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Eduard von Hartmann
Moderne Probleme.
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Leipzig
Verlag von Wilhelm Friedrich
K. R. Hofbochhändler.
1886.
AUe Rechte vorbehalten.
K. ^^5/
2,-
6
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Vorwort.
Dass es mir bisher an Feinden gefehlt habe, wird
niemand behaupten können. Die katholische Kirche
hat mich in amtlichen Kundgebungen und in dicken
Büchern als einen Erzketzer und Hauptfuhrer der wider
Gott anstürmenden Rotte gebrandmarkt, die evan-
gelischen Orthodoxen haben sich auch in dieser Frage
an ihre Rockschösse gehängt, und der liberale Pro-
testantismus wird mir die an ihm geübte Kritik*)
niemals verzeihen. Die Konservativen verabscheuen
mich als religiösen Revolutionär, die Liberalen als einen
Gegner der parlamentarischen Regierungsform, als
Militaristen, Monopolisten und Socialisten ; die Social-
demokraten hassen in mir mit Recht den aristokratisch
gesinnten Gegner alles demokratischen Nivellements,
der speciell die socialdemokratischen Verirnmgen so
scharf mitgenommen hat. **) Die mechanistisch und
darwinistisch gesinnte Welt der Naturforscher hat sich
von der zweiten Auflage meiner Schrift „Das Unbe-
*) In den Kapiteln: „Die Unchristlichkeit des liberalen Protestantis-
mus und „die Irreligiosität des lib. Prot," (Selbstzersetzung des Christen-
thums Cap. VI und VII) und in der Schrift „Die Krisis des Christen-
thums" Abschn. I2, II und IV.
**) In der Satire: „Das Gefängniss der Zukunft" (Gesammelte Studien
und Aufsätze A. X.) und in der Kritik des sozialeudämonistischen Prin-
cips '(Phäomenologie des sittlichen Bewusstseins Abth, IT, B. I.)
"V
— VI —
wusste vom Standpunkte der Physiologie und Descen-
denztheorie" i. J. 1877 so schwer getroffen gefühlt, dass
sie sich seitdem in grollendes Stillschweigen und Igno-
riren gehüllt hat. Die Positivisten und Neukantianer,
welche alle Metaphysik verwerfen und bekämpfen, sehen
in dem Verfasser der Schrift über den „Neukantianismus
u. s. w." einen der gefährlichsten Störer ihrer Cirkel;
die vordarwinschen naturwissenschaftlichen Materialisten
und die Nachfolger Feuerbachs hassen in mir, wie die
Schriften von Stiebeling, J. C. Fischer, Carl Grün und
die Wuthausbrüche Dührings beweisen, einen rück-
ständigen Schwärmer und Obscuranten, und die Opti-
misten aus allen Lagern reichen sich die Hände, um
meinen Pessimismus, den sie nicht verstehen, als Volks-
verderber und Jugendverführer zu verdammen. Die
Hegelianer hatte ich schon durch meine erste Veröffent-
lichung „Ueber die dialektische Methode** vor den Kopf
gestossen, die Schopenhauerianer bereits durch die
Kritik der Schopenhauerschen Moralprincipien (in der
„Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins") verletzt
und durch den Aufsatz „Mein Verhältniss zu Schopen-
hauer" (in den „Philosophischen Fragen der Gegenwart"
Nr. II) ganz in*s Lager meiner Gegner hinübergetrieben,
und den Universitätsphilosophen gegenüber hatte ich
meine ohnehin schon schwierige Stellung als unzünftiger
Konkurrent noch durch verschiedene Aeusserungen
über die Universitätsphilosophie *) verschlimmert.
Unter diesen Umständen hätte ein ganz auf sich
selbst angewiesener, auf keine Klique, kein literarisches
Organ und kein Katheder gestützter Forscher leicht
Bedenken tragen können, die Zahl der ihn umgebenden
Feinde zu vermehren und deren Feindseligkeit zu ver-
*) Gesammelte Studien und Aufsätze No. I; Philosophische Fragen
der Gegenwart No. I.
— :vn —
schärfen. Wenn ich dies trotzdem in den letzten Jahren
im weitesten Umfang gethan habe, so bitte ich darin
keine übermüthige Laune oder muthwillige Händelsucht
zu sehen ; was mich dazu antrieb, gegen so mancherlei
moderne Irrthümer das Wort zu ergreifen, war ein
inneres Bedürfhiss, die Stimme der besonnenen Kritik
zur Geltung zu bringen, ein unerschütterliches Vertrauen
in die siegreiche Kraft der schlichten ungeschminkten
Wahrheit, und ein Gefühl der Verpflichtung, durch
meine völlig unabhängige Stellung mehr als viele
Andere zur Inangriffnahme so peinlicher und undank-
barer Aufgaben berufen zu sein.
Durch meine Schrift „Das Judenthum in Gegen-
wart und Zukunft" habe ich mir nämlich nicht nur bei
den Vertretern des Judenthums selbst, sondern auch
bei den christlichen Philosemiten und nicht minder bei
den Antisemiten viele neue Gegner gemacht, ebenso
durch meine Schrift über den Spiritismus sowohl die
spiritistischen Kreise gegen mich aufgebracht, als
auch dem Widerwillen der Aufklärirngsrationalisten
und Materialisten gegen mich neue Nahrung zuge-
führt. Der Aufsatz „Was sollen wir essen?" hat bei
den Vegetarianern eine förmliche Erbitterung gegen
mich wachgerufen, welche sich bis zu der öffentlichen
Drohung: „es mir nicht vergessen zu wollen", ver-
stiegen hat. „Unsre Stellung zu den Thieren" hat eine
ähnliche Wirkung auf die Antivivisektionisten und senti-
mentalen Thierschützler ausgeübt. „Die Gleichstellung
der Geschlechter" und „Die Lebensfrage der Familie"
hat diejenigen Mitglieder des schönen Geschlechts,
welche für die Emancipation ihrer Schwestern und für
eine ausserfamiliäre Berufsstellung derselben kämpfen,
gegen mich in Harnisch gebracht. „Der Rückgang
des Deutschthums" hat den bei der grossdeutschen
Idee stehen gebliebenen Theil der deutschen Liberalen
— vm —
gegen mich aufgeregt, die preussischen Polen mir zu
unversöhnlichen Feinden gemacht, die Erbitterung des
Ultramontanismus neu geschürt und vor allem bei den
Deutschösterreichern einen Sturm der Entrüstung ent-
fesselt, der wohl nicht ganz ohne Einfluss auf das ak-
tive Aufraffen derselben aus dem doktrinär-liberalen
Schlummer geblieben ist und hoffentlich auch ferner
noch erspriessliche Folgen zeitigen wird. Die Aufsätze
„Zur Reform des Universitätsunterrichts" und „Das
Philosophie-Studium" dürften die Antipathien der Philo-
sophieprofessoren gegen mich, wenn das überhaupt
möglich war, noch verschärft haben, und „Die Ueber-
bürdung der Schuljugend" muss auch diejenigen Päda-
gogenkreise gegen mich verstimmen, welche nicht schon
als Vertheidiger der Realschulen oder Realgymnasien
durch meine frühere Schrift „Zur Reform des höheren
Schulwesens" gegen mich eingenommen waren.
Zum mindesten bürgt das durch zahllose Gegen-
artikel, Vorträge, Zuschriften u. s. w. bekundete Auf-
sehn, welches die Mehrzahl der nachstehenden Aufsätze
schon bei ihrer vereinzelten Veröffentlichung in Zeit-
schriften gemacht hat, dafür, dass dieselben auch in
ihrer nunmehrigen Zusammenstellung einige Beachtung
verdienen dürften-; denn erst in dieser ihrer Vereinigung
lassen sie ihre innere Zusammengehörigkeit, sowohl
unter einander, als auch mit den Schriften über das
Judenthum und den Spiritismus erkennen. Die Ab-
handlimg „Der SomnambuHsmus" bildet eine unmittel-
bare Ergänzung zu der Schrift über den Spiritismus,
indem beide sich gegenseitig erläuternde Arbeiten die
sogenannte „Nachtseite der menschlichen Natur" er-
örtern und entschieden gegen eine neuere, auf den
Geheimbuddhismus gestützte mystische Richtung Front
machen, welche dieses Gebiet eines krankhaften Nerven-
und Seelenlebens zu einer dem normalen Zustand
— IX —
überlegenen höheren Stufe des Geisteslebens aufzu-
bauschen versucht. Die Aufsätze gegen den Vege-
tarianismus, den Antivivisektionismus, die Fraueneman-
cipation und die egoistisch überspannte Missachtung
der Familienpflichten gehören ebenfalls in eine engere
Gruppe zusammen, welche der Schrift über das Juden-
thum schon dadurch näher gerückt ist, dass in ihnen
allen der abstrakte Idealismus und die falsche Senti-
mentalität bekämpft wird.
Bekanntlich hatte Richard Wagner in seinen letzten
Lebensjahren neben andern Eigen thümlichkeiten auch
diejenige, sich zum theoretischen Vertreter des Vege-
tarianismus , Antivivisektionismus und Antisemitismus
aufzuwerfen, und unter demjenigen Theil seiner Jünger
und Anhänger, welcher darauf schwört, dass in dem
Evangelium des Meisters auch seine Art sich zu räuspern
und zu spucken einen untrennbaren Bestandtheil bilde,
spielen auch Vertreterinnen der Frauenemancipation
eine bedeutende Rolle. Hier findet also gleichsam ein
Zusammenfluss der verschiedenen Ströme des abstrakten
Idealismus statt, welche ich in der vorliegenden Schrift
bekämpfe, und es scheint deshalb unvermeidlich, dass
dieselbe bei diesem Kreise noch grösseren Anstoss er-
weckt, als dies schon früher meine Nichtanerkennung
der Schopenhauerschen Mitleidsmoral und Theorie der
Musik und meine Kjritik sowohl des Urbuddhismus (im
,, Religiösen Bewusstsein der Menschheit" B. I, 2) als
auch des Geheimbuddhismus (in den „Philosophischen
Fragen der Gegenwart" Nr. IX) gethan hat.
Mögen diese Blätter trotz aller weiteren An-
feindungen, die ihnen nicht erspart bleiben werden,
einen Leserkreis finden, der geneigt ist, in dem wüsten
Durcheinander fanatischer Parteistimmen auch der
Stimme der parteilosen nüchternen Besonnenheit sein
Ohr zu leihen, und mögen diejenigen, welche meine
— X —
Ansichten nur aus gegnerischen Entstellungen kennen,
sich durch eignen Einblick überzeugen, dass sie nichts
weiter enthalten, als was für jeden Unbefangenen selbst-
verständlich und kaum des Aussprechens bedürftig
scheinen sollte. Wenn aber philosophische Kritiker
sich daran stossen sollten, dass ich mir die Mühe ge-
geben habe, auch Selbstverständliches niederzuschreiben,
so bitte ich sie zu erwägen, dass verkehrten Zeit-
strömungen gegenüber auch das Aussprechen des
Selbstverständlichen sein Recht hat, und dass es des
Philosophen nicht unwürdig ist, auch der populären Be-
handlung von Zeitfragen näher zu treten.
Berlin-Lichterfelde, im Herbst 1885.
Eduard von Hartmann.
Inhalt.
Seite
T, "Was sollen wir essen? i
II, Unsere Stellung zu den Thieren 21
III. Die Gleichstellung der Geschlechter 36
IV. Die Lebensfrage der Familie 50
V. Der Rückgang des Deutschthums 85
VI. Zur Reform des Universitätsunterrichts II4
VII. Das Philosophie-Studium 134
VITI. Die Ueberbürdung der Schuljugend 150
IX. Die preussische Schulreform von 1882 162
X. Der Bücher Noth 170
XI. Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit 177
XII. Der Somnambulismus 184
I.
Was sollen wir essen?
In ärztlichen Kreisen hat im letzten Menschenalter
ein hauptsächlich von England ausgegangener Umschwung
der Ansichten über die Diät stattgefunden, der die
Fleischkost in weit höherem Masse bevorzugt, als es
früher üblich war. Im Gegensatz hierzu erklären die
vegetarianischen Bestrebungen die reine Pflanzenkost
für die allein naturgemässe, rationelle und humane Er-
nährungsweise und machen mit der Kraft einer religi-
ösen Ueberzeugung das künftige Heil der Menschheit
von dem Verzicht auf alle Fleischkost abhängig. Die
Frage scheint wichtig genug, um sie in reifliche Erwä-
gung zu ziehen.
Das für ein organisches Wesen Naturgemässe ist
an zwei Merkmalen zu erkennen: an der Einrichtung
seiner Organisation und an seinen Instinkten. Beide
weisen übereinstimmend dem Menschen seine Stellung
unter den Omnivoren (Allesfressern) an, zu denen bei-
spielsweise auch die Schweine, Bären und Affen ge-
hören. Magen und Darm des Menschen sind nicht wie
diejenigen der Wiederkäuer für das Verdauen von Gras
und Blättern eingerichtet, aber der Darm hat doch eine
bedeutend grössere relative Länge als bei den auf reine
Fleischkost angewiesenen katzenartigen Raubthieren.
Hartmann, Moderne Probleme. I
— 2 —
Das menschliche Gebiss ist wie dasjenige aller Omni-
voren aus Schneidezähnen, Reisszähnen und Mahlzähnen
zusammengesetzt; die reinen Fleischzähne machen nur
den achten Theil des Gesammtbestandes aus, was aller-
dings *auf ein Uebergewicht vegetabilischer Kost hin-
deutet. Die Instinkte des Menschen weisen ebenso wie
die aller übrigen Omnivoren darauf hin, dass die Fleisch-
nahrung in gewissem Sinne die werthvoUere für seinen
Organismus ist; bei offen stehender Auswahl stürzen
sich alle Omnivoren zunächst mit Gier auf das Fleisch.
Hieraus könnte man schliessen, dass die Schneide- und
Mahlzähne den Omnivoren von der Natur nur deshalb
verliehen seien, um für den Fall des zeitweiligen Mangels
an den schwerer zu erlangenden animalischen Nahrungs-
mitteln doch keinen Hunger zu leiden, sondern auf vege-
tabilische Nahrungsmittel zurückgreifen zu können. Aber
so einfach liegt die Sache doch nicht. Denn wo der
Instinkt nicht schon durch dauernde Gewöhnung de-
naturirt ist, pflegt auf die erste Gier nach Fleisch bald
eine Reaktion der Uebersättigung zu folgen, wo ein um
so stärkeres Verlangen zur Rückkehr nach pflanzlichen
Nahrungsmitteln hervortritt.
Die Nahrungsinstinkte des Menschen zeigen ausser-
dem thatsächlich bedeutende Abweichungen nach Klima,
Alter, Geschlecht, Arbeitsleistung und Individualität. In
tropischen Ländern, wo nur ein geringer Wärmeverlust
zu decken und intensive Arbeit kaum möglich ist, wo
also der Körper ohnehin nur eine geringe Menge von
täglicher Nahrung zu verdauen braucht, reicht seine
Verdauungskraft auch bei vegetablischer Ernährung mehr
als aus, so dass Fleischkost selbst bei grösster quanti-
tativer Massigkeit leicht zur Ueberemährung führt; in
den Polargegenden dagegen ist ein so starker Ersatz
durch Nahrung erforderlich, dass auch die beste Ver-
dauung unfähig wäre, die nöthige Assimilation aus vege-
1
tabili scher Kost zu vollziehen. Der äquatorialen Ge-
nügsamkeit entspricht demnach die instinktive Bevor-
zugung von Nahrungsmitteln mit geringstem Nährwerth
(Obst, Reis etc.), der polaren Gefrässigkeit das instink-
tive Bedürfniss nach Nahrungsmitteln von höchstem
Nährwerth bei leichtester Verdaulichkeit (Fleisch, Fett,
Thran etc.). In den gemässigten Zonen wiederholen
siqh diese Gegensätze in gemässigter Form: während
der faulenzende Süditaliener und Südspanier nichts be-
gehrt als eine Hand voll Datteln und Feigen nebst einer
Zwiebel oder allenfalls Maccaroni, kann der englische
Arbeiter oder der deutsche Sackträger nicht Fleisch
und Speck genug bekommen. Im Durchschnitt tritt im
gemässigten Klima der omnivore Instinkt des Menschen
in ungetrübter Reinheit ans Licht, während er durch
excessive Hitze oder Kälte nach der Seite der Pflanzen-
nahrung oder Fleischnahrung hin abgelenkt wird. Dies
lässt darauf schliessen, dass der Mensch einem gemäs-
sigten Klima seinen Ursprung verdankt, weil nur in
diesem sein Instinkt mit seiner Organisation im Ein-
klang ist.
Wie die klimatischen Abweichungen vom normalen
Instinkt als zweckmässige Anpassungen erscheinen, so
auch die durch Alter, Geschlecht, Individualität und Ar-
beitsleistung bedingten Abweichungen. Die geschwächte
Verdauungskraft des Alters verlangt nach einem stär-
keren Grade von Fleischzusatz in der Nahrung, während
der kindliche und jugendliche Appetit auf Obst und Ge-
müse im Alter mehr und mehr schwindet. Das männ-
liche Geschlecht hat im Durchschnitt stärkeren „Fleisch-
hunger" als das weibliche, auch abgesehen davon, ob
es durch ein grösseres Mass von Arbeit ein stärkeres
Ersatzbedürfniss hat; es scheint vermittelst einseitiger
Vererbung im männlichen Geschlecht die durch stärkere
Arbeitsleistung geweckte Neigung zur Fleischkost sich
I*
durch lange Generationen hindurch summirt und befestigt
zu haben. Wer aus Ständen, Familien oder Gegenden
gebürtig ist, in denen ein beträchtlicher Fleischzusatz
zur Nahrung Generationen hindurch üblich war, wird
sich immer nur im Kampfe mit seiner instinktiven Nei-
gung auf reine Pflanzenkost zurückziehen; wer hingegen
sowohl für seine Person als auch durch seine Vorfahren
auf Pflanzenkost eingerichtet ist, wird doch in reiferem
Alter eine allmählich zunehmende Verstärkung des
Fleischzusatzes bis zu einer gewissen Grenze hin immer
mit Behagen empfinden. Diese Grenze ist allerdings
individuell verschieden je nach der Verdauungskraft und
den qualitativen Bedürfnissen des Organismus, und es
ist nicht zu bestreiten, dass es ganz ausnahmsweise auch
in gemässigten Klimaten Individuen, besonders solche
weiblichen Geschlechts gibt, die eine ausgesprochene
Idiosynkrasie gegen Fleischnahrung haben. Solche in-
dividuellen Abweichungen des Nahrungsinstinkts können
pathologisch, sie können aber auch physiologisch be-
dingt sein, und selbst auf pathologischer Grundlage kön-
nen sie ebensowohl zweckmässige Heilinstinkte, wie
krankhaft perverse Instinkte sein.
Nimmt man den Durchschnitt des menschlichen
Nahrungsinstinktes in gemässigtem Klima zum Mass-
stabe, so findet man ihn wesentlich mit der Organisa-
tion seines Gebisses übereinstimmend, d. h. so, dass der
grössere Gewichtstheil der täglichen Nahrung vegetabi-
lischen , der kleinere animalischen Ursprungs sein muss,
um ihm zu genügen.
Ein Unterschied besteht allerdings zwischen beiden
Massstäben , insofern der Instinkt mehr als den achten
Theil Fleisch in der Kost verlangt, wie man es nach
dem Gebiss erwarten sollte; diess dürfte sich daraus
«erklären, dass das Gebiss, welches der Mensch von den
Omnivoren Thieren überkam, auf den achten Theil rohen
— 5 —
Fleisches berechnet ist, der Mensch aber gebratenes
und gekochtes Fleisch bequem auch mit den Mahlzähnen
kauen kann. Dem Instinkt nach gemischter Nahrung
entspricht der Instinkt nach Abwechselung zwischen
Fleisch- und Pflanzenkost, wenn die wünschenswerthe
Mischung beider nicht zu erlangen ist.
Die naturgemässe Kost des Menschen ist also we-
der die reine Fleisch-, noch die reine Pflanzenkost, son-
dern die gemischte oder in den Mahlzeiten zwischen
beiden wechselnde, allerdings mit Ueberge wicht der
pflanzlichen Bestandtheile. Gegen diese Thatsache lehnt
sich der Vegetarianismus vergebens auf, der ausserdem
die berechtigte Verschiedenheit der Zusammensetzung
je nach Klima, Alter, Geschlecht, Individualität und Ar-
beitsleistung völlig verkennt. Auf den Instinkt des
Menschen ist er deshalb als auf einen „kannibalischen",
als auf ein ererbtes Ueberlebsel thierischer Roheit
schlecht zu sprechen, und es ist der grösste Kummer
der Vegetarianer, dass so wenige von denen, welche
vegetarianischen Principien huldigen, im Stande sind,
sich gegen die Rückfalligkeit in die vom Instinkt ge-
forderte gemischte Kost zu wahren. Mag er darin vom
humanen Standpunkt aus recht haben oder nicht, jeden-
falls hat er das Recht damit verwirkt, sich für die
„naturgemässe Lebensweise" zu proklamiren. Will er
doch die Behauptung aufrecht erhalten, so muss er zu
der Hilfshypothese greifen, dass der Instinkt des Men-
schen ein widernatürlicher, degenerirter sei. Aber wo-
durch soll er degenerirt sein? Und wie lässt sich diese
Behauptung vereinigen mit der Thatsache, dass alle
Thiere mit gemischtem Gebiss Omnivoren sind, und alle
Omnivoren weit gieriger auf Fleischkost als auf Pflan-
zenkost sind? Man sehe nur, wie ein Afl^e in Leiden«
Schaft geräth, wenn er eine Taube im Zimmer bemerkt,
während er die gebotenen Früchte zwar mit Behagen^
— 6 —
aber ohne besondere Erregung hinnimmt. Wenn es
Specien mit gemischtem Gebiss giebt, deren Xahrungs-
instinkt die Pflanzenkost bevorzugt, so ist diess eine
Discrepanz zwischen Organisation und Instinkt, welche
nur auf einer nachträglichen Anpassung des animalen
Typus an die Lebensverhältnisse entstanden sein kann.
Diese Anpassung kann entweder auf einer Unzuträg-
lichkeit des Klimas für Fleischkost, oder auf der Leich-
tigkeit der Versorgung mit nahrhaften und schmack-
haften Früchten für Kletterthiere, oder auf der Schwer-
fälligkeit und Waffenlosigkeit des Arttypus, welche den
Raub von Beutethieren erschwert, oder auf einer Ver-
bindung dieser Umstände beruhen. Aber wenn auch
<iie bis jetzt völlig unerwiesene Behauptung wahr wäre,
dass gerade die menschenähnlichen Affen im .Naturzu-
stande eine Degeneration des Instinktes nach dieser
Richtung hin zeigen, so ist daraus doch nicht zu schlies-
sen, dass es für den Menschen naturgemäss sei, eben-
falls diesem degenerirten Affeninstinkt zu folgen, der
thatsächlich nicht der seinige ist, und dessen Anpas-
sungsmotive für ihn nicht mehr zutreffen. Denn der
Mensch lebt zumeist in einem gemässigteren Klima, als
die menschenähnlichen Affen, ist nicht so Kletterthier
wie sie, schafft sich die ihm von der Natur versagten
Waffen und macht das Fleisch durch Zubereitung leich-
ter verdaulich. Da der Mensch nicht von den uns be-
kannten menschenähnlichen Affen abstammt, braucht er
auch nicht erst deren degenerirten Nahrungsinstinkt zu
restituiren, sondern nur den naturgemässen seiner thieri-
schen Vorfahren zu konserviren.
Es entsteht die weitere Frage, ob die vegetabilische
Ernährung rationeller sei, d. h. dem Menschen mehr
Vortheile oder weniger Nachtheile biete als die anima-
lische. Denn wenn es auch am nächsten liegt, die
naturgemässe Lebensweise zugleich für die vernünftige
~ 1 —
zu halten, so ist doch durch den Glauben an die Zweck-
mässigkeit der Natur im Allgemeinen die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass etwas für den Naturzustand
Passendes Jm Kulturzustand einschneidender Abände-
rungen bedarf, um den höheren Zwecken des Kultur-
lebens zu genügen. Deshalb kann die Untersuchung,
ob etwas naturgemäss sei oder nicht, niemals das letzte
Wort haben; denn der aus der Natur hervorwachsende
bewusste Geist ist zwar selbst noch einerseits etwas
Natürliches, anderseits etwas über die Natur Erhabenes,
also etwas Natürliches von höherer Ordnungsstufe, wel-
ches die Naturzweckmässigkeit fortsetzt und steigert,
indem es das Naturgemässe niederer Ordnungsstufe nach
seinen Bedürfnissen modelt.
Die Vegetariciner behaupten, dass die Pflanzenkost
den Menschen im Durchschnitt gesunder und wider-
standsfähiger gegen Krankheiten mache als gemischte
Kost; die Mehrzahl der Aerzte behauptet dagegen, dass
eine Vermehrung der Fleischbestandtheile in der ge-
mischten Kost den Menschen im Durchschnitt gesunder
und widerstandsfähiger gegen Krankheiten mache. Ich
meine, dass die naturgemässe Kost unter normalen Ver-
hältnissen dem Menschen auch am besten bekommt,
dass für einen geschwächten oder in schlechtem Ernäh-
rungszustand befindliche Organismus eine womöglich
nur vorübergehende Verstärkung des Fleischzusatzes
vortheilhaft ist, und dass es irrationell ist, sich in ge-
sunden Tagen mit zu starkem Fleischzusatz zu verwöh-
nen, weil damit die Möglichkeit einer vortheilhaften
Steigerung in Krankheitsfällen ausgeschlossen ist. Da-
bei ist zuzugeben, dass durch die ärztliche Bevorzugung
der Fleischkost nicht selten die Grenze der vortheilhaf-
ten Mischung überschritten wird, die namentlich bei
manchen jüngeren weiblichen Individuen ziemlich tief
liegen kann, und dass in solchen Fällen die Betreffen-
-. 8 —
den den Uebergang zur reinen Pflanzenkost für zuträg-
licher verspüren können als die übertriebene Fleisch-
diät, weil erstere von ihrer natürlichen Mischungslinie
weniger weit abliegen kann als letztere. Ferner ist zu
berücksichtigen, dass in Folge der steigenden Wohl-
habenheit der Kulturvölker in den letzten Menschen-
altern in allen Gesellschaftsschichten die Nahrhaftigkeit
der durchschnittlichen Verköstigung sehr gestiegen ist^
so dass bei der Anpassung des ererbten Appetits an
eine schlechtere Kost eine gewisse Ueberernährung
gegenwärtig sehr verbreitet ist; will man solche Ueber-
ernährung mit ihren gesundheitsschädlichen Folgen be-
seitigen, so ist das einfachste Mittel, bei den Mahlzeiten
massiger zu sein, das demnächst einfachste, zu einer
minder nahrhaften Kost zurückzukehren, so dass die ge-
sundheitsdienlichen Folgen der vegetarianischen Kost
bei überernährten Vielessern leicht erklärlich sind.
Ausserdem können die vielfach behaupteten Vortheile
einer vegetarianischen Lebensweise in naturgemässen
Lebensvorschriften (Leben in frischer Luft, Vermeidung
von Spirituosen und Pflanzenalkaloiden u. s. w.) gesucht
werden, welche mit einer naturgemässen gemischten
Kost ebenso gut zu vereinigen sind, wie mit reiner
Pflanzenkost; insofern der Uebergang zu beiden zugleich
gemacht wird, wird häufig der letzteren Ursache eine
Wirkung zugeschrieben, die nur von der ersteren ab-
hängt. Wo hingegen unter völligem Gleichbleiben der
sonstigen Lebensgewohnheiten nicht etwa eine über-
triebene Fleischkost, sondern eine individuell naturge-
mässe, gemischte Kost mit reiner Pflanzenkost ver-
tauscht wird, da wird der Regel nach eine Schwächung
des Organismus durch Herabsetzung seines Ernährungs-
zustandes die Folge sein, und nur ausnahmsweise wird
dieses Ergebniss in unmerklich geringem Grade ein-
treten, sei es, dass der Betreffende eine hinreichend gute
— 9 —
Verdauung hat, um erheblich mehr essen und trinken
zu können als bisher, sei es, dass die Linie der richti-
gen Mischung für ihn ohnehin schon sehr nahe an der
reinen Pflanzenkost lag.
Da diese Behauptungen nicht streng zu erweisen
sind, ebensowenig wie diejenigen der Vegetarianer und
der Schwärmer für möglichst reine Fleischkost, zwischen
denen sie in der Mitte liegen, so können wir über die-
sen Punkt hinweggehen; wir können es um so eher,
als selbst die Vegetarianer sich meist damit begnügen,
auf anderm Wege zu begründen, dass ihre Pflanzenkost
die allein rationelle sei. Sie sagen nämlich, die Pflan-
zenkost ist im Stande, dieselbe chemische Zusammen-
setzung der Speisen zu liefern wie die Fleischkost, ist
also nicht geringer an Nährwerth als diese; sie schützt
aber vor den Gefahren, welche die Fleischkost mit sich
führt, ist also in Summa besser als diese.
Nun ist es zwar richtig, dass Pflanzenkost dieselbe
chemische Zusammensetzung der Speisen liefern kann
wie Fleischkost, aber es ist unrichtig, den Nährwerth
der Speisen bloss nach ihrer chemischen Zusammen-
setzung zu schätzen. Vielmehr ist derselbe ebensosehr
durch den Verdaulichkeitsgrad der Speisen wie durch
ihre chemische Zusammensetzung bedingt, und zwar
nicht nur in dem Sinne, dass der Procentsatz der von
den dargebotenen Nährstoffen assimilirten Nährstoffe
entscheidet, sondern ausserdem noch mit Berücksichti-
gung der bei der Verdauung gleicher Procentsätze ver-
brauchten lebendigen Kraft. Der Vorzug der Fleisch-
kost für den Organismus liegt darin, dass sie nicht nur
einen grösseren Procentsatz der dargebotenen chemi-
schen Stoffe assimiliren lässt, sondern auch dem Orga-
nismus bei der Assimilirung gleicher procentualischer
Mengen eine geringere Arbeitsleistung zumuthet. Der
Nährwerth eines Stoffes ist proportional der bei normaler
lO
Verdauung assimilirbaren Quote desselben abzüglich
desjenigen Theils derselben, welcher das Aequivalent der
bei der Verdauung verbrauchten lebendigen Kraft dar-
stellt, und vom Organismus vorweggenommen werden
muss, um nur den Status quo vor der Verdauung wieder
herzustellen, Lässt man zwei Gruppen von Sperlingen
gleiche Zeiten hungern und bietet dann der einen Gruppe
Kömerfutter, der anderen gehacktes rohes Fleisch, so
erholt sich ein weit grösserer Procentsatz bei letzterer
als bei ersterer Behandlung; d. h. die Leich Verdaulich-
keit einer Speise fallt um so mehr ins Gewicht, je we-
niger lebendige Kraft ein Organismus für die Verdau-
ungsarbeit noch übrig und verfügbar hat.
Nun haben alle einigermassen leichtverdaulichen
pflanzlichen Nahrungsmittel einen im Vergleich zum
Fleisch nur sehr geringen Nährwerth; dagegen gehören
die einzigen PflanzenstofFe, deren chemische Zusammen-
setzung mit derjenigen des Fleisches wetteifern kann,
die Hülsenfrüchte, zu den am allerschwersten verdau-
lichen Nahrungsmitteln. Deshalb fallt es auch den Vege-
tarianern gar nicht ein, ihre Mahlzeiten durch hinreichen-
den Zusatz von Hülsenfrüchten der chemischen Zusam-
mensetzung einer Fleischmahlzeit anzunähern, weil schon
der Instinkt sich gegen solche tägliche Belastung des
Magens mit Hülsenfrüchten sträuben würde; vielmehr
begnügen sie sich mit Mahlzeiten von viel geringerem
theoretischen Nährwerth als Fleisch und benutzen das
Vorhandensein der Hülsenfrüchte mehr nur als theore-
tisches Argument. Aber auch diejenigen PflanzenstofFe^
welche einen erheblich geringeren theoretischen Nähr-
werth haben als Fleisch, sind trotzdem für einen nor-
malen menschlichen Organismus immer noch schwerer
verdaulich als Fleisch. Hiernach ist jede auf die Dauer
erträgliche Pflanzenkost sowohl um vieles ärmer an
Nährstoffen als die Fleischkost, als auch schwerverdau-
I
J
1 1 —
lieber als diese, so dass die vegetarianische Behauptung
dass beide im Nährwerth gleichsteben, den Tbatsachen
in jeder Hinsicht widerspricht.
Dass das Fleisch von kranken Thieren, besonders
wenn es nicht gut gekocht oder gebraten ist, Krank-
heiten im Gefolge haben kann, ist ebensowenig zu be-
streiten, wie dass man durch den Genuss von unge-
kochten PflanzenstoiFen (Salaten etc.) krank werden
kann; den Finnen und Trichinen stehen die Eier des
Hundebandwurms gegenüber, die im Menschen zum
verderblichen Echinococcus auswachsen. Rohe Pflanzen-
theile und rohes Fleisch sind beide gefahrlich, gekocht
beide ungefährlich, besonders da wo gute Gesundheits-
polizei gehandhabt und für den Verlust an erkranktem
oder unbrauchbarem Schlachtvieh Entschädigung ge-
leistet wird. Völlig haltlos ist die vegetarianische Be-
hauptung, dass auch sogencuintes gesundes Fleisch, weil
es sich beim Genuss in dem mit der Leichenstarre be-
ginnenden Stadium der Fäulniss befinde, ein schädliches
Reizmittel sei, welches besonders auf die Nerven und
die Herzthätigkeit verderblich einwirke. Will man jede
rückschreitende Metamorphose Fäulniss nennen, so ist
auch die Verdauung ein Fäulnissprocess, und befinden
sich dicke Milch, Butter, Käse, alle gegohrenen Getränke ■
und alles Hefegebäck oder Honiggebäck ganz ebenso
und in noch höherem Grade im Zustande der Fäulniss
wie gesundes Fleisch, das bekanntlich einige Tage nach
dem Schlachten viel gesünder und leichter verdaulich
ist als unmittelbar nach demselben, und zwar deshalb,
weil die rückschreitende Metamorphose vqr dem Genuss
dem Verdauungsprocess einen Theil seiner Arbeit er-
spart. Dass ein massiger Genuss gesunden Fleisches
für Nerven und Herzthätigkeit „verderblich" sei, ist
geradezu aberwitzig, und nicht minder grundlos ist die
Behauptung, dass erst der Fleischgenuss zum Missbrauch
12
von Gewürzen und Spirituosen verleite ; denn der ^liss-
brauch von Gewürzen ist am grossten bei Gemüsen,
Mehlspeisen und Gebäck, nicht bei reinen Fleischspeisen,
den meisten Branntwein konsumiren die kartoffelessen-
den Irländer und die kohlessenden Polen und Russen,
und die Naturvölker stürzen mit gleicher Gier auf das
importirte Feuerwasser, mögen sie an Pflanzenkost oder
gemischte Kost gewöhnt sein. Wenn die Vegetarianer
sich darauf beschränken wollten, den Genuss rohen
Fleisches als gesundheitsgefährlich zu bekämpfen und
auf Verbesserung der das Schlachtvieh betreffenden
Gesetze und Einrichtungen hinzuwirken, so wären sie
ebenso sehr im Recht, wie sie jetzt über das Ziel
hinausschiessen, wenn sie allen Fleischgenuss als ge-
sundheitsgefahrlich bekämpfen. Selbst bei dem früheren
Fehlen aller Vorsichtsmassregeln war doch der Procent-
satz der Geschädigten so imerheblich, dass er gar nicht
in Betracht kommen konnte gegen den Nachtheil, wel-
chen die gänzliche Enthaltimg vom Fleischgenuss der
Leistungsfähigkeit des Volkes zugefügt haben würde.
Es muss demnach der Versuch des Beweises, dass die
Pflanzenkost bei gleichem Nährwerth geringere Nach-
theile als die Fleischkost im Gefolge habe und darum
vorzuziehen sei, in beiden Theilen als missglückt gelten.
Aber wenn die Pflanzenkost nicht rationell heissen
kann in Bezug auf den einzelnen, der sie geniesst, so
könnte sie darum doch rationell sein in Bezug auf die
Völker, welche sie annehmen, und dies in solchem
Masse, dass selbst die Nachtheile, die sie für den ein-
zelnen hat, dagegen zurücktreten müssen. In der That
behaupten die Vegetarianer, dass allgemeiner Uebergang
zur Pflanzenkost den Speiseluxus beseitigen und da-
durch einen Hauptgrund zur neidischen Unzufriedenheit
der ärmeren Klassen aus der Welt schaffen würde.
Nun ist zuzugeben, dass nichts so sehr den Neid der
I
n
Armen erregt, als die Fleischtöpfe der Wohlhabenderen,
die ihnen unerschwinglich sind, d. h. dass die sociale
Frage noch weit mehr Fleischfrage als Brodfrage ist;
allein dies spricht gerade gegen den Vegetarianismus,
und beweist, dass derselbe die letzten Triebfedern des
Völkerlebens verkennt. Die Sehnsucht nach den Fleisch-
töpfen wird in den Massen niemals erlöschen, auch wenn
alle gebildeten Stände behufs Lösung der socialen Frage
zu Vegetarianern würden, und eben darum ist die so-
ciale Frage, insofern sie „Fleischfrage" ist, auf diesem
Wege nicht zu lösen. Anderseits würde schon heute
jeder Deutsche täglich Fleisch essen können, also aus
diesem Grunde die Reichen nicht mehr zu beneiden
brauchen, wenn er es nicht vorzöge, das dazu für ihn
und seine Familie mehr als ausreichende Geld für sich
allein auf Schnaps, Bier und Cigarren zu verwenden.
Wenn der Vegetarianismus seine Agitation gegen diese
gesundheitsschädlichen und socialgef ährlichen Genuss-
mittel richten wollte, so wäre mit einem Erfolg auf
diesem Felde die sociale Frage, soweit sie „Fleisch-
frage" ist, von selbst mitgelöst. Uebrigens ist es ein
Irrthum, dass der Speiseluxus bloss an Fleischspeisen
gebunden ist; er kann sich in der vegetarianischen
Küche ebensogut entfalten, und würde sich ohne Zweifel
in derselben zu gleichen Uebertreibungen verirren, so-
bald es nur erst eine grössere Anzahl sehr reicher
Vegetarianer gäbe.
Eine andere Frage ist die, wie sich die Ernährung
der Menschheit in einer Zukunft gestalten wird, in
welcher alle Erdtheile so dicht bevölkert sein werden
wie jetzt Europa. Diese Fragen haben nicht wir zu
lösen, die wir heute ebensowenig im Stande wären,
ohne Getreideeinfuhr zu leben als ohne Vieheinfuhr.
Sollte einmal alles Schlachtvieh von der Erde ver-
schwinden und jede Wiese zum Acker werden, von
— 14 —
dessen Früchten sich die Menschen unmittelbar ernähren
. müssen, dann wird die Menschheit jener fernen Zukunft
sicherlich einen Charakter energieloser Mittelmässigkeit
zeigen, ebens^ wie es heute die vorwiegend vegetaria-
nischen Völker thun. Denn es scheint, dass die Pflanzen-
kost zahmer, sanfter, geduldiger, indolenter, unfähiger
zu hervorragenden körperlichen und geistigen Leistungen,
unfähiger zur Initiative, zu energischen Ent Schliessungen,
kurz passiver, willenloser, quietistischer und geistloser
macht, und dass es nur die passiven Tugenden und
das vegetative Traumleben (Somnabulismus u. dergl.)
sind, welche durch dieselben begünstigt werden. Für
die vegetativen und reproduktiven Aufgaben des Lebens,
wie sie bei Landleuten und beim weiblichen Geschlecht
überwiegen, mag Pflanzenkost ausreichen, nicht aber
für die gesteigerten Anforderungen an gesteigerte Pro-
duktivität, wie das moderne Kulturleben der Städte,
insbesondere der Grossstädte, sie an die arbeitenden
Männer stellt. Mit dem Fleischgenuss seiner kultur-
tragenden Minderheit hört ein Volk auf, eine aktive
Rolle in der Geschichte zu spielen und verzichtet auf
die thätige Mitarbeit am Kulturprocess , welche einen
durch blosse Pflanzenkost nicht zu erzielenden Ueber-
schuss an geistiger Energie über die Bedürfnisse des
vegetativen Lebens hinaus erfordert. Nur solche reli-
giöse und philosophische "Weltanschauungen können
ohne Widerspruch mit sich selbst den Vegetarianismus
als wesentlichen Bestandtheil in sich aufnehmen, welche
keine Entwickelung , keinen Fortschritt, keinen realen
Weltprocess, kurz keine aktiven sittlichen Kulturauf-
gaben der Menschheit anerkennen, sondern in einem
entwickelungslosen Traumidealismus und dem davon un-
abtrennbaren passiven Quietismus befangen sind.
Die reine Pflanzenkost ist nach alledem ebenso-
wenig rationell wie naturgemäss ; sie ist vielmehr eben-
V „ -
so kulturwidrig wie naturwidrig. Es bleibt nur noch
die letzte Begründung des Vegetarianismus durch Huma-
nitätsrücksichten zu erörtern. Nun kann es aber keine
angebliche Humanitätsrücksicht geben, welche im Stande
wäre, etwas zu rechtfertigen, das zugleich naturwidrig
und kulturfeindlich ist; wäre wirklich jede Abweichung
von reiner Pflanzenkost so inhuman, wie die Vegetari-
aner behaupten, so müsste man diese Inhumanität ruhig
mit in den Kauf nehmen, um nicht gegen die sittliche
Pflicht der Menschheit zur Erfüllung ihrer Kulturaufgabe
zu Verstössen, und könnte die Verantwortung für solche
Inhumanität getrost der Vorsehung anheimgeben, welche
unsere Natur so eingerichtet hätte, dass wir nur auf
inhumanem Wege unsere Mission erfüllen könnten. In
der That tritt aber bei dem. Streit um die Humanität
eine Verschiebung der Frage ein, welche von den Vege-
tarianern in der Regel geflissentlich verdunkelt wird.
Die Behauptung, dass es inhuman sei, Milch, Butter,
Käse und Eier zu geniessen, würde in den heutigen
Ansichten unseres Volkes kein Verständniss finden;
deshalb beschränken sich die Vegetarianer auf die Be-
hauptung, dass das Tödten von Thieren zum Zweck
des Fleischgenusses inhuman sei. Die Humanitätsrück-
sicht dient also nur zur Begründung jenes Vegetarianis-
mus der laxeren Observanz, welcher nicht die Nahrungs-
mittel animalischer Herkunft, sondern nur den Fleisch-
genuss als solchen bekämpft.
Nun ist es zweifellos, dass man mit einer richtigen
Mischung aus Pflanzenkost und Milch, Butter, Käse
und Eiern vortrefflich bestehen und allen Anforderungen
des Lebens genügen kann; eine solche Kost ist aber
eben keine Pflanzenkost, sondern eine gemischte Kost,
also eine zwar naturgemässe und rationelle, aber eben
nicht vegetarianische Diät. Wäre die Behauptung der
Vegetarianer, dass reine Pflanzenkost die allein natur-
— i6 —
gemässe und rationelle Diät ist, richtig, so müsste die
gemischte Kost, gleichviel ob ihre animalischen Bestand-
theile von lebenden oder todten Thieren stammen,
naturwidrig und irrationell sein; ist sie das aber nicht,
so ist eben damit jene Behauptung des Vegetarianismus
preisgegeben. "Wenn die Fleischkost nur insoweit ver-
werflich ist, als sie das Todten lebender Geschöpfe zum
Verspeisen herbeiführt, nicht aber sofern sie die Pro-
dukte lebender Thiere umfasst, dann ist damit zuge-
standen, dass nicht die animalische oder vegetabilische
Herkunft der Nahrungsmittel als solche, sondern die
näheren Umstände ihrer Erlangung, nicht die Ange-
messenheit an unsere Organisation und Lebenszwecke,
sondern Rücksichten, die auf einem ganz anderen Ge-
biet liegen, für die Entscheidung massgebend sind. Da
die Bedenken gegen das Fleisch als gelegentlichen
Krankheitsträger schon oben erledigt sind, so müssten
diese Vegetarianer der laxeren Observanz zugeben,
dass die Erweiterung ihrer Tafelgenüsse durch Braten
und Fisch ihnen sehr erwünscht sein müsste, wenn nur
ein Engel ihnen diese Speisen vom Himmel brächte
mit der Versicherung, dass sie nicht von getödteten
Thieren entnommen, sondern durch ein Wunder ge-
schaffen seien. Dies ist also ein principiell anderer
Standpunkt, und es ist inconsequent, beide miteinander
verknüpfen zu wollen; die Vertreter dieses Standpunkts
sollten ihn als Antikannibalismus streng vom Vegetaria-
nismus unterscheiden.
Das Humanitätsargument stellt nämlich das Ver-
zehren von getödteten Thieren dem Verzehren von ge-
tödteten Menschen, d. h. dem Kannibalismus, gleich, in-
sofern auch die Thiere als unsere Brüder im Reiche des
Lebens zu betrachten seien. Dieses Argument beweist
schon darum nichts, weil es zu viel beweist. Es ist eine
oberflächliche und unwissenschaftliche Volksmeinung,
— 17 —
dass ein Eidotter eine homogene Flüssigkeit und nicht
ebensogut ein lebendes und empfindendes Individuum
wie etwa ein Spanferkel sei; es ist ein Vorurtheil, dass
nur die Thiere unsere Brüder im Reiche des Lebens
und der Empfindung seien, die Pflanzen aber nicht. Es
ist reine Willkür, die Grenzlinie, jenseits deren wir das
Lebendige zum Verzehren tödten dürfen, zwischen Thier
und Pflanzenreich zu ziehen; ein anderer könnte mit
gleichem Recht oder Unrecht diese Grenze zwischen
Wirbelthieren und Wirbellosen, ein dritter zwischen
Warmblütern und Kaltblütern, ein vierter zwischen den
Affen und den übrigen Säugetieren, ein fünfter zwischen
den anthropoiden und den übrigen Affen ziehen. Dies
alles ist grundlose Willkür der subjektiven Meinung
und aus wissenschaftlichem Gesichtspunkt gleich unhalt-
bar; aus letzterem giebt es nur zwei in sich conse-
quente Standpunkte, zwischen denen man zu wählen hat.
Entweder nämlich muss man die Grenze zwischen
der organischen und anorganischen, der lebendigen und
leblosen Natur ziehen, oder aber zwischen der Species,
zu welcher wir gehören, und allen übrigen Specien. Im
ersteren Falle verzichtet man auf allen organisirten, d. h.
lebendigen und lebensfähigen Nährstoffe (wozu alle
Blätter, Keime und Samen gehören) und auf alle orga-
nischen fJährstoffe, die nur durch Tödtung von leben-
den Pflanzen oder Pflanzentheilen zu erlangen sind, und
beschränkt sich auf solche organische Nährstoffe, welche
nicht mehr lebensfähige natürliche Sekrete von Pflanzen
oder Reste von schon abgestorbenen Pflanzen sind,
oder auf noch zu erfindende künstliche Nährstoffe, die
von der synthetischen Chemie aus unorganischen Stoffen
im Laboratorium zu bereiten sind. Im letzteren Falle
dagegen beschränkt man den Kannibalismus, wie die
Natur selbst es im ganzen Thi erreich thut, auf die In-
dividuen der eigenen Species; denn jedes Thier frisst
Hartmann Moderne Probleme. 2
— i8 —
ungescheut Thiere anderer Art, scheut aber mit seltenen
(teleologisch besonders zu begründenden) Ausnahmen
vor dem Verzehren von seinesgleichen zurück. Im
ersteren Falle verabscheut man das Verzehren von zer-
stückelten Leichen als Kannibalismus, gleichviel ob die
getödteten Brüder aus dem Reiche des Lebens Thiere,
Pilze oder Pflanzen sind, und respektirt die Heiligkeit
und Unantastbarkeit des Lebens in jeder Gestalt; im
letzteren Falle erkennt man die grossen Gradver-
schiedenheiten der Verwandtschaft mit anderen Lebe-
wesen an und zieht die Ghrenze für den Kannibalismus
da, wo die Natur sie uns durch den eigenen Instinkt
und die Analogien des gesammten Thierreichs vorge-
zeichnet hat. Die Wahl in dieser Alternative scheint
mir nicht schwer; will man seine Kost nicht auf ver-
modertes Laub und abgestorbene Pilze beschränken, so
muss man sich nothgedrungen für die andere Seite der
Alternative entscheiden, verliert dann aber auch das
Recht, von der Inhumanität des Fleischgenusses zu reden.
Dass die Jagd ein inhumanes Handwerk ist, kann
gar nicht bestritten werden; denn ihre Art, zu tödten,
ist bei Treibjagden grausam, immer unsicher und oft
qualvoll für verwundetes und entkommenes Wild. Die
Jagd ist aber in den Kulturländern ohnehin auf den
Aussterbeetat gesetzt, imd auch bei uns, wo der Grund-
adel sie noch künstlich als Ueberlebsel aus roheren
Zeiten kultivirt, ist doch der Procentsatz des gejagten
Wildes ein sehr kleiner imter allem getödteten Vieh.
Dass auch das Schlächterhandwerk noch nicht auf der
Höhe unserer heutigen Humanitätsanforderungen steht
und in dieser Richtung verbesserungsbedürftig ist, kann
man ebenso zugeben und nur wünschen, dass der Vege-
tarianismus an diesen beiden Punkten die berechtigten
Thierschutzbestrebungen unterstütze. Der Einwurf, daSB«
das Schlächterhandwerk verroht, fallt weg, wenn
und eventuell das Ei„„ ■^''""•^■"».l.n,, ^„„,., ,
\\«se g-eschlach.« wäre T, " ' "" '«"'uJ'
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Pflanzenkos. £:,-.-c::sen. so würde ™*™ "" ™'"-
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rassung muss es aber ein p(.siti"\er .-■'^^''""'^^'^^'ii^r.
bilance der Weh sein. du., der MenlT"" '"'''-
Kampf ums Dasein 'i'hieren das J ^u' '"' ^-■-''"- .j
bis zu ihrem schnellen sfhinerj(|„s].n "^J^ f^'--':- z ^^
freuen können und .eJKst ^-o,„ p,,^; -;;; ^ :,ht
Punkt aus wuni* "la» «nert .M^„,,,,^, _ '■"-■ ^ ^^^^
"' "" t'iiche
M.Vor-
' i-'ii Sinne
— 20
«
dern schlechterdings tödten muss, so ist nicht abzusehen,
warum man deren Fleisch fortwerfen soll, statt es zu
verzehren. Solange man ferner noch Wollschafe hält,
gilt das nämliche für den zu reichlichen Nachwuchs der
Schafherden. Damit ist aber ein Zustand als human
und vernünftig anerkannt, der ganz mit dem heute be-
stehenden zusammenfallt, und das Princip des Mitleids
hat damit jedes auch nur scheinbare Recht zum Mit-
sprechen in der Ernährungsfrage eingebüsst.
Der Versuch, die Inhumanität des Fleischgenusses
mit objektiven Gründen nachzuweisen, ist hiemach als
gescheitert zu betrachten und es bleibt dem Vegetaria-
nismus nur die letzte Zuflucht offen, sich auf das Gefühl
zu berufen. Wenn jemand erklärt, es sei gegen sein
Gefühl, das Fleisch von einem Thier zu essen, nicht
nur von einem solchen, das er lebend geliebt oder doch
lebend gekannt oder gar selbst getödtet hat, sondern
auch von einem solchen, das er nicht gekannt hat und
das von einem anderen getödtet ist, so ist darüber nicht
z\i streiten, und man kann jedem seine Gefühle und die
Berücksichtigung derselben gönnen, solange er dadurch
anderen nicht unbequem, also namentlich gegen anders
Fühlende nicht intolerant und aggressiv wird. Niemand
wird einem Tischnachbam Braten aufdrängen, wenn der-
selbe ei-klärt, der Fleischgenuss widerstrebe seinem Ge-
fühl; wenn mir aber mein vegetarianischer Nachbar
vorwirft, mein Fleischessen sei inhumaner, barbarischer
Kannibalismus, so weise ich ihn mit der Entgegmmg
zurück, sein vegetarianisches Gefühl sei eine ver-
schrobene, zimperliche Sentimentalität ohne objektive
Begründung.
21
n.
Unsere Stellung zu den Thieren.
Die Thiere sind mit uns gleichen Geschlechts, wenn
auch nicht gleicher Art, unsere Vettern älterer Linie,
gleichviel ob man in diesem Ausdruck nur ein Bild oder
die treiFende Bezeichnung einer wirklichen genealogi-
schen Verwandtschaft sehen will. Sie sind nach glei-
chem Grundtypus gebaut,, imd ihr natürliches Leben ver-
läuft in den gleichen natürlichen Verrichtimgen wie das
unsrige; aber auch ihr Seelenleben zeigt dieselben Grund-
funktionen (Vorstellung und Wille nebst Gefiihl), den-
selben Widerstreit zwischen Selbstsucht und socialen
Instinkten, und dieselbe geistige Grrundanlange für Ge-
berden- und Wortsprache, wie die relative Verständ-
nissfähigkeit aller höheren Thiere für die menschliche
Wortsprache und die Fähigkeit einiger zur Nachahmung
keineswegs unverstandener Worte beweist. Der Unter-
schied zwischen Thier und Mensch ist nur ein solcher
des Grades; er wird nur dadurch scheinbar zu einem
Unterschiede der Art, dass alle Säugethiere ausser dem
Menschen stumm sind und darum in ihrem geistigen
Leben auch nur mit stummen Menschen verglichen wer-
den dürfen. Ein Stummer, der nicht künstlich und müh-
sam zum Verständniss imd Gebrauch der Schriftsprache
erzogen ist, findet sich ebenso wie das Thier auf im-
artikulirte Laute und Geberden beschränkt; sein Denken
ist allemal anschaulicher als dasjenige Redender von
sonst gleicher Bildungsstufe, aber es entbehrt doch nicht
der BegriiFe, wenn es sie auch nicht mit Worten be-
zeichnen kann, und vollzieht ebensogut eine logische
Verknüpfung der (anschaulichen und begrifflichen) Vor-
stellungen wie dasjenige Redender. In demselben Sinne
können wir auch dem anschaulichen Vorstellungsleben
V
— 22 ^-
der Thiere weder Begriffe nach logische Verknüpfung
der Vorstellungen, d. h. eigentliches Denken, absprechen,
so dass man hier vergeblich eine scharfe Grenzlinie
zwischen Mensch und Thier sucht. Nur weil die Men-
schen allmählich eine Wortsprache ausgebildet und den
so entwickelten Wortsprachsinn auf ihre Nachkommen
vererbt haben, sind stumme Menschen soviel bildungs-
fähiger als Thiere, denen sie sonst auch der Art nach
gleich stehen würden, wogegen der blödsinnige Mensch
tief unter dem normalen Thiere steht.
Dass wir zu den Thieren in moralischen Beziehungen
stehen, ist hiemach zweifellos ; die sittliche Verpflichtung,
Niemanden zu verletzen, vielmehr jedem nach Kräften
zu helfen, bezieht sich auf alle empfindenden Lebewesen
ohne Ausnahme, gleichviel ob man dieselben als Mit-
geschopfe desselben Herrgotts, als Kinder desselben
Vaters im Himmel, als natürliche Vettern älterer Linie,
oder als objektive Erscheinungen desselben Einen Welt-
wesens betrachtet. Die moralischen Beziehungen des
Menschen zu den Thieren bestehen auch unabhängig
davon, ob das einzelne Thier seinerseits zu einer mehr
oder minder vollkommenen oder unvollkommenen Auf-
fassung dieser Beziehungen im Stande ist, und ob es
fähig und gewillt ist, die Rücksichtnahme und Hilfsbe-
reitschaft des Menschen zu erwidern; das wäre eine
traurige Sorte von Moralität, die von der Gegenseitig-
keit der Leistungen abhängig gemacht würde, und nur
da gäbe, wo sie auf Entgelt oder Lohn von der andern
Seite hoffen dürfte. Damit ist aber nicht ausgeschlossen,
dass die moralischen Beziehungen befestigt und mit rei-
cherem Inhalt erfüllt werden, wo beide Theile zu ein-
ander in ein gemüthliches Verhältniss oder in ein still-
schweigendes Vertragsverhältniss gegenseitiger Lei-
stungen eintreten; denn in solchem Falle würde das
einfache Unrecht einer Verletzung durch Verwickelung
— 27, —
mit Untreue, Undank, Unbilligkeit u. s. w. erschwert.
Diese Erschwerung tritt auch dann ein, wenn die Thiere
kein Bewusstsein davon haben, dass sie dem Menschen
durch ihren erzwungenen Gehorsam Dienste leisten; es
genügt, dass der Mensch die Dienste der Thiere an-
nimmt, beziehungsweise erzwingt, um ihn zu den ent-
sprechenden billigen Gegenleistungen moralisch zu ver-
pflichten.
Das Thier ist somit moralisches Rechtssubjekt, d. h.
das Subjekt derjenigen moralischen Forderungs-Rechte,
welche den moralischen Pflichten des Menschen ihm
gegenüber korrespondiren, imd deren Verletzung für den
Menschen ein moralisches Unrecht ist; dagegen kann
der Mensch an das Thier keine höheren moralischen
Ansprüche stellen, als insoweit dessen Fassungsvermögen
ihm das Verständniss seiner moralischen Beziehungen
-zurii Menschen gestattet, hat aber dafür das moralische
Befugniss-Recht, das Thier zwangsweise zu den ihm
dienlichen Leistungen zu verwenden.
Alle bisherigen Rechtssysteme lassen als juridische
Rechtssubjekte nur menschliche Individuen oder Statuten-
massig festgestellte menschliche Zwecke (moralische
Personen) zu. Es ist kein begrifflicher Grund abzusehen,
warum ein Rechtssystem nicht auch Thiere als juridi-
sche Rechtssubjekte zulassen sollte, da doch blödsinnige
Menschen als solche gelten. Es ist aber ein Missver-
ständniss des Unterschiedes zwischen moralischen und
juridischen Rechten und Pflichten, zu behaupten, dass
von Rechtswegen (d, h. aus dem Gesichtspunkt eines
eingebildeten und seinem eigenen Begriff widerspre-
chenden Naturrechts oder Vemunftrechts) eigentlich die
Thiere auch juridische Rechtssubjekte sein müssten.
Das juridische Recht ist immer positiv, d. h. historisch,
und kann seiner Natur nach immer nur einen Theil der
Sphäre des moralischen Rechts umfassen; welche Theile
— 24 —
der Sphäre des moralischen Rechts in das juridische
Rechtssystem, d. h. in die positive Rechtsordnung durch
die Gesetzgebung aufzunehmen seien, kann niemals selbst
wieder von juridischen Erwägungen abhängen, sondern
nur durch Rücksichten der Zweckmässigkeit und Op-
portunität bedingt sein.
Dass aber ein dringendes Bedürfniss aus Zweck-
mässigkeitsgründen bestände, durch Gesetzgebung die
juridische Rechtsfähigkeit der Thiere in unser Rechts-
system einzufuhren, das ist entschieden zu bestreiten.
Vor allem würde die Lage der Thiere durch eine solche
Aenderung ihrer formalen Stellung zur Rechtsordnung
inhaltlich gar nicht berührt werden, da ihre Rechte doch
immer nur durch Vertretung von Menschen würden
wahrgenommen werden können, wie sie es jetzt nothigen
Falls auch schon werden (wenn z. B. eine alte Dame
eine Summe für die Pensionirung ihres Lieblingshundes
ausgesetzt hat). Die einzige wünschenswerthe Aende-
rung der Gesetzgebung in Betreff der Thiere ist die,
dass Rohheit oder Bosheit in deren Behandlung nicht
bloss straffällig sein muss, wenn sie öffentliches Aerger-
niss giebt, sondern auch, wenn sie als eine insgeheim
erfolgte, oder als eine vor zustimmenden Zuschauern
stattgehabte nachgewiesen werden kann. Diese Abän-
derung hat aber mit der Erhebung der Thiere zu juri-
dischen Rechtssubjekten gar nichts zu thun, denn die
Gemeingefahrlichkeit des in solcher Handlungsweise sich
offenbarenden Charakters genügt für sich allein schon,
um den Staat in diesem Falle ähnlich wie bei anderen
Verbrechen , wo keinem Rechtssubjekt ein Unrecht ge-
schieht, an seine Pflicht des Schutzes der Gesellschaft
durch rechtzeitige Bekämpfung derartiger gemeingefähr-
licher Charaktereigenschaften zu erinnern.
Unser juridisches Verhältniss zu den Thieren ist so-
mit nur indirekter Art; unser Rechtssystem zieht die
— 25 —
moralischen Beziehungen der Menschen zu den Thieren
nur so weit in seine Sphäre, als die Interessen der
menschlichen Gesellschaft durch dieselben berührt
werden, zu deren Sicherstellung und Schutze die Rechts-
ordnung allein errichtet ist. Es ist also unrichtig, unser
juridisches Verhältniss zu den Thieren darum als ein
direktes aufzufassen, weil unser moralisches Verhältniss
zu denselben ein solches ist; es ist aber auch ebenso
unrichtig, die Unmittelbarkeit des letzteren darum zu
bezweifeln oder zu bestreiten, weil das erstere ein bloss
mittelbares ist. Wir haben nicht deshalb uns der Ver-
letzung der Thiere zu enthalten, weil eine solche unsrer
Menschenwürde nicht gemäss, oder unserem pflicht-
mässigen Streben nach Selbstvervollkommnung hinder-
lich, oder von anderweitigen ungünstigen Rückwirkungen
auf den Handelnden und die menschliche Gesellschaft
sein würde, sondern zuerst und vor allem deshalb, weil
wir das moralische Recht jedes empfindenden Lebe-
wesens ohne Ansehen von Stand oder Person, also auch
ohne Ansehen von Rasse, Species und Genus zu respek-
tiren haben. Diese Achtung vor allen lebendigen und
fühlenden Mitgeschöpfen (mag man sie nun auf die Ach-
tung vor dem Schöpferwillen oder auf die Wesensein-
heit der verschiedenen Erscheinungsindividuen gründen)
ist einfach eine Forderung der (moralischen) Gerechtig-
keit; denn „Gerechtigkeit" besagt in letzter Instanz
nichts andres als die „Gleichgültigkeit des empfinden-
den Subjekts".*)
Wie die moralischen Beziehungen unter Menschen,
so müssen auch diejenigen zwischen Thier und Mensch
vor allem auf dem unerschütterlichen Grunde der (mora-
lischen) Gerechtigkeit ruhen; nur aus diesem rationali-
*) Vergl. meine „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins",
S. 516—518.
— 26 —
stischen Moralprincip ist eine deutliche und scharf be-
stimmte Grenzlinie des Verhaltens abzuleiten, nicht aus
den schwankenden Principien der Gefühlsmoral. Letz-
tere sind unentbehrlich, theils um die Motivationskraft
des gerechten Verhaltens zu verstärken, theils um inner-
halb des von der Gerechtigkeit gelassenen Spielraums
dem positiven Wohlwollen zur Geltung zu verhelfen;
aber sich selbst überlassen sind sie gerade die stärksten
Verführer zu ungerechtem und unbilligem Verhalten
und es ist ganz unmöglich, die Gerechtigkeit aus einem
einzelnen Gefiihlsmoralprincip (z. B. dem Mitleid) oder
aus der Summe derselben abzuleiten. Wer sich in sei-
nem Verhalten zu den Thieren von der Gerechtigkeit
leiten lässt, der wird so wie so, ob er mitleidig ist oder
nicht, dem Thiere nichts Unbilliges zumuthen oder zu-
fügen, und das Mitleid käme bei ihm nutzlos hintennach
gehinkt, wenn es mitsprechen wollte; wer aber sich von
dem Mitleid, der Gutmüthigkeit und Weichherzigkeit
bestimmen lässt, der wird in seinem Verhalten nur durch
Zufall mit den Forderungen der Gerechtigkeit gelegent-
lich übereinstimmen, und oft genug dieselben verletzen.
Wenn der weichherzige Thierfreund eine arme Familie
keuchend einen schwer belasteten Handwagen ziehen
und schieben sieht, so neigt er stets dazu, sich zum
Anwalt des mitangespannten überbürdeten Hundes auf-
zuwerfen und zu Gunsten desselben die überbürdeten
Menschen noch mehr zu überbürden; er vergisst dabei
nur, dass der gut behandelte Familienhund es als sein
Recht und seine Ehre betrachtet, sich mit seinen Herren
mitzuplagen, und dass die Menschen bei ihrer scheinbar
freiwilligen Quälerei oft weit mehr unter der Geissei
eines zwingenden Schicksals stehen und weit schwerer
unter diesem harten Zwange leiden, als das vom Men-
schen zur Arbeit gezwungene Thier. So lange die
Menschen noch im Schweisse ihres Angesichts ihr Brod
— 27 —
verdienen und zeitweilig über ihre Kräfte sich anstrengen
müssen, wird es eine Ungerechtigkeit bleiben, ihnen jede
auch nur zeitweilige Ueberanstrengung der Arbeitsthiere
zu verwehren. Eine Ueberanstrengung der Arbeitsthiere
aus unzureichenden Gründen ist dagegen ebenso unge-
recht wie unvernünftig und bedarf zu ihrer Verurthei-
lung nicht erst des Mitleids.
Das Mitleid ist bekanntlich ein zweischneidiges
Schwert: insoweit es Unlust ist, drängt es ebensosehr
dazu, den Anblick der Gelegenheiten seiner Entstehung
durch Ausweichen zu meiden als diejenigen abzustellen,
deren Anblick man auf keine Weise aus dem Wege
gehen kann; soweit es a^ber ein Gefühl ist, das dazu
anlockt, seine Anlässe aufzusuchen, ist es ein Lustgefühl
und als solches verleitet es zugleich dazu, die zu be-
mitleidenden Leiden nicht nur nicht abzustellen, sondern
geradezu erst recht herbeizuführen. Das Mitleid ist der
Grausamkeitswollust eng verwandt, und es ist ganz irr-
thümlich zu glauben, dass Giftmischer oder Thierquäler
aus Passion kein Mitleid mit ihren Opfern empfinden,
da sie ohne eine starke Emotion des Mitgefühls gar
keine so starke Lust aus dem ft-emden Leid schöpfen
könnten. Deshalb geht man fehl, wenn man glaubt,
den passionirten Thierquäler durch Erweckung seines Mit-
leids von seiner verworfenen Neigung abbringen zu kön-
nen; erst wenn man ihn nöthigt, sich selbst als das von
einem andern in gleicher Weise gequälte Wesen vor-
stellen und durch diese Vorstellung sein Gerechtigkeits-
gefühl zur Reaktion bringt, wird man hoffen dürfen,
einen Erfolg zu erzielen. Denn selbst von einem andern
gequält zu werden, empfindet jeder als ein angethanes
Unrecht, so dass es nur der Abstraktion von der Indi-
vidualität des Gequälten und des Quälers bedarf, um das
Unrecht auch bei der Umkehrung einzusehen.
Auf der andern Seite schiesst das Mitleid mit den
— 28 —
Thieren über das Ziel hinweg, indem es keine Rück-
sicht darauf nimmt, ob wir uns mit denselben im Kriegs-
oder Friedenszustande befinden. Nun befindet sich aber
die Menschheit mit allen Thierarten im Kriegszustande,
denen gegenüber sie sich im Kampf ums Dasein zu be-
haupten hat, und nur mit denjenigen im Friedenszustande,
welche im Kampf ums Dasein mit der übrigen Thier-
welt entweder helfende Bundesgenossen oder doch we-
nigstens Neutrale sind. Die Religion des Mitleids, der
Buddhismus, verlangt, dass man sich ruhig von Tigern
fressen, von Giftschlangen und Scorpionen stechen, von
Läusen peinigen lässt, wenn man kein Mittel besitzt,
sich ihnen auf friedlichem Wege zu entziehen, stempelt
aber die Tödtung eines dieser Thiere zu einem todes-
würdigen Verbrechen, durch das man allen sonst etwa
erworbenen Anspruch auf Heiligkeit wieder einbüsst.
Die Absurdität dieser Folgerung zeigt die Unhaltbarkeit
des Princips, von dem sie richtig abgeleitet ist.
Der Kampf ums Dasein ist nicht minder ein Krieg
aufs Messer, wo er ein indirekter, d. h. Wettbewerb
um die Mittel des Lebens ist; deshalb ist es ebenso-
sehr eine Existenzfrage für die Menschheit, dass sie
das Wild und die Schmarotzer des Feldes und Hauses
(Mäuse, Ratten, Ameisen) bis zur Vernichtung bekämpft.
Jedes Stück Nahrungsmittel, dessen sich ein Thier be-
mächtigt, obwohl es zur Ernährung eines Menschen hätte
dienen können, verschlimmert die Situation der auf der
Hungergrenze lebenden Glieder der Menschheit; jedes
Mitleid auf diesem Gebiet opfert einen Menschen , um
ein Thier zu retten, wenn sich auch der dabei geopferte
Mensch nicht mit dem Finger zeigen lässt. Aus diesem
(Gesichtspunkt ist jeder Luxus in der Erhaltung über-
flüssiger Thiere mit Nahrungsmitteln, die für Menschen
hätten dienen können, ein Unrecht an der Menschheit;
dabei ist es gleichgültig, ob die betreffenden Nahrungs-
BTfirtgj! Äec MccBSchieG dErel^t oder iniSrefc. hL t. ni^ardlt
EmilBnir::^ vc-tt nüczi^dbea ThieiVÄ hirt«t olrer-ea kocr-ewu
NicÄtr al> imnuir dürien soicise Tfc5«v ^::^erecfc::^ x^^er-
«Jen. w€lc&e der BeieSmn^ in rooioigi^ciiheft Glrn^^ vx5«iHr
<i«r Befeiedig'jrtg^ von Gccauths5>eviurfi:^5:5>e« kt:-t'rtt'r:
SdbcEirLiinde, -Katzen« -Vogel etc. : nvvfc Trer^*:t^ <^r..^
es die Threre. welche dem Menschen bei nier lo^cvL
beim Kaacpf eegen Schmarotrer* brf der Beu^Ach;::^^:
seines Eigenthums. bei seiner Ortsbeweg^jin^r ivier seir.t^^
sonstigen Arbeken Beistand leisten • oder welche sxzr
Produktion von Nahrungsmitteln und Bekleidt;:\^r>^s5v^t5e^^
gezüchtet werden. Aber auch solche ThierÄrten n^üscMt^«
in ihrer Vermehrung so weit beschrankt wervlen^ dasss
ihre Zahl nicht über die zum Nutze« des Mensch<>n
erforderliche Grosse hinauswachst, weü der Uebt^r^^hxis^
zu den überfiOssigen Verzehrem von Xahrunvjsn^htt^ln
gehören würde.
Der Kampf gegen die schädlichen und unnützen
Thierarten so wie derjenige gegen eine schädliche Ver-
mehrung der relativ nützlichen Thierarten ist eine Mioht
des Xenschen gegen die Menschheit; da die Menschheit
höhere sittliche tmd Kulturauigaben zu losen hat als
das Thierreich, so steht auch die Pflicht gegen die
l^Ienschheit der Pflicht gegen die Thiere voran, imd die
mitleidige Gutmüthigkeit, welche sich im gegebenen
Falle nicht zur Todtung der Thiere entsdüiessen kann,
ist ebenso unsittlich wie die Weichherzigkeit eines
Familienvaters, der seinen Kindern das Brod wegnimmt,
um es dem an seiner Thüre bettelnden arbeitsscheuen
Landstreicher zu reichen, oder wie die Empfindsamkeit
einer alten Jungfer, die ihren fetten Mops mit Braten
und Zuckerbrod futtert, während ihre Dienstboten sich
mit Kochfleisch und Schwarzbrod begnügen müssen.
Jede Gattung im Naturhaushalt braucht einen Re-
gulator, der ihr Ueberwuchem verhindert; einer der
— 30 —
wichtigsten dieser Regulatoren ist der Mensch, und
seine bezüglichen Pflichten im Naturhaushalt sind um
so ausgedehnter und dringlicher geworden, je mehr er
die übrigen Regulatoren (die Raubthiere) von der Erde
verdrängt hat, Wenn er jetzt, wo er in Kulturländern
für die meisten Arten grösserer pflanzenfressender und
allesfressender Thiere sich zum einzigen Regulator ge-
macht hat, sich durch mitleidige Regungen abhalten
lässt, seines Amtes zu walten, so verletzt er nicht nur
seine Pflichten gegen die Menschheit sondern auch seine
Pflichten gegen die gesetzmässige Ordnung des irdi-
schen Naturhaushaltes und die Erhaltung ihres Gleich-
gewichts. Ueberall wo es an regulirenden Raubthieren
fehlt, führt solche Sentimentalität sich sehr bald prak-
tisch ad absurdum, wie die Frösche der Abderiten be-
weisen, oder die 4g Katzen, welche der gemüthvoUe
junge Dichter ein Jahr nach seinem Verbot der Tödtung
des ersten Wurfes besass. So gelangt die Sentimen-
talität gegen die Thiere gar leicht dazu, sich lächerlich
zu machen, nämlich überall da, wo zwar ihre absurden
Konsequenzen in die Anschauung fallen, wo aber nicht
ihre indirekte Schädlichkeit und principielle Unsittlich-
keit zum Bewusstsein kommt (deren Ernsthaftigkeit den
komischen Eindruck der ersteren verhindern würde).
Die empfindsame WeichherzigkeiJ^. ist in sittlicher
Hinsicht eine höchst bedenkliche Eigenschaft*), und
man darf sich darum auch nicht wundern, wenn man
diesen ihren bedenklichen Charakter auch in ihrem Ein-
fluss auf unsre Verhältnisse zu den Thieren bestätigt
findet. Ueberall wo man einem Menschen begegnet,
der sich durch übermässige Zärtlichkeit und ostentative
Weichherzigkeit gegen Thiere auszeichnet, ist der Ver-
*) Vergl. den Abschnitt über „Das Moralprincip des Mitgefühls*' in
meiner „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins", S. 217 — 240. '
— 31 —
dacht gerechtfertigt, dass man es mit einem Individuum
zu thun habe, welches für seine Mitmenschen nicht viel
übrig hat und welches die aus seiner mangelhaften
Pflichterfüllung gegen letztere auf seinen Charakter zu
ziehenden Schlussfolgerungen durch ein Uebermaass von
Rücksichtnahme und Wohlthätigkeit gegen die Thiere
vor sich selbst, oder auch nur vor Andern, zu entkräften
sucht. Oft ist es nur das instinktive Streben nach einer
Herstellung des sittlichen Gleichgewichts, was die zu
wenig Gerechtigkeit in sich fühlenden Menschen dahin
drängt, ein übertriebenes Gewicht auf ihr „gutes Herz"^
zu legen; oft ist es geradezu die Lieblosigkeit des an-
gebornen Charakters, welche zum Gegengewicht gegen
den unklar gefühlten Mangel, zu einer gewaltsamen
Pflege des Mitleids und der Barmherzigkeit führt; nicht
selten aber ist es gradezu der Menschenhass und die
Missachtung des eignen Geschlechts, welche gleichsam
eine gewaltsame Zusammendrängung aller verfügbaren
Gefühlswärme in das Verhältniss zu den Thieren zur
Folge hat. Die versauerte alte Jungfer, der verbitterte
Misanthrop, der Menschenverächter auf dem Throne, der
kalt- grausame Ketzerrichter, der blutdürstige Revo-
lutionsheld, das sind die Typen, bei denen die Ueber-
zärtlichkeit für die Thiere ihren Gipfel zu erreichen
pflegt.
Wer sein Verhältniss zu den Thieren aus dem Ge-
sichtspunkt der Gerechtigkeit regelt, der wird auch dann
die Inferorität des Thieres niemals vergessen, wenn er
mit einem bestimmten thierischen Individuum in ein
engeres Freundschaftsverhältniss tritt; nur ein solcher
wird fähig sein, dem Thiere die grösste Wohlthat an-
gedeihen zu lassen, welche der Mensch ihm erweisen
kann: die Erziehung, während das gute Herz nur zu
verziehen, d. h. zu verderben versteht. Wer sich zu
den Thieren nicht hingezogen fühlt und sich damit be-
— ^2 —
gnügt, ihnen kein Unrecht zu thun, der kann darum
doch das warmherzigste und wackerste Mitglied der
menschlichen Gesellschaft sein: wer aber für die Thiere
eine empfindsame Ueberzärtlichkeit entwickelt, dessen
Charakter möge man nicht minder mit Misstrauen be-
gegnen wie einem, der sie zu seinem Vergnügen mar-
tert. Freilich können auch traurige Erfahrungen und
unverschuldetes Unglück den Menschen zur Verein-
samung geführt haben, und einem solchen wird man
es gerne gönnen, wenn sein verödetes Herz die letzte
Zuflucht zu der Thierwelt nimmt; aber in der Regel
liegt der gemüthlichen Vereinsamung eine Schuld zu
Grunde, eine Missachtung und Nichterfüllung der An-
sprüche, welche die menschliche Gesellschaft an jedes
ihrer Glieder zu stellen berechtigt ist.
Die vorstehenden Bemerkungen dürften genügen
zum Erweise, dass das Mitleid kein brauchbares Princip
zur Feststellung der ethischen Grenzlinie des Verhaltens
gegen die Thiere ist, dass vielmehr diese Grenzlinie
nur durch die Gerechtigkeit gezogen werden kann,
welche dem Thiere giebt, was des Thieres ist, aber
auch dem Menschen giebt, was des Menschen ist, und
welche die Pflichten gegen die Menschheit und den
Naturhaushalt der Erde als die höheren im Vergleich
mit den Pflichten gegen die. Thiere anerkennt. Wir
alle ohne Ausnahme sind nicht nur berechtigt,, sondern
auch verpflichtet, den Kampf ums Dasein der ^^nsch-
heit gegen die Thierwelt mitzukämpfen, also die schäd-
lichen und unnützen Mitbewerber um die irdischen Be-
dingungen des Lebens zu tödten; wir sind aber ebenso
verpflichtet, bei diesem Kampfe jede unnütze Härte und
Grausamkeit zu vermeiden. Das nämliche gilt für unsre
Benutzung der Thiei*e zur Eörderung der menschlichen
Kultürzwecke, sowohl was die Verwendung thierischer
Arbeitskraft, also auch was die Förderung der Wissen-
— 33 —
Schaft und Heilkunst durch Anstellung von Experimen-
ten anbetrifft.
Die moderne Naturwissenschaft hat ihren Rang als
exakte Wissenschaft wesentlich durch die experimentelle
GrTundlage ihres induktiven Verfahrens gewonnen, und
kann das Experiment nicht aufgeben, ohne vom Range
einer exakten Wissenschaft wieder herunter zu steigen.
Nun können Experimente über physiologische und pa-
thologische Processe nur an lebenden Körpern ge-
wonnen werden, und jeder Arzt muss fortwährend an
seinen Patienten experimentiren. Jedes neue Heilmittel,
jedes neue Gift, jeder neu entdeckte chemische Stoff
muss auf seine physiologische Wirkung am lebenden
Körper experimentell geprüft werden, jede neue kühne
chirurgische Operation muss ein Mal zum ersten Mal
an einem lebenden Organismus versucht werden. Die
Erforschung der Krankheitsursachen, insbesondere der
organischen Krankheitsträger kann nur durch ausge-
dehnte Impfversuche mit den Züchtigungsergebnissen
der Reinkulturen fortschreiten; die Ergründung der
Funktionen verschiedener Theile des centralen Nerven-
systems kann nur durch experimentelle Eingriffe in den
normalen Lebensprocess gefördert werden. Oft genug
schon hat die Begeist«-ung für den Fortschritt der
Wissenschaft junge Aerzte dahin geführt, an sich selbst
solche Vörisucne anzustellen, die manchmal mit dem
Leben bezahlt wurden; den Steinschnitt verdanken wir
eißem französischen Arzte, der vom König die Erlaub-
niss erhielt, einen zum Tode verurtheilten, steinleiden,-
den Verbrecher zum ersten Versuchsobjekt zu nehmen.
Solche physiologische Versuche können fiir ihre
Objekte mit gar keinen oder geringfügigen Unbequem-
lichkeiten verbunden sein (wie z. B. manche Füttenmgs-
versuche); sie können äusserst lästig sein, ohne dass
irgend ein Eingriff in den Organismus stattfindet (z. B.
Hartmann, Moderne Probleme. 3
— 34 —
die dauernde Einsperrung in eine enge Glasglocke zur
Bestimmung der Ausathmungsgase); sie können endlich
schweres Siechthum und mehr oder minder sichern Tod
herbeiführen (wie z. B. die Impfungsversuche mit Ejrank-
heitsträgem, oder die quantitative Feststellung der Gift-
wirkungen). Wer irgend mit der modernen Physiologie^
Pathologie und Medicin vertraut ist, der weiss, dass die
Zukunft dieser Wissenschaften ganz und gar von einer
rationellen Fortfuhrung solcher Versuche, und zwar im
ausgedehntesten Maassstabe abhängt; wer einer andern
Ansicht huldigt, befindet sich im Widerspruch mit der
erdrückenden Mehrheit der Vertreter jener Fächer,
Selbst dann, wenn die entgegengesetzte Ansicht, dass
alle Thierversuche überflüssig und nutzlos für die Wissen-
schaft seien, im Rechte wäre, und selbst dann, wenn
es gelänge, die gesetzgeberischen Konsequenzen dieser
Ansicht zu ziehen, d. h. alle Thierversuche zu verbieten,
würde doch dieses Verbot wirkungslos sein; die For-
scher, welche oft genug muthig genug sind, an sich
selbst gewagte Versuche anzustellen, würden heimlich
die Thierversuche um so eifriger fortsetzen, als ihnen
eventuell von Seiten einer nach ihrer Meinung unver-
nünftigen Gesetzgebung das Martyrium zu Ehren der
Wissenschaft in Aussicht stände.
Anstatt den alten Grundsatz „üaX experimentum
in corpore vili" der Thierwelt gegenüber ausser Kraft
setzen zu wollen, sollte man vielmehr ernstlich in Er-
wägung ziehen, ob es nicht rathsam imd geboten sei,
Verbrecher als corpora vilia zu benutzen; d. h. den zur
Todesstrafe Verurtheilten freizustellen, ob sie statt der
Hinrichtung ein lebensgefährliches Experiment an sich
vornehmen lassen wollen, und den zu geringeren Strafen
Verurtheilten anheimzugeben, ob sie* ihre Strafe durch
Preisgebung zu mehr oder weniger schmerzhaften und
quälenden Versuchen abbüssen wollen. Die Wissen-
— 35 —
Schaft und die Gefangnissverwaltungen würden davon
gleichmässig Vortheil, das Recht und das Publikum
keinen Nachtheil haben, und den Verbrechern würde
nichts geschehen, wozu sie nicht eingewilligt haben.
Ein solches Gesetz würde mit einem Schlage alle sen-
timentalen Klagen über ungerechte Behandlung der
Thiere durch die Naturforscher gegenstandslos machen,
indem sie dem Thierversuch den Menschenversuch an-
reihte ; denn wenn man den Thieren nichts anthun dürfte,
wozu man nicht ihre Zustimmung vorher eingeholt hätte,
so dürfte man sie auch nicht gegen ihren Willen tödten
oder zu Arbeiten anhalten.
Dass keine Gesetzgebung im Stande ist, Missbräuche
zu verhüten, liegt ebenso auf der Hand, wie dass eine
Sache um so mehr dem Missbrauch ausgesetzt ist, je
edler und je wichtiger sie ist. Die beste und wirk-
samste Vorkehrung gegen missbräuchliche Behandlung
der Thierversuche liegt in einer sorgfältigen Unter-
weisung der Studierenden über die zweckmässige tech-
nische Anstellung derselben, über ihre Leistungsfähig-
keit und Tragweite; das gesetzliche Verbot, die Thier-
versuche in die Lehrvorträge aufzunehmen, würde nur
die entgegengesetzte Wirkung haben, d. h. der unver-
ständigen imd ungeschickten Pfuscherei auf diesem Ge-
biete Vorschub leisten. Die inhaltliche Erwägung, ob
der eventuelle Nutzen bestimmter Versuche wichtig ge-
nug ist, um die den Versuchstieren zugefügten Leiden
zu rechtfertigen, liegt selbstverständlich ganz ausser-
halb der gesetzgeberischen und richterlichen Zuständig-
keit und kann nur durch Sachverständige festgestellt
werden, d. h. sie muss letzten Endes doch dem Takt
und Gewissen der in ihren Fachkreisen tonangebenden
Forscher anheimgestellt bleiben. Die öffentliche Meinung
hat die Aufgabe, durch ihre Stimme das Gewissen der
Forscher in dieser Richtung zu schärfen und ihren Takt
3*
- 36 -
zu verfeinern; sie kann aber diese Aufgabe nicht schlech-
ter erfüllen, als ' wenn sie das Kind mit dem Bade aus-
schüttet und durch ihren Unverstand die Forscher an
den Gedanken gewohnt, dass sie sich um die jedenfalls
unmögliche Zufriedenstellung einer irregeleiteten öffent-
lichen Meinung überhaupt nicht mehr zu bekümmern
brauchen. Das jetzt so beliebte Schlagwort „Vivisek-
tion" benutzt das Grauen der meisten Laien vor dem
chirurgischen Messer und dem fliessenden Blut als
Schreckgespenst zur Verwirrung der Urtheilsfahigkeit;
nur der kleinste Theil der Thierversuche bedient sich
chirurgischer Eingriffe, und diese brauchen gar nicht
besonders schmerzhaft zu sein und sind mindestens
durchschnittlich nicht diejenigen unter den Thierver-
suchen, welche mit den schwersten Leiden für die Ob-
jekte verknüpft sind.
Die Gleichstellung der Gesohleehter.
Niemand wird der excentrischen Ansicht einiger
Physiologen beistimmen, dass der männliche wie der
weibliche Organismus nur ein Appendix der bezüglichen
Portpflanzungs Werkzeuge, ein zur Sicherstellung ihrer
Funktionen unentbehrlicher Hülfsapparat sei; aber den-
noch liegt in dieser Uebertreibung eine Wahrheit, die
von allen Denjenigen übersehen wird, welche für Gleich-
^feit der Geschlechter schwärmen. In dem physiologi-
ßdhen Geschlechtscharakter des Mannes und Weibes ist
4=iteAt'nur ein Unterschied, sondern geradezu ein Gegen-
— 37 —
satz anzuerkennen, und dieser auf keine Weise aus der
Welt zu schaffende Gegensatz ist bestimmend fiir das
gesammte natürliche und geistige Leben der Menschen-
Dieser Gegensatz ist derjenige von Aktivität und Pas-
sivität, von Begehren und Gewähren, Werben und Um-
worbensein; er besteht nicht nur in der Gesellschaft der
Unverheiratheten, sondern setzt sich auch im ehelichen
Leben fort. Ein Mann von geschlechtlicher Passivität
erscheint als ein hinter seiner natürlichen Aufgabe zu-
rückbleibender, unmännlicher Mann; ein Weib von ge-
schlechtlicher Aktivität erscheint als ein ihre Sphäre
überschreitendes, unweibliches Weib. Wären beide
aktiv, so würde das Geschlechtsleben alle übrigen
Seiten des Lebens überwuchern; wären beide pas-
passiv, so würde der Naturzweck nicht mehr hinläng-
lich gesichert sein. Darum erscheint es als eine teleo-
logische Einrichtung der Natur, dass das eine Geschlecht
seinem normalen Instinkte nach aktiv, das andere pas-
siv ist, und es heisst die Zweckmässigkeit dieser Natur-
einrichtung verkennen, wenn man dem einen oder dem
andern Geschlechte aus seiner Naturanlage einen Vor-
wurf macht, oder wenn man dahin strebt, die socialen
Folgen und Erscheinimgsformen dieses Gegensatzes
künstlich abzustumpfen und auszugleichen. Wenn dieses
Bestreben in weiterem Umfange von Erfolg gekrönt
wäre, so müsste es das männliche Geschlecht unmänn-
lich, oder das weibliche unweiblich machen, oder beides
zugleich in gewissem Grade, und die üblen Folgen für
die Erhaltung der Bevölkerung könnten nicht lange
ausbleiben.
Wäre der Mann nicht begehrend, so hätte das Weib
nichts zu gewähren, was dem Manne werthvoU schiene^
so hörte damit auch die Macht des weiblichen Ge-
schlechts über das männliche auf. Denn diese Macht
beruht lediglich darauf, dass das Weib etwas zu ge-
- 38 -
währen hat, was der Mann begehrt, und dass die ge-
schlechtliche Passivität dem Weibe das Versagen leich-
ter macht, als dem Manne das Entsagen. Diese Macht
ist aber auch so gross, dass überall und in allen Völ-
kern die thatsächliche Beherrschuitg des männlichen Ge-
schlechts durch das weibliche trotz des äusseren Schei-
nes vom Gegentheil die Regel bildet; das durch sie her-
gestellte Verhältniss überdauert gewohnheitsmässig die
Periode der geschlechtlichen Bethätigung und drückt
dem ganzen socialen Leben sein Siegel auf. So lange
man diese auf dem Geschlechtsgegensatz beruhende ge-
heime Uebermacht des weiblichen Geschlechts nicht
brechen kann, muss als nothwendiges Gegengewicht
gegen dieselbe eine rechtliche Vorherrschaft des männ-
lichen Geschlechts aufrecht erhalten werden, um das
Gleichgewicht nur einigermassen wieder herzustellen.
Gelänge es dagegen den Vorkämpfern ffir Geschlechter-
gleichstellung, alle Vorrechte der Männer in Staat und
Gesellschaft, in Recht und Sitte zu beseitigen, so würde
damit eine Periode der reinen Weiberherrschaft inaugii-
rirt werden, wie nicht die Geschichte, nur die Sage sie
bisher kennt. Die Schwärmerei fiir abstrakte Gleich-
stellung schlägt also praktisch mit Nothwendigkeit in
ihr| Gegentheil um, weil sie die wirksamsten That-
sachen ignorirt, sofern dieselben sich der Regelung
durch gesetzliche Schablonen entziehen.
Erst in zweiter Reihe kommt die Erwägung in Be-
tracht, dass die Gefiihlsmässigkeit des weiblichen Han-
delns, welche in der Familie und der Geselligkeit so
wohl am Platze ist, schlechterdings ungeeignet ist zur
Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten, wo es auf
Alleinherrschaft der Vemimft ankommt. Gerechtigkeit
und Billigkeit würde nach dem Eintritt der Frauen
ins öffentliche Leben noch weit weniger anzutreffen
sein, als jetzt, dagegen würde der Nepotismus und
— 39 —
die Intriguenwirthschaft noch mehr Boden gewinnen,
und das ganze öffentliche Leben würde sich immer
mehr zu dem vermittelungslosen Gegensatz zwischen
einem pfäffisch gegängelten Gefühlskonservatismus
und einem demagogisch verhetzten, fanatischen Radi-
kalismus zuspitzen. Statt einer Stimme würde jede
Frau über zwei verfugen, es sei denn, dass ihr Mann
bereit wäre, den häuslichen Frieden und das Familien-
glück seiner politischen Ueberzeugung zum Opfer zu
bringen. In allen katholischen Ländern wäre der Sieg
der klerikalen Partei besiegelt und ffir die Dauer ge-
sichert, und die Gesammtheit der unter ultramontanen
Ministerien stehenden, d. h. von Rom aus geleiteten
Staaten würden eine Macht darstellen, die ausreichte,
den allmählichen Triumph des jesuitischen Papstthums
auf der ganzen Erde zu verbürgen; Niemand hätte also
mehr Anlass auf politische Gleichstellung der Frauen
hinzuwirken, als die Ultramontanen, imd fiir Niemand
arbeiten die Vorkämpfer der Frauen-Emancipation in
höherem Maasse als für die katholische Kirche.
Weil die Fortpflanzungsfunktion, die vom Manne
nur gelegentlich und nebenbei ausgeübt wird, ohne ihn
in seinem sonstigen Berufe zu hindern, dem Weibe die
schwersten Lasten auferlegt und als der Höhepunkt und
Angelpunkt des weiblichen Lebens erscheint, darum ist
auch der weibliche Organismus in weit höherem Grade
als der männliche auf diese Funktion hin veranlagt und
durchgebildet, und findet in ihr seinen Schwerpimkt,
wie der männliche in den Funktionen des Gehirns und
der willkürlichen Muskeln. Ein Maass an körperlicher
oder geistiger Arbeit, das der männliche Organismus
ganz wohl ohne NachtheU verträgt, richtet den weib-
lichen Organismus bald zu Grunde, oder nutzt ihn we-
nigstens in viel kürzerer Zeit ab. Schwere körperliche
Arbeit konsumirt die weibliche Leistungskraft viel
— 40 —
rascher, als die männliche, führt zu vorzeitigem Alter
und Erschöpfung, setzt die Widerstandsfähigkeit gegen
Krankheitseinflüsse herab und kürzt durch alles dies
die Lebensdauer ab. Noch weit schädlicher wirkt ange-
strengte geistige Arbeit auf den weiblichen Organismus,
denn das weibliche Gehirn und Nervensystem verträgt
lange nicht soviel, wie das männliche, weshalb schon
die Erziehung und geistige Ausbildung beider Geschlech-
ter stets eine verschiedene bleiben muss. Am ehesten
verträgt der weibliche Körper eine Berufsthätigkeit, in
welcher leichte körperliche und leichte geistige Arbeit
gemischt ist, und dem Körper nur massige Bewegung
zugemuthet wird. Diese Berufsarten (Schneiderei, Gärt-
nerei, Kleinhandel, Küche und Hauswirthschaft, Kinder-
und Krankenpflege) sind aber doch zu beschränkt, um
jemals eine Gleichstellung des Lohnes der weiblichen
Arbeit mit der männlichen zu ermöglichen. Selbst bei
dem Klassenunterricht kleinerer Kinder nutzt die weib-
liche Lehrkraft sich soviel schneller ab, dass die Er-
sparnisse am Lehrergehalt durch Mehrbelastung des
Pensionsfonds in Folge früherer Pensionirung aufgewogen
werden. Das weibliche Geschlecht bleibt darum in der
Hauptsache — und ganz besonders in den die Kultur
tragenden und fördernden Gesellschaftsschichten — doch
immer auf die Ernährung durch die Arbeit des männ-
lichen angewiesen, wofür seine sociale Gegenleistung
in der Hauswirthschaft, Fortpflanzung und Kinderpflege
besteht.
Auf dem Gebiete der gesellschaftlichen Sitte ist die
Schwärmerei für Gleichstellung und gleiche Beurthei-
lung der Geschlechter nicht minder verkehrt, wie auf
demjenigen der Politik und der Berufsarbeit. Entweder
gehen die Emancipationsbestrebungen dahin, dass auch
dem. Weibe alles erlaubt sein müsse, was dem Manne
von der Sitte gestattet ist — dann fuhren sie zu einer
— 41 —
alles Familienleben zerrüttenden und das Volkswohl
untergrabenden Libertinage; oder der Gleichheitsforma-
lismus tritt moralisirend auf und verbietet dem Manne
jede Freiheit, die dem Weibe durch die Sitte versagt
ist, dann führt er zu einem lächerlichen Rigorismus,
welcher der Natur Unmögliches zumuthet und den Rück-
schlag in sein Gegentheil oder in heuchlerischen Phari-
säismus unvermeidlich macht.
Nur in einem Punkte ist die Forderung, dass der
Mann ebensowenig Freiheit haben dürfe, wie die Frau
unbedingt, zuzugeben, nämlich in der monogamischen
Ehe, deren Wesen gleiche Treue von beiden Seiten und
gleiche sittliche Beherrschung etwaiger instinktiver
Velleitäten zur Untreue erheischt. Aber selbst hier
bleibt die Wahrheit bestehen, dass die Verletzung der
Treue von Seiten des Mannes und von Seiten der Frau
einen ganz verschiedenen Grad der Missbilligung her-
vorruft, weil sie ganz verschiedene sociale Folgen nach
sich zieht, weil die eine sich ausserhalb, die andere
innerhalb der Familie vollzieht, weil die eine das Ver-
hältniss der Kinder zu den Eltern und Geschwistern un-
berührt lässt, die andere es völlig zerstört oder doch
durch Zweifel imtergräbt. Der Mann einer notorisch
untreuen Frau hat nur die Wahl, entweder Vaterpflich-
ten gegen untergeschobene Bastarde zu üben, oder seine
eigenen Kinder durch Scheidung mutterlos zu machen;
kann er du* Untreue nicht juridisch beweisen, so bleibt
ihm nicht einmal diese Wahl, sondern er muss sich der
empörenden Nothwendigkeit fügen, Kindern, die er
nicht für die seinigen halten kann, Kindesrechte gegen
sich einzuräumen. Schon der blosse Verdacht vergiftet
das Familienleben, weil es immer das eigene Nest ist,
das die etwaige Untreue der Frau beschmutzt. Dagegen
lässt die Untreue des Mannes, weil sie ausserhalb des
Kreises der Familie fällt, den Familienstand und die
— 42 —
Stellung der Frau als Mutter und Hausherrin intakt, wenn
sie auch den Rechten und Gefühlen der letzteren eine mo-
ralische, uud möglicherweise auch dem Familienwohlstand
eine materielle Schädigimg zufugt. Darum hat die ge-
kränkte Frau freie Wahl, ob sie unversöhnlich auf ihrem
formellen Recht der Scheidung bestehen, oder ob sie
vergeben imd ihren Kindern das gemeinsame Familien-
leben erhalten will; das Vergeben ist ohne Beeinträch-
tigung ihrer Würde möglich, was bei dem gekränkten
Manne nicht der Fall ist, und darum hat allein die Frau
das Vorrecht, sich mit der göttlichen Milde des Ver-
zeihens zu schmücken, welche den Mann in gleicher
Lage verächtlich macht.
Viel durchgreifender, als in der ehelichen Treue
sind die aus dem Geschlechtsgegensatz abfliessenden
Unterschiede in Bezug auf das Leben vor der Ehe. Ein
Mann, welcher gegen das geschlechtliche Vorleben des
zu wählenden Weibes gleichgültig ist (wie gewisse spe-
kulative Heirathsannoncen es verkünden) macht sich ver-
ächtlich; ein Weib dagegen, welches ohne Zweifel an
der Ehrenhaftigkeit eines Bewerbers daran Anstoss
nimmt, dass er schon vor der Bewerbung um sie ge-
schlechtlich aktiv war, macht sich lächerlich (so z. B.
die Heldin in Bjömson's Schauspiel: „Der Handschuh").
Wäre der Mann nicht geschlechtlich aktiv, so würde er
sich an der Freundschaft mit Frauen genügen lassen,
und höchstens noch aus äusserlichen, nicht zur Sache
selbst gehörigen Motiven zur Ehe sich entschliessen,
jedes feinfühlige Weib sträubt sich aber mit Recht da-
gegen, bloss aus solchen äusseren Motiven zur Ehe be-
gehrt zu werden. Kann also das Weib nur bei einem
seiner Natur nach geschlechtlich aktiven Mann erwarten,
um ihrer selbst willen geheirathet zu werden, so ist es
eine naturwidrige und unverständige Forderung, dass
diese Aktivität bis zur Bekanntschaft mit ihr habe la-
— 43 —
tent bleiben und erst bei ihrem Anblick erwachen sollen.
Umgekehrt dagegen hat der Mann das Recht, ein weib-
liches, das heisst geschlechtlich passives Weib in seiner
Erkorenen vorauszusetzen, mit anderen Worten eine
Jungfrau, die auf den Mann ihrer Wahl gewartet
hat, um sich von ihm aus dem träumenden Schlummer
zum wachen Liebesleben wecken zu lassen. Es liegt
der höchste Reiz für das männliche Liebeswerben darin,
ein noch unbeschriebenes Blatt vorzufinden, in das er
seine Schriftzüge eingraben kann, eine noch reine Pas-
sivität, d. h. eine noch potentielle Gegenliebe, die er
erst durch seine Aktivität zur Aktualität erhebt. Darum
gilt die Jungfräulichkeit der Braut als selbstverständ-
liche, stillschweigende Voraussetzung der Eheschliessung,
und jede Täuschimg über dieselbe als gesetzlicher Ehe-
scheidungsgrund, ebensogut wie Ehebruch. Wollte man
aber dem entsprechend auch die Jungfräulichkeit der
Bewerber zur Bedingung gültiger Ehen machen, so wür-
den in der Hauptsache nur noch solche Männer legitime
Familien gründen, deren physiologischer Defekt die
Fortpflanzung ihrer Naturanlage nicht wünschenswerth
macht, und es würde durch die Zuchtwahl mehrerer
Generationen bei schnell abnehmender Bevölkerung eine
Sorte von Männern producirt werden, die gar nicht mehr
an Verheirathung denkt.
Ein Mädchen, das sein Lebensglück ihrem Bewer-
ber anzuvertrauen im Begriff steht, thut freilich wohl,
alle thatsächlichen Anhaltspunkte in Betracht zu ziehen,
welche zur Erschliessung seines Charakters beitragen
können, und zu solchen gehört zweifellos in erster Reihe
die Art seines Verhaltens gegen andere Frauen, zu
denen er bereits in Beziehung gestanden hat; aber es
kommt dabei nicht sowohl auf die Thatsache an, dass
er schon vorher andere Verhältnisse angeknüpft hatte,
als vielmehr darauf, wie er sich in denselben benom-
— 44 —
men hat, und vor allen Dingen, wodurch dieselben ge-
löst worden sind. Einen als schiijdigen Theil geschie-
denen Ehemann zu heirathen, ist mindestens ein Wag-
niss, über dessen üblen Ausfall sich kein Weib nachher
beklagen kann. Auch bei Vermeidung jener Unehren -
haftigkeit treten oft genug die bedenklichsten Charakter-
züge, wie Leichtsinn, Selbstsucht, Genusssucht, Rück-
sichtslosigkeit, Unverträglichkeit, Hartherzigkeit^ Undank-
barkeit, Frivolität u. s. w. zu Tage, welche jedes be-
sonnene Mädchen davon abschrecken müssen, sich einem
solchen Charakter anzuvertrauen. Aber es ist dies
offenbar etwas ganz anderes, als die Fordenmg, dass
der Mann keine andern Verhältnisse angeknüpft haben
solle, und darf mit ihr nicht verwechselt werden. War
das Verhalten desselben vorwurfsfrei, so bietet vielmehr
ein so in den Prüfungen des Lebens bewährter Bewer-
ber eine ungleich grössere Bürgschaft als ein gleich-
altriger Unerprobter. Wenn es auch zweifelhaft sein
mag, ob der Mann zwei Frauen zugleich wahrhaft lie-
ben könne, so ist es doch unzweifelhaft, dass er mehrere
nach einander mit ganzem und vollem Herzen lieben
könne, und die Behauptung, dass nur Eine Liebe die
wahre sei, ist eine unstatthafte Verallgemeinerung eines
für die weibliche Empfindungsweise wahren Satzes auf
den Menschen als solchen.
Der Organismus des Mannes bleibt davon völlig
unberührt, wenn derselbe aus einem Junggesellen zum
Gatten und Vater wird; er empfängt nichts zu dem
Seinigen hinzu und wird durch das, was er giebt, nicht
ärmer. Das Weib hingegen verhält sich nicht gebend,
sondern empfangend und tritt dadurch in ein ganz neues
physiologisches Lebensstadium, das ihren Organismus
bis in seine kleinsten Theile alterirt. Eine Mutter hat
überdiess Monate lange mit einem zweiten Organismus
in Blutaustausch gelebt, dessen Blutbereitung nur zur
— 45 —
Hälfte durch die ererbten mütterlichen, zur andern
Hälfte durch die ererbten väterlichen Eigenschaften be-
stimmt war, sie hat also ihre Gewebe theilweise mit
einem Blute ernährt, das zur Hälfte durch ihren Gatten
bestimmt war, und hat dadurch Eigenschaften des letz-
teren in gewissem Grrade in sich aufgenommen, welche
zwar in ihr latent bleiben, desto mehr aber in Kindern
einer späteren Ehe wieder zu Tage treten können
(was man ungenau so ausdrückt, dass diese Einflüsse
in ganz besonderem Mciasse auf die Fortpflanzungs-
sphäre wirken). Der Gatte einer Wittwe findet also kein
unbeschriebenes Blatt mehr vor, sondern einen in ge-
wissem Grrade durch seinen Vorgänger mitbestimmten
Organismus, mit dessen Vererbimgstendenzen die seini-
gen erst den Kampf aufzunehmen haben. Ein Weib giebt
sich demnach in der That mit Seele und Leib ihrem
Gatten hin, ein Mann bloss mit der Seele seiner Gattin,
und mit dem Leibe nur insofern, als er die Verpflich-
tung übernimmt, für sie mit zu arbeiten. Mit diesem
physiologischen Unterschiede der Rückwirkimg der Ehe
auf beide Geschlechter hängt der Gegensatz im Instinkt
beider Geschlechter auf das engste zusammen. So lange
die Schwärmer für Gleichstellung der Geschlechter jenen
physiologischen Unterschied nicht wegdekretiren können,
werden sie vergeblich an dem Gegensatz der Instinte
rütteln und werden mit einer beide Unterschiede igno-
rirenden socialen Gleichmacherei nur widernatürliche
Zerrbilder liefern, die an ihrer inneren Absurdität
scheitern.
Hiermit soll keineswegs auf die Wiederverhei-
rathung der Wittwen ein Stein geworfen werden, ob-
wohl die Frivolität, mit welcher dieser Gegenstand nur
zu häufig in Lustspielen und Romanen behandelt wird,
des deutschen Volkes nicht würdig ist. Eine kinderlose
Wittwe oder geschiedene Frau, oder eine solche, die
/
- 46 -
nicht selbst in der Erziehung ihrer Kinder ihre Lebens-
aufgabe suchen und finden kann, oder die allein dieser
Aufgabe sich nicht gewachsen fühlt, soll auf keine
Weise gehindert werden, ihren Lebensberuf in einer
zweiten Ehe zu suchen, insbesondere, wenn sie in ihrer
ersten Ehe die wahre Liebe noch nicht durchlebt hat;
aber eine Mutter wird immer wohl thun, zimächst in
der Erziehung ihrer Kinder ihre dringendste Lebens-
aufgabe zu sehen, und wird, wenn sie diese ernst und
pflichttreu erfasst, selten Grund haben, nach einem wei-
teren Feld für die Bethätigung ihrer Ejräfte auszuspähen.
Ein Mann braucht sich durch die Wittwenschaft seiner
Geliebten nicht von der Verbindung mit derselben ab-
halten zu lassen, aber er soll sich darüber klar sein,
dass diese Wittwenschaft ein Punkt ist, über den er
sich hinwegsetzen muss, und dass die Frau es durch
ungewöhnliche persönliche Vorzüge verdienen muss, dass
er sich über diesen Punkt hinwegsetzt. Ein Mädchen
dagegen, das einen Wittwer heirathet, hat sich, was
seine Person anbetrifft, über gar nichts hinwegzusetzen^
kann sich vielmehr freuen, dass es einen schon von
ihrer Vorgängerin erzogenen und gezähmten Mann be-
kommt.
Aehnlich ist der Unterschied zwischem einem Manne,
der schon einmal Bräutigam war, und einem Mädchen,
das schon einmal Braut war. Der erstere bleibt davon
in seinem Werthe unberührt, sofern nur die Lösung der
Verlobung ohne seine Schuld erfolgt ist; die letztere,
auch wenn sie ganz schuldlos an dem Auseinander-
gehen ist, gleicht einer Waare, die Havarie erlitten hat,
und deren Werth dadurch im Preise gesunken ist. Mag
sie die weibliche Passivität in ihrem Brautstand noch
so wohl bewahrt haben, so ist doch die latentente
Potentialität ihrer Passivität aufgehoben, die Jungfräu-
lichkeit ihres Herzens nicht mehr intakt, der Duft von
- 47 —
Schraetterlingsflügeln abgestreift. Nur einmal kann das
Weib praktisch lernen, was Liebe ist, und es ist schmerz-
lich für den Liebenden, nicht derjenige sein zu können,
der es sie lehrt. Wohl treibt ein vom Frühlingsfrost
verletzter Baimi eine zweite Laubkrone hervor, aber so
reich und üppig, wie die erste, wird sie nicht; so ent-
faltet auch das Mädchenherz eine zweite Blüthe, wenn
die erste vor der Reife verwelken musste, aber seine
volle und ganze Blüthenpracht breitet es doch nur da
aus, wo die zum ersten Mal erwachende Liebe unge-
stört mit ganzer Kraft alle Phasen durchläuft.
Nun ist dies freilich nicht so zu nehmen, als sollten
der noch schlummernden Jungfräulichkeit die Träume
verwehrt sein, welche das künftige Liebesleben ideal
anticipiren; denn diese Träimie greifen in ihrer Gegen-
standslosigkeit keinem Rechte eines künftigen Bewerbers
vor. Ebenso wenig kann man der Jungfrau die unwill-
kürlichen tastenden Versuche verargen, mit denen sie
das Ideal ihrer Träume den ihr begegnenden wirklichen
Männern anzupassen unternimmt, und noch untriftiger
wäre die Zumuthung, dass die Jungfrau gegen alle Be-
werber schlechthin spröde sein solle, bis der eine Aus-
erwählte kommt, weil der Auserwählte niemals kommen
würde, wenn es jedem ersten Annäherungsversuche
schlechterdings an jedem Entgegenkommen fehlte. Nur
wenn zufallig die Versuche, dsis Ideal an die begegnenden
Männer anzupassen, mit den Bewerbungen eines be-
stimmten Mannes und einem gewissen Entgegenkommen
gegen dieselben zusammen treffen, nur dann tritt der
Punkt ein, wo die Träume der Phantasie im Begriffe
stehen, in reales Liebesleben umzuschlagen; aber dieses
Wünschen und Sehnen, Hoffen und Fürchten ist doch
erst die Vorhalle zum realen Liebesleben und dieses
selbst beginnt erst mit dem ausdrücklichen oder still-
schweigenden Einverständniss beider Theile, d. h. mit
-^ 48 —
dem Eintritte in ein bräutliches Verhältniss, gleichviel
ob dasselbe Geheimniss der Liebenden bleibt, oder der
Familie mitgetheilt, oder vor der Gesellschaft erklärt
wird. Der Grad der Stärke und Vollständigkeit, in
welchem die Gefühle in solchem Verhältnisse geweckt
und erschlossen werden, ist nicht abhängig von seiner
längeren Dauer, wenn auch eine gewisse Dauer die
Vollständigkeit der Aufschliessung begünstigt; sie ist
femer unabhängig davon, ob das dem Wunsche voi:-
schwebende Ziel der Vereinigung als erreichbar oder
unerreichbar gedacht oder in welcher Form es vorge-
stellt wird. Nimmt man den Begriff des bräutlichen
Verhältnisses in diesem weiteren Sinne, so deckt er
sich genau mit dem Begriffe des realen Liebeslebens,
und so kann dessen Grrenze von vorbereitenden An-
knüpftmgsversuchen und von Phantasieträumen mit ästhe-
tischen Schein-Empfindungen nicht zweifelhaft sein.
Praktisch freilich ist die Grenze zwischen Anknüpfs-
versuchen und bräutlichem Verhältniss durch die Sitten
verschieden gezogen, und liegt die Gefahr nahe, bei
lebhafter Phantasie ideale ästhetische Scheingefühle mit
realen zu verwechseln, also blosse Phantasiespiele für
wirkliches Liebesleben zu halten; indessen belehrt das
weit schnellere Ausklingen, Verblassen und spurlose
Verschwinden der Phantasiegefühle nachträglich ziem-
lich leicht und sicher über deren Unterschied von realen
Gefühlen und über die etwa stattgehabte Verwechselimg
der ersteren mit den letzteren. Alle Behauptungen von
Frauen, dass sie öfter als einmal wahrhaft geliebt haben,
dürften sich darauf zurückführen lassen, dass der Unter-
schied zwischen den Scheingefühlen einer lebhaften
Phantasiethätigkeit und dem realen Gefühlsleben des
Herzens nicht beachtet worden ist; die phantasiemässige
Anticipation des realen Liebeslebens kann aber bis zu
einem gewissen Grade der Lebhaftigkeit, Fülle und Fein-
— 49 —
heit des letzteren forderlich sein. So kann eine
schuldlos entlobte Braut, die zwar phantasiemässig
zu lieben versucht, aber es nicht bis zu wirklicher
Liebe für ihren Bräutigam gebracht hat, unter Um-
ständen ein dankbarerer Gegenstand der Liebe sein^
als ein phantasieloses Mädchen, das allzu plump und
schwerfällig auf die entgegengebrachte Liebe reagirt.
Aber sowie man es versucht, diesen Satz auszudehnen
auf Frauen, welche in der Liebe praktisch schon viel
durchgemacht haben, so tritt der Unterschied zwischen
Phantasiespiel und Wirklichkeit hervor: der ernste Mann,,
der dem Weibe seiner Wahl wirklich seine Seele hin-
zugeben verlangt, erwartet auch als Gegengabe ein
reines und wo möglich jungfräuliches Herz, wogegen
der Lüstling, der nichts geben, sondern nur seine Sinn-
lichkeit gereizt sehen will, solchen „erfahrenen" Frauen
eine Zeit lang den Vorzug giebt, bis endlich auch er,
der stärksten Reize bedürftig geworden, doch wieder
zur unentweihten Jungfräulichkeit, als dem letzten und
höchsten Stimulans, zurückgreift. Umgekehrt ist der
erfahrene und im Leben geprüfte Mann für ein reines
Frauengemüth unendlich viel anziehender, als ein Neu-
ling auf dem Felde der Liebe, und es sind nur die
ahernden Frauen, welche dazu gelangen, die Unschuld,
die ihnen selber längst abhanden gekommen ist, an
jungen Männern reizend zu finden.
Es bedarf wohl kaum des Hinweises darauf, dass
alle diese Unterschiede des Verhaltens, in denen der
Gegensatz der Geschlechter sich ausdrückt, niemals aus
eudämonologischen Motiven konservirt zu werden be-
anspruchen können, sondern nur deshalb, weil mit ihrer
Missachtung und allmählichen Unterdrückung die von
der Naturteleologie gesetzten Reize zur Verehelichung^
d. h. zur Ueberwindung des Egoismus zu Gunsten der
nächsten Generation, aufhören würden, und damit
Hartmann, Moderne Probleme. ^
— 50 —
der Kulturprocess den schwersten Schaden leiden
würde.*)
*) Man vergleiche zu diesem Abschnitt meine „Phänomenologie des
sittlichen Bewusstseins**, S. 672 — 673, 692 — 696.
IV.
Die Lebensfrage der Familie.
Unter allen Verhältnissen ist die Lebensdauer der
Familien oder Geschlechter in den höheren Ständen
durchschnittlich kürzer. als in den mittleren und niede-
ren; aber wohl selten hat es eine Zeit gegeben, in
'welcher das Missverhältniss einen solchen Grad erreicht
hat, wie gegenwärtig. Es dürfte schwer sein, für diese
Behauptung den exakten Beweis zu erbringen, da die
mittlere Lebensdauer der Familien oder Geschlechter
in einem Stande nicht unmittelbar abhängig ist von der
mittleren Lebensdauer der Individuen, welche sie zu-
sammensetzen, und von den Lebensläufen der Familien
oder Geschlechter in den mittleren oder niederen Stän-
den meist nur kurze Bruchstücke zu verfolgen sind.
Trotzdem wird man dieser Behauptung beistimmen dür-
fen, wenn man erwägt, dass die drei hauptsächlichen
Ursachen, von welchen der Unterschied der mittleren
Lebensdauer eines Geschlechts in höheren und niederen
Ständen abhängt, in der letzten Zeit sehr zugenommen
haben, nämlich der grössere Procentsatz an Unverehe-
lichten, das spätere mittlere Heirathsalter und die klei-
nere durchschnittliche Kinderzahl, die auf eine Ehe
kommt.
— 51 —
Ausser diesen drei Ursachen wirkt noch eine vierte
mit, welche in ihren Wirkungen noch weit schwerer
abzuschätzen und der statistischen Anfhahme bis jetzt
entzogen ist, welche aber darum nicht weniger ein-
schneidend wirkt ; es ist diess der Umstand, dass gegen-
über der Starkeren Inanspruchnahme von Muskelkraft
und individueller Lebenskraft in den Berufsarten der
niederen Stände die intensivere Geistesarbeit und das
intensivere Genussleben der höheren Stände mehr Ner-
venkraft konsumirt und dadurch die Lebenskraft des
Geschlechts rascher verzehrt. Durch Verbrauch von
Nervenkraft wird nämlich mehr als durch irgend etwas
anderes das Fortpflanzungsvermögen alterirt und zwar
in doppeltem Sinne, erstens in Bezug auf die Zahl und
Tüchtigkeit der unmittelbaren Nachkommenschaft, zwei-
tens aber auch ganz besonders noch in Bezug auf die
Nervenkraft imd Fortpflanzungsfahigkeit der nächsten
Generation, von welcher die Zahl und Tüchtigkeit der
Nachkommenschaft in späteren Generationen mehr als
von irgend einem andern Umstände abhängt. Insoweit
sich die fragliche Wirkung in der Durchschnittszahl der
auf eine Ehe entfallenden Kinder ausspricht, ist sie be-
reits in der dritten der vorangestellten Ursachen in
Rechnung gestellt; insoweit sie aber die Tüchtigkeit,
Fortpflanzungsfahigkeit imd durchschnittliche Kinderzahl
der unmittelbaren Nachkommen betrifft, muss sie als ein
vierter Factor in Ansatz gebracht werden, was fi-eilich
erst dann ziffernmässig möglich wäre, wenn wir eine
vergleichende Familienstatistik der verschiedenen Stände
und Berufsarten besässen.
Man könnte nun meinen, dass in der kürzeren
durchschnittlichen Lebensdauer der Familien und Ge-
schlechter in den höheren Ständen ein billiger Ausgleich
liege für die längere Durchschnittsdauer des Individual-
lebens, und dass es vom Standpunkt des Ganzen be-
4*
— 52 —
trachtet gerade ein tröstlicher Gedanke sei, dass die
Familien der höheren Stände, auch wenn sie sich in
ihrem Stande behaupten, doch allmählich durch Aus-
sterben für ein Nachrücken der niederen Stände Raum
machen. Indessen die Genugthuung über diesen Aus-
gleich wäre doch nur eine kurzsichtige im Interesse des
Ganzen. Denn es würde dabei übersehen, dass es vor
allem im Interesse des Ganzen liegt, die ererbten und
generationsweise gesteigerten Anpassungen an höhere
sociale und kulturelle Aufgaben, durch welche die Mit-
glieder der höheren Stände denen der niederen durch-
schnittlich überlegen sind, möglichst voll auszubeuten
und auch für die Zukunft des Processes nach Möglich-
keit durch Weitervererbung zu verwerthen. So wün-
schenswerth es ist, dass strebsamen und ausnahmsweise
günstig veranlagten Individuen und Familien das Auf-
rücken in die höheren Stände offen stehe, um diesen
immer frisches Blut zuzuführen und sie zur Selbstbe-
hauptung durch überlegene Leistungen zu zwingen, so
zweckmässig es ferner ist, die untüchtigen, arbeitsscheuen
imd ungünstig veranlagten Individuen der höheren
Stände durch keine socialen Einrichtungen vor dem
Wiederhinabsinken in die niederen Stände zu bewahren,
ebenso unzweckmässig wäre es, den kapitalisirten Ge-
winn der Arbeit vergangener Generationen, wie er in
den ererbten Vorzügen der höheren Ständen vorliegt,
leichtsinnig vergeuden zu lassen, wenn man etwas zvl
seiner Erhaltung für künftige Generationen thun kann.
Aus diesem Grunde lohnt es sich wohl, der Erwägung
der Ursachen näher zu treten, durch welche die zuneh-
mende Verkürzung der durchschnittlichen Lebensdauer
der Familien höherer Stände bedingt ist, und sich um-
zusehen, welche Mittel der Abhülfe für diese wachsende
Kalamität unseres socialpolitischen Lebens zur Ver-
fügung stehen.
— 53 —
Es kommt noch eine zweite Folge der Ehelosigkeit
und Heiraths Verspätung hinzu, welche als ein socialer
Uebelstand von der grössten Tragweite allgemein an-
erkannt ist, dessen symptomatische Behandlimg aber bis
jetzt niu* das Uebel verschlimmert hat, und der so lange
fortdauern wird, bis er durch Abstellung seiner Ursachen
an der Wurzel erfcisst wird. Es ist diess die sogenannte
Frauenfrage, richtiger Jungfemfrage, d. h. die Frage, wel-
chen Beruf man den Weibern anweisen soll, die ihren natür-
lichen Beruf als Frau verfehlt haben. Bekanntlich ist die
Personenzahl beider Geschlechter in der Jugendblüthe
gleich, während im Kindesalter das männliche Geschlecht
ein wenig, im reiferen Alter das weibliche beträchtlich und
in wachsendem Maasse überwiegt. Hieraus folgt, dass
keine Jungfern übrig bleiben würden, wenn Jedermann
in seiner Jugendblüthe eine Lebensgefährtin wählte.
Eine Jungfemfrage entspringt erst daraus, dass die Zahl
der Mädchen in der Jugendblüthe grösser ist als die
Zahl der Männer in demjenigen reiferen Lebensalter, in
welchem sie in den höheren Ständen zur Ehe zu schrei-
ten pflegen, und dass ein Theil dieser Männer es vor-
zieht, unverheirathet zu bleiben. Die Ausbildung der
Mädchen für selbstständige Berufsarten, welche zur
symptomatischen Lösung der Jungfemfrage vorgeschla-
gen ist und vielfach angestrebt wird, macht das Uebel
nur ärger, weil sie die Mädchen weniger anziehend für
die Männer macht und dadurch die Zahl der imverhei-
rathet bleibenden Männer, also auch die Zahl der sitzen-
bleibenden Mädchen vermehrt, was wiederum eine Ver-
schärfung der Dringlichkeit der Jungfernfrage und ver-
grösserte Anstrengungen zur selbstständigen Erwerbs-
thätigkeit zur Folge hat. Aus diesem fehlerhaften Kreis-
lauf, der sich in sich selbst steigert, ist nur herauszukommen,
wenn man die alleinige Ursache der Jungfemfrage in
der zunehmenden Ehelosigkeit und Heirathsverspätung
— 54 —
der Männer erkennt, und die Bemühungen zur Abhülfe
an diesem Punkte einsetzt.
Was zunächst die vierte Ursache der Verringerung
der mittleren Lebensdauer der Familien, die stärkere
Abnutzung der Nervenkraft durch intensivere geistige
Arbeit und geistigen Genuss, betriffi, so ist sie in der
Hauptsache nicht zu beseitigen. Die höheren Berufs-
arten haben eben ihr Wesert darin, eine höhere und an-
gespanntere geistige Arbeit zu verlangen, und selbst
dann, wenn man bestreiten wollte, dass die intensivere
Arbeit auch intensiveren Genuss als Gegengewicht for-
dert, würde man doch nicht leugnen können, dass die
Genüsse und Erholungen der gebildeteren Stände selbst
vergeistigter Art sind und darum auch wieder eine gei-
stige Anspannung, wenn auch in anderer Art als die
Arbeit, nöthig machen. Da alle höhere Geisteskultur
der Menschheit in dieser Steigerung der geistigen Arbeit
und des geistigen Genusses liegt, so wird keine mensch-
liche Schlauheit jemals ein Mittel ersinnen, um die kul-
turtragenden Minderheiten der Völker vor einer rasche-
ren Abnutzung zu bewahren, und es bleibt in dieser
Hinsicht nichts übrig, als sich mit der Mauserung der
Aristokratie durch allmählichen Nachwuchs von unten
zu trösten. Um so dringender aber muss den höhern
Ständen ans Herz gelegt werden, dass sie sich vor jeder
Uebertreibung in Arbeit und Genuss hüten und die un-
vermeidlichen gesundheitlichen Nachtheile ihrer socialen
Stellung nach Möglichkeit dadurch auszugleichen suchen,
dass sie im Uebrigen ein gesundheitsgemässeres Leben
führen, als es den niederen Ständen durch ihre peku-
niäre Lage gestattet ist.
Vor allem gilt es, den die Nervenkraft ersetzenden
Schlaf der Nacht heilig zu halten, demnächst nicht nur
auf nahrhafte, sondern auch auf reizlose Kost zu ach-
ten, so viel als möglich sich Bewegung zu machen und
— 55 —
frische Luft zu athmen, den ersten Theil des Tages der
Arbeit, den zweiten der Erholung zu widmen, regel-
mässig zu leben und in allen Dingen Maass zu halten.
Eine grosse Gefahr liegt darin, dass die nervenerregende
Wirkung der Gehimarbeit irritirend auf die Genital-
sphäre wirkt und leicht zu einer vorzeitigen Vergeudung
des Fortpflanzimgsvermögens verleitet; diese Gefahr
wird um so grösser, je länger sie Zeit hat zu wirken,
d. h. je später das durchschnittliche Verheirathimgsalter
der Männer in den höheren Ständen fällt. Hier müssen
alle hygienischen, ästhetischen imd moralischen Hebel
angesetzt werden, um den socialen Schäden vorzu-
beugen, die aus der Verbindung der verstärkten Irri-
tation mit der verlängerten Entbehrung erwachsen kön-
nen ; am wirksamsten im Grossen und Ganzen wird sich
auch hier die Abschwächung der nervösen Irritation
durch gesimdheitsgemässe Lebensweise und Vermeidung
diätetischer Reizmittel erweisen.
Es ist nicht schwer zu sehen, dass diese Ursache
in Wechselwirkung steht mit den drei andern. Es ist
für einen jungen Mann um so leichter, zeitweilige Selbst-
beherrschung zu üben, je näher und gewisser ihm das
Ziel der Ehe vorschwebt, um so schwerer, je femer und
aussichtloser dasselbe nach Lage der socialen Verhält-
nisse für ihn ist; umgekehrt rückt nichts die Neigung
zur Verheirathung so sehr in den Hintergrund als die
Gewöhnung an ein zügelloses Junggesellenleben, und
es müssen dann meist schon nebensächUche Motive sein,
welche den Entschluss zur Verheirathung doch noch
reifen lassen. Ebenso stehen die drei andern Gründe
untereinander in Wechselwirkung. Wer wenig Aussicht
hat, zur Verheirathung zu gelangen, macht sich von
vornherein mit dem Junggesellenleben vertraut und ent-
zieht sich der Gelegenheit zur Anknüpfung bräutlicher
Verhältnisse, so dass schon der Zufall sein Spiel treiben
- 56 -
muss, wenn er ihn doch noch in Hymens Fesseln schlagen
soll. Wer erst in reiferen Jahren ans Heirathen denken
kann, der verpasst die Zeit der jugendlichen Eindrucks-
fahigkeit, innerhalb deren so manches weibliche Wesen
sein Herz hätte gewinnen können, und wenn er end-
lich soviel vor sich gebracht hat, dass er eine Familie
zu gründen wünscht, so sieht er sich vergebens nach
einem Mädchen um, in das er sich verlieben könnte,
imd wartet entweder, bis es ganz und gar zu spät ist,
oder er schliesst aus äusserlichen Gründen eine Ehe
ohne Liebe.
Heirathet ein Mann erst in reiferen Jahren, so wird
er durchschnittlich ein älteres Mädchen zur Frau wäh-
len, als wenn er jünger geheirathet hätte; es wird dem-
nach die Zahl der Kinder in seiner Ehe schon um des
Alteys der Frau willen geringer sein; ausserdem aber
tritt er nach kürzerer Ehedauer in ein Lebensalter ein,
in welchem die Ehe ihre natürliche Bedeutung zu ver-
lieren pflegt, auch wenn die Frau noch nicht aufgehört
hat, fortpflanzungsfähig zu sein, so dass hier ein zwei-
ter Grund für Verkürzung der natürlichen Kinderzahl
zu Tage tritt. Da es nicht bloss auf die Zahl, sondern
auch auf die Beschaffenheit der Kinder, auf die Scho-
nung der Mutter für ihren weiteren Beruf, und auf die
genügende Ausbildung derselben für die Erziehimg der
Kinder ankommt, so würde ich es keineswegs für einen
idealen Zustand halten, wenn die Töchter der höheren
Stände unmittelbar nach erreichter Pubertät in die Ehe
träten; aber auch die Hinausschiebung des durchschnitt-
lichen Heirathsalters der Mädchen auf das 26. bis 28.
Lebensjahr ist imnatürlich, weil es ohne weitere Förde-
rung ihrer Ausbildung ihre jugendliche Anpassungs-
fähigkeit verringert und mehrere Kinder, welche vom
21. bis zum 26. Jahr der Mutter hätten das Licht der
Welt erblicken können, für immer ungeboren lässt.
^
— 57 —
Dieselben Motive, welche die Männer gar nicht oder
erst in reiferen Jahren zum Entschluss der Verheirathung
gelangen lassen, bewirken auch eine Scheu vor reichem
Kindersegen. Wir sind bereits zu einem solchen Grade
der Verwirrung und Verkehnmg der Begriffe gelangt,
dass unsem höheren Standen die naturgemässe Kinder-
zahl einer noripalen Ehe von jugendlich verbundenen
gesunden und kräftigen Gatten als eine „kaninchen-
artige Fruchtbarkeit" anstössig erscheint.*) Wo solche
Ansichten Platz gegriffen haben, müssen sie selbstver-
ständlich eine Rückwirkung auf das mittlere Heiraths-
alter üben, insbesondere auf dasjenige der Frau; denn
je länger ein Mädchen mit der Verheirathung wartet,
oder ein je älteres Mädchen ein Mann zur Frau wählt,
desto weniger Sorge vor allzu reichem Kindersegen
brauchen sie zu hegen. Für den Mann ist die grössere
oder geringere Kinderzahl wesentlich nur eine peku-
niäre Frage, da die Frau doch allein die Lasten der-
selben zu tragen hat ; für die Frau aber ist es eine Kar-
dinalfrage des Leibes und der Seele.
Wo nun durch einen widernatürlichen Spiritualismus
und abstrakten Idealismus verschrobene Ansichten in
der Frauenwelt gewisser Stände grossgezogen werden,
welche trefflich als Deckmantel der egoistischen Be-
quemlichkeit, Leistungsscheu und Genusssucht verwend-
bar sind, da bildet sich ein Geschlecht pretiöser und
überspannter Egoistinnen, welche allenfalls wohl noch
ein oder zwei Mal die Lasten der Mutterschaft auf sich
nehmen wollen, weil sie anders auch der Freuden der-
selben nicht theilhaft werden können, welche dann aber
auch nicht weiter von den Naturpfiichten des Frauen-
*) Dieselbe beläuft sich nach medicinischen Annahmen auf 2 vor
dem 20. Jahre, 5 in den 20ger, 3 in den 30ger und i in den 40ger
Jahren, zusammen auf 11. Bei der Verheirathung der Frau mit 26^/2
Jafarer sinkt die zu erwartende Kinderzahl auf die Hälfte, d. h. auf 5 */2,
was mit dem statistischen Durchschnitt in Deutschland übereinstimmt.
- 58 —
berufs belästigt sein, sondern ungestört ihrer Behaglich-
keit und ihren Amüsements leben wollen.
Nichts kann geeigneter sein, die Männer energisch
von der Ehe abzuschrecken, als die Verbreitung solcher
ebenso unsittlichen wie unnatürlichen Ansichten; denn
wenn sie doch nur für wenige Jahre die Aussicht haben
sollen, in einer naturgemässen Ehe zu leben, so ist die-
ser Preis wahrlich das Opfer ihrer Freiheit nicht werthi,
und wenn sie nachher doch nur ein naturwidriges Ver-
hältniss mit einem aus Egoismus unsittlichen Weibe
fortsetzen sollen, so können sie sich auch gleich mit
unsittlichen Verhältnissen zu egoistischen Weibern be-
gnügen, die wenigstens nicht mit pretiöser Ehrbarkeit
und tugendhafter Ueberspanntheit prunken. Mädchen,
welche zwar alle Vortheile der Frauenstellung durch
die Ehe zu erlangen wünschen, aber nicht mehr die
ehrliche und rückhaltslose Opferwilligkeit für alle ihnen
von der Natur und dem socialen Gesamratinteresse auf-
erlegten Pflichten besitzen, wollen den Mann, der sie
heirathet, einfach im Handel betrügen, und es geschieht
ihnen persönlich nur ihr Recht, wenn sie dabei die Be-
trogenen sind, d. h. sitzen bleiben.
Leider geschieht nur mit dieser nächstliegenden
Lösung dem socialen Ganzen nicht sein Recht, und des-
halb können solche überspannte egoistische Ansichten
nicht entschieden genug zur rechten Zeit bekämpft
werden. Die Mädchen können nicht früh genug lernen,
dass sie ebensowenig wie die Männer geboren sind, um
zu geniessen, sondern um zu dienen, nicht den Männern,
sondern gleich diesen ihrem Beruf, und dass ihr einziger
unmittelbarer Beruf darin liegt, dem Vaterlande mög-
lichst viel möglichst tüchtige und wohlerzogene neue
Bürger zuzuführen, um es im Kampf ums Dasein der
Nationen konkurrenzfähig und siegreich zu erhalten.
Ist es denn nicht ein tief beschämender Gedanke,
— 59 —
dass in allen modernen Kulturvölkern die ' bisherige
Durchschnittszahl der ehelichen Geburten nicht ausrei-
chen würde, um dieselben vor Rückgang und allmäh-
lichem Aussterben zu bewahren, dass z. B. das deutsche
Volk seine Vermehrung seit dem Jahre 1 8 1 5 , durch
welche allein es in den Stand gesetzt wurde, seine Exi-
stenz gegen Frankreich siegreich zu behaupten, ledig-
lich den Opfern verdankt, welche die Mütter der unehe-
lichen Kinder auf dem Altar des Vaterlandes nieder-
gelegt haben? Ist es denn nicht ebenso beschämend
für die höheren Stände, dass sie, die am ehesten in der
Lage wären, fiir die Volksvermehrung ein Uebriges zu
thim, in der Erfüllung dieser staatsbürgerlichen Pflicht
hinter dem Durchschnitt weit zurückbleiben, dem Pro-
letariat zu andern Lasten auch noch die Last autbürden,
den Ausfall ihrer Leistungen zu decken und dadurch
eine umgekehrte natürliche Zuchtwahl, eine Erhaltung
des mindest Entwickelten, inäuguriren?
In dem unnatürlichen egoistischen Widerwillen
vieler Mädchen der höheren Stände gegen eine opfer-
bereite Erfüllung des Frauenberufs ist ein zwar verbor-
genes und sorgsam verhülltes aber doch hinreichend
durchscheinelides Motiv aufgedeckt, welches die Männer
von der Ehe mit Standesgenossinnen abschreckt, sobald
sie klar genug blicken, um zu merken, dass es darauf
abgesehen ist, sie im Handel zu betrügen, und dass sie
in einer solchen Ehe vor die Wahl gestellt sind, ent-
weder unter dem Druck pekuniärer Motive sich mit
guter Miene in die Lage des Betrogenen zu finden,
oder die Frau zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen
auf Kosten des ehelichen Friedens und häuslichen Be-
hagens. Es giebt aber auch offner zu Tage liegende
Gründe, welche die Zunahme der Ehelosigkeit und Hei-
rathsverspätung erklären, nämlich der immer allgemeiner
werdende Hang, über seinen Stand hinaus zu leben.
— 6o —
Es ist unbestreitbare Thatsache, dass trotz einer
rascheren Vermehrung der Bevölkerung die Lebenshal-
tung aller Stande in den letzten 150 Jahren ausser-
ordentlich gestiegen ist. Unsere heutigen Arbeiter,
welche über Unzulänglichkeit der Löhne klagen, können
sich kaum einen Begriff davon machen, in welchem
Elend ihre Urgrosseltem lebten; aber unser Mittelstand
bis in die höchsten Berufsarten hinauf kann sich in sei-
nen älteren Gliedern noch sehr wohl entsinnen, welche
puritanische Einfachheit" in den Häusern seiner Gross-
eltern nach den Mittheilungen der Eltern in deren
Jugend geherrscht hat. Die Möglichkeit einer besseren
I^ebenshaltung aller Stände trotz schneller Volksver-
mehrung liegt ausschliesslich darin, dass jetzt die auf-
gespeicherte Sonnenkraft vergangener Jahrtausende, die
wir mit den Steinkohlen auf der Erde graben, vermit-
telst unsrer Maschinen unverhältnissmässig viel mehr
Gebrauchswerthe producirt, als dieselbe Volkszahl durch
eigne Kjraft und Handarbeit liefern könnte, und dass
wir gegen einen überschüssigen Theil dieser Fabrikate
die Bodenprodukte andrer Länder und Welttheile ein-
tauschen können. Der Grund dafür, dass der Drang
nach Steigerung des Wohllebens gegenwärtig so viel
intensiver geworden und theilweise in eine krankhafte
Genusssucht ausgeartet ist, liegt einerseits darin, dass
die bedeutend vermehrte Klasse der sehr Reichen in
dem produktiven Raffinement unsrer Zeit die Mittel zu
einem höchst verfeinerten Wohlleben vorfindet und
durch ihr Beispiel die andern Stände ziu* Nacheiferung
anreizt, andrerseits darin, dass der demokratische nivel-
lirende Zug unsres Zeitalters sich mehr als je gegen die
Unterschiede des Komforts verschiedener Stände als
gegen eine sociale Ungerechtigkeit auflehnt, und die
Genüsse der Bevorzugten als das gleiche Recht für Alle
fordert.
— 6i —
Wie überall sind auch hier.Vortheile und Nach-
theile verbunden. Die Intensität des Emporstrebens
in eine günstigere Lebenslage, welche der Haupthebel
des Kulturfortschritts durch Steigerung des Wettbe-
werbs und des Arbeitseifers ist, hängt selbst wieder
wesentlich von der Intensität ab, mit welcher von jedem
Stande die Theilnahme an den Genüssen und Vorzügen
der über ihm stehenden Stände ersehnt wird, und inso-
fern ist diese Intensität ein Vorzug unsrer Zeit. Andrer-
seits liegt in ihr eine Steigerung der Gefahr, dass
man die Zukunft, d. h. die reellen Chancen des socialen
Emporsteigens der Familie, um der Gegenwart willen,
d. h. um des vermehrten augenblicklichen Behagens
willen preisgiebt, dass man die erstrebte Sache, d. h.
die Gewinnung einer behaglicheren Lebenslage, dem
blossen Schein ihres Besitzes opfert. In diesem Sinne
wird dasjenige, was Hebel eines beschleunigten Kultur-
fortschritts sein sollte, zum Hinderniss des Fortschreitens
der Familie, nämlich wenn der Leichtsinn, welcher die
Mittel des Emporklimmens in momentaner Genusssucht
verzehrt, und die Eitelkeit, welche den gleissenden
Prunk und die hohle Prahlerei an die Stelle des wirk-
lichen Besitzes einer günstigeren Lage setzen, sich hin-
zugesellen. Darum ist der Drang nach Emporsteigen
nur insoweit wirthschaftlich gesund und social berech-
tigt und zweckmässig, als er die Kräfte zum Erwerb
grösserer Mittel anspornt, aber verderblich, wo er mit
den vorläufig zur Verfiigimg stehenden Mitteln das Ziel
des Wunsches vorwegnimmt, d. h. zu unverhältniss-
mässigem Luxus führt. Wie ein unverhältnissmässig
geringes Luxusbedürfniss zum Hemmniss des Kultur-
fortschritts wird und ein Volk zum Stillstand verurtheilt,
so muss ein übermässiges, d. h. über die verfügbaren
Mittel hinausgehendes Luxusbedürfniss zum kulturge-
schichtlichen Rückschritt und endlich zum Ruin führen.
— 62 —
Was für ganze Völker gilt, das gilt nicht minder
für einzelne Stände und Familien. Nichts muss so un-
fehlbar den Ruin des Grundadels beschleunigen, als
dessen krankhafte Sucht, sich an Luxus nicht von dem
Geldadel überflügeln zu lassen, und ein grosser TheU
der Klagen über die zunehmende Verschuldung des
Grrossgrundbesitzes ist allein darauf zurückzuführen, dass
die rasche Steigerung der Gütererträge doch noch weit
überholt ist durch die Steigerung der Lebensgewohn-
heiten der unmittelbar und mittelbar von ihnen leben-
den Familien. Der Dienstadel oder Beamtenstand klagt
in den meisten Beamtenkategorien mit Unrecht darüber,
dass die Steigerung der Gehälter mit der Entwerthung
des Geldes nicht gleichen Schritt gehalten habe; seine
sociale Stellung ist nur dadurch relativ ungünstiger ge-
worden, weil die Lebensgewohnheiten des Geldadels
und des mit ihm wetteifernden Grundadels seit einigen
Menschenaltem sich ausserordentlich gesteigert haben,
so dass er im Vergleich zu diesen ihm verwandten
Ständen sich in derselben Lage höchst unzufrieden fühlt,
mit welcher er früher sehr zufrieden war. Sogar der
Oflficierstand, der am meisten Anlass hätte, jede Ver-
weichlichung zu scheuen und in spartanischer Bedürf-
nisslosigkeit seine Ehre zu suchen, ist mehr und mehr
in einen thörichten Wettstreit mit dem Geldadel ge-
rathen, und hier wirkt jede Verirrung des Standesgeistes
um so schlimmer, als der Einzelne weit weniger die
Möglichkeit hat, sich gegen erkannte Unsitten aufzu-
lehnen. Weil in allen Ständen mit Ausnahme des Geld-
adels die Ansprüche an das Leben schneller gewachsen
sind als die Mittel ihrer Befriedigung, nur darum ist die
Unzufriedenheit und die Klage über unauskömmliche
Mittel jetzt so weit verbreitet.
Dieselben Stände, welche früher bei bescheidener
Lebensweise Mittel genug übrig hatten, um eine reich-
liche Kinderzahl anspruchslos aber gut zu erziehen und
— 63 -
noch einen Nothgroschen für die Familie zurückzulegen,
verbrauchen jetzt bei gestiegenen Lebensansprüchen ein
Einkommen von mindestens gleicher Kaufkraft entweder
für sich allein oder für eine viel kleinere Familie, er-
ziehen wenige, aber anspruchsvolle und verwöhnte
Kinder und lassen ihre Hinterbliebenen in einer hilf-
losen, mit ihrer Verwöhnimg um so bitterer kon-
trastirenden Lage zurück, weil die luxuriösere Lebens-
haltung für Sparrücklagen zur Selbstversicherung nichts
übrig lässt. Die so über ihren Stand hinaus gewöhnten
Kinder sind dann die Heirathskandidaten der nächsten
Generation. Ist es da ein Wunder, wenn die Söhne
Bedenken tragen, sich zu verheirathen und ihren Ar-
beitsertrag für sich allein verbrauchen, und wenn die
mittellosen Töchter dem Loose einer traurigen Jungfem-
schaft und oft genug dem Kreise der verschämten Ar-
muth verfallen?
Auch in der Familie, ebenso wie im Stande und
im Volke, ist der Tod, d. h. das Aussterben, der Sold
der wirthschaftlichen Sünde. - Wo noch ein natürliches
sociales Solidaritätsbewusstsein herrscht, wirkt diese Er-
kenntniss als ein Gegenmotiv gegen die wirthschaftliche
Veriming; aber das ist gerade das Gefahrlichste an der
individualistischen Atomisirung und dem abstrakt-ideali-
stischen Nivellement unsrer Zeit, dass jedes Individuum
nur an sich und seine Rechte auf das Leben, aber nicht
an seine Gliedschaft in socialen Individuen höjierer Ord-
nung und an seine Pflichten gegen diese denkt. Aprfes
nous le dringe! ist der Wahlspruch der selbstsüchtigen
Genusssucht; mag die Welt hernach ohne mich weiter
gehen, wie sie kann und will, wenn ich nur mein Leben ge-
nossen habe, so gut ich konnte! Hier enthüllt sich die
sittliche Verirrung imd Verkehrtheit als Wurzel der
wirthschaftlichen. Familien, die ihre Mitglieder in diesem
unsittlichen Egoismus sich verhärten lassen, verdienen
- 64 -
auch aus sittlichem Gesichtspunkt , unterzugehen und
durch neuaufstrebende Elemente ersetzt zu werden.
Glücklicher Weise sind solche extreme Erschei-
nungen noch keineswegs allgemein verbreitet, wenn
auch in geringerem Maasse die Tendenz zu luxuriöse-
ren Lebensgewohnheiten schon den ganzen socialen
Körper inficirt hat. Es steckt auch in unsem höheren
Ständen noch ein überwiegend gesunder Kern, und an
ihn wende ich mich, um ihn durch die Erkenntniss, wo-
hin die Verirrung der Zeit führen muss, zum Wider-
stände gegen einen bethörten Zeitgeist und Standesgeist
zu ermuthigen und diesen Geist durch eine energische
Reaktion in gesundere Bahnen zurückführen zu helfen.
Wenn ich vorher darauf hingewiesen habe, dass es
vorzugsweise das weibliche Geschlecht ist, dessen Egois-
mus sich gegen die vorbehaltlose und opferwillige Er-
füllung der ihm auferlegten Berufslasten zu sträuben in
Gefahr ist, so erfordert die Gerechtigkeit die Anerken-
nung, dass es vorzugsweise das männliche Geschlecht
ist, welches aus finanziellen Bedenken vor der Ehe zu-
rückscheut. Denn wie das Weib den schwereren Theil
der natürlichen Lasten zu tragen hat, so der Mann den
schwereren Theil der socialen Lasten, d. h. die Be-
schaffung des Unterhalts für die ganze Familie. Das
Mädchen, das sich verheirathet , muss dem Manne so-
weit vertrauen, dass er für den Unterhalt der Familie
sorgen wird; sie hat mit darunter su leiden, wenn sie
sich geirrt hat, aber sie trägt keine Verantwortung da-
für. Der Mann dagegen, der sich zur Ehe entschliesst,
übernimmt die ganze Verantwortung für die Erhaltung
der Familie und scheut vor dem Gedanken zurück, die-
ser Verantwortung nicht gewachsen zu sein. In finan-
zieller Hinsicht schreiten deshalb die meisten Mädchen
geradezu leichtsinnig zur Ehe, auch wenn sie in andrer
Hinsicht gar nicht leichtsinnigen Temperaments sind;
- 65 -
sie werden dabei von einem gewissen Fatalismus der
Pflichterfüllung getragen und von der beruhigenden Ge-
wissheit, alle Verantwortlichkeit in dieser Hinsicht auf
den Mann abwälzen zu können. Es liegt ihnen so viel
daran, zur Erfüllung ihres natürlichen Berufs und zu
den socialen Vortheilen der Frauenstellung zu gelangen,
dass sie ihre kritische Besonnenheit bereitwillig zurück-
drängen und sich gern einer Täuschung über die Zu-
kunft hingeben, die sie bei jeder ihrer Freundinnen
ohne Zweifel durchschauen würden. Sie sind demgemäss
stets bereit, die Sorgen und Bedenken eines sonst will-
kommenen Bewerbers zu beschwichtigen und denselben
ihrer Anspruchslosigkeit, Genügsamkeit, Arbeitslust und
Opferwilligkeit zu versichern, um ihm den Entschluss
zu erleichtem. Diese Versicherungen sind auch keines-
wegs Lügen, sondern gute Vorsätze, deren Erfüllung sie
sich wirklich zutrauen; zumal wenn ein Mädchen liebt,
so hält es keine Beschränkung für zu gross, um als
Hindemiss der Vereinigung mit dem Geliebten gelten
zu dürfen.
Leider pflegt die gehobene Stimmung der Braut
nicht für die Dauer vorzuhalten und oft sind alle die
guten Vorsätze bloss Pflastersteine auf dem Wege zu einer
ehelichen Hölle. Die alten Gewohnheiten behaupten
ihr Recht, und wenn auch die Vernunft so weit die
Oberhand behält, um die unvermeidlichen Entbehrungen
zu ertragen, so fehlt dabei doch nicht bloss die Freu-
digkeit, sondern oft genug auch die blosse Geduld, und
die mangelnde Zufriedenheit der Frau lässt auch die
häusliche Behaglichkeit des Mannes nicht aufkommen.
Bald ist es die Kleidung und der Putz oder Schmuck,
bald der Charakter des Wohnorts, bald die Grösse der
Wohnung, bald die Bedienung, bald die Kost, bald die
Beschaffenheit des Umgangskreises, bald die Zerstreu-
ungen und Vergnügungen, welche bei der neuen Lebens-
Haxtniann, Moderne Probleme . 5
•:o -
Trei^^e mir den früheren GeTrohnhehen der Fraa im
Widerspruch stehen und durch w^che ihre Unzuiriedec-
heh erregt wird. ^lanchmal werden die altec GewöhTi-
hehen durch nexie veriränaft. aber meist behairztet die
'Err.ner:^^ an die früher besessenen Annehmlichkeiten
ihr Recht und verhärtet und veiiittert äch in Bezug"
auf den einen o»ier den andern Pur^ je länger ;e mehr.
Schwimmer noch als ö5he Klagen und Vorwürfe wirkt
auf den Gemüths^eden des ^lannes die unausgespro-
chene ständige Unzumedenheit der Frau, sowohl der
mürrischen wie der sanft duldenden, und am schlimm-
sten ist die hvsterisch anerehauchte Bedrücktheit und
Melancholie, welche stets mit dem Uebergang in wirk-
liches Gemüthsleiden droht, wenn ihr nicht der Wille
geschieht und sie durdi Zerstreuungen abgelenkt wird.
Ist dem unbefiriedigten Anspruch durch Geld abzuhelfen,
so soll der ^lann wo möglich seine schon voll ange-
spannte Arbeitskraft überspannen, um demselben ge-
nug zu thun; will er aber gar das Geld, welches zu
diesem Z\«recke ausreichen \rürde, zur Selbstversiche-
rung der Familie zurücklegen, so betrachtet die Frau
das einfach als einen Raub an*dem ihr Gebührenden.
Reichen die ^Cttel ohnehin schon nicht aus, imi irgend-
welche Ansprüche der Frau zu befriedigen, so muss
natürlich einer solchen Frau jeder Gedanke an weitere
Vergrösserung der Familie als ein von dem rücksichts-
losen Planne gegen sie geplantes Verbrechen erschei-
nen: denn nun verbinden sich in ihr der Egoismus in
natürlicher und in wirthschafüicher Hinsicht, um den
Zweck der Ehe zu vereiteln. Ebenso staunenswürdig wie
die Opferwilligkeit, die Energie und die Ausdauer der
Leistungen sind, zu denen das Weib als uneheliche
Mutter oder als Wiuwe imter dem eisernen Zwang der
Xothwendigkeit , für ihre Kinder zu sorgen, sich auf-
schwingen kann, ebenso grausam und unbarmherig kann
-~ 67 —
die egoistische Rücksichtslosigkeit sein, mit welcher
dasselbe Weib alle Lasten dem Manne aufbürdet, so
lange sie noch einen hat.
Das hier gezeichnete Bild ist glücklicher Weise
nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme, wenn auch
keine ganz seltene; aber irgend etwas von den hier zu-
sammengestellten Zügen wird man bei einiger Aufmerk-
samkeit häufiger entdecken als man denkt. Jeder Mann^
der mit Heirathsgedanken umgeht, muss daran denken^
dass eine solche Zukunft auch ihm blühen kann, und
dass wenigstens die guten Vorsätze und Versicherungen
seiner Erkorenen ihm ganz und gar keine Bürgschaft
dngegen gewähren.
Bewimderungswürdig erscheint mir stets das Durch-
schnittsweib aus dem Volke, das ohne Dienstboten ihr
ganzes Hauswesen allein besorgen, ihre Wochenbetten
unter dem Beistand gefälliger Nachbarinnen erledigen,
ihre Kinder selbst Avarten und pflegen, dabei noch oft
die Rohheiten eines rücksichtslosen und zeitweise be-
trunkenen Mannes ertragen und durch eignen Arbeits-
verdienst zur Einnahme der Familie beisteuern muss,
und das alles mit der Aussicht, im Falle ihrer Wittwen-
schaft für ihre Erhaltung und für die Erziehung der
Kinder mit ihren zwei Händen aufkommen zu müssen.
Dieses Weib aus dem Volke trägt entschieden den
schwereren Antheil an der Last des Lebens, und die
Art, wie sie ihn meistens trägt, nothigt uns volle Hoch-
achtung vor ihrem sittlichen Werthe ab, welcher dem
des Mannes meist ebenso überlegen ist, wie er in den
höheren Ständen hinter diesem zurücksteht. An den
unglücklichen Ehen und den Scheidungen in niederen
Ständen trägt meist der Mann, an denjenigen in den
höheren Ständen überwiegend die Frau die Schuld; in
den ersteren ist entschieden die Frau, in den letzteren
— 68 —
gewohnlich der Mann der liebenswürdigere und inner-
lich gebildetere Theil.
Den Grund davon sehe ich wesentlich darin, dass
die Mädchen und Frauen der höheren Stände durch ge-
schäftigen Müssiggang systematisch verdorben, von dem
Gedanken, dass Arbeiten und Dulden der natürliche Zu-
stand des Menschen sei, entwöhnt und darauf hinge-
drängt werden, in der Bequemlichkeit und Vergnüg-
lichkeit den Zweck ihres Daseins zu suchen. Ein fünf-
stündiger Mädchenschulunterricht mit zwei- bis dreistün-
diger häuslicher Arbeitszeit, einhalb- bis einstündigem
Schulwege und nebenherlaufenden Privatstunden ver-
bietet es, die Mädchen während ihrer Schulzeit zu häus-
lichen Arbeiten heranzuziehen; wenn sie dann mit 15
bis 1 7 Jahren die Schule verlassen, so haben sie bereits
gelernt, sich als Damen zu fühlen, welche für häusliche
Arbeiten zu vornehm und zu gebildet sind, und wenn
sie auch wirklich anders dächten, so sind in einem
Hauswesen mit der entsprechenden Zahl von Dienst-
boten keine nennenswerthen Arbeiten da, welche die
Hausfrau ihnen anweisen könnte. Vom 16. Jahr bis
zur Verheirathung in den 20 er Jahren sind sie somit
zum Müssiggang förmlich gezwungen, wenn sie sich
nicht zu einem wissenschaftlichen oder künstlerischen
Studium entschliessen, durch welchen sie dem Beruf als
künftige Hausfrauen immer mehr entfremdet werden.
Das einzige, was sie ihm Durchschnitt lernen, das ist,
ihre nutzlose Zeitvergeudung mit mehr oder minder
•Grazie zu verschleiern, sei es durch das Lesien der aller-
neuesten englischen und französischen Schundromane
^der einzigen Frucht ihrer Sprachstudien), sei es durch
Klavierklimpern, sei es durch zwecklose augenverder-
bende Handarbeiten.
Jeder Arbeitseifer, jedes Gefühl des Verpflichtet-
seins zu volkswirthschaftlichen Leistungen, jede Scham
— 69 -
vor einer blossen Schmarotzerexistenz und unverdien-
tem Wohlleben wird dabei systematisch ertödtet, und
man kann sich nicht wundem, wenn die so erzogenen
Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau
in ein Hauswesen eintreten zu sollen, wo ihnen zwar
die grobe Arbeit durch eine Magd abgenommen wird,
aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eige-
nen Kleidung und derjenigen für die Kinder, imd, was
am schwersten wiegt, die tägliche und nächtliche Kin-
derpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde. Das
Höchste, wozu sie sich aufschwingen wollen, ist die
Last der Leitung eines Hauswesens mit mehreren Dienst-
boten, deren Ansprüche an Gedankensammlung und
wohlüberlegte Anordnung schon grell genug von der
in der Mädchenzeit gewohnten passiven Bummelei ab-
stechen; aber einen Mann zu nehmen, der nicht im
Stande ist, ihnen Köchin und Kindermädchen zu halten,
und alle Familiengarderobe durch fremde Hände anfer-
tigen zu lassen, darin sehen sie mindestens ein so
grosses Opfer, dass es durch ein lebenslängliches Auf-
händengetragenwerden vom Manne nicht aufgewogen
werden kann.
In der Regel denkt ein Mädchen beim Heirathen
nur an den Brautstand, die Hochzeitkleider und die
Honigmonde, und alle damit gegebenen Lasten ist sie
willig, auf sich zu nehmen. Kommen nachher die Kin-
der hinzu, welche eine Kinderwärterin, Kinderkleider,
vergrösserte Wohnung und Tafel verlangen, nun so ist
das eben blosse Schuld des Mannes, fiir die er aufzu-
kommen hat. Kann er das nicht in dem Maasse, wie
das Behagen und die Bequemlichkeit der Frau es ver-
langen, so macht er dadurch diese zur Märtyrerin, oder
er vergrössert vielmehr nur das Martyrium, welches die
Frau durch die wiederholten Schwangerschaften, Ent-
bindungen und Wochenbetten „um seinetwillen" tragen
— 70 —
muss. Dass in den höheren Ständen der Beruf des
Mannes, durch welchen er die Mittel für die Erhaltung*
der Familie beschafft, ein viel grösseres Martyrium ist
als derjenige einer alle ihre Pflichten erfüllenden Frau,
dass er namentlich die Lebensdauer in viel höherem
Grade abkürzt, das kommt dabei natürlich nicht in Be-
tracht. Wie der Beruf den Mann allmählich aufreibt
und seine Gesundheit untergräbt, entzieht sich in den
früheren Stadien meistens der Beobachtung, wird auch
wohl vom Manne geflissentlich ignorirt; wie dagegen
der Beruf der Frau vorübergehende und später sich
meist völlig wieder ausgleichende Störungen des Wohl-
befindens hervorruft, das liegt auf der Hand, und die
Frauen ermangeln selten, es in das rechte Licht zu
stellen, wie „leidend" sie durch Erfüllung ihres Berufs
geworden sind, zumal wenn sie dabei „nervös" oder gar
„hysterisch" sind.
Und wie viele Frauen der höheren Stände giebt es,
die nicht nervös sind? Wie viele, welche körperlich
der Erfüllung ihres Berufes noch vollauf gewachsen und
im Stande sind, die Vereinigung von Arbeit und Kin-
derwartung am Tage mit jahrelanger nächtlicher Ruhe-
störung ohne unerträgliche Steigerung ihrer Nervosität
zu ertragen? Durch das sinnlose Aderlassen der vor-
hergehenden Jahrhunderte sind wir zu einem blutarmen,
bleichsüchtigen Geschlechte, durch das städtische Leben
mit seinen künstlichen Erregungen und seinem Mangel
an frischer Luft und Bewegung im Freien zu einem
nervösen Geschlecht geworden, und in Folge der un-
vernünftigen Ueberanstrengxing des zarter gebauten
weiblichen Gehirns vom 6. bis zum i6. Jahr durch unsre
höheren Töchterschulen und weiterhin durch die weib-
lichen Berufsstudien haben wir den durch das gesund-
heitswidrige Schnüren der letzten Generationen schon aus
dem Gleichgewicht gerückten weiblichen Organismus
— Jl —
der höheren Stände dahin gebracht, dass er zu seinen
natürlichen Zwecken immer untauglicher geworden ist.
Kein Wunder, wenn da der Geist anfangt, sich gegen
die Erfüllung der Natur zwecke aufzulehnen, zu denen
er den Körper unbrauchbar fühlt. Das nach Glück imd
Liebe sich sehnende Herz des Mädchens geräth in
Widerspruch mit der Natur, und wird fast unwillkürlich
zu einem platonischen abstrakten Idealismus hingedrängt,
in welchem es wähnt, ein Männerherz ohne die Natur-
basis der Liebe sich dauernd zu eigen machen zu kön-
nen; unsre ganze Mädchenerziehung, welche auf ängst-
liche gewaltsame Verschleierung und Ignorirung dieser
Naturgrundlage und ihrer Weisheit und Würde ausgeht,
unterstützt diese ihrem Egoismus so angenehme Ver-
irrung, und der Mann hat nachher die Kosten dieser
künstlichen Selbsttäuschung zu tragen, indem sein na-
turgemässes Verhalten ihm als sinnliche Rohheit und
rücksichtslose Barbarei in Rechnung gestellt wird. Wenn
es so der Frau auch nicht gelingt, den Mann von seinem
Unrecht gegen sie zu überzeugen, so überzeugt sie ihn
doch hinlänglich von ihrer Naturentfremdung, Untüchtig-
keit und Selbstsucht, stumpft hierdurch wie durch die
quälende Unzufriedenheit mit ihrer Lage die anfängliche
Liebe des Mannes für sie mehr und mehr ab, und ge-
langt so an einen Punkt, wo der erkaltete und ermü-
dete Mann dem Appell an seinen wirthschaftlichen
Egoismus zugänglich wird. Die Folge ist dann die ge-
ringere Kinderzahl des Ehen der höheren Stände im
Vergleich mit denen der niederen.
Die jungen Männer reflektiren wohl selten auf alle
hier aufgeführten Umstände, aber sie haben doch eine
mehr oder minder deutliche Kenntniss von der Natur-
entfremdung, körperlichen und geistigen Berufsuntüch-
tigkeit,' Arbeitsscheu, Verwöhnung und Selbstsucht der
Mädchen höherer Stände, denn sie kennen ja ihre
— -Jl
Schwestern. Sie haben deshalb eine instinktive Furcht
vor der Ehe, und ziehen es vor, mit Mädchenherzen
vor der Ehe zu spielen, anstatt mit ihrem Herzen nach
der Hochzeit spielen zn lassen. Sie fürchten mehr als
in irgend einer früheren Kulturperiode die Liebe, welche
sie verblenden konnte gegen das, was sie zu erwarten
haben, schätzen ihre Junggesellenfreiheit um so hoher,
und hoffen dass ihnen der „Reinfall" auf ein vermögens-
loses Mädchen erspart bleiben wird. Wenn sich mm
in dieser Hoffnung auch ein grosser Procentsatz täuscht,
so ist doch solche generelle Abneigung der gebildeten
Jugend gegen die Ehe mit einem vermögenslosen Mäd-
chen ein höchst bedenkliches Zeichen der Zeit, ein
Symptom von einem auch in der Männerwelt über-
wuchernden Egoismus, von Mangel an Familiensinn und
socialem Pflichtgefühl. Kein Mann kann bezweifeln,
dass es auch unter den vermögenslosen Mädchen seines
Standes Ausnahmen genug giebt, dass er, wenn er
durchaus in seinem Stande heirathen will, den Muth
haben muss, nach diesen Ausnahmen zu suchen, dass
es mit zu seiner Pflicht gehört, im Falle der Enttäu-
schung in der Ehe den Kampf mit der Selbstsucht der
Frau aufzunehmen und die versäumte Erziehung der-
selben nachzuholen, dass er endlich selbst bei Erfolg-
losigkeit dieses Streben s seine Töchter anders erziehen
und eine bessere sociale Zukunft herauffiihren helfen soll-
Das Verschanzen hinter die weiblichen Fehler ist
leider nur zu oft ein blosser Vorwand der männlichen
Jugend, um ihrer Selbstsucht, d. h. dem Verbrauch ihres
gesammten Einkommens für ihre Person, ungestört
weiter fröhnen zu können. Wer seine ganze Einnahme
für sich allein verbraucht, der schreckt natürlich davor
zurück, plötzlich den Haupttheil derselben für eine Fa-
milie abgeben zu sollen; er verschiebt das Heirathen
auf eine Gehaltserhöhung, hat aber, wenn diese kommt.
— 73 —
nicht gerade eine bestimmte Frau in Aussicht, und ge-
wöhnt sich dann daran, auch das höhere Einkommen
ganz für seine persönlichen Bedürfhisse zu verbrauchen.
Uebermannt ihn eine wirkliche Liebe, so entschliesst er
sich freilich zu Opfern und Einschränkungen und findet
nachher meistens, dass ihm die Entbehrungen viel leich-
ter geworden sind, als er sich vorher gedacht hat, ge-
rade umgekehrt wie bei der Frau. Fehlt es aber zu
der Zeit, wo sein Einkommen für eine Familie ausreicht,
an einer rechten Liebe in seinem Herzen, die ihn über
die kleinliche Selbstsucht hinweghebt — und diess ist,
nur zu oft der Fall — so wird die letztere bei vielen
stark genug sein, sie von der Erfüllung ihrer socialen
Bürgerpflicht durch Eheschliessung abzuhalten. Freilich
giebt es noch junge Männer genug, die auch ohne
eigentliche Liebesleidenschaft ganz gern bereit wären,
sich erhebliche persönliche Einschränkungen aufzulegen
um des Familienglücks und des häuslichen Behagens
theilhaftig zu werden, wenn sie nur noch den Glauben
fassen könnten, dass dieses Glück ihnen mit den ver-
wöhnten und anspruchsvollen Mädchen ihres Standes
wirklich noch blühen könne, wenn sie nicht fürchten
müssten, alle Opfer umsonst zu bringen, und sich durch
Fesselung an eine unzufriedene und missvergnügte Frau
das Leben zu verbittern.
Die schonungslose Aufdeckung .der Gründe, aus
denen die vermehrte Ehelosigkeit und Heirathsverspä-
tung und die verminderte Kinderzahl unserer höheren
Stände entspringt, mag manchem Leser peinlich ge-
wesen sein, aber sie hat wenigstens den Vortheil, die
Punkte erkennbar zu machen, an welchen die Hebel
zur Wiederherstellung gesunderer socialer Zustände an-
gesetzt werden müsse'n.
Zunächst kann die Gesetzgebung etwas thun, näm-
lich die Prämie aufheben, welche auf der Ehelosigkeit
— 74 —
steht in Folge des Umstandes, dass der Familienvater
von seinem Einkommen trotz der erhöhten Leistungen
für den Staat durch die Kindererziehung und trotz des
höheren Beitrag« zu den indirekten Steuern und Zöllen
doch noch dieselben direkten Steuern zahlen muss, wie
der Junggesell, und dass nach Intestaterbrecht ledige
und verheirathete Erben gleichen Erbanspruch haben.
Wir betrachten zunächst den ersten Punkt.
Ob ein Einkommen eine oder fünf Personen er-
nährt, müsste sich doch in der Steuerquote ausdrücken,
d. h. der unverheirathete Steuerzahler müsste von dem
gleichen Einkommen das Fünffache an direkter Steuer
entrichten, wie der Familienvater, um einen billigen
Ausgleich herzustellen. Wir können nicht zu dem
Athenischen Gesetze zurückkehren, nach welchem der
gesunde Bürger mit zurückgelegtem vierzigsten Lebens-
jahr zur „Zwangstrauung" geführt wurde (wie bis vor
Kurzem bei ims die Kinder zur Zwangstaufe), aber wir
können unsern Bürgern die Eheschliessung dadurch als
eine staatsbürgerliche Ehrenpflicht einschärfen, dass wir
die Entziehung von derselben ähnlich wie diejenige
von gewissen Ehrenämtern der Selbstverwaltung durch
Vervielfachung der direkten Steuern ahnden. Das Ge-
schlecht kann hierbei keinen Unterschied begründen;
denn in den steuerpflichtigen Jungfern, mögen sie im
Einzelnen noch so unschuldig an ihrem Sitzenbleiben
sein, muss die Entartung ihres Geschlechts im Ganzen
gestraft werden, da die Gesetzgebung nicht individuali-
siren kann. Da die unteren Stufen der Klassensteuer
ohnehin schon bei uns aufgehoben sind, imd weitere
Stufen der Aufhebung entgegen sehen, so würden die
von ihrem Arbeitsertrag lebenden Jungfern von einer
solchen Massregel ebensowenig betroffen werden, wie
die niederen Stände überhaupt, und auf weiblicher Seite
nur die besser situirten Rentnerinnen darunter zu leiden
— 75 —
haben, die es vertragen können.*) Da die Entziehung
von der socialen Pflicht der Familiengründung um so
gemeindschädlicher und strafbarer ist, je wohlhabender
die ledigen Individuen sind, so wäre es sogar nicht mehr
als billig, den Coefficienten für die Vervielfachung der
Steuer progressiv zu machen; denn je grosser die Wohl-
habenheit, desto strafbarer ist die Entziehung von der Pflicht
der Familiengründung und desto nachtheiliger wirkt die
durch sparsame Proliferation verursachte Vermögens-
anhäufung. In den niederen Ständen, wo die Vermeh-
rung schon eher zu schnell als zu langsam ist, hat man
durch Aufhebung aller Erschwerungen und Unkosten
der Eheschliessung und durch die theils schon durch-
geführte, theils in Aussicht stehende Aufhebung des
Schulgeldes alles gethan, um die Vermehrung noch zu
befördern; in den höheren Ständen, wo die Vermehrung
erschreckend hinter dem Nothwendigen zurückbleibt,
scheut man bis jetzt vor der natürlichsten Forderung
der ausgleichenden Gerechtigkeit durch die Verviel-
fachung der direkten Steuern der Ledigen zurück.
Wir kommen nun zu dem zweiten Punkt, nämlich
zu der Unbilligkeit, welche darin liegt, dass ledige und
verheirathete Kinder gleichviel erben. Die alten Jung-
fern, welche eine zwecklose Drohnenexistenz im Staate
führen, und die Junggesellen, welche ausser ihrer direk-
ten Berufsarbeit keine socialen Leistungen für den Staat
aufzuweisen haben, verdienen nicht von der Rente des
gemeinsamen Familienvermögens den nämlichen Antheil
zu verbrauchen, wie ihre verheiratheten Geschwister,
*) Wollte man dem skrupulösesten Gerechtigkeitsgefühl Rechnung
tragen, so brauchte man nur die Bestimmung in das Gesetz aufzunehmen,
dass Jungfern durch die eidesstattliche Versicherung, niemals einen Hei-
rathsantrag gehabt zu haben, von der Steuererhöhung befreit werden. Wer
die Frauen kennt, wird keinen Augenblick daran zweifeln, dass eine solche
Klausel unbenutzt bleiben würde, und dass deshalb ihre Aufnahme in's
Gesetz überflüssig und wirkungslos wäre.
- 76 -
welche durch ihre Kinder gezwungen sind, für ihre
Person bei gleicher Einnahme viel beschränkter zu leben.
Wenn auch die Vermogens-Antheile der Ledigen später
auf ihre Neffen und Nichten mitübergehen, so gelangen
sie doch meistens zu spät in deren Hände, um densel-
ben noch mit ihren vollen volkswirthschaftlichen Nutzen
zu gut zu kommen und was weit schlimmer ist, die
Rente derselben ist für die Lebensdauer der Erbonkel
und Erbtanten dem socialen aktiven Theil des lebenden
Geschlechtes verloren gegangen und hat durch die un-
verhältnissmässige Erhöhung des Wohllebens, des Kom-
forts und des Luxus der Niessnutzer als augenscheinliche
Prämie ihrer Ehelosigkeit gewirkt. Umgekehrt würde
mancher egoistischer Junggeselle sich eher zur Verhei-
rathung entschliessen und manches wohlhabende wähle-
rische Mädchen vorsichtiger in der Austheilung ihrer
Körbe und maass voller in ihren Ansprüchen werden,
wenn sie wüssten, dass die Hälfte der noch zu erwar-
tenden Erbschaften ihnen verloren geht, falls sie ledig
bleiben. Um diess zu erreichen, müsste das Intestaterb-
recht dahin abgeändert worden, dass unter verwandt-
schaftlich gleich nahe stehenden Erbberechtigten die
Ledigen nur den halben Erbanspruch von demjenigen
der Verheiratheten haben sollen. Diejenigen Ledigen,
welche beim Erbfall noch nicht das 35. Lebensjahr zu-
rückgelegt haben, müssten beanspruchen können, dass
ihnen die andere Hälfte ihres Erbtheils sichergestellt
werde für den Fall, dass sie sich bis zu dem genann-
ten Alter verheirathen, wogegen nach Ueberschreitung
dieser Altersgrenze der sichergestellte Theil unter die
verheiratheten Mit erben zur Vertheüung gelangen würde.
Wem diese Bestimmung missfiele, dem bliebe es unbe-
nommen, testamentarisch anders zu verfügen; da aber
der Erbgang thatsächlich zum grossen Theil nach Intestat-
— 77 —
erbrecht erfolgt, so würde eine Aenderung in diesem
immerhin einen beträchtlichen realen Einfluss haben.
Für wichtiger als den realen Einfluss würde ich
übrigens die moralische Wirkung solcher gesetzlicher
Bestimmungen halten, insofern sie im Volke das Be-
wusstsein wecken und stärken würden, dass die social
passiven und social aktiven Theile der Gesellschaft einen
so verschiedenen socialen Werth für die Gesammtheit
haben, dass sie nicht mit gleichem Maasse gemessen
werden dürfen. Der Satz: „wer nicht arbeitet, soll
auch nicht essen" muss wenigstens insoweit wieder zu
Ehren kommen, dass die sociale Berufslosigkeit der Miss-
achtung preisgegeben wird, wo sie verschuldet ist, dass
kouponschneidende Müssiggänger und Müssiggängerin-
nen nicht mehr der ehrlichen Arbeit zum Hohn ein
luxuriöses Wohlleben führen, sondern auf ein beschei-
denes Auskommen beschränkt werden, und dass die-
jenigen, welche die staatsbürgerliche Ehrenpflicht der
Familiengründung nicht erfüllt haben, auch nicht gleiche
Rechte wie ihre leistungsfähigeren und leistungswillige-
ren Mitbürger zu besitzen verdienen. Der behaglich
lebende Junggeselle muss aufhören, sich vergnügt in
die Hände zu reiben, sich seiner Pfiffigkeit zu rühmen,
und hohnlachend auf den dummen Tropf herabzusehen,
der sich im Schweisse seines Angesichts für seine zahl-
reiche Familie plagt. Die spöttische Geringschätzung,
welche schon jetzt wegen ihrer Berufslosigkeit oft un-
verdient genug auf der alten Jungfer lastet, muss auch
auf den körperlich heirathsfähigen alten Junggesellen
übertragen worden, mit doppelter Wucht, weil er nicht
auf das Gewähltwerden zu warten braucht, sondern
selber die Wahl frei hatte; sie muss sich zum sittlichen
Unwillen steigern, wenn die Entziehung von der soci-
alen Ehrenpflicht der Familiengründung sich beim Jung-
gesellen mit berufsloser Unthätigkeit paart, aus welcher
- 78 -
man der alten Jungfer unter den heutigen Verhältnissen
kaum einen Vorwurf machen kann.
Wenn auf diese Weise das Gefühl der Verpflich-
tung zur Familiengründung in der männlichen Jugend
wieder geweckt und die Entziehung von dieser Ehren-
pflicht wieder zu einem Gegenstande der Scham ge-
macht worden ist, dann werden auch die jungen Männer
mit ganz andern Augen auf ihre Zukunft blicken lernen
und ihre Gegenwart mit Rücksicht auf diese Zukunft
zu gestalten suchen. Jetzt, wo sie für sich leben, halten
sie es so sehr für das Normale, ihre ganze Einnahme
zu verbrauchen, dass ihnen das Gegentheil gar nicht in
denn Sinn kommt; dann, wenn sie ihre Junggesellen-
zeit nur als Vorstufe zu derjenigen des Familienvaters
ins Auge fassen, werden sie von vornherein ihre Ge-
wohnheiten nach Maassgabe der letzteren einzurichten
haben. Von seelenmörderischen Lastern, wie dem Spiel,
werden sie sich viel leichter frei halten, wenn ihnen die
Perspektive des Familienlebens als Ziel vorschwebt;
die Kosten für Verhältnisse zweifelhaften Charakters
werden sie sich ebenfalls auf Grund des näher gerück-
sen ehelichen Lebens lieber ersparen, womit dann
wiederum der Hauptantrieb zu kostspieligem Kleider-
luxus in Wegfall kommt. Je mehr sie das Bewusstsein
haben, sich für künftiges Familienleben vorzubereiten,
desto mehr werden sie den Familienverkehr der Kneipe
vorziehen, desto mehr wird die Verführung der Kneipe
zur Gewöhnung an übermässige Fleischnahrung, Trinken
und Rauchen zurücktreten, desto weniger werden sie
von ihrer Nachtruhe der Erholung opfern und desto
besser werden sie für ihre Gesundheit und die Erhal-
tung ihrer Nervenkraft sorgen. Glücklicherweise be-
ginnt das Rauchen in der gebildeten Jugend jetzt ebenso
aus der Mode zu kommen, wie das Tabakkauen und
Schnupfen es schon lange ist, und gegen das sinnlnse
— 79 —
Trinken erhebt sich aus studentischen Kreisen selbst
ebenso eine Reaktion wie aus medicinischen Kreisen
' gegen den eine Zeitlaug begünstigten übermässigen
Fleischgenuss. Wer aber an gesundheitsgemässe ge-
mischte Kost gewöhnt ist und weder raucht, noch trinkt,
noch spielt, der hat für seine Person kaum noch ein
Opfer zu bringen nöthig, wenn er zur Ehe schreitet, der
wird auch vor der Ehe nicht in Versuchung gewesen
sein, sein ganzes Berufseinkommen für sich zu verbrau-
chen, sondern wird zeitig angefangen haben, zurückzu-
legen, sei es in Form von Ersparnissen oder von Al-
ters- und Lebensversicherung oder sonst wie. Ein sol-
cher Mann wird beim Uebergang zum Famüienleben
nur gewinnen, vorausgesetzt, dass er ein gesundes, ar-
beitsfähiges, arbeitswilliges und anspruchsloses Mädchen
wählt.
Wenn es bei einem gesunden Zeitgeist und Stan-
desgeist das Natürlichste ist, ein solches Mädchen in
seinem Stande zu suchen, so muss diess bei einem kor-
rumpirten Stahdesgeist, bei einem zur Unsitte geworde-
nen Leben über den Stand hinaus, ebenso bedenklich
erscheinen wie unter normalen Verhältnissen das Hei-
rathen über seinem Stande. Niemand darf sich für
einen Herzenskündiger halten, am wenigstens, wenn
Amor ihm die Binde um die Augen gelegt hat; des-
halb wird Niemand sich zutrauen dürfen, den Charakter
seiner Erkorenen so zu durchschauen, dass er sich auf
Grund ihrer guten Vorsätze gegen jeden Rückfall in
luxuriösere Gewohnheiten, als sie bei ihm fortsetzen
kann, gesichert halten dürfte. Es bleibt also bei der
Trüglichkeit der subjektiven Diagnose dem Heiraths-
kandidaten nur das objektive Merkmal übrig, ob die
bisherigen Gewohnheiten, welche seine Erwählte in der
Lebenshaltung ihres Elternhauses sich angeeignet hat,
nicht über das Maass von Komfort hinausgehen, wel-
— 8o —
ches er ihr gewähren kann. Ist dies der Fall, so muss
er sich darüber klar sein, dass auch die beste und be-
scheidenste Frau, die sich willig in die ihr neuen, ein-
facheren Verhältnisse findet, doch nie ajif hören wird,
ihr Herabsteigen als ein ihm dargebrachtes Opfer zu
empfinden, welches vorweg durch einen Ueberschuss
an Liebe über die sonst zu verlangende hinaus ausge-
glichen werden muss. Für den Mann ist es ein Leich-
tes, das Weib seiner Wahl zu sich emporzuheben, da
die meisten Frauen sich mit wunderbarem Geschick
höheren Ansprüchen anzupassen und in einem höheren
Kreise heimisch zu machen verstehen ; dagegen fallt es
dem Weibe unendlich schwer, sich zu dem Manne ihrer
Wahl so herabzulassen, dass er es nicht mehr als
Herablassung fühlt. Die Frau vergleicht niemals die
Lage, in welche sie ohne die geschlossene Ehe nach
dem Tode ihrer Eltern gekommen sein würde, mit der
in der Ehe ihr zu Theil gewordenen, sondern immer
nur diejenige, welche sie als Mädchen thatsächlich im
Eltemhause durchlebt hat; denn die Frau kümmert sich
nicht um abstrakte Möglichkeiten der blossen Vorstel-
lung, sondern hält sich an die ihrem Gedächtniss an-
schaulich eingeprägte Erfahrung als allein reell in Be-
tracht kommendes Vergleichsobjekt. Fällt dieser Ver-
gleich für die Gegenwart ungünstig aus, so hilft kein
Hinweis auf das, was inzwischen vermuthlich an deren
Stelle getreten sein würde; denn die Möglichkeit bleibt
ja unbestreitbar, dass sie vielleicht auch noch eine bes-
sere Partie hätte machen können.
Will also der Mann sicher gehen, so muss er seine
Wahl auf solche Familien seines Standes beschränken,
welche der Verirrung des Zeitgeistes erfolgreich Wider-
stand geleistet und ihre Töchter so einfach gehalten,
so anspruchslos erzogen und so zur Arbeitsamkeit ge-
wöhnt haben, dass sie das ihnen dargebotene Loos an
— 8i —
seiner Seite ohne Herablassung und ohne Umlernen in
ihren Gewohnheiten annehmen könne. Ein Mann, dessen
voraussichtliche Einnahme mit 30, 40, 50 und 60 Jahren
die Höhe von 30, 40, 50 und 60 hundert Mark nicht über-
steigt (wie diess durchschnittlich bei unsern meisten hö-
heren Berufsarten thatsächlich nicht der Fall ist), kann
schlechterdings nur mit einer Frau zufrieden und behag-
lich leben, welche fähig und willens ist, ihre eigene
Köchin, Kinderwärterin und Schneiderin zu sein und
sich nur für die grobe Hausarbeit eine Hilfe zu halten.
Eine solche wird er aber nur in einem Hause suchen
dürfen, das selber mit höchstens einem Dienstboten oder
womöglich ohne solchen mit einer blossen Aufwärterin
auskommt, und auch sonst in Kost, Kleidung, Wohnung,
Reisen u. s. w. sich der grössten Bescheidenheit befleis-
sigt, keinesfalls aber in einem solchen, wo die erwach-
senen Töchter gewohnt sind, sich bedienen zu lassen,
statt selbst den Eltern und dem Ganzen der Familie zu
dienen. Findet er aber keine solche Familien in seinem
Stande, oder doch keine, deren Töchter sein Herz zu
gewinnen vermögen, so soll er darum sich nicht von
seiner Pflicht entbunden erachten, sondern den einfachen
Ausweg einschlagen, so weit von seinem Stande herab-
zusteigen, als die Gemüthserziehung und Charakterbil-
dung der Töchter noch ausreichend scheint, um seinen
Kindern die nothwendige mütterliche Erziehung zu sichern.
Würde das erstere allgemein unter der männlichen
Jugend, so würden alle über ihren Stand hinaus leben-
den Familien damit bestraft, dass ihre Töchter sitzen
bleiben, und nur die vernünftigen erhielten in der aus-
nahmsweisen Verheirathung ihrer Töchter die Prämie
für den Muth und die Ausdauer ihres Schwimmens gegen
den Strom. Würde an Stelle aller Töchter der über ihren
Stand hinaus lebenden Familien von den jungen Männern
Töchter aus geringerem Stande gewählt, so würde der
Hartmann, Moderne Probleme. ^
— 82 —
komimpirte weibliche Theil der höheren Stände von der
Fortpflanzung ausgeschlossen, ohne dass darum die in
dem männlichen Theil derselben Stände niedergelegten
erblichen Eigenschaften dem Kulturprocess mit verloren
gehen; an Stelle der Blutserneuenmg des Standes durch
Einrücken von ganz neuen Elementen, aus den niederen
Ständen träte dann eine halbseitige Blutsauffrischung durch
Komnubium mit den minder entarteten Töchtern der
nächstniederen Stände. Diese halbseitige Blutsauffrischung
hat jedenfalls vor der gänzlichen Blutsemeuerung des
Standes den Vortheil, dass die durch Vererbung ange-
häuften Eigenschaften wenigstens des männlichen Theils
fiir die weitere Betheiligung des Standes an der Kultur-
arbeit konservirt werden; aber sie macht die Forderung
nicht überflüssig, dass man Mittel und Wege aufsuchen
müsse, um wo möglich auch die weibliche Hälfte der
höheren Stände vor einer solchen Ausschaltung zu be-
wahren.
Das bei weitem wirksamste Mittel würde jedenfalls
das Bewusstsein von der drohenden Ausschaltung durch
Verheirathung aller Männer mit Mädchen geringeren
Standes sein; denn der letzte Grund für das Drängen
gerade des weiblichen Geschlechts nach Luxus ist doch
schliesslich nur die Hoffnung, durch solchen Schein einer
Erhabenheit über das Durchschnittsniveau ihres Standes
die Männer zu blenden und für sie anziehender imd be-
gehenswerther zu werden. Sobald die Ueberzeugung im
weiblichen Geschlecht allgemein würde, dass dieses Stre-
ben den umgekehrten Erfolg hat, würde dessen Nerv-
gelähmt sein. Der Irrthum aber, durch welchen die Mäd-
chen bisher zu diesem verkehrten Verfahren sich haben
verleiten lassen, entspringt aus der Verwechselung zwi-
schen der Anziehungskraft, die ein Mädchen auf einen
Mann zur vorübergehenden Unterhaltung ausübt, und
derjenigen, welche sie auf einen solchen als Heiraths-
— 83 -
kandidaten ausübt. Nur die erstere macht sich den Mäd-
chen in jeder Gesellschaft und auf jedem Balle sinnlich
wahrnehmbar, während die letztere sich in ihren Ursachen
den Verständniss der Mädchen zu sehr entzieht. Aber ein
wenig Nachdenken könnte sie doch lehren, dass die am
meisten umschwärmten Löwinnen der Bälle und Land-
partien ebenso oft und noch öfter sitzen bleiben als die
unbeachteten und unscheinbaren Wegeblümchen. Eine
grosse Schuld der Bestärkung in diesem Irrthimi tragen
leider die Mütter, indem sie nach dem Eintritt in die
Ehe nicht aufhören wollen, auf die zum Theil dem Luxus
der Erscheinung zugeschriebenen gesellschaftlichen Er-
folge zu verzichten, vielmehr den Verlust der jugend-
lichen Reize durch Steigerung der Toilette zu ersetzen
suchen. Solchen Müttern geschieht dann ganz Recht,
wenn sie das ihren Töchtern gegebene üble Beispiel mit
deren Sitzenbleiben büssen müssen.
Man kann sagen-, dass der letzte handgreifliche Grund
unsrer verschrobenen Weiber in dem höheren Töchter-
schulwesen liegt, das sich erst in dem letzten halben
Jahrhundert entwickelt hat. Könnten wir diese Ent-
wickelung mit einem Streich rückgängig machen, und
unsere Töchter auf das Niveau der Volksschulbildung^
mit dem unsere Grossmütter sich begnügen mussten^
zurückschrauben, so würden sie ebenso wenig, wie diese
es thaten, sich für zu vornehm und zu gebildet zur Er-
füllung ihrer natürlichen und socialen Pflichten, zur Kin-
derpflege und Hausarbeit halten. Hat doch selbst die
Jungfernfrage nur dadurch ihre Schärfe bekommen, dass
die Jungfern der höheren Stände nicht^ mehr wie früher
in den Hauswesen ihrer Verwandten arbeiten und dienen
wollen. Alle Halbbildung ist ein Fluch und nicht ein
Segen; unsere höhere Töchterschulbildung aber ist Halb-
bildung der schlimmsten Art und erzeugt naturgemäss
auch die Folgen einer solchen.
6*
- 84 -
Nun lässt sich aber eine fünfzigjährige geschichtliche
Entwickelung nicht so ohne Weiteres annulliren, und es
sind ja auch in der Töchterschule berechtigte und der
Pflege werthe Elemente vorhanden, welche man nicht
mit der Wurzel ausreissen sollte, selbst wenn man es
könnte. Ich begnüge mich hier mit Aufstellung der
Forderung, dass der Unterricht bis zum 14. Jahre nur
4 Stunden täglich, nachher nur 3 Stunden (mit Aus-
schluss von Rechnen und Gesang) umfassen darf, dass
nur eine fremde Sprache (die französische) getrieben
werden, und dass für die häuslichen Arbeiten nicht mehr
als eine Stunde in Anspruch genommen werden darf.
Hierdurch würde die gesundheitsschädliche Ueberan-
spannung der Mädchengehirne beseitigt und die Mög-
lichkeit einer zunehmenden häuslichen Nebenbeschäftigung
der Schulmädchen eröffiiet. Eine fakultative Ausdehnung
der Schulzeit auf 11 — 12 Jahre mit nur 2 täglichen Un-
terrichtsstunden in den beiden letzten Jahren würde den
jetzt so schroffen Uebergang von der Schule zur häus-
lichen Selbstthätigkeit allmählicher machen und der
Schule erst Gelegenheit geben, Disciplinen wie Kunst-
geschichte 'mit wirklichem Nutzen zu pflegen, die jetzt
nur mehr als schöne Aushängeschilder in den Schulpro-
grammen prangen und bloss den Mädchen mit dem
Glauben an die erlangte Bildung den Kopf verdrehen.
Sache der Mütter ist es, die Töchter sowohl in den
Schuljahren mit abnehmender Schulzeit wie nach be-
endigter Schulzeit mit Ernst und Strenge zu geordneter
und nützlicher häuslicher Thätigkeit anzuhalten, Sache
der Väter, ebensowohl den heranwachsenden Töchtern
wie den heranwachsenden Söhnen gegenüber die Hand
auf den Beutel zu halten, damit sich beide nicht früh-
zeitig an ein Maass von Ausgaben gewöhnen, von dem
nach der Verheirathung oder nach des Vaters Tode zu-
rückstehen zu müssen sie später als schmerzliche Ent-
' '**.'*'■
f.'
-r- -1
- 85 -
behrung empfinden würden. Wenn jeder Familienvater
seiner Pflicht eingedenk bleibt, den Etat des Hauswesens
niemals bloss nach den augenblicklich verfügbaren Mit-
teln einzurichten, sondern immer zugleich die Zukunft
der Familie im Auge zu behalten, dann wird sich ganz
von selbst eine Einrichtung des Hauswesens ergeben,
welche sowohl die Söhne wie die Töchter für ihre künf-
tige Aufgabe eigener Familiengründung vorbereitet.
V.
Der Rückgang des Deutsehthums.
Nachdem das Deutschthum über ein Jahrtausend
eine nationale Kraft bethätigt hat, welche denjenigen
seiner Nachbarvölker überlegen war und deshalb zum
Vorrücken seiner Grenzen führte, ist im letzten Menschen-
alter das umgekehrte Verhältniss eingetreten, d. h. fast
überall, wo das Deutschthum sich mit Nachbarn anderer
Nationalilät berührt, geht es zurück. In Städten, wo es
früher tonangebend war, z. B. Triest, bleibt es absolut
genommen zwar auf gleicher Höhe, wird aber relativ
von der sich mehrenden Zahl anderer Stämme und deren
wachsenden Einfluss überflügelt. Andere Städte, welche
früher eine wesentlich deutsche Physiognomie zeigten,
wie Prag, haben ihre Erscheinung und den Grundton
ihres Lebens völlig umgekehrt und in noch anderen, die
für völlig Deutsch galten>*zeigen sich die ersten Spuren
einer nationalen Umwandlung. Auf dem Lande rücken
die deutschen Sprachgrenzen Schritt vor Schritt zurück,
und die jenseits der Grenze liegenden deutschen Sprach-
-* ■■-:.:■:-. ».•„.-
.'Z \ ■ f.-Ä
— 86 —
inseln werden immer enger umschnürt. Nur nach Westen
hin scheinen die ländlichen Sprachgrenzen ziemlich un-
verändert zu bleiben, während sich in den früher fran-
zösischen Städten des Elsass deutsche Colonien von
wachsender Stärke bilden. Aber hier handelt es sich um
eine rein deutsche Landbevölkerung, die künstlich mit
französischem Fimiss überkleidet war, und welche nach
Entlastung von der gewaltsamen Französirung sich auf
ihr urdeutsches Wesen langsam wieder besinnt, und in den
Städten um künstliche Militär-, Beamten- und Universi-
täts-Colonien mit ihren Anhängseln. Dagegen wird an
den Süd- imd Ostgrenzen das Deutschthum überall zu-
rückgedrängt, ohne Unterschied, ob die betreffenden Re-
gierungen diese Zurückdrängung begünstigen oder nicht.
Man könnte aus dieser Erscheinung schliessen, dass
das deutsche Volk die ihm früher innewohnende Colonisa-
tionskraft verloren habe und auf der absteigenden Seite
seines Völkerlebens befindlich sei, d. h. dass der äussere
Niedergang ein Zeichen des inneren Niederganges sei.
Es ist möglich, dass diese Vermuthung für gewisse
Stämme eine gewisse Berechtigung hat; wenigstens
deuten verschiedene Anzeichen darauf hin, dass die
Deutsch-Oesterreicher nicht mehr den auf ihre Schultern
gelegten schweren Aufgaben gewachsen sind. Aber es
wäre jedenfalls voreilig, diesen Grrund für das deutsche
Volk im Allgemeinen als zutreffend hinzustellen, das
noch keineswegs im inneren Niedergang begriffen scheint.
Auch für den in Oesterreich angesiedelten Theil des Ba-
varischen Stammes wird man eine nicht ganz zu leugnen-
de Erschlaffung der deutschen Energie mehr aus äusse-
ren Umständen ableiten müssen, als aus einer ungünstigen
ethnologischen Veranlagung 4m Vergleich zu den an-
deren deutschen Stämmen; das Zusammentreffen innerer
Genügsamkeit mit relativ günstigerem Boden und Klima
zwang zu geringerer Uebung der Energie, und die schein-
- 87 -
bar unerschütterliche politische Hegemonie unter den
mitwohnenden Stämmen lullte in ein sorglos behagliches
Geniessen der bevorzugten Stellung ein, so dass hier
Bummelei und Lotterei auf manchen Gebieten einreissen
konnte, auf denen andere deutsche Stämme zxw steten
Anspannung und Uebimg ihrer Energie gezwungen waren.
Ehe wir an einen inneren Niedergang der deutschen
Volkskraft glauben könnten, müsste es doch zuvor an
allen anderen Erklänmgsgründen für den äusseren Rück-
gang des Deutschthums mangeln ; so lange solche aber
sich in ausreichendem Maasse darbieten, sind sie es, an
die wir uns zimächst halten müssen. Dieser Gründe sind
aber hauptsächlich drei: erstens das wachsende National-
bewusstsein und die wachsende Kultur der Nachbarvöl-
ker, zweitens der Mangel an Nationalstolz im deutschen
Volkscharakter, und drittens der unversöhnliche Hass
der katholischen Kirche gegen das Deutschthmn, welcher
in dem letzten Menschenalter in einem allgemeinen Avan-
ciren gegen das Deutschthum auf der ganzen Linie
seinen Ausdruck gefunden hat.
Wir leben in einer Zeit, wo die Nationalitätsidee
ihre grössten Triumphe feiert. Ob man selbst ein
Schwärmer für diese Idee ist und in ihr allein das Heil
der Welt erblickt, ob man den heutigen Nationalitäten-
schwindel als eine vom höheren kosmopolitischen Ge-
sichtspunkt aus- bedauerliche Verirrung verdammt, oder
ob man den gegenwärtigen einseitigen Kultus des Na-
tionalbewusstseins als eine Uebergangsperiode zu künf-
tiger gegenseitiger Duldung imd freundnachbarlicher
Eingliederung in den Organismus der Menschheit be-
trachtet, immerhin muss man mit den gegebenen That-
sachen rechnen.
Früher war es den Magyaren und Slaven gleich-
gültig, ob sie von deutschen oder nationalen Beamten
regiert wurden, ob deutsche oder nationale Strassen-
— 88 —
Schilder den Suchenden zurechtwiesen. So lange das
niedere Volk überhaupt nicht zur Schule ging, konnte
es für dieses keine nationale Schulfrage geben, die we-
nigen aber, welche sich eine gewisse Bildung anzueignen
wünschten, lernten deutsch, weil es die alleinige Sprache
der Bildung war, und eine magyarische, tschechische
u. s. w. Bildung und Literatur nicht existirte. In den
letzten Jahrzehnten haben nationale Patrioten die äusser-
sten Anstrengungen gemacht, künstliche Nationallitera-
turen aus der Erde zu stampfen und das Nationalgefühl
der Massen anzufeuern, und beides mit solchem Erfolge,
dass die Fortdauer der früheren Stellung der Deutschen
unter diesen Völkern zur Unmöglichkeit geworden ist.
Wo die allgemeine Schulpflicht nicht bloss auf dem
Papiere steht, sondern der gemeine Mann seine Kinder
wirklich zur Schule schicken muss, da will er sie auch
in eine Schule seiner Sprache und Nationalität schicken,
oder er hat das Gefühl, einer unterdrückten, nicht
gleichberechtigten Race anzugehören.
Sucht die bisher herrschende deutsche Minderheit
ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten, so richtet sich der
Hass des fremden Stammes gegen dieselbe als gegen
seine Unterdrücker, und dieser Hass lässt sich leicht
bis zur fanatischen Leidenschaft schüren; erringt die
fremde Nationalität ihre Gleichberechtigung mit der deut-
schen, so fehlt ihr naturgemäss die Selbstbeherrschung
und Bildung zum Maasshalten, und der leidenschaftliche
Hass schiesst über das Ziel der Gleichberechtigung hin-
aus zur rachsüchtigen Unterdrückung der bisherigen
Unterdrücker. Der Kampf um das gleiche Recht wird
nothwendig zum Kampf um das Vorrecht und die Herr-
schaft, und je roher, rücksichtsloser, gewissenloser und
fanatischer in diesem Kampfe verfahren wird, desto
grösser ist leider die Aussicht auf Erfolg. Wer der
Stimme der Billigkeit Gehör giebt und an die möglichste
- 89 -
Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens denkt,
wird immer im Nachtheil sein gegen denjenigen Gegner,
der nur von fanatischem Hass sich leiten lässt und im
Kampfe selbst eine Befriedigung seines so lange schlum-
mernden und nun endlich erwachten Nationalgefiihls
empfindet. So sind es gerade die Tugenden des deut-
schen Volkes, sein Gerechtigkeitssinn und seine Friedens-
liebe, welche ihm im Kampfe mit unbilligen und kriegs^
lustigen Gegnern zum Fallstrick werden.
Was die slavischen und magyarischen Völker ge-
gehindert hat, mit dem deutschen geschichtlich zu kon-
kurriren, war und ist in Russland noch heute der
Mangel eines gebildeten und wohlhabenden Mittelstan-
des; indem die Deutschen im Verein mit den deutsch-
redenden Juden diese Lücke des staatlichen Lebens aus-
füllten, machten sie sich geistig und materiell zur leiten-
den Macht in den betreffenden Ländern, und sie wur-
den es um so mehr, in je höherem Maasse sie auch den
Grossgrundbesitz imd das Beamtenthum in Beschlag
nahmen. So wurden sie z. B. in den russischen Ostsee-
provinzen zur herrschenden Klasse, obwohl sie numerisch
nur eine kleine Minderheit bildeten; um wieviel mehr
mussten sie in solchen Ländern das alleinherrschende
Volk werden, wo sie auch einen grossen Theil der
Bauerngüter besiedelten, wie in den deutsch-österreichi-
schen Provinzen und Siebenbürgen. Die ungebildete
Masse ohne Nationalbewusstsein hatte weder die Fähig-
keit noch die Absicht, sich dieser Herrschaft zu wider-
setzen; der slavische Adel hätte wohl die Absicht ge-
habt, wenn er nur die Fähigkeit besessen hätte, aber
es fehlte ihm die wirthschaftliche und geistige Bildung
und der Rückhalt eines nationalen Mittelstandes.
In diesen Verhältnissen hat sich nun sowohl in der
Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie als auch in den
ehemals polnischen Landestheilen Preussens ein Um-
— QO —
Schwung angebahnt, der, obwohl er erst in seinen An-
fangen steht, bereits das alte Bild völlig verändert hat,
aber für die Zukunft mit geschichtlicher Nothwendigkeit
noch ungleich grössere Umgestaltungen hervorbringen
muss. Der Adel hat so sehr an wirthschafllicher und
geistiger Bildung gewonnen, dass er mit dem deutschen
durchaus konkurrenzfähig geworden ist; der bisher
fehlende nationale Mittelstand beginnt sich zu bilden
und hat in einzelnen Provinzen schon eine ganz ach-
tungswerthe Bedeutung gewpnnen; die Masse endlich ist
fanatisch national geworden und giebt dadurch für jene
leitenden Stände eine für friedliche Abstimmimgen, ein-
schüchternde Demonstrationen und etwaige bewaffiiete
Aufstände gleich ansehnliche Armee ab. In den Städten,
wo man früher nur deutsche Ladenschilder sah, wech-
seln jetzt deutsche mit fremdsprachigen ab, oder sind
ganz durch dieselben verdrängt, und für die Schnellig-
keit dieses Umschwungs fällt sehr in's Gewicht, dass
eine Menge Juden es vortheilhafter finden, ihr Segel
nach der herrschenden Windströmimg zu stellen, d. h.
ihre Namen und Geschäftssprache zu slavisiren oder zu
magyarisiren. Wenn der nationale Grossgrundbesitz
die Konkurrenzfähigkeit mit dem deutschen im Allge-
meinen bereits errungen hat, so ist der nationale Han-
delsstand in vielen Gegenden wenigstens im Kleinhandel
schon zum gleichen Ziele gelangt und wird spätestens
in der nächsten Generation bis zum Grosshandel vor-
rücken.
Wir haben es also wesentlich mit einem Kultur-
aufschwung der bisher im Kulturprocess stark rück-
ständigen Nationalitäten zu thun, welcher den bisherigen
Kulturvorsprung der Deutschen verringert hat und theil-
weise einzuholen im Begriff steht. Diese Erscheinung
würde für sich allein schon genügen, das Schwinden
des Einflusses imd der dominirenden Stellung des deut-
— 91 —
sehen Elements zu erklären; sie scheint aber allerdings
nicht ausreichend, um den thatsächlichen absoluten Rück-
gang des Deutschthums seinen Grenzen und seiner Volks-
ziffer nach begreiflich zu machen. Wären die Deutschen
ebenso begeisterte und opferwillige Vertreter ihrer Na-
tionalität, wie die Gegner es von der ihrigen sind, so
müsste doch der Kampf zu einem Waffenstillstand auf
Grundlage der einmal bestehenden Grenzen führen, und
dass diess nicht der Fall ist, dass vielmehr das Deutsch-
thum stetig an Terrain verliert, beweist zur Genüge die
überlegene Intensität des Nationalgefiihls der Nachbarn.
Das deutsche Volk besitzt ein eifriges Streben nach
Vervollkommnung und nach Steigerung seiner Kultur,
vielleicht ein idealeres Streben als irgend ein anderes
Volk, aber es legt bei diesem Streben weniger Werth
als irgend ein anderes Kulturvolk auf die nationale
Grundlage seiner Kultur, auf den traditionellen histo-
rischen Charakter seines geistigen und gemüthlichen
Lebens und ist darum leichter als andere bereit, die
nationale Färbung seiner Kultur für etwas Gleichgül-
tiges zu halten. So führt der abstrakte kosmopolitische
Idealismus die Deutschen gar leicht dazu, ihre nationale
Eigenart mit der eines anderen Volkes zu vertauschen,
wenn dieser Tausch mit äusseren Vortheüen irgend
welcher Art verknüpft scheint; da es wesentlich nur
Bequemlichkeit ist, was sie am gewohnten Alten haften
lässt, so sind schon überwiegende Bequemlichkeitsrück-
sichten ausreichend, sie zur Verleugnung ihrer Nationa-
lität zu führen. Diesen Process sehen wir überall sich
vollziehen, wo Deutsche unter einem fremden Kultur-
volk mit hochentwickelter geschäftlicher Technik leben,
z. B. in Frankreich, England und Nordamerika.
Man hat sich endlich überzeugt, dass alle deut-
schen Auswanderer in diesen Gebieten spätestens in
ihren Kindern oder Enkeln für das Deutschthum ver-
— 92 —
loren gehen, und gerade diese endlich dem deutschen
Volke aufgegangene Erkenntniss ist der Hauptgrund für
dessen stürmisches Verlangen nach eigenem Kolonial-
besitz geworden. Man wird sich aber nicht minder von
der andern Wahrheit überzeugen müssen, dass dieselben
Eigenschaften des deutschen Nationalcharakters, welche
das Erlöschen des Deutschthums bei allen bisherigen
deutschen Auswanderern verschulden, auch den ent-
scheidenden Grund liefern für den Rückgang des
Deutschthums an allen Grenzen, wo die Deutschen mit
Nachbarn von einem bereits erwachten und ausgepräg-
ten Nationalgefühl zusammenwohnen. Die fremden Na-
tionalitäten sind immer aggressiv und kampflustig, und
die Deutschen geben immer Schritt vor Schritt nach
aus Bequemlichkeit, Trägheit, Friedensliebe und Gleich-
gültigkeit, welche sie sehr wohl mit dem abstrakten
Idealismus kosmopolitischer Gerechtigkeitsliebe und Hu-
manität zu entschuldigen wissen.
Nur dieser Mangel an Nationalgefiihl macht es
möglich, dass der Aufschwung der fremden Nationali-
täten bei der deutschen keinen genügenden Widerstand
findet, und alle Entschuldigungen, welche man für die-
sen deutschen Charakterfehler zu ersinnen gewusst hat,
sind unhaltbar. Man sagt, die Deutschen hätten kein
Vaterland gehabt und deshalb auch keinen deutschen
Patriotismus entwickeln können. Das ist sehr richtig,
und es ist ebenso unbestreitbar, dass ein nationaler
Patriotismus ein mächtiges Unterstütz ungs- und Förde-
rungsmittel für das Nationalgefühl abgiebt; aber es ist
doch unrichtig, beide zu verwechseln, oder den Patrio-
tismus für eine unentbehrliche Bedingung des National-
gefühls zu halten. Es giebt viele Völker vom ausge-
bildetsten Nationalgefühl, deren Staaten längst unter-
gegangen sind, z. B. die Polen, und viele, die noch nie
einen Staat besessen haben, sondern erst danach trachten,
— 93 —
sich einen solchen zu erringen ; aber durch diese Staaten-
losigkeit lassen sich die an mehrere Staaten vertheilten
oder enklavenartig von einem Staat eingeschlossenen
Völker und Stämme doch nicht im Geringsten hin-
dern, ein sehr lebhaftes Nationalgefühl zu entwickeln,
das beim Judenthum sogar den Untergang der Sprache
überlebt hat. Seit einem halben Menschenalter besitzt
das deutsche Volk thatsächlich ein mächtiges Staats-
wesen, nach welchem auch die ihm nicht zugehörigen
Deutschen als zu einem Krystallisationskern des deut-
schen Nationalbewusstseins hinschauen können ; aber wir
haben nichts davon bemerkt, dass das Aufgehen der
ausgewanderten Deutschen in westlichen Ländern oder
der Rückgang des Deutschthums an den südlichen und
östlichen Grenzen dadurch irgendwie beeinträchtigt wor-
den wäre. Im Gegentheil, diese staatliche Zusammen-
fassung des Deutschthums hat nur den Eifer der Nach-
barn zur Entgermanisirung und die Energie und Rück-
sichtslosigkeit ihres Vorgehens verdoppelt, offenbar in
der geheimen Absicht, mit dem Vemichtungswerk früher
zu Ende zu kommen, als die Anziehungkraft dieses
nationalen Krystallisationskerns auf die zerstreuten
deutschen Stämme sich allzu entschieden geltend macht.
Bis jetzt ist diese Anziehung noch wenig hervor-
getreten, offenbar weil die friedliebende Reichsregierung
jede politische Störung vermeiden will, und weil die
abstrakt-idealistischen Deutschen des Auslandes von den
politischen Zuständen des deutschen Reiches, insbeson-
dere von den Schilderungen derselben durch die libe-
rale Presse, mehr abgestossen als angezogen werden.
Die geographische Lage der deutschen Stämme in Oester-
reich und Russland, die politische Nothwendigkeit, mit
Oesterreich wenigstens unbedingt in Freundschaft und
Frieden leben zu müssen, die Gefahr, durch Vergrösse-
rung das deutsche Reich mit noch mehr fremden Be-
— Q4 —
standtheilen zu belasten, vor allem aber die Furcht,
durch Zuwachs katholischer Unterthanen die Opposition
des Reichstags bis zu einem das verfassungsmässige
Regieren unmöglich machenden Grade zu stärken,*)
alle diese Gründe werden das deutsche Reich immer
abhalten müssen, den vom Untergang bedrohten deut-
schen Stämmen durch Eroberungen und Annexionen
Hilfe zu bringen. So lange das deutsche Reich ver-
geblich bemüht ist, dem Rückgang des Deutschthums
innerhalb seiner eigenen Grenzen Einhalt zu thun, kann
es unmöglich sich mit neuen Provinzen belasten, welche
das Verhältniss der fremden Elemente im deutsch-natio-
nalen Staatswesen noch mehr zu Ungunsten der Deut-
schen verändern würden. Die Deutschen im Reiche
dürfen und können den bedrohten Brüdern in Nachbar-
ländern nur geistige und moralische Unterstützung an-
gedeihen lassen, im übrigen aber müssen sie dieselben
nothgedrungen der eigenen Kraft überlassen, trotz der
Ueberzeugung, dass diese Kraft sich in der Hauptsache
zu schwach erweisen wird, um allen gegen sie ver-
einigten Faktoren auf die Dauer genügenden Wider-
stand zu leisten.
Innerhalb wie ausserhalb der Reichsgrenzen hat
durch die Reichsgründung bei den Deutschen bis jetzt
wohl die nationale Eitelkeit bis zur theilweisen Ueber-
hebung beim Vergleichen des eignen und fremden
Werthes zugenommen, aber von einer Stärkung des
berechtigten Stolzes und des Willens, die nationale
Eigenart der geschichtlich überlieferten Kultur als ein
ideales Gut vom höchsten Werthe selbst mit Opfern an
*) Bei Einführung des gleichen allgemeinen und direkten Wahl-
rechts in Oesterreich würde schon unter den jetzigen Verhältnissen die
Zahl der nicht ultramontanen deutschen Abgeordneten sehr zusammen-
schmelzen; nach einer zwanzigjährigen Zugehörigkeit zum protestantischen
deutschen Kaiserreich würde vielleicht kein einziger mehr übrig geblieben sein.
— 95 —
Bequemlichkeit und nationalem Behagen behaupten und
für diese Güter, wo sie bedroht sind, mannhaft kämpfen
zu wollen, — davon ist noch nichts zu merken. Dieser
Mangel an nationalem Stolz datirt nicht von gestern;
er ist ein Erbfehler des deutschen Volkscharakters gleich
dem Partikularismus und dem abstrakten politischen
Idealismus und ist mit beiden eng verwachsen. Darum
ist aber auch die Hoöhung gering, dass die Erkennt-
niss der Gefahren, welche das Deutschthum durch das
erwachte Nationalgefühl der Nachbarn bedrohen, hin-
reichen sollte, um einen solchen Erbfehler gründlich zu
ändern; die bestgemeinten Bemühungen der gebildeten
Patrioten werden auf die niedere Masse der Deutschen,
um deren Verhalten es sich hier vor allen Dingen han-
delt, doch nur einen sehr geringen, und im Vergleich
zu der Dringlichkeit der Gefahr viel zu langsam wirken-
den Einfluss ausüben.
Hiernach Hesse sich der Rückgang des Deutsch-
thums überall da, wo ihm eine an Zahl etwa gleiche
fremde Nation gegenübersteht, wohl erklären, auch ohne
zu der Annahme einer Erschlaffung der deutschen Volks-
kraft seine Zuflucht zu nehmen; aber unverständlich
bleibt doch immer noch die Schnelligkeit der Erfolge
der fremden Nationalitäten und vor allem die Thatsache
ihrer Erfolge selbst in solchen Provinzen des deutschen
Reiches, wo sie sich den Deutschen gegenüber in einer
Minderzahl befinden und die Regierung zum Gegner
ihrer Bestrebungen haben. Freilich vollzieht sich hier
der Rückgang des Deutschthums viel langsamer (im
Grossg^undbesitz noch gar nicht); dass er aber doch
stattfindet, wird nur dadurch begreiflich, dass erstens
die Regierungsorgane den Regierungswillen nicht mit
genügender Entschiedenheit zum Ausdruck bringen und
dass zweitens eine in der Stille wirkende organisirte
Macht vorhanden ist, welche ihren ganzen Einfluss dem
— 96 -
Kampf gegen das Deutschthum zur Verfügung stellt.
Diese Macht ist die katholische Kirche.
Man wird vielleicht fragen, was die katholische
Kirche davon haben solle, gegen die Deutschen zu
Operiren, auch dann, wenn dieselben Katholiken sind
und nicht dem deutschen Reiche angehören. Die Ant-
wort liegt darin, dass die katholische Kirche in dem
deutschen Geiste von jeher ihren Erbfeind erkannt hat,
den einzigen Gegner, welcher ihre Wiedereroberung der
gesammten christlichen Welt ernstlich zu hindern ver-
mag und hindern wird. Tedeschi protestanti — dies
Wort hat sich von jeher bewährt, und zuletzt noch
darin, dass alles hervorragendere, was Deutschland an
katholischer Philosophie producirt hat (Baader, Günther,
Deutinger, Hermes, Baltzer, DöUinger, Michelis) still-
schweigend oder ausdrücklich auf den Altkatholicismus
abzielt, der doch nur ein verschämter Protestantismus
ist, so dass der Papst sich genöthigt sah, ausdrücklich
die moderne Philosophie selbst in katholischer Einklei-
dung zu verurtheilen und das System des hl. Thomas
für das allein wahre zu proklamiren. Die gesammte
deutsche Bildung ist protestantisch, der protestantische
deutsche Geist reicht so weit wie die Bildung in Deutsch-
land, und die Bildung hört auf, wo das Herrschafts-
gebiet dieses Geistes aufhört. Von der zersetzenden
Negation in katholischen Ländern hat die Kirche nichts
zu fürchten, weil weder sittlicher Ernst, noch religiöses
Gefühl, noch philosophische Tiefe dahinter steckt und
die Sehnsucht nach etwas Positivem das Volk immer
wieder in die Arme der Kirche zurückführt; vor dem
protestantischen deutschen Geist aber, der sittlich, reli-
giös und spekulativ zugleich ist, fühlt die Kirche ein
^, instinktives Grauen, das um so intensiver ist, weil ihr
jedes Verständniss für denselben fehlt.
Von den beiden Ländern, welche allein von allen
— 97 —
die Kraft haben könnten, den Siegeslauf der modernen
Gegenreformation zu hemmen, Russland und Deutsch-
land, braucht die römische Kirche das erstere nicht zu
fürchten, weil sie sich seiner griechischen Kirche mit
Recht in demselben Maasse überlegen weiss, wie der
Protestantismus sich dem römischen Katholicismus über-
legen weiss; es müsste erst eine religiöse Regeneration
und Reform im Ostslaventhum zum Durchbruch ge-
langen, ehe dasselbe befähigt würde, mit dem Katholi-
cismus in einen geistigen Ringkampf einzutreten. Desto
mehr hasst die katholische Kirche das Deutschthum,
welches den ihr unfassbaren imd unheimlichen protestan-
tischen Geist aus sich geboren hat, und welches als
nationale Geisteskultur mit demselben geradezu iden-
tisch ist. Die Kirche hasst das deutsche Reich, weil es
ein protestantisches Kaiserthum ist und sich nicht dem
Gängelbande Roms unterwerfen will, sie hasst aber auch
die Deutschen als solche, weil sie, soweit sie zu natio-
naler Bildung gelangt sind, oder gelangen werden, oder
gelangen können, mit dem protestantischen Geiste ge-
salbt sind, gleichviel ob sie fortfahren, sich Katholiken
zu nennen oder nicht. Die Kirche kann ihr höchstes
Ziel, die Durchführung der Gegenreformation, das sie
in diesem Jahrhundert mit dem gewaltigsten Aufgebot
aller ihrer Kräfte in Angriff genommen hat, nur er-
reichen, wenn sie den deut:>chen prot^:JStantischen Geist
vernichtet, und darum b'rgünstigt sie nicht bloss fremde
Katholfkengeg^rT; d<:futy.he Prot^rstant/^n, v^ndem schl^^cht-
weg und '^''Acfix\'* Caij ,\'lchtdeu*v/fte gegen das Deutv.he,
um den ita/.h^'-^^rrelch c^rt; l^üftzt^eren au^yrrlich und inner-
\>-Ayj\/'i. ci^rse i^r^ticetts^/ne Aj^:tat:on der Kirche
kt *;v ^fe^'A'rse?:, "Ä<r>,he ö:jr Or-^tvh^rri und prei^-S^ischf^
P:ejf'>;r^:,;f der, Anbtvbfc y<^u zur Lebern lücung aller
d^ g*?v .er ,-%'er,, gegen cie Aufr-<thme des entgegen-
- 98 -
getragenen Kulturkampfes sprechenden Bedenken, und
welche jetzt fast das alleinige Hindemiss zur Gewinnung
eines modus . vivendi bildet.
Wer nicht in stockkatholischen Gegenden gelebt
hat, muss alle ihm zu Ohren kommenden Berichte über
die Mittel, mit welchen diese Agitation betrieben wird,
für Ammenmärchen halten, an die man im 19. Jahr-
hundert als Aufgeklärter und Liberaler kaum noch
glauben kann. Wenn diese Agitationsmittel genügen,
um in den preussischen polnischen Provinzen den Rück-
gang des Deutschthums, das so lange im rüstigen Vor-
schreiten war, möglich zu machen, so mag man er-
wägen, welchen Zuwachs ihr Einfluss in solchen Ländern
bringen muss, wo die Regierung selbst die Agitation
gegen das Deutschthum in die Hand genommen hat,
z. B. in Ungarn.
Dieselbe Generation, welcher das hohe Glück, die
Reichsgründung mit anzusehen, zu Theil geworden ist,
muss sich auch mit dem Gedanken vertraut machen,
dass das Deutschthum, abgesehen von Tyrol und einigen
kompakten deutschen Sprachinseln an der Donau und
in Böhmen, überall verloren, unaufhaltsam und unrett-
bar Verloren ist, ausser im deutschen Reich und seinen
etwa noch zu gründenden deutschen Kolonien. Man
mag diese Thatsache beklagen und beweinen, man mag
den Todeskampf des Deutschthums ausserhalb des Reichs
durch geistige, moralische und pekuniäre Unterstützung
zu verlängern suchen, aber man muss dieser schmerz-
lichen Thatsache fest ins Auge blicken, und darf sich
nicht durch Herzenswünsche verleiten lassen, den uner-
bittlichen Zug der historischen Nothwendigkeit zu ver-
kennen. Nur wenn man den Muth hat, sich auch das
Schlimmste nicht zu verhehlen, nur dann wird man er-
kennen können, was nach der gegebenen Sachlage zu
thun übrig bleibt und obliegt.
— 99 —
Dass das Deutschthum der Russischen Ostsee»
Provinzen nicht zu retten ist, wird man am ehesten zu-
geben. Hier handelt es sich neben einigen deutschen
Städten um eine blosse Aristokratie des Grossgrund-
besitzes, welche in der gebildeten evangelischen Geist-
lichkeit ihren geistigen Halt findet. Eine solche Vor-
herrschaft wird unmöglich, wenn die Regierung in rück-
sichtsloser Weise gegen dieselbe vorgeht, die Univer-
sitäts- und Handelsstädte russificirt, die aristokratische
Selbstverwaltung der Provinzen zum Schatten herab-
drückt, für die griechisch-orthodoxe Kirche Propaganda
macht, imd das Landvolk künstlich zum Bewusstsein
seines socialen und nationalen Interessengesetzes gegen
die Grrundaristokratie aufstachelt. Erst der Panslavis-
mus, dem das baltische Deutschthum, ebenso wie das
Schwedenthum in Finnland, ein Dorn im Auge ist, hat
die esthnische, livländische und finnische Nationalität
künstlich wachgerufen und aufgehetzt; nachdem diess
aber einmal geschehen, wird sie von selbst sich wach
erhalten und die fremde Aristokratie mit Hilfe der
russischen Staats- und Kirchenmacht über kurz oder
lang sicher abschütteln« Selbst wenn dem deutschen
Reiche diese Provinzen geschenkt würden, müsste das-
selbe ein solches Danaergeschenk ablehnen; denn bei
den gegebenen Zahlenverhaltnissen könnte die Herr-
schalt des Deutschthimis wohl noch künstlich um ^nige
Generationen verlängert, aber nimmermehr für die
Dauer befestigt werden, und ausserdem würde eine
solche lang gestreckte Küste mit verschlossenem Hinter-
land sich militärisch wie kommerziell in einer höchst
unglücklichen Lage befinden« Weit leichter wäre e*
dem deutschen Reiche, das linke Weichsel ufer mit
seinen 5*,, Deutschen und 5^ ^, deutsch redenden Juden
zu germanisiren« weil es militärisch wie kommerziell in
s^ner abgerundeten Machtsphäre beilegt; aber auch
— lOO —
diese Provinzen wären eher ein Fluch als ein Segen
für uns, so lange wir nicht mit der Germanisirung der
seit einem Jahrhundert zu Preussen gehörigen polnischen
Landestheile vollkommen zu Stande gekommen sind.
Nicht so übersichtlich sind die Verhältnisse in der
österreichisch- ungarischen Monarchie. Zwar was Ungarn
anbetriffi, wird sich wohl kaum noch ein Deutscher der
Illusion hingeben, als ob gegen die Magyarisirung mit
Dampfbetrieb ein dauernder Widerstand der deutschen
Elemente denkbar sei, und ebensowenig wird man sich
dem Gedanken verschliessen, dass eine Ablösung der
magyarischen Herrschaft in Ungarn sicherlich nicht mehr
durch eine Wiederkehr einer deutschen Bureaukratie,
sondern nur durch ein etwaiges Emporkommen der
noch rücksichtsloseren slavischen Majorität möglich ist.
Nicht die Furcht vor den Deutschen, sondern die sehr
berechtigte vor den Slaven ist es, was den Magyari-
sirungsfanatismus zu einem so überstürzten Vorgehen
drängt; denn es ist in der That kein Augenblick Zeit
zu verlieren, wenn die slavische Mehrheit in Ungarn
durch das eine magyarische Viertel der Bevölkerung so
magyarisirt werden soll, dass die Arbeit beendet ist,
bevor das slavische Nationalgefiihl auch dort zu voller
Kraft erwacht. Trotzdem glaube ich, dass bei diesem
Wettlauf die Magyaren zu kurze Beine haben werden
und über kurz oder lang es sich werden gefallen lassen
müssen, dass ihnen ihr jetziges Verhalten von den
unterdrückten Slaven mit Wucherzinsen zurückgezahlt
wird. Der Rest des Deutschthums, der die Aera der
magyarischen Herrschaft überdauert haben sollte, wird
dann sicher der slavischen Gewalt unterliegen.
Von der westlichen Reichshälfte gehören Galizien
imd Bosnien zweifellos den Slaven, aber auch die ehe-
maligen deutschen Bundesprovinzen, von deren Rück-
gewinnung die Grossdeutschen noch immer träumen,
-i
lOI —
zeigen abgesehen von Tyrol und der Sprachinsel an
der Donau überall eine slavische Majorität, welche nur
zum vollen Bewusstsein ihrer Macht zu erwachen
braucht, um ebenso wie in Böhmen die deutsche Herr-
schaft über den Haufen zu werfen. Tyrol behauptet
eine Ausnahmestellung, die es Bayern in mancher Hin-
sicht näher rückt als Oesterreich, und es könnte ohne
Schaden für die Machtstellung der Habsburgischen
Monarchie von der letzteren getrennt werden, insofern
diese durch Gebietserweiterungen auf der slavischen
Balkanhalbinsel entschädigt würde. Aehnliches liesse
sich von dem nördlichen Striche Böhmens, dem Eger-
und Elbthale mit mehr als einer Million deutschen Be-
wohnern sagen, deren Abtretung an Sachsen und
Schlesien die Grrossmachtstellung Oesterreichs nicht be-
einträchtigen würde. Dagegen muss diese Monarchie,
welche ihrem geographischen Begriff nach der Donau-
staat ist, um ihre Integrität zu wahren, noth wendig
ihre eigentlichen Donauprovinzen behalten; und am
wenigsten könnte dieselbe ihre natürliche Hauptstadt
Wien missen. Oesterreich als solches müsste aufhören
zu existiren, wenn diese deutschen Erblande von ihm
abgetrennt würden, und Wien würde nach einer solchen
Zertrümmerung Oesterreichs von der Hauptstadt des
südlichen Mitteleuropas zum Range einer Provinzial-
stadt herabsinken. Das deutsche Reich aber könnte
diese deutschen Donauprovinzen aus geographischen,
handelspolitischen und strategischen Gründen unmöglich
ohne Böhmen und Mähren übernehmen, wäre aber für
absehbare Zeit ganz ausser Stande die Annexion des
tschechischen Theiles von Böhmen und Mähren zu ver-
dauen. Wenn also die Abtrennung der deutschen
Donaulande von Oesterreich für Oesterreich ebenso un-
möglich ist, wie ihre Uebernahme für das deutsche Reich,
so kann es doch nur im Interesse der bei Oesterreich
I02 —
verbleibenden Deutschen sein, das Deuschthum in Oester-
reich möglichst zahlreich vertreten zu sehen, damit es
als möglichst schweres Gewicht in die Waagschale des
föderativen Gleichgewichtes falle. Deshalb können die
Deutschösterreicher unmöglich wünschen, dass Tyrol
und der deutsche Nordrand Böhmens an das deutsche
Reich übergehen, weil dadurch ihr Einfluss noch viel
tiefer sinken würde.
Die jetzige unnatürliche Zerstückelung des süd-
westslavischen, durchweg dieselbe Mundart redenden
Stammes in die Provinzen Serbien, Bosnien, Dalmatien,
Kroatien, Istrien, Krain u. s. w., ist auf die Dauer nicht
aufrecht zu erhalten, und wird unter dem unwidersteh-
lichen Druck des Nationalgefühls einer engeren Ver-
einigung unter irgend welcher staatsrechtlichen Form
weichen müssen. Die natürliche Hafenstadt dieser süd-
westslavischen Ländergruppe ist Triest, das ebenso-
wenig eine deutsche wie eine italienische, sondern eine
slavische Stadt ist, und in immer reinerer Ausprägung
werden wird. Was die Reichshauptstadt Wien betrifft,
so ist es ihr unvermeidliches Schicksal, im 20. Jahr-
hundert in derselben Weise eine überwiegend slavische
Physiognomie anzunehmen, wie die Moldaustadt Prag
es im 19. gethan hat.
So lange die Centralregierung der Monarchie eine
absolutistische war und in den Einzellandtagen die
Grundaristokratie im Verein mit dem deutschen Bürger-
thum maassgebend war, konnte der deutsche Charakter
des Gesammtstaats aufrecht erhalten werden ; es genügte,
dass das Officierkoi-ps und Beamtenthum in seinem Kern
deutsch erhalten wurde. Mit der Einführung der Ver-
fassung war das unwiderrufliche Todesurtheil der deut-
schen Hegemonie unterzeichnet, das sich dafür bei der
liberalen Doktrin und der 48 er Bewegung zu bedanken
hat; es bedurfte nun bloss noch einer gewissen Zeit,
— I03 —
um die slavische Mehrheit der Bevölkerung zum Be-
wusstsein ihrer nationalen Wünsche erwachen zu lassen.
Eine kluge Politik der Deutschösterreicher, welche es
verstanden hätte, sich durch Identificirung der deutschen
Interessen mit denjenigen der Krone der letzteren un-
entbehrlich zu machen, würde vielleicht im Stande ge-
wesen sein, den Umschwung von einer deutschen zu
einer slavischen Parlamentsmajorität um ein bis zwei
Menschenalter hinauszuschieben; aber aufzuhalten hätte
sie denselben doch nicht vermocht. Der abstrakte poli-
tische Idealismus der Deutschösterreicher, welcher den
realen Verhältnissen und Staatsbedürfnissen keine Rech-
nung trug, — ihr doktrinärer Liberalismus, dem es nur
auf Erweiterung der Parlamentsrechte und Einschränkung
der Kronrechte ankam, ihre völlige Verständnisslosigkeit
für die grossartigen Kulturaufgaben de§ Ost- Reiches und
für die durch sie bedingte Stellungnahme zu den dringen-
den und unabweisbaren Forderungen in der auswär-
wärtigen Politik, endlich ihr knickeriger Krämersinn in
der Bewilligung der für eine österreichische Grossmachts-
politik erforderlichen Mittel zwang die Krone gewisser-
massen vorzeitig dazu, sich > der slavischen Majorität in
die Arme zu werfen und dem Deutschthum den Rücken
zu kehren.
Den Habsburgem aus dieser Wendung einen Vor-
wurf zu machen, wäre völlig ungerecht; ihre Fürsten-
pflicht weist sie nicht auf die Erhaltung des Deutsch-
thums, sondern auf die Erhaltung und Stärkung der
Gesammtmonarchie hin, die aber der überwiegenden
Mehrheit nach slavisch ist. So lange die deutsche Bil-
dung des Officierkorps und Beamtenthums, beziehungs-
weise die deutsche Parlamentsmehrheit die geeignetsten
und an und für sich ausreichenden Mittel zur Erhaltung
der Gesammtmonarchie waren, mussten sie das Deutsch-
thum pflegen; sobald diese einstigen Stützen des Reiches
— 1 04 —
sich als veraltet, morsch und unzuverlässig erwiesen,
mussten sie darauf denken, dieselben durch jüngere zu
ersetzen, selbst wenn sie dabei den schwersten Kampf
mit ihrem Herzen zu bestehen gehabt hätten. Letzteres
ist übrigens nicht einmal anzunehmen, da die Habs-
burger niemals ein im engeren Sinne deutsches Fürsten-
geschlecht waren, und am Deutschthum immer nur mit
einem Theil ihres Herzens hingen, welcher dem deut-
schen Antheil ihrer Hausmacht entsprach. Es kommt
dazu, dass das österreichische Kaiserhaus mehr als jedes
andere katholische Fürstengeschlecht auf das Bündniss
mit der katholischen Kirche angewiesen ist. Die ferti-
gen nationalen Einheitsstaaten wie Frankreich, Italien
und Spanien, können die Unterstützung der katholischen
Kirche entbehren, und im Nothfall auch einen Kampf
gegen dieselbe durchführen, — Oesterreich nicht. Ausser
dem Judenthum besitzt die Krone dort nichts als die
katholische Klirche, was als Kitt für die Menge der
verschiedenen Stämme dienen und deren Auseinander-
fallen verhindern könnte. So lange das Judenthum im
ganzen Umfang der Monarchie deutsch war und der
Katholicismus sich mit verhaltenem Groll gegen das
Deutschthum und seine protestantische Kultur in der
Defensive hielt, konnte das österreichische Kaiserhaus
das Deutschthum begünstigen; seitdem das Judenthum
sich mehr und mehr magyarisirt, polonisirt und tschechi-
sirt, und seitdem der Katholicismus vom Jahre 187 1 an
zur offenen und erbitterten Aggressive gegen das
Deutschthum übergegangen ist, muss die Solidarität
zwischen Deutschthum und österreichischer Judenschaft
als aufgelöst gelten und scheint eine Begünstigung des
Deutschthums gleichbedeutend mit einer Durchkreuzung
der dringendsten Lebensinteressen des Katholicismus.
Die österreichische Regierung darf wohl mit dem pro-
testantischen deutschen Kaiserreich das Schutz-Bünd-
— I05 —
niss aufrecht erhalten, weil ohne dieses ihre Selbst-
erhaltung gegen das griechisch-katholische Czarenreich
unmöglich wäre, aber sie darf nicht mehr die deutschen
Stammesbrüder seines Bundesgenossen begünstigen,
wenn sie es nicht mit der katholischen Kirche verder-
ben, deren Hülfe ihr so imentbehrlich ist wie einst dem
Frankenreich der Karolinger.
Wenn die Deutschosterreicher ihrer Stammesgemein-
schafit mit den Reichsdeutschen eingedenk bleiben
wollen, so mögen sie vor allen Dingen ein Zoll- und
Handelsbündniss neben dem Schutz- imd Trutzbündniss
mit Deutschland anstreben imd die Erhebung beider
Bündnisse zu integrirenden Bestandtheilen der Verfas-
simg auf ihre Fahne schreiben. Unter diesem Banner
können sie herrliche Siege erringen; wenn sie aber
fortfahren, die früher besessene Vorherrschaft von der
Regierung durch separatistische Drohungen revolutio-
nären Charakters ertrotzen zu wollen, so müssen sie
nothwendig die Aussichten für den bevorstehenden
schweren Kampf nur noch mehr verschlimmem. Wir
Reichsdeutsche erweisen ihnen den besten brüderlichen
Dienst, indem wir derartige Illusionen unbarmherzig
zerstören.
Für jede österreichische Regierung, gleichviel ob
es eine monarchische oder republikanische wäre, besteht
aber ein noch viel zwingenderer Grrund, als die bisher
angeführten, grade den slavisch-nationalen Anforderun-
gen gerecht zu werden, dieser Grund gehört nicht mehr
der inneren, sondern der auswärtigen Politik des Reiches
an und besteht darin, dass es eine Lebensfrage für
Oesterreich ist, den Panslavismus vorzubeugen. Wenn
Oesterreich sich weigert, zum westslavischen Föderativ-
staat zu werden, in welchem die verschiedenen slavi-
schen Stämme sich ohne Blutvergiessen zanken und
vertragen können, so zwingt es das Nationalgefiihl
— io6 —
seiner slavischen Stämme, sich dem Panslavismus, d. h.
mit anderen Worten der russischen Hegemonie in die
Arme zu werfen, welche diese Stämme eigentlich ver-
abscheuen, aber doch immer noch einer fortdauernden
Vorherrschaft nichtslavischer Stämme vorziehen würden.
Sobald dagegen Oesterreich sich erst einmal zum Föde-
rativstaat der kleinen slavischen Stämme umgewandelt
haben wird, so muss es naturgemäss eine unwidersteh-
liche Anziehungskraft auch auf die Slaven der Balkan-
halbinsel ausüben, welche bis vor kurzem nach Russland
als dem einzigen slavischen Staatswesen hin gravitirten.
Auch Serbien würde kein Bedenken zu tragen brauchen,
in eine solche Föderation stammverwandter Elemente
unter Wahrung seiner Autonomie einzutreten, und Ru-
mänien, für dessen Annexion leider der günstige Augen-
blick im Krimkriege von Oesterreich verpasst worden
ist, würde sich immer noch wohler fühlen in der Macht-
sphäre eines Föderativstaates als in derjenigen eines
Einheitsstaates wie Russland.
So könnte das Ost-Reich sich in der That bis an
die Grenze hin ausdehnen, wo die hellenische Nationa-
lität die slavische zu überstiegen beginnt, und es würde
auf diesem Wege ein westslavisches Reich mit deut-
schen, magyarischen und rumänischen Sprachinseln ge-
schaffen werden, dessen theilweise lockeres politisches
Gefüge und staatsrechtliche Monstrosität durch bedeu-
tende geographische Ausdehnung und imposante Be-
völkerungsziffer dynamisch ausgeglichen würde. Grade
der Eintritt Rumäniens in irgend welcher staatsrecht-
lichen Form in diesen Staatenbund wäre sehr geeignet,
den Deutschen eine Unterstützung gegen die Slaven
zuzuführen. Die deutsch-magyarisch-rumänische Minori-
tätsgruppe würde wohl im Stande sein, gegen die
tschechisch- polnisch-serbische Majoritätsgruppe ein an-
sehnliches Gegengewicht zu bilden und selbst im schlimm-
— I07 —
sten Falle jeder Verirrung der Slaven zu panslavisti-
schen Velleitäten einen Riegel vorzuschieben. Die
Deutschösterreicher würden in diesem bundesstaatlichen
Gleichgewicht gerade soviel und sowenig Enfluss be-
haupten, als sie durch eigne Kraft sich zu erkämpfen
vermögen. Uebrigens ist es ganz unwahrscheinlich,
dass ein westslavischer Föderativstaat jemals Neigung
spüren sollte, sich gegen das deutsche Reich, von dem
er nichts zu fürchten hat, mit Russland, von dem es
alles zu fürchten hat, aus blossem Deutschenhass zum
Kriege zu verbünden ; die slavischen Stämme kokettiren
immer nur so lange mit Russland, als sie ihre politische
Selbstständigkeit oder staatliche Gleichberechtigung noch
nicht erlangt haben, und ihr Hass gegeyi die Reichs-
deutschen wird von da an einschlummern, wo sie in
den Deutschösterreichem nicht mehr ihre bevorzugten
Konkurrenten zu hassen brauchen. Freilich überdauert
jeder Völkerhass in abnehmender Stärke die Ursachen
seiner Entstehung, und darum werden die Slaven auch
nach errungener Gleichstellung noch lange Zeit fort-
fahren, gegen die Deutschen in Gestenreich zu ringen,
und versuchen, von der Rolle der Unterdrückten in die-
jenige der Unterdrücker überzugehen. Die Deutsch-
österreicher müssen sich darum auf einen langen Ring-
kampf gefasst machen, und sich klar machen, dass sie
in demselben keine politische Hülfe vom deutschen
Reich zu erwarten haben, sondern ganz auf ihre eigne
Kraft angewiesen sind, und dass die Grösse sowohl der
zu behauptenden Bodenfläche wie ihres künftigen staat-
lichen Einflusses von dem Maasse dieser Kraftentfaltung
und dem Grrade ihres Verständnisses für die politischen
Aufgaben der Monarchie abhängen wird.
Wenn es wahr ist, dass die Herstellung eines süd-
westslavischen Föderativstaates der einzige Schutzdamm
gegen den Panslavismus , d. h. gegen die allmähliche
— io8 —
Erweiterung der russischen Machtsphäre bis Salonichi
und Triest ist, so ist es auch für das deutsche Reich
eine Lebensfrage, diesem Umschwung in Oesterreich
keine Schwierigkeiten zu bereiten. Von Frankreich
allein haben wir nichts mehr zu befürchten, wenn es
dem parlamentarischen Parteitreiben nicht gelingt, un-
sere Armee zu desorganisiren. Von einem westslavi-
schen Bundesstaat würden wir ebensowenig etwas zu
fürchten haben, weil Bundesstaaten von Natur keine
Aggressivkraft besitzen. Gegen ein etwaiges Bündniss
zwischen dem slavischen Oesterreich und Frankreich
werden wir stets die Rückenanlehnung an Russland
haben, das dem Verkümmerer seiner panslavistischen
Träume immer bereit sein wird, in den Rücken zu
fallen. Aber gegen Russland, das schon jetzt unsere
Volkszahl um mehr als das doppelte übertrifft, werden
wir je länger je mehr in Nachtheil kommen, weil sein
Ländergebiet eine weit grössere Volksvermehrung als
das unsrige gestattet. Deshalb müssen wir uns für die
Zukunft einen Bundesgenossen gegen Russland sichern,
insbesondere für den Fall eines Bündnisses zwischen
Russland und Frankreich, und dieser kann kein anderer
als Oesterreich sein. Würde Russland in die Lage
kommen, mit Hülfe eines allgemeinen Slavenaufstandes
in Oesterreich die panslavistische Idee zu verwirklichen,
so hätten wir in dem panslavischen Koloss einen Nach-
barn von erdrückender Uebermacht, dem wir ohne
Bundesgenossen gegenüberständen; würde dieses Slaven-
reich sich mit Frankreich verbünden, so würden wir
widerstandslos zermalmt und unter die Sieger getheilt.
Deshalb ist alles, was für Oesterreich eine Lebens-
frage ist, auch für das deutsche Reich eine Lebenfrage.
Ob wir das Schwinden der deutschen Vorherrschaft in
Oesterreich und ihren Ersatz durch eine slavische in
unserm deutschen Herzen auch mit Trauer verfolgen,
wir müssen es dennoch als ein ncfihweüüij'es^ dr:rr h'-'beai
Politik darg^ebrachtes Opfer anerkenn*fn^ in gü -w :r unb
mit Ergebimg" fügten müssen. Selbst der Versuch- curdh
einen nach Südosten zu lenkenden Strom deutbcher
Auswanderung die SteHurg- der Deutschen an der
unteren Donau zu starken, -würde das Schicksal der
Deutschen in Ungarn nicht abwenden können, uns aber
werthwolle Kräfte entziehen- Nicht ob lind wie der
Rückgang des Deutschthums in Russland und Oester-
reich abzuwenden oder aufmhalten sei, haben wir in
Erwägxmg zu ziehen, sondern was uns zu thun übrig*
bleibt, um diese schwere Einbusse des Deutschthums
an anderer Stelle durch Stärkung seiner Machtstellung
wieder einzubringen-
Da tritt uns sofort der Gedanke entg^^gen: wir
müssen das deutsche Reichsgebiet germanisiren, wir
müssen w^enigstens in unserm eigenen Hau5«>e die unbe-
dingte Herrschaft des Deutschthums sicherstelUm, wenn
wir es nicht hindern können, dass die deutsche Art in
den Nachbarhäusern ausgerottet wird, — wir müssen
das ims von der Geschichte angewiesene Gebiet unbe-
dingt für das Deutschthum in Anspruch nehmen, wenn
wir den in den Nachbarreichen besetzten Boden nun
doch einmal nicht behaupten können. Wie ein Staat
zu kurz kommen muss, der allein unter lauter schutz-
zöUnerischen Nachbarstaaten dem Freihandel huldigt,
ebenso ein solcher, der allein imter lauter sich rück-
sichtslos nationalisirenden Staaten weitherzige Duldung
der verschiedensten Nationalitäten üben will. Wenn
die Slaven das Deutschthum in ihren Grenzen ausrotten,
so müssen wir Repressalien üben, d. h. das Slaventhum
in tinsem Grenzen ausrotten, wenn nicht der Einfluss
des Deutschthums in der Geschichte der Kulturvölker be-
trächtlich sinken soll. Die deutschen Brüder im Auslande
können nicht verlangen, dass wir uns, um ihr Deutsch-
— HO
thum zu retten, in Kriege und unhaltbare Eroberungen
stürzen sollen, aber sie dürfen erwarten, dass das in
ihnen gemordete Deutschthum, so viel an uns liegt, an
andrer Stelle verjüngt wieder auferstehe, so lange noch
irgend ein Fleck im deutschen Reichsgebiete vorhan-
den ist, der nicht als Träger nationaldeutscher Kultur
dient.
Die aufgestellte Forderung wird nicht nur durch
das Nationalgefühl und durch Rücksichten der Billig-
keit befürwortet, sondern in noch höherem Grade durch
Erwägungen der auswärtigen Politik aufgedrängt. Für
Elsass-Lothringen und Nordschleswig wird mit der voll-
ständigen Regermanisirung der Zeitpunkt eintreten, wo
sie aufhören, sich nach Frankreich und Dänemark zu-
rückzusehnen, und mit dieser Sehnsucht wird das Haupt-
motiv für die französischen und dänischen Patrioten zur
Wiedereroberung dieser Provinzen schwinden. Aber
was hier zu thun bleibt, ist unbedeutend im Vergleiche
mit der uns in den ehemals polnischen Landestheilen
gestellten Aufgabe. Wäre das einstige Königreich Polen
nur zwischen den Einheitsstaaten Russland und Preussen
getheilt worden, so müssten die polnischen Patrioten
sich damit begnügen, Unfrieden zwischen diesen beiden
Nachbarstaaten zu säen, wie sie es auch jetzt im Bunde
mit Rom nach Kräften thun, und gelegentlich Aufstände
anzuzetteln, wie sie es schon öfters gethan haben. Da
aber bei der Theilung Polens ein Haupttheil an den
österreichischen Föderativstaat gefallen ist, so bildet
österreichisch Polen in den Augen aller polnischen
Patrioten den Kern, an welchen die an Preussen und
Russland verlorenen Provinzen sich bei günstiger Kon-
junktur wieder anzugliedern haben.
Die Situation der Polen in Galizien ist eine so un-
gemein günstige, und die österreichische Regierung hat
ihnen die ruthenische Mehrheit so völlig zur Beherr-
III —
schling überliefert, dass alle Polen sich bereits voll-
ständig mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, die
Wiederherstellung Polens nur noch unter Habsburgi-
schem Scepter durch Erweiterung des an den slavischen
Föderativstaat angegliederten Galiziens zu erhoffen und
die Möglichkeit eines ganz selbstständigen Weichsel-
saates zwischen drei Grossmächten als nicht mehr in
Betracht kommend bei Seite zu legen. Je deutlicher
Oesterreich sich zu einem Bundesstaat der westslavischen
Stämme umwandelt, je mehr die literarische und poli-
tische Zusammengehörigkeit der Westslaven erkannt
und gepflegt wird, und je schärfer der Gegensatz der
westslavischen Nationalitäten gegen die ostslavischen
(klein- und grossrussischen) ins Volksbewusstsein tritt,
desto mehr wird die Angliederung des gesammten
Polenthums an Oesterreich und die Erweiterung des
Bundes der Südwestslaven zu einem Bunde aller West-
slaven ein integrirender Bestandtheil des Polnischen
Nationalgefühls und seiner revolutionären Aspirationen
werden.
Mögen auch diese Bestrebungen keine Aussicht auf
Verwirklichung haben, so lange das griechisch-katho-
lische Russenreich und das protestantische deutsche
Reich darin einig sind, keine Gebietserweiterung des
katholischen Oesterreich auf ihre Kosten zu dulden, so
werden doch die Polen nie aufhören, jede Verstimmung
zwischen den Nachbarn zu schüren, und jeden Konflikt
zwischen ihnen für sich zu benutzen, um bald einen
russischen, bald einen deutschen Landestheil zum West-
slavenreich zu schlagen. Für uns bedeutet jeder so an-
gezettelte Krieg, falls er militärisch resultatlos verläuft,
einen Verlust von mehreren Milliarden Mark, falls er zu
unglücklichem Ende führt, ausserdem einen Gebiets-
Verlust, im glücklichsten Falle eine Vergrösserung der
bestehenden Schwierigkeiten durch Zuwachs an polni-
112
sehen Unterthanen; in allen drei Fällen aber würde
jeder solche Krieg Hass zwischen befreundeten Regie-
rungen und den in Frieden lebenden Nachbarvölkern
säen und die Keime zu immer neuen Verwickelungen
und Kriegen in sich tragen. Wenn die Umwandlung
Oesterreichs zu einem slavischen Bundesstaat fertig ist,
bevor wir mit der Germanisirung der ehemcüs polnischen
Provinzen beträchtlich viel weiter als heute gelangt
sind, dann wird uns nichts in der AVeit davor schützen
können, diese Landestheile nach und nach wieder zu
verlieren und Milliarden von Mark und hunderttausende
von Soldaten da?:u. Deshalb darf uns kein Geldopfer,
imd wenn es in die Milliarden ginge, zu gross sein, um
zu rechter Zeit durch vollständige Germanisirung solchen
Zukunftsgefahren vorzubeugen. Da der Pole sich dem
Deutschen gegenüber viel fremder fühlt als dem stamm-
verwandten Ostslaven gegenüber, so ist auch für uns
die Germanisirung der Polen eine viel schwerere Ar-
beit als für die Russen ihre Russificirung, und doch
werden in Russland viel energischere Mittel angewen-
det, weil man sich dort ganz klar darüber ist, wieviel
auf dem Spiele steht, und sich nicht durch sentimentale
Rücksichten von dem politisch Nothwendigen zurück-
halten lässt.
In der That sind keine Milliarden, nicht einmal
hunderte von Mülionen erforderlich um diese Aufgabe
zu lösen, wenn sie nur erst mit der vollen Kraft des
deutschen Reiches in Angriff genommen wird. So
wichtig auch die Frage der äusseren Kolonisation ist,
so halte ich doch die der inneren für noch wichtiger.
Es genügt hierzu nicht, sämmtliche polnische Landgüter
zu expropriiren und deutsche Bauern dörfer aus ihnen
zu machen, es muss auch auf die deutschen Landgüter
ein Einwanderungsstrom deutscher Kolonisten durch
ausreichende Prämien hingelenkt, und für dieselben
— 113 —
durch prämiirte Auswanderung polnischer Landarbeiter
nach unsern Kolonien Platz geschaffen werden. Es
muss ferner vor allen Dingen von jedem Deutschen be-
griffen werden, dass der eigentliche unversöhnliche Erb-
feind des Deutschthums die katholische Kirche ist, dass
deshalb mit dieser kein deutscher Patriot jemals paktiren
darf, dass sie vielmehr mit dem letzten Hauch natio-
naler Kjaftanstrengung bekämpft werden muss bis zur
vollständigen Vernichtung ihrer ungeistlichen Macht-
stellung, in ihre verborgensten Schlupfwinkel hinein.
Es gehört endlich dazu, dass die Regierung dafür Sorge
trägt, dass nicht nur in den höheren Verwaltungs-
stellungen , sondern in allen bis herunter zum letzten
Gensdarmen und Rathsdiener nur solche Männer An-
stellung finden, welche von dem Netz des katholischen
Einflusses auch nicht im Geringsten umgarnt sind, weil
sonst die Ausführung aller gegen das Polenthum und
den Katholicismus gerichteten Gesetze und Verordnungen
doch zur Hälfte, wo nicht ganz, Komödie bleibt. Alles
diess aber kann die Regierung nur, wenn sie dabei von
einem Umschwung der öffentlichen Meinung getragen
wird, wenn ebenso stürmisch, wie die äussere Koloni-
sation von den Patrioten aller Parteien jetzt plötzlich
gefordert wird, sich als neues, die alten Parteischablonen
durchlöcherndes Feldgeschrei der einmüthige Ruf nach
innerer Kolonisation zur Rettung des bedrohten Deutsch-
thums und Sicherstellung unsrer poUtischen Zukunft
erhebt.
Hartmann, Moderne Probleme.
— 114 —
VI.
Zur Reform des Universitätsunterriehts.
Unsere Universitäten haben im geistigen Leben der
Nation nicht mehr die Bedeutung wie früher, theils weil
der Einfluss der Literatur den ihrigen überholt hat,
theils weil sie ihren Einfluss mit zahlreichen neben ihnen
aufgeblühten Hochschulen technischen, militärischen und
sonstigen Charakters theilen müssen. Aber noch immer
ist ihre Bedeutung so gross, dass es unrecht wäre, die-
selbe zu unterschätzen, und darum ist auch die Frage
nach den Mängeln unserer Universitäten und nach ihrer
Abhilfe eine Frage von allgemeinem Interesse für jeden,
dem dies Gedeihen und der Fortschritt der deutschen
Geisteskultur am Herzen liegt.
Die Mängel unsres Universitätswesens liegen so-
wohl auf Seite der Studentenschaft wie auf Seiten der
Lehrkörper ziemlich offen zu Tage. Viele Studenten
Studiren in den ersten Semestern zu wenig oder gar
nicht, weil falsche Ehrbegriffe und zeittödtende Genuss-
sucht ihre Kräfte vollauf in Anspruch nehmen; wenn
sie aber anfangen zu studiren, so haben sie alle Hände
voll zu thun, um den gesteigerten Prüfungsansprüchen
an ihre Berufswissenschaft Genüge zu leisten, so dass
ihnen während der ganzen Studienzeit kein Augenblick
für allgemeinere Geistesbildung, für das Studium der
humaniora übrig bleibt. Für solche Studenten passt
unsre deutsche Einrichtung der Universitäten nicht; wäre
es sicher, dass diese Art von Studenten thum das Feld
der Zukunft behaupten würde, so müsste unser Uni-
versitätswesen aus Zweckmässigkeitsgründen iseine aka-
demische Freiheit aufgeben und gegen den französischen
und englischen Zuschnitt der obligatorischen Einpaukerei
vertauschen. Glücklicher Weise besitzen wir noch
— 115 —
studentische Elemente genug, welche von der akade-
mischen Freiheit wirklichen Nutzen ziehen, und wenn
man den Zeichen der Zeit trauen darf, so darf man
vorläufig die Hofl&iung nicht fahren lassen, dass aus den
Kreisen des Studententhums heraus ein Umschwung
zimi Bessern erfolgen wird durch eine mächtige Auf-
lehnung gegen die bisherige sinnlose Kraft- und Zeit-
vergeudung.
Einem solchen Umschwung müssen aber einschnei-
dende Reformen von Seiten des Lehrkörpers entgegen
kommen, wenn die Besserung gründlich und dauernd
werden soll. Der tiefliegendste und allereigentlichste
Krebsschaden unsres Universitätsunterrichts liegt meiner
Meinung nach darin, dass der Regel nach die Erfindung
der Buchdruckerkimst mit Hartnäckigkeit ignorirt, und
heute noch wie im Mittelalter der Unterricht allein auf
mündlichen Vortrag gegründet wird. Man verkennt die
physiologische Thatsache, dass eine Stunde Vortrag-
Hören die Nerven und das Gehirn weit mehr anstrengt
als eine Stunde Lesen. Dieser Satz erleidet nur da
eine Ausnahme, wo das Lesen eine noch ungewohnte
Thätigkeit ist, welche eine besondere Anspannung der
Aufmerksamkeit erfordert; ein Jüngling aber, der noch
auf diesem kindlichen Standpunkt steht, ist eben noch
nicht reif für den Besuch der Universität, und deshalb
ist bei den Universitätseinrichtungen auf solche unreife
Individuen keine Rücksicht zu nehmen.
Es sind verhältnissmässig wenige Fächer des Uni-
versitätsunterrichts, bei denen die Demonstration den
Stamm bildet, um welche der Vertrag sich bloss er-
läuternd herumrankt; bei den meisten ist das mündliche
"Wort des Lehrers auf sich allein angewiesen. Was der
Lehrer vorträgt, ist der Inhalt eines ungedruckten Lehr-
buchs; was der Schüler nachschreibt, ist der Inhalt eines
imgedruckten Leitfadens. Kein Student würde es sich
8*
— ii6 —
einfallen lassen, nachzuschreiben, wenn er bei Belegxmgf
des Collegs den gedruckten Leitfaden des Docenten
eingehändigt erhielte, und ausserdem jederzeit in einem
gedruckten Lehrbuch des Docenten das Gehörte nach-
lesen könnte. Der ganze Unfug des Nachschreibens
würde mit einem Schlage beseitigt, wenn die Univer-
sitätsordnung es verböte, dass irgend ein Professor oder
Docent ein CoUeg ankündigte, zu dem er nicht vorher
der Universitätsbehörde den gedruckten Leitfaden ein-
gereicht, oder einen der bereits bekannten Leitfaden
eines Dritten zu Gnmde legen zu wollen erklärt hat.
Jedem Draussenstehenden müsste es zunächst unbegreif-
lich scheinen, warum diess nicht auch ohne solche
Zwangsbestimmung freiwiUig von allen Lehrern ge-
schieht, da die Sache doch gar so einfach und selbst-
verständlich scheint, und jeder Meinungsänderung des
Lehrers theils durch neue Auflagen des Leitfadens,
theils durch die Ausführungen des mündlichen Vortrags
Rechnung getragen werden kann. Der Grund, warum
es bisher so selten geschieht, und statt dessen abge-
schriebene Diktathefte umlaufen, ist wohl in der Furcht
der Professoren zu suchen, einerseits durch selbst
herausgegebene Leitfaden sich allzusehr der Kontrole
imd Kritik ihrer Konkurrenten bloss zu stellen, andrer-
seits durch solche Darbietimg des zusammengedrängten
Lernstoffes für die Prüfungen den Studenten das Be-
suchen ihrer sonst reizlosen Vorträge überflüssig zu
machen.
In der That trägt der „Leitfaden" die Gefahr in
sich, dass er dem faulen Studenten die Beruhigung ge-
währt, auch ohne Besuch der Vorträge durch Auswen-
diglernen seines Inhalts das E^iamen in dem Gegen-
stande bestehen zu können. Diese Gefahr liegt aber
wesentlich nur dann vor, wenn der Lehrer sich nicht
auf einen wirklichen Leitfaden, d. h. ein gedrucktes
— 117 —
Diktatheft, zu beschränken gewusst hat, und statt
dessen ein Mittelding von Leitfaden und Lehrbuch, oder
gar ein kurzgefasstes Lehrbuch unter dem Titel „Leit-
faden" veröffentlicht hat. Je knapper der Leitfaden ist,
desto sicherer wird der Examinator das verständniss-
lose Memoriren desselben von dem rationellen Durch-
dringen seines Inhalts unterscheiden können und im
Stande sein, das erstere als ungenügend zu verwerfen.
Man rühmt dem mündlichen Vortrag mit Recht
nach, dass er bei gleichem sachlichen Inhalt doch an-
regender sei als xiie Lektüre, weil er mit Hilfe der
Deklamation und Mimik von Person zu Person elek-
trische Fäden des Verständnisses spinnt. Dieser Vor-
zug kommt aber nur dem freien Vortrag imd keines-
w^egs der Vorlesung zu; im Gegentheil wirkt das Ab-
lesen eines Manuscriptes meistens ungünstiger auf den
Hörer als die Lektüre der gedruckten Vorlesung auf
den Leser, weil derselbe sich bei letzterer von vorn-
herein auf sich allein angewiesen weiss, bei ersterer
aber in seiner berechtigten Erwartung auf die belebende
und zündende Geisteswirkung von Person zu Person
getäuscht wird. Würde man nun aber statistisch fest-
stellen, welcher Procentsatz der Universitätslehrer seine
eigentlichen Lehrvorträge (abgesehen von den Demon-
strationen und Seminarien) frei hält und nicht abliest,
so möchte die Ziffer sehr gering ausfallen.
Nimmt man noch hinzu, dass nur ein kleiner Theü
unter den Vorlesenden gut zu lesen versteht, einige
sogar geradezu schwer zu verstehen sind, so begreift
man, dass das Hören der Vorlesungen bei den Studen-
ten in eben dem Maasse aus der Mode gekommen ist,
als geeignete Lehrbücher der verschiedenen Fächer sich
dem Selbststudium durch Lektüre dargeboten haben.
Der fleissige Student arbeitet lieber zu Hause ein gang-
bares Lehrbuch durch, das in der Regel besser ist als
— ii8 —
die Vorlesungen seines Professors, und erspart sich da-
mit den Besuch der Collegia. Er verbessert also auf
eigne Hand den Fehler, den die Universität mit dem
Ignoriren der Buchdruckerkunst begangen hat; aber er
vollzieht diese Verbesserung nur dadurch, das3 er das
Universitätsstudium zum leeren Schein verflüchtigt und
das Privatstudium an dessen Stelle setzt. Er muss nach
wie vor die Collegia, die er nicht hört, bezahlen, und
der Professor muss, um nicht seine Einnahmen zu ge-
fährden, den Besuch der "Wahrheit zuwider bezeugen.
Der Student ist femer genöthigt, sich die Diktathefte
des nicht gehörten Professors zu verschaffen, und sie
durchzuarbeiten, um im Examen bei ihm bestehen zu
können, weil der Examinator ja nicht merken darf, dass
der Examinand sein Wissen aus dem Lehrbuch eines
Konkurrenten geschöpft hat.
So führt der Fehler im Universitätsunterricht und
dessen eigenmächtige Verbesserung von Seiten der
Studenten zur Unwahrheit auf beiden Seiten, zu einem
in sich unsittlichen Zustand, der den Misskredit der
Vorlesungen zu einer wirklichen Missachtung steigern
muss. Dieser Zustand erfordert dringend Abhilfe, und
diese ist auf keinem andern Wege möglich, als dadurch,
dass der Universitätsunterricht seinen Grrundfehler: das
Ignoriren der Buchdruckerkunst, ablegt. Entweder ist
das Heft, welches ein Professor vorliest, werth gedruckt
zu werden, dann soll es auch als gedrucktes Lehrbuch
den Studenten zugänglich sein; oder es ist nicht werth,
gedruckt zu werden, dann ist es auch erst recht nicht
werth, vorgelesen zu werden, und die Studenten haben
dann ganz Recht, wenn sie sich gegen den Besuch sol-
cher Vorlesimgen sträuben und den direkten oder in-
direkten Zwang dazu als ein ihnen angethanes Unrecht
empfinden. Ein direkter Zwang zu einem Colleg be*
steht aber da, wo der Besuch eines CoUegs über den
— 119 —
Gegenstand obligatorisch ist und nur Ein Lehrer über
den Gegenstand liest; ein indirekter Zwang besteht
überall, wo ein Examinator das Colleg über einen
Prüfungsgegenstand liest. Daraus folgt, dass kein Pro-
fessor ständiger Examinator in einem Fache werden
darf, über das er nicht entweder ein Lehrbuch heraus-
gegeben hat, oder das er nicht nach dem Lehrbuche
eines Dritten behandelt und prüft.
Hiergegen wird man nun einwenden, dass eine
solche Bestimmung erst recht dazu fuhren würde, die
Hörsäle zu veröden, und dass mit ihr der Universitäts-
unterricht in der Hauptsache seine Abdankung legali-
siren würde, wofern er nur zu der Konsequenz fort-
ginge, anstatt der unwahren Atteste über den Besuch
der ZwangscoUegien wahrhafte Quittungen über den
Ankauf der betreffenden Lehrbücher zu fordern. Inso-
weit als dieser Einwand richtig ist, kann man nur dar-
auf antworten, dass insoweit allerdings der mündliche
Universitätsunterricht das Recht zu existiren verloren
hat, und das es nicht gerechtfertigt werden kann, einen
innerlich imhaltbar gewordenen Zustand durch ein
künstliches System konventioneller Unwahrheiten als
hohles Scheinbild konserviren zu wollen. Insoweit muss
also jede Maassregel willkommen geheissen werden,,
welche den äusseren Zusammenbruch eines innerlich
hohlen und unwahren Zustandes beschleunigt. Aber es
ist nicht richtig, dass mit der vorgeschlagenen Maass-
regel der mündliche Universitätsunterricht noch weiter
herunterkommen würde; im Gegentheil würde dieselbe
geeignet sein, ihm einen neuen Aufschwxmg zu ver-
schaffen, wofern derselbe nur die durch die veränderten
Umstände gebotene Umwandlung mit sich vornimmt.
Allerdings kann der Lehrer nicht erwarten, dass
tnan seine Vorlesungen mit anhöre, wenn er doch nur
sein Lehrbuch vorliest, das man zu Hause bequemer
I20
und schneller lesen kann. Der Hauptvortheil der münd-
lichen Belehrung, die Möglichkeit von Frage und Ant-
wort, bleibt ja ohnehin bei solchem rein einseitigen
Vortrag unbenutzt, und doch wird erst in der lebendigen
Wechselrede der Lehrer gezwxmgen, frei zu produciren
und dadurch die eigentlichen Vorzüge des mündlichen
Vortrages über die Lektüre zu entfalten. Andrerseits
hat der Lehrer nicht mehr nöthig, seinen Schülern das-
jenige mündlich zu sagen, was sie in dem betreffenden
Abschnitt seines Lehrbuchs schon zu Hause hatten lesen
können, sondern er hat nun den Vortheil, diesen Ab-
schnitt auf Grund der vorausgesetzten Lektüre frei mit
ihnen durchsprechen zu können, ähnlich wie es schon
jetzt in den Privatissimis und Seminarien mit philolo-
gischen oder philosophischen Klassikern geschieht. Die
Studenten könnten ihren Zweifel und ihre Unklarheit
über bestimmte Punkte fragend zur Sprache bringen,
und dadurch ihr Studium unendlich viel fruchtbarer
machen, als es durch einsame Lektüre oder durch Be-
sprechung unter lauter Lernenden werden kann. Die
CoUegien würden sich gegen jetzt merklich füllen, weil
viel mehr aus denselben zu holen wäre und die Repe-
tition von gedruckten Leitfaden würde wirklich zur
Wiederholung eines rationell verarbeiteten Gedanken-
materials werden. Die Arbeit der Lehrer würde sich
dabei verringern, da die Hälfte derjenigen Stundenzahl,
welche jetzt der Vortrag erheischt, zur Besprechung
ausreichen würde ; die Arbeit der Studenten aber würde
sich trotz des viel grösseren Gewinns nicht wesentlich
vergrössem^ da man in zwei ganzen Stunden zu Hause
bequem so viel lesen kann, wie man in vier mal drei-
viertel Stunden im CoUeg hört.
Wenn die Examinatoren gezwungen würden, diese
veränderte Unterrichtsart anzunehmen, so würden da-
durch indirekt alle nicht examinirenden Lehrer mit ge-
121
2wungen werden, dasselbe Verfahren zu beobachten,
soweit dieselben die gleichen Gegenstände lehren. Denn
^ade der persönliche Verkehr mit den Examinatoren,
welcher durch die Besprechimg der Lehrbücher eröffnet
ist, würde den schon jetzt bestehenden Vorspnmg der
Examinatoren gegen die nicht examinirenden Konkur-
renten so sehr vergrössem, dass die Konkurrenz der
letzteren völlig aussichtslos werden müsste, wenn sie
im alten Schlendrian der „Vorlesungen" verharren woll-
ten. Schon jetzt ist der Vortheil der Examinatoren so
gross, dass gegen diesen Vorsprung der Stellung keine
Ueberlegenheit in den Leistungen aufkommen kann;
wenn dieser Vorsprung durch die veränderte Unterrichts-
art noch vergrössert wird, so ist das ein schwerwiegen-
der Uebelstand, der leider mit in den Kauf genommen
werden muss. Der einzig mögliche, aber auch von der
Gerechtigkeit geforderte und darum unerlässliche Aus-
gleich ist darin zu suchen, dass die Examinatoren auf-
hören, für den durch ihre Stellung und nicht durch ihre
Tüchtigkeit bedingten stärkeren Zuspruch zu ihren
CoUegien diejenige Prämie zu erhalten, welche nur als
Prämie überlegener Tüchtigkeit einen Sinn hat, näm-
lich die Collegiengelder ihrer Zuhörer.
Es giebt eine Anzahl CoUegien, deren Gegenstand
^on hohem wissenschaftlichen Werth, aber nicht gerade
Gegenstand einer Berufsprüfung ist. Solche CoUegien
liaben naturgemäss auch bei der grössten Tüchtigkeit
des Lehrers nur wenige Zuhörer, während andre von
im entbehrlichem Nutzen oder allgemeinerem Interesse
auch bei geringerer Tüchtigkeit des Lehrers auf stärke-
ren Zuspruch rechnen dürfen. Hieraus erhellt wiederum,
ivie wenig die Zuhörerzahl geeignet ist, als Maassstab für
die Tüchtigkeit des Lehrers oder gar für eine demselben
zu gewährende Extravergütignng zu dienen. Wenn es
doch einzelnen Professoren von anerkannt hervorragen*
— 122
der Bedeutung in einem Fache von geringer praktischer
Verwendbarkeit und specialisirtem Interesse gelingt^
eine grössere Zahl von Hörern um sich zu versammeln,
so erzielen sie die ihnen dadurch zufliessenden höheren
Einnahmen wiederum nur dadurch, dass sie die Erfin-
dung der Buchdruckerkunst ignoriren und somit jeden,
der ihre Arbeiten kennen lernen will, zwingen, zu ihnen
zu kommen und ihre Vorlesungen zu hören. Man
wird zugeben, dass eine solche Monopolisirung der
Wissenschaft ein in der Gegenwart nicht mehr zu dul-
dender Rest mittelalterlicher Zunft- und Bann-Rechte
ist, und dass die Honorarverhältnisse, welche einen Ge-
lehrten zu solcher Zurückhaltung treiben, selbst ein
unwürdiges Ueberlebsel überwundener Zeiten sind. So-
bald der Bezug von CoUegiengeldern ein Ende hat, hört
auch das Interesse an der NichtVeröffentlichung der For-
schungsergebnisse auf, da das blosse Eitelkeitsinteresse
an der Zahl der Zuhörer denn doch wohl zu tief steht,
um den Fortschritt der Wissenschaft in seiner stets
wachsenden Beschleunigung zu hemmen.
Für Forscher solcher Art ist überhaupt das Lehren
gar keine Bedingung ihrer Wirksamkeit, sollte für sie
vielmehr nur Mittel der eigenen Anregxmg und Er-
frischung sein. Ihr Platz ist nicht sowohl im Lehrkörper
einer Universität als in einer Akademie mit der Be-
rechtigung, aber ohne die Verpflichtung zum Abhalten
von Vorträgen an den Staatsuniversitäten. Man kann
ein vorzüglicher Lehrer xmd ein sehr untergeordneter
Forscher sein ; man kann aber auch ein hervorragender
Forscher und dabei sehr schlechter Lehrer sein. Der
Staat hat ein ebenso grosses Interesse, sich Forscher,
als sich Lehrer zu sichern; aber er fasst die Sache am
unrechten Ende an, wenn er beides vermengt, also von
jedem Lehrer als unentbehrliche Zuthat seiner Stellung
den Nimbus eines bedeutenden Forschers und Förderers
— 123 —
der Wissenschaft verlangt, und jedem Forscher eine
Lehrthätigkeit als' Bedingung für die Gewährung eines
Staatsgehaltes zumuthet. Die Bedeutung der Akade-
mien für die Gegenwart ruht ausschliesslich darin, dass
sie den Forschem eine sorgenfreie Existenz zur Fort-
setzung ihrer Forschungen mit ungetheilten Kräften ge-
währen; dieses Ziel haben ursprünglich die meisten
Akademien sich vorgezeichnet, und es ist nicht der
Fehler ihrer Gründer, wenn die mit der Mitgliedschaft
verknüpften Gehälter in Folge veränderten Geldwerthes
ihrem Zwecke nicht mehr genügen. Wenn die Regie-
rungen sich entschliessen könnten, die Mitgliedschaften
der Akademien durch zeitgemässe Erhöhung der Ge-
hälter zu Forscher-Sinekuren zu erheben, so würden sie
damit den höchsten Spitzen des Kulturfortschritts einen
ebenso grossen Dienst erweisen als den Universitäten^
welche dadurch von Lehrern entlastet würden, die nur
aus Noth lehren, um nebenbei als Forscher leben zu
können. Das Gehalt eines Mitglieds der Akademie
müsste eben höher sein als das höchste Professoren-
gehalt, womit aber selbstverständlich auch eine Kumu-
lation beider Gehälter ausgeschlossen wäre.
Es ist bekannt, dass es gegenwärtig zum grossen
Theil andre Kollegien sind, welche der Student be-
sucht, als die, welche er bezahlt; er bezahlt diejeni-
gen, welche er direkt oder indirekt gezwungen ist,,
zu belegen, und hat in der Regel wenig Neigung^
nebenbei auch diejenigen noch zu bezahlen, welche er
bloss aus Interesse an der Sache besucht. Die Folge
davon ist, dass er auch die sein Interesse erweckenden
CoUegien nur imvollständig, weil mit bösem Gewissen,
hört, ohne dass er im Stande ist, die Lücken durch
Lektüre des Lehrbuchs zu ergänzen. Den nicht exami-
nirenden Lehrern raubt dieser Missbrauch des Hospi-
tirens noch einen gprossen Theil derjenigen CoUegien-
124 —
gelder, welche ihnen durch den Vorsprung ihrer exami-
nirenden Kollegen allenfalls noch hätten übrig bleiben
können. Wollte man unter den Verhältnissen, wie sie
sich entwickelt haben, auf strenge Ordnimg halten, und
jeden Studenten, der nicht belegt hat, hinausweisen, so
würde die Wirkung davon in der Hauptsache nur die
sein, dass die Hörsäle noch mehr veröden und die
Studenten noch mehr sich dem Privatstudium durch
Lektüre zuwenden.
Wenn eine statistische Erhebung darüber vorge-
nommen werden könnte, wie viel wirklich besuchte
Vorlesimgsstunden auf den Kopf der deutschen Studen-
tenschaft in einem Semester kommen, so würde man
darüber staunen, wie wenig der Nutzen der Vorlesungen
in ihrer jetzigen Art im Ganzen von den Studenten
anerkannt wird, und wie sehr das studentische Leben
(mit Ausnahme der medizinischen Fakultät) zwischen
Nichtsthun und Privatstudium schwankt. In der That
konnte aber auch ein fleissiger Besuch der Collegien
bei dem System der Collegiengelder nur so lange mög-
lich bleiben, als die Gelegenheit zum Erwerb der dort
zu erlangenden Kenntnisse auf privatem Wege fehlte.
Gegenwärtig ist die Forderung der Universitäten, dass
der Student jedes einzelne CoUeg bezahle, nichts weiter
als eine Prämie auf die Faulheit \md das Privatstudium
imd eine gewaltsame Zurückscheuchung der Studenten
von allen nicht obligatorischen Collegien. Der Besuch
•der Vorlesungen würde sich sofort verdoppeln und ver-
dreifachen, wenn von jedem Studenten ein Fixum pro
Semester erhoben würde, durch dessen Bezahlung er
das Recht erwirbt, jedes CoUeg zu belegen, dessen
Plätze nicht schon sämmtlich an früher angemeldete
Reflektanten vergeben sind. Der Andrang zu den in-
teressanteren Vorträgen würde dadurch so wachsen,
dass es nöthig werden könnte, diejenigen numerirten
— 125 —
Plätze, welche von ihren ursprünglichen Inhabern ohne
ausreichende Entschuldigung durch drei Stunden un-
benutzt gelassen werden, an nachbemerkte Bewerber
weiter zu begeben.
Die Collegiengelder bilden nach Ablösung der Stol-
gebühren den letzten Rest des mittelalterlichen Sportel-
und Gebühren -Wesens, und es ist endlich Zeit, mit
dieser Ruine aufzuräumen, welche ein Haupthindemiss
für einen neuen Aufschwung des Universitäts-Unterrichts
bildet. Den ursprünglichen Sinn einer Prämie für an-
ziehende Vorträge hat die Ueberweisung der Collegien-
gelder an die Professoren längst eingebüsst, und gegen-
wärtig ist sie wesentlich eine unverdiente Gehaltszulage
für die ohnehin schon begiinstigten Examinatoren. Wer-
den die Einzelhonorare fiir jedes Colleg in ein festes
Studienhonorar fiir das ganze Semester umgewandelt,
so fallt jede Versuchung fort, diese Honorare dem
Lehrerkollegium zu überweisen, anstatt derjenigen Be-
hörde, welche die Universität erhält imd die Gehälter
der Professoren zahlt. Diese Aufhebung der Gebühren
müsste natürlich mit einer Ordmmg der Professoren-
gehälter Hand in Hand gehen, welche ohnehin dringen-
des Bedürfhiss ist; auch müssten Uebergangszustände
zugelassen werden, deren Erörterung hier zu weit fuhren
würde.
Worüber am meisten öffentlich geklagt wird, ist
die Aussichtslosigkeit der akademischen Carriere und
die Uebelstände, welche bei der Berufung von Profes-
soren hervortreten. Abgesehen von den Uebertreibun-
gen und ungerechtfertigten Verallgemeinerungen, die
bei solchen Klagen fast unvermeidlich mit unter laufen,
begehen die Wamungsstimmen dieser Art meistens den
Fehler, dass sie allgemein menschliche Uebelstände, wie
Kliquenwesen, Weiberregiment, Nepotismus und der-
gleichen für funkelnagelneue Erscheiuimgen speciell
— 126 —
unsres Universitätslebens halten, während diess doch
nur die überall und zu allen Zeiten gangbaren Ab-
weichungen von vorurtheilsloser Sachlichkeit sind. Man
mag solche Dinge zur Sprache bringen, um den be-
treffenden Kreisen das Gewissen zu schärfen und sie
an den Ernst ihrer Berufspflicht und die Forderungen
der guten Sitte zu erinnern; aber man wird nicht hoffen
dürfen, dadurch mehr Wirkung auszuüben als mit Mo-
ralpredigten irgend welcher andren Art. Alle Coopta-
tion fuhrt zur Inzucht, alle Stellenbesetzung durch die
Regierung zur Begünstigung politischer Streber; In-
trigue und persönliche Begünstigung spielt hier wie
dort ihre Rolle, wenn auch in verschiedener Weise.
Beide Quellen unsachlicher Entscheidung müssen ein-
ander beschränken, und jeder Versuch, der einen auf
Kosten der andren das Uebergewicht zu verschaffen,
ist nach der einen wie nach der andern Seite gleich
fehlerhaft. Deshalb liegt kein Anlass vor, an den be-
stehenden Zuständen wesentliche Aenderungen in dieser
Hinsicht zu verlangen.
Das Widerwärtige an den akademischen Zuständen
liegt vor allem darin, dass die Erlangung einer ausser-
ordentlichen Professur noch keinerlei Einkommen ge-
währt, und dass selbst der Eintritt in eine ordentliche
Professur nicht dem Ehrgeiz und der Gewinnsucht das
Thor verschliesst. Der Grund dafür ist aber ausschliess-
lich in den ungeordneten Gehaltsverhältnissen zu suchen,
welche die einer Berufung voraufgehenden Verhandlun-
gen nicht selten zu einem Markten und Feilschen herab-
würdigen wie bei dem Engagement eines Schauspielers,
und das Spiel der Intriguen zur Erlangung von wirk-
lichen oder Schein-Berufungen nicht enden lassen. Der
Professorenstand wird nicht eher sein moralisches und
sociales Gleichgewicht und die ihm gebührende wissen-
schaftliche Würde gewinnen, als bis er durch eine feste
— 127 —
Gehaltsscala mit Alterascension und örtlich verschiedenen
Wohnungsgeldem und durch gesicherte Pensionsver-
hältnisse den andern Staatsdienern an Solidarität und
Stabilität der pekuniären Lebens-Grundlagen gleichge-
stellt wird. Wer von einer kleinen Universität an eine
grosse berufen wird, der soll nicht um materieller Vor-
theile willen dort hin gehen, sondern im freudigen Stolz
auf den erweiterten Wirkungskreis; zieht er aber das
Verbleiben im gewohnten und lieb gewordenen Kreise
vor, so mögen die grossen Universitäten aus dem eignen
Nachwuchs ihre Vakanzen besetzen. Es ist unwürdig,
dass müde Greise bis an ihr Ende weiter lehren müssen,
weil sie durch ein ganzes Leben voll Arbeit keinen
Pensionsanspruch erworben haben, und ebenso unwür-
dig, dass sie siph im Falle vollständiger Unfähigkeit ihr
Gehalt für die schuldig gebliebenen Leistungen müssen
schenken lassen. Es ist unwürdig, dass die längste
Dienstzeit keinen Anspruch auf Gehaltssteigerung ver-
schafft, und dass letztere erst auf dem Umwege künst-
lich inscenirter Scheinberufungen erpresst werden muss.
Es ist ungehörig, dass viel umworbenen Berühmtheiten
Einnahmen von der Höhe einer Primadonnengage und
luxuriöse Dienstwohnungen bewilligt werden, und ebenso
ungehörig, dass die Berufung an grosse Universitäten
zur Nationalbelohnung für abgediente Invaliden des
Katheders herabgesetzt wird. Mit der Gleichstellung
aller Professorengehälter in demselben Staat, oder wo
möglich im ganzen Reich würden alle solche Ungehö-
rigkeiten ganz von. selbst wegfallen.
Der Unterschied zwischen ordentlichen und ausser-
ordentlichen Professoren kann bestehen bleiben; denn
wer einmal zum ordentlichen Professor ernannt ist, der
rückt damit auch von selbst in alle höheren Gehalts-
stufen nach seinem Dienstalter auf, während der ausser-
ordentliche Professor bei dem höchsten Gehalt für
— 128 —
ausserordentliche Professoren stehen bleibt, wenn ihm
die Beförderung zum Ordinarius versagt bleibt. Nur
das scheint mir unbillig, dass man Docenten zu ausser-
ordentlichen Professoren ernennt, sie dadurch mit der
trügerischen Hofihung, in der akademischen Laufbahn
ihr Fortkommen zu finden, ködert, und dann ohne Ge-
halt bis an ihr Ende sitzen lässt. Die Gehaltlosigkeit
der Extraordinarien wird so nicht ohne Grund zu einer
Hauptquelle der Bitterkeit für alle, welche nicht zu
einer ordentlichen Professur gelangen können, und nun
ihr Leben als ein verfehltes, ihre akademische Laufbahn
für eine gescheiterte, und ilire Lebensarbeit für eine
völlig unentlohnte ansehen müssen. Das Gehalt der
Extraordinarien müsste wenigstens für einen Jung-
gesellen auskömmlich und zugleich pensionsberechtigt
sein ; die zeitweilige gnadenweise Gewährung von Unter-
stützungen kann niemals als Ersatz für ein pensions-
fahiges, wenn auch noch so bescheidenes Gehalt gelten.
Selbstverständlich würde die Behörde für das von ihr
gewährte Gehalt auch ein Minimum von wöchentlichen
Lehrstunden von jedem Angestellten verlangen müssen,
das beim Extraordinarius geringer bemessen sein müsste
als beim Ordinarius. Andrerseits haben auch die Extra-
ordinarien, sobald sie ein festes Gehalt beziehen, keinen
Grund mehr, den Wegfall der CoUegiengelder zu be-
dauern.
Die Stellung als Privatdocent ist eine Vorbereitungs-
stufe und Probezeit für den akademischen Beruf. Es
ist wünschenswerth, dass dieselbe möglichst zahlreichen
Bewerbern möglichst leicht zugänglich sei, damit die
Behörden ein reichliches Material zur Ernennung von
ausserordentlichen Professoren zur Auswahl haben; aber
es ist nicht wünschenswerth, das längere Verbleiben in
dieser Stellung für solche Aspiranten angenehm und
behaglich zu machen, welche nach mehrjähriger Probe-
k
— I2Q —
zeit nicht zur ausserordentlichen Professur geeignet be-
funden worden sind. Man muss den Privatdocenten den
Austritt aus der akademischen Carriere ebenso leicht
machen wie den Eintritt, und muss eine Frist setzen^
etwa von zehn Jahren, nach deren Ablauf ein nicht be-
förderter Privatdocent eo ipso die venia docendi verliert.
Nur auf diesem Wege ist die Existenz eines Kreises
von verbitterten lebenslänglichen Privatdocenten zu ver-
meiden, oder dem noch schlimmeren Fehler vorzubeugen,
dass man alte Privatdocenten endlich einmal zu Profes-
soren ernennt, bloss weil man das unverdiente Scheitern
in ihrem Lebenslauf als gar zu grausames Schicksal mit-
empfindet»
Damit den Docenten, welche trotz mehrjähriger
Probezeit nicht zur ausserordentlichen Professur gelangt
sind, das Verbleiben in ihrer Stellung erschwert wird,
ist es nothwendig, dass denselben keinerlei Remunera-
tion oder Honorar zufallt. Die Zulassung zum Dociren
an einer Hochschule ist an imd für sich ehrenvoll ge-
nug, um auch einige Jahre als blosse Ehrensache geübt
werden zu können, zumal kein Docent nöthig hat, mehr
als einige Stunden wöchentlich dieser freiwilligen aka-
demischen Lehrthätigkeit zu widmen. Nur solche Do-
centen, welche zur Beförderung für einen späteren Termin
in sichere Aussicht genommen sind, dürfen durch Re-
munerationen aus Dispositionsfonds an die akademische
Laufbahn gefesselt werden; bei jedem andern müsste
eine solche Gewährung als eine grausame Erweckung
unbegründeter Hoffnungen verurtheilt werden. Die ge-
haltlose Zeit eines jungen Mannes, welcher sich der.
akademischen Laufbahn widmet, wird danach im Durch-
schnitt nicht wesentlich länger zu rechnen sein als bei-
spielsweise in der juristischen Carriere. Der Unterschied
bleibt freilich bestehn, dass der Jurist nach Ablauf die-
ser Frist, innerhalb deren er aus seinen eigenen Mitteln
Haitmann, Moderne Probleme. 9
— I30 —
oder aus denen seiner Familie sich erhalten muss, ziem-
lich sicher auf Anstellung rechnen darf, der Docent aber
nicht, und es wird nicht zum Ausgleich genügen, dass
die juristische Laufbahn in erster Reihe dem Brot-
erwerb, die akademische Laufbahn dagegen in erster
Linie der Befriedigung theoretischer Neigungen und
idealer Bedürfhisse dient. Dieser Ausgleich ist deshalb
ungenügend, weil die Furcht, spätestens zehn Jahr nach
der Habilitation vor dem niederdrücken Misserfolg einer
völlig gescheiterten Carriere zu stehen, die Zahl der Re-
flektanten auf das Docententhum bei gleichzeitigem
Wegfall der Kollegiengelder unter das erforderliche oder
doch wünschenswerthe Maass herabdrücken könnte,
trotzdem dass die Hoffnung auf frühere Beförderung
zum besoldeten Extraordinarius einen gegen die heuti-
gen Verhältnisse verstärkten Anreiz zur Habilitation ge-
währen würde.
Die akademische Laufbahn ist nur dann im Stande,
viele Probekandidaten anzulocken, ohne durch Wieder-
ausscheidung der Mehrzahl der Bewerber eine tiefe Ver-
bitterung zu säen, wenn von vornherein darauf gesehen
wird, dass die Docenten zugleich auf irgend einen an-
dern, als den akademischen Beruf vorbereitet sind, und
diesen wo miöglich gleichzeitig verfolgen, jedenfalls aber
nach dem wScheitern ihrer akademischen Laufbahn den
Rücktritt in denselben sich offen halten. Mit andern
Worten : die Universitätsbehörden sollten mit Ausnahme
von Persönlichkeiten, die sich bereits durch hervor-
ragende schriftstellerische Leistungen als ausnahmsweise
befähigt erwiesen haben, den höchsten Werth daraut
legen, nur solche Kandidaten zur Habilitation zuzu-
lassen, welche sich durch die erforderlichen Staats-
prüfungen den Eintritt in eine anderweitige Laufbahn
bereits gesichert haben; die Staatsbehörden aber sollten
in Anbetracht der hohen Wichtigkeit des Universitäts-
— 131 —
Unterrichts für die nationale Geisteskiütur den Staats-
dienem aller Berufsarten, welche Neigung spüren, sich
eine Zeitlang als akademische Docenten zu versuchen,
die Erfüllung dieses Wunsches durch das bereitwilligste
Entgegenkommen erleichtem, anstatt denselben im In-
teresse des Specialdienstes Schwierigkeiten oder unüber-
windliche Hindemisse zu bereiten.
In der Hauptsache besteht der von mir verlangte
Zustand schon heute in der medicinischen und theolo-
gischen Fakultät; jeder medicinische Docent ist neben-
bei praktischer Arzt, und jeder theologische Docent ist
nebenbei wenigstens Licentiat imd kann, wenn er von
der Universität zurücktritt, eine Predigerstelle anneh-
men. Immerhin wäre es wünschenswerth , dass mehr
angestellte jüngere Geistliche als bisher nebenbei den
Beruf als Docenten ausübten, wenn sie in einer Uni-
versitätsstadt oder deren unmittelbarer Nähe leben : da-
gegen scheint mir eine dauernde Verknüpfung von
Seelsorge und akademischem Lehramt, wie sie jetzt
ausnahmsweise vorkommt, nicht empfehlenswerth, viel-
mehr nach ausreichender Probezeit die Entscheidung
für die eine oder die andre Berufsart geboten. In der
juristischen Fakultät wäre es nicht mehr als billig, dass
man von einem Docenten die vorherige Erlangung der
Richterqualität forderte; dagegen müssten auch Rich-
ter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Gerichts- und Regie-
rungs-Assessoren und -Räthe, die an Universitätsplätzen
leben, in liberalster Weise zur Habilitation zugelassen
werden, und ihre vorgesetzten Gerichts- und Verwal-
tungsbehörden von den Ministerien darauf hingewiesen
werden, dass diese Zulassung im dringenden Interesse
des Staates liege, und dass solche Neigungen und
Bestrebungen für die wissenschaftlichen Interessen der
Bewerber ein ehrenvolles Zeugniss ablegen.
Dasselbe gilt für die Schulbehörden in Bezug auf
9*
— 132 —
die Lehrer an staatlichen und städtischen Schulen; hier
ist sogar der innere Zusammenhang des höheren und
Hochschulwesens ein so enger, äass es durchaus ge-
rechtfertigt erscheint, die Zahl der wöchentlichen CoUeg-
stunden (wenigstens bis zur Höhe von fünf) auf die
Zahl der gesammten Wochenstimden , zu deren Er-
theilung der Lehrer verpflichtet ist, in Anrechnung zu
bringen, also einem Lehrer, der zugleich Universitäts-
docent ist, statt 24 nur 19 Schulstunden wöchentlich
zu übertragen. Die Universitätsbehörden aber sollten
bei Habilitationen in der philosophischen Fakultät die
Bewerber, welche die facultas docendi für die höheren
Gymnasialklassen erworben haben, entschieden bevor-
zugen, damit den Docenten, welche zur Beförderung
in eine ausserordentliche Professur nicht in Aussicht
genommen sind, seinerzeit der Rath ertheilt werden
könne, ins Schulamt überzutreten. Gegenwärtig gilt
der Eintritt ins Schulfach als fast gleichbedeutend mit
dem Verzicht auf die akademische Laufbahn, und darum
bemühen sich die Aspiranten auf letztere, die Annahme
einer Lehrerstellung, selbst in einer Universitätsstadt,
wenn irgend möglich zu vermeiden, imd sei es auch
unter den grössten Anstrengungen und Entbehrungen.
Diess würde aufhören.
Wer nicht hinreichend mit Gütern gesegnet ist, um
nach absolvirtem Staatsexamen sich ganz dem theore-
tischen Studium zu widmen, der würde zunächst eine
Lehrerstellung an einer Schule in einer Universitäts-
stadt zu erlangen suchen und die 120 Sonntage, Feier-
tage und Ferientage im Jahre der Vorbereitung für
ein CoUeg widmen; wer aber einige Zubusse hätte, der
würde am liebsten eine halbe Lehrerstellung mit halbem
Gehalt annehmen, um noch mehr freie Zeit zu gewinnen.
Die Schulbehörden würden nur dem Literesse des na-
tionalen Unterrichts im Ganzen dienen, wenn sie die
J
— 133 —
Habilitationsreflektanten bei der Anstellung in Universi-
tätsorten bevorzugten und wie in der Schweiz die Ver-
leihung halber Lehrerstellen (wenigstens für die ersten
zehn Dienstjahre) genehmigten. Die Versuchung, zu
viel CoUegien neben einander zu lesen, fallt für die
Privatdocenten mit dem Aufhören der CoUegiengelder
ohnehin fort, so dass die Behörden keine erhebliche
Störung der dienstlichen Interessen von einer solchen
Nebenbeschäftigung zu befürchten haben. Es ist nun
einmal unerlässlich, die Docententhätigkeit auch in der
philosophischen Fakultät mit irgend einem anderweitigen
Broterwerb zu verknüpfen, wenn nicht die akademische
Laufbahn immer mehr ein Vorrecht der Wohlhabenden
werden soll; es liegt aber im dringenden Interesse des
Ganzen, dass die Verknüpfung der Docenten-Thätigkeit
mit dem journalistischen Broterwerb verhütet werde,
und schon darum ist es nöthig, dass der Verbindung
des Lehramtes an einer höheren Schule mit demjenigen
an einer Hochschule die Wege gebahnt werden. Selbst-
verständlich muss diese Verkoppelung von Aemtern mit
der Ernennung zum besoldeten ausserordentlichen Pro-
fessor ein Ende finden.
Ich bilde mir nicht ein, dass mit den vorgeschlage-
nen Aenderungen in der Einrichtung der Vorlesungen,
in den Gehaltsverhältnissen der Professoren und in der
Stellung der Docenten alle Klagen über unser Univer-
sitätswesen verstummen würden; aber ich glaube, dass
damit eine gründliche Abhilfe für die offensten Schäden
und dringendsten Uebelstände geschaffen werden würde,
denen auf anderm Wege schwer oder gar nicht bei-
zukommen ist, und dass das Ansehn und die Zufrieden-
heit der Professoren, die Würde ihres Berufs und der
Nutzen der Universitäten in unserm öffentlichen Leben
sehr gewinnen würden, ohne dass dabei wesentlich
höhere Aufforderungen als jetzt erforderlich wären.
— 134 —
vn.
Das Philosophie-Studium.
Unsere moderne Wissenschaft läuft Gefahr, am
empirischen Material zu ersticken imd im Specialismu^
zu verknöchern. Die Versenkung in die Erfahrung und'
die Arbeitstheilung sind die beiden Principien, durch
welche sowohl die Naturwissenschaften wie die Gesell-
schaftswissenschaften und geschichtlichen Disciplirien
einen so grossen imd raschen Aufschwung genommen
haben. Aber die moderne Wissenschaft steht bereits
wie der Zauberlehrling rathlos da, und fühlt sich unfähig,
die heraufbeschworenen Geister zu bannen. Die Er-
kenntniss verliert sich mehr und mehr im Einzelnen,
anstatt Honig aus demselben heimzubringen für den
gemeinsamen Stock der systematischen Wissenschaft,
von der alle Specialforschung ausgegangen ist, und zu der
sie alle zurückkehren muss, wenn sie für die Menschheit
Werth behalten soll. Wie Bergleute, die in verschiedenen
Schachten und Stollen arbeiten, ohne gemeinsamen Plan
des Abbaus sich immer weiter von einander entfernen
müssen, bis schliesslich keiner mehr das Klopfen der
andern hört, so geht es mit der immer weiter fort-
schreitenden Specialisirung der Specialfächer und -Ge-
biete. Schon innerhalb des engeren Faches, z. B. der
Mathematik, hört die Möglichkeit der Verständigung
der Specialisten unter einander und ihrer gegenseitigen
Kontrole mehr und mehr auf; selbst die praktische
Heilkunst droht sich in lauter Specialheilkünste nuf-
zulösen und die Naturwissenschaften arten immer mehr
zu einem zusammenhangslosen Sammelsurium klein-
krämerischer Detailnotizen aus.
Dabei schwillt die Literatur zu immer ungeheuer-
licherer Ausdehnung an. Rund fünfzehntausend neue
— 135 —
Werke jährlich in deutscher Sprache und etwa ebenso-
viel in franzosischer und englischer Sprache zusammen-
genommen, das macht allein schon in einem Menschen-
alter von einem drittel Jahrhundert eine Million Bücher,
welche durch die in demselben Zeitraum erschienenen
periodischen Druckschriften an Masse noch weit über-
troffen werden. Wie die Thatsachenforscher in der Em-
pirie, so gehen die historischen Forscher in der Lite-
ratur unter; jede zu behandelnde Detailfrage erfordert,
um gründlich zu sein, schon jetzt das Studiiun eines so
kolossalen literarischen Materials, deiss die Frage in ganz
enger Begrenzung gestellt werden muss, wenn die Be-
arbeitung nicht gleich ins Ungemessene anschwellen
soll. Wenn dieser in den beiden letzten Menschen-
altern in Fluss gekommene Process noch ein Jahrhundert
so fortgeht, so muss die europäische Geistesbildung in
einem Grade erstarren, welcher alle Verknöcherung des
chinesischen Mandarinenthums, Talmudismus oder Islam-
ismus um ebenso viel hinter sich zurücklassen wird, wie
die Bibliotheken unserer Urenkel den Bücherschatz der
Chinesen, Juden und Muhamedaner.
Will die moderne Wissenschaft nicht sich selber
zum Spott werden und die Welt zu dem Gefühl bringen,
dass die Vernichtung einer solchen sich greisenhaft über-
lebenden Civilisation durch den Vandalismus der SocicU-
demokratie eine wenn auch nur negative kulturgeschicht-
liche Wohlthat sein würde, so muss sie in sich gehen
und bedenken, dass Arbeitstheilung und Empirie in der
Wissenschaft niemals Selbstzweck sondern nur dienende
Mittel zu einem höheren Zweck, an sich aber bloss noth-
wendige Uebel sind. Diese Uebel sind nur dann un-
schädlich zu machen, wenn ein jeder ihrer Gefahren und
ihrer unmittelbaren Werthlosigkeit eingedenk bleibt,
und nie die Verpflichtung aus den Augen verliert, den
Zusammenhang seiner Detailforschungen mit dem gros-
ll"rii
«ilc (ii<Mi.'n, und den Zusammenhang:
Hl rl.
r .'ir.liritli, hcn Totalität der Wissen-
lH.-n.
Niir weil das Gefühl dieser Ver-
.-I.wi,
(It'ti ist, ki>nnte das Uebel die schon
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t-'t i\l
fr iliirutu dt'n Forschem abhanden
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i'ii dai W'^itruidniss für die einheit-
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i'ii-ii-|il\.'iUichor\ Erkenntnisssystems
.v,t,-;
■lim; if.-r [wrtikulärvn und singiilären
\;'-i; \"^\-'i Kt,
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— v-.,- c -.-^— :c-e; ;z>d
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\ - ■ ■ - -^ ^. - - — £ .^
— 137 —
herausgenommen, so geräth das ganze System in Auf-
lösung, indem innerhalb jeder Einzel Wissenschaft sich
derselbe Vorgang wiederholt, d. h. jede Specialrichtung
sich für berechtigt hält, ihren selbstständigen Werth
gegen die Wissenschaft zu behaupten, deren Theil sie
ist. So gelangt schliesslich jeder Dreck und Quark
dazu, den gleichen Werth wie die höchsten Blüthen
des Geisteslebens vor dem Forum der Wissenschaft zu
beanspruchen, weil er ebensogut Gegenstand der Er-
fahrung wie diese ist. Soll diesem Unfug unsrer Zeit
gesteuert werden, so müssen, damit die Specialforschun-
gen wieder als dienstbare Glieder und Werkzeuge der
Einzelwissenschaften begriffen werden, vor allen Dingen
erst wieder alle Einzelwissenschaften als dienstbare Glie-
der und Werkzeuge der Philosophie begriffen werden,
so muss der Philosophie im Bewusstsein der Vertreter
der modernen Wissenschaft wieder die Stelle als Königin
der Wissenschaften, oder als Wissenschaft der Wissen-
schaften, nämlich als einheitliche Totalität und inneres
Band des menschlichen Erkenntnisssystems eingeräumt
worden.
So lange man dagegen wähnt, die Philosophie sei
ein überwundener Standpunkt, und die einheitliche To-
talität der Wissenschaften müsse mit der Zeit von unten
herauf sich ganz von selbst erbauen, wenn nur jeder
Arbeiter an seinem Stein rüstig weiter klopfe, so lange
wird die Zersplitterung, Entgeistigung und Versumpfung
der Wissenschaften in atomistischer Spezialisirung pro-
gressiv zu nehmen. Die Empirie als solche bringt immer
nur Divergenz ins Unendliche mit sich; die Konvergenz
der Ergebnisse muss immer erst der die Erfahrung be-
arbeitende Geist hineinbringen ; um diess aber zu können,
muss er ein Centrum als Zielpunkt der Konvergenz im
Sinn haben. Die Empirie wird ewig unfertig bleiben,
weil sie ihrer Natur nach endlos ist; wollte der Geist
- 138 —
auf die Beendigung der Empirie warten, bevor er die
Ergebnisse im Sinne einer systematischen Einheit zieht,
so würde er niemals anfangen dürfen. Die Philosophie
wird jederzeit unvollkommen sein müssen, weil jeder-
zeit die Empirie unvollendet sein wird; aber auch die
unvollkommenste Philosophie ist besser als gar keine
und ist im Stande, die konvergirende Bearbeitung der
Erfahrung zu ermöglichen und das einheitliche System
der Erkenntniss zu fordern.
Der Einfluss der Philosophie auf die Einzelwissen-
schaften und auf die allgemeine Bildung einer Zeit kann
unter sonst gleichen Umständen um so grösser sein, je
vollkommener sie ist, und sie kann um so vollkommener
sein, auf eine je vollständigere Empirie sie sich stützt.
Da nun gegenwärtig eine vollständigere Empirie zur
Verfügung steht als je zuvor, müsste auch eine voll-
kommenere Philosophie möglich sein, mithin auch deren
Einfluss grösser sein können als je zuvor. Allerdings,
ist es gegenwärtig durch den Umfang und die unver-
arbeitete Zersplitterung der Empirie dem Einzelnen fast
unmöglich gemacht, dieselbe in dem Sinne zu umspannen
imd zu beherrschen, wie es einem Aristoteles, Leibniz,
oder auf viel niedrigerer Stufe selbst noch einem Alexan-
der von Humboldt möglich war. Auch unter den Philo-
sophen wäre jetzt eine Arbeitstheilung zum Zwecke
einträchtigen Zusammenarbeitens nöthiger als je, damit
die nächsten Ergebnisse der Materialien zunächst so
gesichtet und geordnet würden, dass ein genialer Kopf
sie endlich zusammenfassen könnte.
Davon ist aber keine Rede; die offiziellen Vertreter
der Philosophie in Deutschland sind vielmehr in den-
selben Fehler der divergenten Arbeitstheilung ohne
philosophische Rücksichtnahme auf den Einheitspunkt
des Erkenntnisssystems gerathen wie die Vertreter der
Einzelwissenschaften, und dieser Fehler, der bei ihnen
~ 139 —
doppelt tadelnswerth ist, hat natürlich dazu beigetragen,
das An sehn der Philosophie noch tiefer herunterzu-
drücken. Wenn die Mehrzahl der Universitätsphiloso-
phen, die sonst über gar nichts einverstanden ist, doch
darin eitrig ist, dass die spekulative Metaphysik ver-
altete phantastische Mythologie ohne irgend welchen
wissenschaftlichen Werth ist, und dass es die Haupt-
aufgabe der Universitätsphilosophie ist, die Metaphysik
mit Fanatismus bis zur endlichen Vernichtung zu be-
kämpfen, so darf man sich nicht wundern, dass auch
die Universitätsprofessoren der übrigen Wissenschaften
schon aus Höflichkeit gegen ihre Kollegen nicht wider-
sprechen, und dass die Philosophie den letzten Rest
von Ansehn, den sie vor einigen Jahrzehnten noch ge-
noss, bei dem gegenwärtigen Geschlecht eingebüsst hat.
Die heutigen Kathederphilosophen sind im Durch-
schnitt unfähig nicht nur zu eigenen philosophischen
Leistungen, denn zu solchen sind sie gar nicht ver-
pflichtet, sondern auch zur geschichtlichen Uebermitte-
lung unsrer nationalen geistigen Errungenschaften, weil
sie in diesen, ohne sie zu studiren, bloss die spekula-
tive Metaphysik hassen und verachten. Ihre Arbeiten
bewegen sich meist auf dem Gebiete einer unfrucht-
baren Aristotelischen oder Kantischen Philologie, falls
sie sich nicht gar mit dem Nachkäuen der englisch-
französichen Sensualisten und Positivisten begnügen;
d. h. sie plagen sich ausschliesislich mit den veralteten und
geschichtlich längst überwundenen Systemen vergange-
ner Zeiten, welche für uns noth wendig schon darum zu
unvollkommen sein müssen, um brauchbar zu sein, weil
sie sich auf einen Standpunkt der Empirie stüzen, gegen
welchen der heutige sehr weit vorgeschritten ist. Gün-
stigsten Falls bestehen die Leistungen unserer Univer-
sitätsphilosophen darin, dass sie, anstatt zu philosophiren,
ebenfalls empirisches Material zusammenschleppen, in-
— 140 —
dem sie den Physiologen auf dem Felde der Sinnes-
wahmehmung mit mühsamem gediildigem Experimen-
tiren in's Handwerk pfuschen. Die Ausnahmen unter
ihnen, welche die Geschichte der deutschen Philosophie
des neunzehnten Jahrhunderts verstanden haben und
anregend wiederzugeben wissen, sind mit der Laterne
zu suchen; aber diese pflegen sich dann auch wieder
zu keinem energischen Protest gegen das Treiben ihrer
Kollegen aufraffen zu können, imd wagen sich nicht
einmal mehr an den Versuch heran, die philosophischen
Systeme, welche vor zwei oder drei Menschenaltem be-
wunderungswürdig waren, in einer dem heutigen Stand-
punkt der Empirie entsprechenden Weise umzubilden.
Wie ist es nun möglich, dass die Philosophie -trotz
der Bestrebungen der Akademiker, sie zu Grrunde zu
richten, zu neuem Ansehn komme, imd dadurch die
moderne Wissenschaft überhaupt vor völliger Ver-
knöcherung imd Versumpfung rette? Das radikalste
Heilmittel wäre vielleicht das, sämmtliche Universitäts-
philosophen zu pensioniren und die Philosophie als
Gegenstand der Vorlesungen aus der philosophischen
Fakultät zu streichen. Aber das wäre eine unnöthige
Verletzung der Lehrfreiheit unsrer Universitäten. Ich
glaube, dass man die heutigen Professoren und Docen-
ten der Philosophie ruhig weiter dociren lassen kann,
wenn man nur aufhört, ihre Vorlesungen direkt oder
indirekt zu ZwangscoUegien zu stempeln. Wahrschein-
lich würden in kurzer Zeit die meisten ihre Vorlesungen
aus Mangel an Zuhörern einstellen müssen. Es ist ent-
schieden der Philosophie unwürdig, sie zu einem Zwangs-
studium herabzusetzen, und der Erfolg davon muss grade
der umgekehrte von demjenigen sein, der damit beab-
sichtigt ist. Die erste Stufe der Entwürdigimg hat die
Philosophie damit überwunden, dass sie aufgehört hat,
obligatorischer Unterrichtsgegenstand der Knaben in
— 141 —
den Gymnasien zu sein; die zweite wird sie erst dann
überwinden, wenn sie aufhört, obligatorischer Unter-
richtsgegenstand für Jünglinge zu sein, die gar kein
philosophisches Bedürfniss haben, sondern bloss Geist-
liche oder Lehrer oder Aerzte zu werden wünschen.
Es ist ja ein sehr schöner Gedanke, dass Philoso-
phie das eigentliche und einzige Studium sei, durch
welches man eine höhere allgemeine Bildung im aka-
demischen Sinne des Worts erlangen könne, und es
sieht verlockend aus, allen akademisch Gebildeten dieses
Studium, sei es als Grundlage, sei es als Abschluss
ihres Bildungsganges aufzuerlegen. Aber wie gestaltet
sich dieser Gedanke in der nüchternen Wirklichkeit?
Bei den Juristen hat man es längst aufgegeben, das Hören
eines rechtsphilosophischen CoUegs zu fordern, denn
in der That ist Rechtsphilosophie für sich allein und
ausser allem Zusammenhang mit dem Ganzen der Philo-
sophie betrieben nichts weniger als philosophisch zu
nennen, und das Gemenge von unverdauten juristischen
Brocken mit principiell verkehrten Naturrechts- oder
Vemunftrechts- Theorien, das man meist unter dem
Namen Rechtsphilosophie zu hören bekommt, kann nur
dazu beitragen, den Misskredit der Philosophie bei den
angehenden Praktikern zu steigern. In dem Studien-
gang der Mediciner hatte sich das Studium der Philo-
sophie schon vor längerer Zeit auf ein psychologisches
CoUeg reducirt, in welchem sie sich in der Regel schon
um des Zeitmangels willen mit den dürrsten und dürf-
tigsten Eintheilungen, Definitionen und Notizen begnü-
gen mussten, ohne auch nur einen Hauch philosophi-
schen Geistes durch ihre Seele wehen zu spüren.
Glücklicher Weise ist es immer mehr ausser Gebrauch
gekommen, dieses CoUeg zu hören, selbst dann, wenn
es ausnahmsweise noch beilegt wird, und nur die
Zöglinge des Friedrichs - Wilhelms - Instituts zu Berlin
142
seufzen noch unter dem Zwange, den Besuch eines be-
stimmten psychologischen CoUegs dienstlich kontrolirt
zu sehen. In der Staatsprüfung der Theologen ist man
so verständig gewesen, mit dem „Kulturexamen" auch
die Prüfung in der Philosophie wieder zu beseitigen;
der etwa 40 Seiten lange Auszug aus dem ohnehin
schon allzuknappen Schweglerschen „Grundriss der Ge-
schichte der Philosophie", welcher zum Zweck dieser
Prüfung mit Vorliebe gepaukt wurde, war geradezu
ein Hohn auf die Sache. Es ist deshalb als ein grosser
Fortschritt anzusehen, dass die Prüfung in der Philo-
sophie durch den Zwang zum Belegen eines philoso-
phischen Collegs ersetzt ist, und es bleibt nur der wei-
tere Schritt zu vollziehen, dass das Honorar dieses
Zwangscollegs als das anerkannt und ausgesprochen
wird, was es thatsächlich ausschliesslich ist, als eine
Erhöhung der Prüfungsgebühren, so dass den Profes-
soren die Unwahrheit des Besuchsattestes erspart wird.
Die Kandidaten der Lehrerstaatsprüfung haben heute
allein noch das wenig beneidenswerthe Vorrecht, in
Philosophie wirklich geprüft zu werden. Was in aller
Welt haben aber diese Philologen, Linguisten, Historiker,
Literarhistoriker, Mathematiker und Naturforscher von
Berufs wegen mit Philosophie zu schaffen, seitdem der
Unfug der philosophischen Propädeutik auf den Gym-
nasien in Wegfall gekommen ist? Wenn man aber
wirklich nur darauf sich stützen will, dass die Philoso-
phie zur höheren allgemeinen Bildung des Studirten
gehört, warum misst man dann die Juristen, Mediciner
und Theologen mit anderm Maasse als die Lehrer,
warum stellt man dann nicht entweder die Prüfung in
der Philosophie für alle Fakultäten wieder her, oder
wandelt nicht auch bei den Lehrern die Prüfung in
diesem Gegenstande in die blosse Verpflichtung um,
Testate über gehörte Collegien beizubringen? Das
— 143 —
Studium des Juristen und Theologen ist wahrlich nicht
ausgedehnter und zeitraubender als dasjenige des Philo-
logen, Linguisten, oder Mathematikers, so dass entweder
keinem von ihnen oder allen die Zeit bleibt, ihre allge-
meine Bildung durch Philosophie zu vervollständigen.
Wenn wirklich erst die Ablegung einer Staatsprüfung
in der Philosophie den Aichstempel der höheren aka-
demischen Bildung gewährt, so hätten ja die Lehrer
gegenwärtig die Ehre, die einzigen wahrhaft gebildeten
unter allen Akademikern zu sein!
Nun wird man mir aber schwerlich widersprechen,
wenn ich behaupte, dass jemand darum, weil er die
Staatsprüfung in Philosophie bestanden hat, ebenso-
wenig eine Ahnung von Philosophie zu haben braucht,
wie jemand, der sie nicht gemacht hat, und dass auch
der grösste Philosoph, wenn er sich nicht speciell auf
diese Prüfung vorbereitet hätte, ganz ebenso wie jeder
Dummkopf in derselben durchfallen würde. Ein Kan-
didat mit ernsten philosophischen Interessen, der bei-
spielsweise die Werke der drei grössten Philosophen
unsers Jahrhunderts, Schellings, Schopenhauers und
Hegels mit Fleiss und Verständniss ganz durchstudirt
hätte, würde ganz wenige Examinatoren finden, bei
denen ihm dieses Studium etwas nützte, aber sehr viele,
bei denen es ihn zu Falle bringen würde, wenn er seine
„bomirte Liebhaberei für derartige metaphysische Mytho-
logien" auch nur ganz leise durchschimmern Uesse. Die
wenigen Examinatoren in Deutschland, welche über-
haupt fähig wären, ihn über Schelling und Hegel zu
examiniren (denn Schopenhauer kommt ja nur als
Gegenstand der verächtlichen Widerlegung in Betracht),
kann er sich nicht aussuchen, sondern er muss darauf
gefasst sein, von demjenigen geprüft zu werden, der
grade an der Reihe ist. Im günstigsten Falle ist diess
ein Professor, der nichts fragt, als was aus den Diktat-
— 144 —
heften seiner Vorlesungen zu lernen ist; der Kandidat
hat dann gewöhnlich noch Zeit, diese Diktathefte sich
zu verschaffen und einzupauken, nachdem er den Namen
des Examniators erfahren hat. Im ungünstigen Falle
bleibt er auf Paukbücher wie Schwegler's Grundriss
angewiesen, und hat dann alle Mühe darauf zu verwen-
den, unter der Hand die Richtung und die Liebhabereien
des Examinators auszukundschaften, damit er sich ja
hütet, eine demselben missfällige Aeusserung zu thun,
was ihm bei den meisten mehr schaden würde als kund-
gegebene Wissenslücken. Da die Mehrzahl der heutigen
Universitätsprofessoren in dem Hass und der Verach-
tung gegen die Metaphysik einig ist, so hat er sich
vor allen Dingen davor zu hüten, irgend ein positives
philosophisches Interesse zu zeigen oder gar eine meta-
physische Ansicht zu äussern, da diess die Verkehrtheit
und Unfähigkeit seines philosophischen Urtheils schon
zur Genüge beweisen würde. Weiss er dagegen ein
kräftig Wörtlein gegen die Metaphysik an geeigneter
Stelle bescheidentlich einfliessen zu lassen, so hat er
damit schon einen guten Stein im Brett. Fragt man
ihn, mit welchem Philosophen er sich genauer befasst
habe, so nenne er ja keinen Metaphysiker, sondern wo
möglich einen der Engländer, welche gegen die Meta-
physik und für den gesunden Menschenverstand ge-
schrieben haben; diess ist schon deshalb empfehlens-
werth, weil deren Gedankenkreis so arm ist, dass er
leicht zu bewältigen ist. Will er aber einen Deutschen
nennen, so gehe er ja nicht über Kant hinaus, und
studire von dessen Werken nur die kritischen und ne-
gativ-dogmatischen, nicht etwa die positiven und mehr
spekulativen Partien.
Diese Regeln sind nicht von mir aufgestellt, son-
dern sie sind unter der studirenden Jugend ziemlich
allgemein bekannt, und werden von den Klügeren,
— 145 —
welche im Leben ihr Fortkommen zu finden wissen, sorg-
sam beobachtet. Was hiernach der Prüfungszwang einzig
und allein bewirken kann und bewirken muss, ist eine
Steigerung des ohnehin schon in der Zeitstromung liegen-
den Misskredits der Philosophie, insofern die Studirenden
genöthigt werden, solche CoUegien zu hören und solche
Philosophen zu lesen, welche gegen die Möglichkeit
und den Werth der eigentlichen Philosophie vom empi-
ristischen oder skeptischen Standpunkt aus ankämpfen.
Ausserdem aber werden die Studirenden, sei es direkt
durch das unfehlbare Absprechen und die zur Schau
getragene Verachtung von Seiten der gehörten Docen-
ten, sei es indirekt durch das private Nachsprechen
solcher Urtheile von Seiten der Hörer, ausdrücklich
davon abgehalten, sich eine philosophische Bildung da
anzueignen, wo sie allein zu gewinnen ist, nämlich bei
wirklichen Philosophen. Entweder haben die jungen Leute,
wie es bei qo — 95% der Fall ist, kein philosophisches
Bedürfniss, dann wird ihnen durch den Zwang, sich mit
einer Vorbereitung für die philosophische Prüfung herum-
zuplagen, die Philosophie, die ihnen bloss gleichgültig
war, erst recht verekelt ; oder aber sie haben ein philo-
sophisches Bedürfniss, dann würden sie ohne die Nöthi-
gung, sich zur philosophischen Staatsprüfung vorzube-
reiten, vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, auf irgend
eine Weise der wirklichen Philosophie näher getreten
sein, während ihnen jetzt die Beschäftigung mit der-
selben noch vor der Bekanntschaft verleidet und ihrem
philosophischen Bedürfniss statt des Brotes ein Stein
geboten wird. Dadurch lassen sich dann die meisten
noch rechtzeitig überzeugen, dass die Philosophie, die
sie kennen zu lernen künstlich verhindert worden sind,
denn doch nicht werth sei, studirt zu werden, und sie
können nun aus philosophischer Einsicht den Chor der
unphilosophischen Kameraden verstärken und führen.
Hartmann, Moderne Probleme. lO
— 146 —
der in allen Tonarten die Philosophie verspottet und
verhöhnt. Wenn doch noch ein Einzelner durch alle
diese kunstvollen Vorkehrungen und Einrichtungen zur
Verekelung der Philosophie sich hindurcharbeitet, so hat
er es wahrlich einem guten Stern zu danken.
Wenn man auch von der durchschnittlichen Be-
schaffenheit der heutigen Universitätsphilosophen ganz
absehen wollte, so bliebe der Zwang zum Hören ver-
einzelter philosophischer CoUegien doch immerhin wider-
sinnig. Entweder muss man mindestens vier Semester
hindurch ein CoUeg mit mindestens vier Wochenstunden
über Geschichte der Philosophie (wie z. B. Kuno Fischer
es hält) obligatorisch machen, oder man soll die Philo-
sophie vollständig der akademischen Freiheit überlassen,
welche sie grade mehr als irgend ein anderer Gegen-
stand durch ihr innerstes Wesen verlangt. Ein Semester
von drei bis vier Monaten ist viel zu kurz, um in einem
CoUeg von nicht mehr als vier Wochenstunden einem
Anfanger irgend etwas Philosophisches von nachhalti-
ger Wirkung bieten zu können; entweder beschränkt
man sich auf gemeinverständliche Trivialitäten, oder
man giebt etwas Positives und schreckt dann durch die
an die Aufmerksamkeit und das Verständniss gestellten
Anforderungen schon wieder die meisten ab. Am gründ-
lichsten ist diese Abschreckung, wenn mit dem CoUegium
logicum begonnen wird, dieser traurigen Ruine aristo-
telisch-mittelalterlicher Scholastik; dagegen pflegt sich
die Trivialität am behaglichsten in der „Psychologie"
zu ergehen.
Wären nur erst die Staatsprüfungen in der Philo-
sophie abgeschafft, so würden sich auch die Promotionen
in diesem Fache sehr vermindern, für deren Vorberei-
tung ähnliche Rücksichten zu beobachten sind, wie die
oben angeführten. Soweit die Promotionen zwecklose
Geldausgaben aus blosser Titelsucht sind, kann es nur
— 147 —
im allgemeinen Interesse (wenn auch nicht in dem-
jenigen der Fakultäten) liegen, wenn dieselben ausser
Uebung kommen und der Lehrer sich künftig ebenso
mit dem Titel „Oberlehrer" wie der Mediciner mit dem
Titel „Arzt" begnügt. Soweit aber die Promotionen
eine Vorbereitungsstufe zur akademischen Docenten-
laufbahn bilden, werden sie in der Philosophie Uim so
seltener werden müssen, je geringer der Bedarf an
philosophischen Docenten wird, vind da der jetzige Be-
darf wesentlich nur durch die philosophischen Staats-
prüfungen der Lehrer bedingt ist, so würde mit dem
Wegfall dieser letzteren auch die Zahl der Universitäts-
philosophen allmählich sehr zusammenschmelzen. In
demselben Maasse würde das Ansehn der Philosophie
in der studirenden Jugend und beim gebildeten Publi-
kum allmählich wieder steigen.
Sieht man von solchen Philosophen ab, welche erst
in Folge hervorragender philosophischer Leistungen eine
Universitäts-Professur erhielten (wie Hegel, F. A. Lange),
oder welche zwar Universitätsprofessoren aber nicht
eigentlich Philosophieprofessoren waren (wie Kant), oder
welche erst nachträglich während ihrer akademischen
Laufbahn von der Naturwissenschaft oder Medicin zur
Philosophie übergingen (wie Lotze, Wundt), so kann man
die Förderung der Philosophie durch Phüosophieprofes-
soren (wie Fichte und Schelling) als eine seltene Aus-
nahme betrachten. Zu allen Zeiten (vielleicht mit alleini-
ger Ausnahme der Wende des achtzehnten und neun-
zehnten Jahrhunderts) waren die Gesammtleistungen der
unzünftigen philosophischen Literatur einer Generation
denen der zünftigen bedeutend überlegen, ungefähr in
demselben Maasse wie es bei der Poesie der Fall sein
würde, wenn wir bei jeder Universität 2 — 6 officielle
„akademische Dichter" hätten. Indem aber zu jeder
Zeit die Universitätsphilosophie sich als die officielle
10*
— 148 —
und eigentliche Vertreterin der Philosophie ihrer Zeit
gerirt und die Bedeutung der zeitgenössischen unzünf-
tigen Philosophie zu ignoriren oder doch zu verkleinem
gesucht hat, hat sie zu jeder Zeit dem Ansehn der ge-
sammten Philosophie mehr geschadet als genützt. Diess
war schon damals der Fall, als sie noch wirkliche Philo-
sophie zum Inhalt hatte; um wie viel mehr muss es
heute der Fall sein, wo sie es zum grosseren Theile
nicht mehr ist, sondern mehr und mehr zur principiellen
„Antiphilosophie" heruntergekommen ist. Auch die
sorgfaltigste Auswahl unter den Docenten wäre ausser
Stande, alle gegenwärtigen deutschen Lehrstühle der
Philosophie mit geeigneten Persönlichkeiten zu besetzen;
deshalb ist aus der Besetzung der Mehrzahl derselben
mit ungeeigneten nicht einmal jemandem ein besonderer
Vorwurf zu machen.
Kein Fach bedarf aber auch weniger als die Philo-
sophie des mündlichen Unterrichts, weil keines weniger
dazu da ist, von unreifen Jünglingen ohne inneres Be-
dürfniss getrieben zu werden, und es in keinem Fache
leichter und zugleich unentbehrlicher ist, unmittelbar
aus den Quellen (d. h. aus dem überreichen Schatz der
philosophischen Klassiker) zu schöpfen. Kein P'eld be-
darf weniger als die Philosophie der staatlichen Pflege
und des behördlichen Schutzes, aber keines bedarf auch
dringender der vollen ungestörten Freiheit der Entwicke-
lung, zu welcher eben auf den Universitäten so lange
die Bedingungen fehlen, als kollegialische und politische
Rücksichten auf die zu einem Körper verkoppelte theo-
logische Fakultät unumgänglich sind. Wenn die Philo-
sophie in dem „Volke der Denker" so lange trotz aller
Verkümmerung durch eine unfreie Universitätsphiloso-
sophie und philosophische Staatsprüfungen und Zwangs-
coUegien gediehen ist, so wäre es ein völlig unbegrün-
deter Kleinmuth, zu fürchten, dass sie nicht mehr ge-
— 149 —
deihen könnte, wenn der Alp dieser Verkümmerung
von ihr genommen und sie der vollen Freiheit zurück-
gegeben wird. Je weniger deutschen Jünglingen durch
zwangsweise Quälerei mit einer unfreien imd mehr oder
minder unphilosophischen Philosophie der Geschmack
an der Philosophie verdorben wird, desto mehr werden
die abfalligen Urtheile gegen die Philosophie, welche
jetzt imter den Gebildeten der Nation das Gewöhnliche
sind, schwinden, und desto mehr Jünglinge werden dazu
gelangen, ihren philosophischen Wahrheitstrieb da zu
befriedigen, wo er allein die ihm angemessene und zu-
gleich nahrhafte Kost findet, bei den Grössten unter
<ien deutschen Philosophen.
Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass auch aus
der Lehrerprüfung über kurz oder lang die Philosophie
als Unterrichtsgegenstand ausscheiden wird, und dass
einmal aller staatliche Zwang zum Hören (oder Belegen)
philosophischer Vorlesungen aufhören wird; ob aber
dieser Zopf noch früh genug abgeschnitten werden wird,
und ob namentlich die Nachwirkungen dieses Fortschritts
früh genug eintreten werden, um das bereits angerich-
tete Unheil vor dem Eintritt einer völligen Verknöche-
rung unsrer Specialwissenschaften wieder gut zu machen,
das scheint mir höchst fraglich. Deshalb wende ich
mich an die studirende Jugend imd fordre sie auf, bis
^um Eintritt dieser Reform getrennte Buchführung zu
halten, d. h. die Befriedigung ihrer philosophischen Be-
dürfnisse niemals imd auf keine Weise mit der Vor-
bereitung zu den philosophischen Staatsprüfungen zu
vermengen, vielmehr die letzteren als die leeren For-
malitäten zu erledigen, zu denen sie längst herabgesunken
sind, daneben aber mit ausdauerndem Eifer imd stiller
Andacht heimlich vor den Examinatoren dem Studium
der edelsten Geistesblüthen der neueren philosophischen
Literatur obzuliegen imd sich an ihnen mit echt philo-
— I50 —
sophischem, echt modernem und echt deutschem Geiste
zu erfüllen.
vm.
Die üeberbürdung der Schuljugend.
Es dart als unbestreitbar gelten, dass heute von
den Schülern mehr häusliche Arbeiten verlangt werden
als vor einem Menschenalter, und dass trotzdem von
dem Durchschnitt der Schüler weniger geleistet wird,
so dass die Procentzahl der Nichtversetzten in jeder
Klasse beträchtlich gegen früher gewachsen ist. Die
statistische Ermittelung, ob die Jugend jetzt in durch-
schnittlich schlechterem Gesundheitszustand als vor einem
Menschenalter die Schule verlässt, ist unausführbar; aber
auch wenn dieses Resultat festzustellen wäre, könnte
man immer noch einwenden, dass es durch andere Ur-
sachen als die gestiegene Arbeitslast bedingt oder doch
mitbedingt sei. Wichtiger scheint mir die wachsende
Abneigung der Jugend gegen die Schule als Zeugtiiss
dafür, dass letztere mehr und mehr zu einer kraft-
erschöpfenden Drillanstalt geworden und mehr und mehr
ihren Beruf, zur geistigen Freudigkeit und Frische an-
zuregen, verfehlt. Nur der Begabte, der zugleich sich
kein Gewissen daraus macht, sich durchzuschwindeln^
kommt ohne leiblichen Schaden davon, nimmt aber da-
für die Gewöhnung an Umgehung der obliegenden
Pflichten als bedauerliche Mitgift ins Leben mit. Die
Verfügung des preussischen Unterrichtsministeriums vom
März 1882 drängt zwar auf Beschränkung der Unter-
richtsziele und namentlich des Memorirstoffs, aber bis
jetzt, wie es scheint, in der Hauptsache vergeblich. Es
dürfte deshalb nicht überflüssig sein, wenn Laien ihre
— 151 —
Stimmen erheben, um nicht bloss über die Thatsache
zu klagen, sondern auch auf die Ursachen und die Wege
zur Abhülfe hinzuweisen.
Die genannte Centralverfügxing weist auf die gegen-
wärtig in Aufnahme gekommene fachmässige Vorbildung
der Lehrer als auf eine Hauptquelle der gesteigerten
Ansprüche hin; aber es ist psychologisch unmöglich,
durch einfache Verfügungen Abhülfe zu schaffen, so
lange die Schulbehörden erklären, sich nicht auf den
Standpunkt stellen zu können, dass nur auf wenige
Unterrichtsgegenstände Werth gelegt wird, wie es der
Geh. Oberregienmgsrath Bonitz bei der Debatte über
den Cultusetat im preussischen Abgeordnetenhause ge-
than hat. Ich behaupte, dass nur Lateinisch und Grie-
chisch Hauptgegenstände in dem Sinne sind, dass eine
entschiedene Unreife in einem derselben ein Hindemiss
der Versetzung sein darf und muss. Dagegen ist es
ganz gleichgültig, ob ein Schüler der Quarta sicher im
elementaren Rechnen ist, oder ob ein Schüler der Tertia
Genügendes in der Geometrie leistet; wenn er mathe-
matische Anlage hat, so holt er das in den oberen
EUassen mit spielender Leichtigkeit ganz unvermerkt
durch den mathematischen Unterricht nach, und wenn
er solche nicht hat, wie thatsächlich etwa zwei Drittel
der Menschen sie nicht haben, so ist es eine unbillige
Härte, ihm wegen solchen Mangels seine Carriere zu
verderben und seinen Eltern schwere Opfer aufzuerlegen.
Was der mathematische Unterricht in den letzten drei
Jahren bei Unbefähigten überhaupt leisten kann, den
Hinweis auf die Strenge der mathematischen Beweis-
führung, das leistet er auch dann, wenn das Auswendig-
lernen dieser Beweise und die Fertigkeit im Aufgaben-
lösen unbefriedigend erscheint.
Ebenso verkehrt ist es, die deutsche Grammatik
in den unteren oder den deutschen Aufsatz in den
— 152 —
oberen Klassen zu einem für die Versetzung mass-
gebenden Hauptgegenstand aufzubauschen , während
letzterer bei der Abgangsprüfung allerdings als solcher
gelten muss. Der Mangel an deutscher Grammatik wird
später durch den Ueberfluss an lateinischer und griechi-
scher ausreichend ersetzt; die Entwickelung des Stils
aber tritt meist plötzlich und stoss weise bei Erlangung
einer gewissen Geistesreife ein, und die Unzulänglich-
keit des Stils in Secunda ist kein Hindemiss dafür, dass
der Betreffende in Prima den besten Aufsatz der Klasse
liefert. Das Französische kann auf dem Gymnasium
niemals eine besondere Wichtigkeit beanspruchen, theils
deshalb nicht, weil die ihm zugetheilte Stundenzahl that-
sächlich zu gering ist, um etwas Ordentliches darin ver-
langen zu können, theils deshalb nicht, weil es in keinem
Gegenstande leichter und gebotener ist, sich durch Lek-
türe, Conversationsstunden u. s. w. nach Abgang von
der Schule fortzubilden, als in diesem, also grade hier
die Mängel der Schulbildung am ehesten nachgeholt
und ausgeglichen werden können, wozu nach der Schul-
zeit weit eher Müsse zu finden ist als während dersel-
ben. Die Fächer, welche hauptsächlich das Gedächtniss
in Anspruch nehmen (Geschichte, Geographie, Natur-
kunde) verlangen am allerwenigsten den Fortbau auf
einem in den vorhergehenden Klassen gelegten Grunde;
man kann bei ihnen anfangen, wo man will, und hat
bis zur Abgangsprüfung doch alles in den unteren und
mittleren Klassen Gelernte wieder spurlos vergessen. Der
Physikunterricht der obersten Klassen endlich besitzt
seinen Werth lediglich in dem Hinweis auf den strengen
Causalzusammenhang der Naturprocesse und auf das
Wesen der experimentellen Induction; dieser Zweck muss
durch dieTheilnahme am Unterricht selbst erreicht werden,
und es kommt gar nicht darauf an, wie viel von dem
mitgetheilten Wissensstoff im Gedächtniss behalten wird.
— 153 —
Die Entlastung von Memorirstoff sollte vor allen Dingen
beim Religionsunterricht beginnen, insbesondere bei
demjenigen der bereits Confirmirten; nichts wird von
den christlichen Abiturienten als eine drückendere Härte
empfunden, als dass sie zu allen sonstigen Wieder-
holungen hinzu sich noch mit dem Auswendiglernen
von Katechismus und Kirchenliedern plagen müssen,
von dem ihre jüdischen Mitschüler befreit sind.
Man kann nicht von jedem Schüler verlangen, dass
er sich für alle Unterrichtsgegenstände gleichmässig in-
teressiren soll; jeder aber wird durch Anlage und Nei-
gung auf gewisse Nebenfacher hingewiesen sein, in
denen er schon durch die blosse Theilnahme am Unter-
richt gut beschlagen ist. Das gerade verleidet unserer
Jugend die Schule, dass ein gleiches Interesse für Alles
von ihr verlangt wird, wobei aber für das Meiste ein
bloss erzwungenes Interesse herauskommt. Wer in
Latein und Griechisch Befriedigendes leistet, der sollte
unbedenklich versetzt werden, wofern nur die Leistungen
in allen Nebenfächern sich zu einem befriedigenden Ge-
sammtergebniss compensiren, also ein Minus der einen
durch einen Plus der andern gedeckt wird; wer aber in
Latein, Griechisch, deutschem Aufsatz und Mathematik ge-
nügt, der müsste versetzt werden, auch wenn er in allen
anderen Nebenfächern nicht genügt, und das Urtheil über
die Fertigkeiten dürfte auch nicht den allergeringsten
Einfluss auf die Versetzung haben.
Nach ähnlichen Grundsätzen wurde in meiner Jugend
in den mir bekannten Schulen thatsächlich verfahren,
und die Endresultate waren bessere als heute, wo trotz
aller Erschwerung des Schulgangs und trotz der ver-
mehrten häuslichen Aufgaben die Leistungen in den
beiden Hauptgegenständen des Gymnasiums im Sinken
sind. Früher, wo der häusliche Fleiss sich in der Haupt-
sache auf Latein und Griechisch beschränkte, und Jeder
— 154 —
die seiner Neigung nicht entsprechenden Unterrichts-
stunden ungestraft zur Abspannung seiner Aufinerksam-
keit, d, h. zur Erholung und Kräftigung derselben für
die nächsten Stunden benutzen konnte, da wurde weit
mehr gelernt, als jetzt, wo die multa das multum un-
möglich machen, und die gesteigerte Intensität des Unter-
richts in allen Stunden ohne Ausnahme (theilweise in Ver-
bindung mit dem "Wegfall des Nachmittagsunterrichts)
die durchschnittliche Aufnahmefähigkeit der Schüler für
den gesammten Unterricht herabsetzt,
Dass es wirklich die Steigerung der Ansprüche in
den Nebenfächern ist, welche die Leistungsfähigkeit der
Schüler herabsetzt und sowohl direct wie indirect zu
einer das Uebel nur noch verschlimmernden Vermehrung
der häuslichen Arbeiten zwingt, das sieht man am besten
an einem Vergleich zwischen Gymnasium und Real-
schule; die letztere hat mehr Schulstunden und mehr
häusliche Arbeiten als das erstere, und trotzdem leistet
sie noch weniger als dieses, weil ihr in noch weit höhe-
rem (rrade die Concentration auf wenige Hauptfächer
fehlt, fragt man aber, wodurch die Schulbehörden zu
einer Steigerung ihrer Ansprüche in den Nebenfächern
der Gymnasien gegen früher gedrängt worden sind, und
wod\irch sie in dieser falschen Stellung festgehalten
werden, so ist es offenbar der Zug der Zeit nach Ver-
stärkung der Bildung in den Realwissenschaflen , d. h.
eine falsche Anticipation der realistischen Fachbildung
durch die Schule als allgemeine Bildungsanstalt, oder
mit anderen Worten eine fehlerhafte Concurrenz der
Gymnasien mit dem Lehrziel der Oberrealschulen und
Realgymnasien, welche eben als verschiedene Grrade der
Verquickung von allgemeinen Bildungsschulen mit Fach-
schulen zu charakterisiren sind. Die Schulbehörden haben
nur den Fehler begangen, dem Andrängen nach ver-
mehrter Berücksichtigung der Realwissenschaften aut
— 155 —
den Gymnasien zu sehr nachzugeben, und zwar nicht so-
wohl in Vermehrung der Stundenzahl, als vielmehr in
Steigerung der Anforderungen an die Schüler. Die sich
jetzt am lautesten über die Ueberbürdung beklagen,
sind gerade diejenigen, welche die Regierung in die
falsche Position gedrängt haben und auf diesem Wege
immer weiter drängen mochten; gelänge es dieser Rich-
tung, die alten Sprachen im Gymnasium zu Gunsten der
Realwissenschaften noch erheblich zu beschränken, d. h.
das Gymnasium der Realschule ähnlicher zu machen, so
würde damit die Ueberbürdung der Gymnasialjugend
noch über die der jetzigen Realjugend hinauswachsen,
weil die alten Sprachen doch immer Hauptgegenstände
würden bleiben müssen, während sie schon auf dem
jetzigen Realgjonnasium in den oberen Klassen nur noch
ein Nebenfach darstellen.
So lange die öffentliche Meinung diesen letzten
Grund der Ueberbürdung nicht erkennt und ihren Ein-
fluss auf die Schulbehörden nicht in umgekehrter Rich-
tung wie bisher geltend macht, so lange werden alle
Palliativmittel sich als wirkungslos erweisen; erst wenn
die Schulbehörden ihr Aufsichtspersonal dahin instruiren,
bei den Versetzungs- und Abgangsprüfungen nur den
Hauptgegenständen Wichtigkeit beizumessen, bei den
Nebenfächern aber der Individualität der Schüler volle
Rechnung zu tragen, erst dann werden die Lehrer der
Nebenfächer aufhören können, sich der Versetzung eines
in ihrem Fache nicht genügenden Schülers zu wider-
setzen. Dann wird wieder mehr Freiheit für Lehrer und
Schüler imd mit ihr mehr Freudigkeit und Liebe zur
Arbeit in die Schule ihren Einzug halten, die jetzt durch
den Anspruch, das Klassenziel von allen zu versetsen-
den Schülern erreicht zu sehen, mehr imd mehr einer
mechanischen Drillthätigkeit gewichen ist. Es wird sehr
wohl möglich sein, die Klassenziele in den Nebenfächern
- 156 -
sogar auf der Höhe zu erhalten, auf welche sie durch
die fachmässig gebildeten Lehrer hinaufgeschraubt sind,
sobald man nur darauf verzichtet, alle Schüler dieses
Ziel erreichen zu sehen. Dann werden die Schüler aller-
dings nicht mehr mit so einförmig gleichmässiger Bil-
dung wie jetzt die Schule verlassen, sondern der eine
mehr in diesen, der andere mehr in jenen Fächern ge-
bildet, alle aber mit einem gegen jetzt erhöhten geistigen
Niveau und mit unzerstörter Geistesfrische und Lern-
freudigkeit. —
Unter solchen Voraussetzungen allein wird es auch
möglich sein, die häuslichen Arbeiten auf das zu be-
schränken, worüber sie aus idealem Gesichtspunkt nicht
hinausgreifen sollten: auf Vorbereitung und Wiederho-
lung. Man hat sich zwar gegenwärtig allgemein daran
gewöhnt, die häuslichen Arbeiten als eine unentbehr-
liche Ergänzung des Schulunterrichts anzusehen, aber
ich halte diesen Gesichtspunkt für entschieden falsch,
und meine, dass dessen Falschheit Jedem ohne Weiteres
einleuchten müsste, wenn nicht die Gewöhnung an das
Gegentheil als an den normalen Zustand die Unbefangen-
heit des Urtheils aufhöbe. Die Schule ist dazu da, um
der Jugend die nöthige allgemeine Bildung einzupflanzen,
und wenn sie sich dazu unfähig erklärt ohne Zuhülfe-
nahme des Hauses, so beweist sie damit nur, dass ent-
weder in ihrer Organisation ein Fehler steckt, oder dass
die Lehrer die ihnen obliegende Aufgabe theilweise auf
das Haus abzuwälzen bequemer finden.
Zehn Stunden Handarbeit findet man heute bereits
zuviel und steuert auf den achtstündigen Normalarbeits-
tag fiir alle Arbeiter hin; sollte da nicht achtstündige
Arbeitszeit fiir die Kopfarbeit Erwachsener erst recht
als unüberschreitbares Maximum gelten, und sollten nicht
drei Viertel dieses Quantums die allerhöchste, aus hygie-
nischen Rücksichten an jugendliche, unreife Gehirne
— 157 —
zu stellende Zumuthung sein? Dieses Maximum wird
aber mit 34 — 38 Wochenstunden (in Gymnasien und
Realgymnasien) thatsächlich erreicht und die hinzu-
tretende Inanspruchnahme für häusliche Arbeiten ist
eine auf keine Weise zu rechtfertigende Ueberanspan-
nung. Es hat weit schädlichere Folgen, wenn man bei
geistiger, als wenn man bei körperlicher Arbeit die ge-
.sundheitHch zulässige Grenze überscheitet; während aber
der Staat den jugendlichen Fabrikarbeitern durch ge-
setzliche Beschränkungen der Arbeitszeit ohne Rück-
sicht auf die dadurch herbeigeführte Verringerung des
Familieneinkommens seine Fürsorge widmet, stützt er
sich darauf, dass Schulmännerconferenzen eine 3 — 3V2
stündige häusliche Arbeitszeit neben 36 wöchentlichen
Schulstunden für keine Ueberbürdung der reiferen Ju-
gend erklären, anstatt darin den Wahrspruch einer bei
der Angelegenheit dringlichst interessirten Partei zu
erblicken. Die Schulmänner haben ohne Zweifel das
Interesse, die Arbeitsleistung der Schule, d. h. ihre
eigene Arbeitsleistung durch Mitanspannung des Hauses
zu erleichtem, das Haus aber hat um so mehr Grund,
diesem Uebergriff zu wehren, als derselbe ebenso un-
pädagogisch wie gesundheitswidrig ist, und wenn die
fehlerhafte Organisation der Schule, die Unfähigkeit zur
selbstständigen Erfüllung ihrer Aufgabe, bis zu einem
gewissen Grade als Entschuldigungsgrund für diesen
Uebergriff gelten kann, so liegt darin eine um so stär-
kere Aufforderung, an diese fehlerhafte Organisation die
bessernde Hand zu legen.
Die häuslichen Arbeiten sind unpädagogisch. Mit
diesem Satze bin ich sicher, den allgemeinen Wider-
spruch hervorzurufen, weil die Schulmänner das Publi-
kum seit Generationen an die entgegengesetzte Ansicht
zu gewöhnen gewusst haben. Als Grund wird angeführt,
dass durch die häuslichen Arbeiten die Jugend zu
- 158 -
selbstständigem Arbeiten angeleitet werde. Unter
,,selbstständigem Arbeiten" kann man zweierlei verstehen :
erstens das Studium selbstgewählter Wissenszweige und
die Bearbeitung selbstgewählter Aufgaben, und zweitens
die zwangsweise Losung gestellter Aufgaben ohne Ge-
dankentausch und erleichternden Verkehr mit dritten
Personen. Der erste Zweck stellt eine Ausnahme dar,
denn er passt bekanntlich nicht für die Schule im Ganzen,
sondern nur für die reifste Stufe der Schuljugend, und
für diese halte auch ich die Privatlectüre und die frei-
willigen Arbeiten für höchst wünschenswerth. Aber bei
der jetzigen Erschöpfung der Schüler hören die soge-
nannten freiwilligen Arbeiten entweder ganz auf, oder
sie werden selbst wieder zu unfreiwilligen häuslichen
Arbeiten mit einem gewissen Spielraum in der Wahl
der Gegenstände; in beiden FäUen geht ihr pädago-
gischer Werth als Gewöhnungsmittel an Spontaneität
der Arbeit verloren. Nur besonders begabte und zugleich
intensiv strebsame Köpfe können trotz der Ueberbür-
dung die Kraft und Frische behalten, mit Privatstudien
ihren persönlichen Neigungen zu folgen; bei der Mehr-
zahl aller Schüler bewirkt das heutige System der häus-
lichen Arbeit erfahrungsmässig nicht die Lust zu selbst-
ständigen Arbeiten, sondern bloss den Ekel vor aller
Geistesarbeit, einen so gründlichen und dauerhaften
Ekel, dass er nach der Erholung der ersten Studien-
semester beim Biere nur noch durch den Zwang des
Brotstudiums überwunden zu werden pflegt. Der Erfolg
spricht also entschieden gegen die pädagogisch richtige
Wahl des Mittels zum Zweck; die Unzweckmässigkeit
desselben ist aber auch deductiv zu erweisen.
Der eigentliche, regelmässige und allgemeine Zweck
der häuslichen Arbeiten im gewöhnlichen Sinne des
Worts kann nur der zweitgenannte sein: die zwangs-
weise Lösung gestellter Aufgaben ohne Gedankentausch
— 159 —
und erleichternden Verkehr mit dritten Personen. Dass
dieser Zweck durch Clausurarbeiten in der Schule wirk-
lich erreicht werden kann und thatsächlich erreicht wird,
ist zweifellos; dass er nur durch häusliche Arbeiten er-
reicht werden könne, ist also völlig unhaltbar, vielmehr
sind solche für diesen Zweck ganz überflüssig, wofern
nur die Schule einen genügenden Theil ihrer Zeit auf
Clausurarbeiten verwendet. Dass aber dieser Zweck
überhaupt durch häusliche Arbeiten erreicht werden
könne, ist von zwei Voraussetzungen, die beide bei der
Mehrzahl der Schüler offenbare Fictionen sind, abhängig:
erstens dass die Arbeiten wirklich zu Hause gefertigt,
und zweitens dass sie ohne Hülfe dritter Personen und
ohne unerlaubte Hülfsmittel gefertigt werden.
Bekanntlich wird ein Theil der weniger contrölirten
Arbeiten gar nicht, ein anderer Theil in der Schule
(theils in Zwischenstunden, theils in weniger scharf con-
trölirten Schulstunden), ein dritter Theil mit fremder
Hülfe, ein vierter vermittelst unerlaubter Hülfsmittel (äl-
teren Klassenheften, gedruckten Uebersetzungen u. s. w.)
gemacht; in allen diesen Fällen wird der Zweck der
häuslichen Arbeiten, und zwar nicht nur der pädago-
gische, sondern auch der Lehrzweck verfehlt, und an
seine Stelle tritt die unpädagogische Gewöhnung der
Schüler an Unredlichkeit, Täuschung, Schwindeleien und
Umgehung der obliegenden Pflichten. Je mehr der Un-
terricht den Charakter schablonenhafter Dressur an-
nimmt, desto leichter sind die älteren Klassenhefte zu
missbrauchen; je besser und billiger die sogenannten
Eselsbrücken werden, desto nutzloser werden die Prä-
parationen, da die allein werthvoUe Uebung im selbst-
ständigen Construiren der Sätze dabei wegfallt. Je höher
die Anforderimgen der Schule an die häuslichen Arbeits-
leistimgen in allen Fächern gespannt werden, desto
stärker wird der Anreiz, aus naturgemässem Selbst-
— 1 6o —
erhaltungstriebe oder aus berechtigter Nothwehr gegen
die Ueberbürdung solche sich darbietende Erleichte-
rungsmittel zu brauchen, desto mehr wirkt die Schule
als directe Verführerin auch der gewissenhafteren Schüler
zum Betrug, desto tiefer sinken naturgemäss die durch-
schnittlichen Klassenleistungen, weil das Unterrichts-
system auf Voraussetzungen basirt, die nicht erfüllt
werden. Was aber die persönliche Selbstständigkeit der
Schüler bei der Anfertigung häuslicher Arbeiten betrifft,
so ist dieselbe schon da aufgehoben, wo mehrere Schüler
sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen; sie wird in ihr
striktes Gegentheil verwandelt, wo die Schule, wie es
oft genug vorkommt, bei Schülern von nicht besonderer
Fassungskraft geradezu auf die unterstützende Mitwirkung
des Hauses rechnet. Am widersinnigsten sind die häus-
lichen Arbeiten in der Mathematik, da sie erfahrungs-
mässig doch nur von ganz Wenigen selbstständig gelöst,
von den Uebrigen aber bloss abgeschrieben oder mit
fremder Hülfe gefertigt werden.
Der begabte Schüler, der in den Schulstunden allein
genug lernt zur Erreichung des Klassenziels, ist sach-
lich im Rechte, wenn er die für ihn überflüssige Plage
der häuslichen Arbeiten geschickt umgeht; der unbe-
gabte gewissenhafte wird unter ihrer Last erdrückt und
verfehlt entweder das Ziel der Schule oder kommt ge-
brochen an Geist und Körper aus ihr hervor; der un-
begabte gewissenlose wird zum Schwindel verleitet und
verfehlt das Ziel, weil es von seinesgleichen ohne ge-
wissenhafte Erfüllung aller Anforderungen nicht zu er-
reichen ist; die mittleren Köpfe schlagen sich zur Noth
durch, verlassen aber endlich mit gerechtem Groll, mit
Ueberdruss und Bitterkeit die Schule. Die Lehrer wer-
den durch die Controle der Unredlichkeit in einen be-
ständigen Krieg mit den Schülern hineingedrängt, an
dessen Stelle bei dem Mangel häuslicher Arbeiten so-
— i6i —
fort die wohlthuendste Eintracht träte; auch werden sie
durch Beurtheilung der Schüler nach dem häuslichen
Fleiss in eine falsche Richtung hin, und von der allein
massgebenden Beurtheilung nach den Leistungen ab-
gelenkt.
Angenommen, es wäre von den jetzigen Schulstun-
den keine einzige disponibel zu machen, um die An-
fertigung der deutschen und fremdsprachlichen Aufsätze
imd mathematischen Arbeiten aus dem Hause in die
Schule zu verlegen, so wäre es immer noch besser, einen
Nachmittag in jeder Woche mit zwei Stunden zur An-
fertigung dieser Arbeiten unter Clausur anzusetzen, als
den jetzigen unpädagogischen Standpunkt zu belassen;
ebenso müsste ein grösserer Theil der Leetürestunden
zu cursorischer Leetüre ohne Präparation verwandt wer-
den um den Schaden der jetzt allgemein üblichen Prä-
paration mit Uebersetzung einigermassen wieder gut zu
machen. Erst mit der Verlegung der Aufsätze und
mathematischen Aufgaben unter Schulaufsicht würde
die Beurtheilung derselben zu dem, was sie doch sein
soll, zu einem Massstabe für die Leistungen des Schülers,
und erst mit ihr würde der bei der häuslichen Anfer-
tigung verfehlte pädagogische Zweck der Gewohnung
an selbstständiges Arbeiten wirklich erreicht werden.
Jedenfalls darf der jetzige Zustand nicht länger fort-
bestehn: entweder muss die Zahl der Schulstimden be-
trächtlich verringert werden, oder die Schule muss in
der Hauptsache ohne Zuhülfenahme der häuslichen Ar-
beiten ihre Aufgabe erfüllen, und es ist nicht schwer zu
sehen, welches dieser beiden Ziele mehr Aussichten fiir
praktische Verwirklichung bietet. Aber die durchaus
gebotene Entlastung der Schüler, mag man sie mm an-
streben auf welchem der beiden Wege man wolle, setzt
immer als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus, dass die
Nebenfächer wieder wie früher wirklich als Neben
Hartmann, Moderne Probleme. II
— 102 —
facher behandelt werden und aufhören, für die Ver-
setzungs- oder Abgangs -Reife einen mitbestimmenden
Einfluss zu besitzen.
IX.
Die preussisohe Schulreform von 1882.
Durch die CircularverfQgung des preussischen Unter-
richtsministeriums vom 31. März 1882 (Berlin bei W.
Hertz), welche das Ergebniss langjähriger behördlicher
Erwägungen und Conferenzen darstellt, dürfte für längere
Zeit in unseren höherem Schulwesen ein stabiler Zustand
geschaffen sein, der erst nach Einsammlung langjähriger
weiterer Erfahrungen die Hoffnung auf weitergehende
Reformen offen lässt. Es liegt mir deshalb nahe, dass
bisher Erreichte mit den Forderungen zu vergleichen,
welche ich im Jahre 1875 in meiner Schrift: „Zur Re-
form des höheren Schulwesens" aufgestellt und begründet
hatte.
Ich hatte dort eine massige Aenderung des Gym-
nasiallehrplans zu Gunsten der Realwissenschaften tmd
des Französischen verlangt, ferner eine officielle Aner-
kennung des Werthes der lateinlosen Realschulen mit
neunjährigem Cursus, die ich nicht als höhere allgemeine
Bildungsanstalten sondern als Mittelschulen (höhere
Bürgerschulen) mit angehängter Fachschule von dreijäh-
riger Lehrdauer betrachte, und hatte endlich gewünscht,
dass die vorhandenen Realschulen mit Latein entweder
in reorganisirte Gymnasien oder in lateinlose Realschxüen
umgewandelt würden. Diese Wünsche sind durch die
fragliche Ministerialverfugung, wo nicht erfüllt, doch
ihrer Erfüllung näher geruckt. Wie die Unterrichtsord-
- 163 -
nung von 1859 zum ersten Male die Realschulen mit
Latein officiell recipirte und einen Normallehrplan für
dieselben aufstellte, so sind jetzt die lateinlosen Real-
schulen mit neunjähriger Lehrdauer officiell recipirt und
mit einem Normallehrplan ausgestattet worden ; im Gym-
nasiallehrplan ist eine ausreichende Verstärkung der
Realwissenschaften und eine allerdings nicht ausreichende
des Französischen auf Kosten des Lateinischen an-
geordnet, und in dem bisherigen Realschullehrplan ist
durch Verstärkung des Lateinischen auf Kosten der
Naturwissenschaften wenigstens eine Annäherung an das
Gymnasium erzielt worden. Die Verfügung unterscheidet
nunmehr folgende Arten von Schulen; Gymnasien, Real-
gymnasien (früher Realschulen erster Ordnung), Ober-
realschulen (früher neunklassige Gewerbe- und Handels-
schulen), Progymnasien, Realprogymnasien, Realschulen
(eigentlich Oberprorealschulen), alle drei mit siebenjäh-
riger Lehrdauer, imd endlich höhere Bürgerschulen, d. h.
sechsklassige Schulen ohne Latein mit Französisch und
Englisch, deren Lehrplan sich von demjenigen der „Real-
schulen" fast nur durch das Fehlen der obersten Klasse
unterscheidet, die aber eine in sich abgeschlossene Bil-
dung geben sollen. Betrachtet man die „Oberrealschulen"
als mittlere Schulen mit aufgesetzter dreiklassiger Fach-
schule, so fällt der innere Unterschied zwischen Ober-
realschulen, Realschulen und höheren Bürgerschulen fort
und es bleibt nur die äussere Differenz in der Lehrdauer
bestehen.
Wenn schon in Bezug auf die Recipirung der „Ober-
realschule" und in Bezug auf die gegenseitige Annähe-
rung des Gymnctsiums und „Realgymnasiums" die neueste
Verfügung als ein wichtiger Fortschritt in der Entwicke-
lung unseres Unterrichtswesens angesehen werden darf,
so kann man auch den Geist, in welchem die beige-
gebenen Erläuterungen abgefasst sind, nur mit Freuden
II*
^ " *
^^/^^. r.j<trr.**rr.tty>.. irr» Mftmr^rrruxr. ^'*dmr^''<»tl. arrui vor
ir.'«'Ah;^r.-'V.h#*r f>!i>rth<«r,;>r.i^ d^r Scbller aa-ia dec A'jis-
m;^>s^if^, Ar»<;f,^,r.rM^njf fl^-x S^.hCIf^. cy^sonders ^zTrh. haus-
U/.K^! ArVA^nVm, •»r;r/'l nicht mit Unrecht grosäenrheilä auf
Hr»^. ^'^»Tr/'rr^pann-in^ d<f:rr I>rhrx>jle d#iT 5y:hiile zurücfc-
j/^'f' *hrt, *'U^; Züm^n^t au.% d^rr «ipecialistLschen Vorbildimg'
W<*^ nun /MUH/.h^i die Vfrrändfirrung^en im GjTnna-
«;j^il)'hrj/l;tn b^TtrJfft, ?»^7 hat df^m äusseren Anstoss zu den-
«;^lh<"n d^rr Wunv;h f^f'/^f^hf^, die Entschliessung der
Klf^rn lib^Tf fli^; I^iufbahn ihrfrr Sohne um ein Jahr hin-
Hfi<;/M«^rhi^Tb#mj d. h, dan flymnasium und die bisherige
k#'/il«uiiul#? ^rfftt^Tf C^dnun^ haben durch Verlegung des
l'***^irjriÄ dfiÄ j(rj#?chi.v:h^?n Unterrichts nach Tertia eine
imhtwM Ob*TdnÄtimnjfmd#; (Juarta erhalten, so dass die
WhIjI 'Aw\^i'.\um hfMfit) Schulen erst mit dem Eintritt in
(Um I t^riui (Tford^rrlich wird. Das Griechische würde da-
)uA nlrlilM vcrli^r^in, wonn in allen mittleren und oberen
Klnrtttrni ftiohpti Wo<!lHmHtunden statt der bisherigen sechs
ll)r (lMrtf*f^n)o iin^(*H(*X'At wären; es würde dann vielmehr
durch (Idtirnntrution dein Unterrichts und Vermehrung
dpf l.iM'tllrrHlundcni in Obcjrscicunda und Prima gerade-
zu ^nwlntifm. L(M(1(M' ist ubor die Zahl von sieben Stunden
nur Ulf Tnrlla und Sccunda angesetzt, während man es
\\\ \U'\\na \w\ MM'hs Stunden belassen hat, von denen
ninn nach \vi(* vor (trotz d(\s Wegfalls des griechischen
KxttitUMi.Mcrlptuuis) don Kxtcmporalien und der gram-
tUrtdmhfMi Kojunition gowiilmrt bleiben soll. In diesem
Puukto Ist {\\v VoriitnUM-ung unbedingt eine Verschlechte-
v\\\\}i;, rbtMtvSo wio \n kIvt Vormohrung des geographischen
ut\d Ko?<vhlohlllchon Unterrichts in den drei imtersten
KlrtvMHon utn jo oino Stunde.
Tobor rt\fulan^iiUi hkeit der gtH>graphischen und ge-
- i65 -
schichtlichen Bildung ist noch wenig Klage geführt, und
wo solche bestände, würde eine Vermehrung des Me-
morirstofFes in den untersten Klassen sich doch als er-
folglos erweisen, um auf sechs bis neun Jahr später das
Wissen des Abiturienten zu erhöhen. Dagegen kann
die formale Bildung des Geistes durch grammatische
Schulung in den Unterklassen nicht gründlich genug
genommen werden, und so lange die lateinische Sprache
diejenige ist, an deren Grammatik diese Schulung voll-
zogen wird, kann dem lateinischen Unterricht in den
Unterklassen kaum eine zu hohe Stundenzahl überwiesen
werden. Es wäre deshalb wünschenswerth, diese Aende-
rung rückgängig zu machen, d. h. dem Lateinischen die
zu Gunsten der Geographie und Biographien abgenom-
mene Wochenstunde zurückzugeben. Geschähe dies, so
würde auch das Lateinische gegen solchen Zuwachs von
drei Jahres -Wochenstunden in den Unterklassen ohne
Nachtheil einen Verlust von zwei Jahres- Wochenstunden
in Prima ertragen können, mit denen das Griechische
auf seinen bisherigen Stand zu ergänzen wäre.
Für den französischen Unterricht hatte ich von
Quarta bis Prima die Erhöhung der Wochenstunden
von zwei auf drei verlangt; statt dessen ist nur in Quarta
die Erhöhung von zwei auf fünf erfolgt. Nimmt man
an, dass letztere einer Vermehrung in Quarta und Tertia
von zwei auf drei gleichkommt, so bliebe noch solche
in Secunda und Prima zu wünschen übrig, und zwar zu
Gunsten einer Ersetzung des lateinischen Aufsatzes durch
den französischen. Die „Circularverfügung" gibt zu, dass
es gegenwärtig ein unerreichbares Ziel wäre, den latei-
nischen Aufsatz zum Ausdruck für die Gedanken der
Schüler machen zu wollen, und beschränkt denselben
auf den durch die Leetüre zugeführten Gedankenkreis
und Wortschatz (S. 20). Aber auch innerhalb dieser
Beschränkung wird die auf den lateinischen Aufsatz ver-
~ i66 --
wendete Zeit und Mühe nur noch bei einer mehr als
mittleren Lehrkraft fruchtbar zu machen sein, während
die gleiche Zeit und Mühe, auf den französischen Auf-
satz verwendet, viel reichere Früchte tragen muss. Das
Mindeste, was als Postulat festgehalten werden muss,
ist das, dass den Gymnasien je nach den ihnen zur Ver-
fügung stehenden Lehrkräften freigestellt wird, entweder
den lateinischen, oder den französischen Aufsatz zu pflegen,
und im letzteren Falle in Secunda und Prima eine la-
teinische Wochenstunde an das Französische abzugeben.
Die Verstärkung des mathematischen Unterrichts
ist in genügender Weise erfolgt. In Secunda und Prima
sind ihm vier Stunden wöchentlich gesichert, und wenn
die Stundenzahl in Tertia bei drei belassen ist, so ist
zum Ersatz dafür in Quinta und Quarta je eine Wochen-
stunde mehr angesetzt. Da nunmehr der geometrische
Unterricht schon in Quarta beginnt, und in Quinta durch
geometrisches Zeichnen vorbereitet wird, so kann der-
selbe in Tertia und Untersecunda entsprechend be-
schränkt, und dadurch die nöthige Zeit fiir gründlichere
Durcharbeitung der arithmetischen und algebraischen
Klassenpensa gewonnen werden (S. 24 — 25). Dass die
Stunde für geometrisches Zeichnen in Quinta durch
Verminderung der Religionsstunden von drei auf zwei
gewonnen worden ist, kann nur gebilligt werden, da
zwei wöchentliche Religionsstunden in allen Klassen der
höheren Schulen ausreichend genannt werden müssen.
Der naturwissenschaftliche Unterricht litt bisher
darunter, dass ihm in Secunda nur eine Stunde zuge-
wiesen war, und es war deshalb gerechtfertigt, ihm die
zweite Stimde auf Kosten des Lateinischen zuzutheilen.
Die Naturkunde, deren Unterricht bisher in Quarta eine
Unterbrechung erlitt, in dieser Klasse ebenfalls mit zwei
Stunden auszustatten, dazu lag eigentlich kein Bedürf-
niss vor; man hat indessen einer starken Zeitströmung
— 167 —
Rechnung getragen, indem man von den sechs durch
Wegfall des Griechischen verfügbar werdenden Stunden
zwei der Naturkunde zuwies (wie drei dem Französi-
schen und eine der Geometrie).
Im Grrossen und Ganzen verfolgt die neueste Reform
des Gymnasiallehrplanes den rechten Weg, wenngleich
die Beeinträchtigung des Grriechischen — mag sie an
sich unerheblich scheinen — sehr zu bedauern bleibt
und früher oder später wieder gut gemacht werden
muss. Das wichtigste Merkmal der Reform ist, dass das
Gymnasium wieder um einen Schritt weiter geführt ist
in der Abstreifung des Charakters als „lateinische Schule" ;
die Einbusse von neun Jahres- Wochenstunden wird die
Leistungen im Lateinisch -Schreiben nothwendig immer
mehr herabsetzen, so dass in etwa einem Jahrzehnt die
Unhaltbarkeit des lateinischen Aufsatzes immer einleuch-
tender werden muss. Dann wird auch die Zeit gekom-
men sein, denselben durch den französischen Aufsatz
zu ersetzen, und das Griechische wieder in seine unge-
schmälerten Rechte einzusetzen.
Gehen wir nun zu dem Lehrplan des „Realgymna-
siums" über, so fällt zunächst in die Augen, dass in
demselben das Lateinische zehn Jahres- Wochenstimden
gewonnen hat, wie es im Gymnasiallehrplan deren neun
verloren hat. Die Differenz der lateinischen Jahres-
Wochenstunden zwischen Gymnasium und „Realgym-
nasium", welche bisher 42 betrug, und gegenwärtig auf
2^. verringert ist, würde auf 18 sinken, wenn für die
drei untersten Klassen völlige Uebereinstimmung durch
Uebertragung des G3rmnasiallehrplans auf die „Real-
gymnasien" hergestellt würde; wanmi diese Conformität
nicht schon hergestellt ist, obwohl die Versetzung der
Schüler aus der einen Art von Anstalt in die gleichen
Klassen der anderen stattfinden soll, ist mir unerfind«
lieh. Ebenso wunderlich erscheint die Differenz im Ge-
— i68 —
Schichtsunterricht, wonach das G3minasium von den vier
obersten Jahrescursen zwei, das Realgymnasium deren
nur einen der alten Geschichte widmet; das sieht so aus,
als sollte die Geschichte des Alterthums nicht zu den
„Realwissenschaften" gerechnet werden. Die gegen-
wärtige Zahl lateinischer Stunden, nämlich sechs in
Tertia und fünf in Secunda und Prima, dürfte in der
That ausreichen, um auf Grrund hinlänglicher gramma-
tischer Schulung eine fruchtbare Leetüre lateinischer
Klassiker zu ermöglichen; da aber die einseitige latei-
nische Leetüre ohne Ergänzung durch die griechische
nicht ausreicht, dem Geiste eine klassisch hiunanistische
Bildung zu gewähren (wie die griechische Leetüre allein
es allerdings vermöchte), so kann auch der revidirte
Lehrplan der Realschule erster Ordnung die Verleihung
des Namens „Realgymnasium" keineswegs rechtfertigen.
Jedenfalls ist anzuerkennen, dass auch diese Reform mit
ihrer Verstärkung des altsprachlichen Unterrichts bei
gleichzeitiger Ausscheidung der organischen Chemie und
Beschränkung der Mineralogie und der Mathematik (in
Quarta und Tertia) sich auf dem rechten Wege befin-
det und als vorläufige Abschlagszahlung, als Verwirk-
lichung des augenblicklich Erreichbaren mit Dank hin-
zunehmen ist. Zu bedauern bleibt neben der Ungleich-
mässigkeit des Lehrplans in den drei untersten Klassen
der Uebelstand, dass die „Realgymnasiasten" noch
immer mit zwei Wochenstunden mehr belastet sind als
die Gymnasiasten, was jedenfalls einer späteren Ab-
stellung bedarf, da die Gesammtleistungen der Real-
gymnasien keinesfalls eine stärkere Inanspruchnahme
des Schülers rechtfertigen.
So lange zwischen reformirtem Gymnasium und
Oberrealschule noch als dritte Gattung das „Realgym-
nasium" besteht, so lange wird auch das Streben der
Realgymnasien dauern, die an ihre Abgangsprüfung ge-
knüpften Berechtigungen zu erweitem. Ohne das Ge-
wicht der einer solchen Erweiterung entgegenstehenden
Bedenken zu unterschätzen, wird man doch auch die
Naturgemässheit eines solchen Strebens anerkennen, und
wird unter Beibehalt der bisherigen Bestimmungen den
Realabiturienten wenigstens für den nachträglichen Er-
werb der an die Gymnasialabgangsprüfung geknüpften
Berechtigungen die möglichsten Erleichterungen gönnen.
Bis jetzt muss in solchem Falle eine Nachpriiftmg im
Lateinischen, Griechischen und in der alten Geschichte
abgelegt werden; es wäre nicht mehr als billig, die
gegenwärtig sehr verringerten Mehrleistungen des Gym-
nasiums im Lateinischen durch die des Realgymnasiums
im Französischen und Englischen als compensirt anzu-
sehen, ebenso die Nachprüfung in der alten Geschichte
fallen zu lassen und ausschliesslich diejenige im Grie-
chischen aufrecht zu erhalten. Uebrigens steht zu hoffen,
dass nach der jetzt erfolgten Reform der Gymnasien
mehr und mehr Eltern die Ueberlegenheit der Gym-
nasien über die „Realgymnasien" erkennen werden, so
dass die letzteren nach und nach durch abnehmende
Frequenz zur Umwandlung in wirkliche Gymnasien
(oder aber in Oberrealschulen) hingedrängt werden. Ein
günstiges Vorzeichen für eine in dieser Richtung allge-
mein bevorstehende Entwickelung bildet die i. J. 1883
veröffentlichte Unterrichtsordnung in Elass- Lothringen,
welche nur lateinlose Realschulen zulässt. Fehlerhaft er-
scheint an dieser Verordnung nur das eine, dass bloss
siebenklassige Realschulen zugelassen sind und die neun-
klassige lateinlose Oberrealschule gänzlich fehlt; doch
ist dieser Mangel für den Fall eintretenden Bedürfnisses
einfach dadurch zu beseitigen, dass man eine bestehende
Realschule durch Anfügung einer zweijährigen Ober-
klasse zur Oberrealschule erhebt.
— lyo —
Der Bücher Noth.
Der wichtigste Factor für die Steigerung der wissen-
schaftlichen Bildung ist die wissenschaftliche Literatur,
wie der wichtigste Factor für ihre Erhaltung der wissen-
schaftliche Unterricht (auf höheren und Hochschulen) ist.
Seine hervorragende Stellung im wissenschaftlichen Wett-
kampf der Völker verdankt Deutschland neben der Tüch-
tigkeit seiner Schulen und Hochschulen wesentlich dem
Umfang und der Bedeutung seiner wissenschaftlichen
Literatur. Weil die jährliche Bücherproduction Deutsch-
lands grösser ist als diejenige von Frankreich und Eng-
land zusammengenommen, darum kann auch jährlich eine
grössere Zahl hervorragender Erscheinungen auf dem
deutschen Büchermarkt gefunden werden als auf dem
französischen oder englischen, während die übrigen
Nationen als Concurrenten auf dem Gebiete der Wissen-
schaft noch wenig in Betracht kommen.
In neuerer Zeit treten Erscheinungen hervor, welche
die gedeihliche Fortentwickelung der wissenschaftlichen
Literatur in Deutschland in Frage stellen; und diese
Gefahr ist wichtig genug, um ihren Ursachen und ihrer
Bekämpfung einige Aufmerksamkeit zu widmen. Der
Absatz auch der wirklich werthvoUen wissenschaftlichen
Bücher, die nicht grade Unterrichtsbücher oder billige
Popularisirungen sind, wird immer geringer, so dass er
oft kaum ein Drittel der Kosten deckt, und in Folge
dessen wird für die Autoren die Schwierigkeit, einen Ver-
leger zu finden, immer grösser. In England und Frank-
reich ist das Publikum mit literarischen Interessen durch-
schnittlich auch wohlhabend genug, dieselben durch
Bücherkauf zu befriedigen; in Deutschland, welches
überhaupt an Wohlhabenheit sehr zurücksteht, sind
— 171 —
Wohlhabenheit und wissenschaftliche literarische Inter-
essen an ganz verschiedene Stände vertheilt. Aber dieser
Unterschied der nationalen Kaufkraft und der Kaufkraft
der wissenschaftlich interessirt en Stände zwischen Deutsch-
land und andern Ländern hat immer bestanden und doch
früher nicht eine gewisse Blüthe der wissenschaftlichen
Literatur verhindert, während jetzt bei steigender Wohl-
habenheit des Volkes die Neigung zum Ankauf wissen-
schaftlicher Werke und belletristischer Novitäten im
Publikum immer mehr zurückgeht. Die Verleger können
nicht anders, als diesen Verhältnissen bei ibren Unter-
nehmungen Rechnung tragen, und die Schriftsteller
haben durchaus Unrecht, wenn sie über die Verleger
klagen, die doch eben nur Geschäftsleute sind.
Ich sehe die Gründe für die Abwehr des Ankaufs
wissenschaftlicher und schöner Literatur in Folgendem:
1. Die Abnahme der Mussezeit der Gebildeten und
ihrer Fähigkeit, dieselbe mit Ernst imd Sammlung zu
benutzen, begünstigt eine Literatur, welche der Erholung
und Zerstreuung dient, und benachtheiligt solche, die
zur Leetüre eine gewisse Stetigkeit und Concentration
verlangt.
2. Das Ueberwuchern der politischen Interessen
drängt diejenigen an Wissenschaft, Kunst u. s. w. in
den HintergTxmd und die zerstreuende und aufreibende
Unruhe des modernen grossstädtischen Lebens (in Be-
rufsarbeit und Geselligkeit) macht die Sammlung immer
schwerer.
3. Die Vertheuerung der städtischen Miethswoh-
nungen und die zunehmende Häufigkeit der Umzüge
machen einen grösseren Bücherbesitz zu einer immer
wachsenden Last, vor deren Aufbürdung der Deutsche
sich scheut, während erst das eigene Haus (wie in Eng-
land) ein Behagen an eignen Büchern aufkommen lässt.
4. Die aus der Steigerung der Setzerlöhne folgende
— 172 —
Vertheuerung der Bücherpreise ist dem Sinken des Geld-
werths beträchtlich vorausgeeilt und trägt dazu bei, vom
Ankauf neuer Werke abzuschrecken; die Verleger er-
halten einen zu geringen Theil des vom Publikum ge-
zahlten Preises, weil der Zwischenhandel zu hohe Pro-
visionen verschluckt.
5. Das Anstandsbedürfhiss an Bücherbesitz wird
durch billige Klassiker- Ausgaben, Sammel- und Nach-
schlagewerke, populärwissenschaftliche Mark -Bibliothe-
ken, Moderomane, gelegentliche Geschenkliteratur und
unentbehrliche Hilfsmittel des Berufs befriedigt; meist
wird auch der in der Wohnung verfügbare Raum durch
dieselben erschöpft.
6. Die für Leetüre verfügbare Zeit wird durch das
Bestreben, in der eigenen Berufswissenschaft nothdürftig
auf dem Laufenden zu bleiben, durch eine Zeitung, einen
Journalcirkel und die neuesten Moderomane meist voll-
ständig ausgefüllt, ohne dass Lust und Zeit zur Leetüre
wissenschaftlicher Originalwerke übrig bleibt.
7. Die Gewöhnung an Journal- und Zeitungslectüre
verdirbt den Geschmack und die Fähigkeit zum Lesen
zusammenhängender Werke, und schon rückt auch uns
Deutschen die Zeit näher, wo der „Leitartikel" bereits
als eine zu grosse Zumuthung an das Concentrations-
vermögen gilt und in ein Mosaik von „Entrefilets" auf-
gedröselt wird.
Gegen die Verringerung der Mussezeit durch Steige-
rung der Berufsansprüche giebt es ebenso wie gegen
das Hinzutreten der politischen Pflichten kein Auskunfts-
mittel, als dass die Jugend ihre Zeit bis zur vollen In-
anspruchnahme ihrer Kräfte durch den Beruf fleissig zu
ihrer allgemeinwissenschaftlichen Geistesbildung benutzt
und ihre Betheiligung an politischen Angelegenheiten
bis zu erlangter Bildungsreife (also etwa in die dreissiger
Lebensjahre) vertagt. Bis der städtischen Wohnungs-
-- 173 —
misere durch gesetzliche Verhmderung der Baustellen-
speculation abgeholfen wird, wird noch viel Wasser in's
Meer laufen; bis dahin muss eine reichliche Dotation
der vorhandenen staatlichen und städtischen Bibliotheken
sowohl dem Publikum wie dem Verlagsbuchhandel zu
Hilfe kommen und an den betheiligten Stellen das Be-
wusstsein geweckt werden, wie wichtig eine derartige
Dotation für die Erhaltung und Forderung der wissen-
schaftlichen Nationalliteratur ist. Wie der Romanverlag
gTÖsstentheils nur von den Leihbibliotheken lebt, so
könnte der wissenschaftliche Verlag in der Hauptsache
von den wissenschaftlichen Bibliotheken leben, wenn
diesen nur die Mittel zur Verfugung gestellt würden^
um ihre Culturaufgabe für die Nation in doppelter Hin-
sicht (kaufend und ausleihend) zu erfüllen. Die Verleger
müssten an alle öffentlichen Bibliotheken direct zum
Buchhändlemettopreise liefern, da der Gewinn des Zwi-
schenhändlers hier gar keinen Sinn hat und bloss cultur-
schädlich wirkt; dagegen müsste der unbillige Zwang
zur Lieferung von Pflichtexemplaren den Verlegern ab-
genommen werden.
Auch dem Publikum müsste die Möglichkeit er-
öffnet werden, direct mit den Verlegern in Verbindung
zu treten und die Distributionsspesen zu ersparen, wenn
es keine Bemühungen eines Distributeurs (Sortiments-
buchhändlers) in Anspruch nimmt. Dies ist ausführbar
durch BUdung eines Literaturbezugsvereins, der als Sor-
timentsbuchhandlung ins Handelsregister eingetragen
wird und den Mitgliedern nur die wirklichen Auslagen
als Aufschlagsprovision berechnet. Gründlicher freilich
wäre die Abhilfe, wenn die Post ebenso die Bücher-
spedition wie die Zeitimgsspedition übernähme, neben
dem periodischen Postzeitungskatalog einen periodischen
Postbücherkatalog zu billigem Abonnement herausgäbe
und ein Centralbücheramt zur Beantwortung von An-
— 174 —
fragen und zur Ergänzung ungenauer Bestellungen ein-
richtete. Bücherbezug zur Ansicht auf bestimmte Frist
würde auch beim Postbuchhandel unter Hinterlegung
des Preises als Pfend ganz wohl möglich sein, und nur
die unverlangten Büchersendungenzur Ansicht würden
in Wegfall kommen, welche ich wegen ihres zerstreuen-
den Einflusses für überwiegend schädlich halte; der
grosste Gewinn des Buchhandels aber würde meines Er-
achtens bei der Vermittelung durch die Post in der Be-
seitigung des verderblichen Kreditwesens liegen. So
wenig die Kreis- und Gemeinde-Sparkassen durch Post-
sparkassen vernichtet werden können, ebenso wenig der
Sortimentsbuchhandel durch den Postbuchhandel; aber
eine Einschränkung der Zahl der Sortimentsbuchhand-
lungen, die seit der Gewerbefreiheit das vorhandene
Bedürfhiss weit überschritten hat, könnte dem Buchhan-
del nur von Nutzen sein Schon das Antiquariat würde
den Fortbestand selbstständiger Buchläden sichern, noch
weit mehr aber das Bedürfniss vieler Käufer nach per-
sönlicher Rücksprache und mündlicher Auskunft, so wie
der Wunsch, die Auswahl der Ansichtssendungen von
einem Dritten getroffen zu sehen; solche Käufer werden
auch ferner bereit sein, dem Sortimenter für seine Müh-
waltung die bisherige höhere Provision zu zahlen. Soll
der Postbuchhandel durch seine Vorzüge die relative
Benachtheiligung des bestehenden Sortimentsbuchhan-
dels wett machen, so müssen ^eine Vortheile lediglich
dem Publikum, nicht der Post zu Gute kommen, d. h.
die Post darf von Kunden nur den Buchhändlernetto-
preis für Baarbezug ohne jeden Gewinnaufschlag er-
heben und muss sich ihrerseits mit dem Porto für den
Bestellzettel (3 Pfennig), dem Streifband- oder Paket-
Porto für die gelieferten Bücher und einer eventuellen
Gebühr für Auskunftserthheilung (etwa 5 — 10 Pfennig)
begnügen. Ein solcher Postbuchhandel würde auch den
— 175 —
bemittelteren Schriftstellern den lohnenden Selbstverlag
ihrer Werke ermöglichen, während jetzt etwa die Hälfte
der vom Publikum für seine Werke wirklich gezahlten
Summen in den Händen der Sortimentsbuchhändler imd
des Commissionsverlegers hängen bleibt. Für unbemit-
telte Autoren müsste dann noch ein Verein hinzutreten,
welcher die eingesandten Manuscripte gegen beizufügende
Prüfungshonorare beurtheilen lässt und die werthvoll be-
fundenen auf eigene Kosten veröffentlicht; die Deckung
der Kosten würde theils aus den Beiträgen der Mit-
glieder erfolgen, welche die Publikationen des Vereins
dafür erhalten, theils aus dem Absatz an Bibliotheken
und an das Privatpublikum vermittelst des Postbuch-
handels. Sehr wünschenswerth wäre allerdings die Lö-
sung der technischen Aufgabe, für Herstellimg kleiner
Auflagen (von loo bis 500 Exemplaren) ein Verfahren
zu finden, das erheblich billiger als der Lettemsatz wäre
und doch dem Auge die gewohnte Form der grossen
und kleinen Druckbuchstaben darböte.
Die Gefahr, welche in dem erdrückenden Einfluss
der Zeitungen und Journale liegt, muss auf doppeltem
Wege bekämpft werden. Die Jugend muss begreifen,
dass sie mit der Hingabe an den flüchtigen Reiz dieser
Lektüre ihre Seele verkauft, d. h. auf die gründliche
und allseitige Ausbildung ihres Geistes verzichtet; die
Aelteren aber müssen selbst aufhören, der periodischen
Literatur aus Bequemlichkeit einen Werth beizulegen,
den sie nicht verdient, müssen sie als ein nothwendiges
Uebel betrachten und namentlich die Tagespresse mit
der gebührenden Missachtung behandeln, damit die Ju-
gend nicht durch den Nachahmungstrieb verführt werde,
mit derselben ihre kostbare Mussezeit zu verderben.
Die gebildete Jugend bis zu 30 Jahren soll ebenso wenig
Zeitungen lesen wie Politik treiben, sondern alle ihre
zur Lektüre verfügbare Zeit auf Bücher verwenden; der
— 176 —
Schnee vom vergangenen Jahr ist nicht wesenloser als
der Inhalt der Zeitung von gestern. Die Jugend soll
aber auch keine Journale lesen, weil solche nur die Auf-
gabe haben, den auf ein gewisses fertiges Bildungsniveau
Gelangten auf dem Laufenden zu erhalten, aber nicht
geeignet sind, eine noch fehlende Bildimg zu vermitteln.
Sie sind um so weniger schädlich, je zusammenhängen-
dere und umfangreichere Abhandlungen sie darbieten,
je ähnlicher sie also dem Buche werden, und um so
schädlicher, je mehr sie sich dem Charakter der Zeitung
annähern. Die reifen Männer sollen zu der Einsicht ge-
langen, dass man die „grossen" Tageszeitungen be-
kämpfen und die „kleinen" kurzen Blätter begünstigen
muss, und zwar um so mehr, je weniger sie einer be-
stimmten Partei dienen und je mehr sie sich bemühen^
die wichtigeren Thatsachen der Tagesgeschichte und die
wichtigeren Urtheile über dieselben in unparteiischer
Kürze zu registriren. Von Journalen aber sollen sie nur
soviel in ihr Haus kommen lassen, als nothdürftig aus-
reicht, sie auf dem Laufenden zu erhalten und nament-
lich sie auf wichtige Erscheinungen der Literatur hin-
zuweisen. Dann aber soll auch der beschäftigste und
angespannteste Mann nicht unterlassen, an freien Sonn-
tagen oder in Ferienzeiten persönlich zu den Quellen
hinabzusteigen, aus denen der Geist der nationalen Cul-
tur sich verjüngt, d. h. zu den Originalwerken der For*
scher, Denker und Dichter.
— 177 —
XI.
Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit.
Lieber Leser! Hoffentlich bist Du nicht berühmt;
aber vielleicht wünschest Du es zu werden, und wenn
Du zu alt bist, um es für Dich selbst zu wünschen, so
erhoffst Du es vielleicht für Deine Söhne, Schwieger-
söhne oder Enkel. Lieber Leser, lass Dich warnen, ehe
es zu spät ist. Es gibt ja so Manches auf der Welt,
wonach die Menschen sich sehnen, und dessen Schatten-
seiten sie erst kennen lernen, wenn sie es erreicht haben;
aber der Ruhm ist unter allen diesen Prellereien die
schlimmste, weil seine Schattenseiten am wenigsten be-
kannt und beachtet sind. Darum gestatte mir, Dir eine
kleine Auswahl derselben vorzuführen, und wenn Du
diese Zeilen gelesen hast, so wird Deine Zufriedenheit
nicht ohne Zuwachs geblieben sein, wenn Du aus ihnen
gelernt hast, Gott zu danken, dass Du nicht berühmt bist.
Die wenigsten Köpfe vertragen den Weihrauchduft
des Ruhmes, ohne davon umnebelt zu werdert und das
Gleichgewicht vernünftiger Selbstbeurtheilung zu ver-
lieren. Die liebenswürdige Bescheidenheit schwindet und
macht einer dünkelvollen Eitelkeit Platz; wo aber vor-
her schon Eitelkeit bestand, liegt die Gefahr des Ueber-
schnappens nahe. Der Mensch wird empfindlich, wo ihm
die Anerkennung vorenthalten bleibt, auf welche ei*
durch seinen Ruhm ein Recht erworben zu haben wähnt;
er wird anspruchsvoll und pocht auf den schuldigen
Tribut von Huldigungen. Seiner gewöhnlichen Umge-
bung von Familie und Freunden glaubt er sich nun ent-*"
hoben und entrückt in eine höhere Sphäre des Daseins;
indem er sich ihnen gegenüber ein höheres und besseres
Menschenwesen dünkt, wird er vorher Fügsame besser-
wisserisch und herrschsüchtig und dadurch unliebens-
Hartmann, Moderne Probleme. 12
— 178 —
würdig. So werden nicht nur Sitten und Manieren,
sondern selbst Gemüth und Charakter verdorben und
die intimsten Beziehungen vergiftet. Die näher Stehen-
den sehen mit Bedauern diese Veränderung, die Näch-
sten leiden darunter; die alten Freunde ziehen sich
halbwegs zurück, auch wenn sie den Erfolg gönnen,
oder fallen ganz ab, wenn sie ihn missgönnen und be-
neiden.
Nur seltenen Ausnahmenaturen, die schon vorher
ein klares und sicheres Urtheil über sich selbst, ihr
Vermögen und den Werth ihrer Leistungen besassen
und gewohnt waren, das Urtheil der Menge ihrem
eigenen gegenüber stolz zu missachten, nur solche wer-
den ungeschädigt an ihrem Innersten die Probe des
Berühmtwerdens bestehen. Aber wie können sie erwarten,
dass die Welt an eine solche ausnahmsweise Veran-
lagung glauben soll? Mögen die nächsten Freunde und
Angehörigen diesen Glauben besitzen und durch die
tägliche Erfahrung bestätigt sehen, so werden doch die
neidischen Freunde ein solches menschliches Verdienst
zu dem missgönnten Ruhm hinzu einzuräumen wenig
geneigt sein, und ferner Stehende oder neue Bekannt-
schaften werden stets mit dem Vorurtheil behaftet sein
und bleiben müssen, dass die gewöhnlichen und so
schwer vermeidlichen Fehler der Berühmtheit auch in
diesem Falle vorliegen und vielleicht nur aus Klugheit
etwas geschickter als gewöhnlich verhüllt werden. So
legt der Ruhm auf alle rein menschlichen Beziehungen
seinen erkältenden Reiffrost, bei Allen, die es verdienen
und die es nicht verdienen.
Von den bescheidenen, zurückhaltenden, fein-
fühligen, harmlosen, in sich befriedigten Naturen wird
der Berühmte gescheut und gemieden, von den unbe-
scheidenen, zudringlichen, eitlen Menschen, die gern mit
berühmten Bekanntschaften prahlen, wird er aufgesucht.
— 179 —
Wenn ohnehin schon ein „Mensch" mit der Laterne ge-
sucht werden muss, so muss der Berühmte sich zehn-
fache Mühe geben, einen zu finden; noch mehr Noth
hat er aber, sich derer zu erwehren, an denen ihm nichts
gelegen sein kann. Die Menschen können sich so schwer
denken, dass ein Mann, der seinen Ruhm verdient, doch
zunächst auch ein Mensch sein muss und in höherem
Grade als andre ein solcher, dem nichts Menschliches
fremd ist, bei dem also auch alle menschlichen Inter-
essen sicher sind, einen Widerhall zu wecken. Statt
dessen sind die Bescheidenen und Feinfühligeren, wenn
der Zufall sie mit einem Berühmten zusammenführt,
meist doppelt zurückhaltend und still aus Furcht, nicht
geistreich und bedeutend genug, oder auf dem Special-
gebiet des BetreiFenden nicht bewandert genug zu er-
scheinen; die Andern aber plagen ihn mit verständniss-
losen Fragen und Bemerkungen, durch welche sie ihr
ungewöhnliches Interesse und Verständniss für die frag-
liche Specialität zu bekunden glauben. In Gesellschaft
wie in der Sommerfrische wird der Berühmte, wenn er
nicht selbst ein Eitelkeitsnarr ist, bald nur noch den
einen Wunsch haben, sich vor dem erkältenden und
isolirenden Nimbus des Ruhms durch Incognito zu retten;
aber dieses Mittel ist selten anwendbar und jedenfalls
hilft es nicht gegen die Belästigungen zu Hause.
Da kommen die Besucher aus Neugier, die be-
friedigt wieder abgehen, wenn sie constatirt haben, dass
der Herr X. seinem Porträt ähnlich sieht; aber die-
jenigen Personen, deren Bekanntschaft aus sachlichen
Interessen gerade am erwünschtesten und für beide
Theile am erspriesslichsten wäre, wagen leider aus Be-
scheidenheit es oft nicht, die Schwelle des Berühmten
zu überschreiten. Dass er von wirklichen oder angeb-
lichen Fachgenossen aufgesucht wird, um Almosen xmd
Unterstützung, Rath und Hülfe zu finden, mag noch
12*
— i8o —
hingehen, da es neben der meist zwecklosen Belästigung
doch auch in Ausnahmefallen Gelegenheit gibt, sich
nützlich zu machen; die allerunsinnigste Belästigung
aber ist die durch Autographensammler, welche sich
nicht mit den in Autographenalbums facsimilirten Schrift-
zügen begnügen wollen, sondern die Eitelkeit haben,
möglichst viel Originalhandschriften zu sammeln. Wer
aus Furcht, sich unbeliebt zu machen, einige Mal auf
solche Zumuthungen eingegangen ist, der wird über-
häuft mit brieflichen AuiFordenmgen ; wer alle Gesuche
um Autographen (mit Ausnahme der für wohlthätige
Zwecke bestimmten), wie es das einzig Richtige ist, in
den Papierkorb wirft, der wird durch allerlei Finten
überlistet, z. B. durch fingirte Unterstützungsgesuche,
oder die noch beliebtere Methode der Bitte um Rath
kurz vor dem angeblich beabsichtigten Selbstmord. Der
Autographensammler scheut sich niemals, sich für einen
glühenden Verehrer des Angebettelten auszugeben, auch
wenn er dessen Leistungen nicht anders als von Hören-
sagen kennt; ebenso findet man auch unter denjenigen,
welche sich nach der persönlichen Bekanntschaft drängen,
selten einen, der es der Mühe werth geftmden hätte,
zunächst die so viel leichter zu erlangende genauere
Bekanntschaft mit dem Besten, was die Person zu geben
hat, mit der Reihe ihrer Thaten oder Werke zu machen.
Die Störung der Unbefangenheit im persönlichen
Verkehr erstreckt sich noch über den mündlichen hinaus
auf den brieflichen. Der widerwärtige Person encultus
dieses Jahrhunderts, welcher allemal im umgekehrt pro-
portionalen Verhältniss zu dem Ernst und der Tiefe des
sachlichen Interesses steht, hat es fertig gebracht, dass
keine private Mittheilimg eines berühmten Mannes vor
der Veröffentlichung nach dem Tode, ja wohl gar bei
Lebzeiten, mehr sicher ist. Der Eitle mag daraus den
Antrieb entnehmen, auch seine Privatbriefe so abzu-
— i8i -
fassen, wie er sie für ein künftiges Publikum wünscht;
wem aber solche Exposition in Schlafrock und Nacht-
mütze zum Ekel ist, der wird seine Correspondenz auf
die nothdürftigsten trocknen Thatsachen beschränken,
und die Verkümmerung eines berechtigten Gebiets des
gemüthlichen Privatlebens bitter empfinden.
Sofern die Thaten und Werke des Menschen be-
stimmte Tendenzen verfolgen (was eigentlich nur bei
Künstlern nicht der Fall — sein sollte) werden diese
Absichten und Ziele stets der Verkennung und der Miss-
deutung von ihren Gegnern wie vom blossen Missver-
stand ausgesetzt sein; es bilden sich bald zu Anfang
falsche Meinungen und Stichworte (wie z. B. Grillparzer
während seines ganzen langen Lebens ein „Schicksals-
tragödiendichter" hiess), welche durch keine Bemühungen
von Seiten des Verkannten auszurotten sind. Wenn seine
Werke nicht zugleich der vergnüglichen Unterhaltung
dienen, so verleiht der Ruhm nicht einmal, wie er doch
billiger Weise sollte, den Rechtsanspruch, die späteren
Leistungen, welche erst das Gesammtbild vervollstän-
digen und den ersten Eindruck berichtigen können, auch
nur beachtet zu sehen. Das Publikum ist nur zu geneigt
zu glauben, dass ein erstes, Ruhm begründendes Fahnen-
werk auch die Leistungsfähigkeit seines Urhebers in der
Hauptsache erschöpfe und dass es nicht der Mühe werth
sei, darauf hinzuhören, was ein solcher Autor sonst noch
zu sagen haben könne (man denke z. B. an Strauss).
Den einzigen reellen Vortheil, den der Ruhm seinem
Besitzer gewähren könnte und sollte, enthält er ihm so-
mit auch noch vor, wenigstens in Deutschland, da das
Ausland in dieser Hinsicht der Ehrenpflichten gegen
seine hervorragenden Männer besser eingedenk ist. Da-
gegen muss der Kelch des Verdrusses über unbelehr-
bare Vorurtheile und ohrenverschliessenden Missverstand
bis zur Hefe geleert werden. Dass die Ungerechtigkeit
— l82 —
des Urtheils bei sachlicher Verkennung selten stehen
bleibt und nur zu häufig auch die Person und deren
Privatleben in den Kreis ihrer Angriffe mit hineinzieht,
ist ebenso bekannt, wie das es nur wenigen öffentlichen
Persönlichkeiten erspart bleibt, Gegner und Feinde zu
haben, welche die gutgläubige Verurtheilung durch ein-
gemischte Einflüsterungen des Neides und Uebelwollens
trüben und verbittern. Der Empfindliche wird an alle-
dem eine nie versiegende Quelle der Kränkung und des
Aergers haben, aber auch der Unempfindliche, der sich
von dem Urtheil Anderer in ruhigem Stolze unabhängig
weiss, wird doch Schmerz und Betrübniss über das
mächtige Beharrungsvermögen des Vorurtheils und der
Gleichgültigkeit und über die unausrottbare Existenz der
Gesinnungsgemeinheit in der Welt fühlen.
Ist der Berühmte ein ausübender Künstler, dessen
Leistungen zugleich dem Zeitvertreib und dem Ver-
gnügen dienen, so bemühen sich seine Bekannten, zu
seinem Benefiz (mit 50% Antheil am Reinertrag) recht
viel Billets unterzubringen und versäumen nicht, selbst
hinzugehen und kräftigst zu applaudiren. Ist er dagegen
ein Schriftsteller, gleichviel ob seine Schriften der Un-
terhaltimg dienen oder nicht, so kaufen sie dieselben
nur in dem besonderen Ausnahmefall, dass es gerade
zeitweilig Mode ist, dieselben zu kaufen und zu ver-
schenken; anderfalls muss der Autor riskiren, dass sie
ihm übel nehmen, die Werke nicht von ihm geschenkt
erhalten zu haben, unbekümmert darum, ob deren Ver-
kauf nicht auch sein Benefiz (mit 50^0 Antheil am Rein-
ertrag) darstellt. Dass man bei dem grössten Ruhm
verhungern kann, wenn man nicht sonst eine reelle Ein-
nahmequelle besitzt, und zwar um so leichter, je echter
der Ruhm ist, das ist weltbekannt, ebenso dass der
wahre und echte Ruhm meist langsam gewonnen und
nur von denen erlebt wird, welche ein hohes Alter er-
- i83 -
reichen. Was hat aber der Mensch von einem Ruhm
nach seinem Tode? Ist es da nicht ganz gleichgültig,
ob der Nachruhm sich an den Namen heftet, den er im
Leben trug, oder an einen falschen (z. B. Homer), oder
ob er, wie z. B. bei dem Nibelungenliede, namenlos an
den Werken haftet? Ist es nicht die Eitelkeit der Eitel-
keiten, für seinen Namen nach Nachruhm zu streben,
von dem man selber gar nichts hat? Und selbst wenn
der Berühmte steinalt wird und alle Jubiläen rite ab-
solvirt, so muss er doch noch seinen echten Ruhm mit
ebenso strahlendem falschen Ruhm unwürdiger Mitbe-
werber theilen, also des Ruhmes heilige Kränze als auf
gemeinen Stirnen entweihte in Empfang nehmen. Manch-
mal verbindet sich aber auch falscher und echter Ruhm,
so dass eine Person eine Zeit lang wegen gewisser den
Zeitströmungen entgegenkommenden Nebeneigenschaften
seiner Leistungen falschen Ruhm geniesst, welcher all-
mählich erblasst und das Aufkommen des wahren
Ruhmes, den seine Leistungen nach ihrem tieferen Kern-
gehalt verdienten, mehr behindert als befördert; der
Verdacht auf eine solche Verwickelung des Sachver-
halts ist überall da begründet, wo ein Künstler oder
Schriftsteller, dem man Anspruch auf wahren Ruhm
niih aberkennen möchte, schon in jüngeren oder mitt-
leren Jahren berühmt war (man denke an Goethes
Werther, Schillers Räuber, Schellings Naturphilosophie
und ähnliche Beispiele).
Wenn Du also, lieber Leser, Dich nich abschrecken
lassen wolltest, für Dich oder die Deinigen nach Ruhm
zu streben, so nimm wenigstens den guten Rath an,
nicht nach echtem, sondern nach falschem Ruhm zu
streben, da nur der letztere Dir einige Aussicht gewährt,
dass Du seine Vortheile an Ehre und materiellem Ge-
winn noch gemessen kannst. Willst Du aber den falschen
Ruhm trotz seiner ideellen und materiellen Vorzüge ver-
— i84 —
schmähen, bloss weil er auf unwahrem Grunde ruht,
dann höre überhaupt auf nach Ruhm zu trachten, und
trachte statt dessen nach werthvoUen Leistungen, ganz
unbekümmert darum, ob und wann denselben die An-
erkennung des Ruhmes zu Theil werden möge.
XII.
Der Somnambulismus.
Die Erscheinungen des Somnambulismus sind von
altersher bekannt, nicht nur diejenigen eines in Nerven-
krankheiten spontan eintretenden, sondern auch die-
jenigen eines durch verschiedene Mittel (z. B. betäubende
Dämpfe, Schwindeldrehungen, Fasten, Fixiren eines nahen
Blick -Punktes u. s. w.) hervorgerufenen Somnambulis-
mus. Die Seltenheit des spontanen Somnambulismus,
die schädlichen Folgen des künstlich hervorgerufenen
für den Organismus, die Verquickung des Somnambu-
lismus mit allerlei Aberglauben und Mysticismus und
die Schwierigkeiten einer Erklärung der Erscheinungen
auf Grund der herrschenden materialistischen Naturan-
schauung haben jedoch bis vor ganz kurzer Zeit davon
abgeschreckt, dieses Erscheinungs - Gebiet auf exacte
Weise zu studiren. Die von der Pariser Akademie von
1825 — 1831 niedergesetzte Commission gelangte nicht
über die Constatirung der Thatsachen hinaus, und selbst
diese gerieth bald wieder in Vergessenheit oder wurde
gar (durch Verwechselung mit dem Commissionsbericht
von 1784) in ihr Gegen theil entstellt. Erst das Aufsehen,
welches die öffentlichen Schaustellungen des Magneti-
seurs Hansen erregten, veranlassten einige deutsche
Physiologen (insbesondere Heidenhayn), der Sache näher
zu treten, und wenigstens die körperlichen Phänomene
— i8s —
des Hypnotismus ausser Zweifel zu stellen. Bald darauf
wurden von Preyer die Braid'schen Versuche und
Schriften neu an's Licht gezogen, welche einen durch
Fixiren heller Punkte und ähnliche Mittel (also nicht
durch einen Magnetiseur) hervorgerufenen Hypnotismus
behandeln.
Während die deutschen Gelehrten in den letzten
Jahren sich kaum noch mit dem Gegenstande zu be-
schäftigen scheinen, hat er neuerdings in Frankreich zu
sehr eingehenden und interessanten Untersuchungen ge-
führt. So war z. B. Charcot der erste, welcher eine
scharfe Unterscheidung zwischen den drei Hauptstufen
des Hypnotismus oder Somnambulismus (der lethar-
gischen, kataleptischen und im engeren Sinne somnam-
bulen) einführte und die Symptomenkomplexe dieser
drei Stufen genau definirte.*) Diese Unterscheidung
dürfte auch dann ihren Werth behalten, wenn man an-
erkennt, dass die Grenze zwischen den drei Stufen
keineswegs feste sind und öfters ein Ineianderschieben
und Durcheinanderfliessen der Symptome stattfinde.
Zugleich veröffentlichte der Pariser Neurologe Riebet
seine langjährigen Erfahrungen, nach welchen die deut-
schen Physiologen im Unrecht sind, wenn sie die Action
eines Magnetiseurs in allen Fällen für illusorisch er-
klären, weil sie für Erzeugung von Hypnotismus bei
vielen Personen entbehrlich ist. Riebet behauptet, dass
seine magnetisirende Thätigkeit auf jeden Organismus,
auch den stärksten, eine Einwirkung hinterlasse, die sich
mindestens in einer Steigerung der Empfänglichkeit für
künftige Versuche kundgibt, und dass er sich getraue,
in einer aufeinanderfolgenden Reihe von Sitzungen
*) Le9ons sur les maladies du Systeme nerveux tome III, — Essai
d'une distinction nosographique des divers fetats nerveux, compris sous le nom
d'hypnolisme. (Comptes rendus de TAcad^mie des sciences 1882.)
— i86 —
schliesslich jedes Individuum ohne Ausnahme in einen
somnambulen Zustand zu versetzen; er behauptet ferner,
dass der durch magnetische Striche hervorgerufene Som-
nambulismus sich von dem durch Fixiren naher Punkte
hervorgerufenen dadurch unterscheide, dass im ersteren
die psychischen Erscheinungen, in letzterem die körper-
lichen (Lethargie, Katalepsie u. s. w.) vorwiegen. Ausser-
dem sind von Bernheim, Binet und F6r6 Li6bault, Beau-
nis u. a. m. ausgedehnte Versuchsreihen mit Somnam-
bulen vorgenommen worden, welche zu manchen neuen
Aufschlüssen geführt haben, insbesondere in Bezug auf
die Uebertragung der Aktivität aus einer Hirnhälfte in
die andere und in Bezug auf die Umkehr der Zustände
in ihre polaren Gegensätze, z. B. Aktivität in Lähmung
und Lähmung in Aktivität und die Erscheinungen des
ausschliesslichen Rapports einer Somnambulen zu einem
bestimmten Experimentator*). Die deutschen Physiologen
haben sich bisher weit mehr auf das Studium der in den
niederen Graden des Hypnotismus vorwiegenden körper-
lichen Erscheinungen beschränkt, während die Franzosen
bereits den psychischen Phänomen des eigentlichen Som-
nambulismus näher getreten sind, ohne jedoch das Ge-
biet des Wunderbaren mehr als zu streifen. Die interes-
santesten Probleme harren deshalb bis jetzt ihrer wissen-
schaftlichen Behandlung, und sind nur erörtert von My-
stikern und Popularphilosophen, welche kein Bedenken
getragen haben, die phantastischen Personificationen
somnambuler Traumbilder als Realitäten aus einer an-
deren Welt anzusprechen.
Carl du Prel hat sich der dankenswerthen Aufgabe
imterzogen, die psychischen Probleme des Somnambulis-
mus im Zusammenhang zu bearbeiten, wobei er sich von
allem spiritistischen Aberglauben als von unlogischen
*) L'hypnotisme chez les hyst6riques (Revue philosophique 1885,
Nr. I, 3—9).
- i87 -
Hypothesen vollständig freihält (S. 210, 434, vgl. 115,
186, 300), und sogar das Gebiet des eigentlichen Hell-
sehens vorläufig bei Seite lässt, um es einem beson-
deren Werk vorzubehalten. Durch den Titel*) braucht
sich also Niemand abschrecken zu lassen, denn der Ver-
fasser erklärt ausdrücklich, dass es mystische Erschei-
nungen im eigentlichen Sinne gar nicht gibt, und
Manches uns nur heute noch mystisch vorkommt (S. 386,
204). Gleichwohl kann ich den Titel nicht zweckmässig
finden, weil ich nicht wie du Prel im Somnambulismus
die „Grundform aller Mystik" (399, 497) und in der
Mystik nicht „das magische Verhalten des Menschen zu
sich selbst" (444) erkennen kann; ich verstehe vielmehr
unter Mystik das gefühlsmässige Sicheinswissen des
Menschen mit dem Absoluten, und sehe in der prak-
tischen Pflege des Somnambulismus durch einen grossen
Theil der religiösen Mystiker nur eine Verirrung, die
auf einem Verkennen der eigentlichen Natur und Be-
deutung des Somnambulismus beruht. Ich meine des-
halb, der richtigere Titel des du Prel'schen Buches hätte
lauten müssen : „Der Somnambulismus in seiner Bedeu-
tung für Psychologie und Metaphysik." In der That
wäre dieser Titel erschöpfend, denn was aus den Er"
Scheinungsgebieten des gewöhnlichen Traumes und des
wachen Gedächtnisses herangezogen ist, dient doch nur
zum Vergleich und zur Erläuterung der somnambulen
Erlebnisse.
Auch du Prel nimmt als erwiesen an, dass Hypno-
tismus und Mesmerismus (oder thierischer Magnetismus)
keineswegs sich deckende Begriffe von gleichem Um-
fang sind (155), und dass es irrthümlich ist, den hyp-
notischen oder somnambulen Zustand lediglich auf Vor-
*) Die Philosophie der Mystik von Dr. Carl du Prel. Leipzig, Ernst
Günthers Verlag 1885,
— i88 —
gange im Wahmehmungs- oder Vorstellungsprocess des
Versuchsobjekts zurückführen zu wollen. Zum Beweise
fuhrt er an, dass auch Schlafende, welche von den mit
ihnen vorgenommenen Manipulationen nichts wissen, in
Somnambulismus versetzt werden können und dass so-
gar der Schlaf die magnetische Einwirkung erleichtert
(39 — 40); ferner, dass auch die Mimosa pudica ebenso
durch Mesmerisiren wie durch Chloroformiren unempfind-
lich gemacht werden kann (156). Ich möchte hinzufügen,
dass wir die dynamische Aktivität der Magnetiseure
auch aus anderen Wirkungen kennen, z. B. aus den
lokalen Einwirkungen auf menschliche Körpertheile,
welche für die Hautempfindungen denjenigen einer
schwachen Elektrisirmaschine gleichen, ferner auf das
Elektroskop und die Magnetnadel, und dass in einem
sensitiven Nervensystem schon Elektricitäten von mini-
maler Spannung starke Abänderungen in der Verthei-
lung der Innervationsintensität hervorrufen, wie die
Versuche an Hysterischen mit halbseitiger Anästhesie
des Körpers beweisen.*) Dass auch der Stahlmagnet ge-
waltige Einwirkungen auf die. Vertheilung der Innerva-
tionsenergie in den Centralorganen ausübt, ist durch die
oben angeführten Versuche von Binet und F6r6 erwiesen,
veränderte Anwendungsarten werden ohne Zweifel noch
andre Verschiebungen der Innervationsenergie kennen
lehren und damit dem Verständniss der Art und Weise,
wie der Einfluss des Magnetiseurs die gleiche Wirkung
hervorbringt, näher führen. Es ist anzunehmen, dass jeder
Mensch in irgend welchem Grade die Fähigkeit, andere
zu magnetisiren, besitzt, dass aber die Herrschaft über
dieselbe nur durch Uebung zu gewinnen ist, weil diese
Fähigkeit nicht in dem Organ der bewussten Willkür
ihren Sitz hat, sondern nur indirekt durch Impulse des
♦) Vigouroux, M^talloscopie, M6talloth6rapie , Oesth^siog^nes.
— iSg —
bewussten Willens in anderen niederen Centralorganen
ausgelost wird. Damit stimmt überein, dass Somnam-
bule, deren Willkürorgan ausser Function gesetzt ist,
eine besonders starke Fähigkeit zum Magnetisiren Dritter,
ja sogar ihres Magnetiseurs gewinnen, auch wenn sie
dieselben im wachen Zustande nicht besitzen oder be-
herrschen (274). Es ist femer zu beachten, dass fort-
dauernde Bethätigung der magnetischen Kraft den Men-
schen angreift und entkräftet (250), woraus folgt, dass
der Magnetiseur wirklich organische Kraft bei seiner
Thätigkeit consumirt. Es ist endlich zu berücksichtigen,
dass die elektrischen Apparate der Zitter- Rochen und
-Aale nur Grruppen von Ganglienzellen sind, und dass
jede Ganglienzelle in irgend welchem Masse die Eigen-
schaft besitzen muss, welche hier durch DilFerenzirung
ausgebildet ist.
Ob das im thierischen Magnetismus wirksame dyna-
mische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte
identisch ist, oder ob es eine noch unerforschte neue
Proteus- Gestalt der einheitlichen Naturkraft ist, welche
blos elektrische, magnetische, thermische und nerven-
physiologische Begleiterscheinungen hervorruft, das dürfte
vorläufig schwer zu entscheiden sein, doch neige ich der
letzteren Auffassung zu, so dass der Bezeichnung „thie-
rischer Magnetismus" oder „organische Elektricität" nur
ein uneigentlicher Sinn beiwohnt. Ebenso vorsichtig wie
in der Gleichsetzung der mesmerischen Function mit
physikalischen Kräften muss man aber auch sein, sie
mit besser bekannten organischen, psychischen oder gar
metaphysischen Potenzen zu identificiren, wie wenn
z. B. du Prel sie mit der Naturheilkraft gleichsetzt (239),
wozu die etwaigen heilsamen Nebenwirkungen der durch
sie hervorgerufenen somnambulen Zustände noch lange
keine Berechtigung geben.
Du Prel hat sich in diesem Punkte, wie leider in
— igo —
manchen andern, durch Schopenhauers Ansichten be-
stimmen lassen, von welchem Denker seine gesammte
Weltanschauung mehr als von irgend einem andern ab-
hängig ist. Schopenhauer nimmt an*), dass der Som-
nambulismus nur ein tiefer und vollkommener Schlaf sei,
dass er deshalb heilsamer als der gewöhnliche Schlaf
sei und von der Naturheilkraft absichtlich herbeigeführt
werde. Er glaubt ferner, dass Wahrträume auch im ge-
wöhnlichen tiefen Schlafe häufig sind, und der Som-
nambulismus nur diese Wahrträume offenbare. Alle
scheinbaren Sinneswahrnehmungen der Somnambulen
hält er fiir Wahrträume, welche die Vermittelung der
Sinneswerkzeuge nur vorspiegeln. In Bezug auf die
physiologische Erklärung des somnambulen Zustandes
verwirft er mit triftigen Gründen die Annahme, dass
das Gangliensystem an Stelle des Gehirns fiinktionire,
und hält an der Unentbehrlichkeit der Gehirnfunktion
fest, worin ihm du Prel leider nicht gefolgt ist; seine
Theorie einer Umkehrung der Richtung der Gehirn-
funktion durch Rollentausch der grauen und weissen
Substanz ist dagegen physiologisch ganz unhaltbar und
ist auch von keiner Seite vertheidigt worden.
So wenig der Somnambulismus mit dem gewöhn-
lichen Schlaf zu verwechseln ist, ebenso wenig ist er,
wie du Prel meint (174), ein tieferer Schlaf als der ge-
wöhnliche, d. h. blos graduell von demselben verschie-
den. Obschon Uebergangsformen zwischen beiden statt-
finden und einige Merkmale ihnen gemeinsam sind, sind
sie doch specifisch verschieden; in manchen Beziehungen
erscheint der Schlaf als Zwischenzustand zwischen Som-
nambulismus und Wachen, in andern erscheint der Som-
nambulismus als Mittelzustand zwischen Schlaf und
*) „Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt'*,,
in dpn Farerga und Paralipomena", 2. Aufl. I. Band. S. 241 — 328.
— IQI —
Wachen. Du Prel, welcher nur die erstere, und Wirth
(40), welcher nur die letztere Ansicht gelten lässt, haben
daher Beide Recht und Unrecht. Der somnambule
Traum erscheint in der That gegenüber dem gewöhn-
lichen als ein gesteigerter Traum, aber der somnam-
bule Schlaf gleicht mehr dem Verhalten im wachen
Zustande als im gewöhnlichen Schlaf.
Das gewöhnliche Traumbewusstsein ist durch eine
bessere Erinnerungsbrücke mit dem wachen Bewusstsein
verbunden als das somnambule und kann zwischen diesen
beiden als verknüpfendes Mittelglied eintreten. Je näher
das somnambule Traumbewusstsein dem gewöhnlichen
Traume steht, desto leichter reichen Erinnerungen aus
demselben in's wache Bewusstsein hinüber; je mehr es
sich in sich vertieft, desto schwerer wird die Erinnerung
an seinen Inhalt, am schwersten beim „Hochschlaf", der
nur durch das verknüpfende Mittelglied des gewöhn-
lichen Somnambulismus mit dem wachen Bewusstsein
verbunden werden kann. Je mehr sich der Somnambu-
lismus steigert, desto mehr steigern sich die Eigenthüm-
lichkeiten, welche das Traumbewusstsein von dem
wachen Bewusstsein unterscheiden: die Passivität des
Willens, die Sinnlichkeit und Bildlichkeit der Vorstel-
lungen, die Stärke der unwillkürlichen Phantasiethätig-
keit, die Neigung zu dramatischer Spaltung des Ich,
der Mangel an Besonnenheit und zielbewusster Stetig-
keit, die Hyperästhesie des Gedächtnisses, die damit
zusammenhängende Geschwindigkeit des Vorstellungs-
wechsels, und endlich die Sensitivität des Gefühlslebens
für natürliche Vorgänge innerhalb imd ausserhalb des
eigenen Organismus.
Andererseits aber steigern sich auch einige solche
Merkmale, durch welche das wache Leben sich vom
Schlaf unterscheidet, erstens die Fähigkeit, vermittelst
der Sinneswerkzeuge von der Aussenwelt Eindrücke zu
— 192 —
empfangen und auf diese Eindrücke mit Reden und
Handlungen sinngemäss zu reagiren, zweitens die Eigen-
thümlichkeit, dass die Erlebnisse der Zeitabschnitte des
somnambulen Lebens wie diejenigen des wachen Lebens
durch ihren Erinnerungszusammenhang ein geschlossenes
Ganze zu bilden, während die Träume der verschiedenen
Nächte der Regel nach zusammenhangslose Bruchstücke
bleiben und nur ausnahmsweise mit vereinzelten Erinne-
rungen in einander übergreifen, und drittens der Um-
stand, dass die das somnambule Bewusstsein vermitteln-
den Theile des Centralnervensystems ebenso wie die
das wache Bewusstsein vermittelnden der zeitweiligen
Ruhe durch Schlaf bedürfen, wie der Wechsel von
Schlaf und Wachen bei einem Wochen und Monate
lang anhaltenden Somnambulismus beweist (332).
Wenn eine Somnambule ihren häuslichen Verrich-
tungen obliegt, oder gar eine Rolle auf der Bühne
tadellos durchführt, so wird Niemand bezweifeln, dass
ihr Zustand dem Wachen ähnlicher ist als dem Schlaf,
trotzdem sich bei genauerer Untersuchung herausstellt,
dass der Zustand ihres Bewusstseins in vielen Punkten
als ein gesteigerter oder vertiefter Traumzustand zu be-
zeichnen ist. Beim Somnambulismus wird die Aehnlich-
keit mit dem Wachen, beim Schlaf die Unähnlichkeit mit
dem Wachen um so grösser, je tiefer er wird; je weniger
tief Somnambulismus und Schlaf sind, desto ähnlicher
sehen sich beide; je tiefer sie werden, d. h. je mehr sie
ihre eigenartige specifische Natur hervorkehren, desto
verschiedener und entgegengesetzter erscheinen sie. Der
niedrigste Grad des Hypnotismus zeigt vollkommene
Lethargie, also gar keinen Verkehr mit der Aussenwelt
wie der Schlaf; erst im zweiten Grade, im kataleptischen
Stadium öffnet sich das Ohr und die niedem Sinne,
und erst im dritten Stadium, dem im engeren Sinne
somnambulen, öffnen sich auch die Augen und beginnt
— 193 —
jener vollständige Verkehr mit der Aussenwelt, der auf
den ersten Anblick vom Verhalten einer wachen Person
nicht zu unterscheiden ist.
Der Schlaf hingegen wird dem Somnambulismus
nur dann ähnlicher, wenn er im Begriff ist, in denselben
überzugehen, z. B. in dem Sprechen und Handeln der
Schlafenden ; aber der sich selbst treu bleibende ruhige
und tiefe Schlaf kennt solche Extravaganzen nicht, die
schon einem gestörten Gleichgewicht des Nervensystems
entspringen, wie der Somnambulismus auch. Es ist
gleichgiltig ob, wie du Prel meint, der tiefe, oder, wie
ich meine, der leichte Schlaf mehr dazu neigt, unruhig
zu werden, d. h. in Uebergangsformen zum Somnambu-
lismus hineinzugerathen , da man in beiden Fällen es
schon mit zusammengesetzten Erscheinungen aus ver-
schiedenen Gebieten zu thun hat; und ebenso gleich-
giltig ist es fiir die hier behandelte Frage, ob der tiefe
ruhige Schlaf traumlos ist oder nicht, ob mit anderen
Worten nicht bloss das wache und das somnambule
Bewusstsein im Schlafe Ruhe und Erholung geniesst,
sondern die Bewusstseinsfunktion schlechthin. Letzteres
kann wegen der beim Erwachen abreissenden Erinnerung
niemals direkt constatirt werden (43); du Preis indirekter
Beweis für die Behauptung beruht aber auf einem Cirkel-
schluss, insofern er aus der vorausgesetzten Richtigkeit
des Satzes folgert, d£iss auch der Somnambulismus im
Wesentlichen nur ein vertiefter Schlaf sei, und hieraus
dann wieder nach Analogie zurückschliesst, dass auch
im natürlichen Schlaf ebenso wie im Somnambulismus
das Erwachen des Traumbewusstseins proportional der
Tiefe des Schlafes sein müsse (427, ^2, 37). Nach meiner
Ansicht hingegen wird schon durch das Ruhebedürfniss
des somnambulen Bewusstseins und dessen Befriedigung
im Schlafe zur Genüge erwiesen, dass auch die das
somnambule Bewusstsein vermittelnden Theile des Cen~
Hartmann, Moderne Probleme. 13
— 194 —
traln er vensy Sterns im tiefen Schlafe ruhen, so dass die
dessen etwaige Träume vermittelnden Partien jeden-
falls noch unterhalb der ersteren gesucht werden müssten.
Worauf es hier ankommt, ist nur, zu constatiren,
dass der natürliche Schlaf ein gesunder normaler, für
Wache und Somnambule gleich unentbehrlicher Erho-
lungszustand, der Somnambulismus aber ein abnormer,
pathologischer, schlechthin entbehrlicher Zustand ist,
dass femer der reine Schlaf mit wachsender Vertiefung
den Schläfer immer mehr von der Aussenwelt abschliesst,
der Somnambulismus dagegen mit wachsender Vertiefung
den Somnambulen in eine dem wachen Zustand immer
ähnlicher werdende sinnlich vermittelte Wechelbeziehung
zur Aussenwelt setzt. Dies genügt, um einen speci-
fi sehen Unterschied beider Zustände festzustellen,
imd den Streit über die Stellung zwischen Wachen,
Schlaf und Somnambulismus zu einem nebensächlichen
zu machen.
Ausser der Verwandtschaft des Somnambulismus mit
dem wachen Zustand und dem gewöhnlichen Traum ist
noch diejenige mit der Narkose und mit Nerven- und
Geisteskrankheiten zu beachten. Die Narkotisirung durch
Chloroform und Aether stimmt darin mit dem Somnam-
bulismus überein, dass eine von der Peripherie nach dem
Centrum fortschreitende Analgesie (Unempfindlichkeit
für Schmerz) und scheinbar auch Anästhesie eintritt,
dass das wache Bewusstsein schwindet und unwillkür-
liche Träume sich entfalten; ein ähnlicher Zustand der
Analgesie trat auch bei den höchsten Graden der Folter
manchmal ein, der dann der Hilfe des Teufels zuge-
schrieben wurde. Bei der Morphium- und Haschisch-
Narkose ist die Analgesie weniger ausgesprochen, dafür
aber das Traumleben gesteigert; insbesondere das Ha-
schisch erzeugt eine Hyperästhesie des Gedächtnisses
und eine Beschleunigung des Vorstellungsablaufes, wel-
— 195 —
che mit den gleichen Erscheinungen des somnambulen
Traumlebens viel Aehnlichkeit hat. Alle Narkosen unter-
scheiden sich aber dadurch vom Somnambulismus, dass
in ihnen für gewöhnlich und unter Ausschluss eines
gleichzeitig eintretenden Somnambulismus der Verkehr
mit der Aussenwelt abgeschnitten ist; nur eine unvoll-
ständige Narkose, welche noch einen Rest des wachen
Bewusstseins übrig lässt, macht solchen Verkehr mög-
lich. Auf der Verwandtschaft dieser narkotischen Zu-
stände mit dem Somnambulismus beruht es, dass in
nervösen Organisationen, die zum Somnambulismus
neigen, derselbe durch narkotische Mittel hervorgerufen
werden kann (Pythia, Hexenfahrten u. s. w.). Die Menge
von Chloroform, die Jemand zur Narkose braucht, ist
zugleich ein Gradmesser seiner Empfänglichkeit für
magnetische Hypnotisirung, und die Blutbeschaffenheit
eines hungernden Organismus erleichtert in gleichem
Masse die Narkose wie das Magnetisiren und den spon-
tanen Eintritt von Uebergangsformen zwischen Traum
und Somnambulismus.
Von den pathologischen Zuständen des Nerven-
systems bietet sich zunächst die constitutionelle Sensi-
tivität zum Vergleich dar. Während „Sensibilität" die
Reizempfänglichkeit der Empfindungsnerven bezeichnet,
insoweit sie auf einem feinem Bau der Endorgane (Sinnes-
werkzeuge) beruht, bedeutet das Wort „Sensitivität"
eine abnorme Reizempfänglichkeit, welche nicht auf der
Verfeinerung der Sinneswerkzeuge, sondern auf der
Hyperästhesie der Empfindungsnerven und der ihre Ein-
drücke verarbeitenden Centralorgane beruht. Es giebt
abnorme Naturen, welche bei vollem Tagesbewusstsein
die unglaublichsten Dinge wahrnehmen, sowohl Vorgänge
in ihrem eigenen Organismus, als dynamische Einflüsse
der Umgebung, z. B. das Vorhandensein einer Katze im
Zimmer, oder gewisse Krankheiten anwesender Personen,
13*
oder die relativeij elektrochemischen Werthe einer Reihe
von eingewickelten Stoffen. Es mag sein, dass eine ge-
wisse Beschaffenheit des Nervensystems für alle Arten
von Empfindimgen die Reizempfanglichkeit erhöht; aber
es ist doch durchaus nicht nöthig, dass die Sensitivität
für Gefühls-, Geruchs-, Gehörs- und Gesichtsempfin*
düngen immer Hand in Hand gehen, oder gar den
gleichen Grrad von Steigerung aufweisen muss. Die
Thatsache, dass Sensitivität auch in dem gewöhnlichen
wachen Bewusstseinszustand vorkommt, lässt erkennen^
dass, wenn auch die abnormen Bewusstseinszustände
(wie Traum, Somnambulismus, Irrsinn etc.) häufig mit
Schwellenverschiebung verbunden auftreten, doch dieses
Symptom weder ausreichend zu ihrer Charakterisirung
heissen, noch als ausreichende Ursache ihres Eintritts
angesehen werden kann.
Der Somnambulismus zeig^ eine Sensitivität insbe-
sondere für Empfindungen des Gemeingefühls (122, 141)^
zum Theil auch für soche des Geruchs und Geschmacks
(246, 389), wogegen das Gehör unverändert zu bleiben
scheint und die Reizempfanglichkeit für Gesichtswahr-
nehmungen noch im zweiten, kataleptischen Stadium
ganz aufgehoben ist und erst im dritten, somnambulen
Stadium zugleich mit der nun auffallig erhöhten Haut-
empfindlichkeit wieder erwacht. Es ist also im Somnam-
bulismus die Empfindungsschwelle der niedem Sinne
emporgeschraubt > die der höheren theils im verändert,
theils heruntergerückt, und es ist demnach ebenso
ungenau von einer Herabsetzung der Empfindungs-
schwelle im Allgemeinen, wie von einem Geschlossen-
sein der äusseren Sinne oder einem vom Sinnesapparat
unabhängigen Bewusstsein in diesem Zustand zu reden
(146, 441). Eine Verschiebung der Empfindimgsschwelle
findet zwar statt, aber für verschiedene Sinneswahr-
nehmungen in ungleichem Masse und zum Theil sogar
— 197 —
In entgegengesetztem Sinne, und keine Art von Sinnes-
-wahraehjaungen fehlt im eigentlich somnambulen Sta-
dium des Hypnotismus ganz, weder die Tastempfin-
dung'en, welche zur Wahrung des Gleichgewichtes un-
-entbehrlich sind, noch die Gesichtseindrüdce, ohne welche
eine Somnambule sich in einer ihr unbekannten Um-
gebung unmöglich nrit Sicherheit bewegen konnte. Eine
Somnambule mit geöffiieten Augen liest auf Befehl ein
ihr vorgehaltenes Buch fliessend vor, während sie bei
geschlossenen Augen auf den gleichen Befehl nur un-
verständliche Worte murmelt Die Behauptung, dass sie
nicht xtnt den geöffiieten Augen, sondern etwa mit dem
Sonneng^flecht läse, stände logisch auf gleicher Stufe
mit der, dass sie die Worte nicht mit dem Kehlkopf
und der Zunge bilde, sondern mit dem Magen. Auf den
Einfall, dass eine Somnambule tmt fest zugedrückten
Ohren nicht mehr mit dem Gehörorgan die Worte des
vor ihr stehenden Magnetiseurs v«mehme, konnte
Schopenhauer nur darum kommen, *) weil er nicht daran
dachte, sich durch den Versuch zu überzeugen, dass man
mit fest zugedrückten und verstopften Ohren noch
ziemlich ebenso gut hört, wie mit offenen. Das Vor-
kommen des Hellsehens wird selbst bei hoch gesteiger-
tem Somnambulismus immer nur als sporadischer Aus-
nahmefall anzusehen sein, aber nicht als ein fortdauernder
Zustand, aus d^m alle ansdbeinenden Sinneswahmeh-
mungen zu erklären wären.
Der psychologische Unterschied zwischen Sensiti-
vität und Somnambulismus ist nicht in der Ungleich-
mässigkeit der Schwellenverschiebimg für verschiedene
Sinne, sondern darin zu sehen, dass die gewöhnliche
Sensitivität auf ein wachen, die somnambule auf ein
träumendes Bewusstsein trifft, und dass in Folge dessen
♦) Farerga 2. Aufl. I. S. 262 (vgl. S. 264).
— igB —
der Sensitive seine Sinnnseindrücke von Phantasiebildef n
unterscheiden kann, der Somnanibide nicht. Daher kommt
es, dass der Somnambule Phantasiebilder von Sinnes-
eindrücken, welche durch Ideenassociation aus Empfin-
dungen ganz anderer Sinnesgebiete entstanden sind, für
reale Sinneswahmehmungen hält *(z. B. das Phantasie-
bild eines Wohlgeschmacks oder einer Amputation, die
der Magnetiseur ihm bloss einredet, oder die Bilder von
Gestalten und Stimmen, die nur Personificationen oder
Symbolisirungen organischer Gefühlsreize sind), während
energische Sinneseindrücke, die zu dem momentanen
Inhalt seines Traumbewusstseins keine Beziehung haben,,
von diesem gar nicht appercipirt werden (z. B. eine wirk-
lich stattfindende Operation, oder ein intensiv schmecken-
der StoflF auf der Zunge, oder die den geöffneten Augen
sich darbietende Umgebung). Die Verwandtschaft des
Somnambulismus mit der Sensitivität macht es erklärlich,,
dass wiederholter Somnambulismus das Nervensystem
sensitiv macht, d. h. einen geringeren Grad der somnam-
bulen Sensitivität als dauernden Zustand zurücklässt.
Die Sensitivität ist aber ein pathologischer, bei Unwohl-
sein sich steigernder {22^) Zustand, der für unser prak-
tisches Leben mit den grössten Unannehmlichkeiten
verknüpft ist (197), und häufig mit einer Schwächung
des Gedächtnisses Hand in Hand geht (310), also ein
Zustand, dessen Herbeiführimg und Steigerung sorgfaltig
zu vermeiden ist.
Die Verwandtschaft des Somnambulismus mit Hyste-
rie, Epilepsie, Katalepsie, Ohnmacht, Starrsucht, Schein-
todt, Todeskampf, Fieberdelirien, Veitstanz und den ver-
schiedenen Arten des Irrsinns zeigt eine Anzahl sich
kreuzender Symptome; alle schwereren Erkrankungen
des Nervensystems disponiren zum spontanen Eintritt
und zur Empfänglichkeit für die künstliche Erzeugung
des Somnambulismus, wie umgekehrt ein häufiges Her-
— IQ9 —
vorrufen des somnambulen Zustandes künstliche Hysterie
erzeugt (nach Richet), den Geist und Körper zerrüttet
und zu allen Arten von Nervenleiden prädisponirt.
So lange ein Nervenleiden besteht, gelingt es dem
Magnetiseur mit Leichtigkeit, den Somnambulismus her-
vorzurufen; schreitet aber die Genesung fort, so wird
das Mag^etisiren des Reconvalescenten immer schwie-
riger (239), bleibt aber in Folge der Gewöhnung des
Organismus immer noch leichter, als es vor Eintritt der
Krankheit war. Das weibliche Geschlecht, das bei seinem
geringeren Uebergewicht des Grosshims über das sonstige
Centralnervensystem leichter zu decentralisirender Des-
organisation des letzteren, d. h. zu Nervenleiden, hin-
neigt, ist auch mehr prädisponirt für das Auftreten von
natürlichem und die Herbeifiihrung von künstlichem Som-
nambulismus, insbesondere der höheren Grade desselben.
Die Gleichheit der körperlichen Symptome bei Ka-
talepsie und Somnambulismus ist in die Augen springend;
der Tonus der Muskeln genügt, um jede einem Gliede
gegebene Stellung zu behaupten, ohne dass Krampfzu-
stände vorhanden sind (Wachsstarre). Aber der Unter-
schied zwischen Katalepsie, Starrsucht, Scheintod einer-
seits und Somnambulismus andererseits ist ebenso in
die Augen fallend : die Bewegungslosigkeit dort und die
automatenartige Beweglichkeit nach Anleitung des un-
willkürlichen Inhalts des Traumbewusstseins hier. Die
automatische, traumgeleitete Beweglichkeit ist dagegen
im Veitstanz vorhanden, sobald die gewöhnlichen Krämpfe
sich zu ekstatischen Convulsionen ausbilden, und die Ge-
schichte der religiösen Verirrungen zeigt in allen Ländern
und Glaubenskreisen ähnliche Bilder solcher anstecken-
den Zustände, wie sie auch in Fällen des spontanen
Somnambulismus häufig beobachtet werden. Manche
Theoretiker des Somnambulismus sind soweit gegangen,
eine Menge Formen der schweren Nerven- und Geistes-»
— 200 —
krankheiten für regellose Formen des Somnambulismus
zu erklären (243, 266, 366); wenn dies richtig wäre, so
würde der pathologische Charakter des Somnambulis-
mus in ein noch helleres Licht dadurch gestellt, als
wenn, wie ich annehme, in vielen Fällen bloss eine Ver-
quickung somnambuler Zustände mit anderen verwandten
Störungen des nervösen Gleichgewichts stattfindet.
Gehen wir zu den psychischen Symptomen über,
so zeigt sich die Hyperästhesie der Erinnerung nicht
nur im Somnambulismus und dem gewöhnlichen Traum,
sondern auch in Fieberdelirien, in manchen Fällen der
Hysterie, des Irrsinns, der Incubationsperiode mancher
Gehimkrankheiten und im Todeskampf. Wenn eine Som-
nambule die Aufschriften der Strassenschilder aus dem
Heimatsort ihrer Jugend angeben kann, wenn sie ein-
mal Gelesenes wörtlich hersagt, wenn sie die lateinischen
oder griechischen Recitationen oder die Violinübungen
früherer Stubennachbarn nachahmend wiederholt, so
finden diese Leistungen eines hyperästhetischen Ge-
dächtnisses ihre Analogien in den gleichen Erscheinungen
bei Fiebernden oder Irrsinnigen, und hier wie dort stellt
sich leicht die Täuschung ein, dass Reproductionen aus
dem Gedächtniss, die man nicht als solche erkennt, un-
mittelbare Neuproductionen seien, so dass dann leicht
die Reproductionen vergangener Ereignisse, an welche
die Erinnerung (d. h. Wiedererkennung) fehlt, als Weis-
sagungen auf die Zukunft gedeutet werden können.
Hand in Hand mit der Hyperästhesie der Erinnerung
geht nicht selten eine Beschleunigung des Vorstellungs-
ablaufs; wahrscheinlich sind beide, die Erleichterung und
die Beschleunigung des Vorstellungswechsels durch Ideen-
association, coordinirte Wirkungen derselben Ursache,
einer Hyperästhesie des functionirenden Organs (G^hirn-
theils). Wie die Zeit des Gehirnreflexes zwischen Em-
pfindung und motorischer Reaction, so ist auch die
— 201 —
<iurchschnittliche Zeit, die vom Auftauchen einer Vor-
stellung bis zum Hervorrufen der folgenden durch Ideen-
association v^-streicht, bei jedem Individuum eine andere,
und bei demselben Individuum je nach seinem Befinden
und seiner Stimmung (Frische oder Ermüdung, Sättigung
oder Nüchternheit, intellectueller Freiheit oder Grenjüths-
beklommenheit) erheblichen Schwankungen (etwa von
2 bis */i s Secunde) schon im wachen normalen Bewusst-
s^nszustand unterworfen. Diese Schwankungen bewegen
sich in noch weiteren Grenzen im Schlaf und den ab-
normen Zuständen des Nervensystems. In Fieberdelirien,
in maniacaUschen Delirien, im Haschischrausch und im
Todeskampf (insbesondere der Ertrinkenden) erreicht
die Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie
«inen Grad, der mit Ideenflucht- bezeichnet wird, den
man aber bei der sinnlich-anschaulichen Beschaffenheit
solcher unwillkürlich vorüberziehenden Vorstellungsge-
bilde vielmehr „Bilderflucht" nennen sollte. Indessen
sind die Berichte über das Vorüberziehen des gesamm-
ten Lebens von dem Bewusstsein Ertrinkender denn
doch nur auf typische Hauptmomente des Lebens zu
beziehen, und deren können in 60 bis 180 Secunden
allerdings eine beträchtliche Zahl (720 bis 2160) auf ein-
ander folgen, ohne die Maximalgeschwindigkeit des
wachen Vorstellungsablaufs auch nur zu überschreiten.*)
Ein weiteres psychisches Symptom, welches dem
Somnambulismus (und dem Traum) mit Fieberdelirien,
*) Das Gleiclie gil für Traume, in -denen ein äusserer Sinnenreiz in
•den Traum ausnahmsweise einmal in der Art dramatisch verwoben wird,
•dass die letzten Glieder des Traumes durch die Pointe bedingt erscheinen ;
auch hier genügen die 2 — 3 Secunden, die von der Perception des Ge-
hörseindrucks (z. B. eines Schusses) im untersten Perceptionscentrum für
Gehörseindrücke bis zur Perception desselben durcli das Organ des Traum-
be\nTisstseins sehr wohl verstreichen können (S. 90 unten bis 91 oben),
aim 24—36 Vorstellungsbilder auf einander folgen zu lassen.
— 202
Haschischträumen und Geistesstörungen gemeinsam ist,
ist die dramatische Spaltung. Wenn eine Gedächtniss-
vorstellung zwar reproducirt wird, aber ohne Wieder-
erkennung, d. h. ohne Erinnerung, so nimmt das wache^
besonnene Bewusstsein dieselbe hin als eine aus dem
Unbewussten auftauchende, deren Herkunft zunächst
problematisch bleibt, vermuthet aber von vornherein,
dass sie aus dem Gedächtniss stammen werde; oft hat
man auch das Gefühl, sie schon gehabt zu haben, also
das Bewusstsein, dass sie Gedächtnissvorstellung ist,
ohne ihr doch in der Vergangenheit durch Verknüpfung
mit Ort, Zeit und näheren Umständen ihres früheren
Auftretens einen bestimmten Platz anweisen zu können
(284). Das träumende Bewusstsein, das dieser Besonnen-
heit ermangelt imd statt dessen allen Gedankengehalt
in sinnlich-anschauliche Formen giesst (33), verbildlicht
(50)» symbolisirt (70) und personificirt (99), projidrt eine
Gedächtnissreproduction , die es nicht als solche zu re-
cognosciren vermag, gern nach aussen, und legt sie
Traumgestalten in den Mund; dass irre Bewusstsein
verfährt bei höheren Graden der Phantasieerregung
ebenso, bei geringeren Graden, die zur Gestaltenpro-
jection (Gesichtshallucination) nicht ausreichen, verlegt
es wenigstens den Gedankengehalt in von aussen kom-
mende Stimmen (Gehörshallucination).
Die Bruchfläche dieser dramatischen Spaltung ist
also die Scheidelinie zwischen Gedächtnissreproduction
und Erinnerung (291); was das Traumbewusstsein als
sein Eigenthum recognoscirt, nimmt es auch als solches,
als geistigen Besitz und Zubehör seines Ich für sich in
Anspruch, was es nicht zu recognosciren vermag, aber
trotzdem als seinen Bewusstseinsinhalt vorfindet, lässt
es auch nicht als das Seinige gelten und projicirt es
auf andere Traumgestalten. Aus dem Unbewussten
stammt also gleichmässig aller Inhalt des Traumbe-
— 203 —
wusstseins, sowohl der dem Ich als der dem Nichtich
zugetheilte, und Alles gehört gleichmässig dem Inhalt
des Traumbewusstseins an; auch das Ich des Träumers
umfasst nur einen kleinen Theil des Gesammtinhalts des
Traumbewusstseins, und auch dieser dem Ich zugewiesene
Theil ist ein ebenso unwillkürlicher Ausfluss aus dem
Quell des Unbewussten, wie der in's Nichtich (Aussen-
welt und Traumgestalten) hinausprojicirte Theü. Des-
halb ist es unzulässig, wenn du Prel die Bruchfläche
der dramatischen Spaltung für zusammenfallend erklärt
mit der psychophysischen Schwelle zwischen Bewusstem
und Unbewusstem (96, loi), oder wenn er behauptet,
dass alle Verstandesprocesse, die den Charakter eines
Einfalls haben, im Traume zur dramatischen Spaltung
führen (106). Gerade die productiven Einfälle vertheilen
sich auf das Ich des Träumers und die bereits gegebenen
Traumgestalten, je nachdem die Situation des Traumes
es verlangt, d. h. je nachdem sie einem Vorstellungs-
complex associativ zugehören, welcher dem Traum-Ich
oder anderen Traumfiguren bereits zugetheilt ist. Aber
wohl niemals werden solche productive Einfalle zur Ab-
spaltung neuer Traumfiguren veranlassen; denn bei
ihnen fehlt ja eben die Scheidelinie zwischen Repro-
duction und Erinnerung, welche allein massgebend als
Bruchfläche der Spaltung ist, und welche etwas ganz
Anderes ist als die „psychophysische Schwelle zwischen
Bewusstem und Unbewusstem" im Allgemeinen.
Es ist die niedrigste Form der dramatischen Spaltung^
wenn ein reproducirter Gedächtnissvorrath, der nicht
als solcher wiedererkannt ist, in fremde Traumgestalten
hinausprojicirt wird; man sollte in diesem Falle, streng
genommen, noch nicht von dramatischer Spaltung,
sondern von dramatischer Verth eilung des Bewusst-
seinsinhalts auf das Ich und das Nichtich des Traum-
bewusstseins sprechen. Dies Verhältniss bleibt auch dann
— 204 —
noch dasselbe, wenn die einer Traumfigur in den Mund
gelegte Gedachtnissvorstellung nach der Aeusserung
derselben dann als eigenes, nur zeitweilig vergessenes
Wissen in's Ich zurückgenommen wird, feteressanter
sind jene Spaltungen, bei welchen nicht mehr das re-
producirte Vorstellungsmaterial, sondern die eigene
Traumfigur, das Traum-Ich gespalten und in mehrere
Ichs zerthfeilt wird, «twa als Acteur auf der Bühne und
als Zuschauer im Parterre; derartige Verdoppelungen
kommen auch bei Todtkranken und bei Irrsmnigen vor,
welche letztere n^anchmal lange Disputationen mit ihrem
visionär vor ihn^i stehenden Doppelgänger halten.
Aber nicht immer weiss man sich im Traum identisch
mit seinem zweiten Ich, imd das Selbstbewussts^n kann
zwischen beiden schwanken, wobei dann immer das jewei-
lige eigentliche Ich das zweite Ich als sein „anderes" Ich
oder als „den Andern" betrachtet; beide Ich können auch
wied^- in eins zusammenfliessen, wie wenn das Zu-
schauer-Ich auf die Bühne springt, um nun selbst weiter
zu agiren. Dem analog ist es eine gewöhnliche Erschei-
nung, dass das somnambule Bewusstsein sich als das
eigentliche Ich des somnambulen Zustandes von dem
„anderen** Ich des wachen Zustandes, dessen Bewusst-
seinsphäre es doch umspannt, wie von einer fi-emden
Person unterscheidet, und diese Neigung, die eigene
Persönlichkeit des wachen Lebens als ein andere, fremde,
obwohl doch mit dem Ich wie ein Doppelgänger zu-
sammengekoppelte anzusehen, wächst mit der Tiefe des
Somnambulismus.
Die Scheidelinie zwischen Reproduction und Erinne-
rimg reicht zwar aus zur Feststellung der Bruchfläche
für die einfache dramatische Spaltung zwischen Ich und
Nichtich, aber nicht für die Feststellung der Bruchfläche
für die Spaltung des Ich in ein doppeltes Ich, das „eigent-
liche" Ich und „das andere"; die psychophysische
— 205 —
Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem, die
schon für den ersteren Fall nur irrthümlicher Weise mit
der Bruchfläche der Spaltung verwechselt werden konnte^
passt auf den letzteren Fall noch viel weniger, da der
Bewusstseinsinhalt des „anderen" (normalen) Ich für das
Bewusstsein des „eigentlichen" (somnambulen) Ich nichts
weniger als unbewusst, sondern völlig bewusst, ja sogar
in seiner Einordnung in die Erlebnisse der Vergangen-
heit klar durchschaut und doch nicht als eigener Besitz,
als Zubehör des „eigentlichen" Ich anerkannt wird. Man
könnte sich denken, dass d^s einer fremden Traumfigur
geliehene Gedächtnissmaterial in dem Falle, wenn es
eine grössere zusammenhängende Gruppe von Vorstel-
lungen ausmacht, dahin neigt, das Traumbewusstsein zu
der Ahnung zu führen, dass das scheinbar Fremde doch
nur sein verliehenes Eigenthum, somit die fremde Traum-
figur nur ein Spaltungsproduct des eigenen Geisteslebens
sei, was sich dann bildlich in dem widerspruchsvollen
Gleichsetzen und Ungleichsetzen der anderen Figur mit
dem Traum -Ich ausdrückt; aber dabei bleibt doch die
Hauptbedingung unerwähnt, dass die abgetrennte Vor-
stellungsmasse ausreichend und geeignet sein muss,.
einem Ich als Unterlage zu dienen, was psychologisch
nicht zu erklären ist.
Begrifflich streng zu sondern von dem subjectiven
Phänomen der . dramatischen Spaltung des Ich ist das
objective Phänomen des altemirenden Bewusstseins. Ein
solches kommt dann zu Stande, wenn verschiedene Be-
wusstseinszustände, welche die Eigenthümlichkeit haben,
nach stattgehabter Unterbrechung die Continuität des
Bewusstseins aufrecht zu erhalten und ein in sich ge-
schlossenes bewusstes Lebensganze zu bilden, mit
einander abwechseln. Ein solcher Zustand ist das nor-
male wache Bewusstsein, ein zweiter das somnambule
Bewusstsein, ein dritter der Hochschlaf des somnam-
— 2o6 —
bulen Bewusstseins, ein vierter und fünfter kann endlich
in verschiedenen Formen periodischer Geistesstörung
auftreten, in welchen die Erinnerung an das bisherige
wache Leben erlischt und ein von demselben völlig ab-
getrenntes neues Leben begonnen und fortgeführt wird.
Auch die Reihe der natürlichen Träume würde ein
altemirendes Bewusstsein constituiren, wenn sie sich
ebenso wie die Abschnitte des wachen Lebens, oder
wie die Reihe der somnambulen Krisen oder die Reihe
der bezüglichen L-rsinnsanfalle zu einem stetig zusam-
menhängenden Erinnerungsganzen consolidirten. Die
periodische Geistesstörung producirt für sich allein
manchmal mehr als ein abgetrenntes Bewusstsein sieben,
das mit dem wachen alternirt ; wechseln zwei getrennte
Bewusstseinszustände des Irrsinns mit dem normalen
wachen Bewusstsein ab und tritt zu diesen dreien noch
der somnambule Zustand, so haben wir es mit einem
vierfachen allernirenden Bewusstsein, d. h. mit einem
vierfachen Geistesleben desselben Individuums zu thun
<337~343)-
Streng genommen kann von einem altemirenden
Bewusstsein nur da gesprochen werden, wo weder der
Zustand a vom Zustand b, noch der Zustand b vom
Zustand a etwas weiss; diese Bedingung ist aber im
Somnambulismus nur einseitig erfüllt, da das somnam-
bule Bewusstsein den Gedächtnissinhalt des wachen nicht
nur umspannt, sondern sogar in erleichterter Weise re-
producirt (308, 312). Im Traum findet dieses Umspannen
des wachen Bewusstseinsinhalts durch das Traurabe-
~ ■'istsein üet Regel nach ohne Spaltung des Ichs statt,
die Verdoppelung des Ich im Traume gehört zu
seltensten Ausnahmen, bei denen vielleicht schon
Ueberg.angsform zwischen Traum und Somnambu-
1
— 207 —
lismus oder Traum und Wahnsinn*) anzunehmen ist.
Im altemirenden Bewusstsein des Irrsinns fehlt in der
Regel jede Umspannung der Vorstellungen des einen
Zustandes durch das Bewusstsein des anderen und jeder
der beiden Bewusstseinszustände weigert sich, die ihm
von aussen dargebotenen Vorstellungen, sofern sie dem
anderen angehören, als die seinigen anzuerkennen, oder
überhaupt kennen zu wollen. Nur wenn der Irrsinn dem
Traum sich annähert, d. h. Hallucinationen erzeugt,
kommt es vor, dass das wahnsinnige Bewusstsein als
ein anderes Ich aus der Person des Kranken (meist
mit veränderter Stimme) redet und sich von dieser
unterscheidet, womit dann die Illusion der Bessenheit
gesetzt ist. Im Somnambulismus weigert sich nur das
wache Bewusstsein, die Vorstellungen des somnambulen
kennen zu wollen; das letztere aber kennt die Vorstel-
lungen des ersteren wohl, erkennt sie aber nicht als die
seines „eigentlichen" Ichs, sondern als die des „anderen"
an. So nimmt ersichtlich der Somnambulismus in dieser
Hinsicht eine Mittelstellung zwischen Traum und Irrsinn
ein, halb dem einen, halb dem andern gleichend, und
bemüht, die Unterschiede beider durch die dramatische
Spaltung des Ich zu vermitteln, insofern durch dieselbe
das alternirende Bewusstsein des Irrsinns in fingirter
Weise trotz der Umspannung des altemirenden Be-
wusstseinszustandes aufrecht erhalten wird.
Es wird die Vermuthung nahe liegen, dass nicht
nur hier, sondern überall, wo wir der dramatischen Spal-
tung und Verdoppelung des Ich begegnen, dieser phan-
tastische optische Dualismus eine symbolische Personi-
*) Bekanntlich zeigt der Traum eine Menge Erscheinungen des Wahn-
sinns und macht dadurch viele der gewöhnlichsten Irrsinnsformen für
jeden, der auf seine Träume achtet, von innen heraus verständlich, so z. B.
den Verfolgungswahn, verschiedene sexuelle Abnormitäten, Verbrecher-
wahn, Grössenwahn u. s. w.
— 208 —
fication der physiologischen Thatsache ist, dass die phy-
siologischen Hauptbedingungen zu einem alternirenden
Bewusstsein vorhanden sind, wenn auch dasselbe wegen
des Fehlens gewisser Nebenbedingungen meistens im
latenten oder potentiellen Zustande verharrt. Anderseits
werden wir annehmen dürfen, dass überall, wo ein alter-
nirendes Bewusstsein besteht, auch die physiologischen
Bedingungen für die dramatische Spaltung und Ver-
doppelung des Ich gegeben sind, und nur das umspan-
nende Uebergreifen des einen Bewusstseins über das
andere hinzuzutreten braucht, um die Verdoppelung des
Ich wirklich herbeizuführen ; die Richtigkeit dieses Satzes
wird bestätigt in denjenigen Fällen des alternirenden
Bewusstseins bei Geisteskranken, in denen die beiden
Zustände nicht plötzlich wechseln oder durch trennende
Bewusstlosigkeit geschieden sind, sondern allmälig in
einander übergehen, wo sich dann stets im Uebergangs-
gangsstadium das Gefühl der doppelten Persönlichkeit
einstellt. —
Nach allem vorher Angeführten sollte man es für
unzweifelhaft halten, dass man es beim Somnambulis-
mus mit einem nicht bloss abnormen, sondern schlecht-
hin krankhaften Zustand des Organismus zu thun hat,
mit einem Zustand, der nicht nur seiner Entstehungs-
ursache nach, sondern afi und für sich pathologisch ist
und deshalb auch nur pathologisch modificirte Functionen
ermöglicht. Dabei ist freilich nicht ausgeschlossen, dass
die Ergebnisse der psychischen Functionen dieses Zu-
standes logisch wahr oder moralisch untadelig seien;
z. B. wenn die pathologische Verfeinerimg der Wahr-
nehmung das Material zu Erkenntnissen und unbewuss-
ten Schlussfolgerungen liefert, welche dem wachen Be-
wusstsein verschlossen bleiben, oder wenn das mora-
lische Gefühl des Menschen durch die physische und
psychische Analgesie des somnambulen Zustandes von
209 —
pathologischen Störungen befreit wird, welche es im
wachen Zustande entstellen. Aber dieser relative Werth
der Ergebnisse jener psychischen Functionen beweist
doch nichts dagegen, dass dieselben an und für sich
pathologischer Natur sind, wie du Prel meint (131, 137,
278). Der Beweis dafür ist damit gegeben, dass auch
andere pathologische Zustände, Sensitivität, Irrsinn u. s. w.
g-elegentlich richtige und ungewöhnliche Ergebnisse durch
ihre pathologischen psychischen Functionen zu Tage
fördern. Anderseits würde die pathologische Natur des
somnambulen Zustandes nicht hindern können, dass die
Natur ihn unter Umständen als das kleinere von zwei
Uebeln wählt, und dass die menschliche Absicht dieses
Beispiel der Natur nachahmt, falls das Uebergewicht des
zu beseitigenden Uebels und seine Beseitigung durch
das gewählte Mittel zweifellos sind.
Du Prel geht es wie so vielen Autoren, die sich
anhaltend mit einem Gegenstande beschäftigt haben, er
überschätzt dessen Bedeutung in jeder Hinsicht. So
wenig es rathsam ist, nach der Weise der Alten die
Träume auf ihren prophetischen Werth hin zu cultiviren,
ebensowenig kann man es empfehlen, den Somnambu-
lismus in ausgedehnterem Masse zu psychologischen
Experimenten oder gar zu Heilzwecken zu benutzen.
Wenn es wahrsagende Träume gibt, so müssen die-
selben nach du Prel in tiefem Schlaf (36) stattfinden,
von welchem wir gar keine oder nur eine durch den
Halbschlaf vermittelte Erinnerung besitzen (49); der Halb-
schlaf aber, der nur werthlose Phantasiebilder liefert
(36, 51), droht die ohnehin schon symbolisirten Ahnungen
des tiefen Schlafs noch zu verunstalten, wenn er sie
einmal ausnahmsweise der wachen Erinnerung über-
liefert. Die Jagd nach prophetischen Träumen würde
deshalb sicherlich in der grossem Mehrzahl der Fälle,
wo man einen solchen vermuthet und nach einer solchen
Hartmann, Moderne Probleme. i/^
— 2IO —
Vermuthung handelt, den Menschen zum Narren haben;
gesetzt aber auch, man lernte einmal aus der Symbolik
des Traums, dass man sich im Incubationsstadium einer
noch nicht ausgebrochenen Krankheit befinde, so würde
dadurch die glückliche Unwissenheit des Kranken nur
um soviel früher zerstört ohne die Therapie zu erleich-
tem, welche doch meist erst in den späteren Stadien
einer Erkrankung eingreifen kann.
Zur Erweiterung imserer psychologischen Kenntnisse
über abnorme psychische Zustände wird man wohl thun,
sich auf genaue Beobachtung des spontanen Somnam-
bulismus zu beschränken; ich würde es eher für zu-
lässig halten, an Menschen mit ihrer Zustimmung Vivi-
sectionsexperimente zu machen, welche doch nur ihren
Körper vorübergehend schädigen, als künstliche Geistes-
störungen in ihnen zu erzeugen, welche erst bei öfterer
Wiederholung interessantere Ergebnisse liefern, dann
aber auch Körper und Geist dauernd zerrütten.*) Da
der durch künstlichen Somnambulismus dem Nerven-
system zugefügte Schaden eine zweifellose Thatsache,
der durch ihn zu erzielende medicinische Gewinn aber
theils illusorisch, theils zweifelhaft und unsicher ist, so
wird jeder besonnene Arzt vor der Anwendung des
Somnambulismus zu Heilzwecken zurückschrecken, ganz
unabhängig davon, ob er sich denselben erklären kann
oder nicht (237); denn die vorläufige Unerklärlichkeit
der Wirkungsweise der meisten Heilmittel hat noch
keinen Arzt von deren Anwendung abgehalten. Ausser-
dem sind es noch Nebengründe, welche die medicinische
Verwendbarkeit des Somnambulismus, selbst wenn man
*) Die oben angeführten Versuche von Binet und F6r6 streifen be-
reits an die Grenze des unheimlich Grausamen auch ohne Anwendung des
Messers; sie liefern dafür aber auch durch Bestimmung der schmerzenden
Stelle bei jeder Art von seitlich transferirter Himfimktion einen höchst
schätzbaren Beitrag zur Lokalisation der Himfunktionen.
— 211 —
sie im Princip zidiesse, doch praktisch (ebenso wie die
örtliche Anwendung des Heibnagnetismus ohn© Hypno-
tisirung) auf Ansnahmefälle beschränken würde, nämlich
die relative Unempfanglichkeit vieler Patienten für
magnetische Einflüsse, di^ relative Seltenheit ausreichen-
der magnetischer Kraft bei Aerzten und die rasche
Krafterschöpfung der Magnetiseure bei erwerbsmässiger
Thätigkeit. Wollte man aber nach den Vorschlägen
Fahnestock's*) aUe Menschen darauf einüben, sich selbst
willkürlich durch psychische Einflüsse in Somnambulis-
mus versenken zu können, so wäre der dadurch im
Nervensystem der Menschheit angerichtete Schade un-
ermesslich, der Gewinn aber höchst zweifelhaft; denn ob
bei schweren Verwundungen, Brandwunden, Schlangen-
bissen, Neuralgien u. s. w. der auf Selbstsomnambuli-
sirung Eingeübte im Stande bliebe, seinen psychischen
Vorstellungsablauf so zu beherrschen, dass der Som-
nambulismus auch wirklich eintrete, darüber hat Fah-
nestock, wie es scheint, noch keine Versuche angestellt.
Den Nutzen, den der Somnambulismus bringen
kann, schlägt du Frei viel zu hoch an. Dass dauernde
vollständige Schlafentziehimg ebenso wie Nahrungsent-
ziehung den Menschen tödtet, ist zweifellos; aber es ist
falsch, aus der Unentbehrlichkeit des Schlafs und der
Nahrung zu schliessen, dass der Mensch sich desto besser
befinden müsse, je mehr Schlaf und Nahrung man ihm
zuführt (2 1 2). Dass Schlafsucht, die zu wochenlangem oder
monatelangem Schlaf fiihrt, nicht nur nicht heilsam ist,
sondern meist mit Blödsinn oder Tod endet, ist bekannt.
Aber gesetzt auch, der Schlaf wäre um so heilsamer, je
tiefer er ist, so wäre doch die daraus gezogene Schluss-
folgerung du Preis falsch, dass der somnambule Schlaf
♦) Statuvolence oder der gewollte Zustand. Von W. B, Fahnestock.
Deutsch von Wittig. Leipzig 1883.
14*
— 212
als der tiefere und intensivere auch heilsamer sein müsse
als der natürliche (41). Denn erstens beruht dieser
Schluss auf der falschen Voraussetzung, dass der Som-
nambulismus eine Vertiefung des normalen Schlafes sei,
und zweitens lässt sie ausser Acht, dass selbst, wenn
er dies wäre, er doch nur eine krankhafte Vertiefung
desselben, die sich niemals an Heilsamkeit mit dem ge-
sunden Schlaf, selbst solchem von geringerer Tiefe,
messen kann. So ist z. B. der durch Chloral, Mor-
phium u. s. w. erzeugte Schlaf tiefer als der gewohn-
liche, und doch sind fünf Stunden natürlichen Schlafes
erquickender als sieben Stunden eines solchen künst-
lich erzeugten; wer aber keinen natürlichen Schlaf finden
kann, greift schliesslich doch zu solchen Mitteln und darf
dann wohl von ihnen rühmen, dass sie nach langer Schlaf-
losigkeit ihn wahrhaft erquickt haben. So mögen auch
Somnambulen, die an Schlaflosigkeit leiden, das Er-
quickende des somnambulen Schlafes rühmen, der ihnen
einen gewissen Ersatz gewährt; ja sogar sie können,
wenn sie an schmerzhaften oder quälenden Zuständen
und Verstimmungen des Nervensystems leiden, mit Recht
dem Hypnotismus wegen seiner Analgesie in ihrem sub-
jectiven Empfinden einen Vorzug vor dem natürlichen
Schlaf einräumen, ebenso wie sie ihm den Vorzug vor
dem ihnen unbehaglichen wachen Zustande geben (493).
Aus dieser subjectiven Bevorzugung des somnambulen
Zustandes durch die Somnambulen auf seine objektive
Heilsamkeit zu schliessen, wäre ebenso voreilig, als
wenn man aus dem Verlangen eines Morphiumsüchtigen
nach neuer Narkose auf die HeUsamkeit der Morphium-
narkose schliessen wollte. Dass der somnambule Zu-
stand nicht erquickender sein kann, als der gewöhnliche
Schlaf, wird dadurch objectiv erwiesen, dass er den
letzteren nicht überflüssig macht, vielmehr bei andauern-
— 213 —
dem Somnambulismus das Bedürfhiss nach natürlichem
Schlaf ganz ebenso eintritt, wie im wachen Zustande (332).
Uebrigens stehen den Aeusserungen der Somnam-
bulen über die Erquicklichkeit des somnambulen Zu-
standes ebensoviel Aeussenmgen gegenüber, dass der-
selbe nicht gut für sie sei, und dass Alles vermieden
werden solle, was ihren Rückfall in diesen Zustand her-
beiführen oder begünstigen konnte (369); nur die Aeusse-
rungen der letzteren Art sind unverdächtige Kundge-
bungen des Heilinstinkts, während bei denen der ersteren
Art der Verdacht nahe liegt, dass der Heilinstinkt durch
den Drang nach relativer Behaglichkeit des subjektiven
Befindens verdunkelt werde. Letzteres wird dadurch
erhärtet , dass die Somnambulen mit dem Schwinden
ihrer subjektiven Beschwerden auch aufhören, nach dem
somnambulen Zustand Verlangen zu tragen; wenn er
aber erquicklich und unschädlich zugleich wäre, so
müssten Alle, die ihn kennen gelernt haben, nach seiner
Wiederholung Verlangen tragen, gleichviel, ob sie ge-
sund oder krank wären. Wenn der Somnambulismus
darum heilsamer wäre als der Schlaf, weil er tiefer,
intensiver als dieser ist, so müsste er um so heilsamer
sein, je tiefer er ist, am heilsamsten also als Hochchlaf;
das Gegentheil davon ist wahr: der somnambule Zu-
stand ist um so schädlicher in seinen Nachwirkungen
auf den Organismus, je tiefer er ist, und der geradezu
lebensgefährliche Hochschlaf wird von den Somnam-
bulen selbt gefürchtet (365). Gegen die prahlerischen
Berichte der Magnetiseure über wunderbare Heilimgen
und Regenerationen in anhaltendem Somnambulismus
ist mehr kritische Vorsicht nöthig, als du Prel anwendet
(212, 254), und das Gleiche gilt für die wunderbaren
Wirkimgen der von den Somnambulen für sich oder
Andere verwendeten Heilmittel.
Da der Somnambulismus ein krankhafter, von dem
— 214 —
gesunden Schlaf specifisch verschiedener Zustand ist,
der den letzteren keineswegs entbehrlich macht, wohl
aber um so schädlichere Nachwirkungen hinterlässt, je
tiefer er war und je öfter er sich wiederholte, so ist
gegen jede Behauptung heilsamer Wirkungen dieses
Zustandes die äusserste Vorsicht geboten. Der spontane
Somnambulismus ist zunächst ebenso zweifellos ein
Symptom einer Erkrankung des Nervensystems wie
Epilepsie, Veitstanz oder Irrsinn; nur die unkritische
vorgefasste Meinung von der Heilsamkeit des Somnam-
bulismus kann zu dem Irrthum verleiten, in jedem Fall
von spontanem Somnambulismus eine Aeusserung der
Naturheilkraft zu sehen. Dabei bleibt natürlich die Mög-
lichkeit nicht ausgeschlossen, dass in einzelnen beson-
deren Fällen der spontane Eintritt des Somnambulismus
in der That als eine Selbsthilfe der Natur aufzufassen
ist, z. B. um durch Analgesie dem Organismus eine
Erholungspause von unerträglichen Schmerzen zu gönnen,
oder um einen Anfall von nervöser Gleichgewichtsstö-
rimg in milderer Form verlaufen zu lassen (larvirte Epi-
lepsie, larvirter maniakalischer Anfall). Ebenso ist es
nicht unmöglich, dass die im Somnambulismus statt-
findende Funktionsausschaltung gewisser Theile des
Organismus und die Veränderung in den Bahnen des
Blutstroms Gelegenheit geben zur Förderung regene-
rativer Vorgänge. Im ersteren Sinne könnte dem Som-
nambulismus ein symptomatischer Werth (zur Vor-
beugung oder Unterdrückung bedrohlicher nervöser An-
fälle), im letzteren Sinne ein Werth für die Linderung
der Krankheitsursachen zugesprochen werden.
Aber was so für den spontanen Somnambulismus
gelten könnte, ist darum noch nicht ohne Weiteres auf
den künstlichen Somnambulismus zu übertragen, wie
du Prel annimmt (140); denn wer steht dafür, dass der
künstliche Somnambulismus genau derselbe Zustand ist.
— 215 —
wie der natürliche, dass er der Natur, die es unterlassen
hat, ihn spontan herbeizuführen, überhaupt willkommen
ist, und dass er genau im rechten Grade imd genau zur
rechten Zeit angewendet wird? Insbesondere der mehr
am Tage liegende prophylaktische Werth als sympto-
matisches Palliativmittel hängt ganz davon ab, dass der
Kranke den Magnetiseur in jedem Augenblick bei sich
hat, was doch viel schwerer ist, als ein Chloral- oder
Morphiumpulver immer bei sich zu tragen. Selbst wenn
die körperlichen Nachtheile der narkotischen Mittel
ebenso gross wären wie die des Somnambulismus (was
entschieden zu bestreiten ist), würden sie doch, da sie
für die Gesundheit dasselbe mit grösserer Sicherheit
leisten, den Vorzug verdienen, weil die Gefahren für
Geist und Charakter bei ihnen ungleich geringer sind.
Nicht minder als den HeUwerth des Hypnotismus
überschätzt du Prel den Werth der somnambulen Sen-
sitivität und der durch sie vermittelten Diagnose eigener
und fremder Körperzustände. Die Art, wie die Som-
nambule ihre Körpertheile fühlt, ist unmittelbar nicht
in Worten auszudrücken, ja nicht einmal unmittelbar
vom Bewusstsein zu vergegenständlichen; erst der in
Anschauimgsbilder umgewandelte, d. h. in Gesichtsein-
drücke übertragene Gefühlseindruck ist in Worten
wiederzugeben. Gesetzt den Fall, der Gefiihlseindruck
von der relativen Lage und dem Zustand der eigenen
Körpertheile wäre genau und bestimmt, so würde er
doch bei der unwillkürlichen Uebertragung in ein An-
schauungsbild zum ersten Mal und bei der Uebersetzung
des letzteren in Worte zum zweiten Mal entstellt. Ent-
weder fehlt es der Somnambule an Worten und tech-
nischen Ausdrücken zur Beschreibung ihres Bildes, so
dass der Deutlichkeitsgrad ihrer Anschauung gar nicht
zu controliren ist ; oder sie beherrscht solche Ausdrücke,
dann besitzt sie sicherlich auch einige unvollkommene
— 2l6 —
Kenntnisse, welche ihrer vermeintlichen Selbstschau
Grundlage und Richtung geben und deren Ergebnisse
entweder verfälschen oder ergänzen. Aber schon der
Gefühlseindruck selbst ist dunkel und unsicher, und es
bedarf schon einer Uebung durch häufige Wiederholung
oder eines ausnahmsweise hohen Grades von Somnam-
bulismus oder einer örtlichen Steigerung der Hyper-
ästhesie durch örtliche Magnetisirung (179)*), um die
totale, beziehungsweise lokale Selbstschau zu einer
einigermassen bestimmten zu machen.
Abgesehen von der natürlichen Unbestimmtheit der
Diagnose (198) und von ihrer Gefährdung durch Ein-
mischung von abstrakten Gedächtniss- Vorstellungen
(178) und Phantasiespielen (171) wird deren Werth noch
durch weitere Fehlerquellen verringert. Einerseits kann
nämlich der Magnetiseur durch vorzeitiges, oder zu-
dringliches oder ungeschicktes Fragen die Somnambule
zwingen, seinen Ansprüchen durch erquälte Antworten
zu genügen, die sie theils nach ihrem eigenen anato-
mischen Kenntnissstand, theils nach dem Wortlaut der
Fragen eingerichtet (178), und andererseits können,
wenn die Annahme der Gedankenübertragung vom
Magnetiseur auf die Somnambule richtig ist, sowohl die
bewussten Gedanken des Magnetiseurs über die von
ihm erwarteten Antworten als auch die unbewussten
Vorstellungen oder dunklen Ahnungen desselben über
den Zustand der Kranken in diese durch den magne-
tischen Rapport übergehen und ihm aus demselben zu-
rücktönen, wie ein Echo, das er nicht als Echo erkennt
(267). Hält der Magnetiseur vorsichtshalber seine Fragen
zurück, bis die Somnambule spontane Aeusserungen
über den Gesundheitszustand vorbringt (178), so wird
*) Diese lokale magnetische Hyperästhesirung bildet das Gegenstück
zu der lokalen Anästhesirung durch narkotische Mittel , und der lokalen
magnetischen Anästhesirung (z. 6. bei Brandwunden).
— 217 —
er nur selten eine Diagnose zu hören bekommen, und
dann noch eine sehr unvollständige und unbestimmte;
geht er dann mit Fragen vor, so weiss er doch nicht,,
was aus dem gesteigerten Körpergefiihl der Somnam-
bule und was aus anderen Quellen stammt. Somnam-
bule zur Diagnose fremder Personen zu benutzen, bleibt^
ob für Geld oder umsonst geübt, immer ein Missbrauch
ihrer Person, der sie schwächt und angreift und gegen
den sie sich mit Recht sträuben (204 — 205). Wäre die
Ausnutzung der somnambulen Sensitivität für Diagnosen
etwas Unschädliches und wirklich Werthvolles, so wäre
nicht abzusehen, warum ein Magnetiseur, der seine
Somnambule (als Frau, Tochter, Pflegling u. s. w.) unter-
hält, nicht ebenso gut wie ein consultirender Arzt für
die gelieferten Diagnosen Honorar annehmen sollte,
zumal sie ja von dem Inhalt der Sitzungen imd ihrer
Entlohnung nichts zu erfahren brauchte (370).
Die Behauptung du Preis, dass die somnambule
Selbstschau viel werthvollere Aufschlüsse über die Ana-
tomie des Menschen als der Leichenbefund, und allein
werthvoUe Aufschlüsse über die physiologische und
pathologische Oekonomie des Menschen zu geben im
{Stande sei, weshalb in der Vivisection nichts als nutz-
lose Grausamkeit zu sehen sei (193), resumirt seine
Ueberschätzung der somnambulen Selbstschau in dra-
stischer Form und verkennt die Nothwendigkeit, sich
der schwer zu erreichenden Wahrheit von möglichst
vielen Seiten her zugleich anzunähern. Nach meiner
Ansicht ist der Missbrauch von Somnambulen zu Dia-
gnosen und Heilverordnungen für dritte Personen eben-
so unbedingt auszuschliessen , wie öffentliche Vorstel-
lungen; auf dem Gebiet der Selbstdiagnose aber wird
nur ganz ausnahmsweise einmal eine in den selteneren
Graden des Somnambulismus spontan eintretende Aeusse-
rung einen diagnostischen Werth für den Arzt haben
— 2l8 —
können. Eine Erweiterung unserer anatomischen, physio-
logischen und pathologischen Kenntnisse im Allgemeinen
von den Aussprüchen der Somnambulen zu erhoffen,
erscheint mir phantastisch imd mit den bisherigen Er-
fahrungen im Widerspruch. Dagegen erkenne ich bereit-
willig den Nutzen an, den das objektive Studium dieser
pathologischen Zustände der Physiologie des Nerven-
systems bringen kann und zum TheU schon gebracht
hat. Derselbe würde noch ungleich grösser sein, wenn
die Vivisection sich mit dem Somnambulismus redebe-
gabter Individuen verbinden liesse, was leider nach den
bisherigen Ansichten über die Zulässigkeit der Vivi-
section bei Menschen nicht angeht.
Aber selbst zugegeben, dass gelegentlich die som-
nambule Selbstschau der ärztlichen Diagnose eine werth-
voUe Ergänzung oder Berichtigung zuführt, so ist damit
doch sehr wenig gewonnen; wäre jeder gxite Diagnostiker
darum auch schon ein guter Arzt (176), so würde es
uns nicht an guten Aerzten fehlen, da in der Diagnose
unsere heutige Medicin ebenso weit vorgeschritten ist,
als sie in der Heilung innerer Krankheiten ohnmächtig
geblieben, ja sogar zur Erkenntniss ihrer Ohnmacht ge-
langt ist. Steht schon den acuten constitutionellen Er-
krankungen der Arzt machtlos gegenüber, so noch weit
mehr den chronischen; allgemeine Kräftigung durch
Diät und Hautpflege ist neben vorübergehender Linde-
rung einzelner lästiger Symptome das einzige, was ihm
der heutige Stand unserer Kenntniss zu leisten gestattet,
insbesondere bei den chronischen Krankheiten des
Nervensystems. Wie wenig nützt ihm da die Genauig-
keit seiner eigenen Diagnose, und wie viel weniger die
gelegentliche Unterstützung durch die Somnambule! —
Nun darf freilich der Heilinstinkt der Somnambulen
nicht ausser Acht gelassen werden; aber dieser wird
sich meist unabhängig von somnambuler Selbstdiagnose
— 219 —
und nur ausnahmsweise im Zusammentreffen mit der-
selben äusseren, besonders, wenn man spontane Aeusse-
rungen abwarten will, denen allein einiger Werth zuge-
schrieben werden kann (255). Abgefragte Heilverord-
nungen spiegeln «fast immer nur die medicinischen An-
sichten des Arztes wieder (267), welche mit den-
jenigen seiner Zeit theils übereinstimmen (257), theils
mehr oder weniger von ihnen abweichen, und zwar nicht
bloss seine bewussten Gedanken und EntSchliessungen,
sondern auch das von ihm Geahnte und noch nicht Er-
fasste, oder das von ihm Gewünschte aber noch nicht
Gewagte (231, 270). Aber auch die spontanen Selbst-
verordnungen der Somnambulen sind mit so viel Fehler-
quellen behaftet, dass man niemals wissen kann, ob und
wie viel der Heilinstinkt dabei mitspricht.
Erstens haben die meisten Laien mehr Kenntniss
von Heilmitteln als von Anatomie, insbesondere Nerven-
leidende, an denen schon viel herum curirt worden
ist, und die oft eine Masse unverdauter medicinscher
Kenntnisse aufgelesen haben (309); es ist daher kein
Wunder, dass auch die Somnambulen die therapeutischen
Systeme ihrer Zeit wenigstens den Grundzügen nach
widerspiegeln (264), wenn ihre Aeusserungen auch mit
dem Glauben imd Aberglauben der Volksmedicin mehr
oder weniger gemischt sind. Ebenso wie die vermeint-
lichen Intuitionen der Somnambulen über metaphysische
und religiöse Dinge nur phantastisch gemodelte unbe-
wusste Reminiscenzen aus dem ihnen geläufigen reli-
giösen Vorstellungskreise sind (185), ebenso sind auch
die vermeintlichen Intuitionen des somnambulen (oder
träumenden) Heilinstincts in der allergrössten Mehrzahl
der Fälle nichts als erinnerungslose Reproductionen von
ftiiher einmal Gehörtem, Gelesenem oder Probirtem,
welche durch die Hyperästhesie des Gedächtnisses dem
Bewusstsein zur Verfiigimg gestellt werden ohne jedes
— 220 —
Merkmal, dass sie aus dem reflexiven disciirsiven Wissen
stammen (229). Zweitens kreuzen sich bei der Somnam-
bulen, als einer Kranken, die perversen krankhaften
Instincte mit dem Heilinstinct, und man kann nie wissen,,
welcher im gegebenen Falle die Oberhand hat; das Ver-
langen nach den unverdaulichsten Dingen (217), nach
kolossalen Dosen stark wirkender Medicamente (270 bis
272), nach Fortdauer und Wiederholung des somnam-
bulen Zustandes gehören ohne Zweifel den ersteren an.
Drittens schützt der Verzicht des Magnetiseurs auf Frage-
stellung bei engem magnetischem Rapport keineswegs
davor, dass nicht schon dessen unausgesprochene be-
wusste und unbewusste Vorstellungen und Wünsche in
die Somnambule übergehen und aus ihr zurücktönen^
Viertens kann die somnambule Traumphantasie sich in
einem Spiel mit ebenso sinnlosen wie unschädlichen
Verordnungen ergehen (171), denen vom Magnetiseur
und demgemäss auch von der Kranken irrthümlich eine
hohe Wichtigkeit beigemessen wird. Berücksichtigt man
endlich, dass Zurückhaltung in der Fragestellung bei
den registrirten Krankheitsgeschichten von Somnambulen
zu den Ausnahmen gehört, so wird man ermessen können^
einen wie geringen Antheil an den berichteten Selbst-
verordnungen man dem Heilinstinkt zuschreiben darf.
Betrachtet man die berichteten Fälle von günstiger
Wirkung der somnambulen Verordnungen, so bleibt
nach Ausscheidung der schlechthin unzuverlässigen
Angaben und nach Abzug der Fälle, in denen bekannte
Heilmittel von anerkannter Wirksamkeit verordnet sind,
in der That noch genug Material übrig, um das Er-
staunen des Laien zu erwecken. Aber ganz dasselbe
ist der Fall bei den zahllosen irrationellen Systemen
der Heilkunst, welche auf der Erde im Schwange gehen^
ja sogar bei Schäfern und wunderthätigen Heiligenbil-
dern; sie alle haben eine Menge zweifellos glücklicher
— 221 —
Kuren aufzuweisen, insbesondere in Fällen von Nerven-
Icrankheiten, die jeder rationellen Behandlung spotten,
und bei denen noch immer das Wort gilt: Dein Glaube
hat Dir geholfen. Wenn mm eine Somnambule den festen
Glauben gewinnt, dass sie in Folge der getroffenen Ver-
ordnungen sich bessern oder genesen werde, so kann
dieser Glaube sehr wohl eine vorübergehende oder
dauernde Veränderung der Krankheit herbeiführen, ganz
abgesehen davon, ob den verordneten Mitteln objectiv
genommen irgend welche Wirksamkeit zukommt. Aus
der objectiven Gleichgiltigkeit des Inhalts der Verord-
nung erklärt sich die Vorliebe der Somnambulen für
anscheinend indifferente Mittel oder für homöopathisch
kleine Gaben (272), zugleich aber auch die Thatsache,
dass die Mittel immer nur ihnen selbst helfen, aber in
anscheinend gleichen Fällen jede Wirkung versagen und
zur Abstraktion von allgemein giltigen Regeln nicht
brauchbar sind (269 — 270); ebenso erklärt sich aus der
grösseren Kraft des Glaubens an eigene als an fremde
Verordnungen die Thatsache, dass die Wirkung der
somnambulen Verordnungen für dritte mit ihnen in
Rapport gesetzte Personen soviel unsicherer ist, als die
Wirkung der Selbstverordnungen.
Hätten die Verordnungen der Somnambiüen irgend
welche objektive Wirksamkeit, so müsste doch unbe-
schadet der gTÖssten Individualisirung der einzelnen
Fälle irgend welcher greifbare Gewinn für die Therapie,
wenn auch nur der allerbescheidensten Art, nachweis-
bcir sein: da dies trotz aller Bemühungen der Magneti-
seure nicht der Fall ist, muss man schliessen, dass die
Wirkung der Verordnungen, soweit letztere nicht von
bereits bekannter objektiver Wirkung sind, nur sub-
jektiver Art ist, und zwar nicht nur bei den Somnam-
bulen selbst, sondern auch bei denen, welche ihre Hilfe
in Anspruch nehmen und an deren Wirksamkeit glauben.
222
Darum ist aber auch die Hoffnung abgeschnitten, aut
diesem Wege jemals einen Fortschritt der medicinischen
Wissenschaft zu erzielen; die Befolgung der somnam-
bulen Verordnungen, soweit keine objektive Wirksam-
keit derselben bekannt ist, wird ein verstandiger Arzt
nur zu dem Zwecke zugeben, tun von dem aufrichten-
den Einfluss des Glaubens und Vertrauens Nutzen zu
ziehen, welcher durch das Vergessen der somnambulen
Verordnung im wachen Zustande nicht beeinträchtigt
wird. Aber kein verständiger Arzt wird den künstlichen
Somnambulismus herbeiführen in der ungewissen Aus-
sicht, eine Selbstverordnung der Kranken zu erzielen,
die vielleicht einen günstigen subjectiven Einfluss auf
das Nervenleiden haben könnte. Ganz unstatthaft aber
ist das Provociren von Verordnungen für dritte Per-
sonen; will man einmal Hokus-Pokus treiben, so giebt
es andere Mittel genug, um medidnisch nützliche Ein-
bildungen in den letzteren hervorzurufen, als dass man
zu dem Zwecke durchaus mit der Gesundheit eines
ohnehin schon Nervenkranken ein frevelhaftes Spiel
treiben müsste.
Bei alledem bin ich weit entfernt, die Existenz eines
Heilinstincts und seine erleichterte Aeusserung im som-
nambulen Zustande zu leugnen; ich behaupte nur, dass
diese Aeusserungen unter einem solchen Wust von
werthtosen und schädlichen Einfällen und Einbildungen
vergraben liegen, dass es ein praktisch aussichtsloses
und bei seinen unvermeidlichen Irrwegen, gefahrliches
Unternehmen wäre, auf dieselben eine indirecte mag-
netische Behandlung der Kranken gründen .zu wollen-
Es ist ja auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass
die Hyperästhesie der Gefühls- und Vorstellungsfunktion
im somnambulen Zustande das Auftauchen hellsehender
Intuitionen über allerlei andere als medicinische Dinge,,
ja sogar über transcendent metaphysische Thatsachen
— 22S —
erleichtert, und trotzdem müssen, wie du Prel zugiebt
(184 — 185), alle Versuche, „aus den Somnambulen Wahr-
sager zu machen oder gar über metaphysische Fragen
von ihnen Aufklärungen zu erhalten, als ganz werth-
los angesehen werden". Dieselben Gründe, welche diese
Versuche auf dem einen Gebiet praktisch werthlos
machen, thim es im gleichen Masse auch auf dem andern.
Noch unzulässiger als die medicinische Verwerthung
ist die pädagogische Ausnutzung des Somnambulismus
im moralischen Interesse, welche du Prel der wohlbe-
gründeten Besorgniss vor unmoralischen Missbrauch der
Macht des Magnetiseurs über die somnambule Person
entgegengestellt (357 — 358). Das somnambule Bewusst-
sein ist ein widerstandsloser und willenloser Geisteszu-
stand, in welchem blindlings jeder Befehl des Magneti-
seurs befolgt wird und die Consequenzen des einmal
erhaltenen Th^tigkeitsimpulses wie bei einem mecha-
nischen Automaten abschnurren ; die somnambule Wider-
standslosigkeit gegen den Willen des Magnetiseurs greift
aber — und darin liegt eine furchtbare Gefahr — auch
in das wache Leben über, so dass die wache Person
die unglaublichsten Vorwände aufsucht, um einen im
somnambulen Zustande erhaltenen Befehl des Magne-
tiseurs zu rechter Zeit zu erfüllen, obwohl sie keine Er-
innenmg an diesen Befehl hat, sondern nur den dunklen,
unmotivirten Trieb zum Vollziehen der fraglichen Hand-
limg empfindet. Der pathologische Charakter des Som-
nambulismus und seine Verwandtschaft mit der Geistes-
störung offenbart sich hier mit voller Deutlichkeit, indem
die unbewusst fortwirkenden Rückstände des somnam-
bulen Lebens bei ihrem Hineinragen in's normcde Leben
sich genau so verhalten, wie die unmotivirten und doch
unwiderstehlich wirkenden Triebe bei Wahnsinnigen.
Beide Arten von decentralisirten Impulsen kommen aus
derselben Region des Centrainer vensystems, nur dass
— 224 —
sie im ersteren Fall durch den Magnetiseur, im letzteren
Fall durch innere krankhafte Reize des Organismus be-
stimmt sind.
Es ist klar, dass dieses Verhältniss der Somnam-
bule zum Magnetiseur den Begriff der Besessenheit
objektiv verwirklicht, von dessen Verwirklichung in
machen Irrsinnsfallen die blosse Dlusion besteht; es ist
ebenso klar, dass die mit solcher Besessenheit gegebene
Aufhebung der Selbstbestimmung des Willens das
psychologische Fundament der Sittlichkeit ganz ebenso
wie der spontane Irrsinn zerstört. Ob der Inhalt des
infiltrirten Willens gut oder böse ist, erscheint relativ
gleichgiltig, da seine Ausführung dem Handelnden doch
nicht mehr moralisch zugerechnet werden kann; aber
das rein Formelle an diesem Verhältniss ist einem
Meuchelmord der sittlichen Persönlichkeit gleich zu
achten, und muss als solcher immer sittlichen Abscheu
erwecken. Das Hinüberspielen des blinden Automaten-
gehorsams aus dem somnambulen in den wachen Zu-
stand kann niemals Früchte von sittlichem Werth, son-
dern höchstens eine maschinenmässige Legalität der
impulsiven Handlungen erzielen; aber die Legalität ist
hier nicht, wie in der echten Pädagogik, eine Vorstufe
Äur Bethätigung sittlicher Autonomie, sondern mit dem
Preise ihrer Zerstörung bezahlt. Nur da, wo durch
Geistesstörung ohnehin die psychische Grundlage der
sittlichen Persönlichkeit aufgehoben ist, kann die Her-
beiführung des somnambulen Zustandes und die Aende-
rung der krankhaften Willensimpulse und Einbildungen
unbedenklich erscheinen; so z. B. wenn man einem Irr-
sinnigen im somnambulen Zustand befiehlt, hinfort nicht
mehr von einem bösen Dämon sondern von einem guten
Genius besessen zu sein, oder ihn selbst die Person
wählen lässt, mit der er die Vertauschung seines wahn-
sinnigen Ich vornehmen will. Auch die Möglichkeit-
— 225 —
Somnambule auf Befehl bestimmte Vorstellungen für
die Dauer vergessen zu lassen, könnte zur Bekämpfung
von fixen Ideen und Zwangsvorstellungen verwerthet
werden.
Es giebt keine launischeren, selbstsüchtigeren, an-
spruchsvolleren, herrschsüchtigeren, empfindlicheren, kurz,
für ihr Umgebung unerträglicheren Individuen, als jene
Art von Nervenkranken, die zum Somnambulismus prä-
disponirt sind, und die öftere Wiederholung des Som-
nambulismus steigert die nervöse Gleichgewichtsstönmg,
aus der diese Unliebenswürdigkeit des Benehmens ent-
springt, hat also eine entschieden ungünstige Rück-
wirkung auf die sittliche Haltung der Person, ebenso
wie auf ihr Gedächtniss und ihre intellektuellen Fähig-
keiten. Nur in der somnambulen Krise selbst, wo der
störende Druck des Nervenleidens auf die Stimmung
der Kranken durch die Ai^gesie aufgehoben ist und
alle Gedächtnissvorstellungen nur mit den ihnen in der
Vergangenheit (also in gesunden Tagen) anhaftenden
moralischen Gefühlswerthen reproducirt werden (317,
319), erscheint auch das aus diesen begleitenden Ge-
fühlswerthen abfliessende moralische Urtheil wieder so,
wie es in gesunden Tagen war. Dieser Zustand kann
also relativ, d. h. im Vergleich mit der krankhaften Ent-
artung des sittlichen Gefühls im wachen Zustande, als
eine Steigerung und Reinigung des moralischen Gefühls
erscheinen (434); aber der Somnambulismus erzeugt
diese nicht, sondern lässt nur die reineren Gefiihlswerthe
der gesunden Vergangenheit durch das Gedächtniss
wieder aufwachen, während er die Störungen des gegen-
wärtigen wachen Lebens zeitweilig verdunkelt.
Nach alledem ist der Nutzen des Somnambulismus
ebenso problematisch wie die Schädlichkeit desselben
für Leib und Seele zweifellos ist; alle Versuche, aus
demselben Nutzen zu ziehen, sind (mit Ausnahme ein-
Hartmann, Moderne Probleme. je
— 226 —
zelner Fälle von Behandlung des Irrsinns) nicht nur
praktisch werthlos, sondern befinden sich auf einem ge-
fahrlichen Irrwege. Es ist praktisch höchst wichtig,
daran festzuhalten, dass der Somnambulismus ein rein
pathologischer Zustand mit ausschliesslich pathologischen
Functionen ist, der vor anderen pathologischen Nerven-
zuständen nichts voraus hat und keine einzige neue
Function des menschlichen Geistes enthüllt, sondern nur
bekannte Funktionen in anderer Zusammenstellung zeigt.
Selbst das eigentliche Hellsehen ist eine Function, die
bei wachem Bewusstsein unter Umständen auch vor-
kommt, und die nur beim Somnambulismus wegen der
Hyperästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie
leichter eintritt; aber noch nie hat die Menschheit in
ihrem Culturprocess von somnambulem Hellsehen irgend
welche Förderung erfahren, weil solche abhängig ist von
der Verbindung des Hell^hens mit der zielbewussten
Besonnenheit der Geistesthätigkeit, die eben im Som-
nambulismus unterdrückt ist.
Die willenlose, decentralisirte, automatenartige Pas-
sivität des somnambulen ßewusstseins (124) stellt das-
selbe tief unter das wache Bewusstsein, ebenso wie das
gewöhnliche Traumbewusstsein, dem gleichfalls das ziel-
bewusste Wollen und die Richtung gebende Aufmerk-
samkeit fehlen (33). Die Geistigkeit und bewusste Ver-
nünftigkeit des wachen Lebens bekundet sich eben
formell in der Erhebung über die anschauliche Bildlich-
keit der Vorstellungen zu abstracten Begriffen und zur
Gedankenreflexion, inhaltlich in der zielbewussten Lei-
tung des Vorstellungs- und Motivationsprocesses, durch
welche auch die autonome Selbstbestimmung des Willens
ermöglicht ist. Ein bloss bildliches Bewusstsein, dessen
Vorstellungsbilder mechanisch von aussen aufgezwungen
werden oder ebenso mechanisch nach zufällig entstan-
denen Associationen abschnurren, imd dessen Hand-
— 227 —
lungen ebenso mechanisch aus den aufgezwungenen
oder zufällig aufgetauchten Bildern entspringen, entbehrt
der Finalität im Vorsteliungsablauf und damit der spe-
cifisch geistigen Vemünftigkeit. Je tiefer der natürliche
oder somnambule Schlaf ist, desto mehr nimmt diese
Lähmung der Spontaneität, diese teleologische Vemunft-
losigkeit der Bilderfolge und Handlungen zu, und nur
die wachsende Hyperästhesie des Gedächtnisses und der
Phantasie bewirkt, dass längere Bilderreihen im Zusam-
menhang verlaufen. Beim normalen Traum, der schon
im Halbschlaf oft längere zusammenhängende Episoden
zeigt, mag bei der Schlaf Vertiefung der zunehmende Ab-
schluss von den Sinnesreizen die Häufigkeit solcher
störenden Unterbrechungen vermindern und dadurch
zur Verlängerung der zusammenhängenden Episoden
beitragen (32); im Somnambulismus giebt umgekehrt bei
gesteigerter Tiefe und damit zunehmendem Autschluss
der Sinne an die Aussenwelt der Magnstiseur den Spi-
ritus rector ab, welcher den mechanischen Bilderfluss
im Zügel hält und von unwillkürlichen Abschweifungen
aus dem Zusammenhang zurückholen kann.
Alles Vernünftige im gewöhnlichen und somnambulen
Traum hängt aber doch lediglich von der Vemünftig-
keit des wachen Bewusstseins ab, nämlich bei beiden
von der Vemünftigkeit der im Gedächtniss niederge-
legten Associationen, durch welche die Reihenfolge der
Reproduction bestimmt wird, und beim Somnambulis-
mus ausserdem von der Vernünftigkeit des den Traum
der Somnambule leitenden Magnetiseurs. Je tiefer der
Schlaf wird, desto tiefer versinkt das Traumbewusstsein
in mechanische Passivität, in gedankenlose Bildlichkeit
und in die Neigimg zu symbolischer Personification (99),
desto weiter entfernt es sich von der vernünftigen Geistig-
keit des wachen Bewusstseins; je tiefer und fester der
Schlaf, desto tiefer wird die Seele in das organische
15*
r'
— 228 —
Treiben der Natur versenkt (215). Je weiter sich aber
der Seelenzustand von der vernünftigen Geistigkeit ent-
fernt und je tiefer er in das organische Treiben des
blossen Naturdaseins versenkt wird, desto mehr steigt
er auf der Stufenleiter der organischen Entwickelung
abwärts, desto unähnlicher wird er dem specifisch Men-
schlichen und desto ähnlicher dem thierischen und pflanz-
lichen Leben. Das wache Bewusstsein der Thiere von
den Amphibien abwärts gleicht zweifellos mehr dem
somnambulen Bewusstsein als dem wachen Bewusstsein
des Menschen, und die Sensitivität des somnambulen
Zustandes fiir unorganische und organische Einflüsse, für
chemische, elektrische und meteorologische Eindrücke
gleicht mehr dem thierischen und pflanzlichen Ver-
wachsensein mit dem Naturganzen als der menschlichen
Aussonderung aus demselben.
Wenn man demnach vor die Alternative gestellt
wäre, ob der Somnambulismus sammt seiner sensitiven
Einfühlung in den Naturzusammenhang als eine ata-
vistische Gestaltung, d. h. als ein Ueberlebsel über-
wundener biologischer Entwickelungsstufen, oder ob er
als keimartige Anticipation einer auf Erden noch uner-
reichten höheren biologischen Entwickelungsstufe zu
deuten sei, so müsste die Antwort zweifellos zu Gunsten
des atavistischen Rückfalles in niedere Lebensstufen
lauten, und die Erörterung, ob die eventuell dem Som-
nambulismus entsprechende höhere Entwickelungsstufe
noch hier auf Erden, oder in einem besseren Jenseits
oder auf anderen Weltkörpem erreicht werden wird
(387» 125) ist völlig bodenlos. Aber selbst die Frage,
die jener Alternative zu Grunde liegt, ist schon falsch
gestellt; denn sie ist nur zulässig bei normalen physio-
logischen Zuständen, die in der gradlinigen Entwicke-
lung liegen, aber unzulässig bei pathologischen Zuständen,
die aus derselben seitlich heraustreten.
— 229 —
Niemand zweifelt daran, dass ein Irrsinniger mit
altemirendem Bewusstsein, trotz seines zwiespältigen
Bewusstseinslebens, und trotzdem er in dem einen Zu-
stand als eine andere geistige Persönlichkeit wie in dem
andern erscheint, doch nur eine einzige geistige Per-
sönlichkeit mit einem einzigen Bewusstsein, aber mit
wechselnden Zuständen und demgemäss wechselndem
Inhalt dieses Bewusstseins ist. Nicht das Bewusstsein
ist bei solchen Kranken doppelt, auch nicht das Vor-
stellungsmaterial, über das sein Bewusstsein insgesammt
verfugt, sondern nur in zwei Gruppen ist das Vorstel-
lungsmaterial getheilt, so zwar, dass jede Vorstellung
einer Gruppe mit jeder derselben Gruppe sich leicht
associirt, mit irgend welcher Vorstellung aus der anderen
Grruppe aber gar nicht oder doch sehr schwer associirt.
Der Vorrath der einen Gedächtnisskammer scheint in
zwei Kammern vertheilt (298), weil er in zwei Haufen
getheilt ist, die untereinander sich nicht berühren. Dass
nur ein leerer Raum, aber keine Scheidewand zwischen
ihnen steht, erhellt daraus, dass manchmal beim Ueber-
gang des einen Zustandes in den anderen beide Grup-
pen doch in einander übergreifen, aber sich wegen ihrer
Fremdartigkeit abstossen.
Man kann das Bewusstsein mit einer Blendlaterne
vergleichen, welche durch ihren Lichtkegel immer nur
einen engbegrenzten Ausschnitt der Umgebung auf
einmal beleuchtet; dreht sich diö Laterne langsam, so
rückt der Lichtkegel stetig weiter und die Continuität
des wechselnden Bewusstseinsinhalts bleibt gewahrt, —
dreht sie sich aber plötzlich mit einem Ruck um mehr
als den Scheitelwinkel ilu-es Erleuchtungskegels, so sind
ganz von einander getrennte Ausschnitte der Umgebung
beleuchtet, welche bei der Dunkelheit der sie thatsäch-
lich verbindenden Brücke als zwei getrennte Bewusst-
seine erscheinen. Dass dieser Schein trügt, ist daraus
— 230 —
empirisch zu erweisen, dass die Uebergangsbrücke unter
Umständen, bei langsamer Drehung der Laterne, wirk-
lich beobachtet, also das Vorhandensein des objektiven
Zusammenhanges beider Gruppen erfahrungsmässig con-
statirt wird. Denn wo die Vergleichung von Vorstel-
lungen aus den verschiedenen Bewusstseinszuständen
überhaupt möglich ist, da ist sie es nur unter der Vor-
aussetzung der Einheitlichkeit des Bewusstseins in beiden
Zuständen ; wo sie aber gar nicht beobachtet wird, liegt
in dieser Nichtwirklichkeit doch noch kein Beweis für
ihre Unmöglichkeit oder gar (wie du Prel meint — 438)
für die Doppelheit des Bewusstseins, da auch dann
immer noch ein identisches Bewusstsein bestehen kann,
dem nur die Handhabe dazu fehlt, seine Identität mit
in seinen Inhalt aufzunehmen.
Nun kennen wir innerhalb desselben menschlichen
Organismus keine Bewusstseinszustände, zwischen denen
nicht wenigstens ausnahmsweise ein Uebergang, eine
wenn auch nur schwache Grenzberührung stattfände.
Das wache Bewusstsein erinnert sich vieler Träume und
mancher Vorgänge aus dem somnambulen Traumleben,
besonders wenn für associative Erinnerungsbehelfe Sorge
getragen wird ; ebenso erinnert sich das Traumbewusst-
sein mancher Vorgänge aus dem somnambulen Leben,
und das somnambule Bewusstsein ausnahmsweise der
Vorgänge aus dem Hochschlaf (347 — 356). Nach den
neueren französischen Berichten, ist der entschiedene
Befehl des Magnetiseurs an die Somnambule, sich nach
dem Erwachen an bestimmte Vorgänge des somnam-
bulen Zustandes oder die ganze Reihe derselben zu
erinnern, ausreichend, um die Erinnerungsbrücke mit
Sicherheit herzustellen. *) Diese Thatsachen genügen
*) Die Wirksamkeit des Befehls zur Erinnerung ist analog der Wirk-
samkeit des Befehls zum Vergessen und zur Elimination bestimmter Wahr-
nehmungskomplexe aus der Wahrnehm ungsphäre. Die Sage von der Tarn-
— 231 —
zum strengen Beweise des Satzes, dass wir es in allen
diesen Fällen nicht mit verschiedenen Bewusstseinen
innerhalb desselben organischen Individuums, sondern
mit verschiedenen, physiologisch bedingten Zuständen
desselben einen und einzigen Bewusstseins zu thun haben,
und es bedarf dazu kaum noch des Hinweises darauf,
dass das Umspannen des einen Bewusstseinszustandes
durch den andern nicht die Ausnahme, sondern die
Regel ist, wenn wir vom Hochschlaf durch das som-
nambule und Traumbewusstsein zu den verschiedenen
normalen und abnormen Zuständen des wachen Bewusst-
sein fortschreiten.
Diese Sätze sind so selbstverständlich, dass wohl
Niemand darauf verfallen wäre, sie in Frage zu stellen,
wenn nicht der optische Dualismus (148) der phan-
tastischen Spaltung (38) des Ich in manchen abnormen
Bewusstseinszuständen mit einer Mehrheit relativ ge-
sonderter Bewusstseinszustände ^zusammenträfe. Nun ist
aber klar, dass die hallucinatorische Deutlichkeit eines
Trauminhalts gar nichts für dessen Realität beweist,
dass es dem Aberglauben verfallen heisst, wenn man
die Traumfiguren des gewöhnlichen oder somnambulen
Traumes für wirkliche Personen nimmt (210, 186), und
dass die Neigung zur Verbildlichung und symbolisch-
phantastischen Personification mit der Tiefe des Traum-
bewusstseins wächst (99), also z. B. die Zahl der Schutz-
engel und Interlocutoren mit der Steigerung des Som-
nambulismus zunimmt. Wie ist es unter solchen Um-
ständen möglich, die symbolischen Personificationen des
Traumbewusstseins ausnahmsweise als Realitäten zu
behandeln, sobald sie sich auf einen anderen, relativ
gesonderten Bewusstseinszustand desselben Individuums
kappe wird zur Wahrheit, indem die Somnambule nach dem Erwachen
nnfahig ist, eine bestimmte anwesende Person wahrzunehmen, wenn ihr
diess im somnambulen Zustand befohlen war.
— 232 —
beziehen, falls nicht schon auch ohnedies ein genügen-
der Grund vorliegt, eine Mehrheit von Bewusstseinen
oder Personen innerhalb desselben organisch-psychischen
Individuums anzunehmen? Da wir gesehen haben, dass
dazu nicht nur kein Grrund vorliegt, sondern eine solche
Annahme entschieden unstatthaft ist, so ist es auch
schlechthin unstatthaft, in der Anerkennung des phan-
tastisch-illusorischen Charakters aller dramatischen Spal-
tungen des Ich eine Ausnahme zu Gunsten der Per-
sonification des normalen wachen Bewusstseinszustandes
durch den irrsinnigen (343) oder durch den somnam-
bulen zu machen (438, 189, 127).
Wäre das statthaft in Bezug auf die somnambule
Traumpersonification des normalen wachen Zustandes
durch das somnambule Bewusstsein, so wäre es nicht
minder geboten in Bezug auf die Personification der
abnormen wachen Bewusstseinszustände durch das som-
nambule Bewusstsein und in Bezug auf die Personifi-
cation des somnambulen Zustandes durch das Bewusst-
sein des Hochschlafs ; wir würden also durch diese Art,
zu schliessen, doch niemals auf zwei, sondern sofort auf
fünf bis sechs getrennte Bewusstseine und Personen
innerhalb desselben organisch- psychischen Individuums
geführt werden. Die verschiedenen abnormen Bewusst-
seinszustände sind von einander in nicht geringerem
Grade relativ abgesondert als der normale Bwusstseins-
zustand von den abnormen; es ist also ganz unzulässig,
wie du Prel thut, die Absonderung* des normalen Zu-
standes von den abnormen zur Scheidegrenze zwischen
zwei Bewusstseinen oder Personen im Individuum zu
stempeln, die Absonderung der abnormen Zustände
unter einander aber zu ignoriren und alle diese Be-
wusstseinszustände kurzweg als „die zweite Person" im
Individuum zusammenzufassen. Der optische Pluralismus
der Personen ist überall, auch als Dualismus der Per-
— 233 —
sonen im somnambulen oder Traumbewusstsein eine
phantastische psychologische Illusion oder Fiction, und
wenn auch die Thatsache dieser Illusion keine illuso-
rische, sondern eine reelle Thatsache ist (114), so darf
man aus diesem Satze doch unter keinen Umständen
zu Schlüssen, welche die Realität des Inhalts dieser
Illusion unvermerkt voraussetzen, fortschreiten (112).
Das wache Bewusstsein und das somnambule Be-
wusstsein sind also nicht zwei Bewusstseine, sondern
zwei Zustände eines Bewusstseins, die durch Schwellen-
verschiebimg in einander überfliessen können, und von
denen der erste vom zweiten zwar durch regelmässige
Erinnerungslosigkeit, der zweite vom ersten aber nur durch
die phantastische illusorische Personification desselben
abgesondert ist. Wenn die Blendlaterne des Bewusst-
seins sich vom wachen zum Traumzustand oder zum
hypnotischen Zustand hin dreht, so erweitert sich der
Lichtkegel nach der Seite der sensitiven Gefiihlsein-
drücke, verengt sich aber nach der Seite der Sinnes-
wahmehmungen und der bewussten Zwecke und Inter-
essen des Tageslebens; wenn dann der hypnotische.
Zustand in den somnambulen übergeht, so wird die
vorherige Verengerung in Bezug auf die Sinneswahr-
nehmungen wieder rückgängig gemacht.
Das Organ der Willkür, der Spontaneität, der Auf-
merksamkeit, der Besonnenheit, der zielbewussten Lei-
tung des Vorstellungsablaufs, der absichtlichen Hervor-
rufung von Vorstellungen und Motiven und damit der
Selbstbestimmung des Willens wird beim Uebergang
aus dem wachen in den träumenden oder somnambulen
Zustand gelähmt oder ausser Thätigkeit gesetzt; damit
hört auch die zügelnde und hemmende Thätigkeit auf,
welche dieses Organ auf die äussere und innere Re-
flexthätigkeit der übrigen Centraltheile des Nerven-
systems ausübt und durch welche es deren decentrali-
— 2 34 —
sirende Impulse centralistisch beherrscht. Weil diese
reflexhemmende, regulirende und leitende Thätigkeit
des höchsten Geistesorgans am meisten anstrengt und
am schnellsten ermüdet, so ist auch dieses Organ, das
wir der Kürze halber hinfort mit „Willkürorgan" be-
zeichnen wollen, am meisten der Erholung bedürftige
und es ist deshalb offenbar als eine teleologische Ein-
richtung aufzufassen, dass es beim Einschlafen zuerst
depotenzirt wird.
Nun ist es aber ein allgemeines physiologisches Ge-
setz, dass die gehemmte Innervationsenergie des Nerven-
systems eine gewisse Beständigkeit besitzt, und wenig-
stens keinen plötzlichen Schwankungen ausgesetzt ist.
So z. B. ist die hysterische Anästhesie der einen Körper-
hälfte allemal mit einer entsprechenden Hyperästhesie
der andern Körperhälfte verbunden, welche beiden Zu-
stände durch einen die gesammte Innervationsenergie
wieder gleichmässig vertheilenden galvanischen Strom
in gleichem Masse (wenn auch nur vorübergehend) ge-
hoben werden können. Dem entsprechend muss die
plötzliche Anästhesirung des Willkürorgans beim Ein-
schlafen eiine Hyperästhesirung anderer Theile des
Nervensystems als unvermeidliche Ausgleichungserschei-
nung im Gefolge haben, und diese theilweise Compen-
sations- Hyperästhesie wird um so intensiver auftreten,
auf je beschränktere Theile sie concentrirt ist. Daraus
entspringen die lebhaften Träume unmittelbar nach dem
Einschlafen, wenn die gesammte Innervationsenergie des
Organismus noch nicht Zeit gehabt hat zu sinken, und
vor dem Erwachen, wenn sie durch die Kräftigung des
genossenen Schlafes sich wieder bis zur Höhe des Tages-
lebens erhoben hat. Dagegen ist anzunehmen, dass die
erholende Wirkung des tiefes Schlafes um so grösser
ist, je tiefer die gesammte Innervationsenergie des Or-
ganismus allmählich nach dem Einschlafen unter das
— 235 —
Niveau des Tageslebens gesunken ist, so dass im ge-
sunden tiefen Schlaf eine Hyperästhesie irgend welcher
Theile des Nervensystems nicht stattzuhaben braucht.
Dem Somnambulismus als einem krankhaften Zu-
stand ist es im Unterschiede vom gesunden tiefen imd
ruhigen Schlaf eigenthümlich , die Innervationsenergie
des wachen Lebens und mit ihr die Hyperästhesie ge-
wisser Theile des Nervensystems festzuhalten, und dies
ist der Grund dafiir, dass einerseits das Traumbewusst-
sein in ihm niemals erlischt, und dass andererseits er
nicht wie der Schlaf das Schlafbedürfniss beftiedigt,
sondern bei längerer Dauer geradezu hervorruft. Je
höher die Hpyperästhesie der im Somnambulismus func-
tionirenden Theile steigt, auf einen desto engeren Be-
zirk muss die gesammte Innervationsenergie concentrirt
sein, desto mehr Theile müssen also der Anästhesie ver-
fallen sein; es muss also z. B. das Bewusstsein des
Hochschlafs auf einem beschränkteren functionirenden
Gebiet des Centralnervensystems beruhen, als das ge-
wöhnliche somnambule Bewusstsein. Da die Hyper-
ästhesie des Gedächtnisses und der Phantasie im Som-
nambulismus diejenigen des gewöhnlichen Traumes nach
dem Einschlafen übersteigen, trotzdem dass im ersteren
die Perceptionscentra für Sinneswahmehmungen in
Function, in letzerem anästhetisch sind, so lässt sich
daraus entnehmen, dass (wenn man von der unwahr-
scheinlichen Annahme einer Steigerung der gesammten
Innervationsenergie im Somnambulismus gegen den
wachen Zustand absieht) entweder im Traum schon eine
gesunkene Gesammtenergie sich bethätigt, oder aber im
Somnambulismus ein beschränkteres Gebiet des Central-
nervensystems functionirt als im Traum. Vielleicht findet
beides zugleich statt.
Jetzt erst erhält der obige Vergleich des Bewusst-
seins mit einer Blendlaterne eine bestimmte physio-
— 236 —
*
logische Bedeutung. Die Umgebung, auf welche der ver-
schiebbare Beleuchtungskegel fallt, ist nicht als die äus-
sere Umgebung des Organismus zu verstehen, sondern
als die Gesammtheit des den Bewusstseinsfunctionen zur
organischen Unterlage dienenden Centralnervensystems;
es zieht immer derjenige Theil den Beleuchtungskegel
des Bewusstseins auf sich, auf welchen jeweilig das
Maximum von Innervationsenergie concentrirt ist, wäh-
rend die zeitweilig anästhetischen Theile im Dunkel
bleiben. Je nachdem die functionirenden Theile der einen
oder der anderen Art von sensiblen und sensorischen
Nerven näher oder ferner liegen, sinkt oder steigt die
Empfindungsschwelle für die betreffende Art von Em-
pfindungen und Wahrnehmungen; allen abnormen Be-
wusstseinszuständen gemeinsam aber ist die Hyper-
ästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans, welche
deshalb (neben jenen variablen Compensationserschei-
nungen) als die constante Compensationserscheinung
zur Anästhesie des Willkürorgans anzusehen ist. Wenn
im wachen Bewusstseinszustande Vorstellungen aus dem
Vorstellungskreise der somnambulen Krisen berührt
werden, und dabei ausnahmsweise eine Wiedererkennung
stattfindet, so heisst das mit andereu Worten: der Be-
leuchtungskegel des Bewusstseins hat diejenigen Theile
des Centralnervensystems gestreift, in welchem die som-
nambule Vorstellung sich vollzogen hatte, und in wel-
chem demgemäss auch ihr Gedächtnisseindruck nieder-
gelegt ist; der Beweis dafür liegt in der Thatsache, dass
jede solche Wiedererkennueg den Wiedereintritt des da-
mals bestehenden Vertheilungszustandes der gesammten
Innervationsenergie, d. h. den Rückfall in den somnam-
bulen Zustand begünstigt und nicht selten wirklich her-
vorruft (363—364)-
Es ist für die Psychologie ohne Bedeutung, wenn
auch von hohem physiologischen Interesse, welche Theile
— 237 —
des Centralnervensystems im Traum und Somnambulis-
mus ausgeschaltet, und welche in gesteigerter Thätig-
keit sind. Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass die
Anästhesirung im Schlaf und Somnambulismus ebenso
wie in der Chloroformnarkose von der Peripherie des
Centralnervensystems nach dessen Centrum fortschreitet
(55); doch hilft uns dieser Satz nicht viel, da wir nicht
überall genau wissen, welchen von zwei Himtheilen wir
als den centraleren ansehen sollen, und da er ausserdem
ohne Zweifel beträchtliche Ausnahmen erleidet. Nur
soviel ist gewiss, dass das Willkürorgan in der Rinden-
schicht: der Grosshimhemisphären zu suchen ist, und
deshalb im physiologischen Sinne eine peripherische
Stellung zum Mittelhim einnimmt, trotz seiner Hege-
monie im Gebrauch der Leistungsfähigkeit des gesamm-
ten Organismus. Als die am meisten centralen sind jene
Theile zu betrachten, die auch im völlig traumlosen,
tiefen Schlaf noch functioniren müssen, um den Fort-
bestand des Lebens zu sichern; während diese Theile
im gesunden tiefen Schlaf besonders günstig functioniren
(wie der stärkende und regenerirende Einfiuss dieses
Zustandes auf den Organismus beweist), scheinen sie im
somnambulen Hochschlaf (wahrscheinlich wegen fort-
bestehender Hyperästhesie der Perceptionscentra für
Sinneswahmehmungen trotz gesunkener Gesammtener-
gie) bereits in ihrer Function bedroht, als ob sie im
Begriff wären, von Lahmimg und Anästhesie befallen
zu werden, so dass der eigentliche Hochschlaf schon als
ein nicht ungefährlicher Zustand zu betrachten ist, dessen
künstliche Herbeiführung als ein durch nichts zu recht-
fertigendes Wagniss verurtheilt werden muss.
Der Schwerpunkt des physiologischen Problems
liegt in der Frage: wo sind im somnambulen Zustande
die Perceptionscentra für Sinnes wahmehmimgen , das
Ausführungscentrum für Handlungs- und Sprachbe-
— 238 —
wegungen und die Centra für Sach- und Wortgedächt-
niss, sowie für gestaltende Phantasiethätigkeit zu suchen?
Dass sie im Sonnengeflecht nicht zu finden sind,
unterliegt keinem Zweifel. Das Sonnengeflecht kann
höchstens als reflectorisches und instinctives motorisches
Centrum für einen Theil der vegetativen organischen
Processe, als Perceptionscentrum für Gefühlseindrücke
der eigenen Eingeweide und allenfalls noch für Gefühls-
eindrücke, die aus den Beziehungen des Organismus zur
umgebenden Natur stammen, angesehen werden, aber
nur soweit die letzteren von gefühlsmässiger Unbestimmt-
heit, d. h. nicht zu Sinneswahrnehmungen differenzirt
sind; denn eben weil das Sonnengeflecht nicht mit
Sinnesnerven in directer Verbindung steht, und nicht
darauf eingerichtet ist, deren specifisch differenzirte
Reize in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, kann es
sich die allgemeine Perceptionsfahigkeit der Ganglien
für undifferenzirte Gefiihlsreize in um so höherem Grade
bewahrt haben, also wohl geeignet sein, die innere
Selbstschau der Somnambulen, ihre Diagnosen fremder
Krankheiten und ihre Sensitivität für chemische, me-
teorologische und andere Einflüsse zu vermitteln. Um
aber die so percipirten Reize in Bilder umzusetzen oder
zu symbolisiren, und um die Bilder wieder in Worte
zu übertragen und gar die Worte auszusprechen, dazu
müssen nothwendig die etwaigen Gefühlsperceptionen
des Sonnengeflechts zu Hirntheilen hingeleitet werden,
welche mit den Sinnes- und Sprachbewegungsnerven in
unmittelbarer Verbindung stehen. Die Aussagen der
Somnambulen über ihre Perception durch den Magen
oder die Herzgrube deuten allerdings auf eine gesteigerte
sensitve Thätigkeit des Sonnengeflechts und auf einen
krankhaft gesteigerten Rapport zwischen ihm und dem
Gehirn (190, 142); aber mehr lässt sich aus denselben
sicherlich nicht entnehmen (188, 397 — 398), und du Preis
— 239 —
Ueberschätzung des Gangliensystems im Allgemeinen
{141, 187, 211) entbehrt der thatsächlichen Begründung.
Es bleibt sonach bloss die Wahl zwischen den ver-
schiedenen Bestandtheilen des Gehirns. Dass das Will-
kürorgan nur einen Theil der Grosshimhemisphärenrinde
beansprucht, ist als sicher anzunehmen; es ist demnach
wohl möglich, dass der ganze übrige Theil der Gross-
himhemisphären im Traum und Somnambulismus weiter
functionirt, insbesondere das Sprachcentrum, das Ge-
■dächtniss und die Phantasie. Wenigstens liegt kein
zwingender Grund zu der Annahme vor, dass die Phan-
tasie des Traumes eine schlechthin und specifisch andere
als die des wachen Bewusstseins sei, wie du Prel meint
(56, 180); denn wenn z. B. Walter Scott seinen Ivanhoe
im Fieber componirte, ohne nachher von dieser Aus-
führung seiner allgemeinen Idee etwas zu wissen (328),
so spricht das dafür, dass die Traumphantasie des Fieber-
•deliriums mit der künstlerischen Phantasie identisch ist.
Dass es streckenweise Fimctionslähmungen des Gross-
himgedächtnisses giebt ohne Functionslahmung desselben
im Allgemeinen, zeigen eine Menge Beispiele (335); es
wäre daher auch dann, wenn wir das somnambule Ge-
•dächtniss als identisch mit dem wachen Gedächtniss des
Gehirns betrachten, die Erklärung von Erscheinungen
nicht ausgeschlossen wie derjenigen, dass das wache
Gedächtniss die willkürlich eingeprägten und die zu den
wachen Lebensinteressen in Beziehung stehen den Vorstel-
lungen leichter reproducirt, das somnambule Gedächtniss
dagegen die unwillkürlich percipirten Vorstellungen und
Vorstellungsreihen (308). Auch die verschiedene Färbung,
welche das somnambule und Traumbewusstsein im Ver-
gleich zum wachen Bewusstsein seinem Inhalt verleiht,
und welche besonders beim Wechsel beider Zustände
durch den Contrast spürbar wird, würde nach dieser
Hypothese erklärbar bleiben; denn wenn in einem
— 240 —
Orchester auf der einen Seite eine Anzahl Instrumente
wegfallen, auf der anderen Seite eine Anzahl neuer In-
strumente hinzutreten, so muss die Klangfarbe des
Gesammteindrucks nothwendig eine andere werden.
Endlich würde die Annahme, dass das somnambule und
Traumbewusstsein auf einem Zusammenwirken von
Theilen des Grosshims mit dem Mittelhim und Klein-
hirn beruht, den Vortheil haben, noch ein weiteres Ge-
biet übrig zu lassen, innerhalb dessen eine neue Ver-
schiebung des Beleuchtungskegels, wie sie im somnam-
bulen Hochschlaf eintritt, geringeren Schwierigkeiten
der Erklärung begegnet.
Andererseits liegt aber auch keine Nöthigung" vor,
dass Theile des Grosshirns beim Zustandekommen des
somnambulen Bewusstseins betheiligt sein müssen. Wir
wissen, dass die einzelnen Himtheile relativ selbststän-
dige Centralorgane mit selbstständigen Perceptions- und
Motionscentren, selbstständigem Gedächtniss und selbst-
ständigen Reflexen zwischen Empfindung und Bewegung,
zwischen Bewusstsein und Handlung sind, und wir wissen
nicht, ob nicht schon die Phantasie des wachen Be-
wusstseins ihr materielles Substrat ausserhalb des Gross-
hirns liegen hat, da sie weniger als andere Geistesfahig-
keiten von der Willkür beherrscht wird. Sicher ist^
dass das Kleinhirn im Traum und Somnambulismus eine
erhöhte Thätigkeit entfaltet, womit die Behauptung
Reichenbachs übereinstimmt, dass die odische Intensität
(d. h. die Innervationsenergie) im Wachen im Grrosshirn,
im Schlaf im Kleinhirn überwiegt (57).
Das Kleinhirn ist in erster Instanz Gehörs- und
Gleichgewichts- Centrum, und demgemäss ist die Fähig-
keit der Gleichgewichtsbehauptung im somnambulen
Zustand entschieden gesteigert, so wie das Gehör der
erste der oberen Sinne ist, durch welchen die Somnam-
bule mit der Aussenwelt in Beziehung tritt, und immer
— 241 —
derjenige Sinn bleibt, durch welchen der Magnetiseur
die Somnambule am leichtesten und sichersten be-
herrscht und leitet. Das Kleinhirn besitzt zweifellos ein
Gedächtniss für Gehörseindrücke, also auch ein Wort-
gedächtniss, und wahrscheinlich auch ein Centrum der
musikalischen Phantasie und ein motorisches Centrum
für reflectorische Sprachbewegungen. Vermuthlich ist
es das Kleinhirn, welches die mit dem Ohr, aber nicht
mit dem wachen Grosshirnbewusstsein aufgefassten Worte
eines Dritten percipirt und aufbewahrt und uns ermög-
licht, sie nachträglich, nachdem sie im Ohr längst ver-
klungen sind, mit dem Grosshirnbewusstsein percipiren
zu können, wenn wir veranlasst sind, unsere Aufmerk-
samkeit auf dieselben zu richten (363).
Aber was dem Kleinhirn fehlt, ist die nähere Ver-
bindung mit dem Sehnerv, und demgemäss die Auf-
nahmefähigkeit für Gesichtseindrücke und Phantasie-
bilder; diese besitzen dagegen die Vierhügel, und mit
ihr das Bilder- Gedächtniss und die Fähigkeit, auf Ge-
sichtseindrücke reflectorisch zu reagiren. Kleinhirn und
Vierhügel zusammen dürften demnach für sich allein
schon genügen, um die Art des somnambulen Verkehrs
mit der Aussenwelt und das mechanische Fortspinnen
somnambuler Träume zu erklären, womit indess keines-
wegs behauptet werden soll, dass keine anderen Him-
theile bei den betreffenden Functionen betheiligt seien.
Eine exacte Lösung würde die Frage nach der physio-
logischen Grundlage des somnam"bulen Bewusstseins und
nach dem Mass der functionellen Betheiligung des Son-
nengeflechtes und der einzelnen Hirntheile nur durch
Vivisectionsversuche an somnambulen Menschen finden
können; indess lässt sich nicht in Abrede stellen, dass
die Schmerzlokalisationen bei den mehrfach erwähnten
Versuchen von Binet und F6r6 auf Theile des Gross-
hirns als materielle Grundlage der somnambulen psy-
Hartmann, Moderne Probleme. x6
— 242 —
chischen Functionen mit grosser Wahrscheinlichkeit hin-
weisen .
Wie dem auch sei, so viel ist gewiss, dass wir
keinen Grund haben, die abnormen Bewusstseinszustände
von der physiologischen Grundlage des Centralnerven-
systems abzulösen (187), so lange wir an der Unent-
behrlichkeit einer solchen für das wache Tagesbewusst-
sein festhalten; denn die psychischen Functionen dieser
abnormen Zustände sind, wie wir gesehen haben, weit
geistloser, sinnlicher, mechanischer und inniger mit dem
organischen Naturleben verwachsen als diejenigen des
normalen Bewusstseinszustandes, und sind es um so
mehr, je weiter sie 'sich von dem letzteren entfernen,
d. h. je tiefer der Schlaf, je gesteigerter der Somnam-
bulismus wird. Will man mit du Prel das normale wache
Bewusstsein „das sinnliche" in der engeren Bedeutung
des Wortes nennen, so sind die abnormen Bewusstseins-
zustände als „untersinnliche" zu bezeichnen, und sie
sind um so „untersihnlicher", je weiter sie sich vom
normalen sinnlichen Bewusstsein entfernen. Wenn es
ein vom leiblichen Organismus und seinem Zerfall un-
abhängiges „leibfreies'* Bewusstsein hinter dem „sinn-
lichen" gäbe, so wäre solches jedenfalls in der entgegen-
gesetzten Richtung zu suchen, als in derjenigen, welche
wir mit der Untersuchung der abnormen „untersinn-
lichen" Bewusstseinszustände beschritten haben, denn
es wäre nur als ein dem organischen Treiben der Natur
entrücktes, „übersinnliches", dem wachen Bewusstsein
an teleologisch -vernünftiger Geistigkeit überlegenes zu
denken. Will man mit du Prel dieses hypothetische
leibfreie Bewusstsein mit dem metaphysischen „Unbe-
wussten" des betreffenden Individuums gleichsetzen
(395) S. VI), so ist jedenfalls der Somnambulismus eine
schlechtere Eingangspforte zu dieser Region als das ihr
näher stehende wache Bewusstsein, und am allerwenigsten
— 243 —
die einzige Eingangspforte zu derselben, wie du Prel
meint (158); denn es ist eine Eingangspforte nur zu einem
Theil des physiologischen oder untersinnlichen Unbe-
wussten, welches von dem metaphysischen oder übersinn-
lichen Unbewussten streng unterschieden werden muss.
Sowohl die normalen wie die abnormen Bewusst-
seinszustände sind Zustände des Himbewusstseins, wenn
auch der Brennpunkt seine Lage wechselt; sie alle zu-
sammen bilden also das eine sinnliche Bewusstsein im
weiteren Sinne des Wortes und constituiren mit dem
leiblichen Organismus zusammen die Persönlichkeit des
Menschen. Will man hinter diesem sinnlichen Bewusst-
sein ein übersinnliches annehmen, das in ähnlicher Weise,
wie das sinnliche sich auf den leiblichen Organismus
stützt, sich auf eine materielle Basis von unvergleichlich
feinerer, ätherischer Beschaffenheit (403, 393), auf einen
vom Tode des Leibes nicht alternirten Metaorganismus
stützen soll (522, 523), so würde man damit allerdings
eine zweite übersinnliche Persönlichkeit hinter der sinn-
lichen Persönlichkeit des Menschen annehmen. Aber
dieser hypothetische Dualismus von übersinnlicher und
sinnlicher Persönlichket im Menschen wäre geradezu
entgegengesetzter Art wie der oben als unhaltbar nach-
gewiesene hypothetische Dualismus zwischen normalem
sinnlichen Bewusstsein einerseits und der vermeintlichen
Mehrheit abnormer untersinnlicher Bewusstseine anderer-
seits, und dürfte keinenfalls mit demselben verwechselt
oder durcheinander gemengt werden, wie du Prel be-
ständig thut*). Wäre der Dualismus von normal-sinn-
*) Den äussern Anlass zu dieser Confusion giebt der Missbrauch
des Wortes „transcendental" in der Bedeutung „latent" (443) oder „unter-
halb der Schwelle des Bewusstseins belegen"; denn nun bezeichnet der
Ausdruck „transcendentales Bewusstsein" in doppelsinniger Weise bald
das untersinnliche, bald das übersinnliche Bewusstsein. Ich habe deshalb
das Wort „transcendental'* in der bisherigen Erörterung ganz vermieden,
um dieser Verwirrung zu entgehen.
16*
— 244 —
lichem und abnormem Bewusstsein, wie du Prel meint,
erwiesen, und die Hypothese einer übersinnlichen Per-
sönlichkeit anderweitig genügend begründet, so hätten
wir doch immer keinen Dualismus, sondern einen Tria-
lismus von übersinnlicher, normal-sinnlicher und abnorm
imtersinnlicher Persönlichkeit, oder genauer einen Sep-
tualismus zwischen einer übersinnlichen, einer normal-
sinnlichen, einer träumenden, zwei somnambulen und
zwei bis drei irrsinnigen Personen in demselben Men-
schen. Der verfehlte Dualismus zwischen der normal-
sinnlichen und der abnorm -untersinnlichen Persönlich-
keit, die beide gleichmässig mit dem organischen Leibe
zu Grunde gehen, könnte keinesfalls etwas dazu bei-
tragen, den ebenso verfehlten Dualismus zwischen der
sterblichen sinnlichen und der unsterblichen übersinn-
lichen Person im Menschen zu begründen oder auch
nur annehmbarer zu machen. Der Versuch du Preis,
die uralte, aber in keiner Weise zu begründende meta-
physische Weltanschauung des „transcendentalen Indi-
vidualismus" auf die Erscheinungen des abnormen Seelen-
lebens und insbesondere des Somnambulismus zu stützen,
erscheint hiernach ebenso misslungen, wie der ihm vor-
aufgegangene Versuch Hellenbachs, dieselbe auf die
Erscheinungen des Spiritismus zu stützen.
Man würde mich miss verstehen, wenn man glaubte,
ich wolle du Prel einen Vorwurf aus seiner Behauptung
machen, dass die psychischen Functionen des Individual-
Subjects nicht mit der sinnlichen Bewusstseinsthätigkeit
erschöpft sind, sondern dass dasselbe ausserdem noch
vor und jenseits alles organisch vermittelten Bewusst-
^eins liegende Functionen hervorbringt und trägt, durch
welche es einerseits den Organismus producirt und er-
hält {145, 412) und andererseits die Bewusstseinsfunc-
tionen sowohl des normalen wie der abnormen Zustände
durch Inspirationen unterstützt (194, 278). Ich tadle ihn
— 245 —
nur deshalb, weil er erstens in der offen stehenden Frage
nach der Bewusstheit oder Unbewusstheit der fraglichen
Functionen den Beweis zu Gunsten der Bewusstheit ein-
fach durch die Confussion zwischen untersinnlichem und
übersinnlichem, somnambulem und leibfreiem Bewusst-
sein geliefert zu haben glaubt, und zweitens, dass er
das so eingeschmuggelte übersinnliche Bewusstsein
wiederum mit dem dasselbe tragenden Individualsubject
verwechselt; denn dieses letztere muss doch als das zwei
Bewusstseine oder Personen gemeinsam tragende Sub-
ject (376) beiden gleich fem und gleich nahe stehen,
d. h. der imbewusste Producent und Träger beider sein,
und es ist unmöglich, demselben dadurch näher zu
kommen, dass man von der Erscheinungswelt des einen
dieser Bewusstseine in diejenige des anderen hinüber-
schreitet. Gäbe es also auch hinter der sinnlichen Person
im Menschen noch eine zweite übersinnliche, so müsste
man doch, um von d^ Flächenausdehnung dieses zweiten
Bewusstseins zum unbewussten gemeinsamen Subject
beider Personen zu gelangen, ganz ebenso in die meta-
physische Tiefendimension hinabsteigen, als wenn man
von dem Bewusstsein der ersten Person ausgeht; denn
das Subject selbt ist niemals empirisch im Inhalt seiner
Function zu finden, sondern nur aus der Function durch
einen nach rückwärts gehenden Schluss intellectuell zu
erreichen, weshalb eben Kant es das intelligible Subject
nennt (415).
Wenn es also schon unrichtig ist zu sagen, dass
die Bewusstseinssteigerung nach der Seite des abnormen
Bewusstseins durch Anleihen beim übersinnlichen Be-
wusstsein zu Stande komme (401), so ist es doppelt un-
richtig zu sagen, dass das im normalen Bewusstsein zu-
rückgetretene gemeinsame Subject der übersinnlichen
und sinnlichen Person in abnormen Bewusstseinszu-
ständen „aus dem Unbewussten hervortrete" (139). Alle \
— 246 —
etwaigen übersinnlichen Einwirkungen des Individual-
subjects auf das organisch vermittelte Bewusstsein können
von diesem letzteren nur aufgefasst werden, insofern sie
zugleich in dessen eigene sinnlich-bildliche Form einge-
kleidet werden (70), und wenn auch eine abnorme Hyper-
ästhesie des Gedächtniss- und Phantasieorgans in unter-
sinnlichen Bewnsstseinszuständen diese Auffassung und
Einkleidung bis zu einem gewissen Grade erleichtert,
so beweist doch der Fortbestand des visionär-bildlichen
Charakters der Eingebungen, dass auch bei den äussersten
Graden der somnambulen Hellsichtigkeit die organisch-
sinnliche Basis des Bewusstseins nicht verlassen wird
(117 — 118) und keineswegs ein directer UebergriflF oder
Uebertritt in's übersinnliche Bewusstsein stattfindet. Ein
solcher bleibt auch dann ausgeschlossen, wenn durch
abnorme Hyperästhesie des Gedächtniss- und Phantasie-
organs die gewöhnliche Geschwindigkeit des Vorstel-
lungsablaufes zur Bilderflucht gesteigert wird, und es
ist unzulässig, in solchem Falle von „transcendentalem
Zeitmass** zu reden (86), oder gar die krankhafte Bilder-
flucht eines überreizten Gehirns mit Kants Lehre von
der Idealität der Zeit und des Raumes zusammenzu-
rühren (93, 147), da zur Erklärung solcher seltenen Bei-
spiele nicht einmal die Maximalgeschwindigkeit des
wachen Vorstellungsablaufs überschritten zu werden
braucht (vgl. oben).
Die Genauigkeit verlangt zu erwähnen, dass du Prel
noch auf einem von Somnambulismus unabhängigen
Wege die Bewusstheit der übersinnlichen Functionen
des Subjects zu erweisen sucht. Er verwirft nämlich
die physiologische Erklärung des Gedächtnisses, wonach
dasselbe in hinterlassenen Spuren der Vorstellimgsfunc-
tion in den functionirenden Gehirntheilen bestehen soll,
und setzt an deren Stelle eine metaphysische Erklärung,
nach welcher alle vom sinnlichen Bewusstsein zeitweilig
— 247 —
vergessenen Vorstellungen im übersinnlichen leibfreien
Bewusstsein als actuelle Vorstellungen fortbestehen, und
bei der Reproduction oder Wiedererinnerung aus diesem
von Neuem in's sinnliche Bewusstsein hinübertreten
(371 — 375). Da die abnormen Bewusstseinszustände
thatsächlich keine gleichzeitige Actualität aller jemals
gehabten Vorstellimgen aufweisen, da vielmehr das zeit-
weilige Vergessen und Wiedererinnern der Vorstel-
lungen, d. h. das Problem des Gedächtnisses, für die
abnormen Bewusstseinszustände ganz ebenso besteht
wie für den normalen, so kann dasjenige Bewusstsein,
welches den actuellen Gedächtnissvorrath enthalten und
erhalten soll, nur als das übersinnliche, in keiner Er-
fahrung anzutreffende, leibfreie Bewusstsein verstanden
werden, welchem dann gleichmässig die Aufgabe zufiele,
als Gedächtnissvorrathskammer sowohl für das normale
sinnliche, als auch für das abnorme untersinnliche Be-
wusstsein zu dienen (346).
Ich halte diesen Erklärungsversuch aus zwei Gründen
für verfehlt. Erstens würde das übersinnliche Bewusst-
sein, wenn es alle jemals am Menschen vorüberge-
zogenen Vorstellungen und Gefühle in gleichzeitiger
Actualität als seinen Inhalt umfasste, ein sinnverwirren-
des chaotisches Durcheinander sein, in welchem eben
so wenig noch bestimmte Vorstellungen enthalten wären,
wie in der gleichzeitigen Auffuhrung aller bisher ge-
schriebenen Musikstücke noch Musik wäre; ein solches
Bewusstsein könnte niemals für irgend welche Erschei-
nung als Erklärungsprincip dienen, auch .ganz abge-
sehen davon, dass die Auswahl einer bestimmten Vor-
stellung aus diesem choatischen Bewusstsein und die
Art ihres Ueberganges aus demselben in das sinnliche
Bewusstsein doch immer noch unerklärlich bliebe. Zweitens
aber soll der indirecte Beweis für die Richtigkeit dieser
Erklärung doch lediglich in der Unannehmbarkeit der
— 248 —
gewöhnlichen physiologischen Erklärung des Gedächt-
nisses durch Gehimspuren liegen; der Nachweis der
Unhaltbarkeit dieser letzteren scheint mir aber entschie-
den misslungen. Indem nämlich du Prel einerseits die
Wiederholung gleicher Vorstellungen, die Verdichtung
ähnlicher zu einem gemeinsamen Gedächtnisseindruck
ausser Acht lässt und das allmähliche Vergessen der
nicht wieder aufgefrischten Spuren bis zum absoluten
Verschwinden nach einer kürzeren oder längeren Zeit
leugnet (314, 320), rechnet er grosse Zahlen von Gehirn-
spuren heraus, denen jede Berechtigung fehlt; anderer-
seits unterschätzt er die ausserordentliche Feinheit der
organischen Materie und deren Fähigkeit, eine unge-
heure Menge von Spuren nicht nur nebeneinander,
sondern geradezu ineinander geschoben und verschränkt
in sich aufzunehmen, wie ja auch eine unglaubliche Zahl
actueller Bewegungen in jedem Massentheilchen gleich-
zeitig vor sich gehen. Hätte er aber in seinen Bedenken
gegen die Feinheit der organischen Hirnmasse Recht,
so würde doch dieses Bedenken in noch weit höherem
Grade für die ungleich geringere materielle Dichtigkeit
des Aetherleibes oder Metaorganismus zutreflFen, auf
dessen Molecularbewegungen die Summe aller im über-
sinnlichen Bewusstsein gleichzeitig actuellen Gedächtniss-
Vorstellungen und Gefühle sich ebenso stützen muss,
wie die Summe der im sinnlichen Bewusstsein actuellen
Vorstellungen und Gefühle auf die Molecularbewegimgen
der Hirnmasse. Diese verfehlte Theorie des Erinnerungs-
vermögens würde du Prel schwerlich in den Sinn ge-
kommen sein, wenn er nicht vorher schon die Existenz
eines übersinnlichen Bewusstseins durch die Verwechse-
lung mit dem untersinnlichen erwiesen zu haben ge-
glaubt hätte.
Die Behauptung, dass die für uns unbewussten
übersinnlichen psychischen Functionen unseres an und
— 249 —
für sich unbewussten Individualsubjects doch ihrerseits
von einem übersinnlichen Bewustsein begleitet seien,
ist bis jetzt durch nichts erwiesen, und doch liegt die
Beweislast dem Behauptenden ob; man wird demnach
auch ferner logisch im Rechte sein, wenn man sie bis
auf Weiteres (d. h. bis zur Erbringung des Beweises
vom Gegentheil) als an und für sich unbewusst be-
trachtet. Es scheint denn doch eine sehr vie^ einfachere
und natürlichere Annahme, dass hinter den bewussten
Functionen des Individualsubjects ohne Störimg der
Einheit der bewussten Persönlichkeit noch unbewusste
Functionen desselben verlaufen, als dass in jedem In-
dividuum zwei Personen verkoppelt sind, deren eine
(die sinnliche) durch die andere (die übersinnliche) dä-
monisch besessen ist, ohne etwas davon zu ahnen ! Ins-
besondere ist zu beachten, dass die höchst bedenkliche,
aber schlechthin unentbehrliche Hilfshypothese eines
unsterblichen Aetherleibes oder Metaorganismus mit dem
Wegfall des übersinnlichen Bewusstseins fortfallt; denn
bewusste psychische Functionen brauchen zwar ein ma-
terielles Substrat, an dem sie erst sich selbst empfind-
lich werden, aber unbewusste psychische Functionen
sind allemal rein immaterieller Natur. Alle unbewussten
psychischen Functionen, welche sich auf einen indivi-
duellen Organismus beziehen, sind durch dieses Ziel zu
einer individuellen psychischen Gruppe von relativer
Beständigkeit geeint, ebenso wie sie rückwärts ihren
Einheitspunkt an dem sie gemeinsam tragenden Sub-
ject haben.
Auch ich will keineswegs den Individualgeist oder
die individuelle Psyche überspringen,*) aber wenn
du Prel die Frage, ob dieselbe eine substantiell von
*) Vgl. „Das Unbewusste vom Standpunkte der Physiologie und
Descendenztheorie** 2. Aufl. S. 297 — 306.
— 250 —
ihres Gleichen und vom Absoluten getrennte Monade,
oder eine blosse Einschränkung oder functionelle Con-
cretion (dramatische Spaltung) des absoluten Subjects
sei, offen lässt (72), so habe ich geglaubt, dieselbe zu
Gunsten der letzteren Seite der Alternative entscheiden
zu müssen.*) Gerade das Problem der Inspiration des
sinnlichen Bewusstseins durch unbewusste Functionen
der Individualseele zwingt in allen Fällen, wo es sich
um hellsehendes Ahnen von räumlich oder zeitlich weit
entfernten Vorgängen handelt, zu der Lösung durch
den concreten Monismus überzugehen, weil hier eine
rückwärtige Vert)indung aller Individalsubjecte im ab-
soluten Subject (gleichsam ein centraler Telephon -An-
schluss für die Inspirationen der unbewussten Indivi-
dualseele in's Bewusstsein) existirt, während der mo-
nadologische Individualismus nur die Wahl hat, die
bezüglichen Thatsachen zu leugnen, oder auf eine ganz
gewaltsame oder unwahrscheinliche Art als Gefühls-
wahrnehmungen durch materielle Vermittelung zu er-
klären (198, 421).
Hätte du Prel nicht den pathologischen Charakter
des Somnambulismus verkannt, und in Folge dessen
nicht das untersinnliche Bewusstsein mit einem über-
sinnlichen (transcendentalen) verwechselt, so würde sich
schwerlich eine Differenz zwischen unseren metaphy-
sischen Deutungen der fraglichen Erscheinungsgebiete
herausgestellt haben. Von den metaphysischen Conse-
quenzen seiner irrigen Theorien aber werden nur zwei
Richtungen, denen er grundsätzlich gleich fem steht,
Nutzen ziehen: der Spiritismus und die christliche Apo-
logetik.
*) „Religion des Geistes" S. 226—228.
HN
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