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Full text of "Moderne Probleme"

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Eduard von Hartmann 



Moderne Probleme. 



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Leipzig 

Verlag von Wilhelm Friedrich 

K. R. Hofbochhändler. 

1886. 




AUe Rechte vorbehalten. 






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Vorwort. 



Dass es mir bisher an Feinden gefehlt habe, wird 
niemand behaupten können. Die katholische Kirche 
hat mich in amtlichen Kundgebungen und in dicken 
Büchern als einen Erzketzer und Hauptfuhrer der wider 
Gott anstürmenden Rotte gebrandmarkt, die evan- 
gelischen Orthodoxen haben sich auch in dieser Frage 
an ihre Rockschösse gehängt, und der liberale Pro- 
testantismus wird mir die an ihm geübte Kritik*) 
niemals verzeihen. Die Konservativen verabscheuen 
mich als religiösen Revolutionär, die Liberalen als einen 
Gegner der parlamentarischen Regierungsform, als 
Militaristen, Monopolisten und Socialisten ; die Social- 
demokraten hassen in mir mit Recht den aristokratisch 
gesinnten Gegner alles demokratischen Nivellements, 
der speciell die socialdemokratischen Verirnmgen so 
scharf mitgenommen hat. **) Die mechanistisch und 
darwinistisch gesinnte Welt der Naturforscher hat sich 
von der zweiten Auflage meiner Schrift „Das Unbe- 



*) In den Kapiteln: „Die Unchristlichkeit des liberalen Protestantis- 
mus und „die Irreligiosität des lib. Prot," (Selbstzersetzung des Christen- 
thums Cap. VI und VII) und in der Schrift „Die Krisis des Christen- 
thums" Abschn. I2, II und IV. 

**) In der Satire: „Das Gefängniss der Zukunft" (Gesammelte Studien 
und Aufsätze A. X.) und in der Kritik des sozialeudämonistischen Prin- 
cips '(Phäomenologie des sittlichen Bewusstseins Abth, IT, B. I.) 



"V 



— VI — 

wusste vom Standpunkte der Physiologie und Descen- 
denztheorie" i. J. 1877 so schwer getroffen gefühlt, dass 
sie sich seitdem in grollendes Stillschweigen und Igno- 
riren gehüllt hat. Die Positivisten und Neukantianer, 
welche alle Metaphysik verwerfen und bekämpfen, sehen 
in dem Verfasser der Schrift über den „Neukantianismus 
u. s. w." einen der gefährlichsten Störer ihrer Cirkel; 
die vordarwinschen naturwissenschaftlichen Materialisten 
und die Nachfolger Feuerbachs hassen in mir, wie die 
Schriften von Stiebeling, J. C. Fischer, Carl Grün und 
die Wuthausbrüche Dührings beweisen, einen rück- 
ständigen Schwärmer und Obscuranten, und die Opti- 
misten aus allen Lagern reichen sich die Hände, um 
meinen Pessimismus, den sie nicht verstehen, als Volks- 
verderber und Jugendverführer zu verdammen. Die 
Hegelianer hatte ich schon durch meine erste Veröffent- 
lichung „Ueber die dialektische Methode** vor den Kopf 
gestossen, die Schopenhauerianer bereits durch die 
Kritik der Schopenhauerschen Moralprincipien (in der 
„Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins") verletzt 
und durch den Aufsatz „Mein Verhältniss zu Schopen- 
hauer" (in den „Philosophischen Fragen der Gegenwart" 
Nr. II) ganz in*s Lager meiner Gegner hinübergetrieben, 
und den Universitätsphilosophen gegenüber hatte ich 
meine ohnehin schon schwierige Stellung als unzünftiger 
Konkurrent noch durch verschiedene Aeusserungen 
über die Universitätsphilosophie *) verschlimmert. 

Unter diesen Umständen hätte ein ganz auf sich 
selbst angewiesener, auf keine Klique, kein literarisches 
Organ und kein Katheder gestützter Forscher leicht 
Bedenken tragen können, die Zahl der ihn umgebenden 
Feinde zu vermehren und deren Feindseligkeit zu ver- 



*) Gesammelte Studien und Aufsätze No. I; Philosophische Fragen 
der Gegenwart No. I. 



— :vn — 

schärfen. Wenn ich dies trotzdem in den letzten Jahren 
im weitesten Umfang gethan habe, so bitte ich darin 
keine übermüthige Laune oder muthwillige Händelsucht 
zu sehen ; was mich dazu antrieb, gegen so mancherlei 
moderne Irrthümer das Wort zu ergreifen, war ein 
inneres Bedürfhiss, die Stimme der besonnenen Kritik 
zur Geltung zu bringen, ein unerschütterliches Vertrauen 
in die siegreiche Kraft der schlichten ungeschminkten 
Wahrheit, und ein Gefühl der Verpflichtung, durch 
meine völlig unabhängige Stellung mehr als viele 
Andere zur Inangriffnahme so peinlicher und undank- 
barer Aufgaben berufen zu sein. 

Durch meine Schrift „Das Judenthum in Gegen- 
wart und Zukunft" habe ich mir nämlich nicht nur bei 
den Vertretern des Judenthums selbst, sondern auch 
bei den christlichen Philosemiten und nicht minder bei 
den Antisemiten viele neue Gegner gemacht, ebenso 
durch meine Schrift über den Spiritismus sowohl die 
spiritistischen Kreise gegen mich aufgebracht, als 
auch dem Widerwillen der Aufklärirngsrationalisten 
und Materialisten gegen mich neue Nahrung zuge- 
führt. Der Aufsatz „Was sollen wir essen?" hat bei 
den Vegetarianern eine förmliche Erbitterung gegen 
mich wachgerufen, welche sich bis zu der öffentlichen 
Drohung: „es mir nicht vergessen zu wollen", ver- 
stiegen hat. „Unsre Stellung zu den Thieren" hat eine 
ähnliche Wirkung auf die Antivivisektionisten und senti- 
mentalen Thierschützler ausgeübt. „Die Gleichstellung 
der Geschlechter" und „Die Lebensfrage der Familie" 
hat diejenigen Mitglieder des schönen Geschlechts, 
welche für die Emancipation ihrer Schwestern und für 
eine ausserfamiliäre Berufsstellung derselben kämpfen, 
gegen mich in Harnisch gebracht. „Der Rückgang 
des Deutschthums" hat den bei der grossdeutschen 
Idee stehen gebliebenen Theil der deutschen Liberalen 



— vm — 

gegen mich aufgeregt, die preussischen Polen mir zu 
unversöhnlichen Feinden gemacht, die Erbitterung des 
Ultramontanismus neu geschürt und vor allem bei den 
Deutschösterreichern einen Sturm der Entrüstung ent- 
fesselt, der wohl nicht ganz ohne Einfluss auf das ak- 
tive Aufraffen derselben aus dem doktrinär-liberalen 
Schlummer geblieben ist und hoffentlich auch ferner 
noch erspriessliche Folgen zeitigen wird. Die Aufsätze 
„Zur Reform des Universitätsunterrichts" und „Das 
Philosophie-Studium" dürften die Antipathien der Philo- 
sophieprofessoren gegen mich, wenn das überhaupt 
möglich war, noch verschärft haben, und „Die Ueber- 
bürdung der Schuljugend" muss auch diejenigen Päda- 
gogenkreise gegen mich verstimmen, welche nicht schon 
als Vertheidiger der Realschulen oder Realgymnasien 
durch meine frühere Schrift „Zur Reform des höheren 
Schulwesens" gegen mich eingenommen waren. 

Zum mindesten bürgt das durch zahllose Gegen- 
artikel, Vorträge, Zuschriften u. s. w. bekundete Auf- 
sehn, welches die Mehrzahl der nachstehenden Aufsätze 
schon bei ihrer vereinzelten Veröffentlichung in Zeit- 
schriften gemacht hat, dafür, dass dieselben auch in 
ihrer nunmehrigen Zusammenstellung einige Beachtung 
verdienen dürften-; denn erst in dieser ihrer Vereinigung 
lassen sie ihre innere Zusammengehörigkeit, sowohl 
unter einander, als auch mit den Schriften über das 
Judenthum und den Spiritismus erkennen. Die Ab- 
handlimg „Der SomnambuHsmus" bildet eine unmittel- 
bare Ergänzung zu der Schrift über den Spiritismus, 
indem beide sich gegenseitig erläuternde Arbeiten die 
sogenannte „Nachtseite der menschlichen Natur" er- 
örtern und entschieden gegen eine neuere, auf den 
Geheimbuddhismus gestützte mystische Richtung Front 
machen, welche dieses Gebiet eines krankhaften Nerven- 
und Seelenlebens zu einer dem normalen Zustand 



— IX — 

überlegenen höheren Stufe des Geisteslebens aufzu- 
bauschen versucht. Die Aufsätze gegen den Vege- 
tarianismus, den Antivivisektionismus, die Fraueneman- 
cipation und die egoistisch überspannte Missachtung 
der Familienpflichten gehören ebenfalls in eine engere 
Gruppe zusammen, welche der Schrift über das Juden- 
thum schon dadurch näher gerückt ist, dass in ihnen 
allen der abstrakte Idealismus und die falsche Senti- 
mentalität bekämpft wird. 

Bekanntlich hatte Richard Wagner in seinen letzten 
Lebensjahren neben andern Eigen thümlichkeiten auch 
diejenige, sich zum theoretischen Vertreter des Vege- 
tarianismus , Antivivisektionismus und Antisemitismus 
aufzuwerfen, und unter demjenigen Theil seiner Jünger 
und Anhänger, welcher darauf schwört, dass in dem 
Evangelium des Meisters auch seine Art sich zu räuspern 
und zu spucken einen untrennbaren Bestandtheil bilde, 
spielen auch Vertreterinnen der Frauenemancipation 
eine bedeutende Rolle. Hier findet also gleichsam ein 
Zusammenfluss der verschiedenen Ströme des abstrakten 
Idealismus statt, welche ich in der vorliegenden Schrift 
bekämpfe, und es scheint deshalb unvermeidlich, dass 
dieselbe bei diesem Kreise noch grösseren Anstoss er- 
weckt, als dies schon früher meine Nichtanerkennung 
der Schopenhauerschen Mitleidsmoral und Theorie der 
Musik und meine Kjritik sowohl des Urbuddhismus (im 
,, Religiösen Bewusstsein der Menschheit" B. I, 2) als 
auch des Geheimbuddhismus (in den „Philosophischen 
Fragen der Gegenwart" Nr. IX) gethan hat. 

Mögen diese Blätter trotz aller weiteren An- 
feindungen, die ihnen nicht erspart bleiben werden, 
einen Leserkreis finden, der geneigt ist, in dem wüsten 
Durcheinander fanatischer Parteistimmen auch der 
Stimme der parteilosen nüchternen Besonnenheit sein 
Ohr zu leihen, und mögen diejenigen, welche meine 



— X — 

Ansichten nur aus gegnerischen Entstellungen kennen, 
sich durch eignen Einblick überzeugen, dass sie nichts 
weiter enthalten, als was für jeden Unbefangenen selbst- 
verständlich und kaum des Aussprechens bedürftig 
scheinen sollte. Wenn aber philosophische Kritiker 
sich daran stossen sollten, dass ich mir die Mühe ge- 
geben habe, auch Selbstverständliches niederzuschreiben, 
so bitte ich sie zu erwägen, dass verkehrten Zeit- 
strömungen gegenüber auch das Aussprechen des 
Selbstverständlichen sein Recht hat, und dass es des 
Philosophen nicht unwürdig ist, auch der populären Be- 
handlung von Zeitfragen näher zu treten. 

Berlin-Lichterfelde, im Herbst 1885. 

Eduard von Hartmann. 




Inhalt. 



Seite 

T, "Was sollen wir essen? i 

II, Unsere Stellung zu den Thieren 21 

III. Die Gleichstellung der Geschlechter 36 

IV. Die Lebensfrage der Familie 50 

V. Der Rückgang des Deutschthums 85 

VI. Zur Reform des Universitätsunterrichts II4 

VII. Das Philosophie-Studium 134 

VITI. Die Ueberbürdung der Schuljugend 150 

IX. Die preussische Schulreform von 1882 162 

X. Der Bücher Noth 170 

XI. Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit 177 

XII. Der Somnambulismus 184 



I. 

Was sollen wir essen? 

In ärztlichen Kreisen hat im letzten Menschenalter 
ein hauptsächlich von England ausgegangener Umschwung 
der Ansichten über die Diät stattgefunden, der die 
Fleischkost in weit höherem Masse bevorzugt, als es 
früher üblich war. Im Gegensatz hierzu erklären die 
vegetarianischen Bestrebungen die reine Pflanzenkost 
für die allein naturgemässe, rationelle und humane Er- 
nährungsweise und machen mit der Kraft einer religi- 
ösen Ueberzeugung das künftige Heil der Menschheit 
von dem Verzicht auf alle Fleischkost abhängig. Die 
Frage scheint wichtig genug, um sie in reifliche Erwä- 
gung zu ziehen. 

Das für ein organisches Wesen Naturgemässe ist 
an zwei Merkmalen zu erkennen: an der Einrichtung 
seiner Organisation und an seinen Instinkten. Beide 
weisen übereinstimmend dem Menschen seine Stellung 
unter den Omnivoren (Allesfressern) an, zu denen bei- 
spielsweise auch die Schweine, Bären und Affen ge- 
hören. Magen und Darm des Menschen sind nicht wie 
diejenigen der Wiederkäuer für das Verdauen von Gras 
und Blättern eingerichtet, aber der Darm hat doch eine 
bedeutend grössere relative Länge als bei den auf reine 
Fleischkost angewiesenen katzenartigen Raubthieren. 

Hartmann, Moderne Probleme. I 



— 2 — 

Das menschliche Gebiss ist wie dasjenige aller Omni- 
voren aus Schneidezähnen, Reisszähnen und Mahlzähnen 
zusammengesetzt; die reinen Fleischzähne machen nur 
den achten Theil des Gesammtbestandes aus, was aller- 
dings *auf ein Uebergewicht vegetabilischer Kost hin- 
deutet. Die Instinkte des Menschen weisen ebenso wie 
die aller übrigen Omnivoren darauf hin, dass die Fleisch- 
nahrung in gewissem Sinne die werthvoUere für seinen 
Organismus ist; bei offen stehender Auswahl stürzen 
sich alle Omnivoren zunächst mit Gier auf das Fleisch. 
Hieraus könnte man schliessen, dass die Schneide- und 
Mahlzähne den Omnivoren von der Natur nur deshalb 
verliehen seien, um für den Fall des zeitweiligen Mangels 
an den schwerer zu erlangenden animalischen Nahrungs- 
mitteln doch keinen Hunger zu leiden, sondern auf vege- 
tabilische Nahrungsmittel zurückgreifen zu können. Aber 
so einfach liegt die Sache doch nicht. Denn wo der 
Instinkt nicht schon durch dauernde Gewöhnung de- 
naturirt ist, pflegt auf die erste Gier nach Fleisch bald 
eine Reaktion der Uebersättigung zu folgen, wo ein um 
so stärkeres Verlangen zur Rückkehr nach pflanzlichen 
Nahrungsmitteln hervortritt. 

Die Nahrungsinstinkte des Menschen zeigen ausser- 
dem thatsächlich bedeutende Abweichungen nach Klima, 
Alter, Geschlecht, Arbeitsleistung und Individualität. In 
tropischen Ländern, wo nur ein geringer Wärmeverlust 
zu decken und intensive Arbeit kaum möglich ist, wo 
also der Körper ohnehin nur eine geringe Menge von 
täglicher Nahrung zu verdauen braucht, reicht seine 
Verdauungskraft auch bei vegetablischer Ernährung mehr 
als aus, so dass Fleischkost selbst bei grösster quanti- 
tativer Massigkeit leicht zur Ueberemährung führt; in 
den Polargegenden dagegen ist ein so starker Ersatz 
durch Nahrung erforderlich, dass auch die beste Ver- 
dauung unfähig wäre, die nöthige Assimilation aus vege- 



1 



tabili scher Kost zu vollziehen. Der äquatorialen Ge- 
nügsamkeit entspricht demnach die instinktive Bevor- 
zugung von Nahrungsmitteln mit geringstem Nährwerth 
(Obst, Reis etc.), der polaren Gefrässigkeit das instink- 
tive Bedürfniss nach Nahrungsmitteln von höchstem 
Nährwerth bei leichtester Verdaulichkeit (Fleisch, Fett, 
Thran etc.). In den gemässigten Zonen wiederholen 
siqh diese Gegensätze in gemässigter Form: während 
der faulenzende Süditaliener und Südspanier nichts be- 
gehrt als eine Hand voll Datteln und Feigen nebst einer 
Zwiebel oder allenfalls Maccaroni, kann der englische 
Arbeiter oder der deutsche Sackträger nicht Fleisch 
und Speck genug bekommen. Im Durchschnitt tritt im 
gemässigten Klima der omnivore Instinkt des Menschen 
in ungetrübter Reinheit ans Licht, während er durch 
excessive Hitze oder Kälte nach der Seite der Pflanzen- 
nahrung oder Fleischnahrung hin abgelenkt wird. Dies 
lässt darauf schliessen, dass der Mensch einem gemäs- 
sigten Klima seinen Ursprung verdankt, weil nur in 
diesem sein Instinkt mit seiner Organisation im Ein- 
klang ist. 

Wie die klimatischen Abweichungen vom normalen 
Instinkt als zweckmässige Anpassungen erscheinen, so 
auch die durch Alter, Geschlecht, Individualität und Ar- 
beitsleistung bedingten Abweichungen. Die geschwächte 
Verdauungskraft des Alters verlangt nach einem stär- 
keren Grade von Fleischzusatz in der Nahrung, während 
der kindliche und jugendliche Appetit auf Obst und Ge- 
müse im Alter mehr und mehr schwindet. Das männ- 
liche Geschlecht hat im Durchschnitt stärkeren „Fleisch- 
hunger" als das weibliche, auch abgesehen davon, ob 
es durch ein grösseres Mass von Arbeit ein stärkeres 
Ersatzbedürfniss hat; es scheint vermittelst einseitiger 
Vererbung im männlichen Geschlecht die durch stärkere 
Arbeitsleistung geweckte Neigung zur Fleischkost sich 



I* 



durch lange Generationen hindurch summirt und befestigt 
zu haben. Wer aus Ständen, Familien oder Gegenden 
gebürtig ist, in denen ein beträchtlicher Fleischzusatz 
zur Nahrung Generationen hindurch üblich war, wird 
sich immer nur im Kampfe mit seiner instinktiven Nei- 
gung auf reine Pflanzenkost zurückziehen; wer hingegen 
sowohl für seine Person als auch durch seine Vorfahren 
auf Pflanzenkost eingerichtet ist, wird doch in reiferem 
Alter eine allmählich zunehmende Verstärkung des 
Fleischzusatzes bis zu einer gewissen Grenze hin immer 
mit Behagen empfinden. Diese Grenze ist allerdings 
individuell verschieden je nach der Verdauungskraft und 
den qualitativen Bedürfnissen des Organismus, und es 
ist nicht zu bestreiten, dass es ganz ausnahmsweise auch 
in gemässigten Klimaten Individuen, besonders solche 
weiblichen Geschlechts gibt, die eine ausgesprochene 
Idiosynkrasie gegen Fleischnahrung haben. Solche in- 
dividuellen Abweichungen des Nahrungsinstinkts können 
pathologisch, sie können aber auch physiologisch be- 
dingt sein, und selbst auf pathologischer Grundlage kön- 
nen sie ebensowohl zweckmässige Heilinstinkte, wie 
krankhaft perverse Instinkte sein. 

Nimmt man den Durchschnitt des menschlichen 
Nahrungsinstinktes in gemässigtem Klima zum Mass- 
stabe, so findet man ihn wesentlich mit der Organisa- 
tion seines Gebisses übereinstimmend, d. h. so, dass der 
grössere Gewichtstheil der täglichen Nahrung vegetabi- 
lischen , der kleinere animalischen Ursprungs sein muss, 
um ihm zu genügen. 

Ein Unterschied besteht allerdings zwischen beiden 
Massstäben , insofern der Instinkt mehr als den achten 
Theil Fleisch in der Kost verlangt, wie man es nach 
dem Gebiss erwarten sollte; diess dürfte sich daraus 
«erklären, dass das Gebiss, welches der Mensch von den 
Omnivoren Thieren überkam, auf den achten Theil rohen 



— 5 — 

Fleisches berechnet ist, der Mensch aber gebratenes 
und gekochtes Fleisch bequem auch mit den Mahlzähnen 
kauen kann. Dem Instinkt nach gemischter Nahrung 
entspricht der Instinkt nach Abwechselung zwischen 
Fleisch- und Pflanzenkost, wenn die wünschenswerthe 
Mischung beider nicht zu erlangen ist. 

Die naturgemässe Kost des Menschen ist also we- 
der die reine Fleisch-, noch die reine Pflanzenkost, son- 
dern die gemischte oder in den Mahlzeiten zwischen 
beiden wechselnde, allerdings mit Ueberge wicht der 
pflanzlichen Bestandtheile. Gegen diese Thatsache lehnt 
sich der Vegetarianismus vergebens auf, der ausserdem 
die berechtigte Verschiedenheit der Zusammensetzung 
je nach Klima, Alter, Geschlecht, Individualität und Ar- 
beitsleistung völlig verkennt. Auf den Instinkt des 
Menschen ist er deshalb als auf einen „kannibalischen", 
als auf ein ererbtes Ueberlebsel thierischer Roheit 
schlecht zu sprechen, und es ist der grösste Kummer 
der Vegetarianer, dass so wenige von denen, welche 
vegetarianischen Principien huldigen, im Stande sind, 
sich gegen die Rückfalligkeit in die vom Instinkt ge- 
forderte gemischte Kost zu wahren. Mag er darin vom 
humanen Standpunkt aus recht haben oder nicht, jeden- 
falls hat er das Recht damit verwirkt, sich für die 
„naturgemässe Lebensweise" zu proklamiren. Will er 
doch die Behauptung aufrecht erhalten, so muss er zu 
der Hilfshypothese greifen, dass der Instinkt des Men- 
schen ein widernatürlicher, degenerirter sei. Aber wo- 
durch soll er degenerirt sein? Und wie lässt sich diese 
Behauptung vereinigen mit der Thatsache, dass alle 
Thiere mit gemischtem Gebiss Omnivoren sind, und alle 
Omnivoren weit gieriger auf Fleischkost als auf Pflan- 
zenkost sind? Man sehe nur, wie ein Afl^e in Leiden« 
Schaft geräth, wenn er eine Taube im Zimmer bemerkt, 
während er die gebotenen Früchte zwar mit Behagen^ 



— 6 — 

aber ohne besondere Erregung hinnimmt. Wenn es 
Specien mit gemischtem Gebiss giebt, deren Xahrungs- 
instinkt die Pflanzenkost bevorzugt, so ist diess eine 
Discrepanz zwischen Organisation und Instinkt, welche 
nur auf einer nachträglichen Anpassung des animalen 
Typus an die Lebensverhältnisse entstanden sein kann. 
Diese Anpassung kann entweder auf einer Unzuträg- 
lichkeit des Klimas für Fleischkost, oder auf der Leich- 
tigkeit der Versorgung mit nahrhaften und schmack- 
haften Früchten für Kletterthiere, oder auf der Schwer- 
fälligkeit und Waffenlosigkeit des Arttypus, welche den 
Raub von Beutethieren erschwert, oder auf einer Ver- 
bindung dieser Umstände beruhen. Aber wenn auch 
<iie bis jetzt völlig unerwiesene Behauptung wahr wäre, 
dass gerade die menschenähnlichen Affen im .Naturzu- 
stande eine Degeneration des Instinktes nach dieser 
Richtung hin zeigen, so ist daraus doch nicht zu schlies- 
sen, dass es für den Menschen naturgemäss sei, eben- 
falls diesem degenerirten Affeninstinkt zu folgen, der 
thatsächlich nicht der seinige ist, und dessen Anpas- 
sungsmotive für ihn nicht mehr zutreffen. Denn der 
Mensch lebt zumeist in einem gemässigteren Klima, als 
die menschenähnlichen Affen, ist nicht so Kletterthier 
wie sie, schafft sich die ihm von der Natur versagten 
Waffen und macht das Fleisch durch Zubereitung leich- 
ter verdaulich. Da der Mensch nicht von den uns be- 
kannten menschenähnlichen Affen abstammt, braucht er 
auch nicht erst deren degenerirten Nahrungsinstinkt zu 
restituiren, sondern nur den naturgemässen seiner thieri- 
schen Vorfahren zu konserviren. 

Es entsteht die weitere Frage, ob die vegetabilische 
Ernährung rationeller sei, d. h. dem Menschen mehr 
Vortheile oder weniger Nachtheile biete als die anima- 
lische. Denn wenn es auch am nächsten liegt, die 
naturgemässe Lebensweise zugleich für die vernünftige 



~ 1 — 

zu halten, so ist doch durch den Glauben an die Zweck- 
mässigkeit der Natur im Allgemeinen die Möglichkeit 
nicht ausgeschlossen, dass etwas für den Naturzustand 
Passendes Jm Kulturzustand einschneidender Abände- 
rungen bedarf, um den höheren Zwecken des Kultur- 
lebens zu genügen. Deshalb kann die Untersuchung, 
ob etwas naturgemäss sei oder nicht, niemals das letzte 
Wort haben; denn der aus der Natur hervorwachsende 
bewusste Geist ist zwar selbst noch einerseits etwas 
Natürliches, anderseits etwas über die Natur Erhabenes, 
also etwas Natürliches von höherer Ordnungsstufe, wel- 
ches die Naturzweckmässigkeit fortsetzt und steigert, 
indem es das Naturgemässe niederer Ordnungsstufe nach 
seinen Bedürfnissen modelt. 

Die Vegetariciner behaupten, dass die Pflanzenkost 
den Menschen im Durchschnitt gesunder und wider- 
standsfähiger gegen Krankheiten mache als gemischte 
Kost; die Mehrzahl der Aerzte behauptet dagegen, dass 
eine Vermehrung der Fleischbestandtheile in der ge- 
mischten Kost den Menschen im Durchschnitt gesunder 
und widerstandsfähiger gegen Krankheiten mache. Ich 
meine, dass die naturgemässe Kost unter normalen Ver- 
hältnissen dem Menschen auch am besten bekommt, 
dass für einen geschwächten oder in schlechtem Ernäh- 
rungszustand befindliche Organismus eine womöglich 
nur vorübergehende Verstärkung des Fleischzusatzes 
vortheilhaft ist, und dass es irrationell ist, sich in ge- 
sunden Tagen mit zu starkem Fleischzusatz zu verwöh- 
nen, weil damit die Möglichkeit einer vortheilhaften 
Steigerung in Krankheitsfällen ausgeschlossen ist. Da- 
bei ist zuzugeben, dass durch die ärztliche Bevorzugung 
der Fleischkost nicht selten die Grenze der vortheilhaf- 
ten Mischung überschritten wird, die namentlich bei 
manchen jüngeren weiblichen Individuen ziemlich tief 
liegen kann, und dass in solchen Fällen die Betreffen- 



-. 8 — 

den den Uebergang zur reinen Pflanzenkost für zuträg- 
licher verspüren können als die übertriebene Fleisch- 
diät, weil erstere von ihrer natürlichen Mischungslinie 
weniger weit abliegen kann als letztere. Ferner ist zu 
berücksichtigen, dass in Folge der steigenden Wohl- 
habenheit der Kulturvölker in den letzten Menschen- 
altern in allen Gesellschaftsschichten die Nahrhaftigkeit 
der durchschnittlichen Verköstigung sehr gestiegen ist^ 
so dass bei der Anpassung des ererbten Appetits an 
eine schlechtere Kost eine gewisse Ueberernährung 
gegenwärtig sehr verbreitet ist; will man solche Ueber- 
ernährung mit ihren gesundheitsschädlichen Folgen be- 
seitigen, so ist das einfachste Mittel, bei den Mahlzeiten 
massiger zu sein, das demnächst einfachste, zu einer 
minder nahrhaften Kost zurückzukehren, so dass die ge- 
sundheitsdienlichen Folgen der vegetarianischen Kost 
bei überernährten Vielessern leicht erklärlich sind. 
Ausserdem können die vielfach behaupteten Vortheile 
einer vegetarianischen Lebensweise in naturgemässen 
Lebensvorschriften (Leben in frischer Luft, Vermeidung 
von Spirituosen und Pflanzenalkaloiden u. s. w.) gesucht 
werden, welche mit einer naturgemässen gemischten 
Kost ebenso gut zu vereinigen sind, wie mit reiner 
Pflanzenkost; insofern der Uebergang zu beiden zugleich 
gemacht wird, wird häufig der letzteren Ursache eine 
Wirkung zugeschrieben, die nur von der ersteren ab- 
hängt. Wo hingegen unter völligem Gleichbleiben der 
sonstigen Lebensgewohnheiten nicht etwa eine über- 
triebene Fleischkost, sondern eine individuell naturge- 
mässe, gemischte Kost mit reiner Pflanzenkost ver- 
tauscht wird, da wird der Regel nach eine Schwächung 
des Organismus durch Herabsetzung seines Ernährungs- 
zustandes die Folge sein, und nur ausnahmsweise wird 
dieses Ergebniss in unmerklich geringem Grade ein- 
treten, sei es, dass der Betreffende eine hinreichend gute 



— 9 — 

Verdauung hat, um erheblich mehr essen und trinken 
zu können als bisher, sei es, dass die Linie der richti- 
gen Mischung für ihn ohnehin schon sehr nahe an der 
reinen Pflanzenkost lag. 

Da diese Behauptungen nicht streng zu erweisen 
sind, ebensowenig wie diejenigen der Vegetarianer und 
der Schwärmer für möglichst reine Fleischkost, zwischen 
denen sie in der Mitte liegen, so können wir über die- 
sen Punkt hinweggehen; wir können es um so eher, 
als selbst die Vegetarianer sich meist damit begnügen, 
auf anderm Wege zu begründen, dass ihre Pflanzenkost 
die allein rationelle sei. Sie sagen nämlich, die Pflan- 
zenkost ist im Stande, dieselbe chemische Zusammen- 
setzung der Speisen zu liefern wie die Fleischkost, ist 
also nicht geringer an Nährwerth als diese; sie schützt 
aber vor den Gefahren, welche die Fleischkost mit sich 
führt, ist also in Summa besser als diese. 

Nun ist es zwar richtig, dass Pflanzenkost dieselbe 
chemische Zusammensetzung der Speisen liefern kann 
wie Fleischkost, aber es ist unrichtig, den Nährwerth 
der Speisen bloss nach ihrer chemischen Zusammen- 
setzung zu schätzen. Vielmehr ist derselbe ebensosehr 
durch den Verdaulichkeitsgrad der Speisen wie durch 
ihre chemische Zusammensetzung bedingt, und zwar 
nicht nur in dem Sinne, dass der Procentsatz der von 
den dargebotenen Nährstoffen assimilirten Nährstoffe 
entscheidet, sondern ausserdem noch mit Berücksichti- 
gung der bei der Verdauung gleicher Procentsätze ver- 
brauchten lebendigen Kraft. Der Vorzug der Fleisch- 
kost für den Organismus liegt darin, dass sie nicht nur 
einen grösseren Procentsatz der dargebotenen chemi- 
schen Stoffe assimiliren lässt, sondern auch dem Orga- 
nismus bei der Assimilirung gleicher procentualischer 
Mengen eine geringere Arbeitsleistung zumuthet. Der 
Nährwerth eines Stoffes ist proportional der bei normaler 



lO 



Verdauung assimilirbaren Quote desselben abzüglich 
desjenigen Theils derselben, welcher das Aequivalent der 
bei der Verdauung verbrauchten lebendigen Kraft dar- 
stellt, und vom Organismus vorweggenommen werden 
muss, um nur den Status quo vor der Verdauung wieder 
herzustellen, Lässt man zwei Gruppen von Sperlingen 
gleiche Zeiten hungern und bietet dann der einen Gruppe 
Kömerfutter, der anderen gehacktes rohes Fleisch, so 
erholt sich ein weit grösserer Procentsatz bei letzterer 
als bei ersterer Behandlung; d. h. die Leich Verdaulich- 
keit einer Speise fallt um so mehr ins Gewicht, je we- 
niger lebendige Kraft ein Organismus für die Verdau- 
ungsarbeit noch übrig und verfügbar hat. 

Nun haben alle einigermassen leichtverdaulichen 
pflanzlichen Nahrungsmittel einen im Vergleich zum 
Fleisch nur sehr geringen Nährwerth; dagegen gehören 
die einzigen PflanzenstofFe, deren chemische Zusammen- 
setzung mit derjenigen des Fleisches wetteifern kann, 
die Hülsenfrüchte, zu den am allerschwersten verdau- 
lichen Nahrungsmitteln. Deshalb fallt es auch den Vege- 
tarianern gar nicht ein, ihre Mahlzeiten durch hinreichen- 
den Zusatz von Hülsenfrüchten der chemischen Zusam- 
mensetzung einer Fleischmahlzeit anzunähern, weil schon 
der Instinkt sich gegen solche tägliche Belastung des 
Magens mit Hülsenfrüchten sträuben würde; vielmehr 
begnügen sie sich mit Mahlzeiten von viel geringerem 
theoretischen Nährwerth als Fleisch und benutzen das 
Vorhandensein der Hülsenfrüchte mehr nur als theore- 
tisches Argument. Aber auch diejenigen PflanzenstofFe^ 
welche einen erheblich geringeren theoretischen Nähr- 
werth haben als Fleisch, sind trotzdem für einen nor- 
malen menschlichen Organismus immer noch schwerer 
verdaulich als Fleisch. Hiernach ist jede auf die Dauer 
erträgliche Pflanzenkost sowohl um vieles ärmer an 
Nährstoffen als die Fleischkost, als auch schwerverdau- 



I 

J 



1 1 — 



lieber als diese, so dass die vegetarianische Behauptung 
dass beide im Nährwerth gleichsteben, den Tbatsachen 
in jeder Hinsicht widerspricht. 

Dass das Fleisch von kranken Thieren, besonders 
wenn es nicht gut gekocht oder gebraten ist, Krank- 
heiten im Gefolge haben kann, ist ebensowenig zu be- 
streiten, wie dass man durch den Genuss von unge- 
kochten PflanzenstoiFen (Salaten etc.) krank werden 
kann; den Finnen und Trichinen stehen die Eier des 
Hundebandwurms gegenüber, die im Menschen zum 
verderblichen Echinococcus auswachsen. Rohe Pflanzen- 
theile und rohes Fleisch sind beide gefahrlich, gekocht 
beide ungefährlich, besonders da wo gute Gesundheits- 
polizei gehandhabt und für den Verlust an erkranktem 
oder unbrauchbarem Schlachtvieh Entschädigung ge- 
leistet wird. Völlig haltlos ist die vegetarianische Be- 
hauptung, dass auch sogencuintes gesundes Fleisch, weil 
es sich beim Genuss in dem mit der Leichenstarre be- 
ginnenden Stadium der Fäulniss befinde, ein schädliches 
Reizmittel sei, welches besonders auf die Nerven und 
die Herzthätigkeit verderblich einwirke. Will man jede 
rückschreitende Metamorphose Fäulniss nennen, so ist 
auch die Verdauung ein Fäulnissprocess, und befinden 
sich dicke Milch, Butter, Käse, alle gegohrenen Getränke ■ 
und alles Hefegebäck oder Honiggebäck ganz ebenso 
und in noch höherem Grade im Zustande der Fäulniss 
wie gesundes Fleisch, das bekanntlich einige Tage nach 
dem Schlachten viel gesünder und leichter verdaulich 
ist als unmittelbar nach demselben, und zwar deshalb, 
weil die rückschreitende Metamorphose vqr dem Genuss 
dem Verdauungsprocess einen Theil seiner Arbeit er- 
spart. Dass ein massiger Genuss gesunden Fleisches 
für Nerven und Herzthätigkeit „verderblich" sei, ist 
geradezu aberwitzig, und nicht minder grundlos ist die 
Behauptung, dass erst der Fleischgenuss zum Missbrauch 



12 



von Gewürzen und Spirituosen verleite ; denn der ^liss- 
brauch von Gewürzen ist am grossten bei Gemüsen, 
Mehlspeisen und Gebäck, nicht bei reinen Fleischspeisen, 
den meisten Branntwein konsumiren die kartoffelessen- 
den Irländer und die kohlessenden Polen und Russen, 
und die Naturvölker stürzen mit gleicher Gier auf das 
importirte Feuerwasser, mögen sie an Pflanzenkost oder 
gemischte Kost gewöhnt sein. Wenn die Vegetarianer 
sich darauf beschränken wollten, den Genuss rohen 
Fleisches als gesundheitsgefährlich zu bekämpfen und 
auf Verbesserung der das Schlachtvieh betreffenden 
Gesetze und Einrichtungen hinzuwirken, so wären sie 
ebenso sehr im Recht, wie sie jetzt über das Ziel 
hinausschiessen, wenn sie allen Fleischgenuss als ge- 
sundheitsgefahrlich bekämpfen. Selbst bei dem früheren 
Fehlen aller Vorsichtsmassregeln war doch der Procent- 
satz der Geschädigten so imerheblich, dass er gar nicht 
in Betracht kommen konnte gegen den Nachtheil, wel- 
chen die gänzliche Enthaltimg vom Fleischgenuss der 
Leistungsfähigkeit des Volkes zugefügt haben würde. 
Es muss demnach der Versuch des Beweises, dass die 
Pflanzenkost bei gleichem Nährwerth geringere Nach- 
theile als die Fleischkost im Gefolge habe und darum 
vorzuziehen sei, in beiden Theilen als missglückt gelten. 
Aber wenn die Pflanzenkost nicht rationell heissen 
kann in Bezug auf den einzelnen, der sie geniesst, so 
könnte sie darum doch rationell sein in Bezug auf die 
Völker, welche sie annehmen, und dies in solchem 
Masse, dass selbst die Nachtheile, die sie für den ein- 
zelnen hat, dagegen zurücktreten müssen. In der That 
behaupten die Vegetarianer, dass allgemeiner Uebergang 
zur Pflanzenkost den Speiseluxus beseitigen und da- 
durch einen Hauptgrund zur neidischen Unzufriedenheit 
der ärmeren Klassen aus der Welt schaffen würde. 
Nun ist zuzugeben, dass nichts so sehr den Neid der 



I 



n 



Armen erregt, als die Fleischtöpfe der Wohlhabenderen, 
die ihnen unerschwinglich sind, d. h. dass die sociale 
Frage noch weit mehr Fleischfrage als Brodfrage ist; 
allein dies spricht gerade gegen den Vegetarianismus, 
und beweist, dass derselbe die letzten Triebfedern des 
Völkerlebens verkennt. Die Sehnsucht nach den Fleisch- 
töpfen wird in den Massen niemals erlöschen, auch wenn 
alle gebildeten Stände behufs Lösung der socialen Frage 
zu Vegetarianern würden, und eben darum ist die so- 
ciale Frage, insofern sie „Fleischfrage" ist, auf diesem 
Wege nicht zu lösen. Anderseits würde schon heute 
jeder Deutsche täglich Fleisch essen können, also aus 
diesem Grunde die Reichen nicht mehr zu beneiden 
brauchen, wenn er es nicht vorzöge, das dazu für ihn 
und seine Familie mehr als ausreichende Geld für sich 
allein auf Schnaps, Bier und Cigarren zu verwenden. 
Wenn der Vegetarianismus seine Agitation gegen diese 
gesundheitsschädlichen und socialgef ährlichen Genuss- 
mittel richten wollte, so wäre mit einem Erfolg auf 
diesem Felde die sociale Frage, soweit sie „Fleisch- 
frage" ist, von selbst mitgelöst. Uebrigens ist es ein 
Irrthum, dass der Speiseluxus bloss an Fleischspeisen 
gebunden ist; er kann sich in der vegetarianischen 
Küche ebensogut entfalten, und würde sich ohne Zweifel 
in derselben zu gleichen Uebertreibungen verirren, so- 
bald es nur erst eine grössere Anzahl sehr reicher 
Vegetarianer gäbe. 

Eine andere Frage ist die, wie sich die Ernährung 
der Menschheit in einer Zukunft gestalten wird, in 
welcher alle Erdtheile so dicht bevölkert sein werden 
wie jetzt Europa. Diese Fragen haben nicht wir zu 
lösen, die wir heute ebensowenig im Stande wären, 
ohne Getreideeinfuhr zu leben als ohne Vieheinfuhr. 
Sollte einmal alles Schlachtvieh von der Erde ver- 
schwinden und jede Wiese zum Acker werden, von 



— 14 — 

dessen Früchten sich die Menschen unmittelbar ernähren 
. müssen, dann wird die Menschheit jener fernen Zukunft 
sicherlich einen Charakter energieloser Mittelmässigkeit 
zeigen, ebens^ wie es heute die vorwiegend vegetaria- 
nischen Völker thun. Denn es scheint, dass die Pflanzen- 
kost zahmer, sanfter, geduldiger, indolenter, unfähiger 
zu hervorragenden körperlichen und geistigen Leistungen, 
unfähiger zur Initiative, zu energischen Ent Schliessungen, 
kurz passiver, willenloser, quietistischer und geistloser 
macht, und dass es nur die passiven Tugenden und 
das vegetative Traumleben (Somnabulismus u. dergl.) 
sind, welche durch dieselben begünstigt werden. Für 
die vegetativen und reproduktiven Aufgaben des Lebens, 
wie sie bei Landleuten und beim weiblichen Geschlecht 
überwiegen, mag Pflanzenkost ausreichen, nicht aber 
für die gesteigerten Anforderungen an gesteigerte Pro- 
duktivität, wie das moderne Kulturleben der Städte, 
insbesondere der Grossstädte, sie an die arbeitenden 
Männer stellt. Mit dem Fleischgenuss seiner kultur- 
tragenden Minderheit hört ein Volk auf, eine aktive 
Rolle in der Geschichte zu spielen und verzichtet auf 
die thätige Mitarbeit am Kulturprocess , welche einen 
durch blosse Pflanzenkost nicht zu erzielenden Ueber- 
schuss an geistiger Energie über die Bedürfnisse des 
vegetativen Lebens hinaus erfordert. Nur solche reli- 
giöse und philosophische "Weltanschauungen können 
ohne Widerspruch mit sich selbst den Vegetarianismus 
als wesentlichen Bestandtheil in sich aufnehmen, welche 
keine Entwickelung , keinen Fortschritt, keinen realen 
Weltprocess, kurz keine aktiven sittlichen Kulturauf- 
gaben der Menschheit anerkennen, sondern in einem 
entwickelungslosen Traumidealismus und dem davon un- 
abtrennbaren passiven Quietismus befangen sind. 

Die reine Pflanzenkost ist nach alledem ebenso- 
wenig rationell wie naturgemäss ; sie ist vielmehr eben- 



V „ - 

so kulturwidrig wie naturwidrig. Es bleibt nur noch 
die letzte Begründung des Vegetarianismus durch Huma- 
nitätsrücksichten zu erörtern. Nun kann es aber keine 
angebliche Humanitätsrücksicht geben, welche im Stande 
wäre, etwas zu rechtfertigen, das zugleich naturwidrig 
und kulturfeindlich ist; wäre wirklich jede Abweichung 
von reiner Pflanzenkost so inhuman, wie die Vegetari- 
aner behaupten, so müsste man diese Inhumanität ruhig 
mit in den Kauf nehmen, um nicht gegen die sittliche 
Pflicht der Menschheit zur Erfüllung ihrer Kulturaufgabe 
zu Verstössen, und könnte die Verantwortung für solche 
Inhumanität getrost der Vorsehung anheimgeben, welche 
unsere Natur so eingerichtet hätte, dass wir nur auf 
inhumanem Wege unsere Mission erfüllen könnten. In 
der That tritt aber bei dem. Streit um die Humanität 
eine Verschiebung der Frage ein, welche von den Vege- 
tarianern in der Regel geflissentlich verdunkelt wird. 
Die Behauptung, dass es inhuman sei, Milch, Butter, 
Käse und Eier zu geniessen, würde in den heutigen 
Ansichten unseres Volkes kein Verständniss finden; 
deshalb beschränken sich die Vegetarianer auf die Be- 
hauptung, dass das Tödten von Thieren zum Zweck 
des Fleischgenusses inhuman sei. Die Humanitätsrück- 
sicht dient also nur zur Begründung jenes Vegetarianis- 
mus der laxeren Observanz, welcher nicht die Nahrungs- 
mittel animalischer Herkunft, sondern nur den Fleisch- 
genuss als solchen bekämpft. 

Nun ist es zweifellos, dass man mit einer richtigen 
Mischung aus Pflanzenkost und Milch, Butter, Käse 
und Eiern vortrefflich bestehen und allen Anforderungen 
des Lebens genügen kann; eine solche Kost ist aber 
eben keine Pflanzenkost, sondern eine gemischte Kost, 
also eine zwar naturgemässe und rationelle, aber eben 
nicht vegetarianische Diät. Wäre die Behauptung der 
Vegetarianer, dass reine Pflanzenkost die allein natur- 



— i6 — 

gemässe und rationelle Diät ist, richtig, so müsste die 
gemischte Kost, gleichviel ob ihre animalischen Bestand- 
theile von lebenden oder todten Thieren stammen, 
naturwidrig und irrationell sein; ist sie das aber nicht, 
so ist eben damit jene Behauptung des Vegetarianismus 
preisgegeben. "Wenn die Fleischkost nur insoweit ver- 
werflich ist, als sie das Todten lebender Geschöpfe zum 
Verspeisen herbeiführt, nicht aber sofern sie die Pro- 
dukte lebender Thiere umfasst, dann ist damit zuge- 
standen, dass nicht die animalische oder vegetabilische 
Herkunft der Nahrungsmittel als solche, sondern die 
näheren Umstände ihrer Erlangung, nicht die Ange- 
messenheit an unsere Organisation und Lebenszwecke, 
sondern Rücksichten, die auf einem ganz anderen Ge- 
biet liegen, für die Entscheidung massgebend sind. Da 
die Bedenken gegen das Fleisch als gelegentlichen 
Krankheitsträger schon oben erledigt sind, so müssten 
diese Vegetarianer der laxeren Observanz zugeben, 
dass die Erweiterung ihrer Tafelgenüsse durch Braten 
und Fisch ihnen sehr erwünscht sein müsste, wenn nur 
ein Engel ihnen diese Speisen vom Himmel brächte 
mit der Versicherung, dass sie nicht von getödteten 
Thieren entnommen, sondern durch ein Wunder ge- 
schaffen seien. Dies ist also ein principiell anderer 
Standpunkt, und es ist inconsequent, beide miteinander 
verknüpfen zu wollen; die Vertreter dieses Standpunkts 
sollten ihn als Antikannibalismus streng vom Vegetaria- 
nismus unterscheiden. 

Das Humanitätsargument stellt nämlich das Ver- 
zehren von getödteten Thieren dem Verzehren von ge- 
tödteten Menschen, d. h. dem Kannibalismus, gleich, in- 
sofern auch die Thiere als unsere Brüder im Reiche des 
Lebens zu betrachten seien. Dieses Argument beweist 
schon darum nichts, weil es zu viel beweist. Es ist eine 
oberflächliche und unwissenschaftliche Volksmeinung, 



— 17 — 

dass ein Eidotter eine homogene Flüssigkeit und nicht 
ebensogut ein lebendes und empfindendes Individuum 
wie etwa ein Spanferkel sei; es ist ein Vorurtheil, dass 
nur die Thiere unsere Brüder im Reiche des Lebens 
und der Empfindung seien, die Pflanzen aber nicht. Es 
ist reine Willkür, die Grenzlinie, jenseits deren wir das 
Lebendige zum Verzehren tödten dürfen, zwischen Thier 
und Pflanzenreich zu ziehen; ein anderer könnte mit 
gleichem Recht oder Unrecht diese Grenze zwischen 
Wirbelthieren und Wirbellosen, ein dritter zwischen 
Warmblütern und Kaltblütern, ein vierter zwischen den 
Affen und den übrigen Säugetieren, ein fünfter zwischen 
den anthropoiden und den übrigen Affen ziehen. Dies 
alles ist grundlose Willkür der subjektiven Meinung 
und aus wissenschaftlichem Gesichtspunkt gleich unhalt- 
bar; aus letzterem giebt es nur zwei in sich conse- 
quente Standpunkte, zwischen denen man zu wählen hat. 
Entweder nämlich muss man die Grenze zwischen 
der organischen und anorganischen, der lebendigen und 
leblosen Natur ziehen, oder aber zwischen der Species, 
zu welcher wir gehören, und allen übrigen Specien. Im 
ersteren Falle verzichtet man auf allen organisirten, d. h. 
lebendigen und lebensfähigen Nährstoffe (wozu alle 
Blätter, Keime und Samen gehören) und auf alle orga- 
nischen fJährstoffe, die nur durch Tödtung von leben- 
den Pflanzen oder Pflanzentheilen zu erlangen sind, und 
beschränkt sich auf solche organische Nährstoffe, welche 
nicht mehr lebensfähige natürliche Sekrete von Pflanzen 
oder Reste von schon abgestorbenen Pflanzen sind, 
oder auf noch zu erfindende künstliche Nährstoffe, die 
von der synthetischen Chemie aus unorganischen Stoffen 
im Laboratorium zu bereiten sind. Im letzteren Falle 
dagegen beschränkt man den Kannibalismus, wie die 
Natur selbst es im ganzen Thi erreich thut, auf die In- 
dividuen der eigenen Species; denn jedes Thier frisst 

Hartmann Moderne Probleme. 2 



— i8 — 

ungescheut Thiere anderer Art, scheut aber mit seltenen 
(teleologisch besonders zu begründenden) Ausnahmen 
vor dem Verzehren von seinesgleichen zurück. Im 
ersteren Falle verabscheut man das Verzehren von zer- 
stückelten Leichen als Kannibalismus, gleichviel ob die 
getödteten Brüder aus dem Reiche des Lebens Thiere, 
Pilze oder Pflanzen sind, und respektirt die Heiligkeit 
und Unantastbarkeit des Lebens in jeder Gestalt; im 
letzteren Falle erkennt man die grossen Gradver- 
schiedenheiten der Verwandtschaft mit anderen Lebe- 
wesen an und zieht die Ghrenze für den Kannibalismus 
da, wo die Natur sie uns durch den eigenen Instinkt 
und die Analogien des gesammten Thierreichs vorge- 
zeichnet hat. Die Wahl in dieser Alternative scheint 
mir nicht schwer; will man seine Kost nicht auf ver- 
modertes Laub und abgestorbene Pilze beschränken, so 
muss man sich nothgedrungen für die andere Seite der 
Alternative entscheiden, verliert dann aber auch das 
Recht, von der Inhumanität des Fleischgenusses zu reden. 
Dass die Jagd ein inhumanes Handwerk ist, kann 
gar nicht bestritten werden; denn ihre Art, zu tödten, 
ist bei Treibjagden grausam, immer unsicher und oft 
qualvoll für verwundetes und entkommenes Wild. Die 
Jagd ist aber in den Kulturländern ohnehin auf den 
Aussterbeetat gesetzt, imd auch bei uns, wo der Grund- 
adel sie noch künstlich als Ueberlebsel aus roheren 
Zeiten kultivirt, ist doch der Procentsatz des gejagten 
Wildes ein sehr kleiner imter allem getödteten Vieh. 
Dass auch das Schlächterhandwerk noch nicht auf der 
Höhe unserer heutigen Humanitätsanforderungen steht 
und in dieser Richtung verbesserungsbedürftig ist, kann 
man ebenso zugeben und nur wünschen, dass der Vege- 
tarianismus an diesen beiden Punkten die berechtigten 
Thierschutzbestrebungen unterstütze. Der Einwurf, daSB« 
das Schlächterhandwerk verroht, fallt weg, wenn 



und eventuell das Ei„„ ■^''""•^■"».l.n,, ^„„,., , 

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verachteten und ,.a„ ,,,^^.„ ' "-- |."n „„ ,.,„,,„, 
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md für alIen-.-r.>.-:-,nKäiber Asvle !'^"'^'"'"»a"en 
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Pflanzenkos. £:,-.-c::sen. so würde ™*™ "" ™'"- 
jfezöchtet wertion: n.u-h der Üblichen ■ ■ ^ "''' ^' '■" 
rassung muss es aber ein p(.siti"\er .-■'^^''""'^^'^^'ii^r. 
bilance der Weh sein. du., der MenlT"" '"'''- 
Kampf ums Dasein 'i'hieren das J ^u' '"' ^-■-''"- .j 

bis zu ihrem schnellen sfhinerj(|„s].n "^J^ f^'--':- z ^^ 

freuen können und .eJKst ^-o,„ p,,^; -;;; ^ :,ht 

Punkt aus wuni* "la» «nert .M^„,,,,^, _ '■"-■ ^ ^^^^ 

"' "" t'iiche 

M.Vor- 
' i-'ii Sinne 



— 20 

« 

dern schlechterdings tödten muss, so ist nicht abzusehen, 
warum man deren Fleisch fortwerfen soll, statt es zu 
verzehren. Solange man ferner noch Wollschafe hält, 
gilt das nämliche für den zu reichlichen Nachwuchs der 
Schafherden. Damit ist aber ein Zustand als human 
und vernünftig anerkannt, der ganz mit dem heute be- 
stehenden zusammenfallt, und das Princip des Mitleids 
hat damit jedes auch nur scheinbare Recht zum Mit- 
sprechen in der Ernährungsfrage eingebüsst. 

Der Versuch, die Inhumanität des Fleischgenusses 
mit objektiven Gründen nachzuweisen, ist hiemach als 
gescheitert zu betrachten und es bleibt dem Vegetaria- 
nismus nur die letzte Zuflucht offen, sich auf das Gefühl 
zu berufen. Wenn jemand erklärt, es sei gegen sein 
Gefühl, das Fleisch von einem Thier zu essen, nicht 
nur von einem solchen, das er lebend geliebt oder doch 
lebend gekannt oder gar selbst getödtet hat, sondern 
auch von einem solchen, das er nicht gekannt hat und 
das von einem anderen getödtet ist, so ist darüber nicht 
z\i streiten, und man kann jedem seine Gefühle und die 
Berücksichtigung derselben gönnen, solange er dadurch 
anderen nicht unbequem, also namentlich gegen anders 
Fühlende nicht intolerant und aggressiv wird. Niemand 
wird einem Tischnachbam Braten aufdrängen, wenn der- 
selbe ei-klärt, der Fleischgenuss widerstrebe seinem Ge- 
fühl; wenn mir aber mein vegetarianischer Nachbar 
vorwirft, mein Fleischessen sei inhumaner, barbarischer 
Kannibalismus, so weise ich ihn mit der Entgegmmg 
zurück, sein vegetarianisches Gefühl sei eine ver- 
schrobene, zimperliche Sentimentalität ohne objektive 
Begründung. 



21 



n. 

Unsere Stellung zu den Thieren. 

Die Thiere sind mit uns gleichen Geschlechts, wenn 
auch nicht gleicher Art, unsere Vettern älterer Linie, 
gleichviel ob man in diesem Ausdruck nur ein Bild oder 
die treiFende Bezeichnung einer wirklichen genealogi- 
schen Verwandtschaft sehen will. Sie sind nach glei- 
chem Grundtypus gebaut,, imd ihr natürliches Leben ver- 
läuft in den gleichen natürlichen Verrichtimgen wie das 
unsrige; aber auch ihr Seelenleben zeigt dieselben Grund- 
funktionen (Vorstellung und Wille nebst Gefiihl), den- 
selben Widerstreit zwischen Selbstsucht und socialen 
Instinkten, und dieselbe geistige Grrundanlange für Ge- 
berden- und Wortsprache, wie die relative Verständ- 
nissfähigkeit aller höheren Thiere für die menschliche 
Wortsprache und die Fähigkeit einiger zur Nachahmung 
keineswegs unverstandener Worte beweist. Der Unter- 
schied zwischen Thier und Mensch ist nur ein solcher 
des Grades; er wird nur dadurch scheinbar zu einem 
Unterschiede der Art, dass alle Säugethiere ausser dem 
Menschen stumm sind und darum in ihrem geistigen 
Leben auch nur mit stummen Menschen verglichen wer- 
den dürfen. Ein Stummer, der nicht künstlich und müh- 
sam zum Verständniss imd Gebrauch der Schriftsprache 
erzogen ist, findet sich ebenso wie das Thier auf im- 
artikulirte Laute und Geberden beschränkt; sein Denken 
ist allemal anschaulicher als dasjenige Redender von 
sonst gleicher Bildungsstufe, aber es entbehrt doch nicht 
der BegriiFe, wenn es sie auch nicht mit Worten be- 
zeichnen kann, und vollzieht ebensogut eine logische 
Verknüpfung der (anschaulichen und begrifflichen) Vor- 
stellungen wie dasjenige Redender. In demselben Sinne 
können wir auch dem anschaulichen Vorstellungsleben 



V 



— 22 ^- 

der Thiere weder Begriffe nach logische Verknüpfung 
der Vorstellungen, d. h. eigentliches Denken, absprechen, 
so dass man hier vergeblich eine scharfe Grenzlinie 
zwischen Mensch und Thier sucht. Nur weil die Men- 
schen allmählich eine Wortsprache ausgebildet und den 
so entwickelten Wortsprachsinn auf ihre Nachkommen 
vererbt haben, sind stumme Menschen soviel bildungs- 
fähiger als Thiere, denen sie sonst auch der Art nach 
gleich stehen würden, wogegen der blödsinnige Mensch 
tief unter dem normalen Thiere steht. 

Dass wir zu den Thieren in moralischen Beziehungen 
stehen, ist hiemach zweifellos ; die sittliche Verpflichtung, 
Niemanden zu verletzen, vielmehr jedem nach Kräften 
zu helfen, bezieht sich auf alle empfindenden Lebewesen 
ohne Ausnahme, gleichviel ob man dieselben als Mit- 
geschopfe desselben Herrgotts, als Kinder desselben 
Vaters im Himmel, als natürliche Vettern älterer Linie, 
oder als objektive Erscheinungen desselben Einen Welt- 
wesens betrachtet. Die moralischen Beziehungen des 
Menschen zu den Thieren bestehen auch unabhängig 
davon, ob das einzelne Thier seinerseits zu einer mehr 
oder minder vollkommenen oder unvollkommenen Auf- 
fassung dieser Beziehungen im Stande ist, und ob es 
fähig und gewillt ist, die Rücksichtnahme und Hilfsbe- 
reitschaft des Menschen zu erwidern; das wäre eine 
traurige Sorte von Moralität, die von der Gegenseitig- 
keit der Leistungen abhängig gemacht würde, und nur 
da gäbe, wo sie auf Entgelt oder Lohn von der andern 
Seite hoffen dürfte. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, 
dass die moralischen Beziehungen befestigt und mit rei- 
cherem Inhalt erfüllt werden, wo beide Theile zu ein- 
ander in ein gemüthliches Verhältniss oder in ein still- 
schweigendes Vertragsverhältniss gegenseitiger Lei- 
stungen eintreten; denn in solchem Falle würde das 
einfache Unrecht einer Verletzung durch Verwickelung 



— 27, — 

mit Untreue, Undank, Unbilligkeit u. s. w. erschwert. 
Diese Erschwerung tritt auch dann ein, wenn die Thiere 
kein Bewusstsein davon haben, dass sie dem Menschen 
durch ihren erzwungenen Gehorsam Dienste leisten; es 
genügt, dass der Mensch die Dienste der Thiere an- 
nimmt, beziehungsweise erzwingt, um ihn zu den ent- 
sprechenden billigen Gegenleistungen moralisch zu ver- 
pflichten. 

Das Thier ist somit moralisches Rechtssubjekt, d. h. 
das Subjekt derjenigen moralischen Forderungs-Rechte, 
welche den moralischen Pflichten des Menschen ihm 
gegenüber korrespondiren, imd deren Verletzung für den 
Menschen ein moralisches Unrecht ist; dagegen kann 
der Mensch an das Thier keine höheren moralischen 
Ansprüche stellen, als insoweit dessen Fassungsvermögen 
ihm das Verständniss seiner moralischen Beziehungen 
-zurii Menschen gestattet, hat aber dafür das moralische 
Befugniss-Recht, das Thier zwangsweise zu den ihm 
dienlichen Leistungen zu verwenden. 

Alle bisherigen Rechtssysteme lassen als juridische 
Rechtssubjekte nur menschliche Individuen oder Statuten- 
massig festgestellte menschliche Zwecke (moralische 
Personen) zu. Es ist kein begrifflicher Grund abzusehen, 
warum ein Rechtssystem nicht auch Thiere als juridi- 
sche Rechtssubjekte zulassen sollte, da doch blödsinnige 
Menschen als solche gelten. Es ist aber ein Missver- 
ständniss des Unterschiedes zwischen moralischen und 
juridischen Rechten und Pflichten, zu behaupten, dass 
von Rechtswegen (d, h. aus dem Gesichtspunkt eines 
eingebildeten und seinem eigenen Begriff widerspre- 
chenden Naturrechts oder Vemunftrechts) eigentlich die 
Thiere auch juridische Rechtssubjekte sein müssten. 
Das juridische Recht ist immer positiv, d. h. historisch, 
und kann seiner Natur nach immer nur einen Theil der 
Sphäre des moralischen Rechts umfassen; welche Theile 



— 24 — 

der Sphäre des moralischen Rechts in das juridische 
Rechtssystem, d. h. in die positive Rechtsordnung durch 
die Gesetzgebung aufzunehmen seien, kann niemals selbst 
wieder von juridischen Erwägungen abhängen, sondern 
nur durch Rücksichten der Zweckmässigkeit und Op- 
portunität bedingt sein. 

Dass aber ein dringendes Bedürfniss aus Zweck- 
mässigkeitsgründen bestände, durch Gesetzgebung die 
juridische Rechtsfähigkeit der Thiere in unser Rechts- 
system einzufuhren, das ist entschieden zu bestreiten. 
Vor allem würde die Lage der Thiere durch eine solche 
Aenderung ihrer formalen Stellung zur Rechtsordnung 
inhaltlich gar nicht berührt werden, da ihre Rechte doch 
immer nur durch Vertretung von Menschen würden 
wahrgenommen werden können, wie sie es jetzt nothigen 
Falls auch schon werden (wenn z. B. eine alte Dame 
eine Summe für die Pensionirung ihres Lieblingshundes 
ausgesetzt hat). Die einzige wünschenswerthe Aende- 
rung der Gesetzgebung in Betreff der Thiere ist die, 
dass Rohheit oder Bosheit in deren Behandlung nicht 
bloss straffällig sein muss, wenn sie öffentliches Aerger- 
niss giebt, sondern auch, wenn sie als eine insgeheim 
erfolgte, oder als eine vor zustimmenden Zuschauern 
stattgehabte nachgewiesen werden kann. Diese Abän- 
derung hat aber mit der Erhebung der Thiere zu juri- 
dischen Rechtssubjekten gar nichts zu thun, denn die 
Gemeingefahrlichkeit des in solcher Handlungsweise sich 
offenbarenden Charakters genügt für sich allein schon, 
um den Staat in diesem Falle ähnlich wie bei anderen 
Verbrechen , wo keinem Rechtssubjekt ein Unrecht ge- 
schieht, an seine Pflicht des Schutzes der Gesellschaft 
durch rechtzeitige Bekämpfung derartiger gemeingefähr- 
licher Charaktereigenschaften zu erinnern. 

Unser juridisches Verhältniss zu den Thieren ist so- 
mit nur indirekter Art; unser Rechtssystem zieht die 



— 25 — 

moralischen Beziehungen der Menschen zu den Thieren 
nur so weit in seine Sphäre, als die Interessen der 
menschlichen Gesellschaft durch dieselben berührt 
werden, zu deren Sicherstellung und Schutze die Rechts- 
ordnung allein errichtet ist. Es ist also unrichtig, unser 
juridisches Verhältniss zu den Thieren darum als ein 
direktes aufzufassen, weil unser moralisches Verhältniss 
zu denselben ein solches ist; es ist aber auch ebenso 
unrichtig, die Unmittelbarkeit des letzteren darum zu 
bezweifeln oder zu bestreiten, weil das erstere ein bloss 
mittelbares ist. Wir haben nicht deshalb uns der Ver- 
letzung der Thiere zu enthalten, weil eine solche unsrer 
Menschenwürde nicht gemäss, oder unserem pflicht- 
mässigen Streben nach Selbstvervollkommnung hinder- 
lich, oder von anderweitigen ungünstigen Rückwirkungen 
auf den Handelnden und die menschliche Gesellschaft 
sein würde, sondern zuerst und vor allem deshalb, weil 
wir das moralische Recht jedes empfindenden Lebe- 
wesens ohne Ansehen von Stand oder Person, also auch 
ohne Ansehen von Rasse, Species und Genus zu respek- 
tiren haben. Diese Achtung vor allen lebendigen und 
fühlenden Mitgeschöpfen (mag man sie nun auf die Ach- 
tung vor dem Schöpferwillen oder auf die Wesensein- 
heit der verschiedenen Erscheinungsindividuen gründen) 
ist einfach eine Forderung der (moralischen) Gerechtig- 
keit; denn „Gerechtigkeit" besagt in letzter Instanz 
nichts andres als die „Gleichgültigkeit des empfinden- 
den Subjekts".*) 

Wie die moralischen Beziehungen unter Menschen, 
so müssen auch diejenigen zwischen Thier und Mensch 
vor allem auf dem unerschütterlichen Grunde der (mora- 
lischen) Gerechtigkeit ruhen; nur aus diesem rationali- 



*) Vergl. meine „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins", 
S. 516—518. 



— 26 — 

stischen Moralprincip ist eine deutliche und scharf be- 
stimmte Grenzlinie des Verhaltens abzuleiten, nicht aus 
den schwankenden Principien der Gefühlsmoral. Letz- 
tere sind unentbehrlich, theils um die Motivationskraft 
des gerechten Verhaltens zu verstärken, theils um inner- 
halb des von der Gerechtigkeit gelassenen Spielraums 
dem positiven Wohlwollen zur Geltung zu verhelfen; 
aber sich selbst überlassen sind sie gerade die stärksten 
Verführer zu ungerechtem und unbilligem Verhalten 
und es ist ganz unmöglich, die Gerechtigkeit aus einem 
einzelnen Gefiihlsmoralprincip (z. B. dem Mitleid) oder 
aus der Summe derselben abzuleiten. Wer sich in sei- 
nem Verhalten zu den Thieren von der Gerechtigkeit 
leiten lässt, der wird so wie so, ob er mitleidig ist oder 
nicht, dem Thiere nichts Unbilliges zumuthen oder zu- 
fügen, und das Mitleid käme bei ihm nutzlos hintennach 
gehinkt, wenn es mitsprechen wollte; wer aber sich von 
dem Mitleid, der Gutmüthigkeit und Weichherzigkeit 
bestimmen lässt, der wird in seinem Verhalten nur durch 
Zufall mit den Forderungen der Gerechtigkeit gelegent- 
lich übereinstimmen, und oft genug dieselben verletzen. 
Wenn der weichherzige Thierfreund eine arme Familie 
keuchend einen schwer belasteten Handwagen ziehen 
und schieben sieht, so neigt er stets dazu, sich zum 
Anwalt des mitangespannten überbürdeten Hundes auf- 
zuwerfen und zu Gunsten desselben die überbürdeten 
Menschen noch mehr zu überbürden; er vergisst dabei 
nur, dass der gut behandelte Familienhund es als sein 
Recht und seine Ehre betrachtet, sich mit seinen Herren 
mitzuplagen, und dass die Menschen bei ihrer scheinbar 
freiwilligen Quälerei oft weit mehr unter der Geissei 
eines zwingenden Schicksals stehen und weit schwerer 
unter diesem harten Zwange leiden, als das vom Men- 
schen zur Arbeit gezwungene Thier. So lange die 
Menschen noch im Schweisse ihres Angesichts ihr Brod 



— 27 — 

verdienen und zeitweilig über ihre Kräfte sich anstrengen 
müssen, wird es eine Ungerechtigkeit bleiben, ihnen jede 
auch nur zeitweilige Ueberanstrengung der Arbeitsthiere 
zu verwehren. Eine Ueberanstrengung der Arbeitsthiere 
aus unzureichenden Gründen ist dagegen ebenso unge- 
recht wie unvernünftig und bedarf zu ihrer Verurthei- 
lung nicht erst des Mitleids. 

Das Mitleid ist bekanntlich ein zweischneidiges 
Schwert: insoweit es Unlust ist, drängt es ebensosehr 
dazu, den Anblick der Gelegenheiten seiner Entstehung 
durch Ausweichen zu meiden als diejenigen abzustellen, 
deren Anblick man auf keine Weise aus dem Wege 
gehen kann; soweit es a^ber ein Gefühl ist, das dazu 
anlockt, seine Anlässe aufzusuchen, ist es ein Lustgefühl 
und als solches verleitet es zugleich dazu, die zu be- 
mitleidenden Leiden nicht nur nicht abzustellen, sondern 
geradezu erst recht herbeizuführen. Das Mitleid ist der 
Grausamkeitswollust eng verwandt, und es ist ganz irr- 
thümlich zu glauben, dass Giftmischer oder Thierquäler 
aus Passion kein Mitleid mit ihren Opfern empfinden, 
da sie ohne eine starke Emotion des Mitgefühls gar 
keine so starke Lust aus dem ft-emden Leid schöpfen 
könnten. Deshalb geht man fehl, wenn man glaubt, 
den passionirten Thierquäler durch Erweckung seines Mit- 
leids von seiner verworfenen Neigung abbringen zu kön- 
nen; erst wenn man ihn nöthigt, sich selbst als das von 
einem andern in gleicher Weise gequälte Wesen vor- 
stellen und durch diese Vorstellung sein Gerechtigkeits- 
gefühl zur Reaktion bringt, wird man hoffen dürfen, 
einen Erfolg zu erzielen. Denn selbst von einem andern 
gequält zu werden, empfindet jeder als ein angethanes 
Unrecht, so dass es nur der Abstraktion von der Indi- 
vidualität des Gequälten und des Quälers bedarf, um das 
Unrecht auch bei der Umkehrung einzusehen. 

Auf der andern Seite schiesst das Mitleid mit den 



— 28 — 

Thieren über das Ziel hinweg, indem es keine Rück- 
sicht darauf nimmt, ob wir uns mit denselben im Kriegs- 
oder Friedenszustande befinden. Nun befindet sich aber 
die Menschheit mit allen Thierarten im Kriegszustande, 
denen gegenüber sie sich im Kampf ums Dasein zu be- 
haupten hat, und nur mit denjenigen im Friedenszustande, 
welche im Kampf ums Dasein mit der übrigen Thier- 
welt entweder helfende Bundesgenossen oder doch we- 
nigstens Neutrale sind. Die Religion des Mitleids, der 
Buddhismus, verlangt, dass man sich ruhig von Tigern 
fressen, von Giftschlangen und Scorpionen stechen, von 
Läusen peinigen lässt, wenn man kein Mittel besitzt, 
sich ihnen auf friedlichem Wege zu entziehen, stempelt 
aber die Tödtung eines dieser Thiere zu einem todes- 
würdigen Verbrechen, durch das man allen sonst etwa 
erworbenen Anspruch auf Heiligkeit wieder einbüsst. 
Die Absurdität dieser Folgerung zeigt die Unhaltbarkeit 
des Princips, von dem sie richtig abgeleitet ist. 

Der Kampf ums Dasein ist nicht minder ein Krieg 
aufs Messer, wo er ein indirekter, d. h. Wettbewerb 
um die Mittel des Lebens ist; deshalb ist es ebenso- 
sehr eine Existenzfrage für die Menschheit, dass sie 
das Wild und die Schmarotzer des Feldes und Hauses 
(Mäuse, Ratten, Ameisen) bis zur Vernichtung bekämpft. 
Jedes Stück Nahrungsmittel, dessen sich ein Thier be- 
mächtigt, obwohl es zur Ernährung eines Menschen hätte 
dienen können, verschlimmert die Situation der auf der 
Hungergrenze lebenden Glieder der Menschheit; jedes 
Mitleid auf diesem Gebiet opfert einen Menschen , um 
ein Thier zu retten, wenn sich auch der dabei geopferte 
Mensch nicht mit dem Finger zeigen lässt. Aus diesem 
(Gesichtspunkt ist jeder Luxus in der Erhaltung über- 
flüssiger Thiere mit Nahrungsmitteln, die für Menschen 
hätten dienen können, ein Unrecht an der Menschheit; 
dabei ist es gleichgültig, ob die betreffenden Nahrungs- 



BTfirtgj! Äec MccBSchieG dErel^t oder iniSrefc. hL t. ni^ardlt 
EmilBnir::^ vc-tt nüczi^dbea ThieiVÄ hirt«t olrer-ea kocr-ewu 
NicÄtr al> imnuir dürien soicise Tfc5«v ^::^erecfc::^ x^^er- 
«Jen. w€lc&e der BeieSmn^ in rooioigi^ciiheft Glrn^^ vx5«iHr 
<i«r Befeiedig'jrtg^ von Gccauths5>eviurfi:^5:5>e« kt:-t'rtt'r: 
SdbcEirLiinde, -Katzen« -Vogel etc. : nvvfc Trer^*:t^ <^r..^ 
es die Threre. welche dem Menschen bei nier lo^cvL 
beim Kaacpf eegen Schmarotrer* brf der Beu^Ach;::^^: 
seines Eigenthums. bei seiner Ortsbeweg^jin^r ivier seir.t^^ 
sonstigen Arbeken Beistand leisten • oder welche sxzr 
Produktion von Nahrungsmitteln und Bekleidt;:\^r>^s5v^t5e^^ 
gezüchtet werden. Aber auch solche ThierÄrten n^üscMt^« 
in ihrer Vermehrung so weit beschrankt wervlen^ dasss 
ihre Zahl nicht über die zum Nutze« des Mensch<>n 
erforderliche Grosse hinauswachst, weü der Uebt^r^^hxis^ 
zu den überfiOssigen Verzehrem von Xahrunvjsn^htt^ln 
gehören würde. 

Der Kampf gegen die schädlichen und unnützen 
Thierarten so wie derjenige gegen eine schädliche Ver- 
mehrung der relativ nützlichen Thierarten ist eine Mioht 
des Xenschen gegen die Menschheit; da die Menschheit 
höhere sittliche tmd Kulturauigaben zu losen hat als 
das Thierreich, so steht auch die Pflicht gegen die 
l^Ienschheit der Pflicht gegen die Thiere voran, imd die 
mitleidige Gutmüthigkeit, welche sich im gegebenen 
Falle nicht zur Todtung der Thiere entsdüiessen kann, 
ist ebenso unsittlich wie die Weichherzigkeit eines 
Familienvaters, der seinen Kindern das Brod wegnimmt, 
um es dem an seiner Thüre bettelnden arbeitsscheuen 
Landstreicher zu reichen, oder wie die Empfindsamkeit 
einer alten Jungfer, die ihren fetten Mops mit Braten 
und Zuckerbrod futtert, während ihre Dienstboten sich 
mit Kochfleisch und Schwarzbrod begnügen müssen. 

Jede Gattung im Naturhaushalt braucht einen Re- 
gulator, der ihr Ueberwuchem verhindert; einer der 



— 30 — 

wichtigsten dieser Regulatoren ist der Mensch, und 
seine bezüglichen Pflichten im Naturhaushalt sind um 
so ausgedehnter und dringlicher geworden, je mehr er 
die übrigen Regulatoren (die Raubthiere) von der Erde 
verdrängt hat, Wenn er jetzt, wo er in Kulturländern 
für die meisten Arten grösserer pflanzenfressender und 
allesfressender Thiere sich zum einzigen Regulator ge- 
macht hat, sich durch mitleidige Regungen abhalten 
lässt, seines Amtes zu walten, so verletzt er nicht nur 
seine Pflichten gegen die Menschheit sondern auch seine 
Pflichten gegen die gesetzmässige Ordnung des irdi- 
schen Naturhaushaltes und die Erhaltung ihres Gleich- 
gewichts. Ueberall wo es an regulirenden Raubthieren 
fehlt, führt solche Sentimentalität sich sehr bald prak- 
tisch ad absurdum, wie die Frösche der Abderiten be- 
weisen, oder die 4g Katzen, welche der gemüthvoUe 
junge Dichter ein Jahr nach seinem Verbot der Tödtung 
des ersten Wurfes besass. So gelangt die Sentimen- 
talität gegen die Thiere gar leicht dazu, sich lächerlich 
zu machen, nämlich überall da, wo zwar ihre absurden 
Konsequenzen in die Anschauung fallen, wo aber nicht 
ihre indirekte Schädlichkeit und principielle Unsittlich- 
keit zum Bewusstsein kommt (deren Ernsthaftigkeit den 
komischen Eindruck der ersteren verhindern würde). 

Die empfindsame WeichherzigkeiJ^. ist in sittlicher 
Hinsicht eine höchst bedenkliche Eigenschaft*), und 
man darf sich darum auch nicht wundern, wenn man 
diesen ihren bedenklichen Charakter auch in ihrem Ein- 
fluss auf unsre Verhältnisse zu den Thieren bestätigt 
findet. Ueberall wo man einem Menschen begegnet, 
der sich durch übermässige Zärtlichkeit und ostentative 
Weichherzigkeit gegen Thiere auszeichnet, ist der Ver- 



*) Vergl. den Abschnitt über „Das Moralprincip des Mitgefühls*' in 
meiner „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins", S. 217 — 240. ' 



— 31 — 

dacht gerechtfertigt, dass man es mit einem Individuum 
zu thun habe, welches für seine Mitmenschen nicht viel 
übrig hat und welches die aus seiner mangelhaften 
Pflichterfüllung gegen letztere auf seinen Charakter zu 
ziehenden Schlussfolgerungen durch ein Uebermaass von 
Rücksichtnahme und Wohlthätigkeit gegen die Thiere 
vor sich selbst, oder auch nur vor Andern, zu entkräften 
sucht. Oft ist es nur das instinktive Streben nach einer 
Herstellung des sittlichen Gleichgewichts, was die zu 
wenig Gerechtigkeit in sich fühlenden Menschen dahin 
drängt, ein übertriebenes Gewicht auf ihr „gutes Herz"^ 
zu legen; oft ist es geradezu die Lieblosigkeit des an- 
gebornen Charakters, welche zum Gegengewicht gegen 
den unklar gefühlten Mangel, zu einer gewaltsamen 
Pflege des Mitleids und der Barmherzigkeit führt; nicht 
selten aber ist es gradezu der Menschenhass und die 
Missachtung des eignen Geschlechts, welche gleichsam 
eine gewaltsame Zusammendrängung aller verfügbaren 
Gefühlswärme in das Verhältniss zu den Thieren zur 
Folge hat. Die versauerte alte Jungfer, der verbitterte 
Misanthrop, der Menschenverächter auf dem Throne, der 
kalt- grausame Ketzerrichter, der blutdürstige Revo- 
lutionsheld, das sind die Typen, bei denen die Ueber- 
zärtlichkeit für die Thiere ihren Gipfel zu erreichen 
pflegt. 

Wer sein Verhältniss zu den Thieren aus dem Ge- 
sichtspunkt der Gerechtigkeit regelt, der wird auch dann 
die Inferorität des Thieres niemals vergessen, wenn er 
mit einem bestimmten thierischen Individuum in ein 
engeres Freundschaftsverhältniss tritt; nur ein solcher 
wird fähig sein, dem Thiere die grösste Wohlthat an- 
gedeihen zu lassen, welche der Mensch ihm erweisen 
kann: die Erziehung, während das gute Herz nur zu 
verziehen, d. h. zu verderben versteht. Wer sich zu 
den Thieren nicht hingezogen fühlt und sich damit be- 



— ^2 — 

gnügt, ihnen kein Unrecht zu thun, der kann darum 
doch das warmherzigste und wackerste Mitglied der 
menschlichen Gesellschaft sein: wer aber für die Thiere 
eine empfindsame Ueberzärtlichkeit entwickelt, dessen 
Charakter möge man nicht minder mit Misstrauen be- 
gegnen wie einem, der sie zu seinem Vergnügen mar- 
tert. Freilich können auch traurige Erfahrungen und 
unverschuldetes Unglück den Menschen zur Verein- 
samung geführt haben, und einem solchen wird man 
es gerne gönnen, wenn sein verödetes Herz die letzte 
Zuflucht zu der Thierwelt nimmt; aber in der Regel 
liegt der gemüthlichen Vereinsamung eine Schuld zu 
Grunde, eine Missachtung und Nichterfüllung der An- 
sprüche, welche die menschliche Gesellschaft an jedes 
ihrer Glieder zu stellen berechtigt ist. 

Die vorstehenden Bemerkungen dürften genügen 
zum Erweise, dass das Mitleid kein brauchbares Princip 
zur Feststellung der ethischen Grenzlinie des Verhaltens 
gegen die Thiere ist, dass vielmehr diese Grenzlinie 
nur durch die Gerechtigkeit gezogen werden kann, 
welche dem Thiere giebt, was des Thieres ist, aber 
auch dem Menschen giebt, was des Menschen ist, und 
welche die Pflichten gegen die Menschheit und den 
Naturhaushalt der Erde als die höheren im Vergleich 
mit den Pflichten gegen die. Thiere anerkennt. Wir 
alle ohne Ausnahme sind nicht nur berechtigt,, sondern 
auch verpflichtet, den Kampf ums Dasein der ^^nsch- 
heit gegen die Thierwelt mitzukämpfen, also die schäd- 
lichen und unnützen Mitbewerber um die irdischen Be- 
dingungen des Lebens zu tödten; wir sind aber ebenso 
verpflichtet, bei diesem Kampfe jede unnütze Härte und 
Grausamkeit zu vermeiden. Das nämliche gilt für unsre 
Benutzung der Thiei*e zur Eörderung der menschlichen 
Kultürzwecke, sowohl was die Verwendung thierischer 
Arbeitskraft, also auch was die Förderung der Wissen- 



— 33 — 

Schaft und Heilkunst durch Anstellung von Experimen- 
ten anbetrifft. 

Die moderne Naturwissenschaft hat ihren Rang als 
exakte Wissenschaft wesentlich durch die experimentelle 
GrTundlage ihres induktiven Verfahrens gewonnen, und 
kann das Experiment nicht aufgeben, ohne vom Range 
einer exakten Wissenschaft wieder herunter zu steigen. 
Nun können Experimente über physiologische und pa- 
thologische Processe nur an lebenden Körpern ge- 
wonnen werden, und jeder Arzt muss fortwährend an 
seinen Patienten experimentiren. Jedes neue Heilmittel, 
jedes neue Gift, jeder neu entdeckte chemische Stoff 
muss auf seine physiologische Wirkung am lebenden 
Körper experimentell geprüft werden, jede neue kühne 
chirurgische Operation muss ein Mal zum ersten Mal 
an einem lebenden Organismus versucht werden. Die 
Erforschung der Krankheitsursachen, insbesondere der 
organischen Krankheitsträger kann nur durch ausge- 
dehnte Impfversuche mit den Züchtigungsergebnissen 
der Reinkulturen fortschreiten; die Ergründung der 
Funktionen verschiedener Theile des centralen Nerven- 
systems kann nur durch experimentelle Eingriffe in den 
normalen Lebensprocess gefördert werden. Oft genug 
schon hat die Begeist«-ung für den Fortschritt der 
Wissenschaft junge Aerzte dahin geführt, an sich selbst 
solche Vörisucne anzustellen, die manchmal mit dem 
Leben bezahlt wurden; den Steinschnitt verdanken wir 
eißem französischen Arzte, der vom König die Erlaub- 
niss erhielt, einen zum Tode verurtheilten, steinleiden,- 
den Verbrecher zum ersten Versuchsobjekt zu nehmen. 
Solche physiologische Versuche können fiir ihre 
Objekte mit gar keinen oder geringfügigen Unbequem- 
lichkeiten verbunden sein (wie z. B. manche Füttenmgs- 
versuche); sie können äusserst lästig sein, ohne dass 
irgend ein Eingriff in den Organismus stattfindet (z. B. 

Hartmann, Moderne Probleme. 3 



— 34 — 

die dauernde Einsperrung in eine enge Glasglocke zur 
Bestimmung der Ausathmungsgase); sie können endlich 
schweres Siechthum und mehr oder minder sichern Tod 
herbeiführen (wie z. B. die Impfungsversuche mit Ejrank- 
heitsträgem, oder die quantitative Feststellung der Gift- 
wirkungen). Wer irgend mit der modernen Physiologie^ 
Pathologie und Medicin vertraut ist, der weiss, dass die 
Zukunft dieser Wissenschaften ganz und gar von einer 
rationellen Fortfuhrung solcher Versuche, und zwar im 
ausgedehntesten Maassstabe abhängt; wer einer andern 
Ansicht huldigt, befindet sich im Widerspruch mit der 
erdrückenden Mehrheit der Vertreter jener Fächer, 
Selbst dann, wenn die entgegengesetzte Ansicht, dass 
alle Thierversuche überflüssig und nutzlos für die Wissen- 
schaft seien, im Rechte wäre, und selbst dann, wenn 
es gelänge, die gesetzgeberischen Konsequenzen dieser 
Ansicht zu ziehen, d. h. alle Thierversuche zu verbieten, 
würde doch dieses Verbot wirkungslos sein; die For- 
scher, welche oft genug muthig genug sind, an sich 
selbst gewagte Versuche anzustellen, würden heimlich 
die Thierversuche um so eifriger fortsetzen, als ihnen 
eventuell von Seiten einer nach ihrer Meinung unver- 
nünftigen Gesetzgebung das Martyrium zu Ehren der 
Wissenschaft in Aussicht stände. 

Anstatt den alten Grundsatz „üaX experimentum 
in corpore vili" der Thierwelt gegenüber ausser Kraft 
setzen zu wollen, sollte man vielmehr ernstlich in Er- 
wägung ziehen, ob es nicht rathsam imd geboten sei, 
Verbrecher als corpora vilia zu benutzen; d. h. den zur 
Todesstrafe Verurtheilten freizustellen, ob sie statt der 
Hinrichtung ein lebensgefährliches Experiment an sich 
vornehmen lassen wollen, und den zu geringeren Strafen 
Verurtheilten anheimzugeben, ob sie* ihre Strafe durch 
Preisgebung zu mehr oder weniger schmerzhaften und 
quälenden Versuchen abbüssen wollen. Die Wissen- 



— 35 — 

Schaft und die Gefangnissverwaltungen würden davon 
gleichmässig Vortheil, das Recht und das Publikum 
keinen Nachtheil haben, und den Verbrechern würde 
nichts geschehen, wozu sie nicht eingewilligt haben. 
Ein solches Gesetz würde mit einem Schlage alle sen- 
timentalen Klagen über ungerechte Behandlung der 
Thiere durch die Naturforscher gegenstandslos machen, 
indem sie dem Thierversuch den Menschenversuch an- 
reihte ; denn wenn man den Thieren nichts anthun dürfte, 
wozu man nicht ihre Zustimmung vorher eingeholt hätte, 
so dürfte man sie auch nicht gegen ihren Willen tödten 
oder zu Arbeiten anhalten. 

Dass keine Gesetzgebung im Stande ist, Missbräuche 
zu verhüten, liegt ebenso auf der Hand, wie dass eine 
Sache um so mehr dem Missbrauch ausgesetzt ist, je 
edler und je wichtiger sie ist. Die beste und wirk- 
samste Vorkehrung gegen missbräuchliche Behandlung 
der Thierversuche liegt in einer sorgfältigen Unter- 
weisung der Studierenden über die zweckmässige tech- 
nische Anstellung derselben, über ihre Leistungsfähig- 
keit und Tragweite; das gesetzliche Verbot, die Thier- 
versuche in die Lehrvorträge aufzunehmen, würde nur 
die entgegengesetzte Wirkung haben, d. h. der unver- 
ständigen imd ungeschickten Pfuscherei auf diesem Ge- 
biete Vorschub leisten. Die inhaltliche Erwägung, ob 
der eventuelle Nutzen bestimmter Versuche wichtig ge- 
nug ist, um die den Versuchstieren zugefügten Leiden 
zu rechtfertigen, liegt selbstverständlich ganz ausser- 
halb der gesetzgeberischen und richterlichen Zuständig- 
keit und kann nur durch Sachverständige festgestellt 
werden, d. h. sie muss letzten Endes doch dem Takt 
und Gewissen der in ihren Fachkreisen tonangebenden 
Forscher anheimgestellt bleiben. Die öffentliche Meinung 
hat die Aufgabe, durch ihre Stimme das Gewissen der 
Forscher in dieser Richtung zu schärfen und ihren Takt 

3* 



- 36 - 

zu verfeinern; sie kann aber diese Aufgabe nicht schlech- 
ter erfüllen, als ' wenn sie das Kind mit dem Bade aus- 
schüttet und durch ihren Unverstand die Forscher an 
den Gedanken gewohnt, dass sie sich um die jedenfalls 
unmögliche Zufriedenstellung einer irregeleiteten öffent- 
lichen Meinung überhaupt nicht mehr zu bekümmern 
brauchen. Das jetzt so beliebte Schlagwort „Vivisek- 
tion" benutzt das Grauen der meisten Laien vor dem 
chirurgischen Messer und dem fliessenden Blut als 
Schreckgespenst zur Verwirrung der Urtheilsfahigkeit; 
nur der kleinste Theil der Thierversuche bedient sich 
chirurgischer Eingriffe, und diese brauchen gar nicht 
besonders schmerzhaft zu sein und sind mindestens 
durchschnittlich nicht diejenigen unter den Thierver- 
suchen, welche mit den schwersten Leiden für die Ob- 
jekte verknüpft sind. 



Die Gleichstellung der Gesohleehter. 

Niemand wird der excentrischen Ansicht einiger 
Physiologen beistimmen, dass der männliche wie der 
weibliche Organismus nur ein Appendix der bezüglichen 
Portpflanzungs Werkzeuge, ein zur Sicherstellung ihrer 
Funktionen unentbehrlicher Hülfsapparat sei; aber den- 
noch liegt in dieser Uebertreibung eine Wahrheit, die 
von allen Denjenigen übersehen wird, welche für Gleich- 
^feit der Geschlechter schwärmen. In dem physiologi- 
ßdhen Geschlechtscharakter des Mannes und Weibes ist 
4=iteAt'nur ein Unterschied, sondern geradezu ein Gegen- 



— 37 — 

satz anzuerkennen, und dieser auf keine Weise aus der 
Welt zu schaffende Gegensatz ist bestimmend fiir das 
gesammte natürliche und geistige Leben der Menschen- 
Dieser Gegensatz ist derjenige von Aktivität und Pas- 
sivität, von Begehren und Gewähren, Werben und Um- 
worbensein; er besteht nicht nur in der Gesellschaft der 
Unverheiratheten, sondern setzt sich auch im ehelichen 
Leben fort. Ein Mann von geschlechtlicher Passivität 
erscheint als ein hinter seiner natürlichen Aufgabe zu- 
rückbleibender, unmännlicher Mann; ein Weib von ge- 
schlechtlicher Aktivität erscheint als ein ihre Sphäre 
überschreitendes, unweibliches Weib. Wären beide 
aktiv, so würde das Geschlechtsleben alle übrigen 
Seiten des Lebens überwuchern; wären beide pas- 
passiv, so würde der Naturzweck nicht mehr hinläng- 
lich gesichert sein. Darum erscheint es als eine teleo- 
logische Einrichtung der Natur, dass das eine Geschlecht 
seinem normalen Instinkte nach aktiv, das andere pas- 
siv ist, und es heisst die Zweckmässigkeit dieser Natur- 
einrichtung verkennen, wenn man dem einen oder dem 
andern Geschlechte aus seiner Naturanlage einen Vor- 
wurf macht, oder wenn man dahin strebt, die socialen 
Folgen und Erscheinimgsformen dieses Gegensatzes 
künstlich abzustumpfen und auszugleichen. Wenn dieses 
Bestreben in weiterem Umfange von Erfolg gekrönt 
wäre, so müsste es das männliche Geschlecht unmänn- 
lich, oder das weibliche unweiblich machen, oder beides 
zugleich in gewissem Grade, und die üblen Folgen für 
die Erhaltung der Bevölkerung könnten nicht lange 
ausbleiben. 

Wäre der Mann nicht begehrend, so hätte das Weib 
nichts zu gewähren, was dem Manne werthvoU schiene^ 
so hörte damit auch die Macht des weiblichen Ge- 
schlechts über das männliche auf. Denn diese Macht 
beruht lediglich darauf, dass das Weib etwas zu ge- 



- 38 - 

währen hat, was der Mann begehrt, und dass die ge- 
schlechtliche Passivität dem Weibe das Versagen leich- 
ter macht, als dem Manne das Entsagen. Diese Macht 
ist aber auch so gross, dass überall und in allen Völ- 
kern die thatsächliche Beherrschuitg des männlichen Ge- 
schlechts durch das weibliche trotz des äusseren Schei- 
nes vom Gegentheil die Regel bildet; das durch sie her- 
gestellte Verhältniss überdauert gewohnheitsmässig die 
Periode der geschlechtlichen Bethätigung und drückt 
dem ganzen socialen Leben sein Siegel auf. So lange 
man diese auf dem Geschlechtsgegensatz beruhende ge- 
heime Uebermacht des weiblichen Geschlechts nicht 
brechen kann, muss als nothwendiges Gegengewicht 
gegen dieselbe eine rechtliche Vorherrschaft des männ- 
lichen Geschlechts aufrecht erhalten werden, um das 
Gleichgewicht nur einigermassen wieder herzustellen. 
Gelänge es dagegen den Vorkämpfern ffir Geschlechter- 
gleichstellung, alle Vorrechte der Männer in Staat und 
Gesellschaft, in Recht und Sitte zu beseitigen, so würde 
damit eine Periode der reinen Weiberherrschaft inaugii- 
rirt werden, wie nicht die Geschichte, nur die Sage sie 
bisher kennt. Die Schwärmerei fiir abstrakte Gleich- 
stellung schlägt also praktisch mit Nothwendigkeit in 
ihr| Gegentheil um, weil sie die wirksamsten That- 
sachen ignorirt, sofern dieselben sich der Regelung 
durch gesetzliche Schablonen entziehen. 

Erst in zweiter Reihe kommt die Erwägung in Be- 
tracht, dass die Gefiihlsmässigkeit des weiblichen Han- 
delns, welche in der Familie und der Geselligkeit so 
wohl am Platze ist, schlechterdings ungeeignet ist zur 
Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten, wo es auf 
Alleinherrschaft der Vemimft ankommt. Gerechtigkeit 
und Billigkeit würde nach dem Eintritt der Frauen 
ins öffentliche Leben noch weit weniger anzutreffen 
sein, als jetzt, dagegen würde der Nepotismus und 



— 39 — 

die Intriguenwirthschaft noch mehr Boden gewinnen, 
und das ganze öffentliche Leben würde sich immer 
mehr zu dem vermittelungslosen Gegensatz zwischen 
einem pfäffisch gegängelten Gefühlskonservatismus 
und einem demagogisch verhetzten, fanatischen Radi- 
kalismus zuspitzen. Statt einer Stimme würde jede 
Frau über zwei verfugen, es sei denn, dass ihr Mann 
bereit wäre, den häuslichen Frieden und das Familien- 
glück seiner politischen Ueberzeugung zum Opfer zu 
bringen. In allen katholischen Ländern wäre der Sieg 
der klerikalen Partei besiegelt und ffir die Dauer ge- 
sichert, und die Gesammtheit der unter ultramontanen 
Ministerien stehenden, d. h. von Rom aus geleiteten 
Staaten würden eine Macht darstellen, die ausreichte, 
den allmählichen Triumph des jesuitischen Papstthums 
auf der ganzen Erde zu verbürgen; Niemand hätte also 
mehr Anlass auf politische Gleichstellung der Frauen 
hinzuwirken, als die Ultramontanen, imd fiir Niemand 
arbeiten die Vorkämpfer der Frauen-Emancipation in 
höherem Maasse als für die katholische Kirche. 

Weil die Fortpflanzungsfunktion, die vom Manne 
nur gelegentlich und nebenbei ausgeübt wird, ohne ihn 
in seinem sonstigen Berufe zu hindern, dem Weibe die 
schwersten Lasten auferlegt und als der Höhepunkt und 
Angelpunkt des weiblichen Lebens erscheint, darum ist 
auch der weibliche Organismus in weit höherem Grade 
als der männliche auf diese Funktion hin veranlagt und 
durchgebildet, und findet in ihr seinen Schwerpimkt, 
wie der männliche in den Funktionen des Gehirns und 
der willkürlichen Muskeln. Ein Maass an körperlicher 
oder geistiger Arbeit, das der männliche Organismus 
ganz wohl ohne NachtheU verträgt, richtet den weib- 
lichen Organismus bald zu Grunde, oder nutzt ihn we- 
nigstens in viel kürzerer Zeit ab. Schwere körperliche 
Arbeit konsumirt die weibliche Leistungskraft viel 



— 40 — 

rascher, als die männliche, führt zu vorzeitigem Alter 
und Erschöpfung, setzt die Widerstandsfähigkeit gegen 
Krankheitseinflüsse herab und kürzt durch alles dies 
die Lebensdauer ab. Noch weit schädlicher wirkt ange- 
strengte geistige Arbeit auf den weiblichen Organismus, 
denn das weibliche Gehirn und Nervensystem verträgt 
lange nicht soviel, wie das männliche, weshalb schon 
die Erziehung und geistige Ausbildung beider Geschlech- 
ter stets eine verschiedene bleiben muss. Am ehesten 
verträgt der weibliche Körper eine Berufsthätigkeit, in 
welcher leichte körperliche und leichte geistige Arbeit 
gemischt ist, und dem Körper nur massige Bewegung 
zugemuthet wird. Diese Berufsarten (Schneiderei, Gärt- 
nerei, Kleinhandel, Küche und Hauswirthschaft, Kinder- 
und Krankenpflege) sind aber doch zu beschränkt, um 
jemals eine Gleichstellung des Lohnes der weiblichen 
Arbeit mit der männlichen zu ermöglichen. Selbst bei 
dem Klassenunterricht kleinerer Kinder nutzt die weib- 
liche Lehrkraft sich soviel schneller ab, dass die Er- 
sparnisse am Lehrergehalt durch Mehrbelastung des 
Pensionsfonds in Folge früherer Pensionirung aufgewogen 
werden. Das weibliche Geschlecht bleibt darum in der 
Hauptsache — und ganz besonders in den die Kultur 
tragenden und fördernden Gesellschaftsschichten — doch 
immer auf die Ernährung durch die Arbeit des männ- 
lichen angewiesen, wofür seine sociale Gegenleistung 
in der Hauswirthschaft, Fortpflanzung und Kinderpflege 
besteht. 

Auf dem Gebiete der gesellschaftlichen Sitte ist die 
Schwärmerei für Gleichstellung und gleiche Beurthei- 
lung der Geschlechter nicht minder verkehrt, wie auf 
demjenigen der Politik und der Berufsarbeit. Entweder 
gehen die Emancipationsbestrebungen dahin, dass auch 
dem. Weibe alles erlaubt sein müsse, was dem Manne 
von der Sitte gestattet ist — dann fuhren sie zu einer 



— 41 — 

alles Familienleben zerrüttenden und das Volkswohl 
untergrabenden Libertinage; oder der Gleichheitsforma- 
lismus tritt moralisirend auf und verbietet dem Manne 
jede Freiheit, die dem Weibe durch die Sitte versagt 
ist, dann führt er zu einem lächerlichen Rigorismus, 
welcher der Natur Unmögliches zumuthet und den Rück- 
schlag in sein Gegentheil oder in heuchlerischen Phari- 
säismus unvermeidlich macht. 

Nur in einem Punkte ist die Forderung, dass der 
Mann ebensowenig Freiheit haben dürfe, wie die Frau 
unbedingt, zuzugeben, nämlich in der monogamischen 
Ehe, deren Wesen gleiche Treue von beiden Seiten und 
gleiche sittliche Beherrschung etwaiger instinktiver 
Velleitäten zur Untreue erheischt. Aber selbst hier 
bleibt die Wahrheit bestehen, dass die Verletzung der 
Treue von Seiten des Mannes und von Seiten der Frau 
einen ganz verschiedenen Grad der Missbilligung her- 
vorruft, weil sie ganz verschiedene sociale Folgen nach 
sich zieht, weil die eine sich ausserhalb, die andere 
innerhalb der Familie vollzieht, weil die eine das Ver- 
hältniss der Kinder zu den Eltern und Geschwistern un- 
berührt lässt, die andere es völlig zerstört oder doch 
durch Zweifel imtergräbt. Der Mann einer notorisch 
untreuen Frau hat nur die Wahl, entweder Vaterpflich- 
ten gegen untergeschobene Bastarde zu üben, oder seine 
eigenen Kinder durch Scheidung mutterlos zu machen; 
kann er du* Untreue nicht juridisch beweisen, so bleibt 
ihm nicht einmal diese Wahl, sondern er muss sich der 
empörenden Nothwendigkeit fügen, Kindern, die er 
nicht für die seinigen halten kann, Kindesrechte gegen 
sich einzuräumen. Schon der blosse Verdacht vergiftet 
das Familienleben, weil es immer das eigene Nest ist, 
das die etwaige Untreue der Frau beschmutzt. Dagegen 
lässt die Untreue des Mannes, weil sie ausserhalb des 
Kreises der Familie fällt, den Familienstand und die 



— 42 — 

Stellung der Frau als Mutter und Hausherrin intakt, wenn 
sie auch den Rechten und Gefühlen der letzteren eine mo- 
ralische, uud möglicherweise auch dem Familienwohlstand 
eine materielle Schädigimg zufugt. Darum hat die ge- 
kränkte Frau freie Wahl, ob sie unversöhnlich auf ihrem 
formellen Recht der Scheidung bestehen, oder ob sie 
vergeben imd ihren Kindern das gemeinsame Familien- 
leben erhalten will; das Vergeben ist ohne Beeinträch- 
tigung ihrer Würde möglich, was bei dem gekränkten 
Manne nicht der Fall ist, und darum hat allein die Frau 
das Vorrecht, sich mit der göttlichen Milde des Ver- 
zeihens zu schmücken, welche den Mann in gleicher 
Lage verächtlich macht. 

Viel durchgreifender, als in der ehelichen Treue 
sind die aus dem Geschlechtsgegensatz abfliessenden 
Unterschiede in Bezug auf das Leben vor der Ehe. Ein 
Mann, welcher gegen das geschlechtliche Vorleben des 
zu wählenden Weibes gleichgültig ist (wie gewisse spe- 
kulative Heirathsannoncen es verkünden) macht sich ver- 
ächtlich; ein Weib dagegen, welches ohne Zweifel an 
der Ehrenhaftigkeit eines Bewerbers daran Anstoss 
nimmt, dass er schon vor der Bewerbung um sie ge- 
schlechtlich aktiv war, macht sich lächerlich (so z. B. 
die Heldin in Bjömson's Schauspiel: „Der Handschuh"). 
Wäre der Mann nicht geschlechtlich aktiv, so würde er 
sich an der Freundschaft mit Frauen genügen lassen, 
und höchstens noch aus äusserlichen, nicht zur Sache 
selbst gehörigen Motiven zur Ehe sich entschliessen, 
jedes feinfühlige Weib sträubt sich aber mit Recht da- 
gegen, bloss aus solchen äusseren Motiven zur Ehe be- 
gehrt zu werden. Kann also das Weib nur bei einem 
seiner Natur nach geschlechtlich aktiven Mann erwarten, 
um ihrer selbst willen geheirathet zu werden, so ist es 
eine naturwidrige und unverständige Forderung, dass 
diese Aktivität bis zur Bekanntschaft mit ihr habe la- 



— 43 — 

tent bleiben und erst bei ihrem Anblick erwachen sollen. 
Umgekehrt dagegen hat der Mann das Recht, ein weib- 
liches, das heisst geschlechtlich passives Weib in seiner 
Erkorenen vorauszusetzen, mit anderen Worten eine 
Jungfrau, die auf den Mann ihrer Wahl gewartet 
hat, um sich von ihm aus dem träumenden Schlummer 
zum wachen Liebesleben wecken zu lassen. Es liegt 
der höchste Reiz für das männliche Liebeswerben darin, 
ein noch unbeschriebenes Blatt vorzufinden, in das er 
seine Schriftzüge eingraben kann, eine noch reine Pas- 
sivität, d. h. eine noch potentielle Gegenliebe, die er 
erst durch seine Aktivität zur Aktualität erhebt. Darum 
gilt die Jungfräulichkeit der Braut als selbstverständ- 
liche, stillschweigende Voraussetzung der Eheschliessung, 
und jede Täuschimg über dieselbe als gesetzlicher Ehe- 
scheidungsgrund, ebensogut wie Ehebruch. Wollte man 
aber dem entsprechend auch die Jungfräulichkeit der 
Bewerber zur Bedingung gültiger Ehen machen, so wür- 
den in der Hauptsache nur noch solche Männer legitime 
Familien gründen, deren physiologischer Defekt die 
Fortpflanzung ihrer Naturanlage nicht wünschenswerth 
macht, und es würde durch die Zuchtwahl mehrerer 
Generationen bei schnell abnehmender Bevölkerung eine 
Sorte von Männern producirt werden, die gar nicht mehr 
an Verheirathung denkt. 

Ein Mädchen, das sein Lebensglück ihrem Bewer- 
ber anzuvertrauen im Begriff steht, thut freilich wohl, 
alle thatsächlichen Anhaltspunkte in Betracht zu ziehen, 
welche zur Erschliessung seines Charakters beitragen 
können, und zu solchen gehört zweifellos in erster Reihe 
die Art seines Verhaltens gegen andere Frauen, zu 
denen er bereits in Beziehung gestanden hat; aber es 
kommt dabei nicht sowohl auf die Thatsache an, dass 
er schon vorher andere Verhältnisse angeknüpft hatte, 
als vielmehr darauf, wie er sich in denselben benom- 



— 44 — 

men hat, und vor allen Dingen, wodurch dieselben ge- 
löst worden sind. Einen als schiijdigen Theil geschie- 
denen Ehemann zu heirathen, ist mindestens ein Wag- 
niss, über dessen üblen Ausfall sich kein Weib nachher 
beklagen kann. Auch bei Vermeidung jener Unehren - 
haftigkeit treten oft genug die bedenklichsten Charakter- 
züge, wie Leichtsinn, Selbstsucht, Genusssucht, Rück- 
sichtslosigkeit, Unverträglichkeit, Hartherzigkeit^ Undank- 
barkeit, Frivolität u. s. w. zu Tage, welche jedes be- 
sonnene Mädchen davon abschrecken müssen, sich einem 
solchen Charakter anzuvertrauen. Aber es ist dies 
offenbar etwas ganz anderes, als die Fordenmg, dass 
der Mann keine andern Verhältnisse angeknüpft haben 
solle, und darf mit ihr nicht verwechselt werden. War 
das Verhalten desselben vorwurfsfrei, so bietet vielmehr 
ein so in den Prüfungen des Lebens bewährter Bewer- 
ber eine ungleich grössere Bürgschaft als ein gleich- 
altriger Unerprobter. Wenn es auch zweifelhaft sein 
mag, ob der Mann zwei Frauen zugleich wahrhaft lie- 
ben könne, so ist es doch unzweifelhaft, dass er mehrere 
nach einander mit ganzem und vollem Herzen lieben 
könne, und die Behauptung, dass nur Eine Liebe die 
wahre sei, ist eine unstatthafte Verallgemeinerung eines 
für die weibliche Empfindungsweise wahren Satzes auf 
den Menschen als solchen. 

Der Organismus des Mannes bleibt davon völlig 
unberührt, wenn derselbe aus einem Junggesellen zum 
Gatten und Vater wird; er empfängt nichts zu dem 
Seinigen hinzu und wird durch das, was er giebt, nicht 
ärmer. Das Weib hingegen verhält sich nicht gebend, 
sondern empfangend und tritt dadurch in ein ganz neues 
physiologisches Lebensstadium, das ihren Organismus 
bis in seine kleinsten Theile alterirt. Eine Mutter hat 
überdiess Monate lange mit einem zweiten Organismus 
in Blutaustausch gelebt, dessen Blutbereitung nur zur 



— 45 — 

Hälfte durch die ererbten mütterlichen, zur andern 
Hälfte durch die ererbten väterlichen Eigenschaften be- 
stimmt war, sie hat also ihre Gewebe theilweise mit 
einem Blute ernährt, das zur Hälfte durch ihren Gatten 
bestimmt war, und hat dadurch Eigenschaften des letz- 
teren in gewissem Grrade in sich aufgenommen, welche 
zwar in ihr latent bleiben, desto mehr aber in Kindern 
einer späteren Ehe wieder zu Tage treten können 
(was man ungenau so ausdrückt, dass diese Einflüsse 
in ganz besonderem Mciasse auf die Fortpflanzungs- 
sphäre wirken). Der Gatte einer Wittwe findet also kein 
unbeschriebenes Blatt mehr vor, sondern einen in ge- 
wissem Grrade durch seinen Vorgänger mitbestimmten 
Organismus, mit dessen Vererbimgstendenzen die seini- 
gen erst den Kampf aufzunehmen haben. Ein Weib giebt 
sich demnach in der That mit Seele und Leib ihrem 
Gatten hin, ein Mann bloss mit der Seele seiner Gattin, 
und mit dem Leibe nur insofern, als er die Verpflich- 
tung übernimmt, für sie mit zu arbeiten. Mit diesem 
physiologischen Unterschiede der Rückwirkimg der Ehe 
auf beide Geschlechter hängt der Gegensatz im Instinkt 
beider Geschlechter auf das engste zusammen. So lange 
die Schwärmer für Gleichstellung der Geschlechter jenen 
physiologischen Unterschied nicht wegdekretiren können, 
werden sie vergeblich an dem Gegensatz der Instinte 
rütteln und werden mit einer beide Unterschiede igno- 
rirenden socialen Gleichmacherei nur widernatürliche 
Zerrbilder liefern, die an ihrer inneren Absurdität 
scheitern. 

Hiermit soll keineswegs auf die Wiederverhei- 
rathung der Wittwen ein Stein geworfen werden, ob- 
wohl die Frivolität, mit welcher dieser Gegenstand nur 
zu häufig in Lustspielen und Romanen behandelt wird, 
des deutschen Volkes nicht würdig ist. Eine kinderlose 
Wittwe oder geschiedene Frau, oder eine solche, die 



/ 



- 46 - 

nicht selbst in der Erziehung ihrer Kinder ihre Lebens- 
aufgabe suchen und finden kann, oder die allein dieser 
Aufgabe sich nicht gewachsen fühlt, soll auf keine 
Weise gehindert werden, ihren Lebensberuf in einer 
zweiten Ehe zu suchen, insbesondere, wenn sie in ihrer 
ersten Ehe die wahre Liebe noch nicht durchlebt hat; 
aber eine Mutter wird immer wohl thun, zimächst in 
der Erziehung ihrer Kinder ihre dringendste Lebens- 
aufgabe zu sehen, und wird, wenn sie diese ernst und 
pflichttreu erfasst, selten Grund haben, nach einem wei- 
teren Feld für die Bethätigung ihrer Ejräfte auszuspähen. 
Ein Mann braucht sich durch die Wittwenschaft seiner 
Geliebten nicht von der Verbindung mit derselben ab- 
halten zu lassen, aber er soll sich darüber klar sein, 
dass diese Wittwenschaft ein Punkt ist, über den er 
sich hinwegsetzen muss, und dass die Frau es durch 
ungewöhnliche persönliche Vorzüge verdienen muss, dass 
er sich über diesen Punkt hinwegsetzt. Ein Mädchen 
dagegen, das einen Wittwer heirathet, hat sich, was 
seine Person anbetrifft, über gar nichts hinwegzusetzen^ 
kann sich vielmehr freuen, dass es einen schon von 
ihrer Vorgängerin erzogenen und gezähmten Mann be- 
kommt. 

Aehnlich ist der Unterschied zwischem einem Manne, 
der schon einmal Bräutigam war, und einem Mädchen, 
das schon einmal Braut war. Der erstere bleibt davon 
in seinem Werthe unberührt, sofern nur die Lösung der 
Verlobung ohne seine Schuld erfolgt ist; die letztere, 
auch wenn sie ganz schuldlos an dem Auseinander- 
gehen ist, gleicht einer Waare, die Havarie erlitten hat, 
und deren Werth dadurch im Preise gesunken ist. Mag 
sie die weibliche Passivität in ihrem Brautstand noch 
so wohl bewahrt haben, so ist doch die latentente 
Potentialität ihrer Passivität aufgehoben, die Jungfräu- 
lichkeit ihres Herzens nicht mehr intakt, der Duft von 



- 47 — 

Schraetterlingsflügeln abgestreift. Nur einmal kann das 
Weib praktisch lernen, was Liebe ist, und es ist schmerz- 
lich für den Liebenden, nicht derjenige sein zu können, 
der es sie lehrt. Wohl treibt ein vom Frühlingsfrost 
verletzter Baimi eine zweite Laubkrone hervor, aber so 
reich und üppig, wie die erste, wird sie nicht; so ent- 
faltet auch das Mädchenherz eine zweite Blüthe, wenn 
die erste vor der Reife verwelken musste, aber seine 
volle und ganze Blüthenpracht breitet es doch nur da 
aus, wo die zum ersten Mal erwachende Liebe unge- 
stört mit ganzer Kraft alle Phasen durchläuft. 

Nun ist dies freilich nicht so zu nehmen, als sollten 
der noch schlummernden Jungfräulichkeit die Träume 
verwehrt sein, welche das künftige Liebesleben ideal 
anticipiren; denn diese Träimie greifen in ihrer Gegen- 
standslosigkeit keinem Rechte eines künftigen Bewerbers 
vor. Ebenso wenig kann man der Jungfrau die unwill- 
kürlichen tastenden Versuche verargen, mit denen sie 
das Ideal ihrer Träume den ihr begegnenden wirklichen 
Männern anzupassen unternimmt, und noch untriftiger 
wäre die Zumuthung, dass die Jungfrau gegen alle Be- 
werber schlechthin spröde sein solle, bis der eine Aus- 
erwählte kommt, weil der Auserwählte niemals kommen 
würde, wenn es jedem ersten Annäherungsversuche 
schlechterdings an jedem Entgegenkommen fehlte. Nur 
wenn zufallig die Versuche, dsis Ideal an die begegnenden 
Männer anzupassen, mit den Bewerbungen eines be- 
stimmten Mannes und einem gewissen Entgegenkommen 
gegen dieselben zusammen treffen, nur dann tritt der 
Punkt ein, wo die Träume der Phantasie im Begriffe 
stehen, in reales Liebesleben umzuschlagen; aber dieses 
Wünschen und Sehnen, Hoffen und Fürchten ist doch 
erst die Vorhalle zum realen Liebesleben und dieses 
selbst beginnt erst mit dem ausdrücklichen oder still- 
schweigenden Einverständniss beider Theile, d. h. mit 



-^ 48 — 

dem Eintritte in ein bräutliches Verhältniss, gleichviel 
ob dasselbe Geheimniss der Liebenden bleibt, oder der 
Familie mitgetheilt, oder vor der Gesellschaft erklärt 
wird. Der Grad der Stärke und Vollständigkeit, in 
welchem die Gefühle in solchem Verhältnisse geweckt 
und erschlossen werden, ist nicht abhängig von seiner 
längeren Dauer, wenn auch eine gewisse Dauer die 
Vollständigkeit der Aufschliessung begünstigt; sie ist 
femer unabhängig davon, ob das dem Wunsche voi:- 
schwebende Ziel der Vereinigung als erreichbar oder 
unerreichbar gedacht oder in welcher Form es vorge- 
stellt wird. Nimmt man den Begriff des bräutlichen 
Verhältnisses in diesem weiteren Sinne, so deckt er 
sich genau mit dem Begriffe des realen Liebeslebens, 
und so kann dessen Grrenze von vorbereitenden An- 
knüpftmgsversuchen und von Phantasieträumen mit ästhe- 
tischen Schein-Empfindungen nicht zweifelhaft sein. 

Praktisch freilich ist die Grenze zwischen Anknüpfs- 
versuchen und bräutlichem Verhältniss durch die Sitten 
verschieden gezogen, und liegt die Gefahr nahe, bei 
lebhafter Phantasie ideale ästhetische Scheingefühle mit 
realen zu verwechseln, also blosse Phantasiespiele für 
wirkliches Liebesleben zu halten; indessen belehrt das 
weit schnellere Ausklingen, Verblassen und spurlose 
Verschwinden der Phantasiegefühle nachträglich ziem- 
lich leicht und sicher über deren Unterschied von realen 
Gefühlen und über die etwa stattgehabte Verwechselimg 
der ersteren mit den letzteren. Alle Behauptungen von 
Frauen, dass sie öfter als einmal wahrhaft geliebt haben, 
dürften sich darauf zurückführen lassen, dass der Unter- 
schied zwischen den Scheingefühlen einer lebhaften 
Phantasiethätigkeit und dem realen Gefühlsleben des 
Herzens nicht beachtet worden ist; die phantasiemässige 
Anticipation des realen Liebeslebens kann aber bis zu 
einem gewissen Grade der Lebhaftigkeit, Fülle und Fein- 



— 49 — 

heit des letzteren forderlich sein. So kann eine 
schuldlos entlobte Braut, die zwar phantasiemässig 
zu lieben versucht, aber es nicht bis zu wirklicher 
Liebe für ihren Bräutigam gebracht hat, unter Um- 
ständen ein dankbarerer Gegenstand der Liebe sein^ 
als ein phantasieloses Mädchen, das allzu plump und 
schwerfällig auf die entgegengebrachte Liebe reagirt. 
Aber sowie man es versucht, diesen Satz auszudehnen 
auf Frauen, welche in der Liebe praktisch schon viel 
durchgemacht haben, so tritt der Unterschied zwischen 
Phantasiespiel und Wirklichkeit hervor: der ernste Mann,, 
der dem Weibe seiner Wahl wirklich seine Seele hin- 
zugeben verlangt, erwartet auch als Gegengabe ein 
reines und wo möglich jungfräuliches Herz, wogegen 
der Lüstling, der nichts geben, sondern nur seine Sinn- 
lichkeit gereizt sehen will, solchen „erfahrenen" Frauen 
eine Zeit lang den Vorzug giebt, bis endlich auch er, 
der stärksten Reize bedürftig geworden, doch wieder 
zur unentweihten Jungfräulichkeit, als dem letzten und 
höchsten Stimulans, zurückgreift. Umgekehrt ist der 
erfahrene und im Leben geprüfte Mann für ein reines 
Frauengemüth unendlich viel anziehender, als ein Neu- 
ling auf dem Felde der Liebe, und es sind nur die 
ahernden Frauen, welche dazu gelangen, die Unschuld, 
die ihnen selber längst abhanden gekommen ist, an 
jungen Männern reizend zu finden. 

Es bedarf wohl kaum des Hinweises darauf, dass 
alle diese Unterschiede des Verhaltens, in denen der 
Gegensatz der Geschlechter sich ausdrückt, niemals aus 
eudämonologischen Motiven konservirt zu werden be- 
anspruchen können, sondern nur deshalb, weil mit ihrer 
Missachtung und allmählichen Unterdrückung die von 
der Naturteleologie gesetzten Reize zur Verehelichung^ 
d. h. zur Ueberwindung des Egoismus zu Gunsten der 
nächsten Generation, aufhören würden, und damit 

Hartmann, Moderne Probleme. ^ 



— 50 — 

der Kulturprocess den schwersten Schaden leiden 
würde.*) 



*) Man vergleiche zu diesem Abschnitt meine „Phänomenologie des 
sittlichen Bewusstseins**, S. 672 — 673, 692 — 696. 



IV. 

Die Lebensfrage der Familie. 

Unter allen Verhältnissen ist die Lebensdauer der 
Familien oder Geschlechter in den höheren Ständen 
durchschnittlich kürzer. als in den mittleren und niede- 
ren; aber wohl selten hat es eine Zeit gegeben, in 
'welcher das Missverhältniss einen solchen Grad erreicht 
hat, wie gegenwärtig. Es dürfte schwer sein, für diese 
Behauptung den exakten Beweis zu erbringen, da die 
mittlere Lebensdauer der Familien oder Geschlechter 
in einem Stande nicht unmittelbar abhängig ist von der 
mittleren Lebensdauer der Individuen, welche sie zu- 
sammensetzen, und von den Lebensläufen der Familien 
oder Geschlechter in den mittleren oder niederen Stän- 
den meist nur kurze Bruchstücke zu verfolgen sind. 
Trotzdem wird man dieser Behauptung beistimmen dür- 
fen, wenn man erwägt, dass die drei hauptsächlichen 
Ursachen, von welchen der Unterschied der mittleren 
Lebensdauer eines Geschlechts in höheren und niederen 
Ständen abhängt, in der letzten Zeit sehr zugenommen 
haben, nämlich der grössere Procentsatz an Unverehe- 
lichten, das spätere mittlere Heirathsalter und die klei- 
nere durchschnittliche Kinderzahl, die auf eine Ehe 
kommt. 



— 51 — 

Ausser diesen drei Ursachen wirkt noch eine vierte 
mit, welche in ihren Wirkungen noch weit schwerer 
abzuschätzen und der statistischen Anfhahme bis jetzt 
entzogen ist, welche aber darum nicht weniger ein- 
schneidend wirkt ; es ist diess der Umstand, dass gegen- 
über der Starkeren Inanspruchnahme von Muskelkraft 
und individueller Lebenskraft in den Berufsarten der 
niederen Stände die intensivere Geistesarbeit und das 
intensivere Genussleben der höheren Stände mehr Ner- 
venkraft konsumirt und dadurch die Lebenskraft des 
Geschlechts rascher verzehrt. Durch Verbrauch von 
Nervenkraft wird nämlich mehr als durch irgend etwas 
anderes das Fortpflanzungsvermögen alterirt und zwar 
in doppeltem Sinne, erstens in Bezug auf die Zahl und 
Tüchtigkeit der unmittelbaren Nachkommenschaft, zwei- 
tens aber auch ganz besonders noch in Bezug auf die 
Nervenkraft imd Fortpflanzungsfahigkeit der nächsten 
Generation, von welcher die Zahl und Tüchtigkeit der 
Nachkommenschaft in späteren Generationen mehr als 
von irgend einem andern Umstände abhängt. Insoweit 
sich die fragliche Wirkung in der Durchschnittszahl der 
auf eine Ehe entfallenden Kinder ausspricht, ist sie be- 
reits in der dritten der vorangestellten Ursachen in 
Rechnung gestellt; insoweit sie aber die Tüchtigkeit, 
Fortpflanzungsfahigkeit imd durchschnittliche Kinderzahl 
der unmittelbaren Nachkommen betrifft, muss sie als ein 
vierter Factor in Ansatz gebracht werden, was fi-eilich 
erst dann ziffernmässig möglich wäre, wenn wir eine 
vergleichende Familienstatistik der verschiedenen Stände 
und Berufsarten besässen. 

Man könnte nun meinen, dass in der kürzeren 
durchschnittlichen Lebensdauer der Familien und Ge- 
schlechter in den höheren Ständen ein billiger Ausgleich 
liege für die längere Durchschnittsdauer des Individual- 
lebens, und dass es vom Standpunkt des Ganzen be- 

4* 



— 52 — 

trachtet gerade ein tröstlicher Gedanke sei, dass die 
Familien der höheren Stände, auch wenn sie sich in 
ihrem Stande behaupten, doch allmählich durch Aus- 
sterben für ein Nachrücken der niederen Stände Raum 
machen. Indessen die Genugthuung über diesen Aus- 
gleich wäre doch nur eine kurzsichtige im Interesse des 
Ganzen. Denn es würde dabei übersehen, dass es vor 
allem im Interesse des Ganzen liegt, die ererbten und 
generationsweise gesteigerten Anpassungen an höhere 
sociale und kulturelle Aufgaben, durch welche die Mit- 
glieder der höheren Stände denen der niederen durch- 
schnittlich überlegen sind, möglichst voll auszubeuten 
und auch für die Zukunft des Processes nach Möglich- 
keit durch Weitervererbung zu verwerthen. So wün- 
schenswerth es ist, dass strebsamen und ausnahmsweise 
günstig veranlagten Individuen und Familien das Auf- 
rücken in die höheren Stände offen stehe, um diesen 
immer frisches Blut zuzuführen und sie zur Selbstbe- 
hauptung durch überlegene Leistungen zu zwingen, so 
zweckmässig es ferner ist, die untüchtigen, arbeitsscheuen 
imd ungünstig veranlagten Individuen der höheren 
Stände durch keine socialen Einrichtungen vor dem 
Wiederhinabsinken in die niederen Stände zu bewahren, 
ebenso unzweckmässig wäre es, den kapitalisirten Ge- 
winn der Arbeit vergangener Generationen, wie er in 
den ererbten Vorzügen der höheren Ständen vorliegt, 
leichtsinnig vergeuden zu lassen, wenn man etwas zvl 
seiner Erhaltung für künftige Generationen thun kann. 
Aus diesem Grunde lohnt es sich wohl, der Erwägung 
der Ursachen näher zu treten, durch welche die zuneh- 
mende Verkürzung der durchschnittlichen Lebensdauer 
der Familien höherer Stände bedingt ist, und sich um- 
zusehen, welche Mittel der Abhülfe für diese wachsende 
Kalamität unseres socialpolitischen Lebens zur Ver- 
fügung stehen. 



— 53 — 

Es kommt noch eine zweite Folge der Ehelosigkeit 
und Heiraths Verspätung hinzu, welche als ein socialer 
Uebelstand von der grössten Tragweite allgemein an- 
erkannt ist, dessen symptomatische Behandlimg aber bis 
jetzt niu* das Uebel verschlimmert hat, und der so lange 
fortdauern wird, bis er durch Abstellung seiner Ursachen 
an der Wurzel erfcisst wird. Es ist diess die sogenannte 
Frauenfrage, richtiger Jungfemfrage, d. h. die Frage, wel- 
chen Beruf man den Weibern anweisen soll, die ihren natür- 
lichen Beruf als Frau verfehlt haben. Bekanntlich ist die 
Personenzahl beider Geschlechter in der Jugendblüthe 
gleich, während im Kindesalter das männliche Geschlecht 
ein wenig, im reiferen Alter das weibliche beträchtlich und 
in wachsendem Maasse überwiegt. Hieraus folgt, dass 
keine Jungfern übrig bleiben würden, wenn Jedermann 
in seiner Jugendblüthe eine Lebensgefährtin wählte. 
Eine Jungfemfrage entspringt erst daraus, dass die Zahl 
der Mädchen in der Jugendblüthe grösser ist als die 
Zahl der Männer in demjenigen reiferen Lebensalter, in 
welchem sie in den höheren Ständen zur Ehe zu schrei- 
ten pflegen, und dass ein Theil dieser Männer es vor- 
zieht, unverheirathet zu bleiben. Die Ausbildung der 
Mädchen für selbstständige Berufsarten, welche zur 
symptomatischen Lösung der Jungfemfrage vorgeschla- 
gen ist und vielfach angestrebt wird, macht das Uebel 
nur ärger, weil sie die Mädchen weniger anziehend für 
die Männer macht und dadurch die Zahl der imverhei- 
rathet bleibenden Männer, also auch die Zahl der sitzen- 
bleibenden Mädchen vermehrt, was wiederum eine Ver- 
schärfung der Dringlichkeit der Jungfernfrage und ver- 
grösserte Anstrengungen zur selbstständigen Erwerbs- 
thätigkeit zur Folge hat. Aus diesem fehlerhaften Kreis- 
lauf, der sich in sich selbst steigert, ist nur herauszukommen, 
wenn man die alleinige Ursache der Jungfemfrage in 
der zunehmenden Ehelosigkeit und Heirathsverspätung 



— 54 — 

der Männer erkennt, und die Bemühungen zur Abhülfe 
an diesem Punkte einsetzt. 

Was zunächst die vierte Ursache der Verringerung 
der mittleren Lebensdauer der Familien, die stärkere 
Abnutzung der Nervenkraft durch intensivere geistige 
Arbeit und geistigen Genuss, betriffi, so ist sie in der 
Hauptsache nicht zu beseitigen. Die höheren Berufs- 
arten haben eben ihr Wesert darin, eine höhere und an- 
gespanntere geistige Arbeit zu verlangen, und selbst 
dann, wenn man bestreiten wollte, dass die intensivere 
Arbeit auch intensiveren Genuss als Gegengewicht for- 
dert, würde man doch nicht leugnen können, dass die 
Genüsse und Erholungen der gebildeteren Stände selbst 
vergeistigter Art sind und darum auch wieder eine gei- 
stige Anspannung, wenn auch in anderer Art als die 
Arbeit, nöthig machen. Da alle höhere Geisteskultur 
der Menschheit in dieser Steigerung der geistigen Arbeit 
und des geistigen Genusses liegt, so wird keine mensch- 
liche Schlauheit jemals ein Mittel ersinnen, um die kul- 
turtragenden Minderheiten der Völker vor einer rasche- 
ren Abnutzung zu bewahren, und es bleibt in dieser 
Hinsicht nichts übrig, als sich mit der Mauserung der 
Aristokratie durch allmählichen Nachwuchs von unten 
zu trösten. Um so dringender aber muss den höhern 
Ständen ans Herz gelegt werden, dass sie sich vor jeder 
Uebertreibung in Arbeit und Genuss hüten und die un- 
vermeidlichen gesundheitlichen Nachtheile ihrer socialen 
Stellung nach Möglichkeit dadurch auszugleichen suchen, 
dass sie im Uebrigen ein gesundheitsgemässeres Leben 
führen, als es den niederen Ständen durch ihre peku- 
niäre Lage gestattet ist. 

Vor allem gilt es, den die Nervenkraft ersetzenden 
Schlaf der Nacht heilig zu halten, demnächst nicht nur 
auf nahrhafte, sondern auch auf reizlose Kost zu ach- 
ten, so viel als möglich sich Bewegung zu machen und 



— 55 — 

frische Luft zu athmen, den ersten Theil des Tages der 
Arbeit, den zweiten der Erholung zu widmen, regel- 
mässig zu leben und in allen Dingen Maass zu halten. 
Eine grosse Gefahr liegt darin, dass die nervenerregende 
Wirkung der Gehimarbeit irritirend auf die Genital- 
sphäre wirkt und leicht zu einer vorzeitigen Vergeudung 
des Fortpflanzimgsvermögens verleitet; diese Gefahr 
wird um so grösser, je länger sie Zeit hat zu wirken, 
d. h. je später das durchschnittliche Verheirathimgsalter 
der Männer in den höheren Ständen fällt. Hier müssen 
alle hygienischen, ästhetischen imd moralischen Hebel 
angesetzt werden, um den socialen Schäden vorzu- 
beugen, die aus der Verbindung der verstärkten Irri- 
tation mit der verlängerten Entbehrung erwachsen kön- 
nen ; am wirksamsten im Grossen und Ganzen wird sich 
auch hier die Abschwächung der nervösen Irritation 
durch gesimdheitsgemässe Lebensweise und Vermeidung 
diätetischer Reizmittel erweisen. 

Es ist nicht schwer zu sehen, dass diese Ursache 
in Wechselwirkung steht mit den drei andern. Es ist 
für einen jungen Mann um so leichter, zeitweilige Selbst- 
beherrschung zu üben, je näher und gewisser ihm das 
Ziel der Ehe vorschwebt, um so schwerer, je femer und 
aussichtloser dasselbe nach Lage der socialen Verhält- 
nisse für ihn ist; umgekehrt rückt nichts die Neigung 
zur Verheirathung so sehr in den Hintergrund als die 
Gewöhnung an ein zügelloses Junggesellenleben, und 
es müssen dann meist schon nebensächUche Motive sein, 
welche den Entschluss zur Verheirathung doch noch 
reifen lassen. Ebenso stehen die drei andern Gründe 
untereinander in Wechselwirkung. Wer wenig Aussicht 
hat, zur Verheirathung zu gelangen, macht sich von 
vornherein mit dem Junggesellenleben vertraut und ent- 
zieht sich der Gelegenheit zur Anknüpfung bräutlicher 
Verhältnisse, so dass schon der Zufall sein Spiel treiben 



- 56 - 

muss, wenn er ihn doch noch in Hymens Fesseln schlagen 
soll. Wer erst in reiferen Jahren ans Heirathen denken 
kann, der verpasst die Zeit der jugendlichen Eindrucks- 
fahigkeit, innerhalb deren so manches weibliche Wesen 
sein Herz hätte gewinnen können, und wenn er end- 
lich soviel vor sich gebracht hat, dass er eine Familie 
zu gründen wünscht, so sieht er sich vergebens nach 
einem Mädchen um, in das er sich verlieben könnte, 
imd wartet entweder, bis es ganz und gar zu spät ist, 
oder er schliesst aus äusserlichen Gründen eine Ehe 
ohne Liebe. 

Heirathet ein Mann erst in reiferen Jahren, so wird 
er durchschnittlich ein älteres Mädchen zur Frau wäh- 
len, als wenn er jünger geheirathet hätte; es wird dem- 
nach die Zahl der Kinder in seiner Ehe schon um des 
Alteys der Frau willen geringer sein; ausserdem aber 
tritt er nach kürzerer Ehedauer in ein Lebensalter ein, 
in welchem die Ehe ihre natürliche Bedeutung zu ver- 
lieren pflegt, auch wenn die Frau noch nicht aufgehört 
hat, fortpflanzungsfähig zu sein, so dass hier ein zwei- 
ter Grund für Verkürzung der natürlichen Kinderzahl 
zu Tage tritt. Da es nicht bloss auf die Zahl, sondern 
auch auf die Beschaffenheit der Kinder, auf die Scho- 
nung der Mutter für ihren weiteren Beruf, und auf die 
genügende Ausbildung derselben für die Erziehimg der 
Kinder ankommt, so würde ich es keineswegs für einen 
idealen Zustand halten, wenn die Töchter der höheren 
Stände unmittelbar nach erreichter Pubertät in die Ehe 
träten; aber auch die Hinausschiebung des durchschnitt- 
lichen Heirathsalters der Mädchen auf das 26. bis 28. 
Lebensjahr ist imnatürlich, weil es ohne weitere Förde- 
rung ihrer Ausbildung ihre jugendliche Anpassungs- 
fähigkeit verringert und mehrere Kinder, welche vom 
21. bis zum 26. Jahr der Mutter hätten das Licht der 
Welt erblicken können, für immer ungeboren lässt. 



^ 



— 57 — 

Dieselben Motive, welche die Männer gar nicht oder 
erst in reiferen Jahren zum Entschluss der Verheirathung 
gelangen lassen, bewirken auch eine Scheu vor reichem 
Kindersegen. Wir sind bereits zu einem solchen Grade 
der Verwirrung und Verkehnmg der Begriffe gelangt, 
dass unsem höheren Standen die naturgemässe Kinder- 
zahl einer noripalen Ehe von jugendlich verbundenen 
gesunden und kräftigen Gatten als eine „kaninchen- 
artige Fruchtbarkeit" anstössig erscheint.*) Wo solche 
Ansichten Platz gegriffen haben, müssen sie selbstver- 
ständlich eine Rückwirkung auf das mittlere Heiraths- 
alter üben, insbesondere auf dasjenige der Frau; denn 
je länger ein Mädchen mit der Verheirathung wartet, 
oder ein je älteres Mädchen ein Mann zur Frau wählt, 
desto weniger Sorge vor allzu reichem Kindersegen 
brauchen sie zu hegen. Für den Mann ist die grössere 
oder geringere Kinderzahl wesentlich nur eine peku- 
niäre Frage, da die Frau doch allein die Lasten der- 
selben zu tragen hat ; für die Frau aber ist es eine Kar- 
dinalfrage des Leibes und der Seele. 

Wo nun durch einen widernatürlichen Spiritualismus 
und abstrakten Idealismus verschrobene Ansichten in 
der Frauenwelt gewisser Stände grossgezogen werden, 
welche trefflich als Deckmantel der egoistischen Be- 
quemlichkeit, Leistungsscheu und Genusssucht verwend- 
bar sind, da bildet sich ein Geschlecht pretiöser und 
überspannter Egoistinnen, welche allenfalls wohl noch 
ein oder zwei Mal die Lasten der Mutterschaft auf sich 
nehmen wollen, weil sie anders auch der Freuden der- 
selben nicht theilhaft werden können, welche dann aber 
auch nicht weiter von den Naturpfiichten des Frauen- 

*) Dieselbe beläuft sich nach medicinischen Annahmen auf 2 vor 
dem 20. Jahre, 5 in den 20ger, 3 in den 30ger und i in den 40ger 
Jahren, zusammen auf 11. Bei der Verheirathung der Frau mit 26^/2 
Jafarer sinkt die zu erwartende Kinderzahl auf die Hälfte, d. h. auf 5 */2, 
was mit dem statistischen Durchschnitt in Deutschland übereinstimmt. 



- 58 — 

berufs belästigt sein, sondern ungestört ihrer Behaglich- 
keit und ihren Amüsements leben wollen. 

Nichts kann geeigneter sein, die Männer energisch 
von der Ehe abzuschrecken, als die Verbreitung solcher 
ebenso unsittlichen wie unnatürlichen Ansichten; denn 
wenn sie doch nur für wenige Jahre die Aussicht haben 
sollen, in einer naturgemässen Ehe zu leben, so ist die- 
ser Preis wahrlich das Opfer ihrer Freiheit nicht werthi, 
und wenn sie nachher doch nur ein naturwidriges Ver- 
hältniss mit einem aus Egoismus unsittlichen Weibe 
fortsetzen sollen, so können sie sich auch gleich mit 
unsittlichen Verhältnissen zu egoistischen Weibern be- 
gnügen, die wenigstens nicht mit pretiöser Ehrbarkeit 
und tugendhafter Ueberspanntheit prunken. Mädchen, 
welche zwar alle Vortheile der Frauenstellung durch 
die Ehe zu erlangen wünschen, aber nicht mehr die 
ehrliche und rückhaltslose Opferwilligkeit für alle ihnen 
von der Natur und dem socialen Gesamratinteresse auf- 
erlegten Pflichten besitzen, wollen den Mann, der sie 
heirathet, einfach im Handel betrügen, und es geschieht 
ihnen persönlich nur ihr Recht, wenn sie dabei die Be- 
trogenen sind, d. h. sitzen bleiben. 

Leider geschieht nur mit dieser nächstliegenden 
Lösung dem socialen Ganzen nicht sein Recht, und des- 
halb können solche überspannte egoistische Ansichten 
nicht entschieden genug zur rechten Zeit bekämpft 
werden. Die Mädchen können nicht früh genug lernen, 
dass sie ebensowenig wie die Männer geboren sind, um 
zu geniessen, sondern um zu dienen, nicht den Männern, 
sondern gleich diesen ihrem Beruf, und dass ihr einziger 
unmittelbarer Beruf darin liegt, dem Vaterlande mög- 
lichst viel möglichst tüchtige und wohlerzogene neue 
Bürger zuzuführen, um es im Kampf ums Dasein der 
Nationen konkurrenzfähig und siegreich zu erhalten. 

Ist es denn nicht ein tief beschämender Gedanke, 



— 59 — 

dass in allen modernen Kulturvölkern die ' bisherige 
Durchschnittszahl der ehelichen Geburten nicht ausrei- 
chen würde, um dieselben vor Rückgang und allmäh- 
lichem Aussterben zu bewahren, dass z. B. das deutsche 
Volk seine Vermehrung seit dem Jahre 1 8 1 5 , durch 
welche allein es in den Stand gesetzt wurde, seine Exi- 
stenz gegen Frankreich siegreich zu behaupten, ledig- 
lich den Opfern verdankt, welche die Mütter der unehe- 
lichen Kinder auf dem Altar des Vaterlandes nieder- 
gelegt haben? Ist es denn nicht ebenso beschämend 
für die höheren Stände, dass sie, die am ehesten in der 
Lage wären, fiir die Volksvermehrung ein Uebriges zu 
thim, in der Erfüllung dieser staatsbürgerlichen Pflicht 
hinter dem Durchschnitt weit zurückbleiben, dem Pro- 
letariat zu andern Lasten auch noch die Last autbürden, 
den Ausfall ihrer Leistungen zu decken und dadurch 
eine umgekehrte natürliche Zuchtwahl, eine Erhaltung 
des mindest Entwickelten, inäuguriren? 

In dem unnatürlichen egoistischen Widerwillen 
vieler Mädchen der höheren Stände gegen eine opfer- 
bereite Erfüllung des Frauenberufs ist ein zwar verbor- 
genes und sorgsam verhülltes aber doch hinreichend 
durchscheinelides Motiv aufgedeckt, welches die Männer 
von der Ehe mit Standesgenossinnen abschreckt, sobald 
sie klar genug blicken, um zu merken, dass es darauf 
abgesehen ist, sie im Handel zu betrügen, und dass sie 
in einer solchen Ehe vor die Wahl gestellt sind, ent- 
weder unter dem Druck pekuniärer Motive sich mit 
guter Miene in die Lage des Betrogenen zu finden, 
oder die Frau zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen 
auf Kosten des ehelichen Friedens und häuslichen Be- 
hagens. Es giebt aber auch offner zu Tage liegende 
Gründe, welche die Zunahme der Ehelosigkeit und Hei- 
rathsverspätung erklären, nämlich der immer allgemeiner 
werdende Hang, über seinen Stand hinaus zu leben. 



— 6o — 

Es ist unbestreitbare Thatsache, dass trotz einer 
rascheren Vermehrung der Bevölkerung die Lebenshal- 
tung aller Stande in den letzten 150 Jahren ausser- 
ordentlich gestiegen ist. Unsere heutigen Arbeiter, 
welche über Unzulänglichkeit der Löhne klagen, können 
sich kaum einen Begriff davon machen, in welchem 
Elend ihre Urgrosseltem lebten; aber unser Mittelstand 
bis in die höchsten Berufsarten hinauf kann sich in sei- 
nen älteren Gliedern noch sehr wohl entsinnen, welche 
puritanische Einfachheit" in den Häusern seiner Gross- 
eltern nach den Mittheilungen der Eltern in deren 
Jugend geherrscht hat. Die Möglichkeit einer besseren 
I^ebenshaltung aller Stände trotz schneller Volksver- 
mehrung liegt ausschliesslich darin, dass jetzt die auf- 
gespeicherte Sonnenkraft vergangener Jahrtausende, die 
wir mit den Steinkohlen auf der Erde graben, vermit- 
telst unsrer Maschinen unverhältnissmässig viel mehr 
Gebrauchswerthe producirt, als dieselbe Volkszahl durch 
eigne Kjraft und Handarbeit liefern könnte, und dass 
wir gegen einen überschüssigen Theil dieser Fabrikate 
die Bodenprodukte andrer Länder und Welttheile ein- 
tauschen können. Der Grund dafür, dass der Drang 
nach Steigerung des Wohllebens gegenwärtig so viel 
intensiver geworden und theilweise in eine krankhafte 
Genusssucht ausgeartet ist, liegt einerseits darin, dass 
die bedeutend vermehrte Klasse der sehr Reichen in 
dem produktiven Raffinement unsrer Zeit die Mittel zu 
einem höchst verfeinerten Wohlleben vorfindet und 
durch ihr Beispiel die andern Stände ziu* Nacheiferung 
anreizt, andrerseits darin, dass der demokratische nivel- 
lirende Zug unsres Zeitalters sich mehr als je gegen die 
Unterschiede des Komforts verschiedener Stände als 
gegen eine sociale Ungerechtigkeit auflehnt, und die 
Genüsse der Bevorzugten als das gleiche Recht für Alle 
fordert. 



— 6i — 

Wie überall sind auch hier.Vortheile und Nach- 
theile verbunden. Die Intensität des Emporstrebens 
in eine günstigere Lebenslage, welche der Haupthebel 
des Kulturfortschritts durch Steigerung des Wettbe- 
werbs und des Arbeitseifers ist, hängt selbst wieder 
wesentlich von der Intensität ab, mit welcher von jedem 
Stande die Theilnahme an den Genüssen und Vorzügen 
der über ihm stehenden Stände ersehnt wird, und inso- 
fern ist diese Intensität ein Vorzug unsrer Zeit. Andrer- 
seits liegt in ihr eine Steigerung der Gefahr, dass 
man die Zukunft, d. h. die reellen Chancen des socialen 
Emporsteigens der Familie, um der Gegenwart willen, 
d. h. um des vermehrten augenblicklichen Behagens 
willen preisgiebt, dass man die erstrebte Sache, d. h. 
die Gewinnung einer behaglicheren Lebenslage, dem 
blossen Schein ihres Besitzes opfert. In diesem Sinne 
wird dasjenige, was Hebel eines beschleunigten Kultur- 
fortschritts sein sollte, zum Hinderniss des Fortschreitens 
der Familie, nämlich wenn der Leichtsinn, welcher die 
Mittel des Emporklimmens in momentaner Genusssucht 
verzehrt, und die Eitelkeit, welche den gleissenden 
Prunk und die hohle Prahlerei an die Stelle des wirk- 
lichen Besitzes einer günstigeren Lage setzen, sich hin- 
zugesellen. Darum ist der Drang nach Emporsteigen 
nur insoweit wirthschaftlich gesund und social berech- 
tigt und zweckmässig, als er die Kräfte zum Erwerb 
grösserer Mittel anspornt, aber verderblich, wo er mit 
den vorläufig zur Verfiigimg stehenden Mitteln das Ziel 
des Wunsches vorwegnimmt, d. h. zu unverhältniss- 
mässigem Luxus führt. Wie ein unverhältnissmässig 
geringes Luxusbedürfniss zum Hemmniss des Kultur- 
fortschritts wird und ein Volk zum Stillstand verurtheilt, 
so muss ein übermässiges, d. h. über die verfügbaren 
Mittel hinausgehendes Luxusbedürfniss zum kulturge- 
schichtlichen Rückschritt und endlich zum Ruin führen. 



— 62 — 

Was für ganze Völker gilt, das gilt nicht minder 
für einzelne Stände und Familien. Nichts muss so un- 
fehlbar den Ruin des Grundadels beschleunigen, als 
dessen krankhafte Sucht, sich an Luxus nicht von dem 
Geldadel überflügeln zu lassen, und ein grosser TheU 
der Klagen über die zunehmende Verschuldung des 
Grrossgrundbesitzes ist allein darauf zurückzuführen, dass 
die rasche Steigerung der Gütererträge doch noch weit 
überholt ist durch die Steigerung der Lebensgewohn- 
heiten der unmittelbar und mittelbar von ihnen leben- 
den Familien. Der Dienstadel oder Beamtenstand klagt 
in den meisten Beamtenkategorien mit Unrecht darüber, 
dass die Steigerung der Gehälter mit der Entwerthung 
des Geldes nicht gleichen Schritt gehalten habe; seine 
sociale Stellung ist nur dadurch relativ ungünstiger ge- 
worden, weil die Lebensgewohnheiten des Geldadels 
und des mit ihm wetteifernden Grundadels seit einigen 
Menschenaltem sich ausserordentlich gesteigert haben, 
so dass er im Vergleich zu diesen ihm verwandten 
Ständen sich in derselben Lage höchst unzufrieden fühlt, 
mit welcher er früher sehr zufrieden war. Sogar der 
Oflficierstand, der am meisten Anlass hätte, jede Ver- 
weichlichung zu scheuen und in spartanischer Bedürf- 
nisslosigkeit seine Ehre zu suchen, ist mehr und mehr 
in einen thörichten Wettstreit mit dem Geldadel ge- 
rathen, und hier wirkt jede Verirrung des Standesgeistes 
um so schlimmer, als der Einzelne weit weniger die 
Möglichkeit hat, sich gegen erkannte Unsitten aufzu- 
lehnen. Weil in allen Ständen mit Ausnahme des Geld- 
adels die Ansprüche an das Leben schneller gewachsen 
sind als die Mittel ihrer Befriedigung, nur darum ist die 
Unzufriedenheit und die Klage über unauskömmliche 
Mittel jetzt so weit verbreitet. 

Dieselben Stände, welche früher bei bescheidener 
Lebensweise Mittel genug übrig hatten, um eine reich- 
liche Kinderzahl anspruchslos aber gut zu erziehen und 



— 63 - 

noch einen Nothgroschen für die Familie zurückzulegen, 
verbrauchen jetzt bei gestiegenen Lebensansprüchen ein 
Einkommen von mindestens gleicher Kaufkraft entweder 
für sich allein oder für eine viel kleinere Familie, er- 
ziehen wenige, aber anspruchsvolle und verwöhnte 
Kinder und lassen ihre Hinterbliebenen in einer hilf- 
losen, mit ihrer Verwöhnimg um so bitterer kon- 
trastirenden Lage zurück, weil die luxuriösere Lebens- 
haltung für Sparrücklagen zur Selbstversicherung nichts 
übrig lässt. Die so über ihren Stand hinaus gewöhnten 
Kinder sind dann die Heirathskandidaten der nächsten 
Generation. Ist es da ein Wunder, wenn die Söhne 
Bedenken tragen, sich zu verheirathen und ihren Ar- 
beitsertrag für sich allein verbrauchen, und wenn die 
mittellosen Töchter dem Loose einer traurigen Jungfem- 
schaft und oft genug dem Kreise der verschämten Ar- 
muth verfallen? 

Auch in der Familie, ebenso wie im Stande und 
im Volke, ist der Tod, d. h. das Aussterben, der Sold 
der wirthschaftlichen Sünde. - Wo noch ein natürliches 
sociales Solidaritätsbewusstsein herrscht, wirkt diese Er- 
kenntniss als ein Gegenmotiv gegen die wirthschaftliche 
Veriming; aber das ist gerade das Gefahrlichste an der 
individualistischen Atomisirung und dem abstrakt-ideali- 
stischen Nivellement unsrer Zeit, dass jedes Individuum 
nur an sich und seine Rechte auf das Leben, aber nicht 
an seine Gliedschaft in socialen Individuen höjierer Ord- 
nung und an seine Pflichten gegen diese denkt. Aprfes 
nous le dringe! ist der Wahlspruch der selbstsüchtigen 
Genusssucht; mag die Welt hernach ohne mich weiter 
gehen, wie sie kann und will, wenn ich nur mein Leben ge- 
nossen habe, so gut ich konnte! Hier enthüllt sich die 
sittliche Verirrung imd Verkehrtheit als Wurzel der 
wirthschaftlichen. Familien, die ihre Mitglieder in diesem 
unsittlichen Egoismus sich verhärten lassen, verdienen 



- 64 - 

auch aus sittlichem Gesichtspunkt , unterzugehen und 
durch neuaufstrebende Elemente ersetzt zu werden. 

Glücklicher Weise sind solche extreme Erschei- 
nungen noch keineswegs allgemein verbreitet, wenn 
auch in geringerem Maasse die Tendenz zu luxuriöse- 
ren Lebensgewohnheiten schon den ganzen socialen 
Körper inficirt hat. Es steckt auch in unsem höheren 
Ständen noch ein überwiegend gesunder Kern, und an 
ihn wende ich mich, um ihn durch die Erkenntniss, wo- 
hin die Verirrung der Zeit führen muss, zum Wider- 
stände gegen einen bethörten Zeitgeist und Standesgeist 
zu ermuthigen und diesen Geist durch eine energische 
Reaktion in gesundere Bahnen zurückführen zu helfen. 

Wenn ich vorher darauf hingewiesen habe, dass es 
vorzugsweise das weibliche Geschlecht ist, dessen Egois- 
mus sich gegen die vorbehaltlose und opferwillige Er- 
füllung der ihm auferlegten Berufslasten zu sträuben in 
Gefahr ist, so erfordert die Gerechtigkeit die Anerken- 
nung, dass es vorzugsweise das männliche Geschlecht 
ist, welches aus finanziellen Bedenken vor der Ehe zu- 
rückscheut. Denn wie das Weib den schwereren Theil 
der natürlichen Lasten zu tragen hat, so der Mann den 
schwereren Theil der socialen Lasten, d. h. die Be- 
schaffung des Unterhalts für die ganze Familie. Das 
Mädchen, das sich verheirathet , muss dem Manne so- 
weit vertrauen, dass er für den Unterhalt der Familie 
sorgen wird; sie hat mit darunter su leiden, wenn sie 
sich geirrt hat, aber sie trägt keine Verantwortung da- 
für. Der Mann dagegen, der sich zur Ehe entschliesst, 
übernimmt die ganze Verantwortung für die Erhaltung 
der Familie und scheut vor dem Gedanken zurück, die- 
ser Verantwortung nicht gewachsen zu sein. In finan- 
zieller Hinsicht schreiten deshalb die meisten Mädchen 
geradezu leichtsinnig zur Ehe, auch wenn sie in andrer 
Hinsicht gar nicht leichtsinnigen Temperaments sind; 



- 65 - 

sie werden dabei von einem gewissen Fatalismus der 
Pflichterfüllung getragen und von der beruhigenden Ge- 
wissheit, alle Verantwortlichkeit in dieser Hinsicht auf 
den Mann abwälzen zu können. Es liegt ihnen so viel 
daran, zur Erfüllung ihres natürlichen Berufs und zu 
den socialen Vortheilen der Frauenstellung zu gelangen, 
dass sie ihre kritische Besonnenheit bereitwillig zurück- 
drängen und sich gern einer Täuschung über die Zu- 
kunft hingeben, die sie bei jeder ihrer Freundinnen 
ohne Zweifel durchschauen würden. Sie sind demgemäss 
stets bereit, die Sorgen und Bedenken eines sonst will- 
kommenen Bewerbers zu beschwichtigen und denselben 
ihrer Anspruchslosigkeit, Genügsamkeit, Arbeitslust und 
Opferwilligkeit zu versichern, um ihm den Entschluss 
zu erleichtem. Diese Versicherungen sind auch keines- 
wegs Lügen, sondern gute Vorsätze, deren Erfüllung sie 
sich wirklich zutrauen; zumal wenn ein Mädchen liebt, 
so hält es keine Beschränkung für zu gross, um als 
Hindemiss der Vereinigung mit dem Geliebten gelten 
zu dürfen. 

Leider pflegt die gehobene Stimmung der Braut 
nicht für die Dauer vorzuhalten und oft sind alle die 
guten Vorsätze bloss Pflastersteine auf dem Wege zu einer 
ehelichen Hölle. Die alten Gewohnheiten behaupten 
ihr Recht, und wenn auch die Vernunft so weit die 
Oberhand behält, um die unvermeidlichen Entbehrungen 
zu ertragen, so fehlt dabei doch nicht bloss die Freu- 
digkeit, sondern oft genug auch die blosse Geduld, und 
die mangelnde Zufriedenheit der Frau lässt auch die 
häusliche Behaglichkeit des Mannes nicht aufkommen. 
Bald ist es die Kleidung und der Putz oder Schmuck, 
bald der Charakter des Wohnorts, bald die Grösse der 
Wohnung, bald die Bedienung, bald die Kost, bald die 
Beschaffenheit des Umgangskreises, bald die Zerstreu- 
ungen und Vergnügungen, welche bei der neuen Lebens- 

Haxtniann, Moderne Probleme . 5 



•:o - 



Trei^^e mir den früheren GeTrohnhehen der Fraa im 
Widerspruch stehen und durch w^che ihre Unzuiriedec- 
heh erregt wird. ^lanchmal werden die altec GewöhTi- 
hehen durch nexie veriränaft. aber meist behairztet die 
'Err.ner:^^ an die früher besessenen Annehmlichkeiten 
ihr Recht und verhärtet und veiiittert äch in Bezug" 
auf den einen o»ier den andern Pur^ je länger ;e mehr. 
Schwimmer noch als ö5he Klagen und Vorwürfe wirkt 
auf den Gemüths^eden des ^lannes die unausgespro- 
chene ständige Unzumedenheit der Frau, sowohl der 
mürrischen wie der sanft duldenden, und am schlimm- 
sten ist die hvsterisch anerehauchte Bedrücktheit und 
Melancholie, welche stets mit dem Uebergang in wirk- 
liches Gemüthsleiden droht, wenn ihr nicht der Wille 
geschieht und sie durdi Zerstreuungen abgelenkt wird. 
Ist dem unbefiriedigten Anspruch durch Geld abzuhelfen, 
so soll der ^lann wo möglich seine schon voll ange- 
spannte Arbeitskraft überspannen, um demselben ge- 
nug zu thun; will er aber gar das Geld, welches zu 
diesem Z\«recke ausreichen \rürde, zur Selbstversiche- 
rung der Familie zurücklegen, so betrachtet die Frau 
das einfach als einen Raub an*dem ihr Gebührenden. 
Reichen die ^Cttel ohnehin schon nicht aus, imi irgend- 
welche Ansprüche der Frau zu befriedigen, so muss 
natürlich einer solchen Frau jeder Gedanke an weitere 
Vergrösserung der Familie als ein von dem rücksichts- 
losen Planne gegen sie geplantes Verbrechen erschei- 
nen: denn nun verbinden sich in ihr der Egoismus in 
natürlicher und in wirthschafüicher Hinsicht, um den 
Zweck der Ehe zu vereiteln. Ebenso staunenswürdig wie 
die Opferwilligkeit, die Energie und die Ausdauer der 
Leistungen sind, zu denen das Weib als uneheliche 
Mutter oder als Wiuwe imter dem eisernen Zwang der 
Xothwendigkeit , für ihre Kinder zu sorgen, sich auf- 
schwingen kann, ebenso grausam und unbarmherig kann 



-~ 67 — 

die egoistische Rücksichtslosigkeit sein, mit welcher 
dasselbe Weib alle Lasten dem Manne aufbürdet, so 
lange sie noch einen hat. 

Das hier gezeichnete Bild ist glücklicher Weise 
nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme, wenn auch 
keine ganz seltene; aber irgend etwas von den hier zu- 
sammengestellten Zügen wird man bei einiger Aufmerk- 
samkeit häufiger entdecken als man denkt. Jeder Mann^ 
der mit Heirathsgedanken umgeht, muss daran denken^ 
dass eine solche Zukunft auch ihm blühen kann, und 
dass wenigstens die guten Vorsätze und Versicherungen 
seiner Erkorenen ihm ganz und gar keine Bürgschaft 
dngegen gewähren. 

Bewimderungswürdig erscheint mir stets das Durch- 
schnittsweib aus dem Volke, das ohne Dienstboten ihr 
ganzes Hauswesen allein besorgen, ihre Wochenbetten 
unter dem Beistand gefälliger Nachbarinnen erledigen, 
ihre Kinder selbst Avarten und pflegen, dabei noch oft 
die Rohheiten eines rücksichtslosen und zeitweise be- 
trunkenen Mannes ertragen und durch eignen Arbeits- 
verdienst zur Einnahme der Familie beisteuern muss, 
und das alles mit der Aussicht, im Falle ihrer Wittwen- 
schaft für ihre Erhaltung und für die Erziehung der 
Kinder mit ihren zwei Händen aufkommen zu müssen. 
Dieses Weib aus dem Volke trägt entschieden den 
schwereren Antheil an der Last des Lebens, und die 
Art, wie sie ihn meistens trägt, nothigt uns volle Hoch- 
achtung vor ihrem sittlichen Werthe ab, welcher dem 
des Mannes meist ebenso überlegen ist, wie er in den 
höheren Ständen hinter diesem zurücksteht. An den 
unglücklichen Ehen und den Scheidungen in niederen 
Ständen trägt meist der Mann, an denjenigen in den 
höheren Ständen überwiegend die Frau die Schuld; in 
den ersteren ist entschieden die Frau, in den letzteren 



— 68 — 

gewohnlich der Mann der liebenswürdigere und inner- 
lich gebildetere Theil. 

Den Grund davon sehe ich wesentlich darin, dass 
die Mädchen und Frauen der höheren Stände durch ge- 
schäftigen Müssiggang systematisch verdorben, von dem 
Gedanken, dass Arbeiten und Dulden der natürliche Zu- 
stand des Menschen sei, entwöhnt und darauf hinge- 
drängt werden, in der Bequemlichkeit und Vergnüg- 
lichkeit den Zweck ihres Daseins zu suchen. Ein fünf- 
stündiger Mädchenschulunterricht mit zwei- bis dreistün- 
diger häuslicher Arbeitszeit, einhalb- bis einstündigem 
Schulwege und nebenherlaufenden Privatstunden ver- 
bietet es, die Mädchen während ihrer Schulzeit zu häus- 
lichen Arbeiten heranzuziehen; wenn sie dann mit 15 
bis 1 7 Jahren die Schule verlassen, so haben sie bereits 
gelernt, sich als Damen zu fühlen, welche für häusliche 
Arbeiten zu vornehm und zu gebildet sind, und wenn 
sie auch wirklich anders dächten, so sind in einem 
Hauswesen mit der entsprechenden Zahl von Dienst- 
boten keine nennenswerthen Arbeiten da, welche die 
Hausfrau ihnen anweisen könnte. Vom 16. Jahr bis 
zur Verheirathung in den 20 er Jahren sind sie somit 
zum Müssiggang förmlich gezwungen, wenn sie sich 
nicht zu einem wissenschaftlichen oder künstlerischen 
Studium entschliessen, durch welchen sie dem Beruf als 
künftige Hausfrauen immer mehr entfremdet werden. 
Das einzige, was sie ihm Durchschnitt lernen, das ist, 
ihre nutzlose Zeitvergeudung mit mehr oder minder 
•Grazie zu verschleiern, sei es durch das Lesien der aller- 
neuesten englischen und französischen Schundromane 
^der einzigen Frucht ihrer Sprachstudien), sei es durch 
Klavierklimpern, sei es durch zwecklose augenverder- 
bende Handarbeiten. 

Jeder Arbeitseifer, jedes Gefühl des Verpflichtet- 
seins zu volkswirthschaftlichen Leistungen, jede Scham 



— 69 - 

vor einer blossen Schmarotzerexistenz und unverdien- 
tem Wohlleben wird dabei systematisch ertödtet, und 
man kann sich nicht wundem, wenn die so erzogenen 
Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau 
in ein Hauswesen eintreten zu sollen, wo ihnen zwar 
die grobe Arbeit durch eine Magd abgenommen wird, 
aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eige- 
nen Kleidung und derjenigen für die Kinder, imd, was 
am schwersten wiegt, die tägliche und nächtliche Kin- 
derpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde. Das 
Höchste, wozu sie sich aufschwingen wollen, ist die 
Last der Leitung eines Hauswesens mit mehreren Dienst- 
boten, deren Ansprüche an Gedankensammlung und 
wohlüberlegte Anordnung schon grell genug von der 
in der Mädchenzeit gewohnten passiven Bummelei ab- 
stechen; aber einen Mann zu nehmen, der nicht im 
Stande ist, ihnen Köchin und Kindermädchen zu halten, 
und alle Familiengarderobe durch fremde Hände anfer- 
tigen zu lassen, darin sehen sie mindestens ein so 
grosses Opfer, dass es durch ein lebenslängliches Auf- 
händengetragenwerden vom Manne nicht aufgewogen 
werden kann. 

In der Regel denkt ein Mädchen beim Heirathen 
nur an den Brautstand, die Hochzeitkleider und die 
Honigmonde, und alle damit gegebenen Lasten ist sie 
willig, auf sich zu nehmen. Kommen nachher die Kin- 
der hinzu, welche eine Kinderwärterin, Kinderkleider, 
vergrösserte Wohnung und Tafel verlangen, nun so ist 
das eben blosse Schuld des Mannes, fiir die er aufzu- 
kommen hat. Kann er das nicht in dem Maasse, wie 
das Behagen und die Bequemlichkeit der Frau es ver- 
langen, so macht er dadurch diese zur Märtyrerin, oder 
er vergrössert vielmehr nur das Martyrium, welches die 
Frau durch die wiederholten Schwangerschaften, Ent- 
bindungen und Wochenbetten „um seinetwillen" tragen 



— 70 — 

muss. Dass in den höheren Ständen der Beruf des 
Mannes, durch welchen er die Mittel für die Erhaltung* 
der Familie beschafft, ein viel grösseres Martyrium ist 
als derjenige einer alle ihre Pflichten erfüllenden Frau, 
dass er namentlich die Lebensdauer in viel höherem 
Grade abkürzt, das kommt dabei natürlich nicht in Be- 
tracht. Wie der Beruf den Mann allmählich aufreibt 
und seine Gesundheit untergräbt, entzieht sich in den 
früheren Stadien meistens der Beobachtung, wird auch 
wohl vom Manne geflissentlich ignorirt; wie dagegen 
der Beruf der Frau vorübergehende und später sich 
meist völlig wieder ausgleichende Störungen des Wohl- 
befindens hervorruft, das liegt auf der Hand, und die 
Frauen ermangeln selten, es in das rechte Licht zu 
stellen, wie „leidend" sie durch Erfüllung ihres Berufs 
geworden sind, zumal wenn sie dabei „nervös" oder gar 
„hysterisch" sind. 

Und wie viele Frauen der höheren Stände giebt es, 
die nicht nervös sind? Wie viele, welche körperlich 
der Erfüllung ihres Berufes noch vollauf gewachsen und 
im Stande sind, die Vereinigung von Arbeit und Kin- 
derwartung am Tage mit jahrelanger nächtlicher Ruhe- 
störung ohne unerträgliche Steigerung ihrer Nervosität 
zu ertragen? Durch das sinnlose Aderlassen der vor- 
hergehenden Jahrhunderte sind wir zu einem blutarmen, 
bleichsüchtigen Geschlechte, durch das städtische Leben 
mit seinen künstlichen Erregungen und seinem Mangel 
an frischer Luft und Bewegung im Freien zu einem 
nervösen Geschlecht geworden, und in Folge der un- 
vernünftigen Ueberanstrengxing des zarter gebauten 
weiblichen Gehirns vom 6. bis zum i6. Jahr durch unsre 
höheren Töchterschulen und weiterhin durch die weib- 
lichen Berufsstudien haben wir den durch das gesund- 
heitswidrige Schnüren der letzten Generationen schon aus 
dem Gleichgewicht gerückten weiblichen Organismus 



— Jl — 

der höheren Stände dahin gebracht, dass er zu seinen 
natürlichen Zwecken immer untauglicher geworden ist. 
Kein Wunder, wenn da der Geist anfangt, sich gegen 
die Erfüllung der Natur zwecke aufzulehnen, zu denen 
er den Körper unbrauchbar fühlt. Das nach Glück imd 
Liebe sich sehnende Herz des Mädchens geräth in 
Widerspruch mit der Natur, und wird fast unwillkürlich 
zu einem platonischen abstrakten Idealismus hingedrängt, 
in welchem es wähnt, ein Männerherz ohne die Natur- 
basis der Liebe sich dauernd zu eigen machen zu kön- 
nen; unsre ganze Mädchenerziehung, welche auf ängst- 
liche gewaltsame Verschleierung und Ignorirung dieser 
Naturgrundlage und ihrer Weisheit und Würde ausgeht, 
unterstützt diese ihrem Egoismus so angenehme Ver- 
irrung, und der Mann hat nachher die Kosten dieser 
künstlichen Selbsttäuschung zu tragen, indem sein na- 
turgemässes Verhalten ihm als sinnliche Rohheit und 
rücksichtslose Barbarei in Rechnung gestellt wird. Wenn 
es so der Frau auch nicht gelingt, den Mann von seinem 
Unrecht gegen sie zu überzeugen, so überzeugt sie ihn 
doch hinlänglich von ihrer Naturentfremdung, Untüchtig- 
keit und Selbstsucht, stumpft hierdurch wie durch die 
quälende Unzufriedenheit mit ihrer Lage die anfängliche 
Liebe des Mannes für sie mehr und mehr ab, und ge- 
langt so an einen Punkt, wo der erkaltete und ermü- 
dete Mann dem Appell an seinen wirthschaftlichen 
Egoismus zugänglich wird. Die Folge ist dann die ge- 
ringere Kinderzahl des Ehen der höheren Stände im 
Vergleich mit denen der niederen. 

Die jungen Männer reflektiren wohl selten auf alle 
hier aufgeführten Umstände, aber sie haben doch eine 
mehr oder minder deutliche Kenntniss von der Natur- 
entfremdung, körperlichen und geistigen Berufsuntüch- 
tigkeit,' Arbeitsscheu, Verwöhnung und Selbstsucht der 
Mädchen höherer Stände, denn sie kennen ja ihre 



— -Jl 



Schwestern. Sie haben deshalb eine instinktive Furcht 
vor der Ehe, und ziehen es vor, mit Mädchenherzen 
vor der Ehe zu spielen, anstatt mit ihrem Herzen nach 
der Hochzeit spielen zn lassen. Sie fürchten mehr als 
in irgend einer früheren Kulturperiode die Liebe, welche 
sie verblenden konnte gegen das, was sie zu erwarten 
haben, schätzen ihre Junggesellenfreiheit um so hoher, 
und hoffen dass ihnen der „Reinfall" auf ein vermögens- 
loses Mädchen erspart bleiben wird. Wenn sich mm 
in dieser Hoffnung auch ein grosser Procentsatz täuscht, 
so ist doch solche generelle Abneigung der gebildeten 
Jugend gegen die Ehe mit einem vermögenslosen Mäd- 
chen ein höchst bedenkliches Zeichen der Zeit, ein 
Symptom von einem auch in der Männerwelt über- 
wuchernden Egoismus, von Mangel an Familiensinn und 
socialem Pflichtgefühl. Kein Mann kann bezweifeln, 
dass es auch unter den vermögenslosen Mädchen seines 
Standes Ausnahmen genug giebt, dass er, wenn er 
durchaus in seinem Stande heirathen will, den Muth 
haben muss, nach diesen Ausnahmen zu suchen, dass 
es mit zu seiner Pflicht gehört, im Falle der Enttäu- 
schung in der Ehe den Kampf mit der Selbstsucht der 
Frau aufzunehmen und die versäumte Erziehung der- 
selben nachzuholen, dass er endlich selbst bei Erfolg- 
losigkeit dieses Streben s seine Töchter anders erziehen 
und eine bessere sociale Zukunft herauffiihren helfen soll- 
Das Verschanzen hinter die weiblichen Fehler ist 
leider nur zu oft ein blosser Vorwand der männlichen 
Jugend, um ihrer Selbstsucht, d. h. dem Verbrauch ihres 
gesammten Einkommens für ihre Person, ungestört 
weiter fröhnen zu können. Wer seine ganze Einnahme 
für sich allein verbraucht, der schreckt natürlich davor 
zurück, plötzlich den Haupttheil derselben für eine Fa- 
milie abgeben zu sollen; er verschiebt das Heirathen 
auf eine Gehaltserhöhung, hat aber, wenn diese kommt. 



— 73 — 

nicht gerade eine bestimmte Frau in Aussicht, und ge- 
wöhnt sich dann daran, auch das höhere Einkommen 
ganz für seine persönlichen Bedürfhisse zu verbrauchen. 
Uebermannt ihn eine wirkliche Liebe, so entschliesst er 
sich freilich zu Opfern und Einschränkungen und findet 
nachher meistens, dass ihm die Entbehrungen viel leich- 
ter geworden sind, als er sich vorher gedacht hat, ge- 
rade umgekehrt wie bei der Frau. Fehlt es aber zu 
der Zeit, wo sein Einkommen für eine Familie ausreicht, 
an einer rechten Liebe in seinem Herzen, die ihn über 
die kleinliche Selbstsucht hinweghebt — und diess ist, 
nur zu oft der Fall — so wird die letztere bei vielen 
stark genug sein, sie von der Erfüllung ihrer socialen 
Bürgerpflicht durch Eheschliessung abzuhalten. Freilich 
giebt es noch junge Männer genug, die auch ohne 
eigentliche Liebesleidenschaft ganz gern bereit wären, 
sich erhebliche persönliche Einschränkungen aufzulegen 
um des Familienglücks und des häuslichen Behagens 
theilhaftig zu werden, wenn sie nur noch den Glauben 
fassen könnten, dass dieses Glück ihnen mit den ver- 
wöhnten und anspruchsvollen Mädchen ihres Standes 
wirklich noch blühen könne, wenn sie nicht fürchten 
müssten, alle Opfer umsonst zu bringen, und sich durch 
Fesselung an eine unzufriedene und missvergnügte Frau 
das Leben zu verbittern. 

Die schonungslose Aufdeckung .der Gründe, aus 
denen die vermehrte Ehelosigkeit und Heirathsverspä- 
tung und die verminderte Kinderzahl unserer höheren 
Stände entspringt, mag manchem Leser peinlich ge- 
wesen sein, aber sie hat wenigstens den Vortheil, die 
Punkte erkennbar zu machen, an welchen die Hebel 
zur Wiederherstellung gesunderer socialer Zustände an- 
gesetzt werden müsse'n. 

Zunächst kann die Gesetzgebung etwas thun, näm- 
lich die Prämie aufheben, welche auf der Ehelosigkeit 



— 74 — 

steht in Folge des Umstandes, dass der Familienvater 
von seinem Einkommen trotz der erhöhten Leistungen 
für den Staat durch die Kindererziehung und trotz des 
höheren Beitrag« zu den indirekten Steuern und Zöllen 
doch noch dieselben direkten Steuern zahlen muss, wie 
der Junggesell, und dass nach Intestaterbrecht ledige 
und verheirathete Erben gleichen Erbanspruch haben. 
Wir betrachten zunächst den ersten Punkt. 

Ob ein Einkommen eine oder fünf Personen er- 
nährt, müsste sich doch in der Steuerquote ausdrücken, 
d. h. der unverheirathete Steuerzahler müsste von dem 
gleichen Einkommen das Fünffache an direkter Steuer 
entrichten, wie der Familienvater, um einen billigen 
Ausgleich herzustellen. Wir können nicht zu dem 
Athenischen Gesetze zurückkehren, nach welchem der 
gesunde Bürger mit zurückgelegtem vierzigsten Lebens- 
jahr zur „Zwangstrauung" geführt wurde (wie bis vor 
Kurzem bei ims die Kinder zur Zwangstaufe), aber wir 
können unsern Bürgern die Eheschliessung dadurch als 
eine staatsbürgerliche Ehrenpflicht einschärfen, dass wir 
die Entziehung von derselben ähnlich wie diejenige 
von gewissen Ehrenämtern der Selbstverwaltung durch 
Vervielfachung der direkten Steuern ahnden. Das Ge- 
schlecht kann hierbei keinen Unterschied begründen; 
denn in den steuerpflichtigen Jungfern, mögen sie im 
Einzelnen noch so unschuldig an ihrem Sitzenbleiben 
sein, muss die Entartung ihres Geschlechts im Ganzen 
gestraft werden, da die Gesetzgebung nicht individuali- 
siren kann. Da die unteren Stufen der Klassensteuer 
ohnehin schon bei uns aufgehoben sind, imd weitere 
Stufen der Aufhebung entgegen sehen, so würden die 
von ihrem Arbeitsertrag lebenden Jungfern von einer 
solchen Massregel ebensowenig betroffen werden, wie 
die niederen Stände überhaupt, und auf weiblicher Seite 
nur die besser situirten Rentnerinnen darunter zu leiden 



— 75 — 

haben, die es vertragen können.*) Da die Entziehung 
von der socialen Pflicht der Familiengründung um so 
gemeindschädlicher und strafbarer ist, je wohlhabender 
die ledigen Individuen sind, so wäre es sogar nicht mehr 
als billig, den Coefficienten für die Vervielfachung der 
Steuer progressiv zu machen; denn je grosser die Wohl- 
habenheit, desto strafbarer ist die Entziehung von der Pflicht 
der Familiengründung und desto nachtheiliger wirkt die 
durch sparsame Proliferation verursachte Vermögens- 
anhäufung. In den niederen Ständen, wo die Vermeh- 
rung schon eher zu schnell als zu langsam ist, hat man 
durch Aufhebung aller Erschwerungen und Unkosten 
der Eheschliessung und durch die theils schon durch- 
geführte, theils in Aussicht stehende Aufhebung des 
Schulgeldes alles gethan, um die Vermehrung noch zu 
befördern; in den höheren Ständen, wo die Vermehrung 
erschreckend hinter dem Nothwendigen zurückbleibt, 
scheut man bis jetzt vor der natürlichsten Forderung 
der ausgleichenden Gerechtigkeit durch die Verviel- 
fachung der direkten Steuern der Ledigen zurück. 

Wir kommen nun zu dem zweiten Punkt, nämlich 
zu der Unbilligkeit, welche darin liegt, dass ledige und 
verheirathete Kinder gleichviel erben. Die alten Jung- 
fern, welche eine zwecklose Drohnenexistenz im Staate 
führen, und die Junggesellen, welche ausser ihrer direk- 
ten Berufsarbeit keine socialen Leistungen für den Staat 
aufzuweisen haben, verdienen nicht von der Rente des 
gemeinsamen Familienvermögens den nämlichen Antheil 
zu verbrauchen, wie ihre verheiratheten Geschwister, 



*) Wollte man dem skrupulösesten Gerechtigkeitsgefühl Rechnung 
tragen, so brauchte man nur die Bestimmung in das Gesetz aufzunehmen, 
dass Jungfern durch die eidesstattliche Versicherung, niemals einen Hei- 
rathsantrag gehabt zu haben, von der Steuererhöhung befreit werden. Wer 
die Frauen kennt, wird keinen Augenblick daran zweifeln, dass eine solche 
Klausel unbenutzt bleiben würde, und dass deshalb ihre Aufnahme in's 
Gesetz überflüssig und wirkungslos wäre. 



- 76 - 

welche durch ihre Kinder gezwungen sind, für ihre 
Person bei gleicher Einnahme viel beschränkter zu leben. 
Wenn auch die Vermogens-Antheile der Ledigen später 
auf ihre Neffen und Nichten mitübergehen, so gelangen 
sie doch meistens zu spät in deren Hände, um densel- 
ben noch mit ihren vollen volkswirthschaftlichen Nutzen 
zu gut zu kommen und was weit schlimmer ist, die 
Rente derselben ist für die Lebensdauer der Erbonkel 
und Erbtanten dem socialen aktiven Theil des lebenden 
Geschlechtes verloren gegangen und hat durch die un- 
verhältnissmässige Erhöhung des Wohllebens, des Kom- 
forts und des Luxus der Niessnutzer als augenscheinliche 
Prämie ihrer Ehelosigkeit gewirkt. Umgekehrt würde 
mancher egoistischer Junggeselle sich eher zur Verhei- 
rathung entschliessen und manches wohlhabende wähle- 
rische Mädchen vorsichtiger in der Austheilung ihrer 
Körbe und maass voller in ihren Ansprüchen werden, 
wenn sie wüssten, dass die Hälfte der noch zu erwar- 
tenden Erbschaften ihnen verloren geht, falls sie ledig 
bleiben. Um diess zu erreichen, müsste das Intestaterb- 
recht dahin abgeändert worden, dass unter verwandt- 
schaftlich gleich nahe stehenden Erbberechtigten die 
Ledigen nur den halben Erbanspruch von demjenigen 
der Verheiratheten haben sollen. Diejenigen Ledigen, 
welche beim Erbfall noch nicht das 35. Lebensjahr zu- 
rückgelegt haben, müssten beanspruchen können, dass 
ihnen die andere Hälfte ihres Erbtheils sichergestellt 
werde für den Fall, dass sie sich bis zu dem genann- 
ten Alter verheirathen, wogegen nach Ueberschreitung 
dieser Altersgrenze der sichergestellte Theil unter die 
verheiratheten Mit erben zur Vertheüung gelangen würde. 
Wem diese Bestimmung missfiele, dem bliebe es unbe- 
nommen, testamentarisch anders zu verfügen; da aber 
der Erbgang thatsächlich zum grossen Theil nach Intestat- 



— 77 — 

erbrecht erfolgt, so würde eine Aenderung in diesem 
immerhin einen beträchtlichen realen Einfluss haben. 

Für wichtiger als den realen Einfluss würde ich 
übrigens die moralische Wirkung solcher gesetzlicher 
Bestimmungen halten, insofern sie im Volke das Be- 
wusstsein wecken und stärken würden, dass die social 
passiven und social aktiven Theile der Gesellschaft einen 
so verschiedenen socialen Werth für die Gesammtheit 
haben, dass sie nicht mit gleichem Maasse gemessen 
werden dürfen. Der Satz: „wer nicht arbeitet, soll 
auch nicht essen" muss wenigstens insoweit wieder zu 
Ehren kommen, dass die sociale Berufslosigkeit der Miss- 
achtung preisgegeben wird, wo sie verschuldet ist, dass 
kouponschneidende Müssiggänger und Müssiggängerin- 
nen nicht mehr der ehrlichen Arbeit zum Hohn ein 
luxuriöses Wohlleben führen, sondern auf ein beschei- 
denes Auskommen beschränkt werden, und dass die- 
jenigen, welche die staatsbürgerliche Ehrenpflicht der 
Familiengründung nicht erfüllt haben, auch nicht gleiche 
Rechte wie ihre leistungsfähigeren und leistungswillige- 
ren Mitbürger zu besitzen verdienen. Der behaglich 
lebende Junggeselle muss aufhören, sich vergnügt in 
die Hände zu reiben, sich seiner Pfiffigkeit zu rühmen, 
und hohnlachend auf den dummen Tropf herabzusehen, 
der sich im Schweisse seines Angesichts für seine zahl- 
reiche Familie plagt. Die spöttische Geringschätzung, 
welche schon jetzt wegen ihrer Berufslosigkeit oft un- 
verdient genug auf der alten Jungfer lastet, muss auch 
auf den körperlich heirathsfähigen alten Junggesellen 
übertragen worden, mit doppelter Wucht, weil er nicht 
auf das Gewähltwerden zu warten braucht, sondern 
selber die Wahl frei hatte; sie muss sich zum sittlichen 
Unwillen steigern, wenn die Entziehung von der soci- 
alen Ehrenpflicht der Familiengründung sich beim Jung- 
gesellen mit berufsloser Unthätigkeit paart, aus welcher 



- 78 - 

man der alten Jungfer unter den heutigen Verhältnissen 
kaum einen Vorwurf machen kann. 

Wenn auf diese Weise das Gefühl der Verpflich- 
tung zur Familiengründung in der männlichen Jugend 
wieder geweckt und die Entziehung von dieser Ehren- 
pflicht wieder zu einem Gegenstande der Scham ge- 
macht worden ist, dann werden auch die jungen Männer 
mit ganz andern Augen auf ihre Zukunft blicken lernen 
und ihre Gegenwart mit Rücksicht auf diese Zukunft 
zu gestalten suchen. Jetzt, wo sie für sich leben, halten 
sie es so sehr für das Normale, ihre ganze Einnahme 
zu verbrauchen, dass ihnen das Gegentheil gar nicht in 
denn Sinn kommt; dann, wenn sie ihre Junggesellen- 
zeit nur als Vorstufe zu derjenigen des Familienvaters 
ins Auge fassen, werden sie von vornherein ihre Ge- 
wohnheiten nach Maassgabe der letzteren einzurichten 
haben. Von seelenmörderischen Lastern, wie dem Spiel, 
werden sie sich viel leichter frei halten, wenn ihnen die 
Perspektive des Familienlebens als Ziel vorschwebt; 
die Kosten für Verhältnisse zweifelhaften Charakters 
werden sie sich ebenfalls auf Grund des näher gerück- 
sen ehelichen Lebens lieber ersparen, womit dann 
wiederum der Hauptantrieb zu kostspieligem Kleider- 
luxus in Wegfall kommt. Je mehr sie das Bewusstsein 
haben, sich für künftiges Familienleben vorzubereiten, 
desto mehr werden sie den Familienverkehr der Kneipe 
vorziehen, desto mehr wird die Verführung der Kneipe 
zur Gewöhnung an übermässige Fleischnahrung, Trinken 
und Rauchen zurücktreten, desto weniger werden sie 
von ihrer Nachtruhe der Erholung opfern und desto 
besser werden sie für ihre Gesundheit und die Erhal- 
tung ihrer Nervenkraft sorgen. Glücklicherweise be- 
ginnt das Rauchen in der gebildeten Jugend jetzt ebenso 
aus der Mode zu kommen, wie das Tabakkauen und 
Schnupfen es schon lange ist, und gegen das sinnlnse 



— 79 — 

Trinken erhebt sich aus studentischen Kreisen selbst 
ebenso eine Reaktion wie aus medicinischen Kreisen 
' gegen den eine Zeitlaug begünstigten übermässigen 
Fleischgenuss. Wer aber an gesundheitsgemässe ge- 
mischte Kost gewöhnt ist und weder raucht, noch trinkt, 
noch spielt, der hat für seine Person kaum noch ein 
Opfer zu bringen nöthig, wenn er zur Ehe schreitet, der 
wird auch vor der Ehe nicht in Versuchung gewesen 
sein, sein ganzes Berufseinkommen für sich zu verbrau- 
chen, sondern wird zeitig angefangen haben, zurückzu- 
legen, sei es in Form von Ersparnissen oder von Al- 
ters- und Lebensversicherung oder sonst wie. Ein sol- 
cher Mann wird beim Uebergang zum Famüienleben 
nur gewinnen, vorausgesetzt, dass er ein gesundes, ar- 
beitsfähiges, arbeitswilliges und anspruchsloses Mädchen 
wählt. 

Wenn es bei einem gesunden Zeitgeist und Stan- 
desgeist das Natürlichste ist, ein solches Mädchen in 
seinem Stande zu suchen, so muss diess bei einem kor- 
rumpirten Stahdesgeist, bei einem zur Unsitte geworde- 
nen Leben über den Stand hinaus, ebenso bedenklich 
erscheinen wie unter normalen Verhältnissen das Hei- 
rathen über seinem Stande. Niemand darf sich für 
einen Herzenskündiger halten, am wenigstens, wenn 
Amor ihm die Binde um die Augen gelegt hat; des- 
halb wird Niemand sich zutrauen dürfen, den Charakter 
seiner Erkorenen so zu durchschauen, dass er sich auf 
Grund ihrer guten Vorsätze gegen jeden Rückfall in 
luxuriösere Gewohnheiten, als sie bei ihm fortsetzen 
kann, gesichert halten dürfte. Es bleibt also bei der 
Trüglichkeit der subjektiven Diagnose dem Heiraths- 
kandidaten nur das objektive Merkmal übrig, ob die 
bisherigen Gewohnheiten, welche seine Erwählte in der 
Lebenshaltung ihres Elternhauses sich angeeignet hat, 
nicht über das Maass von Komfort hinausgehen, wel- 



— 8o — 

ches er ihr gewähren kann. Ist dies der Fall, so muss 
er sich darüber klar sein, dass auch die beste und be- 
scheidenste Frau, die sich willig in die ihr neuen, ein- 
facheren Verhältnisse findet, doch nie ajif hören wird, 
ihr Herabsteigen als ein ihm dargebrachtes Opfer zu 
empfinden, welches vorweg durch einen Ueberschuss 
an Liebe über die sonst zu verlangende hinaus ausge- 
glichen werden muss. Für den Mann ist es ein Leich- 
tes, das Weib seiner Wahl zu sich emporzuheben, da 
die meisten Frauen sich mit wunderbarem Geschick 
höheren Ansprüchen anzupassen und in einem höheren 
Kreise heimisch zu machen verstehen ; dagegen fallt es 
dem Weibe unendlich schwer, sich zu dem Manne ihrer 
Wahl so herabzulassen, dass er es nicht mehr als 
Herablassung fühlt. Die Frau vergleicht niemals die 
Lage, in welche sie ohne die geschlossene Ehe nach 
dem Tode ihrer Eltern gekommen sein würde, mit der 
in der Ehe ihr zu Theil gewordenen, sondern immer 
nur diejenige, welche sie als Mädchen thatsächlich im 
Eltemhause durchlebt hat; denn die Frau kümmert sich 
nicht um abstrakte Möglichkeiten der blossen Vorstel- 
lung, sondern hält sich an die ihrem Gedächtniss an- 
schaulich eingeprägte Erfahrung als allein reell in Be- 
tracht kommendes Vergleichsobjekt. Fällt dieser Ver- 
gleich für die Gegenwart ungünstig aus, so hilft kein 
Hinweis auf das, was inzwischen vermuthlich an deren 
Stelle getreten sein würde; denn die Möglichkeit bleibt 
ja unbestreitbar, dass sie vielleicht auch noch eine bes- 
sere Partie hätte machen können. 

Will also der Mann sicher gehen, so muss er seine 
Wahl auf solche Familien seines Standes beschränken, 
welche der Verirrung des Zeitgeistes erfolgreich Wider- 
stand geleistet und ihre Töchter so einfach gehalten, 
so anspruchslos erzogen und so zur Arbeitsamkeit ge- 
wöhnt haben, dass sie das ihnen dargebotene Loos an 



— 8i — 

seiner Seite ohne Herablassung und ohne Umlernen in 
ihren Gewohnheiten annehmen könne. Ein Mann, dessen 
voraussichtliche Einnahme mit 30, 40, 50 und 60 Jahren 
die Höhe von 30, 40, 50 und 60 hundert Mark nicht über- 
steigt (wie diess durchschnittlich bei unsern meisten hö- 
heren Berufsarten thatsächlich nicht der Fall ist), kann 
schlechterdings nur mit einer Frau zufrieden und behag- 
lich leben, welche fähig und willens ist, ihre eigene 
Köchin, Kinderwärterin und Schneiderin zu sein und 
sich nur für die grobe Hausarbeit eine Hilfe zu halten. 
Eine solche wird er aber nur in einem Hause suchen 
dürfen, das selber mit höchstens einem Dienstboten oder 
womöglich ohne solchen mit einer blossen Aufwärterin 
auskommt, und auch sonst in Kost, Kleidung, Wohnung, 
Reisen u. s. w. sich der grössten Bescheidenheit befleis- 
sigt, keinesfalls aber in einem solchen, wo die erwach- 
senen Töchter gewohnt sind, sich bedienen zu lassen, 
statt selbst den Eltern und dem Ganzen der Familie zu 
dienen. Findet er aber keine solche Familien in seinem 
Stande, oder doch keine, deren Töchter sein Herz zu 
gewinnen vermögen, so soll er darum sich nicht von 
seiner Pflicht entbunden erachten, sondern den einfachen 
Ausweg einschlagen, so weit von seinem Stande herab- 
zusteigen, als die Gemüthserziehung und Charakterbil- 
dung der Töchter noch ausreichend scheint, um seinen 
Kindern die nothwendige mütterliche Erziehung zu sichern. 
Würde das erstere allgemein unter der männlichen 
Jugend, so würden alle über ihren Stand hinaus leben- 
den Familien damit bestraft, dass ihre Töchter sitzen 
bleiben, und nur die vernünftigen erhielten in der aus- 
nahmsweisen Verheirathung ihrer Töchter die Prämie 
für den Muth und die Ausdauer ihres Schwimmens gegen 
den Strom. Würde an Stelle aller Töchter der über ihren 
Stand hinaus lebenden Familien von den jungen Männern 
Töchter aus geringerem Stande gewählt, so würde der 

Hartmann, Moderne Probleme. ^ 



— 82 — 

komimpirte weibliche Theil der höheren Stände von der 
Fortpflanzung ausgeschlossen, ohne dass darum die in 
dem männlichen Theil derselben Stände niedergelegten 
erblichen Eigenschaften dem Kulturprocess mit verloren 
gehen; an Stelle der Blutserneuenmg des Standes durch 
Einrücken von ganz neuen Elementen, aus den niederen 
Ständen träte dann eine halbseitige Blutsauffrischung durch 
Komnubium mit den minder entarteten Töchtern der 
nächstniederen Stände. Diese halbseitige Blutsauffrischung 
hat jedenfalls vor der gänzlichen Blutsemeuerung des 
Standes den Vortheil, dass die durch Vererbung ange- 
häuften Eigenschaften wenigstens des männlichen Theils 
fiir die weitere Betheiligung des Standes an der Kultur- 
arbeit konservirt werden; aber sie macht die Forderung 
nicht überflüssig, dass man Mittel und Wege aufsuchen 
müsse, um wo möglich auch die weibliche Hälfte der 
höheren Stände vor einer solchen Ausschaltung zu be- 
wahren. 

Das bei weitem wirksamste Mittel würde jedenfalls 
das Bewusstsein von der drohenden Ausschaltung durch 
Verheirathung aller Männer mit Mädchen geringeren 
Standes sein; denn der letzte Grund für das Drängen 
gerade des weiblichen Geschlechts nach Luxus ist doch 
schliesslich nur die Hoffnung, durch solchen Schein einer 
Erhabenheit über das Durchschnittsniveau ihres Standes 
die Männer zu blenden und für sie anziehender imd be- 
gehenswerther zu werden. Sobald die Ueberzeugung im 
weiblichen Geschlecht allgemein würde, dass dieses Stre- 
ben den umgekehrten Erfolg hat, würde dessen Nerv- 
gelähmt sein. Der Irrthum aber, durch welchen die Mäd- 
chen bisher zu diesem verkehrten Verfahren sich haben 
verleiten lassen, entspringt aus der Verwechselung zwi- 
schen der Anziehungskraft, die ein Mädchen auf einen 
Mann zur vorübergehenden Unterhaltung ausübt, und 
derjenigen, welche sie auf einen solchen als Heiraths- 



— 83 - 

kandidaten ausübt. Nur die erstere macht sich den Mäd- 
chen in jeder Gesellschaft und auf jedem Balle sinnlich 
wahrnehmbar, während die letztere sich in ihren Ursachen 
den Verständniss der Mädchen zu sehr entzieht. Aber ein 
wenig Nachdenken könnte sie doch lehren, dass die am 
meisten umschwärmten Löwinnen der Bälle und Land- 
partien ebenso oft und noch öfter sitzen bleiben als die 
unbeachteten und unscheinbaren Wegeblümchen. Eine 
grosse Schuld der Bestärkung in diesem Irrthimi tragen 
leider die Mütter, indem sie nach dem Eintritt in die 
Ehe nicht aufhören wollen, auf die zum Theil dem Luxus 
der Erscheinung zugeschriebenen gesellschaftlichen Er- 
folge zu verzichten, vielmehr den Verlust der jugend- 
lichen Reize durch Steigerung der Toilette zu ersetzen 
suchen. Solchen Müttern geschieht dann ganz Recht, 
wenn sie das ihren Töchtern gegebene üble Beispiel mit 
deren Sitzenbleiben büssen müssen. 

Man kann sagen-, dass der letzte handgreifliche Grund 
unsrer verschrobenen Weiber in dem höheren Töchter- 
schulwesen liegt, das sich erst in dem letzten halben 
Jahrhundert entwickelt hat. Könnten wir diese Ent- 
wickelung mit einem Streich rückgängig machen, und 
unsere Töchter auf das Niveau der Volksschulbildung^ 
mit dem unsere Grossmütter sich begnügen mussten^ 
zurückschrauben, so würden sie ebenso wenig, wie diese 
es thaten, sich für zu vornehm und zu gebildet zur Er- 
füllung ihrer natürlichen und socialen Pflichten, zur Kin- 
derpflege und Hausarbeit halten. Hat doch selbst die 
Jungfernfrage nur dadurch ihre Schärfe bekommen, dass 
die Jungfern der höheren Stände nicht^ mehr wie früher 
in den Hauswesen ihrer Verwandten arbeiten und dienen 
wollen. Alle Halbbildung ist ein Fluch und nicht ein 
Segen; unsere höhere Töchterschulbildung aber ist Halb- 
bildung der schlimmsten Art und erzeugt naturgemäss 

auch die Folgen einer solchen. 

6* 






- 84 - 

Nun lässt sich aber eine fünfzigjährige geschichtliche 
Entwickelung nicht so ohne Weiteres annulliren, und es 
sind ja auch in der Töchterschule berechtigte und der 
Pflege werthe Elemente vorhanden, welche man nicht 
mit der Wurzel ausreissen sollte, selbst wenn man es 
könnte. Ich begnüge mich hier mit Aufstellung der 
Forderung, dass der Unterricht bis zum 14. Jahre nur 
4 Stunden täglich, nachher nur 3 Stunden (mit Aus- 
schluss von Rechnen und Gesang) umfassen darf, dass 
nur eine fremde Sprache (die französische) getrieben 
werden, und dass für die häuslichen Arbeiten nicht mehr 
als eine Stunde in Anspruch genommen werden darf. 
Hierdurch würde die gesundheitsschädliche Ueberan- 
spannung der Mädchengehirne beseitigt und die Mög- 
lichkeit einer zunehmenden häuslichen Nebenbeschäftigung 
der Schulmädchen eröffiiet. Eine fakultative Ausdehnung 
der Schulzeit auf 11 — 12 Jahre mit nur 2 täglichen Un- 
terrichtsstunden in den beiden letzten Jahren würde den 
jetzt so schroffen Uebergang von der Schule zur häus- 
lichen Selbstthätigkeit allmählicher machen und der 
Schule erst Gelegenheit geben, Disciplinen wie Kunst- 
geschichte 'mit wirklichem Nutzen zu pflegen, die jetzt 
nur mehr als schöne Aushängeschilder in den Schulpro- 
grammen prangen und bloss den Mädchen mit dem 
Glauben an die erlangte Bildung den Kopf verdrehen. 

Sache der Mütter ist es, die Töchter sowohl in den 
Schuljahren mit abnehmender Schulzeit wie nach be- 
endigter Schulzeit mit Ernst und Strenge zu geordneter 
und nützlicher häuslicher Thätigkeit anzuhalten, Sache 
der Väter, ebensowohl den heranwachsenden Töchtern 
wie den heranwachsenden Söhnen gegenüber die Hand 
auf den Beutel zu halten, damit sich beide nicht früh- 
zeitig an ein Maass von Ausgaben gewöhnen, von dem 
nach der Verheirathung oder nach des Vaters Tode zu- 
rückstehen zu müssen sie später als schmerzliche Ent- 



' '**.'*'■ 



f.' 



-r- -1 



- 85 - 

behrung empfinden würden. Wenn jeder Familienvater 
seiner Pflicht eingedenk bleibt, den Etat des Hauswesens 
niemals bloss nach den augenblicklich verfügbaren Mit- 
teln einzurichten, sondern immer zugleich die Zukunft 
der Familie im Auge zu behalten, dann wird sich ganz 
von selbst eine Einrichtung des Hauswesens ergeben, 
welche sowohl die Söhne wie die Töchter für ihre künf- 
tige Aufgabe eigener Familiengründung vorbereitet. 



V. 

Der Rückgang des Deutsehthums. 

Nachdem das Deutschthum über ein Jahrtausend 
eine nationale Kraft bethätigt hat, welche denjenigen 
seiner Nachbarvölker überlegen war und deshalb zum 
Vorrücken seiner Grenzen führte, ist im letzten Menschen- 
alter das umgekehrte Verhältniss eingetreten, d. h. fast 
überall, wo das Deutschthum sich mit Nachbarn anderer 
Nationalilät berührt, geht es zurück. In Städten, wo es 
früher tonangebend war, z. B. Triest, bleibt es absolut 
genommen zwar auf gleicher Höhe, wird aber relativ 
von der sich mehrenden Zahl anderer Stämme und deren 
wachsenden Einfluss überflügelt. Andere Städte, welche 
früher eine wesentlich deutsche Physiognomie zeigten, 
wie Prag, haben ihre Erscheinung und den Grundton 
ihres Lebens völlig umgekehrt und in noch anderen, die 
für völlig Deutsch galten>*zeigen sich die ersten Spuren 
einer nationalen Umwandlung. Auf dem Lande rücken 
die deutschen Sprachgrenzen Schritt vor Schritt zurück, 
und die jenseits der Grenze liegenden deutschen Sprach- 



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— 86 — 

inseln werden immer enger umschnürt. Nur nach Westen 
hin scheinen die ländlichen Sprachgrenzen ziemlich un- 
verändert zu bleiben, während sich in den früher fran- 
zösischen Städten des Elsass deutsche Colonien von 
wachsender Stärke bilden. Aber hier handelt es sich um 
eine rein deutsche Landbevölkerung, die künstlich mit 
französischem Fimiss überkleidet war, und welche nach 
Entlastung von der gewaltsamen Französirung sich auf 
ihr urdeutsches Wesen langsam wieder besinnt, und in den 
Städten um künstliche Militär-, Beamten- und Universi- 
täts-Colonien mit ihren Anhängseln. Dagegen wird an 
den Süd- imd Ostgrenzen das Deutschthum überall zu- 
rückgedrängt, ohne Unterschied, ob die betreffenden Re- 
gierungen diese Zurückdrängung begünstigen oder nicht. 
Man könnte aus dieser Erscheinung schliessen, dass 
das deutsche Volk die ihm früher innewohnende Colonisa- 
tionskraft verloren habe und auf der absteigenden Seite 
seines Völkerlebens befindlich sei, d. h. dass der äussere 
Niedergang ein Zeichen des inneren Niederganges sei. 
Es ist möglich, dass diese Vermuthung für gewisse 
Stämme eine gewisse Berechtigung hat; wenigstens 
deuten verschiedene Anzeichen darauf hin, dass die 
Deutsch-Oesterreicher nicht mehr den auf ihre Schultern 
gelegten schweren Aufgaben gewachsen sind. Aber es 
wäre jedenfalls voreilig, diesen Grrund für das deutsche 
Volk im Allgemeinen als zutreffend hinzustellen, das 
noch keineswegs im inneren Niedergang begriffen scheint. 
Auch für den in Oesterreich angesiedelten Theil des Ba- 
varischen Stammes wird man eine nicht ganz zu leugnen- 
de Erschlaffung der deutschen Energie mehr aus äusse- 
ren Umständen ableiten müssen, als aus einer ungünstigen 
ethnologischen Veranlagung 4m Vergleich zu den an- 
deren deutschen Stämmen; das Zusammentreffen innerer 
Genügsamkeit mit relativ günstigerem Boden und Klima 
zwang zu geringerer Uebung der Energie, und die schein- 



- 87 - 

bar unerschütterliche politische Hegemonie unter den 
mitwohnenden Stämmen lullte in ein sorglos behagliches 
Geniessen der bevorzugten Stellung ein, so dass hier 
Bummelei und Lotterei auf manchen Gebieten einreissen 
konnte, auf denen andere deutsche Stämme zxw steten 
Anspannung und Uebimg ihrer Energie gezwungen waren. 

Ehe wir an einen inneren Niedergang der deutschen 
Volkskraft glauben könnten, müsste es doch zuvor an 
allen anderen Erklänmgsgründen für den äusseren Rück- 
gang des Deutschthums mangeln ; so lange solche aber 
sich in ausreichendem Maasse darbieten, sind sie es, an 
die wir uns zimächst halten müssen. Dieser Gründe sind 
aber hauptsächlich drei: erstens das wachsende National- 
bewusstsein und die wachsende Kultur der Nachbarvöl- 
ker, zweitens der Mangel an Nationalstolz im deutschen 
Volkscharakter, und drittens der unversöhnliche Hass 
der katholischen Kirche gegen das Deutschthmn, welcher 
in dem letzten Menschenalter in einem allgemeinen Avan- 
ciren gegen das Deutschthum auf der ganzen Linie 
seinen Ausdruck gefunden hat. 

Wir leben in einer Zeit, wo die Nationalitätsidee 
ihre grössten Triumphe feiert. Ob man selbst ein 
Schwärmer für diese Idee ist und in ihr allein das Heil 
der Welt erblickt, ob man den heutigen Nationalitäten- 
schwindel als eine vom höheren kosmopolitischen Ge- 
sichtspunkt aus- bedauerliche Verirrung verdammt, oder 
ob man den gegenwärtigen einseitigen Kultus des Na- 
tionalbewusstseins als eine Uebergangsperiode zu künf- 
tiger gegenseitiger Duldung imd freundnachbarlicher 
Eingliederung in den Organismus der Menschheit be- 
trachtet, immerhin muss man mit den gegebenen That- 
sachen rechnen. 

Früher war es den Magyaren und Slaven gleich- 
gültig, ob sie von deutschen oder nationalen Beamten 
regiert wurden, ob deutsche oder nationale Strassen- 



— 88 — 

Schilder den Suchenden zurechtwiesen. So lange das 
niedere Volk überhaupt nicht zur Schule ging, konnte 
es für dieses keine nationale Schulfrage geben, die we- 
nigen aber, welche sich eine gewisse Bildung anzueignen 
wünschten, lernten deutsch, weil es die alleinige Sprache 
der Bildung war, und eine magyarische, tschechische 
u. s. w. Bildung und Literatur nicht existirte. In den 
letzten Jahrzehnten haben nationale Patrioten die äusser- 
sten Anstrengungen gemacht, künstliche Nationallitera- 
turen aus der Erde zu stampfen und das Nationalgefühl 
der Massen anzufeuern, und beides mit solchem Erfolge, 
dass die Fortdauer der früheren Stellung der Deutschen 
unter diesen Völkern zur Unmöglichkeit geworden ist. 
Wo die allgemeine Schulpflicht nicht bloss auf dem 
Papiere steht, sondern der gemeine Mann seine Kinder 
wirklich zur Schule schicken muss, da will er sie auch 
in eine Schule seiner Sprache und Nationalität schicken, 
oder er hat das Gefühl, einer unterdrückten, nicht 
gleichberechtigten Race anzugehören. 

Sucht die bisher herrschende deutsche Minderheit 
ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten, so richtet sich der 
Hass des fremden Stammes gegen dieselbe als gegen 
seine Unterdrücker, und dieser Hass lässt sich leicht 
bis zur fanatischen Leidenschaft schüren; erringt die 
fremde Nationalität ihre Gleichberechtigung mit der deut- 
schen, so fehlt ihr naturgemäss die Selbstbeherrschung 
und Bildung zum Maasshalten, und der leidenschaftliche 
Hass schiesst über das Ziel der Gleichberechtigung hin- 
aus zur rachsüchtigen Unterdrückung der bisherigen 
Unterdrücker. Der Kampf um das gleiche Recht wird 
nothwendig zum Kampf um das Vorrecht und die Herr- 
schaft, und je roher, rücksichtsloser, gewissenloser und 
fanatischer in diesem Kampfe verfahren wird, desto 
grösser ist leider die Aussicht auf Erfolg. Wer der 
Stimme der Billigkeit Gehör giebt und an die möglichste 



- 89 - 

Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens denkt, 
wird immer im Nachtheil sein gegen denjenigen Gegner, 
der nur von fanatischem Hass sich leiten lässt und im 
Kampfe selbst eine Befriedigung seines so lange schlum- 
mernden und nun endlich erwachten Nationalgefiihls 
empfindet. So sind es gerade die Tugenden des deut- 
schen Volkes, sein Gerechtigkeitssinn und seine Friedens- 
liebe, welche ihm im Kampfe mit unbilligen und kriegs^ 
lustigen Gegnern zum Fallstrick werden. 

Was die slavischen und magyarischen Völker ge- 
gehindert hat, mit dem deutschen geschichtlich zu kon- 
kurriren, war und ist in Russland noch heute der 
Mangel eines gebildeten und wohlhabenden Mittelstan- 
des; indem die Deutschen im Verein mit den deutsch- 
redenden Juden diese Lücke des staatlichen Lebens aus- 
füllten, machten sie sich geistig und materiell zur leiten- 
den Macht in den betreffenden Ländern, und sie wur- 
den es um so mehr, in je höherem Maasse sie auch den 
Grossgrundbesitz imd das Beamtenthum in Beschlag 
nahmen. So wurden sie z. B. in den russischen Ostsee- 
provinzen zur herrschenden Klasse, obwohl sie numerisch 
nur eine kleine Minderheit bildeten; um wieviel mehr 
mussten sie in solchen Ländern das alleinherrschende 
Volk werden, wo sie auch einen grossen Theil der 
Bauerngüter besiedelten, wie in den deutsch-österreichi- 
schen Provinzen und Siebenbürgen. Die ungebildete 
Masse ohne Nationalbewusstsein hatte weder die Fähig- 
keit noch die Absicht, sich dieser Herrschaft zu wider- 
setzen; der slavische Adel hätte wohl die Absicht ge- 
habt, wenn er nur die Fähigkeit besessen hätte, aber 
es fehlte ihm die wirthschaftliche und geistige Bildung 
und der Rückhalt eines nationalen Mittelstandes. 

In diesen Verhältnissen hat sich nun sowohl in der 
Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie als auch in den 
ehemals polnischen Landestheilen Preussens ein Um- 



— QO — 

Schwung angebahnt, der, obwohl er erst in seinen An- 
fangen steht, bereits das alte Bild völlig verändert hat, 
aber für die Zukunft mit geschichtlicher Nothwendigkeit 
noch ungleich grössere Umgestaltungen hervorbringen 
muss. Der Adel hat so sehr an wirthschafllicher und 
geistiger Bildung gewonnen, dass er mit dem deutschen 
durchaus konkurrenzfähig geworden ist; der bisher 
fehlende nationale Mittelstand beginnt sich zu bilden 
und hat in einzelnen Provinzen schon eine ganz ach- 
tungswerthe Bedeutung gewpnnen; die Masse endlich ist 
fanatisch national geworden und giebt dadurch für jene 
leitenden Stände eine für friedliche Abstimmimgen, ein- 
schüchternde Demonstrationen und etwaige bewaffiiete 
Aufstände gleich ansehnliche Armee ab. In den Städten, 
wo man früher nur deutsche Ladenschilder sah, wech- 
seln jetzt deutsche mit fremdsprachigen ab, oder sind 
ganz durch dieselben verdrängt, und für die Schnellig- 
keit dieses Umschwungs fällt sehr in's Gewicht, dass 
eine Menge Juden es vortheilhafter finden, ihr Segel 
nach der herrschenden Windströmimg zu stellen, d. h. 
ihre Namen und Geschäftssprache zu slavisiren oder zu 
magyarisiren. Wenn der nationale Grossgrundbesitz 
die Konkurrenzfähigkeit mit dem deutschen im Allge- 
meinen bereits errungen hat, so ist der nationale Han- 
delsstand in vielen Gegenden wenigstens im Kleinhandel 
schon zum gleichen Ziele gelangt und wird spätestens 
in der nächsten Generation bis zum Grosshandel vor- 
rücken. 

Wir haben es also wesentlich mit einem Kultur- 
aufschwung der bisher im Kulturprocess stark rück- 
ständigen Nationalitäten zu thun, welcher den bisherigen 
Kulturvorsprung der Deutschen verringert hat und theil- 
weise einzuholen im Begriff steht. Diese Erscheinung 
würde für sich allein schon genügen, das Schwinden 
des Einflusses imd der dominirenden Stellung des deut- 



— 91 — 

sehen Elements zu erklären; sie scheint aber allerdings 
nicht ausreichend, um den thatsächlichen absoluten Rück- 
gang des Deutschthums seinen Grenzen und seiner Volks- 
ziffer nach begreiflich zu machen. Wären die Deutschen 
ebenso begeisterte und opferwillige Vertreter ihrer Na- 
tionalität, wie die Gegner es von der ihrigen sind, so 
müsste doch der Kampf zu einem Waffenstillstand auf 
Grundlage der einmal bestehenden Grenzen führen, und 
dass diess nicht der Fall ist, dass vielmehr das Deutsch- 
thum stetig an Terrain verliert, beweist zur Genüge die 
überlegene Intensität des Nationalgefiihls der Nachbarn. 

Das deutsche Volk besitzt ein eifriges Streben nach 
Vervollkommnung und nach Steigerung seiner Kultur, 
vielleicht ein idealeres Streben als irgend ein anderes 
Volk, aber es legt bei diesem Streben weniger Werth 
als irgend ein anderes Kulturvolk auf die nationale 
Grundlage seiner Kultur, auf den traditionellen histo- 
rischen Charakter seines geistigen und gemüthlichen 
Lebens und ist darum leichter als andere bereit, die 
nationale Färbung seiner Kultur für etwas Gleichgül- 
tiges zu halten. So führt der abstrakte kosmopolitische 
Idealismus die Deutschen gar leicht dazu, ihre nationale 
Eigenart mit der eines anderen Volkes zu vertauschen, 
wenn dieser Tausch mit äusseren Vortheüen irgend 
welcher Art verknüpft scheint; da es wesentlich nur 
Bequemlichkeit ist, was sie am gewohnten Alten haften 
lässt, so sind schon überwiegende Bequemlichkeitsrück- 
sichten ausreichend, sie zur Verleugnung ihrer Nationa- 
lität zu führen. Diesen Process sehen wir überall sich 
vollziehen, wo Deutsche unter einem fremden Kultur- 
volk mit hochentwickelter geschäftlicher Technik leben, 
z. B. in Frankreich, England und Nordamerika. 

Man hat sich endlich überzeugt, dass alle deut- 
schen Auswanderer in diesen Gebieten spätestens in 
ihren Kindern oder Enkeln für das Deutschthum ver- 



— 92 — 

loren gehen, und gerade diese endlich dem deutschen 
Volke aufgegangene Erkenntniss ist der Hauptgrund für 
dessen stürmisches Verlangen nach eigenem Kolonial- 
besitz geworden. Man wird sich aber nicht minder von 
der andern Wahrheit überzeugen müssen, dass dieselben 
Eigenschaften des deutschen Nationalcharakters, welche 
das Erlöschen des Deutschthums bei allen bisherigen 
deutschen Auswanderern verschulden, auch den ent- 
scheidenden Grund liefern für den Rückgang des 
Deutschthums an allen Grenzen, wo die Deutschen mit 
Nachbarn von einem bereits erwachten und ausgepräg- 
ten Nationalgefühl zusammenwohnen. Die fremden Na- 
tionalitäten sind immer aggressiv und kampflustig, und 
die Deutschen geben immer Schritt vor Schritt nach 
aus Bequemlichkeit, Trägheit, Friedensliebe und Gleich- 
gültigkeit, welche sie sehr wohl mit dem abstrakten 
Idealismus kosmopolitischer Gerechtigkeitsliebe und Hu- 
manität zu entschuldigen wissen. 

Nur dieser Mangel an Nationalgefiihl macht es 
möglich, dass der Aufschwung der fremden Nationali- 
täten bei der deutschen keinen genügenden Widerstand 
findet, und alle Entschuldigungen, welche man für die- 
sen deutschen Charakterfehler zu ersinnen gewusst hat, 
sind unhaltbar. Man sagt, die Deutschen hätten kein 
Vaterland gehabt und deshalb auch keinen deutschen 
Patriotismus entwickeln können. Das ist sehr richtig, 
und es ist ebenso unbestreitbar, dass ein nationaler 
Patriotismus ein mächtiges Unterstütz ungs- und Förde- 
rungsmittel für das Nationalgefühl abgiebt; aber es ist 
doch unrichtig, beide zu verwechseln, oder den Patrio- 
tismus für eine unentbehrliche Bedingung des National- 
gefühls zu halten. Es giebt viele Völker vom ausge- 
bildetsten Nationalgefühl, deren Staaten längst unter- 
gegangen sind, z. B. die Polen, und viele, die noch nie 
einen Staat besessen haben, sondern erst danach trachten, 



— 93 — 

sich einen solchen zu erringen ; aber durch diese Staaten- 
losigkeit lassen sich die an mehrere Staaten vertheilten 
oder enklavenartig von einem Staat eingeschlossenen 
Völker und Stämme doch nicht im Geringsten hin- 
dern, ein sehr lebhaftes Nationalgefühl zu entwickeln, 
das beim Judenthum sogar den Untergang der Sprache 
überlebt hat. Seit einem halben Menschenalter besitzt 
das deutsche Volk thatsächlich ein mächtiges Staats- 
wesen, nach welchem auch die ihm nicht zugehörigen 
Deutschen als zu einem Krystallisationskern des deut- 
schen Nationalbewusstseins hinschauen können ; aber wir 
haben nichts davon bemerkt, dass das Aufgehen der 
ausgewanderten Deutschen in westlichen Ländern oder 
der Rückgang des Deutschthums an den südlichen und 
östlichen Grenzen dadurch irgendwie beeinträchtigt wor- 
den wäre. Im Gegentheil, diese staatliche Zusammen- 
fassung des Deutschthums hat nur den Eifer der Nach- 
barn zur Entgermanisirung und die Energie und Rück- 
sichtslosigkeit ihres Vorgehens verdoppelt, offenbar in 
der geheimen Absicht, mit dem Vemichtungswerk früher 
zu Ende zu kommen, als die Anziehungkraft dieses 
nationalen Krystallisationskerns auf die zerstreuten 
deutschen Stämme sich allzu entschieden geltend macht. 
Bis jetzt ist diese Anziehung noch wenig hervor- 
getreten, offenbar weil die friedliebende Reichsregierung 
jede politische Störung vermeiden will, und weil die 
abstrakt-idealistischen Deutschen des Auslandes von den 
politischen Zuständen des deutschen Reiches, insbeson- 
dere von den Schilderungen derselben durch die libe- 
rale Presse, mehr abgestossen als angezogen werden. 
Die geographische Lage der deutschen Stämme in Oester- 
reich und Russland, die politische Nothwendigkeit, mit 
Oesterreich wenigstens unbedingt in Freundschaft und 
Frieden leben zu müssen, die Gefahr, durch Vergrösse- 
rung das deutsche Reich mit noch mehr fremden Be- 



— Q4 — 

standtheilen zu belasten, vor allem aber die Furcht, 
durch Zuwachs katholischer Unterthanen die Opposition 
des Reichstags bis zu einem das verfassungsmässige 
Regieren unmöglich machenden Grade zu stärken,*) 
alle diese Gründe werden das deutsche Reich immer 
abhalten müssen, den vom Untergang bedrohten deut- 
schen Stämmen durch Eroberungen und Annexionen 
Hilfe zu bringen. So lange das deutsche Reich ver- 
geblich bemüht ist, dem Rückgang des Deutschthums 
innerhalb seiner eigenen Grenzen Einhalt zu thun, kann 
es unmöglich sich mit neuen Provinzen belasten, welche 
das Verhältniss der fremden Elemente im deutsch-natio- 
nalen Staatswesen noch mehr zu Ungunsten der Deut- 
schen verändern würden. Die Deutschen im Reiche 
dürfen und können den bedrohten Brüdern in Nachbar- 
ländern nur geistige und moralische Unterstützung an- 
gedeihen lassen, im übrigen aber müssen sie dieselben 
nothgedrungen der eigenen Kraft überlassen, trotz der 
Ueberzeugung, dass diese Kraft sich in der Hauptsache 
zu schwach erweisen wird, um allen gegen sie ver- 
einigten Faktoren auf die Dauer genügenden Wider- 
stand zu leisten. 

Innerhalb wie ausserhalb der Reichsgrenzen hat 
durch die Reichsgründung bei den Deutschen bis jetzt 
wohl die nationale Eitelkeit bis zur theilweisen Ueber- 
hebung beim Vergleichen des eignen und fremden 
Werthes zugenommen, aber von einer Stärkung des 
berechtigten Stolzes und des Willens, die nationale 
Eigenart der geschichtlich überlieferten Kultur als ein 
ideales Gut vom höchsten Werthe selbst mit Opfern an 



*) Bei Einführung des gleichen allgemeinen und direkten Wahl- 
rechts in Oesterreich würde schon unter den jetzigen Verhältnissen die 
Zahl der nicht ultramontanen deutschen Abgeordneten sehr zusammen- 
schmelzen; nach einer zwanzigjährigen Zugehörigkeit zum protestantischen 
deutschen Kaiserreich würde vielleicht kein einziger mehr übrig geblieben sein. 



— 95 — 

Bequemlichkeit und nationalem Behagen behaupten und 
für diese Güter, wo sie bedroht sind, mannhaft kämpfen 
zu wollen, — davon ist noch nichts zu merken. Dieser 
Mangel an nationalem Stolz datirt nicht von gestern; 
er ist ein Erbfehler des deutschen Volkscharakters gleich 
dem Partikularismus und dem abstrakten politischen 
Idealismus und ist mit beiden eng verwachsen. Darum 
ist aber auch die Hoöhung gering, dass die Erkennt- 
niss der Gefahren, welche das Deutschthum durch das 
erwachte Nationalgefühl der Nachbarn bedrohen, hin- 
reichen sollte, um einen solchen Erbfehler gründlich zu 
ändern; die bestgemeinten Bemühungen der gebildeten 
Patrioten werden auf die niedere Masse der Deutschen, 
um deren Verhalten es sich hier vor allen Dingen han- 
delt, doch nur einen sehr geringen, und im Vergleich 
zu der Dringlichkeit der Gefahr viel zu langsam wirken- 
den Einfluss ausüben. 

Hiernach Hesse sich der Rückgang des Deutsch- 
thums überall da, wo ihm eine an Zahl etwa gleiche 
fremde Nation gegenübersteht, wohl erklären, auch ohne 
zu der Annahme einer Erschlaffung der deutschen Volks- 
kraft seine Zuflucht zu nehmen; aber unverständlich 
bleibt doch immer noch die Schnelligkeit der Erfolge 
der fremden Nationalitäten und vor allem die Thatsache 
ihrer Erfolge selbst in solchen Provinzen des deutschen 
Reiches, wo sie sich den Deutschen gegenüber in einer 
Minderzahl befinden und die Regierung zum Gegner 
ihrer Bestrebungen haben. Freilich vollzieht sich hier 
der Rückgang des Deutschthums viel langsamer (im 
Grossg^undbesitz noch gar nicht); dass er aber doch 
stattfindet, wird nur dadurch begreiflich, dass erstens 
die Regierungsorgane den Regierungswillen nicht mit 
genügender Entschiedenheit zum Ausdruck bringen und 
dass zweitens eine in der Stille wirkende organisirte 
Macht vorhanden ist, welche ihren ganzen Einfluss dem 



— 96 - 

Kampf gegen das Deutschthum zur Verfügung stellt. 
Diese Macht ist die katholische Kirche. 

Man wird vielleicht fragen, was die katholische 
Kirche davon haben solle, gegen die Deutschen zu 
Operiren, auch dann, wenn dieselben Katholiken sind 
und nicht dem deutschen Reiche angehören. Die Ant- 
wort liegt darin, dass die katholische Kirche in dem 
deutschen Geiste von jeher ihren Erbfeind erkannt hat, 
den einzigen Gegner, welcher ihre Wiedereroberung der 
gesammten christlichen Welt ernstlich zu hindern ver- 
mag und hindern wird. Tedeschi protestanti — dies 
Wort hat sich von jeher bewährt, und zuletzt noch 
darin, dass alles hervorragendere, was Deutschland an 
katholischer Philosophie producirt hat (Baader, Günther, 
Deutinger, Hermes, Baltzer, DöUinger, Michelis) still- 
schweigend oder ausdrücklich auf den Altkatholicismus 
abzielt, der doch nur ein verschämter Protestantismus 
ist, so dass der Papst sich genöthigt sah, ausdrücklich 
die moderne Philosophie selbst in katholischer Einklei- 
dung zu verurtheilen und das System des hl. Thomas 
für das allein wahre zu proklamiren. Die gesammte 
deutsche Bildung ist protestantisch, der protestantische 
deutsche Geist reicht so weit wie die Bildung in Deutsch- 
land, und die Bildung hört auf, wo das Herrschafts- 
gebiet dieses Geistes aufhört. Von der zersetzenden 
Negation in katholischen Ländern hat die Kirche nichts 
zu fürchten, weil weder sittlicher Ernst, noch religiöses 
Gefühl, noch philosophische Tiefe dahinter steckt und 
die Sehnsucht nach etwas Positivem das Volk immer 
wieder in die Arme der Kirche zurückführt; vor dem 
protestantischen deutschen Geist aber, der sittlich, reli- 
giös und spekulativ zugleich ist, fühlt die Kirche ein 
^, instinktives Grauen, das um so intensiver ist, weil ihr 

jedes Verständniss für denselben fehlt. 

Von den beiden Ländern, welche allein von allen 



— 97 — 

die Kraft haben könnten, den Siegeslauf der modernen 
Gegenreformation zu hemmen, Russland und Deutsch- 
land, braucht die römische Kirche das erstere nicht zu 
fürchten, weil sie sich seiner griechischen Kirche mit 
Recht in demselben Maasse überlegen weiss, wie der 
Protestantismus sich dem römischen Katholicismus über- 
legen weiss; es müsste erst eine religiöse Regeneration 
und Reform im Ostslaventhum zum Durchbruch ge- 
langen, ehe dasselbe befähigt würde, mit dem Katholi- 
cismus in einen geistigen Ringkampf einzutreten. Desto 
mehr hasst die katholische Kirche das Deutschthum, 
welches den ihr unfassbaren imd unheimlichen protestan- 
tischen Geist aus sich geboren hat, und welches als 
nationale Geisteskultur mit demselben geradezu iden- 
tisch ist. Die Kirche hasst das deutsche Reich, weil es 
ein protestantisches Kaiserthum ist und sich nicht dem 
Gängelbande Roms unterwerfen will, sie hasst aber auch 
die Deutschen als solche, weil sie, soweit sie zu natio- 
naler Bildung gelangt sind, oder gelangen werden, oder 
gelangen können, mit dem protestantischen Geiste ge- 
salbt sind, gleichviel ob sie fortfahren, sich Katholiken 
zu nennen oder nicht. Die Kirche kann ihr höchstes 
Ziel, die Durchführung der Gegenreformation, das sie 
in diesem Jahrhundert mit dem gewaltigsten Aufgebot 
aller ihrer Kräfte in Angriff genommen hat, nur er- 
reichen, wenn sie den deut:>chen prot^:JStantischen Geist 
vernichtet, und darum b'rgünstigt sie nicht bloss fremde 
Katholfkengeg^rT; d<:futy.he Prot^rstant/^n, v^ndem schl^^cht- 
weg und '^''Acfix\'* Caij ,\'lchtdeu*v/fte gegen das Deutv.he, 
um den ita/.h^'-^^rrelch c^rt; l^üftzt^eren au^yrrlich und inner- 

\>-Ayj\/'i. ci^rse i^r^ticetts^/ne Aj^:tat:on der Kirche 
kt *;v ^fe^'A'rse?:, "Ä<r>,he ö:jr Or-^tvh^rri und prei^-S^ischf^ 
P:ejf'>;r^:,;f der, Anbtvbfc y<^u zur Lebern lücung aller 
d^ g*?v .er ,-%'er,, gegen cie Aufr-<thme des entgegen- 



- 98 - 

getragenen Kulturkampfes sprechenden Bedenken, und 
welche jetzt fast das alleinige Hindemiss zur Gewinnung 
eines modus . vivendi bildet. 

Wer nicht in stockkatholischen Gegenden gelebt 
hat, muss alle ihm zu Ohren kommenden Berichte über 
die Mittel, mit welchen diese Agitation betrieben wird, 
für Ammenmärchen halten, an die man im 19. Jahr- 
hundert als Aufgeklärter und Liberaler kaum noch 
glauben kann. Wenn diese Agitationsmittel genügen, 
um in den preussischen polnischen Provinzen den Rück- 
gang des Deutschthums, das so lange im rüstigen Vor- 
schreiten war, möglich zu machen, so mag man er- 
wägen, welchen Zuwachs ihr Einfluss in solchen Ländern 
bringen muss, wo die Regierung selbst die Agitation 
gegen das Deutschthum in die Hand genommen hat, 
z. B. in Ungarn. 

Dieselbe Generation, welcher das hohe Glück, die 
Reichsgründung mit anzusehen, zu Theil geworden ist, 
muss sich auch mit dem Gedanken vertraut machen, 
dass das Deutschthum, abgesehen von Tyrol und einigen 
kompakten deutschen Sprachinseln an der Donau und 
in Böhmen, überall verloren, unaufhaltsam und unrett- 
bar Verloren ist, ausser im deutschen Reich und seinen 
etwa noch zu gründenden deutschen Kolonien. Man 
mag diese Thatsache beklagen und beweinen, man mag 
den Todeskampf des Deutschthums ausserhalb des Reichs 
durch geistige, moralische und pekuniäre Unterstützung 
zu verlängern suchen, aber man muss dieser schmerz- 
lichen Thatsache fest ins Auge blicken, und darf sich 
nicht durch Herzenswünsche verleiten lassen, den uner- 
bittlichen Zug der historischen Nothwendigkeit zu ver- 
kennen. Nur wenn man den Muth hat, sich auch das 
Schlimmste nicht zu verhehlen, nur dann wird man er- 
kennen können, was nach der gegebenen Sachlage zu 
thun übrig bleibt und obliegt. 



— 99 — 

Dass das Deutschthum der Russischen Ostsee» 
Provinzen nicht zu retten ist, wird man am ehesten zu- 
geben. Hier handelt es sich neben einigen deutschen 
Städten um eine blosse Aristokratie des Grossgrund- 
besitzes, welche in der gebildeten evangelischen Geist- 
lichkeit ihren geistigen Halt findet. Eine solche Vor- 
herrschaft wird unmöglich, wenn die Regierung in rück- 
sichtsloser Weise gegen dieselbe vorgeht, die Univer- 
sitäts- und Handelsstädte russificirt, die aristokratische 
Selbstverwaltung der Provinzen zum Schatten herab- 
drückt, für die griechisch-orthodoxe Kirche Propaganda 
macht, imd das Landvolk künstlich zum Bewusstsein 
seines socialen und nationalen Interessengesetzes gegen 
die Grrundaristokratie aufstachelt. Erst der Panslavis- 
mus, dem das baltische Deutschthum, ebenso wie das 
Schwedenthum in Finnland, ein Dorn im Auge ist, hat 
die esthnische, livländische und finnische Nationalität 
künstlich wachgerufen und aufgehetzt; nachdem diess 
aber einmal geschehen, wird sie von selbst sich wach 
erhalten und die fremde Aristokratie mit Hilfe der 
russischen Staats- und Kirchenmacht über kurz oder 
lang sicher abschütteln« Selbst wenn dem deutschen 
Reiche diese Provinzen geschenkt würden, müsste das- 
selbe ein solches Danaergeschenk ablehnen; denn bei 
den gegebenen Zahlenverhaltnissen könnte die Herr- 
schalt des Deutschthimis wohl noch künstlich um ^nige 
Generationen verlängert, aber nimmermehr für die 
Dauer befestigt werden, und ausserdem würde eine 
solche lang gestreckte Küste mit verschlossenem Hinter- 
land sich militärisch wie kommerziell in einer höchst 
unglücklichen Lage befinden« Weit leichter wäre e* 
dem deutschen Reiche, das linke Weichsel ufer mit 
seinen 5*,, Deutschen und 5^ ^, deutsch redenden Juden 
zu germanisiren« weil es militärisch wie kommerziell in 
s^ner abgerundeten Machtsphäre beilegt; aber auch 






— lOO — 

diese Provinzen wären eher ein Fluch als ein Segen 
für uns, so lange wir nicht mit der Germanisirung der 
seit einem Jahrhundert zu Preussen gehörigen polnischen 
Landestheile vollkommen zu Stande gekommen sind. 
Nicht so übersichtlich sind die Verhältnisse in der 
österreichisch- ungarischen Monarchie. Zwar was Ungarn 
anbetriffi, wird sich wohl kaum noch ein Deutscher der 
Illusion hingeben, als ob gegen die Magyarisirung mit 
Dampfbetrieb ein dauernder Widerstand der deutschen 
Elemente denkbar sei, und ebensowenig wird man sich 
dem Gedanken verschliessen, dass eine Ablösung der 
magyarischen Herrschaft in Ungarn sicherlich nicht mehr 
durch eine Wiederkehr einer deutschen Bureaukratie, 
sondern nur durch ein etwaiges Emporkommen der 
noch rücksichtsloseren slavischen Majorität möglich ist. 
Nicht die Furcht vor den Deutschen, sondern die sehr 
berechtigte vor den Slaven ist es, was den Magyari- 
sirungsfanatismus zu einem so überstürzten Vorgehen 
drängt; denn es ist in der That kein Augenblick Zeit 
zu verlieren, wenn die slavische Mehrheit in Ungarn 
durch das eine magyarische Viertel der Bevölkerung so 
magyarisirt werden soll, dass die Arbeit beendet ist, 
bevor das slavische Nationalgefiihl auch dort zu voller 
Kraft erwacht. Trotzdem glaube ich, dass bei diesem 
Wettlauf die Magyaren zu kurze Beine haben werden 
und über kurz oder lang es sich werden gefallen lassen 
müssen, dass ihnen ihr jetziges Verhalten von den 
unterdrückten Slaven mit Wucherzinsen zurückgezahlt 
wird. Der Rest des Deutschthums, der die Aera der 
magyarischen Herrschaft überdauert haben sollte, wird 
dann sicher der slavischen Gewalt unterliegen. 

Von der westlichen Reichshälfte gehören Galizien 
imd Bosnien zweifellos den Slaven, aber auch die ehe- 
maligen deutschen Bundesprovinzen, von deren Rück- 
gewinnung die Grossdeutschen noch immer träumen, 



-i 



lOI — 

zeigen abgesehen von Tyrol und der Sprachinsel an 
der Donau überall eine slavische Majorität, welche nur 
zum vollen Bewusstsein ihrer Macht zu erwachen 
braucht, um ebenso wie in Böhmen die deutsche Herr- 
schaft über den Haufen zu werfen. Tyrol behauptet 
eine Ausnahmestellung, die es Bayern in mancher Hin- 
sicht näher rückt als Oesterreich, und es könnte ohne 
Schaden für die Machtstellung der Habsburgischen 
Monarchie von der letzteren getrennt werden, insofern 
diese durch Gebietserweiterungen auf der slavischen 
Balkanhalbinsel entschädigt würde. Aehnliches liesse 
sich von dem nördlichen Striche Böhmens, dem Eger- 
und Elbthale mit mehr als einer Million deutschen Be- 
wohnern sagen, deren Abtretung an Sachsen und 
Schlesien die Grrossmachtstellung Oesterreichs nicht be- 
einträchtigen würde. Dagegen muss diese Monarchie, 
welche ihrem geographischen Begriff nach der Donau- 
staat ist, um ihre Integrität zu wahren, noth wendig 
ihre eigentlichen Donauprovinzen behalten; und am 
wenigsten könnte dieselbe ihre natürliche Hauptstadt 
Wien missen. Oesterreich als solches müsste aufhören 
zu existiren, wenn diese deutschen Erblande von ihm 
abgetrennt würden, und Wien würde nach einer solchen 
Zertrümmerung Oesterreichs von der Hauptstadt des 
südlichen Mitteleuropas zum Range einer Provinzial- 
stadt herabsinken. Das deutsche Reich aber könnte 
diese deutschen Donauprovinzen aus geographischen, 
handelspolitischen und strategischen Gründen unmöglich 
ohne Böhmen und Mähren übernehmen, wäre aber für 
absehbare Zeit ganz ausser Stande die Annexion des 
tschechischen Theiles von Böhmen und Mähren zu ver- 
dauen. Wenn also die Abtrennung der deutschen 
Donaulande von Oesterreich für Oesterreich ebenso un- 
möglich ist, wie ihre Uebernahme für das deutsche Reich, 
so kann es doch nur im Interesse der bei Oesterreich 



I02 — 

verbleibenden Deutschen sein, das Deuschthum in Oester- 
reich möglichst zahlreich vertreten zu sehen, damit es 
als möglichst schweres Gewicht in die Waagschale des 
föderativen Gleichgewichtes falle. Deshalb können die 
Deutschösterreicher unmöglich wünschen, dass Tyrol 
und der deutsche Nordrand Böhmens an das deutsche 
Reich übergehen, weil dadurch ihr Einfluss noch viel 
tiefer sinken würde. 

Die jetzige unnatürliche Zerstückelung des süd- 
westslavischen, durchweg dieselbe Mundart redenden 
Stammes in die Provinzen Serbien, Bosnien, Dalmatien, 
Kroatien, Istrien, Krain u. s. w., ist auf die Dauer nicht 
aufrecht zu erhalten, und wird unter dem unwidersteh- 
lichen Druck des Nationalgefühls einer engeren Ver- 
einigung unter irgend welcher staatsrechtlichen Form 
weichen müssen. Die natürliche Hafenstadt dieser süd- 
westslavischen Ländergruppe ist Triest, das ebenso- 
wenig eine deutsche wie eine italienische, sondern eine 
slavische Stadt ist, und in immer reinerer Ausprägung 
werden wird. Was die Reichshauptstadt Wien betrifft, 
so ist es ihr unvermeidliches Schicksal, im 20. Jahr- 
hundert in derselben Weise eine überwiegend slavische 
Physiognomie anzunehmen, wie die Moldaustadt Prag 
es im 19. gethan hat. 

So lange die Centralregierung der Monarchie eine 
absolutistische war und in den Einzellandtagen die 
Grundaristokratie im Verein mit dem deutschen Bürger- 
thum maassgebend war, konnte der deutsche Charakter 
des Gesammtstaats aufrecht erhalten werden ; es genügte, 
dass das Officierkoi-ps und Beamtenthum in seinem Kern 
deutsch erhalten wurde. Mit der Einführung der Ver- 
fassung war das unwiderrufliche Todesurtheil der deut- 
schen Hegemonie unterzeichnet, das sich dafür bei der 
liberalen Doktrin und der 48 er Bewegung zu bedanken 
hat; es bedurfte nun bloss noch einer gewissen Zeit, 



— I03 — 

um die slavische Mehrheit der Bevölkerung zum Be- 
wusstsein ihrer nationalen Wünsche erwachen zu lassen. 
Eine kluge Politik der Deutschösterreicher, welche es 
verstanden hätte, sich durch Identificirung der deutschen 
Interessen mit denjenigen der Krone der letzteren un- 
entbehrlich zu machen, würde vielleicht im Stande ge- 
wesen sein, den Umschwung von einer deutschen zu 
einer slavischen Parlamentsmajorität um ein bis zwei 
Menschenalter hinauszuschieben; aber aufzuhalten hätte 
sie denselben doch nicht vermocht. Der abstrakte poli- 
tische Idealismus der Deutschösterreicher, welcher den 
realen Verhältnissen und Staatsbedürfnissen keine Rech- 
nung trug, — ihr doktrinärer Liberalismus, dem es nur 
auf Erweiterung der Parlamentsrechte und Einschränkung 
der Kronrechte ankam, ihre völlige Verständnisslosigkeit 
für die grossartigen Kulturaufgaben de§ Ost- Reiches und 
für die durch sie bedingte Stellungnahme zu den dringen- 
den und unabweisbaren Forderungen in der auswär- 
wärtigen Politik, endlich ihr knickeriger Krämersinn in 
der Bewilligung der für eine österreichische Grossmachts- 
politik erforderlichen Mittel zwang die Krone gewisser- 
massen vorzeitig dazu, sich > der slavischen Majorität in 
die Arme zu werfen und dem Deutschthum den Rücken 
zu kehren. 

Den Habsburgem aus dieser Wendung einen Vor- 
wurf zu machen, wäre völlig ungerecht; ihre Fürsten- 
pflicht weist sie nicht auf die Erhaltung des Deutsch- 
thums, sondern auf die Erhaltung und Stärkung der 
Gesammtmonarchie hin, die aber der überwiegenden 
Mehrheit nach slavisch ist. So lange die deutsche Bil- 
dung des Officierkorps und Beamtenthums, beziehungs- 
weise die deutsche Parlamentsmehrheit die geeignetsten 
und an und für sich ausreichenden Mittel zur Erhaltung 
der Gesammtmonarchie waren, mussten sie das Deutsch- 
thum pflegen; sobald diese einstigen Stützen des Reiches 



— 1 04 — 

sich als veraltet, morsch und unzuverlässig erwiesen, 
mussten sie darauf denken, dieselben durch jüngere zu 
ersetzen, selbst wenn sie dabei den schwersten Kampf 
mit ihrem Herzen zu bestehen gehabt hätten. Letzteres 
ist übrigens nicht einmal anzunehmen, da die Habs- 
burger niemals ein im engeren Sinne deutsches Fürsten- 
geschlecht waren, und am Deutschthum immer nur mit 
einem Theil ihres Herzens hingen, welcher dem deut- 
schen Antheil ihrer Hausmacht entsprach. Es kommt 
dazu, dass das österreichische Kaiserhaus mehr als jedes 
andere katholische Fürstengeschlecht auf das Bündniss 
mit der katholischen Kirche angewiesen ist. Die ferti- 
gen nationalen Einheitsstaaten wie Frankreich, Italien 
und Spanien, können die Unterstützung der katholischen 
Kirche entbehren, und im Nothfall auch einen Kampf 
gegen dieselbe durchführen, — Oesterreich nicht. Ausser 
dem Judenthum besitzt die Krone dort nichts als die 
katholische Klirche, was als Kitt für die Menge der 
verschiedenen Stämme dienen und deren Auseinander- 
fallen verhindern könnte. So lange das Judenthum im 
ganzen Umfang der Monarchie deutsch war und der 
Katholicismus sich mit verhaltenem Groll gegen das 
Deutschthum und seine protestantische Kultur in der 
Defensive hielt, konnte das österreichische Kaiserhaus 
das Deutschthum begünstigen; seitdem das Judenthum 
sich mehr und mehr magyarisirt, polonisirt und tschechi- 
sirt, und seitdem der Katholicismus vom Jahre 187 1 an 
zur offenen und erbitterten Aggressive gegen das 
Deutschthum übergegangen ist, muss die Solidarität 
zwischen Deutschthum und österreichischer Judenschaft 
als aufgelöst gelten und scheint eine Begünstigung des 
Deutschthums gleichbedeutend mit einer Durchkreuzung 
der dringendsten Lebensinteressen des Katholicismus. 
Die österreichische Regierung darf wohl mit dem pro- 
testantischen deutschen Kaiserreich das Schutz-Bünd- 



— I05 — 

niss aufrecht erhalten, weil ohne dieses ihre Selbst- 
erhaltung gegen das griechisch-katholische Czarenreich 
unmöglich wäre, aber sie darf nicht mehr die deutschen 
Stammesbrüder seines Bundesgenossen begünstigen, 
wenn sie es nicht mit der katholischen Kirche verder- 
ben, deren Hülfe ihr so imentbehrlich ist wie einst dem 
Frankenreich der Karolinger. 

Wenn die Deutschosterreicher ihrer Stammesgemein- 
schafit mit den Reichsdeutschen eingedenk bleiben 
wollen, so mögen sie vor allen Dingen ein Zoll- und 
Handelsbündniss neben dem Schutz- imd Trutzbündniss 
mit Deutschland anstreben imd die Erhebung beider 
Bündnisse zu integrirenden Bestandtheilen der Verfas- 
simg auf ihre Fahne schreiben. Unter diesem Banner 
können sie herrliche Siege erringen; wenn sie aber 
fortfahren, die früher besessene Vorherrschaft von der 
Regierung durch separatistische Drohungen revolutio- 
nären Charakters ertrotzen zu wollen, so müssen sie 
nothwendig die Aussichten für den bevorstehenden 
schweren Kampf nur noch mehr verschlimmem. Wir 
Reichsdeutsche erweisen ihnen den besten brüderlichen 
Dienst, indem wir derartige Illusionen unbarmherzig 
zerstören. 

Für jede österreichische Regierung, gleichviel ob 
es eine monarchische oder republikanische wäre, besteht 
aber ein noch viel zwingenderer Grrund, als die bisher 
angeführten, grade den slavisch-nationalen Anforderun- 
gen gerecht zu werden, dieser Grund gehört nicht mehr 
der inneren, sondern der auswärtigen Politik des Reiches 
an und besteht darin, dass es eine Lebensfrage für 
Oesterreich ist, den Panslavismus vorzubeugen. Wenn 
Oesterreich sich weigert, zum westslavischen Föderativ- 
staat zu werden, in welchem die verschiedenen slavi- 
schen Stämme sich ohne Blutvergiessen zanken und 
vertragen können, so zwingt es das Nationalgefiihl 



— io6 — 

seiner slavischen Stämme, sich dem Panslavismus, d. h. 
mit anderen Worten der russischen Hegemonie in die 
Arme zu werfen, welche diese Stämme eigentlich ver- 
abscheuen, aber doch immer noch einer fortdauernden 
Vorherrschaft nichtslavischer Stämme vorziehen würden. 
Sobald dagegen Oesterreich sich erst einmal zum Föde- 
rativstaat der kleinen slavischen Stämme umgewandelt 
haben wird, so muss es naturgemäss eine unwidersteh- 
liche Anziehungskraft auch auf die Slaven der Balkan- 
halbinsel ausüben, welche bis vor kurzem nach Russland 
als dem einzigen slavischen Staatswesen hin gravitirten. 
Auch Serbien würde kein Bedenken zu tragen brauchen, 
in eine solche Föderation stammverwandter Elemente 
unter Wahrung seiner Autonomie einzutreten, und Ru- 
mänien, für dessen Annexion leider der günstige Augen- 
blick im Krimkriege von Oesterreich verpasst worden 
ist, würde sich immer noch wohler fühlen in der Macht- 
sphäre eines Föderativstaates als in derjenigen eines 
Einheitsstaates wie Russland. 

So könnte das Ost-Reich sich in der That bis an 
die Grenze hin ausdehnen, wo die hellenische Nationa- 
lität die slavische zu überstiegen beginnt, und es würde 
auf diesem Wege ein westslavisches Reich mit deut- 
schen, magyarischen und rumänischen Sprachinseln ge- 
schaffen werden, dessen theilweise lockeres politisches 
Gefüge und staatsrechtliche Monstrosität durch bedeu- 
tende geographische Ausdehnung und imposante Be- 
völkerungsziffer dynamisch ausgeglichen würde. Grade 
der Eintritt Rumäniens in irgend welcher staatsrecht- 
lichen Form in diesen Staatenbund wäre sehr geeignet, 
den Deutschen eine Unterstützung gegen die Slaven 
zuzuführen. Die deutsch-magyarisch-rumänische Minori- 
tätsgruppe würde wohl im Stande sein, gegen die 
tschechisch- polnisch-serbische Majoritätsgruppe ein an- 
sehnliches Gegengewicht zu bilden und selbst im schlimm- 



— I07 — 

sten Falle jeder Verirrung der Slaven zu panslavisti- 
schen Velleitäten einen Riegel vorzuschieben. Die 
Deutschösterreicher würden in diesem bundesstaatlichen 
Gleichgewicht gerade soviel und sowenig Enfluss be- 
haupten, als sie durch eigne Kraft sich zu erkämpfen 
vermögen. Uebrigens ist es ganz unwahrscheinlich, 
dass ein westslavischer Föderativstaat jemals Neigung 
spüren sollte, sich gegen das deutsche Reich, von dem 
er nichts zu fürchten hat, mit Russland, von dem es 
alles zu fürchten hat, aus blossem Deutschenhass zum 
Kriege zu verbünden ; die slavischen Stämme kokettiren 
immer nur so lange mit Russland, als sie ihre politische 
Selbstständigkeit oder staatliche Gleichberechtigung noch 
nicht erlangt haben, und ihr Hass gegeyi die Reichs- 
deutschen wird von da an einschlummern, wo sie in 
den Deutschösterreichem nicht mehr ihre bevorzugten 
Konkurrenten zu hassen brauchen. Freilich überdauert 
jeder Völkerhass in abnehmender Stärke die Ursachen 
seiner Entstehung, und darum werden die Slaven auch 
nach errungener Gleichstellung noch lange Zeit fort- 
fahren, gegen die Deutschen in Gestenreich zu ringen, 
und versuchen, von der Rolle der Unterdrückten in die- 
jenige der Unterdrücker überzugehen. Die Deutsch- 
österreicher müssen sich darum auf einen langen Ring- 
kampf gefasst machen, und sich klar machen, dass sie 
in demselben keine politische Hülfe vom deutschen 
Reich zu erwarten haben, sondern ganz auf ihre eigne 
Kraft angewiesen sind, und dass die Grösse sowohl der 
zu behauptenden Bodenfläche wie ihres künftigen staat- 
lichen Einflusses von dem Maasse dieser Kraftentfaltung 
und dem Grrade ihres Verständnisses für die politischen 
Aufgaben der Monarchie abhängen wird. 

Wenn es wahr ist, dass die Herstellung eines süd- 
westslavischen Föderativstaates der einzige Schutzdamm 
gegen den Panslavismus , d. h. gegen die allmähliche 



— io8 — 

Erweiterung der russischen Machtsphäre bis Salonichi 
und Triest ist, so ist es auch für das deutsche Reich 
eine Lebensfrage, diesem Umschwung in Oesterreich 
keine Schwierigkeiten zu bereiten. Von Frankreich 
allein haben wir nichts mehr zu befürchten, wenn es 
dem parlamentarischen Parteitreiben nicht gelingt, un- 
sere Armee zu desorganisiren. Von einem westslavi- 
schen Bundesstaat würden wir ebensowenig etwas zu 
fürchten haben, weil Bundesstaaten von Natur keine 
Aggressivkraft besitzen. Gegen ein etwaiges Bündniss 
zwischen dem slavischen Oesterreich und Frankreich 
werden wir stets die Rückenanlehnung an Russland 
haben, das dem Verkümmerer seiner panslavistischen 
Träume immer bereit sein wird, in den Rücken zu 
fallen. Aber gegen Russland, das schon jetzt unsere 
Volkszahl um mehr als das doppelte übertrifft, werden 
wir je länger je mehr in Nachtheil kommen, weil sein 
Ländergebiet eine weit grössere Volksvermehrung als 
das unsrige gestattet. Deshalb müssen wir uns für die 
Zukunft einen Bundesgenossen gegen Russland sichern, 
insbesondere für den Fall eines Bündnisses zwischen 
Russland und Frankreich, und dieser kann kein anderer 
als Oesterreich sein. Würde Russland in die Lage 
kommen, mit Hülfe eines allgemeinen Slavenaufstandes 
in Oesterreich die panslavistische Idee zu verwirklichen, 
so hätten wir in dem panslavischen Koloss einen Nach- 
barn von erdrückender Uebermacht, dem wir ohne 
Bundesgenossen gegenüberständen; würde dieses Slaven- 
reich sich mit Frankreich verbünden, so würden wir 
widerstandslos zermalmt und unter die Sieger getheilt. 
Deshalb ist alles, was für Oesterreich eine Lebens- 
frage ist, auch für das deutsche Reich eine Lebenfrage. 
Ob wir das Schwinden der deutschen Vorherrschaft in 
Oesterreich und ihren Ersatz durch eine slavische in 
unserm deutschen Herzen auch mit Trauer verfolgen, 



wir müssen es dennoch als ein ncfihweüüij'es^ dr:rr h'-'beai 
Politik darg^ebrachtes Opfer anerkenn*fn^ in gü -w :r unb 
mit Ergebimg" fügten müssen. Selbst der Versuch- curdh 
einen nach Südosten zu lenkenden Strom deutbcher 
Auswanderung die SteHurg- der Deutschen an der 
unteren Donau zu starken, -würde das Schicksal der 
Deutschen in Ungarn nicht abwenden können, uns aber 
werthwolle Kräfte entziehen- Nicht ob lind wie der 
Rückgang des Deutschthums in Russland und Oester- 
reich abzuwenden oder aufmhalten sei, haben wir in 
Erwägxmg zu ziehen, sondern was uns zu thun übrig* 
bleibt, um diese schwere Einbusse des Deutschthums 
an anderer Stelle durch Stärkung seiner Machtstellung 
wieder einzubringen- 

Da tritt uns sofort der Gedanke entg^^gen: wir 
müssen das deutsche Reichsgebiet germanisiren, wir 
müssen w^enigstens in unserm eigenen Hau5«>e die unbe- 
dingte Herrschaft des Deutschthums sicherstelUm, wenn 
wir es nicht hindern können, dass die deutsche Art in 
den Nachbarhäusern ausgerottet wird, — wir müssen 
das ims von der Geschichte angewiesene Gebiet unbe- 
dingt für das Deutschthum in Anspruch nehmen, wenn 
wir den in den Nachbarreichen besetzten Boden nun 
doch einmal nicht behaupten können. Wie ein Staat 
zu kurz kommen muss, der allein unter lauter schutz- 
zöUnerischen Nachbarstaaten dem Freihandel huldigt, 
ebenso ein solcher, der allein imter lauter sich rück- 
sichtslos nationalisirenden Staaten weitherzige Duldung 
der verschiedensten Nationalitäten üben will. Wenn 
die Slaven das Deutschthum in ihren Grenzen ausrotten, 
so müssen wir Repressalien üben, d. h. das Slaventhum 
in tinsem Grenzen ausrotten, wenn nicht der Einfluss 
des Deutschthums in der Geschichte der Kulturvölker be- 
trächtlich sinken soll. Die deutschen Brüder im Auslande 
können nicht verlangen, dass wir uns, um ihr Deutsch- 



— HO 

thum zu retten, in Kriege und unhaltbare Eroberungen 
stürzen sollen, aber sie dürfen erwarten, dass das in 
ihnen gemordete Deutschthum, so viel an uns liegt, an 
andrer Stelle verjüngt wieder auferstehe, so lange noch 
irgend ein Fleck im deutschen Reichsgebiete vorhan- 
den ist, der nicht als Träger nationaldeutscher Kultur 
dient. 

Die aufgestellte Forderung wird nicht nur durch 
das Nationalgefühl und durch Rücksichten der Billig- 
keit befürwortet, sondern in noch höherem Grade durch 
Erwägungen der auswärtigen Politik aufgedrängt. Für 
Elsass-Lothringen und Nordschleswig wird mit der voll- 
ständigen Regermanisirung der Zeitpunkt eintreten, wo 
sie aufhören, sich nach Frankreich und Dänemark zu- 
rückzusehnen, und mit dieser Sehnsucht wird das Haupt- 
motiv für die französischen und dänischen Patrioten zur 
Wiedereroberung dieser Provinzen schwinden. Aber 
was hier zu thun bleibt, ist unbedeutend im Vergleiche 
mit der uns in den ehemals polnischen Landestheilen 
gestellten Aufgabe. Wäre das einstige Königreich Polen 
nur zwischen den Einheitsstaaten Russland und Preussen 
getheilt worden, so müssten die polnischen Patrioten 
sich damit begnügen, Unfrieden zwischen diesen beiden 
Nachbarstaaten zu säen, wie sie es auch jetzt im Bunde 
mit Rom nach Kräften thun, und gelegentlich Aufstände 
anzuzetteln, wie sie es schon öfters gethan haben. Da 
aber bei der Theilung Polens ein Haupttheil an den 
österreichischen Föderativstaat gefallen ist, so bildet 
österreichisch Polen in den Augen aller polnischen 
Patrioten den Kern, an welchen die an Preussen und 
Russland verlorenen Provinzen sich bei günstiger Kon- 
junktur wieder anzugliedern haben. 

Die Situation der Polen in Galizien ist eine so un- 
gemein günstige, und die österreichische Regierung hat 
ihnen die ruthenische Mehrheit so völlig zur Beherr- 



III — 



schling überliefert, dass alle Polen sich bereits voll- 
ständig mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, die 
Wiederherstellung Polens nur noch unter Habsburgi- 
schem Scepter durch Erweiterung des an den slavischen 
Föderativstaat angegliederten Galiziens zu erhoffen und 
die Möglichkeit eines ganz selbstständigen Weichsel- 
saates zwischen drei Grossmächten als nicht mehr in 
Betracht kommend bei Seite zu legen. Je deutlicher 
Oesterreich sich zu einem Bundesstaat der westslavischen 
Stämme umwandelt, je mehr die literarische und poli- 
tische Zusammengehörigkeit der Westslaven erkannt 
und gepflegt wird, und je schärfer der Gegensatz der 
westslavischen Nationalitäten gegen die ostslavischen 
(klein- und grossrussischen) ins Volksbewusstsein tritt, 
desto mehr wird die Angliederung des gesammten 
Polenthums an Oesterreich und die Erweiterung des 
Bundes der Südwestslaven zu einem Bunde aller West- 
slaven ein integrirender Bestandtheil des Polnischen 
Nationalgefühls und seiner revolutionären Aspirationen 
werden. 

Mögen auch diese Bestrebungen keine Aussicht auf 
Verwirklichung haben, so lange das griechisch-katho- 
lische Russenreich und das protestantische deutsche 
Reich darin einig sind, keine Gebietserweiterung des 
katholischen Oesterreich auf ihre Kosten zu dulden, so 
werden doch die Polen nie aufhören, jede Verstimmung 
zwischen den Nachbarn zu schüren, und jeden Konflikt 
zwischen ihnen für sich zu benutzen, um bald einen 
russischen, bald einen deutschen Landestheil zum West- 
slavenreich zu schlagen. Für uns bedeutet jeder so an- 
gezettelte Krieg, falls er militärisch resultatlos verläuft, 
einen Verlust von mehreren Milliarden Mark, falls er zu 
unglücklichem Ende führt, ausserdem einen Gebiets- 
Verlust, im glücklichsten Falle eine Vergrösserung der 
bestehenden Schwierigkeiten durch Zuwachs an polni- 



112 

sehen Unterthanen; in allen drei Fällen aber würde 
jeder solche Krieg Hass zwischen befreundeten Regie- 
rungen und den in Frieden lebenden Nachbarvölkern 
säen und die Keime zu immer neuen Verwickelungen 
und Kriegen in sich tragen. Wenn die Umwandlung 
Oesterreichs zu einem slavischen Bundesstaat fertig ist, 
bevor wir mit der Germanisirung der ehemcüs polnischen 
Provinzen beträchtlich viel weiter als heute gelangt 
sind, dann wird uns nichts in der AVeit davor schützen 
können, diese Landestheile nach und nach wieder zu 
verlieren und Milliarden von Mark und hunderttausende 
von Soldaten da?:u. Deshalb darf uns kein Geldopfer, 
imd wenn es in die Milliarden ginge, zu gross sein, um 
zu rechter Zeit durch vollständige Germanisirung solchen 
Zukunftsgefahren vorzubeugen. Da der Pole sich dem 
Deutschen gegenüber viel fremder fühlt als dem stamm- 
verwandten Ostslaven gegenüber, so ist auch für uns 
die Germanisirung der Polen eine viel schwerere Ar- 
beit als für die Russen ihre Russificirung, und doch 
werden in Russland viel energischere Mittel angewen- 
det, weil man sich dort ganz klar darüber ist, wieviel 
auf dem Spiele steht, und sich nicht durch sentimentale 
Rücksichten von dem politisch Nothwendigen zurück- 
halten lässt. 

In der That sind keine Milliarden, nicht einmal 
hunderte von Mülionen erforderlich um diese Aufgabe 
zu lösen, wenn sie nur erst mit der vollen Kraft des 
deutschen Reiches in Angriff genommen wird. So 
wichtig auch die Frage der äusseren Kolonisation ist, 
so halte ich doch die der inneren für noch wichtiger. 
Es genügt hierzu nicht, sämmtliche polnische Landgüter 
zu expropriiren und deutsche Bauern dörfer aus ihnen 
zu machen, es muss auch auf die deutschen Landgüter 
ein Einwanderungsstrom deutscher Kolonisten durch 
ausreichende Prämien hingelenkt, und für dieselben 






— 113 — 

durch prämiirte Auswanderung polnischer Landarbeiter 
nach unsern Kolonien Platz geschaffen werden. Es 
muss ferner vor allen Dingen von jedem Deutschen be- 
griffen werden, dass der eigentliche unversöhnliche Erb- 
feind des Deutschthums die katholische Kirche ist, dass 
deshalb mit dieser kein deutscher Patriot jemals paktiren 
darf, dass sie vielmehr mit dem letzten Hauch natio- 
naler Kjaftanstrengung bekämpft werden muss bis zur 
vollständigen Vernichtung ihrer ungeistlichen Macht- 
stellung, in ihre verborgensten Schlupfwinkel hinein. 
Es gehört endlich dazu, dass die Regierung dafür Sorge 
trägt, dass nicht nur in den höheren Verwaltungs- 
stellungen , sondern in allen bis herunter zum letzten 
Gensdarmen und Rathsdiener nur solche Männer An- 
stellung finden, welche von dem Netz des katholischen 
Einflusses auch nicht im Geringsten umgarnt sind, weil 
sonst die Ausführung aller gegen das Polenthum und 
den Katholicismus gerichteten Gesetze und Verordnungen 
doch zur Hälfte, wo nicht ganz, Komödie bleibt. Alles 
diess aber kann die Regierung nur, wenn sie dabei von 
einem Umschwung der öffentlichen Meinung getragen 
wird, wenn ebenso stürmisch, wie die äussere Koloni- 
sation von den Patrioten aller Parteien jetzt plötzlich 
gefordert wird, sich als neues, die alten Parteischablonen 
durchlöcherndes Feldgeschrei der einmüthige Ruf nach 
innerer Kolonisation zur Rettung des bedrohten Deutsch- 
thums und Sicherstellung unsrer poUtischen Zukunft 
erhebt. 



Hartmann, Moderne Probleme. 



— 114 — 
VI. 

Zur Reform des Universitätsunterriehts. 

Unsere Universitäten haben im geistigen Leben der 
Nation nicht mehr die Bedeutung wie früher, theils weil 
der Einfluss der Literatur den ihrigen überholt hat, 
theils weil sie ihren Einfluss mit zahlreichen neben ihnen 
aufgeblühten Hochschulen technischen, militärischen und 
sonstigen Charakters theilen müssen. Aber noch immer 
ist ihre Bedeutung so gross, dass es unrecht wäre, die- 
selbe zu unterschätzen, und darum ist auch die Frage 
nach den Mängeln unserer Universitäten und nach ihrer 
Abhilfe eine Frage von allgemeinem Interesse für jeden, 
dem dies Gedeihen und der Fortschritt der deutschen 
Geisteskultur am Herzen liegt. 

Die Mängel unsres Universitätswesens liegen so- 
wohl auf Seite der Studentenschaft wie auf Seiten der 
Lehrkörper ziemlich offen zu Tage. Viele Studenten 
Studiren in den ersten Semestern zu wenig oder gar 
nicht, weil falsche Ehrbegriffe und zeittödtende Genuss- 
sucht ihre Kräfte vollauf in Anspruch nehmen; wenn 
sie aber anfangen zu studiren, so haben sie alle Hände 
voll zu thun, um den gesteigerten Prüfungsansprüchen 
an ihre Berufswissenschaft Genüge zu leisten, so dass 
ihnen während der ganzen Studienzeit kein Augenblick 
für allgemeinere Geistesbildung, für das Studium der 
humaniora übrig bleibt. Für solche Studenten passt 
unsre deutsche Einrichtung der Universitäten nicht; wäre 
es sicher, dass diese Art von Studenten thum das Feld 
der Zukunft behaupten würde, so müsste unser Uni- 
versitätswesen aus Zweckmässigkeitsgründen iseine aka- 
demische Freiheit aufgeben und gegen den französischen 
und englischen Zuschnitt der obligatorischen Einpaukerei 
vertauschen. Glücklicher Weise besitzen wir noch 



— 115 — 

studentische Elemente genug, welche von der akade- 
mischen Freiheit wirklichen Nutzen ziehen, und wenn 
man den Zeichen der Zeit trauen darf, so darf man 
vorläufig die Hofl&iung nicht fahren lassen, dass aus den 
Kreisen des Studententhums heraus ein Umschwung 
zimi Bessern erfolgen wird durch eine mächtige Auf- 
lehnung gegen die bisherige sinnlose Kraft- und Zeit- 
vergeudung. 

Einem solchen Umschwung müssen aber einschnei- 
dende Reformen von Seiten des Lehrkörpers entgegen 
kommen, wenn die Besserung gründlich und dauernd 
werden soll. Der tiefliegendste und allereigentlichste 
Krebsschaden unsres Universitätsunterrichts liegt meiner 
Meinung nach darin, dass der Regel nach die Erfindung 
der Buchdruckerkimst mit Hartnäckigkeit ignorirt, und 
heute noch wie im Mittelalter der Unterricht allein auf 
mündlichen Vortrag gegründet wird. Man verkennt die 
physiologische Thatsache, dass eine Stunde Vortrag- 
Hören die Nerven und das Gehirn weit mehr anstrengt 
als eine Stunde Lesen. Dieser Satz erleidet nur da 
eine Ausnahme, wo das Lesen eine noch ungewohnte 
Thätigkeit ist, welche eine besondere Anspannung der 
Aufmerksamkeit erfordert; ein Jüngling aber, der noch 
auf diesem kindlichen Standpunkt steht, ist eben noch 
nicht reif für den Besuch der Universität, und deshalb 
ist bei den Universitätseinrichtungen auf solche unreife 
Individuen keine Rücksicht zu nehmen. 

Es sind verhältnissmässig wenige Fächer des Uni- 
versitätsunterrichts, bei denen die Demonstration den 
Stamm bildet, um welche der Vertrag sich bloss er- 
läuternd herumrankt; bei den meisten ist das mündliche 
"Wort des Lehrers auf sich allein angewiesen. Was der 
Lehrer vorträgt, ist der Inhalt eines ungedruckten Lehr- 
buchs; was der Schüler nachschreibt, ist der Inhalt eines 
imgedruckten Leitfadens. Kein Student würde es sich 

8* 



— ii6 — 

einfallen lassen, nachzuschreiben, wenn er bei Belegxmgf 
des Collegs den gedruckten Leitfaden des Docenten 
eingehändigt erhielte, und ausserdem jederzeit in einem 
gedruckten Lehrbuch des Docenten das Gehörte nach- 
lesen könnte. Der ganze Unfug des Nachschreibens 
würde mit einem Schlage beseitigt, wenn die Univer- 
sitätsordnung es verböte, dass irgend ein Professor oder 
Docent ein CoUeg ankündigte, zu dem er nicht vorher 
der Universitätsbehörde den gedruckten Leitfaden ein- 
gereicht, oder einen der bereits bekannten Leitfaden 
eines Dritten zu Gnmde legen zu wollen erklärt hat. 
Jedem Draussenstehenden müsste es zunächst unbegreif- 
lich scheinen, warum diess nicht auch ohne solche 
Zwangsbestimmung freiwiUig von allen Lehrern ge- 
schieht, da die Sache doch gar so einfach und selbst- 
verständlich scheint, und jeder Meinungsänderung des 
Lehrers theils durch neue Auflagen des Leitfadens, 
theils durch die Ausführungen des mündlichen Vortrags 
Rechnung getragen werden kann. Der Grund, warum 
es bisher so selten geschieht, und statt dessen abge- 
schriebene Diktathefte umlaufen, ist wohl in der Furcht 
der Professoren zu suchen, einerseits durch selbst 
herausgegebene Leitfaden sich allzusehr der Kontrole 
imd Kritik ihrer Konkurrenten bloss zu stellen, andrer- 
seits durch solche Darbietimg des zusammengedrängten 
Lernstoffes für die Prüfungen den Studenten das Be- 
suchen ihrer sonst reizlosen Vorträge überflüssig zu 
machen. 

In der That trägt der „Leitfaden" die Gefahr in 
sich, dass er dem faulen Studenten die Beruhigung ge- 
währt, auch ohne Besuch der Vorträge durch Auswen- 
diglernen seines Inhalts das E^iamen in dem Gegen- 
stande bestehen zu können. Diese Gefahr liegt aber 
wesentlich nur dann vor, wenn der Lehrer sich nicht 
auf einen wirklichen Leitfaden, d. h. ein gedrucktes 



— 117 — 

Diktatheft, zu beschränken gewusst hat, und statt 
dessen ein Mittelding von Leitfaden und Lehrbuch, oder 
gar ein kurzgefasstes Lehrbuch unter dem Titel „Leit- 
faden" veröffentlicht hat. Je knapper der Leitfaden ist, 
desto sicherer wird der Examinator das verständniss- 
lose Memoriren desselben von dem rationellen Durch- 
dringen seines Inhalts unterscheiden können und im 
Stande sein, das erstere als ungenügend zu verwerfen. 

Man rühmt dem mündlichen Vortrag mit Recht 
nach, dass er bei gleichem sachlichen Inhalt doch an- 
regender sei als xiie Lektüre, weil er mit Hilfe der 
Deklamation und Mimik von Person zu Person elek- 
trische Fäden des Verständnisses spinnt. Dieser Vor- 
zug kommt aber nur dem freien Vortrag imd keines- 
w^egs der Vorlesung zu; im Gegentheil wirkt das Ab- 
lesen eines Manuscriptes meistens ungünstiger auf den 
Hörer als die Lektüre der gedruckten Vorlesung auf 
den Leser, weil derselbe sich bei letzterer von vorn- 
herein auf sich allein angewiesen weiss, bei ersterer 
aber in seiner berechtigten Erwartung auf die belebende 
und zündende Geisteswirkung von Person zu Person 
getäuscht wird. Würde man nun aber statistisch fest- 
stellen, welcher Procentsatz der Universitätslehrer seine 
eigentlichen Lehrvorträge (abgesehen von den Demon- 
strationen und Seminarien) frei hält und nicht abliest, 
so möchte die Ziffer sehr gering ausfallen. 

Nimmt man noch hinzu, dass nur ein kleiner Theü 
unter den Vorlesenden gut zu lesen versteht, einige 
sogar geradezu schwer zu verstehen sind, so begreift 
man, dass das Hören der Vorlesungen bei den Studen- 
ten in eben dem Maasse aus der Mode gekommen ist, 
als geeignete Lehrbücher der verschiedenen Fächer sich 
dem Selbststudium durch Lektüre dargeboten haben. 
Der fleissige Student arbeitet lieber zu Hause ein gang- 
bares Lehrbuch durch, das in der Regel besser ist als 



— ii8 — 

die Vorlesungen seines Professors, und erspart sich da- 
mit den Besuch der Collegia. Er verbessert also auf 
eigne Hand den Fehler, den die Universität mit dem 
Ignoriren der Buchdruckerkunst begangen hat; aber er 
vollzieht diese Verbesserung nur dadurch, das3 er das 
Universitätsstudium zum leeren Schein verflüchtigt und 
das Privatstudium an dessen Stelle setzt. Er muss nach 
wie vor die Collegia, die er nicht hört, bezahlen, und 
der Professor muss, um nicht seine Einnahmen zu ge- 
fährden, den Besuch der "Wahrheit zuwider bezeugen. 
Der Student ist femer genöthigt, sich die Diktathefte 
des nicht gehörten Professors zu verschaffen, und sie 
durchzuarbeiten, um im Examen bei ihm bestehen zu 
können, weil der Examinator ja nicht merken darf, dass 
der Examinand sein Wissen aus dem Lehrbuch eines 
Konkurrenten geschöpft hat. 

So führt der Fehler im Universitätsunterricht und 
dessen eigenmächtige Verbesserung von Seiten der 
Studenten zur Unwahrheit auf beiden Seiten, zu einem 
in sich unsittlichen Zustand, der den Misskredit der 
Vorlesungen zu einer wirklichen Missachtung steigern 
muss. Dieser Zustand erfordert dringend Abhilfe, und 
diese ist auf keinem andern Wege möglich, als dadurch, 
dass der Universitätsunterricht seinen Grrundfehler: das 
Ignoriren der Buchdruckerkunst, ablegt. Entweder ist 
das Heft, welches ein Professor vorliest, werth gedruckt 
zu werden, dann soll es auch als gedrucktes Lehrbuch 
den Studenten zugänglich sein; oder es ist nicht werth, 
gedruckt zu werden, dann ist es auch erst recht nicht 
werth, vorgelesen zu werden, und die Studenten haben 
dann ganz Recht, wenn sie sich gegen den Besuch sol- 
cher Vorlesimgen sträuben und den direkten oder in- 
direkten Zwang dazu als ein ihnen angethanes Unrecht 
empfinden. Ein direkter Zwang zu einem Colleg be* 
steht aber da, wo der Besuch eines CoUegs über den 



— 119 — 

Gegenstand obligatorisch ist und nur Ein Lehrer über 
den Gegenstand liest; ein indirekter Zwang besteht 
überall, wo ein Examinator das Colleg über einen 
Prüfungsgegenstand liest. Daraus folgt, dass kein Pro- 
fessor ständiger Examinator in einem Fache werden 
darf, über das er nicht entweder ein Lehrbuch heraus- 
gegeben hat, oder das er nicht nach dem Lehrbuche 
eines Dritten behandelt und prüft. 

Hiergegen wird man nun einwenden, dass eine 
solche Bestimmung erst recht dazu fuhren würde, die 
Hörsäle zu veröden, und dass mit ihr der Universitäts- 
unterricht in der Hauptsache seine Abdankung legali- 
siren würde, wofern er nur zu der Konsequenz fort- 
ginge, anstatt der unwahren Atteste über den Besuch 
der ZwangscoUegien wahrhafte Quittungen über den 
Ankauf der betreffenden Lehrbücher zu fordern. Inso- 
weit als dieser Einwand richtig ist, kann man nur dar- 
auf antworten, dass insoweit allerdings der mündliche 
Universitätsunterricht das Recht zu existiren verloren 
hat, und das es nicht gerechtfertigt werden kann, einen 
innerlich imhaltbar gewordenen Zustand durch ein 
künstliches System konventioneller Unwahrheiten als 
hohles Scheinbild konserviren zu wollen. Insoweit muss 
also jede Maassregel willkommen geheissen werden,, 
welche den äusseren Zusammenbruch eines innerlich 
hohlen und unwahren Zustandes beschleunigt. Aber es 
ist nicht richtig, dass mit der vorgeschlagenen Maass- 
regel der mündliche Universitätsunterricht noch weiter 
herunterkommen würde; im Gegentheil würde dieselbe 
geeignet sein, ihm einen neuen Aufschwxmg zu ver- 
schaffen, wofern derselbe nur die durch die veränderten 
Umstände gebotene Umwandlung mit sich vornimmt. 

Allerdings kann der Lehrer nicht erwarten, dass 
tnan seine Vorlesungen mit anhöre, wenn er doch nur 
sein Lehrbuch vorliest, das man zu Hause bequemer 



I20 

und schneller lesen kann. Der Hauptvortheil der münd- 
lichen Belehrung, die Möglichkeit von Frage und Ant- 
wort, bleibt ja ohnehin bei solchem rein einseitigen 
Vortrag unbenutzt, und doch wird erst in der lebendigen 
Wechselrede der Lehrer gezwxmgen, frei zu produciren 
und dadurch die eigentlichen Vorzüge des mündlichen 
Vortrages über die Lektüre zu entfalten. Andrerseits 
hat der Lehrer nicht mehr nöthig, seinen Schülern das- 
jenige mündlich zu sagen, was sie in dem betreffenden 
Abschnitt seines Lehrbuchs schon zu Hause hatten lesen 
können, sondern er hat nun den Vortheil, diesen Ab- 
schnitt auf Grund der vorausgesetzten Lektüre frei mit 
ihnen durchsprechen zu können, ähnlich wie es schon 
jetzt in den Privatissimis und Seminarien mit philolo- 
gischen oder philosophischen Klassikern geschieht. Die 
Studenten könnten ihren Zweifel und ihre Unklarheit 
über bestimmte Punkte fragend zur Sprache bringen, 
und dadurch ihr Studium unendlich viel fruchtbarer 
machen, als es durch einsame Lektüre oder durch Be- 
sprechung unter lauter Lernenden werden kann. Die 
CoUegien würden sich gegen jetzt merklich füllen, weil 
viel mehr aus denselben zu holen wäre und die Repe- 
tition von gedruckten Leitfaden würde wirklich zur 
Wiederholung eines rationell verarbeiteten Gedanken- 
materials werden. Die Arbeit der Lehrer würde sich 
dabei verringern, da die Hälfte derjenigen Stundenzahl, 
welche jetzt der Vortrag erheischt, zur Besprechung 
ausreichen würde ; die Arbeit der Studenten aber würde 
sich trotz des viel grösseren Gewinns nicht wesentlich 
vergrössem^ da man in zwei ganzen Stunden zu Hause 
bequem so viel lesen kann, wie man in vier mal drei- 
viertel Stunden im CoUeg hört. 

Wenn die Examinatoren gezwungen würden, diese 
veränderte Unterrichtsart anzunehmen, so würden da- 
durch indirekt alle nicht examinirenden Lehrer mit ge- 



121 

2wungen werden, dasselbe Verfahren zu beobachten, 
soweit dieselben die gleichen Gegenstände lehren. Denn 
^ade der persönliche Verkehr mit den Examinatoren, 
welcher durch die Besprechimg der Lehrbücher eröffnet 
ist, würde den schon jetzt bestehenden Vorspnmg der 
Examinatoren gegen die nicht examinirenden Konkur- 
renten so sehr vergrössem, dass die Konkurrenz der 
letzteren völlig aussichtslos werden müsste, wenn sie 
im alten Schlendrian der „Vorlesungen" verharren woll- 
ten. Schon jetzt ist der Vortheil der Examinatoren so 
gross, dass gegen diesen Vorsprung der Stellung keine 
Ueberlegenheit in den Leistungen aufkommen kann; 
wenn dieser Vorsprung durch die veränderte Unterrichts- 
art noch vergrössert wird, so ist das ein schwerwiegen- 
der Uebelstand, der leider mit in den Kauf genommen 
werden muss. Der einzig mögliche, aber auch von der 
Gerechtigkeit geforderte und darum unerlässliche Aus- 
gleich ist darin zu suchen, dass die Examinatoren auf- 
hören, für den durch ihre Stellung und nicht durch ihre 
Tüchtigkeit bedingten stärkeren Zuspruch zu ihren 
CoUegien diejenige Prämie zu erhalten, welche nur als 
Prämie überlegener Tüchtigkeit einen Sinn hat, näm- 
lich die Collegiengelder ihrer Zuhörer. 

Es giebt eine Anzahl CoUegien, deren Gegenstand 
^on hohem wissenschaftlichen Werth, aber nicht gerade 
Gegenstand einer Berufsprüfung ist. Solche CoUegien 
liaben naturgemäss auch bei der grössten Tüchtigkeit 
des Lehrers nur wenige Zuhörer, während andre von 
im entbehrlichem Nutzen oder allgemeinerem Interesse 
auch bei geringerer Tüchtigkeit des Lehrers auf stärke- 
ren Zuspruch rechnen dürfen. Hieraus erhellt wiederum, 
ivie wenig die Zuhörerzahl geeignet ist, als Maassstab für 
die Tüchtigkeit des Lehrers oder gar für eine demselben 
zu gewährende Extravergütignng zu dienen. Wenn es 
doch einzelnen Professoren von anerkannt hervorragen* 



— 122 

der Bedeutung in einem Fache von geringer praktischer 
Verwendbarkeit und specialisirtem Interesse gelingt^ 
eine grössere Zahl von Hörern um sich zu versammeln, 
so erzielen sie die ihnen dadurch zufliessenden höheren 
Einnahmen wiederum nur dadurch, dass sie die Erfin- 
dung der Buchdruckerkunst ignoriren und somit jeden, 
der ihre Arbeiten kennen lernen will, zwingen, zu ihnen 
zu kommen und ihre Vorlesungen zu hören. Man 
wird zugeben, dass eine solche Monopolisirung der 
Wissenschaft ein in der Gegenwart nicht mehr zu dul- 
dender Rest mittelalterlicher Zunft- und Bann-Rechte 
ist, und dass die Honorarverhältnisse, welche einen Ge- 
lehrten zu solcher Zurückhaltung treiben, selbst ein 
unwürdiges Ueberlebsel überwundener Zeiten sind. So- 
bald der Bezug von CoUegiengeldern ein Ende hat, hört 
auch das Interesse an der NichtVeröffentlichung der For- 
schungsergebnisse auf, da das blosse Eitelkeitsinteresse 
an der Zahl der Zuhörer denn doch wohl zu tief steht, 
um den Fortschritt der Wissenschaft in seiner stets 
wachsenden Beschleunigung zu hemmen. 

Für Forscher solcher Art ist überhaupt das Lehren 
gar keine Bedingung ihrer Wirksamkeit, sollte für sie 
vielmehr nur Mittel der eigenen Anregxmg und Er- 
frischung sein. Ihr Platz ist nicht sowohl im Lehrkörper 
einer Universität als in einer Akademie mit der Be- 
rechtigung, aber ohne die Verpflichtung zum Abhalten 
von Vorträgen an den Staatsuniversitäten. Man kann 
ein vorzüglicher Lehrer xmd ein sehr untergeordneter 
Forscher sein ; man kann aber auch ein hervorragender 
Forscher und dabei sehr schlechter Lehrer sein. Der 
Staat hat ein ebenso grosses Interesse, sich Forscher, 
als sich Lehrer zu sichern; aber er fasst die Sache am 
unrechten Ende an, wenn er beides vermengt, also von 
jedem Lehrer als unentbehrliche Zuthat seiner Stellung 
den Nimbus eines bedeutenden Forschers und Förderers 



— 123 — 

der Wissenschaft verlangt, und jedem Forscher eine 
Lehrthätigkeit als' Bedingung für die Gewährung eines 
Staatsgehaltes zumuthet. Die Bedeutung der Akade- 
mien für die Gegenwart ruht ausschliesslich darin, dass 
sie den Forschem eine sorgenfreie Existenz zur Fort- 
setzung ihrer Forschungen mit ungetheilten Kräften ge- 
währen; dieses Ziel haben ursprünglich die meisten 
Akademien sich vorgezeichnet, und es ist nicht der 
Fehler ihrer Gründer, wenn die mit der Mitgliedschaft 
verknüpften Gehälter in Folge veränderten Geldwerthes 
ihrem Zwecke nicht mehr genügen. Wenn die Regie- 
rungen sich entschliessen könnten, die Mitgliedschaften 
der Akademien durch zeitgemässe Erhöhung der Ge- 
hälter zu Forscher-Sinekuren zu erheben, so würden sie 
damit den höchsten Spitzen des Kulturfortschritts einen 
ebenso grossen Dienst erweisen als den Universitäten^ 
welche dadurch von Lehrern entlastet würden, die nur 
aus Noth lehren, um nebenbei als Forscher leben zu 
können. Das Gehalt eines Mitglieds der Akademie 
müsste eben höher sein als das höchste Professoren- 
gehalt, womit aber selbstverständlich auch eine Kumu- 
lation beider Gehälter ausgeschlossen wäre. 

Es ist bekannt, dass es gegenwärtig zum grossen 
Theil andre Kollegien sind, welche der Student be- 
sucht, als die, welche er bezahlt; er bezahlt diejeni- 
gen, welche er direkt oder indirekt gezwungen ist,, 
zu belegen, und hat in der Regel wenig Neigung^ 
nebenbei auch diejenigen noch zu bezahlen, welche er 
bloss aus Interesse an der Sache besucht. Die Folge 
davon ist, dass er auch die sein Interesse erweckenden 
CoUegien nur imvollständig, weil mit bösem Gewissen, 
hört, ohne dass er im Stande ist, die Lücken durch 
Lektüre des Lehrbuchs zu ergänzen. Den nicht exami- 
nirenden Lehrern raubt dieser Missbrauch des Hospi- 
tirens noch einen gprossen Theil derjenigen CoUegien- 



124 — 

gelder, welche ihnen durch den Vorsprung ihrer exami- 
nirenden Kollegen allenfalls noch hätten übrig bleiben 
können. Wollte man unter den Verhältnissen, wie sie 
sich entwickelt haben, auf strenge Ordnimg halten, und 
jeden Studenten, der nicht belegt hat, hinausweisen, so 
würde die Wirkung davon in der Hauptsache nur die 
sein, dass die Hörsäle noch mehr veröden und die 
Studenten noch mehr sich dem Privatstudium durch 
Lektüre zuwenden. 

Wenn eine statistische Erhebung darüber vorge- 
nommen werden könnte, wie viel wirklich besuchte 
Vorlesimgsstunden auf den Kopf der deutschen Studen- 
tenschaft in einem Semester kommen, so würde man 
darüber staunen, wie wenig der Nutzen der Vorlesungen 
in ihrer jetzigen Art im Ganzen von den Studenten 
anerkannt wird, und wie sehr das studentische Leben 
(mit Ausnahme der medizinischen Fakultät) zwischen 
Nichtsthun und Privatstudium schwankt. In der That 
konnte aber auch ein fleissiger Besuch der Collegien 
bei dem System der Collegiengelder nur so lange mög- 
lich bleiben, als die Gelegenheit zum Erwerb der dort 
zu erlangenden Kenntnisse auf privatem Wege fehlte. 
Gegenwärtig ist die Forderung der Universitäten, dass 
der Student jedes einzelne CoUeg bezahle, nichts weiter 
als eine Prämie auf die Faulheit \md das Privatstudium 
imd eine gewaltsame Zurückscheuchung der Studenten 
von allen nicht obligatorischen Collegien. Der Besuch 
•der Vorlesungen würde sich sofort verdoppeln und ver- 
dreifachen, wenn von jedem Studenten ein Fixum pro 
Semester erhoben würde, durch dessen Bezahlung er 
das Recht erwirbt, jedes CoUeg zu belegen, dessen 
Plätze nicht schon sämmtlich an früher angemeldete 
Reflektanten vergeben sind. Der Andrang zu den in- 
teressanteren Vorträgen würde dadurch so wachsen, 
dass es nöthig werden könnte, diejenigen numerirten 



— 125 — 

Plätze, welche von ihren ursprünglichen Inhabern ohne 
ausreichende Entschuldigung durch drei Stunden un- 
benutzt gelassen werden, an nachbemerkte Bewerber 
weiter zu begeben. 

Die Collegiengelder bilden nach Ablösung der Stol- 
gebühren den letzten Rest des mittelalterlichen Sportel- 
und Gebühren -Wesens, und es ist endlich Zeit, mit 
dieser Ruine aufzuräumen, welche ein Haupthindemiss 
für einen neuen Aufschwung des Universitäts-Unterrichts 
bildet. Den ursprünglichen Sinn einer Prämie für an- 
ziehende Vorträge hat die Ueberweisung der Collegien- 
gelder an die Professoren längst eingebüsst, und gegen- 
wärtig ist sie wesentlich eine unverdiente Gehaltszulage 
für die ohnehin schon begiinstigten Examinatoren. Wer- 
den die Einzelhonorare fiir jedes Colleg in ein festes 
Studienhonorar fiir das ganze Semester umgewandelt, 
so fallt jede Versuchung fort, diese Honorare dem 
Lehrerkollegium zu überweisen, anstatt derjenigen Be- 
hörde, welche die Universität erhält imd die Gehälter 
der Professoren zahlt. Diese Aufhebung der Gebühren 
müsste natürlich mit einer Ordmmg der Professoren- 
gehälter Hand in Hand gehen, welche ohnehin dringen- 
des Bedürfhiss ist; auch müssten Uebergangszustände 
zugelassen werden, deren Erörterung hier zu weit fuhren 
würde. 

Worüber am meisten öffentlich geklagt wird, ist 
die Aussichtslosigkeit der akademischen Carriere und 
die Uebelstände, welche bei der Berufung von Profes- 
soren hervortreten. Abgesehen von den Uebertreibun- 
gen und ungerechtfertigten Verallgemeinerungen, die 
bei solchen Klagen fast unvermeidlich mit unter laufen, 
begehen die Wamungsstimmen dieser Art meistens den 
Fehler, dass sie allgemein menschliche Uebelstände, wie 
Kliquenwesen, Weiberregiment, Nepotismus und der- 
gleichen für funkelnagelneue Erscheiuimgen speciell 



— 126 — 

unsres Universitätslebens halten, während diess doch 
nur die überall und zu allen Zeiten gangbaren Ab- 
weichungen von vorurtheilsloser Sachlichkeit sind. Man 
mag solche Dinge zur Sprache bringen, um den be- 
treffenden Kreisen das Gewissen zu schärfen und sie 
an den Ernst ihrer Berufspflicht und die Forderungen 
der guten Sitte zu erinnern; aber man wird nicht hoffen 
dürfen, dadurch mehr Wirkung auszuüben als mit Mo- 
ralpredigten irgend welcher andren Art. Alle Coopta- 
tion fuhrt zur Inzucht, alle Stellenbesetzung durch die 
Regierung zur Begünstigung politischer Streber; In- 
trigue und persönliche Begünstigung spielt hier wie 
dort ihre Rolle, wenn auch in verschiedener Weise. 
Beide Quellen unsachlicher Entscheidung müssen ein- 
ander beschränken, und jeder Versuch, der einen auf 
Kosten der andren das Uebergewicht zu verschaffen, 
ist nach der einen wie nach der andern Seite gleich 
fehlerhaft. Deshalb liegt kein Anlass vor, an den be- 
stehenden Zuständen wesentliche Aenderungen in dieser 
Hinsicht zu verlangen. 

Das Widerwärtige an den akademischen Zuständen 
liegt vor allem darin, dass die Erlangung einer ausser- 
ordentlichen Professur noch keinerlei Einkommen ge- 
währt, und dass selbst der Eintritt in eine ordentliche 
Professur nicht dem Ehrgeiz und der Gewinnsucht das 
Thor verschliesst. Der Grund dafür ist aber ausschliess- 
lich in den ungeordneten Gehaltsverhältnissen zu suchen, 
welche die einer Berufung voraufgehenden Verhandlun- 
gen nicht selten zu einem Markten und Feilschen herab- 
würdigen wie bei dem Engagement eines Schauspielers, 
und das Spiel der Intriguen zur Erlangung von wirk- 
lichen oder Schein-Berufungen nicht enden lassen. Der 
Professorenstand wird nicht eher sein moralisches und 
sociales Gleichgewicht und die ihm gebührende wissen- 
schaftliche Würde gewinnen, als bis er durch eine feste 



— 127 — 

Gehaltsscala mit Alterascension und örtlich verschiedenen 
Wohnungsgeldem und durch gesicherte Pensionsver- 
hältnisse den andern Staatsdienern an Solidarität und 
Stabilität der pekuniären Lebens-Grundlagen gleichge- 
stellt wird. Wer von einer kleinen Universität an eine 
grosse berufen wird, der soll nicht um materieller Vor- 
theile willen dort hin gehen, sondern im freudigen Stolz 
auf den erweiterten Wirkungskreis; zieht er aber das 
Verbleiben im gewohnten und lieb gewordenen Kreise 
vor, so mögen die grossen Universitäten aus dem eignen 
Nachwuchs ihre Vakanzen besetzen. Es ist unwürdig, 
dass müde Greise bis an ihr Ende weiter lehren müssen, 
weil sie durch ein ganzes Leben voll Arbeit keinen 
Pensionsanspruch erworben haben, und ebenso unwür- 
dig, dass sie siph im Falle vollständiger Unfähigkeit ihr 
Gehalt für die schuldig gebliebenen Leistungen müssen 
schenken lassen. Es ist unwürdig, dass die längste 
Dienstzeit keinen Anspruch auf Gehaltssteigerung ver- 
schafft, und dass letztere erst auf dem Umwege künst- 
lich inscenirter Scheinberufungen erpresst werden muss. 
Es ist ungehörig, dass viel umworbenen Berühmtheiten 
Einnahmen von der Höhe einer Primadonnengage und 
luxuriöse Dienstwohnungen bewilligt werden, und ebenso 
ungehörig, dass die Berufung an grosse Universitäten 
zur Nationalbelohnung für abgediente Invaliden des 
Katheders herabgesetzt wird. Mit der Gleichstellung 
aller Professorengehälter in demselben Staat, oder wo 
möglich im ganzen Reich würden alle solche Ungehö- 
rigkeiten ganz von. selbst wegfallen. 

Der Unterschied zwischen ordentlichen und ausser- 
ordentlichen Professoren kann bestehen bleiben; denn 
wer einmal zum ordentlichen Professor ernannt ist, der 
rückt damit auch von selbst in alle höheren Gehalts- 
stufen nach seinem Dienstalter auf, während der ausser- 
ordentliche Professor bei dem höchsten Gehalt für 



— 128 — 

ausserordentliche Professoren stehen bleibt, wenn ihm 
die Beförderung zum Ordinarius versagt bleibt. Nur 
das scheint mir unbillig, dass man Docenten zu ausser- 
ordentlichen Professoren ernennt, sie dadurch mit der 
trügerischen Hofihung, in der akademischen Laufbahn 
ihr Fortkommen zu finden, ködert, und dann ohne Ge- 
halt bis an ihr Ende sitzen lässt. Die Gehaltlosigkeit 
der Extraordinarien wird so nicht ohne Grund zu einer 
Hauptquelle der Bitterkeit für alle, welche nicht zu 
einer ordentlichen Professur gelangen können, und nun 
ihr Leben als ein verfehltes, ihre akademische Laufbahn 
für eine gescheiterte, und ilire Lebensarbeit für eine 
völlig unentlohnte ansehen müssen. Das Gehalt der 
Extraordinarien müsste wenigstens für einen Jung- 
gesellen auskömmlich und zugleich pensionsberechtigt 
sein ; die zeitweilige gnadenweise Gewährung von Unter- 
stützungen kann niemals als Ersatz für ein pensions- 
fahiges, wenn auch noch so bescheidenes Gehalt gelten. 
Selbstverständlich würde die Behörde für das von ihr 
gewährte Gehalt auch ein Minimum von wöchentlichen 
Lehrstunden von jedem Angestellten verlangen müssen, 
das beim Extraordinarius geringer bemessen sein müsste 
als beim Ordinarius. Andrerseits haben auch die Extra- 
ordinarien, sobald sie ein festes Gehalt beziehen, keinen 
Grund mehr, den Wegfall der CoUegiengelder zu be- 

dauern. 

Die Stellung als Privatdocent ist eine Vorbereitungs- 
stufe und Probezeit für den akademischen Beruf. Es 
ist wünschenswerth, dass dieselbe möglichst zahlreichen 
Bewerbern möglichst leicht zugänglich sei, damit die 
Behörden ein reichliches Material zur Ernennung von 
ausserordentlichen Professoren zur Auswahl haben; aber 
es ist nicht wünschenswerth, das längere Verbleiben in 
dieser Stellung für solche Aspiranten angenehm und 
behaglich zu machen, welche nach mehrjähriger Probe- 






k 



— I2Q — 



zeit nicht zur ausserordentlichen Professur geeignet be- 
funden worden sind. Man muss den Privatdocenten den 
Austritt aus der akademischen Carriere ebenso leicht 
machen wie den Eintritt, und muss eine Frist setzen^ 
etwa von zehn Jahren, nach deren Ablauf ein nicht be- 
förderter Privatdocent eo ipso die venia docendi verliert. 
Nur auf diesem Wege ist die Existenz eines Kreises 
von verbitterten lebenslänglichen Privatdocenten zu ver- 
meiden, oder dem noch schlimmeren Fehler vorzubeugen, 
dass man alte Privatdocenten endlich einmal zu Profes- 
soren ernennt, bloss weil man das unverdiente Scheitern 
in ihrem Lebenslauf als gar zu grausames Schicksal mit- 
empfindet» 

Damit den Docenten, welche trotz mehrjähriger 
Probezeit nicht zur ausserordentlichen Professur gelangt 
sind, das Verbleiben in ihrer Stellung erschwert wird, 
ist es nothwendig, dass denselben keinerlei Remunera- 
tion oder Honorar zufallt. Die Zulassung zum Dociren 
an einer Hochschule ist an imd für sich ehrenvoll ge- 
nug, um auch einige Jahre als blosse Ehrensache geübt 
werden zu können, zumal kein Docent nöthig hat, mehr 
als einige Stunden wöchentlich dieser freiwilligen aka- 
demischen Lehrthätigkeit zu widmen. Nur solche Do- 
centen, welche zur Beförderung für einen späteren Termin 
in sichere Aussicht genommen sind, dürfen durch Re- 
munerationen aus Dispositionsfonds an die akademische 
Laufbahn gefesselt werden; bei jedem andern müsste 
eine solche Gewährung als eine grausame Erweckung 
unbegründeter Hoffnungen verurtheilt werden. Die ge- 
haltlose Zeit eines jungen Mannes, welcher sich der. 
akademischen Laufbahn widmet, wird danach im Durch- 
schnitt nicht wesentlich länger zu rechnen sein als bei- 
spielsweise in der juristischen Carriere. Der Unterschied 
bleibt freilich bestehn, dass der Jurist nach Ablauf die- 
ser Frist, innerhalb deren er aus seinen eigenen Mitteln 

Haitmann, Moderne Probleme. 9 



— I30 — 

oder aus denen seiner Familie sich erhalten muss, ziem- 
lich sicher auf Anstellung rechnen darf, der Docent aber 
nicht, und es wird nicht zum Ausgleich genügen, dass 
die juristische Laufbahn in erster Reihe dem Brot- 
erwerb, die akademische Laufbahn dagegen in erster 
Linie der Befriedigung theoretischer Neigungen und 
idealer Bedürfhisse dient. Dieser Ausgleich ist deshalb 
ungenügend, weil die Furcht, spätestens zehn Jahr nach 
der Habilitation vor dem niederdrücken Misserfolg einer 
völlig gescheiterten Carriere zu stehen, die Zahl der Re- 
flektanten auf das Docententhum bei gleichzeitigem 
Wegfall der Kollegiengelder unter das erforderliche oder 
doch wünschenswerthe Maass herabdrücken könnte, 
trotzdem dass die Hoffnung auf frühere Beförderung 
zum besoldeten Extraordinarius einen gegen die heuti- 
gen Verhältnisse verstärkten Anreiz zur Habilitation ge- 
währen würde. 

Die akademische Laufbahn ist nur dann im Stande, 
viele Probekandidaten anzulocken, ohne durch Wieder- 
ausscheidung der Mehrzahl der Bewerber eine tiefe Ver- 
bitterung zu säen, wenn von vornherein darauf gesehen 
wird, dass die Docenten zugleich auf irgend einen an- 
dern, als den akademischen Beruf vorbereitet sind, und 
diesen wo miöglich gleichzeitig verfolgen, jedenfalls aber 
nach dem wScheitern ihrer akademischen Laufbahn den 
Rücktritt in denselben sich offen halten. Mit andern 
Worten : die Universitätsbehörden sollten mit Ausnahme 
von Persönlichkeiten, die sich bereits durch hervor- 
ragende schriftstellerische Leistungen als ausnahmsweise 
befähigt erwiesen haben, den höchsten Werth daraut 
legen, nur solche Kandidaten zur Habilitation zuzu- 
lassen, welche sich durch die erforderlichen Staats- 
prüfungen den Eintritt in eine anderweitige Laufbahn 
bereits gesichert haben; die Staatsbehörden aber sollten 
in Anbetracht der hohen Wichtigkeit des Universitäts- 



— 131 — 

Unterrichts für die nationale Geisteskiütur den Staats- 
dienem aller Berufsarten, welche Neigung spüren, sich 
eine Zeitlang als akademische Docenten zu versuchen, 
die Erfüllung dieses Wunsches durch das bereitwilligste 
Entgegenkommen erleichtem, anstatt denselben im In- 
teresse des Specialdienstes Schwierigkeiten oder unüber- 
windliche Hindemisse zu bereiten. 

In der Hauptsache besteht der von mir verlangte 
Zustand schon heute in der medicinischen und theolo- 
gischen Fakultät; jeder medicinische Docent ist neben- 
bei praktischer Arzt, und jeder theologische Docent ist 
nebenbei wenigstens Licentiat imd kann, wenn er von 
der Universität zurücktritt, eine Predigerstelle anneh- 
men. Immerhin wäre es wünschenswerth , dass mehr 
angestellte jüngere Geistliche als bisher nebenbei den 
Beruf als Docenten ausübten, wenn sie in einer Uni- 
versitätsstadt oder deren unmittelbarer Nähe leben : da- 
gegen scheint mir eine dauernde Verknüpfung von 
Seelsorge und akademischem Lehramt, wie sie jetzt 
ausnahmsweise vorkommt, nicht empfehlenswerth, viel- 
mehr nach ausreichender Probezeit die Entscheidung 
für die eine oder die andre Berufsart geboten. In der 
juristischen Fakultät wäre es nicht mehr als billig, dass 
man von einem Docenten die vorherige Erlangung der 
Richterqualität forderte; dagegen müssten auch Rich- 
ter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Gerichts- und Regie- 
rungs-Assessoren und -Räthe, die an Universitätsplätzen 
leben, in liberalster Weise zur Habilitation zugelassen 
werden, und ihre vorgesetzten Gerichts- und Verwal- 
tungsbehörden von den Ministerien darauf hingewiesen 
werden, dass diese Zulassung im dringenden Interesse 
des Staates liege, und dass solche Neigungen und 
Bestrebungen für die wissenschaftlichen Interessen der 
Bewerber ein ehrenvolles Zeugniss ablegen. 

Dasselbe gilt für die Schulbehörden in Bezug auf 

9* 



— 132 — 

die Lehrer an staatlichen und städtischen Schulen; hier 
ist sogar der innere Zusammenhang des höheren und 
Hochschulwesens ein so enger, äass es durchaus ge- 
rechtfertigt erscheint, die Zahl der wöchentlichen CoUeg- 
stunden (wenigstens bis zur Höhe von fünf) auf die 
Zahl der gesammten Wochenstimden , zu deren Er- 
theilung der Lehrer verpflichtet ist, in Anrechnung zu 
bringen, also einem Lehrer, der zugleich Universitäts- 
docent ist, statt 24 nur 19 Schulstunden wöchentlich 
zu übertragen. Die Universitätsbehörden aber sollten 
bei Habilitationen in der philosophischen Fakultät die 
Bewerber, welche die facultas docendi für die höheren 
Gymnasialklassen erworben haben, entschieden bevor- 
zugen, damit den Docenten, welche zur Beförderung 
in eine ausserordentliche Professur nicht in Aussicht 
genommen sind, seinerzeit der Rath ertheilt werden 
könne, ins Schulamt überzutreten. Gegenwärtig gilt 
der Eintritt ins Schulfach als fast gleichbedeutend mit 
dem Verzicht auf die akademische Laufbahn, und darum 
bemühen sich die Aspiranten auf letztere, die Annahme 
einer Lehrerstellung, selbst in einer Universitätsstadt, 
wenn irgend möglich zu vermeiden, imd sei es auch 
unter den grössten Anstrengungen und Entbehrungen. 
Diess würde aufhören. 

Wer nicht hinreichend mit Gütern gesegnet ist, um 
nach absolvirtem Staatsexamen sich ganz dem theore- 
tischen Studium zu widmen, der würde zunächst eine 
Lehrerstellung an einer Schule in einer Universitäts- 
stadt zu erlangen suchen und die 120 Sonntage, Feier- 
tage und Ferientage im Jahre der Vorbereitung für 
ein CoUeg widmen; wer aber einige Zubusse hätte, der 
würde am liebsten eine halbe Lehrerstellung mit halbem 
Gehalt annehmen, um noch mehr freie Zeit zu gewinnen. 
Die Schulbehörden würden nur dem Literesse des na- 
tionalen Unterrichts im Ganzen dienen, wenn sie die 



J 



— 133 — 

Habilitationsreflektanten bei der Anstellung in Universi- 
tätsorten bevorzugten und wie in der Schweiz die Ver- 
leihung halber Lehrerstellen (wenigstens für die ersten 
zehn Dienstjahre) genehmigten. Die Versuchung, zu 
viel CoUegien neben einander zu lesen, fallt für die 
Privatdocenten mit dem Aufhören der CoUegiengelder 
ohnehin fort, so dass die Behörden keine erhebliche 
Störung der dienstlichen Interessen von einer solchen 
Nebenbeschäftigung zu befürchten haben. Es ist nun 
einmal unerlässlich, die Docententhätigkeit auch in der 
philosophischen Fakultät mit irgend einem anderweitigen 
Broterwerb zu verknüpfen, wenn nicht die akademische 
Laufbahn immer mehr ein Vorrecht der Wohlhabenden 
werden soll; es liegt aber im dringenden Interesse des 
Ganzen, dass die Verknüpfung der Docenten-Thätigkeit 
mit dem journalistischen Broterwerb verhütet werde, 
und schon darum ist es nöthig, dass der Verbindung 
des Lehramtes an einer höheren Schule mit demjenigen 
an einer Hochschule die Wege gebahnt werden. Selbst- 
verständlich muss diese Verkoppelung von Aemtern mit 
der Ernennung zum besoldeten ausserordentlichen Pro- 
fessor ein Ende finden. 

Ich bilde mir nicht ein, dass mit den vorgeschlage- 
nen Aenderungen in der Einrichtung der Vorlesungen, 
in den Gehaltsverhältnissen der Professoren und in der 
Stellung der Docenten alle Klagen über unser Univer- 
sitätswesen verstummen würden; aber ich glaube, dass 
damit eine gründliche Abhilfe für die offensten Schäden 
und dringendsten Uebelstände geschaffen werden würde, 
denen auf anderm Wege schwer oder gar nicht bei- 
zukommen ist, und dass das Ansehn und die Zufrieden- 
heit der Professoren, die Würde ihres Berufs und der 
Nutzen der Universitäten in unserm öffentlichen Leben 
sehr gewinnen würden, ohne dass dabei wesentlich 
höhere Aufforderungen als jetzt erforderlich wären. 



— 134 — 

vn. 

Das Philosophie-Studium. 

Unsere moderne Wissenschaft läuft Gefahr, am 
empirischen Material zu ersticken imd im Specialismu^ 
zu verknöchern. Die Versenkung in die Erfahrung und' 
die Arbeitstheilung sind die beiden Principien, durch 
welche sowohl die Naturwissenschaften wie die Gesell- 
schaftswissenschaften und geschichtlichen Disciplirien 
einen so grossen imd raschen Aufschwung genommen 
haben. Aber die moderne Wissenschaft steht bereits 
wie der Zauberlehrling rathlos da, und fühlt sich unfähig, 
die heraufbeschworenen Geister zu bannen. Die Er- 
kenntniss verliert sich mehr und mehr im Einzelnen, 
anstatt Honig aus demselben heimzubringen für den 
gemeinsamen Stock der systematischen Wissenschaft, 
von der alle Specialforschung ausgegangen ist, und zu der 
sie alle zurückkehren muss, wenn sie für die Menschheit 
Werth behalten soll. Wie Bergleute, die in verschiedenen 
Schachten und Stollen arbeiten, ohne gemeinsamen Plan 
des Abbaus sich immer weiter von einander entfernen 
müssen, bis schliesslich keiner mehr das Klopfen der 
andern hört, so geht es mit der immer weiter fort- 
schreitenden Specialisirung der Specialfächer und -Ge- 
biete. Schon innerhalb des engeren Faches, z. B. der 
Mathematik, hört die Möglichkeit der Verständigung 
der Specialisten unter einander und ihrer gegenseitigen 
Kontrole mehr und mehr auf; selbst die praktische 
Heilkunst droht sich in lauter Specialheilkünste nuf- 
zulösen und die Naturwissenschaften arten immer mehr 
zu einem zusammenhangslosen Sammelsurium klein- 
krämerischer Detailnotizen aus. 

Dabei schwillt die Literatur zu immer ungeheuer- 
licherer Ausdehnung an. Rund fünfzehntausend neue 



— 135 — 

Werke jährlich in deutscher Sprache und etwa ebenso- 
viel in franzosischer und englischer Sprache zusammen- 
genommen, das macht allein schon in einem Menschen- 
alter von einem drittel Jahrhundert eine Million Bücher, 
welche durch die in demselben Zeitraum erschienenen 
periodischen Druckschriften an Masse noch weit über- 
troffen werden. Wie die Thatsachenforscher in der Em- 
pirie, so gehen die historischen Forscher in der Lite- 
ratur unter; jede zu behandelnde Detailfrage erfordert, 
um gründlich zu sein, schon jetzt das Studiiun eines so 
kolossalen literarischen Materials, deiss die Frage in ganz 
enger Begrenzung gestellt werden muss, wenn die Be- 
arbeitung nicht gleich ins Ungemessene anschwellen 
soll. Wenn dieser in den beiden letzten Menschen- 
altern in Fluss gekommene Process noch ein Jahrhundert 
so fortgeht, so muss die europäische Geistesbildung in 
einem Grade erstarren, welcher alle Verknöcherung des 
chinesischen Mandarinenthums, Talmudismus oder Islam- 
ismus um ebenso viel hinter sich zurücklassen wird, wie 
die Bibliotheken unserer Urenkel den Bücherschatz der 
Chinesen, Juden und Muhamedaner. 

Will die moderne Wissenschaft nicht sich selber 
zum Spott werden und die Welt zu dem Gefühl bringen, 
dass die Vernichtung einer solchen sich greisenhaft über- 
lebenden Civilisation durch den Vandalismus der SocicU- 
demokratie eine wenn auch nur negative kulturgeschicht- 
liche Wohlthat sein würde, so muss sie in sich gehen 
und bedenken, dass Arbeitstheilung und Empirie in der 
Wissenschaft niemals Selbstzweck sondern nur dienende 
Mittel zu einem höheren Zweck, an sich aber bloss noth- 
wendige Uebel sind. Diese Uebel sind nur dann un- 
schädlich zu machen, wenn ein jeder ihrer Gefahren und 
ihrer unmittelbaren Werthlosigkeit eingedenk bleibt, 
und nie die Verpflichtung aus den Augen verliert, den 
Zusammenhang seiner Detailforschungen mit dem gros- 



ll"rii 


«ilc (ii<Mi.'n, und den Zusammenhang: 


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r .'ir.liritli, hcn Totalität der Wissen- 


lH.-n. 


Niir weil das Gefühl dieser Ver- 


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(It'ti ist, ki>nnte das Uebel die schon 


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fliuiiny ifowinnen; das Gefühl der 


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i'ii-ii-|il\.'iUichor\ Erkenntnisssystems 


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— 137 — 

herausgenommen, so geräth das ganze System in Auf- 
lösung, indem innerhalb jeder Einzel Wissenschaft sich 
derselbe Vorgang wiederholt, d. h. jede Specialrichtung 
sich für berechtigt hält, ihren selbstständigen Werth 
gegen die Wissenschaft zu behaupten, deren Theil sie 
ist. So gelangt schliesslich jeder Dreck und Quark 
dazu, den gleichen Werth wie die höchsten Blüthen 
des Geisteslebens vor dem Forum der Wissenschaft zu 
beanspruchen, weil er ebensogut Gegenstand der Er- 
fahrung wie diese ist. Soll diesem Unfug unsrer Zeit 
gesteuert werden, so müssen, damit die Specialforschun- 
gen wieder als dienstbare Glieder und Werkzeuge der 
Einzelwissenschaften begriffen werden, vor allen Dingen 
erst wieder alle Einzelwissenschaften als dienstbare Glie- 
der und Werkzeuge der Philosophie begriffen werden, 
so muss der Philosophie im Bewusstsein der Vertreter 
der modernen Wissenschaft wieder die Stelle als Königin 
der Wissenschaften, oder als Wissenschaft der Wissen- 
schaften, nämlich als einheitliche Totalität und inneres 
Band des menschlichen Erkenntnisssystems eingeräumt 
worden. 

So lange man dagegen wähnt, die Philosophie sei 
ein überwundener Standpunkt, und die einheitliche To- 
talität der Wissenschaften müsse mit der Zeit von unten 
herauf sich ganz von selbst erbauen, wenn nur jeder 
Arbeiter an seinem Stein rüstig weiter klopfe, so lange 
wird die Zersplitterung, Entgeistigung und Versumpfung 
der Wissenschaften in atomistischer Spezialisirung pro- 
gressiv zu nehmen. Die Empirie als solche bringt immer 
nur Divergenz ins Unendliche mit sich; die Konvergenz 
der Ergebnisse muss immer erst der die Erfahrung be- 
arbeitende Geist hineinbringen ; um diess aber zu können, 
muss er ein Centrum als Zielpunkt der Konvergenz im 
Sinn haben. Die Empirie wird ewig unfertig bleiben, 
weil sie ihrer Natur nach endlos ist; wollte der Geist 



- 138 — 

auf die Beendigung der Empirie warten, bevor er die 
Ergebnisse im Sinne einer systematischen Einheit zieht, 
so würde er niemals anfangen dürfen. Die Philosophie 
wird jederzeit unvollkommen sein müssen, weil jeder- 
zeit die Empirie unvollendet sein wird; aber auch die 
unvollkommenste Philosophie ist besser als gar keine 
und ist im Stande, die konvergirende Bearbeitung der 
Erfahrung zu ermöglichen und das einheitliche System 
der Erkenntniss zu fordern. 

Der Einfluss der Philosophie auf die Einzelwissen- 
schaften und auf die allgemeine Bildung einer Zeit kann 
unter sonst gleichen Umständen um so grösser sein, je 
vollkommener sie ist, und sie kann um so vollkommener 
sein, auf eine je vollständigere Empirie sie sich stützt. 
Da nun gegenwärtig eine vollständigere Empirie zur 
Verfügung steht als je zuvor, müsste auch eine voll- 
kommenere Philosophie möglich sein, mithin auch deren 
Einfluss grösser sein können als je zuvor. Allerdings, 
ist es gegenwärtig durch den Umfang und die unver- 
arbeitete Zersplitterung der Empirie dem Einzelnen fast 
unmöglich gemacht, dieselbe in dem Sinne zu umspannen 
imd zu beherrschen, wie es einem Aristoteles, Leibniz, 
oder auf viel niedrigerer Stufe selbst noch einem Alexan- 
der von Humboldt möglich war. Auch unter den Philo- 
sophen wäre jetzt eine Arbeitstheilung zum Zwecke 
einträchtigen Zusammenarbeitens nöthiger als je, damit 
die nächsten Ergebnisse der Materialien zunächst so 
gesichtet und geordnet würden, dass ein genialer Kopf 
sie endlich zusammenfassen könnte. 

Davon ist aber keine Rede; die offiziellen Vertreter 
der Philosophie in Deutschland sind vielmehr in den- 
selben Fehler der divergenten Arbeitstheilung ohne 
philosophische Rücksichtnahme auf den Einheitspunkt 
des Erkenntnisssystems gerathen wie die Vertreter der 
Einzelwissenschaften, und dieser Fehler, der bei ihnen 



~ 139 — 

doppelt tadelnswerth ist, hat natürlich dazu beigetragen, 
das An sehn der Philosophie noch tiefer herunterzu- 
drücken. Wenn die Mehrzahl der Universitätsphiloso- 
phen, die sonst über gar nichts einverstanden ist, doch 
darin eitrig ist, dass die spekulative Metaphysik ver- 
altete phantastische Mythologie ohne irgend welchen 
wissenschaftlichen Werth ist, und dass es die Haupt- 
aufgabe der Universitätsphilosophie ist, die Metaphysik 
mit Fanatismus bis zur endlichen Vernichtung zu be- 
kämpfen, so darf man sich nicht wundern, dass auch 
die Universitätsprofessoren der übrigen Wissenschaften 
schon aus Höflichkeit gegen ihre Kollegen nicht wider- 
sprechen, und dass die Philosophie den letzten Rest 
von Ansehn, den sie vor einigen Jahrzehnten noch ge- 
noss, bei dem gegenwärtigen Geschlecht eingebüsst hat. 
Die heutigen Kathederphilosophen sind im Durch- 
schnitt unfähig nicht nur zu eigenen philosophischen 
Leistungen, denn zu solchen sind sie gar nicht ver- 
pflichtet, sondern auch zur geschichtlichen Uebermitte- 
lung unsrer nationalen geistigen Errungenschaften, weil 
sie in diesen, ohne sie zu studiren, bloss die spekula- 
tive Metaphysik hassen und verachten. Ihre Arbeiten 
bewegen sich meist auf dem Gebiete einer unfrucht- 
baren Aristotelischen oder Kantischen Philologie, falls 
sie sich nicht gar mit dem Nachkäuen der englisch- 
französichen Sensualisten und Positivisten begnügen; 
d. h. sie plagen sich ausschliesislich mit den veralteten und 
geschichtlich längst überwundenen Systemen vergange- 
ner Zeiten, welche für uns noth wendig schon darum zu 
unvollkommen sein müssen, um brauchbar zu sein, weil 
sie sich auf einen Standpunkt der Empirie stüzen, gegen 
welchen der heutige sehr weit vorgeschritten ist. Gün- 
stigsten Falls bestehen die Leistungen unserer Univer- 
sitätsphilosophen darin, dass sie, anstatt zu philosophiren, 
ebenfalls empirisches Material zusammenschleppen, in- 



— 140 — 

dem sie den Physiologen auf dem Felde der Sinnes- 
wahmehmung mit mühsamem gediildigem Experimen- 
tiren in's Handwerk pfuschen. Die Ausnahmen unter 
ihnen, welche die Geschichte der deutschen Philosophie 
des neunzehnten Jahrhunderts verstanden haben und 
anregend wiederzugeben wissen, sind mit der Laterne 
zu suchen; aber diese pflegen sich dann auch wieder 
zu keinem energischen Protest gegen das Treiben ihrer 
Kollegen aufraffen zu können, imd wagen sich nicht 
einmal mehr an den Versuch heran, die philosophischen 
Systeme, welche vor zwei oder drei Menschenaltem be- 
wunderungswürdig waren, in einer dem heutigen Stand- 
punkt der Empirie entsprechenden Weise umzubilden. 
Wie ist es nun möglich, dass die Philosophie -trotz 
der Bestrebungen der Akademiker, sie zu Grrunde zu 
richten, zu neuem Ansehn komme, imd dadurch die 
moderne Wissenschaft überhaupt vor völliger Ver- 
knöcherung imd Versumpfung rette? Das radikalste 
Heilmittel wäre vielleicht das, sämmtliche Universitäts- 
philosophen zu pensioniren und die Philosophie als 
Gegenstand der Vorlesungen aus der philosophischen 
Fakultät zu streichen. Aber das wäre eine unnöthige 
Verletzung der Lehrfreiheit unsrer Universitäten. Ich 
glaube, dass man die heutigen Professoren und Docen- 
ten der Philosophie ruhig weiter dociren lassen kann, 
wenn man nur aufhört, ihre Vorlesungen direkt oder 
indirekt zu ZwangscoUegien zu stempeln. Wahrschein- 
lich würden in kurzer Zeit die meisten ihre Vorlesungen 
aus Mangel an Zuhörern einstellen müssen. Es ist ent- 
schieden der Philosophie unwürdig, sie zu einem Zwangs- 
studium herabzusetzen, und der Erfolg davon muss grade 
der umgekehrte von demjenigen sein, der damit beab- 
sichtigt ist. Die erste Stufe der Entwürdigimg hat die 
Philosophie damit überwunden, dass sie aufgehört hat, 
obligatorischer Unterrichtsgegenstand der Knaben in 



— 141 — 

den Gymnasien zu sein; die zweite wird sie erst dann 
überwinden, wenn sie aufhört, obligatorischer Unter- 
richtsgegenstand für Jünglinge zu sein, die gar kein 
philosophisches Bedürfniss haben, sondern bloss Geist- 
liche oder Lehrer oder Aerzte zu werden wünschen. 

Es ist ja ein sehr schöner Gedanke, dass Philoso- 
phie das eigentliche und einzige Studium sei, durch 
welches man eine höhere allgemeine Bildung im aka- 
demischen Sinne des Worts erlangen könne, und es 
sieht verlockend aus, allen akademisch Gebildeten dieses 
Studium, sei es als Grundlage, sei es als Abschluss 
ihres Bildungsganges aufzuerlegen. Aber wie gestaltet 
sich dieser Gedanke in der nüchternen Wirklichkeit? 
Bei den Juristen hat man es längst aufgegeben, das Hören 
eines rechtsphilosophischen CoUegs zu fordern, denn 
in der That ist Rechtsphilosophie für sich allein und 
ausser allem Zusammenhang mit dem Ganzen der Philo- 
sophie betrieben nichts weniger als philosophisch zu 
nennen, und das Gemenge von unverdauten juristischen 
Brocken mit principiell verkehrten Naturrechts- oder 
Vemunftrechts- Theorien, das man meist unter dem 
Namen Rechtsphilosophie zu hören bekommt, kann nur 
dazu beitragen, den Misskredit der Philosophie bei den 
angehenden Praktikern zu steigern. In dem Studien- 
gang der Mediciner hatte sich das Studium der Philo- 
sophie schon vor längerer Zeit auf ein psychologisches 
CoUeg reducirt, in welchem sie sich in der Regel schon 
um des Zeitmangels willen mit den dürrsten und dürf- 
tigsten Eintheilungen, Definitionen und Notizen begnü- 
gen mussten, ohne auch nur einen Hauch philosophi- 
schen Geistes durch ihre Seele wehen zu spüren. 
Glücklicher Weise ist es immer mehr ausser Gebrauch 
gekommen, dieses CoUeg zu hören, selbst dann, wenn 
es ausnahmsweise noch beilegt wird, und nur die 
Zöglinge des Friedrichs - Wilhelms - Instituts zu Berlin 



142 

seufzen noch unter dem Zwange, den Besuch eines be- 
stimmten psychologischen CoUegs dienstlich kontrolirt 
zu sehen. In der Staatsprüfung der Theologen ist man 
so verständig gewesen, mit dem „Kulturexamen" auch 
die Prüfung in der Philosophie wieder zu beseitigen; 
der etwa 40 Seiten lange Auszug aus dem ohnehin 
schon allzuknappen Schweglerschen „Grundriss der Ge- 
schichte der Philosophie", welcher zum Zweck dieser 
Prüfung mit Vorliebe gepaukt wurde, war geradezu 
ein Hohn auf die Sache. Es ist deshalb als ein grosser 
Fortschritt anzusehen, dass die Prüfung in der Philo- 
sophie durch den Zwang zum Belegen eines philoso- 
phischen Collegs ersetzt ist, und es bleibt nur der wei- 
tere Schritt zu vollziehen, dass das Honorar dieses 
Zwangscollegs als das anerkannt und ausgesprochen 
wird, was es thatsächlich ausschliesslich ist, als eine 
Erhöhung der Prüfungsgebühren, so dass den Profes- 
soren die Unwahrheit des Besuchsattestes erspart wird. 
Die Kandidaten der Lehrerstaatsprüfung haben heute 
allein noch das wenig beneidenswerthe Vorrecht, in 
Philosophie wirklich geprüft zu werden. Was in aller 
Welt haben aber diese Philologen, Linguisten, Historiker, 
Literarhistoriker, Mathematiker und Naturforscher von 
Berufs wegen mit Philosophie zu schaffen, seitdem der 
Unfug der philosophischen Propädeutik auf den Gym- 
nasien in Wegfall gekommen ist? Wenn man aber 
wirklich nur darauf sich stützen will, dass die Philoso- 
phie zur höheren allgemeinen Bildung des Studirten 
gehört, warum misst man dann die Juristen, Mediciner 
und Theologen mit anderm Maasse als die Lehrer, 
warum stellt man dann nicht entweder die Prüfung in 
der Philosophie für alle Fakultäten wieder her, oder 
wandelt nicht auch bei den Lehrern die Prüfung in 
diesem Gegenstande in die blosse Verpflichtung um, 
Testate über gehörte Collegien beizubringen? Das 



— 143 — 

Studium des Juristen und Theologen ist wahrlich nicht 
ausgedehnter und zeitraubender als dasjenige des Philo- 
logen, Linguisten, oder Mathematikers, so dass entweder 
keinem von ihnen oder allen die Zeit bleibt, ihre allge- 
meine Bildung durch Philosophie zu vervollständigen. 
Wenn wirklich erst die Ablegung einer Staatsprüfung 
in der Philosophie den Aichstempel der höheren aka- 
demischen Bildung gewährt, so hätten ja die Lehrer 
gegenwärtig die Ehre, die einzigen wahrhaft gebildeten 
unter allen Akademikern zu sein! 

Nun wird man mir aber schwerlich widersprechen, 
wenn ich behaupte, dass jemand darum, weil er die 
Staatsprüfung in Philosophie bestanden hat, ebenso- 
wenig eine Ahnung von Philosophie zu haben braucht, 
wie jemand, der sie nicht gemacht hat, und dass auch 
der grösste Philosoph, wenn er sich nicht speciell auf 
diese Prüfung vorbereitet hätte, ganz ebenso wie jeder 
Dummkopf in derselben durchfallen würde. Ein Kan- 
didat mit ernsten philosophischen Interessen, der bei- 
spielsweise die Werke der drei grössten Philosophen 
unsers Jahrhunderts, Schellings, Schopenhauers und 
Hegels mit Fleiss und Verständniss ganz durchstudirt 
hätte, würde ganz wenige Examinatoren finden, bei 
denen ihm dieses Studium etwas nützte, aber sehr viele, 
bei denen es ihn zu Falle bringen würde, wenn er seine 
„bomirte Liebhaberei für derartige metaphysische Mytho- 
logien" auch nur ganz leise durchschimmern Uesse. Die 
wenigen Examinatoren in Deutschland, welche über- 
haupt fähig wären, ihn über Schelling und Hegel zu 
examiniren (denn Schopenhauer kommt ja nur als 
Gegenstand der verächtlichen Widerlegung in Betracht), 
kann er sich nicht aussuchen, sondern er muss darauf 
gefasst sein, von demjenigen geprüft zu werden, der 
grade an der Reihe ist. Im günstigsten Falle ist diess 
ein Professor, der nichts fragt, als was aus den Diktat- 



— 144 — 

heften seiner Vorlesungen zu lernen ist; der Kandidat 
hat dann gewöhnlich noch Zeit, diese Diktathefte sich 
zu verschaffen und einzupauken, nachdem er den Namen 
des Examniators erfahren hat. Im ungünstigen Falle 
bleibt er auf Paukbücher wie Schwegler's Grundriss 
angewiesen, und hat dann alle Mühe darauf zu verwen- 
den, unter der Hand die Richtung und die Liebhabereien 
des Examinators auszukundschaften, damit er sich ja 
hütet, eine demselben missfällige Aeusserung zu thun, 
was ihm bei den meisten mehr schaden würde als kund- 
gegebene Wissenslücken. Da die Mehrzahl der heutigen 
Universitätsprofessoren in dem Hass und der Verach- 
tung gegen die Metaphysik einig ist, so hat er sich 
vor allen Dingen davor zu hüten, irgend ein positives 
philosophisches Interesse zu zeigen oder gar eine meta- 
physische Ansicht zu äussern, da diess die Verkehrtheit 
und Unfähigkeit seines philosophischen Urtheils schon 
zur Genüge beweisen würde. Weiss er dagegen ein 
kräftig Wörtlein gegen die Metaphysik an geeigneter 
Stelle bescheidentlich einfliessen zu lassen, so hat er 
damit schon einen guten Stein im Brett. Fragt man 
ihn, mit welchem Philosophen er sich genauer befasst 
habe, so nenne er ja keinen Metaphysiker, sondern wo 
möglich einen der Engländer, welche gegen die Meta- 
physik und für den gesunden Menschenverstand ge- 
schrieben haben; diess ist schon deshalb empfehlens- 
werth, weil deren Gedankenkreis so arm ist, dass er 
leicht zu bewältigen ist. Will er aber einen Deutschen 
nennen, so gehe er ja nicht über Kant hinaus, und 
studire von dessen Werken nur die kritischen und ne- 
gativ-dogmatischen, nicht etwa die positiven und mehr 
spekulativen Partien. 

Diese Regeln sind nicht von mir aufgestellt, son- 
dern sie sind unter der studirenden Jugend ziemlich 
allgemein bekannt, und werden von den Klügeren, 



— 145 — 

welche im Leben ihr Fortkommen zu finden wissen, sorg- 
sam beobachtet. Was hiernach der Prüfungszwang einzig 
und allein bewirken kann und bewirken muss, ist eine 
Steigerung des ohnehin schon in der Zeitstromung liegen- 
den Misskredits der Philosophie, insofern die Studirenden 
genöthigt werden, solche CoUegien zu hören und solche 
Philosophen zu lesen, welche gegen die Möglichkeit 
und den Werth der eigentlichen Philosophie vom empi- 
ristischen oder skeptischen Standpunkt aus ankämpfen. 
Ausserdem aber werden die Studirenden, sei es direkt 
durch das unfehlbare Absprechen und die zur Schau 
getragene Verachtung von Seiten der gehörten Docen- 
ten, sei es indirekt durch das private Nachsprechen 
solcher Urtheile von Seiten der Hörer, ausdrücklich 
davon abgehalten, sich eine philosophische Bildung da 
anzueignen, wo sie allein zu gewinnen ist, nämlich bei 
wirklichen Philosophen. Entweder haben die jungen Leute, 
wie es bei qo — 95% der Fall ist, kein philosophisches 
Bedürfniss, dann wird ihnen durch den Zwang, sich mit 
einer Vorbereitung für die philosophische Prüfung herum- 
zuplagen, die Philosophie, die ihnen bloss gleichgültig 
war, erst recht verekelt ; oder aber sie haben ein philo- 
sophisches Bedürfniss, dann würden sie ohne die Nöthi- 
gung, sich zur philosophischen Staatsprüfung vorzube- 
reiten, vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, auf irgend 
eine Weise der wirklichen Philosophie näher getreten 
sein, während ihnen jetzt die Beschäftigung mit der- 
selben noch vor der Bekanntschaft verleidet und ihrem 
philosophischen Bedürfniss statt des Brotes ein Stein 
geboten wird. Dadurch lassen sich dann die meisten 
noch rechtzeitig überzeugen, dass die Philosophie, die 
sie kennen zu lernen künstlich verhindert worden sind, 
denn doch nicht werth sei, studirt zu werden, und sie 
können nun aus philosophischer Einsicht den Chor der 
unphilosophischen Kameraden verstärken und führen. 

Hartmann, Moderne Probleme. lO 



— 146 — 

der in allen Tonarten die Philosophie verspottet und 
verhöhnt. Wenn doch noch ein Einzelner durch alle 
diese kunstvollen Vorkehrungen und Einrichtungen zur 
Verekelung der Philosophie sich hindurcharbeitet, so hat 
er es wahrlich einem guten Stern zu danken. 

Wenn man auch von der durchschnittlichen Be- 
schaffenheit der heutigen Universitätsphilosophen ganz 
absehen wollte, so bliebe der Zwang zum Hören ver- 
einzelter philosophischer CoUegien doch immerhin wider- 
sinnig. Entweder muss man mindestens vier Semester 
hindurch ein CoUeg mit mindestens vier Wochenstunden 
über Geschichte der Philosophie (wie z. B. Kuno Fischer 
es hält) obligatorisch machen, oder man soll die Philo- 
sophie vollständig der akademischen Freiheit überlassen, 
welche sie grade mehr als irgend ein anderer Gegen- 
stand durch ihr innerstes Wesen verlangt. Ein Semester 
von drei bis vier Monaten ist viel zu kurz, um in einem 
CoUeg von nicht mehr als vier Wochenstunden einem 
Anfanger irgend etwas Philosophisches von nachhalti- 
ger Wirkung bieten zu können; entweder beschränkt 
man sich auf gemeinverständliche Trivialitäten, oder 
man giebt etwas Positives und schreckt dann durch die 
an die Aufmerksamkeit und das Verständniss gestellten 
Anforderungen schon wieder die meisten ab. Am gründ- 
lichsten ist diese Abschreckung, wenn mit dem CoUegium 
logicum begonnen wird, dieser traurigen Ruine aristo- 
telisch-mittelalterlicher Scholastik; dagegen pflegt sich 
die Trivialität am behaglichsten in der „Psychologie" 
zu ergehen. 

Wären nur erst die Staatsprüfungen in der Philo- 
sophie abgeschafft, so würden sich auch die Promotionen 
in diesem Fache sehr vermindern, für deren Vorberei- 
tung ähnliche Rücksichten zu beobachten sind, wie die 
oben angeführten. Soweit die Promotionen zwecklose 
Geldausgaben aus blosser Titelsucht sind, kann es nur 



— 147 — 

im allgemeinen Interesse (wenn auch nicht in dem- 
jenigen der Fakultäten) liegen, wenn dieselben ausser 
Uebung kommen und der Lehrer sich künftig ebenso 
mit dem Titel „Oberlehrer" wie der Mediciner mit dem 
Titel „Arzt" begnügt. Soweit aber die Promotionen 
eine Vorbereitungsstufe zur akademischen Docenten- 
laufbahn bilden, werden sie in der Philosophie Uim so 
seltener werden müssen, je geringer der Bedarf an 
philosophischen Docenten wird, vind da der jetzige Be- 
darf wesentlich nur durch die philosophischen Staats- 
prüfungen der Lehrer bedingt ist, so würde mit dem 
Wegfall dieser letzteren auch die Zahl der Universitäts- 
philosophen allmählich sehr zusammenschmelzen. In 
demselben Maasse würde das Ansehn der Philosophie 
in der studirenden Jugend und beim gebildeten Publi- 
kum allmählich wieder steigen. 

Sieht man von solchen Philosophen ab, welche erst 
in Folge hervorragender philosophischer Leistungen eine 
Universitäts-Professur erhielten (wie Hegel, F. A. Lange), 
oder welche zwar Universitätsprofessoren aber nicht 
eigentlich Philosophieprofessoren waren (wie Kant), oder 
welche erst nachträglich während ihrer akademischen 
Laufbahn von der Naturwissenschaft oder Medicin zur 
Philosophie übergingen (wie Lotze, Wundt), so kann man 
die Förderung der Philosophie durch Phüosophieprofes- 
soren (wie Fichte und Schelling) als eine seltene Aus- 
nahme betrachten. Zu allen Zeiten (vielleicht mit alleini- 
ger Ausnahme der Wende des achtzehnten und neun- 
zehnten Jahrhunderts) waren die Gesammtleistungen der 
unzünftigen philosophischen Literatur einer Generation 
denen der zünftigen bedeutend überlegen, ungefähr in 
demselben Maasse wie es bei der Poesie der Fall sein 
würde, wenn wir bei jeder Universität 2 — 6 officielle 
„akademische Dichter" hätten. Indem aber zu jeder 
Zeit die Universitätsphilosophie sich als die officielle 

10* 



— 148 — 

und eigentliche Vertreterin der Philosophie ihrer Zeit 
gerirt und die Bedeutung der zeitgenössischen unzünf- 
tigen Philosophie zu ignoriren oder doch zu verkleinem 
gesucht hat, hat sie zu jeder Zeit dem Ansehn der ge- 
sammten Philosophie mehr geschadet als genützt. Diess 
war schon damals der Fall, als sie noch wirkliche Philo- 
sophie zum Inhalt hatte; um wie viel mehr muss es 
heute der Fall sein, wo sie es zum grosseren Theile 
nicht mehr ist, sondern mehr und mehr zur principiellen 
„Antiphilosophie" heruntergekommen ist. Auch die 
sorgfaltigste Auswahl unter den Docenten wäre ausser 
Stande, alle gegenwärtigen deutschen Lehrstühle der 
Philosophie mit geeigneten Persönlichkeiten zu besetzen; 
deshalb ist aus der Besetzung der Mehrzahl derselben 
mit ungeeigneten nicht einmal jemandem ein besonderer 
Vorwurf zu machen. 

Kein Fach bedarf aber auch weniger als die Philo- 
sophie des mündlichen Unterrichts, weil keines weniger 
dazu da ist, von unreifen Jünglingen ohne inneres Be- 
dürfniss getrieben zu werden, und es in keinem Fache 
leichter und zugleich unentbehrlicher ist, unmittelbar 
aus den Quellen (d. h. aus dem überreichen Schatz der 
philosophischen Klassiker) zu schöpfen. Kein P'eld be- 
darf weniger als die Philosophie der staatlichen Pflege 
und des behördlichen Schutzes, aber keines bedarf auch 
dringender der vollen ungestörten Freiheit der Entwicke- 
lung, zu welcher eben auf den Universitäten so lange 
die Bedingungen fehlen, als kollegialische und politische 
Rücksichten auf die zu einem Körper verkoppelte theo- 
logische Fakultät unumgänglich sind. Wenn die Philo- 
sophie in dem „Volke der Denker" so lange trotz aller 
Verkümmerung durch eine unfreie Universitätsphiloso- 
sophie und philosophische Staatsprüfungen und Zwangs- 
coUegien gediehen ist, so wäre es ein völlig unbegrün- 
deter Kleinmuth, zu fürchten, dass sie nicht mehr ge- 



— 149 — 

deihen könnte, wenn der Alp dieser Verkümmerung 
von ihr genommen und sie der vollen Freiheit zurück- 
gegeben wird. Je weniger deutschen Jünglingen durch 
zwangsweise Quälerei mit einer unfreien imd mehr oder 
minder unphilosophischen Philosophie der Geschmack 
an der Philosophie verdorben wird, desto mehr werden 
die abfalligen Urtheile gegen die Philosophie, welche 
jetzt imter den Gebildeten der Nation das Gewöhnliche 
sind, schwinden, und desto mehr Jünglinge werden dazu 
gelangen, ihren philosophischen Wahrheitstrieb da zu 
befriedigen, wo er allein die ihm angemessene und zu- 
gleich nahrhafte Kost findet, bei den Grössten unter 
<ien deutschen Philosophen. 

Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass auch aus 
der Lehrerprüfung über kurz oder lang die Philosophie 
als Unterrichtsgegenstand ausscheiden wird, und dass 
einmal aller staatliche Zwang zum Hören (oder Belegen) 
philosophischer Vorlesungen aufhören wird; ob aber 
dieser Zopf noch früh genug abgeschnitten werden wird, 
und ob namentlich die Nachwirkungen dieses Fortschritts 
früh genug eintreten werden, um das bereits angerich- 
tete Unheil vor dem Eintritt einer völligen Verknöche- 
rung unsrer Specialwissenschaften wieder gut zu machen, 
das scheint mir höchst fraglich. Deshalb wende ich 
mich an die studirende Jugend imd fordre sie auf, bis 
^um Eintritt dieser Reform getrennte Buchführung zu 
halten, d. h. die Befriedigung ihrer philosophischen Be- 
dürfnisse niemals imd auf keine Weise mit der Vor- 
bereitung zu den philosophischen Staatsprüfungen zu 
vermengen, vielmehr die letzteren als die leeren For- 
malitäten zu erledigen, zu denen sie längst herabgesunken 
sind, daneben aber mit ausdauerndem Eifer imd stiller 
Andacht heimlich vor den Examinatoren dem Studium 
der edelsten Geistesblüthen der neueren philosophischen 
Literatur obzuliegen imd sich an ihnen mit echt philo- 



— I50 — 

sophischem, echt modernem und echt deutschem Geiste 
zu erfüllen. 



vm. 

Die üeberbürdung der Schuljugend. 

Es dart als unbestreitbar gelten, dass heute von 
den Schülern mehr häusliche Arbeiten verlangt werden 
als vor einem Menschenalter, und dass trotzdem von 
dem Durchschnitt der Schüler weniger geleistet wird, 
so dass die Procentzahl der Nichtversetzten in jeder 
Klasse beträchtlich gegen früher gewachsen ist. Die 
statistische Ermittelung, ob die Jugend jetzt in durch- 
schnittlich schlechterem Gesundheitszustand als vor einem 
Menschenalter die Schule verlässt, ist unausführbar; aber 
auch wenn dieses Resultat festzustellen wäre, könnte 
man immer noch einwenden, dass es durch andere Ur- 
sachen als die gestiegene Arbeitslast bedingt oder doch 
mitbedingt sei. Wichtiger scheint mir die wachsende 
Abneigung der Jugend gegen die Schule als Zeugtiiss 
dafür, dass letztere mehr und mehr zu einer kraft- 
erschöpfenden Drillanstalt geworden und mehr und mehr 
ihren Beruf, zur geistigen Freudigkeit und Frische an- 
zuregen, verfehlt. Nur der Begabte, der zugleich sich 
kein Gewissen daraus macht, sich durchzuschwindeln^ 
kommt ohne leiblichen Schaden davon, nimmt aber da- 
für die Gewöhnung an Umgehung der obliegenden 
Pflichten als bedauerliche Mitgift ins Leben mit. Die 
Verfügung des preussischen Unterrichtsministeriums vom 
März 1882 drängt zwar auf Beschränkung der Unter- 
richtsziele und namentlich des Memorirstoffs, aber bis 
jetzt, wie es scheint, in der Hauptsache vergeblich. Es 
dürfte deshalb nicht überflüssig sein, wenn Laien ihre 



— 151 — 

Stimmen erheben, um nicht bloss über die Thatsache 
zu klagen, sondern auch auf die Ursachen und die Wege 
zur Abhülfe hinzuweisen. 

Die genannte Centralverfügxing weist auf die gegen- 
wärtig in Aufnahme gekommene fachmässige Vorbildung 
der Lehrer als auf eine Hauptquelle der gesteigerten 
Ansprüche hin; aber es ist psychologisch unmöglich, 
durch einfache Verfügungen Abhülfe zu schaffen, so 
lange die Schulbehörden erklären, sich nicht auf den 
Standpunkt stellen zu können, dass nur auf wenige 
Unterrichtsgegenstände Werth gelegt wird, wie es der 
Geh. Oberregienmgsrath Bonitz bei der Debatte über 
den Cultusetat im preussischen Abgeordnetenhause ge- 
than hat. Ich behaupte, dass nur Lateinisch und Grie- 
chisch Hauptgegenstände in dem Sinne sind, dass eine 
entschiedene Unreife in einem derselben ein Hindemiss 
der Versetzung sein darf und muss. Dagegen ist es 
ganz gleichgültig, ob ein Schüler der Quarta sicher im 
elementaren Rechnen ist, oder ob ein Schüler der Tertia 
Genügendes in der Geometrie leistet; wenn er mathe- 
matische Anlage hat, so holt er das in den oberen 
EUassen mit spielender Leichtigkeit ganz unvermerkt 
durch den mathematischen Unterricht nach, und wenn 
er solche nicht hat, wie thatsächlich etwa zwei Drittel 
der Menschen sie nicht haben, so ist es eine unbillige 
Härte, ihm wegen solchen Mangels seine Carriere zu 
verderben und seinen Eltern schwere Opfer aufzuerlegen. 
Was der mathematische Unterricht in den letzten drei 
Jahren bei Unbefähigten überhaupt leisten kann, den 
Hinweis auf die Strenge der mathematischen Beweis- 
führung, das leistet er auch dann, wenn das Auswendig- 
lernen dieser Beweise und die Fertigkeit im Aufgaben- 
lösen unbefriedigend erscheint. 

Ebenso verkehrt ist es, die deutsche Grammatik 
in den unteren oder den deutschen Aufsatz in den 



— 152 — 

oberen Klassen zu einem für die Versetzung mass- 
gebenden Hauptgegenstand aufzubauschen , während 
letzterer bei der Abgangsprüfung allerdings als solcher 
gelten muss. Der Mangel an deutscher Grammatik wird 
später durch den Ueberfluss an lateinischer und griechi- 
scher ausreichend ersetzt; die Entwickelung des Stils 
aber tritt meist plötzlich und stoss weise bei Erlangung 
einer gewissen Geistesreife ein, und die Unzulänglich- 
keit des Stils in Secunda ist kein Hindemiss dafür, dass 
der Betreffende in Prima den besten Aufsatz der Klasse 
liefert. Das Französische kann auf dem Gymnasium 
niemals eine besondere Wichtigkeit beanspruchen, theils 
deshalb nicht, weil die ihm zugetheilte Stundenzahl that- 
sächlich zu gering ist, um etwas Ordentliches darin ver- 
langen zu können, theils deshalb nicht, weil es in keinem 
Gegenstande leichter und gebotener ist, sich durch Lek- 
türe, Conversationsstunden u. s. w. nach Abgang von 
der Schule fortzubilden, als in diesem, also grade hier 
die Mängel der Schulbildung am ehesten nachgeholt 
und ausgeglichen werden können, wozu nach der Schul- 
zeit weit eher Müsse zu finden ist als während dersel- 
ben. Die Fächer, welche hauptsächlich das Gedächtniss 
in Anspruch nehmen (Geschichte, Geographie, Natur- 
kunde) verlangen am allerwenigsten den Fortbau auf 
einem in den vorhergehenden Klassen gelegten Grunde; 
man kann bei ihnen anfangen, wo man will, und hat 
bis zur Abgangsprüfung doch alles in den unteren und 
mittleren Klassen Gelernte wieder spurlos vergessen. Der 
Physikunterricht der obersten Klassen endlich besitzt 
seinen Werth lediglich in dem Hinweis auf den strengen 
Causalzusammenhang der Naturprocesse und auf das 
Wesen der experimentellen Induction; dieser Zweck muss 
durch dieTheilnahme am Unterricht selbst erreicht werden, 
und es kommt gar nicht darauf an, wie viel von dem 
mitgetheilten Wissensstoff im Gedächtniss behalten wird. 



— 153 — 

Die Entlastung von Memorirstoff sollte vor allen Dingen 
beim Religionsunterricht beginnen, insbesondere bei 
demjenigen der bereits Confirmirten; nichts wird von 
den christlichen Abiturienten als eine drückendere Härte 
empfunden, als dass sie zu allen sonstigen Wieder- 
holungen hinzu sich noch mit dem Auswendiglernen 
von Katechismus und Kirchenliedern plagen müssen, 
von dem ihre jüdischen Mitschüler befreit sind. 

Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass 
er sich für alle Unterrichtsgegenstände gleichmässig in- 
teressiren soll; jeder aber wird durch Anlage und Nei- 
gung auf gewisse Nebenfacher hingewiesen sein, in 
denen er schon durch die blosse Theilnahme am Unter- 
richt gut beschlagen ist. Das gerade verleidet unserer 
Jugend die Schule, dass ein gleiches Interesse für Alles 
von ihr verlangt wird, wobei aber für das Meiste ein 
bloss erzwungenes Interesse herauskommt. Wer in 
Latein und Griechisch Befriedigendes leistet, der sollte 
unbedenklich versetzt werden, wofern nur die Leistungen 
in allen Nebenfächern sich zu einem befriedigenden Ge- 
sammtergebniss compensiren, also ein Minus der einen 
durch einen Plus der andern gedeckt wird; wer aber in 
Latein, Griechisch, deutschem Aufsatz und Mathematik ge- 
nügt, der müsste versetzt werden, auch wenn er in allen 
anderen Nebenfächern nicht genügt, und das Urtheil über 
die Fertigkeiten dürfte auch nicht den allergeringsten 
Einfluss auf die Versetzung haben. 

Nach ähnlichen Grundsätzen wurde in meiner Jugend 
in den mir bekannten Schulen thatsächlich verfahren, 
und die Endresultate waren bessere als heute, wo trotz 
aller Erschwerung des Schulgangs und trotz der ver- 
mehrten häuslichen Aufgaben die Leistungen in den 
beiden Hauptgegenständen des Gymnasiums im Sinken 
sind. Früher, wo der häusliche Fleiss sich in der Haupt- 
sache auf Latein und Griechisch beschränkte, und Jeder 



— 154 — 

die seiner Neigung nicht entsprechenden Unterrichts- 
stunden ungestraft zur Abspannung seiner Aufinerksam- 
keit, d, h. zur Erholung und Kräftigung derselben für 
die nächsten Stunden benutzen konnte, da wurde weit 
mehr gelernt, als jetzt, wo die multa das multum un- 
möglich machen, und die gesteigerte Intensität des Unter- 
richts in allen Stunden ohne Ausnahme (theilweise in Ver- 
bindung mit dem "Wegfall des Nachmittagsunterrichts) 
die durchschnittliche Aufnahmefähigkeit der Schüler für 
den gesammten Unterricht herabsetzt, 

Dass es wirklich die Steigerung der Ansprüche in 
den Nebenfächern ist, welche die Leistungsfähigkeit der 
Schüler herabsetzt und sowohl direct wie indirect zu 
einer das Uebel nur noch verschlimmernden Vermehrung 
der häuslichen Arbeiten zwingt, das sieht man am besten 
an einem Vergleich zwischen Gymnasium und Real- 
schule; die letztere hat mehr Schulstunden und mehr 
häusliche Arbeiten als das erstere, und trotzdem leistet 
sie noch weniger als dieses, weil ihr in noch weit höhe- 
rem (rrade die Concentration auf wenige Hauptfächer 
fehlt, fragt man aber, wodurch die Schulbehörden zu 
einer Steigerung ihrer Ansprüche in den Nebenfächern 
der Gymnasien gegen früher gedrängt worden sind, und 
wod\irch sie in dieser falschen Stellung festgehalten 
werden, so ist es offenbar der Zug der Zeit nach Ver- 
stärkung der Bildung in den Realwissenschaflen , d. h. 
eine falsche Anticipation der realistischen Fachbildung 
durch die Schule als allgemeine Bildungsanstalt, oder 
mit anderen Worten eine fehlerhafte Concurrenz der 
Gymnasien mit dem Lehrziel der Oberrealschulen und 
Realgymnasien, welche eben als verschiedene Grrade der 
Verquickung von allgemeinen Bildungsschulen mit Fach- 
schulen zu charakterisiren sind. Die Schulbehörden haben 
nur den Fehler begangen, dem Andrängen nach ver- 
mehrter Berücksichtigung der Realwissenschaften aut 



— 155 — 

den Gymnasien zu sehr nachzugeben, und zwar nicht so- 
wohl in Vermehrung der Stundenzahl, als vielmehr in 
Steigerung der Anforderungen an die Schüler. Die sich 
jetzt am lautesten über die Ueberbürdung beklagen, 
sind gerade diejenigen, welche die Regierung in die 
falsche Position gedrängt haben und auf diesem Wege 
immer weiter drängen mochten; gelänge es dieser Rich- 
tung, die alten Sprachen im Gymnasium zu Gunsten der 
Realwissenschaften noch erheblich zu beschränken, d. h. 
das Gymnasium der Realschule ähnlicher zu machen, so 
würde damit die Ueberbürdung der Gymnasialjugend 
noch über die der jetzigen Realjugend hinauswachsen, 
weil die alten Sprachen doch immer Hauptgegenstände 
würden bleiben müssen, während sie schon auf dem 
jetzigen Realgjonnasium in den oberen Klassen nur noch 
ein Nebenfach darstellen. 

So lange die öffentliche Meinung diesen letzten 
Grund der Ueberbürdung nicht erkennt und ihren Ein- 
fluss auf die Schulbehörden nicht in umgekehrter Rich- 
tung wie bisher geltend macht, so lange werden alle 
Palliativmittel sich als wirkungslos erweisen; erst wenn 
die Schulbehörden ihr Aufsichtspersonal dahin instruiren, 
bei den Versetzungs- und Abgangsprüfungen nur den 
Hauptgegenständen Wichtigkeit beizumessen, bei den 
Nebenfächern aber der Individualität der Schüler volle 
Rechnung zu tragen, erst dann werden die Lehrer der 
Nebenfächer aufhören können, sich der Versetzung eines 
in ihrem Fache nicht genügenden Schülers zu wider- 
setzen. Dann wird wieder mehr Freiheit für Lehrer und 
Schüler imd mit ihr mehr Freudigkeit und Liebe zur 
Arbeit in die Schule ihren Einzug halten, die jetzt durch 
den Anspruch, das Klassenziel von allen zu versetsen- 
den Schülern erreicht zu sehen, mehr imd mehr einer 
mechanischen Drillthätigkeit gewichen ist. Es wird sehr 
wohl möglich sein, die Klassenziele in den Nebenfächern 



- 156 - 

sogar auf der Höhe zu erhalten, auf welche sie durch 
die fachmässig gebildeten Lehrer hinaufgeschraubt sind, 
sobald man nur darauf verzichtet, alle Schüler dieses 
Ziel erreichen zu sehen. Dann werden die Schüler aller- 
dings nicht mehr mit so einförmig gleichmässiger Bil- 
dung wie jetzt die Schule verlassen, sondern der eine 
mehr in diesen, der andere mehr in jenen Fächern ge- 
bildet, alle aber mit einem gegen jetzt erhöhten geistigen 
Niveau und mit unzerstörter Geistesfrische und Lern- 
freudigkeit. — 

Unter solchen Voraussetzungen allein wird es auch 
möglich sein, die häuslichen Arbeiten auf das zu be- 
schränken, worüber sie aus idealem Gesichtspunkt nicht 
hinausgreifen sollten: auf Vorbereitung und Wiederho- 
lung. Man hat sich zwar gegenwärtig allgemein daran 
gewöhnt, die häuslichen Arbeiten als eine unentbehr- 
liche Ergänzung des Schulunterrichts anzusehen, aber 
ich halte diesen Gesichtspunkt für entschieden falsch, 
und meine, dass dessen Falschheit Jedem ohne Weiteres 
einleuchten müsste, wenn nicht die Gewöhnung an das 
Gegentheil als an den normalen Zustand die Unbefangen- 
heit des Urtheils aufhöbe. Die Schule ist dazu da, um 
der Jugend die nöthige allgemeine Bildung einzupflanzen, 
und wenn sie sich dazu unfähig erklärt ohne Zuhülfe- 
nahme des Hauses, so beweist sie damit nur, dass ent- 
weder in ihrer Organisation ein Fehler steckt, oder dass 
die Lehrer die ihnen obliegende Aufgabe theilweise auf 
das Haus abzuwälzen bequemer finden. 

Zehn Stunden Handarbeit findet man heute bereits 
zuviel und steuert auf den achtstündigen Normalarbeits- 
tag fiir alle Arbeiter hin; sollte da nicht achtstündige 
Arbeitszeit fiir die Kopfarbeit Erwachsener erst recht 
als unüberschreitbares Maximum gelten, und sollten nicht 
drei Viertel dieses Quantums die allerhöchste, aus hygie- 
nischen Rücksichten an jugendliche, unreife Gehirne 



— 157 — 

zu stellende Zumuthung sein? Dieses Maximum wird 
aber mit 34 — 38 Wochenstunden (in Gymnasien und 
Realgymnasien) thatsächlich erreicht und die hinzu- 
tretende Inanspruchnahme für häusliche Arbeiten ist 
eine auf keine Weise zu rechtfertigende Ueberanspan- 
nung. Es hat weit schädlichere Folgen, wenn man bei 
geistiger, als wenn man bei körperlicher Arbeit die ge- 
.sundheitHch zulässige Grenze überscheitet; während aber 
der Staat den jugendlichen Fabrikarbeitern durch ge- 
setzliche Beschränkungen der Arbeitszeit ohne Rück- 
sicht auf die dadurch herbeigeführte Verringerung des 
Familieneinkommens seine Fürsorge widmet, stützt er 
sich darauf, dass Schulmännerconferenzen eine 3 — 3V2 
stündige häusliche Arbeitszeit neben 36 wöchentlichen 
Schulstunden für keine Ueberbürdung der reiferen Ju- 
gend erklären, anstatt darin den Wahrspruch einer bei 
der Angelegenheit dringlichst interessirten Partei zu 
erblicken. Die Schulmänner haben ohne Zweifel das 
Interesse, die Arbeitsleistung der Schule, d. h. ihre 
eigene Arbeitsleistung durch Mitanspannung des Hauses 
zu erleichtem, das Haus aber hat um so mehr Grund, 
diesem Uebergriff zu wehren, als derselbe ebenso un- 
pädagogisch wie gesundheitswidrig ist, und wenn die 
fehlerhafte Organisation der Schule, die Unfähigkeit zur 
selbstständigen Erfüllung ihrer Aufgabe, bis zu einem 
gewissen Grade als Entschuldigungsgrund für diesen 
Uebergriff gelten kann, so liegt darin eine um so stär- 
kere Aufforderung, an diese fehlerhafte Organisation die 
bessernde Hand zu legen. 

Die häuslichen Arbeiten sind unpädagogisch. Mit 
diesem Satze bin ich sicher, den allgemeinen Wider- 
spruch hervorzurufen, weil die Schulmänner das Publi- 
kum seit Generationen an die entgegengesetzte Ansicht 
zu gewöhnen gewusst haben. Als Grund wird angeführt, 
dass durch die häuslichen Arbeiten die Jugend zu 



- 158 - 

selbstständigem Arbeiten angeleitet werde. Unter 
,,selbstständigem Arbeiten" kann man zweierlei verstehen : 
erstens das Studium selbstgewählter Wissenszweige und 
die Bearbeitung selbstgewählter Aufgaben, und zweitens 
die zwangsweise Losung gestellter Aufgaben ohne Ge- 
dankentausch und erleichternden Verkehr mit dritten 
Personen. Der erste Zweck stellt eine Ausnahme dar, 
denn er passt bekanntlich nicht für die Schule im Ganzen, 
sondern nur für die reifste Stufe der Schuljugend, und 
für diese halte auch ich die Privatlectüre und die frei- 
willigen Arbeiten für höchst wünschenswerth. Aber bei 
der jetzigen Erschöpfung der Schüler hören die soge- 
nannten freiwilligen Arbeiten entweder ganz auf, oder 
sie werden selbst wieder zu unfreiwilligen häuslichen 
Arbeiten mit einem gewissen Spielraum in der Wahl 
der Gegenstände; in beiden FäUen geht ihr pädago- 
gischer Werth als Gewöhnungsmittel an Spontaneität 
der Arbeit verloren. Nur besonders begabte und zugleich 
intensiv strebsame Köpfe können trotz der Ueberbür- 
dung die Kraft und Frische behalten, mit Privatstudien 
ihren persönlichen Neigungen zu folgen; bei der Mehr- 
zahl aller Schüler bewirkt das heutige System der häus- 
lichen Arbeit erfahrungsmässig nicht die Lust zu selbst- 
ständigen Arbeiten, sondern bloss den Ekel vor aller 
Geistesarbeit, einen so gründlichen und dauerhaften 
Ekel, dass er nach der Erholung der ersten Studien- 
semester beim Biere nur noch durch den Zwang des 
Brotstudiums überwunden zu werden pflegt. Der Erfolg 
spricht also entschieden gegen die pädagogisch richtige 
Wahl des Mittels zum Zweck; die Unzweckmässigkeit 
desselben ist aber auch deductiv zu erweisen. 

Der eigentliche, regelmässige und allgemeine Zweck 
der häuslichen Arbeiten im gewöhnlichen Sinne des 
Worts kann nur der zweitgenannte sein: die zwangs- 
weise Lösung gestellter Aufgaben ohne Gedankentausch 



— 159 — 

und erleichternden Verkehr mit dritten Personen. Dass 
dieser Zweck durch Clausurarbeiten in der Schule wirk- 
lich erreicht werden kann und thatsächlich erreicht wird, 
ist zweifellos; dass er nur durch häusliche Arbeiten er- 
reicht werden könne, ist also völlig unhaltbar, vielmehr 
sind solche für diesen Zweck ganz überflüssig, wofern 
nur die Schule einen genügenden Theil ihrer Zeit auf 
Clausurarbeiten verwendet. Dass aber dieser Zweck 
überhaupt durch häusliche Arbeiten erreicht werden 
könne, ist von zwei Voraussetzungen, die beide bei der 
Mehrzahl der Schüler offenbare Fictionen sind, abhängig: 
erstens dass die Arbeiten wirklich zu Hause gefertigt, 
und zweitens dass sie ohne Hülfe dritter Personen und 
ohne unerlaubte Hülfsmittel gefertigt werden. 

Bekanntlich wird ein Theil der weniger contrölirten 
Arbeiten gar nicht, ein anderer Theil in der Schule 
(theils in Zwischenstunden, theils in weniger scharf con- 
trölirten Schulstunden), ein dritter Theil mit fremder 
Hülfe, ein vierter vermittelst unerlaubter Hülfsmittel (äl- 
teren Klassenheften, gedruckten Uebersetzungen u. s. w.) 
gemacht; in allen diesen Fällen wird der Zweck der 
häuslichen Arbeiten, und zwar nicht nur der pädago- 
gische, sondern auch der Lehrzweck verfehlt, und an 
seine Stelle tritt die unpädagogische Gewöhnung der 
Schüler an Unredlichkeit, Täuschung, Schwindeleien und 
Umgehung der obliegenden Pflichten. Je mehr der Un- 
terricht den Charakter schablonenhafter Dressur an- 
nimmt, desto leichter sind die älteren Klassenhefte zu 
missbrauchen; je besser und billiger die sogenannten 
Eselsbrücken werden, desto nutzloser werden die Prä- 
parationen, da die allein werthvoUe Uebung im selbst- 
ständigen Construiren der Sätze dabei wegfallt. Je höher 
die Anforderimgen der Schule an die häuslichen Arbeits- 
leistimgen in allen Fächern gespannt werden, desto 
stärker wird der Anreiz, aus naturgemässem Selbst- 



— 1 6o — 

erhaltungstriebe oder aus berechtigter Nothwehr gegen 
die Ueberbürdung solche sich darbietende Erleichte- 
rungsmittel zu brauchen, desto mehr wirkt die Schule 
als directe Verführerin auch der gewissenhafteren Schüler 
zum Betrug, desto tiefer sinken naturgemäss die durch- 
schnittlichen Klassenleistungen, weil das Unterrichts- 
system auf Voraussetzungen basirt, die nicht erfüllt 
werden. Was aber die persönliche Selbstständigkeit der 
Schüler bei der Anfertigung häuslicher Arbeiten betrifft, 
so ist dieselbe schon da aufgehoben, wo mehrere Schüler 
sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen; sie wird in ihr 
striktes Gegentheil verwandelt, wo die Schule, wie es 
oft genug vorkommt, bei Schülern von nicht besonderer 
Fassungskraft geradezu auf die unterstützende Mitwirkung 
des Hauses rechnet. Am widersinnigsten sind die häus- 
lichen Arbeiten in der Mathematik, da sie erfahrungs- 
mässig doch nur von ganz Wenigen selbstständig gelöst, 
von den Uebrigen aber bloss abgeschrieben oder mit 
fremder Hülfe gefertigt werden. 

Der begabte Schüler, der in den Schulstunden allein 
genug lernt zur Erreichung des Klassenziels, ist sach- 
lich im Rechte, wenn er die für ihn überflüssige Plage 
der häuslichen Arbeiten geschickt umgeht; der unbe- 
gabte gewissenhafte wird unter ihrer Last erdrückt und 
verfehlt entweder das Ziel der Schule oder kommt ge- 
brochen an Geist und Körper aus ihr hervor; der un- 
begabte gewissenlose wird zum Schwindel verleitet und 
verfehlt das Ziel, weil es von seinesgleichen ohne ge- 
wissenhafte Erfüllung aller Anforderungen nicht zu er- 
reichen ist; die mittleren Köpfe schlagen sich zur Noth 
durch, verlassen aber endlich mit gerechtem Groll, mit 
Ueberdruss und Bitterkeit die Schule. Die Lehrer wer- 
den durch die Controle der Unredlichkeit in einen be- 
ständigen Krieg mit den Schülern hineingedrängt, an 
dessen Stelle bei dem Mangel häuslicher Arbeiten so- 



— i6i — 

fort die wohlthuendste Eintracht träte; auch werden sie 
durch Beurtheilung der Schüler nach dem häuslichen 
Fleiss in eine falsche Richtung hin, und von der allein 
massgebenden Beurtheilung nach den Leistungen ab- 
gelenkt. 

Angenommen, es wäre von den jetzigen Schulstun- 
den keine einzige disponibel zu machen, um die An- 
fertigung der deutschen und fremdsprachlichen Aufsätze 
imd mathematischen Arbeiten aus dem Hause in die 
Schule zu verlegen, so wäre es immer noch besser, einen 
Nachmittag in jeder Woche mit zwei Stunden zur An- 
fertigung dieser Arbeiten unter Clausur anzusetzen, als 
den jetzigen unpädagogischen Standpunkt zu belassen; 
ebenso müsste ein grösserer Theil der Leetürestunden 
zu cursorischer Leetüre ohne Präparation verwandt wer- 
den um den Schaden der jetzt allgemein üblichen Prä- 
paration mit Uebersetzung einigermassen wieder gut zu 
machen. Erst mit der Verlegung der Aufsätze und 
mathematischen Aufgaben unter Schulaufsicht würde 
die Beurtheilung derselben zu dem, was sie doch sein 
soll, zu einem Massstabe für die Leistungen des Schülers, 
und erst mit ihr würde der bei der häuslichen Anfer- 
tigung verfehlte pädagogische Zweck der Gewohnung 
an selbstständiges Arbeiten wirklich erreicht werden. 

Jedenfalls darf der jetzige Zustand nicht länger fort- 
bestehn: entweder muss die Zahl der Schulstimden be- 
trächtlich verringert werden, oder die Schule muss in 
der Hauptsache ohne Zuhülfenahme der häuslichen Ar- 
beiten ihre Aufgabe erfüllen, und es ist nicht schwer zu 
sehen, welches dieser beiden Ziele mehr Aussichten fiir 
praktische Verwirklichung bietet. Aber die durchaus 
gebotene Entlastung der Schüler, mag man sie mm an- 
streben auf welchem der beiden Wege man wolle, setzt 
immer als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus, dass die 
Nebenfächer wieder wie früher wirklich als Neben 

Hartmann, Moderne Probleme. II 



— 102 — 

facher behandelt werden und aufhören, für die Ver- 
setzungs- oder Abgangs -Reife einen mitbestimmenden 
Einfluss zu besitzen. 



IX. 

Die preussisohe Schulreform von 1882. 

Durch die CircularverfQgung des preussischen Unter- 
richtsministeriums vom 31. März 1882 (Berlin bei W. 
Hertz), welche das Ergebniss langjähriger behördlicher 
Erwägungen und Conferenzen darstellt, dürfte für längere 
Zeit in unseren höherem Schulwesen ein stabiler Zustand 
geschaffen sein, der erst nach Einsammlung langjähriger 
weiterer Erfahrungen die Hoffnung auf weitergehende 
Reformen offen lässt. Es liegt mir deshalb nahe, dass 
bisher Erreichte mit den Forderungen zu vergleichen, 
welche ich im Jahre 1875 in meiner Schrift: „Zur Re- 
form des höheren Schulwesens" aufgestellt und begründet 
hatte. 

Ich hatte dort eine massige Aenderung des Gym- 
nasiallehrplans zu Gunsten der Realwissenschaften tmd 
des Französischen verlangt, ferner eine officielle Aner- 
kennung des Werthes der lateinlosen Realschulen mit 
neunjährigem Cursus, die ich nicht als höhere allgemeine 
Bildungsanstalten sondern als Mittelschulen (höhere 
Bürgerschulen) mit angehängter Fachschule von dreijäh- 
riger Lehrdauer betrachte, und hatte endlich gewünscht, 
dass die vorhandenen Realschulen mit Latein entweder 
in reorganisirte Gymnasien oder in lateinlose Realschxüen 
umgewandelt würden. Diese Wünsche sind durch die 
fragliche Ministerialverfugung, wo nicht erfüllt, doch 
ihrer Erfüllung näher geruckt. Wie die Unterrichtsord- 



- 163 - 

nung von 1859 zum ersten Male die Realschulen mit 
Latein officiell recipirte und einen Normallehrplan für 
dieselben aufstellte, so sind jetzt die lateinlosen Real- 
schulen mit neunjähriger Lehrdauer officiell recipirt und 
mit einem Normallehrplan ausgestattet worden ; im Gym- 
nasiallehrplan ist eine ausreichende Verstärkung der 
Realwissenschaften und eine allerdings nicht ausreichende 
des Französischen auf Kosten des Lateinischen an- 
geordnet, und in dem bisherigen Realschullehrplan ist 
durch Verstärkung des Lateinischen auf Kosten der 
Naturwissenschaften wenigstens eine Annäherung an das 
Gymnasium erzielt worden. Die Verfügung unterscheidet 
nunmehr folgende Arten von Schulen; Gymnasien, Real- 
gymnasien (früher Realschulen erster Ordnung), Ober- 
realschulen (früher neunklassige Gewerbe- und Handels- 
schulen), Progymnasien, Realprogymnasien, Realschulen 
(eigentlich Oberprorealschulen), alle drei mit siebenjäh- 
riger Lehrdauer, imd endlich höhere Bürgerschulen, d. h. 
sechsklassige Schulen ohne Latein mit Französisch und 
Englisch, deren Lehrplan sich von demjenigen der „Real- 
schulen" fast nur durch das Fehlen der obersten Klasse 
unterscheidet, die aber eine in sich abgeschlossene Bil- 
dung geben sollen. Betrachtet man die „Oberrealschulen" 
als mittlere Schulen mit aufgesetzter dreiklassiger Fach- 
schule, so fällt der innere Unterschied zwischen Ober- 
realschulen, Realschulen und höheren Bürgerschulen fort 
und es bleibt nur die äussere Differenz in der Lehrdauer 
bestehen. 

Wenn schon in Bezug auf die Recipirung der „Ober- 
realschule" und in Bezug auf die gegenseitige Annähe- 
rung des Gymnctsiums und „Realgymnasiums" die neueste 
Verfügung als ein wichtiger Fortschritt in der Entwicke- 
lung unseres Unterrichtswesens angesehen werden darf, 
so kann man auch den Geist, in welchem die beige- 
gebenen Erläuterungen abgefasst sind, nur mit Freuden 

II* 






^ " * 



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ir.'«'Ah;^r.-'V.h#*r f>!i>rth<«r,;>r.i^ d^r Scbller aa-ia dec A'jis- 

m;^>s^if^, Ar»<;f,^,r.rM^njf fl^-x S^.hCIf^. cy^sonders ^zTrh. haus- 
U/.K^! ArVA^nVm, •»r;r/'l nicht mit Unrecht grosäenrheilä auf 
Hr»^. ^'^»Tr/'rr^pann-in^ d<f:rr I>rhrx>jle d#iT 5y:hiile zurücfc- 
j/^'f' *hrt, *'U^; Züm^n^t au.% d^rr «ipecialistLschen Vorbildimg' 

W<*^ nun /MUH/.h^i die Vfrrändfirrung^en im GjTnna- 
«;j^il)'hrj/l;tn b^TtrJfft, ?»^7 hat df^m äusseren Anstoss zu den- 
«;^lh<"n d^rr Wunv;h f^f'/^f^hf^, die Entschliessung der 
Klf^rn lib^Tf fli^; I^iufbahn ihrfrr Sohne um ein Jahr hin- 
Hfi<;/M«^rhi^Tb#mj d. h, dan flymnasium und die bisherige 
k#'/il«uiiul#? ^rfftt^Tf C^dnun^ haben durch Verlegung des 
l'***^irjriÄ dfiÄ j(rj#?chi.v:h^?n Unterrichts nach Tertia eine 
imhtwM Ob*TdnÄtimnjfmd#; (Juarta erhalten, so dass die 
WhIjI 'Aw\^i'.\um hfMfit) Schulen erst mit dem Eintritt in 
(Um I t^riui (Tford^rrlich wird. Das Griechische würde da- 
)uA nlrlilM vcrli^r^in, wonn in allen mittleren und oberen 
Klnrtttrni ftiohpti Wo<!lHmHtunden statt der bisherigen sechs 
ll)r (lMrtf*f^n)o iin^(*H(*X'At wären; es würde dann vielmehr 
durch (Idtirnntrution dein Unterrichts und Vermehrung 
dpf l.iM'tllrrHlundcni in Obcjrscicunda und Prima gerade- 
zu ^nwlntifm. L(M(1(M' ist ubor die Zahl von sieben Stunden 
nur Ulf Tnrlla und Sccunda angesetzt, während man es 
\\\ \U'\\na \w\ MM'hs Stunden belassen hat, von denen 
ninn nach \vi(* vor (trotz d(\s Wegfalls des griechischen 
KxttitUMi.Mcrlptuuis) don Kxtcmporalien und der gram- 
tUrtdmhfMi Kojunition gowiilmrt bleiben soll. In diesem 
Puukto Ist {\\v VoriitnUM-ung unbedingt eine Verschlechte- 
v\\\\}i;, rbtMtvSo wio \n kIvt Vormohrung des geographischen 
ut\d Ko?<vhlohlllchon Unterrichts in den drei imtersten 
KlrtvMHon utn jo oino Stunde. 

Tobor rt\fulan^iiUi hkeit der gtH>graphischen und ge- 





- i65 - 

schichtlichen Bildung ist noch wenig Klage geführt, und 
wo solche bestände, würde eine Vermehrung des Me- 
morirstofFes in den untersten Klassen sich doch als er- 
folglos erweisen, um auf sechs bis neun Jahr später das 
Wissen des Abiturienten zu erhöhen. Dagegen kann 
die formale Bildung des Geistes durch grammatische 
Schulung in den Unterklassen nicht gründlich genug 
genommen werden, und so lange die lateinische Sprache 
diejenige ist, an deren Grammatik diese Schulung voll- 
zogen wird, kann dem lateinischen Unterricht in den 
Unterklassen kaum eine zu hohe Stundenzahl überwiesen 
werden. Es wäre deshalb wünschenswerth, diese Aende- 
rung rückgängig zu machen, d. h. dem Lateinischen die 
zu Gunsten der Geographie und Biographien abgenom- 
mene Wochenstunde zurückzugeben. Geschähe dies, so 
würde auch das Lateinische gegen solchen Zuwachs von 
drei Jahres -Wochenstunden in den Unterklassen ohne 
Nachtheil einen Verlust von zwei Jahres- Wochenstunden 
in Prima ertragen können, mit denen das Griechische 
auf seinen bisherigen Stand zu ergänzen wäre. 

Für den französischen Unterricht hatte ich von 
Quarta bis Prima die Erhöhung der Wochenstunden 
von zwei auf drei verlangt; statt dessen ist nur in Quarta 
die Erhöhung von zwei auf fünf erfolgt. Nimmt man 
an, dass letztere einer Vermehrung in Quarta und Tertia 
von zwei auf drei gleichkommt, so bliebe noch solche 
in Secunda und Prima zu wünschen übrig, und zwar zu 
Gunsten einer Ersetzung des lateinischen Aufsatzes durch 
den französischen. Die „Circularverfügung" gibt zu, dass 
es gegenwärtig ein unerreichbares Ziel wäre, den latei- 
nischen Aufsatz zum Ausdruck für die Gedanken der 
Schüler machen zu wollen, und beschränkt denselben 
auf den durch die Leetüre zugeführten Gedankenkreis 
und Wortschatz (S. 20). Aber auch innerhalb dieser 
Beschränkung wird die auf den lateinischen Aufsatz ver- 



~ i66 -- 

wendete Zeit und Mühe nur noch bei einer mehr als 
mittleren Lehrkraft fruchtbar zu machen sein, während 
die gleiche Zeit und Mühe, auf den französischen Auf- 
satz verwendet, viel reichere Früchte tragen muss. Das 
Mindeste, was als Postulat festgehalten werden muss, 
ist das, dass den Gymnasien je nach den ihnen zur Ver- 
fügung stehenden Lehrkräften freigestellt wird, entweder 
den lateinischen, oder den französischen Aufsatz zu pflegen, 
und im letzteren Falle in Secunda und Prima eine la- 
teinische Wochenstunde an das Französische abzugeben. 

Die Verstärkung des mathematischen Unterrichts 
ist in genügender Weise erfolgt. In Secunda und Prima 
sind ihm vier Stunden wöchentlich gesichert, und wenn 
die Stundenzahl in Tertia bei drei belassen ist, so ist 
zum Ersatz dafür in Quinta und Quarta je eine Wochen- 
stunde mehr angesetzt. Da nunmehr der geometrische 
Unterricht schon in Quarta beginnt, und in Quinta durch 
geometrisches Zeichnen vorbereitet wird, so kann der- 
selbe in Tertia und Untersecunda entsprechend be- 
schränkt, und dadurch die nöthige Zeit fiir gründlichere 
Durcharbeitung der arithmetischen und algebraischen 
Klassenpensa gewonnen werden (S. 24 — 25). Dass die 
Stunde für geometrisches Zeichnen in Quinta durch 
Verminderung der Religionsstunden von drei auf zwei 
gewonnen worden ist, kann nur gebilligt werden, da 
zwei wöchentliche Religionsstunden in allen Klassen der 
höheren Schulen ausreichend genannt werden müssen. 

Der naturwissenschaftliche Unterricht litt bisher 
darunter, dass ihm in Secunda nur eine Stunde zuge- 
wiesen war, und es war deshalb gerechtfertigt, ihm die 
zweite Stimde auf Kosten des Lateinischen zuzutheilen. 
Die Naturkunde, deren Unterricht bisher in Quarta eine 
Unterbrechung erlitt, in dieser Klasse ebenfalls mit zwei 
Stunden auszustatten, dazu lag eigentlich kein Bedürf- 
niss vor; man hat indessen einer starken Zeitströmung 



— 167 — 

Rechnung getragen, indem man von den sechs durch 
Wegfall des Griechischen verfügbar werdenden Stunden 
zwei der Naturkunde zuwies (wie drei dem Französi- 
schen und eine der Geometrie). 

Im Grrossen und Ganzen verfolgt die neueste Reform 
des Gymnasiallehrplanes den rechten Weg, wenngleich 
die Beeinträchtigung des Grriechischen — mag sie an 
sich unerheblich scheinen — sehr zu bedauern bleibt 
und früher oder später wieder gut gemacht werden 
muss. Das wichtigste Merkmal der Reform ist, dass das 
Gymnasium wieder um einen Schritt weiter geführt ist 
in der Abstreifung des Charakters als „lateinische Schule" ; 
die Einbusse von neun Jahres- Wochenstunden wird die 
Leistungen im Lateinisch -Schreiben nothwendig immer 
mehr herabsetzen, so dass in etwa einem Jahrzehnt die 
Unhaltbarkeit des lateinischen Aufsatzes immer einleuch- 
tender werden muss. Dann wird auch die Zeit gekom- 
men sein, denselben durch den französischen Aufsatz 
zu ersetzen, und das Griechische wieder in seine unge- 
schmälerten Rechte einzusetzen. 

Gehen wir nun zu dem Lehrplan des „Realgymna- 
siums" über, so fällt zunächst in die Augen, dass in 
demselben das Lateinische zehn Jahres- Wochenstimden 
gewonnen hat, wie es im Gymnasiallehrplan deren neun 
verloren hat. Die Differenz der lateinischen Jahres- 
Wochenstunden zwischen Gymnasium und „Realgym- 
nasium", welche bisher 42 betrug, und gegenwärtig auf 
2^. verringert ist, würde auf 18 sinken, wenn für die 
drei untersten Klassen völlige Uebereinstimmung durch 
Uebertragung des G3rmnasiallehrplans auf die „Real- 
gymnasien" hergestellt würde; wanmi diese Conformität 
nicht schon hergestellt ist, obwohl die Versetzung der 
Schüler aus der einen Art von Anstalt in die gleichen 
Klassen der anderen stattfinden soll, ist mir unerfind« 
lieh. Ebenso wunderlich erscheint die Differenz im Ge- 



— i68 — 

Schichtsunterricht, wonach das G3minasium von den vier 
obersten Jahrescursen zwei, das Realgymnasium deren 
nur einen der alten Geschichte widmet; das sieht so aus, 
als sollte die Geschichte des Alterthums nicht zu den 
„Realwissenschaften" gerechnet werden. Die gegen- 
wärtige Zahl lateinischer Stunden, nämlich sechs in 
Tertia und fünf in Secunda und Prima, dürfte in der 
That ausreichen, um auf Grrund hinlänglicher gramma- 
tischer Schulung eine fruchtbare Leetüre lateinischer 
Klassiker zu ermöglichen; da aber die einseitige latei- 
nische Leetüre ohne Ergänzung durch die griechische 
nicht ausreicht, dem Geiste eine klassisch hiunanistische 
Bildung zu gewähren (wie die griechische Leetüre allein 
es allerdings vermöchte), so kann auch der revidirte 
Lehrplan der Realschule erster Ordnung die Verleihung 
des Namens „Realgymnasium" keineswegs rechtfertigen. 
Jedenfalls ist anzuerkennen, dass auch diese Reform mit 
ihrer Verstärkung des altsprachlichen Unterrichts bei 
gleichzeitiger Ausscheidung der organischen Chemie und 
Beschränkung der Mineralogie und der Mathematik (in 
Quarta und Tertia) sich auf dem rechten Wege befin- 
det und als vorläufige Abschlagszahlung, als Verwirk- 
lichung des augenblicklich Erreichbaren mit Dank hin- 
zunehmen ist. Zu bedauern bleibt neben der Ungleich- 
mässigkeit des Lehrplans in den drei untersten Klassen 
der Uebelstand, dass die „Realgymnasiasten" noch 
immer mit zwei Wochenstunden mehr belastet sind als 
die Gymnasiasten, was jedenfalls einer späteren Ab- 
stellung bedarf, da die Gesammtleistungen der Real- 
gymnasien keinesfalls eine stärkere Inanspruchnahme 
des Schülers rechtfertigen. 

So lange zwischen reformirtem Gymnasium und 
Oberrealschule noch als dritte Gattung das „Realgym- 
nasium" besteht, so lange wird auch das Streben der 
Realgymnasien dauern, die an ihre Abgangsprüfung ge- 



knüpften Berechtigungen zu erweitem. Ohne das Ge- 
wicht der einer solchen Erweiterung entgegenstehenden 
Bedenken zu unterschätzen, wird man doch auch die 
Naturgemässheit eines solchen Strebens anerkennen, und 
wird unter Beibehalt der bisherigen Bestimmungen den 
Realabiturienten wenigstens für den nachträglichen Er- 
werb der an die Gymnasialabgangsprüfung geknüpften 
Berechtigungen die möglichsten Erleichterungen gönnen. 
Bis jetzt muss in solchem Falle eine Nachpriiftmg im 
Lateinischen, Griechischen und in der alten Geschichte 
abgelegt werden; es wäre nicht mehr als billig, die 
gegenwärtig sehr verringerten Mehrleistungen des Gym- 
nasiums im Lateinischen durch die des Realgymnasiums 
im Französischen und Englischen als compensirt anzu- 
sehen, ebenso die Nachprüfung in der alten Geschichte 
fallen zu lassen und ausschliesslich diejenige im Grie- 
chischen aufrecht zu erhalten. Uebrigens steht zu hoffen, 
dass nach der jetzt erfolgten Reform der Gymnasien 
mehr und mehr Eltern die Ueberlegenheit der Gym- 
nasien über die „Realgymnasien" erkennen werden, so 
dass die letzteren nach und nach durch abnehmende 
Frequenz zur Umwandlung in wirkliche Gymnasien 
(oder aber in Oberrealschulen) hingedrängt werden. Ein 
günstiges Vorzeichen für eine in dieser Richtung allge- 
mein bevorstehende Entwickelung bildet die i. J. 1883 
veröffentlichte Unterrichtsordnung in Elass- Lothringen, 
welche nur lateinlose Realschulen zulässt. Fehlerhaft er- 
scheint an dieser Verordnung nur das eine, dass bloss 
siebenklassige Realschulen zugelassen sind und die neun- 
klassige lateinlose Oberrealschule gänzlich fehlt; doch 
ist dieser Mangel für den Fall eintretenden Bedürfnisses 
einfach dadurch zu beseitigen, dass man eine bestehende 
Realschule durch Anfügung einer zweijährigen Ober- 
klasse zur Oberrealschule erhebt. 



— lyo — 

Der Bücher Noth. 

Der wichtigste Factor für die Steigerung der wissen- 
schaftlichen Bildung ist die wissenschaftliche Literatur, 
wie der wichtigste Factor für ihre Erhaltung der wissen- 
schaftliche Unterricht (auf höheren und Hochschulen) ist. 
Seine hervorragende Stellung im wissenschaftlichen Wett- 
kampf der Völker verdankt Deutschland neben der Tüch- 
tigkeit seiner Schulen und Hochschulen wesentlich dem 
Umfang und der Bedeutung seiner wissenschaftlichen 
Literatur. Weil die jährliche Bücherproduction Deutsch- 
lands grösser ist als diejenige von Frankreich und Eng- 
land zusammengenommen, darum kann auch jährlich eine 
grössere Zahl hervorragender Erscheinungen auf dem 
deutschen Büchermarkt gefunden werden als auf dem 
französischen oder englischen, während die übrigen 
Nationen als Concurrenten auf dem Gebiete der Wissen- 
schaft noch wenig in Betracht kommen. 

In neuerer Zeit treten Erscheinungen hervor, welche 
die gedeihliche Fortentwickelung der wissenschaftlichen 
Literatur in Deutschland in Frage stellen; und diese 
Gefahr ist wichtig genug, um ihren Ursachen und ihrer 
Bekämpfung einige Aufmerksamkeit zu widmen. Der 
Absatz auch der wirklich werthvoUen wissenschaftlichen 
Bücher, die nicht grade Unterrichtsbücher oder billige 
Popularisirungen sind, wird immer geringer, so dass er 
oft kaum ein Drittel der Kosten deckt, und in Folge 
dessen wird für die Autoren die Schwierigkeit, einen Ver- 
leger zu finden, immer grösser. In England und Frank- 
reich ist das Publikum mit literarischen Interessen durch- 
schnittlich auch wohlhabend genug, dieselben durch 
Bücherkauf zu befriedigen; in Deutschland, welches 
überhaupt an Wohlhabenheit sehr zurücksteht, sind 



— 171 — 

Wohlhabenheit und wissenschaftliche literarische Inter- 
essen an ganz verschiedene Stände vertheilt. Aber dieser 
Unterschied der nationalen Kaufkraft und der Kaufkraft 
der wissenschaftlich interessirt en Stände zwischen Deutsch- 
land und andern Ländern hat immer bestanden und doch 
früher nicht eine gewisse Blüthe der wissenschaftlichen 
Literatur verhindert, während jetzt bei steigender Wohl- 
habenheit des Volkes die Neigung zum Ankauf wissen- 
schaftlicher Werke und belletristischer Novitäten im 
Publikum immer mehr zurückgeht. Die Verleger können 
nicht anders, als diesen Verhältnissen bei ibren Unter- 
nehmungen Rechnung tragen, und die Schriftsteller 
haben durchaus Unrecht, wenn sie über die Verleger 
klagen, die doch eben nur Geschäftsleute sind. 

Ich sehe die Gründe für die Abwehr des Ankaufs 
wissenschaftlicher und schöner Literatur in Folgendem: 

1. Die Abnahme der Mussezeit der Gebildeten und 
ihrer Fähigkeit, dieselbe mit Ernst imd Sammlung zu 
benutzen, begünstigt eine Literatur, welche der Erholung 
und Zerstreuung dient, und benachtheiligt solche, die 
zur Leetüre eine gewisse Stetigkeit und Concentration 
verlangt. 

2. Das Ueberwuchern der politischen Interessen 
drängt diejenigen an Wissenschaft, Kunst u. s. w. in 
den HintergTxmd und die zerstreuende und aufreibende 
Unruhe des modernen grossstädtischen Lebens (in Be- 
rufsarbeit und Geselligkeit) macht die Sammlung immer 
schwerer. 

3. Die Vertheuerung der städtischen Miethswoh- 
nungen und die zunehmende Häufigkeit der Umzüge 
machen einen grösseren Bücherbesitz zu einer immer 
wachsenden Last, vor deren Aufbürdung der Deutsche 
sich scheut, während erst das eigene Haus (wie in Eng- 
land) ein Behagen an eignen Büchern aufkommen lässt. 

4. Die aus der Steigerung der Setzerlöhne folgende 



— 172 — 

Vertheuerung der Bücherpreise ist dem Sinken des Geld- 
werths beträchtlich vorausgeeilt und trägt dazu bei, vom 
Ankauf neuer Werke abzuschrecken; die Verleger er- 
halten einen zu geringen Theil des vom Publikum ge- 
zahlten Preises, weil der Zwischenhandel zu hohe Pro- 
visionen verschluckt. 

5. Das Anstandsbedürfhiss an Bücherbesitz wird 
durch billige Klassiker- Ausgaben, Sammel- und Nach- 
schlagewerke, populärwissenschaftliche Mark -Bibliothe- 
ken, Moderomane, gelegentliche Geschenkliteratur und 
unentbehrliche Hilfsmittel des Berufs befriedigt; meist 
wird auch der in der Wohnung verfügbare Raum durch 
dieselben erschöpft. 

6. Die für Leetüre verfügbare Zeit wird durch das 
Bestreben, in der eigenen Berufswissenschaft nothdürftig 
auf dem Laufenden zu bleiben, durch eine Zeitung, einen 
Journalcirkel und die neuesten Moderomane meist voll- 
ständig ausgefüllt, ohne dass Lust und Zeit zur Leetüre 
wissenschaftlicher Originalwerke übrig bleibt. 

7. Die Gewöhnung an Journal- und Zeitungslectüre 
verdirbt den Geschmack und die Fähigkeit zum Lesen 
zusammenhängender Werke, und schon rückt auch uns 
Deutschen die Zeit näher, wo der „Leitartikel" bereits 
als eine zu grosse Zumuthung an das Concentrations- 
vermögen gilt und in ein Mosaik von „Entrefilets" auf- 
gedröselt wird. 

Gegen die Verringerung der Mussezeit durch Steige- 
rung der Berufsansprüche giebt es ebenso wie gegen 
das Hinzutreten der politischen Pflichten kein Auskunfts- 
mittel, als dass die Jugend ihre Zeit bis zur vollen In- 
anspruchnahme ihrer Kräfte durch den Beruf fleissig zu 
ihrer allgemeinwissenschaftlichen Geistesbildung benutzt 
und ihre Betheiligung an politischen Angelegenheiten 
bis zu erlangter Bildungsreife (also etwa in die dreissiger 
Lebensjahre) vertagt. Bis der städtischen Wohnungs- 



-- 173 — 

misere durch gesetzliche Verhmderung der Baustellen- 
speculation abgeholfen wird, wird noch viel Wasser in's 
Meer laufen; bis dahin muss eine reichliche Dotation 
der vorhandenen staatlichen und städtischen Bibliotheken 
sowohl dem Publikum wie dem Verlagsbuchhandel zu 
Hilfe kommen und an den betheiligten Stellen das Be- 
wusstsein geweckt werden, wie wichtig eine derartige 
Dotation für die Erhaltung und Forderung der wissen- 
schaftlichen Nationalliteratur ist. Wie der Romanverlag 
gTÖsstentheils nur von den Leihbibliotheken lebt, so 
könnte der wissenschaftliche Verlag in der Hauptsache 
von den wissenschaftlichen Bibliotheken leben, wenn 
diesen nur die Mittel zur Verfugung gestellt würden^ 
um ihre Culturaufgabe für die Nation in doppelter Hin- 
sicht (kaufend und ausleihend) zu erfüllen. Die Verleger 
müssten an alle öffentlichen Bibliotheken direct zum 
Buchhändlemettopreise liefern, da der Gewinn des Zwi- 
schenhändlers hier gar keinen Sinn hat und bloss cultur- 
schädlich wirkt; dagegen müsste der unbillige Zwang 
zur Lieferung von Pflichtexemplaren den Verlegern ab- 
genommen werden. 

Auch dem Publikum müsste die Möglichkeit er- 
öffnet werden, direct mit den Verlegern in Verbindung 
zu treten und die Distributionsspesen zu ersparen, wenn 
es keine Bemühungen eines Distributeurs (Sortiments- 
buchhändlers) in Anspruch nimmt. Dies ist ausführbar 
durch BUdung eines Literaturbezugsvereins, der als Sor- 
timentsbuchhandlung ins Handelsregister eingetragen 
wird und den Mitgliedern nur die wirklichen Auslagen 
als Aufschlagsprovision berechnet. Gründlicher freilich 
wäre die Abhilfe, wenn die Post ebenso die Bücher- 
spedition wie die Zeitimgsspedition übernähme, neben 
dem periodischen Postzeitungskatalog einen periodischen 
Postbücherkatalog zu billigem Abonnement herausgäbe 
und ein Centralbücheramt zur Beantwortung von An- 



— 174 — 

fragen und zur Ergänzung ungenauer Bestellungen ein- 
richtete. Bücherbezug zur Ansicht auf bestimmte Frist 
würde auch beim Postbuchhandel unter Hinterlegung 
des Preises als Pfend ganz wohl möglich sein, und nur 
die unverlangten Büchersendungenzur Ansicht würden 
in Wegfall kommen, welche ich wegen ihres zerstreuen- 
den Einflusses für überwiegend schädlich halte; der 
grosste Gewinn des Buchhandels aber würde meines Er- 
achtens bei der Vermittelung durch die Post in der Be- 
seitigung des verderblichen Kreditwesens liegen. So 
wenig die Kreis- und Gemeinde-Sparkassen durch Post- 
sparkassen vernichtet werden können, ebenso wenig der 
Sortimentsbuchhandel durch den Postbuchhandel; aber 
eine Einschränkung der Zahl der Sortimentsbuchhand- 
lungen, die seit der Gewerbefreiheit das vorhandene 
Bedürfhiss weit überschritten hat, könnte dem Buchhan- 
del nur von Nutzen sein Schon das Antiquariat würde 
den Fortbestand selbstständiger Buchläden sichern, noch 
weit mehr aber das Bedürfniss vieler Käufer nach per- 
sönlicher Rücksprache und mündlicher Auskunft, so wie 
der Wunsch, die Auswahl der Ansichtssendungen von 
einem Dritten getroffen zu sehen; solche Käufer werden 
auch ferner bereit sein, dem Sortimenter für seine Müh- 
waltung die bisherige höhere Provision zu zahlen. Soll 
der Postbuchhandel durch seine Vorzüge die relative 
Benachtheiligung des bestehenden Sortimentsbuchhan- 
dels wett machen, so müssen ^eine Vortheile lediglich 
dem Publikum, nicht der Post zu Gute kommen, d. h. 
die Post darf von Kunden nur den Buchhändlernetto- 
preis für Baarbezug ohne jeden Gewinnaufschlag er- 
heben und muss sich ihrerseits mit dem Porto für den 
Bestellzettel (3 Pfennig), dem Streifband- oder Paket- 
Porto für die gelieferten Bücher und einer eventuellen 
Gebühr für Auskunftserthheilung (etwa 5 — 10 Pfennig) 
begnügen. Ein solcher Postbuchhandel würde auch den 



— 175 — 

bemittelteren Schriftstellern den lohnenden Selbstverlag 
ihrer Werke ermöglichen, während jetzt etwa die Hälfte 
der vom Publikum für seine Werke wirklich gezahlten 
Summen in den Händen der Sortimentsbuchhändler imd 
des Commissionsverlegers hängen bleibt. Für unbemit- 
telte Autoren müsste dann noch ein Verein hinzutreten, 
welcher die eingesandten Manuscripte gegen beizufügende 
Prüfungshonorare beurtheilen lässt und die werthvoll be- 
fundenen auf eigene Kosten veröffentlicht; die Deckung 
der Kosten würde theils aus den Beiträgen der Mit- 
glieder erfolgen, welche die Publikationen des Vereins 
dafür erhalten, theils aus dem Absatz an Bibliotheken 
und an das Privatpublikum vermittelst des Postbuch- 
handels. Sehr wünschenswerth wäre allerdings die Lö- 
sung der technischen Aufgabe, für Herstellimg kleiner 
Auflagen (von loo bis 500 Exemplaren) ein Verfahren 
zu finden, das erheblich billiger als der Lettemsatz wäre 
und doch dem Auge die gewohnte Form der grossen 
und kleinen Druckbuchstaben darböte. 

Die Gefahr, welche in dem erdrückenden Einfluss 
der Zeitungen und Journale liegt, muss auf doppeltem 
Wege bekämpft werden. Die Jugend muss begreifen, 
dass sie mit der Hingabe an den flüchtigen Reiz dieser 
Lektüre ihre Seele verkauft, d. h. auf die gründliche 
und allseitige Ausbildung ihres Geistes verzichtet; die 
Aelteren aber müssen selbst aufhören, der periodischen 
Literatur aus Bequemlichkeit einen Werth beizulegen, 
den sie nicht verdient, müssen sie als ein nothwendiges 
Uebel betrachten und namentlich die Tagespresse mit 
der gebührenden Missachtung behandeln, damit die Ju- 
gend nicht durch den Nachahmungstrieb verführt werde, 
mit derselben ihre kostbare Mussezeit zu verderben. 
Die gebildete Jugend bis zu 30 Jahren soll ebenso wenig 
Zeitungen lesen wie Politik treiben, sondern alle ihre 
zur Lektüre verfügbare Zeit auf Bücher verwenden; der 



— 176 — 

Schnee vom vergangenen Jahr ist nicht wesenloser als 
der Inhalt der Zeitung von gestern. Die Jugend soll 
aber auch keine Journale lesen, weil solche nur die Auf- 
gabe haben, den auf ein gewisses fertiges Bildungsniveau 
Gelangten auf dem Laufenden zu erhalten, aber nicht 
geeignet sind, eine noch fehlende Bildimg zu vermitteln. 
Sie sind um so weniger schädlich, je zusammenhängen- 
dere und umfangreichere Abhandlungen sie darbieten, 
je ähnlicher sie also dem Buche werden, und um so 
schädlicher, je mehr sie sich dem Charakter der Zeitung 
annähern. Die reifen Männer sollen zu der Einsicht ge- 
langen, dass man die „grossen" Tageszeitungen be- 
kämpfen und die „kleinen" kurzen Blätter begünstigen 
muss, und zwar um so mehr, je weniger sie einer be- 
stimmten Partei dienen und je mehr sie sich bemühen^ 
die wichtigeren Thatsachen der Tagesgeschichte und die 
wichtigeren Urtheile über dieselben in unparteiischer 
Kürze zu registriren. Von Journalen aber sollen sie nur 
soviel in ihr Haus kommen lassen, als nothdürftig aus- 
reicht, sie auf dem Laufenden zu erhalten und nament- 
lich sie auf wichtige Erscheinungen der Literatur hin- 
zuweisen. Dann aber soll auch der beschäftigste und 
angespannteste Mann nicht unterlassen, an freien Sonn- 
tagen oder in Ferienzeiten persönlich zu den Quellen 
hinabzusteigen, aus denen der Geist der nationalen Cul- 
tur sich verjüngt, d. h. zu den Originalwerken der For* 
scher, Denker und Dichter. 



— 177 — 
XI. 

Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit. 

Lieber Leser! Hoffentlich bist Du nicht berühmt; 
aber vielleicht wünschest Du es zu werden, und wenn 
Du zu alt bist, um es für Dich selbst zu wünschen, so 
erhoffst Du es vielleicht für Deine Söhne, Schwieger- 
söhne oder Enkel. Lieber Leser, lass Dich warnen, ehe 
es zu spät ist. Es gibt ja so Manches auf der Welt, 
wonach die Menschen sich sehnen, und dessen Schatten- 
seiten sie erst kennen lernen, wenn sie es erreicht haben; 
aber der Ruhm ist unter allen diesen Prellereien die 
schlimmste, weil seine Schattenseiten am wenigsten be- 
kannt und beachtet sind. Darum gestatte mir, Dir eine 
kleine Auswahl derselben vorzuführen, und wenn Du 
diese Zeilen gelesen hast, so wird Deine Zufriedenheit 
nicht ohne Zuwachs geblieben sein, wenn Du aus ihnen 
gelernt hast, Gott zu danken, dass Du nicht berühmt bist. 

Die wenigsten Köpfe vertragen den Weihrauchduft 
des Ruhmes, ohne davon umnebelt zu werdert und das 
Gleichgewicht vernünftiger Selbstbeurtheilung zu ver- 
lieren. Die liebenswürdige Bescheidenheit schwindet und 
macht einer dünkelvollen Eitelkeit Platz; wo aber vor- 
her schon Eitelkeit bestand, liegt die Gefahr des Ueber- 
schnappens nahe. Der Mensch wird empfindlich, wo ihm 
die Anerkennung vorenthalten bleibt, auf welche ei* 
durch seinen Ruhm ein Recht erworben zu haben wähnt; 
er wird anspruchsvoll und pocht auf den schuldigen 
Tribut von Huldigungen. Seiner gewöhnlichen Umge- 
bung von Familie und Freunden glaubt er sich nun ent-*" 
hoben und entrückt in eine höhere Sphäre des Daseins; 
indem er sich ihnen gegenüber ein höheres und besseres 
Menschenwesen dünkt, wird er vorher Fügsame besser- 
wisserisch und herrschsüchtig und dadurch unliebens- 

Hartmann, Moderne Probleme. 12 



— 178 — 

würdig. So werden nicht nur Sitten und Manieren, 
sondern selbst Gemüth und Charakter verdorben und 
die intimsten Beziehungen vergiftet. Die näher Stehen- 
den sehen mit Bedauern diese Veränderung, die Näch- 
sten leiden darunter; die alten Freunde ziehen sich 
halbwegs zurück, auch wenn sie den Erfolg gönnen, 
oder fallen ganz ab, wenn sie ihn missgönnen und be- 
neiden. 

Nur seltenen Ausnahmenaturen, die schon vorher 
ein klares und sicheres Urtheil über sich selbst, ihr 
Vermögen und den Werth ihrer Leistungen besassen 
und gewohnt waren, das Urtheil der Menge ihrem 
eigenen gegenüber stolz zu missachten, nur solche wer- 
den ungeschädigt an ihrem Innersten die Probe des 
Berühmtwerdens bestehen. Aber wie können sie erwarten, 
dass die Welt an eine solche ausnahmsweise Veran- 
lagung glauben soll? Mögen die nächsten Freunde und 
Angehörigen diesen Glauben besitzen und durch die 
tägliche Erfahrung bestätigt sehen, so werden doch die 
neidischen Freunde ein solches menschliches Verdienst 
zu dem missgönnten Ruhm hinzu einzuräumen wenig 
geneigt sein, und ferner Stehende oder neue Bekannt- 
schaften werden stets mit dem Vorurtheil behaftet sein 
und bleiben müssen, dass die gewöhnlichen und so 
schwer vermeidlichen Fehler der Berühmtheit auch in 
diesem Falle vorliegen und vielleicht nur aus Klugheit 
etwas geschickter als gewöhnlich verhüllt werden. So 
legt der Ruhm auf alle rein menschlichen Beziehungen 
seinen erkältenden Reiffrost, bei Allen, die es verdienen 
und die es nicht verdienen. 

Von den bescheidenen, zurückhaltenden, fein- 
fühligen, harmlosen, in sich befriedigten Naturen wird 
der Berühmte gescheut und gemieden, von den unbe- 
scheidenen, zudringlichen, eitlen Menschen, die gern mit 
berühmten Bekanntschaften prahlen, wird er aufgesucht. 



— 179 — 

Wenn ohnehin schon ein „Mensch" mit der Laterne ge- 
sucht werden muss, so muss der Berühmte sich zehn- 
fache Mühe geben, einen zu finden; noch mehr Noth 
hat er aber, sich derer zu erwehren, an denen ihm nichts 
gelegen sein kann. Die Menschen können sich so schwer 
denken, dass ein Mann, der seinen Ruhm verdient, doch 
zunächst auch ein Mensch sein muss und in höherem 
Grade als andre ein solcher, dem nichts Menschliches 
fremd ist, bei dem also auch alle menschlichen Inter- 
essen sicher sind, einen Widerhall zu wecken. Statt 
dessen sind die Bescheidenen und Feinfühligeren, wenn 
der Zufall sie mit einem Berühmten zusammenführt, 
meist doppelt zurückhaltend und still aus Furcht, nicht 
geistreich und bedeutend genug, oder auf dem Special- 
gebiet des BetreiFenden nicht bewandert genug zu er- 
scheinen; die Andern aber plagen ihn mit verständniss- 
losen Fragen und Bemerkungen, durch welche sie ihr 
ungewöhnliches Interesse und Verständniss für die frag- 
liche Specialität zu bekunden glauben. In Gesellschaft 
wie in der Sommerfrische wird der Berühmte, wenn er 
nicht selbst ein Eitelkeitsnarr ist, bald nur noch den 
einen Wunsch haben, sich vor dem erkältenden und 
isolirenden Nimbus des Ruhms durch Incognito zu retten; 
aber dieses Mittel ist selten anwendbar und jedenfalls 
hilft es nicht gegen die Belästigungen zu Hause. 

Da kommen die Besucher aus Neugier, die be- 
friedigt wieder abgehen, wenn sie constatirt haben, dass 
der Herr X. seinem Porträt ähnlich sieht; aber die- 
jenigen Personen, deren Bekanntschaft aus sachlichen 
Interessen gerade am erwünschtesten und für beide 
Theile am erspriesslichsten wäre, wagen leider aus Be- 
scheidenheit es oft nicht, die Schwelle des Berühmten 
zu überschreiten. Dass er von wirklichen oder angeb- 
lichen Fachgenossen aufgesucht wird, um Almosen xmd 
Unterstützung, Rath und Hülfe zu finden, mag noch 

12* 



— i8o — 

hingehen, da es neben der meist zwecklosen Belästigung 
doch auch in Ausnahmefallen Gelegenheit gibt, sich 
nützlich zu machen; die allerunsinnigste Belästigung 
aber ist die durch Autographensammler, welche sich 
nicht mit den in Autographenalbums facsimilirten Schrift- 
zügen begnügen wollen, sondern die Eitelkeit haben, 
möglichst viel Originalhandschriften zu sammeln. Wer 
aus Furcht, sich unbeliebt zu machen, einige Mal auf 
solche Zumuthungen eingegangen ist, der wird über- 
häuft mit brieflichen AuiFordenmgen ; wer alle Gesuche 
um Autographen (mit Ausnahme der für wohlthätige 
Zwecke bestimmten), wie es das einzig Richtige ist, in 
den Papierkorb wirft, der wird durch allerlei Finten 
überlistet, z. B. durch fingirte Unterstützungsgesuche, 
oder die noch beliebtere Methode der Bitte um Rath 
kurz vor dem angeblich beabsichtigten Selbstmord. Der 
Autographensammler scheut sich niemals, sich für einen 
glühenden Verehrer des Angebettelten auszugeben, auch 
wenn er dessen Leistungen nicht anders als von Hören- 
sagen kennt; ebenso findet man auch unter denjenigen, 
welche sich nach der persönlichen Bekanntschaft drängen, 
selten einen, der es der Mühe werth geftmden hätte, 
zunächst die so viel leichter zu erlangende genauere 
Bekanntschaft mit dem Besten, was die Person zu geben 
hat, mit der Reihe ihrer Thaten oder Werke zu machen. 
Die Störung der Unbefangenheit im persönlichen 
Verkehr erstreckt sich noch über den mündlichen hinaus 
auf den brieflichen. Der widerwärtige Person encultus 
dieses Jahrhunderts, welcher allemal im umgekehrt pro- 
portionalen Verhältniss zu dem Ernst und der Tiefe des 
sachlichen Interesses steht, hat es fertig gebracht, dass 
keine private Mittheilimg eines berühmten Mannes vor 
der Veröffentlichung nach dem Tode, ja wohl gar bei 
Lebzeiten, mehr sicher ist. Der Eitle mag daraus den 
Antrieb entnehmen, auch seine Privatbriefe so abzu- 



— i8i - 

fassen, wie er sie für ein künftiges Publikum wünscht; 
wem aber solche Exposition in Schlafrock und Nacht- 
mütze zum Ekel ist, der wird seine Correspondenz auf 
die nothdürftigsten trocknen Thatsachen beschränken, 
und die Verkümmerung eines berechtigten Gebiets des 
gemüthlichen Privatlebens bitter empfinden. 

Sofern die Thaten und Werke des Menschen be- 
stimmte Tendenzen verfolgen (was eigentlich nur bei 
Künstlern nicht der Fall — sein sollte) werden diese 
Absichten und Ziele stets der Verkennung und der Miss- 
deutung von ihren Gegnern wie vom blossen Missver- 
stand ausgesetzt sein; es bilden sich bald zu Anfang 
falsche Meinungen und Stichworte (wie z. B. Grillparzer 
während seines ganzen langen Lebens ein „Schicksals- 
tragödiendichter" hiess), welche durch keine Bemühungen 
von Seiten des Verkannten auszurotten sind. Wenn seine 
Werke nicht zugleich der vergnüglichen Unterhaltung 
dienen, so verleiht der Ruhm nicht einmal, wie er doch 
billiger Weise sollte, den Rechtsanspruch, die späteren 
Leistungen, welche erst das Gesammtbild vervollstän- 
digen und den ersten Eindruck berichtigen können, auch 
nur beachtet zu sehen. Das Publikum ist nur zu geneigt 
zu glauben, dass ein erstes, Ruhm begründendes Fahnen- 
werk auch die Leistungsfähigkeit seines Urhebers in der 
Hauptsache erschöpfe und dass es nicht der Mühe werth 
sei, darauf hinzuhören, was ein solcher Autor sonst noch 
zu sagen haben könne (man denke z. B. an Strauss). 
Den einzigen reellen Vortheil, den der Ruhm seinem 
Besitzer gewähren könnte und sollte, enthält er ihm so- 
mit auch noch vor, wenigstens in Deutschland, da das 
Ausland in dieser Hinsicht der Ehrenpflichten gegen 
seine hervorragenden Männer besser eingedenk ist. Da- 
gegen muss der Kelch des Verdrusses über unbelehr- 
bare Vorurtheile und ohrenverschliessenden Missverstand 
bis zur Hefe geleert werden. Dass die Ungerechtigkeit 



— l82 — 

des Urtheils bei sachlicher Verkennung selten stehen 
bleibt und nur zu häufig auch die Person und deren 
Privatleben in den Kreis ihrer Angriffe mit hineinzieht, 
ist ebenso bekannt, wie das es nur wenigen öffentlichen 
Persönlichkeiten erspart bleibt, Gegner und Feinde zu 
haben, welche die gutgläubige Verurtheilung durch ein- 
gemischte Einflüsterungen des Neides und Uebelwollens 
trüben und verbittern. Der Empfindliche wird an alle- 
dem eine nie versiegende Quelle der Kränkung und des 
Aergers haben, aber auch der Unempfindliche, der sich 
von dem Urtheil Anderer in ruhigem Stolze unabhängig 
weiss, wird doch Schmerz und Betrübniss über das 
mächtige Beharrungsvermögen des Vorurtheils und der 
Gleichgültigkeit und über die unausrottbare Existenz der 
Gesinnungsgemeinheit in der Welt fühlen. 

Ist der Berühmte ein ausübender Künstler, dessen 
Leistungen zugleich dem Zeitvertreib und dem Ver- 
gnügen dienen, so bemühen sich seine Bekannten, zu 
seinem Benefiz (mit 50% Antheil am Reinertrag) recht 
viel Billets unterzubringen und versäumen nicht, selbst 
hinzugehen und kräftigst zu applaudiren. Ist er dagegen 
ein Schriftsteller, gleichviel ob seine Schriften der Un- 
terhaltimg dienen oder nicht, so kaufen sie dieselben 
nur in dem besonderen Ausnahmefall, dass es gerade 
zeitweilig Mode ist, dieselben zu kaufen und zu ver- 
schenken; anderfalls muss der Autor riskiren, dass sie 
ihm übel nehmen, die Werke nicht von ihm geschenkt 
erhalten zu haben, unbekümmert darum, ob deren Ver- 
kauf nicht auch sein Benefiz (mit 50^0 Antheil am Rein- 
ertrag) darstellt. Dass man bei dem grössten Ruhm 
verhungern kann, wenn man nicht sonst eine reelle Ein- 
nahmequelle besitzt, und zwar um so leichter, je echter 
der Ruhm ist, das ist weltbekannt, ebenso dass der 
wahre und echte Ruhm meist langsam gewonnen und 
nur von denen erlebt wird, welche ein hohes Alter er- 



- i83 - 

reichen. Was hat aber der Mensch von einem Ruhm 
nach seinem Tode? Ist es da nicht ganz gleichgültig, 
ob der Nachruhm sich an den Namen heftet, den er im 
Leben trug, oder an einen falschen (z. B. Homer), oder 
ob er, wie z. B. bei dem Nibelungenliede, namenlos an 
den Werken haftet? Ist es nicht die Eitelkeit der Eitel- 
keiten, für seinen Namen nach Nachruhm zu streben, 
von dem man selber gar nichts hat? Und selbst wenn 
der Berühmte steinalt wird und alle Jubiläen rite ab- 
solvirt, so muss er doch noch seinen echten Ruhm mit 
ebenso strahlendem falschen Ruhm unwürdiger Mitbe- 
werber theilen, also des Ruhmes heilige Kränze als auf 
gemeinen Stirnen entweihte in Empfang nehmen. Manch- 
mal verbindet sich aber auch falscher und echter Ruhm, 
so dass eine Person eine Zeit lang wegen gewisser den 
Zeitströmungen entgegenkommenden Nebeneigenschaften 
seiner Leistungen falschen Ruhm geniesst, welcher all- 
mählich erblasst und das Aufkommen des wahren 
Ruhmes, den seine Leistungen nach ihrem tieferen Kern- 
gehalt verdienten, mehr behindert als befördert; der 
Verdacht auf eine solche Verwickelung des Sachver- 
halts ist überall da begründet, wo ein Künstler oder 
Schriftsteller, dem man Anspruch auf wahren Ruhm 
niih aberkennen möchte, schon in jüngeren oder mitt- 
leren Jahren berühmt war (man denke an Goethes 
Werther, Schillers Räuber, Schellings Naturphilosophie 
und ähnliche Beispiele). 

Wenn Du also, lieber Leser, Dich nich abschrecken 
lassen wolltest, für Dich oder die Deinigen nach Ruhm 
zu streben, so nimm wenigstens den guten Rath an, 
nicht nach echtem, sondern nach falschem Ruhm zu 
streben, da nur der letztere Dir einige Aussicht gewährt, 
dass Du seine Vortheile an Ehre und materiellem Ge- 
winn noch gemessen kannst. Willst Du aber den falschen 
Ruhm trotz seiner ideellen und materiellen Vorzüge ver- 



— i84 — 

schmähen, bloss weil er auf unwahrem Grunde ruht, 
dann höre überhaupt auf nach Ruhm zu trachten, und 
trachte statt dessen nach werthvoUen Leistungen, ganz 
unbekümmert darum, ob und wann denselben die An- 
erkennung des Ruhmes zu Theil werden möge. 



XII. 

Der Somnambulismus. 

Die Erscheinungen des Somnambulismus sind von 
altersher bekannt, nicht nur diejenigen eines in Nerven- 
krankheiten spontan eintretenden, sondern auch die- 
jenigen eines durch verschiedene Mittel (z. B. betäubende 
Dämpfe, Schwindeldrehungen, Fasten, Fixiren eines nahen 
Blick -Punktes u. s. w.) hervorgerufenen Somnambulis- 
mus. Die Seltenheit des spontanen Somnambulismus, 
die schädlichen Folgen des künstlich hervorgerufenen 
für den Organismus, die Verquickung des Somnambu- 
lismus mit allerlei Aberglauben und Mysticismus und 
die Schwierigkeiten einer Erklärung der Erscheinungen 
auf Grund der herrschenden materialistischen Naturan- 
schauung haben jedoch bis vor ganz kurzer Zeit davon 
abgeschreckt, dieses Erscheinungs - Gebiet auf exacte 
Weise zu studiren. Die von der Pariser Akademie von 
1825 — 1831 niedergesetzte Commission gelangte nicht 
über die Constatirung der Thatsachen hinaus, und selbst 
diese gerieth bald wieder in Vergessenheit oder wurde 
gar (durch Verwechselung mit dem Commissionsbericht 
von 1784) in ihr Gegen theil entstellt. Erst das Aufsehen, 
welches die öffentlichen Schaustellungen des Magneti- 
seurs Hansen erregten, veranlassten einige deutsche 
Physiologen (insbesondere Heidenhayn), der Sache näher 
zu treten, und wenigstens die körperlichen Phänomene 



— i8s — 

des Hypnotismus ausser Zweifel zu stellen. Bald darauf 
wurden von Preyer die Braid'schen Versuche und 
Schriften neu an's Licht gezogen, welche einen durch 
Fixiren heller Punkte und ähnliche Mittel (also nicht 
durch einen Magnetiseur) hervorgerufenen Hypnotismus 
behandeln. 

Während die deutschen Gelehrten in den letzten 
Jahren sich kaum noch mit dem Gegenstande zu be- 
schäftigen scheinen, hat er neuerdings in Frankreich zu 
sehr eingehenden und interessanten Untersuchungen ge- 
führt. So war z. B. Charcot der erste, welcher eine 
scharfe Unterscheidung zwischen den drei Hauptstufen 
des Hypnotismus oder Somnambulismus (der lethar- 
gischen, kataleptischen und im engeren Sinne somnam- 
bulen) einführte und die Symptomenkomplexe dieser 
drei Stufen genau definirte.*) Diese Unterscheidung 
dürfte auch dann ihren Werth behalten, wenn man an- 
erkennt, dass die Grenze zwischen den drei Stufen 
keineswegs feste sind und öfters ein Ineianderschieben 
und Durcheinanderfliessen der Symptome stattfinde. 
Zugleich veröffentlichte der Pariser Neurologe Riebet 
seine langjährigen Erfahrungen, nach welchen die deut- 
schen Physiologen im Unrecht sind, wenn sie die Action 
eines Magnetiseurs in allen Fällen für illusorisch er- 
klären, weil sie für Erzeugung von Hypnotismus bei 
vielen Personen entbehrlich ist. Riebet behauptet, dass 
seine magnetisirende Thätigkeit auf jeden Organismus, 
auch den stärksten, eine Einwirkung hinterlasse, die sich 
mindestens in einer Steigerung der Empfänglichkeit für 
künftige Versuche kundgibt, und dass er sich getraue, 
in einer aufeinanderfolgenden Reihe von Sitzungen 



*) Le9ons sur les maladies du Systeme nerveux tome III, — Essai 
d'une distinction nosographique des divers fetats nerveux, compris sous le nom 
d'hypnolisme. (Comptes rendus de TAcad^mie des sciences 1882.) 



— i86 — 

schliesslich jedes Individuum ohne Ausnahme in einen 
somnambulen Zustand zu versetzen; er behauptet ferner, 
dass der durch magnetische Striche hervorgerufene Som- 
nambulismus sich von dem durch Fixiren naher Punkte 
hervorgerufenen dadurch unterscheide, dass im ersteren 
die psychischen Erscheinungen, in letzterem die körper- 
lichen (Lethargie, Katalepsie u. s. w.) vorwiegen. Ausser- 
dem sind von Bernheim, Binet und F6r6 Li6bault, Beau- 
nis u. a. m. ausgedehnte Versuchsreihen mit Somnam- 
bulen vorgenommen worden, welche zu manchen neuen 
Aufschlüssen geführt haben, insbesondere in Bezug auf 
die Uebertragung der Aktivität aus einer Hirnhälfte in 
die andere und in Bezug auf die Umkehr der Zustände 
in ihre polaren Gegensätze, z. B. Aktivität in Lähmung 
und Lähmung in Aktivität und die Erscheinungen des 
ausschliesslichen Rapports einer Somnambulen zu einem 
bestimmten Experimentator*). Die deutschen Physiologen 
haben sich bisher weit mehr auf das Studium der in den 
niederen Graden des Hypnotismus vorwiegenden körper- 
lichen Erscheinungen beschränkt, während die Franzosen 
bereits den psychischen Phänomen des eigentlichen Som- 
nambulismus näher getreten sind, ohne jedoch das Ge- 
biet des Wunderbaren mehr als zu streifen. Die interes- 
santesten Probleme harren deshalb bis jetzt ihrer wissen- 
schaftlichen Behandlung, und sind nur erörtert von My- 
stikern und Popularphilosophen, welche kein Bedenken 
getragen haben, die phantastischen Personificationen 
somnambuler Traumbilder als Realitäten aus einer an- 
deren Welt anzusprechen. 

Carl du Prel hat sich der dankenswerthen Aufgabe 
imterzogen, die psychischen Probleme des Somnambulis- 
mus im Zusammenhang zu bearbeiten, wobei er sich von 
allem spiritistischen Aberglauben als von unlogischen 

*) L'hypnotisme chez les hyst6riques (Revue philosophique 1885, 
Nr. I, 3—9). 



- i87 - 

Hypothesen vollständig freihält (S. 210, 434, vgl. 115, 
186, 300), und sogar das Gebiet des eigentlichen Hell- 
sehens vorläufig bei Seite lässt, um es einem beson- 
deren Werk vorzubehalten. Durch den Titel*) braucht 
sich also Niemand abschrecken zu lassen, denn der Ver- 
fasser erklärt ausdrücklich, dass es mystische Erschei- 
nungen im eigentlichen Sinne gar nicht gibt, und 
Manches uns nur heute noch mystisch vorkommt (S. 386, 
204). Gleichwohl kann ich den Titel nicht zweckmässig 
finden, weil ich nicht wie du Prel im Somnambulismus 
die „Grundform aller Mystik" (399, 497) und in der 
Mystik nicht „das magische Verhalten des Menschen zu 
sich selbst" (444) erkennen kann; ich verstehe vielmehr 
unter Mystik das gefühlsmässige Sicheinswissen des 
Menschen mit dem Absoluten, und sehe in der prak- 
tischen Pflege des Somnambulismus durch einen grossen 
Theil der religiösen Mystiker nur eine Verirrung, die 
auf einem Verkennen der eigentlichen Natur und Be- 
deutung des Somnambulismus beruht. Ich meine des- 
halb, der richtigere Titel des du Prel'schen Buches hätte 
lauten müssen : „Der Somnambulismus in seiner Bedeu- 
tung für Psychologie und Metaphysik." In der That 
wäre dieser Titel erschöpfend, denn was aus den Er" 
Scheinungsgebieten des gewöhnlichen Traumes und des 
wachen Gedächtnisses herangezogen ist, dient doch nur 
zum Vergleich und zur Erläuterung der somnambulen 
Erlebnisse. 

Auch du Prel nimmt als erwiesen an, dass Hypno- 
tismus und Mesmerismus (oder thierischer Magnetismus) 
keineswegs sich deckende Begriffe von gleichem Um- 
fang sind (155), und dass es irrthümlich ist, den hyp- 
notischen oder somnambulen Zustand lediglich auf Vor- 



*) Die Philosophie der Mystik von Dr. Carl du Prel. Leipzig, Ernst 
Günthers Verlag 1885, 



— i88 — 

gange im Wahmehmungs- oder Vorstellungsprocess des 
Versuchsobjekts zurückführen zu wollen. Zum Beweise 
fuhrt er an, dass auch Schlafende, welche von den mit 
ihnen vorgenommenen Manipulationen nichts wissen, in 
Somnambulismus versetzt werden können und dass so- 
gar der Schlaf die magnetische Einwirkung erleichtert 
(39 — 40); ferner, dass auch die Mimosa pudica ebenso 
durch Mesmerisiren wie durch Chloroformiren unempfind- 
lich gemacht werden kann (156). Ich möchte hinzufügen, 
dass wir die dynamische Aktivität der Magnetiseure 
auch aus anderen Wirkungen kennen, z. B. aus den 
lokalen Einwirkungen auf menschliche Körpertheile, 
welche für die Hautempfindungen denjenigen einer 
schwachen Elektrisirmaschine gleichen, ferner auf das 
Elektroskop und die Magnetnadel, und dass in einem 
sensitiven Nervensystem schon Elektricitäten von mini- 
maler Spannung starke Abänderungen in der Verthei- 
lung der Innervationsintensität hervorrufen, wie die 
Versuche an Hysterischen mit halbseitiger Anästhesie 
des Körpers beweisen.*) Dass auch der Stahlmagnet ge- 
waltige Einwirkungen auf die. Vertheilung der Innerva- 
tionsenergie in den Centralorganen ausübt, ist durch die 
oben angeführten Versuche von Binet und F6r6 erwiesen, 
veränderte Anwendungsarten werden ohne Zweifel noch 
andre Verschiebungen der Innervationsenergie kennen 
lehren und damit dem Verständniss der Art und Weise, 
wie der Einfluss des Magnetiseurs die gleiche Wirkung 
hervorbringt, näher führen. Es ist anzunehmen, dass jeder 
Mensch in irgend welchem Grade die Fähigkeit, andere 
zu magnetisiren, besitzt, dass aber die Herrschaft über 
dieselbe nur durch Uebung zu gewinnen ist, weil diese 
Fähigkeit nicht in dem Organ der bewussten Willkür 
ihren Sitz hat, sondern nur indirekt durch Impulse des 



♦) Vigouroux, M^talloscopie, M6talloth6rapie , Oesth^siog^nes. 



— iSg — 

bewussten Willens in anderen niederen Centralorganen 
ausgelost wird. Damit stimmt überein, dass Somnam- 
bule, deren Willkürorgan ausser Function gesetzt ist, 
eine besonders starke Fähigkeit zum Magnetisiren Dritter, 
ja sogar ihres Magnetiseurs gewinnen, auch wenn sie 
dieselben im wachen Zustande nicht besitzen oder be- 
herrschen (274). Es ist femer zu beachten, dass fort- 
dauernde Bethätigung der magnetischen Kraft den Men- 
schen angreift und entkräftet (250), woraus folgt, dass 
der Magnetiseur wirklich organische Kraft bei seiner 
Thätigkeit consumirt. Es ist endlich zu berücksichtigen, 
dass die elektrischen Apparate der Zitter- Rochen und 
-Aale nur Grruppen von Ganglienzellen sind, und dass 
jede Ganglienzelle in irgend welchem Masse die Eigen- 
schaft besitzen muss, welche hier durch DilFerenzirung 
ausgebildet ist. 

Ob das im thierischen Magnetismus wirksame dyna- 
mische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte 
identisch ist, oder ob es eine noch unerforschte neue 
Proteus- Gestalt der einheitlichen Naturkraft ist, welche 
blos elektrische, magnetische, thermische und nerven- 
physiologische Begleiterscheinungen hervorruft, das dürfte 
vorläufig schwer zu entscheiden sein, doch neige ich der 
letzteren Auffassung zu, so dass der Bezeichnung „thie- 
rischer Magnetismus" oder „organische Elektricität" nur 
ein uneigentlicher Sinn beiwohnt. Ebenso vorsichtig wie 
in der Gleichsetzung der mesmerischen Function mit 
physikalischen Kräften muss man aber auch sein, sie 
mit besser bekannten organischen, psychischen oder gar 
metaphysischen Potenzen zu identificiren, wie wenn 
z. B. du Prel sie mit der Naturheilkraft gleichsetzt (239), 
wozu die etwaigen heilsamen Nebenwirkungen der durch 
sie hervorgerufenen somnambulen Zustände noch lange 
keine Berechtigung geben. 

Du Prel hat sich in diesem Punkte, wie leider in 



— igo — 

manchen andern, durch Schopenhauers Ansichten be- 
stimmen lassen, von welchem Denker seine gesammte 
Weltanschauung mehr als von irgend einem andern ab- 
hängig ist. Schopenhauer nimmt an*), dass der Som- 
nambulismus nur ein tiefer und vollkommener Schlaf sei, 
dass er deshalb heilsamer als der gewöhnliche Schlaf 
sei und von der Naturheilkraft absichtlich herbeigeführt 
werde. Er glaubt ferner, dass Wahrträume auch im ge- 
wöhnlichen tiefen Schlafe häufig sind, und der Som- 
nambulismus nur diese Wahrträume offenbare. Alle 
scheinbaren Sinneswahrnehmungen der Somnambulen 
hält er fiir Wahrträume, welche die Vermittelung der 
Sinneswerkzeuge nur vorspiegeln. In Bezug auf die 
physiologische Erklärung des somnambulen Zustandes 
verwirft er mit triftigen Gründen die Annahme, dass 
das Gangliensystem an Stelle des Gehirns fiinktionire, 
und hält an der Unentbehrlichkeit der Gehirnfunktion 
fest, worin ihm du Prel leider nicht gefolgt ist; seine 
Theorie einer Umkehrung der Richtung der Gehirn- 
funktion durch Rollentausch der grauen und weissen 
Substanz ist dagegen physiologisch ganz unhaltbar und 
ist auch von keiner Seite vertheidigt worden. 

So wenig der Somnambulismus mit dem gewöhn- 
lichen Schlaf zu verwechseln ist, ebenso wenig ist er, 
wie du Prel meint (174), ein tieferer Schlaf als der ge- 
wöhnliche, d. h. blos graduell von demselben verschie- 
den. Obschon Uebergangsformen zwischen beiden statt- 
finden und einige Merkmale ihnen gemeinsam sind, sind 
sie doch specifisch verschieden; in manchen Beziehungen 
erscheint der Schlaf als Zwischenzustand zwischen Som- 
nambulismus und Wachen, in andern erscheint der Som- 
nambulismus als Mittelzustand zwischen Schlaf und 



*) „Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt'*,, 
in dpn Farerga und Paralipomena", 2. Aufl. I. Band. S. 241 — 328. 



— IQI — 

Wachen. Du Prel, welcher nur die erstere, und Wirth 
(40), welcher nur die letztere Ansicht gelten lässt, haben 
daher Beide Recht und Unrecht. Der somnambule 
Traum erscheint in der That gegenüber dem gewöhn- 
lichen als ein gesteigerter Traum, aber der somnam- 
bule Schlaf gleicht mehr dem Verhalten im wachen 
Zustande als im gewöhnlichen Schlaf. 

Das gewöhnliche Traumbewusstsein ist durch eine 
bessere Erinnerungsbrücke mit dem wachen Bewusstsein 
verbunden als das somnambule und kann zwischen diesen 
beiden als verknüpfendes Mittelglied eintreten. Je näher 
das somnambule Traumbewusstsein dem gewöhnlichen 
Traume steht, desto leichter reichen Erinnerungen aus 
demselben in's wache Bewusstsein hinüber; je mehr es 
sich in sich vertieft, desto schwerer wird die Erinnerung 
an seinen Inhalt, am schwersten beim „Hochschlaf", der 
nur durch das verknüpfende Mittelglied des gewöhn- 
lichen Somnambulismus mit dem wachen Bewusstsein 
verbunden werden kann. Je mehr sich der Somnambu- 
lismus steigert, desto mehr steigern sich die Eigenthüm- 
lichkeiten, welche das Traumbewusstsein von dem 
wachen Bewusstsein unterscheiden: die Passivität des 
Willens, die Sinnlichkeit und Bildlichkeit der Vorstel- 
lungen, die Stärke der unwillkürlichen Phantasiethätig- 
keit, die Neigung zu dramatischer Spaltung des Ich, 
der Mangel an Besonnenheit und zielbewusster Stetig- 
keit, die Hyperästhesie des Gedächtnisses, die damit 
zusammenhängende Geschwindigkeit des Vorstellungs- 
wechsels, und endlich die Sensitivität des Gefühlslebens 
für natürliche Vorgänge innerhalb imd ausserhalb des 
eigenen Organismus. 

Andererseits aber steigern sich auch einige solche 
Merkmale, durch welche das wache Leben sich vom 
Schlaf unterscheidet, erstens die Fähigkeit, vermittelst 
der Sinneswerkzeuge von der Aussenwelt Eindrücke zu 



— 192 — 

empfangen und auf diese Eindrücke mit Reden und 
Handlungen sinngemäss zu reagiren, zweitens die Eigen- 
thümlichkeit, dass die Erlebnisse der Zeitabschnitte des 
somnambulen Lebens wie diejenigen des wachen Lebens 
durch ihren Erinnerungszusammenhang ein geschlossenes 
Ganze zu bilden, während die Träume der verschiedenen 
Nächte der Regel nach zusammenhangslose Bruchstücke 
bleiben und nur ausnahmsweise mit vereinzelten Erinne- 
rungen in einander übergreifen, und drittens der Um- 
stand, dass die das somnambule Bewusstsein vermitteln- 
den Theile des Centralnervensystems ebenso wie die 
das wache Bewusstsein vermittelnden der zeitweiligen 
Ruhe durch Schlaf bedürfen, wie der Wechsel von 
Schlaf und Wachen bei einem Wochen und Monate 
lang anhaltenden Somnambulismus beweist (332). 

Wenn eine Somnambule ihren häuslichen Verrich- 
tungen obliegt, oder gar eine Rolle auf der Bühne 
tadellos durchführt, so wird Niemand bezweifeln, dass 
ihr Zustand dem Wachen ähnlicher ist als dem Schlaf, 
trotzdem sich bei genauerer Untersuchung herausstellt, 
dass der Zustand ihres Bewusstseins in vielen Punkten 
als ein gesteigerter oder vertiefter Traumzustand zu be- 
zeichnen ist. Beim Somnambulismus wird die Aehnlich- 
keit mit dem Wachen, beim Schlaf die Unähnlichkeit mit 
dem Wachen um so grösser, je tiefer er wird; je weniger 
tief Somnambulismus und Schlaf sind, desto ähnlicher 
sehen sich beide; je tiefer sie werden, d. h. je mehr sie 
ihre eigenartige specifische Natur hervorkehren, desto 
verschiedener und entgegengesetzter erscheinen sie. Der 
niedrigste Grad des Hypnotismus zeigt vollkommene 
Lethargie, also gar keinen Verkehr mit der Aussenwelt 
wie der Schlaf; erst im zweiten Grade, im kataleptischen 
Stadium öffnet sich das Ohr und die niedem Sinne, 
und erst im dritten Stadium, dem im engeren Sinne 
somnambulen, öffnen sich auch die Augen und beginnt 



— 193 — 

jener vollständige Verkehr mit der Aussenwelt, der auf 
den ersten Anblick vom Verhalten einer wachen Person 
nicht zu unterscheiden ist. 

Der Schlaf hingegen wird dem Somnambulismus 
nur dann ähnlicher, wenn er im Begriff ist, in denselben 
überzugehen, z. B. in dem Sprechen und Handeln der 
Schlafenden ; aber der sich selbst treu bleibende ruhige 
und tiefe Schlaf kennt solche Extravaganzen nicht, die 
schon einem gestörten Gleichgewicht des Nervensystems 
entspringen, wie der Somnambulismus auch. Es ist 
gleichgiltig ob, wie du Prel meint, der tiefe, oder, wie 
ich meine, der leichte Schlaf mehr dazu neigt, unruhig 
zu werden, d. h. in Uebergangsformen zum Somnambu- 
lismus hineinzugerathen , da man in beiden Fällen es 
schon mit zusammengesetzten Erscheinungen aus ver- 
schiedenen Gebieten zu thun hat; und ebenso gleich- 
giltig ist es fiir die hier behandelte Frage, ob der tiefe 
ruhige Schlaf traumlos ist oder nicht, ob mit anderen 
Worten nicht bloss das wache und das somnambule 
Bewusstsein im Schlafe Ruhe und Erholung geniesst, 
sondern die Bewusstseinsfunktion schlechthin. Letzteres 
kann wegen der beim Erwachen abreissenden Erinnerung 
niemals direkt constatirt werden (43); du Preis indirekter 
Beweis für die Behauptung beruht aber auf einem Cirkel- 
schluss, insofern er aus der vorausgesetzten Richtigkeit 
des Satzes folgert, d£iss auch der Somnambulismus im 
Wesentlichen nur ein vertiefter Schlaf sei, und hieraus 
dann wieder nach Analogie zurückschliesst, dass auch 
im natürlichen Schlaf ebenso wie im Somnambulismus 
das Erwachen des Traumbewusstseins proportional der 
Tiefe des Schlafes sein müsse (427, ^2, 37). Nach meiner 
Ansicht hingegen wird schon durch das Ruhebedürfniss 
des somnambulen Bewusstseins und dessen Befriedigung 
im Schlafe zur Genüge erwiesen, dass auch die das 
somnambule Bewusstsein vermittelnden Theile des Cen~ 

Hartmann, Moderne Probleme. 13 



— 194 — 

traln er vensy Sterns im tiefen Schlafe ruhen, so dass die 
dessen etwaige Träume vermittelnden Partien jeden- 
falls noch unterhalb der ersteren gesucht werden müssten. 

Worauf es hier ankommt, ist nur, zu constatiren, 
dass der natürliche Schlaf ein gesunder normaler, für 
Wache und Somnambule gleich unentbehrlicher Erho- 
lungszustand, der Somnambulismus aber ein abnormer, 
pathologischer, schlechthin entbehrlicher Zustand ist, 
dass femer der reine Schlaf mit wachsender Vertiefung 
den Schläfer immer mehr von der Aussenwelt abschliesst, 
der Somnambulismus dagegen mit wachsender Vertiefung 
den Somnambulen in eine dem wachen Zustand immer 
ähnlicher werdende sinnlich vermittelte Wechelbeziehung 
zur Aussenwelt setzt. Dies genügt, um einen speci- 
fi sehen Unterschied beider Zustände festzustellen, 
imd den Streit über die Stellung zwischen Wachen, 
Schlaf und Somnambulismus zu einem nebensächlichen 
zu machen. 

Ausser der Verwandtschaft des Somnambulismus mit 
dem wachen Zustand und dem gewöhnlichen Traum ist 
noch diejenige mit der Narkose und mit Nerven- und 
Geisteskrankheiten zu beachten. Die Narkotisirung durch 
Chloroform und Aether stimmt darin mit dem Somnam- 
bulismus überein, dass eine von der Peripherie nach dem 
Centrum fortschreitende Analgesie (Unempfindlichkeit 
für Schmerz) und scheinbar auch Anästhesie eintritt, 
dass das wache Bewusstsein schwindet und unwillkür- 
liche Träume sich entfalten; ein ähnlicher Zustand der 
Analgesie trat auch bei den höchsten Graden der Folter 
manchmal ein, der dann der Hilfe des Teufels zuge- 
schrieben wurde. Bei der Morphium- und Haschisch- 
Narkose ist die Analgesie weniger ausgesprochen, dafür 
aber das Traumleben gesteigert; insbesondere das Ha- 
schisch erzeugt eine Hyperästhesie des Gedächtnisses 
und eine Beschleunigung des Vorstellungsablaufes, wel- 






— 195 — 

che mit den gleichen Erscheinungen des somnambulen 
Traumlebens viel Aehnlichkeit hat. Alle Narkosen unter- 
scheiden sich aber dadurch vom Somnambulismus, dass 
in ihnen für gewöhnlich und unter Ausschluss eines 
gleichzeitig eintretenden Somnambulismus der Verkehr 
mit der Aussenwelt abgeschnitten ist; nur eine unvoll- 
ständige Narkose, welche noch einen Rest des wachen 
Bewusstseins übrig lässt, macht solchen Verkehr mög- 
lich. Auf der Verwandtschaft dieser narkotischen Zu- 
stände mit dem Somnambulismus beruht es, dass in 
nervösen Organisationen, die zum Somnambulismus 
neigen, derselbe durch narkotische Mittel hervorgerufen 
werden kann (Pythia, Hexenfahrten u. s. w.). Die Menge 
von Chloroform, die Jemand zur Narkose braucht, ist 
zugleich ein Gradmesser seiner Empfänglichkeit für 
magnetische Hypnotisirung, und die Blutbeschaffenheit 
eines hungernden Organismus erleichtert in gleichem 
Masse die Narkose wie das Magnetisiren und den spon- 
tanen Eintritt von Uebergangsformen zwischen Traum 
und Somnambulismus. 

Von den pathologischen Zuständen des Nerven- 
systems bietet sich zunächst die constitutionelle Sensi- 
tivität zum Vergleich dar. Während „Sensibilität" die 
Reizempfänglichkeit der Empfindungsnerven bezeichnet, 
insoweit sie auf einem feinem Bau der Endorgane (Sinnes- 
werkzeuge) beruht, bedeutet das Wort „Sensitivität" 
eine abnorme Reizempfänglichkeit, welche nicht auf der 
Verfeinerung der Sinneswerkzeuge, sondern auf der 
Hyperästhesie der Empfindungsnerven und der ihre Ein- 
drücke verarbeitenden Centralorgane beruht. Es giebt 
abnorme Naturen, welche bei vollem Tagesbewusstsein 
die unglaublichsten Dinge wahrnehmen, sowohl Vorgänge 
in ihrem eigenen Organismus, als dynamische Einflüsse 
der Umgebung, z. B. das Vorhandensein einer Katze im 
Zimmer, oder gewisse Krankheiten anwesender Personen, 

13* 



oder die relativeij elektrochemischen Werthe einer Reihe 
von eingewickelten Stoffen. Es mag sein, dass eine ge- 
wisse Beschaffenheit des Nervensystems für alle Arten 
von Empfindimgen die Reizempfanglichkeit erhöht; aber 
es ist doch durchaus nicht nöthig, dass die Sensitivität 
für Gefühls-, Geruchs-, Gehörs- und Gesichtsempfin* 
düngen immer Hand in Hand gehen, oder gar den 
gleichen Grrad von Steigerung aufweisen muss. Die 
Thatsache, dass Sensitivität auch in dem gewöhnlichen 
wachen Bewusstseinszustand vorkommt, lässt erkennen^ 
dass, wenn auch die abnormen Bewusstseinszustände 
(wie Traum, Somnambulismus, Irrsinn etc.) häufig mit 
Schwellenverschiebung verbunden auftreten, doch dieses 
Symptom weder ausreichend zu ihrer Charakterisirung 
heissen, noch als ausreichende Ursache ihres Eintritts 
angesehen werden kann. 

Der Somnambulismus zeig^ eine Sensitivität insbe- 
sondere für Empfindungen des Gemeingefühls (122, 141)^ 
zum Theil auch für soche des Geruchs und Geschmacks 
(246, 389), wogegen das Gehör unverändert zu bleiben 
scheint und die Reizempfanglichkeit für Gesichtswahr- 
nehmungen noch im zweiten, kataleptischen Stadium 
ganz aufgehoben ist und erst im dritten, somnambulen 
Stadium zugleich mit der nun auffallig erhöhten Haut- 
empfindlichkeit wieder erwacht. Es ist also im Somnam- 
bulismus die Empfindungsschwelle der niedem Sinne 
emporgeschraubt > die der höheren theils im verändert, 
theils heruntergerückt, und es ist demnach ebenso 
ungenau von einer Herabsetzung der Empfindungs- 
schwelle im Allgemeinen, wie von einem Geschlossen- 
sein der äusseren Sinne oder einem vom Sinnesapparat 
unabhängigen Bewusstsein in diesem Zustand zu reden 
(146, 441). Eine Verschiebung der Empfindimgsschwelle 
findet zwar statt, aber für verschiedene Sinneswahr- 
nehmungen in ungleichem Masse und zum Theil sogar 



— 197 — 

In entgegengesetztem Sinne, und keine Art von Sinnes- 
-wahraehjaungen fehlt im eigentlich somnambulen Sta- 
dium des Hypnotismus ganz, weder die Tastempfin- 
dung'en, welche zur Wahrung des Gleichgewichtes un- 
-entbehrlich sind, noch die Gesichtseindrüdce, ohne welche 
eine Somnambule sich in einer ihr unbekannten Um- 
gebung unmöglich nrit Sicherheit bewegen konnte. Eine 
Somnambule mit geöffiieten Augen liest auf Befehl ein 
ihr vorgehaltenes Buch fliessend vor, während sie bei 
geschlossenen Augen auf den gleichen Befehl nur un- 
verständliche Worte murmelt Die Behauptung, dass sie 
nicht xtnt den geöffiieten Augen, sondern etwa mit dem 
Sonneng^flecht läse, stände logisch auf gleicher Stufe 
mit der, dass sie die Worte nicht mit dem Kehlkopf 
und der Zunge bilde, sondern mit dem Magen. Auf den 
Einfall, dass eine Somnambule tmt fest zugedrückten 
Ohren nicht mehr mit dem Gehörorgan die Worte des 
vor ihr stehenden Magnetiseurs v«mehme, konnte 
Schopenhauer nur darum kommen, *) weil er nicht daran 
dachte, sich durch den Versuch zu überzeugen, dass man 
mit fest zugedrückten und verstopften Ohren noch 
ziemlich ebenso gut hört, wie mit offenen. Das Vor- 
kommen des Hellsehens wird selbst bei hoch gesteiger- 
tem Somnambulismus immer nur als sporadischer Aus- 
nahmefall anzusehen sein, aber nicht als ein fortdauernder 
Zustand, aus d^m alle ansdbeinenden Sinneswahmeh- 
mungen zu erklären wären. 

Der psychologische Unterschied zwischen Sensiti- 
vität und Somnambulismus ist nicht in der Ungleich- 
mässigkeit der Schwellenverschiebimg für verschiedene 
Sinne, sondern darin zu sehen, dass die gewöhnliche 
Sensitivität auf ein wachen, die somnambule auf ein 
träumendes Bewusstsein trifft, und dass in Folge dessen 



♦) Farerga 2. Aufl. I. S. 262 (vgl. S. 264). 



— igB — 

der Sensitive seine Sinnnseindrücke von Phantasiebildef n 
unterscheiden kann, der Somnanibide nicht. Daher kommt 
es, dass der Somnambule Phantasiebilder von Sinnes- 
eindrücken, welche durch Ideenassociation aus Empfin- 
dungen ganz anderer Sinnesgebiete entstanden sind, für 
reale Sinneswahmehmungen hält *(z. B. das Phantasie- 
bild eines Wohlgeschmacks oder einer Amputation, die 
der Magnetiseur ihm bloss einredet, oder die Bilder von 
Gestalten und Stimmen, die nur Personificationen oder 
Symbolisirungen organischer Gefühlsreize sind), während 
energische Sinneseindrücke, die zu dem momentanen 
Inhalt seines Traumbewusstseins keine Beziehung haben,, 
von diesem gar nicht appercipirt werden (z. B. eine wirk- 
lich stattfindende Operation, oder ein intensiv schmecken- 
der StoflF auf der Zunge, oder die den geöffneten Augen 
sich darbietende Umgebung). Die Verwandtschaft des 
Somnambulismus mit der Sensitivität macht es erklärlich,, 
dass wiederholter Somnambulismus das Nervensystem 
sensitiv macht, d. h. einen geringeren Grad der somnam- 
bulen Sensitivität als dauernden Zustand zurücklässt. 
Die Sensitivität ist aber ein pathologischer, bei Unwohl- 
sein sich steigernder {22^) Zustand, der für unser prak- 
tisches Leben mit den grössten Unannehmlichkeiten 
verknüpft ist (197), und häufig mit einer Schwächung 
des Gedächtnisses Hand in Hand geht (310), also ein 
Zustand, dessen Herbeiführimg und Steigerung sorgfaltig 
zu vermeiden ist. 

Die Verwandtschaft des Somnambulismus mit Hyste- 
rie, Epilepsie, Katalepsie, Ohnmacht, Starrsucht, Schein- 
todt, Todeskampf, Fieberdelirien, Veitstanz und den ver- 
schiedenen Arten des Irrsinns zeigt eine Anzahl sich 
kreuzender Symptome; alle schwereren Erkrankungen 
des Nervensystems disponiren zum spontanen Eintritt 
und zur Empfänglichkeit für die künstliche Erzeugung 
des Somnambulismus, wie umgekehrt ein häufiges Her- 



— IQ9 — 

vorrufen des somnambulen Zustandes künstliche Hysterie 
erzeugt (nach Richet), den Geist und Körper zerrüttet 
und zu allen Arten von Nervenleiden prädisponirt. 

So lange ein Nervenleiden besteht, gelingt es dem 
Magnetiseur mit Leichtigkeit, den Somnambulismus her- 
vorzurufen; schreitet aber die Genesung fort, so wird 
das Mag^etisiren des Reconvalescenten immer schwie- 
riger (239), bleibt aber in Folge der Gewöhnung des 
Organismus immer noch leichter, als es vor Eintritt der 
Krankheit war. Das weibliche Geschlecht, das bei seinem 
geringeren Uebergewicht des Grosshims über das sonstige 
Centralnervensystem leichter zu decentralisirender Des- 
organisation des letzteren, d. h. zu Nervenleiden, hin- 
neigt, ist auch mehr prädisponirt für das Auftreten von 
natürlichem und die Herbeifiihrung von künstlichem Som- 
nambulismus, insbesondere der höheren Grade desselben. 

Die Gleichheit der körperlichen Symptome bei Ka- 
talepsie und Somnambulismus ist in die Augen springend; 
der Tonus der Muskeln genügt, um jede einem Gliede 
gegebene Stellung zu behaupten, ohne dass Krampfzu- 
stände vorhanden sind (Wachsstarre). Aber der Unter- 
schied zwischen Katalepsie, Starrsucht, Scheintod einer- 
seits und Somnambulismus andererseits ist ebenso in 
die Augen fallend : die Bewegungslosigkeit dort und die 
automatenartige Beweglichkeit nach Anleitung des un- 
willkürlichen Inhalts des Traumbewusstseins hier. Die 
automatische, traumgeleitete Beweglichkeit ist dagegen 
im Veitstanz vorhanden, sobald die gewöhnlichen Krämpfe 
sich zu ekstatischen Convulsionen ausbilden, und die Ge- 
schichte der religiösen Verirrungen zeigt in allen Ländern 
und Glaubenskreisen ähnliche Bilder solcher anstecken- 
den Zustände, wie sie auch in Fällen des spontanen 
Somnambulismus häufig beobachtet werden. Manche 
Theoretiker des Somnambulismus sind soweit gegangen, 
eine Menge Formen der schweren Nerven- und Geistes-» 



— 200 — 

krankheiten für regellose Formen des Somnambulismus 
zu erklären (243, 266, 366); wenn dies richtig wäre, so 
würde der pathologische Charakter des Somnambulis- 
mus in ein noch helleres Licht dadurch gestellt, als 
wenn, wie ich annehme, in vielen Fällen bloss eine Ver- 
quickung somnambuler Zustände mit anderen verwandten 
Störungen des nervösen Gleichgewichts stattfindet. 

Gehen wir zu den psychischen Symptomen über, 
so zeigt sich die Hyperästhesie der Erinnerung nicht 
nur im Somnambulismus und dem gewöhnlichen Traum, 
sondern auch in Fieberdelirien, in manchen Fällen der 
Hysterie, des Irrsinns, der Incubationsperiode mancher 
Gehimkrankheiten und im Todeskampf. Wenn eine Som- 
nambule die Aufschriften der Strassenschilder aus dem 
Heimatsort ihrer Jugend angeben kann, wenn sie ein- 
mal Gelesenes wörtlich hersagt, wenn sie die lateinischen 
oder griechischen Recitationen oder die Violinübungen 
früherer Stubennachbarn nachahmend wiederholt, so 
finden diese Leistungen eines hyperästhetischen Ge- 
dächtnisses ihre Analogien in den gleichen Erscheinungen 
bei Fiebernden oder Irrsinnigen, und hier wie dort stellt 
sich leicht die Täuschung ein, dass Reproductionen aus 
dem Gedächtniss, die man nicht als solche erkennt, un- 
mittelbare Neuproductionen seien, so dass dann leicht 
die Reproductionen vergangener Ereignisse, an welche 
die Erinnerung (d. h. Wiedererkennung) fehlt, als Weis- 
sagungen auf die Zukunft gedeutet werden können. 

Hand in Hand mit der Hyperästhesie der Erinnerung 
geht nicht selten eine Beschleunigung des Vorstellungs- 
ablaufs; wahrscheinlich sind beide, die Erleichterung und 
die Beschleunigung des Vorstellungswechsels durch Ideen- 
association, coordinirte Wirkungen derselben Ursache, 
einer Hyperästhesie des functionirenden Organs (G^hirn- 
theils). Wie die Zeit des Gehirnreflexes zwischen Em- 
pfindung und motorischer Reaction, so ist auch die 



— 201 — 

<iurchschnittliche Zeit, die vom Auftauchen einer Vor- 
stellung bis zum Hervorrufen der folgenden durch Ideen- 
association v^-streicht, bei jedem Individuum eine andere, 
und bei demselben Individuum je nach seinem Befinden 
und seiner Stimmung (Frische oder Ermüdung, Sättigung 
oder Nüchternheit, intellectueller Freiheit oder Grenjüths- 
beklommenheit) erheblichen Schwankungen (etwa von 
2 bis */i s Secunde) schon im wachen normalen Bewusst- 
s^nszustand unterworfen. Diese Schwankungen bewegen 
sich in noch weiteren Grenzen im Schlaf und den ab- 
normen Zuständen des Nervensystems. In Fieberdelirien, 
in maniacaUschen Delirien, im Haschischrausch und im 
Todeskampf (insbesondere der Ertrinkenden) erreicht 
die Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie 
«inen Grad, der mit Ideenflucht- bezeichnet wird, den 
man aber bei der sinnlich-anschaulichen Beschaffenheit 
solcher unwillkürlich vorüberziehenden Vorstellungsge- 
bilde vielmehr „Bilderflucht" nennen sollte. Indessen 
sind die Berichte über das Vorüberziehen des gesamm- 
ten Lebens von dem Bewusstsein Ertrinkender denn 
doch nur auf typische Hauptmomente des Lebens zu 
beziehen, und deren können in 60 bis 180 Secunden 
allerdings eine beträchtliche Zahl (720 bis 2160) auf ein- 
ander folgen, ohne die Maximalgeschwindigkeit des 
wachen Vorstellungsablaufs auch nur zu überschreiten.*) 
Ein weiteres psychisches Symptom, welches dem 
Somnambulismus (und dem Traum) mit Fieberdelirien, 



*) Das Gleiclie gil für Traume, in -denen ein äusserer Sinnenreiz in 
•den Traum ausnahmsweise einmal in der Art dramatisch verwoben wird, 
•dass die letzten Glieder des Traumes durch die Pointe bedingt erscheinen ; 
auch hier genügen die 2 — 3 Secunden, die von der Perception des Ge- 
hörseindrucks (z. B. eines Schusses) im untersten Perceptionscentrum für 
Gehörseindrücke bis zur Perception desselben durcli das Organ des Traum- 
be\nTisstseins sehr wohl verstreichen können (S. 90 unten bis 91 oben), 
aim 24—36 Vorstellungsbilder auf einander folgen zu lassen. 



— 202 

Haschischträumen und Geistesstörungen gemeinsam ist, 
ist die dramatische Spaltung. Wenn eine Gedächtniss- 
vorstellung zwar reproducirt wird, aber ohne Wieder- 
erkennung, d. h. ohne Erinnerung, so nimmt das wache^ 
besonnene Bewusstsein dieselbe hin als eine aus dem 
Unbewussten auftauchende, deren Herkunft zunächst 
problematisch bleibt, vermuthet aber von vornherein, 
dass sie aus dem Gedächtniss stammen werde; oft hat 
man auch das Gefühl, sie schon gehabt zu haben, also 
das Bewusstsein, dass sie Gedächtnissvorstellung ist, 
ohne ihr doch in der Vergangenheit durch Verknüpfung 
mit Ort, Zeit und näheren Umständen ihres früheren 
Auftretens einen bestimmten Platz anweisen zu können 
(284). Das träumende Bewusstsein, das dieser Besonnen- 
heit ermangelt imd statt dessen allen Gedankengehalt 
in sinnlich-anschauliche Formen giesst (33), verbildlicht 
(50)» symbolisirt (70) und personificirt (99), projidrt eine 
Gedächtnissreproduction , die es nicht als solche zu re- 
cognosciren vermag, gern nach aussen, und legt sie 
Traumgestalten in den Mund; dass irre Bewusstsein 
verfährt bei höheren Graden der Phantasieerregung 
ebenso, bei geringeren Graden, die zur Gestaltenpro- 
jection (Gesichtshallucination) nicht ausreichen, verlegt 
es wenigstens den Gedankengehalt in von aussen kom- 
mende Stimmen (Gehörshallucination). 

Die Bruchfläche dieser dramatischen Spaltung ist 
also die Scheidelinie zwischen Gedächtnissreproduction 
und Erinnerung (291); was das Traumbewusstsein als 
sein Eigenthum recognoscirt, nimmt es auch als solches, 
als geistigen Besitz und Zubehör seines Ich für sich in 
Anspruch, was es nicht zu recognosciren vermag, aber 
trotzdem als seinen Bewusstseinsinhalt vorfindet, lässt 
es auch nicht als das Seinige gelten und projicirt es 
auf andere Traumgestalten. Aus dem Unbewussten 
stammt also gleichmässig aller Inhalt des Traumbe- 



— 203 — 

wusstseins, sowohl der dem Ich als der dem Nichtich 
zugetheilte, und Alles gehört gleichmässig dem Inhalt 
des Traumbewusstseins an; auch das Ich des Träumers 
umfasst nur einen kleinen Theil des Gesammtinhalts des 
Traumbewusstseins, und auch dieser dem Ich zugewiesene 
Theil ist ein ebenso unwillkürlicher Ausfluss aus dem 
Quell des Unbewussten, wie der in's Nichtich (Aussen- 
welt und Traumgestalten) hinausprojicirte Theü. Des- 
halb ist es unzulässig, wenn du Prel die Bruchfläche 
der dramatischen Spaltung für zusammenfallend erklärt 
mit der psychophysischen Schwelle zwischen Bewusstem 
und Unbewusstem (96, loi), oder wenn er behauptet, 
dass alle Verstandesprocesse, die den Charakter eines 
Einfalls haben, im Traume zur dramatischen Spaltung 
führen (106). Gerade die productiven Einfälle vertheilen 
sich auf das Ich des Träumers und die bereits gegebenen 
Traumgestalten, je nachdem die Situation des Traumes 
es verlangt, d. h. je nachdem sie einem Vorstellungs- 
complex associativ zugehören, welcher dem Traum-Ich 
oder anderen Traumfiguren bereits zugetheilt ist. Aber 
wohl niemals werden solche productive Einfalle zur Ab- 
spaltung neuer Traumfiguren veranlassen; denn bei 
ihnen fehlt ja eben die Scheidelinie zwischen Repro- 
duction und Erinnerung, welche allein massgebend als 
Bruchfläche der Spaltung ist, und welche etwas ganz 
Anderes ist als die „psychophysische Schwelle zwischen 
Bewusstem und Unbewusstem" im Allgemeinen. 

Es ist die niedrigste Form der dramatischen Spaltung^ 
wenn ein reproducirter Gedächtnissvorrath, der nicht 
als solcher wiedererkannt ist, in fremde Traumgestalten 
hinausprojicirt wird; man sollte in diesem Falle, streng 
genommen, noch nicht von dramatischer Spaltung, 
sondern von dramatischer Verth eilung des Bewusst- 
seinsinhalts auf das Ich und das Nichtich des Traum- 
bewusstseins sprechen. Dies Verhältniss bleibt auch dann 



— 204 — 

noch dasselbe, wenn die einer Traumfigur in den Mund 
gelegte Gedachtnissvorstellung nach der Aeusserung 
derselben dann als eigenes, nur zeitweilig vergessenes 
Wissen in's Ich zurückgenommen wird, feteressanter 
sind jene Spaltungen, bei welchen nicht mehr das re- 
producirte Vorstellungsmaterial, sondern die eigene 
Traumfigur, das Traum-Ich gespalten und in mehrere 
Ichs zerthfeilt wird, «twa als Acteur auf der Bühne und 
als Zuschauer im Parterre; derartige Verdoppelungen 
kommen auch bei Todtkranken und bei Irrsmnigen vor, 
welche letztere n^anchmal lange Disputationen mit ihrem 
visionär vor ihn^i stehenden Doppelgänger halten. 
Aber nicht immer weiss man sich im Traum identisch 
mit seinem zweiten Ich, imd das Selbstbewussts^n kann 
zwischen beiden schwanken, wobei dann immer das jewei- 
lige eigentliche Ich das zweite Ich als sein „anderes" Ich 
oder als „den Andern" betrachtet; beide Ich können auch 
wied^- in eins zusammenfliessen, wie wenn das Zu- 
schauer-Ich auf die Bühne springt, um nun selbst weiter 
zu agiren. Dem analog ist es eine gewöhnliche Erschei- 
nung, dass das somnambule Bewusstsein sich als das 
eigentliche Ich des somnambulen Zustandes von dem 
„anderen** Ich des wachen Zustandes, dessen Bewusst- 
seinsphäre es doch umspannt, wie von einer fi-emden 
Person unterscheidet, und diese Neigung, die eigene 
Persönlichkeit des wachen Lebens als ein andere, fremde, 
obwohl doch mit dem Ich wie ein Doppelgänger zu- 
sammengekoppelte anzusehen, wächst mit der Tiefe des 
Somnambulismus. 

Die Scheidelinie zwischen Reproduction und Erinne- 
rimg reicht zwar aus zur Feststellung der Bruchfläche 
für die einfache dramatische Spaltung zwischen Ich und 
Nichtich, aber nicht für die Feststellung der Bruchfläche 
für die Spaltung des Ich in ein doppeltes Ich, das „eigent- 
liche" Ich und „das andere"; die psychophysische 



— 205 — 

Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem, die 
schon für den ersteren Fall nur irrthümlicher Weise mit 
der Bruchfläche der Spaltung verwechselt werden konnte^ 
passt auf den letzteren Fall noch viel weniger, da der 
Bewusstseinsinhalt des „anderen" (normalen) Ich für das 
Bewusstsein des „eigentlichen" (somnambulen) Ich nichts 
weniger als unbewusst, sondern völlig bewusst, ja sogar 
in seiner Einordnung in die Erlebnisse der Vergangen- 
heit klar durchschaut und doch nicht als eigener Besitz, 
als Zubehör des „eigentlichen" Ich anerkannt wird. Man 
könnte sich denken, dass d^s einer fremden Traumfigur 
geliehene Gedächtnissmaterial in dem Falle, wenn es 
eine grössere zusammenhängende Gruppe von Vorstel- 
lungen ausmacht, dahin neigt, das Traumbewusstsein zu 
der Ahnung zu führen, dass das scheinbar Fremde doch 
nur sein verliehenes Eigenthum, somit die fremde Traum- 
figur nur ein Spaltungsproduct des eigenen Geisteslebens 
sei, was sich dann bildlich in dem widerspruchsvollen 
Gleichsetzen und Ungleichsetzen der anderen Figur mit 
dem Traum -Ich ausdrückt; aber dabei bleibt doch die 
Hauptbedingung unerwähnt, dass die abgetrennte Vor- 
stellungsmasse ausreichend und geeignet sein muss,. 
einem Ich als Unterlage zu dienen, was psychologisch 
nicht zu erklären ist. 

Begrifflich streng zu sondern von dem subjectiven 
Phänomen der . dramatischen Spaltung des Ich ist das 
objective Phänomen des altemirenden Bewusstseins. Ein 
solches kommt dann zu Stande, wenn verschiedene Be- 
wusstseinszustände, welche die Eigenthümlichkeit haben, 
nach stattgehabter Unterbrechung die Continuität des 
Bewusstseins aufrecht zu erhalten und ein in sich ge- 
schlossenes bewusstes Lebensganze zu bilden, mit 
einander abwechseln. Ein solcher Zustand ist das nor- 
male wache Bewusstsein, ein zweiter das somnambule 
Bewusstsein, ein dritter der Hochschlaf des somnam- 



— 2o6 — 

bulen Bewusstseins, ein vierter und fünfter kann endlich 
in verschiedenen Formen periodischer Geistesstörung 
auftreten, in welchen die Erinnerung an das bisherige 
wache Leben erlischt und ein von demselben völlig ab- 
getrenntes neues Leben begonnen und fortgeführt wird. 
Auch die Reihe der natürlichen Träume würde ein 
altemirendes Bewusstsein constituiren, wenn sie sich 
ebenso wie die Abschnitte des wachen Lebens, oder 
wie die Reihe der somnambulen Krisen oder die Reihe 
der bezüglichen L-rsinnsanfalle zu einem stetig zusam- 
menhängenden Erinnerungsganzen consolidirten. Die 
periodische Geistesstörung producirt für sich allein 
manchmal mehr als ein abgetrenntes Bewusstsein sieben, 
das mit dem wachen alternirt ; wechseln zwei getrennte 
Bewusstseinszustände des Irrsinns mit dem normalen 
wachen Bewusstsein ab und tritt zu diesen dreien noch 
der somnambule Zustand, so haben wir es mit einem 
vierfachen allernirenden Bewusstsein, d. h. mit einem 
vierfachen Geistesleben desselben Individuums zu thun 
<337~343)- 

Streng genommen kann von einem altemirenden 
Bewusstsein nur da gesprochen werden, wo weder der 
Zustand a vom Zustand b, noch der Zustand b vom 
Zustand a etwas weiss; diese Bedingung ist aber im 
Somnambulismus nur einseitig erfüllt, da das somnam- 
bule Bewusstsein den Gedächtnissinhalt des wachen nicht 
nur umspannt, sondern sogar in erleichterter Weise re- 
producirt (308, 312). Im Traum findet dieses Umspannen 
des wachen Bewusstseinsinhalts durch das Traurabe- 
~ ■'istsein üet Regel nach ohne Spaltung des Ichs statt, 
die Verdoppelung des Ich im Traume gehört zu 
seltensten Ausnahmen, bei denen vielleicht schon 
Ueberg.angsform zwischen Traum und Somnambu- 



1 



— 207 — 



lismus oder Traum und Wahnsinn*) anzunehmen ist. 
Im altemirenden Bewusstsein des Irrsinns fehlt in der 
Regel jede Umspannung der Vorstellungen des einen 
Zustandes durch das Bewusstsein des anderen und jeder 
der beiden Bewusstseinszustände weigert sich, die ihm 
von aussen dargebotenen Vorstellungen, sofern sie dem 
anderen angehören, als die seinigen anzuerkennen, oder 
überhaupt kennen zu wollen. Nur wenn der Irrsinn dem 
Traum sich annähert, d. h. Hallucinationen erzeugt, 
kommt es vor, dass das wahnsinnige Bewusstsein als 
ein anderes Ich aus der Person des Kranken (meist 
mit veränderter Stimme) redet und sich von dieser 
unterscheidet, womit dann die Illusion der Bessenheit 
gesetzt ist. Im Somnambulismus weigert sich nur das 
wache Bewusstsein, die Vorstellungen des somnambulen 
kennen zu wollen; das letztere aber kennt die Vorstel- 
lungen des ersteren wohl, erkennt sie aber nicht als die 
seines „eigentlichen" Ichs, sondern als die des „anderen" 
an. So nimmt ersichtlich der Somnambulismus in dieser 
Hinsicht eine Mittelstellung zwischen Traum und Irrsinn 
ein, halb dem einen, halb dem andern gleichend, und 
bemüht, die Unterschiede beider durch die dramatische 
Spaltung des Ich zu vermitteln, insofern durch dieselbe 
das alternirende Bewusstsein des Irrsinns in fingirter 
Weise trotz der Umspannung des altemirenden Be- 
wusstseinszustandes aufrecht erhalten wird. 

Es wird die Vermuthung nahe liegen, dass nicht 
nur hier, sondern überall, wo wir der dramatischen Spal- 
tung und Verdoppelung des Ich begegnen, dieser phan- 
tastische optische Dualismus eine symbolische Personi- 



*) Bekanntlich zeigt der Traum eine Menge Erscheinungen des Wahn- 
sinns und macht dadurch viele der gewöhnlichsten Irrsinnsformen für 
jeden, der auf seine Träume achtet, von innen heraus verständlich, so z. B. 
den Verfolgungswahn, verschiedene sexuelle Abnormitäten, Verbrecher- 
wahn, Grössenwahn u. s. w. 



— 208 — 

fication der physiologischen Thatsache ist, dass die phy- 
siologischen Hauptbedingungen zu einem alternirenden 
Bewusstsein vorhanden sind, wenn auch dasselbe wegen 
des Fehlens gewisser Nebenbedingungen meistens im 
latenten oder potentiellen Zustande verharrt. Anderseits 
werden wir annehmen dürfen, dass überall, wo ein alter- 
nirendes Bewusstsein besteht, auch die physiologischen 
Bedingungen für die dramatische Spaltung und Ver- 
doppelung des Ich gegeben sind, und nur das umspan- 
nende Uebergreifen des einen Bewusstseins über das 
andere hinzuzutreten braucht, um die Verdoppelung des 
Ich wirklich herbeizuführen ; die Richtigkeit dieses Satzes 
wird bestätigt in denjenigen Fällen des alternirenden 
Bewusstseins bei Geisteskranken, in denen die beiden 
Zustände nicht plötzlich wechseln oder durch trennende 
Bewusstlosigkeit geschieden sind, sondern allmälig in 
einander übergehen, wo sich dann stets im Uebergangs- 
gangsstadium das Gefühl der doppelten Persönlichkeit 
einstellt. — 

Nach allem vorher Angeführten sollte man es für 
unzweifelhaft halten, dass man es beim Somnambulis- 
mus mit einem nicht bloss abnormen, sondern schlecht- 
hin krankhaften Zustand des Organismus zu thun hat, 
mit einem Zustand, der nicht nur seiner Entstehungs- 
ursache nach, sondern afi und für sich pathologisch ist 
und deshalb auch nur pathologisch modificirte Functionen 
ermöglicht. Dabei ist freilich nicht ausgeschlossen, dass 
die Ergebnisse der psychischen Functionen dieses Zu- 
standes logisch wahr oder moralisch untadelig seien; 
z. B. wenn die pathologische Verfeinerimg der Wahr- 
nehmung das Material zu Erkenntnissen und unbewuss- 
ten Schlussfolgerungen liefert, welche dem wachen Be- 
wusstsein verschlossen bleiben, oder wenn das mora- 
lische Gefühl des Menschen durch die physische und 
psychische Analgesie des somnambulen Zustandes von 



209 — 

pathologischen Störungen befreit wird, welche es im 
wachen Zustande entstellen. Aber dieser relative Werth 
der Ergebnisse jener psychischen Functionen beweist 
doch nichts dagegen, dass dieselben an und für sich 
pathologischer Natur sind, wie du Prel meint (131, 137, 
278). Der Beweis dafür ist damit gegeben, dass auch 
andere pathologische Zustände, Sensitivität, Irrsinn u. s. w. 
g-elegentlich richtige und ungewöhnliche Ergebnisse durch 
ihre pathologischen psychischen Functionen zu Tage 
fördern. Anderseits würde die pathologische Natur des 
somnambulen Zustandes nicht hindern können, dass die 
Natur ihn unter Umständen als das kleinere von zwei 
Uebeln wählt, und dass die menschliche Absicht dieses 
Beispiel der Natur nachahmt, falls das Uebergewicht des 
zu beseitigenden Uebels und seine Beseitigung durch 
das gewählte Mittel zweifellos sind. 

Du Prel geht es wie so vielen Autoren, die sich 
anhaltend mit einem Gegenstande beschäftigt haben, er 
überschätzt dessen Bedeutung in jeder Hinsicht. So 
wenig es rathsam ist, nach der Weise der Alten die 
Träume auf ihren prophetischen Werth hin zu cultiviren, 
ebensowenig kann man es empfehlen, den Somnambu- 
lismus in ausgedehnterem Masse zu psychologischen 
Experimenten oder gar zu Heilzwecken zu benutzen. 
Wenn es wahrsagende Träume gibt, so müssen die- 
selben nach du Prel in tiefem Schlaf (36) stattfinden, 
von welchem wir gar keine oder nur eine durch den 
Halbschlaf vermittelte Erinnerung besitzen (49); der Halb- 
schlaf aber, der nur werthlose Phantasiebilder liefert 
(36, 51), droht die ohnehin schon symbolisirten Ahnungen 
des tiefen Schlafs noch zu verunstalten, wenn er sie 
einmal ausnahmsweise der wachen Erinnerung über- 
liefert. Die Jagd nach prophetischen Träumen würde 
deshalb sicherlich in der grossem Mehrzahl der Fälle, 
wo man einen solchen vermuthet und nach einer solchen 

Hartmann, Moderne Probleme. i/^ 



— 2IO — 

Vermuthung handelt, den Menschen zum Narren haben; 
gesetzt aber auch, man lernte einmal aus der Symbolik 
des Traums, dass man sich im Incubationsstadium einer 
noch nicht ausgebrochenen Krankheit befinde, so würde 
dadurch die glückliche Unwissenheit des Kranken nur 
um soviel früher zerstört ohne die Therapie zu erleich- 
tem, welche doch meist erst in den späteren Stadien 
einer Erkrankung eingreifen kann. 

Zur Erweiterung imserer psychologischen Kenntnisse 
über abnorme psychische Zustände wird man wohl thun, 
sich auf genaue Beobachtung des spontanen Somnam- 
bulismus zu beschränken; ich würde es eher für zu- 
lässig halten, an Menschen mit ihrer Zustimmung Vivi- 
sectionsexperimente zu machen, welche doch nur ihren 
Körper vorübergehend schädigen, als künstliche Geistes- 
störungen in ihnen zu erzeugen, welche erst bei öfterer 
Wiederholung interessantere Ergebnisse liefern, dann 
aber auch Körper und Geist dauernd zerrütten.*) Da 
der durch künstlichen Somnambulismus dem Nerven- 
system zugefügte Schaden eine zweifellose Thatsache, 
der durch ihn zu erzielende medicinische Gewinn aber 
theils illusorisch, theils zweifelhaft und unsicher ist, so 
wird jeder besonnene Arzt vor der Anwendung des 
Somnambulismus zu Heilzwecken zurückschrecken, ganz 
unabhängig davon, ob er sich denselben erklären kann 
oder nicht (237); denn die vorläufige Unerklärlichkeit 
der Wirkungsweise der meisten Heilmittel hat noch 
keinen Arzt von deren Anwendung abgehalten. Ausser- 
dem sind es noch Nebengründe, welche die medicinische 
Verwendbarkeit des Somnambulismus, selbst wenn man 



*) Die oben angeführten Versuche von Binet und F6r6 streifen be- 
reits an die Grenze des unheimlich Grausamen auch ohne Anwendung des 
Messers; sie liefern dafür aber auch durch Bestimmung der schmerzenden 
Stelle bei jeder Art von seitlich transferirter Himfimktion einen höchst 
schätzbaren Beitrag zur Lokalisation der Himfunktionen. 



— 211 — 



sie im Princip zidiesse, doch praktisch (ebenso wie die 
örtliche Anwendung des Heibnagnetismus ohn© Hypno- 
tisirung) auf Ansnahmefälle beschränken würde, nämlich 
die relative Unempfanglichkeit vieler Patienten für 
magnetische Einflüsse, di^ relative Seltenheit ausreichen- 
der magnetischer Kraft bei Aerzten und die rasche 
Krafterschöpfung der Magnetiseure bei erwerbsmässiger 
Thätigkeit. Wollte man aber nach den Vorschlägen 
Fahnestock's*) aUe Menschen darauf einüben, sich selbst 
willkürlich durch psychische Einflüsse in Somnambulis- 
mus versenken zu können, so wäre der dadurch im 
Nervensystem der Menschheit angerichtete Schade un- 
ermesslich, der Gewinn aber höchst zweifelhaft; denn ob 
bei schweren Verwundungen, Brandwunden, Schlangen- 
bissen, Neuralgien u. s. w. der auf Selbstsomnambuli- 
sirung Eingeübte im Stande bliebe, seinen psychischen 
Vorstellungsablauf so zu beherrschen, dass der Som- 
nambulismus auch wirklich eintrete, darüber hat Fah- 
nestock, wie es scheint, noch keine Versuche angestellt. 
Den Nutzen, den der Somnambulismus bringen 
kann, schlägt du Frei viel zu hoch an. Dass dauernde 
vollständige Schlafentziehimg ebenso wie Nahrungsent- 
ziehung den Menschen tödtet, ist zweifellos; aber es ist 
falsch, aus der Unentbehrlichkeit des Schlafs und der 
Nahrung zu schliessen, dass der Mensch sich desto besser 
befinden müsse, je mehr Schlaf und Nahrung man ihm 
zuführt (2 1 2). Dass Schlafsucht, die zu wochenlangem oder 
monatelangem Schlaf fiihrt, nicht nur nicht heilsam ist, 
sondern meist mit Blödsinn oder Tod endet, ist bekannt. 
Aber gesetzt auch, der Schlaf wäre um so heilsamer, je 
tiefer er ist, so wäre doch die daraus gezogene Schluss- 
folgerung du Preis falsch, dass der somnambule Schlaf 



♦) Statuvolence oder der gewollte Zustand. Von W. B, Fahnestock. 
Deutsch von Wittig. Leipzig 1883. 

14* 



— 212 



als der tiefere und intensivere auch heilsamer sein müsse 
als der natürliche (41). Denn erstens beruht dieser 
Schluss auf der falschen Voraussetzung, dass der Som- 
nambulismus eine Vertiefung des normalen Schlafes sei, 
und zweitens lässt sie ausser Acht, dass selbst, wenn 
er dies wäre, er doch nur eine krankhafte Vertiefung 
desselben, die sich niemals an Heilsamkeit mit dem ge- 
sunden Schlaf, selbst solchem von geringerer Tiefe, 
messen kann. So ist z. B. der durch Chloral, Mor- 
phium u. s. w. erzeugte Schlaf tiefer als der gewohn- 
liche, und doch sind fünf Stunden natürlichen Schlafes 
erquickender als sieben Stunden eines solchen künst- 
lich erzeugten; wer aber keinen natürlichen Schlaf finden 
kann, greift schliesslich doch zu solchen Mitteln und darf 
dann wohl von ihnen rühmen, dass sie nach langer Schlaf- 
losigkeit ihn wahrhaft erquickt haben. So mögen auch 
Somnambulen, die an Schlaflosigkeit leiden, das Er- 
quickende des somnambulen Schlafes rühmen, der ihnen 
einen gewissen Ersatz gewährt; ja sogar sie können, 
wenn sie an schmerzhaften oder quälenden Zuständen 
und Verstimmungen des Nervensystems leiden, mit Recht 
dem Hypnotismus wegen seiner Analgesie in ihrem sub- 
jectiven Empfinden einen Vorzug vor dem natürlichen 
Schlaf einräumen, ebenso wie sie ihm den Vorzug vor 
dem ihnen unbehaglichen wachen Zustande geben (493). 
Aus dieser subjectiven Bevorzugung des somnambulen 
Zustandes durch die Somnambulen auf seine objektive 
Heilsamkeit zu schliessen, wäre ebenso voreilig, als 
wenn man aus dem Verlangen eines Morphiumsüchtigen 
nach neuer Narkose auf die HeUsamkeit der Morphium- 
narkose schliessen wollte. Dass der somnambule Zu- 
stand nicht erquickender sein kann, als der gewöhnliche 
Schlaf, wird dadurch objectiv erwiesen, dass er den 
letzteren nicht überflüssig macht, vielmehr bei andauern- 



— 213 — 

dem Somnambulismus das Bedürfhiss nach natürlichem 
Schlaf ganz ebenso eintritt, wie im wachen Zustande (332). 

Uebrigens stehen den Aeusserungen der Somnam- 
bulen über die Erquicklichkeit des somnambulen Zu- 
standes ebensoviel Aeussenmgen gegenüber, dass der- 
selbe nicht gut für sie sei, und dass Alles vermieden 
werden solle, was ihren Rückfall in diesen Zustand her- 
beiführen oder begünstigen konnte (369); nur die Aeusse- 
rungen der letzteren Art sind unverdächtige Kundge- 
bungen des Heilinstinkts, während bei denen der ersteren 
Art der Verdacht nahe liegt, dass der Heilinstinkt durch 
den Drang nach relativer Behaglichkeit des subjektiven 
Befindens verdunkelt werde. Letzteres wird dadurch 
erhärtet , dass die Somnambulen mit dem Schwinden 
ihrer subjektiven Beschwerden auch aufhören, nach dem 
somnambulen Zustand Verlangen zu tragen; wenn er 
aber erquicklich und unschädlich zugleich wäre, so 
müssten Alle, die ihn kennen gelernt haben, nach seiner 
Wiederholung Verlangen tragen, gleichviel, ob sie ge- 
sund oder krank wären. Wenn der Somnambulismus 
darum heilsamer wäre als der Schlaf, weil er tiefer, 
intensiver als dieser ist, so müsste er um so heilsamer 
sein, je tiefer er ist, am heilsamsten also als Hochchlaf; 
das Gegentheil davon ist wahr: der somnambule Zu- 
stand ist um so schädlicher in seinen Nachwirkungen 
auf den Organismus, je tiefer er ist, und der geradezu 
lebensgefährliche Hochschlaf wird von den Somnam- 
bulen selbt gefürchtet (365). Gegen die prahlerischen 
Berichte der Magnetiseure über wunderbare Heilimgen 
und Regenerationen in anhaltendem Somnambulismus 
ist mehr kritische Vorsicht nöthig, als du Prel anwendet 
(212, 254), und das Gleiche gilt für die wunderbaren 
Wirkimgen der von den Somnambulen für sich oder 
Andere verwendeten Heilmittel. 

Da der Somnambulismus ein krankhafter, von dem 



— 214 — 

gesunden Schlaf specifisch verschiedener Zustand ist, 
der den letzteren keineswegs entbehrlich macht, wohl 
aber um so schädlichere Nachwirkungen hinterlässt, je 
tiefer er war und je öfter er sich wiederholte, so ist 
gegen jede Behauptung heilsamer Wirkungen dieses 
Zustandes die äusserste Vorsicht geboten. Der spontane 
Somnambulismus ist zunächst ebenso zweifellos ein 
Symptom einer Erkrankung des Nervensystems wie 
Epilepsie, Veitstanz oder Irrsinn; nur die unkritische 
vorgefasste Meinung von der Heilsamkeit des Somnam- 
bulismus kann zu dem Irrthum verleiten, in jedem Fall 
von spontanem Somnambulismus eine Aeusserung der 
Naturheilkraft zu sehen. Dabei bleibt natürlich die Mög- 
lichkeit nicht ausgeschlossen, dass in einzelnen beson- 
deren Fällen der spontane Eintritt des Somnambulismus 
in der That als eine Selbsthilfe der Natur aufzufassen 
ist, z. B. um durch Analgesie dem Organismus eine 
Erholungspause von unerträglichen Schmerzen zu gönnen, 
oder um einen Anfall von nervöser Gleichgewichtsstö- 
rimg in milderer Form verlaufen zu lassen (larvirte Epi- 
lepsie, larvirter maniakalischer Anfall). Ebenso ist es 
nicht unmöglich, dass die im Somnambulismus statt- 
findende Funktionsausschaltung gewisser Theile des 
Organismus und die Veränderung in den Bahnen des 
Blutstroms Gelegenheit geben zur Förderung regene- 
rativer Vorgänge. Im ersteren Sinne könnte dem Som- 
nambulismus ein symptomatischer Werth (zur Vor- 
beugung oder Unterdrückung bedrohlicher nervöser An- 
fälle), im letzteren Sinne ein Werth für die Linderung 
der Krankheitsursachen zugesprochen werden. 

Aber was so für den spontanen Somnambulismus 
gelten könnte, ist darum noch nicht ohne Weiteres auf 
den künstlichen Somnambulismus zu übertragen, wie 
du Prel annimmt (140); denn wer steht dafür, dass der 
künstliche Somnambulismus genau derselbe Zustand ist. 



— 215 — 

wie der natürliche, dass er der Natur, die es unterlassen 
hat, ihn spontan herbeizuführen, überhaupt willkommen 
ist, und dass er genau im rechten Grade imd genau zur 
rechten Zeit angewendet wird? Insbesondere der mehr 
am Tage liegende prophylaktische Werth als sympto- 
matisches Palliativmittel hängt ganz davon ab, dass der 
Kranke den Magnetiseur in jedem Augenblick bei sich 
hat, was doch viel schwerer ist, als ein Chloral- oder 
Morphiumpulver immer bei sich zu tragen. Selbst wenn 
die körperlichen Nachtheile der narkotischen Mittel 
ebenso gross wären wie die des Somnambulismus (was 
entschieden zu bestreiten ist), würden sie doch, da sie 
für die Gesundheit dasselbe mit grösserer Sicherheit 
leisten, den Vorzug verdienen, weil die Gefahren für 
Geist und Charakter bei ihnen ungleich geringer sind. 
Nicht minder als den HeUwerth des Hypnotismus 
überschätzt du Prel den Werth der somnambulen Sen- 
sitivität und der durch sie vermittelten Diagnose eigener 
und fremder Körperzustände. Die Art, wie die Som- 
nambule ihre Körpertheile fühlt, ist unmittelbar nicht 
in Worten auszudrücken, ja nicht einmal unmittelbar 
vom Bewusstsein zu vergegenständlichen; erst der in 
Anschauimgsbilder umgewandelte, d. h. in Gesichtsein- 
drücke übertragene Gefühlseindruck ist in Worten 
wiederzugeben. Gesetzt den Fall, der Gefiihlseindruck 
von der relativen Lage und dem Zustand der eigenen 
Körpertheile wäre genau und bestimmt, so würde er 
doch bei der unwillkürlichen Uebertragung in ein An- 
schauungsbild zum ersten Mal und bei der Uebersetzung 
des letzteren in Worte zum zweiten Mal entstellt. Ent- 
weder fehlt es der Somnambule an Worten und tech- 
nischen Ausdrücken zur Beschreibung ihres Bildes, so 
dass der Deutlichkeitsgrad ihrer Anschauung gar nicht 
zu controliren ist ; oder sie beherrscht solche Ausdrücke, 
dann besitzt sie sicherlich auch einige unvollkommene 



— 2l6 — 

Kenntnisse, welche ihrer vermeintlichen Selbstschau 
Grundlage und Richtung geben und deren Ergebnisse 
entweder verfälschen oder ergänzen. Aber schon der 
Gefühlseindruck selbst ist dunkel und unsicher, und es 
bedarf schon einer Uebung durch häufige Wiederholung 
oder eines ausnahmsweise hohen Grades von Somnam- 
bulismus oder einer örtlichen Steigerung der Hyper- 
ästhesie durch örtliche Magnetisirung (179)*), um die 
totale, beziehungsweise lokale Selbstschau zu einer 
einigermassen bestimmten zu machen. 

Abgesehen von der natürlichen Unbestimmtheit der 
Diagnose (198) und von ihrer Gefährdung durch Ein- 
mischung von abstrakten Gedächtniss- Vorstellungen 
(178) und Phantasiespielen (171) wird deren Werth noch 
durch weitere Fehlerquellen verringert. Einerseits kann 
nämlich der Magnetiseur durch vorzeitiges, oder zu- 
dringliches oder ungeschicktes Fragen die Somnambule 
zwingen, seinen Ansprüchen durch erquälte Antworten 
zu genügen, die sie theils nach ihrem eigenen anato- 
mischen Kenntnissstand, theils nach dem Wortlaut der 
Fragen eingerichtet (178), und andererseits können, 
wenn die Annahme der Gedankenübertragung vom 
Magnetiseur auf die Somnambule richtig ist, sowohl die 
bewussten Gedanken des Magnetiseurs über die von 
ihm erwarteten Antworten als auch die unbewussten 
Vorstellungen oder dunklen Ahnungen desselben über 
den Zustand der Kranken in diese durch den magne- 
tischen Rapport übergehen und ihm aus demselben zu- 
rücktönen, wie ein Echo, das er nicht als Echo erkennt 
(267). Hält der Magnetiseur vorsichtshalber seine Fragen 
zurück, bis die Somnambule spontane Aeusserungen 
über den Gesundheitszustand vorbringt (178), so wird 

*) Diese lokale magnetische Hyperästhesirung bildet das Gegenstück 
zu der lokalen Anästhesirung durch narkotische Mittel , und der lokalen 
magnetischen Anästhesirung (z. 6. bei Brandwunden). 



— 217 — 

er nur selten eine Diagnose zu hören bekommen, und 
dann noch eine sehr unvollständige und unbestimmte; 
geht er dann mit Fragen vor, so weiss er doch nicht,, 
was aus dem gesteigerten Körpergefiihl der Somnam- 
bule und was aus anderen Quellen stammt. Somnam- 
bule zur Diagnose fremder Personen zu benutzen, bleibt^ 
ob für Geld oder umsonst geübt, immer ein Missbrauch 
ihrer Person, der sie schwächt und angreift und gegen 
den sie sich mit Recht sträuben (204 — 205). Wäre die 
Ausnutzung der somnambulen Sensitivität für Diagnosen 
etwas Unschädliches und wirklich Werthvolles, so wäre 
nicht abzusehen, warum ein Magnetiseur, der seine 
Somnambule (als Frau, Tochter, Pflegling u. s. w.) unter- 
hält, nicht ebenso gut wie ein consultirender Arzt für 
die gelieferten Diagnosen Honorar annehmen sollte, 
zumal sie ja von dem Inhalt der Sitzungen imd ihrer 
Entlohnung nichts zu erfahren brauchte (370). 

Die Behauptung du Preis, dass die somnambule 
Selbstschau viel werthvollere Aufschlüsse über die Ana- 
tomie des Menschen als der Leichenbefund, und allein 
werthvoUe Aufschlüsse über die physiologische und 
pathologische Oekonomie des Menschen zu geben im 
{Stande sei, weshalb in der Vivisection nichts als nutz- 
lose Grausamkeit zu sehen sei (193), resumirt seine 
Ueberschätzung der somnambulen Selbstschau in dra- 
stischer Form und verkennt die Nothwendigkeit, sich 
der schwer zu erreichenden Wahrheit von möglichst 
vielen Seiten her zugleich anzunähern. Nach meiner 
Ansicht ist der Missbrauch von Somnambulen zu Dia- 
gnosen und Heilverordnungen für dritte Personen eben- 
so unbedingt auszuschliessen , wie öffentliche Vorstel- 
lungen; auf dem Gebiet der Selbstdiagnose aber wird 
nur ganz ausnahmsweise einmal eine in den selteneren 
Graden des Somnambulismus spontan eintretende Aeusse- 
rung einen diagnostischen Werth für den Arzt haben 



— 2l8 — 

können. Eine Erweiterung unserer anatomischen, physio- 
logischen und pathologischen Kenntnisse im Allgemeinen 
von den Aussprüchen der Somnambulen zu erhoffen, 
erscheint mir phantastisch imd mit den bisherigen Er- 
fahrungen im Widerspruch. Dagegen erkenne ich bereit- 
willig den Nutzen an, den das objektive Studium dieser 
pathologischen Zustände der Physiologie des Nerven- 
systems bringen kann und zum TheU schon gebracht 
hat. Derselbe würde noch ungleich grösser sein, wenn 
die Vivisection sich mit dem Somnambulismus redebe- 
gabter Individuen verbinden liesse, was leider nach den 
bisherigen Ansichten über die Zulässigkeit der Vivi- 
section bei Menschen nicht angeht. 

Aber selbst zugegeben, dass gelegentlich die som- 
nambule Selbstschau der ärztlichen Diagnose eine werth- 
voUe Ergänzung oder Berichtigung zuführt, so ist damit 
doch sehr wenig gewonnen; wäre jeder gxite Diagnostiker 
darum auch schon ein guter Arzt (176), so würde es 
uns nicht an guten Aerzten fehlen, da in der Diagnose 
unsere heutige Medicin ebenso weit vorgeschritten ist, 
als sie in der Heilung innerer Krankheiten ohnmächtig 
geblieben, ja sogar zur Erkenntniss ihrer Ohnmacht ge- 
langt ist. Steht schon den acuten constitutionellen Er- 
krankungen der Arzt machtlos gegenüber, so noch weit 
mehr den chronischen; allgemeine Kräftigung durch 
Diät und Hautpflege ist neben vorübergehender Linde- 
rung einzelner lästiger Symptome das einzige, was ihm 
der heutige Stand unserer Kenntniss zu leisten gestattet, 
insbesondere bei den chronischen Krankheiten des 
Nervensystems. Wie wenig nützt ihm da die Genauig- 
keit seiner eigenen Diagnose, und wie viel weniger die 
gelegentliche Unterstützung durch die Somnambule! — 

Nun darf freilich der Heilinstinkt der Somnambulen 
nicht ausser Acht gelassen werden; aber dieser wird 
sich meist unabhängig von somnambuler Selbstdiagnose 



— 219 — 

und nur ausnahmsweise im Zusammentreffen mit der- 
selben äusseren, besonders, wenn man spontane Aeusse- 
rungen abwarten will, denen allein einiger Werth zuge- 
schrieben werden kann (255). Abgefragte Heilverord- 
nungen spiegeln «fast immer nur die medicinischen An- 
sichten des Arztes wieder (267), welche mit den- 
jenigen seiner Zeit theils übereinstimmen (257), theils 
mehr oder weniger von ihnen abweichen, und zwar nicht 
bloss seine bewussten Gedanken und EntSchliessungen, 
sondern auch das von ihm Geahnte und noch nicht Er- 
fasste, oder das von ihm Gewünschte aber noch nicht 
Gewagte (231, 270). Aber auch die spontanen Selbst- 
verordnungen der Somnambulen sind mit so viel Fehler- 
quellen behaftet, dass man niemals wissen kann, ob und 
wie viel der Heilinstinkt dabei mitspricht. 

Erstens haben die meisten Laien mehr Kenntniss 
von Heilmitteln als von Anatomie, insbesondere Nerven- 
leidende, an denen schon viel herum curirt worden 
ist, und die oft eine Masse unverdauter medicinscher 
Kenntnisse aufgelesen haben (309); es ist daher kein 
Wunder, dass auch die Somnambulen die therapeutischen 
Systeme ihrer Zeit wenigstens den Grundzügen nach 
widerspiegeln (264), wenn ihre Aeusserungen auch mit 
dem Glauben imd Aberglauben der Volksmedicin mehr 
oder weniger gemischt sind. Ebenso wie die vermeint- 
lichen Intuitionen der Somnambulen über metaphysische 
und religiöse Dinge nur phantastisch gemodelte unbe- 
wusste Reminiscenzen aus dem ihnen geläufigen reli- 
giösen Vorstellungskreise sind (185), ebenso sind auch 
die vermeintlichen Intuitionen des somnambulen (oder 
träumenden) Heilinstincts in der allergrössten Mehrzahl 
der Fälle nichts als erinnerungslose Reproductionen von 
ftiiher einmal Gehörtem, Gelesenem oder Probirtem, 
welche durch die Hyperästhesie des Gedächtnisses dem 
Bewusstsein zur Verfiigimg gestellt werden ohne jedes 



— 220 — 

Merkmal, dass sie aus dem reflexiven disciirsiven Wissen 
stammen (229). Zweitens kreuzen sich bei der Somnam- 
bulen, als einer Kranken, die perversen krankhaften 
Instincte mit dem Heilinstinct, und man kann nie wissen,, 
welcher im gegebenen Falle die Oberhand hat; das Ver- 
langen nach den unverdaulichsten Dingen (217), nach 
kolossalen Dosen stark wirkender Medicamente (270 bis 
272), nach Fortdauer und Wiederholung des somnam- 
bulen Zustandes gehören ohne Zweifel den ersteren an. 
Drittens schützt der Verzicht des Magnetiseurs auf Frage- 
stellung bei engem magnetischem Rapport keineswegs 
davor, dass nicht schon dessen unausgesprochene be- 
wusste und unbewusste Vorstellungen und Wünsche in 
die Somnambule übergehen und aus ihr zurücktönen^ 
Viertens kann die somnambule Traumphantasie sich in 
einem Spiel mit ebenso sinnlosen wie unschädlichen 
Verordnungen ergehen (171), denen vom Magnetiseur 
und demgemäss auch von der Kranken irrthümlich eine 
hohe Wichtigkeit beigemessen wird. Berücksichtigt man 
endlich, dass Zurückhaltung in der Fragestellung bei 
den registrirten Krankheitsgeschichten von Somnambulen 
zu den Ausnahmen gehört, so wird man ermessen können^ 
einen wie geringen Antheil an den berichteten Selbst- 
verordnungen man dem Heilinstinkt zuschreiben darf. 
Betrachtet man die berichteten Fälle von günstiger 
Wirkung der somnambulen Verordnungen, so bleibt 
nach Ausscheidung der schlechthin unzuverlässigen 
Angaben und nach Abzug der Fälle, in denen bekannte 
Heilmittel von anerkannter Wirksamkeit verordnet sind, 
in der That noch genug Material übrig, um das Er- 
staunen des Laien zu erwecken. Aber ganz dasselbe 
ist der Fall bei den zahllosen irrationellen Systemen 
der Heilkunst, welche auf der Erde im Schwange gehen^ 
ja sogar bei Schäfern und wunderthätigen Heiligenbil- 
dern; sie alle haben eine Menge zweifellos glücklicher 



— 221 — 

Kuren aufzuweisen, insbesondere in Fällen von Nerven- 
Icrankheiten, die jeder rationellen Behandlung spotten, 
und bei denen noch immer das Wort gilt: Dein Glaube 
hat Dir geholfen. Wenn mm eine Somnambule den festen 
Glauben gewinnt, dass sie in Folge der getroffenen Ver- 
ordnungen sich bessern oder genesen werde, so kann 
dieser Glaube sehr wohl eine vorübergehende oder 
dauernde Veränderung der Krankheit herbeiführen, ganz 
abgesehen davon, ob den verordneten Mitteln objectiv 
genommen irgend welche Wirksamkeit zukommt. Aus 
der objectiven Gleichgiltigkeit des Inhalts der Verord- 
nung erklärt sich die Vorliebe der Somnambulen für 
anscheinend indifferente Mittel oder für homöopathisch 
kleine Gaben (272), zugleich aber auch die Thatsache, 
dass die Mittel immer nur ihnen selbst helfen, aber in 
anscheinend gleichen Fällen jede Wirkung versagen und 
zur Abstraktion von allgemein giltigen Regeln nicht 
brauchbar sind (269 — 270); ebenso erklärt sich aus der 
grösseren Kraft des Glaubens an eigene als an fremde 
Verordnungen die Thatsache, dass die Wirkung der 
somnambulen Verordnungen für dritte mit ihnen in 
Rapport gesetzte Personen soviel unsicherer ist, als die 
Wirkung der Selbstverordnungen. 

Hätten die Verordnungen der Somnambiüen irgend 
welche objektive Wirksamkeit, so müsste doch unbe- 
schadet der gTÖssten Individualisirung der einzelnen 
Fälle irgend welcher greifbare Gewinn für die Therapie, 
wenn auch nur der allerbescheidensten Art, nachweis- 
bcir sein: da dies trotz aller Bemühungen der Magneti- 
seure nicht der Fall ist, muss man schliessen, dass die 
Wirkung der Verordnungen, soweit letztere nicht von 
bereits bekannter objektiver Wirkung sind, nur sub- 
jektiver Art ist, und zwar nicht nur bei den Somnam- 
bulen selbst, sondern auch bei denen, welche ihre Hilfe 
in Anspruch nehmen und an deren Wirksamkeit glauben. 



222 

Darum ist aber auch die Hoffnung abgeschnitten, aut 
diesem Wege jemals einen Fortschritt der medicinischen 
Wissenschaft zu erzielen; die Befolgung der somnam- 
bulen Verordnungen, soweit keine objektive Wirksam- 
keit derselben bekannt ist, wird ein verstandiger Arzt 
nur zu dem Zwecke zugeben, tun von dem aufrichten- 
den Einfluss des Glaubens und Vertrauens Nutzen zu 
ziehen, welcher durch das Vergessen der somnambulen 
Verordnung im wachen Zustande nicht beeinträchtigt 
wird. Aber kein verständiger Arzt wird den künstlichen 
Somnambulismus herbeiführen in der ungewissen Aus- 
sicht, eine Selbstverordnung der Kranken zu erzielen, 
die vielleicht einen günstigen subjectiven Einfluss auf 
das Nervenleiden haben könnte. Ganz unstatthaft aber 
ist das Provociren von Verordnungen für dritte Per- 
sonen; will man einmal Hokus-Pokus treiben, so giebt 
es andere Mittel genug, um medidnisch nützliche Ein- 
bildungen in den letzteren hervorzurufen, als dass man 
zu dem Zwecke durchaus mit der Gesundheit eines 
ohnehin schon Nervenkranken ein frevelhaftes Spiel 
treiben müsste. 

Bei alledem bin ich weit entfernt, die Existenz eines 
Heilinstincts und seine erleichterte Aeusserung im som- 
nambulen Zustande zu leugnen; ich behaupte nur, dass 
diese Aeusserungen unter einem solchen Wust von 
werthtosen und schädlichen Einfällen und Einbildungen 
vergraben liegen, dass es ein praktisch aussichtsloses 
und bei seinen unvermeidlichen Irrwegen, gefahrliches 
Unternehmen wäre, auf dieselben eine indirecte mag- 
netische Behandlung der Kranken gründen .zu wollen- 
Es ist ja auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass 
die Hyperästhesie der Gefühls- und Vorstellungsfunktion 
im somnambulen Zustande das Auftauchen hellsehender 
Intuitionen über allerlei andere als medicinische Dinge,, 
ja sogar über transcendent metaphysische Thatsachen 



— 22S — 

erleichtert, und trotzdem müssen, wie du Prel zugiebt 
(184 — 185), alle Versuche, „aus den Somnambulen Wahr- 
sager zu machen oder gar über metaphysische Fragen 
von ihnen Aufklärungen zu erhalten, als ganz werth- 
los angesehen werden". Dieselben Gründe, welche diese 
Versuche auf dem einen Gebiet praktisch werthlos 
machen, thim es im gleichen Masse auch auf dem andern. 
Noch unzulässiger als die medicinische Verwerthung 
ist die pädagogische Ausnutzung des Somnambulismus 
im moralischen Interesse, welche du Prel der wohlbe- 
gründeten Besorgniss vor unmoralischen Missbrauch der 
Macht des Magnetiseurs über die somnambule Person 
entgegengestellt (357 — 358). Das somnambule Bewusst- 
sein ist ein widerstandsloser und willenloser Geisteszu- 
stand, in welchem blindlings jeder Befehl des Magneti- 
seurs befolgt wird und die Consequenzen des einmal 
erhaltenen Th^tigkeitsimpulses wie bei einem mecha- 
nischen Automaten abschnurren ; die somnambule Wider- 
standslosigkeit gegen den Willen des Magnetiseurs greift 
aber — und darin liegt eine furchtbare Gefahr — auch 
in das wache Leben über, so dass die wache Person 
die unglaublichsten Vorwände aufsucht, um einen im 
somnambulen Zustande erhaltenen Befehl des Magne- 
tiseurs zu rechter Zeit zu erfüllen, obwohl sie keine Er- 
innenmg an diesen Befehl hat, sondern nur den dunklen, 
unmotivirten Trieb zum Vollziehen der fraglichen Hand- 
limg empfindet. Der pathologische Charakter des Som- 
nambulismus und seine Verwandtschaft mit der Geistes- 
störung offenbart sich hier mit voller Deutlichkeit, indem 
die unbewusst fortwirkenden Rückstände des somnam- 
bulen Lebens bei ihrem Hineinragen in's normcde Leben 
sich genau so verhalten, wie die unmotivirten und doch 
unwiderstehlich wirkenden Triebe bei Wahnsinnigen. 
Beide Arten von decentralisirten Impulsen kommen aus 
derselben Region des Centrainer vensystems, nur dass 



— 224 — 

sie im ersteren Fall durch den Magnetiseur, im letzteren 
Fall durch innere krankhafte Reize des Organismus be- 
stimmt sind. 

Es ist klar, dass dieses Verhältniss der Somnam- 
bule zum Magnetiseur den Begriff der Besessenheit 
objektiv verwirklicht, von dessen Verwirklichung in 
machen Irrsinnsfallen die blosse Dlusion besteht; es ist 
ebenso klar, dass die mit solcher Besessenheit gegebene 
Aufhebung der Selbstbestimmung des Willens das 
psychologische Fundament der Sittlichkeit ganz ebenso 
wie der spontane Irrsinn zerstört. Ob der Inhalt des 
infiltrirten Willens gut oder böse ist, erscheint relativ 
gleichgiltig, da seine Ausführung dem Handelnden doch 
nicht mehr moralisch zugerechnet werden kann; aber 
das rein Formelle an diesem Verhältniss ist einem 
Meuchelmord der sittlichen Persönlichkeit gleich zu 
achten, und muss als solcher immer sittlichen Abscheu 
erwecken. Das Hinüberspielen des blinden Automaten- 
gehorsams aus dem somnambulen in den wachen Zu- 
stand kann niemals Früchte von sittlichem Werth, son- 
dern höchstens eine maschinenmässige Legalität der 
impulsiven Handlungen erzielen; aber die Legalität ist 
hier nicht, wie in der echten Pädagogik, eine Vorstufe 
Äur Bethätigung sittlicher Autonomie, sondern mit dem 
Preise ihrer Zerstörung bezahlt. Nur da, wo durch 
Geistesstörung ohnehin die psychische Grundlage der 
sittlichen Persönlichkeit aufgehoben ist, kann die Her- 
beiführung des somnambulen Zustandes und die Aende- 
rung der krankhaften Willensimpulse und Einbildungen 
unbedenklich erscheinen; so z. B. wenn man einem Irr- 
sinnigen im somnambulen Zustand befiehlt, hinfort nicht 
mehr von einem bösen Dämon sondern von einem guten 
Genius besessen zu sein, oder ihn selbst die Person 
wählen lässt, mit der er die Vertauschung seines wahn- 
sinnigen Ich vornehmen will. Auch die Möglichkeit- 



— 225 — 

Somnambule auf Befehl bestimmte Vorstellungen für 
die Dauer vergessen zu lassen, könnte zur Bekämpfung 
von fixen Ideen und Zwangsvorstellungen verwerthet 
werden. 

Es giebt keine launischeren, selbstsüchtigeren, an- 
spruchsvolleren, herrschsüchtigeren, empfindlicheren, kurz, 
für ihr Umgebung unerträglicheren Individuen, als jene 
Art von Nervenkranken, die zum Somnambulismus prä- 
disponirt sind, und die öftere Wiederholung des Som- 
nambulismus steigert die nervöse Gleichgewichtsstönmg, 
aus der diese Unliebenswürdigkeit des Benehmens ent- 
springt, hat also eine entschieden ungünstige Rück- 
wirkung auf die sittliche Haltung der Person, ebenso 
wie auf ihr Gedächtniss und ihre intellektuellen Fähig- 
keiten. Nur in der somnambulen Krise selbst, wo der 
störende Druck des Nervenleidens auf die Stimmung 
der Kranken durch die Ai^gesie aufgehoben ist und 
alle Gedächtnissvorstellungen nur mit den ihnen in der 
Vergangenheit (also in gesunden Tagen) anhaftenden 
moralischen Gefühlswerthen reproducirt werden (317, 
319), erscheint auch das aus diesen begleitenden Ge- 
fühlswerthen abfliessende moralische Urtheil wieder so, 
wie es in gesunden Tagen war. Dieser Zustand kann 
also relativ, d. h. im Vergleich mit der krankhaften Ent- 
artung des sittlichen Gefühls im wachen Zustande, als 
eine Steigerung und Reinigung des moralischen Gefühls 
erscheinen (434); aber der Somnambulismus erzeugt 
diese nicht, sondern lässt nur die reineren Gefiihlswerthe 
der gesunden Vergangenheit durch das Gedächtniss 
wieder aufwachen, während er die Störungen des gegen- 
wärtigen wachen Lebens zeitweilig verdunkelt. 

Nach alledem ist der Nutzen des Somnambulismus 
ebenso problematisch wie die Schädlichkeit desselben 
für Leib und Seele zweifellos ist; alle Versuche, aus 
demselben Nutzen zu ziehen, sind (mit Ausnahme ein- 

Hartmann, Moderne Probleme. je 



— 226 — 

zelner Fälle von Behandlung des Irrsinns) nicht nur 
praktisch werthlos, sondern befinden sich auf einem ge- 
fahrlichen Irrwege. Es ist praktisch höchst wichtig, 
daran festzuhalten, dass der Somnambulismus ein rein 
pathologischer Zustand mit ausschliesslich pathologischen 
Functionen ist, der vor anderen pathologischen Nerven- 
zuständen nichts voraus hat und keine einzige neue 
Function des menschlichen Geistes enthüllt, sondern nur 
bekannte Funktionen in anderer Zusammenstellung zeigt. 
Selbst das eigentliche Hellsehen ist eine Function, die 
bei wachem Bewusstsein unter Umständen auch vor- 
kommt, und die nur beim Somnambulismus wegen der 
Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie 
leichter eintritt; aber noch nie hat die Menschheit in 
ihrem Culturprocess von somnambulem Hellsehen irgend 
welche Förderung erfahren, weil solche abhängig ist von 
der Verbindung des Hell^hens mit der zielbewussten 
Besonnenheit der Geistesthätigkeit, die eben im Som- 
nambulismus unterdrückt ist. 

Die willenlose, decentralisirte, automatenartige Pas- 
sivität des somnambulen ßewusstseins (124) stellt das- 
selbe tief unter das wache Bewusstsein, ebenso wie das 
gewöhnliche Traumbewusstsein, dem gleichfalls das ziel- 
bewusste Wollen und die Richtung gebende Aufmerk- 
samkeit fehlen (33). Die Geistigkeit und bewusste Ver- 
nünftigkeit des wachen Lebens bekundet sich eben 
formell in der Erhebung über die anschauliche Bildlich- 
keit der Vorstellungen zu abstracten Begriffen und zur 
Gedankenreflexion, inhaltlich in der zielbewussten Lei- 
tung des Vorstellungs- und Motivationsprocesses, durch 
welche auch die autonome Selbstbestimmung des Willens 
ermöglicht ist. Ein bloss bildliches Bewusstsein, dessen 
Vorstellungsbilder mechanisch von aussen aufgezwungen 
werden oder ebenso mechanisch nach zufällig entstan- 
denen Associationen abschnurren, imd dessen Hand- 



— 227 — 

lungen ebenso mechanisch aus den aufgezwungenen 
oder zufällig aufgetauchten Bildern entspringen, entbehrt 
der Finalität im Vorsteliungsablauf und damit der spe- 
cifisch geistigen Vemünftigkeit. Je tiefer der natürliche 
oder somnambule Schlaf ist, desto mehr nimmt diese 
Lähmung der Spontaneität, diese teleologische Vemunft- 
losigkeit der Bilderfolge und Handlungen zu, und nur 
die wachsende Hyperästhesie des Gedächtnisses und der 
Phantasie bewirkt, dass längere Bilderreihen im Zusam- 
menhang verlaufen. Beim normalen Traum, der schon 
im Halbschlaf oft längere zusammenhängende Episoden 
zeigt, mag bei der Schlaf Vertiefung der zunehmende Ab- 
schluss von den Sinnesreizen die Häufigkeit solcher 
störenden Unterbrechungen vermindern und dadurch 
zur Verlängerung der zusammenhängenden Episoden 
beitragen (32); im Somnambulismus giebt umgekehrt bei 
gesteigerter Tiefe und damit zunehmendem Autschluss 
der Sinne an die Aussenwelt der Magnstiseur den Spi- 
ritus rector ab, welcher den mechanischen Bilderfluss 
im Zügel hält und von unwillkürlichen Abschweifungen 
aus dem Zusammenhang zurückholen kann. 

Alles Vernünftige im gewöhnlichen und somnambulen 
Traum hängt aber doch lediglich von der Vemünftig- 
keit des wachen Bewusstseins ab, nämlich bei beiden 
von der Vemünftigkeit der im Gedächtniss niederge- 
legten Associationen, durch welche die Reihenfolge der 
Reproduction bestimmt wird, und beim Somnambulis- 
mus ausserdem von der Vernünftigkeit des den Traum 
der Somnambule leitenden Magnetiseurs. Je tiefer der 
Schlaf wird, desto tiefer versinkt das Traumbewusstsein 
in mechanische Passivität, in gedankenlose Bildlichkeit 
und in die Neigimg zu symbolischer Personification (99), 
desto weiter entfernt es sich von der vernünftigen Geistig- 
keit des wachen Bewusstseins; je tiefer und fester der 
Schlaf, desto tiefer wird die Seele in das organische 

15* 



r' 



— 228 — 

Treiben der Natur versenkt (215). Je weiter sich aber 
der Seelenzustand von der vernünftigen Geistigkeit ent- 
fernt und je tiefer er in das organische Treiben des 
blossen Naturdaseins versenkt wird, desto mehr steigt 
er auf der Stufenleiter der organischen Entwickelung 
abwärts, desto unähnlicher wird er dem specifisch Men- 
schlichen und desto ähnlicher dem thierischen und pflanz- 
lichen Leben. Das wache Bewusstsein der Thiere von 
den Amphibien abwärts gleicht zweifellos mehr dem 
somnambulen Bewusstsein als dem wachen Bewusstsein 
des Menschen, und die Sensitivität des somnambulen 
Zustandes fiir unorganische und organische Einflüsse, für 
chemische, elektrische und meteorologische Eindrücke 
gleicht mehr dem thierischen und pflanzlichen Ver- 
wachsensein mit dem Naturganzen als der menschlichen 
Aussonderung aus demselben. 

Wenn man demnach vor die Alternative gestellt 
wäre, ob der Somnambulismus sammt seiner sensitiven 
Einfühlung in den Naturzusammenhang als eine ata- 
vistische Gestaltung, d. h. als ein Ueberlebsel über- 
wundener biologischer Entwickelungsstufen, oder ob er 
als keimartige Anticipation einer auf Erden noch uner- 
reichten höheren biologischen Entwickelungsstufe zu 
deuten sei, so müsste die Antwort zweifellos zu Gunsten 
des atavistischen Rückfalles in niedere Lebensstufen 
lauten, und die Erörterung, ob die eventuell dem Som- 
nambulismus entsprechende höhere Entwickelungsstufe 
noch hier auf Erden, oder in einem besseren Jenseits 
oder auf anderen Weltkörpem erreicht werden wird 
(387» 125) ist völlig bodenlos. Aber selbst die Frage, 
die jener Alternative zu Grunde liegt, ist schon falsch 
gestellt; denn sie ist nur zulässig bei normalen physio- 
logischen Zuständen, die in der gradlinigen Entwicke- 
lung liegen, aber unzulässig bei pathologischen Zuständen, 
die aus derselben seitlich heraustreten. 






— 229 — 

Niemand zweifelt daran, dass ein Irrsinniger mit 
altemirendem Bewusstsein, trotz seines zwiespältigen 
Bewusstseinslebens, und trotzdem er in dem einen Zu- 
stand als eine andere geistige Persönlichkeit wie in dem 
andern erscheint, doch nur eine einzige geistige Per- 
sönlichkeit mit einem einzigen Bewusstsein, aber mit 
wechselnden Zuständen und demgemäss wechselndem 
Inhalt dieses Bewusstseins ist. Nicht das Bewusstsein 
ist bei solchen Kranken doppelt, auch nicht das Vor- 
stellungsmaterial, über das sein Bewusstsein insgesammt 
verfugt, sondern nur in zwei Gruppen ist das Vorstel- 
lungsmaterial getheilt, so zwar, dass jede Vorstellung 
einer Gruppe mit jeder derselben Gruppe sich leicht 
associirt, mit irgend welcher Vorstellung aus der anderen 
Grruppe aber gar nicht oder doch sehr schwer associirt. 
Der Vorrath der einen Gedächtnisskammer scheint in 
zwei Kammern vertheilt (298), weil er in zwei Haufen 
getheilt ist, die untereinander sich nicht berühren. Dass 
nur ein leerer Raum, aber keine Scheidewand zwischen 
ihnen steht, erhellt daraus, dass manchmal beim Ueber- 
gang des einen Zustandes in den anderen beide Grup- 
pen doch in einander übergreifen, aber sich wegen ihrer 
Fremdartigkeit abstossen. 

Man kann das Bewusstsein mit einer Blendlaterne 
vergleichen, welche durch ihren Lichtkegel immer nur 
einen engbegrenzten Ausschnitt der Umgebung auf 
einmal beleuchtet; dreht sich diö Laterne langsam, so 
rückt der Lichtkegel stetig weiter und die Continuität 
des wechselnden Bewusstseinsinhalts bleibt gewahrt, — 
dreht sie sich aber plötzlich mit einem Ruck um mehr 
als den Scheitelwinkel ilu-es Erleuchtungskegels, so sind 
ganz von einander getrennte Ausschnitte der Umgebung 
beleuchtet, welche bei der Dunkelheit der sie thatsäch- 
lich verbindenden Brücke als zwei getrennte Bewusst- 
seine erscheinen. Dass dieser Schein trügt, ist daraus 



— 230 — 

empirisch zu erweisen, dass die Uebergangsbrücke unter 
Umständen, bei langsamer Drehung der Laterne, wirk- 
lich beobachtet, also das Vorhandensein des objektiven 
Zusammenhanges beider Gruppen erfahrungsmässig con- 
statirt wird. Denn wo die Vergleichung von Vorstel- 
lungen aus den verschiedenen Bewusstseinszuständen 
überhaupt möglich ist, da ist sie es nur unter der Vor- 
aussetzung der Einheitlichkeit des Bewusstseins in beiden 
Zuständen ; wo sie aber gar nicht beobachtet wird, liegt 
in dieser Nichtwirklichkeit doch noch kein Beweis für 
ihre Unmöglichkeit oder gar (wie du Prel meint — 438) 
für die Doppelheit des Bewusstseins, da auch dann 
immer noch ein identisches Bewusstsein bestehen kann, 
dem nur die Handhabe dazu fehlt, seine Identität mit 
in seinen Inhalt aufzunehmen. 

Nun kennen wir innerhalb desselben menschlichen 
Organismus keine Bewusstseinszustände, zwischen denen 
nicht wenigstens ausnahmsweise ein Uebergang, eine 
wenn auch nur schwache Grenzberührung stattfände. 
Das wache Bewusstsein erinnert sich vieler Träume und 
mancher Vorgänge aus dem somnambulen Traumleben, 
besonders wenn für associative Erinnerungsbehelfe Sorge 
getragen wird ; ebenso erinnert sich das Traumbewusst- 
sein mancher Vorgänge aus dem somnambulen Leben, 
und das somnambule Bewusstsein ausnahmsweise der 
Vorgänge aus dem Hochschlaf (347 — 356). Nach den 
neueren französischen Berichten, ist der entschiedene 
Befehl des Magnetiseurs an die Somnambule, sich nach 
dem Erwachen an bestimmte Vorgänge des somnam- 
bulen Zustandes oder die ganze Reihe derselben zu 
erinnern, ausreichend, um die Erinnerungsbrücke mit 
Sicherheit herzustellen. *) Diese Thatsachen genügen 



*) Die Wirksamkeit des Befehls zur Erinnerung ist analog der Wirk- 
samkeit des Befehls zum Vergessen und zur Elimination bestimmter Wahr- 
nehmungskomplexe aus der Wahrnehm ungsphäre. Die Sage von der Tarn- 



— 231 — 

zum strengen Beweise des Satzes, dass wir es in allen 
diesen Fällen nicht mit verschiedenen Bewusstseinen 
innerhalb desselben organischen Individuums, sondern 
mit verschiedenen, physiologisch bedingten Zuständen 
desselben einen und einzigen Bewusstseins zu thun haben, 
und es bedarf dazu kaum noch des Hinweises darauf, 
dass das Umspannen des einen Bewusstseinszustandes 
durch den andern nicht die Ausnahme, sondern die 
Regel ist, wenn wir vom Hochschlaf durch das som- 
nambule und Traumbewusstsein zu den verschiedenen 
normalen und abnormen Zuständen des wachen Bewusst- 
sein fortschreiten. 

Diese Sätze sind so selbstverständlich, dass wohl 
Niemand darauf verfallen wäre, sie in Frage zu stellen, 
wenn nicht der optische Dualismus (148) der phan- 
tastischen Spaltung (38) des Ich in manchen abnormen 
Bewusstseinszuständen mit einer Mehrheit relativ ge- 
sonderter Bewusstseinszustände ^zusammenträfe. Nun ist 
aber klar, dass die hallucinatorische Deutlichkeit eines 
Trauminhalts gar nichts für dessen Realität beweist, 
dass es dem Aberglauben verfallen heisst, wenn man 
die Traumfiguren des gewöhnlichen oder somnambulen 
Traumes für wirkliche Personen nimmt (210, 186), und 
dass die Neigung zur Verbildlichung und symbolisch- 
phantastischen Personification mit der Tiefe des Traum- 
bewusstseins wächst (99), also z. B. die Zahl der Schutz- 
engel und Interlocutoren mit der Steigerung des Som- 
nambulismus zunimmt. Wie ist es unter solchen Um- 
ständen möglich, die symbolischen Personificationen des 
Traumbewusstseins ausnahmsweise als Realitäten zu 
behandeln, sobald sie sich auf einen anderen, relativ 
gesonderten Bewusstseinszustand desselben Individuums 



kappe wird zur Wahrheit, indem die Somnambule nach dem Erwachen 
nnfahig ist, eine bestimmte anwesende Person wahrzunehmen, wenn ihr 
diess im somnambulen Zustand befohlen war. 



— 232 — 

beziehen, falls nicht schon auch ohnedies ein genügen- 
der Grund vorliegt, eine Mehrheit von Bewusstseinen 
oder Personen innerhalb desselben organisch-psychischen 
Individuums anzunehmen? Da wir gesehen haben, dass 
dazu nicht nur kein Grrund vorliegt, sondern eine solche 
Annahme entschieden unstatthaft ist, so ist es auch 
schlechthin unstatthaft, in der Anerkennung des phan- 
tastisch-illusorischen Charakters aller dramatischen Spal- 
tungen des Ich eine Ausnahme zu Gunsten der Per- 
sonification des normalen wachen Bewusstseinszustandes 
durch den irrsinnigen (343) oder durch den somnam- 
bulen zu machen (438, 189, 127). 

Wäre das statthaft in Bezug auf die somnambule 
Traumpersonification des normalen wachen Zustandes 
durch das somnambule Bewusstsein, so wäre es nicht 
minder geboten in Bezug auf die Personification der 
abnormen wachen Bewusstseinszustände durch das som- 
nambule Bewusstsein und in Bezug auf die Personifi- 
cation des somnambulen Zustandes durch das Bewusst- 
sein des Hochschlafs ; wir würden also durch diese Art, 
zu schliessen, doch niemals auf zwei, sondern sofort auf 
fünf bis sechs getrennte Bewusstseine und Personen 
innerhalb desselben organisch- psychischen Individuums 
geführt werden. Die verschiedenen abnormen Bewusst- 
seinszustände sind von einander in nicht geringerem 
Grade relativ abgesondert als der normale Bwusstseins- 
zustand von den abnormen; es ist also ganz unzulässig, 
wie du Prel thut, die Absonderung* des normalen Zu- 
standes von den abnormen zur Scheidegrenze zwischen 
zwei Bewusstseinen oder Personen im Individuum zu 
stempeln, die Absonderung der abnormen Zustände 
unter einander aber zu ignoriren und alle diese Be- 
wusstseinszustände kurzweg als „die zweite Person" im 
Individuum zusammenzufassen. Der optische Pluralismus 
der Personen ist überall, auch als Dualismus der Per- 



— 233 — 

sonen im somnambulen oder Traumbewusstsein eine 
phantastische psychologische Illusion oder Fiction, und 
wenn auch die Thatsache dieser Illusion keine illuso- 
rische, sondern eine reelle Thatsache ist (114), so darf 
man aus diesem Satze doch unter keinen Umständen 
zu Schlüssen, welche die Realität des Inhalts dieser 
Illusion unvermerkt voraussetzen, fortschreiten (112). 

Das wache Bewusstsein und das somnambule Be- 
wusstsein sind also nicht zwei Bewusstseine, sondern 
zwei Zustände eines Bewusstseins, die durch Schwellen- 
verschiebimg in einander überfliessen können, und von 
denen der erste vom zweiten zwar durch regelmässige 
Erinnerungslosigkeit, der zweite vom ersten aber nur durch 
die phantastische illusorische Personification desselben 
abgesondert ist. Wenn die Blendlaterne des Bewusst- 
seins sich vom wachen zum Traumzustand oder zum 
hypnotischen Zustand hin dreht, so erweitert sich der 
Lichtkegel nach der Seite der sensitiven Gefiihlsein- 
drücke, verengt sich aber nach der Seite der Sinnes- 
wahmehmungen und der bewussten Zwecke und Inter- 
essen des Tageslebens; wenn dann der hypnotische. 
Zustand in den somnambulen übergeht, so wird die 
vorherige Verengerung in Bezug auf die Sinneswahr- 
nehmungen wieder rückgängig gemacht. 

Das Organ der Willkür, der Spontaneität, der Auf- 
merksamkeit, der Besonnenheit, der zielbewussten Lei- 
tung des Vorstellungsablaufs, der absichtlichen Hervor- 
rufung von Vorstellungen und Motiven und damit der 
Selbstbestimmung des Willens wird beim Uebergang 
aus dem wachen in den träumenden oder somnambulen 
Zustand gelähmt oder ausser Thätigkeit gesetzt; damit 
hört auch die zügelnde und hemmende Thätigkeit auf, 
welche dieses Organ auf die äussere und innere Re- 
flexthätigkeit der übrigen Centraltheile des Nerven- 
systems ausübt und durch welche es deren decentrali- 



— 2 34 — 

sirende Impulse centralistisch beherrscht. Weil diese 
reflexhemmende, regulirende und leitende Thätigkeit 
des höchsten Geistesorgans am meisten anstrengt und 
am schnellsten ermüdet, so ist auch dieses Organ, das 
wir der Kürze halber hinfort mit „Willkürorgan" be- 
zeichnen wollen, am meisten der Erholung bedürftige 
und es ist deshalb offenbar als eine teleologische Ein- 
richtung aufzufassen, dass es beim Einschlafen zuerst 
depotenzirt wird. 

Nun ist es aber ein allgemeines physiologisches Ge- 
setz, dass die gehemmte Innervationsenergie des Nerven- 
systems eine gewisse Beständigkeit besitzt, und wenig- 
stens keinen plötzlichen Schwankungen ausgesetzt ist. 
So z. B. ist die hysterische Anästhesie der einen Körper- 
hälfte allemal mit einer entsprechenden Hyperästhesie 
der andern Körperhälfte verbunden, welche beiden Zu- 
stände durch einen die gesammte Innervationsenergie 
wieder gleichmässig vertheilenden galvanischen Strom 
in gleichem Masse (wenn auch nur vorübergehend) ge- 
hoben werden können. Dem entsprechend muss die 
plötzliche Anästhesirung des Willkürorgans beim Ein- 
schlafen eiine Hyperästhesirung anderer Theile des 
Nervensystems als unvermeidliche Ausgleichungserschei- 
nung im Gefolge haben, und diese theilweise Compen- 
sations- Hyperästhesie wird um so intensiver auftreten, 
auf je beschränktere Theile sie concentrirt ist. Daraus 
entspringen die lebhaften Träume unmittelbar nach dem 
Einschlafen, wenn die gesammte Innervationsenergie des 
Organismus noch nicht Zeit gehabt hat zu sinken, und 
vor dem Erwachen, wenn sie durch die Kräftigung des 
genossenen Schlafes sich wieder bis zur Höhe des Tages- 
lebens erhoben hat. Dagegen ist anzunehmen, dass die 
erholende Wirkung des tiefes Schlafes um so grösser 
ist, je tiefer die gesammte Innervationsenergie des Or- 
ganismus allmählich nach dem Einschlafen unter das 



— 235 — 

Niveau des Tageslebens gesunken ist, so dass im ge- 
sunden tiefen Schlaf eine Hyperästhesie irgend welcher 
Theile des Nervensystems nicht stattzuhaben braucht. 

Dem Somnambulismus als einem krankhaften Zu- 
stand ist es im Unterschiede vom gesunden tiefen imd 
ruhigen Schlaf eigenthümlich , die Innervationsenergie 
des wachen Lebens und mit ihr die Hyperästhesie ge- 
wisser Theile des Nervensystems festzuhalten, und dies 
ist der Grund dafiir, dass einerseits das Traumbewusst- 
sein in ihm niemals erlischt, und dass andererseits er 
nicht wie der Schlaf das Schlafbedürfniss beftiedigt, 
sondern bei längerer Dauer geradezu hervorruft. Je 
höher die Hpyperästhesie der im Somnambulismus func- 
tionirenden Theile steigt, auf einen desto engeren Be- 
zirk muss die gesammte Innervationsenergie concentrirt 
sein, desto mehr Theile müssen also der Anästhesie ver- 
fallen sein; es muss also z. B. das Bewusstsein des 
Hochschlafs auf einem beschränkteren functionirenden 
Gebiet des Centralnervensystems beruhen, als das ge- 
wöhnliche somnambule Bewusstsein. Da die Hyper- 
ästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie im Som- 
nambulismus diejenigen des gewöhnlichen Traumes nach 
dem Einschlafen übersteigen, trotzdem dass im ersteren 
die Perceptionscentra für Sinneswahmehmungen in 
Function, in letzerem anästhetisch sind, so lässt sich 
daraus entnehmen, dass (wenn man von der unwahr- 
scheinlichen Annahme einer Steigerung der gesammten 
Innervationsenergie im Somnambulismus gegen den 
wachen Zustand absieht) entweder im Traum schon eine 
gesunkene Gesammtenergie sich bethätigt, oder aber im 
Somnambulismus ein beschränkteres Gebiet des Central- 
nervensystems functionirt als im Traum. Vielleicht findet 
beides zugleich statt. 

Jetzt erst erhält der obige Vergleich des Bewusst- 
seins mit einer Blendlaterne eine bestimmte physio- 



— 236 — 

* 

logische Bedeutung. Die Umgebung, auf welche der ver- 
schiebbare Beleuchtungskegel fallt, ist nicht als die äus- 
sere Umgebung des Organismus zu verstehen, sondern 
als die Gesammtheit des den Bewusstseinsfunctionen zur 
organischen Unterlage dienenden Centralnervensystems; 
es zieht immer derjenige Theil den Beleuchtungskegel 
des Bewusstseins auf sich, auf welchen jeweilig das 
Maximum von Innervationsenergie concentrirt ist, wäh- 
rend die zeitweilig anästhetischen Theile im Dunkel 
bleiben. Je nachdem die functionirenden Theile der einen 
oder der anderen Art von sensiblen und sensorischen 
Nerven näher oder ferner liegen, sinkt oder steigt die 
Empfindungsschwelle für die betreffende Art von Em- 
pfindungen und Wahrnehmungen; allen abnormen Be- 
wusstseinszuständen gemeinsam aber ist die Hyper- 
ästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans, welche 
deshalb (neben jenen variablen Compensationserschei- 
nungen) als die constante Compensationserscheinung 
zur Anästhesie des Willkürorgans anzusehen ist. Wenn 
im wachen Bewusstseinszustande Vorstellungen aus dem 
Vorstellungskreise der somnambulen Krisen berührt 
werden, und dabei ausnahmsweise eine Wiedererkennung 
stattfindet, so heisst das mit andereu Worten: der Be- 
leuchtungskegel des Bewusstseins hat diejenigen Theile 
des Centralnervensystems gestreift, in welchem die som- 
nambule Vorstellung sich vollzogen hatte, und in wel- 
chem demgemäss auch ihr Gedächtnisseindruck nieder- 
gelegt ist; der Beweis dafür liegt in der Thatsache, dass 
jede solche Wiedererkennueg den Wiedereintritt des da- 
mals bestehenden Vertheilungszustandes der gesammten 
Innervationsenergie, d. h. den Rückfall in den somnam- 
bulen Zustand begünstigt und nicht selten wirklich her- 
vorruft (363—364)- 

Es ist für die Psychologie ohne Bedeutung, wenn 
auch von hohem physiologischen Interesse, welche Theile 



— 237 — 

des Centralnervensystems im Traum und Somnambulis- 
mus ausgeschaltet, und welche in gesteigerter Thätig- 
keit sind. Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass die 
Anästhesirung im Schlaf und Somnambulismus ebenso 
wie in der Chloroformnarkose von der Peripherie des 
Centralnervensystems nach dessen Centrum fortschreitet 
(55); doch hilft uns dieser Satz nicht viel, da wir nicht 
überall genau wissen, welchen von zwei Himtheilen wir 
als den centraleren ansehen sollen, und da er ausserdem 
ohne Zweifel beträchtliche Ausnahmen erleidet. Nur 
soviel ist gewiss, dass das Willkürorgan in der Rinden- 
schicht: der Grosshimhemisphären zu suchen ist, und 
deshalb im physiologischen Sinne eine peripherische 
Stellung zum Mittelhim einnimmt, trotz seiner Hege- 
monie im Gebrauch der Leistungsfähigkeit des gesamm- 
ten Organismus. Als die am meisten centralen sind jene 
Theile zu betrachten, die auch im völlig traumlosen, 
tiefen Schlaf noch functioniren müssen, um den Fort- 
bestand des Lebens zu sichern; während diese Theile 
im gesunden tiefen Schlaf besonders günstig functioniren 
(wie der stärkende und regenerirende Einfiuss dieses 
Zustandes auf den Organismus beweist), scheinen sie im 
somnambulen Hochschlaf (wahrscheinlich wegen fort- 
bestehender Hyperästhesie der Perceptionscentra für 
Sinneswahmehmungen trotz gesunkener Gesammtener- 
gie) bereits in ihrer Function bedroht, als ob sie im 
Begriff wären, von Lahmimg und Anästhesie befallen 
zu werden, so dass der eigentliche Hochschlaf schon als 
ein nicht ungefährlicher Zustand zu betrachten ist, dessen 
künstliche Herbeiführung als ein durch nichts zu recht- 
fertigendes Wagniss verurtheilt werden muss. 

Der Schwerpunkt des physiologischen Problems 
liegt in der Frage: wo sind im somnambulen Zustande 
die Perceptionscentra für Sinnes wahmehmimgen , das 
Ausführungscentrum für Handlungs- und Sprachbe- 



— 238 — 

wegungen und die Centra für Sach- und Wortgedächt- 
niss, sowie für gestaltende Phantasiethätigkeit zu suchen? 
Dass sie im Sonnengeflecht nicht zu finden sind, 
unterliegt keinem Zweifel. Das Sonnengeflecht kann 
höchstens als reflectorisches und instinctives motorisches 
Centrum für einen Theil der vegetativen organischen 
Processe, als Perceptionscentrum für Gefühlseindrücke 
der eigenen Eingeweide und allenfalls noch für Gefühls- 
eindrücke, die aus den Beziehungen des Organismus zur 
umgebenden Natur stammen, angesehen werden, aber 
nur soweit die letzteren von gefühlsmässiger Unbestimmt- 
heit, d. h. nicht zu Sinneswahrnehmungen differenzirt 
sind; denn eben weil das Sonnengeflecht nicht mit 
Sinnesnerven in directer Verbindung steht, und nicht 
darauf eingerichtet ist, deren specifisch differenzirte 
Reize in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, kann es 
sich die allgemeine Perceptionsfahigkeit der Ganglien 
für undifferenzirte Gefiihlsreize in um so höherem Grade 
bewahrt haben, also wohl geeignet sein, die innere 
Selbstschau der Somnambulen, ihre Diagnosen fremder 
Krankheiten und ihre Sensitivität für chemische, me- 
teorologische und andere Einflüsse zu vermitteln. Um 
aber die so percipirten Reize in Bilder umzusetzen oder 
zu symbolisiren, und um die Bilder wieder in Worte 
zu übertragen und gar die Worte auszusprechen, dazu 
müssen nothwendig die etwaigen Gefühlsperceptionen 
des Sonnengeflechts zu Hirntheilen hingeleitet werden, 
welche mit den Sinnes- und Sprachbewegungsnerven in 
unmittelbarer Verbindung stehen. Die Aussagen der 
Somnambulen über ihre Perception durch den Magen 
oder die Herzgrube deuten allerdings auf eine gesteigerte 
sensitve Thätigkeit des Sonnengeflechts und auf einen 
krankhaft gesteigerten Rapport zwischen ihm und dem 
Gehirn (190, 142); aber mehr lässt sich aus denselben 
sicherlich nicht entnehmen (188, 397 — 398), und du Preis 



— 239 — 

Ueberschätzung des Gangliensystems im Allgemeinen 
{141, 187, 211) entbehrt der thatsächlichen Begründung. 
Es bleibt sonach bloss die Wahl zwischen den ver- 
schiedenen Bestandtheilen des Gehirns. Dass das Will- 
kürorgan nur einen Theil der Grosshimhemisphärenrinde 
beansprucht, ist als sicher anzunehmen; es ist demnach 
wohl möglich, dass der ganze übrige Theil der Gross- 
himhemisphären im Traum und Somnambulismus weiter 
functionirt, insbesondere das Sprachcentrum, das Ge- 
■dächtniss und die Phantasie. Wenigstens liegt kein 
zwingender Grund zu der Annahme vor, dass die Phan- 
tasie des Traumes eine schlechthin und specifisch andere 
als die des wachen Bewusstseins sei, wie du Prel meint 
(56, 180); denn wenn z. B. Walter Scott seinen Ivanhoe 
im Fieber componirte, ohne nachher von dieser Aus- 
führung seiner allgemeinen Idee etwas zu wissen (328), 
so spricht das dafür, dass die Traumphantasie des Fieber- 
•deliriums mit der künstlerischen Phantasie identisch ist. 
Dass es streckenweise Fimctionslähmungen des Gross- 
himgedächtnisses giebt ohne Functionslahmung desselben 
im Allgemeinen, zeigen eine Menge Beispiele (335); es 
wäre daher auch dann, wenn wir das somnambule Ge- 
•dächtniss als identisch mit dem wachen Gedächtniss des 
Gehirns betrachten, die Erklärung von Erscheinungen 
nicht ausgeschlossen wie derjenigen, dass das wache 
Gedächtniss die willkürlich eingeprägten und die zu den 
wachen Lebensinteressen in Beziehung stehen den Vorstel- 
lungen leichter reproducirt, das somnambule Gedächtniss 
dagegen die unwillkürlich percipirten Vorstellungen und 
Vorstellungsreihen (308). Auch die verschiedene Färbung, 
welche das somnambule und Traumbewusstsein im Ver- 
gleich zum wachen Bewusstsein seinem Inhalt verleiht, 
und welche besonders beim Wechsel beider Zustände 
durch den Contrast spürbar wird, würde nach dieser 
Hypothese erklärbar bleiben; denn wenn in einem 



— 240 — 

Orchester auf der einen Seite eine Anzahl Instrumente 
wegfallen, auf der anderen Seite eine Anzahl neuer In- 
strumente hinzutreten, so muss die Klangfarbe des 
Gesammteindrucks nothwendig eine andere werden. 
Endlich würde die Annahme, dass das somnambule und 
Traumbewusstsein auf einem Zusammenwirken von 
Theilen des Grosshims mit dem Mittelhim und Klein- 
hirn beruht, den Vortheil haben, noch ein weiteres Ge- 
biet übrig zu lassen, innerhalb dessen eine neue Ver- 
schiebung des Beleuchtungskegels, wie sie im somnam- 
bulen Hochschlaf eintritt, geringeren Schwierigkeiten 
der Erklärung begegnet. 

Andererseits liegt aber auch keine Nöthigung" vor, 
dass Theile des Grosshirns beim Zustandekommen des 
somnambulen Bewusstseins betheiligt sein müssen. Wir 
wissen, dass die einzelnen Himtheile relativ selbststän- 
dige Centralorgane mit selbstständigen Perceptions- und 
Motionscentren, selbstständigem Gedächtniss und selbst- 
ständigen Reflexen zwischen Empfindung und Bewegung, 
zwischen Bewusstsein und Handlung sind, und wir wissen 
nicht, ob nicht schon die Phantasie des wachen Be- 
wusstseins ihr materielles Substrat ausserhalb des Gross- 
hirns liegen hat, da sie weniger als andere Geistesfahig- 
keiten von der Willkür beherrscht wird. Sicher ist^ 
dass das Kleinhirn im Traum und Somnambulismus eine 
erhöhte Thätigkeit entfaltet, womit die Behauptung 
Reichenbachs übereinstimmt, dass die odische Intensität 
(d. h. die Innervationsenergie) im Wachen im Grrosshirn, 
im Schlaf im Kleinhirn überwiegt (57). 

Das Kleinhirn ist in erster Instanz Gehörs- und 
Gleichgewichts- Centrum, und demgemäss ist die Fähig- 
keit der Gleichgewichtsbehauptung im somnambulen 
Zustand entschieden gesteigert, so wie das Gehör der 
erste der oberen Sinne ist, durch welchen die Somnam- 
bule mit der Aussenwelt in Beziehung tritt, und immer 



— 241 — 

derjenige Sinn bleibt, durch welchen der Magnetiseur 
die Somnambule am leichtesten und sichersten be- 
herrscht und leitet. Das Kleinhirn besitzt zweifellos ein 
Gedächtniss für Gehörseindrücke, also auch ein Wort- 
gedächtniss, und wahrscheinlich auch ein Centrum der 
musikalischen Phantasie und ein motorisches Centrum 
für reflectorische Sprachbewegungen. Vermuthlich ist 
es das Kleinhirn, welches die mit dem Ohr, aber nicht 
mit dem wachen Grosshirnbewusstsein aufgefassten Worte 
eines Dritten percipirt und aufbewahrt und uns ermög- 
licht, sie nachträglich, nachdem sie im Ohr längst ver- 
klungen sind, mit dem Grosshirnbewusstsein percipiren 
zu können, wenn wir veranlasst sind, unsere Aufmerk- 
samkeit auf dieselben zu richten (363). 

Aber was dem Kleinhirn fehlt, ist die nähere Ver- 
bindung mit dem Sehnerv, und demgemäss die Auf- 
nahmefähigkeit für Gesichtseindrücke und Phantasie- 
bilder; diese besitzen dagegen die Vierhügel, und mit 
ihr das Bilder- Gedächtniss und die Fähigkeit, auf Ge- 
sichtseindrücke reflectorisch zu reagiren. Kleinhirn und 
Vierhügel zusammen dürften demnach für sich allein 
schon genügen, um die Art des somnambulen Verkehrs 
mit der Aussenwelt und das mechanische Fortspinnen 
somnambuler Träume zu erklären, womit indess keines- 
wegs behauptet werden soll, dass keine anderen Him- 
theile bei den betreffenden Functionen betheiligt seien. 
Eine exacte Lösung würde die Frage nach der physio- 
logischen Grundlage des somnam"bulen Bewusstseins und 
nach dem Mass der functionellen Betheiligung des Son- 
nengeflechtes und der einzelnen Hirntheile nur durch 
Vivisectionsversuche an somnambulen Menschen finden 
können; indess lässt sich nicht in Abrede stellen, dass 
die Schmerzlokalisationen bei den mehrfach erwähnten 
Versuchen von Binet und F6r6 auf Theile des Gross- 
hirns als materielle Grundlage der somnambulen psy- 

Hartmann, Moderne Probleme. x6 



— 242 — 

chischen Functionen mit grosser Wahrscheinlichkeit hin- 
weisen . 

Wie dem auch sei, so viel ist gewiss, dass wir 
keinen Grund haben, die abnormen Bewusstseinszustände 
von der physiologischen Grundlage des Centralnerven- 
systems abzulösen (187), so lange wir an der Unent- 
behrlichkeit einer solchen für das wache Tagesbewusst- 
sein festhalten; denn die psychischen Functionen dieser 
abnormen Zustände sind, wie wir gesehen haben, weit 
geistloser, sinnlicher, mechanischer und inniger mit dem 
organischen Naturleben verwachsen als diejenigen des 
normalen Bewusstseinszustandes, und sind es um so 
mehr, je weiter sie 'sich von dem letzteren entfernen, 
d. h. je tiefer der Schlaf, je gesteigerter der Somnam- 
bulismus wird. Will man mit du Prel das normale wache 
Bewusstsein „das sinnliche" in der engeren Bedeutung 
des Wortes nennen, so sind die abnormen Bewusstseins- 
zustände als „untersinnliche" zu bezeichnen, und sie 
sind um so „untersihnlicher", je weiter sie sich vom 
normalen sinnlichen Bewusstsein entfernen. Wenn es 
ein vom leiblichen Organismus und seinem Zerfall un- 
abhängiges „leibfreies'* Bewusstsein hinter dem „sinn- 
lichen" gäbe, so wäre solches jedenfalls in der entgegen- 
gesetzten Richtung zu suchen, als in derjenigen, welche 
wir mit der Untersuchung der abnormen „untersinn- 
lichen" Bewusstseinszustände beschritten haben, denn 
es wäre nur als ein dem organischen Treiben der Natur 
entrücktes, „übersinnliches", dem wachen Bewusstsein 
an teleologisch -vernünftiger Geistigkeit überlegenes zu 
denken. Will man mit du Prel dieses hypothetische 
leibfreie Bewusstsein mit dem metaphysischen „Unbe- 
wussten" des betreffenden Individuums gleichsetzen 
(395) S. VI), so ist jedenfalls der Somnambulismus eine 
schlechtere Eingangspforte zu dieser Region als das ihr 
näher stehende wache Bewusstsein, und am allerwenigsten 



— 243 — 

die einzige Eingangspforte zu derselben, wie du Prel 
meint (158); denn es ist eine Eingangspforte nur zu einem 
Theil des physiologischen oder untersinnlichen Unbe- 
wussten, welches von dem metaphysischen oder übersinn- 
lichen Unbewussten streng unterschieden werden muss. 
Sowohl die normalen wie die abnormen Bewusst- 
seinszustände sind Zustände des Himbewusstseins, wenn 
auch der Brennpunkt seine Lage wechselt; sie alle zu- 
sammen bilden also das eine sinnliche Bewusstsein im 
weiteren Sinne des Wortes und constituiren mit dem 
leiblichen Organismus zusammen die Persönlichkeit des 
Menschen. Will man hinter diesem sinnlichen Bewusst- 
sein ein übersinnliches annehmen, das in ähnlicher Weise, 
wie das sinnliche sich auf den leiblichen Organismus 
stützt, sich auf eine materielle Basis von unvergleichlich 
feinerer, ätherischer Beschaffenheit (403, 393), auf einen 
vom Tode des Leibes nicht alternirten Metaorganismus 
stützen soll (522, 523), so würde man damit allerdings 
eine zweite übersinnliche Persönlichkeit hinter der sinn- 
lichen Persönlichkeit des Menschen annehmen. Aber 
dieser hypothetische Dualismus von übersinnlicher und 
sinnlicher Persönlichket im Menschen wäre geradezu 
entgegengesetzter Art wie der oben als unhaltbar nach- 
gewiesene hypothetische Dualismus zwischen normalem 
sinnlichen Bewusstsein einerseits und der vermeintlichen 
Mehrheit abnormer untersinnlicher Bewusstseine anderer- 
seits, und dürfte keinenfalls mit demselben verwechselt 
oder durcheinander gemengt werden, wie du Prel be- 
ständig thut*). Wäre der Dualismus von normal-sinn- 

*) Den äussern Anlass zu dieser Confusion giebt der Missbrauch 
des Wortes „transcendental" in der Bedeutung „latent" (443) oder „unter- 
halb der Schwelle des Bewusstseins belegen"; denn nun bezeichnet der 
Ausdruck „transcendentales Bewusstsein" in doppelsinniger Weise bald 
das untersinnliche, bald das übersinnliche Bewusstsein. Ich habe deshalb 
das Wort „transcendental'* in der bisherigen Erörterung ganz vermieden, 

um dieser Verwirrung zu entgehen. 

16* 



— 244 — 

lichem und abnormem Bewusstsein, wie du Prel meint, 
erwiesen, und die Hypothese einer übersinnlichen Per- 
sönlichkeit anderweitig genügend begründet, so hätten 
wir doch immer keinen Dualismus, sondern einen Tria- 
lismus von übersinnlicher, normal-sinnlicher und abnorm 
imtersinnlicher Persönlichkeit, oder genauer einen Sep- 
tualismus zwischen einer übersinnlichen, einer normal- 
sinnlichen, einer träumenden, zwei somnambulen und 
zwei bis drei irrsinnigen Personen in demselben Men- 
schen. Der verfehlte Dualismus zwischen der normal- 
sinnlichen und der abnorm -untersinnlichen Persönlich- 
keit, die beide gleichmässig mit dem organischen Leibe 
zu Grunde gehen, könnte keinesfalls etwas dazu bei- 
tragen, den ebenso verfehlten Dualismus zwischen der 
sterblichen sinnlichen und der unsterblichen übersinn- 
lichen Person im Menschen zu begründen oder auch 
nur annehmbarer zu machen. Der Versuch du Preis, 
die uralte, aber in keiner Weise zu begründende meta- 
physische Weltanschauung des „transcendentalen Indi- 
vidualismus" auf die Erscheinungen des abnormen Seelen- 
lebens und insbesondere des Somnambulismus zu stützen, 
erscheint hiernach ebenso misslungen, wie der ihm vor- 
aufgegangene Versuch Hellenbachs, dieselbe auf die 
Erscheinungen des Spiritismus zu stützen. 

Man würde mich miss verstehen, wenn man glaubte, 
ich wolle du Prel einen Vorwurf aus seiner Behauptung 
machen, dass die psychischen Functionen des Individual- 
Subjects nicht mit der sinnlichen Bewusstseinsthätigkeit 
erschöpft sind, sondern dass dasselbe ausserdem noch 
vor und jenseits alles organisch vermittelten Bewusst- 
^eins liegende Functionen hervorbringt und trägt, durch 
welche es einerseits den Organismus producirt und er- 
hält {145, 412) und andererseits die Bewusstseinsfunc- 
tionen sowohl des normalen wie der abnormen Zustände 
durch Inspirationen unterstützt (194, 278). Ich tadle ihn 



— 245 — 

nur deshalb, weil er erstens in der offen stehenden Frage 
nach der Bewusstheit oder Unbewusstheit der fraglichen 
Functionen den Beweis zu Gunsten der Bewusstheit ein- 
fach durch die Confussion zwischen untersinnlichem und 
übersinnlichem, somnambulem und leibfreiem Bewusst- 
sein geliefert zu haben glaubt, und zweitens, dass er 
das so eingeschmuggelte übersinnliche Bewusstsein 
wiederum mit dem dasselbe tragenden Individualsubject 
verwechselt; denn dieses letztere muss doch als das zwei 
Bewusstseine oder Personen gemeinsam tragende Sub- 
ject (376) beiden gleich fem und gleich nahe stehen, 
d. h. der imbewusste Producent und Träger beider sein, 
und es ist unmöglich, demselben dadurch näher zu 
kommen, dass man von der Erscheinungswelt des einen 
dieser Bewusstseine in diejenige des anderen hinüber- 
schreitet. Gäbe es also auch hinter der sinnlichen Person 
im Menschen noch eine zweite übersinnliche, so müsste 
man doch, um von d^ Flächenausdehnung dieses zweiten 
Bewusstseins zum unbewussten gemeinsamen Subject 
beider Personen zu gelangen, ganz ebenso in die meta- 
physische Tiefendimension hinabsteigen, als wenn man 
von dem Bewusstsein der ersten Person ausgeht; denn 
das Subject selbt ist niemals empirisch im Inhalt seiner 
Function zu finden, sondern nur aus der Function durch 
einen nach rückwärts gehenden Schluss intellectuell zu 
erreichen, weshalb eben Kant es das intelligible Subject 
nennt (415). 

Wenn es also schon unrichtig ist zu sagen, dass 
die Bewusstseinssteigerung nach der Seite des abnormen 
Bewusstseins durch Anleihen beim übersinnlichen Be- 
wusstsein zu Stande komme (401), so ist es doppelt un- 
richtig zu sagen, dass das im normalen Bewusstsein zu- 
rückgetretene gemeinsame Subject der übersinnlichen 
und sinnlichen Person in abnormen Bewusstseinszu- 
ständen „aus dem Unbewussten hervortrete" (139). Alle \ 



— 246 — 

etwaigen übersinnlichen Einwirkungen des Individual- 
subjects auf das organisch vermittelte Bewusstsein können 
von diesem letzteren nur aufgefasst werden, insofern sie 
zugleich in dessen eigene sinnlich-bildliche Form einge- 
kleidet werden (70), und wenn auch eine abnorme Hyper- 
ästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans in unter- 
sinnlichen Bewnsstseinszuständen diese Auffassung und 
Einkleidung bis zu einem gewissen Grade erleichtert, 
so beweist doch der Fortbestand des visionär-bildlichen 
Charakters der Eingebungen, dass auch bei den äussersten 
Graden der somnambulen Hellsichtigkeit die organisch- 
sinnliche Basis des Bewusstseins nicht verlassen wird 
(117 — 118) und keineswegs ein directer UebergriflF oder 
Uebertritt in's übersinnliche Bewusstsein stattfindet. Ein 
solcher bleibt auch dann ausgeschlossen, wenn durch 
abnorme Hyperästhesie des Gedächtniss- und Phantasie- 
organs die gewöhnliche Geschwindigkeit des Vorstel- 
lungsablaufes zur Bilderflucht gesteigert wird, und es 
ist unzulässig, in solchem Falle von „transcendentalem 
Zeitmass** zu reden (86), oder gar die krankhafte Bilder- 
flucht eines überreizten Gehirns mit Kants Lehre von 
der Idealität der Zeit und des Raumes zusammenzu- 
rühren (93, 147), da zur Erklärung solcher seltenen Bei- 
spiele nicht einmal die Maximalgeschwindigkeit des 
wachen Vorstellungsablaufs überschritten zu werden 
braucht (vgl. oben). 

Die Genauigkeit verlangt zu erwähnen, dass du Prel 
noch auf einem von Somnambulismus unabhängigen 
Wege die Bewusstheit der übersinnlichen Functionen 
des Subjects zu erweisen sucht. Er verwirft nämlich 
die physiologische Erklärung des Gedächtnisses, wonach 
dasselbe in hinterlassenen Spuren der Vorstellimgsfunc- 
tion in den functionirenden Gehirntheilen bestehen soll, 
und setzt an deren Stelle eine metaphysische Erklärung, 
nach welcher alle vom sinnlichen Bewusstsein zeitweilig 



— 247 — 

vergessenen Vorstellungen im übersinnlichen leibfreien 
Bewusstsein als actuelle Vorstellungen fortbestehen, und 
bei der Reproduction oder Wiedererinnerung aus diesem 
von Neuem in's sinnliche Bewusstsein hinübertreten 
(371 — 375). Da die abnormen Bewusstseinszustände 
thatsächlich keine gleichzeitige Actualität aller jemals 
gehabten Vorstellimgen aufweisen, da vielmehr das zeit- 
weilige Vergessen und Wiedererinnern der Vorstel- 
lungen, d. h. das Problem des Gedächtnisses, für die 
abnormen Bewusstseinszustände ganz ebenso besteht 
wie für den normalen, so kann dasjenige Bewusstsein, 
welches den actuellen Gedächtnissvorrath enthalten und 
erhalten soll, nur als das übersinnliche, in keiner Er- 
fahrung anzutreffende, leibfreie Bewusstsein verstanden 
werden, welchem dann gleichmässig die Aufgabe zufiele, 
als Gedächtnissvorrathskammer sowohl für das normale 
sinnliche, als auch für das abnorme untersinnliche Be- 
wusstsein zu dienen (346). 

Ich halte diesen Erklärungsversuch aus zwei Gründen 
für verfehlt. Erstens würde das übersinnliche Bewusst- 
sein, wenn es alle jemals am Menschen vorüberge- 
zogenen Vorstellungen und Gefühle in gleichzeitiger 
Actualität als seinen Inhalt umfasste, ein sinnverwirren- 
des chaotisches Durcheinander sein, in welchem eben 
so wenig noch bestimmte Vorstellungen enthalten wären, 
wie in der gleichzeitigen Auffuhrung aller bisher ge- 
schriebenen Musikstücke noch Musik wäre; ein solches 
Bewusstsein könnte niemals für irgend welche Erschei- 
nung als Erklärungsprincip dienen, auch .ganz abge- 
sehen davon, dass die Auswahl einer bestimmten Vor- 
stellung aus diesem choatischen Bewusstsein und die 
Art ihres Ueberganges aus demselben in das sinnliche 
Bewusstsein doch immer noch unerklärlich bliebe. Zweitens 
aber soll der indirecte Beweis für die Richtigkeit dieser 
Erklärung doch lediglich in der Unannehmbarkeit der 



— 248 — 

gewöhnlichen physiologischen Erklärung des Gedächt- 
nisses durch Gehimspuren liegen; der Nachweis der 
Unhaltbarkeit dieser letzteren scheint mir aber entschie- 
den misslungen. Indem nämlich du Prel einerseits die 
Wiederholung gleicher Vorstellungen, die Verdichtung 
ähnlicher zu einem gemeinsamen Gedächtnisseindruck 
ausser Acht lässt und das allmähliche Vergessen der 
nicht wieder aufgefrischten Spuren bis zum absoluten 
Verschwinden nach einer kürzeren oder längeren Zeit 
leugnet (314, 320), rechnet er grosse Zahlen von Gehirn- 
spuren heraus, denen jede Berechtigung fehlt; anderer- 
seits unterschätzt er die ausserordentliche Feinheit der 
organischen Materie und deren Fähigkeit, eine unge- 
heure Menge von Spuren nicht nur nebeneinander, 
sondern geradezu ineinander geschoben und verschränkt 
in sich aufzunehmen, wie ja auch eine unglaubliche Zahl 
actueller Bewegungen in jedem Massentheilchen gleich- 
zeitig vor sich gehen. Hätte er aber in seinen Bedenken 
gegen die Feinheit der organischen Hirnmasse Recht, 
so würde doch dieses Bedenken in noch weit höherem 
Grade für die ungleich geringere materielle Dichtigkeit 
des Aetherleibes oder Metaorganismus zutreflFen, auf 
dessen Molecularbewegungen die Summe aller im über- 
sinnlichen Bewusstsein gleichzeitig actuellen Gedächtniss- 
Vorstellungen und Gefühle sich ebenso stützen muss, 
wie die Summe der im sinnlichen Bewusstsein actuellen 
Vorstellungen und Gefühle auf die Molecularbewegimgen 
der Hirnmasse. Diese verfehlte Theorie des Erinnerungs- 
vermögens würde du Prel schwerlich in den Sinn ge- 
kommen sein, wenn er nicht vorher schon die Existenz 
eines übersinnlichen Bewusstseins durch die Verwechse- 
lung mit dem untersinnlichen erwiesen zu haben ge- 
glaubt hätte. 

Die Behauptung, dass die für uns unbewussten 
übersinnlichen psychischen Functionen unseres an und 



— 249 — 

für sich unbewussten Individualsubjects doch ihrerseits 
von einem übersinnlichen Bewustsein begleitet seien, 
ist bis jetzt durch nichts erwiesen, und doch liegt die 
Beweislast dem Behauptenden ob; man wird demnach 
auch ferner logisch im Rechte sein, wenn man sie bis 
auf Weiteres (d. h. bis zur Erbringung des Beweises 
vom Gegentheil) als an und für sich unbewusst be- 
trachtet. Es scheint denn doch eine sehr vie^ einfachere 
und natürlichere Annahme, dass hinter den bewussten 
Functionen des Individualsubjects ohne Störimg der 
Einheit der bewussten Persönlichkeit noch unbewusste 
Functionen desselben verlaufen, als dass in jedem In- 
dividuum zwei Personen verkoppelt sind, deren eine 
(die sinnliche) durch die andere (die übersinnliche) dä- 
monisch besessen ist, ohne etwas davon zu ahnen ! Ins- 
besondere ist zu beachten, dass die höchst bedenkliche, 
aber schlechthin unentbehrliche Hilfshypothese eines 
unsterblichen Aetherleibes oder Metaorganismus mit dem 
Wegfall des übersinnlichen Bewusstseins fortfallt; denn 
bewusste psychische Functionen brauchen zwar ein ma- 
terielles Substrat, an dem sie erst sich selbst empfind- 
lich werden, aber unbewusste psychische Functionen 
sind allemal rein immaterieller Natur. Alle unbewussten 
psychischen Functionen, welche sich auf einen indivi- 
duellen Organismus beziehen, sind durch dieses Ziel zu 
einer individuellen psychischen Gruppe von relativer 
Beständigkeit geeint, ebenso wie sie rückwärts ihren 
Einheitspunkt an dem sie gemeinsam tragenden Sub- 
ject haben. 

Auch ich will keineswegs den Individualgeist oder 
die individuelle Psyche überspringen,*) aber wenn 
du Prel die Frage, ob dieselbe eine substantiell von 



*) Vgl. „Das Unbewusste vom Standpunkte der Physiologie und 
Descendenztheorie** 2. Aufl. S. 297 — 306. 



— 250 — 

ihres Gleichen und vom Absoluten getrennte Monade, 
oder eine blosse Einschränkung oder functionelle Con- 
cretion (dramatische Spaltung) des absoluten Subjects 
sei, offen lässt (72), so habe ich geglaubt, dieselbe zu 
Gunsten der letzteren Seite der Alternative entscheiden 
zu müssen.*) Gerade das Problem der Inspiration des 
sinnlichen Bewusstseins durch unbewusste Functionen 
der Individualseele zwingt in allen Fällen, wo es sich 
um hellsehendes Ahnen von räumlich oder zeitlich weit 
entfernten Vorgängen handelt, zu der Lösung durch 
den concreten Monismus überzugehen, weil hier eine 
rückwärtige Vert)indung aller Individalsubjecte im ab- 
soluten Subject (gleichsam ein centraler Telephon -An- 
schluss für die Inspirationen der unbewussten Indivi- 
dualseele in's Bewusstsein) existirt, während der mo- 
nadologische Individualismus nur die Wahl hat, die 
bezüglichen Thatsachen zu leugnen, oder auf eine ganz 
gewaltsame oder unwahrscheinliche Art als Gefühls- 
wahrnehmungen durch materielle Vermittelung zu er- 
klären (198, 421). 

Hätte du Prel nicht den pathologischen Charakter 
des Somnambulismus verkannt, und in Folge dessen 
nicht das untersinnliche Bewusstsein mit einem über- 
sinnlichen (transcendentalen) verwechselt, so würde sich 
schwerlich eine Differenz zwischen unseren metaphy- 
sischen Deutungen der fraglichen Erscheinungsgebiete 
herausgestellt haben. Von den metaphysischen Conse- 
quenzen seiner irrigen Theorien aber werden nur zwei 
Richtungen, denen er grundsätzlich gleich fem steht, 
Nutzen ziehen: der Spiritismus und die christliche Apo- 
logetik. 



*) „Religion des Geistes" S. 226—228. 



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