keine Autorität; suchte er sie zu zwingen, so standen sie auf 
und ihnen zur Seite schaarten sich wol die stiftischen Vasallen, vielleicht auch die Pilger. 
«Gütliche Vereinigung konnte daher allein zum Ziele führen und das um so leichter, als 
der Legat beauftragt war, die Landschaften vorläufig zu Handen des Papstes zu nehmen. 
Möglich war solches jedoch nur, wenn man den Vasallen den Besitzstand garantirte, sowie 
Erhaltung sonstiger Rechte und Freiheiten». Nur standen da die Landschaften nicht mit 
gleichen Ansprüchen neben einander. In Wirland schrieben sich die Belehnungen zum 
Theil vom päpstlichen Statthalter und dessen Vicar her. In Harrien dagegen waren die 
dänischen Statthalter nur offenbarer Gewalt gewichen, dänische Vasallen waren verdrängt 
worden; seine Vasallen ins Land zu setzen, hatte der Orden kaum ein Recht aufzuweisen ge- 
habt. «Ihnen darum, Dänemark gegenüber, Garantien zu gewähren, war vollkommen unmög- 
lich». Es war genug gewonnen, wenn man die Wirländer gewann, wenn man ihnen Scho- 
nung versprach für diejenigen in Harrien Belehnten, die sie zu ihren Befreundeten und 
Verwandten zählten. Die ganz gegen Dänemark Compromittirten entgingen ihrem Loose 
wol nur, indem sie ihre Besitzungen Wirländern auftrugen oder der Orden wies ihnen 
Land in der Ordenslandschaft Jerwen ein oder es that das der Bischof von Oesel und der 
Wieck. So wurde der Uebergang vorbereitet. 

Auf wiederholte Mahnung des Pabstes erschien der Legat in Schonen am königlichen 
Hoflager zu Stenby. Dorthin war auch Hermann Balke gekommen. Am 7. Juli 1238 
wurde der Tractat unterzeichnet: «Das Schloss zu Revel, die Landschaften Repel, Harrien 
Wirland und Jerwen wurden, in Grundlage der päpstlichen Entscheidungen, als rechtmässi- 
ges Besitzthum des Königs angesehen». Ein Kriegsbündniss gegen die Heiden sollte die 
eben noch Verfeindeten vollends nähern. Dafür räumte dann der König dem Orden die Land- 
schaft Jerwen ein mit aller weltlichen Gerechtigkeit, zum Theil mit der geistlichen; nur 
das Diöcesanrecht wurde dem Revaler Bischof vorbehalten. Was sonst noch stipulirt wird, ist 
von untergeordneter Bedeutung. Auch liegt in dem Vertrag, Liwl. Urk. п. 160, wol nur das 
Hauptinstrument vor. Wenigstensnochein Abkommen mussgetroffen wordensein, das der über- 
wiegenden Mehrzahl der Vasallen den Besitz garantirte. «Es geht das schon daraus her- 
vor, dass authentisch (im L. C.) überliefert ist, wie der Orden dem König von den 5800 Ha- 
ken der beiden Landschaften nur 1895 zu unmittelbarem Besitz übergab; dieübrigen 3900 
wurden daher dänischer Seits als im Privatbesitz befindlich anerkannt in den Händen eben 
derer, die zur Zeit der Irrungen unter der Ordensfahne gestanden». Den Vasallen, die im 
Besitz blieben, wurde wol aber auch ihr Landrecht gesichert, während die politische Stel- 
lung des Vasallenstandes nach aussen theils durch den Hauptvertrag, theils durch die Lage 
der Dinge vorgezeichnet war. Denn aus der Kriegsgemeinschaft des Ordens und des Königs 
ergab sich für die Zukunft der engste Verband grade zwischen dem Orden und jenen Vasallen; 
nur dass diese fortan unter eigenem Banner auszogen. Ausserhalb Livlands konnten somit 
die Vasallen mit dem Orden nur dieselben Freunde und Feinde haben. In innern Zwistigkeiten 


16 C. SCHIRREN, 


standen sie unabhängig zur Seite. Und das wol,» wies ihnen, bei ihrer engen Verbrüderung 
mit den Vasallen der Stifter, eine vermittelnde Stellung in den livländischen Verhältnis- 
senan». Andrerseits gab es fortan keinen Grund mehr zur Feindschaft zwischen den Land- 
schaften und Dänemark. Die Macht Dänemarks hatte sich draussen an den Deutschen ge- 
brochen. Schwerlich dachte Waldemar einen erfolglosen Kampf von Neuem zu versuchen. 
So liess ertrotz der wieder angetretenen Herrschaft alles deutsch bleiben in Estland. Selbst 
die wenigen dort nunmehr belehnten Dänen erscheinen bald germanisirt. Nur die unter- 
worfenen Esten bleiben Esten. — Scheinbar nur hatte der Orden verloren. Freilich ein «Jahr- 
hundert sollte noch hingehn, bis Harrien und Wirland wieder unter den Orden kamen, 
wieder in den deutschen Reichsverband eintraten». Doch sind sie auch dieses Jahrhundert 
dem Orden eine Stütze gewesen und ihnen selbst war die dänische Zeit nur eine Zeit der 
Entwicklung ihrer staatlichen Stellung und ihrer Rechte. 


IV. Wiederherstellung der dänischen Herrschaft in Harrien und Wirland 
(1238—1244). $. 258-300. 


Zunächst nun hatte Dänemark die Aufgabe, den wiedergewonnenen Besitz förmlich 
anzutreten. Wol in demselben Jahre noch erschien Herzog Kanut in Estland, nicht, wie 
erzählt wird, um mit dem Orden gegen die Russen zu ziehn — denn die Eroberung von Is- 
borsk und Pskow fällt zwei Jahre später —, sondern um im Namen des Königs Besitz zu neh- 
men von Estland. Die Uebergabe vollzog wol der Vicelandmeister Dietrich von Grö- 
ningen; den Herzog aber begleitete wahrscheinlich der Legat Wilhelm; wenigstens ist 
er am 1. August in Reval und seiner Einwirkung wird es zuzuschreiben sein, wenn die 
«Neugestaltung ohne allzuheftige innere Erschütterungen vor sich gegangem. Als er 
dann im Herbst 1238 das Land verlassen musste, waren die Vasallen wol schon gewonnen. 
Sofort begann die Ordnung der Verhältnisse im Lande. An einer Landrolle, aufgenommen 
zur Zeit der Ordensherrschaft, erläuterten die Commissarien des Ordens den dänischen Bevoll- 
mächtigten die Besitzverhältnisse; nach Anleitung derselben Landrolle wiesen sie dem Könige 
die nicht verlehnten 1895 Haken ein. Um dann nach Vollzug der äussern Uebertragung 
die innern Verhältnisse zu fixiren, bildete sich der Herzog wol einen Lehnhof aus vorneh- 
men Dänen und Deutschen, die ihn nach Reval begleitet hatten, vielleicht auch aus einigen 
Wirländern und Harriensern, die sofort die Lehnsbestätigung erhielten. Beisitzer mögen 
eben die vomL. С. mit dem Titel «Domini» Bezeichneten gewesen sein und einige Knappen. 
Das Resultat liegt im L. C. vor. In Harrien, namentlich aber in Repel, selbst in dem wir- 
ländischen Antheil von Repel, wurden Viele ihrer Lehen verlustig erklärt und vertrieben, 
entweder als eidbrüchige königliche Vasallen oder, weil sie keine Lehnbriefe aufweisen 
konnten, oder, nachdem der Lehnhof ihre Briefe annullirt hatte und kein mächtiger Für- 
sprecher für sie eingetreten war. «Sämmtliche auf diese Weise eingezogenen Lehen wur- 
den indessen nicht zu der Domaine geschlagen, sondern wieder verlehnt und zwar einmal 
den Gliedern des Lehnhofs, sodann andern Rittern.» Es blieb dann noch über diejenigen 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBer CENSUS ПАМАЕ. 17 


zu entscheiden, welche, wie Dietrich v. Kiwel, Kirchengut in Besitz hatten ohne Lehn- 
briefe des Ordens oder mit solchen. Die Letzteren liess man im friedlichen Besitze; auch 
die ersteren sind es später geblieben. «Für den Augenblick jedoch wurden solche Fälle 
vermuthlich weiterer Entscheidung vorbehalten, da sie noch in der Landrolle angedeutet 
sind.» Und dasselbe war der Fall, «wo wider die gegenwärtigen Besitzer von Andern recht- 
mässige Ansprüche gemacht wurden, wie namentlich gegen Dietrich von Kiwel und 
Dietrich von Kokenhusen.» Wer unter den Letztern Kaufbriefe oder ererbte Lehn- 
briefe aufwies, der blieb ohne weiteres im Besitze. Eine letzte Kategorie endlich bildeten 
diejenigen, namentlich Wirländischen, Vasallen, welche «keine Lehnbriefe des Ordens vor- 
gewiesen oder überhaupt die Erneuerung der Belehnung noch nicht nachgesucht, oder in 
Betreff derer sonst eine Schwierigkeit sich fand, die der unmittelbaren Lehnsbestätigung 
durch den königlichen Statthalter im Wege war. Viele derselben hatten in Beziehung auf 
ihre anderweitigen Besitzungen dieselbe erhalten». Alle diese Fälle nun bezeichnet der L. 
С. besonders. Die Erneuerung der Belehnungen aber für die alten Ordensvasallen, die 
neuen unmittelbaren Belehnungen im Namen des Königs werden von dem Stellvertreter des- 
selben wol noch im Jahre 1239 vollzogen worden sein». Darauf wurde dann die Landrolle 
vorläufig geschlossen, und die Vermittelung Dietrichs von Gröningen nahm ein Ende. 
Im Herbst 1239 kehrte dann wol auch der Herzog heim, wahrscheinlich begleitet von ei- 
nigen Vasallen und mit einer Abschrift der Landrolle. Auf der Reichsversammlung zu 
Wardingborg im Frühjahr 1240, wenn nicht schon im Winter vorher, verständigte sich 
der König mit den Abgeordneten der Vasallen. Damals sicher ist die Rechtsgleichheit der 
beiden Ritterschaften von Harrien und Wirland hergestellt worden; damals vielleicht wur- 
den die Beschlüsse von 1228 über Verhältnisse des Lehnrechts, die später im Waldemar- 
Erichschen Recht т ausführlich ergänzter Redaction vorliegen, schriftlich näher verzeichnet. 
Sierührten darum aber nicht von Waldemar her, so geläufig sie später unter seinem Namen 
gingen. Er hatte nichts zu thun, als die einstige Vereinbarung der Vasallen mit dem Orden 
zu bestätigen. Nur mochte er damals schon gestatten, was auch das Recht von 1315 frei- 
stellte, dass bei Thronveränderungen jährlich nur ein Drittel der Vasallen nach Dänemark 
zu segeln habe, um die Lehnserneuerung zu erlangen; das Motiv gehört seiner Zeit an: 
die Noth vor den Heiden. Sicher auch damals bestätigte er den Vasallen die Gerichtsbar- 
keit in Hals und Hand und sicherte ihnen den Besitz der Güter, die sie der Kirche ent- 
nommen. Erst, als im Frühling 1240 die Abgeordneten — wofern sie überhaupt nach 
Dänemark gekommen — heimgekehrt waren, ging der König an die Organisirung der 
kirchlichen Verwaltung. Wenigstens Reval sollte seinen Bischof erhalten, allein der Zelnte, 
der ihm zustand, war längst und überall in Estland verlehnt an Weltliche. «Ihn einzuziehn, 
war weder rathsam, noch überhaupt möglich.» Die Neubekehrten einem zweiten Zehnten 
unterwerfen, war vollends gewagt, auch wenn man es mit dem Papst aufnehmen wollte, 
der sie eifrig in Schutz nahm. «Man ergriff einen Mittelweg und bestimmte dem Bischof den 
Zehnten von allen Zehnten, sowol in den Besitzungen der Vasallen, als in den Domänen.» 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série, a 


18 | С. SCHIRREN, 


Dann als der ripensche Domherr, Thorkill, «ein reiner Däne», zum Bischof bestimmt war, 
fügteman zu diesem mässigen Einkommen eine Landdotation, als grade dem König 80 Haken 
anfielen durch den Tod zweier harrischen Vasallen, Robert de Sluter und Lydger. 
«Diese Dotation empfing Bischof Thorkill im Namen seiner Kirche» und vor der Abreise das 
Versprechen weiterer 40 Haken in Wirland. Im Oct. 1240 erschien der neue Bischof in 
Estland, von den Vasallen schwerlich sehr freundlich empfangen. Denn jene Zehenturkunden 
hatten die Gemüther der Deutschen wenig für den König gestimmt. Hatte der Orden doch erst 
eben, nach der Unterwerfung des Landes östlich von der Narowa den Bischof von Oesel einge- 
laden, die geistliche Jurisdiction dort anzutreten gegen Einweisung des Zehnten vom Zehn- 
ten, der jedoch nicht treffen sollte die Felder der bereits in Koporje belehnten Burgman- 
nen. So erklärt sich, wie schon nach zwei Jahren Abgeordnete der Vasallen und der Bi- 
schof vor dem König erscheinen und dieser nun den Streit zu schlichten unternimmt. Wie 
er dabei den Bischof anweist, sich bei den Forderungen an seine Diöcesanen streng an die 
(Gewohnheit des dorpater Stifts zu binden, da scheint darin ein Sieg sich auszusprechen 
des deutschen politischen Elements im Vasallenstande. 

Welche Ereignisse sonst noch die ersten Jahre der dänischen Restauration ausfüllten, 
sämmtlich sind sie von minderm Belange für Estland und doch in allen tritt eins zu Tage: 
die Aufgabe der harrisch-wirländischen Landschaft ist enge Verbindung mit den rein deut- 
schen Colonien in Livland. Denn Schutz vor Russen und andern Feinden gewährt nur der 
Orden. Als 1244 der König Erich wieder einmal zur Heerfahrt rüstet — vielleicht gar 
gegen die livländische Conföderation —, und das Kriegsvolk schon sich zu sammeln be- 
ginnt in Ystad, um die Schiffe zu besteigen, da wendet er plötzlich wieder um gegen den 
Erbfeind des Reichs; nur weniges Kriegsvolk sendet er hinüber nach Reval; mit der Masse 
des Heeres stellt er sich auf gegen Lübeck. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE 19 


B. Kritischer Theil. 


Banlieues 


Kritik der Methode des Verfassers. 


Aus der vorausgehenden Uebersicht, in welcher ich versucht habe, den Gang der 
«Studien» mit ihren Resultaten möglichst treu darzustellen, ergibt sich für den Kenner der 
Documente, auf welche die Untersuchungen sich gründen, Aufgabe wie Methode des Verfas- 
sers im Allgemeinen. Einmal nämlich leuchtet es ein, wie der Verf. möglichst viel urkundliche 
Daten nach verschiedenen Verhältnissen, namentlich causalen, aneinander zu fügen ge- 
sucht hat zu einer historisch möglichst zusammenhängenden Darstellung, so dass die von 
ihm darauf verwandte Mühe dem Verfahren des Mosaikarbeiters verglichen werden mag. 
Sodann auch ergibt sich auf den ersten Blick, wie er, bemüht ein altes Muster herzustel- 
len, das nur noch in vereinzelten, zerrissenen Bruchtheilen sich kundgab, wie er mehr oder 
weniger mit kühnen Ergänzungsversuchen sich hat helfen müssen, und zwar um so kühneren, 
je mehr ihm daran lag, die zerstreuten Theile einem irgend harmonischen Ganzen einzu- 
fügen. Er selbst hat sich die Art der Aufgabe nicht verhehlt, die ihm dabei gestellt war; 
auch erwartet er im Interesse der Restauration, die er nur begonnen zu haben meint, 
strenge Kritik. 

Die erste Aufgabe eingehender Kritik aber ist dies: zu ermitteln, in welchen Glie- 
dern eines wissenschaftlichen Gefüges Vorzüge und Mängel einander so nahe treten, dass 
sie sich fast organisch bedingen; sodann wird sie an gewählten Beispielen die Consequen- 
zen dieser Bedingungen darlegen. 

Nun hat offenbar grade, was sonst ein Vorzug ist, das Streben nämlich nach äusserlich 
abgemessener Anordnung, wo es sich geltend macht auch bei kaum ausreichenden Com- 
binationsdaten, den Verfasser fehlgreifen lassen schonin der Gliederung seines Stoffes. Denn 
von dem ursprünglichen Zweck, die Zeit der Abfassung der Landrolle zu bestimmen, ab- 


gelenkt «durch neue Gesichtspunkte, durch Fragen, die Anregung gaben zu einer Reihe 


20 С. SCHIRREN, 


von Skizzen,» hat er einige dieser Skizzen «zusammengeschmolzen» und der eigentlichen 
Arbeit über die Landrolle «angehängt, so gut es eben gehen wollte» Dieses Princip der 
äusseren Anfügung verschuldet es dann, wenn drei Abtheilungen nebeneinanderstehen, co- 
ordinirt durch den gleichen Titel der «Abtheilung«, in der That aber nur in zwei gleich- 
geordnete Gruppen zerfallen. Denn entweder bilden I und II die eine, während ihnen ge- 
genüber der zweiten nur Ш zufällt. Oder esfällt II hinüber nach III, als dessen Einleitung 
gleichsam, und I bleibt isolirt für sich stehen. I und II behandeln nur den Inhalt des L. C., 
obzwar getrennt, jenes die im Document verzeichneten Namen, dieses die aus demselben 
erkennbaren historisch-politischen Momente. III aber, die Geschichte Harriens und Wir- 
lands, verbindet die Ergebnisse von I und II mit andern Momenten innerhalb eines weiter- 
gespannten Rahmens. — Dieselbe Unsicherheit des Stand- und Gesichtspuncts verräth 
sich sodann in der Einleitung. Sie leitet, strenge gefasst, nur die beiden ersten Abtheilun- 
gen ein; um auf die dritte zu verweisen, wiederholt sie nur nebenhin einige der Vorrede 
entlehnte Bemerkungen. 

Dieser Bruch in präciser Gliedrung des Stoffs — den nun zum Theil die Kritik des 
Buchs an sich tragen muss, wie das Buch selber — liesse sich übersehen, wäre er nicht 
Symptom eines inneren Fehlers. Ueberall, wo auch in der Nähe die Umrisse verschwim- 
men, schliessen wir auf unzureichendes Licht oder Mangel an Haltung. Dieser Ausfall 
an beiden aber ist oft nur die Folge überspannter Anstrengung, beides zu gewinnen, und 
der Schein äusserer Consequenz verräth oft am raschesten den Mangel an innrer. 

Nur mit Unrecht dürfte man dem Verfasser das grosse Verdienst abstreiten wollen, 
durch seine Combinationen Leben hineingebracht zu haben in eine oft unterschiedslos hin- 
und hergewendete Masse von Daten. Nicht nur, dass er die vorher nur allgemein erkann- 
ten Anfänge und darum die Grundzüge der harrisch-wirischen Geschichte zuerst mit Schärfe 
fixirt hat; von seiner Darstellung verbreitet sich ein Widerschein des Lebens auch in die 
benachbarten Colonien und ihre fast erstorbene Vergangenheit. In meist sicher umschrie- 
benen Gruppen scheidet er frühe schon die später vollends auseinanderfahrenden Interes- 
sen und deren Vertreter; die äussere wie die innere Politik einiger Glieder der livlän- 
dischen Conföderation verfolgt er aufwärts an fast unmerkbaren Zeichen in ihre schwan- 
kenden Anfänge und mit geduldiger Feinheit führt er halb unsichtbare Linien mitten durch 
ein verwirrtes Gewebe. Allein dieses unläugbare Verdienst wird oft fast aufgewogen durch 
gleich unläugbare Mängel. So richtig die lebendigen Ansätze erfasst sind, so künstlich muss 
sich der Fluss ihrer Entwickelung abdämmen; dem Schema, das einmal passt, soll sich die 
wunderbare Fülle der Geschichte bequemen; der Formel, die ein Problem löst, jedes andre 
verwandte und, wo die Linien im Schnörkel verfolgt werden, da gilt nicht selten ein belie- 
biges Ende als Ablauf eines beliebigen Anfangs. 

Das Bestreben, überall einen Zusammenhang herzustellen, hat nicht ohne Einfluss 
bleiben können auf die Form selbst der einzelnen Darstellung. So wohl der Verfasser im 
Allgemeinen jenen fatalen, historischen Stiel vermieden hat, der mit marionettenhafter 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DAnIAE. 21 


Lebendigkeit die armseligen Blüssen des Thatsächlichen verwirbelt, so hat sich doch mitten 
in wohl abgemessene Uebergänge zuweilen eine inhaltlose Phrase gedrängt, und die Gründ- 
lichkeit ist geopfert dem Bestreben, augenblicklich Getrenntes um jeden Preis zu vermit- 
teln. So dort, wo der Verf. S. 94 das erste Einschreiten der Dänen in Estland schildert. 
Nachdem die Deutschen den Angriff gegen die Esten begonnen haben, wird «deren ganzem 
Stammenoch ein andrer, bei weitem gefährlicherer Feind erweckt — König Waldemar 
П., denseineDänen mitRecht den Siegernannten. Schon seit ein paar Jahrhunderten 
hatten die Esten oft genug die Küsten Dänemarks und Schwedens als Seeräuber heimge- 
sucht. Ihrerseits wissen die Chronisten dieser Länder von manchem kühnen Zuge nach den 
estnischen Küsten zu erzählen. Die alte Lust dazu erwachte neu bei den Dänen, als sie 
vernahmen, wie die Deutschen sich an der Düna festgesetzt, von dort aus siegreich nach 
Norden vordrangen». — «Ein erster Zug Waldemars gegen die Oeseler (1206) blieb ohne 
Folgen. Die harten Kämpfe mit Deutschen und Slawen in den Elbeländern zogen darauf 
seine Blicke von dem heidnischen Osten ab. Die Fortschritte, welche die Deutschen im 
nächsten Jahrzehent in Livland machten, lenkten indessen des Königs Aufmerksamkeit wie- 
der dahin. Jetzt konnte es nicht weiter um einen Strafzug gegen dieSeeräuber bloss sich 
handeln, um eine Ausplünderung der Küstenlandschaften. Auch die Dänen sollten an jenen 
Ostseestaaten festen Fuss fassen, für immer ihr siegreiches Banner neben dem Kreuze 
dort aufpflanzen». Der Verfasser, dessen vorzüglichste Aufgabe es wird, den fast mit der däni- 
schen Landung beginnenden Sieg der deutschen Principien über die dänischen in seinem 
meist unaufhaltsamen Fortgange darzustellen, ihm heisst das dänische Banner ein siegrei- 
ches, das für immer soll aufgepflanzt werden, da doch sofort in den ersten Jahren die 
dänische Colonie sich nur mit deutscher Hilfe behauptet. Oder ist das vom dänischen 
Standpunkt gesprochen, von welchem Standpunkt denn heissen die Dänen für die Esten 
ein viel gefährlicherer Feind, als die Deutschen? So spricht doch der Geschichtschrei- 
ber selbst, der Thatsachen vergessend, nur bedacht auf stilistische Steigerung. Und dieser 
«mächtigere, gefährlichere» Feind wagt S. 251 nur, zur Demonstration zu rüsten, aus 
Furcht vor den Deutschen, und Ъ. 287 gar ist für die Dänen die Zeit der Kreuzfahrt vor- 
über; es ist lange her, in Waldemars Jugend, als sie noch streitbar aufzogen «an 
den südlichen Ostseegestaden, in den Elbeländern», warum nicht in Estland? 5. 287 frei- 
lich ist nicht S. 94, der Verf. fühlt, seine ganze Darstellung verbiete, die Dänen einen ge- 
fährlicheren Feind zu nennen; nicht die 20 Jahre: die 200 Seiten haben sie weniger 
gefährlich gemacht. Es sind das nicht kleinliche Zufälligkeiten; es sind Symptome. Ein 
Schriftsteller beherrscht in dem Maasse, wie seinen Stoff, seinen Standpunkt. Allein vol- 
lends bedenklich ist die Motivirung der dänischen Feldzüge. Da ist nur zweierlei möglich: 
entweder sie ist eitel Phrase oder sie entscheidet über eine wichtige, historische Frage. 
Von den Beziehungen der nordischen Völker zu den Esten vor 1219 will der Verfasser 
nicht reden; sie liegen ihm ausser aller Geschichte. Allein woher dann die Einsicht in 
Waldemars Motive? Erst war zu ermitteln, wem die Initiative gebührt, den Dänen oder 


29 С. SCHIRREN, 


den Deutschen? Denn das ist nicht eine müssige Frage. Mag es auch nur Vermuthung 
genannt werden, Meinhards Unternehmen habe in Verbindung gestanden mit der Weihe 
Fulcos durch А1ехап4ег Ш. zum Glaubensboten der Finnen und Esten (Pabst, Meinhart 
I, 20, 21), mögen die Züge Kanuts, wie die dänischen Chronisten sie verzeichnen, auch 
herabgedrückt werden zu blossen Raubzügen: die ersten Capitel der Origines Livoniae 
lassen sich nicht wegdeuten und trotz Pabst (М.П, 50) wird der Satz: «promiserunt aliqui 
de Teutonicis et quidam de Danis et de Normannis et de singulis populis exercitum se ad- 
ducturos» am wenigsten gezwungen so lauten: es hätten etliche deutsche, etliche dänische 
und normannische, sowie Kaufleute andrer Nationen (die grade im Lande waren, — und 
warum dürfte nicht an die Russen gedacht werden?) versprochen, mit einem Kriegstrupp 
zu Hilfe zu kommen. Allein diese und andre Zeugnisse des ältesten Chronisten stehen zu- 
rück vor Zeugnissen viel grösserer Beweiskraft, die, wenn sie einmal im Zusammenhange 
geprüft sind, die älteste Geschichte der livländischen Colonien neu begründen werden. Der 
Verfasser hat sie gestreift, ohne sie erfassen zu wollen. In einer Anmerkung erklärt er die 
estnische Benennung der Deutschen. Die Erklärung ist nicht neu und jedenfalls ernster 
gemeint, als S. 206 Anm. 3 der Scherz über den Katersachs als Kadakasachs oder Herrn 
von Wachholder, der den alten deutschen Kather, Kothsassen um eine ihm zukommende 
Gevatterschaft zu bringen gemeint ist. S. 153 Anm. 1 heisst es: «Noch heutiges Tages 
bezeichnet dem Esten das Wort «Saks» den Herrn, den Gebieter, das Wort «Saksama» 
aber Deutschland, im Allgemeinen das Ausland. Darin allein möchte schon ein Beweis lie- 
gen für das Vorherrschen des sächsischen Stammes unter den Eroberern der estnischen 
Landschaften» und S. XI bringt aus Eike von Repgows Zeitbuch der Nachtrag: «bi si- 
nes vader keiser Heinrikes tiden wart Liflande kersten unde bedwungen van den Sassen.» 
Nun hat wol der sächsische Stamm an der Düna nicht weniger gewogen, als am finnischen 
Meerbusen und von seiner Ankunft im Süden haben die Esten erfahren, noch ehe sie ihn 
im eignen Lande sahen; auch benannt werden sie ihn haben, sobald sie von ihm erfuhren 
und doch schwerlich mit anderm Namen, als nachmals? Kam ihnen aber der Name aus 
dem Süden, wie der Benannte selbst, wie erklärt es sich, dass die Deutschen bei den Letten 
nicht Sachsen heissen? Und in den Chroniken und Urkunden der Einwanderer selbst er- 
scheint der Name nur mitunter. Gleich in den ersten Zeilen der Origg. Liv. I, 2 lesen wir 
von «Teutonici mercatores»; II, 6. II, 8. erklärtsich die «Saxonum acies» und «turba», denn 
II, 3 war Berthold eben «in Saxoniam» gezogen und von dort mit Pilgern heimgekommen. 
Die bedeutsamste Bezeichnung wäre II, 8 der «Saxonum Deus», allein ihr steht gegenüber 
die «ars Theutonica» n XXVII, 3. ХХУШ, 5. 6. Das «sachsen lant» in V, 847. 914. der 
Reimchronik verschwindet fast ganz vor den «dutschen landen» 255 ff., den «dutschem, 
149 ff., den «dutschen Schwerten», 1581. Auch ist es nicht denkbar, die Esten, die 
kühnen Seeräuber an den Küsten von Gothland und Dänemark, hätten von den Deutschen 
nicht eher vernommen, als bis sie an der Düna erschienen oder gar in Estland. Es ist eine 
alte, historische Ermittlung, dass zwei nicht gar zu entlegene Völker sich nennen, lange 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 23 


ehe sie sich persönlich kennen ; schwerlich haben die Esten die Deutschen Sachsen genannt, erst 
nachdem sie von der Herkunft der Mehrzahl unter ihnen erfuhren. Nun ist es aber bekannt, 
dass den nördlichen Völkern die Deutschen fast ausschliesslich «Sachsen» heissen. Die Be- 
weise sind überall zur Hand. Selbst die isländischen Schriften reden fast nur von «Sax- 
land» (Werlauff, symbolae ad geogr. medii aevi ex monum. isl. 1821, р. 9); die Donau ist 
der Grenzfluss zwischen Griechenland und Saxland (S. R. D. II, 36); der Rhein Grenz- 
fluss zwischen Fraklands und Saxlands (Symb. p. 11; cf. Hauksbök in den Ant. Russ., II, 
430); von Saxland gelangt man östlich nach Ungarn (Hauksbök p. 441; cf. das Buch des 
Bisthums Skalholt, Ant. Russ. II, 445) und noch beiHauk Erlendson (+ 1334) heisst es: 
«Germania riki heitir pat er ver köllum Saxland» (Ant. Russ. II, 438), wie im XIV in der 
hist. L. abgedruckt in Hist. de Piratis Jomensibus ed. Sveinbjörn Egilsson. 1842. p. 
374: «Saxonia s. Germania hodie Saxlandia (Saxonum terra) vocatur, quam inter et Grae- 
ciam fluvius ille magnus, Danubius, intermeat.» Es ist dann im höchsten Grade wahrschein- 
lich: der sächsische Name der Deutschen kam zu den Esten von den Dänen her. Und 
damit ist nur der Ansatz gewonnen zum Nachweis einer ganzen Reihe von Wechselbezie- 
hungen. Es ist an der Zeit, sie einmal kritisch zu verfolgen, so sehr durch kritiklose Be- 
handlung die Frage in Misscredit stehen mag. Man wird ihre Merkmale wiederfinden in 
den ältesten, unter dem Landvolk gangbaren Münzen, in Richtung und Art seines Handels- 
verkehrs, in manchen Momenten selbst seines gesellschaftlichen Lebens, unter Verhältnis- 
sen, in welchen man sie bisher kaum geahnt hat, so nahe sie mitunter der Oberfläche lie- 
gen. Oder man hat sie übersehen wollen, und auch der Verfasser will nichts von ihnen 
wissen. Nur hätte er dann nicht gelegentlich rückgreifen dürfen in eine Zeit, welche prin- 
cipiell ausgeschlossen blieb aus seiner Untersuchung. Nicht ohne Untersuchung durfte er, 
vom Interesse an Motivirungen getrieben, seine Darstellung so wenden, als gäbe es sicher 
keine Continuität zwischen den alten dänischen Fahrten nach Estland und Waldemars 
Seezug, als wäre Zusammenhang einzig in den Pilger- und Handelszügen der Deutschen, 
als predigten päpstliche Bullen die Kreuzfahrt nicht früher nach Estland, als Livland. 

Dasselbe Bedürfniss subjectiv-befriedigender Motivirung, wie es zuweilen zum Ab- 
schluss drängt ohne gründliche Voruntersuchung, verleitet den Verfasser gelegentlich, mo- 
derne Vorstellungen zurückzutragen in eine wesentlich anders disponirte Zeit. Nur so er- 
klärt sich, trotz 5. 209 Anm. 6, die später zu besprechende Charakteristik Balduins У. 
Аша; so die für nöthig erachtete Beleuchtung Waldemars, 8. 249: «er habe bei dem 
Bestreben, seine Herrschaft über deutsche Landschaften auszudehnen, nie die Absicht ge- 
habt, dänisches Recht, dänische Sprache und Sitte dort einzuführen», während $. 273 der 
Erzbischof von Lund und die dänische Geistlichkeit beschuldigt werden, die deutschen 
Geistlichen durch Dänen allmälig zu ersetzen: «man erinnre sich nur, wie die Priester 
der beiden Nationen sich zwanzig Jahre früher, bei der ersten Bekehrung des Landes, 
bekämpft.» 


Dasselbe Bedürfniss wird gelegentlich Anlass, über dem Entfernteren das Näherlie- 


24 С. SCHIRREN, 


gende zu übersehen. Wo der Verfasser berichtet, der Erzbischof von Lund habe im J. 
1221 die vom Bischof Albert erbetene dänische Vogtei über Livland rückgängig zu ma- 
chen versprochen, da meint er, die Deutschen hätten «vielleicht mit einem Kriegszug gegen 
Revab gedroht. Die Quellen bieten dafür keinen Anhalt und die Deutschen begnügen sich 
S. 114 am Ende mit sehr mässigem Erfolge. Das Zugeständniss erklärt sich einfach aus 
der unmittelbar vorhergegangenen Belagerung Revals durch die Oeseler, vielleicht auch 
durch den neuen, estnischen Theilungsvertrag zwischen Orden und Bischof (Origg. Liv. 
XXIV, 2), und sowol ausreichend als quellengemäss gibt die Motivirung P. E. Müller, 
vita Andreae Sunonis. 1830 (Programm, auch abgedr. in Kolderup-Rosenvinge, Samling 
af gamle danske Love, IV, р. XLIID: «Quum igitur Andreas intelligeret, Danostotum istum 
tractum propriis viribus tueri non posse, legatis episcopi Rigensis suam operam ad pristi- 
nam libertatem ipsi restituendam pollicitus est, hac scil. conditione, ut iunctis viribus pa- 
ganos impugnarent.» — S. 234 beruft sich der Verfasser auf eine apokryphe Angabe von 
Brandis, um das Widerstreben des Papstes gegen die Vereinigung der beiden Ritterorden 
durch dänische Machination zu erklären, während doch der Papst bei seinen im Livl. Urkb. 
144, a. 1236 angedeuteten Plänen ohne weiteren Antrieb den deutschen Orden viel mehr 
zu fürchten hatte, als die Schwertritter mit ihrem einen Drittel am Lande und ihrer hie- 
rarchisch mehr untergeordneten Stellung. Livl. Urkb. 149 zeigt, welchen Ausweg der Papst 
im eignen Interesse gefunden. -— Es hätte den Verfasser behutsamer machen sollen, wenn 
er selbst gelegentlich erfuhr, wie ein ihm zu spät bekannt gewordenes Datum seine künst- 
lichen Motivirungen umstürzte. S. 217 lässt er Wilhelm von Modena aus herzlichem 
Verlangen, die livländischen Schwierigkeiten an Ort und Stelle zu Gunsten der Deutschen 
zu lösen, sein Bisthum Modena zum Opfer bringen, und muss nun р. ХИ aus Ughelli 
nachtragen, dass Wilhelm seit 20 Jahren mit seinem Capitel in Hader gelebt und daher 
das «Opfer». 

Der schwankende Werth solcher Motivirungen verräth sich noch auffallender, wenn 
der Verfasser gelegentlich denselben Vorgang in verschiedenem Zusammenhange auf ver- 
schiedene Weise deutet. S. 77 will er die Getödteten der Landrolle offenbar in den inneren 
Wirren umkommen lassen, wenn er, wie einer Anomalie, erwähnt, dass ihrer zwei auf 
Wirland kommen, nur einer auf Harrien. 5. 236 meint er die nur von Brandis gemel- 
dete Betheiligung der harrisch-wirischen Vasallenan der Schlacht gegen die Litauer, Sept. 
1236, dadurch wahrscheinlicher machen zu können, dass die Getödteten der Landrolle 
«vielleicht» in dieser Schlacht gefallen wären. Zuweilen tritt der Widerspruch noch greller 
hervor. S. 40 Anm. 4 lesen wir die viel zu hochgespannte Behauptung, «die Landrolle er- 
theile den Titel Dominus mit Sorgfalt», mit so fein gemessener Unterscheidung, «dass 
sich mit einiger Bestimmtheit schliessen lasse: wenn Jemand einmal ohne diesen Titel, ein 
andres Mal mit demselben vorkomme, so gehe die erstere Angabe der Zeit nach vorher.» 
Trotzdem gilt dem Verfasser S. 25 ff. Kanutus, den die Landrolle einfach nur so bezeich- 
net, als «Dux Canutus». — S. 197 wird aus dem Umstand, dass in dem Entwurf eines 


Bertrac zum VERSTÄNDNISS DES Lise CENSUS DANIAE. 25 


rigischen Rechts für die Revaler und Wirländer beim Namen des Bischofs Albert der 
Zusatz «piae memoriae» fehlt, geschlossen, der Entwurf könne spätestens vom J. 1228 
datiren, während ein andres, freilich «auffallendes» Beispiel dem Verfasser nicht unbekannt 
war (S 207 Anm. 2), dass dieser Zusatz auch zuweilen und grade, wo man ihn am ersten 
erwartet hätte, fehlte. S. 193, 255 begnügt sich der Verfasser nicht, das «subditi» der 
Urk. 165 allgemein mit «Untersassen» wiederzugeben: sondern es werden ihm dadurch die 
Esten zu «vollkommnen Unterthanen» und das Recht der Herre:: über Hals und Hand wird 
dadurch wahrscheinlich gemacht; S. 295 Anm. 1 dagegen sieht er sich bewogen, die 
«subditi» der Urk. 172 als «Diöcesanen» zu interpretiren. — Es ist dann nur ein gefähr- 
licher Schritt weiter, wenn S. 169 sich kategorisch ausspricht: «Vor Allem musste Bestä- 
tigung der Lehen zugesagt werden, in die gewiss schon vollständige Herrschaft über die 
unterworfenen Esten begriffen war»; ganz so wie S. 21—25 den Güterbesitz des Klosters 
Guthwallia in Estland schon vor dem Jahre 1225 wahrscheinlich zu machen sucht, S. 129 
aber, wo es sich um eine Stütze für weitere Combinationen handelt, die Wahrscheinlich- 
keit bereits zur Gewissheit gereift ist: «Denn sicher ist, dass damals das Kloster in Har- 
rien und Wirland bedeutende Güter erwarb.» — Es begreift sich um so leichter, wie der 
Verfasser, wo er nach Beweisen sucht, von zwei gleich grossen Chancen, statt beide gleich 
gegen einander zu wägen, diejenige vorzieht, welche zu seiner Conjectur passt. Зо 
folgert er daraus, dass der «Dominus Tuvo Palnisun» in Urkk. von 1257 und 1259, aber 
nicht später vorkomme: er werde wol nicht viel länger gelebt haben. Mit demselben 
Recht liesse sich daraus, dass er nicht früher vorkommt, folgern: der L. C., in welehem 
er eine bedeutende Stelle einnimmt, könne nur kurz vor 1257, nicht aber schon 1239 ent- 
worfen sein. Denn 20 Jahre vorwärts sind in diesem Falle grade eben so wahrscheinlich, 
wie 20 Jahre rückwärts oder eines ist so unwahrscheinlich, wie das andre, oder vielmehr, 
für keines von beiden lässt sich durch ein blosses argumentum a silentio etwas darthun. 
Von der Vorliebe des Verfassers für diese Art von Beweis werde ich noch zu sprechen 
haben. Nun lässt sich zwar einem sonst exact gefügten, historischen Beweise durch eine 
von zwei gleichen Chancen zur Noth ein Abschluss geben, allein, sobald auch die übrigen 
Glieder nur hypothetischen Werth haben, wird nichts gewonnen, als die Balance für eine 
Gruppe von Möglichkeiten. 

Derselben Combinationsmethode ist es dann zuzuschreiben, wenn der Verfasser, um 
eine Muthmassung plausibel zu machen, absichtlich oder unabsichtlich seinen Beweis im 
Halbdunkel führt. So weiss der kritische Leser, der sich durch ein Spiel halber Andeu- 
tungen nicht fangen lässt, kaum zu erklären, was 5. 45 gemeint ist in den Worten: «Ganz 
zufällig ist auch wohl nicht die Uebereinstimmung in den Stammwappen einerseits der 
Buxhövden, andrerseits der von der Roop, wie dieses letztere Geschlecht in jüngster 
Zeit sein altes Wappen wieder angenommen.» Ahnte der Verfasser das Wie dieses Zu- 
sammenhanges der ältesten Zeit mit der jüngsten, so durfte er es nicht verchweigen, so 
eigenthümlich wäre es. Hatte das Geschlecht der Roop sein «altes» Wappen in der That 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Série, 4 


26 C. SCHIRREN, 


«wieder». angenommen, so konnte dabei der Zufall gar nicht gewaltet haben. Für die 
Wahl der Ausdrücke giebt es nur eine Erklärung: der Zusammenhang ist dem Verfasser 
so dunkel gewesen, als er dem Leser jedenfalls bleiben wird, und es ist nichts plausibler 
geworden. — Eigenthümlich gezwickt ist die Erörterung auf S. 78: «In Wirland ver- 
schwinden daher die wenigen dänischen unter den zahlreichen deutschen Vasallen. Das 
vollkommne Widerspieldavon findet nun freilich in Harrien nicht gerade statt. Indessen 
erscheinen die Deutschen hier immer in einem sehr viel geringeren numerischen Ver- 
hältnisse, obschon an Zahl die Dänen weit überwiegend.» Das heisst kurz und deut- 
lich: In Harrien, vorzüglich aber in Wirland, gab es bei weitem mehr Deutsche, als Dä- 
nen. Ein Unterschied also bestand, allein weder ein vollkommnes, noch überhaupt irgend 
ein «Widerspiel.» Wozu dann die unklare, gewundne Formulirung eines einfachen Ver- 
hältnisses? Dem ungeübten Leser schiebt sie für einen Unterschied einen Gegensatz unter. 
— Wo der Verfasser S. 189 die angebliche Landesversammlung von 1228 bespricht und 
sich scheut, die Aufzeichnung eines vollständigen Lehnrechts zu behaupten, da hilft er sich 
mit einem Mittelwege: «Das Resultat, sagt er, jener Verabredung bildete dann ein 
vielleicht theils schriftliches, theils nur traditionelles Recht für’s ganze Land, 
ein Landrecht. Dieses wurde von Volquin nunmehr den Wirländern bloss bestätigt, den 
Harriensern zum Theil bestätigt, zum Theil verliehen.» «Dieses,» somit das theils geschrie- 
bene, theils traditionelle Landrecht. Wie aber sollte ungeschriebnes, traditionelles Recht 
«bestätigt» werden, als etwa in so allgemeiner Zusichrung, dass es dazu der Vereinbarung 
auf einem Landtage schwerlich bedurfte. Allein wie vermag «traditionelles Recht» über- 
haupt «Resultat» zu sein einer förmlichen Verabredung? Aus verabredeten Sätzen mögen 
sich traditionelle Ergänzungen entwickeln, allein diese sind nicht selbst Resultat der 
Verabredung. Wenn die S. 187 noch dazu setzt: «die schriftliche Abfassung war vielleicht 
nicht einmal durchaus erforderlich; in die Köpfe jener Zeit gruben sich die wenigen, einfachen 
Rechtssätze tief ein», und wenn S. 186 bei den vielen particulären, im Lande geltenden 
Erbrechten eine Vereinbarung für unvermeidlich geboten hält, so hat es dem Verfasser 
offenbar nicht gelingen wollen, das Verhältniss klar zu fassen. Selbst die Hypothese von 
den alten, specifisch disponirten Köpfen hilft wenig. So einfach die wenigen Rechtssätze 
sein mochten, sie waren ja eben vielfach: nur daher das Bedürfniss einer Vereinbarung. 
So wurden sie also vereinfacht — das wird der Verfasser gemeint haben. Nun leben aber 
im Gedächtniss offenbar die alten, traditionellen Rechtssätze, die vielfachen: im einen Kopf 
diese, im andern jene. Konnte es nun demselben, alterthümlich disponirten, Gedächtnisse 
so leicht werden, die erst vereinbarten, einfachen sofort zu fassen und so «tie» zu bewah- 
ren, dass eine Aufzeichnung «nicht einmal erforderlich» war? Es hat aber diese unklare 
Deduction nur den Zweck, die Hypothese von einem Landtag im J. 1228 plausibler zu 
machen. — Denselben Character trägt S. 196—198 die Erörterung über das älteste ri- 
gische Stadtrecht, wie es für die Revalienses und Wironenses entworfen wurde. Es wünscht 
der Verfasser glaublich zu machen, einerseits, dass Reval vor 1228 eine «wirkliche Stadt» 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 97 


noch nicht war, апагегзе $, dass 1228 dieWirländer етег «Stadt» bedurften. Schon vor 1219 
mochte in Reval «ein Hafenmarkt» bestanden haben, doch nur für den Sommer; «in der 
schweren Zeit von 1223—1227 hätte Waldemar kaum daran denken können, diesem Orte 
ein Stadtrecht zu verleihen»; erst seit der Herrschaft des Ordens erhält Reval «wieder Si- 
cherheit und Frieden». Andrerseits bedürfen die Wirländer eines «festen Rückzugpunkts» 
gegen Aufstand und feindlichen Einfall: «eine blosse Burg genügte nicht, es war vielmehr 
neben derselben das Entstehen einer Stadt wünschenswerth». Freilich «dass in einem eben 
erst heidnischer Barbarei entrissenen Lande Städte nur dort entstehen konnten, wo der 
Handel eines Stapelplatzes, eines Haltpunkts bedurfte, das brauchten jene Vasallen grade 
nicht vorauszusehen». Mit einem Worte, der Verfasser erklärt dieselbe Stadt für nothwen- 
dig, für wünschenswerth, für unmöglich. Denn die Stadt ist doch ein Bedürfniss, wenn die 
Burg «nicht genügt», obwol der Leser nicht versteht, warum «nicht genügt». Und bloss 
«wünschenswerth» wird die Stadt nur, weil sie doch eben nicht unentbehrlich und freilich 
auch so gut, wie unmöglich ist. Es hat aber diese Unklarheit nur den Erfolg, flüchtigen 
Lesern plausibel zu machen, wie die eine Stadt, in der sich alle Bedingungen zur Stadt 
schon frühe gefunden hatten, eine «wirkliche Stadt» noch nicht war, zu einer Zeit, wo an 
einer andern Stelle, der es an allen Bedingungen zur Stadt fehlte, eine Stadt auf förmlichen 
Beschluss fundirt wurde. — Ich erlaube mir, da ich auf die Frage nicht weiter zurück- 
komme, eine weitere sachliche Bemerkung. Man wird dem Verfasser die deutsche Grün- 
dung Wesenbergs mit dem deutschen Namen zugeben müssen. Zum Nachweis konnte das 
Kirchdorf Wesenberg, nahe der Trave, angeführt werden, das als «Wispircon» bereits in dem 
von Adamus Brem., Gesta Hamm. eccl. pontif. II, 15b (Mon. Germ. Ser. VIL,310), erhaltenen 
Fragment einer transalbingisch-sächsischen Grenzscheide Karls 4. Gr. vorkommt und auf 
welches wol auch der Burchardus de Wesenberghe im Necrol. Hamb. (5. В. D. У, 
411; cf. Hamb. Urkb. 664 und Studien S. 60 Anm. 2) zu beziehen ist. Auch das muss 
zugegeben werden, wie zuweilen Städte bestimmten Personen ausdrücklich zur Gründung 
übergeben wurden. Im Uebrigen aber wird man bei jenem Document zunächst doch an 
die Küstenlandschaften denken, namentlich wenn als Motiv ausdrücklich hervorgehoben 
wird: «ut, sicut in Riga, unum ius habentperegrini cum urbanis eturbani cum peregrinis, 
sic et nos habeamus». In Estland aber hat es sicher ebenso vorübergehende Stadtansätze 
gegeben an Orten, die urkundlich nicht oder kaum mehr nachzuweisen sind, wie in Livland. 
Ich erinnre nur an Livl. Urkb. ПТ, 563b, a. 1296, wo Helmold von Lode den Lübeckern 
Befreiung ertheilt von Zoll und Ungelt und Strandrecht in portubus, aquis, aquarum fun- 
dis et ripis und dieselben Freiheiten in Anspruch nimmt für die derzeitigen und künftigen 
Einwohner «opidorum et civitatum nostrarum scil. Lodenrodhe et Cokgele». Selbst diese 
beiden Orte würden besser, als Wesenberg, zur Angabe passen: «in Revalia et circum- 
positis regionibus» und das Mitinteresse der Wirländer an jeglicher Steigerung des See- 
verkehrs mit Lübeck wäre Motiv genug für ihre Betheiligung. Аш besten freilich bleibt 
jenes Document vorläufig auf sich beruhen. 


28 C. SCHIRREN, 


Wie in diesem Falle ein urkundliches Datum war übersehen worden, das wenigstens 
in eine Combination von Möglichkeiten Aufnahme erwarten konnte, so hat der Verfasser 
noch öfter unzweideutige, positive Momente absichtlich oder unabsichtlich bei Seite gelas- 
sen, obwol in Folge dessen seine Schlüsse sich in Sprüngen bewegen oder geradezu fehl- 
zielen. Meist erklärt es sich aus einseitig gespannten Intentionen. Als Beispiel im Kleinen 
füge ich die Behauptung von $. 200 an: «Hätte eine Estenburg sich dort (bei Wesenberg) 
befunden, so wäre in dem estnischen Namen (Rakwere) die Bezeichnung Linn gewiss er- 
kennbar geblieben», als wäre in den Origg. Liv. nichts gemeldet von einem «castrum Odempe» 
(XII, 6), einem «castrum Warbole» (XV, 8), einem «castrum Lone» (XX VII, 6) und andern. 
Bedenklicher ist das Bestreben, auf jede noch so entfernte Andeutung die wirischen Va- 
sallen in den Vordergrund treten zu lassen, wo ein unbefangner Blick zur Seite gelehrt 
hätte, wer an ihre Stelle gehörte. So wird $. 151 die Urk. 98 mit übertriebenem Nach- 
druck eine Verbindungsschrift genannt und die «ceteri Theutonici in Livonia», «da so weder 
die Rigaer, noch die Vasallen Bischof Alberts genannt werden konnten», sollen vorzüglich 
Johann v. Dolen und seine Genossen, die Vasallen des Bischofs von Dorpat, «jene Er- 
oberer Wirlands», bedeuten. Es sind doch sicher nur die Pilger, so viel ihrer damals in 
Livland oder vielmehr in Riga sich befanden; das Schreiben ist aus Riga ergangen. Die- 
selben Wirländer sollen überall gemeint sein, wo der Helfershelfer des Ordens bei der Ein- 
nahme Revals gedacht wird. Wenigstens eine Prüfung verdiente die Angabe des Chron. 
Ecel. Rip. (5. В. D. VII, 192), welche dem Verfasser bekannt sein musste, da er 5. 25 
Anm. 2 von derselben Seite ein Citat bringt. Es heisst dort nach der Gefangennahme des 
Königs Waldemar durch den Grafen Heinrich von Schwerin: «Interea Revalia capitur 
a Teutonicis, Rigensibus et Comite». DerL.C. führt unter den Vertriebenen manche Na- 
men auf, welehe um die Mitte des XIII. Jahrhunderts in schwerinschen Urkunden wieder- 
kehren, und an das Chron. Ecel. Rip. reiht sich gleichsam bestätigend die Angabe des Erz- 
bischofs von Lund in der Bulle Gregors IX. (Livl. Urkb. 146, a. 1236): «tandem, cap- 
tivato rege praedicto, fratres militiae Christi in Livonia et quidam alii ipsi terrae vi- 
cini violenter occupantes eandem, eiectis inde episcopis ff». Mit dieser Bezeichnung werden 
wol eher Auswärtige gemeint sein, als die Wirländer, welche im Lande selbst sassen. Der 
Verfasser hält ausschliesslich sie fest. 

Es ist zu bedauern, dass er, trotz der ihm selbst nicht verborgenen Gefahr, oft in die 
Irre zu gehen, verschmäht hat, gewisse Zeichen zu befragen, die ihn öfter zurechtweisen 
konnten. An einer andern Stelle werde ich darthun, welchen Werth für seine «Studien» 
eine feste, topographische Basis gehabt hätte. So wenig, wie darauf, hat er auf die Lage 
des Landvolks vor Ankunft der Dänen eingehen wollen; schon oben habe ich davon ge- 
sprochen. Eine gewisse Scheu hat ihn fern gehalten von den älteren Zeiten; er meint, es 
gebe da keine Geschichte: die Quellen wenigstens sind oft ergiebiger, als für die späteren 
Zeiten. Auch hat er sich solcher Schlüsse nicht enthalten, die zum Theil in jener Vorzeit 
ihre Stütze suchen. So ist S.135, 138, 193 von einem 1228 bereits vollzogenen «völligen 


Вытвас zum VERSTÄNDNISS DES LiBer CENSUS DANIAE. 29 


Untergange der echten Stammältesten» die Rede, ohne dass festgestellt war, welche Stel- 
lung die Aeltesten einnahmen. Die Origg. Liv., die Reimchronik, die Urkunden enthalten 
mauchen Fingerzeig. Wie hat der Verfasser sich das Verhältniss gedacht? Wurden die 
«echten Stammältesten» gewählt oder war ihre Würde erblich? Die Hypothese von ihrer 
systematischen Verdrängung durch die Dänen schwebt in der Luft, ehe diese Frage beant- 
wortet ist. — S. 194 Anm. 2 erklärt der Verfasser: «näher auf die Verhältnisse der Esten 
zu ihren deutschen Herren einzugehen, ist hier nicht der Ort», dennoch entscheidet er В. 
85 Anm. 1 fast ohne Prüfung die Stellung der Esten. 

Die Intention auf ein künstlich gesetztes Ziel hat ihn ungerecht gemacht nicht nur 
gegen den Gewinn aus einer eifrigen Durchforschung der älteren Zeit, sie hat ihn seinen 
Blick oft auch abwenden lassen von der gleichzeitigen Geschichte der Nachbarprovinzen, 
wo er mehr als einmal den Schlüssel gefunden hätte für grössere oder geringere Probleme, 
deren Lösung für Estland er nun durch schwebende Hypothesen hat suchen müssen. Konnte 
schon die Geschichte der «Urzeit» ihn belehren, wie es dem Landvolke frühe an Geld nicht 
fehlte, so rechtfertigt sich S. 280 Anm. 1 die Behauptung: «Mit Geld wurde der Zehnte 
gewiss von den Esten nicht abgelöst», um so weniger, als Livl. Urkb. 430 im J. 1272 
eine Geldablösung des Zehntenkorns für die Semgallen ausdrücklich stipulirt wurde; es 
sollte ihnen freistehen bei Kornmangel «vor enen iegliken lop twe artinck Rigis silvers to 
betalene, oder twe marde oder achte gra уе». — 8. 130 vermuthet der Verfasser: «In 
den alten Estenburgen hauseten (schon 1224) wahrscheinlich dänische Vögte mit einigen 
Gewaffneten, um die Esten im Zaume zu halten». Aus Urkunden aber wissen wir, dass 
Vögte unter dem erst eben dem Zehnten unterworfenen Landvolke nicht «hauseten», son- 
dern nur zu Zeiten erschienen. So heisst es 1241 im Vertrag mit den Oeselern (Livl. Urk. 
169): «Advocatum ad Secularia iudicia semel in anno, eo scil. tempore, quo census 
colligitur, recipient» und noch im J. 1272 erschienen unter den Semgallern die Vögte 
jährlich nur drei Mal (Livl. Urkb. 430). — Selbst bei Betrachtung der äusseren Politik 
verengt sich die Auffassung des Verfassers im harrisch-wirischen Horizont. So hätte die 
päpstliche Politik von 1225 eine viel umfassendere Bedeutung erhalten bei mehr Bedacht- 
nalıme darauf, dass in demselben Jahre der Papst Honorius Ill. auch die Preussen in 
seinen unmittelbaren Schutz zu nehmen trachtete (Cod. dipl. Pr. I, 16; Livl. Urkb. 71). 
— Der Ansatz (8. 207) zur Characterisirung der Politik, welche den verschiedenen Land- 
schaften verschiedene Bedingungen und Aufgaben stellte, wird zu rasch wieder aufgegeben. 
In der Geschichte jener Zeit aber war es entscheidend, das Dorpat, Wirland, das spätere 
Erzstift, Curland, dass die Bischöfe und der Orden, jeder andre Berührungen, Befürch- 
tungen, zum Theil andre Interessen hatten. Die Beurtheilung des Bischofs Hermann wäre 
gewiss gerechter gewesen, wenn der Verfasser sich lebhafter hätte erinnern wollen, wie 
ihn weder die dänischen, noch die litauischen Händel, um so mehr die russischen, berühr- 
ten. Der eigenthümlichen Stellung des deutschen Ordens ist er bei der Beurtheilung des 
Vertrags von Stenby im Ganzen gerecht geworden; es ist ihm nicht entgangen, wie dieser 


30 C. SCHIRREN, 


Orden alle Aufmerksamkeit auf Litauen zu concentriren hatte, schon weil es nunmehr die 
Ordensbesitzungen schied. Nur hätte er bemerken sollen — und vielleicht bringt die ver- 
sprochene Studie über den Bischof Gottfried von Oesel diesen Nachtrag — wie der Or- 
den in Oesel und in der Wieck eine so entscheidende Flankenstellung behauptete, dass er 
zum Voraus den Rückfall Estlands an seine Macht berechnen konnte. Kaum etwas Anderes 
hat so tiefgreifend die livländische Geschichte bestimmt, als die vielseitige Stellung des 
Ordens und in den Zusammenhang dieser Geschichte dringt tiefer ein, nur wer jede Wan- 
delung in dieser Stellung scharf ins Auge fasst. 

Wenn so der Verfasser nicht alle Hilfsmittel erschöpft, welche die Quellen an die 
Hand geben zur bessern Orientirung, so befremdet desto mehr die Zuversicht, mit welcher 
er in seinen Deductionen Argumente a silentio einflicht, deren Beweiskraft um so niedriger 
steht, je mehr Lücken die uns zugekommene Tradition hat. Zur Zeit der Landrolle kann 
nach seiner Meinung das Cistercienser-Kloster der Nonnen von S. Michael noch nicht be- 
standen haben, «da es sonst gewiss mit seinen Besitzungen verzeichnet worden wäre». Al- 
lein für gewiss ist das nicht eher zu halten, als bis erwiesen ist, der L. C. verzeichne alle 
Besitzungen im dänischen Estland und sei vollständig auf uns gekommen. Auch, wenn der 
Beweis vorläge: da mitunter, wie Fol. 50b. bei Reihen von Ortsnamen die Namen der Be- 
sitzer — wol aus Nachlässigkeit des Schreibers — fehlen, so gilt die Nichterwähnung 
nicht als Beweis des Nichtbesitzes. — Zuweilen macht der Verfasser die Beweiskraft eines 
solchen Arguments abhängig von der Gunst oder Ungunst einer Hypothese. In einem Falle, 
S. 235, beweist ihm das Schweigen der Reimchronik gegen das apokryphe Zeugniss des 
Brandis gar nichts; im andern Falle, S. 291 Anm. 1 muss sich das Zeugniss der Woskres. 
Annalen von der Reimchronik todtschweigen helfen lassen. An einer Stelle beweist die 
Nichterwähnung eines Namens in einer Urkunde die Nichtbetheiligung; ein andres Mal 
vermag sie nichts zu beweisen. Vom Legaten Wilhelm schweigt die Vereinigungsurkunde 
Gregors IX., obwol sie der Fürsprache der Bischöfe von Riga, Dorpat und Oesel aus- 
drücklich gedenkt; dennoch soll S. 236 Anm. 4 der Legat erst den Papst für die Ver- 
schmelzung der Orden gestimmt haben. Urkundlich erscheint vor Gregor IX. nur Balduin 
als Ankläger der livländischen Herren, obwol es Anlass genug gab, auch andrer zu erwäh- 
nen, falls sie auftraten: der Verfasser lässt dänische Abgeordnete «wahrscheinlich» mitthä- 
tig sein. Zuweilen sind deutliche Zeugnisse zwar nicht übersehen, aber aus unmotivirter 
Unschlüssigkeit der Beweiskraft entkleidet worden. So heisst esS. 212 Anm. 1: «Urk. 118. 
Aus dieser Bulle geht hervor, dass im Anfange 1232 die Bisthümer Reval und Wirland 
ohne Hirten waren, leider lässt sich nicht erkennen, ob sie vakant oder nur deren Bischöfe 
abwesend». Dennoch bezeugt die dem Verfasser bekannte Urkunde 146, a. 1236, die 
Bischöfe wären vom Orden ejieirt worden und $. 167 Anm. 3 bemerkt er selbst, von 
1226 bis 1240 geschehe eines Revaler Bischofs keine Erwähnung. Hier durfte der Beweis 
a silentio sicher in Kraft treten und hier gerade misstraute ihm der Verfasser. 

Als sollte für solche Vorsicht der Leser entschädigt werden, umwebt der Verfasser 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier Census DANIAE. 31 


Personen, von denen wir wenig wissen, mit einem phantastischen Scheinleibe und sucht 
mit seltner Ausdauer aus ihrer Erwähnung und Nichterwähnung, aus vereinzelten Worten 
in Urkunden, am meisten aus der Stellung, welche er in seiner Geschichtsbildung ihnen 
anweist, die Motive ihrer Handlungen zu errathen: er octroyirt ihnen einen Character. Bei 
Kanut, 5. 128, 260—270 ist vielleicht das Aeusserste geleistet, ihn an dem Ort und 
der Zeit unterzubringen, wo und wann urkundlich oder durch deutliche Zeugnisse nichts 
von ihm gemeldet wird. Die Combinationen, durch welche die einzelnen Annahmen plau- 
sibel gemacht werden, sind zum Theil fein berechnet: überzeugt haben sie den Verfasser 
gewiss erst nach längerer Gewöhnung. In dieselbe Kategorie gehört der Bischof Wessel 
S. 163, 165, 167; in dessen Lebensgeschichte abermals ein argumentum a silentio eine 
einschneidende Rolle spielt; zum Theil der Mag. Johannes, S. 155; selbst der Erzbischof 
Andreas von Lund.- Denn dieser hat S. 273 «möglicherweise ein christliches Estland, 
ausschliesslich unter dänischen Priestern und ohne fremdländischen Herrenstand, im Plane 
gehabt, das dann von den Bischöfen als Häuptern der bekehrten Esten verwaltet werden 
sollte. Von der Einsetzung der beiden ersten dänischen Bischöfe reden, soviel mir erin- 
nerlich, nur zwei Stellen. Die eine, Origg. Liv. XXIII, 2, lautet so: «Rex et Episcopi 
— — in locum Episcopi praedieti Theoderici capellanum suum Wesselinum substitue- 
runt». Der Verfasser paraphrasirt $. 99: «dieses benutzend (den Tod Theodorichs) hatte 
Waldemar sofort und ohne weitere Rücksicht auf Bischof Albert seinen eignen Kaplan 
Wessel zum Bischof von Reval ernannt und zugleich zum Suffragan des Erzbischofs von 
Lund». Jedenfalls hätte es richtiger geheissen, wie bei Müller, (Vita Andreae Sunonis, p. 
XLIII): «Archiepiscopus consecravit»; vergl. zum Ueberfluss Livl. Urk. 146. Die zweite 
Stelle lautet beim Albericus ad a. 1215 so: «Postea additi sunt duo, scil. Wescelo, Ep. 
Rivalie, et unus de Dacia, Ostradus, Ep. Wironiae». Der Verfasser benutzt diese Angabe 
— mir wenigstens ist eine andere nicht bekannt — zu folgender Diatribe. S. 277: In Urk. 
166 erklärt der König die Dotation des Bisthums «ohne weitres dem König» verfallen 
«liesse sich einmal das Capitel oder ein Bischof einfallen, ihm sich zu widersetzen»; die 
Erwähnung eines wirischen Bisthums in derselben Urkunde ist nur ein Fechterstück des Kö- 
nigs. «Er hatte dabei nur die Absicht, von vorn herein zu erklären, wie eine Wiederbele- 
bung des Bisthums Wirland allein vom König ausgehen könne und bloss unter denselben 
Bedingungen, die er bei dem Bisthum Revel zur Geltung gebracht. Eine solche Vorsicht 
konnte nothwendig erscheinen. Denn vor 20 Jahren hatte Erzbischof Andreas ohne 
den König das Bisthum Wirland errichtet und den Ostradus zum Bischof ernannt. Es 
galt daher die königliche Prärogative dem Primas und auch dem Papst gegenüber zu si- 
chern». Freilich! hatte doch Andreas von einem ausschliesslich von Bischöfen verwal- 
teten Estland geträumt. «Seine Pläne aber, wenn er (der Verfasser selbst setzt diese 
Worte hinein) sie wirklich gehabt haben sollte, waren an den deutschen Schwertern 
zerschellt, abgesehen von ihrer innern Unausführbarkeit». Abgesehen, wird man versucht 


hinzuzusetzen, von der Phantasie des Verfassers. Aus zwei gleich dürftigen Notizen sind 
* 


32 С. SCHIRREN, ‘ * 


selten kühnere Folgerungen gezogen. Zwar sucht der Verfasser nie wissentlich zu täuschen; 
nicht selten warnt er den Leser, ihm nicht Alles aufs Wort zu glauben: denn dieses oder 
jenes sei nur eben eine Vermuthung; allein wozu dieser verschwenderische Aufwand von 
Möglichkeiten, um kaum eine armselige Wahrscheinlichkeit zu erjagen? Unter den Per- 
sönlichkeiten, welche es sich gefallen lassen müssen, einen Character zu erhalten, fahren na- 
mentlich zwei recht übel, der Bischof Hermann v. Dorpat und der Mönch Balduin v. 
Alna. Dem Einen mangelt es an Muth, dem Andern an Tugend. Es begegnet dabei dem 
Verfasser dasselbe, wie beim Legaten Wilhelm: ein Nachtrag verdirbt ihm die Rechnung. 
An der Beredung des Bischofs Albert, des Ordens, der rigischen Bürger, der Pilger: sie 
wollten mit den Dänen nicht Frieden schliessen ohne Lübeck, nimmt Bischof Hermann 
nicht Theil. «Vielleicht mochte er im Jahre 1224 von König Waldemar die Möglichkeit, 
sein Stift in Besitz zu nehmen, nur gegen eidliches Versprechen friedlicher Gesinnung er- 
halten haben. Ueberhaupt scheint er nicht sehr unternehmend gewesen zu sein». 
So S. 151. — В. XI muss den Nachtrag bringen, dass Bischof Hermann am 20. Sept. 
1226 in Cöln war und «vielleicht zur Zeit jenes Vertrages (Frühj. 1227) noch nicht nach 
Livland zurückgekehrt». Das «vielleicht» sollte mindestens « wahrscheinlich» heissen, denn 
in andern Fällen gestattet der Verfasser weder späte Herbst-, noch zeitige Frühjahrsfahrten 
über das Meer. Dem Bischof Hermann freilich hilft dieser Nachtrag wenig: er bleibt des 
Mangels an Muth verdächtig, so dass ihn die Wirländer «vielleicht nicht zum Bischof 
mochten» und er selbst «schwerlich Willens war, sich in eine so häklige Sache und gar 
König Waldemar entgegen, einzulassen». Der Makel bleibt einmal auf ihm sitzen: nach 
S. 170 im Frühjahr 1228 hält er sich «vielleicht absichtlich von allem Gebahren entfernt», 
obschon der Satz vorher ihn ausser Landes vermuthet und eine Anm. derselben Seite nach- 
weist, wie er am 20. Sept. 1226 «sicher» in Cöln, am 18. Dec. 1227 «wol gewiss» in Er- 
furt, im Juni 1228 «wahrscheinlich» noch nicht in Riga war. 

Trotz Allem ist er noch glimpflich abgekommen, wenn man ihn mit dem «Mönch Bal- 
duin» vergleicht. Welcher ränkevolle, betrügerische, bestechliche Schurke das gewesen, 
ist kaum zu glauben. Als er 5. 208, 209. in Livland auftritt, «behauptet er in diesen 
Ländern die Stelle des Papstes zu vertreten» (Livl. Urk. 103: Nos vero, domini papae 
vices in Вас parte gerentes ff.); in die Wahlstreitigkeiten des rigischen Erzstifts zwar mag 
er sich nicht gemischt haben, wenigstens ist das «nicht ersichtlich»; aber «mit der Stadt 
Riga, wie es scheint auch mit den übrigen Livländern, geräth er in heftigen Streit. Die 
Kuren sollen hierzu die Veranlassung gewesen sein». Das nämlich beweisen die Urkun- 
den 103—106. Allein der Verfasser gesteht, «durchaus zu der Ansicht zu neigen: er habe 
dabei nur der Gründung eines deutschen Staats an der baltischen Küste entgegenwirken 
wollen». «Denn sein Benehmen in Bezug auf Kurland, im Jahre 1234, als Wilhelms aber- 
malige Ernennung zum Legaten bekannt geworden, beweiset, scheint mir, wie wenig ehr- 
lich er es mit den Kuren gemeint». Dieses Benehmen besteht in der Belehnung von 56 
rigischen Bürgern mit Land in Kurland und in der Stipulation für die Kuren: «Inter haec 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANHE. 33 


omnia salva erit libertas neophitorum de terris memoratis» (Livl. Urk. 135). Wo 
liegt nun der Anlass zur schlimmen Beschuldigung? Allein, wie perfid! Als (ihm) Wil- 
helms Ernennung zum Legaten bereits bekannt ist, übt er noch einmal Functionen, die 
ihm — freilich doch kraft des erhaltenen Amts zustanden. Also abermals, wo liegt der 
Beweis seiner Bosheit? Und vollends, was S. 209 (ich will selbst hinzusetzen: ihm) schon 
bekannt ist, das ist S. 219 «noch nicht zur Kenntniss der Livländer gekommen». Denn 
«nur so erklärt sich, wie die Rigaer noch kurz vor Beginn der Schiffahrt im Frühling des 
Jahres 1234 sich hergegeben, von ihm die Belehnung in Kurland anzunehmen« Die 
feilen Bürger, dass sie nicht von dem wirischen Adel gelernt, wie man ehrlich zu Land 
kommt! Und frägt man nun, woher der Verfasser folgert, ganz Livland hätte noch nichts 
von Wilhelms Ernennung gewusst, während sie (Balduin) schon bekannt war, so ist die 
Antwort: ebendorther, woher er es hatte, dass Balduin S. 211 seine «Erhöhung» zum 
Bischof von Semgallen dem Einfluss des dänischen Königs verdankte, — dass er $. 213 
vergebens erwartete, die Neubekehrten und die Dänen würden für ihn zu den Waffen 
greifen, dass er 8. 214 in Riga «vielleicht bestochen wurde», denn «der Bestechung war 
der habsüchtige Mönch gewiss nicht unzugänglich», dass S. 215 «sein Ruf durch seine 
Thätigkeit in Livland in mehr als damals gewöhnlichem Maasse gelitten». Alles aus 
derselben Quelle: aus der Phantasie des Verfassers. Und bis ans Ende verfolgt den Mönch 
Balduin die rächende Geschichte. Aus seinen Ränken scheint er S. 230 «keine grossen 
Vortheile gezogen zu haben, es sei denn, dass sie in Geld bestanden». Mag er auch 
später, um 1239, Erzbischof geworden und mit dem byzantinischen Kaiser Balduin I. 
auf einem Kreuzzuge gewesen sein: «immer hatte er Alles, was er 1232 gewonnen, un- 
wiederbringlich im J. 1236 verloren». Was Wunder, wenn mit ihm fiel, was ihm anhing! 
Der L. С. verzeichnet Güterverkäufe «Nicolai, fratris episcopi Balduin. Wie Nicolaus 
zu Gütern in Wirland gekommen, begreift sich. «Es versteht sich, S. 31, dass man anfangs, 
so lange Balduin zu fürchten gewesen war, die gewöhnlichen Mittel (also in Riga Geld, 
in Wirland Land) angewandt hatte, um seinen Widerstand zu beschwichtigen. Diesem Um- 
stand hatte vermuthlich sein Bruder Nicolaus seine Güter in Estland zu verdanken ge- 
habt». Nun, nach 1236, sieht sich, S. 230, selbst Nicolaus «veranlasst, die Besitzungen, 
welche ihm sein Bruder in Wirland verschafft, zuverkaufen und dasLand zu verlassen». 
Esist, nach dem «Comes de Suerthoghae», der zweite Verkäufer im L. C., den der Verfasser 
verurtheilt, gezwungen zu verkaufen. Damit endet die Geschichte vom Mönch Balduin. 

Wie disharmonisch diese Zergliederung historischer Gebilde berühre; die Dishar- 
monie liegt im Zersetzten selbst. Wo an widerstrebenden Bestandtheilen nur ein gewisser 
Schein des Zusammenhangs den innern Zwiespalt verdeckt hat: da tritt er hervor, sobald 
der Schein wegfällt. Weder Berechnung, noch Intuition oder Divination vermögen jeden 
spärlichen Rest zerstreuter Atome zu einem Spiegelbild ihres entschwundenen Lebens zu 
verbinden. Auch ist das nicht das Problem der Geschichtschreibung. Zwar auch an kaum 
merkbaren Zeichen soll sie den Geist einer hingegangenen Zeit verstehen lehren und ihre 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VIle Serie. ; 5 


34 C. SCHIRREN, 


Zeugen gruppiren nach einem inneren Gesetze. Allein wo die Zeichen fehlen und trügen, 
da wird ein Gesetz nur errathen für eine errathene Erscheinung: die Combination wird 
zum Spiel. Geschichtlichen Werth erhält sie erst durch innre Nothwendigkeit. Der Histo- 
riker soll zu warteu wissen, bis die Nothwendigkeit unverkennbar sich kundgibt: nur den 
Weg gleichsam zur Offenbarung soll er ihr bereiten, das weit Zerstreute soll er in einen 
Blick fassen und geduldig die Anzeichen natürlicher Wahlverwandtschaft erharren. Je zer- 
streuter freilich und unbestimmter die Daten, je schwerer die Einsicht in ihre natürliche 
Beziehung: um so eilfertiger die Befriedigung, wenn nun zuerst einige sich abheben von 
der ungegliederten Masse, sich nähern, scheinbar ergreifen und zu Gruppen formen, um so 
energischer der Verdruss an unerwarteter Störung, um so kühner das Verlangen, dem 
Hemmniss zu entkommen, um so rascher der unvermittelte Sprung aus dem Möglichen ins 
Wahrscheinliche, aus dem Wahrscheinlichen ins Wirkliche, 

Die Methode, die so verfährt, verräth sich daran: überall sorgt sie für Motive, für 
jedes Problem weiss sie eine Lösung; nirgends gibt sie einen unmessbaren Rest zu. 

Der Kritik ist ihr gegenüber eine weitläufige Aufgabe gestellt, sobald sie jedes einzelne 
Treffliche vom Falschen, alles Richtige vom Irrthum sondern soll; überdies bessert sie dann 
oft, ohne zu heilen, dem Gärtner gleich, der eine üppige Verzweigung sorglich durchmu- 
stert, stutzt und stützt, verwirft und bestätigt; wo sie kann, ist es besser: sie dringt mit 
einem Schnitt dem System an die Wurzel, scheidet dort die schadhafte Stelle von den ge- 

sunden und überlässt Stamm und Krone der allmäligen Wirkung. 

Auf den L. C. ist die Untersuchung des Verfassers begründet; von ihm geht sie aus; 
zu ihm kehrt sie zurück. An seinem Inhalt misst sich die älteste harrisch-wirische Ge- 
schichte: sein Inhalt wiederum misst sich an dieser. Denn das ist bei den «Studien» neben 
dem Fehler äusserer Anordnung der innere: was an einer Stelle beweisen soll, wird an 
andrer bewiesen im Zusammenhange mit dem, was es selbst erst beweist. Beide Gruppen 
der Untersuchung durchfiechten sich so mannigfach, dass es am einfachsten ist, die ge- 
meinsame Basis zu prüfen. Damit wird zugleich eine gewisse, äussere Einheit gewonnen 
undes wird beider Prüfung von Abtheilung Iund IT nur daraufankommen, zugleich Abthei- 
lung III in Rücksicht zu nehmen. Dann aber zerfällt die Betrachtung in drei grosse Capitel: 
sie prüft die Conjecturen des Verfassers über das Alter des L. C.; sie prüft die An- 
‚ schauungen, auf welche die Annahme vom einheitlichen und officiellen Ursprung des Г. С. 
sich beruft; endlich prüft sie an äussern und innern Merkmalen das Document selbst, um 
ein begründetes Urtheil zu gewinnen über seinen Character und Ursprung. 

Der erste Versuch somit, sich zu orientiren und einen festen Anhaltspunkt zu gewin- 
nen, ist auf die Personennamen des L. C. gerichtet. Gelang an ihnen der Nachweis, der 
L. C. gehöre in die Zeit unmittelbar nach dem Vertrage zu Stenby, so konnte um so 
zuverlässiger der zweite Beweis angetreten werden, der bestimmt war, jenen Vertrag in 
deutlichen Causalzusammenhang mit der Landrolle zu setzen. Wir haben darum zunächst 
Schritt vor Schritt den ersten Nachweis zu prüfen. 


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BEITRAG ZUM VERSTÄNDNISS DES Liser Census Dane. во 


I Kritik der Deductionen des Verfassers zur Zeithestimmung 
des Liber Census. 


Die Reihe eröffnet $ 1. Ulricus Balistarius. Nach Livl. Urk. 203 verleiht im J. 
1249 der König dem Bischof von Reval 14 Haken in Kuate, welche vordem Ulricus Ba- 
listarius besessen. Ob diese Schenkung ursprünglich schon ins Jahr 1243 fällt, ist jeden- 
falls nicht mehr zu ermitteln. Begnügt man sich mit dem, was urkundlich feststeht, so 
liegt die Folgerung allerdings nahe: da imL.C. ein Ülric 10 Haken in Kuaet besitzt, ohne 
dass dabei eines Anspruchs der Kirche gedacht wird, so sei der L. C. abgefasst vor dem 
J. 1249, zu einer Zeit, wo die erwähnten Haken noch in Privatbesitz waren. Allein, die 
Frage ist, wollte der L. C. eines Anspruchs der Kirche erwähnen? Bezieht nicht eben der 
Verfasser die Notiz «dos ecclesie» fast durchgängig auf Parochialwidmen? Endlich, stimmt 
etwa die Hakenzahl? Und ist Kuate auch wirklich Kuaet? Wenn aber, warum dürfte das 
Gut nicht 24 Haken gezählt haben, davon 14 aus dem Besitze Ölrics ausgeschlossen, 10 
ihm geblieben wären? Weder zu kaufen, noch einzutauschen, noch den Heimfall abzuwar- 
ten brauchte der König; im dänischen Lehnssystem — wenn man es so nennen will — 
stand dem König der jährliche Widerruf frei. Ferner ist selbst die Identität von Olric 
und Ulricus Balistarius nicht erwiesen. Wenn aber, verzeichnet der L. С. ihn etwa als 
eigentlichen Herrn der 10 Haken in Kuaet? Der Text im Facsimile Fol. 42b. wenigstens 
gibt Anlass zum Zweifel: 


Toner Ron x put ihonam. Thıhrard 
Öle ЖЖ | И: 


Nach Anleitung der Handschrift lässt sich nur zweierlei folgern: Entweder die beiden 
Namen bezeichnen nur eine Person: Thideric Olric, etwa wie Livl. Urk. 374 im Jahr 
1263 als «camerarius» von Dünamünde Conradus Olricus nennt; die graphische Analo- 
gie bietet dann L. C. Fol. 43b. 


Jan. 
| bamil-Maturom doing x 


Oder Thiderie war im Besitz beider Güter, davon er die 10 Haken in Kuaet dem Ölric 
verpachtet oder unter irgend welcher Bedingung vergeben hatte. Zu dieser Auffassung 


* 


36 С. SCHIRREN, 


fordert nämlich der Zusatz «habet» auf. Ich finde ihn sonst nur noch viermal gebraucht 
und immer mit der angegebenen Bedeutung: Fol. 47a. «Thideric de Kiuael. Martaekilae. 
ХП. Sarnae VI. Johannes et Walter hoshabent de Thiderico quos ecclesia de jure 
possidet»; Fol. 50a. «Thidericusde Kivael. Sellaegael. XLV. Gesse. УТ. quos habet thi- 
dric ab eo»; Fol. 54a. «Bernard de bixhouaet. Wakalae. XXII. non a rege. Jan rufus 
habet»; (hier also genau wie im fraglichen Falle;) und ib. Fol. 54a. «DS rex. Obias. XX. 
de quibus thideric de Kyuael habet X». Zwei andre Stellen, Fol. 47а. und 54a, an wel- 
chen das Praeteritum «habuit» steht, beweisen weder für noch gegen. Durchläuft man nun 
die citirten Angaben, so tritt, mit Ausnahme einer, in allen ein Thideric auf, verschieden 
von Thid. de Kyuael, wie Fol. 50a unwiderleglich darthut, so dass ich auch ihr, nicht 
diesen, im zweiten Thideric von Fol. 47a vermuthe, vollends da in ähnlichen Fällen im 
L. C. sonst der Name nicht wiederholt, sondern vom Fürwort vertreten wird, wie Fol. 50a. 
«Thideric de Kivael. Gesse. VI. quoshabet Thidric ab ео»; Fol. 54a. «Henric de Wis- 
pen. Roilae. XVI. quos Temmo habuit cum eo». Wie? wenn nun dieser Thideric, der 
Fol. 47a. Güter verliehen hat, welche von Rechtswegen der Kirche gehören, — nicht auf 
ihn, sondern auf Thideric von Kyuael, der diese im Namen der Kirche vergebenen Gü- 
ter wider Recht in Besitz nimmt, wird sich die Anklage in den Worten «de jure» beziehen 
-— wenn nun derselbe Thideric auch Fol. 42b. im Namen derselben Kirche 10 Hakenin 
Kuaet dem Ölric vergibt oder verpachtet, ohne dass eines Rechts der Kirche an diesen 
10 Haken besonders erwähnt zu werden brauchte, da dieses Recht von keinem Thideric 
de Kyuael war beeinträchtigt worden? und wenn nun der Thideric auf Fol. 50a. die 
6 Haken in Gesse von Thiderie de Kyuael zugewiesen erhalten hat zum Ersatz der 6 
Haken in Sarnae von Fol. 47a.? Sind das nicht Muthmassungen, so gut wie andre? Und 
mag nicht dieser Thideric ein bischöflicher Vogt gewesen sein oder wahrscheinlicher — 
während einer Sedisvacanz — der Verwalter im Namen des Capitels? Ich weiss, dass sich 
Manches dagegen sagen lässt; allein die Combination des Verfassers wird dadurch nicht 
gekräftigt, dass eine andre auf gleich hypothetischen Stützen ruht. Ich habe nur zeigen 
wollen, wie unsicher es schon mit dem ersten Beweise des Verfassers bestellt ist und — 
dass ich es gleich anfangs sage — dieser erste, wie er denn auch schon von Andern ver- 
sucht wurde, ist von allen noch der wenigst unsichere oder, wenn er gelten darf, der ein- 
zige. Ich denke dasim Verlaufe darzuthun. 

Auf Ulricus Balistarius folgt $ 2. Robertus de Sluter. Er besitzt in der Land- 
rolle vorzüglich die Dörfer Rutae, Jakowoldal, Saintakae. Nun verlehnt laut Livl. Urk. 206 
abermals im Jahre 1249 der König dem Bischof «dotis nomine» 80 Haken «ара Revaliam» 
in den Döfern Obwald, Ruts (Ruchs), Sammitkertel (Sunitnuele), welche vordem Rober- 
tus de Sluck (die Variante nach Thorkelin hat: Robertus de Sluter) besessen und in 
den Dörfern Chokere (Kecnere), Pesack (Pacacu), Caries (fehlt bei Thorkelin), Wamal, 
«quondam Luttgardo (Lettardo) attinentes»; ferner 40 Haken in Wironia in villa Salgalle. 
Livl. Urk. 474 weist die Dörfer Jakewold und Rittogh 1281 im Besitze des Stiftes nach. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LißBER CENSUS DANIAE. 37 


Von den Dörfern, welche in der Urk. 206 dem Lettard zugeschrieben werden, hat der 
Verfasser im L. C. keines im Besitz eines gleichnamigen Vasallen auffinden können; ihn 
selbst glaubt er im Lydgerus wiederzuerkennen, der 20 Haken in Vow, ursprünglich 
eine dos ecclesiae, von Will. de Keting erkauft hatte. Das Dorf Salgalle endlich identi- 
ficirt er richtig mit Sellaegael, das der L. C. im Besitz des vielgenannten Th. de Kyuael 
verzeichnet. «Die Schenkung, soweit man sie verfolgen kann, betrifft somit Dörfer, 
die, als die Landrolle angefertigt wurde, noch im Privatbesitze waren. Nach der Neube- 
gründung des Bisthums Reval im J. 1240 konnten aber jedenfalls die demselben damals 
und später verliehenen Güter unmöglich mehr in Privathände übergehen». 

Brechen wir hier ab, um zu prüfen, wie weit bis hierzu der Beweis des Verfassers 
geschlossen ist. Schon mit dem Namen jenes Robertus stossen wir auf Bedenken. Die 
Landrolle und Thorkelin nennen ihn de Sluter; der Verfasser dagegen recipirt für die 
Urk. die Lesart Sluck. Beide Namen kommen auch sonst vor und sind daher auseinan- 
derzuhalten. 

Ich führe nur beispielsweise an: 

1) Euerardus Sluc de Werle. a. 1198. Erhard, Regg. hist. Westf. / 576; ferner 
in Livland: Albertus Sluc. a. 1215; nach der plausiblen Conjectur von Han- 
sen zu Origg. Liv. XIX, 5; Алдьбрякь Caoyre, cons. Rig. а. 1229. Livl. Urk. 
101; Albertus Sluc, fr. ord. min. in Riga. a. 1323. Livl. Urk. 693, 694. 

2) Theodericus, miles de Slute (Sluter) а. 1211. Hamb. Urkdb. 384; Hinricus Slu- 
ter im Necrolog des Klosters Wienhausen, Zeitschr. des hist. Vereins f. Nieder- 
sachsen. 1855.p. 207. Johannes Slutere, cons. opidi Greuenaluesshagen. a. 1325; 
dieselbe Zeitschr. 1853. р. 114. Detmarus Slutere, procons. noue ciuit. Osna- 
brugensis. a. 1366. Ebendaselbst 1853. p. 120—121 ff. und hier im Lande: 
Hinricus Slutere, Reval., Livl. Urk. 640. 

Trotzdem mag man die Identität des Robert der Urkunde mit dem Robert des 
Г. С. zugeben; selbst die nicht wol stimmenden Ortsnamen mag man identisch setzen: 
auch dann aber wird der Beweis gelungen sein, erst, wenn auch die Güter des Lettardus 
nachgewiesen sind. Der Verfasser will nur Caries in Käris wiedergefunden haben, allein 
der L. С. verzeichnet es im Besitze des Du Tuko Wrang. Es hätte Fol. 43a. Karis- 
kae. V. im Besitz von Hilddewarth beigezogen werden können. Ich komme auf diese 
Frage noch zurück. 

Jedenfalls verhält es sich eigen mit den königlichen Landanweisungen an das reval- 
sche Stift. Vier Urkunden sind uns erhalten, eine vom J. 1240, drei vom J. 1249. Ihr 
wesentlicher Inhalt ist dieser. In Livl. Urk. 166, a. 1240 verleiht König Waldemar dem 
Bischof Thorkill (recipienti nomine ecclesiae) für seine Kirche «octoginta uncos in 
Revalia, insuper — quadraginta uncos in Wironia». Die angewiesenen Güter werden nicht 
specificirt. Livl. Urk. 203, a. 1249 8. Apr. verleiht König Erich demselben Bischof «in 
sortem dotis quatordecim uncos in Kuate» etc. Nach Arndt (II, 44) hat das Bisthum 


38 С. SCHIRREN, 


schon 1243 14 Haken Landes erhalten. In der dritten Urkunde, Livl. Urk. 206, a. 
1249 11. Sept. weist der König demselben Bischof an «octoginta uncos apud Revaliam 
dotis nomine» (es folgen die Namen der Güter Obwald, Ruts etc.), — — insuper au- 
tem concedimus ipsi episcopo quadraginta uncos in Wironia in villa, quae dieitur Sal- 
galle». In Livl. Urk. 207, a. 1249 21. Sept. endlich bestätigt König Erich demselben 
Bischof eine gewisse Anzahl Haken: «octoginta uncos in Estonia, quadraginta infra miliare 
a castro Revalia pro pecoribus alendis, quadraginta in locis sibi competentibus in Wi- 
ronia, quas sibi et ecclesiae suae ratione dotis(rex Waldemarus) contulit, eiconfir- 
mamus»: der königliche Präfect zu Reval wird angewiesen, dem Bischofe die bezeichnete 
Hakenzahl «absque mora et contradictione» einzuweisen. Es drängen sich bei der Ver- 
gleichung dieser Urkunden mehrfache Bedenken auf: 

1) keine ist im Original erhalten ; sie finden sich nur nach alten Copien abgedruckt 
bei Huitfeld, Thorkelin, Pontoppidan. 

2) In Urk. 207 bestätigt Erich eine Schenkung seines verstorbenen Vaters an 
einen auf dessen Antrieb consecrirten Bischof, Urk. 206 dagegen spricht er 
davon, der verstorbene Waldemar habe Estland erobert; er aber (Nos ff) 
habe Thorkill präsentirt, der dann vom Erzbischof Uffo von Lund conse- 
crirt worden und dem er dann die Einweisung der benannten Güter verspro- 
chen. Man wird versucht, Urk. 206 für untergeschoben zu halten, um so mehr, 
als die Jahrszahl gerade bei Thorkelin, der doch den Namen Robert de 
Sluter richtig bringt, falsch ist, und eine auffallende, oft wörtliche Ueberein- 
stimmung besteht zwischen Urk. 166 und 206, in welcher, abgesehen von der 
Benennung der einzuweisenden Güter, nur die namentliche Bezeichnung des 
Erzbischofs von Lund eine nennenswerthe Abweichung bildet. Diese Ueberein- 
stimmung freilich hat der Verfasser mit ausreichender Wahrscheinlichkeit dar- 
aus erklärt: schon 1240 habe Erich gleichzeitig mit Waldemar eine mit 
Urk. 166 gleichlautende Urkunde erlassen, wie das in einem andern Falle 
durch Livl. Urk. 165 bezeugt ist. Allein damit wird nur ein Theil der Be- 
denken gehoben: die Widersprüche zwischen Urk. 207 und 206 bleiben be- 
stehen und 

3) In Urk. 166, a. 1240 weist Waldemar 80 Haken bei Reval, 40 in Wirland 
an; in Urk. 206, a. 1249 vollzieht Erich diese Anweisung; in Urk. 207 be- 
stätigt er (confirmamus) eine Anweisung Waldemars, die nun aber nicht 
80+-40, sondern entweder S0--40-+40 oder 40-+40 Haken umfasst. Das eine 
stimmt zu der früheren Anweisung so wenig, wie das andre und auffallen müssen 
überdies in Urk. 207 die 40 Haken Viehweide. 

Auch diesen Widerspruch freilich hat der Verfasser lösen wollen, nur, wie mir scheint, 
ohne Erfolg. Die Schenkung vom 11. Sept. 1249 (Urk. 206) bezweckt nach ihm eine Do- 
tation der Kirche; die Schenkung vom 21. Sept. 1249 (Urk. 207) nur eine Anweisung 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANIAE. 39 


von Tafelgütern für den Bischof. Er beruft sich dabei auf den in der letztern Urkunde ge- 
brauchten Ausdruck «ad sustentationem» im Gegensatz zu dem «dotis nomine» der Urk. 
206. Der Ausdruck zwar findet sich, allein der vom Verfasser übergangene Nachsatz hebt 
die vermuthete, specifische Bestimmung auf, wenn es heisst: «constare volumus universis, 
quod ad sustentationem octoginta uncos in Estonia etc., quas sibi et ecclesiae suae 
ratione dotis contulit, ei confirmamus». Es ist also in Urk. 207 doch eine Dotation der 
Kirche beabsichtigt, wie man andrerseits in Urk. 206 eine Andeutung von specieller Ver- 
sorgung des Bischofs finden könnte in den Worten «psi episcopo», sofern sie nicht zu in- 
terpretiren sind: eidem episcopo. Ich werde später auf die Dotation des Bisthums zurück- 
kommen; hier erwähne ich nur, dass für den Unterhalt des Bischofs auch vor 1249 bereits 
gesorgt war. Nicht nur durch Urk. 172, a. 1242 mit der Ergänzung in Urk. 173: «de 
censu s. de annona, iam superius memorata, carnes seu alia ad usum nostrum et ex- 
pensas necessaria praeparari facimus et operarb; sondern recht eigentlich auch für den 
Tisch des Bischofs war der Zehnte vom Zehnten bestimmt (Livl. Urk. 165), wie Urk. 475 
kenntlich genug mit den Worten andeutet: «ad mensam ipsiuw. Wie also 9 Tage nach An- 
weisung von 120 specificirten Haken (falls Urk. 206 für echt gelten soll) eineneue Anwei- 
sung von 160 oder resp. 80 ohne Specificirung erfolgen konnte, bleibt ein Räthsel, so lange 
man nicht die Lösung suchen darf in den Worten von Urk. 207: «absque mora et contra- 
dictione». Denn aus ihnen lässt sich folgern, die früheren Anweisungen hätten Verzöge- 
rung und Widerspruch gefunden und wären deshalb vom König widerrufen oder sistirt 
worden, der dann seinem mit den Localverhältnissen vertrauten Präfecten in Reval den 
Auftrag gegeben, nunmehr auch für schleunige Anweisung der nur allgemein nach Haken- 
zahl bemessenen Schenkung Sorge zu tragen. Eine solche Sinnesänderung des Königs im 
Verlaufe von nur 9 Tagen setzt freilich die Anwesenheit einiger Vasallen, am besten des 
Präfecten selbst, am königlichen Hoflager voraus. In diesem Falle nun wäre der Robert 
de Sluter der Urk. 206 im Besitze geblieben. 

Kehren wir nun zurück zur Prüfung der Angaben der Urk. 206 an den Angaben des 
L. C., so meine ich, der Verfasser hätte von seinem Standpuncte aus einen Schritt weiter 
gehen müssen. So corrumpirt nämlich die Ortsnamen in Urk. 206 sein mögen: es gab 
ein noch unversuchtes Mittel, sie im L. C. wiederzufinden. Der Verfasser hat sich durch 
den Lydgerus irre leiten lassen, der doch mit seinem erkauften Besitze von Vow um 
so weniger in Betracht kommt, da die Güter Lettards bei Reval zu suchen sind. Eher 
verhilft auf die Spur der Lichard von Fol. 46a., ich setze die Stelle wörtlich. her: 


Lillaeuerae. IIII. et lichard. V. Remotus. Jon morae 
Dns Pasies. VI. Albert de osilia. 
tuui Kallaeuaero. XV. ® 


palnis | Waerael. XII. et lichard. У. 
Parenbychi. X et conradus juuenis. УП. 


40 С. SCHIRREN, 


Das Pesack der Urkunde wird man um so sichrer in Pasies wiederfinden dürfen, als 
Paucker dazu das Dorf Pasick, jetzt eine Hoflage unter dem Gute Jaggowal, zur schwe- 
dischen Zeit Domkirchenland, beizieht; Wamal wird als Waerael zu deuten sein; für das 
verderbte Chokere (Cecnere) könnte Kallaeuers, vielleicht Lillaeuerae gelesen werden; Caries 
endlich fehlt bei Thorkelinganz. Diese Identificirungen wären jedoch für sich von geringem 
Gewichte, wenn nicht die Hakenzahl genau stimmte: Achtzig Haken sollten die der Kirche 
angewiesenen Güter Roberts de Sluter und Lettards enthalten, die Güter Roberts 
umfassen nach dem L. С. Fol. 46b. 8+17+8—33 Haken; dazu das Land im Besitz 
Tuui Palnisons mit 46-15 12-+10=47 Haken; ergibt zusammen genau 80 Haken. 
Ob Lichard zur Zeit der Abfassung des L. C. von den genannten Dörfern erst oder nur 
noch 10 Haken besessen, wird sich schwer entscheiden lassen: aber sein Name ist durch 
den L. C. wenigstens in deutliche Beziehung gesetzt zu jenen Landstücken. Es wäre nun 
wichtig, zu ermitteln, ob jener Tuui Palnisson in Beziehungen zur Kirche gestanden. 
Ein Tuuo, Episc. Ripensis, der 1222—1223 in Estland thätig gewesen (Hamsfortii Chro- 
nol. Sec., В. В. D. I, 286) ist dem Verfasser nicht unbekannt geblieben; so lange nicht 
andre Gründe dem L. C. einen wesentlich späteren Ursprung zuschreiben, könnte man 
versucht sein, in ihm den Dw Tuui Palnisun wiederzufinden. Auf eine andre Spur lei- 
tet das Fragmentum enumerationis territoriornm Daniae in S. R. D. V, 618: «Episcopus 
Тиц! palni iones Нез». Tuui palnison zu lesen verhindert schon der Zusatz fres; ich 
werde an andrer Stelle nachweisen, dass zwar dies Fragment im Allgemeinen nicht leib- 
liche Brüder meine; allein die Genossenschaft, welche durch die Bezeichnung fratres an- 
gedeutet wird, schliesst die Blutsverwandtschaft nicht aus und es liegt nahe, den Episc. 
Tuui und Palni als leibliche Brüder zu nehmen. Dann dürfte auch die Annahme gestattet 
sein, der Tuui Palnison des L. C., den der Verfasser identisch setzt mit dem T. 
Palnison miles der Urkk. 299, 337 wäre ein Sohn jenes Palni, ein Neffe des Bischofs 
Tuui und nach seinem Oheim benannt gewesen. Dass ег dann unter Thorkill als 
Vogt des Bischofs oder des Capitels Güter der Kirche verwaltet oder in irgend einer Art 
Lehn gehabt hätte, könnte nicht befremden und es läge dann ein ähnlicher Fall vor, wie 
bei dem Gute Kuaet und bei Thideric. Näher jedoch scheint mir eine andre Annahme 
zu liegen. Hält man nämlich fest, der König sei bei Anweisung der in Urk. 206 benann- 
ten Güter, ob nun aller oder eines Theils, auf Widerstand gestossen und habe seinen Prä- 
fecten in Reval angewiesen, an Ort und Stelle für Ersatz zu sorgen, so findet diese Auffas- 
sung eine nicht verächtliche Bestätigung, sofern es gelingt im L. C. einen äquivalenten 
Gütercomplex nachzuweisen, zu dem die Kirche ausdrücklich in Beziehung gesetzt wäre. 
Nun aber liest man fast unmittelbar nach jenem Absatz von Fol. 46a. auf Fol. 46b. Fol- 

mgcndes: 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 41 


Dos Ecclesiae 


Jeelleth. ХПИ. Expulsi 

Риз Saxo | Jukal. УШ. Gerard et frater ejus Winric. 
Silmel. V. Fretric. ludulf. Henric. 
Periel. X. 
Haeunopo. Ш. 
Maleiafer. VII. 


Es sind das 144#+8+5+10+3-+7—47 Haken, also genau soviel, als die im Besitz 
des «Dus Tuui palnis» verzeichneten. Das Aequivalent wäre dadurch gefunden und deut- 
lich genug gekennzeichnet durch die Notiz: «dos ecclesie». Ja, ich gehe einen Schritt 
weiter und behaupte, von Fol. 46b. Z. 1 an sei fast nur Kirchengut verzeichnet bis ans 
Ende des Absatzes, bis Fol. 47b. Z. 3. Davon später. In diesem nämlichen Absatz aber 
und zwar gleich in dritter Reihe steht auch Robert de Sluter mit seinen benannten Be- 
sitzungen verzeichnet. Man könnte nun das «dos ecclesie» für die meisten der folgenden 
Güter gelten lassen: dann brauchte ein Anspruch der Kirche bei Robert de Sluter nicht 
erst noch besonders bezeichnet zu werden und es wäre nur die Frage, ob Robert die der 
Kirche verliehenen Güter nunmehr als ihr Verwalter oder Lehnsmann behalten oder die 
Kirche verdrängt habe, — eine Frage, die ebenso für den DS Saxo gälte, allein zu be- 
antworten wäre nur im Zusammenhange mit der andern, ob unter den Expulsi, oder unter 
welchen, Kirchenvögte und — Vasallen zu verstehen seien, oder ob sie aus ihrem zeitwei- 
ligen Besitz gesetzt wurden, um die Kirche eintreten zu lassen. Wenn aber so dargethan 
ist, wie die Beweisführung des Verfassers nicht geschlossen und das von ihm erhaltene 
Resultat darum illusorisch ist, so gehört die Bemerkung noch her, dass selbst für das letzte 
durch Urk. 206 der Kirche angewiesene Gut, Salgalle in Wironia (Sellaegaelae des L. C.) 
in der Landrolle das Anrecht der Kirche notirt stehen dürfte, da ein Blick auf das Facsimile 
zeigt, wie das Fol. 50a. an den Rand gesetzte «dos ecclesie» nicht sicher an den zunächst- 
stehenden Ortsnamen haftet. 

Und so lässt sich denn aus dem L. C., mit Hilfe plausibler Deutungen, statt des Be- 
weises für ein höheres Alter sehr wol der Beweis deduciren, das Dokument müsse abgefasst 
sein erst nach der in Urk. 206 verzeichneten Dotation. 

$. 5 behandelt den Güterbesitz des Klosters Guthwallia. Man wird dem Verfasser 
Recht geben, wenn er die Notiz Huitfeldts, König Erich habe 1248 dem Kloster Land 
in 9 Dörfern von den Deutschen gekauft, getrennt wissen will von der urkundlichen Be- 
stätigung dieser Güter durch König Erich Glipping im J. 1259 (Livl. Urk. 340). Al- 
lein gegen die Folgerungen: weil der L. C. nur von einem Gute den Erwerb durch Kauf 
bezeichne, müsse die Lehnsbestätigung für die übrigen schon vorher erfolgt sein, diese Be- 
stätigung aber könne nur vom Orden herrühren und jedenfalls vor dem Sommer 1236, so 
wie gegen die Behauptung, unter den «Teutonicis», von welchen König Erich gekauft habe, 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Série. 6 


42 C. SCHIRREN, 


müssten die Vasallen zur Zeit der Ordensherrschaft verstanden werden, — ist zu bemerken: 
einmal, dass der L. C., soweit er Estland betrifft, Notizen, wie über den Kauf von Gütern, 
nur ebenso gelegentlich und ebenso wenig systematisch bringt, wie der dänische Theil des 
sog. L. C., sodann, dass allerdings — es ist das später nachzuweisen — noch zur dänischen 
Zeit eine derartige Scheidung bestand zwischen den vom König nach dänischer Weise Be- 
lehnten und den «Teutonici», dass auch zur dänischen Zeit die Bezeichnung «Teutonici» ihre 
Erklärung findet. Man wird gegen den Verfasser aufrecht halten dürfen: nach dem Besitz- 
stande des Klosters Guthvallia allein zu schliessen, könne der L. С. nicht vor 1248 ab- 
gefasst sein. 

$. 4 bringt unter der Ueberschrift «Dux Canutus» Erörterungen über den Kanutus 
der Landrolle. Wie noch an andern Stellen des Buchs, die von Kanut handeln, hat es 
dem Verfasser nur durch peinlich geschraubte Combinationen gelingen können, auch nur 
die Möglichkeit eines im L. C. erwähnten Landbesitzes des Herzogs darzuthun und im 
günstigsten Falle wäre dann die natürlichste Folgerung gewesen, entweder der L. C. sei 
älter, als der Vertrag von Stenby oder er bestehe aus ungleichzeitigen Fragmenten. Alle 
eignen Argumentationen endlich schlägt der Verfasser durch die Behauptung S. 40 Anm. 
1: «Die Landrolle ertheile den Titel Dominus mit Sorgfalt». Ist das der Fall und wird 
auch dem rex der Titel «Dominus» vorgesetzt, wie heisst es dann von dem in Estland an 
Rang dem Könige nächst Stehenden einfach Kanutus? «Die lange Reihe harrischer Dorf- 
schaften, die auf den Namen Kanuts verzeichnet sind» beweist überdies nicht, was sie be- 
weisen soll. Einmal ist es fraglich, wie lang die Reihe ist. Paucker zwar theilt dem 
Kanutus alle 18 Ortschaften zu von Palikyl bis Mataros, allein unzweideutig bezieht sich 
sein Name nur auf die 10 ersten; die 8 übrigen könnten nach Analogie andrer graphischer 
Gruppen selbst dem Thideric puer Odwardi zugewiesen werden; vielleicht stehen sie für 
sich ohne Besitzer, wovon dieselbe Seite, wie ja noch andre Stellen der Landrolle, fernere 
Beispiele bietet. Jedenfalls hätte der Verfasser nicht verschweigen sollen, dass der «Dux 
Kanutus», trotz seiner 18 Güter, nur 1 von 14 Haken besitzt, 1 von 13, vielleicht 3 von 
10, 2 von 6, 5 von 5, 1 von 4, 3 von 3, 1 von 2, 1von 1. Wie erklärt sich ein so dürf- 
tig zerstückelter Grundbesitz bei dem «Dux Canutus»? Zwar hat man nach dem Ver- 
fasser darin nur einen Rest einstiger Besitzungen zu sehen. Allein aus den Vergleichun- 
gen von Fol. 43a.: Kanutus — Calablae У. mit Fol. 42b.: Dominus rex — Calablia V., 
Fol. 43a.: Kanutus — Natamol V. mit Fol. 42b.: Dominus rex (?) — Natamol VI er- 
gibt sich: entweder die Verleihung ist verhältnissmässig jung und der L. C. verzeichnet 
dasselbe Landstück zweimal, vor und nach der Verleihung, oder der König hat von zwei 
Landstücken die Hälfte zurückbehalten und dem Herzog nur die andre Hälfte, in beiden 
Fällen armselige 5 Haken, verliehen. Zwar sind die Parcellen in Harrien kleiner, als in 
Wirland (vergl. Tab. I), allein auch dort fehlt es nicht an mittelgrossen Gütern und wo ist 
nun die Spur jener «grossen Besitzungen in Harrien», welche nach S. 129 Kanut, der 
Sohn des Königs Waldemar, erhält, zu einer Zeit, wo «einige deutsche Krieger in der 


PER oi, 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANUE. 43 


Umgebung Revals belehnt wurden»? So werden wir denn statt des «Dux Canutus» am 
besten den einfachen Kanutus des L. C. festhalten, dem es im dänischen L. C. an Na- 
mensvettern nicht fehlt, wo sie gleichfalls verzeichnet stehen ohne besondern Titel, als: 
Knut touaesun. Knut styghsun (5. В. D. УП,р. 538, 539), während es vom «dux Canutus» 
p.536 heisst: Dux Kanutus — und diesem nichtherzöglichen Kanut stehn dann gleichsam 
noch erläuternd zur Seite im Bisthum Merseburg vom Ende des XII. bis in das erste Drit- 
tel des XIV., vermuthlich aber um die Mitte des XIII. Jahrhunderts die «fratres de pro- 
genie Knutonum», mächtige Landkäufer, Burgenbauer, Raubritter und doch auch nicht Her- 
zöge (Chron. Episcoporum Merseburg. in Mon. Germ. Ser. X, 191, 192). 

$. 5. Die Bedenken des Verfassers gegen den Mag. Burguardus als Ordensmeister 
sind vorläufig gerechtfertigt. Nur hätte er nicht argumentiren sollen: «Konnte Burchard 
für seine Person dem Gesetze nach nicht Grundherr sein, so konnteauch sein Name nicht, 
statt des Ordens, angeführt werden. Die Landrolle ist ja augenscheinlich ein of- 
ficielles Aktenstück». In einem «officiellen Aktenstück», das einen Belehnten mit «nos», 
einen andern mit dem Titel «auarissimus» bezeichnet, konnte wol auch der Magister noch 
einen Platz finden. Auch hätte der Verfasser anmerken sollen, wie durch den sofort drauf 
folgenden Mattil Risbit die Frage wieder schwankend wird. Denn Livl. Urk. 258a. 
bezeichnet Mathias Risebith als Ordensbruder. Nun mag er das allerdings bei Abfassung 
des L. С. noch nicht gewesen sein, allein der «Ordensbruder» neben dem «Magister» wirkt 
jedenfalls zurück auch auf dessen Character und obzwar mir Magister des ХШ. Jahrhun- 
derts in Fülle zu Gebot stehen, die nicht Ordensmeister waren, so gestehe ich, mich eines 
entschiedenen Bedenkens nicht erwehren zu können, ob damals die livländischen Ordens- 
meister die Ordensstatuten so gewissenhaft einhielten; der König von Dänemark aber, falls 
er besondre Interessen hatte, sie zu vergessen, hat sie sicher nicht gewissenhafter geach- 
tet. Wenigstens Kaufschlag verschiedenster Art wurde getrieben — und nicht minder 
gegen die beschwornen Statuten — von Schwertbrüdern, wie von Rittern des deutschen 
Ordens, und Ordensbrüder verstanden nur zu gut, Reichthümer zu sammeln. Das lehren 
das Chron. Alberici und Livl. Urkb., denn rührt das Zeugniss auch von Feinden des Or- 
dens her, wenigstens ist es nicht widerlegt worden: Chron. Alber. ad a. 1232: «Isti ab Ep. 
Theodorico primo fuerunt instituti et, cum dicant se Templariorum ordinem tenere, in nullo 
tamen subjiciuntur Templariis, sed cum sint mercatores et divites, et olim e Saxonia 
pro sceleribus banniti, jam in tantum excreverunt, quod se posse vivere sine lege et sine 
Rege credebant»; Livl. Urk. 585 (Klage 4. Stadt Riga у. Ende d. XII. Jahrhunderts): 
«Item ponitur, quod dieti magister etfratres, cum milites reputari et esse velint, contra milita- 
rem decentiam mercationes omnes, immo tanquam penestici (revenditores) vilissimum genus 
mercationis exercent, рота, caules, raphanum, сере et alia his similia vendentes». Den Orden 
aber am päpstlichen Hofe auch privaten Landbesitzes anzuklagen, dazu mochten sich livlän- 
dische Geistliche und Mönche am wenigsten entschliessen, da sie sich bewusst waren, in dieser 


Beziehung wenigstens die Canones und Ordensregeln gleich übel eingehalten zu haben. 
* 


44 C. SCHIRREN, 


$. 6 behandelt den Nicolaus, fr. Episcopi Balduini. Zwei Gründe bestimmen den 
Verfasser, aus Rücksicht auf ihn die Landrolle in die Zeit des Vertrags von Stenby zu 
setzen: die Erwähnung, dass Thid. de Kyuael Güter von ihm gekauft, also noch nicht 
sich bestätigen lassen (es wird sich später ergeben, warum ich dergleichen Notizen so sy- 
stematisch, wie der Verfasser, nicht behandeln mag) — sodann der Umstand, dass man ihn 
grade als fr. Balduini bezeichnet, da Balduin doch 1234 das Land bereits verlassen 
habe. Eigentlich ist die zweite Erwägung, sobald die erste wegfällt, müssig. Allein eine 
Frage des Verfassers verlangt Antwort: «Wer sollte dort (in Harrien und Wirland) in den 
funfziger oder sechziger Jahren des Jahrhunderts noch Balduins gedacht haben»? Ich 
sollte meinen: Alle, die ihn gekannt hatten, vorzüglich Mönche und Geistliche, warum hät- 
ten sie ihn nach 20 Jahren so völlig vergessen? Allein vor Allem ist es wenig rathsam, 
jede Bezeichnung im L. С. in die Zeit seiner Abfassung zu setzen: vieles wurde sicher aus 
älteren Aufzeichnungen eingetragen und bloss aus dem Kopfe ist doch der L. С. nicht zu- 
sammengeschrieben.. 

$. 7. Theodoricus de Kivael. Eigenthümlich, freilich locker, ist des Verfassers 
Hypothese über Thid. de Kyuael. Seinen Namen soll er vom Kiulo der Landrolle haben. 
Man findet den Ort auf der letzten Zeile von Fol. 42b., es steht dort: «In parochia koskis» 
und darunter «Kiulo. XVI. occisus». Will man überall über eine so fatale Angabe conjici- 
ren, so hat Pauckers Vermuthung am wenigsten gegen sich: er sieht den «occisus» im Do- 
minus Heilardus in der dritten Columne von Fol. 43a.; legt man nämlich Fol. 42b. oben 
an Fol. 43a., so kommt das «oceisuw über Heilardus zu stehen und findet wenigstens sein 
Subject. Ich halte aus mehreren Gründen einen Restaurations- oder Combinationsversuch 
für vergeblich; es wird der Schreiber an dieser, wie unzweideutig an manchen andern 
Stellen, eine Angabe einzufügen oder nachzutragen vergessen haben. Der Verfasser dage- 
gen lässt zwar den «occisus» bei Seite, meint aber, «aufmerksame Prüfung des Facsimile lasse 
erkennen, wie als Besitzer Thidericus, puer Odwardi, anzusehen зе». Ich bedaure, dass 
die beiden, wenn ich nicht irre, einzigen Male, da der Verfasser das Facsimile zu Rathe ge- 
zogen, ihm das eine Mal keinen, das andre einen höchst problematischen Aufschluss gege- 
ben haben. Blieb er sich consequent, so musste er nach Analogie unter den Besitzungen 
des Klosters Guthwallia auch Rung. V. aufzählen (cf. Fol. 47b. letzte Zeile, verglichen mit 
Fol. 48а.); er hat das unterlassen. Er folgert nun, «puer» bedeute «in diesem Falle» vielleicht 
nicht Knappe, sondern Sohn. Man wird ihm die Wahl freigeben müssen. Nunaber, da erden 
Thideric als Sohn Odwards ansieht, folgert er weiter, schon dieser habe sich nach dem 
Besitze von Kiulo Kievel genannt und sei nicht ein Lode gewesen, denn unter den Lode 
(denen $. 38 Anm. 2 ein witziger Wink über ihre Herkunft gegeben wird), komme der 
Taufname Thideric nicht vor. So muss die in Betreff des «puer» willkürliche Wahl bei 
gleichen Chancen den Ausschlag geben für eine ganze Reihe von Folgerungen, davon aber 
jede wieder erst neuer Hypothesen zur Stütze bedarf und ihrerseits abermals weitere Fol- 
gerungen nach sich zieht, wie denn nun für die Zeit des L. C. das Geschlecht der Lode 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 45 


auf Wirland beschränkt wird (S. 38 Anm. 2). Die doppelte Bezeichnung, einmal als Thi- 
deric, puer Odwardi, ein anderes Mal als Thideric de Kyuael, erklärt sich der Ver- 
fasser so: «wer den Dominus Odwardus kannte, musste daher auch den Geschlechtsnamen 
des Thideric wissen und brauchte denselben nicht schon auf der nächsten Seite anzufüh- 
ren. Dagegen konnte es wol nothwendig erscheinen, weiter hin, nach einem längeren 
Zwischenraum, wo des Dominus Odwardus nicht weiter Erwähnung geschieht, den Thi- 
deric, wo er wieder in der Landrolle vorkommt, mit dem Zunamen de Kivel zu bezeich- 
nem». Nun sollte ich meinen, Thideric de Kyuael war durch seinen ungeheuren Land- 
besitz bekannter, als sein angeblicher Vater und der Verfasser vergisst vollends den «offi- 
ciellen» Character der Landrolle oder, was jedenfalls mehr wiegt, er vergisst die Domini 
Otto, Ywarus, Haelf und so Viele, bei denen die Landrolle nie für nöthig findet, den 
Geschlechtsnamen beizufügen; am schlimmsten endlich, er vergisst den Dominus Odwar- 
dus selber. Zwar will er mit dem Allen nicht eine bestimmte Behauptung aufstellen, allein 
das eben wird zuletzt so bedenklich, dass er seine Vermuthungen im Verfolg oft mit der 
Wirkung von Behauptungen ausstattet. Weiter soll nun dieser Thidericus in der Land- 
rolle «zwar schon als selbsständig belehnt erscheinen, indessen noch nicht mit der Ritter- 
würde bekleidet», wie Urk. III, 179a. imJ. 1245 und Urk. I, 270 im J. 1254 neben seinem 
Bruder Heinrich. Der Verfasser hält demnach daran fest, im L. С. komme kein Ritter vor, 
ausser gekennzeichnet als «Dominuw. Warum freilich heisst es denn puer Odwardi und 
nicht Domini Odwardi, warum Odwardus neben Dominus Odwardus, warum Villel- 
mus Ketting neben Dominus Willelmus de Keding; warum einfach Jan Scokaemann, 
da dem Verfasser die nahe Beziehung der Familie zum dänischen Königshause bekannt 
war, warum einfach Thideric de Cokaenhus? Die Erklärung, die eine andre Stelle 
bringt: «wenn Jemand einmal ohne, das andre Mal mit diesem Titel vorkomme, gehe die 
erstere Angabe der Zeit nach vorher», passt wenig zur Annahme von der einheitlichen 
Entstehung des «officiellen Aktenstücks», am wenigsten aber, um Einen hervorzuheben, 
z. B. auf den Thidericus von Kokenhusen. Und nach allen diesen gewundenen Com- 
binationen steht der Verfasser nun erst vor der Hauptfrage: nach dem Alter der Landrolle. 
Das eine Moment nun findet er eben darin: im L. C. erscheine Thid. de Kyuael noch 
nicht, in einer Urk. vom J. 1245 bereits als miles; der L. С. ist also vor 1245 zu setzen. 
Ich habe bereits gezeigt, warum diese Folgerung illusorisch ist. Das zweite Moment ist 
folgendes: im J. 1271 verkaufen Nicol. Molteke und seine Brüder die Güter Mart, Sarn 
und Apones den Scerembeke; nun verzeichnet der L. C. Fol. 47a.: 
Thideric de | Martaekilae. XII. | Johannes et Wälter hos habent de Thiderico, 
Kiuael Sarnae. VI. quos ecclesia de jure possidet. 

Man wird somit die Landrolle «kaum früh genug ansetzen können, da diese nämlichen Gü- 
ter 1271 bereits ererbte» Moltekesche Güter waren, «da doch die mächtigen Molteke 
gewiss nicht Aftervasallen der Kivel gewesen waren». Dagegen ist vorläufig dreierlei zu 
beme.ken: einmal sind Martaekilae XII und Sarnae VI die ganzen Dörfer Mart und Sarn? 


+6 С. SCHIRREN, 


sodann, warum sollten nicht die Johannes et Walter der Landrolle eben Molteke ge- 
wesen sein? Einen Johannes de Moltico finde ich als «testis» erwähnt in einer Urk. des 
Dominus Woldemar de Rostock. a. 1277, bei Schönemann, Cod. für die pract. Di- 
plomatie. I, „X 112. Endlich übersieht der Verfasser, dass auch aus mächtigen Geschlech- 
tern — vollends einem über so viele Länder ausgebreiteten, wie das der Molteke war — 
jüngre Söhne und Vetter sich leicht zu Aftervasallen hergeben mochten; ja er vergisst den 
von ihm selbst S. 83 zum Aftervasallen des Dominus Otto creirten D'S Godscalcus, ei- 
nen Ritter, den er überdies zu wichtigen, diplomatischen Sendungen verwendet. Denn 
mochten diese besonderen Zeitverhältnisse bewogen haben, den Schutz eines Mächtigen 
zu suchen, wer sagt uns, wie oft oder wie selten, im Grossen oder im Kleinen, ähnliche 
Verhältnisse sich wiederholten? Vor Allem warum sollten nicht die Molteke die benann- 
ten Güter selbst erst 1270 gekauft und 1271 wieder veräussert haben? Weniger zwei- 
deutig ist das dritte Moment des Verfassers: der L. C. erwähnt des Landbesitzes von 
Heinr. von Kiwel nicht; 1257 dagegen ist dieser Besitzer von Atten, im L.C. vielleicht 
Aitol oder Attol im Besitze des Königs: also fällt der L. C. vor 1257. Damit nun oder, 
da Heinr. von Kiwel auch bereits 1254 als dänischer Vasall vorkommt, mit 1254 als 
Grenze hätte der Verfasser sich begnügen sollen. Allein damit war ihm wenig gedient: so 
drängt er zum Schluss mit einem «wahrscheinlich» noch einmal das erste Moment in den 
Vordergrund und will als äusserste Grenze das Jahr 1245 festhalten. Denn eben um dieses 
Resultat zu erhalten, wurden die Deutungen vom Dominus Odwardus und dessen puer 
Thidericus erzwungen. 

Dieses Gewebe von Hypothesen, scheint mir, löst sich von selbst auf vor den Ergeb- 
nissen einer weniger gekünstelten Erwägung. Zunächst nämlich wird der Dominus Odwar- 
dus wol bleiben müssen, wofür man ihn bisher gehalten hat, ein Odwardus de Lode. 
Eine Grenzscheide (Livl. Urk. 439b.) des Bischofs Hermann und Capitaneus Letgast, von 
Bunge zwischen die Jahre 1275 und 1285 gesetzt, zieht die Grenze zwischen der Wieck und 
Harrien von Süden nach Norden im Ganzen nachweisbar, wienoch heute, bis sienach Wassalem 
abgebeugt und einen Theil des westlichen Kirchspiels Nissi, so wie das ganze Kirchspiel Kreutz 
umgangen zu haben scheint, so dass es dem Bisthum Oesel zufiel Die Urkunde nun lässt in 
einer alten Anmerkung den Grenzfluss Sawoia zwischen den Dörfern Kerethemeke und 
Lenechte fliessen, sowie der Sumpf Fenckenso zwischen Hellenbeke und Lenechte zu lie- 
gen kommt. Man wird in Lenechte vielleicht das Leuetae (Lenetae) des L. ©. erkennen 
dürfen; der L. С. verzeichnet es im Besitz des Dis Odwardus. Nun heisst es ferner im 
Text: «molendinum Kirrevere, quondam domini Odvardi de Loden submers», und 
in der Anmerk. «Molendinum, situm inter villas Lummede et Kirrievere, quod molendi- 
num quondam spectabat ad Odvardum de Loden». Dies Lummede aber ist wol das 
Læmæch (Læmæth)}, welches die Landrolle gleichfalls im Besitz des Dominus Odwardus 
verzeichnet. Endlich besitzt derselbe nach der Landrolle Laiduscae. XVIII, Helmold 
Lode aber 1296 (Livl. Urk. 563b.) Lodenrodhe et Cokgele und die parochia Ledenrode 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 47 


gehörte nach Livl. Urk. III, 818 in alter Zeit zur marchia Laydis. Da nun der Dis Odwardus 
als submersus und an einer andern Stelle als in glacie interfectus bezeichnet wird, somit 
wahrscheinlich in der grossen Litauerschlacht auf dem Sundeis im J. 1270 umkam, so 
sieht man, wie ein Odwardus de Loden in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts 
eben in der Gegend besitzlich war, in welcher die Landrolle den Dis Odwardus verzeich- 
net. Es wird darum dieser dem Geschlecht der Lode zugezählt bleiben müssen. Will 
man den Umstand, dass unter den Lode ein Thideric sonst nicht vorkommt, durchaus 
zum Beweis gelten lassen, der Thideric puer Odwardi könne ein Sohn des Dus Odwar- 
dus de Lode nicht gewesen sein, so mag man vorläufig den puer als Knappen deuten; er 
kann das ebensowol sein, als ein Sohn. Nur hat man ihn in jedem Fall auseinanderzuhal- 
ten mit Th. de Kyuael. Damit freilich wird dem Verfasser eine nicht unwichtige Stütze 
für den Rest seiner Combinationen entzogen. War nämlich der Du Odwardus einLode 
und nicht ein Kiwel, so wird dieser Name von draussen ins Land gekommen sein: sonst 
liesse es sich kaum erklären, wie auch der Bruder Heinrich nach einem von Thideric 
besessenen Gute benannt wurde. Dass das Geschlecht übrigens in Estland nicht allein be- 
sitzlich war, lehrt der Lib. Don. Mon. Бот. (S. В. D. IV, 514), laut welchem im J. 1296 
«Petrus Niclessön, miles, dapifer illustris Еле! Regis» dem Kloster zwei Höfe schenkt, 
einen in Kungstveld, einen andern in Calfsholte: «has autem curias habuit ipse a nobili 
viro Domino Henrico de Kiwel, Milite, de Esthonia justa et legitima emptione sua». 
Woher aber die Kiwel stammen, das meine ich — so wenig auch damit der Ursprung des 
Namens entdeckt ist — gibt Livl. Urk. 281 wenig zweideutig an, wenn es heisst: «dilecti 
filii nobiles viri Otto de Luneborch et Tydericus de Kiwel fratres Rigensis et Reva- 
liensis dioecesiw. Lehrberg p. 166 und Bunge, Urkb. interpunctiren: «Kiwel, fratres 
Rig.» ff., allein in welchem Sinne könnten fratres Vasallen genannt werden? Denn fest steht, 
von beiden war keiner Ordensbruder. 

‚ Ich erlaube mir bei einer zur Frage gehörenden Bemerkung eine Abschweifung. In 
der Verpfändungsurkunde des Revaler Bischofs Johann an die Revalischen Vasallen (Livl. 
Urk. 474, a. 1281) heisst es, die Einkünfte der zu Pfand gesetzten Güter sollten nieder- 
gelegt werden in «Domu fratrum in Revalia». Sollte damit eine Art Adels- oder Ritterhaus 
bezeichnet sein, so konnte jene päpstliche Bulle unter den fratres auch Adelsgenossen ver- 
standen haben; allein von einem solchen Ritterhaus findet sich fast so wenig eine Spur, 
wie von einer solchen Bedeutung des Wortes fratres. Auch an eine Ordenscomthurei ist 
kaum zu denken, so erwünscht das den Freunden der Unterschrift im Cod. Bergm. der 
Reimchronik wäre. Von einer so auffallenden Beziehung des Bischofs zum Orden, wie sie 
darin sich ausspräche, ist sonst, soviel ich weiss, nichts überliefert; in keiner seiner Ur- 
kunden treten Ordensbrüder als Vermittler auf oder als Zeugen, und schwerlich dürften 
sie, wo der Zusammenhang nicht unzweideutig auf sie führte, kurzweg als «fratres» bezeich- 
net worden sein. Man hat daher im «domus fratrum» das Haus eines Mönchsordens zu se- 
hen und zwar nicht der Prediger- oder Mindern-Brüder, sondern der Cistercienser von 


48 C. SCHIRREN, 


Dünamünde, die gleichfalls in der Stadt selbst besitzlich waren. Denn Bischof Johannes 
war wol Cistercienser, wenn schon mir augenblicklich dafür nur zwei indirecte Beweise zu 
Gebote stehen: 1) wohnte er der von König Erich 1283 dem Kloster Dünamünde voll- 
zogenen Güterbestätigung als Zeuge bei (Livl. Urk. 486a.); 2) was wol mehr Beweiskraft 
hat, stellte er seine erste uns erhaltene Urkunde nach Ankunft im Lande zu Kalamek aus, 
einer Besitzung des Convents von Dünamünde (Livl. Urk. 467). Das «domus fratrum» dürfte 
somit nicht helfen, die «fratres» der Urk. 281 zu erklären. 

Man hat darum die Interpunction anders zu setzen und zu lesen: Otto de Luneburg 
et Thidericus de Kiwel fratres, ff. Der Verfasser selbst scheint so gelesen zu haben, 
wenn er 5. 39 die beiden als Schwäger bezeichnet, ме Goetze im Albert Suerbeer. 1854. 
p. 147 als Stiefbrüder; allein warum vermied er die einfache Uebersetzung: «Brüder»? 
Doch nicht wegen der abweichenden Beinamen? Die deutschen Urkunden des XIII. Jahr- 
hunderts geben Belege genug an die Hand, dass solche, die unzweideutig Brüder waren, 
verschieden zubenannt wurden. Ich wähle einen besonders prägnanten aus einer Urkunde 
des Bischofs Luderus von Werden vom J. 1242: es traten da drei Brüder auf, mit fol- 
genden Namen: Hermannus dictus Cluvinghus, Hermannus de Haghene, Hildema- 
rus Schukke und, um jeden Ausweg einer andern Deutung abzuschneiden, setze ich die 
betreffende Stelle her: «— Dus Hermannus dictus Cluvinghus et Alheidis uxor sua 
et filii ipsorum et Dus Hermannus de Haghene, predicti Hermanni frater, impigno- 
raverunt Helmerico preposito de Ebbekestorpe pro С marcis arg. nomine ejusdem Eecl. 
bona sita in villa Othendorpe etc. — — Et ut talis obligatio ipsi monasterio a nemine 
valeat infringi in ipsa suum prestitit consensum Hildemarus Schukke predicti Clu- 
vinghi frater, a quo idem Cluvinghus in pheodo tenet omnia predicta. Consensit etiam 
Hildeburgis uxor predictiHildemari et duo filii ipsius» etc. Die Urkunde hat beiläufig 
noch das Interesse, dass sie uns einen livländischen Pilger, Hildemarus Scoke (Livl. 
Urk. 109, 125, a. 1231, 1232) in seiner Verwandtschaft aufführt, zu der dann wol auch 
der Henricus de Athenthorp des L. C. gehört, wie denn als Vorfahr der Schukke ein 
Hildemar de Othenthorp schon a. 1162 die Urkunde Heinrichs des Löwen über den 
Lübecker Zoll unterzeichnet (Zeitschr. des histor. Vereins f. Niedersachsen. 1855. p. 359, 
361 #.). Diesem Beispiel zur Seite werden nun wol auch Otto von Lüneburg und 
Thidericus de Kiwel als Brüder gelten dürfen und eine obzwar unbeträchtliche Stütze 
erhält dies noch an dem Umstande, dass auch in der Branche Kiwel der Name Otto vor- 
kommt, so a. 1306 Theod. et Otto de Kivele (Livl. Urk. 621, cf. auch Reg. 713). 
Schwerlich aber wird man darum, der engen Beziehung der Brüder Thideric und Hein- 
rich zu Dänemark zum Trotz, die Kiwel in Estland einrücken lassen von Odempäh aus. 
Gegen diese Hypothese Busses hat sich der Verfasser mit Recht erklärt: Der Namen des 
Guts Kuivelmoise mag ebensowol aus späterer Zeit herrühren. Aber auch, ob das Kiulo 
der Landrolle in irgend einer Beziehung zu den Kiwel gestanden, scheint mir minde- 
stens sehr fraglich. Man hat oft mit grossem Unrecht die Geschlechtsnamen der älte- 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 49 


sten Vasallen in Livland von einheimischen Oertern abgeleitet, da doch sogar manche 
jener Ortsnamen, welche gewöhnlich für einheimisch gelten, von draussen ins Land ge- 
bracht sind. 

$. 8. Heithenricus, Henricus, Bernard de Buxhöwden. Da der Verfasser die 
Anfertigung der Landrolle «kaum später, als 1240» ansetzen will aus Rücksicht auf die 
in ihr vorkommenden Namen der Buxhövden, «falls nämlich die Bischöfe wirklich zu 
diesem Geschlechte gehörten», — da er andererseits in «genealogische Forschungen» sich 
einzulassen nicht gesonnen ist, — die Beweiskraft der Namen aber im Allgemeinen, wie 
nicht minder in diesem Falle, nur durch genealogische Forschungen normirt werden 
kann, so sehe ich mich nicht veranlasst, dem Verfasser in seine vorläufig doch nur illu- 
sorischen Erörterungen zu folgen und zwar um so weniger, als günstigsten Falls von 
einem eigentlichen Beweise für das Jahr 1240 als Grenze nimmer die Rede sein kann. 

$. 9. Thidericus de Cokaenhus. Der Verfasser kommt nach verschiedenen Erör- 
terungen zu der Folgernng: «daSophia v. Kokenhusen (vermählt mit Thidericus)schon 
im J. 1254 Wittwe war, Theod. de Cokaenhus aber urkundlich 1245 nicht mehr vor- 
kommt, — so wird die Landrolle wol früh in den vierziger Jahren schon angefertigt ge- 
wesen sein». Er bedient sich dabei abermals eines Argumentum a silentio, dem wenig Be- 
weiskraft zusteht. Wenn, als er schrieb, der dritte Band des Livl. Urkb. noch nicht vorlag, 
so wusste er nichts von einer urkundlichen Erwähnung Thiderichs de Cokaenhus im 
J. 1245: im ersten Bande datirt die letzte Urkunde (Livl. Urk. 165), in welcher er lebend 
vorkommt, von 1239. Jeder neue Nachtrag zum Livl. Urkb. kann ein neues, unerwarte- 
tes Datum bringen. Auf diesem Wege kommt man somit zu keiner präcisen Altersbestim- 
mung des L. C. Im günstigsten Falle durfte Thiderichs Tod allgemein vor 1254 ange- 
setzt werden und auch das nicht mit irgend welcher Sicherheit. Denn, dass er vor 1254 
todt war, folgert der Verfasser nur daraus, dass seiner nicht erwähnt wird in der Beleh- 
nung der Sophia durch die Grafen von Holstein. Warum aber hätte mothwendig sei- 
ner Zustimmung zu dem Handel erwähnt werden müssen»? Kennen wir etwa die Verwandt- 
schaften der Sophia, die Motive ihrer Belehnung, das Recht, nach welchem sie belehnt 
wurde? Der Verfasser ist in seiner Deduction nicht genau genug verfahren. Der Satz über 
die Sophia enthält drei falsche Behauptungen und eine gewagte: «In der betreffenden Ur- 
kunde bestätigen die Grafen von Holstein in Riga der Frau Sophia von Kokenhusen 
den Lehnbesitz verschiedener im Holsteinschen belegener Güter, welche dieselbe von dem 
Vasallen und Begleiter der Herzöge, Bernhardus de Hoja, erworben». Nun ist die 
Urk. 261 nicht in Riga, sondern vor der Reise nach Riga in Oldenburg ausgestellt. Das 
ist nicht irrelevant, denn Thideric konnte gleichzeitig in Livland noch am Leben sein. 
Sodann heisst in Urk. 261 der frühere Besitzer der «in teutschen Landen» gelegenen 
Güter Bernhardus de Hoja; in Urk. 267 vom 16. Apr. 1254 datumin Riga nennt sich 
dagegen der Begleiter der Herzöge Bernardus deHeyda. Sind beide durchaus für identisch 
zu halten? Die Familie de Hoya ist bekannt; die der Heide ist ganz von ihr zu scheiden. 


Mémoires de l’Acad. Inıp. des sciences, УПе Série, 7 


50 C. SCHIRREN, 


Auch in Riga erscheint noch а. 1262 (Livl. Urk. 367) ein DW Lu. Heide als Zeuge; Livl. Urk. 
1096, а. 1374 nennt einen heren «Gobelevan der Heide» als Gesandten «van Darbete» ff. 
War Bernard de Heyda derselbe mit Bernard de Hoje, warum untersiegelte er dann 
nicht Urk. 261? Wahrscheinlicher doch war dieser schon vor Belehnung der Sophia ge- 
storben und mag nicht Sophia die Tochter gewesen sein, die dem Vater im Lehn nach- 
folgte? Der Verfasser freilich schreibt, Sophia habe diese Güter von Bernardus de Hoja 
«erworben» und verdunkelt damit, wol unabsichtlich, das Verhältniss; jedenfalls konnte er 
nur einen lebenden Bernardus de Hoie wiederfinden im Bern. de Heyda. Die Urkunde 
dagegen weiss nichts von Erwerbung; die Worte passen vielmehr grade zur Nachfolge im 
Lehn: «zu wissen, dass die güter, welche Herr Bernhardt von Hoje in ortern des Teut- 
schen landes von uns zu lehn besessen erkannt wird, wir nunmehr frauen Sophien zu 
kokenhausen lehnweise zu besitzen vergönnet und nachgelassen haben». Der 
Beweis somit, Thid. de Cokaenhus müsse schon vor 1254 gestorben sein, erscheint in 
jeder Beziehung illusorisch. Was der Verfasser sonst vermuthet, gehört nicht zur Sache. 
Dass der Comes Burchardus de Kucunois der Urk. vom 21. Juli 1224 in einen Comes 
Burch. de Aldenborch und Theodor. de Kucunois zu verdoppeln ist, wird man zuge- 
ben, da der Comes Borcardus nach der Stelle, die er unter den Zeugen der Urk. 83 ein- 
nimmt, nicht wol zu den «vasalli ecclesiae» gerechnet werden darf. Es bleibt nur auffallend, 
wie auch im Transsumt bei Dogiel. У, ./ 12 in jener ersten der drei Urkunden von 
1224 «comes B. de Kutimor», in den folgenden Comes B. de Aldenborch vorkommt. 
— Problematischer ist die Vaterschaft Theodorichs de Cokaenhus am Miles Albertus 
de Kukanois; wo liegt die grössere Chance für die Vaterschaft, als für die Brüderschaft? 
Selbst ob der Th. de Kukanois der Urk. 416 identisch ist mit dem Thid. de Kukanois 
der Origg. Liv. und der älteren Urkunden, liesse sich in Frage ziehen, da seiner Belehnung 
nur durch den Bischof Nicolaus gedacht wird; er mag ein Sohn jenes ältern, vom Bischof 
Albert Belehnten gewesen sein und Sophia war dann des Letzteren Schwiegertochter, 
womit alle auch sonst nicht überzeugendeu Erörterungen über ihre Heirathsunfähigkeit im 
J. 1269 wegfallen. Da jedoch lediglich eine Lehnserneuerung durch Bischof Nicolaus 
gemeint sein mag, so liegt natürlich ein zwingender Grund nicht vor, den Thid. de Kok. 
von 1218 bis 1245 in Vater und Sohn zu verdoppeln. Man sieht nur, auf wie unsicherm 
Boden derartige Conjecturen sich bewegen. 

$. 10. Schluss. Zum Schluss lässt der Verfasser «noch einige Namen folgen, die dazu 
dienen können, Licht auf die Zeit der Abfassung der Landrolle zu werfen». Wie wenig 
die Erörterung über den DS Tuvo Palnisun beweist, habe ich an andrer Stelle bespro- 
chen. Es bleiben sodann die Domini Saxo und Tuco, endlich Henricus de Brakel. 
Die Behauptung, der L. С. war «gewiss» schon vor 1254 abgefasst, da in diesem Jahre der 
Ds Saxo in Urkunden als «Capitaneus» vorkommt, beruht auf der Combination zweier An- 
nahmen: einer möglichen von der Identität der beiden Personen, mit einer unwahrschein- 
lichen, der L. С. hätte den Dus Saxo «ohne Zweifel» als Capitaneus bezeichnet, wenn er 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Liper CENSUSs ПАМАЕ 51 


es schon damals gewesen. Allein in der ganzen Landrolle findet sich nicht eine amtliche 
Bezeichnung und wenn Saxo, falls er der Capitaneus war, consequent mit dem Titel Do- 
minus versehen wurde, so war das am Ende genug Ehre. — Ein Du Tuco Wrang ist 
1251 Camerarius des Königs Abel, Nicolaus Danus Vasall der Grafen von Holstein 
und — hätte dazu gesetzt werden können 1265 ihr Advocatus in Itzehö (Hamb. Urkb. 
682). «Man kann, meint der Verfasser, annehmen, wie nicht leicht Jemand als Harrisch- 
Wirischer Vasall in jenen Landschaften lebte und zugleich Camerarius in Seeland oder 
Jütland oder aber Vasall im Holsteinischen gewesen». Nun aber steht die Identität der 
beiden Nicolai Dani — so hiessen gewiss manche Leute — nicht fest. Vor Allem: was 
verhindert, das zu statuiren, was der Verfasser für unvereinbar hält? Ich habe oben des 
Heinrich de Kiwel gedacht mit seinem Besitz hüben und drüben. Und was dem «Dux 
Canutus» gelang, warum sollte das nicht auch niedriger gestellten Vasallen gelungen sein? 
Endlich aber, was bedeutet das Postulat «lebte. Wo ist der Beweis, dass alle, die der 
L. C. als Besitzer verzeichnet, in Estland auch gelebt haben? — Mit Henr. de Bra- 
kel kommt der Verfasser selbst zu keinem Resultat. Ich erwähne daher nur, dass der 
Name im L. C. nicht feststeht; man könnte auch Brauel lesen, ein Name, der im Livl. 
Urkb. Reg. 1000 wiederkehrt, wenn im J. 1346 König Waldemar III. dem 3. Michae- 
liskloster den Besitz der Mühlen bestätigt, welche ihm «v. Brauel» verliehen. Die Lesart 
Brakel oder Bracel hat vom graphischen Standpunkte am wenigsten für sich. Wenn der 
Verfasser gelegentlich erwähnt, unter den Ministerial-Geschlechtern des bremer Erzstifts 
würden die Brakel nicht genannt, wol aber 1250—60 unter den pommerschen Vasallen, 
so erlaube- ich mir gelegentlich die Ergänzung: Joh. de Brakele, Zeuge in einer Ur- 
kunde des Bischofs SiegfriedI.von Hildesheim, a. 1221 inKoken. Die Winzenburg und 
deren Vorbesitzer. 1833. Urk. MW IV, a., — Joh. de Brakele, cellerarius, Zeuge in 
einer Urkunde des Bischofs Conrad von Hildesheim, a. 1239 in Volger, Urkunden 
der Bischöfe von Hildesheim. 1846. M 18; später selbst Bischof von Hildesheim 1257 
+ 14. Sept. 1261; Mooyer, Nekrolog des Klosters Dorstadt im Archiv des Niedersächs. 
Vereins. 1849. p. 403. 

Was der Verfasser sonst bringt, greift nicht in den Beweis ein. Ich bin ihm gefolgt 
bis dahin, wo das letzte Beweismittel sich erschöpft. Der Versuch, die Landrolle unmit. 
telbar an den Vertrag zu Stenby zu knüpfen, ist nicht gelungen. So fein mitunter die De- 
ductionen: es fehlt ihnen an ungesuchter Beweiskraft. Sie haben den Zirkel enger gezo- 
gen, in welchem der Ursprung des Dokuments liest: den einen Punkt, den sie suchten, 
haben sie nicht zu fixiren vermocht. Selbst wo eine Wahrscheinlichkeit auftaucht, wird 
sie niedergedrückt durch eine Unwahrscheinlichkeit. Die Untersuchung ist lange nicht 
geschlossen. 

Sie wird darum weiter zu führen sein nach einer umfassenderen Methode, zu der es 
an Ansätzen in den «Studien» nicht ganz fehlt. So natürlich nämlich der Versuch, einzelne 


Namen hervorzuheben; —so bald er das Ziel verfehlt, muss er vertauscht werden mit einem 
+ 


52 C. SCHIRREN, 


andern. Die Masse der Namen muss hereingezogen werden in die Untersuchung. Zwar 
das ist eine Riesenarbeit, die auf den ersten Blick selbst vergeblich scheinen könnte. Denn 
in livländischen Urkunden kehren, sicher nachweisbar, nur wenig Namen wieder. Gegen 
die Lesart Henricus de Brakel (Livl. Urk. 73, 101a, 169a, 200а, a. 1225—1248) er- 
heben sich Bedenken; die Identität von Thid. de equaest oder ekrist mit Thid. de 
Escerde (Livl. Urk. 61, a. 1224 ff.) bezweifle ich entschieden. Es bleiben dann nur 
etwa: 
Theod. de Cokenois (Livl. Urk. 84, 101a, 179a, a. 1226—1245). 
Heidenricus de Bekkeshouede (Livl. Urk. 169, 389, a. 1241—1265). 
Henricus de Bekkeshouede (Livl. Urk. 389, a. 1265). 
Theodericus de Kivele (Livl. Urk. 179a, 281, 299, a. 1245—1257). 
Майи Risbit (Livl. Urk. 258a, a. 1253). 
T. Ballison (Livl. Urk. 299, а. 1257); DS Thuuo Paltessun (Livl. Urk. 337, 
2.1259). 
Dus Odwardus de Lode (Livl. Urk. 389, a. 1265). 
Du Hermannus de Terevestevere (Livl. Urk. 258, a. 1253). 
(cf. L. C. Par. Toruaestaeuaerae. Hermannus — Torpius XX.) 
Herbertus (Livl. Urk. 337, a. 1259); Du Harbertus (Livl. Urk. 389, a. 
1265). 
Vielleicht Kerchan Klench (Livl. Urk. 422, a. 1271). 
(ef. L. С. Gerhard Klingae.) 

Schon diese wenigen Namen umschreiben zudem ein halbes Jahrhundert und es lies- 
sen sich lange Reihen anführen, die noch auf viel spätere Zeiten gehen. Der Verfasser 
hat sie sicher erwogen, soweit sie ihm zugänglich waren. Ich führe nur beispielsweise 
aus dem ältesten, rigischen Schuldbuche (Perg. Cod.), aus welehem das Livl. Urkdb. nur 
einen Auszug gibt, an: 

a. 1289. Fol. 17b. Joh. de hamele. cf. L. C. Jan de hamel. 
а. 1290. Fol. 27a. Thidericus de rakeuere. } cf. |. С. Thideric swort. 
od. a. 1296. Fol. 36a. Thidericus niger. Rakeuerae. VI. 

Allein diesem mässigen Gewinn steht die Aussicht zur Seite, durch fortgesetzte Com- 
binationen aus livländischen, hildesheimischen, meklenburgischen und andern Urkunden 
viel weiter zu kommen. Die eingeleitete Untersuchung habe ich aus Mangel an Zeit nicht 
durchführen können; ich habe aber die Ueberzeugung gewonnen: der reichhaltige, obzwar 
spröde Stoff des L. C. werde sich endlich fügen bei einer erschöpfenden, methodischen 
Behandlung, deren Gesichtspunkte ich mir anzudeuten erlaube. Zunächst muss die Be- 
handlung isolirter Namen zurückstehen. Die Combination hat auszugehen von Massen und 
Gruppen. Auf Taf. IVa. b. und V habe ich das bezügliche Material des L. C. für Jeden, 
der die Untersuchung ergreifen will, geordnet. Es sind nachzutragen nur von Fol. 49a. 
LvbrictPolipae; 42b. Hilward etThideric; 54a. Temmo; 47a. Johanneset Walter; 


1 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CEnsus DANIAE. 53 


von Verkäufern: 44b. Heilardus; 46a. Henricus comes de Suorthoghae; 49a. bernard; 
50a., 5la. Nicolaus, frater episcopi Baldwini; 5ia. Thideric swort; 53b. Willelmus 
de Keting; von Todten: 49a. bernard; 52a. Willelmus. Aufmerksame Prüfung wird 
zuerst die identischen Namen entwickeln: namentlich ergibt sich mit Sicherheit aus Taf. 
IVa. b. die Identität von DU Saxo und DW Бах! u. a. nebst einer Reihe Vertriebener. 
Sodann heben sich aus der Masse kleine Gruppen Verwandter ab; der L. С. verzeichnet 
etwa ein Dutzend, nämlich unter den Besitzern: Fol. 42b. Hermann et duo fratres eius; 
43a. Thideric puer Odwardi; 43b. fili Surti; 44b. Wibaern, Taemma frater eius; 
45b. Herbart et II fratres sui; 47a. Huith cognatus Lamberti; 47a. Richard gener 
Leonis; 49a. Adam, filius Regneri, 50a., 51а. Nicolaus, fr. episcopi baldwini; 53b. 
Robertus, frater Di Eilardi; — und unter den Vertriebenen Fol. 44a. Herbort; Tho- 
mas frater eius; 46b. Gerard et frater eius Winric; 51b. Albernus, frater Godefrit; 
dazu kommen noch 49a. relicta bernardi; 51b. relicta hercher; kaum dagegen 46b. 
heredes Domini Villelmi Fritrik et Vinrik. — Neben den Verwandtschaften lässt der 
Г. С. gewisse Gruppen an gemeinsamem Besitz erkennen und zwar Fol. 42b. Herman et 
duo fr. eius; 45b. Herbart et II fratres sui; 45b. Thitmar Garcon Grath; 46a. aua- 
rissimus Eilardus et DW Tuu Palnissun; 47а. Henricus Stenhackaer et Lamber- 
tus; 47a. Johannes et Walter; 48a. Johannes et Guthaescalk; 53a. DU Saxo et 
Henricus lapieida; 54a. Henric de Wispen und Temmo. Ist etwa der Lambertus 
von 47a. derselbe, dessen einstiger Mühlenbesitz 46b. so angelegentlich hervorgehoben wird, 
so wird ihm und den bei Abfassung des L. C. anscheinend besonders Betheiligten durch 
Vermittlung von Henricus lapicida (Stenhackaer) auch der Dus Saxo genähert. 

Ferner wird die Untersuchung Gruppen von Namen zu bilden haben nach ihrer loca- 
len Herkunft. Als rohen Ansatz stelle ich beispielsweise eine mecklenburgisch-pommer- 
sche Gruppe zusammen: 


a. 1227. Albernus de Plote, capell. Zverin. (Lüb. Urkb. I, | 
42). | cf. L. C. Al- 
(neben ihm als Zeuge Theod. Scacmann.) bernus, fr. 
a. 1244. Godefridus de Plote, miles Zwerin. (Lüb. Urkb. I, | Godefrit. 
103). 
ch. LCD 
a. 1251. DW Engellardus de Gustekowe. (Lüb. Urkb. I, 49. Engelardus. 


Dass die «Expulsi» und «Remoti» durchgängig in Person am 
Ort sassen, ist nicht erwiesen. 


| cf. Г. С. hæn- 
$ rich fan an- 
SAT. 


a. 1243. Henricus Angern; Urk. v. Wrastisl. III., dux dy- 
minensis (Cod. dipl. Pomer. 333). 


54 C. SCHIRREN, 
а. 1250—60. Henricus de Reno (vom Verf. angef. 5. 53; \ cf. Г. С.Неп- 
Cod. Dipl. Pomer. р. 53). J) ric. de Rin. 
a. 1253—57. DW Guttan dictus mordere, miles des Fürsten 
| x СТ ©: 
Jaromer II. ruinaorum. (Lüb. Urkb. I, 215; Fa- КО 
bricius, Rüg. Urk. II, 60—66). | 
у L cf. L. C.Jon 
a. 1283. Stochvisch, miles Zverin. (Lüb. Urkb. I, 446). } Stock 


Einen Joh. Stockuisch a. 1320 verzeichnet Lisch, Me- 
klenb. Urkk. II, 178, p. 272. 
a. 1289. Lodewicus Keding, miles, Urk. v. Pribezl., domi- 
nus de Bellegard (Lisch, Meklenb. Urkk. I, 86). 

Es sollen das natürlich noch keine Identificirungen sein; aber sie bereiten vor. Die- 
ser Gruppe gesellt sich vielleicht noch zu Hermannus fraetaeland; L. C. Fol. 54b. 
Schwerlich hat er den Namen von der kleinen Burg Fredeland, welche der Bischof Phi- 
lipp von Ratzeburg im J. 1214 bei Treiden erbaute und die, soviel mir bekannt, nur 
in den Origg. Liv. und zwar zum letzten Male im J. 1219 (indirect) erwähnt wird (Origg. 
Liv. XVIII, 3, 8. XXI, 7. XXIII, 7). Die Stadt Vredelande aber, jetzt Friedland, in Meck- 
lenburg-Strelitz, wurde erst 1248 gegründet (Cod. Pomer. dipl. 219 Anm.); nun mochte 
schon vorher ebendort ein Ort dieses Namens, ohne Stadtgerechtigkeit, existirt haben; in 
jedem Falle verdient der Name Beachtung. Und eben dieser Gruppe schliesse ich noch 
an den Henricus, comes de Suortoghae von Fol. 46a. Ob dercomes Henricus de Sve- 
rin gemeint ist, welchen man auch den schwarzen Heinrich, Henric den Sorte nannte 
(Suhm, IX, 436), ist nicht gleich zu entscheiden; dass dänische Quellen ihm bei der Ein- 
nahme Revals Betheiligung zuschreiben, habe ich oben nachgewiesen. Der Name Suor- 
toghae geht wol auf Schwartau, nördlich von Lübeck; in die Trave mündet der Fluss 
Swartowe; und für die Namensform finden sich Analogien in Mecklenburg und Pommern; 
ich führe nur an aus Fabricius, Rüg. Urkk. 35. Dirsecowe und 47. Dyerscogh; 48. Sub- 
bezowe und 47. Zobizogh; 35, 37. Gvisdowe und 47. Guizdogh; 48. Pansowe und 47. 
Panzogh; 48. Gribenowe und 47. Gribbinogh; 52. Cristow und 47. Cristogh ff. ff. 

Eine andre Gruppe gehört nach Hildesheim und ins Mindensche mit den Familien 
Visen oder Weise (a. 1200. Urkk. des Stifts Walkenried. 41, 42), mit den Ekessen (ef. 
L. С. Equaest und Ekrist) von 1149 an (in Hildesheim, bei Koken. Die Winzenburg. 
1833. Urkk. „X IT), unter ihnen Dietrich у. Ekessen, der 1228—1234 bischöflich 
mindenscher Truchsess war, 1236 dagegen nicht mehr, obwol noch 1252 am Leben (Zeit- 
schr. des Niedersächs. Vereins. 1851. р. 200. 1853. р. 103) und Dus Conr. de Eker- 
sten a. 1268 in Minden (a. a. O. p. 103); mit den Jochen, so Fred. de Juchen, mi- 
les des Bischofs von Verden a. 1230 (Zeitschr. d. Niedersächs. Vereins. 1854. p. 151); 
mit den Puster, Rittern zu Minden und Bürgern zu Stadthagen a. 1250—1266 (Zeitschr. 
d. Niedersächs. Vereins. 1853. p. 55. 1855. p. 96, 97, 99); mit den Ulsen und Oberg 


I nl u eh UE 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 55 


und vielen andern in Estland um die Zeit des L. C. ansässigen Familien. Hildesheim ist 
eine wahre Wiege livländischer Einwandrer gewesen. 

Im Zusammenhange mit ähnlichen Nachweisen sind die deutschen Ortsnamen zu be- 
achten, welche in Livland oder schon draussen zu Familiennamen geworden sind. In vie- 
len Fällen werden selbst estnische Ortsnamen richtiger daher erklärt, und ich habe wenig 
Zutrauen zu Ableitungen, wie die der Tolcks vom Gute Tolks. Welche älteste Besitzver- 
änderungen müssten dabei z. B. vorausgesetzt werden, wenn der L. C. Fol. 52a. als Be- 
sitzer von Tolkas. XX. Thid. de equaest verzeichnet und im Besitz ganz andrer Grund- 
stücke bereits erwähnt Fol. 42b. einen Paeter Tolk; 49b. Waerner Tolk? Mitgrossem 
Recht sträuben sich die deutschen Genealogen gegen dergleichen Ableitungen und man 
hat wohl zu beachten, welche Personennamen des L. С. in Niedersachsen und Westfalen 
als Ortsnamen vorkommen, wie nicht nur die vielbesprochenen Buxhöwden, Brakel #., 
sondern Stuhr, Stade, Kating, Kehding, Beuer, Springe, Hameln, Rethen, Wispen, 
Moringen, Nörten, Enger, Anger, Oelde, Meckings, Clingen ff. (Dahlen, Schermbeck, Uel- 
sen ff.); vergl. auch die Flüsse: Hunte, Alard, Nogat ff. 

Allerdings kommt man mit derartigen Combinationen nur langsam dem Ziele näher 
und bedarf grosser Resignation. Der Gewinn aber ist auch viel umfassender, als blosse Alters- 
bestimmung desL.C. Den Zusammenhang nämlich für alle zerstreuten und in Gruppen ver- 
bundenen Personalnotizen hat endlich die genealogische Forschung zu finden. Zwar ist sie noch 
wenig vorgeschritten. Allein kaum von einer andern dürfte die ältere innre Geschichte dieser 
Provinzen so überraschende Aufschlüsse erwarten. Man hat sich noch immer zu wenig ge- 
wöhnt, sie als Geschichte einer Colonisation zu behandeln; man übersieht, wie die Fami- 
lien- und Partei-Gruppen im Lande ihre Ansätze und Motive zum mindesten eben so oft 
draussen hatten, als drinnen. Die deutschen Genealogen arbeiten uns dabei in die Hände. 
Männern, wie Ledebur, verdanken wir schon manchen schätzbaren Fingerzeig, andern, 
wie Mooyer, die Anhäufung reichen Materials. Es kann für den Verfasser im Allgemei- 
nen kein Vorwurf sein, dass er derartige Untersuchungen nicht angegriffen oder nicht wei- 
tergeführt hat. Ihre Resultate hätten ihn erst nach Jahren entschädigt für die Arbeit und 
gewiss bringt jede Aufgabe ihre eigne Oeconomie mit sich. Erwähnen aber musste er 
mindestens ein Problem, dessen Lösung vielleicht Licht verbreiten wird über die Mitte und 
das dritte Viertel des XIII. Jahrhunderts, über die Verhältnisse, welche im L. С. sich 
wiederspiegeln, über die kirchlichen Wirren und über die politische und Familienparteiung. 
In Harrien und Wirland verzeichnet der L. C. als mächtigsten Grundbesitzer nächst dem 
König Thiderie de Kiuael. Er ist vorgedrungen in den äussersten Osten: Urkunden 
lehren uns, wie er mit seinem Bruder Otto de Luneburg in Watland ein Bisthum zu er- 
richten trachtete. Hat der Episc. Kapoliensis, Fridericus de Haseldorp, in Verbindung 
gestanden mit ihm, oder in Verwandtschaft? (Vergl. vorzüglich Busse, in den Mittheilun- 
gen. У, 427—438 und Napiersky, ebendas. VIII, 109—114, 505—509.) Vor Allem 
wer war der Episc. Vironensis, Theoderich, Franziskaner Ordens? Das reiche von 


56 С. SCHIRREN, 


Mooyer (Mittheilungen. IX, S. 3—30 und 126— 128) zusammengetragene Material gibt 
noch keinen Aufschluss; es zeigt ihn nur in den Jahren 1248, 1250—55, 1257—58, 
1260—63, 1265, 1267, 1269—71 in Deutschland. Vier Eventualitäten sind zu erwä- 
gen: 1) entweder der Episc. Vironensis hat mit Wirland nichts zu schaffen; möglich, aber 
sehr unwahrscheinlich; 2) er ist von dänischer Seite destinirt: das ist entschieden zu be- 
zweifeln, namentlich, weil er im Jahr 1247 zum Bischof ernannt wurde, wie die Zählung 
der Amtsjahre in seinen Urkunden darthut; noch 1249 aber heisst es in der königlich dä- 
nischen Dotation der revaler Kirche: «Die 40 Haken zu Salgalle in Wirland blieben dem 
Bischof von Reval, donec Wironensi ecclesiae provisum fuerit in praelato»; 3) der Episc. 
Vironensis war nur Titularbischof: dafür spräche die ungewöhnliche Eingangsformel seiner 
Urkunden: «bonitate divina Episc.», so wie dass er gar nicht ins Land gekommen zu sein 
scheint oder endlich 4) er gehört einer grossen deutschen Vasallengruppe an und steht zu 
Thid. de Kyuael in freundlicher oder feindlicher Beziehung, so wie seine Ernennung für 
Wirland irgend zusammenhängt mit der Errichtung eines deutschen Bisthums in Watland. 
Dann aber ist Alles, was ihn angeht, von einschneidender Bedeutung für die Geschichte 
Estlands. Auch er weist zurück auf Hildesheim. Sein Testament, das er lange vor sei- 
nem Tode, im J. 1257, aufsetzte, ist uns erhalten: es zeigt ihn uns als privatim mit Land 
Begüterten: es nennt uns seine Verwandten, die Canonici von Hildesheim: «Hartmannus 
scholasticus, germanus noster; magist. Johannes, consanguineus noster» und auch die 
übrigen in der Urkunde benannten Personen sind wohl zu beachten. Seines Bruders Jo- 
hann, Franziskaner gleich ihm, erwähnt das Chron. Egmundanum (cf. Mittheilungen IX, 
128). So bedenklich auch die sofortige Identificirung des magister Johannes mit dem 
bekannten Statthalter des Legaten Wilhelm wäre, so wünschenswerth ist eine unermüd- 
liche Prüfung dieser Verwandtschaften; zum mindesten wird sie einen werthvollen Beitrag 
geben zur hildesheimisch-livländischen Familiengeschichte. 

Kehren wir zu den Beweisführungen des Verfassers zurück, dem es nicht gelungen 
ist, mit Hilfe der Personennamen die Abfassung der Landrolle dem Stenby’er Vertrage so 
nahezu rücken, als er wünschte, so wird nun die Last des Hauptbeweises für seine Auffassung 
den übrigen Momenten des Documents zufallen und es ist um so strenger zu prüfen, ob 
diese wenigstens die Beziehung zu einem Vertrage so unverkennbar ausdrücken, dass zu- 
gleich die Lücken der ersten Beweisreihe gedeckt erscheinen. Es hat aber von den Un- 
tersuchungen des Verfassers über die historisch politischen Momente der Landrolle ein 
Theil die Aufgabe, die versuchte Altersbestimmung noch zu erhärten; ein andrer dagegen 
ist enge bereits verflochten in die Deductionen des dritten Abschnitts. Der Verfasser hat diese 
zweiseitige Gruppirung jener «historisch-politischen» Merkmale wenig beachtet und auch 
darin die äussere Anordnung getrübt. Ich werde den 5$. des zweiten Abschnitts nur so- 
weit folgen, bis es sich um die Prüfung gewisser Grundanschauungen handelt, auf welchen 
die ganze Reihe von Beweisen für den «einheitlichen, officiellen» Character der Landrolle 
ruht; diese Anschauungen werde ich sodann gesondert nach ihrem innern Zusainmenhange 


ce ee Là. 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANHE. 57 


prüfen. Es gelten somit die folgenden Betrachtungen über einen Theil des zweiten Ab- 
schnitts nur als Anhang zur Prüfung des ersten. 

In $ 1 sucht der Verfasser das von ihm ermittelte Alter der Landrolle aus gewissen 
Localbenennungen zu erhärten. Aus der «alten Landeseintheilung», wie sie der L. С. noch 
festhält, während nach 1238 die Landschaft Repel wenigstens ganz verschwindet, so wie 
aus der politisch gleichsam noch nicht fixirten Bedeutung des Namens Harrien, geht für 
ihn hervor: «die Landrolle gehöre in die Jahre, die gleich auf den Vertrag von Stenby 
folgten». 

Soll diese Folgerung irgend gestattet sein, so müssten wir vor Allem die Bedeutung 
der «alten Landeseintheilung» kennen. Ich werde nachweisen, dass sie uns unklar ist. 
Allein schon die Behauptungen, aus welchen die Folgerung gezogen wird, sind unrichtig. 
Der Name Reval bezeichnet noch lange nach 1238 die Landschaft. Dem Verfasser scheint 
nur die Urk. 239, a. 1252 beigefallen zu sein mit ihrer Anrede: «hominibus nostris in Re- 
valia et Wesenbergh constitutis» und ich gebe ihm Recht, wenn er die beiden festern Orte 
und nicht die Landschaften, bezeichnet meint; allein schon die «meliores de Revalia» in 
der Urkunde des Königs Erich Glipping (Livl. Urk. 352, a. 1260) machen seine Fol- 
gerung rückgängig und gegen sie erhebt sich ein wahrer Damm von Beweisen. Ich will 
mich dabei nicht auf die Stelle der Reimchronik berufen, in welcher dieselbe Landesein- 
theilung vorgetragen ist, welche nach dem Verfasser mit 1238 aufhört, У. 2048 fi. 


Der vant darvedir einen rat, 
Das haryen, reuele, wierlant, 
Dem konige wart in sine hant. 


Denn es ist von mir selbst (Verfasser der Reimchronik, in den Mittheilungen VIII) zuge- 
standen, die Reimchronik habe Urkunden benutzt und in den angeführten Versen gerade 
lässt sich ein weiterer Beweis dafür finden. Allein schwerlich ist der Ausdruck, V. 6715: 
«Reuele, das gute lant» einer Urkunde entlehnt und man wird es mit dieser Bezeichnung 
um so eher genau nehmen dürfen, da sie noch 1348 wiederkehrt. Vor 1238 finde ich 
folgende Benennungen: Livl. Urk. 100, a. 1228 Urk. Heinrichs, des Römischen Kai- 
sers: «provinciam Rivelae, cum castro dieto Rivelae, nec non omnes provincias Jerve, 
Harrien, Wironiam»; Livl. Urk. 133, a. 1234 Bulle Gregors IX.: «n Revalia, Vironia 
et quibusdam aliis terris»; Livl. Urk. 145, a. 1236: Gregor [Х.: «omnem munitionem 
castri Revaliae, Revaliam quoque, et Harriam, Wironiam, Gerwam»; Livl. Urk. 160, 
а. 1238 Vertrag von Stenby: «munitio et civitas Revaliensis, et ipsa Revalia et Gierwia 
et Wironia et Hargia, quae omnia sunt in Estonia». — In der zweiten Hälfte des XII. 
Jahrhunderts: Livl. Urk. 352, a. 1260 königliche Urk.: «meliores de Revalia»; Livl. 
Urk. 459, a. 1278 königliche Urk.: «in terra nostra Revaliae et Estonia®; Livl. Urk. 
457, a. 1278: «Ey(lardus) miles dictus de Oberg, capitaneus illustris Regis Daciae рег 
Revaliam et Wironiam»; Livl. Urk. 491, a. 1284 Urk. des Bischofs von Reval und der 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 3 


58 С. SCHIRREN, 


estnischen Vasallen: «universi vasalli terrae Revaliae». — In der ersten Hälfte des XIV. 
Jahrhunderts: Cod. dipl. Pr. II, 107, a. 1323 Urk. des Bischofs und Capitels von Erm- 
land: «in Reualiam terram regis Daciae»; in den Verkaufsurkunden über Estland aus den 
Jahren 1333, 1346, 1349 und zwar Livl. Urk. 756a. «terram Revaliensem»; Livl. 
Urk. 864 «super venditione terrae Revaliae»; Livl. Urk. 892 «ducatum Estoniae seu 
totam terram Revaliensem»; im J. 1348 Livl. Urk. 889 nennt sich der Ordensmeister 
«capitaneus terreRevaliensis». — So viel man diesen Stellen an Beweiskraft zu nehmen, 
geneigt sein mag: die Behauptung des Verfassers entbehrt jeglicher Begründung, S. 66: 
«Revel ist und bleibt seitdem (seit 1238) die Bezeichnung ausschliesslich der Stadt 
und Burg». 

Nun aber soll es erst noch gelingen, die widerstrebenden Angaben der Origg. Liv. 
und der Urkunden über die älteste Landeseintheiluug in Uebereinstimmung zu ordnen. 
Ich habe mich bei historisch-topographischen Untersuchungen, welche das Ländergebiet 
vom finnischen Meerbusen bis an die Südgränzen der litauischen Stämme umfassen, zur Ge- 
nüge überzeugt, dass überall die alten Districtsnamen in fixe Gränzen nicht gezwängt werden 
können. Ausgegangen sind sie in den meisten Fällen von einzelnen Oertern oder enge 
umschriebenen Localen und mit dem Lande Reval verhält es sich wol nicht anders: sie ha- 
ben sich dann allmälig ausgedehnt und greifen vielfach in einander über. Andrerseits, so 
wenig fest sie zu umschreiben sind, so zäh erhalten sie sich in der Ueberlieferung und 
auch, wo man sie fast ein Jahrhundert lang in Urkunden vergebens gesucht hat, tauchen 
sie unerwartet wieder auf. Ich begnüge mich, an einigen Stellen der Origg. Liv. zu zeigen, 
mit welchem Unrecht man diese alten Districte wie moderne Kreise behandelte. Aus der 
bekannten Notiz XXIII, 7: «acceptis obsidibus de quinque provinciis Wironiae» sollte man 
folgern, «provincia» sei der District einer «terra» und für Estland gleichbedeutend mit Kile- 
gunden. Aus XV, 7: «Saccalensis provincia, quae Aliste vocatur», schliesst man somit 
auf eine «terra Saccala» und die Stellen XV, 1: «Saccalensis provincia vicinior», XV, 7: 
«Saccalensis provincia», XX, 2: «in Saccalam iam baptizatam convocantes ad se seniores 
eiusdem provinciae», lassen sich zur Noth so deuten, dass der Widerspruch vermieden wird, 
allein XX, 6: «iverunt in Saccalam et acceperunt seniores eiusdem provinciae sibi duces» 
gestattet keinen Zweifel: hier ist offenbar die terra Saccala «provincia» genannt. Dieselbe 
Flüssigkeit der termini verräth sich in XX, 2: «provinciam Harrionensem» und daneben 
«provincias illius terrae» und XXIV, 2: «provincias Harrionenses», ferner XX, 6: «provin- 
cias regionis illius (Gerwen)» und XXIII, 6: «seniores eiusdem provinciae Gerwanensis» ff. 
— Und, wie mit der Bezeichnung der Districte, so ist es mit ihrer Benennung. Eine Karte, 
auf welcher die Districtsnamen der Origg. in fixen Grenzen verzeichnet stehen und die vom 
Annalisten beschriebenen Züge aus Landschaft in Landschaft sich verfolgen lassen, ist 
heute noch, trotz aller Versuche, ein ungelöstes Problem, das man nicht lösen wird, wol 
aber umgehen, sobald man die Grenzen flüssig macht und die Namen nicht nur neben, son- 
dern auch übereinander ansetzt. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 59 


Nicht ohne vorläufiges Misstrauen wird man darum die noch so willkommene Ueber- 
einstimmung der Origg. und des L. C. Fol. 41b. prüfen müssen, wenn jene von 5 Provin- 
zen Wirlands sprechen, dieser verzeichnet: «In Wironia У Kiligunde». Der Verfasser 
freilich hat sich von ihr leiten lassen, wenn er als Provinzen Wirlands ansieht: Repel, 
Maum, Alaetagh, Askalae, Laemund und wenn er gleichzeitig Lemmun Kyl. mit Schweigen 
übergeht: die topographische Prüfung hätte ihn vor der letzten Inconsequenz gewarnt. 
Und überdies ist um ihren Preis wenig gewonnen. Denn von den 5 Provinzen nennen 
die Origg. Liv. XXIV, 1 nur eine: «prima provincia, quae Pudymen vocatur», offenbar 
identisch mit XXIII, 7: «Pudurn», und diese gerade kennt der L. С. nicht. Um eine fixe 
Landeintheilung zu erhalten, rechnet der Verfasser sodann zu Harrien 3 Kylegunden und 
zugleich Parochien. Der Text weiss von jenen nichts und zählt nur Parochien auf. Es 
leitete dabei die Rücksicht auf Fol. 41b.: «Harriaen. III Kilig.», nur mussten dann conse- 
quenterweise auch in Wirland die Parochien, nicht die Kylegunden gezählt werden. Fer- 
ner sind ihm Uomentakae, Ocrielae, Repel Kylegunden von Repel in Anleitung von Fol. 
41b.: «In Reuaelae. III Kilig.», allein von der Ueberordnung einer Landschaft Repel über 
die genannten Kylegunden entdeckt man im L. C. keine Spur und es wäre in der That ein 
wunderliches «altes» System, wenn der Name Repel 1) eine eigne Landschaft; 2) eine Pro- 
vinz dieser Landschaft; 3) eine Provinz einer andern Landschaft (Wirland) bezeichnete. 
Gilt es, sich in Hypothesen zu bewegen, so hätte sich dem Verfasser vielleicht eine weni- 
ger gezwungne geboten, sobald er nicht das Land Reval mit dem J. 1238 streichen wollte. 
War nicht Revel etwa der alte, einheimische Name, in dessen Domäne erst mit der däni- 
schen Einwanderung, vielleicht schon in Veranlassung der wiederholten dänischen «Raub- 
züge» zwei andre Benennungen eindrangen, um ihn zuletzt fast zu verdecken, und sind 
nicht Harrien und Wirland dänische Namen? — Nicht minder befremden die Angaben: 
«Alaetagh mit der gleichnamigen Parochie»; — «Ascalae mit der gleichnamigen Parochie»: 
der L. С. erwähnt Parochien weder bei Alentakae, noch Askaelae. Es ist ein Zusatz des 
Verfassers um der Symmetrie willen. Das richtige Verständniss wird dadurch nicht er- 
zwungen und jeder weitere Schritt in dieses Labyrinth führt in neue Irrwege. Begnügt 
man sich mit unbefangner Vergleichung, so lässt sich nur ein ganz allgemeines Resultat 
wahrscheinlich machen: dass nämlich Fol. 41b. die Kylaegundae des übrigen L. С. nicht 
nur der Orthographie, sondern auch der Sache nach nicht kenne: dass die Kiligunden von 
Fol. 41b. vielmehr den Parochien des L. C. entsprechen. 


Fol. 41b. FC, 
Hakenz. Hakenzahl 
Wironia. 5 КП. 3000 Haeriae Par. Hacriz. 480 
Reuaelae. 3 » 1600 » Kolkis 407 
Harriaen. 3 » 1200 » Juriz 203 


Uoment. Kyl. » Keykel 486 


60 C. SCHIRREN, 
Hakenzahl 

Repel Kyl. Par. Jeelleth 431 

» Kusala 198 
Ocrielae Kyl. » Waskael. 269 
Repel Kyl. In Uiron. » Toruæstaeuæræ 508 

» Halelae 768 
Maum Kyl. » Maum 560 
Alentakae Kyl. 324 
Askaelae Kyl. 218 
Laemund Kyl. » Vov. 394 
Lemmun Kyl. 164 


Kilig.11. Hakenz.5800. Kylaeg.10(oder9). Paroch.11. Hakenz.5410. 


Allein, sobald man nun versucht, die Parochien, als den Kiligunden entsprechend, 
unter die Landschaften Wironia, Reuaelae, Harriaen einzuordnen, beginnen die Probleme. 
Zählt man von oben nach unten, so wird die Parochie Toruaestaeuaerae von der Land- 
schaft Reuaelae getrennt; verlegt man sich aufs Wählen, so ist kaum Aussicht, die rechte 
Wahl zu treffen. Dazu lehrt uns der L. C. selbst noch an einem Beispiele, wie vielfach 
die alten Benennungen waren, denn Fol. 48a. Z. 6—11 wird man sicher im Zusammen- 
hange so zu lesen haben: «In holki pothraeth, alio nomine: Ocrielae Kylaegund»; und die 
Versuchung «pothraeth» auf das Pudurn der Origg. zu beziehen scheitert nur an topogra- 
phischen Hindernissen. Es ist aber völlig eitel, unter allen diesen schwankenden Verhält- 
nissen an einer gelegentlichen Conjunctur einzelner Namen den Stempel eines bestimmten 
Jahrzehents erkennen zu wollen. Der $ 1 ist daher völlig zu streichen. 

Mit ähnlich lockern Verhältnissen beschäftigt sich der $ 2: Vertheilung des Grund- 
besitzes. Wie im $ 1 die Namen der Districte, so bildet in $ 2 die Hakenzahl die Grund- 
lage der Untersuchung. Nun wird die Hakenzahl verzeichnet sowol vom eigentlichen L. 
C., als von dem Vorblatt und endlich von einzelnen Randbemerkungen zum Texte. Die 
älteste Aufzeichnung glaubt der Verfasser in Fol. 41b. zu erkennen; sie gehört in das J. 
1225. Denn (S. 10) sie gedenkt bereits der Theilung Wegele’s, ist also jünger als 1224; 
andrerseits erwähnt sie der «fratres militiae Christi», gehört somit vor 1237. Nun aber 
drangen 1225 die Deutschen in Wirland ein; da die Aufzeichnung dessen nicht erwähnt, 
so fällt sie in die Jahre 1224, 1225. Dagegen ist einzwenden: Fol. 41b. gilt dem Ver- 
fasser als Notiz eines Privatmannes; da wenigstens dürfte das Argumentum a silentio nichts 
beweisen. Und warum sollte der Privatmann von der Vereinigung der Orden sofort er- 
fahren, nachdem sie vollzogen war? Konnte nicht die einst gewohnte Bezeichnung sich 
noch Jahre lang unter den Nachbaren erhalten? Mecklenburgische Urkunden und das Ze- 
hentregister von Ratzeburg hätten das dem Verfasser lehren können, und grade für die 


au ик Г 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 61 


«fratres militiae Christiv. Und aus dieser «Notiz eines Privatmannes» meint nun der Ver- 
fasser die Summe der Haken in Estland um 1225 entnehmen zu dürfen; freilich mit eigen- 
thümlichem Zugeständniss. «Bei allen folgenden Untersuchungen, sagt er (3. 67 Anm. 4) 
werde ich immer von dieser Zahl von 5800 Haken ausgehen». Es heisst nämlich Fol. 41b.: 
In Wironia — 3000 uncorum, — — Revaelae 1600; Harriaen 1200 unci. «Es versteht 
sich, dass dieselbe nur auf einer ungefähren Abschätzung beruhen konnte, und da- 
her nicht eine authentische ist — wie die auf wirkliche Abschätzung beruhende 
Zahlenangabe in der Landrolle. Für meinen Zweck aber ist auch die ungefähre 
Zahl zu brauchen, — da sie nur zu dienen hat, um den Unterschied zwischen der ganzen 
Ausdehnung des Landes und den um 1238 verlehnten Besitzungen darzustellen». Das 
heisst: es wäre höchst erwünscht, kennten wir die Gesammtzahl der Haken um 1225 und 
enthielte der L. C. die Gesammtzahl der 1238 verlehnten Haken; zwar hat um 1225 (oder 
irgend zu anderer Zeit) nur ein Privatmann die Hakenzahl und zwar nur so ungefähr ge- 
schätzt, allein um zu messen, wie viel von dem Gesammtbestande des Landes 1238 ver- 
liehen war, dazu reicht auch eine solche Notiz aus. Mit derart gewonnenen Daten darf 
eine gründliche Forschung nie operiren; der Verfasser hat das im Grunde gefühlt; daher 
die seltsame Wahl der Ausdrücke: «ungefähre Abschätzung», statt einfach: Schätzung, und 
«wirkliche Abschätzung» statt: Zählung. Sobald aber der Gegensatz so scharf präcisirt 
wurde, konnte von einer Benutzung der 5800 Haken nicht mehr die Rede sein. Warum 
scheute der Verfasser die Mühe, die Hakensumme aus dem L. C. zu ermitteln? Ich habe 
sie oben verzeichnet; die Differenz beträgt zwar kaum 400, allein es ist nicht das Ver- 
dienst der falschen Methode, wenn sie gelegentlich einmal nicht völlig fehltrifft. 

Gleich wenig glückt der Versuch, durch Vergleichung der Hakenzahl das relative 
Alter des L. C. und seiner Randbemerkungen zu ermitteln und aus der so ermittelten Re- 
lation wieder Rückschlüsse zu wagen. In der Randbemerkung Fol. 48a. wird die Summe 
der vom Orden dem König abgetretenen Haken zu 1895 angegeben und zwar sind 280 
ohne Localangabe notirt, sodann 15 in Laidus, 900 in Harrien mit Einschluss derer in 
Hetkyl, 400 in Wirland, 300 in Alentaken; zum Schluss heisst es: «et nunc habet Domi- 
nus Rex in Estonia septingentos et ХУП». Nun ermittelt der Verfasser aus der Land- 
rolle, zur Zeit ihrer Abfassung gehörten zu den Domänen nur noch etwa 830 Haken; 
daraus wird gefolgert: seit dem Vertrage von Stenby habe die dänische Krone «bereits 
über 1000 von den ihr unmittelbar gehörigen Haken zu neuen Verlehnungen oder geist- 
lichen Dotationen verwandt. Damit hatte es aber noch nicht ein Ende. Denn der Schluss 
obiger Randbemerkung lehrt, wie zur Zeit, als sie niedergeschrieben wurde, dem König nur 
noch 717 Haken blieben. Wann das der Fall war, ist jetzt zu bestimmen kaum möglich. 
Indessen lässt sich annehmen, die Randbemerkung sei nicht um vieles jünger, als die 
Landrolle selbst. Denn eine weitere, ähnliche Glosse besagt, der an dieser Stelle unter 
den Vasallen angeführte Dominus Eilardus besitze 176 Haken». Prüfen wir also zuerst 
die Tragkraft dieses «denn». 


62 C. SCHIRREN, 


Es heisst Fol. 50a. 


Denker ет. LH en 
ne gp. AL gm hanıayım. 
BRdale дих. ann rardla + voa 
алии. 


Е. 


Der erste Ansatz С et IX ist offenbar die Summe der dabei stehenden Besitzungen 
314+32+24+18+4—109. Die 40 Haken aber in Wirland finden sich Fol. 52a. 


Then Bateæ vx. Vonecflot immo eiları. 
Wksud. Земиие wi 
Para. 


Nämlich 20-+16-+4=40. So vergebens man nun endlich in Harrien nach den 27 
Haken sucht, die einem Dominus Eilardus verliehen wären, so drängt sich doch sofort 
jene bedeutsame Stelle auf, Fol. 47b. 


Mana af. 
Sir ноет «ее ge ira ре. 


Dem Verfasser war es bereits aufgefallen, dass in jener Randbemerkung еше so be- 
sondre Theilnahme für den Besitz des Dis Eilardus sich aussprach; er vermuthet daher 
S. 69 Anm. 1: «Vielleicht hatte die Aufnahme der Landrolle unter seiner Aufsicht Statt 
gehabt» und nennt ihn «eine bedeutende Persönlichkeit.» Bei näherer Prüfung hätte der 
Verfasser manchen Schritt weiter gethan. Ich werfe jetzt die Frage nicht auf, wie den 
Besitzer von Uianra etc. die «officielle Landrolle» mit «nos», die Randbemerkungen mit 
seinem Namen bezeichnen mochten. Es handelt sich zunächst um die Zeitbestimmung. 
Da ist es nun auffallend, dass nicht alle Besitzungen des Du Eilardus summirt sind. 
Schon zu der Gruppe, welcher die Randbemerkung unmittelbar angefügt ist, gehört wahr- 
scheinlich noch, wie ich später erweisen werde, «Paeitis XVII.», sodann verzeichnet die 
vorangehende Seite «Dominus Eilardus. Lopae. VII. Apur. VD. Verzichten wir пра 
auch auf den «Dominus Heilardus. Pickuta IX». auf Fol. 43a., und bleiben Fol. 44b. 
«Heilardusw, 45b. und 53Ъ. «Eilardus» und, wie sich am ehesten versteht, Fol. 46a. «aua- 
rissimus Eilar dus» bei Seite, ja opfern wir endlich noch «Paeitis», so haben wir immer noch 
die 14 Haken von Fol. 49b. dem Оз Eilardus zuzuschreiben. Dagegen sind ihm die 40 
Haken in Wirland zwar angewiesen, aber der L. C. bringt sie zugleich in Beziehung zu 


Sn > rn 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSus DANIAE. 63 


Thid. de Kyuael. Berücksichtigt man ferner, wie der Schreiber der Randglosse das «nos» 
des L. C. durch einen Namen ersetzt, so begegnen sich nun drei widersprechende Folge- 
rungen: 1) der Glossator mag seine Notiz vor Abfassung der Landrolle verfasst haben: er 
verzeichnet die 40 Haken in Wirland, die später an Thid. v. Kiwel fallen; er kennt 
noch nicht die Belehnung des Dus Eilardus mit 14 Haken auf Fol. 49b.; oder 2) er zog 
seine Summen, während er zerstreute Notizen zur «Landrolle» verband; 3) er trug in die 
bereits vollendete Liste früher oder später, doch immer noch zu einer Zeit, wo er das «nos» 
zu deuten wusste, entweder nach fremder Angabe oder nach eigner, nachlässiger Summi- 
rung, seine Glosse ein. Möglich ist eins, wie das andre. Schwerlich aber steht eine der 
drei Möglichkeiten der Gewissheit so nahe, dass aus ihr Folgerungen gestattet sind auf die 
Zeit der zweiten Randbemerkung. 

Ich beschränke mich daher auf folgende Bemerkungen. Der Verfasser ermittelt aus 
der Landrolle einen königlichen Besitz von c. 830, nach meiner Zählung sind es gegen 
1050 Haken; freilich nach dem Facsimile und nicht nach Pauckers Ausgabe. Dazu aber 
kommen nun vielleicht noch in Repel Par. Fol. 46a 26 vom L. C. ohne Angabe des Be- 
sitzers verzeichnete Haken, in Par. Halelae ebenso 170 (Fol. 50b.); in Par. Maum (Fol. 
50b.) 49 Haken, zusammen 245, so dass die Gesammthakenzahl des königlichen Landes 
nach dem L. C. fast 1300 betrüge. Zwar behaupte ich durchaus nicht, all jenes herren- 
lose Land sei des Königs gewesen; allein das Gegentheil vermag der Verfasser nicht zu 
beweisen und doch sind ohne diesen Beweis seine Deductionen illusorisch. Ferner besass 
der König zwar in Harrien 900 Haken, allein mit Einrechnung derer in Hetkyl; wir wissen 
aber nicht, wieviel in Hetkyl lagen; im L. C. wird es nicht verzeichnet und wollte man es 

»durch Namensanklang nachweisen, so wäre das Resultat im besten Falle hypothetisch. Von 
den notirten 280 meint der Verfasser, sie hätten in Ocrielae Kyl. gelegen, allein im L. C. 
zählt das ganze Kylagund nur 269, davon 222 dem König gehören. Endlich, was heisst: 
717 Haken in Estonia? Der Verfasser zwar behauptet S. 272, man habe die beiden 
Landschaften Harrien und Wirland «officiell» als Estland bezeichnet; nur werden die Be- 
lege vermisst. Zwar im Vertrage von Stenby heisst es: «ЦеуаНа et Gierwia et Wironia 
et Hargia, quae omnia sunt in Estonia»; also schon mit dem bedenklichen «officiellen» 
Einschluss von Jerwen; allein ich finde, dass Estonia ebenso oft und auch «officiell» Har- 
rien mit Ausschluss von Wirland bedeute; cf. Livl. Urk. 165, a. 1240: «Ericus — om- 
nibus Estoniam, Wironiam et Gerviam inhabitantibus»; somit gleich nach dem Vertrage 
von Stenby, und im J. 1266 erhält Königin Margaretha (Livl. Urk. 395) «omnes terras 
Estoniae et Wironiae», und 1298 heisst es Livl. Urk. 573: «vasalli nostri — in Estonia 
et Wironia constitut. Man sieht, wie die «officielle» Consequenz nicht eben gross ist und 
wie manche Unklarheit, mancher Widerspruch zu beseitigen sind, ehe Schlüsse gestattet sind, 
wie diejenigen, auf welche der Verfasser seine Hypothesen gründet. Es ist bei Behandlung 
alter Zeiten und Verhältnisse gefährlich, einzelne Merkmale zu einem System zu gruppiren 
und nun in dieses System auch widerstrebende oder höchst schwankende Angaben zu ver- 


64 C. SCHIRREN, 


weben. Der $ 2 hat die Untersuchung wenig gefördert, so weit er die Hakensummen be- 
handelt; sein übriger Inhalt findet später die Erledigung. 

Bevor ich mich nun zur Prüfung der eigentlichen Grundstützen eben dieses Systems 
wende, hebe ich aus den folgenden $8., die dann erst ihre Berücksichtigung finden werden, 
zwei Fragen zu kurzer, einleitender Behandlung hervor. 

Die erste betrifit den $ 3 und die Vertriebenen und Entfernten. Woher zunächst die 
verschiedene Bezeichnung? Der Verfasser meint, die Entfernten wären gutwillig gegangen. 
Allein der Ausdruck «expulsus» lässt durchaus nicht einzig auf gewaltsame Entfernung 
schliessen; cf. Liber Don. Mon. Sor. (S. R. D. IV, 503): «Quidam vero Joh. dictus Co- 
quus — intravit per iudicia iniusta, tam ecclesiastica quam forensia et eiectis So- 
rensibus nostris, occupavit ea detinuitque». Eher liesse sich an eine Parteinahme für die 
«expulsi» denken, während die «remoti den Schreiber nicht kümmerten oder gar feind- 
licher Partei angehörten. Allein neben andern Bedenken verhindert diese Erklärung der 
Umstand, dass der DW Engelardus, obzwar in verschiedenen Distrieten einmal «expul- 
sus», einmal «remotus» genannt wird. Mir scheint die Erklärung einfach in der Ueber- 
setzung zu liegen: «remotus, versetzt. Der Verfasser selbst spricht gelegentlich von Ent- 
schädigungen, welche der Orden einigen Vertriebenen in Jerwen zuweisen mochte. So oft 
пал und sofern Vertriebene irgendwo durch ein Aequivalent von Land entschädigt wurden, 
hätten sie «remoti» gehiessen, im andern Falle «expulsiv. Weiter folgert der Verfasser 
aus dem Verzeichniss der «expulsi und remoti»: die Verhältnisse wären sehr verschieden 
gewesen in Harrien und in Wirland. In Harrien sind 15 Vasallen gewaltsam in ihren Besitz 
gekommen, in Wirland nur 6 an die Stelle früher Vertriebener, nur einer an die Stelle 
Entfernter getreten. Noch grösser ist der Unterschied in Betreff der Vertriebenen. «Im 
Harrien tritt gewöhnlich an die Stelle von 5 oder 6 Vertriebenen oder Entfernten nur ein 
neuer Vasall. In Wirland gestaltet sich dies ganz anders, indem hier überhaupt höchstens 
8 solcher, früherer Besitzer genannt werden». Der Verfasser ist lange nicht genug in das 
Detail dieser Verhältnisse eingegangen. Ich werde später auf die Gegensätze im Land- 
besitz in Harrien und Wirland zurückkommen. Welche tiefbegründete Differenz aber setzen 
die folgenden Relationen voraus: In den ersten drei Parochien Harriens kommen auf 1 Be- 
sitzer von Land, das Ändern genommen ist, gegen 3 Vertriebene, gegen 3 (rüter und über 
277, Haken; in Wirland nur 1”, Vertriebene, etwa 1'/, Gut, 25, Haken; — dagegen auf 
einen Vertriebenen in Harrien noch nicht 1 Gut, c. 91). Haken; in Wirland gleichfalls 
nicht ganz 1 Gut, allein fast 18 Haken. Also nicht nur die Zahl der Vertriebenen ist ver- 
schieden in beiden Landschaften: ihr Landbesitz ist in beiden ein andrer gewesen. Dem 
Verfasser ist das entgangen; er hat also auch keine Antwort darauf. Und ebenso ohne 
Lösung bleiben andre Probleme. War wirklich der Vertrag von Stenby die Veranlassung 
eines von oben her, oder gar nach Vereinbarung bewirkten Besitzwechsels, so ist schwer 
zu begreifen, wie bei den Gütern des Königs nicht ein «expulsus», nicht ein «remotus ver- 
zeichnet wird, obwol Güter genug «absque rege», eines selbst «contra regem» besessen werden. 


SE a 
> 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 65 


Nun liesse sich allenfalls einwenden, beim König bedurfte es der Angabe eines Besitztitels 
gar nicht, natürlich vom Standpunkte des Verfassers. Allein, wie erklärt sich, dass auch 
auf den nächstreichen Grundbesitzer auf Thid. de Kivael nicht ein «expulsus», und nur 
ein, oder, wenn man will, doch ein «remotus» fällt und zwar im wirischen Вере], während 
er auch im harrischen Repel Besitzungen hat. Ihn zu den Deutschen zu zählen, hilft we- 
nig, denn er hat doch einen «entfernt». Zur Uebersicht der wichtigeren in Frage kom- 
menden Verhältnisse verweise ich auf Tafel III und, indem ich mir die Antwort noch vor- 
behalte, knüpfe ich an die erste zum Vorspiel die zweite Frage: Erklärt sich nicht etwa 
der Unterschied der «expulsi» und «remoti», der Unterschied des Landbesitzes in Harrien 
und Wirland durch wesentlich verschiedene Besitztitel? $ 5 hat, fast ohne die Frage zu 
würdigen, mit Nein geantwortet. Leider kann grade die Prüfung von der Berechtigung 
dieses Nein nur auf weiten Umwegen ans Ziel führen. Zum Glück geht dabei der Weg 
mitten durch die grössere Hälfte der Studien; den Nachtheil wiegt ein Vortheil auf und 
mit dem Urtheil über des Verfassers altes, estnisches Lehnssystem vollzieht sich zugleich 
das Urtheil über die Anfänge der Geschichte von Harrien und Wirland. 


Mémoires de l'Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 9 


66 C. SCHIRREN, 


П. Kritik der Auffassungen des Verfassers vom dänisch-estnischen 
Behnssystem, von den kirchlichen Dotationen und den Enfeuda- 
tiones decimarum. 


Es ist gefährlich, gesellschaftliche und politische Institute nach einem fixen Begrift 
zu messen, der ihnen besten Falls zukommt erst in den Stadien der Reife. Meist entwickeln 
sie sich aus unscheinbaren Anfängen und, was sie später specifisch kennzeichnet, ist ihnen 
nicht immer eigen gewesen. Je natürlicher zudem ihr Grund, um so mehr gehören sie 
verschiedenen Ländern eigenthümlich an und durchlaufen in den einzelnen oft zu gleicher 
Zeit verschiedene Phasen. Dies gilt auch vom Institut des Lehnwesens. Die Vertraut- 
heit mit dem Namen hat oft die Einsicht in die Sache verdorben. Seine Stadien aber be- 
zeichnet schon eine der ältesten Aufzeichnungen des Lehnrechts, der «Liber feudorum», in 
gedrängten Zügen, wenn es heisst Г. Е. 1, $ 1 «Antiquissimo enim tempore sic erat in 
Dominorum potestate connexum, ut, quando vellent, possent aufferre rem in feudum a se 
datam. Postea vero eo ventum est, ut per annum tantum firmitatem haberent. Deinde 
substitutum est ut usque ad vitam fidelis produceretur. Sed cum hoc jure successionis ad 
filios non perveniret, sic progressum est, ut ad filios deveniret etc. etc.». Diese Erörterung 
lehrt uns vier Stadien kennen, zwei ziemlich rudimentäre, so dass das eigentliche Lehnsy- 
stem begründet erscheint erst mit dem dritten. Nun lässt es sich erweisen, dass zu jener 
Zeit des XIII. Jahrhunderts, da das deutsche Lehnwesen aus dem dritten Stadium bereits 
überging in das vierte Stadium, in Dänemark das System erst noch zwischen den beiden 
rudimentären Phasen schwankte und anscheinend zuerst in Estland unter dem deutschen 
Einfluss, der später ganz Dänemark ergreifen sollte, hinüberlenkte gegen das dritte Sta- 
dium. Darin liegt das hohe Interesse der harrisch-wirischen Entwickelung auch für die 
Geschichte Dänemarks und für die Geschichte des Lehnwesens im Allgemeinen. Es ist 
von Nachtheil gewesen für die Darstellung in den «Studien», dass der Verfasser diese Ver- 
hältnisse nicht deutlich erkannt hat und es wird meine Aufgabe sein, zu zeigen, wie sich 
von diesem ihm unbekannten Standpunkte die älteste estnische Geschichte wesentlich an- 
ders und lebendiger gliedert, als in seiner schematisch-gekünstelten Auffassung. 

Seit langem hat man gestritten, ob Dänemark ein dänisches Lehnwesen besessen. 
Zum öftern hat die herrschende Ansicht ihren Umschlag erfahren. So gross die Ehrfurcht 
Schilters vor dem urfeudalen Skandinavien gewesen war, gegen «die sächsischen Doctoren 
des Rechts», sollte erst wieder Kofod Ancher das Gesetzbuch des heil. Olaus, die Hird- 
skraa, in die Schranken rufen mit dem nackten Ausspruch c. 13: «thui at hans erge og 
odal er alt landet: nam eius (regis) possessio et allodium est tota terra». Der kühne An- 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 67 


lauf freilich brach noch vor dem Ziele zusammen. Gegenüber der grossen Rechtsfiction 
von с. 13 stellte sich in с. 4 die nüchterne Scheidung von des Königs «Erfe Eiguer» und 
den «Kongdomsins jarder» und das angekündigte System scheiterte an der Wahrnehmung, 
wie die Lehnsmannen vom ersten bis zum letzten, bis auf den «ridder» und «gest», Löhnung 
(stipendia) erhielten oder, wenn ausnahmsweise Land, so nur in einem jedem Amt ste- 
hend zugemessenen Markwerth; cf. Ancher, Оризес. minora. 1775. р. 3—26. In 
seinem Dänischen Lehnrecht hat Kofod Ancher das rechte Maass des dänischen Lehn- 
wesens gewissenhaft niedergelegt für Jeden, der es gewissenhaft zu verwenden wüsste. Ist 
es doch schon bezeichnend, dass die königlichen Prinzen frühe die Herzogthümer, welche 
durch königlichen Willen an einen ihres Geschlechts kamen, wie erbliche Alode hielten 
und noch unmittelbar nach Waldemars II. Ableben Erbtheilungen, mit Prinzenhader im 
Geleite, das dänische Reich bedenklich erschütterten, $$ 15—20. Der eigentliche Lehns- 
mann aber war ein Königsmann, oder besser ein königlicher Beamter, $ 53. Nach däni- 
schem Recht kam Keinem das «dominium utile» zu: von seinem Lehn genoss er nur voraus- 
bestimmte Früchte; den Rest hatte er dem König in Rechnung zu stellen. Im günstigsten 
Falle umfasste die Belehnung ein Menschenleben: weit überwogen die Gnadenlehne, welche 
der König nur darum vor Ablauf von Jahr zu Jahr nicht einzuziehen pflegte, damit der 
Lehnsmann zuvor zum herkömmlichen Jahrestermin Rechenschaft ablegte von seiner Ver- 
waltung $ 49. Und 59 räumt offen ein, das dänische Lehn sei andrer Natur gewesen, 
als die Lehne im Allgemeinen, mit denen es am Ende gemein hatte nur dies: dass es den 
Belehnten zur beschränkten Nutzniessung von Lehnsgütern berechtigte gegen genau nor- 
mirte Leistungen oder Dienste. 

Die Nachfolger übersahen diese Thatsachen und hielten sich nur an die Scheinmerk- 
male, aus welchen auch Ancher den Ursprung eines einheimischen Lehnsadels hatte her- 
leiten wollen. So setzt Tyge Rothe, Nordens Statsforfatning I, 207 ff. den Anfang des 
Lehnwesens in Kanut des Gr. Zeit, der über ein grosses Heer verfügen wollte und darum 
viele Kriegslehen austheilte und er beruft sich auf das Vederlags rett: «operae pretium 
duxit statuere, ut rex s. princeps stipendia militibus suis subministraret», worauf nur un- 
mittelbar folgt: «ut illi, censu stipendario percepto, — — omnimodis fideles existerent». 
Dass «stipendium» seit jener Zeit nicht mehr Lohn, sondern Lehn bezeichne, behauptet frei- 
lich Vedel Simonsen, Adelshist. p. 125. Allein der Irrthum ist überzeugend aufge- 
deckt worden von N. M. Petersen. Bonde, Bryde og Adel in den Annaler for Nord. Old- 
Kvndighed. 1847. p. 223—327. Nirgends spricht das Vederlags rett von Landanweisung 
an die Heermannen (hærmænd); wo Land erwähnt wird, da kommt es ihnen eigen zu und, 
was sie vom König erhalten: das Stipendium, bedeutet nach wie vor Löhnung; denn über- 
all setzt für das «stipendia» der lateinischen Uebersetzung der Originaltext des Vederlag 
тез: «mäle»; «те» aber ist nur Sold, «mälamenn» sind Söldner; den englischen Chronisten 
sind daher gleichbedeutend die «danici huscarli, stipendiarii, solidari und jene «stipendia» 
heissen bei ihnen «danegæld». Den schlagendsten Beweis endlich — von tiefgreifender 


* 


68 С. SCHIRREN, 


Bedeutung namentlich für die Zeit Waldemars und darum für die estnische Geschichte — 
bietet eine Stelle des Jyske lov 3,6: «Hvar thær kunungs mæn aeræ æthæ biskups, hvat 
aældær the have et bo ethæ fleræ, Ва æræ the skyldughæ at havæ fullæ vapn, ok faræ 
i lething à theræ eghen kost, ok takæ theræ mäle» «Des Königs Mannen oder des Bi- 
schofs, mögen sie einen Hof (bo) besitzen oder mehrere, sind verpflichtet, vollgerü- 
stet und mit eigner Zehrung auszuziehn; dafür erhalten sie ihre Löhnung». Ich con- 
statire vor Allem, dass die «Kunungs mæn», die homines regis noch zur Zeit des jütischen 
Gesetzes im Sold des Königs standen. Ob sie Land besassen und wieviel, kam nicht in 
Betracht. Gelegentlich hatten sie welches vom König, allein als eigen und nicht zu Lehn. 
Der König, wenn er Anhänger suchte, verschenkte von seinem Lande; war es ihm nicht 
minder um Geld zu thun, so verkaufte er; verlehnt hat er in alter Zeit selten, cf. Saxo 
Gr. ed. Müller. p. 711 über Svend Grade: «regios vicos complures comparandi sumtus 
gratia venditabat». «Kongens mand» wurde Niemand um Landbesitz: nur um den Schutz 
und die Rechte zu erwerben, die mit dieser Stellung verknüpft waren. Die Königsmannen 
zwar bildeten frühe eine Art Adel, aber weder einen Erb- noch Lehnsadel; sie waren ge- 
adelt durch ihr Amt. Jeder Bonde, jeder freie Odalbesitzer konnte Heermann werden; 
allein jeder Heermann, sobald ihm der kostspielige Kriegsdienst zur Last wurde, nicht min- 
der wieder Bonde. Daher noch geraume Zeit nach Erlass des jütischen Gesetzbuchs kein 
Rückfall von Lehnen nach des Lehnmanns Tod an den König, denn Lehn ist im 
jütischen Gesetze stets nur das Amt, welches der König überträgt. 

Nicht anders verhält es sich mit dem Institut der «styreshavne», welches seit Huitfeld 
als Mannlehn ist missdeutet worden, zunächst in Anleitung irrthümlicher Etymologie, denn 
bei der Uebersetzung mit «Steuermannsgut» verwechselte man «styris» mit «styrir» und «hafn» 
(schwed. hamn, isl. höfn) mit hafnæ». «Styreshafnæ» bezeichnete ursprünglich wol den Platz 
am Steuer, sodann das Amt, endlich den Küstenbezirk, der ein «havne» ausrüstete, wie denn im 
XV. Jahrhundert «styreshavne» übersetzt wird mit «navigii officium». Die königliche Löh- 
nung für dies erbliche Amt bestand in Korn; in Schweden auch in Geld: daher im Sö- 
dermannalag: «styremans pæningæ». Von Landbelehnung ist abermals nicht die Rede. 
Wol war auch der Steuermann ein Adelsmand; er sollte ein Pferd und volle Rüstung 
haben; er besass wol oft mehrere Höfe, allein nicht als Lehn vom König: es war sein Alod. 

Ein genuin dänisches Lehnwesen dagegen mochte sich etwa nur aus der Stellung der 
Verwalter königlicher Güter entwickeln. Doch waren die «bryden» vor Allem Amtleute des 
Königs. Sie übten königliches Recht, aber es war ihnen nicht zu Lehn übertragen; sie 
hatten keine Jurisdiction über die Untersassen; sie verwalteten des Königs Güter, ohne 
eins zu besitzen; wie der König mochte jeder bonde sich seine bryden wählen. Selbst wo die 
Vögte und Amtleute (die officiales) Amtsgüter erhielten (officialgaarden), da schalteten sie mit 
diesen etwa nur, wie der Pfarrer mit seiner Würde. Erst allmälig entwickelten sich aus dieser 
Stellung die beschränkten Lehnverhältnisse, auf welche die citirten $$ aus Anchers Lehn- 
recht deuten. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES [лвеВ CENSUS DANIAE. 69 


Der rechte Lehnsadel aber tritt auf, erst als die Seerüstungen eingehen und das In- 
titut der «styreshavne» verschwindet, vorzüglich zu Christophs II. Zeit. Da zeigt sich 
die mächtige Wirkung des deutschen Lehnwesens: vergebens suchen Waldemar Atter- 
dag und Margaretha den Strom zu hemmen. Seit 1326 ist der Umschlag entschieden, 
seit jenem Lehnsbriefe, in welchem der «schleswigsche» Waldemar Ludwig Albrektsen 
und dessen Erben in Amindsyssel und Jellingsyssel sammt allen königlichen Gerechtsamen 
bedachte. Vor jenem Jahr sucht man nach ähnlichen Briefen, in dänischen Diplomatarien 
wenigstens, vergeblich. 

Nur in Estland hat sich der Umschwung längst schon vollzogen; das dänische System 
ist völlig dem deutschen erlegen und in diesem Vorgang liegt eine der weitergreifenden 
Bedeutungen harrisch-wirischer Geschichte. 

Dem Verfasser ist dieser Process entgangen, weil er nichts gemerkt hat vom Gegen- 
satz, auf den er sich gründet. Erfüllt sich aber ihm die älteste estnische Geschichte fast 
ganz von der Wirkung deutschen Lehnwesens, so hat eine nüchterne Prüfung nach den 
Spuren dänischer Institute zu suchen, so frühe diese untergegangen sein mögen im unglei- 
chen Ringen. Am meisten nun kennzeichnet das dänische System der «Kunungs mand». Nach 
den «homines regis» fragen wir darum zunächst in estnischen Urkunden. «Homines» wenig- 
stens treten uns sofort entgegen, mit verschiedener Stellung und sehr verschieden gedeutet. 
In den «Studien» selbst spielen sie ihre Rolle und wir prüfen ihre Bedeutung. Vor Allem 
ist der Beweis zu führen, dass in den Urkunden unter «homines» nie schlechtweg Vasallen 
verstanden werden. Eines Beweises sollte es freilich nicht erst bedürfen; allein da die 
Urkunde, auf welche es am meisten ankommt, selbst von einer Autorität anders gedeutet 
ist, als sie verlangt, gedeutet zu werden, so muss ich den Umweg wählen. Man liest näm- 
lich in Bunges Geschichtl. Entwickelung der Standesverhältnisse in Liv-, Est- und Kur- 
land. 1838., wie folgt: I, $7 Anm. 46 «Wo ein ritterbürtiger Vasall Mann genannt wird, 
da lautet der Plural immer Mannen, nicht Leute und im Lateinischen wird von ritter- 
bürtigen Vasallen nie der Ausdruck homo, homines, sondern vir, viri gebraucht»; dagegen 
II, $ 4 Anm. 44 «Im Plural Mannen, zuweilen aber auch Leute, z. В. in der Urkunde 
Christians I. v. Dänemark, a. 1252: «unsern Lüden in Reval und Wesenberg besittlich», 
endlich II, $ 4 Anm. 46: «Der lateinische Ausdruck vir ist bezeichnender als der deutsche 
Mann, denn der letztere wird auch von Unfreien gebraucht, ersterer aber nicht, indem 
statt dessen homo vorkommt». 

In Urkunden, die Estland betreffen, werden nun unter «homines» zunächst ohne Zwei- 
fel Unfreie oder Untersassen verstanden in folgenden Stellen: Livl. Urk. 270, a. 1254. 
Vergleich des Bischofs Thorkill von Reval mit dem Convent von Dünamünde: «— Nobis 
autem et hominibus nostris de Sagentake — — — similiter hominibus de Raseke — 
— homines ipsorum», ganz wie in der Urkunde der Markgrafen Johann und Otto v. 
Brandenburg, a. 1238. Livl. Urk. 161: «homines illos — qui villas incoluerint — — 
nulli etiam hominum liceat piscariv, und in der Urk. des Capitan. Saxo über einen Grenz- 


70 C. SCHIRREN, 


streit, Livl. Urk. 299, a. 1257: «homines ipsorum, qui morantur in Padiw. Dieselbe 
Bedeutung hat das Wort in Dänemark; so heisst es, wol der wörtlich vorgebrachten Bitte 
des Klosters Sora entsprechend, in einer Urk. Gregors IX., a. 1234 bei Thorkelin, I, 
124: «hominum ad vestrum servitium commorantium», und in der Vereinbarung des 
Bischofs von Roeskilde und der Bürger von Kopenhagen, a. 1254 bei Thorkelin, I, 197 ff. 
mit bedeutsamer Unterscheidung: ohne Einwilligung des Bischofs dürfe weder die com- 
munitas, noch ein Bürger etwas veräussern, versetzen, vertauschen «Principi aut militi vel 
homini Dominorum qui vulgariter dicitur Herræmæn». Noch deutlicher spricht sich 
die Scheidung von «vasalli» und «homines» aus in Livl. Urk. 519,a. 1287, wenn die lübischen 
Sendboten berichten, wasOdwardus de Lode ihnen gemeldet: «ipsis dedi litteras ad va- 
sallos, qui homines suos pro praedictis bonis miserant». 

Ich bleibe hier einen Augenblick stehen, um mit Hilfe dieser Zeugnisse dem Verfas- 
ser ein erstes, bedenkliches Missverständniss nachzuweisen. Ich finde es dort, wo er das 
Verhältniss des Ordens zu Wirland bespricht, wo er den Orden nach einem unabhängigen 
Besitzthum streben lässt, so dass Volquin den Kaiser angeht um Aufnahme in des Reiches 
Schutz für den Orden und «dessen Vasallen» (homines suos) 3. 213, und, wo es dann wei- 
ter $. 214 heisst: «Aber die Mannen (homines) des Ordensmeisters, unter denen nur die 
harrisch-wirischen Vasallen verstanden sein konnten, sind in der Kaiserlichen 

vesolution nicht genannt. Ja, dieselbe zählt sehr sorgfältig alle dem Orden garantirten 
Landschaften auf, lässt aber Harrien, Repel und Wirland aus, Jerwen allein neben den liv- 
ländischen Landestheilen aufführend». Daran knüpfen sich dann Folgerungen über den 
Umschlag der kaiserlichen Politik, über den überhandnehmenden dänischen Einfluss und 
über den grossen Verlust des Ordens. Leider sind die Folgerungen alle illusorisch, nur 
weil das eine Wort «homines» gründlich missverstanden wurde. In eine einfache Stelle ist 
dadurch eine höchst geschraubte Auffassung hineingetragen. Die betreffende Urk. 127 
nämlich resümirt anfangs die Bitte des Ordens: «supplicant, ut personam suam fratres et 
homines suos et successores eorum, cum omnibus bonis eorum ff.: sub protectione et de- 
fensione nostra et imperii recipere dignaremur», und darauf erfolgt der Bescheid: «Nos 
igitur — praefatum magistrum, fratres et successores eorum cum domibus, possessionibus 
et omnibus bonis suis ff. ff». Nun könnte man, falls es sich lohnte, annehmen, im Trans- 
sumpt wären an der zweiten Stelle die Worte «homines suos» durch ein Versehen ausge- 
fallen. Oder, wenn es so schwer fiele, die chomines» auf das zu deuten, was doch am näch- 
sten liegt, gäbe die ältere Urkunde desselben Kaisers Friedrich II. (Livl. Urk. 90, a. 
1226) eine Erklärung an die Hand mit der Stelle: «quia propter paganos vicinos valde ac 
prope se positos et pro speciali defensione quorundam hominum regionis illius de novo 
in Christo credentium benignitatis nostrae subsidium erat eis plurimum oportunum», wo 
unter den homines offenbar das Landvolk verstanden wird. Zugleich lehrt diese ältere 
Urkunde mit dem Passus: «memoratum magistrum et milites Christi, fratres ejus, ac suc- 
cessores eorum ff», wie auch in der spätern Urkunde die «successores» nicht auf die cho- 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANHAE. | TA 


mines», sondern auf den magister und die fratres zu beziehen sind. Endlich, dass zwarHeinrich 
der Sohn Friedrichs II. (Livl. Urk. 100, а. 1228) dem Orden den Besitz von Вере, Har- 
rien, Wirland und Jerwen zugestanden, würde um so wahrscheinlicher machen, dass ein 
solches Zugeständniss vom Kaiser selbst nicht ausgegangen war, so dass dieser dem Orden 
a. 1232 nicht mehr und nicht weniger bestätigt hätte, als schon 1226 in Urk. 90. Den 
besten Fingerzeig jedoch, was unter den «homines» des Ordens zu verstehen sei, bietet die 
Bulle Gregors IX. über die Vereinigung der beiden Orden (Mittheilungen VIII, 139) mit 
den Worten: «cum prefati mag. et fratres strenuam et famosam habeant in sua domo fa- 
miliam omni thesauro preciosius arbitrantem animam pro illo ponere, qui suam pro re- 
demptione fidelium noscitur posuisse», und, wenn so die homines des Ordens eben nur als 
das Ordensgesinde erscheinen, das wol mitkämpft und dient, ohne doch die Ordensregel 
angenommen zu haben, so wird in der päpstlichen Bulle die volle Analogie zum kaiser- 
lichen Schreiben auch darin gefunden, dass, ebenso wie in diesem die «homines», so die «fa- 
milia» im Eingange zwar erwähnt, in dem eigentlichen Vereinigungsausspruch selbst weiter 
nicht mit einer Silbe notirt wird. So sehr verstand es sich von selbst, mochte der Orden 
auch, um im vollen Genuss seiner Freiheiten zu bleiben, für sein Gesinde den Mitschutz 
der ihm verliehenen Privilegien erbitten, dass, was ihm zugestanden wurde, ohne weiteres 
sein Gesinde mitbetraf. Die homines also sind das Ordensgesinde und nicht die harrisch- 
wirischen Vasallen. 

Nachdem so ins Bewusstsein zurückgerufen, was unter «homines» zunächst verstanden 
werde, und zugleich nachgewiesen ist, wie in den Urkunden «homines» und «уазаШ» ausein- 
andergehalten werden, ist der speciellere Beweis zu führen, dass auch die «homines regis» 
unterschieden werden von den «vasalli regis». Am deutlichsten auch für den ganz Uneinge- 
weihten ergibtsich das aus Livl. Urk. 572, a. 1298, der Vereinigung des rigischen Capitels 
und des dänischen Königs gegen den Orden, wenn es heisst: «hominibus, quos idem do- 
minus rex ad hoc deputare seu nominare voluerit, ex parte nostrae ecclesiae in feudum 
dimittantur». Dadurch sollen, so lautet die Bedingung, die homines des Königs zu Vasal- 
len der rigischen Kirche werden und dieser den Lehnseid leisten; — «civitas etiam nostra 
Rigensis et castra — quaecunque rehabere poterimus ab ipsis fratribus, quocumque modo 
assignentur seu aperta sint advocato et hominibus ipsius domini regis ff. —— Vo- 
lumus — ipsa guerra ex toto sopita, cum ipso domino rege et ejus vasallis et fidelibus 
pacem et concordiam tenere». Dies Gelöbniss konnte sich natürlich nicht auf die «homines 
regis» beziehen, die Vasallen der Kirche werden sollten, allein ebenso wenig auf irgend 
welche «homines regis», sondern es geht ohne Frage auf die Vasallen in Estland. Und was 
jene «homines» waren, lehrt vollends die Gegenurkunde des Königs, Livl. Urk.573,a.1298: 
«ipsi Rigensi ecclesiae in auxilium homines nostros cum armis et dextrariis — mittere et 
cum ipsis et capitaneo ac vasallis nostris omnibus in Estonia et Vironia constitutis 
contra fratres — astare ecclesiae». — Dieselbe Unterscheidung kennt eine Urkunde der 
Königin Margaretha, Livl. Urk. 469, a. 1280: «Margaretha — omnibus hominibus 


72 C. SCHIRREN, 


et vasallis domini Regis per Revaliam constitutis», ferner eine Urkunde Königs Erichs, 
Livl. Urk. 475, a. 1281, in welcher die Vereinbarung des Bischofs und der Landbesitzer 
in Estland über den Zehnten und das Sendkorn (Livl. Urk. 467) bestätigt wird: «homines 
nostros ac vasallos, in Estonia existentes; — — homines nostri et vasalli; — Esto- 
nes, in terris praedictorum vasallorum nostrorum residentes»; so dass man sieht, wie 
für beide Gruppen zusammen eher der Ausdruck «vasalli», als «homines», gewählt wurde. 

Ist somit eine sehr deutliche Scheidung auch in königlichen Urkunden dargethan, so 
hat man nun überall, wo nur von «homines regis» die Rede ist, nicht Vasallen, sondern in 
königlichem Sold Stehende, ob nun Civil-Beamte oder Bewaffnete zu sehen und mir wenig- 
stens ist keine Urkunde bekannt, in welcher man gezwungen wäre, die chomines regis» auf 
Vasallen zu deuten. Zunächst kommen zwei Urkunden in Betracht, vom J. 1248 und 
1262. In der ersteren (Livl. Urk. 199) verleiht König Erich der Stadt Reval das lübische 
Recht: «ceterum volumus, ut si aliquisalium intra terminos civitatis volneraverit, utsu- 
per hoc secundum consilium consulum civitatis ac hominum nostrorum emendetur». 
Offenbar ist damit die Ausübung königlicher Vogtschaft gemeint. In der zweiten Urkunde 
(Livl. Urk. 370, a. 1262) schreibt Königin Margaretha: «Domino B. capitaneo ceteris- 
que hominibus domini regis, per Revaliam constitutis S. — Volumus, quatinus dilecti 
nobis fratres praedicatores terrae vestrae ortum, pascua et prata, quae pacifice possede- 
rint ab antiquo, — habeant et possideant». Dabei ist zubemerken, wie der «Capitaneus» zu 
den «homines regis» gehörig gilt, denn, obzwar einerseits Vasall, war er andrerseits könig- 
licher Beamter. Sodann wäre es eine eigenthümliche königliche Deferenz, wenn eine ganze 
Vasallenschaft aufgefordert würde, Leute in Besitz zu lassen, die der König belehnt hat. 
Dagegen ist der Fall sehr einfach, wenn es sich nur um die königlichen Beamten und das 
königliche Gesinde in Reval handelt: die «terra vestra» ist das königliche Gebiet in und nächst 
um die Stadt, soweit es von den «homines regis» zum Theil verwaltet, zum Theil in Pacht, 
zum Theil vielleicht in Lehn gehalten wird. Dass die Predigermönche aber bei der Stadt 
angesessen waren, lehrt zum Ueberfluss Livl. Urk. 382: sie hatten ihr «claustrum» und «or- 
tos» inReval und dazu ein «pratum, situm juxta stagnum regis». Aber auch abgesehen von 
dieser localen Berührung, werden in ähnlichen Fällen nicht die Vasallen, sondern nur die 
Beamten vom König instruirt; einen Beleg gibt Livl. Urk. 522, a. 1288, wo KönigErich 
in Anlass der Lehnsbestätigung für Lene de Scerembeke und deren Söhne anordnet: «pro- 
hibemus, ne quis advocatorum nostrorum vel eorundem officialium ff.», diese aber 
waren eben auch «homines regis». 

Andrerseits lässt sich der Nachweis führen, wie die eigentlichen Vasallen in Estland, 
wo von ihnen die Rede ist, entweder als «vasalli» oder in andrer entsprechender Weise 
bestätigt werden. Zu den Belegen, die bereits eingeschlossen liegen in den angeführten 
Urkunden, kommt aus früherer Zeit die auch sonst wichtige Urkunde Livl. Urk. 165, a. 
1240, in welcher Erich dem Bischof den Zehnten vom Zehnten zuerkennt. Die Urkunde 
ist, ihrer Tendenz gemäss, gerichtet sowol an die chomines regis», als an die Vasallen; daher 


4 


ec 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 73 


heisst es im Eingang mit Vermeidung der einen, wie der andern Bezeichnung: «Ericus 
— — omnibus Estoniam, Wironiam, Gerviam inhabitantibus S.», ganz wie im Livl. 


Urk. 459, a. 1278: «Ericus — — advocato suo Revaliensi, ceterisque Revaliam et 
Esthoniam inhabitantibus», oder Livl. Urk. 315, a. 1257: «Christ. — omnibus in Re- 
valia constitutis S» und Livl. Urk. 480, a. 1282: «Margaretha — dilectis sibi in 


Christo omnibus per Esthoniam constitutis». Im Verlauf der Urk. 165 aber werden 
die Einwohner Estlands näher angegeben: «Mandamus universis et singulis militibus, ca- 
strensibus, vasallis et feodatarii»; Suhm IX, 703 übersetzt: «alle Riddere, Hovedsmaend, 
Lehnsmænd og Vasaller»; die «homines regis» aber sind hier enthalten in den «milites» und 
castrenses. Häufiger wiegt der Ausdruck «vasalli» vor seit den sechziger Jahren, so Livl. 
Urk. 389, a. 1265: «Margaretha — dilectis dominis Odwardo de Looth, Heidenri- 
co de Bechshovede et Henrico, fratri suo, et Eggeberto S. — —»; sie sollen «cum 
cap. Reval. ac aliis vasallis filii nostri domini regis, qui vobis placuerint», die Grenzen 
von Stadt und Burg Reval ordnen und, was sie bestimmen, soll unweigerlich gelten; cf. 
dazu Livl. Urk. 513, a. 1287: «Agnes regina — viris honestis Dominis Odwardo de 
Lodoe ff. regis Daciae illustris vasallis fidelibus S.»; Livl. Urk. 512, a. 1287: «Agnes 
regina — Fretherico cap. ceterisque vasallis regiis Revaliae 5.» Zuweilen, wo nicht 
die ganze Gemeinschaft der Vasallen gemeint ist, kommt der Ausdruck «meliores» vor. 
Wie in Livl. Urk. 284, a. 1255 König Christoph I. den Revalern das lübische Recht 
verleiht «consilio meliorum regni nostri»; wie in Livl. Urk. 395, a. 1266 König Erich 
der Margaretha die Landschaften Estland und Wirland übergibt «de consensu et consilio 
meliorum regni», so heisst es nun auch speciell von Estland von Seiten des Königs im J. 
1260, Livl. Urk. 352: «constituti in presentia nostra et meliorum regni nostri meliores 
de Revalia» und in der Bestimmung Königs Erich Menved über die Getreideausfuhr vom 
J. 1297, Livl. Urk. 565: «nec, postquam carius emitur, huiusmodi prohibitio fieri debet, 
nisi ex consilio et consensu advocati nostri principalis, ibidem qui pro tempore fuerit, ci- 
vium Revalensium et terrae eiusdem meliorum». Im Lande selbst treten die «homines» 
vollends in den Hintergrund. In einer Grenzscheidung vom J. 1257, Livl. Urk. 299 er- 
klärt der Capit. Saxo: «Ordinata sunt haec coram vasallis Domini regis in Revalia»; so 
nennt der Bischof von Reval a. 1280, Livl. Urk. 467 die «regis vasallos», а. 1283, Livl. 
Urk. 487 die «nobiles domini nostri regis vasallos» und spricht 1281, Livl. Urk. 474 
von «vasallis illustris domini nostri regis, viris nobilibus»; — so heisst es Livl. Urk. 
491, a. 1284 in der Schutz- und Trutzerklärung des Bischofs und der Vasallen: «Joh., 
D. Gr. Rev. Ep., Consiliarii Domini regis Daciae per Esthoniam constituti, nec non et uni- 
versi vasalli terrae Revaliae; Livl. Urk. 337, a. 1259: «Universitas vasallorum suo- 
rum (des Königs) per Esthoniam constituta», sagen die Aussteller der Urkunde von sich. 
Ich habe diese Urkunde ans Ende gesetzt, weil man aus ihr versucht werden könnte, 
andre Schlüsse zu ziehen. Ich werde nämlich zeigen, wie die Aussteller nur einen kleinen 
Theil der estnischen Vasallen bildeten und zwar — wenn ich so sagen darf — eine dänische 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série, 10 


74 C. SCHIRREN, 


Partei. Dabei liesse sich dann etwa behaupten, es wären unter ihnen vorzüglich chomines 
regis» zu verstehen: so dass der spätre Ausdruck «vasalli» ganz gleichbedeutend an die Stelle 
des früher mehr gebräuchlichen «homines regis» getreten wäre. Der Name hätte somit ge- 
wechselt, nicht die Sache. Dagegen ist jedoch mehreres zu bemerken: einmal kommen, 
‘wie oben dargethan ist, noch in späteren Urkunden shomines et vasalli» neben einander 
vor. Sodann bezeichnet das Jahr 1252 für die Stellung der «homines», wenigstens eines 
grossen Theils, eine entscheidende Epoche: in dieses Jahr fällt nach meiner Ansicht der 
erste, bedeutende Sieg des deutschen Lehnprincips über das dänische System der Königs- 
mannschaft. Die Urkunde gehört zu denen, auf welche die bisherige Deduction hinge- 
arbeitet hat und in deren Deutung ich mich in einem entschiedenen Gegensatze zum Ver- 
fasser finde. 

Ich meine vorzüglich die Urkunden (Livl. Urk. 239, a. 1252), in welcher der König 
seinen «hominibus» ihre Güter nach Landrecht erblich überlässt, und aus früherer Zeit Livl. 
ОТК. 172, a. 1242, in welcher der König mit Zustimmung seiner «homines» dem Bischof 
eine fixe Abgabe von je 20 Haken zusichert, trotzdem dass «huic compositioni non inter- 
fuerunt quidam nobis infeudati». 

Durch Combination dieser Urkunden erhält der Verfasser seltsame Schlüsse. Das in 
Urk. 239 erwähnte Landrecht meint er für seine Hypothese vom Landtag a. 1228 be- 
nutzen zu dürfen und der eben notirte Schlusspassus von Urk. 172 muss ihm dienen, nicht 
nur die Grundzüge, sondern selbst einzelne Motivirungen des Waldemar - Erichschen 
Rechts in die Zeit des Vertrags von Stenby, zum Theil selbst auf das Jahr 1228 zurück- 
zuverlegen. Es ist dann begreiflich, dass an solche Annahmen noch weitere kühne Fol- 
gerungen sich reihen, wie von einem alten Recht der Vasallen über Hals und Hand, von 
einem alten wirischen Landrath u. dergl. m. Die richtige Deutung jener beiden Urkunden 
wird erleichtert durch eine Prüfung, wie weit zurück die urkundlich beglaubigten Spuren 
einiger dieser Institutereichen. Bezeichnend für die allmälige Entwickelung des Landraths 
sind zunächst die Urkk. 299(L. Urk. vol. III), 440a.,569a.u.a. In Urk. 299,a.1257 bestimmt 
der Capit. Sax o die Grenze zwischen dem Dorfe Athen (bei Thorkelin; Alten bei Bunge) und 
Padis mit der Bemerkung: «ordinata sunt haec coram vasallis domini regis in Revalia»; in 
Urk. 440a. v.J.1275 wird diese Grenzscheidung bestätigt vom Capit. Eylardus und unter- 
siegelt «sigillo nostro una cumsigillis aliorum dominorum presentium» (cf. Urk. 453a.: 
«nostro et aliorum fide dignorum militum atque clericorum sigillis ff.»); im J. 1298 endlich 
erfolgt in Urk. 569a. abermals eine Bestätigung durch den Capit. Eylardus, diesmal mit 
Zuziehung von 12 estnischen Vasallen, als «consiliariis domini regis in Esthonia». 
Im J. 1298 war also der Landrath entschieden in anerkannter Function. Allein factisch 
bestanden hat er vielleicht schon 1275: die erwähnte Urk. 440a. nämlich ist von 6 Va- 
sallen untersiegelt; führen sie nun auch nicht den Titel von königlichen Räthen, so hat 
man doch zu bedenken, dass von den verordneten Zwölf 6 aus Harrien, 6 aus Wirland ge- 
nommen wurden und dass die Grenzscheidung nur Harrien anging; endlich darf eine rück- 


BeiTraG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANIAE. 75 
wirkende Beweiskraft nicht ganz versagt werden dem Waldemar-Erichschen Recht $ 29 
(Ewers; Cap. 42, 1. Paucker), wo es heisst: «Wor de Rath nicht althe samende Is, wor 
er mher Is eyn, wen de helfte, de mögen Ordell steden». Eine andre Frage aber ist, ob 
1275 der Landrath bereits von Dänemark anerkannt war. Dagegen spricht schon die 
Nichtbezeichnung der Zeugen in Urk. 440a. als «consiliarii» und noch mehr entscheidet, 
dass bei den Händeln zwischen estnischen Vasallen und Lübeck wegen geübten Strand- 
rechts die königlichen Mahn- und Drohbriefe vom J. 1287 Livl. Urk. 512, 513 der «con- 
siliarii» durchaus nicht gedenken, während sie doch im nämlichen Jahre im Bericht der 
lübischen Gesandten erscheinen, Livl. Urk. 519: «assistentibus Consulibus terrae et 
vasallis domini regis Daciae, qui pauciores erant, quam nobis complaceret» und weiter: dit- 
teram ad dominum regem, quae fuit sigillis domini episcopi de Revalia, capitanei, consu- 
lum terrae et oppidi Revaliae sigillata». Die Versammlung der «consules terrae» aber wird 
auch gemeint sein, wenn die Vasallen, laut derselben Urkunde, hartnäckig festzuhalten 
entschlossen sind an der «jurisdietio terrae suae». Ich glaube, in Allem einen noch fortwir- 
kenden Gegensatz der Landeseinrichtungen mit den königlichen Regierungsprincipien er- 
kennen zu dürfen und dieser Spannung waren ähnliche Missverhältnisse lange schon vor- 
ausgegangen. Jedenfalls reichten urkundliche Spuren eines systematisch eingerichteten 
Landraths über das J. 1275 nicht zurück. Noch weniger wird das behauptet werden dür- 
fen von genau formulirten Sätzen des Waldemar-Erichschen Rechts. Es ist ein ent- 
schiedenes Verdienst des Verfassers, neuerdings Nachdruck gelegt zu haben auf den spe- 
cifisch deutschen Character dieses Rechtsbuchs. Er hat diesem Verdienste Abbruch gethan 
durch die Hypothese von einer förmlichen Vereinbarung im J. 1228 über gewisse Sätze 
des Lehnrechts. Zwar ein Landrecht hatte sich allmälig herausgebildet und allgemeine 
Geltung erlangt; nach urkundlichen Belegen bereits 1252. Das Bewusstsein davon spricht 
sich mit grossem Nachdruck im J. 1284 aus in dem Schutz- und Trutzbündniss der «vasalli 
terrae Revaliae», Livl. Urk. 491, wenn es heisst: «deinde in omnibus ius nostrum pro- 
prium quod a dominis nostris habemus secundum antiquas leges terrae nostrae ad 
invicem volumus communiter defensare et si etiam aliquis ipsas antiquas leges nostras 
et jus nostrum antiquum infringere attemtaverit compromisimus illud defendere una 
manu». Allein die wiederholte Berufung auf das «аз antiquum», trotz der Notiz «quod a 
dominis nostris habemus», lässt mit Wahrscheinlichkeit folgern: wenn überhaupt, so waren 
nur wenige Bestimmungen aufgezeichnet und bestätigt und man trotzte am meisten doch 
auf ein ungeschriebenes Landrecht. Der Verfasser hat denn auch keine andern urkund- 
lichen Spuren einer schriftlichen Abfassung, noch weniger einer totalen oder theilweisen 
Geltung des Waldemar-Erichschen Rechts für die Mitte des XIII. Jahrhunderts finden 
können, als eine höchst illusorische, wenn er aus Urk. 172 folgert, im J. 1242 habe sich 
ein nicht ganz unbeträchtlicher Theil der estnischen Vasallen am königlichen Hoflager be- 
funden. Die Veranlassung nun sucht er in der dänischen Restauration, wie der Vertrag 
von Stenby sie herbeiführte und er beruft sich dazu auf das Waldemar-Erichsche Recht, 


* 


76 С. SCHIRREN, 


nach welchem «bei einem Regierungswechsel im ersten Jahre nur 7 der Vasallen her- 
überschiffen sollte, um die Lehnserneuerung zu erbitten, im folgenden Jahre wieder Ha und 
ebenso im nächstfolgenden». Darin, meint er, «haben wir es ohne Zweifel mit einer Be- 
stimmung König Waldemars zu thun». «Selbst die Motivirung durch Hinweisung auf die 
stets drohende Gefahr von den Heiden, Litauern, Russen und Karelen, gehört wol dieser 
ersten Zeit. Ebenso deutet auf diese Anfänge die Verpflichtung der Vasallen, das Land 
gegen die Heidenschaft zu vertheidigen, ein Ausdruck, der in dem Umfange schwerlich im 
XIV. Jahrhundert noch gebraucht worden wäre». Es ist nicht leicht zu verstehen, was 
der Verfasser mit «dem Umfange» gemeint hat; sicher war es ihm bekannt, wie das ganze 
XIV. Jahrhundert hindurch und bis in die Mitte des XV. die Urkunden genug zu erzählen 
wissen vom Kampf gegen die Heidenschaft und was bedeuteten denn anderes die fortdau- 
ernden Kreuzpredigten? Da das Waldemar-Erichsche Recht von 1315 datirt ist, so 
wird es am Nachweis genügen, wie noch 1300 und im ersten Viertel des XIV. Jahrhun- 
derts dieselben Befürchtungen und Rücksichten bestanden, welche der Verfasser für das 
J. 1315 so sehr veraltet hält, dass er den $, der sich auf sie bezieht, nach 1240 zurück- 
zuverlegen unternimmt. Im J. 1300, Livl. Urk. 591, wird Reval vom allgemeinen däni- 
schen Interdict absolvirt aus folgenden Gründen: «Quum tamen civitas et dioecesis prae- 
dictae — ab antiquis finibus dieti regni non modicum distare noscuntur, positae sunt inter 
neophitos et plurimos etiam infideles — — cum praesertim ad id per Ruthenos, Ca- 
relos, Ingeros, Warthenos(Woten?) etLethuinos, qui sunt in locis circumpositae re- 
gionis, eos quasi iugiter impugnantes, quotidie impellantur ff». Als im J. 1303 König 
Erich seinem Bruder Christoph das Herzogthum Estland verleiht, da soll dieser es 
schützen gegen die Heidenschaft, mod de W christne oc andre Fiender», Huitfeld, I, 321. 
Im Livl. Urk. 632, а. 1310 soll Reval stärker befestigt werden, «quae quidem civitas tyran- 
norum satis patet insidiis crebrisque paganorum molestatur insultibus»; vergl. über die 
Heiden überdies Livl. Urk. 616, 630; Regg. 713, 737 und vor Allem Livl. Urk. 680, a. 
1321, wo König Christoph die estnischen Vasallen auffordert, binnen zwei Sommern zur 
Huldigung herüberzukommen, mit dem Zusatze: «So auer mitler tid de Rüssen oder hei- 
den iuw begunden antofechten, dat efft sin mochte, und opentliche pericul edder drin- 
gende nöde upstünden, um welckerer de reise iuwer aller to uns in einer tid to don mochte 
kamen in eine verstieringe unsers genomeden Estlandes, wi dann di capitainen, de wi 
dencken iuw to senden, to unser nöttigkeit und iuwer provitte mit iuw von iuwer reise 
schickede metigen in velen edder in wenigen, willen wi eigentlick und festig holden». Man 
sieht: es ist nicht ein ausgeschriebener $ des Rechts von 1315, sondern eine selbständige 
Veranlassung und Motivirung. Diesen Zeugnissen gegenüber wird dann wol der fragliche 
$ dem Jahr 1315 verbleiben dürfen. 

Nun aber deutet von dem eben besprochenen Standpunkt der Verfasser die Urk. 172 der- 
art (5. 298—295), es hätten die estnischen Vasallen unter einander berathen und im Früh- 
jahr 1242 mit dem Bischof ohne Erfolg über eine feste Kornrente verhandelt; Ende Mai 


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BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. ТУ 


oder im Juni desselben Jahres wäre dann nach den Bestimmungen des Waldemar-Erich- 
schen Rechts ein zweites Drittel ihrer zur Lehnsbestätigung nach Dänemark gesegelt, wo 
sie am 20. Juni am Hoflager des Königs auf Laland urkundlich (eben nach Urk. 172) nach- 
gewiesen seien. Gleichzeitig reiste der Bischof hinüber und der König übernahm die Ver- 
mittlung, in Folge deren jener Landtagsbeschluss durch einen Vertrag bestätigt wurde. 
In der darüber ausgestellten Urkunde (Urk. 172) bezeugt König Erich: mit Zustimmung 
«seiner Vasallen» erhalte der Bischof eine gewisse Kornrente von je 20 Haken, sowol von 
den «freien königlichen Gütern, als von den Lehngütern», und solle, bis der König selbst 
nach Estland komme, keine weitern Forderungen erheben, überhaupt in seinen Ansprüchen 
sich richten nach der Sitte und Gewohnheit des Stifts Dorpat. Das war dann «ein Sieg 
des deutschen politischen Elements im Vasallenstande». Die Urkunde schliesst: obgleich 
«einige Vasallen» am Vertrage nicht Theil genommen, seien sie doch alle gebunden, «ein 
Beweis, wie die Vasallen damals einen Beschluss nur dann als bindend für Alle ohne Aus- 
nahme ansahen, wenn alle in denselben eingestimmt, oder aber der Beschluss der grossen 
Mehrheit vom König als Oberlehnsherrn bestätigt war». Denn der Verfasser trägt (S. 295 
Anm. 2), nicht ganz consequent, Scheu, unter den sogleich zu erörternden «quidam infeu- 
dati» alle in Estland zurückgebliebenen Vasallen, zwei Drittel der Gesammtheit, zu verste- 
hen. Zugleich lehre die Urkunde, «dass die Esten, welche die Kornrente doch eigentlich 
traf, durchaus nicht vorgängig befragt worden wären» Freilich lehrt die Urkunde noch 
sichrer, dass auch die Vasallen nicht befragt wurden. Die ganze Deduction des Verfassers 
bewegt sich zwischen Missverständnissen. Soweit der Character des geistlichen Zehnten 
in Frage kommt, werde ich sie später besprechen. Hier handelt es sich nur um die Con- 
statirung gewisser Verhältnisse im Lehnsystem. Zum Theil richtet sich die Auffassung des 
Verfassers durch innere Kritik. Im Frühling 1242 soll ein Landtagsbeschluss gefasst 
sein; auf Laland bestätigt ihn der König und auch der Bischof fügt sich; dennoch ist alles 
nur provisorisch; der König will selbst erst in Estland Alles ordnen und später wird am 
Ende dem Bischof doch eben nur soviel zugestanden, als schon 1242. Auf zwei Stellen 
der Urkunde hat die Kritik sich zu richten: «Nos cum consensu hominum nostrorum 
in partibus Esthoniae commorantium ff.» und zum Schluss: «Quia huie compositioni non 
interfuerunt quidam nobis infeudati, praecipimus tam illis, quam omnibus aliis in- 
feudatis, quatenus compositionem hanc ratam habeant et inviolabiter observent». Sobald 
man festhält die Scheidung der Begriffe «homines» und «vasalli» oder «infeudati», steht fest 
auch die Erklärung. Die Bungesche Reg. 193 zwar übersetzt, wie der Verfasser: «weil 
einige der Lehnsleute nicht zugegen gewesen»; dann, sollte ich meinen, hätte es im Text 
heissen müssen: quia huic compositioni non interfuerunt quidam nobis infeudatorum; so, 
wie es da steht, wird «non quidam infeudati» gleich sein mit «nulli infeudati» und die Fol- 
gerung ist: es hatten an der Vereinbarung die «Vasallen» nicht Theil genommen. Es sind 
dann auch am 20. Juni 1242 auf Laland keine Vasallen gewesen: die Reise des zweiten 
Drittels war vom Verfasser nur conjicirt worden aus der Vordatirung vom Waldemar- 


78 C. SCHIRREN, 


Erichschen Recht $ 1 und aus der, mindestens zweideutigen, eben besprochenen Stelle. 
Es ist dann auch nirgends die Rede von sonst einstimmig verlangten Landtagsschlüssen. 
Es ist überhaupt nicht die Rede von irgend einem Landtagsbeschlusse. Nichts 
desto weniger verlangt der König, alle Vasallen sollten sich fügen (sowol die «nobis infeu- 
dati», als die caliisinfeudati»); freilich nur vorläufig; er verspricht, selbst hinüberzukommen ; 
bis dahin soll der Bischof seine Ansprüche nach denen des Bischofs von Dorpat abmessen. 
Das ist dann allerdings eine Concession für die Deutschen, allein noch nicht ein Sieg des 
deutschen Elements; denn kein Deutscher, da kein Vasalle, war befragt worden. Die An- 
ordnung war ausgegangen nur vom König und den homines regis. Ich habe dargethan, 
was die gewesen. Wir haben durchaus kein Recht, diese Bezeichnung in dieser Urkunde 
locker zu deuten. Auch wissen die Vasallen nichts von einer Verfügung, an welcher sie 
Theil genommen. Das lehrt Livl. Urk. 337: «praesertim cum ab illustribus regibus Daciae, 
praedecessoribus vestris, haec tamquam in mandato meminimus recepisse, ut spiritualia 
jura Rev. ecclesiae secundum formam et modum ecclesiae Tharbat. exerceri debeantur»; 
denn dass nicht nur diese eine Verfügung, sondern die ganze ältre Bestimmung gemeint 
ist, ergibt sich aus einer vorausgehenden Stelle derselben Urkunde: «Nos vero, his inten- 
dentes articulis, quae prius tamquam sine forma et ordine extiterant, in melius cepi- 
mus reformare» und eben erst 1259 kommt es zu einer Art förmlichen Beschlusses unter 
den Vasallen. 

Dieser Beschluss bestätigt sodann meine Auffassung von der Stellung der dänischen 
und der deutschen Partei in Estland, von dem tiefbegründeten Gegensatz des dänischen 
Königsrechts und der dänischen Königsmannschaft gegen das deutsche Lehnwesen. Denn 
zwar wird der Vergleich 1259 geschlossen von der «Universitas vasallorum suorum (sc. 
regis) per Estoniam constituta», ja, es wird der gemeine Character des Beschlusses mit 
grossem Nachdruck hervorgehoben: «quod factum tam capitanei vestri, quam ex communi 
consensu omnium vestrorum vasallorum, tum in Revalia existentium ac terram ve- 
stram disponentium, — — universitate nostra consentiente — —», allein gerade 
diese Ostentation, mit welcher eine Uebereinstimmung affectirt wird, ist verdächtig, wie 
es denn auch mit entschiedener Abschwächung zum Schluss heisst: «facta sunt autem haec 
praesente et consentiente Domino Jacob Ramessun, tunc capitaneo, et approbante 
tum divitum tum pauperum universitate» und das wahre Verhältniss durchdringt aus 
der Klage: «de sinodali domini episcopi Revaliensis percavalcatione, quae, quia confuse et 
minus discrete dicto domino percavalcabatur», vollends endlich im Schlusspassus: «petimus 
— ut ratihabitione a vobis in perpetuum confirmetur, ne quod universali consensu mul- 
torum honestorum rationabiliter fuerat ordinatum, per invidiam duorum vel trium 
segniter infirmetur». Schwerlich wäre eine Opposition von zweien oder dreien erst noch 
zurückzuweisen gewesen; es ist wol noch ein grosser Theil jener Partei gemeint, welche 
an der «Vereinbarung» von 1242 gar keinen Antheil hatte und der doch war vorgeschrie- 
ben worden, sich zu fügen. Noch im Jahre 1260 will sie sich nicht fügen; der König muss 


ES CT 


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BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Liger CENSUS DANIAE. 79 


ihr mit Verlust ihrer Lehngüter drohen (Livl. Urk. 352). Mit Unrecht würde man beson- 
dres Gewicht legen auf die Bezeichnung «universitas vasallorum»; wie wenig wörtlich das 
zu nehmen ist, lehrt wol die Abschwächung in «universalis conseusus multorum» und, wenn 
auch der König in seiner Bestätigung den Ausdruck braucht: «meliores de Revalia nomine 
communitatis promiserunt», so ist das nur eine von ihm beliebte Steigerung, um die 
Rechtskräftigkeit der Verfügung noch zu erhöhen. Denn eine «universitas» ist lange keine 
«communitas»; mit «universitas» wird jede beliebige Gruppe von Personen bezeichnet und 
wenn König Erich die Urk. 172 mit der Anrede «Universitati vestrae» beginnt, so sind 
doch nur die gemeint, denen er seinen Gruss sagt: «Omnibus hoc scriptum cernentibus», ganz 
wie in kaiserlichen, bischöflichen u. a. Urkunden, z. В. Livl. Urk.110,112,114,125, 126. — 
Dennoch ist in der Urk. vom J. 1259 ein merkwürdiger Fortschritt angedeutet gegen die 
Urk. vom J. 1242. In dieser zeigt sich der Gegensatz des Königs zu seinen deutschen 
Vasallen (und dieser zum dänischen Bischof) in voller Schärfe: der König hat keine Partei 
ausser seinen «homines» und er stützt sich einzig auf diese. Im J. 1259 sind offenbar 
«Vasallen» betheiligt an der Vereinbarung; bedürfte es erst des Beweises, so fände man 
ihn in einigen der Unterschriften. Nur ist 1259 die Scheidung zwischen den deutschen 
Vasallen und den dänischen nicht völlig überwunden, so sehr für letztere die Bezeichnung 
«homines regis» vermieden ist und sich hinter der gemeinsamen Bezeichnung «vasalli» deckt. 
Viele «homines regis» werden zugleich Vasallen ursprünglich gewesen oder seit 1242 ge- 
worden sein: dass eine eigentliche Verschmelzung der beiden Gruppen noch nicht statt- 
gefunden hat, das belegt deutlich der Passus: «consensu omnium vasallorum, tum in Re- 
valia existentium ac terram vestram disponentium»; es ist dabeiein mittlerer Ausdruck 
gewählt, der zwar auf deutsche Vasallen wenig passt, dagegen die Rechtsstellung andeutet, 
in welcher zum König dessen shomines» standen: sie waren ja ursprünglich zum Theil 
Verwalter des königlichen Guts. 

Zwischen diese beiden Urkunden, die von 1242 und die von 1259, in welchen ei- 
nerseits die volle Spannung des dänischen und deutschen Elements, andrerseits eine wenn 
auch noch widerstrebende Amalgamirung erkannt wird, fällt nun die merkwürdige Urkunde 
Livl. Urk. 239 vomJ. 1252, in welcher der Verfasser indirect eine königliche Bestätigung 
des einheimischen, nach ihm wahrscheinlich 1228 schriftlich formulirten Lehnrechts für 
sämmtliche, estnische Vasallen sieht. Nach allem Vorangeschickten wird es bei blosser 
Einsicht in den Text klar sein, wie eine solche Deutung nicht zugegeben werden darf. Es 
heisst: «Omnibus hominibus nostris, in Revalia et Wesenbergh constitutis, om- 
nia bona sua jure hereditario, quod vulgariter dieitur lanrect, dimisimns libere possidenda, 
quia ipsorum iura confirmare in omnibus potius volumus, quam infirmare — — — prae- 
sentes litteras dictis hominibus nostris contulimus». Eine alte deutsche Uebersetzung 
hat das Richtige getroffen, wenn sie schreibt: «allen unsern Leuten» (N. N. M. XI, 285) 
und Bunges Geschichtliche Entwickelung kann den Satz II. $ 4 Anm. 44: «Im Plural 
Mannen, zuweilen aber auch Leute, wie in der Urk. Christians I. von 1252» getrost‘ 


30 С. SCHIRREN, 


streichen, namentlich in Erinnerung des Ausspruchs I. $ 7 Anm. 46 «von ritterbürtigen 
Vasallen kommt im lateinischen nie der Ausdruck homo vor». Denn der lateinische Text 
hat eben den Ausdruck «homines» und es ist nicht Ausnahme, sondern Consequenz, wenn 
die deutsche Uebersetzung «Leute» schreibt. Es sind eben nicht Vasallen, sondern «ho- 
mines regis, Kunungs man»; wie sie zwar auch im flachen Lande sassen, allein durch Ver- 
hältnisse und Amt vorzüglich gebunden waren an die Nähe von Reval und Wesenberg. 
Woher sie das Land haben, das sie nunmehr erblich behalten dürfen: ob es Gnadenlehne 
waren, oder zum Theil Alode, das lässt sich zunächst nicht ermitteln. Der König aber 
will ihre Rechte mehren, nicht schwächen, denn gegenüber den mächtigen deutschen Va- 
sallen sind sie unvermögend in ihrer unsichern dänischen Lebnsstellung. Der König be- 
gibt sich seines dänischen Rechts gegen sie; er will das Land, so viel sie von ihm haben, 
nicht mehr das Recht behalten einzuziehen alle Philippi-Jacobi; er will: sie sollen in Al- 
lem berechtigt sein gleich den Deutschen; daher formulirt er ihnen nicht weiter, was sie 
an Rechten erwerben: sie sollen ihre Güter besitzen nach «Landrecht». Was den Deut- 
schen gilt, soll ihnen gelten. So lange man in dieser Urkunde eine Bestätigung des «Lehn- 
rechts» für die deutschen Vasallen suchte, so lange war man geneigt, die schriftliche 
Fixirung gewisser Sätze des Lehnrechts zu behaupten, denn was sollte Bestätigung eines 
nicht deutlich formulirten, nicht controlirbaren Rechts? Bei ruhiger Deutung liegt in der 
Urkunde vielmehr der Beweis, es habe kein schriftliches von den dänischen Königen be- 
stätigtes Recht gegeben, sonst hätte der König seine «homines» an dieses gebunden. So, 
da es nun in seinem Interesse lag, sie den Deutschen gleichzustellen, ertheilte er ihnen das 
«Landrecht», wie diese es genossen. Sie sollten für ihn stehen unter dem Schirm und 
Schutz derselben Traditionen, unter welchen die Deutschen gegen ihn geschaart waren. 
Eine der frühsten Früchte dieses völligen Umschlags in der Stellung der «homines 
regis», die Land unter irgend welchem Titel besassen, liegt vor in der Urkunde vom Jahr 
1259. Im J. 1242 konnte der König sich berufen nur auf die Zustimmung seiner «homi- 
nes»; im J.1260 hat er einen Rechtsvorwand gefunden, dieselben chomines» bereits als «com- 
munitas» zu bezeichnen, wie sie selbst sich eine «universitas vasallorum» nennen. So bilden 
sie für ihn einen viel mächtigeren Hebel, wenn überhaupt, den Widerstand der deutschen 
Vasallen zu brechen. Und diese selbst scheinen sich zu fügen; denn, 1242 noch in voller 
Scheidung von den «homines», sind 1259 ihrer viele schon neben den einstigen «homines» 
inbegriffen in jener «universitas» und dem König scheint seine Berechnung allmälig einzu- 
schlagen; soviele zunächst auch, wenigstens in einzelnen Fragen, in offener Oppositiongegen ihn 
stehen. An förmliche Organisation der Landesverfassung ist schon darum in jener Zeit 
kaum zu denken. Ich habe gezeigt, wie diese urkundlich erst 1275 erkannt wird. Dann 
freilich hat sich ein zweiter Umschwung vollzogen. Die dänische Partei der alten «homi- 
nes regis» hat doch nicht vermocht, die deutschen Vasallen, selbst nicht unter das be- 
schränkte Königsrecht von Dänemark zu bringen; sie selbst ist dem mächtigen Schwer- 
punkt der Interessen gefolgt; die deutsche Gruppe hat sie herübergezogen zu sich und im 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 81 


J. 1287, Livl. Urk. 519, erklärt, allen königlichen Mahnungen zum Trotz, sogar der kö- 
nigliche Capitaneusim Lande: «quod et quales et quantae litterae transmitti possent, tamen 
vasalli vellent apud iurisdictionem terrae suae remanere». Damit ist denn ein wahrer Sieg 
des deutschen Elementes vollzogen. 


Diese innere Consolidirung einer zuvor von allerlei Wirrsal heimgesuchten Provinz 
lässt sich im Einzelnen ihrer Entwickelung leider nicht verfolgen aus einem Mangel der 
Quellen. Es führt aber dieser Mangel, wie gewöhnlich, die Versuchung mit sich, Gegen- 
sätze schematisch zu constatiren und ebenso schematisch zu lösen. Denn je spärlicher die 
Daten: um so grösser der Ausfall an Mitgliedern: um so schroffer in ihrer Isolirung er- 
scheinen einzelne Trümmer der Ueberlieferung mit dem Scheincharacter von Extremen. 
Bestände ihre natürliche Verbindung, so zeigte sich vielleicht gegentheils ihr Anspruch 
auf Geltung begründet nur in ihrer Mittelstellung. Um so sorgsamer ist jedes Anzeichen 
zu prüfen, sobald es gerechtes Misstrauen einflösst in ihre extreme Bedeutung; um so be- 
reitwilliger soll jeder schematische Gegensatz gemildert werden, wo immer die Quellen noch 
eine Spur von Uebergängen verrathen. 


Es hiesse darum den obzwar tiefbegründeten Unterschied deutscher und dänischer 
Lehnstellung überspannen, wenn nun auf ihn und seine endliche Ueberwindung die ganze 
älteste innre Geschichte von Harrien und Wirland bezogen würde. Es wäre eine Anomalie 
sonder Gleichen in der Geschichte, wenn ein von halbwilden Eingeborenen bewohntes 
Land, voll Sümpfen und Wäldern, in den Besitz zum Theil isolirter Gruppen von Einwan- 
derern übergegangen wäre einzig nach demselben saubern Grundschema, welches ursprüng- 
lich, wie es scheint, den Beziehungen halbwilder Eroberer zu unterjochten Culturstimmen 
entwachsen war. Zum Glück gestatten die lückenhaften Quellen eben noch die Einsicht, 
wie diese Anomalie nicht in den Thatsachen begründet, sondern fingirt ist erst durch me- 
thodische Uebertragung jüngerer Zustände auf ältere Zeit und einseitige Interpretation der 
Ueberlieferungen. Soweit die mir gesetzte Aufgabe es zulässt, werde ich davon wenigstens 
eine Andeutung geben dürfen, auch ohne mich von der Betrachtung der «Studien» zu 
trennen. 


Zwei Grundirrthümer folgen dem Verfasser durch alle Deductionen, welche die Besitz- 
titel am Lande und die geistlichen Zehnten betreffen. Einmal will er für die erste Hälfte 
des XIII. Jahrhunderts kaum einen Besitz anerkennen, ausser Lehnbesitz; sodann lässt er 
zu Lehn übertragen nicht sowol Land, als die am Lande haftenden Zehnten. Im Г. С. 
findet er (5. 266 seiner Studien) nur zwei unbedeutende Alode verzeichnet und lässt da- 
hingestellt, wie die Besitzer dazu gekommen; zwar weiss er (S. 281) aus der Zehenturkunde 
vom J. 1240 (Livl. Urk. 165), dass es damals Belehnte gab, welche ihr Land selbst bau- 
ten, also nicht nur mit dem Zehnten belehnt waren; allein aus derselben Urkunde folgert 
ег (5. 278), alles Land in Estland wäre zerfallen in «Königliches oder freies Land» und in 
«zu Lehen ausgetheiltes», so dass sich «selbst von einem freien, unmittelbaren, unabhän- 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Serie. 11 
* 


82 C. SCHIRREN, 


gigen Besitz der alten Eigenthümer des Bodens, der Esten, keine Spur finde. Um das 
erste Viertel des XIII. Jahrhunderts giebt es für ihn nur ein einziges Mittel, die Pilger im 
Lande zu fesseln: Belehnung (3. 161). Selbst in Wirland, zur Zeit, wo es zuerst unter 
den Orden kommt, kennt er keine andern Besitzrechte, als verbriefte (5. 182). Meldet 
der L. С. von Güterverkauf, so ist das ein Beweis, dass zur Zeit seiner Abfassung «das 
Verkaufen der Lehen bereits gewohnheitsrechtlich gewesen» und S. 82 nennt er es «über- 
haupt vollkommen unwahrscheinlich, dass in der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts in 
einem eben unterworfenen, steter Kriegsgefahr ausgesetzten Lande eine (so) grosse Zahl 
Alodien zugelassen worden seien. Und wie liesse es sich nur erklären, dass bei der Art 
und Weise der Eroberung der beiden Landschaften, namentlich Wirlands, durch die Deut- 
schen, ein Theil der neuen Grundherren Alodien erworben, während die andern blossen 
Lehnbesitz erhielten ?» 

Bei der Prüfung dieser Ansichten geht man am Zweckmässigsten aus von den zer- 
streuten, positiven Angaben, aus welchen sich, so schwierig ihre richtige Deutung sein 
mag, am ehsten Aufschluss wird gewinnen lassen über die thatsächlichen Verhältnisse. 
«Nur von Königlichem oder freiem Lande und von Land, das zu Lehn ausgetheilt ist», soll 
die Zehenturkunde vom J. 1240 etwas wissen. Es heisst in ihr: «Mandamus universis et 
singulis militibus, castrensibus, vasallis et feodatariis sive terram nostram quae libera 
dicitur, sive quamcunque aliam terramiure feodali vel quocunque alio titulo de- 
tineant, ut ex illis decimas decimarum persoluere Episcopo Revaliensi non omittant; quia licet 
alicuiterram ueluncosiure feodali concessisse dinoscimus, semper tamen decimam partem 
decimarum episcopo persolvendam excepimus etexcipimus». Darnach hat sich zu richten Je- 
der «seu praefectus noster sit seu alius quocunque nomine censeatur, qui terram 
colit vel decimas a suis subditis recipit»; sowol die «advocati», als «aliiinfeudati». 
Die Urkunde ist anscheinend mit Umsicht abgefasst und mit Berücksichtigung verschiedener 
Besitztitel; das bezeugt gleich der Eingang, in welchem wir — und der spätere Inhalt be- 
stätigt das — sowol königliche Beamten und «homines regis», als eigentliche Vasallen an- 
geredet finden; überall auch tritt uns die Rücksicht entgegen auf die verschiedenen Bezie- 
hungen, in welchen die Besitzer und Nutzniesser zu dem ihnen zukommenden Lande 
stehen. Andrerseits scheint in der zweiten Hälfte der Urkunde, vielleicht nicht ohne Ab- 
sicht, eine gewisse Unklarheit zu herrschen: ob nun der verordneten Steuer unterworfen 
sein sollten auch die Besitzer von Aloden. Mitverstanden wenigstens könnten sie sein 
auch schon wenn es heisst: «quocunque alio titulo», obwol die Mahnung zum Schluss ge- 
richtet ist nur an die «advocati et alii infeudati». Die Entscheidung in dieser Frage wird 
abhängen von der «terra nostra, quae libera dieitur». Das folgende «terram uel uncos» 
verhilft nicht zur Erklärung; denn bedeutete auch etwa «unci» den Baueracker, «terra» das 
Land ohne Bauern, so versteht man immer nicht, wie gerade dasjenige Land «libera» ge- 
heissen haben solle, das keine Bauern hatte. Helmersen (Geschichte des livländ. Adels- 
rechts. 1836. $ 7 Anm. 7) erklärt den Ausdruck durch Domäne. Diese Definition adop- 


Burrrac zum Versränpniss DES LiBER CENSUS DANIAE. 83 


tirt der Verfasser mit einer characteristischen Wendung. «Was die Domänen betrifft», sagt er 
S. 267, «so betrugen sie ursprünglich, 4. В. in Grundlage des Vertrags von Stenby, 1895 
Haken. Dieser Besitz war es, vermuthe ich, der in der Zehenturkunde von 1240 vom 
Kôünig als «terra nostra quae libera dicitur» bezeichnet wurde, im Gegensatze zu den Län- 
dereien, deren Besitz schon in Stenby den Vasallen vorbehalten worden». Das «dicitur» 
deutet jedenfalls genugsam an, man habe es mit einer technischen Bezeichnung zu thun: 
es müsste also alle königliche Domäne so geheissen haben, so viel von ihr nicht vergeben 
war. Wie aber unvergebene Domänen mitbetroffen werden sollten von Zehentverordnun- 
gen, ist schwer zu begreifen. Vor Allem aber inwiefern passt auf Domänen die Bezeich- 
nung «frei»? Der «mansus liber» ist doch nur die von Abgaben und Lasten freie Hufe; wie 
konnte nun königliches Land frei heissen, weil es Domäne geblieben, das heisst: nicht ver- 
lehnt war? Ausserdem was ist gemeint mit den«Domänen»? Das Konungslef oder das Pa- 
trimonium des Königs oder beides? In einer spätern Zehenturkunde vom J. 1242 (Livl. 
Urk. 172) wiederholt sich dieselbe Bezeichnung, nur mit etwas anderm Ausdruck: «tam 
de omnibus liberis bonis nostris, quam de ceteris in partibus Esthoniae infeudatis». 
Der Ausdruck wäre viel bedenklicher. Nun aber liest der Abdruck bei Thorkelin, ab- 
weichend von Huitfeld, nur: de omnibus liberis bonis und lässt den Zusatz nostris 
fort. Damit ist mindestens deutlich gezeigt, wie Thorkelin den Ausdruck verstanden 
wissen wollte und es ist nicht zu übersehen, dass im selben Sinne Suhm. IX, 703 die Urk. 
165 übersetzt: «еще de havde frie Гога, Lehnjord, eller vnder hvad navn de besad deres 
Jord». Nach dänischer Rechtsfiction gehörte dem König alles Land, freilich nicht im deut- 
schen Feudalsinne. Es könnte daher nicht befremden, wenn er selbst Alode einschlösse 
in die «terra nostra», denn enostra» wird mindestens aufgewogen durch den Zusatz: «quae 
libera dicitur». Dass Alode von jener Steuer betroffen waren, unterliegt keinem Zweifel: 
im J. 1281 (Livl. Urk. 475) kauften sich die Vasallen für die bestehenden und künftig ein- 
zurichtenden Alode vom Zehnten des Zehnten los; indem sie dem Bischof 60 Haken auf 
ewige Zeiten einweisen; die Bauern aber auf den Gütern der Vasallen sollten dem Bischof 
das Sendkorn nach wie vor entrichten nach Maassgabe der Hakenzahl, für welche sie ihren 
Herren zehnteten. Damit nun durch die Verdrängung der Bauern und Einrichtung neuer 
Alode auf einstigem Bauerlande dem Bischof nicht Abbruch geschehe, verpflichteten sich 
die Herren, ihre Bauern sitzen zu lassen und, falls man sie gewaltsamer Verdrängung an- 
klage, sich durch einen körperlichen Eid zu reinigen. Damit war freilich stets erneuerter 
Anlass zum Hader zwischen dem Bischof und den Vasallen gegeben. Noch zu Anfang des 
XVI. Jahrhunderts heisst es in der öfter angeführten Note (Bunge. Archiv. I, 307) gegen 
die Ansprüche des Bischofs: «Item dat Szentkorn van denn Nyenn hovenn welck gudt 
mann eynen Nyen Ной lecht upp woste haken Den holde wy dat he угу szy bsunder wor 
men dat bowyszenn kan Dat men nye Houe In dorpere lecht vnnd de bure aflgeszat szyn 
vnnd nicht wedder upp wuste landt geszat szyn. Dar deme Herenn szyn Szentkorn mede 
vorüüllet werde Dat de Zene sulkende deyt demme Herenn szyn Szentkorn geve edder 


* 


84 C. SCHIRREN, 


syck mydt eme vordrege». Es kehren hier, nur unter andrer Benennung, dieselben Unter- 
scheidungen wieder, wie in der Zehenturkunde von 1240 und in der Vereinbarung von 
1281: die «terra et unci» stehen sich zur Seite, wie die «woste haken» und die «dorpere»; 
die «nova allodia» sind die«Nyenn Попе». Die «woste haken, selbst de man buwet», werden 
genugsam erklärt durch den Gegensatz (Livl. Urk. 1824, a. 1410) der «besatten haken» 
oder noch deutlicher, wenn es anderswo heisst: «van eynem ysliken besatten wanhafftighen 
haken». Es ist derselbe Gegensatz, wie er seit dem X. Jahrhundert oft ausgedrückt wird 
durch den «mansus absus» gegen den «mansus vestitus». Durch die Vereinbarung des Bi- 
schofs Johann mit der Ritterschaft (Livl. Urk. 1824) werden die «wustenn haken vryg ge- 
koft» von jeder bischöflichen Steuer; daher heisst es in einer andern Urkunde: «de wustenn 
hakenn de syn vryg». 


Schwerlich hat neben sterra nostra» der Zusatz «quae libera dicitur», einen andern 
Sinn, als dass das Land frei war von weltlichem Zins und Leistungen; das «praedium li- 
berum» aber ist eben ein Alod. Es unterscheidet sich von dem durch Verlehnung über- 
kommenen Lehnsgut, sowie von dem einem Mächtigeren übertragenen und nun nicht mehr 
als Alod, sondern als beneficium oder Zinsgut (terra censualis) recipirten vorher freien 
Landgut, das nicht minder in jener älteren Zehenturkunde berücksichtigt ist, wenn es 
heisst: «quocumque nomine censeatur». 


Ein streng geschlossener Beweis ist damit allerdings nicht gegeben; allein wird nicht 
überdies durch die Urk. 239, a. 1252: «Omnia bona sua iure hereditario, quod vul- 
gariter dieitur lanrect, dimisimus libere possidenda», vernehmlich darauf hingedeutet, 
dass in Estland Güter und zwar viele Güter besessen wurden nach anderem, als Lehn- 
recht? 


Es kann meine Aufgabe nicht sein, den Nachweis zu führen, wie in Wirland Allodial- 
besitz entstanden sei; noch ist der Nachweis nicht geführt, wie der Lehnbesitz entstand. 
Der Verfasser meint zwar, der Orden habe bereits 1225 lauter Grundherren mit verbrief- 
ten Rechten vorgefunden. Ich erlaube mir, das entschieden zu bezweifeln. Eine durch- 
greifende Lehnsordnung in einem Lande, welches die erste Hälfte des XIII. Jahrhunderts 
fast ununterbrochen von Krieg heimgesucht war, in welches zu wiederholten Malen von 
verschiedenen Seiten erobernde Parteien gegen die Eingeborenen und gegen einander vor- 
drangen, ist ein viel schwerer zu begreifendes Problem, als ein unverbrieftes Hin- und 
Herstossen der Besitzer, bis endlich seinen Besitz behielt, wer zuletzt ausharrte. Wenn 
es dann um das Jahr 1281 in Harrien-Wirland bereits so viele Alode gab, dass die Vasal- 
len zur Ablösung eines Procents der Früchte dem Bischof 60 Haken einweisen mussten — 
wenn andrerseits schon 1238 (Livl. Urk. 156) zwischen dem Bischof von Oesel und dem 
Orden über Alode besonders stipulirt wurde, зо glaube ich nicht zu irren, wenn ich, statt 
mit der Zeit neben Lehnsgütern Alode allmälig entstehen zu lassen, annehme, ein grosser 
Theil der Beneficien sei entstanden erst durch Uebertragung von Aloden und deren modi- 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBer CENSUS DANIAE. 85 


fieirten Rückempfang. Der Verfasser selbst weiss zu berichten, wie kühn die Vasallen des 
dorpatschen Stifts auf eigne Hand einfielen in Wirland: es war das nicht nur im Sinne 
jener Zeit, sondern jeder kriegerischen Einwanderung in noch unoccupirtes Land. Als 
ob es damals nicht so gut Squatters gegeben hat, wie heute, und als ob die englische Re- 
gierung in Australien gleich in den jungen Zeiten der Ansiedlung die Squatters aus dem 
Lande fortfegte, weil sie nicht verbrieft waren? Sie liess sie gewähren und gab ihnen 
am Ende selbst noch die Briefe, ohne die sie sich doch behauptet hätten. Die Alode wur- 
den in Wirland während der Kriegszeit nicht «zugelassen», sondern sie machten sich ohne 
Erlaubniss. Meint der Verfasser, der so grosses Gewicht darauf lest, dass es vor Allem 
ankam auf Wehrkraft des Landes, die Dänen hätten darum nach dem Vertrag von Stenby 
einen Kreuzzug unternommen gegen die Eindringlinge? Gewiss sie jagten sie fort, wo die 
Gelegenheit gut war. Viele aber mussten sie sitzen lassen und unter den Besitzern des 
L. C. sind sicher nicht wenige verzeichnet, die keine bessern, noch schlechtern Besitztitel 
hatten, als die «expulsi», und die nicht gar zu ängstlich darauf sannen, ihr Recht sich ver- 
briefen zu lassen. Sie verbrieften es sich selbst, einer dem andern, mit Handschlag, und 
die dänischen Könige haben sich zuletzt fügen müssen. 

Für die Dänen Sold, für die Deutschen freie Beute an Land und Gut: das war die 
Lockung für das Kriegsvolk. Statt dessen beginnt der Verfasser den ersten Kriegszug mit 
ängstlicher Belehnung. Kaum ist S. 97, 98 Waldemar gelandet, so vertheilt er an die 
Vornehmeren unter den Kriegsleuten Burglehen gegen die Verpflichtung die Burg zu ver- 
theidigen, denn es war das ein sicheres, vielleicht das einzige Mittel, tapfre, dem Zwecke 
gerade solcher Eroberungen entsprechende Krieger in dem fernen, heidnischen Lande zu- 
rückzuhalten», und «solcher castrenses erwähnt schon die erste harrisch-wirische Zehent- 
urkunde von 1240». Der Verfasser beruft sich auf die Vertheilung der Lehen bei Odem- 
рав (Origg. Liv. ХХУШ, 8). Allein der König von Dänemark war nicht Bischof von 
Dorpat, noch seine «Burglehn» «Provinciae». «Castrenses» sind sonst nicht eben die «vor- 
nehmsten» feudatarii: sie gehören zu den Dienstleuten, zu den Kriegsbeamten, wenn man 
will, und das«feudum castrense» und «burgense» nicht zu den edlen Lehen. Die dänischen 
«castrenses» vollends liessen sich anfangs sicher genügen am «stipendium»; das Land, so viel 
sie erhielten, war nur Zugabe gegen den Hunger. Der Verfasser, sobald die Gelegenheit 
sich bietet, spinnt dieselben Erwägungen fort: «es konnte ja, S. 99, das Kreuz des Prie- 
sters nicht ohne das Schwert des Lehnsmannen bestehen». Immer fehlt es den Dänen an 
Kriegsvolk (S. 119); denn: «eigentliche Belehnungen in deutscher Weise mögen überhaupt 
nicht häufig bei den Dänen vorgekommen sein», S. 129 ff. ff. Diese starre Consequenz- 
macherei, die nirgends weniger hingehört als in jene Zeiten, hat sich zwar ein gewisses 
Schema geschaffen, eine Schablone, unter welcher sie die Geheimschrift der «Landrolle» 
zusammenhängend lesen zu können vermeint; allein, je mehr gekünstelte Einheit hinein- 
getragen ist in die Urkunde und in die Zeit, von der sie Zeugniss ablegt, um so mehr ist 
an Einsicht verloren in die ungekünstelte Willkür und Bewegung der Verhältnisse. Was 


86 С. SCHIRREN, 


ist diesem Verlust gegenüber gewonnen durch jenen apokryphen Landtag von 1228? Wel- 
cher künstlichen Stütze bedarf auch nur diese eine Lieblingsidee, wie wenn nun 5. 192 
Anm. 1 für das Jahr 1277 Nachdruck gelegt wird auf den Passus in Urk. 453: «quoniam, 
Divina providente clementia, in m nisterium terrae Livoniensis constituti sumus» und die 
sofort folgenden Worte — sie sind in die «Studien» nicht aufgenommen — den erkünstel- 
ten Eindruck sofort verwischen:« ad propagandam ibidem in gentibus fidem Christiv. Was 
soll der vorzeitige Landrath von S. 197? Was vor Allem jener abenteuerliche Lehnshof, 
creirt vom apokryphen Kanutus, um den L. C. zu Stande zu bringen? Weil 1238 in 
Preussen und Livland Jeder angewiesen wird, «sein Recht gerichtlich zu verfolgen», so 
soll für Harrien-Wirland jener «Lehnhof» schon vorbedacht gewesen sein! Und als nun 
der Lehnhof herübergesegelt ist, da zieht er Lehn auf Lehn ein, nicht etwa zu Besten des 
Königs; auch ohne den König — denn der L. C. ist älter, als des Königs Bestätigung — 
verschreibt er es auf seine Namen (S. 262—265). Das sind dann die strengsten Conse- 
quenzen jenes Lehnssystems, von dem die Urkunden schweigen. 

Allein dieses an sich enge System schnürt nun der Verfasser noch enger zusammen. 
Zwar, dass ein nicht geringer Theil der in Livland und Estland von König, Orden und Bi- 
schöfen verliehenen Beneficien in Zehnten bestand, bedarf kaum des Nachweises. Nur wo 
sind die Beweise, dass diese Art «beneficium» den eigenen Landbesitz der deutschen Ein- 
wandrer fast gänzlich ausschloss? Der Verfasser hat sich für diese Auffassung entschieden 
und mit gewohnter Consequenz an ihr festgehalten, leider nicht mit befriedigender Klarheit. 
Namentlich die Bedeutung der geistlichen Zehnten ist schwankend gefasst. Zuletzt sind 
sie ganz verschlungen in die «decimae infeudatae». Gleich anfangs schwankt ihr Verhält- 
niss zur Zeit und die Stellung der Eingeborenen bleibt unklar. «Hatte man, schreibt der 
Verfasser S. 201, der kirchlichen Landdotationen nicht geachtet, so geschah es in noch 
geringerem Maasse mit dem allgemeinen päpstlichen Verbote, die Zehnten der Kirche 
nicht zu entfremden. Der Zehnte war die erste Abgabe, die man den Neubekehrten 
auferlegt, undblieb auch die einzige, bis wiederholte Empörungen einen Vorwand gaben, 
noch einen weiteren Zins zu verlangen. So lange die Neubekehrten frei und im 
Besitze des Landes waren, konnten die eingedrungenen Deutschen fürs Erste keinen 
andern Vortheil von der Eroberung haben, als die Besitznahme des Zehnten — Entweder 
es musste den Deutschen gestattet werden, sofort das Grundeigenthum an sich zu reissen, 
die bisherigen Besitzer gleich in Fröhner zu verwandeln oder den Unterworfenen wenig- 
stens einen schweren Zins aufzuerlegen. Oder man musste ihnen erlauben, sich den 
eigentlich der Kirche gebührenden Zehnten zuzueignen». S. 169 dagegen heisst 
es mit Bezug auf das Landvolk: «Hatten die Wirländer doch das Land nicht bloss mit dem 
Schwerte gewonnen, sondern auch mittelst Lehnbriefen der päpstlichen Statthalter auf 
Zins und Zehnten. Wer aber den Zehnten, den Zins zu Lehen hatte, war Herr, 
wenn auch nicht Eigenthümer des von den Pflichtigen bebauten Landes. Vor Allem 
musste Bestätigung der Lehen zugesagt werden, in die gewiss schon vollständige Herr- 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANIAE. 87 


schaft über die unterworfenen Esten begriffen war». War es in der That unmöglich, 
dass Eroberer und Besiegte frei nebeneinander auf freien Aeckern sassen? Ist der Fallnie 
vorgekommen in der Geschichte? Gab es nie ein Drittes ausser Nichtbesitz der Einwan- 
drer am Lande und Knechtschaft der Eingeborenen? Vor Allem aber, wie verträgt sich 
die «vollständige Herrschaft über das Landvolk» von S. 169, wie die Belehnung mit dem 
Zehnten sie begründete, mit der «freien Stellung der Neubekehrten und ihrem Besitz am 
Lande» auf S. 201, so lange sie nur den Zehnten zu tragen hatten? Wie soll man verein- 
baren, dass der mit dem Zehnten Belehnte nicht Eigenthümer, aber Herr des Landes war, 
dessen Besitz in Händen der freien, obzwar mit dem Zehnten belasteten Eigenthümer 
blieb? Wessen war denn das Eigenthum? War S. 201 der Zehnte die erste Abgabe und 
blieb lange «die einzige»; was bedeutet dann 3. 169 die bedenkliche Nebenstellung: «wer 
den Zehnten, denZins zu Lehen hatte», und was S. 274 der Satz: «Bestand doch in dem 
Zehnten und einem gewiss anfangs nur geringen Zinse, sowie in der Heerfolge der Esten, 
der einzige Vortheil, ja der einzige Gegenstand der Belehnung»? Damit ist der An- 
satz zu neuen Consequenzen gefunden und 5. 202 sind sofort sämmtliche Zehnten vergeben, 
uneinlösbar, ohne Aussicht auf Heimfall, so dass der Bischof, als er restaurirt wird, sich 
begnügen muss mit dem Zehnten vom Zehnten. 

Diese Auffassung mit ihrem tiefgreifenden Irrthum beherrscht nun die älteste Ge- 
schichte von Estland. «Man ergriff, S. 275, einen Mittelweg und bestimmte dem Bischof 
den Zehnten von allen Zehnten» und nur wenige Zeilen darauf steht aus der betreffenden 
Urkunde ausgeschrieben: «denn, wenn der König Jemandem Land zu Lehn gegeben, so sei 
doch immer jener dem Bischof zu zahlende Zehnte vom Zehnten ausgenommen gewesen». 
Wie vermochte der Verfasser die schlagende Beweiskraft dieser Stelle zu verkennen: von 
einem nun erst ergriffenen Mittelweg sei nicht die Rede? Und fiel ihm denn nicht hier 
gerade, in diesem Zusammenhange, die Urkunde ein, in welcher der Orden den Bischof 
Heinrich von Oesel auffordert seine Jurisdiction über die Länder zwischen Estland und 
Russland auszudehnen (Livl. Urk. 169a., a. 1241)? Dort waren gewiss erst wenig Zehnte 
vergeben: dennoch werden dem Bischof nur die «decimae decimarum» angetragen, offenbar 
als Tafelgelder und zur Bestreitung der Synodalreisen: denn einer fixen Dotation bedurfte 
es nur für neuerrichtete Bisthümer. Nicht mehr aber und nicht minder, wie ich schon an 
andrer Stelle erwiesen, bedeutete von Anfang an auch für den Bischof von Reval der Zehnte 
vom Zehnten, den Moses vorgesehen und die Canones kennen. Dagegen wäre es fast 
uncanonisch gewesen, auf diese Art des Zehnten die Dotation zu beschränken. Es ist da- 
rum nur ein weiterer Fehlgriff, wenn S. 276 «der Zehnte vom Zehnten aus Harrien und 
Wirland nicht genügend erscheinen konnte, ein Bisthum auszustatten, geschweige denn 
zwei. — «Es sah daher König Waldemar sich veranlasst, vielleicht von dem Erz- 
bischof Uffo dazu angeregt, — dem Bisthum Reval eine Landdotation zu versprechen». 
Kaum ein Bisthum ist anders dotirt worden. Selbst in den sächsischen Ländern waren 
nur einige vorzüglich auf Zehnten gesetzt und auch die nicht ausschliesslich; dort aber ge- 


88 С. SCHIRREN, 


schah es noch am häufigsten und gerade dort war es früh am schwersten, den Zehnten 
einzutreiben. Im Allgemeinen galten in gewissen Ländergruppen gewisse stehende Normen. 
Wenn 1238 (Livl. Urk. 156) die Oeselsche Kathedralkirche mit 300 «unci de mediocribus» 
bedacht wird, so liegt offenbar dasselbe Schema zu Grunde, nach welchem 1170 Heinrich 
der Löwe im transalbinischen Slawenlande drei Bisthümer mit je 300 «mansi» dotirt 
hatte (Urkdb. des Bisthums Lübeck No. 8). Und, wenn dieser Dotation noch hinzugefügt 
wird der «census slauorum», nämlich «de unco tres mansurae, quod dicitur Kuriz et soli- 
dus unus», so liegt die Analogie auf der Hand und aus dem Cod. dipl. Pomer. und andern 
Diplomatarien lässt sich die Zahl solcher Beispiele verzehnfachen. Es wiederholen sich 
dieselben Ansätze in diesen Provinzen. Den Opferpfennig findet man wieder in Kurland 
schon 1252, Livl. Urk. 240. Den drei Maass Korn vom Uncus entspricht das dorpatsche 
Sendkorn (Livl. Urk. 173) und nicht minder das estnische: denn die Esten haben zu ent- 
richten «de quolibet unco duas mensuras (Kylemeth). Der Verfasser freilich, wenn ich 
S. 294 Anm. 1 und S. 296, wornach ein «unendlich grosser Unterschied» bestehen soll 
zwischen der dorpatschen und der revalschen Synodalabgabe, recht verstehe, scheint das 
Verhältniss dieser Abgaben nicht näher geprüft zu haben. Vor Allem die Differenz der dor- 
patschen von der estnischen vermag ich nicht zu erkennen. Wie die fixe Dotation, so be- 
ruhen auch die übrigen geistlichen Abgaben, so mannigfach angesetzt sie auf den ersten 
Blick in den verschiedenen Landschaften erscheinen, im Allgemeinen auf einer gemein- 
samen Norm, die nicht einmal für diese Provinzen speciell erfunden war. Die Ablösung 
des Zehnten durch eine verglichene Abgabe, ein Pactum, war fast in allen Provinzen im 
Osten der Elbe gebräuchlich. Sie findet sich früh auch in Livland, wenn im J. 1211 den 
Liven auferlegt wird de «quolibet equo» ein «modius pro decima» (Origg. Liv.XV, 6). Als 
daher im J. 1240 (Livl. Urk. 165) der königliche Befehl ausdrücklich ergeht: die Vasallen 
sollten dem Bischof den Zehnten vom Zehnten geben, da tritt an dessen Stelle sofort im 
J. 1242 ein Pactum (Livl. Urk. 172): von je zwanzig Haken nämlich ein Talent Roggen 
und ein Talent Gerste, d. h. ein «nauale talentum». Nun galten bei geistlichen Steuern 
zwanzig Haken auch sonst als eine gewisse Einheit, wie denn um die Mitte des XIII. Jahr- 
hunderts in Preussen die Parochialgeistlichen ausser andern Einkünften vom Landvolk den 
Zehnten von 20 Haken erhielten. Vertreten ferner jene 2 Talente von 20 Haken den 
Zehnten vom Zehnten, so betrug von derselben Hakenzahl der Zehnte 20 Talente, 4. В. 
1 Talent vom Haken. Auch dieser Ansatz ist durchaus nicht beschränkt auf Estland. 
Dieselbe Abgabe erheben das rigische Capitel, der Orden, die Stadt gemeinsam von den 
Kuren nach der Vereinbarung von 1230, nämlich von jedem uncus И, nauale talentum 
Roggen und ebensoviel von jeder «erpica» oder von einem Pferde '/ talentum; von 2 Pfer- 
den 1 talentum (Livl. Urk. 105), und das war schon 1214 der Zehnte «secundum Lati- 
norum consuetudinem» (Origg. Liv. XVIII, 3). Es frägt sich nun, nach welcher Norm 
1259 der Synodalzehnte berechnet war: er belief sich per Haken auf 2 Külmet (Livl. Urk. 
337) und die Vasallen waren ihm ebenso, wie die Esten unterworfen (Livl. Urk. 352, a. 


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BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiRER CEnsts DANIAE. 89 


1260). Als jene sich dann mit 60 Haken von den auf ihren Aloden ruhenden geistlichen 
Abgaben lösten, mussten die Eingeborenen nach wie vor, «prout consueverunt solvere ab 
antiquo», 2 Kylemeth vom Haken entrichten. Wenn man für jene Zeit das Loof zu 6 
kleinen Külmet ansetzen darf, 1 Loof Roggen aber gleichkömmt 120 &, so entsprechen 
20 & einem Külmet oder 20 Külmet gehen auf 1 St. Wurden nun, nach dem Ansatz von 
1259 und 1281 bei 2 Külmet per Haken, 20 Külmet oder 1 S& auf 10 Haken gerechnet, 
so ist das dieselbe Abgabe, wie sie im J. 1242 angesetzt war mit 2 S& von 20 Haken und 
das eine Pactum, wie das andre, vertritt den Zehnten vom Zehnten. Allerdings ist Man- 
ches in dieser Berechnung hypothetisch: in jedem Falle aber werden die2 Külmet Roggen 
per Haken in Estland der entsprechenden Abgabe in Dorpat gleichstehen, denn diese be- 
trug, ausser der Abgabe von Heu, per Haken /, Külmet Roggen, '/, Weizen, 1 Hafer, was 
zusammen etwa 1'/, Külmet Roggen gleichkommt. 


Die einseitige Ansicht von fast ausschliesslicher Belehnung mit Zehnten verfolgt den 
Verfasser noch in andre Deductionen. Es war canonische Vorschrift, wie die Kathedral- 
kirchen, so sollten auch die Parochialkirchen fix dotirt werden, und der Bischof war soweit 
zur Fürsorge verpflichtet, dass er dem Parochialgeistlichen selbst besondre Tafelgüter aus- 
zusetzen hatte. Berichten somit die Origg. Liv., der Bischof Hermann habe den Prie- 
stern Kirchen angewiesen und sie reichlich mit Korn und Feldern begabt, so durfte das 
nicht so gewendet werden, wie S. 126: «Hierunter versteht der Annalist aber wohl haupt- 
sächlich eben nur (hauptsächlich? oder nur?) den Zehnten von den diesen Kirchen zuge- 
theilten Dörfern. Denn er fügt hinzu, es sei von Hermann dafür gesorgt worden, dass 
Vasallen und Priester das Nöthige erhielten, das Versprochene ihnen geleistet werde». Die 
Urk. Balduins Livl. Urk. 135, a. 1234 zeigt, dass in neueroberten oder zu erobernden 
Ländern selbst an «Vasallen» verliehen wurden «unci cum decimis et omni iure», mit Aus- 
nahme der Gerichtsbarkeit (judicium); an der buchstäblich zu nehmenden Dotation von 
Priestern mit Korn und Land lässt keinen Zweifel zu Livl. Urk. 240, a. 1252. 


Am schlimmsten aber ist es mit der «Zehentverleihung» in Wirland. Wir haben schon 
erfahren, wie für den Bischof kein Zehnte mehr übrig geblieben war. Und, wer sollte es 
glauben? der Legat Wilhelm, derselbe, der einen geistlichen Staat begründen wollte, ein 
Reich und eine Heerde, er «verlehnt in den von ihm aus päpstlicher Machtvollkommenheit 
verwalteten Landschaften an zahlreiche Deutsche den Zehnten und hilft somit in Jer- 
wen und namentlich in Wirland recht eigentlich den Vasallenstand begründen» (5. 151). 
Freilich, in diesem Falle lässt sich der Legat freisprechen. Die angezogene Urk. 145 weiss 
nichts von Verlehnungen unmittelbar von ihm aus; alle schreibt sie den Bischöfen zu, dem То- 
hannesclerieus, dessen VicarHermodus(demOrden?), und wem sie zufallen, ob Deutschen, 
vollends ob zahlreichen Deutschen, davon — so wahrscheinlich das sonst ist — schweigt 
sie. Dass viele Zehnten vergeben wurden, ist allerdings erwiesen, auch, dass der Papst 
ihren Widerruf verlangte; nur die furchtbaren Folgen, wie der Verfasser sie sich denkt, 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 12 


90 С. SCHIRREN, 


sind höchst überraschend. «Die harrisch-wirischen Vasallen, heisst es S. 228, 230, 231, 
sollten geradezu jedes Titels beraubt, ihrer Lehen und des Einkommens aus denselben 
d.h. des Zehnten, verlustig erklärt werden. Letzterer Schlag traf auch die stiftischen 
Vasallen. Uebrigens hatten nicht weniger Kaiser und Reich ihr Anrecht auf die von den 
Deutschen eroberten Baltischen Lande zu verlieren». Also «den Deutschen muthete man 
zu, ihr Blut an den fernen baltischen Gestaden vergossen zu haben mit keinem andern 
Zwecke, als dort einen rein geistlichen Staat zu gründen. Konnte man dies nur ernst- 
lichfür möglich halten im Lande dieser wilden Liven, Letten, Esten, die eben mit der 
Schärfe des Schwerts unter das Kreuz gebeugt, nicht dazu durch das Wort bekehrt worden? 
Und grade dies scharfe Schwert sollte nun stumpf, der Arm, der es geschwungen, kraftlos 
gemacht werden? Denn es liess sich schwerlich voraussetzen, jene Völker seien allein 
durch die alljährlich zu erwartenden, aber jedenfalls immer wieder fortgehenden Pilger 
im Zaum zu halten. Dass die Dänen aber in genügender Zahl selbst auch nur Harrien 
und Wirland colonisiren dürften, daran war vollends nicht zu denken. Die Schwertbrüder 
wieder zu einerblossen geistlichen Miliz herabzudrücken, war durchaus unmöglich» — 
Halten wir inne in diesen düsteren Phantasien und trösten uns mit dem Verfasser: es war 
nicht so ernst mit dem Widerruf der Zehntenverleihung; sie kamen «fast nie und nirgends 
in Ausführung». Allein wozu dann dieser Lärm? Prüfen wir, wie weit die Thatsachen ei- 
nen Untergang der livländischen Conföderation auch nur im ersten Schreck befürchten 
liessen: denn weniger konnte nicht erfolgen, wenn die Vasallen im Erzstift und in Harrien 
und Wirland ruinirt und der Orden herabgedrückt wurde zu bloss geistlicher Miliz. Es ist 
wahr, im J.1236 am 24. Februar (Livl. Urk. 145) hatte für Harrien und Wirland und Jerwen 
der Papst die Entscheidung gesprochen; es war dem Orden befohlen: «infeudationes, quas 
fecerunt in terris eisdem, non differant reuocare», so nämlich liest der Verfasser auf dener- 
sten Anschein mit vollem Recht für «renouare». Allein es ist schon fraglich, wie ernst das 
gemeint sei, wenn es zum Schluss heisst: «Ideoque fraternitati tuae (dem Legaten Wilhelm) 
per apostolica scripta mandamus, quatenus, quod a nobis super praemissis ordinatum est, 
facias inviolabiliter observari, omnes alienationes et infeudationes decimarum, quas 
iamdicti episcopi et J. clericus et Hermodus vicarius eiusdem fecisse noscuntur, revo- 
care (so steht diesmal im Text selbst) procurans». Es wird zum Schluss des Ordens also nicht 
mehr erwähnt. Nun ist zweierlei möglich: entweder der zweite Befehl wiederholt nur den 
ersten, dann ist es mit dem Widerruf der Ordensverlehnungen nicht ausdrücklich genug 
gemeint; — oder die beiden Anordnungen sind zu trennen, dann sind die «infeudationes» 
des Ordens, da sie ohne Zusatz dastehen, nicht als Zehntenverleihungen zu betrachten und 
es hat dann der Verfasser ohne Grund S. 274 behauptet, dem Beispiel des päpstlichen 
Statthalters in Wirland wäre der Orden mit Zehntenverleihungen in Harrien gefolgt. 
Dann aber wird auch die Conjectur «reuocare» für «renouare» bedenklich. Ueber Land- 
verleihungen hatte der Papst unmittelbar nicht zu entscheiden: er war da nur Schiedsrich- 
ter oder Vermittler der weltlichen Feinde. Anders war es mit den vergebenen Zehnten: 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 91 


da hatte er ein geistliches Recht zu wahren und dem Erzstifte Lund die Verfügung über 
die ungeschädigten, geistlichen Früchte zu sichern. Hier also befiehlt er zu revociren. 
Dort trägt er dem Orden auf zu renoviren, d. h. er soll sich mit dem König um Bestätigung 
seiner Lehen vertragen, oder die in fremdem Gebiet Belehnten herübernehmen auf Ordens- 
land. Wird aber damit nicht die ganze Folgerung des Verfassers illusorisch? Ueberdies 
ist am 13. März 1238 von dem Anbefohlenen noch nichts in Ausführung genommen (Livl. 
Urk. 159) und im Vertrage von Stenby (Livl. Urk. 160) wird die ganze Frage nur insofern 
berührt, als es heisst: «Insuper Dominus archiepiscopus Lundensis cum consensu capituli 
sui et dictus legatus pro bono pacis omnia, quae receperunt iam dicti fratres hactenus in 
dietis terris, sive de decimis, sive de aliisad iura episcopalia pertinentibus, eis 
integre dimiserunt». Die Folgerung ist einfach; urkundenmässig (Livl. Urk. 145, 160) 
steht nur dies fest: die Zehntenverleihungen waren vom Papst aufgehoben, der Ver- 
trag von Stenby stipulirt um des Friedens halber nur den Verzicht auf Nachrechnung 
wegen der bisher an geistlichem Gute vom Orden genossenen Früchte; die Landverlei- 
hungen, die weder den Papst, noch den Erzbischof von Lund kümmerten, bleiben, — 
vielleicht obwol, vielleicht weil die Vertragsurkunde über sie nichts stipulirt, — jedoch 
zum Theil nur, bestehen; die Entscheidung über die Alode wurde vollends der Zeit über- 
lassen. Der Orden konnte es jedenfalls nicht übernehmen, aus fremdem Lande die zu 
verjagen, welche unter seiner Vogtei sich auf eigne Faust dort niedergelassen hatten; mochte 
der König zusehen, wie er mit ihnen; mochten sie sorgen, wie sie mit dem König fertig 
würden. 

Eine Behauptung des Verfassers gestehe ich nicht mit Sicherheit deuten zu können. 
Wo, S. 228, vom Widerruf der Zehntenverleihungen in Estland die Rede ist, da heisst es: 
«Letzterer Schlag traf auch die Stiftischen Vasallen»; gemeint sind wol die Vasallen des 
rigischen Stifts oder aller Stifter in Livland. Sofern nur die mit estnischen Zehnten Be- 
dachten verstanden werden, ist nichts dagegen einzuwenden, als dass die Einziehung sie 
doch nicht als «Stiftische» Vasallen traf. Ich vermuthe aber, es habe der Verfasser allen 
Ernstes eine allgemeine Zehnteneinziehung und einen totalen Ruin des Vasallenstandes in 
allen Provinzen gefürchtet. Für eine solche Besorgniss jedoch bietet Livl. Urk. 145 nicht 
den mindesten Anhalt. Vielleicht hat dann die Lectüre von Livl. Urk. 144 nachgewirkt. 
Allein auch hier ist die Rede nicht von den bestehenden Provinzen. Es heisst von den 
Ländern, die etwa noch mit Hilfe der Kreuzfahrer (pauperum crucesignatorum) erobert 
würden: «Circa personas vero et terras, quas Dominus ad fidem vocaverit, taliter provi- 
deas— — nec infeudentur decimae et terra sine nostro beneplacito nullatenus dividatur». 
Der Schlusssatz vollends, der einer Theilung der Bischöfe mit dem Orden vorbeugen soll, 
beweist, wie es sich einzig um künftige Eroberungen handelt. 


92 C. SCHIRREN, 


Erkennen wir so einen zwiefachen Besitztitel am Lande, so wird nun zu prüfen sein: 
berücksichtigt der L. C. nur einen oder beide; verzeichnet er nur Lehngüter oder auch 
das Alod? Selbst der Verfasser hat, wie wir sehen, diese Frage nicht ganz unterdrückt. 
Wenigstens streift sie im zweiten Abschnitt den $ 5 an der Stelle, von welcher ich absetzte, 
um im Zusammenhange die Grundanschauungen zu prüfen, von welchen die Antwort auch 
auf diese Frage abhängt. Der Verfasser will als Alod nur zwei kleine Grundstücke gelten 
lassen, eins im Besitz des Conrad Hofskae, das andere im Besitz der Mönche von Dü- 
namünde. Im letztern Falle hat ihn der Pauckersche Abdruck irregeführt; es muss gele- 
sen werden 

Monachi de Dynaeminnae. Jarvius. X. et Uillslemp У. proprios 
Dominus Rex. Waskael. XXI. et in curia Domini Regis VI. 
Das heisst: Uillolemp, den ich Tab. V eingetragen, allein mit Absicht nicht mitgezählt 
habe, besass im Dorfe Jarvius, davon dem Convent von Dünamünde 10 Haken gehörten, 
5 Haken, doch nicht vom Kloster in Lehn oder Pacht, sondern als proprios uncos; in 
Waskael aber hatte er vom König 6 Haken: die schärfere Bezeichnung «proprios» ist so- 
mit, um Missdeutung auszuschliessen, von zwei Seiten veranlasst. Dasselbe gilt von der 
Stelle: 
Conrad Hofskae. Uvalkal. XXXII. et ПИ proprios. 

Es wird damit deutlich gemacht: 32 Haken hatte er zu Lehn, 4 Haken aber in demselben 
Dorfe zu eigen. Nun meint der Verfasser, da die Landrolle das Alod mit diesem Ausdruck 
kennzeichne, so könne mit den häufig wiederkehrenden Beisätzen «absque rege, sine rege, 
non a rege», dieselbe Art des Besitzes nicht gemeint sein. Der Grund ist nicht überzeu- 
gend. Wo kein Missverständniss zu besorgen war, da genügte irgend eine Bezeichnung, 
aus der man sah: das Gut sei nicht vom König zum Lehn gegeben. Auch behaupte ich 
durchaus nicht, jede ähnliche Notiz gehe auf Alod, schon, weil ich weder nach der einen, 
noch nach der andern Seite dem L. C. eine auffallende Consequenz zuschreibe: selbst die 
Kenntniss vom Besitztitel jedes Landstücks muss ich ihm abstreiten. Besondre Notizen 
stehen anscheinend nur dort, wo ein besondres Interesse sich concentrirte, vielleicht ein- 
mal aus Laune, ein andersmal durch Zufall. Die Deutung des Verfassers befriedigt jeden- 
falls am wenigsten. Nach ihm besagen alle drei Ausdrücke absque, sine, non a rege «nur 
soviel, es habe der Besitzer für diese Haken zwar einen frühern Lehnbrief, vom däni- 
schen König indessen die Belehnung noch nicht erhalten — vielleicht sogar 
noch nicht nachgesucht». Der Verfasser hat dabei seine Hypothese vom Lehnhof aus 
dem Auge verloren. Der Lehnhof sollte ja die Rechtstitel untersuchen; warum setzte er 
nicht alle, die um Bestätigung nicht einmal nachgesucht, sofort vom Lande, wie so viele 
Vertriebene? Der Verfasser meint, er hatte seine Gründe. Allein der L. C. soll ja vom 
Lehnhof herrühren: von «königlicher» Bestätigung ist somit noch nirgends die Rede. 5. 
265, 266 löst uns das Räthsel; wir lesen: «Eine letzte Kategorie bildeten endlich diejeni- 
gen, namentlich wirländischen, Vasallen, die aus irgend welchem Grunde keine Lehnbriefe 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBeR CENSUS DANIAE. y5 


des Ordens vorgewiesen oder überhaupt die Erneuerung der Belehnung noch nicht nach- 
gesucht, oder in Betreff derer sonst eine Schwierigkeit sich fand, die der unmittelbaren 
Lehnsbestätigung durch den königlichen Stellvertreter im Wege war. Viele dersel- 
ben hatten in Beziehung auf ihre anderweitigen Besitzungen dieselbe erhalten (der Verfas- 
ser verweist auf Abth. IL, $5). Es konnte sich demnach in diesen Fällen nur noch um 
eine directe Genehmigung des Königs handeln, um den Besitz vollständig anzuer- 
kennen». Man beachte wol, S. 82 heisst es: sie hätten die Bestätigung noch nicht «vom 
König» erhalten, S. 265: «vom königlichen Statthalter». Die Lösung für diesen Wi- 
derspruch, oder wenn man will, die Erklärung dieser Differenz, ist sehr einfach. S. 82 ist 
früher geschrieben, als S. 265 und nicht sorgsam genug revidirt. Man sieht deutlich: die 
Hypothese vom Lehnhof ist dem Verfasser erst nachträglich gekommen; ich vermuthe: 
weil er fühlte, bei der Aufiassung von II, $ 5 sei die Lehre vom «einheitlichen, officiellen 
Aktenstück» nicht zu retten. Diese Rettung sollte der Lehnhof übernehmen; allein die 
Schwierigkeit ist dadurch nur modulirt, nicht gehoben. Entweder die Landrolle ist jünger, 
als die königliche Bestätigung, dann begreift man die häufigen Ausdrücke: «absque, sine, 
non a rege» nicht, oder: sie ist älter, dann müsste es überall und darum nirgends heissen: 
«non a rege». Der Ausweg, den der Verfasser vorschlägt, ist unklar: «es fand eine Schwie- 
rigkeit statt»; «es konnte sich nur um eine directe Genehmigung des Königs handeln, um 
den Besitztitel vollständig anzuerkennen». Wie hat man sich dabei das Verhältniss des 
apokryphen Lehnhofs, von dem «unmittelbare» Bestätigungen ausgehen, zum König zu 
denken? und wie ungeschickt würde ein rechtlich unentschiedner Besitztitel bezeichnet 
durch die gewählten Ausdrücke? «Non a rege» heisst doch einfach «nicht vom König, und 
nicht «noch nicht vom König»? Und was heissen: «sine rege oder absque rege»? Conse- 
quent müsste der Verfasser erklären: nicht vom König, wol aber vom königlichen Statt- 
halter und dann wiederum müsste das fast überall stehen und darum nirgends. Viel ein- 
facher ist die Erklärung: «non a rege» bezeichnet einen Lehnbesitz, der nicht vom König 
war übertragen worden; von wem? war in den meisten Fällen gleichgiltig oder unbekannt; 
nur, wo ein besondres Interesse stattfand, wurde hämisch bemerkt: «nescitur a quo». «Sine 
rege» aber und «absque rege» bezeichnet ein Alod, auf dessen Bestand man etwa nicht rech- 
nete oder im Allgemeinen den unsichern Besitztitel. Weder bei offenbaren königlichen 
Lehen, noch bei gesichertem Alod bedurfte es einer Bemerkung; an beide Besitztitel ver- 
theilt sich die übrige Masse der Grundstücke. 

Nur nàch einer Seite glaube ich im Г. С. eine ziemlich stetige Consequenz zu ent- 
decken: in der Scheidung nämlich der «expulsi» und «remotiv. Wäre der Ausdruck belie- 
big gebraucht, so fänden sich vielleicht mehr gleichnamige in beiden Kategorien, obwol 
ich zugebe, dass auch in jeder Gruppe für sich nur wenig Namen sich wiederholen. Der 
einzige «expulsus», der offenbar zugleich als «remotus» verzeichnet wird, ist der Dus En- 
gelardus oder Engaelard miles und er erscheint so in zwei verschiedenen Districten. 
Ich steigre daher die Differenz der Ausdrücke und sehe, wie schon erwähnt, nicht mit dem 


+ 


94 С. SCHIRREN, 


Verfasser in den «remoti» gutwillig Gewichne, in den sexpulsi» gewaltsam Vertriebne, da 
im einen, wie im andern Falle weder der Verlust des Betroffenen geringer, noch der Rechts- 
titel des Nachfolgers kräftiger würde: mir sind die «remoti» vielmehr Belehnte, «expulsi» 
Besitzer auf eigne Faust und in der zwiefachen Bezeichnung erkenne ich gewissermaassen 
eine Wirkung des zwiefachen, im Lande zu Recht bestehenden Besitztitels. «Remoti» heis- 
sen jene, nicht weil sie vertrieben, sondern weil sie versetzt werden; sie erhalten vom 
Orden oder im Allgemeinen von ihren Lehnsherren anderswo ein Aequivalent an Land; 
die meisten wol vom Orden als dessen Vasallen, denn ich stimme dem Verfasser bei: die 
dänische Restauration habe zu diesen Versetzungen den bedeutendsten Anstoss gegeben. 
Dann aber werden wir in Urk. 145, a. 1236 nicht zu lesen haben «revocare»; vielmehr ist 
eben der Befehl des Papstes vollzogen: «infeudationes, quas fecerunt in terris eisdem, non 
differant renovare» und, wenn es sich bei der Unzuverlässigkeit der Turgeniewschen Ab- 
schriften um eine Correctur handelt, so schlage ich entschieden vor: «removere». — Ist 
diese Auffassung begründet, so erklärt sich, selbst im Sinne des Verfassers, um so besser 
das verschiedene Verhältniss der Entfernten in Harrien und Wirland; dort nämlich kom- 
men (sofern jeder zweimal gezählt wird, der zweimal genannt ist) in den 3 ersten Parochien, 
in Uoment. und Вере! Har. 65 aus dem Besitz und von diesen sind 25 sremoti»; in vier 
Distrieten: Ocrielae, Alentakae, Askalae, Laemund gibt es weder expulsi, noch remoti. 
in Repel Wir., Maum und Laemund ist unter 12 nur 1 sremotus». Die «remoti» verhalten 
sich somit zu den «expulsi» in jenen Landschaften wie 1: 1,,, in diesen wie 1: 11,,. Nicht, 
weil diejenigen, welche sonst «remoti» gewesen, d. h. gutwillig gewichen, wären, in Wir- 
land «wo ein Heerd viel mächtigerer Opposition war», länger widerstanden und dadurch 
«expulsi» wurden, sondern: weil in Wirland der Alodialbesitz noch von den Ordenszeiten 
überwog und der Orden das Land bereits von mächtigen Geschlechtern nach Landrecht oc- 
cupirt fand. So musste aus Wirland nur ein Belehnter anderswo entschädigt werden, 
während 11 Ansiedler auf eigne Faust den dänischen Ansprüchen erlagen. 

Im Zusammenhange mit dieser Auffassung empfehle ich ein eigenthümliches Verhält- 
niss zur Prüfung. Mir ist dazu bisher die Zeit nicht zugemessen gewesen; ich habe daher, 
wie schon in einem ähnlichen Falle, Jedem, der an die Frage geht, das Material in Taf. I, 
II, III vorbereitet. Ist es nämlich schon bezeichnend, wenn unter den Vertriebnen (ex- 
pulsi und remoti) in Harrien jeder nur 9 Haken, in Wirland 18 besessen, so gewinnt dies 
Verhältniss tiefre Bedeutung nach sorgsamer Prüfung aller Grundbesitzverhältnisse im 
Osten und Westen. Die Summe der grossen Grundstücke von 20 und mehr Haken be- 
läuft sich beispielsweise in den 3 ersten Parochien von Harrien auf wenig über 9%, des 
gesammten Grundbesitzes; die Summe der mittleren Grundstücke von 10—19 Haken auf 
fast 44% ; der kleinen Grundstücke von 9 und weniger Haken auf 47%. In Вере! Wir. dage- 
gen in derselben Reihenfolge auf 61%, 24°, 15%. Dazu sind in den entsprechenden Ка- 
tegorien die einzelnen Grundstücke im Mittel grösser in Wirland als in Harrien. Auf ein 
grosses Grundstück kommen hier 25°, in Wirland fast 30 Haken; auf ein mittleres in 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 95 


Harrien 12%, in Wirland 12%,, auf ein kleines dort 5/, hier 6°/,. Ich wage die Vermu- 
thung: diese Differenzen seien begründet im Vorherrschen der Alode in Wirland, der Le- 
hen in Harrien. Zur Entscheidung kann die Frage erst gebracht werden durch tief ein- 
gehende Untersuchungen, die zugleich die Verhältnisse des Landvolks berücksichtigen 
und auch die folgenden Jahrhunderte umfassen. Ich empfehle sie angelegentlich der Er- 
wägung und habe wenigstens darlegen wollen, wie mannigfach die Gesichtspunkte sind, 
die ein so reichhaltiges Document, wie die «Landrolle» eröffnet. 

Trotz ihres nicht officiellen Ursprungs. Denn vergebens haben wir bisher nach des- 
sen Merkmalen gesucht. Weder der Beweis, das Document folge unmittelbar auf den 
Vertrag von Stenby, ist gelungen, noch hat sich jenes eben durchmusterte System von 
Anschauungen so consequent bewährt, als erforderlich war, die Consequenz des L. C. zu 
erweisen. Es wird aber der Gegenbeweis abgeschlossen sein, sobald nun drittens eine ge- 
naue Prüfung des Documents nach äussern, nicht minder, wie nach innern Merkmalen, sei- 
nen nicht sofficiellen» Character und Ursprung beleuchtet. 


96 C. SCHIRREN, 


III. Hritische Erôrterungen über Character und Ursprung des 
Liber Census. 


Dem Verfasser zwar erscheinen Untersuchungen über das Alter einer Handschrift, 
über Foliirung u. del. ziemlich nichtssagend. In diesem Falle nicht ganz mit Unrecht, da 
Blattzählung in einem, wie nunmehr erwiesen ist, falsch foliirten Codex irre geleitet hätte. 
Allein, um ein Urtheil zu gewinnen über Inhalt und Ursprung eines schriftlichen Docu- 
ments ist es zuletzt doch unerlässlich, auch seine äussern Merkmale so scharf ins Auge zu 
fassen, als Beschaffenheit und Gelegenheit gestatten. Vielleicht hätte sich der Verfasser 
dieser Aufgabe weniger bereitwillig entzogen, wenn ihm Klemmings Beschreibung des 
Codex bekannt geworden wäre (vergl. «Studien» S. 9). Man findet sie in der Antiquarisk 
Tjdsskrift. 1849—1851. р. 266—270 unter der Ueberschrift: Meddelande om Konung 
Valdemars Jordebok, af G. Е. Klemming. Utdrag af ett bref, 4. Stockholm, d. 18de 
Nov. 1851. Leider befriedigt die Mittheilung wenig und eine ausführlichere ist zunächst 
nicht zu erwarten, da dies eben der in den Ant. R. t. II Vorrede in Aussicht gestellte 
Aufsatz zu sein scheint. Der bezügliche Band der Zeitschrift kann nämlich erst Ende 
1852 geschlossen sein, weil im Anhang р. ХХХШ ein Mitgliederverzeichniss für die Jahre 
1851 und 1852 abgedruckt ist, und, da Rafn seine Vorrede vom 3. Sept. 1852 datirt, so 
hat er nur eben dieselbe Mittheilung in Aussicht stellen wollen, aus der wir nun einige 
dürftige Aufschlüsse gewinnen. Die Ant. Russ. melden, wie Klemming dazu kam, den 
sog. L. C. D. als blossen Bestandtheil in einen grösseren Codex der Stockholmer Bibli- 
othek wieder einzufügen. Die Schicksale der Handschrift erzählt er selbst folgender Weise: 
Im Jahre 1705 habe J. G. Sparfvenfeldt dem Antiquitäten-Cabinet zu Stockholm einen 
damals bereits defecten Codex (seitdem A. 41.) geschenkt. Es fehlten, wie sich nunmehr 
an einer alten, von späterer Tintenbezifferung halb verdeckten, Bleistiftpaginirung von 
1600 nachweisen lässt, die Blätter 1, 8—53, 129—136, 153. Aus ihnen war das «Jor- 
debok» so zusammengesetzt, dass Blatt 1 als Vorsatzblatt diente, Blatt 8—38 wurden zu 
1—31, Blatt 129—136 zu 32—39, Blatt 39—53 zu 40—54: 153 bildete das Schluss- 
blatt. Vier Blätter, 54—57, waren, obzwar dem Inhalt nach verwandt, übersehen worden 
und sassen noch im Sparfvenfeldtschen Codex. Dass Sparfvenfeldt selbst die bezeich- 
neten Blätter ausgeschnitten und zu seinem «Jordebok» zusammengebunden, das ergibt sich 
aus der neuern Paginirung in Zügen seiner Hand und aus der Notiz auf seinem neugeflick- 
ten Codex: «Boken är 463 ааг gammal: 1694» (das Buch ist 463 Jahre alt, nämlich 1231 
+463—1694) Auch diesen neuen Codex, das «Jordebok», schenkte Sparfvenfeldt 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 97 


demselben Cabinet, wo beide getrennt bewahrt und benutzt wurden, bis neulich Klemming 
den Zusammenhang beider Codices entdeckte. Welche fata der ungetrennte Codex ge- 
habt, ehe er in Sparfvenfeldts Hände kam, ist nicht zu ermitteln. Möglicherweise hat 
ihn Stephanius besessen, wenn man eine Andeutung in der Vorrede zur Resp. Daniae 
beachtet, sowie zwei kurze, chronologische Auszüge in den Noten zu seiner Ausgabe des 
Saxo Gr. p. 251, 252. Vielleicht rührt die Bleistiftpaginirung von ihm her. — Restau- 
rirt bildet der Codex nunmehr einen Pergamentband von 153 Blättern 8°., obwol er ur- 
sprünglich 165 Blätter enthielt oder, wenn man annimmt, er habe mit /, Bogen begon- 
nen, wie er mit /, Bogen schliesst, 168 Blätter. Die Handschrift gehört in die J. 1260 
— 1270. Der Inhalt ist folgender: 


Blatt 1. Auf la. stehen einige verlöschte Zeilen; es war das Vorblatt zum 
«Valdemars Jordebok» in Sparfvenfeldts Anordnung. 
» 2—7. Kalendarium; vollständig. 

2 Blätter, die 2 letzten des ersten Bogens vor der Blattbezeich- 
nung mit Bleistift, wahrscheinlich leer; in alter Zeit 
ausgeschnitten. 

1 Blatt, das erste von Bogen 2; wahrscheinlich leer; in alter 
Zeit ausgeschnitten. 

» 8—57. «Jucia Anno domini M°. CC°. ХХХР ff. ff.» (L. С. D.). 
und zwar: 

Blatt 8—38. «Jucia A° domini М®. CC°. ХХХ factum est 
hoc scriptum» ff. bei Langebek. S.R.D. (УП, 517— 


536). 1—62. 

» 39—53. «Lyungby. LX. marc. — — De Guthaes bo- 
haeret CCC marc.» ff. 5. В. D. (УП, 543—553). 79 
—108. 


» 54—57. (Fragmentum enumerationis territoriorum Da- 
niae ff.) $. В. D. (V, 615—612.) 
1 Blatt, das letzte von Bogen 7, zwischen 53 und 54, in alter 
Zeit ausgeschnitten. Ob unbeschrieben? 
» 58—64. (Chronicon Danicum ab An. 1074 usque ad 1219) $. В. D. 
III, 259—265. 
1 Blatt, das vierte von Bogen 9, in alter Zeit ausgeschnitten; 
wol leer. 
» 65b.—66. (Nomina regum Daniae а Dan adEricum Glipping. 1259.) 
S. R. D. I, 19—20. 
» 67—84a. «Incipit provincialis». Verzeichniss der dem Römischen Stuhl 
untergeordneten Provinzen, Erz- und Bisthümer. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des seiences, УПе Série, 13 


98 


C. SCHIRREN, 


Blatt 84b. Verzeichniss von Kaiser- und Königreichen. 
» 85—90a. Verzeichniss der Päpste von Christus bis auf Gregor У. 
2 Blätter, die beiden letzten von Bogen 12; in alter Zeit aus- 
geschnitten; wol leer. 
» 91— 97а. De regis filio captivato atque in carcerem truso et inde li- 
berato. 
» 97a2.—98a. «Theologische Disticha». 
» 985. Expositio XII lapidum quibus fundamenta et muri facti sunt. 
Nur zwei Abschnitte: De iaspide. De safiro. 
» 99—104а. Regeln für Mönche des Benedictinerordens; Klemming be- 
merkt dazu: Nicht die regula S. Benedicti; bricht mitten im Satze ab. 
» 104b. Unbeschrieben. 
2 Blätter, die 2 letzten von Bogen 14; in alter Zeit ausgeschnit- 
ten; wol leer. 
» 105—196. Continuacio distinctionum, quas dominus innocencius papa 
III composuit sub figuris de sacramentis misse. 
» 127—128. (Navigatio ex Раша per mare occidentale orientem versus) 
S. R. D. V, 622—623. 
» 129—136. «Jsta bona scotauit haquinus palne sun domino Regi Chri- 
stoforo». S. В. D. (УП, 536—542) 63—78. 
und zwar: 
Blatt 129a. «Ista bona scotauit haquinus ff. S. В. D. (VII, 536) 
63% 
» 129b.—133a. Descripcio cuiusdam partis terre falstrie». S. 
R. D. (VII, 536—540) 64—71. 
» 133b. Unbeschrieben. $. В. D. (УП, 540) 72. 
» 134. «Terra domini Regis in Lalandia». В. В. D. (УП, 540 
—541) 73—74. 
» 135а. Unbeschrieben. В. В. D. (УП, 541) 75. 
» 135b.—136a. «Ч Нее зап nomina villarum in ymbria». S. В. 
D. (VII, 541—543) 76—79. 
» 136b. Unbeschrieben. $. В. D. (VII, 543) 80. 
(Darauf kommt bei Langebek p. 81 leer; 
р. 82: «In Wironia. У. Kiligunde» ff. 
» 137—151. Explicatio Alarum, Cherubim et pennarum. 
Klemming bemerkt dazu: dieser Titel ist in Handschrift von 1600 
auf Blatt 137a. geschrieben ; im Uebrigen ist diese Seite leer; Blatt 
137b. enthält die Zeichnung eines Cherub. 


Beireac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 99 


Blatt 151b. Unbeschrieben. 
1 Blatt, das letzte von Bogen 20, in alter Zeit ausgeschnitten; 
wol leer. 
2 Blätter, die beiden ersten von Bogen 21, der bloss 4 Blätter 
hatte, in alter Zeit ausgeschnitten, wol leer. 
» 152. «Istut scriptum est de testamento domine Margarete in lecto 
egritudinis, dum uiuit nichil expositum fiet de testamento» ff. 
» 1526. Unbeschrieben. 
» 153. Schlussblatt; auf 153a. eine flüchtige Copie von, oder ein Ent- 
wurf zum Cherub von Blatt 137; 153b. unbeschrieben. 


Für unsre Untersuchung gewinnen wir aus dieser Beschreibung zweierlei. Einmal 
lernen wir die fragmentarische Zerrissenheit des sog. Liber Census Daniae kennen. So- 
dann erforschen wir: der Codex, aus welchem unsre «älteste estnische Landrolle» stammt, 
rührt von Geistlichen her. Ob er in Estland geschrieben wurde, ist schwer zu ermitteln; 
ich möchte mich dafür entscheiden. Für diese Frage dürfte das Testament der da Mar- 
garetha Winke enthalten. Im Uebrigen scheinen die Excerpte einen Cistercienser zu 
verrathen. Wenigstens widerspricht dem weder die angebliche Regel des Benedictineror- 
dens, noch die Continuatio distinctionum Innocenz des III. Und einen solchen am ehsten 
musste die «Explicatio Alarum Cherubim» interessiren, da wol die Schrift des Alanus ab 
Insulis über Jesaias VI «de sex alis Cherubim» gemeint ist. Bis jedoch einmal die nähere 
Prüfung des Codex ermöglicht ist, sind wir mit unsern Untersuchungen auf die publicirten 
Fragmente gewiesen und schwerlich könnten wir in der Frage nach Ursprung und 
Character des estnischen L. C. an äusseren, wie selbst inneren Merkmalen hinreichend 
nahe treten, wäre nicht grade der Estland betreffende Theil von der Kopenhagener Alter- 
thums-Gesellschaft im zweiten Bande der Antiquités Russes im trefflichsten Facsimile 
nachgebildet. 


Leider hat der Verfasser kaum einen Blick hineingeworfen; zu Zeiten, scheint es, hat 
er seine Existenz gar vergessen, so wenn er sich $. 12 für die Uebereinstimmung der 
Schriftzüge von Fol. 41b. und den folgenden Blättern auf Suhm beruft, da doch das Fac- 
simile da war, mit eignen Augen geprüft zu werden. Dafür hat er seiner Arbeit die Aus- 
gabe von Knüpffer und Paucker (der Güterbesitz in Estland zur Zeit der Dänen-Herr- 
schaft ff. 1853.) durchgängig zu Grunde gelegt. Mindestens hätte er der Lithographie im 
Livl. Urk. den Vorzug geben sollen, da er dann nur gelegentlich Missgriffen ausgesetzt 
war, wie etwa, wenn Fol. 45b. gelesen wird «Thitmar garcon grath» statt«Thitmar garcon 
conrath», wo doch ein Blick auf die verschiedenen Anfangszeichen der beiden letzten Na- 
men und vollends die Vergleichung mit Fol. 51b. Z. 9 «contra regem» ausreichten, die 
zudem ganz gewöhnliche Abkürzung zur Lösung zu bringen. Bunges Abdruck jedoch hat 
den grossen Vorzug, die Stellung der Zeilen nicht zu verrücken, wogegen die Ausgabe 


* 


100 C. SCHIRREN, 


Pauckers sie mit sorgloser Willkür arrangirt. Ueberdies ist hier die Lesart der Namen 
unzuverlässig. Beispielshalber setze ich eine kleine Liste einfacher corrigenda her: 

Fol. 42а. 1. Kazwold, st. Kaxwold; Hakriz st. Hakroz. 

Fol. 42b. 1. Tois st. Tors; Kiriuær st. Kirmær; Hanaras st. Hanaros; liuas st. 
Linas; Вар st. Raiklap. 

Fol. 43a. 1. Selkius st. Selknis; Sarnius st. Sarmus; Kariscae st. Kariskae; Sa- 
landaus st. Salandaris; Kaiu st. Kain; Tomias st. Tonnas; Tamias 
st. Tannas; Coriakiuæ st. Coriacmæ; Rasiueræ st. Rasmeræ; et 
Hildelempæ st. Aehilde lempe (das lehrt unwiderleglich die Ver- 
gleichung mit Fol. 51a. Z. 14: «et thetwardus; also ein Personen- 
namen statt eines Ortsnamens). 

Fol. 43b. 1. Maechius st. Maethcus ff. ff. 

Welche ärgern Missgrifte die Benutzung der Pauckerschen Ausgabe fast unvermeidlich 
macht, wird sich aus der folgenden Beschreibung des Facsimile ergeben. 

Die «estnische Landrolle» bildet in dem Stockholmer Codex in 8°. eine eigne Gruppe 
von Blättern und zwar gehören ihr an die Fol. 40—53 (im Facsimile: 41—54). Voraus 
geht ihr derjenige Theil des L. C., welchen die S. R. D. VII, 517 ff. mit der Paginirung 
р. 1—79 veröffentlichten; р. 80, im restaurirten Codex Fol. 136b., ist unbeschrieben; 
ebenfalls unbeschrieben ist Fol. 40a. (41a.); auf 40b. (41b.) beginnen die Aufzeichnungen 
über Estland. Wenn so die Integrität des Anfangs sicher gestellt ist, so wird dagegen von 
Fol. 53 (54), dessen Rückseite die letzten Notate der uns erhaltenen «Landrolle» anfüllen, 
der Uebergang zu dem folgenden «fragment. enumerationis territ. Dan.» (S, R. D. V, 615 
—621) durch ein seit Altem ausgeschnittenes Blatt bezeichnet, das immerhin noch einige 
Angaben über Estland enthalten haben mochte. Im Verlauf werde ich die Foliirung nur 
nach dem Facsimile citiren. 

In diesem durch seinen Inhalt zusammenhängenden Theil des Codex, Fol. 41—54, 
hält jede Octavseite 21 sauber gezogene Horizontallinien, die zu beiden Seiten von senk- 
rechten gefasst sind, über welche sie nach links und rechts nur oben, in der Mitte, und 
unten zu je zwei hinaustreten. Ausnahmsweise zählt Fol. 41b. nur 20 Linien, ebenfalls 
nur 20 Fol. 50a.; doch sieht man im letztern Fall, wie der Schreiber die oberste Linie 
nur vergessen hat. Von den 21 Linien ist die Mehrzahl beschrieben; doch zählt jede Seite 
eine oder mehrere freigelassne: 1, 2, 3, 4, 5, 6, einmal selbst 8, ein andres mal 9. Mit- 
unter, wo es an Raum gebrach, ist unter oder zwischen den Linien geschrieben; fast durch- 
gängig links, gelegentlich auch rechts, treten über die senkrecht fassenden Linien die Na- 
men der Besitzer hinaus; eingerückt sind sie nur Fol. 42a., 42b., 54a., 54b., ganz fehlen 
sie an der gewohnten Stelle Fol. 50b. 

Nicht gleichmässig durchgeführt ist die Innerliniirung. Während Fol. 49b. der Per- 
pendiculärstrich rechts ganz fehlt, und von einfachen Senkrechten gefasst sind Fol. 41b., 
42b.—47a., 53b., 54b., haben links eine gedoppelte Senkrechte: Fol. 42a., 47b., 48a. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LißBER CENSUS DANIAE. 101 


(sogar eine dreifache) 49a., 50a., 51a., 52a., 53a., 54a.; rechts eine gedoppelte Senkrechte: 
Fol. 48b., 50b., 51b., diese drei wol nur der Symmetrie wegen, während die Doppelfas- 
sung auf den Fol. rectis bestimmt war, Initiale aufzunehmen, die freilich bald durchgängig, 
bald hier und da zur Seite treten: hineingesetzt sind sie Fol. 42a. (doch gelegentlich sammt 
Minuskeln; auch sind es nicht, wie sonst, Initiale der Orts-, sondern der Personennamen). 
48a., 49a., 50a., 5la., 54a.; dagegen nur ausnahmsweise, und zwar 2 mal, auf Fol. 52a.; 
consequent aber zur Seite gesetzt Fol. 53a. 

Auf den ersten Blick meint man die Handschriften zwischen Fol. 52b. und 53a. schei- 
den zu müssen: genauere Prüfung zeigt, dass die Abweichung wol nur von feinerer Feder 
herrührt und kleinerm, gedrängterm Zuge, während gelegentlich, wie 53a. 0.15 in «godae- 
frit» die alten Züge deutlich durchblicken und auf den letzten Seiten die Schrift der ersten 
Blätter unverkennbar und fortlaufend wiederkehrt. 

Es lässt sich somit die Betheiligung zweier oder mehrerer Hände nicht sicher nach- 
weisen und auch die Unregelmässigkeiten in Liniirung und Anordnung erscheinen nicht 
bedeutend genug, um sie verschiedenen Schreibern beizumessen: zum Theil sind sie bedingt 
durch die verschiedenen Gruppen der Orts- und Personennamen und durch den Versuch, 
diese nach verschiedenen Principien zu ordnen. 

Dagegen nöthigen die Abweichungen und Unregelmässigkeiten zur Annahme: die Ar- 
beit sei mit Unterbrechungen fortgeführt und nicht ‚völlig beendet. Denn einmal fehlen 
von Fol. 49a. an die rothen Tincturen, wodurch gelegentlich ein Initial ganz ausfällt, wie 
Fol. 51а. Z. 4 im Ortsnamen — bias, wie Fol. 54а. И. 19; 53b. Z. 4; 54b. 2.2 das] 
u. dgl. m. Sodann aber sind Fol. 46a. für die Zeilen 9—12 ein Besitzer, Fol. 50b. sämmt- 
liche ‚Besitzer nicht eingetragen, mit Ausnahme derjenigen, welche in den Innerraum zu 
stehen kamen. Selbst Fol. 42b. Z. 10 dürfte, nach dem rothen Ansatz zu schliessen, ein 
Name ausgefallen sein. Dass es andrerseits Nachträge gab, scheint sich aus den klein- 
geschriebenen Beisätzen «non a rege» zu ergeben, welche auf denselben Seiten neben gross- 
geschriebenen Noten gleicher Bedeutung vorkommen, wie Fol. 50a., 5la. In ähnlichen 
kleinen Characteren findet sich sonst nur Fol. 50b. die Ueberschrift «eccliev. Alle aber 
scheinen mir von der Feder notirt, welche Fol. 52b., 53a. kennzeichnet; das einzige «da» auf 
Fol. 53b. Z. 4 halte ich für eine viel später angebrachte seinsollende Correctur. In den 
Fol. 50b. ausgefallenen Personennamen, wie in den besprochenen Beisätzen dürfte die ein- 
zige Andeutung gefunden werden, der Stockholmer Codex enthalte nur die Copie einer 
«estnischen Landrolle». Doch ist die Folgerung nicht zwingend. 

Dieselbe Einheit der Anordnung, die, trotz aller Unregelmässigkeiten, aus den bisher 
besprochenen Merkmalen erkannt wird, beherrscht nun auch die Anordnung des Textes 
und zwar abermals trotz aller Unregelmässigkeiten. 

Im Allgemeinen nämlich ist zwischen je zwei Besitzern und den ihnen zugeschriebe- 
nen Gütercomplexen je eine Zeile freigelassen, mit den auffallenden Ausnahmen in der 
zweiten Hälfte von Fol. 42b. und ganz Fol. 43a.; nachlässig ist noch die Anordnung auf 


102 C. SCHIRREN, 


Foi. 43b.; sonst sind nur vereinzelte Ausnahmen zu notiren auf Fol. 44a. Z. 18; — 44b. 
2.8, 11,14; — 45b. 2216,17, — 495. 2. 3, 6,12,713,205,, 16% 17 ;— 50а, Zu 
16; — 510. 2. 14; — 52a. Z 7; — 53a. Z. 11, 13, 19; — 53b. Z. 6, 17; — 54a. 
Z. 9; — Fol. 54b. endlich ist die Trennung nur noch anfangs beobachtet. Man sieht, die 
Absicht ging offenbar darauf, die Zeile überall freizulassen; an manchen Stellen lässt sich 
erkennen, wodurch der Verfasser während des Schreibens oder nachträglich sich veranlasst 
sah, sie auszufüllen. Die grösste Spalte ist Fol. 47b. geblieben, nacheinander 6 Zeilen; 
vorher geht die Aufzeichnung: DW rex nobis ff.; es scheint: der Raum wurde freigelassen, 
um spätere Güterverleihungen, die etwa erwartet wurden, vielleicht schon erbeten waren, 
nachtragen zu können. 


Mögen wir nun die Copie eines gleich vollständigen Originals vor uns haben oder das 
Original selbst: auch im letzteren Falle wird man sich die Landrolle nicht ganz aus dem 
Gedächtniss oder nach mündlichen Aussagen niedergeschrieben zu denken haben. Im ei- 
nen Falle aber, wie im andern erklären sich die vorkommenden Inconsequenzen. Stellte 
der Schreiber von Zetteln vereinzelte Notizen zusammen, so suchte er möglichst zu com- 
biniren. Lag ein Original vor, so war es jedenfalls nicht zweckmässiger geordnet, als das 
erhaltene Exemplar, vielleicht noch verworrner, und der Copist übernahm dann, es über- 
sichtlicher zu arrangiren. Man sieht, wie gut ihm das auf der ersten Seite gelungen; of- 
fenbar sollte jede Seite in drei Columnen zerfallen: links stehen die Besitzer, in der Mitte 
die Güter; rechts die Vertriebenen, gelegentlich auch die Mitbelehnten. Allein schon auf 
der folgenden Seite gerieth der Schreiber in Verlegenheit, selbst ins Gedränge; gleich oben 
in der 3. und 4. Zeile, wo man liest: 


herman et duo. Tois VIII. Aeuerard. VIII et duos 
fratres eius. Item in toil X. 


Vermuthlich las man ursprünglich 


herman. Tois VIII. Aeuerard VIII. et duos 
fratres eius. Item in Koil X. 


sowie auch Fol. 43a. der Name des Besitzers Hilddewarth auseinandergesetzt und von 
einem Gutsnamen durchbrochen ist. Der Schreiber zog «et duo» nach links hinüber; dann 
aber, wie es auch uns geht, wurde er unschlüssig: vielleicht bezog es sich doch nicht auf 
Hermann, sondern auf Aeuerard; so wiederholte er es rechts, wo es ursprünglich gestan- 
den hatte. Es war doch noch ein Versuch, sich zurechtzufinden. Je weiter aber, um so 
srösser die Verwirrung. Von Z. 11 beginnen nebeneinander 4 Columnen; in der ersten, 
zur Linken, stehen anfangs die Besitzer; dann rücken drei Güternamen hinein: schwerlich 
hat Paucker sie in der rechten Reihe gelesen; sie werden ursprünglich wol erst auf«Com- 
payas», vielleicht auf «soka», frühestens auf«Hanaras» gefolgt sein. Diezur Linken der einzel- 
nen Columnen senkrecht herablaufenden, punctirten Linien knüpfen die Ortsnamen, welche 
sie begleiten, durchaus nicht unzweideutig an den «Dominus rex»: sie sollen, wie man Fol. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBer CENSUS DANHE. 103 


42a., 44a., 44b. ff. sieht, vielmehr nur die Columnen scheiden und erscheinen Fol. 43a. 
mit Vorbedacht nach dem Lineal deutlich ausgezogen. Ob diese Seite (43a.) sich durch 
den räthselhaften Ausgang der vorhergehenden (42b.) unmittelbar an sie anschliesst oder 
ob ein Ausfall anzunehmen ist, darüber — so wahrscheinlich mir das letztere ist — wird 
sich schwerlich definitiv entscheiden lassen. Auffallend erinnert an die letzte Zeile von 


Fol. 42b. Kiulo. XVI. oceisus 
die letzte Zeile von 
Fol. 54a. Roilae. XVI. quos temmo habuit cum eo. occisus est. 


Am buntesten durcheinandergeschrieben ist Fol. 43a. Man erkennt ziemlich sicher, 
wie auf dem Blatt, das dem Abschreiber vorlag, dieNamen der Besitzer nicht übersichtlich 
hervortraten, sonst hätte der Copist sie nicht zum grössten Theil so offenbar erst während 
des Copirens hineingepasst. Bis an die Hälfte der dritten Columne könnte man vermuthen, 
der Schreiber habe nur Ortsregister vor sich gehabt und copirt, sodann nachträglich von 
sich aus die Besitzer eingeschrieben, bald links, bald rechts vor die Einfassung, bald über 
sie hinaus, so offenbar nach Hartinan. Allein daneben ist für Henricus de helde eine 
Zeile absichtlich gespart worden, wie weiter unten für Basilius. Fritric de stathae 
wiederum und ganz offenbar Hild-devarth müssen eingetragen sein, erst als die Ortsna- 
men, auf welche sie sich beziehen, bereits verzeichnet standen. Beachtet man, mit welcher 
Sorgfalt bei henricus de helde und Basilius die Beziehung zu den betreffenden Gütern 
graphisch nachgewiesen ist, so wird man schwerlich mit Paucker die acht ersten Namen 
der zweiten Columne als selbstverständlich auf Kanutus beziehen und noch weniger hild- 
devarth mehr zuschreiben, als die V Haken von Kariscae. 


Ich glaube, alle diese Unsicherheit erklärt sich am besten durch die Annahme, der 
Schreiber habe Notizen verschiedener Anordnung selbst erst zusammengestellt; ja, es las- 
sen sich gelegentlich Rückschlüsse wagen auf ihre Beschaffenheit. So, meine ich, wird 
auf den Originalzetteln für Fol. 42a.—43b. die Parochialeintheilung gefehlt haben. Ent- 
weder nämlich hat eine Verrückung der Art stattgefunden oder sie waren gleich ursprüng- 
lich nicht nach Parochien geordnet. Im letztern Falle setzte erst der Schreiber an mög- 
lichst passende Stellen die Namen der Parochien als Ueberschrift, so dass mancher Ort 
unter falscher Ueberschrift stehen musste, wie denn z. B. das Dorf Juriz in der Parochie 
Juriz vermisst, in der Rubrik der Parochie Kolkis dagegen gefunden wird. Namentlich 
Fol. 43b. scheinen die Worte «in parochia juriz» ihren ganz ungewöhnlichen Platz am 
Rande, jenseits der linken Verticalen, erhalten zu haben, erst als das Verzeichniss der 
Besitzer und Güter bereits vollständig etwa bis Zeile 9 eingetragen war. Von da ab sodann 
zieht sich die Parochialeintheilung regelmässig und bequem durch bis ans Ende. 


Ueberhaupt tritt man mit 43b. aus dem ärgsten Gedränge. Noch freilich ist nicht 
volle Klarheit gewonnen. Wie sich der «Dominus rex» mit«Nicolaus danus de arus in den 
Besitz der verzeichneten fünf Güter theilt, — ob der «expulsus» zu «Cosius» oder zu chermæ», 


104 C. SCHIRREN, 


der «remotus» zu chermæ» oder zu «Koy» gehört, — ist nicht zu ermitteln. Fortan aber gelingt 
die Anordnung besser; das Schema von Fol. 42a. tritt deutlich wieder ein und fast nur 
noch ein Missverständniss kehrt öfter wieder: gelegentlich nämlich wird eine Zeile von 
der Gruppe getrennt, der sie zukommt, und der nächstfolgenden beigeschrieben und zwar 
in folgenden Fällen: 


Fol. 46b. Z. 20, 21. 


(20) Dis tuki Kaeris. VI. et arnald. 11. Expulsi h’edes Di villelmi. 
(21) wrang  Kallis senkau. Ш. et ion scakaeman. Ш. fritrik et 
| winrik 
wo offenbar zu lesen ist: Expulsi heredes dni villelmi fritrik et winrik. 
Fol. 47b. Z. 18—21. 
(18) tuui less. Gabriel. XIIII. Expulsus Thideric nogat. 
leer (19) 
(20) Rung. V. et iohannes. 
leer (21) 
wo offenbar zu lesen ist: Expulsus Thideric nogat et iohannes. 


Fol. 48а. Z.13—15. 
(13) (Monachi de dynae) Minnae. Jarvius. X. et uillelöp. У. proprios. 
leer (14) 

(15) Vvaskael. XXI. et in curia domini regis. VI. 
wo offenbar zu lesen ist: et uillolemp. У. proprios et in curia di regis. VI. ОШеетр ist 
anscheinend Personenname. Die 6 Haken in curia domini regis aber können schon des- 
halb nicht zu Vvaskael und dem Besitzer von Vvaskael gehören, weil dieser eben der Kö- 
nig selbst ist. 


Ein anderes Beispiel, wie der Schreiber mit seiner Anordnung zuweilen auch später 
nicht bequem zurechtkommt, gibt Fol. 50а. Z. 6—10. 


Ko aangas;yrit Hm аля лит 
4 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS ПАМАЕ. 105 


Paeitis soll offenbar in den Besitz des D'S Eilardus hinabgezogen werden; die Worte 
dagegen: «quos emit a fratre epi baldwini» gehören höchst wahrscheinlich zu «vbias XXIID; 
wie ein Vergleich mit Fol. 51а. Z. 4—9 lehrt. 


Зуй Marre. Binptofe nitolao fie орали 
ehe 


Man sieht, dass vor «bias» das «Uutial» fehlt. Schwerer lässt sich entscheiden, ob 
«et jacobus IX et dominus ПП» zu Vbias, zu Paeitis oder zu Paegkaelae zu ziehen ist; mir 
ist der zweite Fall der wahrscheinlichste. Der Schreiber übersah wol auf dem verworrnen 
beschriebenen Originalzettel «vbias» und schrieb das nachfolgende Paeitis; dann wieder traf 
sein Auge die Worte «quos emit«, welche er schon hingeschrieben hatte, als er seines Irr- 
thums gewahr wurde; darauf zog er Paeitis durch Punkte zum Dominus Eilardus hinab; 
schrieb sodann in die nächste Zeile gleich hinter Kiskeuerae VIII den Ortsnamen «vbias. 
XXI und führte nun rechts davon den unterbrochenen Satz «a fratre epi baldwini» 
weiter aus. 

Ich bin so weit in diese Einzelheiten eingegangen, weil sie unabweisbar feststellen, 
der Schreiber habe die ernste Absicht gehabt, zu einer klaren Anordnung zu kommen, die 
ihm denn auch im Ganzen gelingt. Durchgängig ist dies der Eindruck nach sorgfältiger 
Prüfung: er arbeitet sich aus der Verwirrung heraus, nicht aber, als hätte er eine über- 
sichtliche Anordnung verwirren helfen. Am wahrscheinlichsten ist mir: er stellte zerstreute 
Notizen selbst erst zusammen. Lag ihm ein bereits zusammenhängendes Original vor, so 
war dieses — ich wiederhole es — so übel geordnet, dass es dem Abschreiber die Orien- 
tirung wesentlich erschwerte. Will man sich nun die damalige «officielle» Statistik nicht 
nachlässiger betrieben denken, als die Privatarbeit eines Mönches oder irgend eines Geist- 
lichen, so entscheidet das Resultat der bisherigen Prüfung gegen die Annahme einer «of- 
ficiellen Landroller. Allein zu den bisher beachteten äusseren Gründen tritt eine Reihe 
nicht minder gewichtiger innerer. Auch sie sprechen dem L. C. diejenige Einheit der 
Anlage ab, welche man von einem «officiellen Aktenstück» selbst alter Zeit verlangen 
darf. 

Ich will dabei nicht zurückkommen auf die Nonchalancen in Bezeichnung der ange- 
führten Personen, nicht auf die Inconsequenz in ihrer Betitelung. Ich will nur aufmerksam 
machen auf gewisse Fehler in der Anordnung der Ortsnamen, noch mehr auf einige auf- 
fallende Wiederholungen. Dabei wird mir freilich die Schlussprobe fehlen, allein ich finde 
nicht Zeit, sie zu liefern, und der Verfasser hat sie für sich selbst nicht übernehmen wol- 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 14 


106 С. SCHIRREN, 


len. Es hat ihm nämlich eine feste, topographische Basis entbehrlich geschienen. Mit 
grossem Nachtheil, wie die folgenden Bemerkungen zeigen werden, und auch noch in wei- 
term Sinne. Er hat das selbst erfahren können bei mancher Frage; ich erinnre nur an die 
im L. ©. vergeblich gesuchten Güter Lettards. Der genaue, topographische Nachweis 
ist nirgends unentbehrlicher, als wo es ankommt auf Identificirung von Ortsnamen. Woher 
Arndt II, 49 Anm. c. seine Notiz hat, weiss ich nicht anzugeben, aber es ist sehr glaub- 
lich, dass schon 1375 die Livländer eine Vereinigung schliessen mussten über gewisse Na- 
men von solchen Dörfern, die in den Specialbullen nicht richtig getroffen waren, weil die 
päpstlichen und kaiserlichen Cancelleien die eigenthümliche Benennung der Orte sehr un- 
gestalt und unkenntlich ausgedrückt hatten. Es wird dem Verfasser nicht entgangen sein, 
wie der Knüpffer-Pauckersche Nachweis zum öftern stockt, sich in luftigen Muthmaas- 
sungen bewegt, selbst ganz aussetzt, bis endlich wieder Boden gewonnen wird. Mitun- 
ter hat das seinen Grund in der irrthümlichen Meinung, jeder Ort werde im L. C. nur 
einmal genannt, so dass dann identische Namen künstlich auseinandergehalten werden. 
Zuweilen haben die Erklärer an Lösung ihrer Aufgabe verzweifelt und eine Versetzung 
der ursprünglichen Oerterreihen geargwohnt. Nicht einmal sämmtliche Grenzen der Ky- 
laegunden und Parochien zu fixiren, ist ihnen gelungen. Eine auch nur flüchtige Beschäf- 
tigung mit dem L. C. genügt zur Einsicht, wie ein nördlicher Theil von Jerwen hinein- 
gezogen ist in die Notata, und wie die östliche Grenze des dänischen Estlands vollends 
unbestimmt bleibt. Ich mache nur auf den letzteren Umstand aufmerksam: noch heute 
wissen wir nicht, wie weit das Alentakae der «Landrolle» reicht. Paucker will es, der 
Erwähnung von Narvia zum Trotz, nicht bis an die Narowa hinausrücken, und steht doch 
vor den meisten Ortsnamen rathlos. Mit Knüpffer deutet er Walsaræværæ auf Wasifer, 
da es doch sicher am westlichen Ufer der Narowa in Wallisaar gefunden wird. Ich trage 
darum kein Bedenken, Narvia auf die Gegend von Narwa zu beziehen; ich halte es selbst 
für äusserst wahrscheinlich, dass Alentakae östlich über den Fluss hinausreichte. Die Be- 
denken dagegen sind mir bekannt; wir wissen von Ordensansprüchen auf Watland, nichts 
von einem Besitze der Dänen. Allein was wissen wir überhaupt von der alten Geschichte 
jener Landschaften? Eine Vereinbarung bestand zwischen König und Orden, die gemein- 
samen Eroberungen zu theilen. Reicht Alentakae ins Watland, so wird damit ein neuer 
Anhalt gewonnen für die Zeitbestimmung des L. C. Und wenigstens eine Reihe von Orts- 
namen scheint dafür zu sprechen. Ich nenne nur solche, die Paucker im Westen der 
Narowa vergebens gesucht hat: Eteus = Itowskaja an der Luga; Pategas = Padoga und 
Podashskaja an der Luga bei Jamburg; Kircanaos — Kerrikunem; Ragwas — Ragowicy; 
NO. von Jamburg, oder Rakowesh; Rikalae = Rakulizy; Waerkun (oder Waerkim) = 
Woronkina; S. von Koporje, davon nördlich der Fluss Woronka vorbeigeht, Kawal = Kai- 
bala, Kaibalowa; Hvalet = Woles, Wolossowa ff. Wie früh die Deutschen sich festgesetzt 
jenseits der Narowa, lehrt Livl. Urk. 169a., a. 1241, wo der Orden dem Bischof von Oe- 
sel gegen den Zehnten vom Zehnten die Jurisdiction anträgt in den Ländern: Watland, 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 107 


Nouve (Nu = Newa), Ingrien, Carelen; bereits war dort eine Burg errichtet, Burglehen 
waren vertheilt, wol bei Koporje; das noch heute weiter östlich gelegene «russische Ko- 
porje» lässt auf seinen alten, deutschen Gegensatz schliessen. Auf das Watland, auf In- 
grien, auf Carelien bezieht sich dann die Bitte der Brüder Thid. v. Kiwel und Otto v. 
Luneborch um einen Bischof (Livl. Urk. 281, 283b.). Den Dänen hat Thid. v. Kiwel 
anscheinend wenigstens so nahe gestanden, wie dem Orden. Wir stossen da auf Fäden, 
deren Verlauf noch viel zu wenig verfolgt ist, sowol vor-, als rückwärts. Es ist bisher, 
auch zum Nachtheil andrer Untersuchungen ganz übersehen, wie der Name Alentaken 
weit im Osten sich wiederfindet. Ich will damit einen topischen Zusammenhang nicht 
gradeweg behaupten; allein der etymologische macht auch den topischen in gewissem 
Sinne wahrscheinlich. Etymologisch aber dürfte Alentaken identisch sein mit Ladoga, das 
nicht nur in der Form Aldeigia, sondern im deutschen Munde (Livl. Urk. 413, 414, a. 
1269) als Aldagen (Ladoga) genau entspricht dem Altaken (Alentaken) der Urk. 805, a. 
1341. 


Erscheinen auch dergleichen topische Combinationen zu weit gegriffen für den enge- 
ren Zweck des Verfassers, so war es für ihn doch unerlässlich, die innre Topographie des 
L. C. zu fixiren. Wenigstens wäre ihm dabei aufgefallen, was ihm nun völlig entgangen 
ist. Ich habe von den drei ersten Parochien des L. C. gesprochen und der topographischen 
Verwirrung in ihren Rubriken; selbst diese Verwirrung hat der Verfasser nicht bemerkt, 
da er S. 87, 88 das Dorf Juriz vergeblich sucht. Ihre Lösung kann erwartet werden nur 
durch strengen topographischen Nachweis. Und auch nur er vermöchte endgiltigen Auf- 
schluss zu geben über die Bedeutung folgender Confrontationen, wo alles, was eine Bezie- 
hung zu einander verräth, gesperrt gedruckt ist: 


Fol. 43а, (Har. Par. Kolkis). | | Fol. 49a. (Repel. Wiron.) 
Hilddewarth. Salandaus VIII. Walterus. Salda VIII. post 
bernardum cum relicta eius. 
Fol. 43a. (ib.) || Fol. 43a. 
Kanutus. Palikyl V. Fritric de stathae. Pankyl V. 
Fol. 43a. (ib.) | Fol. 45а. (Uoment. Kyl.). 
Fritric de stathae. harco. III. Dos Elf. Harkua. У. Mustuth. 
Mustaen. V. III. 
Fol. 42a. (Par. Hakriz). | Fol. 45b. (Par. Kolkis). 
D Odwardus. Howympae. Henricus. Wahumperae. III. 
УП. Exp. Henricus Carbometc. et filii Surti ПТ. 
Fol. 42b. (Har. Par. Hakriz). | Fol. 46a. (Repel Har. Par. Jeelleth) 
(dus rex?) laelleuer. V. Dos tuui Lillaeuerae. III. et 


palnis Lichard. V. 


* 


108 C. SCHIRREN, 


Fol. 43b. (Par. Juriz). 


| Fol. 49b. (Repel. Wiron.). 


Bertald tamıpana b sale meh ul дк. 
Ави Randuk, NL. mann ke 
| bem Павии боба „pr - 

Fol. 45a. (Uoment.). || Fol. 45b. (Uoment.). Me 
Thid. de Wosilki. XII. Re- Herbart et Wasal. V. 
Cokænhus motus Herbart II fratres sui 

halfpapae. 

Fol. 50b. (Repel. Wir. Par. Halelae). || Fol. 53a. (Askaelae). 

Пиз Saxo. Kermae. VI. Dus Saxo. Hermaes. VI. 

Fol. 43a. (Par. Kolkis). || Fol. 48b.(Ocrielae). || Fol.51b.(Maum). 
Henricus de Helde. Rex. Sauthael.V. Henricus. Satael. 

Sataial. V. V.non arege. 

Fol. 42b. (Par. Hakriz). || Fol.43a.(Par.Kolkis). || Fol. 46a. (Repel. Har.). 
Thidericuspuer Od- (dus тех 2) Rapal Верре!.У ПТ. Соп- 
wardi. ВаКа1У 111.(2) VIII. radus non a rege. 


Schon in dieser Reihe verrathen sich so auffallende Wiederholungen, dass meist nur, 
um ihre Bedeutung zu bestimmen, eine topographische Prüfung das letzte Wort haben 
müsste; den «officiellen Character der Landrolle» dürfte sie schwerlich mehr retten. Und 
eben weil sie zu dieser Einsicht geführt hätte, durfte sie nicht principiell ausgeschlossen 
werden. Selbst ihrer letzten Beglaubigung aber bedarf die folgende zweite Reihe kaum: 
sie legt zu offen dar, wie eine «Landrolle» im Sinne des Lehnsystems unmöglich beabsich- 
tigt war: die Wiederholungen drängen sich zu deutlich auf; mitunter sieht man, wie sie 
aus der Absicht hervorgegangen sind, Besitzlichkeiten derselben Person in verschie- 
denen Districten, nur ohne Plan und Consequenz, zusammenzustellen. Das ist beispiels- 
weise der Fall: 


Fol. 46a. (Uomentakae). | Fol. 53b. (Laemund). 


ana Akmakz: … Mendevé 


Claropont aber : Gite. 57 
wmupAlngm.“ m 


Mit offenbaren Wiederholungen sind zum Theil Abweichungen in der Hakenzahl ver- 
bunden, die sich am besten erklären aus der Benutzung verschiedener Notizen an verschie- 
denen Stellen: 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANHAE. 109 


Fol. 50a. (Repel. Wiron.). || Fol. 51a. (Maum). 
Thidericus Podrys. XXVI. Thid. (U) bias 
de Arkenallae.XXVI. de ХХУ. 
Kivael Alouerae. XIII. Kivael Emptos 
Kiskeuerae. УШ. Paeitis quos de Nicol. 
Vbias XXIL. emit afratre fr& epi 
epi baldwini baldwini 


Wozu noch zu vergleichen ist Fol. 54a. (Laemund) DU Rex. Obias. XX, de quibus 
Thid. de Kyuael habet X. Am deutlichsten tritt die Wiederholung hervor: 


Fol. 50a. (Repel. Wiron.). || Fol. 53a. (Askalae). 
Thid. de Podrys XX VI. Ricardus. Purdus. XX VI. quos 
Kivael tenet Thid. de Kyuael iniuste. 
Dw Rex Purdis, VI. 
Fol. 43a. (Har. Par. Kolkis). || Fol. 46b. (Repel Kyl.). 
Silmus V. fritric de stathae. Dus Saxo. Silmel. V. Exp. 
fretric. 
Аппаро. 11. henricus dehelde. || Dus Saxo. Hæunopo. Il. Exp. 
Henric. 
| Fol. 42b. (Par. Hakriz). 
Kanutus. Calablæ. V. | (dus rex Calablia. У. 
Kanutus. Natamol. V. | (des rex) Natamol. VI. 
|| Fol. 43a. (Par. Kolkis). 
Thid. puer Odwardi. SicalethIX. Henricus. Sicalöth IX. 
Fol. 49b. (Repel. Wiron. Par. Tor- || Fol. 50a. (Repel. Wir. Par. Halelae). 
uaestaeuaerae). 
Dus Eilardus. Lopae. VIII. Dw Eilardus. Lopae. ПП. 


Wer den L. C. zu deuten unternahm, durfte die Fragen nicht übersehen, die sich bei 
der Betrachtung solcher Confrontationen aufdrängen. Wozu die offenbaren Wiederholun- 
gen mit Vor- und Rückdeutung? Wozu wird Henricus (de Helde) in einer Parochie als 
Besitzer angeführt von 2 Haken in Aunapo, in einer andern offenbar für dieselben Haken 
als Vertriebner? Ein Fall liesse sich vielleicht übersehen; die ganze Reihe ignoriren, ret- 
tet nicht den «officiellen Charakter des Aktenstückw. Sollte die Angabe der expulsi den 
Besitztitel nachweisen helfen, wozu dann die Notiz über die 5 Haken in Pirss, welche 
Huith einst besessen und die nun Alber gehören, wenn sie nicht bei Alber verzeichnet 
wurden? 

Fol. 46a. (Repel. Har. Par. Jeelleth). || Fol. 47a. (Repel. Har. Par. Jeelleth). 
Pirss VII. | Alber. V. Huith Kshoy. XV. qui et 
cognatus in Pirss У habuit. 

Lamberti 


110 С. SCHIRREN, 


Woher dann werden einmal frühere Besitztitel «expulsir oder «remoti» benannt und 
heisst es ein andres Mal nur: «quos illi et illi habuerunt; quos Temmo habuit cum eo. 
occisus est.» ff. ff.? Dem Verfasser freilich sind die meisten Incongruenzen entgangen. 

Und wol der schwerste Vorwurf, der ihn treffen könnte, liegt eben darin, dass er 
überall von einem «officiellen Aktenstück» ausgeht, ohne der inneren Momente nur zu er- 
wähnen, die zum wenigsten sehr ausseroffizmässig sind. Soviel man der Unwissenheit, 
Nachlässigkeit, Laune abschreibender Mönche aufbürden mag, schwerlich werden sie jene 
Wiederholungen erfunden haben? Schwerlich haben sie einen Namen gestrichen, um 
dafür Nos» zu setzen: Fol. 47b. Dominus Rex nobis ff. Mag auch der Abschreiber der 
Belehnte gewesen sein oder Theil genommen haben am Genuss der Belehnung, welcher 
Wahnwitzige hätte aus einem «officiellen» Dokument seinen Namen gestrichen, wo er das 
«nos» doch dabeisetzen mochte? Oder wer, den der König mit der Aufnahme der «Land- 
rolle» betraute und zugleich mit Land bedachte, hätte sich begnügen wollen mit einer so 
naiv mönchischen Bezeichnung seiner Ansprüche. Und welch’ cordialer Mönchswitz ge- 
hörte dazu, in eine für den König bestimmte Landrolle die Titulatur zu setzen: «auaris- 
simus Eilardus»? Denn was hilft es, hier einen Nachtrag zu behaupten, wenn die übrigen 
Räthsel durch die Annahme von Nachträgen nicht gelöst werden? Ich will weder von der 
offizwidrigen einen Mühle, noch von der einen projectirten Kirche reden, noch von dem 
heiligen Haine, was aber soll endlich in einer königlich-officiellen Landrolle der Gerard 
Klingae, der in seinem Besitz sich behauptet «contra regem», hatte er seine gewapp- 
neten Reiter per Haken etwa contra regem zu stellen? Freilich, um diesen Stein des An- 
stosses kann man sich herumwinden, vielleicht auch um den nächsten, um den dritten, aber 
statt aller endlos gewundenen Erklärung, warum auch nicht einmal die Frage: wo sind die 
schlagenden Beweise für das «officielle Aktenstück» und ist es nicht einfach ein nicht- 
officielles ? 

Wir werden damit gedrängt endlich noch die, wenn ich sie so bezeichnen darf, äus- 
seren Gründe des Verfassers zu prüfen, in welchen er das Bedürfniss einer «Landrolle» 
basirt meint. Denn, da er die inneren nur gelegentlich deutet und ohne methodische Prü- 
fung, fällt um so grösseres Gewicht auf den Zusammenhang jener mit urkundlich sonst er- 
wiesenen Verhältnissen. In einem Falle hat sich die Combination nicht bewährt: die Zeit 
kennt ein so consequentes, Alles beherrschendes Lehnsystem, wie es der Verfasser in den 
L. C. zum Theil hineindeutet, zum Theil erst aus ihm herausdeutet, in Estland wenig- 
stens nicht. Es ist zum Mindesten fraglich, ob dem dänischen König um die Mitte des 
XII. Jahrhunderts bereits darum zu thun war, eine specielle Controle zu üben über Land- 
besitz und Lehnverhältnisse, die sich wider seinen Willen entwickelt hatten und sich so zu 
behaupten, offenbar entschlossen zeigten. Der Verfasser freilich wird das nicht zugeben. 
Wenigstens eins steht ihm unabweisbar fest: es bedurfte der Einsicht in die speciellsten 
Güterverhältnisse: denn alles kriegerische Vermögen beruhte auf dem Vasallenstande, und 
die Heeresfolge wurde bemessen nach der Zahl der Haken. Wir müssen ihm folgen in 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS ПАМАЕ. HAT 


seine Deductionen; es handelt sich, zu prüfen, ob damals schon die Heeresfolge nach den 
Haken normirt wurde: auch einen Umweg werden wir nicht scheuen, wenn er ans Ziel 
führt. Begründet darum der Verfasser zum Theil auf dieses Moment den principiellen Un- 
terschied der estnischen Landrolle vom dänischen L. C., so werden wir jene mitwürdigen 
lernen in der Beurtheilung dieses. 

Besonders eingehende Untersuchungen dänischer Gelehrter über den L. С, D. sind 
mir nicht bekannt geworden. Der Verfasser bezieht sich 5. 8 fast einzig auf Dahlmanns 
Ansicht: Geschichte von Dänemark I, 396; er hätte noch I, 375 beiziehen sollen, wo er- 
wähnt wird «des lückenhaften Registers der Einkünfte aus den königlichen Domänen, wel- 
ches wir unter dem Namen eines Erdbuchs besitzen». Denn damit wird die Sammlung 
jener Notizen immer noch richtiger bezeichnet, als durch die Hypothesen von 3. 396. 
Wenn nämlich Waldemar den L. C. aufnehmen liess mit der Absicht, leichtsinnig ver- 
äussertes oder irgend abhanden gekommenes königliches Besitzthum einzuziehen, — obwol 
des Königs Anliegen, wie die päpstliche Bulle eine andre Deutung gestatten — so muss 
es befremden in dem ganzen umfangreichen Documente nur auf zwei Seiten, p. 61, 62, 
und zwar nur fünf ziemlich deutliche Usurpationen königlichen Landguts notirt zu finden 
und ausserdem nichts, als die unspecificirte Angabe auf p. 48: «in quorum possessione tunc 
erat dominus rex, quia non erant alienatae». Es hat aber wol Dahlmann den L. C. D. 
einer näheren Prüfung nicht unterzogen, sonst durfte er Aufzeichnungen, die zum Theil 
sich selbst dem Jahre 1231 zuschreiben, zum Theil erst in die Zeit Christophs fallen, 
nicht als Ausfluss einer Politik ansehen, auf welche nach seiner eignen Angabe König 
Waldemar erst 1240 verfallen war; sonst hätte er auch nicht so kurzweg um Einkünfte 
aus königlichen «Domänen» reden dürfen, da die Aufzeichnungen weder den Unterschied 
des königlichen «patrimonium» vom Konunglef, noch diejenigen Einkünfte ausser Augen 
lassen, welche aus wesentlich andern und sehr verschiedenen Quellen flossen. Dem Ver- 
fasser der «Studien» ist eine ältere Auffassung entgangen, obwol sie in Suhms Einleitung 
besprochen wird; sie resümirt sich kurz in dem von Luxdorf für den L. C. D. vorgeschla- 
genen Titel «Regum Daniae» statt Regni Daniae «Catastrum». Was auch an diesem Titel 
fehlgegriffen sein mag, der Wink, den er giebt, führte zum richtigen Verständniss. Um so 
mehr muss es befremden, dass der Verfasser ohne eigentliche Voruntersuchung in einen 
ganz andern Weg ablenkte. Er geht S. 2 von dem Unterschiede aus, der zwischen dem 
dänischen und dem estländischen Theil bestehe: in jenem ständen die einzelnen Grund- 
stücke «fast ausschliesslich» nach ihrem Schätzungswerthe und ohne Angabe der Besitzer; 
in diesem wären neben dem Landmaass der einzelnen Güter in Haken vorzüglich die Na- 
men dermaliger, so wie verdrängter, Besitzer verzeichnet. Sodann erläutert er S. 8, mit 
halber Wendung gegen Dahlmann, seine Auffassung ausführlich dahin, dass ihm das 
«Erdbuch König Waldemars eher eine Grundlage zu sein scheine für die von diesem 
Fürsten theils neugeschaffene, theils vervollständigte Organisation des Kriegsdienstes. Letz- 
terer ruhte auch in Dänemark, wie überall, in jenem Grundbesitze. (Dass dies, 


112 | С. SCHIRREN, 


so allgemein gefasst, ein Irrthum ist, habe ich schon oben erwiesen.) Um die Kriegsfolge 
festzustellen, war daher eine genaue Kenntniss seiner Vertheilung nothwendig. Nicht die 
Person des Besitzers kam hier jedoch in Betracht, sondern ganz ausschliesslich der 
Bodenwerth der einzelnen Güter. Denn es galt nicht die Bestimmung zu leistenden 
Reiterdienstes — sondern nach alter dänischer Sitte — von Schiffen und zu ihnen gehö- 
render Mannschaft. Zu dem Ende waren alle Grundstücke zu Mark Goldes oder Silbers 
veranschlagt und angenommen, dass zu einer gewissen Summe in Mark eine entspre- 
chende Zahl Schiffe und Schiffsleute von dem Verbande der betreffenden Güter zu 
stellen sei. Davon blieben nur diejenigen Grundstücke ausgenommen, deren Besitzer sich 
zum Ritterdienste verpflichteten, was vermuthlich erst unter Waldemar IT. zur Geltung 
kam. Der Kampf mit den Deutschen mochte ihm den Nutzen schwerbewafineter Reiterei 
gezeigt haben. Wol nicht in bloss zufälligem Zusammenhange hiermit sind im L. C. D. für 
das eigentliche Dänemark die Namen bloss der Grundstücke verzeichnet mit Angabe ihres 
Abschätzungswerths. Ausnahmsweise nur kommen einige Personennamen vor, wahrschein- 
lich Solcher, die Ritterdienste leisteten». 

Schwerlich hat der Verfasser sich irgend eines der in Frage kommenden Verhältnisse 
in ausreichender Klarheit und Schärfe gegenständlich gemacht. Auch abgesehen von nä- 
herer Prüfung des Documents, welchem eine so prägnante Bedeutung sollte abgewonnen 
werden, musste es einleuchten, wie die Dänen wol schon, ehe «Waldemar die schwere 
Reiterei von den Deutschen erlernte», zur Vertheidigung nicht minder gerüstet sein muss- 
ten, wie zum Angriff, zum Angriff nicht minder zu Lande, als zur See. Was nützten ihnen 
dabei Schiffe und Schiffsleute? Und meint der Verfasser in der That, jene von ihm beach- 
tete Art der Kriegsleistung erstreckte sich von der Küste durchs ganze Land und wäre 
doch auch, seit sie das innere Land traf, dieselbe geblieben und unter demselben Namen 
dieselbe Sache? Wenn er schon so irrthümlich eine besondre Art der Kriegsfolge zu allge- 
mein durchgreifender Bedeutung erhebt, so wird ihm der Boden für seine Conjecturen 
vollends entzogen durch sorgsame Zergliederung des Documents selbst, auf welches dem 
Scheine nach seine Behauptungen sich stützen. Der gefährlichste Gegenbeweis liegt in 
einfacher Inhaltsangabe des L. С. D. Schon die oberflächlichste Prüfung zeigt es in min- 
destens 7 Bruchstücke zerfallen, die deutlich von einander geschieden sind durch Aufzeich- 
nungen nicht verwandten Inhalts oder durch unbeschriebene Seiten. Es scheiden sich 
dergestalt von einander: 1) S. В. D. УП, 1—20; 2) УП, 22—62 und 79—80; 3) 81— 
108 (die estnische «Landrolle»); 4) У, 615—621; 5) VII, 63—71; 6) УП, 73—74; 7) 
VII, 76—77. Und bei näherer Prüfung des Inhalts sondern sich nun noch kleinere Un- 
terabtheilungen, die nur durch gewisse, gemeinsame Gesichtspunkte zum Theil zusammen- 
gehalten werden. Das lehrt die folgende Uebersicht: 

S.R.D.VII, 1—19. Jucia Anno Domini M° CC° XXX factum est hoc scriptum. 

Verzeichniss der Dörfer und Grundstücke nach Haerets, die 
wieder untergeordnet sind den Sysaeln. Das Land, gemessen 


Berirac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 113 


$. В. D. VII, 20. 


УП, 21. 
VII, 22—26. 


УП, 27—98. 


nach seinem Werth in Mark Goldes, gelegentlich Silbers, zu- 
weilen nach Attingen ('/, boel) mit beigesetztem Markwerth, 
auf königlichen Gütern auch nur nach Landmaassen. Verzeich- 
net werden daneben wie auch in den folgenden Fragmenten, 
die Abgaben an Weizen, Roggen, Honig, Lämmern, Schafen, 
Schweinen, Gänsen, Enten, Stockfischen, Butter, Käse, Salz, 
Wadmal; mitunter Naturalabgaben vom Navigium, wie p. 10: 
«Item de quodam navigio dimidium fothaer mellis et X salmo- 
nes»; die Einkünfte aus Zöllen, so p. 13: «pro theloneo equo- 
rum. ССС]Аа marce et amplius»; die Steuern (der Pachtzins) 
der «coloni», Steuern fast jeder ersinnlichen Form und jeden 
Namens; selbst wingift (don gratuit) nach bereits fixirter Norm; 
p. 19. Verzeichnet wird, was dem König seine Verwalter an 
exactiones zu entrichten haben, so p. 6. Verzeichnet werden 
die «seruitia noctis» mit ihrem Aequivalent in Mark Getreides 
oder esheisst: «VI marce argenti cum itur in expeditionem; — 
X marce puri de quaersaet»; — oder р. 11: «Quærsætæ man 
Так! et frater suus. II marce annuatim»; «Quærsætæ man» 
aber sind diejenigen, welche sich von der Kriegsfolge durch 
eine Steuer ablösen. Mitunter finden sich Personen namentlich 
bezeichnet und durchaus nicht nur in wichtigeren Fällen, wie 
wenn es heisst: «Ibidem habet Nicholaus 5122$ nauigium regis 
in quo sunt XLII hafnae»; sondern in höchst irrelevanter Ver- 
anlassung: «molendinum autem petri ulke ualuit III" marcas 
auri sed iam destructum est». 

Auszug aus einer Urkunde über den Kauf gewisser nach Land- 
maass bezeichneter Güter vom Abt Hermann von Herseueld; 
mit dem urkundlichen Schlusssatz: Anno incarnationis Domini. 
Mo CCo XVII. 

Unbeschrieben. 

Patrimonium nostrum in feonia circa 400 marcas auri secun- 
dum antiquam estimacionem. Abtheilungen: haeret. Der In- 
halt im Allgemeinen, wie auf p. 1—19. 

— — Нее sunt possessiones quas dominus rex habuit in 
Syn-drehæret in langlandia. Verzeichniss mehrerer Güter 
nach dem Werth in Mark Goldes; nebst Angabe, aus wessen 
Besitz sie durch Kauf an den König gekommen sind; anschei- 
nend Auszüge aus Urkunden, wie ganz unzweifelhaft p. 28 
oben. 


Mémoires de l'Acad. Гир. des sciences, Vlle Série, 15 


114 


S. R. D. VII, 28. 


УП, 29—31. 
М, 30-537. 
УП, 38. 
УП, 39—42. 
УП, 43. 
УП, 44. 


С. SCHIRREN, 


Laland. Nur die Namen von 4 hærets. Der König muss keine 
Einnahme von dort gehabt haben, oder, wahrscheinlicher: es 
fehlte dem Schreiber an Notizen darüber. 

Falstria. Abtheilungen: haeret. Die Steuern und Einkünfte 
aus jedem haeret verzeichnet, durcheinander: Naturalabgaben, 
Geldsteuern, Zolleinkünfte, Fährgeld. Von p. 30 an fortlau- 
fende Aufzeichnungen nach folgendem Schema: Babæthorp ha- 
bet hænrich bowithsun ad ualorem X marc. ff., einmal heisst es 
gar: Item in eklef habet Christiarn mask vnam mansionem 
parum ualentem. 

р. 31: Нес commutavit DW rex ab episc. othoniensi dans in 
feonia et recipiens in falstria ff., wol Auszug aus einer Urk. 
Syaland. Abtheilungen: hæret. Werth der Grundstücke oder 
Marc. oder Ören mit dem ausdrücklichen Zusatz «in censu». 
p. 32. «Ibidem est aqua que vocatur brething et ualet X oras 
arg. quolibet anno». Mitunter Angaben über die jährliche Aus- 
saat, über den Ertrag des Grasschnitts, über die Kopfzahl an 
Vieh, das auf den verschiedenen Weiden Futter findet. 
Gelegentliche Angabe der Besitzer neben dem König, oder 
Bemerkung, von wem der König gekauft hat. 

Möön etc. Einkünfte an Weizen, Butter, Käse, Geld. 

Scania. Abtheilungen: hæret. Angabe der servitia noctium, des 
Mitsumærsgyalds; sitem pro redempcione expedicionis XL. 
marcas puri». 

p. 39, 40—41. Zwei Grenzscheiden in nordischer Sprache; 
die zweite beispielsweise mit dem Eingang: Thettæ ær skial 
mællæ bondæ mark oc Kununglef ff. 

Halland. Abtheilungen: hæret. Inhalt, wie bei Scania. 

p. 43. Item M. salmones de amne qui uocatur laghæ. Item de 
Johanne swensun XXX. salmones pro quærsætae. 

Lyster. Bleking. Am Rande links läuft das Verzeichniss der 
hærets, rechts davon: hee sunt possessiones regis Waldemaril. 
in Swethia ff. mit Angabe des Landmaasses in Octonarien ('/, 
boel), nebst verschiedenen Personalnotizen über frühre Be- 
sitzer, über Vererbung und zum Schluss: «Et sciendum quod 
omnes predictas possessiones dedimus duci Kanuto preter 
hereditatem bulizlaui»; unzweifelhaft aus der Verleihungsurk. 
ausgeschrieben, namentlich, wenn man beachtet, was unmittel- 
telbar davorsteht: «mater regis waldemari Ib. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBeR CENSUS DANIAE. 115 


S.R. D. УП, 45. 


УП, 45—49. 


УП, 50—53. 


УП, 53—54. 


УП, 55—58. 


Burghændæholm. Mit nur einem Ort und einer Notiz: Hwæ- 
thæn. XX marcas arg. 

Ista pertinent ad Kununglef ff. 

p. 45 unmittelbar hinter der Notiz aus Bornholm — so dass 
man deutlich den Character der lockeren Compilation höchst 
verschiedenartiger Notizen durchblickt — beginnt das Ver- 
zeichniss der Grundstücke, welche in den einzelnen Landes- 
theilen, von Jucia an ff., zum Konunglef gehören. Es sind nur 
Namen, ohne Landmaass, ohne Schätzuug; nur selten von ei- 
ner Bemerkung begleitet; oft fehlen selbst die Namen der ganz 
summarisch bezeichneten Güter, wie p. 48. «Omnes terre et 
silue ceteraque eis attinencia in quorum possessione tunc erat 
dominus rex quia non erant alienata. — — Item multe insule 
habitate et inhabitate circumiacentes blekyngh» ff. 


Hec sunt nomina insularum, offenbar der Inseln, auf die schon 
p. 48 hingedeutet wird, denn p. 52 schliesst das Verzeichniss 
ihrer Namen mit der Bemerkung: «Et dicitur quod tot sunt in- 
sule circa blekyngh quot sunt dies in anno». — Es sind Inseln, 
vorzüglich bestimmt zur Jagd des Königs; bei jeder ist ange- 
geben, welches Wild angetroffen wird: Hirsche, Bären, Eber, 
Hasen; bei mehreren liest man «hus»: es ist damit wol eine 
hütte gemeint; bei zweien ist verzeichnet «clostær». 

Eine neue Liste beginnt p. 52 mit der Ueberschrift: Item in- 
sule minores. 


Rechts von dem die erste Columne noch zur Hälfte füllenden 
Inselverzeichniss steht eine detaillirte Liste der Ausgaben, 
welche der Unterhalt des Königs und seines Hofes im Winter 
mit sich bringt: «Procuratio hiemalis domini Regis est de dua- 
bus noctibus». fl. Es sind Leistungen, welche den einzelnen, 
übrigens nicht specificirten Oertern auferlegt waren, so dass 
jedem der Aufwand für 2x 24 Stunden oblag. 


Hii sunt redditus in hallandia ad dominum regem. 

Geld- und Naturaleinkünfte verschiedenster Art, geordnetnach 
Provinzen (herred), mit Schlussangabe für jede über die Zahl 
der rustici, der naves und namentlicher Bezeichnung von de- 


ren Inhabern: hec provincia habet M. DCC. XI. rusticos. et 
duas naves. quarum altera $. dan habet XXVI. hafnae. Nauis 


andree habet. XXXII. ff. ff. Darauf folgt die Schätzung der 


116 


S.R. D. VII, 59— 60. 


VII, 60— 62. 
NEL 19 480. 
УП, 81. 

VII, 82—108. 
V, 615—621. 


C. SCHIRREN, 


Gesammteinkünfte des herred in Mark Silbers: Summa illius 
provinciae СТП. marce. et XVI. solidi. ff. ff. 
p. 58. Folgt zum Schluss die Summe aller königlichen Ein- 
künfte aus Halland, sodann ein Verzeichniss der Strafgefälle: 
«subactores de causis ff»; endlich die Summe der navigia und 
hafnae. 
Landæmærkæ byrius i stænfnæsundæ. ff. Ein Verzeichniss in 
nordischer Sprache der Landmarken der einzelnen Provinzen 
von Halland in derselben Reihe, in welcher sie sichp. 55—58 
folgen. 
In fiæræ (Halland) in parochia Slep. anno dominiM. CC. LIIH. 
quando dominus Rex Christoforus occurrebat regi norwegie ff. 
Auszüge aus Urkunden. 
(Bei Langeb. $S. В. D. ist р. 78 auf p. 79 zu verlegen, wie 
dort auch bemerkt wird.) Jucia. Ripae. DCCCC. marc. den. 
Die Einkünfte aus den einzelnen Provinzen von Jütland, Füh- 
nen, Seeland, Schonen in Mark Goldes. 
Unbeschrieben. 
L. C. für Estland. 
Verzeichniss der hæret von Dänemark, mit Angabe für jedes 
der Zahl der aratra und dem Schluss: Hec est summa. duo 
milia. C. nonaginta. 
Sodann: Mön habet ССХТ/ то marcas. 
Verzeichniss von Städten mit Beisatz von marc. danic. 
Sodann ohne Absatz: Vvendel sysel 
Episcopus Omerus 
Aghi et Jon isti tres fratres; ein schein- 
bar räthselhaftes langes Verzeichniss von Personen, die zu 2, 
3, 4 als fratres neben einander gestellt sind. An Mönche zu 
denken, verbietet schon die Stelle: 
Abosysel 

Kanutus rex \ Г 

Eric Cristoforus } Fe 
Auch leibliche Brüder sind sicher nicht gemeint. Es bleibt so- 
mit nur ein dritter Fall: die fratres sind hafnæbrothræ, Glieder 
desselben hafnælag, derselben Vereinigung von bonden, welche 
je ein hafn zu leisten hatten. Das hafn war eine Einheit: die 
Stellung eines bewaffneten und mit der erforderlichen Zehrung 
versehenen Mannes. 


Bertrac zum VERSTÄNDNISS DES Liper Cexsus DANIAE. M 


S. R. D. VII, 63. Ista bona scotauit Haquinus palne sun domino Regi Christoforo. 
Verzeichniss der Grundstücke mit Angabe des Landwerths in 
Mark Goldes: In Kalundæburgh. XVIII. marcas auri in terra ff. 
VII,64—71. Descripcio cuiusdam partis falstrie. 
Verzeichniss von Ortschaften mit Angabe der boolzahl, der 
Mark und Ören und namentlicher Specificirung der Besitzer. 


М2. Unbeschrieben. 

УТ, 73. Terra Domini Regis in lalandia; die Angaben, wie auf р. 64 
—71; nur ist kein Besitz, ausser dem des Königs, notirt. 

V11,75. Unbeschrieben. 

VII,76. Hec sunt nomina uillarum in ymbria. 


Ortschaften mit Angabe der Zahl der Mansi. 
Sodann: Нес зип nomina uillarum Selau. mit Angabe der Zahl 
der unci, mitunter auch des jährlichen Ertrags an Geld. 
VII 77. Redditus in ymbria incipiunt in festo S. Michaelis. 

Angabe des jährlichen Einkommens in Mark. den. aus den ein- 
zelnen Ortschaften. 
Tot houae habemus in ymbria; specificirt. 
Tot houae concessimus hominibus nostris, specificirt, mit na- 
mentlicher Angabe. 
Iste sunt uille Sclauorum. Zahl der unci und Namen der Be- 
sitzer der uillae. 

Zum Schluss:  Summa reddituum domini Regis in annona de tota terra ymbrie. 
LXXXIIIO marce annone et ПП pund. 


Das Ergebniss, meine ich, ist unwidersprechlich einfach, so dass es eines Commentars 
kaum bedarf. Es besteht der sog. L. C. aus formell und materiell höchst ungleichen 
Bruchstücken, die zwar äusserlich zu einander gehören, allein durchaus nicht ein Ganzes 
bilden. Unter welchen Verhältnissen, zu welchen Zeiten die einzelnen Fragmente nieder- 
geschrieben sind, ist für unsre Untersuchung zunächst gleichgiltig. Wie bereits in der 
Uebersicht des Inhalts erwähnt ist, bestehen einige Capitel in Auszügen aus Urkunden, so 
auf р. 20, 27, 28, 60, 61. Ueberall fast beherrscht das Interesse des Königs Maass und 
Form der Notizen. Es handelt sich fast ausschliesslich um seine Einkünfte in verschie- 
denster Form. Der Kirche vollends wird nur vorübergehend gedacht, etwa nur in Bez'e- 
hung zu ihm; nirgends wird ihre Dotation verzeichnet, wol dagegen königliches Einkommen 
aus Kirchengut oder es wird bemerkt, wo mit dem königlichen Schatz die Kirche gewisser- 
maassen concurrirt, wie p. 11, 40 ff. Einzig in der deser. cuiusdam partis falstrie p. 64 
— 71 wird des bischöflichen Landbesitzes erwähnt, allein eben in diesem Bruchstück sind 
neben dem König überhaupt alle Besitzenden specificirt. Drängt sich darum auch hier die 


118 С. SCHIRREN, 


die überwiegende Mehrzahl namentlich bezeichneter Personen, so fehlt es doch sonst nicht 
an gelegentlicher Benennung. So, wenn an verschiedenen Stellen, p. 20, 31, 37, 44, 60, 
61, 62 einstige Besitzer von Gütern, die nachmals an den König übergingen, genannt sind 
und des Besitztitels des Königs dabei gedacht wird, dürfte daraus der Wink zu gewinnen 
sein, wie auch in der estnischen «Landrolle» die Verzeichnung der expulsi und remoti, des 
Güterkaufs und der Gütervererbung, nichtgar zu straff nach der Schnur rechtlicher Zweck- 
mässigkeit zu messen ist. Die dänischen Fragmente mögen etwa 130 Besitzer namhaft 
machen, also nicht weniger, als die freilich kleinere estnische Landrolle. Am nächsten 
steht dieser die mehrfach erwähnte descr. falstriae mit ihren 175 Besitzern, davon meh- 
rere, — wie in der estnischen Rolle — zwei, drei und mehr Mal wiederkehren; auch das 
ganze Schema hat etwas Verwandtes: «Ekaebiargh. I bool. III. marcas. Rex habet VI. oras. 
Petaer benedietsun. XII oras et solidum. Petaer thrulssun. X. solidos.» 

Schon daraus wird sich der Verfasser überzeugen können, dass, wenigstens hier, nicht 
nur «ausnahmsweise» nur «einige Personennamen» vorkommen, noch weniger aber die Be- 
nannten «solche sind, die Ritterdienste leisteten». Und welche Ritter wären ferner p. 36 
der Thruls uillicus. III. marcas und der Asmund uillicus. II. marcas arg. oder welche 
Ritterleistungen wären р. 38 die ПП" pondera Байт! und die casei, р. 53 die porci salsi, 
porci vivi, boues salsi, oues salse und anderswo die galline, anseres, stockfiskae etc. etc.? 
Warum wird denn der expeditio gedacht fast nur, wo ihre Ablösung in Geld oder Natura- 
lien notirt wird, in Honig oder in Lachsen? Und wenn der Verfasser ernstlich an Ritter 
dachte, warum, da er doch bei der estnischen Landrolle so viel Gewicht darauf legt, fiel 
es ihm nicht ein, nach der Zahl der Domini auch in der dänischen Landrolle zu fragen? 
Ich finde unter hundert und einigen zwanzig — einige Namen sind mir vielleicht entgan- 
gen — 38 mit einem Namen bezeichnet, 46 patronynisch benannt, 30 sonst mit doppelten, 
zum Theil dem Local entlehnten Namen, endlich Sophia regina, eine domina, Godefridus 
comes, Magister Olef und 5 domini, darunter beiläufig den d'S ducco р. 77 und dusWo- 
ghan bald mit, bald ohne diesen Titel p. 6, 64 (3), 65, 71, 78. 

Schlagend aber widerlegt sich die Auffassung des Verfassers durch das Fragment in 
den S. В. D.V, 615—621. Ich habe bereits in der Uebersicht des Inhalts die lange Liste 
der fratres als ein Verzeichniss von hafnæbrothræ erklärt. Der Verfasser nun meint «da 
es sich in Dänemark nur ausnahmsweise um Reiterdienst handelte, dagegen um Schiffe und 
die dazu gehörende Mannschaft, wo dann eine einer gewissen Summe in Mark entspre- 
chende Zahl Schiffe und Schiffsleute von dem Verbande der betreffenden Güter zu stellen 
war, so kam die Person des Besitzers dabei gar nicht in Betracht». Nun wissen wir zwar 
aus dem Jyske lov 3, 11, wie der bonde, der 1 Mark Goldes Land besass, ein threthings- 
havne, d.h. ein Drittel eines havne, ausrüstete, besass er halb soviel: ein sexthingshavne ff, 
Allein einmal ist diese Relation um die Mitte des XIII. Jahrhunderts schwerlich in voller 
Geltung gewesen, sodann lehrt sie vielmehr, wie viel es auf genauer Notirung des Land- 
besitzes der Einzelnen ankommen musste, grade für die Leistung des havne. Und eben 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 119 


jenes Fragment bietet den Beleg, wie bei dieser Leistung die Person so wenig zurückstand, 
dass vielmehr ein Verzeichniss von hafnæbrothræ entworfen wurde, deren je 3 oder 4 еше 
Leistung auszurichten hatten, ohne dass dabei der Landbesitz der Einzelnen erst noch aus- 
drücklich specificirt ist. Es fällt aber darauf um so grösseres (Gewicht, wenn nun unwider- 
leglich sich nachweisen lässt, wie zwischen den verzeichneten Mark und den navigia und 
hafnæ des L. C. eine Relation durchaus nicht Statt hat. Die beste Gelegenheit zu sol- 
chem Nachweis bieten die Verzeichnisse über Halland р. 43 und р. 55 —58. 


p. 43. р. 55. 

Fyæræ 80 marc. arg. | 103 marc. 16 sol. || 2 navigia mit 58 hafnæ. || 1711rustici. 
(à 26 u. 32) 

Vviskærdal 40 » » ОМ =) у. » PAS 513 » 

Haenôfiæ 80 » » 94 ь — » 2 » » 605 » 1500 » 
(à 40 u. 25) 

Farthusæhæret 60-+10 129 » — » 2 » » 77 э 1326 » 
(à 35 и. 42) 

Aræstathhæret 50 » » 100 « — » 2 » DD № ? » 
(à 33 u. 42) 

Halmstathhæret 50 » » 40 » — 5» > » » 56 » 726 » 
(à 16 u. 40) 

Thundrösh&ret 40 » » 80 » —» 3 » DINAN) 1020 » 
(à25, 26 u. 23) 


Hüxhæret (über60) » |103 » —» 4» » 98 » 1120 » 
(à24,25, 26 u. 23) 

Eigentlich hätte es einer solchen Zusammenstellung nicht bedürfen sollen. Denn, 
wenn es р. 55 schon in der ersten Zeile heisst: «hii sunt redditus in hallandia ad dominum 
regem», und zum Schluss der Uebersicht: «Habet autem summa redditus domini regis in 
Hallandia ОССУШ marcas arg. exceptis causis trium marcarum et XL marc. excepta pi- 
scatura lagheholm et excepta liberacione expeditionis» und vollends: «Sunt autem in hal- 
landia in XVIII nauigiis DXXXIII (die Summe oben gibt nur 531) hafnae seu totidem 
marce argenti», so ist bis zur äussersten Evidenz dargethan, dass die im L. С. verzeich- 
neten Mark zu den hafnæ nicht in entferntester Beziehung stehen und andrerseits gerade 
derjenige Markansatz, nach welchem seit gewisser Zeit die hafnæ berechnet wurden, im 
L. ©. nicht verzeichnet steht. 


Allein diese ganze Relation selbst ist nicht so alt, als man meist angenommen hat. 
So wenig besteht in älterer Zeit zwischen Heeresfolge und Bodencensus ein nothwendiger 
Zusammenhang, dass z. B., während in England die Kriegspflicht nach Hufen (hydas) be- 
messen wurde, das Domesdaybook die Ländereien nach Pfunden und Mark Goldes schätzt. 
Wenn aber in einigen Fragmenten des sog. L. C. jene Relation bereits angedeutet sein 
mag, so fehlt es in andern Fragmenten nicht nur an jeder Spur von ihr, sondern es finden 
sich positive Merkmale, wie sie dort nichts gegolten habe. Eine solche Stelle liest man 
p. 9, wo der Ertrag der Ländereien nach Mark Goldes geschätzt wird und es dann heisst: 


120 C. SCHIRREN, 


«Harzhaeret cum TITI nauibus tenetur nos transducere, quia in qualibet hafnae 
habet 11110" homines» und sofort geht das Verzeichniss nach dem unterbrochenen Schema 
weiter: «Gylling. XII marce auri. Saeby. VII. marce auri ff. ff». Also nach der Zahl der 
«homines», nicht nach dem Markwerth des Landes wurde die Leistung bemessen und doch 
war die Abschätzung nach Mark altherkömmlich; cf. p. 16: «In Braethaeböe. VI. marce 
argenti. Sie antiquitus estappreciata»; р. 22: «Patrimonium nostrum in feonia circa 400 
marcas auri secundum antiquam estimationem; — — Wordburgh ualet XXI. marcas 
auri secundum antiquam estimacionem». Wenn nun überdies von einer der besten dä- 
nischen Autoritäten in dieser Frage, von J. М. Velschow. De institutis militaribus Dano- 
rum, regnante Valdemaro secundo. 1831. $ 35 mit grosser Wahrscheinlichkeit nachge- 
wiesen wird, wie man in Dänemark die Betheiligung der Einzelnen an der expeditio nach 
der Zahl der von ihnen bebauten Hufen gesetzlich abzumessen begonnen habe erst nach 
der Zeit der Abfassung des L. C. D., so wird auch die estnische Landrolle schwerlich ent- 
worfen sein, um mit ihren Hakenzahlen das Maass der Heeresfolge zu geben. 

Denn dass bei Lehnsverhältnissen, soweit sie von dänischer Seite normirt wurden, ge- 
wisse allgemeine Namen auf Estland ausgedehnt wurden, das ergibt sich wenigstens bei- 
spielsweise aus Huitfeld I, 321, wo König Erich Menved im J. 1303 seinen Bruder 
Christoph auf sechs Jahre (paa 6 Aars tid) mit dem Herzogthum Estland belehnt und für 
Zeiten der Noth eine Heeresfolge von 50 Mann jenseits der Grenzen in Anspruch nimmt. 
Die gleiche summarische Bedingung stellt im Jahre 1323 König Christoph dem mit Ro- 
stock etc. belehnten Heinrich von Meklenburg; dieser leistet das «homagium fidelitatis» 
und übernimmt die Verpflichtung zur Kriegsfolge jenseits des Meeres «cum 50 homini- 
bus dextrariis et armatis, sufficienter expeditis» (die Urkunde bei Huitfeld I, 
421); Huitfeld übersetzt: «50 Reysener met heste oc Harnisk vel fardige». Es ist dann 
nicht zu übersehen, wie derselbe stereotype Ansatz schon um 1225 vorkommt. So näm- 
lich erkläre ich eine der Stipulationen, welche der gefangne Waldemar um seine Freilas- 
sung eingehen muss (Thorkelin I, 293 ff.): «Centum equos dabit Rex in Pascha proximo, 
quinquaginta dextarios ettotidem palefridos, unumquemque dextarium X marcas ualen- 
tem. palefridum quinque». Die 50 dextarii nämlich werden an den comes Heinricus, die 
50 palefridi an den comes Adolphus gekommen sein als Rückerstattung nach aufgeho- 
benem Lehnsbande. 

Für die Lehnspflichten der unteren in Estland angesessenen Vasallen ist damit freilich 
nicht viel bewiesen; allein man sieht doch, wie wenigstens im Grossen fixe Leistungen ohne 
Abmessung nach gewissen Landsätzen gefordert wurden und, dass im Kleinen die Heeresfolge 
schon damals durchgehends nach der Hakenzahl bemessen wurde, dafür liegt wenigstens 
kein Beweis vor. Der Verfasser zwar meint S. 206 Anm. 1, in der Heeresfolge seien für 
das XIII. und XIV. Jahrhundert nicht grosse Veränderungen vorauszusetzen und bezieht 
daher einen Ansatz des J. 1350, der überdies nicht mehr vom dänischen König ausging, 
auf die Zeit des L. C., allein, auch wenn man das zugestehen wollte, so bestätigt diese 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LißER CENSUS DANIAE. 121 


Norm nur den oben behaupteten stereotypen Character solcher Ansätze. Die Normirung 
nach je 100 Haken setzt überdies eine interne Repartition voraus, die nur bei gut geord- 
netem Gemeinwesen durchführbar ist, und zudem beweist sie, wie der Lehnsherr sich um 
die Zumessung der Leistungen im Einzelnen nicht kümmerte. Man lernt vielmehr, wie 
selbst die Normirung der Heeresfolge nach Haken für den König das Bedürfniss einer de- 
taillirten Landrolle nicht bedingte. Und auf gleich fixe Normirung treffen wir durch- 
gängig, soweit uns die Urkunden des XIV. Jahrhunderts Aufschluss geben. Selbst wo bei 
der Belehnung dies Maass der Rüstung ausdrücklich bedungen wird, da ist sie in keine 
deutliche Relation zur Hakenzahl gesetzt: einen Beleg gibt der Lehnbrief von 1280 für 
Andreas Knorring (Livl. Urk. 466). Ja, gegen die Relation spricht selbst der L. C. 
Fol. 47a. 


Johannes Pikæuækæ. VII. 
lator Vbbianes. IX. Expulsus Henricus odbrictae 
piscium Vrwas. V. cum duobus dextrariis. 


Nach der graphischen Anordnung bezieht die Notiz sich nur auf Vhbianes. IX. Al- 
lein gehörte sie auch zu den gesammten 22 Haken: eine Relation wäre auch dann undenk- 
bar. Der Verfasser selbst verlangt auf den L. C. die Norm von 1350 angewendet. Nach 
ihr aber (Livl. Urk. 900) stellten je 100 Haken einen schwerbewaffneten und zwei leicht- 
bewaffnete (dazu nicht ausdrücklich berittene) Deutsche. Ueberdies konnte ihn Livl. Urk. 
362, a. 1261 warnen. Es bietet da der Statthalter des Ordensmeisters in Livland, Georg, 
deutschen Kriegern, wenn sie ins Land kämen, und zwar: «feodum militi vel honesto bur- 
gensi, qui ibi esse voluerit cum dextrario cooperto LX mansos saxonicos; item probo 
famulo cum dextrario cooperto XL mansos, item servo cum equo et platea X mansos»; 
die sächsischen Hufen aber betrugen wenigstens doppelt so viel, als die estnischen Haken. 
So lässt sich in der Stelle des L. C. eine rationelle Beziehung zwischen der Kriegsleistung 
und der Hakenzahl durchaus nicht erkennen. Nun könnte zwar Henricus Odbrictae 
der Dienende eines Belehnten und von diesem auf 22 Haken gesetzt sein; allein warum 
erwähnt dann das «officielle Aktenstück» als «expulsus» den Diener, statt des Herrn? Und 
liegt nicht vollends in der isolirten Notiz selbst, — es findet sich keine andre derart wieder 
— der einfachste Beweis, dass es bei Abfassung des L. C. auch nicht nebenbei um Nor- 
mirung des Heerbannes zu thun war? 


Wir haben gesehen, wie die Gesichtspunkte des Verfassers zur Beurtheilung des L. 
C. nicht ausreichen. Weder war das dänische Lehnswesen so entwickelt, wie es in den 
«Studien» erscheint, noch gab es so ausschliesslich nur Lehnsbesitz in Harrien und Wir- 
land; noch endlich lässt sich für jene Zeit eine Normirung des Heerdienstes nach detail- 
lirten Hakenzahlen erweisen. Bildet nun auch der Vertrag von Stenby mit der dänischen 
Restauration im Geleite jedenfalls einen bedeutsamen Abschnitt für die Geschichte auch 
des Landbesitzes in Estland und hat darum der Verfasser im Allgemeinen Recht mit der 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 16 


122 C. SCHIRREN, 


Behauptung S. 75: «Prüft man nun die Geschichte der beiden Landschaften vor dem Ver- 
trage von Stenby und bis zum Schlusse der sechziger Jahre des Jahrhunderts, über die 
hinaus man die Landrolle doch unmöglich ansetzen kann, so findet sich durchaus keine 
andre Begebenheit, die uns den Schlüssel zu jenen Besitzveränderungen geben könnte, als 
dieser Vertrag selbst»; — so frägt sich doch immer, ob nicht noch andre Parteien, ausser 
dem König, ein Interesse haben mochten an der Aufzeichnung der Besitzverhältnisse, wie 
sie sich in irgend einem Zeitabschnitte nach jener Restauration gestalteten, und diese Frage 
hat der Verfasser selbst aufzuwerfen unterlassen. 

Ich werde zum Schluss meiner Erörterungen die Momente andeuten, welche Antwort 
versprechen auf solch eine Frage. 

Der Verfasser ist bei seiner «officiellen Landrolle» in einen eigenthümlichen Wider- 
spruch gerathen mit der Stellung der dänischen Krone zur Kirche. Die «sich aus der 
Landrolle ergebenden Zustände des Landes beweisen, S. 86, eine völlige Nichtachtung der 
Rechte der Kirche». Und nicht etwa nur bis zum Vertrage von Stenby. «Nach Wieder- 
herstellung der dänischen Herrschaft machen sich, $. 88, die vornehmen Dänen (man über- 
sehe nicht: es sind zum Theil die Besitzer des «Lehnhofs»!) das Beispiel der Deutschen 
ganz besonders zu Nutzen»; «das Kirchengut bleibt in Händen Privater», und der König 
lässt 5. 86 «die Vasallen, welche sich Kirchengut zugeeignet, in deren Besitze und stattet 
die Kirche mit andern Gütern aus». In diesen Satz hat sich eine Anticipirung eingeschli- 
chen. Die Abfassung des L. C. weiss jedenfalls noch nichts von diesem Ersatz — wenig- 
stens in der Auffassung des Verfassers, — er ist erst aus Urkunden bekannt Der Г. С. 
verzeichnet einfach die traurige Lage der Kirche. Woher dann zugleich, nicht etwa in 
königlichen Urkunden, sondern im nämlichen L. C. die zärtliche Rücksicht, mit welcher 
Fol. 48b. bei Lateis. ПП. verzeichnet steht: «ubi aptus locus ecclesie est et cimiterii»? 
Lag es bei Abfassung des L. C. bereits im Mandat der Beauftragten, die Organisation 
der kirchlichen Verhältnisse vorzubereiten, woher dann, ausser halbversteckten Klagen, nur 
diese eine kümmerliche Andeutung, wie etwa mochte geholfen werden? 

Diese Bedenken dagegen und die meisten übrigen schwinden, sobald man die «Land- 
rolle» des königlich-officiellen Characters entkleidet und aufzeichnen lässt von geistlicher 
Hand. Dann erscheinen alle Notizen erklärlich, die einen aus Interesse an den Dingen, 
die anderen aus Interessen an den Personen. Die Inconsequenzen des officiellen Documents 
gleichen sich aus; wir haben nur Notata eines Mönchs, eines Capitelgeistlichen, mit priva- 
tem Character. Das Verzeichniss konnte entworfen sein zur Orientirung, vielleicht um 
darauf gewisse Anliegen zu begründen, vielleicht um die Tragweite eines bereits zugestand- 
nen Rechts zu ermessen. 

Der Verfasser freilich weiss nichts von Geistlichen im L. C., etwa nur der Eilardus 
Presbiter wird ihn zur Anerkennung zwingen. Allein die «Landrolle» zählt Domini genug 
auf und sind Domini etwa nur ritterbürtige Vasallen? Wie würde der Verfasser nach sei- 
nem Princip folgende Personenreihe vom J. 1253 deuten: D Heinricus de Weisen- 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS DANIAE. 123 


berg, Dus Wixbertus de Revalia, DW Hermannus de Terevestevere, DU Ame- 
lungus de Ampele, DW Fridericus de Keitingen, DW Lutherus de Embere und 
ferner Henricus Holtzatus, Heinricus Swevus, Mathias Rysebit? Offenbar die 
ersten sechs als ritterbürtige Vasallen, die drei letzten als Knappen. In diesem Fall freilich ist 
Urk. 258 erhalten, den Missgriff zu corrigiren; sie zeigt uns die drei als Ordensbrüder, 
jene sechs aber als sacerdotes. Man trage jeden Namen an irgend eine Stelle des L. С. 
und sehe, ob er sich nicht grade so stattlich ausnimmt, als irgend ein Dominus Tuuo, 
Tuko, Saxo, Henricus de Bixhöuaeth und ein andrer. Oder woran unterscheiden 
sich die beiden Herren: der Di Hermannus de Hertel und der Dus Borkardus de 
Oerten? Und doch lehrt uns Urk. 474, der eine war canonicus, der andre vasallus. Ich 
setze jetzt das Verzeichniss der Parochialdörfer, so weit sie feststehn oder zu vermuthen 
sind, aus dem L. C. hierher: 


Hariae. Par. Hakriz. Dis Haelf. Hakriz. VI. Exp. ff. 
» Koskis. Jan de Hamel. Cosius. IX (?). Exp. ff. 
(in Par. Juriz verzeichnet). 
о Juriz. Henricus de Helde. Juriz VIT. 
(in Par. Koskis verzeichnet). 
Uoment. »  Keykel. Dus Tuco. Heukael ХХ (?). Remoti etc. 
Repel »  Jeelleth. Dus Saxo. Jeelleth. XIIII. Expp. ff. 
» Kusala. Dus Saxi. Kusala. XXV. Expp. ff. 
Ocrielae » Waskael. Г Rex. Waskael. XXI. 
Вере! Wir. »  Toruestaeuaerae. Hermannus. Torpius. XX. 
» Halelae. Herman Spring. Halela. XIII. ecclesie. 
Maum » Maum. 
Alentakae ohne Parochie. 
Askaelae ohne Parochie. Eilardus presbyter mit 4 Grundstücken und 30 
Haken (31). 
Laemund »  Vov. Lydgerus. Vov. XX. emptos de Will. de Ke- 
ting. prius dos eccl. 
Lemmun. »  Kactaekylae. Will. Kething. Katinkylae. II. ff. 


An welchen Merkmalen wird jetzt der Verfasser die Parochialgeistlichen erkennen? 
Eilardus presbiter freilich ist kenntlich genug; er hat unterschieden werden sollen vom 
Dis Eilardus, der bei der Abfassung des L. С. in erster Reihe betheiligt war; es ist daher 
aus seiner Bezeichnung durchaus nicht zu schliessen, kein nicht so Bezeichneter wäre pres- 
byter gewesen. Den DW Fridericus de Keitingen lehrt Urk. 258 als Priester kennen. 
Worin unterscheidet sich von ihm der Dus Wilhelmus de Kething? Etwa, dass er das 
Kirchdorf Vov verkauft hat? In Zeiten grosser Unordnung wäre das doch nicht so auffal- 
lend. Als ob nicht Bischöfe ihr Kirchengut hundertfach verkauften, verpfändeten, allen 


canones zum Trotz! Warum nicht ein Presbyter während tumultuarischer Sedisvacanz, 
* 


124 С. SCHIRREN, 


unter totalem Wechsel der Landesherren? — Warum soll Herman Spring im Kirchdorf 
Halela ein Knappe sein, warum nicht der Parochialgeistliche oder sein Vertreter? Die 
ОТК. 258 verzeichnet als Sacerdos den Dis Hermannus de Terevestevere. Im L. С. 
hat im Kirchspiel Toruestaeuaerae auch ein Hermann das Dorf Torpius inne mit XX Ha- 
ken. Ist es nicht sehr wahrscheinlich derselbe? Liegt nicht eine Namensverwandtschaft 
in Torpius und Toruestaeuaerae? und bilden nicht grade 20 Haken die herkömmliche Pa- 
rochialdotation? Warum soll der Du Tuco mit seinen 20 Haken zu Heukael in der Paro- 
chie Keykel ein ritterbürtiger Vasall sein und nicht der Geistliche des Kirchspiels? Sein 
übriger Landbesitz kann nicht befremden. Waren denn Geistliche stets nur arm und nie- 
driger Herkunft? Hatten sie nie Land ausser ihrer Widme? Eilardus presbiter erscheint 
im Besitz eines Gütchens mit dem ausdrücklichen Zusatz «non a rege». Dasselbe gilt vom 
Dus Saxo. Zwar er sitzt in zwei Parochien in den Kirchdörfern; allein es ist ja die Zeit 
der Umwälzung und der Zerrüttung aller Verhältnisse, und während andrerseits in der Pa- 
rochie Maum, isolirt für sich, ein Kirchdorf nicht nachweisbar scheint, verzeichnet der 
L. C. im Kyl. Askaelae zwar keine Parochie, allein den Eilardus presbiter, so dass man 
vermuthen darf, Maum, Alentakae, Askaelae gehörten einer Parochie an. 


Es kommt mir nicht bei zu behaupten: alle oder die meisten Obengenannten wären 
Presbyter gewesen: vielmehr geht deutlich hervor: die Verhältnisse waren noch nicht 
durchweg geordnet. Allein, wenn ich die Folgerungen zugeben soll, die daraus gezogen 
werden, dass man jene Domini für ritterbürtige Vasallen ausgibt, so frage ich zuvor nach 
dem Beweise. Es gibt keinen. Im einen Falle lässt es sich vielleicht plausibel machen, 
im andern ist das Gegentheil nicht weniger plausibel. 


Gleich zweideutig sind andre Angaben der «Landrolle». So heisst es: 


Fol. 57a. Ernestus. Rai. XII. cum relieta Willelmi. 
Fol. 49a. Walterus. Salda. VIII. post Bernardum cum relicta eius. 


Es hindert nichts, Ernestus und Walterus als Verwalter eines Capitels, eines Klo- 
sters, auch eines einzelnen Geistlichen, oder selbst als Geistliche anzusehen, welche die 
Früchte einer frommen Stiftung anfangs mit der Wittwe zu gleichen Hälften theilen, um 
erst nach deren Tode in den Vollgenuss zu treten. Frommer Vermächtnisse unter ähnlichen 
Bedingungen hat es zahllose gegeben; ich führe als Beispiel an die Schenkung des Domi- 
nus Bernardus de Ullesen an das mecklenburgische Kloster in Campo Solis (Lisch, 
Mecklenb. Urkk. II, 6, a. 1233): «descendente ipso Bernardo dimidia pars eorundem 
bonorum ad usum ecclesiae et dimidia pars uxori sue Bye proueniat, moriente autem ea 
prouentus et redditus totaliter conventui manebunt. Insuper prepositus redditus pronun- 
ciatos in festo Martini Bernardo uel uxori sue Bie Lubeke presentabit. Sumptus et 
alia necessaria ad prefata bona pertinencia ad prepositum et ad conventum respectum ha- 
bent». Das Kloster also hatte noch bei Lebzeiten der Donatoren die Verwaltung und theilte 
sich mit ihnen in die erzielten Früchte. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CENSUS ПАМАЕ. 125 


Allein neben zwiedeutigen Momenten enthält der L. C. andere, die wol nur auf Geist- 
liche schliessen lassen. Von einigen habe ich bereits gelegentlich gesprochen und erwähne 
sie nur in Kürze. Wird man es schon am ehsten doch einem Geistlichen zutrauen, dass er, 
vom Klang des Namens getroffen, Fol. 48b. vor das Dorf Moises. XVI. ein Kreuzchen (1) 
setzte, so verräth sich der Geistliche vollends in der Betitelung eines Collegen oder Vor- 
gesetzten als «auarissimus Eilardus»; Fol. 46a. Ferner wird er erkannt an der Theil- 
nahme für oder wider Alles, was Seinesgleichen angeht; Fol. 46b. heisst es: Conradus 
iuuenis. Kogael. X. ibi est molendinum; es ist sicher nicht die einzige Mühle gewesen 
in Harrien und Wirland: allein nur diese wird verzeichnet, denn unter den expulsi war 
auch Lambertus, cuius erat molendinum, und mit derselben Theilnahme wird Fol. 47a. 
bemerkt: Huith, cognatus Lamberti. Kohoy. XV. qui et in Pirso V. habuit. Einem 
Geistlichen doch am nächsten stand Fol. 51 der lucus sanctus mit dem unverständlichen 
Zusatz, der nur allgemein auf eine Gewaltthat schliessen lässt, und wiederum einen Geist- 
lichen am meisten interessirt Fol. 48b. der Ort, ubi fuit ecclesia et cimiterium adhuc est, 
und der andere, ubi aptus locus ecclesie est et cimiterü. 

Die Beweisreihe endlich findet ihren entscheidenden Aufschluss (so dass der Ausweg, 
jene Notizen dem Abschreiber aufzubürden, versagt) Fol. 47a., 47b.: 

Richard 


1 t Saungy. VIII. et monachi. XVII. 
gener leonis 


Dis rex nobis. Uianra. УП. 
J ærgækylæ…XX. Wilbrand expttit. 
Heckelae / 

Von Fol.46b. mit der Notiz «dos ecclesie» bis Fol. 47b. mit der Angabe «Dûs rex nobis» 
manifestirt sich in auffallender Weise das Interesse eines Geistlichen. Auf diesen Raum kom- 
men die meisten der besprochenen Notata; sie fallen sämmtlich in eine Gegend, zum Theil 
nach Repel kyl., zum Theil nach Ocrielae kyl. in Harrien; sie schliessen endlich mit 6 frei- 
gelassenen Zeilen, als sollte für künftige Landerwerbungen des Besitzers, der sich mit 
«nos» bezeichnet, ein Raum offenstehen. Den Geistlichen kennzeichnet dann noch vielleicht 
die kurze Bezeichnung emonachi», die wenigstens beitragen mag, auf die Spur der «nos» 
zu verhelfen. Leider sind grade die Ortsnamen nicht sicher nachzuweisen. Nur Vermu- 
thungen sind gestattet. Hat Knüpffer Jaergaekylae richtig identificirt mit Jerküll am 
oberen See, so sind wir in die Nähe von Reval verwiesen und könnten versucht werden, 
in den «nos» die Predigerbrüder zu erkennen, welche nach Livl. Urk. 382, a. 1264 Be- 
sitzungen hatten iuxta «stagnum regis». Allein ein Predigerbruder hätte die Cistercienser 
von Dünamünde schwerlich einfach als «monachi» bezeichnet und dass diese gemeint sind, 
ergibt sich aus Urk. 399a., da König Erich Glipping im J. 1266 ihnen den Besitz von 
Pongete, Raseke, Pandis (Padis) und Sanne (im L. C. Saunoy) bestätigt. Auch die Ci- 
stercienser von Gothland werden die Cistercieuser von Dünamünde schwerlich kurzweg 
Mönche genannt haben. Es bleiben, scheint mir, nur zwei Annahmen. Entweder die 


126 С. SCHIRREN, 


Bezeichnung monachi kommt aus dem Munde von Nonnen und man dürfte an das Michaelis- 
kloster denken; nur dass in späteren Urkunden unter den Besitzungen dieses Klosters 
keine Güter ähnlichen Namens sich wiederfinden. Oder es könnte ein Geistlicher des Ca- 
pitels von Reval die vielfach befreundeten Cistercienser gemeint haben. Dafür spräche 
dann auch, wenn Pauckers Identifieirung des Orts adoptirt werden darf, die Verlehnung 
von Wärne (im L. С. Uianra) durch Bischof Friedrich im ФТ. 1553; ferner die kurze Be- 
zeichnung Infirmi. Patrickae. V., womit das Spital S. Johannis zu Reval gemeint ist, das 
noch im J. 1370 (Livl. Urk. 1076) Patteke besass und für welches und zwar in einer 
Sedisvacanz das Revaler Domcapitel Almosen erbat (Bunges Archiv III, 309). 

Freilich steht man auch so noch auf unsicherm Boden. Wir haben gesehen, wie eine 
Beziehung jener 27 Haken zum «Dominus Eilardus» nicht zu verkennen ist, wenn ihm die 
Randbemerkung von Fol. 50a. in Haria XXVII zuschreibt, in ganz Harrien aber ein zwei- 
ter Gütercomplex von 27 Haken nicht vorkommt. Ob der Dominus Eilardus selbst Geist- 
licher des Capitels gewesen, Propst vielleicht, wer wollte darüber entscheiden? Und selbst 
dann noch bleibt eine Frage zu lösen. Wie liest man «Wilbrand expttit»? Aus graphischen 
Gründen am ehsten doch expellitur? Wer war dieser Wilbrand? Ein Landherr auf eigne 
Faust, der entfernt wird um den «nos» Platz zu machen, oder selbst einer der «nos» und 
Verwalter in ihrem Namen? Und was bedeutet das anomale Präsens’? 

Und welches geistliche Interesse verlangt ein so detaillirtes Verzeichniss von Gütern 
nach Hakenzahl nebst ihren Besitzern? Denn dem König, so wenig er darnach den Heer- 
dienst im Einzelnen zu ordnen, so wenig er jeden Besitz zu bestätigen oder zu widerrufen 
hatte, ihm mochte doch wol auch sonst daran liegen, den Stand der Provinz zu kennen, 
ihre Ansiedler und Landherren und Vasallen zu mustern und sich zu orientiren. Was aber 
gewann aus dieser Uebersicht ein Geistlicher? 

Die vorläufige Antwort liegt in einer ganzen Reihe von Copialbüchern, von Matrikeln 
der Klöster, von Güterverzeichnissen, von Zehentregistern. So eigenthümlich für sich der 
L. C. dasteht, die Einsicht auch nur in die Traditiones et antiquitates Fuldenses, ed. 
Dronke. 1844. und in das Zehntregister des Bisthums Ratzeburg, ed. Arndt. 1833. hät- 
ten dem Verfasser die Frage aufgedrängt und zur Antwort verholfen. 

Allein, auch abgesehen von allen Analogien: der flüchtigste Rückblick gibt die Ant- 
wort. Der Zehnte vom Zehnten wurde vom Haken berechnet. Der Bischof und sein Capi- 
tel controlirten einen Theil ihrer Einkünfte, indem sie die Haken controlirten; sie wussten, 
an wen sie sich zu halten hatten, wenn die Besitzer verzeichnet waren; sie hatten vom 
König die Zusicherung dieser Einnahme seit Altem und ein Besitzwechsel im Grossen, 
wie im Kleinen konnte ihnen nicht gleichgültig bleiben. 

Nun ist vielleicht auch neues Licht gewonnen für das Vorblatt, Fol. 41b. Zwar auch 
jetzt noch erscheint es zum Theil nur als Notizensammlung; allein es hat auch eine weiter- 
gehende Bedeutung. Wohin die Herrschaft des dänischen Königs nicht mehr reichte, da- 
hin ging noch der Anspruch des Bischofs von Reval auf die geistlichen Zehnten. Der 


Berrrac zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 197 


Streit über mehrere der Landschaften, welche Fol. 41b. verzeichnet, war mit dem Vertrage 
von Stenby nicht beendet. Es bezeichnet offenbar das Verlangen des Ordens, sich gegen 
geistliche Einreden zu sichern, wenn er noch im J. 1282 (Livl. Urk. 482) den Besitz von 
«Gerwia et Alempois, Normekunde, Moke et Weigel, in Estonia Tharbatensis et Revalien- 
sis dioecesis» vom Papste sich gleichsam bestätigen lässt; und die Notiz von Fol. 41b. «Alem- 
pos, una Kiligunda, in qua sunt CCCC unci. Hanc habent fratres militie sibi inuste uin- 
dicatam, cum a nullo dinoscuntur certo titulo habuisse» ist noch um die Mitte des XIII. 
Jahrhunderts vom geistlichen Standpunkte verständlich, auch nachdem die weltliche Ab- 
tretung an den Orden ergangen war. Der künftigen Forschung empfehle ich eine Angabe 
des Vorblatts zu genauer Prüfung. Im zweiten Absatz liest man: «hec sunt terre ex una 
parte fluuii qui uocatur lipz. Ех altera parte eiusdem. Zambia. Scalwo. Lammato. Cur- 
landia. Semigallia». Mit Unrecht will Paucker für Lammato Sammato lesen uud von Sa 

maiten verstanden wissen. Der Name ist uns auch sonst nur aus Urkunden bekannt; allein 
erst nach dem J. 1250. Für diejenigen, welche aus Livl. Urk. 103, a. 1229 den Lamme- 
chinus rex, was sonst wol anginge, auf dieselbe Landschaft beziehen wollten, bemerke ich, 
dass sein Gebiet an der untern Windau lag, das Land Lammato oder Lammethin dagegen 
im äussersten Südwesten von Kurland, zum Theil nach Schemaiten hinein, in der Nähe von 
Memel. Ich setze die bezüglichen Stellen hierher: Livl. Urk. 236, a. 1252. Vereinigung 
zwischen dem Statthalter des Hochmeisters, Eberhard von Seyne, und dem Bischof 
Heinrich von Kurland über Erbauung von Burg und Stadt Memel: «Praeterea quidquid 
profitui nobis potest provenire iusto modo de Lammethin et aliis terris nondum sub- 
ingatis, ad episcopatum Curoniae spectantibus, ad praedictos У annos in nostram 
cedet utilitatem», und ebenso in der Gegenurkunde des Bischofs, Livl. Urk. 237: «de Lam- 
mentin et aliis terris» ff. Ferner heisst es im lateinischen Gegentext der von Bunge Livl. 
Urk. 247 nur in deutscher Uebertragung aufgenommenen Urk. (Eberhards von Seyne) 
dd. Goldingen. 1253. II. Non. April.: «Sciendum est, quod postquam D. Episcopus uenit 
ad partem Curoniae, fratrem predictum Nicolaum in terra quae Lammetyn dicitur sine 
praeiuditio dicti Episcopi infeudarunt» ff. Опа eben darauf wol bezieht sich Livl. 
Urk. 540 vom J. 1291: «terra quae vocatur Samentie (eine Var. liest Lamenan, eine 
andre nach meinen Excerpten aus der Popen’schen Brieflade: Samentin), quantum ad epis- 
copatum spectat, manet domino episcopo et canonicis indivisa». Man sieht, das Land Lam- 
тет (Lammato) ging zunächst und namentlich um die Mitte des ХПТ. Jahrhunderts den 
Bischof von Kurland an; es wird, so viel mir bekannt, sonst nirgends erwähnt. Die Kunde 
davon beim Schreiber von Fol. 41b. dürfte dessen geistlichen Stand noch wahrscheinlicher 
machen und ihn vielleicht in Beziehung setzen zu Verhältnissen oder Personen in Kurland. 
Dass dorthin noch im XIII. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Dänen gerichtet war, 
beweist anscheinend die Zusicherung Balduins v. Alna an den König Lammechinus 
und die heidnischen Kuren (Livl. Urk. 103, a. 129): «Ad ea vero iura, quae persolvere 
tenentur indigenae de Gothlandia, per omnia perpetuo tenebuntur episcopo suo, suisque 


128 C. SCHIRREN, 


praelatis annuatim persolvenda, ita quod nec regno Daciae, nec Sueciae subiicien- 
tur». Es sind in dieser Richtung noch manche historische Fäden zu verfolgen. 

Freilich ist zunächst nur ein neuer Standpunkt gewonnen. Erledigt ist die Frage noch 
nicht. Sofort drängen sich die Bedenken. Der L. C. verzeichnet nirgends deutlich eine 
Dotation des Stifts; handelte es sich nur um die Controle des Zehnten vom Zehnten, so 
ist das begreiflich; allein wozu dann die Erwähnung der 27 Haken? Waren sie etwa zwar 
einem Gliede des Capitels, nicht aber diesem selbst verliehen? Auch die Widersprüche, die 
oben unter dem Titel Ulricus Balistarius und Robert de Sluter besprochen wurden, 
sind nicht eigentlich gelöst. Allein die Lösung auch selbst unscheinbarer Probleme darf sich 
nicht überstürzen. Vielleicht hilft eine neu aufzufindende Urkunde unerwartet und gründlich. 
Noch wissen wir fast nichts von der Geschichte des Revaler Stifts; weder wann Thorchill 
ins Land kam, noch wie er in seine Dotation eingewiesen wurde. Vielleicht ist die Auf- 
zeichnung gleichzeitig mit seiner Ernennung und begegnet der Zeit nach den älteren Ze- 
henturkunden. Vor Allem müssen wir klar sehen in die Dauer und in die Ereignisse der 
Sedisvacanzen, und das nächste Desideratum ist eine Geschichte der kirchlichen Verhält- 
nisse von Harrien und Wirland. 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Lier CENSUS DANIAE. 129 


Es hat die vorstehende Erörterung den reichhaltigen, ersten Band der Studien bei 
weitem nicht erschöpft; sie hat sich nur bemüht, die Basis zu prüfen, auf welcher die Ge- 
schichte Harriens und Wirlands vom Verfasser ist aufgerichtet worden. Die Consequen- 
zen der Prüfung, so weit sie nicht angedeutet, liegen in der einleitenden Betrachtung über 
des Verfassers Methode, mögen sich selbst vollziehen. Der Maassstab wenigstens ist ge- 
geben. 

Allein so abweichend in Vielem die Resultate: so nahe berühren sie sich andrerseits. 
Der Beweis vom Alter des L. C. ist angestritten; alles Einzelne ist unsicher: jedoch die 
Masse halber Zeugnisse ersetzt mit ihrer Wirkung fast eine vollendete Beweisreihe. Die 
Auffassung vom dänisch-estnischen Lehnssystem ist wesentlich modificirt worden: des Rich- 
tigen und Giltigen ist genug noch geblieben. Der officielle Character der «Landrolle» lässt 
sich nicht aufrechthalten; aber es fehlt ihr nicht an Momenten, welche eine Beziehung 
zum Stenbyer Vertrage verrathen. Ganze Fragen hat der Verfasser unerledigt gelassen; 
manche, und nicht unwichtige, hat er völlig übersehen: dennoch hat er mit Umsicht, nicht 
selten mit Sicherheit erwiesen, was vor ihm kaum vermuthet war oder des Beweises er- 
mangelte. 

Nach Ausscheidung einiger unglücklicher Hypothesen bleibt ein gut geführtes, obschon 
mitunter gekünsteltes, Ganze. Die Geschichte Harriens und Wirlands ist bleibend begrün- 
det von ihren zwiespältigen Ansätzen bis an die Anzeichen vom Sieg des deutschen 
Elements. Der inneren Entwickelung ist ihr Gang vorgezeichnet, der äusseren Stellung ihr 
Gewicht gemessen. Die eigenthümliche Bedeutung der Landschaften für die deutsche Con- 
föderation mit ihrer feudalen Grundlage ist überzeugend, obzwar nicht durchweg ohne 
Ueberspannung, erläutert. Die concurrirenden Aussengewalten müssen, eine nach der an- 
dern, zurücktreten. Der weltliche Streit zwischen König und Orden wird vom Papst 
geschlichtet nur mit dem Erfolge, die Macht Beider über Estland zu brechen. Als Däne- 
mark die Herrschaft wieder antritt, da hat mittlerweile die harrisch-wirische Ritterschaft 
sich consolidirt, so dass der Schwerpunkt der Verwaltung frühe in ihre Mitte rückt. Sie 
weiss ihn zu behaupten nach innen und aussen. Die Unterjochung des Landvolks ist dann 
entschieden. Mag sie erst später sich vollenden, schon in den ältesten Verhältnissen ist 
Nichts, das mächtig wäre, sie abzuwenden. Wie sie beginnt, schildert der Verfasser (3. 
278—283) meist trefiend und in lebhafter Skizze. Und ehe die Darstellung abbricht, prägt 
sich ihr Bild noch einmal aus in einigen gedrängten Zügen. 

«Wohl wird, sagt der Verfasser S. 5, diese Studie manchen gerechten Ansprüchen 
nicht genügen. Doch wird es mir vielleicht gelungen sein, einige neue Gesichtspunkte auf- 
zustellen für die Erforschung der ersten Anfänge deutschen Lebens in Estland». Wenn 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 17 


130 C. SCHIRREN, 


nun am wahren Werth eines Werks die Ansprüche seines Urhebers sich richten, so besteht 
dieses Mal die mässige Prätension in Ehren vor der Leistung. Es sind nicht einige neue 
Gesichtspunkte gefunden: Kern und Halt hat der Verfasser geschaffen für jene Geschichte. 
Es ist mein Bestreben gewesen, einen Maassstab zu gewinnen, nach welchem die Extreme 
der «Studien» abzuscheiden wären: um so sichrer vermag ich den Werth des Restes zu 
schätzen. Und wenn meine Prüfung damit begann, die Mängel zu verfolgen, dort, wo 
sie am nächsten an die Vorzüge rühren, so darf sie auch schliessen zurückgekehrt an diese 
Grenze. Denn eben was die Schwäche der «Studien» bildet, wird andererseits zu ihrer 
Stärke. Einen Widerspruch kann darin finden nur, wer in der Werkstatt der Wissenschaft 
nicht zu scheiden gelernt hat absoluten Erfolg und methodischen, den Erfolg selbst und 
seine Vorbereitung. Es herrscht ein gewisses Gesetz in den Uebergängen vom Möglichen 
zum Wahrscheinlichen, vom Wahrscheinlichen zum Wirklichen. Es ist nicht in die Willkür 
gegeben, durcheinander das Wirkliche zu erkennen und das Mögliche erst zu überschauen. 
Ans Ziel führt nur eine methodische Reihe von Combinationen und in der grenzenlosen 
Welt der Möglichkeiten ist es weniger gefährlich, einseitig zu irren, als nach allen Seiten. 
Der Verfasser hat die dadurch bedingte Aufgabe — nicht völlig verstanden — aber nahe 
getrotfen. Es ist ihm gelungen, zwar nicht einmal immer das Unwahrscheinliche zu ver- 
meiden, aber sich streng in der Sphäre des historisch Möglichen zu halten, so dass er nicht 
selten das Wahrscheinliche trifft, dem Wirklichen sich nähert. Am meisten hat er das dem 
Schematismus seiner Grundanschauung zu danken; er hat dabei geirrt, aber der Irrthum 
ist zu messen und leicht zu heilen. 

Zwar neben die Mängel der Methode treten Mängel der Vorbereitung. So sorgsam 
die Benutzung der Quellen, — ihre Prüfung ist nicht immer gründlich vollzogen: das Docu- 
ment selbst, von welchem die Untersuchung ausgeht, zu dem sie zurückkehrt, ist nicht an 
allen Merkmalen sorgsam betrachtet: die Folgen habe ich versucht zu messen. 

Und dazu kommen dann noch gelegentliche Fehler: missverstandene termini, über- 
sehene Daten, übereilte Schlüsse; ich habe sie gelegentlich verzeichnet. 

Mitunter selbst ist nichts gewonnen, als Täuschung. Die unglaublich kühne Characte- 
ristik von Männern, deren jeder ein Leben durchlebt hat, wie wir, und von denen wir 
kaum mehr haben, als eine armselige Kunde; — der einem nicht ganz homogenen Stoff ge- 
genüber unsicher fixirte Standpunkt; — die Neigung, unter gleichberechtigten Daten zu 
bevorzugen nur, was in das System passt; — das halbunbewusste Bestreben, Widersprüche 
zu schwächen, Gegensätze zu übersehen, Unklares unklar zu motiviren und wiederum die 
Tendenz, Intentionen zu überspannen und Zufälliges mit der Beweiskraft von Nothwendi- 
sem auszustatten, — das sind unleugbare Mängel, die aufgewogen werden nur durch gleich 
unleugbare Vorzüge und in fast organischem Zusammenhange mit diesen. Je rücksichtsloser 
ich sie verfolgt habe, um so energischer habe ich schon darin den Werth bekundet, den 
mir das Buch hat: ihm die Anerkennung entziehen, ist unmöglich. Selbst über das Maass 
der Anerkennung vermag ich nicht zu schwanken; je tiefer ich mich hineingearbeitet, um 


BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES Liser CENSUS DANIAE. 131 


so mehr fand ich Anlass zum Urtheil: es ist nicht eine Arbeit, die Ermunterung verlangt 
und Ermunterung grade verdient hat. Der Verfasser hat nicht einen fremden Stoff mit un- 
geübtem Eifer ergriffen; der Ansatz zu seinen Studien liegt mehr als 15 Jahre zurück; ег 
hat seit den ersten Versuchen seinen Blick geschärft, sein Urtheil versucht, sein Material 
gesammelt und besonnen geordnet; er hat die Quellen nicht flüchtig durchmustert: er hat 
sie gelesen mit der Liebe und der Reife des Forschers; er hat sich vertieft in sie und Auf- 
schlüsse in ihnen gefunden, die Zeugniss geben von feinem Bedacht und scharfsinniger 
Durchdringung. Es ist mir ein oft ungetrübter Genuss gewesen, ihm zu folgen in seinen 
Deductionen, mich überraschen zu lassen von seiner feinen Berechnung. Mitunter, wo ich 
ihn auf Irrwegen glaubte, sah ich ihn rüstig den rechten Weg wiedergewinnen: es war nur 
ein Umweg gewesen, ein Hinderniss zu umgehen, das mir nicht sofort war sichtbar gewor- 
den. Mitunter, wo er ein wichtiges Zeichen zu übersehen schien, das ihn zurechtweisen 
konnte, hatte er es von anderm Standpunkte erblickt und rasch sich von Neuem orientirt; 
mitunter auch hatte er es absichtlich verschwiegen und zeigte es dann mitten in einer Oede, 
wo vor allem Noth war an Wegweisern. 

Allein auch ein realer Gewinn ist bleibend gesichert. Der Liber Census ist lange nur 
eine Fundgrube gewesen vereinzelter Notizen. Der Verfasser hat zuerst das Verdienst, ihn 
systematisch — wo nicht bezwungen, — doch angegriffen zu haben. Er hat ihm eine Deu- 
tung gegeben mit scharfen Merkmalen; die alte Unbestimmtheit hat er ihm genommen: sein 
grösster Fehler ist einseitige Consequenz. Wer die herkömmliche Behandlung livländischer 
Geschichte kennt, wird diese Einseitigkeit sich gern gefallen lassen. Man kann seine Auffassung 
angreifen — und ohne Zweifel behält er sich vor, sich gegen manchen Angriff zu wehren — 
man vermag sie nieht zu umgehen. Sie erzwingt Beachtung und hat einen Kern gesetzt, 
um welchen eine lange unterschiedslos schwankende Masse von Thatsachen sich ansetzen 
mag zu krystallischer Gliederung. So wirkt sie hinaus über ihre enge Sphäre und wird 
wahrhaft fördernd. 

In Betracht darum der überwiegenden Vorzüge der «Studien», die nicht Ermunterung, 
sondern Anerkennung verlangen, — in Betracht der Liebe und Reife der Forschung, — in 
Betracht namentlich des methodischen Erfolgs, der über die nächste Wirkung hinausgeht, 
— erlaube ich mir, in kraft des mir gewordenen Auftrags und nach reiflicher Erwägung, 
für den Verfasser der Studien zur Geschichte Liv-, Esth- und Kurlands, Band I, auf Er- 
theilung eines vollen Demidowschen Preises anzutragen. 


Dorpat, 26. März 1859. 


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BEITRAG zum VERSTÄNDNISS DES LiBER CENSUS DANIAE. 


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BeitraG zum VERSTÄNDNISS DES LIBER CEnsus DANIAE. 135 


Tab. ГУа. Uebersicht der Expulsi und Remoti des Liber Census in Bezug zu den 
Besitzern ihres Landes. 


Expulsi. Kylaegunden. Besitzer. Remoti. Kylaegunden. Besitzer. 
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Anm. Es siud nur die vom L. C ausdrücklich als Expulsi oder Remoti Bezeichneten berücksichtigt. 


136 


C. SCHIRREN, 


Tab. IVr. Uebersicht der Expulsi und Remoti des Liber Census in Bezug zu den 
Besitzern ihres Landes. 


Besitzer. Kylaegunden. | 


Bernard de bixhöuet | Laemund 


Expulsi. 


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Henricus Odbrictae 
Arnold 

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Henric. Albus 
Henric Batae 
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Lidulf lang 
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Siuerth Puster 
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Engelard miles 


heredes di Willelmi 


Albernus, fr.Godefrit | Dus Tuui Palnis 


Thideric Nogat 


Besitzer. Remoti. 


K ylaegunden. 
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Bertoldus de 
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Rimbolt 
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Herman Wisae 


Herman.Osilianus | Uomentakae 


Dus Iwarus Uomentakae 


Mattil Risbit Uomentakae 


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ThidericdeEkrist | Uomentakae | Dus Engelardus 


Thider. deKyuael | Repel Wir. Libertus 
Thiderie de Co-fUomentakae f Herborth half- 
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Dus Tuco Uomentakae ( Albrict 
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Marwar 
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Repel Har. Albert de Osilia 
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Anm. Es sind nur die vom L. C. ausdrüeklich als Expulsi oder Remoti Bezeichneten berücksichtigt. 


Hariae 
Die 3 erst. Paroch. 


Basilius 


Uomentakæ 
Kyl. 


Repel Oc 
Kyl. (Har.). 


Arnald litlae . 


т 
| Beitrag zum Venstänoniss ors Linen Census Danıar 


| 137 
Tab. V. Uebersicht der Besitzer in Harrien und Wirland nach dem Liber € 


‚ensus. 


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Harıse Uomentak® DRE Sera = Bl Maum К. Е L Л L 
р: H Kyl. y (Наг.). yl. У. (Wiron ). У + n aemuns mmun 
Die Зея Parbch. у ) к Alentakæ M : EL Le т д Besondre Bemerkungen. 
Adam, fl. Reg- 15 IE 
Ab 
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Arnald litlac . |... ---|Arnaldilitinc. |... , . 
Arnaldus parvus| er: + |Arnald litlae 
pasilius | 
Bertald de mæ- Doraard de bix- 
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Bortold Cam- kius 5 
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Bertoldus de .... Von den, nach Abrechnung des 
Swarae nigs, der Klöster © itzlichen 121 
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ECC ES Christian de 1 
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Conradus iuve- zugleich Ansässigen kommen auf 
Monachi de Dy-| 18 Роз Ней 
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Dynnemynne® Hariae п, U: зКае 5 os = 
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Nach Abrechnung des königlichen Guts, der Klostor-Bositzungen, dor Besitzungen der Infirmi und der Nos kommen auf: oder Е Personen 127 
Be- Go Ha-| Be. бы Ha. | Ве ба. Ha- | Ве- Gü- На- | Be- Gü- Hn-| Be- Gü- Ha- | Be- Gü- Ha- | Bc- 00- Ha- | Be- gü- Ha-| Be- Gü- Ha- and nach Abrechnung des Dur 
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aise ln Barcız|ı 28а 622 | @ 100 6) |1 278 6.44 | 1 170 ©.28 | 1 200 6.18 1 180.201 145 6.28 | 1 1,60 e.10 Dynnaemynnae, der Mon. de Gut- 
Lans eh land, der Nos und der Infrmi ..121 
[Codex einige Besitzer 
‚nicht no! .) 


18 


a. 
ci 


MÉMOIRES 


L’ACADEMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES DE ST.-PÉTERSBOURG, VI SERIE. 
Томе I, N°4. 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG 


VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN 


Otto Struve. 
Mitgliede der Akademie 


Gelesen am 8. April 1859. 


St. PETERSBURG, 1860. 
Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: 
a ers S in Riga in Leipzig 
Eggers et Comp. Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Preis: 30 Кор. = 10 Ner. 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


К. Vesselofski, beständiger Secretär. 


Im Januar 1860. 


Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG 


DES 


VERHALTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 


Von 
Otto Struve. 


In Nr. 1178 der Astronomischen Nachrichten befindet sich ein von Humboldt durch 
Vermittelung des Herrn Dr. Bruhns in Berlin zur Veröffentlichung eingesandtes, an ihn 
gerichtetes Schreiben des Gymnasiallehrers Dr. Michael in Sagan, in welchem letzterer, 
gestützt auf ein in Sagan aufgefundenes Actenstück, nachzuweisen sucht, dass Keppler 
nie eigentlich in Diensten Wallenstein’s gestanden habe, wie es doch von Breitschwert 
dem Biographen Keppler’s behauptet wird. Durch diesen Aufsatz wurde ich veranlasst 
die in Pulkowa befindliche Sammlung Keppler’scher Manuscripte etwas näher in Bezug 
auf diesen Gegenstand zu untersuchen. 

Über diese Manuscripte ist schon vielerlei von Hevel, Hansch, Kaestner, Murr 
u. A. geschrieben worden. Die Geschichte ihrer Wanderungen lässt sich folgendermassen 
zusammenfassen. Nach dem Tode Keppler’s (1630 Nov. 15) verblieb sein ganzer literäri- 
scher Nachlass seinen Erben und zwar zunächst in den Händen seines Schwiegersohnes und 
letzten Gehülfen Jac. Bartsch. Später scheinen die Manuscripte durch Keppler’s einzigen 
ihn überlebenden Sohn Ludwig, nach Königsberg gebracht zu sein, wo letzterer als Arzt bis 
zum Jahre 1663 lebte. Von ihm, oder seinen Erben, gelangten sie durch Kauf in den Besitz 
des berühmten und begüterten Danziger Astronomen und Bürgermeister’s Joh. Hevel, der 
über ihren Inhalt in den Philosophical Transactions 1674, in einem an Oldenburg gerichteten 
Briefe berichtet. Nach Hevel’s Tode erhielt sie, wie es scheint als Geschenk vom Schwie- 
gersohne Hevel’s, dem Bürgermeister Lange in Danzig, der Mathematiker Hansch, 
welcher die Absicht hatte alles werthvolle aus diesem Nachlasse zu veröffentlichen. Ob- 
gleich anfangs von Kaiser Carl VI liberal zu diesem Unternehmen unterstützt, hat Hansch 
jedoch nur einen Band Briefe unter dem Titel: Joh. Kepplert aliorumque epistolae mutuae 1718 
publicirt. Geldverlegenheiten hinderten ihn an der Fortsetzung seines Unternehmens, ja er 
sah sich sogar genöthigt, nachdem er die Manuscripte vergeblich verschiedenen Akademien 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 1 


2 Отто STRUYE, 


und gelehrten Gesellschaften zum Kauf angeboten hatte, dieselben für eine geringe Summe in 
Frankfurt am Main zu versetzen, wo sie verschiedene Besitzer wechselten, weil Hansch 
nicht wieder in den Stand gesetzt war sie auszulösen. In den Händen von Leuten, die ihre 
Bedeutung nicht ahndeten, blieben sie unbeachtet bis endlich der bekannte Bibliophile C. v. 
Murr sie ungefähr 1760 aufstöberte') und, nachdem verschiedene andere Anträge missglückt 
waren, durch Stähelin’s Vermittelung die Kaiserin Catherina II im Jahre 1774 zu ihrem 
Ankauf bewog. Von dieser aufgeklärten Monarchin wurden die Manuscripte unserer Akade- 
mie geschenkt und letzterer der Auftrag ertheilt aus denselben das Interessante zu veröf- 
fentlichen. Nach Murr’s Zeugniss wurden die beiden Euler, Lexell und Krafft mit der 
Untersuchung der Manuscripte für diesen Zweck betraut und speciell stand von Lexell ein 
ausführlicher Bericht über dieselben zu erwarten. Ob dieser Bericht je angefertigt, ist mir 
nicht bekannt, veröffentlicht ist er gewiss nicht. So lagen die Manuscripte auch in unserer 
Akademischen Bibliothek nahezu 70 Jahre ganz unbenutzt, bis sie, bald nach der Gründung 
von Pulkowa, durch Beschluss der Akademie unserer Sternwartsbibliothek einverleibt wur- 
den. In der Einleitung zur ersten Ausgabe des systematischen Catalogs unserer Bibliothek, 
vom Jahre 1845, machte mein Vater das wissenschaftliche Publikum wieder auf diesen 
Schatz aufmerksam und jetzt nach 2'/, Jahrhunderten steht endlich eine geeignete und 
umfassende Benutzung der wissenschaftlichen Hinterlassenschaft eines der grössten Astro- 
nomen und scharfsinnigsten Denker aller Zeiten in naher Aussicht. Wie der Akademie be- 
kannt, hat Professor Frisch in Stuttgardt die Herausgabe sämmtlicher Keppler’schen 
Schriften sich zur Lebensaufgabe gestellt. Auf seine Bitte werden ihm zu dem Zweck durch 
die Akademie nach einander die verschiedenen Bände nnserer Sammlung zur Benutzung 
anheimgestellt und noch jüngst sind die Bände XVI und XVII an ihn abgesandt. Bei sei- 
ner beabsichtigten und zum Theil schon ins Werk gesetzten Publikation benutzt Herr Prof. 
Frisch ausser den von Keppler selbst veröffentlichten Werken nicht allein die Pulkowaer 
Sammlung, sondern es ist seinen Bemühungen geglückt in den Archiven und Sammlungen 
Deutschlands, besonders in Stuttgardt, Wien und München manches Keppler betreffende 
aufzufinden und namentlich seinen Briefwechsel durch aufgefundene Antworten zu ergänzen. 
Es steht daher zu erwarten, dass Herrn Frisch’s Arbeit in vielfacher Beziehung Interes- 
santes bieten wird, wie auch schon die beiden ersten erschienenen Bände bezeugen, in de- 
nen unter anderem auch bereits mehrere inedita aus der Pulkowaer Sammlung aufgenom- 
men sind. Von Herzen wünschen wir ihm einen glücklichen Fortgang seines Unternehmens 
und die Kräfte dasselbe seinem Plane gemäss bis zu Ende durchzuführen. 

Diesem Plane nach soll die Lebensbeschreibung Keppler’s erst in den letzten Band 
aufgenommen werden. Offenbar liegt dieser Absicht der Wunsch zu Grunde noch so viel 
wie möglich Data für dieselbe während der Publikation der andern Bände zu sammeln und 
die Ansichten über ihn durch fortschreitendes eingehendes Studium seiner Schriften noch 


1) Zach ‚Monatliche Correspondenz 1810. 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 3 


schärfer festzustellen. Bis zum Erscheinen dieses letzten Bandes werden aber wahrschein- 
lich noch einige Jahre vergehen. Inzwischen glaube ich einen gelegentlichen Fund, durch 
die eingehends erwähnten Umstände veranlasst, dem wissenschaftlichen Publiko nicht 
vorenthalten zu dürfen, indem ich hoffe dass die gegenwärtige Mittheilung selbst noch dazu 
beitragen wird auf das Verdienstvolle der Arbeit des Prof. Frisch aufmerksam zu machen 
und ihre literar-historische Bedeutung noch mehr hervorzuheben. 

Die vollständige Sammlung der Keppler’schen Manuscripte, wie sie in dem Besitze 
Hevel’s gewesen und von dessen Erben oder von Hansch, dessen Namensinitiale (D. M. 
G.H.) der letzten Seite des Einbandes in goldenen Lettern aufgedruckt sind, in starken Le- 
derbänden gebunden ist, scheint aus 20 Folio und 2 Quartbänden bestanden zu haben'). Zu 
diesen kamen noch einige nicht eingebundene Convolute hinzu, von denen Pulkowa nur eine 
Mappe besitzt. Die in dieser Mappe enthaltenen Manuscripte sind meist von Bartsch’s 
Handschrift, indessen finden sich darin doch auch noch einige eigentliche Keppleriana. 
Von den genannten 22 Bänden besitzt Pulkowa 18. Von den 4 fehlenden, welche die 
Nummern VI, УП, VIII und XII tragen, sollen nach Murr’s Angaben, wenigstens die 3 
ersten sich in der К. К. Bibliothek zu Wien befinden und sind nie nach Russland gekom- 
men, sondern fehlten schon als die Kaiserin Catharina die übrigen Manuscripte ankaufte. 
Mein Vater spricht in der erwähnten Einleitung zum Catalog der Sternwartsbibliothek die 
Meinung aus, dass jene 4 fehlenden Bände die Briefe enthalten, welche von Hansch pub- 
licirt sind und dass sie von letzterem als Original-Documente seiner Publication in der K. 
K. Bibliothek in Wien deponirt seien. Diese Ansicht ist wohl nur theilweise richtig, denn 
auch in den hier befindlichen Bänden finden sich mehrere Briefe, die in Hansch’s Werke 
aufgenommen sind. Eine Vergleichung des von Hevel angegebenen Inhalts der von ihm 
besessenen Manuscripte, mit der Pulkowaer Sammlung, lehrt ausserdem, dass hier einige 
grössere Schriften fehlen und es steht wohl zu vermuthen, dass auch diese sich in jenen 
4 Wiener Bänden finden’). 

Hansch’s Publication ist nur eine sehr unvollständige gewesen. Er hat sich offenbar 
nur auf die lateinische Correspondenz beschränkt, während die deutsche fast ebenso zahl- 
reich in den Manuscripten vertreten ist und auch erstere ist nur sehr lückenhaft von ihm 
wiedergegeben. So fehlt z. B. der Inhalt des ganzen zehnten Bandes, welcher den so höchst 
interessanten durchweg lateinisch geführten Briefwechsel Keppler’s mit David Fabricius 
enthält?). Desgleichen enthalten auch die Bände XVIII und XIX noch viele Corresponden- 


1) Hevel selbst giebt 1674 29 Fascicula an. Der Einband datirt aber erst von 1712 und die Nummern der 
jetzigen Bände entsprechen nicht den Nummern der Hevel’schen Fascicula, so dass hieraus allein kein Urtheil 
über die Vollständigkeit der Sammlung, wie sie im Besitz Hevel’s war, abzunehmen ist. 

2) Leider haben wir in unserer Sammlung vergeblich nach der von Ludwig Keppler abgefassten Synopsis 
vitae parentis gesucht, die freilich Hevel, wie er selbst bezeugt, nicht gekannt hat, die aber später als Manuscript 
in Hansch’s Händen gewesen und von ihm vielfach zur Zusammenstellung seiner vita Keppleri, die die Einlei- 
tung zu seinem Werke bildet, benutzt worden ist. 


3) Dieser Band wurde von der Pulkowaer Sternwarte dem Prof. Apelt in Jena behufs einer von ihm un- 
* 


4 Отто STRUVE, 


zen, die aber, weil sie sich meist auf astrologische Fragen beziehen, von Hansch unbe- 
rücksichtigt gelassen sind. Da es sich aber voraussetzen liess dass Wallenstein’s Bezie- 
hungen zu Keppler vorwiegend die Astrologie betroffen haben, so untersuchte ich gerade 
diese beiden Bände mit besonderer Aufmerksamkeit und es gelang mir in dem XVIIIten 
drei Schreiben Wallenstein’s aufzufinden, die ich in der Abschrift folgen lasse. Dass die 
Briefe von Wallenstein eigenhändig geschrieben seien, will ich nicht bestimmt behaup- 
ten, da mir seine Handschrift nicht bekannt ist; aber es spricht dafür theils der Inhalt 
der Briefe, den er wohl schwerlich einem Dritten, wenn nicht sehr Vertrauten, würde 
mitgetheilt haben, theils die unceremonielle Form und die Nachlässigkeit der im übrigen 
sehr leserlichen Schreiben, wie auch schon die Adresse andeutet, welche einfach lautet: 
«Herrn Keplero zuzustellen». Jedenfalls stammt der unterschriebene Namenszug von 
Wallenstein’s eigener Hand; er ist vollkommen übereinstimmend mit dem Fascimile seiner 
Unterschrift, die sich auf dem von Dr. Michael publicirten Actenstücke findet. 


I. 


Ich zweifl nicht das sich der Herr wirdt erinnern können das ich zu unter- 
schiedlichen mahlen mitt ihm geredt hab wegen der direccion MC ad DO + nun weis 
ich mich auch zu erinnern das mir der Herr in seinem discurs gemeldt hatt das 
zwischen unsers Künigs aus Ungern auch meiner nativitet sich nicht gar gutte con- 
figuraciones sehen lassen nun hab ich sie gegen einander calculiren lassen undt be- 
fündt sich das gleich umb dieselbige Zeitt wenn mein direccion MCad Os wirdt kom- 
men das zugleich wirdt auch mein MCad s + in radice des Künigs nativitet kommen 
bitt derowegen den Herrn ganz fleissig er wolle dies aus beyden nativiteten zusam- 
men calculiren undt sein judicium drüber sagen. Vorm jahr ist des Künigs aus De- 
nemarck Asen: ad ‹ meines + in radice meiner nativitet kommen wies ihm ist kregen 
weis der Herr gar wol bitt auch der Herr wolle desselbigen jahrs reducion consi- 
deriren undt mir sein meinung drüber zukommen lassen ich aber verbleibe 

des Herrn guttwilliger 
W. 


Küstrin den 3d Jan: 
Ao 1629. 


II. 


Ich habe den Herrn Fortegierra angesprochen Ihr Matt: undt dero söhn 
themata zu erigiren wie auch des Künigs aus Hiespanien neben diesen auch der- 
selbigen Potentaten so nicht Ihre confidenten sein undt meins, auf das wenn ich in 
führfallenden ocasionen den einen, wie mein pflicht undt schuldickeit mitt bringt, 


ternommenen Arbeit über Keppler zugesandt. In seiner Schrift: Die Reformation der Sternkundc, Jena 1852, 
hat derselbe Bruchstücke aus dieser Correspondenz abgedruckt. 


IR 


BEITRAG zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 5 


werde dienen wieder die anderen oder wens die noth erfordern solte müste kriegen, 
wessen ich mich gegen einen undt den andern, Astrologica mente, zu versehen 
hette nun bitte ich den Herrn ganz fleissig, dieweil er den Ruf des pre unter den 
mathematicis hatt er wolle dies alles obs also die aspecti zutreffen calculiren auch 
obs umb dieselbige Zeitt vor oder nacher fallen undt mir das judicium drüber 
schicken insonderheitt aber in dem den Künig aus Hungern betrefendt denn mitt der- 
selbigen nativitet fünde ich die meiste ungelegenheit das meine loca helegratia zu 
seinen maleficis kommen zu unterschiedlichen mahlen bitt der Herr wolle mir sein 
discurs, aber nicht obscure, drüber schicken er wirdt mich höchlich obligiren ich 
aber verbleibe hiemitt 
des Herrn guttwilliger 
W. 
Küstrin den 1d Feb: 
Ao 1629. 


Ш. 


+ undt > s so Ао 1643 in X geschehen soll man wolle mich berichten in wie 
vieltem grad der % geschehen wirdt auch obs im selbigem jahr gewis vndt in wel- 
chem monat vndt tag geschehen wirdt. 


Dies dritte kurze Schreiben ist nicht unterzeichnet, es ist aber von derselben Hand- 


schrift wie die andern und trägt die Adresse: «Des Herrn Keplers guttachten drüber». 


Gleich darauf folgt in demselben Bande die in diesem Schreiben verlangte Berechnung von 
Keppler’s eigener Handschrift unter der Überschrift: Ad jussum Eecl” Ducis Fridlan- 
diae computanda est ex Tabb. Rudolphi Conjunctio Magna $ + proxime instans. 

Durch diese Briefe'), die auch vielleicht ein anderweitiges Interesse haben dürften durch 
die Andeutungen, die sie enthalten über den Ursprung des Misstrauens Wallenstein’s ge- 
gen den König von Ungarn, den spätern Kaiser Ferdinand Ш, bestätigt sich im Allgemei- 
nen die Ansicht des Dr. Michael, dass nämlich Keppler nicht geradezu in des Herzogs von 
Fridland Diensten gestanden habe. Es wäre in der That wohl kaum anzunehmen dass 
letzterer so höflich gebeten haben würde, wie er das namentlich im zweiten Briefe thut, 
wenn er ohne Umstände hätte befehlen können. Dass Keppler selbst das Wort «jussum» ge- 
braucht, könnte wohl einfach als Höflichkeitsformel dem gefürchteten Feldherrn gegenüber, 
dessen Wünsche ihm Befehle waren, besonders da er unter seinem Schutze stand und von 


1) Breitschwert führt p.167 seiner Schrift in einer Note zwei Schreiben Keppler’s an Wallenstein 
vom 10. und 24. Febr. desselben Jahres (1629) an, die in der Schrift Fried. Förster’s: Albr.v. Wallensteins unge- 
druckte Briefe, Berlin 1829, publicirt sein sollen. Vermuthlich sind dieselben die Antworten auf vorstehende Briefe 
Wallenstein’s und es wäre gewiss interessant sie zu vergleichen. Leider habe ich jene Förster’sche Schrift 
nicht zu sehn Gelegenheit gehabt, da sie sich weder auf der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek noch in derjeni- 
gen der Kais. Akademie der Wissenschaften finden soll. 


6 Отто STRUVE, 


ihm seinen Unterhalt bezog, gedeutet werden. Dass aber Keppler diesen Unterhalt nicht 
ohne gewisse stipulirte Gegenleistungen, wenn sie auch nicht gerade den Character eines 
Dienstverhältnisses hatten, bezogen hat, lässt sich andererseits ebenso wohl voraussetzen. 
Welcher Art aber diese Gegenleistungen waren, lässt sich aus dem mir bekannten Materiale 
nicht sicher bestimmen, sondern wir können darüber nur einige naheliegende Vermuthun- 
gen aufstellen. In Hansch’s historischer Einleitung zu den Epistolis findet sich über Kepp- 
ler’s Beziehungen zu Wallenstein nur folgende Stelle: 


Huc (sc. Pragae) delatus non tantum ab Augustissimo Imperatore Ferdinan- 
do II summam quatuor mille florenorum, sed licentiam quoque impetravit, trans- 
eundi in patrocinium Principis Fridlandiae Alberti, Mathematum et maxime As- 
trologiae amantissimi; apud quem Caesar illi assignaverat stipendiorum residua, 
quae ad duodecim millia florenorum monetae Caesareae excreverant, testibus sup- 
plieibus literis Fili Lud. Keppleri ad Caesar. Maj. FerdinandumlI..... Quo 
eodem (anno) etiam ex mandato Ducis Fridlandiae, qui ducatum Megalburgicum, 
et per consequens jus Patronatus Academiae Rostochiensis jam in propriis reputa- 
bat, ab Academiae Rectore D. Thoma Lindemanno ad professionem Mathematum 
sub iisdem conditionibus, quibus Sagani sustentabatur, a Duce praestandis, vocaba- 
tur. Impletis autem sequentibus demum conditionibus, Kepplerus sequi paratus 
erat. I. Si Princeps a Caesare ipsi veniam impetraret. II. Si quod ante annum 
Princeps illi ex Ducatu Mechelburgensi promiserat, se repraesentaturum: id nunc 
Rostochii repraesentaret; solutionem scilicet omnium praetensionum suarum aulica- 
rum ad XII millia florenorum excurrentium, ut ei mandatum esset a Caesare. 


Diese Stelle giebt freilich nur im Allgemeinen die Bedingungen an, die Wallenstein 
Keppler gegenüber zu erfüllen hatte, schliesst aber doch indirect eine Verpflichtung zu 
Gegenleistungen in sich. Wie hätte sonst Keppler so ohne weiteres sich bereit erklärt, 
«sub iisdem conditionibus quibus Sagani sustentabatur» die Professur der Mathematik in 
Rostock zu übernehmen, die doch gewiss ein onus für ihn gewesen wäre, wenn er nicht 
dadurch zugleich von andern Verpflichtungen befreit worden wäre. 

Keppler selbst sagt in den Marginalnoten zur Revolutio Anni 1628') (solche revo- 
lutiones hatte er, wie es scheint schon im Jahre 1595, für jedes Jahr seines Lebens 
voraus berechnet und fügte später Noten hinzu um den eventus mit der astrologischen 
Verkündigung zu vergleichen): «Praga in patrocinium pr. Fridlandiae transivi, Caesar dd. 
4000, Assignata mihi ap. Fridland. Summa 12000.» Letztere Summe bezeichnet er selbst 
in seinen Briefen als Forderung, die er an die Staatscasse aus der Regierungszeit der Kai- 
ser Rudolph II und Matthias hatte und die ihm von FerdinandIl auf die Einkünfte des 


1) Diese Randnoten sind offenbar eine Hauptquelle aus der Hansch für die Zusammenstellung seiner Vita 
Keppleri geschöpft hat. Wesentliches habe ich in denselben nicht gefunden, das nicht von Hansch schon be- 
nutzt wäre. 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 7 


Herzogthums Mecklenburg angewiesen waren. Ausserdem bezog er auch Sold vom Fried- 
länder, den er in seinen während seines Aufenthalts in Sagan (1628— 1630) erschienenen 
Schriften durchweg «patronus» und sich im Gegensatz «cliens» nennt. Hierüber spricht er 
sich in einem Briefe (Pragae /, Aprilis 1628) an seinen intimen Freund Bernegger in 
Strassburg”) folgendermassen aus: «De Saganensi mea commoratione, ad edendas observa- 
tiones Tychonis Brahe nihil habebam solidi, nihil tutum aut admodum expetibile, quo te 
exhilararem. Si fortuna ista patroni hujus duraverit, perfacile tu poteris recipi Rostochium, 
affectat enim gloriam ex promotione literarum, sine discrimine Religionis: sin versa fuerit 
facilius ego Argentinam ad te potero pervenire. . . . . Quod autem Fridlandius haec ali- 
menta mihi decrevit, causa est, quia ante triennium me impedivit, ut ad observationes T y- 
chonicas imprimendas, Noribergenses a Caesare compellati, quatuor millia mihi non solve- 
rent.» Hieraus dürfte man mit Recht schliessen dass Wallenstein nur der Mäcen war, der 
es sich zur Ehre anrechnete den ersten Astronomen seiner Zeit bei sich aufzunehmen und 
gewissermassen als Zierde seines Hofs um sich zu haben. Indessen mögen doch wohl auch 
Nebenabsichten dabei im Spiel gewesen sein und die Proposition der Rostocker Professur, 
die von Wallenstein direct ausging, deutet wenigstens darauf hin dass es nicht ein blosser 
Ehrengehalt war, den Keppler in Sagan bezog. Die Vermuthung scheint mir nicht zu ge- 
wagt dass Keppler es geradezu übernommen hatte Wallenstein in seinen astrologischen 
Speculationen zu unterstützen oder ihm durch seine Rechnungen die astronomische Grund - 
lage zu jenen zu liefern. Berücksichtigt man dass die in den vorstehend mitgetheilten 
Briefen geforderten Rechnungen nicht wenig Zeit und Mühe erforderten, und dass für die 
Ausführung derselben keine anderweitige Remuneration in Aussicht gestellt wird, wie es 
sonst durchweg geschieht, so gewinnt jene Vermuthung durch diese Briefe selbst eine 
wesentliche Bestätigung. Dass Keppler selbst einer solchen Verpflichtung, falls sie über- 
haupt formell existirt hat, in seinen Briefen keine Erwähnung thut, möchte wohl daraus 
zu erklären sein dass er selbst, der sich in seiner spätern Lebensperiode als ein Vorkäm- 
pfer gegen die Irrwege der Astrologie gezeigt hat, sich einer solchen Stellung nicht rüh- 
men mochte, obgleich sie ihm andrerseits den Vortheil brachte dass er in jenen unruhigen 
Zeiten sorgenfrei seinen eigentlich astronomischen Studien nachgehen konnte. Auf diese 
Weise that die Stellung bei Wallenstein nicht bloss keinen Eintrag den Arbeiten, die 
Keppler als Kaiserlicher Mathematicus auszuführen übernommen hatte, sondern beförderte 
dieselben noch und dabei konnte es dem Kaiser ganz lieb sein dass er seinen Gehalt von 
Wallenstein bezog und nicht aus der erschöpften Staatskasse. In gleicher Weise behielt 
Keppler auch früher seinen Titel und die Verpflichtungen als Kaiserlicher Mathematicus 
während seines langjährigen Aufenthalts in Linz bei, wo er zugleich, als Remuneration für 

2) Die Correspondenz Bernegger’s mit Keppler fehlt auch bei Hansch. Das ist aber erklärlich weil 
dieselbe schon früher selbständig erschienen war unter dem Titel: Epistolae J. Keppleri et M. Berneggeri mutuae. 
Argentorati 1672. Diese für die Lebensgeschichte Keppler’s wichtige Schrift, die sehr selten geworden zu sein 


scheint, fehlt leider noch in der Pulkowaer Bibliothek. Ich habe sie aber aus der Kaiserlichen öffentlichen Bib- 
liothek durch die freundliche Vermittelung des Herrn G. Berkholz zur Ansicht und Benutzung erhalten. 


8 Отто STRUVE, 


eine Professur am dortigen Gymnasio, einen Gehalt von den Landständen in Oestreich ob 
der Ens bezog. 

Keppler’s Beziehungen zu Wallenstein datiren übrigens nicht erst vom Jahre 1628, 
in welchem er nach Sagan zog. Bereits 1608, also 20 Jahr früher, hatte er, aufgefordert 
durch einen Dr. Stromayr in Prag, die Nativität für einen vornehmen Mann aus Böhmen 
gestellt, von dem er angeblich damals weiter nichts erfuhr als dass er 1583 Sept. 14 um 
4" 30” unter der Polhöhe 51° geboren sei. Diese von ihm selbst verfasste Geburtserklärung 
wurde ihm im December 1624 unter Zusage ansehnlicher Belohnung, durch Vermittelung 
des Herrn Gerard von Taxis, Oberstlieutnant und Landeshauptmann im Herzogthum 
Fridland, mit der Bitte wieder zugesandt seinen Discurs über die Nativität «latius et par- 
ticularius» zu diffundiren. Zugleich liess ihn der betreffende Geborene darauf aufmerksam 
machen dass zwar im allgemeinen die im früheren Prognostico verkündeten Eventus ein- 
getroffen seien, dass aber der Zeitpunkt verschiedener Begebenheiten um ein Paar Jahre 
von den angekündigten differirt habe, wie solches von dem Geborenen in Randnoten be- 
merkt sei. Auch jetzt wurde der Name des Geborenen nicht genannt, aber es hätte wohl 
keiner besonderen Divinationsgabe von Seiten Keppler’s bedurft, um den Einsender zu 
erkennen, besonders da, abgesehn von dem Vermittler und den Versprechungen, die in den 
Randnoten angeführten Particularitäten ihn auf die Spur helfen und die Bestätigung seiner 
betreffenden Conjecturen haben verschaffen können. Indem Keppler dem Wunsche ent- 
sprach, beobachtete er auch die gleiche Discretion und nennt den Namen des Geborenen 
nicht, aber es geht klar aus dem ganzen Discurse hervor, dass er jetzt wohl wusste, mit 
wem er es zu thun hatte. 

Sowohl die erste Nativitätsstellung von 1608, wie auch der 1625 gelieferte Nachtrag 
findet sich im XIX. Bande der Keppler’schen Manuscripte. Sie sind nicht von Keppler’s 
eigener Handschrift, sondern sorgfältig copirt, aber doch hin und wieder von ihm eigenhändig 
corrigirt, so dass also über ihre Authenticität gar kein Zweifel obwalten kann. Ausserdem 
aber finden sich auch noch an andern Stellen jenes und anderer Bände, Fragmente beider 
Prognostica von Keppler’s eigener Hand. Mit der zweiten im Januar 1625 abgegebenen Er- 
klärung hat sich Wallenstein auch noch nicht begnügt, sondern es findet sich in der Samm- 
lung noch ein Brief desselben Herrn von Taxis an Keppler, vom September des Jahres 
1625, durch welchen ihn Wallenstein, jetzt mit Nennung seines Namens, noch um mehr 
Ausführlichkeit bitten lässt. In wie weit Keppler ihm auch hierin gewillfahret habe, lässt 
sich aus den hier vorhandenen Manuscripten nicht ersehn; aber dass er sich mit der Auf- 
gabe gelegentlich beschäftigt habe, geht aus einem Zusatze zu den auf Wallenstein’s Na- 
tivität bezüglichen Rechnungen hervor, indem sich dort die Himmelsfigur: «Pro Revolu- 
tione anni 44 ineuntis» angegeben vorfindet. Diese Rechnung musste, da Wallenstein im 
September 1583 geboren war, im Herbst 1626 ausgeführt sein, also ungefähr ein Jahr nach 
Empfang jenes Schreibens, aber doch jedenfalls vor seiner Berufung nach Sagan. | 

Ausser den beiden genannten Schriftstücken, finden sich unter den hiesigen Manu- 


Be — 


Beirrac zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 9 


scripten, auch noch die Rechnungen, die Keppler behufs der verbesserten Nativitätsstel- 
lung Wallenstein’s ausgeführt hat, so wie eine bedeutende Anzahl die Geburt anderer 
Potentaten oder sonst hervorragender Persönlichkeiten betreffender Rechnungen, die er 
offenbar auf den Wunsch oder vielmehr im Auftrage Wallenstein’s gemacht hat. Dann 
findet sich aber auch noch in der Sammlung der sich auf Astrologie beziehenden Papiere, 
unter vielen anderen Geburtsfiguren, diejenige Wallenstein’s, auf welche Keppler 
seine erste Erklärung vom Jahre 1608 begründet hat. Sie ist durch die nachfolgenden 
von ihm selbst vorgenommenen Verbesserungen, so bekritzelt, dass die einzelnen Zahlen 
und Zeichen nicht mehr alle deutlich erkannt werden können, bietet aber doch einiges In- 
teresse, weil sie darthut dass Keppler schon bei Aufstellung der ersten Erklärung, wahr- 
scheinlich unter der Hand, den Namen des Geborenen, für den dieselbe galt, erfahren hatte. 
Im mittleren Felde der Figur findet sich nämlich an der Stelle, wo sonst in der Regel der 
Name des Geborenen neben Ort und Stunde der Geburt angegeben wird, in diesem Falle, 
statt des deutlich geschriebenen Namens, eine Chiffre > / Hs +77 —, mit dem Zu- 
satze a Stromero, dem Namen des Mannes, von dem Keppler, wie Eingangs der zweiten 
Erklärung erwähnt wird, die betreffende Aufgabe erhalten hatte. Solcher Chiffren finden 
sich noch mehrere in den Keppler’schen Manuscripten, besonders in dem Astrologischen 
Theile derselben. Er wandte sie an, wie es scheint, um Neugierigen, denen vielleicht seine 
Papiere zu Gesicht kommen könnten, das Verständniss von Umständen zu erschweren, die 
er nicht gern weiter bekannt wissen wollte. Durch Vergleichung einiger dieser Chiffren 
unter einander gelang es bald zu erkennen dass hier nur gewisse einfache Zeichen statt 
der gewöhnlichen Buchstaben gebraucht waren. Nachdem auf solche Weise das ganze 
Alphabet zusammengesetzt war, übersetzten sich die oben angeführten Zeichen in das Wort: 
Waltstein. Somit ist nicht zu verwundern dass Keppler schon in der ersten Geburtser- 
klärung den Character Wallenstein’s nahezu so darstellt, wie wir ihn aus der Geschichte 
kennen. 

Für die Beurtheilung von Keppler’s Ansichten über Astrologie bieten die beiden 
Prognostica interessante Vergleichspunkte. Ziehen wir dazu was sich sonst in seinen Pa- 
pieren über diesen Gegenstand findet, so ergiebt sich dass Keppler in seiner Jugend noch 
sehr den astrologischen Träumereien nachgehangen und die Geschicke der einzelnen Men- 
schen so wie ihre Charactere, als durch die Stellung der Planeten (besonders zur Zeit der 
Geburt) bedingt betrachtet habe. Tausende von Themata, die, nach der Handschrift zu 
urtheilen, meist aus einer frühern Zeit datiren, und die offenbar, in Erwägung der be- 
treffenden Persönlichkeiten, nicht der Bezahlung wegen angefertigt waren und noch weni- 
ger etwa als kurzweilige Beschäftigung, da die vielfachen damit verknüpften Rechnun- 
gen ihm sehr viel Zeit und Mühe gekostet haben müssen, zeigen deutlich dass er sich noch 
viele Jahre damit abgequält hat eine Übereinstimmung zwischen den Erlebnissen der ein- 
zelnen Menschen, den Stellungen der Gestirne zur Zeit ihrer Geburt und den spätern Di- 
rectionen derselben unter Berücksichtigung der Geburtsthemata, aufzufinden. Je mehr er 
aber mit den Jahren in der Erkenntniss der astronomischen Wahrheiten vorrückte, um so 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Série. 2 


10 Отто STRUVE, 


mehr sehen wir ihn den Glauben an die Astrologie aufgeben. Schon in dem Wallenstein 
1608 ausgestellten Prognostico ersehen wir dass Keppler das Bestimmen der Ereignisse 
im menschlichen Leben nach planetarischen Stellungen für der Vernunft widrig ansieht, 
indessen gesteht er doch noch den Planeten eine gewisse allgemeinere Einwirkung auf das 
einzelne Individuum, speciell aber auf dessen Characterbildung zu, indem er dort ausdrück- 
lich sagt: dass unsere verborgenen Kräffte der Seele eine grosse Neigung zu den himmlischen 
Configurationen haben, von denselben aufgemuntert und in des Menschen Geburt formirt und 
gearttet werden. Dieser Periode entspricht was Prof. Frisch im ersten Bande der Kepp- 
ler’schen Werke pag. 292 über Keppler’s astrologische Ansichten als das Resultat seiner 
bisherigen Studien über diesen Gegenstand, nahezu übereinstimmend giebt. Aber auch diese 
Concession, die Keppler noch 1608 der Astrologie machte, scheint er später zum grössten 
Theil aufgegeben zu haben. In dem verbesserten Prognostico von 1625 spricht sich 
Keppler offen und frei über das trügliche aller astrologischen Lehren aus und warnt 
Wallenstein sich durch die Verkündigungen in seinen Handlungen leiten zu lassen. Viel- 
leicht könnte man es Schwäche nennen dass Keppler, trotz dieser Erkenntniss, des Er- 
werbs willen sich dazu hergegeben hat nicht bloss in diesem einzigen Falle, sondern 
auch sonst noch häufig die Astrologische Kunst zu practisiren, aber der Vorwurf ver- 
schwindet durchaus, wenn, wie es hier geschieht, das Prognosticum selbst dazu benutzt 
wird um durch augenscheinliches Beispiel das Irrige der Astrologischen Lehren darzuthun. 
Die Freimüthigkeit, mit der sich Keppler dem gefürchteten Machthaber gegenüber aus- 
spricht und ihm seinen Aberglauben vorhält, ist vollkommen des grossen Gelehrten würdig. 

Es steht jedoch sehr zu bezweifeln dass selbst Keppler’s bestimmter Ausspruch den 
gewünschten Eindruck auf den abergläubischen Feldherrn gemacht habe. Ja es dürfte 
sogar als nicht unwahrscheinlich erscheinen dass, trotz aller Warnungen, Wallenstein 
sich auch bei manchen Unternehmungen seines spätern Lebens durch die für ihn von 
Keppler selbst vorausberechneten Stellungen der Gestirne hat bestimmen lassen, wie sich 
solches auch insbesondere in den oben mitgetheilten Briefen deutlich ausspricht. Wer 
möchte wohl noch zweifeln dass astrologische Bedenken wesentlich seine Handlungsweise 
dirigirt haben, wenn man sieht dass Keppler ihn schon Anfangs 1625, auf den Monat März 
des Jahres 1634 als auf eine nach den astrologischen Lehren für sein Schicksal bedeutsame 
Epoche aufmerksam macht. Man wäre in der That berechtigt Wallenstein’s bekanntes 
Zaudern in der letzten Lebensperiode durch den Wunsch die gefährliche ihm von Keppler 
verkündete astrologische Epoche vorübergehn zu lassen, zu erklären. Dass ihn sein Schicksal 
wenige Tage vor dem Anfange jenes Monats (den 25. Febr. 1634) ereilt hat, dürfte dem- 
zufolge nicht als eine Erfüllung der astrologischen Verkündigungen, sondern als eine Folge 
derselben angesehen werden. 

Welchen Einfluss die Astrologie auf die Handlungsweise der Fürsten in jener Zeit 
ausübte, davon legt Keppler selbst Zeugniss ab in einem Briefe, den er 1611 an eine 
dem Kaiser Rudolph II nahestehende Person richtete. Das Concept dieses Briefes, von 


“N ЧО 


BEITRAG zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU W ALLENSTEIN. 11 


Keppler’s eigener Hand, findet sich im XXI. Bande der Manuscripte. Da derselbe zugleich 
den deutlichsten Beweis von dem biedern und freimüthigen Wesen des Verfassers, so wie 
seiner loyalen Gesinnungen gegen seinen rechtmässigen Herrscher, liefert, so wird seine 
Veröffentlichung gewiss gern von den Verehrern des unsterblichen Reformators der Astro- 
nomie gesehn werden. Den Namen des Mannes, an den der Brief gerichtet ist, habe ich 
nicht ermitteln können und Keppler selbst hat ihn geheim halten wollen, wie die Über- 
schrift zeigt: 


Anno 1611. Fest. Pascha. 


Apage Caeremonias et titulos 
debitos quidem, sed arcanorum proditores. 


Confido te hominem fide Germanicä cogniturum. ÜCaesaris stipendia mereo, 
a Bohemis Austriacisque sum incorruptus; eorumque conversatione post unum et 
alterum congressum consult abstineo. Ad te liberius scribo, qui Caesarianus es: 
quod non fama tantum, sed oculi auresque meae tuo beneficio mihi loquuntur. 

Inter caetera hesterni colloquii, dixi uno verbo Astrologiam ingentia 
damna afferre Monarchis si catus aliquis astrologus illudere velit homi- 
num credulitati. Jd ne Caesari nostro eveniat, operam mihi dandam puto. Cae- 
sar credulus est. Si audierit de Galli illius prognostico multum illi tribuet. Tuum 
igitur est, qui Caesari consulis, dispicere, an hoc sit ex usu Caesaris. Nam opinor 
te videre, si fundamenta desint rerum bene gerendarum, vanam esse et perniciosam 
omnem confidentiam. Ego prope certum jam habeo, rumorem Prognostici Gallici 
ad aures Caesaris perlatum. 

Astrologia vulgaris, crede mihi, cothurnus est, potestque facili 
opera adduci, ut placentia dicat partibus utrisque. Ego non tantum vulga- 
rem sed et illam astrologiam quam consentaneam deprehendo rebus naturalibus, 
plane censeo seponendam a delibirationibus hisce tam arduis. Non quidem hoc mo- 
neo ac si necessarium hoc tibi sit in solennibus consessibus: scio in illis nihil ex 
hoc fundamento disputari solere. Sed insidiatur haec vulpecula multo latentius, 
domi in cubiculo, super strato, intus in animo; instillatque interdum, quod quis ab 
illa corruptus in senatum inferat suppresso authore. 

Ego rogatus а partibus, quas Caesari scio adversas, super astrorum decretis, 
respondi, non quae per se alicujus momenti esse censeam, sed quae credulos per- 
cellant: nimirum longaevam Caesaris aetatem, directiones malas nullas, Revolu- 
tiones quidem malas et Eclipses, sed illas jam praeteritas ante annum biennium et 
triennium: Contra Matthiae turbas imminentes, quia Saturnus ad Solem ipsius ac- 
cedit, et quia fiet oppositio magna Saturni et Jovis, in loco Solis ipsius. Haec dico 
hostibus Caesaris, quia si metäm illis non incutiunt, certe confidentes non reddunt. 
Caesari ipsi nolim ista dicere quia non tanti sunt momenti, ut iis fidendum putem: 


et vero metuo ut Caesarem praeter rationem obfirment, ut negligat media me- 
* 


12 Отто STRUVE, 


diocria, quae Principum fidelium intercessionibus habere fortasse potest: quo pacto 
Astrologia illum in multo majus malum conjiceret, atque nunc est. 

Vieissem tibi quia Caesari fidus es, dicam ingenue, quod Matthiae et Bo- 
hemis nunquam sum dicturus, quid nimirum mihi super cooperatione siderum in 
his turbis ex saniori astrologia serio videatur: etsi interim nolim quemquam iis in- 
niti, posthabitis circumstantiis rerum proximis et planetis terrestribus. 

Matthias directiones aliquot jam transmisit mehercule laboriosissimas, anno 
1566, Lunae ad D $; anno 1595 Solis ad Saturnum; respondit fortuna. Nam anno 
1594 (satis praecise ista, plus ab astris non est expectandum) rem male gessit ad 
Strigonium Jaurinumque, in insula. Sic anno 1589, Medium Coeli ad oppositum 
Saturni, sic anno 1605, 1606, Solis ad oppositum Martis, quando Ungaricae tur- 
bae fuerunt, et Archiduces Pragam venientes, Matthiamque Caesari proponentes 
Caesarem illi multo magis reddiderunt offensum. Ab hoc tempore bonae fuerunt 
directiones et revolutiones, anno 1606 Lunae ad trinum Martis, anno 1607 Lunae 
ad sextilem Jovis et jam hoc anno Medii Coeli ad corpus Martis, quae turbulenta 
quidem est directio sed cum potestate, ut est in propatulo. Sequitur anno proximo 
directio Medii Coeli ad sextilem Jovis, postea Ascendentis ad sextilem Martis (fe- 
brilis sed interim foelix constitutio) et denique Ascendentis ad corpus Jovis). Hic 
ego (astrologice quidem) externa omnia foelicia eventura puto et honorata, et transi- 
tum fortunae Caesaris in ipsum: quia uterque habet sextilem Jovis et Martis et 
Caesar quidem per easdem revolutiones ad regna sua provectus est. Solum et uni- 
cum ipsi nocentissimum hostem puto Destillationes futuras. Etsi vero Saturnus ad 
Solem accedit et fit in loco Solis oppositio magna: tamen eadem anno 1593. 1594 
etiam Caesari contigerunt. Quare, uti Caesari tunc natum est bellum quidem hor- 
ribile, sed foelici tamen successu, quo ille bello evasit magnus; sic idem etiam Mat- 
thias sperare potest, cum Jovis applicatio ad ortum omnia faustissima polliceatur. 

Caesar contra habet directiones adversas, Medii Coeli ad oppositos radios 
Veneris et Mercurü, ubi Matthias habet Lunam, Ascendentis vero ad quadratum 
radium Solis proxime, qui est oppositum Martis in genesi Matthiae. 

Haec si astrologus aliquis videret et perpenderet, et si penes ipsum simul es- 
set alterutri consulere: Matthiam quidem redderet confidentissimum, Caesarem 
vero formidolosum. Ego, ut dietum, nihil puto inedificandum. Seripsi .autem et 
scrutatus sum omnia hoc proposito, ut ex eo conjecturam caperes, quantum Prog- 

. nostico Gallico sit tribuendum: nimirum plane nihil. j 

Breviter, censeo Astrologiam exire debere non tantum e senatu, set etiam 
ex animis ipsis eorum, qui hodie Caesari optima suadere volunt, adeoque arcendam 
penitus a conspectu Caesaris. 

Was hier Keppler unter dem Ausdruck «sanior astrologia» meint, ist wohl nur zu 
verstehn als strengere Anwendung der Astrologischen Regeln, und nicht implicite als ein 


BerrraG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER 20 WALLENSTEIN. 13 


Bekenntniss seines Glaubens an ihre Richtigkeit. Ihrer Zuverlässigkeit widerspricht er so- 
gleich, indem er hinzufügt «interim nolim quemquam 1$ ши». Aber falls er noch in jener 
Zeit an die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Einflusses der Gestirne auf die Ge- 
schicke der Menschen geglaubt hätte, dürfte das verwundern? Zwar war Keppler von 
Jugend auf durch seinen Lehrer Moestlin für die Copernicanische Lehre gewonnen und 
bekanntlich verdankt letztere seinem Genius und unermüdlichen Forschen, ihren vollstän- 
digen Triumpf. Aber die Coperuicanische Lehre war es nicht allein, die den Glauben an 
die Astrologie vernichtete. Obgleich jene die Erde gleich den anderen Planeten um die 
Sonne kreisen lässt, so war damit allein noch nicht dargethan dass jene Planeten und selbst 
die Sonne unsrer Erde ebenbürtige Weltkörper seien. Hiezu bedurfte es zunächst der Er- 
findung des Fernrohrs. Erst nachdem durch dieses die andern Planeten als der Erde an 
Grösse und Gestalt analoge Körper erkannt waren, ausserdem durch das dritte Keppler- 
sche Gesetz die relativen Entfernungen der Planeten festgestellt waren, endlich die Beob- 
achtung die unermessliche Ausdehnung des Fixsternhimmels erwiesen und die Fixsterne 
selbst als unserer Sonne ähnliche Körper zu betrachten gelehrt hatte, war der Astrologie 
der Todesstoss versetzt. In der That so lange die Erde als Hauptkörper der Welt und das 
ganze übrige Universum als für sie, speciell also für das intelligente Wesen auf derselben, 
für den Menschen geschaffen angesehen werden durfte und in Ermangelung entgegenste- 
hender Thatsachen angesehn werden musste, so lange war die Astrologie ein Bedürfniss 
des denkenden Geistes. 


Nachdem ich vorstehenden Vortrag in der Akademie gehalten hatte, wurde von meh- 
reren Seiten der Wunsch ausgesprochen, dass ich mit demselben auch die beiden von 
Keppler für Wallenstein ausgestellten Prognostica publieiren möchte. Indem ich diesem 
Wunsche entspreche, bemerke ich dass das kürzere erste bereits bekannt ist und sich auch 
schon im ersten Bande der von Prof. Frisch besorgten Ausgabe der Keppler’schen Werke 
abgedruckt vorfindet. Ich halte es jedoch für geeignet hier dasselbe wieder aufzunehmen, 
theils weil sich in unserem Manuscripte einige kleine Varianten finden, die zum Theil von 
Keppler selbst herstammen, theils weil die zweite ausführlichere Erklärung sich durch- 
weg auf diese frühere bezieht und ohne deren Hinzuziehung ganz unverständlich wäre. 
Das Original zu dem von Frisch publieirten Prognostico soll sich, gleichfalls nicht von 
Keppler’s eigner Hand geschrieben, im Königlich Sächsischen Archive befinden. Die 
kurzen Vorbemerkungen zu demselben über Tag und Stunde der Geburt des Herzogs von 
Fridland fehlen in der hiesigen Abschrift, stammen aber auch wahrscheinlich nicht von 
Keppler selbst her. Besonders auffallend ist es dass die jener Abschrift beigegebene und 
von Frisch veröftentlichte Himmelsfigur weder mit der unter den Keppler’schen Papieren 
aufgefundenen Himmelsfigur, noch mit den strengeren Rechnungen, wie sie behufs der 
zweiten Erklärung ausgeführt sind, genau übereinstimmt, indem sich fast durchweg Abwei- 
chungen in den Minuten, mehrfach aber auch um einige Grade zeigen. Es hat daher fast 


14 Отто STRUVE, 


den Anschein, als ob jene Figur von einem anderen Astrologen herstamme, dessen Rech- 
nungen auf andere Weise durchgeführt sind und auf anderen Tafeln beruhen, als die 
Keppler’schen. Auch stimmt das dort angeführte Geburtsmoment 1583 Sept. 14 Nach- 
mittags 4 Uhr 1'/, Min. nicht streng mit dem von Keppler zu Grunde gelegten überein. 
Letzterer nimmt nämlich bei dem ersten Prognostico für jenes Moment 4 Uhr 30 Min. 
desselben Tages an und ändert es, bei der zweiten Erklärung, a posteriori in 4 Uhr 36), 
Min., indem er aus einem bestimmten Ereignisse in Wallenstein’s Leben, nämlich aus 
seiner Erkrankung an der Pest im Januar 1605, auf das Moment der Geburt nach Astro- 
logischen Regeln zurückschliesst. Dieses verbesserte Geburtsmoment ist der Ausgangspunkt 
für die Rechnungen und Betrachtungen, die wir in der zweiten Erklärung finden. 

Die nun folgenden Prognostica sind von mir mit grösster Strenge nach dem hiesigen 
Manuscripte copirt, an dessen Orthographie ich selbst nichts geändert habe, obgleich die- 
selbe nicht in allen Stücken mit den früher erwähnten Fragmenten derselben Prognostica 
von Keppler’s eigener Hand übereinstimmt. Nur an sehr wenigen Stellen sind mir Zwei- 
fel an der richtigen Leseart aufgestossen und diese mit einem Fragezeichen angedeutet. 
Die, wie früher erwähnt, von Wallenstein selbst herstammenden Randnoten zum ersten 
Prognostico sind hier von derselben Hand geschrieben wie die ganze übrige Abschrift. Da- 
gegen sind die Randnoten zu den im zweiten Prognostico angegebenen Stellungen der Pla- 
neten in den einzelnen Jahren, von einer andern Handschrift, die mit der der Wallenstein- 
schen vorstehend mitgetheilten Briefe einige Ähnlichkeit hat. 


Kurze Erklärung der abgesezten Himmels Figur, 


Demnach in der Astronomia von 7 Planeten und deroselben Weg, den sie stettigs 
laufen (in 12 Zaichen abgetheilt) gelehrt würdt, die Astrologi aber den Himmel in 12 
Häuszer ausztheilen, aus jedem deroselben etwas gewisses zuevrtheilen, 

Also befindet sich allhie der zehendte gradt des == in Ersten Hausz des lebens uud 
folgt + vnd > die zween höchste Planeten in Zeichen der % vereinigt. 

Im andern Hausz der Wider, 

Im dritten Hausz der Stier, 

Im virtten der Zwilling, vnd deme des Mondts Creuzweg, so mann den Drachen- 

schwanz pflegt zuenennen, 

Im fünfften auch der Zwilling, 

Im 6. der Krebs. 

Im 7. Hausz daraus mann von Heuraths Sachen pflegt zuerathen, stehet der 10. gradt 
des Löwens, vnd folgt drauff Mercurius in der Jungfrauen, in gegenschein Sa- 
turni vnd Jovis, nach ihme stehet die Sonne im anfang der Wag, da tag vnd 
Nacht gleich werden, auch nit fern vom gegenschein Jovis. 


ER ее 


BEITRAG zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 15 


Im 8. Hausz des Todts findet sich auch die Wag, vnd dann Mars, sehr weidt von der 
Erden nebanstehendt, dem volgt Venus im Scorpion, im Triangul Saturni vnd 
Jovis. 

Im 9. lossiert der Scorpion, 

Im 10. Hausz ist der 8° des Schüzens, vnd dabey das Caput Draconis, oder Creuzweg 
des Mondes, 


Im 11. auch der Schüz, 
Im eingang des 12. Hauszes, so mann von der Gefenckhnus tittulirt, findet sich der Mondt 


im 7° des Steinbockhs im geviertten Schein der Sonnen, vnd Sextilschein Veneris 
von weithem hero, 

disz ist also die Astronomische Beschreibung dieser Himlischen Figur und auszle- 
gung deroselben Characterum. 


De Domino Geniturae. 


Wann ich nicht auch von den herschenden Planeten über diese Geburth etwas mel- 
dung thätte, durffte mann woll meinen, ich währe vnfleiszig gewest, so doch ich nit hierauf 
gehe, wie andere Astrologi. 

Doch ist ein Wunderbahrlich Ding, das in dieser Geburth, 3 gar vngleiche Weg von 
eines ieden Planeten sterckh zuurtheilen, zuesamen vnd übereinstimen, 

Der Erste Weg ist der Chaldaeer vnd Arabier, vnd hat kheinen grundt. Nach demsel- 
ben soll es Saturni tag, vnd der Sonnenstundt gewest sein, 

Der ander Weg beliebet dem mehrern theill der Astrologorum, wiewoll ich auch wenig 
glaubens darauf habe, dann weill der Auffgang, Sonne vnd Mondt sich in den 3 Zaichen 
Wassermann, Waag vnd Stainpockh, so mann alle dem Saturno zuevrtheillet, befindet, dem- 
nach machen die Astrologi allhie Saturnum zum Domino Geniturae, geben ihme zue einem 
gehülfen Jovem, weill er in Fischen stehet, welche wie auch der Schüz im zehendten für- 
nembsten ortt des Himmels, nemblich mitten am Himmel Jovis aigne Zaichen gehalten 
werden, 

Der dritte Weg sagt nit mehr denn darvon, welche Planeten der Stundt nach woll 
stehen, vnd sich in den Sitten vnd Natur des Menschen am meisten sehen lassen, Weill 
dann Saturnus vnd Jupiter im ersten Hausz stehen , darauff ich sonderlich sehe, demnach 
bleibt es darbey das Saturnus vnd Jupiter das maiste thuen, 


Von der General bedeuttung dieszer Himlischen Figur. 


So nun dieser Herr gebohren ist zue ermelter Zeidt, tag vnd stundt, so mag mit 
Warheidt gesagt werden, das es nit ein schlechte Nativitet seye, sondern hochwüchtige 
Zaichen habe, Als erstlich Conjunetionem magnam Saturni et Jovis in domo prima. 

Fürs ander, Mercurium vnd Solem in domo septima angulari, 

Fürs dritte, die Sonne in puncto Cardinali aequinoctii Autumnalis, 


16 Отто STRUVYE, 


Fürs virtte, Martem in aller höch vnd gefertschafft der Sonnen, 

Fürs Fünffte, Vier Planeten mit Conjunctionibus, Oppositionibus, Sextilibus vnd Tri- 
angulis in einander verckhnüpfet, nemlich Saturnum, Jovem, Mercurium, Venerem. 

Fürs Sechste, Locus Conjunctionis Magnae А' 1603, quae fuit 8° Sagittarii in medio 
Coeli: Locus venturae Conjunctionis Magnae А! 1623 in Occasu. 

Doch hat sie nebens einem grossen fähl, das der Mondt in das 12. Hausz verworffen, 
zue dem werden andere Astrologi sezen, das er im Stainpockh in seinem Detrimento oder 
schädtlichem Hausz stehe, 


Von Vnderschidtlichen Bedeuttungen, 


Die Astrologi haben eben darumb die anfangs gemeldete ausztheilung der 12 
Häuszer erdacht, damit sie auf alles das ienige, so der Mensch zue wissen begehrt, 
vnderschidtlich andtwortten möchten, Jch aber halt diese weisz für vnmüglich, aber- 

A glaubisch, waarsagerisch, vnd einen anhang des Arabischen Sortilegii, da mann auf 
iede Frag, so den menschen einfält, zue derselbigen Stundt, auch ohne wissenschaft 
seiner Geburthstundt Ja oder Nein andtwortten, vnd also aus der Astrologia ein Ora- 
culum machen, vnd consequenter sich auf eingebung der Himlischen (villmehr helli- 
schen) Gaister verlassen will, 

Weil dann ich sonsten nit im brauch habe, also durch alle Häuszer zuegehn, 

B vnd Specialfragen zuerördtern, als würdt mier auch iezo drumb khein vnfleisz, Sinde- 
mall ichs mit guettem bedacht vnderlasze, zuezuemessen sein, 

Ob auch etwas in folgender Erklärung dergleichen lautten möchte, als begebe 
ich mich auf Glückhfähl, vnd fortuita oder contingentia zuerrathen, soll solches nicht 

C anderst verstandten werden, dann die izige Ercklärung vermag: nemlich nach dieszer 
Regul, das welcher Astrologus einige Sach blosz vnd allein aus dem Himmel vor- 
sagt, vnd sich nicht fundirt auf das Gemüeth, Seel, Vernunfft, Crafft oder Leibsge- 
stalt des Jenigen Menschens, dem es begegnen soll, der gehe auf kheinen rechten 
grundt, vnd so es ihme schon gerathe, seye es Glückh schuldt, Sindemall älles, was 
der Mensch vom Himmel zuehoffen hatt, da ist der Himmel nur Vatter, sein aigne 
Seel aber ist die Mutter darzue, vnd wie khein Kindt auszerhalb seiner Mutterleib 

D gezeugt wierdt, wann schon der Vätter zehen währen, Also hoffet mann vergeblich 
ein Glückh von oben herab, dessen mann kheine anleittung in des Menschen Seel vnd 
Gemüeth findet, vnd hingegen, so grosse Correspondenz ist zwischen der gebär Mut- 
ter vnd dem Mänlichen Saamen, noch vill ein grössere naigung haben Vnszere ver- 
borgne Cräfften der Seelen zue den Himlischen erscheinenden Configurationibus, vnd 
werden von denselbigen aufgemundert, vnd in des Menschen Geburth gar formirt 
vnd gearttet. 

E Solchergestalt mag ich von diesem Herrn in Warheidt schreiben, das er ein 
wachendes, auffgemundertes, embsiges, vnruhiges gemüeth habe, allerhandt neurungen 


> 
2 


11 


ee = 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 17 


begührig, dem gemeines menschliches weszen vnd händel nicht gefallen, sondern der 
nach neuen vnversuchten, oder doch sonsten selzamen mitteln trachte, doch villmehr 
in gedanckhen habe, dann er euszerlich sehen vnd spüren lasset, dann Saturnus im 
Auffgang machet tüffsinnige, Melancholische, allezeidt wachende gedanckhen, bringt 
naigung zuer Alchymiam, Magiam, Zauberey, gemeinschafft zue den Gaistern, Verach- 
tung vnd nicht achtung menschlicher Gebott vnd Sittung auch aller Religionen, macht 
alles argwöhnisch vnd verdächtig, was Gott oder die Menschen handtlen, als wann es 
alles lautter betrug vnd vill ein anders darhünder währe, dann mann fürgibet, 

Vnd weill der Mondt verworffen stehet, würdt ihme diese seine Natur zue einem 
merckhlichen nachtail vnd verachtung bey denen, mit welchen ‘er zueconversirn hatt, 
gedeyen, das er für einen einsamen, lichtscheuhen Vnmenschen würdt gehalten wer- 
den, Gestaltsam er auch sein würdt Vnbarmherzig, ohne Brüederliche oder Eheliche 
lieb, niemandt achtendt, nur ihme vnd seinen Wollusten ergeben, hardt über die Vn- 


’ derthanen, an sich zihendt, geizig, betrüglich, Vngleich im verhalten, maist stillschwei- 


gendt, offt vngestümb, auch streitbar, Vnverzagt, weill © vnd Mars beysamen, wie- 
woll Saturnus die einbildungen verderbt, das er offt vergeblich forcht hatt, 

Es ist aber das beste an dieser Geburth, das Jupiter darauff folget, vnd hoffnung 
machet mit reiffem alter werden sich die meisten Vntugendten abwezen, vnd also 
diese seine vngewöhnliche Natur zue hohen wüchtigen Sachen zueverrichten taug- 
lich werden, 

Dann sich nebens auch bey ihme sehen lasset grosser Ehrendurst, vnd streben 
nach zeittlichen Digniteten, vnd Macht, dardurch er ihme vill groszer, schädtlicher, 
offendtlicher vnd haimblicher feindt machen, aber denselben meisten theils obligen vnd 
obsigen würdt, das diese Nativitet vill gmains hatt mit des gewesten Canzlers in 
Polln, der Königin in Engellandt, vnd anderer dergleichen, die auch vill Planeten in 
auff- vnd nidergang vmb den Horizontem herumber stehen haben, derohalben khein 
Zweiffel ist, wofern er nur der Weltlauff in acht nemen würdt, würdt er zue hohen 
Digniteten, Reichtumb vnd nachdem er sich zue einer höffligkheidt schickhen würde, 
auch zue stattlicher Heurath gelangen, 

Vnd weill Mercurius so genaw in opposito Jovis stehet, will es das ansehen ge- 


“ winnen, als werdt er einen besondern aberglauben haben, vnd durch mittel desselbigen 


ein grosse menige Volckhs an sich zihen, oder sich etwa einmall von einer Rott so 
malcontent zue einem haubt und Rädtlführer aufwerffen lassen, dann Conjunctio mag- 
na Saturni et Jovis in Ascendente loco Conjunctionum in Angulis, et Sol in loco Op- 
positionis magnae А° 1613 wollen auf daszelbige vnd die vor vnd nachgehende Jahr, 
so er lebt, allerlay grauszame, erschreckhliche Verwührungen mit seiner Person ver- 
einbahren, wie hernach weitter vnd auszführlicher berichtet werden solle, 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences. Vile Serie 3 


18 Отто Struve, 


Von Vnderschidtlichen Zeitten, 


Die Doctrinam Directionum führ ich auf mein aigne doch vernünfftige weisz, die ausz 
allen andern gebreuchigen gezogen, vnd mit denen vermengt ist, Vnd befindet sich nach 
fleissiger calculierung (die schlechte Directiones auf das 3. 7. vnd 9. Jahr lasz ich fahren). 


Im 11. 12. vnd 13. Jahr des Alters soll es vnruhig vnd widerwärttig 
zuegegangen sein, dann Ascendens in trino Martis bedeutt raiszen, Luna 
in Sextili Saturni euszerliche gebrechen, doch gunst alter leuth, Medium 
Coeli in Quadrato Saturni ein Vnglückh, vnd villeicht ein Miszhandtlung, 

Von 15.bisz in 20. seindt meist guette bedeuttungen, vnd Directiones 
Lunae ad Trinum Mercurii, Sextilem Jovis, Medii Coeli ad Quadratum 
Mercurii et Jovis (welcher etwas widerwärttig vnd zänckhisch mit Gelähr- 
ten vnd Doctoribus) Ascend. ad Trinum Veneris fürhanden, 

Im 21. Jahr begibt sich ein sehr gefehrliche Directio Ascendentis ad 

Aa Corpus Saturni, vnd zuemahl Lunae ad Quadratum Martis, da soll er mit 

a DischRranc бет leben gar khummerlich darvon khomen sein, So ist auch damahlen 

heidt und die Pest gewest ein Conjunctio magna Saturni et Jovis in Medio Coeli hujus Gene- 

gehabt. : 2 2 . N ir 

A01605.im Januario.Se08S, die würdt diese Person zue villen verwührten geschäfften, so auch 
das gemeine weszen betroffen, disponirt vnd angereizet haben, 

Bb Im 23. 24. Jahr des Alters hatt er gehabt Directionem Ascendentis ad 

corpus Jovis et oppositum Mercurii, Lunae ad Trinum Solis, Medii Coeli ad 

Sextilem Martis, das soll die gesundtheit wider verbessert, das Gemüeth 

schwaiffig, vnd zueraiszen disponirt, auch zänckhisch vnd endtlich verliebt 

gemacht haben, Ist ein gar schöne gelägenheidt zue einer raichen stattlichen 


Heurath. 
Disz iezige und khünfftige Jahr seindt nit sonderlich guett, denn der 
Сс hizige Planet Mars gehet diesen Sommer 3 mahl durch den Gradum As- 
cendentis, vnd bringt vill vnruhige, zornige gedanckhen, 
Dd So würdt es Saturnus im khünfftigen Jahr auch nicht sparen, sonder- 
lich im Martio, Julio vnd Decembri, zuemahl weill ein Directio ist Medii 
Ee Coeli ad Quadratum Solis Ascendentis ad Oppositum Solis. Das würdt 


diesen Herrn aigensinnig, streittig, truzig, hochmüettig vnd verwegen ma- 
chen, durch welche Vntugenden er leichtlich mit seiner Obrigkheidt in ge- 

m fährlichen streitt erwachszen khan, oder sonst mit hohen Potentaten. 
Ao1611binichnicht Im 28 Jahr, Ао 1611. begibt sich ein Directio der Sonnen zum Мале, 
kranckhgewest,auchynd gehen die starckhe Oppositiones Saturni et Jovis baldt drauff. Da 


zuekheinen Krigsbe- 


velch erhoben, aberwürdt er vermuettlich zue einen Kriegszbevelch oder sonst Politischer Dig- 
Vngelegenheidten . À р EME 
hab ich Vollauf ge- nitet befürdert werden, Er mag aber zuesehen, das er nicht zue hizig oder 


BEITRAG zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 19 


habt, Ao1615imSept. droz seye, das ers nicht mit der hautt bezahlen muesz, Oder felt er sonsten 
bin ich kranckh wor- . р ; | 

den, und gar khüm- etwa in ein hize Kranckheidt. 

merlich mit dem le- 

ben darvon khomen, : ao: x 
Nataenllahrietlich Vom Jahr 1613 ist droben meldung beschehen, allda er ein bösze 


wenig Monatvormei- " : : . Bun д } 
ner Kranekheidt bin doch der anfänglichen Nativitet gleichförmige Revolution hatt, vnd in 


ich zue einem .. 8 .. ER: © 
Kriegszbevelch pro- 87039 Verwührung gerathen würdt, zuemahl auch flüssig vnd schwürmig 
TA sein würdt, propter Directionem Lunae Quadrati ad Ascendens. 


I Im 33. Jahr ist Directio Medii Coeli ad Lunae Corpus, das möcht 


Ао 1609 in Majo hab еп glegenheidt geben zue einer stattlichen Heurath, wann mann sich deren 


ich diese Heurath ge- у : Я j a 
than,miteinerWittib, gebrauchen wolte, die Astrologi pflegen hinzuezuesetzen, das es ein Wittib, 


wie daher ad vivum A ы E ; : 
describirt wierdt, Ао УПА nit Schön, aber an Негзева епт, gebäw, Vieh vnd baarem Geldt reich 


1614. den 23. Martii |: : Pr sa: Е | 
ES nestorhen ynd SEID werde, Ich zwar bin der mainung, Er werde ihme ein solche vor allen 


ER A uns andern belieben lassen, obs woll Himmels halber nicht also specificirt wer- 
rau HE . 
Junii widerumb ge- den khan, dann sein Natur vnd naigung gilt bey mier mehr, dann khein 


heuret, Stern, 
КЕ Im 37. Jahr gibt es wider Weibergunst Directio Solis ad Sextilem 
Lunae. 
Ao 1620 in Julio bin Im 39. 40. Jahr khombt ein sehr gefährliche Directio Ascendentis ad 


ich auf den Todt 

kranckh gewest, vnd Oppositum Martis, vnd zuemahl ein Conjunctio magna Saturni et Jovis in 

die Kranckheit ver- у . - t Е 3 5 

mein ich, das ich Cuspide Domus Septimae. Wann die Astrologi diese Direction sehen sol- 

nen ten, Маме in domo 8. Mortis versante, würdten sie alle ohn Zweifel auff 
7 : 

ВЯ einen Todtfall votirn, Ich aber nimb nichts darausz ab, als 4157, das ег zue 

fe} < o 8: a ° а A a 

werden, aber die Ex- derselben Zeidt, gäch vnd vnbesonnen sein werde, vnd leichtlich in ein 


rn ne gefahr, es sey mit fallen, springen, Kempfen, oder auch mit überflusz an 
halt bevorkhomen, озер vnd trinckhen, nach begirdt, vnd also in gefahr der Ruhr oder Ve- 
LI nerischen Kranckheidt gerathen möge, 
Hüettet er sich nicht, so khombt er desto schwährlicher hindurch, ob 
er sich aber schon hüettet, so würdt es doch anmahnen, 


Mm Im 42. 44. 46. gehet es gar lieblich und weibisch zue, seindt guette 
gelinde Directiones, Ascendentis ad Trinum Lunae, Medii Coeli ad Sexti- 
lem Veneris, Solis ad Venerem. 

Nn Vom 47.bis ins 52. wollen wier anfahen an Güettern, Authoritet und 
ansehen trefflich zuezuenemen, weill Ascendens, Medium Coeli, Sol ad 
faustos radios Saturni, Jovis et Mercurii khomen, und also ein Aspecte in 

Das Podagra hab ich 50 khurzen Jahren abgeben, zue denen stost der zehendte Lunae ad Trinum 
A01620.im April be- 5 о , 

khomen, aber gehet Martis. Doch möcht er darneben das Podagra (weill er sonsten starckher 
bisz dato noch gar = | я В я 

gnedig darmit zue, Complexion, vnd nicht villen Kranckheitten vnderworffen) zuer zuebuesz 


vnd schier ohne 
Eehimätzen; bekhomen, 


20 Отто STRUYE, 


Im 57 stosset das Glückh sich ein wenig wegen gächheidt, zue deren 


Oo raizet Directio Medii Coeli ad Quadratum Martis, doch ist darbey auch 
Directio Asc. ad Trinum Solis, raizet zue stattlichen verhalten vnd ver- 
schwendung, 

Pp Im 59. 60. gibt es widerumb schöne ansehliche Directiones Medii 


Coeli ad Trinum Solis, Lunae et Solis ad suos Sextiles. 


04 Im 67. khombt Cauda Draconis in Ortum bringt flüsse, Vnd obwoll im 
69. der Mondt zum Triangulo Veneris khombt, vrd die Natur erquickhet, 
so ist doch balt Ao 70. die Directio Ascendentis ad Quadratum Saturni für 
der thür, vnd nahet auch der Mondt zum Saturno, darausz ich vermuethe 
ihme werdt ein Viertäglich Fieber anstossen, oder ein kalter fluss, wül- 
chen er bey diesem Alter schwährlich überwinden wierdt, wann er anderst 
im 28. oder 40. nit darauff gehet, wie droben vermeldet. 


Gen. I. 


Vidit Deus omnia, quae fecit, et ecce erant valde bona. 


Anderte Ercklärung dieszer Geburthsfigur 


gestelt Ao 1625 im Januario. 


Demnach ich die vorige Geburths Ercklärung vor villen Jahren im Königreich Bö- 
haimb verfertigt, vnd aber mich dessen ganz richtig zuebesinnen habe, das ich selbiger 
Zeidt sowoll als seidthero mich nit habe bewegen lassen, einige Nativitet auszzuelegen, ich 
seye dann von denen, so es in ihrem oder andern Nahmen begehret, dessen versichert wor- 
den, das mein arbeidt für einen gehörig, welcher die Philosophiam verstehe, vnd mit khei- 
nen deroselben zuewiderlauffenden Aberglauben behafftet, als solte ein Astrologus khünff- 
tige Particular Sachen, vnd futura contigentia aus dem Himmel vorsehen khönen, Inmassen 
ich mich denn guetter massen zuerinnern habe, das D. Stromair, der ein gelehrter Me- 
dicus gewest, diese Geburths Ercklärung bey mier sollieirte, vnd disz ortts mich ver- 
sichert: Als hette ich mier warlich nit draumen lassen, das diesze meine Arbeidt mier 
vmb willen dieselbige mehr specifice auszzueführen, wider zue meinen händten solte kho- 
men sein, 

Will derohalben gleich eingangs höchst fleiszig gebetten haben, wann ich den Ge- 
bornen von seinem gefasten, vnd durch Herrn Gerhardt von Taxis ganz offentlich an 
tag gegebenen Irrigen Wahn abmahnen, vnd hiermit meinen guetten Nahmen vnd Philoso- 
phische Profession in acht nemen werde, wolle solches der Geborne mier zue kheinem vn- 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES von KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 21 


fleisz oder verachtung an: vnd aufnemen, Allweill er befinden würdt, das ich sonsten in 
auszrechnung des Thematis, item Directionum et Revolutionum für die ienige, die den Ge- 
bornen mit ihren aignen Opinionibus Astrologieis etwas mehr secundirn, vnd aber mit der 
Wahren Rechnung nit gevolgen möchten (denselben also die notturfft zue den begehrten 
Special vorsagungen, vnder die händt zuebefürdern) kheine mühe nit gesparret; sowol auch 
des Gebornen Hail und Wollfarth durch andere Vernünfftige, aus der Natur vnd Politica 
hergenomene, vnd den Astrologieis Signis Generalibus zuegesellete Vermuttungen zuebe- 
fürdern, mich nach gelegenheidt der Arbeith euszerst befliszen habe, Vnd will es gleich 
eingans ein Notturfft sein, das ieztermelden Herrn von Taxis schreiben, zue examiniren, 
vnd also das bessere, vnd gewiszere hinwider zueberichten, 

Anfangs schreibt er de dato Wien 16. Decembr. der Geborne habe ad marginem 
meines vorigen Judicii ezliche Accidentia gesezet, so ihme widerfahren, ich auch ihme 
solche praedicirt, aber etwa vmb ein Jahr spätter oder früer geschehen, aus denselben die 
rechte Zeidt der Geburth vnd Minuten der Stundt zue colligirn, also das Thema zuerecti- 
fieirn vnd seinen Discurs darüber desto baasz zuemachen, 

Nun ist zwar nit ohn, das mier hiermidt der rechte vnd eigendtliche Process fürge- 
schrieben wordten, welcher sonsten von allen Astrologis in Corrigirung der Rechten Wah- 
ren Geburdt Stundt, wo müglich, gehalten, vnd zum wenigsten erfordert würdt; welches 
Processes auch ich mich in abgang anderer mehrer gewiszheidt iezueweillen halte, dann 
ich befinde auch dieszen Weg der Natur nit vngemäsz, sofern ein Gebohrner derley Acci- 
dentia anzuezeigen, welche einig und allein aus der Natur selber verursacht werden, vnd 
nit etwa durch des Gebornen WillChurliches Zuethuen befürdert oder verspättet werden 
mögen, 

Dieweill aber disz ein solcher fahl ist, welcher sich selten begibt, dann welcher 
mensch ist so eingezogen, der nit alle Stundt vnd augenblickh seiner angebornen Natur 
vnd Leibstemperament mit vnordtenlichem Essen vnd trinckhen, mit Hiz vnd Kält, mit 
arbeitten, raiszen, Zorn, vnd mit allerhandt übermassen, villfältig einschlag gibet, vnd sich 
also an seiner gesundtheidt, oder natürlicher weisse herzue nahenden Kranckheidten hin- 
dert, oder die Zeidt deroselben befürdert, Also ist es nit allein für sich selber der Vernunfft 
gemäsz, sondern ich hoffe auch so vill ansehens bey den Gebornen, mit meiner langwühri- 
ger Experienz erhalten zue haben, das er hierüber meiner, als eines alten erfahrung mehr 
zuelegen werde, als eines ieden iungen Studentens, oder auch alten doch auff gemeiner Jung- 
gefaster Persuasion, als gleich auf den alten trapp, unbesonnen vnd ohnvorsichtig hinausz- 
gehenden Practicantens blöszigen Jawordts vnd Vertröstung auf das ienig, was ein Gebohr- 
ner ohne das gern hette oder glaubet, Nemblich das dieser Weg das Thema zuecorrigirn 
durch Accidentia, als Purlautter natürlich, die doch villfältig wider vnd übernatürlich sein, 
ie einmahl den Stich nit allemahl halten, oder den Astrologum versichern khönden, 

Hie will ich nun einen Puncten ausz dem vorigen Judicio nemlich literam Aa an- 
greiffen, vnd nach ercklärung desselben widerumb zue Herrn von Taxis schreiben khomen, 


29 Отто STRUYE, 


Dann weill der Geborne mit eigner handt bey litera Aa. verzeichnet hatt, das er 
Ao aetatis 22, nemblich Ao 1605 im Januario die Ungerische Kranckheidt vnd Pest ge- 
habt, Gesezet, es sey disz allein ein natürlicher trieb gewest, oder doch meistentheils ein 
natürlicher Trib, das die Natur des Leibs sich begehret habe deren böszen feuchtigkheidt 
zuentladen, aus welchen ausztrib ein Ungerische Kranckheidt worden, so ist gar ver- 
muetlich, die Directio Ascendentis ad Corpus Saturni hab ihr hierzue anleittung geben: 
dann die Natur nimmet ihre modos vnd leges aus den Directionibus. Hie muesz nun As- 
censio Obliqua Saturni gesucht werden sub Altitudine Poli 51°. Oriente circiter 22° X 
est Angulus Orientis 15° 36’, Latitudo ь Meridiana est 2° 27. Differentia igitur coorien- 
taria 8° 47° et Saturnus oritus cum 27° 47 % circiter. Laboriosius igitur limando hunc 
coorientem, Angulus apud illum est 15° 29’. Itaque Differentia coorientaria 8° 50’. Ita + 
oritur cum 27° 50 %. 

Et quia Jovis latitudo Meridiana est 1° 37’ eodem angulo. Ergo Differentia coorien- 
taria fit 5° 50’, et Jupiter oritur cum 28°33’ %. Sie etiam, quia oppositi Mercurio puncti 
latitudo est 1° 46’ angulo eodem, Differentia ejus coorientaria fit 6° 23° quare oceidit 
Mercurius cum 28° 58’ m. 


Jam Ascensiones Obliquae sunt 


ОВ 359° 5 
JOVIS ae 359 30 
Oppositi Mercurii...... 85934 


Hiemit fallen alle drey Directiones innerhalb eines halben Jahrs, vnd die Virtte As- 
cendentis ad Oppositum Solis auf das nechste Jahr hernach, das ist woll ein selzames. Sa- 
turnus zwar schicket sich woll auf die Vngerisch Kranckheidt. Mercurius aber auch sehr 
woll auf die Pest, vnd Jupiter gibt beider ortten einen guetten mitlern nach der Astrolo- 
gorum jehr, 

Wann dann nun das mittlere genommen wierdt 359. 30. vnd Ascensio recta Меди 
Coeli 269. 20. culminavit ergo 29°22 2. Wann nun der lauff der Sonnen von 21'/, ta- 
gen, das ist 21° 7’ gesezt würdt, zue dem Loco Solis auf den Geburtstag vnd Minuten 
0. 44", = so würdt locus Directionis Solis 21°52’=. Ascensio ejus recta 200° 12’ disz 
von 269° 20’ abgenomen, gibt die Corrigirte Geburttstundt 69° 8. Das ist 4. Stundt 36, 
Minuten. Also währe die Geburttsminuten nahendt vmb ein Virttel Stundt zuefrüe ange- 
zeigt, vnd das war Medium Coeli in der Geburths Figur (Additis 69° 8’ ad 180° 44’ ut fiat 
AR MC 249° 59°) khäme 11° 25’ 2, das wahre Ascendens (Asc. Obliqua 339° 52”) wurde 
17° 0’: Locus Lunae Radicis 7° 10° % Ascendens geradt in Quadrato Veneris. 

Was nun iezo die erckhlärung der Corrigirten Geburts Figur anlanget, würdt dieselbige 
nach meiner Philosophischen Manier nichts anderst, als die vorige, allein, das die Zaichen 
noch vill stärckher werden, als zuevor, dieweill 3 Planeten zuemahl ad Horoscopum khom- 
men, adque ejus Oppositum Saturnus, Jupiter et Mercurius, Item dieweill sie dem Angulo 


Berrrac Zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 23 


Orientis vnd Occidentis näher stehen, dardurch danu alle von mier in voriger Ercklärung 
gesezte Decreta confirmirt werden, 

Allein was bey litera И von dem Mondt in’s 12. Hausz verworffen, vnd von des Ge- 
bornen dannenhero gemuett masseten absurdis moribus gesezet worden, das leidet aniezo 
ein zimliche milderung. Dann es khombt nun der Mondt aus dem 12. Hausz herauf in das 
11. vnd Venus stellet sich hingegen ad Cor coeli, quadrato illustrans Horoscopum, dardurch 
die Sitten, vnd das verhalten, oder die manir in Conversationibus gebessert werden, 

Damit ich aber wider auf des Herrn von Taxis schreiben khome, so schreibt zwar der- 
selbe, ich habe die ad marginem verzeichnete Accidentia praedicirt: das khan aber nit ver- 
standen werden, von dem iezt examinirten Zuestandt vnd Kranckheidten im 22. Jahrs des 
Alters. Dann wie bey litera Ce abzuenemen, so hab ich diese Ercklärung allererst Ao 1608. 
gestelt, welches ist das 25. Jahrs des Alters gewest, derohalben disz Accidens schon zue- 
vor fürüber gewest, 

Wann ich aber schon zuevor, vnd lang vor dem 1605 geschriben hette, wann ich 
auch schon eben diese Wordt gebraucht hette wie bey га Аа. so hette es darumben nit den 
Verstandt, das ich eben die Vngerische Kranckheidt, vnd die Pest in specie vorgesagt ha- 
ben wurdte, Vrsach, ich hab nur generaliter geschriben, der Zuestandt aber ist mit Vmb- 
ständten specificirt, auf welche Vmbständt ich nit eigentlich hette votiren dürften, Woll 
lesset es sich iezo nach beschehener Sachen fein applieirn, inmassen ich droben gethan, 
die Vngerische Kranckheidt auf Saturnum, die Pest auf Mercurium. Aber vor beschehener 
Sach ist es kheine notturfft gewest, das es eben hette müssen die Vngerische Kranckheidt 
vnd die Pest sein, dann es werden dem Saturno auch sonsten andere mehr Kranckheidten 
zuegeschriben, als da ist Quartana, dem Mercurio auch scharffe Flüsz, der vermüschung Jo- 
vis vnd Mercurii auch corruptio humorum, putredines, Lungsucht oder auch Morbus Gallicus. 

Disz alles melde ich allein zue dem endt, auf das ich dem Gebornen den Wahn be- 
neme, als ob so gar die Particularia aus dem Himmel vorzuesagen seyen, Einmall ist disz 
wahr, das aus dem Himmel zwar woll Himlische Particularia folgen, nit aber Irdische we- 
der specialia noch individua: sondern alle Irdische Eventus nennen ihren formb vnd ge- 
stalt aus Irdischen Vrsachen, alda ein iedes Particular sein Partieular vrsach hatt, 

Das nun iezo Herr von Taxis meldet, die vorgesagte Accidentia seyen umb ein Jahr 
Spätter oder früer erschinen, vnd vermaindt, die Vrsach seye allein an dem, das das The- 
ma nit recht corrigirt gewest, das hab ich zwar bey dem hievorgehandelten Accidente des 
22. Jahrs also guett müssen sein lassen, das aber eben diesze weisz, das Thema zuecorri- 
girn so iust vnd gerecht sey, als iust vnd künstlich mann die Rechnung anstellen khan; 
oder auch gesezt die Correction sey ganz iust vnd gereeht, das darumb hernach alle Acci- 
dentia ganz genau auf die vorgesagte Jahr zuetreffen werden khönden, das währe abermals 
der Kunst zuevill aufgelegt, dann obwoll gewisse Zeitten ein Himlische Particularitet 
seindt, vnd ausz dem Himmel herzuenemen seindt, verstehe zue dem ienigen, was der 
Himel für sich allein thuet: so ist doch droben angemeldet, das der Himmel gar selten, 


24 OTTO STRUNE, 


vnd fast niemahlen allein seye, sondern das der Geborne, vnd andere, mit welchen er zue- 
thuen hatt, vill thuen vnd anfahen ausz freyer WillChur, das sie auch woll hetten vnder- 
lassen khönen, vnd vom Himmel darzue nicht gezwungen worden, dardurch sie aber die 
nattürliche Zuefähl befürderu oder verhindern, das sie ihre Himlische Zeidt, Masz, vnd 
Particularitet nicht erraichen mögen, 

Ein augenscheinlich Exempel ist an der Geburth selber, mit derselben ist es so ein 
wunderbahrlich ding, das die Natur der Muetter ihre gewisse Zeidt, zu gebähren ganz 
genaw aus dem Himmel, vnd aus der Muetter aignen Nativitet suchet, wann derselben ihr 
gang vnd Ruhe gelassen würdt, Wann aber die Mutter die stigen einfallet, oder von einem 
Stier gestossen wierdt, so mag das Kindt dannoch gebohren werden, wann schon die Him- 
lische Zeitt vnd Particularitet nicht fürhanden ist. Darumb ist es ein irriger Wahn, das 
mann mainen will, es sollen solcherley Accidentia, welche meisten theills aus der Men- 
schen willChurlichen werckhen herfolgen, auf gewisse aufgerechnete Himlische Vertagun- 
gen ganz richtig vnd genau eintroffen, vnd also vorgesagt werden, die Exempla, welche 
mann einführet, lasz ich mich nit Irren, es seindt wenig bedachtsame Philosophi, auch vn- 
dern Hohen Potentaten, vnd vndern Historicis, welcher Exempla mann pflegt einzueführen, 

Ferner schreibt Herr von Taxis, bittendt, ich solle die Nativitet latius et particula- 
rius, si possibile est, diffundirn, Item, wann ichs werde rectificirt haben, soll ich alszdann 
meinen Discurs etwas weidtleufitiger drüber machen, 

Disz begehren aber hab ich, sovill die Irdischen Particulariteten anlanget, allberaith 
zueruckh getriben, zwar mangelt den Astrologis gar nit an Materien den Leuthen ihren 
fürwiz zuebüssen: Wann ich aber auf solche Regulas nach Philosophischen examine ganz 
nichts halte; зо frag ich, ob dann an mich begehret werde, das ich mich nichts desto we- 
niger als einen Comedianten, Spiller oder sonst einen Plazspiller solle brauchen lassen? 
Es seind der Jungen Astrologen vill, die lust vnd glauben zue einem solchen Spill haben, 
wer gern mit sehenden augen will betrogen werden, der mag ihrer mühe vnd Kurzweill 
sich betragen, die Philosophia vnd also auch die wahre Astrologia ist ein Zeugnus von 
Gottes werckhen, vnd also ein heilig, vnd gar nit ein leichtferdig ding, das will ich mei- 
nes theils nit entunehren, 

Jedoch anlangendt die Himlische Particulariteten, will ich deroselben als nemblich die 
Revolutionem Directionum vnd Transituum auf die khünfftige Jahr nit vergessen, vnd also 
disz ortts die begehrte mehrere Particularitet praestirn vnd einwenden, 

Es folgt in des Herrn von Taxis schreiben, ein ganz Register von lautter Particular- 
fragen, dahero verursachet, weill andere Astrologi allberaith ihren auszschlag über diesel- 
bige, oder villeicht die erste anleitungen auf solche fragen zuegedenckhen gegeben haben, 
Nemblich 1. ob der Geborne Applexià sterben werdte, 2. Extra Patriam 3. auch extra Pa- 
triam Officia und Güetter erlangen 4. Wie lang er Kriegszweszen continuirn soll. 5. In 
was Landen er in Kriegszdiensten continuirn werde, 6. Ob er Glückh oder Vnglückh dar- 
bey zuegewartten, 7. Ob er feindt haben werde, 8. Was es für feindt sein werden, 6. Vn- 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 25 


der was für einen Zeichen sie wohnen, 10. Ob anderer Astrologorum Vrthel war, das seine 
Landtszleuth die Böheimen seine gröste feindt sein werden, 


Ich andtwortte auf diese vnd alle dergleichen fragen erstlich haubtsäch- 
lich, wie biszhero: Welcher Mensch glehrt, oder Vnglehrt, Astrologus oder ^ 
Philosophus in erörtterung dieser fragen die augen von des Gebornen eig- 
nen WillChur abwendet, oder sonsten von seinem Verhalten vnd Qualite- 
ten gegen den Politischen Vmbständen betrachtet, vnd will disz alles blosz 
allein aus dem Himmel haben, es sey gleich iezo Zwangs oder nur Inclinations 
vnd Naigungs weisz, der ist wahrlich noch nie recht in die Schuell gangen, 
vnd hatt das Licht der Vernunft, das ihme Gott angezündt, noch nie recht 
gepuzet; vnd wann er der Sachen nur mit Vleisz nachsinnet, würdt er befin- 
den, das diese fragen baides zuerörttern, vnd auch fürzuelegen eine rechte 
vnsinnige weisz seyen, Ich meins theills sage Gott danckh, das ich die Astro- 
logiam so vill gestudirt, das ich nunmehr vor diesen Fantaseyen, welche in 
der Astrologorum Bücher heuffig zuefinden, gesichert bin, Wann der Himmel 
dergleichen vermöchte, so würde er Ja alle vnd iede menschen, welche zue 
eines Gebornen Glückh concurrirn, ieden für sich selber durch sein eigne Na- 
tivitet regieren müszen, vnd nit durch die einige Nativitet des Gebornen, wel- 
che der Astrologus ansihet, vnd die andere anderer leuth eigne nit wissen khan, 

Dann was anlangt die erste frag de genere mortis, die sihet zwar der 
Natur am allergleichesten vnd allen andern, wie villfältig aber ein Natürliche 
Disposition durch vnderschidtliche Diaetas vnd verhaltungen verendert, vnd 
verstellet werden möge, ist droben gesagt, vnd dahero offenbahr, das einem 
ieden Planeten gar vnderschidtliche und oftt in Medicina widerwärttige Kranck- 


Wie bey Lra zı. heitten zuegeschriben werden, die Astrologi haben allhie ihr aufsehen auf Mar- 


gemeldet. 


Im vorigen The- 
mate ist disz ge- 


tem in Octava, vnd Venerem ejus Dominam in eadem, et receptionem eorum mu- 
tuam, Weill nun Mars bedeuttet violentam Mortem, vnd Venus Naturalem, so 
mischen sie es, vnd machen ein Apoplexiam darausz, das ist halb Natural, 
vnd halb Violent, darmit seindt sie nun zuefriden, vnd haben genug daran, das 
sie Ihrer Patriarchen Regulis gefolget, Wann ich aber frag, warumb dann Domus 
Octava Domus Mortis gehalten werde, so khombt die Vrsach auf Directionem 
Planetarum in Octava ad Occasum, So lasset vns nun Directionem Martis ad 
Septimam suchen, so fallet sie nach corrigirtem Themate auf das 32 Jahr Al- 
ters Ao 1615, Wann nun Mars hette den Schlag bedeuttet, so müste damah- 


sezt auf das 39.len der Effect erfolgt sein, Weill dann der Geborne annotirt, das er eben disz 


Jahr bey Litera 
LI. 


Lit. F.f. 


1615. Jahr im Septembri kranckh worden, vnd mit dem leben gar khümmer- 
lich darvon khomen, also würdt er nun selber sich wissen zuebesinnen, was 
es für ein Kranckheiht gewest, die Natur des Planetens deuttet auf hiz vnd 
die Gallen, 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 4 


Lit. №. 


Отто STRUVE, 


Sonsten wann es diszmals allein Nattürlich zuegangen, vnd nit etwa 
die bösze Diaet, die Natürliche Zeidt zuer Kranckheidt merckhlich verruckhet, 
So währe disz das ander Zeugnus, das diese Nativitet recht vnd woll von mier 
corrigirt worden, 

Woll ist nit ohn, wann andere praeparatoria vorhergegangen währen, 
vnd wann auch ein zimliches hohes Alter fürhanden gewest währe, so hätte 
diese Directio Martis ad Septimam gar woll zue einem Schlag verhelffen 
khöndten, Aber für sich allein gibet Mars kheinen solchen Special auszschlag, 

Der ander Significator Mortis Venus, ist kalter vnd feuchtter artt, der 
solte Catarrhos suffocativos bedeutten, auch nachdem die Diaet angestelt ge- 
west, vnd es seindt Exempla fürhanden, das 16. Jährige Knaben, ia gar Junge 
2. Jährige Kinder von der Directione Horoscopi ad corpus Veneris mit der- 
gleichen Catarrhis überfallen, vnd als gleich von einem Schlag gestorben 
seindt, Es ist aber auch diese Directio allberaith in verschienen 1624 Jahr 
fürüber, dann es fählt auf das 407, Jahr. In der vorigen Figur bey Ira Mn. 
ist diese Directio vmb das 50 Jahr gefallen, die hab ich allein von andern 
Zueständen auszgelegt, vnd nit auf die Leibs Constitution gezogen gehabt, 
wie ich woll sollen, Ob sich nun im verschienen 1624. Jahr eine sonderliche 
feuchte flüssige Constitution erzaigt habe, findt ich nicht am randt gezaichnet, 

Sonsten wann das Podagra ansezet, vnd bey den Menschen überhandt 
nimmet, so folget gewöhnlich mit hohem Alter die Apoplexia drauff, auch 
ohne des Himmels anlaittung, vnd so vill sey gesagt von der Ersten Frag, 
welche am allermeisten Natürlich: nemblich seindt die Directiones Significa- 
torum Mortis fürüber, vnd die Nativitet gibt fürder durch die Directiones 
kheinen Auszschlag mehr. Von den Revolutionibus wollen wier hernach 
handtlen, 

Die anderte Frag, Ob er in der frembdt sterben werde?, ist meines er- 
achtens nur allein durch andere Astrologos verursachet worden, die haben 
gefunden Martem et Venerem Significatores Mortis peregrinos, et in detri- 
mento suo. Es ist aber disz Wordt Peregrinus bey der Astrologia ein bloszes 
lahres Wordt, vnd wann mann argumentirt, Significator Mortis est peregri- 
nus. E. Significatur Mors in terra peregrina: so ist es gleich der handel, als 
wann einer ausz der Grammatic argumentirte, Elephas est generis Masculini. 
E. in hoc genere nulla est foemina. Es ist auch der Astrologorum intent nit, 
anzuezeigen, ob einer eben an dem ortt sterben solle, da er geboren ist, dann 
disz widerfahrt niemandt leichtlich, als Weibern vnd Bauren, oder Leibaig- 
nen, sondern wann der ortt eine Vnglückhseligkhaidt auf sich hatt, das achten 
sie nachforschens würdig, Kayszer Carl ist zue Gendt in Flandern gebohren, 
vnd zue Escurial oder St. Justi Closter in Hispania gestorben, der ist vmb 
dieszes ortts willen nichts desto Vnglückhseliger, Es währe auch khein son- 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. эт 


derlich grosses, wann einer schon ihme vorgesagt hette, Er wurde ausser sei- 
nes Vatterlandts sterben; dann es halt müssen deren zweyen eins sein, inner- 
halb oder auszerhalb. Wann das rathen also auf ia vnd nein gerichtet ist, 
so trifft man allwegen vngefehrlich den halben theill, vnd fählet auf den hal- 
ben theill. Das treffen behalt mann nach der Weiber art, das fählen aber ver- 
gisset mann, weill es nichts besunders ist, damit bleibt der Astrologus bey 
ehren. Ich achte einmall diese Frag kheiner solchen importanz, das sie mit 
grosser mühe zuerörttern seye, dann was währ es auf oder ab, wann der Ge- 
borne zue Budtweisz, oder zue Freystatt stürbe, weill es dorten innerhalb 
Böhaimb währe, da auszerhab. 

Fast gleiche meinung hatt es fürs dritte, mit den Güettern vnd Officis 
inner vnd auszer des Vatterlandts. Da hatt der Himmel oder die Nativitet nit 
vill bey zuethuen. Sondern wer ein guetter Patriot ist, der wierdt sich hie 
nach seines Herrn vnd Königes gelegenheidt vnd willen richten müszen, ist 
derselbig auszer des Königreichs (welches ie aus des Gebornen Nativitet nicht 
mag ersehen werden) so mag sich leichtlich zuetragen, das ein fürnehmer 
Standt des Königsreichs dem Hoff beywohnen mues. Sonderlich weill der Ge- 
borne dieser Zeitt beym Kriegszweszen helt, da ligt vill an, ob mann des 
Kriegszvolckhs inner oder auszer Böhaimb bedürfftig, damit dann auch die 
Fünffte Frag erörttert ist. Wie lang aber zum Virtten er in Kriegszweszen 
continuirn soll, da khan abermahlen aus der Nativitet nit gesagt werden, 
wie lang der Krieg währen soll, würdt fridt, so ist die Raittung schon gemacht, 
ein ieder wierdt abgedanckhet, troz das der Himmel oder der Astrologus dem 
Gebornen ein anders sage, Ferners vnd wann auch schon der Krieg continuirt, 
so ligt es hernach an des Gebornen WillChur, ob er beym Kriegszweszen len- 
ger zuesezen wolle, oder nit, Vnd weill die wissenschaft des fürsazes bey dem 
Gebornen selber ist, so geschicht dem Astrologo vngüetlich das er mit dieser 
Frag versucht wierdt, Etwas formlicher ist die 6. Frag, Ob ein continuirliches 
Glückh im Kriegszweszen zuehoffen? Dann hie sihet es einer Deliberation 
gleich, da mann allerhandt motiven zuegemüeth führet, vnd darumb nit eben 
an eine allein gebunden ist. Ich khan aber auch bey diesem Puncte anderst 
nit dann generaliter andtwortten, nemblich das Glückhliche Directiones Medii 
Coeli ad Sextilem Veneris, Sextilem Saturni, Sextilem Jovis, Trinum Mereu- 
г zwischen dem 40. und 45. Jahr des Alters fürhanden (die seind in der Vo- 

Nn. rigen Beschreibung bey Lra Nn zwischen das 47. vnd 52. gesezt gewest) 
dahero Ich vernünfftiglich zuerachten habe, der Geborne werde seine Dexte- 
ritet vnd vernunfft brauchen, es seye inn: oder auszer des Kriegszweszen. Dann 
ob schon diese Planeten nit eben die KriegszGôütter seindt, so ist doch be- 
khandtlich, das heuttigs tags das Kriegszweszen eine ganze neue Welt worden, 


28 


F.et M. 


S 


Е. @. Г. О. 


Отто STRUVE, 


in welchen allerley negociirt würdt, vnd also ein ieder Planet seiner art vnd 
Natur darbey findet, 

Die übrige 4. Puncten seind von Feinden. Hie würt mier zuegemessen, 
das ichs gar woll errathen habe, ich verstehe bey Lra P. Mir aber gehet zue 
Gemüeth, ich hab es bey Lris F und M. noch genauer getroffen, dann ich ver- 
spüre aus allen Fragen, das der Geborne voller Aberglauben seye, vnd ein 
Ding nit, wie es vorgesagt wahr, sondern nur wie es vngefähr gerathen, auf- 
neme vnd auszdeutte. Ich hab bey Litera P. nit vom blinden Glückh geschrie- 
ben, wie daszelbige ihme vill Feindtschafften übern hals bringen werde, son- 
dern ich hab des Gebornen Natur beschrieben, vnd was ich vermaine, was er 
für Vntugenden oder tugenden an ihme haben werden, Auf dieses fundament 
hab ich eben das ienige gebauet, was in der Politica die tägliche Erfahrung 
mit sich bringt, dann es ist bekhandtlich, das die Qualiteten bey Lra E. allge- 
meine feindtschafft erweckhen, bey С. stund die Gaistliche vnd Justitiarü 
malcontent. Bey Lra /. werden die gleiches Standes verfortheilet vnd vnder- 
gedruckhet, vnd zue Feinden gemachet, wie auch bey O. die Grandes, vnd 
entlichen bey X. die hohen Potentaten selber. Mit beschreibung der Natur 
des Gebornen würdt er selber am besten wüssen wie ichs getroffen, mit vorsa- 
gung aber der Feinden, begehr ich mich nit herfür zuebrechen, wann es gera- 
then ist, ohne mitfolgung der gesezten fundament, vnd Natur, Ich besorge dero- 
halben, ich habe der Vorigen beschreibung mehr Schandt dann Ehr, dann was 
ich bey Lra X. gesezet, dessen würdt ohn Zweiffel das lauttere Gegenspill erfolgt 
sein, dann mit den Malcontenten in Böhaimb hatt es einen kläglichen Auszgang 
genomen, derohalben dann der Geborne, als ein Gebohrner Böhaimb, der 
noch im Kriegszweszen versirt, nit mit: sondern wider dieselbe malcontenten 
sich gebrauchen haben lassen mues. Allweill nun es an diesem fundament er- 
mangelt, wierdt ohn Zweiffel auch khein Feindtschafft oder Vngnadt von dem 
Höchsten Haubt in Böhaimb nit zuebefahren sein, 

Das die Böhemb selber seine Feindt sein sollen, ist ohne noth, das es 
von einem Astrologo vorgesagt wierdt, dann wer ein Böhaimb ist, vnd inner- 
halb des Königreichs sich also verhelt, wie ich bey Lris E. @. I. O. gesezet, 
den wierdt mann sonder Zweiffel nirgendt anderst, woe besser kheinen oder 
mehr hassen, als eben in Böheimb, der Geborne bespigelt sich aber woll bey 
Litera О. ob ichs getroffen, vnd so daszelbige wahr, so khöndte ich ihme nit 
guett darfür sein, das nit die starckhe competenzen durch übels angeben ihme 
auch auszerhalb Böhaimb, vnd gar die Hohe Potentaten zue feinden machen 
werden, 

Was andere Astrologos bey diesen Puncten dahin vermöcht, das sie dem 
Gebohrnen seine Landtszleuth zue feinden geben, das achte ich daher khomen 


Вытвас zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 29 


sein, die weill sie das Signum Bohemiae ist der Lew, in domo Septima Hostilitatis gefunden, 
dann es haben die alten Astrologi das Königreich Böhem vndern Lewen gesezt. Vnd auf diese 
blosse auszteillung der Länder vnder die Zaichen, will der Gebohrne wie Herr von Taxis 
schreibet, sonderlich vill halten, Ich trag aber lautter sorg, sie haben des khein stärckher 
Vrsach gehabt, dann allein, das sie auf die Insignia, vnd auf den Lewen mit dem doppel- 
ten Schwanz gesehen, Wiewoll Nagelius vnd andere aberglaubige Leuth lautter Göttliche 
Hieroglyphica drausz machen wollen, denen musz mann nur ihre weisz lassen, 

Sonsten haben die Astrologi woll ein zimlich gueth Principium von Natürlicher Zue- 
naigung oder widerwillen der Gemüether, aus Gegenhaltung zwoer Nativiteten hergenomen. 
Wann ich nun der Kayl. Maitt als Königs in Böhem Nativitet gegen dieser betrachte, findte 
ich hie Lunam von dorten per Quadratos Martis et Jovis verlezet, So auch Solem per op- 
positum Martis. Hingegen dorten Solem von hie per Quadratum Martis, Item Lunam et 
imum Coeli von hie per Oppositum Saturni: doch Gradus Ascendentes baider ortthen vn- 
versehret, Also wurdte nun hierausz abzuenemen sein, das zwischen beeden Gebohrnen nit 
sonderliche Affection vnd Zuenaigung, aber woll allerhandt laesiones zuerwartten sein 
wurdten, Es hatt sich der Gebohrne vernünfftiglich zuebesinnen, das eine bösze Zeitt vnd 
gewonhaidt aufkhomen, die zwar sonsten bey Soldaten breuchig, vnd er villeicht selber 
auch practicirt haben mag: Nämblich das mann schlechte Würth gibt, vnd zehret allweill 
mann hatt, wann es zerrindt, so sucht mann ein Vrsach zue dem der etwas behalten oder 
erobert, vnd ropfet denselben auch. So nun der Gebohrne sich vnder den beguetterten be- 
findet: mag er ihm woll einbilden, das er ein Böhemb, vnd das dieszer Zeidt die verach- 
tung auf der Nation lige, ohne vnderscheidt des Schuldigen vnd Vnschuldigen bey der- 
gleichen Raubvögeln vnd Angäbern, Mag derowegen neben verhüttung allerhandt verbre- 
chens, sich auch wider dergleichen verwahren, so guett er khan vnd wol in acht nemen, 
wie er iederzeidt bey seinem König angegeben werde, 

Dergleichen widerwärttige Configurationes finden sich auch zwischen des Gebornen, 
vnd zwischen Ihrer Durchleucht Herrn Ferdinand Ernstens Nativitet: allda auch die As- 
cendentes mit Quadratis einander ansehen, Sein Mars allhie in Ascendente, Sein Luna 
vnd Saturnus, auch theills Sol allhie in Quadrato Martis. Wer nun des Gebohrnen gele- 
genheitten mehrere vnd gnugsame wissenschafft hette, der funde aus diesen Comparatio- 
nibus vnzweiffelich Vrsachen überflüssig gnug, sich drüber in weittlauffige Politische 
Discursus einzuelassen, nach dem ein ieder in der Politica fundirt: sonderlich wann er 
ihme fürnembe die Geneses Prineipum selbsten zuepropalirn, welches doch nit einem 
ieden guett gehaiszen werden möchte, disz allein darumb gemeldet, damit der Gebohrne 
sehe, wann auch schon aus dem Himmel allein allerhandt Particulariteten herzuenemen 
währen, das doch daszelbige aus einer einzehlen Nativitet nit vollkhomlich verrichtet wer- 
den khöndte, sondern das solche Geneses Principum Reipub. bey allen deroselben Glie- 
dern einer sehr groszer Importanz als welche mehr Generales vnd Vniversales seindt, vnd 
auch nach der Astrologorum lehr den Vorzug haben, das hatt der Gebohrne leichtlich da- 


30 


Ff. 


B. et C. 


Отто STRUVE, 


hero zuerachten, wann er bedenckhet, das wann ihr Май. im verführten Böh- 
mischen Krieg vnderglegen währen, oder noch, Es alszdann mit dero getreue 
Landtleuthen vnd Obristen, darunder auch mit ihme selber vill ein andere ge- 
legenheidt gehabt haben wurde, vnd also sein ieziger Wollstandt (der aus des 
Herrn von Taxis in seinen Namen vnd gehaisz beschehenen stattlichen Ver- 
heiszungen guetter massen erscheindt) khainswegs einig vnd allein auf sein 
aigne Nativitet fundirt seye, 

Vnd seindt hiermit die fürgelegte zehen Fragen nach notturfft erörttert, 
auch das Thema vermuetlich woll corrigirt. Hernach will ich etlicher Parti- 
cular Jahr, Directiones, Revolutiones vnd Transitus begehrter maszen für 
augen stellen, nit zwar das aus diesen Himlischen Particulariteten, drum auch 
Irdische Particularissima, so des Menschen WillChur vnderworffen, herzue- 
nemen, vnd vorzuesagen seyen, in massen ich mich zuevor hierwider verwah- 
ret: Sondern allein meinen Vleisz zuerweiszen, vnd andere so sich derglei- 
chen vnderwinden, auf ihr verandtworttung zuebedienen, 

Anfangs soll ich nit vngeandtet lassen, das vngeacht der beschehenen Cor- 
rection der Geburthszminuten, dannoch die Directio Solis ad corpus Martis auf 
das 28. Jahr falle nach meinem modo dirrigendi, welches der Natur am ehnlich 
sten ist. Das nun bey Lra Ff ad marginem gesezet worden, Ao 1611. sey der 
Geborne nit kranckh gewest, aber Vnglegenheitten hab er voll auf gehabt, sey 
auch nicht zue Kriegszbevelch erhoben worden, darmit erweisze ich, wie noth 
es sey gewest, das ich mich bey Lra В. vnd С. verwahret, vnd angezaigt habe, 
Welcher gestalt ich dergleichen Particularia vorgesagt haben wölle. Es folgt ein 
Kriegszbevelch, so auch ein Kranckheidt, nit aus dem Himmel allein, wie bey 
С. gemeldet, darumb ist nit wunder, das der Geborne in Ао 1611. kheinen 
Krigszbevelch bedienet, dann damahlen ist auch khein offentlicher Krieg in 
Böhaimb nicht vorher gegangen gewest, in welchem der Gebohrne hette 
Krigszbrauch lehrnen khöndten, Vnd obschon Ao 1611. das Paszauische Volckh 
naher Prag verrückhet, so ist es doch noch khein glegenheidt zue Kriegszbe- 
vehlen gewest; dann in solcher Landtsznotturfft gebraucht mann sich nit de- 
ren die am begüristen, sondern deren, die am erfahrnesten, Sonsten wie die 
Directiones Medii Coeli vnd Ascendentis bey Bb. Dd. fallen zuesamen, nach 
beschehener Correction ins 22. 23 Jahr, wie droben ad marginem gemeldet. 

Bey ша Hh. li. seindt zwo Directiones Lunae gesezt, welche ich auf 
Heyratszgedanckhen (nit eben auf Heurath selbsten mich ad Lram B. referirendt) 
aufgelegt. Nun schreibt der Gebohrne ad marginem Er hab Ао 9. geheura- 
thet. Ich begehre mich nicht dahin zuestreckhen, das ich diese WillChur- 
liche, oder doch an vill Irdische Politische Umbständt gebundtene sach per 
forza an die himlische gezeitten restringirn möge: aber doch schickhet sich 


Г. 


El; 


ПГ. 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 31 


diese Directio nach beschehener Correction besser zue den verzeichneten 
1609. Jahr dann zuevor. Dann es seindt verflossen gewest 25%, Jahr, Nemb 
ich nun den motum Solis von so vill tagen, das ist 25° 26. vnd seze es zue 
dem loco Solis 0° 44° so khombt Locus Directionis Solis 26° 10’ & vnd ne- 
hert sich die Sonn dem Corpori +. Ejus Ascensio recta 204° 16° mit 69° 8’ 
vermehrt, macht 273° 24’ das zeiget 3°8’%. das ist zwischen Quadrato Solis 
et Согроге Lunae, Ascensio Obliqua vero 3° 24’ zeiget 8 v das ist ipse Qua- 
dratus Lunae Ao 1609 zue anfang des Jahrs, das Medium Coeli aber khombt 
Ao 1606. zue endt ad Quadratum Solis vnd Ao 1612 ad Corpus Lunae. 

Das der Geborne bey Lra Zt. rühmet, ich habe ihme sein damahlig erwor- 
ben Gemahel ad vivum describirt, dieszen Lob überlasz ich den andern Astro- 
logis, in massen ich mich bey gezaichneten Ortt lautter bedinget, War ists, 
sofern er sich selber mit einer solchen glegenheidt woll befunden, so hab ich 
es getroffen: sofern aber solches ihme auch gerathen, da ist es nit an seiner 
Nativitet, auch nit an seiner WillChur allein gelegen, sondern hieher ist auch 
gehörig gewest, der Gegenbarth Nativitet, vnd WillChur, die hab ich war- 
lich nit wissen noch sehen khönen, derohalben es mier ein Glückszfall ist, das 
ichs mit dem Eventu auch getroffen, vnd lesset sich von dieszem auf andere 
dergleichen particular Eventus nit exemplificirn, 

Das bey [ла АК ad marginem gemeldet würdt, der Geborne sey Ао 1620 
auf den Todt kranckh gewest, da findt ich auf dieses Jahr nichts, auch nit 
nach corrigirung des Thematis. Sondern auf das Jahr 1624., wie oben ge- 
melt, würdt allererst die Directio Asc. ad oppositum Veneris vollkhomen. 
Mag derhalben der Geborno woll glauben, das allermassen, wie er meldet, 
diszmals der Bacchus sein Planet gewest, vnd die aufs folgende 1624. Jahr 
zielende ergieszung der Überflüssigen Feuchtigkheidten vmb so vill Jahr anti- 
cipirt habe. Was sonders solte es aber sein, wann schon der Irdische Planet 
Mars, Vnzweiffel auch die Irdische Venus darzue verholffen hetten, angesehen 
der Geborne damahlen, als er schreibt, wittiber gewest, auch die lohe Flamme 
des Böhmischen Kriegs damahlen in alle höhe aufgeschlagen, vnd den Ge- 
bohrnen etwa wider gewonheidt vnder freyem Himmel in hiz, Kält, Furcht 
vnd Widerwertig Diaet aufgehalten hatt. Zuemall sihet der Gebohrne hierausz, 
das es wahr sey, was ich anfangs gemeldet, das die Himlische Gezeitten, sich 
nit also genau in den Irdischen Zufällen erzaigen khönen, wann die Irdische 
Vrsachen darzueschlahen, 

Sonsten ist die bey Lra LI. gesezte Directionis Ascendentis ad Opposi- 
tum Martis im corrigirten Themate droben auf das 32. Jahr gefallen, 

Bey Lra П. verzaichnet der Gebohrne sein anderte Heurath: Ist aber- 
mall ein WillChur, da werden die Irdische Planeten Pluto, weill mann einen 


39 Отто STRUVE, 


guetten einträglichen Krig gehabt, Vnd Fraw Pax mit Ihren betrüglichen 
Vertröstungen, die Heuraths Planeten gewest sein, 

Wiewoll Directio Asc. ad Oppositum Veneris, so auf das 1624 Jahr 
eigentlich fället, sich nit übel hierzue reimet, vnd noch mehr Ao 1623. Di- 
rectio Ascendentis ad Trinum Lunae, die ist in Vorigen allzuefrüen Schemate 

Mn. bey Lra Mm. auf das nachfolgende 42. Jahr gesezt. 
Hernach folget nun erstlich Revolutio Ao 1624. 
im Septembri angegangen, 

Diese Revolutio ist fürnem. Als ich von etlicher Zeidt hero gesehen, 
das der König in Franckhreich, welcher auch im Septembri den /. geboh- 
ren, dis Jahr ein solche Revolution gehabt, hab ichs etlichen Kay: vnd Chur- 
Bayr: Räthen zuer nachrichtung vnd warnung angezaigt. Alle Planeten seind 
in Satellitio Solis auszer des Mondts. Die Conjunctionem Jovis vnd Martis 
hab ich in meinem Prognostico auch für wichtig angesehen, vnd auf starckhe 
eigensinnige Resolutiones nebens auf verursachung grossen Abfals gezogen, 
das ein ist zimlich erfolgt mit einstellung des Hernalszerischen (?) Auszlauffens, 
wais nicht was in Reichszachen dergleichen mehrers geschehen sein mag. 
Das andere beruhet meines wissens bisz dato noch auf feindtliche fürbrechen 
der widerigen Liga: Ob aber ein abfall in Reich oder in Erblanden, auch dar- 
hinder steckhe, dessen hab vnd begehr ich kheine Wissenschaft. Ein schöne 
abwechszlung gibt es in comparatione cum Radice, cum Locis Lunae et Gra- 

ee duum Ascendentium, ist aber nur ein geradt woll, vnd zuescharf nachgesucht. 
аи à: Directio Medii Coeli ad Sextilem Veneris ist nebens auch schön: Item Luna 
sezt. °` occupat in Revolutione suum locum Directionis. Ein Potentat der so vill von 
der Astrologia hälte, als der Gebohrne, vnd disz alles wuste, der wurdte ohn- 
zweiffel einen solchen Obristen mit einer so stattlichen Revolution, wann er 
auch seiner treu versichert, wider iezige auszländische Feindt schickhen, 
Ao 1625. 

Den 30. Januarii s in M. С. 

Den 24. Februarii D. 2. s. prope D. ©. 

Den 2. Aprilis. A 2, s. in £ Radicis. 

Vmb den 7. Maji s in Ascendente. 

Vmb den 16. Junii s ш 0. М. С. 

Vmb den 15. Juli & +. s. 

Den 2. Augusti. s in $. © 

Den 15. Augusti. +. per locum ©. 

Diesen Monat bleibt Mars Stationarius in opposito Solis, da wierdt not sein 
ihme abzuebrechen, vnd vor vngestalter Verenderung der gefaszeten Resolu- 
tion sich zuehütten, Summa das Krigszweszen ist in Schwung, das Eiszen 


Im Augusto Dene- 
mark geschlagen. 


Nn. 


BEITRAG Zur FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER ZU WALLENSTEIN. 33 


hausz: da liesze es sich mehr als zue fridtlichen Jahren Politice zuediscur- 
rirn, währ ein guetter Politicus währe, 
Revolutio in Septembri 1625. 


Noch seindt Saturnus vnd Jupiter in Satellitio Solis, Mars aber in oppo- 
sito inque loco Jovis Radicis, Luna in suae Radicis opposito, Venus in Oc- 
casu Radicis. Ist also auch diese Revolutio fürnemb, disponirt gleichszfals zue 
wichtigen händel, disponirt aber zueverdrüszlichen hinderungen, als ob einen 
das Podagra arrestirte, das er nit fordt khöndte, 


Im October + in О. М. С. Radicis 
Vmb Andreae s.in £. ©. 


Ao 1626. 


Im Januario $. +. et s.in $. s. Radicis. 
Den 20. Februarii. +. in О. Asc. et © in Asc. 
Im Martio. ? in 0. M. С. 

4, Aprilis s in 1 €. z. in loco s. Radicis. 
Junio, D.,;2. в 

17 Julii t. in Quadratro М. С. в. e in Occasu 


Revolutio im Septembri 1626 


Die guette Directiones bey Lra Mn. gemeldet, nemen mit dem Vollkho- 
menen 43 Jahr (nach ieziger Corrigirter Nativitet) ihren anfang, diese Revo- 
lution stimmet auch zimlicher maszen mit ein. Dann es finden sich abermahlen 
alle Planeten nahendt vmb die Sonne, Jupiter, Venus vnd Luna nechst bey- 
samen. Saturnus ante Solem, Mars junctus Soli exacte! Ist ein Revolution 
des Gebornen Natur ehnlich, dann gelinget es ihm mit erhöhung seiner Autho- 
ritet, vnd Macht an Geldt vnd Güttern, so geschicht es ohne Zweifel mit der 
Welt vnd viller Leuth schaden, derohalben disz auch ihme feindtschafft, wi- 
derstandt, hinderung, vnd durch verbitterung ohn Zweiffel auch das Podagra 
erweckhen wierdt, 


5. Septembris d r. s.in &. ь. Radicis. 
14. Septembris d. ©. +. in loco © Radicis. 


Im Herbst in Vngarn. 3. Decembris. 4. +. s. ш О Ascend. Radicis. 


AONLC2T: 


Januario » fit Stationarius prope locum © 

8. Januarii. +. in М. С. Radicis. 

3. Februarii. + in O. о. Radicis. 

Martio + in Ж © Radicis in 0. ©. Stationarius. 


Mémoires de l’Acad, Imp. des sciences, Vile Série. 5 


34 


Отто STRUYE, 


7. Aprilis. s in Ascend. Radicis. 

11. Мал. s. in 0. М. С. Radicis. 

5. Junii. з in 6. ©. Radicis. 

14. Augusti. s in D. Asc. Radicis. 

Est etiam 11. Augusti Ecclipsis Solis in Occasu Radicis. 


Denemarckh ausz 
Holstein, Jütland Rev. Sept. 27. 


Mechelburg vertriben. 


Saganisch lehen 
Mechelburgisch pos- 


Abermahlen die Sonne in Conjunctione Saturni, Sextili Jovis platico (?), 
Trino Martis, et oppositio platica +. +. et Luna in loco %. Radicis. Ob es 
woll mit den Directionibus stehet, wie droben gemeldet, so ist doch diese Re- 
volutio mehr bösz als guetth. Wann dem Gebohrnen gleich alles glückhete, 
wurde er sich doch nit vergnügen, sondern sich selber freszen, zuegeschwei- 
gen das er ihme auszerhalb seiner auch Opponenten erweckhet. Doch disz 
vngehindert ist diese Revolutio fürbrechendt vnd obsigendt, 


16. Septembris. ъ. in loco © Radicis in A. s. 
11.Octobris 2. in x. ©. Radicis. 
Initio Decembris +. ш M. С. Radicis. 


sesz. Stralsund bela- 


gert. 


Ao 1628. 


12. Marti. + in О. ©. Radicis. 

5. Marti. « in J. €. Radicis. 

9. Ар sin D omis 

1. Junüi..z. in D. ©.,3..%. ©. Radicis: 

Eo mense + fit Stationarius circa ©. Radicem. 
27. Junii. +. in Occasu Radicis. 

4. Septembris. s in loco ©. Radicis. 


Rev. Septembri 28. 


Es nehert sich die guette Directio Medii Coeli ad x. +. Aber doch 
scheinet diese Revolutio nit zum besten sein, dann ob woll die beede scharffe 
Planeten Saturnus vnd Mars in Satellitio seindt, so machen sie doch eine 
widerwährtige Conjunctionem, vnd seindt Occidentales sub radiis separati a 
Jove. Das Thema Accidentarium währe halb vnd halb, Jupiter in Ortu, sonst 
aber alle Planeten vnd Luna in Octava et Nona. 


Den 30. Octobris. z in D. ©. Radicis. 
Den 12. Novembris. s in DO. Asc. Radicis. 
Den 2. Decembris. 3. in loco ©. Radicis. 
Den 17.Decembris. +. in М. С. Radicis. 


BEITRAG ZUR FESTSTELLUNG DES VERHÄLTNISSES VON KEPPLER 20 WALLENSTEIN. 35 


Ao 1629. 


Magdeburg belagert le . AE 
Volekh in die Vekau (?) Den 12. Januarü. s in D. ©. Radicis. 


. Volekh in Preussen a à .… ; 
Volckkön Italien Den 12. Februarii. 2. +. gd. шп. %. 


Den 14. Marti. s. in Asc. Radicis. 
Den 21. Martii. z in À. ©. Radicis. 
Den 15. Aprilis. s in О. М. С. Radicis. 


Mechelburgischlehn Den 10.Maji. + in £. ©. Radicis. 


Den 11. Julii. s in О. Asc. Radicis. 

Den 1. Augusti. A. 2. #.in A. ©. Radicis. 

Den 17. Augusti. s in J. С. Radicis. 

Diese Revolution ist mittelmessig, Sol in О. +. continuirt das Podagra, 
in A Platico bringt Ehaen, so auch >. in Ж. %. D. +. %. bringt straidt, das 
Accidentarium Thema ist glückhlich. #. in М. С. Asc. idem quod Directionis 
circa faustos radios +. ®. Radicis. 

Den 9. Novembis. z.in A.o. Radicis. хаета +. inloco +. Radicis in D. +. 


Ao 1630. 


Mechelb. Huldigung 


Den 29. Тапааги. 2. in Ога Radicis. 

Den 5. Junii. +. in Occasu Radicis. 

Den 14. Junii. +. ш О. M. С. Radicis. 

Den 20.Julii. $. +. s et ф. ®. ». alle Vier in configuratione cum M. С. 
Radicis, vnd Mercurius circa Occasum Radicis Stationarius. 

Den 16. Augusti. + in loco ©. Radicis. 


Wann ich den Revolutionibus etlicher nechstfolgenden Jahren, überhaubt 
nachschlahe, findt ich kheine sonderliche Evidentiam, da doch die Directiones 
nach dem corrigirten Themate auf die nachfolgende Jahr trefflich gueth seindt, 
Vermuethe also es werde der Effect auch Himmels halber (der Irdischen Vr- 
sachen zuegeschweigen) sich verweillen, bisz zu den fünff Oppositionibus Sa- 
turni vnd Jovis Ao 1632. 1633. 1634. Welche anfangs ad loca Directionum 
in 23. 9. m. zihlen, Ао 1634. aber ad Quadrata loca Saturni, Jovis, Mer- 
curii Radicis sich einstellen, da im Martio Mars in utriusque Quadrato, inque 
Opposito Solis, Veneris et Mercurii ein wunderliches Creuz macht, damit es 
also wider auf mein bey Lra Z. Prognosticum khomen, vnd die auf selbige 
Zeitt androeten, schröckhlichen Landverwirrungen mit des Gebohrnen Glückh 
vereinbaaren möchte, 


Weill dann so weidt hinauszreichende Jahr de praesenti kheine sonderliche bewegung 
des Gemüeths verursachen: Ichs auch für diszmall an der Zeidt nit habe, so mühesambe 
vnd weittlauffige Particulariteten zuecontinuirn, Also will ichs hierbey bewenden lassen, 


36 Отто STRUVE. 


Vnd weill der Gebohrne nit allein sonderliche grosze lust zue der Astronomia ver- 
spühren lasset, sondern auch aus den fürgelegten fragen erscheinet, das er des müheseligen 
Landtverderblichen Kriegszweszen zimlich satt, vnd dannoch auch auf ein auszsezung von 
denselben bedacht: zue welchem fall der Mensch Natürlicher weisz sich vmb die Astrono- 
mische vnd Philosophische Recreationes anzuenemen pfleget, sonderlich wann das kizelige 
Podagra Bettriszen macht, vnd mann anderwegs nichts fürnemen khan: Als wolte ich ihme 
von Gott gewünschet haben, einen rechten, eigentlichen, mit aberglauben vnbefleckhten, 
vnd vnverbitterten Verstandt, der Astronomia, vnd von demselben meiner darbey haben - 
der Recreation, freudt vnd lust einen theill, mier aber dargegen sovill seines gelts, wann 
es ohne seuffzen der Armen sein möchte: vnd ausz hoffnung, das die Kunst dem Gebohr- 
nen ie mehr vnd mehr belieben werde, derohalben meine Avisi ihme nit vnannehmlich sein | 
sollen: so berichte denselben ich, das ich gleich iezo wegfertig eine Raisz ins Reich zue- 
thuen, dann weill ich mit der verbeszerten Astronomischen Rechnung zue Endt khomen, 
nach welcher mann in ganz Europa, Ja gar in India vill langer Jahr gefragt: also haben 
Ihr Kayl. Maitt auf viller verständiger theils auch Fürstlicher Personen Commendationes 
mier zuetruckung etlicher solcher Operum meinen Alt Rudolphischen Auszstandt von 
6200 fl. zueraichen bewilligt, vnd auf etliche Reichszstätten, allda ich die druckher not- 
turfft erhandtlen vnd naher Linz herunder bringen soll, durch Kayl. Cammerschreiben ange- 
wiszen, welcher ich ehester tagen selber praesentirn, vnd deszhalben iezo hinauff raiszen 
soll, 

Demnach aber neue Kriegszunruhen auszkhomen, dahero ich zuebefahren habe, mein 
geringe Praesenz möchte bey iezigen Zuestandt den Reichszstätten villeicht zuewenig sein, 
das sie vmb derenwillen ihr Mat mit auffthuung ihres Beuttels parirn wollen werden, vnd 
möchte ich also Zeitt vnd Vnekhosten, dessen ich kheinen Überflusz habe, mit dieser 
Raisz vergeblich anwenden, vnd dannoch zue kheinen druckh nit gelaugen, Also hab ich 
mier zuevor nit vergeblich des Gebohrnen Vermögens einen theill gewüntschet, vnd zue 
besserer Ercklärung desselben, das dis nicht für einen Geiz angesehen werde, seze ich noch 
disz hinzue, das, weill Ihr Kayl. Maitt. so fleissig mich gefragt, wie balt ich mier getraue, 
einen Anfang zuemachen, Ich derohalben deren gewiszlichen meinung seye, wann iemandt 
pro Reputatione mier die beyhandten habende Kayl. Schreiben an Memmingen vnd Kemb- 
ten P. 2200 fl. an Nürnberg P. 4000 fl. mit sovill baarem Gelt auszwechszelte, vnd her- 
nach etwa im durchzug, oder wie er sonsten die gelegenheidt haben möcht, diese Summa 
an den besagten Ortten an meiner Statt wieder einfordern liesz: so wurdte ein solche 
Kunst befürderliche Liberalitet Ihrer Kayl. Mait. allergnedigst wollgefallen: Ich würde 
auch die Zeitt gewinnen, vnd verhoffentlich desto schleuniger zue endt khomen, vnd Vr- 
sach haben, diese ganze Fürstliche vnd Königliche handtreichung gegen den Gelehrten vnd 
der Posteritet zuerühmen: mich aber khünfftig mit meiner Kunst vnd arbeidt eines solchen 
Patroni wollgefallen desto fleisziger zueaccommodiren schuldig sein, Hiemit geschloszen, 

21. Januarii. Ao 1625. 


m an 


MÉMOIRES 


DE 
L’ACADEMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES DE ST.-PETERSBOURG, VIP SERIE. 
Tone Il, №5. 


ANHANG ZU DER ABHANDLUNG 


„ÜBER DIE RUSSISCHEN TOPASE 


(Mémoires de l’Académie, VI“ Série, Sciences mathématiques et physiques, T. УГ. 


Von 


N. у. Kokscharow, 
Mitgliede der Akademie. 


Mit 4 Tafeln. 


Gelesen am 14. October 1859. 


St. PETERSBURG, 1860. 


Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: 
in St. Petersburg in Riga in Leipzig 
Eggers et Comp., Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Preis: 50 Kop. = 17 Ngr. 


D 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. у 
К. Vesselofski, beständiger Secretär 


Im Februar 1860, 


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Re, qu у 
sa AE Ur ae à FL te 
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Buchdruckerei deriKaakerlrehen Akademie его ое 


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ANHANG ZU DER ABHANDLUNG 


„ÜBER DIE RUSSISCHEN TOPASE”. 


(Mémoires de l’Académie, sixième Série, Sciences mathématiques et physiques, T. VI). 


Von 


№. v. Kokscharow. 


1) Zu den in meiner Abhandlung über die russischen Topase gegebenen Tafeln füge 
ich jetzt noch vier hinzu, um die ganze Reihe der verschiedenen Combinationen der russi- 
schen Topaskrystalle zu vervollständigen. Die auf den neuen Tafeln dargestellten Combi- 


nationen sind folgende: 


Fig. 58 und 58 bis) oP. 1 


В 


Fig. 59 und 59 bis) оР. 
P 


Fig. 60 und 60 bis) оР. 3 


P 


Fig. 61 und 61 bis) oP. À 


P 


Fig. 62 und 62 bis) oP. - 


P 


Fig. 63 und 63 bis) oP. 
P 


1P. 


i 


IP. <Р. »P3. »P2. 2Px. Po. 2Роь. LP. 
u M m ] а f у h 
1P. P. P2. 1Р2. 2P2. «P. »P3. »P2. Po, SP, 2Px 
uov 0 r M m er Y у 
EP. Ре». Dr 
У в а 


‚ Р.Р. »P. »P3. »P2. »Px. Ре». Po. Бе». 1Ро». Poe, 


шо Mm’ 1 со Ту в 4 


. 1Р. Р. ЭР. 2P2. Р2. «P. »P3. P2. »P3. »P4. Px. Po, 
uoex v M m 1 g n ce [Г 
2Px. 1Px. Po. 
у hd 


4P. P. »P2. Px. 2Po. P». 
Ом у а 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 1 


2 N. v. Koxscnarow, 


Fig. 64 und 64 bis) oP. 1P. 4P. »P. »P2. 3P». Px. 2Px. »Px. LP, 
RT м, 1 FOR ein y с h 


Fig. 65 und 65 bis) ор. LP. »P. &P2. Ро». 2P». Px. 
PR amt +, 


Fig. 66 und 66 bis) oP. 4P. 1P. P. LP. 3P3. р. »P2. Px. ЭР. 4P». Po. 
Ро 2 (4 MA y h d 


Fig. 67 und 67 bis) oP. 1P. 1P. P. 1P2. »P. »P2. Ре». 2P». 4Px». Po. 
aus SM A ee Ща 


Fig. 68 und 68 bis) 4P. 4P. 2P2. «P. P2. Px. 
DAT x au En QE” 

Fig. 69 und 69 bis) oP. 1P. 4P. 2P2. »P. «P2. Px. 
Bo x, Men 


2) Im Laufe meiner früheren Abhandlung erwähnte ich, dass an den Topaskrystal- 
len von Mursinka (Ural), obgleich höchst selten, ganz ungewöhnliche Flächen für die 


Topaskrystallisation vorkommen, die die Combinationskanten и abstumpfen. Damals be- 


zeichnete ich diese Flächen durch e'), ohne jedoch das krystallographische Zeichen für die- 
selben zu berechnen. Ganz neuerdings habe ich nun einen grossen Topaskrystall aus Mur- 
sinkaim Museum des Berg-Instituts zu St. Petersburg gefunden, an welchem auf einer der 


Kanten У die Fläche e ganz deutlich ausgebildet ist, und dabei so breit ist, dass ich mit gros- 


ser Leichtigkeit ihre Neigung zu den benachbarten Flächen mit dem Anlegegoniometer 
messen konnte. Dieser schöne Krystall ist auf Fig. 62, Taf. 2 in seiner natürlichen Grösse 
und mit allen seinen natürlichen Details abgebildet. Er hat eine bläulichweisse Farbe und 
besteht eigentlich aus zwei grossen und mehreren kleinen Individuen, die in paralleler 
Stellung verwachsen sind, was aber am Besten aus der Figur zu ersehen ist. Der Krystall 
ist bloss an einigen wenigen Stellen halbdurchsichtig, grösstentheils aber bloss durchschei- 
nend. Seine Flächen besitzen folgende Eigenschaften: die Fläche des basischen Pinakoids 


Ра ао 


P= oP ist matt, die Flächen der rhombischen Pyramiden о =Р, v — P2, der Makrodo- 
men В — УР, 4 = P» und des Brachydomas f = P» sind schwach glänzend, die Flächen 
der rhombischen Pyramiden 1 = 41P,u=1P, х = 2Р2, des Brachydomas у = 2P+ und 


der Prismen т = &P3, ] = »P2, g=»P3 und п = »P4 sind ziemlich glänzend, und 
endlich die Flächen der rhombischen Pyramide e = 2P, des Prismas M = »P und des 


Brachypinakoids c—=»P» sind sehr glänzend. 


1) Vgl. Fig. 10, Taf. II zu unserer früheren Abhandlung. 


ANHANG ZU DER ABHANDLUNG ÜBER DIE RUSSISCHEN ТОРАЗЕ. 3 


Für die Neigungen der Fläche e zu den anliegenden Flächen, habe ich durch Mes- 
sung mit Hilfe des Anlegegoniometers gefunden: e:M = ungefähr 1661°, also der Fläche 
e entspricht ohne Zweifel der krystallographische Ausdruck (2a:b:c)=2P. 


Folgende Winkel lassen sich berechnen: 


Kürze 26. 
X 20.19 35, x 26103910, 
ой. 1 о 
A a6, К A 3 
А. 
1599 63” 


—  & 
| 


37° 51 130° 
е:Р — 103° 45 437 
е: М == 166° 14 17 
3) Auf einem kleinen farblosen Topaskrystalle aus dem Ilmengebirge, in meiner 
Sammlung, befinden sich zwei neue rhombische Makropyramiden, welche ich auf Fig. 66, 
Taf. 3 mit den Buchstaben 3 und & bezeichnet habe, und denen folgende krystallogra- 
phische Zeichen zukommen: 


Nach Weiss. Nach Naumann. 
— 1 . 1 1 5 Po 
| О 3 P3 
—= 1 . 1 То 7 P7 
Z —— (152 . 1b 4c) CCR] 151 4 
Die Flächen der Pyramide &—=3P3 stumpfen die Combinationskanten zwischen den 


Flächen des Makrodomas 4 = P» und der rhombischen Pyramide и = 1Р ab, dabei fallen 
sie in die Zone, die durch die Durchschneidung der Flächen В = 1Poo und 1= »P2 bestimmt 
ist. Die Flächen der Pyramide z stumpfen die Combinationskanten zwischen den Flächen 
des Makrodomas 4 = P+ und der rhombischen Pyramide i = 1P, und die Combinations- 
kanten zwischen den Flächen des Makrodomas В = 1P» und der rhombischen Pyramide 
&=3P3 ab. Diese beiden Formen lassen sich eben so gut vermittelst der erwähnten Zo- 
nenverhältnisse, als vermittelst der unmittelbaren Messungen bestimmen. Auf diese Weise 
habe ich mich ganz genau überzeugt, dass den Formen 5 und 2 wirklich die oben ange- 
führten krystallographischen Zeichen (ungeachtet ihrer Complicität) zukommen. 

Die Messungen wurden mit Hilfe des gewöhnlichen Wollaston’schen Reflexionsgo- 
niometers vollzogen, und dieselben sind keineswegs als ganz genau, sondern bloss als an- 
nähernd zu betrachten. Wenn wir also die angegebene Bezeichnung annehmen, so erhal- 
ten wir: 


Durch Rechnung. Durch Messung. 
С: В = 158° 20 0 ungefähr 158° 14 
94:10, 21630024227 » 163° 4 


Durch Rechnung. 


&:u = 175° 58° 20" 
С: = 157 6 © 
<: М, о ’ " 
d'hiver m u >, 15 
С:Р = 132° 34° 10” 
528 И ви 
У |= 146 39’ 56 
z:u = 171° 18 14” 
z:d = 156° 29° 20” 
Е: В = 165° 46 6 
z:1 = 124° 58° 50" 


z:P = 138° 39° 236" 


N. т. KokscHarow, 


Durch Messung. 
ungefähr 176° 9 


/ 


«  156° 52° 
« 117° 34 
« 132° 50° 
а 14720, 
u TAI 
« 157° 30° 
CONTI 2015% 
« 95214 
« 158209! 


Hieraus ersieht man, dass die durch Messung erhaltenen Werthe nicht ganz gut mit 
den berechneten übereinstimmen, man muss indessen nicht vergessen, dass die Messungen, 
wie schon oben erwähnt wurde, bloss als annähernd zu betrachten sind, weil die Flächen 
6 und z ziemlich klein waren, und das Licht bloss in dem Grade reflectirten, welcher ge- 
wöhnlich genügend ist, um die krystallographischen Zeichen zu finden). 


Ferner lassen sich folgende Winkel berechnen: 


Für &—=3P3 
ine A 17 17 x 94° 3A 534, 
bye 9732190582 У — 146 391567 
117% 05 11507" Zr 945140) 
ИО 
В = 44° 5521" 
у 
Юга — ПР” 
IX — 503 46' 34" x = 1019138008) 
1 — 78° 5925" И о 
47, 41920154 ZI WB ABl 


2) Auf dem ersten Blick könnte man sich veranlasst 
sehen, zu glauben, dass den Flächen € und z eher die 
krystallographischen Zeichen 3Р3 und 1P2, als die Zei- 
chen 5P5 und „,;P?7 zukommen; dieses erscheint um so 
wahrscheinlicher, weil die Flächen 2 (da die Zahl 7% 
sehr nahe an ! kommt) suhr nahe solchen Flächen lie- 
gen, welche Zuschärfungen der brachydiagonalen Pol- 
kanten der rhombischen Pyramide и = {Р bilden müss- 
ten. Die Resultate der Messungen zeigen indessen gleich, 
dass eine solche Vermuthung ganz unanwendbar ist. In 


der That, bei einer solchen Voraussetzung wäre die Nei- 
gung & : п = 172° 56’ 58”, welche hingegen nach Mes- 
sung = 176° 9’ ist, eben so 6 : d wäre = 160° 7’ 20”, 
welche aber nach Messung = 156° 52’ ist, €, : M, (über 9) 
wäre = 120° 46’ 36”, welche aber nach Messung = 117° 
34’ ist, z:d wäre = 158° 38’ 40”, welche aber nach 
Messung = 157° 30’ ist, z:P wäre = 136° 58’ 20”, 
welche aber nach Messung — 138° 3’ ist, z: u wäre = 
170° 32’ 28”, welche aber nach Messung = 171° 27’ ist 
u. 5. w. 


ANHANG ZU DER ABHANDLUNG UEBER DIE RUSSISCHEN TOPASE. 5 


0 15.43.39) 
В = 49° 53’ 36” 
y = 16° 48° 20” 

Ausser den oben beschriebenen Formen lässt sich noch auf einigen Topaskrystallen 
aus dem Ilmengebirge eine rhombische Pyramide bemerken, deren Flächen die Combina- 
tionskanten zwischen den Flächen o=P und d= P» abstumpfen. Diese Abstumpfungs- 
flächen waren aber an den Exemplaren, die durch meine Hände gegangen sind, so schmal, 
dass ich an denselben keine Messungen anstellen konnte, und daher auch nicht im Stande 
war das krystallographische Zeichen für die neue Pyramide zu bestimmen. 

4) An einem kleinen Krystalle aus der Umgegend des Flusses Urulga (Borschtscho- 
wotschnoi Gebirgszug in Transbaikalien), aus meiner Sammlung, der auf Fig. 60 Taf. 1, 
in seiner natürlichen Grösse und mit allen seinen natürlichen Details abgebildet ist, be- 
merkt man eine Fläche о, die die Combinationskante zwischen den Flächen у = P2 und 
r—2P2 abstumpft. Vermittelst der, mit Hilfe des Wollaston’schen Reflexionsgoniome- 
ters vollzogenen Messung, habe ich für diese Fläche (die zu einer Brachypyramide gehört) 
folgendes krystallographisches Zeichen gefunden: 


Nach Weiss. Nach Naumann. 

GR AL ADR AS er ee 7P2 

Und ferner folgende Winkel erhalten: 

Durch Rechnung. Durch Messung. 
с: у = 166° 13 36" ungefähr 166° 20° 
ОНИ 19 42. 10117 0, 
О 29 1 « 156° 20° 

Но — 1Р2. 

1Х = 50° 56 21” 2 3 

ТУ 482 13. 56- У 

17.366929. 1" AMEL 


НЫ 
В — 32° 20 32” 
y = 46° 35° 22" 
Der beschriebene Krystall ist ganz farblos, vollkommen durchsichtig und besitzt sehr 
glänzende Flächen. 


5) Neuerdings erhielt ich zwei kleine Topaskrystalle aus den Goldseifen der Umge- 
gend des Flusses Sanarka (Gouvernement Orenburg), aus dieser interessanten Gegend, die 
in mineralogischer Hinsicht so viel Aehnlichkeit mit dem Diamantendistriete Brasiliens 
hat. Diese beiden Krystalle bieten schon complieirtere Combinationen als die früher von 
mir beschriebenen dar, und sie haben wieder eine so auffallende Aehnlichkeit mit den bra- 


6 N. у. Kokscaarow, 


silianischen Topaskrystallen, dass es eine Unmöglichkeit ist, sie von denselben zu unter- 
scheiden. Einen dieser Krystalle verdanke ich der Güte des General-Majors vom Berg- 
Corps W. v. Raschet. Dieser Krystall (ungefähr 18 Millimeter in der Richtung der Ver- 
tikalaxe und ungefähr 5 Millimeter in der Richtung der Makrodiagonalaxe) hat eine sehr 
angenehme rosenrothe Farbe und ist vollkommen durchsichtig. Seine Combination ist auf 
Fig. 68 Taf. 4 dargestellt. Den andern Krystall verdanke ich der Güte des Stabskapitains 
vom Berg-Corps N. Barbot de Marni. Dieser letztere Krystall (ungefähr 7 Millimeter in 
der Richtung der Vertikalaxe und ungefähr 21 Millimeter in der Richtung der Makrodia- 
gonalaxe) hat eine blass röthlichweisse Farbe und ist auch vollkommen durchsichtig. Seine 
Combination ist auf Fig. 69 Taf. 4 dargestellt. Da die krystallographischen Verhältnisse 
der beiden Exemplare aus den Figuren am Besten zu ersehen sind, so übergehe ich hier 
die specielle Beschreibung derselben. An letzterem Krystalle habe ich einige Messungen 
mit Hilfe des Mitscherlich’schen Reflexionsgoniometers, welches mit einem Fernrohre 
versehen war, vollzogen. Da bisher die Topaskrystalle vom Flusse Sanarka noch von Nie- 
mand gemessen worden sind, so gebe ich hier die von mir erhaltenen Resultate’). 

Für die Neigung der Flächen der rhombischen Pyramide 1 = 4P in den makrodiago- 
nalen Polkanten. | 
1:15 120518040% 

(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 120° 20° 44”). 
Für die Neigung der rhombischen Pyramide 1 = 1Р in den brachydiagonalen Pol- 
kanten. 
ii 149$ 4000} 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 149° 31’ 0"). 
Für die Neigung der rhombischen Pyramide 1 = 1Р an der Spitze. 
НО 
119 3015 
Mittel’ 111°130%55" 
Hi — 509.30] 
1141045080 
Mittel — 11152945" 
Also der mittelste Werth aus diesen beiden Rechnungen ist = 111° 30° 19”. 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 111° 31° 50"). 
Für die Neigung der benachbarten Flächen u = 4P und 1 = 4P. 
Den 16837770, 
168° 38’ 30” 
Mittel = 168° 37 45” 


3) Hier wird wie früher, jede einzelne Fläche durch eine besondere Zahl bezeichnet werden. 


ÄNHANG ZU DER ABHANDLUNG ÜBER DIE RUSSISCHEN TOPASE. 7 


u,:i,= 168° 44 0’ 
168° 41° 0” 
Mittel = 168° 42° 30” 
un 168° 44 0” 
Also der mittelste Werth aus diesen drei Winkeln ist = 168° 41’ 25”. 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 168° 38° 50”). 
Für die Neigung der Flächen u = 1Р undi= 4P über die Fläche des basischen 
Pinakoids P = oP. 
u,:i,= 100° 830” 


1 3 
Wen 100212 30 
100° 11 0” 
Mittel = 100° 11° 45” 
m 100.68 457 
100° 8° 0” 


Mittel = 100° 8° 23” 
Also der mittelste Werth aus diesen drei Messungen ist = 100° 9’ 33”. 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 100° 10° 40”). 
Für die Neigung der Flächen der rhombischen Pyramide u = 4P, über die Fläche 
des basischen Pinakoids P — oP. 
nie, 24852521208 
88° 53’ 0” 
Mittel = 88° 52° 30° 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 88° 49’ 30”). 
Für die Neigung der Flächen der rhombischen Pyramide u = 4P in den brachydia- 
gonalen Polkanten: 
А 141517 307 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 141° 0’ 6”). 


Für die Neigung der Fläche des Brachydomas f = P» zu den anliegenden Flächen 
der rhombischen Pyramide u = 1Р. 
57 45 
u ls 39,457 
Mattel — 113.70 35 15° 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 137° 27’ 22”). 
Für die Neigung der Flächen des Brachydomas f — P», über die Fläche des basi- 
schen Pinakoids P = oP. 
m 199°:317 30, 
(Durch Rechnung ist dieser Winkel = 92° 42’ 0"). 


8 М. у. Кокзснавом, 


Einige dieser Messungen sind hinreichend genug, um zu beweisen, dass die Winkel 
der Topaskrystalle aus der Umgegend des Flusses Sanarka gleich denen der Topaskry- 
stalle aus anderen Localitäten sind. Wenn man aber unter diesen Messungen einige an- 
trifft, die ziemlich grosse Abweichungen von den berechneten Winkeln zeigen, so ist die 
Schuld eher in dem gemessenen Krystalle, als in den Messungen selbst zu suchen, die, ob- 
gleich nicht ganz genau, doch noch immer gut genug sind, um solche Abweichungen zu 
vermeiden. 


6) Es scheint mir, dass es nicht ohne Interesse für den geehrten Leser sein wird, 
wenn ich hier eine kurze Beschreibung einiger prachtvoller Exemplare von Topaskry- 
stallen gebe, die neuerdings aus Sibirien nach Petersburg gebracht sind. Dieselben sind 
auf Fig. 58 und 59 Taf. 1, Fig. 61 und 63 Taf. 2, Fig. 64 und 65 Tafel 3, Fig. 67 
Taf. 4 dargestellt. Auf den erwähnten Figuren sind die Krystalle in ihrer natürlichen 
Grösse in schiefer und horizontaler Projection, mit allen ihren natürlichen Details abge- 
bildet, sie stammen alle aus Nertschinsk, und wahrscheinlich aus der Umgegend des Flusses 
Urulga. Da die Figuren die krystallographischen Verhältnisse und die Grösse der Kry- 
stalle vollkommen verdeutlichen, so werde ich eine weitere Beschreibung dieser beiden 
Gegenstände übergehen, und mich bloss auf die Beschreibung der anderen Eigenschaften 
der Krystalle beschränken. 


Der auf Fig. 58 dargestellte Krystall zeichnet sich durch seine Durchsichtigkeit und 
Schönheit seiner Bildung aus. Bloss auf der Hälfte desselben bemerkt man im Innern eine 
Spalte, die von der vollkommensten Spaltbarkeit abhängig ist, und die jedoch nicht durch 
den ganzen Krystall geht, sondern bloss bis in die Mitte desselben, sonst ist er vollkom- 
men durchsichtig. Seine Farbe ist ziemlich dunkel weingelb. Die Flächen des basischen 
Pinakoids P — oP und der Brachydomen a = 2Px und f— Pæ sind eben, aber sehr 
schwach glänzend, fast rauh; die Flächen der rhombischen Pyramide i — 4P und des Bra- 
chydomas y = 2P» sind sehr glänzend; die Flächen der rhombischen Pyramiden u=4P 
und o=P und der Makrodomen d = P+ und В = 1 Po sind ganz matt; die Flächen der 
Prismen M=xP, ш = РЗ und | = +P2 sind sehr glänzend und schwach vertical ge- 
streift. 

Das auf Fig. 59 dargestellte Exemplar zeichnet sich durch seine Grösse aus, die für 
einen vollkommen durchsichtigen Topaskrystall gewiss auffallend ist. Dieser Krystall 
schliesst in seinem Inneren in horizontaler Richtung (ungefähr in der Mitte, oben und un- 
ten) drei Spalten ein, die von seiner vollkommensten Spaltbarkeit abhängig sind, und von 
denen die oberste bloss bis in die Mitte geht, sonst ist er durchsichtig, fast ohne die ge- 
ringsten Risse. Seine Farbe ist ziemlich dunkel weingelb in das Honiggelbe ziehend. Das 
obere Ende ist ganz vollkommen auskrystallisirt, was aber das untere anbelangt, so zeigt 
es bloss eine ziemlich ebene Fläche, die nichts Anderes, als eine, von einer weissen, schwach 


ÄNHANG ZU DER ÄBHANDLUNG ÜBER DIE RUSSISCHEN TOPASE. 9 


drüsenartigen Topaskruste bedeckte Spaltungsfläche ist‘). Auf der vorderen Seite des un- 
teren Theiles des Krystalls bemerkt man einige Blättchen von weissem Glimmer und ver- 
wittertem Feldspath. Der Krystall wiegt 4 Pfund (russisch) und 7 Zolotnik. Die Flächen 
des basischen Pinakoids Р = oP, der Brachydomen a = 2P und f— P» sind eben und 
etwas rauh; die Flächen der rhombischen Pyramide i= 1Р sind glänzend und schwach 
warzenförmig; die Flächen der rhombischen Pyramide u = 1Р und des Makrodomas 
hi 1Po sind ganz matt; die Flächen des Brachydomas y — 2P» sind glänzend und von 
sehr schwachen Unebenheiten bedeckt; die Flächen der Prismen M=xP, m = œP3 und 
1— xP2 sind glänzend und etwas vertical gestreift. 

Der auf Fig: 61 dargestellte Krystall ist auch, mit Ausnahme einer Spalte in seinem 
unteren Theile, vollkommen durchsichtig und von weingelber Farbe. Er zeichnet sich vor- 
züglich durch seine schöne Bildung aus. Die nähere Beschreibung der Beschaffenheiten 
seiner Flächen kann ich jetzt nicht geben, weil der Krystall in diesem Augenblick sich 
nicht in meinen Händen befindet. 

Der auf Fig. 63 dargestellte Krystall ist, mit Ausnahme einiger unbedeutenden Risse 
im oberen Theile, fast vollkommen durchsichtig, aber seine Farbe ist viel heller als die 
der Vorhergehenden. Die Flächen des basischen Pinakoids Р = oP, der rhombischen Py- 
ramiden i=4P und u=4P, und des Makrodomas 4 = Px» sind rauh und zum Theil, vor- 
züglichst die des ersteren, mit ganz kleinen Eisenglanzschüppchen bedeckt; die Flächen des 
Brachydomas y = 2P» sind ziemlich glänzend und eben; die Flächen des Brachydomas 
+ — P» sind schwach glänzend und fast rauh; die Flächen der Prismen М = »P und 
]—=»P2 sind glänzend und schwach vertical gestreift. 

Der auf Fig. 64 dargestellte Krystall ist von sehr angenehmer, fast honiggelber Farbe 
und, mit Ausnahme einiger Risse in seinem unteren Theile, vollkommen durchsichtig. Die 
Flächen des basischen Pinakoids P = oP, der Brachydomen a = 2Px und # — P» sind 
wenig glänzend und fast ganz matt; die Flächen der rhombischen Pyramide 1 = 1Р sind 
sehr glänzend und sehr schwach warzenförmig; die Flächen der rhombischen Pyramide 
u—1P und des Makrodomas В = 1Px sind ganz matt; die Flächen des Brachydomas 
у = 2Р-> sind ziemlich glatt und sehr glänzend; die Flächen der Prismen M == +P und 
1] = «P2 sind sehr glänzend und schwach vertical gestreift. 

Der auf Fig. 65 dargestellte Krystall ist von weingelber Farbe und ganz durchsichtig. 
Alle Flächen, die sich am oberen Ende des Krystalls befinden, d. h. die Flächen P — oP, 
i=4P, f= Ро», у—= 2Р-> und 4 = Px» sind fast ganz matt; dagegen die Flächen der Pris- 
men М = +P und 1 = +P2 sehr glänzend sind und wie gewöhnlich vertical gestreift. 

Der auf Fig. 67 dargestellte Krystall zeichnet sich durch seine besondere Schönheit 


4) Ueber diesen Gegenstand wird weiter unten Paragraph 7 ausführlich die Rede sein. 
Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 2 


10 N. у. KokscHARow, 


aus. Er ist von angenehmer honiggelber Farbe und in einem solchen Grade durchsichtig, 
dass man auch nicht den geringsten Riss in seiner ganzen Masse trifft, dabei ist er sehr 
scharfkantig und sehr gut erhalten. Die Flächen des basischen Pinakoids P — oP und des 
Brachydomas { = P sind kaum glänzend, fast rauh; die Flächen der rhombischen Pyra- 
mide 1 = }P sind sehr glänzend und schwach warzenförmig; die Flächen des Brachydomas 
N IP» sind sehr glänzend, obgleich nicht ganz eben; die Flächen der rhombischen Py- 
ramiden u=1P,o—=P, и = {Ро und des Makrodomas d— P» sind ganz matt; die Flä- 
chen der Prismen M=»P und I=»P2 sind sehr glänzend und wie gewöhnlich etwas 
vertical gestreift. In diesem Krystalle trifft man eine Fläche о an, die zu einer neuen 
rhombischen Makropyramide gehört. Da diese Fläche von einer Seite die Combinations- 
kante zwischen den Flächen d—P» und 1 = 1Р abstumpft und von der anderen Seite die 
Flächen i, = 4P und 1, = IP in den parallelen Kanten durchschneidet, so erhält sie fol- 
gendes krystallographisches Zeichen : 


Nach Weiss. Nach Naumann. 
GRO A HDI Le). EE Sem DELA PEER 5 1P2 
Und ferner lassen sich folgende Winkel berechnen: 
Hund — 1P2. 
IR = ment SAR nl 
У 79° 57 35, N 2199055 7510, 
ПЗ 1,10 И 802030007 


@ 1055105 
B— 4756 8 
y = 14 48 11° 
> 2136-5550, 
о ЗВ. 
в — 1655780 
a MES 27, 4” 
ENS) Fe 
de 1582558210, 

Die auf Fig. 58, 59, 63, 64, 65 und 67 abgebildeten Krystalle befinden sich in mei- 
ner Sammlung, was aber den Krystall Fig. 61 anbelangt, so sah ich mich genöthigt ihn 
nach Sibirien zurückzusenden, wegen seines ziemlich hohen Preises (600 ВЫ. S., 4. В. un- 
gefähr 2400 Francs). 

7) Es wird nicht überflüssig sein, hier einiger Eigenthümlichkeiten zu erwähnen, 
welche dem grössten Theil der Topaskrystalle aus der Umgegend des Flusses Urulga eigen 
sind”), nämlich: viele Krystalle, die an ihrem oberen Ende vollkommen ausgebildet sind 


RR RR RR 


5) Aehnliche Eigenthümlichkeiten habe ich auch an einem Topaskrystalle aus Brasilien beobachtet. 


ANBANG ZU DER ABHANDLUNG ÜBER DIE RUSSISCHEN ToPASE. 11 


und mehrere Flächen zeigen, bieten dagegen an ihrem unteren Ende eine einzige mehr 
oder weniger drüsenartige Querfläche dar, welche man auf den ersten Blick für eine wirk- 
liche Krystallfläche, d. В. für die nicht ganz gut ausgebildete P = oP halten könnte. Es 
erscheint jedoch gleich sehr auffallend: weshalb die Krystallisationskraft, die am oberen 
Ende des Krystalls mit so grosser Regelmässigkeit gewirkt hat, den unteren Theil dessel- 
ben so plötzlich verlassen hat? Man erklärt sich die Sache gewöhnlich ganz einfach, dass 
die Topaskrystalle in einer Höhle entstanden sind, woher das obere Ende derselben in lee- 
ren Zwischenräumen keinen Hindernissen zur vollkommenen Ausbildung begegnete, wäh- 
rend das untere Ende der Felsart zugewandt war, und daher nicht mit derselben Regel- 
mässigkeit auskrystallisirt werden konnte°). Eine etwas gründlichere Untersuchung zeigt 
indessen, dass eine solche Erklärung unpassend ist. Die oben erwähnte Eigenthümlich- 
keit der Topaskrystalle hängt von ganz anderen, zum Theil geologischen Ursachen ab, 
nämlich : die Topaskrystalle wurden noch in den Bergen in zwei, drei oder mehreren Thei- 
len in der Richtung ihrer vollkommensten Spaltbarkeit zerbrochen, wahrscheinlich in Folge 
der geologischen Dislocationen, die in den Bergen fast in demselben Augenblicke oder 
nach der Bildung der Topaskrystalle Statt gefunden hatten. Oft blieben die gebrochenen 
Theile fast auf ihrem Platz und der Krystall erhielt in diesem Falle mehr oder weniger 
breite Risse. Nun ist es sichtbar, dass das erste, auf diese Art entstandene Bruchstück 
an seinem oberen Ende alle Zuspitzungsflächen beibehalten muss, während es an seinem 
unteren Ende durch eine Spaltungsfläche begränzt wird; die folgenden Bruchstücke müssen 
an ihren beiden Enden von Spaltungsflächen begränzt werden, und endlich das letzte Bruch- 
stück muss an seinem oberen Ende eine Spaltungsfläche und an seinem unteren Ende (mit 
welchem es mit der Felsart verwachsen war) eine unregelmässige wurzelförmige Oberfläche 
zeigen. Wenn jetzt in den Rissen der gebrochenen Topaskrystalle die Auflösung des To- 
passtoffes hineindringt, so bedecken sich alle entblössten Spaltungsflächen mit einer kry- 
stallinischen Topaskruste. Also die untere Fläche des grössten Theils der Topaskrystalle, 
die ein drüsenartiges Ansehen hat, und die man mit einer Krystallfläche leicht verwechseln 
kann, ist ein ganz fremdes Element für das Individuum, und nichts anderes, als die oben 
erwähnte Kruste”). Den Grund der eben gegebenen Erklärung habe ich an einem Exem- 
plare aus der Sammlung meines verehrten Freundes P. v. Kotschubey gefunden. Dies 
Exemplar besteht aus einem Granitstück, auf welchem sich ein Topaskrystall befindet, 
der in der Richtung seiner vollkommensten Spaltbarkeit in drei Theile gebrochen ist, und 
dessen entblösste Spaltungsflächen mit einer krystallinischen Topaskruste bedeckt sind. 


6) Eine solche Erklärung findet schon gleich darin | von welchen die Rede geht, wenn nicht ganz, doch noch 
folgenden Wiederspruch: wenn das untere Ende des | immer regelmässig genug ist. 
Krystalls Hindernissen seitens der Felsart bei seiner 7) In diese Kattegorie von Krystallen gehört auch 
Bildung begegnete, so konnte es auch keine Regelmässig- | die von P.v. Kotschubey (auf Seite 349 und 350 Bd. Il. 
keit empfangen, während dasselbe an den Exemplaren, | Mat. z. Min. Russl.) beschriebene Combination eines To- 
paskrystalls vom Flusse Urulga. 


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MÉMOIRES 


DE 
L’ACADEMIE IMPERIALE DES SCIENCES DE ST.-PETERSBOURG, VH° SÉRIE. 
Томе I, N° 6. | 


DIE MARROREPHALEN 


IM 


BODEN DER KRYM UND ÖSTERREICHS, 


verglichen mit der Bildungs-Abweichung, 


welche Blumenbach Macrocephalus genannt hat. 


Von 


Hé. Ш. у. Bacr. 


Mitgliede der Akademie. 
Mit 3 Tafeln, 


Gelesen am 9. December 1859. 


St. PETERSBURG, 1860. 
Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: 
in Riga in Leipzig 


in St. Petersburg 
Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Eggers etComp., 
Preis: 90 Kop. = 1 Thlr. 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 
K. Vesselofski, beständiger Secretär. 
Im Mai 1860. 


Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


DIE MAKROKEPHALEN 
IM BODEN DER KRYM UND OESTERREICHS, 


verglichen 
mit der Bildungs-Abweichung, welche Blumenbach macrocepgaLus genannt hat. 
Von 


dem Akademiker Hé. №. у. Baer. 


©. 1. Historischer Bericht. 


Das Geschenk, welches der General Graf Boriss Alexejewitsch Perowsky mit 
einem vollständigen Schädel eines sogenannten Makrokephalen der Krym unserer Akademie 
gemacht hat, veranlasst mich, diesen Schädel abbilden zu lassen (Taf. I, nach der ursprüng- 
lichen Aufstellung, Taf. II, Fig. 1 und Taf. III, Fig. 6 verkleinert in richtiger Stellung) 
zu beschreiben, und einen historischen Bericht über ähnliche oder für ähnlich gehaltene 
Formen voranzuschicken. 

Blumenbach hatte schon in der ersten Zeit der Anlegung seiner anthropologischen 
Sammlung durch den eifrigsten Förderer und Mehrer derselben, den Baron Asch, aus Russ- 
land einen Schädel erhalten, der durch seine langgezogene Form mit kielförmig vortreten- 
dem Scheitel sehr auffiel. Baron Asch kannte die Herkunft dieses Schädels nicht genau, 
glaubte aber, dass er Tatarischen Ursprungs sei. Blumenbach bemerkte wohl, dass die Pfeil- 
nath gänzlich fehlte, obgleich die übrigen Näthe noch vollständig erhalten waren und die Zähne 
ein jugendliches Alter nachwiesen, denn die hintersten Backenzähne (dentes sapientiae) waren 
nur eben hervorgetreten, und auch die übrigen Mahlzähne hatten noch unversehrte, gar- 
nicht abgeriebene Spitzen (molarıum coronae apicibus perfectis et integerrimis, nıhilum detritis). 
Weil er aber den Schädel, ungeachtet seiner Länge und des kielförmig vorspringenden 
Scheitels, seitlich ganz symmetrisch gebaut fand, war er überzeugt, dass er weder eine 
krankhafte Umbildung, noch einen ursprünglichen Bildungsfehler vor sich hätte. Dass er 
sich in der letzteren Ueberzeugung irrte, werden wir weiter unten sehen. Indem er sich 
erinnerte, dass bei mehreren alten Schriftstellern Langkôpfe (Makrokephalor) als Volk erwähnt 
werden, so beschrieb er diesen Schädel unter dem Namen Macrocephalus Asiaticus in seiner 
Decas craniorum (1790) und liess ihn abbilden, aber nur in der Ansicht von vorn '). 


1) Blum. Decas craniorum (prima), Tab. ПТ. 
: Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 1 


о К. Е. v. Baer, 


Lange war nichts zu hôren, in welchen Gegenden Russlands Kôpfe dieser Art oder 
von irgend einer anderen ungewöhnlichen Form vorkämen. Als man jedoch Nachgra- 
bungen für archaeologische Zwecke in der Krym und namentlich in der klassischen 
Umgebung der Stadt Kertsch begann, fand man nicht selten Skelette mit künstlich 
verbildeten, hochaufgethürmten Köpfen, gewöhnlich vereinzelt, zuweilen aber auch meh- 
rere neben einander, immer aber ohne Särge und ohne die Kunstwerke, welche den be- 
grabenen Griechen beigegeben waren. Die Köpfe der letzteren hatten immer ihre na- 
türliche Form, und wurden mit griechischen Kunstwerken in grösseren oder kleine- 
ren Hügeln gefunden, jene Makrokephalen aber, wie man sie nannte, im flachen Bo- 
den, entweder in Lehmboden oder in Gruben, die in Felsschichten gehauen waren. In 
welchem Jahre man zuerst die verbildeten fand, weiss ich nicht anzugeben, da einige Zeit 
hinging, bevor die Funde allgemein bekannt wurden. Allerdings hatte man an der Nord- 
küste des Schwarzen Meeres schon im vorigen Jahrhundert zufällig einige griechische In- 
schriften entdeckt. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit war aber mehr auf die Dnjepr- 
Gegend und namentlich auf das alte Olbia gerichtet, während die Gegend um Kertsch noch 
gewinnsüchtigen Goldgräbern Preis gegeben war. Nach den Antiquités du Bosphore Cimmé- 
rien") scheinen die Ausgrabungen, welche der Maecen der Russischen Geschichte, der Graf 
Rumänzow, zu archaeologischen Zwecken im Jahre 1816 und den folgenden auf seine 
Kosten machen liess, die ersten zu sein, welche allgemein der wissenschaftlichen Welt 
bekannt wurden. Die Gegenstände gelangten an den Grafen Rumänzow. Ihm folgten ver- 
schiedene Privatpersonen, die bald in der Umgedend von Kertsch und Jenikale, bald auf 
der gegenüberliegenden Seite der Halbinsel Taman Ausgrabungen machen liessen. Die ge- 
fundenen Gegenstände zerstreuten sich und gingen zum Theil in’s Ausland, wurden aber 
meistens doch mehr oder weniger vollständig in der wissenschaftlichen Welt bekannt. 
Diese Dispersion ging einige Jahre fort, bis der Graf (spätere Fürst) Woronzow im Jahre 
1823, auf den Wunsch der Bewohner von Kertsch, von denen Einige Liebhaber und 
Sammler von Alterthümern geworden waren, dem Kaiser den Antrag stellte, in Kertsch 
selbst ein Museum für die dortigen Alterthümer zu stiften. Dieser Antrag erhielt bald 
die Genehmigung, und im Jahre 1826 wurde das archäologische Museum schon eröffnet, 
nachdem die dortigen Sammler ihre Acquisitionen patriotisch geopfert hatten. Die Folge 
hiervon war, dass die Funde weniger zerstreut wurden und in Kertsch selbst Archäolo- 
sen allmälig sich sammelten und ausbildeten. Die Ausgrabungen wurden nun systema- 
tischer fortgesetzt und gaben so reichliche Ausbeute, dass die werthvollsten und am leich- 
testen zu verführenden Gegenstände nach St. Petersburg gebracht werden konnten, wo sie 
eine besondere Abtheilung unter den Kunstschätzen der Kaiserlichen Eremitage bilden, 
und doch inKertsch noch ein Museum zurückblieb, das neuerlich freilich durch den Van- 
dalismus der Türken und ihrer Civilisatoren sehr gelitten hat. In dieser Sammlung hatte 


1) Antiquités du Bosphore Cimmérien conservées au Musée Imperial de l’Ermitage. St.- Petersb. 1854 Fol. Intro- 
duction historique p. 7. 


Dre МаквокеРНАТЕМ im BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 3 


man nun auch bald einige künstlich sehr stark verbildete Schädel aufgestellt, welche die 
Archäologen des Ortes mit dem bei den alten Schriftstellern vorkommenden Namen der 
Makrokephalen belegten. Dubrux, ein emigrirter Franzose, der dem Zoll-Amte von Kertsch 
vorstand und eifriger Liebhaber von Alterthümern wurde, soll diese Benennung aufge- 
bracht haben. Hier wurden sie unter derselben von wissenschaftlichen Reisenden, na- 
mentlich im Jahre 1832 von Dubois de Montpéreux und im Jahre 1833 von Professor 
Rathke vorgefunden. Der erstere, welcher diese Köpfe im 5. Bande seiner Reisebeschrei- 
bung erwähnt '), und bemerkt, dass bei seinem späteren Besuche (im Jahre 1834) der ein- 
zige vollständige Kopf gefehlt habe, wurde von dem damaligen Director, Herrn Aschik, 
öffentlich angeklagt”), den Verlust selbst veranlasst zu haben, da ihm allein der Schlüssel 


1) Dubois de Montpéreux: Voyage autour du Cau- 
case. Vol. V. (A. 1843), p. 229. 

2) Воспорское царство. Cou. Антона Ашика, Ч. 
III. Одесса, 1849. 40. стр. 229. Wir haben im Texte nur 
so viel erwähnt, als nöthig war um zu zeigen, dass bis- 
her kein vollständiger Schädel zur allgemeinen Kennt- 
niss gekommen ist. Weil aber das Werk des Herrn 
Aschik in russischer Sprache geschrieben ist, und die 
Rossica noch weniger im Auslande gelesen werden als 
die Graeca, und die grösste Publicität das einzige Mit- 
tel scheint, gegen ähnliche Spoliationen zu schützen, so 
halte ich es nicht für überflüssig, den betreffenden Ab- 
schnitt aus dem Werke des Herın Aschik, damaligen 
Directors des Museums in Kertsch, hier vollständig in 
der Uebersetzung mitzutheilen. 

«Herr Dubois erwähnt im 5. Bande seines Werkes 
«(Voyage autour du Caucase p. 228) dieser Schädel und 
«meint, dass sie Kimmerische seien. Ich kannnichtumhin, 
«eine Episode über die Makrokephalen-Schädel in dem 
«genannten Werke zu beleuchten. Herr Dubois schreibt, 
«dass er im Jahre 1832 im Museum zu Kertsch drei Schä- 
«del von nicht gewöhnlicher Form sah, dass der beste 
«von ihnen sich nicht mehr im Museum befand, als er 
«später Kertsch wieder besuchte und dass ein Augen- 
«zeuge ihm erzählt habe, gewisse Reisende hätten ihn 
«von dem Conservator des Museums, Herrn Dubrux *), 
«erhalten und dass einer von ihnen denselben an das 
«Museum in München gesendet habe. Zuletzt erzählt 
«Herr Dubois, dass der neue Conservator, Nachfolger 
«von Herrn Dubrux, statt des vollständigen Schädels 
«nur Bruchstücke fand, und dass er (Dubois) alle diese 
«Umstände mittheile, damit der neue Conservator wisse, 
«wo sich das vermisste Object befindet, und nicht Un- 
«schuldige anklage.» 

«Herr Dubois hätte über diese Schädel nicht spre- 


*) Dass Dubrux Conservator war, sagt Dubois eigentlich nicht 
direct. Er lässt es nur errathen, indem er den neuen Conservator einen 
Nachfolger von Dubrux nennt. Dagegen giebt er sogar die Summe an, 


«chen sollen», fährt unser Verfasser fort, «aber wenn 
«er sich doch entschloss, darüber zu sprechen, so hätte 
«er die reine Wahrheit und nicht ein ersonnenes Mär- 
«chen, vorbringen sollen. Der verstorbene Dubrux 
«war nie Conservator des Museums, und konnte des- 
«halb den Schädel nicht Reisenden verkaufen; und 
«wenn das auch geschehen wäre, wie hätte der neue 
«Conservator davon wissen können? Schmerzlich ist es, 
«dass Herr Dubois das Andenken von Dubrux be- 
«fleckt, der durch seine Ehrenhaftigkeit und seine 
«Liebe für Alterthümer bekannt war**). Wollen wir lie- 
«ber die Wahrheit sagen! Herr Dubois befand sich in 
«Keïtsch in den Jahren 1832 und 1834; wir waren fast 
«immer zusammen; einige Zeit hindurch wohnte Herr 
«Dubois bei mir im Hause. Ich liebte ihn aufrichtig 
«als einen unterrichteten und wohlwollenden Mann und 
«vertraute ihm sogar den Schlüssel vom Museum an. 
«Nachdem Herr Dubois nach dem Kaukasus abgereist 
«war (d. i. 1832) correspondirte er beständig mit mir. 
«Seine Briefe bezeugen den Nutzen. den ihm meine Be- 
«kanntschaft gebracht hat. Als ich bemerkte, dass ein 
«Schädel fehlte, erlaubte ich mir, da der Schlüssel kei- 
«nem Andern anvertraut gewesen war, Herrn Dubois 
«wegen des Verlustes des Schädels anzuklagen. Es fan- 
«den sich Dienstiertige, welche das von mir Gehörte 
«Herrn Dubois hinterbrachten; wie man erwarten 
«konnte, behandelte er dieses als eine Verletzuug sei- 
«ner Ehre, und schrieb (1843) eine Rechttertigung in 
«seinem Werke, in welcher er meinen Namen nicht er- 
«wähnt. Diese Einbusse ist für mich allerdings nicht 
«allzu gross; bedauerlich ist es jedoch, dass ein Mann, 
«der durch seine Bildung höher als der grosse Haufe 
«steht, so leicht die Dieuste vergisst, die man ihm ge- 
«leistet hat.» 

So weitHerr Aschik. Ich füge nur noch hinzu, dass 
in der öffentlichen Sammlung in München sich kein Schä- 
del von Makrokephalen aus Kertsch findet, denn Herr 


у er) Dubrux war gestorben, bevor der 5. Band von Dubois Reise 


гас welche der Schädel verkauft sein soll, nämlich 100 ВЫ. B- Assign. ı erschien. 


* 


4 К. Е. т. Baer, 


zum Museum anvertraut gewesen sei. Wir erwähnen dieses Umstandes, um darauf auf- 
merksam zu machen, dass Rathke den vollständigen Schädel schon nicht mehr vorfand, 
und weil der Kopf, den Dubois vielleicht zur näheren Untersuchung mitgenommen oder 
Andern mitgetheilt haben mag, wohl sich in irgend einer Sammlung wieder finden dürfte. 
Blumenbach hatte für seine Sammlung im J. 1833 einen Makrokephalus aus der Kyrm 
durch Herrn Dr. Stephan erhalten, über den er in den Göttinger gel. Anzeigen einige 
Worte veröffentlichte '). Das könnte wohl der vermisste sein. 

Herr Prof. Rathke beschrieb 10 Jahre später eins der von ihm gesehenen Schädel- 
fragmente”). Er behielt den in Kertsch bereits gebrauchten Namen Macrocephalus bei, ver- 
wies auf die sehr bezeichnende Stelle in Hippokrates Schrift: De aëre, aquis et locis, wo 
er von einem Volke, Makrokephalen genannt, spricht, das östlich von Griechenland ansässig, 
die Köpfe der Neugeborenen zu verbilden die Sitte habe, in deren Folge die langgestreckte 
Form des Kopfes bleibend geworden sei, und sich auch ohne Kunsthülfe in den neuen Ge- 
nerationen von selbst finde. Rathke führt noch einige andere Stellen aus alten Schrift- 
stellern, namentlich aus Pomponius Mela, Plinius und Strabo an, wo von Makrokephalen 
oder von künstlicher Verbildung der Köpfe die Rede ist. Wir kommen weiter unten auf 
diese Nachrichten zurück. Prof. Rathke vergleicht sehr richtig die in der Krym gefun- 
denen Schädel mit manchen künstlich verbildeten aus Amerika, doch weniger mit den von 
Pentland mitgebrachten Köpfen aus der Umgegend des Titicaca Sees, als mit anderen 
sehr hohen, von Blumenbach abgebildeten. Er war nämlich durch den sehr defecten 
Zustand des von ihm gesehenen und gezeichneten Schädels veranlasst, die stärkste Wöl- 
bung der Scheitelbeine als gerade nach oben stehend sich zu denken und so zu zeichnen, 
wodurch diese Schädel zwar sehr hoch, aber gar nicht lang, sondern im Gegentheil sehr 
kurz erscheinen würden. Sie hätten bei dieser Stellung mehr den Namen Hypsikephaloi als 
Makrokephaloi verdient. Wir werden an unserem vollständigen Schädel zeigen, dass die 
stärkste Wölbung zwar nach oben, aber zugleich nach hinten vorragt, wodurch der Schä- 
del sich als ein langer und nur nach hinten hoher erweist. Zugleich wurde derselbe be- 
rühmte Anatom durch den Umstand, dass Blumenbach seinen Macrocephalus asiaticus 
nur von vorn zeichnen liess, bei welcher Ansicht der hohe Scheitel scharf hervortritt, ver- 
anlasst, ihn für ganz ähnlich zu halten. Hätte Blumenbach eine Seiten-Ansicht gegeben, 
so würde der grosse Unterschied, den wir ausführlich nachweisen werden, gleich auffällig 


Makrokephalus gesehen zu haben, und dieser soll einige 
Zeit in München in Privatbesitz gewesen sein. — Man 


Prof. Andr. Wagner spricht in seiner Geschichte der 
Urwelt II, S. 43 nur nach Andern. Wäre ein vollstän- 


diger Schädel in München, so hätte Prof. A. Wagner 
sich wohl lieber auf diesen bezogen, als auf das von 
Prof. Rathke beschriebene Fragment. Auch habe ich 
von Herrn Prof. A. Wagner auf directe Anfrage die 
bestimmte Erklärung erhalten, dass in der Sammlung zu 
München kein Schädel dieser Art vorhanden ist. Wohl 
aber erinnere ich mich, in Göttingen einen Krymschen 


sieht, es sind nicht die freundlichsten Erinnerungen an 
den Westen, die sich an das archäologische Museum in 
Kertsch knüpfen ! 

1) Göttingische gelehrte Anzeigen 1833, Stück 177 
В. 1761. 

2) Müller’s Archiv für Anatomie, Physiologie u. s. w. 
1843 p. 143 et seq. 


Dre MAKRoKEPHALEN im BoDEN DER KRYM UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 5 


gewesen sein. Prof. Rathhe fand auch, dass der Macrocephalus Asiaticus, nach der Zeich- 
nung zu urtheilen, nicht ganz symmetrisch zu sein scheint. Das liegt aber wohl nur darin, 
dass der Zeichner ihn etwas von der Seite und nicht ganz von vorn gezeichnet hat. Der 
Kopf ist in der That sehr symmetrisch, wie ich nach längerer Betrachtung des Originals 
versichern kann. 

Dagegen hatte man schon im Jahre 1820 in Nieder-Oesterreich zu Feuersbrunn, bei 
der Herrschaft Grafenegg, eine Meile östlich von Krems, nicht fern von der Ausmündung 
des Flusses Kamp in die Donau, bei der Bearbeitung eines Feldes, in sehr geringer Tiefe 
einen Schädel gefunden, welcher ganz in derselben Weise, wie die Krymschen sich ver- 
bildet zeigte‘). Dieser Kopf kam in die naturhistorische Sammlung des Grafen August 
Breuner, des Besitzers der Herrschaft Grafenegg, und wurde hier viele Jahre den Be- 
suchenden gezeigt, ohne dass man Anknüpfungspunkte finden konnte, da die Nachrichten 
von den Krymischen Schädeln noch wenig verbreitet waren). Indessen scheint man schon 
damals vermuthet zu haben, dass der sonderbare Schädel einem Awaren angehört haben 
möge. Es war historisch sicher gestellt, dass die Awaren des Mittelalters bis in diese Ge- 
genden vorgedrungen waren und hier sich aufgehalten hatten, bis sie von Karl dem Gros- 
sen im Jahre 791 besiegt und bis an die Ausmündung der Raab in die Donau vertrieben 
wurden. Es wird auch als historisch erwiesen betrachtet, dass eine der ringförmigen Um- 
wallungen — Awaren-Ringe°) genannt — mit denen dieses Volk sich verschanzte, am 
Ausfluss des Kamp-Flusses in die Donau, und ein anderer gegenüber auf der anderen Seite 
der Donau gewesen sei‘). Da nun der Schädel ganz in der Nähe des ersten Ringes ge- 
funden war, so hatte Graf Breuner Veranlassung genug, ihn den Awaren zuzuschreiben. 
Dazu kommt noch, dass schon damals ganz nahe bei diesem merkwürdigen Schädel ein 
zweiter sehr ähnlicher gefunden sein soll, der aber zerfiel bevor man ihn aufheben konnte. 
Um noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen und dadurch vielleicht mehrseitige Nachrichten 
einzuziehen, liess sich Graf Breuner bestimmen, von diesem Schädel Abgüsse machen zu 
lassen, und sie an verschiedene anatomische Sammlungen von Oesterreich, Deutschland, 
Frankreich, England und Schweden unter der Benennung «Awaren-Schädel» versenden 
zu lassen. 

Dieses geschah im Jahre 1843, und dadurch wurde der aufgefundene Schädel erst 
allgemeiner bekannt, so dass auch Prof. Rathke bei Abfassung seiner oben genannten Ab- 
handlung nichts von ihm wusste. Jetzt gaben die versendeten Abgüsse Veranlassung zu 
mehrfachen Vergleichungen. Besonders musste die Aehnlichkeit mit den aus Ober-Peru 
von Pentland gebrachten Schädeln des Huanka genannten Volkes auffallen, von denen Tie- 


1) Siehe unsere Tafel II, Fig. 2. anthropologische Sammlung der Akademie gewonnen. 
2) Dieser Schädel, der erste der in Oesterreich ge- 3) Hringe oder Hrink im Alt-Deutschen. 
funden ist, auch unter den Namen Breunerscher oder 4) Fitzinger in der weiterhin zu nennenden Ab- 


Grafenegger bekannt, ist später in den Besitz des | handlung В. 22. 
Herrn Pareyss gekommen und von diesem für die 


6 K. E. v. Baer, 


demann еше Abbildung und Beschreibung gegeben hatte!) und die von Tschudi wieder 
mitgebracht und beschrieben wurden. 

Prof. Retzius war der Erste, der den bei Grafenegg gefundenen Schädel nach dem 
Gyps- Abguss öffentlich besprach, und zwar in den Schriften der Königl. Akademie zu 
Stockholm im J. 1844°). Er erkennt die Aehnlichkeïit in der Verbildung zwischen dem 
Grafeneggschen Schädel und denen der Huanka in Ober-Peru an, findet aber, dass ursprüng- 
lich beide Formen ziemlich verschieden waren, indem er die Huanka-Schädel zu den Do- 
hchocephalis prognathis, den Grafenegger Schädel aber zu den Brachycephalis orthognathis 
rechnet. Auch W. B. Wilde in Dublin veröffentlichte eine Abhandlung über den Grafen- 
egger Schädel, von dem er einen Abguss erhalten hatte, und gab zuerst eine Abbildung. 
Mir ist jedoch diese Abhandlung nicht zu Gesicht gekommen und ich kenne sie nur durch 
die Anführung in der sogleich zu nennenden Abhandlung von Herrn Fitzinger. 

Im folgenden Jahre (d. h. 1845) erschien aber von dem vieljährigen Erforscher Süd- 
Amerikas Tschudi, der dem Schädelbau der Peruaner eine besondere Aufmerksamkeit 
gewidmet, viele Schädel derselben mitgebracht und eine ausführliche Abhandlung über 
die Hauptformen derselben bereits im J. 1844 herausgegeben hatte’), ein kleiner Aufsatz 
in Müller’s Archiv für Anatomie u. s. у. unter dem Titel: «Ein Awaren-Schädel»‘). In 
diesem Aufsatze berichtet er, dass er, in Göttingen aufmerksam gemacht auf die grosse 
Aehnlichkeit seiner Zeichnung vom Huanka-Schädel mit dem Abguss des sogenannten 
Awaren-Schädels, nach Wien gereist sei, um eine genaue Vergleichung anzustellen, und 
zu diesem Zwecke seinen Huanka-Schädel mitgenommen habe. Er fand keinen anderen 
Unterschied, als dass der Awaren-Schädel ihm grösser und massiger erschien. «Alle Ver- 
hältnisse der einzelnen Kopfknochen zu einander, alle Eindrücke, Abplattungen und Er- 
habenheiten sind bei beiden ganz gleich». Er spricht daher die Ueberzeugung aus, dass 
der vermeintliche Awaren-Schädel nichts anderes sei als ein Huanka-Schädel, der vielleicht 
schon zur Zeit der Conguistadores nach Spanien und von dort nach Oesterreich gebracht 
sein möge, da beide Länder Einem Scepter (unter Karl V.) gehorchten, was vielfache Ver- 
bindungen erzeugen musste. Von Wien könnte diese Merkwürdigkeit leicht in die Curio- 
sitäten-Sammlung eines Besitzers von Grafenegg gekommen und später einmal weggewor- 
fen sein, da das Geschlecht der Grafenenegg ausgestorben sei. Tsch udi konnte sich auf 
einen ähnlichen Fall berufen, da einige Wochen vorher der Baron C. v. Hügel bei einem 
Trödler Wiens sehr seltene und characteristische Alterthümer aus Peru gefunden hatte, 
von denen, trotz der sorgfältigsten Nachforschungen, sich nicht ermitteln liess, wann und 
wie sie nach Wien gekommen waren. 


1) Zeitschrift für Physiologie von Tiedemann, G. | anatomischen Theils in Müller’s Archiv für Anatomie, 
В. Treviranus und L. Ch. Treviranus Bd. У, Нейт, | Physiologie u. s. w., 1845 5. 128. 


S. 107. 3) Müller’s Archiv für Anatomie, Physiologie u. 3. м. 
2) Eine Uebersetzung dieser Abhandlung ist erschie- | 1844 S. 98. 
nen in Hornschuch’s Archiv scandinavischer Beiträge +) Müller’s Archiv 1845, S. 277. 


zur Naturgeschichte Bd. I. S. 145, und ein Auszug des 


Die MAKRoKEPHALEN mm BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 7 


Eine solche Vermuthung, von einem Manne wie Tschudi nach sorgfältiger Untersu- 
chung aufgestellt, müsste sehr in’s Gewicht fallen, wenn nicht später noch ein ähnlich ver- 
bildeter Schädel in Oesterreich aufgefunden wäre, und wenn nicht auch die Krymschen 
Makrokephalen eben so verbildet wären. Ja man hat sogar in den Umgebungen des Genfer- 
Sees, wie wir hören werden, Köpfe gefunden, die denen der Huankas noch ähnlicher sind 
als die Oesterreichischen. 

Man fand nämlich im Jahre 1846 zu Atzgersdorf in Nieder-Oesterreich, nur 1”, Meile 
von Wien, «bei Bearbeitung eines gegen Liesing zu gelegenen Steinbruchs in den kleinen | 
Hügeln jener Ebene und in der obersten Erdschichte» einen Schädel mit Unterkiefer, der 
von dem von Grafenegg nur wenig abwich'). Er war nämlich ebenfalls künstlich verbil- 
det, die Stirn stark niedergedrückt, das Gewölbe des Scheitels dadurch nach hinten über- 
gebogen, und das ganze Hinterhauptsbein nach unten gedrückt. Der Uebergang vom Schei- 
tel in die Hinterhauptsfläche ist — nach dem Gypsabguss zu schliessen, den ich der Güte 
des Prof. Hyrtl verdanke — mehr gerundet als in dem Grafenegger Schädel, wo dieser 
Uebergang einen schärferen Bogen bildet. In beiden nimmt aber das zurückgedrängte 
Scheitelbein einen bedeutenden Antheil an der Bildung der Hinterhauptsfläche. Im Atzgers- 
dorfschen Schädel ist das Gesicht mit dem Unterkiefer fast vollständig erhalten. Deshalb 
kann man über die natürliche Stellung nicht in Zweifel sein, und diese lehrt, dass die Stirn 
und die Scheitelhöhe sehr zurückgedrängt sind. Leider ist die Basis des Schädels stark 
verletzt, so dass über die ursprüngliche Gestaltung derselben sich wenig urtheilen lässt. 

Herr Fitzinger hat diesen Schädel zugleich mit dem von Grafenegg in den Denk- 
schriften der Wiener Akademie vollständig und gründlich beschrieben und abgebildet’). 
Er erklärt beide für übereinstimmend ‘und bezweifelt nicht, dass sie von den Awaren kom- 
men. Zugleich erkennt er die Unterschiede an, welche Retzius zwischen den Huankas 
und dem Grafeneggschen Schädel bemerkt hatte. Herr Fitzinger spricht sich zwar für 
die künstliche Formung dieser Köpfe aus, aber doch, wie es scheint, mit einiger Unent- 
schiedenheit, worauf wir später zurückkommen werden. In derselben Abhandlung werden 
noch andere im Boden Oesterreichs aufgefundene Schädel von Slavischem Typus vollstän- 
dig abgebildet und beschrieben, was wir hier, als nicht zu unserem Thema gehörig, ganz 
bei Seite lassen. 

Bevor die Abhandlung des Herrn Fitzinger erschienen war (1853), welche die Mei- 
nung festsetzen musste, dass diese Schädel von einem Volke kommen dürften, das in 
Oesterreich gelebt hat, war aber auch für die Kenntniss der Makrokephalen der Krym das 
Material vermehrt worden. Anton Aschik, Director des archäol. Museums in Kertsch, 
bildete 1849°) im dritten Bande des oben genannten Werkes über die Alterthümer des 


1) Unsere Taf. IE, Fig. 2. 3) Воспорское царство съ его палеограхическими 

2) Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der | и надгробними памятниками, соч. Ашика Том. П1.(1849) 
Wissenschaftdn , mathematisch - naturwissenschaftliche | стр. 88. Die Abbildung auf der letzten Tafel, Fig. 213. 
Classe, Band V. (1853) S. 21. 


8 К. Е. v. Baer, 


Bosporischen Reiches einen Schädel ab, der bei Jenikale in einem sehr alten aus dem Fels 
ausgehauenen Grabe gefunden war. Das Gesicht fehlt vollständig, und auf einer Seite 
auch der untere Rand des Stirnbeins. Dieses Schädelfragment, das nicht näher beschrie- 
ben wird, hat ausnehmende Aehnlichkeit mit dem von Rathke beschriebenen, und ist eben 
so gestellt, — mit der stärksten Wölbung des Scheitelbeins nach oben. Es ist aber nicht 
das von Rathke abgebildete Exemplar, denn in dem von Aschik ist die Stirnnath voll- 
ständig erhalten, bei Rathke dagegen ist keine Stirnnath. Auch sind die Bruchränder 
ganz andere. Dr. Karl Meyer beschrieb 1850 ') ein Stirnbein, das im anatomischen Mu- 
seum zu Berlin sich befindet, und von Rathke als aus der Krym stammend mitgetheilt war. 
Dr. Meyer fand dieses Stirnbein unter allen Stirnbeinen, die er im Berliner Museum ver- 
gleichen konnte, nur mit dem entsprechenden Theile des Wachs-Modells von dem von 
Tschudi als Huanka abgebildeten und beschriebenen Schädel ähnlich. Die grosse Ueber- 
einstimmung ist durch genaue Abbildung augenscheinlich gemacht. Es steigt nämlich das 
Stirnbein in beiden ohne Wölbung vom Supraorbitalrande gegen die Scheitelbeine auf, ist 
aber stark nach hinten geneigt. Ich wundere mich, dass Dr. Meyer in Zweifel blieb, ob 
die Verflachung des Stirnbeins als Folge eines anhaltenden Druckes zu betrachten sei. Der 
Höcker oder besser Querwulst, der sich im obersten Theile dieses Stirnbeins zeigt, und 
den Dr. Meyer besonders bemerkt, hätte wenigstens darüber nicht in Zweifel lassen sollen. 
Dieses Stirnbein ist ziemlich richtig in der Zeichnung gestellt, allein noch nicht genug zu- 
rückgeneigt. «Noch einer Abweichung ist zu erwähnen, auf die auch Rathke schon auf- 
merksam machte ohne sie zu erklären», sagt Dr. Meyer. «Die pars orbitalis ossis frontis 
ist nämlich nicht, wie beim kaukasischen Schädel, eine horizontale Knochenplatte, sondern 
sie ist von oben und hinten nach unten und vorn geneigt». Hätte der Verfasser das Stirn- 
bein noch mehr zurückgeneigt, so würde diese Richtung der Orbitalfläche mehr horizon- 
tal geworden sein. 

Dass viel früher ein Makrokephalus aus der Krym durch Dr. Stephan in die Blumen- 
bach’sche Sammlung gelangt war, ist oben schon bemerkt. Es ist mir aber nicht bekannt, 
ob ausser der ersten Anzeige etwas über ihn öffentlich gesagt ist. Blumenbach, der 
schon im hohen Alter war, musste wohl erkennen, dass diese Form gar sehr von jener 
natürlichen Verbildung verschieden war, die er 40 Jahre früher als Macrocephalus be- 
schrieben hatte. Er hat aber versäumt das Publikum darüber zu belehren. Dagegen wird in 
den Auszügen aus dem Briefe des Dr. Stephan bemerkt, dass der überschickte Schädel 
den übrigen dort gefundenen ganz gleich gewesen sei”). Man hat also um die Zeit der 
Anwesenheit des Dr. Stephan mehrere so gebildete Schädel gefunden, ein Umstand, der 
für uns wichtig wird, da es darauf ankommt nachzuweisen, dass hier ein ganzes Volk oder 
ein Volksstamm die Sitte hatte, die Köpfe zu verbilden. 

In der Kaiserlichen Eremitage zu St. Petersburg finden sich jetzt 2 Schädelfragmente 


1) Müller’s Archiv für Anat., Physiol. und w. Med. 2) Göttiug. gelehrte Anzeigen, 1833, 5. 1762. 
1850, p. 510, Taf. XIV und XV. 


Die MakRokEPHALEN Im BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 9 


aus der Krym vor. Das eine ist unbezweifelt dasselbe, welches Aschik abbilden liess, 
denn es ist auch hier eine vollständige Stirnnath und die ganze Form des Fragments, dem 
die Schädel-Basis und das ganze Gesicht fehlt, ist dieselbe. Ich habe dieses Stück in Um- 
rissen, von der Seite gesehen, in Fig. 4 der II. Tafel auch zeichnen lassen, weil es tiefere 
Eindrücke an den Stellen zeigt, wo die Binden sich vermuthen lassen. Ein zweites Frag- 
ment hat Aehnlichkeit mit dem von Rathke abgebildeten. Indessen ist die Scheitelhöhe 
entschieden stumpfer oder gerundeter als in Rathke’s Abbildung, weshalb ich über die 
Identität in Zweifel bin. Nach der Richtung des Jochfortsatzes vom Schläfenbein zu ur- 
theilen, ist aber die stärkste Wölbung des Scheitels in der That weniger nach hinten ge- 
drängt gewesen als in unserem vollständigen Makrokephalus. Es würde nämlich, wenn wir 
die stärkste Wölbung ganz eben so stellten wie in unserem Schädel, der Jochfortsatz zu 
sehr aufsteigen. 

Ungeachtet der Abgabe dieser zwei Makrokephalen an die Sammlung der Eremitage, 
sind doch noch andere Schädel dieser Art in Kertsch zurückgeblieben oder später gefun- 
den, wo man sie Reisenden zu zeigen pflegt. So schrieb mir noch im vorigen Jahre der 
Magister v. Seidlitz, dass er daselbst welche gesehen habe. Andere sind, wie ich höre, 
im Besitze von Privat-Personen. Ich erwähne dieses Umstandes nur, um darauf aufmerk- 
sam zu machen, dass die Zahl der ausgegrabenen Makrokephalen nicht ganz gering sein kann, 
besonders wenn man bedenkt, dass viele zu hinfällig sind, um sie aufbewahren zu können. 

Vor einigen Jahren haben viele Bewohner St. Petersburgs bei dem damaligen Mi- 
nister des Innern, Grafen Lew Alexejewitsch Perowski ein vollständiges Exemplar von 
einem Makrokephalen der Krym gesehen. Es ist dasselbe, welches jetzt der Bruder des ge- 
nannten Ministers der Akademie überschickt hat, und welches in $ 2 ausführlich beschrie- 
ben werden wird. 

Die Krym und Oesterreich sind aber nicht die einzigen Gegenden von Europa, in 
denen man verunstaltete Köpfe findet, ja es giebt in den civilisirtesten Ländern Europas 
Gegenden, in denen diese Sitte der Verbildung des Kopfes noch im Schwange ist. So 
fand Herr Troyon zu Chesaux bei Lausanne 2 alte Köpfe von Männern mit niederge- 
drückter Stirn, und Herr Hippolyte Gosse andere in einem alten Kirchhofe zu Villy bei 
Reignier in Savoyen'). In diesen Köpfen hat die Stirngegend eine grosse Aehnlichkeit 
mit demselben Theile in den Krymschen Makrokephalen, doch ist das übrige Schädelgewölbe 
viel weniger zurückgedrängt. Deswegen habe ich den von Herrn Troyon gefundenen 
Kopf hier nach Dr. L. А. Gosse’s Essai sur les déformations du стапе zur Vergleichung in un- 
serer Taf. II, Fig. 7 copiren lassen ’). Die Köpfe stammen aus alter Zeit. Man ist geneigt sie 
in die Zeit der arabischen Invasion zu setzen. 

In manchen Gegenden Frankreichs, namentlich an der unteren Seine, so wie an der 


1) Mémoires de la société d’histoire et d’archeologie de | L. A. Gosse de Genève, Dr. etc. Paris 1855. 8. avec 7 
Genève, Tome IX, 1855. | planches. 


2) Essai sur les déformations artificielles du crâne, par 
Memoires de l’Acad. Гор. des sciences, Vlle Serie. 


Le] 


10 K. E. v. Baer, 


oberen Garonne, um Toulouse und im Departement de l’Aude, das sich von der oberen Ga- 
ronne bis zum Mittelländischen Meere hinzieht, werden noch jetzt die Köpfe der Kinder 
häufig verbildet durch Bänder, die um Stirn und Nacken, oder Scheitel und Kinn gebunden 
und eng angezogen werden. Ich habe in Paris Verbildungen aus der Umgegend von Tou- 
louse gesehen, welche sich den Makrokephalen der Krym durch Hervordrängen des Scheitels 
über das Hinterhaupt näherten. Gewöhnlich ist die Verbildung eine geringere, und zuwei- 
len zeigt sich nur eine schwache Einschnürung. Ausführlicheres findet sich hierüber in dem 
so eben angeführten Werke von Gosse. In früheren Zeiten scheinen Verbildungen des 
Kopfes von sehr verschiedener Art und meistens wohl viel geringer als die hier besproche- 
nen, sehr häufig gewesen zu sein. Blumenbach beruft sich auf dergleichen Gewohnheiten 
in einigen Gegenden Deutschlands, Frankreichs, Italiens, bei den Griechen des Archipela- 
gus, den Türken, den alten Sigunnen und Makrokephalen, den Sumatranern, Nicobaren und 
besonders den Amerikanern '). Ueber die extremen Verbildungen bei den Amerikanern hat 
besonders Morton viel gesammelt”). Dr. L. A. Gosse in Genf hat vor wenigen Jahren 
eine sehr werthvolle Uebersicht der bekannt gewordenen Erfahrungen über künstliche Ver- 
bildungen des Kopfes gegeben. Unsere Makrokephalen fehlen dort aber, um so mehr Grund 
sie umständlich zu beschreiben. 


© 2. Beschreibung der verbildeten Schädel aus der Krym. 


Das vollständige Exemplar eines Makrokephalus der Krym, das wir empfangen haben, 
wollen wir nun einer näheren Betrachtung unterwerfen, mit Berücksichtigung der Frag- 
mente, welche bisher beschrieben oder in der Kaiserl. Eremitage befindlich sind. 

Wir erhielten diesen Schädel auf einem Untersatz, vermittelst einer Stange und eines 
in das Foramen magn. eingesetzten Pfropfens so aufgestellt, wie die erste Tafel ihn abbil- 
det. Es springt in die Augen, dass diese Stellung nicht die normale ist, indem die Axe 
der Augenhöhle und die Mundspalte nach unten gerichtet sind. Eine solche Stellung 
konnte der Kopf am lebenden Individuum nur dann haben, wenn dieses nach unten blickte. 
In der ersten Figur der zweiten Tafel ist derselbe Kopf, auf /, seiner Grösse reducirt, so 
gestellt, wie man gewöhnlich menschliche Schädel im Profil zu zeichnen pflegt, so nämlich, 
dass die Mitte der Ohröffnung und die Basis des Nasenstachels in einer horizontalen Linie 
liegen. Ich habe diese Stellung beibehalten, weil man seit Camper gewohnt ist, die Ebene, 
welche durch die Mitte der äusseren Ohröffnung und den Boden der Nase, oder die Basis 
des Nasenstachels geht, als eine horizontale anzunehmen und die Richtung des Gesichtes 
nach dem Winkel zu bestimmen, den die Gesichtslinie mit dieser Ebene bildet. Genau 
genommen ist aber auch jene Ebene und die Linie, die ihre Mitte durchläuft, nicht hori- 
zontal bei dem Blicke gerade vorwärts. Bei den meisten Menschen wenigstens, die in auf- 
rechter Stellung gerade nach vorn sehen, trifft die horizontale Ebene, welche durch die 
Ohröffnungen geht, auf das untere Drittheil oder die Mitte der äusseren Nase. Man kann 


1) De generis humani var. nat. 5. edit. р, 217. | 2?) Morton: Crania americana Fol. an vielen Orten. 


Die MaKRoKEPHALEN IM BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. di 


sich leicht davon überzeugen, wenn man vor einen senkrecht gestellten Spiegel tritt und 
gerade in die Pupille vom Bilde des eigenen Auges blickt, oder Andere diese Stellung an- 
nehmen lässt. 

Wir haben die erste Figur der zweiten Tafel der leichteren Vergleichung wegen in 
die angenommene Stellung gebracht, die ohnehin von der wahren des gerade vorwärts 
Schauenden wenig abweicht. Man sieht sogleich, dass in dieser Stellung der Schädel nur 
nach hinten hoch, dass er aber zugleich lang ist, besonders für die seitliche Ansicht. Es 
hat nämlich die Hirnschale, das Cranium im engeren Sinne, einige Aehnlichkeit mit einem 
stark geneigten Kegel, dessen Spitze aber sehr abgerundet wäre. Wegen dieser starken 
Abrundung, die sich nicht nur bei der Ansicht von der Seite, sondern noch etwas mehr 
bei der Ansicht von hinten oder von vorn zeigt, ist es viel richtiger, das gesammte Kopf- 
gerüst mit einem Ellipsoid zu vergleichen, dessen obere Hälfte von der Hirnschale und die 
untere von dem Gesichte gebildet würde. Die obere Hälfte, die Hiruschale nämlich, ent- 
spricht der einen Hälfte eines Ellipsoids besonders genau, die untere, vom Gesichte ein- 
genommene, weniger gut, da das Kinn vorsteht und hiuter den Aesten des Unterkiefers 
eine Lücke bleibt, oder das Ellipsoid nicht ganz angefüllt wird. Die Theilungs-Ebene bei- 
der Hälften, die Basis der Hirnschale nämlich, geht auch nicht durch die kleine Axe des 
Ellipsoids, sondern liegt vorn über und hinten unter ihr. Die stärkste Wölbung dieses 
Ellipsoids wird durch die Scheitelbeine gebildet, so dass die grosse Axe in die Pfeilnath, 
etwas vor ihrer Mitte auslaufen würde. Die Scheitelbeine sind also ungemein stark ge- 
wölbt, dagegen ist das Stirnbein in senkrechter Richtung sehr flach, und auch das Hinter- 
hauptsbein, besonders in seiner oberen Hälfte, dem Stücke oberhalb der Querleiste (пса 
transversa occipitis $. lineae semicireulares superiores). Von den Augenbraunenbogen und den 
Stirnhügeln ist kaum eine Spur zu bemerken, dagegen tritt die Mittellinie der Stirn wie 
ein stumpfer Rücken hervor. Im oberen Theile der Stirn zeigt sich aber ein quer verlau- 
tender Wulst als entschiedenes Zeichen, dass auf den unteren Theil der Stirn während des 
ersten Lebensjahres ein anhaltender Druck ausgeübt ist. Es mag Köpfe geben, welche 
durch künstliche Mittel eine Umformung erhalten haben, an denen dieser quere Stirnwulst 
fehlt, wie ich z B. den sehr kurzen Kopf eines Türken, den Blumenbach Taf. 2 abge- 
bildet hat, für künstlich geformt halte '), allein wo dieser Querwulst sich findet, da kann 
man, wie ich glaube, auf frühzeitigen Druck einer Binde oder eines biegsamen Brettchens 
auf die Stirn schliessen, denn in dem Hirne selbst liegt wohl kein Grund hier einen Quer- 
wulst hervorzutreiben. Kein Thier hat ihn, so viel ich weiss auch kein Menschen - Stamm 
in ungestörter Bildung”). Wenn aber die Hirnschale durch Binden beengt wird, so drängt 


1) Ich habe diesen Schädel immer für verbildet ge- | ten aufführt. Diese Verbildung hatte schon Blumen- 
halten, obgleich man ihn gewöhnlich als characteristisch | bach angedeutet. 
für den Türkischen Typus betrachtet. Als solchen hat 2) Eine seichte Vertiefung hinter der Kranznath ist 
ihn noch Meigs in seinem Catalogue of human cruniu | dagegen in dolichocephalischen Köpfen nicht selten und 
wieder im Holzschnitt gegeben. Ich freue mich daher, | mag von starker Ausbildung des vorderen und des hinte- 


zu sehen , dass Gosse ihn geradezu unter den verbilde- | ren Knices des Corpus callosum abhängen. 
и 


12 К. Е. v. Baer, 


das wachsende Hirn nothwendig gegen die Gegend über der Binde, und der oberste Rand 
der noch zarten Stirnbeine wird dadurch hervorgedrängt. Wahrscheinlich wird auch der 
Anschluss der Stirnbeine an die Scheitelbeine in der Kranznath länger zurückgehalten. 
Ueber diesem Querwulst sieht man, da wo das Stirnbein spitzig endet, eine flache Vertie- 
fung oder Einschnürung. Sie ist in dem vollständigen Kopfe, den wir vor uns haben, nur 
seicht und lässt zweifelhaft, ob sie nicht ein Theil der allgemeinen Wölbung des Kopfes 
ist, der nur wegen des angränzenden Wulstes vertieft scheint. Allein in dem Bruchstück 
der Eremitage (Taf. II, Fig. 4) ist diese Vertiefung so stark ausgebildet, dass ich nicht 
in Zweifel bin, sie für die Spur einer höher geführten tour der Binde zu halten. Zwei 
solcher Gänge oder touren hat man ja auch an anderen Verbildungen erkannt. An ameri- 
kanischen Köpfen glaubt man sogar drei von einander getrennte Gänge oder touren der 
Binden erkannt zu haben. Vergl. Morton Cran. Am., Gosse Deformation artf. du cräne, 
Tab. I, Fig. 3b. 


Auf der Rückseite sieht man eine breite Einsenkung über der Querleiste des Hinter- 
haupts verlaufen '). Sie nimmt den grössten Theil der Schuppe über dieser Querleiste ein. 
Die Querleiste selbst tritt mässig vor mit schwachem Hinterhaupts-Höcker (Protub. occipit). 
Unter dieser Leiste ist die Profil- Ansicht des Kopfes nochmals ausgeschweift bis zu der 
Leiste für den Ansatz der tieferen Nacken-Muskeln, der Lin. semicireular. inferior. 


Durch die Einschnürungen, von welchen die so eben bezeichneten Vertiefungen die 
Spuren sind, ist die Gesammtform des Kopfes sehr verändert und verunstaltet. Die Stiru 
ist zurückgedrückt und bildet also mit der Basis des Schädels einen kleineren Winkel als 
in irgend einem Menschen-Stamme im natürlichen Zustande. Durch die Verengerung über 
der Basis des Schädels ist der Scheitel bei fortgehender Entwickelung des Hirns zwar 
nach oben gedrängt, aber wegen der niedergedrückten Stellung der Stirn zugleich nach 
hinten gedrückt, so dass er in der gewöhnlichen Stellung, bei dem Blicke nach vorn, ziem- 
lich stark überhängt. Die Kuppe, welche die Scheitelbeine bilden, ist in der Seiten-Ansicht 
abgerundet, doch ist sie in der Mittelebene etwas mehr vorragend, so dass sie in der An- 
sicht von vorn oder von hinten etwas dachförmig erscheint. Vergl. Taf. III, Fig. 6. Die 
Hinterhauptsfläche ist stark überhängend, indem sie von der Spitze des Hinterhauptsbeines 
an nicht einmal senkrecht, sondern bedeutend nach vorn geneigt ist. Eine senkrechte 
Linie, bei normaler Stellung des Kopfes, aus der Mitte der äusseren Gehöröffnung nach 
oben gezogen, trifft nur den unteren Theil der Kranznath und lässt das obere Drittheil des 
Stirnbeins hinter sich. Eine senkrechte Ebene durch beide Ohröffnungen gelegt, würde nur 
einen sehr kleinen Theil des Schädels vor sich, und einen sehr viel grösseren hinter sich 


1) Querleiste des Hinterhauptes (crista transversa ocei- | sondern auch bei einigen Menschen-Stämmen, eine ein- 
pitis) habe ich schon früher die sogenannten Lineae se- | zige, in der Mitte schwach oder gar nicht eingekerbte 
micircul. superiores umzubenennen vorgeschlagen, theils | Leiste bilden, theils weil noch andere Zineae semicireu- 
weil diese Linien nicht nur bei den meisten Thieren, | Zares am Kopfe sind. 


Die МаквокеРНАГЕМ IM BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 13 


haben. Eine Ebene senkrecht durch die Mitte des Foramen magnum gelegt, würde aber 
das Hirn in zwei ziemlich gleiche Hälften theilen. 

Von den Näthen ist die Pfeilnath ganz unkenntlich geworden, und die Kranznath in 
ihrer Mitte auch. Dass die Mitte dieser Nath einen stark vorspringenden Bogen ge- 
bildet hat, ist aus den noch vorhandenen Seitentheilen deutlich zu erkennen, so dass man 
in Bezug auf die Gränze des Stirnbeins nicht sehr irren kann. Dieses ist in seiner Gestalt 
sehr verändert, denn es ist schmal, aber lang, so dass es in Form einer langgezogenen 
Ellipse sich zwischen die Scheitelbeine erhebt, die es vor sich her geschoben hat. Die 
Breite der Stirn über den Augenhöhlen, wo die Schläfenleisten am meisten sich nähern, 
ist nur 3,4” Engl., die grösste Breite, die sich an diesem Knochen ziemlich tief unten fin- 
det, ist 4”; die Länge aber in gerader Linie gemessen 5,36”; die Länge im Bogen beträgt 
auch nicht viel mehr, da, wie gesagt, das Stirnbein in der senkrechten Richtung sehr we- 
nig gewölbt ist. Eben so ist das Hinterhauptsbein verlängert, verschmälert und verflacht, 
und da die Lambdanath schon im normalen Zustande einen Winkel bildet, so schiebt sich 
das Hinterhauptsbein in Form eines spitzen Dreiecks zwischen die Scheitelbeine. Seine 
grösste Breite ist 3,5”, seine Länge aber vom hinteren Rande des Foramen magnum bis zur 
Spitze in gerader Linie gemessen 4,6”, und im Bogen 4,8”. Am meisten sind jedoch die 
Scheitelbeine entstellt, da sie in der Längsrichtung verkürzt und dafür in der Höhe sehr 
vergrössert sind. Sie sind also sehr viel mehr hoch (bei der glockenförmigen Form, welche 
die beiden Scheitelbeine mit einander bilden, kann man diese Dimension nicht füglich die 
Breite nennen) als lang. Die Länge ist durchschnittlich nur 3,5” und wächst nur an einer 
Stelle auf 4 Zoll, die Höhe aber beträgt auf der linken Seite, wo das Scheitelbein den 
grossen Flügel erreicht, 6” und im Bogen gemessen 7,2”. Der Zapfentheil des Hinter- 
hauptsbeines ist breit und in seiner ganzen Breite mit dem Keilbeine fest verwachsen. Die 
Processus condyloidei sind auffallend kurz, hoch und stark gewölbt, was wohl mit der 
Difformität des Kopfes und der nothwendig gewordenen Umänderung der Unterstützungs- 
Fläche zusammenhängen mag. Dagegen ist es wohl eine von der Umbildung ganz unab- 
hängige Eigenthümlichkeit dieses Kopfes oder des Volkes zu dem er gehörte, dass aus der 
Ecke der Pars condyloidea, die nach hinten und aussen vom Foramen jugulare liegt, und die 
bei Hufthieren den langen Fortsatz trägt, welchen man unpassend Processus mastoideus 
oder styloideus zu nennen pflegt, auf der rechten Seite einen deutlich vortretenden 
warzenförmigen Fortsatz und auf der linken auch eine, jedoch viel flachere Erhebung hat. 
Das Schläfenbein hat wenig Eigenthümliches. Es nimmt an der Erhöhung des Kopfes 
keinen Antheil, sondern ist eher niedrig als hoch zu nennen. Die Linie aus der Mitte einer 
Öhröffnung in die Mitte der anderen verläuft vor dem Foramen magnum ohne dasselbe zu 
berühren, was nur bei entschiedener Brachycephalie vorzukommen pflegt. Auch ist nicht 
zu zweifeln, dass dieser Schädel vor der Verbildung zu den entschiedenen Brachycephalen 
gehört hat, das heisst, dass der Hirnstamm sich stark nach vorn und nur wenig nach hinten 
zu entwickeln die Anlage hatte. Durch den Druck ist die Entwickelung nach hinten im 


14 К Е т Barr, 


unteren Theile der Schädelhöhle noch mehr gehemmt, es ist sogar die Ebene des Foramen 
magnum im Verhältniss zur Basis des Schädels stark nach hinten aufsteigend, und nur der 
Scheitel ist nach hinten hinüber getrieben. 

Das Gesicht ist stark vorspringend, was bei solchen Verbildungen, durch welche die 
Stirn niedergedrückt und der Scheitel zurückgeschoben wird, nicht nur Regel, sondern 
auch eine nothwendige Folge statischer Verhältnisse ist. Da der grösste Theil der Schä- 
delhöhle mit dem Hirne hinter das Hypomochlium des Atlas- Gelenkes gerückt ist, so muss 
das Gesicht mit seinem Inhalte hervortreten, um dem hinteren Hebelarme mit seiner Last 
das Gleichgewicht halten zu können. In der That würde man dieses Gesicht, auch wenn 
die Stirn senkrecht aufstiege, ein stark prognathes nennen müssen, aber freilich würde das 
Gesicht gar nicht so vorspringen können, wenn die Stirn senkrecht sich erhöbe. Der Ge- 
sichtswinkel beträgt ungefähr 65°, wenn man auf gewöhnliche Weise die Gesichtslinie durch 
den vorspringenden Theil des Oberkieferrandes und den vorragendsten Theile der Stirn, 
die Augenbraunen-Bogen, bestimmt, und den Winkel abmisst, den sie mit einer Ebene, die 
durch den Boden der Nase und die Ohröffnungen geht, bildet. Allein es springt in die 
Augen, dass man damit die Neigung der Stirn nicht erhält. Um diesen Winkel zu messen, 
ziehe ich eine gerade Linie, welche der Mitte der Stirnfläche möglichst parallel läuft, und 
verlängere dieselbe nach vorn und unten, bis sie diese Ebene schneidet. Ich erhalte dann 
einen Winkel, der nur 35 — 40° beträgt. 

Der Rücken der Nase springt nicht vor im Verhältniss zur Stirnlinie, sondern läuft 
mit dieser ziemlich parallel. Das ist auch als Wirkung der künstlichen Niederdrückung 
der Stirn zu betrachten, da man dieselbe Richtung des Nasenrückens und der Spina na- 
salis, an welche die Nasenbeine sich anlegen, als Regel bei den auf diese Weise verbilde- 
ten Köpfen bemerkt. Auch scheint aus demselben Grunde die Nath zwischen dem Stirn- 
bein einerseits und den Nasen- und Kieferbeinen andererseits tiefer herabgerückt als ge- 
wöhnlich, nämlich bis auf die Mitte des inneren Augenhöhlenrandes. Die Nase ist doch 
nur in Bezug auf das Stirubein sehr flach zu nennen, nach den Seiten gegen die Augen- 
höhlen hat sie eine Abdachung, welche fast mittelmässig zu nennen ist und die Nasenbeine 
sind keineswegs flach. Sie sind übrigens ziemlich lang. Die Nasenôffnung ist weit, aber 
entschieden mehr hoch als breit. 7 

Ganz eigenthümlich ist der Umfang der Augenhöhlen gestaltet. Da die Stirn durch 
Binden eine künstliche Schmalheit erhalten hat, dieser Druck aber weiter unten nicht ge- 
wirkt hat, so treten die Jochbogen seitlich bedeutend hervor und die Augenhöhlen sind 
nicht nur oben viel enger als unten, sondern ihr querer Durchmesser ist auch etwas 
geringer als der senkrechte '). 

Im Verhältniss zu der schmalen Stirn springen die Wangenbeine stark zur Seite vor, 


1) Der letztere Umstand ist nicht kenntlich in unserer Fig. 6 der Taf. III, weil bei der angenommenen Stel- 
lung die Ebene des Augenhöhlen-Randes geneigt ist. 


Dir MakROKEPHALEN IM BODEN DER KRYM UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 15 


und sind auch nach aussen geneigt, so dass sie unten viel mehr vorspringen als oben, und 
zwei gerade Linien, die man an sie äusserlich anlegt, schneiden sich über der Stirn in 
einem Winkel von 40°, der allerdings eine recht merkliche Neigung andeutet. Dies Vor- 
springen der Wangenbeine und die Neigung derselben geben dem Gesichte deswegen ein 
etwas Mongolisches Ansehen. Allein dass wir nicht einen Kopf von Mongolischem Typus 
vor uns haben, lehren die Zahnreihe und die Nasenöffnung bestimmt. Jene bildet eine 
schmälere und längere Ellipse als bei irgend einem Mongolischen Volke, und die Zähne, 
besonders die Vorder- und Eckzähne sind viel grösser als sie bei Mongolischen Völkern 
zu sein pflegen. Das Breiterwerden des Gesichtes in der Wangengegend ist also lediglich 
dem Umstande zuzuschreiben, dass das Knochengerüste seinen ursprünglichen Typus an- 
strebt, we das mechanische Hinderniss aufhört, die natürliche, 4. В. typisch bedingte 
Breite aber doch erst allmälig erreichen kann, indem es von der engeren Stirn zur brei- 
teren Wangengegend übergeht. Auch ist diese Gegend in der That nur im Verhältniss 
zur Stirn breit, denn der grösste Abstand in beiden Jochbogen beträgt in unserem Ma- 
krokephalus doch kaum 5”. Die mittlere Zahl für dieselbe Distanz, die ich durch Messung 
von 12 Kalmücken-Köpfen fand, betrug 5,63 Zoll E. Die Nasenöffnung ist bei allen Mon- 
solischen Völkern breiter, und der untere Rand derselben ist nach vorn und unten ab- 
schüssig, was hier sich nicht zeigt. 

Dem Unterkiefer fehlen die Gelenkhöcker, so dass man ihn nicht unmittelbar in die 
(elenkhöhlen einpassen kann. Allein ich bin doch nicht in Zweifel darüber, dass er zu 
diesem Kopfe nicht passt. Die Kronenfortsätze stehen nämlich so weit auseinander, dass 
sie fast die innere Fläche der Wangenbeine berühren. Auch entsprechen sich die Zähne 
nicht; sie sind im Unterkiefer mehr abgerieben als im Oberkiefer und die Ungleichhei- 
ten in den Zahnreihen passen nicht zu einander. Farbe und Verwitterungs- Zustand der 
Knochen sind aber sehr gleich. Auch gehört zu diesem Kopfe ein Unterkiefer mit so ge- 
neigten Aesten. Ich glaube daher nicht, dass man zu unserem Kopfe einen Unterkiefer 
von einem fremden Volke gefügt, sondern dass man in derselben Localität mehrere Ma- 
krokephalen gefunden hat, und da der Unterkiefer des sonst vollständig erhaltenen Schädels 
vielleicht zerfiel oder gar nicht gefunden wurde, den Unterkiefer eines anderen zerfallenen 
Kopfes nahm, um dem Herrn Minister einmal einen vollständigen Schädel zu präsentiren. 
Ich glaube daher auch das vorspringende Kinn, das bei verbildeten Köpfen dieser Art 
selten ist, als zu deisem Volke gehörig betrachten zu können. 

Der Grafenegger, ehemals Breunersche Schädel Taf. II, Fig. 2. ist dem beschriebenen unge- 
mein ähnlich, doch ist die Wirkung der Binden im Allgemeinen eine geringere gewesen, oder 
der Kopf war ursprünglich in seiner Basis breiter. Die grösste Breite des Schädels etwas über 
dem Ohr ist hier 5,3” Engl. Maass, in unserem Makrokephalus nur 4,6”. Die Jochbogen 
stehen auch hier 5” auseinander, sie stechen weniger gegen den Schädel ab und die Nei- 
gung ihrer äusseren Ränder ist nur 18°. Der Querwulst der oberen Stirngegend tritt 
stärker hervor als in unserem Makrokephalus und lässt keinen Zweifel, dass hinter ihm die 


16 K. E. v. Baer, 


Binde einen zweiten Gang macht. Das Hinterhauptsbein erhebt sich auch gleich vom For. 
magnum aus, so dass auch dieses etwas aufsteigt, aber weniger als im Krymschen Kopfe. 
Die obere Spitze der Schuppe hebt sich mehr aus der allgemeinen Wölbung hervor, die 
Stirn ist weniger schmal und der ganze Kopf weniger hoch und schmal. Die Scheitelbeine 
sind auch hier viel mehr hoch als lang. Der Zapfentheil ist noch nicht mit dem Keilbeine 
verwachsen, auch zeigen sie Zähne nur mittleres Alter an. Leider fehlen die vorderen. 
Auch hier sind die Querfortsätze des Hinterhauptsbeines merklich entwickelt. 

Der dritte, bei Atzgersdorf gefundene Schädel, Taf. II, Fig. 3, ist, nach dem Gyps- 
Abgusse zu urtheilen, noch weniger entstellt. Das Scheitelgewölbe ist breiter und weniger 
zurückgeschoben, also natürlicher. Die Bindengänge sind weniger markirt und die Stirn 
ist weniger zurückgedrückt. 

Von den Schädel-Fragmenten in der Eremitage ist an dem einen, welcher zwei ge- 
trennte Stirnbeine behalten hat, Taf. II, Fig. 4, durch die Vertiefung hinter dem que- 
ren Stirnwulst eine starke Einwirkung des oberen Binden-Ganges deutlich. Das an- 
dere Fragment möchte dasjenige sein, bei welchem der Scheitel am meisten nach oben 
und am wenigsten nach hinten getrieben ist. So darf man wenigstens nach dem Wangen- 
fortsatze des Schläfenbeines urtheilen, da dieser von der horizontalen Linie nie bedeutend 
abweicht. 

Die im Kanton Genf und in Savoyen gefundenen verbildeten Schädel kenne ich nur 
aus der sehr kurzen Beschreibung in den Мет. de la société d'histoire et d’archeol. de Genève 
und den Abbildungen. Vergl. unsere Taf. II, Fig. 7. Die Stirn ist zwar auch stark zurückge- 
drückt, aber der Scheitel keineswegs in dem Maasse zurückgeschoben. Die Hinterhauptsfläche 
steigt beinahe senkrecht hinab bis zur Querleiste, und ist keineswegs überhängend. Der 
Grund hiervon mag weniger in der Anwendung der Binden als darin liegen, dass ursprüng- 
lich schon die Entwickelung des Hirnstammes nach hinten durch das kleine Hirn und die hin- 
teren Lappen des grossen Hirns stärker war als in unserem Makrokephalus, die Ebene des Fora- 
men magnum also nicht nach hinten aufsteigend sondern niedersteigend wurde, indem die untere 
Schuppe, sonenne ich die gewölbte Fläche zwischen der Leiste des Hinterhauptsbeines und 
dem Foramen magnum, nach unten vorgetrieben wurde. Es ist mit einem Worte eine langköp- 
fige Form, die durch die spätere Verkünstelung in der vollen Entwickelung gehemmt wurde. 

Die andere Form aber, zu der auch unsere Makrokephalen gehören, war eine kurz- 
köpfige, bei der die Querleiste des Hinterhaupts schon ursprünglich hoch lag, so dass die 
Binden nicht nur sehr mächtig auf die obere Schuppe, (den Raum über dieser Leiste), son- 
dern auch auf die Gegend der Leiste selbst wirken konnten und in der Gegend der lin. semi- 
circular infer. die stärkste Wölbung sich bildete. Stand die Querseite schon bei der Geburt 
etwas hoch, ohne doch stark nach hinten vorzuragen, so war es auch möglich einen Binden- 
gang unter dieser Leiste anzubringen, da die oberflächlichen Nackenmuskeln bei ihrer In- 
sertion doch nur dünn sind, und einen zweiten Binden-Gang über der Querleiste. In der 
That scheint es, besonders nach dem Fragment der Eremitage, Taf. II, Fig. 4, dass zwei 


Die MAkROKEPHALEN IM BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 17 


Binden sich kreuzten, die eine unter dem Stirnwulste und über der Hinterhauptsleiste, die 
andere über dem Stirnwulste und unter der Hinterhauptsleiste verlief. 


Ç 3. Zwecke und Folgen der künstlichen Verbildung der Köpfe. 


Ueber die Zwecke, die man bei diesen künstlichen Verbildungen hatte und am Co- 
lumbia-Flusse noch hat, wissen wir immer noch sehr wenig. Man nimmt gewöhnlich an, 
dass ein Volk, welches mit einem anderen, für schöner und vornehmer geltenden, in Be- 
rührung kam, sich bemühte, die eigenen Kinder diesem ähnlich zu machen. Das mag für 
einige Fälle richtig sein, gilt aber gewiss nicht von allen. Die Nordamerikanischen Stämme 
hielten kein Volk für vornehmer als sich selbst, und waren doch eifrige Kopf-Former. Da- 
gegen ist das Künsteln am eigenen Körper bei rohen Völkern sehr allgemein, gleichsam 
natürlich, und muss daher einen tieferen Grund haben. Aus den Künsteleien am eigenen 
Körper bilden sich leicht Stammes-Unterscheidungen hervor, und dann werden sie mit 
grosser Strenge festgehalten. Einige Stämme von Neubolländern schlagen sich in einem 
bestimmten Alter und mit einer gewissen Feierlichkeit zwei Vorderzähne aus, andere nur 
einen, noch andere gar keinen; diese beschneiden sich dafür aber die Vorhaut, und alle 
erkennen sich nach diesen Verstümmelungen. Dahin gehört das Durchbohren und Ver- 
längern der Ohrläppchen, das Durchbohren der Nasenscheidewand oder gar der Nasen- 
flügel, der Unterlippe, das Tätowiren, die künstliche Narbenbildung und viele andere Un- 
terscheidungen. Für die künstliche Kopfbildung muss freilich schon die Mutter sorgen. 
Vielleicht hat hier die Form der Wiege und die Art das Kind darin zu befestigen die erste 
Besonderheit veranlasst, welche man später mit künstlichen Mitteln noch vermehrt hat. 
Jedenfalls scheint Dr. Gosse’s Vermuthung, dass man sich durch die künstliche Kopfbil- 
dung habe kriegerischer und muthiger machen wollen, aller Begründung zu entbehren '). 

In Bezug auf die Folgen der künstlichen Verbildung des Kopfes hat man lange be- 
hauptet, sie fehlten ganz. Indem man Nordamerikanische Wilde mit auffallend verbildeten 
Köpfen sah, und fand, dass sie wie andere Menschen denken und fühlen, schloss man et- 
was voreilig, die Umgestaltung des Hirns, die eine nothwendige Folge von der Verunstal- 
tung des Schädels ist, habe gar keinen Einfluss. Jetzt weiss man aber, dass, wenn auch 
der Gedankengang derselbe sein mag, denn die Faserung des Hirns wird ja nicht geändert, 
sondern die einzelnen Theile werden nur verschoben und die äussere Gestalt des Hirns 
wird umgeformt, dass doch die Gesundheit und namentlich die Verrichtungen des Hirns 
gefährdet sind. Dr. Lunier und Foville haben berichtet, dass die Zahl der Geisteskran- 
ken in denjenigen Gegenden Frankreichs, in denen die Köpfe in Folge der unzweckmässi- 
gen Hauben und Haubenbänder häufig verbildet werden, namentlich um Toulouse, viel 
grösser ist als in anderen, und dass Geistesstörungen und Epilepsie besonders bei Perso - 


1) Gosse, Deformation artif. du crâne, р. 124 et alibi. 
Mémoires de l’Acad. Пир. des sciences, VIIC Serie. 3 


18 K. E. v. Baer, 


nen mit auffallend verbildeten Köpfen häufig sind und unheilbar zu sein pflegen’). Das 
konnte nicht anders erwartet werden, seitdem man weiss, namentlich durch die schönen 
Untersuchungen Virchow’s, dass eine frühzeitige Verwachsung der Schädelknochen die 
Entwickelung des Hirns hemmt, Blödsinn und Cretinismus erzeugt. Es ist ein wahres 
Glück, dass die mechanischen Verbildungs-Mittel, auf die der Mensch in den verschie- 
densten Gegenden gefallen ist, so wenig auf die Basis des Schädels unmittelbar zu wirken 
im Stande sind. Die Verbildungen, auf welche die verschiedenen Völker gefallen sind, 
erlauben dem Hirn gewöhnlich, wenn es in einer Richtung gehemmt wird, in einer ande- 
ren sich auszudehnen. Doch will man bemerkt haben, dass in den Grabkammern von 
Hoch-Peru unverhältnissmässig viele Kinder sich finden, und glaubt, dass manche derselben 
durch die Verbildung getödtet sind, und diejenigen Amerikanischen Stämme, welche den 
Kopf flach drücken, wie die Flat-heads, sind vielfach als die stupidesten beschrieben wor- 
den (Duflot de Mofras). 


$ 4. Welchem Volke die verbildeten Köpfe der Krym angehört haben mögen. 


Es wäre vor allen Dingen wünschenswerth, bestimmen zu können, welchem Volke 
diese verbildeten Köpfe der Krym angehörten. Ich habe die darüber laut gewordenen 
Vermuthungen verfolgt, es haben sich auch noch neue Wege der Vergleichung und Ver- 
muthung eröffnet. Dennoch muss ich bekennen, dass ich zu einem sicheren Resultate, für 
welches ein überzeugender Beweis gegeben werden könnte, noch nicht gelangt bin. Von 
der einen Seite finden wir aus früherer Zeit sehr wenige Nachrichten über künstliche Ver- 
bildung des Kopfes bei denjenigen Völkern aufgezeichnet, welche in den Gränzen Europas 
aufgetreten sind. Von der anderen Seite wissen wir aber auch noch nicht, wie weit ver- 
breitet diese verbildeten Köpfe aus der Vorzeit sich noch im Erdboden finden lassen. Wir 
kennen sie aus der Krym, und wissen, dass in Oesterreich, von Krems bis Wien sehr ähn- 
liche gefunden sind, etwas verschiedene in Savoyen und in der Schweiz. Sollten sie in 
dem weiten Zwischenraume zwischen der mittleren Donau und dem östlichen Vorgebirge 
der Krym niemals gefunden, oder vielleicht unbeachtet wieder der Verwitterung hingege- 
ben sein? Kennten wir den Verbreitungsbezirk dieser verbildeten Köpfe genauer, so wür- 
den wir doch vielleicht aus den Nachrichten über die Wanderungen der Völker, welche 
die Geschichte uns aufbewahrt hat, das Volk mit einiger Sicherheit bestimmen können, 
auch wenn diese Sitte der künstlichen Verbildung von den Geschichtsschreibern gar nicht 
erwähnt wird. Umgekehrt würde eine sehr positive und unbestreitbare Nachweisung aus 
der Geschichte von einem Europäisch-Asiatischen Volke, das die Sitte hatte, die Köpfe 
der Neugeborenen künstlich zu formen, zu der Frage führen, ob dieses Volk oder ein 
Zweig desselben nicht einige Zeit in der Krym sich aufgehalten habe. Eben weil hier die 


1) Gosse, Déformation art. du crâne p. 85 et 153. 


Die MaxroxepuaLen 1m Bopen DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 19 


mangelnde Kenntniss von einer Seite durch einen glücklichen Fund von der anderen er- 
gänzt werden kann, scheint es mir Pflicht, die Fingerzeige, welche durch die Vermuthun- 
gen Anderer gegeben oder durch eigene Vergleichungen erhalten sind, zu verfolgen und 
anzudeuten, wohin sie wohl führen könnten, wenn das Material reicher wird. Vor allen 
Dingen aber wäre zu wünschen, dass durch die interessante und lehrreiche Arbeit von 
Herrn Fitzinger die wissenschaftlichen Männer Ungarns und der Wallachei — ich würde 
hinzusetzen Bulgariens, wenn dort solche Männer zu erwarten wären — aufmerksam ge- 
macht würden, um in vorkommenden Fällen eine ausgegrabene verbildete Kopfform nicht 
blos anzustaunen, sondern davon eine öffentliche Nachricht zu geben. Um meinerseits im 
südlichen Russland dieselbe Aufmerksamkeit zu erregen, habe ich mich entschlossen, den 
erhaltenen vollständigen Makrokephalus der Krym so bald als möglich abbilden zu lassen, 
obgleich gerade eine solche Untersuchurg, bei der man selbst noch in seiner Ueberzeu- 
gung schwankt, am meisten dazu auffordert, auf sie das Horazische in nonum prematur an- 
num anzuwenden. 

Man hat die verbildeten Köpfe der Krym am Fundorte selbst schon Makrokephalen 
genannt. Dieser Fingerzeig wird also vor allen Dingen zu verfolgen sein. 

Man hat ferner von den Hunnen behauptet, dass sie die Sitte hatten, die Köpfe ihrer 
Kinder zu verbilden, und es sind Männer von Gewicht und von ernsten Studien in rebus 
Hunnicis, die das behauptet haben. Wir werden ihren Wegen nachgehen müssen. 

Die in Oesterreich gefundenen Köpfe hat man den Awaren des Mittelalters zuge- 
schrieben. Es sind aber auch Nachrichten aufgefunden, dass die Sarazenen die Köpfe 
ihrer Kinder verbildeten und dass diese Sitte auf die Genueser übergegangen ist. Alles 
dieses ist zu beachten. ! 


5. Die Makrokephalen der Alten. 


Ueber die Sitte der künstlichen Verbildung des Kopfes bei den Makrokephalen spricht 
Hippokrates nicht nur ziemlich ausführlich, sondern er ist auch der einzige Schriftsteller, 
welcher bestimmt der Sitte erwähnt; viele andere nennen nur den Namen, oder führen 
den Wohnsitz der Völker an. — Strabo erwähnt einer künstlichen Verbildung, die aber 
eine andere Form erzeugt haben soll als die wir vor uns haben, ohne das Volk zu benen- 
nen, und behandelt zugleich die Makrokephalen, die er bei alten Schriftstellern erwähnt fin- 
det, als Fabein. 

Doch hören wir die Zeugnisse selbst ab und fangen wir mit dem wichtigsten, dem 
des Hippokrates an. Bei jedem historischen Zeugnisse ist es nöthig zu wissen, wann 
es ausgestellt ist. In dieser Beziehung kommt man aber mit Hippokrates in Verlegenheit. 
Man setzt sein Leben gewöhnlich in die Jahre 460 — 372 oder bis 360 vor Chr. Geb. Sein 
Name kommt als der eines gefeierten Arztes mehrmals in Plato’s Schriften vor. Ob aber 


von diesem Hippokrates die Schriften stammen, die wir unter seinem Namen besitzen, 
+ 


20 КЕ. мов ER 


ist sehr fraglich. Einige sind unbezweifelt unächt und vielleicht nur dem berühmten 
Namen zugeschrieben, um ihnen einen höheren Preis zu geben. Aber auch die für ächt 
geltenden enthalten so viele Widersprüche und Wiederholungen, so viele Abschnitte, die 
nicht in den Zusammenhang zu passen scheinen, dass schon Galen, ein eifriger Verehrer 
und Commentator des Hippokrates, über die vielen Einschiebsel klagt. Einige Stellen, 
auf deren Inhalt man in Plato’s Phaedros sich beruft, kann man so nicht wiederfinden, 
wie sie angeführt werden. Noch sonderbarer ist, dass Aristoteles den Hippokrates 
nirgends erwähnt, in seiner Zoologie aber ein Citat aus dem Polybus vorkommt’), das 
wörtlich in Hippokrates Schrift de natura hominis sich findet. Polybus war ein Schwie- 
gersohn des Hippokrates. Vor allen Dingen ist es auffallend, dass das Aristotelische 
System von den vier Elementen und den ihnen entsprechenden organischen Stoffen oder 
Bestandtheilen des Körpers in den Hippokratischen Schriften vielfach hervortritt, aber 
als etwas Gegebenes oder Ueberkommenes, während in den Schriften des Aristoteles 
das System folgerecht im Zusammenhange entwickelt wird. Galen freilich bemüht sich 
aus diesem Umstande zu erweisen, dass die Grundzüge der Aristotelisschen Philosophie 
von den Aerzten und namentlich von Hippokrates erfunden, und von Plato und Aristo- 
teles nur ausgebildet seien. 

Der berühmte Naturforscher Link, von dem Erfahrungssatze ausgehend, dass die 
Aerzte aller Zeiten mehr geneigt waren, das herrschende philosophische System auf ihre 
Beobachtungen, denen die wissenschaftliche Basis fehlt, anzuwenden, als ein neues zu ent- 
wickeln, ist geneigt, alle solche Hippokratische Schriften, welche die Grundansichten der 
Platonisch-Aristotelischen Philosophie wiederspiegeln, für später zu halten, als der be- 
rühmte Praktiker Hippokrates, der ein Zeitgenosse Plato’s war. Ueberhaupt hat er in 
einer geistvollen Abhandlung «Ueber die Theorien in den Hippokratischen Schriften nebst 
Bemerkungen über die Aechtheit derselben»), gestützt auf die sehr verschiedenen Grund- 
ansichten in den Hippokratischen Schriften und die sehr verschiedene Art der Behandlung 
des Stoffes, indem in einigen der reinste Empirismus mit vorurtheilsfreier Beobachtung, in 
anderen der Drang zum Theoretisiren, in einigen ermüdende Breite, in anderen gedrängte 
Kürze bis zur Dunkelheit vorherrscht, die Ansicht entwickelt: dass aus dem historischen 
Hippokrates bald ein mythischer geworden ist, dem man die verschiedensten medicini- 
schen Schriften zugeschrieben hat, als man in Alexandrien die grosse Bibliothek zu sam- 
meln begann. Kein Wunder, dass später jeder Arzt, der speculative wie der empirische, 
sein Ideal im Hippokrates finden konnte. Link glaubt sechs verschiedene Theorien in den 
Schriften, die Hippokrates Namen tragen, zu erkennen. Es braucht kaum bemerkt zu 
werden, dass die späteren Bearbeiter der Hippokratischen Schriften die Ansichten Link’s 
nicht in allen Einzelheiten theilten, aber einen grossen Einfluss haben sie doch auf die all- 


1) Aristot. hist. animal. III, 3. Scalig., III. 1 Sehneid. | Preuss. Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 
2) Abhandlungen der physikalischen Klasse der kön. | 1814 — 15, 5. 223 — 240. 


Dre МаккокеРНАБЕМ IM BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 21 


gemeine Ansicht von diesen Schriften gehabt. So hat der gelehrte Littré bei seiner Her- 
ausgabe des Hippokrates'), von welcher beinahe der ganze erste Band der allge- 
meinen Kritik dieser Schriften gewidmet ist, eine ausserordentliche Mühe darauf verwen- 
det, aus einzelnen Aeusserungen der Hippokratischen und Vor-Hippokratischen Zeit nach- 
zuweisen, dass die Vorstellung von den vier Grundstoffen und Grundkräften vor Aristo- 
teles in den allgemeinen Ansichten der Zeit lag. Dennoch kommt auch er zu dem Resul- 
tate, die Hippokratischen Schriften m 9 Klassen zu theilen, von denen er nur die erste 
dem historischen Hippokrates, die zweite seinem Schwiegersohne Polybus zuschreibt, 
andere aber für Vor-Hippokratisch, und noch andere als unter der Einwirkung der Aristo- 
telischen Lehre geschrieben erklärt. Prof. Christ. Petersen hat, von Link’s Ansichten 
ausgehend, sogar versucht, die Hippokratischen Schriften nach den Jahren und vermuth- 
lichen Verfassern zu vertheilen. Sie würden nach ihm von 550 bis 340 v. Chr. reichen, 
und alle Männer, welche den Namen Hippokrates führten — die Geschichte weist aber 
wenigsten 4 Hippokrates unter den Asklepiaden nach — so wie der Schwiegersohn des 
grossen Hippokrates werden in Anspruch genommen, um den verschiedenen Schriften 
ihre Verfasser zuzuweisen °). 

Uns interessirt zunächst nur die Schrift, welche unter dem lateinischen Titel: de aëre 
aquis et locis bekannt ist. Diese setzt Petersen in das Jahr 424. Auch Littré und die 
meisten Herausgeber, wenn nicht alle, halten sie für ächt. Darnach kann dennoch nicht 
behauptet werden, dass die Stelle, welche wir zu besprechen haben, damals geschrieben 
ist, denn sie nimmt sich etwas sonderbar im Zusammenhange aus, und die Hippokratischen 
Schriften enthalten, ausserdem dass sie einer langen Periode und vielen Verfassern ange- 
hören, auch eine Menge fremder Einschwärzungen. 

Diese Stelle aber findet sich in einer Discussion über die Verschiedenheit der Völ- 
ker, und lautet in deutscher Uebersetzung etwa so : 

«Die Völker, welche nur wenig von einander verschieden sind, will ich bei Seite 
«lassen; aber wie es bei denen sich verhält, welche durch Natur (körperliche Bildung) oder 
«Sitte sehr abweichen, will ich sagen. Zuerst soll von den Makrokephalen die Rede sein. 
«Es giebt kein anderes Volk, das ähnlich gebildete Köpfe hat. Zuerst scheint mir der Ge- 
«brauch (der künstlichen Verbildung) die Länge der Köpfe erzeugt zu haben, jetzt aber 
«kommt auch die Natur dem Gebrauche zu Hülfe. Sie halten nämlich diejenigen, welche 
«die längsten Köpfe haben, für die adligsten®). Ihr Gebrauch ist aber folgender: Sobald 
«ein Kind geboren ist und während der Kopf noch zart (nachgebend) und weich ist, for- 
«men sie ihn und zwingen ihn in die Länge auszuwachsen, indem sie Binden herumführen 
«und passende Kunstmittel (texvnpat«) anwenden, dass die rundliche (sphaeroidische) Ge- 


1) Oevves complètes d’Hippocrate, traduction nou- | ad temporis rationes disposuit Christ. Petersen. бути. 
velle avec le texte Grec en regard. Par Е. Littré. Paris | Hamb. philol. prof. 
80 1839... (noch unbeendet). 3) Tevvaroraroug, die wohlgeborensten, (davon abge- 
2) Hippocratis nomine quae circum feruntur scripta | leitet aber auch) die edelsten, die tapfersten. 


29 K. E. v. Baer. 


astalt des Kopfes geändert und die Länge vergrössert wird. So hat zuerst der Gebrauch 
«den Anfang gemacht auf die Natur einzuwirken; im Laufe der Zeit aber gewöhnte sich 
«die Natur so sehr an die aufgezwungene Form, dass sie des Zwanges nicht mehr bedurfte. 
«Der Zeugungsstoff kommt ja von allen Theilen (und leidet den Einfluss ihrer Zustände), 
«gesund kommt er von den gesunden und krank von den kranken». (Man glaubt Buffon 
zu hören, und möchte fragen, ob für die Milchzähne der Kinder auch der Zeugungsstoff 
aus den Milchzähnen der Aeltern kommt?) «Wenn von Kahlköpfigen Kahlköpfige erzeugt 
«werden, von Blauäugigen Blauäugige, von Krüppeligen gewöhnlich Krüppel, und in Bezug 
«auf andere Formen eben so; warum nicht auch von Langköpfigen Langkôpfige? Jetzt 
«erfolgt das nicht so (in dem Maasse) wie früher, denn die Sitte ist nicht mehr in Kraft, 
«wegen Sorglosigkeit der Menschen '). Das ist meine Meinung über diese Sache». 

Lassen wir die Frage, ob eine künstliche Verbildung erblich werden könne, auch ganz 
bei Seite, so können wir doch nicht umhin, einzugestehen, dass es zweifelhaft scheint, wie 
der letzte Satz zu verstehen ist. Hat die lange Form der Köpfe aufgehört? Sie sollte ja 
erblich geworden sein. Dann hätte diese Erblichkeit wenigstens nicht lange vorgehalten. 
Oder hat sich die Eigenthümlichkeit nur gemindert? Vielleicht liegt das Unverständliche 
oder Unlogische nur in fehlerhaften Abschriften. Die meisten Codd. haben nämlich Sta 
my duéhetav (durch Sorglosigkeit), einer aber dıa Tnv ору (per concursum) das heisst durch 
Vermischung der Menschen. Littré hat die letztere Lesart angenommen, (Vol.II, p. 60), 
welche allein Hippokrates nicht mit sich selbst in Widerspruch setzt. Der neueste Her- 
ausgeber desHippokrates, Ermerins, dessen Werk ich erst kennen lernte, als diese kleine 
Abhandlung in den Druck gehen sollte, hat wieder die frühere Lesart angenommen. Die 
Meinung des alten Autors (nicht seine theoretische Ansicht,) mit Sicherheit zu kennen, 
wäre nicht unwichtig, da in anderen Griechischen Schriftstellern der Name Makrokephaloi 
mehrfach vorkommt, keiner aber, so viel ich bisher habe finden können, von der Sitte der 
künstlichen Verbildung spricht. 

Wo sind nun nach Hippokrates die Makrokephalen zu suchen ? у 

Rathke glaubt aus dem genannten Buche des berühmten Arztes entnehmen zu können, 
«dass in dem Lande, welches sich rechts von den Gegenden, wo im Sommer die Sonne 
«aufgeht, bis zu dem Palus Maeotis erstreckt, unter anderen ein Volk vorkommt, dessen Indi- 
«viduen Macrocephali genannt werden»). Fitzinger spricht dieselbe Meinung aus°). Beide 
Naturforscher finden nun, dass andere Griechische Autoren, welche der Makrokephalen er- 
wähnen, sie in eine andere Localität versetzen, nämlich in die Gegend von Trapezus (Tra- 
pezunt). Ich wünschte, ich könnte die Ueberzeugung meiner geehrten Collegen theilen, 
was ich leider nicht kann. Wohnten die Hippokratischen Makrokephalen in dem Landstriche, 
welcher vom Sommer-Sonnenaufgang nach dem Palus Maeotis sich erstreckt, also etwa in 


1) Hippocratis et aliorum medicorum reliquiue. Ed. 2) Müller’s Archiv 1843. S. 146. 
Franc. Zach. Ermerins. Vol. I. Trajecti ad Rhen. 1859. 3) Denkschriften der Wiener Akademie der Wissen- 
49 p. 268. schaften, У. В. 25. 


Die MakrokkPuaLen тм ВорЕм DER Квум UND OESTERREICES, VERGLICHEN ЕТС. 23 


der Kaspisch-Pontischen Steppe, so wäre ihr Uebergang in die Krym durch die Ta- 
mansche Halbinsel auch ein sehr natürlicher, d.h. durch die Naturverhältnisse veranlasster. 
Da wir überdies durch einen Schriftsteller, der nichts von Hippokrates wissen konnte, 
von einem Chinesen nämlich, Namens Hiuen-Thsang '), der im 7. Jahrhundert nach Chr. 
grosse Reisen in Asien machte, erfahren, dass damals im nordwestlichen Winkel von Hoch- 
asien, in dem Lande Chascha, dem jetzigen Kaschgar, die Sitte noch bestand, die Köpfe zu 
verbilden, so liesse sich eine Wanderung der Makrokephalen aus Kaschgar durch das Tura- 
nische Flachland und die Kaspischen Steppen bis in die Krym mit Wahrscheinlichkeit ver- 
muthen. Ein Theil des Volkes könnte dann in den Ursitzen zurückgeblieben sein, um dem 
Chinesen Hiuen-Thsang nach mehr als 1000 Jahren noch dieselbe Sitte zu zeigen. Aber 
auch die Aorsen könnten durch diese Localität angedeutet sein, und das würde, wie sich 
zeigen wird, noch besser zu anderen Conjecturen passen. 

In der angeführten Stelle der Hippokratischen Schrift wird der Wohnsitz der Makro- 
kephalen gar nicht bestimmt. Wenn ich aber den ganzen Zusammenhang überblicke, so 
scheint es mir, dass der Verfasser ihn sich nicht nördlich vom Kaukasus dachte. 

Das ganze Buch über «die Luft, das Wasser und die Localitäten», welches den Na- 
men des Hippokrates trägt, verfolgt die Aufgabe, die Wirkung der äusseren Einflüsse 
auf den Menschen zu würdigen. Wer die ärztliche Kunst gründlich treiben will, soll die 
klimatischen Verhältnisse nach den Jahreszeiten, die Beschaffenheit des Wassers, die Be- 
schaffenheit des Bodens und die Lebensart der Bewohner seines Ortes in Bezug auf Diät 
beohachten. Der Verfasser legt so viel Gewicht auf die klimatischen Verhältnisse, dass 
er nicht allein die Krankheits-Constitution, sondern auch die Beschaffenheit des Wassers 
von der Lage gegen die Weltgegenden und also gegen die vorherrschenden Winde ableitet. 
Mit diesen Betrachtungen ist die erste Hälfte des Buches, 11 Capitel nach der von den 
Neueren angenommenen Eintheilung, ausgefüllt. Die zweite Hälfte enthält Betrachtungen 
über den Unterschied zwischen Asien und Europa in Bezug auf die Producte und die 
Menschen, welche Unterschiede ebenfalls vorherrschend vom Klima abgeleitet werden. 
Diese Unterschiede sind sehr gross, sagt der Verfasser, Alles was aus Asien kommt ist 
viel grösser und schöner, das Klima ist besser und die Völker haben einen sanfteren und 
gelehrigeren Character. Der Grund davon liegt in dem gehörigen Gleichgewicht der Jah- 
reszeiten. Gegen den mittleren Aufgang der Sonne (4. В. gegen Osten) gelegen ist Asien 
u.s. w. Hier hat der Verfasser doch offenbar Klein-Asien, als die ihm zunächst liegende 
Section dieses Welttheils vor Augen. Das unmittelbar folgende kann immer nur auf Klein- 
Asien und gar nicht auf die Gegend am Asowschen Meere bezogen werden. «Was das 
Gedeihen und die Güte der Früchte bedingt, ist ein Klima wo weder Frost noch Hitze 
excessiv sind. Zwar ist Asien auch nicht in allen Theilen gleich, aber in den Gegenden, 


1) Hiuen-Thsang machte sehr grosse Reisen durch | haben wir eine Uebersetzung durch Stan. Julien: His- 
Mittelasien nach Indien, vom J. 629 — 645 п. Chr. Ausser- | toire de la vie de Hiouen-Thsang et de ses voyager dans 
dem beschrieb er Länder, welche er nicht gesehen hatte. | !’Inde. Par. 1853. 8. Die oben gegebene Nachricht fin- 
Von den Berichten dieses Vorgängers von Marco Polo | det sich р. 396. 


24 К. Е. т. Baer, 


die von Frost und Hitze gleich weit abstehen sind die Früchte die reichsten, die Luft am 
reinsten, das Wasser das beste». Man sieht, der Verfasser hat immer noch das ihm nach 
Osten liegende Klein-Asien') im Auge, das er aber durch eine gangbare Collectivbenen- 
nung vom übrigen Asien nicht zu unterscheiden weiss. Er lobt den reichlichen Regen, die 
Grösse und Fruchtbarkeit der Hausthiere, das Gedeihen der Cultur-Pflanzen und Baum- 
früchte, die Schönheit und Grösse der Menschen, die aber wenig ausdauernd oder ener- 
gisch sind, und mehr dem Vergnügen ergeben. Das Klima lässt sich einem anhaltenden 
Frühling vergleichen. Alles dieses ist offenbar im Gegensatz zu dem dürren, baumarmen 
gegenüberliegenden Griechenland gesagt, und passt auf die Kaspisch-Pontische Steppe gar 
nicht. Diese dachte sich der Verfasser dieser Schrift, wie die späteren Capitel zeigen, 
noch viel kälter als sie wirklich ist. 

Nun kommt der entscheidende Punkt. Das 12. Kapitel hebt so an, dass man deut- 
lich sieht, der Verfasser geht nun auf eine andere Gegend über. «Was aber die Bewohner 
der Gegenden anlangt, die zur Rechten des Sommer-Sonnenaufgangs *) bis zum Mäotischen 
Sumpf (welcher die Gränze zwischen Asien und Europa ist) liegen, so sind sie einander 
weniger gleich als die früher erwähnten. Der Grund liegt in der grösseren Verschieden- 
heit der Jahreszeiten». Nachdem im Sinne dieser Ansicht einige übertriebene Behauptungen 
vorgebracht sind, nach denen es scheint, als wolle der Verfasser selbst die Unebenhei- 
ten des Bodens von der Verschiedenheit der Jahreszeiten ableiten, heisst es weiter, er 
wolle die weniger abweichenden Völker bei Seite lassen, und von den Makrokephalen zuerst 
sprechen — nach dem Bruchstücke das wir oben mitgetheilt haben. Von den Makrokepha- 
len geht er über zu den Bewohnern am Phasis (den Kolchiern). Wir finden hier eine treff- 
liche medicinische Schilderung des wasserreichen Mingreliens. «So ist es mit Asien», 
schliesst der Verfasser das 16. Capitel. Das 17. Capitel beginnt so: «In Europa ist ein 
Skythisches Volk, das am Mäotischen Sumpf wohnt, die Sauromaten», von denen Einiges 
berichtet wird, was man sonst von den Amazonen zu erzählen pflegte. Die Capitel 15 — 
22 sprechen ausführlich von den eigentlichen Skythen, ihrer Constitution und ihren Krank- 
heiten. Das 23. und 24. Capitel besprechen die Körperconstitution der Völker und das 
Klima im übrigen Europa. 

Ist es nicht offenbar, dass der Verfasser eine Rundschau hält, im Osten beginnt und 
allmälig durch Nord nach Westen übergeht?°). Ist es so, wie ich nicht zweifeln kann, so 
finden sich die Makrokephalen zwischen Klein-Asien und den Kolchiern (im weiteren Sinne). 


1) Hippokrates war aus der Insel Kos gebürtig, | 1800), und es scheint, dass man ihm darin allgemein ge- 
und brachte einen Theil seines Lebens in Griechen- | folgt ist. Der Sonnenaufgang fällt in den längsten Som- 


land zu. mertagen für Kos und Griechenland auf ONO, in den 
2) Ilepı Où Toy &v Sein Too mAlou av dvarokéwv | kürzesten Wintertagen auf 030. 
тфу Sepiyav w£ypt Matwrtdog Aluyng. Die meisten Hand- 3) Es sind auch ein Paar Worte über Libyer und 


schriften haben allerdings nicht Septvov, sondern yerpe- | Acgypter an ganz unpassender Stelle eingestreut, und 
pıyvov. Koray hat in seiner Ausgabe des Buches de aëre, | deswegen ganz unverständlich. Wahrscheinlich ein spä- 
aquis et locis mit Entschiedenheit die gewöhnliche Les- | terer Zusatz. 

art verworfen und die viel seltenere angenommen (im J. 


Dre MAKROKEPHALEN IM BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 25 


Gerade dahin versetzen auch andere Griechische Schriftsteller die Makrokephalen, aber 
auch die Makronen. 

Ich kann, bevor ich Hippokrates verlasse, die Bemerkung nicht unterdrücken, dass 
die Nachricht von der Sitte der Makrokephalen, die Köpfe der Neugeborenen zu verbilden, 
in das Buch «Von der Luft, dem Wasser und den Localitäten» gar nicht zu passen scheint. 
Die ganze Tendenz dieses Buches ist offenbar die, den grossen Einfluss zu zeigen, den die 
klimatischen und überhaupt die äusseren physischen Verhältnisse auf die allgemeine Con- 
stitution und die Krankheiten des Menschen ausüben. Allerdings ist von den Neigungen 
und Sitten der Völker mitunter auch die Rede, namentlich im zweiten Theile, aber immer 
nur als geistige Constitution und als Folge der physischen Einflüsse. Eine Ausnahme 
macht nur der Bericht über die Makrokephalen, von denen erzählt wird, dass sie die Köpfe 
ihrer Kinder umformten, weil diese Form ihnen die edelste, die wünschenswertheste schien. 
Soll man annehmen, dass der Verfasser, auf irgend eine Weise zur Kenntniss dieser Sitte 
gelangt, dem Reize nicht widerstehen konnte, auch über diesen Punkt belehrend sich hö- 
ren zu lassen, obgleich er ganz andere Belehrung im Eingange der Schrift verkündet und 
im Verlaufe derselben, selbst mit übertriebenem Theoretisiren, durchführt? Bei Herodot, 
der allerlei Curiosa zu berichten weiss, hätte man dergleichen erwarten können, nicht aber 
in einer Schrift, die eine einzige medicinische Lehre mit Nachdruck durchführt. Oder soll 
man annehmen, dass dieser Abschnitt später eingeschoben ist? Ziemlich gut ist er jedoch 
mit dem Vorhergehenden und Folgenden verbunden. | 

Die Nachrichten, welche wir in der übrigen Griechischen und in der Römischen Li- 
teratur von den Makrokephalen finden, sind sehr dürftig. 

Aus Strabo lernen wir, dass dieses Wort schon in den Gedichten Hesiod’s vorkam, 
wohl in den verlorenen, denn in den erhaltenen scheint es zu fehlen. Strabo behandelt 
die Makrokephalen desHesiod mit den Pygmaeen und Halbhunden zusammen als Märchen '), 
was anzudeuten scheint, dass um seine Zeit die Bezeichnung eines Volkes, das die Köpfe 
seiner Kinder künstlich verbildete, mit diesem Namen wenigstens, nicht gebräuchlich war. 
Das Wort Makrokephalen kommt im Strabo, ausser jenen Berufungen auf Hesiod, gar 
nicht vor, wohl aber nennt er Makropogonen (Langbärte) an der Ostküste des Schwarzen 
Meeres’). Doch spricht Strabo an einer anderen Stelle selbst von einem Volke, von 
dem man sage, es habe die Sitte die Köpfe zu verbilden und zwar so, dass sie möglichst 
lang gezogen (naxpoxegadorarcı) würden und die Stirn hervortrete und über das Gesicht 
(та, yevela) vorrage”). Das wäre also seinen Worten nach eine ganz andere Verbildung als 
die uns vorliegende, bei welcher die Stirn im Gegentheil sehr zurückgedrückt ist. Eine 
solche künstliche Verbildung, wie sie hier beschrieben wird, ist allerdings nicht unmöglich, 


1) Strabo I, р. 43 und VII, р. 299, an welcher letz- | heisst: чудо 6’ entndeverv paar, tue ws axpoxcpuhw- 
teren Stelle sie aber Megalokephalen genannt werden. TAToL YAYOuYTaL, XAL MPOTENTWXITES TOÏS METWTOU, 06° 
2) Strabo XI, p. 492. VrepxUntery тыу yeveiwv. Strabo ХТ, р. 520. 


3) Der ganze Satz, den wir zu besprechen haben, 
Mémoires de 1’Аса4. Imp. des sciences, УПе Serie. 4 


26 К. Е. v. ВАЕВ, 


aber doch selten. Obgleich man aus Amerika sehr mannichfaltige — fast unglaubliche — 
Entstellungen kennen gelernt hat, ist doch keine solche aus diesem Welttheile bekannt. 
Ein langer Kopf mit übergebogener Stirn findet sich bei den weiter unten zu besprechen- 
den Scaphocephalen, die auf unserer Tab. III abgebildet sind. Das aber ist eine Verbildung 
durch abweichende Entwickelung, und es würde sehr schwer sein, sie künstlich hervorzu- 
bringen, weil die Mittellinie des Scheitels kielförmig hervorgetrieben werden müsste, was 
man durch Binden nicht erreichen wird. Aber in Frankreich kommt eine Verbildung vor, 
die an die Angaben von Strabo erinnert. Man führt um den Kopf der Kinder, besonders 
der Mädchen, ein Band oder ein Tuch vom Scheitel nach dem Unterkiefer, kreuzt es hier 
und knüpft die Enden eng angezogen auf dem Scheitel zusammen. Diese Compresse (das 
Band oder Tuch) wird also über die Gegend der vorderen Fontanelle geführt, und der Kopf, 
in der Mitte beengt, entwickelt sich in einen vorderen und einen hinteren Abschnitt und 
behält in der Mitte eine Einschnürung. Gosse nennt einen solchen Kopf une tete bilobee. 
(Geht die Binde mehr über das Stirnbein, so drückt sie dieses nieder, geht sie aber hinter 
der Kranznath über den vorderen Theil der Scheitelbeine, so wird die Stirnwölbung nach 
vorn getrieben '). Doch ist dieses Vortreten des Stirnbeins nach der Abbildung von Gosse 
nicht sehr auffallend. 

Aber: nahe liegt hier die Vermuthung, dass Strabo, der nur durch Gerüchte von 
diesem Volke gehört hatte, und seinen Namen nicht anzuführen weiss, die Nachrichten 
entstellt erhalten oder falsch aufgefasst hat, und dann wäre es wohl möglich, dass er das- 
selbe Volk im Sinne hatte, von dem Hippokrates spricht. Es scheint mir nämlich irrig, 
wenn man meint, Strabo erzähle diese Sitte von den Derbiken und den Siginnen?). Der 
Zusammenhang spricht dagegen. Strabo geht nämlich den ihm bekannten Theil von 
Asien nach parallelen Zonen durch, mit der nördlichsten beginnend und mit der südlich- 
sten endigend. In jeder einzelnen Zone folgen aber die Länder von Westen nach Osten 
aufeinander. Die Zonen sind nicht genau nach der Breite, sondern mehr nach natürlichen 
Gränzen bestimmt. So folgen in einer Zone die Länder an der Mäotis, der Kaukasus, Kol- 
chis, Iberien, Albanien, das Kaspische Meer, Hyrkanien, die Länder östlich vom Kaspi- 
schen Meere bis Bactrien. Bevor Strabo nun zum Taurus übergeht, welcher eine mehr 
südliche Reihe von Ländern (Medien, Armenien) von der nördlichen scheidet, theilt er noch 
zerstreute Nachrichten über Völker mit, von denen er Einiges gehört hat, und deren Sitze 
ihm nicht völlig bekannt sind, die aber, seiner Meinung nach, in diese Zone gehören. Von 
einigen weist er es besonders nach, z.B. den Tapyren, die nördlich von den Hyrkanern ihre 
Sitze haben, und den Kaspiern, deren Sitz früher angedeutet war. Im Allgemeinen sagt er 
aber beim Beginn dieses Kapitels: Er müsse noch einige Sonderbarkeiten erwähnen, die 
man von den völlig barbarischen Völkern, wie von jenen um den Kaukasus und die an- 


1) So nach Gosse: Essai sur les déformations artifi- | handlung von Dr. Lunier habe ich nicht Gelegenheit 
cielles du crâne р. 66 et Tab. II. Fig. 5. Die Original-Ab- | zu vergleichen. 
2) Wie Gosse р. 13., auch Fitzinger a. а. 0. 


Die MAKRoKEPHALEN im BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 97 


deren Gebirge, erzählt. Es folgen nun allerlei heterogene Nachrichten von verschiedenen 
Völkern. Darunter auch einige von den Gewohnheiten der Derbiken, andere von den Siginnen. 
Darauf heisst es weiter: «Von einigen sagt man, dass sie sich bemühen möglichst lange 
Köpfe sich zu erkünsteln». Es ist nicht wahrscheinlich, dass mit diesem +uwès einige von 
den Siginnen gemeint sind, sondern es steht wohl in der Bedeutung von sunt qui... es giebt 
auch Leute, welche... Groskurd übersetzt geradezu, nachdem er den Satz von den 
Siginnen durch einen Punkt geschlossen hat: «Andere Völker sollen sich bemühen, eine 
möglichst langköpfige Bildung zu erkünsteln»'). Wenn sie nun andere waren als die vor- 
hergenannten, so bleiben sie unbenannt. Ihre Sitze werden auch nicht bezeichnet, und 
sie liessen sich von den Hippokratischen Langköpfen nur unterscheiden, wenn die Form 
der letzteren näher angegeben wäre. 

Im Periplus des Mittelländischen Meeres von Skylax, dessen Abfassung sehr alt sein 
soll, älter als Herodot, der aber spätere Umarbeitungen und Zusätze erfahren hat, oder 
nicht vom alten Skylax ist, kommt nicht nur der Name der Makrokephalen vor, sondern der 
Sitz des Volkes wird genau angegeben. Von dem Ursprunge des Namens oder der Sitte der 
Kopf-Formung wird nichts gesagt, da das Ganze überhaupt nur eine summarische Uebersicht 
der Küsten-Landschaften ist. Der Verfasser beginnt mit Europa. Vom Tanais geht er über 
nach Asien und nennt die Sauromaten, Maioten, Sinden, Melanchlaenen, die nach Herodot mehr 
westlich sassen, die Kolchier, bei denen er verweilt und mehrere Flüsse und Städte, sowohl 
Griechische als Barbarische, aufzählt. Es folgen noch einige Völkerschaften, die Byzeren, 
Ekecheirier, Bechiren und dann das Volk der Makrokephalen, der Hafen Psorôn (der Krätzigen) 
und die Griechische Stadt Trapezus. Wir sind somit.schon an der Südküste des Pontus 
angekommen). In jenem Winkel, wo die Ostküste des Pontus in die Südküste ausläuft, 
wohnte nach anderen Zeugnissen ein Volk, das meistens Makrones genannt wird. Das wich- 
tigste ist das von Xenophon, der auf dem Rückzuge mit seinen 10000 Griechen durch 
das Land der Makronen zog, nachdem er vorher weiter nach Nordosten gewesen war. 
Zuletzt hatte er noch mit den Kolchiern (im weiteren Sinne) an ihrer Gränze ein Handge- 
menge gehabt. Auch die Makronen waren zuvörderst zum Widerstande bereit, da sie sahen, 
dass die Griechen sich einen Weg durch den Wald bahnten, um ihr Kriegsgeräthe durch- 
zubringen. Als man ihnen aber durch einen Mann aus dem Heere, der ihre Sprache ver- 
stand, bedeutet hatte, dass man keine andere Absicht habe, als die See zu erreichen, 
wurde Freundschaft geschlossen, und die Makronen begleiteten das Griechische Heer drei 
Tage lang durch ihr Land’). Offenbar wohnten die Makronen, die auch sonst häufig ge- 
nannt werden, in derselben Gegend, in welche die wenigen Schriftsteller, die den Sitz der 
Makrokephalen geographisch bestimmen, diese versetzen. Es liegt daher sehr nahe, beide 
Völker für: identisch zu halten. Diese Meinung ist auch, so viel ich weiss, die allgemeine 
bei den Graecologen unserer Zeit. Es giebt auch ein bestimmtes Zeugniss dafür in einem 

1) Strabo’s Erdbeschreibung verdeutscht von Gros- 2) Skylacis Periplus ponti Enz. $. 72 — 85. 


kurd, IL, 5. 415, 3) Kenophon’s Anabasis IV, с. 8. 


. * 


28 К. Е. т. Baer, 


ziemlich alten Schriftsteller, im Periplus des Pseudo-Arrian, einer Rundreise, welche 
aus mehreren anderen Schriften im 5. Jahrhundert nach Chr. zusammengetragen ist. Hier 
heisst es, dass nahe von Trapezunt ein Volk wohnte, das man Makrones oder Makrokephaloi 
nannte '). Es ist daher wohl von geringer Bedeutung, dass Plinius die Macrones und Ma- 
crocephali neben einander nennt”). Dergleichen kommt bei den Compilatoren oft vor. Es 
bestand auch der Name der Makronen damals (nach der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.) 
nicht mehr. Strabo nämlich, der zwei Menschenalter vor Plinius schrieb’) und die Ge- 
gend sehr viel besser kennen musste als der Römische Polyhistor, da er aus der Geogra- 
phie ein besonderes Studium machte, und überdies ganz nahe von dieser Gegend, aus 
Amisus gebürtig war, Strabo sagt sehr bestimmt, dass das Volk, welches zu seiner Zeit San- 
noi genannt wurde, früher den Namen Makrones geführt habe. Strabo beschreibt alle diese 
Bergvölker, denn er nennt deren noch mehre, als sehr roh und wild. Die Makronen müssen 
vor Strabo’s Zeit ein viel genanntes Volk gewesen sein. So kommen sie bei Herodot 
mehrmals vor‘), als Nachbarn der Kolchier, als Tributpflichtige der Perser, als Truppen 
im Heere des Xerxes, immer aber mit denselben Nachbarn. Sie erscheinen hier aber nicht 
als blosse Räuber-Völker, da sie auf regelmässigen Tribut gesetzt waren und im Heere 
Dienste leisteten. Da scheint es denn möglich, dass die Sanner nicht wirklich die alten 
Makronen waren, sondern dass diese sich fortgezogen hatten. Auffallend ist, wie schon 
Rathke bemerkt, dass Xenophon, der doch so anhaltend mit den Makronen verkehrte), 
zu einer Zeit, wo eben die alten Makronen noch da waren, mit keiner Sylbe der Sitte der 
künstlichen Kopfverbildung oder einer Besonderheit der Köpfe erwähnt. Aber freilich 
Hippokrates sagt, die Sitte habe zu seiner Zeit schon aufgehört. Es scheint sogar, dass 
die Wiederholung derselben Form durch die Natur, wie er sie behauptet, aufgehört hatte. 

Noch erwähnt der Makrokephalen Pomponius Mela, der aus Spanien gebürtig war 
und um die Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. lebte. Fitzinger sagt von ihm, er 
versetze dieses Volk in die Nähe des Thrakischen Bosporus oder die Meerenge von Kon- 
stantinopel. Ich kann dieser Meinung durchaus nicht beistimmen. Vielmehr setzt er die 
Makrokephalen gerade in dieselbe Gegend wie Skylax, wo wir aber auch die Makronen zu 
Xenophon’s Zeit finden. Pomponius Mela entwirft nämlich ein Handbuch der Geogra- 
phie unter dem Titel: De situ orbis. Nachdem er die Welt in drei Theile: Afrika, Asien 
und Europa abgetheilt und von jedem Welttheile eine ganz kurze Skizze gegeben hat 
(Cap. 1 — 4), geht er zuvörderst Afrika ausführlicher durch (Сар. 5 — 8) und wendet sich 
dann nach Asien. Zu diesem Welttheile wird, wie so häufig bei den Alten, Aegypten ge- 
rechnet (Cap. 9); es folgen Arabien, Syrien, Phönicien, Cilicien, Pamphylien, Lycien, Ca- 


1) Anonymi Periplus Ponti Euxini $ 37 in Geogr. 5) Das Griechische Heer hatte die Makronen nicht 
Graec. Minores Ed. Con. Müller Vol. р. 410. allein bei dem Marsche durch ihr Land kennen gelernt, 
2) Plin. hist. nat. VI, 4. sondern als es längere Zeit an der Küste lagerte, wurde 
3) Strabo XII, р. 548. es von den Makronen mit Lebensmitteln versorgt. Ana- 


4) Herodot II, Cap. 104; III, Cap. 94; VII, Cap. 78. | basis У, Cap. 5: 


Die MAKROKEPHALEN IM BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC 29 


rien, Ionien, Aeolien (Cap. 10 — 18). Man sieht, der Geograph steigt auf gegen den Helle- 
spont. Das 19. Capitel fängt an mit Abydos am Hellespont, es folgt die Propontis und 
der Thracische Bosporus. Nachdem Einiges vom Schwarzen Meere gesagt ist, verfolgt der 
Autor dessen Südküste, nennt Heraklea und viele kleinere Ortschaften, es folgen Sinope. 
Amisus, der Fluss Halys. Dann kommt eine Gegend, wo wilde Völker wohnen und die 
Städte selten sind. Es werden genannt die Chalyben, die Tibarenen, weiterhin die Mossynen, 
die ihre Könige sehr streng halten sollen; ceterum aber sind sie asperi, inculti, pernoæ appul- 
sis. Unmittelbar darauf folgt die gesuchte Stelle: Deinde minus feri (verum et hi incondins 
moribus) Macrocephali, Insochi et Buzeri. Rarae urbes: Cerasus et Trapezus maxime illustres 
Inde is locus est, ubi finem ductus а Bosporo tractus accipit, atque inde se in sinu adversi lütoris 
flexus attollens angustissimum Ponti facit angulum'). Hieraus ist deutlich, dass die Makroke- 
phalen hinter dem Halys, und auch hinter den Chalyben, Tibarenen und Mossynen lebten. 
Die beiden Städte Cerasus und Trapezus werden zwar einen Augenblick später aufgezählt, 
aber offenbar nur, weil zuerst die wilden Völker und dann die Griechischen Pflanzstädte 
genannt werden sollen. Es wird auch bestimmt gesagt, dass man nun im östlichen Winkel 
des Schwarzen Meeres angekommen ist, und sollte man darüber noch in Zweifel sein kön- 
nen, so müssen die nächstfolgenden Sätze ihn heben: Hic (nämlich von diesem Winkel an) 
sunt Colchi, hic Phasis erumpit... so geht es fort zu den Kaukasischen Bergen, nach Pha- 
nagoria п. з. м. Pomponius Mela versetzt also die Makrokephalen gerade dahin, wo Sky- 
lax sie aufführt, und ich zweifle gar nicht, dass er dem Skylax oder einer späteren aus 
diesem fliessenden Quelle folgt, da er die sonst wenig genannten Buzeri (Byzeres) des Sky- 
lax aufführt. Die Insochi kommen auch beim Steph. Byzantinus vor’). Pomponius 
Mela widerspricht also dem Skylax gar nicht, sondern folgt ihm. Da er aber von diesen 
Gegenden keine nähere Kenntniss hat, so ist er auch eben so wenig als Plinius eine Auto- 
rität dafür, dass der Name der Makrokephalen noch gangbar war. 

Dass viel spätere Lexicographen, wie Stephanus Byzantinus im fünften Jahrhun- 
dert, und Suidas im neunten oder zehnten, die Makrokephalen in ihre Wörterbücher auf- 
genommen haben, beweist natürlich nicht, dass man sie damals kannte, oder etwas anderes 
von ihnen wusste, als was sich in Büchern älterer Zeit fand. Stephanus Byzantinus 
sagt in seinem geographischen Wörterbuche nur, dass sie den Kolchiern benachbart waren. 
Er führt auch die Makronen besonders auf, mit dem Zusatze, dass sie nach Strabo jetzt 
Sannoi hiessen. Suidas Lexicon könnte als ein zu spätes Werk ganz übergangen werden, 
wenn es nicht bemerkte, dass Harpokration, auf Autorität eines verlorenen Werkes von 
Palaephatus , die Makrokephalen in Libyen oberhalb der Kolchier angiebt. Diese Angabe 
könnte von ganz anderen Makrokephalen zu sprechen scheinen; es soll aber mit dem Worte 
Libya nicht Afrika, sondern eine Kolchische Gegend bezeichnet werden, wie die gelehrten 
Commentatoren nachzuweisen sich bestreben. Der Ausdruck лера Kéhyov «oberhalb der 


1) Nach Gronov’s Ausgabe Lugd. Bat. 1722. 80. ?) Es wäre aber auch möglich, dass die Henochier 
Strabo’s gemeint sind. 


30 | К. Е. у. Baer, 


- Kolchier» weist wenigstens nach, dass an Afrika nicht zu denken ist"). Man könnte wohl 
an ein Volk, das jenseit der Kolchier oder nördlich von den Kolchiern wohnte, denken, und 
das ist für uns, die wir. Nachrichten über ein Volk suchen, dessen Reste am Kimmerischen 
Bosporus sich finden, nicht ohne Interesse. Wenn aber das Wort vrepavww in seiner ur- 
sprünglichen Bedeutung von «oberhalb» genommen werden muss, so kann man, da Kolchis 
von allen Seiten, mit Ausnahme der westlichen, von Bergen umgeben ist, die Makrokepha- 
len nach Suidas oder vielmehr nach Palaephatus im Norden, Osten und im Süden su- 
chen. Diese Angabe passt also auch auf den Wohnsitz der Makronen. 

Prof. Karl Koch, der als Naturforscher auf wiederholten Reisen die Pontisch-Kau- 
kasischen Gegenden gründlich studirte, hat in einer besonderen Schrift den Zug der 10000 
Griechen nach den ihm bekannten Localitäten nachgewiesen. Er sucht auch die Wohn- 
sitze der von Xenophon viel genannten Makronen auf. Sie lebten auf dem Pontischen 
Gebirge, das am Süd-Ostwinkel des Pontus sich hinzieht. Noch jetzt führt ein bedeuten- 
der nach Norden gerichteter Ausläufer des Gebirges den Namen Makur-Dagh, а. В. Makur- 
Berg, der entweder von den Makronen seinen Namen hat, oder wenn die Benennung 
der Localität noch älter sein soilte, dem Volke den Namen gab. Der Name Sannoi, der 
nach Strabo den der Makronen verdrängt hatte, scheint in dem heutigen Volksnamen der 
Dschanen sich wieder zu finden’). 


Ç 6. Ob die verbildeten Köpfe von den Hunnen stammen? 


Ich muss einen besonderen Abschnitt den Hunnen widmen, da Herr Dr. Г. А. Gosse, 
der einzige Schriftsteller, der es bisher unternommen hat, alle Nachrichten über die Sitte 
der künstlichen Kopf-Verbildungen zusammen zu stellen und übersichtlich zu ordnen, und 
Amédée Thierry, der die gründlichsten Studien in der Geschichte der Hunnen gemacht 
hat, der Meinung sind, dieses Volk habe die genannte Sitte gehabt. Man glaubt sogar auf 
einer Denkmünze, die zur Erinnerung an Attila geprägt oder gegossen ist, diese Verbil- 
dung zu erkennen, und zwar eine solche, wie sie an den von uns beschriebenen Köpfen vor- 
kommt. Wären diese Angaben unzweifelhaft, so wäre auch nicht weiter nach dem Volke 
zu suchen, dem die Krymschen Makrokephalen angehört haben. Aber so bedeutend auch 
die angeführten Autoritäten scheinen, so haben sie mich doch nicht überzeugen können. 

Fangen wir zuvörderst mit der Medaille an. Sie ist allerdings nie als Beweismittel 
Jetrachtet und kann als solches durchaus nicht gelten. Indessen hat es doch einiges Auf- 
sehen erregt, und man hat sich darauf berufen, dass Herr Fitzinger seine Abhandlung 
über die (Oesterreichischen) Awaren-Schädel mit folgender Bemerkung beendete: 


1) Indessen wird in dem Onomasticon von Jul. Pol- doch woll die Langköpfe in das Land der Wunder ver- 
lux, einer Art von Lexicon, das Wort axpoxéoañoc ge- | setzt. ; 
radezu erklärt als ein Volk rept AtBunv. Jul. Pollucis 2) Prof. K. Koch. Der Zug der Zehntausend, nach 
Onomasticon. ed. Bekker р. 65. Man hat also später | Xenophon’s Anabasis geographisch erläutert, S. 108. 


Die MaxrokePaaLen im BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 31 


«Zum Schlusse will ich noch auf einen Umstand aufmerksam machen, der, wenn er 
«auch nur ein zufälliger sein sollte, mir dennoch einige Beachtung zu verdienen scheint. 
«Die meisten numismatischen Sammlungen bewahren eine alte Medaille, welche zum Ge- 
«dächtniss der Zerstörung von Aquileja durch den Hunnen-König Attila gegossen wurde. 
«Ich kenne solche Güsse von Gold, Silber, Bronze und Eisen. Diese Medaille enthält auf 
«der Vorderseite das Brustbild Attila’s, auf der Kehrseite die Ruinen der Stadt Aquileja. 
«Obgleich der Ursprung derselben nicht bekannt ist, so lässt doch die rohe Arbeit und über- 
«haupt der ganze Charakter denselben mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den Anfang 
«oder die Mitte des 16. Jahrhunderts festtellen. Das ganze Fabrikat deutet auf ein italie- 
«nisches, vielleicht auf ein aquilegisches. So viel mir bekannt, giebt es von dieser Me- 
«daille zwei Varianten, wovon die eine die Jahreszahl 441, die zweite die Jahreszahl 451 
«zeigt. Auf beiden gewahrt man in dem Umrisse des Kopfes Attila’s eine so grosse Aehn- 
«lichkeit mit der Gestalt der Köpfe der Awaren, dass man unwillkührlich zur Vermuthung 
«hingezogen wird, irgend ein Awaren-Schädel habe dem Formschneider hierbei als Vorbild 
«zu seinem Attila gedient. Ein bloss zufälliges Zusammentreffen der Phantasie des Künst- 
«lers ist bei einer so auffallenden Uebereinstimmung nicht denkbar». 

Ein Zeugniss für die künstliche Gestaltung von Attila’s Kopf wird hier also nicht 
im Entferntesten behauptet, aber dadurch, dass der Verfasser eine auffallende Aehnlich- 
keit mit seinen Awaren-Köpfen zu finden glaubte, hat er Aufmerksamkeit erregt, die viel- 
leicht nicht ohne Einfluss auf die Versuche geblieben ist, die künstliche Verbildung des 
Kopfes als eine Sitte der Hunnen darzustellen, vielleicht ohne die angezogene Stelle oder 
die Denkmünze selbst genau angesehen zu haben. Man konnte etwa glauben, dass am 

Orte, in dem die Münze verfertigt wurde, noch eine Sage von der sonderbaren Gestaltung 
von Attila’s Kopf sich erhalten haben möge. 

Wir werden bald hören, dass man gleichzeitige Beschreibungen von Attila’s Persön- 
lichkeit besitzt, dass aber keine derselben auf einen nach hinten übergebogenen Scheitel 
deutet. 

Aber was sagt diese Denkmünze denn aus? Ich habe die Münze selbst leider bis 
jetzt nicht zur Ansicht bekommen können. In der sehr reichen Sammlung der Kaiser]. 
Eremitage soll sie sich nicht finden, vielleicht weil man sie als ein zu schlechtes Mach- 
werk neuerer Zeit gar nicht aufgenommen hat. Es ist aber wahrscheinlich dieselbe, welche 
auf dem Titelblatte einer Dissertation des 17. Jahrhunderts: Attila Hunnorum rex... Prae- 
side Rudolpho Roht, Ulmensi, respondente J. Christ. Papa, Westhusio-Thuringo, 1679 4°, (ohne 
Druckort) in Kupfer gestochen ist. Auf dem Revers dieser Medaille sieht man die Ruinen 
einer Stadt mit der Legende Aguileia, auf der Vorderseite ein Brustbild im Harnisch mit 
der Legende Aitla-Rex. Sie war ex Museo Dr. J. And. Bosii, wie der Kupferstich besagt. 
Wenn nicht mehrere Denkmünzen auf die Zerstörung von Aquileja geprägt sind, so ist 
das die gemeinte. Auch ist die Stirn von Attila in der That stark zurückweichend, aber 
diesem Verhältniss entspricht auch das stark vortretende Gesicht mit scharf erhobener 


32 К. Е. v. Baer, 


Nase. Nicht im geringsten ist das Vortreten und Ueberhängen des Scheitels nach hinten 
ausgedrückt. Dagegen hat der Künstler den Kopf mit zwei Hörnern bedacht, die regel- 
recht aus dem oberen Theile des Stirnbeins herausgewachsen scheinen. In dieser Medaille 
wenigstens kann ich nichts von der makrokephalen Form erkennen. Dagegen passt was 
Pierquin de Gembloux von einem Bildniss Attila’s in der 22. Lieferung der Galerie 
Historique sagt: man habe den Kopf eines Fauns genommen und ihm auch seine Hörner 
gelassen, so sehr auf unsere Denkmünze, dass ich glaube, der Zeichner habe diesen copirt. 
Es ist ein wahrer Fauns-Kopf, denn auch das Ohr ist thierisch zugespitzt, wie man es 
den Faunen zu geben pflegt. Wie wenig überhaupt solche Artefacte von Künstlern, die 
aller Studien entbehren, Werth haben, tritt uns sehr auffallend durch eine andere Denk- 
münze auf Attila entgegen, die auf demselben Titelblatte neben der ersten im Kupfer- 
stich zu sehen ist. Hier hat Attila eine senkrecht aufsteigende Stirn und ist sehr doli- 
chocephal, während auf der anderen der Kopf übertrieben kurz erscheint. Um den Be- 
‚ schauer nicht in Zweifel zu lassen, liest er in der Legende Attila Rex. Flagellum Deus (sic!) 
Auf der Rückseite ist ein jämmerlich verzeichneter Löwe, der einen eben so jammervollen 
alten nackten Mann trägt, mit Schwert und Geissel in den Händen, welcher wohl die Zeit 
oder Saturn bedeuten soll. 

Ob es noch eine andere Denkmünze geben mag, welche die Ruinen von Aquileja 
auf der Rückseite darstellt, weiss ich nicht, scheint mir auch sehr überflüssig zu erforschen, 
da eine gleichzeitige Münze mit Attila’s Bildniss nicht bekannt ist'). Ich habe überhaupt 
jener Denkmünze nur aus einem besonderen Grunde Erwähnung gethan, der sogleich her- 
vortreten wird. 

Dr. Gosse sagt ganz kurz, die Hunnen hätten nach Jornandes und Ammianus 
Marcellinus die Sitte gehabt, die Köpfe zu verbilden”). Von dem ersten Schriftsteller 
führt er nur das bekannte Werk ohne nähere Nachweisung der Stelle, von dem letzteren 
aber die Seite an. In keinem von beiden finde ich eine Beschreibung dieser Art, und kei- 
ner von den vielen Schriftstellern, die nach ihnen über die Hunnen geschrieben haben, 
scheint sie gefunden zu haben. Beide geben allerdings Schilderungen von den Hunnen, 


1) Man hat früher eine Menge Münzen mit den Le- | liche Gesichtsbildung ohne Bart, mit flacher Nase, schma- 
genden Ateula, Ativla, Athil, Atil, Attila für Münzen des | ler Augenlider-Spalte und sehr starkem Nacken darzu- 
Hunnen-Königs Attila gehalten, diese Deutung ist aber | stellen. Abgesehen von der Ungeschicklichkeit des 
von den strengeren Numismatikern verworfen und es | Künstlers, die z. B. den Hals gar zu dick und den Schä- 
giebt, wie mir unser College Stephani sagt, keine an- | del zu lang gemacht hat, kann man die Mongolische Phy- 
erkannte Münze mit Attila’s Bildniss. Jene Münzen | siognomie doch kaum verkennen. Beschrieben und ab- 
werden für Gallische gehalten. Ich habe von diesen | gebildet ist dieser Camee in einer Schrift, deren Kennt- 
Ateula- etc. Münzen mehrere kleine in der Eremitage | niss ich der Gefälligkeit meines verehrten Collegen Ku- 
gesehen. Mir schienen die Köpfe so ungeschickt ausge- | nik verdanke. Sie führt den Titel: Attila sous le rap- 
führt, dass, selbst wenn sie Attila darstellen sollten, | port iconographique. Lettre à M. le Vicomte de Santarem, 
man doch seine Bildung nicht erkennen würde. — Indes- | par Pierquin de Gembloux. Paris 1845. 50. Der hier 
sen giebt es doch vielleicht ein authentisches Bild, ob- | abgebildete Kopf ist gar nicht aufsteigend, wie ın unse- 
gleich von ungeschickter Hand ausgeführt — nicht auf | ren Makrokephalen. 
einer Münze, sondern auf einem Camee. In diesem hat 2) Gosse, 1. с. р. 14. 
man sich offenbar bemüht, еше bei uns nicht gewöhn- 


Die MakROKEPHALEN 1m BODEN DER KRYM UND OESTERREICES, VERGLICHEN ETC. 38 


welche alle wesentliche Charaktere des Mongolischen Menschen-Stammes enthalten. Ich 
wiederhole diese Schilderung so weit sie das Körperliche der Hunnen betrifft, vollständig, 
und von dem Gemälde der Sitten das Wesentliche, theils um die Ueberzeugung, dass sie 
Mongolisches Ansehen hatten, nochmals zu begründen, theils aber auch um zu zeigen, 


dass die genannten Schriftsteller kein Wort sagen, welches auf künstliche Kopfbildung 
gedeutet werden könnte. 


Fangen wir an mit Ammianus Marcellinus als dem ältesten Zeugen. Er war aus 
Antiochien gebürtig, lebte später in Rom und war Zeitgenosse vom ersten Auftreten der 
Hunnen. Dass unser Autor einzelne Glieder dieses Volkes gesehen habe. ist zwar nicht 
gewiss, aber doch sehr möglich, ja wahrscheinlich, denn Theodosius verwendete schon 
Hunnen zu Kriegsdiensten (in den Jahren 388 und 391) und Ammianus lebte um diese 
Zeit noch. Früher hatte er selbst Kriegsdienste gethan. Jedenfalls wird seine Schil- 
derung von späteren Schriftstellern bestätigt, theilweise sogar wörtlich wiederholt. 

Sie ist folgende '): 


Hunnorum gens, monumentis veteribus leviter nota, ultra paludes Maeoticas glacialem Ocea- 
num accolens, omnem modum feritatis ежседи. Ubi quoniam ab ipsis nascendi primitiis infantum 
ferro sulcantur altius genae, ut pilorum vigor tempestivus emergens corrugatis cicatricibus hebetetur, 
senescunt imberbes absque ulla venustate, spadonibus similes: compactis omnes firmisque membris 
et opimis cervicibus: prodigiosae formae et pandi ut bipedes existimes bestias, vel quales in commar- 
ginandis pontibus effigiati stipites dolantur incompte. In hominum autem figura licet insuavi йа 
vis; sunt asperi, ut neque igni, neque saporatis indigeant cibis, sed radicibus herbarum agrestium (!) 
el semicruda cujusvis pecoris carne vescantur, quam inter femora sua et equorum terga subsertam, 
fotu calefacient brevi. Aedificiis nullis unquam tecti : sed haec velut ab usu communt discreta sepul- 
ста declinant. Nec enim apud eos vel arundine fastigatum reperiri tugurium potest. Sed vagi 
montes peragrantes et silvas, pruinas, [атет, sitimgue perferre ab incunabulis assuescunt. Peregre 
tecta nisi adigente maxima necessitate non subeunt: nec enim apud eos securos existimant esse sub 
tectis. Indumentis operiuntur linteis, vel ex pellibus silvestrium murium consarcinatis: nec ala 1 
domestica vestis est, alia forensis. Sed semel obsoleti coloris tunica collo inserta non ante depo- 
niur aut muiatur, quam diuturna carie in pannulos defluxerit defrustata. Galeris incurvis сариа 
tegunt; hirsuta crura corüs munientes haedinis: eorumque calcer formulis nullis aptati, vetant ince- 
dere gressibus liberis. Qua causa ad pedestres parum accomodati sunt pugnas; verum equis prope 
affiei duris quidem, sed deformibus, et muliebriter, funguntur muneribus consuetis. Ex ipsis qui- 
vis in hac natione pernox et perdius ети et vendit, cibumque sumit et potum, el inchnatus сетует 
angustae jumenti, in altum soporem adusque varietatem effunditur somniorum, Et deliberatione 
super rebus proposita serüs, hoc habitu omnes in commune consultant. In dem ferneren Gemälde 
der Sitten, welches vollständig mitzutheilen überflüssig scheint, ist noch besonders charak- 


‘| Amm. Marcellini, rerum gestarum libri qui supersunt. Lib. ХХХ, с. 2. 
Mémoires de l’Acad. Imp des sciences, Vile Série. 


CC 


34 K. E. v. Baer, 


teristisch das Wanderleben auf Wagen für Weiber und Kinder, der Mangel jeder bestimm- 
ten Religion und die tumultuarische Art der Kriegführung. 

Jene Körper-Schilderung bestätigt schon, dass die Hunnen ein ganz ungewohntes 
Ansehen gehabt haben müssen, wie denn auch ihr erstes Erscheinen an der Nordküste 
des Pontus so allgemeines Entsetzen verbreitete, dass das kriegerische Volk der West- 
gothen, ohne den Widerstand auch nur zu versuchen, floh, und der grösste Theil dessel- 
ben an die Donau eilte, ein neues Vaterland an der Ostseite dieses Flusses von dem Kaiser 
Valens sich zu erbitten. Dass die Mongolische Gesichtsbildung dieses Grauen erregt 
hatte, lässt sich kaum bezweifeln, da schon dieser erste Bericht-Erstatter (Amm. Marc.) 
einige Züge derselben anführt, den dicken Hals, den gedrungenen Körperbau und die fast 
völlige Bartlosigkeit. Dass letztere eine Folge künstlicher Vernarbung sei, war wohl nur 
eine Vermuthung, durch welche sich die Römer und Germanen die Bartlosigkeit bei einem 
Volke erklärten, das nichts weniger als weibisch auftrat. So darf man wohl mit Zuversicht 
annehmen. ‘Dass man aus Erguss der Leidenschaft sich selbst verwundet, ist häufig bei 
rohen Völkern, und von den Hunnen haben wir Beweise davon bei verschiedenen Gele- 
genheiten. Dass Verwundungen zur Sitte werden um Leidenschaften auszudrücken, selbst 
wo sie nicht heftig sein mag, ist auch nicht selten, aber eine künstliche schon mit den 
Kindern vorgenommene Vernarbung, um den Bartwuchs zu unterdrücken, ist mir von kei- 
nem Volke bekannt. Der Bart ist eine zu natürliche Auszeichnung des stärkeren Ge- 
schlechtes, als dass dieses das Zeichen seines Vorzuges bei einem rohen Volke vernichten 
sollte, wo es kräftig hervortritt. Von einer anderen Verunstaltung ist hier gar nicht die 
Rede. : 

Der andere Zeuge, auf den sich Dr. Gosse beruft, ist Jornandes, ein geborener 
Gothe') des 6. Jahrhunderts, der vollkommen Römische Bildung hatte. Er lebte unter 
dem Kaiser Justinian (um 560), zu einer Zeit, als längst die Blüthe der Hunnischen 
Macht gebrochen war, ein Theil der versprengten Hunnischen Schaaren aber sich im By- 
zantinischen Reiche, südlich von der Donau, besonders in dem Landstriche niedergelassen 
hatte, der nördlich von den Mündungen der Donau, westlich von der unteren Donau und 
östlich von der Küste des Schwarzen Meeres begränzt wird, der Dobrudscha unserer Zeit. 
Diese Trümmer des Hunnen- Volkes, welche Byzantinische Unterthanen geworden waren, 
wurden als willfährige Kriegsvölker verwendet und konnten in Konstantinopel nicht un- 
bekannt sein. Ueberdies schrieb Jornandes die Geschichte seines Volkes, musste also 
die Berichte früherer Zeiten, in denen die Gothen theils freundlichen, theils feindlichen 
Verkehr mit den Hunnen hatten, wohl kennen. Auch sind in der That in seinem eben 
bezeichneten -Buche de rebus Geticis die vollständigsten Nachrichten über die Geschichte 
der Hunnen enthalten. Der erblich gewordene Volkshass macht aber, dass der Gothe die 
Farben etwas stark aufträgt. 


!) Vielleicht auch Alane. Sein Vater und Grossvater waren Secretaire bei einem Alanen-Häuptlinge gewesen. 


Dix MakROKEPHALEN IM BoDEN DER Квум UND OESTERREICES, VERGLICHEN ЕТС. 35 


Die Hunnen sind ihm fortissimarum gentium foecundissimus cespes'). Später sagt er, die 
Alanen seien von den Hunnen besiegt, weniger durch die Tapferkeit der letzteren, als 
durch das schreckliche Ansehen, das von dem der Alanen sehr verschieden sei. Nam et 
quos (Alanos) bello forsitan minime superabant, vultus sui terrore nimium pavorem ingerentes terri- 
bilitate fugabant, eo quod erat eis species pavenda nigredine, vel velut quaedam (si dici [аз est) de- 
formis offa, non facies, habensque magis puncta quam lumina. Quorum animi fiduciam torvus 
prodit adspectus, qui епат in pignora sua primo die nata desaeviunt. Nam maribus ferro genas 
secant, ut antequam lactis nutrimenta percipiant, vulneris cogantur subire tolerantiam.  Hinc im- 
berbes senescunt, et sine venustate ephebi sunt; quia facies ferro sulcata, tempestivam рИотит gra- 
пат per cicatrices absumit. Exigui quidem forma, sed атдий, motibus expediti et ad equitandum 
promptissimi: scapulis latıs et ad arcus sagittasque ратай: firmis cervicibus et in superbia semper 
erecti. Hi vero sub hominum figura vivunt belluina saevitia”). Die dunkle Hautfarbe, die 
auffallen könnte, wird auch in anderen Schilderungen und namentlich auch in Bezüg auf 
Attila selbst von Augenzeugen behauptet. Die Sage vom Zerfleischen der Wangen kommt 
hier freilich wieder vor, aber fast ganz mit den Worten von Ammianus Marcellinus, 
so dass man nicht zweifeln kann, sie sei aus diesem Schriftsteller unmittelbar geschöpft. 
Jornandes, der überall die Uebertreibungen liebt und gewaltsam Effect zu machen ge- 
neigt ist, lässt sogar den Neugeborenen die Wangen zerfleischen, bevor die Mütter 
ihnen die Brust reichen, und zwar als Abhärtungsmittel. 

Aber gesetzt auch, diese künstliche Narbenbildung wäre Sitte gewesen, woran ich 
nicht glaube, so sprechen doch beide Schriftsteller, auf die Dr. Gosse sich beruft, kein 
Wort von einer künstlichen Verbildung des Kopfes. Nun war aber Herr Dr. Gosse zu 
derselben Zeit in Paris (1855) um die Materialien zu seinem Buche über die künstliche 
Verbildung der Köpfe bei verschiedenen Völkern zu vervollständigen, als Amadée Thierry 
seine Geschichte des Attila und seiner Nachfolger, die schon in einzelnen Abschnitten in 
der Revue des deux mondes erschienen war,neu umarbeitete, um sie als selbstständiges Werk 
erscheinen zu lassen. In diesem Werke, das im folgenden Jahre (1356) in zwei Bänden 
erschien, erklärt sich der Verfasser auch für die Meinung, dass die Hunnen die Sitte ge- 
habt hätten, die Köpfe ihrer Kinder künstlich zu gestalten. Muss man nicht glauben, dass 
Herr Dr. Gosse hiervon gehört habe, entweder von Thierry selbst oder durch Vermit- 
telung Anderer, und nun glaubte, auf den betretensten Pfaden für die Kenntniss der Ge- 
schichte der Hunnen müssten sich die Beweise wohl finden? Dass dem nicht so ist, haben 
wir umständlich besprochen. 

Um so mehr Gewicht wird man auf die Meinung eines Mannes wie Thierry legen 
müssen, der anhaltende und gründliche Studien der Geschichte Galliens, der früheren Ab- 
schnitte des Mittelalters und der Geschichte der Hunnen insbesondere gewidmet hat. Er 


1) Joruandes: De Getarum $. Gothorwm origine et те-. 2) 1. с. Cap. 24. 
bus gestis, с. à. 


. * 


36 К. Е. т. Baer, 


spricht diese Meinung in zwei Anmerkungen zum ersten Bande seines Attila aus, beruft 
sich aber weder auf Amm. Marcellinus, noch aufJornandes, noch auf irgend einen der 
vielen anderen Historiker, welche er für die Geschichte Attila’s und seiner Nachfolger 
benutzt und häufig citirt hat, sondern nur auf einen lateinischen Dichter, Sidonius Apol- 
linaris, einen gelehrten und elegant gebildeten Mann aus der Auvergne, der haute volée 
damaliger Zeit angehörig und deren Urbild; in der Jugend ein wenig Krieger, doch bald 
und lieber Hofmann, wenn es bei Hofe etwas behaglich hergeht, dann wieder, wenn es 
dort miserabel wird, beredter Lobredner des Landlebens und seines romantischen Schlosses 
Avitacum , immer aber fertiger Improvisator, dem der Olymp und alle Nymphenhaine nicht 
Namen genug geben, der vielmehr die ganze Weltgeschichte zu Hülfe rufen muss, um seine 
Verse gehörig mit Schwulst und Ziererei zu versehen, Vertrauter des G@othenkönigs Theo- 
dorich und Schwiegersohn des ephemeren Römischen Kaisers Avitus, endlich als Bischof 
von Clermont Verkünder des ewigen Heils. Von diesem Allerwelts-Manne besitzen wir 
‘еше Reihe Briefe und Gedichte. Unter den letzteren ist ein Panegyrius auf Anthemius, 
der im Jahre 566 einen Haufen Hunnen, die eingebrochen waren, zurückgetrieben hatte, 
und im Jahre darauf zum Kaiser im Occident ernannt wurde. In diesem Lobgedichte kommt 
nun folgende Schilderung der Hunnen vor: 
Gens animis membrisque minax: üa vultibus ipsis 
Infantum suus horror inest. Consurgit in arctum 
Massa rotunda caput: geminis sub fronte cavernis 
Visus adest oculis absentibus: arcta cerebri 
In cameram vix ad refugos lux pervenit orbes, 
Non tamen et clausos: nam fornice non spahoso, 
Magna vident spatia, et majorıs luminis usum 
Perspicua in puleis compensant puncta profundis. 
Tum ne per malas excrescat fistula duplex, 
Obtundit teneras circumdata fascia nares, 
Ut galeis cedant. Sie propter praelia natos 
Maternus deformat amor, quia tensa genarum 
Non interjecto ft latior area naso '). 


Ich kann aus diesen Versen nur entnehmen, dass die Hunnen flache Nasen und ein 
breites Gesicht mit seitlich vortretenden Wangenbeinen (lata area genarum) hatten, wodurch 
die Schilderung der Mongolischen Gesichtsform noch mehr vervollständigt wird. Dass die. 
Nasen künstlich flach gedrückt wurden, ist wieder nur eine Präsumtion, wie man auch in 
neueren Zeiten häufig mit grosser Zuversicht hat behaupten hören, dass die flachen Nasen 
gewisser Völker niedergepresst seien, wie z. B. der Hottentotten. Die vermeinte Absicht 
des Niederpressens, damit die Nase dem Helm nicht hinderlich werde, scheint mir gera- 


1) С. Sollii Apollinaris Sidonii, Opera. Panegyr. in Anthemium. 


Die MakrokEPHALEN im BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 37 


dezu albern erfunden, denn der Helm sollte doch nicht über die Augen reichen, und in 
der Höhe der Augen liegt erst die Nasenwurzel. Dass aber die Hunnen einen auch das 
Gesicht überdeckenden Helm gehabt hätten, wie er in einigen Jahrhunderten des Mittel- 
alters gebraucht wurde, wird nirgends angedeutet, und würde doch wohl kaum unbemerkt 
geblieben sein. Es kommt aber vorzüglich darauf an, was es heisst: Consurgit in arctum 
massa rotunda caput. Thierry übersetzt: une masse ronde qui se termine en pointe. Mir scheint 
der ganze Ausdruck ein so geschraubter, dass ein bestimmter Sinn ganz verloren geht, und 
wenigstens ein historischer Nachweis einer künstlichen Verbildung hierin nicht gesucht 
werden darf. Man sieht, der Verfasser wollte recht Schreckliches mit den übertriebensten 
Ausdrücken schildern, denn die Schmeichelei damaliger Zeit musste bis zum Unsinn gehen, 
um sich fühlbar zu machen). Was heisst es z. B., dass die Hunnen wohl sahen, aber 
ohne Augen (Visus adest oculis absentibus), dass aber das Licht durch Punkte in tiefe Brun- 
nen drang? Auch die obige Stelle ist nach der gangbaren Lesart jedenfalls sehr unklar, 
würde aber verständlicher werden, wenn wir einen Fehler des Abschreibers vermuthen, 
und statt arctum, arcum oder arcem lesen. Dass man die Worte massa rotunda nicht als ablat. 
nehmen darf, lehrt der Versbau. Sie müssen also eine Art Apposition bilden und der Satz 
wird sich so construiren lassen: Caput, massa rotunda, consurgü in... arctum, was allerdings 
so verstanden werden kann, dass der Kopf sich nach oben verengt. Es ist aber doch im 
höchsten Grade geschraubt und deswegen unklar, wenn der Kopf doch zugleich als runde 
Masse bezeichnet wird. Lese ich aber: Caput, massa rotunda, consurgit in arcum, so habe ich 
eine ganz einfache Schilderung der Mongolischen Kopfbildung, nur mit versetzter Wort- 
folge, wie sie dem Dichter erlaubt ist, von dem besprochenen aber ganz besonders geübt und 
geliebt wird. Arcem wäre vielleicht noch richtiger, denn arx capitis heisst oft der Scheitel. 

Diese Verse des Sidon. Apollinaris werden von Thierry zweimal in Anmerkun- 
gen angeführt. Sehr wichtig für uns ist eine Bemerkung des gelehrten Verfassers bei der 
zweiten Gelegenheit: On voit par ce qui précède que les Huns exercaient sur la téte de leurs en- 
fants nouveau-nés deux espèces particulières de déformations. La premiere regardait la face. Au 
moyen de linges fortement serrés, ils obtenaient l’aplatissement du nez et la dilatation des pommeltes 
des joues. Allerdings behauptet der Dichter, dass die Mutter den Kindern die Nase durch 
Binden niederdrückt, allein ich habe schon erklärt, dass ich hierin nur eine falsche Prä- 


sumtion der Römer vermuthe. Betrachten wir doch diese Sache einmal genauer! Wollte 
| 


1) Im Schmeicheln liess sich unser Sidonius von Nie- 
mand überbieten. ‚Als sein Schwiegervater Avitus zum 
Kaiser des Occidents ausgerufen war, musste natürlich 
der dichterische Eidam ihm einen Panegyricus widmen, 
worin er verkündet, dass Phöbus jetzt seines Gleichen 
auf der Erde sehen werde, und dem neuen Kaiser die 
glänzendsten Thaten voraussagt. Nachdem Avitus aber 
schon nach einem Jahre vom Senat als unfähig abgesetzt 
und Majoranus zum Cäsar gewählt war, forderte die 


Klugheit auch dieses neue Gestirn anzusingen, und als 
nach einigen Jahren Anthemius den Thron bestieg 
und Anstalt machte Gallien zu besuchen, was konnte da 
Sidonius weniger thun, als auch ihn in einem Lobge- 
dichte zu verherrlichen. Die Hunnen, die er besiegt 
hatte, mussten also recht schrecklich gemacht werden. 
Sie waren ohne Augen und ohne Nase (non interjecto naso). 

2?) Thierry: Histoire d’Attila et de ses successeurs. 
Vol. I, p. 8 et p. 272. 


38 К. Е. т. Baer, 


man eine etwas breite Binde über die ganze Nase des Neugeborenen fest anlegen, so würde 
der untere Abschnitt derselben, der keine Knochen enthält, doch sicher ganz niederge- 
drückt werden und das Kind nicht mehr durch die Nase athmen können. «Es kann ja 
durch den Mund athmen», wird man bemerken. Gewiss, aber beim Saugen an der Mutter- 
brust, wird es da gar nicht athmen? oder soll man lieber annehmen, dass die Kinder der 
Hunnen gar nicht an der Mutterbrust saugten? Wollte man sich aber denken, dass die 
Hunnen-Weiber sehr sorgsam mit einem schmalen Bande nur den knöchernen Theil der 
Nase umwickelten, so würde dieses allerdings die fernere Erhebung des Nasenrückens ver- 
hindern, aber es würde, wenn auch das Knochengerüst so nachgiebig wie Gutta percha wäre, 
in Bezug auf die Jochbeine gerade die entgegengesetzte Wirkung von dem hier erwarteten 
Erfolge haben. Diese schmale Binde, ganz abgesehen davon, dass sie sehr tief in die wei- 
chen Theile einschneiden müsste, könnte nur über die Jochbeine geführt werden, würde 
diese in ihrer Entwickelung hemmen und könnte nur eine vermehrte Entwickelung des 
Alveolarrandes der Kieferbeine bewirken, nicht eine Breite der Wangen. Man sieht leicht, 
was man sich bei der Präsumtion gedacht hat; nämlich, dass mit dem Niederdrücken der 
Nase diese breiter werden und die Wangen hervortreiben müsse, wie bei einer Kautschuk- 
Puppe das Gesicht breiter wird, wenn man mit dem Finger gegen die Nase drückt. Nota 
bene diesen Erfolg hat ein Druck von einem Punkte oder von einer begränzten kleinen 
Fläche aus, nicht der Druck durch eine Binde! Die ganze Erklärungsart, weshalb die 
Hunnen flache, breite Nasen und ein breites Gesicht hatten, was auch durch andere posi- 
tive Nachrichten ohne Erklärungsgrund angegeben wird, ist eine falsche. So glauben wir 
deutlich gemacht zu haben, dass Sidonius Apollinaris auch in Bezug auf das künstliche 
Niederdrücken der Nase keine Autorität ist, sondern nur einem albernen Gerüchte folgte. 
Thierry meint, unser Dichter werde wohl selbst die Hunnen gesehen haben. Ich muss 
auch das bezweifeln. Sid. Apollinaris war in der Gegend von Lyon geboren und lebte 
später in der Auvergne, wenn er nicht in Rom war. Der Zug der Hunnen kam in diese 
Gegenden gar nicht, sondern ging durch die Champagne, dann die Seine hinab, aus der 
Gegend von Paris gerade nach Orleans, und von hier, nachdem die Belagerung dieser Stadt 
aufgegeben war, fast denselben Weg wieder zurück. Dass unser Dichter sie aufgesucht 
habe, ist nicht sehr wahrscheinlich, da kein Panegyricus zu halten, sondern Plünderung zu 
befürchten war. Freilich ersieht man aus seinen Briefen, dass er auch in Kriegs-Diensten 
gestanden hat, aber das scheint erst nach dem Hunnen-Zuge (551) gewesen zu sein, und 
man sieht überhaupt nicht, dass er sich sehr in Gefahr begeben habe. Er würde wohl sich 
darauf berufen haben. Bei Botschaften und ähnlichen Dingen war er aber gern dabei. 
Aber fahren wir fort in der Anmerkung Thierry’s, so werden wir sogleich finden, 
warum er so viel Gewicht auf unsern Dichter legen zu müssen glaubt: La seconde (espèce 
de déformation) s’appliquait au cräne, que Гоп pétrissait en quelque sorte de manière à l’allonger 
en pain de sucre: «Consurgit in arctum massa rolunda caput». Hier spricht der Dichter nicht 
von der künstlichen Verbildung, sondern der Historiker schliesst sie, wie wir gesehen 


Dre MAKRoKEPHALEN im BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 39 


haben, nur aus dem Worte arctum. Er fährt fort: Un savant naturaliste étranger, qui a pris 
pour objet de ses recherches anthropologiques les races du nord et de l’Europe, (offenbar Herr 
Prof Retzius) avait été frappé du grand nombre de cränes déformés, que présentent les anciennes 
sépultures dans les localités occupées autrefois par les nations finno-hunniques'). Ich zweifle sehr, 
dass der Savant naturaliste étranger sich so ausgedrückt hat, da er sehr wohl wusste, dass nur 
in der Krym, in Nieder-Oesterreich und der Umgegend des Genfer Sees die stark verbil- 
deten Köpfe gefunden waren. Il me fit l'honneur de me consulter à ce sujet. Je suis heureux de 
pouvoir fournir un texte précis (?) qui réponde au besoin des sciences naturelles, et non moins heu- 
reux que celles-ci viennent appuyer d’une démonstration sans réplique les probabilités de l'histoire. 
Diese Erklärung scheint mir sehr wichtig. Amadée Thierry, der so anhaltend, so gründ- 
lich und vollständig alle historischen Quellen der ersten Hälfte des Mittelalters studirt, 
und der namentlich mit der Geschichte der Hunnen sich ganz speciell beschäftigt hatte, 
konnte nur diese Stelle des Dichters als Beweis anführen, dass die Hunnen die Köpfe 
ihrer Kinder künstlich verbildeten! Schon früher hatte derselbe Gelehrte diese Sitte einem 
Theile der Hunnen zugeschrieben (Revue des deux mondes 1852 p. 533), jetzt weist er auf 
eingetretene Veranlassung die Autorität nach. 

Man muss sich billig fragen, ob es wahrscheinlich ist, dass, wenn eine solche Sitte 
bei den -Hunnen bestand, sie nicht von Lateinischen und Griechischen Schriftstellern mit 
unzweideutigeren Worten erwähnt wäre? Man könnte denken, die Hunnen standen an 
der Gränze, die Kriegsleute, welche mit ihnen in Berührung kamen, schrieben keine Me- 
moiren, und die Schriftsteller, theils in Rom und Byzanz, theils aber in anderen Städten 
der alten Provinzen lebend, mochten wenig von der sonderbaren Kopfform der Hunnen 
erfahren. Um mir diesen Einwurf zu beantworten, habe ich versucht, allen Verkehr der 
Hunnen mit den Römern und Griechen mir zu vergegenwärtigen. Mir scheint, die Gele- 
genheit sie zu sehen, war so mannigfach, dass es kaum glaublich bleibt, dass die Kenntniss 
einer solchen Sitte, wenn sie bestand, nicht allgemein sich verbreitet hätte, zumal alle 
Schriftsteller dieser Zeit bemüht sind, den Hunnen ein schreckliches Ansehen und rohe 
Sitten zuzuschreiben. 

Um das Jahr 375 n. Chr. erschienen die Hunnen an der unteren Donau und schon 
388 und 391 soll Theodosius II. Hunnische Haufen als Hülfstruppen gebraucht haben ”). 
Nachdem die Hunnen rasch bis zu der mittleren Donau vorgedrungen waren, entwickelte 
sich auch schnell mit dem westlichen Römerreiche ein Verkehr, während der mit dem öst- 
lichen fortbestand. Aëtius, derselbe Held, der später die blutige Schlacht gegen Attila 
schlug, brachte einige Jahre seiner Jugend als Geissel im Hunnischen Lager zu, das da- 
mals unter dem Führer Rua stand. Er wurde hier ein Spielkamerad Attila’s, schloss 


schende Familie wohl Mongolen gewesen sein mögen, 
weil Attila ganz wie ein Kalmuk geschildert wird. 

2) Deguignes: Æistoire générale des uns, des Turks 
cet. Т. I, р. 2. 


') Die Hunnen gehörten nämlich nach Thierry zu 
den uralischen Finnen. Er folgt darin Schafarik, giebt 
aber an verschiedenen Stellen doch zu, dass die herr- 


40 Kan an 


Verbindungen mit vielen Häuptlingen, die er während seines ganzen Lebens unterhielt, 
und lernte deren Sprache. Ein Hunnischer Häuptling, Uldin, stand mit einem 
Haufen seiner Landsleute in Weströmischem Solde und nahm Theil an der Schlacht bei 
Florenz gegen Radagais, den Führer Germanischer Völker im Jahre 405'). Als nach 
dem Tode des Kaisers Honorius ein Prätendent, Johannes, den Thron einzunehmen 
sich bemühte und Placidia, Honorius Schwester, von Konstantinopel aus sich bemühte, 
die Ansprüche ihres noch ganz jungen Sohnes, Valentinian’s, geltend zu machen, eilte 
Aëtius zu seinen befreundeten Hunnen und kam mit einem Heere von 60000 derselben 
dem Anmasser zu Hülfe. Dieses drang zwar nicht weit vor, denn als es die Alpenpässe 
forcirt hatte, erfuhr es, dass drei Tage vorher Jahannes in Aquileja geköpft war, und 
Aëtius fand für gut, seine Hunnen wieder zu entlassen. Indessen musste doch die Be- 
kanntschaft des Römischen Heeres mit den Hunnen durch solche Züge eine mannigfache 
werden. Während Oktar, einer von Attila’s Oheimen, verwüstend bis zu den Burgun- 
dern vordrag, liess sich der andere, Rua, zum Feldherrn des Oströmischen Reiches für 
350 Pfd. Goldes jährlich unter der Bedingung ernennen, im Oströmischen Reiche nicht zu 
plündern. Diese Verbindungen konnten nicht eingeleitet und unterhalten werden, ohne 
dass Botschafter hin- und hergingen, wobei man in Konstantinopel und in Rom, mehr noch 
im Hunnischen Lager Gelegenheit haben musste, die Köpfe der Hunnen zu sehen. Als 
nun Attila zur Herrschaft kam (444), befolgte er die Politik, diese Verbindungen noch 
mehr zu unterhalten, um immer gut unterrichtet zu sein und Vorwände zu Drohungen 
und zum Angriffe zu haben. Er ermüdete beide Höfe mit jährlichen Botschaften, die auf 
sein nachdrückliches Verlangen immer glänzender werden mussten, und mit deren Hülfe 
er seinen Gehalt als Römischer Feldherr gleich Anfangs verdoppelte und endlich ver- 
sechsfachte, d. h. von 350 Pfd. auf 700, und zuletzt auf 2100 Pfd. brachte, gelegentlich 
auch wohl die Griechischen Kaiser zwang, seine Gesandten mit reichen Römischen Er- 
binnen zu vermählen. Eine von diesen Gesandtschaften an Attila ist uns besonders wich- 
tig, weil ihr der Rhetor Priscus mitgegeben war, als eine Art Secretär, und dieser uns 
die schätzenswerthesten Nachrichten hinterlassen hat, die um so mehr Beachtung verdie- 
nen, da die Gesandtschaft viele Monate bei den Hunnen verblieb. 

Wir sehen aus dem Berichte von Priscus mehr als aus irgend einem anderen, wie 
mannigfach der Verkehr der Hunnen mit beiden Hälften des Römischen Reiches war. 
Nicht nur weilte gleichzeitig mit dieser Gesandtschaft aus Konstantinopel eine andere aus 
Rom im Hunnischen Lager, sondern Attila’s oberster Beamter in Staatsangelegenheiten, 
sein Kanzler, wenn man so sagen darf, war ein geborener Grieche, Onogesios. Orestes, 
ein reicher Römer, lebte lange an Attila’s Hofe als Secretär in höheren Geschäften, so 
dass man ihn etwa Staats-Secretär nennen könnte. Dass er später wieder nach Rom über- 
ging und sein Sobn, Romulus Augustulus, es war, der zuletzt die Römische Kaiserwürde 


1) Orosins, VII, 40. 


Die MakRoKkPHALEN тм BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 41 


bekleidete, bemerken wir nur, um darauf aufmerksam zu machen, dass in Rom Gelegenheit 
genug war, die Sitten und Gewohnheiten der Hunnen kennen zu lernen. Wir hören gele- 
gentlich von einem anderen Secretär Attila’s, der Constantius hiess und ihm von der 
Gesandtschaft aus Rom zugeführt wurde. Priscus fand nicht nur einen Römischen Bau- 
meister in Lager, den die Hunnen aus einer geplünderten Stadt mitgenommen hatten, um 
ihnen Römische Bäder einzurichten, sondern er war höchlich erstaunt, am ersten Morgen, 
bei dem ersten Gange durch das Lager, bevor er noch irgend Jemand in Geschäften hatte 
sprechen können, Griechisch angeredet zu werden. Es war ein Kaufmann, der der Vexa- 
tionen der Byzantinischen Beamten müde, bei den Hunnen sich niederglassen hatte und 
sich glücklich pries, es gethan zu haben. Es sind dieses Erwähnungen, die bei Priscus 
nur ganz zufällig vorkommen, und eine Menge anderer Römer und Griechen voraussetzen 
lassen, die ihr Glück bei den Hunnen versuchten. So entschloss sich 448 ein berühmter, 
in Gallien ansässiger Arzt, Eudoxus, um den dortigen Wirren zu entgehen, zu Attila 
zu ziehen, ja eine Römische Kaisertochter, Honoria, die Schwester Valentinian’s III, 
die man dem Klosterleben gewidmet hatte und die wenig Beruf dazu in sich fühlte, trug 
sich sogar Attila als Gemahlin an, obgleich er deren genug schon besass, und überschickte 
ihm einen Trauring (um d.J. 436). Man sieht, viele, die sich gedrängt und gedrückt im Rö- 
mischen Reiche fühlten, suchten Hülfe bei den Hunnen. So begab sich auch Aëtius zum 
dritten Male zu seinen Freunden, den Hunnen, als er im Kampfe gegen Bonifacius die- 
sen zwar tödtlich verwundet hatte, sein Heer aber völlig in die Flucht geschlagen war. 
Dagegen hielten sich auch viele Hunnen im Römischen Reiche auf, besonders im östlichen 
Theile, und Attila suchte fortwährenden Stoff zu Beschwerden in ihnen, da er die Aus- 
lieferung derselben bei jeder Gelegenheit verlangte. 

Dieser vielfache Verkehr und dieser Aufenthalt in den gegenseitigen Lagern hatte 
aber nicht etwa mit Attila begonnen, sondern muss schon früher bestanden haben, da 
es weder in Rom noch in Byzanz an Dolmetschern feblte, und Attila selbst sich in La- 
teinischer Sprache, wenn auch in gebrochener, verständlich machen konnte. Auch haben 
wir ja von früheren Besuchen und Geisseln gesprochen. Noch viel weniger konnte der 
Verkehr aufhören, nachdem Attila’s Macht gebrochen war. Nach vergeblichen Versu- 
chen, die Herrschaft über die Germanischen Völker wieder zu gewinnen, suchten und er- 
hielten einige Stämme der Hunnen Sitze im Oströmischen Reiche. Hernach, Attila’s 
Lieblings-Sohn und der friedlichste von Allen, erhielt als Römischer Vasall die Dobrudscha, 
damals Klein-Skythien genannt, zum Aufenthalt gemeinschaftlich mit dem Alanen-Häupt- 
ling Candax. Andere Hunnen wurden in Illyrien angesiedelt. Hernach’s Beispiel folgten 
Andere; seine Brüder siedelten sich in Moesien, Dacien, Pannonien und bis an die Nori- 
schen Alpen an. Denghisich, der kriegerischste von Attila’s Söhnen, will die noma- 
dische Unabhängigkeit bewahren. Bei ihm bleiben die meisten Hunnen. Sie widerstehen 
aber dem Gelüste nicht, wenn die Donau mit einer festen Eisdecke überbrückt ist, in das 
Ost-Römische Reich einzufallen, entweder gegen die dortigen Gothen (462), oder gegen 


Mémoires de l’Acad, Пир. des sciences, VIIC Serie. 6 


42 К. Е. v. Baer, 


die Rômer selbst (466). Der Consul Anthemius schlägt die letzte Invasion siegreich zu- 
rück. Bald bricht aber Denghisich selbst ein, zuerst glücklich, bei einer zweiten Inva- 
sion aber wird er gefangen, getödtet und sein Kopf, nach Konstantinopel geschickt, wird 
dort öffentlich im Circus ausgestellt. Damit hört alle politische Selbstständigkeit der Hun- 
nen auf. Die Nomaden sowohl, als die Ansässigen erkannten die Oberherrschaft des By- 
zantinischen Kaisers an, zwar unter der Botmässigkeit eigener Häuptlinge stehend, diese 
aber den Römischen Oberbeamten und Feldherren untergeben. Die Hunnen nahmen lang- 
sam zwar, aber doch allmählich Römische Sitten an, während Byzantinische Elegants mit 
Hunnischer Tracht affectirten und diese selbst am Hofe Justinian’s und in den Feldla- 
gern Belisars und Narses sich zeigte‘). Viele Hunnen nahmen Kriegsdienste im Rö- 
mischen Heere, und Thierry zählt viele Hunnen auf, die bis zu hohem Range gelangten. 
Mundo, ein Enkel Attila’s wird besonders merkwürdig. Von seinen Hunnen und Ge- 
piden nicht so anerkannt wie er erwartet, verlässt er das Nomaden-Lager, geht üher die 
Donau, wird Haupt einer Bande Raubgesindel aus allerlei Volk. Diese Bande, Scamari 
genannt, macht auf eigene Faust Eroberungen im Byzantinischen Reiche. Hart gedrängt 
in der belagerten Burg, erklärt er sich zum Vasallen des Ostgothen Theoderich, beglei- 
tet ihn in seinem Eroberungs-Zuge. Nach dessen Tode erklärt er sich für Justinian, 
der kürzlich den Byzantinischen Thron bestiegen hat. Ein Haufen Heruler folgt ihm. 
Justinian findet Gefallen an dem Abenteurer, er nimmt ihn in seinen Dienst und will ihn 
bei der Armee unter Belisar verwenden. Da bricht 532 der grosse Aufstand im Circus 
aus, der nahe daran war, Justinian Thron und Leben zu nehmen und vielleicht dem By- 
zantinischen Reiche ein Ende gemacht hätte. Der Kaiser braucht einen unverzagten De- 
gen, der das eine Thor stürmt, während er selbst im anderen vordringt. Da erinnert er 
sich des erprobten Abenteurers, und ein Enkel Attila’s rettet dem Byzantinischen Kaiser 
den Thron. Er nennt sich nun Mundus, um ganz Römer zu sein. Als solcher ficht er 
unter Belisar mit derselben Tapferkeit gegen die Ostgothen, wie er früher für sie ge- 
fochten hat. Er reinigt Dalmatien von ihnen und erobert Salona. Die Gothen kehren mit 
verstärkter Macht zurück um Salona wieder zu nehmen. Mundus schickt ihnen seinen 
Sohn Mauritius entgegen, um sie zu beobachten. Der junge Mann will aber auch krie- 
gerischen Ruhm für sich, und greift mit kleinem Haufen das Heer der Gothen an, wird 
umringt und bleibt, wie Max Piccolomini im Drama, mit allen Seinigen auf der Wahl- 
statt. Bei dieser Nachricht wird der Vater wüthend, dringt nun selbst mit seinen Schaa- 
ren gegen die Gothen an, bringt diese zum Weichen; da erkennt ein erbitterter, schon auf 
der Flucht begriffener Gothe den neuen, oder vielmehr den ersten Roland an seinem wü- 
thenden Vordringen und ersticht ihn. 

Damit endet die Geschichte der Attiliden, und auch wir müssen hier abbrechen, 
selbst wenn sich die Geschichte des Hunnischen Verkehrs mit den Römern weiter verfol- 


!) Thierry: Att. I, р. 285. 


Die MaxkokEPHALEN IM BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 43 


gen liesse, denn wir haben Stoff genug zur Beantwortung unserer Frage. Ist es glaublich, 
dass bei so vielfachen Berührungspunkten im Verlaufe von mehr als anderthalb Jahrhun- 
derten keine bestimmte Nachricht über die Sitte der Hunnen, die Köpfe zu verbilden, zu 
uns gekommen ist, wenn diese Sitte wirklich bestand? Jornandes, der uns die Hunnen 
so rednerisch schildert, war in Klein-Skythien geboren, wo sein Grossvater und sein Va- 
ter Notarien oder Secretäre bei dem Alanen-Häuptling Candax waren. In demselben 
Klein-Skythien lebten auch die zuerst angesiedelten Hunnen. Jornandes musste noth- 
wendig mit ihnen in vielfache Berührung kommen. Bestand die Sitte der künstlichen Ver- 
bildung zu seiner Zeit (um die Mitte des 6. Jahrhunderts) nicht mehr, so muss doch die 
Erinnerung bestanden haben, und Jornandes schildert ja eben die Hunnen von ehemals. 
Man könnte einwenden, dass er vorzüglich aus anderen Werken excerpirt habe. Mag sein, 
aber er findet doch Gelegenheit, indem er von der Vertheilung der Hunnen und ihren 
Verbündeten spricht, von der persönlichen Stellung seines Grossvaters und Vaters zu 
sprechen. Sollte er, indem er die in Europa einbrechenden Hunnen schildert, nicht auch 
Gelegenheit gefunden haben, von der besprochenen Sitte ein Wort fallen zu lassen, wenn 
er von ihr gehört hätte? Von dieser Sitte sollte uns überhaupt kein anderer Beweis ge- 
blieben sein, als einige unverständliche Worte des unverständlichen Sidonius Apollina- 
ris? Worte, die diesen Sinn verlieren, wenn ich ein t wegstreiche. Allerdings spricht 
derselbe Dichter deutlich vom Niederdrücken der Nase durch Binden, wodurch die Wan- 
gen breiter geworden sein sollen. Doch, dass das eine blosse Präsumtion war, und zwar 
eine sehr falsche, glaube ich deutlich nachgewiesen zu haben. 

Allerdings hat auch Herr Dr. Gosse einen ganzen Abschnitt über künstlich nieder- 
gedrückte Nasen ''). Allein auch hier beruhen einige der gesammelten Angaben auf fal- 
schen Präsumtionen, und die positiven Nachrichten sprechen vom (einmaligen) Zerdrücken 
der Nasenwurzel mittelst des Daumens, mit Einbrüchen der zarten Knochen. Das sind 
keine Unmöglichkeiten ! 


Das folgende Kapitel in Gosse’s Buch”) gehört recht eigentlich hierher. Es wird 
ein eigenes Kapitel der künstlichen Hervorbringung der Mongolen-Form gewidmet. Er 
nimmt nämlich die künstliche Verbildung des Kopfes bei den Hunnen, nach Thierry, als 
erwiesen an, und zugleich, dass die Hunnen so beschrieben werden, dass die Beschreibung 
auf Mongolen passt, folgert also sehr kühn, dass die Mongolische Form künstlich erzeugt 
sei. Selbst die Enge der Augenlider-Spalte sei erzeugt durch das seitliche Niederdrücken 
des Schädels (p. 51). In der Hitze des Erklärens lässt er die Scheitelbeine niederdrücken 
(p. 49). Nun diese stehen gewiss in unseren Makrokephalen sehr hoch und sind dabei stark 
gewölbt. Man sieht, Thierry glaubte in den Worten des Panegyrikus von Sidonius 
Apollinaris den Beweis zu finden, dass die Hunnen den Kopf in eine Spitze verlänger- 


1) Gosse: Déformations artificielles, р. 46 — 49. | 2) Gosse, 1. с. р. 49 — 53. 


44 К. Е. т. Baer, 


ten oder erhöhten, Herr Gosse dagegen findet, dass die Hunnen den Kopf flach und breit 
machten. Vernichten sich diese beiden Autoritäten nicht gegenseitig ? 

Man erlaube uns aus diesen entgegengesetzten Meinungen die Bestätigung unserer 
Ansicht zu finden, und zwar: 

1) Dass die Schilderung von Sidonius Apollinaris gar nichts lehrt, sondern eine 
affectirte, von Uebertreibungen strotzende Beschreibung von der Hässlichkeit der Hunnen ist. 

2) Dass Thierry, da er sich nur auf diese Beschreibung beruft, um die künstliche 
Kopf-Verbildung als Sitte der Hunnen zu erweisen, andere Beweise nicht gefunden ha- 
ben muss. 

3) Dass es deshalb auch gegen alle Wahrscheinlichkeit ist, die Gewohnheit der künst- 
lichen Kopfbildung bei den Hunnen anzunehmen. Eine den Römern und Griechen so auf- 
fallende Sitte würde doch schwerlich ohne Erwähnung geblieben sein. 

4) Dass die Hunnen Mongolische Kopf- und Gesichtsbildung hatten, und dass Thierry 
keinen Grund hatte, ihnen Uralisch-Finnischen Ursprung zuzuschreiben. Um das leichter 
zu können, giebt er den Finnen dunkle Gesichtsfarbe, platte Nasen! schiefe Augenschlitze ')! 
An anderen Stellen erklärt Thierry allerdings, dass ein herrschender Stamm von Mongo- 
lischer Abkunft den Asiatischen Charakter viel mehr ausgedrückt habe, denn Attila werde 
wie ein Kalmuk beschrieben. In der That zeichnet ihn Jornandes, wahrscheinlich nach 
Priscus”), der sich lange am Hofe Attila’s aufhielt, von ihm zur Tafel gezogen wurde und 
mit ihm persönlich zu verhandeln hatte, mit solchen Zügen, dass der Mongolische Typus 
nicht zu verkennen ist. Er war kurz an Gestalt, hatte eine breite Brust, sehr grossen 
Kopf, kleine Augen, schwachen Bart, grau werdendes Haar, flache Nase, dunkle Gesichts- 
farbe, so dass er seines Ursprungs Spuren nachwies®). Es ist kaum möglich, die Mongo- 
lische Gesichtsbildung prägnanter zu bezeichnen. Aber auch sein stolzes Auftreten und 
sein Charakter entsprachen der Mongolischen Gesichtsbildung. Immer hochmüthig gegen 
die Gesandten des zaghaften Theodosius П., war er nur aufbrausend, wenn er schrecken 
wollte, nie, wie es scheint, aus Leidenschaft, überhaupt verschlossen. 

Es ist aber auch sehr möglich, ja wahrscheinlich, dass nur der herrschende Stamm 
tief aus Asien eingewandert war und dass der grosse Haufe, auf welchen der Name der 
Hunnen überging, ein ganz anderer war, oder aus mehreren Völkern bestand. Dadurch 
würde es verständlich, dass das Volk der Hunnen fast verschwunden scheint, nachdem 
Attila’s Söhne nicht nur unter sich in Fehde gerathen, sondern auch von den Gothen, 
bei den Versuchen nochmals die Herrschaft über sie zu gewinnen, in wiederholten Schlach- 
ten gründlich besiegt waren. Es liegt sehr nahe, dabei an die alten Bewohner der Steppe, 


1) Au contraire, le Finnois trapu, au teint basané, au nez | Priscus nicht, allein wir besitzen diese nicht mehr in 
plat, aux pommettes saillantes, aux yeux obliques, portait | ihrer ursprünglichen Form, sondern nur in Exerpten. 
le type des races de l’Asie septentrionale. Attila I, p. 5. 3) Forma brevis. lato pectore, capite grandiore, minutis 
2) Jetzt findet sich eine Stelle in den Schriften von | oculis, rarus barba, canis adspersus, simo naso, teter colore, 
originis suae signa restituens. Jornandes, Cap. 35. 


Dre MAKRoKEPHALEN im BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 45 


die Skythen, zu denken, auf die ja die von Osten kommenden Hunnen zuerst stossen muss- 
ten. In der That nennt auch Priscus das Volk unter Attila viel häufiger Skythen als 
Hunnen. Die Skythen aber, wie sie Herodot schildert, kann ich nicht für ein Mongo- 
lisches Volk halten, weil die Köpfe, die man aus alten Skythischen Königsgräbern ausge- 
graben hat, den constantesten Character des Mongolischen Volkes, den eigenthümlichen 
Bau der Nase, gar nicht zeigen. Die Skythen kann man nach diesen Köpfen eher für ein 
Türkisches Volk halten, oder für ein Volk, das zwischen Türkischer und Finnischer Bil- 
dung in der Mitte steht, möge diese Mittelbildung als Folge gleichmässiger Mischung 
beider Typen oder als Ausgangspunkt (Indifferenz) der später erst entwickelten Verschie- 
denheit beider Typen betrachtet werden. Am liebsten möchte ich die Skythen für einen 
Stamm halten, der als ein eigener, von Finnen, Türken und Mongolen verschiedener, zu 
betrachten ist. Ich glaube bald darüber mich ausführlicher aussprechen zu können. Es 
ist daher nicht nöthig, diese Frage hier näher zu erörtern. Es kam nur darauf an, be- 
merklich zu machen, dass die herrschende Familie, zu welcher Attila gehörte, als ent- 
schieden von Mongolischer Bildung beschrieben wird. Die Masse des Volkes oder der 
verschiedenen Völker mag von ganz anderem Körperbau gewesen sein. 

Wir wissen ja, dass mehrere Germanische Völker mit den Hunnen gemeinschaftliche 
Sache machten. Einem Germanischen Volke gehören die verbildeten Schädel der Krym 
aber auch nicht an. 

Welcher Bildung die Alanen und andere Völker waren, wissen wir nicht. Doch da- 
von ein Wort zum Schluss. 


© 7. Ob die verbildeten Köpfe von den Awaren des Mittelalters herstammen ? 


Die in Nieder-Oesterreich gefundenen verbildeten Köpfe hat man den Awaren des 
Mittelalters zuschreiben zu müssen geglaubt, weil der erste ganz in der Nähe eines aner- 
kannten sogenannten Awaren-Ringes gefunden worden ist. Die Art der Verbildung dieser 
Köpfe, besonders des ersten, gerade desjenigen, der bei Grafenegg in der Nähe des Awaren- 
Ringes gefunden wurde, und den ich jetzt im Original vor mir habe, ist der Verbildung 
unseres Krymischen Makrokephalen vollkommen gleich, die ursprüngliche Form desselben, 
sn weit sie sich noch erkennen lässt, scheint auch sehr ähnlich gewesen zu sein, und weicht 
nur so wenig ab, als bei verschiedenen Individuen Eines und desselben und zwar unge- 
mischten Volkes sehr gewöhnlich ist. Es liegt also die Frage sehr nahe, ob nicht die Ma- 
krokephalen der Krym auch von den Awaren des Mittelalters stammen? 

Wir fühlen uns daher genöthigt, über diese historischen Awaren Belehrung zu su- 
chen. Leider werden aber unsere Wünsche von den Schriftstellern des Mittelalters sehr 
wenig befriedigt, so oft auch der Awaren und ihrer verwüstenden Züge Erwähnung ge- 
schieht. Es ist mir nicht gelungen, eine etwas belehrende Schilderung der Körperbildung 
zu finden, das lange in Flechten herabhängende Haar ausgenommen. Von einer Sitte, die 


46 К. Е. 1. Barr. 


Köpfe der Kinder künstlich zu verbilden, ist nirgends eine Anzeige zu finden, ja so viel 
ich weiss, auch kein Wink. Auf die Schilderung der Sitten und des Charakters auch nur 
eine Vermuthung zu gründen, scheint mehr als gewagt. Im Umfange des ehemaligen Rö- 
mischen Reiches war die christliche Religion schon allgemein geworden als die Awaren- 
Züge begannen. Grund genug, die Angreifenden abscheulich zu finden, besonders in den 
Ländern, welche das westliche Römerreich bildeten, da dort die Berichte über die späteren 
Raubzüge der Awaren meist von Geistlichen gegeben wurden. Damit wollen wir nicht im 
Entferntesten die Awaren gegen die Anklage der Zeitgenossen in Schutz nehmen. Die 
Thatsachen selbst zeigen die grosse Neigung zu List, Betrug und Verrath, so dass die 
Fürsten selbst die feierlichsten Eidschwüre öffentlich abzulegen sich nicht scheuen, in der 
Absicht, einen lange vorbereiteten Betrug durchzuführen. Bajan, ihr grösster Führer, 
für das Byzantinische Reich eben so furchtbar wie Attila, aber viel unwahrer, hatte, unter 
steten Freundschafts- Versicherungen, sich Römische Arbeiter verschafft, um sich eine An- 
zahl Böte machen zu lassen, aus denen er dann eine Brücke über die Sau schlagen liess. 
Jetzt erst erkannte die Besatzung von Sirmium, dass es auf Eroberung dieses festen 
Platzes, des Schlüssels des Römischen Pannoniens, abgesehen war. Aber Bajan ver- 
sicherte fortwährend, dass er den alten Kessel (Sirmium) gar nicht wolle, dass er nur für 
den Verkehr und mehr zum Vortheil der Römer, als zu dem seinigen, die Brücke habe 
schlagen lassen. Er erbot sich zu den grössten Eidschwüren. Wirklich schwor er in Be- 
gleitung der vornehmsten Awaren, so wie der wichtigsten Personen der Römischen Be- 
satzung, in feierlichster Form, das Schwert gegen den Himmel gerichtet, seine Götter 
anrufend, dass er bei Anlage der Brücke nichts habe thun wollen, was den Römern scha- 
den könne, wenn er diese Absicht gehabt habe, möge Er und alle Awaren bis auf den letz- 
ten Mann untergehen; der Himmel möge auf sie fallen, das Feuer des Himmels sie ver- 
zehren, die Berge und Wälder auf sie stürzen, der Sau-Strom sie ersäufen. Er erbot sich 
auch auf Römische Weise zu schwören, so wie die Römer (Byzantiner) meinten, dass er 
am meisten der Rache ihres Gottes Preis gegeben sei. Man gab ihm ein offenes Evange- 
lium in die Hand und knieend schwor er auf das Evangelium, dass er in keiner Beziehung 
Täuschung oder Lüge im Sinne habe. Während dieser Verhandlung betrieb er den Brücken- 
bau mit grösstem Eifer. Nach dem Schwur schickte Bajan eine Gesandtschaft nach Kon- 
stantinopel, die eigentlich nichts vorzubringen hatte, als dort wegen des Brückenbaus die 
beruhigendsten Versicherungen zu geben und für die Zukunft gemeinschaftliche Opera- 
tionspläne gegen die Slaven zu verabreden. Der Kaiser Tiber war durch die Leerheit 
dieser Gesandtschaft so in Verlegenheit gesetzt, dass er nur evasive Antworten zu geben 
wusste, doch schien er wegen des befürchteten Angriffs auf Sirmium ganz beruhigt. Es 
wurde kein Kriegsvolk zur Verstärkung von Sirmium aufgeboten. Ohne Zweifel war aber 
der wahre Zweck dieser Gesandtschaft, zu erfahren, ob eine Verstärkung nicht schon im 
Anzuge sei, da Bajan sehr wohl wusste, dass die Hauptmacht des Kaisers in weiter Ent- 
fernung gegen die Perser im Felde lag, und eine Absendung dieser Art, wenn sie nicht 


Die MakrokePaaLen ım BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 47 


schon erfolgt war, zu verhindern. Diese erste, nur auf Verzögerung berechnete Gesandt- 
schaft, hatte erst seit wenigen Tagen Konstantinopel verlassen, als eine zweite erschien, 
welche gleich nach Vollendung der Brücke ausgerüstet war und in einem ganz anderen Tone 
sprach. «Du weisst», sprach unverschämt der Gesandte, Solach, zum Kaiser, «dass eine 
Brücke über die Sau geschlagen ist, Sirmium ist dir verloren. Die Zufuhr durch den Fluss 
ist abgeschnitten und es fehlt dort an Lebensmitteln. Nur eine Armee, welche stark ge- 
nug wäre, die unsrige zu durchbrechen, würde die Festung retten können. Die Deinige 
liegt gegen die Perser im Felde. Gieb also die Vertheidigung von Sirmium auf. Der 
Kessel (nämlich Sirmium) ist das Blut nicht werth, das die Vertheidigung kosten würde». 
Er setzte im ferneren Verlaufe der Rede, die wir nicht so vollständig aufnehmen können, 
wie sie der Byzantinische Historiograph mittheilt '), auseinander, dass die Awaren Sir- 
mium haben müssten, um in ihrer neuen Heimath sicher zu sein, wenn die Ost-Römer 
wieder ihre ganze Heeresmacht disponibel hätten. Der Redner erklärte im Namen Bajan’s, 
dass weder Geschenke, noch Protestationen, noch Versprechungen, noch Drohungen ihn 
bestimmen könnten, Sirmium aufzugeben u. $. w. Tiber, von Zorn und Schmerz ergriffen, 
rief aus, «Und ich erkläre bei dem Gotte, den Euer Chakan zum Zeugen angerufen hat, 
und der ihn strafen wird, dass er Sirmium nicht haben soll». Man griff aiso wieder zu den 
Waffen. Sirmium vertheidigte sich tapfer mit seiner Besatzung und einigen in der Eile 
zum Dienst ausgehobenen Landleuten, aber der Mangel an Lebensmitteln machte, dass die 
verzweifelten Bewohner selbst nach der Uebergabe schrieen, bis der Kaiser, der nicht hel- 
fen konnte, in diese einwilligte. Nun trat von Neuem die Wortbrüchigkeit der Awaren 
hervor. Bajan hatte während der Belagerung oft erklärt, dass es ihm nur auf die Mauern 
ankomme, die Einwohner könnten mit ihrem ganzen Besitze abziehen. Er verlangte aber bei 
der Uebergabe, dass die Wegziehenden nicht nur alles Hausgeräthe, sondern auch die 
nicht nothwendigen Kleider zurück liessen. Ja er trat jetzt plötzlich mit der Forderung 
seines seit drei Jahren rückständigen Soldes hervor. Er hatte so gut wie viele Barbaren- 
Häuptlinge einen jährlichen Tribut, den man Sold zu nennen beliebte, unter der Bedin- 
gung zugesichert erhalten, nicht gegen das Reich, sondern gegen die Feinde des Reiches 
zu kämpfen, verlangte ihn jetzt aber auch nach dem Verrathe. 

Wir haben diesen Verlauf einer unverschämten Perfidie mit einiger Umständlichkeit 
erzählt, weil er nicht den einzelnen Mann, sondern den Charakter des Volkes kennzeich- 
net. Bajan würde wohl nicht gewagt haben, in Gegenwart seines Gefolges jene feierlichen 
Meineide zu leisten, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass es sein Ansehen in den 
Augen seines Volkes nur erhöhen würde, die treulosen Byzantiner durch noch grössere 
Treulosigkeit zu betrügen. Die Geschichte der Awaren ist voll dieser Künste. Bajan 
hatte durch die Begünstigung der Longobarden, die nach Italien abzuziehen im Begriffe 
waren, die Ebene an der Theiss zum Wohnsitz für sein Volk erhalten. Schon sein Nach- 


1) Menander, p. 130. Thierry: Histoire d’Attila, I, p. 440. 


48 K. E. v. Baer, 


folger fiel ins Friaul, einen Theil des Landes, welches die Longobarden sich erobert 
hatten, ohne irgend eine Veranlassung, verwüstend ein, und belagerte Forum Julium, die 
befestigte Hauptstadt des Bezirkes. Allein die Belagerung wollte nicht fortschreiten, wie 
denn die Barbaren immer in der Kunst, feste Mauern zu zerstören, schwach waren. Da 
sendet des gefallenen Herzogs Gisulf Gemahlin Romhilde dem Chakan heimliche Bot- 
schaft, sie wolle ihn in die Stadt einlassen, wenn er ihr verspreche, sie nachher zur Ge- 
mahlin zu nehmen. Die näheren Bedingungen sind unbekannt, werden aber doch wohl 
die geordnete Besitznahme und Erhaltung der Stadt zum Ziele gehabt haben. Aber es 
wurde anders. Romhilde hatte, der Verabredung gemäss, Sorge getragen, dass ein Thor 
in einer Nacht unverschlossen blieb. Die Awaren drangen, begünstigt von der Dunkel- 
heit, ein, begannen aber sogleich die Stadt zu verbrennen und zu plündern. Der Führer 
behandelte Romhilde, um seines Versprechens sich zu entledigen, diese Eine Schreckens- 
nacht hindurch als seine Gemahlin, liess sie aber, als er mit reicher Beute beladen abzog, 
öffentlich pfählen. Den Einwohnern hatte er versprochen, ihnen jenseit der Donau gute 
Länder zu geben. Sie ergriffen alle willig die Auswanderung. Allein bald wurden die 
Männer sämmtlich getödtet, nur die Weiber und Kinder als Gefangene weggeführt. Zurück- 
gekehrt von diesem Raubzuge empfing der Awaren-Chakan eine Gesandtschaft aus Kon- 
stantinopel. Der Kaiser Heraklius, der kürzlich den Thron bestiegen hatte, wünschte 
im Westen die Gränzen des Reiches sicher zu stellen, da die Perser in den Asiatischen 
Provinzen siegreich vordrangen, und es nothwendig schien, alle Streitkräfte im Osten zu 
verwenden, um diese Provinzen nicht bleibend zu verlieren. Die Gesandtschaft war nicht 
wenig erstaunt und erfreut, den Awaren-Häuptling ungemein freundlich und willfährig ge- 
sen Konstantinopel zu finden. Er sei ein Freund der Römer, versicherte er, und er 
wünsche nichts mehr, als mit dem Kaiser Heraklius ein Bündniss bleibender Allianz zu 
schliessen. Er schlug vor, dass sie beide, der Kaiser und er, zusammen kommen mögen, 
um persönlich dieses Bündniss abzuschliessen, und, damit der Kaiser nicht nöthig habe, sich 
weit von seinem Sitze zu entfernen, schlug er Heraklea, das nur drei Meilen von der grossen 
Schutzmauer Konstantinopels lag, als Ort der Zusammenkunft vor. Die Botschafter waren 
entzückt über den errungenen Erfolg, und Heraklius erklärte auf ihren Bericht, er wolle 
seinen Gast würdig empfangen, wie einen König. Auch zog ihm Heraklius zur festge- 
setzten Zeit mit grossem Gepränge und grossem Hofstaat, aber wenig Bewaffneten entge- 
gen. Desto mehr waren Schauspieler, Wagenlenker des Circus, Seiltänzer und ähnliche 
Künstler aufgeboten, denn man gedachte die Gäste mehrere Tage hinter einander mit 
Festspielen aller Art zu unterhalten, und ihnen die Grösse des Reiches dadurch anschau- 
lich zu machen. Drei Tage lang war der Weg nach Heraklea mit diesen abenteuerlichen 
Zügen und den ihren nacheilenden Schaulustigen der Hauptstadt bedeckt. Anders hatte 
der Awaren-Häuptling für sich gesorgt. Er kam mit ansehnlicher und gut bewaffneter 
Eskorte. Vorher aber hatte er schon bewaffnete Haufen abgesendet, die zur Seite auf Um- 
wegen und in wüsten Gegenden aufgestellt waren, und sich dann zur rechten Zeit vereini- 


Die MAKRoKEPHALEN 1m BoDEN DER KRYM UND OESTERREICRS, VERGLICHEN ЕТС. 49 


gen und, ohne Heraklea zu berühren, vor Konstantinopel erscheinen sollten, um in die 
Stadt einzudringen und sie durch einen Handstreich zn nehmen, während der Kaiser in 
Heraklea unterhandeln würde. Sie erschienen auch wirklich vor der grossen Mauer, fan- 
den aber das Thor verschlossen, und auf eine Belagerung einer so starken Befestigung 
gar nicht eingerichtet, hielten sie sich durch Plünderung der Umgebung schadlos. Der 
Kaiser war nämlich seinem Awarischen Gaste im Purpur-Mantel und mit dem kaiserlichen 
Diadem auf dem Haupte schon vertrauensvoll entgegen geritten, als er durch andringende 
Bauern von der mehr als verdächtigen Seitenbewegung bewaffneter Haufen unterrichtet, 
plötzlich umkehrte, den Purpur-Mantel von sich werfend, das Diadem verbergend, der 
Stadt zu eilte und das Thor der grossen Mauer hinter sich schliessen liess, sobald er hin- 
durch war. Fast noch im letzten Augenblicke hatte er sich vor einem gut angelegten 
Ueberfalle gerettet. Sein Gepäck wurde aber geplündert, viele Würdenträger als Gefangene 
weggeführt. Dass nachher der Aware nichts von böser Absicht wissen wollte, sondern alle 
Schuld auf seine beutelustigen Unterthanen schob, war natürlich. Er wollte immer noch 
den Tractat abschliessen. Indessen liess er Thracien doch fortgehend plündern. Es zeigte 
sich nun, wie gut sein Plan angelegt war, denn obgleich der Hauptschlag, den Kaiser zu 
fangen und Konstantinopel zu plündern, nicht gelang, war man doch ohne Schwertstreich 
bis in das Herz des Landes vorgedrungen. — Diese niederträchtige Arglist musste den- 
noch verziehen werden. Heraklius, der ein sehr eifriger Christ war, hatte ein inbrün- 
stiges Gelübde abgelegt, das heilige Kreuz, das die Perser aus Jerusalem fortgebracht 
hatten, ihnen abzunehmen und es neu aufzurichten. Alle Einleitungen zu einem grossen 
mehrjährigen Feldzuge nach Persien waren getroffen. Er nahm also die Miene an, als ob 
er des Awaren Betheuerungen, dass Alles auf Missverständnissen beruhe, glaube, und 
schloss mit ihm einen Freundschaftsbund. Um ihn jedoch durch Ehr- und Geldgeiz mehr 
zu binden, erliess Heraklius ein Schreiben an ihn, worin er ihm, seinem Alliirten, die 
Sorge für seine Hauptstadt und namentlich für seinen Sohn anvertraute, und sich verpflich- 
tete, nach der Rückkehr für die geleisteten Dienste den Sold oder Tribut bis auf 200,000 
Goldstücke zu erhöhen. Wirkte das auf den Barbaren? О ja, denn es zeigte ihm, dass 
in Konstantinopel doch noch Schätze sein müssten. Er bereitete sich jetzt Jahre lang vor, 
liess sich Belagerungs-Maschinen in grosser Zahl und in grossem Maassstabe erbauen, und 
eine Menge Kähne anfertigen. Mit diesem ganzen Apparate und nachdem er mit den Per- 
sern ein Bündniss geschlossen hatte, rückte er wieder vor Konstantinopel, während die 
Perser die Ostseite des Bosporus besetzt hatten, um die Hauptstadt gemeinschaftlich mit 
den neuen Bundesgenossen zu Wasser und zu Lande zu belagern, nachdem man vorher 
versucht hatte, durch blosse Drohung die Bewohner zur Räumung der Stadt zu bewegen. 

Es wird genug sein an diesen Erzählungen, die wir in kurzen Auszügen nach 
Thierry mit Vergleichung der Quellen, wo es nöthig schien, gegeben haben, um anschau- 
lich zu machen, dass Betrug ein vorherrschender Zug in allen Verhandlungen mit den 
Awaren war. Kein Treubruch, kein Schwur hielt sie jemals zurück, ihrer Begierde nach 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VII® Serie. 7 


50 К. Е. v. Baër, 


Plünderung zu folgen. Bündnisse und Schwüre wurden nur angewendet, um die Gegner 
zu täuschen, bis die Byzantiner nach der Belagerung ihrer Hauptstadt, die sie glücklich 
im J. 626 abschlugen, einsahen, dass man ihnen nie trauen dürfe. Von diesem Augen- 
blicke an hörten sie auf gefährlich für den Osten zu sein. Man sage nicht, dass die Treu- 
losigkeit allgemeiner Charakter der Barbaren, wenigstens der damaligen war. Schon die 
Hunnen, die sich eben so furchtbar gemacht hatten, verfuhren auf andere Weise. Sie 
waren eben so beutelustig, hatten dieselbe Begierde nach Gold und waren nicht weniger 
grausam, aber sie handelten mehr mit offener, roher Gewalt, weil sie zu viel Stolz und 
Selbstgefühl für eine weit durchgeführte Lüge hatten. Attila wusste durch Drohung von 
Invasionen und gelegentliche offene Plünderung den Tribut, den er von Byzanz bezog, 
höher zu treiben, da er sah, dass Theodosius II. ein Napoleon des Friedens war. Als 
er aber erfuhr, dass dieser Theodosius in einen Plan, ihn heimlich durch seine eigenen 
Leute aus dem Wege zu räumen, eingegangen war, wartete er ruhig ab, bis er den vollen 
Beweis in die Hände bekam. Dann verlangte er ein Lösegeld von 100 Pfd. für den ge- 
fangenen Unterhändler Vigilas und schickte eine eigene Gesandtschaft nach Rom, um 
dem Theodosius seine ganze Verachtung öffentlich zu bezeugen. Es mnsste ihm der 
Sack, in dem man das zur Bestechung bestimmte Geld gefunden hatte, in öffentlicher 
Sitzung mit der Frage vorgewiesen werden: ob er ihn kenne? und dann folgende Anrede 
‘gehalten werden: «Attila und Theodosius sind beide Söhne edler Väter. Attila hat 
den ererbten Adel bewahrt, aber Theodosius hat ihn’ verloren, weil er, Tribut zahlend, 
Attila’s Knecht geworden ist, und jetzt trifft ihn die Schmach, einem Höheren, den das 
Schicksal zu seinem Herrn gemacht hatte, heimlich Fallstricke zu legen. Attila wird 
nicht aufhören ihn anzuklagen, bis er ihm den Eunuchen Chrysaphius (der den ganzen 
Plan des Mordes angelegt hatte), zur Bestrafung übersendet hat». Zugleich wurden ihm 
frühere Fälle, in denen er nicht Wort gehalten hatte, vorgeworfen. Mir scheint auch im 
Auftreten der Söhne Attila’s dieselbe Geradheit zu herrschen. Sie waren theils Feinde, 
theils Freunde der Germanischen Völker und Ostroms, aber ich sehe nicht, dass sie Ver- 
handlungen eingeleitet hätten, nur um zu betrügen. Noch mehr aber spricht für Gerad- 
heit und eine gewisse Gerechtigkeits- Achtung bei den Hunnen, dass so viele Römische 
Bürger aus beiden Hälften des Reiches sich bei den Hunnen aufhielten, und es rühmten, 
dass sie dort vor allen Plackereien der Beamten und Betrügereien sicher wären. Aötius, 
der als Geissel bei den Hunnen gelebt hatte, blieb ihnen sein ganzes Leben hindurch er- 
geben. Ihn traf ja selbst nach dem Siege in den Catalaunischen Feldern der Vorwurf, dass 
er absichtlich die Hunnen nicht ganz aufgerieben habe. Ja, um jene Zeit waren es die By- 
zantiner, welche allerlei Verräthereien im Hunnischen Lager anzuzetteln versuchten, sie 
konnten aber Niemand verführen. Wird darin nicht eine Verschiedenheit des Charakters 
zwischen den Awaren und Hunnen anschaulich ? 

Noch auffallender wird der Unterschied, wenn wir die Awaren mit den Türken ver- 
gleichen. Die erste Bekanntschaft mit einem Volke, das sich Turk nannte, machten die 


Dre МаквокеЕРНАТЕХ IM BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 51 


Byzantiner gleichzeitig mit dem ersten Auftreten der Awaren. Schon bei der zweiten Ge- 
sandtschaft an diese Turken mussten die Oströmer das stolze Wort hören: «Ihr Byzantiner 
lügt mit 10 Zungen um eine Unwahrheit zu sagen, ein Türke aber hat nie gelogen»! 

Was aber sagen die historischen Quellen selbst über die Awaren des Mittelalters? 
Sie sind sehr unklar und verwirren mehr als sie belehren. Der Awaren geschieht zuerst 
Erwähnung im Jahre 557. Es war dieses Volk aus dem Innern Asiens vorgedrungen bis 
zu den Alanen in die Steppe nördlich vom Kaukasus und suchte sich neue Wohnsitze. 
Der Alanen-Häuptling rieth ihnen, sich nach Konstantinopel zu wenden und von dem 
Kaiser Justinian Г. sich Wohnplätze zu erbitten. Diesem Rathe Folge leistend, ging eine 
Deputation nach Konstantinopel ab, um neue Wohnsitze und einen Jahrgehalt zu erlan- 
gen. Als die Deputation erschien, lief, nach dem Chronisten Theophanes, die ganze 
Stadt zusammen, weil man niemals ein solches Volk gesehen hatte. Sie trugen nämlich 
lange mit Bändern gebundene Haarflechten. Uebrigens hatten sie aber Hunnische Tracht, 
wie der Bericht-Erstatter meint‘). Thierry fügt noch hinzu, ihre Sprache sei Hunnisch 
gewesen. Es wäre sehr wichtig, wenn man das beweisen könnte, allein ich habe diese 
Angabe bis jetzt in keinem Byzantinischen Schriftsteller, der über diese Gesandtschaft 
spricht, finden können. Ob sie bei anderer Gelegenheit vorkommen mag? Sie nannten 
sich Awaren, und behaupteten, das Awarische Volk sei sehr zahlreich und mächtig. Es 
biete sich dem Byzantinischen Herrscher zum Bundesgenossen an, und verlange dafür 
einen Landstrich zum Bewohnen, jährlichen Sold und gute Geschenke für den Chagan. 
Justinian suchte sie an der Nordküste des Schwarzen Meeres zu beschäftigen, was für 
einige Zeit gelang. Bald aber erschien eine Gesandtschaft von Gross-Chan der Türken, 
«Beherrscher von 7 Völkern und Herrn der sieben Klimate der Welt», wie er sich nannte, 
welche sich darüber beschwerte, dass der Kaiser seine (des Gross-Chans) entlaufenen Skla- 
ven aufgenommen habe. Diese Botschaft und eine spätere, welche von Konstantinopel zu 
dem Gross-Chan abgefertigt wurde, brachten die Nachrichten, welche besonders Theo- 
phylactus, freilich ein viel späterer Zeuge, mit grosser Zuversicht so vorträgt: Die 
Leute, welche sich als Awaren vorgestellt hätten und unter diesem Namen Pannonien be- 
wohnten, wären keine eigentlichen Awaren ("Aßagcı oder Aßapzs). Sie hätten einen falschen 
Namen angenommen”). Die wahren Awaren seien von dem Gross-Chan der Türken un- 


1) eiyov yap tés xömas Отис nurpds navu Öedenävas | aber in dem Griechischen Texte nicht gesagt, ob das 


пруди xal пепле ас. 1 Ôë Aoımn) Popeota идтоу 
omoia Tüv Aoıray Ouvywv. Theoph. Chron. р. 196. Es 
ist sehr zu bedauern, dass diese Zöpfe oder vielmehr 
Flechten nicht näher beschrieben werden. Sie erinnern 
sehr an die Steinbilder auf alten Grabhügeln im südli- 
chen Russland, die unter dem Namen Baby(Baba im sing.) 
bekannt sind. An diesen steigt gewöhnlich von jeder 
Seite des Hinterhauptes eine lange Flechte hinab, beide 
nähern sich in der Mitte des Rückens und sind hier un- 
ter sich und mit einem Bande oder Riemen verbunden, 
der von der Mitte des Hinterhauptes hinabsteigt. Es ist 


Haar nur eine oder mehrere Flechten bildete. 


?) Die Awaren werden also schon im ersten Augen- 
blicke ihrer Erscheinung eines grossen Betruges ange- 
klagt. Ihre erste Gesandtschaft erschien im Jahre 557 
vor Justinian. Im Jahre 562 waren sie schon an der 
Donau und verlangten Land. Sie schickten deshalb eine 
Botschaft an den neueu Kaiser Justinus, und hatten 
einen Griechen, der unter sie gerathen war, zum Bot- 
schafter gewählt, von dem sie also wohl gute Dienste er- 


warteten. Dieser aber eröffnete dem Kaiser im vertrau- 
+ 


52 К. Е. v. Baer, 


terjocht. Die Türken hätten sich eben so das mächtige Volk der Ogor ("Oyop) unterworfen, 
das östlich von der Wolga wohnte. Die ältesten Fürsten dieser Ogor hätten die Namen 
War (05460) und Chuni geführt. Davon hätten auch einige dieser Völkerschaften die Na- 
men War und Chunni angenommen. Zur Zeit Justinians sei ein kleiner Theil dieses Vol- 
kes nach Europa geflohen und habe sich aus Eitelkeit Awaren und seinen Führer Chagan 
genannt. Theophylactus weiss auch zu erzählen, wie sie gekommen sind. Auf ihrer 
Flucht oder Wanderung seien nämlich einige Völker vor ihnen geflohen, sie für ächte 
Awaren haltend. Da hätten. sie gefunden, dass es gut sei, diesen Namen anzunehmen, 
denn unter allen Skythischen Völkern würden die Awaren für die vorzüglichsten gehalten. 
Die falschen Awaren bestünden noch zu seiner Zeit aus zwei Stämmen, War und Chunni. 
Diesen Bericht') hat Thierry als vollständig begründet angenommen. Die Ogor, die auch 
Ugor und Ugur genannt werden, sind ihm die Uiguren, und also die War und Chunni, oder 
wie andere Byzantiner, beide Namen zusammenziehend, schreiben, die Warchonitae, 4. В. 
die historischen Awaren auch. Zu demselben Resultate war auch schon Zeuss gekommen’). 
Allein, sollte nicht der Doppelname Var und Chunni, oder zusammengezogen Warchunni 
eine Mischung zweier ungleicher Stämme andeuten? Und woher kämen die vielen Ele- 
mente des Finnischen in die Ungrische Sprache, wenn nicht wenigstens eine der Wurzeln 
des Volkes aus Finnischem Boden stammte? Ueberdies wohnten diese Ogor ("Oyop) östlich 
von der Wolga, also in der Ebene, oder im hügeligen Baschkirenlande. Warum sollten 
sie nicht die Ugri der Russischen Annalisten sein? Sind nun jene Byzantinischen Angaben 
gegründet, so wären die Awaren als eine Verbrüderung eines Theiles dieser Ugri mit einem 
anderen Volksstamme zu betrachten, und die übrigen Ogern wären später, nachdem die 
Macht der Awaren durch Karl den Grossen und seinen Sohn Pipin gebrochen war, ihren 
Halbbrüdern in das fruchtbare aber verödete Land nachgezogen. Auch Schafarik, der 
gern die Völker klassificirt, führt die Awaren, allerdings nur kurzweg und ohne nähere 
Begründung, unter denen auf, welche aus frühzeitiger Mischung Finnischer Völker mit 
Türkischen oder Mongolischen entstanden sind”). Für einen Mongolischen Antheil wüsste 
ich bei den Awaren nichts anzuführen. Aber für den Finnischen scheint die oben nach- 
gewiesene Anwendung der List in allen Unternehmungen zu sprechen. Klugheit und List, 
nicht offene Tapferkeit, wird in den Finnischen Volks-Gesängen besonders gepriesen. Die 
Volks-Gesänge sind der Spiegel des Volks-Charakters. Sie greifen in die Saiten, welche 
im Herzen des Volkes am lautesten wiederklingen. Ueberschätzung der Klugheit führt 
leicht zum Betruge. Noch mehr gleicht der Charakter der historischen Awaren dem der 
östlichen Bergvölker des Kaukasus. 

Wir haben schon gesagt, dass wir auch für die Awaren des Mittelalters in den histo- 


ten Gespräche: Dieses Volk habe Anderes im Herzen und 2) Zeuss. Die Deutschen und ihre Nachbarstämme 
Anderes auf den Lippen. Also eine neue Anklage der | S. 730. 
Unwahrhaftigkeit. 3) Schafarik. Slawische Alterthümer. Deutsche 


1) Theophylactus Simocatta, УП, с. 7 et 8. Uebers. I, S. 38. 


Dre MakRokEPHALEN ım Bopen DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 53 


rischen Nachrichten keinen Beweis der Gewohnheit, die Köpfe ihrer Neugeborenen künst- 
lich zu formen, haben finden können. Indessen darf nicht unbemerkt bleiben, dass die By- 
zantiner mit ihnen lange nicht in so vielfachem Verkehr gewesen zu sein scheinen, als 
beide Hälften des Römer-Reiches mit den Hunnen. Die offene Rohheit mit Geradheit ver- 
bunden, welche man bei dem letzteren Volke fand, zog die West- und Ost-Römer an. Die 
Awaren aber, noch viel perfider als die Byzantiner, waren abstossend für beide. Aus die- 
sem Grunde konnte eine auffallende Sitte für die Awaren viel eher unerwähnt bleiben, als 
für die Hunnen. Man lernte jene auf ihren Raubzügen kennen, aber nicht leicht im häus- 
lichen Leben. 

Unbemerkt dürfen wir nicht lassen, dass, welchem grösseren Stamme auch die zuerst 
auftretenden Awaren angehört haben mögen, in späteren Zeiten das Gemisch von Völkern, 
die unter dem gemeinschaftlichen Namen der Awaren auftraten, gewiss noch viel grösser 
war, als bei den Hunnen. Bei diesen hielten sich doch die Germanischen Völker und die 
Alanen ziemlich gesondert, und lösten sich beim Verfall der Hunnischen Macht bald ab. 
Nur in Bezug auf die Kutriguren, Utiguren und ähnliches Gesindel im Nordosten, das als 
Hunnischen Geblütes bezeichnet wird, lässt sich schwer eine Ansicht begründen, ob man 
sie für blosse Stämme oder für verschiedene Völker anzusehen hat. Bei den Awaren ist 
aber nach einigen Quellen (Theophylactus) gleich Anfangs Gemisch, und die Quellen 
selbst geben so abweichende Zeugnisse, dass man zu gar keinem sicher leitenden Faden 
gelangt'). Ohne Zweifel verbanden sich auch die in Pannonien zurückgebliebenen Hunnen 
mit den Awaren. Daher kommt es auch wohl, dass wir sie so oft in den Schriften des 
Mittelalters als «Awaren oder Hunnen», oder schlechtweg als «Ниппеп» aufgeführt sehen. 
Paulus Diaconus bezeichnet sie abwechselnd als Avares, Hunni, oder Hunni qui et Avares 
dieuntur. Ja, die Fränkischen Historiker (z. B. Gregor von Tours, Eginhart) nennen sie 
viel öfters Hunnen als Awaren. Auch bei den Byzantinern fehlt die wechselnde Benen- 
nung nicht. Ich glaube nicht, dass man daraus auf Stammverwandtschaft der Hunnen und 
Awaren schliessen darf. Der gewohnte und berühmt gewordene Name wurde auf ein Volk 
übertragen, mit welchem ein grosser Theil der eigentlichen Hunnen sich verbunden hatte. 
Die Ebene Ungarns, in welcher dieHunnen und später die Awaren sich niederliessen, hiess 
Hunnia und behielt diesen Namen. 


$8. Völker, die in der Krym kürzere oder längere Zeit verweilt haben. 


Der Fundort der verbildeten Schädel sollte eigentlich für die Bestimmung des Volkes, 
dem sie angehört haben, der erste Wegweiser sein. Im vorliegenden Falle aber leistet 
er sehr wenig. 

In der Krym, und namentlich um Kertsch, und in Nieder-Oesterreich, sind die am 


1) In diese Discussionen einzeln einzugehen, wäre | ren nach Einigen, Ogern, Ugrer und also Finnen sein, nach 
hier sicher ganz am unrechten Orte. Da sollen die Awa- | Anderen, Ogern, Uiguren, und also Türkischen Stammes. 


54 K. E. v. Baer, 


meisten übereinstimmenden Köpfe gefunden worden. Niemand aber weiss zu sagen, ob in 
dem grossen Zwischenraume zwischen Kertsch und dem Einflusse des Kamp in die Donau 
ähnliche Köpfe im Boden liegen, oder vielleicht gelegentlich schon zu Tage gekommen 
sind. Bevor man darüber Nachrichten hat, wird man schwerlich zu einem sicheren Ab- 
schlusse kommen. 

Noch weiss man nicht einmal, ob diese Makrokephalen nur in der Gegend von Kertsch 
oder in der ganzen Krym sich finden. 

Eine grosse Anzahl von Völkern nennt uns die Geschichte aus der Krym, aber von 
den meisten weiss sie eben nur die Namen zu nennen. Die Tauren, nach denen die Halb- 
insel benannt ist, bewohnten die Berge, als die Cultur hier mit den Griechischen Kolonieen 
einwanderte. Diese hatten zunächst Skythen zu Nachbarn. Als die Vorgänger der Skythen 
wurden die Kimmerier angesehen, von denen die Meerenge bei Kertsch ihren Namen erhal- 
ten hat. Es liegt also sehr nahe, zuvörderst in den Kimmeriern Herodot’s unsere Makro- 
kephalen zu vermuthen, wie auch Dubois de Montpéreux thut'). Ganz sicher lässt sich 
eine solche Meinung wohl nicht widerlegen. Doch gestehe ich, dass ich ihr nicht huldigen 
möchte, weil ich Gelegenheit gehabt habe, zwei Köpfe aus einem alten Skythischen Kö- 
nigsgrabe zu untersuchen, die von den übrigen — wahrscheinlich Skythischen — sehr 
verschieden waren. Diese letzteren waren kurz, ziemlich breit — aber nicht Mongo- 
lisch, wie ich schon oben bemerkte. Die beiden anderen Köpfe, einem jungen Weibe und 
einem ältlichen Manne angehörend, waren dagegen sehr lang, und besonders der männ- 
liche Kopf, der sehr vollständig erhalten ist, sehr hoch, mit etwas dachförmigem Scheitel. 
Nicht nur weil das Grab von den Archäologen für sehr alt gehaiten wird, sondern auch 
wegen des Keltischen Typus, den der männliche Schädel sehr bestimmt auszudrücken 
schien, habe ich diese Köpfe den Kimmeriern zuschreiben zu müssen geglaubt, und ange- 
nommen, dass die Ximmerier mit den Kimri des Westens nicht allein eine zufällige Aehn- 
lichkeit der Namen hatten, sondern wirklich stammverwandt waren. Vollständigere Be- 
weise liessen sich nicht auftreiben, als dass Schädel von alten Kelten, im Breisgau ausge- 
graben, diesen praesumtiven Aimmeriern sehr ähnlich sind, auch ein Theil der Schädel, die 
ich als Keltische in Göttingen und Paris gesehen habe, aber freilich nicht die, welche 
Serres Kimri genannt hat, sondern die andere Form, die er Ga! oder Gaulais nennt). Die 
Britischen Kimri kenne ich nicht. 

Ich darf diese Deutung des eben erwähnten Schädels aus dem Skythischen Königs- 
Grabe allerdings nur als eine Vermuthung ansehen. Wenn sie begründet ist, so können 
die künstlich verbildeten Schädel von Kertsch nicht von den Kimmeriern stammen, da sie vor 
der Verbildung brachykephal waren. Sollte jene Vermuthung sich aber als unbegründet 


1) Dubois de Montpéreux: Voyage autour du | Edwards (des caractères physiologiques des races hu- 
Caucase, V, p. 230. maines) die kürzeren Köpfe im Boden Frankreichs Himri 

2) Sur le monument et les ossemints Celtiques. Comptes | genannt. Ich hoffe bald bei anderer Gelegenheit aus- 
rendus des séances etc. Т. XXI. Vor Serres hat auch | führlicher mich hierüber auslassen zu können. 


Die MakrokEpHALEN 1м BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 55 


erweisen, so würde der Name AKimmerier wieder frei, man hätte keinen Wink, von welcher 
Art das Volk war, und es stünde nichts entgegen, ihm diese Köpfe zuzuschreiben, wenn 
man nur dasselbe Volk auch in Oesterreich anzunehmen Grund hätte. 

Es würde völlig überflüssig sein, die Geschichte der Krym weiter zu verfolgen, da 
wir bei der grossen Zahl von Völkern, welche schon vor der Völkerwanderung, während 
derselben und nach. ihr, entweder über die schmale Meerenge von Osten oder durch die 
schmale Landenge von Norden in die Krym einwanderten, doch von keinem wissen, dass 
es die Sitte der Formung des Kopfes übte. Den Gothen, die hier lange ansässig waren, 
gehörten diese Köpfe wohl nicht. Welche Völker kann nicht Mithridates mitgebracht 
haben, da er sich zum Herrn des Bosporischen Reiches machte und ein neues stiftete, 
dessen Sitz ja Panticapaeum oder das jetzige Kertsch war? Wir werden bald hören, dass 
sein Sohn Pharnakes viele Aorsen nach Panticapaeum kommen liess. Wer könnte etwas 
über die Aspurgianer sagen, welche, von den Kaukasischen Bergen kommend, kurz vor 
Chr. Geb. in das Bosporische Reich einfielen, oder von den noch viel älteren Kolonisten, 
die noch vor der Gründung der Griechischen Ansiedelungen nach einer Sage ein Sohn von 
Aëtes aus Kolchis in die Gegend von Panticapaeum geführt haben soll'}. Diese Sage ver- 
dient in sofern Beachtung, als sie andeutet, von wo die Griechen die Menschen, die sie 
vorfanden, eingewandert sich dachten. Panticapaeum war von den Milesiern gegründet 
schon vor den Zeiten des Kyrus nach Raoul-Rochette, oder nach dem Zuge des Da- 
rius, wie Andere glauben. Die Umstände der Gründung und welches Volk man vorfand, 
ist unbekannt. 

Die grosse Völkerbewegung brachte fast alle Stämme, die aus dem fernen Osten ka- 
men, auch in die Krym. Von vielen ist es historisch erwiesen, von anderen wahrschein- 
lich. Man kann sie aufgezählt finden bei Stan. Siestrzencewicz de Bohusz in seiner 
Histoire du royaume de la Chersonèse Taurique. Hier werden Hunnen, Ugern, Awaren nebst vie- 
len anderen genannt. Die Chasaren beherrschten das Land lange Zeit, und es wurde nach 
ihnen benannt. Die Chasaren scheinen Türkische Stämme gewesen zu sein. Wir übergehen 
sie alle, da weitere Schilderungen der Gestalt und der Sitten der Völker fehlen. Während 
der Kreuzzüge kamen Genueser und Venetianer in die Krym, und besonders die ersteren 
setzten sich in den Häfen fest. Bei diesen müssen wir einen Augenblick verweilen, weil 
wir von ihnen erfahren, dass sie einst von den Mauren die Sitte angenommen hatten, die Köpfe 
ihrer Kinder zu formen, wie Scaliger (соттешаги in hbros de causis plantarum р. 287) be- 
richtet. Allein ich kann ihnen die Makrokephalen von Kertsch doch nicht zuschreiben, weil 
diese wahrscheinlich bedeutend älter sind. Allerdings waren sie der Zerstörung durch äus- 
sere Einflüsse viel mehr ausgesetzt, als die unter Hügeln vergrabenen Griechen. Aber, wenn 
man auch die weit vorgeschrittene Verwitterung”) der Makrokephalen nicht wollte gelten 


1) Eustath. adDionysv.311.StephanusByzan- | aus der Krym, die ich gesehen habe, auch das Fragment, 
tinus unter Panticapaeum. das Rathke beschreibt, waren sehr leicht, brüchig und 
2) Alle verbildeten Schädel und Schädel-Fragmente | hatten den grössten Theil der knorpeligen Grundlage 


56 K. E. v. Baer, 


lassen, müsste man doch anerkennen, dass diese sehr entschieden brachycephal waren, was 
die Genueser in dem Maasse nicht mehr sein konnten, obgleich sie noch einen Theil alten 
Ligurischen Blutes haben mochten, und die Ligurier zu den alten brachycephalen Stamm- 
Völkern Europas gehört zu haben scheinen. Ueberdies hat sich, so viel ich weiss, kein 
Anzeichen einer christlichen Bestattung bei diesen Gräbern gefunden. Und wie liesse sich 
die Aehnlichkeit mit den in Oesterreich gefundenen verbildeten Köpfen erklären ? 


© 9. Die Kaukasischen A waren unserer Zeit. 


Wir sind die Völker, welche in der Krym kürzere oder längere Zeit verweilt haben, 
nicht einzeln durchgegangen, weil weitere Anknüpfungspunkte sich nicht gezeigt haben. 
Diese aber bieten sich von einer anderen Seite dar, nämlich von den Kaukasıschen Awaren 
der Jetztzeit. Man findet freilich über dieses Volk häufig die Behauptung mit grosser 
Entschiedenheit aufgestellt, es habe mit den Awaren des Mittelalters nichts gemein, als 
eine Namens-Aehnlichkeit '). Worauf gründet sich aber diese Behauptung? Auf einen Aus- 
spruch von Zeuss”), und dieser wieder auf den Ausspruch des Russischen Chronisten 
Nestor, welcher sagt: «Alle sind weggestorben und kein Awar ist übrig geblieben, da- 
her in Russland noch bis auf diesen Tag das Sprichwort geht: Sie sind untergegangen 
wie die Awaren, kein Vetter (besser Stamm), kein Erbe ist mehr von ihnen da»°). Nun, 
das Sprichwort lehrt nur, dass das Russische Volk von den Awaren zu Nestor’s Zeit 
nichts mehr wusste, und Nestor selbst konnte zu dieser Kenntniss des Volkes nur hinzu- 
fügen, was er in Byzantinischen Annalen fand. Für die Byzantiner hatten die Awaren 
auch aufgehört, und zwar noch früher als für die Fränkischen Länder. Aus den südlichen 
Provinzen Russlands waren sie schon lange verschwunden. Daraus folgt nicht, dass auf 
der anderen Seite des Kaukasus nicht Awaren zurückgeblieben sein konnten, oder dahin 
sich zurückgezogen hatten, als sie nicht mehr im Stande waren, nördlich von diesem Ge- 
birge sich zu halten. 

Wir müssen bei diesen Awaren verweilen, weil ein Schädel, welchen die Sammlung 
der Akademie von diesem Volke besitzt, in vielen Verhältnissen auffallende Uebereinstim- 
mung mit der Form zeigt, welche bei den verbildeten Köpfen sich als die ursprüngliche 
erkennen lässt. So sehr ich es sonst vermeide, die Beschreibung eines einzelnen Kopfes 
eines Volkes zu geben, weil man dabei über die individuellen Abweichungen kein Urtheil 
hat, so kann ich in dem vorliegenden Falle doch nicht umhin, diesen Awaren-Schädel et- 
was näher zu vergleichen und ihn in der Seiten-Ansicht abzubilden, in Taf. II, Fig. 6. 

Es ist wahr, dieser Schädel ist sehr breit, mit stark vortretenden und weit nach hin- 
ten liegenden Scheitelhöckern. Er weicht darin von unseren Makrokephalen sehr ab. Allein 


verloren. Der Grafenegger Schädel ist bedeutend fester 2) Zeuss: Die Deutschen und ihre }Nachbarstämme. 


und schwerer. S. 741. G 
1) Z. В. Bodenstedt: Die Völker des Kaukasus. 3) Несторъ. Russische Annalen von Schlözer, II, 


S. 113, 117. Obrö heissen hier die Awaren. 


Dre MAKROKEPHALEN 1m BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 57 


gerade das Schädelgewölbe ist es ja, was durch Binden umgeformt wird. Wir müssen die 
Basis des Schädels, und überhaupt diejenigen Theile ins Auge fassen, auf welche die Bin- 
den nicht unmittelbar einwirken konnten. Auch im Awaren-Kopf unserer Zeit liegt das 
. Foramen magnum ungemein weit nach hinten und ist etwas aufsteigend, obgleich weniger 
als im verbildeten Kopfe. Auch ist die stärkste Umbiegung des Hinterhauptes in der Ge- 
gend des Ansatzes der tieferen Nackenmuskeln, der Lin. semicireul. inferior. Die Hinter- 
hauptsleiste ist nur schwach ausgebildet und nach oben gerückt, so dass sie mehr über 
als hinter jenen unteren Linien sich findet. Die obere Schuppe ist lang, doch nicht so 
sehr, als bei den verbildeten Köpfen. Auch hier ist die Hinterhauptsfläche bis zu der 
Querleiste des Hinterhaupts etwas überhängend '), was in unverbildeten Köpfen sehr selten 
vorkommt. Bei einem solchen Kopfe muss diejenige Art der künstlichen Verbildung, die 
wir beschrieben haben, leicht auszuführen sein, er ladet gleichsam dazu ein. Auch hier ist 
eine merkliche Entwickelung eines Querfortsatzes am Hinterhauptsbeine, jedoch auf der 
linken Seite, nicht auf der rechten. Eine Linie, durch beide Ohröffnungen gelegt, geht 
etwas vor dem ansehnlichen Foramen magnum durch. Alle diese Verhältnisse stimmen mit 
denen in den verbildeten Köpfen. Das Kinn ist ungemein stark vorspringend; im verbil- 
deten Kopfe ist das viel weniger der Fall. Allein, da es in dem letzteren doch merklich 
vortritt, obgleich es in Köpfen, die auf diese Weise verbildet sind, gewöhnlich zurücksteht, 
so ist es wahrscheinlich, dass es auch bei unseren Makrokephalen ursprünglich die Anlage 
zu einem stark vortretenden Kinne war. Auch im Awaren des Kaukasus sind die aufstei- 
senden Aeste des Unterkiefers in einem stumpfen Winkel geneigt. Auch hier ist die Nase 
gar nicht von Mongolischer Form; sie tritt vielmehr scharf hervor und die Apertur ist 
viel mehr hoch als breit. Eben so wenig bilden die Zahnreihen den breiten Bogen wie in 
den Mongolen. Sehr bemerklich ist jedoch der Unterschied, dass im Awaren der Jetzt- 
zeit das Gesicht lang ist, in unserem Makrokephalus, obgleich er noch alle Zähne beim 
Tode hatte, etwas kurz; im Grafenegger Schädel fehlt der Unterkiefer, der Oberkiefer ist 
aber sehr kurz; im Schädel von Atzgersdorf ist das Gesicht fast so lang und das Kinn fast 
so vortretend als im Kaukasischen Awaren. Auffallend ist, dass im Awaren des Kaukasus 
die Vorderzähne flach abgerieben sind, obgleich er noch in der Blüthe der Jahre gestan- 
den hat, als ihn der Tod ereilte. In unserem Makrokephalus von Kertsch sind die oberen 
. Vorderzähne vollkommen meisselförmig, die unteren aber flach abgerieben, worin ich eine 
Bestätigung für den Verdacht finde, dass der Unterkiefer nicht diesem Kopfe angehörte. 
Ganz individuell ist es natürlich für den Awaren unserer Zeit, dass auf beiden Seiten des 
Oberkiefers die drei letzten Backenzähne fehlen und man nicht einmal die Spuren der 
Zahnhöhlen sieht. 


1) Ich will mit diesem Ausdrucke anzeigen, dass, | hauptsbeines am meisten nach hinten vorsteht, die ganze 
wenn man den Kopf so stellt, dass die Ebene, welche | Fläche desselben also eine überhängende ist. Bei den 
durch beide Ohröffnungen und unter der spina nasal. | künstlich verbildeten Köpfen ist sogar ein Theil der 


fortgeht, horizontal liegt, die oberste Spitze des Hinter- | Scheitelbeine überhängend. 
Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vlle Serie. 8 


58 К. Е. v. Baer, 


Dass der beschriebene Kopf von den Awaren des Kaukasus kommt, ist als sicher zu 
betrachten. Es wurden drei Awaren, die an einem Raubzuge betheiligt waren, verfolgt 
und erlegt. Herr v. Seidlitz zu Nucha hatte die Güte, von einem derselben den Kopf 
sich zu verschaffen und ihn an die Akademie einzuschicken. Dieser Kopf ist, noch ehe er. 
präparirt war, für einen der erlegten Räuber anerkannt. Leider aber waren die Versuche, 
die beiden anderen Köpfe zu erhalten, vergeblich. 

Was sind aber die Awaren des Kaukasus für ein Volk? Man weiss noch sehr wenig 
von ihnen, da nur in der ersten Zeit nach der Besitznahme von Grusien der Chan der 
Awaren die Russische Oberhoheit anerkannt hat, bald aber seine Haltung sehr zweideutig 
wurde, und seit einem Viertel-Jahrhundert die Awaren fast ununterbrochen sich in 
entschiedenster Opposition gehalten und eine nähere Untersuchung ihres Landes und 
ihrer Lebensverhältnisse unmöglich gemacht haben. Erst jetzt wird, nachdem Schamyl 
sich unterworfen hat, eine solche vorgenommen werden können. Die Akademie rüstet in 
diesem Jahre schon eine naturhistorische Expedition in die zugänglich gewordenen Pro- 
vinzen Dagestans aus. Eine philologisch-ethnographische soll später folgen. Wir müssen 
uns also mit sehr alten Nachrichten begnügen. 

Die Awaren gelten für einen Lesghischen Stamm.und ihre Sprache für eine Lesghische. 
Doch sind die Lesghischen Sprachen noch so wenig untersucht, dass man nicht entschei- 
den kann, ob die Awarische Sprache mit den anderen Lesghischen Eines Ursprunges ist, 
oder ob die Awaren nur eine Anzahl Wörter von ihren Nachbaren angenommen haben. 
Ein grosser Theil des Wort-Schatzes ist sehr verschieden von anderen Lesghischen Spra- 
chen. Die Awarische Sprache ist jedenfalls nicht blosser Dialect der angränzenden, zer- 
fällt aber selbst wieder in mehrere Dialecte'). Wäre Reineggs ein kritischer und vorur- 
theilsfreier Forscher, so wäre die Abstammung der Kaukasischen Awaren von denen des 
Mittelalters, oder vielmehr der letzteren von jenen, schon erwiesen. Reineggs sagt von 
dem Stamme der Awaren, den auch er unter den Lesghiern aufführt, er nenne sich selbst 
Uar, werde aber auch von Anderen verschiedentlich Awar, Oar und Uoar genannt”). Wir 
finden also hier die verschiedenen Variationen dieses Namens wieder, welche bei Byzan- 
tinischen Schriftstellern vorkommen. Ferner sagt Reineggs, die Awaren hätten Tradi- 
tionen, dass sie vor Jahrtausenden schon den Kaukasus bewohnt und unumschränkt be- 
herrscht hätten. Bei zunehmender Bevölkerung sei ein Theil des Stammes ausgewandert. 
und habe sich zwischen den Flüssen Kuban, Don und Manytsch festgesetzt; da aber bei 
wachsender Volksmenge auch dieses Land zu enge geworden, «so hätten sie sich bis an 
das Innere des Kuban (?)°) ausgebreitet, wären aber nachher von dort weiter fortgezogen, 
und endlich gar verloren gegangen». Der Herausgeber Schröder fügt hierzu die Anmer- 
kung: Könnte man diesen Traditionen Glauben schenken, so könnte wohl das Volk der 


1) Klaproth: Kaukasische Sprachen. 3) Hier ist offenbar ein Schreibfehler. Sollte das 
2) Reineggs: Allg. Beschreibung des Kaukasus, I, ! Innere der Steppe oder des Landes gemeint sein ? 
S. 204. 


Dis MAKRoKEPHALEN im BODEN DER Квум UND ÜESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 59 


Aorsi, dessen Strabo am Don gedenkt, eben dieser Stamm gewesen sein'). In der That 
bewohnten nach Strabo die Aorsen gemeinschaftlich mit den Siraken die Gegend zwischen 
dem Asowschen und Kaspischen Meere, und die Aorsen werden namentlich als Anwohner 
des Tanais oder Don genannt. Beide Völker, die Straken und die Aorsen, scheinen ihm 
Flüchtlinge oder Auswanderer von den höher Wohnenden, d. h. von den Gebirgsbewoh- 
nern”). Auch nennt Strabo an einer anderen Stelle*) die Aorsen als Bewohner vom Nord- 
Abhange des Kaukasus. Von dem östlichen Theile des Süd-Abhanges des Kaukasus, wo 
jetzt die Awaren wirklich wohnen, hatte Strabo keine bestimmte Vorstellung, wie aus 
seiner ganzen Schilderung der Kaukasischen Landschaften hervorgeht. Es wäre also wohl 
möglich, dass die Berg-Aorsen, von denen er gehört hatte, eben da sassen, wo die jetzigen 
Awaren leben, und dass Strabo sie an dem Nordabhange glaubte, weil er von den Berg- 
kesseln zwischen seinem Albanien und dem Haupt-Rücken des Kaukasus keine richtige 
Vorstellung hatte. Aber auch wenn sie damals wirklich am Nordabhange wohnten, geht 
immer aus dem Gesagten hervor, dass die Aorsen der Fläche von den Berg-Aorsen abge- 
leitet wurden, und dass unter diesem Namen hier wohl die Vorfahren der Awaren ange- 
deutet werden. Schon der vorsichtige Groskurd findet in einer Anmerkung seiner Ueber- 
setzung «höchst wahrscheinlich» in den Aorsen die Vorfahren der waren‘), ohne vielleicht 
zu wissen, dass noch jetzt ein Volk im Kaukasus sich Uar oder Awar nennt. Für unsere 
Aufgabe aber ist es besonders wichtig, dass Strabo, gleichsam zufällig, berichtet, «Abea- 
kos, König der Siraken, habe dem Pharnakes, (Sohn des Mithrid.), als er den Bospo- 
rus beherrschte, zwei Myriaden Reiter geschickt; Spadines aber, König der Aorsen, wohl 
20; die oberen Aorsen sogar noch mehr»°). Dass von diesen Söldnern viele in der Nähe 
von Panticapaeum, der Residenz des Bosporischen Königs, begraben wurden, ist natürlich. 

Da Reineggs raschen Schrittes auf grosse Resultate loszugehen liebt, so könnte man 
besorgen, dass er die Sage von den früheren Wanderungen mehr in die Mittheilungen des 
Volkes hineingelegt, als aus ihnen herausgehört habe. Aber wir haben stärkere Beweise 
von einem Sprachforscher erhalten. 

Klaproth hat in dem Anhange zu seiner «Reise in den Kaukasus und nach Geor- 
gien», welcher die Kaukasischen Sprachen untersucht, auch die Lesghischen Sprachen 
behandelt. Er findet vier Hauptsprachen, von denen die Awarische eine bildet. Wir lassen 
das Philologische bei Seite. Aber wichtig ist für uns, dass Klaproth sich dahin aus- 
spricht: die Awaren im Kaukasus schienen Reste der Uar-Chunni der Byzantiner, nament- 
lich des Theophylaktos (siehe oben 5. 52) zu sein, wahrscheinlich aber auch mit den 
wirklichen Awaren, die weiter nach Osten in Asien von den Türken überwunden wurden, 
verwandt‘). Die letztere Ueberzeugung gründet sich wohl darauf, dass Klaproth «eine 


1) А. а. О. 4) Groskurd: Strabon’s Erdbeschreibung, II, S. 387. 
2) Strabo, p. 506. | Anmerkung. 
3) Strabo, p. 492. 5) Strabo, p. 506. 


6) Klaproth: Kaukasische Sprachen, Ъ. 11 u. 12. 


Æ 


60 KE, w.HB ARS 


bedeutende Aehnlichkeit Awarischer Wurzelwörter mit denen der Samojedischen, Ostja- 
kischen und anderen Sibirischen Sprachen» gefunden zu haben versichert. Was aber den 
ersten Theil jener Behauptung anlangt, so versichert Klaproth, dass er die aus der Ge- 
schichte der Hunnen bekannten Namen bei den jetzigen Awaren, theils ganz unverändert, 
theils sehr wenig geändert, wiederfinden konnte. Er giebt darüber folgendes Register: 


Hunnische Namen: Awarische in Chunsach: 
Uld, Uldin, Uldes. Uldin, eine Awarische Familie. 
Attila. Addilla, ein häufiger Mannsname. 
Bleda oder Budach. Budach, Familienname. Budach Sultan. 
Ellak. Ellak, Lesghischer Mannsname. 
Dingizik. Dingazik, Familienname. 
Eska, Tochter des Attila. Eska, ein jetzt veralteter Weibername. 
Balamir. Balamir, Mannesname. 
Almus. Armuss. 
Leel. Leel. 
Zolta. Ssolta. 
Geysa. Gaissa. 
Sarolta. Sarolta. 


Man kann das Gewicht, welches in dieser Uebereinstimmung der Namen liegt. nicht 
verkennen, vorausgesetzt dass Klaproth nicht durch falsche Berichte getäuscht ist, denn 
er selbst war nie in Awarien. Soll man nun schliessen, dass die Hunnen mit den noch 
jetzt im Kaukasus lebenden Awaren eines Stammes waren, etwa nur eine Abzweigung der- 
selben ? Ich kann es nicht glauben, wenigstens nicht von dem herrschenden Stamme der 
Hunnen, denn diesem wird ja, wie oben ausführlich nachgewiesen ist, Mongolische Bil- 
dung gegeben, und namentlich dem König Attila; der Awarische Kopf, den wir vor uns 
haben, zeigt aber gar nichts Mongolisches. Die Hunnischen Namen, die Klaproth unter den 
Awaren wiederfindet, sind nun gerade vom herrschenden Stamme. Und wie käme es, dass die 
Römischen Schriftsteller sowohl die westlichen als die östlichen, die Hunnen als so überaus 
hässlich und abschreckend beschreiben, die Awaren aber nicht? Woher der ganz entschie- 
den verschiedene Charakter im Verhalten der Hunnen und der Awaren gegen andere Völ- 
ker? Jene waren roh und übermüthig, aber gerade; diese im höchsten Grade listig, un- 
wahr und perfid. 

Ich nehme die Richtigkeit der Namen-Uebereinstimmung an, und leugne ihre Bedeu- 
tung nicht, vermuthe aber einen umgekehrten Weg der Entstehung. Die Geschichte lehrt 
uns, dass die Awaren, mögen nun ursprünglich Hunnische Stämme unter ihnen gewesen 
sein oder nicht, denselben Weg zogen, den die Hunnen gegangen waren, und dass sie sich 
der Theiss-Gegend bemächtigten, wo die Hunnische Herrschaft rasch zu Grunde gegangen 
war. Sie fanden es vortheilhaft, sich als Erben der Hunnen ansehen zu lassen. Sie for- 
derten aus diesem Grunde Unterwerfung von den Völkern, die einige Zeit den Hunnen 


Die MakRokEPHALEN 1M BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 61 


sich unterworfen hatten, sie machten Ansprüche an den Byzantinischen Hof, die sich auf 
Rechte der Hunnen gründeten. Sie selbst scheinen es veranlasst zu haben, dass man sie 
später gewöhnlich Hunnen nannte, wie sie denn auch unzweifelhaft die Reste der Hunnen 
in sich aufgenommen haben. Auch hatten die Hunnen ja einen so furchtbaren Ruf sich 
dadurch erworben, dass die beiden Hälften des Römer-Reiches vor ihnen zitterten. Es 
konnte den Awaren nur vortheilhaft sein, als deren Erben angesehen zu werden. Wenn 
die Hunnen sich so viel Achtung erworben hatten, dass, nachdem ihre Furchtbarkeit auf- 
gehört hatte, Byzantinische Zierbengel mit Hunnischer Tracht und Hunnischen Sitten affec- 
tirten, war es nicht natürlich, dass die Awaren, die Erben ihres Reiches, auch Hunnische 
Personen Namen annahmen, besonders von dem Stamme, der geherrscht hatte? Um diese 
Uebertragung Hunnischer Namen auf die Kaukasischen Awaren vollkommen verständlich 
und natürlich zu finden, ist nur anzunehmen, dass die nach Westen gezogenen Awaren 
noch Verbindungen mit den im Kaukasischen Isthmus verbliebenen unterhielten, oder dass 
nach den schweren Niederlagen im 8. Jahrhunderte einige Reste sich dahin zurückzogen. 
So erkläre ich es mir auch, dass der Hauptort im Lande der Awaren, der Sitz ihres Chans, 
Chunsach oder Chunsag heisst. 

Wir besitzen von den eigentlichen Lesghiern auch nur Einen Schädel. Er ist dem 
Awarischen zwar ähnlich, doch verschieden durch das mehr vortretende Hinterhaupt. Auch 
hier liegt das Foramen magnum weit nach hinten, doch erhebt es sich nur wenig aus der 
Ebene des Grundbeins. Die Querleiste des Hinterhauptes ist mehr ausgebildet und weni- 
ger erhoben; die Mitte der oberen Schuppe tritt am meisten vor, der Scheitel ist weniger 
breit, in diesem Kopfe sehr schief; die Scheitelhöcker springen wenig vor. Die Nase ist 
sehr ähnlich, das Kinn fast eben so stark vorspringend, die aufsteigenden Aeste des Unter- 
kiefers eben so geneigt, das Gesicht etwas weniger lang. Der Zahnbogen ist derselbe. 

Die Awaren unserer Zeit, etwa 25000 Köpfe stark, gelten für die tapfersten unter 
den Lesghischen Stämmen. Diese Tapferkeit ist aber, wie bei den Awaren des Mittelal- 
ters, mit Treulosigkeit verbunden, es ist die unverschämte Dreistigkeit des Räubers. Man 
pflegt im westlichen Europa alle Kaukasischen Völker als gleich zu betrachten und als 
begeisterte Vertheidiger ihrer Unabhängigkeit und ihres Glaubens. Doch ist die Verschie- 
denheit sehr gross im westlichen und im östlichen Kaukasus. Bei den Tscherkessen im 
westlichen Kaukasus sind die feudalen Verhältnisse mehr ausgebildet als in irgend einem 
Volke Europas. Die zahlreichen Fürsten haben einen zahlreichen Adel als Gefolge, der 
Edelmann seine Knappen oder Knechte, die aber nicht Sklaven sind, soudern Freie. Der 
Adel bewahrt genau sein Stammregister, so dass es dem Sprössling eines neuen Stammes 
schwer sein soll, eine Frau aus einem alten Stamme zu erhalten. Wer nicht als Fürst ge- 
boren ist, dem ist es unmöglich, Führer eines Stammes oder des ganzen Volkes zu werden. 
Dagegen ist ein Knabe von fürstlichem Geblüte dem Fremden schon ein sicherer Geleits- 
mann; er wird in allen Stämmen, die mit dem seinigen nicht in offener Fehde leben, mit 
Achtung empfangen. Die Tscherkessen erklären sich für Muhammedaner, aber sie dulden 


62 К. Е. т. Baer, 


keine Priester oder Mullahs unter sich. Ihre traditionelle Religion soll nach dem Urtheil 
von Personen, die viel mit ihnen verkehrt haben, ein sonderbares Gemisch von uralten 
Traditionen, Griechischen Mythen, die sie entweder von den Griechen haben, oder wahr- 
scheinlicher aus denselben Quellen schöpften, aus denen die Griechen sie hatten, und von 
christlichen und muhammedanischen Dogmen sein. — Ganz anders bei den Lesghiern. 
Das ganze Volk ist demokratisch, nur nach Stämmen und Thälern getheilt, aber dem reli- 
giösen Fanatismus zugänglich und durch dieses Mittel vereinbar. Kasi Mullah und Scha- 
myl wurden als neueste Verkünder der reinsten Lehre mächtig. Die Lesghier sind ein 
Räubervolk, das seit Jahrhunderten, welche Nachbarn es auch hatte, Ueberfälle und Plün- 
derungen nach allen Seiten ausgeübt hat. Beute ist der Zweck derselben, daher auch nach 
gemachter Beute die schnellste Flucht in die unzugänglichen Bergschluchten nicht im 
geringsten Schande bringt, selbst wenn man vor einem viel schwächeren Gegner flieht. 
Nur die Beute hat Werth, ob sie durch List, Betrug oder Tapferkeit erreicht wird, ist 
gleichgültig, ja, die List ist noch preislicher, weil sie geistige Ueberlegenheit beweist. Die 
Tscherkessen dagegen haben viel Nobles in ihrem Charakter. Ihre Raubzüge sind mehr 
als Kriegszüge zu betrachten, und werden gegen Völker unternommen, zu denen sie in 
feindlichen Verhältnissen stehen. Vertrauen, das man den Tscherkessen erweist, erweckt 
auch ihr Vertrauen, und verpflichtet sie, wie man es bei wenigen Europäischen Völkern 
finden wird. General Roth, Kommandant von Anapa, der sie ganz kannte und erkannte, 
hatte ihr Vertrauen in solchem Grade gewonnen, dass er in Begleitung von wenigen Tscher- 
kessen, aus denen er sich eine Leibwache des Vertrauens gebildet hatte, durch alle Ge- 
birgsschluchten reiten konnte, wo ihm keine Russische Kriegsmacht folgen durfte, und von 
wo, wenn man ihn getödtet hätte, nicht einmal eine Kunde von der Art seines Todes nach 
Russland gekommen wäre. Und dieses Vertrauen wurde begründet, als Roth auf einem 
schmerzlichen Strafzuge ein Tscherkessisches Dorf verbrennen musste, und aus dem Dache 
eines brennenden Hauses ein Mädchen heraussprang mit dem Rufe: Ist hier ein Edelmann, 
dem will ich mich anvertrauen! welchem Rufe Roth, wie ein ächter Paladin, entsprach. 
Genährt wurde das Vertrauen durch den streng soldatischen, d. h. tapferen, aber offenen 
Charakter Roths. Um die Bedeutung dieses Verhältnisses ganz zu würdigen, muss man 
wissen, dass es vorzüglich der Kommandant von Anapa ist, der die Raubzüge der Tscher- 
kessen zu überwachen, zurückzutreiben, und wenn sie gelungen sind, zu bestrafen hat. 
Als nach einigen Jahren Roth in eine auf der östlichen Seite des Kaukasus gelegene 
Festung, wo Schalmyl immer mehr Macht gewann, versetzt wurde, schickten die Tscher- 
kessen eine Deputation an den Statthalter, Fürsten Woronzow, mit dem naiven aber rüh- 
renden Vorwurfe: Warum hast du uns Unmündigen die Amme genommen? Auch bewahrt 
Roth noch jetzt eine schwärmerische Anhänglichkeit für die Tscherkessen, aus denen nach 
seiner Meinung, bei zweckmässiger Leitung viel zu machen wäre. Aehnliche Urtheile hört 
man von anderen gebildeten Offizieren der Russischen Armee. Dass aber irgend Jemand 
für den Charakter der Lesghier schwärmte, ihre Tapferkeit abgerechnet, habe ich weder 


Dre MaxkokEPHALEN IM BoDEN DER KrYM UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 63 


hier noch in Tiflis gehört. Nur in den Büchern des westlichen Europas kann man ihr Lob 
finden, wie 2. В. bei Bodenstedt'), wo aber das ausführlich erzählte Verhör, in welchem 
ein Mullah den streitigen Gegenstand sich selbst zuspricht, doch wahrlich kein Beweis für 
Treu und Glauben ist. Das Raubsystem ist bei den Lesghiern so tief begründet, dass es 
auch schwerlich auf andere Weise, als durch völlige Versetzung überwunden werden kann. 
Die ganze Existenz der Lesghier in ihren Schluchten ist eine so ärmliche, dass sie ohne 
Räubereien kaum bestehen, wenigstens nie wohlhabend werden können. Ich habe diesen 
Unterschied im Volks-Charakter der Kaukasier hervorheben müssen, weil auch darin eine 
Uebereinstimmung mit den historischen Awaren unverkennbar ist. Doch muss ich bemer- 
ken, dass die Awaren der Jetztzeit etwas ritterlicher scheinen, als die übrigen Lesghier 
und die Tschetschenzen. 


© 10. Rückblick auf die Untersuchungen über den Ursprung der bei Kertsch und 
in Oesterreich gefundenen verbildeten Köpfe. 


Unsere Untersuchungen über die häufig bei Kertsch gefundenen, durch künstliche 
Mittel verbildeten Schädel, haben uns in so mannigfache Digressionen geführt, dass es 
räthlich scheint, summarisch zusammen zu fassen, was an einzelnen Resultaten gewonnen 
ist, um zu einem vorläufigen Abschlusse zu gelangen, so weit die Materialien ihn erlauben. 

In dem östlichen Theile der Krym und namentlich in der Umgegend von Kertsch 
findet man nicht selten Schädel von ganz ungewöhnlicher Form, welche diese Gestalt ohne 
Zweifel durch künstliche Verbildung im ersten Lebensalter erhalten haben. Die ursprüng- 
liche Form ist eine brachycephale, und zwar eine stark ausgesprochene brachycephale 
gewesen. Charaktere des Mongolischen Typus lassen sich nicht an ihnen erkennen. ($. 10 
bis 16). In Nieder-Oesterreich, namentlich in der Gegend vor der Einmündung des Flusses 
Kamp in die Donau und nicht weit von Wien hat man ähnliche Schädel gefunden, die auf 
dieselbe Weise, durch Binden, und aus derselben ursprünglichen Form hervorgebildet 
scheinen. (5. 5 — 7). 

Von einer künstlichen Verbildung dieser Art hatten die Griechen frühzeitig Nach- 
richt. In der sehr bekannten hippokratischen Schrift: «Ueber Luft, Wasser und die Loca- 
litäten» wird über diese Sitte umständlich gesprochen und das Volk wird das der Lang- 
köpfigen — Makrokephaloi — genannt, eine Benennung, die auf diese Form der Köpfe 
ganz gut passt, die aber anzudeuten scheint, dass der Verfasser, Hippokrates, oder ein 
Anderer, den eigentlichen Namen des Volkes nicht kannte. Eben so wenig wird der 
Wohnsitz desselben bestimmt angegeben. Die gewöhnliche Ansicht der Commentatoren, 
dass der Verfasser dieses Volk an die Ostseite des Palus Maeotis setzt, würde auf die Aorsen, 
auf welche andere Winke führen, sehr gut passen. Allein der Verfasser spricht zuerst 


1) Die Völker des Kaukasus. 


64 К. Е. у. Barr. 


von denjenigen Landschaften Asiens, welche im mittleren Sonnen- Aufgang, d. h. gerade 
nach Osten von seinem Standpunkte, der Griechischen Küste von Klein-Asien oder Grie- 
chenland, liegen, und meint, dass hier die Früchte gut gedeihen und die Menschen sich 
ziemlich gleich seien, weil auch die Jahreszeiten gemässigt und unter sich wenig verschie- 
den seien. Dann fährt er aber fort: «Es ist nicht so mit den Völkern, welche rechts vom 
Sommer-Sonnenaufgang bis an den Pahıs Maeotis wohnen. Diese sind mehr verschieden 
unter sich, was von der grösseren Verschiedenheit der Jahreszeiten abhängt». Der 
Sommer-Sonnenaufgang ist für den Verfasser dieser Schrift NO. Rechts von Nordost sind, 
da die Griechen bei solchen Beschreibungen das Gesicht nach Norden gerichtet sich den- 
ken, wie wir unsere Karten zu zeichnen pflegen, also die Richtungen zwischen О. und NO. 
Nach dieser Orientirung spricht der Verfasser zuerst von den Makrokephalen, dann von 
den Kolchiern; er geht dann über nach Europa, spricht von den Sauromaten, den Skythen, 
zuletzt von den übrigen Europäern. Er setzt also die Makrokephalen wohl nicht nördlich 
vom Kaukasus, sondern in die Nachbarschaft der Kolchier, am wahrscheinlichsten zwischen 
diesen und den Bewohnern von Kleinasien. In dieselbe Gegend versetzt Herodot, und 
noch bestimmter Xenophon die Makronen, einige wenige Schriftsteller, wie Skylax, aber 
die Makrokephalen. Von der Sitte der künstlichen Verbildung der Köpfe spricht aber kein 
anderer Schriftsteller, ausser Strabo, der jedoch den Wohnsitz des Volkes eben so wenig 
anzugeben weiss, wie seinen Namen. Die Makrokephalen, die schon in Hesiod’s Gedichten 
vorgekommen waren, erklärt er kurzweg für Fabeln. Die Art der künstlichen Verbildung, 
wie die Hippokratische Schrift sie angiebt, ist aber offenbar nicht ersonnen, denn sie ent- 
spricht den Methoden, die wir von Amerikanischen und anderen Völkern kennen. 

Wie sind diese Widersprüche zu lösen? Die einfachste Lösung wird auch wahr- 
scheinlich die richtigste sein. Zuvörderst muss man die Vorstellung ganz aufgeben, als 
habe der berühmte Hippokrates weite Reisen gemacht und die Völker, die er beschreibt, 
in ihrer Heimath beobachtet. Ein so gefeierter Artzt, wie es Hippokrates war, hat we- 
der Zeit noch Neigung, durch Wüsten lange Reisen zu machen. Auch wenn dieser Hippo- 
krates nicht Verfasser des Buches de aöre aquis et locis gewesen sein sollte, so ist doch 
wahrscheinlicher, dass der Verfasser mehr die Nachrichten, welche die Griechen aus 
ihren Kolonien erhielten, die im ganzen Umfange des Pontus lagen, benutzte, um 
seine Ansichten über den Einfluss der äusseren Natur auf den Menschen an ihnen zu 
erweisen, als dass er diese Nachrichten selbst sammelte. Wäre er in Skythien gewesen, 
so würde er diese Ebenen nicht für ansteigende Hochebenen halten, hinter denen nach 
Norden zu Berge mit ewigem Schnee liegen, von welchen die kalten Nordwinde kommen. 
Er würde nicht seinen theoretischen Ansichten zu Liebe behaupten, die grosse Aehnlich- 
keit der Skythen unter einander komme daher, dass die Jahreszeiten unter sich sehr gleich 
sind, da hier gerade die Jahreszeiten ganz excessiv verschieden sind. Nach dieser Schrift 
wären aber Kälte und Feuchtigkeit mit kurzer Unterbrechung auch im Sommer anhaltend. 
Die Flüsse sollen zahlreich sein. Mir scheint unzweifelhaft, dass der Verfasser Nachrichten 


Die МаквокеРНАЕЕМ im ВорЕМ DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 65 


aus sehr verschiedenen Localitäten zusammengestellt hat, den Wasser-Reichthum von der 
Südküste der Krym, wo die Griechischen Kolonien lagen, mit den endlosen Ebenen des 
eigentlichen Skythiens; das Schneegebirge mag der Kaukasus sein, dessen Name sonst hier 
nicht vorkommt, aber um die eisigen Nordwinde zu erklären, denkt er sich diese Berge 
im Norden der Ebene. Die Behauptung, dass ein Sauromatisches Mädchen erst heirathen 
dürfe, nachdem es drei Feinde erlegt hat, gehört ganz in die Reihe der Märchen, die 
man sich von dem kriegerischen Geiste der Weiber im Norden des Kaukasus lange er- 
zählte. 

Wenden wir nun die Ansicht, dass die Nachrichten über fremde Gegenden und Völ- 
ker, welche in dieser Schrift vorkommen, von Kaufleuten oder Reisenden gesammelt sind, 
auf unsere Aufgabe an, so darf es nicht auffallen, dass der Wohnsitz der Makrokephalen 
gar nicht näher angegeben ist, als durch die Nennung vor den Kolchiern, obgleich die Be- 
schreibung der Methode der Verbildung den Methoden gleicht, die man in ganz anderen 
Gegenden erfahren hat. Man hatte entweder in Kolchis oder an einem anderen Handels- 
orte von der Sitte, die Köpfe der Neugeborenen zu verbilden, gehört, die den Griechen sehr 
auffallen musste, man wusste aber nicht, wo sie geübt wurde und bei welchem Volke. Man 
belegte dieses also mit dem alten fabelhaften Namen der Makrokephalen. Dass man später 
die Makronen, deren Sitz und Namen bekannt waren, für die Makrokephalen hielt, mag ganz 
einfach daher kommen, dass man das Griechische Adjectiv paxpos darin zu erkennen 
glaubte, obgleich der Name Makrones wohl einer Barbarischen Wurzel, vielleicht dem Na- 
men der Berge entsprossen war. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass Hippokrates 
und Strabo’s Nachrichten von künstlichen Verbildungen der Köpfe auf dasselbe Volk 
sich beziehen, dessen Wohnsitz beide nicht kannten (S. 19 — 30). 

Vergeblich waren die Versuche, die Spuren dieses Volkes nach der Behauptung, die 
Hunnen hätten dieselbe Sitte gehabt, aufzufinden. Der herrschende Stamm der Hunnen 
wird ganz wie ein Mongolischer beschrieben. Unter der Führung desselben waren aller- 
dings viele andere, allein da die Ansicht von der künstlichen Verbildung nur auf einem 
einzelnen Worte des schwülstigen Dichters Sidonius Apollinaris beruht, dem es auf ein 
Dutzend Worte zu viel gar nicht ankommt, und nur durch Einen Buchstaben, in diesem 
Einen Worte erwiesen werden soll, so kann man wohl mit Zuversicht sagen, dass in den 
historischen Nachrichten über die Geschichte der Hunnen keine Beweise gefunden sind, 
dass sie die Köpfe künstlich verbildeten. Dass die Denkmünzen auf Attila keine Beweise 
liefern können, versteht sich von selbst, sonst müsste man ihm auch Hörner und Esels- 
ohren zuschreiben. (S. 30 — 45). 

Ganz andere Anknüpfungspunkte gewähren uns die Awaren. Vor allen Dingen hat 
ein Kopf der jetzt noch im Kaukasus neben den Lesghiern wohnenden Awaren auffallende 
Aehnlichkeit mit der ursprünglichen Grundform der verbildeten Köpfe aus der Krym; 
beide haben gar nicht Mongolischen Charakter. Auch die Awaren des Mittelalters waren 
wohl nicht Mongolischen Stammes, denn wenigstens die Deputationen, die in Konstanti- 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 9 


66 К. Е. т. Baer, 


nopel erschienen, trugen lange Haarflechten, und die Gesichter schienen gar nicht auf- 
gefallen zu sein. Dazu kommt, dass die Kaukasischen Awaren die Sage bewahrt haben 
sollen, Stammgenossen von ihnen seien nach Norden ausgewandert, also in die Gegend, 
wo Strabo’s Aorsen lebten, und dass diese Auswanderer durch Weiterziehen verschwun- 
den seien, wie auch die 4ors nach Strabo’s und Ptolemaeus Zeit verschwunden 
scheinen. Der letztere hatte sie schon weiter nach Norden gerückt. Von den Aorsen 
haben sehr viele, nach Strabo’s bestimmten Angaben, Kriegsdienste im Bosporischen 
Reiche geleistet. Aor ist eine sehr einfache Umbildung von Uar, wie nach Klaproth die 
Kaukasischen Awaren sich noch jetzt nennen sollen. Die Aorsen der Ebene hält auch 
Strabo für Abkömmlinge der Berg-Aorsen, die also unsere jetzigen Awaren sein könnten. 
Zu allem diesem kommt, dass man in Nieder-Oesterreich verbildete Köpfe gleich denen 
um Kertsch gefunden hat, einen davon in der Nähe eines Awaren-Ringes, und dass man 
sie auf kein anderes Volk, als auf die Awaren des Mittelalters, zu deuten weiss. Ihr Cha- 
rakter, wie ihn die Geschichte zeichnet, scheint auch dem der Awaren der Neuzeit ähnlich. 
Man könnte die Ableitung der verbildeten Köpfe von den Awaren als erwiesen betrachten, 
wenn irgend eine Geschichtsquelle damaliger Zeit erwähnte, dass die Awaren sich die 
Köpfe verbildeten, eine solche Nachricht ist aber nicht aufgefunden. In Ermangelung der- 
selben könnte nur das nicht seltene Vorkommen solcher Köpfe in Ungarn und nament- 
lich in den Gegenden der Theiss den vollen Beweis liefern. Bis dieser Beweis sich findet, 
möchte ich doch nicht unbemerkt lassen, dass die Awaren lange Haarzöpfe vom Hinter- 
haupt herabhängen liessen. Diese Sitte könnte wohl Veranlassung gegeben haben, den 
Scheitel mit dem Hinterhaupt bei den Neugeborenen zurück zu schieben, damit die Zöpfe 
desto besser paradiren könnten. Sehr möglich ist es aber, dass nur gewisse Stämme die 
Sitte hatten, die Köpfe ihrer Kinder zu verbilden. 

Die Awaren des Mittelalters hatten die Gewohnheit, ihre Lager durch weite Umwal- 
lungen zu schützen. In der letzten Zeit, als Karl der Grosse und sein Sohn Pipin den 
entscheidenden Vernichtungskrieg gegen sie ausführten, scheinen‘ diese Umwallungen in 
sehr grossem Maassstabe bestanden zu haben. Wenigstens wurden sie von dieser Zeit an 
unter dem Namen der Awaren-Ringe berühmt. Man hat aber wenig sichere Nachrichten 
über sie. Eine Beschreibung ist ziemlich allgemein als richtig und maassgebend angenom- 
men '), die zwar sehr bestimmt spricht, aber, wie es mir scheint, handgreiflich irrig ist. Ein 
Krieger, Adalbert, der den Feldzug gegen die Awaren mitgemacht hatte, berichtete darü- 
ber dem Mönch von St. Gallen, der die Lebensgeschichte Karls des Grossen geschrie- 
ben hat”) und darin eine Darstellung giebt, als ob das ganze Land der Awaren durch neun 
concentrische ringförmige Wälle getheilt sei, von denen einer von dem anderen 10 Deutsche 
Meilen abstehe; jeder Wallsei aus Faschinen (? stipitibus quernis, faginis vel abiegnis) 20 Fusshoch 


1) Z.B. von Zeuss: Die Deutschen und ihre Nach- 2) Pertz: Monumenta Germ., II, р. 748. 
barstämme, 5. 737. Aber auch von Thierry: Attila, II, 
p. 164. 


Die МаквокеРНАТЕМ ım BoDEN DER KryM UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 67 


und eben so breit aufgebaut, mit Steinen oder Kalk ausgefüllt, mit Rasen bedeckt und 
mit Gebüsch bewachsen. Man sieht, der gute Mönch hat von Verschanzungen keinen son- 
derlichen Begriff. Zwischen Faschinen, die nur mit Rasen bedeckt sind, würden die Steck- 
linge, aus denen das Gebüsch wachsen sollte, schwerlich gedeihen. Es mögen also wohl 
Erdwälle gewesen sein, denen man zur stärkeren Befestigung Faschinen zur Wandung gab. 
Aber auch die übrige Beschreibung muss arge Missverständnisse enthalten. Neun concen- 
trische Kreise, von denen jeder 10 Deutsche Meilen ') von dem anderen absteht, würden 
180 Deutsche Meilen Durchmesser für den äussersten Kreis geben, wofür der Raum in 
Ungarn fehlt. Die äussersten Wälle, wie der am Fluss Kamp und ein zweiter am Kahlen- 
berge, mögen nichts anderes, als Verbindungen gegenüberstehender Gebirgs-Ausläufer ge- 
wesen sein, so dass also eigentlich das Gebirge den Ring bildete, was gerade für Ungarn 
passt. Dass aber innerhalb der Ebene die Ringe nicht einander einschlossen, sondern neben 
einander lagen, scheint aus dem Berichte von dem Zuge Pipin’s, der einige der inneren 
Ringe eroberte, hervorzugehen. Auch sagen andere Nachrichten, dass die Ringe wohl 
50000 Schritt im Umfange hatten, also nur 4— 5 D. Meilen. Jedenfalls waren die Umwal- 
lungen bestimmt, nicht nur das Lager der Menschen zu umschliessen, sondern auch die 
Weideplätze für das Vieh. 

Es scheint nun sehr beachtungswerth, dass sehr weite Umwallungen aus ganz alter 
Zeit nur aus den südlichen Provinzen des Russischen Reiches bekannt sind, nicht aber, 
so viel ich weiss, aus seinen mittleren und nördlichen. Aus diesen kennt man eine sehr 
grosse Anzahl kleinerer Umwallungen, die als Redouten für Krieger-Haufen gedient zu 
haben scheinen. Sie erstrecken sich bis nach Finnland, sind aber auch häufig, und zum 
Theil sehr häufig, in benachbarten Ländern, die einst Slavische Bevölkerung hatten oder 
noch haben, wie die Mark Brandenburg und die Lausitz. Man nennt einen solchen Platz, 
der zuweilen mit mehreren Wällen umgeben ist, im Russischen Gorodischische, und schreibt 
sie wegen ihres Vorkommens den Slavischen Stämmen zu. Auf der Südseite der Karpa- 
then, der Sudeten und des Erzgebirges soll man sie aber nicht kennen’). — Sehr ausge- 
dehnte Umwallungen sind sehr viel seltener, und wie gesagt, nur aus den südlichen Pro- 
vinzen bekannt, vom Donez bis nach Ungarn. So beschreibt Güldenstädt einen Wall, 
der auf der rechten Seite des Donez einen Raum von 50 Werst (7/, D. Meilen) Länge 
und 10 Werst Breite abgränzt°). Güldenstädt meint, diese Umwallung, die auf der 
einen Seite durch den Fluss geschlossen wird, sei gegen die Krymischen Tataren angelegt, 
wohl nur weil die Russen jetzt vor allen Dingen an die Tataren denken. Allein in diesen 
Gegenden lebten die Aorsen des Strabo. Es ist hier auch ein Gorodschische in der Nähe, 


welcher Chaganskoe, Umwallung des Chagan heisst, — Chagan war der Titel der Awa- 
rischen Häuptlinge, später auch der Chasarischen. — Weiter westlich, im Wolkowschen 
!) In den gewöhnlichen Handschriften steht sogar 2) Sresnewski in den Записки Одесскаго Общества 


20 D. Meilen, da aber zugleich gesagt ist, dass diese 40 | Heropin и Древностей. T. II, стр. 532 — 549. 
Ital. Meilen betrugen, so sind 10 Meilen gemeint. 3) Güldenstädt’s Reise, II, В. 239 und vorher. 
- * 


68 К. Е. т. Baer, 


Kreise des Charkowschen Gouvernements, an den oberen Zuflüssen der Merefa, 16 Werst 
von Walki, ist eine vierseitige Umwallung, deren Umfang über 3 Werst beträgt. Sie kann 
sich also an Ausdehnung mit der eben genannten nicht messen, allein sie ist dadurch merk- 
würdig, dass in ihr, ausser vielen Knochen, Pfeilspitzen aus Kupfer gefunden sind. Auf 
den sehr hohen Wällen, die zum Theil dreifach sind, sollen Eichen von 7 bis 8 Arschin 
(15 — 18 Fuss P. M.) Umfang stehen. Eine andere Umwallung in demselben Kreise, von 
dem Volke Chasaren-Befestigung genannt, mit dreifachen Wällen und Gräben umgeben, 
ist ebenfalls mit sehr grossen Bäumen bewachsen '). Sie fehlen in Bessarabien nicht, schei- 
nen vielmehr dort häufiger zu werden; doch fehlt es an genügenden Beschreibungen. 
In einem Aufsatze über alte Befestigungen in Bessarabien zählt H. Stamati sehr ausführ- 
lich Reste von Befestigungen aus Stein auf, erwähnt aber vorübergehend ausgedehnter Be- 
festigungs-Arbeiten °). Mehr sagt darüber hie und da Kantemir*) in seiner Beschreibung 
der Moldau. So fanden z. B. Leute, die er ausschickte, in den Wäldern am Pruth eine 
Umwallung, zum Theil aus gebrannten Steinen, in Gestalt eines «länglichen Zirkels», im 
Umfange von 5 Ital. Meilen. Ausführlicher spricht Sulzer‘) von Wällen, die er in der 
Moldau und Wallachei bis nach Ungarn sah, und für Awaren-Ringe oder deren Reste er- 
klärt, denn oft schien ein solcher Wall gerade oder fast gerade zu verlaufen und dann 
abzubrechen. Sulzer ist freilich eine alte Quelle, und ich kann nicht zweifeln, dass dieser 
Gegenstand, namentlich in Ungarn, in neuerer Zeit viel vollständiger bearbeitet sein wird, 
indessen sind mir solche Arbeiten unbekannt. Auch genügen schon die allerdings noch 
dürftigen Nachrichten aus Russland, um das Vorkommen dieser Umwallungen vom Don 
bis in das alte Dacien zu erweisen. Oestlich vom Don habe ich von keiner grossen Um- 
wallung gehört. ; 

Wenn nun die Awaren des Mittelalters die Aorsen Strabo’s sein sollten, wie ist ihr 
Verhältniss zu den eigentlichen Awaren, die früher viel weiter nach Osten in Asien 
am Altai herrschend gewesen und von den Türken unterworfen sein sollen, zu neh- 
men? Die Türken behaupteten in einer Gesandtschaft nach Konstantinopel, die entlaufe- 
nen Uar-Chuni seien den wahren Awaren, die jetzt ihnen (den Türken) gehorchten, unter- 
worfen gewesen, und machten daher Vorwürfe, dass man sie in Byzantinischen Schutz 
und Sold genommen habe. Wir haben Einiges hierüber oben (3. 51) angedeutet. Aus- 
führlicheres kann man in Theophylactos Simoc. Lib. VII lesen, und nach diesen Nach- 
richten übersichtlich bearbeitet in Thierry’s historre d’Autila I, partie 2, chap. 6. Es wäre 
allerdings sehr willkommen, wenn man auch diese Frage mit einiger Wahrscheinlichkeit 
beantworten könnte. Indessen möchte ich darüber nicht einmal eine Vermuthung aus- 
sprechen, weil mir die Materialien gar zu unsicher scheinen. Die Türken konnten die 


I) Русск. историческ. сборникъ, T. III, ст. 201—229. 3) Kantemir Beschreibung der Moldau, Büsching’s 
?) Записки Одесск. Общества ист. u древн. Т. П, | Magazin, Bd. III, $. 555. 
стр. 805 — 815. 4) Sulzer: Geschichte des transalpinischen Daciens. 


Bd. I, $. 209 — 225. 


Dre МаквокеРНАТЕХ im BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 69 


Herrschaft über die Entwichenen schon deshalb beanspruchen, weil sie bis an das Wohn- 
gebiet derselben vorgedrungen waren, um sie zu bekriegen. Es war sowohl bei den Hun- 
nen als bei den historischen Awaren ganz gewöhnlich, ein Volk, das der Unterjochung 
auswich, entlaufene Knechte zu nennen, auch wenn es noch gar nicht zu einem Kampfe 
gekommen war. Es wäre möglich, dass mit den ehemaligen Herren der ausgewichenen 
War-Chunt niemand anderes, als die Berg-Aorsen oder die im Kaukasus zurückgebliebenen 
Awaren gemeint waren. Angenommen aber, die Entlaufenen, d.h. die historischen Awaren, 
wären erst kürzlich aus dem Innern Asiens gekommen, so finden wir hier, nach dem merk- 
würdigen Zeugnisse des oben (3. 23) genannten Chinesischen Reisenden, im 7. Jahrhun- 
dert, also nur ein Jahrhundert nach dem Erscheinen der historischen Awaren, ein Volk, 
welches die Köpfe der Neugeborenen verbildet, vielleicht ein verwandter Stamm oder Zu- 
rückgebliebene desselben Stammes. Dann wären Strabo’s Aorsen aber aus der Combina- 
tion ausgeschlossen, dagegen könnte man das Voik, von dem Strabo sagt, dass es die 
Köpfe verbilde, dessen Wohnsitz und Namen er aber nicht kennt, damit in Verbindung 
bringen. Strabo nennt bei Gelegenheit dieser Kopf-Former auch ein Volk, Tapyren, das 
östlich vom Kaspischen Meere wohnte. Die Awaren sollen aber auf ihrer Wanderung 
oder Flucht nach Westen das Volk der Sabiren vernichtet oder versprengt haben. Ist das 
nicht dasselbe, da s und t im Griechischen so ungemein leicht wechseln ? Allerdings hätte 
auch der zweite Vokal gewechselt, aus einem kurzen v in ein langes st"), und das Volk 
wäre weiter westlich gezogen. Es scheint aber auch gar nicht unmöglich, dass die Aorsen 
früher weiter östlich in Asien ansässig waren, und dass die Ansprüche der zur Herrschaft 
gekommenen Türken sich also auf eine schon lange vergangene Zeit bezogen, von der nur 
eine Erinnerung sich erhalten hatte, die von den neuen Herrschern geltend gemacht wurde. 
Unter dieser Voraussetzung würden alle bisher erwähnten Andeutungen sich vereinigen 
lassen. 

In welchem Verhältnisse mögen aber die Makrokephalen des Hippokrates zu diesen 
Awarischen Fingerzeigen stehen? Als unzweifelhaft kann man es ansehen, dass das Volk 
mit verbildeten Köpfen, dessen Reste man jetzt um Kertsch findet, nicht zur Zeit der Blüthe 
der Griechischen Kolonie hier wohnte, weil sonst doch die Nachricht davon allgemeiner sich 
verbreitet hätte, und nicht nur Hippokrates, sondern besonders Strabo würden ein sol- 
ches Volk nicht in unbestimmter Ferne suchen. Hätte es in der Nachbarschaft von Grie- 
chen gelebt, so würde es doch wohl öfter genannt sein. Der Periplus des Skylax setzt 
es an eine Stelle, wo notorisch die Makronen wohnten. Das sieht gerade aus, wie eine 
schlechte Verbesserung eines späteren Bearbeiters. Es wäre also auch kein Hinderniss, 
das Volk weit entfernt, im östlichen Kaukasus etwa, zu suchen. Die Stelle, die es in der 
Hippokratischen Schrift einnimmt, spricht nicht dagegen. Sie macht es nur unwahrschein- 
lich, dieses Volk der Makrokephalen im Norden des Kaukasus zu finden, nach den Ansich- 


1) Мепапаег: Excerpt. legat. р. 101. 


70 К. Е. т. Baer, 


ten und Nachrichten, die der Verfasser der Schrift: die aëre aquis et locis hat. Bei der 
Unkenntniss der Wohnsitze der Hippokratischen Makrokephalen darf man es wenigstens 
nicht als sicher betrachten, dass sie von den ungenannten Kopf-Formern Strabo’s ver- 
schieden waren. Diese sucht der eben genannte Geograph ziemlich weit nach Osten, und, 
wie es scheint, in Berg-Gegenden. Sie könnten auch in dem Districte Kaschgar gewohnt 
haben, wo der Chinese Hiuen-Thsang im 7. Jahrhundert n. Chr. die besprochene Sitte 
noch vorfand. Nun ist diese Gegend gerade die der Uiguren oder der östlichsten Türken. 
Die Awaren des Mittelalters hatten Völker unterworfen, welche von den Byzantinischen 
Schriftstellern ’Оуфо genannt werden’), und die sich mit ihnen vereinten. In späteren 
Zeiten wird neben dem Chakan oder Chagan eine bedeutende Person unter dem Titel: 
Vigurrus oder Jugurrus genannt. 

Ohne nun in die Streitfrage weiter einzugehen, ob jenes Volk und die Magistrats- 
Person mit den Finnischen Ugren oder den Türkischen Uiguren in Verbindung zu bringen 
ist, was nur durch die anhaltendsten historischen Untersuchungen wird ermittelt werden 
können, wenn es überhaupt möglich ist, können wir mit folgenden Sätzen kaum hoffen, 
einen Abschluss zu machen, der für jetzt nicht möglich ist, da man noch nicht weiss, ob 
in der ausgedehnten Länderstrecke zwischen Kertsch und Nieder-Oesterreich so zahlreiche 
verbildete Köpfe im Boden vorkommen, als man in den genannten Gegenden gefunden hat, 
und ob ähnlich oder anders verbildete Köpfe im Chinesischen Turkestan, namentlich um 
Kaschgar, in alten Gräbern sich finden, auch eine nähere Untersuchung der Sprache der 
jetzigen Kaukasischen Awaren noch fehlt, und insbesondere die Bestimmung, welche Ele- 
mente, ob Türkische oder Finnische neben den Lesghischen in derselben vorkommen. Die 
folgenden Sätze sollen vielmehr Gesichtspunkte eröffnen, die man abschliessen mag, wenn 
man über die Verbreitung der verbildeten Köpfe mehr weiss. 

Die in Nieder-Oesterreich gefundenen verbildeten Köpfe stammen wahrscheinlich von 
der Invasion der Awaren. 

Die ganz ähnlichen, welche in der Gegend von ÆKertsch gefunden werden, scheinen 
von demselben Volke zu stammen. 

Man darf aber nicht behaupten, dass alle Awaren des Mittelalters solche Köpfe hatten. 
Es ist höchst wahrscheinlich, dass die Awarischen Horden schon im Anfange ihres Auf- 
tretens aus einem Gemisch von mehreren Völkern bestanden. Gar nicht zu bezweifeln ist, 
dass sie später, namentlich zur Zeit Karls des Grossen, ungmein gemischt waren. Die 
Hunnen waren in sie aufgegangen. Von den Alanen, welche Schafarik für identisch mit 
den Osseten erklärt, hatten sich schon einige Stämme an die Hunnen angeschlossen, andere 
an die Awaren, während doch der Rest des Volkes zurückblieb. 

Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass nur eins oder einige der 
Völker, aus denen der Awarische Bund bestand, die Sitte hatten, die Köpfe zu verbilden. 


1) Eginhard: Vita Caroli Magni, 


Die MakRokEPHALEN 1м BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 71 


Da die Kopfform der jetzigen Kaukasischen Awaren, freilich nur nach einem einzigen 
Exemplare zu urtheilen, mit der Form übereinstimmt, welche die besprochenen verbil- 
deten Köpfe vor der Verbildung gehabt haben müssen, so scheinen diese neueren Awaren 
nicht wesentlich verschieden von den historischen oder einem Theile derselben. Der Cha- 
rakter von List und Betrug, verbunden mit Tapferkeit und Grausamkeit scheint auch sehr 
übereinstimmend. 

Wenn es wahr ist, dass diese Kaukasischen Awaren noch jetzt sich Uar nennen, wird 
dadurch ihr Zusammenhang mit den Awaren des Mittelalters noch wahrscheinlicher, zu- 
gleich aber auch mit den Aorsen Strabo’s. Die Aorsen Strabo’s mögen aber die Sitte, die 
Köpfe zu verbilden, damals nicht gehabt haben, da Strabo diese Sitte nur von einem Volke 
anführt, das in einer ihm unbekannten entfernten Gegend weiter nach Osten lebte. 

Auch der Sitz von den Makrokephalen des Hippokrates war unbekannt, und jeden- 
falls hatten die späteren Griechen mit ihnen keinen Verkehr. Es scheint also auch kein 
Grund, sie für verschieden von dem Volke zu halten, dessen Strabo gedenkt, ohne es zu 
nennen. Zu bemerken ist, dass die früheren Griechen durch den vielfachen Verkehr mit 
den Skythen bestimmtere Nachrichten von den Gegenden nördlich vom Kaspischen Meere 
hatten, als die späteren, wie schon daraus hervorgeht, das Herodot das Kaspische Meer 
für ein umschlossenes erklärt, Strabo aber an eine Verbindung desselben mit dem nördli- 
chen Ocean glaubt. | 

Da wir, freilich aus ganz anderer Quelle, erfahren, dass die Uiguren noch im 7.Jahr- 
hundert die Sitte hatten, die Köpfe der Neugeborenen zu verbilden, so wäre es möglich, 
dass dieser Türkische Stamm unter den Awaren dieselbe Sitte nach Europa verpflanzte. 
Nicht zu übersehen aber ist, dass Byzantinische Schriftsteller die plötzlich erschienenen 
Awaren von einem Volke Ogor ableiten. Diese beherrschten lange die Krym. Die Cha- 
rakter-Schilderung, welche der Chinese Hiuen-Thsang von den Bewohnern von Kaschgar 
giebt, passt ganz zu dem Verhalten der historischen Awaren. «Les habitants», heisst es 
nach St. Julien’s Uebersetzung, «sont d’un naturel violent et le caractère dominant de leurs 
moeurs est la ruse et la duplieite. Ils font peu de cas des rites et de la justice, et sont aussi peu 
versés dans les lettres que dans les arts. Ils ont emprunté leur écriture à l'Inde». Das Uigurische 
Alphabet ist nach Klaproth und Abel-Rémusat Syrischen Ursprungs. Das aber konnte 
der Chinese wohl nicht beurtheilen Von der Formung des Kopfes heisst es: «Й existe 
chez eux une coutume étrange: quand un enfant est né, on [из applatit la tete en la comprimant avec 
une planchette‘). | 

Ob die jetzigen Kaukasischen Awaren nicht etwa ein Gemisch eines Türkischen Vol- 
kes mit einem Lesghischen sind, bliebe näher zu untersuchen, so wie auch zu bestimmen, 
ob die Uebereinstimmung ihrer Kopfbildung mit der ursprünglichen Form der verbildeten 
Köpfe eine allgemeine ist, oder nur eine zufällige in dem einen untersuchten Individuum. 


1) Stan. Julien: Histoire de la vie de Hiouen-Thsang, р. 396, 


ro К. Е. v. Baer, 


Die Form des Hinterhauptes ist in dem beschriebenen Awaren-Kopfe so auffallend, dass 
man die Vermuthung einer künstlichen Abplattung nicht ganz unterdrücken kann. Wenn 
man eine solche voraussetzen könnte, so wäre die Uebereinstimmung mit dem Lesghier- 
Kopfe grösser, als sie jetzt ist. 

Die beabsichtigte ethnographische Expedition nach Dagestan wird vielleicht auch 
eine Ueberzeugung sich zu verschaffen wissen, ob das Volk der Kaukasischen Awaren 
schon lange vor den Zügen der mittelalterlichen Awaren hier ansässig war, oder erst aus 
den Trümmern derselben sich sammelte. Nach einem Arabischen Manuscripte eines 
Efendi, der aber nicht näher bezeichnet wird, sollen diese Awaren im 8. Jahrhundert 
eine ausgedehnte Herrschaft im östlichen Kaukasus ausgeübt haben, und die Awarischen 
Chane dieser Gegend sollen noch im vorigen Jahrhundert von den Chanen von Schirwan, 
Derbent, Baku, Nucha, von dem Pascha von Achalzik und selbst von dem Zar von Grusien 
eine Art Tribut oder Sold unter der Bedingung bezogen haben, ihre Besitzungen nicht zu 
beunruhigen'). Das erinnert ja ganz an das Mittelalter. 


© 11. Verbildete Schädel, die in Savoyen und unweit Lausanne gefunden sind. 


Ich habe S. 9 erwähnt, dass Dr. Troyon zu Chesaux bei Lausanne und Herr Gosse 
der Jüngere in Savoyen verbildete Köpfe in alten Gräbern gefunden haben. Von den er- 
steren ist auch einer auf unserer Taf. II, Fig. 7 abgebildet. Sie dürfen deswegen hier 
nicht ganz übergangen werden. Sie mit denen der Krym in nahe Verbindung zu bringen, 
scheint aber kein Grund vorhanden. Die Entdecker selbst haben sie weder mit Awaren 
noch mit Hunnen in Beziehung gebracht. Dr. Troyon glaubte ursprünglich, es könnten 
alte Helvetier sein. Später hat man sie den Sarazenen zugeschrieben, weil in 5 — 6 Mi-. 
nuten Entfernung von solchen Gräbern ein Felsen sich findet, den man rocher des Sarra- 
sins nennt, und diese Sitte bei manchen Arabischen Stämmen bestand und zum Theil noch 
besteht. Von einem Algierischen Araber bildet Gosse auf Taf. II, Fig. 7 einen Kopf ab, 
den er für einen künstlich verbildeten erklärt. Dieser Kopf ist in ganz neuer Zeit in die 
anthropologische Sammlung von Paris gebracht. Auch ist es historisch erwiesen, dass die 
Sarazenen sich längere Zeit in der Provence festgesetzt hatten und Raubzüge nach Savoyen, 
Piemont und in die Schweiz machten. Der berühmte Orientalist Reinaud hat darüber ein 
eigenes Buch geschrieben’). Eine Zeit lang sollen die Genueser, wie, wir darüber oben 
das Zeugniss von Scaliger anführten, den Sarazenen oder Mauren die künstliche Verbildung 
des Kopfes nachgemacht haben. Scaliger ist nicht immer zuverlässig ; er nennt sogar die 
Genueser Nachkommen der Mauren’). 


1) Berger im Kaskasckiü Календарь за 1859, стр. 3) Sic Genuenses, cum a Mauris progenitoribus acce- 
265. pissent olim morem ut infantibus recens nalis tempora com- 

?) Reinaud: /nvasions des Sarrazins en France, et | primerentur, nunc absque ullo compressu, Thersitico ca- 
de France en Savoie, en Piémont et dans la Suisse. | рие et animo nascuntur 41. с. 


Dre МаквокЕРНАТЕХ 1m BoDEN DER KRYM UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 73 


© 12. Angeborne Missbildung, auf Einem ursprünglich ungetheilten Scheitelbeine 
beruhend. (Macrocephalus Blum.) '). 
Hierzu Taf. Ш. 


Sehr verschieden, nicht nur von den Makrokephalen der Krym, sondern von allen be- 
kannt gewordenen künstlichen Verbildungen des Kopfes, die von Dr. Hippolyte Gosse 
aufgezählt und abgebildet werden, ist der Schädel, den Blumenbach unter der Benen- 
nung Macrocephalus Asiaticus beschrieben und abgebildet hat. Da er Tatarischen Ursprungs 
sein sollte, so lag die Vermuthung wohl nahe, in dieser langgezogenen Form die Makro- 
kephalen der Alten wiederzufinden. Indessen hätte der Umstand, dass an diesem Schädel 
gar keine Spuren von Alterthum zu erkennen waren, wohl bedenklich machen sollen. 
Darüber kann aber kein Zweifel sein, dass Blumenbach später, vielleicht um viele Jahre 
später, erkennen musste, dass hier weder eine künstliche Verbildung, noch eine erbliche 
Eigenthümlichkeit, sondern ein Bildungsfehler sich zeige. Er erhielt nämlich einen zwei- 
ten, ganz ähnlichen, nur noch etwas mehr verlängerten Kopf, als den Kopf eines Dänen, 
und zwar auch ohne alle Spur von Pfeilnath. Dieser Kopf findet sich noch in der Blu- 
menbachschen Sammlung, mit der Inschrift: Danus. Dass Blumenbach, so viel mir be- 
kannt ist, nie über diesen Kopf etwas gesagt hat, kommt wohl daher, dass er überhaupt 
mit Missbildungen sich nicht mehr beschäftigt hat, als zur allgemeinsten physiologischen 
Kenntnissnahme gehört. Als er aber im J. 1833 durch Dr. Stephan den verbildeten 
Kopf aus der Krym erhielt (S. 4) und ihn als ächten Hyppokratischen Makrokephalos be- 
zeichnete”), konnte er über das Irrige der früheren Deutung gar nicht mehr in Zweifel 
bleiben. Er würde das auch wohl in einer ausführlichen Erörterung selbst gezeigt haben, 
wenn ihn der Tod nicht ereilt hätte. In Göttingen erfuhr ich, dass er eine neue Lieferung 
seiner Schädel- Abbildungen eingeleitet hatte, und ich sah daselbst zwei gestochene Schä- 
del, die nie publicirt sind, da der Text dazu fehlte. 

Es ist diese Missbildung dadurch charakterisirt. dass der Schädel sehr schmal und 
gleichsam von beiden Seiten zusammengedrückt ist. Die Verengerung nimmt nach oben 
immer mehr zu, so dass der Scheitel, statt eine mehr oder weniger gewölbte Fläche zu 
bilden, einen Kiel darstellt. Da zu gleicher Zeit die Köpfe dieser Art sehr verlängert 
sind, aber so, dass der Kiel in einem Bogen nach hinten und unten verläuft, so hat der 


1) Wegen ungleicher Schreibart der Griechischen 
Wörter finde ich vielleicht Tadel. Ich muss wenigstens 
den Grund angeben. Die Russische Sprache behält, wenn 
sie ein Griechisches Wort aufnimmt, nicht nur die Aus- 
sprache, sondern auch die Schreibart bei. Makrokephal 
heisst also in der Krym ein so verbildeter Kopf, wie 
wir ihn oben beschrieben haben, genau wie im Griechi- 
schen, nur mit Weglassung der Endigung. Um die Lo- 
calbenennung völlig auszudrücken, glaubte ich die Grie- 

Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 


chische Schreibart beibehalten zu müsseu. Wo aber das- 
selbe Wort in einer Lateinischen Schrift gebraucht ist, 
meinte ich diese nicht ändern zu dürfen. — Unsere tech- 
nischen Ausdrücke behandeln wir ganz allgemein so, 
wie die Römer sie geschrieben haben, oder geschrieben 
haben würden. Ich kann daher nicht umhin Scaphoce- 
phalus zu schreiben, indem ich diesen neuen technischen 
Ausdruck vorschlage. 
2) Götting. gelehrte Anzeigen, 1833, S. 1761. 
10 


74 К. Е. т. ВАЕВ, 


ganze Kopf, von oben betrachtet, еше ungemeine Aehnlichkeit mit einem umgekehrten, 
stark gekrümmten Boote. Der Hinterkopf steht immer vor, zuweilen aber, wie in Fig. 5 
und 8 unserer Taf. II, ist auch die Stirn über die Fläche des Gesichtes hervorgetrieben, 
aber nicht wie beim Hydrocephalus mit bedeutender Breite, sondern es ist eben der Schei- 
telkiel, der sich auch vorn Raum schafft. Der Schädel sieht mit einem Worte so aus, als 
ob er eine seitliche, nach oben verstärkte Zusammenpressung erfahren hätte, und als ob 
das Hirn, in der seitlichen Entwickelung gehindert, dafür mehr als gewöhnlich in der Län- 
genrichtung sich ausgedehnt habe. Dabei pflegt ein solcher Kopf ganz symmetrisch zu 
sein, wenigstens sind die 3 Fälle, welche ich kenne, sehr symmetrisch. Alle drei haben 
ferner keine Pfeilnath. Man entdeckt, auch wenn man solche Schädel gegen das Licht 
hält, auf der inneren Fläche über der in diesen Köpfen ungewöhnlich tiefen Rinne, in 
welcher der Sinus falciformis major befindlich war, keine Spur der Pfeilnath. Auch fehlen 
die Scheitelhöcker (Tubera parietalia) ganz. Es ist sehr auffallend, dass man nicht schon 
lange in diesem Umstande den Grund der Verbildung gesucht hat. Es hat sich nämlich 
für beide Ossificationspunkte in der Scheitelgegend nur Einer in der Mitte des Scheitels 
gebildet und es ist also nur Ein Os bregmatis da, nicht etwa zwei, die schon frühzeitig ver- 
wachsen sind. Alle drei Schädel, die ich gesehen habe, waren von so jungen Individuen, 
dass der letzte Backenzahn noch nicht seine ganze Höhe erreicht hatte. Auch verlaufen 
die kleinen Eindrücke auf der äusseren Tafel des Scheitelbeins, die sonst in jedem Schei- 
telbein convergirend gegen den Scheitelhöcker gerichtet sind, in den Kielköpfen oder Sca- 
phocephalen gegen einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt. Da die Verknöcherung in der 
Mittellinie beginnt, so ist es gleichsam ein sattelförmiger Dornfost, der zuerst da ist, 
und die beiden Schenkel desselben pressen das Hirn lange vor der Geburt zusammen und 
erlauben ihm nicht die gehörige Entwickelung zur Seite. Um so mehr wächst es in die 
Länge, und die Schädeldecke bekommt die Gestalt eines umgestürzten Bootes. 

Dr. Humphry Minchin, Inspector eines Kinderhospitals und öffentlicher Lehrer 
der Anatomie, ist es, der die Entstehungsweise dieser Missbildung ausser Zweifel gesetzt 
hat. Da seine im Dublin quaterly journal of medicine, Vol. XXII, p. 350 — 375 befindliche 
Abhandlung in Deutschland wenig bekannt geworden zu sein scheint, so halte ich es nicht 
für überflüssig, das Wesentliche aus derselben hier zu wiederholen und einige Abbildun- 
gen zu copiren. So scheint auch Herr Prof. Andr. Wagner mit der lehrreichen Abhand- 
lung Minchin’s unbekannt geblieben zu sein, denn er erkennt im anthropologischen Ab- 
schnitte seiner «Geschichte der Urwelt» an, dass der Macrocephalus Asiaticus Blumenbach’s 
von den aus der Krym beschriebenen verbildeten Köpfen wesentlich verschieden sei und 
eine «angeborene» Form, die sich dadurch auszeichnet, dass der Schädel, von beiden Sei- 
ten zusammengedrückt, oben in eine lange gebogene Firste auslaufe '), aber den Grund der 
Verbildung nennt er nicht. 

Um das Jahr 1852 hatte Dr. Minchin Gelegenheit ein neunjähriges lebendes Kind 


1) Andr. Wagner: Geschichte der Urwelt, Bd. II, S. 46 (zweite Auflage). 


Die MaxrokePHALEN IM BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. 75 


mit verlängertem Schädel zu beobachten, das er zeichnen liess. Wir wiederholen diese 
Figur in Taf. II, Fig. 5. Der Knabe war, nachdem er ein Fieber überstanden hatte, (als 
Dr. Mitchin vier Jahre später seine Abhandlung schrieb) völlig gesund, lebhaft und ver- 
ständig. Seine Geburt war durch keine besonderen Umstände ausgezeichnet, allein die son- 
derbare Gestalt des Kopfes wurde sogleich bemerkt; die Köpfe der Aeltern waren wohl- 
gebaut; der Neugeborene genoss einer vorzüglichen Gesundheit. — Im Winter 1855 — 56 
hatte Dr. Minchin Gelegenheit den ähnlich gebildeten Kopf eines kürzlich verstorbenen 
Kindes von 3'/, bis 4 Jahren zu untersuchen. Das Kind war an Phthisis als Folge von 
Masern gestorben. Es hatte sich kein Symptom von Hirnleiden gezeigt, auch war das 
Kind munter und nicht ohne Anlagen des Verstandes gewesen. Um jedoch sich zu über- 
zeugen, dass keine Wasseransammlung da sei, wurde durch das Foramen magnum ein Scal- 
pel gegen die Ventrikel vorgeschoben; es ging keine Flüssigkeit ab. Nach Entfernung der 
Hautdecke fand sich nicht eine Spur von der Pfeilnath. An ihrer Stelle verlief ein stum- 
pfer knöcherner Kamm (a smooth osseous ridge or elevation) von der Mitte der Kranznath bis 
zur Lambdanath. Es fand sich also in diesem Kinde von 37, Jahren, oder wenig mehr, 
schon eine vollständige Verwachsung beider Scheitelbeine, oder richtiger, ein einziges 
dachförmiges und gekieltes Scheitelbein. Man sieht diesen Schädel in Taf. III, Fig. 6 von 
vorn, Fig. 7 von der Seite und Fig 8 von oben abgebildet. Die Seiten - Ansicht (Fig. 7) 
zeigt nicht nur eine bedeutende Höhe an, sondern die Ansicht von vorn (Fig. 6) und die 
von oben (Fig. 8) lassen auch die Schmalheit des Kopfes und die kielförmige Scheitelhöhe 
erkennen. Am instructivsten ist aber die Ansicht von oben (Fig. 8) darin, dass sie die 
deutlichen Spuren der Verknöcherung in strahlig von der Mitte auslaufenden vertieften 
Furchen zeigt. Dieser Umstand beweist, dass ursprünglich nur Ein Verknöcherungspunkt 
da war, und nicht eine frühzeitige Verwachsung zweier getrennt entstandener Knochen. 
Dr. Minchin fand auch einen ausgewachsenen Schädel dieser Form in der anatomischen 
Sammlung des college of surgeons zu Dublin, und einen halben Schädel derselben Form. In 
allen waren die Kranz- und die Lambda-Nath vollständig erhalten, (dasselbe können wir 
von den beiden Kielköpfen in Blumenbach’s Sammlung sagen), weil das Hirn in seinem 
Wachsthum, da es seitlich gehemmt wird, um so mehr nach vorn und hinten sich ausdehnte. 
Noch ein Umstand, den Dr. Minchin nicht bemerkt hat, scheint allgemein bei dieser 
Bildung Eines einzigen dachförmigen Scheitelbeines. Dieses schickt nämlich in der Mittel- 
linie eine Verlängerung gegen das Stirnbein hinein, wahrscheinlich weil das Stirnbein, von 
zwei Verknöcherungspunkten ausgehend, diese Gegend der vorderen Fontanelle der Fö- 
tusperiode nicht so schnell ausfüllen kann, als das ungetheilte Scheitelbein. So ist es in 
beiden Kielköpfen der Blumenbach’schen Sammlung, und, wenn mein Gedächtniss mich 
nicht täuscht, in einem ähnlichen Kopfe der Hunterschen Sammlung, so auch in der Schei- 
tel-Abhildung von Minchin, und in zwei Abbildungen von Virchow, auf die ich weiter 
unten kommen werde. Häufig findet sich auch ein Vorsprung des Scheitelbeins gegen das 
Hinterhauptsbein (Tab. III, Fig. 2) doch dieses fehlt in Minchin’s Knaben (Tab. Ш, Fig 8) 
* 


76 KE uw. ВА вв, 


und in dem erwachsenen Schädel der Dubliner Sammlung (Fig. 4). Auch in dem von uns 
abgebildeten Dänischen Kielkopfe der Blumenbachschen Sammlung (Taf. Ш, Fig. 1 — 3) 
tritt das Hinterhauptsbein nicht mit einer Spitze, sondern mit einer geraden Linie vor. 
Zuweilen bleibt, wie Dr. Minchin richtig bemerkt, in der Ossification des Biparietalbeines 
eine Lücke, die, wenn sie in der Mittellinie, oder dieser nahe liegt, das Ansehen haben 
kann, als ob ein Theil der Pfeilnath da wäre, wie in dem Dänischen Kielkopfe Tab. III, 
Fig. 2. Es sind aber dieses nur-Lücken der Verknöcherung, wie sie, je jüngere Schädel 
wir ansehen, um so häufiger vorkommen, am häufigsten und längsten im Hinterhauptsbeine, 
zu beiden Seiten über der Querleiste dieses Knochens sich zeigen. Die auffallende Sym- 
metrie in diesen Köpfen hebt auch Minchin hervor. 


Es wäre möglich, dass zuweilen nur ein Verknöcherungspunkt in der Mitte des Schei- 
tels sich bilde, ohne dass die Seitentheile (die Schenkel dieses Dornfortsatzes) einen schar- 
fen Winkel mit einander bilden. Wenn die Seitentheile rasch auseinander weichen, könnte 
eine Schädeldecke gebildet werden, welche mehr der gewöhnlichen Form sich nähert, ob- 
gleich die Verknöcherung nicht, wie gewöhnlich, von den Seiten, sondern wirklich von 
der Mittellinie ausgeht. Ich glaube in der That eine solche Form in Bonn gesehen zu 
haben, undDr. Minchin vermuthet dasselbe von dem von Sandifort beschriebenen Schä- 
del’). Ob nicht auch der Schädel, welchen Herr Prof. Virchow unter Nr. 12 in seiner 
lehrreichen Abhandlung: «Ueber den Cretinismus, namentlich in Franken, und über patho- 
logische Schädelformen» abgebildet hat, hierher gehört, muss ich unentschieden lassen. 
Die «Schnebbe» oder spitze Verlängerung des Biparietalbeines gegen das Stirnbein lässt eine 
ursprüngliche Einheit des ersteren vermuthen, wie auch seine Verlängerung nach hinten; 
ein deutlicher Kiel ist aber wohl nicht da, da Herr Prof. Virchow diesen Kopf deshalb 
von dem folgenden unterscheidet. Dagegen zweifle ich nicht, dass der unter 13 abge- 
bildete, mit scharfem Scheitel-Kiel versehene Schädel zu der von uns beschriebenen Miss- 
bildung mit ursprünglich einfachem, d. h. aus einem einzelnen Verknöcherungspunkte her- 
vorgegangenen Scheitelbeine, gehört. Die «Schnebbe» oder Verlängerung in das Stirnbein 
ist sehr bedeutend’). 


Dr. Minchin scheint zu der Annahme geneigt, dass diese Missbildung weder der Ent- 
wickelung der geistigen Thätigkeiten, noch überhaupt der Gesundheit nachtheilig sei, 
weil der Knabe aus seiner Bekanntschaft, der noch lebte als er schrieb, munter und auf- 
geweckt war. Ich weiss über die Entwickelung der geistigen Anlagen nichts zu sagen, 
allein der Umstand, dass von den drei Köpfen Erwachsener, die ich gesehen habe, keiner 
das Zeichen eines vorgeschrittenen Alters hatte, scheint doch eine Disposition zu frühzei- 
tigem Tode anzudeuten. Ob nicht später auch Störungen der geistigen Functionen leicht 


1) Sandifort: Museum anat. I, 4. 2) R. Virchow: Gesammelte Abhandlungen zur wis- 
seuschaftlichen Medicin, S. 906 u. 907. 


Dre МаквокеРНАТЕМ IM BODEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ЕТС. ИУ 


auftreten, wie das in den Gegenden Frankreichs bemerkt ist, wo die Küpfe durch unver- 
nünftige Behandlung in der Kindheit verbildet werden, bleibt zu untersuchen. 

Da diese abweichende Schädelform nicht nur scharf sich von den anderen, durch spä- 
tere Verwachsung der Scheitelbeine entstandenen Verbildungen unterscheidet, sondern 
auch Folge einer sehr bestimmten ursprünglichen Bildungs- Abweichung ist, so verdient 
sie auch mit einem besonderen Namen belegt zu werden. Ich schlage die Benennung Sca- 
phocephalus vor, da die Aehnlichkeit mit einem umgestülpten Boote sehr auffallend ist. Die 
Benennung Sphenocephalus, die Virchow für Difformitäten wegen frühzeitiger Verwach- 
sung zweier ursprünglich getrennter Scheitelbeine gebraucht'), würde dann für diese allein 
beizubehalten sein. In Deutscher Sprache könnte man das Wort «Kielkopf» gebrauchen, 
da Virchow (vielleicht zufällig, durch einen Druckfehler nämlich) S. 907 eine Hirnschaale 
kielförmig nennt, die mir zu unserer Form zu gehören scheint, während ihm sonst die Köpfe 
mit frühverwachsenen Pfeilnath «keilförmige» heissen. Zu den keilförmigen würde ich z.B. 
den Schädel eines 20jährigen Zigeuners rechnen, der sich in der Sammlung zu Bonn be- 
findet, und von dem ich so eben durch die Gefälligkeit des Herrn Prof. Schaafhausen 
eine Photographie erhalte. In diesem Schädel sind die Kranznath und die Lambdanath 
eben so unkenntlich wie die Pfeilnath, was schon auf eine krankhaft vorgeschrittene Ver- 
knöcherung der Nath-Substanz deutet. Dann ist der Scheitel dieses Schädels nur vorn 
kielförmig, wird aber nach hinten ganz flach. Das Hinterhaupt ist eben so verlängert wie 
bei den Kielköpfen, der ganze Kopf sehr klein. | 

Sehr ausgebildete Formen von Microcephalis, wie deren zwei im Berliner anatomi- 
schen Museum und eine im Blumenbachschen vorkommen, haben ganz das Ansehen, als 
ob auch nur Ein Ossificationspunkt für ein ungetheiltes Scheitelbein dagewesen wäre, das 
in einen Kamm sich erhebt. Indessen wird man darüber nicht früher Sicherheit haben, 
als bis man diese Bildung in ganz frühem Zustande beobachtet hat. Wenn die geringe 
Entwickelung des Hirns eine ursprüngliche ist, so können auch zwei früher getrennte 
Scheitelbeine in einen Kamm zusammen wachsen, wie wir an so vielen Raubthieren und 
unter anderen an den stärkeren Racen unseres Haarhundes sehen können. Bei Schweins- 
Embryonen habe ich Microcephalie recht häufig und frühzeitig beobachtet. Sie waren aber 
gewöhnlich auch Cyclopen. Die Cyclopie scheint gewöhnlich mit ursprünglicher Unge- 
theiltheit des Stirnbeins verbunden zu sein. Ob die schwächeren Formen, wo nämlich 
beide Augäpfel vollständig ausgebildet sind, nicht als unmittelbare Folgen des verengten 
Stirnbeins betrachtet werden können? Bei stark ausgebildeter Cyclopie ist offenbar der 
Grund ein mehr allgemeiner und also tiefer gehender Mangel an seitlicher Entwickelung. 

Noch möchte ich mir die Frage erlauben, ob die sogenannten «Thurmköpfe» nicht 
dadurch entstehen, dass für Scheitel und Stirnbeine zusammen nur ein Verknöcherungs- 
punkt sich bildet, welcher wie ein Helm von allen Seiten hinabwächst. Allerdings wäre 


1) Virchow: Gesammelte Abhandlungen, $. 901. 


78 К. Е. т. Baer, 


hier der Charakter eines breiten Dornfortsatzes ganz verloren, denn ich habe in drei 
Beispielen dieser Art nichts von einem Kiele bemerkt. An allen diesen habe ich von der 
Pfeil- und Kranznath keine Spur gesehen, so viel man von aussen erkennen kann. Das eigen- 
thümlich feste Gefüge der Knochen mit starkem Glanze an der äusseren Fläche zeigt sich 
an den Thurmköpfen wie an den Kielköpfen. Das Hirn scheint nur in seiner äusseren 
Form, aber nicht in seiner Function gehemmt. Auch können Personen mit dieser Ver- 
bildung alt werden. Es ist also nicht Umformung des Hirns, sondern Beengung, was stö- 
rend und gefährlich ist. 


Die МаквокеРНАТЕХ im BoDEN DER Квум UND OESTERREICHS, VERGLICHEN ETC. 79 


Erklärung der Abbildungen. 


Erste Tafel. 


Der vollständigste von den aus der Krym hierher gebrachten verbildeten Köpfen, dessen 
Beschreibung der vorliegenden Abhandlung vorzüglich zu Grunde gelegt ist, wird auf die- 
ser Tafel in natürlicher Grösse dargestellt. Es ist zugleich diejenige Stellung beibehalten, 
welche dieser Kopf bei seiner früheren Aufstellung erhalten hatte, und welche man bisher nach 
unvollständigen Bruchstücken für die natürliche gehalten hat. 


Zweite Tafel. 


Künstlich verbildete Köpfe aus verschiedenen Gegenden sind auf dieser Tafel in verkleiner- 
tem Maassstabe in seitlicher Ansicht dargestellt, und ausserdem der Kopf eines Kaukasischen 
Awaren unserer Zeit. 


1. Der auf Taf. I abgebildete Makrokephal der Krym in mehr natürlicher Stellung; auf !/, 
der wahren Grösse verkleinert. 


Fig. 2. Der bei Grafenegg in Nieder-Oesterreich gefundene Schädel, in derselben Verkleinerung. 
Fig. 3. Der bei Atzgersdorf, unweit Wien, gefundene Schädel, in derselben Verkleinerung. 


Fig. 4. Bruchstück eines verbildeten Schädels aus der Krym, der sich in der Kaiserl. Eremi- 
tage befindet, in derselben Verkleinerung. 


Fig. 5. Huanca-Schädel aus Peru, nach Tschudi in Müller’s Archiv. Jahrg. 1844, Taf. V, 
Fig. 1 verkleinert. Hier zur Vergleichung mit den Krymschen Schädeln mitgetheilt. 
Fig. 6. Schädel eines Kaukasischen Awaren; auf И, verkleinert. 


Fig. 7. Verbildeter Schädel, von Herrn Troyon in alten Gräbern zu Chesaux bei Lausanne 
gefunden. Nach Gosse’s déformations des eränes. Soll у der natürlichen Grösse sein. 


Dritte Tafel. 


Diese Tafel ist vorzüglich der angeborenen Missbildung des Kopfes bestimmt, welche in der 
ursprünglichen Einheit des'Scheitelbeins besteht, und die wir Scaphocephalus oder «Kielkopf» zu 
nennen vorgeschlagen haben. Ausserdem ist aber auch auf dieser Tafel der Macrocephalus der 
Krym in Fig. 6 in der Ansicht von vorn dargestellt, damit der Unterschied deutlich hervortrete. 
Vergleiche den Abschnitt: $. 12. 


80 К. Е. v. Baer. Die MAkROKEPHALEN ЕТС. 


Fig. 1.2.3. Scaphocephalus eines erwachsenen Dänen aus der Blumenbachschen Sammlung; auf 
у, der natürlichen Grösse verkleinert. Ansichten von der Seite, von oben und von hin- 
ten. Die Originalzeichnungen, in natürlicher Grösse vortrefilich ausgeführt, verdanke 
ich der zuvorkommenden Güte des Prof. R.Wagner. In dem Kopfe, den Blumenbach 
Macrocephalus Asiaticus genannt hat, ist das Hinterhaupt etwas weniger entwickelt. 


Fig. 4. Ein Scaphocephalus aus der Sammlung des College of surgeons in Dublin, nach Dr. Min- 
chin in Dublin quaterly journal of medicine, Vol. XXII. 


Fig. 5. Seiten- Ansicht eines lebenden vierjährigen Kindes mit derselben Kopfbildung. Nach 
Dr. Minchin. 


Fig. 6. Ansicht des verbildeten Kopfes aus der Krym von vorn; '/, der natürlichen Grösse. 


Fig. 7.8.9. Schädel eines 3 bis 4jährigen scaphocephalischen Kindes. Nach Dr. Minchin, 
doch (etwas zu sehr) verkleinert. 


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MÉMOIRES 


© L'ACADÉMIE IMPÉRIALE DES SCIENCES DE ST.-PETERSBOURG, VI SERIE. 
Томе II, N°7 ET DERNIER. 


BEITRÄGE 


hENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN 


in den Berghauptmannschaften Jekatherinburg, Slatoust und Kuschwa, 
sowie den angrenzenden Gegenden des Ural. 


Von 


Dr. M. v. Grünewaldt. 
(Mit 6 Tafeln.) 


Der Akademie vorgelegt am 20. Januar 1860. 


ST. PETERSBURG, 1860. 
Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften : 
in Riga in Leipzig 
Eggers et Сошр., . Samuel Schmidt, Leopold Voss. 


Preis: 1 R. 70 Kop. = 1 Thlr. 27 Ngr. 


Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


K. Vesselofski, beständiger Secretär. 
Im Mai 1860. 


Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 


Vorwort. 


Schon anderen Ortes haben wir berichtet, dass unter der Regierung Sr. Majestät 

des Kaisers Nikolail in der Bergverwaltung des Reiches beschlossen wurde, geognosti- 
sche Uebersichtskarten der Bergdistrikte anfertigen zu lassen, welche die Russische Krone 
im Ural besitzt. Se. Excellenz der General Hofmann, mit der Ausführung dieser Arbeit 
beauftragt, schlug mich, unter vier anderen jungen Leuten, die an der Expedition Theil 
nahmen, in dem Sinne zu seinem Reisebegleiter vor, dass ich die palaeontologischen Ar- 
beiten für dieselbe übernehmen sollte. Dieses wurde die Ursache, dass ich fünf Sommer 
hindurch unter seiner Leitung den Ural und die Permischen Bergdistrikte durchwan- 
dert habe. 
5 Der Plan für diese Arbeit war der Art angelegt, dass wir in einem Sommer je einen 
der vier Distrikte des eigentlichen Gebirges bereisen sollten, während die beiden kleineren 
und leichter zugänglichen Berghauptmannschaften Wotkinsk und Yug auf die Untersu- 
chungszeit eines einzigen Sommers veranschlagt waren. So verliessen wir St. Petersburg 
im Laufe der Jahre 1853 — 1857 jedes Frühjahr vor der Mitte des Monates Mai und 
kehrten nach Eintritt der herbstlichen Jahreszeit, gegen Ende des Monates September, von 
unseren Reisen dorthin zurück. Im Sommer 1853 wurde die Berghauptmannschaft Bo- 
gosslowsk, 1854 Wotkinsk und Yug, 1855 Jekaterinburg, 1856 Slatoust und 1857 
Kuschwa besucht. 

Es lag in der Absicht der Verwaltung, uns topographische Karten jener Berghaupt- 
mannschaften zur Verfügung zu stellen, deren Anfertigung mit unseren Untersuchungen 
Hand in Hand gehen sollte. Verhältnisse, auf welche einzugehen hier nicht am Orte ist, 
verzögerten diese Aufnahmen der Art, dass wir keinerlei Nutzen aus denselben gezogen 
haben. Die topographischen Hülfsmittel, auf welche wir während der Dauer unserer Rei- 
sen angewiesen waren, und es noch eben bei Ausarbeitung derselben sind, bestehen in all- 
gemeinen Situationsplänen, auf denen die Grenzen der einzelnen Berg- und Hütten- 
distrikte so wie die hauptsächlichen Flussläufe und Ansiedelungen flüchtig eingetragen 
sind. Unsere Untersuchungen entbehrten daher jedes kartographischen Anhaltspunktes 
für die Höhenzüge und Thäler des Gebirges, ein Mangel, der in denjenigen Gebieten be- 
sonders fühlbar ist, wo Wald oder hohe Uferfelsen der Ströme den Blick des Reisenden 
beinahe unausgesetzt auf die allernächste Umgebung einschränken. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. i 


2 М. v. GRÜNEWALDT, 


Die Berghauptmannschaft Jekaterinburg hat angeblich einen Flächeninhalt von 


ungefähr einer Million Dissjätinen oder 195 © Meilen, während die übrigen Distrikte die- 
sem an Grösse ziemlich gleichkommen. Wir machten daher in jedem Sommer innerhalb 


4%, Monaten die Reise von St. Petersburg in den Ural und zurück, und hatten dabei die 
Aufgabe, ein Terrain zu untersuchen, das mehr als zwei Drittheile vom Flächenraume des 
Königreiches Sachsen beträgt. Berücksichtigt man, dass diese Gegenden zum grösseren 
Theile mit Urwäldern bedeckt sind, so geben die angeführten Momente an Zeit, Flächen- 
inhalt und Beschaffenheit des jährlich zu untersuchenden Terrains, so wie endlich die topo- 
graphischen Hülfsmittel, welche uns zu Gebote standen, den Massstab für die Methode, 
die bei unseren Arbeiten eingeschlagen werden musste. 

Diese Methode bestand darin, dass Gen. Hofmann in jedem Berg- und Hüttenwerke, 
nach Besichtigung der erwähnten Situationspläne, ortskundige Forstbeamte und Jäger über 
alle Punkte ausforschte, welche zu Lande und zu Wasser erreichbar sind. So wurden 
die einzelnen Excursionen für den Sommer berathen, und wo möglich in Richtungen aus- 
geführt, welche die der Gebirgskette und der ihr parallel gelagerten Formationen recht- 
winklig durchschneiden. 

Es ist bekannt, dass die Uferfelsen der Gebirgsströme, welche vom Kamm des Ural 
der sibirischen und westrussischen Ebene zueilen, das dankbarste Feld für die Erfor- 
schung der geognostischen Beschaffenheit des Bodens darbieten. Die auf dem festen, meist 
mit üppiger Vegetation bedeckten Lande zu Pferde, zu Wagen und bei Bergbesteigungen 
auch zu Fusse ausgeführten Excursionen lieferten nur Resultate für die Kenntniss und 
Verbreitung einzelner Gebirgsarten, ohne über die Lagerungsverhältnisse derselben Auf- 
schluss zu geben. — Was die Erforschung der letzteren anbetrifft, so ist jedem erfahrenen 
Geognosten bekannt, dass complicirte Lagerungsverhältnisse nur bei sorgfältiger Untersu- 
chung einzelner günstiger Localitäten, und daher bei längerem Aufenthalte in denselben 
Gegenden, mit Sicherheit beurtheilt werden können. Bei den heftigen Störungen im Schich- 
tenbau des Ural, ergaben unsere raschen geognostischen Recognoscirungen auch auf den 
Flussfahrten in dieser Beziehung verhältnissmässig nur wenige, meist mangelhafte Resultate. 

Bei den bedeutenden Strecken, welche wir auf den unausgesetzten Excursionen 
jedes Sommers hauptsächlich im Gebiete krystallinischer Gebirgsarten untersucht haben, 
ist dagegen anzunehmen, dass die Sammlung von Felsarten, welche Gen. Hofmann von 
unseren Reisen zurückbrachte, einige Ansprüche auf Vollständigkeit hat. 

Ganz anders verhält es sich mit den Versteinerungen. — Wir brauchen nicht an den 
anhaltenden Fleiss, den fortgesetzten Besuch einzelner Fundorte, vor Allem aber an die 
energische Unterstützung durch andere Sammler zu erinnern, welche die Palaeontologen 
im westlichen Europa anwenden können, um den überall zugänglichen, durch Erdarbeiten 
und natürliche Entblössungen aufgeschlossenen Boden auf seine organischen Einschlüsse 
auszubeuten. Was ist dagegen von einzelnen Männern zu erwarten, die, im raschen Zuge 
durch unwirthbare Wildnisse, den Hammer beinahe als einziges Hülfsmittel benutzen kön- 


BerrrÂce zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 5 


nen? Wenn in civilisirten Gegenden, unter den Augen unermüdlicher Forscher, immerfort 
neue Quellen des untergegangenen, massenhaft entwickelten organischen Lebens aufge- 
schlossen werden, so dürfen aus unseren vereinzelten Resultaten vor allen Dingen keine 
negativen Schlüsse gezogen werden. Was von uns nicht gesehen wurde, kann trotzdem in 
reichem Masse vorhanden sein, und wird, mit der Zunahme der Cultur in jenen Gegenden, 
nur im Laufe von Jahrhunderten für die Wissenschaft erobert werden. 

Im Frühjahr 1854 erschien in den Memoiren der Akademie der Wissenschaften die 
Beschreibung unserer in Bogosslowsk gesammelten Versteinerungen. Der Sommer dessel- 
ben Jahres, den wir mit palaeontologisch erfolglosen Excursionen in den permischen Berg- 
hauptmannschaften zubrachten, ergab nur eine geringe Ausbeute von Pflanzenresten des 
Kupfersandsteins, deren Bearbeitung Botanikern von Fach vorbehalten bleiben mag. Wir 
haben schon früher mitgetheilt, dass die nicht unbedeutende Ausbeute, besonders an Ko- 
rallen des Bergkalkes, welche wir im Sommer 1855 im Jekaterinburger Reviere sam- 
melten, durch Schiffbruch auf der Kama verloren ging. Nur eine Kiste Devonischer Ver- 
steinerungen wurde aus dem Boden des Stromes herausgeholt, und gelangte wieder in un- 
sere Hände. Im Sommer 1856 vermehrte sich dieses Material durch kleine Sammlungen, 
welche wir bei Artinsk, Saraninsk, an der Schartimka und am Ai, bei Untersuchung des 
Slatouster Revieres, anstellen konnten. Im darauf folgenden Winter veröffentlichte ich in 
besonderer Veranlassung einen allgemeinen Ueberblick über die sedimentären Formationen 
des Ural und ihre palaeontologischen Documente, so weit sie mir zu Gebote standen. ') 
Diese Abhandlung kann als Einleitung für die frühere sowohl als die jetzt darauf folgende 
Arbeit über den Ural angesehen werden, mit denen sie im innigen Zusammenhange steht. 
Sie überhebt uns der Nothwendigkeit, in diesem Buche im Detail auf die Beobachtungen 
von Murchison, Verneuil und Graf Keyserling einzugehen, was dem Zusammenhange 
unserer eigenen Darstellung schaden würde. Der aufmerksame Leser wird selbst finden, 
dass letztere mit wenig Ausnahmen eine Bestätigung und weitere Ausdehnung der geogno- 
stischen Anschauungen ist, welche diese grossen Forscher zuerst mit bewunderungswürdi- 
gem Scharfblick über die Theile des Gebirges verbreitet haben, in denen wir ihren Fuss- 
stapfen gefolgt sind.”) Die von den Verf. der Geol. of Russia gewonnenen, und von uns 
in jener Abhandlung nach den einzelnen Formationen zusammengefassten allgemeinen Ge- 
sichtspunkte, werden auch in nachfolgenden Blättern den Ausgangspunkt für unsere Be- 
trachtungen bilden. 

Im Sommer 1857 erhielten unsere Materialien durch einige Ausbeute in der Berg- 
hauptmannschaft Kuschwa einen neuen Zuwachs. Die silurischen Kalksteine an der Tura, 
mehr aber die für den Ural bereits klassischen Ufer der Serebränka und Tschussowaja lie- 


!) Notizen über die Versteinerung- führenden Gebirgs- 2) Letzteres ist unverhältnissmässig oft der Fall ge- 
formationen des Ural, gesammelt und durch eigene Be- | wesen, da es in der Natur der Sache lag, dass die Berg- 
obachtungen ergänzt von M. v. Grünewaldt. Mém. des | werke der Krone mit ihrer Umgebung auch von jenen 


sav. étr. Tome VIII 1857. Reisenden vorzugsweise berücksichtigt wurden. 
* 


4 M. v. GRÜNEWALDT, 


ferten einige Beiträge; so dass ich nach Abschluss unserer Uralreisen von Sr. Excellenz 
dem General Samarsky, Chef des Stabes der Bergingenieure, den Auftrag erhielt, durch 
eine wissenschaftliche Bearbeitung jener Sammlungen meine Untersuchungen abzuschliessen. 
Diese Sammlungen umfassen, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, die Ausbeute der 
Sommer 1856 und 1857, so wie die bei Kadinskoy am Isset gesammelten Versteinerungen. 

Wegen der grösseren Leichtigkeit mit der die litterarischen Hülfsmittel zu einem sol- 
chen Zwecke in Deutschland zu beschaffen sind, siedelte ich mit meinen Sammlungen nach 
Berlin über, wo ich mich der freundschaftlichen Unterstützung dortiger Fachgenossen zu 
erfreuen hatte. Besonderen Dank schulde ich, zum zweiten Male bei einer solchen Ver- 
anlassung, meinem verehrten Freunde und Lehrer Professor Beyrich, der mir, als Direc- 
tor des palaeontologischen Museums der Universität, den freien Gebrauch dieser Samm- 
lung zur Verfügung stellte. Den hauptsächlichsten Einfluss auf die Förderung meiner Ar- 
beiten übte aber die Liberalität, mit der die Verwaltung der Königl. Bibliothek mir die Be- 
nutzung ihrer kostbaren Werke gestattete. — Da die letzte Hand an die nachfolgenden 
Blätter zu St. Petersburg gelegt wurde, hoffen wir dieser Arbeit die Vortheile zugewandt 
zu haben, welche aus der Benutzung des Vergleichungs-Materiales entspringen, das uns an 
den wissenschaftlichen Mittelpunkten zweier Reiche zur Verfügung stand. Wenn sie trotz- 
dem unverhältnissmässig hinter den Leistungen zurückbleibt, mit denen grosse Meister der 
Wissenschaft uns in demselben Gebiete vorgeleuchtet haben, so liegt ein Theil der Schuld 
an äusseren Verhältnissen, welche mich während der Dauer der Expeditionsjahre daran 
hinderten, einen Theil des Aufenthaltes in Europa sowohl, als auch die Untersuchungen 
an Ort und Stelle nach Kräften für rein geologische Zwecke auszunutzen. 

Ehe wir zur Beschreibung der Versteinerungen übergehen, theilen wir dasjenige 
von unseren geognostischen Beobachtungen mit, was sich auf sedimentäre Bildungen des 
Ural bezieht, und zum Verständniss der geologischen Bedeutung des palaeontologischen 
Theiles erforderlich ist. So bildet dieses Buch, mit unseren Veröffentlichungen von 1854 
und 1857, einen Theil der umfassenderen Arbeit über die Geognosie der Berghauptmann- 
schaften des Ural, mit der Gen. Hofmann, als Führer der Expedition, betraut ist. 

Aus mehrfachen, zum Theil erwähnten Gründen ist es uns nicht möglich, diese Arbeit 
durch Beigabe geognostisch kolorirter Karten zu vervollständigen. Für diese verweisen 
wir auf die Beschreibung von Hofmann, der wir ausserdem durch eine solche Veröffent- 
lichung vorgreifen würden. Die Uralkarte in der Geol. of Russia muss bis dahin zum Le- 
sen dieser Blätter ausreichen. 

Die beigefügten Steindrücke sind von Herren Laue in Berlin bis auf einzelne Bleife- 
derzeichnungen nach Photographieen ausgeführt, welche die Herren Riesch und Quidde 
ebendaselbst von unseren Versteinerungen aufgenommen haben. 


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BEITRÄGE 208 KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 5 


GEOGNOSTISCHE BEOBACHTUNGEN. 


Bevor wir zu der Mittheilung des geringen Theiles unserer geognostischen Beob- 
achtungen schreiten, welche im Gebiete der sedimentären Ablagerungen des Ural ange- 
stellt worden sind, erinnern wir noch ein Mal daran, dass der Gold- und Kupfer- so wie 
der wichtigste Eisenbergbau der Krone seine Erze aus der mächtigen Zone krystallinischer 
Gebirgsarten bezieht, die sich, aus der Axe des Gebirges herausgerückt, nach der sibiri- 
schen Ebene zu ausdehnt. Eine natürliche Folge dieses Umstandes ist, dass die Grenzen 
der zu den Bergwerken gehörigen Distrikte hauptsächlich in dieser Zone liegen, und un- 
sere Excursionen uns nur ausnahmsweise in sedimentäre Ablagerungen führten, deren 
grösste und zusammenhängende Massen bekanntlich am entgegengesetzten, westlichen Ab- 
hange des Gebirges entwickelt sind. Mehr als die Hälfte der in diesem Buche angeführten 
und beschriebenen Versteinerungen, wie die von der Schartimka und Saraninsk, sind die 
Ausbeute von Expeditionen, welche ich allein in die Grenzen benachbarter Privatberg- 
werke an freien Tagen unternommen habe. 

Schon oben haben wir die Methode, nach der unsere Arbeiten ausgeführt wurden, im 
Allgemeinen aus den gegebenen Verhältnissen entwickelt. Es bleibt noch übrig hervorzu- 
heben, dass ich diese Reisen auch innerhalb der an Zeit und Raum gesteckten Grenzen 
nicht nach eigenen Ideen, sondern als Begleiter des Führers der Expedition ausgeführt 
habe. So sehr mir bei diesem Verhältniss die Erfahrungen des älteren Reisenden zu Statten 
kamen, so muss doch zwischen der freien Verfolgung des vorschwebenden Zweckes und 
solchen Untersuchungen unterschieden werden, die sich nach der Anordnung eines Ande- 
ren richten. Bei aller Freiheit über meine Zeit zu verfügen, war ich doch nur ausnahms- 
weise in der Lage kleinere Excursionen selbstständig zu unternehmen, da diese einen dop- 
pelten Aufwand an Menschen, Pferden und Flussfahrzeugen erheischten. Diese Umstände 
reichen hin, um meinen geognostischen Wanderungen durch das Uralgebirge den Charak- 
ter eines selbstständigen wissenschaftlichen Unternehmens zu rauben, auf den sie keine 
Ansprüche haben. 

Wir geben den betreffenden Theil unserer geognostischen Beobachtungen in der Rei- 
henfolge wieder, in der sie gemacht worden sind, und verweisen dabei auf unsere Abhand- 
lung von 1857, vor Allem aber auf die Geol. of Russia, um ihre Beziehungen zu dem 


6 M. v. GRÜNEWALDT, 


Stande der allgemeinen Kenntniss von den sedimentären Gebirgsformationen des Ural 
darzuthun. 

Seit der Beschreibung der Fauna von Bogosslowsk haben wir die silurische Forma- 
tion und zwar deren obere Abtheilung, der Faune troisième von Barrande entsprechend, 
nur an einzelnen, zum Theil bekannten Punkten in der Umgegend von Kuschwa und am 
Ai berührt. Von 82 Arten, welche wir in nachfolgenden Blättern anführen, gehören nur 
9 der obersilurischen Formation an. 

Am Ostabhange des Ural können wir die Devonische Formation jetzt mit Sicherheit 
am Isset nachweisen. Wir haben bei Kadinskoy 8 Species gefunden, von denen 5 im Eife- 
ler Kalkstein vorkommen. Eine andere Devonische Localität, deren schön erhaltene und 
zahlreiche Versteinerungen gleichfalls keine bedeutende Artenzahl umfassen, konnten wir 
an der Tschussowaja ausbeuten. Sie liegt bei Soulem im Ilinsker Kreise und hat 11 Ar- 
ten geliefert. Von diesen sind 7 gleichfalls Formen des Eifeler Kalksteins. 

Der grösste Theil unserer Versteinerungen rührt aus der Kohlenformation, die 58 
Species geliefert hat. 


Sedimente in der Berghauptmannschaft Jekaterinburg 88533. 


Distrikt von Kamensk. Die Grenzen der Berghauptmannschaft Jekaterinburg deh- 
nen sich nach Osten über das Gebiet sedimentärer Ablagerungen im Distrikt von Kamensk 
aus, welches auf der Uralkarte in der Geol. of Russia mit den Farben der drei unteren 
palaeozoischen Formationen colorirt ist. Wir haben die Zeit vom 22sten Juni bis zum 
27sten Juli obigen Jahres mit geognostischen Excursionen in diesem Distrikte zugebracht, 
und obgleich ich schon früher Einiges von den Wanderungen in jenen Gegenden mitge- 
theilt habe, gebe ich der Vollständigkeit wegen hier alle Beobachtungen wieder, welche 
wir daselbst über Sedimentärformationen anstellen konnten. 

Der Distrikt von Kamensk ist zum grössten Theile eine fruchtbare Ebene, deren 
weite, bebaute Flächen nur durch die Erosionsthäler der Flüsse unterbrochen werden. 
Der Isset durchströmt den mittleren Theil dieser Ebene in der Richtung von W nach О 
und wendet sich später etwas nach SO. Er nimmt von Norden die Kamenka auf und ausser- 
halb des Distriktes die Sinara von Süd, in die sich der Bugaräk ergiesst. Nahe an der 
Nordgrenze des Distriktes fliesst die Püschma hin, in die von Nord der Reft und von Süd 
die Kunara fällt. Die Ufer dieser Gewässer, denen wir zu Boote, zu Wagen und zu Pferde, 
je nach der Beschaffenheit des Terrains, gefolgt sind, haben das hauptsächliche Material 
zu den nachfolgenden Beobachtungen geliefert. Es sind hier, wie bei allen Strömen des 
Ural, die wir kennen gelernt haben, weniger die Thalwände, welche die geeignetsten Ent- 
blössungen bieten, sondern vorzüglich die Felsen der Schlucht oder eigentlichen Wasser- 
rinne, die sie sich ausgehöhlt haben. Es versteht sich von selbst, dass diese Flüsse oft an 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 7 


die Thalwände anprallen und dieser Unterschied, der im Oberlaufe von Gebirgsströmen 
meist scharf ausgeprägt zu sein pflegt, nicht immer festzuhalten ist. 

Die erste Excursion wurde vom Kirchdorfe Aramil aus zu Boote unternommen, und 
führte uns in 4 Tagereisen den Isset bis nach Kamensk hinunter. 

In den beiden ersten Tagereisen durchschnitten wir das an den Ufern dieses Stromes 
schön aufgeschlossene Gebiet der krystallinischen Schiefer, welche in jener Gegend beson- 
ders mannigfaltig entwickelt sind, und häufig mit granitischen Gesteinen, Serpentin und 
jenen eigenthümlichen Felsarten des Ural wechseln, die zuweilen ganz aus Mineralien, der 
Familie der Augite und Hornblenden angehörig, bestehen. ') 

Einlagerungen von Thonschiefer in die krystallinischen Gesteine trafen wir unterhalb 
Aramil bei der Mühle Pinigena. Er steht am linken Ufer dicht unterhalb jener Mühle an, 
ist weich, von grauer Farbe und fein geschiefert. Das Streichen ist dem oberhalb an- 
stehenden Chloritschiefer parallel nach N 20° W, das Einfallen nach О 20° S mit 42° 
Neigung. 

Von diesem Punkte an bis Fomina scheint eine nicht unbedeutende Zone von Thon- 
schiefer in chloritische und talkige Schiefer eingelagert zu sein. Wir sahen ihn kurz vor 
der Mühle Brenowka, wo er flasrig und gewunden ist, nach N streicht und mit 70° Nei- 
gung nach W einfällt. Bei der Mühle selbst ist er von einem granitischen Gesteine durch- 
brochen, erscheint aber unterhalb wieder mit demselben Streichen, jedoch minder steilem 
Einfallen von 50°. An der Mühlenstauung von Bobrowskoje steht Thonschiefer vertical 
mit nördlichem Streichen. Vor der Einfahrt in das Dorf Wiuchina erscheint er in dersel- 
ben Lagerung wieder, ist aber von grünlicher Farbe und wie es scheint chloritisch. Bei 
Fomina treten wieder talkige und chloritische Schiefer auf. — Darauf erscheint bei Ka- 
liutkina Thonschiefer mit Gneiss, Granit und Glimmerschiefer. Letzterer enthält bei der 
Mühle Dolganowka mächtige Einlagerungen von sehr grobkörnigem, weissem Marmor. 
Wir brauchen kaum zu bemerken, dass wir in diesen Thonschiefern keine Spur organi- 
scher Reste gefunden haben. 

Von hier fliesst der Isset ununterbrochen zwischen Felsen krystallinischer Gesteine hin, 
bis man zwischen den Dörfern Temna und Perebor ’) die ersten sedimentären Schichten an- 
trifft, welche vermuthlich der in der Nähe entwickelten Formation des Bergkalkes angehö- 
ren. Es sind harte, verkieselte Conglomerate von dunkler Farbe und ebensolche Schiefer, 
welche von einem Porphyr durchbrochen werden, der am Ufer des Isset hier zum ersten 
Male auftritt, und sich bei unseren späteren Reisen in mannigfachen Modificationen als der 
stete Begleiter der Bergkalkformation von Kamensk erwiesen hat.°) Das Conglomerat ent- 


1) Wir bemerken hier ein für alle Mal, dass Gen. Hof- [ allgemeinsten, unvermeidlichen Angaben. 
mann mit der Bearbeitung der Felsarten beschäftigt 2) Bielobor in der Geol. of Russia. 
ist, die wir im Ural gesammelt haben. Da wir seine Ver- 3) Die Verfasser der Geol. of Russia haben dieses 
öffentlichungen weder abwarten können, noch denselben | Gestein intrusive porphyritic greenstone genannt. 
vorgreifen wollen, beschränken wir uns hierin auf die 


8 M. v. GRÜNEWALDT, 


hält Geschiebe des verkieselten Thonschiefers und beide fallen mit 25° Neigung nach NW 
gegen die eigenthümlichen Gesteine von Temna und Mamina ein, welche oberhalb das Zwi- 
schenglied zwischen den krystallinischen Schiefern und diesen ersten Gliedern der Kohlenfor- 
mation bilden. Es sind grünliche, undeutlich geschichtete Massen, welche stark mit Säure brau- 
sen, und bei Temna hohe Uferfelsen bilden. Murch. Vern. und Keys. haben darin Feldspath 
beobachtet, und wir fanden sie häufig mit einem grünen Minerale erfüllt, das wir an Ort und 
Stelle für Uralit? hielten. Die Verf. der Geol. of Russia haben diese Felsart mit den Schaal- 
steinen des Rheines verglichen. Bei Perebor steht Porphyr in hohen Felsen an, durch welche 
der eingeengte Strom in steilen Schnellen hindurch schäumt. An die Klippen sind eine 
grosse Anzahl kleiner Wassermühlen, wie Vogelnester, angeklebt. Sie benutzen, ohne eines 
Dammes zu bedürfen, das natürliche Gefälle des Stromes. Auf diesen Porphyr folgen hohe 
Bergkalkfelsen, deren Schichten mit 45° Neigung nach NW gegen den Porphyr einfallen, 
mit dem sie in unmittelbarem Contact sind. Der Kalkstein enthält häufig riesige Exem- 
plare des Productus giganteus. Am rechten Ufer, oben an der Schlucht, die zu der soge- 
nannten Höhle des Eremiten hinaufführt, wird Kalkstein gebrochen, der Crinoideenstiele 
enthält. Der Kalkstein hält flussabwärts nur '/, Werst an, und ruht dann auf dünnen kalki- 
gen Schiefern, die hin und wieder einzelne dicke Kalksteinschichten enthalten. Sie strei- 
chen nach N und fallen mit 45° Neigung nach W ein. Am rechten Flussufer sieht man 
kurz vor dem Dorfe Smolina noch einen einzelnen Kalksteinfelsen aufragen, der keine 
Schichtung zeigt, und von Eisen roth gefärbt ist. Am linken hält der Schiefer an, und wird 
dem Dorfe gegenüber, an der Mühlenstauung, von Porphyrgängen durchsetzt. Diese bilden, 
aus der weicheren Umgebung herausgewittert, einen schroffen, isolirten Kegel am Wasser- 
spiegel. Sie fallen steil nach NW ein, ähnlich wie der Schiefer und Bergkalk, und haben 
Lagen von ersterem zwischen sich eingeklemmt, die von kohliger Substanz schwarz gefärbt 
sind. Am Mühlendamm selbst steht Conglomerat an. Diese Gesteine sind weicher und von 
hellerer Farbe, als die dunkelen, kieseligen Schiefer und das Conglomerat bei Turbanowa. 

Von Smolina bis Kliutschki fliesst der Isset zwischen Porphyrfelsen hin. Das Gestein 
ist meist sehr zersetzt und von einem feinen, gleichfalls verwitterten Conglomerat, das 
mit demselben auftritt, zuweilen kaum zu unterscheiden. Unterhalb Kliutschki besteht das 
rechte Ufer aus Porphyr, das linke aus dunkelen kieseligen Schiefern. Dieses Verhältniss 
dauert bis Schtscherbakowa. Schwarze, harte Schiefer, seltener Conglomerat, werden von 
Porphyr durchsetzt. Oberhalb der Mühle von Schtscherbakowa setzen Gänge reinen Fel- 
sites in diesen Schiefern auf. Mit ihnen treten Sandstein mit thonigem Bindemittel und ein 
hartes, graues Kieselgestein untergeordnet auf. Sie werden fortwährend von Porphyr 
durchsetzt, der die vorragendsten Felsenpartieen des Ufers bildet. Das Dorf Saimskaja be- 
rührten wir auf dieser Tour nicht. Es liegt ungefähr 3 Werst vom linken Ufer des Isset 
ab nach N, und ist ein Fundort für Bergkalkversteinerungen. Bei Schtscherbakowa und 
unterhalb jenes Ortes wechseln die schwarzen, hier feinblättrigen Schiefer mit einem ge- 
schichteten Quarzit von stahlgrauer Farbe und splittrigem Bruch. Dieses Gestein hat so 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 9 


viel Continuität, dass es hell unter dem Hammer klingt, und bildet häufig grosse, concen- 
trisch schaalige Kugeln. Diese Schichten fallen im Allgemeinen nach W ein, bis auf eine 
Stelle bei der Mühle zwischen Schtscherbakowa und Kadinskoy, wo wir ein widersinniges 
Einfallen der Schiefer nach O beobachteten. 

Bei diesem Dorfe, über dessen Umgegend wir schon früher eine Mittheilung gemacht 
haben, betritt man wieder die Region des Kalksteins, der unerwarteter Weise von den 
oben beschriebenen Gesteinen überlagert wird. Dieser Kalkstein bildet zuerst einen Felsen 
am rechten Ufer, hart an der Mühlenstauung beim Eingang ins Dorf, und enthält hier 
Brachiopoden-Arten der Eifel, wie sie bei Paffrath und Gerolstein auftreten. Besonders 
massenhaft findet sich Rhynchonella cuboïdes Sow. in Schichten mit thonigen Zwischen- 
lagen, welche vom Wasserfalle des Mühlendammes bespült werden. — Beinahe ebenso 
häufig sind Spirigerina? Duboisi M. У. К. und Spirigerina latilinguis Schnur, welche hier 
die seltenere Sp. reticularis L. zu vertreten scheinen. Mit ihnen kommt Pentamerus ga- 
leatus Dalm., Orthis striatula v. Schloth, noch eine kleine Orthis, die wir mit bekannten 
Arten nicht vergleichen konnten, und endlich eine Rhynchonella? vor, welche ebenfalls 
einer neuen Art anzugehören scheint. Diese Versteinerungführenden Schichten von de- 
vonischem Alter sind durch ein wenige Faden mächtiges Kalksteinlager von hartem Con- 
glomerat und grünlich grauen, dunkelen Schiefern und Sandsteinen getrennt, die zum 
Theil Pflanzenreste enthalten, und ihrerseits am unteren Ende des Dorfes auf Bergkalk? ru- 
hen, in dem wir grosse Stücke von Products gefunden haben, welche leider mit dem 
grössten Theile der Ausbeute jenes Sommers verloren gegangen sind. Diese Schichtenreihe, 
von dem Quarzgesteine oberhalb des Mühlendammes im Hangenden, bis zum Bergkalk? 
unterhalb desselben im Liegenden, ist auf einer Strecke von wenigen hundert Schritten am 
hohen rechten Ufer des Isset entblösst. Das gemeinsame Streichen aller dieser Schichten 
ist nach N 20° 0, das Einfallen gegenW 20° N mit einer Neigung von 45°—70°. Die Er- 
klärung dieser Localität muss sorgfältigeren Untersuchungen vorbehalten bleiben, als die sind, 
welche wir, trotz mehrfachen späteren Besuches des Dorfes Kadinskoy, anstellen konnten. 
Wenn der Kalkstein im Liegenden der devonischen Schichten wirklich Bergkalk ist, was wir 
an Ort und Stelle erkannt zu haben glauben, aber durch den Verlust unseres Materiales mit 
Belegstücken nicht nachweisen können, so muss hier eine Schichtenüberstürzung angenommen 
werden. — Trotzdem, dass wir während mehrerer Tage durch Arbeiter Nachgrabungen 
nach Versteinerungen anstellen liessen, und den feinen Schutt am Fusse des devonischen 
Kalksteinfelsens in grossen Quantitäten ausgeschlemmt haben, fanden wir doch immer nur 
die oben angeführten Arten, zum Theil in sehr zahlreichen Exemplaren. Ein paar schlechte 
Reste von Gasteropoden haben wir in der Kiste nicht wiedergefunden, welche am Boden der 
Kama gelegen hat. 

Am rechten Ufer, bei der Mühle unterhalb des Dorfes, ist der Kalkstein zu einer 
hohen, steilen Falte aufgetrieben, deren zusammengepresste und geknickte Schichten den 
Beweis liefern, dass diese Ablagerungen sehr energische Dislocationen erfahren haben. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 2 


= 


10 Му. GRÜNEWALDT, 


Der Kalkstein am gegenüberliegenden, linken Ufer ist von conglomeratischer Beschaffen- 
heit, indem die Umrisse zusammengekitteter Geschiebe im Gesteine kenntlich sind. 
@leich unterhalb der Mühle folgt auf diese Gesteine ein Lager feiner Kalksteinschiefer, 
die schlechte Pflanzenreste enthalten, und unterhalb, weiter nach O, wieder in grob ge- 
schichtete Kalksteinmassen übergehen. Sie fallen anfangs flach nach SW, stehen flussab- 
wärts steiler, und wechsein bis zur Mühle Tscherdanzowa noch zwei Mal mit den Kalk- 
steinschiefern und dem Kalksteinconglomerat. Bei dieser Mühle findet sich Productus gi- 
ganteus in mächtigen Bergkalkfelsen, an denen oft keine Schichtung zu erkennen ist. 

Eine Werst vor dem Dorfe Brod') gelangt man in graue Sandsteine, Thonschiefer 
und feines Conglomerat, welche dem Bergkalk eingelagert sind. Diese Gesteine enthalten bei 
dem Dorfe selbst zahlreiche Pflanzenabdrücke, und sind so stark mit Kohlenstoff impräg- 
nirt, dass sie zu Untersuchungsarbeiten auf Steinkohle Veranlassung gegeben haben, 
welche indessen an diesem Punkte bisher ohne Erfolg geblieben sind. Die Schichten von 
Brod haben ein nördliches Streichen und fallen steil nach W. 

Bei Brod verliessen wir unsere Böte und fuhren nach Kamensk, um zwei Tage später 
die Fahrt auf dem Isset bis unterhalb Wolchow fortzusetzen. 

Die Conglomerate, Schiefer und Sandsteine von Brod stehen am Flusse bis kurz vor 
der ersten Mühle an, nach dem damaligen Besitzer Uschkowa geiwannt. Dann folgt wieder 
Bergkalk in hohen Felsen, der noch oberhalb der Mühle ein natürliches Felsenthor bildet, 
dessen auch die Verf. der Geol. of Russia erwähnen. Der Kalkstein enthält Korallen und 
grosse Produetusarten, die wir an Ort und Stelle nicht erkannten, da sie, wie gewöhn- 
lich, nur in Durchschnitten sichtbar, und aus den glatten Felswänden nicht zu befreien 
sind. Der Sandstein sowohl wie der Bergkalk haben hier ein unregelmässiges Einfallen, 
doch ist die Richtung nach W vorwaltend. Bei der Mühle selbst sind die Kalksteinfelsen 
von Eisen roth gefärbt. Sie fassen das Flussbett anhaltend bei Takarewa und bis zur zwei- 
ten Mühle unterhalb Brod ein. Erst bei der Mühle vor Bainowa folgt am linken Ufer Por- 
phyr und rothes Conglomerat, während der Kalkstein am rechten bis Bainowa selbst die 
Uferfelsen bildet. An der Brücke, welche bei diesem Dorfe über den Fluss führt, bildet 
rother Porphyr den Thalboden und den unteren Theil der linken Thalwand. Er wird zu- 
erst von grobem Conglomerat überlagert, das aus Kalksteingeschieben besteht, welche in 
einer Masse von der Farbe des Porphyrs liegen. Auf diesem liegt Kalkstein. Diese Schich- 
ten streichen nach NW, und fallen an der linken Thalwand nach NO, an der rechten nach 
SW ein. Das Ganze ist der einfachste Typus einer antiklinen Schichtenerhebung, durch 
ein zu Tage tretendes eruptives Gestein hervorgebracht. 

Hier verschwindet der Kalkstein am Flussufer, und macht dem Porphyr Platz, der 
zuerst bei Krasnogora von den horizontalen Schichten überlagert wird, weiche die Verf. 
der Geol. of Russia für Glieder der Tertiärformation halten. Wir sahen an einer unbedeu- 


1) Dieser Ort ist in der Geol. of Russia durch ein Missverständniss Swagba genannt worden. 


LL 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 11 


« 


tenden Felsentblössung, ohne uns ап dem Orte aufzuhalten, nur lockeren Sand von heller 
Farbe, in welchem Sandstein in unzusammenhängenden Schollen darin liegt. Von Kras- 
nogora setzten wir unseren Weg zu Lande bis jenseit Wolchow am Flussufer fort. Bei 
der Mühle unterhalb jenes Dorfes steht Porphyr an, der mit Sand bedeckt ist. Eine Werst 
unterhalb Wolchow erscheint noch einmal Bergkalk in einzelnen Felsen am Fluss. Seine 
Schichten sind steil aufgerichtet, enthalten grosse Productus- Arten und werden, wie der 
Porphyr, von horizontal gelagertem Sande bedeckt, in dem unzusammenhängende Sand- 
steinschollen liegen. 

Nachdem wir noch eine Farth nach Kadinskoy gemacht hatten, und mehrere Tage in 
Kamensk mit Ausschlemmen und Verpacken der gesammelten Versteinerungen beschäftigt 
gewesen waren, wurde eine andere Excursion in den südlichen Theil des Distriktes unter- 
nommen. 

Unser Weg führte uns zu Wagen von Kamensk über Brod nach Logowskoi, wo ein 
Tagebau auf Brauneisenstein im Bergkalk angelegt ist. Mit diesem Erz kommt Eisenkiesel 
als Einlagerung im Kalkstein vor, welcher in einer der verlassenen Gruben Korallen enthält. 

Auf den Ebenen, über die wir zwischen Jewsikowa und Ribinskoje hinfuhren, liegen 
hin und wieder Kalksteinblöcke von röthlicher Farbe, welche scharfkantige Bruchstücke 
eines grauen Kalksteins einschliessen. Diese röthliche Breccie haben wir in der Bergkalkfor- 
mation von Kamensk nicht gesehen, und vermuthen daher, dass sie zu dem obersilurischen 
Kalkstein von Krasnoglasowa gehört, der zuweilen diese Färbung hat. Der Tscherwänoje 
Osero wird von den Landleuten für salzig gehalten, was durch den Geschmack des Wassers 
nicht mit Sicherheit zu ermitteln war. Es sollte chemisch untersucht werden. 

Im Рот Schadisch erfuhren wir, dass an einem Flüsschen nach Tscheremiska zu 
Kalkstein ansteht. Wir fanden ihn auf der Ebene in horizontal gelagerten Schichten, deren 
Oberfläche hin und wieder von Vegetation entblösst ist. Er enthält ein grosses, gestreiftes 
Fossil, von dem wir uns nur Splitter verschaffen konnten. Die Streifung gleicht der des 
Pentamerus Vogulicus, woher es wahrscheinlich ist, dass diese Ablagerung zu den horizontal 
gelagerten silurischen Schichten von Krasnoglasowa gehört, welche wir zuerst beim Dorfe 
xoschenewa mit mehr Sicherheit an der Stromatopora concentrica erkannten. 

Der Kalkstein bei Goschenewa ist von grauer und röthlicher Farbe, und liegt in 
grossen Schollen an dem Ufer des Flüsschens, an welchem der ‘Weg von dort nach Kras- 
noglasowa hinführt. Bei diesem Dorfe selbst sieht man horizontal gelagerte Schichten des 
obersilurischen Kalksteins, der hier mit Pentamerus Vogulicus erfüllt ist, am Wasser anstehen. 

Von hier aus folgten wir dem Ausflusse des Schablisch See’s abwärts, und trafen bei 
dem Dorfe Sipowa ein neues Gestein, das scheinbar Petrefacten der Kohlenformation auf 
secundärer Lagerstätte einschliesst. Es ist ein Conglomerat, das aus groben Geschieben 
grauen Kalksteins besteht, die mit röthlichem Kalkstein verkitiett sind, und Bruchstücke 
des Productus hemisphaericus, 30 wie Korallenarten des Bergkalkes enthalten. Dieses Gestein 
streicht nach N und fällt nach О mit 50° Neigung ein. Wir fanden die nämlichen Schich- 


* 


12 M. v. GRÜNEWALDT, 


ten bei dem Dorfe Pirogowskoje, an demselben Flüsschen wieder. Hier bildet der rôthliche 
Kalkstein den Hauptbestandtheil des Conglomerates, welches mit 30° Neigung nach W ein- 
schiesst, also antiklin zu dem von Sipowa gelagert ist. — Bei Kraitschikowa gelangten wir, 
dem Laufe desselben Flüsschens folgend, in die Schichten von Krasnogora und Kaltsche- 
dansk. Der Sand ist hier mit Quarzconcretionen erfüllt, und schliesst eine horizontale, con- 
tinuirliche Quarzschicht von hell blaugrauer Farbe ein, welche an die Süsswasserquarze 
des Pariser Beckens erinnert. Unter und über dieser einzelnen festen Schicht steht locke- 
rer weisser Sand an. — Bei Potoskujewa gelangten wir an die Sinara, deren Lauf wir von 
hier aus aufwärts bis Kasakowa folgten. 1 Werst oberhalb des Dorfes Okulewa stehen 
Bergkalkfelsen an, welche riesige Exemplare des Productus hemisphaericus enthalten. Das 
Einfallen war wegen undeutlicher Schichtung nicht mit Sicherheit zu bestimmen; jedoch 
schien es westlich zu sein. Bei Kasakowa, am Zusammenfluss des Bugaräk mit der Sinara, 
trafen wir am linken Sinara-Ufer grobes Conglomerat, welches sieh von dem bei Sipowa und 
Pirogowskoje nur dadurch unterscheidet, dass es auch Geschiebe von Kiesel enthält. 

In den Kalksteingeschieben kommen grosse Exemplare des Productus hemisphaericus vor, 
welche indessen auch der Art zwischen den Geschieben erscheinen, dass wir ausserdem 
auf die Ablagerung dieses Fossils zugleich mit den Geschieben schliessen zu müssen 
glauben. Die Erhaltung dieses Theiles der Petrefacten deutet nämlich darauf hin, dass sie 
in den Gewässern gelebt haben müssen, in die jene Bergkalkgerölle transportirt worden 
sind, ohne dass sie diesen Transport mitmachten. Vielleicht ist das Ganze daher eine 
Trümmerbildung der Bergkalkperiode, die zu einer Zeit stattgefunden hat, wo bereits 
Muschelschaalen in neu gebildetem Kalkstein eingeschlossen waren. Diese Annahme hat 
nichts Künstliches, wenn man erwägt, wie häufig über den Wasserspiegel erhobene, und zu 
festem Gestein erhärtete Meeres- Ablagerungen der jetzigen Periode von neuem dem An- 
griff fliessender Gewässer sowohl, als auch der Meereswogen ausgesetzt werden. 

Oberhalb Kasakowa, am linken Ufer des Bugaräk, wechseln bunte Thonschiefer von 
rother und blauer Farbe mit Kalksteinen, in denen eine Korallenbank enthalten ist. Da 
sämmtliche Schichten, welche wir bei Kasakowa gesehen haben, vertical stehen, so war 
hier die Lagerung der Conglomerate zu den bunten Schiefern nicht zu beurtheilen. Das 
Streichen dieser Schichten geht nach N. 

Von Kasakowa folgten wir zu Pferde dem Lauf des Bugaräk aufwärts. Eine halbe 
Werst vor dem nächsten Tatarendorfe Oschmanowa steht am linken Flussufer grobes Con- 
glomerat in hohen Felsen an, das auf seine organischen Einschlüsse nicht untersucht 
wurde. Es streicht hier nach NO, und fällt steil nach NW ein. Hinter dem Dorfe folgt am 
rechten Ufer Kalkstein, am linken Porphyr. Eine halbe Werst weiter oberhalb stiessen 
wir zuerst am rechten Ufer wieder auf Kalksteinfelsen mit vertical aufgerichteter Schich- 
tung. Sie sind von Porphyr begleitet. Dann steht Kalkstein an beiden Ufern an, ist zuwei- 
len dünnschiefrig, streicht nach N und fällt nach W mit 35°—40° Neigung ein. Es kom- 
men darin Schichten vor, die Schwefelkies enthalten. Dieser Kalkstein setzt ununterbrochen 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 13 


bis unterhalb des Dorfes Kolpakowa fort, wo er von einem ähnlichen Porphyr wie bei 
Oschmanowa durchbrochen wird. Dieser Porphyr hat hier ältere Gesteine zu Tage 
erhoben; denn es lehnen sich bei dem Dorfe Kolpakowa talkige Chloritschiefer an ihn an, 
mit denen ein feinschiefriger, violetter Thonschiefer auftritt. Das Dorf selbst liegt zum 
Theil auf Porphyr, zum Theil auf jenen Schiefern, auf die jenseit desselben die nämlichen 
schiefrigen Kalksteine folgen, welche den ganzen Morgen über unsere Begleiter waren. 
Sie stehen am Flussufer auf einer Strecke von einer halben Werst an; dann folgt Porphyr 
an beiden Ufern bis zur Kadanski Mühle, und oberhalb derselben wieder Kalkstein. 

Eine halbe Werst unterhalb Sotina steht Porphyr an, der kurz vor dem Dorfe feines 
Conglomerat, so wie Thonschiefer und Sandsteine von grauer Farbe, denen von Brod ähn- 
lich, durchbricht. Diese Gesteine enthalten bei Suchoi Log an der Püschma Steinkohlen - 
flötze, und sind von den bunt gefärbten Schiefern und dem Conglomerat bei Kasakowa, Si- 
powa u. s. w. zu unterscheiden. Darauf folgt wieder Porphyr, auf dem das Dorf liegt, und 
setzt bis Korolewa fort. Kurz vor diesem Dorfe trafen wir von der Dammerde bedeckten 
Bergkalk, der reich an Productus hemisphaericus und Korallen ist. Darauf folgt bis Schu- 
kowa Porphyr; das Dorf selbst aber liegt auf Kalkstein; dann folgt wieder Porphyr, und 

“bei der ersten Mühle oberhalb Schukowa unreiner grauer Kalkstein, der noch vor Lipowka 
in reinen Kalkstein übergeht. Dieses Dorf hängt mit Bugaräksk zusammen. 

Bei Bugaräksk treten am linken Flussufer rothe Schieferthone und grüner Sandstein 
auf; ein Schichtensystem, das durch seine lebhafte Färbung an ähnliche Gesteine bei Ka- 
sakowa erinnert. Unterhalb Bugaräksk, dem Dorfe Tschuprowa gegenüber, das ganz nahe 
von jenem am rechten Flussufer liegt, steht Bergkalk an. Dieser bildet die Uferfelsen bis 
jenseits der nächsten Wassermühle. Er schliesst an der ersteren Stelle zahlreiche Exem- 
plare von grossen Productus ein, unter denen wir bei der Mühle Prod. giganteus erkannten. 
Die bunten Schichten fallen nach W 20° N gegen den Bergkalk ein. Obgleich auch hier 
keine unmittelbare Auflagerung von uns beobachtet wurde, ist daher doch anzunehmen, 
dass der Bergkalk das jüngere Glied in der Reihe ist. Bei der Wassermühle streicht er 
abweichend nach NW und fällt gegen NO ein. 

Bei Briuchanowa fanden wir ein eigenthümliches Gestein, das aus körnigem, hellgrauem 
Quarz besteht. Es bricht leicht unter dem Hammer, und ist von Sandsteinen und feinem 
Conglomerat begleitet, die wir anstehend nicht gesehen haben. Oberhalb des Dorfes steht 
dagegen ein grünes, undeutlich geschichtetes Gestein an, das mit Säure braust, und Kalk- 
spath enthält. Ueber die gegenseitige Lagerung dieser Gebirgsarten wissen wir nichts zu 
berichten. 

Vor dem Dorfe Melnikowa befindet sich eine bedeutende Eisensteingrube, die vermuth- 
lich in Kalkstein angelegt ist, der zwischen der Grube und jenem Dorfe ansteht. Sie liefert 
ihre Erze nach Syssert. In den Kalkstein, der nach NO streicht und gegen SO einfällt, 
sind harte Sandsteine von quarzitartiger Beschaffenheit untergeordnet eingelagert. Wir 
sahen diesen Kalkstein bis jenseit Fadina anstehen. — Zwischen Fadina und Bojewsk liegt 


14 M. v. GRÜNEWALDT, 


die Westgrenze der sedimentären Bildungen, welche wir am Bugaräk kennen gelernt 
haben. Die Fiussufer werden hier flach, und es tritt Glimmerschiefer mit dünnen Lagen 
eines blauen Thonschiefers auf. Noch weiter flussaufwärts, bei Larina, sahen wir Marmor, 
auf den am Mühlendamm von Petuchowa Gneiss und Granit folgen. | 

Eine Fahrt, in der wir zu Wagen so gut als thunlich dem Laufe der Sinara abwärts von 
Konäwskoje bis Nikitina folgten, brachte weiter keinen Aufschluss über die am Bugaräk be- 
obachteten Sedimente. Porphyr mit grüner Grundmasse, wie wir ihn besonders bei Oschma- 
nowa und Kolpakowa gesehen hatteri, bildet den grössten Theil der Uferfelsen an der Sinara. 
Zwei Werst oberhalb des Baschkirendorfes Zerkowa sahen wir am linken Ufer Kalkstein 
anstehen. Als wir beim Meschtscheräkendorfe Nova Tatarskoje wieder an den Fluss ka- 
men, fanden wir ihn mit Trümmern aus dem quarzführenden Sande erfüllt, d. h. mit Ge- 
steinen, wie wir sie bei Kraitschikowa beschrieben haben. Bald erreichten wir auch dieses 
Dorf wieder, indem wir unseren Weg über Potoskujewa nahmen, und besichtigten zwischen 
Kraitschikowa und Tschernaja Retschka einen verlassenen Mühlsteinbruch, der, wie bei 
Kaltschedansk, in jenen Schichten angelegt ist. Die Mühlsteine wurden nicht. aus conti- 
nuirlichen Schichten gebrochen, sondern man findet nur einzelne Löcher im Rasen, aus 
denen grössere Concretionen herausgehoben worden sind. 

Am Einfluss der Tschernaja in die Sinara trafen wir in dem Seitenthal, welches durch 
jenes Flüsschen gebildet wird, eine bedeutende Felsentblössung der Bergkalkformation, 
mit den öfter beobachteten dunklen Schiefern und Sandstein. Von der Sinara in die 
Tschernaja Schlucht aufwärts, trifft man zuerst Porphyr. Darauf folgt ein grobes Kalk- 
steinconglomerat, dann die Schiefer- und Sandsteinformation und endlich Bergkalk. Die 
ganze Schichtenreihe ist steil aufgerichtet. Die Schiefer sind von kohliger Substanz schwarz 
gefärbt, wie bei Brod, und enthalten hier eine massenhafte Einlagerung harten, dunklen 
Quarzes, welcher stockförmig in die vom Porphyr durchbrochenen und zerschmetterten Ge- 
steine hineinragt. 

Als wir die Sinara-Ufer bei Nikitina verliessen, und auf Kaltschedansk zufuhren, 
stiessen wir bald auf Sandsteinbrocken, die sich durch Körner eines pellueiden, lebhaft 
hellgrün gefärbten Quarzes auszeichnen. 

Die horizontal gelagerten Schichten von Kaltschedansk sind. am Issetufer schön auf- 
geschlossen. Sie bestehen zum Theil aus einem thonigen Sandstein von hellgelber Farbe, 
welcher jene grünen Quarzkörner enthält. Dieser Sandstein wechselt mit sehr vorwalten- 
den Schichten grauen Thones, derbem Quarz, wie wir ihn bei Kraitschikowa gesehen hat- 
ten, und anderen Sandsteinen, die mit Quarzausscheidungen erfüllt sind. Aus dem Stein- 
bruch, der bei dem Dorfe, an der Strasse nach Kamensk angelegt ist, werden in grosser 
Menge die Mühlsteine gewonnen, welche den Bedarf dieser ganzen, überaus fruchtbaren 
(Gegend decken. Diese Mühlsteine bestehen aus einem sehr eigenthümlichen, festen Aggre- 
gat durchsichtiger Quarzkörner von verschiedenartiger, sehr lebhafter Färbung, die ohne 
kenntliches Bindemittel an einander haften. Das Gestein bildet keine continuirliche Schicht, 


BEITRÄGE zuR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. LS 


sondern kommt in kleinen Nestern, welche gewöhnlich nur das Material zu einem einzigen 
Steine liefern, in dem Sandsteine vor, der die hellgrünen Quarzkörner enthält, und hier 
an der Oberfläche liegt. 

In den Thonen haben die Verf. der Geol. of Russia in Braunkohle umgewandeltes 
Но!” gefunden, das zuweilen von Bernsteinstückchen begleitet ist. Es ist daher in der 
That wahrscheinlich, dass diese Ablagerungen, welche wir nur flüchtig gesehen haben, von 
tertiärem Alter sind. — Von Kaltschedansk kehrten wir nach Kamensk zurück. 

Auf einer darauf folgenden kleinen Ausflucht von zwei Tagen berührten wir das 
Dorf Saimskaja, wo der Bergkalk ähnliche Einlagerungen enthält wie bei Brod. Er ist 
dort besonders reich an Korallen und enthält den Productus hemisphaericus. 

Unausgesetzte Fahrten und Ritte im nördlichen Theile des Distriktes führten uns 
dann durch ausgedehnte Gegenden, in denen wir vorzüglich die Ufer der Püschma, der 
Kunara, des Reft und der Kamenka kennen lernten. 

Bei dem Dorfe Gräsnucha sieht man viel von den Gesteinen von Kaltschedansk um- 
herliegen; jedoch ohne dass wir anstehende Gebirgsart fanden. Da hier keine steinernen 
Bauten ausgeführt sind, ist anzunehmen, dass diese Steine nicht aus grösserer Entfernung 
herrühren, sondern aus dem Boden stammen, auf dem das Dorf liegt. — Bei Tscherdanzowa 
erheben sich Hügel über der Ebene, welche aus ungeschichtetem, weissem, sehr sandigem 
Lehm bestehen. Es sind ohne Zweifel diluviale Bildungen. — Als wir auf unseren Zickzack- 
fahrten im flachen Lande bei dem Dorfe Tschernokorowskaja ein Stück auf der Tobolsker 
Strasse hinfuhren, bemerkten wir, dass sie hier mit Gesteinen in Stand erhalten wird, wie 
sie bei Kaltschedansk anstehen; ein Zeichen, dass dieses Dorf noch im Gebiete jener Ab- 
lagerungen liegt. Von dort gelangten wir nach Troïtzk an der Kalinowka, wo wir wieder 
Bergkalk am Ufer des Flüsschens anstehen sahen. Er streicht nach NW, fällt mit einer 
Neigung von 40° nach SW ein, und enthält den Productus hemisphaericus. Der Kalkstein 
ist hier reich an grossen Feuersteinknollen, eine Erscheinung, welche am Westabhange 
des Gebirges, in den Bergkaikfelsen am Ufer der Tschussowaja, sehr gewöhnlich ist. Nach 
der Aussage der Dorfbewohner hält der Kalkstein von hier noch 2 Werst flussabwärts bis 
zum Dorfe Bainowa an, das mit dem gleiches Namens am Isset nicht zu verwechseln ist. 
Bei den Dörfern Kamennoosersk, Kamennooserok und Bubnowa trafen wir den bekannten 
Porphyr wieder, und gelangten bei Nekrassowa in das Gebiet granitischer Gesteine und 
krystallinischer Schiefer, welches die Püschma bei Jalunina durchströmt. 

Von Jalunina folgten wir, in zwei Tagereisen, zu Pferde den felsigen Ufern der Püschma 
bis Suchoi-Log. Nachdem wir zuletzt auf schön auskrystallisirte Massengesteine gestossen 
waren, die ich beiläufig als der Familie der Grünsteine angehörend bezeichne, trafen wir 
11 Werst oberhalb Suchoi-Log, (nach dem Flusslauf gerechnet), bei der Mühle von Gurin 
wieder sedimentäre Gesteine. Es sind, wie bei Turbanowa am Isset, veränderte Sand- 
steine, Thonschiefer und Conglomerate, von Porphyr durchbrochen. Zwischen dieser 
Mühle und der von Räbtschicha treten neben diesen Gebirgsarten kalkige Gesteine auf, 


16 | M. v. GRÜNEWALDT, 


welche mit Säure brausen. Sie enthalten späthige Durchschnitte von Crinoïdeenstielen, die 
sebr unkenntlich sind. Viele von ihnen zeigen indessen einen abgegrenzten Punkt im Cen- 
trum, der vermuthlich vom Ernährungskanale herrührt, und kaum eine andere Deutung 
jener Reste zulässt. Von dieser Stelle bis Rogalowa bestehen die Uferfelsen aus Gestei- 
nen, die zuweilen conglomeratisch sind, zum Theil mit Säure aufbrausen, und dabei 
krystallisirte Silicate enthalten. Sie sind vielfach von Porphyr durchbrochen, und müssen 
als Producte der Einwirkung eruptiver Gebirgsarten auf kalkige sedimentäre Bildungen 
angesehen werden. Erst bei Namenskaja werden diese Gesteine von unverändertem Kalk- 
stein überlagert. Wir fanden ihn in einem kleinen Einschnitt, den eine Quelle in die 
mit Erde bedeckte linke Thalwand hineingewühlt- hat. — Von hier bis Suchoi-Log folgt 
am linken Thalgehänge vorwaltend Porphyr, und ein Conglomerat, das aus Kalkstein- 
geschieben besteht, welche mit einer grünlichen Masse verbunden sind. Letzeres ist be- 
sonders an der Einmündung der Kustinowka aufgeschlossen, und an demselben Abhange 
der zum Theil bewachsenen Thalwand liegen Blöcke eines röthlichen Kalksteins, welcher sei- 
ner Farbe nach dem von Goschenewa und Krasnoglasowa gleicht. Diese Blöcke sind von 
oben herabgestürzt. Oberhalb der Mühle Morewa steht wieder Porphyr an, der bis in die 
Nähe von Suchoi-Log anhält. An der Mündung der Schata, am linken Ufer, fand Hof- 
mann Tages darauf Kalkstein- und Quarzitblöcke, welche von oben in den Fluss gerollt 
waren. 

Suchoi-Log ist unseres Wissens der einzige Ort, an dem Kohlenflötze am Ostabhange 
des Ural abgebaut werden. Wir hatten deshalb diesen Punkt schon auf unserer ersten 
Reise in den Ural, im Juni 1853 besucht. Dieses Mal war ich leider verhindert die damals 
gewonnenen Ansichten über das Auftreten der Steinkohle bei Suchoi-Log durch nochma- 
lige, gründliche Untersuchung der nächsten Umgebung zu bestätigen. Ein Fieberanfall, der 
mich schon den Tag vorher so weit angegriffen hatte, dass ich mich mit Mühe im Sattel 
erhielt, nöthigte mich den einzigen Tag, den ‘wir in Suchoi-Log zubrachten, so weit 
zu meiner Erholung zu benutzen, dass ich nicht an der Fortsetzung der Reise verhin- 
dert wurde. 

Ich gebe daher nur einen Ueberblick über die Verhältnisse von Suchoi-Log, wie wir 
sie früher kennen gelernt hatten. 

Wir halten mit Herren Grammatschikoff, dem Entdecker dieses Kohlenlagers, die 
Schichten von Suchoi-Log für die nördliche Fortsetzung der Conglomerate, Sandsteine 
und Schieferthone mit Pflanzenabdrücken, welche bei Brod am Isset anstehen. Diese 
Schichten streichen hier ebenfalls mit geringer Abweichung nach N, und schiessen mit 
40° Neigung gegen W ein. Nach Aussage des Herren Grammatschikoff liegen 6 Koh- 
lenflötze von verschiedener Mächtigkeit in grauem und grünlichem Schieferthon, der, im 
Hangenden sowohl, als auch im Liegenden der Steinkohle nach dem angrenzenden Kalkstein 
zu, symmetrisch, durch ähnlich gefärbte Sandsteine in feines Conglomerat übergeht. Diese 
Flötze wurden von dem Entdecker der Grube beiläufig auf eine Gesammtmächtigkeit von 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 17 


32’ Steinkohle veranschlagt. Bei unserer zweiten Anwesenheit war nach Aussage des da- 
maligen Verwalters des Bergwerks ein Flötz von 5’ Mächtigkeit in Betrieb. 

Nach den Schichtenentblössungen am Ufer der Püschma ruhen diese kohlenführen- 
den Schichten auf Bergkalk, welcher von Suchoi-Log flussabwärts, also nach О, hohe 
Uferfelsen bildet. Der Kalkstein enthält unmittelbar im Liegenden der kohlenführenden 
Ablagerungen Productus hemisphaericus und Pr. striatus, gehört also der unteren Etage des 
Bergkalkes an. Westlich, also im Hangenden der kohlenführenden Schichten, haben wir 
bei Suchoi-Log nur Kalkstein- und Quarzit-Blöcke ohne Versteinerungen und Porphyr- 
felsen, wie an der Schata- Mündung und oberhalb derselben, gesehen. Die Untersuchungs- 
arbeiten zur Ermittelung der Ausdehnung und Mächtigkeit der Kohlenflötze, waren damals 
noch nicht abgeschlossen. Das Ausgehende der Schieferthone, Sandsteine und Conglome- 
rate soll südlich von Suchoi-Log einen Flächenraum von 2”, Werst Breitendurchmesser 
einnehmen und beiderseits von Kalkstein begrenzt sein. Nach Norden verengert sich die 
Formation und steht jenseit der Püschma, nach sehr beiläufiger Schätzung, auf einem Flä- 
chenraume von höchstens 1000 Gängen an. 

Von Suchoi-Log setzten wir unsere Reise, zuerst dem Laufe das Flusses weiter ab- 
wärts folgend, im offenen Fuhrwerk fort. 

Der Bergkalk hält am Ufer in hohen Felsen bis an das Dorf Medwedjewa an. Auf 
ihn folgen bei Wadoga bunte Thone und röthliches Conglomerat, deren Lagerung nicht 
ermittelt wurde. Eine Quelle, die sich bei der Mühle des Dorfes von N in die Püschma 
ergiesst, führt massenhaft Bruchstücke der Gesteine von Kaltschedansk, welche wir auch 
bald darauf bei Novo Püschminsk antrafen. Es sind hier horizontal gelagerte, bröckelige 
Sandsteine. Die Thone bei Wadoga sind darin eigenthümlich, dass sie keine Schichtung 
zeigen. Sonst gleichen sie, ebenso wie das Conglomerat, welches auf organische Reste nicht 
untersucht wurde, den bunten Schichten bei Kasakowa am Bugaräk. Es ist daher wahr- 
scheinlich, dass diese Schichten zu der in der Nähe entwickelten Bergkalkformation 
gehören. 

Bei Novo Püschminsk verliessen wir die Püschma und wandten uns nach S, den 
Ufern der Kunara zu, denen wir flussaufwärts folgten. Wir erreichten diesen südlichen 
Zufluss der Püschma bei dem Dorfe Spask und fanden daselbst Bergkalk anstehend, dessen 
Schichten vertical aufgerichtet sind. Sie streichen nach N und werden von den horizon- 
talen Lagen der Formation von Kaltschedansk bedeckt. Bei dem Dorfe Kaschina, am rech- 
ten Kunaraufer, steht wieder Bergkalk in hohen Felsen an. Hier ist in den Kalkstein ein 
Nest von Brauneisenstein eingelagert, der reich genug an sauren Kupfererzen ist, um auf 
dieses Metall abgebaut zu werden. Nahe bei der Kupfergrube enthält der Bergkalk eine 
Einlagerung von Sandstein und Schiefern, die von kohliger Substanz schwarz gefärbt sind. 
Von hier zieht sich der Bergkalk in hohen Felsen flussaufwärts bis Popowa. Eine Werst 
hinter Gluchi, nahe bei Kamenka, sieht man Sandstein am Wege. Die darauf folgenden 
Dörfer Bukowa und Tügisch liegen auf Porphyr, bei ersterem sahen wir auch Conglomerat. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 3 


18 М. у. GRÜNEWALDT, 


Bei Prokopowskoje verliessen wir die Kunara, welche weiter aufwärts zwischen 
flachen Ufern hinfliessen soll, und fuhren nach Mokra an die Püschma zurück, um von 
hier aus die Ufer des Reft zu untersuchen. 


Diesen Fluss, der sich durch dichte Waldungen hinschlängelt, verfolgten wir, bald auf 
Fusssteigen am Ufer hinreitend, bald das Flussbett selbst als Weg benutzend, bis an die 
Einmündung der Bruchanowka. Von dort ritten wir an den Okunjewo Osero, wandten 
wieder nach S, passirten bei Woroni Brod die Püschma und gelangten durch die Ur- 
wälder, nach einem angestrengten Ritte von 3 Tagen, bei Obuchewa an die Kamenka, de- 
ren Lauf wir auf Rädern bis nach Kamensk verfolgten, wo wir den 25sten Juli eintrafen. 
Diese Excursion führte uns im Gebiete krystallinischer Gebirgsarten bis in die Nähe der 
berühmten Smaragdgruben im Jekaterinburger Distrikte, welche wir wenige Wochen spä- 
ter kennen lernten.') | 


Wir erwähnen nur, dass wir am Reft 9 Werst oberhalb der einzigen Mühle, welche 
an diesem Flusse in der Nähe seiner Mündung liegt, auf steil aufgerichtete, mit Kohlenstoff 
imprägnirte Schiefer stiessen, die nach N 25° W streichen. Die Stelle befindet sich nahe 
unterhalb der Mündung der Beresowka und ist durch Porphyr kenntlich, der dicht unter- 
halb in Felsen ansteht. Die Schiefer selbst streichen quer über den Boden des Flusses 
hin, ohne eine Erhöhung am Ufer zu bilden. ` 


Das Dorf Obuchewa an der Kamenka liegt noch auf Chloritschiefer. Erst bei Kleva- 
kina trafen wir feines Conglomerat mit einem grünen Gestein, das Bestandtheile des Por- 
phyrs enthält und auch oberhalb bei Kostoujowska und Belonossowa ansteht. Bei Muchli- 
nina treten Conglomerate auf, deren Geschiebe mit Porphyrmasse verbunden sind. Mit 
ihnen erscheint ein grüner Mandelstein, dessen Geoden zuweilen mit Kalkspath gefüllt, zu- 
weilen auch leer sind, und dann dem Gestein ein blasiges Ansehen geben. Wir halten diese 
(rebirgsart für eine Varietät des Porphyrs, durch Entwickelung von Gasen bedingt, welche 
die Eruption desselben begleiteten. Er steht in der Nähe mit grüner Grundmasse in seiner 
charakteristischen Varietät an. Ebendaselbst, bei einem Dorfe vor Tscherumchowsk, er- 
scheinen auch die Conglomerate, Schiefer und Sandsteine der Bergkalkformation, die wie 
gewöhnlich nach N streichen und gegen W einfallen. In dem Sandsteine liegt, der Schich- 
tung parallel, ein Mandelstein, der sich von dem von Muchlinina durch dunklere, schwärz- 
liche Farbe und auch dadurch unterscheidet, dass die Geoden mit einer grünen, erdigen 
Substanz gefüllt sind. Diese Bildungen halten bis kurz vor Novosavodskoje an, wo wir 
Bergkalk trafen, der, mit einer einzigen Unterbrechung durch die Schiefer- und Sand- 
steinformation beim darauf folgenden Dorfe, bis Kamensk anhält. 


1 Die Gabbro- und Serpentinreiche Umgegend des | sucht und beschrieben worden: Die Smaragdgruben des 
Oknanjewo Osero ist von Prof. Grewingk in Dorpat be- | Ural und ihre Umgebung von С. Grewingk. 1854. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 19 


Nach einem Aufenthalte von einem Tage in Kamensk, kehrten wir nach Jekaterin- 
burg zurück. Ohne an der Strasse sedimentäre Bildungen beobachtet zu haben, trafen wir 
bei Butirka wieder die ersten Glieder der krystallinischen Schiefer. 


Fasst man die Resultate unserer geognostischen Beobachtungen im Distrikte von Ka- 
‚ mensk zusammen, so ergiebt sich, dass die sedimentären Ablagerungen, welche den Fels- 
boden dieser Ebene bilden in W, gegen das Gebirge hin, durch krystallinische Gebirgsar- 
ten begrenzt sind. Verfolgt man die Westgrenze der sedimentären Zone von S nach N, so 
bildet sie eine Linie, welche zwischen den Dörfern Fadina und Bojewsk hindurchgeht, bei 
Turbanowa (zwischen Temna und Perebor) den Isset und bei Klewakina die Kamenka 
schneidet. Die Püschma trifft sie in der Gegend des Dorfes Brusjäna, das nicht am Flusse 
selbst liegt, bei einer Wassermühle, nach dem damaligen Besitzer Gurina genannt. Der 
nördlichste Punkt, an dem wir Sedimente gesehen haben, liegt am Reft an der Mündung 
der Beresowka. Westlich von dieser Linie finden sich in der Zone krystallinischer Gesteine 
Einlagerungen von Thonschiefer, die wir am Isset zwischen der Mühle Pinigena und dem 

Dorfe Wiuchina, so wie bei Kaliutkina angetroffen haben. | 


Die Masse dieser Ablagerungen, deren Westgrenze wir bestimmt haben, besteht 
hauptsächlich aus Schichten der Kohlenformation. Nur an drei Punkten innerhalb des Ge- 
bietes derselben sind ältere Bildungen nachgewiesen. Dahin gehören, wahrscheinlich als 
älteste die Chlorit- und Thonschiefer von Kolpakowa am Bugaräk und ein Theil der Kalk- 
steine jener Gegend, welche auf diesen Schiefern ruhen. Die silurischen Kalksteine von 
Krasnoglasowa sind schon von den Verf. der Geol. of Russia als ein Aequivalent der Wen- 
lokformation in England erkannt worden. Endlich erweisen sich Kalksteine bei Kadinskoy 
als Ablagerungen, welche dem Eifeler Kalkstein oder der mittleren Etage der devonischen 
Formation am Rhein analog sind. Schon die Verf. der Geol. of Russia haben die Vermu- 
thung ausgesprochen, dass die dunkelen, harten Schiefer und das Quarzgestein, welche 
zwischen Kadinskoy und Kliutschky am Isset entwickelt sind, ebenfalls dieser Formation 
angehören. Diese Vermuthung gewinnt dadurch an Wahrscheinlichkeit, dass wir innerhalb 
des Gebietes der Kohlenformation von Kamensk nirgends Gesteine von ähnlicher Beschaffen- 
heit so massenhaft auftreten sahen, wie die, welche durch ihre Lagerung mit dem devo- 
nischen Kalkstein von Kadinskoy verbunden sind. 

Wenden wir uns der Kohlenformation zu, so müssen wir innerhalb derselben petro- 
graphisch verschiedene Glieder unterscheiden, die indessen alle dem unteren, pelagischen 
Theile derselben, dem Bergkalke anzugehören scheinen. 

Die herrschende Substanz ist der Kalkstein, von dem wir trotz des Verlustes unserer 
Sammlungen mit ziemlicher Sicherheit auszusagen wagen, dass wir nur Versteinerungen 
darin gefunden haben, welche in Russland die untere Etage des Bergkalkes charakterisiren. 

* 


20 М. у. GRÜNEWALDT, 


Die feineren, dunkel gefärbten Conglomerate, Sandsteine und Schieferthone, welche 
Pflanzenabdrücke, kohlige Substanz und Steinkohlenlager enthalten, haben wir bei Kadins- 
koy zwischen Bergkalk und devonischen Schichten ansteheud gesehen. Bei Brod haben 
wir in den Kalksteinen, welche ähnliche Schichten beiderseits begrenzen, Versteinerungen 
des unteren Bergkalkes gefunden. Bei Kaschina an der Kunara sind kohlige Schieferthone 
und Sandsteine in Kalkstein eingelagert. Bei Suchoi-Log ruhen die Steinkohlen führenden 
Schichten auf unterem Bergkalk. Im Hangenden treten eruptive Gesteine massenhaft auf. 
Mit ihnen kommt Kalkstein vor, in dem wir jedoch keine Versteinerungen gefunden haben. 
Bei Sotina am Bugaräk fanden wir diese Schichten wieder, und der nächste Kalkstein, 
welcher, durch Porphyr von diesen Ablagerungen geschieden, bei Korolewa ansteht, ent- 
hält die charakteristischen Versteinerungen des unteren Bergkalkes. Endlich sind die von 
Kohle schwarz gefärbten Schiefer und Sandsteine bei Tschernaja Retschka an der Sinara 
zwischen Porphyr und steil aufgerichteten Bergkalkschichten eingelagert. 

Nach diesen Beobachtungen halten wir unszu der Annahme berechtigt, dass die Conglo- 
merate, Sandsteine und Schieferthone mit Pflanzenresten und Steinkohle hier wie im flachen 
europäischen Russland Glieder des unteren Bergkalkes sind. 

Ein drittes petrographisch unterschiedenes Glied der Kohlenformation von Kamensk 
sind die groben Conglomerate von Sipowa, Pirogowskoje, Kasakowa und wahrscheinlich 
auch von Oschmanowa. Wir haben die Gründe entwickelt, warum wir sie ebenfalls für 
Glieder des unteren Bergkalkes halten. 

Ueber das Alter der bunten Schieferthone bei Kasakowa, die mit jenem Conglomerat 
auftreten, welches Petrefacten des unteren Bergkalkes enthält, ebenso wie über die bun- 
ten Schichten bei Bugaräksk, die wahrscheinlich von Bergkalk überlagert werden, wagen 
wir kein bestimmtes Urtheil auszusprechen. Da petrographisch ähnliche Bildungen bei Wa- 
doga an der Püschma ebenfalls mit grobem Conglomerat in der Nähe des unteren Bergkalkes 
vorkommen, welcher zwischen diesem Dorfe und Suchoi-Log entwickelt ist, so lässt sich 
aus diesen Umständen nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss auf Glieder des unteren Berg- 
kalkes oder devonische Schichten ziehen. Die Gesteine bieten ebenso wenig Analogie mit 
dem localen petrographischen Charakter, den die eine Formation sowohl als auch die andere 
in Kamensk zeigt. Bei Kasakowa enthalten diese bunten Schiefer Kalkstein mit einer Koral- 
lenbank, die uns an Ort und Stelle aus einer Form des Bergkalkes gebildet schien. Wir 
sind daher geneigt, diese Schichten als Glieder der Bergkalkformation anzusehen, in deren 
Geleite wir sie an drei Orten angetroffen haben. 

Dass die Bergkalkformation in ein und demselben Horizonte mit petrographisch abwei- 
chenden Bildungen auftritt, darf in einer Gegend nicht befremden, die so reich an eruptiven 
Gesteinen ist, wie die von Kamensk. Wenn diese auch meist jünger sind als die Schichten 
der Kohlenformation, so haben wir im Verlauf unserer Schilderung doch mehrere Bei- 
spiele angeführt, welche beweisen, dass sie sich zur Petrographie derselben nicht neutral ver- 
halten haben. Jedenfalls walten hier, in Bezug auf das Material der Ablagerungen mannig- 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 21 


faltigere Verhältnisse ob, als in den Ebenen, welche im flachen Russland aus denselben 
Formationen gebildet sind. 

Fast alle Sedimente, welche den Felsboden der Ebenen von Kamensk zusammen- 
setzen, sind mehr oder weniger steil aufgerichtet und von Massengesteinen durchsetzt, 
welche an der Sinara, dem Bugaräk und Isset, so wie an der Püschma grössere, zusammen- 
hängende Eruptionsgebiete bedecken. Beim Durchbruch durch die sedimentären Gesteine 
haben sie zur Entstehung mannigfacher Contactgebilde Veranlassung gegeben. Trotz die- 
ser vielfältigen Störungen in der Lagerung der sedimentären Massen, welche, von zahlrei- 
chen synklinen und antiklinen Erhebungslinien durchzogen, an den Ufern der Flüsse in 
verschiedener Reihenfolge immer wieder erscheinen, ist dennoch eine vorwaltende Streich- 
richtung derselben nach N, dem Gebirgszuge parallel, und ein vorherrschend westliches 
Einfallen gegen denselben sehr ausgesprochen. Nur die silurischen Schichten liegen an 
den wenigen Flecken horizontal, wo sie in der Umgegend von Krasnoglasowa unter der 
Rasendecke hervorschimmern. Nirgends haben wir Entblössungen dieser Schichten gese- 
hen, welche genügenden Aufschluss über ihre Lagerung geben. 

Die palaeozoischen Bildungen, so wie die Massengesteine welche dieselben durchbre- 
chen, verschwinden nach O unter tertiären? Schichten, die discordant in ungestörter Lagerung 
auf denselben ruhen. Diese Auflagerungsgrenze bildete zugleich die Ostgrenze unserer Ex- 
cursionen. Wir ziehen sie von S nach N, von Kraitschikowa an der Einmündung des Aus- 
flusses des Schablisch Sees in die Sinara nach Nikitina, von dort nach Krasnogora am Isset, 
zwischen Wolchow ‚und Troitzk an der Tobolsker Strasse hindurch nach Spask an die 
Kunara, und endlich nach Wadoga an der Püschma. So bedecken die palaeozoischen Ab- 
lagerungen von Kamensk einen Flächenraum, der sich von S nach N verengert und an der 
Püschma den kleinsten Breitendurchmesser einnimmt. 

Es gewährt uns eine besondere Genugthuung, am Ende dieser Betrachtungen darauf 
aufmerksam zu machen, mit welchem Scharfblick die grossen Geologen, welche vor uns 
einen Theil dieser Gegenden besuchten, ihre allgemeine geognostische Beschaffenheit im 
Profil des Isset beurtheilt und dargestellt haben. In Bezug auf das Terrain, auf dessen 
Studium wir uns durch ihre Untersuchungen vorbereiten konnten, bemerken wir nur, dass 
wir die östliche Verbreitung der devonischen Formation am Isset bis Kadinskoy einschrän- 
ken, weil wir den grössten Theil der Ablagerungen nach Brod zu als Glieder des Bergkal- 
kes erkannt haben. Dass unter diesen auch ältere Schichten vorhanden sein können, ist in- 
dessen nichts weniger als unmöglich. Sandsteine mit kohligen Substanzen sind, wie wir 
später sehen werden, an den Ufern der Tschussowaja eine häufige Grenzbildung zwischen 
devonischen und Bergkalkschichten, und kommen in mehreren Etagen vor, von denen eine, 
welche an der Kosswa unmittelbar unter Kalkstein mit Productus hemisphaericus liegt, an die- 
sem Flusse und der Lunja Steinkohlen führt. Die Schichten mit Pflanzenresten, welche in 
wahrscheinlich umgekehrter Lagerung unter dem steil aufgerichteten devonischen Kalkstein 
bei Kadinskoy liegen, können nach Analogie anderer Gegenden ebensowohl dieser Formation 


29 М. у. GRÜNEWALDT, 


als auch dem Bergkalke zugerechnet werden. Vielleicht ergiebt eine genaue Bestimmung dieser 
Pflanzen, dass sie einer anderen Etage angehören, als die bei Brod oder Suchoi-Log, was 
uns, so weit wir die Lagerung ermittelt haben, vorläufig nicht wahrscheinlich erscheint. 
Sandsteine mit Pflanzenabdrücken sind am Rhein, an der Grenze der devonischen und 
Kohlenformation, längst bekannt, und bei Sabero in Leon sind sogar die reichsten Kohlen- 
flötze nach Herren von V erneuil zwischen Schichten intercalirt, welche devonische Verstei- 
nerungen enthalten. ') 

Schon früher haben wir auf den Gegensatz aufmerksam gemacht, der in Kamensk 
zwischen dem Schichtenbau des Bodens und seiner äusseren Gestaltung herrscht. Wir ha- 
ben deshalb weniger Neigungswinkel angeführt, weil die Schichten sich so häufig einer 
verticalen Stellung nähern, dass das Einfallen darüber verschwindet. Erwägt man, dass 
diese in weiter Erstreckung steil aufgerichteten Flötzgebirge von Porphyr zerrissen sind, 
der sich auf ausgedehnte Länderstrecken ergossen hat, so ist die ebene Oberflächengestal- 
tung der Flächen von Kamensk ein Phänomen, welches ein grossartiges Licht auf die aus- 
gleichende Wirkung athmosphärischer Einflüsse wirft. Wenn die Geologie unermessliche 
Zeiträume beansprucht, um die Bildung von Ablagerungen zu erklären, welche, mit mee- 
rischen Organismen erfüllt, später zu Gebirgen aufgethürmt wurden, so dürfen die in der 
That nicht geringer angeschlagen werden, welche verstreichen mussten, um jede Spur 
dieser Erhebungen von der Oberfläche der Erde zu verwischen. Nur in den tiefen Wasser- 
rinnen, welche die Ströme ausgewühlt haben, erkennt der Geognost, was dieser Boden er- 
lebt hat, auf dem ein Lehmhügel eine bemerkenswerthe Erscheinung ist. 

Da die Porphyre und Kalksteine in dieser steilen Lagerung unter den horizontalen 
Schichten des tertiären? Sandsteines verschwinden, so ist anzunehmen, dass Schichtenstô- 
rungen, welche mit der Erhebung der Uralkette zusammenhängen, sich viel weiter in die 
sibirische Ebene ausdehnen, als das Auge des Beobachters sie da verfolgen kann, wo die 
Gewässer nur noch in die obere Decke einschneiden. Ein Gleiches mag mit alten Ablage- 
rungen nach Westen zu unter den permischen Schichten stattfinden, und so lange die 
Grenzen der Erhebung des Ural nach О und W nicht festgestellt sind, kann von einem 
Verhältniss der gegenwärtigen Höhe des Gebirges zu seiner Basis lediglich im Sinne der 
Oberfläche die Rede sein. Der Geognost findet in diesen Gebirgsruinen der Erdoberfläche nur 
spärliche Ueberreste, welche, an sich betrachtet, einen falschen Massstab der Wirkungen ge- 
ben, durch die sie hervorgebracht worden sind. Denkt man an die Grossartigkeit der Erosions- 
phänomene in Gebirgen, deren Aufrichtung, wie die der Alpen, in eine viel spätere Periode 
fällt als die Erhebung der Uralkette, so treten dergleichen Wirkungen, wie sie in der 
Ebene von Kamensk stattgefunden haben, in vollständige Harmonie mit den Vorstellun- 
gen, welche wir uns theoretisch von den Erfolgen eines durch ungemessene Zeiträume an- 
dauernden atmosphärischen Zerstörungsprozesses machen müssen. Es ist ein unzweifel- 


1) Bulletin de la société géologique de France, 2e Série, Tome УП, р. 175. 1850. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 23 


haftes Verdienst meines verehrten Lehrers Dr. Bernhard Cotta, diesem Momente bei 
der Classification der Gebirge Geltung vindicirt zu haben. — In je fernere Zeiten eine Ge- 
birgserhebung fällt, desto weiter muss die Abtragung fortgeschritten sein. — Es ist bisher 
eine wenig beachtete Aufgabe der Geognosie gewesen, der Wahrheit dieses einfachen theo- 
retischen Satzes in der Wirklichkeit nachzuspüren. 


Fahrt auf der Tschussowaja von Bilimbajewsk bis Kurji. Die Berghaupt- 
maunschaft Jekaterinburg unterhält an der Tschussowaja einen Stapelplatz für die Ver- 
schiffung bergmännischer Produkte, so wie der Erzeugnisse anderer industrieller Anstal- 
ten, welche in ihrem Bezirk von der Krone verwaltet werden. Dieser Hafen heisst Ut- 
kinsk; ein Name, den mehrere Häfen an der Tschussowaja führen, und der von den klei- 
nen Nebenflüssen herrührt, an deren Mündungen sie liegen. ') Er darf daher mit zwei ande- 
ren Häfen gleichen Namens weiter unterhalb an der Tschussowaja, die zu den Bergwer- 
ken des Fürsten Demidof gehören, nicht verwechsêlt werden. 

Nachdem wir die geognostischen Untersuchungen in dem zusammenhängenden Ge- 
biete der Jekaterinburger Berghauptmannschaft am Ostabhange der Gebirgskette abge- 
schlossen hatten, erhielt ich den Auftrag, die Landparcelle zu untersuchen, welche zum 
Utkinsker Hafen gehört. Da die Tschussowaja sich in vielfachen Krümmungen durch die 
ganze Länge dieses waldigen Landstriches hinschlängelt, wurde beschlossen, dass ich sie 
von Bilimbajewsk an abwärts befahren sollte. Dieses Hüttenwerk des Grafen Stroganof 
liegt an der grossen sibirischen Strasse, oberhalb der Südgrenze des Utkinsker Distriktes. 
Auf einer Flussfahrt, welche 3 Tage, vom 22sten bis 24sten August desselben Jahres 
dauerte, überschritt ich auch die Nordgrenze von Utkinsk, und dehnte meine Untersu- 
chung der Flussufer bis zum Dorfe Kurji, nahe oberhalb des ersten Utkinsk aus, welches 
dem Fürsten Demidof gehört. 

Bilimbajewsk liegt noch im Gebiete der krystallinischen Schiefer, die mit Serpentin 
auf dem Passe des Ural anstehen, welchen die sibirische Strasse überschreitet. Das 
nächste Dorf, Kanawalowa liegt auf dunklem Kalkstein. Jenseit desselben zieht sich am 
rechten Ufer eine Bergwand hin, die oberhalb aus demselben Kalkstein, flussabwärts aber 
aus hartem grünem Schiefer besteht, der mit violettem Thonschiefer wechsellagert. Diese 
Schiefer scheinen nach NW zu streichen, und gegen SW einzufallen. Da die Schieferung 
der Schichtung nicht parallel geht, blieb diese Beobachtung bei dem unvollständig aufge- 
schlossenen Terrain unzuverlässig. 1°, Werst weiter bestehen die Uferfelsen wieder aus 
Kalkstein, der, wie der vorige, ein verkieseltes Ansehen hat.”) Bei dem Dorfe Krilassowa, 
an der Südgrenze des Distriktes von Utkinsk, steht ähnlicher Kalkstein an, der nach N 22° 


!) Diese mögen wegen ihres Reichthums an wilden | nach dem Flusslauf gemacht, ohne Berücksichtigung 
Enten vou den Einwohnern Utka genannt worden sein. | der wirklichen Distancen, welche die angeführten Lo- 
2) Alle Angaben von Entfernungen, sind wie oben, | calitäten von einander trennen. 


24 M. v. GRÜNEWALDT, 


О streicht, und steil gegen О 22° S einfällt. Der Medwedjewsky Kamen, ein Felsen 2 
Werst unterhalb des Dorfes, besteht aus dunklem Kieselschiefer, wie die meisten Stein- 
blöcke, welche oberhalb desselben im Flusse liegen. 2Werst oberhalb einer Stelle, auf der 
früher ein Dorf Namens Tscherkow gestanden haben soll, steht am rechten Ufer ein Quar- 
zitfelsen an. Dieses Gestein gehört zu dem nach N etwas О gerichteten Zuge quarzreicher 
Sandsteine, welche in verschiedenen Steinbrüchen nördlich und südlich von hier gebrochen 
und zum Hüttenbedarf benutzt werden. Bei Tscherkow selbst, d.h. der Stelle, die noch ge- 
genwärtig den Namen führt, steht undeutlich geschichteter Kalkstein an, welcher späthige 
Durchschnitte von Crinoideenstielen enthält. Etwas unterhalb streicht dieser Kalkstein nach N 
und fällt mit 30° Neigung gegen O ein. Von hier bis in die Nähe von Utkinsk fuhren wir 
zwischen Kalksteinfelsen hin, in denen wir keine Spuren organischer Reste gefunden ha- 
ben. Die Richtung des Streichens und Einfallens der Schichten bleibt sehr regelmässig die- 
selbe, nur die Neigung wechselt und steigt bis 70°. 

Utkinsky Pristan liegt auf einer langen, schmalen, von О nach W gerichteten Halb- 
insel, welche die Tschussowaja in S} W und N umströmt. In den Kalksteinfelsen dieser 
Landzunge, kurz vor den ersten Häusern des Dorfes fand ich Ueberreste des Productus 
striatus und Prod. hemisphaericus. Somit befand ich mich hier am Westabhange des Ural 
wieder in der Formation des unteren Bergkalkes, welche wir vor einem Monate in Ka- 
mensk verlassen hatten. Bei einer späteren Untersuchung der Felsufer, welche die Halb- 
insel umgeben, ergab sich, dass diese von einer antiklinen nach N 25° О gerichteten Er- 
hebungslinie durchsetzt wird. Die Schichten des Bergkalkes fallen beiderseits nach W 25° 
N und nach О 25° S mit einer Neigung von 55°—70° ein. Der Querschnitt dieser Falte 
ist besonders schön an dem Südufer der Halbinsel, bei der Kirche des Dorfes entblösst, 
und wurde von mir am gegenüberliegenden Nordufer wiedergefunden. Die inneren, also 
tiefer liegenden Schichten dieser dachförmigen Erhebung sind mit Productus-Arten er- 
füllt, während die äusseren, welche sie beiderseits symmetrisch bedecken, ganz aus Stiel- 
gliedern von Crinoideen bestehen. Es sind vollständige Crinoideenbänke, wie wir sie spä- 
ter in ähnlicher Lagerung bei Saraninsk an der Ufa wiedergefunden haben. Da auch die im 
Utkinsker Bezirke gesammelten Versteinerungen mit der Ausbeute dieses Jahres verloren 
gegangen sind, müssen wir uns mit diesen Angaben begnügen. 

Bei dem Tempelchen, welches unterhalb des Dorfes auf einem Felsen errichtet ist, beob- 
achteten wir nordwestliches Streichen mit nordöstlichem Einfallen. Drei Werst vor der 
grossen Sägemühle beim Dorfe Kamenka sieht man an den Felswänden dünn geschichteten 
Kalkstein, der wellenförmige Krümmungen zeigt. An der Stauung des Flüsschens Ka- 
menka streicht der Bergkalk N 20° W und fällt mit 80° Neigung nach O 20° N ein. Hier 
ist er reich an Versteinerungen, von denen wir einige Arten an Ort und Stelle erkannten, 
ohne jedoch Notizen darüber in unseren Tagebüchern gemacht zu haben. Wir erinnern 
uns des Spirifer glaber Mart., so wie mehrerer Arten von Spirifer, Productus, Chonetes und 
Orthis. Die Localität ist anderen Sammlern empfohlen. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 25 


17, Werst vor Nijnaja streicht der Kalkstein nach NW und fällt mit 45° Neigung 
nach NO ein. Ebenso bei Nijnaja selbst, wo der Bergkalk Arten von Productus und Spirifer 
enthält. Dem Dorfe gegenüber stehen die Schichten bei demselben Streichen vertical, 
während sie weiter unterhalb mit 45° Neigung nach S einschiessen. 4 Werst unterhalb 
Nijnaja enthält der Bergkalk Durchschnitte grosser Productus-Arten. Hier streicht er 
wieder nach N 20° O und fällt mit 46° Neigung nach W 20° N ein. 2 Werst oberhalb 
des Dorfes Treki wird das Streichen W 25°N, das Einfallen S 25°W, und unmittelbar vor 
demselben ersteres N 25°W, letzteres О 25° N mit 72° Neigung. An dem schmalen Kalk- 
steinrücken, welcher das Thal der Treka von dem der Tschussowaja scheidet, streichen die 
Schichten wieder abweichend nach О 10° N, und fallen nach $ 10° O ein. Unterhalb 
Treki beginnt am linken Ufer der sogenannte Sibirsky Uwal, ein Bergkalkrücken, der das 
Thal der Sibirka von dem der Tschussowaja scheidet. Der Hauptstrom verlässt diesen 
Rücken öfter und prallt an andere Felswände an, bis er ihn an der Einmündung der Si- 
birka wieder trifft. Am Anfange dieses Rückens schiessen die Bergkalkschichten nach SO 
mit 55° Neigung ein. 3 Werst unterhalb Treki trafen wir in demselben eine Einlagerung 
von Schieferthon, welcher durch kohlige Substanzen schwarz gefärbt ist und undeutliche 
Pflanzenabdrücke enthält. Er streicht nach N bis NW und fällt gegen О bis NO mit 45° 
Neigung ein. Diese Schiefereinlagerung ist von geringer Mächtigkeit, im Hangenden und 
Liegenden von Bergkalk eingeschlossen, und von einzelnen Kalksteinschichten unterbro- 
chen, die, wie der angrenzende Kalkstein, Productus giganteus enthalten. Diese Einlage- 
rung gehört daher, wie die analogen Schichten von Kamensk, der unteren Etage des 
Bergkalkes an. Das Streichen und Einfallen ist weiterhin unregelmässig, ersteres aber 
vorwaltend NO, letzteres SO. An der Einmündung der Sibirka stehen die Schichten ver- 
tical. Eine dieser senkrechten Kalksteinschichten ist in der Höhe des Felsens isolirt stehen 
geblieben und ragt aus der Wand, wie ein einfaches Blatt Papier, weit in die freie Luft 
hinaus. Unmittelbar unterhalb der Einmündung der Sibirka ist die vom Wasser abge- 
schliffene Felswand des rechten Tschussowaja-Ufers mit Durchschnitten grosser Productus- 
Arten erfüllt. Sie zeigt, so weit sie vom Strome bespült wird, schöne Riesentöpfe, und ist 
an ihren Abhängen von Wasserrinnen gefurcht, welche uns an die sogenannten Karrenfelder 
im Kalksteine der Salzburger Alpen erinnerten. Auch hier stehen die Schichten vertical, 
streichen nach NW und fallen unmittelbar unterhalb steil nach NO ein. Nahe unterhalb 
der Sibirka fällt die Sopronicha in die Tschussowaja, ein Flüsschen, das die Nordwest- 
grenze des Utkinsker Revieres bildet. Von diesem Grenzfluss abwärts hält das nordwest- 
liche Streichen so wie das Einfallen nach NO, auf einer Entfernung von etwa 2, Werst 
regelmässig in den hohen, steilen Kalksteinfelsen an. Darauf fliesst der Fluss 1'/, Werst 
zwischen flachen Ufern hin, worauf er wieder von hohen Felsen mit stark verbogenen 
Kalksteinschichten eingefasst wird. 

7 Werst vor dem Dorfe Kurji (zu Lande 3) steht am rechten Ufer ein isolirter Fel- 
sen an, der aus gemischten Schichten von Kalkstein, hartem Sandstein und Schiefer be- 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Serie. 4 


26 M. v. GRÜNEWALDT, 


steht. Auch der Sandstein zeigt Schieferung quer über seine Schichtflächen. Etwas weiter 
unterhalb bilden diese Schichten am linken Ufer eine zusammenhängende Bergwand. 

4 Werst von Kurji folgen wieder hohe Kalksteinfelsen, deren Schichten nach W 25° 
N streichen und gegen S 25° W einfallen. Sie halten von hier bis Kurji am Flussufer an 
und bilden eigenthümliche Formen, die zum Theil durch sehr ungewöhnliche Schichten- 
brüche bedingt sind. Vor dem Dorfe streichen sie wieder nach NW und fallen mit 70° 
Neigung nach SW ein. 


Die Strecke, welche die Tschussowaja von Bilimbajewsk bis Kurji durchströmt, ist 
besonders deshalb interessant, weil sie einen Durchschnitt der Schichten von den krystal- 
linischen Schiefern, welche die Axe des Gebirges bilden, bis tief in die Region des Berg- 
kalkes giebt. Es ist bemerkenswerth, dass hier weder die mächtige Zone dunkler Thon- 
schiefer, noch die rothen Schiefer mit Zwischenlagen grünlichen Sandsteins auftreten, 
welche bei Oslansky Pristan an der unteren Tschussowaja, so wie an den Ufern der Sere- 
bränka und Silviza auf weite Strecken entwickelt sind, und dort von Kalkstein mit devo- 
nischen Versteinerungen überlagert werden. Ebenso scheint die mächtige Kalksteinzone 
der obersilurischen Periode zu fehlen, die der Ai von der Einmündung der Arscha (in der 
Nähe von Kussa) an, bis weit unterhalb Satkinsky Pristan durchschneidet. Wenn ein Theil 
dieser Ablagerungen, ohne dass es uns geglückt ist sie durch organische Reste nachzu- 
weisen, durch die sporadischen Thonschiefer, die dunklen Kalksteine und quarzreichen 
Schichten zwischen Bilimbajewsk und Tscherkow repräsentirt sind, so treten sie hier jeden- 
falls mit petrographisch abweichenden Charakteren auf und bedecken einen geringeren 
Flächenraum, als in den genannten Gegenden. 

Der Kalkstein zwischen Tscherkow und Utkinsk bleibt ebenfalls unbestimmt. Er ge- 
hört vielleicht in die Reihe mächtig entwickelter Kalksteine, welche an der unteren 
Tschussowaja zwischen Schichten mit devonischen Versteinerungen und dem unteren 
Bergkalk anstehen, und ebenfalls arm an organischen Resten sind. 

Der Bergkalk ist an diesem Theil der Tschussowaja, wie trotz der verloren gegange- 
nen Sammlungen ersichtlich, in mehr Etagen repräsentirt, als es am gegenüberliegenden 
Ostabhange der Gebirgskette, im Reviere von Kamensk der Fall zu sein scheint. Darauf 
weisen die Crinoideenbänke bei Utkinsk, so wie die artenreicheren Kalksteine bei den 
Dörfern Kamenka und Nijnaja. Der untere Bergkalk scheint indessen auch hier vorzuwalten. 
Er enthält bei Treki ebenso wie im Distrikt von Kamensk Schiefer, welche Pflanzenreste 
führen, und von Kohle schwarz gefärbt sind. Die Sandsteine und Schiefer oberhalb Kurji 
dürften einer mächtigeren Ablagerung angehören, welche am Flussufer nur theilweise auf- 
geschlossen ist. » 

Obgleich im Distrikt von Utkinsk keine Massengesteine zu Tage treten, zeigt sich die 
Schichtung des Bergkalkes kaum minder gestört als im Revier von Kamensk. Das Strei- 


BEITRÄGE zuR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 2 


chen und Einfallen wechselt so häufig, dass vorherrschende Richtungen mit Vorsicht an- 
zudeuten sind. Dennoch ergiebt eine Zusammenstellung unserer Notizen, dass die Strei- 
chungslinie viel mehr um die Richtung des Meridianes, als um die der Breiten schwankt. 


Ebenso ist die Schichtenneigung häufiger und anhaltender nach O gegen das Gebirge ge- 
richtet als nach W. 


Sedimente in der Berghauptmannschaft Slatoust. 1836. 


Distrikt von Artinsk. Dieser Distrikt, bekannt durch die Cephalopoden des Koh- 
lensandsteins, oder milstone дги, welcher den Bergkalk in England überlagert, wird in seiner 
ganzen Breite von der Ufa durchströmt. Gen. Hofmann ordnete daher eine Excursion 
an, die uns von Artinsk durch den südlichen, unbewaldeten Theil des Revieres nach dem 
Baschkirendorfe Schigiri an die Ufa, und von dort zu Wasser den Strom hinunter bis in 
die Nähe des Hauptortes zurückführte. Artinsk selbst liegt an der Artja, einem südlichen 
Nebenflusse der Ufa. Diese Excursion hat uns nicht über die Grenzen der Formation des 
Kohlensandsteins hinaus geführt, und liefert daher nur einen Beitrag zur Kenntniss dieser 
in der geognostischen Litteratur des Ural häufig beschriebenen Schichten. 

Unser Weg führte uns über das Tscheremissendorf Pantelejew, wo wir an einen 
Steinbruch geleitet wurden, der in feinkörnigem, grauem bis grünlichem und bräunlichem, 
nicht sehr hartem Sandstein angelegt ist, welcher mit Säure braust. Wie alle weicheren Ge- 
steine zerfällt erin kleine Brocken, welche an den Abhängen der aus denselben bestehenden 
Anhöhen umherliegen. Calamitenreste, so wie jene rundlichen Körper vegetabilischen Ur- 
sprungs, welche Murchison für fossile Früchte hält, sind häufige Einschlüsse des Sandsteins. 
Ausserdem kommen harte Concretionen darin vor. Von dort gelangten wir über Stari Ar- 
tinsk nach dem Dorfe Sennaja, an dem Flüsschen gleichen Namens. Hier wird ein ähnli- 
cher Sandstein gebrochen wie bei Pantelejew. Es fand sich darin ein Bruchstück des Go- 
matites Jossaë M. У. К. An beiden Orten liegt der Sandstein durchaus horizontal. Wir setzten 
unsere Fahrt über Werch-Artinsk fort. Bei Potaschinsk, an der Brücke über die Artja 
steht ein bläulicher, bröckeliger Sandstein an. In einem Haufen als Baumaterial angeführ- 
ten Sandsteins von der Beschaffenheit des Gesteins bei Sennaja fand sich ein anderes 
Bruchstück des Goniatites Jossae. Zwischen Potaschinsk und Arabeschewo, wo wieder 
Sandstein mit Calamitenresten ansteht, fährt man über steppenartige Flächen, auf denen 
kein Gestein zu beobachten ist. Nur 25 Werst von Potaschinsk, an einer Stelle, die in 
diesen welligen Grasflächen unmöglich näher zu bezeichnen ist, fanden wir am Wege ein- 
zelne Stücke eines weissen, leicht brechenden Kalksteins, von denen sich nicht mit Si- 
cherheit bestimmen lässt, ob sie aus dem Boden stammen, auf dem wir sie auflasen. In 
einem dieser Stücke fanden wir schöne Exemplare eines Spirifer, der einer neuen Art an- 
gehört, und den wir Spirifer conularis genannt haben. Er kommt mit einem kleinen Productus 


* 


28 М. у. GRÔÜNEWALDT, 


aus der Gruppe der semireticulati zusammen vor, und ist daher ohne Zweifel еше Form des 
Bergkalkes, welcher in dieser Gegend bei Michailowsky Sawod ansteht. 

Bei Schigiri ist der Boden am linken Ufer der Ufa in einer bedeutenden Felsent- 
blössung aufgeschlossen. Zu oberst liegt fester Sandstein von bräunlicher Farbe, in dem 
grosse, kugelförmige Concretionen enthalten sind, die eine concentrisch schalige Structur 
haben. Der Sandstein geht durch gröberes Korn in Conglomerat über, welches an dieser Stelle 
besonders in seinem Liegenden entwickelt ist. Es besteht aus Geschieben verschiedenartig 
gefärbter, meist dunkler Quarz-Gesteine, die mit Sandstein verkittet sind. Diese Schichten 
liegen hier nicht horizontal, sondern streichen nach N, und schiessen mit einer Neigung 
von 20°—25° gegen О ein. — Die Baschkiren veranlassten uns zu einem Ritte nach dem 
Flüsschen Barandasch, 6—8 Werst inS von Schigiri, an dem nach Erzen geschurft worden 
sein sollte. Wir fanden nur eine kleine Grube, aus der einige Stücke des «pfefferfarbigen» 
Sandsteins ausgeworfen worden waren. 

Die Ufer der Ufa bilden steile, schön bewachsene Abhänge, welche häufig Entblössun- 
gen der Formation des Kohlensandsteins zeigen, wie wir sie bei Schigiri beschrieben ha- 
ben., So am rechten Ufer, unterhalb der Einmündung des Flüsschens Kutalga, wo diese 
Schichten sanft nach O, wie bei Schigiri einschiessen. Gleich darauf stellt sich zuerst ein 
sanftes und dann ein steileres Einfallen nach W ein. Es geht hier eine antikline, nach 
N gerichtete Erhebungslinie durch, deren Axe den Strom schneidet, ehe er die grosse 
Biegung nach N macht. Das Gestein ist vorwaltend Conglomerat, welches von Sand- 
stein überlagert wird. Bei Kursik fallen die Schichten beinahe nach NW ein. Auch 
hier liegt das Conglomerat zu unterst. — Wir erhielten an diesem Ort Backenzähne des 
Elephas primigenius, die ein Bauer in der Umgegend gefunden hatte; ein Beweis, dass die 
dem Kohlensandstein aufgelagerten Anschwemmungen zum Theil der Diluvialperiode an- 
gehören. Wir erwähnen bei dieser Gelegenheit, dass derartige Bildungen im Distrikt von 
Artinsk auf Goldgehalt untersucht worden sind, und auf 100 Pud 10 Doli jenes Metalls 
enthalten sollen. ') 4 Werst unterhalb Kursik fallen die Schichten sanft nach SW. Hier 
schiesst der Sandstein unter das Conglomerat ein, ein Zeichen dass beide, nur durch die 
Grösse der Geschiebe unterschiedene Gebirgsarten keine bestimmte Lage gegen ein- 
ander behaupten. Beim Gorschni Kamen (Kala-tasch der Baschkiren) wechsellagert Con- 
glomerat mit Sandstein. Hier finden sich im ersteren Kalksteingeschiebe, welche ihre 
Abstammung aus dem unteren Bergkalke dadurch documentiren, dass sie Bruchstücke 
des Productus striatus enthalten. Diese Schichten zeigen nur noch ein unmerkliches Einfal- 
len nach SW. Erst unterhalb der Einmündung des Flüsschens Baskisch liegen die Schich- 
ten des Sandsteins ganz horizontal, und von hier aus abwärts bleiben die Verhältnisse an 
den Ufern der Ufa unverändert bis zur Einmündung der Artja. 


1) Геогностическое написане девятагс участка дачь Златоустовскихъ, поручика Вагнера. Горный жур- 
налъ 1840. No. 10. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 29 


Der grosse Schleifsteinbruch des Berges Kaschkabasch, den wir am folgenden Tage 
besuchten, ist durch die Schilderung in der Geol. of Russia hinreichend bekannt. Wir sa- 
hen ausschliesslich Sandstein von grauer, gelblicher und grünlicher Farbe, mit sehr unter- 
geordneten Lagen von Schieferthon. Die härtesten Schichten des Sandsteins vom feinsten 
Korne werden zum Schleifen gebrochen, und unter diesen werden noch gröbere und fei- 
nere Schleifsteine unterschieden, welche den Bedarf der Sensenfabrik von Artinsk, so wie 
den der grossen Klingenfabrik von Slatoust decken. Die Cephalopoden kommen vorzugs- 
weise in diesen harten Schichten vor, sind jedoch so selten, dass der Verwalter von Ar- 
tinsk nur hin und wieder ein Exemplar erhält, obgleich zahlreiche Arbeiter den ganzen 
Tag über im Steinbruch beschäftigt werden, und alle Versteinerungen abzuliefern gehalten 
sind. Unter ihnen ist Gonvatites Jossae durchaus das häufigste Fossil und die einzige Art, 
welche wir von dieser Localität mitgebracht haben. Auf der Reise nach Jekaterinburg er- 
hielten wir in Werch-Artinsk mehrere Bruchstücke einer neuen Goniatitenart des Koh- 
lensandsteins, die wir nach dem Fundorte Goniatites Artiensis genannt haben. 

Das durch seine Bergkalkversteinerungen bekannte Hüttenwerk Saraninsk liegt nur 
eine halbe Tagereise in W von Artinsk, und ich machte mich noch denselben Tag dorthin 
auf den Weg, in der Hoffnung meine Sammlungen zu bereichern. Der Weg führt über 
offene, zum Theil bebaute Ebenen, in denen ich keine Auflagerung des Kohlensandsteins 
auf den Bergkalk gesehen habe. Noch ehe man Saraninsk erreicht, bemerkte ich Kalkstein 
auf den Feldern, und beim Eintritt in das Thal der Ufa fallen steile Kalksteinfelsen, 
welche die Ufer des Stromes bilden, sogleich ins Auge. 

Der Verwalter des Ortes liess mich an eine Stelle am Fluss geleiten, wo die Ufa, ein 
Paar Werst oberhalb des Sawods, das Ufer upterwühlt, und die herabgestürzten Felsmassen 
reich an organischen Resten von selten schöner Erhaltung sind. Die oberen Schichten des 
hier wenig geneigten Kalksteins bestehen aus Anhäufungen von Crinoideenstielen, während 
die unteren vorzüglich Productus semireticulatus Мата. enthalten. — Am Nachmittage sam- 
melte ich 3 Werst unterhalb des Sawods, ebenfalls am Ufer des Flusses. Auch hier habe 
ich nur wenig geneigten Kalkstein gesehen. Wir haben von Saraninsk folgende Arten mit- 
gebracht: Spirifer erassus de Kon. Sp. striatus Мата. Sp. fasciger Keys. Sp. Saranae М. Г. К. 
Athyris de Roïssyi. Lev. Camarophoria Schlotheïmii v. Buch. Productus porrectus Кий. Pr. semi- 
reticulatus Hart. Pr. Fleming бош. var. lobatus und das Abdomen einer Phillipsia. Ausser- 
dem gehören mehrere Arten von Bryozoen zu der Ausbeute des einzigen Tages, den wir 
in Saraninsk zubringen konnten. Letztere sind schon früher von Herren Eichwald be- 
stimmt und 1857 in unseren Tabellen angeführt worden. 

Nach Artinsk zurückgekehrt erfuhren wir vom Gen. Hofmann, dass er zwischen 
den beiden Dörfern Berdym und Petuchowsky, auf dem Wege nach Krasno - Ufimsk hori- 
zontal gelagerten Kalkstein und Sandstein an zwei verschiedenen Hügeln nahe von einander 
beobachtet hatte, ohne jedoch eine Auflagerung der beiden Gesteine gesehen zu haben. Bei 
längerem Aufenthalte in dieser Gegend dürfte eine solche hier ausfindig zu machen sein. 


30 М. v. GRÜNEWALDT, 


Sedimente in den Distrikten Slatoust und Miask am Ostabhange der Ge- 
birgskette. — Schon Alexander von Humboldt hat auf die Theilung des Uralrückens 
aufmerksam gemacht, welche an dem Knoten des Jurma beginnt, von wo das Gebirge sich 
nach Süden zu fächerförmig ausbreitet. Gerade an jenem Gebirgsknoten liegt die Nord- 
grenze der Berghauptmannschaft Slatoust. Diese umfasst somit den Theil des Gebirges 
unmittelbar südlich von dem Beginn jener fächerförmigen Ausbreitung, in der wir mehr 
als die drei Züge unterscheiden, von denen die Asie centrale handelt. 

Von dem Jurma, der ein Granaten führender Glimmerschieferrücken ist, ziehen sich 
zwei centrale Bergzüge von gleicher geognostischer Beschaffenheit ziemlich gerade nach 
S. Diese sind: der hohe gezackte Taganai mit seiner südlichen Fortsetzung, dem Urenga 
in W, und das niedrigere, lang gestreckte, in gleicher Höhe ununterbrochen fortlaufende 
Glimmerschieferjoch in О, welches in dieser Gegend vorzugsweise den Namen Ural, d.h. 
Wasserscheide führt.') Diese beiden Glimmerschieferrücken bilden durch ihre geognosti- 
sche Beschaffenheit die südliche Fortsetzung des Jurma. 

Westlich vom Taganai und Urenga liegen die Berge von Kussa und Satka, von de- 
nen letztere, wie der Nurgusch, die beiden centralen Züge zum Theil an Höhe überragen. 
Jene Berge bestehen vorzugsweise aus sedimentären Gebirgsarten. 

Der östlichste Gebirgszug der Theilung ist das Ilmengebirge, welches aus Granit, Gneiss 
und Miaskit besteht, und daher ein granitischer Rücken genannt werden muss. Er ist der 
niedrigste von allen und verliert schon südlich von Miask seinen Charakter als fortlaufen- 
der Gebirgskamm. 

Wir haben in der Nähe von Slatoust, welches am Durchbruch des Ai durch die west- 
liche Centralkette liegt, an der Tesninskaja Gora und der Tsehernaja schiefrigen Kalk- 
stein getroffen, der in Glimmer führenden Marmor übergeht. Diese Gesteine sind eine 
Einlagerung im Glimmerschiefer, und stehen in der unmittelbaren Nähe des Tesninski- 
schen Bergwerkes an, dort wo die Strasse von Slatoust nach Miask bereits zum Ural- 
rücken aufsteigt. ’ 

Schon Gustav Rose bemerkte das Auftreten von Kalkstein an derselben Strasse bei 
der Station Sirostan. Brüche in diesem Kalkstein sind an dem Wege von Sirostan nach 
Turgojak angelegt.*) Er ist von grauer Farbe, unebenem, splittrigem Bruch, und in ein 
grünes, schiefriges Gestein eingelagert, welches Uralit enthält, und durch sein massenhaftes 
Auftreten eine wesentliche Rolle in der geognostischen Zusammensetzung des Miasker 
Distriktes spielt. Bei der Brücke über den Fluss Sirostan, auf demselben Wege, steht 
auch dünnblättriger, grüner Thonschiefer an. Ebenso finden sich Lager von schwarzem 
Thonschiefer, der ein nordwestliches Streichen hat zwischen Turgojak und Kuschtumga. 
Auf dem halben Wege zwischen beiden Dörfern stösst Granit an dieses Gestein, und 5 


1) Der höhere Zug des Taganai und Urenga wird be- 2) Die Verfasser der Geol. of Russia führen an, dass 
kanntlich vom Ai durchbrochen, und hat daher keine | dieser Kalkstein Crinoideenstiele enthält. 
Ansprüche auf diese Bezeichnung. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 31 


Werst vor Kuschtumga grenzt es an grobkörnigen weissen Marmor, auf den noch weiter 
Glimmerschiefer folgt. 

Häufiger als im Gebiete des Glimmerschiefers der Centralketten treten Züge sedi- 
mentärer Gebirgsarten in den eigenthümlichen, zum grossen Theile geschichteten krystal- 
linischen Gesteinen auf, welche zwischen dem Ilmengebirge und dem Ural im engeren Sinne 
dort am massenhaftesten entwickelt sind, wo diese beiden Rücken sich nach S immer mehr 
von einander entfernen. Diese Gesteine wechseln mit Granit, Grünsteinporphyren und 
Serpentin. Sie müssen metamorphische genannt werden, weil ihr petrographischer Charak- 
ter durchaus den Stempel von Veränderungen trägt, welche nach ihrer Ablagerung mit ihnen 
vorgegangen sind. Es ist dieses das Terrain der berühmten Goldwäschen von Miask, be- 
reits bekannt durch die gründlichen Arbeiten von Gustav Rose sowohl, als auch durch 
die Schilderungen der Verfasser der Geol. of Russia. Wir wollen so kurz und übersicht- 
lich wie möglich die Localitäten anführen, an denen wir innerhalb dieses Gebietes sedi- 
mentäre Bildungen unzweifelhaften Ursprungs angetroffen haben. 

Auf der Strasse von Slatoust nach Miask, 47, Werst vor diesem Orte, steht regel- 
mässig geschichteter Kalkstein von weisser Farbe mit Serpentin und Uralit führenden 
Schiefern an. Er streicht nach NW, fällt gegen SW ein und bildet eine schmale Zone, die 
nur auf einer Strecke von beiläufig 200 Gängen am Wege sichtbar ist. — An dem linken 
Ufer des Hüttenteiches von Miask, am Südwestende des Sawods, tritt im Glimmerschiefer 
Thonschiefer auf, der nach N 20° W streicht und steil aufgerichtet ist. Weiterhin, wenn 
man den Weg verfolgt, der von dort zur Tschernoretschinskischen Goldwäsche führt, 
stösst man auf chloritische Gesteine, geschichteten? Serpentin und endlich auf einen ver- 
änderten Kalkstein, welcher schwach mit Säure braust und violett und grün gefärbte Substan- 
zen enthält, die näher zu untersuchen sind. Er geht in reinen, geschichteten Kalkstein 
über, der streng nach N streicht und hier ganz von Serpentin eingeschlossen ist, welcher ihn 
auch auf der entgegengesetzten Seite begrenzt. Darauf folgt Porphyr am See. — Bei den 
verlassenen Goldgruben, an die man auf demselben Wege jenseits der Tschernoretschens- 
kischen Wäsche gelangt, geht der Uralit führende grüne Schiefer in Thonschiefer von ähn- 
licher Färbung über, der nach N 25° O streicht und beim Anschlagen in dünne Blätter 
zerfällt. 

Wenn man aus dem Sawod von Miask nach dem Dorfe Tschernaja hinausfährt, stösst 
man auf senkrecht stehenden schwarzen Thonschiefer, der nach N streicht und mit dem 
grünen Uralitschiefer in Contact ist. 

Auf dem Wege von Miask nach Werchni Miask, 11 Werst von ersterem Orte, bildet 
knolliger Kalkstein, der nach N 20° O streicht, niedrige Rücken. Es glückte uns nicht 
Versteinerungen darin zu finden. Dagegen haben die Verfasser der Geol. of Russia Cri- 
noideenstiele in dem Kalkstein bei Werchni Miask selbst gesehen, der nach NW streicht. 
Zwischen diesen beiden Punkten trafen wir chloritische Schiefer und Serpentin. 


32 M. v. GRÜNEWALDT, 


Auf einer späteren Fahrt lernten wir die Kalksteine bei der Goldwäsche Zarewo- 
Alexandrowsk kennen, welche durch das Vorkommen der grossen Goldklumpen berühmt ist. 
Diese Localität ist ausführlich von G. Rose beschrieben worden. Von Zarewo-Alexan- 
drowsk bis an den Miass hält unausgesetzt der grüne, Uralit führende Schiefer an, und 
wechselt jenseits Zarewo-Nikolajewsk mehrere Male mit Serpentin. Am Fluss kommt man 
an den oben erwähnten knolligen Kalkstein, welcher von hier bis in die Nähe von Tschernaja 
am Wege ansteht und auch häufig eine feinschiefrige, beinahe fasrige Structur zeigt. 

Auf den Fahrten, welche wir im südlichen Theile des Distriktes von Muldakajewa aus 
unternahmen, haben wir an mehreren Punkten sedimentäre Gesteine gesehen, deren pe- 
trographischer Charakter wenig verändert ist. — Beim Swätoi-Iwanowski Priisk kommt 
dünnblättriger, grüner Thonschiefer, der nach N 20° O streicht und steil gegen О 20° S 
einfällt, mit Serpentin und feinkörnigem Grünstein vor, während die Ufer des Flusses 
Ubali in der Nähe aus Kalkstein bestehen, welcher von späthigen Adern durchschwärmt ist. 
Vom Ala-Kull See bis an den nordöstlichen Fuss des Berges Auschkull zieht sich eine 
Zone weissen, geschichteten Kalksteins hin, der nach N 20° O streicht und steil aufge- 
richtet ist. Zwischen der Porphyrkuppe des Auschkull und dem See gleichen Namens, so 
wie an der nahe liegenden Goldwäsche, steht ebenfalls Kalkstein an, der bei letzierer 
nach NO streicht.') In dem Berge selbst, welcher nach Rose aus Dioritporphyr besteht, fan- 
den wir an einer Stelle auch anstehenden Granit, so wie Jaspisartige Gesteine nahe dem 
Gipfel. Letztere verdanken vielleichtihren Ursprung dem bei der Eruption mit emporgerisse- 
nen Kalkstein? In der ganzen Umgegend sind Uralit führende Schiefer, Porphyr und Ser- 
pentin die vorherrschenden Gesteine. Letzterer bildet den langen, schroffen Rücken des 
Narali, welcher durch seine dachförmige Gestalt das Auge fesselt. 

Auf dem Wege von Muldakajewa nach Scharipowa, dort wo er über den Ausfluss des 
Auschkull See’s führt, beim Kasal-Tasch der Baschkiren, gelangt man aus Porphyr in 
Kalkstein, welcher am Fluss niedrige Felsen bildet. Zwischen diesem Punkt und dem Ui 
wechseln die grünen Schieier mit Serpentin und Diorit? Das Dorf Scharipowa liegt auf 
Kalkstein. An dem Wege, der von hier nach dem Ui-Tasch führt, welchen wir erstiegen, 
streicht der Kalkstein nach N. Er hat eine dünnschiefrige bis fasrige Struktur und auf 
den Bruchflächen einen seidenartigen Glanz. 

Diese breite Zone von eruptiven Massen durchbrochener metamorphischer Gesteine, 
in die hin und wieder Kalkstein und Thonschiefer eingelagert sind, wird in W von den 
Talk- und Glimmerschieferrücken des Ui-Tasch, Siratur und des mittleren und kleinen 
Jremel begrenzt, deren Gipfel aus Quarzfels bestehen. — Wir haben in diesen Gesteinen 
nirgends organische Reste gefunden, und nur bei der Goldwäsche von Werchni-Miask 
sind Spuren davon im Kalkstein beobachtet worden. 


!) Dieser Kalkstein soll bei der Goldwäsche von Granit durchsetzt werden; es glückte uns jedoch nicht die 
Stelle aufzufinden. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 33 


Im Süden dieser Gegenden und weiter nach Ost aus der Streichungslinie der eben 
betrachteten Sedimente herausgerückt, liegt еше Goldwäsche an der Schartimka, einem 
südlichen Zuflusse des Ui. Sie ist unter dem Namen Kosatschi-Datschi durch die Verfasser 
der Geol. of Russia als der reichste Fundort für Bergkalkversteinerungen im Ural bekannt 
geworden. Diese Geologen geben eine Schilderung jener Localität, deren hohe Bedeutung 
für die richtige Beurtheilung der sedimentären Bildungen im Distrikte von Miask sie zu- 
erst erkannt haben. Es findet sich hier in ähnlichen metamorphischen Gesteinen, wie die 
welche im Distrikte von Miask entwickelt sind, Kalkstein mit Bergkalkversteinerungen. 
Die Lagerung ist dieselbe wie die der Kalksteine, welche näher zur Axe des Gebirges 
meist fein zerklüftete Massen bilden, und häufig eine fasrige Structur so wie Seidenglanz 
auf ihren Spaltungsflächen angenommen haben. 

Mein erster Ausflug von Poläkowa aus an die Schartimka missglückte durch so 
heftiges und anhaltendes Regenwetter, dass ich gar keine Beobachtungen anstellen konnte. 
Auf einer zweiten Excursion von demselben Dorfe aus traf ich bei Tungatarowa, an der 

rasse nach Werch Uralsk, einen schönen Porphyr, in 6seitige Säulen regelmässig abge- 
sondert. Es ist dasselbe Gestein, welches den Auschkull und die Kruglaja Sopka bildet 
und von Rose Dioritporphyr genannt worden ist. Zwischen den Dörfern Tungatarowa und 
Bolschaja Mainikowa streicht dünnschiefriger grüner Thonschiefer nach N 20° O und 
wird von eruptiven Gesteinen durchbrochen. Zwischen letzterem Dorfe und Mandsu- 
rowa ist dasselbe Gestein sehr hart und verkieselt. Man erkennt darin körnige Aus- 
scheidungen von Quarz. Wo es weniger hart ist, geht es in einen grünen Schiefer 
über, der dem Uralit führenden im Distrikte von Miask gleicht; ohne dass wir jedoch auf 
unserer flüchtigen Fahrt Krystalle dieses Minerals darin beobachtet hätten. Das Streichen 
ist wie oben, das Einfallen gegen W 20° N. Bevor man an den Abweg gelangt, der an 
die Schartimka führt, erscheinen an einer Quelle roth und grün gefärbte kieselige Ge- 
steine. Auf einer Höhe, welche schon zur linken Thalwand der Schartimka gehört, finden 
sich wieder grüne Schiefer mit Quarzkörnern. Dicht dabei stehen Schichten derben weissen 
Quarzes an. Bei demselben Streichen und Einfallen wie oben gesellt sich in der Nähe der 
Goldwäsche ein Conglomerat zu diesen Gesteinen, welches in einem harten, grünen Binde- 
mittel Geschiebe gefärbten Quarzes enthält. 

Das Thal der Schartimka ist im Verhältniss zur Gebirgskette ein Längenthal, liegt 
aber schon weit ab nach О in den waldlosen, mit Gras bewachsenen, niedrigen Höhenzü- 
gen, welche den Uebergang des Gebirges in die asiatische Steppe vermitteln. Der Boden 
des Thales wird von den oben beschriebenen Gesteinen gebildet, zwischen die eine 
Kalksteinzone eingelagert ist, welche nur bei der Goldwäsche selbst Versteinerungen ent- 
hält. —An der Furth durch die Schartimka trifft man zuerst den Kalkstein, und zwar un- 
mittelbar im Liegenden der beschriebenen grünen Schiefer. Beide Gesteine streichen nach 
N 25° O und fallen nach W 25° N ein. Der Weg führt von NW auf die Goldwäsche zu, 
geht also in der Richtung vom Hangenden in’s Liegende der ganzen Schichtenreihe, welche 

Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VIle Serie. 5 


34 Му. GRONEWALDT, 


im Allgemeinen die herrschende Lagerung theilt. Nur der Kalkstein ist, da wo er die 
Versteinerungen führt, so wie an einigen anderen Punkten in der nächsten Umgebung der 
Goldwäsche unregelmässig gelagert. — Der Weg, welcher von der Goldwäsche nach 
Agir führt, durchschneidet die wenig aufgeschlossenen Gesteine im Liegenden des Kalk- 
steins. Wir fanden an diesem Wege Conglomerat, welchesähnlich gelagert ist wie die Gesteine 
im Hangenden. Es streicht nach N, fällt nach W ein und bildet kleine Erhöhungen am 
Boden des Thales. Die Farbe des Bindemittels ist hier grau. — Noch ist zu bemerken, 
dass oberhalb der Goldwäsche im Hangenden des Kalksteins, dicht am Fluss und in der Nähe 
einer kleinen Wasserleitung grauer und rother Thonschiefer ansteht, der nach N streicht. 

Der goldhaltige Sand, welcher am Ufer des Flüsschens gegraben wird, ist reich an 
Schutt der beschriebenen, in der Umgegend anstehenden Gesteine. 

Die rechte Wand des breiten Thales wird zum Theil von der Schartimskaja Gora, 
der bedeutendsten Höhe in der Umgebung der Goldwäsche gebildet. Bei der Besteigung 
dieses Berges trafen wir unweit vom Fusse desselben noch Kalkstein, jedoch ohne Ver- 
steinerungen. Der Berg selbst besteht weiterhin an der Seite, von der уг Ша bestiegen, 
aus einem ähnlichen Jaspisartigen Gesteine, wie ein Theil des Gipfels des Auschkull. Die 
Schichten desselben stehen auf den Köpfen, und streichen nach N 25° O in der vorherr- 
schenden Richtung der ganzen Umgegend. Der Gipfel, auf dem wir diese Beobachtung an- 
stellten, mag gegen 3 Werst von der Goldwäsche entfernt Sein, liegt aber ungefähr in der 
Streichungslinie des Kalksteins. Nach Lagerung, Farbe und Bruch ist man unwillkür- 
lich versucht, dieses Jaspisartige Gestein für veränderten Kalkstein zu halten. — In die- 
sen Gegenden, wo dieselben Schichten auf weite Strecken hin in dem offenen, bergigen 
Steppenboden entblösst sind, würde eine sorgfältige Untersuchung der petrographischen 
Beschaffenheit derselben an verschiedenen Punkten ihrer Erstreckung vorzüglich dazu ge- 
eignet sein, einiges Licht auf die Erscheinungen des Metamorphismus zu werfen. — Dem 
Reisenden, der einer solchen Localität kaum einen Tag widmen kann, ist die Verfolgung 
derartiger Aufgaben versagt. Er muss sich auf Andeutungen beschränken, welche keinen an- 
deren Werth haben, als die Aufmerksamkeit späterer Forscher auf gewisse Punkte zu richten. 

Zu 56 Arten des Bergkalkes, die wir 1857 in unseren Uebersichtslisten uralischer 
Versteinerungen von der Schartimka angeführt haben, fügen wir folgende 15 hinzu, 
welche wir mit vielen anderen daselbst sammelten: Spirifer Mosquensis Fischer. Sp. dupliei- 
costa Phill. Sp. lineatus Мага. Sp. indeterminatus. Athyris paradoxa М Coy. Productus undatus 
Defr. Pr. Flemingüi бош. Pr. tesselatus? Phill. Aviculopecten granosus Sow. Aviculopecten? 
mactatus de Kon. Aviculopecten? indeterminatus. Orthoceratites ovalis Phill. Orthoceratites cala- 
mus de Kon. Gyroceras Uralicus п. sp. Phillipsia Derbyensis Мата. 

Da wir an allen anderen Punkten im Distrikte von Miask nur flüchtige Nachforschungen 
nach organischen Resten anstellen konnten, so ist es nicht unmöglich, dass sich auch in jenen 
Ablagerungen mit der Zeit hinreichende Documente über ihr relatives Alter finden wer- 
den. Jedenfalls ist es mehr als wahrscheinlich, dass noch zur Zeit der Kohlenperiode Gold 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 35 


führende Massengesteine die Sedimente aufgerichtet haben, und dass diese Vorgänge wäh- 
rend der ganzen Dauer der älteren palaeozoischen Zeit im Ural anhielten. Durch münd- 
liche Mittheilung erfuhren wir, dass viele Goldsande in noch östlicheren Gegenden auf 
Kalkstein abgelagert sind, und wie an der Schartimka aus dem Schutt der Gesteine beste- 
hen, die ihn begleiten. 

Sedimente in den Distrikten von Kussa und Satka am Westabhange der 
Gebirgskette. Rückkehr über Wesselowsk nach Slatoust. — Auf der Strasse 
von Slatoust nach Kussa stiessen wir zwischen der Ueberfahrt über den Ai und dem 
Dorfe Medwedjewa zuerst auf Kaikstein, der mit Chloritschiefer auftritt, und fuhren von 
diesem Dorfe bis in die Nähe von Kussa meist über reinen Quarzfels. 2 Werst vor Kussa 
betritt man eine ausgedehnte Zone von Kalkstein, in den Thonschiefer und Quarzfels ein- 
gelagert sind. In diesen Kalksteinen kommen grüngebänderte Varietäten vor, welche in 
Slatoust zu Messerstielen verschliffen werden. — Der Kalksteinberg, welcher die linke 
Thalwand der Kussa bildet hat einen Gipfel von Quarzfels. Seine Schichten streichen nach 
NO, fallen gegen SO ein und sind von Grünstein (Diorit?) durchbrochen, der indessen we- 
nig zu Tage tritt. Bei einem Steinbruch, der im Sawod selbst an einem Wege angelegt 
ist, welcher am Ufer der Kussa hinführt, beträgt die Schichtenneigung 25°. Der Kalkstein 
enthält hier zahlreiche Quarzkörner und braust nur schwach mit Säure. 

Auf dem Wege von Kussa nach der Achmatowschen Mineraliengrube fährt man bei 
den letzten Häusern des Sawods über geschichtete Quarzgesteine, die öfter mit Kalkstein 
wechseln. 7 Werst vom Sawod steht quarzreicher Sandstein und 8 Werst davon schiefriger 
(Quarz an. Die Lipowaja Сота dagegen besteht aus dunklem Thonschiefer, der näher zum 
Gipfel Chlorit aufnimmt, auf dem Kamm nach О 20° N streicht und gegen S 20° О einfällt. 

Auf dem Wege von Kussa zur Achteschen Eisengrube fährt man И Werst in grau- 
blauem Kalkstein und gelangt auf der dritten Werst in Quarz. Darauf folgen Gesteine wel- 
che Kalkspath enthalten und auf der 6ten Werst dunkelgrauer, feingebänderter Kalkstein. 
Dieser hält bis zur 9ten Werst an, worauf schwarzer Thonschiefer mit quarzreichem Sand- 
stein wechsellagert und dann wieder Kalkstein folgt. 17, Werst vor der Grube betritt man 
das Gebiet des Glimmerschiefers. Die Grube selbst ist ein Tagebau auf Brauneisenstein, 
der in Thonschiefer der krystallinischen Zone eingelagert ist, welche wir von hier bis zum 
Jurma durchschnitten haben. Das Erzlager streicht mit dem Schiefer nach N 10° O, fällt 
gegen О 10°S ein und wird durch taube Schieferlagen getheilt. Von diesem Punkte bis zu 
den sumpfigen Abhängen des Jurma sind Hornblende und Glimmerschiefer die vorwalten- 
den Gesteine. . 

Auf dem Wege von Kussa nach dem Kossiganskischen Bergwerke durchschneidet 
man bis zur 3ten Werst die Kalksteinschichten, auf denen der Sawod liegt. Sie enthalten 
auf dieser Strecke häufig Schwefelkies. Darauf folgt eisenschüssiger, auf seinen Kluftflächen 
dendritischer Thonschiefer.. Der Berg Jugatan, auf der 4ten Werst, ist ein Quarzrücken. 


* 


36 M. v. GRÜNEWALDT, 


Dieses Gestein hält bis zur Grube, ebenfalls einem Tagebau auf Brauneisenstein, an. Das 
Erz liegt in einem weichen, weissen Thone, der aus zersetztem Thonschiefer entstanden ist. 

Mehr Aufschluss über die geognostische Beschaffenheit dieser Gebirgsgegend gab eine 
Bootfahrt den Ai von Kussa hinab bis nach Wokli, einem Dorfe, welches 17 Werst unterhalb 
Satkinsky Pristan an diesem Strome gelegen ist und von dem Tatarenstamme der Tiptu- 
ren bewohnt wird. ') 

Von Kussa bis zur Einmündung der Arscha’) fliesst der Ai nach W und durchbricht 
die Schichtgesteine quer auf ihrer Streichrichtung. Von dort bis unterhalb Satkinsky Pri- 
stan schlängelt sich der Strom nach SW in der Streichungslinie hin, und nimmt dann wie- 
der eine westliche Richtung an, in der er das Gebirge verlässt. 

Von Kussa bis etwa 5 Werst unterhalb des Sawods, nach dem Flusslauf gerechnet, 
fliesst der Ai zwischen Felsen von Kalkstein hin, welcher nach N bis NO streicht und gegen O : 
bis SO mit 30°—40° Neigung einschiesst. Die Schichten des Kalksteins sind oft gewunden 
und enthalten zuweilen dünne Lagen grauen und schwarzen Thonschiefers, die am Arbus 
genannten Felsen nur 1’—2 mächtig sind. Hierauf folgt geschichteter Quarzfels, der /, 
Werst vor der Einmündung des Flüsschens Waülina wieder Kalkstein Platz macht. Dieser 
theilt das allgemeine Einfallen nach SO und enthält einen schmalen Gang eines feinkörni- 
gen intrusiven Gesteins (Aphanit?) welcher der Schichtung parallel aufsetzt. 1% Werst 
unterhalb der Mündung der Waülina bis /, Werst vor der Einmündung des Bagrusch steht 
wieder Quarzfels an. An diesem Punkte treten am rechten Ufer roth und hellgrün gefärbte 
Thonschiefer auf, die von Kalkspathadern durchschwärmt sind, und bis an den Ba- 
grusch anhalten. Von hier bis an die Arscha oder die grosse Biegung des Ai nach SW ist 
am Fluss nur Quarzfels sichtbar. 

An der Mündung der Arscha steht Kalkstein an, welcher auf der ganzen Strecke von 
hier bisnach Wokli ausschliesslich die hohen, steilen Uferfelsen des Ai bildet. Zugleich fanden 
wir an diesem Punkte die ersten organischen Reste in demselben. Es sind Spirigerina aspera 
v. Schloth. und unbestimmbare Stücke eines kleinen glatten Spirifer. Jene Form beweist nur, 
dass diese Schichten älter als der Bergkalk und jünger als der untere Theil der Silurfor- 
mation sind. Von dieser Stelle macht der Strom eine grosse schlingenförmige Krümmung 
nach W und fliesst dann wieder bis 17, Werst in die Nähe der Arscha-Mündung zurück, 
wo der Kalkstein eine 4’ mächtige Korallenbank enthält, welche von einer schlecht erhaltenen 
Form gebildet wird. — Die Halbinsel, welche durch diese Krümmung hervorgebracht 
wird, ist von einer nach NO gerichteten Erhebungslinie schräg durchsetzt. Beiderseits von 
derselben schiessen die Schichten nach SO und NW ein. Erst 2 Werst oberhalb der Ein- 
mündung der Terechta fanden wir neben der Spirigerina aspera und der schon früher beob- 
achteten Koralle den Pentamerus Baschkiricus M. V. K. im Kalkstein des rechten Ufers, und 


1) Die hauptsächlichen Resultate dieser Fahrt haben 2) Dieser Fluss ist auf der Karte von Kussa fälschlich 
wir schon früher mitgetheilt. Mém. des sav. étr. T.VIIL, | Urgala genannt. 
р. 191—198. 1857. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 37 


erlangten somit die Gewissheit, dass er der obersilurischen Formation angehört. Er streicht 
an dieser Stelle nach N, schiesst nach W ein und ruht auf weichem, braunem Thonschie- 
fer, der nur wenig über den Spiegel des Flusses hervorragt. Später erfuhr ich von Gen. 
Hofmann, dass er oberhalb der Einmündung der Terechta in den Ai am linken Ufer noch 
Quarzfels gesehen hat. Zwischen den Einmündungen der Bidia und Terechta streicht der 
Kalkstein nach NO und fällt mit 15° Neigung gegen NW ein. Unterhalb des sogenannten 
Cordons, einer Forstwache, ist die Schichtung vielfach gestört. Durchschnitte eines grossen 
zweischaligen Fossils, die in den Kalksteinfelsen sichtbar sind, gehören vermuthlich dem 
P. Baschkiricus an. Weiterhin wird das Streichen wieder NO, während das Einfallen nach 
NW gerichtet ist. Nur an zwei Stellen, von denen die eine dicht unterhalb der Einmün- 
dung der Kalajelga liegt, haben wir am Ai horizontal liegende Schichten gesehen. Hier 
sind es plumpe Kalksteinbänke von 4—8" Mächtigkeit. 

Vor der Einmündung der Satka zeigen die Felsen des rechten Ufers starke Schich- 
tenkrümmungen. An der Mündung selbst streichen die Schichten nach N 25° O und fallen 
gegen О 25° S ein. Aehnlich ist das Streichen und Einfallen bei Kulbajewa. Unterhalb die- 
ses Dorfes stehen die Schichten vertical und streichen nach NO, bis sich 4 Werst weiter 
wieder ein Einfallen gegen NW einstellt. 

10 Werst unterhalb Kulbajewa fanden wir wieder Pentamerus Baschkiricus und Stromato- - 
pora concentrica in Kalkstein, welcher mit 35° Neigung nach N Weinfällt. Hier macht der Fluss 
eine scharfe Biegung nach S und fliesst so nahe an dieselbe Stelle zurück, dass das obere 
und untere Flussbett nur von einem schmalen Felsrücken getrennt sind. Dieser Rücken 
obersilurischen Kalksteins ruht auf einem feinen Conglomerat, welches an anderen Orten hin 
und wieder in festen quarzreichen Sandstein übergeht und zu Mühlsteinen verarbeitet wird. 
Dieses Gestein, welches vom Landvolke gornowoi Kamen genannt wird, besteht aus kleinen 
pellueiden, ohne sichtbares Bindemittel an einander haftenden Quarzgeschieben, mit denen 
grössere Geschiebe gefärbten Quarzes und einzelne abgeschliffene Stücke weissen Kalk- 
spathes vorkommen. Eine Werst unterhalb dieser Stelle fällt die Siulga in den Ai. — 1), 
Werst unterhalb Ragojnikowa streicht der Kalkstein nach NO und fällt nach SO ein, wäh- 
rend er auf der halben Strecke zwischen diesem Dorf und Satkinsky Pristan in plumpen 
Schichten horizontal liegt, wie an der Mündung der Kalajelga. 

Dem Dorfe Wanäschkina gegenüber besteht die linke Thalwand aus Kalksteinfelsen, 
die sich ununterbrochen bis Satkinsky Pristan hinziehen und auf dem oben beschriebenen 
Conglomerat ruhen, welches am rechten Ufer eine Höhe bildet, auf der das Dorf liegt. 
Hier wird das Gestein zu Mühlsteinen verarbeitet und geht durch feines Korn in quarz- 
reichen Sandstein über. 

Bei Satkinsky Pristan enthält der Kalkstein Stromatopora concentrica und ist stellen- 
weise so mit Schalen des Pentamerus Baschkiricus erfüllt, dass das Gestein nur aus Anhäu- 
fungen dieser Conchylie besteht. An einem Steinbruch, dem Dorfe gegenüber, fanden wir 
das Streichen N 25° O und das Einfallen W 25° N mit 20° Neigung. An der Einmündung 


38 М. v. GRÜNEwALDT, 


der Kamenka liegen die Kalksteinschichten beinahe horizontal und zeigen nur ein unmerk- 
liches Einfallen nach NW. Dieses Verhältniss hält sehr gleichmässig bis Rasboinikowa an, 
wo sich bei dem ähnlichen herrschenden Streichen nach N 20° O und Einschiessen gegen 
W 20° N wieder eine Schichtenneigung von 50° einstellt. Hier enthält der Kalkstein 
Exemplare des Pentamerus Baschkiricus. ' 

Etwa auf halbem Wege zwischen Rasboinikowa und Wokli und näher zu letzterem 
Dorfe ruht der Kalkstein in plumpen, ungeschichteten Massen auf einem Sandstein von 
feinem Korn und gelblich grauer Farbe. Dieser braust nicht mit Säure, ist sehr deutlich 
geschichtet, spaltet nach den Schichtflächen leicht in dünne Platten und bildet am Fluss- 
ufer einen Abhang von 35 —40 Höhe, den der Kalksteinfelsen krönt. — Der Sandstein 
fällt nach O 20° N mit 20° Neigung ein, streicht also nach N 20° W und ist ebenso gela- 
gert wie deutlich geschichteter Kalkstein, der ihn unmittelbar unterhalb bedeckt. In kei- 
nem dieser Gesteine gelang es uns organische Reste aufzufinden; jedoch fanden sich am 
Ufer von der Höhe der Felsen herabgestürzte Blöcke, die Spirigerina aspera enthalten. 
Diese Kalksteine gehören daher aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls der obersilurischen 
Formation an, und der Sandstein ist trotz seiner abweichenden Beschaffenheit das Aequi- 
valent des gornowoi Kamen genannten Gesteines. Eine Werst vor Wokli bildet der Kalk- 
stein Felsen mit beinahe vertical stehenden Schichten, die nach №— МО streichen. 

Bei Wokli verliessen wir den Strom und fuhren über Kidi nach Alina, einem Dorfe, 
das etwa 3 Werst in NW von Wanäschkina und Satkinsky Pristan am Flüsschen Bia ge- 
legen ist. Die Verfasser der Geol. of Russia, welche das Auftreten von Pentamerus Baschki- 
ricus bei Alina nicht kannten, haben die Vermuthung aufgestellt, dass dieses Dorf auf de- 
vonischen Schichten liegt. — Eine Untersuchung des Thales der Bia, und die Fahrt von 
hier nach Satkinsky Pristan erwiesen, dass zwischen letzterem Orte, Alina und Wanäsch- 
kina der gornowoi Kamen unter dem obersilurischen Kalkstein hervortritt, und eine an- 
sehnliche Höhe bildet. Dieser Berg trennt das Thal des Ai von dem der Bia, und der si- 
lurische Kalkstein fällt beiderseits von demselben ab. 

Die obersten Schichten des Kalksteins bei Alina bestehen aus schwarzem, bituminö- 
sem Stinkstein und enthalten in zahlreichen Exemplaren die kleine Spirigerina Alinensis M. 
V. K. Steigt man vom Dorf in das Thal der Bia hinab, so gelangt man in tiefere Kalk- 
steinschichten, welche wie bei Satkinsky Pristan von Myriaden des Pentamerus Baschhiricus er- 
füllt sind, mit dem eine grosse Leperditia vorkommt. Unten auf dem Thalboden stösst man 
auf den gornowoi Kamen, der jenseit des Flusses zu jener Anhöhe anschwillt, auf wel- 
cher weiter in O das Dorf Wanäschkina am Ai gelegen ist. Wir haben schon gesehen, 
dass bei jenem Dorfe am linken Ufer des Ai wieder obersilurischer Kalkstein dieses 
feine Conglomerat überlagert. Die Versteinerung führenden Kalksteine bei Alina fallen 
nach NW mit 15°—20° Neigung ein, streichen also nach NO. 

Die grosse Gleichförmigkeit mit welcher Kalksteinschichten ohne jede Zwischenbildung 
von der Mündung der Arscha an bis Wokli an den Ufern des Ai anstehen, weist darauf 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 39 


hin, dass sie einer Formation angehören. Alina ist der einzige Punkt an dem drei unmit- 
telbar auf einander folgende Etagen in den Ablagerungen am Ai nachzuweisen sind: oben 
bituminöser Kalkstein mit Spirigerina Alinensis, darunter die Schichten mit Pentamerus Basch- 
kiricus und Leperditia Biensis п. sp. und als Basis der ganzen Ablagerung feines, in Sandstein 
übergehendes, quarzreiches Conglomerat. Da die Spirigerina Alinensis nur von diesem Orte 
her bekannt und nirgends in devonischen Schichten des Ural beobachtet worden ist, sehen 
wir vorläufig keinen Grund, zwischen dem oberen und unteren Kalkstein von Alina eine 
Formationsgrenze anzunehmen. 

Von Alina nach Satkinsky Pristan fährt man Wanäschkina in S vorbei. Auch hier 
beobachteten wir die Ueberlagerung des feinen Conglomerates durch den Kalkstein, wel- 
cher ersteres weiter nach S ganz zu bedecken scheint. 

Von Satkinsky Pristan nach Бабка führt die Strasse gerade nach О, so dass wir auf 
dieser Strecke über die südliche Fortsetzung der Schichten hinfuhren, welche der Ai zwi- 
schen Kussa und der Mündung der Arscha durchbricht. Die Kalksteinfelsen stehen an der 
Strasse noch 1/, Werst vom Pristan an, worauf man eine grasreiche Ebene passirt, in der 
kein Gestein zu sehen ist. Erst 6 Werst vom Pristan, am Flüsschen Ischelka, steht an einer 
Bergwand wieder Kalkstein von stark röthlicher Farbe an. 8 Werst von Satkinsky Pristan 
fährt man über den Rücken der Sulia, welcher von quarzigen Gesteinen gebildet wird, die 
denen von Wanäschkina und Alina gleichen. 7 Werst vor Satka grenzen diese Gesteine an 
schwarzen, dünnblättrigen Thonschiefer, auf den bunte Schiefer folgen. Beim 6ten Werst- 
pfahl vor Satka steht Quarzit an und noch vor dem 5ten schwarzer Thonschiefer, auf den 
abermals bunte folgen. Diese Gesteine streichen nach NO und fallen gegen NW ein. Hier- 
auf erscheint, immer noch vor dem 5ten Werstpfahl, hell- und dunkelgrau gebänderter 
Quarzfels, der die Karaganskaja Gora bildet. Dieses Gestein ist ebenso gelagert wie die 
Thonschiefer, an die es grenzt. — Drei Werst vor Satka gelangt man in den dünn ge- 
schichteten grauen Marmor, auf welchem der Sawod liegt. Dieser krystallinische Kalkstein 
streicht nach NO, fällt gegen SO ein und wird bei Satka selbst von zahlreichen Gängen 
eines feinkörnigen Grünsteins (Diorit?) durchsetzt. 

Da wir im Distrikte von Satka später nirgends organische Reste gefunden haben, 
überlassen wir es unserem älteren Reisegefährten im Detail über die Besteigung der öden 
Gipfel des Siratkullberges, des hohen, wilden Nurgusch, des Uwan und der Suka zu be- 
richten. Dasselbe gilt von der Fahrt über den Urenga nach Wesselowsk im äussersten 
Süden des Distriktes von Slatoust. Das Detail dieser weiten, zum Theil beschwerlichen 
Excursionen bringt keinen Aufschluss über die palaeozoischen Ablagerungen in jenem 
Theile des Uralgebirges, deren Entwickelung nachzuspüren eine Haupttriebfeder meiner 
Wanderungen war. 

Wir bemerken im Allgemeinen, dass die hohen Berge zwischen dem Ai und dem 
Glimmerschiefer der westlichen Centralkette aus sedimentären Gesteinen bestehen, und 


40 М. у. GRÜNEWALDT, | 


Thonschiefer, so wie mehr oder weniger krystallinischer Kalkstein auch zwischen den bei- 
den Centralketten um Wesselowsk erscheinen. 

Thonschiefer, der nach NO streicht, bildet den Fuss und einen 'Theil der Abhänge 
des Siratkullberges, während sein Gipfel aus Quarzfels besteht. — Von Satkinsk bis zum 
Grünsteinrücken des Matkal, ritten wir in Kalkstein, Thonschiefern und quarzreichen 
Sandsteinen. Diese Gesteine sind vorzüglich an dem Flüsschen Kamenka und beim Korels- 
kischen Bergwerke aufgeschlossen. 

Nächst dem grossen Jremel ist der Nurgusch der höchste Berg des Ural im Süden 
von Slatoust. Er wurde bei unserer Besteigung barometrisch gemessen. ') — Dieser Berg 
besteht aus Quarzfels, der mit hartem Thonschiefer, an seinem nördlichen Ausläufer (von 
den Eingeborenen Lugasch genannt) auch mit Chloritschiefer wechsellagert. Seine Schich- 
ten sind steil aufgerichtet, und die harten Quarzmassen überragen in steilen Graten das 
Ausgehende der weicheren Schiefer. Diese Quarzmauern, die überall längs dem langge- 
streckten, öden Rücken in parallelen Wänden hinstreichen, zerfallen allmälig in Trümmer, 
welche die Abhänge des Berges bedecken. Sie bilden dann ausgedehnte Trümmerfelder, 
welche von den Russen Rossipi genannt werden, und aus grossen scharfkantigen Blöcken 
bestehend, der Besteigung dieser Berge mit Pferden die Hauptschwierigkeit entgegensetzen. 
Am Lugasch streichen die Schichten dem ganzen Rücken parallel nach N 20° O0, auf dem 
höchsten Gipfel. nach NO, und zeigen hier trotz der nahe verticalen Stellung noch ein bemerk- 
liches Einschiessen nach SO. — Auf diesem hohen Gipfel bilden die Schichtenköpfe 
graphithaltiger Thonschiefer ein kleines Plateau, welches mit Gras und Moos bewachsen 
und beiderseits von niedrigen Quarzmauern wie mit Ballustraden eingefasst ist. Die Win- 
terstürme sind die Ursache, dass sich auf dieser freien Stelle keine grossen Schneemassen 
ablagern können, und das kaum bedeckte Futter lockt dann zahlreiche Rennthierheerden, 
die Bewohner dieser Einöde an, welche aus der Ferne wie dunkle Flecke auf dem Schnee 
des winterlichen Gipfels erscheinen sollen. 

Den Uwan und die Suka erstiegen wir von Kutiukowa aus, wohin wir uns vom Nur- 
gusch durch das wilde Waldthal der Kalagasa durchgearbeitet hatten. Die spitzen Gipfel 
dieser beiden Berge bestehen ebenfalls aus steil aufgerichteten Schichten von Thonschiefer 
und Quarzfels, dessen Trümmer im Sonnenlicht weiss über die dunklen Nadelwälder her- 
überschimmern! 

Ebenso bilden Thonschiefer und Quarzfels die Umgegend der Bokalskischen Berg- 
werke, zu denen wir von dem Rücken der Suka hinabstiegen. Zwischen diesen und Sat- 
kinsk ritten wir ausschliesslich in der Streichungslinie einer Thonschieferzone hin. Kalk- 
stein haben wir auf dieser Excursion nur an zwei Stellen, auf dem Wege von Werch-Bo- 
kalsk nach Satkinsk, eine Werst von jenem Bergwerke entfernt, und an der Brücke über 
die kleine Satka angetroffen. ' | 


1) Die Resultate dieser und vieler anderer Höhenmessungen werden ihrer Zeit von Gen. Hofmann veröffent- 
licht werden. 


BEITRÄGE Zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 41 


Als wir uns von Satkinsk aus über den Urenga nach Wesselowsk begaben, einem 
Dorf das im Thal des Ai zwischen den beiden Centralketten belegen ist, sahen wir, dass 
die Zone zum Theil krystallinischer Kalksteine, in der Satkinsk liegt, sich von dort gegen 
4 Werst nach Ost bis zum Magnitnaja Gora ausdehnt. Das Gebiet des Glimmerschiefers, 
mit dem hier auch Gneiss auftritt, betraten wir an der Kapanka, einem Nebenflusse des 
Kuwasch. Die Stelle ist noch 11 Werst von der Furth durch den Kuwasch entfernt, an 
dessen jenseitigem rechten Ufer erst der Rücken des Urenga aufsteigt, welcher das Thal 
dieses Flusses von dem des Ai scheidet. Die krystallinischen Schiefer der westlichen Cen- 
tralkette nehmen also nach Süden zu ebenso an der fächerförmigen Ausbreitung des gan- 
zen Gebirges Theil wie die seitlichen Züge, da hier der Rücken zwischen der Kapanka 
und dem Kuwasch dieselbe geognostische Beschaffenheit hat, wie der Urenga. Als wir am 
Ostabhange des Urenga nach Wesselowsk an den Ai hinabstiegen, stiessen wir im Glim- 
merschiefer auf Thonschiefer- und Quarzlagen, die sich bis zu jenem Dorfe ausdehnen. — 
Zwischen Wesselowsk und dem verlassenen Semibratskischen Bergwerke, dem südlichsten 
Punkt bis zu dem wir im Thal des Ai zwischen Ural und Urenga vorgedrungen sind, findet 
sich, 12 Werst von jenem Dorfe, ein Lager von Kalkstein in der Glimmerschieferzone. 
Endlich sahen wir krystallinischen weissen Marmor auf dem Wege von Wesselowsk nach 
Slatoust, am Fusse des Medwedjewa Gora beim Flüsschen Iswesdnaja, das diesem Ge- 
steine seinen Namen verdankt. Es tritt hier mit grauem Quarzfels, Glimmerschiefer und 
Granit auf. 

Im Distrikte von Satkinsk treten an mehreren Punkten eruptive Gesteine zu Tage, 
die meist der Familie der Grünsteine angehören und von Rose als Diorite bestimmt wor- 
den sind. — Ihr Auftreten ist dem der geschichteten Gesteine gegenüber sporadisch, und 
nur ausnahmsweise bilden sie ganze Berge wie z. B. den südlichen Gipfel des Matkall. 
Meistens erscheinen sie gangförmig in Kalkstein, der in ihrer Nähe eine krystallinische 
Beschaffenheit zu haben pflegt. Dasselbe findet auch zwischen den Centralketten in der 
Gegend der Semibratskischen Eisengruben statt. Nirgends haben wir eruptive Gesteine in 
den Ablagerungen kennen gelernt, die durch ihre Versteinerungen als obersilurische 
Schichten charakterisirt sind. Sie scheinen sich hier auf eine gewisse Zone zu beschränken, 
die näher zur Axe des Gebirges liegt als die Schichten, welche organische Reste ent- 
halten. 

Was die Erzlager in den besprochenen Gegenden anbetrifft, so gehören sie in die 
Reihe der geschichteten Gesteine. Die Eisenerze im Achteschen Bergwerke bei Kussa sind 
eine Einlagerung im alten Thonschiefer an der Grenze des Glimmerschiefers. Die Eisen- 
steine von Kossigansk liegen in den Quarz- und Thonschieferschichten, welche wir zuerst 
im Süden von Kussa kennen lernten. Die südliche Fortsetzung dieser Zone von Quarz und 
Thonschiefer, die wir nur als Zwischenbildungen zwischen dem Glimmerschiefer der Cen- 
tralkette und dem obersilurischen Kalkstein am Ai bezeichnen können, enthält die Eisen- 
steinlagen des Kovelskischen Bergwerkes und der Bokalskischen Gruben. Die verlassenen 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Serie. 


6 


49 М. т. GRÜNEWALDT, 


Eisengruben von Semibratsk liegen in einer Gegend der Centralkette, die reich an Kalk- : 


stein und Diorit? ist, scheinen aber selbst in quarzreichem Glimmerschiefer enthalten zu 
sein. Die grosse Orlowskische Eisengrube bei Slatoust endlich ist ganz im Glimmerschie- 
fer am Ostabhange des Rückens angelegt, welcher den nördlichen Ausläufer des Urenga 
bildet. Alle diese Gruben sind grosse, meist in der Streichungslinie der Schichten lang ge- 
streckte Tagebaue und gehören in die Periode der krystallinischen Schiefer, so wie der 
ältesten sedimentären Ablagerungen dieser Gregenden. 


Wirft man einen Blick auf den Zusammenhang in welchem die angeführten Beobach- 
tungen in den Distrikten von Kussa und Satka untereinander sowohl als zu der Geognosie 
der ganzen Gebirgskette stehen, so stellt sich vor Allem die Wahrscheinlichkeit heraus, 
dass die Sedimente zwischen den Versteinerungführenden Kalksteinen am Ai in O und dem 
Glimmerschiefer der Centralkette in W den unteren Theil der Silurformation repräsentiren. 
Vielleicht sind sie zum Theil eine Wiederholung der Sandsteine und des Thonschiefers, 
welche unter dem obersilurischen Kalkstein an der Terechta, bei Wanäschkina und Alina, 
so wie zwischen Rasboinikowa und Wokli nur wenig zu Tage treten. Dafür, dass sie keine 
Wiederholung der ganzen Ablagerung sind, welche wir am Aï zwischen der Mündung 
der Arscha und dem Dorfe Wokli kennen lernten, spricht ausser dem Mangel organischer 
teste der Umstand, dass der Kalkstein, welcher am Ai massenhaft auftritt, im Süden von 
Satka verschwindet und an den Rücken des Siratkull, des Nurgusch, des Uwan und der 
Suka, so wie auch westlich von Satka auf dem grössten Theile der Strecke fehlt, welche 
die Strasse von Satkinsky Pristan durchschneidet. — Die Kalksteine bei Satkinsky Pristan 
selbst sind meist krystallinisch, die bei Kussa hin und wieder bunt gebändert und von an- 
derer Beschaffenheit als die obersilurischen Kalksteine am Ai. Wir glauben daher, dass 
auch diese Kalksteine älteren Ablagerungen angehören und ausserdem durch den Contact 
mit eruptiven Gesteinen, welche in dieser Zone häufig zu Tage treten, Veränderungen in 
ihrer Beschaffenheit erlitten haben. Auch in diesen muthmasslich älteren Schichten in der 
nächsten Umgebung von Kussa und Satka selbst schwindet das kalkige Material südlich 
von Satka und fehlt in den oben genannten Bergen sowohl als in der Umgegend von Ku- 
tiukowa und der Bokalskischen Bergwerke beinahe gänzlich. Dort walten auf ungeheure 
Strecken ausschliesslich steil aufgerichtete Thonschiefer und Quarzmassen. 

Wenn zwischen den krystallinischen Schiefern des Ui Tasch und Siratur in W und 
der Bergkalkformation der Schartimka in O die schmalen sporadischen Zonen von Thon- 
schiefer und Kalkstein, so wie die grünen Schiefer mehr oder weniger veränderte Schich- 
ten der palaeozoischen Formationen sind, worauf die Spuren organischer Reste hindeuten, 


zen +“ 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 43 


welche der Kalkstein von Werchni-Miask enthält,') so spielt das Material des Kalksteins 
am Ostabhange der Gebirgskette in denselben Ablagerungen eine untergeordnetere Rolle, 
als auf dem gegenüberliegenden Westabhange. Dasselbe gilt von der Kieselerde, da wir 
quarzreiche Schichten im Distrikt von Miask ausserhalb der Glimmerschieferzone fast gar nicht 
angetroffen haben. Darf dieser Unterschied in dem Material der palaeozoischen Schichten 
zu beiden Seiten des Gebirges darauf gedeutet werden, dass der Ural schon vor ihrer Ab- 
lagerung eine Scheide in jenen Meeren gebildet hat, und der Granaten führende Glimmer- 
schiefer mit untergeordnetem Thonschiefer und Marmor in den Centralketten schon auf- 
gerichtet war, als diese Schichten sich zu beiden Seiten in getrennten Meeresbecken ab- 
setzten? Jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass hier in jedem dieser Gebiete besondere 
Massengesteine nicht nur vorherrschen, sondern sich beinahe auszuschliessen scheinen. — 
Wir meinen den Granit im Glimmerschiefer und Gneiss der Centralketten und die Grün- 
steine in der sedimentären Zone. Die Grünsteine bei den Semibratskischen Bergwerken 
treten zwar im Centrum des Gebirges, aber im Boden einer tiefen Thalspalte und mit aus- 
gedehnten Kalksteinlagern auf. — Nur an einem Punkte, 9 Werst südlich von Wesselowsk 
haben wir an der Popereschnaja Gora einen Diorit? Gang im Glimmerschiefer aufsetzen 
sehen; in den Kalksteinen aber unendlich viele. 

Noch sind die Grenzen der geschichteten Gebirgsarten viel zu wenig gesondert, das 
Verhalten der Massengesteine zu einander ist zu wenig erkannt, als dass man sich allge- 
meine Schlüsse dieser Art erlauben dürfte. Nichts desto weniger halten wir es für unsere 
Schuldigkeit Wahrscheinlichkeiten nirgends mit Stillschweigen zu übergehen, wo sie durch 
eine noch so kleine Reihe von Thatsachen angedeutet sind; denn nur so kann die Auf- 
merksamkeit auf diese Fragen gerichtet werden. 

Vielleicht ist es späteren Forschern vorbehalten in den Thonschiefern, Sandsteinen 
und Quarziten südlich und westlich von Satka organische Reste zu entdecken, die Paralle- 
len mit den alten Ablagerungen Böhmens und Skandinaviens gestatten, welche durch die 
detaillirten Untersuchungen der Herren Barrande und Angelin neuerdings so schöne 
Ausgangspunkte der Vergleichung eröffnet haben. Jedenfalls sprechen viele Wahrschein- 
lichkeiten dafür, dass die Verfasser der Geol. of Russia sich nicht getäuscht haben, wenn 
sie dieses Terrain als ein silurisches ansehen. 


Sedimente in der Berghauptmannschaft Kuschwa. 1833. 


Steinkohlenlager von Kiselowsk und Alexandrowsk. — Am Anfange des 
Jahres 1857, als unsere «Notizen über die Versteinerungführenden Gebirgsformationen 


1) Gustav Rose beobachtete Aehnliches bei Koëls- | seinerkörnigen Textur, was mir sehr merkwürdig scheint, 
kaja zwischen Troitzk und Miask: «wir trafen einen | grosse blättrige Enkrinitenstiele enthält.» Reisenach dem 
weissen, feinkörnigen Kalkstein, der aber ungeachtet | Ural, dem Altai u. s. w. Band П, р. 18. 1842. 

* 


44 М. у. GRÜÔNEWALDT, 


des Ural u. 3. w.» erschienen, war ich aus eigener Anschauung nur mit der Lagerung der 
Steinkohlenflötze bei Suchoi-Log am Ostabhange der Gebirgskette bekannt. Für die Lage- 
rung der Steinkohlen am Westabhange hatte ich mich auf eine Bemerkung in der Geol. 
of Russia bezogen. Bei Gelegenheit der Schilderung eines Kohlenflötzes, welches die Ver- 
fasser dieses Werkes bei Kalino an der Tschussowaja besuchten, erklären sie es nämlich 
für wahrscheinlich, dass die Steinkohlen am Westabhange des Ural in den Sandsteinen 
vorkommen, die sie für das Aequivalent des milstone grit halten, welcher in England den 
Bergkalk überlagert und am Ural vorzüglich in den Ebenen von Artinsk entwickelt ist. ') 
Wir bedauern, während unserer Reisen in der Berghauptmannschaft Kuschwa, keine Gele- 
genheit gefunden zu haben, das Steinkohlenflötz bei Kalino aus eigener Anschauung ken- 
nen zu lernen. — Dagegen begleitete ich den Gen. Hofmann auf einer Excursion, welche 
er von Perm aus nach den Kohlengruben an der Kosswa und Lunja unternahm, *) und 
sehe mich in Folge dessen veranlasst obige Vermuthung, welche ich in meiner Abhand- 
lung citirt habe, °) vorläufig einzuschränken. 

Diese Bergwerke gehören den Herren Lasarew und Wsewolotzki und liegen gegen 
200 Werst nördlich von Perm im Ssolikamsker Kreise. — Nachdem wir auf der Fahrt 
dorthin die Wilwa, einen Nebenfluss der Jaiwa, welche in die Kama fällt, passirt hatten, 
gelangten wir aus den permischen Ablagerungen in die Region des Bergkalkes. Die Stelle 
liegt an dem Wege, der vom Pristan an der Jaiwa nach Ost auf Kiselowsk zuführt, einer 
Eisenhütte der Herren Lasarew, zu welcher die südlicher gelegenen Steinkohlen an der 
Kosswa gehören. 7 Werst vor Kiselowsk trifft man den ersten Bergkalk. Er enthält Pro- 
ductus semireticulatus Мата. so wie schlecht erhaltene Bryozoen, streicht nach N 20° O und 
fällt gegen W 20° N mit 22° Neigung ein. 

Kiselowsk selbst liegt auf einem harten, sehr quarzreichen Sandstein von so feinem 
Korn, dass er in Quarzit übergeht. Er hat an der Oberfläche eine gelbe bis rothgelbe 
Farbe, ist aber auf dem frischen Bruch weiss. Durch den Verwalter des Hüttenwerkes, 
Herren Tschernow, erfuhren wir, dass dieser Sandstein das Muttergestein der Stein- 
kohle ist, welche neuerdings auch in der unmittelbaren Nähe des Sawods entdeckt worden 
war. Er enthält zugleich die okrigen Brauneisenerze, welche in jenen Gegenden besonders 
verschmolzen werden und ohne Zweifel die Ursache seiner gelben Färbung sind. 

Die Kohlengrube liegt gerade in S von Kiselowsk, 20 Werst von diesem Orte ent- 
fernt. Wir fuhren einen Theil des Weges auf dem Sandstein hin, der zuweilen von Kalk- 
steinfelsen überragt wird. An der Kosswa angelangt, schifften wir uns ein und wurden noch 
4 Werst flussabwärts bis an die Steinkohlengrube gerudert. Der Strom windet sich auf der 
sanzen Strecke durch Kalksteinfelsen hin, deren Schichten steil aufgerichtet sind. 


!) Geol. of Russia ect. Vol. II, р. 126 und 127. Sr. Excellenz dem General Jossa zu aufrichtigem Dank 
2) Für die Anregung zu dieser Excursion, welche für | verpflichtet. 
unsere Auffassung der palaeozoischen Ablagerungen an 3) Mém. 4. sav. étr. T. VIII, р. 209. 
der Tschussowaja von Bedeutung geworden ist, sind wir | 


BeiTRÂGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 45 


Das Kohlenflötz streicht an einem bewaldeten Berge, der im Hangenden aus Kalk- 
stein, im Liegenden aber aus demselben Sandstein besteht, den wir schon von Kiselowsk 
her kannten, an das linke Ufer des Flusses aus. — Die Lagerungsverhältnisse sind durch 
die Betriebs- und Untersuchungsarbeiten des Herren Tschernow, welcher uns begleitete, 
vollkommen aufgeschlossen und im Detail auf eine Grubenkarte eingetragen, die er uns 
vorzeigte. Das Flötz liegt im Sandstein und hat die bedeutende Mächtigkeit von 6 Ar- 
schin, die wir übrigens an Ort und Stelle nicht übersehen konnten, da zur Zeit nur die 
eine Hälfte desselben im Betrieb war. Mitten im Flötz findet sich eine dünne Lettenlage 
von 74 Durchmesser. Alles übrige ist Steinkohle, die ohne Zwischenbildungen scharf an 
dem harten quarzitartigen Sandstein abschneidet. Sie ist von guter Beschaffenheit, bricht 
aber nicht in grossen Stücken, obgleich sie auch nicht zerfällt. Beim Brennen soll sie zu- 
sammensintern und Coak geben. — Da das Flötz steil steht, denn es fällt mit 52° Nei- 
gung nach W ein, so ist anzunehmen dass Tagewässer der Beschaffenheit der Kohle nach- 
theilig gewesen sind und sie nach der Tiefe an Qualität zunehmen wird. 

Nachdem wir den Stollen besichtigt hatten, welcher vom Flussufer aus in das Flötz 
hineingetrieben wird und bei Kienholzbeleuchtung vor Ort gewesen waren, verfügten wir 
uns zu dem Kalkstein im Hangenden. Er wird von dem Kohlenflötz durch eine Sandstein- 
lage von 50 Faden Mächtigkeit getrennt. Nach längerem Suchen gelang es uns beim Zer- 
schlagen des Kalksteins ein grosses Exemplar des Productus hemisphaericus zu finden. Wir 
verfolgten nun das Flötz den Berg hinauf in der Linie der Untersuchungsarbeiten, welche 
im Streichen angelegt sind und die Kohle an mehreren Punkten zu Tage gefördert haben. 
Rechtwinkelig auf diese Linie zieht sich eine andere Reihe von Schurfen hin, längs der 
wir wieder an den Fluss hinabstiegen und ihn oberhalb des Stollens erreichten. — Diese 
Schurfe zeigen, dass im Liegenden des Hauptilötzes noch ein kleineres ansteht, dessen 
Mächtigkeit nach den Angaben des Herren Tschernow 27 Arschin beträgt. Es ist von 
dem Hauptflötz durch den Sandstein getrennt. Noch weiter im Liegenden wechselt der 
Sandstein mit Schieferthon, welcher auf einer Stelle mit Kohlenstoff imprägnirt nnd schwarz 
gefärbt ist. Zuletzt gelangten wir im äussersten Liegenden wieder in Kalkstein. In diesem 
fand sich eine einzige Koralle, die noch nicht bestimmt werden konnte. 

Die ganze Kohlenführende Schichtenreihe ist also eine Einlagerung in Kalkstein, der 
im Hangenden des Flötzes Productus hemisphaericus enthält. Folglich liegt diese Steinkohle 
im untersten Bergkalk, wie im flachen Russland und auch bei Suchoi-Log am Ostabhange 
der Gebirgskette, wo die Lagerungsverhältnisse durch die in der Nähe hervorgebrochenen 
Porphyre besonders gestört sind. — An dem Fluss angelangt begaben wir uns bei anbre- 
chender Dämmerung dem Laufe desselben folgend zu Fusse nach dem Einschiffungsplatze 
zurück. Die Kalksteinfelsen, deren wir bei Gelegenheit der Flussfahrt erwähnten, enthal- 
ten schlecht erhaltene Korallen und Productus in Exemplaren, die aus dem Gestein nicht 
zu befreien waren. Letztere lassen trotzdem keinen Zweifel darüber aufkommen, dass auch 
dieser Kalkstein Bergkalk ist. 


46 М. у. GRÜNEWALDT, 


Den folgenden Morgen fuhren wir nach Alexandrowsk, einer Hütte des Herren Wse- 
wolotzki, zu der das Steinkohlenlager an der Lunja gehört. Alexandrowsk liegt 20 Werst 
in NW von Kiselowsk auf einem dünn geschichteten pfefferfarbigen Sandstein, welcher sich 
von dem bei Kiselowsk und an der Kosswa ausserdem durch geringere Härte und deutli- 
cheres Korn unterscheidet. Er bricht in Scherben, welche die Abhänge bei Alexandrowsk 
bedecken, während der quarzitähnliche gelbe Sandstein bei Kiselowsk in grossen Schollen 
an der Oberfläche liegt, welche dieken Schichten angehören und der Verwitterung Trotz 
bieten. 

Wir ritten in Begleitung des Verwalters, Herren Kaselow, von der Hütte nach О 
in die Streichungslinie der Schichten von Kiselowsk zurück. Erst an der Lunja, dem Koh- 
lenstollen gegenüber, trafen wir Bergkalk, der am rechten Flussufer in Felsen ansteht. — 
Er enthält Hornsteinknollen und es gelang darin schlechte Reste von Spirifer und einen 
srossen Productus zu entdecken, der indessen so verdrückt und seiner Oberfläche entklei- 
det ist, dass ich ihn in Berlin nicht bestimmen konnte. Er genügt um den Kalkstein als 
Bergkalk wieder zu erkennen, dessen Schichten hier nach N 25° W bis NW mit 25° Nei- 
gung einschiessen, also nach N 25° O bis NO streichen. Das Kohlenflötz befindet sich am 
gegenüberliegenden Ufer der Lunja in der Richtung des Liegenden vom Bergkalk aus und 
ist in eben solchen harten, quarzitähnlichen, gelben Sandstein eingelagert, wie an der 
Kosswa. Es fällt ebenso wie der Bergkalk nach NW ein und hat nach dem Nivellement 
eine Neigung von ungefähr 17°. — Seine Mächtigkeit wird auf 7 Arschin veranschlagt; 
dabei ist es durchaus ohne thonige Mittel und die Kohle grenzt scharf an den harten 
Sandstein wie an der Kosswa. Zwei Proben derselben sind von dem Capitain der Bergin- 
genieure Herren Wagner zu Perm untersucht worden, der über ihre Nutzbarkeit ein sehr 
günstiges Urtheil ausspricht und sie als Glanzkohle bestimmt.") Es genügt im Allgemeinen 
zu bemerken, dass das Auftreten der Steinkohle an der Lunja dem an der Kosswa durch- 
aus entspricht. 

Nach den wenigen Beobachtungen, welche wir in der kurzen Zeit an diesen beiden 
wichtigen Localitäten anstellen konnten ist es nicht unmöglich, dass das Steinkohlenflötz 
an der Lunja die nördliche Fortsetzung des Flötzes an der Kosswa ist. Dafür spricht ein- 
mal die grosse Uebereinstimmung in dem Auftreten der Kohle an beiden Orten, dann der 
Umstand, dass sie zwischen ihnen bei Kiselowsk in denselben Schichten aufgefunden wor- 
den ist, und endlich die Lage dieser drei Punkte in einer Linie, welche mit dem allgemei- 
nen Streichen der Formationen in dieser Gegend zu coincidiren scheint. In diesem Falle 
würde hier ein Kohlenflötz von 12—14 Mächtigkeit in gleicher Beschaffenheit auf einem 
Flächenraum von 30—40 Werst Länge fortsetzen. Ohne den Waldreichthum dieser an 
Eisenerzen nicht sehr reichen Gegend, zwei Umstände welche das Interesse an dem Abbau 


1) Näheres darüber findet sich im Bulletin de la Société Impériale des naturalistes de Moscou, année 
1854. No. 1. 


BEITRÄGE 20в KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 47 


der Steinkohle schmälern, würde diese Frage längst durch bergmännische Untersuchungen 
entschieden sein. — Als wir unsere Rückreise von Alexandrowsk nach Perm zuerst nach 
der Wilwa zu in westlicher Richtung antraten, trafen wir 6 Werst von jenem Ort noch den 
pfefferfarbigen Sandstein, auf dem der Sawod liegt. Er streicht hier nach N 8° W und 
fällt sanft gegen O 8° N ein. Bergkalk haben wir nicht mehr gesehen. — Das macht es 
wahrscheinlich, dass jenes Gestein, welches eine durchaus abweichende Beschaffenheit von 
dem hat, in welchem die Steinkohlen eingelagert sind, in diesen Gegenden den milstone grit 
repräsentirt, wie die Verf. der Geol. of Russia annehmen. 

Da wir kaum 4 Tage von Perm abwesend waren und innerhalb dieser Zeit 4—500 
Werst zurückgelegt wurden, müssen wir unsere Mittheilung auf das Vorliegende be- 
schränken. 


Die Berghauptmannschaft Kuschwa besteht aus mehreren Distrikten, welche an bei- 
den Seiten des Gebirges eine lang gestreckte von SW nach NO gerichtete Ländermasse 
zusammensetzen. Der von Serebränsk bildet den südlichsten Theil derselben, und liegt am 
Westabhange der Gebirgskette in dem Gebiete palaeozoischer Ablagerungen, das von der 
Tschussowaja und ihren Nebenflüssen der Silviza, Serebränka und Utka durchströmt wird. 
Es sind die Ufer dieser Ströme über die wir vorzüglich zu berichten haben. — Sie sind 
für die palaeozoischen Formationen des Ural durch die Verf. der Geol. of Russia zum 
Theil klassisch geworden, und geleitet durch ihre Darstellung der Geognosie jener Gegen- 
den wurde es uns leichter die entscheidenden Punkte aufzusuchen und das Material von 
Beobachtungen zu vermehren, welches über diesen Theil des Gebirges vorlag. — Nicht 
wenig trug zu einer richtigen Beurtheilung der Verhältnisse die oben mitgetheilte Excur- 
sion an die Kosswa und Lunja bei, da sie uns über einen Theil der Schichten an der 
Tschussowaja einen neuen Ausgangspunkt der Vergleichung eröffnet hat. 

Von Kuschwa an die Silviza und diese hinab bis zu ihrer Mündung. — Die 
Silviza fällt unterhalb Oslansky Pristan in die Tschussowaja, und wurde von uns von der 
Einmündung der Lekaja an befahren. — Um an die Silviza zu gelangen, wählte Gen. Hof- 
mann einen Weg oder vielmehr eine Richtung, in der wir von Kuschwa aus am Fusse des 
Sokolni Kamen hin, gerade über den Gebirgskamm nach den verlassenen Goldwäschen von 
Kliutschewskoi gelangten. Von dort ritten wir nach Kedrowka, einem Dorf an der Strasse 
von Kuschwa nach Serebränsk, folgten dieser bis Lukowa, und ritten dann an die 
Silviza. 

Der Kamm des Ural besteht hier aus Chloritschiefer. Steigt man nach W in das Thal 
der Serebränka hinab, an deren Quellen die verlassenen Goldwäschen von Kliutschewskoi 
gelegen sind, so trifft man bei denselben geschieferten Marmor, der Glimmerblätter ent- 
hält, nach N streicht und gegen O einschiesst. Auf dem Wege von dort nach Kedrowka 


48 М. v. GRÜNEWALDT, 


erscheint dieses Gestein noch mehrere Male, hat zuweilen eine kieselige Beschaffenheit 
und braust schwach mit Säuren. 

An der Strasse zwischen Kedrowka und Lukowa wechselt Thonschiefer mit Quarz- 
gesteinen und Glimmerschiefer, die an zwei Punkten von Grünstein durchbrochen werden. 

Auf der ersten Anhöhe, die man jenseit Kedrowka passirt, liegen Blöcke eines Ge- 
steines, welches aus pelluciden, fest an einander haftenden Quarzkörnern besteht; dagegen 
wird vor dem Dorfe Suchoi-Log ein feinschiefriger grauer Thonschiefer mit braunen 
Schieferungsflächen gebrochen, auf den, noch ehe man das Dorf erreicht, weisser Quarz 
folgt, in dem Glimmerblätter liegen. Dieser geht auf der 8ten Werst, von Kedrowka an 
gerechnet, in Glimmerschiefer über, in den Thonschiefer eingelagert ist. — Auf dem 
Berge kurz vor dem Dorfe Jurawlik ist im Glimmerschiefer ein Tagebau auf Brauneisen- 
stein angelegt. An der Kamennaja Gora ist der Glimmerschiefer sehr quarzreich und un- 
mittelbar hinter dem Dorfe Pestschanka setzt Grünstein darin auf. Auf der 9ten Werst 
von Kedrowka findet sich wieder grauer Thonschiefer, der zwei Werst vor Lukowa mit 
demselben aus pellueiden Quarzkörnern bestehenden Gesteine wechselt, welches wir bei 
Kedrowka kennen lernten. Lukowa selbst liegt auf Glimmerschiefer, der hier nach N 25° 
W streicht und gegen О 25° N steil einfällt. Eine Werst vor dem Dorfe steht am Flüss- 
chen Marina Grünstein an. 

Von Lukowa ritten wir 8 Werst nach NW an die Silviza, welche wir an der Ein- 
mündung der Lekaja trafen. Der schmale Weg führt durch üppigen Wald, in dem wir hin 
und wieder Scherben von Glimmerschiefer liegen sahen. Auch unterhalb der Einmündung 
der Lekaja bestehen die Uferfelsen der Silviza aus diesem Gestein, im Flusse aber liegen 
grosse Grünsteinblöcke, welche zeigen, dass diese Gebirgsart mehr oberhalb anstehen 
muss. — Nachdem wir 4 Werst gefahren waren, stiessen wir auf dunkelgrauen Thonschie- 
fer mit untergeordneten Lagen weissen Quarzes. Er streicht nach N und fällt mit 50° 
_ Neigung gegen О ein. An der Mündung des Kaban steht Grünstein an, oberhalb der Ein- 
mündung der Saraika aber harter grüner Schiefer, der Zwischenlagen von weissem Quarz 
enthält. Darauf folgen wieder dunkle Thonschieferfelsen. 

Von der Mündung des Buton an fährt man anhaltend zwischen Uferfelsen von schwar- 
zem Thonschiefer hin, der vorwaltend nach N streicht und gegen О einschiesst. — Eine 
Werst oberhalb der Einmündung der Bobrowka stiessen wir auf ein Quarzgestein, welches 
wie jenes von Kedrowka aus grossen pelluciden Quarzkörnern besteht, die ohne kenntli- 
ches Bindemittel fest an einander haften. Die dicken Schichten dieses Gesteines, welche 
nach W 20° N streichen und gegen N 20° O mit 20°—30° Neigung einschiessen, bilden 
hier das Liegende des Thonschiefers. Dieser ist in der Nähe jenes Gesteines sehr hart 
und quarzreich, weiterhin aber weicher, dünn geschiefert und vielfach verbogen. Etwas 
mehr unterhalb findet sich eine zweite Ueberlagerung des Quarzgesteins durch Thonschie- 
fer. Ersteres fällt steil nach О ein. — An der Mündung der Bobrowka steht wieder 
schwarzer Thonschiefer an, der nach NW streicht und gegen NO einfällt. 2 Werst unterhalb 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 49 


steht das Quarzgestein beinahe vertical mit kaum merklichem Einschiessen nach О 20° $. 
In Bezug auf die gegenseitige Lagerung ist es daher von wenig Bedeutung, dass sich 
hier Thonschiefer im Liegenden jenes Gesteines befindet. — 17, Werst oberhalb der Ein- 
mündung der Kerna treten mit dem Thonschiefer und in demselben Quarzschichten auf, 
die vertical stehen und nach NW streichen. Der Thonschiefer ist an diesen festeren Massen 
in sich zusammengesunken und verbogen, wodurch eine scheinbare Discordanz in der La- 
gerung des Schiefers zu jenen Schichten entsteht, welche durch den Eindruck der Schieferung 
noch erhöht wird. 2%, und 4 Werst unterhalb der Einmündung der Kerna treten zum 
ersten Male roth nnd grün gefärbte Thonschiefer auf, welche anfänglich mit den schwar- 
zen am Flussufer wechseln. Diese Schiefer enthalten Zwischenlagen einzelner, meist har- 
ter Sandsteinschichten. — Oberhalb der Gorewaja sind sie steil aufgerichtet und fallen 
bald nach W, bald nach О mit einer Neigung von 54° ein, streichen also nach N. Die ein- 
gelagerten Sandsteinschichten sind hier weich. — Die rothen Thonschiefer mit mehr oder 
weniger gefärbten sandsteinartigen Zwischenlagen halten von hier unausgesetzt bis an die 
Einmündung der Silviza in die Tschussowaja und von dort aufwärts bis jenseits Oslansky 
Pristan an. — An den rechten Uferfelsen der Tschussowaja zwischen der Mündung der 
Silviza, Kopschik und Oslansky Pristan, auf die wir später zurückkommen werden, sind 
diese Schichten vielfach gewunden, gefaltet und zum Theil steil aufgerichtet. Die Richtung 
der Schieferung durchschneidet die der Schichtung oftrechtwinkelig. Der Wechsel des Mate- 
riales ist hier ein sehr rascher, und oft liegen die dicken Sandsteinschichten so nahe über 
einander, dass sie nur durch Zwischenlagen des rothen Thonschiefers von einander ge- 
trennt sind. Dieser‘Unterschied ist bezeichnend gegenüber den rothen Thonschiefern an 
der oberen Silviza, in denen die einzelnen Sandsteinschichten untergeordneter auftreten. — 

Wir bemerken vorläufig, dass hier am linken Ufer der Tschussowaja Kalksteine an- 
stehen, so dass dieser Fluss eine Strecke an der Gesteinsgrenze hinströmt. 

Die Serebränka von Serebränsk hinab bis an ihre Einmündnng in die 
Tschussowaja. — Serebränsk liegt in dem Gebiete rother Thonschiefer, das wir an den 
Ufern der Silviza und Tschussowaja kennen gelernt haben. Auch hier treten in diesen 
Schiefern einzelne Schichten von Sandstein und auch mächtigere Lagen von Quarz auf, 
die am Hüttenteich in Felsen anstehen. — Die Stelle an der die Verf. der Geol. of Russia 
in einem Streifen unreinen Kalksteins am Hüttenteich devonische Versteinerungen entdeckt 
haben, konnten wir nicht auffinden. Sie ist leider nicht näher bezeichnet worden; und da 
wir auch auf unseren weiteren Streifereien im Herzen der Thonschieferzone nichts Aehn- 
liches gesehen haben, schliessen wir auf die grosse Seltenheit von dergleichen Einlagerun- 
gen im Thonschiefer, welche sonst unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen wären. 

Diese Schiefer streichen vorwaltend nach NW mit wechselndem Einfallen und bilden 
die Ufer des Flusses von Serebränsk bis an die Einmündung des Schurisch oder der Schu- 
roska. Dort trifft man zuerst einen schwarzen, wenig geschichteten, bituminösen Kalkstein, 
in dem wir nur einen unbestimmbaren Abdruck einer ziemlich grossen zweischaligen 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. И 


50 M. v. GRÜNEWALDT, 


Muschel fanden. — Dieses Gestein wird eine Werst unterhalb am linken Ufer von thoni- 
gem Kalkstein überlagert, der von Spirigerina reticularis Lin. und Spirifer Pachyrinchus M. 
V. K. erfüllt ist. Eine halbe Werst weiter steht derselbe Kalkstein, und dicht nebenbei 
Sandstein von der Beschaffenheit an, wie er dem Thonschiefer eingelagert zu sein pflegt. — 
Nachdem wir noch eine halbe Werst weiter unterhalb auf versteinerungsleeren Kalkstein 
gestossen waren, der mit 30° Neigung nach O einschiesst, trafen wir 5 Werst unterhalb 
der Mündung der Schuroska eine Entblössung des Terrains, an der eine unmittelbare Ue- 
berlagerung der verschiedenen Schichten aufgeschlossen ist. Der thonige Kalkstein mit 
Spirig. reticularis ruht auf den rothen Schiefern, welche durch eine Sandsteinbank von dem 
unmittelbaren Contact mit dem Kalkstein getrennt sind. — 8 Werst vor der Ausmündung 
der Serebränka in die Tschussowaja beobachtet man an einer ausgedehnten Felsentblössung 
ähnliche Verhältnisse. Hier finden sich auch im thonigen Kalkstein mit Spirig. reticularıs 
und Spirifer Pachyrinchus untergeordnete Lagen von Sandstein und Thonschiefer. — Von 
dieser Stelle an bis zur Mündung der Serebränka haben wir nur versteinerungsleere zum 
Theil dünn geschichtete und in Zickzackform geknickte, zum Theil plumpe Kalkstein- 
massen in hohen Felsen anstehen sehen. Bei Ust-Serebränsk streichen sie nach N bis NW 
und fallen mit 30° Neigung gegen N bis NO ein. 

Fahrt die Tschussowaja hinab von Martianowa bis Tschisma. — Der Land- 
weg, welchen wir von Serebränsk nach Martianowa einschlugen, führte uns über die Asch- 
kinskischen Goldwäschen nach Wisimo-Utkinsk, von dort an die Tschussowaja nach Ut- 
kinsky-Pristan, dem Hafen von Tagil und endlich über Soulem und Ilinsk nach Mar- 
tianowa. 4 

Die Aschkinskischen Goldwäschen liegen in quarzreichem Chloritschiefer, der in der 
Umgegend von Grünstein durchbrochen wird. Bei Wisimo Utkinsk dagegen trafen wir 
wieder die Zone rother Thonschiefer, welche an den Ufern der unteren Silviza und der 
Serebränka entwickelt sind. Diese Zone wird von der Utka, gleichfalls einem rechten Zufluss 
der Tschussowaja, in ähnlicher Richtung durchschnitten wie von den beiden anderen. Wir 
bemerken nur, dass eine Werst unterhalb Wisimo-Utkinsk am Ufer der Utka Kalkstein 
ansteht, der in den rothen Schiefer eingelagert ist. Bei unserer flüchtigen Untersuchung 
desselben gelang es nicht organische Reste darin zu finden, was von besonderem Interesse 
gewesen wäre, da wir anderswo keine Kalksteinlager mitten in der Region der rothen 
Schiefer angetroffen haben. — Der Landweg von Wisimo-Utkinsk bis Utkinsky Pristan 
an der Einmündung der Utka in die Tschussowaja führt im Thonschiefer hin. 5 Werst vor 
dem Hafen tritt in den Schiefern ein quarziges Gestein auf, welches zum Hochofenbedarf 
gebrochen wird, und 2'/, Werst vor Utkinsky Pristan gelangt man in die Region der 
Kalksteine, deren Verhältniss zum rothen Thonschiefer wir weiter unterhalb im Zusam- 
menhange mit der Untersuchung der Tschussowaja-Ufer betrachten werden. 

Die Tschussowaja fliesst von Martianowa bis Oslansky Pristan mit vielfachen Schlin- 
gungen in nordwestlicher Richtung längs dem Gebirge hin und biegt dann nach West der 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 51 


Kama zu. Die Untersuchungen auf dieser Fahrt beginnen nördlicher als die im Jahre 
1855 abgeschlossen worden waren, so dass wir den ganzen Lauf des Stromes von Bilim- 
bajewsk bis Tschisma auf unseren Uralreisen nicht kennen gelernt haben. 

Bei Martianowa trafen wir wieder den Bergkalk, den wir bei Kurji verlassen hatten. 
Er ist hier von grauer Farbe, enthält Hornsteinknollen, zuweilen auch ganze Schichten 
dieser Substanz und streicht nach NO bis NW mit einem Einschiessen gegen SO bis SW. 
Von Martianowa bis in die Nähe des Dorfes Wolegobowa enthält er zahlreiche Durch- 
schnitte des Spirifer Mosquensis Fischer, dessen stark entwickelte Unterstützungsla- 
mellen der Zähne («Zahnplatten») diesen Resten so täuschende Aehnlichkeit mit den 
Durchschnitten des Pentamerus Vogulicus verleihen, dass wir uns anfänglich in silurische 
Schichten versetzt wähnten. Das Einfallen ist unbeständig bald nach NW bald nach NO 
bis О. Das Streichen schwankt also um den Meridian. 4 Werst oberhalb des Dorfes Wo- 
legobowa treten im harten Kalkstein thonige Lagen derselben Gebirgsart auf. Sie enthal- 
ten Spirifer Mosquensis Fischer, Productus semireticulatus Mart., Chonetes lobata n. sp. und 
Orthisina arachnoïdea Phill. Die beiden ersteren Arten deuten auf eine mittlere Etage des 
Bergkalkes, welche zwischen Martianowa und diesem Dorfe vorzugsweise aufgeschlossen 
ist. Scharfkantige Kalksteintrümmer, die wir im Flussbett auflasen, enthalten Productus 
punctatus Mart. der einer tieferen Etage anzugehören pflegt. Wolegobowa gegenüber steht 
unterer Bergkalk an. Wir fanden hier Productus hemisphaericus im Kalkstein des Lissi Ka- 
men. — 3 Werst unterhalb Wolegobowa führen die Kalksteinfelsen Durchschnitte eines 
kleinen Productus und 6 Werst vor Ilinsk beobachteten wir eben solche Reste einer Nau- 
ttlus-Art. Dabei enthält der Bergkalk häufig Hornsteinknollen. Ebenso enthalten die vom 
Strome geglätteten Kalksteinfelsen 3°, Werst vor Ilinsk Durchschnitte von Productus und 
Nautilus. — Bei Ilinsk selbst fällt der Bergkalk gegen SW bis SO ein, streicht also nach 
NW bis NO. Die untersten Schichten der hohen Kalksteinfelsen am Flusspiegel der 
Tschussowaja und Ilinka sind besonders hart und von grauer Farbe. Sie sind reich an 
Ausscheidungen von Hornstein, enthalten aber an Petrefacten nur Polyparien. Der Kalk- 
stein in den oberen Etagen ist leichter zu zerschlagen und erfüllt mit Chonetes papilionacea 
Phill. Ausserdem fanden wir in denselben Schichten Productus giganteus Мата. Productus 
striatus Fischer, Pr. Cora d’Orb. Terebratula sacculus Mart. Diese Versteinerungen gehören 
der unteren Etage des Bergkalkes an. Mit ihnen kommen Reste von Nautilus und Bellero- 
phon vor, von denen wir uns keine bestimmbaren Exemplare verschaffen konnten. 

3 Werst unterhalb Ilinsk schiessen Schichten harten grauen Kalksteins mit Horn- 
steinknollen gegen N: 20° O ein, streichen also nach W 20° N. 2 Werst oberhalb Pe- 
trowsky Pristan ist ähnlicher Kalkstein, der ebenso gelagert ist mit den weissen späthigen 
Durchschnitten eines grossen Productus, eines grossen Nautilus und einer grossen Gastero- 
pode mit spitz zulaufenden Windungen erfüllt. Diese selteneren Reste erscheinen auf den 
vom Wasser glatt geschliffenen Flächen grosser Blöcke des harten dunkelgrauen Kalkstei- 

* 


52 _ M. v. GRÜNEwALDT, 


nes, ohne dass es möglich ist sie aus demselben zu befreien, da sie mit dem umhüllenden 
Gesteine brechen. 

Bei dem Dorfe Soulem, das seinen Namen einem rechten Zuflusse der Tschussowaja 
verdankt, nähert sich diese der Formation der rothen Schiefer, welche hier wie an der Se- 
rebränka von Kalkstein mit devonischen Versteinerungen überlagert werden. Das rechte 
Ufergehänge des Soulem wird in der unmittelbaren Nähe seiner Ausmündung von rothem 
Thonschiefer gebildet, der dieke Lagen von Sandstein enthält. Oben am Berge werden | 
diese Schichten von thonigem Kalkstein überlagert, dessen überaus zahlreiche und wohl 
erhaltene Versteinerungen, vom Wasser losgespült, im Schutte des Abhanges umherliegen. 
Diese Ablagerungen schiessen gegen SW ein. Gegenüber, am linken Ufer des Soulem, 
steht dünn geschichteter, harter Kalkstein an, der Hornsteinknollen enthält und sich bis 
an das Ufer der Tschussowaja erstreckt. Er theilt das Einschiessen der Schiefer und devo- 
nischen Kalksteine, und da er, nur von dem schmalen Flussbett geschieden, in SW von 
denselben liegt, bildet er das Hangende der Ablagerungen, welche bei Soulem aufge- 
schlossen sind. Wir haben keine organischen Reste in diesem Kalkstein gefunden. Die de- 
vonischen Schichten dagegen enthalten: Spirifer Glinkanus М. У. К. Sp. Pachyrinchus М. 
У. К. und eine kleine Varietät des Spirifer glaber Mart. Cyrthia Murchisoniana de Kon? 
Athyris concentrica v. Buch, Spirigerina retieularıs Lin., Sp. aspera v. Schloth. Sp. Duboisi 
М. У. K., Rhynchonella formosa Schnur, Orthis striatula v. Schloth. und Productus Murchiso- 
nianus de Kon. — Wir haben schon in der Einleitung bemerkt, dass von diesen 11 Arten 
7 im Eifeler Kalkstein vorkommen. Sie schliessen sich durchaus der devonischen Fauna 
an der Serebränka und der von Kinowsk an, welche die Verfasser der Geol. of Russia be- 
schreiben. - 

2 Werst unterhalb Soulem steht am rechten Ufer der Tschussowaja gelber Sandstein 
an, der mit Ausscheidungen und ganzen Schichten von Hornstein so erfüllt ist, dass dieses 
Material in der Ablagerung beinahe vorwaltet. Diese Schichten streichen nach NW und 
fallen gegen NO ein. '/, Werst weiter schiesst harter, grauer Kalkstein, der Hornsteinknollen 
enthält, gegen S 20° W ein, streicht also nach W 20° N. Es finden sich darin schlecht er- 
haltene Korallen und unbestimmbare Abdrücke von Spirifer. — Bei Romanowa fällt blei- 
grauer Kalkstein nach SW ein und streicht nach NW. 2 Werst unterhalb jenes Dorfes ist 
der Kalkstein des linken Ufers mit Durchschnitten von Productus erfüllt. 3 Werst weiter 
unterhalb enthält er Hornsteinknollen, streicht nach NW und fällt gegen SW ein. — 
Hierauf folgen '/, Werst weiter dünn geschichtete, vielfach gewundene und geknickte 
Kalksteine, und dann erscheinen nach einem mit Vegetation bedeckten Abhange die rothen 
Thonschiefer, welche durch eine Lage harten Sandsteins vom Kalkstein geschieden sind. 

Bis 2 Werst vor Utkinsky Pristan fliesst die Tschussowaja in den rothen Schiefern 
hin, und wendet sich dann wieder in die Kalksteinablagerungen zurück. An dieser Stelle ist 
das ganze Schichtenprofil an der Grenze der Thonschiefer und Kalksteine aufgeschlossen. 
Wir geben diese Schichten in der Reihe von unten nach oben wieder, wie sie am linken 


BEITRÄGE zuUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 53 


Ufer des Flusses erscheinen, der sie vom Liegenden ins Hangende quer durchbricht. Das 
Einfallen der ganzen Ablagerung ist durchaus gleichmässig gegen SW, das Streichen nach 
NW gerichtet. Unsere Zeit erlaubte nicht die Mächtigkeit der einzelnen Schichtengruppen 
zu messen, eine Operation, die immer nur annähernde Resultate giebt, da der Querschnitt 
durch die Schichten fast nie ein ganz verticaler ist. 

Auf die mächtige Zone rother Thonschiefer folgt: 

1. Harter, gelber Sandstein, mit Zwischenlagen von kohliger Substanz gefärbten 
Schieferthones. 

2. Gut geschichteter Kalkstein von grauer Farbe. 

3. Plumper schwarzer Kalkstein wie an der Einmündung der Schuroska in die 
Tschussowaja. 

4. Dunkler, geschichteter Kalkstein mit Zwischenlagen schwarzen, von Kohle ge- 
färbten Schieferthones. 
. Dünne Lage thonigen Kalksteins, erfüllt mit Spirigerina retieularıs. 
. Harter, blaugrauer Sandstein von heller Farbe. 
. Schwarze Thonschicht. 
. Dünne Lage Kalkstein wie in 5 mit Spirigerina reticularıs. 
. Dunkelgrauer, schwärzlicher Sandstein. 

10. Dünne Lage Kalkstein wie in 5 und 8 mit Sp. retieularıs. 

11. Dunkler, blaugrauer, gut geschichteter Kalkstein von grosser Mächtigkeit. — 
Setzt wahrscheinlich bis Utkinsky Pristan ununterbrochen fort. 

Die aufgezählten Schichten, mit Ausnahme von 11, nehmen am Flussufer eine Strecke 
von etwa 4—500 Gängen ein. Von hier bis Utkinsk fliesst die Tschussowaja vorwaltend nach 
W, also ins Hangende, und bei diesem Orte erscheint der blaugraue Kalkstein in N. 11 
wieder, nachdem das Ufer auf einer unbedeutenden Strecke mit Vegetation bedeckt war. 
Vor dem Dorfe fanden wir nach längerem Suchen in diesem Kalkstein das Bruchstück 
einer feingestreiften Chonetes-Art, so wie einen schlechten Abdruck, der von Orthisina 
arachnoidea Phill. herzurühren scheint. Es ist daher wahrscheinlich dass der Kalkstein in 
11 dem Bergkalk zuzurechnen ist. — Dem Dorfe gegenüber wird er von hartem, gelbem 
Sandstein überlagert, der am linken Ufer ansteht und ebenso wie N. 1 dem Kohlenfüh- 
renden Gesteine an der Kosswa und Lunja gleicht. Er enthält aber Zwischenlagen von 
schwarzem Hornstein, wie der ähnliche Sandstein 2 Werst unterhalb Soulem und ausser- 
dem mehrere, Fuss mächtige Einlagerungen weichen, stark mit Kohlenstoff imprägnirten 
Schieferthones. In einzelnen Schichten dieses Schieferthones wurde von Kuschwa aus auf 
Steinkohle geschürft. ') Es fanden sich indessen nur härtere Kohlenstoffreiche Massen, die, 
ohne zu verbrennen, im Feuer glühen und sich mit weisser Asche überziehen. Ueber die- 


© © I © © 


* 
!) Die Tschussowaja macht hier die Grenze zwi- | rechten und dem Terrain der Krone auf der linken 
schen den Besitzungen des Fürsten Demidof auf der | Seite. 


54 M. v. GRÜNEWALDT, 


ser Sandstein-Ablagerung liegt wieder Kalkstein, in dem wir den Durchschnitt eines Nau- 
tilus und zwei Bruchstücke von Productus fanden, welche, wenn gleich schlecht erhalten, 
doch deutliche Spuren der eigenthümlichen Faltung des Productus giganteus zeigen. — Hier 
ist also der untere Bergkalk sicher nachgewiesen. — In gerader Linie steht der rothe 
Thonschiefer etwa 2 Werst von der Stelle an, wo der Bergkalk mit Prod. giganteus den 
gelben Sandstein überlagert. Es kann dieser daher als 12 und jener als 13 zum obigen 
Schichtenprofil, dem vollständigsten, das wir an der Tschussowaja beobachtet haben, hin- 
zugefügt werden. 

Von Utkinsk verfolgten wir die Utka zu Pferde aufwärts, und fanden, dass sie in 
einem weiten Bogen die Grenze der rothen Schiefer und der Kalksteine zwei Mal durch- 
schneidet, bevor sie in die Tschussowaja fällt. An keinem dieser beiden Profile fanden wir 
Versteinerungen. Das obere besteht aus folgenden Schichten. Zu unterst über den rothen 
Schiefern liegt: 

1. Harter gelber Sandstein. 

. Rothe und grüne Schiefer. 

. Harter gelber Sandstein. 

. Thoniger Kalkstein. 

. Harter Kalkstein von dunkler Farbe. 

An dem unteren wird der rothe Schiefer gleichfalls zuerst von hartem, gelbem Sand- 
stein überlagert, der eine geringe Mächtigkeit hat, und hier von kohliger Substanz schwarz 
gefärbte Schieferletten enthält. Darauf folgt Kalkstein, der von einem mächtigeren Lager 
ähnlichen Sandsteins bedeckt wird, in dem die Beamten des Fürsten Demidof vergebliche 
Nachforschungen nach Steinkohle angestellt haben. 

Obgleich wir an der Utka keine Versteinerungen gefunden haben, so reichen die 
analogen Verhältnisse bei Soulem und oberhalb Utkinsk an der Tschussowaja, so wie die 
an der Serebränka hin, um die nächsten Ablagerungen über dem rothen Schiefer für devo- 
nische zu erklären. An der Utka ist das Einfallen der Schichten ähnlich wie an der 
Tschussowaja gegen W 20° $ mit 30°—40° Neigung, das Streichen also nach N 20° W. 

Es wäre ermüdend die Beobachtungen im Detail wiederzugeben, welche wir in unse- 
ren Tagebüchern über die bereits bekannten Schichten auf der weiten Strecke notirt ha- 
ben, welche die Tschussowaja zwischen Utkinsk und Oslansky Pristan durchströmt. Wir 
bemerken nur, dass sie auf dieser ganzen Strecke nirgends die Grenze der Thonschiefer 
und Kalksteine berührt, bis sie beim Dorfe Simnäkowa unmittelbar oberhalb Oslansky Pris- 
tan wieder in die Zone der rothen Schiefer einbricht. Hohe Kalksteinfelsen mit steiler 
Schichtung von bald dunkler, bald hellerer Färbung, welche häufig Ausscheidungen von 
Hornstein enthalten, schliessen überall das enge Flussbett ein. Nirgends haben wir in den- _ 
selben, die Umgegend von Kinowsk ausgenommen, organische Reste gefunden, und glau- 
ben daher dass der grösste Theil dieser mächtigen Ablagerungen zu den Versteinerungsar- 
men Kalksteinen gehört, welche zwischen den Schichten mit devonischen Versteinerungen 


op wm 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 55 


und dem unteren Bergkalk mit Productus giganteus entwickelt sind. In dieser Voraussetz- 
ung befestigte uns besonders die Untersuchung der Umgegend von Kinowsk. 

Gleich nach unserem Eintreffen in Serebränsk hatte ich eine Excursion nach Ki- 
nowsk in der Absicht unternommen die devonischen Schichten kennen zu lernen, welche 
die Verf. der Geol. of Russia von diesem Orte beschrieben haben. Trotz einer Anwesen- 
heit von zwei Tagen, während der ich die Felsentblössungen in der nächsten Umgebung 
des Ortes untersucht habe, gelang es mir nicht jene Schichten mit devonischen Verstei- 
nerungen wiederzufinden. Der Verwalter des Sawods zeigte uns einige devonische Arten, 
welche im sogenannten Museum des Hüttenwerkes aufbewahrt werden; aber Niemand in 
dem Fabrikorte kannte den Fundort derselben. 

Bei der Untersuchung der Kalksteinfelsen an den Ufern des Kin und der Tschusso- 
waja, die ich zu Fusse unternahm, stellte es sich heraus, dass der Sawod selbst auf den 
ältesten Schichten der Umgegend liegt. — Sie zeigen über der Sägemühle, an der linken 
Thalwand des Kin den Durchschnitt einer sattelförmigen Erhebung, von welcher aus man 
nach allen Richtungen ins Hangende der nach N 20° W streichenden Kalksteinschichten 
gelangt. Diese fallen beiderseits von dieser nach N 20° W gerichteten Erhebungslinie im 
Allgemeinen nach NO und SW ein. Diese Beobachtung stimmt mit den Angaben der Verf. 
der Geol. of Russia überein, nach welchen der Ort selbst auf devonischen Schichten liegt. 
Die rothen Thonschiefer treten hier indessen nicht zu Tage, wie schon aus der obigen Be- 
merkung über ihre Verbreitung hervorgeht. — Die Tschussowaja, welche die Grenze zwi- 
schen dem Gebiete der Krone und dem von Kinowsk macht, fliesst an der östlichen Seite 
des Sattels hin, woher die Schichten an ihren Ufern sowohl oberhalb als unterhalb des 
Sawods nach NO einschiessen. Das Querthal des Kin erstreckt sich dagegen mehr nach 
W und durchschneidet die Schichten, welche auf der entgegengetetzten Seite des Sattels 
nach SW einfallen. 

Ich verfolgte zuerst das linke Tschussowaja-Ufer von Kinowsk abwärts, und über 
Dolgii-Lug immer weiter ins Hangende der regelmässig an den Fluss ausstreichenden 
Kalksteinschichten vordringend, traf ich den unteren Bergkalk beim sogenannten Multik 
Kamen, dessen auch die Verf. der Geol. of Russia erwähnen. Er enthält Hornsteinknol- 
len und grosse Exemplare des Productus giganteus. Die ganze Schichtenreihe von Kinowsk 
an, mit Inbegriff des Multik Kamen, fällt gleichmässig nach O 20° N mit etwa 50° Nei- 
gung ein und wird von grauem Kalkstein gebildet, der Hornstein enthält und den Gestei- 
nen gleicht, welche vorwaltend die Uferfelsen der Tschussowaja auf der ganzen Strecke 
zwischen dem Hafen von Tagil und Simnäkowa zusammensetzen. 

Unmittelbar vor dem Multik Kamen macht der Fluss eine scharfe Biegung nach 
rechts und bildet an derselben auf wenige Gänge hin ein sandiges Gestade, dem eine Ver- 
tiefung zwischen den Kalksteinfelsen des linken Ufers entspricht. Ich entdeckte die Ursache 
davon in einer Ablagerung harten, gelben, auf dem frischen Bruche weissen Sandsteins, 
dessen Aehnlichkeit mit den Steinkohlenführenden Schichten an der Kosswa und Lunja 


“ 


56 M. v. GRÜNEWALDT, 


mir auffiel. Er wird wie diese von dem unteren Bergkalk des Multik Kamen überlagert. 
Auf eine Bemerkung gegen die Beamten des Grafen Stroganof, welche mich begleite- 
ten, dass diese Schichten in anderen Gegenden des Gebirges Steinkohle führen, erhielt ich 
zur Antwort, dass ein Paar Werst in S von Kinowsk, gerade in der entgegengesetzten 
Richtung in der wir uns befanden, ebenfalls Steinkohle aufgefunden worden sei. 

Ich begab mich in den Sawod zurück und ritt an die Kohlengrube. Der Waldweg führt 
in südlicher Richtung zwischen der Schlucht des Kin und der oberen Tschussowaja’auf Kalk- 
steinhin, bis man vor der Grubein den gelben Sandstein gelangt, welcher dem am Multik Ka- 
men durchaus gleicht. Die Kohle ist hier in weichem Schieferthon, der dem Sandstein ein- 
gelagert und zum Theil mit Kohlenstoff imprägnirt ist, beim Suchen nach Eisenerz aufge- 
funden worden. Sie ist von geringer Mächtigkeit und durch starken Gehalt an Schwefel- 
kies unbrauchbar. Ob neben diesem Flötz noch andere von besserer Beschaftenheit vor- 
handen sind, ist nicht ermittelt worden. Der mit Vegetation bedeckte ebene Boden in der 
Umgegend der Kohlengrube verhinderte weitere geognostische Nachforschungen. Wir be- 
merken nur, dass hier wie bei Kiselowsk der gelbe Sandstein einen Theil der okrigen 
Brauneisensteine enthält, welche in der Hütte von Kinowsk verschmolzen werden. Ein sol- 
ches Erzlager wird in der Nähe der Kohlengrube von Tage abgebaut. 

Etwa eine Werst oberhalb der Mündnng des Kin streicht eben solcher Sandstein am 
linken Ufer der Tschussowaja aus. Er enthält 8—10, mehrere Fuss mächtige Lagen mit 
Kohlenstoff imprägnirten und vom Wasser aufgelösten Schieferthones, der so schwarz ist, 
dass wir einzelne festere Stücke vor der Untersuchung für unreine Steinkohle hielten. 
Diese Ablagerung streicht an das rechte Flussufer hinüber, durchschneidet eine kleine 
Landzunge, welche die Tschussowaja Kinowsk gegenüber bildet, und setzt dicht unterhalb 
der Mündung des Kin wieder durch die Tschussowaja, wo wir sie bei unserer ersten Wan- 
derung nach dem Multik Kamen übersehen hatten, da sie vorzüglich am rechten Tschusso- 
wajaufer aufgeschlossen ist, während wir sie unter den Häusern des Sawods am linken 
nicht bemerkt hatten. 

Diese Sandsteinablagerung liegt somit viel tiefer in der ganzen Schichtenreihe zwi- 
schen der Mündung des Kin und dem Multik Kamen, als der Sandstein, welcher bei letzterem 
unmittelbar unter dem Bergkalk mit Productus giganteus ansteht. — Im Profil von der Mün- 
dung des Kin bis zum Multik Kamen erscheint sie nahe der Basis der Kalksteine und un- 
weit des Schichtenbruches am innersten Sattel, der über der Sägemühle in antikliner 
Schichtenstellung auigeschlossen ist. Die ganze Kalksteinmasse, welche die Tschussowaja 
allerdings in sehr schräger Richtung von den letzten Häusern des Sawods an ihrem linken 
Ufer bis zum Multik Kamen durchbricht, trennt diese beiden Sandsteinablagerungen von 
einander. ') 


1) Die tiefere Sandsteinablagerung, welche oberhalb | ist, hat einen Platz in dem Profil der devonischen 
Kinowsk am Ufer der Tschussowaja nicht zu übersehen | Schichten, welche die Verf. der Geol. of Russia bei Ki- 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. БУ 


Verfolgt man die Schlucht des Kin von dem Centrum des Sattels über der Sägemühle 
aufwärts, so gelangt man aus dem Versteinerungsleeren, an dieser Seite der Erhebungs- 
linie nach SW einschiessenden Kalkstein, beim Hochofen zuerst in Bergkalk, in dem wir 
Productus hemisphaericus fanden. An dieser Seite sind wir, bevor wir in den Bergkalk ge- 
langten, auf keine Sandsteinablagerung gestossen, was bei unserer Auffassung der Lage- 
rung zwei Mal zu erwarten war.') Dagegen steht der harte gelbe Sandstein an dem Wege, 
der vom Hochofen zum obersten Wasserreservoir des Hüttenwerkes führt, erst jenseits 
der Kalksteinhöhe an, deren Schichten den Productus hemisphaericus enthalten. — Oberhalb 
jener obersten Stauung von Kinowsk, (der Kin ist hier mehrere Male aufgedämmt worden) 
stiessen wir auf Sandstein, der weicher und weisser ist als der Steinkohlenführende. 

Wir hatten in dem kurzen Zeitraum zweier Tage nicht die Mittel genauere Profile 
in einer Gegend aufzunehmen, deren allgemeines geognostisches Bild zu entwerfen wir 
deshalb für unsere Schuldigkeit halten, weil es die einzige ist, in der wir an den Grenzen 
der Berghauptmannschaft Kuschwa schlagende Analogieen mit den Lagerungsverhältnissen 
der Steinkohlenführenden Schichten an der Kosswa und Lunja nachweisen können. — Die 
Umgegend der Kohlengrube selbst ist zu wenig aufgeschlossen, als dass wir bei unserem 
kurzen Aufenthalte ermitteln konnten, ob diese Steinkohle der tieferen oder höheren 
von den beiden Sandsteinablagerungen angehört, welche wir bei Kinowsk unterschieden 
haben. Noch während unserer Anwesenheit wurden von der Bergverwaltung in Kuschwa 
Untersuchungsarbeiten auf Steinkohle am Ausgehenden der tieferen Sandsteinablagerung 
des rechten Tschussowajaufers, gegenüber der Mündung des Kin, angeordnet. Dazu ver- 
“ anlassten besonders die stark mit Kohlenstoff imprägnirten Schieferthone, welche an jener 
Stelle ausstreichen und zugleich mit dem Kohlenflötz bei Kinowsk vorkommen. Wir be- 
merken, dass der Sandstein am Multik Kamen derjenige ist, welcher geognostisch am 
genauesten mit der Lagerung der Kohlenführenden Schichten an der Kosswa überein- 
stimmt, und daher theoretisch zu den meisten Erwartungen auf Steinkohle berechtigt. 
Da diese Sandsteinablagerung vom Flusse wenig entblösst wird, kann kein Gewicht darauf 
gelegt werden, dass hier keine kohligen Substanzen zu Tage treten. 

Es bleibt noch übrig anzuführen, dass die Tschussowaja in der weiteren Umgebung 
von Kinowsk zwischen den Dörfern Kisseli und Kirpitschi, ungefähr 2 Werst oberhalb des 
letzteren, eine andere Ablagerung gelben harten Sandsteins durchbricht, in dem Zwischen- 
lagen von kohliger Substanz gefärbten Schieferlettens enthalten sind. Diese Schichten strei- 
chen nach NO und fallen gegen SO ein. In dem Kalkstein im Hangenden derselben haben 
wir vergeblich nach Petrefacten gesucht. Er enthält Hornstein und hin und wieder späthige 


nowsk aufzählen. Zwischen dem Sawod und jener Stelle 1) Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass eine sol- : 
fanden wir auch den weichen, sandigen Kalkstein mit | che Anomalie in localen Störungen eine Erklärung fin- 
grossen Krystallen von Kalkspath von dem in demselben | det, ohne die bis zu einem gewissen Grade allgemeine 
Profile die Rede ist. — Des Sandsteins am Multik Ka- | Anordnung der Schichten umzustossen, welche wir bei 
men erwähnen sie indessen nicht. | Kinowsk angedeutet haben. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Serie 8 


58 М. у. GRÜNEWALDT, 


Streifen, die ihre Gestaltung möglicher Weise Durchschnitten von Productus verdanken 
können. — Ein Platzregen hinderte uns unsere Beobachtungen an dieser Stelle weiter 
auszudehnen. — Endlich bemerken wir, dass dicht unterhalb Kaschkinsk heller Kalkstein 
auf Schichten eines weichen Sandsteins mit kalkigem Bindemittel ruht. 

Wir beschliessen unsere Schilderung der Tschussowaja-Ufer mit einigen Bemerkungen 
über ihre geognostische Beschaffenheit zwischen Oslansky Pristan und Tschisma, bis wo- 
hin diese Flussfahrt ausgedehnt wurde. 

Die rothen Schiefer mit Einlagerungen harter Sandsteinschichten fallen zwischen Os- 
lansky Pristan und Nishne Oslansk nach W bis SW ein. — Diese harten Zwischenlagen 
brausen nicht mit Säure. Nach Murchison, Verneuil und Keyserling kommen hier 
indessen kalkige Einlagerungen im Schiefer vor. 37, Werst vor dem Dorfe Kopschik, wo 
der Fluss nach der grossen östlichen Biegung bei Oslansk wieder eine nördlichere Rich- 
tung einschlägt, fliesst er an der Grenze der rothen Schiefer, die am rechten Ufer vorwal- 
ten und eines dunklen Kalksteins hin, der hier am linken ansteht. Mit diesem Kalkstein 
kommt, wie bei Utkinsk, an der Grenze der rothen Schiefer gelber quarzitartiger Sandstein 
vor, der ebenfalls von kohliger Substanz gefärbte Lettenlagen enthält. Das Ganze ist wenig 
aufgeschlossen. — Unterhalb Kopschik liegen Kalksteintrümmer am linken Ufer, am rech- 
ten stehen die Schiefer an, welche der Mündung der Silviza gegenüber beide Gehänge bil- 
den und nach О bis SO einschiessen. — Unterhalb der Mündung der Silviza betritt der 
Fluss wieder die Zone der Kalksteine, welche die Schiefer überlagern. Am Jermakfelsen 
fallen sie nach O 20° S ein. — Eine Werst unterhalb dieses Felsens besteht der untere 
Theil der rechten Uferwand aus Sandstein von dunkelgrauer Farbe mit einem Stich ins 
Röthliche. Er braust schwach mit Säure, was auf ein kalkiges Bindemittel schliessen lässt, 
fällt nach NO in den Berg hinein und wird von Kalkstein bedeckt, der den oberen Theil 
des Felsens bildet. 7, Werst weiter unterhalb senkt sich dieser Kalkstein an das Niveau 
des Wasserspiegels herab; wir fanden aber keine Versteinerungen darin. Er bildet in steil 
aufgerichteten, oft scharf umgebogenen und geknickten Schichten die Uferfelsen, bis 2 
Werst oberhalb Poläkowa wieder jener Sandstein im Liegenden des Kalksteins zum Vor- 
schein kommt. Hier ist er von grünlicher Farbe und muss als ein echter Grauwackensand- 
stein bezeichnet werden, da er Brocken von Thonschiefer einschliesst. Dieses Sandsteinla- 
ger entspricht ohne Zweifel einem Gliede der devonischen Schichtenreihe, welche oberhalb 
Utkinsky Pristan an der Tschussowaja aufgeschlossen ist. — Von hier steht Kalkstein 
bis Tschisma an. — Unmittelbar vor diesem Dorfe besteht ein Felsen aus weichem Kalk- 
stein, der Sand enthält. Er wird von festem Kalkstein überlagert, in dem wir Stromato- 
pora concentrica fanden, ein Beweis dass diese Schichten älter als der Bergkalk sind. 


Wirft man einen Rückblick auf die Summe der Beobachtungen, welche wir von den 
Ufern der Silviza, Serebränka, Utka und Tschussowaja mitgetheilt haben, und sucht 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 59 


daraus ein Profil der Formationen zu gewinnen, wie sie in diesem Theile des Gebirges am 
Westabhange desselben auf einander folgen, so beginnt die Reihe mit den krystallinischen 
Schiefern, welche den Kamm der Kette zusammensetzen. Hierauf folgen die dunklen, meist 
schwarzen Schiefer, welche wir an den Ufern der Silviza kennen lernten. Auch in diesen 
erscheinen quarzige Schichten; jedoch untergeordneter als in den Bergen von Kussa und 
Satka. Die rothen Schiefer an der unteren Silviza, der Serebränka und Utka, so wie bei 
Soulem, Utkinsky Pristan und zwischen Simnäkowa und der Mündung der Silviza an der 
Tschussowaja, müssen als ein jüngeres Glied in der Reihe angesehen werden, da sie die 
mächtige Basis bilden, auf welcher die ersten Schichten mit organischen Resten ruhen. 
Diese sind devonischen Alters und entsprechen dem Eifeler Kalkstein, welcher am Rhein 
das Centrum dieser Formation einnimmt. — Auf die devonische Formation folgt die des 
Bergkalkes, welche wir in diesem Theile des Gebirges nur in ihrer unteren und mittleren 
Etage erkannt haben. Erstere waltet durchaus vor, während letztere nur in der Gegend 
von Martianowa und Wolegobowa an den Ufern der Tschussowaja aufgeschlossen zu sein 
scheint. 

Wie die Schichtenreihe zwischen den krystallinischen Schiefern und der devonischen 
Formation sich durch massenhaft vorwaltendes thoniges Material auszeichnet, so erscheint 
mit den devonischen Versteinerungen der Kalkstein als herrschende Substanz und nimmt 
mit dem Auftreten des Bergkalkes an Mächtigkeit zu. 

Die Grenze zwischen den devonischen Kalksteinen und dem Ве haben wir in 
der ungeheuren Kalksteinablagerung bisher nicht mit Sicherheit bestimmen können. De- 
vonische Versteinerungen fanden wir nur in den Schichten, welche im Verhältniss zu der 
totalen Mächtigkeit der ganzen Kalksteinablagerung sehr nahe über dem rothen Schiefer 
liegen, und an der Serebränka so wie bei Soulem unmittelbar auf demselben ruhen, oder 
nur durch dünne Sandsteinlagen, wie sie in den Schiefern selbst vorzukommen pflegen, 
von demselben getrennt sind. — In dem Profil devonischer Schichten oberhalb Utkinsk 
am linken Ufer der Tschussowaja erscheinen die sich wiederholenden Lagen thonigen 
Kalksteins mit Spirigerina reticularis am weitesten vom unmittelbaren Contact mit den 
rothen Schiefern. Nur bei Kinowsk kommen devonische Versteinerungen, deren Lager- 
stätte wir selbst nicht aufgefunden haben, nach den Verfassern der Geol. of Russia in 
Kalksteinen vor, ohne dass ebendaselbst die rothen Schiefer zu Tage treten. 

Jedenfalls muss angenommen werden, dass eine überaus mächtige Ablagerung von 
festem, meist grau gefärbtem und häufig Hornstein führendem Kalkstein, der arm an orga- 
nischen Resten ist, die Schichten mit devonischen Versteinerungen von denen trennt, 
welche den Productus giganteus enthalten. Ob dieser Theil der Kalksteine der devonischen 
oder der Kohlenformation zuzuzählen ist, wagen wir nicht mit Sicherheit zu bestimmen. 
Nur bei Utkinsky Pristan haben wir in diesem Horizonte schlechte Petrefacten gefunden, 
welche letzteres wahrscheinlicher erscheinen lassen. So wenig wir sonst geneigt sind Ge- 
steinsanalogieen bei der Classification sedimentärer Bildungen eine allgemeine Bedeutung 


* 


60 М. у. GRÜNEWALDT, 


zuzusprechen, зо dürfte doch das Auftreten des Hornsteins in diesen Schichten, еше 
weit verbreitete Eigenthümlichkeit des uralischen Bergkalkes, als zweite Wahrscheinlich- 
keit für dieselbe Annahme in die Waagschale fallen. 

Sandsteine sind, wie wir überall beim Erscheinen der Schichten mit devonischen 
Versteinerungen gesehen haben, wenngleich im Gefolge derselben untergeordnet, so doch 
an der Grenze der rothen Schiefer und des Kalksteins am häufigsten. Wir haben an der 
Basis der Kalksteine Sandsteinablagerungen von verschiedenartiger Zusammensetzung, 
Härte, Färbung und Mächtigkeit kennen gelernt. 

Unter ihnen ist der harte, an der Oberfläche gelbe, auf dem frischen Bruche weisse, 
durch sehr feines Korn und Mangel jeglichen fremden Bindemittels in Quarzit übergehende 
Sandstein auch dadurch ausgezeichnet, dass er meistentheils mit Zwischenlagen von kohli- 
ger Substanz schwarz gefärbter Schieferletten erscheint. Er tritt zwischen dem rothen 
Thonschiefer und dem unteren Bergkalk mit Productus giganteus in mehreren, wahrschein- 
lich drei verschiedenen Etagen auf. — Bei Utkinsky Pristan an der Utka und Tschusso- 
waja, so wie an letzterer bei Kopschik, erscheint dieser gelbe Sandstein mit kohligen Let- 
ten als erste Schichtengruppe zwischen dem rothen Thonschiefer und den darüber liegen- 
den Kalksteinen an allen Stellen wo diese Aufiagerung entblösst ist. An der Utka kehrt er 
in dem darüber liegenden Kalkstein wieder und an der Tschussowaja liegt er, dem Dorfe 
Utkinsk gegenüber, unter den ersten Schichten mit Productus giganteus. Hier ebenso wie 2 
Werst unterhalb Soulem enthält er Ausscheidungen und Zwischenlagen von Hornstein. 
Zwischen Kisseli und Kirpitschi haben wir ihn in den Versteinerungsarmen Kalksteinen 
getroffen, welche wir vorläufig als ein Zwischenglied der devonischen und Bergkalkforma- 
tion bezeichnet haben. Bei Kinowsk erscheinen zwei Etagen dieses Sandsteins. Die eine 
in demselben Versteinerungsarmen Kalkstein, die andere unmittelbar unter Bergkalk mit 
Productus giganteus. Eine von ihnen enthält im Schieferletten ein Steinkohlenflötz von 
schlechter Beschaffenheit. An der Kosswa enthält dieser Sandstein unmittelbar unter 
Bergkalk mit Productus giganteus neben solchen Lettenlagen ein mächtiges Kohlenflötz, das 
vielleicht bis an die Lunja fortsetzt. Genau dasselbe Gestein wurde uns endlich von Ka- 
lino an der Tschussowaja gebracht, wo es gleichfalls das Muttergestein eines bauwürdigen 
Steinkohlenflötzes bildet. 

Es ist daher anzunehmen, dass geringere Ablagerungen dieses eigenthümlichen Sand- 
steins mit Zwischenlagen weichen Schieferlettens und kohliger Substanz an der Grenze 
der Thonschiefer und devonischen Kalksteine beginnen, nach oben zu mächtiger wieder- 
kehren und an, oder wahrscheinlicher in der Basis der Kohlenformation, unter Schichten 
mit Productus giganteus bauwürdige Kohlenflötze enthalten. Die grosse Härte dieses Sand- 
steins, das kaum kenntliche Korn ohne Bindemittel, so wie die gleichmässige Färbung un- 
terscheiden diese Ablagerungen in oryktognostischer Beziehung sehr wesentlich von 
den Schichten, welche im Revier von Kamensk am Ostabhange des Gebirges Steinkohle 
und Pflanzenabdrücke enthalten. Dass in geognostischer Beziehung am Ostabhange 


BEITRÄGE Zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 61 


ähnliche Verhältnisse obwalten, beweisen unsere Beobachtungen bei Kadinskoy am Isset, 
wo Schichten mit Pflanzenabdrücken in inniger Verbindung mit solchen auftreten, die Ei- 
feler Petrefacten führen; während die Steinkohle bei Suchoi Log an der Püschma mit 
Kalkstein erscheint, der Productus giganteus enthält. — Weiter nach Süden und schon an 
der oberen Tschussowaja scheinen die Einlagerungen im Bergkalk, wie bei Treki, in ihrem 
petrographischen Habitus mehr Analogie mit denen am Ostabhange zu zeigen. 

Das Streichen der Schichten an der Tschussowaja ist zwischen Martianowa und 
Tschisma von bemerkenswerther Regelmässigkeit. Von 52 Localitäten, an denen wir in 
unseren Tagebüchern Notizen darüber gemacht haben, fällt das Streichen an 40 Punkten 
zwischen die nördliche und nordwestliche Richtung. Von den 12 übrigen, an denen es 
zwischen N und NO liegt, fallen 7 Beobachtungen auf die kurze Strecke zwischen Martia- 
nowa und Wolegobowa. — Das Einfallen ist in gewissen Gegenden constant, schwankt 
aber im Grossen zwischen NO und SW, ohne dass eine dieser Richtungen vorwaltend 
wäre. Es scheint daher dass die Schichten hier in antiklinen Linien, die eine vorwal- 
tend nördliche bis nordwestliche Richtung haben, dem Gebirge parallel gehoben wor- 
den sind. Die Tschussowaja durchbricht in vielfachen Windungen diese Sättel an ver- 
schiedenen Punkten, und daher rührt das constante Streichen nach der erwähnten 
Himmelsgegend, während das Einfallen in den rechtwinkelig darauf liegenden Richtungen 
wechselt. 

Schliesslich machen wir darauf aufmerksam, dass wir Durchbrüche eruptiver Gesteine 
in diesem Theile des Gebirges nicht weiter von der krystallinischen Axe desselben ent- 
fernt, als in der Region der schwarzen Schiefer an der Silviza angetroffen haben. In den 
devonischen Schichten und der Formation des Bergkalkes scheinen sie hier ebenso wenig 
stattgefunden zu haben, wie in der Region der obersilurischen Kalksteine am Ai. Letztere 
fehlen in dieser Reihe palaeozoischer Formationen ebenso wie zwischen den krystallini- 
schen Schiefern von Bilimbajewsk und dem Bergkalke des oberen Utkinsk. — Wir finden 
sie dagegen am gegenüberliegenden Ostabhange mehr gegen Norden wieder. 

Sedimente am Ostabhange der Gebirgskette. — Der östlichste Theil der Berg- 
hauptmannschaft Kuschwa, besonders in dem Distrikte welcher ausschliesslich diesen Na- 
men führt, besteht aus zusammenhängenden Waldsümpfen. In diesen erheben sich Anhö- 
hen, welche ohne Ausnahme aus krystallinischen, meist aus Massengesteinen, besonders 
aber Porphyren und granitischen Felsarten bestehen. Ob die ausgedehnten Niederungen 
eine gleiche Felsbeschaffenheit haben, ist nicht zu ermitteln. Nach dem allgemeinen Ge- 
setz, dass härtere Gebirgsarten die Höhen bilden, während weichere in denjenigen Gegen- 
den die Niederungen zusammenzusetzen pflegen, wo beide nebeneinander vorkommen, ist 
mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch in diesen waldigen Sümpfen, wel- 
che wir in Ermangelung grösserer, mit Böten befahrbarer Gewässer nach allen Richtungen 
zu Pferde durchwandert haben, leichter zerstörbare Gebirgsarten anstehen. Nur an weni- 


62 M. v. GRÜNEWALDT, 


gen Punkten sind uns in dem von üppiger Vegetation bedeckten Boden sedimentäre Ge- 
steine zu Gesicht gekommen. 

Einer derselben liegt an dem Wege, welcher vom Dorfe Ieswa am Tagil über die Flüss- 
chen Winowka, Utka, Ieswa und Serebrennaja nach der Wyssokaja Gora und von dort an den 
Saldinskischen Weg führt. Wo dieser Pfad das Flüsschen Ieswa überschreitet, trafen wir 
Kalkstein, der hier als Baumaterial gebrochen wird. Seine Schichten fallen sanft gegen О 
ein. Er ist von dunkler Farbe und zerspringt unter dem Hammer leicht in feine Splitter. 
Nach längerem Suchen entdeckten wir in demselben ein Paar kaum kenntliche Korallen- 
reste. Der eine scheint von Stromatopora concentrica herzurühren, was diesem Kalkstein ein 
höheres Alter als das des Bergkalkes vindiciren würde. Die Lagerung ist durchaus 
verdeckt. | 

7 Werst von Kuschwa, auf der Strasse nach Tagil, führt ein Weg nach О in den Wald 
zu einem Kalksteinbruch, der etwa 27, Werst von der Strasse entfernt liegt und den 
Hauptbedarf dieses Materiales für das Hüttenwerk liefert. Dieser Kalkstein enthält weder 
Versteinerungen, noch ist irgend etwas über seine Lagerung zu beobachten. Die ganze 
Umgegend ist reich an Porphyr. Nur an der Stelle wo man die Strasse verlässt, um an 
den Steinbruch zu gelangen, findet sich ein Conglomerat, das aus kleinen Geschieben 
weissen Quarzes besteht, die von einer spärlichen, grünen Masse verbunden werden. 

An der Strasse von Werch Tura nach Nishne Tura ist ein verlassener Bruch in Ver- 
steinerungführendem Kalkstein angelegt, dessen silurisches Alter die Verf. der Geol. of 
Russia nachgewiesen haben. Die Stelle ist nur noch alten Leuten im Dorfe Imennaja, am 
Flusse gleichen Namens bekannt, der sich hier in die Tura ergiesst. 5 Werst südlich von 
demselben, an der Strasse nach Werch Tura muss man den Steinbruch am Flüsschen 
Isvestka suchen, welches im Walde westlich von der Strasse hinfliesst. Der Kalkstein be- 
steht fast nur aus Schalen der Leptaena Uralensis M. V. K., mit denen Pentamerus Vogulicus 
vorkommt. — Wahrscheinlich gehört der Versteinerungsleere Kalkstein, welcher beim 
Dorfe Imennaja am Flusse ansteht, derselben Ablagerung an. An der Brücke über die 
Imennaja kommt mit ihm ein Conglomerat vor, das aus Kalksteingeschieben und Stücken 
von Porphyr besteht, weiche durch eine grüne Masse verbunden sind. 

Mehr aufgeschlossen sind silurische Ablagerungen an der Tura, welche wir von 
Nishne Tura aus in zwei Tagereisen bis an die Stelle befuhren, wo die Strasse nach Bogos- 
slowsk den Fluss schneidet. —. 4 Werst oberhalb des Dorfes Jolkina trafen wir am linken 
Flussufer den ersten Kalkstein, nachdem wir anhaltend zwischen Porphyrfelsen hingefah- 
ren waren. Er ist von weisser Farbe und an den Kluftflächen oft röthlich angeflogen. 
Beim Dorfe selbst und in den umliegenden Steinbrüchen fanden wir Pentamerus Vogulieus 
M. V. K., Spirifer Uralo-altaicus Grünew. und eine schlecht erhaltene Leptaena. Diese Ver- 
steinerungen erweisen das obersilurische Alter des Kalksteins, welcher unterhalb an den 
Ufern der Tura bis an die Mündung der Wüja ansteht. Nachdem wir in Porphyr hinge- 
fahren waren, der DA Werst oberhalb der Mündung des Is Marmorblöcke einschliesst, die 


\ 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 63 


ohne Zweifel vom silurischen Kalksteine herrühren, trafen wir unterhalb der Mündung des 
Is wieder Kalkstein von grauer Farbe, der Crinoideenstiele enthält. Mit ihm kommt grün 
gebänderter Kalkstein und ein Conglomerat vor, dessen Geschiebe und Bindemittel aus Kalk- 
stein bestehen. Der Kalkstein fällt hier sanft gegen SO ein. — Von einer Stelle, 4 Werst 
unterhalb der Mündung des Is bis an die Mündung der ersten Taliza wechseln feine Con- 
glomerate und grobe Porphyrbreccien mit einander ab. Darauf bilden Porphyr und Breccie 
die vorwaltenden Gesteine, bis 3'/, Werst unterhalb des sogenannten Pissanni Kamen, eines 
Felsens der eine alte Inschrift trägt, harte graue Schiefer und endlich Kalkstein auftreten. 
Letzterer hat eine schiefrige Structur und steht beinahe senkrecht mit kaum merklichem 
Einfallen nach NO. Er hält von hier bis an die Einmündung der zweiten Taliza an, worauf 
wieder Porphyr und grauer Schiefer folgen. 

In Verbindung mit diesen Ablagerungen steht wahrscheinlich der silurische Kalkstein 
am Is, dessen auch die Verfasser der Geol. of Russia erwähnen. Die Stelle liegt 12 
Werst von dem Dorfe Jolkina entfernt an dem Wege nach den Gawrinskischen Gruben. 
Wenn man die Furth durch den Is passirt hat, reitet man eine halbe Werst flussabwärts 
und trifft dann bei einem verlassenen Bergwerk, von den Bauern Jurawlik genannt, niedrige 
Kalksteinklippen am Fluss, die mit Pentamerus Vogulicus erfüllt sind. Ich konnte ausser die- 
sem Petrefact bei anhaltendem Zerschlagen des Gesteines nur unbestimmbare Reste einer 
Gasteropode entdecken. 

Ebenso wahrscheinlich gehören die sedimentären Gesteine zu diesen Ablagerungen, 
welche in der Umgegend des Dorfes Taliza anstehen. Auf dem Wege von Mostowaja nach 
Taliza stösst man zwei Werst von diesem Dorfe an dem Flüsschen Imennaja auf weissen 
Kalkstein, der Stielglieder von Crinoideen enthält und zum Theil eine Kalksteinbreccie 
ist. Unmittelbar vor dem Dorfe findet sich ein grünes wackenartiges Gestein, welches kleine 
Geschiebe und Drusen von Kalkspath enthält. Eine Werst hinter demselben stiessen wir 
auf ein hartes, graues, geschichtetes Gestein, das mit echter Grauwacke, d. h. einem Sand- 
stein mit thonigem Bindemittel vorkommt. 

Diese scheinbar sporadischen Ablagerungen gehören vermuthlich alle der obersiluri- 
schen Periode an, und sind vielleicht eine südliche Fortsetzung der Kalksteine von Bogos- 
slowsk. Bei dem mit sumpfigen Wäldern bedeckten Boden ist es nicht unmöglich, dass sie 
unter einander zusammenhängen und eine weitere Verbreitung haben, als wir ermitteln 
konnten. Ueberall wo wir diese Sedimente gesehen haben, sind sie von Porphyr umgeben 
und haben mit diesem zu verschiedenen Contactbildungen Veranlassung gegeben. 

Schliesslich müssen wir eines eigenthümlichen Vorkommens fossiler Kohle erwähnen. 
In der Nähe des erwähnten Steinbruches an der Isvestka, auf der gegenüberliegenden Seite 
der Strasse sind Nachgrabungen nach derselben angestellt worden. Diese kleinen Gruben 
liegen an den Flüsschen Medwedjewka und Maximowka und sind bald verlassen worden, 
weil das Brennmaterial sich nicht als bauwürdig erwies. Die flache Grube an der Medwed- 
jewka, zu der wir uns führen liessen, fanden wir mit Wasser gefüllt. Aus der Grube ist 


64 М. v. GRÜNEWALDT, 


eine geringe Menge des am Ufer des Flüsschens abgesetzten grünen Sandes ausgeworfen 
worden, welcher aus grösseren und kleineren Porphyrgeschieben besteht, neben denen Ge- 
schiebe weissen Quarzes häufig sind. — In diesem Sande lagen viele kleine Stücke der 
mit ihm ausgeworfenen Kohle umher, die von dunkler Farbe ist und das Ansehen sehr bi- 
tuminöser Braunkohle hat. Sie liegt ganz nahe der Oberfläche, ist recenter Entstehung 
und vermuthlich von gleichem Alter mit kohligen Substanzen, die sich hin und wieder im 
Sande einiger Goldwäschen in der Umgegend von Bogosslowsk finden. Was die Ursache 
einer so vollständigen Umbildung der Holzsubstanz ist, wird vielleicht die chemische Un- 
tersuchung des Materiales lehren. ") — Da wir nirgends tertiäre oder gar ältere Kohlen- 
führende Ablagerungen in diesen Gegenden angetroffen haben, ist es unwahrscheinlich dass 
diese Kohle, aus ihrem ursprünglichen Lager herausgespült, hier auf secundärer Stätte 
ruhen sollte. 


Um ein Bild von der Zeit zu geben, welche den mitgetheilten Beobachtungen zuge- 
messen war, hatten wir die Absicht das Datum eines jeden Tages an den Rand unseres kur- 
zen geognostischen Reiseberichtes zu setzen. — Da es hin und wieder zweckmässig erschien 
nicht zu streng an dem historischen Faden dieses Berichtes festzuhalten, bemerken wir 
statt dessen am Schlusse desselben, dass wir in jenen drei Sommern nur an 67 Reiseta- 
gen zum Theil sehr vereinzelte Bemerkungen über sedimentäre Schichten in nnseren Ta- 
gebüchern niedergeschrieben haben. Davon fallen 24 auf die Reisen in der Berghaupt- 
mannschaft Jekaterinburg, 22 auf die Berghauptmannschaft Slatoust und 21 auf Kuschwa. 


1) Eine Erwähnung dieser Kohle findet sich im Горный Журналъ, часть II, книжка IV, стр. 87, 1855. 


BEITRÄGE 20в KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 65 


PALAEONTOLOGISCHER THEIL. 


SILURFORMATION. 


BRACHIOPODA. 


Da Herr Davidson alle Momente, welchen bisher bei der Classification der Brachio- 
poden mehr oder weniger physiologisch begründete Ansprüche auf Berücksichtigung zuge- 
sprochen werden mussten, mit bewunderungswürdigem Fleisse gesammelt, durch eigene 
Untersuchungen vermehrt und endlich angewandt hat, so ordnen wir uns mit anderen Pa- 
laeontologen dem von ihm aufgestellten Systeme so weit unter, als es beim Erhaltungszu- 
stande der zu bestimmenden Exemplare möglich war. — Wir haben schon früher ausge- 
sprochen, dass diese Möglichkeit nur in beschränktem Masse stattfindet, da die innere Or- 
ganisation der meisten fossilen Brachiopodenarten bisher nicht beobachtet worden ist. 
Wenn daraus einerseits der Nachtheil entspringt, dass einem grossen Theile von Formen 
gegenwärtig nur eine provisorische Stelle in diesem Systeme angewiesen werden kann, so 
muss andrerseits auch angenommen werden, dass die angewandten Grundsätze selbst, in 
Bezug auf ihre classificatorische Bedeutung, bei wachsender Kenntniss der inneren Orga- 
nisation dieser Thiere noch wesentliche Modificationen erleiden werden. Dennoch ist es an 
der Zeit einen Weg zu betreten, der durch so anerkennenswerthe Arbeiten angebahnt 
worden ist. 

Da das auf unseren Reisen gesammelte Material nicht von der Beschaffenheit ist, um 
die bereits gewonnenen zoologischen Gesichtspunkte für die Classification der palaeozoi- 
schen Brachiopoden zu erweitern oder gar zu modifiziren, so halten wir es für angemessen, 
uns hierin lediglich auf die Arbeiten des Herren Davidson zu beziehen. Eine historische 
Uebersicht der Synonymie wird dazu beitragen, die benutzten Gattungsbegriffe zu fixiren, 
deren Diagnosen wir nicht wiederholen werden. 


Genus Spirifer Sowerby. 1855. 


Anomites Mart. Petref. Derbiensia. T. 23. 1809. 
Spirifer бою. Miner. Conchol. Vol. П, р. 42. 1818. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 9 


66 M. v. GRÜNEWALDT, 


Choristites Fischer. Programme sur la Choristite. Moscou 1825. 

Delthyris Dalmann. Vet. Akad. Handl. p. 99. 1828. 

Delthyris Hisinger. Lethaea suecica. p. 72. 1837. 

Trigonotreta Koenig in King. Monogr. of the Permian foss. of England. p. 126. 1850. 

Spirifer Davidson. Brit. foss. Brachiopoda Vol. I, p. 79. 1851—1854. 

Spirifer. Idem. Classif. der Brachiopoden unter Mitwirkung des Verf. deutsch bear- 
beitet von Ed. Suess. p. 74. 1856. 

Spirifera Davidson. Monogr. of Brit. Permian and Carb. a 1857. 

Spirifer und Spirifera der meisten Autoren. 

Unter diese Gattung gehören die Formen des alten Genus Spirifer, welche wir be- 
schreiben, mit Ausnahme einer einzigen Art, deren Stellung in der Untergattung Cyrua 
noch zweifelhaft ist. 


Spirifer Uralo-Altaicus Grünew. 


Versteinerungen der silurischen Kalksteine von Bogosslowsk. p. 32. Tab. VI, F. 20 
a—f. 1854. 

Ein Bruchstück dieser Art fanden wir bei dem Dorfe Jolkina an der Tura. Ihm fehlt 
die Falte, welche an unseren Exemplaren von Bogosslowsk den Sinus, so wie auch die 
Furche welche den Wulst derselben theilt. — Wir dürfen jenes Merkmal, das bei dem l.c. 
von Bogosslowsk abgebildeten Stücke sehr scharf ausgeprägt ist, daher nicht als wesent- 
lich für die Species ansehen. 

Gedrungene, wenig geflügelte und gefaltete Varietäten des Spirifer togatus Bar- 
rande') aus dem schwarzen Kalkstein von St. Iwan, welche im Museum der Berliner Uni- 
versität aufbewahrt werden, zeigen viel Aehnlichkeit mit dieser Art; aber abgesehen da- 
von, dass Spir. Uralo-Altaicus nicht ohne Falten gefunden worden ist, während Sp. togatus 
so selten gefaltet ist, dass der Autor ihn unter den glatten Spiriferen beschrieben hat, un- 
terscheidet die uralische Species sich durch die Art der Faltung wesentlich von der böh- 
mischen. Die Falten sind an jener, wie wir in unserer Beschreibung hervorgehoben haben, 
in der Wirbelgegend besonders hoch und scharf und verflachen nach dem Stirn- und Sei- 
tenrande zu. Die flachen Falten des Spirifer togatus verlaufen hingegen, wo sie vorhanden 
sind, durchaus gleichmässig über die ganze Schale. Endlich wurden an der bereits in zahl- 
reichen Exemplaren aufgefundenen böhmischen Art jene Charaktere des Sinus und der 
Wulst bisher nicht beobachtet, die an den wenigen Individuen der asiatischen Form, wie 
es scheint, selten zu fehlen pflegen. 

Als wir die Art aufstellten, wurde zugleich die Möglichkeit angedeutet, dass wir es 
mit dem von Leopold von Buch 1840 in den «Beiträgen zur Bestimmung der Gebirgsfor- 
mationen in Russland» cursorisch beschriebenen und später nicht wieder aufgefundenen 


_\) Naturwissenschaftliche Abhandlungen Band II р. 167. Tab. XV, Fig. 2. 1848. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. ` 67 


Spirifer vetulus Eichwald von der Jolwa bei Bogosslowsk zu thun haben könnten. — Eine 
Musterung der Sammlungen L. von Buch’s, welche ich mit Herren Prof. Beyrich in Ber- 
lin zu dem Zwecke anstellte, mir hierüber Gewissheit zu verschaffen, erwies, dass Buch 
den Sp. Uralo-Altaicus nicht zugeschickt erhalten hat. Unter den Petrefacten, welche in den 
«Beiträgen zur Bestimmung der Gebirgsformationen in Russland» beschrieben worden 
sind, fanden sich auch Originaletiketten des Herren Eichwald, nach denen dieser zwei 
Orthisschalen von der Läla (nicht von der Jolwa) mit dem Namen Spirifer vetulus Eichw. 
bezeichnet hat. — Leopold von Buch’s Beschreibung ist indessen, wie Prof. Beyrich 
ermittelte, auf schlecht erhaltene Schalen von der Jolwa zu beziehen, die ich in den 
«Verst. der sil. Kalksteine von Bogosslowsk» nicht bestimmt, und vorläufig mit Pentamerus 
Sieberi v. Buch') verglichen habe.”) Der verschiedene Fundort allein beweist, dass Buch 
den Namen Spirifer vetulus, vielleicht weil er einer Orthis zugedacht war, gar nicht im 
Sinne des Herren Eichwald verwandt hat. Dieser Name ist somit aus der Litteratur zu 
verbannen, oder auf jenen böhmischen Pentamerus anzuwenden, der später von Buch 
selbst benannt und von Herren Barrande beschrieben worden ist. Nachdem wir zahlreiche 
Suiten des böhmischen Pentamerus Sieberi v. Buch gesehen haben, scheint uns seine Iden- 
tität mit dem von Bogosslowsk erwiesen. Eine neuere Bemerkung des Herren Eichwald, 
«Spirifer Uralo-Altaicus sei allerdings dasselbe wie Spirifer vetulus”),» wissen wir mit dem Vor- 
hergehenden nicht in Einklang zu bringen. 


Spirifer? sp. indeterminata. 


An der Einmündung der Arscha in den Ai kommen unvollständige Reste, die von 
einem kleinen glatten Spirifer herzurühren scheinen, mit Spirigerina aspera zusammen vor. 


Genus Spirigerina А. d’Orbigny. 1847. 
Atrypa Dalmann. Vetensk. Akad. Handlingar. p. 102. 1828. 
Atrypa Hisinger Lethaea Suecica p. 75. 1837. 
Spirigerina d’Orbigny Prodrome de palaeontologie stratigraphique Vol. I, р. 42. 1849. 
Atrypa King Mon. of the Perm. foss. of England p. 151. 1850. 
Atrypa Davidson Brit. foss. Brachiopoda. Vol. I, p. 90. 1851— 1854. 
Spirigerina М-Соу. Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge р. 197. 1855. 
Spirigerina Gebr. Sandberger. Versteinerungen des Rheinischen Schiefersystems in 
Nassau р. 346. 1850—1856. 
Spirigerina Davidson. Classif. der Brachiopoden unter Mitw. des Verf. deutsch be- 
arbeitet von Ed. Suess. p. 90. 1856. 
1) Naturwissenschaftliche Abhandlungen Band I, р. | Namen ist nicht möglich, da die Petrefacten mit Num- 
465. Tab. XXI, fig. 2. mern beklebt und diese in dem Katalog sowohl als auf 
2) Die Stücke v. Buch’s zeigen nichts von der inne- | die Etiketten eingetragen sind. 
ren Organisation dieser Schalen und konnten daher sehr 3) Bulletin de Moscou Tome XXIX, No. П. p.414. 1856. 


leicht für Spirifer gehalten werden. Verwechselung der 
* 


68 М. v. GRÜNEWALDT, 


Terebratula der meisten Autoren. 

Wir stellen vorläufig Terebratula Duboisi M. Г. К. in diese Gattung, weil sie mit der 
Spirigerina reticularis L. und Sp. aspera v. Schloth., den Typen derselben, in allen äusseren 
Merkmalen die grösste Aehnlichkeit hat. Sie unterscheidet sich aber von diesen Formen 
durch die Sinus-artige Depression auf der kleinen Schale, ') welche bei den Spirigerinen 
gewölbt zu sein pflegt. — Da die Wölbung dieser Klappe wahrscheinlich damit zusam- 
menhängt, dass bei Spirigerina die Spitzen der Spiren gegen die Mitte derselben gerichtet 
sind, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Sinus, welchen Ter. Duboisi auf derselben 
Klappe zu haben pflegt, mit einer anderen Lage des bisher unbekannten Brachialgerüstes 
zusammenhängt. 

Vielleicht wird bei genauerer Kenntniss der inneren Organisation für alle jene For- 
men eine neue Gattung aufgestellt werden müssen, welche sich, bei schlagender Analogie 
der äusseren Charaktere, von Sp. reticularis durch den Sinus der kleinen Schale unterschei- 
den. Von den uralischen Formen gehören ausserdem Тег. sublepida М. У. K., Ter. Muenieri 
Grünew. und wahrscheinlich auch Ter. Arimaspus Eichw. hierher, deren wenn auch ge- 
wölbte kleine Klappe in der Regel einen deutlichen Sinus hat. Retzia ovalis Sandberger’) 
gehört wohl derselben Gruppe von Formen an, und ist von diesem Auctor nur vorläufig zu 
den Retzien gestellt worden, da sie keine punktirte Schale hat. 


Spirigerina aspera v. Schloth. 


Terebratulites asper v. Schloth. Mineralog. Taschenbuch Jahrg. VII, Tab. I. fig. 7. 
abc. 1813. 

Mangelhafte Exemplare dieser Art, auf die wir weiter unten zurückkommen werden, 
finden sich an der Einmündung der Arscha in den Ai und weiter unterhalb an der Ein- 
mündung der Terechta in denselben Strom, wo sie mit Pentamerus Baschkiricus auftreten. 
In der obersilurischen Formation des Ural kennt man sie ausserdem von Petropawlowsk 
und Bogosslowsk. 


Spirigerina? Alinensis M. V.K. 

Geol. de la Russie. Vol. II, p. 95. Pl. X, fig. 15 ab. 1845. 

Diese kleine Art, für deren genauere Beschreibung wir auf das citirte Werk verwei- 
sen, ist wegen ihrer ungemein feinen radialen Streifung und der Wölbung der grösseren 
Schale von Sp. reticularis unterschieden worden. Durch letzteres Merkmal, so wie durch 
den ganzen Umriss hat sie Aehnlichkeit mit jungen Individuen der Spirigerina latilinguis 
Schnur., wenn diesen, wie gewöhnlich, die concentrisch schuppige oberste Schalenschicht 
fehlt. Auch dann bleibt die feine Streifung der Sp. Alinensis ein sicheres Unterscheidungs- 
zeichen. 


1) Wir erinnern daran, dass dieses nach Davidson | uns fernerhin bedienen werden. 
die Rückenschale ist, eine Bezeichnungsweise der wir 2) о. с, р. 332. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 69 


Sie ist bisher nur bei Alina gefunden worden, wo sie in den obersten bituminösen 
Schichten des silurischen Kalksteins sehr häufig ist. 


Genus Pentamerus Sow. 1813. 


Pentamerus Sow. Min. Conch. Vol. I, p. 73. 1812. 

Gypidia und Atrypa Dalm. Vet. Akad. Handl. p. 100 und 102. 1828. 

Terebratula (galeata) v. Buch über Terebratula p. 121. 1834. 

Gypidia und Atrypa Hisinger Lethea Suecica p. 74 und 76. 1837. 

Terebratula (galeata) F. A. Roemer. Versteinerungen des Harzgebirges p. 19. 1843. 

Pentamerus Davidson Brit. foss. Brachiopoda р. 77. 1851—1854 und Classif. der 
Brachiopoden p. 103. 1856. 

Pentamerus aller neueren Auctoren. 


Pentamerus Vogulicus M. V.K. 


Geol. de la Russie Vol. II, р. 113. pl. УП, fig. 2abcde. 1845. 

Ausser den bereits bekannten und schon früher von uns angeführten Punkten, haben 
wir den Pentamerus Vogulicus seitdem in den Kalksteinbrüchen auf dem Wege von Nishne 
Tura nach Jolkina, 3 Werst vor jenem Dorfe aufgefunden. — In Bezug auf das muth- 
massliche Vorkommen des Pentamerus Vogulicus in Böhmen") ging uns von Herren Bar- 
rande folgende Mittheilung zu: «Il me semble que la distinction des éspèces voisines par 
leurs cloisons laisse encore quelque chose à désirer, et je n’ai pas réussi à trouver des 
individus entiers. Il est donc possible que P. Vogulicus se trouve ici, et je crois en avoir 
un morceau indubitable.» 


Pentamerus Baschkiricus M. У. К. 


Сео]. de la Russie Vol. II, p. 117. fig. à b c de. 1845. 

Bei Satkinsky Pristan findet sich diese Art massenhaft in verhältnissmässig kleinen 
Individuen, welche den bekannten dreieckigen, breiteren und flacheren Umriss haben, 
welcher den Pent. Baschkiricus auch äusserlich vom P. Vogulicus unterscheidet. 

Anders ist es bei Alina, wo er gleichfalls die Kalksteinfelsen in zahllosen Individuen 
erfüllt. Dort finden sich Exemplare, welche die Grösse der grössten Individuen des P. Vo- 
gulicus erreichen. Ein mangelhaftes Exemplar, welches wir dort sammelten und dem der 
ganze Wirbel der grösseren Schale fehlt, misst vom Stirnrand bis zum Wirbel der klei- 
neren Klappe 100 mm., was, wenn man sich den Schnabel der anderen ergänzt denkt, 
auf eine Länge von 115—120 mm. schliessen lässt. 

Ausserdem fanden wir den Pentamerus Baschkiricus am Ai, 10 Werst unterhalb des 
Dorfes Kulbajewa, zwei Werst oberhalb der Einmündung der Terechta und bei Rasboini- 


1) Verst. der silur. Kalksteine von Bogosslowsk p. 26. 


70 М. т. GRÜNEWALDT, 


kowa an demselben Strome. — Ап den letzteren Fundorten kommen grosse Exemplare 
vor, deren äusserer Umriss, dadurch dass er lang und schmal und tiefer als breit ist, von 
dem des Pentamerus Vogulicus nicht unterschieden werden kann. Während es aber bei der 
grössten Vorsicht kaum möglich ist ein Exemplar des Pentamerus Уодийсиз aus hartem 
Kalkstein zu befreien, ohne dass durch die mit dieser Operation verbundene Erschütte- 
rung eine Spaltung nach den bis an den Stirnrand hinabreichenden Scheidewänden ein- 
träte, werden Individuen des Реп. Baschkirieus, wie schon die Verf. der Сео]. of Russia 
bemerken, nach den verschiedensten Richtungen zerbrochen, ohne dass eine Trennung nach 
jenen inneren Schalentheilen stattfindet. Dieser Umstand allein erhält uns in der Ansicht, 
dass die südliche Form des Ural sich allgemein durch kürzer entwickelte Septa von der 
nördlichen unterscheidet, und die beiden Arten vorläufig nicht vereinigt werden dürfen. 


Genus Leptaena Dalm. 1828. 


Leptaena Dalmann. Vetensk. Ak. Handlingar p. 94. 1828. 

Plectambonites Pander. Beiträge zur Geognosie Russlands р. 90. 1830. 

Leptaena Davidson. Brit. foss. Brachiopoda Vol. I, р. 109. 1851—1854. 

Leptaena Idem. Classif. der Brachiopoden unter Mitw. des Verf. deutsch bearbeitet 
von Ed. Suess. p. 118. 1856. 

Leptaena der meisten Auctoren. 

Da Herr Davidson die Unterscheidung der Gattungen Leptaena und Strophomena 
hauptsächlich auf die Gestalt der Muskeleindrücke und des Schlossfortsatzes gründet, 
diese aber bei der nachfolgenden Art unbekannt sind, lassen wir sie in der Gattung ste- 
hen, unter der sie in die Literatur eingeführt worden ist. 


Leptaena Uralensis M.V.K. 


Leptaena Uralensis. Géol. de la Russie Vol. II, р. 220. Pl. XIV, fig. 1. abed. 1845. 

Leptaena Üralensis M°-Coy. Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge р. 236. 1855. 

Für die Beschreibung dieser durch ihre ungewöhnliche Grösse ausgezeichneten Art 
verweisen wir auf die G&ologie de la Russie. 

Die Schichten in welchen die Verf. dieses Werkes sie bei Serebränsk entdeckt haben, 
konnten wir nicht wiederfinden. Der Kalkstein an der Isvestka ist mit Leptaena Uralensis 
so erfüllt, dass die Masse der in einander geschobenen und verkitteten Individuen zum 
Haupthindernisse wird, sich vollständige Exemplare zu verschaffen. Wir haben schon be- 
merkt, dass sie dort mit einem Pentamerus vorkommt, den wir deshalb für den P. Vogutieus 
halten, weil dieser den ähnlichen P. Baschkiricus in den nächsten silurischen Ablagerungen 
vertritt. Leptaena Uralensis ist seitdem in England im Kalkstein zwischen Old Radnor und 
Presteign in Radnorshire aufgefunden worden. Diese Schichten gehören zum Wenlock, 
und entsprechen dem Horizonte der Kalksteine an der Isvestka. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 71 


Leptaena sp. indeterminata. 

Bei dem Dorfe Jolkina an der Tura fanden wir ein im Kalkstein haftendes Schalenstück 
von Leptaena. Man sieht, dass der geradlinige Schlossrand die grösste Breite der Muschel 
überragt. Die Innenseite der Schale zeigt Ueberreste einer netzförmigen Zeichnung, wie 
an Bruchstücken der Leptaena Stephan‘. Hier ist diese Zeichnung indessen feiner, als wir 
sie bei jener Art im Ural beobachtet haben. Die Länge des nicht vollständig erhalte- 
nen Cardinalrandes misst gegen 32 mm. Die Entfernung von der Wirbelstelle bis zur 
knieförmigen Umbiegung der Schalen, an welchen der untere Theil abgebrochen ist, be- 
trägt 15 mm. 


CRUSTACEA. 
Genus Leperditia Rouault. 1851.') 


Leperditia Biensis. n. sp. 
Taf. У, вв. lab. 

Die Steinkerne dieser Art, welche wir bei Alina gefunden haben, zeigen eine hohe und 
zwar centrale Wölbung der Schalen. Das hintere Ende ist breiter als das vordere und an 
diesem ist auf beiden Schalen ein von der Oberfläche derselben durch eine Furche ge- 
trennter, schmaler Saum deutlich abgesetzt. Gegen den Dorsal- und Ventralrand verliert 
sich der Abdruck jenes peripherischen Schalentheiles und ist auch an dem vorderen Rande 
nicht kenntlich. Ein Kern der rechten Schale zeigt eine vollkommen glatte, wie polirte 
Oberfläche, auf welcher der vordere «kleine Höcker» scharf ausgeprägt ist. Von der «mitt- 
leren Anschwellung» ist er durch eine flache Einsenkung getrennt. Diese Anschwellung ist 
gegen die Oberfläche des Steinkernes nur nach vorne durch die erwähnte flache Einsenkung 
abgegrenzt, nach oben, hinten und unten erscheint sie nur als der Culminationspunkt der 
Schale. — Gefässabdrücke sind nicht mit Sicherheit zu erkennen; jedoch lässt eine un- 
deutlich netzförmig gezeichnete Stelle am vorderen und unteren Theile der Anschwellung 
eine solche Deutung zu. An einem vollständigen Steinkerne ist kein Unterschied in der 
Grösse der beiden Schalen bemerkbar. Die Sutur, welche nur an dem hinteren Theile des 
Ventralrandes nicht abgedrückt ist, läuft von den Enden der Schlosslinie an symmetrisch 
zwischen den Rändern hin. Der Erhaltungszustand unserer Exemplare gestattet keine Be- 
obachtung der eingebogenen und übergreifenden Schalentheile, welche auf der rauhen 
Oberfläche des einzigen vollständigen Steinkernes keine Spuren zurückgelassen haben. — 
Die Länge desselben beträgt 18 mm., die grösste Breite 11, mm. und der Durchmesser 
der höchsten Wölbung 10 mm. 

Von allen Exemplaren der Leperditia baltica aus Gothland, mit denen wir vergleichen 
konnten, unterscheidet diese Art sich durch die beträchtlich höhere Wölbung der Schalen. 


1) Bulletin de la société géologique de France 2e Série, Tome VIII, р. 377. 1851. 


72 М. v. GRüNEwaLprT, 


An dem Vergleich mit Lep. marginata Keyserl. hindert ein Mal der Saum, welcher bei 
unserer Art nur am hinteren Theile der Muschel ausgeprägt ist, während er bei jener Art 3 
um den ganzen Rand bis an die Schlosslinie herumläuft, und dann hebt Jones besonders 
hervor, dass bei Lep. marginata die höchste Wölbung der Schalen nach vorne und unten 
liegt, ') bei Lep. Biensis aber ist sie central. 

Lep. Biensis findet sich in den unteren Kalksteinen bei Alina mit Pentamerus Baschki- 
ricus. Wir haben die Art nach dem Flüsschen Bia benannt, an welchem das Dorf liegt. 


DEVONISCHE FORMATION. 


BRACHIOPODA. 
Genus Spirifer. 
Spirifer Glinkanus M. V.K. 


Geol. de la Russie Vol. II, p. 170. Pl. III, fig 8 a—f. 1845. 

Diese Art ist der Сугиа Murchisoniana so ähnlich, dass sie nur bei guter Erhaltung 
von einander unterschieden werden können. Für Spirifer Glinkanus ist der glatte Sinus 
charakteristisch. Unter zahlreichen Individuen der beiden Arten, welche sich durch den 
gleichen Umriss, den hoch aufgekrümmten, bis in die Spitze gespaltenen Schnabel, die 
zahlreichen, platten, durch enge Furchen von einander getrennten Falten durchaus glei- 
chen, fanden wir nur eins, das einen glatten, mit feinen concentrischen Anwachsringen 
gezierten Sinus hat. Da die Schalenoberfläche häufig zerstört ist, können viele Exemplare 
weder der einen noch der anderen Art mit Sicherheit zugezählt werden. 

Die Verfasser der Géol. de la Russie, auf deren Beschreibung wir verweisen, ent- 
deckten den Sp. Glinkanus an der Serebränka, 25 Werst oberhalb ihrer Einmündung in 
die Tschussowaja und in den Kalksteinen an der Mündung der Schuroska in die Sere- 
bränka. Wir haben ihn bei Soulem an der Tschussowaja gefunden, wo er mit der häufige- 
ren Üyrtia Murchisoniana? vorkommt. 


Spirifer Pachyrinchus M. V.K. 


Géol. de la Russie Vol. II, р. 142. Pl. IL, fig. 6abcdef. 1845. 
Wir haben diesen Spirifer, welcher mit der Spirigerina reticularis und aspera das häu- 
figste Fossil in den devonischen Kalksteinen an der Serebränka ist, zum Theil an denselben 


1) Annals and magazine of natural history. Vol. XVII, second series р. 91. 1856. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 73 


Fundorten angetroffen, wie die Verf. der Géol. de la Russie. Unsere Exemplare erfordern 
eine kleine Erweiterung der von diesen Auctoren aufgestellten Diagnose, indem die kurze 
Area, wenn sie auch charakteristisch ist, doch nicht als specifisches Merkmal der Art gel- 
ten kann. Sie übersteigt zuweilen bedeutend «die Hälfte der Breite» der ganzen Muschel. 
Ebenso bemerken wir, dass wenn auch gedrungene und breite Formen unter jungen Indi- 
viduen gewöhnlicher und ovale bei ausgewachsenen häufiger sein mögen, doch auch das 
Umgekehrte stattfindet. Das abgebildete Individuum (Taf. II, fig. 5 a—d) fanden wir bei Sou- 
lem. Es übertrifft das grösste in der Géol. de la Russie wiedergegebene in seinen Dimen- 
sionen und hat dennoch mehr einen breiten als ovalen Umriss. Es ist zugleich das einzige 
unserer Stücke, andem von der Mitte der Bauchschale an ein flacher, breiter Sinus kenntlich ist. 

Sp. Pachyrinchus ist an der Serebränka häufig. Wir fanden ihn an diesem Fluss an 
drei verschiedenen Orten, die 1, 5 und 8 Werst unterhalb der Einmündung der Schuroska 
liegen. Bei Soulem ist er selten. Murchison, Verneuil und Keyserling führen ihn 
ausserdem von einer Stelle an, welche zwischen den Dörfern Kopschik und Tehisma an 
der Tschussowaja und etwa 13 Werst oberhalb des letzteren Dorfes liegt. Da Gen. Hof- 
mann ihn auch im hohen Norden des Gebirges an der Petschora, bei der Einmündung der 
Poroschnaja in jenen Strom gefunden hat, muss er als eine leitende Form in den devoni- 
schen Schichten des Ural angesehen werden. 


Spirifer glaber Mart. 


(5. unten.) 


Wir haben nur wenige winzige Exemplare dieser Art, welche durchaus mit den klei- 
nen Individuen des Spirifer glaber von der Schartimka übereinstimmen, in devonischen 
Schichten bei Soulem aufgefunden. Die grosse Schale ist viel gewölbter als die kleinere. 
Der kurze Schnabel biegt sich wenig gegen die Area um, welche kürzer ist als die grösste 
Breite der Muschel. Sinus und Wulst fehlen, und ersterer ist nur durch eine flache Auf- 
biegung des Stirnrandes gegen die Rückenschale angedeutet. 


Sub-genus Cyrtia Dalmann. 1828. 


Gen. Cyrtia Dalmann. Vetensk. Akad. Handlingar. p. 97. 1828. 

Cyrha Hisinger. Leth. suec. p. 72. 1837. 

Cyrihia A. d’Orbigny. Prodrome de pal. strat. Val. I, р. 41. 1849. 

Sub-genus Cyrtia Davidson. Brit. foss. Brachiopoda. Vol. I, p. 83. 1851—54. 

Cyrtia M°-Coy. Descript. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge р. 191. 1855. 

Sub-genus Cyrtia Davidson. Classif. der Brachiopoden, unter Mitw. des Verfassers 
deutsch bearbeitet von Ed. Suess. p. 79. 1856. 

Spirifer der meisten Auctoren. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, Vile Série. 10 


74 М. у. GRÜNEWALDT, 


Cyrtia Murchisoniana? de Kon. 


Spirifer Murchisonianus de Kon. Précis élémentaire de géologie par M. Omalius 
d’Halloy p. 523. 1843.? 

Spirifer Murchisonianus М. У. К. Géologie de la Russie. Vol. IT, р. 160. Pl. IV, 
fig. 1. à b c d. 1845. 

Cyrtia Murchisoniana Davidson on some fossil Brachiopods of the Devonian age from 
China. Quart. Journ. Vol. IX, p. 355. 1853? 

Wir haben der eitirten Beschreibung der Verf. der Géol. de la Russie nur beizu- 
fügen, dass wir an dieser Art kein durchbohrtes Pseudo-Deltidium gesehen haben, was 
an dem Erhaltungszustande unserer Exemplare liegt, an denen die Heftmuskelöffnung nicht 
frei ist. So lange dieser Charakter nicht nachgewiesen ist, bleibt, wie Herr Davidson 
l.c. bemerkt, die Identität der uralischen Form mit der belgischen und chinesischen zwei- 
felhaft. 
Die Verf. der Geol. de la Russie citiren diese Art von Kinowsk und einer Stelle, 
welche 10 Werst oberhalb Tschisma an der Tschussowaja liegt. Die ächte Oyrtia Mur- 
chisoniana kommt bei Chimay in Belgien und in den devonischen Schichten von Kwang-si 
in China vor. 


Genus Athyrıs M°-Coy 1844. 


Spirifer Lev. Mém. de la soc. géol. de France Tome II, p. 39. 1835. 

Athyris M°-Coy. Synopsis of Carb. foss. of Ireland p. 149. partim und Actyno- 
conchus ibid. 1844. 

Spirigera А. d’Orbigny. Pal. française, terr. crét. Vol. IV, р. 357. 1847. Idem 
Prodrome p. 43 und 98. 1849. partim. 

Cleiothyris King. Monogr. of Perm. foss. of England p. 137. (non Phill.) 1850. 

Spirigera Davidson. Brit. foss. Brachiopoda р. 87. 1851—1854. 

Spirigera Semenow. Zeitschr. der deutschen Geol. Gesellschaft Bd. VI, p. 337. 1854. 

Athyris M°-Coy. Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge. p. 196. 1855. partim. 

Spirigera Davidson. Classif. der Brachiop. unter Mitw. des Verf. deutsch bearb. von 
E. Suess. p. 82. 1856. 

Spirigera Gebr. Sandberger. Verst. des Rhein. Schiefersystems in Nassau. р. 326. 1856. 

Athyris Davidson. Monogr. of Brit. Perm. Brachiopoda of England. р. 20. 1857. 

Terebratula der meisten Auctoren. 


Athyris concentriea у. Buch. 


Terebratula concentrica v. Buch über Terebratula. p. 103. 1834. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 75 


Atrypa decussata бош. Geol. trans. 2d. series tab. 54. fig. 5. und Atr. hispida id. ibid. 
бе. 4.1830): 

Terebratula concentrica Murchison. Bullet. de la société géol. de France. Première 
série. Tome XI, p. 251. Tab. III. 1840. 

Terebratula concentrica d’Archiac et de Vern. Descript. of the foss. in the older dep. 
of Rhen. provinces p. 364. 1842. (Géol. trans.) 

Terebratula concentrica F. A. Roemer. Verst. des Harzgebirges. p. 20. Tab. V, 
ne. 22 u. 23. 1843. 

Terebratula Ezquerra de Vern. et d'Arch. Bullet. de la soc. géol. de France. 2. série. 
Tome II (extr. p. 28) 1845. 

Terebratula concentrica M. У. К. Сео]. de la Russie etc. Vol. II, р. 53. Pl. VIII, 
по. 10. аЪ et fig. 11. 1845. 

Terebratula concentrica Keyserl. Petschoraland р. 237. 1846. 

Terebratula concentrica Steininger. Geogn. Beschr. der Eifel. р. 66. 1853. 

Terebratula concentrica Geinitz. Verst. der Grauwackenform. in Sachsen u. s. w. р. 59. 
Taf! TA. Во. 30 м. 31. (1853. 

Terebratula concentrica Schnur, Meyer und Dunker. Palaeontographica. Band II, 
ПЭ виа 241... Tab. ХЫМ, fe. Заре, 9ra bit, 10 ab und 11. Tab. ХУП, ве. 8 
a—k. 1853. 

Athyris concentrica M° Coy. Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge. p. 378. 1855. 

Terebratula concentrica de Vern. et Barrande. Fossils d’Almaden ete. р. 77. Extr. 
du bullet. de la soc. géol. de France. 2. série. Tome XII. 1856. 

Spirigera concentrica Gebr. Sandberger. Verst. des Rhein. Schiefersyst. in Nassau. 
р. 324.1. Lab. XXX, fig. 11) La bc. 1856. 

Terebratula concentrica Pacht: Beiträge zur Kenntniss des Russischen Reiches und 
der angrenzenden Länder Asiens. Herausgegeben von K. v. Baer und Gr. v. Helmersen. 
Band 21. р. 95. 1858. 

Terebratula concentrica Abich. Vergl. Geol. Grundzüge der Kauk., Arm. und Nord- 
pers. Geb. p. 78. 1858. 

Für die ausführliche Beschreibung dieser, wie die angeführte Litteratur beweist, in 
den devonischen Schichten des alten Continents weit verbreiteten Art, verweisen wir auf 
die Géol. de la Russie. Wir haben sie in zahlreichen Exemplaren bei Soulem an der 
Tschussowaja gefunden, wo beide Varietäten vorkommen, welche die Verf. der Géol. de la 
Russie vom Don und von der Serebränka beschrieben und abgebildet haben. Die eine hat 
einen breiteren, die andere einen mehr länglichen Umriss, zwischen welchen Extremen die 
Zwischenglieder nicht fehlen. Bei beiden Abarten erkennen wir den Sinus nur von der 


1 Mc-Coy führt auch Аура oblonga бош. ibid. Tab. | abgebildete Steinkern ist von dem sehr verschieden, deg 


53, fig. 6. als Synonyme auf. Der unter diesem Namen | Schnur o. c. Tab. XLIV, fig. 11 wiedergegeben hat. 
e * 


76 M. v. GRÜNEWALDT, 


Mitte der grösseren Schale an. Eine Theilung des Buckels der anderen durch eine mitt- 
lere Furche kommt bei keinem unserer Exemplare vor '). — Die längliche Form entspricht 
der von Schnur mit y bezeichneten und Tab. ХХУП, fig. 3 a b с abgebildeten. Die brei- 
tere hat die Contouren seiner Varietät а, aber keines unserer Exemplare erreicht nur ent- 
fernt die Grösse der von ihm Tab. XXVII, fig. 3 ВТК oder gar Tab. XLIX, fig. 9abe 
abgebildeten Individuen. — Auch die von Graf Keyserling im Timangebirge an der 
Uchta aufgefundene Form ist klein, und es scheint daher in der That, wie dieser Auctor 
bemerkt, dass die grossen Varietäten, welche in Frankreich und der Eifel einheimisch sind, 
den devonischen Schichten Russlands fehlen. — Unser grösstes Exemplar misst 141 mm. 
von der Schnabelspitze bis zum Stirnrand und 18 mm. in der Breite, während die grösste 
Tiefe der Schalen 5 mm. beträgt’). 


Genus Sprrigerina. 
Spirigerina reticularis L. 

Anomia reticularis L. Systema naturae, editio XII, Tome I, pars II, p. 1152. 1767. 

Bei Kadinskoy am Isset kommen ausschliesslich kleine und fein gestreifte Exemplare 
dieser Art vor. Durch die schwach entwickelten Ohren haben sie einen gerundeten Um- 
riss. Die fadenförmigen Falten dichotomiren ausgezeichnet, sind aber selten von concen- 
trischen Anwachsringen durchschnitten. Sie entsprechen der Varietät, welche Barrande 
Verneuiliana genannt hat’) und die von Schnur in der Eifel als Terebratula zonata unter- 
schieden worden ist‘). Wir besitzen nur ein Exemplar, das die Grösse der Eifeler Abart 
erreicht. 

Dieselbe Varietät in grossen Individuen mit stark entwickelten Ohren, flacher Bauch- 
schale und aufgetriebener Rückenschale ist in den devonischen Schichten an der Tschus- 
sowaja und Serebränka das häufigste Fossil. Sie fehlt nie in denselben und erfüllt ganze 
Schichten. 

An der Serebränka fanden wir Spir. reticularis an mehreren Punkten, von denen zwei 
nach der Schätzung unserer Steuerleute 1 und 5 Werst unterhalb der Einmündung der 


dürfte nicht leicht zu statuiren sein. Da Ath. concen- 
trica ausserdem in silurischen Schichten bisher nicht 


1) Herr von Verneuil und d’Archiae unterscheiden 
1. с. nach diesem Charakter die Ter. Ezquerra aus den 


devonischen Schichten von Asturien, und führen sie auch 
von der Serebränka an. Da in der unmittelbar darauf 
erschienenen Géol. de la Russie dieser Art keine Er- 
wähnung geschieht, schliessen wir, dass Herr von Ver- 
neuil sie fallen lässt. 

2) Niemals sind Varietäten der Ath. concentrica be- 
schrieben worden, die auf der kleineren Schale einen 
Sinus und auf der grösseren den Wulst haben, wie un- 
$re Ter. Muenieri von Bogoslowsk. Eine solche Ano- 
malie innerhalb der Grenzen eiu und derselben Art, 


beobachtet worden ist, so wäre es wünschenswerth, dass 
Herr Eichwald (Bullet. de Moscou Tome ХХХ, No. Il, 
p. 422. 1856) die Gründe näher bezeichnet hätte, welche 
ihn veranlassen, zwei auch sonst sehr wesentlich un- 
terschiedene Formen für Individuen derselben Art zu 
erklären. — Zu diesen Unterschieden rechnen wir unter 
anderen die Charaktere der Area und des Deltidiums. 

8) Naturw. Abhandl. Band I, p. 95. Tab. XIX, fig. 8. 

4) Meyer und Dunker, Palaeontographica. Band III, 
p. 182. Tab. XXIV, fig. 6. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. ИТ 


Schuroska in diesen Fluss, drei andere 8, 6 und 5 Werst oberhalb der Ausmündung des- 
selben in die Tschussowaja liegen. 

An der Tschussowaja kommt sie bei Soulem, 21 Werst oberhalb Demid. Utkinsky 
Pristan (dem Haupthafen von Tagil) und nach M. V. u. K. auch bei Kinowsk vor. 


Spirigerina aspera v. Schloth. 
(S. oben.) 


Bei der Frage nach der Unterscheidung ähnlicher, durch Uebergänge in der Form 
und Verzierung nahe stehender Arten ist die geographische Verbreitung und das gegen- 
seitige Verhalten an ein und demselben Fundorte in verschiedenen Gegenden der Erde in 
Betracht zu ziehen. Wir haben uns der Unterscheidung der Sp. aspera von Sp. retieularıs 
nach dem Beispiele der Verf. der Géol. de la Russie vorzüglich deshalb angeschlossen, 
weil wir erstere Art in den devonischen Schichten von Kadinskoy gar nicht') und an der 
Tschussowaja nur an zwei Punkten gefunden haben, wo diese Formen durch keine Ueber- 
gänge verbunden scheinen. 

In den silurischen Schichten des Ural erschienen beide Arten bisher gleichfalls ge- 
trennt. Bei Soulem allein haben wir sie häufig neben einander angetroffen. Dort fehlen 
vermittelnde Abstufungen zwischen der feinen fadenförmigen Faltung der einen und der 
eroben der anderen. Ebenso zeigt Sp. reticularis bei Soulem nur wenige fortlaufende 
Anwachsringe, während die gröberen Falten der Sp. aspera in ihrer ganzen Länge mit 
dicht gedrängten hohen Anwachsschuppen besetzt sind. Ein einziges Exemplar fand 
sich bei Utkinsk, dem Hafen von Tagil, 24 Werst oberhalb jenes Ortes in Schichten, wo 
Sp. reticularis sehr häufig ist. 


Spirigerina latilinguis Schnur. 
Taf. I, fig. 1—17. 

Terebratula latilingwis Schnur, Meyer und Dunker. Palaeontographica Band Ш, 
р" 183. Tab. ХХУ, ne. I.abcder. 1853. 

Eine grosse Form, von kreisförmigem bis ovalem Umriss. Die Schalen ausgewach- 
sener Exemplare sind hoch gewölbt. An grossen Individuen wie fig. 1 fällt der starke 
Schnabel der Bauchschale auf, der sich an den Cardinalrand hinabbiegt und weder Area 
noch Heftmuskelöffnung frei lässt”). Diese Schale ist in der Cardinalgegend so ange- 
schwollen, dass der grösste Durchmesser derselben zuweilen wenig unterhalb eines Quer- 


1) $. unten Sp. Duboisi. handen sein, da diese weniger vollständig erhaltene 

2) Herr Schnur führt an, dass der Schnabel durch- | Wirbel haben, und innere Anzeichen, auf die wir unten 
bohrt ist. Wir haben keine Heftmuskelöffnung gesehen. | zurückkommen werden, darauf deuten, dass zu Zeiten 
An unseren kleinen Exemplaren kann sie trotzdem vor- | eine Oeffnung da war. 


78 М. у. GRÜNEWALDT, 


schnittes liegt, den man sich in der Höhe des Schlosses durch dieselbe gelegt denkt. Bei 
ausgewachsenen Individuen pflegt diese Schale die kleinere oft um das Doppelte an Tiefe 
zu übertreffen. Der Stirnrand ist in einem breiten Bogen gegen die Dorsalschale aufge- 
bogen, ohne dass für gewöhnlich ein Sinus auf der anderen zu erkennen wäre (fig. 5). 
Eine breite flache Depression, oft mit abgesetzten Rändern wie in fig.6 und 9 ist indessen 
häufig auf dem unteren Theile der Bauchschale ausgeprägt. — Die Rückenschale hat ihre 
höchste Wölbung gewöhnlich näher zum Schlossrande zu, was besonders bei ausge- 
wachsenen Individuen stattfindet; seltener und meist bei kleineren Exemplaren ist sie nahe 
central. Nur ausnahmsweise schwillt diese Schale in der Mitte so an, dass von einem 
Wulst die Rede sein kann, der indessen gegen die übrigen Theile derselben nicht abge- 
setzt ist. Cardinal- und Seitenränder bilden flache Bogen, die in einander zu verlaufen 
pflegen und selten in stumpfen Winkeln zusammenstossen; dasselbe gilt von dem Stirn- 
rand, so dass die Linie der Sutur sich der Kreisform nähert. 

Bei jungen Individuen überragt der Schnabel der Bauchschale den Cardinalrand nur 
wenig und ist überhaupt schwach entwickelt (fig. 3 u. 4). Die geringere, mehr centrale 
Wölbung ist an beiden Klappen nahe gleich gross und flacht sich allmählig nach den Rän- 
dern ab; so dass die Muschel nicht die aufgetriebene Form des späteren Alters hat, und 
sich bei rundem Umriss der Linsengestalt nähert. Noch kleinere Individuen pflegen läng- 
lich zu sein. Ein Sinus ist in diesem Alter nie vorhanden. 

Gewöhnlich findet man die Muschel, wie Schnur sie beschrieben und abgebildet hat, 
mit feinen, fadenförmigen, radialen Falten verziert, die einen regelmässigen Verlauf vom 
Wirbel bis an die Ränder nehmen und sehr selten dichotomiren. Unter der Loupe erkennt 
man, dass sie gerundet, und durch ebenso breite Furchen von einander getrennt sind. In 
der Mitte einer grossen Schale gehen etwa 16 auf den Raum von 10 mm. Unter nahe 200 
Exemplaren, welche wir bei Kadinskoy gesammelt haben, befinden sich nur 12, an denen auf 
dieser gestreiften Oberfläche grosse Bruchstücke einer zweiten, dünneren Bedeckung haf- 
ten, wiein fig. 10. Diese löst sich so leicht ab, dass sie in der Regel ganz zu fehlen pflegt. 
Die obere Schalenschieht unterscheidet sich dadurch von der unteren, dass die radialen 
Falten gröber sind und von dicht gedrängten concentrischen Anwachsringen durchschnit- 
ten werden, welche auf dem Rücken derselben, wie bei Sp. aspera, als feine Schuppen er- 
scheinen. Diese Anwachsringe sind zuweilen auf der unteren Schalenschicht in schwachen, 
nur durch die Loupe kenntlichen Spuren angedeutet, welche von Eindrücken der oberen 
herrühren '). 

Durch Anschleifen einiger 30 Exemplare gelang es, so viel Beobachtungen über 
innere Theile dieser Form anzustellen, als mit Anwendung dieses Hülfsmittels erreichbar 


gen == 


1) Der Auctor hat diese Eindrücke auf der unteren | liche Mittheilung des Herrn F.Rômer, dass er diese 
Schalenschicht beobachtet, ohne die eigentliche Ober- | Bedeckung auch an deutschen Exemplaren beobach- 
fläche zn kennen. Dagegen erfuhren wir durch münd- | tet hat. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 79 


scheint. Die Zeichnungen') von fig. 12 bis fig. 17 stellen solche in der Richtung von der 
Schnabelspitze nach innen abgeschliffene Exemplare dar, und sind in der Reihenfolge ge- 
ordnet wie die Organe, beim Vorrücken des symmetrischen Querschnittes nach innen, in die 
abgeschliffene Fläche eintreten. Jedes Organ ist überall mit denselben Buchstaben be- 
zeichnet, und die Stellung der Muschel ist, fig. 12 ausgenommen, wie in fig. 8, so dass die 
Rückenschale nach oben liegt. 

Die beiden Zähne haften mit ihrer starken, breiten Basis in einer Verdickung der 
Bauchschale (fig. 13 a) und greifen mit ihren keilförmig zugeschärften Spitzen nach innen in 
den aufnehmenden Apparat der kleineren Schale ein (fig. 14 a). Dieser besteht aus zwei 
Platten, welche sich nahe bei einander (fig. 13 b) in der Mitte des Schlossrandes der 
Rückenschale erheben und auf der angeschliffenen Fläche im Durchschnitte als zwei 
Bogen erscheinen, deren äussere Enden sich nahe an die Innenwandung der grösseren 
Klappe anlegen (fig. 14. b). Die concave Seite jedes dieser Bogen zeigt an seiner Basis, 
die zur Articulation dient, einen Zacken, den Durchschnitt der Platte, welche die Zahn- 
grube nach oben schliesst. In dieser Grube sieht man die beiden Zähne der Bauchklappe 
enden. Der äussere Theil der Schlossplatten, welcher sich, wie gesagt, bis an die Innen- 
wandung der Bauchklappe umbiegt, dient nicht mehr zur Articulation, sondern hängt, wie 
wir sehen werden, mit der Befestigung der kalkigen, spiralen Lippenfortsätze zusammen. 

Die beschriebenen Theile, sowie zwei andere symmetrische, von denen unten die 
Rede ist, fanden wir bei jedem angeschliffenen Exemplare erhalten, woher sie leicht zu 
beobachten waren. Schwieriger wurde es, die Lage der Spiralen zu ermitteln, welche beim 
Anschleifen des Petrefactes in unsymmetrischer Stellung an irgend eine Schalenwand an- 
gelehnt, und daher abgebrochen, oder auch ganz zertrümmert zu erscheinen pflegten. 
Erst nach vielen vergeblichen Versuchen entdeckten wir sie bei zweiExemplaren an ihrem 
Ort. Sie haben dieselbe Lage wie bei Sp. reticularis, indem ihre Basis an der Wölbung der 
grösseren Klappe und derselben parallel liegt, während die Spitzen gegen den Scheitel der 
kleinen gerichtet sind (fig. 17). — Dadurch, dass bei Sp. latilinguis die Bauchschale hoch 
sewölbt ist, und ihre Seiten steil nach den Rändern abfallen, wird die Lage der bei Sp. 
reticularis in demselben Querschnitt vertical stehenden Spiren-Axen insofern modificirt, dass 
die Spiren bei unserer Art mehr nach innen gerichtet sind, und ihre Spitzen beinahe auf 
einander zulaufen. 

Wenn wir auch ermitteln konnten, dass die Enden der Schlossplatten mit dem Brachial- 
gerüst, wie bei Sp. reticularis zusammenhängen, so tritt beim Weiterschleifen unserer Art 
doch noch ein Theil des inneren Kalkgerüstes in der Nähe der Schlossplatten hervor, 
welcher jener Art fehlt. — Bei Sp. reticularis verlängert sich der obere Theil der Schloss- 
platten einfach in den grössten Bogen der Brachialspiren, wovon man sich bei einem Blicke 
auf die Abbildung, welche Herr Davidson von diesem Organe giebt, leicht überzeugen 


1) Da die inneren Theile nur bei Anfeuchtung des Kalksteins deutlich hervortreten, konnten diese Schliff- 
flächen nicht photographirt werden. 


80 M. v. GRÜNEWALDT, 


kann"). Schleift man die Sp. latilinguis von dem Durchschnitt in fig. 14 weiter, so ver- 
schwinden die Querschnitte der Schlossplatten allmählig aus dem Gesichtsfelde und bleiben 
in den Ecken der Schalen nur noch in kurzen Durchschnitten sichtbar, die wir nach Ana- 
logie der Sp. reticularis sogleich für die Durchschnitte der ersten Spirenwindungen hielten, 
was sich bei der endlichen Entdeckung der Spiren auch als richtig erwies. Während wir 
aber beim Fortschleifen erwarteten, die rückkehrenden Spiralen in unserer Zeichnung 
(ig. 15) nach oben und innen von jenen noch übrigen Querschnitten der Schlossplatten 
(b) erscheinen zu sehen, zeigten sich statt dessen hart unterhalb derselben zwei Schalen- 
stücke (c), die sich bei noch weiterem Schleifen als convexe Seiten zweier Bogen erwiesen, 
welche von jenem Punkte dem Schlossrande beinahe parallel nach innen verlaufen. Ihre 
inneren Enden nähern sich beim Fortschleifen immer mehr und berühren sich zuletzt im 
Mittelpunkte der abgeschliffenen Fläche (fig. 16 c). Die sehr viel später erscheinenden 
Bogen der Spiren schneiden jene beiden horizontal liegenden Theile, wie fig. 16 andeutet, 
beinahe im rechten Winkel, in einer Richtung, welche der Basis der Spiren und der stei- 
len Seitenwandung der Schalen, an die sie sich anlegen, parallel ist. Berücksichtigt man 
ferner, dass diese horizontal liegenden, gebogenen, kalkigen Bänder (c), ebenso wie die 
oben beschriebenen Theile der Articulation immer erhalten sind, die Spiren aber gewöhn- 
lich abgebrochen zu sein pflegen, so dürfte es als erwiesen anzusehen sein, dass Sp. latı- 
linguis ein besonderes Schalenstück besitzt, welches der Sp. retieularis fehlt und dessen 
Bedeutung wir durch Anschleifen des Fossiles nicht ermitteln können. 

Kehren wir zu der grossen Klappe zurück, so zeigt sich, dass die starke Anschwel- 
lung derselben in der Cardinalgegend durch eine eigenthümliche Verdickung dieser Schale 
hervorgebracht wird, welche an der Basis der Zähne am stärksten ist, .daher wahrschein- 
lich zu ihrer Befestigung dient und sich von dort nach der Wölbung des Schnabels hin- 
zieht, den sie zum Theil ausfüllt (fig. 13). Sie lässt einen Canal frei, der sich bis in die 
Spitze des Wirbels verlängert (fig. 12) und vermuthlich zur Aufnahme des Heftmuskels, 
der in der Jugend wahrscheïnlich angehefteten Muschel gedient hat. — Von der Basis 
der Zähne nach innen nimmt diese Schale, wie unsere Abbildungen zeigen, schnell an 
Dicke ab. Fig. 13 zeigt ausserdem, dass diese Verdickung von der übrigen Schalensub- 
stanz zuweilen durch eine nicht vollständig verwachsene Sutur geschieden ist. 

Endlich ziehen sich in der Richtung vom Schnabel an den Stirnrand zwei nach unten 
zu schwach divergirende Leisten an der Innenwandung der grossen Schale hinab. Siehaben 
auf dem die Muschel ausfüllenden Kalkstein mehrerer Exemplare scharf ausgeprägte Ab- 
drücke, wie in fig. 11, hinterlassen. 

Die Lage der Brachialspiren, die nicht zu verkennende Aehnlichkeit in der Verzie- 
rungsowohl, als auch in der Form jüngerer Individuen mit Sp. reticularis, veranlassen uns, 
diese Art vorläufig in die Gattung Spirigerina zu stellen. Nach den Grundsätzen, denen 
Herr Davidson bei der Classification der Brachiopoden gefolgt ist, dürfte die Entdeckung 


1 Classif. der Brachiopoden. Tab. III, fig. 24 b. 


BeitRÂce zur KENNTNISS DER SEDIMENTÂREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 81 


der vollständig erhaltenen inneren Theile dieser Art zur Begründung einer neuen Gattung 
Veranlassung geben. 

Grosse Exemplare der Sp. latilinguis messen 41 mm. vom Wirbel bis zum Stirn- 
rand und ebenso viel in der Breite, während der Durchmesser beider Schalen 25 mm. 
beträgt. 

Bei Kadinskoy am Isset, der einzigen Stelle, an der devonische Schichten am Ostab- 
hange des Ural nachgewiesen sind, ist diese Art ungemein häufig und scheint gewisser- 
massen die sehr viel seltenere Spir. reticularis zu vertreten. Sie kommt mit Spirigerina Du- 
boisi, Rhynchonella cuboïdes u. A. zusammen vor. 

Das Berliner Museum bewahrt Exemplare aus den devonischen Schichten von Ober- 
Kunzendorf in Schlesien auf, die ebenfalls mit Rh. cubordes zusammen gefunden worden sind. 
In der Eifel bei Gerolstein ist sie selten und mit demselben Fossil vergesellschaftet. 

. 
Sperigerina PDuboiïsi M. У. К. 
Taf. II, fig. 1. a—e. 

Terebratula Duboisi. Geol. de la Russie. Vol. 110097. Tab-V, 12216=2bre.11843: 

Terebratula Duboisi Keyserl. Hofmann: der nördliche Ural und das Küstengebirge 
Pae-Choi, Band II, p. 211 und 229. 1856. 


Der Umriss ist je nach dem Cardinalwinkel, welcher sehr stumpf zu sein pflegt, aber 
vom Rechten bis zur nahe geraden Schlosslinie schwankt, rund oder länglich oval. Die 
Cardinalränder sind gewöhnlich kurz und gehen mit einem sanften Bogen in die Seitenrän- 
der über. Der Stirnrand ist je nach dem Sinus der kleinen Schale wenig oder gar nicht 
ausgeschweift. Die Bauchschale überragt die kleine wenig. Ihr zarter, spitzer Schnabel 
biegt sich nicht um, sondern ist, wie bei Sp. reticularis, zum Schlossrande zu durch eine 
Ebene abgestumpft. Die Heftmuskelöffnung auf derselben ist schwer zu beobachten, da 
die feine Spitze gewöhnlich abgebrochen ist. Graf Keyserling 1. с. sah «den Schnabel 
durchbobrt von einem kleinen, aber unversehrten Loche.» Diese Schale ist etwas gewölbt 
und dadurch leicht gekielt, dass auf der convexesten Stelle zwei erhöhte Falten von dem 
Wirbel an den Stirnrand verlaufen). Die kleine oder Rückenschale trägt einen leichten 
Sinus, der oft bis zum Verschwinden undeutlich wird. Die Schalen sind mit gerundeten 
Falten bedeckt, welche gewöhnlich und zuweilen mit grosser Regelmässigkeit dichotomiren. 
Am Wirbel der kleinen Schale zählten wir, wie die Verf. der Geol. de la Russie 9 Falten, 
d. h. eine im Sinus und jederseits 4. Die Exemplare von Kadinskoy, deren Falten weniger 
dichotomiren, pflegen an der Peripherie nur 14—16 zu haben. Bei Soulem beobachteten 
wir die von den Verf. der Geol. de la Russie angegebene Zahl von 22— 24 Falten an der 
Peripherie. 


1) Herr von Pander zeigte uns schöne Exemplare dieser Art von der Windau, bei denen 3 Falten diese 
Anschwellung zu bilden pflegen. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, VIle Serie 11 


82 М. у. GRÜNEWALDT, 


Bei Kadinskoy kommen Exemplare vor, welche zeigen, dass die Schale aus zwei 
Lagen besteht (fig. 1. с). Die oberste Schicht ist fast immer abgelöst, wie in d und e. 
Nur einige Reste derselben pflegen bei diesem Erhaltungszustande an den glatten Falten 
als weisse, fasrige Masse sichtbar zu sein. Solche Exemplare sind von den Auctoren der 
Art beschrieben worden"). Von 150 Exemplaren, die wir sammelten, haben nur 10 bis 
12 eine vollständig erhaltene Oberschale. Sie ist ganz mit Anwachsringen bedeckt, welche, 
wie bei Spir. aspera, auf den einzelnen Falten als Schuppen hervortreten (fig. 1. b). 

Unsere zahlreichen Exemplare der Spirigerina Duboisi weichen in der Grösse sehr 
wenig von einander ab. Die mittleren Dimensionen sind: 11 mm. vom Wirbel bis zum 
Stirnrand und ebenso viel in der Breite bei einem gerundeten Exemplare. Der Tiefen- 
durchmesser beträgt 6 mm. 

Spirigerina Duboisi wurde in den silurischen Kalksteinen an der Windau in Litthauen 
entdeckt. Ebenso wird sie aus dem silurischen Kalkstein von Bogosslowsk angeführt. 
Hofmann hat sie aus dem hohen Norden des Ural von Kliutschi an der Petschora aus de- 
vonischen Schichten mitgebracht, und wir fanden sie mit Arten, die in der Eifel gemein 
sind, bei Kadinskoy am Isset und bei Soulem an der Tschussowaja. 


Genus Rhynchonella Fischer. 1809. 


Rhynchonella Fischer. Notice sur les fossiles du gouvernement de Moscou servant de 
programme pour inviter les membres de la société Impériale à la séance publique du 
29. Oct. Moscou 1809. 

Atrypa Dalm. Vetensk. Akad. Handl. p. 102. 1828. Partim. 

Hemithyris und Rhynchonella A. d'Orbigny. Pal. franc. terr. crét. Tome IV, р. 12. u. 
13. 1847. 

Hypothyris Phill. in: King Monogr. of the Perm. foss. of England, p. 111. 1850. 

Rhynchonella Davidson. Brit. foss. Brachiop. Vol. I, р. 93 und Vol. Ш, р. 65. 
1851—1854. 

Rhynchonella Semen. Zeitschr. der deutsch. geol. Gesellsch. Band VI, p. 338. 1854. 

Hemithyris M°-Coy. Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge p. 199. 1855. 

Rhynchonella Gebr. Sandberger. Verst. des rhein. Schiefers. in Nassau. p. 335. 1856. 

Rhynchonella Davidson. Classif. der Brachiopoden. Unter Mitw. 4. Verf. deutsch 
bearb. von Ed. Suess. p. 97. 1856. 

Terebratula der meisten Auctoren. 


1) Dieser Umstand veranlasste uns die vollständig er- | wir beeilen uns jetzt, nach Wiedererlangung des ver- 
haltenen Individuen an Ort und Stelle für kleine Exem- | lorenen Materials von diesem Orte, eine Angabe zu be- 
piare der Spir. aspera zu halten. Daher ist diese Art | richtigen, welche wir damals mit Vorsicht aufzunehmen 
1857 vorläufig von Kadinskoy angeführt worden, und | baten. 


BeirrÂce zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 83 


Rhynchonella cuboides Sow. 
Taf. II, fig. 3. a—e. 


Atrypa cuboides бош. in Sedwick andMurchison on the physic. struct. of Devonshire 
Geol. Trans. 2nd. ser. Vol. V, p. 704. Pl. 56. fig. 24. 

Atrypa crenulata id. ibid. fig. 17. 

Terebratula cuboides Phill. Cornwall, Devon and West-Sommerset р. 84. Pl. 34. 
fig. 150. 1841. 

Atrypa cuboides Sedg. and Murch. Pal. dep. of the north ofGerm. and Ве». р. 393. 
1842. 

Terebratala cuboides F. A. Römer. Versteinerungen des Harzgebirges p. 16. Tab. V, 
fig. 27. 1843. 

Terebratula cuboides de Kon. Descript. des anim. foss. qui se trouvent dans le terr. 
carb. de Belgique. p. 285. Tab. XIX, fig. 3. a—e. 1842—44. 

Terebratula cuboides Ferd. Römer. KRheïnisches Uebergangsgebirge р. 65. 1844. 

Terebratula cuboides Pacht. Dimerocrinites oligoptilus p. 26. 1852.? 

Terebratula cuboides Geinitz. Verst. der Grauwackenf. in Sachsen und den angrenz. 
Länderabth. p. 56. Tab. 14. fig. 28 u. 29. 1853. 

Terebratula cuboides Steininger. Geogn. Beschr. der Eifel. р. 60. 1853. 

Terebratula cuboïdes Schnur, Meyer und Dunker. Palaeontogr. Band Ш, р. 239. 
Tab. XLV, fig. 4. 1853. 

Hemithyris cuboïdes M°-Coy. Brit. pal. foss. in the mus. of Cambr. р. 381. 1855. 

Terebratula cuboides Abich. Vergl. Сео]. Grundzüge der kauk., armen. und nordpers. 
Gebirge. p. 78. 1858.? 


Eine gewölbte, kugelige Form, welche nach den Linien der Schloss- und Seitenkan- 
ten, so wie des Stirnrandes einen nahebei fünfeckigen Umriss hat. Der Schlosskantenwin- 
kel ist sehr stumpt. 

Die Bauchschale biegt sich nach dem Stirnrande in einer hohen Zunge derartig im rech- 
ten Winkel um, dass man sie wie aus einem horizontalen und einem verticalen Theile gebil- 
det ansehen kann. Sie trägt einen flachen, breiten Sinus, der auf der halben Entfernung 
zwischen dem Wirbel und jener Biegung beginnt, den verticalen Theil der Schale bildet, 
und als aufrechtes Rechteck bis an den Gipfel der hoch bombirten Rückenschale eingreift. 
Der Schnabel ragt wenig über den Wirbel der anderen Schale herüber. Obgleich er klein 
ist, pflegt er doch die Heftmuskelöffnung zu verbergen. Von den citirten Auctoren ist 
diese nur von Adolph Römer, de Koninck, Geinitz und M°-Coy beobachtet worden. 
Nach M°-Coy ist es eine kleine dreieckige Oeffnung, an der Geinitz ein Deltidium sah. 
Letzterer erwähnt auch einer kleinen Area, welche mit scharfen Kanten an die Rücken- 
schale angrenzt. Diese ist hoch gewölbt. Im Profil gesehen steigt der Umriss der Rücken- 
schale vom Wirbel senkrecht bis nahe zur grössten Höhe der Muschel an, bildet dann eine 

* 


84 М. v. GRÜNEWALDT, 


halbkreisförmige Krümmung und erhebt sich noch etwas zum Stirnrande zu. Der Wulst 
ist nicht vom Wirbel an sichtbar. Zum Stirnrande zu erhöht und erweitert er sich rasch, 
und ist in der Nähe desselben gegen die anderen Theile der Schale scharf abgesetzt. Die 
Seitenwandungen der Rückenschale fallen sehr steil gegen die Ränder ab. 

Die ganze Muschel ist mit breiten, platten Falten geziert, welche nur auf dem Wulst 
als scharfe Rippen erscheinen. Nach den Angaben der verschiedenen Schriftsteller schwankt 
die Zahl der Falten auf dem Sinus zwischen 6 und 20, wobei wir bemerken, dass die deut- 
schen Varietäten breitere und daher weniger zahlreiche Falten zu haben pflegen als die 
englischen. M°-Coy führt in seiner Diagnose 15—20 Falten auf dem Sinus an, während 
die Angaben von Schnur, Steininger, A.Römer und de Koninck für Deutschland und 
Belgien nur 7—15 ergeben. Hierin schliesst die uralische Varietät sich der deutschen 
an, indem unsere überaus zahlreichen Exemplare nur 6—11 Falten auf dem Sinus haben. 
Auf den Seiten der gewölbten Schale bilden die Falten gebogene Linien. Wir zählten 11 
bis 18 zu jeder Seite des Wulst, während de Koninck 22—25 angiebt. 

Diese Art erreicht im Ural eine beträchtliche Grösse. Unser grösstes Exemplar misst 
23 mm. vom Wirbel an den Stirnrand, 34 mm. in der Breite und hat einen Tiefendurch- 
messer von 22 mm. | 

Rhynchonella cuboides ist mit Spirigerina latılinguis und Duboisi das häufigste Fossil in 
den devonischen Kalksteinen von Kadinskoy am Isset, und einzelne Kalktseinplatten sind 
mit dieser Art erfüllt. 

Im westlichen Europa ist diese Species, wie die angeführte Litteratur beweist, devo- 
nisch, mit alleiniger Ausnahme von Belgien, wo siein den devonischen Schichten von Chimay, 
aber auch im Bergkalke von Vise gefunden worden ist. An letzterem Orte ist sie mit Pro- 
ductus substriatus, Rh. acuminata und Euomphalus bifrons zusammen vorgekommen. 

In England findet sich Rhynchonella cuboïdes in Süd-Devon bei Plymouth, Hope und 
Barton bei Torquay. In Deutschland bei Gerolstein, Gres und Schönecken und im Eisen- 
stein des Enkeberges bei Boedeler im rheinischen Uebergangsgebirge; bei Grund im Harz; 
im sächsischen Vogtlande bei der Magwitzer Ziegelei und endlich bei Oberkunzendorf in 
Schlesien. 

Pacht führt diese Art auch vom Schelon im Gouvernement Pskow an, ein Vorkom- 
men, das uns noch zweifelhaft erscheint, da trotz der «unzählbaren Menge», in der Rhyn. 
cuboides daselbst auftreten soll, bisher nur flache Formen gefunden worden sind, wie de 
Koninck sie als Jugendzustände beschrieben und abgebildet hat. 


Rhynchonella formosa Schnur. 
Taf. II, fig. 4. a—c. 


Terebratula formosa Schnur, Meyer und Dunker. Palaeontogr. Band II, р. 173. 
Tab. XXII, fig. 4. a b. 1853. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÂREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 85 


Diese Muschel pflegt einen flachen quer verlängerten Umriss zu haben und wird durch 
eine stärkere Wölbung der beiden Schalen selten annähernd kugelig. Der stumpfe Schloss- 
kantenwinkel schwankt zwischen 140° und einer geraden Linie. Die Durchmesser der 
beiden Schalen sind sich nahe gleich; jedoch pflegt die Rückenschale etwas gewölbter zu 
sein. Der Schnabel der Bauchschale ist kurz und lässt an unseren Exemplaren weder 
Heftmuskelöffnung noch Area frei. Der Sinus dieser Schale ist für die Form besonders 
charakteristisch. Er beginnt erst jenseit der Mitte derselben, biegt sich aber bei der Ent- 
stehung sogleich mit einer nahe rechtwinkligen Krümmung so weit gegen die andere 
Schale um, dass er den Stirnrand derselben häufig ausschneidet. Der Wulst der Rücken- 
schale beginnt erst nahe dem Stirnrande und wird, wenn dieser durch die Zunge der an- 
deren Schale ausgeschnitten ist, ungemein kurz. Der Boden des Sinus und der Rücken des 
Wulst sind flach und treffen sich in einer geraden Linie, welche häufig, wie bei Rhyncho- 
nella cuboides, die obere Seite eines von der Zunge des Sinus hervorgebrachten, jedoch 
kurzen Rechteckes bildet. — Die Muschel ist an den Wirbeln glatt. Nur an den Rändern 
finden sich flache Falten. Wir zählten 3—6 im Sinus und auf dem Wulst; an den Rändern 
jederseits S—9 wie Herr Schnur. 

Das abgebildete Exemplar misst 19 mm. vom Wirbel bis an den Stirnrand und 25 
in der Breite, während der Tiefendurchmesser beider Schalen 12 mm. beträgt. 

Von den Rhynchonellen des Bergkalkes wie Rh. acuminata, pugnus und pleurodon un- 
terscheidet diese Form sich u. a. durch die beinahe gleiche Wölbung beider Schalen, 
während bei jener die Rückenschale sich hoch über der flachen Bauchschale aufthürmt. 
Dagegen steht Terebratula tarda Barrande'), nach der Beschreibung dieses Auctors der 
von Schnur aufgestellten Art sehr nahe. Ihre Falten erscheinen jedoch gewölbter und 
breiter als die der Rh. formosa. 

Rhynchonella formosa ist bei Soulem an der Tschussowaja nicht selten. Ausserdem 
ist sie bisher im Eifeler Kalkstein gefunden worden. 


Rhynchonella indeterminata. 
Taf. II, fig. 2. 


Eine scharf gerippte Rhynchonella, von der wir uns bei Kadinskoy am Isset nur 4 
schlechte Bruchstücke verschaffen konnten, ist bei der grossen Menge ähnlicher Formen 
in den palaeozoischen Formationen nicht mit Sicherheit zu bestimmen. 

Bei dem grössten Exemplare ist der Umriss rundlich, bei den kleineren Bruchstücken 
durch den spitzeren Schlosskantenwinkel, der zwischen 100° und 90° schwankt, dreieckig. 
Die mässige Wölbung beider Schalen ist ziemlich gleich. Die kleineren Individuen sind 
flacher. Der Sinus der Bauchschale und der Wulst der anderen sind schwach entwickelt; 


1) Naturwissenschaftliche Abhandlungen Band I, р. 85. Tab. XX, fig. 12. 1847. 


86 M. v. GRÜNEWALDT, 


jedoch in der Nähe des Stirnrandes vollkommen kenntlich. Letzterér wird durch den 
Sinus in einem flachen, breiten Bogen erhoben. Die Muschel ist mit dicht gedrängten, 
scharfen Rippen bedeckt, welche zuweilen sehr ausgezeichnet dichotomiren und an der 
Sutur einen ausgezackten Rand bilden. Wir zählten 33 auf der Rückenschale des abge- 
bildeten Exemplares, von denen 13 im Sinus und 10 zu jeder Seite desselben liegen. : 

Durch ihren Umriss gleichen unsere Bruchstücke der Terebratula crispata Sow.') aus 
dem Wenlock-Kalkstein von Radnorshire, einer Form, welche Bronn ebenso wie Ter. ph- 
catella Dalm. mit Ter. borealis v. Buch vereinigt”). Sie unterscheiden sich von diesen Arten 
durch die dichtere Faltung. Ter. crispata hat nur 18 Rippen und Ter. plicatella nach Dalm. 
nur 13 auf einer Schale. Auch die Abbildungen grösserer Individuen letzterer Art von 
Hisinger”*) und J. Hall‘) zeigen gröbere Falten. 


Genus Pentamerus. 


Pentamerus galeatus Dalm.’) 
Taf. II, fig. 8. 


Atrypa galeata Dalm. Vet. Akad. Handl. p. 130. Tab. V, fig. 4. 1828. 

Pentamerus galeatus Ferd. Römer. Rhein. Uebergangsgebirge. p. 76. 1844. 

Pentamerus galeatus Vern. Notes sur les foss. Dev. du district de Sabero. Bullet. de 
la soc. géol. de France. 2. série. Tome VI, р. 155. 1850. 

Pentamerus galeatus Schnur, Meyer und Dunker. Palaeontogr. Band III, p. 196. 
Tab. XXIX, fig. 2. a—d. 1853. 

Pentamerus galeatus A. Römer, M. und D. Palaeontogr. 1854. p. 106, und 1855. 
Tab. XX, fig. 5. 


Bei Kadinskoy am Isset kommt die gewöhnliche in den obersilurischen und devoni- 
schen Schichten aller Länder verbreitete Varietät vor, welche vorzugsweise im Sinus und 
auch an den Rändern gefaltet ist, während die Wirbelgegend glatt bleibt. Ihre Grösse 
nähert sich der von Schnur aus der Eifel abgebildeten Form. Wir massen 21 mm. vom ' 
Wirbel bis zum Stirnrand und 26 mm. in der Breite. Ein Exemplar wurde abgebildet, 
um die Varietät dieser wechselnden Form zu bezeichnen. 


Genus Orthis Dalm. 1828. 


Orthis Dalm. Vetensk. Akad. Handl. p. 96. 1828. 
Orthambonites Pander. Beitr. zur Geogn. Russl. p. 81. 1830. 


1) Murchis, Sil. syst. р. 624. Pl. XII, fig. 11. 1839. 4) Pal. of New-York Vol. II, р. 279. PI. 58. fig. 3 u. 4. 
2) Index p. 1231. 5) Siehe: die Litt. der Art in den Verst. von Bogos- 
3) Lethea suecica p. 80. Tab. XIII. fig. 4. slowsk p. 28. 


(we) 
I 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 


Spirifer M. V. K. Geol. de la Russie. Vol. II, p. 135—139. 1845. (biforatus.) 

Schizophoria King. Monogr. of the Perm. foss. of England. p. 106. 1850. 

Dicoelosia id. ibid. p. 106. 

Plathystrophia id. ibid. р. 106. 

° Orthis Davidson. Brit. foss. Brachiop. Vol. I, р. 101. 1851—1854. 

Orthis Davidson. Classif. der Brachiop. unter Mitw. des Verf. deutsch bearb. von 
Ed. Suess. p. 107. 1856. 

Orthis der meisten Auctoren. 


Orthis striatula v. Schloth. 
Taf. II, fig. 6 a—d. 

Terebratulites striatulus v. Schloth. Leonh. mineral. Taschenbuch УП, Pl. 1, fig. 6. 
1813. und Petrefactenkunde p. 254. 1820. 

Ter. vestitus id ibid. p. 253. 

Delthyris excisa v. Schloth in Pusch Polens Palaeontologie p. 28. 1837. 

Spirifer striatulus A. Römer. Verst. des Harzgebirges р. 14. Tab. У, fig. 14. 1843. 

Spirifer.striatulus Е. Römer. Rhein. Ueberg. geb. р. 73. Tab. I, fig. 2. аЪ с. 1844. 

Orthis striatula de Kon. Descr. des anim. foss. qui se trouvent d. le terr. carb. de 
Belgique р. 224. Pl. ХШ, fig. 11. a b und XIII bis fig, 6. 1844. partim. 

Orthis resupinata var. striatula M. V. K. Geol. de la Russie. Vol. II, p. 193. Pl. XII, 
fig. 6. ab. 1845. 

Orthis striatula Keyserling. Petschoraland. p. 223. 1846. 

Orthis resupinata var. striatula Barr. Naturwiss. Abhandl. Band II, р. 39. Tab. XIX, 
fig. 3. 1848. 

Orthis striatula Steininger. Geogn. Beschr. der Eifel. p. 81. 1853. 

Spirifer striatulus Geinitz. Die Grauwackenf. in Sachsen und den angr. Länderabth. 
p. 61. Tab. XV, fig. 10—20. 1853. 

Orthis striatula Schnur, Meyeru. Dunker. Palaeontogr. Bd. Ш, р. 215. Tab. XXX VIII, 
fig. 1. a—i. 1853. 

‚ Orthis striatula Gebr. Sandberger. Verst. desrhein. Schiefersystems in Nassau. р. 355, 
Tab. XXXIV, fig. 4, 1856. 

Orthis striatula de Verneuil et Barrande. Koss. d’Almaden ect. Extr. du bullet. de 
la soc. сео]. de France. 2. série. Tome XII. р. 77. 1856. 

Orthis striatula Abich. Vergl. Grundz. der kaukas., armen. und nordpers. Gebirge. 
p- 78. 1858. 

Nachdem die Orthis striatula von verschiedenen Auctoren entweder als Varietät der 
Orthis resupinata Mart. aus der Kohlenformation angeführt, oder als selbstständige Art be- 
schrieben worden war, machte Graf Keyserling 1. с. den Versuch, die devonische Art 
von der des Bergkalkes nach äusseren Merkmalen genau zu unterscheiden. Diese Unter- 


88 М. у. GRÜNEWALDT, 


scheidung erhält noch mehr Gewicht, nachdem Davidson das Innere der kleinen Klappe 
von Orthisresupinata neben anderen der Orthis striatula abgebildet hat"). Diese Abbildungen 
ergeben wesentliche Unterschiede in der Lage der Schliessmuskeln jener Klappe, welche 
bei Orthis striatula bekanntlich nur durch die Mittelleiste getrennt, nahe bei einander liegen 
und durch zwei Queräste derselben jederseits in einen oberen und einen unteren Muskel- 
abdruck getheilt werden. Bei Orthis resupinata dagegen erhebt sich zu beiden Seiten jener 
Mittelleiste ein Wulst, welcher die symmetrischen Muskelpaare weit auseinander drängt. 
Dabei fehlen die beiden Queräste der Mittelleiste, so dass die Abdrücke der oberen und 
unteren Schliessmuskelpaare nicht getrennt sind. — In wie weit die von Graf Keyserling 
aufgestellten äusseren Merkmale der beiden Arten mit den erwähnten Unterschieden der 
Schliessmuskelabdrücke Hand in Hand gehen, ob die eine Art nur devonisch, die andere 
nur im Bergkalk vorkommt, bleibt noch durch ausgedehnte Untersuchungen zu er- 
mitteln. 

Bei Soulem an der Tschussowaja kommt Orthis striatula massenhaft vor, und da wir 
das Glück hatten, freie Schalen sowohl als schön erhaltene Steinkerne zu sammeln, können 
wir für diese Localität eine vollkommene Uebereinstimmung der äusseren und inneren 
Merkmale nachweisen, welche die Orthis striatula nach den Untersuchungen von Graf Key- 
serling und Davidson auszeichnen. 

Was die äusseren anbetrifft, so sind die feinen Falten selten von Anschwellungen un- 
terbrochen und werden unterhalb derselben nicht dünner. Die Falten, welche beim Wir- 
bel beginnen, ebenso wie die eingeschobenen, lassen sich bis an den Rand verfolgen und 
verlieren sich nicht in der Mitte. Die kleine Schale ist der Quere nach ohne Unter- 
brechung in derselben Curve gekrümmt und zeigt an keinem unserer zahlreichen Exemplare 
eine Abflachung, geschweige denn eine mittlere Einsenkung”). Der Schnabel der Ventral- 
schale (Dorsalschale Keyserl.) ist dagegen gewöhnlich etwas grösser als der der ent- 
gegengesetzten, so dass wir auch darin Graf Keyserling beistimmen, dass er die häufige 
Abnormität in den Dimensionen der Schnäbel beider Schalen nicht unter die specifisch 
unterscheidenden Merkmale von Orthis resupinata aufgenommen hat. 

Die Haftstellen der Schliessmuskel in der kleinen Klappe entsprechen durchaus den 
Abbildungen des Herrn Davidson. Die jederseitigen Paare liegen dicht an der Mittel- 
leiste, und die oberen und unteren Muskel sind durch die schräg nach unten gerichteten 
Queräste derselben von einander geschieden. Die entsprechenden Muskel der grossen 
Klappe lagen in der oft abgebildeten, durch die verlängerte Basis der Zahnplatten hervor- 
gebrachten länglichen Mulde, welche die Mittelleiste in zwei gleiche Theile theilt. Auf 
unseren Steinkernen bildet sie den als «Hystherolithes vulvarius» bekannten Abdruck. 


1) Brit. foss, Brachiopoda. Vol.I, Pl. УП, fig.128—133. | der Orthis resupinata aus dem belgischen Bergkalk zu 
2) Dieser Charakter ist dagegen an allen Exemplaren | beobachten, welche das Berliner Museum aufbewahrt. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 89 


Die Verfasser der Géol. de la Russie beobachteten Durchbohrungen der Falten-An- 
schwellungen, und vermuthen, dass diese Anheftungspunkte für kleine Stacheln geboten 
haben '). Aehnliches führt Schnur an”). — Eines unserer Exemplare, welches diese Er- 
scheinung besonders deutlich zeigt, macht durchaus den Eindruck, ais bildete jede einzelne 
Falte in ihrem ganzen Verlauf eine hohle Röhre. Wo nämlich eine Falte verletzt oder 
stellenweise ganz zerstört ist, erscheint sie an der Bruchstelle hohl. Durch künstliche 
Verletzung gelang es nicht, die Höhlung nach Belieben an verschiedenen -Punkten nachzu- 
weisen, was daher rühren mag, dass die natürliche Zerstörung der Falten an diesem Exem- 
plare bereits da stattgefunden hat, wo hohle, noch nicht durch Gesteinsmasse ausgefüllte 
Stellen weniger Widerstand leisteten. 

Unsere grossen Exemplare messen 27 mm. vom Schnabel bis zum Stirnrand und 
32 mm. in der Breite, während der Durchmesser beider Schalen 19—22 mm. beträgt. 

Diese, wie die angeführte Litteratur zeigt, in der devonischen Formation weit ver- 
breitete Art ist von Barrande auch in den obersilurischen Schichten Böhmens gefunden 
worden. Die Gebrüder Sandberger, welche Orthis striatula von O. resupinata unterschei- 
den, führen erstere ebenso wie de Konink auch aus dem Bergkalke an. 

Bei Soulem an der Tschussowaja ist Orthis striatula das häufigste Fossil. Bei Kadins- 
koy am Isset fanden wir nur wenige Exemplare. Die Verfasser der Géol. de la Russie ci- 
tiren sie von Kinowsk und fanden an der Serebränka ein Exemplar, das sie «der Varietät 
resupinata» zuzählen. 


Orthis indeterminata. 
Taf. II, fig. 7ab. 


Eine sehr kleine Orthis, welche sich durch einen quer verlängerten Umriss auszeich- 
net. Die Area ist kürzer als die grösste Breite der Muschel. Die kleine Schale trägt einen 
Sinus, welcher, vom Wirbel an gerechnet, am zweiten Drittheil derselben beginnt und sich 
zum Stirnrande zu erweitert®). Die grosse Schale ist gewölbter als die andere und beson- 
ders in der Linie vom Schnabel zum Stirnrande erhöht. Die Muschel ist mit radialen 
Falten geziert, deren wir 50 auf der grossen Schale zählten. Sie misst 57 mm. in der 
Breite und 3% mm. von der Spitze des Schnabels bis an den Stirnrand. 

Diese Art ist sehr selten bei Kadinskoy. Nach. mehrtägigem Ausschlemmen der tho- 
nigen Lagen zwischen den devonischen Kalksteinschichten fanden wir nur zwei gleich 
grosse Exemplare dieser Form. Wir haben sie vergrössert und in natürlicher Grösse ab- 
gebildet. | 


1) Ces renflements sont souvent percés, et paraissent | ben Stelle etwas ihrer Länge nach aufgeschlitzt.» 
avoir donné attache à des épines. 3) Dieser Charakter ist auf der vergrösserten Abbil- 
2) «Die Falten sind auf dem Rücken hin und wieder | dung 7 b., einer Bleifederzeichnung, nicht correkt wie- 
wie mit einer Nadel aufgestochen und dabei an dersel- | dergegeben. 
Mémoires de ГАса4. Imp. des sciences, УПе Serie. 12 


90 M. v. GRÜNEWALDT, 


Genus Productus Sowerby 1812. 


Productus Sow. Mineral Conchology, Vol. I, p. 153. 1812. 

Productus Davidson. Brit. foss. Brachiopodä, р. 115. 1851—1854 und Classif. der 
Brachiop. unter Mitw. d. Verf. deutsch bearb. von Ed. Suess, p. 128. 1856. 

Productus der meisten Auctoren. 

Für die ausführliche Litteratur und Synonymie dieser von allen neueren Auctoren an- 
genommenen Gattung verweisen wir auf de Konink: Monographie des genres Productus et 
Chonetes. 1847. Davidson hat die meisten Formen von Productus, welche eine Area 
haben, zu der Gattung Strophalosia gestellt. Diese sind daher zum grössten Theil auszu- 
nehmen. 


Produetus Murchisonianus de Kon.') 


Taf. Ш, Во. 9. а. 


' Orthis productoides Murch. Bullet. de la soc. сео]. de France. Vol. ХТ, р. 254. PI. 2, 


fig. 7. a—c. 1840. 


Leptaena caperata Sow. Trans. of the geol. soc. of London. 2nd.ser. Vol. V, p.704, 


PI. 53, fig. 4. 1840? 


Productus productoides M. У. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 283. Pl. XVII, 


fig. 4 a—f. 1845. 


Productus subaculeatus Keyser!. Petschoraland, р. 199. 1846. partim. 
Productus Murchisonianus de Kon. Monogr. 4. genres Prod. et Chon., р. 138. PI. XVI, 


fig. 3 a—f. 1847. 


Productus Murchisonianus Schnur, Meyer und Dunker. Palaeontogr. Band Ш, р. 228. 


Та XEIM, gt en 1853:2 


Productus Murchisonianus de Vern. et Barr. 


Foss. d. Almaden ect. Extr. du bullet. 


de la soc. géol. de France 2de. série. Tome XII, p. 78. 1856. 
Productus productoides Pacht. Beitr. zur Kenntniss des Russ. Reiches u. s. w. heraus- 
gegeben von K. v. Baer und Gr. v. Helmersen. Bd. 21. p. 96. 1858. partim? 


1) Obgleich diese Form eine doppelte Area hat, so 
haben wir sie vorläufig noch nicht aus der Gattung Pro- 
ductus ausgeschieden, bis die Entdeckung anderer Merk- 
male ihre definitive Stellung im System sichert. Die 
eigentlichen Strophalosien des permischen Systems haben 
so viel Eigenthümliches in ihrer äusseren Gestaltung, 
dass diese Vorsicht gerechtfertigt erscheint. — Me-Coy 
hat in seinem 1855 erschienenen Werke nur Prod. mem- 
branaceus aus der Geol. de la Russie als Synonyme der 
Stropholasia caperata citirt. 

Obgleich der Name Prod. Murchisonianus jünger ist 


als Prod. caperatus Sow., haben wir uns dennoch de 
Koninks Nomenclatur angeschlossen, weil es, wie 
dieser Auctor bemerkt, kaum mit Sicherheit zu ermitteln 
ist, welche der nahestehenden Formen die älteren Schrift- 
steller beschrieben haben. Wird Prod. Murchisonianus 
den Strophalosien definitiv einverleibt, so fällt der Grund 
weg, warum der Name Productus productoides Murch. 
(ursprünglich eine Productus ähnliche Orthis bezeich- 
nend) von de Konink geändert wurde, und es dürfte 
dann angemessen sein, die Art Strophalosia productoides 


Murch. zu benennen. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 91 


Productus Murchisonianus Abich. Vergl. geol. Grundzüge der kauk., arm. u. nordpers. 
Geb. p. 78. 1858. 

Trotz der von vielen Auctoren anerkannten Schwierigkeit, diese Art mit Sicherheit 
von dem ähnlichen Prod. (Strophal.) subaculeatus Murch. zu unterscheiden, glauben wir, dass 
das Auftreten derselben bei Soulem an der Tschussowaja eine neue Bestätigung für die 
von Herrn de Konink 1847 mit so viel Genauigkeit durchgeführte Unterscheidung der 
beiden Arten bietet. Wir haben an diesem Fundorte gegen 70 Exemplare des Pr. Murchr. 
sonianus gesammelt, welche sich alle durch eine übereinstimmende Entwickelung der speci- 
fischen Merkmale dieser Form auszeichnen. Kein einziges Exemplar bildet einen Ueber- 
gang zu dem gewölbteren und mit grossen vereinzelten Stachelnarben besetzten Pr. sub- 
aculeatus, wie ihn de Konink 1. с. fig. 4 с und d abgebildet hat. 

Die Individuen von Soulem haben einen halbkreisförmigen Umriss mit deutlich abge- 
setzten Ohren. Die doppelte Area ist sehr schmal, aber immer kenntlich. Die Anwachs- 
streifen geben der Schale ein runzliges Ansehen, was dadurch entsteht, dass diese feinen 
Ringe sich zu fasrigen Gruppen vereinigen, welche in einander geschlungene Wellenlinien 
bilden '). Die Stachelreste sind als kleine spitze Tuberkeln vorzugsweise auf den Ohren 
erhalten, während sie auf dem übrigen Theil der Schalen häufig fehlen, was an der Erhal- 
tung liegen kann. Beachtenswerth sind die engen Grenzen, zwischen denen die Grösse 
dieser Art bei Soulem schwankt. Der grösste Durchmesser aller unserer Exemplare, wel- 
cher der der Breite ist, liegt ohne Ausnahme zwischen 15 und 21 mm. 

Diese in den devonischen Schichten Englands und Belgiens gemeine Art kommt nach 
M., У. п. К. im flachen Russland in den devonischen Kalksteinen des Volkow, des Птеп- 
sees, in Woronesh bei Zadonsk und am Don vor. Graf Keyserling fand sie an der 
Uchta, einem Zufluss der Ischma und am Wol. Er hat Prod. subaculeatus 1346, unter- 
stützt durch die damaligen Ansichten des Herrn de Koninck, von Prod. productoides (Mur- 
chisonianus de Kon. 1847) nicht unterschieden, ebenso wie Pacht, der diese Formen von 
Jeletz und Sadonsk anführt. 

Da Herr de Konink die Verbreitung des Productus Murchisonianus auf die devoni- 
schen Schichten Deutschlands ausgedehnt hat, und sie von Paffrath und Gerolstein in der 
Eifel eitirt, bemerken wir, dass die Gebrüder Sandberger, Steininger, Schnur und 
A. Römer später nur den Pr. subaculeatus mit Bestimmtheit aus dem Nassauischen, der 
Eifel und dem Harz angeführt haben. Schnur allein erwähnt eines zweifelhaften Vorkom- 
mens des Pr. Murchisonianus bei Blankenheim. 


1) Dieser Charakter tritt bei unserer Abbildung nicht genügeud hervor. 


92 М. у. GRÜNEWALDT, 


ROHLENFORMATION. 


BRACHIOPODA. 


Genus Terebratula Lhwyd. 1696. 


Seminula M°-Coy. Syn. of Carb. limest. foss. of Ireland, p. 158. 1844. 

Terebratula A. d’Orbigny. Prodr. de pal. strat. Vol. ор 15 652% 

Epühyris Phill’ т King Monogr. of the Perm. foss. of England. р. 146. 1850. 

Terabratula Davidson. Brit. foss. Brachiopoda. Vol. I, p. 62. 1851—1854. 

Terebratula Semenow. Zeïtschrift der deutschen geolog. Gesellschaft. Band VI, 
р. 326. 1854. 

Terebratula Davidson. Classif. der Brachiopoden u. Mitw. des Verf. deutsch bearb. 
von E. Suess. p. 36. 1856. 

Terebratula Gebr. Sändberger. Verstein. des rheinischen Schiefersystems in Nassau, 
p. 306. 1856. | 

Terebratula der meisten Auctoren. partim. 


Terehratula sacculus Martin. 


Anomites sacculus Mart. Petr. Derb. Vol. I, Pl. 46, fig. 1 u. 2. 1809. 

Wir haben nur ein einziges Bruchstück bei Ilinsk an der Tschussowaja gefunden, 
das wahrscheinlich dieser Art angehört. Der Schnabel der grösseren Klappe fehlt. 

Der Umriss ist länglich oval mit beinahe parallelen Seitenrändern. Diese, so wie der 
Stirnrand sind sehr stumpf, weil die ganze Form so aufgetrieben ist, dass die grösste Tiefe 
und Breite der Muschel sich gleich sind. Sie betragen je 7 mm. Der tiefe Einschnitt in den 
Stirnrand dringt bis in die Mitte der grösseren Schale vor, während er an der kleineren nur . 
in der Nähe jenes Randes sichtbar ist. — Dem Umriss nach gleicht unsere Form mehr der 
Originalabbildung von Martin, als den herzförmigen Exemplaren, welche de Konink wie- 
dergegeben und verschiedenen Museen übersandt hat. — Es ist nach den angeführten 
Merkmalen daher wahrscheinlich, dass uns die echte Terebratula sacculus vorliegt, welche 
zuerst von Herrn v. Buch mit Ter. hastata Sow. vereinigt wurde, während neuerdings 
M°-C.oy') und Davidson’) beide Formen wieder als besondere Arten beschrieben haben. 

Sehr ähnlich unserem Bruchstücke ist die in der Géol. de la Russie Vol. I, Pl. V. 
fig. 11 a b abgebildete T erebratula canalis aus dem Bergkalke von Zaraisk in Räsan. Herr 


1) Descr. of the‘Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge р. 411 (Seminula). 
?) Brit. carbonif. Brachiop. р. 14. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC 93 


von Semenow hat diese, unter dem Namen einer ursprünglich silurischen Art beschrie- 
bene Form mit einem Fragezeichen bei Terebratula sacculus angeführt '). 

Bisher ist von den Verf. der Géol. de la Russie nur die Ter. hastata von der Schar- 
timka keschrieben worden, welche auch Graf Keyserling aus dem Bergkalk an der 
Soiwa mitgebracht hat. à | 


Genus Spirifer Sow. 
Spirifer Wosquensis Fischer. 
TatiN, fig. 2. 

Choristites Mosquensis Fisch. Programme sur la Choristite р. 8. No. 1. 1825.°) 

Choristites Mosquensis id. Orykt. du gouv. de Moscou. р. 140. PI. XXIV, fig. 1—4. 1837. 

Choristites Sowerbyt id. ibid. Pl. XXIV, fig. 5, 6, 7. PL ХХУ, fig. 1. 

Chor. Klein id. ibid. Pl. XXIV, fig. 8, 9.? 

Spirifer Choristites v. Buch über Delthyris, р. 45. 1837. 

Spirifer Sowerbyi de Kon. Descr. des an. foss. qui se trouv. 4. 1. terr. carb. de Bel- 
gique, р. 252. Pl. XVI, fig. 1.abc. 1842 —44. 

бр". Mosquensis Vern. et d’Arch. Bullet. de la soc. géol. de France: 2de. serie. Vol. IF, 
extr. p. 25. 1845. 

Spirifer Mosquensis. Murch. Vern. Keyserl. Géol. de la Russie Vol. II, р. 161. PI V, 
fig. 2 a—f. 1845. 

Spir. crassus. ibid. р. 165. PI. VI, fig. 2.? 

Spirifer Mosquensis Keys. Wiss. Beob. auf einer Reise in das Petschoraland, p. 230. 1846. 

Spir. Mosquensis Keys. InHofmann der nördl. Ural und das Küstengebirge Pae Choi, 
р. 209. 1856. 

Spirifera Mosquensis Davidson. Mon. of Brit. carb. Rrachiopoda, р. 22. PI. IV, fig. 13, 
14. 1857. 

Dieser Spirifer liegt uns von der Schartimka und der Tschussowaja vor, an deren 
Ufern wir ihn 4 Werst oberhalb des Dorfes Wolegobowa, im Revier von llinsk gesammelt 
haben. Zwischen dem Dorfe Martianowa und jenem Punkte sind die Kalksteine mit Durch- 
schnitten jenes Fossiles erfüllt, an denen die stark entwickelten Zahnplatten dergestalt 
hervortreten, dass wir längere Zeit in dem Irrthum beiangen blieben, diese Reste von dem 
Pentamerus Vogulicus herzuleiten, welcher silurische Schichten angezeigt hätte. 

Nach Murchison, Verneuil und Keyserling findet sich Spir. Mosquensis auch 
weiter unterhalb an der Tschussowaja bei Kamisch und Kalino, so wie im südlichen Ural 
auf der Strasse von Uziansk nach Sterlitamak. Im hohen Norden des Gebirges sammelte 
ihn Capt. Strajewsky an der Wischera. — Während Sp. Mosquensis im Hachen Russland 


1) Zeitschr. der deutschen сео]. Gesellsch. Band: VI. р. 327. 
2) Nach Murch. Vern. Кеуз. 1. с. 


94 М. у. GRÜNEWALDT, 


die mittleren Etagen des Bergkalkes charakterisirt, bemerkt Graf Keyserling, dass er 
im Timangebirge bis in die untersten Schichten des Bergkalkes verbreitet ist, welche den 
devonischen auflagern. Er fand ihn am Wol, der Soiwa, Uchta undan der Indiga. In wie 
weit er im Ural für gewisse Etagen des Bergkalkes bezeichnend ist, bleibt durch detaillir- 
tere Untersuchungen zu ermitteln als die sind, welche ich in Begleitung des Gen. Hof- 
mann anstellen konnte. Mit Arten des unteren Bergkalkes ist er von uns nicht gefunden 
worden. 

Wir haben ein Exemplar von der Schartimka abgebildet, wo diese Art vielleicht mit 
Spir. crassus verwechselt worden ist. 


Spirifer erassus de Kon. 
Tafel IV, fig. 1. 


Spirifer crassus de Kon. Déscr. des an. foss. qui se trouv. dans le terr. carb. de Bel- 
gique, р. 262. Pl. XV bis fig. 5. 1842 —44. i 

Spirifer duplieicosta M°-Coy. Descr. of the Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 415. 1855. partim. 

Spirifera erassa Davidson. Monogr. of. Brit. carbon. Brachiopoda, p. 25. Pl. VI, fig. 
20.92. PLOVI fe. И 3 1857. 


Nur eine einzige Ventralschale wurde bisher aus Russland unter diesem Namen be- 
schrieben. Die Verf. der Géol. de la Russie fanden sie an der Schartimka. 

Wir sammelten ebendaselbst 6 Ventralklappen und eine Rückenklappe, welche ohne. 
Zweifel demselben Spirifer angehören, den Murchison, Verneuil und Keyserling mit 
Spirifer crassus verglichen haben. — Es scheint die einzige Art mit ziemlich breiten, rund- 
lichen Falten zu sein, die an der Schartimka vorkommt. 4—7 zählt man am Rande des 
flachen Sinus und 8—12 zu jeder Seite desselben. Bei den meisten Exemplaren ist der 
Umriss mehr in die Länge gezogen und nicht so quer verlängert, wie das auf Pl. VI, fig. 2 
der Géol. de la Russie abgebildete Exemplar. — Die einzige Dorsalklappe, welche wir 
besitzen, zeichnet sich durch einen Wulst aus, der durch zwei Furchen scharf gegen die 
Seiten der Schale abgesetzt ist. Die Falten auf demselben sind ganz obsolet. Zu jeder 
Seite des Wulstes zählt man 9 deutliche Falten, wie an den Seiten des Sinus der Ven- 
tralklappen. — Diese Charaktere der Dorsalschale, welche die Verf. der Geol. of Russia 
nicht besassen, so wie die scharf vertical gestreifte Area, ein Charakter, welchen wir an. 
einer Ventralschale beobachteten, und der beim Spirifer Mosquensis besonders entwickelt 
zu sein pflegt, weisen darauf hin, dass diese Schalen wahrscheinlich nicht dem Spirifer 
crassus, sondern einer gröber gefalteten Varietät des Spirifer Mosquensis angehören. — Un- 
sere Exemplare von der Schartimka entsprechen der Beschreibung und den Abbildungen, 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 95 


welche Fischer von dem бриг Kleinii giebt, der von späteren Auctoren bekanntlich als 
Varietät des Spirifer Mosquensis eitirt wird. ') 

Dagegen rechnen wir die abgebildete Ventralklappe, welche wir in Saraninsk fanden, 
zu Spirifer crassus. Bei gleichem Charakter der Faltung und des flachen Sinus, zeichnet 
sie sich durch bedeutende Grösse aus. Die Falten werden nach dem Cardinalrande zu so 
schnell obsolet, dass ein grosser Theil jener Schalengegend beinahe glatt ist. Auf der 
Mitte der Schale zählt man noch 12 Falten zu jeder Seite des Sinus. Der Stirnrand ist 
ausgebrochen, der quer verlängerte Umriss aber, wie unsere Abbildung zeigt, auf dem 
Steine deutlich abgedrückt. Diese Schale misst 83 mm. in der Breite und 53 von der 
Spitze des Wirbels bis zum aufgebogenen Stirnrand, wie das grösste von de Konink be- 
obachtete Exemplar. 

M°-Coy hat |. с. vorgeschlagen, Spirifer crassus mit Sp. duplicicosta zu vereinigen. 
Da wir an unserem geringen Materiale im Ural keine Uebergänge zwischen diesen Arten 
beobachtet haben, und Davidson die Unterscheidung in England neuerdings aufrecht er- 
halten hat, schliessen wir uns vorläufig letzterem an. 


Spirifer striatus Mart. 


Anomites striatus Mart. Petr. Derbiensia. Pl. 23, fig. 1 u. 2. 1809. 

Terebratula striata Sow. Linn. trans. XII, part. 2, р. 515. Tab. 28. 12.?). 

Spirifer striatus бош. Min. conch. Vol. Ш, р. 125. Tab. 270. 1821. 

Spirifer atteanatus бош. Min. conch. Vol. У, р. 151. Pl. 493, fig. 3, 4, 5. 1825. 

Spirifera striata РИ. Géol. of Yorksh. Part. II, р. 217. 1836. 

Spir. attenuata id. ibid. p. 218. Pl. IX, fig. 13. 

Spirifer striatus v. Buch über Delthyris, p. 47. 1837. 

Spir. Condor A.d’Orb. Voy. dans l’Am. mérid. Tome Ш, p.46. PI. V, fig. 11—12. 
1842? 

Spir. striatus de Kon. Descr. des an. foss. qui se trouv. 4. 1. terr. carb. de Belgique, 
р. 256. Pl. ХУ bis, fig. 4. a b. 1842—44. 

Spirifera striata M°-Coy. Syn. of the char. of the carb. limest. foss. of Ireland, 
p. 135. 1844. 

Sp. attenuata id. ibid., p. 129. 

Spirifer striatus Vern. et d'Arch. Bullet. de la soc. géol. de France. 2de. ser. Tome II, 
extr. p. 25. 1845. 


1) Die grobe Faltung des kleinen Spir. Hleinii con- | lich wird, dass diese, in Russland sowohl wie in Bel- 
trastirt sehr gagen die fein gefalteten, stark geflügel- | gien constanten, und unter sich sehr verschiedenen For- 
ten Spiriferen, welche de Konink als Jugendzustände | men als Jugendzustände derselben Art angesehen wer- 
des Spir. Sowerbyi (Mosquensis) ansieht. Wir konnten | den dürfen. 
mit belgischen Originalexemplaren der Berliner Samm- 2) Nach Broun: Index, р. 1182. 
lung Vergleiche anstellen, nach denen es unwahrschein- 


96 M. v. GRÜNEWALDT, 


Spir. striatus M. V. K. (601. dela Russie. Vol. II, р. 167. PI. УГ fig. 4abc. 1845. 

Spir. striatus Semen. Zeitschrift der deutschen geolog. Gesellsch. Band VI, p. 335. 
1854. 

Spir. striatus Keys. In Hofmann: der nördliche Ural und das Küstengeb. Pae-Choi 
p. 209. 1856. 


Spir. striata Davidson. Brit. carb. Brachiopoda р. 19. Pl. II, fig. 12—91. Pl. Ш, 
fig. 2—6. 1857. 


Diese Art sammelten wir in mehreren Exemplaren an der Schartimka und bei Sara- 
ninsk. Sie stimmen alle mit der Beschreibung überein, welche die Verf der Géol. de la 
Russie von dem Vorkommen dieses Spirifer an der Schartimka geben. Durch den scharf 
begrenzten Sinus und die feinen, wenig dichotomirenden Falten entsprechen sie der Varietät 
attenuatus Sow., welche alle neueren Auctoren mit Sp. striatus identificiren. Bei Saraninsk 
erreicht dieser Spirifer eine beträchtliche Grösse, und zeigt einen stark gegen die andere 
Schale aufgebogenen Sinus. Eines unserer Individuen ist über 100 mm. breit, so dass der 
Sp. attenuatus hiernach kaum als kleinere Varietät des Sp. striatus anzusehen sein dürfte. 

Ausser an den erwähnten Orten wurde dieser Spirifer von Cap Strajewsky im hohen 
Norden des Gebirges an der Wischera gefunden. 


Spirifer duplicicosta Phill. 
Taf. У, fig. За b. 


Spirifera duplicicosta Phill. Géol. of Yorkshire. Part II, р. 218. PI. X, fig. 1. 1836? 

Spirifer duplicicosta de Kon. Descr. 4. anim. foss. qui se trouv. 4. 1. terr. carb. de 
Belgique, р. 259. Pl. XVI, fig. 2 а. 1842—44. 

Brachytheris planicicosta M°-Coy. Зупор. of the char. of carb. lim. foss. of Ireland. 
Tab. 21, fig. 5. 1844? | 

Brächytheris duphicicosta id. ibid. р. 144. und furcata? р. 131. 

Spirifer duplicicosta Semen. Zeitschr. der deutsch. geol. Gesellsch. p. 335. 1854. 

Spirifera duplicicosta M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 415. 1855. partim. 

Spirifera duplicicosta Davidson. Brit. carb. Brachiopoda, р. 24. Pl. Ш. fig. 7—10 
und PI. IV, fig. 3 und 5—11. 1857. 

Dieser Spirifer unterscheidet sich von der vorhergehenden Art sogleich durch seine 
stärkere Faltung. Der Umriss ist transversal. Die grösste Breite liegt etwas unterhalb 
des Cardinalrandes, an den die Bogen der Seitenränder in stumpfem Winkel anstossen. 
Sinus und Wulst sind scharf abgegrenzt. Die gerundeten, durch wenig schmälere, tiefe 
Furchen geschiedenen Falten dichotomiren häufig. Sie tragen an unseren Exemplaren kleine 
unregelmässige Anschwellungen, ein Charakter, den wir auch an einigen belgischen und 
schlesischen Individuen bemerkten. Es scheint dieses durch einen gewissen Grad von 


BEITRÄGE 208 KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 97 


Decortisation hervorgebracht, und hängt vielleicht mit der Zerstörung concentrischer An- 
wachsringe zusammen, die an der Oberfläche unserer Schalen nicht sichtbar sind. Die 
Faltung auf dem Wulst und im Sinus ist um ein Geringes gedrängter als auf den Sei- 
tenrändern. An unseren grössten Exemplaren zählten wir 7 Falten auf der Mitte des 
Sinus. (Nach dem Rande zu sind sie hier zerstört.) Jederseits liegen an den Rändern 
15—17. 

Dieses Exemplar misst 36 mm. in der Breite und etwa 35 vom Wirbel bis an den 
Stirnrand. 

Im flachen Russland wurde diese Art bisher nicht beobachtet. Eichwald führt sie 
von Saraninsk an (duplicosta)? 


Spirifer fasciger Keys. 
Taf. V, fig. 1. 
‚Spirifer fasciger Keys. Petschor. р. 231. Tab. VIII, fig. 3, За, 3b. 1846. 


Wir glauben nicht, dass diese ungewöhnliche Form mit Spirifer duplicicosta und crassus 
vereinigt werden kann, wie M°-Coy vorschlägt. Das kantige Wesen des scharf dachför- 
migen Wulstes und der ebenso dachförmigen, grossen Rippen, die an ihren Abhängen 
mit feinen Streifen verziert sind, verleihen der Oberfläche eines grossen Bruchstückes des 
Spirifer fasciger, welches wir bei Saraninsk fanden, eine sehr in die Augen springende 
Zickzackform. Die Streifen, welche die Abhänge des Wulstes und der breiten, scharfkan- 
tigen Rippen verzieren, die Шп jederseits begleiten, sind ausserdem bedeutend feiner wie 
die des Spir. duplicicosta, und eher mit der Faltung des Spir. striatus, var. attenuatus zu ver- 
gleichen. Sie sind durch ebenso schmale, leichte Furchen getrennt, und verlaufen auf 
unserem Bruchstück regelmässiger, als Graf Keyserling es beobachtet zu haben scheint. 
— An jedem Abhange der grössten Rippe liegen 3 Falten, die siebente ziert den Scheitel. 
Nach dem erhaltenen Theile zu schliessen, muss die ganze Schale am Rande des 55 mm. 
breiten Bruchstückes mit 60—70 feinen Falten bedeckt gewesen sein, welche sich jeder- 
seits des Sinus zu drei dachförmigen Rippen gruppiren, die sich nach aussen zu verflachen. 
Der Umriss ist transversal, der Stirnrand durch den Sinus hoch aufgebogen. Die Seiten- 
ränder stossen im stumpfen Winkel an den Cardinalrand, woher die grösste Breite der 
Muschel unterhalb desselben liegt. 

Graf Keyserling entdeckte diese Art im Bergkalke an der Soiwa. Die besten Exem- 
plare von der Tsilma erhielt er zu spät, um sie abbilden lassen zu können. Eine Abbil- 
dung unseres einzigen Bruchstückes wird daher zur Kenntniss dieser Form nicht unwill- 
kommen sein. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 13 


98 M. v. GRÜNEWALDT, 


Spirifer Saranae M. V.K. 
Taf. ГУ, Вс. 3 а Ъ с. 


Spirifer Saranae М. У. К. Géologie de la Russie Vol. П, р. 169. Pl. УТ, fig. 15 ab. 
1845. 

Spirifer Saranae Keys. Petschor. р. 232. Tab. VIII, fig. 4, 4a. 5, 5, a b. Tab X, 
fig. 3. a—d. 1846. 

Spir. Saranae Keys. A.Schrenk, Reise nach dem Nordosten des europäischen Russ- 
lands u. s. w. p. 82. 1854. 

Spir. Saranae Keys. Hofmann, der nördliche Ural und das Küstengeb. Рае - Choi. 
p. 209, 212 und 214. 1856. | 

Mehrere Ventralschalen dieser schönen Art sammelten wir bei Saraninsk selbst. An 
der grössten abgebildeten Schale (fig. 3a) ist der breite Sinus in der Mitte durch eine 
Grenzfurche zweier Falten getheilt, ein Charakter der nicht constant ist, da zuweilen auch 
eine zierliche Leiste im Grunde des Sinus verläuft. Die beiden grossen Falten, welche 
den Sinus einfassen, dichotomiren nach innen zu so, dass die 8 schmalen Falten, welche 
man am Boden desselben zählt, als Verzweigungen der inneren Hälften jener beiden 
grossen Falten zu verfolgen sind, deren äussere Hälften ungetheilt an den Rand der 
Muschel verlaufen. Dasselbe Exemplar trägt zu jeder Seite des Sinus 8 einfache, breite 
und flache Falten, die durch tiefe, schmale Furchen von einander geschieden sind. Diese 
längliche Schale misst 30 mm. in der Breite und 42 vom Wirbel bis zum Stirnrand. — 

An anderen Exemplaren dichotomiren auch die seitlichen Falten, behalten aber eine 
gewisse Gruppirung nach der Mutterfalte bei, so dass sie nach den Rändern zu häufig ca- 
nelirt erscheinen. 

Kleinere Schalen mit nur 8—10 einfachen, runden Falten auf der ganzen Oberfläche, 
wie Graf Keyserling sie auf Tab. X, fig. 3 u. 4 abgebildet hat, haben wir von Alexan- 
drowsk mitgebracht. 

Nur in dem Sinus eines einzigen unserer Bruchstücke von Saraninsk ist die oberste Scha- 
lenschicht erhalten, und zeigt dort die zuerst von Graf Keyserling beobachtete, elegante 
Verzierung. Die zierlichen, radialen Linien feiner Tuberkeln sind mit unbewaffnetem Auge 
kaum kenntlich und in unserer fig. 3, c. vergrössert dargestellt. Sie bedecken gleich- 
mässig die Oberfläche der Falten, und werden mitten im Sinus durch eine parallel laufende 
gröbere Schnur unterbrochen, deren Knötchen eine eckige Form haben. Auf den Seiten- 
falten erkenntman zugleich eine concentrisch lineare Stellung der Tuberkeln. — Im Uebri- 
gen verweisen wir auf die ausführliche Beschreibung des Spirifer Saranae in den citirten 
Werken. 

Ausser an den erwähnten Fundorten kommt Spir. Saranae im hohen Norden des 
Ural an der Wischera vor, bei dem Dorfe Wetlan an der Kolwa, Kyrta-Warta am Pot- 
scherem und bei Jomasch-Kyrta und Chlapun-Jama-Kyrta am Schtschugor, von wo Hof- 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 99 


mann ihn mitgebracht hat. Endlich ist er von A. Schrenk in dem Bergkalke an der 
Dwina, unterhalb Ust-Pinega gesammelt worden. 


Spirifer indeterminatus. 
Taf. V, fig. 4. 


Wir fanden bei Alexandrowsk an der Lunja die kleine Klappe eines stark geflügelten 
Spirifer, den wir nicht bestimmen können. Der Umriss ist stark quer verlängert. Die 
Seitenränder stossen im spitzen Winkel an den Cardinalrand. Ein starker Wulst erhebt 
sich auf der Mitte der Schale. Jederseits von demselben zählt man 10 Falten, von denen 
die 6 ersten, je zwei zu zwei nahe bei einander liegen, nnd so drei paarige Gruppen bil- 
den. Diese Paare entstehen dadurch, dass eine Falte sehr nahe am Wirbel dichotomirt. 
Die Falten sind gerundet, durch ebenso breite Zwischenräume getrennt und ungefähr von 
der Stärke, wie die des Sp. duplicicosta von der Schartimka. — Ausser durch die eigen- 
thümliche Gruppirung der Falten unterscheidet sich dieser Spirifer auch dadurch von jener 
Art, das er stark geflügelt ist. — Die Schale misst 30 mm. in der grössten Breite und 
etwa 15 vom Wirbel bis zum Stirnrand. Wir entdeckten sie mit einem gleichfalls unbe- 
stimmbaren, grossen Productusfragment in einem Bergkalkfelsen an der Lunja, der nahe 
von dem dortigen Kohlenflötze und zwar in der Richtung des Hangenden ansteht. 


Spirifer indeterminatus. 


N 


Taf. У, fig. 5ab с. 

Ein kleiner Spirifer von der Schartimka liegt uns in einem einzigen Exemplare vor, 
das seiner obersten Schalenschicht beraubt ist. Wir kônnen ihn nicht mit bekannten Arten 
vergleichen, und wagen es ebenso wenig, auf so geringes Material hin eine neue Species 
zu begründen. 

Der Umriss ist wenig queroval, nahe halbkreisförmig, die Area kurz und die grösste 
Breite liegt unterhalb des Cardinalrandes. Der Schnabel der Ventralschale ist klein und 
kaum über die Area herübergebogen. Sie trägt von der Spitze des Schnabels an einen 
Sinus, der den Stirnrand gegen den Wulst der anderen Schale aufbiegt. Der Sinus wird 
von ebenen Flächen gebildet, welche im einspringenden Winkel zusammenstossen und da- 
durch am Boden desselben eine einspringende Kante hervorbringen. Der Wulst der klei- 
nen Klappe ist nur von ihrer Mitte an kenntlich. — Zu jeder Seite des Sinus so wie des 
Wulstes liegen 3—4 obsolete Falten, die nur am Rande sichtbar sind. Der übrige Theil 
der Schale ist glatt. 

Die Charaktere des Sinus und der Faltung, so wie die geringe Grösse nähern diese 
Form dem Spir. quadriradiatus M. V. K. von Sterlitamak'). Unsere Art ist aber durch 


1) Géol. de la Russie Vol. II, р. 150. Pl. VI, fig. 7 a—e. 


100 M. v. GRÜNEWALDT, 


ihren mehr transversalen Umriss, die flacheren Wirbel beider Klappen, vor allem aber 
durch die viel geringere Tiefe der ganzen Muschel von jener stark aufgetriebenen Form 
zu sehr unterschieden, um ohne Kenntniss vermittelnder Zwischenglieder mit Spir. quadri- 
radiatus identificirt werden zu können. 

Dieses Exemplar misst 7/,mm. vom Wirbel bis zum Stirnrand und 9'/, in der gröss- 
ten Breite. Der Tiefendurchmesser beider Schalen beträgt 5 mm. 


Spirifer glaber Mart. 


Апотиез glaber Мата. Petref. Derb. Pl. 48, fig. 9 u. 10. 1809. 

Spirifer oblatus бош. Min. Conch. Vol. III, р. 123. Tab. 268. 1821. 

бра". glaber. id. ibid. Tab. 269. 

Spir. obtusus. id. ibid. p. 124. Tab. 269. 

Spirifera glabra Phill. Géol. of Yorksh. Part. II, p.219. PI. X, fig. 10, 11,12. 1836. 

Spir. symmetrica id. ibid. р. 219. Pl. X, fig. 13. 

Spir. mesoloba id. ibid. p. 219. PI. X, fig. 14. 

Spirifer laevigatus v. Buch über Delthyris. р. 51. 1837. 

Delthyris laevigata Pusch. Polens Palaeont. p. 28. 1837. 

Spirifera oblata Phill. Pal. foss. of Dev., Cornw. and Westsomm. p. 68. PI. 27, 
Во. 117 опа Р]_ 28. 65 11. 1841; 

Spir. protensa id. ibid. р. 69. Pl. 28. fig. 118. 

Spir. plebeja id. ibid. p. 70. PI. 28. fig. 121. 

Sprrifer laevigatus A. Römer. Verst. des Harzgeb. р. 15. 1845. 

Spir. laevigatus Г, Römer. Rhein. Ueberg. р. 71. 1844. 

Spir.glaber de Kon. Descr. des anim. foss. qui se trouv. d. I. terr. carb. de Belgique, 
p. 267. Pl. VIII, fig. 1. a—f. 1842—44. 

Martinia glabra M°-Coy. Synops. of the char. of Es limest. foss. of Ireland, p. 139. 
1844. 

Mart. mesoloba, oblata, obtusa id. ibid. p. 140. 

Mart. symmetrica id. ibid. p. 142. 

Spirifer glaber Murch., Vern., Keys. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 145. Pl. VI, 
fig. 5. ab. 1845. 

Spir. glaber Semen. Zeïtschr. der deutsch. geol. Gesellsch. Band VI, p. 335. 1854. 

Spirifera (Martinia) glabra M°-Coy{ Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cam- 
bridge, p. 428. 1855. 

Spirifer glaber Keys. Hofmann der nördliche Ural und das Küstengeb. Pae-Choi. 
р. 209, 210,,213.21350. 

Spirifer glaber liegt uns von der Schartimka vor, von wo ihn auch die Verf. der Géol. 
of Russia mitgebracht haben. Er kommt dort in der kleinen Varietät mit kreisrundem bis 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN (GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 101 


quer verlängertem Umriss vor. Sinus und Wulst sind schwach angedeutet, die Area ist 
kurz und wird nur wenig von dem Schnabel der grösseren Klappe überragt. Unsere gröss- 
ten Exemplare messen nicht mehr als 16 mm. vom Wirbel bis zum Stirnrand und 19 mm. 
in der Breite. Er ist der häufigste Spirifer im Bergkalk an der Schartimka. 

Man kennt Spirifer glaber im Ural ausschliesslich aus dem Bergkalk bis auf das ein- 
zige oben angeführte Auftreten dieser Art in den devonischen Schichten bei Soulem an 
der Tschussowaja. 

Wir haben Spir. glaber auch in den Bergkalkfelsen der Tschussowaja bei der zu Je- 
katherinburg gehörigen Sägemühle des Utkinsker Distriktes gesehen. — Ausserdem wird 
er aus dem Ural angeführt: von Sterlitamak, dem Isset bei Kamensk, von Andrejewsk 
westlich von Nikitinsk an der Strasse von diesem Ort nach Preobrajensk, von der Wischera, 
Wetlan an der Kolwa, Kyrta- Warta und der Syränka-Mündung am Potscherem, sowie 
von Owin-Parma und Jörd-Ju am Schtschugor. 


Spirifer lineatus Mart. 


Anomites lineatus Mart. Petref. Derb. Pl. 36, fig. 3. 1809. 

Terebratula lineata Sow. Miner. Conch. Vol. IV, p. 39. Tab. 334, fig. 1 u.2. 1823 
(non Spir. lineatus id. ibid. Vol. У, р. 151. Pl. 493. fig. 1.) 

Terebratula imbricata id. ibid. p. 40. Tab. 343, fig. 3 u. 4. 

Spirifera lineata Phill. Géol. of Yorksh. Part. II, р. 219. Tab. X, fig. 14. 1836. 

Spir. imbricata id ibid. p. 220. Tab. X, fig. 20. 

Delthyris lineata Pusch. Polens Pal. р. 48. 1837. 

Spirifer lineatus v. Buch über Delthyris. p. 51. 1857. 

Spirifera lineata Phill. Pal. foss. of Cornw., Devon. et Westsomm. р. 70. Pl. 28, 
fig. 120а. Pl. 58, fig. 120. 1841. 

Spirifer corculum und rostratus Kutorga. Verh. der Kaiserl. miner. Gesellsch. zu St. 
Petersb. p. 25. Tab. 5, fig. 9 und 10. 1842. 

Reticularia imbricata, reticulata, microgemma, lineata M°-Coy. Synops. of the char. of 
carb. limest of Ireland, p. 143. 1844. 

Spirifer lineatus de Kon. Descr. des an. foss. qui se trouv. 4. 1. terr. carb. de Bel- 
gique, р. 270. Pl. VI, fig. 5 a b с, et PI. XVII, fig. 8 a—e. 1842—44. 

Spir. lineatus М. У. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 147. Pl. VI, fig. 5.ab. 1845. 

Spir. lineatus Keyserl. Petschor. р. 233. 1846. 

Spir. lineatus Semen. Zeitschr. der deutschen geol. Gesellsch. Bd. VI, p.336. 1854. 

Spirifera (Martinia) lineata M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 430. 1855. 

Spir. Iineatus Keys. Hofmann der nördl. Ural und das Küstengeb. Pae-Choi, 
p. 208. 1856. 


102 M. v. GRÜNEWALDT, 


Wir haben den Spir. hneatus an der Schartimka gefunden, wo er in der länglichen, 
kleinen Varietät vorkommt, welche nach Murch. Vern. undKeys. in Russland vorwaltet. 
Sinus und Wulst sind kaum angedeutet, die concentrischen Streifen dicht, fein und regel- 
mässig. Das grösste Exemplar misst nur 14 mm. vom Wirbel bis zum Stirnrand, und 12 
in der grössten Breite. 

Die stark transversale Varietät mit deutlich entwickeltem Sinus und Wulst ist bisher 
nur an der Soiwa von GrafKeyserling gefunden worden. Spir. lineatus ist im Ural ausser- 
dem von Sterlitamak und Saraninsk, so wie von der Wischera bekannt. 


Spirifer conularis n. sp. 
Tafel IV, Fig. 2 a—g. 


Diese ausgezeichnete Art unterscheidet sich von allen glatten Spiriferen durch die 
ungewöhnliche Länge des Schnabels der Bauchklappe und die grosse Ungleichheit in der 
Grösse beider Schalen. Der Totalumriss ist spitz oval, beinahe kegelförmig '), besonders 
von hinten gesehen. Die grösste Breite liegt unterhalb der Area, die grösste Tiefe aber, 
wegen des aufgetriebenen Halses in der Cardinalgegend. 

Die grosse Klappe unseres ausgewachsenen Exemplares übertrifft die kleinere bei- 
nahe drei Mal an Tiefe. Die Seitenränder desselben sind nahe parallel, so dass die Breite 
der Muschel sich zwischen Stirn- und Cardinalrand ziemlich gleich bleibt. Ueber letzte- 
rem erhebt sich, von hinten gesehen, der Schnabel wie ein hoher Kegel. Seine gewölbte 
Spitze krümmt sich nach vorn tief über die Area herab. Ein Sinus ist von der äussersten 
Spitze des Schnabels an als Furche sichtbar. Nach unten wird er flach und so breit, dass 
er am Stirnrande, den er stark gegen die kleinere Schale aufbiegt, beinahe die ganze Breite 
der Muschel einnimmt. Trotz dieser Verflachung ist er gegen die Seitentheile der Schale 
scharf abgesetzt, und in seinem Boden bleibt die Furche, welche den Wirbel spaltet, bis 
unten sichtbar. — Die verhältnissmässig flache Dorsalklappe trägt einen breiten Wulst, 
der nur in der Nähe des Stirnrandes aufragt. Ihr Wirbel ist gleichfalls stark entwickelt 
und erhebt sich etwas über den Cardinalrand, so dass die beiden Wirbel sich beinahe be- 
rühren, und nur wenig von der kurzen, dreieckigen, concaven Area sichtbar bleibt. Die 
Heftmuskelöffnung ist von einer zwischen den Wirbeln haftenden Gesteinsmasse verdeckt. 

An dem kleinen Exemplare ist der Sinus flacher und nur von der Mitte der Schale 
an sichtbar. Der Stirnrand ist wenig ausgeschweift und bildet mit den Seitenrändern zu- 
sammen einen Halbkreis. Beide Exemplare sind, wie die meisten glatten Spiriferen mit 
Anwachsringen bedeckt, welche an dem grossen grob und unregelmässig sind, an dem 


!) De Verneuil führt (Bull. de la soc. géol. de France, | Pola und Lena an. Es ist uns nicht bekannt, ob diese 
deuxième Serie. Tome III, p. 457) einen neuen, glatten | Art ausführlich beschrieben worden ist. 
uud sehr lang gezogenen Spirifer aus dem Bergkalk von | 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 103 


kleinen aber eine sehr feine und ganz regelmässige concentrische Streifung bilden, wie 
beim Spirifer lineatus. 

Das grosse Exemplar misst 49 mm. von der Höhe des Schnabels bis an den Stirn- 
rand, und 33 mm. in der Breite, während der grösste Tiefendurchmesser beider Schalen 
25 mm. beträgt. 

Anderen Sammlern muss es vorbehalten bleiben, die constanten Merkmale einer Form 
festzustellen, von der wir nur zwei, wenn auch vollständig erhaltene Exemplare, in sehr 
verschiedenen Stadien des Wachsthums, beschreiben können. 

Wir fanden beide Individuen beim Zerschlagen eines Kalksteinblockes, den wir in 
der Steppe östlich von Artinsk, an dem Wege auflasen, der von Potaschinsk nach dem 
Baschkirendorfe Schigiri führt. Die Stelle liegt etwa 25 Werst von ersterem entfernt, 
und ist in diesen einförmigen Flächen nicht näher zu bezeichnen. Da in jener Gegend bei 
Michaelowsky Sawod Bergkalk ansteht, und in demselben Steinblocke ein kleiner Pro- 
ductus aus der Gruppe der semireticulati enthalten war, den wir nicht genauer bestimmen 
können, ist es mehr als wahrscheinlich, dass wir es mit einem Spirifer des Bergkalkes zu 
thun haben. 


Genus Athyris M’-Coy. 


Athyris de Roissyi. Lev: 3 
Taf. ПТ, Fig. 7. 


Spirifer de Roissy Leveillé. Mém. de la soc. 5601. de France. Tome II, р. 39. PI. II, 
Ries, 19, 20.1835. 

Spirifera fimbriata Phill. Сео]. of Yorksh. Part. II, р. 220. 1836? 

Spir. planosulcata id. ibid. р. 220, tab. 10, Fig. 18? 

Terebratula prisca Fischer. Orykt. du gouv. de Moscou, р. 37. Tab. XLVI, Fig. 4 ab. 
1837. 

Atrypa pectinifera J. Sow. Min. conch. Vol. VII, p. 14. pl. 616. 1840? 

Spirifera Roissyi A. d’Orb. Voyage dans l’Amerique méridionale. Tome III, quatr. 
part. р. 46. Pl. Ш, Fig. 17 — 19. 1842. 

Terebratula Royssit de Kon. descr. des anim. foss. qui se,tr. 4. la terr. carb. de 
Belgique р. 300. PI. XX, Fig. 1a—d et Pl. XI, Fig. 1a—d, © und h (excel. ee, f,i) 1842—44. 

Athyris depressa M°-Coy. Synops. of the char. of carb. limest. foss. of Ireland p. 147. 
t. 18, Fig. 7. 1844. 

Athyris decussata id. ibid. p. 147. 

Terebratula Rorssyt M. V. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 55.pl.IX, Fig. 2 ab. 1845? 

Terebratula pectinifera ibid. Vol. II, р. 57. Pl. УШ, Fig. 12 ab? 

Terebratula Royssiana Keys. Petschor. p. 237? 


104 | М. у. GRüNEWALDT, 


Тег. pectinifera id. ibid. р. 238? 

Тег. pectinifera Geinitz. Verst. des deutschen Zechsteingeb. р. 11. Tab. IV, Fig. 
37 — 40. 1848? 

Spirigera Roissyi Semen. Zeitschr. d. Deutschen geol. Gesellsch. Bd. VI, p. 337. 1854. 

Terebratula Royssiana Keys. in A. Schrenk, Reisen in den Nordosten des Europ. 
Russland u. s. w. р. 109. Taf. IV, Fig. 31 — 33. 1854? 

Athyris de Roissyi M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge p. 
433. 1855. 

Terebratula Коуззй Keyserl. in Hofm. der nördl. Ural und das Küstengeb. Pae-Choi, 
р. 212. 1856. 

Athyris pectinifera Davids. Monogr. of Регш foss. Brachiop. of England р. 21. PI. T; 
Fig. 50 — 56. Pl. I, Fig. 1—5. 1857? 

Nur ein einziges Exemplar dieser Art fanden wir im Bergkalk von Saraninsk. Es 
gewinnt dadurch an Interesse, dass diese in denselben Schichten Belgiens so häufige Spe- 
cies, zur Zeit der Herausgabe der Géol. de la Russie im Bergkalk des flachen Russland 
unbekannt, später nur von Hofmann in uralischem Bergkalk am Potscherem gefunden wor- 
den ist. — Unser einziges Individuum steht mit seinem stumpfen Apicialwinkel von 125° 
hart an der Grenze (130°), welche Keyserling als unterscheidend für die stumpfere Ath. 
Royssiana der permischen Schichten feststellt, und überschreitet um 15° den durchschnitt- 
lichen Winkel, welchen er für die echte Ath. de Roissyi des Bergkalks annimmt '). 

Den flachen, transversen Varietäten der belgischen Ath. de Roissyi mit dichten An- 
wachslamellen, welche das Berliner Museum aufbewahrt, gleicht das Exemplar von Sara- 
ninsk zum Verwechseln. Die Heftmuskelöffnung ist klein, aber nicht kleiner wie an jenen 
belgischen Individuen, woraus wir entnehmen, dass de Konink vorzugsweise Exemplare 
mit sehr grosser Heftmuskelöffnung abgebildet hat. — Der Sinus der Dorsalklappe ist nur 
am Stirnrande zu erkennen, welchen er kaum merklich aufbiegt. Auf der kleineren Schale 
ist die eigenthümliche Behaarung stellenweise erhalten, die, wie schon andere Schrift- 
steller beobachteten, aus der Franzung der concentrischen Lamellen entsteht, welche die 
Oberfläche der Muschel bedecken. — Die Länge derselben beträgt 15, die Breite 18mm. 

Noch neuerdings führt Davidson den Sinus der Ath. de Roissyi als unterscheidend von 
der Ath. pectinifera des permischen Systems an, welche keinen haben soll. Keyserling, 
der im permischen System zwei Arten Ath. Royssiana und pectinifera unterscheidet, schreibt 
letzterer «kaum eine Spur von Sinus zu», während Geinitz bei Beschreibung derselben 
Form nur von einem «oft undeutlichen Sinus» spricht. Wir bemerken, dass sich in der 
erwähnten Formensuite von Ath. Roissyi aus Belgien Varietäten finden, an denen kein Sinus 
kenntlich ist. — Hieraus geht hervor, dass diese Gestalten in beiden Formationen mit 
und ohne Sinus auftreten. 


1) Siehe Petschoraland und Schrenk’s Reisen I. с. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 105 


Nach Geinitz schwankt der Apicialwinkel der Ath. pectinifera zwischen ähnlichen 
Gränzen wie der der Ath. de Roissyi, wenn man die überaus spitzen Exemplare der letzteren 
Art in Betracht zieht, welche A. d’Orbigny aus amerikanischem Bergkalke mitgebracht 
hat. — Endlich bildet Davidson neuerdings fein gefranzte (behaarte) Individuen der Ath. 
pectinifera aus dem Zechstein ab, und eben solche Exemplare beschreibt Graf Keyserling 
vom Wol und Wym, während die von Geinitz abgebildeten Franzen haben, welche bei- 
паре so grob sind, wie die des Spirifer lamellosus Lev. 

Nach diesen Erwägungen wird die Unterscheidung der Ath. de Roissyi von Ath. pech- 
тега ungemein schwierig, und es scheint uns wahrscheinlich, dass spätere Schriftsteller, 
in Anbetracht der ohnehin nahen Verwandtschaft der permischen Fauna mit der des Berg- 
kalkes, diese beiden Formen nur als Varietäten einer Art gelten lassen dürften. Wir be- 
gnügen uns damit, die permischen Formen mit einem Fragezeichen in unserer Synony- 
mie aufzuführen. 

Schliesslich fügen wir hinzu, dass eine Schale, welche wir an der Schartimka fanden, 
ebenfalls der Ath. de Roissyi anzugehören scheint. 


Athyris paradoxa M°-Coy. 


Terebratula Royssi de Vern. Bull. de la soc. géol. de France, T. XI, р. 259 Pl. Ш, 
Fig. 1 a et e. 1840. 

Actynoconchus paradoxus H°-Coy. Synops. of the char. of carb. lim foss. of Ireland, 
p.+149, tab. 21, Fig. 6. 1844. 

Terebratula planosulcata de Kon. Deser. des anim. foss. qui se trouv. dans le terr. carb. 
de Belgique, р. 301. Pl. XXI, Fig. lefi et Fig. 2 a—g. 1842 — 44. (non Phill.) 

Spirigera planosulcata Semen. Zeitschr. der Deutschen geol. Gegellschaft, Band VI, p. | 
337. 1854. 

Terebratula planosulcata Keys. in A. Schrenck’s Reise nach dem Nordosten des Eur. 
Russlands u. s. w., p. 91. 1854. 

Athyris ратадоха M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge р. 456. 
1855. | 

An der Schartimka fanden wir schlechte Exemplare einer kleinen Brachiopode von 
linsenförmiger Gestalt, mit kurzem, spitzem Schnabel. Sie ist mit regelmässigen Anwachs- 
ringen concentrisch gestreift und vollkommen identisch mit den kleinen Exemplaren der ` 
Ter. planosulcata de Kon. aus belgischem Bergkalk, welche das Berliner Museum aufbe- 
_wabrt. Die Muschel hat keine Spur von Sinus, die Ränder der Schale liegen in einer 
Ebene, und ihre grösste Höhe befindet sich ungefähr in der Mitte. 

M°-Coy reclamirt in der Descr. of Brit. ра. foss. u. s. w., seinen Namen für diese 
Art, da Ter. planosulcata Phill., wie aus der Abbildung dieses Schriftstellers erhellt, mit 
einem deutlichen Sinus versehen ist, worauf schon Graf Keyserlingl.c. hingewiesen hat. 


Mémoires de l’Acad. Пир. des sciences, УПе Serie, 14 


106 M. v. GRÜNEWALDT, 


Da diese Art zu einer Zeit aufgestellt worden ist, zu der die zerbrechlichen, lamellösen 
Schalenverlängerungen der Brachiopoden, welche Barrande «Schleppen» nennt, erst 
an sehr wenigen Formen beobachtet waren, und daher wie etwas Besönderes angesehen 
wurden, ist es nicht unmöglich, dass auch diese Species späterhin mit verwandten Ge- 
stalten vereinigt werden dürfte. Herr v. Verneuil hat sie bei der ersten Entdeckung von 
Ath. de Roissyi nicht unterschieden. 


Genus Rhynchonella. Fischer. 


Rhynchonella Verneuilana. п. sp. 


Terebratula rhomboïdea. Géol. de la Russie Vol. II, р. 72. Pl. IX, Fig. 13a b.‘1845. 

Für die ausführliche Beschreibung dieser Form verweisen wir auf die Géol. de. la 
Russie. Wir haben sie, wie die Verf. dieses Werkes, an der Schartimka gefunden; glau- 
ben aber, dass ihre Identität mit der Art von Phillips nicht erwiesen ist. Schon die Verf. 
der Géol. de la Russie bemerken, dass ihre Exemplare ganz glatt sind, während die west- 
europäische Rh. rhomboidea im Sinus gefaltet zu sein pflegt. 12 Exemplare, welche wir 
fanden, sind gleichfalls durchaus glatt, und erreichen den westeuropäischen gegenüber 
auch eine beträchtlichere Grösse, wie aus den citirten Abbildungen der Géol. de la Russie 
hinreichend ersichtlich. Sie messen 20 mm. in der Breite und 16 vom Wirbel bis zum 
Stirnrand. In England und Belgien tragen die ausgewachsenen Individuen, welche kleiner 
und spitzer sind als die uralischen, eine starke Falte im Sinus. Nur ganz kleine sind glatt. 
Diese Regel scheint gar keine Ausnahme zu erleiden, was wir besonders an zahlreichen bel- 
gischen Exemplaren beobachten konnten. Hat die uralische Ahynchonella niemals eine Falte 
im Sinus, was jetzt mehr als wahrscheinlich ist, und erreicht dabei eine beträchtlichere 
Grösse als Rhynchonellä rhomboidea, so muss sie in Zukunft, bei so constanten Unterschie- 
den, als eine grössere und stets glatte Form von letzterer unterschieden werden. Sie ist 
der Terebratula nudav. Buch. nahe verwandt. Wir schlagen vor, sie nach ihrem Entdecker 
zu benennen. 


Rhynchonella pugnus. Mart. 


Anomites pugnus Mart. petref. Derb. T. 22, Fig. 4 und 5. 1809. 

Terebratula pugnus. Géol. de la Russie Vol. II, р. 78. PI. X, Fig. lab. 1845. 

Terebratula pugnus Keyserl. in Hofm. der nördliche Ural und das Küstengebirge Pae- 
Choi,p2 21771856. 

Schlechte Bruchstücke von der Schartimka glauben wir um so sicherer mit dieser 
Art vergleichen zu können, da sie schon von den Verf. der Géol. de la Russie eben da- 
selbst gefunden worden ist. Sie ist von Hofmann an der Petschora, bei Kliutschi auch 
in devonischen Schichten gesammelt worden. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 107 


Rhynchonella pleurodon. Phill. 


Terebratula pleurodon Phill. Géol. of Yorkshire Part. II, p. 222. Tab. XII, Fig. 25— 
20. 1896. 

Ter. pleurodon. М. У. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 79. Tab. X, Fig. 2ab. 1845. 

Тег. pleurodon Keyserl. in Hofmann: der nördliche Ural und das Küstengebirge 
Pae-Choi, p. 211. 1856. 

Auch diese Art haben wir von der Schartimka mitgebracht, wo sie schon früher von 
den Verf. der Géol. de la Russie gefunden worden ist. Hofmann entdeckte sie im hohen 
Norden des Gebirges bei Wetlan, an einem Wasserfalle, den die Kolwa 1 Werst oberhalb 
jenes Dorfes bildet. 


Ehynchonella acuminata Mart. 


Anomites acuminatus Mart. рег. Рег. Tab. 32, Fig. 7 u. 8. Tab. 33, Fig. 5 u. 6. 1809. 

Terebratula acuminata. Géol. de la Russie Vol. II, р. 76. Pl. IX, Fig. 14ab. 1845. 

Nur ein Exemplar dieser Art fanden wir an der Schartimka. Es gehört derselben 
Varietät an, welche die Verf. der Géol. de la Russie von ebendaher beschrieben haben. 
Bekannt ist, dass einige neuere Auctoren die beiden letzteren Arten, von denen wir uns 
nur schlechte Bruchstücke verschaffen konnten, als Varietäten der Rh. acuminata ansehen. 


Genus Camarophoria King. 1844. 


Camarophoria King. ann. and mag. of nat. history. Vol. XIV, p. 313. 1846. 
Camarophoria Davidson. Brit. foss. Brachiopoda, Vol. I, p. 96. 1851 — 54 und 

Classif. der Brachiopoden u. Mitw. d. Verf. deutsch bearb. von E. Suess, p. 101. 1856. 
Terebratula der meisten Auctoren. 


Tamarophoria Schlotheimi у. Buch. 


Terebratula lacunosa Schloth. Schrift. der Münch. Acad. Vol. VI, pl. 8, Fig. 15 — 
0 HS: 

Ter. lacunosa idem. Petrefactenkunde, р. 267. 1820. part. 

Тег. Schlotheimi v. Buch über Terebratula, р. 39. Tab. I, Fig. 32. 1834. 

Тег. lacunosa und Schlotheimi Gein. (saea von Sachsen, р. 96. 1843. 

Ter. Schlotheimi М. У. К. Géol. de la Russie, Vol. П, р. 101. Pl. VIII, Fig. 4a-d. 1845. 

Camarophoria Schlotheimi King. Ann. and mag. of nat. hist. Vol. XVIII, p 28. 1846. 

Terebratula Schlotheimi Gein. Verst. des Deutsch. Zechsteingeb. р. 12. Tab. IV, Fig. 
43 — 50. 1848. | 

Camarophoria Schlotheimi King. Mon. of the Perm. #033. of England р. 118. 1850. 


108 М. у. GRÜNEWALDT, 


Camarophoria Schlotheimi M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 445. 1855. 

Camarophoria Schlotheimi Davids. Mon. of Brit. Perm. Brachiopoda, р. 25. 1857. 

Wir haben diese Art in mehreren Exemplaren bei Saraninsk an der Ufa gefunden, 
und verweisen für dieselbe auf die ausführliche Beschreibung der Verf. der Géol. de la 
Russie, welche sie von demselben Fundorte mitgebracht haben. Unsere Individuen zeigen 
im Sinus 2 — 3 Falten, welche gewöhnlich bis in die Mitte der Schale, bei einem Exem- 
plare sogar bis an den Wirbel vordringen. Die Seitenfalten sind nur am Rande sichtbar. 
Das grösste Exemplar misst 24 mm. in der Breite und 25 mm. in der Länge. Gebrochene 
Individuen zeigen, dass das Septum vom Wirbel abwärts, bis zu einem Drittheil der Länge 
der grossen Klappe vordringt. | 
Diese ursprüngliche Form des Zechsteins ist aus uralischem Bergkalk auch von Ster- 

litamak und von der Schartimka bekannt. 


Genus Orthis Dalm. 
Orthis Michelini. Lev. 


Terebratula de Michelin Lev. Mém. de la société géol. de France, Vol. П, р. 39, Pl.1, 
Fig. 14— 16. 1835. 

Spirifera filaria Phill. Geol. of Yorksh. Part. II, p. 220, Pl. XI, Fig. 3. 1836. 

Orthis filaria v. Buch. über Delthyris, p. 61. 1837. 

Orthis filaria Portl.. Rep. on the Géol. of Londond etc., p. 458. 1843. 

Orthis ата und divaricata. M°-Coy Synops. of the char. of саг. limest. foss. of 
Ireland p. 123. 1844. 

Orthis Michelini de Kon. Descr. des an. foss. qui se trouv.d.]. terr. carb. de Belgique, 
p. 228, Pl. XIII, Fig. Sab et Fig. 10 cd. 1842 — 44. 

Orthis Michelini M.V.K. Géol. de la Russie, Vol. П, р. 185, Pl. XII, Fig. 7ab, PI. 
XIII, Fig. labc. 1845. 

Orthis Michelini Semen. Zeitschr. der Deutschen geol. Gesellschaft, Band VI, p. 342. 


1854. | 
Orthis Michelini M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss in the mus. of Cambridge, р. 448. 


1855. 

Diese Art fanden wir an der Schartimka, von wo sie auchMurch., Vern. undKeys. 
erhalten haben. Wir fügen zu der Beschreibung dieser Auctoren hinzu, dass zwei unserer 
Dorsalschalen einen leichten, bei der einen schon von dem Wirbel an deutlichen Sinus 
zeigen, wie die von Phillips abgebildete Orthis filaria. Von M°-Coy wurde dieser Charakter 
an englischen Exemplaren gleichfalls nachgewiesen. Andere unserer Schalen zeigen nur die 
gewöhnliche Abflachung der mittleren Wölbung. Ein verdrücktes Exemplar, das wahr- 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 109 . 


scheinlich dieser Art angehört, fanden wir an der Tschussowaja, 4 Werst oberhalb des 
Dorfes Wolegobowa, mit Spirifer Mosquensis, Productus semireticulatus, Orthisina arachnoidea 
und einer neuen Chonetes-Art. 


Subgenus Orthisina A. d’Orbigny 1849. 


Hemipronites Pander. Beiträge zur Geognosie Russlands, p. 75. 1830. 

Pronites id. ibid. р. 72. 

Subg. Orthisina A. d’Orb. Prodr. de pal. strat. Vol. I, p. 16. 1849. 

Orthisina King. Monogr. of the Perm. foss. of England, p. 81 u. p. 105. 1850. 
Orthisina Davids. Brit. foss. Brachiop. p. 104. 1851 — 1854. 

Orthisina Semenow. Zeitschr. der Deutschen geol. Gesellsch. Band VI, p. 342. 1854. 
Orthisina M°-Coy. Descr. of Brit. ра. foss. in the mus. of Cambridge, р. 231. 1855. 
Orthisina Davidson. Classif, der Brachiop. u. Mitw. d. Verf. deutsch bearb. von E. 


Suess, p. 101. 1856. 


Örthisina Gebr. Sandberger. Verst. des Rhein. Schiefers. in Nassau, р. 356. 1856. 
Orthis der meisten Auctoren. 


Orthisina? arachneoidea. Phill. 


_ Spirifera arachnoidea Phill. Сео]. of Yorksh. Part II, р. 220, Pl. XI, Fig. 4. 1836. 


Tab. 


Orthis pecten v. Buch, über Delthyris, p. 69. 1837. part. (non Dalm.). 

Orthotetes Fischer. Orykt. du gouv. de Moscou, р. 133. Pl. XX, Fig. 4abc. 1837. 

Strophomena pecten. id. ibid. p. 145. PI. XX, Fig. 56. 

Orthis arachnoidea M°-Coy. Synops. of the char. of carb. lim. foss. ofIreland, p.121, 
99, Fig. 6. 1844. 

Orthis Bechei. id. ibid. р. 122. 

Orthis arachnoïdea M. V. K. Géol. de la Russie, Vol. IT, p. 196, Pl.X, Fig. 18ab et 


PI. XI, Fig. lab. 1845. 


Orthis arachnoïdea Keyserl. Betschor. p. 220. 1846. 
Orthis arachnoidea F. Römer. Kreideb. von Texas. Anhang p. 89. Tab. XI, Fig. 9ab. 


1852? 


Orthisina arachnoidea Semen. Zeitschr. der Deutschen geol. Gesellschaft, Band VI, p. 


343. 1854. 


Strophomena arachnoidea M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 


p. 385. 1855. 


Orthis arachnoidea Keyserl. in Hofm. der nördliche Ural und das Küstengeb. Pae-Choi, 


p. 209 u. 212. 1857. 


Eine Ventralklappe dieser Art fanden wir an der Tschussowaja, 4 Werst oberhalb des 


110 М. v. GRÜNEWALDT, 


Dorfes Wolegobowa. Die Area ist nicht erhalten, aber die halbkreisförmige, in der Mitte 
flache, am Wirbel erhobene Schale, deren Oberfläche mit undichten, runden, radialen Fal- 
ten bedeckt ist, zwischen die sich dünnere einschalten, macht die Bestimmung sehr wahr- 
scheinlich. i 

Von Usiansky Sawod erhielten wir eine Dorsalschale. Sie ist gewölbt, wie Phillips 
ausdrücklich hervorhebt, und zeigt den scharf in den Natis einschneidenden Sinus, wie 
Graf Keyserling ihn beschreibt. Nach unten erweitert er sich fächerförmig. An diesem 
Stücke sind feine concentrische Anwachsstreifen sehr deutlich zwischen den radialen Fal- 
ten sichtbar. 

Endlich fanden wir bei Utkinsky Pristan, am Hafen von Tagil, Abdrücke, welche 
wir dieser Art zuschreiben. Sie kommen mit einem Chonetes zusammen in der mächtigen 
Ablagerung graublauen Kalksteins vor, welche zwischen den Schichten mit devonischen 
° Versteinerungen im Liegenden und dem gelben Sandstein mit kohligen Schieferletten im 
Hangenden eingelagert und in jener Schichtenreihe mit Nr. 11 bezeichnet ist. Da bei Ut- 
kinsk Prod. giganteus im Hangenden jener Sandsteinetage auftritt, weist diese Orthis darauf 
hin, dass noch mächtige Bergkalkmassen unter den Schichten liegen, welche jene für die 
untere Etage der Formation charakteristische Versteinerung enthalten. 

Orthisina? arachnoidea ist im Ural ausserdem bei Sterlitamak, an der Soiwa, der Wi- 
schera, dem Potscherem, an der Syränka-Mündung und wahrscheinlich am Ylytsch vor- 
gekommen. 


Genus Chonetes Fischer 1837. 


Chonetes Fischer, Orykt. du gouv. de Moscou, p. 134. 1837. 

Chonetes Davidson. Brit. foss. Brachiopoda, Vol.I, p. 113. 1851 — 54 und Class. der 
Brachiopod. unter Mitw. des Verf. deutsch bearb. von Ed. Suess, p. 125. 1856. 

Chonetes aller neueren Auctoren. 

Für die ausführliche Litteratur und Synonymie dieser Gattung verweisen wir auf die 
schöne Monographie derselben von de Koninck. 


Chonetes papilionacea Phill. 

Spirifera papilionacea Phill. Geol. of Yorksh. Part II, p. 221. Pl. XI, Fig. 6. 1836. 

Chonetes papilionacea de Kon. Descr. des an. foss. qui se tr. 4. 1. terr. carb. de Bel- 
gique р. 212. Pl. XIII, fig. 5 ab und Pl. XIII bis fig: 1 à b 1842 — 44. 

Orthis papilionacea M°-Coy. Synops. of the char. of carb. limest. foss. of Ireland, p. 
125. 1844. 

Chonetes papilionacea de Kon. Monogr. des genres. Productus et Chonetes, p. 187. 
PLIXIX, fig. 2a/bed 1847. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. E11 


Chonetes papilionacea Semen. Zeitschr. der Deutschen geol. Gesellsch. Band VI, 


p. 346. 1854. 
Leptaena_ papilionacea M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 


p. 455. 1855. 

Der Umriss ist nahe halbkreisförmig, die grosse Klappe wenig gewölbt. Der beinahe 
geradlinige Cardinalrand bildet mit den Seitenrändern nahebei einen rechten Winkel und 
bezeichnet die grösste Breite der Muschel. Man erkennt auf demselben eine Reihe in 
gleiche Entfernung von einander gestellter kurzer Stacheln, welche bei ausgewachsenen 
Exemplaren gegen 2 mm. aus einander zu liegen pflegen. Die radialen Streifen sind feim, 
Sie erscheinen unter der Loupe gerundet und sind durch schmälere Furchen von einander 
getrennt. In der Mitte der grossen Klappe zählen wir 45 — 47 auf einem Raume von 
10 mm. Die Totalanzahl beträgt 2— 300 auf einer Schale. Unser grösstes Exemplar 
hat einen Cardinalrand von 50 mm. Länge. Ein anderes misst 32 mm. in der Breite und 
18 vom Wirbel bis zum Stirnrand. 

Diese Art, welche bisher aus dem Ural nicht angeführt worden ist, kommt bei Ilinsk 
an der Tschussowaja so häufig vor, dass einzelne Schichten damit erfüllt sind. In Belgien 
ist Chonetes papilionacea nach de Koninck eine Form des unteren Bergkalkes. 

Die bereits erwähnte Chonetesschale, welche wir mit Orthis arachnoidea in den oben 
besprochenen Kalksteinen bei Demid. Utkinsky pristan gefunden haben, ist nicht mit Sicher- 
heit zu bestimmen. Nach Umriss und Streifung gleicht sie der Chonetes papilionacea; das 
einzig® Exemplar, welches wir besitzen, ist aber sehr viel kleiner, als die meisten, welche 
wir von Ilinsk mitgebracht haben. 

Chonetes variolaris Keyserl. (Petschoraland р. 215. Tab. VI, Fig. 2a—d) wird von 
einigen Schriftstellern mit Unrecht als Synonyme der Chonetes papilionacea angeführt. Die 
länglichen Tuberkeln auf den feinen Falten sind ein ausgezeichnetes Merkmal jener Art, 
wovon wir uns durch Besichtigung der vom Grafen Keyserling mitgebrachten Original- 
Exemplare überzeugen konnten. 


Chonetes lobata п. sp. 
Tafel III, Fig. 6. 


Der Umriss ist einem liegenden Rechtecke vergleichbar. Der Cardinalrand ist kürzer 
als die ausgebogenen Seitenränder, und der Stirnrand bildet mit ersterem nahebei eine 
Parallellinie, was dieser Art, so wie der Chonetes Konincklana Semen. jenen von den meisten 
Chonetes-Arten unterschiedenen Umriss verleiht. Ein flacher Sinus schweift den Stirn- 
rand leicht aus und ist schon am Wirbel kenntlich. Dieser ist gegen die Ohren der grossen 
Klappe, von welcher allein wir zwei Exemplare besitzen, zugleich deutlich abgesetzt. Die 
Stacheln auf dem Cardinalrande sind spitz, kurz und schief nach aussen gerichtet. Nach 
der Entfernung, in welcher die erhaltenen Stacheln auseinanderliegen, hätten 7 — 8 auf 


112 M. v. GRÜNEWALDT, 


jeder Seite des Wirbels Platz. Davon sind jederseits nur drei übrig, welche so symme- 
trisch vertheilt sind, dass man auch annehmen kann, dass überhaupt nicht mehr vorhanden 
waren. — Narben konnten wir nicht erkennen. — Die radiale Streifung ist ungemein 
fein. Da sie auf der Photographie nicht erschien, konnte sie auf unserer Abbildung nur 
mit der Bleifeder angedeutet werden. Mit Hülfe der Loupe zählten wir in der Mitte der 
Schale 60 Falten auf einem Raume von 10 mm. Die radialen Streifen werden auf der 
abgebildeten Schale von zwei unregelmässigen, breiten Querrunzeln geschnitten. 

Die abgebildete Schale misst 25 mm. in der grössten Breite und 12mm. vom Wirbel 
bis zum Stirnrand. Die Länge des Cardinalrandes beträgt 21 шт). 

Unseres Wissens sind bisher nur drei Chonetes- Arten beschrieben worden, welche 
eine sinusartige Vertiefung auf der grösseren Schale haben. Da wir sie an unserer Art 
auf 2 Exemplaren in gleichem Maasse und durchaus symmetrisch beobachteten, ist nicht 
anzunehmen, dass dieser Sinus von einer Verdrückung der Muschel herrührt. Die anderen 
Formen sind: Leptaena (Chonetes) variolata A. d’Orb. aus südamerikanischem Bergkalke’?), 
Chonetes Konincktana Semenow aus dem schlesischen Kohlenkalkstein°) und Chonetes Burge- 
niana Zeiler, aus der unteren rheinischen Grauwacke‘). Chonetes lobata untscheidet sich 
von den beiden letzteren glatten Arten durch die radiale Streifung. Mit Chonetes variolata 
d’Orb. hat sie nach der Beschreibung und Abbildung dieses Auctors am meisten Aehnlich- 
keit; es fehlen ihr aber die Tuberkeln auf der Schale. Ausserdem überragt bei Chonetes 
variolata der Cardinalrand die Seitenränder bedeutend. Wir fanden diese Art an der be- 
reits öfter erwähnten Stelle am rechten Ufer der Tschussowaja, 4 Werst oberhalb des 
Dorfes Wolegobowa. 


Genus Productus. Sow. » 


Produetus striatus Fischer. 


Mytilus striatus Fisch. Orykt. dugouv. de Moscou, р. 181. Tab. XIX, Fig. 4. 1830— 37. 

Pinna inflata Phill. Geol. of Yorkshire, Part II, p. 211. Pl. VI, Fig. 1. 1836. 

Pileopsis striatus id. ibid. р. 224. Pl. XIV, Fig. 15. 

Productus limaeformis ©. Buch über Productus oder Leptaena, р. 22. T. I, Fig. 4—6. 
1842. 

Productus striatus de Kon. Descr. des amin. foss. qui se trouvent dans le terr. carb. 
de Belgique, p. 169. Pl. VI, Fig. 10 a—d und PI. VII, bis Fig. 4ab. 1842 — 44. 


1) Diese Dimensionen sind auf der Photographie um | 2) Voy. dans l’Amer. mérid. Tome III, quatrième par- 
0,12 vergrössert, eine ausnahmsweise Abweichung von | tie p. 49. Pl. IV, Fig. 10. 1842. 
der natürlichen Grösse, welche schon zu den bedeu- 3) Zeitschr. der deutschen geol. Gesellsch. Band VI, 
tendsten Fehlern gehört, und daher rührt, dass es uns | р. 352. Tab. I, Fig. 9a bc. 1854. 
nicht immer gelungen ist, die abzubildenden Objecte ge- 4) Verhandl. des naturh. Vereins der Preuss. Rheinl. 
anu in dieselbe Ebene zu bringen. u. Westphal. 14. Jahrg., p. 51, Taf. IV, Fig. 18 — 20. 
. 1857. 


BeitRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 113 


Producta striata M°-Coy. Synops. of the char. of carb. limest. foss. ofIreland, p. 115. 
1844. | 


Leptaena striata Fahrenk. Bullet. de la soc. imp. des nat. de Moscou, Vol. XVIL, 
p. 184. 1844. 

Productus striatus М. Г. К. Géol. de la Russ. р. 254. Pl. XVII, Fig. 1ab. 1845. 

Prod. striatus Keys Petschor. р. 212. Tab. IV, Fig. 8, За, ЗБ. Tab. У, Fig. 1. 1846. 

Prod. striatus de.Kon. Monogr. des genres Productus et Chonetes, р. 30. PI. I, 
Die. ul a —d. 1847. 

Prod. striatus Semen. Zeitschr. 4. deutschen geol. Gesellsch. Band УТ, р. 355. 1854. 

Producta striata M°-Coy. Descr. of the Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 437. 1855. | 


Productus striatus Keyserl. in Hofm. der nördl. Ural und das Küstengeb. Pae-Choi, 
р. 209. 1856. 

Diesen Productus haben wir von Ilinsk an der Tschussowaja mitgebracht, wo er 
mit dem folgenden zusammen vorkommt. Ebenso haben wir ihn im Bergkalk von Ка- 
mensk und bei Utkinsky pristan, dem Hafen von Jekaterinburg, gefunden; jedoch liegt 
er uns von letzteren Orten nicht vor, da die dort gesammelten Petrefacten verloren ge- 
gangen sind. | | 

Ausserdem ist jene in den Bergkalkschichten aller Länder verbreitete Art bisher von 
folgenden Punkten des Ural angeführt worden: Der Wischera, einem Nebenflusse der 
Kolwa, welche in die Kama fällt. Dem Schleifsteinberge an der Soiwa. Von Soulem und 
Kalino an der Tschussowaja. Von Grobowo an der Strasse von Perm nach Jekaterinburg, 
westlich von Ust.-Katawsk, zwischen diesem Orte und Simsk. Westlich von Andrejews- 
koi, und endlich von der Strasse nach Preobrajensk, etwas vor Tschemazino. Eichwald 
eitirt ihn von der Schartimka. 


Productus giganteus Mart. 


Anomites giganteus Mart. Petref. Derb. Pl. 15. 1809. 

Bei der grossen Häufigkeit in der sich Prod. giyanteus in den Bergkalkschichten des 
Ural findet, und von uns besonders im Distrikt von Kamensk beobachtet worden ist, wäre 
hier ein Urtheil darüber zu erwarten, auf bedeutendes Material gestützt, wie sich das 
Auftreten dieser Form im Ural zu den noch immer schwankenden Ansichten über ihre 
Synonymie verhält‘). Der Verlust unserer Sammlungen von 1855 ist die Ursache, dass 


1) Nachdem de Koninck 1847 in seiner Monogra- | 1856 an der Unterscheidung des Prod. hemisphaericus 
рые von Productus ausser dem Prod. latissimus sämmt- | festgehalten. Ebenso M°-Coy 1855, der auch darin von 
liche nahe verwandte Formen, wie Pr. hemisphaericus, | der Synonymie de Konincks abweicht, dass er Prod. la- 
Scoticus, Edelburgensis, comoides u. 3. w. mit Prod. gigan- | tissimus für dieselbe Art hält, wie giganteus. 

- teus Мага. vereinigt hatte, hat Graf Keyserliug noch 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УИе Série. 15 


114 М. у. GRÜNEWALDT, 


wir uns auf die Synonymie garnicht einlassen können, und vorläufig unter diesem Namen 
alle Formen aufführen, welche de Koninck in seiner Monographie unter demselben ver- 
einigt hat. 

Es liegen uns Stücke vor, welche wir von Ilinsk an der Tschussowaja mitgebracht 
haben. Durch die «eingerollten», zur Area steil abfallenden Ohren gehören sie der ur- 
sprünglichen Form an, auf welche Martin die Art gegründet hat. Die übrigen Angaben 
über Verbreitung des Prod. giganteus im Ural stützen sich auf Notizen, welche an Ort und 
Stelle in unseren Tagebüchern aufgezeichnet worden sind, und geschehen daher ohne Be- 
rücksichtigung der von den verschiedenen Auctoren für nothwendig oder unhaltbar erach- 
teten Unterscheidung der angeführten Arten und Varietäten. 

Im Bergrevier von Kamensk sahen wir Productus giganteus in den Ber В ат 
Isset: bei den Mühlen von Perebor, dem Роге Saïmskaja, welches nicht hart am Flusse 
liegt, bei Kadinskoy?, der Mühle Tscherdanzowa, bei Brod?, Kamensk und eine Werst un- 
terhalb Wolchow? Im südlichen Theile des Distriktes: beiSipowa am Ausflusse des Schab- 
lisch-Sees, bei Potoskujewa an der Sinara, bei Kasakowa am Zusammenfluss des Bugaräk 
und der Sinara; endlich bei den Dörfern Korolewa, Bugaräksk und bei einer Wassermühle 
unterhalb des Dorfes Tschuprowa am Bugaräk. Im nördlichen ‚Theile des Distriktes: bei 
Troitzk an der Kalinowka, an der Kamenka und bei Suchoi-Log an der Püschma. 

Zwischen Bilimbajewsk und Kurji an der Tschussowaja beobachteten wir den Prod. 
giganteus bei Utkinsky Pristan, 4 Werst unterhalb Nishnaja und 3 Werst unterhalb des 
Dorfes Treki, wo der Bergkalk mit Productus giganteus Einlagerungen schwarzer, von Koh- 
lenstoff gefärbter Schieferthone enthält. Endlich ist eine Felswand an der Einmündung 
der Sibirka mit grossen Durchschnitten von Productus erfüllt, welche vermuthlich dieser 
Art angehören. Im Hüttenbezirk von Serebränsk kommt Prod. giganteus in den Uferfelsen 
der Tschussowaja beim Dorfe Wolegobowa, bei Ilinsk, Dem. Utkinsky Pristan, im Thale 
des Kin und am Multik Kamen bei Kinowsk vor. Endlich fanden wir diesen Productus 
an der Kosswa, 20 Werst südlich von Kiselowsk, unmittelbar im Hangenden des dortigen 
Steinkohlenflötzes. 

Die Verfasser der Géol. de la Russie eitiren ihn ausserdem von Grobowo und von : 
der Schartimka. Den Prod. hemisphaericus fand Graf Keyserling bei Potscher an der 
Petschora, so wie am Ylytsch. Nach demselben Auctor gehören Stücke zu dieser Art, 
welche Hofmann von der Wischera, von Oschka Kyrta am Potscherem, von Chlapun- 
Jama-Kyrta, Owin-Parma und Jomasch-Kyrta am Schtschugor mitgebracht hat. Den ech- 
ten Productus giganteus fand er am Idsched-Jemel-Kyrta am Flusse Potscherem. 


Productus Cora A. d’Orbigny. 


Productus Cora A d’Orbigny. Voy. dans l’Am. mérid. Tome III. Pal., р. 55. Pl. У, 
Fig. 8 und 9. 1842. 


BEITRÄGE zuR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 115 


Productus comoides de Kon. Déscr. des anim. foss. qui se tr. dans le terr. carb. de 
Belgique, p. 172, Tab. XI, Fig. 2ab und Fig. 5ab. 1842 — 44. 

Producta cörrugata M°-Coy. Synops of the char. of carb. lim. foss. of Ireland p. 107. 
pl. 26, Fig. 13. 1844. 

Productus tenuistriatus de Vern. et d’Arch. bull. de la soc. géol. de France, 2. série, 
Tome II, extr. p. 25. 1845. 

Productus tenuistriatus M. УТ. К. Géol. de la Russie, Vol. IT, р. 260. Pl. XVI, Fig. 6. 
1845. 

Productus Neffediewi М. У. К. Géol. de la Russie Vol. IT, р. 259, Pl. ХУШ, Fig. 2. 
1845? - 

Productus Cora de Kon. Monogr. des genres Prod. et Chonetes р. 50. Pl. IV, Fig. 4ab 
et Pl. У, Fig. 2abcd. 1847. 

Productus Cora Е. Römer. Die Kreidebild. von Texas u.s.w. Anhang p.96. 1852. 

Productus Neffediewi Keys. in A. Schrenk, Reise nach dem Nordosten des eur. Russ- 
land u.s.w. p. 93. 1854? 

Productus Cora Sem. Zeitschr. der Deutschen geol. Gesellsch. Band VI, p.354. 1854. 

Producta corrugata M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge 
p. 459. 1855. 

‚Productus Cora Keys. in Hofm. der nördl. Ural und das Küstengeb. Pae-Choi, p. 209, 
271 und 212. 1856. 

Uns liegen zwei Ventralklappen dieser Art vor. Die eine von Ilinsk ist sehr hoch 
und gleichmässig gewölbt, beinahe halbkugelförmig, und zeigt keine Spur einer sinusar- 
tigen Depression. Das eine erhaltene Ohr ist scharf gegen den breiten, hoch gewölbten 
Wirbel abgesetzt. Die Schlosslinie ist dem grössten Breitendurchmesser der Schale un- 
gefähr gleich und daher für diese Art lang. Die an den Ohren beginnenden Querrunzeln 
sind stark ausgeprägt und am Wirbel über die ganze Wölbung hin sichtbar. Von Stachel- 
narben ist nirgends eine Spur auf der wohl erhaltenen Oberfläche der Schale wahrzuneh- 
men. Nur auf dem äussersten Rande des Ohres läuft eine dichte Reihe sehr kleiner 
Stacheln, wie bei Chonetes, hin. Die Streifung ist sehr fein. In der Mitte der Schale 
zählen wir 14 Falten auf einem Raume von 5 mm. Sie vermehren sich durch Intercala- 
tion dünnerer Falten und verlaufen sehr gleichmässig über die ganze Schale bis an den 
Rand. Durch die Feinheit der Streifung entspricht diese Varietät dem Prod. tennistriatus 
M. V. K. und gleicht durch den gewölbten Wirbel sowohl, als auch durch die Stachelreihe 
am Rande des Ohres de Koninck’s Abbildung in der Monographie auf Pi. IV, Fig. 4a 
und auf Pl. V, Fig. 2a. Durch den beinahe halbkugelförmigen Umriss aber unterscheidet 
sie sich im Allgemeinen von den gestreckten Gestalten, welche wir vorzüglich aus bel- 
gischem Bergkalk gesehen haben. 

Ein anderes Exemplar, welches ich bei Saraninsk fand, entspricht durch die weniger 
dichte Streifung, sowie eine sinusartige Depression auf der Mitte der grossen Schale dem 


% 


116 М. у. GRÜNEWALDT, 


Prod. Neffediewi М. V. K., welchen de Koninck mit Prod. Cora vereinigt. Die gröbere 
Streifung, es gehen nur 7 Streifen auf einen Raum von 5 mm., ist auch an unserem Exem- 
plare durch einen gewissen Grad von Decortisation bedingt. Ob Prod. Neffediewi ein «Stein- 
kern» des Prod. Cora oder gar des Prod. Carbonarius ist, wie Graf Keyserling vermuthet, 
bleibt dahingestellt. Die «durchgehenden Querfalten», welche dieser Auctor an einem 
Exemplare von der Pinega beobachtete, lassen auf beide Formen deuten, während die be- 
trächtliche Grösse des Prod. Neffediewi mehr für seine Identität mit Prod. Cora spricht. 

M°-Coy hat sich 1855 in seinem citirten Werke der von de Koninck 1847 aufge- 
stellten Synonymie nicht angeschlossen, sondern seinen Namen Producta corrugata von 1844 
wieder geltend gemacht. Er stützt sich dabei auf die grosse Unähnlichkeit der Abbildungen 
d’Örbigny’s mit den belgischen und englischen Exemplaren, und erklärt auf diese Abbil- 
dungen hin die amerikanische Art für verschieden von der europäischen. Da deKoninck, 
welcher Vergleiche mit d’Orbigny’s Originalexemplaren anstellen konnte, jene Abbildun- 
gen ausdrücklich desavouirt '), so finden wir keinen Grund, von seiner bereits m ge- 
wordenen Nomenclatur abzugehen. 

Ausser bei Saraninsk und Iinsk kommt Prod. Cora (tenuistriatus) nach Murch., Vern., 
und Keys. auch bei Sterlitamak vor. Hofmann brachte ihn aus dem hohen Norden des 
Ural von einem Wasserfalle mit, den die Kolwa bildet, und fand ihn am Potscherem bei 
der Einmündung der Syränka und bei Kyrta-Warta. 


Productus undatus Defrance. 


Productus undatus Defr. Diet. des sc. nat. Vol. ХЫШ, р. 354. 1826. 

Productus undatus de Kon. Descr. des anim. foss. qui se trouvent d. le terr. carb. de 
Belgique, р. 156. Pl. 12, Fig. Заре. 1842 — 44. 

Producta tortilis M°-Coy. Syn. of the char. of carb. lim. foss. of Ireland, р. 116. 
Tab. 20, Fig. 14. 1844. 

Productus undatus M. V. K. Géol. de la Russie. Vol. II, p.261. PL ХУ, Fig. 15. 1845. 

Prod. undatus de Kon. Mon. 4. genr. Prod. et Chon. p. 59. Tab. V,Fig.3abc. 1847., 

Producta torulis M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, р. 474. 
1855. 

Wir fanden eine kleine Ventralschale dieser Art an der Schartimka. Die feinen ra- 
dialen Falten, auf der ganzen Oberfläche der Schale von starken concentrischen Furchen 
durchkreuzt, welche ihr jenes charakteristische, beinahe terrassenförmige Ansehen geben, 
lassen kaum einen Zweifel über diese Bestimmung zu. Der Cardinalrand ist kürzer als die 
grösste Breite der Schale, die weniger hoch gewölbt ist als die meisten Stücke von Visé, 


Le at «identité qu’il eut été bien difficile d’&tablir d’une manière positive d’apres la figure que ce savant. 
en a publiée» 1. с. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 117 


welche de Koninck dem Berliner Museum übersandt hat. Letzterer Umstand kann von 
einer leichten Verdrückung der uralischen Schale herrühren, welche besonders am Wirbel 
kenntlich ist. Sie misst 20 mm. vom Wirbel bis zum Stirnrand und 17 mm. in der gröss- 
ten Breite. 

M°-Coy hat 1855 seinen Namen Producta tortihs aufrecht zu erhalten gesucht, indem 
er die ursprüngliche Diagnose von Defrance auf Productus caperatus (Murchisonianus?) be- 
zieht. Er stützt sich darauf, dass Defrance einen devonischen Fundort, Chimay, für seine 
Art angiebt. Da aber Defrance auch Visé nennt, können unseres Erachtens die Fund- 
orte überhaupt bei der Ermittelung nicht in Betracht kommen, welche Species Defrance 
in seiner Beschreibung gemeint haben kann; ‚denn die eine ist ebenso ausschliesslich in 
devonischen Schichten gefunden worden, wie die andere im Bergkalk. Dagegen glauben 
wir, dass die Beschreibung von Defrance deshalb nicht auf Prod. caperatus bezogen werden 
kann, weil keine devonische Art radiale Streifen hat und die feinen Anwachslamellen jener 
Formen nicht zu der Stärke anwachsen, um Furchen zwischen sich zu lassen. Defrance 
sagt aber: «elles (les valves) sont couvertes de sillons concentriques très marqués et de 
légères stries longitudinales.» Wir haben uns daher an die Nomenclatur von de Koninck 
gehalten. 

Productus undatus ist in Russland bisher nur im Bergkalk bei Kosimof gefunden 
worden. 


Productus porrectus Kutorga. 


Productus porrectus Kutorga. Verh. der russ. mineral. Gesellsch. zu St. Petersburg 
von 1844..p..96. Tab. X, fig. 3 a b.') 

Wir fanden ein einziges Exemplar dieser’ wie es scheint seltenen Art bei Saraninsk 
an der Ufa. Es entspricht im Umriss sowohl als auch den Verzierungen durchaus der 
Diagnose von Kutorga und ist ungefähr von derselben Grösse, wie das von diesem Auctor 
abgebildete Exemplar von Sterlitamak. Der schmale, dicke Schnabel ist zerbrochen, und 
man sieht den langen «Schlossfortsatz» der kleineren Klappe tief in die Höhlung desselben 
eindringen. 

Der kurze Cardinalrand und der schmale Wirbel des Productus Peruvianus A. d’Orb. 
(Voyage dans l’Am. mérid. Tome Ш. Palaeont. р. 52. Pl. IV, fig. 4) ebenso wie die über 
die ganze Schale verlaufenden Querrunzeln jener Form scheinen dem Productus porrectus 
verwandter als dem Prod. semireticulatus, mit dem sie nach deKoninck synonym sein soll. 
Es ist uns leider unbekannt, ob de Koninck sich bei dieser Ansicht auf Vergleichung mit 
Originalexemplaren stützt, was die Bedeutung von d’Orbigny’s Abbildung ebenso aufheben 
würde, wie bei Prod. Cora. 

Productus porreetus war bisher nur bei Sterlitamak gefunden worden. 


1) Die Beschreibung in de Konincks Monographie ist nach Kutorga wiedergegeben. 


118 M. v. GRÜNEWALDT, 


Productus indeterminatus. 
Taf. Ш, fig. 5. 

Productus margaritaceus Keyserl. Petschoraland, p. 210. Tab. IV, fig. 7. 1846. (non 
de Koninck et Semenow.) 

Ventralklappen eines Productus von Ilinsk zeichnen sich durch feine, fadenförmige 
radiale Streifung, einen halbkreisförmigen bis schwach quer verlängerten Umriss, gleich- 
mässige Wölbung ohne abgesetzten Discus und dadurch aus, dass sie keinen Sinus haben. 
Die Area bildet die grösste Breite der Muschel und die Ohren sind kaum gegen den Wir- 
bel abgesetzt. An zweien unserer Exemplare werden die radialen Streifen über die ganze 
Länge der Schale hin von ebensolchen Querstreifen geschnitten, welche an den Ohren zu 
schwachen Runzeln anschwellen. An einem dritten Exemplare ist der untere Tkeil der 
Muschel frei von Querstreifen. In der Mitte der Schale gehen 22 radiale Streifen auf 
einen Raum von 10 mm. Sie vermehren sich durch Intercalation neuer Streifen. — Der 
Mangel an Tuben, der nicht abgesetzte Discus, so wie die über die’ ganze Schale reichende 
Quergitterung verhindern den Vergleich mit Productus carbonarius aufzunehmen, mit dem 
diese Form durch die Feinheit der Streifung, den Mangel des Sinus und die Gestalt der 
Ohren Aehnlichkeit hat. Die Länge der abgebildeten Schale misst 18 mm. bei einer Breite 
von 28 mm., welche der Länge der Area entspricht. | 

Die fadenförmigen, feinen Falten, sowie die concentrische Verzierung und die Gestalt 
dieser Productusschalen stimmen genau mit dem Productus vom Ylytsch überein, welchen 
Graf Keyserling I. с. als Productus margaritaceus Phill. beschrieben hat. Wir gewannen 
diese Ueberzeugung in Berlin und konnten sie in St. Petersburg durch Vergleich mit dem 
Originalexemplare bestätigen, welches jener Beschreibung zu Grunde gelegen hat. — Da- 
gegen sind unsere Schalen durchaus verschieden von dem Productus, welchen deKoninck 
und nach ihm Semenow als Productus margaritaceus beschrieben haben. Das Berliner Mu- 
seum bewahrt zahlreiche belgische und schlesische Exemplare auf, welche von diesen 
Auctoren bestimmt sind und beweisen, dass sie Prod. margaritaceus Keyserl. mit Unrecht als 
Synonym citirt haben. | 

Die Abbildung und Beschreibung, welche Phillips von seiner Species giebt, sind der 
Art, dass sie von mehreren Auctoren verschiedenartig aufgefasst worden sind. Ohne uns 
ein Urtheil über jene Interpretationen zu erlauben, stellen wir sie nebeneinander, um 
diese Verschiedenheiten hervorzuheben. 

1. Nach von Buch (über Productus oder Leptaena p. 25. 1842.) ist Productus mar- 
garitaceus Phill. synonym mit Prod. scoticus (giganteus). 

2. Keyserling schliesst sich der Auffassung v. Buchs nahe an, was aus folgender 
Bemerkung hervorgeht. «Sowerby’s Ansicht ist der wahren Verwandschaft dieser Art 
angemessen, denn sie kann fast für eine Zwergform des Prod. hemisphaericus (nach vielen 
Auctoren synonym mit giganteus) gelten.» — Die Hauptmomente der Diagnose von Key- 
serling sind: Umriss halbkreisförmig, mit etwas vortretenden Ohren. Feine runde 


BEıtrRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 119 


Längsstreifen 25 auf 10 mm. Vermehrung durch Zwischenschiebung neuer Streifen. Un- 
gewöhnlich gedrängte Anwachsstreifen schneiden die radialen auf der ganzen 
Schale und bilden den Hauptcharakter der Art. 

3. De Koninck beschreibt in seiner Monographie eine andere Form. Umriss kreis- 
förmig. Schlossrand kürzer als die grösste Breite. Rippen breit und platt. Je nach 
der Entfernung vom Schnabel 9—15 auf 10 mm. Sie wachsen zum Rande zu schnell an 
Breite und spalten sich vordem sie ihn erreichen, in 2, 3 oder 4 dünnere. Nur bei sehr 
vollständig erhaltenen Exemplaren sind schmale und sehr leichte Anwachsringe bemerk- 
bar («minces et très fugaces»). — Wir haben sie an zahlreichen belgischen und schlesischen 
Exemplaren kaum bemerkt; dagegen ist die Zertheilung der flachen Rippen am Rande 
sehr charakteristisch und eine seltene Erscheinung bei Produetus. 

4. M°-Coy (1855) stimmt mit de Koninck nahe überein, bemerkt aber, dass die 
grosse Schale zuweilen sehr gewölbt ist. (Productus flexistria de Kon. non M°-Coy, eine 
Form, die nach den von de Koninck etikettirten Exemplaren des Berliner Museums dem 
Prod. Martini ähnlicher ist als dem Prod. margaritaceus.) 

Die belgische und schlesische Form ist jedenfalls eine wohl begründete, in sehr zahl- 
reichen Exemplaren bekannte Art. Da sie von neueren Auctoren, wie de Koninck, Se- 
menow und wie es scheint auch von M°-Coy indie Litteratur als Prod. margaritaceus Phill. 
eingeführt worden ist, dürfte, bei einer sonst gleich berechtigten Interpretation der Diagnose 
von Phillips, dieser Auffassung ein praktischer Vorzug zustehen, da Buch die Art über- 
haupt nicht als selbstständig anerkannt, und Keyserling nur ein einziges Exemplar der 
von ihm beschriebenen Form zu seiner Disposition gehabt hat. Auch in Gemeinschaft 
mit unseren Bruchstücken von Ilinsk bietet letzteres keinen sicheren Vergleich mit be- 
kannten Arten. Trotzdem scheuen wir uns, bei geringem Materiale, auf eine so wenig 
eigenthümliche Form hin, welche später vielleicht auf Jugendzustände bekannter Arten 
zurückzuführen sein dürfte, eine neue Species zu begründen. 


Produectus semireticulatus Mart. 
Taf. Ш, fig. 1abund2abe. 


Anomites semireticulatus Mart. Petr. Derb. PI. 32. Fig. 1, 2, 3 und Pl. 33, Fig. 4. 1809, 

Productus Martin Sow. Min. Conch. Vol. ТУ, р. 15. Pl. 317, Fig. 2, 3, 4, 1823? 

Productus antiquatus id. ibid. Fig. 1, 5 u. 6. 

Prod. concinnus id. ibid. p. 16. Pl. 318, Fig. 1. 

Prod. sulcatus id. ibid. PALTEPN. 3199 Fie: 929 

Prod. Martini Phill. Geol. of Yorksh. Part. II, р. 213. Pl. УП, Fig. 1 u. Pl. VIII, 
Fig. 19. 1836? 


1) Nach Me-Coy synonym mit Productus Flemingii Sow 


120 M. v. GRÜNEWALDT, 


Producta costata ibid. p. 213. Pl. VII, Fig. 2. 

Prod. antiquata ibid. р. 213. Pl. УП, Fig. 3. 

Prod. concinna ibid. р. 214. Pl. УП, Fig. 9. 

. Leptaena antiquata Fischer. Orykt. du gouvern. de Moscou, p. 142. Tab. XXVI, 
Fig. 4. 1837. 

Lepiaena ши ета id. ibid. Tab. XX VI, Fig. 1. 

Productus antiquatus v. Buch über Productus oder Leptaena, р. 28. Tab. II, Fig. 7, 8, 
9119. 1849. 

Prod. Martini ibid. р. 30.7 

Productus Inca А. d’Orb. Voy. dans l’Amer. mérid. Tome III, Pal. р. 51. Pl. IV, 
io, 341843, 

Prod. Martini de Kon. Descr. des anim. foss. qui se trouvent d. le terr. carb. de 
Belgique р. 160. Pl. УП, Fig. 2 a—d et Fig, 6ab. Pl. VIII, Fig. 2a b und Pl. УШ bis, 
Fig. 1 uw 2. 1842—44. partim? 

Prod. costatus id. ibid. р. 164. Pl. VII, Fig. 2. с. und Fig. 8. a b cd. Pl. VII bis, 
Fig. 3. | 

Producia antiquata M°-Coy. Synops. of the carb. limest. foss. ofIreland, р. 106. 1844. 

Prod. concinna id. ibid. p. 107. | 

Prod. Martini id. ibid. р. 111? 

Prod. sulcata id. ibid. p. 116? 

Prod. costellata id. ibid. p. 108. Tab. 20, Fig. 15. 

Productus semireticulatus de Vern. et d’Arch. Bull. de la soc. géol. de France. 2nd. ser. 
Tome II. extr. p. 25. 1845. 

Productus semireticulatus M.V.K. Géol. de la Russie. Vol. Il, р. 262. PI. XVI, Fig.1 
et Pl. VII, Fig. 10 ab. 1845. 

Prod. semireticulatus Keys. Petschoraland, p. 208. 1846. 

Productus mbarius id. ibid. р. 208. Tab. IV, fig. 6.? (Siehe Hofm. der nördl. Ural und 
das Küstengeb. Pae-Choi. p. 212.) 

Prod. semireticulatus de Kon. Monogr. des genres Prod: et Chon. p. 84. Pl. VIII, 
Fig. 1 a—h. Pl. IX, Fig. a—m. und PI. X, Fig. 1 a—d. 1847. part.? 

Productus semireticulatus Semen. Zeitschr. der deutschen geolog. Gesellsch. Band VI, 
р, 956. 1894. 

Productus semireticulatus de Verneuil et Barrande. Mém. sur la 560]. d’Almaden ect. 
Extr. du bullet. de la soc. geol. de France. 2. série. Tome XII. extr. p. 85. 1855. 

Producta semireticulata M°-Coy. „Deser. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 471. 1855. 


Productus semireticulatus Keys. In Hofmann: der nördl. Ural und das Küstengebirge 
Рае Choi, р. 210, 212, 213. 1856. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 121 


Productus semireticulatus Pacht. Beiträge zur Kenntniss des Russischen Reiches ип. $. м. 
Herausgegeben von К. у. Baer und Gr. v.Helmersen. Band 21, р. 179. 1858. 

Bei Saraninsk ist die grosse Varietät des eigentlichen Productus semireticulatus so 
häufig, dass wir in kurzer Zeit eine bedeutende Suite schön erhaltener Exemplare dieser 
Art am Ufer der Ufa sammeln konnten. Sie zeichnen sich durch ihre Grösse aus und ent- 
sprechen den Abbildungen, welche de Koninck auf Pl. VIII, Fig. 1 und Pl. IX, Fig. 1 
seiner Monographie von Productus gegeben hat. Der Sinus pflegt indessen tiefer einge- 
senkt zu sein, als auf jenen Zeichnungen und ist bis an den Stirnrand stark ausgeprägt. 
Einzelne grosse Stachelnarben zeigen sich auf dem herabhängenden Theile der Bauch- 
klappe, dagegen haben wir keine so dichten Gruppen derselben gesehen, wie de Koninck 
sie an der Stelle häufig beobachtet und abgebildet hat, wo der Wirbel sich über den Ohren 
erhebt. 

Sehr bemerkenswerth ist, dass dieser grosse Productus bei Saraninsk, dadurch dass 
er zuweilen weit abstehende, scharf abgesetzte und ausgeschnittene Ohren hat, etwas was 
nach ausdrücklichen Bemerkungen der Auctoren, welche den Productus semireticulatus be- 
schrieben haben, bei dieser Art sonst nicht vorkommt, in eine Form übergeht, welche 
wir ohne Bedenken mit Prod. Boliviensis A. d’Orb. verglichen hätten), wenn durch die 
zahlreichen Zwischenformen an demselben Fundorte ihre Identität mit dem echten Productus 
semireticulatus nicht zu augenscheinlich wäre. — Unsere Figuren 1 ab geben zwei Ansich- 
ten solcher Individuen. — Der Wirbel der grösseren Schale ist hoch gewölbt, fällt gewöhn- 
lich steil gegen die Ohren ab, und greift über die Area herüber. Durch die gleichmässige 
Wölbung dieser Schale sind unsere Exemplare, im Profil gesehen, ebenso halbkugelförmig 
wie die amerikanischen. Ein tief eingesenkter Sinus dringt bis nahe an die Spitze des 
Schnabels vor und verliert sich nicht gegen den Stirnrand. Die weit abstehenden, gegen 
die Seitenränder stark ausgeschnittenen Ohren sind «aufgeblasen» wie die des Productus 
giganteus und erheben sich hoch über der Area. Sie tragen eine undichte Reihe von 3—4 
Stacheln, welche an einem unserer Exemplare doppelt ist. Die Grösse und Verzierung 
dieser Abart weicht durchaus nicht von der anderer Individuen mit kurzen, nicht ausge- 
schnittenen Ohren von demselben Fundorte ab und entspricht ebenso sehr dem Productus 
Boliviensis, welcher den Productus semireticulatus im Bergkalk von Bolivia vertreten soll. 

Das eine der abgebildeten Exemplare misst 42 mm. von der höchsten Wölbung der 
Schale bis an den Stirnrand und 81 mm. in der Länge des Cardinalrandes. 

Auf Taf. III, Fig. 2ab с sind Ventralschalen von Saraninsk abgebildet, welche eine 
verletzte Oberfläche haben, dabei aber so viel Abweichendes zeigen, dass wir geneigt 
waren, sie für eine neue Art zu halten. Wir beschreiben sie hier, ohne von ihrer Identität 
mit Productus semireticulatus vollkommen überzeugt zu sein. — Diese Schalen sind gewölbt, 


1) A.d’Orbigny voyage dans l’Amérique méridionale | Gaudryi 1842 und Prod. Boliviensis de Kon. Monogr. 
Tome III, р. 52. Pl. IV, Fig. 5— 9. Prod. Boliviensis et | р. 77. Pl. VIII, Fig. 2 a—e. 1847. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Serie. 16 


122 М. у. GRÜNEWALDT, 


jedoch nur in dem Maasse, dass der Discus durch eine bemerkbare Каще gegen den übri- 
gen Theil derselben abgesetzt bleibt. Die Schleppe biegt sich zuweilen so stark nach 
innen zurück, dass der unterste Theil derselben dem Discus beinahe parallel wird. Ein 
starker, jedoch nicht immer gleich tiefer Sinus dringt beinahe bis in die äusserste Spitze 
des Wirbels vor und theilt die Schale in gleiche Hälften. Die Länge der Area überragt 
die grösste Breite der Muschel nur wenig. Die flachen Öhren sind kurz und begegnen der 
Wölbung des Wirbels in stumpfem bis nahe rechtem Winkel. Sie tragen nahe am Rande 
eine Reihe von 3—4 Stachelnarben. Andere Stacheln erscheinen vereinzelt auf dem übri- 
gen Theile der Schalen. Einige sind ganz frei davon. Je nach der Stärke der Production 
ändert der Umriss sich vom quer verlängerten zum nahe länglichen. 

Die Abtragung dieser Schalen ist an den Wirbeln am weitesten vorgeschritten. Dort 
zeigen sie eine Faltung und Quergitterung, welche der Verzierung des Productus semireti- 
culatus entspricht; nur dass diese Charaktere kaum erhalten und weniger stark ausgeprägt 
sind, als unsere Figuren sie zeigen. Ein gewisser Grad von Silification, welche nur an den 
Wirbeln bemerkbar ist, hat dazu beigetragen, sie zu verlöschen. — Auffallend ist, dass 
diese leichten Rippen und Querfalten von einer höheren Schalenschicht bedeckt werden, 
welche auf dem unteren Theile unserer Figuren wiedergegeben ist. Diese hat meist einen 
"lebhaften Seidenglanz und ist mit feinen, nicht sehr dichten Längsstreifen bedeckt, welche 
leicht auf der glatten Oberfläche aufliegen, ohne durch sehr ausgesprochene Furchen von 
einander getrennt zu sein. Mitten auf der Schale zählten wir 19 Streifen auf einem Raum 
von 10 mm. Wo diese Falten nur leicht verletzt sind, erscheinen entsprechende Reihen 
feiner Grübchen, welche mit unbewaffnetem Auge kaum kenntlich sind und auf den Abbil- 
dungen nicht wiedergegeben werden konnten. Sie sind Nadelstichen vergleichbar, wie de 
Koninck sich bei der Beschreibung einer ähnlichen Erscheinung am Productus sublaevis aus- 
drückt. Unser grösstes Exemplar misst gegen 40 mm. von der knieförmigen Biegung am 
Discus bis an den Stirnrand. Dieses Maass drückt daher die Länge der Schleppe aus. In 

der Breite misst es 50—60 mm., was sich nicht ganz genau ermitteln lässt, weil die Spitzen 

der Ohren abgebrochen sind. Ein schwach producirtes Exemplar misst 37 mm. von der 
höchsten Wölbung der Schale bis an den Stirnrand und über 60 mm. von einem Ohr zum 
andern. — Da die natürliche Oberfläche auf keiner unserer Schalen erhalten scheint, 
müssen wir es vorläufig bei dieser Beschreibung bewenden lassen. 

Ausser bei Saraninsk haben wir den echten Productus semireticulatus an der Schar- 
timka gefunden und ebenso an der Tschussowaja, an der häufig erwähnten Stelle, 4 Werst 
oberhalb des Dorfes Wolegobowa. 

Productus Martini Sow., den viele Auctoren für eine Zwergform dieser Species an- 
sehen, wurde unseres Wissens im Ural bisher nicht angetroffen. Die feinere Streifung, 
besonders aber die kegelförmige Gestalt, welche Productus Martini durch die starke Pro- 
duction der grossen Klappe erhält, geben den belgischen Exemplaren, mit denen wir ver- 


BEITRÄGE 2ов KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 123 


gleichen konnten, ein sehr charakteristisches Ansehen. Vielleicht hält M°-Coy in seinem 
neuesten Werke nicht mit Unrecht an der Unterscheidung der beiden Arten fest. 

Nach Murch., Vern. und Keys. findet sich Prod. semireticulatus auch an der Tschus- 
sowaja bei Kalino, Ilinsk und Soulem. Ebenso bei Simsk und Sterlitamak. Hofmann 
brachte ihn von der Wischera mit und fand ihn an der Kolva bei den Dörfern Wetlan und 
Bojez; am Potscherem bei der Syränka-Mündung und bei Kyrta-Warta; am Schtschugor 
bei Jomasch-Kyrta. 


Produetus Flemingii Sow. 
Taf. III, Fig. 4a b. 


Productus Flemingii Sow. Min. Conch. Tome I, р. 155. Tab. 68. Fig. 2. 1812. 

Prod. longispinus id. ibid. p. 154. Tab. 68. Fig. 1. 

Prod. spinosus id. ibid. p. 157. Tab. 69. Fig. 2. 

Prod. lobatus id. Tome IV, p. 16. Tab. 318. 1823. 

Producta lobata Phill. Сео]. of Yorksh. Part. II, р. 214. Pl, VIII, Fig. 7. 1836. 

Productus lobatus v. Buch über Prod. oder Lept. p. 32. Tab. II, Fig. 17. 1842. 

Productus Capacii A. d'Orb. Voyage dans l’Am. mérid. Tome Ш. Pal. р. 50. Pl. Ш, 
Fig. 24—96. 1842. 

Prod. longispinus de Kon. Descr. des an. foss. qui se trouv. dans le terr. carb. de 
Belgique, р. 187. Pl. XII, Fig. 11 a b et ХИ, Fig. 2 a—d. 1842 —44. 

Producia lobata M°-Coy. Synopsis of the char. of carb. lim. foss. of Ireland, р. 111. 
1844. 

Producta longispina ibid. p. 111. 

Productus lobatus M. У. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 266. Pl. XVI, Fig. 3 a b 
et Pl. VIII, Fig. 8. 1845. 

Productus lobatus Keyserl. Petschoraland, p. 206. 1846. 

Prod. Flemingü de Kon. Monogr. des genr. Prod. et Chon. р. 95. Pl. X, Fig. 2 a—1] 
et Fig. 3h. 1847. 

Prod. Flemingi Е. Römer. Die Kreidebild. von Texas u.s.w. Anhangp.89. Tab. XI, 
Fig. 8 a b. 1852. 

Productus Flemingüi Semen. Zeitschrift der deutschen Сео]. Gesellschaft. Bd. VI, 
p. 356. 1854. 

Prod. Flemingii M°-Coy. Descr. of the Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 461. 1855. 

Nach der verallgemeinernden Auffassung neuerer Auctoren beschreiben wir zwei 
unter sich verschiedene Formen des Ural, welche wir unvermischt an der Schartimka und 
bei Saraninsk gefunden haben als Productus Flemingit. 


124 М. у. GRÜNEWALDT, 


Die von der Schartimka (Fig. 4 a) gleicht durch ihre Kleinheit, den meist ganz abso- 
leten Sinus, zuweilen starke Production des unteren Schalentheiles so wie Mangel von 
Stachelnarben zum Verwechseln der Varietät des Prod. Flemingii von Visé, welche de 
Koninck dem Berliner Museum übersandt hat. Die concentrische Streifung des visce- 
ralen Theiles besteht in flachen Runzeln, welche, wie gewöhnlich, in der Ohrengegend am 
stärksten ausgeprägt sind. Die feinen radialen Streifen sind, durch die Loupe betrachtet, 
platt und durch viel engere Furchen von einander geschieden. An dem mittleren Theile 
der Schale gehen etwa 16 auf einen Raum von 10 mm. Die selten erhaltenen Ohren sind 
klein, spitz und scharf gegen den gewölbten Wirbel abgesetzt. Zahlreiche Individuen von 
der Schartimka sind nur mit Verlust der obersten Schalenschicht aus dem Gestein zu be- 
freien. Sie sehen dann glatt aus, das Knie pflegt mehr hervorzutreten und die Ohren er- 
scheinen noch schärfer gegen den Wirbel abgesetzt. 

Diese Varietät des Prod. Flemingi ist kleinen Exemplaren des Prod. Martini so ähn- 
lich, dass wir in den belgischen Sammlungen oft nicht zu ermitteln vermochten, warum 
viele Stücke der einen oder der anderen Art zugerechnet worden sind. 

Bei Saraninsk ist der eigentliche Productus lobatus, wie Sowerby ihn beschreibt und 
abbildet, häufig (Fig. 4b). Ein tiefer Sinus theilt die grosse Klappe in zwei Hälften. Der 
Wirbel ist hoch und gleichmässig gewölbt und fällt steil zu den spitzen Ohren ab. Die 
Seitenränder sind sich ziemlich parallel, und der allgemeine Umriss ist länglich. Die 
Streifung erscheint etwas feiner und leichter als bei der Varietät von der Schartimka. 
Nur ein einziges unserer Stücke bildet durch verschwindenden Sinus einen Uebergang zu 
jener Abart. 

Bei wenigen Arten tritt so sehr wie bei dieser das Bestreben der verschiedenen 
Auctoren hervor, den unmittelbaren Eindruck der Form mit einem abstrahirten Begriff der 
Species in Einklang zu bringen. Trotzdem ist die Synonymie noch immer eine schwan- 
kende. Prod. tubarius Keys. ist von de Koninck mit Prod. Flemingü vereinigt worden, 
während Keyserling selbst ihn neuerdings für eine muthmassliche Varietät des Prod. 
sulcatus Sow. erklärt hat. (Hofmann, der nördliche Ural und das Küstengebirge Pae Choi 
p. 212.) Prod. sulcatus dagegen, von Keyserling und de Koninck für eine Varietät des 
Prod. semireticulatus gehalten, wird von M°-Coy zu Prod. Flemingvi gestellt. — Prod. pu- 
gilis Phill. ist nach M°-Coy synonym mit Prod. Flemingü, nach de Koninck aber mit 
Productus giganteus. 

Die Varietät lobatus hat Keyserling von der Soiwa mitgebracht undEichwald führt 
den Prod. lobatus von Saraninsk und Sterlitamak an. 


Productus tesselatus de Kon.? 


Productus muricatus de Kon. Descr. des an. foss. qui se tr. dans le terr. carb. de Bel- 
gique, р. 192, Pl. IX, Fig. 2 a bc et Pl. XIIT®, Fig. 5 ab. 1842—44. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 125 


Productus tesselatus de Kon. Monogr. des genres Prod. et Chon. p. 110, Pl. XIV, 
Fig. a—h. 1847. 

Productus tesselatus Sem. Zeitschrift der deutsch. geolog. Gesellschaft. Band IV, 
p. 357. 1854. 

Wir haben nur drei winzige Schalen eines Productus an der Schartimka gefunden, welche 
vermuthlich dieser Art angehören. Ihr Umriss ist mehr halbkreisförmig und der Cardinal- 
rand ein wenig kürzer als die grösste Breite der Muschel. Sie sind nicht so stark gewölbt 
wie die von de Koninck beschriebenen und gleichen in der Verzierung den Figuren 2ab c 
auf Pl. IX des Werkes von 1844. Wir zählten über 20 gerundete zum Rande zu breiter 
werdende Rippen, welche auf der ganzen Schale von undeutlichen concentrischen Falten 
geschnitten werden. Diese treten besonders dadurch hervor, dass sie auf ihren Durch- 
schneidungspunkten mit den radialen Rippen Höcker bilden. Die grösste Schale misst nur 
7 mm. in der Länge. Wir haben es daher wahrscheinlich mit etwas abweichenden Cha- 
rakteren von Jugendzuständen dieser Art zu thun, und stützen unsere noch zweifelhafte 
Bestimmung weniger auf die Diagnose von de Koninck als auf die Uebereinstimmung mit 
ebenso kleinen belgischen Originalexemplaren. 

Diese Art ist zur Stunde nur von Visé in Belgien und Glätzisch-Falkenberg in Schle- 
sien bekannt. 


Produetus punectatus Mart. 


Anomites punctatus Mart. Petref. Derb. p. 37, Fig. 6. 1809. 

Productus punctatus Sow. Min. Conch. Vol. IV, p. 22, Pl. 323. 1823. 

Producta punctata Phill. Geol. of Yorksh. Part.II, р. 215, Pl. VIII, Fig. 10. 1836. 

Leptaena sulcata Fischer. Orykt. du gouvern. de Moscou. р. 143, Pl. XXII, Fig. 2. 
1837? 

Productus punctatus v. Buch über Prod. oder Lept. p. 34. Tab. II, Fig. 10 und 11. 
1842. 

Prod. punctatus de Kon. Descr. des an. foss. qui se tr. 4. 1. terr. carb. de Belgique, 
р. 196, Pl. VII, Fig. 4 et Pl. X, Fig. 2 a—c. 1842—44. 

Producta punctata M°-Coy. Synops. of the char. of carb. limest. foss. of Ireland, 
p. 113. 1844. 

Productus punctatus М. У. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 276, Pl. ХУШ, Fig. 3. 

Productus punctatus de Kon. Monogr. des genres Prod. et Chon. р. 123, Pl. XI, 
fig. 2. a—k. 1847. 

Prod. punctatus Sem. Zeitschrift der deutsch. geolog. Gesellsch. Band VI, p. 358. 
1854. 

Prod. punctata M°-Coy. Descript. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 469. 1855. 


126 M. v. GRÜNEWALDT, 


Productus punctatus Keyserl. Hofm. der nördl. Ural und das Küstengeb. Pae Choi, 
p. 212. 1856. 

Wir haben Steinkerne dieser Art an der Schartimka und zwischen Martianowa und 
Wolegobowa an der Tschussowaja gefunden. Für ihre Beschreibung verweisen wir auf die : 
Géol. de la Russie. Hofmann hat den Productus punciatus aus dem hohen Norden des Ural 
von Jomasch-Kyrta am Schtschugor mitgebracht. 


Produetus indeterminatus. 


Ein Bruchstück von Productus aus der Gruppe der /imbriati, zum Theil von Gestein 
umhüllt, zeigt, soweit es sichtbar ist, den Umriss der grossen Klappe des Prod. punctatus. . 
Die Schale ist durch einen flachen aber deutlichen Sinus getheilt. Dreizehn regelmässige 
Querbänder laufen, scharf von einander abgesetzt, über die Schale hin, deren ganze Ober- 
fläche, wie bei Prod. Humboldt, mit dicht gedrängten, feinen, im Quincunx gestellten Tu- 
berkeln besät ist. Die regelmässigen, zahlreichen Querbänder unterscheiden dieses Bruch- 
stück von Productus Humboldt, und der Umstand, dass sich zwischen je zwei Bändern keine 
glatten tuberkelfreien Zonen befinden, hindert den Vergleich mit Prod. punctatus, so wie mit 
den anderen Arten dieser Gruppe aufzunehmen. Wir fanden das Stück an der Ufa bei Sa- 
raninsk. Es misst 28 mm. vom Wirbel bis an den Stirnrand. 


Produetus aculeatus Mart. 


Anomites aculeatus Мата. Petref. Derb. Pl. 37, Fig. 9 u. 10, 1809. 

Productus aculeatus Sow. Min. Conch. Tome I, p. 156, PI. 68, Fig. 4. 1812. 

Producta spinolusa Phill. Сео]. of Yorksh. Part. II, р. 216, Pl. VII, Fig. 14. 1836. 

Prod, fimbriata var. laxispina id. ibid. р. 215, Pl. УШ, Fig. 13. 

Productus aculeatus v. Buch über Prod. oder Leptaena p. 27. 1842. 

Prod. gryphoides de Kon. Descript. des an. foss. qui se trouv. 4. 1. terr. carb. de 
Belgique, р. 182. Pl. VII’, Fig. 2 ab. Pl. IX, Fig. 1 ab c. Pl. XII, Fig. 12ab с. 
1842 —44. 

Producta aculeata M°-Coy. Synops. of the char. of carb. limest. foss. of Ireland, 
p. 106. 1844. 

Prod. laxispina id. ibid. р. 111. 

Productus gryphoides M. V. K. Géol. de la Russie. Vol. П, р. 275, Pl. XVI, Fig. 7. 
1845. 

Productus aculeatus de Kon. Monogr. des genres Prod. et Chon. p. 144. PI. XVI, 
Fig. 6 a—d. 1847. 


Productus aculeatus Sem. Zeitschrift der deutschen geolog. Gesellschaft. Band VI, 
p. 359. 1854. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GERIRGSFORMATIONEN ЕТС. 12 


Producta aculeata M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 458. 1855. 

Wenige und mangelhafte Exemplare dieser Art haben wir an der Schartimka gefun- 
den. Wir verweisen für dieselben auf die Beschreibung in der Géol. de la Russie, der wir 
wenig hinzuzufügen haben. Leichte concentrische Anwachsringe sind besonders in der 
Nähe des Wirbels sichtbar. Die Tuberkeln gruppiren sich zu Längsfalten, eine Erschei- 
nung, welche Herrn v. Buch unbekannt gewesen zu sein scheint, aber von den meisten 
neueren Auctoren hervorgehoben wird. Unser bestes Exemplar hat keinen so weit über 
die Area hervorragenden Schnabel wie die von Vise. Bei letzteren steht der Schnabel, 
von der Schale abgelöst, meist ganz frei da; ein Charakter, der auf den Abbildungen des 
Herrn de Koninck weniger hervortritt als in der Natur. 

Prod. aculeatus ist weder im europäischen Russland, noch im Ural bisher anderswo 
gefunden worden als an der Schartimka. In Belgien kommt er in den unteren und mitt- 
leren Etagen des Bergkalkes vor. 


Productus pustulatus Keys. n. sp. 
Tafel ТП, Fig. 3. 


Productus pustulosus M. V. K. Géol. de la Russie Vol. II, p.276. PI. XVI, Fig. 11ab. 
1845 ? non Phill. 
"Prod. pustulatus Keys. Bull. de la soc. géol. de France 2. série tome X,p. 247. 1853. 

Professor Beyrich zeigte uns diesen Productus in einer Sammlung von Petrefacten 
aus Sterlitamak, welche Wangenheim von Qualen nach Berlin gesandt hatte, und wir 
liessen ihn als eine neue Form des Ural abbilden. Nach St. Petersburg zurückgekehrt sah 
ich bei Herrn v. Pander eine andere Sammlung von Sterlitamak, über welche GrafKey- 
serling eine briefliche Mittheilung an Herrn у. Verneuil gerichtet hat, die 1. с. im bullet. 
de la soc. géol. de France veröffentlicht worden ist. Diese Sammlung enthält noch drei 
Exemplare der abgebildeten Art. 

Sie hat einen quer verlängerten Umriss. Ein mehr oder weniger ausgesprochener, 
in der Jugend verschwindender Sinus bildet eine Depression in der Mitte der grossen 
Klappe, welche allein bekannt ist. An keinem der vier Exemplare dringt er bis in die 
Spitze des Wirbels vor. Die Wölbung der Schalen ist nicht hoch, aber gleichmässig; so 
dass der Discus gegen die Schleppe nicht abgesetzt erscheint. Das Auszeichnende dieser 
. Species sind grobe, nicht sehr regelmässig gestellte Tuberkeln von meist kreisförmigem 
Umriss, welche ihre Oberfläche bedecken, am Wirbel klein sind und von dort nach den 
Rändern zu grösser werden. Je kleiner die Schale, desto feiner und dichter sind diese 
Tuberkeln. Sie scheinen bei einem gewissen Wachsthumsstadium der Muschel unverhält- 
nissmässig an Grösse zu- und an Dichtigkeit abzunehmen. Das grösste Exemplar in der 
Sammlung des Grafen Keyserling hat kaum № der Anzahl runder Höcker auf seiner 


128 M. v. GRÜNEWALDT, 


Oberfläche wie ein nur sehr wenig kleineres. Zwischen ihnen steht das von uns abgebil- 
dete aus dem Berliner Museum. Spuren feiner, unregelmässiger Anwachsringe sind zwi- 
schen den Tuberkeln nur so weit kenntlich, als sie auf der Oberfläche glatter Muscheln 
überhaupt nicht zu fehlen pflegen. Das grösste Exemplar misst 20 mm. vom Wirbel bis 
zum Stirnrand, und 31 mm. in der Breite; während die höchste Wölbung 9 mm. beträgt. 

Diese auffallende Form ist mit anderen nicht leicht zu verwechseln, wenn sie in ty- 
pischen Individuen vorliegt. 

Nach Keyserling ist dieses derselbe Productus, der in der Géol. de la Russie vor- 
läufig als Productus pustulosus РИ. von Sterlitamakl.c. beschrieben und abgebildet wor- 
den ist. Erst durch die späterhin aufgefundenen Exemplare stellte es sich heraus, dass 
es eine neue Art ist, welche sich von Prod. pustulosus Phill. dadurch unterscheidet, dass 
ihr die Querrunzeln fehlen, auf denen die Tuberkeln jener Form aufgereiht sind. Herr 
v. Verneuil hat diesen Unterschied erkannt und hervorgehoben, damals aber die Auf- 
stellung einer neuen Art vermieden, weil er in dem Wachsthumsstadium des einzigen klei- 
nen Exemplares begründet sein konnte, welches er besass. Aus der Abbildung und Be- 
schreibung in der Géol. de la Russie geht die Identität des Prod. pustulatus Keys. mit dem - 
dort abgebildeten kleinen Exemplare nicht hervor, da jenes einen länglichen Umriss und 
längliche Tuberkeln hat. Es bedurfte dazu der ausdrücklichen Erklärung des Grafen Key- 
serling, der für die neue Art den von uns angenommenen Namen vorschlägt. Er hebt 
hervor, dass das erste Exemplar, welches damals von derselben gefunden wurde, zufällig 
jene Anomalien zeigt. Wir fügen hinzu, dass einige längliche Höcker auch auf einem 
der 4 Exemplare zu beobachten sind, welche wir gesehen haben, und dass das kleinste 
einen weniger quer verlängerten Umriss hat als die anderen. Diese Form ist bisher nur 
bei Sterlitamak vorgekommen. 


ACEPHALA. 


Genus Aviculopecten M°-Coy 1855. 


Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, р. 392. 1855. 

Nach M°-Coy gehören die bisher als Pecten beschriebenen palaeozoischen Formen, 
deren Schlosscharaktere vor ihm kaum von anderen Auctoren beobachtet worden sind, 
einer besonderen Gruppe von Acephalen an, welche mit den äusseren Merkmalen der . 
Gattung Pecten die Articulation von Avicula verbinden. Er schlägt für diese Formen den 
Gattungsnamen Aviculopecten vor. 

An keiner einzigen der nachfolgend beschriebenen Arten ist die Ligamentgrube zu 
beobachten, welche bei diesen palaeozoischeu Pectenformen eine schmale Fläche längs 
dem Schlossrande bilden soll. «Ligament confined 10 a narrow facet along the hinge margin». 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 129 


Wir schliessen uns vorläufig der neuen Gattung des Herrn M°-Coy an, und sehen fer- 


neren Bestätigungen darüber entgegen, ob sie die Gattung Pecten in der palaeozoischen 
Periode durchgehend vertritt. 


Aviculopecten granoesus Sow.? 
Tafel V, Fig. 9. 


Pecten granosus Sow. Min. Conch. Vol. VI, p. 144. Tab. 914, Big. 2.118209; 

Pecten granosus Phill. Geol. of Yorksh. Part. II, р. 213. Pl. VI, Fig. 7. 1836. 

Pecten granosus Portl. Rep. on the geol. of uns etc. p. 436 und 437. RS 

Avicula granosa A. d’Orb. Prodr. Vol. I, р. 135. 1849. 

Aviculopecten granosus M°-Coy. Descr. of Ba: ol foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 392 und p. 486. 1855. | 

Schalen von der Schartimka gehören nach dem Contour, besonders aber der charak- 
teristischen Verzierung, muthmasslich dieser Art an, welche wir in Originalexemplaren 
nicht gesehen haben. Es sind mässig gewölbte, ziemlich symmetrische Schalen mit nahe 
halbkreisförmigem Umriss und langem Cardinalrand. Sie sind mit 40 bis 50 radialen 
Rippen geziert, welche starke Anschwellungen tragen. Zwischen die stärkeren Rippen 
fügen sich vom Rande aus hin und wieder schmälere ein, welche den Wirbel nicht er- 
reichen. “u 

Im Museum des Bergkorps zu St. Petersburg wird ein Exemplar der Avicula Dumon- 
tiana de Kon. von Visé aufbewahrt, welches mit den beschriebenen Bruchstücken sehr 
nahe übereinstimmt. Unser Material ist nicht ausreichend, um über die Synonymie dieser 
Form Untersuchungen anzustellen. Wir haben uns daher vorläufig des älteren Namens 
‚bedient, wobei uns die Abbildungen von Sowerby weniger geleitet haben, als seine Be- 
schreibung, noch mehr aber die Diagnosen der citirten späteren Schriftsteller. 

M°-Coy führt diese Art nicht nur aus dem Bergkalke, sondern auch aus den devo- 
nischen Schichten von Petherwin an. 


Aviculopecten mactatus de Kon. 
Tafel V, Fig. 6. 


Pecten mactatus de Kon. Deser. des an. foss. qui se tr. d. le terr. carb. de Belgique, 
p. 146. Pl. V, Fig. 5ab. 1842 — 44. 


Aviculopecten mactatus M°Coy. Descr. of Brit. pal. ïoss. in the mus. of Cambridge, 
p. 487. 1855. 

Eine rechte Klappe dieser seltenen Art fanden wir an der Schartimka. Sie ist flach 
gewölbt, von nahe kreisförmigem, etwas länglichem Umriss ei mit undichten, fadenför- 
migen, radialen Streifen verziert. Diese werden von eben solchen concentrischen so regel- 


Mémoires de l’Acad Imp des sciences, УПе Serie. 17 


130 M. v. GRÜNEWALDT, 


mässig durchschnitten, dass die Oberfläche der Schale mit jenem in scharfe Quadrate ge- 
theilten Gitterwerke bedeckt ist, welches diese Art leicht von anderen unterscheidet. Am 
Rande erheben sich die concentrischen Streifen und laufen längs dem äussersten Saume 
desselben zum Ohre zu zusammen. Dieses wird dadurch mit dicht gedrängten Anwachs- 
ringen bedeckt, welche hier von radialen Falten nicht geschnitten werden. Die Schale 
‚misst 11 mm. vom Wirbel bis zum unteren Rande und ungefähr ebenso viel in der Breite. 

Diese Art ist sonst nur im Kohlen führenden Thon von Tournay in Belgien und im 
Bergkalk von Derbyshire in England gefunden worden. 


Aviculopecten ? indeterminatus. 
Tafel V, Fig. 7. 


An der Schartimka fanden wir Bruchstücke kleiner pectenförmiger Schalen mit läng- 
lichem bis nahe kreisförmigem Umriss. Sie sind flach gewölbt und mit einigen 20 ein- 
fachen, gerundeten, radialen Rippen geziert, welche zum Rande zu breiter werden und 
ebenso breite Furchen zwischen sich lassen. Wir müssen auf eine nähere Bestimmung 
derselben verzichten. Das abgebildete Bruchstück misst 14 mm. in der Länge und 13 in 
der Breite. 


Aviculopecten ? ellipticus Phill. 


Pecten elliptieus Phill. Geol. of Yorksh. Part. II, p. 212. Pl. VI, Fig. 15. 1836. 

Pecten elliptiens Portl. Rep. on the geol. of Lond. etc. р. 436. 1843? 

Pecten ellipticus М. У. К. Géol. de la Russie, Vol. II, р. 329. Pl. XXI, Fig. 8. 1845. 

Wir haben diese Art gleichfalls von der Schartimka mitgebracht und verweisen für* 
ihre ausführliche Beschreibung auf die Géol. de la Russie. 


Genus Avicula Lam. 


Avicula indeterminata. 
Tafel V, Fig. 8. 


Mehrere unvollständige Bruchstücke von der Schartimka, deren schlecht erhaltener 
Umriss es wahrscheinlich macht, dass sie einer Avicula angehören, zeigen keine Aehn- 
lichkeit mit bekannten Arten dieser Gattung aus der Kohlenformation. Der Umriss scheint 
nahe kreisförmig zu sein und die Schalen sind fast ganz flach. Die ganze Oberfläche, mit 
Einschluss der Ohren, ist gleichmässig mit dichten, feinen, radialen Rippen: bedeckt, 
welche von breiteren concentrischen Runzeln geschnitten werden. Für genauere Kennt- 
niss dieser Form verweisen®wir auf unsere Abbildung. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 131 
Genus Edmondia de Kon. 


x Edmondia Unieniformis Phill. 


Isocardia Unioniformis Phill. Сео]. of Yorksh. Part. IT, p.209. PI. V, Fig. 18. 1836. 

Edmondia Unioniformis de Kon. Descr. des an. foss. qui se tr. d. le terr. carb. de 
Belgique, р. 67. Pl.I, Fig. 4abc. 1842 — 44. 

Edmondia Unioniformis М. У. К. Géol. de la Russie, Vol. IT, р. 299. Pl. XIX, Fig. 18. 
1845. 

Edmondia Unioniformis M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
1503. 1855. 

Die Verf. der Géol. de la Russie haben Schalen von der Schartimka beschrieben und 
abgebildet, welche sie mit dieser Art von Phill. identificiren. Dasselbe hatte schon früher 
de Koninck mit Stücken von Visé gethan, welche er mit englischen Originalexemplaren 
aus der Sammlung des Herrn v. Verneuil vergleichen konnte. Ihre vollständige Erhal- 
tung setzte ihn in den Stand, zu erkennen, dass diese Art keine Isocardia ist, und er be- 
gründete auf dieselbe seine neue Gattung Edmondia. Neuerdings hat M°-Coy die Identi- 
tät der belgischen und englischen Form in Zweifel gezogen. 

- Wir können die Charaktere des Schlosses nicht beobachten und müssen uns über- 
haupt damit begnügen, auf die Beschreibung in der Géol. de la Russie zu verweisen. Un- 
sere Exemplare stammen ebenfalls von der Schartimka. 


Genus Amphidesma Lam. 


Amphidesma? pristina M. V.K. 


Amphidesma pristina. Géol. de la Russie Vol. If, р. 300. PI. XX, Fig. 5. 1845. 

Es liegen uns nur schlechte Bruchstücke dieser Art von der Schartimka vor, dem- 
‚ selben Fundorte, an dem sie von Murch., Vern. und Keys. zuerst entdeckt wurde. Wir 
verweisen daher auf die Beschreibung dieser Auctoren. 


Genus Cardiomorpha de Ron. 
Cardiomorpha? suleata de Kon. 


Cardiomorpha sulcata de Kon. Descr. des an. foss. qui se tr. 4. le terr. carb. de Belgique, 
р. 109. Pl. П, Fig: 18ab. 1842 — 44. 

Cardiomorpha sulcata M. V. К. Géol. de la Russie, Vol.II, р. 303. PI. XX, Fig. 2 ab. 
1845. 
Wir haben an der Schartimka dieselbe Art gesammelt, welche Murch., Vern. und 
Keys. unter obigem Gattungsnamen beschreiben. Es ist uns ebenso wenig wie den 


E 


132 М. v. GRÜNEWALDT, 


citirten Auctoren geglückt, die Charaktere des Schlosses zu beobachten, und so bleibt 
es immer noch dahingestellt, welcher Gattung diese Art mit Sicherheit unterzuord- 
nen ist. Da die Cardiomorphen sich durch nach vorn umgebogene Wirbel auszuzeichnen 
pflegen, ein Charakter, den M°-Coy in seinem Werke von 1855 besonders hervorhebt '), 
die Wirbel der Cardiomorpha sulcata aber klein und flach, an den uralischen Exemplaren 
sogar noch weniger entwickelt sind als auf den Abbildungen von de Koninck, so macht 
dieser Umstand die Bestimmung der Gattung noch zweifelhafter. Wir verweisen im Uebri- 
gen auf die Beschreibung und Abbildung in der Géol. de la Russie. 


CEPHALOPODA. 


Genus Orthoceratites Breyn. 


®rthoeeratites ovalis Phill.? 
Tafel VI, Fig. 4ab. 


Orthoceras ovale Phill. Geol. of Yorksh. Part. П, р. 238. 1836. 

Orthoceratites ovalis. Géol. de la Russie Vol. II, р. 354. Pl. ХХУ, Fig. lab: 1845. 

Orihoceras ovale M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, р. 572. 
1855: 

Mehrere Bruchstücke eines Orthoceratiten mit elliptischem bis nahe rundem Quer- 
schnitt und leicht excentrischem Sipho entsprechen, so weit zu ermitteln, der citirten Be- 
schreibung in der Géol. de la Russie, auf welche wir verweisen. Da die Oberschale nicht 
erhalten ist, und keines unserer Bruchstücke die letzte Kammer des Thieres zeigt, bedarf 
diese Bestimmung einer Bestätigung. 

Wir sammelten unsere Stücke an der Schartimka, und die Verf. der Géol. de la 
Russie führen Orthoceratites ovalis von Artinsk an. 


Orthoceratites ealamus de Kon. 
Tafel VI, Fig. 2ab. 


Orthoceras calamus de Kon. d’Omalius Préc. élem. de Géol. р. 516. 1843. 

Orthoceratites calamus de Kon. Descr. des an. foss. quise tr. d. le terr. carb. de Belgique, 
p. 509. 1842 — 44. | 

Id. ibid. suppl. р. 703. PI. ШХ, Fig. 2a—d. 1851. 

М. У. К. Géol. de la Russie Vol. П, р. 356. (S. Orth. Frearsi) 1845. 

Wir haben an der Schartimka Bruchstücke eines ungemein schlanken, glatten, in Frag- 


1) «Beaks very tumid, produced, spirally involved to the anterior side». 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 133 


menten beinahe cylinderförmigen Orthoceratiten gefunden, der einen centralen Sipho hat, 
und, so weit zu ermitteln, mit der Beschreibung und Abbildung übereinstimmt, welche 
de Koninck von Orth. calamus giebt. Die Zwischenräume zwischen den flachen Kammern 
sind ungleich gross; jedoch gehen 3 — 4 auf den Raum eines Durchmessers. Ein Bruch- 
stück von 38 mm. Länge hat am breiten Ende einen Durchmesser von 41 mm., am schma- 
len einen von 3 mm. Diese Bestimmung bedarf gleichfalls der Bestätigung. 

Die Verfasser der Géol. de la Russie vermuthen, dass Orthoceratiten- Bruchstücke 
von Artinsk dieser Art angehören. Auch wir besitzen Fragmente aus dem dortigen Koh- 
lensandstein, welche denen von der Schartimka durchaus gleichen. Orthoceratites calamus 
ist bisher nur im Bergkalke von Visé und Tournay vorgekommen. 


Genus Cyrtocerahies Goldf. 
Cyrtoceratites novemangulatus M. У. К. 
Tafel VI, Fig. Gab. 


Cyrtoceratites novemangulatus М. У. К. Géol. de la Russie Vol. II, р. 358. Pl. XXIV, 
Fig. 10ab. 1845. 

Wir haben zu der citirten Beschreibung dieses Cyrtoceratiten, den wir ebenso wie die 
Verf. der G6ol. de la Russie an der Schartimka gefunden haben, nur hinzuzufügen, dass 
die 9 regelmässigen Kanten, welche diese Form zu zieren pflegen, zuweilen durch eine 
zehnte vermehrt werden. In diesem Falle, den wir an einem einzigen Bruchstücke beobach- 
teten, bilden 3 Kanten an der Seite des Individuums dadurch, dass sie näher beisammen 
liegen, eine Gruppe, welche, wie unsere Abbildung zeigt, ungefähr denselben Raum ein- 
nimmt, wie die Zwischenräume zwischen je zwei der 7 anderen, regelmässigen Kanten. 


Genus Gyroceras v. Meyer. 
’ т e 
Gyroceras Uralicus п. sp. 
Tafel VI, Fig. 5a—e. 


Die Schale dieser kleinen Art ist vollkommen eylindrisch und wächst sehr langsam an 
Dicke an. Unsere grössten Bruchstücke sind halbe Windungen von 19 mm. Durchmesser. 
Auf einer solchen halben Windung ist der Durchmesser der Kammern von 4 mm. zu 6 
mm. angewachsen; woher anzunehmen ist, dass er sich in einer vollen Windung nur 
verdoppelt. Der Sipho liegt sehr wenig excentrisch nach dem Rücken zu. Die Kam- 
merwände folgen sich dicht. An der Seite eines Bruchstückes von dem mittleren 
Theile der Schale gehen 6 Kammern auf einen Raum von 8 mm. Sie zeigen einen un- 
merklichen Ausschnitt nach hinten, als Ansatz zum Dorsallobus. An einem Bruchstück 
des untersten, spitz zulaufenden Endes erkennt man, dass die Oberfläche der Schale mit 


134 М. v. GRÜNEWALDT, 


feinen Ringstreifen bedeckt gewesen ist. (fig. 5e). Diese Art schliesst sich den wenigen 
glatten Gyrocerasformen an, welche de Koninck aus älteren Formationen beschreibt. 
Wir haben sie an der Schartimka gefunden. 


Genus Nautilus Breyn. 


© 


Nautilus quadratus Flem. 1828. 


Nautilus quadratus Flem. Brit. an. р. 231. 1828). 

Nautilus subsulcatus Phill. Geol. of Yorksh. Part. II, р. 233. Pl. XVII, Fig. 18 und 
25. 1836. " 

Nautilus quadratus Portl. Rep. on the Geol. of Lond. etc. р. 404. Pl. ХХХ, А. 
Bis 10418275; 

Nautilus subsulcatus id ibid. p. 405. 

Nautilus subsulcatus de Kon. Descr. des ап. foss. qui se tr. dans le terr. carb. de Bel- 
gique, р. 548. PI. ХХХ, Fig. 6 a—d. Р. ХГУП, Fig. 9 a bet PI. XLIX, Fig. 4ab. 1842—44. 

Nautilus bicarinatus М. У. К. Géol. de la Russie Vol. II, р. 364. Pl. ХХУ, Fig. 10ab. 
1845. 

“ Nautilus Verneuilanus A. d’ Orb. Prodr. Vol. I, р. 110. 1849. (Pal. univ. I, р. 94, 
Fig. 4 und 5). 

Nautilus (Discites) quadratus M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cam- 
bridge, р. 560. 1855. 

Wir haben an der Schartimka mehrere Bruchstücke eines Nautilus gefunden, die mit 
der citirten Beschreibung und Abbildung übereinstimmen, welche Murch., Vern. und 
Keys. von einem Nautilus geben, den sie von derselben Localität mitgebracht haben. 
Auch wir besitzen zwei Formen, welche von den Verf. der Géol. de la Russie für verschie- 
dene Arten gehalten werden. Die eine von ihnen trägt an der Grenze der Rücken- und 
Seitenfläche zwei von vier Kielen eingefasste Furchen, 4. №. jederseits eine Furche und 
zwei Kiele. Die andere trägt jederseits zwei Furchen, die von 4 Kielen eingefasst werden. 
Diesen Nautilus (bicarinatus) haben die Verf. der Géol. de la Russie von Nautilus subsulca- 
tus Phill. unterschieden und ihm einen Namen gegeben, den de Koninck zuerst vorge- 
schlagen und später 1. с. wieder aufgegeben hatte. M° Coy hat in seinem letzten Werke 
die von den Verf. der Géol. de la Russie vorgeschlagene Unterscheidung des Nautilus bica- 
rinatus von Nautilus subsulcatus nicht anerkannt und beide Species auf die ursprüngliche 
Art, Nautilus quadratus Flem., zurückgeführt. Wir führen die von ihm vorgeschlagene ‘Sy- 
nonymie hierbei an, weil unsere Exemplare eine grosse Uebereinstimmung mit den Be- 
schreibungen und Abbildungen der citirten Auctoren zeigen und sich dabei der von M°-Coy 
vorgeschlagenen Erweiterung der Art unterordnen. Nach den Beobachtungen von M°-Coy 


1) Nach M°-Coy..c. 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN (GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 135 


treten nämlich bei Nautilus quadratus jederseits bis 5 ungleiche Furchen an der Grenze von 
Rücken und Seiten auf, von denen 3 breiter und tiefer zu sein pflegen als die beiden an- 
‘deren. Diese Anomalie ändert die Breitenverhältnisse von Rücken und Seiten, auf welche 
demnach kein Gewicht als specifisches Merkmal gelegt werden kann, wie es bisher von 
einigen Auctoren angenommen war. 


Nautilus Teheffkini M. V.K. 


Nautilus Tscheffkini M. У. К. Géolog. de la Russie. Vol. I, р. 363. Pl. XXV, 
Fig. 9 ab. 1845. 

Schlechte Exemplare dieser Art fanden wir an demselben Fundorte wie die Verfasser 
der Géol. de la Russie, auf deren ausführliche Beschreibung wir verweisen. Unsere Exem- 
plare sind der Oberschale entkleidet und Zeigen, auch ein kleines Individuum nicht ausge- 
nommen, keine Spur von Tuberkeln, wie sie an jüngeren Exemplaren vorkommen sollen. 
Nautilus Teheffkini ist nur von der Schartimka bekannt. 


Genus Goniatites de Haan.) 


Goniatites diadema Goldf. 


Goniatites diadema Goldf. Museum in Bonn. | 

Goniatites striolatus Phill. Géol. of Yorksh. Part. II, Pl. XIX, Fig. 14—19. 1836.? 

Ammonites diadema Beyrich. Beiträge zur Kenntn. des rhein. Uebergangsgeb. p. 41, 
Tab. IL, fig. 8—10. 1837. 

Goniatites striolatus Portl. Rep. on the geol. of Lond. etc. р. 407. 1843.? 

Goniatites diadema de Kon. Descr. des ап. foss. qui se tr. dans le terr. carb. de Bel- 
gique, р. 574. PI. L, Fig. 1 a b c d f und Fig. 2 ab. 1842—44. 

Goniatites diadema M. V. К. Geolog. de la Russie. Vol. II, р. 367. Pl. XVII, 
Fig. 1 a—d. 1845. 

Aganides diadema M°-Coy. Descr. of the Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p%163..,1855. 

Diese verbreitete Form des Bergkalkes ist die vorwaltende Goniatiten-Art an der 
Schartimka, wo sie vor uns von den Verf. der Géol. de la Russie gefunden wurde. Fast 
alle unsere Exemplare zeigen die Einschnürungen, welche den Streifen parallel gehen und 
nach abgeriebener Schale hervortreten. Es ist zu bemerken, dass der spitze Laterallobus 
an den obersten Kammerwänden ausgewachsener Exemplare zuweilen geradliniger be- 


1) Me-Coy hat neuerdings den alten Namen Aganides (Monf. Conch. I, 31, 1809) für diese Gattung wieder in 
Vorschlag gebracht, у 


136 M. v. GRÜNEWALDT, 


grenzt ist, als es an den unteren der Fall zu sein pflegt. Die geraden Linien dieses Lobus 
können zu falschen Bestimmungen verleiten, wenn die unteren Kammerwände nicht sicht- 
bar sind. | 


u Goniatites BEarianus M. У. К. 


Goniatites Marianus. (601. de la Russie, Vol. II, р. 369. PI. ХХУП, Fig. 2 a—c. 
1845. . 

Diese Art ist von Murch., Vern. und Keys. bei gleicher Gestaltung der Loben 
wegen des offenen Nabels und der von oben nach unten zusammengedrückten Windungen, 
welche am Nabelrande mit kurzen, tuberkelartigen Falten geziert sind, von Goniatites dia- 
dema unterschieden worden. — Nach der Diagnose der Art, so wie den Abbildungen welche 
die Herren Beyrich, de Koninck und М“-Соу von Individuen des Goniatites diadema 
im mittleren Wachsthumsstadium geben, dürfte es nicht immer möglich sein, jene Art mit 
Sicherheit von dem Goniatites Marianus zu unterscheiden. Die geraderen Streifen, die von 
oben nach unten platten Windungen, so wie der tuberkulirte Rand des offenen Nabels, in 
welchem oft die Innenränder von 5 Windungen zu sehen sind, kommen nach den genannten 
Auctoren auch bei dem Gonatites diadema im mittleren Wachthumsstadium vor. — Die 
Auctoren der vorliegenden Art weisen selbst auf diese Aehnlichkeiten hin, welche uns be- 
deutend genug erscheinen, um zu ferneren Untersuchungen über ihre Selbstständigkeit auf- 
zufordern. Wir besitzen einzelne Exemplare, die auch im Ural als Mittelglieder der beiden 
Formen angesehen werden können, welche, wie schon bekannt, zusammen an der Schar- 
timka vorkommen. 


Goniatites Barhotanus М. У. К. 


Goniatites Barbotanus М. Г. К. Géol. de la Russie, Vol. II, p. 369. PI. XX VII, 
Fig, 3 a—c. 1845. 

Aganides Barbotanus M°- Coy. Descr. of Brit. Pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
р. 453. 1855. 

Auch diese Art kann, wenn sie überhaupt selbstständig ist, nur bei einer grösseren 
Reihe von Exemplaren von Goniatites diadema unterschieden werden, mit dem sie ebenfalls 
gleiche Loben und gleiche Verzierung hat. Einschnürungen scheinen bei dieser Form 
nicht vorzukommen. — Die Verf. der Géol. de la Russie haben unter diesem Namen ku- 
gelige und vollkommen involute Formen von Gon. diadema unterschieden. Dieser Unter- 
scheidung hat M°-Coy sich angeschlossen, führt aber an, dass die englische Varietät einen | 
viel breiteren Nabel hat als die ganz involute uralische. — De Koninck hatte schon 
früher eine kuglige, aufgeblasene Varietät des Сон. diadema als Gon. Beyrichianus unter- 
schieden, die Unterscheidung später aber als unhaltbar fallen lassen. Er führt an, dass 


Berreice zur KENNTNISS DER SEDIMENTÂREN GEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 187 


Jugendformen des Gon. diadema vollkommen kugelig sind; wonach diese Art in ihren ver- 
schiedenen Wachsthumsstadien zuerst an Gon. Barbotanus, dann an Gon. Marianus streift, 
und endlich, wenn sie ausgewachsen ist, dem Gon. Barbotanus wieder sehr ähnlich werden 
kann. Hiernach bliebe als Unterscheidungsmittel des Gon. Barbotanus von diadema nur 
das mittlere Wachsthumsstadium der letzteren Art stehen, welches die Form des Gon. Ma- 
rianus ist. 

Wir rechnen vorläufig grössere und kleinere Goniatiten hierher, welche durch ihre 
kugelige Form und den verschwindenden Nabel mit der Beschreibung und Abbildung in 
der Géol. de la Russie übereinstimmen. Unsere Exemplare fanden wir gleichfalls an der 
Schartimka mit den beiden vorhergehenden Goniatitenformen. Für die sichere Unterschei- 
dung dieser drei Arten sind ausgedehntere Untersuchungen wünschenswerth. 


Goniatites eyelolobus Phill. 


Goniatites cyclolobus Phill. Géol. of Yorksh. Part. II, р. 237, Pl. ХХ, Fig. 40—42. 
1836. 

Goniatites cyclolobus M. V. К. Géol. de la Russie. Vol. II, р. 370. Pl. XXVL, 
Fig. 4 a—c. 1845. 

Wir haben diese Art ebenfalls an der Schartimka gefunden, wie die Verf. der Géol. 
de la Russie, deren Beschreibung wir nichts hinzuzufügen haben. 


Goniatites Jossae M. V.K. 
Taf. VI, Fig. 1. 


Goniatites Jossae М. V. К. Géol. de la Russie, Vol.II, p.371. Pl. XXVI, Fig. 2a—e, 
Fig. 3a b. 1845. 

Zu der Beschreibung, welche die Verf. der G&ol. de la Russie von diesem Goniatiten 
geben, fügen wir die der Bauchloben und Bauchsättel hinzu, welche im Allgemeinen die- 
selbe Gestalt haben wie die bekannten Loben und Sättel des Rückens und der Seiten. Die 
Dorsallinie ist mit D bezeichnet. Die Linien S drücken die Suturen der oberen und unteren 
Windung des Goniatiten und zugleich die Lage der ausspringenden Winkel aus, welche 
durch den Eindruck der unteren Windung auf die Bauchseite V der darüber liegenden 
hervorgebracht werden. Anden bekannten zweiten Lateralsattel schliesst sich noch vor der 
Linie S ein gleicher, flacher und breiter erster Bauchsattel an. Darauf folgen drei zuge- 
spitzte Bauchloben, deren mittelster etwas tiefer hinabreicht als die beiden seitlichen. Sie 
sind durch zwei Bauchsättel von einander getrennt, deren runde Bogen gleich hoch liegen 
und schliessen auf der entgegengesetzten Seite mit dem vierten Bauchsattel wieder symme- 
trisch an den zweiten Lateralsattel an. 


Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences, УПе Série. 18 


138 M. v. GRÜNEWALDT, 


Nach den Beobachtungen des Herrn Prof. Beyrich pflegt bei mehr involuten Gonia- 
titenformen die Linie S durch die Spitze der Winkel zu gehen, welche die äussersten 
Bauchsättel mit den beiden angrenzenden Lateralen bilden. Dieses ist der Grund, warum 
er jene Winkel nicht wie echte Loben, sondern als Ausbuchtungen der Kammerwände an- 
sieht, welche mit der Eindrückung an der Bauchseite des Ammoniten zusammenhängen. 

Ammonites Jossae ist die häufigste Art in den Schleifsteinbrüchen des Berges Kasch- 
kabasch bei Artinsk. Wir haben ihn ebenso wie die Verf. der Géol. de la Russie von die- 
ser Localität mitgebracht und verdanken unsere besten Exemplare der Güte des Herrn 
Nikolai Romanowsky, damaligen Verwalters von Artinsk. Ausserdem fanden wir den 
(roniatites Jossae im Distrikt von Artinsk am Flüsschen Sennaja bei dem Dorfe gleichen Na- 
mens und bei Potaschinsk an der Artja. 


Goniatites Artiensis n. sp. 
Taf. VI, Fig. 3a b. 


Wir erhielten in Werch-Artinsk drei Bruchstücke eines grossen Goniatiten, welcher 
in den Sandsteinen der nächsten Umgegend gefunden worden ist. Die Loben sind nicht 
erhalten, aber die flache, scheibenförmige Windung und der in der Mitte eingesenkte 
schmale Rücken deuten auf Lobenformen aus der Gruppe des Goniatites d’Orbignyanus, 
welcher durch jene Merkmale sowohl, als auch durch seine complicirten Loben einen 
Uebergang zu den Ammonitenformen jüngerer Formationen bildet. Starke Falten, die sich 
nach dem Rücken zu verdicken, laufen quer über die Seiten hin und sind vom Bauch zum 
Rücken zu schräg nach vorne gerichtet. Sie ziehen sich nicht über den Rücken herüber, 
sondern endigen an der tief eingesenkten Furche, welche denselben aushöhlt und bilden an 
den scharfen Rückenkanten zwei Reihen gerundeter Tuberkeln, welche jene Ränder, im 
Profil gesehen, stumpf gezähnelt erscheinen lassen. Denkt man sich den Kreisbogen un- 
seres abgebildeten Bruchstückes geschlossen, so hat er einen Durchmesser von mehr als 
einem Decimeter, etwa 105 mm. Länge. Diese Art gehört daher zu den grössten Gonia- 
titen der Kohlenformation. 

Von Goniatites d’Orbignyanus aus dem Sandstein des Kaschkabasch unterscheidet diese 
ausgezeichnete Art sich durch die grobe Faltung. Das in der Géol. de la Russie vom Gon. 
d'Orbignyanus abgebildete Schalenstück hat undichte, feine, fadenförmige Rippen, die keine 
Erhöhungen an dem Rande des Rückens bilden. Ausser diesen beiden Arten sind unseres 
Wissens keine palaeozoischen Goniatiten bekannt, welche so sehr den Stempel von Ammo- 
nitenformen aus der secundären Periode tragen. 

Nach der Aussage des Forstbeamten, von dem wir diesen Goniatiten erhielten, kommt 
er an zwei Localitäten in der Nähe von Werch-Artinsk vor, was durch den verschieden- 
artigen Sandstein bestätigt wird, in dem unsere Bruchstücke enthalten sind. Die eine soll 
in der Steppe, 4 Werst von Werch-Artinsk entfernt liegen. Der Sandstein entspricht an 


BEITRÄGE zur KENNTNISS DER SEDIMENTÄREN GEBIRGSFORMATIONEN ETC. 139 


zwei Stücken dem Gestein des Kaschkabasch. — An dem abgebildeten ist er dunkler und 
mit kleinen Splittern von Muschelschalen durchaus erfüllt. Darunter finden sich Ortho- 
ceratitenfragmente, die von Orthoceratites calamus herzurühren scheinen. 


CRUSTACEA. 
Genus Phillipsia Portl. 


Phillipsia Derbyensis Mart.? 
Taf. У, Fig. 12 a b. 


Onicites Derbyensis Mart. Petr. Derb. Vol. I, Pl. 45, Fig. 1 und Pl. 45, Fig. 1 u. 2. 
partim. 1809? 

Asaphus granuliferus Ри. G£ol. of Yorkshire, р. 239. Pl. XXII, Fig. 7. 1836? 

Asaphus seminiferus id ibid. ‘p. 240. Pl. XII, Fig. 3, 8 10.? 

Asaphus raniceps id. ibid. р. 240. Pl. XXII, Fig. 14 u. 15, 

Phillipsia Jonesi var. semimifera. Phill. in Portl. Rep. on the geol. of Lond. etc., 
р. 308. PI. XI, Fig. 5. 1843. 

Phillipsia Derbyensis de Kon. Descr. des an. foss. qui se tr. 4. 1. terr. carb. de Bel- 
gique, р. 601. PI. LI, Fig. 2. 1842—44.? 

“ Phillipsia seminifera M°-Coy. Descr. of Brit. pal. foss. in the mus. of Cambridge, 
p. 183. 1855.? 

In dem Bergkalke an der Schartimka haben wir zwei wohl erhaltene Kopfschilder 
eines Trilobiten gefunden, die durchaus mit der Beschreibung und Abbildung übereinstim- 
men, welche Portlok von Phillipsia Jonesü var. seminifera Phill. giebt. — Der Umriss des 
hierbei in natürlicher Grösse abgebildeten Kopfes ist, ebenso wie auf der Figur von Port- 
lok, etwas länglicher als auf der vergrösserten Abbildung, welche de Koninck von Phil- 
lipsia Derbyensis (nach ihm synonym mit Phill. seminifera) giebt; eine Synonymie, der wir 
uns nicht ohne Zweifel anschliessen können. 

Der hintere Rand des Kopfschildes ist von zwei Furchen eingefasst. Die Enden die- 
ses Randes sind kaum merklich nach hinten gebogen und bilden daher eine viel kürzere 
Spitze als bei den meisten anderen Arten dieser Gattung. Auf dem Seitenrande erkennt 
man die Streifung, wie Portlok sie abbildet. Sie tritt hervor, wenn die oberste Schalen- 
schicht, wie bei unseren Exemplaren, fehlt. Die Glabella ist an der Basis von der Breite des 
ersten Thoraxringes, während sie an der Figur von Martin hinten ganz schmal und daher 
keulenförmig gezeichnet ist, wie bei den Arten, welche Portlok als Griffithides beschrieben 
hat. Die Gesichtsnäthe verlaufen von den Augen ziemlich gerade nach hinten und theilen 
den hinteren Rand des Kopfschildes in drei Theile. Das Mittelstück ist von der Länge 
des ersten Thoraxringes. Die vorderen Gesichtnäthe verlaufen von den Augen ziemlich 


* 


140 M. v. GRÜNEWALDT, 


gerade bis an den Rand, scheinen sich aber auf dem breiten Rande selbst nach innen zu 
biegen, statt ihn gerade zu durchschneiden, wie auf Portloks sonst vollkommen überein- 
stimmender Zeichnung '). Von der vorderen Hälfte eines jeden Auges ziehen sich drei 
Glabellarfurchen nach innen. 

Mehrere Abdomen, welche wir in demselben Stücke Kalkstein fanden, welches die 
Köpfe enthielt, zeigen den glatten Rand des Schwanzschildes, wie de Koninck ihn abbil- 
det, sind aber zu unvollständig, um die Zahl der Ringe erkennen zu lassen. 

Wir wiederholen, dass uns bei dieser Bestimmung die Beschreibung sowie die Abbil- 
dungen vonPortlok maassgebend waren. Von Phillips Figuren finden wir die des Asaphus 
raniceps unserer Art entsprechender als die Original- Abbildung des Asaphus seminiferus. 
Die Synonymie von de Koninck führen wir mit Vorbehalt an, da wir, nach dem was wir 
gesehen haben, mit derselben nicht übereinstimmen können, andererseits aber voraussetzen 
müssen, dass diesem ausgezeichneten Palaeontologen ein viel umfangreicheres Material zu 
Gebote stand, als das ist, mit welchem wir in Berlin vergleichen konnten. М°-Соу ist 
von deKoninck’s Synonymie abgewichen, und Bronn hat in seinem Index Phillipsia Jonesit 
var. seminifera Portlok (non Phill.) sowie Asaphus granuliferus Phill. mit einem Fragezei- 
chen als Synonyme der Phill. Derbyensis angeführt. 


Phillipsia indeterminata. 
Tafel V, Fig. 10. 


Im Bergkalke von Saraninsk fanden wir das Abdomen eines Trilobiten, an dem noch 
5 Segmente des Thorax haften. Bei grosser Aehnlichkeit mit dem Abdomen der Phillipsia 
Derbyensis unterscheidet das Schwanzschild sich von jener Art, sowie von allen beschrie- 
benen Trilobiten des Bergkalkes durch die geringste Anzahl von Segmenten auf den Sei- 
tenlappen des Abdomens, welche unseres Wissens bisher bei Phillipsia beobachtet worden ist. 

Abdomen und Thorax sind gross, gewölbt und bestehen aus starken Gliedern. Der 
Umriss des Schwanzschildes ist halbkreisförmig. Er ist von einem glatten Rande umgeben, 
welcher an dem ersten Segmente des Thorax absetzt. Die Spindel des Schwanzschildes 
ist breiter als die Seitenlappen ohne den glatten Rand. Auf ihr zählt man 11 Segmente; 
das von den Auctoren angegebene Minimum der Gattung Phillipsia. Die Seitenlappen des 
Schwanzschildes bestehen jeder nur aus 6 —7 Gliedern, von denen das siebente nur rudimentär 
und kaum mehr kenntlich ist. Die einzelnen Glieder sind breiter als auf der Spindel und 
nur die beiden obersten an ihren Enden gespalten. Die geringe Anzahl dieser Glieder ist 
bemerkenswerth, da de Koninck 8 Glieder auf den Seitenlappen des Schwanzschildes als 
Minimum für die Gattung Phillipsia festsetzt. 


1) Auch auf unserer Abhildung ist dieser Charakter vernachlässigt. 


BEITRÄGE ZUR KENNTNISS DER SEDIMENTÂREN (GGEBIRGSFORMATIONEN ЕТС. 141 


Die Spindel des Thorax ist ebenso wie die des Abdomen stark gewölbt. Die Seiten- 
lappen sind an diesem Körpertheile in ihrer Mitte dadurch gekielt, dass die einzelnen Seg- 
mente sich in einem stumpfen Winkel nach oben krümmen. 

Ausser den angeführten Merkmalen scheint die Art, der diese Theile angehören, sich 
auch durch ihre Grösse von Phill. Derbyensis zu unterscheiden. Das Schwanzschild misst 
11 mm. in der Länge und ist 22 mm. breit. Von dem Abdomen der Phill. Brognaru, das 
ebenfalls einen glatten Rand hat, unterscheidet dieser Trilobit sich ausser der geringeren 
Anzahl der Segmente auf den Seitenlappen des Schwanzschildes auch dadurch, dass die 
einzelnen Glieder schmal und hoch sind und über die Oberfläche des Krebses hervortreten, 
während die Segmente von Phill. Brognarti platt und breit sind. 


Verzeichniss der beschriebenen Arten. 


Seite 
SILURFORMATION. 
Brachiopoda. 

Spirifer Uraloaltaieus. ......2. 10.22.0800 66 
» ‚indetermimasus 2... DEC 67 

Spirigeringa ASPÈTA. - ea... ой 68 
57" Alinensis AM Renee. er 68 

Pentamerus Vogulieus „a... m. 222 69 
» = Baschkirieus 1... Se ware: 69 

Teptaena Uralensiseen a. m ee 70 
>. indeterminatau еее. . 71 

Crustacea. 
LeperditiaBiensis.... une.» ra. 71 
DEVONISCHE FORMATION. 
Brachiopoda. 

Spiriter Glınkanus о. 72 
D Pachyeinchuss re 72 
а БЕТ о ee een 73 

Cyrtia-Murchisoniana 2... sr il seele: 74 

Athyris concentrica er. er ee NR NA 

Spirigerina. reticwWlarise urn... ce 76 
DE BASDERaN ее. - 77 
D. latilinguise ооо 7 
о’ = D'UDOIST. „em MEN ee 81 

Rhynchonella cuboides еее 2.0. 83 
В О У Иен 84 
>: indeterminata.........0. 0a 85 

Benfamerusgaleatus.r „rer. 86 

Orthis:striatula „eur ame. een 87 
о. ındeterminatar cu cree cesse ce 89 

Productus Murchisonianus .............. 90 

KOHLENFORMATION. 
Brachiopoda. 

Terebratula-saceulusmere een 92 

Spiriter Моно 93 
> ВЕ Зоо ke боров оо сс 94 
о О. a ee ee: 95 
D ,,duplie1costar er u Ja ee 96 
Dub ЧАСТО ent ee 97 
DM ВАТА se eue еее ele cle 98 
». © indeterminatus...u....u eme 99 
» . zindeterminatusue.r ее: 99 
оао ee 100 
pe 4 NÉS ee ee re 101 
D" -CONUIATIS nee ee 102 

Athyris’de ВоВ ее 103 
о, „Paradoxa neu... nr 105 


Seite 

Rhynchonella Verneuilana ............. 106 

ооо CRETE 106 

20. Pleurodon. ua za nee 107 

DL ACUMIDALA ее PR 107 

Camarophoria Schlotheimi ............. 107 

OrthistMichelinit. 2.2.2.2 m De 108 

Orthisina arachnoidea zul... nr 109 

Chonetes papilionacea есле 110 

Chonetes loDatan ан 111 

Productus”"striatus PRE ne en 112 

» “равен . ee 113 

>, (Cora... RCE RE EPA 114 

pi SUNAAEUS“. UE eu MENT RTE 116 

> MDOTTECIUS CE re there rn 117 

»  indeterminatus................. 118 

»  semireticulatus................. 119 

» "Plemingii Mer NN EEE 123 

dus: tesselatus A ACER 124 

> MMDUNCTAUUS ee cel mec RER 125 

>, indeterminatus.. ce ee 126 

»" ' Aculeatus еее 126 

D AR DOS CUT ALAS EE Meran Rn 127 
Acephala. 

Aviculopecten granosus...... 2... .u. еь 129 

» mactatus:....... ce. ee 129 

»  indeterminatus................. 130 

ооо. 130 

Avicula indeterminata.................. 130 

Edmondia Unioniformis ................ 131 

Amphidesmapristina. еее 131 

Cardiomorpha'suleatae ео. 131 

Cephalopoda. 

Orthoceratites ovalis........... eaensver.n 132 

» 32. аа niet 132 

Cyrtoceras novemangulatus ............. 133 

Gyroceras Uralicus.2% "6h te 133 

Nautilus quadtatusr u ее 134 

57 Те 135 

Goniatites diadema .................... 135 

» с Манама sm EE 136 

», - Barbotanuse er ee 136 

» ‚.‚cyelolobus= Lee een ee 137 

2. NNOSSAB.. ее Rien 137 

о А ее 138 
Crustacea. 

Phillipsia Derbyensis................... 139 

»  indeterminata... ve. een 140 


143 


Erklärung der Tafeln. 


Tafel И. 
1—4. Spirigerina latilinguis von Kadinskoy. Dor- 
salseite von Individuen verschiedener Grösse. 
5. Ventralschale ohne Sinus. 
6. Ventralschale mit fachem Sinus. 
7. Seitenansicht des Individuums in Fig. 2 u. 6. 
8. Wirbelansicht desselben. 
9. Stirnansicht desselben. 
. Individuum mit einem Fragment der Ober- 
schale. 
Ansicht der Leistenabdrücke im Innern einer 
zerbrochenen Ventralklappe. 
12.*) Angeschliffener Schnabel mit dem Durch- 
schnitt des Heftmuskelkanals. 
13. Erster Querschnitt eines bis an den Cardi- 
nalrand abgeschliffenen Individuums. 

a. Basis der Zähne der grossen Klappe. 

b. Basis der Schlossplatten der kleinen 
Klappe. 

14. Zweiter Querschnitt. 

a. Zähne. 

b. Schlossplatten. 

15. Dritter Querschnitt. 

b. Schlossplatten in ihrer Verlängerung zum 
Basalringe der spiralförmigen Lippen- 
fortsätze. 

c. Ringförmiges, kalkiges Band (welches der 
Spirigerina reticularis fehlt). 

16. Vierter Querschnitt. 

b. Ein tieferer Durchschnitt derzur Brachial- 
spire verlängerten Schlossplatten. 

c. Zeigt die Lage des Ringes gegen die 
Spiren. Die Verbindung der durchge- 
schliffenen Organe ist mit punktirten 
Linien so angedeutet, wie sie beim Wei- 
terschleifen aus dem Gesichtsfelde ver- 
schwunden sind. 


11. 


*) Fig. 12—17 sind Bleifederzeichnungen. 


17. Fünfter Querschnitt geht durch die Axen der 

Spiren. 

Tafel НИ. 

1. Spirigerina Duboisi. 

a. Individuum von Soulem mit erhaltener 

Oberschale, von der Ventralseite. 
b. Ein eben solches von Kadinskoy. 
c. Ind. von Kadinskoy von der Dorsalseite 
mit zum Theil erhaltener Oberschale. 

Individuen von Kadinskoy 
im gewöhnlichen Erhal- 
tungszustande, ohne Ober- 
schale. 
. Rhynchonella indeterminata von Kadinskoy. 
»  cuboïdes von Kadinskoy. 
»  formosa von Kadinskoy. 
. Spirifer Pachyrinchus von Soulem. 
. Orthis striatula von Soulem. 
. Orthis indeterminata von Kadinskoy. 
. Pentamerus galeatus von Kadinskoy 
. Productus Murchisonianus von Soulem. 


Tafel KEX. 


1. Productus semireticulatus von Saraninsk mit 
ungewöhnlich entwickelten Ohren (Productus 
Boliviensis). 

2. Stücke von Saraninsk, welche vielleicht der- 
selben Art angehören, mit unvollständig er- 
haltener Oberschale. 

. Productus pustulatus von Sterlitamak. 

. а. Prod. Flemingii var. lobatus von Saraninsk. 

. b. Prod. Flemingii von der Schartimka. 

. Prod. indeterminatus (margaritaceus Keys. 
non de Kon.) von Ilinsk. 

6. Chonetes lobata von der Tschussowaja bei Wo- 

legobowa. 

7. Athyris de Roissyi von Saraninsk. 


d. Dorsalseite 
e. Ventralseite 


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Tafel IV. 


. Spirifer erassus von Saraninsk. | 


2. Spirifer conularis. 


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. Spirifer fasciger von Saraninsk. 

. Sp. Mosquensis von der Schartimka (Kleinii ?) 
. Sp. duplicicosta von der Schartimka. 

. Sp. indeterminatus von der Lunja. 

. Sp. indeterminatus von der Schartimka. 

. Aviculopecten mactatus von der Schartimka. | 
. Aviculop. indeterminatus von der Schartimka. 
. Avicula indeterminata von der Schartimka. 
. Aviculopecten granosus von der Schartimka. 
. Phillipsia indeterminata von Saraninsk. 

. Leperditia Biensis von Alina (Bleifederzeichn.) 


a—d. ausgewachsenes Rev. von Artinsk vom 
Individuum Wege zwischen Pota- 
e—g. kleines Ind.  ‘schinsk und Schigiri. 
Spirifer Saranae von Saraninsk. 
c. vergrösserte Bleifederzeichnung eines 
Bruchstückes mit zum Theil erhaltener 
Oberschale. 


Tafel V. 


12. Phillipsia Derbyensis (seminifera) von der 


Schartimka (Bleifederzeichnung). 


Tafel VE 


. Loben des Goniatites Jossae. 


D. Dorsallinien. 
S. Suturen der oberen u. unteren Windung. 
V. Ventralseite. 


2. Orthoceratites calamus von der Schartimka. 
. Goniatites Artiensis von Werch-Artinsk. 


Orthoceratites ovalis von der Schartimka. 


. Gyroceras Uralicus von der Schartimka (Blei- 


federzeichnung). 

a. Eine halbe Windung mit der Wohn- 
kammer. 

b. Ein Fragment, welches Kammerwände 
mit dem rudimentären Dorsallobus zeigt. 

d. Fragment von der Nähe der Spitze. 

e. Spitze mit erhaltener Oberschale. 

c. Sipho. 


6. Cyrtoceratites novemangulatus (Bleifederzeich- 


nung). 


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