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MONATSHEFTE
FÜR
KUNSTWISSENSCHAFT
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DR. G. BIERMANN
1921
VERLAG KLINKHARDT & BIERMANN + LEIPZIG
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Alle Rechte vorbehalten.
Buchdruckerei Jullus Klinlchardt, Leipzig.
ABHANDLUNGEN sense
Band I: Seite
Gall, Ernst, Die Apostelreliefs im Mailänder Dom ee > 1— 13
Brinek mann, A. E., Die geschichtliche Anlage der Beete Städte oe e 14— 28
v. Manteuffel, К. Zoege, Bilder lämischer Meister in der Galerie der Uffizien su Florenz 29— 49
West, Robert, Konrad Asper . be, op ee Er бул ЖА SS eG eG eS 50— 55
Simon, Karl, Johannes Vest v. Creussen in Frankfurt a M.. . , §6— 69
Göbel, H., Heinrich von der Hohenmuel, Hugo vom Thale und ee Bombeck, Wirker
im Dienste Johann Friedrichs des Großmütigen Su . Jo 96
Tarrach, Antonie, Studien über die Bedeutung Carl Friedrich von Beete für Ge-
schichte und Methode der Kunstwissenschaft ........... 97—138
Вапа П:
Glück-Wien, Heinrich, Das kunstgeographische Bild Europas am Ende des Mittelalters
und die Grundlagen der Renaissance . . . . . . . 161—178
Poglayen-Neuwall, Stephan, Ein heidnisches Elfenbeinrelief des Triestiner Museo
di Storia et Arte im Spiegel der spätantiken Kunst Agypten 174—180
Höhn, Heinrich, Graphische Blätter des 15. Jahrhunderts aus der Stadtbibliothek su
Windsheim in Franken А 4 . . 181—187
Panofsky,Erwin, Die Entwicklung дё. Droponionalähre als Abbild der Stilentwicklung 188—3219
Weil, Ernst, Eine frühe Porträtzeichnung Dürers . . . Р ; . . 280—3222
Feulner, Adolf, Johann Michael Fischer, ein bürgerlicher EE ae attert
(1691—1766) . . . .. . ees Jay. AR š er er u wë ды SN 223— 231
Nasse, Hermann, Johann Mathias Kager, der DEE von Караа (geb. 1575,
gest. 1634), als Zeichner e o e o o o o > o > > 232—238
v. Sydow, Eckart, Karl Friedrich Schinkel als 13 e.. o o > > > 230—258
Junius, Wilh., Die erzgebirgische Künstlerfamilie Krodel . ll : 253—261
Вапа І: Seite
Gümbel, Alb., Das Todesjahr der Dorothea Vischerin . . . ......-.+ 139
Band II:
Habicht, V. C., Zur deutschen Malerei um 1500 . è e ©. . > 268
Simon, Karl, Die erste Besprechung der Cornelius- Zeichnungen zum Faust С 5 266
Cornell, Henrik, Sigtuna och Gamla Uppsala-
Ein Beitrag zur Kenntnis der englisch.
schwedischen Beziehungen im 1x. Jahrh
Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler.
Herausg. von Ulrich Thieme. ХШ. Band.
Gaab—Gibus (Hans W. Singer), S. 149.
Baum, Julius, Baukunst und dekorative Plastik
der Frührenaissance in Italien (Paul Zucker),
8. 277.
Behrendt, Walter Curt, Der Kampf um den
Stil im Kunstgewerbe und in der Archi-
tektur (J. Strzygowski), S. 286.
Bibliotheca d’arte, diretta da Armando Ferri
e Mario Recchi (Ludwig Schudt), S. 291.
Burger, Fritz, Weltanschauungsprobleme und
Lebenssysteme in der Kunst der Vergangen-
beit (Sascha Schwabacher), 8, 283.
(J. Strzygowski), S. 269.
Diez, Ernst — Heinrich Glück, Alt-Konstan-
tinopel, 111 photogr. Aufnahmen der Stadt
und ihrer Bau- und Kunstdenkmäler (Karl
Ginhart), 8, 143.
Eberlein, Kurt K., Deutsche Maler der Romantik
(Paul F. Schmidt), S. 282.
Fischer, Otto, Chinesische Landschaftsmalerei
(H. Kunike), S. 287.
Flury, S., Islamische Schriftbänder (E. Kühnel),
8. 270.
Glick, Heinrich, Das Hebdomon und seine
Reste in Makriköi. Untersuchungen zur
Baukunst und Plastik von Konstantinopel,
Wien, Österreich (Josef Strzygowski), S. 141.
Graber, Hans, Piero della Francesca. Achtzig
Tafeln mit einführendem Text (G. Bier-
mann), 8. 288.
Grautoff, Otto, Französische Malerei seit 1914
(Paul F. Schmidt), 8. 290.
Groner, A., Die Geheimnisse des Isenheimer
Altars in Colmar (M. Escherich), 8. 150.
Hausenstein, Wilhelm, Vom Geist des Barock
(Paul F. Schmidt), 8. 147.
Hildebrandt, Hans, Wandmalerei. Ihr Wesen
und ihre Gesetze (Paul F. Schmidt), S. 279.
Kahn, Rosy, Die Graphik des Lukas van Leyden.
Studien sur Entwicklungsgeschichte der
hollindischen Kunst im 16. Jahrh. (Sascha
Schwabacher), 8. 150.
Kippers, Paul Erich, Der Kubismus (Alfred
Kuhn), S. 289.
Lorenzen, Wilhelm, De Danske Dominikaner-
klostres Bygninghistorie (R. Haupt), 8. 269.
Marc, Franz, Briefe, Aufzeichnungen und Apho-
rismen (S. Schwabacher), S. 292.
Neuburger, Albert, Die Technik des Altertums
(Aug. Köster), S. 291.
Orbaan, J. A. F., Documenti sul barocco in Roma
(Ludwig Schudt), 8. 283.
Pagenstecher,R., Nekropolis. Untersuchungen
über Gestalt und Entwicklung der alexan-
drinischen Grabanlagen und ihrer Malereien
(Edmund Weigand), 8. 151).
Pelka, Otto, Elfenbein. (Bibliothek für Kunst-
und Antiquitätensammler. Bd. 17) (R. Berliner),
8.154.
Reichhold, Karl, Skizzenbuch griechischer
Meister. Ein Einblick in das griechische
Kunststudium auf Grund der Vasenbilder
(Aug. Köster), S. 144.
Rembrandts sämtliche Radierungen in getreuen
Nachbildungen (Hans Friedeberger), S. 276.
Röthlisberger, Bianca, Die Architektur d. Gral-
tempels im jüngeren Fiturel (P. Wolf), 8.148.
Rydbeck, Otto, Den äldsta kristna Konsten i
Skone Lund och Dalby. Lund 1920. (Zweite
Veröffentlichung des Vereins Alt- Lund)
(Rich. Haupt), S. 153.
v. Schlosser, Julius, Materialien zur Quellen-
kunde der Kunstgeschichte (E. Steinmann),
8. 273.
Schramm, A., Der Bilderschmuck der Frühdrucke
(Ernst Weil), 8. 271.
v. Seidlitz, Woldemar, Die Kunst in Dresden
vom Mittelalter bis sur Neuzeit (W. Junius),
S. 280.
Seliger, M., Kunstbetrachtung und Naturgenuß
(Sascha Schwabacher). 8. 282.
Seunig, Vinzenz, Die kretisch - mykenische
Kultur (Aug. Köster), S. 290,
Stoehr, August, Deutsche Fayencen und deut-
sches Steingut (Georg Biermann), 8. 151.
Sveriges Kyrkor, Konsthistorikt Inventarium
utg. av Sig. Curman och Johnny Rooeval.
Dalarne I, 2: Falce Domsagas Norra Tingal,
bearbet av Gerda Boethius (Rich. Haupt),
S. 142.
v. Sybel, L., Frühchristliche Kunst. Leitfaden
ihrer Entwicklung (Edmund Weigand), 8.145.
Tagebuch des Herrn von Chantelou über die
Reise des Cavaliere Bernini nach Frank-
reich. Deutsche Bearbeitung von Hans Rose
(Rosa Schapire), S. 147.
Thordeman, Bengt, „Alsnö Hus“. Ein schwe-
discher Palast des Mittelalters in seinem
kunst-histor. Zusammenhang (Strsygowski),
8. 286.
Valentiner, Wilhelm R., Zeiten der Kunst
und der Religion (Willi Wolfradt), 8. 146.
With, Karl, Java, brahmanische, buddhistische
und eigenlebige Architektur und Plastik
auf Java (H. Glück), 8. 274.
Neue Bücher 8.157, 294.
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MONATSHEFTE
FÜR
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| XIV. JAHRGANG - BAND І. APRIL 1921
| VERLAG KLINKHARDT&BIERMANN-LEIPZIG
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Monatshefte fur Kunstwissenschaft
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG
Preis des Bandes Mark 100.—
INHALTSVERZEICHNIS BAND I
ABHANDLUNGEN
ERNST GALL, Die Apostelreliefs im
Mailänder Dom. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der oberitalienischen und
provenzalischen Plastik im XII, Jahr-
hundert. Mit ro Abbild. auf 4 Tafeln
in Lichtdruck S. ı
A. E. BRINCKMANN, Die geschichtliche
Anlage der deutschen Städte S. 14
K. ZOEGE v. MANTEUFFEL, Bilder
flämischer Meister in der Galerie der
Uffizien zu Florenz. Mit 14 Abbild.
auf 5 Tafeln in Lichtdruck.. S. 29
ROBERT WEST, Konrad Asper. Mit
4 Abbild. auf 2 Tafeln . 8. 50
KARL SIMON, Johannes Vestv.Creussen
in Frankfurt a. M. Mit4 Tafeln. S. 56
H. GÖBEL, Heinrich von der Hohen-
muel, Hugo vom Thale und Seger
Bombeck, Wirker im Dienste Johann
Friedrichs des Großmütigen. Ein Bei-
trag zur Geschichte der Bildteppich-
manufakturen Torgau und Weimar.
Mit 4 Abbild. auf 2 Tafeln in Licht-
druck S. 70
ANTONIE TARRACH, Studien über
die Bedeutung Carl Friedrich v. Ru-
mohrs für Geschichte und Methode
der Kunstwissenschaft. Mit 4 Abbild.
auf x Tafel in Lichtdruck... S. 97
MISZELLEN
ALB. GUMBEL, Das Todesjahr der
Dorothea Vischerin S. 139
REZENSIONEN
Heinrich Glück, Das Hebdomon und seine
Reste in Makriköi. Untersuchungen zur Bau-
kunst und Plastik von „ Wien,
Österreich (Josef Strsygowski) .... 8. 141
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Sveriges Kyrkor, Konsthistoriskt Inventarium
. Curman och Johany Rooeval.
: Domsagas Norra Tingel.
bearbet av Gerda Boethius (Rich. Haupt) 8. 142
Ernst Diez-Heinrich Glick, Alt-Konstanti-
nopel. Ш photographische Aufnahmen der Stadt
und ihrer Bau- und
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Karl Reichhold, Skizsenbuch griechischer
Meister, Ein Einblick in das ische
Kunststudium auf Grund der Vasenbilder (Aug.
Köster) S. 144
L. v. Sybel, Frühchristliche Kunst. Leitfaden
ihrer Entwicklung (Edmund Weigand) 8. 145
Wilhelm R. Valentiner, Zeiten der Kunst
und der Religion (Willi Wolfradt) . 8. 146
Wilhelm Hausenstein, Vom Geist des Ba-
rock (Paul F. Schmidt) 8. 147
Tagebuch des Herrn von Chantelou über die
Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich,
Deutsche Bearbeitung von Hans Rose (Rosa
Schapire r.. 8. 147
Bianca Röthlisberger. Die Architektur d. Gral -
tempels im Jüngeren Titurel (P. Wolf) 8. 148
Allgemeines Lexikon d. bildenden Künst-
ler. Herausgeg. von Ulrich Thieme. XIII.
Band: Gaab—Gibus (Hans W. Singer) 8. 149
A. Groner, Die Geheimnisse des Isenheimer Alta-
res in Colmar (М. Escherisch) .... 8. 150
Rosy Kahn. Die Graphik des Lucas van Ley-
den. Studien zur Entwicklungsgeschichte der
holländischen Kunst im 16. Jahrhundert (Sascha
Schwabacher 8. 130
Ам чон Stoehr, Deutsche Fayencen und deut-
sches Steingut (Georg Biermann) . 8.15
R. Pagenstecher, Nekropolis. Untersuchungen
über Gestalt und Entwicklung der alexandri-
nischen Grabanlagen und ihrer Malereien
(Edmund Weigand) . 8. 15:1
Otto Rydbeck, Den äldsta kristna Konsten i
Skone, Lund och Dalby. Lund 1920 Ia Ver-
Sffentlichung des Vereins Alt-Lund] (Rich,
Haupt) S. 153
Otto Pelka, Elfenbein. [Bibliothek für Kunst- u,
Antiquititensammler, Bd. 17 (R. Berliner) 8. 154
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DIE APOSTELRELIEFS м MAILANDER DOM
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER OBERITALIENISCHEN
UND PROVENZALISCHEN PLASTIK IM XII. JAHRHUNDERT
Mit sehn Abbildungen auf vier Tafeln (I—IV) in Lichtdruck Von ERNST GALL
m nördlichen Seitenschiff des Domes zu Mailand befinden sich in paarweiser An-
ordnung die hier abgebildeten vier Reliefs aus rotem Veroneser Marmor mit
je zwei Aposteln (Abb. 1 u. 2)'). Sie sind bisher kunstgeschichtlich kaum einer
ernsthaften Beachtung gewürdigt worden, obwohl sie unter den nur spärlich er-
haltenen Resten der Mailänder Plastik aus frühmittelalterlicher Zeit die bedeut-
samsten Stücke sind’). An dem Platze, den sie jetzt einnehmen, wurden sie erst
im Jahre 1852 paarweise eingemauert, nachdem sie, wie Mailänder Historiker be-
richten®), bei der Zerstörung eines alten Hauses auf dem Terrain des ehemaligen
Campo santo der Kathedrale aufgefunden worden waren. Zwei weitere Platten
mit den übrigen vier Aposteln sind höchstwahrscheinlich verlorengegangen.
Solange andere Zeugnisse nicht vorhanden sind, müssen wir zunächst annehmen,
daß diese Reliefs aus dem alten Dome stammen, der nach der Zerstörung Mai-
lands durch Friedrich Barbarossa in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts
wiederhergestellt wurde‘) und 1386 dem jetzigen Gebäude weichen mußte. Wir
dürfen auch vermuten, daß Reliefs dieser Größe und aus diesem wertvollen Ma-
terial unter den Ausstattungsstücken der alten Kirche einen hervorragenden Platz
(1) Die Reliefs befinden sich an der Außenmauer im zweiten Joch. jedes Relief mißt etwa 1,39 m
in der Breite und 1,84 m in der Höhe. Von den Aposteln ist Petrus (Nr. 8) auf dem vierten Relief
(Abb. 2) obne weiteres an den Schlüsseln erkenntlich, Jacobus Maior (Nr. 1) ist durch seine Pilgerschuhe
charakterisiert. Auf dem dritten Relief (Abb. 2) sind Judas Thaddaeus (Nr. 5) und Jacobus Minor
(Nr. 6) durch Inschriften beseichnet. Die Inschriften sind rein theologischen Inhalts und ohne kunst-
geschichtliches Interesse. Auf der ersten Tafel steht unten: HOS DEUS ELEGIT : PER QUOS
MUNDANA SUREGIT. Auf der dritten Tafel steht oben über Judas Thaddaeus in zwei Zeilen:
CORDIS ID EST CULTOR - ES || CORCULUS АТО TADEUS. Ebenso über Jacobus Minor: ALPHEI
IACOBUS EST SUPLAI|| TATOR ALUMNUS, Unter ihnen steht: TO FRATRES FIDEI COMPAGE
SODALES. — Da die Beleuchtung im Mailänder Dom gerade an dieser Stelle eine sehr ungünstige
ist, mußten die Aufnahmen unter Anwendung von Blitzlicht gemacht werden, wodurch schwere
Schlagschatten leider unvermeidlich waren. Die Anfertigung übernahm in meinem Auftrage Cav. Gigi
Bassani, Milano, Via Passarella 20. (Januar 1914.)
(2) Von den zahlreichen Arbeiten über den Mailänder Dom beschäftigt sich mit unseren Reliefs aus-
führlicher, wenn auch völlig kritiklos, nur die Publikation des Camillo Boito, Il Duomo di Milano,
Milano 1889. (Abbildung des dritten und vierten Reliefs auf Taf. 38.) Siehe ferner Carlo Romussi,
Milano ne’ suoi monumenti, Milano 1875. Abbildungen auch bei Woese, Die Bamberger Dom-
skulpturen. a. Auflage. Straßburg 1914, Tafel 27. Auffällig ist das Fehlen eines Hinweises auf
unsere Reliefs bei A, Venturi, Storia dell' arte italiana und bei Vöge, Der provenzalische Einfluß in
Italien und das Datum des Arler Porticus im Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. XXV, 1903,
Seite 409 ff. Dagegen kurze Erwähnung bei J. Burckhardt, Der Cicerone, 9. Auflage, Leipzig 1904,
Teil П, 2, Seite 376, mit der nicht quellenmäßig nachweisbaren und auch als fraglich bezeichneten
Datierung auf 1173. Unverständlich ist die Behauptung bei M. G. Zimmermann, Oberitalische Plastik,
Leipzig 1897, Seite 197; womit die Reliefs „aus dem Ende des 13. oder gar erst dem Anfang des
14. Jahrhunderts“ stammen sollen.
(3) C. Romussi, D Duomo di Milano. Mailand 1908, Seite 104 (auch kleine Abbildung).
(4) Galvaneus Fiamma, Chronicon Maius ed. Ant. Ceruti, Miscellanea di storia italiana edita per cura
della regia deputazione di storia patria. VII, 1869, Seite 715.
Monatshefte fiir Kunstwissenschaft, Bd. I. 1921. 1 I
einnahmen. Es erscheint danach gerechtfertigt, sie mit einer Notiz in Verbindung
zu bringen, die sich in der Mailänder Chronik des Galvaneus Flamma findet. Dieser,
aus einer alten Mailänder Familie gebürtig, Predigermönch von St. Eustorgio und
Professor der Theologie an der Universität von Pavia, kommt in seinem im An-
fang des 14. Jahrhunderts abgefaßten „Chronicon extravagans de antiquitatibus
Mediolani“ nach einer kurzen Erwähnung der Domkirche, deren prachtvollen Turm-
bau er rühmend hervorhebt, sofort auf die „mirabiles ymagines ex marmore rubeo
XII apostolorum“ zu sprechen und gibt an, sie seien eine Stiftung des Papstes
Urban III., der aus der vornehmen Mailänder Familie der Crivelli stammte und
kurze Zeit (1185—87) Erzbischof von Mailand war, bevor er auf den päpstlichen
Stuhl berufen wurde (gest. 1187) 1). Die genannte kurze Beschreibung würde auf
unsere Reliefs sehr gut passen, wir dürfen sie daher wohl unbedenklich mit denen
identifizieren, die Galvaneus Flamma um 1300 im alten Mailänder Dom sah, zumal
sie offensichtlich Arbeiten des späteren 12. Jahrhunderts sind.
Wo haben sie sich aber ursprünglich befunden? Derselbe Chronist gibt uns in
seinem ,,Chronicon Maius“ nähere Auskunft, er sagt, sie seien „in circuitu chori“
zu sehen gewesen"). Das ist zunächst wenig befriedigend, denn dieser Ausdruck,
der für den Schreiber sicher durchaus eindeutig war, ist für uns reichlich un-
bestimmt, da wir von der Baulichkeit des alten Chores und seiner liturgischen Ein-
richtung nichts wissen. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die mittelalterlichen
Schriftsteller stets „chorus“ und „absis“ unterscheiden“). Der , Chorus“ ist der für
die Geistlichkeit der Kathedrale bestimmte und vom Laienschiff abgeschlossene
Raum, Hier haben sich also auch unsere Reliefs befunden. Aber was heißt „in
circuitu“? Dieses Wort hat eine ganz allgemeine Bedeutung, man darf dabei zu-
nächst weder an eine bestimmte Form, noch an einen bestimmten Platz denken.
Der moderne Leser wird vielleicht geneigt sein, sich einen „Chorumgang“ vor-
zustellen. Hieran darf bestimmt nicht gedacht werden, die Mailänder Architektur
des 12. Jahrhunderts kannte die französische Form des Chorumgangs noch nicht.
Auch verbinden die mittelalterlichen Quellen diesen Sinn nur ausnahmsweise mit
jenem Ausdruck und dann nur, sofern sie eine nähere Beschreibung hinzuftigen.
So sagt Gervasius von Canterbury, wenn er die auf kreisföürmigem Grundriß an-
geordneten Säulen der Apsis in der Kathedrale von Canterbury beschreiben will,
nicht etwa „in circuitu erant positi“, sondern „in circuitu erant ad circinum positi“,
da „in circuitu“ ganz unbestimmte Vorstellungen erwecken würde“). Den eigent-
lichen Chorumgang aber bezeichnet Gervasius mit „via quae extra chorum est“,
wobei man wieder beachten wolle, daß eben „chorus“ stets nur der für die Geist-
lichkeit bestimmte Raum ist, in diesem Falle also das Hauptschiff des Chores nach
unserem Sprachgebrauch. Weit allgemeiner ist schon der Ausdruck „in circuitu
extra chorum“, wobei sich erst aus dem Zusammenhang ergibt, daß der Chor-
umgang gemeint ist’). Wie schon bemerkt ist diese Stelle bei Gervasius eine
Ausnahme, in der Regel heißt „in circuitu“ etwa soviel wie „an der äußeren
(1) Galvaneus Fiamma, Chronicon extravagans. ed. Ant, Ceruti, a. a. O., Seite 483.
(2) ed. Ant. Ceruti, a. a. O., Seite 729.
(3) Dieser Unterschied wird in den „Gesta abbatum Trudonensium“ ausdrücklich erläutert. cf. J. von
Schlosser, Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters. Wien 1896, Seite 243.
Mir sind Verwechslungen bei mittelalterlichen Schriftstellern nicht begegnet. С. Boito, а. а. О., dachte
sich die Reliefs an den Wänden der Apsis.
(4) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 258.
(5) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 264.
2
Barnit
l-23 -S1
1102. .
Grenze“, „am Rande“, Im Liber pontificalis?) wird z. В. eine seidene Albe be-
schrieben, die „in circuitu“ mit purpurnen Borten geschmückt ist oder ein Altar
hat Vorhänge „in circuitu“. Auf dem Monte Cassino*) wird das Kloster „in cir-
cuitu“ mit Mauern und Türmen versehen. Es ließen sich unzählige Stellen dieser
Art anführen. Wir können also aus der Notiz des Galvaneus Flamma zunächst
nur schließen, daß die Apostelreliefs zur Ausstattung des Chores der alten Kathe-
drale gehörten. Es liegt nun nahe, an das Vorhandensein von Chorschranken zu
denken, zu deren Schmuck die Apostelreliefs dienten. In diesem Sinne wäre der
Gebrauch der Worte „in circuitu chori mit Sicherheit auch sonst zu belegen. In
dem Chronicon monasterii Casinensis) heißt es von Lettner und Chorschranken:
„Frontem quoque chori, quem in medio basilicae statuit, IV magnis marmoreis
tabulis sepsit; de quibus porfiretica una, viridis altera, reliquae II ac ceterae omnes
in chori circuitu candidae.“ Wir dürfen also vermuten, daß uns in den Mailänder
Apostelreliefs Reste der Dekoration eines größeren Lettnereinbaus erhalten ge-
blieben sind. Zur Bestätigung dieser Ansicht läßt sich noch eine andere Quelle
anführen. Im „Manipulus forum“ wird uns nämlich von Galvaneus Flamma er-
zählt, daß Hubert von Crivelli, der nachmalige Papst Urban III. „pulpitum eccle-
siae Majoris ex rubeo marmore construxit, ipsamque ecclesiam marmoreis imagi-
nibus Leonculis et Griphonibus multum ornavit‘). Also hier wird zunächst direkt
von dem „pulpitum“ aus rotem Marmor gesprochen. „Pulpitum“ heißt ursprünglich
nichts anderes als Gerüst oder Bühne. Die mittelalterlichen Schriftsteller ver-
stehen darunter sowohl eine Kanzel wie einen Lettner. In unserem Falle dürfte
eine isolierte Kanzel im eigentlichen Sinne nicht in Frage kommen, denn eine
solche würde wohl im Mittelschiff gestanden haben; es ist vielmehr an einen mit
Ambonen versehenen Lettner zu denken. Daß „pulpitum“ tatsächlich den Sinn
von Lettner hat, mag durch folgende Stelle aus dem Traktat des Gervasius über
die Kathedrale von Canterbury belegt werden, wo jeder Zweifel ausgeschlossen
ist’): „Pulpitum vero turrem praedictam a navi quodammodo separabat, et ex parte
navis in medio sui altare sanctae crucis habebat. Supra pulpitum trabes erat, per
transversum ecclesiae posita, quae crucem grandem et duo cherubin et imagines
sanctae Mariae et sancti Johannis apostoli sustentabat.“ Unter den oben genannten
marmoreis imaginibus“ brauchen unsere Apostelreliefs an sich nicht verstanden
zu werden, wir können aber annehmen, daß der Lettner auf Säulen ruhte, wie
etwa der — allerdings stark veränderte — im Dom zu Modena, und daß die Säulen
auf „Leonculis et Griphonibus“ standen, wie wir das in Modena heute noch sehen
können‘). Dieses Beispiel von Modena erwähne ich absichtlich, denn hier sind
uns noch zahlreiche Reliefs erhalten, die ganz offenbar zur Ausstattung des Lett-
ners und seiner Kanzeln gehörten. Man mag auch an die Lettner in S. Zeno zu
Verona und in der Kathedrale von Piacenza denken, die freilich heute ebenfalls
nicht mehr im alten Zustand erhalten sind. Immerhin läßt sich hier noch gut die
(1) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 86, 96. Der Liber pontificalis ist eine Quelle, in der man in vor-
züglicher Weise den mannigfaltigen Sinn des Wortes „circuitus“ studieren kann,
(я) Siebe Schlosser, а. a, O., Seite 197.
(3) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 205/206.
(4) ed. Muratori, Rerum Italicarum scriptores. Bd. XI, Seite 655.
(5) Siehe Schlosser, a. a, O., Seite 256.
(6) Über den Lettner im Dome zu Modena vergleiche Ad. Venturi, Museo civico di Modena. Un
capitello Romanico, іп Le Gallerie Nazionali Italiane, notizie et documenti. Bd. Ш, Seite 371—379.
3
Grundform der oberitalienischen Lettner erkennen, die sich bühnenartig über einem
Säulenaufbau oberhalb der Krypta erhoben und mit einer oder mehreren Kanzeln
versehen waren. Wir vermögen also wenigstens in groben Zügen zu ermitteln,
in welcher Art unsere Reliefs „їп circuitu chori“ angebracht waren. Mit diesem
allgemeinen Hinweis müssen wir uns auch begnügen; weder die erhaltenen Reste,
noch die schriftliche Überlieferung erlauben es, den alten Zustand in Einzelheiten
zu rekonstruieren, obwohl sich die vier Platten paarweise gruppieren lassen, wenn
man auf die Bildung der die Apostel trennenden Säulen und ihre Kapitelle achtet.
Vielleicht ist es jedoch erlaubt, aus dem Fehlen der Inschriften auf einem Teil
der Tafeln den Schluß zu ziehen, daß die Arbeiten vor der endgültigen Vollendung
unterbrochen wurden; da die oben genannten Quellen aber offensichtlich von
einem Lettner sprechen, der in allem wesentlichen fertig dagestanden hat, so
müßte man annehmen, daß die einzeinen Tafeln erst nach einer Unterbrechung der
Arbeiten zusammengestellt wurden. Diese Vermutung scheint, wie wir gleich
sehen werden, durch bestimmte Quellennachrichten bestätigt zu werden.
Die bereits genannten Quellen erwähnen, daß die Anlage des „pulpitum“ dem
Erzbischof Hubert von Crivelli, dem späteren Papst Urban IIL zu danken sei. Von
diesem heißt es bei Galvaneus Flamma!): „Hic factus archiepiscopus statem fecit
in marmoribus sculpiri imagines omnium apostolorum, qui sunt in circuitu chori“;
danach fiele die Entstehung unserer Reliefs in die Jahre 1185—87, wenn wir
an unserer, nach den bisherigen Ausführungen doch mindestens sehr wahrschein-
lichen Annahme festhalten, daß sie die nämlichen seien, die Galvaneus Flamma
erwähnt. Aus stilistischen Gründen ergibt sich keine Veranlassung, hierzu Zweifel
zu äußern: doch wird erst später näher darauf zurückzukommen sein. Vorderhand
muß ich noch erwähnen, daß die schriftliche Überlieferung mehrdeutig sein könnte.
Ambrogio Bosso, der am Ende des 14. Jahrhunderts — also später als Galvaneus
Flamma — eine Chronik verfaßte, berichtet nämlich zum Jahre 1220"), daß Opran-
dus de Busnate „praeses vegionum?) ecclesiae Mediolani“ ein pulpitum gemacht
habe. Man braucht diese Angabe nicht für falsch zu halten, sie läßt sich meines
Erachtens durchaus mit der von Galvaneus Flamma gegebenen Nachricht ver-
einigen, selbst wenn es sich um das gleiche pulpitum handelt. Es ist nicht nur
denkbar, sondern wie wir bereits beobachten konnten, sogar wahrscheinlich, daß
Hubert während seines nur sehr kurzen Episcopates — er starb als Papst schon
im Oktober 1187 — nicht die Vollendung des von ihm in Auftrag gegebenen
Werkes erlebte und daß es nach seinem Tode unter Leitung des Oprandus de
Busnate vollendet wurde. Das braucht nicht etwa im Jahre 1220 geschehen zu
sein, denn die Notiz macht ganz den Eindruck, als sei sie einem Nekrologium der
Kathedrale entnommen, so daß ı220 das Todesdatum des Oprandus de Busnate
gewesen ist. Jedenfalls liegt keine Ursache vor, die mehrfachen und durchaus
vertrauenswürdigen Angaben des Galvaneus Flamma auf Grund dieser vereinzelten
Nachricht zu bezweifeln: sofern wir bei der stilistischen Untersuchung nicht auf
(z) ed. Ceruti, a. a. O., Seite 729.
(2) Siehe: ӨН antichi vescovi d'Italia dalle origini al 1300 descritti per regioni. La Lombardia, parte I.
Milano per cura di Fedele Savio. Firenze 1913, Seite 543, und G. Giulini, Memorie della citta e
campagna di Milano. Milano 1855, IV, Seite 30.
(3) Über die Bedeutung dieses Ausdrucks, der scheinbar nur in Mailänder Quellen vorkommt, ver-
gleiche man Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, VIII, Seite 26r unter „Veglones“,
„Vegliones“. Im modernen Italienisch vecchioni.
4
schwerwiegende Widersprüche stoßen, müssen wir die Reliefs der Apostel als gut
dokumentierte Arbeiten aus der Zeit des Erzbischofs Crivelli ansehen.
Wie schon angedeutet wurde, weist der Stil der Apostelreliefs gerade auf die
genannte Zeit hin. Die oberitalienische Plastik bietet genug vergleichbare Arbeiten
dar, die eine Entstehung um 1220 als völlig ausgeschlossen erscheinen lassen. Ehe
wir hierauf eingehen, wollen wir uns aber in Mailand selbst umsehen und zunächst
diejenigen Werke zusammenstellen, die den Mailänder Lokalstil im dritten Viertel
des 12. Jahrhunderts repräsentieren, unsern Apostelreliefs also vorangehen.
Als sicherer Ausgangspunkt bietet sich uns die plastische Dekoration der Porta
Romana dar, deren Reste heute im archäologischen Museum des Mailänder Kastells
vereint sind. Nach der erhaltenen Inschrift!) wurde das Tor im Jahre 1171 er-
richtet, die Bildhauerarbeiten führte ein gewisser Anselmus aus, der sich ruhm-
redig Dädalus vergleicht. Dargestellt ist der Einzug der Mailänder und ihrer Ver-
bündeten in die wiederaufgebaute Stadt. Ein besonders charakteristisches Stück
sei hier abgebildet (Abb. 3) ). Stilistisch auf gleicher Stufe stehen die beiden
Reliefs an S. Maria Beltrade (Abb. 4), ein kleines Tabernakel mit dem Bildnis des
sitzenden Ambrosius im Archäologischen Museum, der Türsturz am Portal von
S. Celso mit Szenen aus dem Leben der Heiligen Nazarus und Celsus*) und end-
lich als Hauptstücke die Kanzelreliefs in S. Ambrogio (Abb. 5).
Diese Arbeiten stammen nicht aus einer Werkstatt, stehen auch qualitativ nicht
auf der gleichen Stufe, sie sind aber offenbar in einem nicht allzu eng zu be-
messenden Zeitraum, etwa von 1150 bis 1175, entstanden. Sie zeigen uns im all-
gemeinen den Mailänder Stil auf einer Stufe höchst unvollkommener Ausbildung.
Die Proportionen der Körper sind ganz unrichtig wiedergegeben, die Beine sind
meist zu kurz, die Arme zu lang, die Köpfe und Hände zu groß. Die Haltung der
Gliedmaßen kommt über die einfachsten Grundstellungen beim Schreiten, Sitzen
und Zufassen nicht hinaus, so daß dieselben Bewegungen immer wiederkehren.
An die Darstellung von Verkürzungen wird nicht herangegangen. Die Einordnung
der Figuren in den gegebenen Rahmen erfolgt nach Maßgabe des verfügbaren
Platzes ohne erkennbare künstlerische Rücksichten. Wird einmal etwas Beson-
deres unternommen wie bei der Tragefigur an der Ecke der Kanzel in S. Am-
brogio (Abb. 5), der besten Arbeit der ganzen Gruppe, so geschieht dies ohne
Kenntnis der Gelenkfunktionen und ohne Beachtung der natürlichen Bewegungs-
möglichkeiten: Arme und Beine sind reliefmäßig aufgefaßt und in den dekorativen
Rahmen so eingeordnet, daß eine möglichst gleichmäßige Füllung der Fläche er-
folgt, während der Oberkörper und namentlich der Kopf ohne richtigen organischen
Zusammenhang damit für die Ansicht“) über Eck berechnet sind. Bei allen ana-
(х) V. Forcella, Iscrizioni delle chiese e degli altri edifici di Milano. Milano 1889—1893, Bd. X, no. 10.
(2) Ein anderes Stück abgebildet bei Venturi, Storia dell’ arte italiana Ш, Milano 1904, Seite 209.
Die ganzen Reliefs bei Romussi, Milano ne’ suoi monumenti. 2 ed. Bd. I. Milano 1893, Taf. 55.
(3) Brauchbare Abbildungen bei Romussi, а. a. O., Taf. 15 und Fig. 114 auf Seite 160.
(4) Abb. von vorne bei Venturi, a. a. O., Ш, Seite 202. Die Inschrift auf der Kanzel (,Guiielmus de
Pomo superites hujus ecclesie hoc opus multaque alia fieri fecit“) steht mit der genannten Datierung
scheinbar im Widerspruch, denn Wilhelm von Pomo ist 1204—1212 nachweisbar, siehe Biscaro, a, а. O.,
Bd, XXXII, Serie IV, 3, 1905, Seite 56. Aus mehreren Urkunden, die Biscaro eingehend bespricht,
geht aber hervor, daß es nur eine Restauration war, die Wilhelm von Pomo vornahm, nachdem die
Kanzel beim Kuppeleinsturz um 1196 beschädigt war; die noch brauchbaren Reste waren damals nach
S. Satiro gebracht worden. Es ist auch äußerlich leicht zu sehen, daß es sich um eine Wieder-
verwendung älterer Stücke handelte, zumal ein engerer ikonographischer Zusammenhang zwischen
den einzelnen Darstellungen fehlt. |
5
tomischen Fehlern ebt in dieser Figur ein starkes Gefühl für plastische Wirkung,
wie der Kopf vor den Schultern sitzt, ist falsch, aber voll drastischer Wucht. Nur
bei diesem tragenden Mann ist auch der Versuch gemacht, Gewand und Körper-
haltung in einen gewissen Zusammenhang zu bringen, die Faltenzüge am Unter-
körper folgen dem Einsinken der Kniee und kontrastieren mit den horizontalen
Gewandlinien des Oberkörpers; bei den tibrigen Werken aber bilden Gewand und
Körper eine reichlich unförmliche Masse, bei der keine eingehendere Modellierung
versucht wird: die Falten sind meist nur eingeritzt in dekorativer Absicht, ohne
Bedacht auf das Fallen der Stoffe. Hier wird auch die Abhängigkeit von ver-
schiedenen Vorbildern innerhalb der ganzen Gruppe deutlich: der Steinmetz, der
die ungeschlachten Apostel des Abendmahles an der Kanzel schuf, füllt mit seinen
doppelstegigen und stark gerundeten parallelen Faltenzügen aus der Gewöhnung
seiner Kollegen heraus, die in einem weniger gebundenen Stile draufloshauen.
Man hat hierin ein älteres Werk erblicken wollen, sicherlich mit Unrecht, denn
man braucht nur die Köpfe zu betrachten, um sofort zu sehen, daß ihnen der
völlig gleiche Typus zugrunde liegt wie allen übrigen Arbeiten, die wir hier auf-
gezählt haben. Gerade diese Kopfbildung ist tiberaus charakteristisch und zeigt
den engen Stilzusammenhang; immer dieselbe schmale Form mit dem festen
runden Kinn, den starken Backenknochen und der niedrigen Stirn, auf die die
Haare als gerade, gleichmäßige und nur flach eingeritzte Strähnen bis fast zu den
Brauen hinabhängen. Unter einer dachförmigen, klobigen Nase wölbt sich die
Oberlippe kräftig wie ein Wulst hervor und ähnlich fleischig ist auch die Unter-
lippe gebildet. Rechts und links des Mundes ziehen sich sehr charakteristische
Falten zur Nase empor. Die Augenlider beschreiben ein regelmäßiges, spitzes
Oval, aus dem der rundliche Augapfel ausdruckslos hervorglotzt. Da die Männer
mit besonderer Vorliebe meist ohne Bart dargestellt sind, so würe es infolge des
völligen Mangels genauerer Charakterisierung nicht einmal möglich, Männer- und
Frauenköpfe zu unterscheiden, böte die Tracht nicht ein Kennzeichen.
Die verhältnismäßige Roheit der genannten Arbeiten ist um diese Zeit eigentlich
erstaunlich, man möchte sie mit den politischen Wirren erklären, aber das würde
doch das Wesentliche nicht treffen, da die gleichzeitige Architektur recht bedeut-
same Leistungen in Mailand und seiner nächsten Umgebung aufzuweisen hat. Es
ist eben als Tatsache hinzunehmen, daß das plastische Können in der ganzen Mai-
länder Gegend nur unbedeutend war oder sich im rein Dekorativen erschöpfte.
Verwandte gleichartige Werke sind in Como das Ostportal von S. Fedele!) und
in Pavia die wenige Jahrzehnte älteren Arbeiten an zahlreichen Kirchen; man mag
z. В. die Figuren im Giebelfeld des Portals von 8. Pietro in ciel d’oro (Abb. 6)
vergleichen, es ist die gleiche Art der Behandlung, worauf wieder besonders die
Kopfformen hinweisen. Es scheint, als habe die Plastik in Mailand und seiner
Umgebung während langer Jahrzehnte keine besonderen Fortschritte gemacht.
Aus dieser Schule können die Apostelreliefs unmöglich hervorgegangen sein. Ob
ihr Meister überhaupt Mailänder war? Um das entscheiden zu können, müßten
wir spätere Arbeiten in Mailand kennen. Es gibt deren aber nur zwei: die Stuck-
reliefs am Ciborium von S. Ambrogio und die große Reiterfigur des Oldradus de
Trexeno an dem Palazzo della Ragione (Piazza Mercanti).
Die vier bekannten Stuckreliefs am Ciborium von S. Ambrogio lassen sich ohne
besondere Schwierigkeiten ausreichend sicher datieren. Zunächst ist zu beachten,
(1) Kleine Abbildung bei Venturi, а. а. O., Ш, Seite 39.
6
daß die Wölbung des Ciboriums Rippen mit einfachem, rechteckigem Profil auf-
weist. Die gleichen Rippen zeigen die Gewölbe der Kirche. Letztere ist frühestens
im dritten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts zu bauen begonnen: hieran sollte heute
kein Zweifel mehr herrschen'). Da der Altaraufbau die gleichen Konstruktions-
formen aufweist wie die Kirche, müßte er mindestens zum Neubau gehören, er
könnte also sicher nicht vor 1140—1150 entstanden sein. Daß dies indes nicht
möglich ist, zeigen die Dekorationsformen, namentlich die aus den großen Henkel-
vasen aufsteigenden Ranken der äußeren Umrahmung, denn die Ornamentik der
aus dieser Periode stammenden Vorhalle und die Dekorationen der vorhin be-
sprochenen Kanzel beweisen, daß um die Mitte des Jahrhunderts und noch weit
dariiber hinaus eine völlig anders geartete, weit weniger naturalistische Auffassung
herrschte. Wir gelangen damit bereits in die Nähe der Jahrhundertwende. Nun
wissen wir mit Sicherheit, daß zwischen 1194 und 1196 das letzte Gewölbe des
Langhauses, und zwar gerade das, unter dem der Altar steht, einstürzte”), es liegt
daher nicht nur nahe, sondern es ist im Zusammenhange mit den erörterten stili-
stischen Kennzeichen nicht anders denkbar, als daß unser Ciborium erst nach
diesem Unglücksfall errichtet wurde, also etwa um 1200, da man sich natürlich
beeilt haben wird, den Schaden zu reparieren).
Der Stil der figürlichen Reliefs ist bereits ein völlig anderer als in den früher
genannten Werken. Es ist der Versuch gemacht, die Figuren innerhalb des
Rahmens der Giebelfelder klar und anschaulich unterzubringen, sowie die großen
Flächen in harmonischer Weise zu füllen. Überall ordnen sich die Begrenzungs-
linien der Körper den architektonischen Gliederungen unter, so daß in sich ge-
schlossene Gruppen entstehen, bei denen die in Vorderansicht gegebene Mittelfigur
von zwei im Profil dargestellten Figuren symmetrisch eingefaßt wird. Selbst die
schwierige Aufgabe, fünf Personen auf einem Felde zu vereinen, wird nicht un-
geschickt gelöst, indem die assistierenden Heiligen die adorierenden Stifter in einer
ikonographisch ungewöhnlichen Weise mit einem Arm umfassen, so daß die Kon-
turierung der Körper nicht durch scharfe Knicke in dem gefügigen Zusammen-
gehen mit den aufsteigenden Giebelseiten gestört wird. Derartige Bemühungen
haben im Mittelalter schon etwas zu bedeuten, wie weit sie durch Vorbilder an-
geregt sind, mag dahingestellt sein, jedenfalls sind mir ähnliche Gruppenbildungen
aus früherer Zeit nicht bekannt. Nichtsdestoweniger sind wir von einem klaren
Reliefstil weit entfernt, die Körper sind vor die Fläche gesetzt, nicht aus dieser
heraus entwickelt, auch hat die Stellung einiger Köpfe und durchgehends die der
Hände eine Unentschiedenheit der Haltung, die der klaren Führung der Umriß-
(1) Siehe neben О. Stiehl, Der Backsteinbau romanischer Zeit, besonders in Oberitalien und Nord-
deutschland, Leipsig 1898, Seite 4, ganz besonders Biscaro, Note e documenti Santambrosiani im
Archivio storico lombardo, Bd. XXXI, Serie ІУ, а, 1904, Seite 302 ff. Die Rippen des Ciboriums er-
wähnt nach Cattaneo auch Venturi, a. a. O., Bd. II, 1902, 8. 544, sagt aber noch unbegreiflicher-
weise: „secondo la forma invalsa nelle chiese romaniche dopo il Mille“. Nachdem Cattaneo, L’archi-
tecture en Italie du Vie au XIe sitcle, Venedig 1890, Seite 223 ff. triftige Gründe gegen die Datie-
rung ins neunte Jahrhundert beigebracht hatte, hält Bertaux bei Michel, Histoire de l'art I, 1, Paris 1905,
Seite 392, doch daran fest, ihm folgt auch leider G. Graf Vitathum, Die Malerei und Plastik des Mittel-
alters in Burgere Handbuch der Kunstwissenschaft, Seite 68 f.
(2) G. Giulini, Memorie della citta e campagna di Milano. Mailand 1855, Bd. IV, Seite 89 ff. und
Biscaro, a. a. O., Bd. XXXI, Seite 330.
(3) М. О. Zimmermann, Oberitalische Plastik, Leipzig 1897, Seite 172 ff. datiert bereits richtig. Venturi,
a a. O., scheint sich ihm anzuschließen.
7
linien ausweicht. Das Streben nach guter kompositioneller Einordnung in den
architektonischen Rahmen hat zu ganz unrichtigen Körperproportionen geführt,
namentlich zu einer viel zu starken Streckung des Unterkörpers in den Beinen.
Ganz unsicher ist auch das Stehen der Figuren gegeben und gänzlich mißlungen
sind die Versuche, die von vorn gesehenen Füße verkürzt wiederzugeben. Zu be-
achten sind gegenüber den älteren Werken aber doch auch im einzelnen mehrere
recht bedeutsame Fortschritte. Auffallend sind die Bemühungen, die Körper unter
den Gewändern zu fassen, wie das namentlich auf der rechten Seite bei den an-
betenden Mailänder Patriziern zu bemerken ist, aber auch sonst sind die Stoffe
den Körpern eng angelegt, besonders tritt dies auf der Vorderseite bei dem thro-
nenden Christus an den Unterschenkeln, bei Petrus und Paulus an den Beinen
hervor. Hier läßt sich auch die bis dahin in Mailand unbekannte Art der Gewand-
behandlung am besten studieren. Sie ist zwar flach und ohne plastische Kraft
in wenig vertiefter Einritzung gegeben, aber es treten doch eine Reihe von Formen
auf, die auf ein sorgsames Studium älterer Vorbilder schließen lassen. Sehr be-
zeichnend sind namentlich die feinen und reich bewegten Fältelungen der Gewand-
säume, ferner die großen dachförmigen Falten der herabhängenden Mantelenden
mit den symmetrisch angeordneten Zickzacklinien. Die Gewänder sind schichten-
weise deutlich übereinandergelegt, die Faltenzüge überschneiden sich und es ent-
stehen reicher bewegte Linien als es bisher üblich war. Der weiteren Belebung
dient ein Motiv wie das Einstecken des über den Oberarm gelegten Mantels in
die Gürtung bei dem thronenden Christus. Hier ist zwar nichts eigene Erfindung,
alles geht auf einen älteren Typenvorrat zurück. Manches ist dann auch unver-
standen geblieben, was besonders bei den Gestalten des Petrus und Paulus auf-
fällig ist. Es bleibt z. B. völlig unklar, wie die Mantelenden, mit denen sie
Schlüssel und Buch empfangen, mit dem um den Körper geschlungenen Gewand
verbunden zu denken sind; die parallelen Horizontalfalten unter den ausgestreckten
Armen stoßen in ganz widernatürlicher Weise gegen die vertikal herabfallenden
Kanten der Mantelenden. Die Entlehnung der Faltenanordnung ließe sich Zug für
Zug aus gleichartigen älteren, aber mißdeuteten Motiven ableiten. Daß aber
solche Vorbilder einer weiter zurückliegenden Kunstübung jetzt wieder der Nach-
eiferung zugänglich werden, beweist ein neues Ringen nach feinerer Durcharbeitung
und größerer Beweglichkeit. Das ist dann namentlich auch den Köpfen zugute ge-
kommen. Am sorgfältigsten ist bei dem hl. Ambrosius auf der rechten Seite und
bei den adorierenden Mönchen auf der Rückseite verfahren, vor allem ist eine
eingehende Modellierung des Mundes, des Nasenansatzes und des Kinns angestrebt,
die Augenlider sind nicht mehr in schematischer Rundung geführt, die Pupille ist
vertieft wiedergegeben. Hier ist auch eine neue beachtenswerte Fähigkeit der
Charakterisierung anzutreffen: die Tonsur der Mönche ist richtig gesehen, der fette
Hals, der Ansatz des Doppelkinns, die fleischigen Backen sind gut beobachtet. In
solchen Dingen wird die Anregung durch ältere Vorbilder geringer einzuschätzen
sein als in der Gewandbehandlung, die eigene Leistung also höher zu bewerten.
Mit diesem Werke haben unsere Apostel keinen näheren Zusammenhang, sie
repräsentieren aber die gleiche zeitliche Stilstufe, das ist ebenfalls deutlich. Trotz-
dem werden wir auf Grund des Ciboriums keine nähere Einordnung versuchen
können. Ganz ungeeignet hierzu ist auch die Reiterfigur des Oldrandus de Trexeno,
die durch eine Inschrift auf das Jahr 1233 datiert ist. Sie könnte höchstens zeigen,
daß die Apostelreliefs nicht erst 1220 entstanden sind, denn die freiplastische An-
ordnung des Reiters verrät ein viel weitergehendes Können und einen erheblich
Tafel
Abb. 1. Mailand, Dom, nördliches Seitenschiff
—
Abb. 2. Apostelreliefs. Fragmente des Lettners aus dem alten Dom
Zu: ERNST GALL, DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM
M. f. K., Bd. 1. 1921
Tafel :
Abb. 4. Mailand, S. Maria Beltrade
Abb. a Mailand, Archäol. Mus. Relief von der Porta romana
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Abb. 5. Mailand, S. Ambrogio. Eckfigur
an der Kanzel
Abb. 6, Pavia, 5. Pietro in ciel d' oro. Reliefs im Giebel-
feld des Westportals
Zu: ERNST GALL, DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM
M. f. K., Bd. I, 1921
Teau & Schwab. Graohieche Kunst anstalt Drasdan
Tafel 3
Abb. 8.
Reliefs vom ehemaligen Lettner
Dom.
Abb. 7. Modena,
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DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM
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Abb. 10.
Abb. g.
Westportal
Arles, St. Trophime.
Zu: ERNST GALL, DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM
M. f. K., Bd. I. 1921
entwickelteren Stil als ihn unsere Apostel zeigen, die noch eng und gepreßt
zwischen den Säulen stehen.
Wir werden also außerhalb Mailands Umschau halten müssen, denn es darf nach
den vorangehenden Ausführungen wohl als völlig sicher gelten, daß unsere Apostel
nicht auf dem Boden der Mailänder Kunstübung erwachsen sind. Zunächst wollen
wir aber den Stil der Mailänder Apostel näher charakterisieren.
Die etwa lebensgroßen Gestalten der Apostel stehen zwischen den Säulen wie
in Nischen, die auch bei vieren von ihnen (Nr. 3, 4, 7 und 8) über den Schultern
wirklich angedeutet sind, außerdem ist bei allen der Grund der Fläche hinter den
Füßen vertieft worden, offenbar, um keine Verkürzungen geben zu müssen; es ist
also ganz deutlich an freiplastische Figuren gedacht. Der zur Verfügung stehende,
verhältnismäßig schmale Raum wird von den Aposteln vollkommen ausgefüllt, die
gewölbten großen Nimben überschneiden sogar das Profil des oberen Abschlusses.
Mit Ausnahme der beiden ersten am linken Flügel (Nr. ı und 2), bei denen die
Köpfe seitwärts gewandt sind, stehen sie in einer streng frontalen Anordnung da,
die Füße parallel nebeneinandergesetzt, die Hände vor dem Körper, den Kopf starr
geradeaus gerichtet. Die meisten sind mit Tunika und Paenula bekleidet, nur drei
von ihnen (Nr.3, 5 und 6) tragen über dem Untergewand einen togaartigen Mantel.
Durchgehends ist die Раепша auf der rechten Seite hochgenommen und über die
Schulter gelegt: man sieht aber deutlich, daß der Künstler keine rechte Vorstellung
damit verknüpfte, denn auf den Schultern müßten die sich stauenden Stoffmassen
viel dichter und reichlicher gebildet sein als es tatsächlich bei den meisten der
Fall ist, eine Ausnahme bildet höchstens der vierte Apostel. Überhaupt bemerkt
man sehr bald, daß die ganze Drapierung unserer Figuren derart angelegt ist, daß
wenige Motive schablonenmäßig wiederholt werden. Fast Zug um Zug ist die
Anordnung der Gewänder bei den beiden ersten Aposteln die gleiche und bei drei
weiteren der Reihe (Nr. 4, 7 und 8) finden wir dieselben Faltenlagen mit nur un-
bedeutenden Variationen wieder. Aufs genaueste entsprechen sich auch Judas
Thaddeus und Jakobus Minor (Nr. 5 und 6), denen sich wieder der dritte Jünger
eng anschließt. Dieses fortgesetzte Kopieren der gleichen Formen läßt sich in
ähnlicher Weise bei der Bildung der Hände und Füße verfolgen. Eine größere
Abwechslung scheint nur in den Köpfen zu herrschen, doch wird man auch hier
bei genauerem Zusehen rasch erkennen, daß der Typenvorrat ein recht beschränkter
ist. Die Grundform ist überall die gleiche: stark eckig und am Oberkopf leicht
gerundet, mit vortretenden Backenknochen, langgezogenen, fleischlosen Wangen,
niedriger Stirn und ziemlich hohem Scheitel, was allerdings in den Abbildungen
infolge etwas zu tiefen Standpunkts nicht ganz wahrheitsgetreu herauskommen kann.
Petrus hat die bekannten gedrehten Locken, die übrigen tragen das Haar ge-
scheitelt in großen, breiten Strähnen, die zum Teil in rundlichen Wulsten enden
und ganz symmetrisch verteilt sind; eine feinere Modellierung ist nur hier und da
mit dünnen, parallelen Strichlagen versucht. Ähnlich ist mit den Bärten verfahren.
Gleichmäßig schematisch ist auch der Mund behandelt, eine gerade Spalte zwischen
kräftigen Lippen, von denen häufig die untere etwas stärker hervortritt. Indivi-
duelle Merkmale fehlen nicht minder den geraden Nasen mit den flach eingebohrten,
etwas zu kleinen Löchern, den wenig lebendigen Augen mit den leicht gerundeten
Brauen und den vertieft gegebenen Pupillen, den Stirnen mit ihren horizontalen,
aber leicht gewellten Runzeln und den knochigen, ziemlich rundlichen Kinnbildungen.
Sind das die „mirabiles imagines“? Gewiß, wenn wir den richtigen Maßstab an-
legen! Gegenüber den älteren Werken an der Porta Romana und der Kanzel von
9
S. Ambrogio ist der Fortschritt ein sehr bedeutsamer. Man wird hier weniger
Nachdruck darauf legen dürfen, daß im einzelnen die Naturbeobachtung deutliche
Fortschritte gemacht hat, wie das etwa in der Modellierung der Köpfe und be-
sonders der Halspartien beobachtet werden kann, die viel wichtigere Tatsache ist
das Erwachen eines neuen plastischen Gefühls und eines bis dahin unbekannten
Sinnes für die monumentale Form. Hier ist doch endlich der Versuch gemacht,
die Glieder eines Körpers wieder rund zu bilden, so daß man ihnen Leben und
Festigkeit zutraut. Wie da eine Hand um ein Buch greift, zeigt, daß die Empfin-
dung für die Tiefendimension sich deutlich zu regen beginnt. So bleibt auch ein
kräftiges Spiel von Licht und Schatten nicht aus. Man geht wieder auf die einfache
Grundstellung des frontal aufgebauten Körpers zurück, der fest und klar auf seinen
Beinen ruht. War bei den Reliefs am Ciborium von S. Ambrogio in vieler Hin-
sicht eine größere Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit der Erscheinung erstrebt,
so geht die Absicht hier auf die Herausarbeitung der elementarsten Funktionen
des menschlichen Körpers; in diesem Sinne ist die gleichgerichtete Stellung der
Füße, das einfache Fassen der Hände, das klare Aufgerichtetsein der Köpfe zu ver-
stehen. Die Genugtuung mit diesen neuen und in der gesamten älteren ober-
italienischen Kunst bis dahin nicht gesehenen Errungenschaften war so groß, daß
man unbedenklich das einmal Gefundene wiederholte, verbindet sich doch immer
das Zurückgreifen auf die Urelemente plastischen Schaffens mit einer Kompositions-
art, die einfache rhythmische Wiederholungen und Reihungen deutlich bevorzugt
und gerade in ihnen eine Gewähr für die Gestaltung monumentaler Ausdrucks-
formen erblickt. Das Ciborium in S. Ambrogio steht ganz ohne Zweifel auf der
gleichen zeitlichen Stilstufe, doch repräsentiert es eine andere Richtung, die in
viel höherem Maße retrospektiv gerichtet, aber auch mit weicherem Gefühl aus-
gestattet ist. In den Aposteln lebt eine robustere Kraft und wir wissen, daß dieser
zunächst die Zukunft gehörte. Aber sind hier nicht auch andere Vorbilder maß-
gebend gewesen? Das werden wir noch zu untersuchen haben, zunächst das
Verhältnis zu anderen gleichalterigen Werken der oberitalienischen Kunst!
Ich mußte bereits oben, um die ursprüngliche Aufstellung unserer Tafeln zu er-
läutern, auf die großen Reliefs im Dom zu Modena verweisen, die ebenfalls den
Schmuck einer Lettneranlage bildeten. Diese Arbeiten hat Venturi eingehend be-
sprochen'), ich darf hier also für die Einzelheiten auf seine Darstellung verweisen
und kann sogleich dazu übergehen, die unverkennbaren stilistischen Zusammen-
hänge näher zu beleuchten, die zwischen diesen Tafeln in Modena und denen in
Mailand bestehen. Wir können uns dabei in Modena im wesentlichen auf das
Abendmahl (Abb. 7) beschränken, außerdem sei noch die Gefangennahme Christi
und die Pilatusszene hier wiedergegeben (Abb. 8) ).
Besonders auffallen muß da sofort die verwandte Anordnung der Figuren inner-
halb des verfügbaren Raumes. Die Apostel in Mailand und auf dem Abendmahl
nehmen den ganzen Platz zwischen den oberen und unteren Begrenzungslinien ein,
die großen, tellerfirmigen Nimben ragen noch darüber hinaus und sind in ihren
oberen Teilen in gleicher Weise umgebogen. Den Gestalten ist keine Bewegungs-
(1) A. Venturi, Museo civico di Modena. Un capitello Romanico. Le Gallerie Nazionali Italiane,
notizie e documenti, Bd. Ш, Seite 271—279. Ferner Abb. bei G. Nascimbeni, П Duomo di Modena,
Mailand 1913 („L'Italia Monumentale“) und Bertoni, Atlante storico paleographico del Duomo di
Modena. Modena 1909.
(2) Die Reliefs vom Lettner in Modena gehören einer Werkstatt an, man kann aber mehrere Hände
unterscheiden; wir beschränken uns hier auf Werke des Hauptmeisters.
Io
freiheit gelassen, es ist eine eng gedrängte Versammlung auf dem Abendmahl und
ebenso gepreßt stehen die Apostel in Mailand zwischen den sie trennenden Säulen,
wenn sie auch nicht ganz so unfrei wirken wie die sitzenden Jünger in Modena,
die noch eine ältere, befangenere Entwicklungsstufe vermuten lassen. Bei näherer
Musterung wird dann die Verwandtschaft zwischen den Kopftypen sofort bemerk-
bar werden. Zu dem Vergleich eignen sich von den Mailänder Aposteln namentlich
Jakobus Maier (Nr. т) und Jakobus Minor (Nr. 6), denen man in Modena den Jako-
bus (der zweite von links) und den Andreas (der zweite rechts neben Christus
vom Beschauer aus) gegentiberstellen mag. Proportionierung und Modellierung
der Köpfe verraten in allen Einzelheiten dieselbe Schulung, vor allem wären die
niedrigen Stirnen, die hervortretenden Backenknochen, die großen Nasen mit den
kleinen, eingebohrten Löchern, die hervorquellenden Lippen zu vergleichen. Eine
weitere Prüfung der Köpfe zeigt die volle Übereinstimmung in der Haar- und
Barttracht, endlich verdient die Bildung der Hülse als eine sehr beachtenswerte
Parallele ins Auge gefaßt zu werden: die Halsgrube sowie die einzelnen Sehnen
sind deutlich wie gekerbt herausmodelliert, was man bei anderen Arbeiten der
Zeit nicht finden wird. Als eng zusammengehörig wird auch die Gewandbehand-
lung empfunden werden, obwohl die Mailänder Apostel bei ihrem Verzicht auf
kleinliche Motive und der mehr großflächigen Behandlung im Sinne eines neuen
Gefühls für monumentale Gestaltung als weiterentwickelt angesprochen werden
müssen. Namentlich in den Teilen unterhalb der Kniee ist das gleiche Schema der
Drapierung leicht zu erkennen. Die Kniee sind durchgedrtickt. Am. Gelenk liegt
der Stoff der Tunika fest auf, dann geht eine breite und flach ausgehöhlte Falte
gerade herunter, die am Saum dachförmig mit sehr scharfen Ecken endet. Der-
artige Faltenzüge sind gewöhnlich zu dreien angeordnet, einer über jedem Schien-
bein, ein dritter zwischen den Beinen; so entstehen bestimmte Saummotive, die
fortdauernd wiederholt werden. Der Mantel ist über die Tunika mit einem leichten
Umschlag seines Randes gelegt, durchgehends in Modena, in Mailand findet man
es noch genau so beim Jakobus Minor (Nr. 6).
Schließlich wird auch die Art, wie die Inschriften an den Rändern angebracht
sind und der Schriftcharakter die Zusammenhänge deutlich machen. Jedenfalls
sind die verbindenden Fäden stark genug, um, wenn auch nicht auf den gleichen
Meister, so doch zum mindesten auf die gleiche Werkstatt zu schließen. Die ältere
Arbeit ist offenbar die in Modena. Es darf ja auch als sehr wahrscheinlich gelten,
daß Urban III. seinen Auftrag an ein Atelier vergab, das bereits eine gleichartige
Aufgabe in tüchtiger Weise gelöst und dabei seine Überlegenheit über die Mai-
länder Kunst der Zeit dokumentiert hatte.
Die besondere Qualität des Lettners in Modena hat bereits Vöge!) Veranlassung
gegeben, nach bestimmten Vorbildern Umschau zu halten. Es ist ihm gelungen,
nachzuweisen, daß diese Werkstatt unverkennbare Einfitisse aus der Provence er-
fahren hat. Unsere Apostel in Mailand legen erneut Zeugnis davon ab und zwar
in einer sehr deutlichen Weise. Hätte Vöge sie gekannt, so hätte er sich dieses
Beweisstlick seiner These sicherlich nicht entgehen lassen.
Man braucht nur die bekannten Apostel des Arler Portikus (Abb. 9 u. то) neben
unsere Mailänder zu legen, um sofort die Zusammenhänge zu erkennen. Die ganze
Anordnung ist sehr nahe verwandt: trotz mancher Veränderungen im einzelnen
(z) W. Vöge, Der provenzalische Einfluß in Italien und das Datum des Arler Portikus. Repertorium
für Kunstwissenschaft, Bd. XXV, 1902, 8. 409 ff.
ІІ
doch das gleiche ruhige Stehen, dieselbe enge Rahmung, sogar die Säulen und
Kapitelle sind Vereinfachungen derer in Arles. Hinter den Aposteln in Arles sehen
wir die halbrund geschlossenen Nischen, die wir als verblaßte Erinnerung in Mai-
land nur noch hinter vieren der Apostel kärglich angedeutet fanden. Die Nimben
sind in Arles genau so geformt wie in Mailand, aber man erkennt auch an der
Fassade von St. Trophime die ursprüngliche Erfindung. In Arles tragen die Apostel
über einer langen Tunika eine gegürtete kürzere, dartiber die Paenula, andere
zeigen außerdem noch querlibergelegt ein Stoffstück, das schwer erklärbar ist, aber
wohl einer mißverstandenen antiken Toga entlehnt ist. Diese komplizierte An-
ordnung behagte dem Mailänder Künstler nicht, er vereinfachte, übernahm aber
die Paenula, was sehr zu beachten ist, da diese an Figuren der Zeit sonst nicht
nachweisbar ist, während sie in spätantiken Darstellungen, z. B. der Wiener Ge-
nesis, häufig anzutreffen ist. Der Arler hat offenbar noch gute Modelle gehabt,
denn das Hochraffen des Stofles über der rechten Schulter ist richtig wieder-
gegeben, während der Mailänder sich hier mit einigen unwahrscheinlich mageren
Faltenlagen begnügte und im übrigen die Paenula viel zu lang herabfallen ließ.
Übernommen ist die hosenartige, feingefältete Beinbekleidung, die gerade noch
unter der Tunika hervorschaut, ferner die Fältelung des Halsausschnittes am Unter-
gewand. Die Faltenbehandlung im einzelnen zeigt, um wieviel näher die Arler
Apostel ihren antiken Vorbildern noch stehen, es ist alles reicher und bewegter
gegeben, während der Mailänder die vielfältig artikulierten Laute einer alten Kultur-
sprache nur mühsam in sein noch ungelenkes Idiom übersetzte und dabei an jeder
Vokabel stockte. Das eigene Gefühl, das er mitbrachte, ging auf eine einfachere,
großzügigere Wirkung aus und verrät eine Sehnsucht nach einer monumentalen Ge-
staltung, die bei der greisenhaft erstarrten Kunst der Arler wohl noch in die Lehre
ging, aber einen eigenen Willen kannte und ohne viel Besinnen alte Formen ab-
stieß oder vereinfachte; dabei war das Schaffen noch nicht frei genug, um nicht
sogleich wieder in ein neues Schema zu verfallen. Charakteristisch ist dafür vor
allem die Behandlung der unteren Gewandpartien. Die dreifachen Faltenztige mit
den dachförmigen Säumen, von denen wir oben sprachen, lassen sich in Arles
deutlich genug belegen, an Stelle der kraftlosen und akzentarmen Vielheit setzt
der Mailänder eine steifere, aber auch energischere Formgebung, die als Keim
eines neuen Stilempfindens zu deuten ist. Dafür spricht auch vornehmlich die
Gegenüberstellung der Köpfe und Hände, bei denen die Anlehnung an das Arler
Vorbild unverkennbar ist, wo man aber auch ein festeres Zupacken und ein kräf-
tigeres Aufgerichtetsein spürt. Für Einzelheiten wäre noch auf die Haar- und
Barttracht, auf die Augen- und Nasenbildung, ferner auf die durchgedriickten Kniee
zu verweisen.
Die Mailänder Apostel bilden also ein sehr wichtiges Glied in der Kette der
künstlerischen Beziehungen, die Oberitalien mit der Provence verbinden; daß letz-
tere der gebende Teil war, lehrt gerade unser Beispiel in recht anschaulicher Weise.
Wir können auch die Frage beantworten, wann diese Einflüsse eingesetzt haben.
Da unsere Apostel zwischen 1185 und 1187 entstanden sind, so wird als sicher
hingestellt werden können, daß die Arbeiten in Modena 1184 bei der Weihe des
Doms durch Lucius Ш. fertig waren. Sie können einige Jahre älter sein, aber
groß ist die Zeitspanne kaum. Venturi hat bereits darauf hingewiesen, daß die
frühen Arbeiten Antelamis deutlich erkennbare Zusammenhänge mit der Modeneser
Werkstatt verraten, sie fallen in das Ende der siebziger Jahre. Die Werkstatt in
Modena, aus der der Meister der Mailänder Apostel und sein größerer Zeitgenosse
12
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Antelami hervorgingen, war demnach offenbar der Träger des provencalischen Ein-
flusses, der gegen das Ende der siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts nachweisbar
wird. Damit gewinnen wir für die Arbeiten in der Provence ebenfalls eine aus-
reichend sichere Datierung. Das Arler Atelier muß in der Zeit von 1175—1185
in besonderer Blüte gestanden haben, damals ist jedenfalls der Bau der Fassade
im Gange gewesen, denn die oberitalienischen Künstler werden nicht nur als Zu-
schauer, sondern als Mitarbeiter dort gewesen sein.
Robert de Lasteyrie erklärte, die Arler Fassade sei ein Werk aus der Zeit von
1180—1190:). Diese Angabe bedarf also nur einer geringfügigen Korrektur, die
nicht erheblich gegen die Beweisführung de Lasteyries ins Gewicht fällt, zumal
diese auf anderer Grundlage erfolgte. Die verhältnismäßig gute Übereinstimmung
der Resultate bleibt jedenfalls recht beachtenswert, sie ist ein Beweis dafür, daß
die Forschung hier auf sicheren Grund gestoßen ist.
(1) Robert de Lasteyrie, Etudes sur la sculpture francaise au moyen-äge. Fondation Eug, Piot, Mo-
numents et Mémoires VIII, 1902, 8. 78.
DIE GESCHICHTLICHE ANLAGE DER
DEUTSCHEN STÄDTE vo л. E. BRINCKMANN-Rostock
I. Die mittelalterliche Stadt.
ie großen Völkerverschiebungen, die gegen Ausgang des vierten Jahrhunderts
christlicher Zeitrechnung einsetzten, führten zur Zerstörung der römischen
städtischen Zivilisation, die im Westen und Süden die germanischen Länder ein-
schloß. Nach den Sueven, Alanen, Vandalen brachen als schlimmste Verwiister
die Hunnen in die alten Römerstädte ein und verließen sie entvölkert, nieder-
gebrannt und dem gänzlichen Verfall preisgegeben. Trier, das unter römischer
Herrschaft gegen 50000 Bewohner in seinen Mauern vereint hatte, verlor bereits
unter den Franken beträchtlich, die Zerstörung durch die Hunnen 451 machte es
zu einem Trümmerhaufen, der eigentlich nur durch das brachliegende Baumaterial
und durch seine kirchlichen Traditionen zur Ansiedlung wieder verlocken konnte,
Ebenso war es Köln ergangen, das durch die Ansiedlung der verbündeten Ubier
außerhalb, aber doch dicht um das römische Lager, eine bedeutende Stadt ge-
wesen war.
Angesichts solcher Zerstörungen der Städte in rascher Folge und der Vernich-
tung einer städtischen Zivilisation erübrigt sich fast die Frage, ob das klar ent-
wickelte, auf der Castrum-Anlage sich aufbauende System der Römerstadt von Ein-
fluB auf die nächste Folgezeit gewesen ist. Die Frage sollte sogar eher so ge-
stellt werden: läßt sich ein Zusammenhang zwischen fränkisch-merovingischer oder
karolingischer und römischer Stadtsiedlung nachweisen und gelit dieser Zusammen-
hang über örtliche Beziehungen hinaus? Neben den schon genannten Verlockungen
zu erneuter Besiedlung mußten die von den Römern verständnisvoll gewählten
örtlichen Verhältnisse, dann das auf diese Städte zugeschnittene Wegesystem und
die vorhandenen Flächen von Kulturland für die Franken wertvoll bleiben. So
finden wir auch, nach Grabungsfunden zu schließen, sehr rasch nach den ver-
schiedenen Zerstörungen von Grund auf in dem alten Stadtgebiet oder doch in
seiner Nähe wieder Bewohner, jedoch an Zahl weit geringer und mit anderen
Bedürfnissen. Für sie wird der römische Stadtplan bedeutungslos, nur die Um-
wallung behält ihren Wert. Manchmal schimmern durch diese Neubesiedlung noch
das römische Straßenkreuz Cardo und Decumanus, vielleicht auch eine Parallel-
straße durch, häufig wie in Trier sind auch diese verschwunden und die Straßen
der fränkischen Siediung innerhalb der römischen Umwallung bahnen sich nach
anderen Gesichtspunkten, etwa einer direkten Verbindung zwischen Bischofsitz und
alter Brücke, ihren Zug. Schimmert der römische Grundriß durch, so sind hier-
für maßgebend nur äußerliche Gründe, etwa ein besonders festes Straßenpflaster.
Von einem wirklichen Verständnis dieser formal abgeklärten Anlage kann nicht
mehr gesprochen werden — und damit ist die bewußt gestaltende Kunst
des römischen Stadtbaus versunken. Auch die rechteckige Wall- und Mauer-
befestigung der Römer entspricht nicht völlig den Forderungen der neuen Ein-
dringlinge, sie schleift sich ab und nimmt gerundeten Umriß an.
Nur die wenigsten der west- und süddeutschen Städte können ihren Stamm-
baum in die Antike zurückverfolgen, die Bildung der ersten Anfänge geht für die
meisten nicht über das achte Jahrhundert hinaus. Um diese Zeit bereitet sich ein
14
neuer Aufschwung der städtischen Zivilisation vor, die im Verlauf eines halben
Jahrtausends ganz Deutschland überdecken soll. Die Keimzellen ftir diese neu-
erstehenden Städte schaffen weltliche und geistliche Macht im befestigten Kloster
und in der Burg. Beide gebrauchen die Hilfeleistung von Menschen, die nicht in
direktem Verband zu ihnen stehen, beide verschaffen solchen Menschen wirt-
schaftliche Möglichkeiten und vor allem einen gewissen Schutz. Beide haben
Interesse, Menschen herbeizuziehen und das preußische Königswort „Menschen
halte vor den größten Reichtum“ wird das Leitmotiv für die Anlage von Ministe-
rialansiediungen neben den Klostermauern oder von Suburbien zu Füßen der Urbs,
der Burg. Diese Parasitgebilde bleiben unbefestigt und zunächst auch noch ohne
besondere rechtliche Stellung gegenüber Kloster oder Burg, es sei denn, daß man
einem säumigen Zuzug durch besondere Versprechungen nachhalf. Man muß sich
auch hüten, Abt und Burggraf Ideen zu unterschieben, die Ähnlichkeit mit spä-
teren, auf echte Stadtgründungen abzielenden Absichten haben. Der Gewinn, der
aus einer solchen Verbindung entsprang, schlug sich ziemlich einseitig an, das
immer stärker werdende Gefühl aber, daß der Einzelmensch hilflos sei, dieses
Gefühl, das zu geistlichen und weltlichen Verbänden führte und dem die Kirche
ihre Haupterfolge dankte, führte dem Kern immer weitere Ansiedier zu. Noch
zur Zeit der Ottonischen Burggriindungen wie Goßlar, Merseburg, Meißen ist die
spätere Stadt zunächst nur ein Agglomerat, wirtschaftlich und in seinem Schutz
ganz auf die Burg angewiesen. Die organische aber nicht planmäßige Grund-
rißbildung der frühmittelalterlichen Stadt bringt dies auch zum Aus-
druck, die Hauptwege wenden sich allesamt dem Kern zu, und da dieser Kern
gewöhnlich nur einige Berührungspunkte mit der Außenwelt hatte, die Toranlagen,
so strahlt die Siedlung fächerartig von diesen Punkten aus,
Um die Wende des Jahrtausends beginnen diese Parasitgebilde sich
von der engen Verbindung zu lösen. Gleichzeitig treten selbständige
Stadtbildungen auf. Zwei Momente wirken hier bestimmend: der Markt und
die Mauer, beide zurückzuführen auf Privilegien, die durch die Herrschaft erteilt
wurden. Noch lange Zeit behielten auch die städtischen Märkte ihren Marktherrn,
der bestimmte Abgaben erhob und für den geregelten Marktverkehr die Auf-
sicht übernahm. Erst nach und nach wird der Markt für die Siedlung der Kern,
wie wir ihn heute zu sehen gewohnt sind. Die ersten privilegierten Markt-
plätze liegen außerhalb der Siedlung, die sich zu schwach fühlt, in ihren ein-
fachen Verhau oder Palisadenzaun eine solche Blöße hineinzunehmen. Diese not-
dürftige Befestigung wird in der Folgezeit durch eine feste Mauer ersetzt, die
entweder das Parasitgebilde fest an Burg und Kloster anschließt oder es als selb-
ständigen Organismus hinstellt. Beidemal werden zur Abrundung und in Voraus-
sicht kiinftigen Wachstums, dann auch aus wirtschaftlichen Erwägungen — Gemiise-
länder, Viehkoppeln bei unsicheren Zeiten — nicht unbedeutende Freiflächen in
den Mauerring aufgenommen, wenn diese auch an einem richtigen Verhältnis
zwischen Bewohnerzahl und Mauerlänge ihre Grenzen finden. Von der Vorstel-
lung, daß die mittelalterliche Stadt stets eine gedrängte Fülle von Baulichkeiten
aufweise, müssen wir uns jedenfalls freimachen. Der Marktplatz wird bei einer
solchen Mauerbefestigung häufig schon miteingeschlossen. Regel ist dies jedoch
nicht, wie der erste, mit der Zeil zum Teil gleichlaufende Befestigungsring von
Frankfurt a. M. zeigt.
Wird der Grundriß der Parasitstadt sich in den meisten Fällen deutlich ab-
zeichnen und leicht erklären, so stoßen wir bei den selbständig aufwachsenden
15
Städten des 11. und 12. Jahrhunderts auf mehr Schwierigkeiten. Abgesehen von
den örtlichen Bedingungen wird sich der Nachweis, warum eine Stadt die und
nicht andere: Grundform zeigt, nur annähernd erbringen lassen. Immerhin lassen
sich verschiedene Grundtypen festlegen, die einen Überblick erleichtern, wobei
man jedoch daran festzuhalten hat, daß es sich nicht um bewußt angewandte Form-
prinzipien handelt, sondern um gleichsam botanische Typen, im Einzelnen von ver-
ständig denkenden Menschen ausgestaltet.
Die wirtschaftliche und soziale Urzelle, aus der sich eine jede Siedlung, ob para-
sitär oder selbständig bildet, ist das Haus mit seinen Nebengebäuden, bei größerer
Ausdehnung der Hof. Hier ergibt sich eine Übereinstimmung mit dem Dorf, so-
lange die spätere Stadt sich eben entwickelt und nicht ganz oder teilweise als
städtisches Gemeinwesen gegründet wird, ein Fall, der später zu untersuchen
ist. Bildungsgesetze der dörflichen Anlage treffen auch für die frühe
Stadt zu. Das Dorf entwickelt sich aus Einzelhöfen, die mit ähnlichen Einzel-
abständen zu einer Gruppe, also zu einem Haufen zusammengestellt sein können,
die einen Platz, der gemeinsam ist (Anger), umschließen oder die an einer Straße
aufgereiht sein können. Die beiden ersten Möglichkeiten, Haufen- und Anger-
dorf, lassen leicht eine abgerundete Gesamtgestaltung herausbringen, die außen-
stehenden Häuser können sich zu einem festen Ring zusammenschließen und dem
Dorf nach außen Schutz verleihen. Wege können nach allen Richtungen aus-
laufen, eine erweiterte Bebauung wird sich in die Landzwickel zwischen sie
einfügen. Marktrecht, Mauerbau, Beleihung mit städtischem Recht: vor uns steht
die Stadt mit radialem Grundriß, Hauptstraßen strahlen von der Mitte aus,
ohne daß dieser Mittelpunkt ein architektonisches Schwergewicht besessen hätte,
wie es bei der Parasitstadt der Fall ist. Manchmal ist allerdings später die Frei-
fläche für die Errichtung eines Kirchenbaus, seltener für ein Rathaus ausgenutzt
worden. Beispiele für solche Anlage bieten Soest und Nördlingen.
Die erste Stadt entwickelte sich aus den sieben um den Sod gelegenen Bauern-
höfen, immer mehr fügten sich an, bis die Stadt durch den 1184 angelegten Be-
festigungsring zusammengeschlossen wurde. Auch diese Städte zeigen zunächst
noch Scheu, den Verkehr ohne weiteres in sich hineinzulassen, die großen Haupt-
straßen führen an ihnen vorbei. Dagegen bietet zur Aufnahme des Marktverkehrs
der Anger die beste Gelegenheit, zumal in den meisten Fällen genügend breite
Straßen gegen ihn einmünden. Neben den trichterartigen Marktplatz, der ur-
sprünglich außerhalb der Umwallung in Fortsetzung und Erweiterung eines Sied-
lungsweges sich entwickelte, tritt der Platz, der die vielerlei Gestalt des alten
Dorfangers übernimmt. Baut sich auf ihm ein öffentliches Gebäude an und füllt
sich die eine durch dasselbe abgetrennte Hälfte mit Häusern, so entsteht die
typische Form des zwickelförmigen Platzes mitten in der Altstadt, wo das in der-
selben Richtung auslaufende Straßenpaar sich nach einigem Verlauf vereint.
Sehr viel seltener sind die Beispiele und wohl auch aus jüngerer Zeit, wo die
Grundform, die wir heut bei Dörfern so häufig finden, als Grundstock einer Stadt
gedient hat: die Aufreihung der Gehöfte an einem wichtigen Verkehrszug entlang.
Der Fall tritt meist dann ein, wenn die örtlichen Verhältnisse keinen anderen Aus-
weg lassen, wie in Heidelberg oder Miltenberg. Der Markt liegt dann gewöhnlich
zu seiten der Straße, die ungewöhnliche und unvorteilhafte Länge der Mauern wie
in Miltenberg kann nur ausgehalten werden, da der Fluß auf einer Seite die Ver-
teidigung erleichtert. Aus der ursprünglichen Lage der Grundstücke zum Straßen-
geht hervor, daß die Querwege, als Grundstückgrenzen geführt, annähernd
16
rechtwinklig auf die Hauptstraße stoßen. Aus der Wörthenanlage, der hinter
den Häusern sich entlangziehenden Gartenzone, entwickeln sich in natürlicher
Weise rückliegende Parallelstraßen, so daß annähernd das Schema recht-
winkliger Straßenanlagen sich bildet, ohne daß dieses als Ziel vorgeschwebt
hätte. Um es noch einmal zu wiederholen: die Grundrißvarianten der ältesten
Städte stellen botanische, nicht bedachte Stadtbautypen dar. Erst die
Folgezeit, in der Handel und Verkehr größere wirtschaftliche Bedeutung gewinnen,
bringt die StraBensiedlung mehr in Aufnahme, Märkte an den Hauptstraßen werfen
selbst bei Neuanlage nach einiger Zeit größeren Gewinn ab wie die in alten
aber abgelegeneren Städten, eine Siedlung hier wuchs sich rasch zur Stadt aus —
und wir müssen im Auge behalten, daß für den Grundherrn das Stadtgründen
immer ein vortreffliches Geschäft gewesen ist, wenn die Gründung sich lebens-
fühig erwies. Kreuzungen wichtiger Handelsstraßen gewinnen besonderes Interesse,
das Straßenkreuz wird zum Gerüst der Stadt, dem sich dann mehr oder weniger
regelmäßig die übrigen Straßen hinzuordnen. Während die Hofgruppe der dör-
fischen Siedlung einen unregelmäßigen Umriß zeichnet, strebt das Stadthaus, be-
sonders seit Aufkommen des Steinbaus, nach der rechteckig zugeschnittenen Par-
zelle und fördert damit die schon durch den natürlichen Werdevorgang vorbereitete
Klärung des Stadtgrundrisses. Aus der Fülle der Beispiele für diese Entwicklung
seien Landshut und Neumarkt i. B., Isny und Rottweil herausgehoben.
Seit dem 12. Jahrhundert beginnen infolge Erwerbung kommunaler Freiheiten,
durch Anwachsen von gewerblicher Tätigkeit und Handel die Städte emporzublühen.
Ähnlich wie vorher Kloster und Burg den Agglomerationskern bildeten, wirkt jetzt
die geschlossene Einheit der Stadt: Vorstädte siedeln sich an oder werden von
der ausdehnungsbedürftigen Stadt angelegt, sofort oder nach einiger Zeit in einen
erweiterten Mauerring eingefangen. Damit aber bestimmt sich die verschiedene
Art der Grundrißgestaltung. Es tritt auch hier von dem älteren Stadttor aus-
gehend das Strahlen- oder Radialsystem auf, daneben die Aufreihung an
der Hauptstraße mit allmähligem Aufschluß des Hinterlandes, indem Sack-
gassen, dann weitergeführte Wege annähernd rechtwinklig von dieser Haupt-
straße abzweigen. Kriegerische oder friedliche Stimmungen auch nur weniger
Jahre finden hier ihren sichtbaren Niederschlag, die Stadt ist das empfindlichste
Instrument für die politischen Verhältnisse. Andererseits wird durch die Stadt ein
neu ummauertes, noch unbebautes Gebiet nach den Erfordernissen des Hausbaus
aufgeteilt, und da vom Haus ausgehend der rechte Winkel sich am günstigsten
erwies, so sucht man die Straßen möglichst rechtwinklig gegeneinander zu führen.
Die Bebauung des Geländes vor der Stadt wurde vom Rat meist begtinstigt. Die
neuen Ansiedler, die den Schutz der Stadt genossen, hatten zu den gewöhnlichen
städtischen Lasten beizutragen, waren sogar vielfach zu Erbzinsleistungen und
anderen Diensten verpflichtet. Da zudem verschiedene Gerechtigkeiten den Alt-
städtern vorbehalten waren, bedeuteten die Vorstädter für diese eine wirtschaft-
liche Stärkung. Dasselbe Prinzip macht sich hier geltend, das heut in riesig er-
weitertem Maßstab nach Schaffung von Kolonien drängt.
Duderstadt zerfiel in die eigentliche Stadt und in drei Vorstädte, die vor dem
Steintor, Obertor und Westertor gelegen schon ziemlich früh bestanden haben,
aber nicht in den Mauerring aufgenommen wurden. Selbständiger erscheint die
Benebenstadt, um das spätere Neutor herum gelegen, die darum auch den ersten
Anspruch erheben konnte auf volles Bürgerrecht und mit Erlaubnis des Erzbischofs
Dietrich von Mainz 1436 zum großen Teil in einen erweiterten Mauerring auf-
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. 1. 1931. з 17
genommen wurde, wobei eine Korrektion der Straßenführung anzunehmen ist. Die
Kaiserpfalz Aachen nahm das Gebiet zwischen Münster und heutigem Rathaus ein.
Parasitire Siedlungen im Strahlsystem hatten sich auf dem ebneren Gelände nach
Osten und Süden hin angesiedelt, deutlich auf dem heutigen Stadtplan ausgezeichnet.
Als nun dieser locus regalis unter Friedrich Barbarossa gegen 1175 mit einer
Mauer umzogen wurde, umfaßte diese kreisférmig auch das stark abschiissige Ge-
lände im Nordwesten, zumal die Wassergräben in der Tiefe mitbenutzt werden
konnten. Dies Gelände wurde nun durch Straßen in rechtwinklige Parzellen zerlegt,
die nicht gegen die alte Pfalz zusammenliefen. Im 14.Jahrhundert erhielt dann die
Stadt einen erweiterten Mauerring, der so riesig bemessen war, daß er noch an-
fangs des 19. Jahrhunderts große Stücke freien Landes einschloß. Die bischöfliche
Burg von Bremen und ihre bürgerlichen Ansiedlungen erhielten schon gegen 1030
eine gemeinsame Mauer, 1229 und 1305 erweitert sich dieser Mauerring und wieder
werden die neu aufgenommenen Freiflächen oder doch nur ländlichen Ansied-
lungen bei ihrem Übergang zum Stadthausbau nach bestem Können regelmäßig
aufgeteilt. Die drei Beispiele gentigen, um zu zeigen, wie man bei neuer Er-
weiterung aus praktischen Rücksichten zu planvoller Bebauung kommt,
falls die Widerstände des besiedelten Geländes nicht zu starke sind.
In diese Zeit fallen nun auch die ersten Stadtgründungen, die das natürlich ent-
wickelte System der rechtwinkligen Straßenführungen konsequenter durch-
führen. Eine Siedlung wird nicht mehr durch Marktgerechtigkeit und Stadt-
recht zur Stadt erhoben, wobei dieser Prozeß sich über einen längeren Zeitraum
ausdehnen kann, sondern alle diese Privilegbewilligungen fallen zeitlich zusammen
und die erste, gleichzeitig erbaute Mauer schließt ganz überwiegend unbesiedeltes
Gelände ein. Das Grundrißprinzip der annähernd rechtwinkligen Straßenführungen,
die Führung der Hauptstraße durch den Ort oder gar die Einbeziehung einer wich-
tigen Straßenkreuzung in seine Mauern, die das Gerüst abgaben, war schon vor-
bereitet worden, hier gelangt es im großen zur Verwendung. Die Stadtgründungen
der Zähringer in Baden, Freiburg 1120, Villingen zu gleicher Zeit, sind dafür erste
Beispiele. Freistadt i. B. und Rinteln befolgen ein Jahrhundert später die gleichen
Grundrißprinzipien. Von einer strengen Regelmäßigkeit kann immer noch nicht
gesprochen werden, wenn auch zum größeren Teil unbebaut, war es doch meist
Kulturland, um das es sich handelte, und dieses stelit Bedingungen, die den Stadt-
plan geschmeidig machen müssen. Entscheidend bleibt das Verlangen nach recht-
winkligen Baugrundstücken, denen sich das Straßennetz anpaßt.
Dieses Straßennetz verdeutlicht nun seine Erscheinung in der Weise, daß die
unendliche Mannigfaltigkeit der Straßenbreiten, wie sie die gewachsene Stadt zeigt,
gleichzeitig mit dem verwirrenden Reichtum von Straßenrichtungen zurtickgeht.
Wo die Wege sich aus verschiedensten Bedürfnissen des einstigen Hofbauern
entwickelt hatten, so mußten sie sich begntigen mit der Fläche, die zwischen den
einzelnen Gebäuden übrig blieb, weiteten sich platzartig, zogen sich zu schmalen
Gängen zusammen. Hauptwege, untergeordnete Fahrwege, Abstellplätze, Wirt-
schaftswege, Fußsteige wurden von dem späteren Stadtgrundriß übernommen.
Gleichzeitig war für den Bauernhof mit seinem Verlangen nach rückliegendem Hof-
und Gartenland die beste Gruppierungsform die Reihung nebeneinander an den
Fahrstraßenzügen, so daß der Baublock in der Regel nur an zwei gegenüber-
liegenden Seiten angebaut ist und eine langgestreckte Form erhält. Die Quer-
straßen konnten darum schmal bleiben. Das häufige Vorkommen paralleler Straßen-
führungen zur Hauptstraße erklärt sich zwanglos. In der geschlossenen Stadt aber,
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die nicht endlos aneinanderreihen kann und in der möglichst jeder aus den Vor-
teilen der Straße Nutzen ziehen will, ändert sich zunächst die Bebauung des Blocks.
Statt einer parallelen Reihenbebauung tritt die allseitige Randbebauung des Blocks
auf und diese zwingt wieder, die allzu schmalen Quergassen zu verbreitern. Bei
einer solchen Randbebauung tritt gegenüber der früheren Art Gleichwertigkeit der
Seiten ein und diese hat wiederum Gleichwertigkeit der Straßenbreiten zur Folge.
Wohl zeichnen sich stets einige Hauptverkehrsstraßen, mögen sie neu angelegt
sein oder übernommen, durch besondere Breite aus, die Wohnstraßen nähern sich
aber in ihren Abmessungen einem Normalmaß, das allerdings mit den verschie-
denen Städten und Landschaften wechselt, abhängig von der besonderen Art des
Hausbaus,
Der Marktplatz, wie der Kirchplatz jetzt mitten in die Stadt hineingelegt, macht
eine gleiche Entwicklung durch. Früher fast stets gestreckt, wenn nicht spätere
Bebauung von ihm Abstriche machte, bildet er jetzt die Seitenabmessungen gleich-
wertig aus und nähert sich über das Rechteck hinweg dem Quadrat. An ihm
wird man zuerst den Wandel der Anschauung nachweisen können, die nicht mehr
die Baumassen als einzig fordernde anerkennt, sondern auch Straße und Platz als
besondere räumliche Existenzen ihre Anforderungen stellen läßt.
Das 13. Jahrhundert ist die große Zeit der Stadtgründungen. Nicht
allein in den schon besiedelten und unter fester Herrschaft stehenden Ländern
tauchen sie auf, sondern gerade in die bis dahin der städtischen Besiedlung ab-
geneigten Länder, gegen den Nordosten über die Elbe hinaus, dringen sie vor.
Von Holstein nach Süden über die Mark bis nach Böhmen zieht sich der Streif,
auf dem sich die verschiedensten Typen durcheinandermischen, bis sich aus ihnen
das Siedlungsschema herausgebildet hat, das dann später fast einzig für das nord-
östliche Viertel Deutschlands Verwendung findet, von Berlin bis nach Danzig und
Breslau, das aber nicht nur auf diese östlichen Länder beschränkt ist, sondern
allenthalben gleichzeitig auftaucht, eben weil dieses Schema nicht erdacht worden
ist, weil es sich vielmehr natürlich entwickelte und die Grundforderungen nach
bequem zu bebauenden Grundstücken erfüllte.
Für die Lage einer Stadt kommen jetzt in erster Linie günstige Verkehrsverhält-
nisse in Frage und zwar Landstraßen wie Wasserläufe. Der deutsche Stadtbau
hatte nie in dem Maß wie etwa der italienische oder französische feste Berg-
gipfel aufgesucht, jetzt wird flache Lage eine wichtige Voraussetzung. Denn nur
sie verbürgt gute Verwendung des Schemas. Wichtig für seine Verwenduug ist
weiter, daß bestehende Grundstückverhältnisse, ältere Siedlungen keine Bedingungen
stellen. Sie können unbeachtet bleiben, wenn es sich wie in Nordostdeutschland
um koloniale Stadtgründungen handelt, die sich gegen die slawischen Bewohner
des Landes richten, selbst wenn sie nicht als kriegerisches Bollwerk angelegt
wurden, sondern der heimische Fürst ihre Gründung begtinstigte.
Das Element der Stadtgründung und Stadterweiterung nach vorbedachtem Plan
ist der annähernd quadratische Baublock, wobei nicht an geschlossene Be-
bauung gedacht werden darf. Diese Blöcke stellen sich rasterartig zusammen,
in ihrer Mitte den Markt einschließend, der durch Offenlassung eines, zweier
oder vier Baublöcke gebildet wird. Ebenso wird für den Kirchenbau ein Quadrat
freigehalten. Hauptstraßenzüge machen sich kenntlich durch besondere Breite,
im übrigen gleichen sich die Straßen in ihrem Profil. Noch aber fällt die
Straßengrenze nicht mit der Fluchtlinie zusammen, wenn auch Überbauungen
dieses Gemeinbesitzes nicht geduldet werden. Da zudem die abgesteckten Linien
19
nicht sofort mit Häusern bestellt werden, können im Verlauf leicht Ungenauig-
keiten und Kriimmungen sich einschleichen, wenn ein besonderes Ziel den Verkehr
ablenken läßt. Der Stadtplan bleibt also längere Zeit hindurch beweglich. Die
Befestigung verlangt ferner, daß nach ihr als einer wesentlichen Anlage für das
Gedeihen der Stadt diese sich in ihrem Grundriß nach der Form des Mauerrings
und seinen Toren richtet. Da der Ring fast stets dem Kreise als ideale Verteidi-
gungsform zustrebt, wenn er sich auch den örtlichen Verhältnissen anzupassen hat,
so müssen sich die äußeren Blöcke eine Abschleifung gefallen lassen. Ebenso
haben sich die Hauptstraßen nach den Toranlagen zu richten, die meist nicht
gegenüberliegend, sondern in leichter Verschiebung der gegenseitigen Achsen an-
gelegt werden. In solchen Fällen übernimmt dann häufig der Markt die Aufgabe,
die Straßenversetzung durchzuführen. Endlich bleibt auch das besondere Gelände
bestimmend für das Normalschema, das sich mit der dem gotischen Grundriß
eigenen Beweglichkeit ihm anzupassen versteht. So machen alle diese Städte
den Eindruck wie die Glieder einer großen Familie, ein jedes mit unterschied-
licher Ausprägung und besonderen Begabungen.
Bei Erweiterungen treten die uns schon bekannten Fälle ein. Entweder werden
parasitartige Ansiedlungen vor den Mauern in einen erweiterten Mauerring auf-
genommen, wie es Breslau tat, oder neuummauerte Freiflächen werden regelmäßig
für die Ansiedler aufgeteilt. Der weitere Fall tritt ein, daß die neue Stadt so
rasch emporblüht, um eine zweite Gründung neben ihr gewinnbringend zu machen.
Dann stehen zwei Schwesterstädte, Mauer an Mauer, jede mit eigenem wirtschaft-
lichen und kirchlichem Mittelpunkt, um erst nach längerer Zeit zu einem Gemein-
wesen zu verschmelzen, ein Vorgang, auf den wir angesichts von Problemen wie
Großberlin sehnsiichtig zurückblicken. Thorn, Königsberg sind aus zwei Sonder-
städten entstanden, Rostock gar aus dreien.
Der Marktplatz, früher vor die Umfriedigung der kleinen Siedlung geschoben,
wird verwaltungstechnisch und wirtschaftlich der Schwerpunkt der Stadt, selbst
die wertvollste Verkehrsstraße des Mittelalters, der Fluß, tritt hinter ihn zurück.
Oft ist er wie in dem deutschen Pilsen von einer Größe, die Rückschlüsse auf die
Zuversichtlichkeit machen läßt, mit der man an die Gründung ging. Zu berück-
sichtigen ist dabei, daß er das rechtzeitig reservierte Baugelände für öffentliche
Bauten war, das unsere Städte allzuoft in ihren Bebauungsplänen vorzusehen
vergaßen. Fast immer erhebt sich hier gegen eine Seite verschoben das Rathaus,
seltener eine Kirche, die für ihren Friedhof einen besonderen Platz beanspruchte.
An den Markträndern sammeln sich nach und nach die wichtigen Gebäude der
Stadt: Kornhaus, Zeughaus, Festsaal, Gildenhäuser und Börse. Und hier am Markt
läßt sich auch die erste künstlerische Gestaltung, die aus dem Vielen eine Ein-
heit schaffen möchte, nachweisen in der Einführung von zusammenhängenden
Laubengängen um den Markt. Diese bieten gleichzeitig die Möglichkeit, die wert-
vollen Grundstücke auszunutzen, indem man mit der Bebauung für die oberen
Hausgeschosse in den Markt hineingreifen konnte, ohne dessen Fläche zu ver-
kleinern. Fielen dann, wie es für Allenburg in Ostpreußen urkundlich nach-
gewiesen ist, diese Lauben bei einem Hausneubau fort, so verengerten die nun
auch mit dem Erdgeschoß in den Markt hineintretenden Häuser den Zugang zum
Markt und schufen Schwierigkeiten für den einfahrenden Verkehr, die wie etwa
in Posen für unsere Zeit sehr hinderlich werden können. Man ist mit pseudo-
ästhetischem Entdeckerwillen auch an diese Verengungen herangetreten und hat
aus ihnen die Absicht, den Markt räumlich geschlossen zu halten, heraussehen
wollen. Davon kann keine Rede sein. Man hat sich sogar die ursprüngliche Be-
bauung so niedrig und auch lückenhaft vorzustellen, daß eine Raumwirkung im
architektonischen Sinn kaum zustande kam.
Über die künstlerisch formalen Absichten, die in solchem Stadtplan liegen mögen,
soll man nicht zu hoch urteilen. Er ist die ruhige und klare Form des auf das
Praktische bedachten, aber kein Kunstwerk schaffen wollenden Menschen und
selbst das regelmäßigste Schema, wie es in Neubrandenburg, Friedeberg oder Rügen-
walde vorliegt, darf nur als ein sehr primitives, formales Ideals angesprochen
werden. Und diese einfache und natürliche Form, die uns auf den ersten Blick
gegen alles zu gehen scheint, was wir von der Gotik gelernt haben (wo doch
dieses unregelmäßige Gruppieren meist nur die Unfähigkeit darstellt, den archi-
tektonischen Gedanken klar zu gestalten, statt ihn unter der Fülle des Beiwerks
ertrinken zu lassen), taucht um diese Zeit unabhängig in den verschiedensten
Ländern auf. Frankreich, England, Spanien stellen Beispiele, die nur in einem
voneinander abweichen, an dem auch wir das Einsetzen stadtbaulicher Formungs-
kunst erkannt haben: der Marktanlage.
Die gesamte Entwicklung bis hierher findet ihfe Parallele im griechischen Stadt-
bau. Ohne darauf näher einzugehen, soll doch vermerkt werden, daß bei gleicher
Abklärung gegen Ende des fünften Jahrhunderts weit über diese hinaus eine klinst-
lerische Gestaltungslust einsetzte, die in Stadtanlagen wie Piräus und Priene das
Schema ausformte und aus ihm Wirkungsmöglichkeiten herausholte, die der deutsche
Stadtbau erst unter italienischem Einfluß erreichen sollte.
Noch bliebe die Frage zu beantworten, wie weit schon damals Baubestimmungen
für die äußere Erscheinung der Stadt ausschlaggebend geworden sind und über
rein rechtliche, hygienische und polizeiliche Verordnungen hinaus ästhetische For-
derungen stellen. Statt auf viele kleinere sei hier wenigstens auf ein größeres
Beispiel Bezug genommen, auf das Stadtrechtbuch von 1347, das den bayrischen
Städten von Kaiser Ludwig gegeben wurde. Neben Vorschriften über Baumaterial,
die wohl die Erscheinung einer Stadt bestimmen, hier aber doch nur praktischer
Überlegung entspringen, finden sich Ansätze zu einem Fluchtlinienparagraphen in
Artikel 484: „Swer in der innern oder in der auzzern stat ainen turn inne hat,
oder ainen gemach, oder ain hofstat auf der gemein in der strazz (d. h. dem Ge-
meingut der Straße, ebenso wie Weiden, die Allmende), der soll den turn oder diu
hofstat haben neur die zeit und weil, unz er den purgern an dem Rat wol gewelt
und nicht lenger, daz ist der stat recht.“ Ergänzungen dazu geben dann gegen
Ausgang der Gotik „Der Stat München pausätz und ordnung de a. 1489“. Artikel 17
bestimmt: „Es sollen auch in gantzer stat alle burger und burgerin in iren krämen
und läden inwendig fail haben, und auswendig nicht. Und solen alle ir läden in-
wendig aushengen oder auswendig, das die an der maur flach ligen, sollen auch
kainen pau weder mit prettern noch mit stainen für die hauszmauer pauen noch
machen. Wellicher laden oder cram anders gepauen oder gemacht wär oder
wurde, den oder die will man abthun; puess sechtzig pfening, als oft das von
ainem überfarn wiert“ Uber Vorkragungen wird bestimmt in Artikel43: „ . . das
füro kain aussladung allhie niederer dann aines gadens hoch von dem pflaster soll
gemacht werden, und soll aines gaden höhe zwelf werchschuech haben in der
ausseren stadt gleichwie in der inneren. Holzgalerien werden der Feuergefähr-
lichkeit und der Einbruchsgefahr wegen an den Fassaden beschränkt, immer mehr
also schleift sich die Straßenwandung ab und der Straßenraum arbeitet sich her-
aus. Artikel бї verordnet, daß die Handwerker „niemandt kain althänen alhie on
21
sonder vorwissen aines ersamen raths weder hofgsindt, burgern noch andern nit
machen und zurichten sollen. — Dann ain ersamer rath ist gentzlich entschlossen
in erwegung oberzellter ursachen kain althänen mer zu vergunnen ze pauen, es
bewilligten dann alle anstössende nachbarn darein, oder das der von aim yeden
nachbarn die acht werchschuech herdan weich, und entzwischen desselben haus
und seiner althan liegen liess.“ Wir werden sehen, daß diese Absicht auf Sauber-
machen des Straßenprofils ganz konsequent in späterer Zeit durchgeführt wird.
I. Die Renaissancestadt.
Das rechteckige Baublocksystem der Gotik erwies sich so zweckmäßig, daß es
für die Folgezeit ohne wesentliche Änderungen beibehalten wird. Größere oder
kleinere Stadterweiterungen wenden es an. Als eine der bedeutendsten Stadt-
erweiterungen schon gegen den Ausgang der Epoche sei die Turnierackervorstadt
im Norden Stuttgarts angeführt, die unter Graf Eberhard im Barte angelegt wird.
Das Gelände ist im Rechteckschema ohne Platzanlage „der Schnur nach“
aufgeteilt in 12 Schritt breite und 500 Schritt lange Gassen und schon gegen den
Ausgang des 16. Jahrhunderts findet man, daß dieser Stadtteil die lustigsten Straßen,
schönsten Häuser und reichsten Leute aufweist. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts
wird neben Alt-Hanau Neu-Hanau angelegt mit einem Marktplatz in der Mitte, an
dessen einer Längsseite eingebaut das Neustädter Rathaus steht, während sich
die gegenüberliegende Seite in einer Straße öffnet, die mitten auf die Kirche führt,
für die wiederum ein gleich großer Platz ausgespart ist. Die Blöcke sind an-
nähernd quadratisch, die Straßen gleich breit. Da die Umwallung nicht mehr
einen Ring, sondern ein Polygon bildet, sind die Blöcke neben ihr in spitzen oder
stumpfen Winkeln verschnitten, zum Teil zu kleinen Zwickeln zusammengeschrumpft.
Die gotische Beweglichkeit fängt an zu erstarren. Aus dem Anfang des 17. Jahr-
hunderts stammt Mannheim. Etwas später wird um den Brückenkopf, die so-
genannte Braut von Bremen, eine neue Stadterweiterung angelegt, die in ihrem
Umfang annähernd der auf dem rechten Ufer der Weser liegenden Altstadt ent-
spricht, gleichfalls unter Verwendung des rechteckigen Baublocksystems. Die
vorher langgestreckte Stadt rundet sich damit zu einem Oval ab, das der Fluß
mitten durchschneidet: nicht nur den Verkehr der Heerstraße hat man in den
Mauerring hereingeführt, auch die weit schwerer zu beherrschende und schärfer
trennende Wasserstraße ist ein Stück der Stadt geworden. Stadtkorrektionen, zu
denen ein Niederbrand der Stadt Gelegenheit gibt, suchen gleichfalls ihre krummen
Straßen nach diesem System gerade zu recken und legen Parallelstraßen an, um
gleichmäßigere Blockgrößen zu erzielen. Unter diesen Gesichtspunkten entsteht
für das 1631 niedergebrannte Magdeburg der Plan von Guericke, der parällel zur
Elbe drei Hauptstraßen führt, die von zwei anderen zum Strome führenden an-
nähernd rechtwinklig gekreuzt werden. Der Plan kam nicht zur Ausführung, unter
den Kaiserlichen wird die alte Stadt aufgebaut.
Bemühungen um eine ideale Stadtanlage, wie sie uns in der italienischen Re-
naissance entgegentreten, finden wir in Deutschland kaum. Selbst die Stadtgrund-
risse, wie sie zahlreiche Festungsbaubticher des 17. Jahrhunderts zeigen, wieder-
holen nur das Schema, ohne zu versuchen, ihm durch Verschiebung der Straßen
oder Monumentalbauten besondere architektonische Wirkungen zu entlocken. Nur
einmal hat es den Anschein, als ob sich eine künstlerisch berechnete Stadtplanung
in Wirklichkeit umsetzen will, doch ist sie bei der Errichtung auf halbem Wege
stehengeblieben. Die Planung von Freudenstadt im Schwarzwald 1599 geht auf
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— — — —— – a —
den italienisch gebildeten Architekten Schickhardt zurück. Zwei verschiedene Ent-
würfe von seiner Hand befinden sich im Archiv zu Stuttgart. Die Unterschiede
beider sind bezeichnend. Der erste wiederholt das bekannte Schema, stellt die
rechteckige Kirche mitten auf einen besonderen Platz und bringt den Schloßbau,
der von Herzog Friedrich I. gewtinscht wird, in ziemlich lockeren Zusammenhang
auf einer Ecke der Stadt an. Dieses Nebeneinander von Stadt und Schloß ver-
schmilzt der zweite Plan zu beziehungsreicher Einheit. Auf einem großen quadra-
tischen Mittelplatz ist das Schloß als regelmäßiges Quadrat, mit viereckigen Eck-
türmen außen und vier Treppentürmen im Hofe so aufgestellt, daß seine Achsen
diagonal zu den Platzachsen stehen. Von den Platzseitenmitten laufen senkrecht
Straßen aus, weitere Straßen laufen parallel zu den Platzseiten, Grundstückstreifen
von der Tiefe eines Hauses zurechtschneidend. Über den rechten Winkel in den
Platzecken sollen als zweiflügelige Bauten errichtet werden Kaufhaus, Spital, Rat-
haus und Kirche. Sämtliche Bauten am Platzrand öffnen sich mit Laubengängen
im Erdgeschoß gegen den Platz. Da der Schloßbau nicht zur Ausführung kam,
fällt des riesengroßen Platzes wegen die Anlage heut auseinander, die sonst sicher
das erste Meisterstück bewußt gestaltender deutscher Stadtbaukunst geworden wäre.
Hatte die Ummauerung schon der gotischen Stadt ihre Bedingungen gestellt, so
wird die Herrschaft der Befestigung, zunehmend mit ihrer Größe und Kompliziert-
heit, über die Stadt immer strenger von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab. Die
neue Feuertechnik verlangt Übersicht über die Stadt — darin kam ihr das Schema
entgegen — nun werden die Straßen nach und nach breiter, so daß das Profil vom
stehenden sich zum liegenden Rechteck verschiebt. Starke Truppenansammlungen
verlangen den großen Übungs- oder Paradeplatz in der Mitte der Stadt, auch ihn
bot das Schema, auch er wird erweitert. Gleichzeitig aber wird die Ausdehnungs-
fähigkeit und die Flüssigkeit des Stadtgebildes behindert, da sich solche Ver-
teidigungswerke schwerer überspringen und ausdehnen lassen. Neue Stadt-
erweiterungen entstehen neben solchen Festungsstädten wie Neubreisach oder
Mannheim kaum oder doch nur auf einem Gelände, das innerhalb der Umwallung
gelegen ist und vorher vielleicht von einer besonderen Zitadelle eingenommen war.
Für die Erscheinung der Stadt wird ausschlaggebend, daß man jetzt immer
weiter in der gleichmäßigen Formierung der Straßen- und Platzwan-
dungen geht und der Wunsch nach regelmäßiger Bauart bestimmte Bautypen
aufstellen läßt. Für Mannheim werden schon im Jahre 1650 beim Wiederaufbau
der durch Tilly zerstörten Stadt vier Normalmodelle vorgeschrieben, die vom
palastartigen Wohnhaus, das für den Platz vor dem kurfürstlichen Schloß bestimmt
ist, bis zum Kleinwohnungshaus hinabgehen. Noch im folgenden Jahrhundert,
nachdem die Stadt wiederum von Vauban zerstört worden war, richtet man sich
nach diesen Modellen.
Schon in gotischer Zeit hat die Stadt als Bauherrin für die Erstellung von Klein-
wohnungshäusern gesorgt: Nürnberg. Das bekannte Beispiel aus dieser Zeit sind
die Reihenhäuser, die die Stadt Ulm kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges
für ihre Stadtsoldaten errichtete und die noch heute ihren Zweck erfüllen. Die
Art der Gruppierung dieser Reihenhäuser zu offenen Höfen hat dem Kleinhausbau
unserer Zeit manche wertvolle Anregung gegeben.
Ш. Die Barockstadt.
Nach dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges kommen die architektonischen
Anregungen für Deutschland aus Italien und Frankreich. Und neben den Einzel-
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formen in Grundriß und Aufbau zieht gleichzeitig die neue Gesinnung ein, die
einen Hausbau in einem strengeren Verhältnis zu Straße und Platz sieht, die
Monumentalbauten in ihren Wirkungen weit in das Gefüge einer Stadt hinein-
greifen lassen möchte, und die endlich auch für das Verhältnis von Baumassen
und Räumen einer ganzen Stadt neue Schönheiten entwickeln möchte, Rom steht
an der Spitze dieser Bewegung, Frankreich klärt sie ab, Deutschland entsendet
seine Architekten, sehnsüchtig danach, an den Quellen zu schöpfen.
Es kann hier nicht auf die Leistungen der römischen und französischen Stadt-
baukunst eingegangen werden, der Verfasser hat die Tragweite dieser Leistungen
in seiner: „Baukunst des 17. und 18. Jahrhunderts“ beleuchtet. Insonderheit ist es
Versailles, die Gesinnung seiner Schöpfung, sein Schloßbau, seine Gärten und seine
Stadt, die sich nach dem Vorbild der von Piazza del Popolo in Rom auslaufenden
Straßen um drei vom Schloß strahlig auslaufenden Avenuen ordnen, das es den
deutschen Fürsten antat. Und hier sei gleich bemerkt: der Stadtbau verliert
sich als Aufgabe selbständiger Städte und wird zur vornehmsten Kunst-
betätigung souveräner Fürsten. Die Summen, die von diesen Fürsten nicht
nur in Bauten für ihre eigene Person hineingesteckt sind, sondern auch in Kirchen-
bauten, in Privathäuser, sind riesig und unsere Zeit darf mit ihnen nicht einmal
das Kapital vergleichen, das Großindustrielle für private Arbeitersiedlungen auf-
wenden. Die selbständigen Stadtverwaltungen, die später das Erbe antraten, ver-
sagten nach dieser Richtung fast völlig.
Die landesfürstliche Baukunst ist bis jetzt stets als eine einheitliche Erscheinung
betrachtet worden, und doch müssen wir von vornherein eine entscheidende Tren-
nung machen: die eine Gruppe umfaßt die Anlagen, die einzig fürstlicher Schöpfer-
laune ihre Entstehung verdanken, ihr Vorbild war Versailles, ihr Aufwachsen be-
durfte künstlicher Pflege. Die andere Gruppe umfaßt alle die Anlagen, die einer
mit wirtschaftlichem Nutzen rechnenden Bevölkerungspolitik entsprangen. Die
Grenze zwischen beiden Gruppen ist selbstverstiindlich fließend und nur die histo-
rische Forschung vermag eine Neuanlage der einen oder der anderen Gruppe zu-
zuweisen. Die erste Gruppe umfaßt die Gründungen neuer Residenzstädte in
nächster Nachbarschaft der alten. Ihre bekanntesten Beispiele sind Ludwigsburg
bei Stuttgart 1709 und Karlsruhe bei Durlach 1715, doch ist sie nicht etwa auf
das Frankreich nahe Süddeutschland beschränkt. Andere Gründungen sind Neu-
strelitz 1726, Carlsruhe in Schlesien 1743, Ludwigslust seit 1756 angebaut. Mann-
heim gehört mit seiner Gründung 1607 in das vorige Jahrhundert und wurde aus
fortifikatorischen Absichten nahe Heidelberg errichtet, sein neuer Aufbau nach der
Verwtistung durch Vauban, den wir in Frankreich im Gegensatz dazu als großen
Gründer kennen lernen, reiht es in seiner äußeren Erscheinung den übrigen
Städten jedoch an. Im Mittelpunkt der anderen Gruppe, die schon in früherer
Zeit mit Freudenstadt 1599 ein Vorbild hat, steht die stadtbauliche Tätigkeit der
brandenburgischen Kurfürsten und ihrer Verwandtschaft, voran die selbständigen,
erst später zusammengemeindeten Erweiterungen Berlins, die Neuaufbauten oder
Erweiterungen von Erlangen 1686 und 1706, Rastatt nach 1689, St. Georgen
am See bei Bayreuth 1702, Crossen 1708, Magdeburg 1731, von Ansbach und der
Bayreuther Friedrichstraße in dem gleichen Jahr, Rheinsberg 1740, Neuruppin
1787 usw. Dem Ausbau Potsdams unter Friedrich dem Großen möchte man der
anderen Gruppe zuzählen. Es reihen sich an: Cassel nach 1685, Carlshafen 1699,
Dresden unter August dem Starken, Crefeld in verschiedenen Erweiterungen, Düssel-
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dorf 1798 und kleinere Anlagen wie Saarbrücken, Bonn (am Schloß), Coblenz,
Tübingen, Weikersheim, Ehrenbreitenstein, Trier, Oberdischingen, Oehringen usw.
Die Planform wählt meist das Rechteckschema, dem man jedoch eine Fülle
architektonischer Wirkungen entlockt. So durchdringt das gesamte Stadtgebilde
von Erlangen Rhythmus in Quer- und Längsachsen. Schloß und Schloßgarten
bilden den Kern der Anlage, das Rückgrat der Stadt ist die parallel zur Schloß-
flucht laufende Hauptstraße. Mit geringen Mitteln wird eine bewundernswerte
künstlerische Ökonomie getrieben, ein neues, stolzes Körpergefühl, eine besonnene
Heiterkeit des Geistes spricht sich in diesen Straßen und Plätzen aus. Man lese
darüber in den Memoiren der Markgräfin von Bayreuth, der Schwester Friedrichs
des Großen, nach.
Im Gegensatz zu diesem System ist Rastatt eine kleine, unbeholfene Kopie von
Versailles, Berlin kommt 1721 bei der Erweiterung der 1688 gegründeten Friedrich-
stadt auf das System von Rom und Versailles hinaus, das Rondell des Hallischen
Tores als Basis nehmend. Als achtstrahliger Stern, jener seit den Renaissance-
theoretikern beliebten Stadtbauform, sind Neustrelitz und Carlsruhe in Schlesien
angelegt, das badische Karlsruhe paßte sich auf einige Strahlen des zweiunddreißig-
strahligen Wegesterns mit dem Schloßturm als Mittelpunkt ein.
Die Straße wird jetzt als räumliches Gebilde, gleichend etwa den langen
Korridoren des gleichzeitigen Schloßbaus, genossen und in ihren Wandungen
und Perspektiven darauf abgestimmt. Gerade gezogen soll sie einen Ein-
druck von der Sauberkeit und Bedeutung der neuen Stadt geben und die be-
geisterten Schilderungen der Zeitgenossen sind wohl zu verstehen im Gegensatz
zu den winkligen und schmutzigen Straßen der alten Stadt. Ihre Breite übertrifft
meist die Höhe ihrer Wandungen um etwas, Normalmaße werden festgesetzt,
jedoch nicht schematisch einheitlich für die gesamte Stadt. Die verschiedenen
schon von der mittelalterlichen Stadt entwickelten Straßentypen — Hauptverkehrs-
straßen, Verkehrsstraßen, Wohnstraßen und untergeordnete Verbindungsgänge —
werden auch jetzt noch verwandt. Erlangen zeigt beträchtliche Differenzierungen
der Straßenbreiten, und selbst Mannheim, das am schematischsten erscheint, hat
nicht völlig gleiche Straßen. Die moderne Stadtbaukunst hat diese unterschied-
lichen Straßentypen wieder aufgegriffen und ist für ihre Wohnstraßen in den
Breitenausmessungen sehr zurückgegangen. Hier handelt es sich weniger um ein
Zurtickgehen, wie um ein Herausheben der Hauptstraßen, die mit den Verkehrs-
zügen zusammenfallen. In Berlin zeigen die Linden, in Karlsruhe die Karl Friedrich-
straße das Herausheben von wichtigen Verkehrslinien durch besondere Breite.
Durch Einfügen von Plätzen und beherrschenden Monumentalbauten, in einfacheren
Fällen durch Obelisken oder andere architektonische Monumente werden sie zu
wirkungsvollen Achsen des Stadtkörpers ausgebildet.
Gleichzeitig drängt man auf Zusammenschluß der Häuser zu einheitlichen
Straßenwandungen, die die räumliche Wirkung der Straße unterstützen.
Dieser Zusammenschluß der einzeinen Häuser wird als etwas besonders Schönes
empfunden. In der Oratio Panegyrica über Carlshafen a. W. von Stefan Winter-
berg 1722 heißt es: „Den Häusern unserer Stadt gereicht es zu nicht geringem
Schmucke, daß dieselben nicht nach jener gewöhnlichen Bauart, wo ein jedes mit
einem kleinen Zwischenraum für sich dasteht, sondern nach jener neuen belgischen
Erfindung (dies ist allerdings ein baugeschichtlicher Irrtum) errichtet sind. Es
steht nämlich ein Haus so eng am anderen, daß man, wenn nicht die verschie-
denen Eingänge wären, beinahe glauben könnte, die ganze Stadt wäre nur ein
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einziges Haus.“ Die Königsstraße in Dresden zeigt dreigeschossige Häuser von
gleicher Höhe und gleicher Bauart mit durchlaufendem Dachsims. Nur das Mittel-
fenster eines jeden Hauses durfte durch eine besondere Verdachung herausgehoben
werden und trägt Wappen des Besitzers oder ein besonderes Haussignet. Gern
setzt man an diese gleichmäßig gewandete Straße zu Anfang oder als Schlußziel
belebende Akzente, pylonenartige Richthäuser zu beiden Seiten des Straßeneingangs,
ein Triumphtor oder sonst ein architektonisches Schauziel: Erlangen, Karlsruhe.
Die Raumwirkung der Plätze wird durch besondere architektonische Be-
handlung gewonnen. Der rechteckige Ludwigsburger Marktplatz wählt für seine
Häuser Laubengiinge und stellt in die Mitten der Langseiten zwei Kirchenbauten
sich gegenüber. Der Karlsruher Marktplatz bekommt sein architektonisches Ge-
wicht durch Rathaus und Stadtkirche, die wiederum wie in Ludwigsburg außer-
ordentlich günstig zu den Privatbauten kontrastiert sind. Bemerkenswert ist, wenn
man die Stadt als großen künstlerischen Gesamtorganismus betrachtet, die Art,
wie Plätze in das Straßengefüge hineingesetzt sind. Drei Grundregeln lassen sich
dafür aufstellen. Die eine ist: den Platz als Endigung großer Straßenachsen zu
behandeln. Die andere ist: Straßen offen oder doch nur mit einem Aussicht geben-
den Triumphbogen gegen den Platz einmünden zu lassen, um sowohl ihm den
Reiz perspektivischer Raumerweiterung zu geben, alg auch möglichst tief in die
Stadt seine Wirkung hineinzuziehen. Die dritte und wohl wertvoliste Regel ist:
die Größe des Platzes in ein gutes Verhältnis zur einmündenden Straße zu bringen
und, wenn man mehrere Plätze auf eine Straße aufreiht, damit Rhythmik
von Straßenräumen und Platzräumen herauszubringen. Der Sternplatz, vor
wenigen Jahren in modernen Bebauungsplänen noch gehaßt, heute wieder seiner
künstlerischen Ausbildungsfähigkeit wegen in verkehrstechnisch einwandfreier Weise
angewandt, stellt sich ein. Mit einem Durchmesser von etwa ı85 m und sechs
auslaufenden Straßen erscheint er bei der Oberneustadt von Cassel in kreisrunder
Form, einst gleichmäßig umbaut. Rhythmisch geordnete Platzgruppen bedingen
eine ausgedehnte Anlage und, um einheitlich ausgeführt zu werden, ein rasches
Wachsen der Stadt, vor allem aber eine große Konsequenz des architektonischen
Denkens. Die ersten Gründe erklären ihre Seltenheit in jener Zeit, der letzte
Grund ihre Seltenheit in unserer Zeit. An erster Stelle ist Erlangen zu nennen
mit Reihung eines quergelagerten Rechteckplatzes und eines quadratischen Platzes
auf der Hauptstraße, so daß diese die Plätze in zwei Teile zerlegt, die so in ihrer
einen Hälfte als Vorplätze für die Monumentalbauten von Kirche oder Schloß, in
ihrer anderen Hälfte dem Marktverkehr dienen. Weinbrenner hat dann, noch aus
Barocktradition heraus, in Karlsruhe zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Karl
Friedrichstraße eine rhythmisch gegliederte Achse geschaffen, deren Wert selbst für
eine stark gewachsene Stadt man hier am besten beurteilen kann und die groß
gesonnenen Unternehmungen moderner Stadtbaukunst, an denen es auf Planungen
ja nicht fehlt, denen zu folgen aber die Wirklichkeit nie Mut genug zeigt, ein er-
munterndes Wort zurufen kann.
Monumentalbauten bilden das Schauziel von Straßen und den Ab-
schluß von Plätzen. Diese Regel des römischen Barocks gilt jetzt durchweg
und der Stadtplaner sucht sie in den verschiedensten Stadtgrundrissen zu erfüllen.
Schwierig erscheint dies immerhin in dem Straßengefüge regelmäßig im Recht-
eck angelegter Städte wie etwa Mannheim. Und doch wird man finden, daß
eine Stellung wie die der 1735 begonnenen Jesuitenkirche vorzüglich ist. Sie liegt
auf der Ecke eines Blocks, doch tritt sie um etwas in die an ihrer Langseite
vorbeiführenden Gasse ein, gleichzeitig schneidet sich aus der Blockecke gegentiber
der Fassade ein rechteckiger Kirchenvorplatz heraus. Diese Fassade erhält eine
dunkelschattende Vorhalle, recht wirksam auf die Entfernung. Durch die per-
spektivische Verschiebung werden so Front mit Türmen und Vorhalle, dann die
Kuppel Schauziel für die Straße. Die beste Folie für den Monumentalbau gibt der
ruhige Eindruck der Privathäuser ab, mag dieser Bau nun im Block drin stecken
oder frei stehen. Die feinsten Beziehungen der optischen Maßstabgebung walten
hier, immer ist man bemüht, nicht allein die Privatbauten unterzuordnen, sondern
sie so zu detaillieren, daß sie die Größenwirkung des Monumentalbaus steigern,
sehr zum Unterschied gegen unsere Zeit. (Vgl. Kap. XII meiner ,,Stadtbaukunst“.)
Die Bauordnungen bringen jetzt stets Paragraphen, die mit mildem Zwang auf
diese künstlerischen Forderungen hinzuwirken suchen. Fast immer behielt aber
der einzelne genügende Freiheiten und man überließ es der Wohlanständigkeit
seiner architektonischen Kultur, mit dem eigenen Bau die Wirkung des gesamten
Straßenbildes auszufeilen.
Wie waren diese großzügigen Planungen möglich? Nur unter einer Bedingung:
der Fürst mußte Verfügungsrecht über unbebautes Gelände haben, das
ihm nicht gehörte. Dies bestand darin, daß er jedes für die Planung in Frage
kommende Gelände selbst zwangsweise zu kaufen vermochte und zwar zu Acker-
preisen. War die Stadt in ihren Straßenführungen dann angelegt, so wurde das
Terrain zum Ankaufspreis unter Zurechnung der Straßenkosten oder überhaupt
unentgeltlich abgegeben an Bauwillige, denn der Fürst war ja sicher, durch die
Ausdehnung der Stadt rentables Menschenmaterial zu gewinnen. Eine private
Bodenspekulation war damit zu mindest ausgeglichen. Oder die Straße wurde
unter Aufkauf des nur für sie nötigen Geländes durch Ackergrundstticke hindurch-
gelegt und sämtliche Grundstücke zu Bauplätzen erklärt. Eine Taxe wurde durch
die Obrigkeit festgesetzt, gegen die die Eigentümer das Land an Bauwillige ab-
zugeben hatten, falls sie es bis zu einer bestimmten Zeit nicht selbst bebauten.
Die Parzellierung übernahm in den meisten Fällen die Stadt durch ihre Bau-
beamten, doch unterziehen sich auch die fürstlichen Baumeister dieser Aufgabe.
Wiederum wird damit der privaten Bodenspekulation, die Gelände vom Verkauf
zurückhält, der dem Gemeinwesen feindlichen Nutzen entzogen.
Zum Bauen ermunterte der Fürst durch zahlreiche Privilegien. Sogar
Baugelder wurden als Geschenk gegeben, es sollte einem jeden leicht gemacht
werden, sein eigenes Haus zu bauen. Diese Lockungen hatten allerdings ihre
höchst gefährlichen Schattenseiten, denn sie verführten Leute ohne Kapital zum
Bauen, wie es heute die gewissenlose Bauspekulation absichtlich tut. Hielt dann
der Baulustige sein Unternehmen nicht durch, so konnte ein Kapitalkräftigerer um
den Preis der Mühen und des bißchen Geldes seines Vorgängers billiger das halb-
fertige Haus übernehmen. Aber nicht nur das: die Zuschüsse, die ein jeder bei
einiger Gewitztheit erlangen konnte, verringerten den Wert des Hauses um ihren
Betrag, und nicht nur dieses Hauses, sondern auch aller bestehenden Häuser, die
ohne solchen Zuschuß erbaut worden waren. Damit trat eine Entwertung des
Hausbesitzes ein, die für denjenigen, der verkaufen wollte oder mußte, verhiingnis-
voll werden konnte. Einen Baukrach macht Berlin um 1740 durch.
Trotz alledem wird man unbedingt anerkennen, daß die Wohnungsverhältnisse
jedenfalls für den Mieter keine schlechten waren. Die Sorge für ein gutes Woh-
nungswesen kam mindestens der fürstlichen Sehnsucht gleich, die die neuen An-
lagen weit ausgebaut zu sehen wünschte.
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Angesichts der hohen künstlerischen Qualität muß doch zugestanden werden,
daß die hygienischen Verhältnisse noch viel zu wtinschen übrig ließen, trotzdem
auch diese Zeit die ersten Schritte zu entscheidenden Verbesserungen tat. Aus
einem Privatbrief eines Herrn F. v. Cölln aus dem Jahre 1808 sei als Schluß-
schnörkel diese Stelle über Berlin angeführt, in der allerdings der Schreiber Berlin
stark aus der Nachtperspektive angesehen hat: „Das Pflaster und die Straßen von
Berlin sind der Gipfelpunkt aller Schrecknisse, und es ist schändlich, wie wenig
in Berlin in diesem Punkte von der Polizei geschieht. Die Rinnsteine sind nicht
verdeckt, sie sind stinkend und unrein, denn man leert die Nachtstühle und allen
Unrat der Küche in sie aus und wirft krepierte Haustiere in sie hinein. In Berlin
watet man mit Ausnahme von Unter den Linden und dem Lustgarten überall
entweder im Kot oder im Staube. Die Laternen, welche mit Leinöl oder Schweine-
fett gefüllt sind, sind so sparsam aufgehängt, daß man sie mit der Laterne suchen
muß. Im Mondesviertel und wäre die Nacht noch so finster und stürzte der Regen
vom Himmel herab, wird in ganz Berlin überhaupt keine Laterne angezündet, und
es ist mir selbst passiert, daß ich an der Ecke der Kronen- und Friedrichstraße in
eine tiefe Dunggrube fiel und darin beinahe elendiglich ersoffen wäre. Kurz ge-
sagt: Du kannst in Berlin Deine Nase unaufhörlich im Schnupftuche tragen, be-
sonders aber, wenn es geregnet hat, denn dann schwimmen die Kothaufen in den
Straßen herum und setzen sich bald hier und bald dort fest. Wehe, wenn Du im
Finstern hineingerätst, — Du wirst Deine Pantalons nicht wieder anziehen können —.“
Diese Kritik läßt nun zwar darauf schließen, daß es zu gleicher Zeit in anderen
Städten besser aussah, Die gewaltigen Fortschritte, die im 19. Jahrhundert die
Stadtbauhygiene gemacht hat und die Leistungen unserer Ingenieure im Gegensatz
zu unseren Architekten wird man aber dankbar anerkennen.
Neben diesem Fortschritt in hygienisch-technischer Beziehung ist allerdings der
Rückschritt im Künstlerischen erschreckend. Es folgt gegen Ausgang des Jahr-
hunderts die Reaktion, die wie in der Baukunst an historische Vorbilder anknüpft.
Nach äußerlichen Versuchen beginnt man auch in der Stadtbaukunst sich um die
künstlerischen Gestaltungsgesetze zu bemühen, Ein Aufschwung beginnt — da
vernichten der Krieg und seine Folgen die notwendigen finanziellen Voraussetzungen.
Jetzt wissen wir, daß ganz etwas anderes gestaltet werden muß — wir warten
auf den schöpferischen Architekten.
LITERATUR.
W. С. Behrendt, Die einheitliche Blockfront. Berlin 1913. — A. E. Brinckmann, Deutsche
Stadtbaukunst in der Vergangenheit. Frankfurt a. M., 1911 (2. A. 1920). — Ders., Plats und Monu-
ment. Berlin, 2. Aufl. 1913. — Ders., Stadtbaukunst, Handbuch der Kunstwissenschaft. Berlin 1920. —
Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens. Jena, э. Aufl. 1910. — Bodo Ebhardt, Der Einfluß
des mittelalterlichen Wehrbaus auf den Städtebau. Berlin тото, — Felix Genzmer, Stadtgrundrisse.
Berlin 1911. — Chr. Klaiber, Die Grundrißbildung der deutschen Stadt im Mittelalter. Berlin 1912. —
P. J. Meier, Die Grundrißbildungen der deutschen Städte des Mittelalters. Mannheim 1907. —
R. Mielke, Die Entwicklung der dörflichen Siedlungen. Berlin 1913. — Р. A. Rappaport, Die
Entwicklung des deutschen Marktplatzes. Berlin 1014. — J. Stübben, Der Städtebau. Stuttgart,
з. Aufl. 1907. — R. Unwin, Grundlagen des Städtebaus. Berlin sgıo. — Paul Wolf, Städtebau.
Das Formproblem der Stadt In Vergangenheit und Zukunft. Leipzig 1919, bei Klinkhardt
& Biermann.
BILDER FLÄMISCHER MEISTER IN DER
GALERIE DER UFFIZIEN ZU FLORENZ
Mit viersehn Abbildungen auf fünf Tafeln in Lichtdruck Von K. ZOEGE v. MANTEUFFEL
ie Gemälde der großen flämischen Maler in der Sammlung der Uffizien zu
Florenz sind allgemein bekannt; befinden sich doch einige der bedeutendsten
Werke von Rubens und van Dyck und das schöne, jugendliche Selbstbildnis des
Jordaens dort, Kunde davon gebend, welche Werte die Malerei der katholischen
Niederlande dem Barockzeitaltar zu geben hatte. Wenig bekannt aber hängen
neben ihnen viele Bilder geringerer Meister jener Zeit und Schule. Florenz liegt
so weit ab von den Reisewegen, die der Erforscher niederländischer Kunst ein-
zuschlagen pflegt, daß sie fast ganz übersehen wurden. Manches ist noch nicht
richtig bestimmt, nur weniges in Abbildungen erreichbar. Über diese Bilder soll
hier einiges mitgeteilt werden. Mehrfach wird sich dabei Gelegenheit ergeben,
im Anschluß an die Florentiner Werke an anderen Orten aufbewahrte richtig zu
bestimmen oder zu würdigen?).
Die Mehrzahl der flämischen Bilder gehört zum alten Besitz der Uffizien und
befand sich schon bei der Neuordnung im Jahre 1782 in der Sammlung. Von den
späteren Erwerbungen sind wegen ihrer Herkunft und Beglaubigung besonders jene
beachtenswert, die vom Großherzog Ferdinand zwischen 1793 und 1821 gegen Ab-
gabe von Bildern seiner eigenen aus der Sammlung seines Bruders, des Kaisers
Franz П. im Belvedere zu Wien eingetauscht wurden’). Bei ihnen ist es in einigen
Fällen möglich, sie in Inventaren und Katalogen bis in die Zeit ihrer Entstehung
zurückzuverfolgen. Die älteste Quelle, auf die wir dabei stoßen werden, ist das
Inventar der Sammlung Erzherzog Leopold Wilhelms Es sei daher kurz
daran erinnert, daß Leopold Wilhelm von 1647—1656 Statthalter der österreichi-
schen Niederlande war und diese Zeit dazu benützte, sich eine sehr gewählte
Kunstsammlung anzulegen. Als er nach Wien zurückgekehrt war, ließ er ein aus-
führliches Verzeichnis seiner Schätze anfertigen. Den Erforschern der Wiener Ge-
mäldegalerie hat dieses sorgfältig gearbeitete Schriftstück, das neben ausgezeich-
neten Bildbeschreibungen Maße und Künstlernamen enthält, unschätzbare Dienste
geleistet. Es wird auch über mehrere Stücke der Florentiner Sammlung wertvolle
Auskunft geben. Diese wird um so zuverlässiger sein als es sich hier um Bilder
handelt, die von Zeitgenossen des Erzherzogs gemalt sind; die Angaben des In-
ventars haben für sie fast urkundlichen Wert.
Eines der Tauschbilder ist die „Heilige Familie“ vonJasperdeCrayer?) (Abb. 1).
Es kam etwas verspätet, 1821, aus Wien als eines jener Stücke, die zum Ersatz
abgelehnter und wieder zurückgegebener nach Florenz gesandt wurden. In Wiener
Katalogen läßt es sich bis auf das erwähnte Inventar des Erzherzogs Leopold
Wilhelm zurückverfolgen. Dort ist es genau beschrieben und als „Original von
(1) Für die freundliche Unterstützung meiner Arbeiten in der Uffiziengalerie im Winter 1914/15 bin
ich den Herren Direktor Dr. Poggi und Konservator Grafen Gamba zu Dank verpflichtet.
(a) Vgl. Aurelio Gotti: Le Galerie di Firenze (1872), 8. 173, 351 ff.; Venturi im Repert. f. Kunst-
wissenschaft VII, 8. at: Е. v. Engerth: Beschreibendes Verzeichnis [der Wiener Galerie], I (1883),
S. LXVff.; Th. Frimmel: Kleine Galeriestudien, 3. Folge, II (1898), S. 256 f.; О. Glück im Jahrbuch
der Kunstsammlungen des Kaiserhauses, XXIV, 8. x ff.
(3) Florenz, Uffisien Nr. 131. Auf Leinwand, 1,52 X 1,20.
29
Caspar de Crayer“ bezeichnet). Die Bezeichnung, die es noch heute im Katalog
der Uffizien trägt, wird also bestätigt. Das ist darum nicht unwichtig, weil das
Bild zu einer Gruppe von Werken Crayers gehört, deren Zuschreibung bezweifelt
worden ist. Am nächsten steht ihm die Madonna als Beschlitzerin der Armbrust-
schützengilde, im Brüsseler Museum ). Für den Madonnenkopf mit seinem kräf-
tigen, vollen Oval hat offenbar dasselbe Modell beiden Bildern gedient. Ferner
zeigt die Gewandbehandlung übereinstimmend sehr reiche, stark vertiefend geord-
nete und zugleich malerisch locker behandelte Faltenzüge, die unverkennbar die
gleiche Hand verraten. Im farbigen Aufbau entbehrt das Florentiner Bild nicht
einer gewissen Kraft. Neben dem gelblichrosa Gewand der Madonna, das weiße
Lichter beleben, stehen das grelle Blau des Mantels und das reine Weiß des
Linnens, auf dem das Kind sitzt. Gebrochene Töne von Grau und Braun treten
bei den Nebengestalten auf. Das Inkarnat ist bei Mutter und Kind ein kräftiges
Rosa, bei Joseph und dem kleinen Johannes ein nicht allzukräftiges Braun. Das
Bild hält etwa die Mitte zwischen den noch in den starken Farben des Rubens
gemalten und in entschiedenen Lichtgegensätzen komponierten Frühwerken Crayers
und den gänzlich blonden, in einem gleichmäßigen Licht und einem hellen, gelb-
lichen Ton gemalten der Spätzeit. Es rückt damit in die Nähe von Bildern wie
das Rosenkranzbild von 1641 im Museum zu Valenciennes und das Thesenbild
von 1646 in der Münchener Pinakothek. Doch wird man es, ebenso wie die
Schützengilden-Madonna in Brüssel, noch etwas später als das Münchener Thesen-
bild datieren müssen. Dafür sprechen die Gesichtsbildung, die Kopfbewegung und
der etwas leere Blick der Madonna und die bereits lockere Malweise. Wahr-
scheinlich hat der Erzherzog, der ja 1647 nach Brüssel kam, das Bild bald nach
seiner Ankunft vom Künstler erworben.
Ebenfalls eines der Tauschbilder ist die Darstellung der Unbefleckten Empfängnis,
die in Florenz als eine Arbeit des Gerard Seghers gilt®) (Abb. 2). Das Bild
findet sich zum erstenmal im französischen Katalog von 1804 als Arbeit van
Dycks angeführt. Die Angaben dieses Katalogs gehen offenbar auf das Erwer-
bungsbuch von 1784 bis 1825 zurtick, wo als Maler ebenfalls „van Dick“ verzeichnet
ist; auch Gotti führt es unter diesem Namen auf‘). Dann begegnet uns das Bild
wieder in dem Wiener Katalog von Mechel als „Ein geistlich emblematisch
Stück, die unbefleckte Empfängnis oder der Triumph Christi über die
Erbsünde darstellend“ auch dort als „van Dyck“ ). Bei Stampart und Prenner
im Prodromus fehlt das Bild aber ebenso wie im Inventar Erzherzog Leopold
Wilhelms. Auf welchem Wege es in die Wiener Galerie gelangte, konnte ich
nicht feststellen. Wir sind also hier auf die stilkritische Feststellung des Malers
angewiesen, Daß van Dyck nicht in Betracht kommt, bedarf wohl nicht der Dis-
kussion. Durchaus annehmbar erscheint die Zuschreibung an Seghers. Bei Seghers
muß man bekanntlich zwei zeitlich aufeinander folgende Kunstweisen unterscheiden,
die italienisch-caravaggeske der Frühzeit und die unter dem Einfluß des Rubens
stehende der Reife und Spätzeit. Auf diese schon von Sandrart mitgeteilte Tat-
(1) Fol.227’, Nr. 381. Jahrbuch der Kunstsamml. des Kaiserhauses I, II. Teil, 8. CXXXV.
(a) Brüssel, Kgl. Museum Nr. 138 (243). Phot. von Braun, Clément & Co. und von Deloeul in Brüssel.
(3) Florens, Uffisien Nr. 217. Auf Leinwand, 2,50 >< 1,93.
(4) Gotti, a. a. O., 8. 353.
(5) Chr. v. Mechel: Verzeichnis der Gemälde der К. К. Bilder-Gallerie in Wien, 1783, 8.108, Ill. Zimmer,
Nr. 18,
30
sache hat zuerst wieder Gustav Glück mit Entschiedenheit aufmerksam gemacht,
indem er sich besonders auf die Stiche nach Frühwerken des Künstlers berief!).
Er zog eine Reihe von Darstellungen bei künstlichem Licht, Genrebilder caravag-
gesker Art und mehrere religiöse Halbfigurenbilder, heran und nahm sie für die
Zeit der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts in Anspruch. Diese Datierungen
scheinen mir durch folgende Erwägungen noch stärker gesichert als durch Glücks
Beweisführung. Es läßt sich an der Hand mit Jahreszahlen versehener Stiche nach
Seghers einwandfrei feststellen, daß schon 1630 der Einfluß des Rubens sich bei
ihm durchgesetzt hatte. Sowohl die „Rückkehr aus Agypten“ von 1631 9) wie die
„Erscheinung der Madonna beim hl. Ignatius“) aus demselben Jahr, beide von
Schelte a Bolswert, zeigen im Typus der Madonna, in der Bildung der Hände mit
schwellenden weichen Formen, in der bauschigen, weichen Gewandbehandlung den
neuen Stil. Durchaus analog ist die „Vermählung Mariae“ in der Antwerpener
Galerie. Als Rest der alten Typenbildung erscheint hier noch der Kopf der in
Vorderansicht gesehenen Frau unter den Begleiterinnen der Jungfrau: er zeigt noch
die größte Verwandtschaft mit dem der Madonna auf dem Traum Josephs in der
Genter Galerie, die man, entgegen Glücks Ansicht, doch wohl noch zu den Früh-
werken rechnen muß. Die Datierung der „Vermählung“ kurz nach 1630, die Rudolf
Oldenbourg vorschlägt‘), dürfte demnach das Richtige treffen. Und vollends die
„Anbetung“ in der Frauenkirche zu Brügge, zeigt Seghers in der fast restlosen
Beherrschung der Rubensschen Kunstweise. Das hatte zur Folge, daß die Ent-
lehnung dieser Arbeit um 1630 immer Zweifeln begegnete). Zu Unrecht; denn
die Datierung dieses Bildes ist, was bisher übersehen wurde, durch einen Stich
von Paulus Pontius aus dem Jahre 1631 gesichert).
Mit dem Madonnentypus dieser Werke hat nun die apokalyptische Madonna in
Florenz wenig gemein. Dagegen springt die Verwandtschaft mit Seghers Werken
der zwanziger Jahre — wie besonders der (durch die Angaben des Inventars Erz-
herzog Leopold Wilhelms gesicherten) Madonna mit Engeln in Halbfiguren in der
Wiener Galerie und der (nur in einem Stich des Nikolaus Lauwers erhaltenen)
hl. Cäcilie mit Engeln — sofort in die Augen’). Besonders die Wiener Madonna
steht der Florentiner Maria sehr nahe in der Gesichtsform, in der Bildung des
kleinen, feingezeichneten Mundes, der geraden Nase, der großen Augen mit den
etwas schweren oberen Augenlidern. In dem Haaransatz, dem Übergang des
Haarscheitels in die Stirne, dem Aufliegen des Kopftuches zeigt sich ebenso eine
(z) Ө. Glück: Aus Rubens Zeit und Schule, in: Jahrbuch der Kunstsammlungen des Kaiserhauses,
XXIV (1903), 8. 3 f.
(з) Mit Widmung an Diego Philippo de Gusman von Gerardus Segherius MDCXXXI, Februarii УШ.
Unten: Gerardus Seghers inven. — 8. a Bolswert sculp. — Vgl. А. v. Wursbach, Niederl. Künstler-
lexikon unter den Stichen nach G. Seghers Nr. 13.
(3) Mit Widmung an Georgio della Faille von Gerardus Segerius 1631. Unten: Gerardus Segers
inven. — 8. a Bolswert sculp. — Vgl. A. v. Wurzbach, Niederl. Künstlerlexz. unter 8. a Bolswert
Nr. 93.
(4) R. Oldenbourg: Die Bämische Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 1918, 8.96. Eine Abbildung in
J. de Brauwere: Anvers, Musée royal illustre, 1894.
(5) Ө. Glück, а. a. O., S. 4f. Auch R. Oldenbourg, а. а. O., 8. 95 betont noch, daß das Bild „tra-
ditionell“ 1630 datiert werde.
(6) Mit Widmung an Alvaro Basan. — MDCXXXI von Gerardus Segherius. Unten: Gerardus Seghers
inventor, — Paulus Pontius sculpsit.
(7) Beide abgebildet bei Glück, a. a, O.
31
Stilgleichheit wie in den knochigen, wenig gepolsterten Händen mit den langen
Fingern. Auch die Gewandbehandlung in knappen, noch brüchigen Formen ohne
starke Bauschungen läßt beide Werke nahe verwandt erscheinen. Die Zuschreibung
des Florentiner Bildes an Seghers scheint durch all dieses gesichert. Was sich
an Abweichungen findet, läßt darauf schließen, daß es noch früher entstanden ist
als die Wiener Madonna. Vor allen Dingen spricht dafür die Gewandbehandlung,
die noch keine Spur von der Rubensschen, dem Knorpelwerk in der Dekoration
des Barockstils analog entwickelten Neigung zum Ausbauchen der Faltenrücken,
zur Schwingung der Faltenzüge, zum Aufrollen und Umschlagen der Gewandsäume
zeigt, die sich in der Wiener Madonna schon anzuklindigen beginnt. Endlich Licht
und Farbe. Das Bild ist in starken Lichtgegensätzen komponiert; neben hellen
Flecken erscheinen dunkle, tief verschattete Teile. Die Farbe spielt eine geringe
Rolle; die einzige große Farbmasse ist die nicht bunte, sondern ganz weiße
Gestalt der Maria. Die Dämonengestalten unten zeigen eine tiefbraune bis rötliche
Hautfarbe, die viel mehr an italienische als an flämische Barockmalerei erinnert.
Ganz italienisch wirken auch die kleinen Figuren der Vertreibung aus dem Para-
diese, die in grauen und rosagrauen Tönen gemalt sich von einem grellblauen
Himmel abheben. Nach diesen Anzeichen wird man das Bild vor die Wiener
Madonna und in eine Zeit setzen können, da Gerard Seghers, noch dem Stil seiner
italienischen Lehrzeit treu, eigene Wege ging und die Errungenschaften des Führers
der flämischen Barockmalerei ablehnte.
Der viel mißbrauchte Name van Dycks haftet noch immer an einer apokalyp-
tischen Madonna in Grisaillemalerei!) (Abb. 3), die ebensowenig von ihm sein kann
wie die eben besprochene. Dieses Bild ist als ein Vorhang gedacht, den Kinder-
engel auf einem architektonischen Hintergrunde befestigen; die Kartusche am unteren
Rande könnte für eine Inschrift bestimmt sein. Die Vermutung liegt nahe, daß
wir es mit der Vorlage für das Titelblatt eines Buches zu tun haben; jedoch
konnte ich keinen zugehörigen Stich finden. Die Bestimmung auf van Dyck beruht
auf der Überlieferung der Uffizienkataloge. Den richtigen Namen werden wir hier
wieder durch Nachprüfung der Herkunft des Bildes finden. Es kam 1793 unter
dem heutigen Namen aus Wien?). Im Mechelschen Katalog gilt es merkwürdiger-
weise als Arbeit des Philipp Fruytiers*). Dann findet es sich wieder im Inventar
Erzherzog Leopold Wilhelms, wo es genau beschrieben ist als: Ein Stuckh von
Öhlfarb auf Leinwaet graw in graw, warin Gott Vatter in der Höche,
darunder vnser liebe Fraw zwischen zweyen Englen stehent auff einem
Drachen hatt auf dem rechten Armb das Jesuskindl in der linckhen Handt
ein weisse Lilien vnd in der Brust ein Schwerdt — Original von Diepen-
beckh“*), Zur stilkritischen Nachprüfung dieser Zuschreibung ist das einzige be-
kannte Gemälde Abraham van Diepenbeecks, das eine Bezeichnung trägt, heran-
zuziehen. Es ist eine Darstellung der Tugenden und Laster, die 1912 in das
Museum zu Straßburg gelangte’). Man findet bei beiden Bildern die gleichen
Frauen und Kindertypen, dieselbe Art der Gewandbehandlung in bauschigen, leb-
haft bewegten Stoffen mit sich aufrollenden Rändern. Auch die Art der Malerei
(1) Florenz, Uffizien Nr. 783. Auf Leinwand, 0,72 X 0,53. Photographiert von Brogi.
(2) Journal der Uffizien 1784—1825. Engerth, a. a. О. I, 8. LXIX.
(3) Mechel, а. a. O., 8. 141.
(4) Fol. 284, Nr. 785. Jahrbuch der Kunstsammi. des Kaiserhauses I, П. Teil, 8. CLU.
(5) Versteigert r912 bei Lepke in Berlin aus der Sammlung Weber und 1892 bei Heberle in Köln
aus der Sammlung Habich. Im Versteigerungskatalog Habich unter Nr. 37 eine Abbildung.
32
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Abb. 6. L. Vorsterman nach Jan van den Hoecke: >?
Erzberzog Leopold Wilhelm vor der Madonna
i >
Abb. 3. Abraham van Diepenbeeck: Apokalyptische
Madonna Florenz, Uffisien
Abb. 5. D. Seghers und Jan van den Hoecke: Abb. 4. Abrabam van Diepenbeeck: Zeichnung zur
Blumenkranz im Bildnis Florenz Uffisien | apokalyptischen Madonna Braunschweig, Mus.
Zu: ZORGE v. MANTEUFFEL, BILDER FLAMISCHER MEISTER IN DER GALERIE DER UFFIZIEN
ZU FLORENZ
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stimmt genau überein ). Das Straßburger Bild ist nun auf Grund des darauf an-
gebrachten Wappens annähernd zu datieren. Es ist das des Papstes Innocenz X.
aus der Famile Pamfili, der 1644—1655 die Tiara trug. Wahrscheinlich in diesem
Jahrzehnt, jedenfalls aber nicht vor 1644 ist die Arbeit also entstanden. Für das
Florentiner Stück erhalten wir, wie bei der Stilgleichheit nicht anders zu erwarten
war, etwa die gleiche Zeit, d. h. die des Aufenthalts Erzherzog Leopold Wilhelms
in den Niederlanden zwischen 1647 und 1656 als Frist, in der die Entstehung zu
vermuten ist, und jedenfalls als letztes Datum 1656. Die beiden Stücke repräsen-
tieren also den Stil Diepenbeecks um die Mitte des Jahrhunderts.
Zu dem Florentiner Bilde gibt es einen Entwurf, den ich in dem Kupferstich-
kabinet der Braunschweiger Galerie entdeckte (Abb. 4). Die Nebeneinanderstellung
der Abbildungen wird zum Beweis der Zusammengehirigkeit dieser Arbeiten ge-
nügen. Aufschlußreich ist ein Vergleich der Abweichungen zwischen Entwurf und
Ausführung. Offenbar schien dem Künstler die Komposition auf seiner Zeichnung
nicht das gewünschte Gleichgewicht zu haben, weil die Massen rechts zu schwer
und zu dicht waren. Er drehte also die Madonna in den Gegensinn um, rlickte
den Engel rechts weiter ab, veränderte seine Stellung und entblößte seinen Ober-
körper. Dann rückte er das Spruchband tiefer, um unter der Hauptgestalt etwas
leeren Raum zu gewinnen und schob die Kinderengel, die es halten, etwas hinauf,
um den kompositionellen Zusammenhang wiederherzustellen. Man sieht also, daß
die Komposition nicht ohne eingehende künstlerische Erwägungen entstanden ist.
Das Durchverfolgen einzelner Motive wie etwa der rechten Hand des Engels links,
der Kopfbedeckung Marias, der Haltung des Christkindes wird des weiteren über
die Absichten des Künstlers Aufschluß geben.
* *
+
Der „Blumenkranz“ von Daniel Seghers in den Uffzien?) hat alle Eigen-
schaften, die des Jesuitenpaters Bilder auszeichnen: die reiche und lebendige Kom-
position, die kraftvolle Zeichnung, die ktihle und lebhafte Farbe (Abb. 5). Seghers
hat eine neue Art des Blumenstiicks geschaffen; er pflegt seine Blumen nicht als
geschlossenen Kranz zu ordnen, sondern verteilt sie stets in drei oder vier Büscheln
oder kurzen Girlanden auf einer Kartusche. Die Verbindung zwischen den ein-
zelnen Büscheln bilden leichte Ranken. Aber auch die einzelnen Büschel sind
nicht in kompakten Massen zusammengestellt. Eine Fülle einzelner Blumenstengel
schießt stets weit heraus, und zwischen die Blüten schieben sich immer Stellen,
bei denen man hindurchblickt. So entsteht keine geschlossene Masse wie bei
Brueghel oder bei Snyders, sondern eine ganz malerisch aufgelöste. Im Gesamt-
eindruck ergibt sich, daß Seghers Blumenkriinze nie als Rahmen, stets als Teile
des Bildes wirken.
Die Blumen auf dem Florentiner Seghersbilde umgeben eine männliche Porträt-
büste. In graubrauner Farbe ist in scharfem Profil der Kopf eines Fürsten oder
Feldherrn mit dem Spitzbart und dem langen Haar des 17. Jahrhunderts dargestellt;
ein römischer Soldatenmantel bedeckt Brust und Schulter; um die Stirn ist ein
Lorbeerkranz gelegt. Das Gesicht hat energische Züge, eine gebogene, schmal-
rückige Nase, ein stark vorgeschobenes Kinn. Es ist sicher ein Bildnis; für einen
Idealkopf sind die Züge viel zu individuell.
(1). Vgl. Sitzungsberichte der kunsthistorischen Gesellschaft in Berlin, Bd. VI (1913), 8. 171, 180
(Vortrag von L. Burchard) und meinen Artikel über Diepenbeeck in Thieme-Becker: Allgemeines
Lexikon der bildenden Künstler, Bd. IX (1913).
(з) Florenz, Uffizien Nr. 830. Auf Kupfer 1,18 ><0,98. Photographiert von Brogi.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1921. 3 33
Die unzweifelhafte Zuschreibung des Blumenkranzes an Daniel Seghers wird
durch die bekannte Signatur: D. Seghers Soch Jesu bestätigt. Für den Kopf
aber müssen wir uns den Maler suchen. Man gelangt, den Schicksalen des Bildes
nachgehend, auch hier wieder über die Uffizienkataloge, das mehrerwähnte Er-
werbungs-Journal, die Verzeichnisse von Engerth und Gotti, den Katalog Mechels?)
zum Inventar des Erzherzogs Leopold Wilhelm, wo das Bild genau beschrieben
ist: „Ein Stuckh von Öhlfarb auf Khupffer, warin ihro hochfürstlichen
Durchleücht Ertzherzoghen Leopoldi Wilhelmi etc. Contrafait im Profil
gemacht, welches mit drey Festonen von vnderschiedtlichen Blumen
gezierth. — in einer schwartz eben Ramen hoch 7 Span 3 Finger vnndt
6 Span 2 Finger braidt. — Die Blumen Original von Daniel Segers vnnd
das Contrafait von Johann von Hoeckh )“. Diese Beschreibung ist so klar
in der Hervorhebung der auffallendsten Eigentümlichkeiten des Bildes, daß ein
Zweifel über die Identität nicht entstehen kann. Und auch die Maße stimmen
überein, wenn man in Betracht zieht, daß der (nicht mehr vorhandene) alte Rahmen
mit gemessen ist. Eine stilkritische Nachprüfung bestätigt die Angaben des
Inventars vollständig. Die Malweise mit der etwas breiten und wenig energischen
Pinselführung entspricht durchaus der Art, die wir aus anderen Bildern Hoeckes
kennen. Und für die Identifizierung des Dargestellten fehlt es ebenfalls nicht an
Vergleichsmaterial. Am nächsten stehen dem Porträt in Florenz jene von Hoecke
selbst gemalten, die L. Vorsterman?) und Petrus de Jode‘) stachen; besonders der
Stich Vorstermans, der den Erzherzog vor der Madonna kniend darstellt (Abb. 6),
ist heranzuziehen. Zu vergleichen ist auch das Bildnis in der Porträtsammilung
Erzherzog Ferdinands von Tirol, dem offenbar eine Vorlage Jan van den Hoeckes
zugrunde liegt’). Die Identität der auf all diesen Bildnissen dargestellten Persön-
lichkeit mit der des Bildes in Florenz leuchtet ohne weiteres ein. Damit wären
die beiden Fragen, die vor dem Gemälde in Florenz auftauchten, die nach dem
Maler des Bildnisses und die nach dem Dargestellten, zweifelsfrei gelöst. Wir
haben aber auch die Möglichkeit, die Entstehungszeit des Bildes wenigstens an-
nähernd festzulegen. Jan van den Hoecke war Hofmaler Erzherzog Leopold Wil-
helms und begleitete ihn, als er 1647 als Statthalter in die Niederlande ging. Dort
ist er schon 1651 gestorben“). Das Florentiner Bild muß also zwischen 1647 und
1651 in den Niederlanden entstanden sein, da Seghers seit einer Italienreise in
seiner Jugend seine Heimat nicht verlassen hat und Hoecke nur dort mit ihm zu-
sammen im Auftrag des Erzherzogs gearbeitet haben kann.
Keinerlei Rätsel gibt uns ein zweites Bild auf, das in ganz ähnlicher Weise drei
Blumensträuße auf einer Barockkartusche darstellt”). Hier ist statt des Bildnisses
eine bemalte Madonnenfigur in den Mittelpunkt der Komposition gestellt (Abb. 7).
Beide Maler, der der Blumen und der der Madonna, haben das Bild signiert.
Unten steht: J. P. Van Thielen Rigouldts A™ 1645, weiter oben unter der Ma-
(x) Katalog von 1807 (franz.), S. 144. Engertb, a. a. O., 8. LXIX. Gotti, a. a. O., 8. 353. Hier ist
als Maler der Büste Teniers angegeben. Mechel, a. a. O., S. 193, Nr. 24.
(2) Fol. 187, Nr. 141. Jahrbuch der Kunstsammlungen des Kaiserhauses I, II. Teil, 8. CXXII.
(3) Н. Hymans: Lucas Vorsterman, Brüssel 1893, Nr. 177, 178, 179.
(4) A. v. Wurzbach: Niederl, Künstlerlexikon I, 8. 693, Nr. 3.
(5) Vgl. Fr. Kenner: Die Portritsammlung des Erzherzogs Ferdinand von Tirol in Jahrb. der Kunst-
sammi. des Kaiserhauses XIV (1893), Nr. 215, 216 und Abb, auf Tafel XL
(6) Vgl. v. d. Branden: Gesch. d. Antwerpsche Schilderschool (1883), 8. 796 f.
(7) Florenz, Uffizien Nr. 863. Auf Hols, 0,80 X 0,60.
34
donna: E. Quellinus!). Van Thielen gilt als der Nachfolger des Seghers, der
ihm am nächsten kommt. Doch wird auch vor den beiden Uffizienbildern klar,
welcher Abstand beide Künstler voneinander trennt. Im Schema der Anordnung
sind sie fast gleich. Die Pracht und Fülle und die Sicherheit seines Vorbildes
erreicht aber Thielen nicht. Seine Blumensträuße sind gar zu kompakt und schwer,
die einzelnen Blüten lösen sich nicht recht voneinander, die hervorschießenden
Zweige wirken recht ärmlich. Im einzelnen fehlt die Leichtigkeit und Grazie. Die
Kraft der Zeichnung bleibt hinter der seines Lehrers zurück. Etwas trocken und
unlebendig bleibt bei aller Ähnlichkeit ein herabhängender Zweig gegenüber der
Spannung und Vollsaftigkeit solcher Dinge bei Seghers; etwas verschwommen und
flau sind seine Blüten, wenn man die klare, den Bau jedes Kelches erfassende
Art bei jenem denkt. Und die Farbe erreicht bei Thielen nie die Entschiedenheit
und den kühlen, reinen Glanz des Seghers; sie bleibt immer etwas monoton und
trübe. Sind das auch nur Nuancen, so müssen sie doch genügen, beider Künstler
Werke zu trennen.
Endlich finden wir noch ein drittes Blumensttick, das deswegen interessant ist,
weil es von einem seltenen und dabei nicht unbedeutenden Meister herrührt. Es
stellt eine Blumenguirlande dar, die rechts und links an Ringen befestigt über einen
Tür- oder Nischenbogen herabhingt*) (Abb. 8). Die vielfach verschnörkelte Be-
zeichnung Hieronymus Galle f. 1665 ist unten rechts und links auf der Wand
verteilt. Das Bild verleugnet seine flämische Herkunft nicht; es hat die ganze
Liebe zur schönen Erscheinung in Form und Farbe, die die Antwerpener Blumen-
maler auszeichnet. Sicher ist Seghers das Vorbild des Malers gewesen, doch ist
seine Manier freier und fortgeschrittener als die des Jesuiten; die Blumen sind
lockerer, nicht so fest und glasartig wie bei jenem.
Hieronymus Galle ist so gut wie unbekannt. In den Handbiichern findet man
die Daten: Geburt 1625, Lehrling des Abraham Hack, Meister 1646, 1679 noch am
Leben“). Wurzbach erwähnt nur zwei Blumenstiicke von ihm, eines im Schloß
zu Dessau und eines in der ehemaligen Sammlung Raspail zu Paris, das ,,Hiero-
nimo Galle 1663“ bezeichnet war, van den Branden nur das letztere‘). Die Nach-
richt von dem Bilde in Dessau fand Wurzbach wohl bei Parthey, wo es kurz er-
wähnt ist“). Dort ist noch ein zweites, von Wurzbach nicht angeführtes Blumen-
stück als im Schloß zu Berlin befindlich verzeichnet“). Dieses Bild, das seitdem
in das „Rote Haus“ im Neuen Garten zu Potsdam gelangt ist, trägt die Bezeich-
nung Giero Galle ft Anno 1667; es stellt einen Blumenstrauß in einer Messingvase
dar’), Alle drei Arbeiten sind in ganz ähnlicher verschnörkelter Schrift wie das
Bild in Florenz bezeichnet; beim Dessauer und beim Potsdamer Stück weicht nur
die Schreibweise des Vornamens „Gieronimo“ ab. Trotzdem sind sie ohne Zweifel
(1) In älteren Katalogen sind merkwürdigerweise die beiden Namen vertauscht und Quellinus als der
Maler der Blumen, Thielen als der der Madonna angegeben.
(a) Florenz. Uffisien Nr. 946. Auf Holz, 0,44 X 0,66. Die Jahreszahl durch den Rahmen verdeckt.
(3) Chr. Kramm: De Levens en Werken etc, Amsterdam 1857 ff., Aanbangsel. — J. v. d. Branden:
Geschiedenis d. Antwerpsche Schilderschool, 1883, 8. 1136. — А. v. Wurzbach: Niederl. Künstler-
lexikon I (1904). — Rombouts und Lerius: De Liggere II, 8. 167, 172.
(4) Beide geben offenbar auf eine Mitteilung im Journal des Beaux Arts УШ (1866), S. 157 zuräck.
Dort die Signatur des Gemäldes abgebildet.
(5) Parthey: Deutscher Bildersaal I (1863), 8. 471.
(6) Ebenda, S. 470.
(7) Auf Leinwand, 0,68 >< 0,458. General-Kat. Nr. 2222.
35
von demselben Meister. Diese Liste läßt sich nun sehr vermehren. Zwei weitere
Blumenstticke Galles befinden sich in der Loge zum Ölzweig in Bremen. Sie sind
darum aufschlußreich, weil sie ganz in der Art des Seghers je drei Blumensträuße
um Büsten zeigen, die bei dem einen als „M. Marcellus“, bei dem anderen als
„Nero“ bezeichnet sind. Beide Bilder sind durch die volle Signatur „Hyronimo
Galle fec.“ für den Künstler gesichert!). Ferner befindet sich ein ähnliches,
ebenfalls bezeichnetes Stück, das in der Mitte das Brustbild eines Mönches zeigt,
im Museum zu Bordeaux”) und ein weiteres im Museum zu Boulogne-sur-mer?).
Endlich enthielt einen „Blumenkranz“ die 1869 versteigerte Sammlung Kriinner-
Müller in Regensburg‘); dieses Hieronimo Galle f. Ao. 1658 bezeichnete Bild scheint
identisch zu sein mit dem laut Katalog von 1899 in der Sammlung Chanenko in
Kiew befindlichen. Außer diesen Blumenstücken tragen noch mehrere andere
Stilleben die Signatur Galles. Es sind das eines im Museum zu Orléans, auf dem
eine Ente, ein Hase, kleine bunte Vögel und ein Kohlkopf zu sehen sind?) und
zwei in der ehemaligen Sammlung A. von Herrenburger in Dresden, die Obst und
Pilze darstellen). Das erstgenannte ist G. Galle, die beiden anderen Gironimo
Galle bezeichnet. Die bei allen dreien von den Signaturen der meisten Blumen-
stlicke abweichende Form des Vornamens im Verein mit der Verschiedenheit der
Gegenstände könnte stutzig machen und Veranlassung geben an den gleichnamigen
Neffen unseres Malers zu denken, der 1674 Lehrling des Jan Erasmus Quellinus
wurde. Wir sahen aber, daß die Blumenstiicke in Dessau und Potsdam, die un-
zweifelhaft zu der zusammengestellten Gruppe gehören, ebenfalls die Schreibweise
des Vornamens mit einem G aufweisen. Zudem ist es mindestens zweifelhaft, ob
der jüngere Hieronymus Galle überhaupt Maler wurde, da er bereits 1678 seinem
Vater im Amt eines Stadtboten Brüssels in Antwerpen folgte und seitdem in den
Liggeren der Lukasgilde, die ihn überhaupt nicht als Meister führen, nicht mehr
vorkommt. Und jedenfalls wissen wir auch gar nicht, welcher Art die Bilder
gewesen sein könnten, die er gemalt hätte’). Bis auf weiteres darf man also an-
nehmen, daß auch die Wild- und Fruchtstilleben vom älteren Hieronymus Galle
sind. Er hätte sich demnach nicht auf das Malen von Blumenstticken in der Art
des D. Seghers beschränkt, sondern, wie seine Zeitgenossen Jan van der Hecke
und Jan Anton von der Baren, auch Stilleben anderer Art gemalt. Wie deren
Wild- und Fruchtstilleben zeigen auch die seinigen den Einfluß Jan Fyts, gehen
aber stilhistorisch über diesen hinaus und stehen etwa auf der Stufe des Pieter
Boel.
(x) Vgl. Katalog der „Ausstellung historischer Gemälde aus bremischem Kunstbesitz“ 1904. Das eret-
genannte Bild mißt 0,82 >< 0,66, das andere 0,84 >< 0,68.
(a) Bordeaux, Museum Nr. 226. Auf Leinwand, 0,55 X 0,40.
(3) Boulogne s/M., Musée municipal. Gal, E, Nr. 32.
(4) Val. Wilhelm Schmidt, in der Zeitschrift f. bild. Kunst, Bd. IV (1869), S. 192.
(5) Vgl. Inventaire des Richesses d'Art de la France; Province, Monuments civils, Bd. I, 8. rag.
Auf Leinwand, 1,05 X 1,36.
(6) Versteigerungskatalog Lepke Nr. 1531 vom 1.12.1908, Nr. 27, 28. Beide Stücke, die 1,00 >< 1,22
messen, dort abgebildet.
(7) Zum jüngeren Hieronymus Galle vgl. v. d. Branden, a. a. O., 5. 1137 und Rombouts und Lerius:
Liggere II, S. 430, 432, 686 Anm. Die Angabe seines Namens auf S. 686 unter dem der Künstler,
für die 1712/13 das Totengeld an die Gilde bezahlt wurde, ist ein Zusatz der Herausgeber der Liggeren.
Tatsächlich ist er nur zweimal im Jahre 1673/74 als Lehrling des J. E. Quellinus erwähnt und später
nicht mehr. Über die beiden Galle vgl. auch des Verfassers Artikel in dem XIII. Band des Künstler-
lexikon von U. Thieme.
36
Die beiden flämischen Tierstticke der Uffizien gehören wieder zu den Bildern,
die aus Wien kamen; es sind das eine Eberjagd von Franz Snyders und ein Hüher-
hof mit einem Raubvogel, der als ein Werk des Fyt gilt. Beide Bilder befanden
sich laut dem Katalog Mechels 1783 in der Belvederegalerie!). Weiter zurück sind
sie nicht zu finden, wenn das Bild von Snyders nicht etwa jenes ist, das sich
1737 in Prag befand und über Preßburg 1781 nach Wien kam ). Gewöhnlich wird
dieses Stück mit dem von Hunden gestellten Eber im Wiener Hofmuseum identi-
fiziert, der 1783 ebenfalls im Belvedere hing. Anhaltspunkte ftir eine Entscheidung
dieser, übrigens keinerlei kunsthistorische Aufschlüsse versprechenden Frage, ent-
hält das Inventar von 1737 nicht. Auf dem Florentiner Bild ist ein nach links
laufender Eber dargestellt, den ein Hund am linken Ohr gefaßt hat, während ein
zweiter ihn von hinten angreift; drei weitere verwundete Hunde wälzen sich vorn
am Boden; ein sechster eilt von rechts herbei). Am linken Bildrande erscheinen
zwei barhäuptige Jäger in Zeittracht mit Spießen, die den Eber abfangen (Photo-
graphie Alinari 1007). Die Komposition stimmt in mehreren Teilen genau mit
der Eberjagd im Dresdener Museum überein. Der Eber ist bei beiden Arbeiten
gleich und ebenso fünf von den sechs Hunden. Entscheidend für die Verschieden-
heit im Eindruck des Ganzen ist, daß die menschlichen Figuren ganz anders an-
geordnet sind und der Hund, der den Eber am Ohr fassend, bei der Florentiner
Fassung, die Bildmitte füllt, in Dresden ganz fehlt. Dieses und die Feststellung
mehrerer kleiner Verschiedenheiten bei sonst identischen Teilen führt zu dem
Schluß, daß beide Arbeiten originale Schöpfungen sind. Auch gegen die Qualität
keines der Bilder ist Entscheidendes einzuwenden. Die Übernahme einzelner Teile
aus einem Bilde in das andere scheint eine oft geübte Gewohnheit des Snyders
zu sein. Wir erinnern nur an die Hündin mit den Jungen, die nicht weniger als
dreimal auf seinen Küchenstilleben vorkommt‘). Daß Snyders, wie sein Meister
Rubens, sich bei der Vorbereitung und Untermalung großer Stticke der Hilfe seiner
Schüler bedient hat, dürfte kaum zweifelhaft sein; die endgültige Ausführung scheint
er aber nie fremden Händen überlassen zu haben.
Das angeblich von Fyt gemalte Gefitigelbild zeigt zwei Hähne, die ihren Streit
unterbrochen haben, weil ein gemeinsamer, mächtiger Feind sie in Gestalt eines
Habichts bedroht; zwei Hennen und mehrere Keuchel scheinen die Gefahr noch
nicht zu ahnen (Abb. 9)°). Das Bild galt schon in Wien als Fyt. Demgegentiber
wäre zu bemerken, daß der auf einem Zweige sitzende Habicht in genau der
gleichen Stellung auf einem Stich des Pieter Boel vorkommt). Für die Zu-
schreibung an diesen Meister statt an seinen Lehrer Fyt würde das allein aber
schon deswegen nicht entscheidend sein, weil in derselben Stichfolge auch sonst
Teile aus Bildern Fyts verwendet sind, wie z. B. einer der Falken und der fal-
lende Reiher aus dem Bilde in Schleißheim, das die volle Namensbezeichnung Fyts
trügt ). Diese Beobachtung führt aber doch auf die richtige Spur. Trotz mancher
Verwandtschaft mit der Kunstweise Fyts weicht das Bild in mehreren Punkten
(1) Mechel, а. a. O., 8. 194, Nr. so und 8. 194 Nr. 34. Vgi. auch Engerth, a, a. O. I, 8. LXVIII, LXIX.
(2) Jahrb. der Kunstsammi. des Kaiserhauses VII, U. Teil, S.CLXIV, Nr. 569. Vgl. Engerth, a. a. O.,
Nr. 1253. |
(3) Florenz, Uffiaien Nr. 220. Auf Leinwand, 2,17 X 3,07.
(4) Dresden, Galerie Nr. 1192, 1105 und ohne die Jungen Paris, Louvre 2149.
(5) Florens, Uffizien Nr. 107. Auf Leinwand 0,91 >< 1,32.
(6) Bartsch Nr. 6.
(7) Abgebildet bei Bassermann-Jordan, Unveröffentlichte Gemälde alter Meister, Band Ш, Tafel 49.
37
deutlich von seinen beglaubigten Werken ab. Es hat weniger die sachliche Wieder-
gabe der Dinge als ihre lebendige Bewegung zum Gegenstande, es ist mehr in
Raum und Licht komponiert als es Fyt pflegte, endlich zeigt es in der Farbe ein
Überwiegen von Schwarz, neben dem nur Braun und Gelb in geringer Ausdeh-
nung eine Rolle spielen. Die Verwandtschaft mit Arbeiten des Pieter Boel, wie
z. B. den drei Adlern im Städelschen Institut zu Frankfurt a. M.!) ist in all diesen
Punkten so eng, daß wir das Bild für diesen Meister in Anspruch nehmen möchten.
* *
*
Vom älteren Jan Brueghel besitzt die Uffiziengalerie mehrere bemerkenswerte
Tafeln, die zum alten Besitz der Sammlung gehören. Darunter befindet sich ein
Hillenbild*), das der Katalog Peter Brueghel d. A. zuschreibt. Es ist jedoch eine
jener frühen Arbeiten Jans, wie sie auch in der Ambrosiana zu Mailand (bez., dat.
1595), in den Galerien zu Cassel (bez., dat. 1597) und im Haag (bez., dat. 1597)
und in anderen Sammlungen zu finden sind. Das Bild in Florenz zeigt links den
Thron Plutos, vor dem Orpheus mit der Leier steht, um die Befreiung Euridikens
zu erwirken. Weiter rechts blickt man in eine Höllenlandschaft mit Bergen und
Gebäuden, ads denen Flammen emporschießen; sie ist von den Leibern der Ver-
dammten und allerhand Höllenfiguren belebt. Alles ist in jene grünliche Farbe
getaucht, die solchen Friihbildern Jans ihren eigenen Reiz verleiht. Besonders nahe
steht dem Bilde eine Juno in der Unterwelt im Besitz der Dresdner Galerie, die
1596 (die letzte Zahl undeutlich) datiert und voll bezeichnet ist. Sowohl das Ko-
lorit, die feine, klare Zeichnung und der schöne, emailleartige Farbauftrag, wie
auch die Anordnung der Bildteile sind gleichartig. Insbesondere kehrt bei beiden
Werken ein ganz reines Blau an einigen Gewändern wieder, das mit dem Grün
der Umgebung sehr eigenartig zusammenklingt. Die Bilder sind offenbar gleich-
zeitig entstanden. Ја, sie dürften überhaupt Gegenstlicke sein, da sich die Kom-
position entspricht, Maße und Material übereinstimmen). Ein frühes Werk Jan
Brueghels muß auch die Landschaft mit Christus und den Aposteln (Photographie
Alinari Nr. 442) sein‘). Sie zeigt den Blick von einem bewaldeten Bergriicken
auf eine unten im Tal liegende Stadt mit einem großen Zentralbau. Offenbar
ist Jerusalem mit dem Tempel gemeint. Auf diesen Tempel und die Stadt
weist ein Mann, der im Mittelgrunde auf der Höhe steht, seine Genossen hin. Das
bisher noch nicht gedeutete Bild stellt das Gespräch dar, in dem Christus die Frage
der Apostel nach dem Schicksale Jerusalems beantwortet (Ev. Marci XIII, 3ff.).
Zu dieser Deutung auf eine Szene, die der Passion unmittelbar vorangeht, paßt
auch die frühere Verwendung des Bildes. Auf seine Rückseite war die (im fol-
genden zu besprechende) Golgatha-Grisaille Dürers geklebt und das Ganze bildete
den Flügel zum Golgatha-Bilde Brueghels. Das Bild dürfte übrigens etwas früher
entstanden sein als dieses (von 1604); es zeigt noch starke Verwandtschaft mit
den Arbeiten, die bald nach der Rückkehr aus Italien entstanden, wie z. B. der
„Anbetung der Könige“ von 1598 im Wiener Hofmuseum. Das Golgathabild, das
die farbige Kopie der erwähnten Grisaille von Dürer (Photogr. Alinari 6641) ist,
(1) Frankfurt, Städelsches Institut, Nr. 163. Phot. von Bruckmann.
(2) Florens, Uffizien Nr. 974. Auf Kupfer, o, as >< 0,34. Das Bild befand sich schon 1788 in der
Uffiziengalerie als Werk „des Bruders des Jan Brueghel“. Vgl. Lanzi: La Reale Galleria di Firenze,
Florenz 1782, 8. 141 und Zacchiroli: Description de la Galerie royale de France, Florenz 1783, П,
8. 74, Nr. LV.
(3) Das Bild in Dresden (Nr. 877) ist auf Kupfer gemalt und mißt 0,255 X 0,355.
(4) Florenz, Uffizsien Nr. 761. Auf Holz, 0,59 X 0,42.
38
trägt eine ausführliche Inschrift!), die besagt, die Erfindung sei von Dürer, die Aus-
führung aber von Jan Brueghel, und das Datum 1604. (Photographie Alinari 443.)
Lehrreich ist der Vergleich der beiden Arbeiten. Am strengsten hält sich Brueghe
in den Figuren des Vordergrundes an sein Vorbild; hier kopiert er genau und fügt
nur die Farbe hinzu. Die Figuren des Mittelgrundes werden zwar genau über-
nommen, aber die Härten der Zeichnung sind gemildert. Ferner treten hier die
echt Brueghelschen hellgrünen Laubmassen und seine feingestrichelten Boden-
flächen deutlich hervor. In der Ferne endlich ist die Komposition willkürlich ver-
ändert. Schroffe Bergrücken sind ausgeglichen, ein Höhenzug am linken Bildrande
ist seines steilen Abfalls beraubt und von Vorbergen umgeben. So hat sich
Brueghel auch nicht versagen können, gelegentlich perspektivische Härten aus-
zugleichen. Bei Dürer scheint der Boden, in starker Aufsicht wiedergegeben, an-
zusteigen; das ist bei Brueghel durch kleine Verschiebungen und die Einfügung
von Erdwellen gemildert. Dieses Verhältnis des Spätrenaissancekünstlers zu seiner
hundert Jahre älteren Vorlage lehrt, daß diese Zeit die Kraft und die Ausdrucks-
fähigkeit der Spätgotik bei Figtirlichem zu schätzen wußte, in der Perspektive und
im Landschaftlichen aber ihre eigenen Errungenschaften sehr bewußt betonte.
Endlich besitzen die Uffizien auch ein Bild aus der mittleren Zeit des Jan Brueghel.
Es stellt eine Straße dar, die von links vorne nach rechts hinten einem Walddorf
zuführt; vorne trifft sie auf einen Bach, dessen Furt Wagen, Vieh und Reiter
durchqueren; links im Hintergrund erblickt man eine tiefe Waldlichtung). Das
Bild ist eine — allerdings stark veränderte — Wiederholung der „Furt“ in der
Münchener Pinakothek (dat. 1605); auch einige der Figuren, wie z. B. der Reiter
rechts vorne, sind wieder verwendet. Bei dem Datum der voll signierten Arbeit
fehlt aber die letzte der vier Zahlen, so daß nur 161 . zu lesen ist. Nach dem
malerischen Charakter, der noch nicht die Breite und Lockerheit der Arbeiten von
1612 und der Folgezeit aufweist, wird man es nicht viel später als 1610 oder 1611
ansetzen können.
Ein Blumenstück von Brueghel besitzt die Uffiziengalerie nicht. Ihm zu-
geschrieben werden zwei Landschaften mit Blumen und Stilleben im Vorder-
grunde; es sind Darstellungen der vier Elemente, personifiziert in vier Frauen-
gestalten mit den üblichen Attributen“). Die Figuren sind, wie fast immer bei
derartigen Bildern, von anderer Hand und zwar hier von der des Hendrik de
Clerck, der häufig solche Staffagen malte (Photographie Anderson 6754 u. Abb. 10).
(1) Uffisien Nr. 761 bis bez. А INVENTOR · 1505 BRVEGHEL . РЕС. 1604. Auf Hols, 0,59 X 0,42. —
Das Bild befand sich schon 1782 zusammen mit dem vorerwähnten und der Dürerzeichnung in den
Ufäzien. Vgl. Lanzi (1782), a. a. O., 8. 32, 137; Zacchiroli (1783), a. а. O., П, 8. zogf.
(2) Uffizien Nr. 858, bez. BRVEGHEL 1:61. · Auf Kupfer, 0,24 >< 0,37. Auch dieses Bild schon 1782
bei Lanzi, a. a. O., S. 144 und 1783 bei Zacchiroli, а. а. О. U, 8. 69. Eine hübsche aquarellierte
Vorzeichnung su ihm befindet sich in der Kupferstichsammlung König Friedrich August II. in Dresden
(249 >< 385 mm, phot. Braun Nr. 69086), eine Kopie in Federzeichnung im Kupferstichkabinett zu
Berlin (Inv. Nr. 764, 255 X 390 mm).
(3) Uffisien Nr. 884, 903. Auf Kupfer, je o, 36 >< 0,94. Bei Lanzi (1782) beschrieben auf 8. 137; er
fügt hinzu, es seien wohl Wiederholungen aus des Meisters Schule, da sich ähnliche Darstellungen
in der Ambrosiana su Mailand befänden. Letztere Angabe hat zu dem immer wiederholten Irrtum
geführt, es handle sich bei den Florentiner Stücken um Kopien; die Mailänder Bilder, die allein ge-
meint sein können — zwei Bilder mit Darstellungen von Wasser und Feuer — sind aber ganz ver-
schieden von ihnen. Vgl. auch Zacchiroli, а. a. О. П, S. 103 und 108.
39
Für die anderen Teile der Bilder fehlt es zwar nicht an Berlihrungspunkten mit
den sicheren Arbeiten Brueghels, ihre Qualität steht aber doch so weit unter der
des Meisters, daß man sie einem Nachahmer zuschreiben muß, und zwar dem
Abraham Govaerts. Von diesem Antwerpener Maler, der 1607 Meister der
Lukasgilde wurde und 1626 starb, gibt es eine Reihe datierter und bezeichneter
Werke, die ihn als einen Nachfolger Jan Brueghels zeigen. Besonders in seiner
späteren Zeit verlegte er sich darauf, dessen Landschaften mit Blumen und alle-
gorischen Figuren nachzuahmen. Bei dieser Übernahme büßte Brueghels Kunst-
weise den größten Teil ihrer Kraft und ihres Reichtums ein. Die Bäume be-
kommen bei Govaerts etwas Trockenes und Schematisches. Die Spitzen der Äste,
die bei seinem Vorbild fein und klar in die Luft ragen, hängen schwer und plump
gegliedert herab. Zweige mit Früchten, die sich in Büscheln locker aneinander-
reihten, werden in der Fläche ausgebreitet, als wären sie plattgedrückt. Die Durch-
blicke in das Waldinnere verlieren ihre räumliche Wirkung, ferne landschaftliche
Teile verschwimmen in unklaren Formen. Bei den Blumen, den Frtichten, den
Tieren des Vordergrundes machen sich besonders starke Unterschiede bemerkbar.
Statt daß eine Blume als offener Kelch wirkt, erscheint sie als ausgezackte Sil-
houette. Die Stengel und Blätter geben nicht die Illusion des Aus-der-Erde-
wachsens und der organischen, gewundenen oder gebogenen Form, sondern sehen
aus als wären sie aus Blech und Draht und steckten im Boden wie abgeschnittene
Blumen in einem Gefäß mit Sand. Kärglich sind die Stilleben am Boden aus-
gebreitet, und ohne alles Leben sind die Tiere. Man muß neben ein Stück wie
Govaerts „Wasser und Erde“ in der Braunschweiger Galerie das Bild gleichen
Gegenstandes von Brueghel in Wien oder den „Geruch“ im Pradomuseum an-
sehen, um den Unterschied zwischen der Fülle und Pracht dieser verschwende-
risch über den Boden ausgebreiteten Dinge beim Vorbild und der Ärmlichkeit und
Ängstlichkeit beim Nachahmer zu erkennen. Die Eigenschaften des letzteren
zeigen deutlich die beiden Bilder in Florenz. Für das Bild mit den Figuren von
Feuer und Luft können wir ferner auf ein direktes Vorbild bei Brueghel hin-
weisen; es ist eine Darstellung der Schmiede des Vulkan mit Venus, die mehrfach
vorkommt!). Das Gewölbe auf unserem Bilde ist von einem Exemplar in der
Galerie Doria in Rom genau entlehnt, ebenso mehrere Figuren des Mittelgrundes
und der größte Teil der Waffen und Geschmeide. Aber auch hier gilt, daß alles
trockener, Armlicher, unklarer ist. So ist ein reizvoller Durchblick links mit dem
Feuerschein und den großen Rädern und Hämmern durch eine langweilige Wand
mit Rüstungen ersetzt, der obere Durchblick in der Mitte in seinen Konturen ver-
einfacht und allen malerischen Reizes entkleidet. Überall ist die Feinheit der
Lichtführung verloren gegangen. Und nun sind auch noch diejenigen Teile, die
hinzugefügt wurden, in der Erfindung unsicherer als die aus dem Bilde der Galerie
Doria übernommenen, so daß die Arbeit des Nachahmers mit ihren typischen Merk-
malen deutlich wird.
Govaerts ist nicht der einzige Brueghelnachahmer, der die Darstellung von
allerlei Getier und Blumen in kleinem Maßstabe von dem Meister übernahm. Es
bildete sich vielmehr eine ganze Schule solcher Kleinmeister. Einer der frucht-
barsten der Art ist Jan van Kessel d. A., von dem die Uffiziengalerie drei kleine,
miniaturartige Landschaften mit Fischen, Früchten und Blumen, Fischottern und
(x) In der Galerie Doria in Rom, im Kaiser Friedrich-Museum in Berlin, in der Galerie in Dresden,
in der Schleißheimer Sammlung, in der Sammlung Cremer in Dortmund.
40
Abb. 7. J. P. van Thielen und Erasmus Quellinus:
Abb. 8. Hieronymus Galle: Blumengirlande Madonna im Blumenkranz Florenz, Uffizien
Florenz, Uffizien
Abb. 9. Pieter Boel: Geflügelstück Florenz, Uffizien
Zu: ZOEGE v. MANTEUFFEL, BILDER FLÄMISCHER MEISTER IN DER GALERIE DER UFFIZIEN
ZU FLORENZ
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Tafel
Abraham Govaerts | Abb. 10. Feuer und Luft
Pieter Neeffs d. ]. Abb. 11. Kircheninneres
Zu: K. ZOEGE VON MANTEUFFEL, BILDER FLAMISCHER MEISTER
IN DER GALERIE DER UFFIZIEN ZU FLORENZ.
M. f. K. Bd. I, 1921
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anderen Wassertieren und Insekten und ein „Kuriositätenkabinett“ mit Affen und
Amoretten besitzt!) Sehr erfreulich sind diese Bilder nicht. Die Landschaft ist
in einem kühlen, graugrünen bis graubraunen Ton gemalt und in der Ferne flau
und verschwommen; der Vordergrund hat eine nicht sehr angenehme Hirte. Die
Seetiere, Fische, Kuriositäten, auf die es dem Künstler offenbar in erster Linie
ankam, sind sorgfältig und mit viel Liebe in hübschen, blassen Farben gemalt. So
kann man sich bei einer Betrachtung aus nächster Nähe an der sorgfältigen Aus-
führung dieser Dinge erfreuen; aus einer gewissen Entfernung verlieren die Bilder
aber alle Wirkung. Bilder Jan van Kessels sind nicht selten; sie erfreuten sich
seinerzeit einer nicht geringen Schätzung. Uns erscheint aber das Lob, das Weyer-
man!) Werken, wie den „Vier Weltteilen“ in der Schleißheimer Galerie erteilte,
unverständlich. Diese aus von Rubens, Snyders und anderen entlehnten Elementen
kompilierten, in einem kleinlichen Stil gemalten Arbeiten können nur der Freude
an der Fülle und Vielseitigkeit der dargestellten Gegenstände ihren Ruf verdankt
haben.
In ganz anderer Weise ist ein fünftes, viel größeres Bild der Uffiziengalerie ge-
malt, das, ohne bezeichnet zu sein, als Arbeit desselben Künstlers gilt“). Es ist
ein Stilleben aus einer Delfter Kumpe, einem Weinglas mit einer Zitrone, Hummer,
Äpfeln, Trauben und Pflaumen auf einer braunen Tischplatte, die teilweise von
einem grünen Teppich bedeckt ist. Die Erinnerung an Brueghel wird vor diesem
Bilde durch die an Snyders und Jan Davidsz de Heem verdrängt. Nun läßt sich
die Zuschreibung dieses Stückes an einen Jan van Kessel durch den Vergleich
mit bezeichneten und datierten Arbeiten gleicher Art in anderen Galerien einwand-
frei rechtfertigen. Ein solches Stilleben von 1653 bewahrt das Museum in Bor-
deaux, eines von 1654 die Dresdener Galerie, ein sehr ähnliches Wildstilleben von
1655 die Galerie in Braunschweig. Sicher von derselben Hand ist ferner eine
Reihe J. van Kessel bezeichneter Blumenstücke in der Sammlung Guimbal (von
x649)*) in der Augsburger Galerie (von 1653) und in der Galerie zu Hermann-
stadt (von 1654); dazu kommen noch undatierte, aber voll bezeichnete Blumen-
stücke in den Galerien von Bordeaux, Hermannstadt, Madrid, Schleißheim, Straß-
burg und andere unbezeichnete. Die Frage ist nun die, ob der Maler jener klein-
figurigen Tierbilder mit dem dieser großfigurigen Stilleben identisch ist. Auf den
ersten Blick scheint es, daß die Frage zu verneinen sei. Sieht man sich die Signa-
turen und Daten an, so ergibt sich folgendes: die Stilleben und Blumenstticke sind
in Kursivschrift mit großen Anfangsbuchstaben bezeichnet und tragen Daten
zwischen 1649 und 1655. Die kleinfigurigen Bilder tragen Daten zwischen 1660
und 1666 und sind mit Antiquabuchstaben bezeichnet. Nichts liegt näher als der
Schluß zuf einen älteren 1649—1655 und einen jüngeren, 1660-1666 tätigen
Künstler. Doch wird schon durch zwei Bilder in der Eremitage zu Petersburg
dieser Schluß sehr brüchig. Das eine stellt der Venus Besuch in der Schmiede
des Vulkans dar und zeigt die Art Jan Brueghels, ist aber mit Kursivbuchstaben und
der Jahreszahl 1662 bezeichnet. Das andere ist eine Umrahmung, wie sie die
(х) Florena, Uffisien Nr. 745, bez. LVKESSEL FECIT ANNO 1661, auf Kupfer, 0,18 X 0,28; Nr. 908,
auf Kupfer, 0,35 X 0,29; Nr. 881, auf Kupfer, 0,17 X 0,24; Nr. 896 bes. IVKESSEL FECIT ANNO 1660,
auf Kupfer 0,18 >< 0,24.
(2) J. C. Weyerman, De Levens-Beschryvingen II (1729), 8. 208 fl.
(з) Florens, Uffizien Nr. 798; auf Leinwand, 0,30 X 0,41.
(4) Versteigert von Fr. Muller in Amsterdam 14. 11. 1905, Nr. oa. Zu den anderen Stilleben vgl. die
Kataloge der genannten Sammlungen.
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Blumenstiicke zum Teil auch sind, aber aus Waffen, Vögeln, Wild, Jagdgeräten,
Blumen, Fischen und Insekten; es bildet also gleichsam ein Mittelglied zwischen
den beiden Bildarten. Bezeichnet ist es in der Art der kleinfigurigen Stücke in
Antiqua und mit dem Datum 1664. Ез mißt 28,4 zu 28,0 cm, während die Schmiede
des Vulkan 59,9 zu 83,2 cm groß ist. Offenbar ist also die Verschiedenheit der
Bezeichnungen von der Bildgröße abhängig, wie es denn auch einleuchtet, daß
bei kleinem Format und entsprechend kleinen Buchstaben die Antiquaschrift besser
zu lesen ist als die kursive. Man hat früher versucht, die großfigurigen Stilleben
dem Hieronymus Kessel zuzuschreiben, besonders auf Grund des Dresdener Stückes,
dessen Datum fälschlich 1634 gelesen wurde. Hieronymus (oder Jeroom) Kessel
war aber sicher nur Bildnismaler und bezeichnete seine Bilder mit H. A KESSEL.
Zudem ist es sehr zweifelhaft, ob dieser 1594 bereits als Schüler des Frans Floris
bezeichnete Maler 1655 noch am Leben war. Eine Aufteilung der Stilleben
zwischen unserem Jan van Kessel (1626—1679) und dem jtingeren Künstler gleichen
Namens (1654—1708) ist ebenfalls unmöglich, da letzterer Bildnismaler und zudem
1660 erst sechs Jahre alt war. Einen weiteren in Betracht kommenden Künstler
kennen wir nicht. Wir müssen also daran festhalten, daß es sich bei allen ge-
nannten Bildern um Jan van Kessel d. A. handelt!). Stilkritische Bedenken da-
gegen werden durch die Erwägung hinfällig, daß es sich um Bilder von ganz ver-
schiedener Größe handelt und daß beide Arten in enger Anlehnung an fremde
Vorbilder entstanden sind. Bestätigt wird dieses Resultat durch alles, was die
älteren Quellenschriften über Jan van Kessel zu berichten wissen. So nennt ihn
Cornelis de Bie schon in seinem 1661 (also vor der Entstehung der uns bekannten
kleinfigurigen Bilder) abgeschlossenen Gulden Cabinet als Maler von Blumen und
Früchten einerseits und kleinen Tieren andererseits; besonders habe er „on-
gepluymde dieren, ghevogelt cleyn en groot . . . geschelpte zu ghedroch dat onder
t'water glyd en t’voeteloos ghecruyp dat t' drooghe sandt doorsnydt“ gemalt).
Und Weyerman erwähnt ausdrücklich Werke von ihm, die in der Art Brueghels
gemalt sind, neben solchen in der Art Heems ). Gegenüber diesen Zeugnissen
wird man also mit einer Aufteilung zwischen Jan van Kessel d. A. und einem
zweiten rein hypothetischen Künstler gleichen Namens, wie sie Rudolf Oldenbourg
neuerdings vorgeschlagen hat‘), besser warten,
Erfreulicher als die Arbeiten der beiden besprochenen Brueghel-Schüler ist ein
sehr hübsches Bild von Adriaen Stalbemt“). Es stellt eines der charakteristischen
„Wasserschlösser“ Belgiens dar und ist mit drei Pilgern und einem kleinen Segel-
boot staffiert (Photographie von Brogi Nr. 14771). In der Anwendung von Kulissen
und Versatzstücken im Vordergrunde noch unfrei, zeigt es im Mittel- und Hinter-
grunde schon fortgeschrittene Züge; eine feine Tonigkeit und eine klare, zarte Licht-
(x) Auffallend ist, daß in den Einnahmebüchern der Liggeren von 1644/45 einmal ein Jan van Kessel
bloemschilder, Wynmeester mit 6 fl. und dann nochmals ein Jan van Kessel, schilder unter den „volle
meesters“ mit 20 fl. als neuaufgenommener Meister verzeichnet wird. Da in dem Aufnahmeverzeichnis
aber nur ein Jan van Kessel vorkommt und auch sonst nirgends Anhaltspunkte dafür auftauchen,
daß es zwei etwa gleichaltrige Künstler des Namens gegeben hat, müssen wir annehmen, daß die
doppelte Eintragung auf einem Versehen beruht. Vgi. Rombouts und Lerius Liggeren, Bd. II, 8. 155, 162.
(2) Corn. de Bie, Het Guiden Cabinet, 1662, 8. 409.
(з) J. С. Weyerman, a. a. О. II (1729), 8. 208.
(4) R. Oldenbourg, a. a, O., 8. 148.
(5) Florenz, Uffizien Nr. 710. Auf Holz, 0,49 0,79. Schon im Katalog von 1783 als Arbeit Stalbemts
beschrieben.
42
führung bei ruhiger, abendlicher Beleuchtung verleihen ihm den Reiz einer zarten
und ausgeprägten Stimmung. Es dürfte zu den späteren Werken des seltenen
Meisters gehören und später entstanden sein als das 1620 datierte Bild im Ant-
werpener Museum.
Eine andere Richtung der flämischen Landschaftsmalerei, die stärker in der ita-
lienischen Atmosphäre mit ihrer Befruchtung durch italienische und internationale
Kunst und das Leben in Rom aufging als es Jan Brueghel und seine Nachahmer
taten, ist in den Uffizien ebenfalls gut vertreten. Die Galerie besitzt nicht weniger
als zehn Bilder von Paul Bril, worunter sich eines der frühesten datierten Stücke
von 1591 und andere datierte von 1600 und 1614 befinden. Aus der letzten und
besten Zeit nach 1620 ist allerdings keine Arbeit vorhanden’). — Von Brils Nach-
folger, Marten Ryckaert, finden wir eines seiner sehr seltenen Werke, eine An-
sicht des Wasserfalles von Tivoli, die mit dem Monogramm MR und der Jahres-
zahl 1616 versehen ist*). Sie steht dem Bilde von 1624 im Provinzialmuseum
zu Hannover sehr nahe und ist wie dieses ganz in der Art des Bril in seiner mitt-
leren Zeit gemalt. Von einem Einfluß Joos de Mompers, den die ältere Literatur
bei Marten Ryckaert bemerkt haben will, ist bei beiden Bildern nichts zu spüren.
Endlich seien noch einige späte Ausläufer der von Jan Brueghel geschaffenen
Art des Landschaftsbildes mit reicher Staffage in kleinen Abmessungen erwähnt.
Von Karel Breydel, der besonders durch seine Reitergefechte in der Art Frans
van der Meulens bekannt ist, hängen in den Uffizien zwei kleine Landschaften
mit Staffage von Bauernfiguren®). In der Malerei sehr spitzpinselig, zeigen sie
deutlich abgesetzte Pläne von brauner, graugrüner, graublauer Färbung, aus denen
die lebhaft gefärbten Figuren grell herausleuchten. Es dürfte sich um frühe Ar-
beiten des Künstlers handeln, der bis 1733 tätig war. — Etwas breiter und male-
rischer ist die Landschaft von Boudewyns, die eine Wallfahrtskirche in lombar-
disch-gotischem Stil am Ufer eines Flusses darstellt und mit zahlreichen Figuren
von Wallfahrern staffiert ist‘). Sie zeigt den üblichen warmbraunen Ton der
späteren flämischen Landschaften mit den lebhaft farbigen Flecken der Staffage-
figürchen. — Ähnlich in der Gesamthaltung ist auch die voll bezeichnete Ansicht
eines Dorfes von Matthys Schoevaerts, einem Schüler des Boudewyns. Doch
ist das Bild in breiten Pinselstrichen roher und weniger sorgfältig gemalt als es
sonst die Arbeiten Schoevaerts zu sein pflegen“).
% %
z
In der Uffiziengalerie hängen heute nur noch zwei Bilder des älteren Pieter
Neeffs*). Beide stellen die von ihm bevorzugten Kircheninterieurs gotischen Stils
(1) 1915 waren nur folgende Stücke ausgestellt: Nr. 104 (Zuschreibung zweifelhaft), 807 (Hasenjagd, 1600),
817 (Hirschjagd, 1591), 816 (Hafenbild), 871 (Landschaft mit Schloß, Zuschreibung zweifelhaft). Sie
lassen sich alle bis in den Anfang des 19, Jahrhunderts in den Katalogen nachweisen, mehrere auch
bis 1790. VSI. auch A. Mayer: Das Leben und die Werke der Brüder Matthäus und Paul Bril, Leipzig,
ı910, passim.
(з) Florens, Uffizien Nr. 833. Auf Kupfer, 0,48 >< 0,66. Zum erstenmal erwähnt im Katalog von 1783,
U, 8. 66, Nr. XIII.
(3) Florens, Uffisien Nr. 804, auf Hols, o, a3 >< 0,27 und Nr. 814, auf Hols, o, a1 X< 0,37. Beide zum
erstenmal im französischen Katalog von 1807. Bei 814 Reste einer Signatur C.. br. y. e.
(4) Florens, Uffizien Nr. 907. Auf Leinwand, 0,33 X 0,48. Zwei weitere Arbeiten von Boudewyns
(Nr. 824, 832) waren 1915 nicht auagestellt.
(5) Florens, Uffisien Nr. 790. Auf Hols, 0,19% 0,26. Bez. М SCHOEVARTS.
(6) In älteren Katalogen findet sich noch em Gewälbe mit dem тда des Seneca (Nr. 767), das PEETER
43
bei künstlicher Beleuchtung dar und sind mit Figuren in der Tracht des 17. Jahr-
hunderts staffiert. Das eine ist einwandfrei mit „Nefs 1636“ bezeichnet!) Das
andere ist unbezeichnet und galt früher als ein Werk des älteren Hendrik van
Steenwyk"*). (Photographiert von Вгорі, Nr. 776.) Jantzen aber ist in seinem
Buch über „Das niederländische Architekturbild“ mit Recht für die Autorschaft
des älteren Pieter Neeffs eingetreten“). Mit dieser Bestimmung erhält die tradi-
tionelle Angabe eines Frans Francken als Maler der Staffagefiguren des Bildes,
die in den neueren Katalogen fehlt, eine erneute Stütze. Sie sind sicher von Frans
Francken II (158r1—1642), und zwar in jener weichen, warmen Farbe gemalt, die
er in seiner mittleren Zeit anwendet. Figuren wie der junge Kavalier in elegantem,
rotem Mantel über einem blauen Wams, mit dem blonden Haar und dem schön
gestutzten, blonden Spitzbart kehren auf allen seinen Bildern dieser Zeit wieder.
Wir müssen die Staffage etwa um 1630 ansetzen‘), Das beweist allerdings noch
nicht, daß auch die Architektur damals gemalt sei. Nichts widerspricht dem aber;
denn in der künstlerischen Entwicklung des älteren Pieter Neefis paßt sie durch-
aus in diese Zeit. Und da es wohl zu den Ausnahmen gehört, daß solche Bilder
erst Jahre nach ihrer Entstehung mit Figuren versehen wurden, können wir die
Datierung der Figuren auch für die Architektur gelten lassen. — Das datierte
und bezeichnete Bild von 1636 zeigt gegenüber dem besprochenen nur geringe
Veränderungen der Malweise. Die Glanzlichter sind etwas stärker betont; sonst
aber herrscht der gleiche warmbraune Ton und die gleiche Art der Zeichnung.
Die Staffage ist der des ersten ähnlich; wieder die eleganten Kavaliere, der Priester
im Chorrock, dazu einige Frauen in dunklen Kleidern. Bei näherem Zusehen aber
ergibt sich, daß die Malerei um ein ganzes Stück roher ist. Bei den Köpfen fehlt
jenes weiche Vertreiben, und die Gewandung ist ohne feinere Nuancen plump hin-
gestrichen. Diese Vereinigung der Typen des Frans Francken mit einer minder-
wertigen Ausführung läßt darauf schließen, daß das Bild in seiner Werkstatt staf-
fiert wurde. Es dürfte dort von seinem Sohn, Frans Francken III, der 1636
36 Jahre alt war und noch bei seinem Vater arbeitete, die Figuren erhalten haben.
Ein Vergleich mit bezeichneten Arbeiten von ihm wie den Staffagefiguren auf dem
Bilde des jüngeren P. Neeffs in der Galerie Corsini in Rom (von 1640) oder dem
des Lodewyck Neeffs in der Dresdener Galerie (von 1648) bestätigt diese Ver-
mutung vollstandig *).
Von den drei Bildern des jüngeren Pieter Neeffs sind zwei Gegenstücke
und tragen in gleicher Weise die bekannte Signatur PEETER NEES in Antiqua-
Majuskeln mit kursivem Doppel-F. Auf dem einen ist eine dreischiffige gotische
NEEFFS bezeichnet war. Ferner verzeichnen ältere Kataloge eine Tempelvorhalle mit der Enthauptung
Johannis von Steenwyck und Frans Francken,
(x) Florens, Uffisien Nr. 717. Auf Hols, 0,50 x 0,81. Auf einem Epitaph ist die Jahreszahl wieder-
holt; dort steht SVPPELTVRE VAN HEER ANTHONIVS LAVFERE (?) EIVS PASTOIR VAN
ANNO 1636.
(я) Florens, Uffisien Nr. 776; auf Holz, 0,37 >< 0,52. Es ist übrigens nicht ausgeschlossen, 026 іп
den neueren Katalogen eine Verwechslung dieses Bildes mit dem weiter unten zu besprechenden von
Р. Neeffs d. J. (Nr. 1526) vorliegt. Die Zuschreibung an Steenwyck im Katalog von 1792 (Giudici),
S. 217.
(3) Jantzen, 8. 166, Nr. 304.
(4) VeL U. Thiemes Allg. Lexikon der bildenden Künstler, Bd. ХИ, S. 34af.
(5) Vgl. Thiemes Künstlerlezikon, Bd. XII, 8. 3431.
44
Kirche mit Kapellen bei künstlicher Beleuchtung dargestellt!); das andere zeigt
eine fünfschiffige gotische Kirche bei Tageslicht“). Beide Bilder galten in Florenz
als Werke des älteren Pieter Neeffs; aber schon Jantzen hat sie mit Recht fiir
den jüngeren in Anspruch genommen“). Auch diese Stücke sind mit Figuren ver-
sehen worden und, wie sich hier ganz deutlich erkennen läßt, erst nach der Voll-
endung von einer anderen Hand. Bei fast allen Figuren sieht man die Architektur-
teile deutlich unter der dünnen Farbe durchschimmern. Schon dieser Umstand
spricht dagegen, daß hier der jüngere Frans Francken — der ältere kommt aus
zeitlichen Gründen kaum in Betracht — mitgearbeitet hat. Seine Staffagen sind
stets mit dicker, undurchsichtiger Farbe gemalt, die die Architekturteile zudeckt.
Und auch die Art der Zeichnung ist eine ganz andere. Er übernahm von seinem
Vater die Neigung zur gebrochenen, eckigen Kontur, und seine Kavaliere und Damen
sind immer etwas steif in Haltung und Bewegung. Bei diesen Figuren aber sind
flüssige Konturen und lebhafte Bewegungen bevorzugt; sie erinnern an Gonzales
Coques‘). Die Farbe ist sehr hell mit Bevorzugung von graublauen, graurosa und
hellgelben Tönen. Das alles führt auf Hieronymus Janssens, bei dem sich all
diese Eigentümlichkeiten deutlich wiederfinden. Bei dieser Gelegenheit wäre zu
bemerken, daß dieses nicht der einzige Fall ist, in dem er untergeordnete Figuren
in fremde Architekturen malte. Ganz deutlich ist seine Hand auf dem großen
Architekturbilde W. Schubert v. Ehrenbergs in der Brüsseler Galerie zu erkennen.
Und auch Th. van Lerius besaß ein Bild Ehrenbergs, in das Janssens die Figuren
gemalt hatte. — Das dritte Bild des jüngeren Pieter Neeffs gilt in Florenz
ebenfalls als eine Arbeit des älteren. Es ist ein Kircheninneres bei künstlichem
Licht’). Vorne nimmt die Mitte der Bildfläche ein dunkler Pfeiler auf einem Unter-
bau mit Treppenstufen ein; seine Funktion ist schwer erklärlich, vielleicht soll er
eine Orgelempore tragen. Weiter blickt man in einen komplizierten, dreischiffigen
Bau mit Rundpfeilern (Abb. 11). In der Zeichnung macht sich eine starke Neigung
zum Anbringen kleiner Unregelmäßigkeiten bemerkbar; überall im Mauerwerk sind
Unebenheiten und Sprünge verteilt, eine Stelle links oben zeigt das nackte Ziegel-
werk. Reichlich sind wirkungsvolle, grelle Glanzlichter aufgesetzt; es ist viel
Schwarz angewendet. Der Farbenauftrag ist sehr fett; mehrfach finden sich Lagen
von dichtgedrängten kleinen Strichelchen. Das sind Ejigenttimlichkeiten, die dem
älteren Pieter Neeffs ganz fremd sind. Einige von ihnen erinnern an den jüngeren
Steenwyk. Die Urheberschaft des jiingeren Neeffs ist aber durch die Signatur:
peeter neeffs, in kursiven Minuskeln und die Jahreszahl 1659 gesichert. Jantzen
noch hat das Bild zwar diesem zugeschrieben, aber doch einige Zweifel gehegt,
offenbar weil ihm die Bezeichnung entgangen ist; dann wohl auch, weil ihm die
Arbeit zu originell schien. Tatsächlich gehört es zu des jüngeren Neeffs besseren
Arbeiten und ist auch darum interessant, weil es beweist, daß er nicht bei der
Kunstweise seines Vaters stehen blieb, sondern sich in der Richtung des jüngeren
Steenwyk weiterentwickelte. Auf diesem Bilde begegnen wir wieder Frans
т) Florens, Uffisien Nr. јоз. Auf Holz, 0,30 X 0,44.
(з) Florenz, Uffizien Nr. 707. Auf Holz, 0,30 X 0,44. Beide Bilder schon von Lanzi іп La Reale
Galleria di Firenze 1782, 8. 138 erwähnt,
(3) Jantzen, a. a. O., 8. 167, Nr. 252, 253. Das Nachtstück kehrt allerdings im Werk des älteren
P. Neeffs unter Nr. 269 wieder. Wir möchten aber glauben, daß es dort nur versehentlich hingeraten ist.
(4) Vgl. Rooses, Gesch. der Antwerpsche Schilderschool (1879), S. 586.
(5) Floremz, Uffizien Nr. 1526. Auf Hols, 0,39 >< 0,53.
45
Francken Ш als Maler der Figuren; über der Bezeichnung des Neeffs befindet
sich die seine in der Form f franck”. Die Figuren sind etwas steif und leblos,
aber nicht ohne Zierlichkeit; in der Farbe stehen neben schwarzen Lokalfarben
einzelne blasse gelbliche und bläuliche und ein fahles, graues Inkarnat. Diese
Farbenzusammenstellung ist für die Gesamtwirkung nicht ohne Reiz, sie ordnet
sich dem Ton des Bildes besser ein als es lebhafte, warme Farben tun würden.
Frans Francken II ist auch mit einigen selbständigen Arbeiten vertreten. Ein
„Triumph des Neptun und der Seleucia“!) (Photographie von Alinari 622) und
„Die neun Musen und tanzende Putten in einer Küstenlandschaft“) (Photographie
von Alinari 623), sind beide bezeichnet und gehören der Frühzeit an, in der er
sich zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Vater als „der junge Frans
Francken“ zu unterzeichnen pflegte. Und zwar wird man die „Musen“ noch früher
ansetzen können als den „Triumph“. Bei jenen sind die Gewänder noch in dunklen
lebhaften Farben wie Dunkelblau, Grün, Rot, Dunkelrot, Veilchenblau, Gelbbraun
gehalten und mit scharfen Glanzlichtern verseben; die Hautfarbe erscheint noch
grau; der Farbauftrag ist vertreibend und glatt, die Gesamtwirkung dunkel und
kühl: Alles Eigenschaften, die stark an die Kunstweise des Vaters und vermut-
lichen Lehrers erinnern und eine Datierung um 1610 wahrscheinlich machen.
Beim „Triumph“ ist die Malerei schon freier und pastoser, das Fleisch weicher
und farbiger, die Farbe lichter und wärmer; er dürfte einige Jahre später ent-
standen sein als die „Musen“. Eine dritte Arbeit des Künstlers ist unbezeichnet;
jedoch wird die Bestimmung kaum Widerspruch erregen (Abb. 12). Es ist eine
Flucht nach Ägypten, die wesentlich später als die besprochenen Bilder entstanden
sein muß’). Bei dem hl. Joseph tritt schon der sentimentale Gesichtsausdruck
auf, den die reifen Werke Frans Franckens häufig aufweisen. Der Gewandstil, die
Zeichnung in runden Formen, die warme Farbe deuten auf die mittlere Zeit des
Künstlers zwischen 1616 und 1628. Eine Wiederholung der Komposition in einem
bezeichneten Bilde der Dresdener Galerie ist sicher später, ohne Frage aber noch
vor 1628 entstanden (Abb. 13)‘). Die Figuren sind bis auf geringe Abweichungen
dem Florentiner Stück entnommen und weniger frisch als auf jenem. In der
Landschaft haben die Bilder nichts Gemeinsames; beim Dresdener Bild’) ist sie
sicher von anderer Hand, bei dem Florentiner läßt sich infolge des schlechten Er-
haltungszustandes ein sicheres Urteil nicht gewinnen. Die Wiederholung einzelner
Figuren oder ganzer Figurengruppen ist übrigens bei Frans Francken eine vielgeübte
Gewohnheit. Auch der „Triumph Neptuns“ in Florenz ist für eine spätere be-
zeichnete Darstellung gleichen Gegenstandes in der Braunschweiger Galerie be-
nutzt worden).
Nicht auf Darstellungen dieser Art beruht die entwicklungsgeschichtliche Be-
deutung des Frans Francken; wichtig ist er nur als Vermittler zwischen den
(х) Florens, Uffisien Nr. 747. Auf Holz, 0,51 >< 0,70. Bes. D. j. f franck” NV“. ET ft.
(a) Florenz, Uffizien Nr. 737. Auf Holz, 0,51 >< 0,69. Bes. D. j. f franck” INN", f.
(3) Florenz, Uffizien Nr. 859. Auf Kupfer, 0,38% 0,34.
(4) Nachträglich fand ich noch, daß dieselben Figuren auch auf einem Bilde vorkommen, das in der
angeblich von W. von der Haecht gemalten Galerie des Cornelis van de Geest (in der Sammlung
Lord Huntingfields in Heveningham Hall) hängt. Das Datum dieser „Galerie“, 1528, ist also sicher
der terminus ante quem für die Erfindung der Figurengruppe. Eine Abbildung der „Galerie“ bei
Weale: Hubert and John van Eyck, 1908, vor Seite 174.
(5) Dresden, Galerie Nr. 943. Photogr. von Bruckmann.
(6) Braunschweig, Galerie Nr. 100. Photographiert von Bruckmann.
46
älteren Malern genremäßiger oder historischer Gesellschaftsbilder in kleinem Maß-
stabe und den Vertretern dieses Faches im 17. Jahrhundert. Flämische Gesell-
schaftsbilder des 17. Jahrhunderts besitzt die Galerie aber gar nicht. Dagegen ist
eine andere Art des Sittenbildes, das bäuerliche, gut vertreten; eine geschlossene
Reihe ermöglicht es, die Entwicklung durch das ganze 17. und bis ins 18. Jahr-
hundert zu folgen.
Zwar von Adrian Brouwer, dem größten Vertreter des Faches im 17. Jahr-
hundert, ist kein Original vorhanden. Das eine der Bilder, die unter seinem Namen
gehen, ein Schankkeller mit trinkenden Bauern, dürfte überhaupt nicht flämisch
sein!); es steht den Werken des Holländers Jan Miensze Molenaer aus seiner
mittleren Zeit sehr nahe. Das andere Bild?) ist eine Wiederholung der frühen
Bauernkneipe Brouwers in der Casseler Galerie; die Stücke stimmen genau
überein, auch in den Maßen, die nur in der Breite um 2 cm differieren. Ganz ab-
gesehen von der Signatur, die das Casseler Bild beglaubigt und beim Florentiner
fehlt, fällt ein Vergleich durchaus zugunsten der ersteren aus, das viel entschie-
dener, klarer und sicherer ist. Man kann genau durchverfolgen, wie Einzelheiten
an Haaren, Gewandfalten, Möbelkanten beim Florentiner Stück vernachlässigt sind,
wie Glanzlichter fehlen, wie die Flamme eines Kienspans weggelassen ist. Endlich
ist zu bemerken, daß die charaktervolle Häßlichkeit der Köpfe mehrfach gemildert
wurde. Es handelt sich um eine alte Kopie, bestenfalls um eine Werkstattwieder-
holung des Originals in Cassel. — Brouwer sehr nahe steht ferner ein Bild, das
unter der gänzlich unverständlichen Bezeichnung Jan van Son geht (Photographie
von Вгорі 11125)*). Es stellt zwei Spieler dar, die in Streit geraten sind und über
dem umstürzenden Tisch sich an den Haaren reißen, während eine alte Frau hinten
in der Tür erscheint und zu schelten beginnt, Wir möchten die Bestimmung auf
Pieter de Bloot, einen in Rotterdam tätigen flämischen Brouwernachfolger vor-
schlagen. Für sie spricht die sehr geschmackvolle Zusammenstellung von kühlen
grünen, blauen und graubraunen Farben, die Typen der beiden Streiter mit den
breiten, tierischen Nasen und Mündern, die Behandlung der dichten wolligen, un-
geordnet vom Kopf abstehenden Haare.
David Teniers ist mit mehreren Genrebildern gut vertreten. Ein karessieren-
des Paar in einer Bauernschenke ist noch stark von Brouwer abhängig (Photo-
graphie von Alinari 1024)*) und dürfte gegen Ende der dreißiger Jahre des 17. Jahr-
hunderts entstanden sein. — Der „Dorfarzt“ (Photographie von Alinari 1022)°)
zeigt in der tibertriebenen Anwendung weißer Lichter, in der stumpferen Malerei,
in der blasseren Farbe bereits die Merkmale seiner späteren Zeit’). Neben diesen
Bildern hängt eine jener Kopien, die Teniers als Direktor der Gemäldegalerie Erz-
herzog Leopold Wilhelms in Brüssel in großer Zahl anfertigte), in erster Linie
(1) Florenz, Uffisien Nr. 955. Auf Holz, 0,67 X 1,14. Schon 1783 in der Galerie. Eine Abbildung
in „Reale Galeria di Firenze illustrata“, 2. Serie, Bd. I (1824), 8. 99.
(а) Florenz, Uffizien Nr. 959. Auf Holz, o, as >< 0,35. Hofstede de Groot Nr. 53. Der Zusammen-
hang dieses Bildes mit dem Casseler scheint Hofstede de Groot entgangen zu sein, der das Floren
tiner Bild offenbar nicht gesehen hat; alle näheren Angaben fehlen noch bei ihm.
(3) Florenz, Uffizien Nr. 701. Auf Holz, 0,25 o, ig.
(4) Florenz, Uffizien Nr. 700. Auf Hols, o, as X o, ai.
(5) Florenz, Uffizien Nr. 705. Auf Holz, 0,26 >< 0,18,
(6) In älteren Katalogen sind noch ein Alcbymist und zwei Landschaften mit Figuren von Teniers
erwähnt.
(7) Florenz, Uffizien Nr. 706. Auf Hols, 0,22 >< 0,16.
47
wohl, um sie für sein großes Galeriewerk, das „Theatrum pictorium“ zu verwenden
(Photographie von Brogi 11094). Sie ist eine Wiedergabe eines weinenden Petrus
von Ribera. Das Original befand sich denn auch wirklich in der Sammlung des
Erzherzogs), ist im erwähnten Werk?) sowie auf einem Galeriebilde des Teniers
in Madrid’) und auch in Stamperts Prodromus‘) abgebildet und hängt heute in der
Wiener Galerie. Die Kopie ist aber selbstverständlich nicht aus Wien nach Florenz
gelangt, wie ja auch von vornherein anzunehmen ist, daß diese kleinen Nach-
bildungen nicht in den Besitz des Erzherzogs gelangten, sondern beim Künstler
verblieben, der sie für sein erst 1660 vollendetes Werk verwenden wollte. Die
Entstehungszeit ist durch die Daten der Ernennung des Teniers zum Kammer-
diener des Erzherzogs und seiner Ubersiedlung nach Brüssel im Jahre 1651 und
des Wegzugs des Erzherzogs im Jahre 1656 festgelegt.
Von den geringeren Brouwernachfolgern ist David Ryckaert d. J. mit zwei
Bildern vertreten, die in seinem Werk ganz vereinzelt dastehen. Beide stellen
die „Versuchung des hl. Antonius“ dar, das eine Mal mit einer jungen Frau, und
Spukgestalten®), das andere Mal mit solchen allein (Abb. 14)°). Bekanntlich hat
David Teniers dieses alte flämische Thema aufgenommen und häufig behandelt.
Und von ihm mag auch Ryckaert zu solchen Bildern angeregt worden sein. Doch
wird man bemerken, daß er wesentlich andere Fassungen findet als jener. Teniers
Spukgestalten verhalten sich immer merkwürdig passiv, sitzen da oder kriechen
stil herum. Bei Ryckaert sind sie lebhaft bewegt, tanzen und springen und
drängen sich heran. In den Formen zeigen sie ein Fortschreiten über die des
Teniers hinaus. Bei diesem ist noch der Zusammenhang mit Hieronymus Bosch
erkennbar; die Bildungen haben noch etwas Unorganisches, die Mischung von tieri-
schen und menschlichen Körperteilen wirkt nicht sehr überzeugend und die Ver-
bindung zwischen leblosen Dingen und lebendigen Teilen bleibt recht unsicher.
Bei Ryckaert ist Alles sehr lebendig zusammengewachsen, so daß überall der Ein-
druck möglicher Bildungen entsteht. Außer den beiden Florentiner Bildern scheint
nur noch ein drittes ähnliches von Ryckaert erhalten zu sein. Es ist das eine
Hexe, die, einen Schatz bergend, sich mit dem Besen gegen allerhand Spuk-
gestalten wehrt. Dieses in der Wiener Galerie bewahrte Stück, das ebensowenig
wie die beiden anderen bezeichnet ist, zeigt genau wie jene in der Gestalt des
Heiligen in der der Hexe die Art Ryckaerts in seiner reifen Zeit. In diese weist
auch der sehr feine Farbengeschmack bei den in gelblichen und rosa Tönen ge-
malten Spukgestalten. Die Bilder dürften im Anfang der fünfziger Jahre ent-
standen sein.
Nicht ohne Zusammenhang mit der flämischen Bauernmalerei des Brouwerkreises
ist ein Bild des Anton Goubau, das eine italienische Landschaft mit Häusern und
einer Staffage von Bauern darstellt und in einem braunen bis gelblichgrauen Ton
gehalten ist, aus dem die Lokalfarben der Gewänder mit einiger Lebhaftigkeit her-
vorleuchten”) (Abb. 15). Doch macht sich bei diesem Stück schon der Einfluß der
(х) Inventar fol. 19’, Nr. 10. Jahrbuch der Kunstsamml. d. Kaiserhauses I, IL Teil, 8. LXXXVIf.
(а) Davidis Teniers Theatrum pictorium, Tafel 142. Der Stich mißt 230 >< 162 mm, ist also annähernd
von der gleichen Größe wie die Florentiner Kopie.
(3) Madrid Prado 1813. Photogr. von Anderson, Nr. 16329.
(4) Stampert und Prenner: Prodromus seu praeambulare lumen. Wien 1735, Tafel 9.
(5) Florens, Uffizien Nr. 770. Auf Holz, 0,57 X 0,81.
(б) Florenz, Uffizien Nr. 819. Auf Holz, 0,40 >< 0,53. Beide alter Besitz der Uffizien.
(7) Florenz, Uffisien Nr. 721. Auf Holz, 0,50><0,64. Bezeichnet A gebau F. Alter Besits.
48
Tafel 9
Abb. 12. Fr. Francken Il: Flucht nach Ägypten Abb. 13. Fr. Francken Il: Fiucht nach Ägypten
Florens, Uffisien Dresden, Gemäldegalerie
Abb. 14. David Ryckaert d. J.: Versuchung des hl. Antonius Florenz, Uffizien
Zu: ZOEGE v. MANTEUFFEL: BILDER FLÄMISCHER MEISTER IN DER GALERIE DER UFFIZIEN
ZU FLORENZ
M. f. K., Bd. I, 1921
Lichte
rock von Trau & Schwab. Oranhierha Kunst логал Reaedan 10
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römischen internationalen Künstlergesellschaft bemerkbar; stärker als die Be-
ziehungen zur heimischen Kunst sind die zu den italianisierenden Holländern aus
der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Man denkt an Dujardin, der auch tatsäch-
lich etwa zu gleicher Zeit mit Goubau in Rom war und nur wenig jünger war
als ert).
In das achtzehnte Jahrhundert und in eine Zeit, da die niederländische Malerei
ihre Selbständigkeit schon einbüßte und nicht mehr ihre Geltung bewahren konnte,
führen uns endlich die zahlreichen Arbeiten der beiden älteren Horemans und zwei
hübsche Bilder des Jan Baptist Lambrechts. Sie vertreten die letzten Ausläufer
der Bewegung, die mit Brouwer einsetzte und bilden durchaus den Abschluß der
Entwicklung, die mit dessen kraftvollen Bauerntypen einsetzt, um immer mehr
ins Geschmackvolle und Bürgerlich-Gemütliche abzuschwenken.
(1) Auch Oldenbourg, а. а. O., 8. 170 nimmt eine Beeinflussung Goubaus durch Dujardin und Berchem an.
re rn oe
— — . — a a er re
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1921. 4 49
KONRAD ASPER ` wu vier Abbitdungen ` von ROBERT WEST
Motto: „Die neuen Artisten sind von dieser
eo
Abnlichkeit, welche Schlaf und Tod miteinander
„Tor Yavatgy uovo &vIownwy na- haben, gänzlich abgegangen, und der Gebrauch
сорта“ Philostrat. ist allgemein worden, den Tod als ein Skelett,
höchstens als ein mit Haut bekleidetes Skelett
vorzustellen.“ Lessing, Laokoon.
n der Grabmalskulptur des Salzburger Barock tritt die stark betonte Darstellung
des Totenkopfes und des Skeletts als besonderes Charakteristikum hervor.
Welche psychologischen oder kulturgeschichtlichen Gründe vorwiegend zu der
Hervorhebung dieses Momentes führten, ist mir unbekannt. Es müssen aber solche
Momente wirksam gewesen sein, damit ein im 17. Jahrhundert aus der Schweiz
eindringender kunsthistorischer Einfluß den vorbereiteten Boden fand, auf weichem
die künstlerische Verarbeitung des Totenkopf- und Totenbeinmotivs zur höchst-
möglichen dekorativen Vollendung gebracht wurde. Die Barockskulptur liebt die
Darstellung der grausigen Elemente im Tod. Die religiöse Erregung der jesuiti-
schen Reaktion mag unter anderem hierfür verantwortlich sein. Nirgends tritt
jedoch so wie hier, im Salzkammergut, das Totengebein als spielerisch verwertetes
Ornament auf. Immer wieder findet sich ein Zug, durch welchen das Schauer-
liche unterstrichen wird, immer wieder eine Kombination, durch welche das Ge-
bein, seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt, nur noch als Ornamentmotiv ver-
wertet erscheint. Das Nervenerregende des Kontrastes zwischen dem blühenden
Kinderkörper eines dicken Puttos und dem schlangenumringelten Entsetzen eines
Totenkopfes wurde gern zu malerischen Wirkungen verwendet. Knochen, von
Bändern umschlungen, wie Trophäen aufgehängt, Fledermausfitigel hinter grinsenden
Schädeln neben geflügelten Engelsköpfchen sind Motive, die sich in der Grabmal-
skulptur immer wieder finden. Sie entsprachen also zu gleichen Teilen einem
seelischen wie einem künstlerischen Bedürfnis der Zeit und des Volkes. Ich habe
in dieser merkwürdigen Erscheinung immer die letzte Konsequenz jenes Willens
zur Wandlung gesehen, welcher mit der christlichen Religion in das Kulturgebaren
der abendländischen Völker eindringt. Auch hier zeigt sich jener Versuch, den
Sieg des Geistes, der Idee, in der gänzlichen Aufhebung der Materie leuchten zu
lassen. Je geringwertiger das Gefäß, desto erhabener die Macht der in ihm wir-
kenden Gottesidee. Was in der langsamen Entwicklung der christlichen Malerei und
Plastik zur Lösung des schwierigen Problems beitrug, Krtippel, Irre, Kranke, Arme
und Häßliche aller Art künstlerisch so darzustellen, daß ein neues, den Dingen
selbst inhärentes Schönheitsgesetz gefunden werden mußte, das führt im 17. Jahr-
hundert zu dem kecken Versuch, auch die letzte Auflösung der Materie selbst
künstlerisch zu behandeln. An dieser Stelle aber scheitern Kunst und Christen-
glaube. Knochen, Schädel und Skelett blieben was sie waren, als Symbol be-
trachtet ein „memento mori“, als künstlerisches Motiv angesehen durch den ihnen
anhaftenden Ekel immer nur Grotesken. Über das Groteske kam auch Holbein
nicht hinaus, trotzdem er in seinen Holzschnitten noch das Wärmste und Tiefste
gab, was auf diesem Gebiet zu sagen war. Der Holzschnitt in seiner nahen Ver-
wandtschaft mit dem Buchdruck wirkt häufig ebenso sehr als Wort wie als Bild.
Die Grenzen der bildenden Kunst verwischen sich in ihm. Anders, wenn wir
zur Skulptur gelangen, was im Stein dasteht, ist nicht mehr der Gedanke, sondern
nur noch die konkrete Form, das Material des Gedankens. Was Jahrhunderte vor
so
uns die Antike erkannt hatte, mußte die christliche Kulturwelt erst in einer klinst-
lerischen Phase erproben: daß es keine Gemiitsstimmung, keine Glaubensinbrunst,
keine Höhe der künstlerischen Kraft gibt, welche den Tod aufheben und das natür-
liche Grauen des Individuums vor der Vernichtung in ktihles Genießen der Schön-
heit ihrer Darstellung wandeln kann. Es wurde offenbar, daß hier kein inhärentes
Schönheitsmoment ist. Das absolut Häßliche war erreicht, dargestellt und erkannt.
Wir besitzen keinen Michelangelo des Skeletts, es war wohl nicht möglich, daß
sich ein Künstler von Gottes Gnaden an diesem Motiv jemals versuchte. Das
künstlerische Experiment ist nicht Sache des Genies, denn dieses wählt und meidet
instinktiv und sicher das ihm Gemäße oder seiner Kunst Heterogene. Gerade die
Barockperiode brachte aber eine Fülle sehr begabter, mit großer handwerksmäßiger
Sicherheit arbeitender, leicht schaffender Künstler hervor. Diese lieben den Ver-
such, die neue Wirkungsmiglichkeit. Ein solcher Künstler kam in Konrad Asper
1614 nach Salzburg.
Er war ein Sohn oder Enkel!) des Malers Hans Asper in Zürich und ein Bruder
des Malers Hans Asper des Jüngeren, der gleichfalls in Zürich wohnte. Konrad
Asper scheint, bevor er nach Salzburg ging, in Konstanz das Bürgerrecht erworben
zu haben. 1614 erhielt er von dort Urlaub, um sich nach Salzburg zu begeben.
Erzbischof Markus Sittikus hatte sich ihn verschrieben. Es scheint, daß er hier
als Angestellter des erzbischöflichen Hofbauamtes arbeitete und wohl zu selb-
ständigen Arbeiten seiten Gelegenheit fand. Im Jahre 1618 begab er sich mit Er-
laubnis des Erzbischofs nach Maria-Einsiedeln, um dort die heilige Gnadenkapelle
mit schwarzem Marmor zu verkleiden. Er war dann noch fünf Jahre in Salzburg,
wo er also im ganzen von 1614 bis 1625 wirkte. Er muß sich dort einen guten
Namen gemacht haben, denn als der Graf von Hohenems im Jahre 1628 die
Gnadenkapelle von Maria-Einsiedeln auf seine Kosten ausschmücken lassen wollte,
berief man den inzwischen wieder nach Konstanz verzogenen „Unterbaumeister“
Hans Konrad Asper zurück. Er kam mit Frau und Kindern auf acht Jahre nach
Maria-Einsiedeln und erhielt für seine Arbeit an der Gnadenkapelle 5000 fl. Des
weiteren wurde er beauftragt, das Marmor-Epitaphium für den Grafen selbst an-
zufertigen. Wir finden ihn dann später wieder in Konstanz als Baumeister und
Bildhauer tätig. Er scheint besonders mit dem Fortifikationswesen vertraut ge-
wesen zu sein. 1645 kam er nach München an den Hof des Kurfürsten Maxi-
milian von Bayern, wo er als Baumeister vor allem Fortifikationsarbeiten unter-
nahm. In München war er an dem Bau des Karmeliterklosters und der Kirche
beteiligt, ebenso machte er einen „Ölberg bei St. Peter“ (1653). 1654 schied er
aus dem bayerischen Dienst und begab sich wieder nach Konstanz, wo er ver-
mutlich 1666 gestorben ist.
Auf dieses lange Künstlerleben kommen für Salzburg nicht mehr als zwei be-
glaubigte Werke der Bildhauerei: das Grabmal des Andrä Weiß und seiner Haus-
frau Maria Kendlingerin in einer Arkade des Friedhofs zu St. Sebastian (Abb. 1)
und das Grabmal des Valentin Helbmegg, jetzt im Hof des Salzburger Museums
(Abb. 2). Diese Werke sind aber auf den ersten Blick so bedeutend, daß wir einen
nachhaltigen Einfluß des Meisters auf die Salzburger Grabmalskulptur annehmen
müssen. Beide Grabdenkmäler sind durchaus originelle Werke und vielleicht der
stärkste Versuch zur künstlerischen Gestaltung des Knochen-Motivs in der Bild-
hauerei. Ihre künstlerische Vortrefflichkeit ist so groß, daß sie der künstlerischen
Lösung des Problems so nahe kommen wie dies überhaupt möglich ist.
(1) Pirckmayer: Hans Konrad Asper, Bildhauer und Baumeister. Salzburger Landeskunde, Bd. XLIII.
51
Sie wurden beide für den Sebastiansfriedhof geschaffen. Das erste für Valentin
Helbmegg, Ratsbürger und Handelsmann, muß 1625 schon fertig gewesen sein und
ist 1630 aufgestellt worden. In späterer Zeit wurde es vom Friedhof entfernt,
vielleicht weil der Realismus der Darstellung über die Grenzen dessen ging, was
spätere Jahrhunderte in der Grabmalskunst vertragen konnten. Im Jahr 1892 fand
man es unter dem Altmaterial eines Steinmetzen. Damals war aber keine Kunde
mehr von dem Grabmal vorhanden, dessen eingemeißelter Name Н. С. Asper zu-
nächst zu Nachforschungen über diesen Bildhauer führten. Nachdem es kurze
Zeit in Privatbesitz geblieben, erwarb es der Museumsdirektor Dr. Alexander Petter
für das Museum, in dessen Hof es heute aufgestellt ist. Den Bemühungen Fried-
rich Pirckmayers, k. und k. Archiv-Direktor d. R., gelang es, die auf Konrad Asper
bezüglichen Daten aufzufinden und zusammenzustellen. Die Identifikation des jetzt
im Museum befindlichen Grabdenkmals mit dem für Valentin Helbmegg angefer-
tigten verdanken wir den Archivforschungen des Herrn Dr. Franz Martin.
Es handelt sich um ein Werk der Voliplastik, von etwa 2 Meter Linge. Auf
dem Deckel des Sarkophags ist ein liegendes Skelett dargestellt, der umgelegte
Priestermantel dient nicht zur Verhüllung, sondern lediglich zur Drapierung. Das
Skelett ist mit genauster Sorgfalt gearbeitet, der gewölbte Rippenkorb baucht gich
mächtig empor, die etwas hochgezogenen Knie ermöglichen die scharfe Betonung
der Gelenke. Die Arbeit verrät eine hohe bildhauerische Sicherheit, unbeirrbare
Ehrlichkeit in der Wiedergabe des Gesehenen, Sinn für das Wesentliche der Form
und bewußtes Hervorheben der dekorativen Wirkung des Grausigen. Dieses Mo-
ment der realistischen Darstellung bei gleichzeitiger Verneinung der Materie er-
innert lebhaft an die Dekoration der Grabgewölbe bei den Kapuzinern in Rom,
wo Wände und Decken mit aus Knochen und Schädeln gebildeten Mustern über-
zogen sind. Es kann nicht geleugnet werden, daß das Grabmal eine gewisse
malerische Schönheit besitzt und eine starke Wirkung ausübt. Es ist eine ebenso typische
Arbeit der deutschen Schule, wie es etwa Dürers apokalyptische Reiter und der
ihm geistig nahestehende Totentanz Holbeins sind.
Das zweite Grabdenkmal befindet sich noch heute an dem Platz in den Arkaden
des Sebastiansfriedhofes, für welchen es zirka 1622 ausgeführt wurde. Andrä Weiß,
Bürger und Handelsmann, ließ es für sich und seine Frau anfertigen. Die letztere
verheiratete sich nach dem Tode des Andrä Weiß zum zweitenmal mit Herrn
Hans Kurz von und zu Goldenstein, Hochfürstlicher Rat, welcher erst 1670 starb
und dann ebenfalls unter dem Grabstein des Andrä Weiß begraben wurde. Die
Grabstätte verblieb den Goldensteinern. Daher kam Pirckmayr auf den Gedanken,
das Denkmal 1664/65 zu datieren, während es tatsächlich schon 1628 beim Tod
des Andrä Weiß an Ort und Stelle gestanden haben muß. Beide Grabdenkmäler
gehören also den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts an. Bei diesem Denkmal
interessiert auch der Aufbau. Die Gesamtanlage zeigt noch jenes etwas herbe aber
straffe und markige Barock, das Wolf Dietrich von Raitenau in Salzburg eingeführt
hatte. Die knappen, aber bestimmt ausladenden Formen des Aufsatzes, die Klar-
heit der Gliederung bei aller Keckheit der ornamentalen Ausgestaltung, zeigt noch
die gute italienische Renaissanceschulung, die durch den Raitenauer Erzbischof der
Salzburger Kunst zuteil geworden war. Gewisse spielerisch-barocke Freiheiten
erlaubte sich der Künstler nur im Aufsatz. Unterbau und Hauptfeld sind ganz
ruhig und rahmenmäßig gehalten. Konrad Asper empfand hier ganz als Bildhauer,
dem es auf die Betonung seiner figuralen Plastik vor allem ankam, darum hielt er
die beiden seitlich vom Hauptfeld das Gebälk tragenden Säulen so kurz, daß der
52
Abb. 1. Konrad Asper: Grabmal des Andrä Weiß (resp. der Familie
Goldenstein) auf dem Friedhof zu St. Sebastian zu Salzburg. Etwa 1622
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Tafel
Abb. 2. Konrad Asper: Grabmal des Valentin Helbmegg. Etwa 1625.
Zu: ROBERT WEST, KONRAD ASPER
M. f. K., Bd. I. 1921
Salzburger Museum
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Sensenmann in der Mitte sie um Haupteslinge überragt. Dem Grabmal selbst
bleibt ein gewisser kunstgewerblicher, an Tischlerarbeit mahnender Charakter be-
bewahrt, gegen den sich die starke steinerne Plastik des Reliefs im Mittelfeld
wuchtig abhebt. Der hohe Wert dieses Denkmals wurde zu allen Zeiten aner-
kannt. Hübner führte es 1792 in seiner Stadtbeschreibung unter den „16 vorzüg-
lichen Epitaphien“ des Sebastiansfriedhofes auf, aber ohne Nennung des Künstler-
namens. Dagegen schrieb im Jahre 1820 der Weltpriester und Gymnasialprofessor
Kaspar Johann Stephan im „К. К. österreichischen Amts- und Intelligenzblatt für
Salzburg“ einen Aufsatz über „Hans Konrad Asper, Bildhauer von Konstanz“, in
welchem er auf dieses Grabmal als auf ein „vollendetes Meisterstück‘ hinweist,
und auf den Zusammenhang zwischen Konrad Asper und Hans Holbein aufmerk-
sam macht. Äußerlich läßt sich dieser Zusammenhang freilich nicht nachweisen,
denn daß der Züricher Maler Johannes Asper „in der Manier Hans Holbeins, seines
Zeitgenossen“, malte, ist noch kein Beweis, daß Konrad Asper von dessen Toten-
tanzphantasien beeinflußt war. Immerhin liegt aber die Vermutung nahe, daß
Konrad Asper von daher die erste Anregung zu seinen Darstellungen empfing, und
daß der mit den Reformationsideen eingedrungene Geist, welcher sich in Hans
Holbeins Holzschnittfolge ausdrückte, nachhaltig die Sinnesweise einer ganzen
Familie beeinflußt hat.
In dem Grabmal des Andrä Weiß ist nicht wie bei der vollplastischen Darstel-
lung der Helbmeggschen Tumba das eigentliche Skelett wiedergegeben, sondern
ein Stadium der Mummifizierung gewährt, welches dem Übergang zum Skelett
vorangeht. Auch dieses Moment gemahnt wieder an jene Mumien verstorbener
Mönche, deren Haut zu Pergament eingetrocknet, das Knochengeriist durchschimmern
läßt. Es wäre denkbar, daß eine Reise nach Rom, von der wir jedoch keine Kunde
haben, dem Bildhauer in der Gruft der Kapuziner einen derartigen starken Eindruck
vermittelt hätte, der um so fruchtbarer gewesen wäre, als er einen, durch Hans
Holbein vorbereiteten Geist getroffen hätte. Ein Unterschied findet sich auch in der
Darstellung beider Grabdenkmäler. Auf dem Sarkophag Helbmeggs im Museum
liegt ein Toter, das Skelett eines beliebigen Toten, hier über dem Grab des Andrä
Weiß steht hochaufgerichtet der Tod selbst. Handelt es sich dort um die Schauer
der Verwesung, ein zynisches Hinweisen auf das Ende und die Wirklichkeit aller
Dinge: „memento mori quia pulvis es et in pulverem reverteris“, so handelt es
sich hier um ein Betonen der unerbittlichen Gewalt des Todes. jenes Skelett trug
den Bischofsmantel als Symbol, daß die Verwesung nicht Halt macht vor den
höchsten Würden dieser Welt. Dieser Tod mit Sense und Stundenglas, dessen
Lenden nur ein flatternder Schurz umkleidet, tritt Krone und Helm, Kardinalshut
und Mitra mit Füßen. Hier kommt der Tod nicht als Freund, wie auf Rethels
wunderbarem letzten Blatt, hier steht er als der unerschütterliche Mahner, Gleich-
macher, Vernichter. Die verschiedene Auffassung, welche sich in beiden Grab-
mälern kundgibt, beweist, daß Konrad Asper mit deutschem Grüblersinn den Todes-
gedanken in allen Formen abzuwandeln und durchzudenken geneigt war. Er war
vielleicht, wie dies bei dem Deutschen leicht vorkommt, mehr Denker als Künstler.
Sein hohes technisches Können stellte er völig in den Dienst seiner Idee, und
aus dem Stein holte er in der Form zunächst den Geist heraus, den er ihm ein-
zublasen gewillt war. Am Sockel sind zwei Wappenschilder angebracht. Das
war Wille des Auftraggebers, aber beinahe heimlich stellte Konrad Asper auf die
Seitenvoluten, über den Wappen, Totenköpfe hin. Hier unten ist Golgatha, der
Triumph des Todes. Über dem starken Gebälk, welches dieses Mittelfeld krönt
53
und abschließt, in dem zackigen, geschweiften, fast munter zu nennenden Aufbau
ist Leben und Auferstehung. Im Rundmedaillon Gott Vater, im Fries des krönenden
Gebälks ein geflügeltes Engelsköpfchen, auf den tragenden Pfeilern Engelskipfchen
und Fruchtschniire. Das ist mehr gedacht als gesehen und insofern wieder ganz
deutsch. Auf italienische Schulung zugleich mit deutscher Werkstatttradition weist
aber die Fähigkeit zur dekorativen Verwertung des Motivs hin. Die Art, wie der
Sensenmann in das leere Feld gestellt ist, wie Stundenglas, Sense und der Stock
der Sense den Senkrechten und Wagerechten des Rahmens folgen, das ist fein
komponiert, wie dagegen die leise Wendung des Körpers und die schräge Bein-
stellung den sonst leer wirkenden Raum belebt, ist beinahe graphisch empfunden.
Überhaupt mahnt dieses Relief nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch an den
Holzschnitt der Reformationszeit. Es ist weit weniger plastisch wie zeichnerisch
empfunden, was bei einem Werke der Barockskulptur immerhin auffallend erscheint.
Ein Meisterwerk an seelischer Durchdringung und an sorgfältiger Beobachtung ist
der Kopf, der sich gegen die Sensenschneide abhebt und von den, starke Schlag-
schatten werfenden Schulterknochen auf dünnem Halse emporwächst.
In diesen beiden Grabdenkmälern durfte Konrad Asper selbständig schaffen,
strengere Vorschriften wurden ihm wohl gemacht, wenn er im Dienste des Erz-
bischofs arbeitete. Ist das Grabdenkmal des Markus Sittikus im Dom wirklich von
ihm, so bietet es uns ein treffliches Beispiel dessen, was der Meister zu leisten
fähig war, wenn er seiner psychischen Individualität die strengste Zurückhaltung
auferlegen mußte, um ein den Wünschen des Bestellers entsprechendes dekoratives
Wandgrab zu schaffen. Der Entwurf zu dem ersten Grabmal sollte maßgebend
für die Reihe der folgenden bleiben, so daß wir im Dom sechs Grabdenkmiler des
gleichen Typus wie das des Markus Sittikus besitzen. Sie sind jedoch nicht gleich-
zeitig ausgeführt, sondern immer erst nach dem Tode, resp. auch noch zu Leb-
zeiten des jeweiligen Erzbischofs errichtet worden. Zweifellos entsprach also der
gelieferte Entwurf in hohem Maße dem Geschmack und den Anschauungen des
fürsterzbischöflichen Hofes. Das Grabmal, dessen Typus zuerst für Markus Sittikus
geschaffen wurde, ist gedacht als Gehäuse für das ovale Porträt des Verstorbenen
(Abb. 3). Es zeigt die übliche Dreiteilung, breiter hoher Sockel mit Inschrifttafel,
im Mittelfeld die ovale Bildnistafel von Pfeilern und Nischen flankiert, der Aufsatz-
giebel mit stark vorspringendem Gebälk und gesprengtem Segmentgiebel, mit reich
skulpiertem Wappenschild. Die malerische dekorative Wirkung beruht zum Teil
auf der geschickten Zusammensetzung verschiedenfarbiger Marmorsorten. Ganz im
Charakter desKonrad Asper ist die aus Knochen gebildete hängende Zier an denseitlichen
Pilastern; auf seine Hand weisen auch die Totenköpfe mit Fledermausflügeln und
Spaten und Hacke des Totengräbers am Sockel unterhalb der kleinen Seitennischen,
in weichen zwei dicke rosige Knäbchen stehen. Das Motiv der nackten Kinder-
körper in Verbindung mit der Knochendekoration ist dann von den späteren Bild-
hauern zu intensiverer Wirkung ausgenutzt worden. Für die Kinderkörper wurde
ein fleischfarbener Marmor verwendet, für die Knochen eine fahl-weiße Sorte, so
daß der Kontrast des blühenden Fleisches und der abgestorbenen Materie vollste
Ausdruckskraft schon durch das verwendete Material erhält.
Damit ist die Zahl der unmittelbar auf Konrad Asper zurlickzuführenden Grab-
denkmäler vorläufig abgeschlossen. Es ist aber fast selbstverständlich, daß Werke
von solcher Bedeutung und so eigenartigem Sondersein auf die zeitgenössische
Grabmalskunst einen gewissen Einfluß ausüben mußten. So finden wir in der
achten Laube des St. Petersfriedhofes ein Grabdenkmal, welches ungefähr aus
54
der Mitte des 17. Jahrhunderts zu datieren ist und welches im Entwurf deutlich an
Konrad Asper gemahnt (Abb. 4). Die Gestalt des Totengerippes weist in der
ganzen Art der Darstellung auf Aspers Grabmal des Valentin Helbmegg hin, während
die ornamentale Verwendung von Putten mit Todesemblemen ihr Vorbild in den
Bischofsgräbern des Domes hat.
Es ist lehrreich, diese von Konrad Asper stammenden oder von ihm beeinflußten
Arbeiten zu vergleichen mit solchen, die vor ihm, Anfang des 16. Jahrhunderts,
ähnlichen Todesgedanken Ausdruck verliehen, um zu erkennen, wie weit Asper
sein Sujet künstlerisch gehoben hat. Der Grabstein des Johannes Serlinger, aus
dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts auf dem Salzburger St. Petersfriedhof -
und die Grabplatte des Propstes Oswald Ferg (+ 1515) in St. Zeno bei Reichenhall
gehen von derselben Vorstellung der Vergänglichkeit alles Irdischen aus. Aber mit
krassem Realismus suchen sie die Wiedergabe durch ekelerregende, schaurige
Momente zu nervenaufregender Wirkung zu steigern. Das Skelett auf der Grab-
platte des Johann Serlinger wird von Würmern zerfressen, es ist kein Versuch
gemacht, irgendeine Schönheit der malerischen Darstellung zu erzielen. Eckig,
häßlich, eine höhnische Karikatur steht die Verwesung vor uns wie eine krank-
hafte Phantasie sie mit sensationeller Wollust ausmalt. Das Grabmal des Propstes
steht künstlerisch sehr viel höher. Es ist nicht zu leugnen, daß ein tiefer bittrer
Ernst, eine namenlose Traurigkeit dem Gedanken dieses Werkes zugrunde liegt.
Wenn die Serlinger Grabplatte sich vielleicht in das Gebiet der volkstümlichen
Freude am Grausigen verweisen läßt, so gilt von dem St. Zeno Grabmal etwas
ganz anderes: die aus Leid und Verzweiflung geborene Erkenntnis des höchst Ge-
bildeten kommt hier zu Wort. Die Darstellung der Kröte im Brustkorb ist ktinst-
lerisch meisterhaft. In diesem Grabmal ist ein Höhepunkt der realistischen Dar-
stellung erreicht, der den Künstler berechtigt, für sein Werk eine, vom konventio-
nellen Schönbeitsbegriff unabhängige Bewertung zu fordern, wie sie den Werken
der deutschen Schulen überhaupt zukommt. Trotz dieses Zugeständnisses bleibt
aber die Tatsache, daß es dem Künstler nicht gelungen ist — sofern er dies über-
haupt erstrebte —, das Grausen seines Gegenstandes zu absoluter Kunsthöhe zu
verklären. Es bleibt unterhalb des Niveaus rein plastischer Schönheit. Konrad
Asper machte den Versuch dieses Niveau zu erreichen. Auch ihm mißlang er,
aber er hat das Mögliche geschaffen — eine dekorativ befriedigende Lösung des
Häßlichkeitsproblems durch die bildende Kunst’).
(1) Im Wiener Staatsarchiv befindet sich ein von Paris Lodron im Jahre 1652 bezüglich des durch
den Dreißigjährigen Krieg unterbrochenen Baues der Salzburger Domkirche erlassenes Stiftungsdekret.
Diesem Dekret liegen zwei Zeichnungen bei, von denen eine wahrscheinlich auf Konrad Asper surfick-
zuführen ist. Sie gibt den Entwurf zu den Seitenaltären des Doms. Die entschiedene Übereinstim-
mung des Aufbaus und des Ornaments mit den Erzbischof-Grabmälern im Dom und dem Grabmal
des Andrä Weiß zwingt zu dem Schluß, daß Konrad Asper auch der Urheber der später von Antonio
Dario ausgeführten Kapellenaltäre war.
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55
JOHANNES VEST v. CREUSSEN IN FRANK-
FURT AM MAIN Mit vier Tafeln Von KARL SIMON
L
n der Creussener Töpferkunst spielt gegen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahr-
hunderts eine bestimmende Rolle die Familie der Vest!). Sie stammt ursprüng-
lich aus Österreich, wo 1479 ein Caspar Vest in Wiener Neustadt nachzuweisen
ist. Um 1500 wirken mehrere Mitglieder der Familie als Bossierer in Österreich,
besonders in Linz und Wien, wo sie Fahne und Wappen vom Kaiser Ferdinand
erhalten. 1512 siedeln dann mehrere Mitglieder der Familie nach Creussen über
und arbeiten dort als Bossierer und Häfner.
Dann sind zwei Brüder, Thomas und Caspar, beide um 1550 geboren, dort
als Häfner tätig. Caspar hat vor allem die Reliefbelege der Krüge der ersten
Periode gefertigt. Von ihm rühren die rahmenartig gruppierten Kartuschen und
die dickbäckigen Puttengestalten her; auch die Figuren von Frauen in Prunkhaube
hat er nach Vorlagen des Straßburger Künstlers Heinrich Vogtherr (um 1535) ge-
schaffen.
Der Sohn von Thomas Vest war der bekannte Georg Vest (L) (1574 bis ca. 1620),
Häfner und Bossierer zu Creussen (nicht aber in Nürnberg, wie die mir freund-
lichst schon jetzt zur Verfügung gestellten neuesten Forschungen von Richard
Stettiner ergeben haben).
Caspar Vest hatte drei Söhne, die das Handwerk des Vaters fortgesetzt haben:
Johannes Vest, geboren 3. Februar 1575, Caspar, geboren Oktober 1583 und Georg,
geboren März 1586. Von diesem jüngeren Caspar rühren besonders die Planeten-
und Apostelkriige her; außerdem lieferte er Männerköpfe und Mascarons, aber seine
Formen waren auch anderen Meistern zugänglich, so daß wir sie also auch an
Öfen, Krügen usw. finden, die nicht aus Creussen selbst stammen.
Von dem jüngsten Bruder Georg wußten wir bisher gar nichts Näheres; doch
war gerade er (nach Stettiner) in Nürnberg tätig, und rühren von ihm, nicht von
dem oben genannten gleichnamigen Vetter, die berühmten Ofenkacheln her. Auch
über die künstlerische Tätigkeit des Johannes Vest als Bossierer wußte man
einiges, die früher als die seines um ein Jahr älteren Vetters Georg Vest begonnen
hat (nach dem bisher bekannten signierten Material), und dem „eine höhere Stufe
bildnerischen Könnens zugesprochen werden muß“ (Walcher).
Das bisher über ihn Bekannte ist folgendes: voll signiert ist das Mittelstück einer
Kachel auf der Rückseite: „Johannes Vest von Creussen 1599“. Dargestellt ist die
Figur einer leicht schreitenden Fides, in der Rechten den Kelch, in der Linken
das Kreuz tragend. Seitwärts steht am Fuße eines basaltartig aufgebauten Felsens
R Fu Haus mit vorgelagerter Baumgruppe (ehemals Sammlung Walcher ).
Abb. т.
Das Werk ist als einzig bezeichnetes wichtig genug, um ausführlicher besprochen
zu werden, Aus weißem gebrannten Ton bestehend, 46 cm hoch, 27 cm breit,
(z) Vgl. Rud. Albrecht: Die Töpferkunst in Creussen. Rothenburg о. T. (1909). Walcher v. Molt-
heim: Die Familie der Kunsthafner Vest und ihre Werke in Alt-Österreich und in Oberfranken.
Kunst und Kunsthandwerk XVI. (1913), S. 81 f. — Hane Eber: Creussener Töpferkunst. München 1913, 8. 461.
(2) Kürzlich in den Besitz des Frankfurter Kunstgewerbemuseums übergegangen. — Eine Ausformung
befindet sich nach frdi, Mitteilung von Rob. Schmidt im Berliner Kunstgewerbemuseum.
56
Tafel
3. Athena. 8 d Justitia.
M. f. K. Bd. 1, 1021 Aufbewahrungsort, wenn nicht anders angegeben, Frankfurt aM Städt. Hist. Museum
EE Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUGEN IN FRANKFURT A M.
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Tafel 13
7. Die Mäßigung.
8. Das Wasser. (Arion).
Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUGEN IN FRANKFURT A. M..
M. f. K. Bd. I, 1921 ne
bringt es die Figur in sehr hohem, bis fast zu 5 cm gehenden Relief. Das hohe,
trotzdem nicht schmale Gesicht neigt sich ein wenig nach links und zeigt kräftige,
man möchte fast sagen saftige Formen. Die schweren Augendeckel fallen weit
über die Augen herüber; unter der kräftig entwickelten Nase wölben sich wulstige,
leicht geöffnete Lippen. Das Haar ist sorgfältig gelegt und am Hinterkopf, um
den sich Zöpfe wickeln, hochgenommen. Über der Stirn erscheint ein vierpaß-
förmiges Schmuckstück, von dem eine längliche Perle herabhängt. Ein leichtes
Doppelkinn leitet zum Halse über, der wie eine Säule tiber den breiten Schultern
sitzt. Die gleichfalls sehr kräftigen Arme und Hände sind im Gelenk abgebogen,
die Finger selbst wieder an den Händen bei dem Fassen und Halten in verschie-
denem Grade abgespreizt.
Ein fast leidenschaftlich zu nennendes plastisches Empfinden spricht sich in dem
allen aus, eine Begeisterung für den Körper, die sich in allen Einzelheiten kund-
gib. Markig ist die Modellierung im Nackten durchgeführt und auch unter dem
Gewand deutlich zu spüren; treten doch unter diesem der Nabel und selbst die
Brustwarzen sichtbar hervor, ebenso wie die Knie mit ihren Vertiefungen unter
dem energisch nach der Seite flatternden Mantel. Kräftig sind die Zehen model-
liert, von denen die große durch die Sandale noch besonders abgespreizt wird.
Eine gewisse Großheit lebt in der Figur sowohl, wie in der Gewandung, die über
dem Leib durch eine mächtige Schleife zusammengehalten wird. Und die gleiche
Energie spricht sich aus in dem Beiwerk, dem Häuschen und den buschigen
Bäumen links, den Felsen hinten, dem Strauch rechts. Es ist eine eminent pla-
stische Kunst, die sich hier zeigt, und mit den Mitteln der reinen Körperdarstellung
werden stärkste Wirkungen erzielt.
Von der Signatur war schon die Rede; nicht erwähnt ist aber von Walcher, daß
vor der Signatur eine Ligatur steht, WL, die nicht anders als W І, aufzulösen ist, und
an die sich die Bezeichnung Vests in ununterbrochenem Zuge anschließt. Nun
gibt es in Nürnberg die bekannte Hafnerfamilie Leupoldt (oder Leypoldt); zu-
sammen mit Georg Leupoldt arbeitet, wie wir wissen, Georg Vest. Es gibt aber
auch einen Wolfgang Leupoldt, der nach 1598 gestorben ist. Gewiß haben wir
bei unserer Figur sozusagen seine Fabrikmarke vor uns, an die Joh. Vest dann
seine Künstlerbezeichnung angefügt hat.
Der Typus der Fides hier stimmt überein mit jenem der Figur der Abundantia
auf einem Creussener Krug, die, den rechten Fuß hochgesetzt, mit den Armen ein
Füllhorn umfüngt ). Damit war für Walcher auch diese als eine Arbeit des Johannes
Vest gesichert; doch sind die Abundantia-Krüge (worauf R. Stettiner hinweist)
sämtlich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts nachzuweisen.
Sehr ähnlich in der Haltung und Auffassung ist die prächtige glasierte farbige
Tonfigur einer Venus Marina), ehemals im Besitz des Grafen Moritz v. Palffy,
jetzt in der Städtischen Galerie zu Frankfurt a.M., so daß man versucht ist, auch
diese dem Joh. Vest zuzuschreiben’).
Bezeichnend ist für diese das Höherstellen des einen Fußes und die sehr kräftig
entwickelten Unterarme, sowie das Abbiegen der Arme und Hände in den Gelenken.
Außerdem halten Walcher bzw. Eber für Arbeiten von ihm das Mittelstlick aus
einer Folge der personifizierten Kardinaltugenden, von dem nur der Kopf erhalten
ist; weiter vollständige Kacheln an mehreren Öfen auf der Burg zu Nürnberg und
(z) Walcher у. Moltheim, a. a. O., Abb. 41.
(2) Abb. bei Eber, a. a. O., 8. 57.
(3) Ebd. 8. 56.
57
im Germanischen Museum; darunter eine Allegorie der Nacht und des Tages!),
und den Rahmen einer Kachelserie mit den vier Elementen (darunter der Terra),
deren Sockel den Namen VEST trägt. Endlich befinde sich auf Schloß Otten-
stein in Niederösterreich ein dunkelgrün glasierter, „vermutlich der einzige in dieser
Vollständigkeit erhaltene“ Ofen des Johannes Vest mit den auserwählten Juden in
Nischen: Abraham, Moses, Joseph, David und endlich Johannes dem Täufer —
letzterer wohl als Patron des Künstlers gewählt (das Modell zu dieser Kachel im
Besitz Walchers); ebenso ein buntglasiertes Mittelstück mit der Figur des Josua
oder Gedeon, 1628 datiert. Die Modelle der Mittelstücke zu Kacheln der vier
Evangelisten fand Eber noch in Creussen, der sie ebenfalls Joh. Vest zuschreibt.
Ein anderes Modell mit dem hl. Jakobus (im Besitze Ebers) zeigt „auffallend reiche
Umrahmung und dürfte der Terra-Periode angehören“?),
Zu diesen mehr oder weniger gesicherten Werken Joh. Vests kommt nun noch
ein bisher gänzlich unbeachtet gebliebenes Werk, freilich nur ein Bruchsttick, das
aber neben der Kachel der „Fides“ das einzige vollsignierte Werk des Künstlers
ist. Es ist ein nur zur Hälfte erhaltenes und in mehrere Stücke zerbrochenes,
durch Brand beschidigtes Relief aus gelblichem gebrannten Ton von ursprüng-
lich ovaler Form (Abb. 2). Der größte Durchmesser des Erhaltenen beträgt 26 cm;
die Höhe hat etwa 28,5 cm, die Breite 24,3 cm betragen. Die durchgehende Stärke
der Platte ist etwa 0,7 cm. Auf der Rückseite findet sich nun folgende Inschrift
eingekratzt: Johannes Veſt / Possirer / und Hafner zu Franckfurt a. Mayn /
anno... den 24. Janua .
Die Mitte des flach profilierten Randes nimmt auf der Vorderseite eine kleine
Rollwerkkartusche ein, unter der sich zwei kleine Löcher, wohl zum Anhängen
des Ganzen, befinden. Erhalten ist ein in Dreiviertelansicht nach rechts gegebener,
sich etwa 3 cm über den Grund erhebender Kopf eines Mannes in mittlerem Alter
mit Spitzbart. Vom Haupthaar ist nur eine schlichte Lockenpartie über dem
rechten Ohr zu sehen; von Kleidung nur die kleine Halskrause auf dem Stück
Brokatmantel mit eingeritzter Musterung. Rechts ist das vom Kurfürstenhut mit
Kreuz überragte Wappen des Mainzer Erzbischofs Johann Schweikard von Cronberg
in Relief angebracht, links die Jahreszahl 1609. Damit waltet über die Person
des Dargestellten kein Zweifel, zumal da zeitgenössische Bildnisse diese noch be-
kräftigen. In dem Kupferstichwerk über das Schloß in Aschaffenburg?) erscheint
der Kurfürst in einer sehr ähnlichen Medaillondarstellung, nur etwas weniger in
Profilstellung gerückt. Und um diesen 1553 geborenen Erbauer des neuen Schlosses
in Aschaffenburg (errichtet 1606—1614) handelt es sich, der von 1604—1626 den
Mainzer Erzbischofstuhl innegehabt hat. Das Relief ist in Aschaffenburg im Schutt
über den Kellergewölben des durch Brand zerstörten Kapuzinerklosters gefunden
worden, hat also wohl, vielleicht in Verbindung mit ähnlichen Reliefs, möglicher-
weise anderer Fürsten, zum Schmuck der Wände gedient Gern würde man eine
Tätigkeit Vests auch für das Schloß annehmen, ohne daß man bei der weitgehen-
den Zerstörung der inneren Einrichtung etwas feststellen könnte. Eine Tätigkeit
käme besonders für Kachelöfen in Betracht: wir wissen zwar nur von einer Aus-
stattung mit Kaminen‘), doch ist das Vorhandensein auch von Öfen wohl sicher
(1) Abb. bei Eber, S. 70 und 68. (2) a. a. O., 8. 71.
(3) Georg Ridinger: Architectur des Maintzischen Churfürstlichen neuen Schlossbawes ... zu Aschaffen-
burg. Maintz 1616.
(4) Schulze-Colbitz: Das Schloß zu Aschaffenburg. Straßburg 1905 (Studien z. deutschen Kunetgesch.,
Н. 65), 8. 105.
58
anzunehmen. Weiter könnte man bei der reichen Stuckarbeit besonders in dem
oberen großen Saal mit den Darstellungen aus der Kaisergeschichte an Vest
denken, wenn diese nicht wahrscheinlich erst aus einer späteren Zeit stammten —
als Vest nicht mehr lebte. Insbesondere gilt dies von der Darstellung der Krönung
des Kaisers Matthias, bei der Schweikard eine wichtige Rolle spielte. Eher wäre
bei den Stuckaturen im Westfitigel des Erdgeschosses (erbaut 1607—1608) an Vest
zu denken, wo die jetzt zu kleinen Kammern umgebildete Tafelstube für die Be-
‚amten noch ruinierte Stuckgewölbe zeigt*).
Jedenfalls ist das Medaillon als das zweite bisher bekannte bezeichnete Werk
des Künstlers besonders interessant; die Bezeichnung ähnelt in ihrer Ausführlich-
keit durchaus derjenigen, die auch andere Mitglieder der Familie auf ihren Werken
anzubringen lieben. So der Nürnberger Bruder Georg auf seinen Kacheln, so Caspar
Vest auf jenen kleinen Plaketten mit Mars und Venus?), die wie die Fides aus
weißem, gebranntem Ton hergestellt sind und eine bisher noch nicht mit Sicher-
heit gedeutete Bezeichnung tragen.
Dem Gegenstand nach gehört das Rundmedaillon des Georg Vest mit dem
Wappen der Gugel, gleichfalls aus weißem Ton und im Germanischen Museum,
hierher (Dm. 8,5 em) )).
Durch die Augabe „von Frankfurt“ auf unserem Stück werden wir nun auch
bezüglich der Lebensverhältnisse des Joh. Vest weitergeführt. War man über
diese doch völlig im unklaren; man wußte nicht, ob er in Nürnberg, in Creussen
oder sonstwo tätig gewesen. Nach der Inschrift auf der „Fides“ können wir ja
nun jetzt mit Bestimmtheit sagen, daß er 1599 in Nürnberg bei W. Leupold ge-
arbeitet hat. Aber auch über die spätere Zeit und die Dauer seines Lebens, über
die man völlig im Dunkeln tappte, können wir jetzt Entscheidendes beibringen.
Im Bürgerbuch der Stadt Frankfurt (Stadtarchiv), Bd. VII, S. 295, findet sich
nämlich der folgende Eintrag:
„Johann Vest von Creussen Haffner und Possirer ist frembdt zum Burger an-
genommen worden, juravit den 8. January, A“ 1605, dt ooo.
Und demnach ermelter Johann Vest ein kunstreicher Possirer (wie Bein uber-
gebene Probstückh außgewiesen) Als haben bede Herrn Burgermeister ime das
Burgerrecht allerdings ex gratia nachgelassen.“
Also Johannes Vest von Creussen ist ganz zu Anfang des Jahres 1605 Frank-
furter Bürger geworden und offenbar mit Auszeichnung hier aufgenommen; das
geht daraus hervor, daß ihm das Bürgerrecht ohne die übliche Gebühr gewährt
worden ist.
Nicht genug damit. Wir besitzen auch die Supplikation, in der Vest an der
Hand längerer Darlegungen um die Gewährung des Bürgerrechts vorstellig wird.
„Neben erpietunge meyner ganz willigen und bereyten Dienste fuege E. E. und
P. W. ich unterthänigst zue vernehmen, dass Innhalts hierbey gefügter Uhrkunde
Ich nicht allein das Haffner Handwerkh, sondern auch dass Possiren unnd darzu
dienstliche Formschneiden erlernnet und inn solche Uebung gepracht, dass damit
(ohne Ruhm zu melden) vielen Leuthen, hohen und niederen Standes nicht wenigers
auch den Meystern des Hafner Handwerkhs allhier zu ihrem Nutz und wohlgefallen
gedienet werden, Dieweill dann mit meiner wohlgetibten Kunst und nuzlichen
Arbeyt Ich nuhn biss inn dass zehende Jaar alhie bekant unnd vermittelst der-
(х) Schulze-Colbitz, a. a. O., 8. 100.
(a) Josephi, Katalog der Werke plastischer Kunst (im German. Nationalmuseum) 1010, Nr. 117-- 118.
(3) Ebd. Nr. 116.
59
selben und göttlicher Hilfe mich inn Ehren zu ernehren weiss und in dieser löb-
lichen und weythberümbten des Heyligen Römischen Reichs Statt Frankfurth unter
E. E. und P. W. Schutz und Schirmb hausslichen niderzulassen ein besondere Be-
gierde trage, alss gelangt an E. E. unndt P. W. mein unterthänig dienstlich unnd
seer vleissige Pitte, Sie wöllen zu ihrem Burger mich grossgünstig auff unndt
annehmen, will ich Ein Hundertt Gülden mit meyner Vaust verdients bars geldts
alhier anwenden, die schuldige gebürn zu unterthänigem Dank entrichten, auch mit
der Zeyt an eine solche Persohn durch Gotes gnade unnd ehrlicher Leuthe Be-
förderunge verheyrathen
Johannes Vest, vonn Kreussen Brandenburgischen
fürstenthumbs Häffner und Possirer“.
Er hebt also besonders hervor, daß er nicht nur das Häfnerhandwerk, sondern
auch das Bossieren und Formschneiden gelernt hat, mithin selbst entwerfender
und modellierender Künstler ist.
Weiter ergibt sich, daß er seit wenigstens 1596, also seit seinem 21. Jahre, in
Frankfurt „bekannt“ ist. Er muß also mehrfach, besonders vielleicht in Meßzeiten,
hier anwesend gewesen sein und mit Frankurtern in geschäftlichen Beziehungen
gestanden haben!). Gewiß war damals hier kein Überfluß an eigentlich schöpferischen
Kräften in der Keramik; dafür spricht einmal der Umstand, daß er besonders her-
vorhebt, auch den Meistern des Häfnerhandwerkes in Frankfurt werde es vorteil-
haft sein, wenn er sich seßhaft mache, und dann die gebührenfreie Erteilung des
Bürgerrechts durch den Rat der Stadt. Das Anerbieten, sich dessen Erwerbung
hundert Gulden kosten zu lassen, wurde nicht angenommen.
Auch die Absicht, sich in Frankfurt zu verheiraten, hat er verwirklicht; vor-
läufig kennen wir allerdings nur den Vornamen der Frau: Margarete, und zwar
erfahren wir ihn aus einem vom 17. Juli 1612 datierten Aktenstück. Dort wird
nämlich erwähnt „Margretha, weiland Johann Festen S. Wittib itzo Philips Hart-
lins Haußfraw“ ). An diesem Termin war also Johann Vest bereits verstorben,
— allerdings noch nicht lange Zeit vorher. Denn es ist ein vom Jahre 1612
stammendes Testament oder ein Inventar seines Besitzes im Stadtarchiv vor-
handen gewesen. Leider fehlen die Testamente selbst aus einer ganzen Reihe von
Jahren, unter denen sich auch das Jahr 1612 befindet. Nur in einem Index sind
die Namen der Erblasser, darunter auch des Johannes Vest, erhalten. Es ergibt
sich schon danach, daß dieser von Januar 1605 bis etwa zum Anfang des Jahres
1612 in Frankfurt Bürger gewesen ist und hier gewohnt hat. Und im Totenbuch
des Frankfurter Standesamts ist endlich unter Sonntag, 6. Oktober 1611 „Johann
Vest, Bossirer und Hafner B.“ als verstorben erwähnt’).
(1) Ein Dr. Johann Vest, Kammergerichtsprokurator-Fiskal, wird von Kaiser Rudolf IL am a3. März
1579 mit der „Inquisition der Drucker und Buchläden der bevorstehenden Messe“ in Frankfurt be-
auftragt: sein Name begegnet noch 1596 in der gleichen Angelegenheit (Stadtarchiv, Zensurakten Nr. 27),
und erst 1606, endgültig 1608, wird ein anderer Bücherkommissarius, Dr. Valentin Leucht, ernannt.
Ob hier, wenn vielleicht auch weiter zurückliegende verwandtschaftliche Beziehungen zu der Töpfer-
familie vorliegen, die ja, wie erwähnt, aus Österreich stammte und in späteren Mitgliedern wieder
dortbin auswanderte, wissen wir nicht,
(a) Insatsbuch Stadtarchiv, Tom. XVI, 8. 236. Dieser Hartlin ist nicht etwa auch Hafner gewesen.
Er wird in dem Register des Bürgerbuches als „Kramer“ bezeichnet; er war in Worms Bürger ge-
wesen, aber in Frankfurt geboren, und erlangte hier am 28. April 16123 als „Filius Civis“ das Bürgerrecht.
(3) Als Kinder Vests werden im Geburtsregister des Standesamts Anna Catharina (geb. 5. Juli 1607),
Catharina (geb. 25. Juli 1608) und Johann Philipp (geb. 13. Dez. 1610) namhaft gemacht. Letzterer
ist ale Frankfurter Bürger später nicht nachzuweisen.
60
Daß Vest in gewissem Sinne eine Ausnahmestellung eingenommen haben muß,
geht noch aus etwas anderem hervor. Am 14. Dezember 1615 wurde nämlich
Christian Steffan aus Langla „frembd zum Burger angenommen“, und in der gleich-
falls noch erhaltenen Supplikation nennt er sich den einzigen Bossierer in Frank-
furt. Es ist derselbe Mann, dem mit großer Wahrscheinlichkeit die Stuckdecke im
„Fürsteneckzimmer“ (jetzt im Frankfurter Kunstgewerbemuseum) zugeschrieben
ist!). Die Lücke, die der Tod des Johann Vest gelassen hatte, scheint also erst
durch die Niederlassung von Steffan einigermaßen ausgefüllt worden zu sein.
Daß Vest auch sein Handwerk hierselbst betrieben, nicht etwa nur als Kaufmann
mit fertiger Ware gehandelt hat, ergibt sich mit voller Deutlichkeit daraus, daß
seine Witwe in dem vorhin erwähnten Aktenstück von „zwo ererbten Brennhütt“
in Sachsenhausen spricht. In Sachsenhausen waren die sämtlichen Häfner an-
sässig, die in dem ersten erhaltenen Aktenstück zur Geschichte der Frankfurter
Häfnerzunft (1602) erwähnt sind”). Sie wohnten dort in dem nach ihnen ge-
nannten „Töpfergäßchen“, das früher „Zu den Brennöfen“ hieß. Es ergibt sich
daraus, daß die Töpfer dort ihre Öfen hatten“), und aus dem erwähnten Akten-
stück geht hervor, daß die Vestschen Brennhütten „am Schaumaintor“, auf der
einen Seite Hans Eichorn, gleichfalls Häfner, und auf der anderen Seite Georg
Schöffler von Zellingen (Bürger seit 7. Juli 1607 durch Heirat mit der Witwe des
Hafners Caspar Schmidt) zu Nachbarn hatten‘).
Und es scheint fast, als ob wir diesen Brennhütten selbst noch auf die Spur
kommen könnten. In dem noch heute erhaltenen letzten Rest der alten Befesti-
gung von Sachsenhausen, dem sog. Ulrichstein, wurde nämlich vor einigen Jahr-
zehnten (1876) das Vorhandensein eines Töpferbrennofens festgestellt. Im Ulrich-
stein selbst war ein Fachwerkhaus eingebaut, und die Riegelwände seines oberen
Stockwerkes waren ausgemauert mit Kacheln und Formen zu Kacheln, die beim
Abbruch zum Vorschein kamen und dem Historischen Museum der Stadt über-
geben wurden. Darunter befinden sich eine Reihe von Stücken, die, wie wir noch
sehen werden, zu Joh. Vest in nächster Beziehung stehen. Der Schluß ist gewiß
nicht zu ktihn, daß wir hier oder in nächster Nähe die Werkstatt Vests zu suchen
haben werden.
II.
Die Feststellung, daß Johannes Vest in Frankfurt gelebt und gearbeitet hat, ist
wichtig auch deswegen, weil damit eine Reihe von Schwierigkeiten sich löst, die
der Forschung bisher zu schaffen gemacht haben. Schon längst war aufgefallen,
daß sich in und um Frankfurt in ziemlich großer Anzahl Ofenkacheln und ganze
Kachelöfen finden, die auf Beziehungen zu Nürnberg hinzuweisen schienen“). Be-
sonders kommen hier in Betracht zwei jetzt im Goethehaus befindliche große
Kachelöfen.
Im Erdgeschoß des Goethehauses ), in der sogenannten „blauen Stube“ befindet
(1) Wolff, Jung und Hülsen: Die Baudenkmäler in Frankfurt a. M., Lief. 5, S. 37. Rob. Schmidt:
Das Fürsteneckzimmer. Frankfurt a. M., 1919. (Sonderheft des Kunstgewerbe-Museums).
(a) О. Lauffer: Der Kachelofen in Frankfurt. In Festschrift s. Feier des 2sjähr. Bestehens d. Städt.
Hist. Museums zu Frankfurt a. М. 1903, 8. 127.
(3) О. Cornill in den Mitteilungen d. Vereins f. Gesch. und Altertumskunde V (1879), 468 f.
(4) Eichorn und Schmidt schon 1602 erwähnt; Lauffer, a. a. O., S. 115.
(5) Lauffer, а. a. O., S. 130f.
(6) Daß im Goethehaus zwei solche Öfen vorhanden sind, muß besonders betont werden, weil in der
Literatur nur von einem die Rede ist. Zuerst hat C, v. Drach einen solchen erwähnt (Kunstgewerbe-
61
sich ein aus dem Senckenbergschen Stiftungshause stammender Kachelofen mit
einem Feuerkasten aus Eisenplatten, während der Aufsatz aus schwarzen, ungla-
sierten Tonkacheln besteht. Es sind fünf vollständige Kacheln, während eine
sechste bereits halb in der Wand steckt. Die Rahmen sind überall gleich und
enthalten oben, getrennt durch ein von zwei Löwen flankiertes Maskeron, die Ge-
stalten der Gerechtigkeit und der Klugheit, unten der Mäßigung und der Stärke;
an den Seiten je einen Gewappneten. Die Mittelbilder sind zum Teil der bereits
genannten Serie der vier Elemente entnommen, von denen „Аёг“ und „Aqua“ ver-
treten sind, letztere einmal, erstere zweimal (nur zum Teil erhalten). Nicht zuge-
hörig ist eine dreimal wiederholte schreitende Gestalt der Justitia, in der Linken
die Wage, in der Rechten das aufgerichtete Schwert. (Der Einfachheit werden
wir diesen als Goethehaus-Ofen I bezeichnen.)
Goethehaus-Ofen Nr. П im ersten Stock, dem sogenanten „Musikzimmer“, ent-
hält gleichfalls über einem eisernen Feuerkasten fünf Kacheln, die der Serie der
Elemente entnommen sind. Und zwar sind es hier Aér, Ignis und zweimal Terra,
zu denen an der Schmalseite noch die Figur einer Athena, also wohl der Weis-
heit, kommt, die in der Linken eine Lanze, in der Rechten einen maskenverzierten
Schild trägt. Der Rahmen enthält oben ein jiingstes Gericht, zu den Seiten in
einem von vier Säulen getragenen Gehäuse die Figuren des Petrus und des Judas.
In einer von Seepferden begleiteten Kartusche des Sockeis steht jedesmal der
Name VEST.
Dieser Sockel des Aufsatzes enthält viermal die gleiche Darstellung: in der Mitte
eine sitzende Justitia, links eine stehende Frau mit langem Kreuz in der Rechten,
einem Buch und hängenden Schlüsseln in der Linken; rechts eine Frau mit Füll-
horn in der Linken und einem Schwert in der Rechten.
So ist also in den zwei Öfen zusammen die Serie der Elemente vollständig vertreten.
Die Eckkacheln der Öfen sind beidemal gleich und zeigen eine Herme mit pracht-
vollem Widderkopf.
Beide Öfen sind offenbar eng mit Frankfurt verbunden; denn von der Figur der
Justitia des Ofens I wie von der Athena des Ofens II befinden sich die Modelle;
im Historischen Museum (Abb. 3, 4, Sachsenhäuser Kachelfund).
Auch die Kachein der Elemente selbst sind in unserer Gegend mehrfach ver-
treten: die vollständige Reihe, die aus einem Bauernhaus in der Nähe von Gießen
stammt, findet sich in den Sammlungen des hessischen Geschichtsvereins zu Mar-
burg’), die Terra allein in den Sammlungen des Altertumsvereins zu Mainz und
im Besitz von Sanitätsrat Dr. Großmann-Frankfurt.
Außerdem aber treffen wir mehrfach die Formen von Bild und Rahmen in ge-
trennter Benutzung; der Rahmen der Justitia des Goethehausofens I begegnet im
Darmstädter Museum mit einer prachtvoll bewegten Judith als Füllung, aus Roß-
dorf bei Darmstadt stammend. Die Figur des Ignis ist in Steinbach bei Michel-
stadt zutage gekommen, die Terra findet sich in einem reichen Rahmen mit vielen
Figuren: Caritas, Veritas, Justitia, Temperantia, Fortitudo u.a.m. im Darmstädter
Landesmuseum. Dieser Rahmen selbst ist dort noch einmal vorhanden mit
einem anderen Mittelstück (Vase und Lilie).
blatt Ш (1887), S. 131 mit Abb., danach hat ihn Lauffer, a. а. O., S. 119 und 134 besprochen und
Drachs Angaben zum Teil verbessert, aber nur den zweiten Ofen (im Erdgeschoß) gesehen. Die
verschiedenen Angaben der beiden Forscher beziehen sich also auf zwei verschiedene Öfen; die
Polemik des einen gegen den anderen ist daher gegenstandslos. |
(тї) Abbildung bei Drach, а. а. О.
62
OO em — — — . —
Die Figur der Terra selbst begegnet auch auf einem Kachelbruchstück des
Frankfurter Historischen Museums, dem unten angefügt ist das Medaillonporträt
eines Mannes, dessen Umschrift wohl zu lesen ist: Hans Burck von Guntzenhausen
Aetat ... Dieselbe Kachel begegnet in den Sammlungen des Mainzer Alter-
tumsvereins und hier ist auch die Umrahmung erhalten; zu den Seiten je eine
Karyatide, im Gebälk zwei Frauen; die links mit Bogen und Totenkopf, die rechts
mit Palme und Schwert.
Diese Figur der „Terra“ ist nun nahe verwandt mit der „Venus Marina“, die
Athena und Justitia andererseits verwandt mit der Fides, die von Joh. Vest mit
1599 inschriftlich bezeichnet war. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß
die ganze Folge des Goethehaus-Ofens auf Joh. Vest zurückgeht. Damit ist dann
wohl auch die von С. v. Drach mit Zähigkeit gegen Nordhoff verfochtene Autor-
schaft Anton Eisenhoits für die Serie der Elemente endgültig erledigt. Die Figur
des Aör ist bei einem im Dresdener Kunstgewerbemuseum befindlichen Exemplar,
das damals als einziges bekannt war, eingefügt in einen Rahmen, der deutlich
die Bezeichnung VEST trägt. Schon daraufhin vermutete Lauffer die Auorschaft
eines Vest für die ganze Serie; auch die Figur des Aér und Ignis am Goethehaus-
Ofen П trägt die Bezeichnung Vest’).
So dürfen wir weitergehend vermuten, daß diese Serie nicht von Nürnberg aus
importiert, sondern in Frankfurt und von Joh. Vest selbst angefertigt worden ist.
Daraus würde sich in ungezwungenster Weise die verhältnismäßig große Häufigkeit
hres Vorkommens gerade in der Frankfurter Gegend erklären.
Es wurde erwähnt, daß Nürnberger Kacheln mit der Allegorie des Tages und
der Nacht bereits für Joh. Vest in Anspruch genommen worden sind. Der Rahmen
vom „Tag“ enthält nun in dem von vier Karyatiden gestützten Gebälk die Ge-
stalten der fünf Sinne, die teils stehend, teils lagernd erscheinen). Dieser Rahmen
begegnet auch in den Sammlungen des Historischen Museums mit der Figur einer
klugen Jungfrau als Mittelbild (Abb. 14); dieses Mittelbild seinerseits kehrt in zwei
anderen Kacheln derselben Sammlung wieder, bei denen aber der Rahmen einfacher
gestaltet ist (Lauffer, Abb. 14); hier sind die fünf Sinne auf dem Gebälk, zu den
Seiten als Karyatiden und auf dem Sockel verteilt. Diese selbe Umrahmung findet
sich noch einmal bei einer aus Gelnhausen stammenden Kachel mit einer figuren-
reichen Salbung Davids als Mittelbild (Abb. 15); dieselbe Kachel befindet sich im
Frankfurter Kunstgewerbemuseum. Dem ganzen Charakter der Arbeit nach dürfen
wir auch diesen Rahmen samt den Mittelbildern für Joh. Vest in Anspruch nehmen;
nur bezüglich der Salbung Davids kann man zweifelhaft sein.
Der „Tag“ findet sich mit einer anderen Umrahmung auch auf einem Ofen der
Burg zu Nürnberg: im Gebälk sitzen die zwei Figuren von Frühling und Sommer,
(х) Auf die Frage der Autorschaft der vier Stiche von 1586 (Bartsch ПІ, 8. 100, rox), die deutlich die
Vorlage für die Kacheln gebildet haben, und die Nordhoff für H. Goltzius in Anspruch nahm (Bonner
Jahrb., Н. LXXXIV, 1887, 8. 169), während v. Drach sie Goltzius absprach und die Blätter mit Acr
und Terra für Eisenhoitsche Arbeiten hielt (Kunstgewerbeblatt, a. a. O.), können wir hier nicht näher
eingehen. Dadurch wird aber natürlich die Frage nach der Originalität der Erfindung des Joh. Vest,
ebenso die nach der Abgrenzung der Werke der verschiedenen Mitglieder der Familie Vest stark be-
rührt. Daß Goltzsche Stiche ausgiebige Verwendung im Kunstgewerbe, besonders von seiten der
Delfter Fayence-Manufaktur, hauptsächlich für Ofenkacheln (Signifer, Römerbelden) gefunden haben,
ist bekannt. Vgl. О. Hirschmann, Meister der Graphik VII, 8. 145.
(з) Abb. bel Eber, S. 68. Lauffer, Abb. 15.
63
an den Seiten erscheinen vor den Pilastern die Gestalten von Herbst und Winter’).
Ebenso begegnet dieser Rahmen mit den Jahreszeiten bei der Kachel der „Nacht“
in der Sammlung Walcher*) und im Germanischen Museum, und weiter bei den
Kacheln der Terra (Abb. 18) und Aqua im Germanischen Museum, dem Ignis auf
der Nürnberger Burg?) und einer großen Kachel mit dem Autumnus ebendort
(der Autumnus kehrt noch einmal wieder im Bayrischen Gewerbemuseum ebendort).
Besonders der Frühling und Sommer (oben über dem Bogen) zeigt wieder die
energische plastische Behandlung, das Abbiegen der Gelenke, wie wir es bei der
Fides-Figur fanden.
In den Kreis dieser Arbeiten gehören nun auch eine Anzahl einzelner Kacheln
hauptsächlich des Frankfurter Historischen Museums, deren Verwendung an Öfen
gewiß gelegentlich noch nachgewiesen werden kann. In sehr enger Verbindung
zu der Justitia und der Athena steht eine Kachelform mit der Figur der „Sterc“,
die, stehend, mit der Linken einen oben abbrechenden Säulenstamm umfaßt, die
Rechte dagegen in ein auf kanneliertem Rundsockel brennendes Feuer hält (Abb. 6‘).
Auch hier erscheinen sehr kräftig Nase und Lippen, die tief ausgebohrten Augen,
deren oberes Lid pathetisch ausgebaucht ist, und deren Jochbein unmittelbar an
die Nase ansetzt. Das Haar liegt oben enger an; wo es sich von dem nach links
geneigten und dadurch betont empfindungsvoll wirkenden Kopfe löst, flutet es in
langen Wellen herab. Die rechte Hand ist in rechtem Winkel abgespreizt, die
Knöchel der Linken sind durch Lochvertiefungen bezeichnet. Der Körper ist fast
vollrund aufgesetzt; das linke Bein ist bis über das Knie nackt; weit flattert das
Gewand nach hinten’). Selbst in dem aufsteigenden Rauch spricht sich ein plastisch
eigenwilliges Empfinden aus. Fast in allen Einzelheiten stimmt die Figur mit der
Justitia und der Athena tiberein, und ähnliches gilt auch von einer Kachel mit der
prachtvollen sitzenden Figur der Temperantia als Mittelbild (Abb. 7) mit ihrem
kräftigen Gesichtstypus, ihrer energischen Modellierung etwa besonders des Knies,
mit der Betonung der Gelenke, des Ansatzes der Arme, der flatternden durchsich-
tigen Gewandung usw. Das Haar wird von einer Perlenkette durchzogen und die
Mitte durch ein Schmucksttick bezeichnet.
Zu dem Sachsenhäuser Kachelfund gehören auch zwei Hohlformen mit halbkreis-
förmigem Abschluß, durchschnittlich 16 X 25 cm, messend, von denen die eine
Arion mit der Leier darstellt (Abb. 8). Auch er hat, wie etwa die Terra und
andere Vestsche Figuren den einen Fuß hochgestellt, wie er auf und tber aller-
hand vielseitig und charakteristisch dargestelltem Meergetier seine Leier schlagend
hoch aufgerichtet steht. Der Zusammenhang mit der Venus Marina ist deutlich.
Die Inschrift „Das Waser. Das zweit.“ zeigt, daß das Stück wohl zu einer Serie
der vier Elemente gehört hat; ebenso wie die zweite Hohlform: auf einer ge-
fitigelten Kugel tiber stark bewegten Wellen steht eine fast nackte Frauenfigur, die
(z) Röper-Bösch: Sammlung von Öfen in allen Stilarten vom 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts.
ı895, Tafel 27.
(2) Walcher, a. a. O., Abb. 42.
(3) Röper-Bösch, a. a. O.
(4) Sachsenhäuser Kachelfund,
(5) Die Vorliebe für flatternde Gewänder und für Entblößung des einen Beins bis über das Knie
hinauf findet sich in ganz ähnlicher Weise schon an österreichischen Kacheln um 1550, die mit dem
von Walcher frageweise als „Hans Vest“ aufgelösten Monogramm H V bezeichnet sind (Walcher,
a. a. O., 8. тоз, Abb. 38—39. Vgl. dieselbe Zeitschr. 12, 8. 356). Diese Deutung würde von der
stilistischen Seite her eine Bekräftigung erfahren, wenn man annehmen könnte, daß diese Stileigen-
tümlichkeiten von jüngeren Mitgliedern der Familie aufgenommen und weiterverwendet wurden.
64
Tafel 14
11. Caritas. Holz.
12. Joseph. Kunstgewerbemuseum.
Josep 3 13. Martyrium der hl. Agnes.
Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. СКЕОВЕМ IN FRANKFURT A. M.
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14. Kluge Jungfrau.
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16. Der verlorene Sohn. 17. Monat Juli.
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Tafel 16
18. Terra. German. Museum. 19. Monat Mai. German. Museum.
21. Tobias, den bösen Geist vertreibend.
Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUBEN IN FRANKFURT A M.
— — h — — ———— ——
——— ——
mit den Händen die Enden eines gebauschten Segeis faßt — also wohl eine Per-
sonifikation der Luft (Abb. 9). Die Stellung der Beine entspricht genau der bei
der Athena: das eine straff durchgedrlickt, das andere in leichterer Stellung dicht
daneben vorgestreckt. Vielleicht gelingt es danach, auch die noch fehlenden zwei
Elemente aufzufinden.
Einem ganz anderen Zusammenhange angehörend, durch gleiche Form und Maße
aber den beiden vorigen Hohlformen nahe verbunden ist eine weitere Model aus
dem Sachsenhäuser Kachelfund, die die lebendig bewegte Szene des Verkaufs
Josephs darstellt.
Hält es hier schwerer, in den lahmeren Bewegungen und der flaueren Modellie-
rung spezifisch Vestsche Züge mit Bestimmtheit festzustellen, so treten diese in
einem Martyrium der hl. Agnes (Kachel, halbrund geschlossen) sehr deutlich
wieder hervor: in den weit ausgreifenden und differenzierten Bewegungen, den
Gesichtstypen, in der Gewand- und Körperbehandlung (Abb. 13?)). Unverkennbar
tritt diese Beziehung hervor auch in einem leider nur als Bruchstück erhaltenen
Rahmen, wo in der linken oberen Ecke ein jugendlicher Mandolinenspieler er-
scheint, rechts unten ein Cello spielender Engel; im Sockel zu den Seiten eines
kräftig bewegten Ornaments mit einem Maskaron als Mittelstück zwei musizierende
Putten. Die Höhe muß etwa 65 cm betragen haben, die Breite 38 cm. Auch das
Bruchsttick des Mittelstücks einer Kachel gehört in diesen Zusammenhang, wo
ein musizierender Putto neben einer den rechten Fuß weit zur Seite setzenden
Frauenfigur erscheint.
In Zusammenhang mit ihr steht wohl die Form für eine Kachel, wo ebenfalls
ein Putto neben einer in verlornem Profil gegebenen flötespielenden Frau zu sehen
ist. Die Modellierung läßt allerdings die Straffheit Joh. Vests vermissen.
Vestschen Charakter trägt auch ein zweimal vorkommender Rahmen, der zu
den Seiten zwischen zwei Halbsäulen je eine Figur, oben im Gebälk stehende,
sitzende und liegende Musizierende zeigt. Die Geigerin rechts trägt mitten im
Haar ein Schmuckstück, wie wir es bei Vest öfters fanden. Im Ornament tritt ein
barocker Zug stärker hervor, etwa wie ein gehörnter Teufel aus dem sehr plastisch
gegebenen Rollwerk hervorkommt. In zartem Relief erscheinen unten zwischen
Blattornament Hirsch und Reh gegeneinander gestellt. Die mittlere Darstellung ent-
hält einmal den verlorenen Sohn (Abb. 16), die Säue hütend, das andere Mal
— hier ist der Abschluß des Rundbogens nicht offen, sondern mit einer Putten-
darstellung gefüllt — David und Goliath?). Nur in der letzteren kann man un-
mittelbar Vestsche Stilelemente feststellen, doch verlangt ja eine in landschaftlicher
Szenerie sich abspielende Darstellung in kleineren Dimensionen eine andere Be-
handlungsart als isolierte Figuren, so daß man vielleicht auch beide Mittelbilder dem
Vestschen Oeuvre zuweisen kann.
Ähnlichen Charakter trägt auch eine große Kachel mit figürlicher Darstellung:
hinter einem sitzenden Feldherrn eine Frau mit zwei Garben, über ihrem
Haupte eine Sichel schwingend. Über ihnen das Sternzeichen des Löwen, rechts
des Schützen, also eine Darstellung des Monats Juli (Abb. 17). Es existieren da-
von zwei Exemplare, das eine unglasiert und graphitiert, die andere, sehr viel
schärfer in der Form, mit grüner dünnflüssiger Glasur.
Derselbe Rahmen (im Gebälk ein Engelsköpfchen zwischen zwei sitzenden Engeln;
zu den Seiten je eine Satyrherme) begegnet mit einem anderen Mittelstück, dem
ausgezeichneten Medaillonportrit von Kaiser Rudolph П. in Dreiviertelansicht?).
(z) Sachsenhäuser Kachelfund. (2) Lauffer, а. а. О., Abb. 12. (3) Abbildung bei Eber, 8.53.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. L 1921. 5 j 65
Ein ganz ähnliches kommt an dem Kaiserofen auf der Burg zu Nürnberg vor, so daß auch
hier wieder eine Beziehung zu der Werkstatt der Vest auch äußerlich hervortritt.
Andrerseits begegnet der gleiche Rahmen wieder an einer Kachel in Nürnberg,
Germanisches Museum, mit einer figtirlichen Darstellung des Monats Mai im Mittel-
felde (Abb. 19): auf einem Thron sitzt eine Frau, die in der hoch erhobenen Linken
ein größeres Blumenbiischel, in der auf dem linken Oberschenkel ruhenden Rechten
einen kleineren Blumenstrauß hält; in dem Haar mit langen herabhängenden Zöpfen
Vergißmeinnicht. Zu ihrer Rechten sitzt mit entblößtem Oberkörper ein Mann, der,
die Rechte hoch erhebend, sich zu ihr wendet. Darüber und zu den Seiten die
Sternbilder der Wage, des Wassermanns und der Zwillinge, also des Monats Mai;
auf letzteren bezieht sich jedenfalls die Darstellung.
Behandlungsart und Typen scheinen mir allerdings nicht speziell auf Johannes
Vest zu deuten.
Bei verschiedenen Kacheln wurde ein Rahmen erwähnt, wo im Gebälk, an den
Seiten und im Sockel eine Darstellung der fünf Sinne begegnet; an letzterer Stelle
der Geruch: eine lehnende Frau an einer Blume riechend, zu ihren Füßen ein
springender Hund!) (Abb. 5). Diese Darstellung kehrt nun in den Sammlungen des
Histor. Museums zweimal wieder als Form für eine Leistenkachel (16,8 >< 39 cm)
mit einer außerordentlich geschmackvollen Umrahmung: zu beiden Seiten ein Jüng-
ling, dessen Unterleib in elegant geschwungenes Blattwerk übergeht. Gesichtstypus
und Haarbehandlung weisen Vestsche Züge auf und ebenso die vielseitig differen-
zierte Bewegung von Arm und Hand. Sehr ähnlich ist nun in den Grundztigen
die Umrahmung von drei Leistenkacheln, von denen leider nur zwei vollständig
erhalten sind. Die Umrahmung ist stark bereichert durch Engelsköpfchen und eine
Art Eierstab, von dem Blumen- und Fruchtgirlanden nach der Seite gehen; und
die Jünglingsfiguren sind in ein umfangreiches plastisches Ornament hineingesetzt,
in das sie mit dem Arm hinein- und durchgreifen, ähnlich wie an der Goliath-
kachel der Satyr erscheint. Die querovalen Mittelbilder enthalten Darstellungen aus
der Geschichte des Tobias. Die erste (Abb. 20) zeigt den kleinen Tobias, wie er
seinen herankommenden Vater auf die Leiche eines erschlagenen Glaubensgenossen
aufmerksam macht; im Hintergrunde die Ansicht der Stadt Ninive. Die ganze weitere
Geschichte, wie Tobias die Erschlagenen begräbt usw., fehlt — vielleicht sind die
Darstellungen anderwärts erhalten —, ein nur bruchstückweise 1841 in einem
Frankfurter Hause („zum Kumpen“) in einer Mauerspalte zum Vorschein gekom-
menes Kachelstiick scheint die Szene zu zeigen, wie der junge Tobias mit dem
Engel Raffael sich verabschiedet; die Mutter Hanna ist allein zu sehen, vom Vater,
der offenbar liegt, nur ein Stück Bein und der vor ihm ausgestreckte Hund.
Die letzte Darstellung endlich, für die die Hohlform in zwei Exemplaren vorhanden,
zeigt das Brautgemach in Rages; im Bett liegt Sara, die Hände faltend; davor
steht Tobias, die Fischleber auf die glühenden Kohlen legend. Durch die Tür-
öffnung in einiger Entfernung sieht man den Engel und den bösen Geist Asmodi
in Unterhandlung (Abb. 23).
An dem von Walcher für Joh. Vest in Anspruch genommenen Ofen in Schloß
Ottenstein sind in Nischen, wie erwähnt, dargestellt die auserwählten Juden: Abra-
ham, Moses, Joseph, David und Johannes der Täufer. Das Modell zum Joseph
ist in seinem Besitz und zeigt den Helden in reicher Gewandung nach links
gewendet, die Linke eingestemmt; in der Rechten eine siebenfache Kornähre
(1) Sachsenhäuser Kachelfund.
(a) Walcher, Abb. 45.
haltend; auf der Erde neben seinem rechten Fuß ein ägyptischer Götzenkopf!).
Ein ganz ähnliches Modell, nur im Gegensinne und mit geringfügigen Änderungen
(z. B. befindet sich rechts am Boden eine Garbe), besitzt aber das Frankfurter
Historische Museum (auf der Rückseite freilich bezeichnet: Andreas Diederich)
(Abb. то), während die dem Walcherschen Modell genau entsprechende Kachel das
Frankfurter Kunstgewerbemuseum (als Geschenk des Grafen Oriola und in seiner
sonstigen Herkunft nicht festgestellt) bewahrt (Abb. 12). Als Gegenstück ist eben-
dort und mit der gleichen prächtigen grünen dünnen Glasur versehen, ein „Konig
Davied“ vorhanden, mit wehendem Mantel nach links schreitend und die Harfe
spielend. Zu seinen Füßen links ein Tamburin, rechts ein Krug. Die prachtvolle
Umrahmung der beiden Kacheln ist identisch mit der der Kacheln aus der Passions-
folge des Georg Vest von 1608).
Der jugendliche David hingegen mit dem gewaltigen Schwert des Goliath in
der Rechten, dessen Kopf in der gesenkten Linken, findet sich an einem eisernen
Ofen mit hessischer Ursprungsbezeichnung („Nassau-Usingen“) im Dresdener Kunst-
gewerbemuseum in fünfmaliger Ausformung), und dieselbe Kachel begegnet іп den
Sammlungen des Mainzer Altertumsvereins. Stellung und Behandlung der Figur
im einzelnen zeigen nahe Verwandtschaft mit der Terra und anderen Werken des
Joh. Vest, so daß wir auch diesen David ihm wohl zuschreiben können.
Der für ihn charakteristische Frauentypus kehrt nun auch wieder auf einem
Holzmodell des Historischen Museums, das die in eine Nische geschlossene
Figur einer von großem Faltengewoge umgebenen Caritas, von vorn gesehen, mit zwei
Kindern, zeigt (0,44 X 0,29 m): ein überaus kräftiger Unterarm, große Hände und
Füße; bei letzteren die große Zehe stark abgesetzt, die Knie eng aneinander ge-
drückt, aber das Spielbein scharf abgesetzt (Abb. 11). Auch dies Modell, das
Lauffer dem Ende des 17. Jahrhunderts zuschreibt, entstammt dem Sachsenhäuser
Kachelfund. Etwas befremdend scheint in der Tat auf den ersten Blick z. B. der
in der Nische als Hintergrundsdekoration verwendete große geraffte Vorhang, in-
dessen seine Anordnung ist doch noch recht streng. Dasselbe Motiv, wenn auch
im einzelnen anders, begegnet mehrfach bei der von Georg Vest, also aus der-
selben Zeit herrtihrenden Folge der fünf Sinne (Walcher, Abb. 56—57. Auditus,
Tactus).
Schließlich scheint sich auch noch eine Brücke schlagen zu lassen zu scheinbar
gänzlich anders gearteten Werken, nämlich zu einigen Stuckdecken in Frankfurt,
auf die wenigstens kurz hingewiesen sei. Die prächtige Decke in dem Renaissance-
hause zur goldenen Waage ist unter ihnen die bekannteste‘). Sie enthält in der
Mitte zwei größere Szenen, die der Geschichte Abrahams entnommen sind, mit
Rücksicht — worauf bisher noch nicht hingewiesen worden ist — auf den Namen
des Erbauers des Hauses, Abraham Hammer. In den Ecken der Decke liegt je
ein hochovales Feld mit Darstellungen aus der Geschichte des Tobias. Eine un-
mittelbar schlagende Übereinstimmung mit zweifellos Vestschen Werken läßt sich
freilich kaum feststellen, doch findet sich auch hier die Betonung der Gelenke, die
kurzen Unterarme mit den sehr kräftigen Händen, die Entblößung der Schenkel,
die vorzügliche Durchbildung im einzelnen. Der bärtige Abraham erinnert an den
Samuel der Salbung (Abb. 15) und der alte Tobias an die gleiche Figur auf der
schönen Leistenkachel (Abb. 20); der Engel Raffael mit seiner langen Nase an
(1) Sachsenhäuser Kachelfund. Rückseite bezeichnet: Heinrich Ludwig Schäffer 1719,
(а) Walcher, Abb. 49—51. (3) Kunstgewerbeblatt III, 1888, S. 4 (K. Berling).
(4) Vgl. Wolff und Jung, а. а. О.
67
denselben auf der gleichen Kachel. Die Erzählung ist ausgezeichnet verdeutlicht
und psychologisch tief gefaßt. Vorzüglich sinc die jeder Szene beigegebenen und
im Mittel- und Hintergrunde erscheinenden Nebenszenen, die das Vor- oder Nach-
her schildern. Scharf und deutlich heben sich die in kleinen Figuren gegebenen
Geschehnisse von dem Grunde ab, ähnlich wie auf der Leistenkachel Raffael und
der Geist Asmodi (Abb. 21); nur die Silhouette, der Körper als mimischer Apparat
spricht. Meisterhaft die Raumausnutzung und die Handhabung der Gebäudekulissen?!).
Sehr ausgeprägt der ornamentale Teil; ein ganzes Gittersystem von Rollwerk,
durchgesteckt und aufgenagelt, ist da ausgespannt, in das Früchte, Musikinstrumente,
Vögel und Tiere aller Art, Engelsköpfchen und Putten mit hineinverwebt sind, wie
sie in gleichzeitigen Buchillustrationen (z. B. den Deorum dearumque capita des
Franciscus Sweertius, Antwerpen 1602) sich finden. Auch auf unseren Kacheln
kommt das Rollwerk in ähnlicher Weise vor (vgl. etwa Abb. 18). Eine urkundlich
genaue Datierung des Hauses ist bisher leider nicht möglich gewesen, so daß da-
nach nicht einmal die Frage beantwortet werden kann, ob Joh. Vest die Fertig-
stellung des Hauses noch erlebt hat. Sehr viel eher zeigen zwei weitere Stuck-
decken den Zusammenhang mit Vestschem Stile oder wenigstens seinen Nach-
klang; einmal die im Hause Kilbergasse 4, das 1898 abgebrochen worden ist.
Photographien danach zeigen allegorische Frauenfiguren lehnend und sitzend, die
Beine übereinander geschlagen, an einer Frucht riechend, eine Mandoline stimmend,
mit einem Spiegel; Putten mit einem Hahn auf der Hand usw. Das Figürliche
erinnert unmittelbar an Joh. Vest, weniger das Ornamentale, Die zweite Stuckdecke
befand sich in dem 1879 abgebrochenen Hause Schäfergasse 15. Erhaltene Photo-
graphien danach zeigen figtirliche Szenen (u. a. Esther vor Ahasver) mit weit aus-
greifenden Bewegungen vor Straßenprospekten mit großer Architektur. Ganz die
gleiche Art wird auf einer sehr großen Kachel mit Darstellung des „Tempus“ im
Germanischen Museum deutlich, die gewiß auf ein Mitglied der Familie Vest
zurückgeht. Allgemein Vestscher Charakter scheint mir hier unmittelbar sich aus-
zusprechen.
Sonst zeigt sich auf der Stuckdecke eine prachtvolle Herme, die in geschwungenes
Blattwerk übergeht; Vögel und Putten tummeln sich im Ornament.
In ornamentalem Zusammenhang mit solchen Stuckarbeiten mögen auch etwa
einzelne Modeln verschiedener Form stehen; u. a. friesartige mit einem weiblichen
Kopf als Mittelstiick, der deutlich Vestsche Prägung trägt, und ein in stark ge-
driicktem Korbbogen schließendes Stück mit einem ähnlichen weiblichen Kopf und
zwei Putten.
Ja, solche ornamentalen Teile aus gebranntem Ton scheinen unmittelbar bei Stuck-
decken verwendet worden zu sein.
Der genannte Nachfolger Vests, Chr. Steffan“), zeigt in den von ihm signierten
Wappen des Fürsteneckzimmers (s. oben S. 61) ähnliche Elemente, während die
Decke doch abweicht.
& Ф
ж
In Vorstehendem ist der Versuch gemacht, das Werk des Joh. Vest zu er-
weitern; das Fundament, auf dem sich die Untersuchung aufzubauen hatte, ist
(z) Wie ich erfahre, werden nächstens von anderer Seite zu einigen der Darstellungen Stiche als Vor-
lagen nachgewiesen werden.
(2) Mit der rätselhaften Inschrift auf den Tonplättchen des Caspar Vest im German. Museum (Josephi,
а. а. O., 8. 117— 18) wird man ihn kaum in Beziehung bringen können.
nicht breit, und mehrere aus einer Wurzel hervorgehende Momente bedrohen die
Sicherheit eines darauf aufgeführten Baues: das ist der handwerksmäßige Betrieb
dieser Kunst, der einmal die Möglichkeit bietet, Mittelstücke und Rahmen von ver-
schiedenem Charakter, von verschiedenen Künstlern, aus verschiedenen Zeiten
zusammenzukoppeln zu einer äußeren Einheit. Dazu kommt in unserem Falle das
gleichzeitige Wirken mehrerer Künstler nebeneinander, die schon durch eine ältere
Familientradition in gleichen Bahnen ihre Ausbildung und Entwicklung vollzogen
haben. Endlich ist zu berücksichtigen ein sehr gleichförmiger Zeitstil, in dem eine
Individualität sich vorerst selten schnell feststellen läßt, und das unmittelbare Be-
nutzen von Vorlagen für Komposition und Ornamentik, die sämtliche Elemente
schon enthalten können; in Buchschmuck, Stich und Ornamentstich liegt damals
schon ein ungeheurer Vorrat von weit verbreiteten Vorlagen bereit, der dann nur
für die Kachelsprache in Relief übertragen zu werden braucht. Freilich kann dies
in verschiedener Weise geschehen, und schon dabei kann ein größeres oder ge-
ringeres künstlerisches Vermögen sich zeigen. Immerhin wird ein endgültiges
Urteil über die künstlerische Leistung, zu der doch auch die Erfindung gehört,
erst möglich sein, wenn der Grad der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Vor-
lagen einwandfrei ermittelt sein wird. Dazu bedarf es längerer Untersuchungen,
die bei dem vielfachen Mangel an Vorarbeiten nicht leicht anzustellen sind. Und
ebenso müßte bezüglich des ersten Punktes das gesamte Kachel- und Ofenmaterial
dieser Zeit gründlich durchgearbeitet werden. Dann würde sich der Anteil der
Familie Vest an der Gesamtproduktion des Kunstgewerbes der Spätrenaissance bzw.
des Frühbarock feststellen und beurteilen lassen, und weiter die Frage noch näher
beantwortet werden können, welche Rolle jedem einzelnen Mitglied in diesem
Kreise zukommt. Insbesondere wird es nötig sein, die Arbeiten der beiden Brüder
Johannes und Georg näher voneinander zu sondern. Daß der Einfluß des um elf
Jahre älteren Bruders auf den jüngeren nicht gering gewesen sein wird, darf man
wohl ohne weiteres voraussetzen.
HEINRICH VON DER HOHENMUEL, HUGO
VOM THALE UND SEGER BOMBECK, WIR-
KER IM DIENSTE JOHANN FRIEDRICHS DES
GROSSMÜTIGEN / EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE
DER BILDTEPPICHMANUFAKTUREN TORGAU UND WEIMAR
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck Von H. GÖBEL
ur wenige deutsche Fürstenhäuser weisen im 16. Jahrhundert einen so außer-
N ordentlichen Reichtum an gewirkten Teppichen auf wie Kursachsen. Den
ersten Grundstock zu dem prunkvollen Bestand an Textilien legt Friedrich IIL, der
Weise. So führt bereits das Inventarverzeichnis von 1496 nachstehende „Tape-
zereien“ an:
L
т. ı guiden debich dorynnen der kayserlich maiestat mit dem kunig und frawen-
zimmer steht;
2. desgl.: heilige geist oben auf die Dreyfaltigkeit mit Bileam und auf beyden
seiten mit vier profeten;
3. desgl.: historia von Canticis des Königs vnd Königin mit ihren Dienern vnd
frawen Zimmer. Tota pulchra es am andern ort: Faciens Tua; (?)
4. desgl.: ein lustgarten mit mannen vnd frawen vnd sächsischer v. Churf. Wappen
rings umbher;
5. desgl.: ein mit eim turnier;
6. desgL: mit dem König Salomo m. funf feldern Jungfrawen mit der musica;
7. desgl.: die Krönung des Keysers vom Babst mit ihre Dienern. Goldfarb-
teppich wullen goldfarb darinnen der Kayser in seiner Kron, darnach ein
riesen vnd kunig streit;
8. desgl.: Olberg mit pfengniss Christi vnd Creutztragung mit der Veronica;
9. desgl.: Keyser auf seine stuel vnd zwo frawen chur Im mit vielen jungfrawen;
то. desgl.: Konigin;
тї. desgl.: als Imago Misael mit dem Kunig Nabuchadonosor;
12. desgl.: Kindbett einer Konigin.
Es handelt sich hierbei durchgängig um flämische Erzeugnisse. Der Kurfürst
erwirbt sie zumeist durch seinen rührigen Agenten Peter Bestolz; auch Johann
Munthein kauft in Antwerpen für seinen Fürsten und Herrn die prächtigsten gold-
durchwirkten Wandbehänge!). |
Insgesamt bezieht der Kurfürst in den Jahren von 1493—1500 für etwa 1000 Gulden
„Tapistrey“; hiervon entfallen allein 800 Gulden auf die Ankäufe der Jahre 1499
und 1500).
Die nächsten Jahrzehnte bringen kaum einen Zuwachs des kurfürstlichen Besitzes
an Textilien. Johann der Beständige, der 1525 seinem weltklugen Bruder folgt,
hat wenig Sinn für diesen prunkvollsten Zweig des Kunstgewerbes. Dagegen zeigt
sein Sohn und Nachfolger Johann Friedrich der Großmütige einen außerordentlich
(z) Cornelius Gurlitt, Die Kunst unter Kurfürst Friedrich dem Weisen. Archivalische Forschungen,
Heft U, Dresden 1897.
(э) Dr. R. Bruck, Friedrich der Weise als Förderer der Kunst. 1903.
70
starken Hang für Wirkereien in reichster und üppigster Ausführung. Es ist schwer
klarzustellen, wer die Liebe für diese farbenfrohe Kunst in das Gemüt des jungen
Fürsten pflanzte, eine Liebe, die sich in seinen späteren Lebensjahren fast zur
Leidenschaft auswächst. Selbst in den trübsten Tagen seines Lebens, noch wäh-
rend der Brüsseler Gefangenschaft, vergißt Johann Friedrich nie seine Tapetzereien.
Es berlihrt ganz eigen, mit welcher Hingebung der in allen Lebenshoffnungen ent-
täuschte Fürst sich fast um jeden einzelnen Bildteppich sorgt. Er achtet darauf,
daß sie ordnungsmäßig gereinigt, aufgehängt und ausgebessert werden; er sucht
bis zuletzt seine flämischen Tapetenwirker, selbst unter schweren geldlichen
Opfern an sich zu fesseln — allerdings umsonst.
Wahrscheinlich fand Johann Friedrich der Großmütige die ersten Anregungen,
in größerem Maßstabe den Wirkereibetrieb auf heimischem Boden aufzunehmen,
durch den kunstsinnigen Grafen Wilhelm von Neuenahr, einem jülischen Vasallen,
der in seinem Dienste stand. Zweifellos ist daneben der Einfluß des Hauses Jülich-
Cleve, das von jeher eine stark ausgeprägte Vorliebe für reiche Textilien besaß,
von wesentlicher Bedeutung gewesen.
. Bereits Anfang 1535 gelingt es dem Grafen in Flandern einen tüchtigen Meister
anzuwerben, der bereit ist, sich dauernd in Sachsen niederzulassen. Zunächst
schießt Wilhelm von Neuenahr die nötigen Geldmittel vor, um die Kosten für die
Wirkereistühle — getzeug genannt — und das Wollenmaterial, das Meister Hein-
rich nach Weimar mitbringt, zu begleichen. Außer diesem Betrag, der sich auf
54 Goldgulden beläuft, und 1535 dem Grafen zurlickvergütet wird’), erhält Meister
Heinrich eine Entschädigung für seine Zureisekosten. Trinitatis 1535 läßt der Kur-
fürst erstmalig ro Gulden Sold an „Heinrich tapistreimeister“ zur Auszahlung ge-
langen. Zunächst wird unser Meister dazu verwandt, die von Johann Friedrich
durch seinen Antwerpener Faktor Jakob Herrebrot in Flandern bereits 1531 in
Auftrag gegebenen reichen Wirkereien, nunmehr — 1536 — sicher über Eisenach
nach Torgau zu überführen. Es handelt sich um kostbare Teppiche, wenigstens
läßt die von dem Kurfürsten an Herrebrot angewiesene Summe von 619 Gulden
15 gr. darauf schließen. Der Wirker erhält hiervon den Betrag von 500 Gulden;
er wird in der Urkunde als Hans freydmer Gerspratz bezeichnet. Ein ähnlich
klingender Name ist in dieser Zeitspanne weder unter Brüsseler noch Antwerpener
Tapissiers zu finden. Man ist versucht, nicht an einen Wirker, sondern vielmehr
an einen Tapisseriemakler der Antwerpener Pant — unter denen sich auch Deutsche
befanden — zu denken, wenn nicht ein weiterer Beleg ausdrücklich von dem
„tapissereimeister vermoge desselben bekenntnus zu Antorff spricht.
Der Kurfürst läßt es nicht an eingehenden Anweisungen, die den Transport
seiner geliebten Tapezereien betreffen, fehlen. Unter dem 13. Januar 1536 schreibt
er dem Schultheißen zu Eisenach: „Wir haben unserm tapistreimeister Hainrichen
von der Hohenmuel, schreiben lassen mit bevel, uns etzlich verfertigten tapiste-
reien ane verziehen durch eigene fur hierauff zu bestellen und zuzeschikken und
dieselben fürder dir zu überantworten“?).
Der Beleg nennt uns zum ersten Male den vollen Namen des seit 1535 tätigen
Meisters Heinrich. Zweifellos ist Hohenmuel, Hohenmuhl, Haumuel — die Schreib-
weise wechselt in den Urkunden ständig — eine der üblichen Verstümmelungen
eines flämischen Namens. Wirkerfamilien, wie die Homela, van der Hameyde,
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Bd. 4395.
(2) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. Aa 2979, Bi. 2.
71
van der Mylen begegnen uns häufig in Brüssel, Oudenarde und den sonstigen
Wirkerzentren Flanderns.
Merkwiirdigerweise wird der endgültige Anstellungsvertrag Meister Heinrichs
erst am 19. Januar 1539 ausgestellt ).
Kurfürst Johann Friedrich und Herzog Johann Ernst verpflichten sich, nachdem
Heinrich von der Hohenmuel „ain zeitlang vor ainen tapistereimaister und silber-
knecht gedienet“, ihn in dieser Eigenschaft nun lebenslänglich anzustellen. Er ist
verpflichtet, den bisherigen Bestand an Wirkereien ordnungsmäßig zu verwalten,
außerdem auch auf Wunsch neue Teppiche „nach seinem besten verstand und ver-
mugen und zu dem getreulichsten und vleissigsten zu laisten“. Natürlich wird
jedes neu gefertigte Stück nach Aufmaß und besonderen Sätzen vergütet. Sofern
die Einstellung von Gesellen, d. h. weiterer flämischer Wirker, nötig ist, geschieht
dies auf fürstliche Kosten. Als Gehalt bezieht Meister Heinrich jährlich 40 Gulden,
ferner erhält er zwei Hofkleider und die üblichen Zuweisungen an Wein und Bier.
Dafür hat er außer auf die Tapetzereien auch auf das Silbergeschirr zu achten.
Das weitgehendste Entgegenkommen der fürstlichen Vertragsschließer liegt vor
allem darin, daß „Hainrichen von der Hohen Mulh das haus an der Elben (in
Torgau) gelegen, welchs er itzo gebraucht und innehat“ dergestalt verschrieben
wird, daß er Zeit seines Lebens die freie Verfügung hierüber besitzt. Nach seinem
Ableben steht es dem Kurfürsten frei, der Ehefrau das Haus zu überlassen, oder
diese mit 200 Gulden zu entschädigen. Meister Heinrichs Tätigkeit in Weimar
scheint sich nur auf einige Monate beschränkt zu haben, er siedelt dann nach
Torgau über, wo er in erster Linie an den reichen Teppichen für den Ausbau
des Schlosses Hartenfels tätig ist.
Ehe eine eingehendere Würdigung seiner Arbeiten stattfindet, dürfte ein kurzer
Hinweis auf die von ihm verwandten Rohmaterialien erforderlich sein. Die Rech-
nungsbelege des Weimarer Gesamtarchives geben einen fast lückenlosen AufschluB.
Zunächst versucht Meister Heinrich das nötige Gold-, Wollen- und Seidenmaterial
an Ort und Stelle, d. h. in Torgau, zu erwerben. Die Ware befriedigt ihn an-
scheinend nicht, es finden größere Ankäufe von Gold und Silber in Leipzig statt.
Es handelt sich um die üblichen dünnen, silbervergoldeten bzw. silbernen flachen
Drähte, mit denen der Seidenfaden umsponnen ist. Die Preise werden genau an-
geführt.
So zahlt unser Wirker 1537 auf dem Leipziger Michelsmarkt:
13 Gulden für ı Pfd. Silberfaden,
16 2 „ I „ dehemisch goldt,
13 РА „ I „ tuchgolodt,
21а 0 „ I „ untzengoldt,
2 »xort, I „ Seide.
1539 stellen sich die Preise auf:
11½ Gulden für 1 Pfd. gemein silber,
13 Е „ X „ Сеіп silber,
11!/, „ » І, gemein golt,
13 5 „ 1 „ tuchel golt,
16 = „ I „ super fein golt
5 i » I „ blau fenedische (venetianische) seiden.
(1) Kopialbuch F. 17 des Gesamtarchives Weimar, Bi. 252 ff.
72
Tafel 1
"N3DILAWIJOND SAC ночазіч- NNVHOL 315м31а WI YIHYIM
O, ỹ,HͤZ 43935 амо ITVHL WON оопн ‘TANWNAHOH чза мол HIISNI3H "13409 H :NZ
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12611 pa ya у м
ı Gulden für 4 Bund erffürdischen (erfurtischen) tzwirn (Zwirn). Als Lieferant
tritt der Leipziger Händler Ambrosius Igler auf. Machte der Ankauf der Gold-
und Silberfäden in Sachsen keine erheblichen Schwierigkeiten, so haperte es doch
bedenklich mit dem Erwerb des nötigen Seiden- und Wollenmaterials. Es bleibt
Heinrich von der Hohenmuel nichts übrig, als des öfteren seine alte Heimat auf-
zusuchen, um von dort die nötigen Rohstoffe mitzubringen. Er benutzte diese
Reisen — die erste fällt in die Zeit von Mitte August bis Ende Oktober 1538 —
zugleich, um neue Hilfskräfte anzuwerben und für seinen kurfürstlichen Herrn
flimische Wirkteppiche einzukaufen. Ende 1539 bricht Heinrich zum zweiten
Male nach Antwerpen auf. Diesmal belaufen sich die Ausgaben für „garn, seiden
golt und anders zu notturft der ќарізігеі“ einschließlich der Reisekosten auf nicht
weniger als 342 Gulden ı2 Groschen.
Wie schon erwähnt, ist der Aufenthalt Heinrichs von der Hohenmuel in Weimar
nur von kurzer Dauer. Er siedelt nach Torgau über und richtet dort anscheinend
zunächst seine Werkstatt in einem Raume des Schlosses Hartenfels ein. Sein
Gehalt wird in den ersten Jahren auf 20 Gulden mit den üblichen Nebenbezügen
festgesetzt. Nach Fertigstellung des auf Veranlassung des Kurfürsten für seinen
Betrieb erbauten Hauses an der Elbe bezieht Meister Heinrich seine endgültige
Arbeitsstelle. 1539 erfolgt die schon erwähnte Anstellung auf Lebenszeit.
Sind die Kammerrechnungen bei den Angaben über die Materialankäufe klar
und ausführlich, so läßt sich dies bei der Aufzählung der von Heinrich von der
Hohenmuel neu gefertigten Bildteppiche nicht immer behaupten. Wir finden zwar
die Ausgaben für die von ihm beschäftigten „knechte“ angeführt, dagegen leider
nur in seltenen Fällen eine genauere Benennung der betreffenden in Arbeit be-
findlichen Wirkereien.
Am 18. Oktober 1537 bezieht Meister Heinrich die erste Entlohnung in Höhe
von 52 Gulden 8 Groschen für „zwene cleine guidene tebicht“. Ein Jahr vergeht,
ehe eine weitere Anweisung erfolgt. Diesmal handelt es sich um zwei Tisch-
teppiche, die am то. Januar 1539 mit 32 Gulden 3 Groschen vergütet werden.
Der Grund liegt darin, daß Meister Heinrich mit der Fertigstellung einer größeren
Folge beschäftigt ist. Es handelt sich um die „Historie vom Propheten Jona“, die
aus drei Bildteppichen besteht. Die Vergütung beläuft sich auf 200 Gulden. Der
Kurfürst ist mit Hohenmuels Leistung besonders zufrieden und legt ihm то Gulden
„aus gnaden zu einer verehrung“ bei. Gold- und Silberfäden sind nicht verwandt.
Wir finden die Folge in dem Inventar von 1566 bei den Teppichen, die Herzog
Johann Wilhelm in der Teilung auf dem Grimmenstein zufallen, unter Nr. 26 der
Rubrik II, d. h. unter den Wirkereien ohne Metallfäden, aufgeführt. Auch über
den Entwerfer der Patronen erhalten wir genügenden Aufschluß. Der Rechnungs-
beleg Bb 4429 aus dem Jahre 1537/38 führt einen Betrag von 5 gr. an für „einen
bothen, der zu Wittenberg die visirunge geholt“. Eine entsprechende Durchsicht
der Cranachschen Arbeiten bringt einen etwa der gleichen Zeit angehörigen, aller-
dings undatierten Beleg: „3o fl. vor zehen fisirungen den tewichtmacher, der sein
neun gewest, so hat mein genedigster her das zehent in seiner genaden stuben
auf lasen schlagen“!). Darnach würde es sich bei der Jonasfolge um Bildteppiche
handeln, von denen jeder etwa drei verschiedene Szenen bringt, eine Anordnung
die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei flämischen Wirkereien durchaus
nicht selten ist. Gewöhnlich geschieht die Trennung der verschiedenen Darstel-
(x) Weimar, Gesamtarchiv Aa 2975.
73
lungen durch ornamentierte Säulen, die in reichem Farbenspiel das Gefüge des
Marmors wiedergeben.
Im gleichen Jahre erfolgt die Fertigstellung eines dritten Tischteppichs. Die
weiteren Belege der Kammerrechnungen bringen zwar ständig Ausgabeposten für
neue Arbeiten Heinrichs von der Hohenmuel, die einen recht beträchtlichen Um-
fang haben mußten, ohne jedoch nähere Benennungen zu geben. Erst die Durch-
sicht des Briefwechsels des Kurfürsten schafft Klarheit in die Materie. Johann
Friedrich der Großmiütige befindet sich nach der Niederlage bei Mühlberg und der
darauf folgenden Wittenberger Kapitulation als Gefangener in Brüssel. Auch dort
vergißt er nicht seine geliebten Tapetzereien und Meister Heinrich von der Hohen-
muel. Am 9. Juli 1545!) richtet der Fürst ein umfangreiches Schreiben an seinen
Sohn Johann Friedrich den Mittleren, in dem er ihn auffordert, dafür Sorge zu
tragen, daß Meister Heinrich die ordnungsmäßige Verschreibung des Hauses zu
Torgau erhalte, das ihm erblich zugesagt sei „zu der Zeit, wie er uns die tucher
der wilden menner gemacht“. Die Folge muß also zu Beginn des Jahres 1539
in Angriff genommen worden sein. Einen weiteren Aufschluß über die Art dieser
Wirkereien gibt uns das zweite Inventar von 1566, das die Teppiche anführt, die
bei der Grimmensteiner Teilung an Herzog Johann Friedrich den Mittleren fallen ).
Es heißt unter dem Titel Ш: „Brustdebich mit golde gewirkt“, Nr. 21 „9 debich
mit wilden mennern, seint mit schwarzer leinwat gefuttert“. Die Patronen
werden in Wittenberg gefertigt. Die Rechnungsbelege von 1540 weisen unter
anderem wieder den Botenlohn von 5 gr. auf, „die visir zu Wittenberg zu holen“.
Erst 1545 ist die gesamte Folge fertiggestellt. Meister Heinrich erhält die Rest-
zahlung in Höhe von 80 Gulden, nachdem ihm bereits 1544 verschiedene Beträge
mit insgesamt 171 Gulden 9 gr. angewiesen waren. Die Schlußquittung Hohen-
muels ist von besonderem Interesse, als sie uns unzweideutig den Ort, für den
die Folge bestimmt war, wie auch den Patronenmaler nennt: „80 gulden ап
70 Gulden groschen zu 24 gr. Heinrichen von der Hohenmule tebichmacher zu
endlicher und volliger bezalunge der tebicht, so er dem churfürsten zu Sachsen etc.
und burggrafen zu Magdeburgk meinem gnedigsten herrn in das neue gewelbte
gemach des großen torms (d. h. des Flaschenturmes des Schlosses Hartenfels in
Torgau) in aler massen und gestalt, wie ime der patron durch meister Lucasen
Ktranach zur visirung abgemallt und gemacht it. . . ).
Es handelt sich also unzweideutig um neun reich mit Gold und Silber durch-
wirkte Rückenlaken nach Lukas Cranachs Meisterhand. Ein Schüler kommt nicht
in Frage, da dies zweifellos in den Rechnungsbelegen vermerkt worden wäre, wie
es z. B. später bei Peter Roddelstedt aus Gotland geschieht. Möglicherweise ist
der gelegentlich der Herstellung der Jonasfolge angezogene Rechnungsbeleg der
Kranachschen Visierungen auf die vorliegenden Wilde-Männer-Wirkereien zu be-
ziehen. Die Kammerrechnungen der Jahre 1540 bis Ende 1549 bringen im übrigen
nur die üblichen Ausgaben für den Ankauf von Gold, Silber, Seide und Wolle, die
nunmehr stets aus Leipzig bezogen werden, die Anweisungen der Wirkerlöhne und
dergleichen mehr. Insgesamt beschäftigt Heinrich von der Hohenmuel im Jahre 1540
sieben Gesellen, von denen jeder außer den üblichen Zuweisungen jährlich etwa
12½ Gulden bezieht. 1741 ist die Gesellenzahl — nach dem ausgezahlten Lohn
(s) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. L, Fol. 269.
(2) Weimar. Gesamtarchiv, Reg. D 174b, ВІ. 29—32.
(3) Weimar, Gesamtarchiv, Bb 4591 (Ostermarkt 1545).
74
zu urteilen — fast verdoppelt. Eine wesentliche Rolle spielt in den Rechnungen
das „sanfte bier“, das recht häufig mit größeren Posten wiederkehrt.
Besonders bemerkenswert ist eine Zahlungsbestätigung Meister Hein-
richs vom 1. Mai 1546, insofern, als das in Papier aufgedruckte Siegel oben
die Buchstaben H V H, darunter in einem Schild seine Haus- und Wirker-
marke bringt.
Der Niederbruch Johann Friedrichs des Großmütigen legt Hohenmuel den Ge-
danken nahe, sich mit dem glücklicheren Moritz, dem nunmehrigen Kurfürsten,
baldmöglichst ins Einvernehmen zu setzen. Er wendet sich als weltkluger Mann
aber zunächst an den gefangenen Exkurfürsten mit der Bitte, ihm das Torgauer
Haus bedingungslos zu überschreiben. Johann Friedrich, in der Hoffnung, sich
seinen Tapezereimeister erhalten zu können, willigt ein und fertigt am 8. Juli 1549
eine neue lebenslängliche Bestallung aus. Zugleich übereignet er ihm „craft dis
brives“ das „uff unsern Costen“ zu Torgau erbaute Haus „zu seinem und der
seinen nutz und besten zu gebrauchen und domit als seinem erbeigen gut nach
seinem willen zugebaren und es auch zu verkaufen, von uns und meniglich dorin
ungehindert. . .).
Schon am nächsten Tage sendet er im gleichen Sinne das schon erwähnte
Schreiben an seinen Sohn Johann Friedrich den Mittleren. Die Hoffnung des ge-
fangenen Fürsten sollte sich nicht erfüllen. Wohl veräußert Heinrich von der
Hohenmuel das Haus, jedoch nicht zur Übersiedlung nach Weimar, sondern um
in die Dienste des Kurfürsten Moritz tiberzutreten. Ende 1549 oder Anfang 1550
arbeitet Meister Heinrich bereits für seinen neuen Herrn. Schwierigkeiten macht
vor allem die Platzfrage. Kurfürst Moritz befiehlt kurzerhand dem Dresdener Rat,
das alte Rathaus seinem „teppichtmacher Heinrich von der Hohenmoel“ als Woh-
nung und Werkstatt zur Verfügung zu stellen. Es setzen längere Verhandlungen
ein; schließlich gelingt es dem Rat, den Kurfürsten zur Rücknahme seines Befehles
zu bewegen, da das alte Rathaus unbedingt zur Abhaltung der Altendresdener
Gerichte und für andere dringende Zwecke gebraucht würde. Heinrich von der
Hohenmuel bleibt zunächst noch in Torgau; sein Übersiedeln nach Dresden scheint
erst zu Ende des Jahres 1551 erfolgt zu sein. Die weiteren Geschicke unseres
Meisters als Diener des Kurfürsten Moritz sind durch die Veröffentlichungen Für-
stenaus, Richters u. a. gentigend bekannt).
Die Hauptarbeit Hohenmuels ist die um 1550 in Auftrag gegebene, ursprünglich
in neun Bildteppichen vorgesehene Folge der „Teutzschen Schlachtordnung kegen
den Türcken“ 1553 sind bereits zwei Stück fertiggestellt; Meister Heinrich erhält
600 Gulden Vorschuß. Das Inventar von 1565 führt die fertige Folge mit ins-
gesamt 13 Teppichen an. Es handelt sich hierbei um die Verherrlichung der
Kriegstaten des Kurfürsten Moritz, die Kämpfe gegen die Türken in den Jahren
1542 und 1552. Seine alten Torgauer Gehilfen scheint Meister Heinrich mit nach
Dresden genommen zu haben. Einige von ihnen, so Hans Stichelmann aus Brußlaw
(Brüssel), Hans Schlotzs, gleichfalls aus Brüssel und Samson Faber von Enge
(Enghien) machen sich 1553 durch eine ausgiebige Prügelei wenig angenehm be-
merkbar und geraten mit dem Dresdener Stadtgericht in unliebsame Berührung.
Das Todesjahr Meister Heinrichs ist nicht einwandfrei festzustellen, es muß jedoch
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Rr 757, Bi. 2, L. Fol. 269.
(з) Sachsengrün 1861, S. 199 fl.: Fürstenau, Zur Geschichte der Tapetenwirkerei am Hofe zu Dresden.
Dresdener Geschichtsblätter 1893: Über die altniederländischen Bildteppiche in der kel, Gemäldegalerie
von Dr. O. Richter.
75
vor 1563 liegen, da in den Ratsakten (A. IX. 18 c., Bl. 98 und 1136) nur noch seine
Witwe erwähnt wird. Sie scheint die Manufaktur nicht weitergeführt zu haben.
Jedenfalls findet sich 1569 kein Teppichwirker mehr in der Liste der Handwerks-
meister.
Heinrich von der Hohenmuel war in seiner Technik ein Basselissier, d. h. er
wirkte am flachstehenden Stuhl, im Gegensatz zum Hautelissier, dessen Arbeitsfeld
das hochstehende oder hochlitzige Gezeug ist. Den klaren Beweis hierfür gibt
uns der Schriftwechsel der Kurfürstin Anna mit ihrer Mutter Dorothea, der Königin
von Dänemark, die viel von der berühmten Folge des Türkenzuges gehört hat und
nun gern von den Patronen, die noch in Dresden vorhanden sind, eine Wieder-
holung wünscht. Die Briefe beginnen November 1563. Kurfürstin Anna bemüht
sich, die noch vorhandenen Kartons wieder zusammenstellen zu lassen. Das Er-
gebnis ist unbefriedigend. Die Patronen sind durch das streifenartige Zerschneiden,
das die Basselissetechnik bedingt und die wenig sorgsame Behandlung auf den
Stühlen so mitgenommen, daß etwa der dritte Teil der ganzen Folge fehlt. Ein
Zusammensetzen, bzw. stellenweise völlig neues Ausmalen verursacht hohe Kosten.
Kurfürstin Anna schließt unter dem 8. März 1564: „Nun will sich nicht wohl
schicken, wenn man den mangel gleich ersetzen wollte, da an einem stück etz-
lichen rollen new gemelde die andern alt seien solten, do man auch darnach
würcken solte, wurde es einen grossen mißstand vnd vngleichheit der Farben
geben. Sollte ich dann die Teppiche von newen Contrafacten lassen So muste
ich mit 200 thalern nicht auszurichten vnd muste demnach zuuorn berichtet sein
ob E. G. das gemelde auff Leinwant oder Pappier wolten gemahlet haben, dann
do E. G. einen Patron dauon nehmen vnd andere teppiche danach wirken lassen
wolten mußte es auff papier rollen weise und links gemachet werden, damit es
die Teppichmacher Irer arth nach stückweise vnter das gezeu legen kennen
Kurfürstin Anna besitzt recht gründliche Erfahrungen in der edien Kunst der Wir-
kerei. Sie kennt das Basselisseverfahren, das durch seine Technik Patronen be-
dingt, die als Spiegelbild („links gemachet“) gemalt sein müssen, um im Wirk-
teppich im richtigen Sinne zu erscheinen. Sie weiß, daß die Kartons, in lange,
schmale Streifen zerschnitten, unter den Kettfäden des tiefstehenden Stuhles, den
die fürstliche Dame „ Gezeu“ nennt, angebracht werden. Die Angaben in ihrem
Schlußschreiben sind so treffend, daß über das Wirkverfahren Meister Heinrichs
kein Zweifel sein kann.
Nach Hohenmuels Ausscheiden knüpft Johann Friedrich der Großmütige sofort
eifrig Verhandlungen zwecks Einstellung eines neuen Tapezereimeisters an. Es
handelt sich diesmal um einen seines Glaubens halber aus den Niederlanden aus-
gewanderten Flämen, Hugo von dem Thale. Unter dem 15. September schreibt
der Exkurfürst aus Augsburg an Johann Friedrich den Mittleren i): „Veterliche
liebe und treue alzeit zuvorn, hochgeborner Furst, freundlicher lieber Son, Wir
wissen D. L. freundlicher meinung nicht zu bergen, das wir zu Brussel in Braband
und alhir zu Augsburg zum andern malh von einem Tapezereimeister Hugo von
dem Thale undertheniglich angelangt und gebeten worden, weil er bey unser Re-
gierung uns an unser Tapezerey zu Torgau gearbeit und sonderlichen underthenigen
willen und lust hette under uns, D. L. und ire bruder sich wesentlich nider zu
thun .... Das Schreiben wird ergänzt durch einen Brief vom 25. Oktober 1550,
in dem der ehemalige Kurfürst nochmals eingehend auf die in Aussicht genom-
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. L, Fol. 367.
76
menen Anstellungsbedingungen seines neuen Tapistreimeisters eingeht, der ja
bereits genaue Kenntnis davon habe, „das eine große und stattliche tapezerey vor-
handen, den er ist zu der Zeit ein ganzes oder halbes Jar als unser meister Hein-
rich die neue Tapezerey gemacht, zu Torgau gewest und im helfen arbeiten und
die alten Tapezereyen ausklopfen“. Johann Friedrich bietet ihm nach längeren,
nicht uninteressanten Verhandlungen außer einer jährlichen Besoldung von fünf-
zehn Gulden, noch 7 Groschen wöchentliches Kostgeld, jährlich also weitere
17 Gulden 7 Groschen, so daß sich seine Gesamtbesoldung auf 32 Gulden 7 Groschen
beläuft. Außerdem soll er einen Malter Korn und die für seinen Beruf nötigen
Werkzeuge, wie Wirkstühle und dergleichen erhalten. „Hugo von dem talhe“
Spricht in einem längeren, undatierten Schreiben an Johann Friedrich den Älteren
seinen Dank aus, aus dem jedoch leise eine gewisse Unzufriedenheit mit der vor-
gesehenen Besoldung spricht, die nicht die seines Vorgängers erreicht. Er erklärt
in Weimar demnächst seine Tätigkeit aufnehmen zu wollen, zuvor müsse er aber
Weib und Kind aus der alten Heimat nachkommen lassen, für deren Herreise er
wohl noch ein Beträchtliches werde zuzahlen müssen. „Über das stehet mein
fürnehmen weiter dahin, das ich, wo es die landart geben und leiden wolt, die
Kunst mit der Tapezerey in diesen Landen vor die Handt zu nehmen, anzurichten
und zu pflanzen, welchs Deutzschland uf den valh nit allein ein ruhm und ehr
sunder auch ein nutz und herlichkeit sein wurde, ...... “ schreibt unser neuer
Meister. Er schlägt hier seinem fürstlichen Herrn einen Weg vor, der in Italien
und Frankreich im 16. Jahrhundert recht häufig beschritten wurde und vielfach
den Grundstock zu größeren Manufakturen legte. Tatsächlich kommt es Meister
Hugo aber weniger auf ideale Zwecke an, er will „sein auskommen umb und an
haben und nit noth leiden“.
Am Sonnabend nach Galli 1550 schreibt Johann Friedrich der Mittlere seinem
Vater, daß der Tapezereimeister vor etlichen Tagen angekommen sei. Man habe
ihn in sein Amt einführen wollen, er habe sich aber geweigert, da seine Frau
noch nicht aus Flandern eingetroffen, und er keine entsprechende Wohnung und
Werkstatt finden könne, Immerhin habe er die „große und statliche tapezerey“
des Herzogs schon auf den Zustand ihrer Erhaltung hin geprüft. Endlich langt
die Familie Meister Hugos an und bringt neue Schwierigkeiten mit sich. Man
habe in Flandern die Mitgabe des aus den Verkäufen (Haus usw.) erlösten Geldes
verweigert, von dem Thale solle sich bei Verlust aller Habe mit seiner Person!)
in der Heimat stellen. Am 27. Oktober 1550 antwortet Johann Friedrich d. Ältere
auf diese wenig erfreulichen Mitteilungen. Er hält die Rückkehr Meister Hugos
nach Brabant, trotz der Nachricht, die auch ihm aus Antwerpen hinsichtlich Ein-
stellung der Inquisition geworden ist, für recht gewagt. „Weil man dan ime das
zuvorn der Religon halber im Niederland, wie er selbst bekent, in verdacht gehabt,
so wil ime wol zu bedencken sein, wissen auch nicht, ob es ime zu thun und zu
raten sey, das er sich uf solche plosse anzeige, danidden stelle. Sintemal man
geschwinde mit den Leuten, die ime bekennen, handelt.“
Weitere Nachrichten über Hugo vom Thale liegen nicht vor; aller Wahrschein-
lichkeit nach schlug er den Rat des Kurfürsten in den Wind und kehrte, um sein
Hab und Gut zu retten, nach Brabant zurück. Der ganze Briefwechsel Meister
Hugos zeigt deutlich, wie sehr es ihm darum zu tun ist, wieder in seine Heimat
zu gelangen. Ihn, den „fremden und armen gesellen“, wie er sich selbst nennt,
(1) Weimar, Gesamtarchiv L, Fol. 367.
77
hielt nichts in Deutschland. Von Interesse ist die Mitteilung aus Antwerpen in-
sofern, als sie darauf schließen läßt, daß von dem Thale aus dieser Stadt gebtirtig,
zum mindesten dort ansässig war. Es handelt sich hier um eine besondere Ver-
fügung des Bürgermeisters von Antwerpen, der das am 35. September 1550 von
Kaiser Karl V. erlassene Plakat über die Ausübung der Inquisition — es befreit
die ausländischen Kaufleute von dem Nachweis ihrer Rechtgläubigkeit und spricht
nicht mehr von Ketzerrichtern, sondern von geistlichen Richtern — lediglich unter
dem Vorbehalt der städtischen Privilegien, Freiheiten, Satzungen und Gewohnheits-
rechte anerkennt'). Keine andere flämische Stadt tritt in dieser scharfen Weise
dem Edikt entgegen. Hugo von dem Thale scheint sich auf die Erhaltung der
Antwerpener Freiheit verlassen zu haben. Der Erfolg gab ihm für kurze Zeit tat-
sächlich recht. Der bald darauf ausbrechende Krieg mit Frankreich hinderte Karl V.
längere Zeit an der strengen Durchführung seines Erlasses. Die Wirkerfamilie
van Dale ist in Antwerpen mehrere Generationen hindurch ansässig").
Bis Ende 1552 sind die Verhandlungen Johann Friedrichs des Großmütigen, einen
neuen Wirker zu gewinnen, von geringem Erfolg begleitet. Erst am 20. November
des gleichen Jahres bewirbt sich Seger Bombeck um die noch freie Stelle. Die
Lebensschicksale unseres Wirkers sind, soweit sie seine Tätigkeit in Leipzig be-
treffen, durch die Aufsätze von Wustmann, Gurlitt, Kurzwelly u. a. gentigend bekannt.
Seger Bombeck ist Flime; die Annahme Kurzwellys, er sei Niederdeutscher,
trifft nach der ganzen Art seiner Technik nicht zu. Bombeck gehört anscheinend
bereits zu Beginn der vierziger Jahre der Torgauer Wirkerkolonie an. Am 25. Mai
1543 läßt ihm — „Seger Bombach“ — Johann Friedrich der Großmütige 20 Gulden
18 Guldengroschen „für ein conterfei des herzogen von Gulichs etc. mit golt und
silber gewirket“ anweisen*). Auch die Quittung über den empfangenen Betrag ist
noch vorhanden‘). jedenfalls war Bombeck damals in Torgau anwesend. Wann
und weshalb Meister Seger nach Leipzig tibersiedelt, ist zunächst noch unbekannt.
Am 12. September 1545 gewährt ihm der Leipziger Rat ein Darlehn von 200 Gul-
den, 1546 erhält er vorschußweise einen weiteren Betrag von 4 Schock 48 Groschen
Seine Abzahlungen sind langsam und unregelmäßig. Er sucht sich zu helfen, in-
dem er dem hohen Rate seine Erzeugnisse anbietet, bzw. seine Teppiche zu Fest-
lichkeiten ausleiht und aufhängt; ein Geschäftsgebahren, das wir z. B. auch bei
dem Frankenthaler Wirker Moritz de Carmes u. a. finden’). September 1547
begeht Dr. Badehorn feierlich seine Hochzeit im Rathaussaal. Bombeck hängt bei
dieser Gelegenheit den Teppich mit dem Brustbilde Kaiser Karls auf und erhält
hierfür 48 Groschen. 1551 liefert er dem Rate eine gewirkte Tischdecke „dorinne
des churfürsten zu Sachsen grosswappen und des rats wappen in vier ecken ge-
wirket“; ferner eine nicht näher benannte Wirkerei. Kurze Zeit hiernach über-
reicht Meister Seger dem Rate den bekannten Teppich, „dorinne die figur Christi
und zwei meherwunder umb 13 schock 20 gr;“ er arbeitet außerdem ein Wappen
für 36 Groschen. Immerhin beläuft sich 1551 Bombecks Schuld noch auf 50 Gulden.
(х) Piot, Chroniques de Brabant et de Flandre, р. 129. Henri Pirenne, Geschichte Belgiens, Bd. Ш,
Seite 447.
(2) Notariateakte Van den Bosch 1587. Fernand Donnet, Documents pour servir à l'histoire des
ateliers de tapisserie etc. Bruxelles 1898, p. 69.
(3) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. Bb 4541.
(4) Weimar, Gesamtarchiv, Aa 2978, ВІ. 11.
(s) H. Göbel: Jakob und Moritz de Carmes, Frankenthaler Wirker im Dienste des Herzogs Christoph
von Württemberg in Monatshefte für Kunstwissenschaft 1919.
78
Sie wird schließlich durch eine nicht näher benannte Wirkerei, für die er 20 Schock
erhält, auf 34 Schock 59 Groschen 6 Pfennig herabgemindert. Meister Seger
scheint in Leipzig, trotz allem Entgegenkommen der Behörden, auf keinen grünen
Zweig gekommen zu sein. Oktober 1552 verläßt er die Stadt und gibt das ihm
vom Rate zur Verfügung gestellte Haus auf dem Grundstücke des ehemaligen
Barfüßerklosters wieder auf.
Meister Seger bietet in Weimar zunächst dem ehemaligen Kurfürsten zwei
Wirkteppiche im Werte von 130 Talern zum Kaufe an. Die Verhandlungen sind
endlos. Bombeck schreibt nach langem Warten beweglich „Nun steht solchs
alles in stillschweigen und wirt des handels weiter nicht gedacht, und bin gleich-
wol ich armer man alhie vier wochen gelegen und kan kein endlichen bescheide
erlangen, und ist mir armen man schwer so lange Zeit alhie zu liegen, zu ver-
zehren und nichts ausrichten“!). Zugleich sucht Seger mit Johann Friedrich dem
Großmtitigen hinsichtlich der freien Tapezereimeisterstelle zu einem Abkommen
zu gelangen. Als Forderung stellt er die Gewährung einer jährlichen Besoldung
von 50 Gulden, sowie die Hergabe zweier Hofkleider. Die Verhandlungen führen
wenigstens hinsichtlich seiner Anstellung zum Abschluß. Am 23. November 1552
wird „Sigmund Benedich (i) tapezereimacher“, die Urkunde seiner Einstellung zu-
nächst auf zwei Jahre; beginnend ab т. Januar 1553 ausgehändigt. Er erhält
42 Gulden Jahresgehalt sowie ein Sommerkleid. Die Beschaffung von Wohn-
und Werkräumen ist Sache des Meisters. Er hat die herzogliche Tapetzerei zu
beaufsichtigen, auszuklopfen, bei Bedarf aufzuhängen und etwaige Schäden aus-
zubessern. Alles hierzu nötige Material liefert ihm sein fürstlicher Brotherr, der
ihm für derartige Arbeiten auch jedesmal einen geeigneten Raum im Schlosse zur
Verfügung stellt. Der Vertrag ist beiderseits vierteljährlich vor Ablauf des End-
termins kündbar. Der Schlußsatz besagt, daß Bombeck seine Familie zunächst
noch nicht kommen lassen darf, „dieweil es dieser zeit der sterbensseuch halben
zu Leipzig etwas gefehrlich“.
Das Ableben Johann Friedrich des Großmütigen ändert nichts an dem abgeschlos-
senen Vertragsverhiltnis, Unter dem 25. November 1554?) verlängert Johann
Friedrich der Mittlere den von seinem Vater abgeschlossenen Vertrag um weitere
zwei Jahre, also bis zum 31. Dezember 1556. Die alten Abmachungen bleiben be-
stehen; der neue Herzog gewährt als Zulage noch ein „Weimarisch malder Korn“.
Inzwischen hören Meister Segers Beziehungen zu Leipzig durchaus nicht auf. Bei
seinem Fortzug aus der alten Pleißestadt hat sich Bombeck verpflichtet, seine noch
rückständige Schuld ratenweise zu tilgen und zwar zu Michaelis 1553 mit ro Gul-
den, zu Neujahr 1554 geichfalls mit 10 Gulden; der Rest von 80 Gulden 6 Pfg.
ist zu Pfingsten 1554 fällig. Bombeck beeilt sich nicht gerade mit der Erledigung
seiner geldlichen Verpflichtungen; noch 1554 zeigt sich der Gesamtbetrag in der
Leipziger Stadtrechnung. Erst am 26. August 1557 finden wir eine Ausgabe-
anweisung an Meister Seger über 200 Taler (228 Gulden 12 gr.) für einen Teppich,
wahrscheinlich das bekannte Salomonisurteil. Die alte Schuld muß also inzwischen
getilgt sein. Zunächst erstrecken sich die Arbeiten Meister Segers in Weimar auf
Reparaturen; 1556 beginnt er mit der Herstellung verschiedener Wappenteppiche.
Die erforderlichen Gold- und Seidenfäden kauft er bei dem Leipziger Händler
Trautmann. Im gleichen Jahre schießt der Herzog ihm 5o Gulden „zu erkeufung
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Rr 108.
(2) Weimar, Gesamtarchiv, Rr 148.
79
eines hauses vor. 1557 beginnt Meister Bombeck mit der Herstellung einer
reichen Wirkerei, „Darein er meinen gnedigen fursten und hern hern Johans
Friedrich den mitlern und seiner fürstlichen gnaden gemaln conterfei gewirkt hat“.
Er erhält für die Arbeit den hohen Betrag von 200 Gulden. Auch der Patronen-
maler dieses Teppichs ist genannt. In der zugehörigen Ausgabeanweisung vom
Jahre 1558/59 (Bb 4839) werden 11 Gulden 9 gr. erwähnt, die „meister Peter der
maler für die visierung, darnach dieser debich (das Konterfei des fürstlichen Paares)
gemacht“ zustehen. Der Betrag wird an Seger Bombeck vergütet, der ihn wiederum
an Meister Peter abführt. Über die Person des Malers herrscht keine Unklarheit.
Es ist der Kranachschüler Peter Roddelstedt aus Gotland, dessen Tätigkeit in
Weimar als Hofmaler und Kupferstecher von etwa 1548—1572 festzustellen ist.
Sein Anstellungsvertrag ist unter dem 25.6.1553 ausgefertigt. Hierin wird ein
Jahresgehalt von 20 Gulden, daneben ein wöchentliches Kostgeld von ıo Groschen
sowie die Gewährung eines Sommerkleides festgesetzt. Es finden sich verschie-
dene Rechnungsbelege, aus denen hervorgeht, daß Peter Gottlandt in erster Linie
„contrafacte“ malte, daneben auch häufig Fahnen ausstaffierte — 1547 allein
21 Stück —, Wappenentwiirfe zeichnet und dergleichen mehr. Zweifellos ent-
wickelte Meister Peter als Patronenmaler eine umfangreiche Tätigkeit, wenigstens
ist er der einzige Kranachschüler, bei dem derartige Arbeiten einwandfrei nach-
zuweisen sind.
Die Versuche, den Fürstenmaler Hans Krell mit den Entwürfen zu den Hohen-
muelschen oder Bombeckschen Teppichen in unmittelbare Verbindung zu bringen,
haben wenigstens bisher keine archivalische Bestätigung gefunden. Auch ein Beleg
vom 30. Januar 1538, nach dem „Hans Krell maler von Leiptzig“ für „2 gemalte
tücher“ 20 Gulden erhält, läßt sich nicht in diesem Sinne deuten. Das Gleiche
gilt von dem Weimarer Hofmaler Veit Thieme.
Die letztmalige Auszahlung des Seger Bombeck zustehenden Dienstgeldes erfolgt
am Lucientag, also Ende 1559. Ob der Meister verzogen oder verstorben, läßt
sich nicht feststellen. Mit Seger Bombeck schließt die Reihe der Bildteppich-
wirker im Dienste Johann Friedrich des Großmütigen und seines Sohnes. Den
Ausgangspunkt bildet die Torgauer Manufaktur, deren Werkstättenbetrieb bei
weitem den des Seger Bombeck übertrifft. Meister Heinrich von der Hohenmuel
arbeitet nicht nur für seinen fürstlichen Herrn, sondern auch für auswärtige Höfe,
was sich z. B. aus den pommerschen Inventaren ohne weiteres feststellen läßt.
Hugo vom Thale, Seger Bombeck und aller Wahrscheinlichkeit nach auch der
Leipziger Wirker Egidius Wagner sowie der Stettiner Peter Heymann entstammen
dieser Manufaktur.
Um eine einigermaßen einwandfreie Klarstellung der Arbeiten der Torgauer und
Weimarer Meister zu erreichen, ist die Gegenüberstellung der einschlägigen Inventar-
verzeichnisse unbedingt erforderlich.
Von Bedeutung ist zunächst das allerdings nicht vollständige Verzeichnis von
1547"), dessen Titel IV, У und VI die gewirkten Teppiche bringen. Um einen
klaren Vergleich zu ermöglichen, sei das Inventar von 1547 als II bezeichnet.
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(1) Weimar, Gesamtarchiv, D 162, Bi. 4—7.
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Tafel 18
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II.
III. Tischdebich.
15. 1 gulden tischdebich schwarz gemostiert.
16. 1 gewirkten Debich mit gulden blumen, an den seiten mit rotem samt gefaßt.
2 *
Ф
У. Gewirkte guldene debich.
31. ї gulden tuch, darinnen ein lustgarte mit man und frauenbildern.
32. 4 guldene Wittembergische tucher, darinnen der ganze passion.
33. x gulden Wittembergisch tuch, darinnen stehet Maria, die wermet das Kindlen.
34. ı gulden tuch mit dem abentmal Christi.
35. 1 guiden tuch, darinnen ein cramerei und schon bilwergk.
36. x gulden tuch, darinnen stehet der engelische grus und auf den seiten vier
propheten.
37. ı gulden tuch mit den heiligen drei konigen.
38. 1 gulden tuch mit dem Konig Salomon in funf felden.
39. 1 gulden tuch, darinnen steet die historien Excanticis; tota pulchra est.
40. ı gulden tuch, darinnen die kaiserliche majestet.
41. 1 gulden tuch, darinnen cront der babst den keiser.
* *
**
VI. Gewirkte debich one golt.
goltfarben debich, darinnen steet „Abdonago misael“.
debich, darinnen steet „Sonat regis somnum Daniel“.
debich, in der mitte reit ein kurisser und leigt der keiser im bethe.
debich mit dem ohlberge und gefenknus Christi.
debich, darinnen steet Maria mit irem kindlen.
debich, darinnen ein kaiser mit einer liligen.
debich mit einem Konige und riessen streit.
debich, darinnen ein thiergarte.
debich mit dem leiden cristi, Maria und Johannes.
debich mit dem Keiser, sitzen fur in zwei weiber.
debich, darinnen die gottin Ceres etc.
hieruber:
53. zwulf alte gewirkte debich von mancherlei farben und figurn.
54. sechzehen gewirkte banktucher von allerlei farben, bose und guet.
Von den Teppichen des Inventars I von 1496 entsprechen:
Ir —IIgo; 12—036; I3—1139;
14—131; I5— fehlt; 16—П 38;
17—141; 18— I 4s; 19—151;
110-52; Irr—I142; 112 — fehlt.
Die übrigen in dem Inventare ange führten Wirkereien stammen mit Ausnahme
der alten unter Nr. 53—55 erwähnten Teppiche und der Nr. 16 aus den Ankäufen
der Bestolz, Munthein und Herrebrot. Ferner kommen die Erwerbungen von dem
Brüsseler Wirker Johann de Luy und anscheinend auch Teile der sogenannten
„tapistrei des Schlüsselseiders“ hinzu, die Johann Friedrich der Großmütige 1538
mit dem Landgrafen Philipp zu Hessen verrechnet. Von den Torgauer Arbeiten
finden wir nur einen Tischteppich erwähnt. Die übrigen Arbeiten, wie die Ge-
schichte des Jonas und andere, fehlen aus dem einfachen Grunde, weil sie sich zur
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Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1931. 6 81
Zeit nicht in Weimar, sondern im Schloß Hartenfels befinden. Ein etwas klareres
Bild gibt uns das als III bezeichnete Inventar vom 22. März 1549. Auch hier
seien nur die gewirkten Teppiche aus dem eigentlichen Besitz des Kurfürsten an-
geführt, trotzdem die reichen Stickereien und Wirkereien der „magdeburgischen
Tapezerei“ den meisten Raum — Abteilung I — beanspruchen. Die Art der Über-
nahme des reichen Textilienschatzes aus dem Besitze des Kardinals Albrecht von
Brandenburg durch den sächsischen Kurfürsten ist nicht ohne Interesse. Die magde-
burgischen Wirkereien und Stickereien sind Johann Friedrich dem Großmütigen
als Pfand und Sicherheit gegen Herleihung von 10000 Gulden überwiesen worden.
Der Kirchenfürst ist säumig mit der Zurückerstattung. Johann Friedrich läßt die
Textilien nach den Schlössern Wartburg und Leuchtenburg bringen und dort kurzer-
hand die Wappen des bisherigen Besitzers herausschneiden. Es entsteht ein
längerer Prozeß; Kurfürst Friedrich beauftragt 1550 den gelehrten Dr. Gregorius
Brück mit gepfefferten Gutachten gegen die „Pfaffen“ ). Der Schriftwechsel be-
leuchtet scharf, den ganzen etwas seltsamen Handel. Eine eingehende Würdigung
dürfte in dem Rahmen des vorliegenden Aufsatzes jedoch zu weit führen. Es sei
nur kurz erwähnt, daß die Wirkereien der magdeburgischen Tapezerei sämtlich
flämischer, zumeist Brüsseler Herkunft sind. Sie wurden von Kardinal Albrechts
Günstling Hans Schenitz in den Jahren 1528 und später eingekauft. Dem Makler
bringt der Handel kein Glück. Es erfolgt gegen Schenitz die Anklage, seinen
Herrn bei dem Tapisseriekauf betrogen zu haben. Kardinal Albrecht läßt seinen
ehemaligen Günstling einkerkern und heimlich richten; ein Vorgehen, das ihm die
bekannte scharfe Fehde Luthers zuzieht.
Das Endergebnis des Prozesses zwischen Johann Friedrich und Magdeburg ist
ziemlich verwickelter Natur. Die meisten Stickereien und ein kleiner Teil der
Wirkteppiche gehen an das Erzbistum zurück.
An Bildteppichen aus dem eigentlichen Besitze Johann Friedrichs, also unter
Ausschaltung der magdeburgischen Tapezerei, verzeichnet das Inventar vom 22. März
1549 nachstehende Stücke:
DL
П. Inventarium über die tapecerei.
1. 4 tepicht, dorunter golt, mit der passion, und ist ein itzlicher mit gruner leimet
gefuttert.
2. 1 gewirkter tepicht, dorunter auch golt mit einem ganzen tornir.
3 ı gewirkter tepicht, dorunter golt, mit der historia „Ecce, virgo concipiet“.
4. І gewirkter tepicht, hat auch golt, dorinne stehet der keiser.
5. I tepicht, dorunter golt, mit dem konig Salomon in funf feldern.
6. x tepicht, dorunter golt, und darinne der babst und keiser.
7. ı tepicht, dorunter golt gewirket, mit einem lustgarten.
8. 1 tepicht mit golde, darinnen stehet die historia ex canticis der Konig und
Konigin mit iren diener und fraunziemer.
9. х tepicht, hat auch golt, mit den heiligen drei Konigen.
10. x tepicht, dorinnen golt, mit der historia „tota pulchra es amica mea".
її. 1 tepicht, dorinnen golt, mit dem abentmal Christi.
ta. 1 tepicht, hat auch golt, dorinnen stehet mein gnedigster Her und doctor Bruck.
13. ı tepicht mit golde, dorinne stehet mein gnedigster her und die Konigin in
Engeland.
(1) Weimar, Reg. K, pag. 436 VV. Nr. 19,1.
82
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
27.
28.
52.
е
ba
D
м pa ba pa bd 64 м м 04
т tepicht mit golde, darinnen die historia „lasset zu mir kommen die Kindelein“.
т tepicht mit golde, darinnen steht „nu freuet euch lieben christen gemein“.
ї tepicht mit golde, darinnen stehet S. Christoff.
т tepicht mit golde, darinnen stehet die historia Johannis in der wusten.
ı tepicht mit golde, darinnen Joseph von Armetei mit dem hern Christo, do er
in wolte ins grab legen.
ı tepicht mit golde, dorinnen stehen zwu sirenen mit flugel.
I klein tepicht mit golde, dorinnen der Herzog von Gulich.
13 kleine brustteppicht mit golde und gruner leimet gefuttert.
9 brusttepicht mit golde und schwarzer leimet gefuttert.
18 brusttepicht mit golde, die leisten oben mit weiser leimet gefuttert.
3 gewirkte uberzuge uber pulster mit golde und roten parchem gefuttert.
ı gewirkter tepicht mit gulden und seidenen leisten.
Summa der tepicht, so golt haben, seind 67.
8 gewirkte brusttepicht.
т gewirkter himel mit gruner leimet gefuttert.
ı großer gewirkter tepicht, darinnen der Daniel mit seinen gesellen, die ab-
goter anbeten.
. I tepicht, dorinnen der Daniel dem Konig den draum ausleget.
. I tepicht mit der gottin Ceres.
ı alter tepicht, darinnen der Konig mit dem draum vom baum, der ab-
gehauen war.
alter tepicht mit einer jagt.
tepicht, darinnen einer in einem Kuris reit.
tepicht, darinnen etzliche uffm wasser stechen.
tepicht, darinnen ein Konig mit einem grauen bart.
tepicht mit dem olberge.
tepicht, darinnen die historia vom Konig, der seinem sohne hochzeit machte.
tepicht mit einem risenkampf.
kleiner tepicht mit einem crucifix.
goltfarber tepicht, darinnen ein Konig mit seinem hofgesinde.
tepicht, darinnen die Maria mit dem Kindelein. |
. т alter tepicht, darinnen der konig unsinnig hin und wider uffm felde leufet.
. 5 cleine grobe tepicht, darinnen allerlei angesichter.
9 grune tepicht mit einem tiergarten.
т geler tepicht, darinnen der Konig einem weibe das zepter ufs heupt leget.
. т alter grober teppicht mit bildern.
. 13 alte gemeine grobe tepicht.
т tischtebicht, darinnen meins gnedigsten hern wapen mit golde.
19 neue gewirkte tischtepicht.
2 weise tebicht mit dolbn golt blumen.
13 grobe gemeine banktepicht von allerlei farben.
39 grune brustteppicht.
53. 6 grune bankdebichte.
54.
55-
56.
57-
58.
3 lange Rodiser tepicht, darunter gar ein neuer.
4 kleine Rodiser tepicht.
ı langer neuer tischtebicht, mit weiser leimet gefuttert.
ız rote schlechte gewirkte tischdebicht.
11 gewirkte fuestepicht, dorunter drei lange.
83
59. 4 alte bose Rodischer debicht.
бо. 12 alte betdecken. :
61. 2 tepicht mit der historia Jone.
62. ı weiser schwebisch, darinnen der fursten von Sachsen wappen.
Summa der tepicht, so kein golt haben, se nd: 183.
Nota:
„Zwene tebicht vermuge des alten registers mangeln, nemblich der eine mit der
kremerei und der ander mit der historia Jone.“
Wir finden unter 2 den іп Іс erwähnten „debich mit ein turnier“ wieder, der
aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem bekannten Turnierteppich zu Valenciennes
identisch ist. Er bildete zweifellos eine Folge mit 14 (II31), dem Lustgarten, der
gleichfalls von den sächsischen Wappenschildern umgeben ist.
Nr. 20 erwähnt den 1543 von Bombeck erworbenen Teppich mit dem Bilde des
Herzogs von Jülich. Der Torgauer Schule sind ferner zuzuschreiben Nr. 12 mit
der Darstellung des Kurfürsten und Dr. Bruck, Nr. 13 Johann Friedrich mit der
Königin von England (im Inventar von 1566: Konigk in Engelant) sowie Nr. 19
ein Teppich „darinnen stehen zwu sirenen mit flugel“ (ein starker Anklang an den
noch erhaltenen Bombeckschen Teppich mit dem wahren Bilde Christi). Die für
Meister Seger so charakteristische Art der Porträtwirkerei geht zweifelsohne auf
die Torgauer Manufaktur und Heinrich von der Hohenmuel zurück. Ob Nr. 14 mit
der „historia lasset zu mir komen die Kindelein“ und Nr.ı5 „nu freuet euch lieben
christen gemein“ gleichfalls Torgau zuzuschreiben sind, ist nicht ohne weiteres zu
entscheiden. Die unter Nr. 45 angeführte „gele“, d. h. in gelben und bräunlichen
Tönen ausgeführte Tapisserie mit der Szene aus der Geschichte Esters, gehört
wahrscheinlich einer norddeutschen Manufaktur an. Unter Nr. 61 erscheint die be-
kannte Torgauer Jonas-Folge. Die Nrn. 48, 49 und 50: 22 gewirkte Tischteppiche
sind gleichfalls Heinrich von der Hohenmuel zuzuschreiben.
Nach dem Ableben Johann Friedrichs des Großmütigen bleibt zunächst der
Textilienschatz in Weimar. Eine Teilung findet erst nach dem Tode Johann
Friedrichs III., der 1565 kinderlos stirbt, unter den beiden noch überlebenden Söhnen
des Exfürsten am Dienstag nach Estomihi des Jahres 1566 auf dem Grimmen-
stein statt.
ГУ ist das Verzeichnis der Teppiche, die Johann Friedrich dem Mittleren zufallen?),
unter V sind die Wirkereien angeführt, die Herzog Johann Wilhelm zuerkannt
*
*
werden. a
| IV.
I. Vorzeichnus der debich, so mit golde gewirkt seint, und der debich
one golt.
т. 1 debich, darinnen der her Christus vom creutz genomen und ins grab gelegt
wirt, mit gruner leinwat gefuttert.
2. x debich, darinnen die auferstehung und himelfart Christi, mit gruner leinwat
gefuttert.
3. 1 debich, darinnen der her Christus das volk mit funf gerstenbrot speisset.
Johannis am VL
4. ı debich, darinnen die aposteln in die welt gesendet werden.
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. D 174b. Es stimmt im übrigen mit der zweiten Ausfertigung, die
sich im Besitze der Heidelberger Universitätsbibliothek befindet, bis auf Kleinigkeiten überein.
84
5.
10.
11.
28.
29.
30.
31.
3a.
х debich mit dem engelischen grus, auf den seiten vier propheten mit dem
spruch: „Ecce, virgo concipiet“.
. І debich, darinnen ein Konigk mit seiner Konigin, iren dienern und frauziemern;
oben steet: „Tota pulchra est“.
ı debich mit einem thornier, umbher mit der hern von Sachsen wappen.
. x debich mit dem Kindertanz, darinnen stehet: „Nu freuet euch lieben christen
gemein“.
. I debich mit dem Konigk in Engelant und mit meinem gnedigen alten hern
dem churfürsten zu Sachsen hochloblicher und seliger gedechtnus,
ı debich, darinnen sitzt ein mansperson, der gibt einer junkfrauen ein gulden
tuch, auf einer seiten stehet ein alter man mit einem grabeschiet.
2 kleinere debich mit meins gnedigen alten hern des churfürsten zu Sachsen
hochloblicher und seliger gedechtrfus conterfei; ist eins cleiner dan das ander.
П. Hellisch!).
ı debich mit der creutztragung Christi, ist mit schwarzer Leinwat gefuttert.
. I debich mit Maria und dem Kindlen Christi und Anna, ist nicht gefuttert.
. 3 debich mit dem seheman (Luce am VIII), ist mit schwarzer leinwat gefuttert.
. I debich mit der sendung des heiligen geistes, mit schwarzer leinwat gefuttert.
. I debich mit sant Euchstachius, wie ег dem hirsch nachrennt, mit schwarzer
leinwat gefuttert.
т debich, darinnen sitzt ein Konigk auf einem stuel, umb ihn her vil biliporcks,
und eine frau mit einem eingebunden Kindlen.
ı debich mit einer gotin mit einem rossencranz, die hat einen zubogen in der
hant, ist mit schwarzer leinwat gefuttert.
ı debich, darinnen steht: „Justicia homo“.
ı debich, darinnen bullerei, ist mit schwarzer leinwat кейшнен:
IL Brustdebich mit golde gewirkt.
9 debich mit wilden mennern, seint mit schwarzer leinwat gefuttert.
6 debich mit dem sechsischen und gulischen wappen, mit gruner leinwat ge-
futtert.
IV. Gewirkte debich one golt.
т debich mit Maria und dem Kindlen Christi, dem beut Joseph ein apfel.
ı debich mit der creutztragung des hern Christi.
т debich mit dem vorlorne sone | А è
2 debich, do der son seinen vatter ersicht | е нениєв.
ı debich, darinnen sitzt die Копіріп Hester auf einem stuel, fur іг kniet Haman
und bit um sein leben.
4 debich, wie Daniel in den gluenden offen wirt BESSE und der Konigk
Nebukatnesor.
2 grune debich mit einem tiergarten.
ı debich mit einem Crucifix.
т debich, darinnen ein Konigk mit einem zcepter.
ı debich, darinnen ein konigk mit einem schwarzen bart.
(1) Hellisch, d. h. aus Halle, scheint darauf hinzuweisen, daß es sich um die Teppiche aus dem
Besitze des Erzbistums Magdeburg handelt. Die Bezeichnung ist jedoch ungenau.
85
V. Brustdebich one golt.
32. 6 debich mit der hern von Sachsen wappen.
34. 2 debich auf die vorbencke solche arbeit.
35. 2 debich mit nacketen Kindern mit allerlei vogeln.
36. 1 debich mit „Verbum Domini“.
37. 14 grune debich auf damaschken art mit den sechsischen wappen, langk und kurz.
38. т grunen debich mit dem gulischen wappen.
VI. Banktucher one golt.
39. 2 lange grune banktucher mit den sechsischen wappen.
40. 3 banktucher mit allerlei farben und blumen.
VIL Gewirkte tischdebich one golt.
41. 1 taffeldebich mit dem wappen der chur zu Sachsen, ist mit weisser leinwat
gefuttert. |
42. ı tischdebich mit dem wappen chur und Sachsen.
43. ı tischdebich, darinnen „Verbum Domini“.
44. 2 grune tischdebich.
45. 3 rothe tischdebich.
46. ı Rodiesser tischdebich.
Eine Ergänzung führt noch hinzu:
ı stuck doctors Marthini Luthers conterfeit,
т stuck des herzogs zu julichs conterfeit.
Von den Wirkereien entstammen die Nummern 1, 16, 18, 25 und 26 dem Texti-
lienbestand Albrechts von Brandenburg. Außer den schon durch das Inventar von
1549 bekannten Teppichen der Torgauer Manufaktur finden wir hier den Teppich
„Nu freuet euch lieben christen gemein“ als Kindertanz erldutert'). Nr. 11 erwähnt
zwei Wirkereien mit der Gestalt Johann Friedrichs des Großmütigen, zweifellos
Torgauer Arbeiten. Das gleiche gilt von dem im Nachtrag angeführten und noch
erhaltenen „Conterfei“ Luthers, Der Teppich mit dem Bilde des Herzogs von
Julich ist bereits als Arbeit Meister Segers erwähnt. Besonders interessant ist
Nr. 17; der darin beschriebene Teppich scheint mit ziemlicher Bestimmtheit auf
die bekannte Bombecksche Wirkerei mit dem Urteil Salomonis hinzuweisen. Aller
Wahrscheinlichkeit nach ist der noch erhaltene Bildteppich eine Wiederholung
des für den alten Kurfürsten gefertigten Stückes. Das Verfahren ist bei den
Teppichwirkern allgemein üblich, ja sogar durch die Technik bedingt. Nur in den
seltensten Fällen wird der an und für sich recht teure Karton einmal benutzt.
Einer Vorzugsausführung unter Verwendung von Gold und Silber folgen in der
Regel eine oder mehrere Wiederholungen in einfacher Weise, in denen bei den
Lichtern der Metallfaden durch entsprechend getönte Seiden ersetzt wird.
Auch der Turnierteppich „umbher mit der hern von Sachsen wappen“ erscheint
in dem Verzeichnis. |
Neu ist die Folge vom Sähemann, ohne daß es möglich ist, dieselbe einem be-
stimmten Atelier zuzuschreiben. Nr. 9 deckt sich mit III (13). Unter den „Brust-
debich mit golde gewirckt“ finden wir die bekannte Hohenmuelsche Folge der
wilden Männer; auch die sechs Wirkereien mit dem sächsischen und jülichschen
(1) Vergleiche Bruck: Friedrich der Weise als Förderer der Kunst, Tafel 32.
85
Wappen sind Torgau zuzuweisen. Die unter „V Brustdebich one golt“ angeführten
Rückenlaken mit der „hern von Sachsen wappen“ und „2 debich auf die vorbencke“
mit entsprechender Darstellung fallen in die letzte Weimarer Zeit Meister Segers.
Das gleiche gilt aller Wahrscheinlichkeit nach von den Nummern 37, 38, 39 und 40.
Verschiedene andere Wirkereien des Inventars lassen sich erst durch näheren
Vergleich mit den pommerschen Nachlaßverzeichnissen identifizieren.
Das nachstehende Inventar V mit dem Anteil der Wirkereien, die Herzog Johann
Wilhelm zufallen, bringt die Vervollständigung des reichen Textilienschatzes Johann
Friedrichs des Großmütigen i).
3 x
*
у.
L Diese stuck seind von seiden, gold und silber.
т. Drei debicht mit gold, seiden und silber gewirkt, gehoren zusammen: ein histo-
rien von der cupidine.
a. Zwei stuck debicht gehoren zusammen, seind von gold, seiden und silber, eins
von der heiligen drei Konige, das andere von Simeon.
3. Ein stuck von gold, silber und seiden von sant Hieronimo.
4. Ein klein stuck von Apoclypside von gold, seiden und silber.
5. Zwei alte stuck von der passion von gold, silber und seiden.
6. Ein klein stuck von der geburt Christi von gold, seiden und silber.
7. Ein lang schmal stuck von einer jhagt.
8. Zwei stuck gehoren zusammen, eins von Maria, das ander von der Justilien) ?)-
g. Ein stuck von der heiligen dreifaltigkeit.
то. Ein stuck das abendmahl.
11. Ein stuck von der belehnung, die der babst dem Kaiser tut.
12. Ein stuck, wie ein Kaiser seinen sohn belehnet.
13. Ein groß stuck, da unser lieber gott die Kindlein heist zu ihm kommen.
14. Ein stuck von der historien Bersobea.
15. Ein stuck von sanct Christoff.
16. Ein stuck von einer heidnischen historien.
17. Ein stuck vom konige Salomon groß.
28. Ein groB stuck von der geburt Christi.
19. Ein klein stuck von sanct Christoff.
20. Ein stuck, wie Christus vom creutz genommen.
ax. Ein stuck, wie Maria Magdalena zu unserm hergot in garten kompt.
a2. Sechs stuck von chursechsischen und julischen wappen.
23. Eilf stuck von der hirß-, seu- und berenjagt.
24. Ein tischtebich und drei bankphuel.
IL Diese nachvolgende stuck seind nicht von seiden
(gemeint ist: ohne Metallfäden).
as. Ein groß stuck von einem lustgarten.
26. Drei stuck vom propheten Jhona.
27. Zwei stuck vom Kindertanz.
28. Funf stuck aus der stamstuben. |
29. Ein stuck von D. Waltherns und Lucas, Whalen‘).
(:) Weimar, Gesamtarchiv. D 174b, ВІ. 60a--6ıb.
(з) Die Personen des D. Waltherus und Lucas des Wälschen sind mit Sicherheit vorerst nicht fest-
sustellen.
87
30. Drei stuck von Verbum domini.
31. Ein groß stuck: ligt einer im beth und ubergibt seinem sohn das regiment.
32. Ein stuck von einem alten Kaiser uff einen richstuel sitzet.
33. Zwei grosse stuck, eins von der jagt, das ander, do sie auf dem wasser stechen.
34. Ein groß stuck von einer zeuberer(in), die einem konig alle ding, so er angriff,
zu gold machte.
35. Zwanzig grune brusttebicht.
36. Funf schlecht banktebicht.
37. Funf debicht von allerlei vogel und andern thieren.
Aus dem ehemaligen Besitze des Kardinals Albrecht entstammen die unter 1, 2,
4, 6, 8, 9, 15, 16 angeführten Wirkereien, die sämtlich dem ersten Drittel des
16. Jahrhunderts angehören und wohl zu den prächtigsten Erzeugnissen der Brüs-
seler Manufakturen zählten. Von Torgauer Bildteppichen finden wir unter Nr. 26
die Jonasfolge, ferner zwei Stück mit dem Kindertanz), eine Wirkerei mit „D. Wal-
therus und Lucas Whalen", zweifellos eine der üblichen Torgauer oder Weimarer
Porträtteppiche, sowie sechs Stück mit dem chursächsischen und jülichschen Wappen.
Wie schon erwähnt, bringen die Inventare des Greifengeschlechtes weitere Auf-
schlüsse. ;
1536 wird in Torgau die Hochzeit Marias, der Schwester Johann Friedrichs des
Großmütigen mit dem pommerschen Herzog Philipp I. in feierlicher Weise durch
Martin Luther selbst eingesegnet. Die Beziehungen der beiden Fürstenhäuser sind
die denkbar engsten. Noch jetzt zeigt der bekannte Croyteppich in Greifswald die
Fürsten und Fürstinnen Sachsens und Pommerns vereint als Schützer und Hüter
des evangelischen Glaubens. Wahrscheinlich gehörte der Verfertiger der Wirkerei,
Meister Peter Heymann, der Torgauer Manufaktur als Geselle an. Auf jeden Fall
bezieht auch weiterhin Herzogin Maria die farbenprächtigen Erzeugnisse der hei-
mischen Wirkerkolonie. Die Durchsicht des Nachlaßinventars des Herzogs Philipp I.
vom 26. Februar 1560°), dessen Kenntnis ich der Liebenswiirdigkeit des Herrn
Prof. Dr. Wehrmann zu Greifenberg verdanke, schafft völlige Klarheit. Wir finden
unter Nr. 34 „Ein langes, schmales Torgower Stück darauf die Hirsch-Jagt“. Die
Nummern 5 und 6 bringen die Bären- und Auerochsenjagd. Das Anteil-Inventar V
des Herzogs Johann Wilhelm führt unter 7 an „Ein lang schmal stück von einer
jhagt“, unter 23 „Eilf stück von der hirß-, seu- und berenjagt“. Besteht ein
Zweifel, daß es sich um Arbeiten der Torgauer Manufaktur handelt? Zum min-
desten sind die schmalen Rückenlaken mit der Hirschjagd Meister Heinrich zu-
zuweisen. Nr. 17 aus Herzog Philipps L Nachlaßinventar bringt „Ein Teppich
oder Tischtuch, in der Mitte der Name Jesus“, Nr. 33 „Ein Tapt darin Verbum
domini über einen Tisch“. Wir finden die gleichen Tischteppiche in den Grimmen-
steiner Verzeichnissen unter IV 36, 43 und V 30. Die Stettiner Urkunde spricht
von „Zwei Calcunische Hühner, darauf zwei Kinderle mit Bungen oder Bauchen
(Pauken) sitzen mit Blumen“. Herzog Johann Friedrich der Mittlere erhält auf
seinen Anteil Nr. 35 „2 debich mit nacketen kindern mit allerlei vogeln“. Auch
ein Judicium Salomonis bringt das pommersche Inventar. Der Ausdruck ist aller-
dings zu allgemein gehalten, um einen Vergleich zu ermöglichen. Die angeführten
Beispiele, die sich noch durch einige Wappenteppiche vermehren lassen, zeigen
(1) Vgl. Inv. IV, 8. . \
(з) Stettin, Staatsarchiv, P. I, Tit. 49, Nr. 17, Fol. 15—316 und ad. 17. Vgl. auch Balt. Studien XXVIII,
Seite зз fl.; Seite 37 fl.
mit genügender Klarheit, welchen beträchtlichen Umfang die Torgauer Manufaktur
besessen haben muß. Zweifelsohne arbeitete Meister Heinrich von der Hohenmuel
außer für seinen Fürsten und Herrn auch zahlreiche Teppiche für sonstige deutsche
Fürstenhäuser. Entsprechend verhält es sich mit der Weimarer Manufaktur Seger
Bombecks. So weist z. B. das Heidelberger Schloß nach dem Inventar von 1584
(München, Hausarchiv, Akt. 2408, fol. 339—87) „ein clein geviert stück neu dape-
zerei, darinnen hertzog Hans Friederich (des Mittleren) zu Sachsen contrafet“ auf.
Als Schluß des archivalischen Teils der Untersuchung sei unter VI des Dres-
dener „Inuenttarrim der Tappecerey“ vom 28. Februar 1589!) angeführt.
x *
10
1
+
VI.
Grosse Tappecerey:
Grosse Stuckenn vonn der Alttenn Passionn, Gar reich, vonn Goltt, sielber
vnnd Seidenn gewiercktt vnd sehr kunstreich gemachtt, 10 Grosse Stuckenn,
vonn der Neuen Passionn, vonn goltt Sielber vnnd seidenn gewircktt,
Stuck vonn dem Ohlberge. Auch vonn der Neuenn Passionn,
3 Grosse Stucken, mit goltt Sielber vnnd Seidenn gewiercktt, vonn Loth,
—
23
große stucken von konningk Dauitt, vnnd Golliath,
„ Stuckenn vonn Konnigk Saaull,
77 75 „ Mose,
39 ээ 38 Noha,
nm 57 75 Hercula,
55 „ Gedeonn,
Eege stuckenn, vonn Behrrenn, wieltt vnnd Schwein Jagttenn, Darrunder
seindt 9 Stuck, mitt goltt vnnd Sielber gewircktt, Die Anndernn 3 seindt
schlechtt, Diese werdenn Auff die Reichstage geprauchtt.
Grosse Tappecerey.
Grosse Stuckenn, vonn den Riesen vnd Zwerge, so die berge zusammen tragenn,
grosse stuckenn, von den wielden Mennernn, mohrrenn vnd Zwergenn,
grosse Stuckenn vonn konnigk Sallomonn,
kleinerre „ e
Anderre Stuckenn Ettwaß. kleiner, vami konnig Sallomon,
grosse, mittell, vnd kleine stucken, von der Teuczsch. schlachtt ordenung,
vnd Zugk, gegen deß Turckenn Zugk vnd Schlachttordnung,
groß Stuck darrauff eine schwein Jagtt ist,
Ge 5 F die Refier, von Piehrnn vnnd Meißenn Ab Contrafect ist,
grosse Stuckenn, von Laubwergk, vnd Seullen von Allerley farben,
Schmalle stuckenn, von Laubwergk, vnd lanndtschafftenn, Auch mitt Frannssenn,
Stuckenn Ettwaß kleinerre, alB die Anderrn grossenn, mitt grünen Laubwergk,
Darrienen vogell seindt.
Große Tappecerey.
Grosse Stuckenn, vonn grünen Laubwergk, vnd vogelnn, Seindt Ettwaß Altt
Stuckenn Ettwaß kleinner, mit dem Sächssieschenn wappenn, vnnd mit Goltt
vnnd Sielber, vonn allerley farbenn Laupwergk, Inn Brust gedeffel gemachtt
vnnd gewircktt.
Stuckenn Ettwaß breitterre, mitt dem Siichssieschenn wappenn, von Allerley
farbenn Laubwergk gemachtt, Solche werdenn vff die Reichstage gebraucht,
(з) Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden. Loc. 8687.
89
viereckichtter Debichtt, mit goltt, vnnd Sielberr gewiercktt, mit schwarczenn
Sammadt Eingefast, Inn welchenn, Doctor Marttinuß Lutterß Conntrafect ist,
Stuck geuiertt Debichtt, dariennen Ist kayser Carli gewircktt, vnnd daß Öster-
reichiesche wappen,
ı groß Stuck, darrienen Ist, daß Sächssiesche wappen,
6 grosse Stuckenn, von Barrieß, vnnd Helena, Solche werdenn vff die Reichs-
tage geprauchtt,
4 grosse Stuckenn, von denen kleinen Kienderlein, welche mitt einander Fechtenn,
Solche werdenn Auch mitt vff die Reichstage, Geprauchtt vnnd genommenn,
3 gar Altte Abgenucztte viereckichtte Gewurcktte wiiellenne Dieschdebichtte,
7 grosse altte stucken, von Becerey (Reiherbeize) vnd Jagtten so Icziegerczeidt
zu Fußdebichttenn gebrauchtt werdenn.
ı gar Altt klein Stucklein Tappecerey,
r viereckichtt Stuck, darrauff die Hiestoria, wie Eine Arme Stinderienn, So ehe-
bruchs Halben beschuldigtt gewest, fur denn Herrnn Christo gefuhrtt wierdt,
6 Grosse Stuckenn vonn ThobiaB,
16 75 . „ Abraham vnd Sallomonn,
6 „ grünen Laupwergk,
vnd den Sächssieschenn wappenn, welche die Herczogk Eherichienn zu Braun-
schweigk, Hatt machenn Lassenn, Obwoll derrer zuuorhienn nur 5 stucken
gewest sein, so ist doch Einneß vonn der annaburgk darczu komenn,
14 Stuck gar Altte Tappecerey, so mann zu fußdebichttenn pflegett zugebrauchenn.
„4
ье
Grosse Тарресегеу.
Groß Stuck vonn Paulluß bekehrunge, vnd
Groß stlick, mit Einen Lebenn (Löwen), vnd greiffenn Seindt beide zu Koppenn-
hagenn gemachtt, vnnd Iczo vffenn neuenn Stall. Inn S. Churf. Geh. gemach
befundenn wierdt.
7 Grosse Stuckenn vonn Hercule Inn Rundelenn mit grünnenn Laupwergk,
8 grosse Stiickenn vonn wieldenn thierrenn so einander zu reissenn, mit grunnem
Laupwergk.
16 Stuckenn Ettwaß kleiner, von Allerley wieldenn Thierrenn So einander zu
reissenn vnd mitt grunnen Laupwergk.
9 Grosse Stuckenn, vonn Allerley grunen Laupwergk, vnd kleinen vogeln,
7 Grosse Stuckenn Tappecerey, vonn dem Abgott Behell, vnnd dem Danniell,
2 Grosse Stuckenn, vonn Inndiannieschenn Hunnernn, vnnd mitt Allerley farbenn,
grunnenn Laupwergk.
м 04
Grosse Тарресегеу.
5 Stuckenn gewurcktte, уппа gemoltte Debichte, mit seullenn, vnnd Rottenn
Feldernn, Halttenn 41!/, DreBniesche Elen, So Inn der Churfurstienn. p. ge-
mach, Ann denn wenndenn Rumb Anngemachtt sein,
3 Stuckenn, derrergleichenn Debichtte, die halttenn ann Dreßnieschenn Elen sr,
53, 55. Inn Summa 159 elen, Diese seindt nichtt Auffgemachtt, Sein zum
Theill böese, vund mottenn fressigtt,
geuiertter Bloer vnnd gelber gewurcktter Dieschdebichtt,
gar Altter gewurcktter Dieschdebichtt, vonn Allerley farbenn, midt dem Sächs-
sieschenn wappenn.
Das Inventar bringt eine ganze Reihe von Arbeiten Meister Heinrichs. Wir
finden unter dem Titel „Grosse Tappecerey“ zunächst „g grosse Stückenn vonn
90
ba 04
den Riesen und Zwerge, so die berge zusammen tragenn“. In der Torgauer Aus-
gabeanweisung von 1540 wird angeführt „4 gulden gr. vor visirunge (Kartons) als
leisten (Bordüren), die man zum bergkwerge gebraucht“ !). In den Weimarer In-
ventaren kommt ein Teppich, in dessen Bordüren Motive mit Bergwerksdarstel-
lungen benutzt werden, nicht vor. Sollte die Wirkerei im Auftrage des Herzogs
Moritz entstanden sein?
Die nächste Folge von 8 (nicht neun) Stück ist die der wilden Männer, zweifels-
ohne eine Wiederholung der bekannten Torgauer Teppiche. Sie genießt noch in
den folgenden Jahrhunderten ein besonderes Ansehen. Als Philipp Heinhofer am
16. Oktober 1617 das Dresdener Schloß besichtigt, erregen die „Tapezereyn von
wilden Leutten in der Cammer an Card. Clesels Ziimmer sein Interesse. Noch
mehr nehmen ihn allerdings die Wirkereien des steinernen Saals in Anspruch. Es
ist die bekannte „Historia wie Churfürst Mauritz wider den Türcken in Ungarn
gezogen A. 1553 fein alles den nationen nach, die er bey sich gehabt, in hubsche
Feldordnung außgethailet“. Die Folge ging mit so vielen anderen Bildteppichen
durch den Schloßbrand vom Jahre 1701 zugrunde. Der Verlust des Türkenzuges
läßt sich vielleicht noch am ehesten verschmerzen. Es handelt sich nach Hain-
hofers Schilderung um eine Verherrlichung des Kurfürsten Moritz, dem die Bild-
teppiche mit Kaiser Karls Taten“), den Kriegszügen Herzog Albas’), den Kämpfen
des Erzherzogs Albert‘) und ähnliche Reihen wohl als Vorbild vorschwebten. In
der Mehrzahl entsprechen diese Wirkereien, mit kämpfenden Gruppen oder den
in endloser Folge aufziehenden Kriegskolonnen ausgefüllt, wenig den Anforderungen
eines Bildteppichs, ganz abgesehen davon, daß Kurfürst Moritz kein Jan Vermeyen
als Patronenmaler zur Verfügung stand. Auch das ,,Contrafect Doctor Marttinuß
LutterB“ sowie die bekannte Arbeit Meister Segers, die Darstellung Kaiser Karls,
finden wir wieder. Zweifelhaft erscheint es, inwiefern die verschiedenen Wappen-
teppiche Hohenmuel oder Bombeck zuzuschreiben sind. Am Schlusse des Inven-
tars werden die Torgauer Bildteppiche mit den Indianischen (Calcunischen) Hühnern
erwähnt.
Von dem ganzen reichen Schatz an Wirkereien, den Meister Heinrich mit seinen
Gesellen schuf, ist heute kaum ein Stück bekannt, das mit unzweifelhafter Sicher-
heit der Manufaktur Torgau zugeteilt werden kann. Starke Wahrscheinlichkeit
spricht für den Jonasteppich im kgl Schloß zu Berlin, der durch die Gobelin-
manufaktur Ziesch & Co. vor einigen Jahren einer Instandsetzung unterzogen wurde.
Wir finden links die Szene „Jona, ins Meer geworfen. Jone, I“. Das Schiff treibt
auf den erregten Wellen. Die Besatzung — in der typischen Tracht um 1545 —
schleudert Jonas über Bord, unmittelbar in den mit fürchterlichen Zähnen be-
setzten Rachen des Walfisches. Das rechte Schriftband in der oberen Bordüre
lautet: „Jonas ist zornig, Jone 3“. Der Prophet entsteigt dem Schlunde des Wales.
Im Hintergrunde ist Ninive dargestellt, die typische und vorzügliche Wiedergabe
einer wehrhaften deutschen Stadt des 16. Jahrhunderts mit zahlreichen Türmen
und Kirchen. In der rechten oberen Ecke sitzt der zornige Jonas unter einer
riesigen Kürbisstaude und erfleht die Vernichtung der sündigen Einwohner, Die
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Bb 4482.
(3) Die Folge der Eroberung von Tunis befindet sich in der kgl. spanischen таре: Sammlung
zu Madrid. Auch die Teppiche, die Schlacht von Pavia darstellend, sind noch erhalten und befinden
sich gegenwärtig im Museum von Neapel.
(3) Von dem Herzog von Berwick-Alba 1877 zum Verkauf gestellt.
(4) Kgl. Spanische Tapisserie-Sammlung
9%
Sonne (als menschliches Gesicht dargestellt) sendet glühende Strahlen auf das
Haupt des Propheten. Stil und Charakter sprechen in vielen Punkten für die
Cranachschule. Die geschickt durchgeführte Technik ist ganz die eines flimischen
Meisters, der nach deutschen Patronen arbeitet. Die nur teilweise erhaltene Bor-
düre gibt ein Blumenmotiv in reichlich steifer Auffassung. Es handelt sich bei
der Wirkerei (1,19 m hoch, die untere Bordüre fehlt; 1,79 m lang) um eine Arbeit,
die mit starker Wahrscheinlichkeit Torgau zugeschrieben werden kann. Mit der
in den Weimarer Inventaren erwähnten Folge ist sie jedoch nicht identisch, aus
dem einfachen Grunde, weil sich in dem einen Teppich bereits die ganze Ge-
schichte des Propheten Jonas abrollt.
Als weitere Arbeit kommt für Torgau das Bildnis Martin Luthers aus dem Be-
sitze des Freiherrn Dr. v. Friesen auf Schloß Schleinitz in Frage. Der Grund für
seine Zuschreibung an die erste sächsische Manufaktur liegt in der Art der Lösung
der Einzelheiten. Die Auffassung des Hintergrundes, der Waldbestand mit der
Schloßanlage, wie auch die sonstige Behandlung des Brustbildes des Reformators
ist verschieden von der bekannten Bombeckschen Wirkerei Kaiser Karls. Die Bor-
düre ahmt in völliger Verkennung des Teppichcharakters einen regelrechten und
reichlich langweiligen Holzrahmen nach. Als Vorbild diente ein Cranachscher
Stich. Die Größe der Wirkerei, die in den Lichtern reich mit Gold und Silber
gehöht ist, beträgt 1,28 >< 1,00 m. Luther ist mit braunem Talar, mit schwarzer
Mütze dargestellt; in den Händen hält er ein Buch. Naturgemäß können die Unter-
schiede in der Technik Hohenmuels und Bombecks nur gering sein, ganz ab-
gesehen davon, daß die weniger wichtigen Einzelheiten von keinem der beiden
Meister, sondern von untergeordneten Gehilfen ausgeführt wurden. Dem Meister
bleiben in der Regel nur Kopf, Hände, Fleischteile sowie die reicheren Details
der betreffenden Wirkerei vorbehalten. Es ist die übliche Arbeitsteilung, die sich
bereits seit dem 15. Jahrhundert in fast allen flämischen Manufakturen feststellen läßt.
Zweifellos besteht die Gewißheit, daß noch eine Reihe von Teppichen auftauchen,
die Meister Heinrich unbedenklich zuzusprechen sind. Die Zahl der in Torgau ge-
fertigten Wirkereien ist eben zu groß, um spurlos zu verschwinden. Bei einer
weiteren Anzahl von Bildteppichen besteht schon jetzt die starke Wahrscheinlich-
keit, daß sie Torgau angehören. Zunächst sei jedoch von einer vielleicht voreiligen
Zuweisung abgesehen. Der gleiche Zweifel gilt den Passionsteppichen der Gemälde-
galerie zu Dresden. Richter fußt in seinem Aufsatze „Über die altniederländischen
Bilderteppiche“ ) darauf, daß im Dresdener Inventar von 1565 die „Neun Patronen
auf Tücher gemalt, darnach die Passio gewirkt“ angeführt werden. Auch Daniel
Wintzenbergers gereimter „Lobspruch der Stadt Dresden“, in dem er 1591 das
kurfürstliche Schloß besingt, ist in der allgemeinen Fassung nicht überzeugender.
Ein Blick auf die Teppiche selbst zeigt unzweideutig, daß Richters Annahmen un-
richtig sein müssen. Die älteste der sechs Wirkereien mit der Darstellung des
Gekreuzigten ist eine Wiederholung des häufig veröffentlichten Stückes der königl.
spanischen Tapisseriesammlung. Es ist eine typische Brüsseler Arbeit um 1515.
Die drei dann zusammengehörigen Bildteppiche mit der Anbetung der Hirten,
Kreuztragung, Himmelfahrt sind sämtlich spätestens um 1530 entstanden. Die
beiden letzten Passionsteppiche, das Abendmahl und eine zweite Himmelfahrt,
könnten eine Torgauer oder Dresdener Wiederholung nach einem flämischen Karton
sein. Ausgerechnet diese Wirkereien tragen die Brüsseler Marke, kommen also
(3) Dresdner Geschichtsblätter 1893.
93
gleichfalls nicht in Betracht. Die Deutung der im Inventar von 1565 angeführten,
damals in Dresden vorhandenen „Patronen“ ist wesentlich einfacher. Um Kartons
für Teppiche im Basselisseverfahren, das sowohl von Hohenmuel wie von Bom-
beck nachweislich geübt wurde, kann es sich nicht handeln, da dieselben dann
in die durch die Technik bedingten üblichen schmalen Streifen zerschnitten worden
wären, also unter den „Tafeln und Tüchern“ des Inventars keinen Platz gefunden
hätten. Dagegen ist es im 16. und 17. Jahrhundert ein recht häufig getibter
Brauch, die kostbaren, reich mit Gold und Silber gewirkten Teppiche, die einen
außerordentlichen Wert darstellten, nur an den höchsten Feiertagen aufzuhängen,
während der übrigen Zeit aber durch Patronen, d. h. durch Kopien zu ersetzen.
Bei Hautelisseteppichen, die ein Zerschneiden der Patronen nicht erforderten,
wurden naturgemäß die ursprünglichen Vorlagen als Ersatz benutzt. Zweifellos
stammen sowohl die Passionsteppiche wie auch die jetzt verschwundenen Kartons
aus Flandern und haben nichts mit unseren sächsischen Manufakturen zu schaffen.
Kurzwelly führt bereits die heute bekannten Arbeiten Meister Bombecks an.
Außer dem schon mehrfach veröffentlichten Hüftbild Kaiser Karls erwähnt er das
lebensgroße Bildnis des Herzogs und nachmaligen Kurfürsten August von Sachsen,
einst im Besitze des Herrn Desache in Paris. Es trägt die Signierung S.B. und
stellt den Fürsten zwischen zwei reliefierten Renaissancesäulen dar. Ich habe
leider vergeblich versucht, den jetzigen Besitzer der Wirkerei ausfindig zu machen.
Der Beschreibung nach paßt sie sich stark der Auffassung der in Neuburg noch
erhaltenen Porträtteppiche mit den Gestalten Ottheinrichs, seiner Gemahlin und
seines Bruders Philipp an. Die Erfindung und der Gebrauch der Porträtteppiche
ist überhaupt keine Eigentümlichkeit einer deutschen Manufaktur. Die Sitte, fürst-
liche Personen in kostbaren Wandbehängen zu verewigen, bürgert sich in Deutsch-
land in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein, namentlich seit Bernhard van
Orley’s Meisterhand die Kartons zu der berühmten Folge der Fürsten und Für-
stinnen aus dem Hause Nassau durchfiihrte. Noch Carel van Mander spricht mit
Bewunderung von den reichen Teppichen des Grafen Moritz.
Die von Seger Bombeck gewirkte Wappen — Tischdecke im Leipziger Kunst-
gewerbemuseum, die zwei Wappen der Stadt Leipzig sowie das Judicium Salo-
monis, dem leider die früher vorhandene Bordüre mit der Spruchinschrift fehlt ),
sind in den Veröffentlichungen Kurzwellys und Wustmanns hinreichend besprochen.
Von besonderem Interesse dagegen ist der allegorische Wandbehang aus Schloß
Eisenberg. Keine der Arbeiten Bombecks gibt uns einen so erschöpfenden Ein-
blick in des Meisters Werkstattbetrieb wie gerade dieser große, friesartige Teppich
(5,80 >< 1,65 m). Die Bilddarstellungen beginnen rechts. Drei Kleriker mit Tier-
füßen und Krallen gehen auf einen knienden Geistlichen los, in dem unschwer
Martin Luther zu erkennen ist. Das Motiv mutet auf den ersten Blick recht selt-
sam an. Tatsächlich ist es nichts weiter wie die in der Cranachschule so un-
endlich oft verwandte Allegorie des Alten Testaments. Tod und Teufel bedräuen
den Menschen, es ist ihm kein Heil gegeben, rettungslos eilt er der Verdammnis
zu. Wir finden die Darstellung unter anderem auf dem .1543 von Cranach ge-
malten Titelbild der bekannten Luftschen Bibel in der Universitätsbibliothek Jena.
Tod und Teufel erscheinen in ihrer charakteristischen Gestalt; Papst, Kardinal und
Mönch werden in dem Flammenmeer der Verdammnis, auf das der unerlöste
Mensch zueilt, dargestellt. Fast unverändert — die Gestalten in dem Fegefeuer
(1) Stepner, Inscriptiones Nr. 1658.
93
fallen fort — zeigt sich das gleiche Motiv in dem Gothaer Sündenfallbild. Beson-
ders typisch erscheinen mir die zwei Votivbilder „Altes und Neues Testament“
in der Hauptkirche zu Kamenz. Rechts stehen die Repräsentanten des alten
Bundes, links entflieht der Mensch; der Tod führt die nämliche Saufeder, die in
dem Bombeckschen Teppich der mittlere Kleriker schwingt. An Stelle des Teufels
erscheint der „grimme Leu“ (Papst Leo X.) mit einer Fahne mit den Schlüsseln
Petri. Die Darstellung wird durch einen dritten Gegner Luthers ergänzt, der mit
Steinen, d. h. mit unwahren Angriffen, auf ihn wirft. Luther tritt jedoch nicht in
der Rolle des unerlösten Menschen auf, er deutet vielmehr auf die Gruppe, als
wollte er sagen: Seht, dies sind die Vertreter von Tod und Teufel, die falschen
Propheten, die euch verderben wollen. Die Mittelszene ist die teilweise Wieder-
gabe der entsprechenden Darstellung des Neuen Testamentes. Der Auferstandene
schwingt die Siegesfahne, zu Füßen Tod und Teufel. Das Motiv ist bei Cranach
und seiner Schule vielfach noch häufiger wie das des Alten Testamentes. Es sei
nur an das prächtige Mittelbild des Altarwerkes in der Stadtkirche zu Weimar
erinnert. Auch die Kamenzer Tafel zeigt die gleiche Auffassung. Ein Blick auf
die Wiedergabe genügt, um klar erkennen zu lassen, wie wenig neue Gedanken
der Patronenmaler des Bombeckschen Teppichs gefunden hat. Er setzt seinem
Teufel die Tiara auf, fügt noch einige Mönche hinzu und die Vorlage ist fertig.
Die Darstellung des Auferstandenen ist in der Haltung im übrigen ein ziemlich
genaues Spiegelbild der Kamenzer Tafel. Auch der Boden vor der Tumba zeigt
die herumliegenden Steinbrocken. Der Maler der beiden 1542 entstandenen Ka-
menzer Bilder ist der Cranachschüler Wolf Krodel. Aller Wahrscheinlichkeit nach
ist der Teppich weder für Herzog Johann Friedrich, noch für Kurfürst Moritz ge-
fertigt worden; jedenfalls fehlt bisher jeder urkundliche Beleg. Die Einfügung der
von einem Cranachschüler gelieferten Patronen — es sind deren fünf: die drei
Kleriker; Luther; der Auferstandene mit Grab, Tod und Teufel; der Krieger rechts
vom Grab und der Bewaffnete links — ist ziemlich wilikürlich und nichts weniger
als geschickt.
Meister Seger arbeitet nach einem alten Rezept, das sich bei der Mehrzahl der
flämischen Bildteppiche des 16. Jahrhunderts feststellen läßt. Jeder Wirker hat
eine Anzahl Patronen für Vordergrund — Pflanzenwerk und dergleichen — und
der Hintergrund — Landschaften und ähnliches — und vor allem eine reichliche
Auswahl an Bordürenmotiven zur Verfügung; der Kartonist entwirft nur in sel-
tenen Fällen die ganze Bilddarstellung fix und fertig. Es widerspricht dies durch-
aus der Tradition, ganz abgesehen davon, daß der betreffende Figurenmaler kein
guter Tier- oder Pflanzenmaler zu sein braucht. Außerdem würden die Kosten
für die betreffenden Patronen viel zu hoch, die Möglichkeit, die Bildfläche je nach
den Wünschen des Bestellers zu vergrößern oder zu verkleinern, wäre außer-
ordentlich erschwert. Wir finden die Methode geradezu charakteristisch in Meister
Segers Teppich angewandt. Es ist unverkennbar, wie die Kartons etwas gewalt-
sam der Bildfläche eingepaßt und nun wohl oder übel durch das Pflanzenwerk,
die große Schrifttafel und dergleichen mehr, in Zusammenhang gebracht werden.
Nur so ist es erklärlich, wie z. B. der eine schlafende Krieger in etwa dop-
pelter Lebensgröße unmittelbar neben dem knienden Luther dargestelit wird.
Die Flora in der oberen Hälfte des Teppichs ist rein flämisch; es sind die üblichen
blühenden Sträucher, die auf den großen Brüsseler Teppichen die Zwischenräume
zu Füßen der verschiedenen handelnden Personen ausfüllen. Der Inhalt der rechten
Bildhälfte wäre, nochmals kurz zusammengefaßt, ungefähr der folgende:
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Das Wirken des Reformators (der auf die drei Kleriker weisende Luther) deckt
trotz aller Ankämpfungen die päpstliche Irrlehre auf. Der siegreiche Christus be-
reitet durch das reine Evangelium den Feinden des geläuterten Glaubens vollends
ein Ende. Schwieriger gestaltet sich die Deutung der linken Bildseite. Der An-
sicht Kurzwellys, daß es sich um eine allegorische Wiedergabe des bekannten
Liedes „Die wittenbergische Nachtigall“ von Hans Sachs handelt, ist nicht ohne
weiteres beizupfichten. Schon die Annahme, daß der bei Hans Sachs fehlende
Uhu sich aus der Tiersymbolik der Reformationszeit erklärt, ist falsch. Der Uhu,
der den Vogel schlägt, ist eines der üblichen Bordürenmotive, nichts weiter. Die
Darstellung findet sich fast wörtlich — der Uhu dreht den Kopf etwas mehr nach
rechts, der gefangene Vogel zieht den einen Flügel ein — in der oberen Bordüre
eines zeitgenössischen großen flämischen Teppichs mit der Darstellung der Be-
gegnung Jakobs und Esaus im Besitze des Verfassers. Ebensowenig Beweiskraft
für Hans Sachsens Lied besitzen die verschiedenen Singvögel und der am Bach-
rand liegende Hase — gleichfalls ein beliebtes Bordürenmotiv. Die linke Bild-
seite erweckt vielmehr den Eindruck, als ob ursprünglich eine weitere figürliche
Szene vorgesehen war, die aus irgendwelchen Gründen auf Wunsch des Bestellers
des Teppichs wegfiel, oder, was noch wahrscheinlicher sein dürfte, der für die
Wirkerei vorgesehene Platz war unverhältnismäßig groß; Meister Seger half sich,
indem er eine rein landschaftliche Szene mit den entsprechenden Mitteln wie an
der oberen rechten Hälfte zufügte.
Die Lösung der Bordüre — um einen Palmstrunk schlingen sich Früchte und
blühende Pflanzen — ist rein flimisch. Das Motiv wird vornehmlich іп den Brüs-
seler Teppichen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts immer und immer wieder-
holt. Die Patronen hat Meister Seger zweifelsohne aus seiner alten Heimat mit-
gebracht. Die etwas reichere Lösung ist Bombeck genau bekannt, es sind die
gleichen um den Palmstamm gewundenen Blumen- und Fruchtbüschel, in den
Zwischenräumen durch eingefügte Tiere belebt. Wir finden Papageien; den Uhu,
der den Vogel würgt, Hasen, Fasanen, Eisvögel, Elstern und dergleichen; kurz,
die Tierwelt, die sich teilweise in der linken Bildhälfte des Teppichs tummelt.
Die untere Bordüre, die der Wirkerei erst das richtige Verhältnis gibt, fehlt bereits
seit der Einfügung in das geheime Betstübchen, das sich Herzog Christian von
Eisenberg um das Jahr 1700 in einem an die Schloßkirche anstoßenden Erdgeschoß-
gewölbe einbauen ließ. Der prächtige Teppich wurde hierbei in vier Stücke zer-
schnitten, um ihn so besser den vorhandenen Wandflächen anpassen zu können.
1905 erfolgte die Zusammensetzung und, soweit erforderlich, auch eine Ergänzung
in dem Atelier Carlotta Brinckmanns. Das Gefüge der Textur ist ziemlich eng,
auf 1 cm kommen 6—7 Kettfäden. Außer Wolle und Seide sind Metallfäden ver-
wendet; die Farbengebung sucht sich dem Schema der Brüsseler Wirkereien an-
zupassen. Die Tiefe und Feinheit der Töne läßt vielfach zu wünschen übrig, der
Grund liegt in den Schwierigkeiten, die bei der Herstellung mit der Beschaffung
richtig eingefärbter Wollen und Seiden verbunden waren.
Der zweite aus der Betstube des Eisenberger Schlosses stammende Teppich
(4.44 X 1,38 m) mit dem wahren Bilde Christi, das von zwei geflügelten Fabel-
wesen gehalten wird, zeigt völlig flämischen Einfluß. Triton und Nereide ent-
stammen irgendeiner Brüsseler Patrone; das üppige Rankenwerk ist von einem
Cranachschüler, wahrscheinlich unter Benutzung von Stichvorlagen, ausgearbeitet.
Die Fruchtbüschel, die sich dem Eichenkranz einpassen — der übrigens analog
dem sonst beliebten Palmstamm behandelt wird — sind die bekannten Bordüren-
motive. Die Gesamtkomposition des Bombeckschen Teppichs finden wir wieder
in der prächtigen Delitzscher Tischdecke des Egidius Wagner. Die Bilddarstellung
zeigt das kursächsische Wappen in reicher Umrahmung. Die Bordüren dagegen
weisen an den vier Seiten in den Mitten Wappenschilder auf, die ganz entsprechend
wie bei unserem Bombeckteppich von je einem Tritonen und einer Nereide, deren
Leiber ebenfalls in Laubwerk auslaufen, gehalten werden. Das Motiv zeigt völlig
klar, daß beide Meister der gleichen Schule entstammen, und in vielen Fällen nach
denselben Patronen arbeiten. Zugleich deuten die Bordüren des Wagnerschen
Teppichs mit starker Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß es sich bei dem Entwurf
der Bombeckschen Wirkerei im Grunde um nichts anderes als eine starke ver-
größerte Bordüre handelt. |
Das Gefüge des 1551 entstandenen und S.B. signierten Bildteppichs entspricht
der zuvor behandelten allegorischen Wirkerei. Auch hier ist außer Wolle und
Seide der Goldfaden verwendet. Die Farben sind vorwiegend braun, grün und
weiß, verhältnismäßig vorsichtig sind blaue und rote Töne eingesetzt.
Seger Bombeck ist Basselissier. Schon der Gang seiner Ausbildung spricht da-
für; ein Blick auf seine Arbeiten gibt ohne weiteres die Gewißheit. Die Kartons
für Basselissearbeiten werden, wie schon erwähnt, als Spiegelbild gefertigt. In der
Regel unterlaufen den Patronenmalern hierbei Versehen, namentlich wenn es sich
um eine Schriftwiedergabe handelt. Typisch sind gewöhnlich die Schnitzer bei
den römischen Buchstaben S und N. In dem Schriftband des Teppichs mit dem
wahren Bilde Christi ist von elf N auch nicht ein einziges richtig.
Meister Seger bleibt in seinen sämtlichen Arbeiten der flämische Wirker. Wohl
benutzt er in der Regel die Kartons der Cranachschule, ohne daß diese ihn jedoch
wesentlich in seinem künstlerischen Gepräge beeinflussen. Sobald der Rahmen
der betreffenden Patrone aufhört, setzen die flämischen Motive ein. Geradezu
charakteristisch ist der Eisenberger allegorische Teppich. Auch die Wirkerei mit
dem Hüftbilde Karls V. könnte ohne weiteres als Brüsseler Arbeit gelten. Der
Technik nach ist Bombeck den flämischen Meistern seiner Zeit durchaus gleich-
wertig. Die Behandlung von Gesicht und Händen, die Durchbildung des Hinter-
grundes, die Wiedergabe der Gewänder und sonstiger Einzelheiten ist in der Regel
mustergtiltig, Es kommen manchmal mehr oder weniger starke Nachlässigkeiten
vor. Der gleiche Vorwurf trifft jedoch auch die Wirker Briissels. Er wird nicht
durch die Art des betreffenden Meisters, sondern durch das Schema der Arbeits-
teilung erklärt, die weniger wichtige Teile des Teppichs der Ausführung untergeordneter
Hilfskräfte überläßt. Die Manufakturen Torgau und Weimar schließen sich würdig
den etwa gleichzeitigen Wirkerateliers zu Frankenthal und Stuttgart an. Es ist
erstaunlich, welche Fülle an kleineren Manafakturen das Deutschland des 16. Jahr-
hunderts aufweisen kann, noch seltsamer allerdings, wie wenig diese Kunststätten
bisher erkannt und gewürdigt worden sind’). |
(1) Die Kenntnis der Weimarer Archivalien verdanke ich zum größten Teil der Liebenswürdigkeit
und Bereitwilligkeit des Herrn Archivdirektore Dr. Tille; auch Herr Dr. Spielberg unterrichtete mich
durch verschiedene Belege. Die pommerschen Inventare wurden mir in entgegenkommender Weise
von Herrn Prof. Dr. Wehrmann-Greifenberg і. Pomm. zur Verfügung gestellt. Es bereitet mir eine
besondere Freude, auch an dieser Stelle den Herren meinen aufrichtigen Dank aussprechen zu dürfen.
96
STUDIEN ÜBER DIE BEDEUTUNG CARL
FRIEDR. у. RUMOHRS FÜR GESCHICHTE
UND METHODE DER KUNSTWISSEN-
SCHAFT ` Mit vier Abbildungen auf Von ANTONIE TARRACH
DIE KUNSTGESCHICHTSSCHREIBUNG VON VASARI BIS ZU RUMOHR
as Vorbild für alle Kunstgeschichte Italiens, Frankreichs, der Niederlande und
Deutschlands bis ins r8., ja bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, über Winckel-
manns epochemachendes Werk, über Séroux „d’Agincourt“ hinweg bis zu Rumohr,
bleiben die Vite Vasaris!). Wie sie, sind alle großen Werke der Kunstgeschichts-
schreibung Künstlergeschichte, verquickt mit Kunstlehre in pragmatischer Anordnung.
Bei Vasari*) wird Standesstolz, zu Lokalpatriotismus gesellt, die Triebkraft zu einer
kühnen und weittragenden Leistung)). Der Persönlichkeitskult, welcher der Re-
naissance eigen ist, verleiht dem Spiegel ihrer Kultur, den Vasari darzubieten
wtinscht, seine Gestalt und seinen bestechenden Glanz. Der Künstler als Träger
der Kunst wird ihre jeweilige Erscheinungsform in sich kristallisieren und jeder
hervorragende notwendig den Verlauf ihrer Entwicklung kennzeichnen, deren Höhe
Vasari in Michelangelo sieht. Die Führerschaft des großen Künstlers ruft eine
Schule hervor. So ergibt sich für die geschichtliche Darstellung eine Aneinander-
reihung von Künstlerbiographien in einer Gruppierung nach Schulen und dem Ge-
danken der Entwicklung. Der Maßstab für den Fortschritt der Kunst ist Natur-
wahrheit und Naturlebendigkeit. In diesem Sinne verwertet Vasari auch alle ihm
zu Gebot stehenden Mittel, um eine Persönlichkeit greifbar lebendig darzustellen;
schaltet künstlerisch willkürlich mit seinen Quellen; fügt der Selbständigkeit seines
Urteils mit erborgtem Prunk und der Überzeugungskraft seiner Autopsie eine sieg-
hafte Autorität zu. Die Lehrhaftigkeit des Kunstschriftstellers — denn er schreibt
ja für Künstler — nimmt einen großen, liebenswürdigen Stil an, ja, wird vielmehr
zu begeisterndem Anfeuern. Hinter dem historischen Interesse tritt das Theoreti-
sieren zurück, Seine ästhetischen und allgemein theoretischen Anschauungen flicht
Vasari als gelegentliche Bemerkungen in die biographischen Abschnitte oder schickt
sie diesen, in Abhandlungen gesammelt, voraus.
Die Hegemonie der Stadt, des Staates innerhalb Italiens — und die der Renais-
sancekultur im westlichen Europa unterstützten den Einfluß des Vasarischen Werkes
auf die Kunstgeschichtsschreibung.
Eben in der unbedingten Anerkennung einer Überlegenheit der Renaissance-
kultur liegt der Grund dafür, daß іп den folgenden beiden Jahrhunderten die Kunst-
geschichtsschreibung hinter ihrer Zeit zurtickbleibt‘). Zwar erhält der Stoff, den
(1) Vgl. E. Heidrich: Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstwissenschaft. Basel 1917. Kap. 1.
(а) Vgl. Birch-Hirechfeld: Die Lehre von der Malerei im Cinquecento. Rom 1912, 8. 13—14. Daselbst
Literaturangaben für Vasari. W. Kallab: Vasaristudien; hrsg. von Schlosser. Wien u. Leipzig 1908.
Julius v. Schlosser: Vasari. 5. Heft der Materialien sur Quellenkunde der Kunstgeschichte.
(3) Giorgio Vasari: Le vite de piu eccelenti pittori, scultori, ed architetti: Con nuove annotasione e
commenti di Gaetano Milanesi. Firenze 1878 fl.
(4) Über ital. Kunstgeschichtsschreiber nach Vasari vergleiche: A. Philippi: Der Begriff der Renais-
sance. Leipzig 1912, УШ. A. Riegl: Die Entstehung der Barockkunst іп Rom. Wien 1908, S. ı7fl.
Monatshefte für Kunstwissenschalt, Bd. I. 1983. 7 97
Vasari, umrissen, eine Vervollkommnung und eine — ungeheure — Erweiterung
nach Vergangenheit und Gegenwart hin, doch genau in derselben Einstellung,
die Vasari ihm gegeben, wenngleich die kleinen Differenzierungen lokalpatrio-
tischer Tendenzen im allgemeinen verschwinden. Aber es geht darüber der leben-
dige und enge Zusammenhang mit der Kunst und dem Künstler der Gegenwart
verloren. Der Kiinstlerimpuls verleiht der Gefühlseigenart und Geistesrichtung
einer Zeit den intensivsten Ausdruck. Dem Künstler muß die Vergangenheit auf
irgendeine Weise in die Gegenwart einmünden, wenn sie seinen Zwecken dienen
soll. Die Kunstgeschichtsschreibung als ein Mitteilungsorgan der Künstlerschaft an
das kunstgebildete Volk erhält eine Umstellung, zumal seit andere als vornehmlich
Künstler sich zu ihr berufen fühlen. Sie schiebt sıch als Interpretation zwischen
Künstler und Kunst der Vergangenheit und zwischen Künstler und Volk. _
Als eine wesentliche Eigenschaft des Kunsthistorikers wird Kennerschaft und
Kritik erforderlich, die sich zu vielseitigen Kenntnissen gesellen soll. Denn die
steigende Volksbildung zieht ein Verlangen nach Polyhistorie nach sich — eine
Erscheinung des Barock, der im Ungestüm seiner gestaltenden Kräfte möglichst
den gesamten Reichtum des Lebens begehrt.
Im Besitz der Kraft aber strebt man nach Maß und Harmonie, inneren Gesetzen
zufolge. So verwandelt sich auch das Ideal vollkommener Kiinstlerschaft: Man
sieht nicht mehr in Michelangelo, sondern in Raffael den Gipfelpunkt künstlerischen
Schaffens. | |
Der Fortschritt, den das Italien des 17. Jahrhunderts in der allgemeinen Ge-
schichtsforschung macht, bleibt nicht ohne Einfluß auf die Kunsthistorie. Ein
Streben nach wissenschaftlicher Genauigkeit macht sich geltend — was zum eifrigen
Erschließen neuer Quellen führt — und nach Straffheit im klargliedernden Aufbau.
Die Masse des Stoffes wächst bei ausgedehnter Quellenforschung. Die vielfältigen,
vorgefundenen Urteile über Kunstwerke der vergangenen Jahrhunderte rufen eigene
Stellungnahme hervor und damit die Neigung zu lebhafter Polemik. Aber kein
genialer Kopf bringt eine Synthese hinein.
Erst am Ende des 18. Jahrhunderts tritt ein Mann hervor, dessen wissen-
schaftliche Objektivität den schier unübersehbaren Stoff der italienischen Kunst-
geschichte bis zu seiner Zeit zu einem geordneten Ganzen zusammenfaßt, zu
einem „Pantheon italienischer Maler“): Luigi Lanzi. Wie erlösend diese an sich
bedeutende Tat seinen Landsleuten erschienen sein muß, geht daraus hervor, daß
sie ihn über Winckelmann stellten. Die deutsche zeitgenössische Kunstwelt wertete
kaum mehr als die übersichtliche Anordnung des Stoffes und seine Art der Quellen-
benutzung. In einem neu aufsteigenden Zeitalter, welches das gesamte Menschen-
geschlecht als einen geistigen Organismus in seinem lebendigen Werden betrach-
tete und demzufolge alle historischen Ereignisse unter großen Gesichtspunkten
innerer Entwicklung in die Gegenwart hineinbezog, mußte man — in Herderschem
Geist — beklagen, daß „die Geschichte der Malerei zu einer Nekrologie der Maler.
und Schulenanatomie geworden, welchen Leben und Bewegung fehlt, so daß das
Gesetz derselben, die Systole und Diastole, die Yarastelung und Vergliederung der
E. Heidrich: а. а. O., Nr. 22—25. J. Schlosser: Vorrede zur Neuausgabe von C. F. v, Rumohrs
„It. Forchg.“ (geht bis auf Alberti zurück). 1920.
(х) а. v. Quandt in seinem Vorwort zu Ad. Wagners Ausgabe des Lanzi: Geschichte der Malerei in
Italien. Leipzig 1830. Ital. 1. Ausgabe: L. Lanzi: Storia della Pittorica della Italia. T. I. .1792,
T. U, 2796. Vgl. auch: Ugo Segrè: Luigi Lanzi е le sue opere. Assisi Tipografie Metastasio.
1904 X. Dazu Kallab in den Kunstgesch. Anzzig. 1905.
х
Organe und Systeme nicht anerkannt wird!). Die Ungeduld der Forderungen kenn-
zeichnet in diesen die eigenen neuen Ziele. Eines Eklektikers verstandesklare
Gliederung des Stoffes und Neutralisierung des Urteils erschien untergeordnet
gegenüber dem freiwaltenden, umschaffenden Durchdringen des kritisch gesichteten
Materials. Schon in Lanzis Stil vermißte man die Originalität einer primären Pro-
duktion ). Seiner Kennerschaft wurde die Tiefe abgesprochen, die Sicherheit
innerer Wahrheit, weil er selten die Einfühlung besäße, um in das eigentümliche
Leben des Kunstwerkes einzudringen.
Damals wurde man den Verdiensten Lanzis nicht gerecht: Den Errungen-
schaften der vorangehenden Epoche in der Kunstgeschichtsschreibung einen Ab-
schluß geboten zu haben und zugleich eine feste Stufe für weiteren Fortschritt.
W. Kallabs und E. Heidrichs Augen sehen ruhiger und schärfer ).
Mit Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kunstgeschichtsschreibung mag an
uns vorüberziehen, was Lanzi mit der Epoche vereinte, die unter dem Zeichen
Vasaris stand und was er Neues mit sich führte. |
War sein Ausgangspunkt gleich dem Vasaris ein lokalpatriotisches Interesse, so
konnte dies doch in Anbetracht des ausgedehnten Gebietes, das er sich vorgesetzt
hatte, für die Darstellung nicht richtunggebend bleiben. Wie Vasari glaubte er
das Gesamtbild in der Summierung von Einzelbildern am anschaulichsten schildern
zu können, im Herausarbeiten einer künstlerischen Persönlichkeit, die Meister und
Schüler zugleich in sich begreift. Er wählt also die alte örtliche Einteilung nach
Schulen, gegliedert in Ober- und Unteritalien.
Vasari wendet sich derart an den Künstler, daß dieser sich selbst sein Ideal
aus der glorreichen Vergangenheit heraushole. Lanzi strebt im Sinne seines Vor-
bildes Mengs danach, den Idealkünstler oder die Vollkommenheit einer Entwick-
lungsstufe darzustellen. Die Gewissenhaftigkeit und der unermüdliche Fleiß dieses
Gelehrten bringt die Methode Vasaris zur Vollendung‘), Die Quellenforschung
dehnt sich über das enge Gebiet der Kunstgeschichte hinaus in das der politischen,
der Kirchen- und Literaturgeschichte; die Quellen werden einer Kritik unterworfen.
Lanzi legt Zeugnis darüber ab durch Angabe der Quellen, durch zitierte Belege.
„Lanzis historische Methode erscheint heute noch einwandfrei“, sagt Kallab von
ihr®). Kein Kunstschriftsteller vor ihm hat in gleichem Maße seine Denkmiler-
kunde durch Autopsie ergänzt. Lanzi strebt nach maßgebender Kennerschaft und
sucht auch hier subjektive Elemente auszuschalten, um für eine Erziehung zur
Stilkritik tauglich zu werden. Mit den modernen Werkzeugen seines Jahrhunderts
arbeitet er nach altem Vorbild. Auch seine Stilkunde bezieht sich auf die Schöp-
fungen eines Individuums und seiner Schule. Die Kunst letzten Endes als ein Pro-
dukt völkischen Geistes anzusehen und die Stilkunde zu einem Erkenntnismittel
der großen überindividuellen Züge ihrer Entwicklung zu gestalten, liegt Lanzi fern.
Winckelmann hat er noch nicht verstanden.
$
(1) A. Wagners Ausgabe a. a. O., Vorwort 8. XIV.
(а) Dagegen Kallabs Urteil über La klaren, pointierten Stil!
(3) W. Kallab in der angeführten Besprechung des Buches von Segrè. Noch Segre wertet wio die
Männer zu Beginn des 19. Jahrh., und E. Heidrich, a. a. O., 8. 325 - 27.
(4) Kallab: a. a. O., 9. 30: „Die Stärke des Buches liegt in der Darstellung. Wir werten heute viel-
fach anders; die Malerei des 13., 14. und 15. Jahrhunderts wüßten wir besser zu schildern. Für die
folgenden Jahrhunderte ist Lanzi unerreicht und ich wüßte kein Werk, das ihn zu ersetzen vermöchte.“
(5) Kallab, a. a. O., 8. 29.
99
Het Lanzi sich schon zu deutschen Einflüssen bekannt (Mengs zumal ist sein
„ästhetisches Orakel“), so ist ftir die italienische Kunstgeschichtsschreibung im
neuen Jahrhundert die französische und deutsche eine Voraussetzung. Des Grafen
Cicognara!) sorgfältige „Storia della Scultura“ weist methodisch nichts eigenartig
Neues auf. Die Gelehrtenwelt Deutschlands ist es, die einen Fortschritt in der
Entwicklung der Kunstwissenschaft herbeiführt.
Bei dem Erscheinen von Winckelmanns „Kunst des Altertums“ (1764) waren kaum
go Jahre verflossen, seit Deutschland sein erstes großes Lehrgebäude ftir die Kunst
in Sandrarts „Teutscher Akademie“ (1675—79) erhalten hatte?), diesem „Vasari“
in barocker Perücke.
Sandrarts Methode und Ziele sind die Vasaris; auch er schreibt für Künstler
und Kenner, und sein Maßstab ist: Virtuosität des Könnens. Dem panegyrischen
Ton des Italieners hält hier ein stark didaktischer die Wage, und seine Arbeits-
methode führt zur Begründung der Akademie. Sandrart vertritt sein Deutschtum
bewußt mit der Abfassung seines Werkes in deutscher Sprache, der Widmung an
einen deutschen Fürsten, dem Wunsche, daß auch dem deutschen Künstler ein
würdiger sozialer Rang angewiesen werde — und unbewußt in dem starken deut-
schen Zug (ein altgermanisches Erbe) über die Alpen nach Süden, den die Barock-
kultur begtinstigt: Italien und die Antike sind die ihn bestimmende Sphäre. Den
eitlen Prunk entlehnten antiken Wissens trägt er als Modegewand seiner Zeit.
Wie Sandrart das Material für sein Lehrgebiiude*) wählt, hat es unmittelbares
Interesse nur für den Künstlerstand und die ihm nahestehenden Kreise: er bietet
eine Standeswissenschaft. Erst Winckelmann verleiht dieser das Gepräge eines
Spezialfaches. Er verschmilzt das historische und das theoretische Element zu
einer Einheit von Lehrgebäude, so daß es in der Geisteswelt aller Gebildeten
seine Stelle behauptet. Er stellt die Kunstgeschichte auf eine ganz neue, breite
Basis, die bisher ungeahnte Möglichkeiten der Entwicklung verheißt, ordnet sie
der Universalgeschichte ein und macht sie zu einer Wissenschaft durch Anwendung
der Methode historischer Forschung‘).
Der Stoff, dem Winckelmann sich zuwendet, verlangt für eindringende Betrach-
tung eine von kunsthistorischer Konvention abweichende Einstellung des Geistes.
Das Gebiet ist ein zeitlich abgegrenztes, die antike Kunstgeschichte. Auch sonst
(1) Vgl. A. Philippi: a. a. O., 8. 67/68. Cicognara: Storia della Scultura dal suo risorgimento in
Italia fina а! весоіо di Napoleone per servire di continuazione alle opere di Winckelmann et de
d' Agincourt. 1813—1818.
(2) J. v. Sandrart: Teutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Malerkünste etc. Nürnberg 1675.
Vgl, Anm 8, 8.
(3) Rumohr charakterisiert Sandrart in einem Vorwort zu seinen Auszügen aus der Akademie im
Kunstblatt 1826, Nr. 6 folgendermaßen: „Joachim von Sandrart, ein Mann von billigem Sinn und ge-
sundem, deutschem Verstande, doch, wie seine Gemälde fürchten lassen, mehr mit Empfänglichkeit
für die Leistungen anderer als mit eigenem, ausgezeichnetem Kunsttalente ausgerüstet, schrieb um
die Mitte des 17. Jahrhunderts ein weitläufges Werk, welches teils Auszüge und Übersetzungen aus
italienischen und niederländischen Kunstschriften enthält, deren Wert gering ist, teils aber auch seine
eigenen Lebenserfahrungen und Reflexionen, welche, historisch und künstlerisch betrachtet, unschätz-
bar sind. — Wenige werden sich überwinden können, in dem Schwulste und den Weitschweifigkeiten
des starken Folianten auf die Ahrenlese ausgugehen. “ Vgl. auch Sponsel: Sandrarts Teutsche Aka-
demie, kritisch gesichtet. Dresden 1896. |
(4) Vgl. Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 1898. Е. Heidrich: a. a. O.,
8. 28—52. C. Gurlitt: Geschichte der Kunst (Deutsche Kunst des 19. Jahrh.) 1899, 8. op, J. von
Schlosser: Einleitung zur Neuausgabe der „Ital. Forschg.“ von Rumobr, 8. XI—XII.
scheint kein Zusammenhang mit der Gegenwart zu bestehen: Es liegt die Kultur
und Kunst eines fremdgearteten Volkes längst vergangener Zeiten vor. Nur die
geniale Intuition eines liebenden Geistes kann ihr Vorbild in seiner Wesenheit
wahr und rein erfassen. Voraussetzung für die Erkenntnis wird Objektivierung
des denkenden Geistes angesichts des historischen Tatsachenbestandes, und die
Maßstäbe der Bewertung sind lediglich aus dessen Eigengesetzlichkeit abzuleiten.
Ein subjektives Kennerurteil, herangebildet an den Errungenschaften der weiteren
Gegenwart, erweist sich als unzulänglich, ja unbrauchbar. Der Geist kann die
abgeschlossene Kulturepoche als ein Ganzes umfassen. Die Einzelerscheinungen
im künstlerischen Schaffen des Volkes fügt der Systembegriff nach den Gesetzen
von Grund und Folge in eine Gesamtheit ein. Der innere große Zusammenhang
hinter aller Vielfältigkeit der Akzidenzien tritt als „Stil“ hervor, dessen Ursprung
und Entwicklungsphasen denen der organischen Natur zu gleichen scheinen, in
Wachstum, Blüte, Verfall, verwurzelt im heimischen Boden.
Der tieferen Einsicht offenbart die Kunst in diesem Sinne die Geistesbeschaffen-
heit einer Rasse, eines Volkes innerhalb einer bestimmten Epoche. Alles Indivi-
duelle der schöpferischen Person, ihres Standes, ihrer Nation tritt zurtick. Ein
neues Menschheitsideal ersteht. An Stelle des Geistesaristokraten der Renaissance
beherrscht von nun an der Mensch schlechthin die Geschichte der Kunst. Für
Winckelmann ist der griechische Mensch, 6 xaldg х’ dyadös, Repräsentant des Hu-
manitätsideals, und seine Kunst hat kanonischen Wert. Hier liegt der Ausgangs-
punkt für den Klassizismus. Nach dem antiken Stil werden alle Kunstformen ge-
messen, nicht mehr nach der Natur. Nachahmung der gemeinen Natur ist ein
Merkmal für den Verfall einer Kunstperiode.
Wie die zeitgebundenen Werte vor der Historie zu Staub zerfallen, so heißt
fortan Kunstgeschichte schreiben: das innerste Wesen der Kunst deuten, aus dem
Wandel der Kunstformen — geschichtlich, wissenschaftlich festgestellten Indizien,
lebendig gemacht durch Denkmileranschauung.
Winckelmann vollzieht es an einem Ausschnitt: von allen Völkern und Rassen,
von aller geschichtlich bekannten Zeit ist es die klassische Antike der Mittelmeer-
völker in gegebener Zeitspanne. In geradliniger Folge, unter Verzicht auf das
gleichzeitige Wechselspiel der Einflüsse mannigfaltiger Kunstäußerungen aufeinander,
wird die Entwicklung dargestellt. Der Inhalt wird in künstlerische Form gebracht
— hinreißend ist die prophetisch-erhabene Sprache. Begnadet, das Wesen der
Schönheit zu erschauen, öffnet Winckelmann seiner Mitwelt das innere Auge zum
Verständnis der Kunst vor seinem Idealbild.
Diese Kunstgeschichtsschreibung ist der geniale Schöpfungsakt eines Gelehrten.
Das Rationale herrscht. Der Wesenskern der sinnlichen Einzelerscheinungen wird
begrifflich klargelegt. Aber das begriffliche Denken bestimmt auch die Sinnes-
eindrücke bei Winckelmann. Folgerichtig nach seiner Geistesbeschaffenheit hat
sein Auge die Ursprünglichkeit im Auffassen der Dinge verloren — nur die Ab-
straktion der Körperwelt, die Linie und die plastische Form, bei der das Sehen
Medium des Tastsinnes wird, sprechen sein Gefühl an. Die Farbe ist in ihrer un-
mittelbar sinnlichen Wirkung für seine Wahrnehmung belanglos ). Es ist wichtig,
diese Abhängigkeit des Gefühls vom Verstandesleben für die folgenden Betrach-
tungen des Kunstlebens in Erinnerung zu behalten.
(т) Vgl. dazu Kant, der alles, was Reiz oder Rührung bedeutet, aus dem Ästhetischen verwirft. So
ist ihm Farbe eine Beeinträchtigung des rein Asthetischen.
Winckelmann hat in Mengs!) seinen großen Verbündeten. Die gemeinsamen
Erkenntnisse, daß Stil das Wesentliche der Kunstformen, daß Schönheit ihr Inhalt
sei und beides im absoluten Charakter über jegliches Individuelle hinausgehe,
werden ihm zu Richtlinien für die Verwirklichung im Kunstschaffen.
Über die Unvollkommenheit des einzelnen kann nur ein Eklektizismus sieghaft
hinweghelfen; und Systematik allein wird die Realisierung der Vollkommenheit
ermöglichen. So bringt Mengs die Theorie der Kunstgeschichte in ein System“;
auch die Bildkritik, indem er dem Urteil eine Abschätzung der Qualitäten in einem
Kunstwerk durch Vergleich mit den tibrigen Schöpfungen des Künstlers selbst und
mit solchen anderer Ktinstler zugrunde legt; desgleichen die praktische Kunstlehre
in der Neubelebung der Akademien.
Bis in das 19. Jahrhundert hinein beherrschen die Mengs - Winckelmannschen
Kunstanschauungen, denen Lessing sich ergänzend anschließt, die Kunstwelt. Kunst
ohne Theorie ist für den „höheren“ Künstler undenkbar. Seine Originalität muß
er den Gesetzen der Schönheit — es gibt nur eine Schönheit nach Maßgabe der
Antike — unterordnen, denn eigenwillig subjektives Schaffen führt zum Verfall der
Kunst; es gibt nur einen guten Geschmack, der den reinen Stil erkennen lehrt.
Aber der Systemzwang des Klassizismus hält dem Leben nicht stand. In der
Kunstliteratur®), bis um die Wende des 19. Jahrhunderts, bricht es überall durch,
nicht in geschlossenem Strom, sondern ruckweise, oft nur in Ansätzen, aber als
Ganzes genommen eine Macht, die jene Erstarrung löst, welche der Klassizismus
heraufbeschworen. Die Persönlichkeit verlangt ihr Recht. Etwas Irrationales ist
sie, im Weltall einzig Dastehendes, und irrational ist ihre Kunstschöpfung. Die
Urkraft der gestaltenden Natur wird auch im Künstler primär wirksam und duldet
keine formale Einschränkung. Die Überlegung mag einmal Geschaffenes zusammen-
fassen, aber der Schlüssel zum Verständnis der Kunst ist das Empfindungsleben “).
Die Sinne sind die Tore der Seele. Das sinnliche Element der Kunst offenbart
die Seele, stark, tief im Eigenleben und wendet sich unmittelbar an das Gefühl des
Beschauers, nicht an seinen Verstand — weder durch Form noch durch Inhalt.
So stürmt und drängt es in der Kunstliteratur.
Hamann macht Schule mit seiner Ablehnung der Systemwut des Klassizismus,
Herder legt die Mängel der Winckelmannschen Kunstgeschichte bloß, — ein Philo-
soph unter Einfluß von Künstlern und Kennern tauge nicht zur Kunstgeschichts-
schreibung. — Er verlangt streng historische Grundlagen und prägt in vollem Ver-
ständnis für den Geist Winckelmanns, dessen Erkenntnis, daß die Kunst ein Pro-
dukt sei aus Volk, Klima und Landesbeschaffenheit, für die Gegenwart wie für alle
Zeiten und Völker um, in der Lehre vom organischen Wachstum der Erschei-
nungen. Im Gegensatz zur herben Sinnesaskese Winckelmanns steht Heinses
(х) Des Ritters Anton Raphael Menge. . . hinterlassene Werke, hrsg. von F Prange. Halle 1786.
U. Christoffel: Der schriftliche Nachlaß des Anton Raphael Mengs. Diss. Basel 1918. W. Waetzold:
Mengs als Kunsthistoriker. Ztschr. f. bild. Kunst, Heft VI, 1919.
(2) Mengs ist Schüler vieler kunsthistorischer Grundbegriffe. Auch Rumohr ist bemüht, solche fest-
zulegen.
(3) Vgl. Eberlein: Die deutsche Literärgeschichte der Kunst im 18. Jabrh. Diss. Karlerube 1916.
Er konstatiert die Entwicklung der Kunstgeschichtsschreibung in historischer Folge der Persönlich
keiten d. Verfasser.
(4) Wackenroder-Tieck: Flerzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. 1797. [Neuausgabe
von Jessen, Leipzig 1914.) W. Heinse: Ardinghello oder die glückseligen Inseln. 1787. (Neuausg.
Inselverlag 1902.) Vgl Cicerone, Febr. 1919. Wilbelm Waetzold, Kunstkritik aus Sturm und Drang.
J. J. W. Heinses Briefe aus der Düsseldorfer Gemildegalerie.
102
Rubens-verwandte Sinnlichkeit. Heinse legt auch die Notwendigkeit einer natu-
ralıstischen Kunst dar und fordert nach der neuen Gesinnung seiner Zeit eine
nationale Kunst. Winckelmann hat mit seiner Wiederentdeckung des alten Griechen-
lands das Blickfeld nach der Kunst des Orients hin geweitet. Bald dehnt es sich
nach Ägypten, Arabien, Persien und Indien aus durch den Vorstoß westeuropäi-
scher Interessen nach Ost. Das Kennenlernen fremder Nationalitäten bringt die
Eigenart der vaterländischen zu lebhafterem Bewußtsein, erregt die Begier nach
dem Studium heimischer Vorgeschichte und vertieft die Anteilnahme an den Nach-
barvölkern, zu deren Kultur die der eigenen Nation je in Verbindung gestanden:
sie stellt den Beschauer auf eine höhere Warte der Lebensschau, von der aus
die altgewohnten Denkformen zum Erfassen des Weltbildes nicht mehr gentigen,
sofern sie den Blick auf Einzelformen haften lassen. Andererseits kann nur wissen-
schaftliche Akribie bei der Forschung das Neue dem Verständnis erschließen. Man
findet einen neuen Inhalt im eigenen, farbenbunten Leben gegenüber dem, was der
Klassizismus biete. Man bemüht sich, das Denken den Vorgängen der Wirklich-
keit konform zu gestalten, groß, einheitlich und tief zu schauen.
Aber noch beschäftigen Einzelprobleme zu stark Herz und Sinn, und über dem
sich hingebenden Gefühl kommt kein Bedürfnis nach einem Gesamtbild der Kunst-
Außerungen auf. Noch treten auch die wissenschaftlich historischen Interessen
zurück hinter dem Bemühen, den Ausdruckswerten der Kunstwerke nachzugehen’).
Die Landschaftsmalerei gewinnt an Bedeutung, wie das Malerische überhaupt.
Hagedorns wundervolle Farbenempfindung in seinen Bildbeschreibungen, seinen
Beiträgen zur kritischen Geschichte der Farbgebung scheint den Symbolismus der
Romantik wie die wissenschaftliche Betrachtung eines Goethe — in seiner Farben-
lehre — vorwegzunehmen. Der junge Goethe spürt die Ausdruckskraft primitiver
Völker und früher Zeiten in der Negerkunst, in der Gotik.
Ein neues Weltgefühl in den Romantikern) schafft eine neue Kunst. Man
sucht den Kosmos, dem man angehört, als Einheit zu . begreifen. Der Blick
‚ist auf das Ewige, Unendliche gerichtet und zugleich auf die Natur, die jenes
offenbart. Die Philosophie führt den romantischen Geist vor das Bewußtsein der
göttlich-ewigen Erhabenheit des Weltganzen, und die Seele neigt sich in tief reli-
giösem Gefühl. Den Dingen dieser Welt kommt eine vertiefte Bedeutung für die
Erkenntnis der Wahrheit zu, denn sie sind Symbole für einen in ihnen beschlos-
senen Ewigkeitswert. Das Höchste ist unaussprechlich, es kann nur allegorisch
ausgedrückt werden: „Alle Schönheit ist Allegorie“. Eine verfeinerte, wache Sinn-
lichkeit erfaßt die Erscheinungen, die ein Gefühl von mystischer Tiefe in einer be-
seelten Kunst zu durchleuchten und über die Vergänglichkeit zu erheben sucht.
Das neue Verhältnis der Romantiker zur Natur führt auch für die Theorie der
Kunst eine Umstellung herbei. Der Streit über die Nachahmung der Natur hat
seit Batteux durch Karl Philipp Moritz?) mit der Umwertung des Wortes auf „Nach-
eiferung“ eine ruhigere Wendung bekommen. Den Romantikern löst sich diese
(1) L. v. Hagedorn: Betrachtungen über die Malerei 1762. Über Hagedorn: Justi, Winckelmann und
seine Zeit. — W. a. Briefe an L. v. Hagedorn, hrsg. von Torkel-Baden. Leipzig 1897. Kunst-
chronik 1919, Nr. 37.
(2) R. Haym: Die Schule der Romantik. Berlin 1870. Stefan Waetzold: Goethes Verhältnis sur
Romantik. Leipzig 1903. H. Stöcker: Zur Kunstenschauung des 18. Jahrhunderts. 1904 Palaestra 26.
М. Joachimi-Dege: Die Weltanschauung der Romantik. Leipzig 1916. Ricarda Huch: Biütezeit der
Romantik. Leipsig 1916. F. Walsel: Deutsche Romantik. Leipzig 1918.
(3) Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig 1788.
103
Frage leicht. Denn sie vereinigen den Gedanken Hamanns, mit „Natur“ nicht nur
das natürlich Gewordene, sondern auch die verborgene Schöpferkraft, die ea,ge-
staltete, zu verstehen, mit der Geschichtsauffassung Herders, nach der alles Men-
schenwesen- und Erleben dem Organismus der gesamten Natur eingeordnet und
ihm analog aufgefaßt wird. Man soll schaffen, wie die Natur. Hiermit führen sie
zugleich die Genielehre des Sturms und Drangs zu einer Klärung und Reife. Genie
sein heißt, den üppigen Reichtum, die absolute Kraft des Schöpfertums derart be-
sitzen und beherrschen, daß sie nach der Eigengesetzlichkeit des genialen Menschen
— dieses Mikrokosmos, dieses höchstentwickelten Spiegels des Alls — in feste
Formen gebändigt werde. So wird ein rationales Element dem Irrationalismus
des Sturms und Drangs beigefügt; andererseits wird der Künstlerindividualität wie
zur Zeit der Renaissance eine Souveränität zugesprochen. In der Kunstliteratur
ist das Interesse für das Einzige, Einzelndastehende wieder bemerkbar. Man greift
auf Vasari und Sandrart zurück. Wenn — trotz Mengs! — Merck wieder eine
pragmatische Geschichte der Kunst will, Hagedorn es sich zur Aufgabe macht,
Sandrart in bezug auf die Künstler des 18. Jahrhunderts zu ergänzen, wenn die
einzige große, zusammenfassende Kunstgeschichte der Zeit, die Fiorillos!), eben-
falls der pragmatischen Methode Vasaris folgt, hat es wohl eben diesen tieferen
Grund. Bis zu Fiorillo findet man in Teilarbeiten sein Gentige, in prachtvollen
Gemildebeschreibungen (die als Interpretation des künstlerischen Gefühls, wie
es der Maler darbot, im Wort der Ausdrucksfähigkeit des Pinsels gleichzukommen
wünschen?) in wissenschaftlich eingestellten Abhandlungen über technische und
theoretische Fragen, Biographien von Künstlern. Von der Seite der Literaten aber,
aus den vorwiegend ästhetisierenden Gedankenkreisen kommt eine Gefahr: „Die
Träume und Phantasien poetischer Rhapsoden“ ). Man scheint den Boden unter
den Füßen zu verlieren.
Die Romantiker sind der Lösung des großen klassizistischen Problems nahe-
gekommen, wie die Normen, die Winckelmann mit der griechischen Kunst auf-
gestellt hat, auf jedes Volk auch unter anderem Himmelsstrich zu übertragen seien.
Von dem Herderschen Standpunkt, die Kunst verschiedener Völker nach den Ge-
setzen ihres historischen Werdegangs einzuschätzen, haben sie das Land der Ver-
heißung erschaut. Ein Friedrich Schlegel, ein Schelling erstreben eine Darstellung
der inneren Entwicklung moderner Kunst. Aber es fehlt ihnen an umfassender
Denkmälerkenntnis; zu einer Synthese gelangen sie nie. Es ist bemerkenswert,
daß es der „romantische Philosoph xar’ &Soyijy“, Schelling war, der als erster die
Ästhetik als integrierenden Bestandteil in das System der Philosophie aufnahm‘).
Auch Goethes Genius findet nicht die Lösung. Aus dem Anhänger Herders
ist ein strenger Vertreter des Klassizismus geworden, der aus Sehnsucht nach
absoluter Harmonie, wie sie in der griechischen Kunst sichtbar wird, seine
(2) J. D. Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten
Zeiten. Göttingen 1801 u. a, in Deutschland und den vereinigten Niederlanden 1813, Hannover.
(2) Vgl. Asterius: од dé yap gavddteo: ndvtws збу (юуоброу ol uovoðv naldes Eyousy gdoucxe, Gleiche
Bestrebungen sind іп der französischen Kunstliteratur im 18. Jahrbundert zu verfolgen.
(3) Rumohr in Raczynskis Kunstgeschichte Kap. XII. Rumohr war Gegner der „Idealisten“, der mo-
dernen Gefühlsschwärmerei und Stimmungskunst. A. Hagen berichtet u. a. von seinem Angriff auf
Caspar David Friedrich.
(4) Rumohrs enger Zusammenhang mit der Weltanschauung der Romantiker, trotz seines Positivis-
mus, zeigt sich in der nahen Berührung mit Schelling hier: auch er will die Kunst allen Geistes-
wissenschaften vorangesetst sehen.
304
Tafel 19
Groeger pinx. Vogel von Vogelstein
Semmler (nach einem Gemälde von Scheider) Marstrand pinx.
Zu: ANTONIE TARRACH, STUDIEN UBER DIE BEDEUTUNG CARL FRIEDR. V. RUMOHRS
FÜR GESCHICHTE UND METHODE DER KUNSTWISSENSCHAFRT.-
M. f. K. Bd. 1,1921 маф Lictbildern im Besitz des Kupferstich-Kabinetts der Universität Halle-Wittenberg.
EEE 2 —— 2
nordische Natur griechischem Geschmack und griechischen Regeln anzupassen
trachtet. Man hat dies ein retardierendes Moment für die Zeitströmung der Kunst
genannt. Gundolf hat in dem Gleichgewicht der Goetheschen Natur die psycho-
logische Rechtfertigung gefunden!). Zeitgenössisches Urteil, auch aus dem Gegen-
lager, lautet einsichtig: Goethe und seine Weimarischen Kunstfreunde „haben den
neueren Kunstbestrebungen günstig vorgearbeitet, indem sie die Kunst an sich
selbst der Aufmerksamkeit aller gebildeten und höhergestellten Personen sehr
lebhaft empfehlen“). Um „in das wahre, innere Wesen der Kunst“ einzudringen,
hatte Winckelmann die Forderung aufgestellt, daß ein Bild ihrer Geschichte in
erster Linie auf Anschauung begründet werden müsse; denn Urteil und Empfin-
dung solle unmittelbar vor den noch vorhandenen Kunstwerken der Alten statt-
haben. Goethe spitzt diese Forderung noch schärfer zu, indem er ein anschau-
liches Denken dem begrifflichen entgegensetzt, also künstlerisches Denken dem
philosophischen. Das ist ein künstlerisches Moment. Künstlerische Fragestellungen
treten damit auf — über Farbe, Komposition, Physiognomik, über Landschafts-
und Blumenmalerei — und werden auf eine neue, wissenschaftliche Weise be-
handelt. Kritische Untersuchungen sollen der Entwicklung der Kunst nachgehen
Gesammeltes soll kritisch gesichtet, also von Zufälligkeit der Betrachtung befreit
werden. Dilettantisches Umherschweifen macht ernster, wissenschaftlicher Ab-
sicht Platz. Der Künstler Goethe schafft sich mit seiner Fähigkeit, lebensbunt zu
schauen, den harmonischen Ausgleich zu Winckelmanns farbloser Welt griechi-
scher Formen und Linien. Der Wissenschaftler Goethe erfaßt die Methodik Winckel-
manns recht für eigene Wege kunsthistorischer Forschung. Seine Arbeiten auf
diesem Gebiet sind Ansätze, deren Ausbau der späteren Kunstwissenschaft vor-
behalten blieb. Aber die Reife seiner Einsicht offenbart sich ganz in dem Plan
einer großen Geschichte der italienischen Kunst, in der geographische, klimatische,
kulturhistorische Faktoren berlicksichtigt werden sollten. Er faßte ihn gemeinsam mit
Heinrich Meyer, seiner Autorität für kunsthistorisches Wissen®). Meyer war
der Verwirklichung der Goetheschen Entwürfe nicht gewachsen. Er besaß weder
Intuition, die ihn aus einer Begrenzung durch tibernommene Ansichten (Vasaris
Theorie, Winckelmann -Mengssche Orientierung) herausgehoben hätte, noch den
wissenschaftlichen Sinn historischer Kritik.
Die von Goethe hierbei erstrebte Nachfolge Winckelmanns war schon, in
anderer Weise, von dem großen französischen Kunsthistoriker Séroux d’Agincourt
angetreten worden. In seiner „Histoire de l'art par les monuments depuis sa dé-
cadence jusqu'au XVlieme siécle“) wandte er zum erstenmal auch für die neuere
Geschichte der Kunst Gesichtspunkte der Periodisierung an, die, auf historischer
Basis, einheitliche Züge der Entwicklung aufdecken konnten. Er begann, wo
Winckelmann aufgehört hatte und berücksichtigte als erster die Entwicklung der
altchristlichen Kunst. Vor ihm hatte sich noch niemand daran gewagt, ein so
ungeheures Gebiet als Gesamtheit zu behandeln. Der Reichtum des wissen-
(х) Gundolf: Goethe. Berlin 1918, 8. 384. Siehe Deutsche Rundschau 1919, Oktober.
(э) Rumohr in Raczynskis Kunstgeschichte, Kap. XII. Daselbet der Vorwurf R.s, Goethe, dieser
große Genius, versetze die Kunst aus dem Gebiet der realen Beziehungen in das der ästhetischen
Annehmlichkelt.
(3) Eberlein, a. а. O., Kap. Ш, 8. эз.
(4) Paris 1811—1823. Vgl. Philippi, Begriff der Renaissance. Leipzig 1913. Kap. X u. Н. Tietze:
Methode der Kunstgeschichte, 8. 70.
105
schaftlich geordneten Materials und dessen Darstellung in kausalem Zusammen-
hang lassen das Werk als ein prachtvolles Eingangstor der Kunstwissenschaft
erscheinen.
Rumohr benutzte es — schritt hindurch und fand, ohne den Anspruch, ein ähn-
lich monumentales Werk zu schaften, den Weg, den Goethe von ferne erschaut
hatte.
BEURTEILUNG RUMOHRS BIS ZUR GEGENWART
Carl Friedrich von Rumohr wurde ein Menschenalter lang übersehen, dann ge-
legentlich in seiner Bedeutung gleichsam in großen Umrissen wieder erkannt.
Schulz. Als im Jahre 1844 Heinrich Wilhelm Schulz!), noch unter dem Ein-
druck der Persönlichkeit Rumohrs, der 1842, siebenundfünfzigjährig, gestorben war,
ihm in dem kleinen, doch umfassenden Buch über den Verlauf seines Lebens und
über seine Schriften ein Denkmal gesetzt hatte (dem C. G. Carus, der Arzt, ein
Nachwort über die physische Konstitution und Schädelbildung, sowie über die
letzte Krankheit Rumohrs beifügte), gab sich die Nachwelt mit diesem knapp und
sachlich klar umrissenen Bilde zufrieden. Sein Gedächtnis als Kunsthistoriker blieb
nur wenig länger als ein Jahrzehnt nach seinem Tode in Erinnerungen, Betrach-
tungen über seine Beziehungen zu Zeitgenossen, einer Abhandlung über seine
hinterlassene Kunstsammlung lebendig. Auch G.Poel berichtet in der „Allgemeinen
deutschen Biographie“, Bd. 29, 657 nichts, was über Schulz hinausginge.
Lotze. Rumohrs Kunsttheorie, die den seit Batteux ausgiebig erörterten Fragen
über die Nachahmung der Natur, Ideal, Stil, Manier auf den Grund zu gehen und
sie klar zu beantworten sucht, beschäftigt noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts Hermann Lotze. Im 5. Kapitel des 3. Buches seiner „Geschichte der
Ästhetik in Deutschland“ (München 1868) unterwirft er sie einer Kritik. Feinfühlig
wägt der Philosoph Rumohrs polemischen Erörterungen gegenüber Lessing und
wird beiden gerecht. Rumohrs Ästhetik gilt Lotze als eine wichtige Stufe in der
Entwicklung der Kunsttheorie, und bei der Klärung ihrer Probleme ist nicht nur
Lotzes hochgestimmte Persönlichkeit, sondern sind auch die fortgeschrittenen Kunst-
anschauungen seiner Zeit zu spüren, wie sie auf Rumohr auf bauen ).
Vischer. Robert Vischer in seinen „Studien zur Kunstgeschichte“ (Stuttgart 1886)
ist, meines Wissens, bisher der einzige, der sich durch Rumohr auf einem beson-
deren kunsthistorischen Gebiet zu genauen und ernstlichen Auseinandersetzungen
hat anregen lassen“). Er vertieft sich in das Studium Giottos, findet jedoch bei
Rumohr nicht den Widerhall seiner eigenen Wertschätzung, nicht Gerechtigkeit
für die Beurteilung und Anerkennung von Giottos Genie; so bricht er eine Lanze
für den urkräftigen, natur voll reichen Meister früher Kunst in der Studie „Rumohr
und Giotto“ ). Vischer blickt mit überraschender Selbstverständlichkeit zu Rumohr
auf als dem „gründlichen Forscher, dem feinen Kenner und eindringlichen Kritiker,
den wir als überlegenen Führer und Lehrmeister zu betrachten gewöhnt sind“.
(1) Das Buch erschien in Leipzig.
(2) Lotse beginnt die Charakteristik Rumohrs mit feinem Scherz: „Auf sehr anschauliche Weise
führen uns in den Streit der Ansichten die Eingangskapitel zu C. F. v. Rumohrs italienischen For-
schungen (Berlin 1827). so anschaulich, daß selbst auf die Darstellung des geistreichen Kunstkenners
etwas von der Undeutlichkeit seines Objekts übergeht.“ (8. 597.)
(3) Rumohr und Giotto,
(4) Vgl. Rıntelen: Giotto und die Giotto-Apokryphen. München 1912.
106
Stillschweigend, in scheinbarem Dunkel der Vergessenheit, hat sich Rumohrs Auto-
rität wirksam gemacht, seiner Art getreu, von der schon Bettina Brentano!) zu er-
zählen weiß: — „macht übrigens wenig Lärm“.
Kraus. Fr. Xaver Kraus gibt zu Anfang seiner „Geschichte der christlichen
Kunst“ (Freiburg 1896, Bd. I) einen Überblick über die Entwicklung der Kunst-
geschichtsschreibung und würdigt (8. 14—16) Karl Friedrich von Rumohr endlich
wieder als den Begründer einer Kunstgeschichte der mittleren und neueren, also
auch christlichen Zeit. Er verweist darauf, daß Rumohr der Kunstgeschichte nicht
allein durch gewissenhafte archivale Forschungen eine historisch gesicherte Grund-
lage geschaffen, sondern auch mit seiner Kunsttheorie bisherige Unklarheit über
Begriffe wie Natur, Idee, Typus u. a. aufgedeckt und richtig zu stellen gesucht
habe. „Damit war der einzige Standpunkt gewonnen, von welchem aus die Exi-
stenzberechtigung einer christlichen Kunst und endlich deren Ebenbtirtigkeit mit
der antıken erkannt und festgehalten werden konnte.“ Damit, daß Rumohr an
dem Beispiel der Griechen auf die „innere, notwendige, gegebene Bedeutsamkeit“,
die „über alle Gebilde der Natur verbreitet ist“, alle bildende Kunst gestellt wissen
will, „war der Punkt gewonnen, von welchem aus die innere Bedeutung der Re-
naissance in ihrem Verhältnis zu der ihr vorausgehenden des frühen Mittelalters
und des Altertums zu würdigen war“.
Wie Kraus die Vorbedingungen zu charakterisieren gewußt, die Rumohr den
Boden bereitet hatten, so erkennt er die reifen „Früchte für die allgemeine Kunst-
geschichte“ darin, daß „kaum zehn Jahre nach dem Abschluß — der Italienischen
Forschungen — man schon die ersten Versuche zusammenhängender Darstellung
des weit auseinanderliegenden Stoffes wagen konnte“. Die „der Winckelmann-
schen Auffassung noch anhaftenden Mängel“ waren durch die Ausbildung des
historischen Sinnes in Rumohr, als Kind seines Jahrhunderts, beseitigt.
Gurlitt. Cornelius Gurlitt beleuchtet in seinem 1899 (Berlin) erschienenen
zweiten Bande zum Neunzehnten Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung: „Die
Deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Ziele und Taten“, S. 147 ff.
den entschiedenen Einfluß Rumohrs auf die zeitgenössische junge Künstlerwelt.
Er hebt den Hinweis Rumohrs auf die Einfachheit in der Natur, auf die in ihr
beschlossene, vielfältige Schönheit, auch im Naheliegenden, auf die Unmittelbarkeit
im Studium hervor; schildert seine praktischen Ausbildungsversuche an den beiden
jungen Malern Horny und zumal Nerlich, doch mit einem melancholischen Blick
auf das Fehlschlagen seiner „gewiß guten und verständigen Absicht“. Sind die
jüngeren Maler der Folgezeit mehr nach Rumohrs Wunsch, so scheint das —
nach Gurlitts Zeilen — zufällig zu sein, blieben doch seine praktischen Ratschläge
und seine Kritik an dem Unterrichtssystem der Akademien unbeachtet (S. 194).
Aber die fortschrittlichen Ideen des „vornehmen Kunstkenners“ tauchen in Gurlitts
Buch oft auf, als ein Ferment betrachtet für die Neugestaltung der Kunst und
Kunstwissenschaft. Es sind „die Anschauungen eines vertieften, weil rein künst-
lerischen Realismus“, die Rumohr vertritt, dem es zwar „an philosophischer Schu-
lung fehle, — der aber zu den wenigen Gelehrten der Zeit gehört, die ein un-
mittelbares Verhältnis zur Kunst hatten“ (S. 155). Den „Drey Reisen nach Italien“
widmet Gurlitt eine ausführliche Besprechung (S. 156 ff.), denn moderner Geist
liege in dem Buch durch die allgemeine Absage an die romantische Ästhetik, ja,
jede Art von Theoretisieren, Gesetzemachen, Beschränken durch Regeln und durch
(1) Vgl. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Bd. II, бо.
107
den feinen Blick für das Künstlerische" (S. 156f.), der Rumohrs Kennertum be-
zeichnete; und dies war vielseitig, weil kunstgeschichtlich nicht nur ästhetisch vor-
gebildet. Gurlitt geht des weiteren auf Rumohrs Kunstanschauungen ein. Den
Wert seiner kunstwissenschaftlichen Arbeiten erkennt er in dem fördernden und
anregenden Prinzip und der festen, geschichtlich begrlindeten Basis. „Die Kunst-
wissenschaft hat Rumohr zu danken, daß er ihr durch seine Italienischen For-
schungen ein neues Verhältnis zur italienischen Kunst gab, auf dem dann Jakob
Burckhardt und andere weiterbauten“ (S. 321).
Fr. Meyer. In einer biographisch-kunsthistorischen Studie über Friedrich Nerly,
im 28. Heft der Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde
von Erfurt 1907, entrollt Franz Meyer ein frisches, lebendiges Bild von Rumohrs
Werk als Künstlererzieher, das allerdings der anekdotischen Momente nicht ent-
behrt. Im Gegensatz zu Gurlitt hält Meyer dafür, daß aus dem vortrefflichen
Material der künstlerischen Begabung Nerlys unter der sorgsamen und weisen
Pflege des edelherzigen Freiherrn eine köstliche, wenngleich nicht vollkommene
Frucht hervorging. In seinem Schützling sucht Rumohr zu erreichen, was an
eigenem „Können hinter dem Wollen“ auf dem Gebiet der bildenden Kunst zurück-
blieb und sicht seine Erwartungen übertroffen. Friedrich Nerlich seinerseits hätte
keinen besseren Lehrmeister finden können: er wird unmittelbar an den reinen
Queli alles Lebens und aller Kunst, die Natur, geführt von diesem Mann, dessen
„bewundernswertes Gefühl für alles Rechte in der Kunst und deren Entstehung“,
dessen tiefgründiges Sachverständnis, das aus seiner Kunstsammlung hervorgeht,
und dem „bei der wunderbar reifen Objektivität seines Urteils niemals die innige,
nachschaffende Liebe verloren ging, ohne die es weder Genuß noch wahre Inter-
pretation eines Kunstwerkes geben kann“, den vertrauenswürdigsten Einfluß verbürgte.
Würmer ist Rumohr als Erzieher noch nie dargestellt worden — auch nicht in
seinem Selbstporträt, dem Edelmann in den „Deutschen Denkwürdigkeiten aus
alten Papieren“ (Berlin 1832).
Gaedertz. Mehr von der Persönlichkeit Rumohrs angezogen als mit einem
objektiven Interesse an der Bedeutsamkeit seiner wissenschaftlichen Forscherarbeit
schildert Karl Theodor Gaedertz in den „Gedenkblättern zu seinem sechzigsten
Geburtstage“ ) Rumohrs kunsthistorische Laufbahn. Briefe an Friedrich Schlegel
und Barthold Georg Niebuhr aus den Jahren 1814 bis 1821 bilden die Grundlage
und den vornehmlichen Bestandteil der interessanten Darstellung seiner Bestre-
bungen, „überall mit feinstem Sptirsinn der Kunst in ihren verschiedenen Phasen
und Erscheinungen nachgehend“, als Bahnbrecher neue Wege weisend, zum För-
derer des guten Kunstgeschmacks bei Volk und Fürst zu werden, als Miizen von
autoritativer Kennerschaft zeitgenössischen Talenten Geltung zu verschaffen, und
eine Pflege der heimatlichen Altertümer in größtem Umfange anzuregen. Doch
über Rumohrs kunstwissenschaftliche Verdienste wirft Gaedertz nur ein Streif-
licht, indem er sein Urteil über die „Italienischen Forschungen“, das „grundlegende
Werk“, in den Ratschlag Wilhelm von Humboldts an den jungen Rauch faßt, „er
solle dies Buch ja mit nach Italien nehmen, es scheine ihm das erste, was über
Kunstgeschichte in echt historischem und echt ktinstlerischem Geiste geschrieben sei“.
Philippi. In diesem letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts findet Rumohr die
angemessene Schätzung als Kunsthistoriker bei Philippi (Begriff der Renaissance,
XVI, 122—123. Leipzig 1912). Zwar steht er zu stark unter dem Eindruck von
(z) In K. Th. Gaedertz: Was ich am Wege fand. Blätter und Bilder aus Literatur, Kunet und
Leben. Leipzig 1905.
108
Rumohrs künstlerischer Begabung, um ihn als Mann der Wissenschaft anerkennen
zu wollen; aber er spricht ihm durchaus nicht den Erfolg ab, mit dem seine auf
anschaulichem Denken basierende Künstlernatur sich bestrebt, den Ausdrucksformen
im Kunstleben bis auf die Anfänge nachzugehen, sie auf begrifflich wissenschaft-
liche Weise zu bestimmen und festzulegen. Philippi sieht in ihm einen Bahn-
brecher, wie einst Kraus; er stellt Rumohrs „Italienische Forschungen“ Schnaases
„Niederländischen Briefen“ an die Seite in dem Verdienst, zum erstenmal für die
neuere Kunstgeschichte getan zu haben, was Winckelmann für die Antike zuerst
durchgeführt hatte.
Auch im einzelnen erscheint ihm Rumohr wegweisend. In dem Entwurf einer
Geschichte der umbrisch-toskanischen Kunstschulen für das 15. Jahrhundert findet
er die kritisch gesicherten Grundlagen für die florentinische Frührenaissance; für
die Baptisteriumspforten habe erst Rumohr uns die Augen geöffnet; seine Be-
obachtungen über Leonardo als Neuerer, über das Eindringen der Renaissance-
formen in die Gotik seien beachtenswert, wie oft seine treffenden Bemerkungen
über das Allgemeine der Erscheinungen.
Damit umreißt Philippi in großen Zügen die Bedeutung Rumohrs für die Kunst-
geschichtsschreibung als epochemachend.
Tietze. Hans Tietze in seinen Untersuchungen über „die Methode der Kunst-
geschichte“ (Leipzig 1913) erkennt eine Neufundierung der Kunstgeschichte nicht
Rumohr, sondern Kugler zu (S. 70ff.). Eine Gliederung kompilierten Stoffes durch
eingehende und durchdachte Periodisierung war schon der Fortschritt Séroux
d’Agincourts’) gegenüber Fiorillo?) gewesen. Den deduktivspekulativen Konstruk-
tionen der nächsten Jahrzehnte, die unter dem Einfluß Herderscher Erkenntnisse
vom organischen Wachstum und Zusammenhang der Erscheinungen standen, fehlte
die historische Grundlegung. Der vertieften Synthese eines Hegel und Friedrich
Schlegel fehlte das Gegengewicht einer Detailkenntnis. „Zu einer außerordent-
lichen Leistung verbinden sich spekulative Kunstbetrachtung und Denkmals-
forschung in Rumohrs Arbeiten.“ „Die Umwandlung der Künstlergeschichte in
die Kunstgeschichte führt zu einer neuen Durcharbeitung des nationalen Denkmal-
besitzes, deren großartigster erster Erfolg in Italien die geniale Synthese von
Rumohrs „Italienischen Forschungen“ war (S. 74). Zwar ist Rumohr für alle
späteren Untersuchungen maßgebend, wo er auf der gesicherten Basis eigener
Denkmälerkenntnis ruht, aber nicht, wo er sich auf noch dürftige universslgeschicht-
liche Vorarbeiten stützt, wie in den „Fragmenten einer Geschichte der Baukunst
im Mittelalter“ und in der Abhandlung „Über den Ursprung der gotischen Bau-
kunst“ — „bei aller Genialität der Synthese und trotz des tiefsten Einblickes in
die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Entwicklung.“ Die rein historische
Erforschung des künstlerischen Tatbestandes innerhalb des allgemeinen geschicht-
lichen Verlaufs und auf Grund historischer Arbeitsweise, mit Einbeziehung der
antiken Kunst, habe erst Kugler?) geleistet.
Stock. Das sind bis auf die jüngste Gegenwart die letzten methodologischen
Erwägungen, zu denen Rumohr Veranlassung gegeben. Seine Persönlichkeit, wie
sie aus dem unmittelbaren Eindruck eines Briefwechsels lebendig wird, hat
(1) Séroux d’Agincourt: Histoire de l'Art par des Monuments. Paris 1811—1823.
(2) J. D. Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den Vereinigten Nieder-
landen з) und in Italien etc. von 1798. Göttingen und Hannover 1815.
(3) F. Kugler: Kunstgeschichte 1842. Stuttgart.
109
Friedrich Stock zu eingehenden Studien angezogen. Im Oktoberheft von „Nord
und Süd“ 1912 hat er einen Brief Rumohrs an Christian Carl Josias von Bunsen
veröffentlicht und würdigt in seiner Vorrede den „hervorragenden Kenner und Be-
gründer einer wissenschaftlich-organischen Behandlung der italienischen Kunst-
geschichte“, den „dritten Gesetzgeber der Künste“.
Die „Mitteilungen aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Carl Friedrich
von Rumohr“ im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen 1914 (Bd. XXXV) weisen
das reiche Leben dieses Forschers und „Liebhabers der Wissenschaften und Künste“
in den Jahren, über denen der Zauber seiner Freundschaft mit dem feinsinnigen
und liebenswürdigen Fürsten liegt.
In den frühen Jahren der Entwicklung (1811 — 20), da noch Rumohr als Künstler
nach Entfaltung seiner bildnerischen Kraft strebt und er zugleich kritisch die Ge-
setze zu ergründen strebt, nach denen „das Ewig-Künstlerische und Schöne“ ward,
geben die „Briefe Rumohrs an Robert von Langer“ (1919) Einblick.
In seinen „Mitteilungen“ legt Stock das Gewicht seines Urteils auf den Kritiker
Rumohr, der, erdensicher und erdenfroh, als „erster, reiner und großer Vertreter
des neuen Jahrhunderts Befreier wird auf dem Gebiet der Ästhetik der bildenden
Künste, ein Schönheitsiehrer wird, wie Lessing, der Stifter einer neuen Wissen-
schaft, wie Winckelmann“. In der Vorrede zu den Briefen an Langer setzt Stock
vor allem der reformatorischen Wirksamkeit gegenüber der Kunsttheorie und
-wertung seiner Zeit und Vorzeit ein Denkmal. Als erster weist er nach, daß die
kleine, frühe Schrift „Über die antike Gruppe Castor und Pollux...“ die Reforma-
tionsthesen der Kunsttheorie enthalte, die leitenden Grundgedanken, die in den
„Italienischen Forschungen“ zu reifer Darstellung gelangen. Rumohr, der „Anti-
Winckelmann“, geht unbeirrt in selbständig kritischem Denken den großen Pro-
blemen klassizistischer Kunsttheorie nach. „Das Problem der Originalität entschied
er völlig und beschloß die Kritik der Idealbegriffe und die nachfühlende Zer-
legung des künstlerischen Schaffens.“ Das Idealische bestimmt Rumohr als die
Wahrheit künstlerischer Wirkung. Entgegen dem Klassizismus gibt er dem Blick
für das Wesen der Kunst eine neue Einstellung: „Über den Wert eines Kunst-
werkes entscheidet nicht der Stil der Zeit, sondern der Stil der Persönlichkeit, die
Originalität“, die er im Grunde des Geistes findet, der mit unablässigem Eifer in
die Heiligkeit der Natur eindringt. „Unendlich höher als die Kunst anderer steht
dem Künstler die Natur, in deren Studium Winckelmann nur Zeitvergeudung sieht
und die Nachahmung klassischer Kunstwerke anempfiehit. Rumohr stellt sich als
ein Überwinder dar: „Er dringt überall auf das Letzte, in der Kunst auf Schöpfer-
tum und Naturanschauung, in der Wissenschaft auf deutliche Begriffe und kritische
Erforschung der Quellen und zieht aus allem die große, einfache Summe.“
Stock ist mit Wärme und Intensität Rumohr nachgegangen und ebnet durch
seine genauen und wertvollen Anmerkungen und Literaturangaben zu den Ver-
öffentlichungen der Briefe die Wege zu neuen Einblicken in das Leben und Wirken
Rumohrs. l | |
Schlosser. Erst im Oktober 1920!) erschien die willkommene Neuausgabe der
„Ital. Forschung“ mit der,,Beygabe zum ersten Bande der Italienischen Forschungen“
und einem Bildnis. (Frankfurter Verlagsanstalt.) Julius v. Schlosser läßt damit
(1) Mehr als ein halbes Jabr nach Abfassung dieser Dissertation erschien die Arbeit J. v. Schlossers
über Rumohr, über die ich einige Worte nachtrage. Stocks Briefe an Langer waren kurze Zeit vor
Schlossers Buch in meine Hände gelangt.
110
unserem Zeitalter das Urbild des einst epochemachenden Werkes wiedererstehen,
indem er pietätvoll die Unantastbarkeit des Originals durchhin gelten läßt. Seine
einleitenden Betrachtungen über „Carl Friedrich von Rumohr als Begründer der
neueren Kunstforschung“ sind — bei aller Konzentration auf seine Verdienste um
die Kunstwissenschaft — die umfassendste und weitzügigste Darstellung Rumohrs,
die bisher erschienen ist. Ein Blick über den Entwicklungsgang der Kunst-
geschichte und Kunstlehre, von ihren Anfängen bis in das 10. Jahrhundert, erhellt
und vertieft das Verständnis für die Bedeutung seiner Erkenntnisse und deren um-
schaffenden Wert. Wiederum wird auch der Weg bezeichnet, der von diesem
„Ahnherrn der kunstgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts bis zur, Wiener
Schule‘ und zur großen norddeutschen Kunsthistorikerschule der Gegenwart führt.“
Denn „jung und unvergänglich geblieben ist der Geist, die Methode“, mit. der
Rumohr das Wesen der Kunst und ihre Entwicklung zu erforschen gesucht, das
Wahre und Echte, Gesunde und Lebenskräftige des alten Bodens zu reichster
Fruchtbarkeit zu steigern gewußt hat. ,,Rumohr hat als erster die Kunstgeschichte
aus ihrer literarisch-ästhetischen Vergangenheit zu einer historischen Fachwissen-
schaft erhoben, er hat ihre Grundlagen festgestellt.“ Er hat „recht eigentlich
die Philologie der neueren Kunstgeschichte begründet“ und mit dem „historischen
Sinn seines Jahrhunderts“ die Geschichte der Kunst als ein organisches Ganzes
behandelt, ihr „geschichtliche Echtheit und Würde“ verliehen. Über die rein ent-
wicklungsgeschichtliche Darstellung hinaus weist er neue Wege in die Zukunft,
wenn er als Stilkritiker die Kunst als Schöpfung betrachtet, weil er fähig ist,
„das Kunstwerk als solches aus dessen innerstem Wesen, als Schöpfung zu be-
greifen: als so und nicht anders, einmalig und einzig vorhanden; es gewinnt in
diesem Zusammenhang tiefere Bedeutung, daß er das Wesen der Originalität als
erstes Merkmal des Kunstwerks so stark unterstreicht“. Hierin sieht er auch den
Angelpunkt seines Kennertums.
Sah man lange in Rumohr nur den sonderlichen Menschen, der mit seiner außer-
gewöhnlichen Kunstkenntnis, geistvollen Kritik, seinen geselligen Talenten im Verein
mit einem großzügigen Mäzenatentum auf seine Mitwelt eine entschiedene Wir-
kung ausgeübt hatte, so richtet sich der Blick der Jetztzeit vornehmlich auf
den Begründer der Kunstwissenschaft, dessen Geisteseinstellung und Forschungs
methode auf die Nachwelt den fruchtbarsten Einfluß gewonnen hat.
Auch im folgenden ist Rumohr in seiner Bedeutung für die wissenschaftliche
Behandlung der Kunstgeschichte ins Auge gefaßt worden.
RUMOHR ALS KUNSTHISTORIKER
Forschungen
Rumohr ist sich früh bewußt geworden, daß er den Weg der kritisch-histori-
schen Tatsachenforschung einzuschlagen babe, um den gesetzmäßigen Zusammen-
hang der Erscheinungen auf dem Gebiete der Kunst festzustellen, um spekulativen
Betrachtungen eine unumstößliche Fundierung zu geben. Schon 1807 schreibt er
an Ludwig Tieck h), daß er sich historischen Studien widme, sich „eine Übersicht
der weitläufigen und verworrenen Quellen und Quellen-Sammlungen verschaffe,
die z. B. bloß die Geschichte der germanischen Völker, ihrer inneren und äußeren
Verhältnisse betreffen und: „daß ich die Kunst überall ansehe und bestimmt weiß
(1) Briefe an Ludwig Tieck; hrsg. von Holtei, Bd. Ш. Breslau 1864. Brief (26. Sept. 1857) Rumohrs,
der damals 23 Jahre alt war.
111
und bald bestimmter wissen werde, wie sie historisch eins ist, und eigentlich
das wichtigste Dokument sowohl der meisten bedeutenden Tatsachen, als vor-
züglich der Bedeutung der Völker in dem (nach meiner Überzeugung) ganz orga-
nischen Leben des Menschengeschlechtes: wird mir eine Bahn brechen,
auf der ich nach dem Willen Gottes und meinem besten Vermögen wandeln werde.“
Um aus den ersten Quellen zu schöpfen, machte Rumohr wiederholt ausgedehnte
Reisen, zumeist in Deutschland und Italien. Sein Wissen erhielt durch eine un-
gewöhnlich reiche Denkmäleranschauung eine Vertiefung, die es über das Laien-
hafte hinausführte. Wie sich seine Kunstanschauung gestaltete, hören wir von ihm
selbst im Cottaschen Kunstblatt 1821, Nr. 7: „Es gibt nur eine Kunst; unter
den verschiedensten Umstinden unterliegt sie immer denselben Ge-
setzen der Produktion und Erscheinung. Die Veränderung in den Ideen,
welche sie ausdrückt, in den Naturgegenständen, welche auf die Bilder des Vor-
stellungsvermögens einwirken, begründet, in Vereinigung mit den Eigenheiten des
Künstlers selbst, jene wechselseitige Abweichung der besonderen Zeitgenossen-
schaften, Schulen und Meister, die wir überall wahrnehmen und unterscheiden,
ohne deshalb den allgemeinen Maßstab für jegliches Schöne aufzugeben, der dem
Urteil, wie dem Genusse gleich unentbehrlich ist. Aus dieser durchgängigen Über-
einkömmlichkeit aller Kunst erklärt sich, daß die Vorzeit auch dann noch belehrt,
wenn alle Ideen, gleichwie alle äußeren Anlässe, sich verändert haben; daß ein
nordisches Land oft auf ein südliches wirkt, und so auch im umgekehrten Falle.“*)
Und weiter: „Man blieb lange geneigt, die neue Kunst als ein gänzlich ab-
gerissenes Ereignis der Geschichte anzusehen, und andererseits gewöhnten sich
die Geschichtsforscher, auch das christliche Altertum als ein abgesondertes Ding,
bald als die äußerste Verwilderung des klassischen Altertums, bald als eine ehr-
würdige Reliquie zu betrachten.“ Das Verdienst und das Stoffgebiet“) Rumohrs
werden hiermit beleuchtet. Er versuchte, die Lücken zu füllen und die Einheit
im Verlaufe der Kunstgeschichte herzustellen, indem er die frühen Zeiten des
christlichen Altertums und Mittelalters für seine Forschung bevorzugte mit dem
Ziel, die inneren Zusammenhänge aufzudecken. Der Wert der Ergebnisse seiner
Untersuchungen für den Materialienbestand der Wissenschaft hat mit deren Fort-
schritt Veränderungen erfahren; aber die grundlegende Bedeutung für die Ge-
schichte des deutschen und italienischen Mittelalters wird von allen Kunstschrift-
stellern, die ihn je erwähnen, anerkannt.
Mit den wesentlichen Fragen über die Antike — vorzüglich theoretischer Art —
hat Rumohr sich bald auseinandergesetzt*). Er verläßt den Boden des Klassizis-
mus und wendet sich, der romantischen Bewegung folgend, zur germanischen und
schließlich zur italienischen Kultur. Aus der deutschen Kunst fesseln ihn die Alter-
tümer seiner heimatlichen Gegend, die mittelalterliche Baukunst und endlich das
Formschnittwesen. Innerhalb der italienischen Kunst war es die verworrene Dunkel-
beit der früheren Kunstepochen, von den späteren des 14. und 15. und der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts namentlich die Schulen von Toskana und Umbrien,
in die er „ein Licht hineintrug“ ).
(1) Rumohr: Uber die Entwicklung der ältesten italienischen Malerei, S. 25.
(2) Ergänzung für die Darstellung des Stoffgebietes Rumohrs ist die Bibliographie 8.I—VII Anhang.
(3) Vgl. seine Schriften von 1810, 1811 und Italien. Forschg. I, Kap. 1. Vgl. Friedr. Stock: Rumohrs
Briefe an Robert von Langer 1919, u. 2.
(4) Waagen: Der Herr Hofrat Hirt als Forscher über die Geschichte der neueren Malerei. Berlin,
Stettin 1832, 5 11.
112
Neben seinen kunstgeschichtlichen Beobachtungen macht er kulturhistorische
und literarische, die er teils in geschichtlich gehaltenen Abhandlungen, teils in
der umgeschaffenen Form eigener literarischer Produktion niederlegt. Wie weit-
gehend er sich in Einzelheiten eines Kulturzustandes zu vertiefen vermag, beweist
die Abfassung eines wahrhaft wissenschaftlich durchdachten Kochbuches (das
einzige seiner Bücher, das mehrere Auflagen gehabt hat!) und einer „Schule der
Höflichkeit für Alt und Jung“.
Die „Italienischen Forschungen“.
Rumohr hatte nie beabsichtigt, ein neues System der Kunstgeschichte zu er-
richten. Die Entstehungsgeschichte seines Hauptwerkes, der „Italienischen For-
schungen“, erklärt zugleich dessen Form wie Absicht. Lange hatte der Gedanke
Rumohr beschäftigt, dem deutschen Volk die italienische Kunstgeschichte nahe-
zubringen. Zu der anfänglich geplanten Übersetzung Vasaris?) fehlte es ihm an
nachschaffendem, anhaltendem Interesse. Auch führten ihn seine Quellenstudien
in Italien zu so selbständigen Resultaten, daß sich einerseits schöpferische Regungen
geltend machten, andererseits sich ihm die Perspektive einer Zusammenarbeit
deutscher Gelehrter zum Zwecke umfassender Quellenforschung und Quellenkritik
in italienischen Archiven lockend öffnete. Ein reicher Schatz war da für die Kunst-
wissenschaft zu heben, aber er sah sich allein einer so gewaltigen Aufgabe gegen-
über nicht gewachsen“). Das Erscheinen seiner Aufsätze und längeren Abhand-
lungen über italienische Kunst in Schorns „Kunst-Blatt“ (seit 1820)) hatte sein
Interesse an einer Vervollständigung des ihm vorliegenden Stoffes zu einheitlicher
Darstellung gestärkt. Der Zweck war „die Aufklärung einzelner Dunkelheiten der
Kunsthistorie“. Erheben die „Italienischen Forschungen“, die seine Studien zu
einem Ganzen vereinigen, auch keinen Anspruch auf literarische Vollständigkeit,
so will doch die gewissenhafte historische Grundlage, die Zuverlässigkeit bei der-
artigen Einzeltatsachen, die zu Stützpunkten weiterer Forschung dienen könnten,
richtig eingeschätzt werden. Urkundliche Begrtindung, wozu umfangreiche, kritische,
in jeder Beziehung treue Lokalforschung unumgänglich nötig, hatte allen italieni-
schen Kunstschriftstellern vor ihm gefehlt, zumal Vasari’). Die Autorität flüchtiger,
oder gar lügenhafter Kunsthistoriker müsse gebrochen werden durch strenge, aber
gerechte Kritik. Nur historische Gewißheit könnte der Phantasie einen gefähr-
lichen Spielraum entziehen. Rumohrs Werk, das zuerst aus Liebhaberei, absichts-
losem Sammeln dessen entstand, was sich in schriftlichen Urkunden bei der Kritik
kompilatorischer Kunstschriften gefunden hatte, sollte als Beispiel erschöpfender
Forschung Veranlassung werden, „endlich die Kunstgeschichte nicht länger als
ein Aggregat von Zufälligkeiten und abgerissenen Tatsachen, sondern als ein zu-
sammenhängendes, gleichsam organisches Ganze aufzufassen“ ). Erschöpfendes im
(z) Erst 1920 erscheint die Neuauflage der Italien. Forschg., bearbeitet von J. v. Schlosser. Frank-
farter Verlag.
(з) Zu Ludwig Schorns Vasari-Übersetzung (Stuttgart und Tübingen 1833) lieferte Rumohr Beicht,
gungen und Nachweise zu Anmerkungen.
(3) Vgl. Kunst-Blatt 1820, Nr. 39, S. 153: „Bebandlung italien. Kunstgeschichte".
(4) Vgl. die Vorreden zu den Italien. Forschg. I und II.
(5) Vgl. die Vorreden zu den Italien. Forschen. I und II, auch für die weiteren Zitats.
(6) Vgl. H. Tietse, Methode der Kunstgeschichte, 8. 70. Leipzig 1913. „Eine Darstellung der ge-
samten Kunstentwicklung ist eigentlich als das letste Ziel der kunstgeschichtlichen Arbeiten an-
zusehen.“
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1991. 8 113
Stofflichen konnte er nicht bieten; aber er wünschte doch mit seiner Methode
intensiver und verläßlicher Forschung zur Nacheiferung anzuspornen.
Für seine Arbeits- und Darstellungsweise ist der zweite Teil besonders charak-
teristisch. Ein Teil aus ihm soll daher als Basis für weitere methodologische
Untersuchungen dienen. Rumohr weist in der Vorrede darauf hin, daß er gegen
den Gebrauch Auszüge und Abschriften von Urkunden als Belege in den Text auf-
genommen habe, denn „nicht selten setzen die Urkunden ein geschichtliches Ver-
hältnis ungleich besser ins Licht als die gelungenste Entwicklung“ und „nächst
den besonderen ihre Anführung veranlassenden, auch allgemeinen Verhältnisse, ...
wie jenes der Künstler zu ihren Genossen und Gönnern, wie die Geschäftsführung
bey öffentlichen Kunstunternehmungen, die Technik einzelner Kunstarten, die An-
sicht, von welcher die Künstler verschiedener Zeiten ausgegangen sind“.
‘Nicht überall lagen Rumohr genügende historische Grundlagen vor. Für das
15. Jahrhundert hatte er sie sich erst schaffen müssen. Daß seine Ausführungen
über Gotik keinen Bestand vor der kunsthistorischen Forschung der Folgezeit
hatten, ist hauptsächlich der ungentigenden historischen Vorarbeit zuzuschreiben;
Rumohr klagt über den Mangel an Vergleichsmöglichkeit betreffs der Geschichte.
Das rein kunsthistorische Interesse an Altertümern des Mittelalters lasse in Eng.
land und Italien noch alles, in Deutschland und Frankreich noch vieles zu wün-
schen übrig. Selbst an dem Boisseréeschen Werk vermißt er die historische Er-
lduterung’).
Rumohrs Quellenforschungen in Italien wurden vielfach erschwert, zuweilen un-
möglich gemacht; oft genug erwiesen sich Archive und Bibliotheken als von Un-
wissenheit und argwöhnischer Mißgunst wohlbehiitete Schatzgruben. In Erkenntnis
der Mängel strebt Rumohr in der Hauptsache danach, Anregung zu gründlicherem
Ausbau der Kunstwissenschaft zu geben.
Die „Italienischen Forschungen“ wurden mit den beiden ersten Teilen 1827 dem
Druck übergeben. (Berlin und Stettin, Nicolai.) Der zusammenfassende Titel
„Zur Geschichte und Theorie neuerer Kunstbestrebungen“ ist der Rahmen für
entwicklungsgeschichtliche Darstellungen der italienischen Kunst von ihren An-
fängen bis ins 16. Jahrhundert. Die ersten Kapitel legen den theoretischen Stand-
punkt dar, von dem aus Rumohr seine wesentlich geschichtlichen Erörterungen
über Kunst aufgefaßt wissen will. Die eingehendere Besprechung seiner Ästhetik
soll erweisen, wie er über die noch immer regelgebenden Kunstanschauungen
Winckelmanns, Mengs’ und Lessings (noch für Goethe maßgebend!) hinaus-
gewachsen ist. | |
Am 16. Juni 1830 schrieb Rumohr an Schinkel’): „Seit einigen Tagen beschäf-
tigt mich die erste Seite des dritten Bandes der it. Forschungen. Wenn der
Nagel festgeschlagen ist, wird wohl auch das Übrige hinzukommen. Die Ge-
schichte der Baukunst im Mittelalter habe ich neulich wieder aufgefunden, doch
noch nicht wieder gelesen. Ich denke Raphael als den einzigen ganz objek-
tiven Künstler den großen Virtuosen in irgendeiner einseitigen, ganz subjektiven
Richtung gegenüberzustellen und manches früher angenommen durch Beispiele zu
belegen“). dl
(1) Italien. Forschg. Ш, Vorrede S. VIII—IX.
(2) Ms. Dresden, App. 12. Aus Rothenhaus geschrieben.
(3) Rumohrs Biographie des Raphael wurde bald überholt durch J. D. Passavant: Rafael von Urbino
und sein Vater Giovanni Santi, T.I—IIL Leipzig 1839—58. Das Vorwort entbält auf S. XVI—XIX
114
Dieser dritte Teil erschien dann 1832. Er war aus dem Wunsch Rumohrs ent-
standen, „durch Einiges über die Epoche der höchsten Entwicklung der neueren
Kunst, besonders über Raphael gleichsam den Schlußstein zu geben“. Anregung
hatte wieder die Freude an der Ergänzung und Richtigstellung vorhandener Werke
über Raffael und an dem Aufsuchen wenig oder gar nicht betretener Pfade der
Urkundenforschung geboten.
Die Abhandlung über die Baukunst ist als Beschluß des dritten Teils, ohne
inneren Zusammenhang, der Raffaelbiographie angefügt.
Die genauere Betrachtung des IX. Kapitels mag die Arbeitsweise Rumohrs ver-
anschaulichen.
Methodologische Einzelbetrachtungen.
Die Untersuchungen Rumohrs über Giotto (Kap. IX der Ital. Forschg.) sind in
ihren Ergebnissen bis auf die heutige Zeit heftig angefochten und widerlegt worden’).
An dieser Stelle soll weder im Sinne Ernst Foersters”) die Haltung Rumohrs
Giotto gegenüber beleuchtet, noch — wie es Robert Vischer“) eingehend und mit
Wärme tut, eine Apologie Giottos gegeben, sondern der Fortschritt in der Arbeits-
methode, die unbeirrte Selbständigkeit des Urteils, die Rumohr vor früheren Kunst-
geschichtsschreibern auszeichnet, dargelegt werden. Das Wertvolle und Maß-
gebende seiner Methode bleibt bestehen, auch wo Rumohr fehlgreift in einem zu
scharfen Vorgehen, um die historische Wahrheit hinter entstellender Überlieferung
zu erkennen. Schon Ernst Foerster, einer der ersten, denen Rumohr „zuerst den
Weg besonderer Forschung gezeigt“), gelangt in enger Anlehnung an diese Methode
zu ganz anderen Resultaten.
Rumohrs Ausgangspunkt für die Forschung. In diesem IX. Kapitel der
„Italienischen Forschungen“ zeigt Rumohr deutlich eben die gegen Uberliefertes
rücksichtslose Kraft eines Neuerers, die er an Giotto zu bemerken glaubt. Er will
den von Vasari „mißverstandenen Wahrheiten“ ) auf den Grund gehen, vorurteils-
los der Persönlichkeit des Giotto und den ihm zugeschriebenen Werken gegenüber-
stehen. Wohl schätzt er Vasari als einen „wahren Kenner“, dessen Künstler-
geschichte „eine größere Summe kunsthistorischer Wahrheit enthält, als die gesamte
übrige Literatur desselben Gegenstandes, namentlich als seine Kommentatoren, die
ihn oft so ungestim zurechtweisen. — Demungeachtet reihet er, Vasari, sich —
und dies ist gerade seine anziehende Seite — den Novellisten an, dieser eigen-
thümlichen Zierde toskanischer Literatur, die das Geschichtliche so innig mit der
Dichtung vermählen“®).
eine abfällige Beurteilung der nicht erschöpfenden Biographie aus Rumohrs Feder. Hr. W. Schulz
(a. а, O., 8. 77) berichtet, daß Rumohr in der letsten Zeit seines Lebens darunter litt, eich von
Jüngeren Kunsthistorikern wie Passavant und Gaye überflügelt und nicht gebührend gewürdiet zu sehen.
(1) Literaturangabe darüber in der Vasari- Ausgabe von Gottschewski und Gronau, Straßburg 1916,
З. 157, Anm. 1 und in Friedr. Rintelen: Giotto und die Giotto-Apokryphen, München 1912, Anm. 1,
worin auch ein sehr scharfes Urteil über Rumohr.
(2) E. Foerster; Beiträge sur neueren Kunstgeschichte: Giotto di Bondone und Symon di Martino.
Leipzig 1835, und Geschichte der Italien. Kunst П, 8. 211 fl., Leipzig 1870.
(3) Robert Vischer: Rumohr und Giotto in s. Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart 1886.
(4) Foerster: Beiträge. Vorwort XIV.
(5) Vgl. Rumohbrs Urteil über Vasari, Italien. Forschg. VII, 283. Ё
(6) Kunst-Blatt 1830, Nr. 39, 8. 153. Auch sonst hat Rumohr wiederholt hervorgehoben, daß in den
toskanischen Novellen historische Wahrheit stecke. Vgl. Bibliographie, Anhang, 8. Ш u. V.
115
Kritische Untersuchungen. Hier gilt es, Vasari auf seinen Quellenwert zu
untersuchen; seine Abhängigkeit von den benutzten Quellen und deren Glaub-
würdigkeit zu prüfen; selbst „vor den höchsten Heiligtiimern der Vergangenheit
nicht Halt zu machen“, um durch eine Methode der „Vergleichung“!) zu der Wahr-
heit einstigen Geschehens durchzudringen, die allein die Erkenntnis der großen
Kausalzusammenhänge gewährleistet.
Vasari entwirft ein prächtiges Bild von Giotto, dem Wiedererwecker fast er-
storbener Kunst, auf dem goldenen Hintergrund seines Nachruhms. Er leitet die
Vita des Giotto durch ein überschwängliches Lob ein und beschließt sie mit der
preisenden Inschrift auf dem Denkmal im Florentiner Dom‘).
Die Überlieferung des Ruhmes. Rumohr erscheint diese Grundstimmung
ungeeignet für eine objektive Beurteilung des Meisters. Die Inschrift”) — sie wird
Ausgangspunkt in Rumohrs Abhandlung — erweist sich „als das offizielle Manifest
einer stehenden Meinung, welche zu Florenz schon seit der Mitte des vierzehnten
Jahrhunderts Fuß gefaßt hatte“:
Ше ego sum, per quem pictura extincta revixit ...
.. . Denique sum Jottus. Quid opus fuit Ша referre.
Hoc nomen longi carminis instar erit.
Obiit an. MCCC XXXVI cives pos.
b. m. MCCCCLXXXX.
Vasari läßt sich von der Verehrung seiner Zeit und Vorzeit für Giotto mitreißen!
Schon der Glanz des Nachruhms ist skeptisch zu betrachten.
Die Überschätzung eines Neuerers und Pfadfinders gegenüber den Verdiensten
eines Mannes, der auf schon betretener Bahn Außergewöhnliches leistet, ist üblich
und psychologisch erklirlich. Bei den Nachfolgern Giottos wird sie noch dadurch
begünstigt, daß sie in der Blüteperiode der italienischen Literatur den schönsten
Ausdruck findet. In dem Maße, wie die Zeit die Leistungen Giottos der Prüfung
entrückt, gewinnt die Phantasie an Spielraum und steigert die ohnehin allgemein
gehaltenen Lobsprüche der Dichter. Wie gestaltet sich aber das Bild des Künst-
lers, wenn es gelingt, aus dem Allgemeinen historischer Überlieferung gesicherte
und bestimmte Einzelzüge herauszuheben?
Unter diesem Gesichtspunkt ist auf die Erwähnungen des Dante und Petrarca t)
zu verzichten. Wie wird Giottos „historische Stellung, seine Geistesart und Rich-
tung, wie endlich auch die Beschaffenheit seiner künstlerischen Leistungen zu be-
gründen sein“?
Die Quellen. Mit solchen Fragen wendet sich Rumohr kritisch den frühsten
Schriftstellern zu, die über den Einfluß Giottos auf die Kunst und über seine Person
Auskunft geben können. Es sind auch die Quellen Vasaris; er nimmt ihre Aus-
sagen unbefangen hin, im Sinne der Überlieferung, für seine künstlerisch-anmutige
Darstellung.
Rumohr prüft: ein fachmännisches Urteil über den Künstler Giotto geben Cennino
di Drea Cennino und Lorenzo Ghiberti’) ab. Urteilsfähigkeit kann ihnen zugestanden
(х) W. Dilthey: Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt. Deutsche Rundschau, Heft zı. Berlin.
(2) Die Inschrift befindet sich unter der Büste Giottos (dem Benedetto da Majano zugeschrieben) und
ist angeblich von Angelus Politianus.
(3) Vgl. Italien. Forschg. II, Kap. IX, зо.
(4) Vasaris Zitate werden von Lanzi, Fiorillo u. a. modernen Kunstgeschichtsschreibern wiederholt.
(5) Rumohr nützt als erster Ghiberti kunstgeschichtlich und kritisch. Vgl. Schlosser in der Neuausg.
der Italien. Forschg. 1920, S. УШ und XXIX.
116
SS ot „—„
werden: jener hatte den Schüler Giottos Agnolo Gaddi zum Lehrer, und dieser
wurde kaum 50 Jahre nach Giottos Tode geboren, als die Überlieferung noch nicht
viel des wahren Sachverhaltes entstellt haben konnte.
Bei Vasari?) nimmt die dem Ghiberti nacherzählte Jugendgeschichte von Giotto
di Bondone, Schtiler des Cimabue, einen breiten Raum ein. Rumohr übergeht sie,
denn Cennino steigt bis zu Giotto hinauf, ohne seines Lehrmeisters zu erwähnen,
und der Name Giottos als Sohn eines Bondone unterliegt nach anderen Quellen
einer Verwechslung (Archiv della gen. Bicchera di Siena B. T. 103, Fol. 107
anno 1310) ).
Rumohr holt den Kern aus Ghibertis Bericht kurz und klar heraus. Die wich-
tigsten Sätze zitiert er im Urtext nochmals, als Anmerkungen. Da ergibt sich als
Grundlage:
„Giotto bildete sich in der Malerkunst zu einem großen Meister; er führte die
neue Kunst herbey und verließ die rohe Manier der Griechen. Viele
seiner Schüler waren kunstgerecht gleich den alten Griechen. Giotto sah in der
Kunst, was anderen unerreichbar geblieben. Er führte die Natürlichkeit und
Anmuth herbey, ohne über das Maß hinauszugehen®).“ Dazu meldet Cennino
Übereinstimmendes: — — „daß Giotto von den Griechen abgewiesen sey und die
Kunstübung der Italiener durchaus erneut habe“. Bei den Folgerungen geht Rumohr
davon aus, daß Cennino sein Wort mit Hinblick auf das Technische gesprochen
haben wird, wie es im Charakter seiner Abhandlung lag, Ghiberti dagegen dem
Geistigen und eigentlich Künstlerischen Rechnung zu tragen pflegte. Die erste
Untersuchung gilt der Frage, „worin Giotto von den Byzantinern abgewichen, in
wie fern er als Stifter zu betrachten sey?“ Denn Vasari hebt hervor‘), daß Giotto
„die ungefüge Art der alten griechischen Malerei gänzlich aus dem Felde schlug
und die moderne gute Malkunst wieder erweckte“.
Folgerung bez. der Reform. Rumohr sieht eine Riickkehr zu heimischen Ge-
wohnheiten und der Manier der älteren italienischen Maler: zu der Technik des
Malens mit hellen und flüssigen Bindemitteln, die den Farben ein helleres, rosiges
Aussehen verleihen, als die zähen und verdunkeinden der Byzantiner, wie eine
Vergleichung zuverlässiger Denkmäler bestätigt, aber keine eigentliche Neuerung.
Diese lag vielmehr in der Wahl und Behandlung künstlerischer Aufgaben, wie
Ghiberti sie ausdrücklich hervorhebt. Obschon Cimabue und Duccio die Erstarrung
byzantinischer Formen zu beleben suchten, bewahrten sie doch als Ausdruck „ächt
christlichen und ächt künstlerischen Geistes“ ), den typisierenden, von Würde und
Erhabenheit getragenen Charakter der älteren Byzantiner in ihren Gemälden. Giotto
durchbricht die letzten Schranken. Der charakteristische Zug von Objektivität in
seiner Kunst, die Naturwahrheit seiner Darstellungen entsprechen seinem Hinaus-
treten aus dem heiligen in das profane Gebiet. Rumohr erkennt den Einfluß des
Zeitgeistes, der sich von der alterttimlich christlichen Richtung abwendet unter der
Obmacht des Mönchstums und dem lebhaften Interesse an dem Leben der Hei-
ligen, deren Andenken damals noch frisch war. Die Reform in der Kunst faßt er
(2) Vasari: 4. Ausg. in Florens bei A. Solani (benutzt; deutsche Ausg. von Gottschewski u. Gronau:
Leben des Giotto).
(2) Vgl. Wackernagels Anm. 3, 8. 158 in Gottschewskis Ausgabe des Vasari.
(3) Rumohr, a. a. O., 8. 41/42. Ghiberti im commentario secondo, Cennino in в. libro dell’ arte о
trattato della pittura.
(4) Ausg. Gottschewski, S. 159.
(5) Kap. IX, 8. 44.
117
darin zusammen, daß „Giotto — abgesehen von einigen technischen Änderungen —
die Richtung seiner Vorgänger auf edie Ausbildung heiliger und göttlicher Charak-
tere, wenn auch nicht ganz aufgegeben, doch hintenangesetzt, hingegen die italie-
nische Malerey zur Darstellung von Handlungen und Affekten hinübergelenkt hat,
in denen, nach dem Wesen des Mönchsthums, das Burleske neben dem Pathetischen
Raum fand‘“!).
Psycholog. Erwägungen. Auch die hohe Einschätzung der Natürlichkeit in
Giottos künstlerischen Darstellungen — die Rumohr nicht im Physiognomischen,
sondern lediglich in der Lebendigkeit von Bewegung und Handlung erblickt —
führt auf psychologische Ursachen zurück, auf die Selbsttäuschung der Zeitgenossen
vor Giottos Bildern bei ihrer sehr jugendlichen Phantasie und dem Mangel an
Gegenständen des Vergleichs.
Zu eingehenderen psychologischen Erwägungen sieht sich Rumohr vor der In-
dividualität Giottos selbst veranlaßt. Bei der Bedeutsamkeit ihrer Erscheinung
wird durch Erkenntnis ihrer Wesensart ein Aufschluß über ihre künstlerische Welt-
anschauung zu erwarten sein. Die Meinungen der Zeitgenossen und der Nachwelt
über sie stehen durchaus im Widerspruch. Vasari folgt der Tradition und legt
Giotto „religiöse Strenge des Eingehens in die vorwaltenden Kunstaufgaben seiner
Zeit“?) bei. Aber Giotto ist ein Neuerer, und Rumohr geht von der Vorstellung
aus, daß ein Neuerer immer durch Kraft und im Durchschnitt mit „unheiliger und
frevelhafter“ Gesinnung neue Bahnen bricht. Er sucht das wahre Bild des Meisters
— aber zugleich die Unterstützung seiner Anschauung in der zeitgenössischen
Literatur) als dem Spiegel der um Giotto bestehenden Verhältnisse.
Literar. Forschung. Aussprüche des Villani, Novellen des Boccaccio und
Sacchetti, derart wie sie Vasari als Schmuck und Unterhaltung in die Lebens-
beschreibung des Giotto einfügt und mit solchen schließt‘), um den Künstler, dem
die Welt Ehre erweist, uns menschlich nahezubringen, benutzt Rumohr mit
wissenschaftlichem Sinn; denn anscheinend unbedeutende Tatsachen kinnen Wesent-
liches offenbaren. Seinen charakterisierenden Intentionen gemäß führt er die Giotto
betreffenden Novellen vollständig an mit Hinzufügung seiner eignen kritischen Über-
legungen. Er ist glücklich, daß er als bestätigendes Zeugnis eine Canzone des
Giotto aus Cod. 47 der Biblioth. Gaddiana, im Urtext, der Öffentlichkeit übergeben
kann’
EN Giottos. Aus allem geht hervor, das Giotto als ein Mann von
ungewöhnlichem Geist und starkem Talent zu betrachten sei, der sich auf dieser
Erde wohl zurechtzufinden weiß. Sein heller, ntichterner Verstand, sein Mut, seine
Geistesgegehwart und Gewandtheit, sein Mutterwitz und seine praktische Klugheit
verschaffen ihm Achtung bei seinen Mitmenschen und wirtschaftliches Gedeihen.
Die Gegenwart liegt klar vor seinem prüfenden Scharfblick; von Frivolität ist er
nicht frei. Rumohr schließt daraus: „Kälte des Verstandes, Deutlichkeit des Be-
wußtseyns widerstrebt indeß jener enthusiastischen und rückhaltlosen Hingebung,
ohne welche es, wenigstens dem dichterischen Künstler, nicht zu glücken scheint,
(1) Kap. IX, 8. 56.
(2) Kap. IX, S. 44 (Italien. Forschg.).
(3) Vgl. A. Springer: Kunstkenner und Kunsthistoriker, in der Ztschr, „Im Neuen Reich“, Leipzig 1881,
8. 756f., über die Bedeutung literarischer Kenntnisse für den Kunstforscber.
(4) Vasari-Ausg. von Gottschewski (8.171 fl. u. 195 fl.). Sacchettis 61. Nov. Vgl. Arm. бо u. 61 daselbet.
(5) Kap. IX, 51—54 (Italien. Forschg.).
118
das Hohe und Würdige zu schauen“). Der Ursprung der Umwälzung und der
neue Charakter ktinstlerischer Auffassung, im Gegensatz zu der überlieferten Kunst,
erscheinen ihm erklärt. Er geht zur Untersuchung der Giottoschen Werke über.
Historische Kritik. Dabei schaltet er als Historiker Vasari und die neueren
Kunstgeschichtsschreiber als unzuverlässig für die altchristliche Zeit gänzlich aus
und betrachtet, unter Vorbehalt, nur Ghiberti mit seinen Angaben als Stützpunkt.
Rumohr hält sich an das einzige durch Inschrift beglaubigte Gemälde Giottos,
das er kennt. Es ist die fünfteilige Krönung der Madonna in der Kapelle Baroncelli
von Sta Croce zu Florenz ). Kritisch prüft er den Zustand des Bildes, das trotz
der Neurahmung (etwa aus dem 15. Jahrhundert bestimmt er) und stellenweiser
Übermalung und Abblätterung genügend Sicherheit für eine Bestimmung der Manier
Giottos zu gewähren scheint. Auch die Echtheit der Aufschrift sei nicht zu be-
zweifeln, weil sie nach Schriftzügen und Einfassung sicher älter ist als die Neuerungen).
Vasari stellt, ohne Kritik an der Echtheit, dieses Bild folgendermaBen in seine Reihe
Giottoscher Werke: „In der Baroncelli-Kapelle derselben Kirche (S. Croce) findet
sich ein Tafelbild von Giottos Hand, worauf mit vieler Sorgfalt die Krönung der
Mutter Gottes dargestellt ist, zusammen mit einer sehr großen Anzahl kleiner
Figuren sowie einem Chor von Engeln und Heiligen in sehr sorgsamer Ausarbeitung.
Und da auf diesem Werk in Goldschrift sein Name und die Jahreszahl beigefügt
sind, werden alle Künstler, die beachten, zu welcher Zeit Giotto, ohne nur eine
Andeutung der rechten künstlerischen Manier zu besitzen, den Grund legte zu
einer guten Methode des Zeichnens und Malens, sich getrieben finden, ihn aufs
höchste zu verehren“ ).
Ruhmohr sieht 80:
nln dem Mittelstück sitzen Maria und Christus auf einem, beiden gemeinschaft-
lichen Thronstuhle von gotischer Anlage. Christus drückt der Jungfrau die Krone
mit beiden Händen auf, eine Vorstellung, welche in der Folge von Italienern und
Deutschen oftmals wiederholt worden ist. Wie diese Vorstellung an sich selbst,
so gehört auch besonders der Charakter und die Bekleidung des Heilands schon
ganz der neueren Zeit und wahrscheinlich der Erfindung des Giotto. Der antike,
oder christlich-römische Typus, den wir noch in den Werken des Duccio und
Cimabue angetroffen, ist hier durchaus verwischt. Besonders auffallend sind die
kurzen geränderten Oberärmel des Heilands, das älteste mir bekannte Beispiel
seiner Lust an seltsamen Bekleidungen und mutwilligen Schneider- und Sticker-
stückchen, an denen manche Maler des r4. und 15. Jahrhunderts in der Folge so-
viel Behagen gefunden; welche in den neuesten Zeiten einigen ungelehrten, übrigens
wohlmeinenden Künstlern nicht selten für typisch gegolten, da sie doch in der That
nur vorübergehende Malerlaunen sind.“
Bestimmung der Kriterien. Es kommt Rumohr auf Kriterien für Giottos
Malweise an“). Unter diesem Gesichtspunkt muß bei seiner Bildbetrachtung das
rein künstlerische Interesse vor der Hand hinter der Genauigkeit historischer Be-
(1) Vgl. Wölfflins übereinstimmendes Urteil fiber Giotto, Klassische Kunst, Kap. I, 8.7 (München 1902).
(2) Vgl. Rintelen: а, a. O., 8. 2§7ff., dessen kritische Untersuchungen dieses Werk nicht als Original,
sondern als Gehilfenarbeit erkennen lassen.
(3) Gerade die Aufschrift bestätigte diese Annahme, da Giotto sich nie „Magister“ genannt habe.
(4) Vasari-Ausgabe von Gottschewski, 8, 162.
(5) Kap. IX, 60: „Beschränken wir uns dsher bey der Untersuchung dieses einzig bewährten Probe-
stückes seiner Manier und technischen Eigenthümlichkeit, eben nur diese im Auge zu behalten und
versuchen wir, deren Charakter so scharf als möglich zu begrenzen.“
119
stimmung zurückstehen. Der neue Typus wird erfaßt in der Darstellung und dem
Charakter Christi, weiche die spätere Kunst von Giotto übernahm, und in der
Gewandbehandlung. Hierin aber bemerkt Rumohr „wenig Ehrfurcht vor dem Her-
kommen“, einen Rückschritt gegenüber der Würde in der Kleidung, wie sie die
alte Kunst hatte und wie sie sich in der Sieneser und umbrischen Schule bis auf
Raffael erhielt.
In der Technik beobachtet Rumohr die Anwendung eines flüssigeren und minder
zähen Bindemittels als bei Cimabue und Duccio und auch noch den späteren
Sieneser Malern, — was den Farben ein lichteres Aussehen und der Pinselführung
mehr Leichtigkeit verliehen hat. Hingegen erscheinen ihm die Formen, besonders
die Köpfe, unvollkommener und gröber als bei jenen älteren Malern und zu arm
an Differenzierungen: Die Augen lang und schmal ohne Verkürzung, nahe an die
Nasenwurzel gertickt, die Nasen zwar normal lang, aber im Profil abgestumpft und
wenig ausladend; die Kinnlade schmal und kantig, das Kinn vorstehend. Zusammen
mit der eigentümlichen, von der alten Gewohnheit abweichenden Behandlung des
Faltenwurfs, der nach dem Licht hin verwischt und unbestimmt gegeben wird
(aus Unbeholfenheit in der Naturnachahmung), erscheinen diese Merkmale als aus-
reichendes Zeugnis für die Echtheit der Bilder, die Ghiberti und andere ältere
Schriftsteller dem Giotto zuschreiben.
Aber die „gute Methode des Zeichnens und Malens“, die Vasari an diesem Bilde
lobt, leugnet Rumohr entschieden!).
Anwendung der Kriterien. Verständlicher wird ihm die Bewunderung für
Giotto vor anderen Bildern, denen er auf Grund der gewonnenen Kriterien Ori-
ginalität zubilligt, den kleinen Bildern, die sich ehemals in der Sakristei der Minoriten-
kirche zu Florenz befanden, denn sie sind „geistreich, bewegt und abwechselnd“;
vor den Wandgemälden in der Kirche der Madonna Incoranata zu Neapel, die ihm
Aufschluß darüber geben, worin die Naturähnlichkeit bestand, deren Wirkung so
stark gewesen war in der Lebendigkeit der Bewegung und Gebärde, in den Be-
ziehungen der Gestalten zueinander. Jene Zeit forderte weder physiognomische
noch illusorische Naturwahrheit.
Stilkritik. Die neuere Forschung”) hat mit ihren Ergebnissen in bezug auf die
Gemälde in der Oberkirche zu Assisi bezeugt, wie scharfsinnig Rumohrs Quellen-
und Stilkritik war.
Wenn Vasari erzählt, Giotto malte „in der oberen Kirche (zu Assisi) unterhalb
des Laufganges, der an den Fenstern entlang führte, an beiden (Lang) Winden der
Kirche zweiunddreißig Geschichten in Freskomanier aus dem Leben und den Taten
des heiligen Franziskus, je sechzehn auf jeder Wand, in so vorteilhafter Weise, daß
er sehr großen Ruhm davon hatte)“, so ist er flüchtig und gänzlich unzuverlässig.
Rumohr hat nur achtundzwanzig Bilder gefunden; keine Nachricht über den Maler
existiert vor Vasari; Ghiberti macht eine — unhaltbare — Mitteilung nur über Ge-
mälde von Giotto in der Unterkirche. Keine Stileigentümlichkeit Giottos, wie sie
beobachtet worden, ist in diesen Bildern zu entdecken, am wenigsten die vortreff-
liche Proportion, die Ghiberti rühmt. Spuren der Sitten, des Geschmackes und der
Malweise aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind vielfach zu bemerken;
(1) 8. 59/60: Das Werk gewähre weder im ganzen noch im einzelnen die Befriedigung, die man von
dem gepriesenen Meister erwarten dürfe. Man müsse annehmen, daß Giotto Besseres geleistet habe
in einer ihm mehr entsprechenden Aufgabe. Vgl. Rintelen.
(з) Vgl. 8. 164 der Vasari-Ausgabe von Gottschewski, Anm.
(3) Ebenda, S. 164.
130
die Architektur auf einem der Bilder zeigt etwas von dem aufkommenden Stil des
Brunelleschi. Auch stammen wohl einige der Legenden aus nach-giottesker Zeit.
Rumohr schreibt diese Gemälde Spinello von Arezzo und Parri di Spinello zu’).
In den Gemälden des Kreuzgewölbes über dem Grabe des Heiligen schätzt er,
trotz der mönchisch-kindlichen Allegorie, die auf den Besteller zurückzuführen sei,
ein gutes Werk Giottos. Er enthält sich des Urteils über die Originalität von
Bildern, wo der Zustand der Malereien es nicht mehr gestattet, aus eigener An-
schauung die Berichte Ghibertis, della Valles u. a. nachzuprüfen?).
Da schon die älteren Chronisten einstimmig den Bau des Campanile in Florenz
dem Giotto beimessen, hat Rumohr kein Bedenken, in dieser Beziehung Vasari
Glauben zu schenken; ob er Giotto den Entwurf als eigne Schöpfung zuerkennen
soll, läßt er dahingestellt, weil er sich von der Wahrheit dieses Berichts nicht in
den Archiven des Doms und der Riformagioni überzeugen konnte. Der Meinung,
Giotto habe selbst gemeißelt und sich nach der pisanischen Schule gebildet, schließt
er sich ebenfalls wegen mangelnder Beweise nicht an, obschon er die Vielseitig-
keit des Künstlers nicht bezweifelt. Er schätzt Giottos bildhauerische Begabung
für stärker ein als seine malerische und sieht sie selbst in den Kompositionen der
Gemälde offenbar werden.
Rumohr enthält sich jeden weiteren Schrittes in seiner Forschung, wo er nicht
gesicherten Boden unter den Füßen hat.
Ergebnis. Zum Schluß faßt Rumohr die Ergebnisse seiner Untersuchung zu-
sammen. Da tritt uns Giotto entgegen, wie auch Wölfflin ihn sieht — nicht „nach
Art eines christlichen Romantikers“ —. „Er war kein Schwärmer, sondern ein
Mann der Wirklichkeit; kein Lyriker, sondern ein Beobachter; ein Künstler, der
sich nie zu hinreichendem Ausdruck erhitzt, der aber immer ausdrucksvoll und
klar spricht“®). Ein großer Meister, — doch kein „gewaltiger Riesengeist“, der die
Folgezeit tiberragte, — schätzenswert in den Eigenschaften und Fähigkeiten, die
er in Wahrheit besaß, wird im „Fiebertraum“ der Schwärmerei (die Rumohr von
Grund aus zuwider war) ins Ungeheure verzerrt. Diese Vergötterung habe den
Fortschritt der nachfolgenden Kunstepoche lange aufgehalten. Schließlich goß Lanzi
das Lob der Alten in neue, glänzendere Formen und die Gegenwart habe es auf
die Höhe geführt! —
Die oft getadelte „Herabsetzung Giottos“ (unter sein Verdienst) durch Rumohr
verdient eingehendere, gerechtere Prüfung‘). Man hat Rumohrs Absichten miß-
verstanden bei der Heftigkeit, mit der er übermäßige und gleichsam in der Luft
schwebende Verherrlichung auf irdischen Boden zurückzuführen und festumrissene
Tatsachen für eine richtige Einschätzung des Künstlers hinzustellen suchte. Zog
er seine Kreise gar zu eng, so blieb ihm doch die Einsicht in das Wesentliche an
dieser Künstlergestalt und ihrer Bedeutung.
Wie anregend wirkt er auf die Forschung und wie schwächlich und unfruchtbar
erscheint daneben der Versuch seines einstigen Lehrers Fiorillo’), die allgemeine
(1) Äbnliche Stilkritik wendet Rumohr für das Abendmahl, das Ruscheweyh gestochen, an und das
er übergeht (nur die Gründe in der Anm. gibt), weil er es keineswegs dem Giotto zusprechen kann.
(з) Vgl. Rintelen: a. a. O., Anm. 2, der іп der mißtrauischen Vorsicht Rumehrs einen Fehler sieht.
(3) Wölfflin, Klass. Kunst, 8, 7.
(4) Vgl. Waagens und Wölfflins Standpunkt zu Giotto.
(s) J. D Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste, Bd. I, 266. Göttingen 1789. Zu bequemerer
Vergleichung füge ich den vollständigen Auszug dieses Abschnitts fiber Giotto bei. `
121
Überschätzung Giottos in seinem Einfluß auf die Kunst einzudämmen!)! Und worin
sieht Fiorillo die neuen Werte bei Giotto für die Entwicklung der Kunst? In der
Natürlichkeit des Faltenwurfs, im Ausdruck (doch welchem?), der Weichheit und
Grazie in seinen Bildern; „hauptsächlich weil er sich zuerst an Verkürzungen ge-
wagt“. Nicht mehr und nicht weniger erfahren wir über das Wesen der Giottoschen
Kunst. Fiorillo begntigt sich damit, das Spiegelbild des hochbertihmten Künstlers
wiederzugeben, wie es die Überlieferung zeigt. Weder Autopsie noch Tatsachen-
forschung an der Hand der ihm verfügbaren Quellen haben ihm die Eigenart des
Künstlers und seiner Produktion erschlossen. Es liegt ihm fern, nach neuen Ge-
sichtspunkten zu ordnen, was er vorfindet. „Seine freylich brauchbare, doch nicht
ohne fremde Hülfe gefertigte Kompilation der it. Kunstgeschichte ist, wie jeder
wahrnehmen kann, äußerst dürftig an eignen Bemerkungen?),“ urteilt Rumohr. Bei
der Lebendigkeit Vasarischer Darstellung erscheint die Chronologie als ein natürlich
gegebenes Band der Abfolge von Ereignissen in einem Künstlerleben. Bei Fiorillo
spannt sie sich wie ein zufälliger Rahmen tiber das abgeblaßte Bild, dem es an
der inneren Wahrheit fehlt, die uns an Vasaris Schilderungen einnimmt. Fiorillos
Absicht, in seiner Kunstgeschichte den Künstler zu zeigen, „sein Talent und seinen
Styl zu charakterisieren; vorzüglich die künstlerische Geschlechtsfolge und Ver-
kettung der Manieren übersehen zu lassen“)“, ist in (dieser) seiner Abhandlung
über Giotto nicht erreicht; er deutet an, aber er charakterisiert nicht. Er ist nur
auf „Blicke ins Blaue eingerichtet“, wie Rumohr von ihm sagt‘). Weil die Über-
lieferung sich durch Jahrhunderte erhielt, mißt er ihr autoritative Geltung und aus-
reichende Beweiskraft zu. Die Fähigkeit, sich in die Verhältnisse ferner Zeiten
und Menschen einzuleben, geht ihm ab, denn sie erfordert mehr als nur ein leb-
haftes Gefühl, das er allerdings aufweist. Sie basiert auf einem prüfenden Zublicken,
auf der historischen Erkenntnis der großen Zusammenhänge von Einzeltatsachen
und Ereignissen. Hierin erkennt Rumohr die Grundlage für die Erschließung des
künstlerischen Gehalts in den Denkmilern, wie des Wesens der Kunst überhaupt.
In diesem Sinn sucht er vor allem nach möglichst exakten Kriterien. Er hat ver-
standen, daß der Stil von Kunstwerken abzuleiten sei aus dem sich gleichbleibenden
Organismus ihres Schöpfers, wie ihn seine inneren Kräfte und die von außen ein-
wirkenden Umstände gemeinsam gestalteten. Nun verbindet er zwei anscheinend
heterogene Dinge, um der starken Wirkung des Künstlers durch seine Schöpfungen
bis auf die Ursachen nachzugehen: einerseits die Feststellung der Individualität
von Künstler und Kunstwerk, andrerseits die Entäußerung des Individuellen durch
den Nachweis der Eingliederung in die stilistische Entwicklung der Vorzeit und
Nachzeit und, für den Künstler insbesondere, seiner Bedingtheit in Wollen und
Können durch den kulturellen Zustand seiner Epoche und den Ort seiner Existenz.
Eine Verknüpfung von Tatsachenforschung mit geisteswissenschaftlichen Analysen
ergibt sich dabei von selbst. Die Kunstwerke verlieren den Charakter losgelöster
Einzelerscheinungen, die in zufälliger Zeitfolge aus dem Leben der Künstler-
individualität herauswachsen und fügen sich in den einheitlich genetischen Zu-
sammenhang der Kunstentwicklung.
(1) Wölfflin, Klass. Kunst, 8. 7.
(2) Kunst-Blatt 1821, Nr. 51—53, 8. 202 Rumobrs Rezension über den IV. Band der Fiorilloschen
Kunstgeschichte.
(3) Fiorillo: а. a. O., Vorrede, 5. XI.
(4) Kunst-Blatt 1821, Nr. 35, 8, 201.
122
So ist es die historische Methode!), wie Rumohr sie den besonderen Anfor-
derungen des künstlerischen Gegenstandes anpaßt, die den absoluten Wert und die
unbegrenzte Tragweite für einen Fortschritt ausmacht, unabhängig von dem gerade
vorliegenden Stoffgebiet. Die Intensität seiner Forschung beruht auf Kritik —
einmal der überlieferten Quellen und der historischen Faktoren, die zur Entstehung
eines Kunstwerks beitrugen, sodann des Denkmals selbst in bezug auf seine Ori-
ginalität und Geltung, vermittels stilgeschichtlichen Vergleichs.
Rumohr brachte jene wissenschaftliche Synthese, die „vor allem in einer tieferen
Auffassung der wissenschaftlichen Grundprobleme bestehen muß und sich deshalb
nicht jenseits oder neben den methodischen Errungenschaften der vorangehenden
Perioden entwickeln kann, sondern sie zu einer neuen Norm des wissenschaftlichen
Denkens verdichten muß, die jeder Frage, mag sie gering oder weltumfassend sein,
eine neue allgemeine Resonanz gibt“.
Kennerschaft.
Vergegenwärtigen wir uns nochmals Lanzis kunsthistorische Wirksamkeit. Seine
umfassende Denkmilerkenntnis, seine vorbildlich gewissenhafte Forschungsarbeit
bei historischer Kritik allein befähigten ihn noch nicht zum Kunstforscher. Es
fehlte ihm an wahrer Kennerschaft. Andrerseits sei an Waagen erinnert, der eine
Zeit lang als Kunstkenner eine europäische Autorität war und doch seine Befähi-
gung in dieser Hinsicht für die Wissenschaft nicht ergiebig nutzbar machen konnte,
weil er bei historischer Beweisführung versagte*). Gerade Waagen mußte für die
Begabung und die Verdienste Rumohrs als Kunstforscher Verständnis und die
rechte Bewertung haben. Sein Urteil wird uns um so wichtiger sein, als es die
einstimmige Ansicht der damaligen Kunstwelt, wie es sich in zahlreichen literari-
schen Zeugnissen findet, zusammenfaßt‘).
„Unter allen deutschen Künstlern und Kunstfreunden, welche von der Kunst-
geschichte Notiz genommen haben, ist es eine längst ausgemachte Sache, daß an
Gründlichkeit der Forschung, an Feinheit der Beobachtungsgabe es nicht leicht ein
anderer dem Herrn von Rumohr gleichtun möchte, so daß in seinen Schriften sich
recht eigentlich die auf die Geschichte der neueren Malerei gerichteten wissenschaft-
lichen Bestrebungen in ihrem ausgezeichnetsten Erfolge darstellen.“
Auch in Lanzi mtissen wir Feinheit der Beobachtungsgabe als Begleiterscheinung
gründlicher Forschung voraussetzen. Aber zu sehr Gelehrter, verwirkte er durch
das Streben nach möglichst objektiver Kritik — was eine verstandesbestimmende
Betrachtung der Kunstwerke nach sich zog — den Vorzug eines „natürlichen
Auges“ (De Piles) und unbefangen starken Empfindens. Kennerschaft aber beruht
(1) Vgl. Waagen, Der Herr Hofrat Hirt als Forscher . . Berlin 1838, 8 2: Geist der Kritik in der
kunstgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und 8 11. Vgl. H. Tietze: Die Methode der
Kunstgeschichte, Leipzig 1913, 8. 70/71.
(2) M. Dvořák: Über die dringendsten methodischen Erfordernisse der Erziehung zur kunstgeschicht-
lichen Forschung in den „Geisteswissenschaften“, Nr. 34/35, 8. 933. Vgl. auch O. Wulff: Grund-
linien und kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der bildenden Kunst. Stuttgart 1917. Vgl.
Strzygowsky: Bahnen der Forschung über bildende Kunst i. d. Österreich. Rundschau, Januar 1920.
(3) A. Springer: Kunstkenner und Kunsthistoriker, S. 750. Im Neuen Reich. Leipzig 1881.
(4) Dr. Waagen, Direktor der Gemäldegalerio des Museums su Berlin: Der Herr Hofrat Hirt als
Forscher über die Geschichte der neueren Malerei in Erwiderung seiner Rezension des 3. Teiles der
Italien. Forschg. des Herrn С. F. v. Rumohr, Berlin und Stettin 1832 е тї: „Die Stelle, weiche der
Herr v. Rumohr unter den Kunstkennern einnimmt.“
123
auf dem „sich Hingeben an sinnliche Dinge“ i), das auch für künstlerisches Schaffen
Voraussetzung ist. Rumohr besaß es in hohem Maße; er hatte, „die Gabe, mit
Schärfe und richtig zu sehen und das Gesehene stark zu empfinden, lange Zeit es
im Gedächtnis festzuhalten“). Ein Künstler dringt damit in das Wesen der Er-
scheinungen und Rumohr, in dem künstlerische Anlagen sind’), zugleich in das
eigenttimliche Wesen von Kunstwerken und Kunst und das ihres Schipfers.
Das Kunstschaffen nimmt seinen Anfang im Unbewußten: Gefühl weckt und trägt
die Schöpferkraft, bis das geistige Urbild seine Gestaltung in der Materie gefunden
hat. Der Verstand wird nur den Schöpfungsakt und das „Bild“-Werk begreifen
können. Das Gefühl allein wird die Freude des Künstlers an seiner genialischen
Intuition und Schaffenskraft nacherleben und die Seele des Kunstwerks in ihrem
inneren Dasein verstehen. Hier ist der Boden, auf dem Künstler und Kenner
nebeneinanderstehen.
Rumohr „liebt die Kunst über alles“, und aus seiner Liebe für künstlerische
Dinge erklärt sich sein scharfer Blick für die kleinsten charakteristischen Merk-
male, die oft über die Eigenart eines Künstlers oder Kunstwerkes Aufschluß geben,
wo historische Untersuchungen Lücken gelassen haben. „Den Charakter und den
Habitus der Kunstwerke“) zu ersptiren, stellt Rumohr als Forschungsmittel neben
die historisch philologischen. Feine, psychologische Analysen werden dafür er-
forderlich. Wir haben für Rumohrs Meisterschaft darin ein beredtes Zeugnis in
seinen kleinen, aber methodisch bedeutsamen und für seine Zeit wirkungsvollen
Schriften über Formschneidekunst, mit denen er sich an der „großen Streit-
frage des то. Jahrhunderts“ (Kugler) nach der Originalität Holbeinscher Schnitte
beteiligt). Eine intime Stellungnahme des Betrachters ergibt sich der graphischen
Kunst gegenüber, in der sich die Empfindung am freiesten offenbart. Die Hand
zeigt in der Linie die zartesten Regungen des Gemüts, den leisesten Zug des
Willens. „Einsicht, Feuer, Gefühl des Künstlers zeigt sich in den äußeren Be-
grenzungen des Linienzuges: also hieß es selbst Hand anlegen, wo man den Geist
aufs feinste und edelste aussprechen wollte®).“ Es ist, als lausche Rumohr auf
den Herzschlag des Künstlers, um ihn dann unter Tausenden herauszuerkennen.
„Die technischen Entwicklungen gehen ausnahmslos von einem Drange des Geistes
aus“, also gehe die Frage, „ob es eigenhändige Formschnitte gäbe, die Kunst-
historie im ganzen an“.
Man lasse das Gefühl bei Entscheidungen über Kunstwerke walten! — ist dem-
nach die Forderung Rumohrs, wie sie seit Du Bos bis zu unserer Gegenwart immer
wieder erhoben wurde. Rumohrs Gefühl beruht auf einem ungewöhnlich großen
Reichtum an Vorstellungen, die seine scharfe Beobachtungsgabe aus seiner viel-
seitigen Erfahrung angehäuft hat. Nach seiner Gewohnheit, starke Wirkungen auf
ihren objektiven Wert und ihre Ursache zu prüfen, präzisiert er verstandesgemäß
wissenschaftlich jedes seiner Kennerurteile durch historisch gewonnene Beglau-
(1) Rumohr. (э) Rumohr: Drey Reisen nach Italien, 8. 3.
(3) Ebenda, 8. 3. Rumohr zeichnete und radierte. Der Wert solcher Kunstübung für seinen kriti-
schen Blick ist offenbar. Zeichnungen von seiner Hand scheinen zahlreich im Privatbesitz zu sein.
Ich sah im Kupferstichkabinett zu Dresden (Zwinger) etliche, datiert 1838, 1832, 1836; desgleichen
einige seiner seltenen Radierungen aus den Jahren 1811 und 1812.
(4) Unter den methodischen Hinweisen in seiner Geschichte der Formscbneidekunst 1837.
(5) Vgl. Bibliographie, 8. VI, Man folzte sehr rasch seinen Anregungen und seiner Forschungs-
methode. Umbreit, Buch über die Holbeinfrage erscheint wie ein Spiegelbild des Rumohrschen Buches.
(6) Zur Geschichte und Theorie der Formschneidekunst. 1837, 8. 16 u. folg.
124
bigungen. Für Echt und Unecht, für Gut und Schlecht gab ihm seine Kunst-
forschung von den Denkmälern selbst den sicheren Blick, aber nicht minder seine
Liebhaberei, für eigene und fremde Kunstsammlungen Erwerbungen zu machen.
Wie die gelehrten Antiquare des 18. Jahrhunderts, die Mariette, Goncourts, Fro-
mentin, gelangt er dazu, daß sein Urteil mit scheinbar instinktmäßiger Sicherheit
das Richtige trifft, auch von Werken, die nach Zeit, Ort oder Meister, durch
Quellen nicht zu bestimmen sind. Die Schärfe der Kritik und die Umsicht Ru-
mohrs erscheinen den Zeitgenossen Garanten für die Echtheit und Qualität alter
Kunstwerke. „Seine Autorität als Kunstkenner verbürgt das Anerkenntnis seines
Urtheils von anderen Kunstkennern“ ), schreibt Altensen an den Kabinettsrat Al-
brecht, als es sich darum handelt, Rumohr als letzte Instanz bei Neuerwerbungen
heranzuziehen, die in Italien für das Berliner Museum gemacht werden sollen’).
Den unschätzbaren Wert einer kennermäßigen Kritik für Forschungsarbeiten
sieht — wie auch Waagen — Hotho?) wenn er einen Rumohr als Leuchte für die
Dunkelheit kunstgeschichtlicher Epochen herbeisehnt:
„Vom 13. und 14. Jahrhundert ab fast in der ganzen Geschichte der Malerei ist
keine Epoche, in welcher sich wie bei den älteren Niederländern so viele Künstler-
namen ohne beglaubigte Werke finden und so viele Werke ohne historische Ge-
wißheit über deren wirklichen Meister. In der oberdeutschen Malerei ebenso, mehr
erst in der kölnischen Schule. Hier würde eine historische Kritik wie sie z. B.
Rumohr in Rücksicht auf einige Epochen des älteren Italiens bis auf Raphael mit
Scharfsinn, vielseitig gewiegter Gelehrsamkeit und vor allem mit Geist unter-
nommen hat, höchst förderlich und dankenswert sein.“
Damit werden die Ergebnisse einer auf Kennerschaft beruhenden kunstpsycho-
logischen Forschung‘) als grundlegend für die historisch - philologische gekenn-
zeichnet. Erst beide Methoden vereint können wahrhaft fruchtbringend sein.
Kunstförderung.
Fast drei Jahrhunderte hatte die Autorität der Akademien das westeuropäische
Kunstleben beherrscht — und gelähmt. Erst im 19. Jahrhundert wurde ihre Macht
gebrochen. Die anti-akademischen Bestrebungen zu Ende des ı8. Jahrhunderts
blieben noch ohne bedeutenden Erfolg’). Wenn in Frankreich Diderot gegen die
einengenden Konventionen im akademischen Unterricht Sturm lief, weil sie eine
selbständige, freie Entfaltung des Künstlertums hinderte, blieb er doch in den
wesentlichen Grundsätzen des Akademismus befangen. Er konnte sich weder von
der Theorie des Eklektizismus, noch der Vermischung von Literatur und bildender
(1) Am 12. Februar 1829.
(2) Brief aus den Akten des kgl. Zivilkabinetts im Geh, Staatsarchiv su Berlin. Eine Anzahl Briefe
(1826—30) von Bunsen, W. v. Humboldt, Altensen, Rumobr u. а. an Albrecht, bzw. den König gə-
richtet, handeln von Bildankäufen durch Rumohr für die Berliner Sammlung. Aller Опей über R.
lautet übereinstimmend. Rumohrs Mitarbeit an der Verwaltung des Berliner und des Kopenhagener
Museums war bedeutend,
(3) H. а. Hotho: Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei. Berlin 1843, S. 43.
(4) Мах Deri: Kunstpeychologische Untersuchungen in der Ztechr. für Ästhetik, hreg. von Dessoir.
Bd. Ш, Heft 1 und з. Stuttgart 1913.
(5) Vgl. Dresdner: Die Kunstkritik. München 1915, S. 252ff., 287. W. Hermens: Die Anfänge der
klassizistischen Zeichnung in Deutschland. Diss. Berlin 1908. Anbang su Kap. Ц, woselbst Literatur-
angabe über die Entwicklung der Akademien. Vgl. C. Gurlitt: Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts.
Berlin 1899, S. 193f.
125
‘Kunst lösen. Auch ihm war für den Wert eines Kunstwerks die Idee maßgebend,
nicht das rein malerische oder skulpturelle Element’). Dem allgemeinen Strom
seiner Zeit eine neue Wendung zu geben, vermochte er nicht; aber er öffnete den
Ausblick auf eine freie Bahn.
Der Ruhm eines Vorkämpfers für die Neugestaltung der Akademien gebührt
erst Rumohr. Ihn leiteten ähnliche Erkenntnisse wie einst Diderot. Doch so
ernsthaft und unbefangen wie er, hatte noch niemand vor ihm bis zu den Schäden
und Übelständen im akademischen Lehrbetrieb zu dringen, noch eine Umwälzung
anzubahnen gesucht’). Rumohr war im Prinzip kein Gegner der Akademien.
Man bedürfe ihrer vor der Hand zur Ausbildung junger Künstler; aber deren tat-
sächliche Leistungen ständen in keinem Verhältnis zu dem ungeheuren Kosten-
aufwand, den die Anstalten jährlich beanspruchen. Die Schuld daran maß Rumohr
dem Stoffplan in seiner Anordnung und Unzweckmäßigkeit und der Methode des
Unterrichts zu: beides bedürfe einer Reform von Grund aus. Er stellte seine For-
derungen nach den Gesetzen einer naturgemäßen Entwicklung auf.
Die Akademie als höhere Bildungsanstalt verlange eine technische Vorbildung
für die Aufnahme der Schüler. Im Unterricht passe man sich der Fassungskraft
des Schülers an: in seinen jungen Jahren mache man ihn mit dem praktischen
und mechanisch erlernbaren Stoff vertraut und weihe ihn erst nach dem Grade
seiner geistigen Reife in die Theorie ein. Massenunterricht komme nur für wissen-
schaftliche Fächer in Frage; Malen und Modellieren könne nur individuell unter
den Augen des Meisters eingetibt werden. Auch sei für den Künstler eine all-
seitige Ausbildung der Persönlichkeit als unerläßlich zu betrachten. Der Lebens-
keim des jungen Talentes werde gestärkt durch Studien vor der Natur selbst!
Das Zeichnen in den Antikensälen, das Kopieren alter Meister, wie es vorwiegend
in den Akademien geübt wurde, verwirft Rumohr durchaus. Immer wieder be-
tont er, daß das ursprüngliche Gefühl für das echt Malerische und die ursprüng-
liche Schöpferfreudigkeit nur vor der Natur zu ihrem Recht kommen. Allein durch
eine weise Heranbildung der Künstler könne die Kunst gesunden.
Vor dem Akademikertum, das sich auf begrifflich-theoretisch gewonnene Ästhetik
und die Nachahmung alter Meister stützte, verhallten Rumohrs Reformvorschläge
kaum gehört. Fruchtbaren Boden fanden seine Anregungen und Lehren nur in
Kreise der Hamburger und Lübecker jungen Künstler, die seine Kunstsammlungen®)
oft nach seinem Gute Rothenhausen zog. Die Speckter, Milde, Oldach, Asher,
Morgenstern, Vollmer‘) — wie auch der junge Dresdner Kreis — folgten in ihren
Studien seinem Hinweis auf das unmittelbare Vorbild der Natur, auf die Wahrung
eigner und deutscher, oder weitgefaßt, germanischer Originalität. Sie müsse durch
vertiefte Betrachtung heimatlicher Kunstschätze gefestigt werden, bevor der junge
(1) Schiller an Goethe am 7. Aug. 1797 aus Jena über Diderot: „Mir kommt vor, daß es Diderot geht
wie vielen anderen, die das Wahre mit ihrer Empfindung treffen, aber es durch das Raisonnement
wieder verlieren. Er sieht mir bei ästhetischen Werken noch viel zu sehr auf fremde und moralische
Zwecke, er sucht diese nicht genug in dem Gegenstande und in seiner Darstellung. Immer muß ihm
das schöne Kunstwerk zu etwas dienen. Und da das wahrhaftig Schöne und Vollkommene in der
Kunst den Menschen notwendig bessert, so sucht er diesen Effekt der Kunst in ihrem Inhalt und in
einem bestimmten Resultat für den Verstand oder für die moralische Wirkung.“ |
(2) Drey Reisen nach Italien, 3. R., Kap. L |
(3) J. A. Frenzel: Die Kunstsammlung des Frhrn. С. L. F. v. Rumohr. Lübeck. Beschreibend dar-
gestellt. 1846,
(4) Alfred Lichtwark: Hermann Kaufmann u. die Kunst in Hamburg um 1800 --ı850. Hamburg 1893.
126
Künstler seine Eigenart schadlos den verführerischen Einflüssen Italiens aussetzen
dürfe). Im Gegensatz zu der Ansicht der Zeit und trotz seiner eignen Liebe für
Italien wiederholte Rumohr oft, daß man ein großer Künstler werden könne, ohne
je Italien gesehen zu haben. Mit der Wärme seines romantischen Empfindens
brachte er seinen jungen Freunden die Kunst des Mittelalters nahe?) und baute
dabei mit feiner psychologischer Einsicht auf ein neues und eigenvölkisches Kunst-
gefühl, das sich den klassizistischen Tendenzen der Akademien widersetze.
Rumohr wiinschte die akademische Welt von dem Wert seiner Ideen duroh ein
lebendiges Beispiel zu überzeugen. Sein Versuch, mit der Durchbildung eines ihm
ganz gefügigen jungen Künstlers scheiterte an Horny, den ihm schon eine akade-
mische Schulung verdorben hatte. Um so größer war seine Freude an dem jungen
Nehrlich, den er noch urwüchsig und von blasser Theorie der Kunst unberührt
fand’). Das war das Holz, das er brauchte. Nach seiner Methode, die er für er-
folgreich hielt, stellie er der Welt sein Muster auf. Zu den allgemeinen Gesichts-
punkten, die er vertreten hatte, fügte er die Sorgfalt seiner persönlichen Erziehung.
Nichts ließ er unbeachtet: auf die Pflege der Hände’ und des Auges, auf „die
Bildung des sittlichen Charakters und des Verstandes“, sowie auf die geselligen
Tugenden wurde Wert gelegt. Sein Zögling sollte „in sich aufnehmen, was jemals
gefühlt und gedacht worden, zugleioh die Natur fest im Auge behalten, welche
unserem Zeitalter näher gerückt ist als jemals einem früheren“ ).
Im Knabenalter kam das Technische in der Kunst zur Übung; wie der seelische
Gehalt dem Verständnis erwuchs, entwickelte sich die Theorie aus der Folge
lebendiger Anschauung und das alles vor der Natur, dem Quell der Schönheit.
Von der Nachahmung alter Schulen und Meister wurde vollkommen abgesehen,
damit eigne Schaffenskraft nicht erlahme.
Rumohr erntete eine schönere Frucht als er je erhofft hatte. Von Nerly konnte
er sagen: „Er hat meine klihnsten Erwartungen übertroffen.“
Der letzte Zweck ging über das persönliche Interesse hinaus und war die Um-
bildung des Unterrichtssystems jener Zeit. Rumohr sprach es aus: „Gewiß würde
ich erst dann mein Ziel für gänzlich erreicht halten, wenn ich erleben sollte, daß
Nerlys Beispiel zur Nachahmung seines Bildungsweges anreizt°).
Das sind Grundsätze und eine Methode, die durchaus modern anmuten. Es hat
beschämend lange gedauert, bis sie sich allgemein durchgesetzt hatten; an den
Pflanzstätten der Kunst — erst auf der Wende unseres Jahrhunderts!
RUMOHR ALS THEORETIKER
Der Begriff der Kunst
Rumohr grenzt die historische Forschung nachdrücklich von der Ästhetik ab.
»Die geistige Titigkeit aber, aus welcher die Kunst hervorgeht,“ wie das ganze
(1) Erwin Speckter: Briefe eines deutschen Künstlers aus Italien, Leipzig 1846, Einleitung, 8. XVI.
(з) Ebenda, Einleitung S. XXIX und S. 121 ist charakteristisch für die Anforderungen, die ein an
nordischer Gotik herangebildetes Auge und Raumgefühl an eine Architektur wie hier der Markus-
kirche in Venedig stellt, auch trots des überwältigenden Eindrucke.
(3) Cornelius Gurlitt nennt Rumohr (a. а. O., 8. 150) „einen getreuen Pfleger und Leiter für alle
junge Kunst, wichtig als fast einziger Streiter gegen die Übergriffe der gesetsesgläubigen Ästhetiker.“
(4) Drey Reisen nach Italien, 8. бо.
(5) Ebenda, 8. 257. Diese Wertschätzung Nerlys (so nannte Nehrlich sich in Italien) ist relativ auf-
zunehmen.
127
Gebiet der Ästhetik will er philosophischer Betrachtung!) überlassen wissen. Das
Wesen der Kunst zu ergründen, versucht auch er: Nicht wie ein Künstler in der
Wissenschaft, der, was er ahnend vom geheimsten Wesen begreift, in seiner
Schöpfung zur Gewißheit werden läßt und in der Totalität einer Offenbarung der
Welt schenkt, sondern als der Betrachter, der Nachsinnende, als den er sich in
dem Wort Senecas bekennt, das er vor die „Italienischen Forschungen“ setzt —
das Buch, das die reife Ernte aller seiner Kunstanschauungen und ureigner For-
schungen enthält —: In studiis puto, mehercule, melius esse, res ipsas intueri et
harum causa loqui. Auch ist immer eine feine, aber eindringliche pädagogische
Note in der Art, wie er seine Erkenntnisse ausspricht. Seine Zeitgenossen klagen
zuweilen über die Dunkelheit seiner Rede bei theoretischen Erörterungen. Sie hat
das in der Tat; und er ist immer ein wenig umständlich, denn die Sprache ist
nicht sein eigentliches Mitteilungsorgan. Wie klar, wie melodisch und leicht im
Fluß seiner Rede weiß Schelling*), sein Geistesfreund, dieselben Grundgedanken
über die bildende Kunst auszudriicken! Vielleicht lag der Sieg von Winckelmanns
Theorien zwei Jahrhunderte hindurch ebenso sehr an der leicht faßlichen Dar-
stellung und dem wundervollen Schwung der klaren Sprache, wie die Vergessen-
heit, in die Rumohr bald sank, zum Teil in der Weitschweifigkeit der seinen?).
Wenn Justi‘) von der Theorie Winckelmanns über das Wesen der Schönheit
sagt: „Zwei Generationen von Archäologen und Kennern aller Zungen schworen
nicht höher; Philosophen haben diese Sätze in ihr System verschmolzen, und Poeten
in Versen ausgemalt; Künstler haben nach diesen Sprüchen ihre Gebilde gemodelt
und allen, die von der Kunst geistig und leiblich lebten, vom Gelehrten bis zum
Ciceronen, galt sie als Richtschnur“ — so ist das nicht ganz zutreffend: Rumohr
schwor nicht mit. In der Charakteristik dieser Gefolgschaft liegt zugleich die einer
Sonderstellung Rumohrs in dem allgemeinen Strom. Seine früheren Schriften‘)
setzen sich mit der antiken Kunst und den wesentlichen zeitgemäßen Theorien
über sie auseinander, wo sein Denken eigne Wege geht. Bald verläßt er die Ge-
biete klassischer Antike um der modernen Kunst des westlichen Europas willen
und sieht vor deren schillernden Vielgestaltigkeit die Theorien über das Wesen
der Kunst, über Schönheit und Stil, soweit er sie von seiner Vorwelt und Mitwelt
übernommen hat, als unzureichend sich wandeln. Bei der Überzeugung erkannter
Wahrheit hat er kein Bedenken, die Autorität eines Winckelmann, eines Lessing,
eines Goethe anzugreifen, ja, die Autorität der beiden Letzteren gilt ihm höchst
bedingt, da Lessing durchaus Unkunde auf dem Gebiet der bildenden Kunst be-
wiesen und Goethe nie eine feste Stellung ihr gegenüber gewonnen habe. Seine
Anschauungen über Kunst, in diesem Sinne, sammeln sich wie in einem Brenn-
punkt in den ersten Kapiteln seiner „Italienischen Forschungen“, betitelt I. „Haus-
halt der Kunst“ und II. „Verhältnis der Kunst zur Schönheit“, deren Gedankengang
(1) Italien. Forschg., S. 121; u. a. O.
(2) Vgl. Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. 1807. (Ges. Werke.
Stuttgart 1860 )
(3) Doch strebt Rumohr nach klarer, sprachlicher Fassung der Begriffe.
(4) Сап Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 1898, Bd. Ш, 149.
(5) 1. Erläuterungen einiger artistischer Bemerkungen über die Rede des Herrn Hofrat Jacobs über
den Reichtum der Griechen an plastischen Kunstwerken. 1810. 3. Über die antike Gruppe Castor
und Polluz oder von dem Begriffe der Idealität in Kunstwerken. Hamburg 1813. Vgl. Friedrich
Stock: Rumohrs Briefe an Robert v. Langer 1919; zumal die Vorrede, in der auf die reformatorischen
Ideen der Schrift „Castor und Pollux“ hingewiesen wird.
daher diesen Betrachtungen über die Grundzüge seiner Kunstlehre die Unterlagen
bietet,
Wesen der bildenden Kunst. Rumohr ist Realist und vertritt mit aller Ent-
schiedenheit seinen Standpunkt gegenüber seinem Zeitalter. Die moderne Bildung
neige durchhin zu einer Abtötung des äußeren Sinnes, Er aber sieht in diesem
das Organ, mit dem der Mensch sich in der Welt, in die er hineingeboren wird,
nicht allein orientiert, sondern ihm das vermittelt, worauf sein psychisches Leben
sich aufbaut: alles Geistesleben ist bedingt durch das Sinnenleben. Er schließt
sich den englischen Empirikern an!). Seine Zeitgenossen sucht er aufzurütteln aus
ihrem mißverstandenen Platonismus, den sie durch den Autoritätenglauben der
Jahrhunderte vor ihnen entstellt ohne tiefgründige Prüfung übernommen haben.
„Wozu die Sinnen, wozu die Erfahrungen, welche sie uns zuführen, wenn unser
geistiges Dasein schon in sich vollendet in die Welt einträte, der Entwicklung und
Zeitigung durch äußere Umstände nicht bediirfte? Sind die Erfahrungen etwa ein
bloßer Pleonasmus der Natur?)?! „Ist es denn so unerfreulich, dem großen Ganzen
durchaus anzugehören, in und mit ihm zu leben, aus ihm sich täglich zu verjiingen?
— Ich dächte nicht.“
Die bildende Kunst beruht auf der Anschaulichkeit, nach Ursprung und Zweck,
und sie ist das wesentliche und charakteristische Merkmal gegenüber den Rede-
künsten; das anschauliche Denken ist ihm die künstlerische Geistesart“). „Die
bildende Kunst ist eine dem Begriffe oder dem Denken in Begriffen entgegen-
gesetzte, durchhin anschauliche, sowohl Auffassung als Darstellung von Dingen,
welche entweder unter gegebenen oder auch unter allen Umständen die mensch-
liche Seele bewegen und bis zum Bedürfnis der Mitteilung erfüllen.“
Die bildende Kunst übertrifft den Verstand, denn dieser vermag die Dinge und
Ereignisse nur in Teilen und in ihrer Abfolge wiederzuspiegeln, und auch dem ab-
strakten Denken, wo es Gehalt und Tiefe besitzt, liegt das Anschauliche zugrunde;
das anschauliche Denken aber ist ein Spiegel des gesamten Geisteslebens, vielleicht
gar das Ursprüngliche selbst. Die bildende Kunst gibt das anschaulich Erfaßte
unmittelbar der Anschauung wieder, gibt das Ganze der Erscheinungen in ihrer
Gleichzeitigkeit und erweitert so das Gebiet des Geistes, befriedigt Wünsche und
Bedürfnisse der Seele, die der Begriff unerfüllt läßt. Deshalb versetzt Rumohr die
bildende Kunst weit entschiedener als es jemals vorher geschehen, in das innerste
Heiligtum alles geistigen Wirkens und Lebens.
Kunstbetrachtung. Auch für die Kunstbetrachtung fordert Rumohr einen
neuen Standpunkt, ein Sich-Hingeben an das Kunstwerk und ein Absehen von jeg-
lichem Hineintragen begrifflicher Momente — eine Forderung, die bis heute ihre
Gültigkeit bewahrt hat. Das Wesen der Kunst rein aufzufassen ist nur fähig, wer
sich einer reinen Kunstbetrachtung befleißigt. Dazu gehöre sowohl die Unabhängig-
keit von jeder Vorliebe für bestimmte Richtungen, Schulen oder Förmlichkeiten
der Kunst, als auch vom Zweckgedanken, der nie Erschöpfendes geben könne, er
möge in dem Charakter — der Deutlichkeit — des Dargestellten gesucht werden,
in der bloß sinnlichen Wahrscheinlichkeit — der Illusion — dem Malerischen oder
(1) Vgl. das Verzeichnis einer Sammlung von Büchern des verstorbenen Kammerherrn С. F. L. Е.
von Rumohr 1846, woraus hervorgeht, daß R. die englischen Philosophen wohl eingehend gelesen
haben mag.
(з) Drey Reisen nach Italien, 8. 35 — 37.
(3) Italien. Forschg. I, 8f.
Monatsheite für Kunstwissenschaft Bd. I, 1931. 9 129
dem Spiel der Laune, des Witzes, der Phantasie. Sogar unabhängig von den
Reizen und der Schönheit der Kunst werde ein an sich selbst Ergötzliches in ihr
gesucht, eine Vorstellung vom Lebensfrischen und sittlich Edlen. Die Eklektiker
gar sehen den Zweck der Kunst in der Vereinigung aller Leistungen, die ihnen
je in einzelnen Kunstwerken vorgekommen sind — und dabei legt Rumohr Kritik
an Winckelmann und Lessing; — für deren Verdienste er ein gerechtes Auge
hat — auch sie, die Stifter der höheren Richtung des deutschen Kunstsinnes,
hielten sich von einer solchen Mischung des Besonderen und Allgemeinen nicht
frei. Beide gehen aus von dem Eindruck einzelner Kunstgebilde des Altertums,
keineswegs aber von dem Begriff der Kunst, der ursprünglich und scharf ab-
gesondert sei. Das könne nie zu allgemeinen Kunstansichten führen, weder für
die antike, noch die neuere Kunst. Die bildenden Künste gehorchen einem durch-
waltenden Gesetz und enthalten etwas Allgemeines und Unveränderlichee.
Kunstschaffen. Rumohr glaubt, jedes allgemeine Gesetz der Kunst mit Sicher-
heit aus den beiden Tätigkeiten der Auffassung und Darstellung ableiten zu können.
Gestalten, so den Gegenstand künstlerischer Darstellungen zu jener Klarheit der
inneren Anschauung erhebt, welche die Möglichkeit genügender Darstellung durch-
aus bedingt“).
„Darstellung dagegen ist uns der Inbegriff aller Tätigkeiten, durch welche ein
solches Selbstangeschaute auch anderen möglichst klar und erfaßlich mitgeteilt
wird.“
Die Auffassung, das „künstlerische Wollen“ ist das Wichtigste, die Darstellung
ist von ihr abhängig und wird den Stempel ihrer Beschaffenheit an sich tragen,
nach Weisheit, Richtigkeit, Kraft. Hierin liegt der Ausgangspunkt für alle Wertung
von Kunstwerken bei Rumohr, und hierdurch bricht er mit seiner Zeit, die Winckel-
mann, Mengs und Lessing folgend in der Schönheit den höchsten Endzweck und
den Mittelpunkt der Kunst erkennen will. Das Schöne wird lediglich durch Auf-
fassung und Darstellung bedingt, der Gegenstand selbst ist das Unwichtigste bei
der künstlerischen Hervorbringung des Schönen. „Denn in jedem Kunstwerke von
einigem Belang zeigt sich neben dem Gegenstande auch die Seele des Künstlers,
und zwar mit solcher Gewalt und Eindringlichkeit, daß die Bildwerke und Ge-
mälde großer Meister wenigstens іп eben dem Maße Abdrücke ihrer eigentlim-
lichen Geistesart sind, als Darstellungen ihres Gegenstandes. Also können Kunst-
werke schön sein, deren Gegenstand an sich selbst unschön ist“ 3).
Rumohr hat eine Umwertung von großer Tragweite vorgenommen, von „höchster
Wichtigkeit für das Gesamtergebnis der Kunst?), sogar vom Standpunkt einseitiger
Würdigung der Kunst aus betrachtet. Da besondere Tiefe und Erhabenheit der
inneren Anschauung vorauszusetzen, wo die Fähigkeit der Darstellung kaum hin-
reichte, eine milde und gütige Gemütsart, eine schöne Unbefangenheit der Sitte
auszudrücken.“ Es ist der Geist der Romantiker, der hier wirksam wird. Der
Schlüssel zum Verständnis einer jeden Kunst war gefunden und einer neuen aller
Kunst einbeschlossenen Ästhetik das Tor geöffnet.
Die Wirkung eines Kunstwerkes steht in engster Beziehung zum Charakter des
(x) Italien. Forschg. I, 14f.
(2) Beygabe zum ersten Band der Italienischen Forschungen. Hamburg 1827, S. 14. Vgl. Kunst-
Blatt 1820, Nr. 54, 213—216.
(3) Italien. Forschg. I, ı5.
130
Künstlers; flir Rumohr gibt es keine Trennung des Menschentums vom Künstler-
tum im Schaffenden. Überzeugend wirkt der Künstler nur, wenn er in das Wesen
seines Gegenstandes, seiner Aufgabe, so tief einzudringen bemüht ist, als es seiner
Individualität irgend möglich ist. Auch wird die Kraft der Auffassung immer eine
Harmonie des Wollens und Könnens herbeiführen, denn der Geist zwingt die
Hand zu seinem Ziel. Macht sich in einem Kunstwerk ein höheres Wollen be-
merkbar, als in der Darstellung anschaulich gemacht worden ist, so liegt die Ur-
sache in der Schwäche des Künstlercharakters, in einem Mangel an männlicher
Straffheit und Ausdauer. Rumohr kann nicht zugeben, daß ein edier Geist, der
mit der Fühigkeit, hohe Dinge aufzufassen begabt ist, nicht auch die Kraft auf-
weisen solite, seine Darstellung der Auffassung würdig durchzuführen. „Der Ein-
druck eines edien, unter dem Druck äußerer Umstände verkommenden Geistes
ist notwendig niederschlagend; hingegen kann die leere Fertigkeit der Hand, hinter
der die geistige Auffassung zurlickbleibt, nur vorübergehend sinngetällig sein.“
Das Verhältnis der Kunst zur Natur. In diesem Sinne wird ihm der Mensch
das Maß aller Dinge: nach seiner Fähigkeit, aus der Natur das latente Gut zu
lösen, ihren Reichtum zu ergründen und nachzuerschaffen in seiner Kunst. Die
Natur ist vollkommen, und übertrefflich nur in den Augen der Toren; es ist ein
Wahn, daß der Künstler sie steigern könne, eine Verirrung, wenn er glaubt, seine
eigne Welt erschaffen zu können oder zu müssen, in selbst erbildeten Formen.
Die Verschmelzung unvereinbarer Vorstellungen sei nur in Arabesken, Karika-
turen u. dergl. m. erträglich. Alle Formen der Darstellung, die sinnlichsten wie
die geistigsten, sind ohne Ausnahme in der Natur gegeben, die sich dem auf-
merksamen Geist und dem lebhaften Empfinden bald entfernt andeutend, bald un-
tibertrefflich in ihren Gestalten ausdrückend, in allem offenbart, was die Kunst
irgend anstrebt. Die Kunst der Griechen ist so vollkommen und allgemein wie
unmittelbar verständlich, weil sie die innere, gegebene Bedeutsamkeit der Natur
erkannt haben und ihr in der Darstellung gefolgt sind. Vermöge dieser Bedeut-
samkeit der Naturformen ist vieles Große, selbst das Höchste, künstlerisch zu er-
fassen und darzustellen.
Hier bildet Rumohr eine Brücke von dem Zeitalter Winckelmanns zu der neuen
Kunstepoche, die er anbahnt. |
Den modernen Kunstströmungen, die den Boden der einheitlichen Auffassung
einer durchgeistigten Natur verlassen, steht Rumohr schroff ablehnend gegenüber.
Das Festkleben der Naturalisten an der zufälligen Erscheinung ist beschränkt und
stumpfsinnig; die Idealisten, verführt durch den falschen Begriff des Ideals als
einer anomalischen, der natürlichen entgegengesetzten Form, erschaffen leere Zerr-
bilder mit dem willkürlichen Ersinnen ihrer Darstellungsformen. Diese Manieristen
sind die schlechteste Gattung moderner Maler und die Bewunderung seiner Zeit
für sie ihm unerklärlich, zumal in Anbetracht der wahren und richtigen Kunst-
anschauungen, die Winckelmann und Lessing allgemein verbreitet hätten. Der
verhängnisvolle Einfluss Oesers, „dieses grauenhaftesten, leichenähnlichsten aller
Manieristen“, habe des öfteren den kühnen Flug Winckelmannschen Geistes lahm-
gelegt, selbst auf der Höhe seines Schaffens. Noch immer könne man sich „jenes
unseligen Mitteldinges zwischen Irrtum und Wahrheit“, das Winckelmann ihm
zufolge erzeugte, nicht entledigen.
Alle „zu Begriffs-Zeichen gestempelten Bilder“ gehören nicht zum Gebiet eigent-
(z) Italien. Forschg. I, 84.
131
licher Kunst. Auch den Typus als Nachwirkung einer Bezeichnungsart von Be-
griffen und Gedanken: „Die Gleichfirmigkeit in der Darstellung gleicher, oder
doch verwandter Kunstaufgaben“ will er von der reinen Kunstbetrachtung aus
schließen und der historischen Archäologie zugewiesen wissen, denn allein in der
griechischen Kunst „ist die Eigenschaft mit bewundernswürdiger Feinheit dem
eigentlich Künstlerischen angelegt“.
SOL In der Frage, was Stil sei!), nimmt Rumohr eine Sonderstellung ein und
begrenzt sie gegenüber Winckelmann und anderen Kunstschriftstellern. Seine
Überlegungen gehen von dem Stoff künstlerischer Darstellung aus, den er in einem
edien — die Summe organischer und natürlicher Formen — und einen groben —
das Ausdrucksmaterial des Künstlers — scheidet, Da diese beiden Hauptmassen
des Kunstmaterials wesentlich voneinander verschieden sind, wird das Verhalten
des Künstlers zu jedem ein anderes sein. Stil ist die Art, wie der Künstler nach
seinen Ansichten, Gewohnheit, Gefühl, den derben Stoff, der in höherem Maße als
der edlere seiner Willkür unterliegt, auf eine leicht erfaßliche, sinngefällige Weise
verteilt und anordnet, also: „...ein zur Gewohnheit gediehenes Sich-Fügen in
die inneren Forderungen des Stoffes, in weichem der Bildner seine Gestalten
wirklich bildet, der Maler sie erscheinen macht*). Der Stil kann einmal alle
Kunstarten gemeinschaftlich und zweitens einzelne für sich betreffen.“
Die darstellenden Künste stimmen nur in ihrer Erscheinung im Raum überein;
so fordert das allgemeinste, umfassendste Stilgesetz die Übereinstimmung räum-
licher Verhältnisse. Dieser allgemeine Stil scheint sich auf frühesten Kunststufen
auszubilden, weil „die Einfachheit des Wollens und diesem entsprechender Formen
der Darstellung die Aufmerksamkeit ungetheilt auf die inneren Forderungen des
derben Kunststoffes lenken“ ); auch hat die Herrschaft der Baukunst über die
bildenden Künste in diesen früheren Perioden ihren Anteil daran. jede Kunstart
muß sich an ihren besonderen Stil gebunden betrachten; jede Stilvermischung,
also Übertragung des Stils einer Kunstart auf die andere, ist geschmacklos. Das
Zeichnen in den Antikensälen rufe dergleichen hervor!
In den Fragen über Stilgesetze schließt er sich im wesentlichen an Winckel-
mann und Lessing an. In seinen Ausführungen über den Stil wünscht er nicht
nur dessen Begriff gegenüber dem hergebrachten zu klären und umzuformen, son-
dern ihn auch für die Kunstsprache festzulegen. Er bestrebt sich immer, diese
durch verstandesscharfe Bestimmungen zu läutern und über die nicht immer zu-
treffende Künstlersprache zu erheben.
Schönheitslehre.
Probleme der Schönheit. „Wer kann sagen, daß Winckelmann die höchste
Schönheit nicht erkennt? Aber sie erschien bei ihm nur in ihren getrennten Ele-
menten, auf der einen Seite als Schönheit, die im Begriff ist und aus der Seele
fließt, auf der anderen Seite als die Schönheit der Formen. Welches tätig wirk-
same Band bindet nun aber beide zusammen, oder durch welche Kraft wird die
Seele samt dem Leib zumal und wie mit einem Hauche geschaffen? Liegt dieses
(т) Vgl. Kunst-Blatt 1820, Nr. 54, 214; 1825, Nr. 1 Schorn; Nr. 75 Rumohr; Nr. 76 Schorn über den
Stil; und Italien. Forschg. I, 85 ff. und Goethe: Werke (vollst. Ausg. letzter Hand), 1830, S. 180 fl.
und Weisse: Kl. Schriften zur Ästhetik 1867.
(2) Italien. Forschg. I, 87.
(3) Italien. Forschg. I, 87.
132
nicht im Vermögen der Kunst, wie der Natur, so vermag sie überhaupt nichts zu
schaften. Dieses lebendige Mittelglied bestimmte Winckelmann nicht; er lehrte
nicht, wie die Formen von dem Begriff aus erzeugt werden können. So ging die
Kunst zu jener Methode über, die wir die rückschreitende nennen möchten, weil
sie von der Form zum Wesen strebt“ ). So gibt Schelling dem Problem Aus-
druck, das seine Zeit an der Stelle aufnahm, wo Winckelmann es hingeführt und
von wo er weiter in das Geheimnis der Schönheit zu dringen begehrte, indem er
ıseine Betrachtungen von der Kunst auf die Natur lenken wollte, um „die höchste
Schönheit, die er in Gott fand, auch in der Harmonie des Weltalls zu erblicken“ ).
Mit der Leidenschaft und Beharrlichkeit einer großen Überzeugung hatte Rumohr
nie aufgehört, der Künstlerwelt eine fortschreitende Methode, im Sinne Schellings,
zu weisen — aus der Harmonie des Weltalls das Schöne zu schöpfen, es kraft
der Schönheit und Tiefe ihres künstlerischen Geistes zu binden, zu lösen und in
ihrem Geschöpf, dem Kunstwerk, als ein nach Naturgesetzen in sich vollendetes
Schönes darzustellen. Er nahm den Weg, den Winckelmann einschlagen wollte
und sah die Kraft, durch welche „die Seele samt dem Leib zumal wie mit Einem
Hauche geschaffen wird“. Nun mußte sich ihm auch die Schönheit im Gegenstand
einer künstlerischen Darstellung als unwichtig erweisen; der Grund fiel fort,
„welcher die sogenannte Schönheitstheorie bestimmt, die Wahl des Gegenstandes
mit so großer Angstlichkeit zu bewachen“ ). Er lehrte, „wie die Formen von
dem Begriff aus erzeugt werden“.
Wie ist nun das Schöne zu erfassen? fragt Rumohr und findet die Antwort:
„Von der Empfindung selbst, welche uns bestimmt, sichtbare Dinge schön zu
nennen“ ). So könnte man nur zu einem allgemeinen Begriff der Schönheit ge-
langen — mit dem sich die Griechen begntigten, die ihre Kunst mit Sonderbegriffen
vom Schönen unterordneten. Winckelmann und Lessing genügten dem Bedürfnis
ihrer Zeit, die einzelnen Merkmale der Schönheit zu erkennen, aber sie gingen
auch vom einzelnen aus, wo es sich darum handelte, den allgemeinen Begriff zu
finden, was auf diese Weise zu keinem befriedigenden Ergebnis führen konnte. —
Der Mensch selbst bleibt stets der Mittelpunkt und Ausgangspunkt für seinen Ge-
sichtskreis und bestimmt dessen Kern in seiner Empfindung — „nur die Empfin-
dungen eines gesunden Gesichtes, und die Gefühle und Urteile von sittlich edlen
und geistig fähigen Menschen können bey Untersuchung der Schönheit uns zur
Richtschnur dienen“ ). Eine Untersuchung der Beweggründe des Wohlgefallens
am Schauen muß sich an die allgemeine Eigenschaft, weiche wir Schönheit nennen,
wenden. Die Anregungen des Schönheitsgefühls erscheinen Rumohr in drei ver-
schiedenen Gattungen; eine Art von Schönheit beruht auf dem sinnlichen Wohl-
gefallen am Schauen, entbehrt des geistigen und seelischen Gehalts, aber findet
sich nicht selten in der Kunst und hängt in hohem Maße von der individuellen
Beschaffenheit der Sinneswerkzeuge ab.
„Die zweyte Art der Schönheit beruht auf bestimmten Verhältnissen und Fü-
gungen von Formen und Linien, welche auf eine unerklärte und dunkle Weise,
(1) F. W. J. v. Schellinga sämtliche Werke. Stuttgart und Augsburg 1860, 8. 296: „Über das Ver-
bältnis der bildenden Kunst zu der Natur.“ 1807.
(2) Ebenda, 8. 298.
(3) Italien. Forschg. I, 133.
(4) Ebenda, 8. ı36 „Verhältnis der Kunst zur Schönheit“.
(5) Ebenda, 8. 136.
133
doch der Wirkung nach ganz sicher und ausgemacht, nicht etwa bloß das Gesicht
angenehm anregen, vielmehr die gesamte Lebenstätigkeit ergreifen und die Seele
notwendig in die glücklichste Stimmung versetzen. Diese Art Schönheit scheint,
gleich der musikalischen Harmonie, in der allgemeinen Weltordnung ihr Gegenteil
zu haben').“ Das Gesetz zu erkennen, nach dem sie entsteht und wirkt, ist un-
möglich, und diese Schönheit ist unwandelbar gültig für alle Menschen. Da sie
auf die Harmonie von Verhältnissen zurückzuführen sei, will sie Rumohr als „Schön-
heit des Maßes“ bezeichnen.
„Die dritte, und für sittliche und erkennende Wesen unläugbar die wichtigste
Schönheit beruht auf jener gegebenen, in der Natur, nicht in menschlicher Willkür,
gegründeten Symbolik der Formen ).“ Unabhängig vom sinnlich Wohlgefälligen
und von der Schönheit des Maßes liegt hier die Erfreulichkeit teils in den an-
geregten Vorstellungen, teils in der Erkenntnisfreude.
Also begreift die Schönheit alle Dinge in sich, die „den Gesichtssinn befriedigend
anregen, oder durch ihn die Seele stimmen und den Geist erfreuen“ und deren
Eigenschaften „nur auf das sinnliche Auge, nur... auf den Sinn für räumliche
Verhältnisse und nur... auf den Verstand und dann erst durch die Erkenntnis
auch auf das Gefühl)“ wirken. In sichtbaren Dingen herrscht bald die eine, bald
die andere Schönheit vor; „ein fruchtloses Sehnen, alle vereint zu finden, wird gewiß
um gegenwärtige Freude bringen: kein einzelnes Schöne kann jemals die Allgemein-
heit des Schönheitsbegriffes selbst gleichsam verkörpern“.
Eine Untersuchung über das Verhältnis dieser Gattungen der Schönheit zur
Kunst soll zu der Entscheidung führen, „inwiefern Schönheit des Gegenstandes
die Schönheit von Kunstwerken bedingt“.
Schönheit der Kunst. Dies ist die Erkenntnis, zu der Rumohr führt: Das
sinnliche Wohlgefallen am Schauen beruht auf gewissen Wirkungen des Licht- und
Farbenwechsels. Nicht jeder an sich schöne Gegenstand wirkt gleich gefällig im
Kunstwerk. Es kommt also nicht auf die selbständige Schönheit der Dinge, sondern
auf ihre Darstellbarkeit an, und darin waltet die Geschicklichkeit und der Ge-
schmack des Künstlers.
Die zweite Art der Schönheit, „die harmonische Wirkung des in den Gestalten
und überhaupt in den sichtbaren Erscheinungen dem Maße Unterliegenden“ ist in
der Kunst von dem Stil des Künstlers abhängig.
Nach den Gesetzen der natürlichen Symbolik der Form spiegelt sich in jedem
Kunstwerke neben dem eigentlichen Gegenstand der Sinn und Geist des Künstlers:
Der Gegenstand wird Träger der Schönheit seines Geistes.
Also ist‘) „nicht Schönheit der Aufgabe, sondern die geistige Fähigkeit, die sitt-
liche und technische Entwicklung des Künstlers die wahrhaft allgemeine, unter
allen Umständen unerläßliche Bedingung der Schönheit von Kunstwerken“.
Und da — nach Rumohrs Worten — das Kunstwerk das lebendige Produkt aus
Gegenstand und Künstler ist, so wird durch die Begeisterung „wie mit einem
Hauche“, die Schönheit der Formen aus der Schönheit, die im Begriffe ist, erzeugt.
Mit solchen Augen erschaute Rumohr die Kunst und ihren Inhalt, suchte ihr
Wesen zu ergründen und ein Wertmaß für sie zu finden. Seine erste Aufgabe
(1) Italien. Forschg. I, 140—141.
(2) Ebenda, 8. 144.
(3) Ital. Forschg. I, S. 146.
(4) Beygabe sum ersten Band der Italienischen Forschung, 8. 14.
134
wurde, die Einheitlichkeit zwischen Mensch und Kunst — Natur und Kunst und
das Gemeinsame ihrer Gesetzlichkeit zur Weltanschauung zu machen. Es kommt
ihm auf den festgegrtindeten Boden, auf den sicheren inneren Aufbau an, bevor
er die Fragen des ,,Geisteslebens der Kunst“ — wie ich es nennen möchte — in
den Mittelpunkt gestellt sehen möchte. Daß Rumohr den historisch-psychologischen
Gang der Kunstgeschichte als eine Notwendigkeit ftir seine Zeit betrachtet und für
den zweckmäßigsten hält, geht deutlich aus seiner Stellungnahme den Weimaranern
gegenüber hervor in seinem Aufsatz!) „Über den Einfluß der Literatur auf die
neueren Kunstbestrebungen der Deutschen“. Wohl erkennt er an, daß sie die Auf-
merksamkeit der Welt auf „die Kunst an sich“ lenken. Jedoch ihre harte Ab-
lehnung der Ansicht, „daß alle bildende Kunst in dem gesamten Geistesleben der
Zeiten, Völker und Individuen einen festen Grund haben müsse“, bezeugt, daß sie
die Kunst beharrlich als eine Anhäufung von Teilen nach gewissen Geschmacks-
regeln, demnach als ein ganz äußerliches Wesen betrachtet haben.
Noch bei Lebzeiten hatte er die Befriedigung, die wahrste Anerkennung seiner
Verdienste in der Nachfolge von seiten der Kunstforscher zu genießen. Der blei-
bende Ausdruck für den Dank seiner Zeitgenossen sind die Worte auf seinem
Grabdenkmal zu Dresden:
„Dem geistreichen, kundigen Schriftsteller über Staats- und Lebens-
verhältnisse der Vor- und Mitwelt, / dem Begründer eines tiefen Stu-
diums der Kunstgeschichte des Mittelalters, / dem vielseitigen Kenner
früherer, dem edlen Förderer neuerer Kunst / errichtete dieses Denkmal
Christian VIII, König von Dänemark.“
BIBLIOGRAPHIE
Schriften des Carl Friedrich Freiherrn von Rumohr
(und Gegenschriften.)
(1810. F. Jacobs: Ueber den Reichtum der Griechen an plastischen Kunstwerken.
München.)
1810. Erläuterungen einiger artistischen Bemerkungen in der Rede des Herrn Hofrath Jacobs: Über
den Reichthum der Griechen an plastischen Kunstwerken. München. 4°.
1812.*) Ueber die antike Gruppe Castor und Pollux oder von dem Inbegriff der Idealität in Kunst-
werken, Hamburg. Perthes. 4°.
(1813. Friedrich Tieck: Antiquarische Anfrage. Im Deutschen Museum berg. von
Fr d. Schlegel. 8. a58f.).
(1812—13. Für Kritiken über Rumohrs „Castor und Pollux“ vergl. Friedrich Stock:
Rumohrs Briefe an Robert von Langer, Anm. 31. Charlottenburg 1919.)
1813. In Friedrich Schlegels Deutschem Museum. Wien. 8°.
Bd. Ш, 8. 224ff.: Fragmente einer Geschichte der Baukunst im Mittelalter.
8. 361ff. und 8. 465—502: Über den Ursprung der gothischen Baukunst.
Ва. IV, S. 479—516: Einige Nachrichten von den Alterthimern des transalbingischen
Sachsens.
1815. Denkwürdigkeiten der Kunstausstellung des Jahres 1814, München. 8°.
1816. Sammlung für Kunst und Historie. Bd. I. Hamburg. Perthes. 8°.
Ueber das Verhältnis der seit lange gewöhnlichen Vorstellung von einer prachtvollen
Wineta zu unserer positiven Kenntnis der Kultur und Kunst der deutschen Ostseealawen.
(1) Racsyneki: Die neuere deutsche Kunst 1841, Bd. Ш, Kap. XII, 374—3785.
a) Fr. Winkler: Frühe Schriften Rumohrs. Ze. f. bild. Kunst 1921, Febr.
135
1820.
(1822.
1623.
1823.
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(1825.
336
In Ludwig Schorne Kunstblatt des Morgenblattes für gebildete Stände, Beilage. Stuttgart und
Tübingen. Cotta.
Nr. 39: Mitteilungen über Kunstgegenstinde. Auszüge aus Briefen von Carl Friedrich
Freyh. von Rumohr an Dr. Schorn, Florens.
Nr. 39: 1. Behandlung italienischer Kunstgeschichte.
з. Altes Bildwerk in Schleswig von Hanns Bügmann.
. Relief von Peter Vischer in Regensburg.
. Handschrift mit Miniaturen in München.
. Gemälde von Raffael in München und Florenz.
Nr. 52: 6. Altflorentinische Baukunst (Fortsetzung in Nr. 53).
Nr. 53: 7. Altflorentinische Malerey.
Nr. 54: 8. Prinzip des Schönen.
Nr. 55: 9. Tendenz der nachraflaelitischen Kunst.
Kunst-Blatt Nr. 7—9, Nr. 11—13: Ueber die Entwicklung der ältesten italienischen Malerey.
Nr. 32: Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganzen derselben in
Toscana; zur Bestimmung des Gesichtspunktes, aus welchem die neudeutsche
Malerschule zu betrachten ist. Von einem deutschen Künstler in Rom. 1820. 8°.
Heidelberg und Speyer in Aug. Oswalds Buchhandlung.
Nr. 45: Di Cennino di Drea Cennini, trattato della Pittura, messo in luce la prima volta
con annotazioni dal cavaliere Gius. Tambroni. Roma тёп. 8°.
Nr. 51—53: Blicke auf den gegenwärtigen Zustand der Malerey, besonders bey den
Deutschen in: Fiorillos F. D., Geschichte der zeichnenden Künste in Deutech-
land etc., Bd. IV, 1820. 8°. von Seite 79 bis 116.
Nr. 63: Antonio Benci, über: Tambronis Ausgabe des Traktats von Cennino Cennini etc.
in der Antologia Nr. VI, Gingino 1821. Firenze da G. P. Vieusseux, S. 367—394.
Nr. 71; Nr. 73-74: Einige Merkwürdigkeiten der florentinischen Kunsthandlungen.
(Beschluß fehlt. T.)
Kunst-Blatt Nr. 3: Francois Brulliot etc., Dictionnaire des Monogrammes, Chiffres, Lettres
initiales et Marques figurées, sous lesquelles les plus celébres Peintres, Dessinsteurs, et Gra-
veurs ont désigné leurs noms, tirés de tous les ouvrages parus depuis quelques sitcles en
Allemagne etc. et augmentés de quantité de marques ignorées jusqu'à ce jour. Munich 1817,
1818. Fr. Brulliot, table générale des Monogrammes etc. pour servir de suite et de com-
plément au dictionnaire des monogrammes, qui a paru en 18617. Munich 1820 etc.
Nr. 10—12: Bauwerke Pius IL su Pienza und Siena. — Bernhard Rossellini und Fran-
cesco de Giorgio.
Nr. 95: Aus einem Schreiben des Herausgebers des Kunstblattes (Kunstwerke in Mann-
heim, Darmstadt, Frankfurt, Kassel, Hannover, Lübeck).
Geist der Kochkunst von Joseph König. Überarbeitet und herausgegeben von С. F. v. Rumobr.
Stuttgart und Tübingen. 8°.
Dasselbe. 3. Aufl. Ebd. 1832. 8°.
Dasselbe unter dem Titel „Joseph Königs Geist der Kochkunst“, überarbeitet von K. F. v, Rumohr ...
neu hrsg. von Robert Habs. Leipzig 1885. 8°.
Rezension in den Ergänzungsblättern zur „Hallischen AllgemeinenLitteratur-
seitung“.) |
Sammlung für Kunst und Historie, Bd. 11: Italienische Novellen von historischem Interesse,
übersetzt und erläutert von К. F. von Rumobr. Hamburg.
Kunst-Blatt Nr. 31—34: Xylographie: Hanns Holbein. Formschneider oder Zeichner für Buch-
druckerstöcke.
Nr. 48: Nachtrag zu dem Aufsatz „Hanns Holbein etc. etc.“ im Kunst-Blatt 1823, Nr. 31 u.ff.
Nr. 80: Zweyter Nachtrag zu dem Aufsatze Hans Holbein etc. im Kunst-Blatt 1823,
Nr. art, und 48.
Kunst-Blatt Nr. 7: Florenz: Aus einem Briefe an den Herausgeber.
Kunst-Blatt Nr. 1: L. Schorn, Ueber Styl und Motive in der bildenden Kunst.
An Herrn Baron С. F. v. Rumohr. Nr. 76: L, Schorn: Antwort an Herrn Baron
von Rumobr.)
л dp Ge
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1625.
1826.
1827.
(1827.
1827.
(1837.
1628,
1630.
1631.
(1631.
(1831.
1631.
1631.
(1831.
1831.
2632.
1832.
1632.
(1832.
(1632.
1833.
1834.
1634.
3834.
1835.
1835.
1835.
1835.
1835.
(1836.
(1836.
1836.
(1836.
1836.
Kunst- Blatt Nr. 75: Ueber den Stil in der bildenden Kunst. (Antwort auf Schorn in Nr. 1,
dessen Antwort in Nr. 76.)
Nr. 87—88: Alterthimer und Schätze der Kunst zu Copenhagen und in Seeland überhaupt.
Kunst- Blatt Nr. 6—7: Auszüge aus Joachim von Sandrarts deutscher Akademie.
Italienische Forschungen, Theil I und Il. Berlin und Stettin, Nicolai.
A. Hirt: in den Jabrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Rec. des 1. u. a. TDeile
der Italien. Forschg. Cotta, Oct. р. 1537; Dec, p. 1810.)
Beygabe zum ersten Bande der Italienischen Forschungen. Berlin 1827. 8°. Hamburg, Perthes
und Besser.
von Quandt: in der Hallischen Allgem. Litteratur-Zeitung. Juli, Nr. 166—169.)
Kunst-Blatt Nr. 38: Nur gelegentlich einer neulich erhobenen Streitfrage über die jüngste Re-
stauration und den gegenwärtigen Zustand der raphaelitischen Madonna zu Dresden.
Nr. 67: An den Herausgeber: (Kurse Worte mit Einsendung einer Ankündigung des
Stiches nach der Pietà von Fra Bartolomeo de St. Marco.)
Ursprung der Besitslosigkeit des Colonen im neueren Toscana. 8%. Hamburg, Perthes.
Italienische Forschungen, Theil Ш, Berlin und Stettin, Nicolai.
A. Hirt: in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Dec., Nr. LXXI,
8. 891 f., Rec. des 3. Tbeiles.) i
Fr. Thiersch: Archäologische Briefe im Kunst-Biatt Nr. 45—46.)
Kunst- Blatt Nr. 79: Herrn Hofrath Thiersch, in Bezug auf Kunst-Blatt 1831, Nr. 45, 46.
Ueber Raphael und sein Verhältnis zu den Zeitgenossen. Berlin, Stettin, 8°.
а. im Kunst-Blett Nr. 71—72: Recension über Elogio Storico di Raffaelo Santi
da Urbino, Fascilo I, Urbino 1829.)
Ueber den gemeinschaftlichen Ursprung der Bauschulen des Mittelalters. Berlin und Stettin. 8°.
Drey Reisen nach Italien. Leipzig, Brockbaus. 8°.
Deutsche Denkwürdigkeiten. Aus alten Papieren. Theill—-IV. Berlin 8°.
Ueber den Vorbegriff der Idealisierung von Bildnissen in der alten und neuen Kunst. (Auf-
sats vom 15. Dec. 1832 an den Archäologen Dr. Sillig. Nach dem Ms. abgedruckt in Hr.
W. Schulz: Karl Friedrich von Rumohr, sein Leben und seine Schriften. Leipzig 1844.)
Dr. Waagen: DerHerrHofrath Hirt als Forscher über die Geschichte der neueren
Malerei in Erwiederung seiner Recension des dritten Theile der Italienischen
Forschungen des Herrn С. F. von Rumobr. Berlin und Stettin, Nicolai. 8°.)
A. Hirt: Herr Dr. WaagenundHerrvon RumohralsKunstkenner. Berlin, Nauck. 8°.)
Ein Band Novellen. Müncben, Frans.
Ueberblick der Kunsthistorie des transalbingischen Sachsens (im a. Bd. des Schleswig-Holstein-
Lauenburgischen Archivs). ·
Der letzte Savello. Novelle. Im Taschenbuch „Urania“ auf das jahr 1834, 8. 1—73, Leipzig. 8°.
Dasselbe. Leipzig 1875. 8%. Reclams Univ.-Bibl. 398.
Schule der Höflichkeit. Für Alt und Jung.
Stuttgart und Tübingen, Cotta. 80. Th. I und П,
Ein zweyter Band Novellen. München. Franz. 8°.
Novellen Bd. I und Il. München 1833—1835. 8°.
Kynalopekomachia. Der Hunde Fuchsenstreit. Hrsg. von C. F. v. Rumohr. Mit sechs Bildern
von Otto Speckter. Lübeck, von Rhoden.
Geschichte der Köngl. Kupfersticheammiung zu Copenhagen. Ein Beitrag zur Geschichte der
Kunst und Ergänzung der Werke von Bartsch und Brulliot. Hrsg. von С. F. v. Rumohr und
]. М. Thiele. Leipzig, Weigel. 8°. |
Frenzel: Rec. im Kunst-Blatt, Nr. 40—41.)
Sotsmann: im Kunst-Blatt, Nr. 30—33.)
Hans Holbein, der jüngere, in seinem Verhältnis aum deutschenFormschnittwesen. Leipzig, Weigel. 8°.
Sotzmann: im Kunst-Blatt, Nr. 63)
Auf Veranlassung und in Erwiederung von Einwürfen eines Sachkundigen gegen die Schrift
Hans Holbein der jüngere in seinem Verhältnis zum deutschen Formechnittwesen. Leipzig.
Weigel. 8°. Lübeck, von Rhoden.
1:7
1897. Zur Geschichte und Theorie des Formschneidekunst. Leipzig. 8°.
1837.1) Allessandro Bonvicino, genannt Moretto und sein künstlerisches Verbältnis su Giovanni An-
tonio Licinio, genannt Pordenone, in einem Aufsatz dargestellt in der Zs. L’Eco, Milano. 2°.
1838. Reise durch die östlichen Bundesstaaten in die Lomberdey und zurück, über die Schweiz und
den oberen Rhein, in besonderer Beziehung auf Völkerkunde, Landbau und Staatswirtschaft.
Lübeck. 8°.
1838. Historische Belege zur Reise durch die östlichen Bundesstaaten in die Lombardey und zurück
über die Schweiz und den oberen Rhein, in besonderer Besiehung auf Völkerkunde, Landbau
und Staatswirtschaft.
1638. Schönheit ein Traum. Novelle. Jg. I, 8. 1, 34.
1840. Lehr- und Wanderjahre des Raphael Santi von Urbino, Malernovelle. Jg. I, 8. 41, бо.
In „Italia“. Mit Beiträgen von A. Hagen etc., hreg. von Alfred Reumont.
1641. Untersuchung der Gründe für die Annahme: dass Maso di Finiguerra Erfinder des Handgriffes
sei, gestochene Metaliplatten auf genetztes Papier abzudrucken. Leipzig, Weigel. 80.
1841. Ueber den Einfluß der Litteratur auf die neueren Kunstbestrebungen der Deutschen; in der
„Geschichte der neueren deutschen Kunst” von Athanasius Graf Racsynski. Aus dem Franzö-
sischen übersetzt von Heinrich von der Hagen. Berlin, Bd. Ш, Kap. XII, 8. 371—3832.
Daselbst S. 233—335: Mitteilungen von Rumohr über Maler Hamburgs, vom 4. Nov. 1838.
1642. Vorwort zu der Uebersetzung J. B. A. Meyers von Jean Jacques Altneyer: „Der Kampf demo-
kratischer und aristokratischer Prinzipien zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Dargestellt
in drei Monographien. Aus dem Französischen. Lübeck. 8°.
Briefe С. Р. von Rumohrs
In „Briefe an Tieck“, hrsg. von Holtel. Bd. III. Breslau 1864.
Im Geheimen Staatsarchiv, Berlin С. 3: Briefe des Kronprinsen Friedrich Wilhelm an Rumohr und
Korrespondenz über Anschsffungen für die preußische Kunstsammlung,
Im Hausarchiv zu Charlottenburg: Briefe Rumohrs an Friedrich Wilhelm IV.
In der Sächsischen Landesbibliothek, Dresden N. 6.
In der Bayerischen Staatsbiblioihek zu München. Briefe Rumohrs an v. Langer.
С. F. von Rumohr und K. Griineisen: Deutsche Kunst, Artikel im Brockhausischen Konversations-
lezikon.
Vollständige Literatur über Rumohr vergl. in der gleichbetitelten Dissertation
der Verfasserin. Halle 1920.
(х) Vergi. den Nachdruck F. Winkler in Ze, f. bild. Kunst, Febr. 1921: С. Fr. v. R.: „Die deutschen
Kleinmeister“. L'Eco Milano 1837. |
ag ge
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DAS TODESJAHR DER DOROTHEA VISCHERIN
0000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000.
Г der Besprechung von Georg Seegers „Peter
Vischer der jüngere. Ein Beitrag zur Geschichte
der Erzgießerfamilie Vischer“, Leiprig 1897. hat
m. W. Kreisarchivar Bauch!) erstmals das Todes-
jahr der zweiten Ehefrau Peter Vischers des Älteren,
Dorothea, nämlich 1495 statt 1493, vermutlich auf
Grund des abschriftlich im Kreisarchiv Nürnberg
befindlichen Großtotengeläutbuches von St. Sebald
1439—1517 richtiggestellt. Dort wird unter den
von Kreuzerhöhung (14. September) bis Lucie
(13. Dezember) Verstorbenen an fünfter Stelle auf-
geführt: Dorothe(a) Peter Vischerin.
Mit Hilfe der genaueren Todesdaten des mit
dem Sebalder Geläutbuch gieichgehenden Groß-
totengeläutbuchs von St. Lorenz 1454—1516 können
wir, was Bauch unterlassen hat, noch enger fest-
stellen, daß ihr Begräbnis zwischen dem 19. und
23. September 1495 stattgefunden hat; sie muß
also zwischen dem ı8. und 22. September ver-
storben sein. Das Lorenser Geläutbuch führt zwar
Dorothea Vischerin selbst nicht auf, wohl aber,
ganz übereinstimmend mit der Sebalder Namens-
liste, eine ihr im Tode unmittelbar vorausgehende
„Prigita Hans Linkin“ (begraben am Samstag
nach Kreus Erhöhung — 19. September) und einen
nachfolgenden „Kuncz Rudolff“ (begraben am Mitt-
woch vor Michaelis — 23. September).
Für die Behsuptung, daß Dorothea Vischerin
im Jahre 1495 noch gelebt hat, können wir nun
auch einen urkundlichen Beweis erbringen’).
(3) Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürn-
berg, Heft 13, 1899, 8. 290—3296.
(3) Eigentlich wäre schon eine andere, in der Vischer-
literatur ebenfalls, wie es scheint, noch nicht bekanntge-
wordene urkundliche Notiz geeignet. diesen Beweis zu er-
bringen, wenn bier das Haus am Band genannt und da-
durch jeder Zweifel behoben wäre. Es ist dies ein Proto-
kolt in den sog. Libri Conservatorium des Nürnberger
Stadtarchive Bd. 3a, Fol. 233a. Dort findet sich ein Bin-
trag vom 17. August 1405, wonach sich Dorothea, Peter
Vischers Ehefrau, für sich und ihren zur Zeit krank (,,pet-
пей“) darniederliegenden Ehemann verpflichtet, bis Aller-
heiligen 1496 an den Einnehmer (,,drifler) des Deutsch-
ordenshauses zu Nürnberg 48 fi. Rheiniech in fünf Fristen
su bezahlen. Am Schluß ist anbangsweise vermerkt, daß
jene Summe am Dienstag, den 33. November 1496, in der
Tat vollständig entrichtet war. Dieser Eintrag lautet wört-
lich folgendermaßen: Secunda post assumpcionis Marie 95.
Dorothea Peter Vischers eliche hausfrau für sich
und den itsbenanten iren hauswirt, der dieser zeit petriß
Hgt, confitetur hern Michaeln Spies, drieBler im teutschen
hans, 43 guidein Reinisch, 10 auf Martini, то zu mit-
vastes, 10 su pfingsten, 10 auf s. Jacobs tag und die letzer
Von ALB. GÜMBEL-Nürnberg
Im Jahre 1495, am 11. August, stellt Elisabeth,
Witwe des Nikolaus von München, dem Peter
Vischer und Dorothea, dessen „ehelichen Wirtin“,
einen Gegenbrief dahin aus, daß sie jederseit das
Recht haben sollen, eine Ewiggilt von 3 fi. Rhei-
nisch Jährlich, die ihr das Vischersche Ehepaar
aus zweien zu Erbrecht (,erbechaft") besessenen
Häusern su Nürnberg „am egk vor dem schieß-
graben vber“, die einerseits an die Pegnits, ande-
rerseits an Hans Vischers Haus grenzen, um den
Betrag von бо Я. Rh. wieder abzulösen. Die Ur-
kunde!) haf folgenden Wortlaut: Ich Elsbeth,
Niclaus von Münichen seligen eliche wittibin,
burgerin su Nuremberg, vergich offenlich fur mich
und all mein erben und thu künt allermenigklich:
nachdem mir Peter Vischer und Dorothea,
sein eliche wirtin, drei guldin reinisch jerlichs
gattersins und gelts an und außer irer erbechaft
der zweier heuser mit aller irer gerechtigkait, sü-
und eingehörung, allhie sü Nürmberg am egk
vor dem schießgraben uber, anrainem ort an der
Pegnitz und an dem andern ort an Hansen Vischers
haus anainander gelegen, recht und redlich ver-
kauft haben, wie dann sollichs mein kaufbrief,
mit der hernachbenanten sigiern ditz briefs an-
hangenden insigeln versigelt, von inen ausgangen,
in lengern worten innhelt ; also bekenn ich, vor-
genannte Elsbeth von Münichen, das ich dem ob-
genanten Peter Vischer, Dorothea, seiner wirtin,
iren erben und allen iren nachkomen, inhabern
vorgemeiter erbschaft der zweier heuser, die lieb
und freuntschaft getan hab und thu jetso wissent-
lich in kraft ditz briefs also, das sie, ire erben
oder innhaber jets gemelter erbschaft die vor-
gemelten drei güldin von mir oder meinen erben
mit sechzig güldin reinisch landswerung und
mit апте! versessens und verfallens gattersins
und gelts auch scheden, ob wir dern darunder
icht redlich und ungeverlich erlitten hetten, wol
widerum abkaufen mögen, wann, wellichs jars
frist, 8 guldein, auf aller heiligen tag, alles allerschirist
nacheinander volgende, als erclagt, erfolgt und unverneut
su besalen. testes rogati her Niclaus Groß und Endres
Stromer. act. ut supra.
her Michel Spies obgenant, drißler, in craft seines ampts
dixit tot. solut. testes rogati her Linhart Gruntherr und
Peter im Hof. tercia post presentacionis Marie 96.
(з) Allgem. Reichsarchiv in München, Ansbachische Lehens-
urk., Pfintsingsche Dokumente Nr. 59. |
139
oder um wellich zeit im jare uber kurz oder lang
sie wollen und ine am allerbesten füget. und wan
sie sollichen widerkauf also, wie vorlaut, getan
haben, alsdann soll inen mein vorgemelter kauf-
brief und mir oder dem oder den, davon sollicher
widerkauf getan wirdet, diser reversbrief widerum
ein- und uberantwurt werden on all irrung und
einträg allermennigklichs furbas ewigklich; und
des alles zu warem urkund so hab ich obgenante
Elsbeth von München mit vieiß erbeten die erbern
und weisen Michel Bamgartner und Virich Füterer,
baid burger und genanten des großern rats zu
Nurmberg, das sie ire aigne insigel zu geseugnus
obgeschribner sachen offenlich gehangen haben
an disen brief, des wir jetz genanten Michel Bam-
garıner und Virich Fütrer also gescheen sein be-
kennen, doch uns und unsern erben on schaden,
der geben ist am dinstag nach s, Laurentzen tag
nach Cristi unsers lieben herren geburt vierseben
hundert und in dem fünfundneunzigsten jar.
Der Einwand, daß es sich möglicherweise um
eine Gilt gehandelt habe, welche die Witwe des
Nikolaus von München schon längere Zeit vor
1495 von Poter Vischer und Dorothea, dessen
Ehefrau, gekauft hatte, wird dadurch bintällig, daß
nach dem Nürnberger Brauch Hauptbrief und
Revers das gleiche Datum tragen mußten. Wir
besitsen leider den im Reversbrief erwähnten,
durch die gleichen Siegler bekräftigten Hauptbrief
nicht mehr; wäre dies der Fall, so würde sich
die Übereinstimmung der Daten beider Briefe so-
gleich ergeben.
Auffällig erscheint, daß 1495 von zwei Häusern
am Sand die Rede ist, die sich im Besitse des
Vischerschen Ehepaars befinden, während in eini-
gen uns bekannten Urkunden aus dem Jahre 1493
stets nur eines Hauses am Sand „beim Schieß-
graben“ oder „gegenüber dem Schießgraben“ als
Wohneits Peter Vischers gedacht wird. So ver-
weist der Meister am Eritag nach St. Lorenzen
(= 13. August) 1493 seiner Ehefrau Dorothea ihr
eingebrachtes Heiratsgut und seine eigene Wider-
lage (contrados) im Gesamtbetrag von 130 fi,
Rheinisch auf sein Haus und Hofrait „am sannde
bey dem schießgraben, darinn er see“ ). Auch
(з) Der von Lochner in seiner Ausgabe von Joh. Neudörfers
Nachrichten von Künstlern und Werkleuten in Nürnberg,
8. 24, nur in kursem Auszug und ohne Quellenangabe ver-
merkte Verweisungsbrief lautet nach dem abschriftiichen
Eintrag in den sog. Libri literarum des Niirnber,er Stadt-
archives, Bd. X, Fol. 66a, wörtlich folgendermaßen: [Wir.
schultheiß und die schöpfen des stadtgerichts su Nürnberg
bekennen], das fur uns kam in gerichte Dorothea, Peter
Vischers eeliche wirt[in], burgerin au Nurm-
berg, und pracht (= bewies) mit unsers gerichts buch,
das die erbern herr Peter Nutzei und Enndres Geuder der
140
bei der nicht lange vorher (am ı. Juni) vor-
genommenen Abfindung seines Bruders Wilhelm,
dem die Hälfte dieses Hauses zustand, durch
Hinauszahlung von 160 fl. Rheinisch {wird nur
ein „haus am eck gegen dem schießgraben über“
genannt*), Und noch früher, am Montag vor
Walburgis (29. April) hatte er an den Goldschmied
Jakob Singer 7 fi. Ewiggelds aus der Erbschaft
seiner Behausung „gegen dem schießgraben auch
dem stege uber“ *) verkauft‘). Hier ist also überall
Junger vor gericht auf ir ald gesagt hetten, des sie 005
geladen seugen weren, das der genant Peter Vischer am
eritag nach s. Lorentsen tag nlichstvergangen vor ine fur
sich und all sein erben verjehen und bekannt hett, das er in
kraft der he:ratsberednüß zwischen sein und ir, der ge
nannten Dorothea, seiner eelicr. en wirtin. durch herru Ni-
clausen Grolannd beschehen, dieselben Dorothea, sein
eeliche hausfrauen, beder irer heiratschets. nemlich 120 gui-
din reinisch landswerung, recht und redlich auch endlich
und unwiderruflich in dem allerpesten form und rechten,
als er das fur allermenigklich widertailn und abeprechen
immer tun solt. kunt und mocht, versichert und verweiset
haben wolt suf der erbschaft seiner behausung und hof-
raiten mit aller und legklicher ir gerechtigkalt, su- und ein-
gehorung am sande bei dem schießgıaben, darinn er sefe
und daran die aigenschaft mitsambt . , . . (Lücke; es ist
noch die Höhe des Eigensinses einzusetze) Wilhalm Hallern
wer, und ob ir daran abgeen wurdt, auf alle und jegk ich an-
der sein habe und güter, nichtzit ausgenomen noch hind-
angesatz , also und іп der gestait und maßen, das sie soli-
cher ir beder susehets vor allermenigk'ich darauf versichert,
verweiset und wartend und habend sein und beleiben solt,
als ob sie die mit endlichem rechten darauf erciagt, ervolgt
und erstanden bett, doch alles dem vorgenanten Wilhaim
Haller und seinen erben als sigenherrp vorbemeiter be-
hausung ап irer aigenschaft, sinsen und rechten апе scha-
den, ale das derselb Wilhalm Haller auch also verwilligt
und angesagt hat. detur litera. testes ... (Nicht ausgefälit.)
(з) Gümbel, Neue archivalische Beiträge sur Nürnberger
Kunstgeschichte. Nürnberg 1919. 8. 30.
(3) Gemeint ist der heute sogenannte „Fischersteg“, der
den Plats „Am Sand“ mit der Insel „Kleinschütt“ ver
bindet. Nach Älteren Abbildungen (s. B. auf dem Konspekt
der Stadt Nürnberg des Hier. Braun vom J. 1608) war er
früher mit einem hölsernen Dach überdeckt Auf Grund
der vorliegenden Angabe könnten die heut gen Nrn. тэ
oder 34 des Platzes „Am Sand“ in Betracht kommen, von
welchen die Nr. 1з einen sehr schlecht in die Umgebung
passenden Neubau darstellt, während die Nr. 14 heute noch
so siemlich die alte Gestalt mit hölzernen Bäulengalerien
auf die Pegnitz heraus zeigt. Ich glaube, daß wir in letzterem
Hause Peter Vischers älteste Werkstätte vor uns haben.
(4) Libri literarum in Stadtaıchiv Nürnberg, Bd. X, Fol. 13b
[Wir .. . schultheiß und die schöpfen der stat Nurmberg
bekennen], daß fur uns kom in gerichte Jacob Singer, der
goldschmied burger su Nurmberg, und bracht mit unsers
gerichts buch, das de erbern Wilhbalm Hegnein und Lien-
hard von Plawben vor gericht auf ir aid gesagt hetten, das
sie des geladen zeugen wern, das Petter Vischer, auch
burger zu Nurmberg, vor ine fur eich und all sein
erbei verjehen und bekannt, das er von und außer der
erbschaft seiner behausung und hofraiten mit aller and
jeglicher irer gerechtigkait su- und eingehörung, alhie zu
Nurmberg gegen dem schießgraben auch dem stege uber
und sunechst an Hannscn Vischers haus gelegen, siben
guidin reinisch landswerung jerlichs gattersins und -geitz
recht und redlich verkauft und zu kaufen gegeben hett, ime
demselben Jacob Singer und seinen erben zu haben und
zu niessen, auch jerlich su raichen und su geben, halb auf
s. Waltpurglen] tag und halb auf s. Michelsteg. furbas
ewigklich und mit besalung des ersten halben sinses auf
den nachstkommenden s. Michelstag ansufahen; und gelobt
—
OO ee eign ee — ee
nur von einem Hause die Rede. Es ist wahr-
scheinlich, daß Dorothea jenes andere Haus in
die Ehe einbrachte und notwendigerweise bei Be-
lastung des Hauses mit einer Ewiggilt in der
Urkunde genannt werden mußte. Da Peter Vischer
sie дей zu wern fur gattergelt als gattergelts und deer
stat recht wer uad auch nemlich also, das er, derselb Jacob
Singer, mit sein sinshand damit tun und laben mocht, wie
und was er will, ungebinde t von menigklich, wann er im
ain nemlich summa hundert und viersig guldin reinisch
landswerung su dank раг darfur ausgericht und besalt,
darumb er ın und scin erben fur sich und sein erben gar
im April 1493 (also vor seiner Verbeiratung mit
dieser Dorothea) in dem Haus am Sand „zunächst
an Hannsen Vischer Haus“ wehnte, muß das ein-
gebrachte Haus der Dorothea jenes gewesen sein
das nach unserer Us kunde an die Pegnitz grenste.
und geaslich quit, ledig und los gesagt hett; und das alles
were auch geschehen mit willen und wort Wilhelm Hallers,
des die aigenschaft mitsamt 5 guldin statwerung an der
vorbenanten behausung were, doch im an seiner aigen-
schaft, sinsen und rechten on schaden. det(ur) Litera. testes
herr Hanns Rumel und herr Вером Schurstad. за post
Waltpurgis 124092
HEINRICH GLÜCK, Das Hebdomon
und seine Reste in Makriköi. Unter-
suchungen zur Baukunst und Plastik von
Konstantinopel. Wien, Österreich. Staats-
druckerei 1920. 84 S. 8°. Mit 39 Abb,
auf 11 Tafeln. (Beiträge z. vergleichen-
den Kunstforschung, herausg. vom kunst-
historische. Institute der Universität Wien
[Lehrkanzel Strzygowski, Heft Il.)
Der Assistent des genannten kunsthistor, Insti-
tuts war 1916/17 nach Konstantinopel entsandt
und benutste u. a. dort die Gelegenheit, um auch auf
dem Gebiete der altchristlichen Kunst zu arbeiten.
Er war neuerdings auf die Baureste aufmerksam
geworden, die in einer der Vorstädte Konstanti-
nopels, іп Makrikéi, zutage liegen. Ausgrabungen
durften natürlich nicht vorgenommen werden, aber
sum Nachweise, wie wertvoll solche sein würden,
teichten die Denkmäler und die Quellen, die sich
damit vereinigen ließen, doch.
Das Buch ist in erster Linie eine Anregung,
der Problematik der frühchristlichen Kunst auf
dem Boden von Byzanz nachzugeben, vor allem
mit dem Spaten in der Hand. Das Fruchtbare
der Arbeit G.s ist neben der Anregung zu Aus-
grabungen auf dem Boden Makriköis u. a. für
die früheste Zeit die Annahme, daß der sog. doo-
uixds vads ein tonnengewölbter Saalbau gewesen
sei. Hier wird die Forschung einzusetzen haben,
indem sie die mesopotamischen Voraussetzungen
und die Einführung dieses Typus durch Apollo-
doros von Damaskus auf den Boden von Rom
(Tempel der Venus und Roma) vergleichend prüft,
Es wird sich dann herausstellen, daß die Aus-
stattung der Bauten, die G. in den bekannten
Stichen Menestriers auf das Hebdomon besieht,
dem des römischen Doppeltempels entspricht, so-
weit wir heute noch nach den Innenspuren
schließen können. Es ist die Ausstattung der
Wände mit Nischen und Statuen, wie sie von
den Bauten Baalbeks so gut bekannt ist. Insofern
also begegnen sich die Zusammenhänge mit den
Annahmen, die Glück den Menestrierschen Stichen
entnimmt, deren Ursprung er der Kürze halber
nicht nachgegangen ist. Auch wird man erwarten
dürfen, daß er die Deutung des in diesen Stichen
dargestellten Triumpbzuges und seine Annahme
der Zugehörigkeit zu einer Spiralsäule, über die
vorläufig nichts weiter bekannt ist, näher begründet.
Glück macht einmal Ernst mit der Identifisie-
rung des Ortes Makriköi, mit dem Lieblingspalaste
der byzantinischen Kaiser, dem Hebdomon. Er
beschreibt zuerst die Reste, gibt dann die histo-
rischen Daten über den Palast und sucht nun
beide Reiben miteinander zu verbinden. Die Me-
nestrierschen Stiche nach einer Triumphalsäule
geben für die Frühzeit Anlaß dazu. Glück sieht
in ihnen einen Festaug des Valens, der beim Heb-
domon beginnt, Der Vergleich mit dem Diokle-
tianspalaste und dem des Theoderich in dem
Mosaik von 8. Apollinare nuovo gibt ibm dafür
stilistische Anhaltspunkte. Dargestellt seien das
Tribunal und die Kirche Johannea des Evange-
listen, von der noch entsprechende Reste in einem
Umbaue des Basileios Makedo erhalten sind. Es
handelt sich angeblich um einen außen reich mit
Nischen und Statuen geschmückten „vads doouuxds".
Theodosios errichtete dann im Hebdomon die
erste Kuppelkirche, eine solche mit Konchen und
eingestellten Säulen. Die Besprechung der Kirche
des Propheten Samuel, die 407 von Arkadius er-
richtet wurde, fübrt Glück auf die bekannte Trierer
Eifenbeintafel, die er ihrem künstlerischen Wesen
nach dem 5. Jahrhundert suschreibt. Er sieht
darauf die Einweihung dieser Kirche dargestellt.
Der Bau des Arkadius leitet über auf die Ein-
führung des östlichen Raumbaues in Konstanti-
141
nopel. Es wird die Möglichkeit der Einwölbung
des einschiflgen Provinsialtypus erörtert und dann
auf die Bauten des Justinian und der späteren
Kaiser eingegangen. Das Buch bringt so einen
wertvollen Überblick über die allmähliche Heraus-
bildung jener Bauformen, die, vom Osten nach
dem Westen wandernd, am Hofe von Byzanz
herrechend geworden sind. JosefStrzygowski.
SVERIGES KYRKOR, Konsthistoriskt
Inventarium utg. av Sig. Curman och
Johnny Roosval. Dalarne 1, 2: Falu
Domsagas Norra Tingsl. bearbet av
Gerda Boethius. Stockholm, Norstedt
1920. 12 Kr.
So dankbar man die fleißige Betriebsamkeit an-
erkennen mag, mit der Gerda Boethius gleich-
getreu Körner und Spreu susammengefegt hat, so
bätte doch die Höflichkeit der Herren Heraus-
gober nicht in die Verlegenheit gesetzt werden
müssen, diesem Eifer Schranken zu setzen. Ihn
einzuschränken haben sie sich nicht entschließen
wollen oder dürfen. Kurs gesagt, das kunst-
historische Inventarium enthält einiges, wovon
wenigstens der Berichterstatter nicht einsehen kann,
daß die Mitteilung davon zur Sache gehört und
von der Vollständigkeit erfordert wird. Vielleicht
ist das Urteil einseitig? Man fange doch an zu
lesen:
„Der Kirchhof, der durch die Erweiterung von
1879 eine namhafte Ausdehnung gegen Westen
bin erhalten hat, ist von einer Mauer aus rohen
Feldsteinen im Süden und Westen eingefaßt, sein
östlicher Teil von einem gegossenen Eisengitter
und der hinzugesogene Bereich im Westen von
einer Hecke. Das eiserne Gitter ist 1879 auf dem
großen Hofe zu Kniva gegossen. Im Süden
und im Norden sind Eingänge mit geschmiedeten
eisernen Türen, zwischen viereckigen weiß an-
gestrichenen Ziegelpfeilern, mit schwarzen Platten
gedeckt.“ Der Lageplan im Maßstabe von 1: 2000
tut noch das übrige, uns vollständig in die Lage
su sotzen, daß wir uns diesen merkwürdigen Kirch-
hof vergegenwärtigen. Irgendwie erklärbar und
insofern berechtigt mag ja diese Ausführlichkeit
sein; Gerda ist augenscheinlich mit dem Orte ganz
verwachsen und daher mit ganz besonderer unter-
schiedaloser Liebe ihrer Aufgabe ergeben.
Der Hauptgegenstand dieses Heftes ist die Be-
schreibung einer Kirche su Vika. Diese kennen
zu lernen ist in der Tat von besonderem Wert,
und ihre Behandlung gibt diesem Hefte eigene
Bedeutung. Übrigens hat der Baurat Sigurd Cur-
142
man, der Mitherausgeber der ganzen Sammlung,
persönlich hier gewaltet; er bat die Kirche 1917 — 18
in Stand gesetst. Ihm und seinen Helfern ver-
dankt man daber die wertvollsten unter den vielen
(76) bildlichen Darstellungen, die beigegeben sind.
Die Kirche liegt, wie die übrigen in dem Hefte
besprochenen, im Bereiche von Falun mit seinen
Kupfergruben, also in einem berühmten Bergwerks-
bezirk und ihre Geschichte sowie der ungewöhn-
liche Reichtum der Ausstattung wird durch dies
Verhältnis beleuchtet.
Der Bau ist teils aus Ziegeln, teils aus Granit
errichtet. Die ältesten Einzelheiten deuten auf die
Zeit des Übergangsstils. Die Baugeschichte ist
verwickelt genug, liegt aber recht klar vor Augen.
In der ersten Zeit wird eine hölzerne Kirche an
der Stelle gestanden haben, Grundlagen, die auf
eine solche deuten, sind im Boden gefunden, Die
jetzt stehende Kirche stellt sich wesentlich im
rechteckigen Grundriß vor; sie enthält einen ein-
‘schifigen Saal, überdeckt von ungemein reichem
spätgotischem Gewölbe, das im dritten Viertel des
15. Jahrhunderts übergespannt worden ist, Im
Süden stößt ein Vorhaus an, lustig gewölbt (um
1500), im Norden ein kurzer Kapellenflügel und
eine Sakristei. Dae Äußere ist schlicht und un-
scheinbar, weiß angestrichen, kein Turmbau. Die
Kirche hat schöne Glasmalerei des 15. Jahrhunderts.
Herrlich ist die jetst wieder hergestellte Aus-
malung, die uns wieder einmal vor Augen führt,
wie sich der Kunstsinn dieser nordischen Ger-
manen in Schmückung und Ausstattung der Gottes-
bäuser gar nicht genug tun konnte. Der Charakter
der Malereien ist durch die spätgotische Kunst
wesentlich bestimmt; sie sind augenscheinlich Aus-
Büsse der hanseatischen Richtung, die rings an
den Küsten der Ostsee geherrscht hatte. Aber alle
Strenge der stilistischen Auffassung ist erweicht
und serfossen. Es ist eine protestantische Aus-
malung, auf ısso—6o datiert, und ihr reich er-
sählender Inhalt ist dasu bestimmt, die heilige
Schrift des neuen Testaments kapitelweise zu er-
läutern. So dienen nicht weniger als fünf Dar-
stellungen, allemal mit dem Engel des Matthäus
als Hauptfigur, der Erklärung des Evangeliume
Matthäi, und ebenso folgen die andern Evange-
listen; weiter schließt sich noch eine Fülle einzelner
Szenen der heiligen Geschichte an. Dies ist alles
an den Wänden ausgeführt sowie im Chor auf den
Kappen des reichen Netsgewölbes. Das des Schiffes
ist ohne Figürliches, aber mit Ornamenten aufs
berrlichste überzogen. Auf dem Hochaltar steht
der schöne und große spätgotische geschnitzte
Schrein, 1918 hergestellt; das 18. Jahrhundert hatte
ihn als unbrauchbar abseits getan. Künstlerisch
ist er nicht von hervorragender Bedeutung. Er
seigt die Kreuzigung im Schrein und zwölf stehende
Heilige in den Flügeln. Von anderem Schnitz-
werk, dessen Ursprungsseiten bis ins 13. Jahr-
hundert zurückgehen, zumeist aber dem 15. Jabr-
hundert angehören, ist ein großer Vorrat vorban-
den. Dabei eine Papetfigur von herrlicher Aus-
führung, die wohl dem Berndt Notke aus Lübeck
zuzuschreiben ist, dessen Werkstatt auch ein hei-
liger Martin entstammen wird. Auch eine große
Georgsgrappe fehit nicht.
Der vorliegende Band enthält noch die durch
13:1 weitere Abbildungen erläuterte Beschreibung
von vier weiteren Kirchen und zwei Kapellen.
Unter diesen ist wesentlich die reich gewölbte
Kirche su Svärdsjö zu beachten, die aus einem
kurzen Rechteck, das dem 13. Jahrhundert an-
gehören wird, allmählich zu der jetzigen Kreuz-
form erwachsen ist; der Taufstein ist von got-
ländischer Herkunft, schön keichförmig mit Rund-
bogen an der halbrunden Kuppe. Genau die gleiche
Form, der Übergangszeit oder der letsten romani-
schen angehörig, tritt vielfach und weithin an
den Küsten der Ostsee auf. In den meisten dieser
Kirchen fehlt es auch nicht an weiteren trefflichen
Ausstattungsstücken. Namentlich fallen darunter
einige kleinere als beachtenswert auf, Denktafeln
und eine Nummerntafel.
Mit Nummerntafeln sind ja unsere heutigen
Kirchen unsagbar kläglich oder unverschämt aus-
gestattet, und so wire es billig, doch wieder ein-
mal am Alten zu lernen.
Hinter der Behandlung jeder Kirche folgt nach
dem Plane dieser musterhaft angelegten Inven-
tarisation eine kurse Zusammenstellung in schwe-
discher, und eine längere in deutscher Sprache.
Wir wollen hier eine aus diesem Bande wörtlich
folgen lassen, um den Lesern ein recht deutliches
Bild von dem zu geben, was zie bei gebührender
Beachtung dieser Veröffentlichungen zu erwarten
haben, auch wenn sie des Schwedischen nicht
mächtig sind:
„Die jetzige Kirche in Aspeboda ist in den
Jahren 1669—8: aufgeführt, Sie ist aus Holz in
Biockhauskonstruktion gebaut, mit Schindeln be-
deckt und rot angestrichen. Daa schindelbekleidete,
mit Teer bestrichene Dach trägt einen Dachreiter
und vier kleine Ecktürme, Die zahlreichen hölsernen
Dachspitsen sind für das 17, Jahrhundert charak-
teristisch (vgl. die frühere Kirche in Sundborn, 8.283).
Im Inneren der Kirche sind die nackten Stämme
erst im 19. Jahrhundert gerüncht worden. An der
Nordwand des Chores war eine erst neuerdings
abgerissene Orgelempore angebracht, die in mittel.
alterlicher Weise sich des Dachbodens der Sakri-
stei bediente (vgl. 8. 163). Wir finden also auch
hier diese für die Kirchen der Provinz Dalarne
charakteristische Anordnung einer Nordempore,
deren ausdrucksvoller Name in der Volkssprache
(wörtlich ,Gaffenboden’) auf ihre ursprüngliche Be-
stimmung als Platz der Kirchensänger hindeutet. —
Die Kansel, eine Arbeit aus dem 17, Jahrhundert,
ist 1751 vonder südlichen Wand nach ihrem jetzigen
Platze verlegt worden.
„Die Kirche besitzt u, a. einen Schnitzaltar, wel-
cher sich dem Revaler Altar von Berndt Моше
nähert, Er wurde 1680 mit einem neuen Rahmen
versehen und weiß und blau Gbermalt. — Unter
den Inventaren sind ferner zu bemerken: das Tauf-
decken aus der früheren Hälfte des 17. Jahrhun-;
derts und eine messingene Taufschale, wahrachein-
lich in Nürnberg im 16. Jahrhundert gearbeitet.
„Der Überlieferung nach befand sich schon im
Mittelalter an anderem Ort der Gegend eine Ka-
pelle, die 1609 durch einen hölsernen Bau un-
bekannten Aussehens auf dem Platze der jetzigeo
Kirche ersetzt wurde.
„Neben der Kirche steht ein hölzerner, im Jahre
1688 vollendeter Glockenturm.“
Dazu 27 Abbildungen mit schwedischer und
deutscher Unterschrift. Rich. Haupt.
ERNST DIEZ - HEINRICH GLÜCK, Alt-
Konstantinopel. 111 photographische
Aufnahmen der Stadt und ihrer Bau- u.
Kunstdenkmäler. Roland- Verlag München-
Pasing 1920. Kart. M.8.—, geb. M. 12.—.
Dieses Buch, in erster Linie vom Verlag wohl
als Erinnerung gedacht für die vielen deutschen
und österreichischen Soldaten, die im Krieg län-
gere oder kürzere Zeit in Konstantinopel sich
aufgehalten hatten, verdient auch alles rege Inter-
esse der Kunsthistoriker. Denn es bringt in gutem
Kupfertiefdruck eine Fülle großer und brauchbarer
Aufnahmen der byzantinischen und türkischen
Kunstdenkmäler und vermittelt namentlich solchen,
die diesem Kreis bisher fern standen, eine zu-
nächst hinreichende Kenntnis davon. Das große
Werk Gurlits über die Baukunst Konstantinopels
steht nicht leicht zur Hand und das kleine Büch-
lein desselben Verfassers, das seinerzeit in der
Sammlung „Die Kultur“ erschienen ist, bringt nur
einige kleine Bilder und ist überdies längst ver-
griffen. Mit dem stets stärker erwachenden Inter-
өзге, das heute auch die Allgemeinheit der Kultur
und Kunst des Orients entgegenbringt, sind uns
143
aber auch die Prachtbauten Ak- Konstantinopels
wieder näher gerückt und namentlich die mit
großem Unrecht in der Wertschätsung des Abend-
landes ganz vermachlässigten türkischen Bau-
schöpfungen,, die mit sum Großartigsten und sgu-
gleich Feinsten gehören, was die gesamte Welt-
kunst hervorgebracht hat, finden jetst wieder die
erneute Bewunderung der einsichtsvolleren Euro-
pier. Mit welchem Nachdruck verlangt s. В.
К. E. Osthaus in seinen Grundzügen der Stil-
entwicklung (Hagen 1918) eine kosmopolitischere
Einstellung der abendländischen Kunstgeschichte —
eine Forderung, die Josef Strsygowski freilich seit
äreißig Jahren schon erhebt — und wie rühmt er
im besonderen die Leistungen des großen Sinan,
„den wir als den Bramante des Ostens verehren
dürfen“. Das vorliegende Buch gibt mit seinen
Tafeln eine eindrucksvolle Vorstellung der türki-
schen Bau- und Innenkunst, indem es nicht nur
die großen Moscheen, sondern auch die Paläste,
Basare, Hane, Brunnen usw. vorführt. Und es
seigt uns auch die geschichtlichen Voraussetzungen
dieser Kunst, soweit sie in Byzanz selbst liegen.
Alle alt- und die wichtigsten mittelbyzentinischen
Bauten und Denkmäler werden uns gleichfalls in
guten großen Bildern zur Anschauung gebracht.
Schon an der Auswahl erkennt man die kundige
Hand. Kaum wäre hierzu auch jemand berufener
gewesen als die beiden Wiener Privatdozenten,
die Kunsthistoriker Dr. Diez und Dr. Glück, die,
aus dem aufdie Erforschung der Kunst der ganzen
Erde eingestellten Wiener Institut Sırazygowskis
hervorgegangen, selbst jahrelang in Konstantinopel
und im Orient sich aufgebalten haben und durch
ihre Arbeiten auf dem Gebiet der altchristlichen,
fräbmittelalterlicben und islamischen Kunstge-
schichte bekannt sind. Einleitend gibt Ernst Dies
einen bistorischen Überblick über die wechsel-
vollen Geschicke der stadt und behandelt Heinrich
Glück das Stadt- und Kulturbild Konstantinopels.
Von besonderem Wert sind dann seine kunst-
geschichtlichen Erläuterungen zu den Bildtafeln,
die in gedrängter Kürze das Wissenswerte mit-
teilen, Eine schematische Karte von Konstanti-
nopel im Mittelalter und einige alte Stadtansich-
ten vervollständigen die Anschaulichkeit und es
bleibt nur der eine Wunsch, daß bei einer Neu-
auflage die paar leeren Stellen im Textteil dazu
benutzt werden, um auch die Grundrisse der wich-
tigsten byzantinischen und türkischen Bauwerke
vorzuführen.
Karl Ginbart.
144
KARL REICHHOLD, Skizzenbuch
griechischer Meister. Ein Einblick
in das griechische Kunststudium auf Grund
der Vasenbilder. Gr. 80. 176 Seiten mit
300 Abbild, geb. М. 18.—. F. Bruck-
mann, München.
Ob der Titel gerade glücklich gewählt ist? Der
Archäologe, der Reichhold kennt, wird sich bei
dem Titel allerdinge wohl das Richtige denken,
aber die vielen anderen Leser werden sagen:
„Skizzen griechischer Meister? So etwas gibts
ja gar nicht“, werden infolgedessen an dem Buch
vorbeigehen und damit etwas versäumen, denn —
um das Gesamturteil gleich vorweg zu nehmen —
das Buch ist durchaus geeignet, auch vom rein
künstlerischen Standpunkt aus, einem empfäng-
lichen Gemüt wirklich etwae zu geben, vielleicht
auch die griechische Vasenmalerei ihm näherzu-
bringen und ihm die künstlerische Qualität, die
in diesen Bildern und Zeichnungen liegt, zu er-
schließen. Reichhold hat sich jabrzehntelang mit
der Wiedergabe griechischer Vasenbilder beschäf-
tigt und hat sich wie kein anderer in den Stil
und die Eigenart dieser Kunstwerke hineingeseben.
Nie sind Vasenbilder auch nur annähernd in so
vollkommener Weise reproduziert wie in dem
großen Vasenwerk von Furtwängler und Reich-
hold (Verlag F. Bruckmann, München). Daß
Reichhold dabei dem antiken Künstler manches
abgesehen, ihm in seine Werkstatt hineingeschaut
und ihn in seinem Schaffen beobachte: hat, wie
könnt es anders sein? Seine Erfahrungen und
Beobachtungen legt nun R. in dem vorliegenden
Buche dar, an Hand von zahlreichen Abbildungen,
die dem groben Werke entnommen sind, keine
Vollbilder zeigen, sondern. nur Ausschnitte und
Einzelfiguren. Die Komposition der Vollbilder
sieht R. kaum in den Rahmen seiner Betrachtung,
weil für die Komposition der Bilder nicht der
Vasenmaler die Verantwortung trägt. Als Klein-
kunst, die sich Jahrhunderte hindurch fast aus-
schließlich der Darstellung des Menschen zu-
wendet, ist die Vasenmalerei stets abhängig von
der Monumentalmalerei geblieben. Von der großen
Kunst, der Wandmalerei, empfängt sie Anregung
und Belebung, von ibr empfängt sie die Motive,
übernimmt — im Ausschnitt — die fertig kompo-
nierten Bilder, sowohl die einzelnen Figuren, wie
auch ihre Anordnung und Verteilung im Raum.
Die Rechtecke, Kreise, wie die ornamentalen Friese
mit Götterdarstellungen, Kampfszenen und Bilder
des häuslichen Lebens sind in ihrer unübertreff-
lichen Komposition auf der großen Weandfläche
— eo
entstanden , für monumentale Bilder, die für uns
allerdings selbst in der Vorstellung fast unwieder-
bringlich verloren sind. Standen die Vasenmaler
so der großen Kunst nahe, so waren sie doch
innerhalb ihres Wirkungskreises selbständige,
echaffende und empfindende, wenn auch nach-
empfindende Künstler, keine Kopisten und Ab-
schreiber. Das bedingte schon die gans anders
geartete Technik mit ihren Hemmungen, die es
nicht leicht macht, die malerische Wirkung auch
nur einigermaßen wiederzugeben. Ganz andere
Mittel mußten zur Anwendung kommen, als in
der Wandmalerei, der die Farbe zur Verfügung
etand. Dazu kam noch, daß die gebogene, sich
nach unten stark verjüngende Fläche der Gefäße
eine veränderte Raumverteilung erforderte, die
wohl erwogen und berechnet sein wollte. Aber
das macht der Vasenmalerei ebensowenig Schwie-
rigkeiten, wie die seichnerische Umbildung. Zeich-
nen konnten sie, so ohne Mühe, daß sie nicht
nötig hatten, sich zu wiederholen oder gar sich
selbst abzuschreiben. Unter tausenden von Vasen-
bildern können wir keine zwei Figuren nach-
weisen, die sich genau decken, und wo die Be-
wegungsmotive gleich sind, ist ihre Ausgestaltung
im einzelnen immer verschieden. Von Andokides
sind uns z. B. zehn Athenafiguren in derselben
Stellung bekannt, und alle diese Figuren sind bis
zu den kleinsten Einzelheiten herunter differenziert
Und diese Maler fühlten sich als Künstler, sie
signieren ihre Werke, ja Euthymides signiert
nicht allein, er fügt noch hinzu, daß sein Kollege
Euphronios so schön noch nie gemalt babe. Das
seugt davon, daß diese Künstler mit Stolz und
Liebe arbeiteten, im Wetteifer miteinander, so
daß oft der Erfolg sie mehr freute als der Lohn,
Wie nun die Maler fortschreiten — die Gesamt-
beit im Laufe der Entwicklung, der einselne im
Verlaufe seiner Lehrjahre — zeigt uns R. ап
vielen Beispielen. Ob das vom archäologischen
Standpunkt alles richtig ist? Nun, der Gelehrte
hat gelernt sich zu bescheiden, er kommt oft an
den Punkt, wo eine Entscheidung nicht möglich
ist, weil sich dem Material das Letzte nicht ab-
ringen läßt. Diese Schwierigkeit der Entscheidung
hat R. in ihrer gansen Schärfe wohl nicht immer
erkannt, er ist geneigt, bestimmt zu sagen: So ist
es gewesen, s. B, in der Technik, in der Art der
Verwendung antiker Vasen, in der Weise des
Zeichenunterrichts usw. Der Archäologe würde
oft sagen: es könnte so gewesen sein, os ist wahr-
scheinlich so gewesen, weil er eben weiter nicht
zu gchen pflegt, wenn der strikte Beweis nicht
zu erbringen ist. Aber die bestimmte Art des
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1931. 10
Verf. ist vielleicht ein Vorzug des Buches, die
Geschlossenheit des Ganzen bleibt gewahrt, und
klar sehen wir, wie die griechischen Vasenmaler
ihr Ziel, die Beherrschung von Linie und Form,
erreichten, mit Arbeit und Mühe, von Stufe zu
Stufe, in gewaltigem Ringen. „Möchten sich
unsere Künstler“, schließt Reichhold, „daran ein
Beispiel nehmen und bei der Lösung neuer Kunst-
probleme ebenso folgerichtig vorgehen und jedem
übereilten, unsteten Arbeiten entsagen, denn diesem
folgt, so sicher wie die Nacht dem Tage, der
Niedergang der Zeichnung, der Zusammenbruch
der Kunst.“ Aug. Köster.
L. v. SYBEL, Frühchristliche Kunst.
Leitfaden ihrer Entwicklung. Mit einem
Titelbild. IV, 55 S. München, O. Beck, 1920,
Dieses dünne Heft in Kisinoktav bezeichnet
einen Markstein in der Geschichte der Forschung
über die altchristliche Kunst, denn L. v. Sybei
zieht in ihm die Summe seiner Lebensarbeit, so-
weit sie der christlichen Archäologie gegolten hat.
Es ist eine grundlegende Idee, um die er die
Forschung bereichert hat, aber es ist die frucht-
barste, die überhaupt in sie hineingetragen wer-
den konnte, der Gedanke, der den Theologen das
Vorrecht nimmt, sie ex officio für sich zu bean-
spruchen und dafür den klassischen Archäologen
und Philologen den Schlüssel in die Hand drückt.
Auf die kürzeste Formel gebracht lautet sie: „Die
altchristliche Kunst erstand nicht in einem künst-
lerischen Gegensatz zur vorchristlichen Antike,
sie zehrte auch nicht von Entichnungen aus ihr,
sondern es war immer dieselbe Antike, gerade
auch in den Neuschöpfungen“. Dieser Grund-
sats ist im vorliegenden Laitfaden konsequent
durchgeführt. Damit wird zum erstenmal einheit-
lich und gleichmäßig eine wirkliche Geschichte
der Formenentwicklung gezeichnet, die der Grund.
riß der christlichen Archäologie von V. Schultze
(München, Beck 1919) programmgemäß nicht
geben konnte, während H, Achelis, der zuletzt
einen „Entwicklungsgang der altchristi, Kunst“
(Leipzig 1919) zu geben unternahm, an der Auf-
gabe kläglich gescheitert ist; wie sehr, wird sinem
doppelt klar, wenn man die kristallb elle Klarheit
und wohttuende Sicherheit, mit der hier der Auf-
bau vollzogen ist, auf sich wirken läßt. 8. grup-
piert den Stoff nicht künstlich, um su einer be-
stimmten Auffassung zu überreden, ihm sind auch
die blendendsten Hypothesen nur Arbeitsbehelfe,
die ihren Wert nicht durch ihre Verfechter, son-
dern durch ihre Brauchbarkeit für die Aufbellung
145
des Problems erhalten. In der nüchternen sach-
lichen Klarheit, die auf dem Fundament eines aus-
gebreiteten Wissens und einer unbefangenen Ge-
samtanschauung der damaligen Geisteskultur ruht
und sich in Sätzen von äußerster Konsentriertheit
ausprägt, liegt ein Hauptreis des Büchleins. So ist
auf engstem Raum ein übersichtliches Bild nicht
nur der frühchristlichen Kunst, sondern auch der
Forschung über sie zusammengedringt. Von dem
Reichtum des Inhalts läßt sich kaum in wenigen
Worten eine Andeutung geben. Nur auf die neu-
artige Epocheneinteilung soll hingewiesen wer-
den: die 1. Epoche rechnet er bis Hadrian, die
з. bis Valerian, die 3. von Gallien bis Konstantin,
die 4. von Konstantin bis Theodosius; weiter
hinaus sind die Wege durch Ausblicke angedeutet.
Mit alledem ist nicht gesagt, daß man mit dem
Verfasser durchaus übereins gehen müßte. Zum
Beispiel vermag ich die Ausdehnung des Begriffes
„Hellenismus auf die gesamte Kunst der Kaiser-
seit nicht zu teilen, glaube vielmehr, daß die
Entwicklung in dieser Zelt so stark und eigenartig
ist, daß für den Westen der Begriff des Roma-
nismus Platz greifen muß, daß aber eslbst im
Osten der von anderer Seite für die Gesamtepoche
geschaffene Begriff der Arabismus nur für das
eigentlich hellenistische Kolonialgebiet: Ägypten,
Syrien und deren Hinterländer eine mit der Zeit
wachsende Geltung hat, während allein in Byzanz
und seinen Kernländern, insbesondere im vor-
deren Kleinasien der Hellenismus durch Arabis-
mus und Romsnismus beeinflußt, aber nicht wesens-
verwandelt weiteriebt (Byzantinismus). Aber das
sind Dinge, deren Begrindung die Zukunft erst
bringen muß. Über das, was wir heute als festen
Besitz unserer Wissenschaft anseben dürfen und
über die ansehnliche Mehrung, die dieser Besitz
seit dem Erscheinen der „Christlichen Antike“
und durch ihre Wirkung erfahren hat, gibt das
Büchlein den zuverlässigsten Aufschluß.
| Edmund Weigand.
WILHELM R. VALENTINER: „Zeiten
der Kunstund der Religion“. (G.Grote,
Berlin.) |
Die Kunstwissenschaft wird aus den Essays,
deren sechs der Verfasser hier vereinigt hat, kaum
neue Tatsächlichkeiten entnebmen können, und
auch in der schriftstellerischen Anlage oder Me-
thode bieten sie nichts, was in Erstaunen ver-
setzen könnte. Aber mag sich der Autor auch
dem Pian wie der Einzeldarstellung nach auf
146
bekannten Pfaden bewegen, so darf man ihm doch
testieren, daß jeder dieser Aufsätze von einer gə-
wissen Volikommenheit und harmonischen Steig-
keit ist, die sich stets über das Philologische
erhebt, aber andrereeite surfickhakend und be-
herrecht ist, und gerade zu einer Zeit befriedigen
muß, die wie die unsere halb noch im Wissens-
krampf befangen ist, halb einem oft krampfhaften
Herauespringen aus der Gewifheit in Theorie-
bildung suneigt. Valentiner rückt in einigen Ka-
pitein der Weltgeschichte die Gansheit ihres Ab-
laufs vor Augen. Amenophis IV., Phidias, Wolf-
ram von Eschenbach, Michelangelo, Tisian und
Ruysdael verkörpern sechs entscheidende Stationen
geistesgeschichtlicher Entwicklung, und so welt
einige Namen überhaupt den Schritt der Jahr-
tausende anzudeuten vermögen, mag es den hier
ohne viel Prätention in dieser Hinsicht aus-
gewählten gelingen, Trotzdem ermangeln die
Kapitel etwas der Beziehung zueinander und
lenken das Interesse mehr auf ihre Einzeldarstel-
lung, die sich nicht immer, vor allem im Abschnitt
über Michelangelo, ihrem Gegenstand gewachsen
zeigt, die keinen neuartigen oder gar genialen
Griff aufweiet, aber doch den Kontur der jeweils
skizzierten Persönlichkeit repräsentativ auf dem
politisch - geschichtlichen und weltanschauungs-
geschichtlichen Hintergrunde festhit, Wir wer-
den die schöpferische Leistung des Autors gering
um so höher seine Fähigkeit bewerten müssen,
in ruhig fließendem Vortrage von verschiedensten
Forschern Beigebrachtes gesammelt und zur Ein-
beit ausgereift lebendig werden zu lassen. Dabei
wird man den historischen Hintergrund am ge-
tungensten, die religiöse Situation mitunter etwas
dürftig behandelt finden; dann aber wieder über
einige Sätze zur rein künstlerischen Erscheinung
freudig überrascht sein, die in schlichter Weise
dem Gehalt und der spezifischen Schönheit der
Form gerecht werden, den Stimmungewert fein
und gelassen umschreiben. Über Einzelheiten des
Urteils und der Kinstierpsychologie hier in eine
Erörterung einzutreten, verbietet der Raummangel;
sie sind auch von untergeordneter Bedeutung. Im
gansen ist Valentiners Buch von der Art, die
heute noch immer seiten ist, und durchaus ein
Gewinn für den Leser, der ein tieferes, aber sach-
liches, ein innigeres, aber nicht ausschwärmendes
Verbälnis zu den großen Symbolen geistiger
Epochen gewinnen will, ein kulti viertes Lesebuch
für den im besten Sinne des Wortes bildungs-
bedürftigen Nichtfachmann.
Willi Wolfradt.
WILHELM HAUSENSTEIN, vom Geist
des Barock. Mit 73 Tafeln. München
1920. R. Piper & Co. Geb. М. 18.—.
Ein geistvolies und ein erfreuliches Buch im
gansen, erfrischend, weil es seine Perspektive:
aus unserer heutigen Anschauung heraus, nicht
verleugnet und doch dem ungeheuren Elementar-
ereignis der Kunst, das wir unter dem Sammel-
namen Barock begreifen, als solchem gerecht
wird aus eigenen Gesichtswinkeln. Man konnte
natürlich von vornherein von Hausenstein nichts
anderes erwarten als eine flackernde und essayi-
stische Streife durch die unermeßlichen Gefilde
dieses Kunstlandes, keine kunsthistorische Ent-
wicklung oder ästhetische Analysis. Davon ist
er weit entfernt; und seit Wölfflins Barock buch
haben wir uns auch an einen gans anderen Zu-
schnitt der Kunstbetrachtung gewöbnt. Es ist
immerhin beträchtlich, was Hausenstein an innerer
Einfühlung in den Geist des 17. Jahrhunderts auf-
bringt; psychologisch, versteht sich: das ist heute
unsere Stärke und, weil Hausenstein in ungewöhn-
lichem Maße, auch quantitativ, repräsentativ ist
für unser Verhältnis zur Kunst und seinen schrift-
lichen Ausdruck, vor allem auch die Stärke dieses
ausgezeichneten Schriftstellers, den nicht nur das
Sprühend-Dialektische und das essayistische Tanzen
über die weitesten Beziehungen in Parallele zu
Meier-Graefe stellt,
So teilt sich dieses anregende und sehr gegen-
wartsnahe Buch in 20 Kapitel ein, deren jedes
eine besondere Seite des schillernden Phänomens,
seine unglaublichen Widersprüche und Span-
nungen psychologisch beleuchtet. Wobei die
Werke und Künstler nur paradigmatisch, als Be-
weisstücke des Neutrums und Lehrsatzes „Barock“
auftreten. (Hausenstein sagt konstant „das Barock“,
andern und auch mir scheint das männliche Ge-
schiecht maßgeblicher: man sollte einmal diktato-
risch diesen Zwist entscheiden; aber wer hat dazu
Autorität?) Wie fruchtbringend, wie tief solche
Betrachtungsweise ist, können einige der glän-
sendsten unter diesen ganz geschlossenen Essays
schon mit ihren Überschrifien andeuten: Das
Organische, Mimica, Naturalismus, Gesellschaft,
Vom doppelten Sinn (das Skeptisch-Zweideutige,
Gespannte in den künstlerischen Mitteln), Super-
lativ, Barock und wir: es ist stets dieselbe Er-
scheinung, aber in anderen Facetten gespiegelt
und deshalb erschreckend anders und von einer
fast unmeßbaren Fülle des Ausdrucks und ge-
formten Lebens. Man müßte abermals ein Buch
schreiben, wenn man anfangen wollte, über Hau-
sensteins Behandlung des Stoffes su berichten;
зо gedrängt ist sie von Gedanken und Geist. Es
gibt daher auch keine gerade Linie, kein Ab-
wickeln, kein eigentliches schriftstellerisches Drama
in dem Buch: alles ist auf gleiche Plattform ge
stellt, es überschüttet uns mit glitsernden Fouer-
werken peychologischer Spiele. Und der bleibende
Eindruck? „Barock“: das Unfaßbare, ewig Be-
wegte, Organisch - Gestaltlose dieses Stils strömt
auch aus dem Charakter des Werkes. Vielleicht
der erste gelungene Versuch, das Ganse des
Barock in eine weitgespannte Parabel zu fassen;
ibn nicht als bloße Form zu analysieren, sondern
воеНвсЬ zu begreifen und die Form aus dem Geist
der Epoche zu entwickeln.
Der Pipersche Verlag hat das Buch mit einer
Anzahl trefflich illustrierender Abbildungen ver-
sehen und auch sonst sehr anständig und lesbar
ausgestattet. Paul F, Schmidt.
TAGEBUCH des Herrn von Chante-
lou tiber die Reise des Cavaliere
Bernini nach Frankreich. Deutsche
Bearbeitung von Hans Rose. F. Bruck-
mann A.-G., München 1919.
Dieses vergessene Stück Literatur ist eines der
interessantesten Dokumente aus der Barockseit.
Herr von Chantelou, Poussins Mäzen , wird Ber-
nini während seines Pariser Aufenthaltes im Jahre
1665 von Ludwig XIV. als Attaché und Dolmetscher
beigeordnet. Als solcher ist er täglich um den
Künstler, beobachtet ihn bei der Arbeit, nimmt
an den Sitzungen der Baukommission teil, so gut
wie an jenen, die der König dem Bildhauer für
soine Büste gewährt, seigt dem Italiener, den er
restlos bewundert, alles was ihm in Paris sehene-
wert erscheint, bilft ihm die vielen fürstlichen
Besucher und Besucherinnen empfangen. Alle
diese Geschehnisse hat er mit der nieversagenden
Treue des Chronisten in seinem Tagebuch fest-
gehalten.
Bei dem ungeheuren Selbstbewußtsein, das Fran-
sosen so gut wie Italienern eignet, kommt es, trots
Chantelous vermitteinder Art, su mancherlei schar-
fen Zusammenstößen. Für Bernini ist es ein un-
erschütterliches Axiom, daß Rom, wo die Kunst
am besten „gedeiht“, die hohe Schule für den
Künstlerist, er bält es für einen Fehler, die jungen
Leute zuerst vor die Natur zu führen, die „fast
immer matt und kleinlich“ ist, die Antike allein
vermittelt „die Idee des Schönen“, die ihnen
Richtschnur fürs ganze Leben bleiben kann. Wir
belauschan Urteile über Michelangelo, der sich
147
„eo eng wie ein Chirurg“ an die Anatomie ge-
halten habe, über Leonardo, der als „spekulativer
Кор:“ abgetan wird, über Tizian, Correggio, Vero-
nose, Annibale Carracci, Poussin, die Antike, über
Architektur, Bildniskunst, über wirtschaftliche Fra-
gen, Theater und Politik und nehmen teil an
Ateliergesprächen voll sinnlicher Erfahrungen, von
denen im Gegensatz zu den Regeln der Kunst,
die auf Akademien gelehrt werden, so selten die
Rede ist. Wen Berninis Arbeitsweise und Cha-
rakter interessieren, diese merkwürdige Mischung
von Selbstbewußtsein und Religiosität, wird trotz
Baldinucci von Chantelou mebr und Wertvolleres
erfahren.
Von Berninis kühnen Plänen, die seine Berufung
nach Paris bewirkt haben, hat sich nur wenig
verwirklicht. Ludwige XIV. Marmorbüste ist ent-
standen, aber die Baupläne für den Louvre wur-
den nicht ausgeführt, ja das Scheitern dieses groß-
zügigen Unternehmens bedeutet nichts anderes als
den Todeskampf zwischen Individualität und höf-
scher Gebundenbeit. In dem festgefügten franzö-
schen Pyramidenstaat ist fir das Gottesgnaden-
tum des Künstlers kein Platz mehr.
Im Tuilerienbrand vnn 1871 sind Berninis Ori-
ginalpläne untergegangen, übrig geblieben sind
allein fünf Stiche von Jean Marot und Chantelous Auf-
seichnungen. Das Tagebuch, das lange verschollen
war, wurde in der Gazette des Beaux-Arts (1875 bis
1884) abgedruckt, Roses vorzügliche Bearbeitung
bringt ep zum erstenmal in Buchform und in
deutscher Sprache. Rosa Schapire.
DIE ARCHITEKTUR des Graltempels
im jüngeren Titurel. VonBiancaRöth-
lisberger. Heft 18, Jahrgang 1917 von
„Sprache und Dichtung“. Verlag von
A. Francke, Bern.
Bereits im vorigen Jahrhundert haben Boisserée,
Droysen, Zarncke, Otte das auf den Namen des
jüngeren Titurel getaufte und Albrecht v. Scharffen-
berg zugewiesene mittelhochdeutsche Gedicht hin-
sichtlich des darin besungenen sagenhaften Gral-
tempels einer Analyse unterzogen. Das Gedicht
ist wohl die längste und kühnste architektonische
Schilderung, die aus dem Mittelalter überliefert
ist. Der Tempel des heiligen Gral erhebt sich
auf der Plattform eines Hiigels von Onyx in der
Grundform einer Rotunde mit 3 Eingängen, einem
Hauptchor und einem Kranz von 73 Chören oder
Kapellen. Im Mittelpunkt des Tempels ist in einer
kleinen Sakristei in Gestalt eines Tempels der
Gral aufbewahrt. Eherne Säulen tragen die Ge-
wölbe der Tempelhalle. Während Boisserée an-
148
nahm, daß von dem gesamten Rundtempel nur
die in Kreusform gestalteten Mittelschiffe hoch-
geführt gedacht sind, nimmt die Verfasserin und
zwar m. E. mit größerer Wahrscheinlichkeit an,
daß hinter dem Kapellenkrans der Bau in einer
einzigen ungeteilten Fläche emporwächst, in deren
oberen Teil die Fenster eingelassen sind. Diese
ernste Masse wird durch 36 Chortürmchen belebt.
Vom Lichtgaden zu dem üher der Führung sich
erbebenden Mittelturm nimmt die Verfasserin ein
schräges Pultdach an, dessen goldene Fläche weit
ins Land binaus leuchtet. Dia Türme haben
6, Stockwerke und werden durch ein goldenes
Helmdach mit Nielloversierung bekrönt. Große
Turmknöpfe aus Rubinen tragen Kreuse aus Kri-
stall. Auf jedes Krouz ist ein goldener Adler ge-
lötet, der von der Ferne gesehen frei schwebend
über den Türmen verharrt. Am Hauptturm bildet
ein großer Karfunkel den Turmknopf und trägt
Kreuz und Adler. In dunkler Nacht weist das
Leuchten des Karfunkals verirrten Templern den
Weg. Reicher Goldschmuck und viele tausend,
in allen Farben strahlende Steine überziehen den
Turm, Der Tempel besitzt zwei höchst kostbare
Glocken, für deren Kiöppel Gold dient. Die
Glocken selber sind aus arzibiere geformt.
Die drei Portale llogen im Norden, Süden und
Westen des Tempels und sind dem Giauben, der
Liebe und der Hoffnung geweiht. Im Gegensatz
zu Droysen, der das in dem mhd. Gedicht be-
sungene „Jüngste Gericht“ ins Bogenfeld des
Westportals verweist, verlegt die Verfasserin diese
Anlage ins Innere der Kirche und bringt sie in
Verbindung mit der Gestaltung der Orgel. Phan-
tastisch beschreibt der Dichter den Fußboden des
Tempels, auf welchem durch rotierende Bewe-
gung plastisch geformter Fische und Moerwunder
der Eindruck sich bewegender Meertiere hervor-
gerufen wurde. Röthlisberger denkt sich diesen
Fußboden in der Form eines durch einen Hohl-
raum geteilten Doppelfußbodens, dessen unterer
Teil durch in den Hohlraum eintretende Luft zur
Bewegung gebracht wird, wodurch von oben ge-
soben bei den daran befindlichen plastischen
Meertieren die Illusion der Bewegung hervorge-
rufen wird. Ein wundersames Uhrwerk läßt Sonne
und Mond im Tempel ihre Bahnen ziehen. Das
Allerheiligste aber ist der kleine Tempel in des
Mitte der Halle, in dem der Gral aufbewahrt ist.
Wenn die Verfasserin aber meint, os sei eine
geschraubte Ausdrucksweise des Dichters, die den
ganzen Raum einem kleinen Gegenstand vollstän-
dig unterordnet und nicht umgekehrt den Gegen-
stand dem Raum, so können wir ihr hierin nicht
folgen. Darin liegt doch gerade der tiefe Ge-
danke, daß das kleine aber wunderwirkende Gral-
gefäß den Mittelpunkt des Riesentempels bildet
und so die symbolische Bedeutung seiner Wun-
derkraft in ähnlicher Weise zum Ausdruck kommt,
wie die hohe Halle des mittelalterlichen Doms die
kleine, äußerlich unbedeutende Hostie als Symbol
des Leibes Christi birgt. P. Wolf.
ALLGEMEINES LEXIKON DER BIL-
DENDEN KUNSTLER. Herausgegeben
von Ulrich Thieme. Dreizehnter
Band: Gaab—Gibus. Leipzig, Е. A. See-
mann. Lex.-8° 1920.
Nach vierjähriger Pause ist endlich der Band
mit der verbängnisvollen laufenden Nummer er-
schienen. Das äußere Gewand ist leider ein an-
deres geworden, glücklicherweise jedoch kein
weniger vornehmes. Diese vier Jahre, die schwer-
sten, die Deutschland je durchgemacht hat, sind,
wie es zum Glück erscheint, auch wohl als die
vier schwersten im Leben des Lexikons zu be-
seichnen. Auf eine namhafte Spanne Zeit ist
der Fortgang des Unternehmens nun in der alten,
vorkrieglichen Weise durch das Eingreifen ver-
schiedener Freunde gesichert. Es steht zu hoffen,
daß es sich dann, nach Ablauf dieser Jahre, in-
folge des allgemeinen Eintritte wieder gebesserter
Verbältnisse, auf dem gewöhnlichen buchhändle-
rischen Wege von selbst tragen wird. Auch
dieser Band beweist, wie sein Vorgänger, daß
wir auf die Mitarbeiter im Ausland nicht an-
gewiesen sind. Der Leitung ist zu trauen, daß
sie uns Übelgesinnten nicht nachlaufen wird. Sie
spricht sich nicht über den Punkt aus; erfreulich
wäre es aber, wenn sie sich entschlösse, das Lexi-
kon so gutwie ganz auf deutsche Füße zu stellen.
Damit geben wiruns das Selbstbewußtsein wieder;
und nur mit diesem Stolz wirken wir auf das
Ausland, das auch in der Wissenschaft so all-
mählich vergessen hat, was es uns alles verdankt.
Es gibt einige wenige Erscheinungen, die nur
der Stammverwandte völlig begreifen kann: z. B.
die großen englischen Karikaturisten, oder Blake,
oder William Holman Hunt. Da selbst bei Lexi-
konartikeln der Biograph immer ein Enthusiast
sein sollte, und der Enthusiasmus nur aus dem
ureigensten Verständnis geboren wird, so möchte
für solche Ausnabmen womöglich die Kraft eines
Volksgenossen oder eines Verfassers, der den be-
treffenden Volksgeist zum mindesten von Grund
aus kennt, gewonnen werden. Für alles andere,
für alles, wae vom Söller der reinen Kunstwissen-
schaft betrachtet werden kann, haben wir die
weitaus besten Kräfte im Hause: — und was
vor rund hundert Jahren ein einzeiner Mann,
unser großes Vorbild Nagler fertig gebracht hat,
müßte doch die gesamte deutsche Fachwelt heute
spielend bezwingen.
Dafür, daß an den deutschen Universitäten ita-
lienische Kunstgeschichte als Hauptsache gepflegt
wird, gibt auch dieser Band ein Zeugnie ab.
Solche Leistungen wie die Titel Gaggini, Galli,
Garofalo, Gatti, Gentile, Gentileschi, Ghezzi, Ghi-
berti, Ghirlandajo sind gewiß anderwärts nicht
erreicht worden. Aber auch die anderen Aus-
länder sind hervorragend bebandelt worden: 80
s.B. die Familie Gautier-D’Agoty von L. Burchard,
der, da ihm weitere Quellen zur Verfügung stan-
den, meine umfangreichen Untersuchungen über
diese Farbstecherfamilie nicht nur ergänzen, son-
dern in einigem auch berichtigen konnte. Mit
geheimer Schadenfreude erblicke ich Claude Geilée
bier an seiner richtigen Stelle eingeordnet —
wofür ich so beweglich plädiert habe —, und
nicht, wie es nach dem sonst im Lexikon ob-
waltenden Grundsatz hätte geschehen müssen,
nach seinen Spitznamen unter Lorrain (fransö-
sischer) oder Claude (englischer Gebrauch). Mit
jedem Band kommt das Weik dem Ideal näher,
demzufolge die berühmten Künstler im Verbältnis
zu den zahllosen unberühmten zurückgedrängt
werden. Solche Titel wie Gavarni (er hieß Che-
vallier und nicht Chevalier, wie zwar schon ein-
mal aus dem Text, 8. 296, 2. Spalte, Zeile 1
hervorgeht, aber nicht richtig zu Anfang deg
Titels angegeben wird), und Géricault s. B. bätten
noch vor acht Jahren den dreifachen Umfang ge-
habt von dem, womit sie im 13. Band ganz richtig
auekommen. Um so mehr möchte ich einen kleinen
Einwand nicht unterdrücken. Wenn die Schrift-
leitung sich überzeugen läßt, kann sie ihm ja,
su Nuts und Frommen des Lexikons, der Mit-
arbeiterschaft zur Beachtung übermitteln. Viel-
leicht die Hauptleitung des Lexikons besteht in
den bibliographischen Angaben am Schiuß jedes
Titels. Es sollte m. E. mit äußerster Strenge
darauf gesehen werden, daß hier aber nur solche
Hinweise geboten werden, die den Benutzer, der
sich der Mühe unterzieht, sie aufzuschlagen, wirk-
lich etwas bieten. Das ist aber namentlich bei
den neueren Künstlern durchaus nicht der Fall.
Man wird noch allzuoft auf Stellen im „Studio“
und anderen Zeitschriften verwiesen, wo der
Künstler einfach mit Namen, obne jedwedes Bei-
wort, angeführt wird. Ich balte es auch nur ganz
ausnahmsweise, bei einem modernen Künstler ge-
149
nügend, wenn der Hinweis nur auf eine einzige
Abbildung erfolgt: völlig su unterlassen wären
Hinweise auf Ausstellungskataloge, die womöglich
nur den Titel eines einzigen Bildes bringen. Auf
solche Werke wie Mireur hinzuweisen ist zweck-
lose Zeitverschwendung, und ist als lediglicbes
Füllsel unter der Würde dieses Unternehmens.
Auf во etwas weiß jeder Benutzer in den ent-
sprechenden Fällen auch ohne das Lexikon zurück-
zukommen, Wenn ich s. B. aus dem Titel er-
fahren habe, daß Johann Schmidt Rokoko-Genre-
bilder gemalt hat, und in welcher Weise er das
getan, so ärgert es mich nur an, sagen wir fünf
in der Bibliographie erwähnten Stellen nichts
weiter zu finden, als daß ein Bild 1888 im Münche-
ner Giaspalast ausgestellt war, ein anderes „Am
Herd“, ein drittee „Verliebt“, ein viertes „Im
Frübling“ getauft wurde, und daß das fünfte von
einem beliebigen Berichterstatter an der ver-
wiesenen Stelle für schön erklärt worden ist.
Namentlich bei neueren Künstlern dürfte in der
Bibliographie lediglich auf monographische Artikel
verwiesen werden und auf solche Stellen, wo man
etwas wirklich Wissenswertes findet, das aus
Raummangel im Lezikontitel nicht hat genügend
verarbeitet werden können.
Prof. Dr. Hans W. Binger-Drosden- Wschwitz.
A. GRONER, Die Geheimnisse des
Isenheimer Altares in Colmar. Stu-
dien zur deutschen Kunstgeschichte. Heitz,
Straßburg 1920. 42 S.
Der Verfasser unterlag der Zwangsvorstellung,
etwas Neues entdecken zu müssen. So entstanden
die merkwürdigen Ergebnisse: Magdalena ver-
körpert auf der Isenheimer Kreusigung die Eccle-
sia, Jobannes d. T. die Synagoge, der allegorische
Charakter der Magdalena wird lediglich begründet
durch die kleinere Proportion dieser Gestalt. Bei
Jobannes, wo dieses Argument wegfällt, wird auf
das Wort: „Er muß wachsen, ich aber muß ab-
nehmen“ hingewiesen. Das zweite Hauptbild
des Altares, für das schwer ein Titei zu finden
ist, muß sich die Bezeichnung — Pfingstbild
gefallen lassen, Der Verfasser glaubt, parallel
dem auf das Jesuskind fallenden Lichtstrahl ginge
von Gottvater ein zweiter Strahl hinter dem Tem-
pelvorhang spazieren; „er kommt wieder zum
Vorschein im Hintergrund des Tempels, von wo
der heil. Geist kam (?), gefolgt von den Scharen
der jubilierenden und musizierenden Engel“. Mit
Hilfe dieses leider schwer verfolgbaren Strables
konstruiert der Verfasser ein Dreicinigkeitedreieck
150
und kombiniert sein Pfingstbild energisch weiter:
„Konnte die Muttergottes auch fehlen, so hätte
eine Darstellung mit elf Aposteln noch immer
das Ebenmaß der Gemälde gestört. Daher verel
der Künstler auf eine geistreiche Neuerung; er
ließ den heil. Geist einfach auf die junge Kirche
herabkommen. Sie trägt auf dem Haupte eine
ganz wunderbare Krone, einen Kranz von elf
Feuerzungen, welche der Zahl der Apostel ent-
sprechen. Diese Feuerkrone setzt die Jungfrau
in Verzückung.“ Abgesehen davon, daß die Krone
nur sebn Zinken hat, dürfte die angeführte Stelle
auch sonst genugsam beweisen, daß diese Studie
mehr ein Ergebnis der Phantasie als der For-
schung geworden ist. М. Escherich.
ROSY KAHN, Die Graphik des Lucas
van Leyden. Studien zur Entwicklungs-
geschichte der holländischen Kunst im
16. Jahrhundert. Straßburg, J. H. Ed. Heitz
(Heitz und Mündel).
Wenn auch die Verfasserin weiß, daß „bei der
Scheidung von Perioden in den Werken eines
Künstlers die Grensen immer etwas Wilikirliches
bebalten“,so hat sie mit gutem Erfolg in dieser Pro-
motionsschrift die Entwicklungsphasen des Lucas
van Leyden aufgezeigt und das Charakteristische
seiner wechselnden Kunstauffassung hervorzuheben
verstanden. Mit großer Gründlichkeit schreitet sie
von Etappe zu Etappe. Sie weist mit Evidenz
die Abhängigkeit des Lucas von Engebrechtes in
besug auf die Übergröße und Überschlankheit der
Figuren mit schmalen Gliedern und straff ge-
spannten Muskeln nach. Auf den Einfluß des
Geertgen tot Sint Jans führt sie die intimen, spe-
sifiech niederländischen Ansichten des weiten,
flachen Geländes, das Atmosphärische der Land-
schaft und einzelne Gewandmotive zurück. Un-
ergiebiger sind die Untersuchungen über die Ver-
bindungen zwischen Lucas, den niederländischen
Kupferstechern des 15. Jahrhunderts und den
holländischen Holzschnittzeichnern. Hingegen er-
geben die Kapitel „Lucas und Dürer“ und „Dürer-
sche Kupferstiche und Holzschnitte* fruchtbarste
Resultate für die Kunstwissenschaft.
Auch die formalästhetischen Analysen beweisen
eine große Einfühlungsfähigkeit in die vorliegende
Materie, wenn auch manche Bildbeschreibung .
Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks noch ver-
missen läßt.
jedenfalls zeigt diese Arbeit große Kenntnisse
der weitverzweigten Zusammenbänge der gra-
phischen Künste jener Zeit.
Es ist anzuerkennen, daß weniger bekannte
Holsschnitte und Kupferstiche in Abbildungen bei-
gegeben wurden, die das Studium des Buches er-
leichtern. Sascha Schwabacher.
AUGUST STOER, DeutscheFayencen
und deutsches Steingut. Mit 265 Ab-
bildungen (Bibliothek für Kunst- und Anti-
quitätensammler, Bd. 20). Verlag Richard
Carl Schmidt & Co., Berlin W. 62.
Der Verf., der am 3. Juni 1920 einem schweren
Leiden erlegen ist, hat das Erscheinen dieses
Buches nicht mehr erlebt. Daß er einer der
besten Kenner seines Spesialgebietes war und
vieles von dem, was in diesem Buch sum ersten
Male systematisch susammengestellt und in einen
großen Rahmen eingespannt ist, eretmalig im
„Cicerone“ als Ergebnis seiner Forschungen mit-
getellt hat, ist den Lesern dieser Zeitschrift be-
kannt. Stoehr gehörte seinem gansen Wesen
nach zu jenen stillen, aber unsagbar fruchtbaren
Forschern, die innere Neigung sum Beruf ge-
trieben. Er war der eigentliche Schöpfer des
fränkischen Luitpoldmuseums in Würzburg, das
als eine der besten deutschen Provinzialsamm-
kungen nach Aufbau und Inhalt die eigentliche
Schöpfung dieses Mannes ist, dem Beschel-
denheit bel Lebzeiten verwehrte, ausgreifend in
die Breite zu wirken, der aber auf seinem enge-
ren heimatlichen Gebiet ein vorbildlicher Orga-
nisator gewesen ist. So darf man einem gütigen
Schicksal danken, daß er wenigstens dies Ver-
mächtnis auf dem spesiellen Gebiet seiner For-
echungen und Neigungen als Sammler noch der
Nachwelt hinterlassen konnte. Das Buch selbst
wird in der Tat einem seit langem vorhandenen
Bedürfnis nach einem zuverlässigen Führer durch
das fast unerschöpfliche Gebiet der deutschen
Fayencen und des deutschen Steinguts erstmalig
gerecht. Andere Forscher werden mit der Zeit
vielleicht noch weiter vorstoßen, denn der Prozeß
der Funde und Entdeckungen ist immer noch im
Fluß. Aber die Art, wie Stoehr sein Material
gesammelt, disponiert und ausgewertet bat, bleibt
trotsdem vorbildlich und das Handbuch als solches
. wird deshalb immer seine überragende Bedeutung
für die Wissenschaft behalten. Außer den deut-
schen Manufakturen, die nach der geographischen
Lage in eine süddeutsche, eine mitteldeutsche und
eine norddeutsche Gruppe aufgeteilt sind, werden
die Schweiz mit der Fayencefabrik zu Zürich, und
Deutsch- Österreich (Salzburg und Gmunden) in
besonderen Kapiteln des Jetsten Teiles wenigstens
іа großen Zügen behandelt. Ein Schlußkapitel,
das sich spesiell an den Sammler wendet, faßt
die praktischen Erfahrungen des Facbmannes zu-
sammen und handelt vom Ausbessern und von
„billigen“ Fayencen, d. h. Jener bösen, susammen-
geleimten Trödlerware, deren Wert dem der Fal-
sifikate in nichts nachsteht. Was aber auf diesen
nabezu sechshundert Seiten an Wissen und Er-
gebnissen im einzelnen ausgebreitet wird, das zu
ermessen, lehrt erst die praktische Handhabe
dieses Buches. Auch die zahlreichen Hinweise
auf die literarischen Quellen sind dankbar zu be-
grüßen. Dagegen wird man das Fehlen von
Markentafein als das einzige schmeizliche Manko
dieses Werkes ansprechen, das sonst der wich-
tigste Eckpfeiler an einem Gebäude ist, das dank
der unermüdlichen Forschung aller Beteiligten
heute schon bis zum Dachgesims gediehen sein
dürfte. Georg Biermann.
R. PAGENSTECHER, Nekropolis.
Untersuchungen über Gestalt und Ent-
wicklung der alexandrinischenGrabanlagen
und ihrer Malereien. Veröffentl. im Auf-
trage von Ernst v. Sieglin. Leipzig, Gie-
secke & Devrient 1919. 4°, X, 216,
broschiert M. 45.—.
Alexandria bietet ein besonders sprechendes Bọi-
spiel für die Pendelbewegung der kunstgeschicht-
lichen Forschung, das Hin und Her zwischen
Unterschätzung und Überschätzung, bis mit der
wiederkehrenden Rube allmäblich die rechte Mittel-
linie gefunden wird. Lange Zeit fast unerwähnt,
blieb es auch nach der Entdeckung der hellenistischen
Kunst in Pergamon noch im Schatten, bis dann
durch ein fast instinktiv wirkendes Gesetz der
Reaktion auch die alte Rivalin von Pergamon
ihre Wiedererstehung in der Forschung feierte —
Ende der achtziger Jahre — und in Theodor
ıSchreiber ihren beredtesten Verteidiger fand. In
frischer Entdeckerfreude sonderte Schreiber aus
dem Kunstgut, das bis dahin meist für römisch
. gegolten hatte, bestimmte Gruppen für die alezan-
drinische Kunst aus und übereignete ihr alimäh-
lich soviel, daß die römische Kunst zuletzt mehr
ein Anhängsel der alexandrinischen schien, neben
deren Einfluß der griechische oder kicinasiatische
nur unbetrichtlich sein konnte. Der Nimbus
‚ Alexandriens wuchs noch durch die Arbeiten sei-
ner Nachfolger und als die Bewegung auf die
christliche Archäologie übergriff und hier zeitweise
fast den Charakter des Panalexandrinismus gewann.
Allein schon die von anderen erkannte Notwen-
151
digkeit auch Syrien und Antiochia eine Einfluß-
ephäre auf die römische Kunst zu sichern, begann
da Abbruch zu tun. Dazu brachten die unter
Schreibers Leitung von der Sieglin-Expedition un-
ternommenen Ausgrabungen eine große Ernüch-
terung. Zwar Schreiber selbst war zu sehr mit
seinen Anschauungen verwachsen, als daß er noch
tiefergehende Korrekturen bitte vornehmen können,
aber sein Nachfolger in der Bearbeitung der Er-
gebnisse der Sieglin-Expedition, R. Pagenstecher,
sieht sachlich und leidenschaftslos die Folgerungen,
die sich aus ihrer unvoreingenommenen Betrach-
tung in Zusammenhalt mit den Ergebnissen aller
bisher erfolgten Grabungen aufdrängen. Zunächst
geschieht das für das Teilgebiet der Bestattungs-
anlagen, aber aus der antiken Anschauung heraus,
daß die Ruhestätte des Toten, seine ewige Woh-
nung, so weit als möglich das Abbild der Woh-
nung des Lebenden darstellen soll, fällt vielseitig
klärendes Licht auf wichtigste Fragen der helle-
nistischen und römischen Kunstgeschichte.
P. betrachtet zunächst die Form der Grabdenk-
mäler und findet, daß die helladischen Formen
weitaus überwiegen; wenig belangreich ist der
Beitrag Kleinasiens und Byrophönisiens, während
sich der Einfluß des einheimischen Ägypten in
der Verwendung des Zinkenaltars, des Obelisken,
der Pyramide und des ägyptisierenden Naiskos
äußert. Die Pyramide ist durchaus nicht biufig,
im Westen tritt sie ebenso wie der Obelisk erst
seit der frühen Kaiserzeit auf, woraus P. schließt,
daß erst die römische Provinz Ägypten stärker
auf den Westen wirkt — direkt wenigstens, denn
der indirekte Einfluß, vermittelt durch Phönizien,
dauert schon lange, beschränkt sich aber auf das
phönizisch-punische Gebiet und hat bier ein stär-
ker äpytisierendes Gepräge als im ägyptischen
Hellenismus selbst. Auf dem Gebiete der Kera-
mik, also der kunstgewerblichen Industrie bietet
sich ein etwas anderes Bild: Zunächst überwiegt
— wie in der Plastik — der attische Einfluß»
dann macht sich Unteritalien stark geltend und
erst nachdem die Industrie der Großstadt erstarkt
ist, übt sie ihre Rückwirkung auf Unteritalien aus.
Die eigenartigste und häufigste Gruppe der
Denkmäler bilden die bemalten Grabstelen, die
größtenteils als Grabverschlüsse dienen und eher
für unterirdische Verwendung als für freie Auf-
stellung berechnet scheinen, weil die Farben unter
der ägyptischen Sonne bald ausbleichen müssen.
Sie sind aber keine alexandrinische Besonderheit,
sondern die Bemalung tritt überallauf, wo schlechtes»
löcheriges Steinmaterial eine Veredelung durch
Stuck und Malerei erforderlich macht. Bin guter
152
Teil dieser Stelen ist für Söldner oder deren An-
gehörige geschaffen und es könnte wohl sein, wie
Р. vermutet, daß der Typus der Grabespose des
Soldaten in Alezandria geschaffen worden ist.
Wichtiger ist eine Beobachtung, die er im glei-
chen Zusammenhang mecht, daß nämlich die Fi-
guren auf pompejanischen Wandgemälden mit
den auffallend hageren und schlanken Proportio-
nen, die Rodenwaldt früher einmal für typisch
römisch ansah — er hat diese Ansicht inzwischen
aufgegeben — wahrscheinlich auf Alezandria zu-
rückgeführt werden müssen. Daraus würden sich
wichtige Konsequenzen ergeben, Die Stellen, die
swischen 333 und зоо zu datieren sind und eher
eine absteigende Entwicklung verraten, zeigen
einen auffallend bohen leeren Sockelstreifen, offen-
dar deshalb, damit bei einer hoben Aufstellung
die auf der vertieften Naiskosrückwand ange-
brachten Figuren nicht sum Teil verdeckt werden.
Perspektivische Vertiefung des Raumes findet sich
nur bei der Helixostele, über die Р. schon in den
Alezandrinischen Studien, Heidelberger Sitsungsbb.
1917, gehandelt hat: sie spiegelt wohl den Ein-
Auß des alezandrinischen Malers Antiphilos wieder,
der nach antiker Überlieferung die Darstellung
des Innenraumes mit Erfolg versucht hat. Eine
andere Form des Grabverschlusses bildet die
Scheintür, welche möglicherweise von Makedonien
(oder Kleinasien) aus eingebürgert wurde. Daß
das vorkommende Schuppenmuster in den zwei
oberen Türfeldern durchbrochene Gitterung wie-
dergeben soll, steht für mich außer Zweifel; denn
die aufeinander gesetzten Halbbogen finden sich
als Motiv s. B. für durchbrochene Steinschranken
von der Kaiserzeit bis tief in die byzantinische
Zeit.
Der zweite und unter manchen Gesichtspunkten
noch wichtigere Teil der Untersuchungen befaßt
sich mit den hellenischen und römischen Grab-
anlagen Alexandriens, die Wandmalerelen auf-
weisen: er will die relative und absolute Chrono-
logie der Grabanlagen und ihrer Dekoration auf-
stellen und daraus die Folgerungen ziehen für
die Bemalung der Häuser der Lebenden in den
entsprechenden Zeiträumen, Da sind nun zwei
wichtige Grundtypen zu unterscheiden: das olxor-
oderKammer-Grab, das aus Makedonien nach Ägyp-
tenkommt und stets ausgemalt ist, und das Peristyl-
Grab, das dem Typus des ägyptisch- orientalischen
Privathauses folgen soll und nie ausgemalt ist;
beide treten von Anfang an in Alexandria auf.
Das aristokratische makedonische Kammergrab be-
schränkt sich auf die ersten Jahrzehnte, nachher
geht es unter oder wird bis sur Unkenntlichkeit
entstellt. Das Muster für das Peristyl-Grab bil-
det die Katakombe von Мех. Ibre Bebandlung
führt zu einer Untersuchung über das alexandri-
nische Wohnhaus jener Zeit. Seine Bestandteile
sind: eicodos, napadpouis, Querhalle, сї90‹оу, olxos
und Nebenräume. Wenn P. dabei eine Identifi-
sierung von аї90гоу und atrium durchaus ablebnt,
so hat er wohl recht für die ältere Zeit; eine
solche Gleichsetzung ist aber spätestens im Laufe
des II. Jahrhunderts п. Chr. erfolgt und dre
ist damals sogar als Lebnwort in den griechischen
Osten gekommen und vertritt didg:ov; denn nicht
anders ist es zu deuten, wenn eine Inschrift von
Lagina (Bull. corr. béll, XI, 165) rd drosior тод
dyw yvuvaciov nennt. Das Grab von Schatby
stellt eine offenbare Mischung aus den beiden
Grundtypen dar; in seinen ältesten Teilen auf die
Zeit um 330 zurückgehend, erfährt es um 280
und 230 Erweiterungen. Es reihen sich zeitlich
an die Gräber von Sidi Gaber und Suk el War-
dian, dann die verschiedenen Stufen der Anfuschi-
bucht. Die Katakombe von Mex, mit die groß-
artigste Anlage, stammt etwa aus dem letzten
vorchristlichen Jahrhundert und bildet den Über-
gang zu den Katakombenanlsgen der Kaiserzeit,
von denen Kom-esch-schukafa aus dem т. u. 3,
Jahrhundert п. Chr. das meiste Interesse bean-
eprucht.
In seinem IV. Kapitel behandelt P. die alexan-
drinische Wandmalerei. Für die noch vorhelleni-
stische Zonendekoration bietet Sidi Gaber ein Bei-
spiel. Dann tritt in Suk el Wardian gleichzeitig
mit südrussischen Gräbern und dem Dromos von
Pydna um ago der erste Stil in Erscheinung: die
Imitation der Quaderwand in Stuck und Malerei,
wohl auch hier veranlaßt durch die schlechte Be-
schaffenheit der Hypogäenwand, tritt wabrschein-
lich zuerst in Alexandria auf, wiewohl auch Delos,
Priene, Pergamon Beispiele aufweisen können, die
bis ins 3. Jahrhundert binaufreichen. Auf den ersten
oder Inkrustationsstil folgen ägyptisierende Male-
reien, dann figürliche Malereien griechischen Stils.
Fragmente von Wandmalereien, die im sogen.
Isium gefunden und Abbildung 113—117 zuerst
veröffentlicht sind, bilden die einzigen Beweis-
sticke für das Vorkommen des 2.— 4. Stiles, die
sich überhaupt im Osten finden. Diese Malereien,
die wohl ins II. Jahrhundert n. Chr. gehören, er-
wecken durchaus nicht den Eindruck der Boden-
ständigkeit, sondern den Eindruck der Übertra-
gung von außen; deshalb erscheinen die „pompe-
janischen“ Stile hier mit- und nebeneinander іп
einer späten Zeit, während sie sich im Westen
nach angemessenen Zeiträumen ablösen. Daraus
ergibt sich für P. der Schluß, daß der 2.— 4. Stil
nicht in Alexandria und überhaupt nicht im Osten
entstanden sind, sondern im Westen in konse-
quenter Fortbildung aus dem ersten Stil entwickelt
wurden. Die einleuchtende Begründung hierfür
hat er in den schon erwähnten alexandrinischen
Studien ausführlich gegeben. Der Osten erlebt
nur eine neue Auflage des ersten Inkrustations-
stiles, lehnt dagegen die perspektivische Auflé-
sung der Wand im allgemeinen ab. Die Wand-
malereien des Isiums bilden daher einen der zahl-
reichen Fälle der Rückwirkung römischer Kunst
auf den Osten.
Die große Bedeutung des Buches, das eine
würdige Widmung des Verf. und Ernst von Sieg-
lins zum soojährigen Jubiläum der Universität
Rostock darstellt, liegt einerseits darin, daß es die
Einflüsse, welche für das Werden der alexandri-
nischen Kunst von Bedeutung waren, klarer stellt,
andererseits ihre Weiterwirkung schärfer umgrenzt
und die über Gebühr geschätzte Einwirkung auf
die römische Kunst wenigstens zu einem Teile auf
das richtige Maß zurückführt. Wer künftig die
„pompejanischen“ Stile auf Alexandria zurück-
führen will, wird sich zumindest nach neuen
und besseren Gründen umsehen müssen,
Edmund Weigand.
OTTORYDBECK, Den äldsta kristna
Konsten i Skone. Lund och Dalby.
Lund 1920 (2. Veröffentlichung des Ver-
eins Alt-Lund). 34 S. 4°. mit 22 Abb.
Dr. Otto Rydbeck, Professor für Vorgeschichte
und mittelalterliche Archäologie an der Hochschule
su Lund, hat sich seit langer Zeit um die Er-
forschung der Schonischen Altertümer besonders
verdient gemacht. Es ist eine Freude, zu sehen,
wie ein Kreis von trefflichen Forschern, um den
Ort der Hochschule Südschwedens geschart, über
den in kunstwissenschaftlicher Hinsicht bedeut-
samsten Bezirk Skandinaviens Licht zu gewinnen
und zu verbreiten geschäftig ist. Von Rybecks
Werke über den Lunder Dom haben wir in den
Monatsheften 1916 8.384 gehandelt. In der vor-
liegenden Schrift beschäftigt er sich mit den dor-
tigen Anfängen der christlichen Kunst und gibt
über die Dome zu Lund und Dalby neue Kunde,
Das Christentum bat hier im 10 Jahrhundert Aus-
breitung gefunden. Adam von Bremen, etwa 1070,
konnte mitteilen, daß es hier 300 Kirchen gab.
Schonen wsr um diese Zeit (1060) vom Bistum
Rotschild (Seeland), zu dem es zuerst gebört hatte,
getrennt worden, und in dem weiten Besirk walteten
353
zugleich zwei Bischöfe, zu Lund und Dalby. Dalby
Hegt nur eine Meile von Lund und ging als Bi-
schofssitz sehr schnell wieder ein.
Die Kunde von der großen und starken Ver-
breitung des Christentums in der frühen Zeit be-
ruhte zunächst nur auf jener der Anzweiflung aus-
gesetzten Nachricht des bremischen Priesters. Aber
wir gewinnen bestätigende und ergänzende Kunde
aus einer großen Anzahl von Runensteinen, ihren
Zeichen und Inschriften christlicher Bedeutung. Es
gibt deren in Schonen ein halb Hundert, und zum
Teil sind sie von recht kunstvoller Ausführung.
Die ersten Bauwerke selbst sind längst vergangen-
Es besteht genügender Grund für die Annahme,
daß man zuerst nur oder fast nur Holzbauten auf-
geführt babe. Von einem solchen Bau, der sich
in der Technik mit aufrechtstebenden Eichenplanken
an die Art der berühmten englischen Kirche zu
Grcenstead anschließt, hat man zu Lund tief unten
im Boden genügende Reste gefunden. Die ersten
Kirchenbauten unterschieden sich, wie man an-
nimmt, von den profanen heidnischen Bauwerken
nicht wesentlich; doch hat diese Holzkirche zu
Lund den für westländische Kirchen maßgeben-
den Grundriß befolgt. Sie hatte einen fast qua-
dratischen Chor, lang 7, breit 8m und ein recht-
eckiges Schiff von 9 m Breite, Dieses Schiff scheint
sehr schmale Seitenschiffe gehabt zu haben. Darin
liegt ein Zuwachs zu einer Reihe anderer Beob-
achtungen, aus denen man die Überzeugung ge-
winnt, daß die Einschiffigkeit, welche vom 13. Jabr-
hundert an das Wesen der dänischen kirchlichen
Baukunst geradezu bestimmt bat, anfänglich nicht
Regel war. Über jene Reste des Holsbaues ist zu
Lund später eine steinerne Kirche, die Marien-
kirche, erbaut worden, die man dem Anfang des
12. Jahrhunderts zuzuschreiben bat, und von der
ebenfalls nur Grundmauern ermittelt sind. Man
scheint іп dem holzreichen Lande erst im 13. Jahr-
hundert allgemein zur Einführung des Steinbaues
für die Kirchen übergegangen zu sein,
Im zweiten Teil beschäftigt sich die Abhandlung
mit den Domen zu Dalby und Lund und kann
uns die wichtigen Ergebnisse neuer eingehender
Untersuchungen mitteilen. Von dem ersten Bau
su Dalby, 1060 angelegt, ist in der jetzigen jämmer-
lich verstümmelten Kirche ein nicht unerbeblicher
Teil erhalten. Es war eine flachgedeckte drei-
schiffge Basilika ohne Querhaus, der Chor stumpf
geschlossen. Die Pfeiler waren stark, von qua-
dratischem Querschnitt. Im Anfang des 13, Jahr-
bunderts ist ein Westbau angefügt worden, nicht
ohne Beeinträchtigung des westlichen Endes. Dieser
Westbau hat aus zwei Türmen bestanden, da-
154
zwischen einem starken und großen, weit vor-
tretenden Zwischenbause. Das Zwischenhaus ist
heute allein erbalten und hat sonst für den älte-
sten Teil des Ganzen gegolten. Der quadratische
Raum, den man als Krypta zu bezeichnen sich
gewöhnt hat, ist gewölbt über vier Stützen. Nach
Beobachtung namentlich der Steinmetzzeichen be-
gründet sich die Annahme, daß die Arbeiter von
bier nach Lund gegangen sind und dort beim
Dombau weiter geholfen haben. Auch dieser war
1060 begonnen, ist aber im wesentlichen zunächst
ale ein Werk des Könige Knute des Heiligen
(1080--86) anzuerkennen, und davon steht ein
nicht unerheblicher Teil nech. Damit ist die alte
Überlieferung wieder zu Ehren gebracht, die in
ihm den Gründer des Domes verehrt. Bei den
Bemühungen, das Erzbistum des Nordens für Lund
zu gewinnen, ist sogleich nach dem Jahre 1100
der Ostteil für einen erzbischöflichen Dom allzu
bescheiden erschienen; er ward abgerissen und
der beutige Chor erbaut. Bei der Einweihung im
Jahre 1145 war der Dom, dessen Schiff inzwischen
ebenfalls vollendet worden war, im wesentlichen
fertig, mit Ausnahme des Turmteiles.
Der Schluß der Abbandlung gibt noch dankens-
werte Zusammenstellungen von Nachrichten über
andere Bauwerke und künstlerische Leistungen
des 13. Jahrhunderts und über die Künstler, deren
Namen sich haben ermitteln lassen. Rich. Haupt.
OTTO PELKA, Elfenbein. (Bibliothek
für Kunst- u. Antiquitätensammiler, Bd. 17.)
Mit Abb. im Texte. Verlag von Richard
Carl Schmidt & Co., Berlin 1920.
Das Buch ist fir den Kreis der Öffentlichen oder
privaten Sammler und der Kunsthändler bestimmt.
Es kann verlangen danach beurteilt zu werden,
ob es berechtigte Ansprüche, die dementsprechend
an ein Vademecum durch ein Kunstgebiet gestellt
werden können, zu befriedigen geeignet ist oder
nicht. Es kann auch fordern, daß das Urteil sich
nicht durch die Robeit einer Kunstauffassung be-
einflussen läßt, der die Skizzierung einer Ent-
wicklung für möglich erscheint, wo doch nur das
materielle Subatrat das gleiche bleibt, die anderer-
seits alles unberücksichtigt läßt, was diesem natur-
geschichtlich nicht identisch ist, mag das Artefakt
auch noch so sehr in den gleichen Zusammenhang
gebören. Denn es kommt nur darauf an, wessen
benötigen die, deren Interessen das B.ch gewid-
met ist. Mir scheint zweierlei, wenn ihnen er-
möglicht werden soll eine ihnen unterbreitete
Elfenbeinplastik auf Echtheit, Zeit, Kunstkreis und
— ee Oe —
Künstler zu bestimmen (dies ist es doch, was sie
wollen und müssen): es muß ihnen vorgeführt
werden, was nur irgend an charakteristischen
Stücken aller Perioden und Länder bekannt ist,
und sie müssen sich über die Namen oder Signa-
turen aller durch Werke oder (bisher nur) durch
literarische Erwähnungen bezeugten Künstler unter-
richten können. Daß beides in wissenschaftlich
einwandfreier Art unterstützt durch gute Abbil-
dungen geschieht, setze ich als selbstverständlich
voraus, |
Die erste Enttäuschung: die Abbildungen sind
zum esheblichen Teil so schlecht ausgeführt, daß
wenig Rühmens von ihnen zu machen ist. Kriegs-
verhältnisse sollten keine Entschuldigung mehr
bieten können oder nur noch in einem Binne:
denn besser als schlechte Abbildungen, die nie-
manden etwas lehren können und nur dem Käufer
etwas vortäuschen und den Preis erhöben, ist es
keine zu geben. Muß denn das Charakteristikum
„teuer und schlecht“ unbedingt auch das geistiger
Erzeugnisse werden?
Eigenartig ist aber auch die Auswahl der Ab-
bildungen. Gleich das dem Altertum gewidmete
Kapitel s. B. bringt nicht eine Abbildung, wäh-
rend Vorder- und Riickendeckel des Etschmiadzin-
Evangeliars geseigt werden. Es ist nicht ein
byzantinisches Elfenbein des Stiles aufgenommen,
den beispielsweise der „Einkug in Jerusalem“ im
Berliner Kaiser Friedrich-Museum gut vertritt und
ohne dessen Kenntnis ein Verständnis der so-
genannten fränkischen des 11. Jahrhunderts nicht
möglich ist, während die durchaus hypotbetische
„Reichenauer“ Gruppe mit vier Beispielen vor-
geführt wird, won denen sogar zwei der Ante-
pendiumfolge entnommen sind. Im Abschnitt der
romanischen Elfenbeine drei Krummen von Bischofs-
stäben, sber kein Kamm oder ein spanisches Er-
seugnis. Nimmt man noch etwa hinzu, daß das
16 Jahrhundert durch ganze zwei Werke (der
sitzenden Madonna des Louvre um 1500 und dem
Messer der Diana von Poitiers!) vertreten ist,
Elhafen aber durch sieben, von denen Scherer
auch swei brachte, dann wird wohl deutlich wer-
den, was ich meine,
Im gleichen unproportionierten Verbältnis wer-
den aber auch im Text die einzelnen Perioden
bebandelt: 46 der karolingischen Zeit gewidmeten
Seiten steben keine ЗО für die ottonischen und
romanischen Erzeugnisse gegenüber, nochmals
46 für die Sranzösisch-gotischen 3 für die deutsch-
gotischen, 8 für die Kunstdrechslerei 6 für die
Renaissance,
Der Grund liegt in ungenügender Kenntnis des
Materials und der Literatur, soweit sie nicht leicht
zugänglich gemacht sind, Pelka hätte gerade da-
nach trachten sollen, die Lücken im allgemeinen
Wissen auszufüllen, die bisher besteben. Aller-
dings hätte er dazu selber Stilkritik üben müssen,
um beispielsweise im Elfenbeinkabinett des Münch-
ner Nationalmuseums die Plastiken berauszufinden,
die etwa im 16. Jahrhundert entstanden sind, er
müßte den Bestand der Museen und des Handels
besser überblicken als er es tut — und er hätte
mehr Literatur beranziehen und sie besser be-
nutzen müssen als er getan. Sollte es wirklich
zuviel verlangt sein zu fordern, daß men etwa die
Mitteilungen des Altertumsvereines zu Wien oder
die Monatsschrift des Historischen Vereins von
Oberbayern durchsieht, so sollten im Literatur-
verzeichnis doch nicht die Kataloge der Elfenbein-
sammlungen des Vatikanischen und des Brüsseler
Museums fehlen.
Ich kann und will bier nicht alle Ergänzungen
und Berichtigungen geben, die mir nötig erschie-
nen, damit das Buch die gegenwärtig möglichen
Kenntnisse vermittelte: es erschiene mir das bei
seiner m. E. völlig verfehlten Anlage ein über-
flüssiges Unterfangen. Was ich anführe, soll nur
mein ablebnendes Urteil begründen. Wenn Pelka
den Kopf zu Vienne oder den Schauspieler der
Sammlung Le Roy kannte, warum hat er keinen
von beiden abgebildet und den Text nicht anders
gefaßt, wenn er schcn einmal archaische Kunst-
werke nicht berücksichtigen wollte? (Das „Alter
tum“ überschriebene Kapitel ist auch systematisch
dadurch noch besonders ärgerlich, daß die früh-
christlichen Elfenbeine in ihm nicht bebandelt
werden.) Über Balthasar Stockamer etwa bätte er
in der Arte XVI, 8. 451, über P. 8. Jaillot in der
Revue de l'art ancien et moderne XV, 8. 131
etwas finden können, was ihn sicher interessiert
hätte. Eine Durchsicht des Connoisseur wäre
der Einschätzung von Dieppe wohl zugute ge-
kommen usw. usw.
Die leicht zugängliche Literatur bat der Ver-
fasser herangezogen. Für die im Vorwort auch
in Anspruch genommene „eigene Beurteilung“
spricht es nicht gerade, wenn Pelka bei dem von
ihm selbst ala hypothetisch empfundenen Rekon-
struktionsversuche des Werkes von M. Rauch-
miller durch Scherer (warum das unpersönliche
„man“? Gebührte Scherer in diesem Buche nicht
ein Ehrenplatz?) sich dessen Beweismaterial so
wenig ansieht, daß auch ihm entgeht, daß der
„Raub der Dejanira" in München I. A. signiert ist.
Lobnt jetzt noch der Versuch zu ergründen,
warum Peika wohl keine Zeile und kein Bild den
155
doch wohl nicht ganz unwichtigen Eifenbeinen
des islamitischen Kunstkreises widmet? Ich würde
mich nicht wundern, wenn er sie bloß vergessen
hätte, Aber erwähnen will ich noch, daß er ein
Künstier- oder Signaturenverszeichnis ich möchte
sagen: natürlich nicht bringt, ihm ersebien es
nötiger, auch die Kenntnis in großen Zügen zu
vermitteln, was unter der Durchschnittslinie liegt;
nach den angeführten Proben der angewandten
Arbeitsweise kann ich aber nicht behaupten, daß
wir etwas dadurch verloren haben.
Das Positive soll auch zu Worte kommen. Es
wird vielen willkommen sein, überhaupt einmal
einen populären deutschen Führer durch das Ge-
156
biet der Elfenbeinschnitzkunst vor der Renaissance
zu finden. Wer die Forschungen der altchrist-
lichen Kunstgeschichte, Goldschmidts und Koech-
lins nicht kennt, wird manche Überraschung er-
leben; ibm sei aber auch gesagt, daß nicht alles
so fest gegründet ist, wie es sich ausgibt. Für
die spätere Zeit ist Scherers „Elfenbeinplastik“
trots gelegentlicher Ergänzungen durchaus nicht
erreicht, geschweige denn überholt. Pelka hat
sie nicht einmal inhaltlich so ausgeschöpft, wie
es erforderlich gewesen wäre. Und dieses Oben-
hinarbeiten ist es eben gerade, was das Buch zu
soich betrüblichem Machwerke stempelt.
R. Berliner
NEUE BÜCHER ннн
THEODOR HETZER: Die frühen Ge-
mälde des Tizian. Eine stilkritische
Untersuchung. Mit 30 Tafeln. (Verlag Benno
Schwalbe & Co., Basel 19320.)
Prof. Dr. WILH. MOLSDOREF: Führer
durch den symbolischen und typo-
logischen Bilderkreis der christlichen
Kunst des Mittelalters. Mit neun Tafeln.
(Verlag von Kerl W. Hiersemann, Leipzig 1920.)
HERMAN NOHL: Stil und Welt-
anschauung.(Verl,EugenDiederichs,Jenar920.)
ERNST BERGMANN: Das Leben und
die Wunder Johann Winkelmanns.
(C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck,
München 1930.)
F. H. EHMCKE: Otto Speckter. Eine
Auswahl der schönsten Illustrationen des
Künstlers. (Furche-Verlag, Berlin.)
PAUL FERDINAND SCHMIDT: Joseph
von Führichs religiöse Kunst. Mit
20 Bildtafeln. (Furche-Verlag, Berlin.)
Prof. LEOPOLD OELENHEINZ-Coburg:
Der Wünschelring (Differenzpendel,
siderischer Pendel), insbesondere seine
Anwendung auf die Meisterbestimmung
bei Gemälden usw. (Verlag Max Altmann,
Leipzig 1930.)
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Abhandlungen zurLandeskunde der
Provinz Westpreußen, hrsg. von der
Provinzial- Kommission zur Verwaltung
des westpreußischen Provinzial-Museums.
Heft 13: Ostdeutsche Tafelmalerei in der letzten
Hälfte des 14. und dem ersten Drittel des 13. Jahr-
hunderts. (Verlag des Provinzial-Verbandes von
Westpreußen, Kommissions- Verlag von A. W. Kafe-
mann, G. m. b. H., Danzig.)
FRITZ LUGT: Rembrandt in Amster-
dam. Die Darstellungen Rembrandts vom
Amsterdamer Stadtbilde und von der un-
mittelbaren landschaftlichen Umgebung
mit einem Zusatz über einige in Utrecht-
Gelderland entstand. Zeichnungen. Deutsch
von Erich Hancke. (Verlag Bruno Cassirer,
Berlin 1920.)
Prof. MAX DVORAK: Jahrbuch des
kunsthistor. Institutes (Deutsch-öster-
reichisches Staatsdenkmalamt), Bd. XIL
1918. Mit 1 Tafel und 124 Abbildungen.
(Kunstverlag Anton Schroll & Co., G. m. b. H.,
Wien 1918.)
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relief des Spalatiner Vorgebdirges.
E. Tietze-Conrat: Beiträge zur Geschichte der ita-
lienischen Spätrenaissance und Barockakulptur.
Rudolf Guby: Die Stiftskirchen zu Wilhering und
Engelssell.
Beiblatt:
Josef Garber: Ein „Restaurierungsplan“ aus dem
Jahre 1532.
F. Wilhelm: Materialien zur Kunstbeförderung
durch Fürst Gundacker von Liechtenstein,
Richard Kurt Donin: Neu aufgedeckte romanische
Baureste an der ehemaligen Dominikanerkirche
in Krems.
Arno Eilenstein: Der Kupferstecher P. Koloman
Feiner.
FRIEDR. MARKUS HUEBNER: Euro-
pas neue Kunst und Dichtung. (Ernst
Rowohlt Verlag, Berlin 1920.)
EMIL ENGELHARDT: Rabindranath
Tagore als Mensch, Dichter u. Phi-
losoph. (Furche-Verlag, Berlin 1931.)
AUG. STOEHR: Deutsche Fayenzen
und deutsches Steingut. Ein Hand-
buch für Sammler und Liebhaber. Mit
265 Abbild. (Verlag Rich. Carl Schmidt & Co.,
Berlin.)
OTTOMARWART:Jacob Burckhardt.
Persönlichkeit u. Jugendjahre. (Verlag Benno
Schwabe & Co., Basel 1920.)
HANS GRABER: Piero ‘della Fran-
cesca. Achtzig Tafeln mit einführ. Text
(Verlag Benno Schwabe &Co., Basel 1920.) Geb.
M. 400.—.
LOVIS CORINTH: Gesammelte
Schriften. Malerbiicher Band L (Frits
Gurlitt-Verlag, Berlin 1920.)
OTTO HIRSCHMANN: Verzeichnis
des graphischen Werks von Hen-
drick Goltzius (1558—1617). Geheftet
M. 70.—, gebunden M. 76.—. (Veriag von
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1920.)
157
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plare mit signierter Originalradierung von
Max Beckmann. In Halblederbd. M. 5:0.—.
(Verlag von Klinkhardt & Biermann, Leipzig.)
J. MEIER GRAEFE, Ganymed. Blätter
der Магёез- Gesellschaft. II. Band. 1920.
(Verlag R. Piper & Co., München.)
LUDWIG JUSTI, Deutsche Malkunst
im 19. Jahrhundert. Ein Führer durch
die Nationalgalerie. Mit 100 Abbildungen.
(Verlag Julius Bard, Berlin 1921.)
PETER JESSEN, Der Ornamentstich.
Geschichte der Vorlagen des Kunsthand-
werks seit dem Mittelalter. (Verlag für
Kunstwissenschaft, О. m. b. H., Berlin 1920.)
OTTO GRAUTOFF, Die französische
Malerei seit 1914. (Mauritius - Verlag,
Berlin 1931.)
JAMES ROUSSEAU, Die Portierfrau.
Illustrationen von Daumier. (Mauritius-Verlag,
Berlin 1921.)
JAMES ROUSSEAU, Robert Macaire.
Der unsterliche Betrüger. Illustr.
von Daumier. (Mauritius-Verlag, Berlin 1921.)
GUSTAV GLÜCK, Rubens Ildefonse-
Altar. (Meisterwerke in Wien.) Mit sieben
Abbildungen. (Verlag Julius Bard, Wien 1921.)
JULIUS SCHLOSSER, DasSalzfaß des
Benvenuto Cellini. (Meisterwerke in
Wien.) Mit vier Abbildgn. (Verlag Julius
Bard, Wien 1921.)
LUDWIG BALDASS, Holbeins Bild-
nisseim KunsthistorischenMuseum,
(Meisterwerke in Wien.) Mit acht Abb.
(Verlag Julius Bard, Wien 1921.)
HERM. LISMANN, Wege der Kunst.
Betrachtungen eines Mannes. (Verlag fir
praktische Kunstwissenschaft, F. Schmidt, Kom-
manditgesellschaft München, Berlin, Leipzig 1921.)
MAX J. FRIEDANDER, Die Radierung.
Mit 18 Abb. (Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1921.)
158
Dr. BERNHARD WISS, Erinnerungen
an Böcklin. (Nachgedruckte und un-
gedruckte Aufzeichnungen von Angels
und Carlo Böcklin, Gottfried Keller, Albert
Welti, Adolf Frey, Hans Thoma u. a.
(Im Rbein-Verlag, Basel 1 921.)
W.WAETZOLD, GedankenzurKunst-
schulreform.(Verl.Quelle&Meyer,Leipsig 1921)
STURMBILDERBUCHER IV. Kurt
Schwitters. (Verlag „Der Sturm“, Berlin.)
MAX DERI Die neue Malerei. Sechs
Vorträge. Mit 95 Abb, (Verlag von Е. A. Ses-
mann, Leipzig 1921.)
WILLIAM COHN, Indische Plastik.
Mit 161 Tafeln u. drei Textabbildungen.
Die Kunst des Ostens, Bd. II. Heraus-
gegeben von William Cohn.) (Verlag Bruno
Cassirer, Berlin 1921.)
HEDWIG FECHHEIMER,Kleinplastik
der Agypter. Mit 158 Abbild. (Kunst
des Ostens, Bd. Ш. Hrsg. von William
Cohn.) (Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1931.)
GREGOR KRAUSE, Bali. Erster Teil:
Land und Volk. Zweiter Teil: Tänze,
Tempel, Feste. (Schriftenreihe Geist, Kunst
und Leben Asiens. Hrsg. von Karl With.
Bd. II u. III Insel Bali.) (Folkwang-Verlag
G. m. b. H., Hagen i. Westf. 1920.)
WERNER WEISBACH, Der Barock
als Kunst der Gegenreformation.
(Verlag Paul Cassirer, Berlin 1921.)
HUGO ZEHDER, Wassily Kandinsky.
Unter autorisierter Benutzung der russi-
schen Selbstbiographie. Mit einem Farben-
druck. 8°, Netzätzungen und vier Strich-
ätzungen. (Künstler der Gegenwart, L Bd.
Hrsg. von Dr. Paul Ferdinand Schmidt.)
(Verlag Rudolf Kaemmerer, Dresden 1920.)
AUGUST L. MAYER, Alt-Spanien.
Mit 310 Abbildungen. (Architektur und
Kunstgewerbe, Band Ш.) (Deiphin-Verlag,
München 1921.)
Dr. FRANZ MARINI, Die Salzburger
Residenz. (Österreichische Kunstbücher,
Bd. 20.) (Verlag Ed, Hölzel, Wien.)
KLAUS RICHTER: Das Buch vom
Menschen und der geistigen Tech-
nik zu seiner künstlerischen Dar-
stellung. Ein anatomisches System von
philosophischer Begründung, mit 29 Bilder-
tafeln von der Hand des Verfassers. (Erich
Reiß-Verlag, Berlin.)
DIE KUNSTSAMMLUNGEN DER STADT
SALZBURG. Bearbeitet von Dr. Hans
Tietze. Redigiert von Prof. Max Dvofäk.
Mit 28 Tafeln, 421 Abbildungen im Text.
Band XVI der österr. Kunsttopographie.
(Kunstverlag Anton Schroll а Co., а. m. b. H.,
Wien 1919.)
WALTER H. DAMMANN: Die Welt
um Rembrandt. Geschichtliche Erzäh-
lungen aus dem großen Jahrhundert der
Niederlande. (Verlag von Quelle & Meyer in
Leipzig. 1920.)
JULIUS MEIER - GRAEFE: Courbet.
Mit acht Lichtdrucktafeln und 106 Netz-
ätzungen. (Verlag R. Piper & Co., München 1931.)
JOHANNES GUTHMANN: Scherz und
Laune. Max Slevogt und seine Gelegen-
heitsarbeiten. (Verlag Paul Cassirer, Berlin.)
HANS CORNELIUS: Kunstpädagogik.
Leitsätze für die Organisation u. künst-
lerische Erziehung. Mit 56 Zeichnungen
und 55 Abb. (Eugen Rentsch, Erlenbach-Zürich
und München 1920.)
MAX v. BOEHN: Moreau und Freu-
denberg, Trois Suites D’estampes. Pour
servir аА l’histoire des modes et du co-
stume des francais dans le dix-huitième
siècle. (Askanischer Verlag, Berlin 1920.)
МАХ v.BOEHN: England im 18.Jahr-
hundert. (Askanischer Verlag, Berlin 1922.)
PAUL FECHTER: Der Expressionis-
mus. Mit 50 Abbildungen. 5.—g. Tausd.
Verlag R. Piper & Co., München.)
PAUL GAUGUIN: Briefe an Georges-
Daniel de Monfreid. Mit einer Ein-
leitung von Viktor Segalen und 16 Abb-
(Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1920.)
LEO BALET: Dietz Edzard. Mit 31 Taf.
(Ernst Rowohlt-Verlag, Berlin 1920.)
HANS v. MAREES Briefe. Mit vier
Lichtdrucken nach Zeichnungen. (Verlag
R. Piper & Co., München 1920.)
FRANZ MARC: Briefe, Aufzeichnun-
gen und Aphorismen in zwei Bänden.
1920. (Verlegt bei Paul Cassirer, Berlin.)
OSKAR HAGEN: Deutsche Zeichner
von der Gotik bis zum Rokoko. Mit
110 Abb. (Verlag R. Piper & Co., München 191.)
KURT PFISTER: Herkules Segers.
Mit einer Auswahl seines Werkes in 23
zum Teil mehrfarb. Lichtdrucken. (Verlag
R. Piper & Co., München 1821.)
ORBIS-PICTUS-W eltkunst-Bticherei.
Herausgegeben von Paul Westheim.
Band a Dr. W. Tannina-Halle: Altrussische Kunst.
Band з. Waldemar Graf Uxkull-Gyllenband: Archai-
sche Plastik der Griechen.
Band 4. Alfred Salmony: Die chinesische Land-
schaftsmalerel,
(Sämtlich verlegt bei Ernst Wasmuth, A.-G., Berlin.)
HEINRICH ZILLE: Zwanglose Ge-
schichten und Bilder. Lithographien
von Н. Zille. Die neuen Bilderbücher.
2. Folge. (Fritz Gurlitt Verlag, Berlin.)
WILH. v. BODE: Die italienischen
Hausmöbel der Renaissance. Mit
134 Abbild., 2. Auflage. (Verlag Klinkhardt u.
Biermann, Leipzig 1920.)
JAHRBUCH DER JUNGEN KUNST 1920.
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& Biermann, Leipzig.)
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mus. Ein künstlerisches Formproblem
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mann, Leipzig.)
RICHARD GRAUL: Rembrandt, Bd. 1.
Die Radierungen, mit 292 Abbildungen
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Pachers Altar in St. Wolfgang am
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Band 14.) (Verlag Ed. Hölzel, Wien.)
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Lithographien zu Gedichten von Adolf
v. Hatzfeld. Mit einem Vorwort von Rene
Schickele und einer Einführung in der
Laurencin-Werk von André Salmen.
(VI. Mappe der Ausgabe der Galerie Flechtheim,
Düsseldorf 1930.)
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JULIUS SCHLOSSER, Denkwiirdig-
keiten des florentinischen Bild-
hauers Lorenzo Ghiberti. (Verlag
Julius Bard, Wien 1920.)
Dr. OSW. KUTSCHERA-WOBORSRY,
Die Wiener Hofburg. (Osterreichische
Kunstbticher, Bd. 5.) (Verlag Ed. Hölsel, Wien.)
Dr. LUDWIG BALDASS, Die Wiener
Gobelinsam mlung. (Osterreich. Kunst-
bücher, Bd. 8—9.) (Verlag Ed. Hölsel, Wien.)
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Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Hannover, Große Aegidienstraße 4.
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XV. JAHRGANG -BANDII- NOVEMBER 1921/22 .
VERLAG KLINKHARDT&SBIERMANN:LEIPZIG.
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Monatshefte für Kunstwissenschaft
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG
Preis des Bandes Mark 100.—
INHALTSVERZEICHNIS BAND II
ABHANDLUNGEN
HEINRICH GLÜCK-Wien, Das kunst-
geographische Bild Europas am Ende
des Mittelalters und die Grundlagen der
Renaissance. Mit 8 Abbild. auf 3 Tafeln
in Lichtdruck und einer Karte. S. 161
STEPHAN POGLAYEN-NEUWALL,
Ein heidnisches Elfenbeinrelief des
REZENSIONEN
Henrik Cornell, Sigtuna och Gamla Uppsala.
Ein Beitrag zur Kenntnis der engl.-schwedisch.
Beziehungen im m. Jahrh. (J. Strsygowski) 8. 269
Wilh. Lorensen, De Danske Dominikaner-
klostres Bygninghistorie (R. Haupt) . 8. 269
8. Flury, Islamische Schriftbänder (E. Kühnel)
S. 270
A.Schramm, DerBilderschmuck der Frühdrucke.
(Ernst УУей)............... 8. 271
Triestiner Museo Civico di Storia ed Julius v. Schlosser, Materialien zur Quellen-
Arte im Spiegel der spätantiken Kunst
Ägyptens. Mit 7Abb.auf 4 Tafeln S. 174
HEINRICH HÖHN, Graphische Blätter
des 15. Jahrh. aus der Stadtbibliothek
zu Windsheim in Franken. Mit 7 Abbild.
auf 3 Tafeln in Lichtdruck .. S. 181
ERWIN PANOFSKY, Die Entwicklung
der Proportionslehre als Abbild der
Stilentwicklung. Mit то Abbildungen
auf 2 Lichtdrucktafeln und то Ab-
bildungen im Text. S. 188
ERNST WEIL, Eine frühe Porträtzeich-
nung Dürers. Mit 2 mu auf
einer Lichtdrucktafel. ..... S. 220
ADOLF FEULNER, Johann Michael
Fischer, Ein bürgerlicher Baumeister
der Rokokozeit (1691—1766) . S. 223
HERMANN NASSE, Johann Mathias
Kager, der Stadtmaler von Augsburg
(geb. 1575, gest. 1634), als Zeichner. Mit
14 Abbild. auf 4 Taf.inLichtdruck S. 232
ECKART v. SYDOW, Karl Friedrich
Schinkel als Landschaftsmaler. Mit 8
Abbild. auf 3 Tafeln in Lichtdr. S. 239
WILH. JUNIUS. Die erzgebirgische
Künstlerfamilie Krodel. (Ein Beitrag
zur Geschichte der Cranachschule.)
Mit ro Abb. auf 5 Tafeln in Lichtdr. S.253
MISZELLEN
V. CURT HABICHT, Zur deutschen
Malerei um 1500. Mit einer Tafel in
Lichtdruck.........:..S. 262
KARL SIMON, Die erste Besprechung der
Cornelius-Zeichnungen z. Faust S. 266
kunde d. Kunstgeschichte (E. Steinmann) 8. 273
Karl With, Java, brahmanische, buddhistische
und eigeniebige Architektur und Plastik auf
Java (Н. Glück) )) 8. 274
Rembrandts sämtliche Radierungen in getreuen
Nachbildungen (Hans Friedeberger) . . 8. 276
Julius Baum, Baukunst u. dekorative Plastik der
Frührennaissance in Italien (Paul Zucker) S. 277
Hans Hildebrandt: Wandmalerei. Ihr Wesen
und ihre Gesetze (Paul F. Schmidt) . 8. 279
Woldemar v. Seidlitz: Die Kunst in Dresden
v. Mittelalter bis zur Neuzeit (W. Junius) S. 280
Kurt K.Eberlein, Deutsche Maler derRomantik.
(Paul F. Schmidt) EK 8. 282
M. Seliger, Kunstbetrachtung und Naturgenuß.
(Sascha Schwabacher) . 8. 283
Fritz Burger, 5 und
Lebenssysteme in der Kunst der Vergangen-
heit (Sascha Schwabacher) 8. 283
J. A. F. Orbaan, Documenti aul barocco in Roma.
(Ludwig Schudt) ............. 8. 283
Walter Curt Behrendt, Der Kampf um den
Stil im Kunstgewerbe und in der Architektur.
(J. Strzygowaki)............-4- S. 286
Bengt Thordeman, „Alsnö Hus“. Ein schwe-
discher Palast des Mittelalters in seinem kunst-
historisch. Zusammenhang (Strsygowaski) 8.286
Otto Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei
(H. Kuni ke 8. 287
Hans Graber, Piero della Francesca. Achtzig
Tafeln mit einführend. Text (O. Biermann) 5. 288
Paul Erich Küppers, Der Kubismus (Alfred
Kubn) )))) 8. 289
Vinzenz Seunig: Die kretisch-mykenische Kul-
tur (Aug. Köster S. 290
Otto Grautoff: Französische Malerei seit 1914
(Paul F.Schmidt)...........-. 8. 290
Albert Neuburger: Die Technik des Altertums
(Aug. Кбаег)............... 8. 291
Bibliotheca d’arte, diretta da Armando Ferri
e Mario Recchi (Ludwig Schudt) . . . 8. 291
Franz Marc: Briefe, Aufzeichnungen und Apho-
rismen (S. Schwabacher 8. 292
NEUE BÜCHER em. S. 294
DAS KUNSTGEOGRAPHISCHE
BILD EUROPAS AM ENDE DES MITTEL-
ALTERS UND DIE GRUNDLAGEN DER
RENAISSANCE Von HEINRICH GLÜCK-Wien
Mit acht Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck und einer Karte.
n meinem Buche „Der Breit- und Langhausbau in Syrien, auf kulturgeographi-
scher Grundlage bearbeitet“ !) habe ich einen ersten praktischen Versuch unter-
nommen, aus geographischen Gegebenheiten entwicklungsgeschichtliche Schlüsse
zu ziehen, wobei damals die Frage nach der Bedeutung der Materialgegebenheiten
für die Ausbildung lokaler Architekturstile im Vordergrunde stand?). Neben dieser
Bedeutung geographischer Betrachtung, die etwa als eine entwicklungsgeschicht-
liche Einstellung Semperscher Ideen genommen werden kann, lag es mir schon
in dem genannten Buche?) auch daran, jenen Gesetzmäßigkeiten nachzugehen, in
denen die Kunst als ein Produkt eines gesellschaftlichen Trägers über die rein
materiellen Gegebenheiten hinaus auch in formaler und inhaltlicher Beziehung
an die äußeren Bedingungen der Erdoberfläche gebunden ist.
Ohne daß ich aber schon diesmal auf das Methodische dieser Betrachtungs-
weise eingehe‘), sei nur soviel vorweggenommen, daß es sich in einer Richtung
darum handelt, das X aufzulösen, das seit Riegl als „Kunstwollen“ bequem alles
„Warum“ der Entwicklungsgeschichte beiseite schiebt und sich nur mit der Fest-
stellung des „Wie“ begnügt. Dies freilich nicht in der Art des öfter versuchten
Auswegs, der andere Kulturerscheinungen, wie Religion, Philosophie, Literatur usw.,
die doch im Gesamtbegriffe der Kultur nur koordinierte Teilbegriffe zur bildenden
Kunst darstellen, als Grund und Erklärung der Wandlungen in der bildenden Kunst
geltend machen will und damit ein für den Einzelnen kaum mögliches Eingehen
in Grenzwissenschaften fordert. Vielmehr soll es sich darum handeln, die bil-
dende Kunst selbst als Wesenheit sprechen zu lassen, diese Sprache aber auch
ebenso für die Frage nach den Zusammenhängen der Gesamtkultur fruchtbar
werden zu lassen, wie etwa dem Philologen die Sprache nicht nur als Werkzeug,
sondern auch als Gefäß des Geistes Entwicklungserkenntnisse gewährt. Das geo-
graphische Moment spielt dabei nur die Rolle eines methodischen Hilfsmittels, in-
(1) Beiheft 14 der Zeitschrift f. Gesch. d. Arch., C. Winter, Heidelberg 1916.
(2) In diesem Sinne wurde die methodische Bedeutung des geographischen Momentes für die Kunst-
wissenschaft von J. Strzygowski in einem Aufsatze über „Vergleichende Kunstforschung auf geo-
graphischer Grundlage“ (Mitt. d. Geogr. Gesellsch. In Wien, LXI, 1918, Nr. 1/2) nachdrücklichst betont,
und fand von naturwissenschaftlicher Seite durch Josef Ponten, „Anregungen zu kunstgeograpbischen
Studien“ (Peterm., Mitt. 1920, 8. 89 f.) prinzipielle Unterstützung mit dem Hinweis auf die Frucht-
barkeit derartiger Untersuchungen für den Einzelfall und den allgemeinen stilgeschichtlichen Zu-
sammenhang.
(3) Vgl. auch meinen in den Mitt. d. geograph. Gesellsch. in Wien, 1918, S. 467ff. im Auszuge wieder-
gegebenen Vortrag über „Natur und Kultur Konstantinopels“, in dem die einzelne Stadt als Beispiel
berangezogen wird, und mein Kapitel über „Die Natur des Landes als Voraussetzung seiner künst-
lerischen Entwicklung“ in Strsygowskis „Die Baukunst der Armenier und Europas“, 8. 606 fl.
(4) Einiges Prinzipielle ist bereits in der Einleitung (Methodisches) zu meinem eingangs zitierten
Buche vorgebracht.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 31 161
sofern die kartographische Feststellung der Denkmäler die Grundlage der Unter-
suchungen ist.
Der auf Seite 163 vorliegende Versuch der Darstellung des kunstgeographischen
Bildes Europas am Ausgange des Mittelalters (um 1400) macht bei dem Mangel
an entsprechender topographischer Literatur, der nur durch Reisen bzw. abgeschlos-
sene Kunsttopographien wettgemacht werden könnte, auf Vollständigkeit und Ge-
nauigkeit der Grenzen im einzelnen keinen Anspruch und hat nur den Zweck, den
prinzipiellen methodischen und entwicklungsgeschichtlichen Wert einer solchen
Darstellung anschaulich zu machen. Die Karte gibt einen zeitlichen Querschnitt
um das Jahr 1400 n.Chr. und verzeichnet in den verschiedenen Strichlagen die Aus-
breitung der damals lebendigen Kunstströme').
L In dicker senkrechter Schraffierung erscheint das Ausbreitungsgebiet des west-
europäischen nördlichen Kunststromes, der „Gotik“ ). In voller Schraffierung er-
scheinen diejenigen Gebiete, in denen die Gotik bereits „Schichte“ geworden ist,
d. h. nicht nur durch vereinzelte Monumentaldenkmäler vertreten ist, sondern sich
geradezu volkstiimlich bis zu Kleinleistungen herab durchgesetzt hat. In diesem Sinne
umfaßt die Gotik Nord- (und Mittel)frankreich, Deutschland und England. Eine Diffe-
renzierung innerhalb dieser Gebiete nach engeren Gruppen (wie etwa die siidliche
Stein- und die nördliche Ziegelgotik in der Architektur) ist für die vorliegenden
Zwecke nicht nötig; ebensowenig eine Abgrenzung der einzelnen Ausbreitungs-
phasen nach bestimmten Zeiträumen (zeitlicher Längsschnitt). Doch ist das letz-
tere für unsere Zeitstellung insofern von Bedeutung, weil das hier dargestellte
letzte Ausbreitungsstadium der Gotik zeigt, wie der Verdichtungsprozeß zu einer
einheitlichen Schichte in gewissen Gebieten nicht durchgedrungen ist, d. h. die
Möglichkeiten der Schichtbildung an bestimmte Grenzen gebunden scheinen. Diese
Möglichkeiten sind in den verschiedenen, den Schichtkern umgebenden Gebieten
verschieden. So zeigen die skandinavischen Länder etwa ein Stadium beginnender
Schichtbildung insofern, als von den Küstengebieten aus, deren gotische Denkmäler
(Stavanger, Bergen, Drontheim usw.) ja als Ableger des deutschen und englischen
Kerngebietes erscheinen, ein Eindringen in das Innere des Landes festzustellen ist.
Insbesondere scheinen es die Gebiete an der Südspitze der Halbinsel (Lund), um
und nördlich von Christiania (Hamar, Gran, Ringsaker), ferner der Seenplatte öst-
lich von Stockholm (Upsala, Sigtuna, Linköping, Skara usw.) und die Insel Got-
land zu sein, in denen sich Ansätze zu stärkerer Verdichtung finden, so daß un-
gefähr eine Linie von der Geflebucht bis zum Foldenfjord jenen südlichen Teil
Skandinaviens abtrennt, in dem derartige Ansätze zu einer Schichtbildung fest-
zustellen sind, Außerhalb dieses Gebietes handelt es sich nur um inselhafte Einzel-
vertreter wie Tromsö und Hammerfest. Jene Anfänge einer Schichtbildung er-
scheinen also in Skandinavien als ein kaum verwurzeltes, von außen ein-
(x) Nur im Einzelfalle, wie in der іп schräger Strichelung eingetragenen osmanischen Ausbreitung über
den Balkan ist einigermaßen über den engeren Zeitpunkt hinausgegangen, um den schon In der
nächsten Folgezeit erreichten weitesten Ausdehnungsbezirk derselben anzuzeigen.
(2) Die Belege für die folgenden Ausführungen über die Verbreitung der Gotik sind bei Dehio und
Bezold „Die kirchliche Baukunst des Abendlandes“ nach dem Register leicht zu finden. Ich kann
mich an dieses Werk um so mehr als Grundlage anschließen, als es, abgesehen von seinem weit-
gehenden Überblick über den gesamten architektonischen Denkmälerbestand, auch in der Auffassung
und Darstellung den hier angestrebten methodischen Richtlinien am besten und geradezu einzigartig
entspricht. Zu den hier nur als stimmende Paradigmen eingefügten Abbildungen auf Tafel I und U
vgl. die Bemerkungen am Schlusse des Aufsatzes.
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geführtes Element gegenüber der einheimischen bodenständigen Schichte, die in
der Architektur durch die Holz-(Stab-)Kirchen, im übrigen durch eine ausgeprägte
volkstümliche Kunstweise charakterisiert ist (dünn senkrecht schraffiert).
Wenden wir uns nun nach dem Osten, so erscheinen zunächst auch hier die
Küstengebiete der Ostsee als Einfallstore der vom Westen über das Meer vor-
dringenden Gotik (Abo, Wiborg, Dorpat). Hier kann aber schwerlich auch nur
von Anfängen einer Schichtbildung die Rede sein; die Denkmäler erscheinen
als vereinzelte eingestreute „Inseln“ inmitten einer völlig fremdartigen Schichte
(Abb. 1, über diese s. unten III). Und diese Inselhaftigkeit ist auch in der Fort-
setzung der Ostseeküste östlich von einer Linie zu konstatieren, die ungefähr in
der Richtung von Danzig nach Triest führt und nur im Böhmischen Becken einiger-
maßen in den Westen eingreift. Während von Danzig bis zu den Sudeten die
Grenze der gotischen Kernschichte weniger scharf ist, und einem letzten Stadium
auf dem Wege entspricht, auf dem die Gotik, vom Westen als sich verdichtende
Schichte vordringend, die Elbe-, Oder- und Weichselgrenze erreichte, ist sie bei
Wien, wo der Dom von Preßburg schon eher als eine erste östliche Insel, denn
als zur westlichen Kernschichte gehörig, bezeichnet werden könnte, und von da
längs der Grenze des Gebirges und des ungarischen Tieflandes mit größerer
Schärfe ausprigt. Schon vielleicht Prag, ferner Krakau, Warschau, Kaschau,
Klausenburg, Karlsburg, Hermannstadt — um nur die wichtigsten zu nennen —
sind Inseln inmitten eines fremden Kunstbodens, auf dem die Gotik nie als Schichte
Fuß gefaßt hat und von einer stilistischen Anpassung an das Heimische nur schwer-
lich die Rede sein kann. Vereinzelt, wie in der Bukowina (Abb. 2) finden sich
gotische Elemente (wie Maßwerkfenster u. dergl. an Bauten) an Werken völlig
anderen Kunstcharakters, wie fremdartige Einsprenglinge, so daß sich oft auch am
Einzeldenkmal die inselhafte Ausnahmestellung der Gotik inmitten des Fremd-
artigen widerspiegelt.
Im Süden erscheint ebenfalls zunächst die Grenze der Alpen und des lombar-
dischen Tieflandes als Grenze der gotischen Kernschichte. Vereinzelte Denk-
miler, wie der Dom zu Mailand, könnten in gewissem Sinne, ähnlich, wie wir es
im Osten gesehen haben, als inselhafte Ausläufer der Kernschichte nach Süden an-
gesprochen werden. Doch finden wir gotische Elemente am Beginn der Renais-
sance, wenn auch nicht so ausgesprochen rein wie in dem von Nordländern er-
bauten Mailänder Dom, überall in Norditalien, bis weit hinein gegen Mittelitalien
(Toskana) und bis zu den Toren Roms (senkrecht schraffiert). Aber dies sind
eben nur Elemente, die sich mit einem Andersartigen mischen, sich ihm anpassen,
in ihm aufgehen. Man denke z.B. an den Florentiner Dom, wo das der Gotik fremde
Element der Kuppel von einer gotischen Rippenkonstruktion durchsetzt ist, wo an
der Fassade freiräumig gedachte gotische Zierglieder und das struktive Gerlist von
Streben und Lisenen in farbige Flächenhaftigkeit gebannt sind (Abb. 3), man denke
an die gotischen Formen von Donatellos Steindavid, die dekorative Gotik Venedigs
in Architektur und Malerei u. v. a, und man wird sich des Unterschiedes bewußt
werden, den diese „Durchsetzung“ des Südens (Nord- und Mittelitaliens) mit goti-
schen Elementen gegenüber der Inselhaftigkeit der Gotik im Osten bedeutet, eine
Durchsetzung, die im Ausgleich mit dem Fremdartigen Neues schafft.
Damit ist aber das Bild der Gotik auf italienischem Boden nicht erschöpft.
Denn wenden wir uns nach Süditalien, so treffen wir dort eine Reihe gotischer
Inseln als künstliche „Übertragungen“ auf diesen Boden, die aber weder als Schichte,
noch im Sinne einer Durchsetzung wie in Nord- und Mittelitalien von Bedeutung
164
wurden. Zunächst waren es die Zisterzienser, die vor allem in den Volsker- und
Sabinerbergen (Fossanova, Ceccano, Casamari, Arbona, Piperno, Ferentino, Sezze,
Anagni) eine inselhafte Denkmälergruppe errichteten, von der aus durch Über-
führung der Arbeiter weitere inselhafte Ableger, so nach Sizilien (Girgenti), ab-
gingen. Ähnlich blieben die im Gefolge der Kreuzzüge (Venosa, Acerrenza, Aversa,
Monte Gargano usw.) und durch die Anjou (Realvalle, Benevent, Scurzola u. a.)
errichteten Denkmiilerinseln entwicklungsgeschichtlich ohne Belang, und spielten
ebenso die Rolle von Fremdkörpern, wie etwa die gotischen Kathedralen in der
Levante (Famagusta, Tortosa, Jerusalem). Ja, wir finden hier die gänzlich un-
verwurzelte Inselhaftigkeit in einigen Denkmälern darin ausgedrückt, daß in ihnen
eine Rückwanderung der gotischen Ableger des lateinischen Orients festzustellen
ist (Golete, Rapolla, Monte Sant Angelo, Schlösser in Apulien und Sizilien), indem
Bauleute von dort hierher berufen wurden.
Verfolgen wir nun die Grenze der gotischen Kernschichte weiter, so begegnet
die in mancher Hinsicht merkwürdige Tatsache, daß Südfrankreich aus der ein-
heitlichen Kernschichte ausgeschlossen ist“). Wohl enthält dieses einige bedeutende
rein gotische Denkmäler, die aber als direkte Ableger oder (im Detail) Nach-
ahmungen nordfranzösischer Vorbilder ohne Nachfolge geblieben sind (Carcassonne,
Chöre von Toulouse, Narbonne und Bordeaux u. a.). Die Stellung solcher Einzel-
fälle entspricht etwa der des Mailänder Domes in Italien (s. o.), sie sind im
wesentlichen Inseln der nördlichen Schichte, die sich auch bis tief nach Spanien
hinein fortsetzen (Burgos, Toledo usw.). — Im übrigen aber bedeutet, was sich in
Südfrankreich an Gotik findet, weniger eine Durchsetzung, wie in Nord- und Mittel-
italien, als ein Aufgehen in der anders gefärbten Grundlage. Denn während sich
dort das auflösend Konstruktiv-Gotische mit einem Farbig-Flächenhaften auseinander-
setzt, ist es hier ein Plastisch-Kubisches, das dem Gotischen von der hier noch
nachwirkenden Romanik her noch weit fremdartiger gegeniibersteht. Die Kathe-
drale von Alby (Abb. 5) mit ihrer durch die enge Stellung der zylindrischen Strebe-
türme belebten kubischen Massigkeit und den seltsam passiv eingedämmten schmalen
Maßwerkfenstern, oder die Fassadenkrönung der Notre-Dame du Taur in Toulouse °)
sind bezeichnende Beispiele dafür, wie das lebendige Wachstum der Gotik in eine
abstrakte, in sich ruhende Massigkeit gezwungen wird.
Überschreiten wir nun die Pyrenäen nach dem Süden, so tritt uns ähnlich wie
in Süditalien eine Inselhaftigkeit entgegen, die ihren Ausgang teils in der Schichte
Nordfrankreichs (Burgos, Leon, Toledo), teils in der südfranzösischen Mischsphäre
hat (Barcelona, Gerona, Palma). Dabei kann im besonderen das an das südöstliche
Frankreich anstoßende Gebiet von Katalonien als mit der Languedoc in engerem
Zusammenhange stehend aufgefaßt werden, insofern in beiden Fällen die Insel-
haftigkeit eine größere Dichtigkeit aufweist. Für die übrige Halbinsel gilt freilich
ein Bild, das sich von den bisher vorgefundenen Arten der Verbreitung einiger-
maßen unterscheidet:
Durch die geradezu nur oasenhafte Besiedelungsmöglichkeit des Landes bedingt,
ist die Ausbildung einer Schichte in unserem Sinne von vornherein nicht möglich,
das kunstgeographische Bild im wesentlichen durch wenige Zentren bestimmt.
Hier ergibt sich nun, wenn wir zugleich auf den zweiten großen, am Ende des
(1) Nur in der Gascogne und Guyenne kann einigermaßen von „Gotik“ im Sinne einer größeren
Schichte die Rede sein (senkr. dünn schraff. Felder).
(2) Siehe Dehio, а. a. O., Abb, Seite 431.
165
Mittelalters lebendigen Kunstkreis übergehen (Islam — Schrägschraffierung), der, wie
vom Norden her die Gotik, auf diesem Boden vom Süden aus wirksam wird, jenes
ganz eigentümliche Phänomen, das unter dem Namen des Mudejarstiles bekannt
ist (Abb.6). Im Sinne des geographischen Bildes bedeutet es weder Inselhaftigkeit
innerhalb einer geschlossenen Schichte, noch Durchsetzung zweier oder mehrerer
Schichten, sondern das Ineinandergreifen zweier inselhafter Sphären, deren keine
auf diesem Boden entstanden ist. Die Oasenhaftigkeit dieser Inseln mochte es
aber mit sich gebracht haben, daß die von außen verpflanzten Elemente wie in
einzelnen Treibhäusern zu einer besonders reichen Blüte sich entfalteten und als
solche sich zu einem Neuen vereinten. So erscheint das Wesen spanischer Kunst
und Kultur überhaupt weniger als ein Bodengewachsenes, in einer heimischen
Schichte Wurzelndes, sondern mehr als die oasenhafte Steigerung des nördlichen
Naturalismus zum blutrünstigen Realismus und der südlichen Abstraktion zu farben-
freudiger Phantastik.
II. Für den in der Karte schräg schraffierten islamischen Kunstkreis ist von vorn-
herein festzuhalten, daß dessen voller Umfang noch weit nach dem Osten hinein
ergänzt zu denken ist; reicht doch dessen Wirksamkeit bis nach Indien und Ost-
asien. Es ist also hier ein verhältnismäßig nur kleiner Teil der großen Schichte
gegeben. Zugleich muß aber vorausgeschickt werden, daß hier „Schichte“ in einem
maßgeblich anderen Sinne zu nehmen ist, als bisher im europäisch gotischen Um-
kreise. „Schichte“ erscheint hier als die Summe oft weit voneinander getrennter
oasenhafter Zentren auf Grund jener natürlichen Besiedelungsverhältnisse, als deren
Ausläufer wir bereits Spanien genannt haben. Insofern aber die Kunst dieser
Zentren sich zum größten Teile als eine monumentale Verdichtung der volksttim-
lichen oder ländlichen Nomaden- oder Halbnomadenkunst darstellt ), wurde in der
graphischen Darstellung auf der Karte eine durchgehende Schraffierung für das Ge-
samtgebiet gewählt, aus dem die die Monumentalkunst tragenden Zentren als Halb-
monde hervortreten. Auch hier wurde von einer für unsere Zwecke nicht nötigen
Differenzierung der einzeinen Stilgebiete und von einer Angabe des allmählichen
Wachstums der Schichte abgesehen. Für unsere Zwecke handelt es sich darum,
wie weit das Ausbreitungssystem des Islam in Europa wirksam geworden ist.
Von Spanien war bereits kurz die Rede. Hier zeigt naturgemäß der Süden das
dichtere Bild der Inselhaftigkeit (Cordoba, Granada, Sevilla), ja erscheint — den
allgemein historischen Verhältnissen entsprechend — geradezu noch als Fortsetzung
der nordafrikanischen Kernschichte. Im übrigen beschränkt sich die Ausbreitung
im wesentlichen und in ähnlichem Sinne auf die Zentren, die auch für die Gotik
in Betracht kamen (Toledo, Valladolid, Salamanca usw.). Wie die Gotik in insel-
haften Monumentaldenkmälern über die Pyrenäengrenze herabdrang, so gilt das-
selbe vom Süden her für den Islam. Auch da ist es das Gebiet von Katalonien,
das zusammen mit den anstoßenden südfranzösischen Teilen eine Brücke bildet in
dem Sinne, daß einzelne Elemente sich nach dem Norden hin durchsetzen. Solche
Elemente sind nicht nur in der Architektur, wie in den bereits erwähnten Bei-
spielen von Alby und Toulouse festzustellen, sondern sind, abgesehen vom Orna-
ment, vor allem für die Malerei um 1400 von größter Bedeutung geworden (Fresken
in Avignon, Miniaturen usw.) ).
(1) Siehe Strzygowski, Altai-Iran und Völkerwanderung, Abt. IV und v.
(2) Diese vor allem in der Provence und in Burgund vorzüglich im Wege von Rittertum und Minne-
dienst für die große Stilwandlung dieser Zeit von ausschlaggebender Bedeutung gewordenen islami-
166
Klarer, obwohl kunsthistorisch ebenfalls kaum noch eingehender erfaßt, ist die
islamische Durchsetzung in Sizilien, die zusammen mit dem Byzantinischen (s. u.)
das Gotische fast verschlingt (Palermo, Monreale, Cefalù). Diese Durchsetzung
griff auch nach Süditalien über, wo sie besonders von der Westküste aus (Amalfi,
Salerno) teils bereits als Mischstil, teils in einzelnen Elementen fruchtbar wurde
und bis ins toskanische Gebiet hinein wirkte (Abb. 4). Wie weit islamische Elemente
in der Architektur der Frührenaissance wirksam wurden, dafür habe ich in einem
Aufsatze „Östlicher Kuppelbau, Renaissance und St. Peter“!) einige gewichtige
Anhaltspunkte zu geben versucht und gezeigt, wie gerade die architektonischen
Erstlingstaten der Renaissance, wie die Florentiner Domkuppel und die Pazzi-
kapelle ohne Beiziehung des islamischen Stromes entwicklungsgeschichtliche Rätsel
bleiben müßten. Greifbarer sind solche Elemente in technischer und formaler
Beziehung im Kunstgewerbe, dessen einzelne Zweige, sei es Metall- oder Textil-
kunst, Keramik, Steinmosaik usw.), ja zum guten Teil ihr Aufblühen dem orienta-
lischen Kunsthandwerk verdanken. Und selbst in der Malerei, sei es in Fresken
oder Miniaturen, als deren Vorbilder nur zu oft arabische Handschriftenillustrationen
namhaft gemacht werden können?), bis zu Pisanello und Gentile Bellini spielt das
islamische Element (neben Nordischem und Byzantinischem) eine bedeutende Rolle,
Ja, wer es vermag, die Gesamtheit der asiatisch-europäischen Entwicklung in
einem zu überblicken, wird vielleicht erkennen, daß jener Umschwung von mittel-
alterlicher Symbolik und Raumlosigkeit zu der flächig-kulissenhaften Raumbildung
des 15. Jahrhunderts zum guten Teil den Ausläufern eines großen Stromes zu ver-
danken ist, der von dem während des früheren Mittelalters geradezu als einzigem
Gebiete an dem natürlichen Erscheinungsbilde (in seiner Art) festhaltenden Ost-
asien aus, über die große Blüte der persischen Miniaturenkunst (vom 13. Jahr-
hundert an) nach dem Westen vordrang?). — Doch ist im Auge zu behalten, daß
neben jener vom Süden (über Sizilien und Süditalien) bis in die Toskana vor-
dringenden Durchsetzung mit einer vielleicht weniger extensiven als intensiven
und fast inselhaft zu nennenden direkten Beeinflussung Norditaliens zu rechnen
ist, deren Einfallstore in erster Linie Venedig, einigermaßen aber wohl auch die
an die Provence anschließenden Gebiete und Genua sind.
Was den Balkan anlangt, so ist, auch wenn wir zunächst die Ausbreitung des
islamischen Stromes im Gefolge der osmanischen Eroberung außer acht lassen,
eine deutliche Durchsetzung mit islamischen Elementen schon in byzantinischer
Zeit festzustellen, Strzygowski hat dafür vor allem im Gebiete der Ausstattung
Belege beigebracht‘). Daraufhin konnte diese Einflußnahme wenigstens für die
Umgegend von Athen, auf der Karte einigermaßen angedeutet werden. Eine nähere
Untersuchung, wie weit das Byzantinische vor allem im Ornament (arabeske Züge)
und in der Architektur in breiterer Schichte bereits vor der Eroberung eine Durch-
setzung mit islamischen Elementen aufweist, steht noch aus.
schen Einflüsse sind, was die bildende Kunst anlangt, freilich kaum noch entsprechend gewürdigt
worden. Für den Stand der Frage in der Literaturwissenschaft vgl. K. Burdach, „Über den Ursprung
des mittelalterlichen Minnesanges, Liebesromans und Frauendienstes (Sitzungsber. der preuß. Akad.
der Wissenschaften 1918, S. 994 fl.).
(x) Monatshefte für Kunstwissenschaft 1919, S. 153 ff.
(2) Vgl. Schlosser, Ein veronesisches Bilderbuch usw., Jahrb. d. Sammi. d. ah. Kaiserhauses, Bd. XVI.
(3) Darüber werde ich an anderer Stelle zu handeln haben.
(4) Amida, S. 365 ff.; siehe auch Strzygowski, Die nachklassische Kunst auf dem Balkan, im „Jahr-
buch des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt a. М. 1910, S. 40.
167
Was nun den von Osten über Kleinasien vordringenden osmanischen Strom an-
langt, so drängt er, in Fortsetzung der seldschukischen Ausbreitung (Konia), die
früher vorhandene christliche (, byzantinische“) Schichte (wagrechte Schraffierung)
zunächst ganz an die Küsten und auf die griechische Inselwelt zurück, ohne mit
dieser — abgesehen von Spolienbenützung — eine Mischung einzugehen. Erst mit
der Überschreitung der Dardanellen und der Eroberung Konstantinopels durch die
Türken tritt das Byzantinische als ein das Osmanische anregender Faktor auf (osma-
nische Moschee und Sophienkirche), doch bedeutet diese Anregung keineswegs die
Übernahme und Fortführung der damals lebendigen byzantinischen Tradition, sondern
die Auslösung der in der 'seldschukisch-osmanischen Überlieferung selbst vorbereiteten
Voraussetzungen'), d. h. also keineswegs eine Mischung (Durchsetzung) des Isla-
mischen mit dem Byzantinischen. Vielmehr findet das Byzantinische innerhalb
des islamisierten Gebietes ein selbständiges, aber als lebendige Fortentwicklung
nicht mehr in Betracht kommendes Ausleben. Die islamische Schichte hält dabei
im allgemeinen ihren Charakter der Oasenhaftigkeit bei, und findet mit der Ver-
breitung islamischer Kultur — sei es auch nur in kleinen, künstlerisch gering-
wertigen Denkmälern — ibre Grenzen. So kann etwa als die nördlichste der
dieser Schichte angehörenden Moscheen, die von Bosnisch-Brod gelten, während
z. B. die heute noch erhaltenen türkischen Bäder von Budapest?) bereits als insel-
hafte Erscheinungen gewertet werden müssen. In diesen Gebieten haben wir es
also im wesentlichen mit dem Bilde einer „Überlagerung“ zu tun, bei der die ur-
sprünglich vorhandene Schichte so viel wie ganz ausstirbt.
Von dieser Überlagerung blieben außer den noch zu behandelnden Gebieten
des Balkan im weiteren Osten das armenische Hochland und zum Teil Georgien
als christliche Gebiete befreit. Hier tritt an die Stelle der Überlagerung die Durch-
setzung, ähnlich, wie sie beim Eindringen der Gotik in Nord- und Mittelitalien
festzustellen war. Wie dort (Mailand), so fehlt es auch hier nicht an inselhaften
Zentren des Islam, wie sie etwa durch die Moscheen und Paläste von Ani und
Erzerum gegeben sind. Im übrigen wird aber die christlich armenische Kunst,
sei es Baukunst*) oder (Miniaturen-)Malereit) und selbst die figürliche (und Grab-
stein-)Plastik®), vor allem, was die ornamentalen Details anlangt, schon vom Beginn
des ersten Jahrtausends an bis zu der Blüte im 13. und 14. Jahrhundert in hohem
Maße von den islamisch-türkischen Elementen durchsetzt (Abb. 8); das Auftreten
von Stalaktitenschmuck, farbiger Plattenverkleidung in der Art von Fliesen, Nischen-
gliederungen, von Arabesken in der Ornamentik u. dgl. mehr, sind Züge, die mit
dem Vorhandenen aufs engste verschmelzen. Am stärksten ist diese Durchsetzung
in dem zwischen Araxes und Kur südöstlich in das Gebiet der islamischen Schichte
vorspringenden Teile des Hochlandes®), während etwa an der Stelle, wo der
Araxes das armenische Hochland verläßt, die Grenze der beiden Schichten in den
benachbarten Kunstzentralen Etschmiadzin (Kloster) und Erivan (Moscheen, Paläste)
(1) Siehe meinen Aufsatz „Östlicher Kuppelbau, Renaissance und St. Peter“ in Monatshefte f. Kunst-
wissenschaft, 1919, S. 16af.; vgl. auch meine „Türkische Dekorationskunst“ in Kunst und Kunsthand-
werk 1920, 8. 26ff.
(2) Vgl. Fischer von Erlach, Entwurf einer historischen Architektur, Taf. L
(3) Vgl. z. B. Strzygowski, Baukunst der Armenier, Abb. 776 u. a.
(4) Ebendort, S. 538 f. und die dort angegebene Literatur.
(5) Ebendort, Abb. 674 u. a. Vgl. auch H. Glück, Die beiden , зазапійівсћеп“ Drachenreliefs (Publ.
d. kaiserl. osman. Museen IV, Konstantinopel 1917), S. 27 u. 38 ff.
(6) Siehe Н. Glück bei Strzygowski, Die Baukunst der Armenier, 8. 609 ff.
168
TAFEL 20
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Abb. 1. Mylije, Holzkirche.
»
7 Abb. 2. Humora, Klosterkirche,
Choransidt.
Abb. 3. Florenz, Domfassade, Detail.
Í ч
Abb. 4. Amalfie, Kathedrale, Fassade.
Zu: H. Glück, Das Kunstgeographishe Bild des Mittelalters und die Grundlagen der Renaissance
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aufs schärfste erkennbar wird. — In Georgien dringen die islamischen Elemente
vor allem im Wege des Ziegelbaues längs des Kurtales vom Osten her vor, wobei
dieses Vordringen nur einen kleinen Ableger jener noch weit ausstrahlenden Be-
wegung. bedeutet, mit der der Islam Südrußland bis zu der allgemeinen Linie Kiew-
Jaroslaw durchsetzt.
III. In Rußland selbst erscheint als bodenständige Kernschicht eine durch die
eigentümliche Holzarchitektur (Abb. 1) und das volkstümliche Kunstgewerbe charak-
terisierte Kunst (dünne, senkrechte Schraffierung), deren inselhafte Durchsetzung
vom byzantinischen Süden her zu der auch heute noch nicht tiberwundenen An-
sicht führen konnte, die russische Kunst sei nichts anderes als eine barbarisierte
byzantinische. Was sowohl die volkskünstlerischen Elemente sowie auch die Holz-
baukunst anlangt, so schließen sich, abgesehen von den entsprechenden Differen-
zierungen, an das eigentlich russische Kerngebiet der schon behandelte skandina-
vische Westen (wobei im besonderen Stabwerkbau und Blockbau zu trennen wäre),
sowie die polnischen, ungarischen und zum Teil die tschechischen und süd-
slawischen Gebiete an, wobei freilich der Bestand an Denkmälern in den ein-
zelnen Gebieten noch sehr mangelhaft zu belegen, bzw. nur im Rückschlusse fest-
zustellen ist. |
IV. Schließlich bleibt noch die durch wagrechte Schraffierung eingetragene Schichte
zu besprechen, die vielleicht kurz mit dem sehr allgemeinen Schlagworte „byzanti-
nisch“ bezeichnet werden kann, treffender aber als Rest der im Christentum orien-
talisierten Mittelmeerkultur aufzufassen ist. Demgemäß stellen diese Gebiete einen
durch Durchsetzung und Überlagerung im Verschwinden begriffenen Schichtenrest
dar, dessen fortschreitende Aufzehrung im Kartenbilde folgendermaßen deutlich wird.
Während für den südlichen Mittelmeerkreis (einschließlich Syrien und Spanien)
für unseren Zeitpunkt ein selbständiges Fortleben der christlichen Schichte infolge
der frühzeitigen islamischen Überschwemmung schon längst nicht mehr in Betracht
kommt, blieb während des Mittelalters die christliche Überlieferung in Kleinasien
immerhin einigermaßen aufrecht, um in unserem Zeitpunkte bereits fast völlig über-
lagert zu sein (wagrechte Umrandung); nur im armenischen Hochlande, wo schon
die natürliche Abgeschlossenheit dem Islam eine durchgreifende Besitznahme ver-
wehrte, blieb ein größerer Rest dieser Schichte bestehen, wenn auch — gerade
zu dieser Zeit — stark von dem islamischen Strome durchsetzt. In Griechenland
und auf den Inseln fand das „Byzantinische“ ziemlich ungehindertes, wenn auch
von Osten nicht ganz unberiihrtes') Fortleben, von den Verhältnissen in den nörd-
lichen Gebieten der Balkanhalbinsel nach der Einnahme von Konstantinopel war
bereits oben die Rede. Aber auch in den Gebieten nördlich des Balkan (Bulgarien,
Rumänien, Bukowina) blieb abgesehen von einigem Eingreifen islamischer Elemente
die mit der osteuropäischen Nordkunst vermischte byzantinische Tradition in lokalen
Differenzierungen aufrecht und hatte, wie bereits erwähnt, auch entscheidend in
russisches Gebiet eingegriffen, so daß die durch den Islam gleichsam in ihrem
Kern ausgehöhlte byzantinische Schichte zu beiden Seiten des Keiles fortvegetierte.
Diese bisher umschriebene westasiatisch-osteuropäische Schichte bildet einen öst-
lichen Teil des gesamten, die alte christliche Mittelmeerüberlieferung fortführenden
Kreises und ist von dem westlichen Teil vor allem dadurch unterschieden, daß in
(1) Über die Durchsetzung der spätbyzantinischen Kunst mit islamischen, bzw. durch den Islam ver-
mittelten östlichen Elementen stehen mit Ausnahme der erwähnten Hinweise Strzygowskis nähere
Studien noch aus, wenngleich davon eine große Ergiebigkeit zu erwarten ist.
169
ihr die vom Iran über Armenien vordringende Orientalisierung!) sich in stärkerem
Maße durchgesetzt hat, was besonders in der Architektur durch das Vorherrschen
des zentralen Kuppelbaues und seiner Elemente zum Ausdruck kommt (Abb. 7).
Der westliche Teil dagegen, der (in der Karte in dünnerer Schraffierung ein-
getragen) vor allem Nord- und Mittelitalien und die östliche Adriaktiste (Istrien,
Dalmatien) umfaßt und nach Gallien übergreift, wird in der Baukunst durch das
Vorherrschen des Langhauses und auch sonst durch das stärkere Nachwirken des
antiken Geistes charakterisiert ). Von der nordischen Durchsetzung dieser Schichte
in Mittel- und Norditalien, sowie von Südfrankreich war bereits die Rede. Am
wenigsten berührt, sowohl von der nördlichen (gotischen) als auch von der süd-
lichen (islamischen) Durchsetzung blieb in Italien der mittlere östliche Teil, wo
auch das geringste kunsthistorisch bedeutsame Leben entfaltet wird. Neben diesen
beiden Schichten hat aber auch der östliche Teil der Mittelmeerschichte nach dem
Westen hinübergespielt; weit vor unserer Zeitstellung zeigt sich dies in ganz her-
vorragendem Maße in der Verbreitung jener Kirchen, die nach dem Muster ira-
nischer Bauten und der Apostelkirche) mehrere Kuppeln, sei es in einer oder іп
Kreuzachsen, anordnen: So in Italien San Marco in Venedig, S. Sabino zu Canosa,
S. Antonio zu Padua, in Molfetta und Trani; in Frankreich bilden die aquitanischen
Kuppelkirchen mit St. Front in Perigueux an der Spitze den eigentümlichen Fall
einer inselhaften Schichte. Auch in Deutschland ist noch im früheren Mittelalter
teils inselhaftes Eingreifen (Paderborn, Bartholomäuskapelle), teils ein Durchdringen
der byzantinischen Ostschichte festzustellen (Malerei). Während aber in Deutsch-
land und Nordfrankreich diese „byzantinischen“ Elemente für unsere Zeitstellung
kaum mehr in Betracht kommen, d. h. bereits aufgezehrt sind, wurden im Stiden
jene Bauten und die damit zusammenhängenden, auch sonst verbreiteten Elemente
beim Wiedererwachen der Kuppelidee in der Renaissance von Bedeutung, und im
gleichen Sinne ist die inselhafte Verbreitung byzantinischer Malerschulen in Italien
im Auge zu behalten, die in die Renaissance hinein wirkten. In Sizilien und Unter-
italien“) aber wirkt die alte byzantinische Grundlage noch durch die islamische
und normannische Überlagerung nach (Abb. 4).
Überblicken wir nun nochmals das beschriebene kunstgeographische Bild in seiner
Gesamtheit, mit besonderer Beachtung des im zweiten Teil des Titels dieses Auf-
satzes gestellten Problems, so ergibt sich folgendes:
Als die ihrem Ursprung nach älteste der dargestellten Schichten (wagrecht) erscheint
die kurzweg als „byzantinische“ bezeichnete’). Sie erscheint in einem Stadium der
Zersetzung, als Rest der ursprünglich den ganzen Mittelmeerkreis umfassenden und
vom Osten und Norden schon während des frühen Mittelalters durchsetzten antiken
Schichte. Ihr Schicksal wird bestimmt durch die Umklammerung zweier großer
lebendiger Ströme, die in unserem Zeitpunkte eben auf der Höhe ihrer Expansions-
(x) Siehe Strzygowski, a, a. O., S. 709 ff.
(2) Wie weit dieser Teil bereits vor unserem Zeitpunkte von nordischen (gotischen, langobardischen,
fränkischen) Elementen durchsetzt wurde, kommt hier nicht mehr in Betracht, die Schichte erscheint
für unseren Zeitpunkt als eine aus diesen Mischungen bereits vergorene Gegebenheit.
(3) Siehe Strzygowski, a. a. O., 8. 753 f.
(4) Auch in Sardinien, wo aber zu unserem Zeitpunkte das „Byzantinische“ als lebendige Schichte
nicht mehr in Betracht kommt.
(5) Man beachte, daß die in der älteren kunsthistorischen Literatur übliche Bszeichnung des „Roma-
nischen“ als „Byzantinisch“ den hier aus einer universelleren Einstellung sich ergebenden Verhält-
nissen näher kam, als die gegenwärtig aus der bloßen Einstellung auf den Westen übliche.
170
kraft stehen, des islamischen im Osten und des gotischen im Norden. Und zwar
ergibt sich eine Gesetzmäßigkeit darin, daß alle Gebiete der aussterbenden Mittel-
meerkultur, die sich in einem Stadium der Durchsetzung durch einen der beiden
lebendigen Ströme befinden, einen kräftigen künstlerischen Aufschwung erfahren,
indem durch die eintretende Mischung Neues entsteht, oder mit andern Worten, das
alte Heimische, durch das eindringende Fremde befruchtet wird, eine „Renaissance“
erlebt. So hatten die vom Islam überströmten Gebiete des südlichen Mittelmeeres
solche aus einer Durchsetzung entspringende Blüteperioden bereits am Beginne
des Mittelalters erfahren — man denke z. B. an Cordoba, Kairuan, das tulunidische
Kairo, an den Felsendom in Jerusalem oder die große Moschee von Damaskus —,
später bedeutete die seldschukische Periode in Kleinasien das Ubergreifen des
islamischen Stromes auf die nördlichen Mittelmeerländer. In dem Zeitpunkte, den
unsere Karte darstellt, ist diese Durchsetzung des südlichen Mittelmeerkreises
bereits einer Überlagerung gewichen, d. h. die alten Elemente der Mittelmeerkultur
haben in diesen Gebieten kaum mehr entwicklungsgeschichtliche, neuschöpferische
Geltung, der neue, vor allem an die Türken (Mameluken, Seldschuken) gebundene
Vorstoß vom Osten, bringt statt der früheren lokal differenzierten Durchsetzungs-
produkte überall die gleichen neuen Formen zur Herrschaft (Medrese, Grab-
kuppel usw.)!). — Ähnlich hatte auch — vom frühen Mittelalter an — die Durch-
setzung der antiken Mittelmeerschichte durch den Norden zwischen Loire und
Rhein die neuen Ansätze gezeitigt, aus denen dann die Gotik hervorwuchs, deren
Schichte und Abgrenzung sie als die allmählich nach dem Osten vordringende
Auseinandersetzung des Nordens mit den Auswirkungen der südlichen Mittelmeer-
kultur erscheinen läßt.
Das auf der Karte wiedergegebene Bild zeigt nun die Lage, in der die beiden
verselbständigten Ströme, der von den Türken getragene islamische und der vom
germanischen Norden getragene gotische sich mit den letzten Resten der mittel-
ländisch-byzantinischen Schicht auseinandersetzen. In den Durchsetzungsgebieten `
entsteht jeweils das Neue, die Renaissance der alten Kulturschichte. Und wie wir
diese alte Schichte in eine westliche und eine östliche differenziert haben, und
Z. B. für die letztere den zentralen Kuppelbau, für die erstere das Langhaus mit
starken inselhaften Einschlägen des östlichen Kuppelbaues als charakteristisch er-
kannt haben, so gestaltet sich die Renaissance in beiden Gebieten als eine Neu-
belebung eben dieser Züge, indem im Osten eben der Zentralbau (osmanische
Moschee), im Westen der Kampf zwischen Zentral- und Längsidee und ihr Aus-
gleich (Gesütypus) bestimmend wird). Während aber die Durchdringung im Osten
eine verhältnismäßig einfache ist, indem Orientalisches auf bereits stark Orientali-
siertes stößt, und deshalb geringere Widerstände zu einer freien Entfaltung höchster
Monumentalität führen, stauen sich in Italien die verschiedensten Kräfte, und er-
geben das tragische Ringen, das die ganze Entwicklung durchzieht. Das Bild,
das Italien auf der Karte als ein zwischen den beiden einheitlichen lebendigen
Strömen zerrissener Boden aufweist, läßt aber um so mehr die Gesetzmäßigkeit
erkennen, nach der das Neue in den Gebieten kultureller Durchdringung entsteht.
Wie im Osten Konstantinopel, so werden die Kunstzentralen Venedig und Mailand
als Einfallstore verständlich). Florenz und Rom bilden zwei Brennpunkte, in denen
(х) Siehe meine „Türkische Dekorationskunst“ in „Kunst und Kunsthandwerk“, 1920.
(2) Ähnlich ersteht eine Renaissance in Armenien.
(3) Ähnlich erklärt sich im Norden die örtlich und zeitlich inselhafte Kunstblüte in Prag am Ausgang
des Mittelalters.
171
sich die vom Süden und Norden durchsetzenden Strahlen in höchster Intensität
sammeln, während das östliche Mittelitalien, von diesen befruchtenden Strahlen
kaum berührt, für die Entwicklung geradezu ausscheidet.
Mannigfache Fragen werden durch eine derartige Betrachtung ausgelöst, auf die
in diesem rohen Gerüste nur kurz andeutend hingewiesen werden konnte, ja in
vieler Hinsicht müßte erst nach den obigen Feststellungen die eigentliche Problem-
stellung einsetzen. Man bedenke etwa im Zusammenhang mit unserer Darstellung
Fragen wie folgende: Wie weit ist die Entstehung und Ausbreitung einer Kunst-
schichte an volkliche, religiöse, soziale, politische Faktoren gebunden? Welche Rolle
spielen natürliche Schranken? Worin liegt der Grund der verschiedenartigen Aus-
breitungsart einer Schichte in verschiedene Gebiete (siehe oben Gotik)? und wo-
durch sind die Grenzen der Ausbreitung bedingt? Sind diese Grenzen, diese Ver-
schiedenartigkeit von Inselhaftigkeit, Durchsetzung und Überlagerung wirklich bloß
Zufall der Geschichte, oder steht nicht deren zeitlichem Wechsel eine Konstanz
gegenüber, die dem „Ich“ eines Lebewesens gleichkommt, das bei allem Wechsel
seiner Entwicklung dasselbe bleibt, sein Wesen ausmacht? — Diese Konstanz zu
erkennen, die Gebundenheit der Kultur an die relativ gleichbleibenden Voraus-
setzungen der Erde, wäre das Ziel einer solchen auf Entwicklung eingestellten
geographischen Betrachtung im Gegensatze zu der geläufigen historischen, die
nur den Wandel der Erscheinungen im Auge hat und darliber das Bleibende, das
„Ich“, vergit. Um dies nur einigermaßen anzudeuten, sei folgendes vor Augen
gehalten: Sind nicht Grenzen, wie sie sich in unserer Darstellung scheinbar als
historische Zufälligkeit der bestimmten Zeitstellung ergaben, von einer dauernden
Geltung, ungeachtet äußerlicher politischer Verschiebungen? Um ein Beispiel zu
geben: Das Durchsetzungsbereich, das sich in unserer Karte für das Eindringen
des gotischen Nordstromes auf italienischem Boden ergab, deckt sich im wesent-
lichen mit dem des langobardischen Nordstromes, die vom Süden eindringende
. islamische Sphäre entspricht in ihrem Wirkungskreise einem bis jetzt kunsthistorisch
nicht beachteten Eindringen punisch-karthagischer Elemente, die für die Bildung
der stadtrömischen Kunst entscheidend wurden’), und dieses Wirkungsgebiet in
Süditalien ergibt zusammen mit Nordafrika, Spanien und den westmittelländischen
Inseln bereits in prähistorischer Zeit eine zusammenhängende Schichte, die in ihrer
Ausdehnung dem entspricht, was innerhalb der islamischen Kunst mit maghribinisch
bezeichnet wird. Zugleich ergibt das erwähnte Eindringen punischer Kultur in
Süditalien dasselbe Bild der Durchsetzung einer bereits vorher vom Osten vor-
gedrungenen Schichte, nämlich der griechischen Kolonialkunst in Sizilien und Unter-
italien, wie es sich im Mittelalter (s. die Karte) durch das Eingreifen des Islamischen
in die byzantinische Grundlage ergibt.
Die Existenz solcher Grenzen scheint danach freilich nur in Zeiten eines inten-
siveren historischen Lebens deutlich greifbar zu werden, doch bestehen sie auch
aufrecht, wenn sie auch die historische Konstellation gerade nicht aktiv werden
läßt. Um sich dessen bewußt zu werden, denke man an den dauernden Unter-
schied zwischen Nord- und Süditaliener, Nord- und Südfranzosen oder man stelle
dem kunstgeographischen Bilde Europas das Bild etwa des ost- oder südasiatischen
Kunstkreises gegenüber. Daß dabei, welche Zeit immer man auch in Betracht ziehen
(x) Historisch wurde auf diese Beziehungen neuerdings von Hesselmeyer, Das vorrömische Karthago
in seiner Bedeutung für den spätrömischen Kolonat (Korrespondenzbl. f. d. höh. Schulen Württem-
bergs, 23. Jahrg. 1916, S. 393 ff.) hingewiesen; kunsthistorisch habe ich das Material in einem druck-
fertigen Werke über die „Bäder Konstantinopels“ auseinandergelegt.
172
mag, eine bestimmte Struktur als charakteristisch hervortritt, die für die entwick-
lungsgeschichtliche Wertung von größter Bedeutung sein kann, das zeigte ja schon
im kleinen die Gegenüberstellung der gotischen und der islamischen Schichte oder
das Bild Spaniens im besonderen, mag auch die graphische Unterscheidung ihrer
Struktur als für die gegenwärtigen Zwecke genügend noch so verallgemeinernd
gehalten sein.
Bemerkungen zu den Abbildungen (Taf. 20—21)
1. Mylije, Holskirche als Beispiel nordosteuropäischer Schichte.
3.
. Klosterkirche Humora (Bukowina) als Beispiel „byzantinischer“ (ostmittelländischer) Durch-
setzung der nordosteuropäischen Schichte mit inselhaftem gotischen Einschlag. Ziegelbau, Tri-
konchos, Nischengliederung und Gemäldeschmuck sind ostmittelländische Elemente; das aus-
ladende spitze Holzdach und Höhendrang bezeichnen das Nordische; die gotische Umrahmung
des Aspisfensters erscheint als inselhafter Fremdkörper innerhalb der flächigen Gliederung.
Florenz, Domfassade, Detail als Beispiel gotischer Durchsetzung mittelländischer Grundlage
mit islamischem Einschlag. Gotische Schmuckformen wie Krabben, Fialen, Rundstäbe usw.
werden farbig-dekorativ umgewertet und verlieren ihre struktive Funktion (Portal), oder werden
in flächenfüllender, untektonischer Reihung benützt (Wandfüllungen); byzantinische Typen (Ma-
jestas im oberen Giebelfeld) werden linear und plastisch bewegt und individualisiert; die schrägen
Wandungen des Fensters und dessen unterste Leiste, die in unendlichem Rapport gegebenen
Arabesken, Palmettenrosetten und die Reziprokmuster des Islam.
Amalfi, Kathedrale als Beispiel des sizilianisch-süditalischen Mischstiles. Die mittelländische
Grundlage ist einerseits durch die antikisierende Giebelform, andererseits den byzantinischen
Mosaikschmuck und durch die untektonische Flächenhaftigkeit gegeben; das Islamische durch
die kunstgewerbliche Kleinarbeit und Farbigkeit und durch motivische Details (Schichtwechsel,
Verkleidungsprinsip, Stern- und Rautenschilde, heraldische Löwen); die Gotik ist entmaterialisiert
und in ornamentale Flächenhaftigkeit gebannt (Maßwerkfenster der Vorhalle), ihre Motive (Spitz-
bogenreihen) in phantastischer Durchsetzung unendlich gereiht.
Alby, Kathedrale als Beispiel südfranzösischer „Gotik“: Die gotischen Elemente (s. Portal-
bau links) erscheinen als direkte Nachahmungen von Denkmälern der gotischen Kernschichte
oder sind als solche (Fenster) in das ihnen fremdartige System kubischer Massen ein-
gefügt, in denen sich das nachlebende Westmittellindische („romanische“ Formelhaftigkeit) mit
der abstrakten Phantastik der über Spanien vorgedrungenen islamischen Einschläge mischt. Für
das letztere vgl. etwa die kubische Flächenhaftigkeit des Unterbaues und die zylindrischen Strebe-
türme mit der gleichartigen Motivverwertung am schiefen Turm von Saragossa (Abb. siehe bei
М. Dieulafoy, Gesch. d. Kunst in Spanien und Portugal, [Ars una], S.169), oder auch bei Abb. 6.
. Belem, Kloster Dos Jeronymos, Obergeschoß des Kreuzganges als spätes Beispiel der
Durchsetzung nachwirkender islamischer (Ornament) und gotischer (Arkadenbogen) Inselbaftigkeit
(Mudejarstil). Die bereits durchdringenden Renaissancemotive sind noch den übertriebenen
Prinzipien der beiden Hauptfaktoren angepaßt.
Gracanica (Serbien), Kirche als Beispiel ostmittelländischer Schichte.
Amagu (Armenien), Portallünette als Beispiel ostmittelländisch -isiamischer Durchsetzung:
„byzantinischer“ Madonnentypus in teilweise islamischer Formgebung (Teppich in unverkürzter
Aufsicht, Sitzmotiv, Kopfschmuck), Die in arabeskes Rankenwerk eingegliederten Heiligen-
gestalten des Hintergrundes lassen durch motivische und formale Übereinstimmungen die innere
Zusammengehörigkeit des christlichen Ostens mit dem äußersten mittelländischen Westen („Ro-
manik“) erkennen.
173
EIN HEIDNISCHES ELFENBEINRELIEF DES
TRIESTINER MUSEO CIVICO DI STORIA ED
ARTE IM SPIEGEL DER SPÄTANTIKEN
KUNST AGYPTENS
Mit sieben Abbildungen auf vier Tafeln Von STEPHAN POGLAYEN-NEUWALL
Was heißt eigentlich orientalische Kunst? Versteht man
darunter die im Orient entstandenen Bildwerke, oder solche,
die im Geist und Sinn der orientalischen Schöpfungen im
Nicht-Orient gearbeitet sind? Es muß einmal ausgesprochen
werden, nicht der Ort der Aufbewahrung eines Kunstobjektes,
auch nicht immer der Ort seiner Entstehung sind entscheidend...
Die Frage des Ortes darf nicht mit der geistigen Provenienz
verwechselt werden. (H. Kehrer, Die hl. drei Könige II, 8.18.)
ls Pervanoglu!) die im Triestiner städtischen Museum für Geschichte und Kunst
befindliche Elfenbeintafel (Tafel I, Abb. т) veröffentlichte, hat er sich betreffs
der Herkunftsfrage darauf beschränkt, unter Bezugnahme auf den Aufbewahrungs-
ort der Platte — ihr Fundort ist unbekannt geblieben — auf die Möglichkeit ihrer
Entstehung auf istrischem Boden zu verweisen. Venturi nennt unser Relief in
seiner storia del arte italiana I, р. 502, 531 (Milano тоот) unter den spätantiken
Elfenbeinschnitzereien Italiens. G. Caprin?), der in seiner Beschreibung Triests
eine photographische Nachbildung desselben bringt, knüpft unter Außerachtlassung
von Strzygowskis®) Hinweis auf den Zusammenhang der Tafel mit der spätantiken
Kunst Ägyptens, mit ihrer Bezeichnung als istrische Arbeit an Pervanoglu an. —
Im Folgenden soll den von Strzygowski angedeuteten Beziehungen, deren Erörte-
rung Manches zur Erweiterung der Kenntnis der spätantiken Elfenbeinschnitzerei
beitragen dürfte, in ausführlicher Weise nachgegangen werden.
* Ф
ж
Unser Relief wurde im Jahre 1876 durch das oben genannte Museum aus dem
Nachlaß des Konservators Dr. Kandler erworben. Die Höhe der Tafel beträgt
20,28 cm; die Breite 13,4 cm; die Dicke б—6!/„ mm.
Das von einem durch Putten belebten Rankenrahmen eingefaßte, durch einen
Quersteg zweigeteilte Mittelfeld weist im- oberen Feld die Begegnung der Dios-
kuren, im unteren Europa‘) mit dem Stier. In der oberen Szene zwei aufeinander
zueilende, einander umarmende Knaben: in kurze, ärmellose Tuniken gekleidet, sind
sie mit einer an phrygische Mützen erinnernden Kopfbedeckung versehen; an den
Füßen tragen sie Sandalen. Dahinter — zu beiden Seiten — übereinander an-
geordnet, je zwei die Speere des Brüderpaares haltende Flügelputten (der untere
rechter Hand am Boden kniend). Im unteren Feld in ärmellosem Chiton, um
(х) Pervanoglu, Ein Dyptichon des städt. Museums zu Triest, Arch. Ztg. 1876, S. 131, Taf. 12.
(2) G. Caprin, Trieste (Bergamo 1906), S. 103.
(3) J. Strzygowski, Die Porphyrgruppen von San Marco in Venedig (Beiträge zur alten Geschichte,
Ва. П, 8, 105 — 125.
(4) Strzygowskis Annahme, es könnte auch Pasipha gemeint sein, widersprechen die uns über-
kommenen Darstellungen der beiden Mythen (A. Baumeister, Denkmäler der kl. Altertumskunde,
München und Leipzig 1885, 1887; I, 8. 517—519; II, 8. 1188—1190).
174
die Schultern ein Tuch, Europa, den Stier liebkosend; auf seinem Rücken ein
nacktes Knäblein, das ihn mit der Rechten beim Horn packt; ein anderes will ihn
am Schwanz nach rlickwärts ziehen; zwischen seinen Beinen ein dritter, ge-
flügelter Putto, der am Boden knieend den Stier an den Hinterfüßen gefaßt hat.
In dem Raum zwischen den beiden ersteren Knäblein in einem Rund ein bärtiges
Antlitz. Pervanoglu glaubte in demselben den Besteller des Reliefs erblicken zu
dürfen; mich däucht es wahrscheinlicher, daß wir es hier mit einer abgekürzten
Wiedergabe von Zeus zu tun haben, die zur Verdeutlichung der Szene dienen sollte.
Je zwei von außen zum Schein durch Pilaster gestützte (von denen rechter Hand
sind allerdings nur die Auf lager vorhanden), füchermuschelartige Bekrönungen, Rudi-
mente einer Nischenarchitektur, schließen die beiden Darstellungen in Dreiviertel-
höhe ab. In den Zwickeln, zwischen den Muscheln, wiederholt sich in palmetten-
artig auseinander gefalteten Lappen deren Grundmotiv. Zwischen siebenteiligen
Blättern, die diagonal gerichtet die Ecken des Rahmens betonen — die beiden
oberen berühren mit ihrer Spitze den äußeren, die beiden unteren den inneren
Rand, dessen Dicke dem das Mittelfeld quer teilenden Steg entspricht — schlingt
sich in Rahmenbreite eine Weinranke hin, in ihren Windungen Trauben lesende
und mit Vögeln spielende Flügelputten bergend.
Stier, Gewänder, Blattwerk und darin befindliche Putten weisen Spuren rötlich-
brauner Farbe auf. Am Nischenabschluß wechseln Karmin und Blau; dazwischen
glänzt es von eingestreutem Gold. Auch an der Kleidung und Beschuhung der
Dioskuren sind Reste von Gold wahrzunehmen. Das Bildnisrund ist gleichfalls
goldgefärbt. Das neben dem noch stark vergoldeten linken Vorderbein des Stieres
sichtbare Braun läßt darauf schließen, daß er erst nach vollzogener Grundierung in
brauner Farbe vergoldet worden war. Der Hintergrund des Mittelfeldes ist blau gefärbt,
während der Grund des Rahmens rot mit blau mengt. So ist fast das ganze Relief
in Farbe getaucht; anscheinend wurden nur die entblößten Stellen an den Trägern
der szenischen Darstellungen unbemalt gelassen.
Das Relief ist stark unterschnitten. Die Extremitäten einzelner Figuren sind
völlig vom Grund gelöst, so daß dadurch der Eindruck erweckt wird, als spielte
sich die Szene im freien Raum ab. Die Reliefhöhe entspricht der Höhe der
Rahmeneinfassung.
Die oberen Ecken der Tafel sind abgeschnitten, ebenso der äußere Steg der
Rahmenschmalseiten. Aus dem mittleren Drittel der rechten Rahmenlangseite
ist ein schmaler Streif herausgebrochen. Aus der rechten Hälfte des unteren
Rahmenteiles und aus dem unteren Teil der anstoßenden Längsseite fehlt ein
breiter Streif. Zwei mächtige Sprünge furchen, die Tafel dreiteilend, dieselbe
ihrer ganzen Höhe nach. In der Darstellung der Dioskurenbegegnung ist der
untere Teil des Speerschaftes der Putten abgebrochen, ferner die linke Hand des
rechten Speerträgers; das linke Vorderbein des Stiers fehlt gleichfalls; durch Be-
schädigung des Rahmens sind auch die sich in den Windungen der Weinranken
tummelnden Putten in Mitleidenschaft gezogen worden. Auf der unteren Schmal-
seite des Rahmens sind in seiner Dichte zwei Löcher wahrzunehmen; desgleichen
im oberen und unteren Viertel der linken Längsseite. Sie dienten offenbar der
Befestigung der Tafel auf einer Unterlage, worauf auch das Beschneiden des
Randes hindeutet. Die Rückwand der Elfenbeintafel wurde in jüngster Zeit zur
Verstärkung mit einem Messingblech verkleidet.
Von der irrigen Annahme ausgehend, das Relief wäre erst später vergoldet
worden, schloß Pervanoglu, es hätte einst als Evangeliendeckel gedient. Aller
175
Wahrscheinlichkeit nach gehörte unsere Tafel ursprünglich als Deckel zu einem
jener Kästchen, wie sie die vornehmen Damen der Spätantike zur Aufbewahrung
ihres Schmuckes zu verwenden pflegten. Daher wohl auch die Wahl erotischer
Motive.
* *
*
In den der klassischen Kunst angehörenden Verbildlichungen Europas mit dem
Stier wird durchwegs ihre Entführung geschildert, so daß wir sie stets auf dem
Rücken des Tieres sitzend!) erblicken. Die Annäherung des Stieres an Europa wird
erst in der hellenistischen Kunst, — zumal in der apulischen Vasenmalerei — zum
Gegenstand der Darstellung gemacht. Auf einem jener Bilder sitzt Europa auf einem
Rasenhtigel, den Stier betrachtend, der ihr unterwürfig naht?); auf anderen eilt sie
hurtigen Fußes auf ihn zu und streichelt ihn*); auf zweien der letzteren wird Zeus‘),
in Anlehnung an die auch auf unserer Schnitzerei veranschaulichte Variante des
Mythos, der zufolge der Gott seine Erwählte durch einen von ihm gesandten
Stier entführen ließ, in voller Gestalt oberhalb der Szene sichtbar; dann
wiederum, auf einem spätantiken Mosaik aus Halikarnass, steht Europa in träume-
rischer Haltung neben dem Stier, seinen Hals umschlingend ). Solche Schilderungen
sind es, auf die letzten Endes unser Relief zurückgeht. Auf einem die Empfängnis
Danaés veranschaulichenden Graffito eines spätantiken Wandbelages im Kaiser-
Friedrich-Museum®) — Wulff zufolge die Kopie eines alexandrinischen Vorbildes —
erscheint Zeus in der gleichen verkürzten Darstellung.
Die orientalischer Sitte entsprechende Begrüßung der Dioskuren — ähnlich wird
auch „die Begegnung Mariä mit Elisabeth, wie man sie zuerst auf syrischen Denk-
mälern findet ),“ verbildlicht — regt, wo es sich hier um Männer handelt, vor allem
anderen zu einem Vergleich mit den einander umarmenden Kriegern an der Südfassade
von S. Marco — angeblich die Söhne Kaiser Konstantins — und der Wiederholung
jener Szene in der Bibliothek des Museo Vaticano’) an: Werke zweifellos ägyp-
tischer Herkunft, in deren namentlich bei den vatikanischen Skulpturen merkbarer
Formenhärte, starrem Ausdruck, mißlungenen Proportionen (besonders auffällig die
übergroßen Köpfe) sich unverkennbar koptische Einflüsse äußern. Wie der linke
der Tyndariden dem anderen den rechten Arm um die Schultern legt, wie sie
den Blick aus der Bildebene heraus halb gegen den Beschauer wenden, entspricht
durchaus den obigen Gruppen, mit denen sie auch deren formale Eigentümlichkeiten
teilen. Die von Hintergrundsarchitektur sich lösenden, freiräumlich empfundenen
Dioskuren erinnnern — auch in ihrer Ungeschlachtheit — an die aus einer Muschel-
nische hervortretende, untersetzte Figur des in orientalische Tracht gekleideten
Daniel, wie sie uns eine koptische Holzskulptur des Kaiser-Friedrich-Museums?)
überliefert (Abb. 5). Ihre Bekleidung — in der älteren Kunst auf einen Über-
wurf und eine eiförmige Kappe beschränkt — läßt sich aus dem Bestreben
erklären, ihre Darstellung unter Anlehnung an den Geschmack der damaligen
Zeit umzugestalten. [Siehe auch die zeitgemäß gewandeten Musen des dem aus-
(1—4) J. Overbeck, Atlas der griechischen Kunstmythologie, Leipzig 1872, Taf. VI, 7—11, 14, 16, 18
bis 32; Taf. XII, 5, 6, 20, aa, 23; 2) Taf. VI, 12; 3) Taf. VI, 13, 15, 17; 4) Taf. VI, 13, 17; (5) Taf. VII, 4.
(6) O. Wulff, Neuerwerbungen, S. 31, Fig. 13. (Amtl. Berichte der kgl. Kunstsammlungen, 1913.)
(7) Beispiele bei J. Strzygowski, a. a. O., S. 111 und bei О. Wulff, Altchr. u. mittelalterl. Bildw.,
Berlin 1909, I, S. 202, Nr. 967, 968, Taf. LVIII.
(8) J. Strzygowski, a. a. O., Fig. 1—3.
(9) О. Wulff, a. a. O., S. 73, Nr. 242.
176
Abb. 1. Elfenbeinrelief mit den Dioskuren und Europa im Triestiner
Museo Civico di storia ed arte. (Phot. Alinari)
Zu: POGLAYEN-NEUWALL,
EIN HEIDN. ELFENBEINRELIEF DES TRIESTINER MUSEO CIVICO.
M. f. K. Bd. II, 1921
Tafel 22
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Tafel 23
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Abb. 4. Mit mythologischen Gestalten verzierte Elfenbeintafe!chen (Pariser National-
bibliothek) спо Giraudon)
Zu: POGLAYEN-NEUWALL,
EIN HEIDN. ELFENBEINRELIEF DES TRIESTINER MUSEO СІМІСО.
M. f. K. Bd. Il, 1921
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Abb. 5. Daniel in der Löwengrube. Abb. 6. Genius mit der Fackel.
(Konsolbalken aus Bavit im Berliner Kaiser Knodtenschnitzerei im Berliner Kaiser Friedrich-
Friedrih-Museum) (Phot. Stödtner) e Museum) (Phot. Stödtner)
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Abb. 7. Elfenbeinbildwerk, (Bacchos darstellend)
von der Munsterkanzel zu Aachen.
(Phot. Stödtner)
Zu: POGLAYEN-NEUWALL,
EIN HEIDN. ELFENBEINRELIEF DES TRIESTINER MUSEO CIVICO.
M. f. K. Bd. Il, 1921
gehenden 4. Jahrhundert angehörenden, überkuppelten Salbenbehälters aus dem
Silberschatz vom Esquilin!) und deren Schwestern auf den von einer Kassette
herrührenden, spätantiken Elfenbeinplättchen aus St. Etienne zu Bourges’)
(Abb. 4). — Das Übereinander der hinter den Dioskuren befindlichen Eroten
gemahnt an die übereinander gestaffelten Figtirchen, die an der Aachener Kanzel
umgeben.
In die gleiche Richtung deutet die Rolle, die den Putten in der Darstellung
Europas mit dem Stier, sowie auch im Rahmen angewiesen wird. Ich erinnere
an die Gemäldeschilderungen des Philostratos, welche gleich mit dem hellenisti-
schen Alexandrien verkntipften Arbeiten die ungemeine Beliebtheit des Erotengenre
in der alexandrinischen Kunst belegen. Als Beispiele seien genannt: der Krater
aus dem Hildesheimer Schatz‘), ein Fragment einer Marmorvase aus der letzten
Ptolemäerzeit im Museo civico zu Bologna°), eine in Alexandrien erworbene, von
Wulff ins 3.—4. Jahrh. angesetzte Holzschnitzerei mit Artemis (im Kaiser-Friedrich-
Museum’), ein Salbfläschchen aus dem esquilinischen Fund’), der Porphyrsarkophag
der Constantina®). Solcherart erklärt sich bei den ihre Motive von den Griechen
Alexandriens übernehmenden Kopten jene Vorliebe für Eroten, wie sie auch in
den Kanzelreliefs zu Aachen Ausdruck findet.
Die dem Dekor des Constantina-Sarkophages verwandte Rahmung der beiden
Szenen durch eine wellenfirmige Weinranke, in der sich Knäblein tummeln, —
rundliche Lockenköpfe mit Glotzaugen, auf schwammig molluskenhaften Leibern,
von denen die Schenkel breit herausquellen, — berührt sich enge mit den Aachener
Bacchosreliefs?) (Fig. 7), die einen ähnlichen, von gleichgestalteten Eroten bevöl-
kerten Rahmen weisen. Daneben möchte ich als tertium comparationis die oben
erwähnte Schnitzerei des Kaiser-Friedrich-Museums nennen, die auf der Rückseite
zwei im Geäst eines Baumes übereinander angeordnete, spielende Eroten zeigt.
Die von Wulff hervorgehobene Übereinstimmung in den Typen der Putten und in
der Reliefbehandlung mit den koptischen Kanzelbildwerken läßt sich in gleichem
Maß mit Bezugnahme auf die Triestiner Tafel feststellen.
Unser Relief steht in seiner Farbenpracht unter den antiken Schnitzereien in
Elfenbein und Knochen — von den farbgefüllten hellenistischen Beinritzungen alexan-
drinischer Herkunft!?) sehe ich hier ab — vereinzelt da, indem die Mehrzahl der-
selben gar keine oder nur sehr geringe Farbspuren aufweist.
Die Vorliebe für Unterstreichung des Erotischen, wie sie sich in der Gegenüber-
stellung der Dioskurenszene und des Europamythos kundgibt — man möchte an
eine Gegenüberstellung von Knabenliebe und weiblicher Verirrung unter dem
Deckmantel der Göttersage denken — siehe auch die Art der Liebkosung des Stieres
(s) O. Dalton, Catalogue of early christian antiquities, London 1901, Taf. XIX.
(a) A. Venturi, a. a. O., S. 400, Fig. 364.
(3) J. Strzygowski, Hellen. u. kopt. Kunst in Alexandrien, Wien 19032, Fig. 32, 33.
(4) Pernice-Winter, Der Hildesheimer Silberfund, Berlin 1901, Taf. XXXII, XXXIIL.
(5) Th, Schreiber, Alexandrinische Toreutik, Leipzig 1894, Fig. r23.
(б) O. Wulff, Altchr. u. mittelalt. Bildw., Nr. 244, Taf. УШ. -— Altchr. u. Ьуз. Kunst, 9. 142.
(7) ©. Dalton, a. a. O., 8. 67, Nr. 306.
(8) O. Wulff, Altchr. u. byz. Kunst, S. 140, Fig. 123.
(9) J. Strzygowski, a. a. O., Fig. 45, 46, 48, 49.
(то) J. Strzygowski, Kopt. Kunst, Wien 1904, S. 171—179, Nr. 7060—7.69. — Hellen. u. kopt.
Kunst in Alexandria, S. 12—16, Fig. 5—12. — O. Wulff, Altchr. u. mittelalterl. Bildw. I, S. 103—106,
Nr. 341—355, Taf. XV.
Monatshcfte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 12 177
seitens der Königstochter, ist für die koptische Kunst überaus bezeichnend. Die
Liebschaften des Zeus in Tiergestalt boten der perversen Phantasie des dekadenten
Ägypten weitesten Spielraum. Die zahlreichen Darstellungen Ledas mit dem Schwan
und die verschiedenen Nereidenreliefs!) die sich in Agypten erhalten haben, sind
hinreichende Zeugnisse für das Schwelgen des Kopten im Obszönen.
* А +
Inhaltliche Berührungspunkte ebenso wie solche formaler Natur rücken die
Triestiner Tafel in die Nähe eines im Museo di antichità zu Ravenna befindlichen,
Apollo und Daphne verbildlichenden Elfenbeinreliefs?) (Abb. 3). Auch hier liegt
der Darstellung ein erotisches Thema zugrunde. Beiderseits lösen sich flüchtig
ausgeführte, von handwerklicher Verrohung zeugende, glotzäugige Gestalten scharf
umrissen vom Hintergrund; die jeder Andeutung von Muskulatur ermangelnden,
schwammig ausdruckslosen Leiber der Putten des Triestiner Elfenbeinreliefs finden
in dem ebenso gestalteten Liebesgott zu Apollos Häupten (man greife vergleichs-
weise das in ähnlicher Haltung gegebene mittlere Knäblein des oberen Rahmen-
teiles heraus) ihr Gegenstück.
Schließlich möchte ich hier noch die von Graeven als Ariadne (Jahresh. des
österr. arch. Inst. IV, S. 129), von Venturi als Mänade bezeichnete Elfenbein-
skulptur des Musée Cluny?) (Abb. 3), heranziehen, indem des letzteren zufällige
Nebeneinanderstellung derselben und des Ravennatischen Reliefs die Herkunft
beider Schnitzereien aus dem gleichen Kunstkreis augenscheinlich macht, wodurch
wiederum Beziehungen zu der Triestiner Tafel gegeben scheinen. Neben der
Starrheit des Ausdruckes, den sie auch mit den Gestalten der letzteren gemein
haben, sind der kleine Mund mit wulstiger Unterlippe, die pretiöse Haltung Eigen-
tümlichkeiten, die beide Arbeiten miteinander teilen. Der kümmerliche Baum, іп
welchen sich die von Apoll verfolgte Nymphe wandelt, entspricht den am Wipfel
Blätter treibenden Stauden zu Seiten der sog. Ariadne; zu ihren Häupten mit den
Knäblein der beiden Tafeln übereinstimmend gestaltete Eroten.
Solcherart mit der Schnitzerei des Musée Cluny, deren ägyptische Herkunft von
Strzygowski in Zusammenhang mit den Aachener Kanzelskulpturen nachgewiesen
wurde, aufs engste verknüpft, läßt sich anderseits das zu Ravenna befindliche Relief
zu letzteren in unmittelbare Beziehung bringen. Apollo mag man den fettschen-
keligen, glotzäugigen Bacchos gegenüberstellen, der Nymphe die das Weichlich-
Lüsterne derselben ins Maßlose tibertreibende Nereide‘). Perückenartiger Frisur,
starrem Blick, gezierter, kurvenartiger Schwingung muskellosen Körpers, dem Her
ausheben der Scham — Merkmale, die, teilweise schon an der „Ariadne“ zutage
tretend (man betrachte ihre Züge, ihre Haltung), den Sieg koptischer Formenroheit
über griechischen Schönheitssinn offenbaren — gesellt sich bei den Frauen der Aktäon-
pyxis aus der Sammlung Carrand®) an Daphne erinnernde Gebirde. Augenfällig
zumal die Ähnlichkeit zwischen ihr und der zu Seiten Artemis’ stehenden Nymphe.
(1) Strsygowski, Kopt, Kunst, S. 22, Nr. 7279, Fig. 26. — Hellen. u. kopt. Kunst, S. 45, Fig. 28—31;
S. 43, Fig. 26, 27. — Wulff, a. a, O., S. 23, Nr. 7280, Fig. 26; S. 34, Nr. 7289, Fig. 40.
(2) A. Venturi, a. a. O., I, S. 399. Fig. 363, S. 532.
(3) A. Venturi, a. a. O., I, S. 398, Fig. 362, 9. 530.
(4) J. Strzygowski, Hellenistische und koptische Kunst, Fig. 26, 27.
(5) H. Graeven, Antike Schnitzereien, Hannover 1903, Taf. XX.
178
Mit der Einordnung des Daphnereliefs in den Kreis der den Kanzelfiguren nahe-
stehenden Arbeiten wird uns die Richtigkeit des gleichen Vorganges für die zu
Triest befindliche Elfenbeinplatte bestätigt.
* *
*
Abschließend möchte ich auf die bereits erwähnten Elfenbeinreliefs der Pariser
Nationalbibliothek näher eingehen), da sie infolge der für die meisten Gestalten
nachweisbaren Übereinstimmung mit Lieblingstypen des hellenistischen Alexandrien
Wesentliches zum Verständnis der spätantiken Kunst Ägyptens beizusteuern vermögen.
Unter den Musen erblicken wir Artemis, Apoll. Im unteren Streifen neben einer
in Haltung und Gebärde an Artemis erinnernden Gestalt, angeblich Bacchos (Graeven,
Jahresh., S. 137 und Venturi, a. a. O.), ein Satyr, der auf seiner Doppelflöte einer
tanzenden Mänade aufspielt; rechts davon — gleichsam als Zuschauer — ein Masken-
träger mit einem Kind am Arm (nach Venturis Deutung Telephos mit dem kleinen
Orest) und Silen. Die Epaulien bringenden Mädchen des mit farbgefüllten Bein-
ritzungen verkleideten Kairiner Brautkastens*) haben allerdings nur allgemeine Merk-
male — die gezierte Haltung, Tracht, die Einordnung der Frauen unter eine Rund-
bogenarchitektur, — mit den Musen der Elfenbeinreliefs gemein, die zufolge ihrer
Typenverwandtschaft mit den Musen der zeitlich nahestehenden Kuppelpyxis aus
dem Silberfund vom Esquilin (vgl. die Gestalten Euterpens, Melpomenens, Klios) *)
weit enger mit den letzteren zusammengehen. Artemis entspricht bis aufunbedeutende
Details der auf Seite 177 angeführten Holzschnitzerei des Kaiser-Friedrich-Museums.
Gleichenorts befinden sich vier Wiederholungen (drei Beinschnitzereien und eine
Beinritzung)*) (Abb. 6) des in der obersten Reihe rechter Hand an einem Pfeiler
lehnenden, als Apoll gekennzeichneten nackten Jünglings. Dieser in allen größeren
Sammlungen alexandrinischer Knochenschnitzereien zahlreich vertretene Typus ist
auch für den Bacchos der Aachener Kanzel vorbildlich gewesen. Ebenso haben
sich für den Silen mehrfache Repliken alexandrinischer Herkunft erhalten, darunter
eine Beinschnitzerei des Museums zu Alexandrien“), zwei Beinschnitzereien des
Kaiser-Friedrich-Museums®), eine in rëm, Privatbesitz”): jedesmal derselbe glatz-
köpfige, langbärtige Dickwanst, dessen Brüste, Säcken gleich, auf den Bauch herab-
hängen, dessen Umfang noch durch das darunter gegtirtete Gewand hervorgehoben
wird. Den Flötenbläser könnte man mit alexandrinischen Satyrdarstellungen zu-
sammenbringen?).
* *
*
Die Begegnung der orientalisierten Dioskuren, welche die Kenntnis eines Vor-
bildes in der Art der Kriegergruppen vor San Marco verrät (deren Material, Por-
phyr, in der Nähe von Alexandrien gebrochen und wohl auch daselbst verarbeitet
wurde), ihre Berührungspunkte mit der Holzskulptur des Daniel im Kaiser-Friedrich-
(x) A. Venturi, a. a. O., I, 8. 400, Fig. 364, S. 531.
(2) J. Straygowski, Kopt. Kunst, Wien 1904, S. 17a, Nr. 7060—7064, Taf. XI—XII.
(3) A. Dalton, a. a, O., 8.65.
(4) ©. Wulff, Altchr, u. mittelalt, Bildw., Bd. I, Taf. XVII, Nr. 390—392, Taf. XIV, Nr. 349.
(5) J. Strsygowski, Hellen. u. kopt, Kunst, Taf. I/II, Nr. 2021.
(6) О. Wulff, a. a. O., Taf. ХУШ, Nr. 403'4.
(7) H. Graeven, a. a. O., Taf. 64 С.
(8) О. Wulff, a. a. O., Taf. ХУШ, Nr. 394, 395. — Strzygowski, а. a. O., Taf. I/II, Nr. зоба —
Straygowski, Kopt. Kunst, S. 178, Nr. 7068, Fig. 235.
179
Museum, das Unterstreichen des Erotischen in Wahl und Ausführung des Stoffes
(wobei die Rolle der Amoretten nicht übersehen werden darf, deren Einführung in
szenische Darstellungen sich in Alexandrien gleicher Beliebtheit erfreute wie ihre
Einordnung in Weinranken), schließlich die Beziehungen unserer Tafel zu dem Kreis
der größtenteils alexandrinischen Typen nachgebildeten Kanzelbildwerke dürften
zur Genüge den engen Zusammenhang des Triestiner Reliefs mit der Mischkunst des
spätantiken Ägypten belegen.
Unter annähernd genau datierbaren Werken käme für die Feststellung der Ent-
stehungszeit unserer Schnitzerei infolge der vorhandenen Vergleichsmerkmale vor
allem der in die Nähe ihres Todesjahres anzusetzende Sarkophag der Constantina
(t 354) in Betracht. Ist auch sein für das ausgehende Altertum eigenttimlicher
Dekor — in eine wellenfirmige, von Trauben durchsetzte Ranke eingeordnete Eroten —,
auf dessen Verwandtschaft mit dem Rahmen des Triestiner Reliefs ich bereits hin-
gewiesen, ungleich sorgfältiger ausgeführt (was unsere Tafel unter besonderer Be-
rücksichtigung ihrer weit oberflächlicheren Behandlung des Anatomischen als jünger
anzusehen gestattete), so ist andererseits auf die in wesentlichen Eigenheiten —
den unverhältnismäßig großen Köpfen, den einer genaueren Artikulation der Glieder
entbehrenden, aufgedunsenen, scharf konturierten Leibern — mit den Putten unserer
Elfenbeinplatte übereinstimmende Wiedergabe des Kinderkörpers, ferner auf die ver-
wandte Raumauffassung zu verweisen.
180
GRAPHISCHE BLÄTTER DES 15. JAHRHUN-
DERTS AUS DER STADTBIBLIOTHEK ZU
WINDSHEIM IN FRANKEN Von HEINRICH HÖHN
Mit sioben Abbildungen auf drei Tafeln in Lichtdruck
ie Originale der Blätter, die dieser Arbeit in Reproduktionen beigegeben sind,
befinden sich in Handschriften der Stadtbibliothek Windsheim in Franken.
Der Magistrat hat die Handschriften dem Germanischen Nationalmuseum zur Auf-
bewahrung überwiesen,
Die genannte Bibliothek ist in ihrem Grundstock eine Klosterbibliothek und war
zunächst im Windsheimer Augustinerkloster und dann in der lateinischen Schule
der Stadt untergebracht. Nach Abbruch der Klosterkirche (1592) verlegte man die
Bücherei in den stehengebliebenen Chor der Kirche. Dort wird sie in ihrem Haupt-
bestand noch heute aufbewahrt.
Die den an das Germanische Museum zur Aufbewahrung abgegebenen Bänden
eingeklebten Holzschnitte und Teigdrucke und ein ebenfalls eingeklebter Kupfer-
stich gehören dem fränkischen oder dem schwäbischen Gebiet an und sind bei
Schreiber (in seinem „Manuel de l'amateur de la gravure sur bois et sur metal... .“)
nicht verzeichnet. Sie entstammen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Es
sind folgende Blätter:
1. Anbetung der Könige. Holzschnitt. Südwestdeutsch? Um 1450. 45>< 113 mm.
(Abb. 4.)
Auf die Innenseite des hinteren Buchdeckels eines Sammelbandes mit Hand-
schriften erbaulichen Inhalts in lateinischer Sprache vom Jahre 1471 geklebt. Die
hölzernen Deckel und der Rücken des Einbandes sind mit braunem Leder überzogen.
Auf der Vorderseite des Lederüberzuges in schöner Einpreßarbeit die Gestalt der
heiligen Dorothea, umgeben von geometrischen und Pflanzenornamenten. Rückseite
ebenfalls geometrisch ornamentiert. Hier in den stehenden oder auf die Spitze
gestellten Rechtecken Drache, doppeiköpfiger Adler, Lilie und musizierender Affe.
Wir geben eine Abbildung der Vorderseite des klar und kräftig ornamentierten
Einbandes bei (Abb. r).
Der Holzschnitt zeigt die mit der Krone gezierte Maria auf einem Thron ohne
Rückenlehne vor dem Stallgebäude sitzend. Ihr zur Rechten steht, mit Hose und
Rock bekleidet und fest in seinen Mantel gehüllt, als wolle er sich gegen Winter-
kälte schützen — auch das um den Kopf gezogene und die Ohren verdeckende
Tuch scheint darauf zu deuten —, der auf seinen Stock sich stützende bärtige Joseph.
Das Kind auf dem Schoß Marias greift mit beiden Händen begierig in das goldene
Kästchen, das der kniende König, der seine Krone abgelegt hat, ihr darbringt,
Hinter dem knienden König der zweite. Er trägt in der linken Hand ein horn-
ähnlich geformtes Gefäß und weist mit der Rechten zum Stern am Himmel empor.
Der neben ihm stehende bartiose Mohrenkönig hält in den Händen ein birnen-
förmiges Gefäß mit Deckel und ist mit einem langen schleppenden Uberkleid mit
geschlitzten und gezaddelten Ärmeln bekleidet.
Kolorierung: Der Grund über der Horizontlinie ist im weißen Papierton stehen
gelassen. Mantel der Maria und Gewand des Mohrenkönigs dunkelkarminrot. Rock
des Joseph, Kleid des ersten und des zweiten Königs hellkarminrot. Kleid der
1781
Maria, Mantel des Joseph und Mantel des ersten Königs jetzt blaßviolett, ursprüng-
lich jedenfalls blau. Haar der Maria, des Kindes und des dritten Königs, Nimben,
Kronen, Stern, Thron der Maria, Geschenke der Könige, Mantelband und Gürtel
des dritten Königs, die Architektur des Stallgebäudes und der mit einem grauen
Rand eingefaßte, die Darstellung rahmende Streifen gelb. Fußboden, Mantel des
zweiten Königs und ein Teil der Zaddeln am Mantel des dritten Königs hellgrün.
Der klar in die Fläche komponierten, noch ganz von mittelalterlichem Idealismus
erfüllten, dichterisch wirkenden und volkstümlich-einfachen Darstellung lag offenbar
eine weit bessere Zeichnung zugrunde, als die vergröbernde und im Schnitt stellen-
weise versagende Hand des Holzschneiders — vgl. namentlich den mißratenen Kopf
des knienden Königs — jetzt erkennen läßt.
Eine in mancher Beziehung unserem Blatt verwandte Parallele bietet die An-
betung der Könige, die in der Biblia pauperum enthalten ist, welche in der Uni-
versitätsbibliothek zu Heidelberg aufbewahrt wird (Cod. Pal. germ. 438). Kristeller
hat diese Biblia pauperum als IL Veröffentlichung der Graphischen Gesellschaft,
Berlin, 1906 herausgegeben. Die genannte Anbetung ist einmal farblos, auf Tafel 3,
und einmal farbig, auf Tafel 35, reproduziert. Ähnlich sind auf dieser Schilderung
und der unseren namentlich die Könige: der Typ der Gesichter, die Haltung, die
Formen der Kronen und der Gefäße, die Bekleidung und die Führung der Falten-
züge haben eine keineswegs nur zufällige oder durch den Stil der Zeit überhaupt
bestimmte Ähnlichkeit miteinander. Ähnliches gilt von der Krone und dem Thron
der Maria und dem Formcharakter des Stallgebäudes. Auch in der Kolorierung
stehen die beiden Blätter einander nahe: das Gelb des Stallgebäudes, die Mantel-
farben des knienden und des stehenden Königs jn der Mitte und das Grün an den
Zaddeln des Ärmels des Mohrenkönigs scheinen aus demselben Farbentopf her-
zurühren, aus dem die Holzschnitte der Armenbibel illuminiert wurden. Daß unsere
Darstellung im Gegensinn gezeichnet ist, spricht eher für, als gegen eine Beziehung
zu dem Bilde der Heidelberger Handschrift, und auch die Tatsache, daß hier die
Darstellung zugunsten des Hochformates enger zusammengedrängt ist und daß
Joseph weggelassen wurde, kann an der Verwandtschaft der beiden Holzschnitte
nichts ändern. Vielleicht gehen sie auf ein gemeinsames Vorbild zurück. Kristeller
setzt die Biblia pauperum um 1440/50 an. Und nicht viel später, jedenfalls nicht
nach 1460, wird das hier beschriebene Blatt anzusetzen sein!).
Heranzuziehen wäre hier übrigens noch der Holzschnitt des Münchener Kupfer-
stichkabinetts, den Schreiber in Band I seiner Veröffentlichung von Holzschnitten
des 15. Jahrhunderts aus der graphischen Sammlung in München unter Nr. 43 ver-
öffentlicht hat*). Dieser Formschnitt ist zwar wesentlich reicher als der unsere:
Ochs und Esel sind mit dargestellt und hinter den Figuren dehnt sich eine bergige
Landschaft mit Laub- und Nadelbiumen und turmbewehrten Gebäuden aus, allein
Anordnung und Haltung der Gestalten und besonders die dicht eingehüllte, auf den
Stock sich stützende Figur des gebückt dastehenden Joseph zeigen manchen ver-
wandten Zug. Schreiber bezeichnet das Blatt als oberrheinisch und datiert es
um 1450/60.
(z) Е. Baumeister hat den vorliegenden Holzschnitt im 51. Band der von Р, Heitz herausgegebenen
Kinblattdrucke des 15. Jahrhunderts (unter Nr. 3), wie ich nachträglich sehe, veröffentlicht, setzt ihn
aber etwas früher an.
(2) In der Folge der von Paul Heitz herausgegebenen Einblattdrucke des ı5. Jahrhunderts, Straß-
burg 1912.
182
2. Christuskind mit den Leidenswerkzeugen. Holzschnitt. Oberdeutsch.
Um 1450/60. 128><188 mm. (Abb. 2.)
Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels des oben erwähnten Sammel-
bandes von 1471 geklebt.
Das Christuskind sitzt, nach rechts gewendet, auf einem mit Ranken gemusterten
und an den Ecken mit Knöpfen geschmückten Kissen und hält in der Rechten das
auf der rechten Schulter aufliegende aus unbearbeitetem Holz gefügte und mit den
drei Nägeln und dem Spruchband versehene Kreuz, in der Linken die senkrecht
aufgestellte Lanze. Auf dem Spruchband des Kreuzes: JNRJ, auf einem zweiten
um die Lanze gebogenen Spruchband: Ecce homo dolorem. Hinter dem Rücken
des Kindes Geißel und Martersäule, zu seinen Füßen die Rute.
Die Kolorierung ist ausgezeichnet erhalten und erglänzt in voller Frische. Grund,
Spruchbänder und die Stränge der Geißel hat der Illuminist im weißen Papierton
stehenlassen. Das Haupthaar des Jesuskindes, das Kreuz, der Schaft der Geißel
und der Lanze, der Griff der Rute, die drei sichtbaren Eckknöpfe des Kissens und
das innere Rund des Heiligenscheines sind gelb. Karminrot das Kreuz und der
äußere Rand des Nimbus und das Kissen. Mund des Kindes und die Blutflecken
an der Lanzenspitze ziegelrot. Martersäule und Leib des Heilandkindes rosarot.
Innerer Rand des Nimbus und Erdboden hellgriin.
Das großzügig und meisterlich klar gezeichnete, höchst eindringlich sprechende
Blatt ist eine Variante zu dem Holzschnitt Schreiber Nr. 810 (München, graphische
Sammlung; veröffentlicht von Schreiber in seinen Holzschnitten des 15. Jahrhunderts
in der graphischen Sammlung zu München, Straßburg, 1912, Taf. 46). In den großen
Umrissen stimmt unser Exemplar mit dem Münchener ziemlich genau überein, es
weicht aber in einigen Einzelheiten, besonders in der Innenzeichnung, von ihm ab.
Es ist einfacher als das Münchener: so hat der Kissenüberzug auf unserem Blatte
keine Verschnürung, durch die das Kissen selbst hindurchsieht, und es fehlen die
Andeutung des Knöchels am rechten Fuß, die modellierenden Striche an der Marter-
säule und die perlenartigen Kränze um den runden Kern der Kissenknöpfe. Am
Kinn des Kindes treten nur zwei Halsfalten auf, nicht deren drei wie auf dem
Münchener Formschnitt, und am Gelenk der linken Hand gehen die Falten nicht
so weit in die Innenfläche des Armes hinein, wie wir das auf dem Blatt der
Münchener Sammlung sehen. Schreiber nimmt an, daß die Darstellung nach einem
Gemälde kopiert sei, was dann direkt oder indirekt auch für unsere Variante zu-
treffen würde. Überzeugende Gründe für diese Vermutung habe ich aber nicht
finden können.
3. Christus in der Kelter. Holzschnitt. Wohl fränkisch. Um 1460. Holz-
schnitt selbst: 70x134 mm. Mit Einfassung: 127><193 mm. (Abb. 6.)
Auf die Innenseite des hinteren Deckels des hölzernen, mit Schweinsleder über-
zogenen Einbandes einer auf dem Rücken: „Sermones discipuli in totum annum“
betitelten Handschrift geklebt, die auf der letzten Seite die Bezeichnung: „In Kauben-
heim Anno d. CCCCLVI“ trägt!).
Christus steht, mit einem Lendentuch bekleidet, in der Kelter und faßt, die Rechte
auf den rechten Oberschenkel stützend, mit der Linken den Querbaum der Kelter.
Aus dem Trog läuft das Blut in einen Kelch, aus dem das im Gras stehende Lamm
trinkt. Oben in der Mitte in Wolken Engel und rechts daneben, als Halbfigur,
Gottvater. |
(1) Kaubenheim: ein Dorf bei Windsheim.
183
Die Darstellung ist von einem breiten Schmuckstreifen mit Efeuzweigen, von
denen Blätter und Ranken symetrisch sich abzweigen, umschlossen. In den vier
Ecken und in der Mitte der Längs- und Schmalseiten dieses Zierbandes je eine
Rosette. Der Schmuckstreifen gehörte ursprünglich jedenfalls nicht zu unserem
Holzschnitt, da er für ihn zu weit ist. Er gleicht dem um Holzschnitt Schreiber
Nr. 961 —, ein Blatt, das den Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes darstellt
und einem Manuskript von 1441 aus den Frauenklöstern von Untersdorf und Inzig-
kofen eingeklebt ist!), stammt aber nicht vom gleichen Holzstock ). Übrigens ist
auch das Zierband um den eben erwähnten Kruzifixus nicht zugehörig.
Kolorierung: Grund und Lendentuch im weißen Papierton. Kelter gelb und
ziegelrot. Leib Christi rosa und mit ziegelroten, das rinnende Blut andeutenden
Flecken. Blut im Trog des Kelter karminrot. Grasboden hellgrün. Lamm mit
weißem und gelbem Fell. Himmel oben hellblau und ziegelrot. Engel weiß,
karminrot, hellgrün und gelb. Gottvater rosa, mit grauem Bart und Gewand.
Nimben und Kelch golden. — Der Randstreifen um die Darstellung selbst zinnober-
rot. Der zwischen diesem Streifen und dem äußeren, ornamentierten Band frei-
gebliebene Streifen gelb. Desgleichen der äußere Rand des ornamentierten Bandes,
der Stamm des Efeus, die Querleisten und die runden Kerne der Rosetten. Die
Efeublätter karminrot und hellgrün. Die Rosetten weiß, karminrot und hellgrau.
Das ornamentierte Band hat eine ruhig-schine, geschlossene, an Glasmalerei
gemahnende Gesamtwirkung, die der des etwas mager geratenen Bildes selbst
überlegen ist.
4. Christus am Olberg. Holzschnitt. Wohl fränkisch. Um 1460. Darstellung
selbst: 69><130 mm. Mit dem rahmenden Zierstreifen: 124><186 mm. (Abb. 7.)*)
Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels derselben Handschrift von 1456
eingeklebt, in der der unter Nr. 3 beschriebene Formschnitt mit Christus in der
Kelter sich befindet.
Christus kniet, im Profil gesehen, nach links, mit erhobenen, gegeneinander-
gelegten Händen. Auf einem Felsen vor ihm der Kelch mit der Hostie. Links
vorn ruhen drei schlafende Jünger. Im Hintergrund Felsen und drei Bäume. —
Um die Darstellung, die ein Beispiel dafür ist, daß in jener Zeit selbst unbeholfen
und handwerklich gearbeitete Blätter des Ausdrucks nicht entbehren, eine offenbar
nicht für dieses Bild bestimmte, interessante Einfassung mit acht Drachen (je zwei
auf jeder Seite) und sechs Fratzen (je eine in den vier Ecken und je eine in der
Mitte jeder Längsseite) zwischen Blattwerk. Auf den Längsseiten stecken die
Schweif-Enden der Drachen im Maule der Fratzen‘).
Die Kolorierung ist derb und beeinträchtigt die klare Wirkung der einzelnen
(z) Abgebildet bei Stengel, Holzschnitte aus dem Kupferstichkabinett des German, Museums, 1913,
Nr. XI.
(2) Eine andere Wiederholung dieser ornamentalen Einfassung hat der Holzschnitt mit der Verkün-
digung in der Wiener Hofbibllothek. Haberditzl, Die Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts in der
Kupferstichsammiung der Hof bibliothek Wien (Wien 1920), Nr. 38.
(3) E. Baumeister hat das Exemplar der Sammlungen des Fürstl. Hauses Ottingen-Wallerstein (Mai-
hingen) im 52.Bd. der von P. Heitz herausgegebenen Formschnitte des 15. Jahrhunderts (unter Nr. 20)
veröffentlicht, es ist aber unvollständig.
(4) Vergl. die Einfassung des den heil. Michael darstellenden Holzschnittes, Schreiber 1627, abgeb. in:
Haberditzl, Die Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts in der Kupferstichsammlung der Hofbibliothek
Wien (Wien 1920), Nr. 143. Die Einfassung unseres Holzschnittes ist eine freie Kopie nach der in
Wien befindlichen.
184
Tafel 26
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Tafel 28
(Holzschnitt).
Abb. 7. Christus am Olberg.
WINDSHEIM IN FRANKEN.
(Holzschnitt )
Zu: H. HOHN, GRAPHISCHE BLATTER DES 15. JAHRHUNDERTS AUS DER STADTBIBLIOTHEK ZU
Abb. 6. Christus in der Kelter.
‚ Bd. Il, 1921
Digitized by Google
Formen. Christus in hellgrauem, mit Schwarz modelliertem Gewand. Hände und
Gesicht rosa. Nimbus, wie der der Jünger und wie der Kelch, golden mit schwarzer
Zeichnung. Gesichter der Jünger rosa, Haar gelb und dunkelbraun, Gewänder gelb,
hellblau und zinnoberrot. Rasen und Bäume hellgrün. Felsen karminrot, grau und
schwarz. Himmel in hellem, nach oben an Tiefe zunehmendem Blau. — Rand-
einfassung der Darstellung selbst zinnoberrot, wie auch die äußere Einfassung des
rahmenden Zierbandes. Die Drachen im Zierband haben hellgelbe, die Fratzen
weinrote und das Laubwerk hellgrüne Farbe.
5. Crucifixus zwischen Maria und Johannes. Teigdruck. Fränkisch Um
1450. 132><179 mm. (Abb. 3.)
. Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels eines lateinisch geschriebenen
„Compendiums theologiae Sti Thomae de Aquino“ geklebt.
Maria in Kopftuch und weitem Mantel, die linke Hand das Kopftuch fassend,
wie um sich Tränen abzuwischen oder zu verhüllen, mit der rechten den Mantel
haltend. Johannes erhebt, dem Heiland zugewendet, den Kopf und die gegen-
einandergelegten Hände. Im Nimbus von Maria und Johannes jedesmal der Name.
Der Nimbus Christi ist ornamentiert. Am Fuß des Kreuzes auf dem Rasen ein
liegendes Tier (als Sinnbild des überwundenen Bösen?) Am Kreuze selbst ist die
Holzmaserung gegeben. Hinter der Darstellung ein rautenförmig gemusterter Grund.
Kolorierung: Grund, Kreuzstamm, Nimben, Kopftuch und Mantel Mariae, Haare
und Kleid des Johannes und Fußboden braun. Leib Christi, Gesicht und Hände
der Maria und des Johannes, dessen Füße und das Tier rosa. Lendentuch Christi
und Mantel des Johannes weiß. Das Kreuz im Nimbus Christi und das Kleid der
Maria hellblau. Die Darstellung ist von zwei Streifen umschlossen, von denen der
innere hellgrüne, der äußere zinnoberrote Farbe hat.
An vielen Stellen, namentlich links oben, rechts und unten längs des Randes
stark abgeblättert.
Ein Holzschnitt in der Staatsbibliothek in München klingt in einigen Zügen an
unseren Teigdruck an. Wir meinen den auf Tafel 5 im ro., von Georg Leidinger
herausgegebenen Band der Heitzschen Einblattdrucke.
Leidinger bemerkt (auf Seite ro des Textes) zu dem Münchener Blatt, daß das
gerippte Papier darauf hinzudeuten scheine, daß man hier dem Eindruck des Zeug-
druckes sich habe nähern wollen. Die braune Farbe der Kolorierung aber rufe
Ähnlichkeit mit dem Teigdruck hervor. „Es besteht demnach ein merkwiirdiger
Zusammenhang dieses Holzschnittes mit anderen Techniken aus der Inkunabelzeit
der graphischen Künste.“ Leidinger setzt das Münchener Blatt um 1460 an und
vermutet Nürnberg als Entstehungsort.
Die Haltung Christi, die Anordnung seines Lendentuches und die Innenzeichmung
der Formen des Oberkörpers sind auf beiden Darstellungen im großen und ganzen
ähnlich. Auch die Gesichtstypen und die Haltung von Maria und Johannes, nament-
lich die Art und Weise, in der Johannes Kopf, Arme und Hände hebt und in der
sein Mantel angeordnet ist, gleichen auf beiden Stücken einander. Daß neben
alledem auch sehr merkliche Unterschiede vorhanden sind, soll gewiß nicht über-
sehen werden, allein als Grundton klingt doch immer wieder eine gewisse, nicht
nur im Zeitstil begründete Verwandtschaft hindurch. Sie zeigt sich selbst in der
auf erdfarbenes Braun und auf Weiß gestimmten Kolorierung, die den beiden Blättern
einen Charakter verleiht, der an das Braun von Mönchskutten gemahnt und ihnen
die herbe Stimmung von Enthaltsamkeit und ernster Arbeit im Dienste klöster-
lichen Daseins verleiht. Der Münchener Formschnitt, der übrigens ganz wesentlich
185
größer als unser Teigdruck ist, zeigt im Grunde große üppige Blumen, zwischen
denen kleine weiße Blütchen aufleuchten, und auch der Wolkenfries, aus dem
Strahlen hervorbrechen, und die Gesichter von Sonne und Mond tragen wesentlich
zu einer Belebung des Ganzen bei. Zeichnerisch ist die Münchener Crucifixus-
darstellung weit gewandter und flüssiger, und die Figuren sind freier bewegt und
mit feinem Gefühl für dekorative Wirkung der reich und locker ornamentierten
Fläche eingegliedert. Der Urheber des Teigdruckes war viel unbeholfener: die
Gestalt des Johannes stört durch den zu groß geratenen Kopf und die zu großen
Hände das Gleichgewicht der Komposition, und auch in der Zeichnung der Gesichter
des Heilands und des Apostels war eine ungeschickte derbe Hand und gewiß kein
beweglicher und bedeutender Erfindergeist am Werk. Aber durch all’ diese Un-
beholfenheit und den einfach-derben Sinn leuchtet doch eine große Innerlichkeit
hindurch; man gewahrt deutlich, daß der Urheber des Blattes mit dem, was er an
seelischem Ausdruck geben wollte, es redlich ernst nahm. Und die herbe spröde
Zeichnung und Formengebung verleiht dem Ganzen, das, eben weil sein Schöpfer
regelrecht sich abmühen mußte, um es zuwegezubringen, wärmer und persönlicher
wirkt, doch auch seinen besonderen Reiz.
6. Christus als Schmerzensmann. Teigdruck. Fränkisch-Schwäbisch. Um
1450. 144><220 mm.
Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels einer ,,Postilla. Augustinus de
igne purgatorio“ bezeichneten lateinischen Handschrift geklebt.
Halbfigur Christi, nackt bis zu den Hüften, vor dem T-férmigen Kreuz, an dessen
Armen Rute und Geißel hängen. Er hat den mit der Dornenkrone umwundenen
Kopf leicht gegen seine linke Schulter geneigt und zeigt, mit der Rechten auf die
rechte Seite seines Oberkörpers deutend und die Linke erhoben und mit der Innen-
fläche dem Beschauer zukehrend, seine Wundmale. Um das Hüfttuch Wolken-
streif, aus dem Strahlenbiindel kommen. Der Grund ist mit bliihenden Arabesken
gemustert.
Farbe: Braun auf purpurnem Grund. Sehr schönes, großzügig aufgefaßtes Blatt
von teppichähnlicher Schmuckwirkung. Leider ist es, namentlich an mehreren
Stellen des Kopfes, des Rumpfes, der erhobenen linken Hand und der Wolken,
stark abgeblittert.
7. Crucifixus zwischen Maria und Johannes. Kupferstich. Kopie nach dem
Stich des Meisters von 1462, Lehrs Nr. 3 (Geschichte und kritischer Katalog.,
Bd. І, S. 233 f.). 91><148 mm. Plattengröße rr1><156 mm. (Abb. 5.)
Auf die Innenseite des hölzernen mit Leder überzogenen vorderen Einbanddeckels
eines geschriebenen Missale, dem ein Kalendarium vorangeht, geklebt. Papier mit
Ochsenkopf als Wasserzeichen, ähnlich dem Wasserzeichen des von Lehrs unter
Nr. 21 abgebildeten großen Liebesgartens vom Meister der Liebesgärten.
Kolorierung: Das Blut am Leibe Christi, Außenseiten der Flügel des Engels unter
dem linken Arm Christi und das Gewand des Johannes zinnoberrot. Gewänder der
Engel und der Maria karminrot. Mantel der Maria blau, mit gelber Innenseite.
Im gleichen Gelb Innenseite des Mantels des Johannes, das Kruzifix, die Haare der
Engel und des Johannes und die am Kreuz eingerammten Pflöcke. Haar Christi,
Innenseiten der Engelflügel, Gewand des Johannes und Erdboden unmittelbar unter
dem Kreuz braun. Grasboden hellgriin. Himmel mit braunen Querstrichen belebt.
Vom Original unterscheidet sich unsere Kopie zunächst durch kleine Unterschiede
in den Abmessungen: so namentlich in der Entfernung des Punktes, an dem die
Rückenlinie der Marienfigur die Bodenlinie schneidet, vom gleichen Punkt in der
186
Rückenlinie der Johannisgestalt. Auf dem Originalabdruck beträgt dieser Abstand
72½ mm, auf dem vorliegenden Blatt dagegen 74 mm. — Unter den zeichnerischen
Einzelheiten fallen besonders folgende Unterschiede auf: die Hand des Johannes ist
auf der Nachbildung größer; in der Gewandbehandlung hat der Kopist einiges
verändert, z. B. bildete er die zwei kleinen Mantelbäusche über der rechten Hand
der Maria zu einem um, und zwar gab er diesem eine schmale Mittelfalte, die nicht
nach oben sich verbreitert wie auf dem Original; weiter zeichnete er den Nasen-
rücken Christi nicht nach außen gebogen, wie der ursprüngliche Stich ihn zeigt,
sondern ziemlich gerade, gab das den Händen entströmende Blut, das auf seinem
Vorbild dargestellt ist, nicht an, formte die die Hände durchbohrenden Nägel
schmaler, bildete die schwarzen Dreiecke im Heiligenschein Christi größer, ver-
wendete aber weit weniger Sorgfalt auf die Charakteristik der Maserung des Kreuz-
stammes und der Formen des Erdhügels unter dem Kreuz und bog endlich die
untere Randlinie der Darstellung nicht nach innen, wie wir das auf dem originalen
Blatt sehen, sondern nach außen.
Vor allem ist der Geist, aus dem heraus die Kopie entstand, ein wesentlich an-
derer als der des Originals. Kopistenarbeit wird, wenn sie möglichst genau sein
will, gewöhnlich an einer gewissen Ängstlichkeit und Trockenheit kenntlich. Und
das ist auch hier der Fall. Die Zeichnung bewegt sich in dünnen, zaghaften, be-
fangen geführten Linien, und ihr Urheber hat — aus Ängstlichkeit oder Bequemlich-
keit — jegliche entschiedene Schattenangabe vermieden. Jeder Umriß und jede
plastische Form wurde unter seiner Hand flauer und ins Zahme, Weichliche hinein-
gerundet. Das Original dagegen hat warmes Leben in jedem Strich, — insbesondere
die Umrisse des Christuskörpers reden eine sehr gefühlte und lebendige Sprache.
Ein kräftiges Temperament, das von eigenem Erleben genährt war, äußert sich
hier in klarer Ausprägung. Vor dem Stich, der unserer Kopie zugrunde liegt, be-
stätigt sich wieder die für jeden wirklichen Künstler geltende Wahrheit, die Goethe
im Götz aussprach: daß das, was den Dichter macht, ein volles, ganz von einer
Empfindung volles Herz ist.
187
DIE ENTWICKLUNG DER PROPORTIONS-
LEHRE ALS ABBILD DER STILENTWICK-
Mit zehn Abbildungen auf zwei Lichtdrucktafeln
LUNG und zehn Abbildungen im Text Von ERWIN PANOFSKY
р ел über Proportionsfragen werden meist mit Skepsis, mindestens
aber ohne besonderes Interesse aufgenommen. Beides ist nicht verwunder-
lich. Das Mißtrauen gründet sich auf die Beobachtung, daß gerade die Proportions-
forschung allzu häufig der Versuchung unterliegt, aus den Dingen etwas heraus-
zulesen, was sie selbst in sie hineingelegt hat; die Gleichgültigkeit erklärt sich aus
der neuzeitlich - subjektivistischen Anschauung, daß eine ktinstlerischen Leistung
etwas schlechterdings Irrationales sei. Ein moderner Betrachter empfindet es
bei seiner immer noch wesentlichromantischen Kunstauffassung geradezu als pein-
ich, mindestens aber als uninteressant, wenn der Historiker ihm sagt, daß dieser
oder jener Darstellung ein rationales Proportionsgesetz oder gar ein bestimmtes
geometrisches Schema zugrunde liege.
Gleichwohl ist es für die wissenschaftliche Kunstforschung (vorausgesetzt, daß
sie sich ganz auf die gesicherten Tatsachen beschränkt und lieber mit dürftigem als
mit zweifelhaftem Material zu arbeiten bereit ist) keineswegs unlohnend, sich mit
der Geschichte der Proportionsstudien zu befassen. Nicht nur, daß es durchaus
nicht gleichgültig ist, ob bestimmte Künstler oder Kunstepochen überhaupt Pro-
portionslehre getrieben haben oder nicht: auch das Wie ihrer Handhabung ist von
entscheidender Wichtigkeit. Denn es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß Propor-
tionslehre und Proportionslehre stets ein und dasselbe sei: es besteht ein essen-
tieller Unterschied zwischen der Methode der Ägypter und der Methode Polyklets,
zwischen dem Verfahren Lionardos und dem Verfahren des Mittelalters — ein
ebenso großer und vor allem ein ebenso gearteter Unterschied, wie er auch
zwischen der Kunst der Ägypter und der der klassischen Antike, zwischen der
Kunst Lionardos und der des Mittelalters festzustellen ist. Wenn wir die unter-
schiedlichen Proportionssysteme, von denen wir Kenntnis haben, nicht der Er-
scheinung, sondern dem Sinne nach zu erkennen suchen, d. h. nicht sowohl die
in ihnen gegebene Lösung, als vielmehr die in ihnen enthaltene Fragestellung be-
trachten, so werden sie sich uns als Ausdruck ebendesselben „Kunstwollens“ offen-
baren müssen, das sich in den Bauten, Bildwerken und Gemälden der gleichen
Zeit oder des gleichen Meisters verwirklicht hat: die Geschichte der Propor-
tionslehre ist das Abbild der Stilgeschichte, und bei der Unzweideutigkeit,
mit der wir uns auf mathematischem Gebiet miteinander verständigen können, darf
sie sogar als ein Abbild gelten, das sein Urbild an Deutlichkeit oft übertrifft.
Man könnte behaupten, daß die Proportionslehre das häufig nicht ganz leicht in
Begriffe zu fassende „Kunstwollen“ in klarerer oder mindestens in bestimmbarerer
Form zum Ausdruck bringt, als die Kunstwerke selbst.
L
Unter Proportionslehre verstehen wir, wenn wir mit einer Definition beginnen
wollen, die Lehre von den Größenverhältnissen der lebendigen Naturwesen, in-
sonderheit des Menschen, insoweit diese Wesen Gegenstand einer bildktinstlerischen
Darstellung werden sollen. Schon diese Definition läßt voraussehen, auf wie ver-
188
schiedenen Bahnen die Proportionsstudien sich bewegen konnten. Jene Größen-
verhältnisse ließen sich ebensowohl durch Zerlegung eines Ganzen, als durch Ver-
vielfältigung einer Einheit ausdrücken; bei ihrer Ermittlung konnte ebensowohl das
Streben nach Verwirklichung des Schönen maßgebend sein, als das Interesse am
Charakteristischen, als endlich das Bedürfnis nach einer Festlegung des Traditionellen;
und vor allem konnten die Proportionen ebensowohl für den Gegenstand der
Darstellung, als für die Darstellung des Gegenstandes Geltung besitzen:
es ist ja etwas vollkommen anderes, ob ich frage, „wie verhält sich normaler-
weise bei einem ruhig vor mir stehenden Menschen die Länge des Oberarms zur
ganzen Körperlänge?“, oder ob ich frage, „wie soll ich hier auf meiner Bildtafel
oder auf der Oberfliche meines Marmorblocks die Länge des Oberarms im Ver-
hiltnis zur Gesamtlänge bemessen?“ Jenes ist eine Frage nach den objektiven
Proportionen, deren Beantwortung der künstlerischen Gestaltung vorangeht —
dieses ist eine Frage nach den fakturalen Proportionen, deren Beantwortung
erst in dem künstlerischen Vorgang selber liegt, und die nur da gestellt und
gelöst werden kann, wo die Proportionslehre zugleich (oder sogar in erster Linie)
Konstruktionslehre ist.
So mußten sich drei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten ergeben,
die „Lehre von der Maß“ zu betreiben: die Proportionslehre kann entweder auf die
Festsetzung der „objektiven“ Proportionen ausgehen, ohne sich um deren Verhältnis
zu den „fakturalen“ zu bekiimmern — oder sie kann auf die Festsetzung der fak-
turalen Proportionen ausgehen, ohne sich um deren Verhältnis zu den objektiven
zu bekiimmern — oder sie kann sich endlich dieser ganzen Alternative überhoben
sehen, dann nämlich, wenn fakturale und objektive Proportionen miteinander zu-
sammenfallen.
Diese zuletzt genannte Möglichkeit hat sich nur ein einziges Mal ganz rein ver-
wirklichen können: in der Kunst der Ägypter’).
Drei Umstände sind es nämlich, die das Zusammenfallen der fakturalen Maße
mit den objektiven verhindern, und alle drei hat die ägyptische Kunst — soweit
nicht besondere Bedingungen seltene Ausnahmen begründeten — grundsätzlich
unwirksam gemacht, oder besser völlig ignoriert. Erstens die Tatsache, daß
innerhalb eines organischen Körpers jede Bewegung die Maße sowohl des be-
wegten Gliedes, als auch der übrigen Teile verändert; zweitens die Tatsache,
daß der darstellende Künstler infolge der natürlichen Bedingungen des Sehvorganges
den Gegenstand in bestimmten Verkürzungen wahrnimmt; — drittens die Tat-
sache, daß ein etwaiger Beschauer das fertige Werk ebenfalls in einer Verkürzung
erblickt, die dann, wenn sie erheblich ist (z. B. bei hoch aufgestellten Skulpturen),
durch eine Abwandlung der objektiv richtigen Proportionen ausgeglichen werden
muß.
Von allen diesem kann bei den Ägyptern keine Rede sein: die den Eindruck
des Beschauers korrigierenden Ausgleichsmittel (die „temperaturae“, auf denen
nach Vitruv die’ „eurhythmische“ Wirkung des Kunstwerks beruht), werden grund-
sätzlich verschmäht; die Bewegungen der Figuren sind nicht organisch, sondern
mechanisch, d. h. sie bestehen in reinen Lageveränderungen bestimmter Glieder,
die weder auf die Form, noch auf die Maße des übrigen Körpers zurückwirken;
und selbst auf die Verkürzung (sowie auf die Modellierung, die ja mit malerischen
(z) Und bie zu einem gewissen Grade in der ihr stilverwandten Kunst der asiatischen Völker und des
griechischen Archaismus.
189
Mitteln dasselbe leistet, was die Verkürzung mit zeichnerischen), hat diese Kunst
bekanntlich verzichtet: die Malerei und Relietbildnerei — im Ägyptischen ist daher
das eine vom anderen stilistisch nicht unterschieden — verzichtet auf die schein-
bare Vertiefung der Ebene im Sinn der omaypayla, und die Skulptur verzichtet
auf die scheinbare Einebnung der Tiefe im Sinne der von Hildebrand geforderten
Reliefhaftigkeit. Hier wie dort wird der Gegenstand vielmehr in einer Ansicht
dargestellt, die eigentlich gar keine An-Sicht ist, sondern ein geometrischer Riß:
die Teile der menschlichen Gestalt insbesondere werden so disponiert, daß sie
sich sämtlich entweder in reiner Frontalprojektion, oder aber in reiner Orthogonal-
projektion zur Geltung bringen!), und zwar sowohl in der Skulptur, als in der
Flächenkunst — nur mit dem einen Unterschied, daß die Skulptur wegen der Viel-
flächigkeit ihrer Blöcke in der Lage ist, uns sämtliche Projektionen vollständig,
aber getrennt vor Augen zu führen, daß dagegen die Flächenkunst sie unvoll-
ständig, aber vereint zur Darstellung bringt, indem sie Kopf und Beine in reinem
Profil, Brust und Arme aber in reiner Frontansicht zeigt.
Die skulpturalen Werke tragen (wegen der Abrundung der Formen) in vollende-
tem Zustand diesen geometrisch-baurißmäßigen Charakter nicht so deutlich zur
Schau, wie die Malereien und Reliefs — aber wir vermögen an vielen unvoll-
endeten Stücken zu erkennen, daß sie doch stets von den auf die Biockflächen
aufgetragenen Rissen ihren Ausgang nehmen: man sieht ganz deutlich, wie der
Künstler auf den Vertikalebenen des Blockes die vier Aufrisse (und gegebenenfalls
auf der oberen Deckfläche desselben einen Grundriß)?) verzeichnete, wie er dann
diese Risse durch Wegschlagen der überschüssigen Steinmasse herausarbeitete, so
daß die Form durch ein System von rechtwinklig zusammenstoßenden Ebenen
und verbindenden Schrägflächen begrenzt wurde, und wie er endlich die dadurch
entstehenden scharfen Schnittkanten beseitigte (Taf.29, Abb. 1). Überdies ist vor
einigen Jahren eine Bildhauer - Werkzeichnung zutage gekommen, die das völlig
baumeisterliche Verfahren dieser Skulptoren aufs anschaulichste illustriert: als ob
es sich um einen Hausbau handele, hat der Bildhauer seinen Sphinx in Vorder-
aufriß, Grundriß und Profilriß aufgenommen (letzterer nur zum kleinsten Teil er-
halten), so daß man noch heute die Figur danach ausführen könnte (Taf. 29, Abb. a)“).
Unter diesen Umständen mußte der ägyptischen Proportionslehre von vornherein
die Entscheidung erspart bleiben, ob sie die objektiven oder die fakturalen Maß-
verhältnisse feststellen, ob sie Anthropometrie oder Konstruktionsiehre sein solle:
(1) Eine Ausnahme bildet in der Flächenkunst bekanntlich nur die Stelle oberhalb der Hüfte; allein
auch bier handelt es sich nicht um eine wirkliche Verkürzung, а. h. um die Wiedergabe eines ob-
jektiv schräg gestellten Körperstücks, sondern um eine rein zeichnerische Überleitung zwischen dem
Face-Aufriß der Brustpartie und dem Profil-Aufri6 der Beine — um eine Form, die sich von selbst ergab,
wenn jener mit diesem durch zwei Konturlinien verbunden werden sollte. Erst der griechischen
Kunst blieb es vorbebalten, diese rein graphische Konfiguration im Sinne einer wirklichen Drehung
auszudeuten: besonders deutlich bei Liegefiguren, vgl. ж, В, den ägyptischen Erdgott Keb mit den
niedergestürzten Gestalten der griechischen Kunst, wie dem Giganten vom Giebel des „jüngeren
Athenatempels“.
(2) Dies letztere war da geboten, wo es sich um Kompositionen von bedeutender Horizontalerstreckung
handelte, also bei der Darstellung von Tieren, Sphingen, liegenden Menschen, oder bei der Her-
stellung einer aus mehreren Einzelgestalten sich zusammensetzenden Gruppe.
(3) Amtl, Ber. aus der kgl. Kunstsammlung XXXIX, col. 105 ff. (Borchardt.) Unser Lichtdruck ist
nach einer Originalphotographie hergestellt, für deren Überlassung Herrn Geheimrat Borchardt hier
nochmals herzlich gedankt sel.
190
sie war notwendigerweise beides in einem. Denn die „objektiven“ Propor-
tionen eines Gegenstandes zu bestimmen, d. h. seine Höhen-, Breiten- und Tiefen-
werte maßstäblich zu fixieren, bedeutet ja nichts anderes, als eben die Maße seines
Aufrisses, seines Grundrisses und seines Profilrisses zu ermitteln Und so gewiß
die Darstellung des Ägypters sich nur in diesen drei Rissen bewegte (nur, daß er
sie als Plastiker nebeneinandersetzte, als Flächenkünstler aber miteinander kombi-
nierte): so gewiß mußten innerhalb einer solchen Darstellung die fakturalen Pro-
portionen mit den objektiven identisch sein — mußten die relativen Abmessungen
des Gegenstandes, wie sie in jenen Breiten-, Höhen- und Tiefenwerten enthalten
sind, zusammenfallen mit den relativen Abmessungen der Darstellung, wie sie auf
dem Malgrund oder den Blockflichen in die Erscheinung treten. Wenn der ägyp-
tische Künstler sich die objektive Gesamtlänge der Menschengestalt in 18 oder
22 Teile eingeteilt dachte und überdies wußte, daß die Fußlänge 3 oder 3'/,,
die Länge der Unterschenkel 5 solcher Einheiten betrug‘), so wußte er ohne
weiteres, welche Werte er auf seinen Malgrund oder auf den Oberflächen seines
Steinblocks zu verzeichnen hatte.
Wir wissen aus vielen erhaltenen Beispielen*), daß die Ägypter sich bei dieser
Einteilung der Block- oder Wandflächen eines engmaschigen Quadratnetzes be-
dienten, das sogar bei den in ihrer Kunst so stark hervortretenden Tierdarstellungen
zur Anwendung gelangte’). Den Sinn dieses Netzes wird man am besten dann
erkennen, wenn man es mit derjenigen Quadrierung vergleicht, deren sich der
neuzeitliche Künstler zur Übertragung seiner Komposition auf eine größere Fläche
bedient (mise au carreau). Während nämlich dieses Verfahren eine Vorzeichnung
voraussetzt, die — an und für sich an keine Quadratur gebunden — an willkür-
lich gewählten Stellen mit senkrechten und wagrechten Linien überzeichnet wird,
läßt der Ägypter die Form allererst aus dem Quadratnetz entstehen: da die Ver-
tikalen und Horizontalen ein für allemal auf ganz bestimmte Stellen der Figur
festgelegt sind, muß umgekehrt das Quadratnetz dem Maler und Bildhauer ohne
weiteres den Aufbau der Figur indizieren — er wird von vornherein wissen, daß
er den Fußknöchel auf die erste, das Knie auf die sechste, die Schultern auf die
sechzehnte Horizontallinie zu legen hat usw. (Abb. r.)
Das Quadratnetz der Ägypter hat also nicht transportative, sondern konstruktive
Bedeutung. Und man brauchte sich nicht einmal mit der Festlegung der Maße
zu begnügen: denn da sich bei den ägyptischen Figuren die Tatsache des Aus-
schreitens oder des Zuschlagens nur in stereotypen Veränderungen der Lage
und nicht in wechselnden anatomischen Verschiebungen der Form zur Geltung
brachte, so konnte auch die Bewegung durch bloß quantitative Angaben ausreichend
bestimmt werden, indem man etwa dahin übereinkam, daß die Schrittlänge einer
in Ausfallstellung begriffenen Gestalt (von Fußspitze zu Fußspitze gemessen)
10'/, Einheiten betragen, solle, während man bei der ruhig stehenden Figur diese
(х) Die Einteilung in 18 Teile entspricht dem älteren, die іп за Teile dem jüngeren Kanon; doch
bleibt beidemal das obere Stück des Schädels (dort vom Stirnknochen, hier vom Haaransatz ab ge-
rechnet) außer Betracht, da die Mannigfaltigkeit der Frisur und des Kopfschmuckes in dieser Be-
ziehung einen gewissen Spielraum erforderte. Literatur bei Schäfer. Von ag. Kunst, 1919, U, 8. 236,
Anm. 105. Das Aufklärendste ist Edgars Aufsatz in Travaux relatifs à la philologie . . . égypt. XXVII,
S. 137 fl., und seine Einleitung zum 25. Band des Kairener Generalkatalogs.
(2) Besonders zahlreich im Museum zu Kairo. Sehr instruktiv ist auch der im Hildesheimer Pelizaeus-
Museum befindliche Wandbilderzyklus Ptolemius’ I,
(3) Edgar, Katalog S. 53. Vgl. auch Erman in Amtl. Ber. XXX, S. 197 ff.
191
Entfernung auf Ai, oder 5'/, Einheiten festsetzte'). Man könnte ohne allzugroße
Übertreibung behaupten, daß dem mit dem Proportionssystem vertrauten ägypti-
schen Künstler, wenn man ihm die Aufgabe stellte, eine stehende, sitzende oder
schreitende Figur darzustellen, die Gestalt bereits durch die Festsetzung ihrer
absoluten Größe gegeben war’).
Damit kennzeichnet sich die Art, wie die Ägypter die Proportionslehre hand-
habten, als klarer Ausdruck ihres Kunstwollens, das nicht auf das Variable, son-
dern auf das Konstante, nicht auf die Erfassung der lebensvollen Gegenwart, son-
dern auf die Symbolisierung einer zeitlosen Ewigkeit gerichtet war: wenn ein
griechischer Künstler eine Menschen-
|i | | tt ft | LANJ | | | | gestalt hervorbrachte, so sollte ihr ein
| [AF] | | i И TAL ING TI) nur scheinbares, aber aktuelles Leben ver-
wl | liehen werden, indem sie die Funktionali-
tät des menschlichen Organismus wie-
derspiegelte — wenn ein Ägypter eine
Menschengestalt hervorbrachte, so sollte
sie eines realen, aber nur potentiellen
Lebens teilhaftig sein, indem sie die Daseins-
form der menschlichen Körpergestalt in
dauerhafterer Materie neuerstehen ließ. Wir
wissen ja, daß die ägyptische Grabstatue
nicht geschaffen wurde, um eigenes Leben
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Abb. 1. Der „jüngere“ Kanon der altägyptischen
Kunst (aus: Travaux relatife à la philol. et
archéol. égypt. XXVII, 1905, S. 144).
langen, weil der Sphinx sich eben aus
vorzutäuschen, sondern um einem fremden
Leben (dem Leben des Seelenwesens Ka)
als materieller Träger zu dienen; während
dasplastische Abbild bei den Griechen einen
Menschen bedeutet, der da lebt, ist
es bei den Ägyptern ein Körper, der da
leben soll: dort existiert das Kunstwerk
in einer Sphäre der ästhetischen Idealität
— hier in einer Sphäre magischer Wirk-
lichkeit, dort ist das Ziel des Künstlers
eine ulunoıs, hier eine Rekonstruktion.
Es sei erlaubt, noch einmal an jene
Werkzeichnung für einen Sphinx zu er-
innern: nicht weniger als drei verschie-
dene Proportionsnetze sind zur Anwendung
gelangt, und mußten zur Anwendung ge-
drei heterogenen Teilen zusammensetzt,
von denen jeder sein eigenes Konstruktionssystem verlangt: der Löwenleib, dessen
Proportionierung nach dem entsprechenden Tierkanon erfolgt, der Menschenkopf,
der nach dem Schema der — allein zu Kairo in mehr als 40 Exemplaren erhal-
tenen — „Royal Heads“ eingeteilt ist, und die kleine Göttinnengestalt, der der üb-
(x) Vgl. z. B. Mackay, Journal of Eg. Arch. IV, РІ. XVII. Mackays Aufsatz (S. 82 ff.) scheint übrigens
die Zuverlässigkeit der Edgarschen Arbeiten nicht zu erreichen.
(2) Die absolute Größe ihrerseits ist natürlich schon durch ein einziges Teilquadrat des Proportions-
gesetzes bestimmt: den Ägyptologen ist es daher möglich, aus dem Bruchstück eines Proportionsnetzes
die ganze Gestalt zu rekonstruieren.
192
liche 2ateilige Kanon für Ganzfiguren zugrundeliegt i). Rein rekonstruktiv wird
also das darzustellende Lebewesen aus drei Teilorganismen zusammengesetzt,
von denen jedes genau so aufgefaßt und proportioniert ist, als ob es allein stünde.
Selbst hier, wo es so verschiedengeartete Einzelteile zu vereinigen galt, hat die
ägyptische Kunst nicht das Bedürfnis empfunden, die Starrheit der Proportions-
systeme zugunsten einer organischen Einheit abzumildern, wie sie uns innerhalb
der griechischen Kunst noch in der Gestalt einer Chimaira entgegentritt.
IL
Es läßt sich nach dem Vorigen voraussehen, daß die klassische Kunst der
Griechen sich vom Proportionierungssystem der Ägypter vollständig lossagen
mußte: wenn die Prinzipien der archaischen Kunst denen der ägyptischen noch
ähnlich waren, so bestand ja der Fortschritt der Klassik über den Archaismus
hinaus gerade darin, daß sie all jene Umstände, von denen die Ägypter abstrahiert
hatten, als positive künstlerische Faktoren in Rechnung stellte: sie rechnete mit
der Maßverschiebung infolge der organischen Bewegungen nicht weniger, als mit
der Verkürzung infolge des Sehvorganges und mit der Notwendigkeit, in gewissen
Fällen den Eindruck des Beschauers durch „eurhythmische“ Ausgleichsmittel zu
rektifizieren*). Die Griechen konnten daher nichts beginnen mit einem Proportions-
system, das mit der Bestimmung der objektiven Maßverhältnisse auch die fakturalen
unabänderlich festlegte: sie konnten eine Proportionslehre nur insoweit gelten lassen,
als sie dem Künstler Freiheit ließ, die ihm an die Hand gegebenen Maßverhältnisse
von Fall zu Fall nach freiem Ermessen zu variieren — als sie sich, mit einem
Worte, mit der Rolle einer reinen Anthropometrie begniigte.
Wir sind infolgedessen über die griechische Proportionslehre klassischer Zeit
viel weniger genau unterrichtet, als über die ägyptische; man kann eben, nach-
dem einmal die Identität zwischen fakturalen und objektiven Maßen aufgehoben
war, das System oder die Systeme nicht mehr unmittelbar in den Kunstwerken
vorfinden®); dafür erfahren wir manches aus der literarischen Überlieferung, die viel-
fach an den Namen Polyklets anknüpft — des Vaters oder mindestens des Gesetz-
gebers der klassisch-griechischen Anthropometrie ‘).
(x) Gerade auf dieser „von anderen quadrierten Zeichnungen abweichenden Eigentümlichkeit“ des
Berliner Sphinxpapyrus beruht seine besondere Wichtigkeit: die Tatsache der drei Proportionssysteme —
mit Leichtigkeit erklärbar aus dem Umstand, daß es sich hier nicht um einen einheitlichen, sondern
um einen zusammengesetzten Organismus handelt, — diese Tatsache beweist zur Evidenz, daß das
ägyptische Quadratnets nicht Übertragungsmittel, sondern Kanon war: zum Zweck der bloßen „mise
au carreau“ hätte man natürlich ein einheitliches Netz gewählt,
(8) Vgl. die oft zitierte Geschichte von der Phidiasischen Athene, die mit ihrem objektiv zu kurzen
Unterkörper dennoch an hoher Stelle „richtig“ wirkte (Overbeck, Schriftquellen, Nr. 772). Sehr inter-
essant ist auch die weniger beachtete Stelle in Platos Sophistes, 235 E/ 236 А: Ovxouy бао. ув tür
ueydiow nod te nAdrrovor ёоуюу 1 yodpovam. si ye dnodedoĩs thy thy xe dindivnv avuusıplar,
ої09° Ste opcxedteoa иё» 100 dorto 10 dy, uellw dè тд xdtw фаіуол йу did 10 tà иб» Négewdsy, tà
F e yyuoe - Sp’ duër podar’ ap’ ойу od ale td adndés ёасаутєс̧ of dnuiovpyoi уйу od tas ойда
ovuustolas, alla rode dofovcas slvai ads той; elde ёуалғрус (октос;
(3) Das bekannte metrologische Relief in Oxford (J. H. 8. IV, 8. 335 ff.) hat mit der künstlerischen
Proportionslehre nichts zu tun, sondern dient lediglich der Normierung der Gebrauchsmaße: 1 Klafter
(deyvid) = 7 Fuß (nddes) = 2,07 m = 7 , 96 m. Es wird daher auch gar nicht der Versuch ge-
macht, die diese Maße veranschaulichende Menschengestalt irgendwie proportional einsuteilen.
(4) Von den bei Vitruv erwähnten Proportionstheoretikern Melanthius, Pollis, Demophilus, Leonidas,
Euphranor usw. wissen wir nichts ale die Namen; doch hat Kalkmann (a. a. O., 8. 43 fl.) den Ver-
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 13 193
So heißt es z. В. in Galens Placita Hippocratis et Platonis!): „XoVamros....
то dë udddog ovx Ev ti thy Groryelwy, dii ёр Ti, Tür uoplwr Ovuuergla Ovplorasdaı
Soe, der vãdov х0д$ ddxrviov druiopdr хой соџлаіътотр adrür яодс TÒ peraxdo mor
xa хаолбу, xai TOÚTWV NQÒS AijyoS, xai nýyeos ode Boaxlova, хаї prop яофс
ndvra, xaddneg év тоў ПоАохАутоо xdvæwvi yéyeaxra.“ Dieser Passus bestätigt
zunächst das, was von vornherein zu vermuten war: daß der Polykletische „Kanon“
eine rein anthropometrische Bedeutung besaß, d. h. daß seine Aufgabe sich
nicht auf die kompositorische Bewältigung von Steinblöcken oder Wandflächen,
sondern ausschließlich auf die Ermittelung der objektiven menschlichen Maße be-
zog, und die fakturalen Abmessungen in keiner Weise vorausbestimmte. Der Künst-
ler, der sich an sie hielt, brauchte weder auf die Berticksichtigung der mimisch-
anatomischen Veränderungen, noch auf die Wiedergabe der Verkürzung, noch auch,
wenn es not tat, auf die Korrektur des dem Beschauer zugedachten Anblicks zu
verzichten.
Weiterhin wird nun aber das Prinzip der Polykletischen Proportionslehre als ein
organisches charakterisiert.
Der ägyptische Künstler ging, wie wir wissen, in der Weise vor, daß er zunächst
ein aus absoluten Teileinheiten bestehendes Quadratnetz zusammenfiigte*), und dann
in dieses die Umrisse der Gestalt eintrug — unbekiimmert darum, ob jede Linie
dieses Netzes mit einer der organisch bedeutsamen Teilungsstellen des Körpers
zusammenfalle (wir können z.B. feststellen, daß innerhalb des jüngeren Kanons die
Horizontalen 2, 3, 7, 8, 9, 15 durch völlig gleichgültige Punkte laufen); gerade um-
gekehrt der Grieche: er geht nicht aus von einem mechanisch konstruierten Quadrat-
netz, um dann zu fragen, in welcher Weise die menschliche Gestalt in diesem
Netz unterzubringen sei, sondern er geht aus von der organisch in Rumpf, Glieder
und Teilglieder differenzierten Gestalt, um dann zu fragen, wie diese Teile sich
zueinander und zum Ganzen der Größe nach verhalten möchten. Wenn nach Galen
bei Polyklet beschrieben war, wie sich der Finger zum Finger, der Finger zur
Hand, die Hand zum Unterarm, der Unterarm zum Oberarm und endlich jedes
einzelne Glied zum ganzen Körper verhalten sollte, so bedeutet das nichts anderes,
als daß die griechische Proportionslehre nicht mehr darauf ausging, die Gestalt unter
Zugrundelegung eines absoluten Einheitsmaßes gleichsam aus lauter kleinen gleichen
Mauersteinen aufzubauen, sondern daß sie die Relationen zwischen den von der
Natur unterschiedenen und gegeneinander abgegrenzten Gliedern und dem Körper-
ganzen festzustellen strebte. Also nicht das Prinzip mechanischer Gleichheit,
sondern das Prinzip organischer Differenzierung liegt dem Poiykletischen
Kanon zugrunde. Es wäre schlechterdings unmöglich gewesen, seine Bestimmungen
in einem Quadratnetz unterzubringen: nicht das Proportionssystem der Ägypter kann
vom Wesen der verlorenen Theorie der Griechen einen Begriff geben, sondern das
such gemacht, die Vitruvianischen Maßangaben auf den zuletzt genannten Euphranor zurückzuführen.
— Ein neuerer Aufsatz von Foat (J. H. S. XXXV, 8. 225 ff.) hat unsere Kenntnis der antiken Pro-
portionslehre nicht wesentlich fördern können.
(1) V, 3.
(2) Die Einheit ihrerseits scheint durch die Höhe des Fußes (von der Sohle bis zum Knöchel) be-
stimmt gewesen zu sein, und zwar sowohl im älteren wie im jüngeren Kanon. Die Beziehung dieser
Einheit zu den Maßen der einzelnen Körperglieder, ja selbst zur Fuß-Länge, schwankt dagegen, ja
es ist zweifelhaft, ob eine solche Beziehung überhaupt firiert werden sollte: im älteren Kanon ist die
Fußlänge meist gleich 3 Einheiten (vgl. aber auch Edgar, Travaux, p. 145) — im jüngeren etwa
gleich 3'/, Einheiten usw.
194
System, nach welchem die Figuren im ersten Buch der Dürerischen Proportions-
lehre gemessen sind (Abb. 8). Der gegebene Ausdruck für solche Relationen ist der
Bruch — im Grunde das einzige wirklich legitime Symbol für die „Verhältnis-
mäßigkeit der Längen.“ Und in der Tat geht ja aus der Galenstelle mit aller
Deutlichkeit hervor, daß bei Polyklet jeweils das kleinere Stück als der aliquote
Bruchteil eines größeren und letzten Endes der Gesamtlänge bezeichnet wurde,
und daß nicht etwa alle Größen als das Vielfache eines in allen enthaltenen „Mo-
dulus“ ausgedrückt erschienen. Gerade dadurch, daß die zu vergleichenden Größen
direkt aufeinander bezogen und durcheinander ausgedrückt erscheinen, statt un-
abhängig voneinander auf eine neutrale Einheit zurückgeführt zu werden c=}, nicht
x = a, y = 4a) kommt jene unmittelbar evidente „Vergleichlichkeit Eins gegen
dem Andern“ zustande, die für die klassische Proportionslehre charakteristisch ist.
Es ist kein Zufall, wenn Vitruv, der einzige antike Schriftsteller, der uns zahlen-
mäßige Angaben über die menschliche Proportion überliefert hat, und dabei nach-
weislich aus griechischen Quellen schöpfen konnte, diese Zahlenangaben ausschließlich
als aliquote Bruchteile der Körperlänge formuliert!); auch hat man festgestellt, daß
gerade beim Doryphoros des Polyklet, vielfach sogar inziffernmäßiger Überein-
stimmung mit den vitruvianischen Angaben, die Maße der wichtigeren Körperstücke
durchweg als Bruchteile der Körperlänge ausdrückbar sind)). Und hiermit hängt
nun eine dritte Eigentümlichkeit der klassisch-antiken Proportionslehre zusammen,
ihr ausgesprochen normativ-ästhetischer Charakter. Während das ägyptische
System nichts anderes bezweckt, als das Üblich-Gewordene auf eine feste Formel zu
bringen, will der Polykletische Kanon die Schönheit ergreifen: Galen zitiert ihn aus-
drücklich als eine Zusammenstellung desjenigen, worin „тд xd2Jog Ovvloraraı“ (wie
auch Vitruv seine Angaben als die Maße eines „homo bene figuratus“ einführt); und
der einzige mit Sicherheit auf Polyklet selbst zurückführbare Ausspruch lautet
folgendermaßen: „тд удо ed лаод шход> did лодАф> 4ою‹9цф> yiyveodar“°). Der
(x) Diese Tatsache ist bereits von Kalkmann mit Recht hervorgehoben worden (d. Proportionen des
Gesichts in der griech. Kunst, 1893, S. 9 ff.), als Gegenargument gegen diejenigen, die, wie Guillaume
und Collignon, aus dem im Text zit. Galenpassus die Beschreibung eines Modulusverfahrens herauslesen
wollen — scheinbar durch die Erwähnung des daxtulos verleitet, der hier doch gar nicht ale messende
Einheit, sondern nur als kleinstes zu messendes Körperstück angeführt wird.
Der Bequemlichkeit wegen folge hier eine Zusammenstellung der vitruvianischen Maßangaben:
a) Gesicht (vom Haaransatz bis zum Kinn) = 1/,,.
b) Hand (von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers) = Aa,
с) Kopf (vom Scheitel bis zum Kinn) — 'J,.
d) Halsgrabe bis Haaransatz — ½.
e) Halegrube bis Scheitel — 3.
(Die beiden letztgenannten Bestimmungen sind bekanntlich kontrovers mit der ersten und dritten,
nach welchen für den Oberteil des Schädels / ä statt !/,, verbleiben würde. Da nur die Angabe '/,,
ichtig sein kann, muß die Textkorruption bei den Bestimmungen 4 oder 5 liegen, Die Renaissance-
theorie hat daher hier mit verschiedenen Korrekturen eingesetzt).
f) Fuß = .
g) Ellbogen = }J,.
h) Brustbreite — 2.
Ferner wird angegeben, daß das Gesicht in drei gleiche Teile zerfalle (Stirn, Nase, Untergesicht),
und daß der ganze Mensch bei klafternden Armen in ein Quadrat, bei ausgespreisten Extremitäten in
einen um den Nabel beschriebenen Kreis hineinpasse.
Kalkmann, a. a. O., S. 36/37.
(з) Diels in Archäol. Anz. 1899, Nr. 10.
195
—
Polykletische Kanon sollte also, zum erstenmal, ein ästhetisches Gesetz verwirk-
lichen, und es ist für die antike Denkweise durchaus bezeichnend, daß man sich
den Ausdruck dieses Gesetzes eben nur in der Gestalt von Relationen (mathe-
matisch gesprochen in der Form von Brüchen) vorzustellen vermochte: mit Aus-
nahme des einzigen Plotin hat ja die ganze antike Ästhetik, wie die ihr folgende
der Renaissance, das Gesetz der Schönheit in nichts anderem gesucht, als in der
Verhältnismäßigkeit der Teile zueinander und zum Ganzen!).
So tritt die Proportionsiehre der Griechen der mathematisch-starren, statisch-
mechanischen und handwerklich-konventionellen der Ägypter als eine elastische,
dynamisch-organische und ästhetisch-normative gegenüber. Und es mag uns zur
Genugtuung dienen, daß dieser Gegensatz schon dem Altertum selbst bewußt ge-
worden ist. Diodor von Sizilien erzählt nämlich im 98. Kapitel seines L Buches
folgende Geschichte: die beiden Bildhauer Telekles und Theodoros hätten in alten
Zeiten ein Kultbild in zwei getrennten Hälften angefertigt, indem der eine sein
Stück in Samos, der andre das seine in Ephesos gearbeitet habe; und beim Zu-
sammensetzen habe sich gezeigt, daß die beiden Hälften genau aufeinander paßten.
Diese Arbeitsweise aber, so fährt die Erzählung fort, sei nicht bei den Griechen im
Gebrauch gewesen, sondern bei den Ägyptern. Denn bei diesen werde die Pro-
portion der Statuen nicht wie bei den Griechen nach der Gesichtsvorstellung be-
(1) Es sei erlaubt, hier auf die drei einschlägigen Begriffe der vitruvianischen Ästhetik Bezug zu
nehmen: Proportio, Symmetria und Eurhythmia. Hiervon macht der Begriff der Eurhythmia am
wenigsten Schwierigkeiten: sie beruht, wie wir mehrfach erwähnten (vgl. auch Kalkmann, a. a. O.,
8. 9, Anm. sowie S. 38, Anm.), auf der sinngemäßen Anwendung jener optischen Ausgleichsmittel,
die durch Mehrung oder Minderung der objektiv richtigen Maße die subjektiven Entstellungen des
Kunstwerks paralysioren (daher ist sie nach I, 2, eine „venusta species commodusque aspectus“); da-
hin gehört also für den Architekturtheoretiker я, B. die Verdickung der sonst durch , Uberstrahlung“
verschmälerten Ecksäulen bei Peripteraltempeln. Zweifelhaft dagegen bleibt der Unterschied zwischen
„Proportio“ und „Symmetria“. Uns scheint es, daß Symmetria sich zu Proportio verhält, wie
Normsetzung zu Normverwirklichung. Symmetria ist sls ,ex membris conveniens consensus
und „ех partibus separatis...responsus“ (1,2) das eigentlich ästhetische Prinzip, das passende
Verhältnis der Glieder untereinander und der Einklang zwischen den Teilen und dem Ganzen —
Proportio dagegen ist (III, 1) als „ratae partis membrorum in omni opere totiusque commodulatio“
die bloße praktische Methode, vermittels welcher die als schön qualifizierten Maßverhältnisse
Dürerisch zu reden „ins Werk gezogen werden“, indem der Architekt einen Modulus (rata pars, éu-
Adtns) annimmt, durch dessen Vervielfältigung er die praktisch verwendbaren Werkmaße gewinnt
(IV, 3). Proportio (= commodulatio) ist also etwas, was die Schönheit nicht bestimmt, sondern
lediglich dazu beiträgt, sie zu realisieren (daher Vitruv die Proportio als dasjenige bezeichnet, wo-
durch die Symmetria „efficitur“, und ausdrücklich fordert, daß sie ihrerseits „ad symmetriam“ ab-
gestimmt sein müsse) — d. h. ein Verfahren der baumeisterlichen Technik, das vom Standpunkt der
Klassik aus für den bildenden Künstler gar nicht in Frage kommt. Es ist daher ganz logisch, wenn
Vitruv die Maßverhältnisse des Menschen nicht zur Veranschaulichung des Begriffs „Proportio“, son-
dern des Begriffs „Symmetria“ heranzieht, und wenn er sie, wie schon bemerkt, nicht als das Viel-
fache eines Modulus, sondern als aliquote Körperbruchteile ausdrückt: das Modulus-Verfahren kam eben
für die antike Ästhetik nur als ein Verfahren der praktischen Maß-Verwirklichung in Betracht, während
man sich die Maß-Normierung, die jener „Commodulatio“ vorangehen mußte, nur in der Form bruch-
mäßig ausdrückbarer Relationen vorstellen konnte, die von der organischen Gliederung des Körpers
(oder des Bauwerks) in differenzierte Einzelglieder ihren Ausgang nehmen. — Vgl. übrigens auch
Kalkmann, а. а. О., S. 9, Anm. 2, „die proportio betrifft nur die Konstruktion mit Hilfe des modulus,
der rata pars. Als zweites tritt hinzu die Symmetrie: die Glieder untereinander sollen sich schön und
passend verhalten, eine Forderung, welche die proportio noch nicht stellt.“ Ferner Jollee, Vitruve
Ästhetik (Dise., Freib. 1906), S. aa ff.
196
stimmt (470 тїз xara тїр doe gavradiag droxpivacdaı), sondern sobald man
die Steine gebrochen, zerlegt und zugerichtet habe, setze man sogleich (тд typexadra)
die Maße vom größten bis zum kleinsten Stücke fest!). Man habe nämlich in
Ägypten den ganzen Bau des Körpers?) in 21b/, gleiche Teile geteilt), und des-
wegen seien die Künstler, wenn sie sich einmal über die Größe der zu schaffenden
Figur geeinigt hätten, imstande gewesen, sich auch bei räumlicher Trennung in die
Arbeit zu teilen und dennoch ein genaues Zusammenpassen der Stücke zu erzielen.
Ob der anekdotische Inhalt dieser unterhaltenden Erzählung richtig ist oder nicht:
sie zeugt jedenfalls von einem sehr feinen Gefühl für den Unterschied sowohl
zwischen ägyptischer und klassischer Kunst, als zwischen ägyptischer und klassischer
Proportionslehre.
Denn es ist kein Zweifel, daß der Sinn dieser Geschichte nicht sowohl darin
besteht, daß die Existenz eines ägyptischen Proportionssystems beglaubigt wird,
als vielmehr darin, daß seine ganz einzigartige Bedeutung für die Entstehung des
Kunstwerks hervortritt: auch der durchgebildetste Kanon würde ja zwei Künstler
nicht zu dem befähigen, was hier von Telekles und Theodoros berichtet wird,
solange die Möglichkeit bestünde, daß die fakturalen Proportionen des Kunstwerks
von den objektiven Angaben dieses Kanons abweichen könnten. Zwei griechische
Bildhauer des 5. oder gar des 4. Jahrhunderts hätten auch bei genauester Ver-
abredung über das zu befolgende Proportionssystem und über das Gesamtmaß der
Figur nicht unabhängig voneinander je ein Teilstiick arbeiten können, weil eben
ein griechischer Künstler, bei aller Beobachtung bestimmter Maßvorschriften, dennoch
hinsichtlich der formalen Gestaltung ganz frei gewesen wire‘). Der Gegensatz,
den Diodor hier herausbringen will, kann daher schwerlich darin bestehen, daß die
Griechen zum Unterschied von den Ägyptern überhaupt keinen Kanon besessen, .
sondern ihre Figuren „nach dem Augenmaß“ proportioniert hätten“), — ganz ab-
(1) Merkwürdig ist die Übereinstimmung zwischen dieser Schilderung und dem Jesaias-Vers 44, 13,
in welchem die Tätigkeit der (assyrisch-babylonischen) „Götzenmacher“ folgendermaßen beschrieben
wird: „Er simmert Holz und misset es mit der Schnur, und zeichnet es mit Rötelstein, und be-
hauet es und zirkelt es ab und macht es wie ein Mannsbild.“
(2) Es ist in unserem Sinne recht bemerkenswert, daß er bei den Griechen von ovuuereia, bei den
Agyptern aber von xataoxevý redet,
(3) Dies ist ein Irrtum, insofern es 22 Teile sind. Immerhin ist das Prinzip ganz richtig erfaßt, ins-
besondere auch die Tatsache, daß für den Schädel ein kleines Stück ('/,) außerhalb des eigentlichen
Netzes übrigbleibt. Beachtenswert ist auch die kunsthistorische Einsicht, mit der hier die Stil-
verwandtschaft zwischen ägyptischer Kunst und frühgriechischem Archaismus erkannt wird, so daß
beide der „modernen“ Klassik beinahe als eine Einheit gegenübertreten. Vgl. dazu auch das vorher-
gehende Kapitel, wo es von dem mythischen Stammvater der griechischen Skulptur heißt: 1d te
dvSu0y тё» eyalwy хат’ Aiyuntoy avdgedytwy tov adtdy elvat Tols nd Aardalov xaraoxevacdtlcı naga
тоф "Eno.
(4) Es ist daher durchaus abzulehnen, wenn Jolles (a. a. O., S. 91 ff.) unsere Stelle auf einen inner-
halb der griechischen Klassik bestehenden Gegensatz bezieht, den er als den Gegensatz zwischen
„aymmetrischer“ und „eurhythmischer“ Kunstauffassung kennzeichnet. Abgesehen davon, daß nichts
uns dazu berechtigt, das bei Diodor ausdrücklich nur von den Ägyptern und einigen ägyptisierenden
Archaikern Ausgesagte auf griechische Künstler klassischor Zeit zu übertragen: der Begriff der Sym-
metrie hat mit dem, was Diodor hier von Telekles und Theodoros mitteilt, nicht das mindeste zu
tun, denn sie ist auch da vorhanden, wo von der mechanischen Vorausbestimmung der Körperform
im Sinn der Ägypter gar keine Rede ist — wie wir ja auch den Autor den Ausdruck ovuuerola
gerade mit Bezug auf diejenige Kunstauffassung gebrauchen sehen, die nach Jolles die nicht-symme-
trische, sondern nur eurythmische sein müßte.
(5) So Wahrmund in seiner Diodorübersetzung von 1869, wogegen schon Kalkmann (a. a. O., 8. 38,
197
gesehen davon, daß Diodor von den Bemtihungen Polyklets zum mindesten durch
die Überlieferung Kenntnis gehabt haben muß. Vielmehr besteht der Gegensatz darin,
daß der Kanon bei den Ägyptern für sich allein bereits hinreichte, um die
Darstellung bis in alle Einzelheiten vorauszubestimmen (und daher, sobald die Steine
zugerichtet waren, sogleich an Ort und Stelle zur Anwendung kommen konnte), —
daß dagegen bei den Griechen, ganz abgesehen davon, ob sie nun auch einen Kanon
hatten oder nicht, doch jedenfalls außer ihm noch etwas ganz anderes nötig war,
um ein Kunstwerk hervorzubringen: die Anschauung. Diodor will darauf hinaus,
daß der ägyptische Skulptor, gleich einem Steinmetzen, zur Anfertigung seiner
Werke weiter nichts als die Maßangaben nötig habe und, allein auf sie gestützt,
die Figuren an beliebigem Ort und in beliebig vielen Teilen dar- oder besser her-
zustellen vermöge, daß dagegen der Grieche den Kanon nicht ohne weiteres auf
seine Blöcke applizieren könne, sondern sich von Fall zu Fall bei der xara тїр
боасір yarradia Rats erholen müsse, d. h. bei einer „Gesichtsvorstellung“, die die
organische Beweglichkeit des darzustellenden Körpers, die Mannigfaltigkeit der dem
Künstlerauge sich darbietenden Verkürzungen und vielleicht auch die besonderen
Umstände, unter denen das fertige Werk gesehen werden soll, in Rechnung setzt,
und danach das kanonische Maßsystem (wenn sie es auch vielleicht nicht geradezu
überflüssig macht), doch mindestens in unerschipflicher Weise verändert!). Der
Gegensatz, den Diodors Erzählung deutlich machen soll, und den sie tatsächlich
mit besonderer Bildhaftigkeit deutlich macht, ist der Gegensatz zwischen Rekon-
struktion und Мијо, zwischen einer in jeder Beziehung gebundenen mechanisch-
mathematischen Kunstauffassung und einer elastisch-dynamischen, innerhalb deren
bei aller Gesetzmäßigkeit doch für das Irrationale der künstlerischen Freiheit
Raum bleibt ).
III.
Man pflegt den Stil der mittelalterlichen Kunst (von den Werken der gotischen
Hochblüte abgesehen) dem Stil der klassischen Antike als einen flächenhaften
gegenüberzustellen; im Vergleich mit der Kunst der Agypter dürfte man ihn nur
als einen verflächigten bezeichnen. Denn das eben ist der Unterschied zwischen
ägyptischer und mittelalterlicher Flächenhaftigkeit, daß dort die Tiefenmotive tat-
schlich ausgeschaltet, hier aber nur entwertet werden: die ägyptische Kunst stellt
fächenhaft dar, weil sie nur das wiedergibt, was de facto in der Ebene vorgestellt
werden kann — die mittelalterliche Kunst stellt flächenhaft dar, obgleich sie auch
das wiedergibt, was de facto nicht in der Ebene vorgestellt werden kann; d. h.
während bei den Ägyptern Dreiviertelprofile und Schrägbewegungen des Rumpfes
oder der Glieder tatsächlich ausgeschlossen sind, gibt es im mittelalterlichen Stil,
Anm.) mit Recht geltend macht, daß dieser Auslegung der ovuuszpia-Begriff als solcher ent-
gegenstehe, als welcher ja gerade das besagt, daß das Kunstwerk nicht nach dem bloßen Augenmaß
gestaltet wird, sondern auf bestimmten Maß-Normen beruht.
(x) Hier mit Kalkmann ausschließlich an die eurhythmischen „temperaturae“ zu denken, erscheint uns
als eine zu enge Auslegung.
(a) Daher hat z. B. Alberti, der merkwürdigerweise auch einmal von der Möglichkeit spricht, eine
Statue in zwei Stücken und an zwei verschiedenen Orten herzustellen (Quellenschriften zur Kunst:
geschichte XI, S. 199) diesen Fall nur insofern ins Auge gefaßt, als es sich um die mechanische
Kopie eines anderen plastischen Kunstwerks handele — er konstruiert ihn nicht, um ein produktiv-
künstleriiches Verfahren zu erläutern, sondern um die Genauigkeit einer von ihm erfundenen Über-
tsagungemethode anzupreisen.
198
der überall die Freibeweglichkeit der Antike voraussetzt, sowohl das eine wie das
andere (ja das Dreiviertelprofil ist sogar die Regel gegenüber der reinen Front- oder
Seitenansicht) — nur daß man diese Motive nicht mehr im Sinn eines eigentlichen
Tiefeneindrucks auswertet, sondern sie, meist unter völligem Verzicht auf die
plastisch wirksamen Mittel der Modellierung und des Schlagschattens, rein zeich-
nerisch in der Führung der Außen- und Innenkonturen’) sich aussprechen läßt. So
gibt es alle möglichen verkürzten Formen, die — da der Eindruck durch keinerlei
plastische Mittel unterstützt wird — dennoch nicht eigentlich als „Verkürzung“ wirken,
z. B. die schräggestellten Füße, die meist mehr den Eindruck des Nach-Unten-
Hängens, als den des Nach-Vorn-Gerichtetseins erwecken (vgl. Abb. 3), die im Drei-
viertelprofil gegebenen Schulterpartien, die in ihrer Reduktion auf einen planimetri-
schen Ausdruck beinahe dem Höcker eines Verwachsenen gleichen, usw.
Unter diesen Umständen mußte sich auch die Proportionslehre nach neuen Zielen
orientieren: auf der einen Seite bedingte die Verflächigung der Körperformen eine
Abwendung von der antiken Anthropometrie, die ja die Emanzipation der Figur
von der Ebene voraussetzte — auf der anderen Seite machte es die nun einmal
nicht mehr zu beseitigende Freibeweglichkeit der Gestalten unmöglich, ein System
zu finden, das, gleich dem ägyptischen, fakturale und objektive Maße zugleich be-
stimmt hätte. So stand die mittelalterliche Proportionslehre vor demselben Ent-
weder-Oder, wie die antike, nur daß sie sich begreiflicherweise in entgegengesetztem
Sinne entscheiden mußte: hatte die ägyptische Proportionslehre, bei der Identität
zwischen fakturalen und objektiven Maßen, die Eigenschaften der Anthropometrie
mit denen eines Konstruktionssystems in sich vereinigen können, und hatte sich
die griechische, nach Aufhebung jener Identität, zu dem Verzicht auf die Bestimmung
der fakturalen Maße entschlossen, so entschloß sich nunmehr die mittelalterliche zu
dem Verzicht auf die Bestimmung der objektiven Maße und beschränkte sich auf eine
Anweisung zur Organisation der flächenhaften Bilderscheinung. Neben das kon-
struktive Proportionssystem der Ägypter und das anthropometrische der
klassischen Antike tritt also das des Mittelalters als ein flächenhaft schemati-
sierendes.
Innerhalb der mittelalterlichen Proportionslehre scheinen nun aber zwei ver-
schiedene Richtungen hervorzutreten, die zwar insofern tibereinstimmen, als hier
wie dort eine planimetrische Schematisierung der Gestalt das Ziel des Unternehmens
bildet, die aber insofern voneinander abweichen, als dieses Ziel auf ganz verschiedenen
Wegen erreicht wird: die byzantinische und die gotische.
1 *
*
Die „byzantinische“ Proportionslehre, die aber, dem großen Einfluß-
bereich der byzantinischen Kunst entsprechend, auch für das Abendland von außer-
ordentlicher Bedeutung war — verrät insofern noch die Nachwirkungen der antiken
Tradition, als sie bei der Ausarbeitung ihres Schemas von der organischen Gliederung
des menschlichen Körpers ihren Ausgang nahm, d.h. der künstlerischen Erscheinung
durch maßstäbliche Bestimmung der von Natur gegeneinander abgesetzten Körper-
stücke beizukommen suchte. Allein sie ist insofern gänzlich unantik, als diese
maßstäbliche Bestimmung nicht mehr nach dem System der aliquoten Bruchteile,
sondern nach dem System eines etwas gröblichen Modulusverfahrens erfolgte: die
in der Fläche anschaulichen Körpermaße — was außerhalb der Fläche lag, schaltete
(x) Im hoben Mittelalter erstarren ja selbst die Schattenformen zu bloß linearen Gebilden.
199
naturgemäß von vornherein aus — wurden in Kopf- oder genauer in Gesichtslängen
ausgedrückt (italienisch: viso oder faccia, vielfach allerdings auch testa) i), wobei
sich für die ganze Länge in der Regel die Gesamtsumme 9 ergab. So entfällt
nach dem „Malerbuch vom Berge Athos“ ı Einheit aufs Gesicht, 3 auf den Rumpf,
je 2 auf Ober- und Unterschenkel, !/„ (= eine Nasenlänge) auf die Schädelkalotte,
½ auf die Fußhöhe und !/, auf die Kehle), wänrend die halbe Brustbreite (ein-
schließlich der Schulterrundung) auf 1!/,, und die innere Länge des Unter- und
Oberarmes sowie der Hand auf je ı Einheit angegeben wird; und ganz ähnlich
sind die Angaben, die uns bei Cennino Cennini begegnen — dem Theoretiker des
letzten Eades doch noch fest im Byzantinismus wurzelnden Trecento: es sind bis
ins Detail dieselben Maße wie im Athoskanon, nur daß für die 3 Gesichtslängen
des Rumpfes bestimmte Teilpunkte angegeben werden (Magengrube und Nabel),
und daß die Höhe der Schädelkalotte nicht ausdrücklich auf !/, bestimmt wird, so
daß sich — ohne sie — nur eine Gesamtlänge von 8% „visi“ ergibt. Von hier
(x) Schon dies ist für die Zeitgesinnung charakteristisch; während früher das Maß des Fußes, der
Elle, der Hand, der Finger die Grundlage der metrologischen Systeme gebildet hatte, wird nunmehr
das Gesicht, der Sitz des geistigen Ausdrucks, als Einheit angenommen: „wegen seiner Wichtigkeit,
Schönheit und Teilbarkeit“ heißt es späterhin bei Averlino Filarete (Quellenschriften zur Kunstgesch.
N.F. II, 8. 54).
(2) Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos, ed. Godehard Schäfer, 1855, 8. 82. Wenn sich in
Schlossers meisterhaftem Ghibertikommentar (1912, Bd. II, 8. 35) die von ihm selbst mit einem Frage-
zeichen versehene Angabe befindet, daß der Athoskanon die Fußhöhe auf eine ganze Einheit fest-
setze, so beruht diese kleine Ungenauigkeit auf einer Verwechslung mit der Fußlänge „vom Knöchel
bis zu den Nägeln“, die, ganz wie bei Cennini, auf eine Einheit angegeben wird; die Fußhöhe
wird, ebenfalls im Einklang mit Cennini, ausdrücklich auf eine Nasenlänge — '/, Einheit festgesetzt
und ergibt dann, mit den ebenso großen Stücken Hals und Schädelkalotte zusammengenommen, die
neunte Gesichtslänge. — Der quellenmäßige Wert der im Malerbuch vom Berge Athos enthaltenen
Angaben wird neuerdings u. E. erheblich unterschätzt: wenn auch durch Leidinger (Kunstwanderer
II, 1920, S. 45 ff.) der Nachweis erbracht ist, daß die auf uns gekommene Redaktion erst dem 18. Jahr-
hundert angehört, und wenn sie auch (wie ja schon der Terminus „rd vatovodie zeigt), bereits den
Einfluß der italienischen Kunstlehre verrät, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß der materielle
Inhalt der Überlieferung zum größten Teil auf die Praxis des hohen Mittelalters zurückgeht. Daß dies
gerade bei dem Kapitel über die Proportionen der Fall ist, geht daraus hervor, daß die im Athoskanon
festgesetzten Maße sich in der byzantinischen und byzantinisierenden Kunst des 12. und 13. Jahr-
hunderts, ja noch früher, tatsächlich nachweisen lassen (vgl. unten), und zwar gilt das auch von
solchen Bestimmungen, die nicht auf die antike Tradition zurückgehen: so z. B. von der Einteilung
des Körpers in 9 Gesichtslängen (nach Vitruv: 10), von der Ansetzung der Schädelkalotte auf eine Nasen-
länge — !/,, der Körperlänge (nach Vitruv = ¼ ) nnd von der Bemessung der Fußlänge auf '/, der
Körperlänge (nach Vitruv — 1/,). Wenn daher Cenninis Angaben in allen diesen Punkten mit denen
des Athoskanons sich decken, so darf aus dieser Übereinstimmung nicht gefolgert werden, daß der
Athoskanon von der itallenischen Proportionslehre abhinge, sondern vielmehr umgekehrt, daß bei
Cennini eine byzantinische Tradition ihren Niederschlag finde. — Wie in der jetzigen Fassung
des Malerbuchs uralte Tradition mit modernen Bestandteilen verbunden ist, mag die merkwürdige
Tatsache bezeugen, daß die im Malerbuch gegebene Anweisung zur Illustration des XII. Kapitels der
Apokalypse (ed. Schäfer, S. 251) augenscheinlich durch den betreffenden Holsschnitt Dürers in-
spiriert ist: das Motiv des von zwei Engeln in einem Tuch emporgetragenen Kindes ist — von den
übrigen Übereinstimmungen abgesehen — unseres Wissens eine Dürerische Erfindung. Die Vermittiung
könnte — wenn man die Wanderung des Dürerschen Originalholzschnitts für unwahrscheinlich hält —
durch die bekannte Kopien-Serie erfolgt sein, die 1315/16 bei Alezandro Paganini in Venedig er-
schienen ist, d. b. in einer Stadt, die mit dem griechischen Osten in besonders regem Kultur-
Austausch stand,
200
aus ist dieser byzantinische 9-Gesichtslingen-Kanon in die Kunstlehre der Folge-
zeit eingedrungen, in der er, teils völlig unverändert, wie bei Pomponius Gauricus,
teils mit geringfügigen Modifikationen, wie bei Ghiberti und Filarete, bis ins 17.
und 18. Jahrhundert hinein eine bedeutende Rolle spielt!).
Es erscheint uns nicht zweifelhaft, daß der Ursprung dieses Proportionssystems,
bei dem das Maß auf dem Umweg über die Zahl gewonnen wird, im Osten zu
suchen sei. Eine höchst fragwürdige Überlieferung der Spätrenaissance (Philander)
schreibt zwar die Aufstellung eines Kanons, der — die gesamte Körperlänge in
9:/, teste einteilend — den bisher besprochenen Systemen sehr nahe zu kommen
scheint, dem Römer Varro?) zu. Allein abgesehen davon, daß die antike Kunst-
literatur von einem solchen Kanon nicht das mindeste weiß), und daß die Auf-
stellungen Polyklets und Vitruvs auf einem durchaus entgegengesetzten System
beruhen — abgesehen auch davon, daß wir die Anfänge der Überlieferung im
byzantinisch-trecentistischen Milieu zu finden glaubten: die Spuren führen weiter
bis Arabien. Denn in den Schriften der „lauteren Brüder“, eines im 9. bis ro. Jahr-
hundert blühenden arabischen Gelehrtenordens, begegnet uns ein Proportionssystem,
das mit dem in Frage stehenden bereits die Eigenschaft gemeinsam hat, die Körper-
maße durch Reduktion auf einen Modulus auszudrücken“). Und wenn es vielleicht
auch möglich ist, die Angaben der „lauteren Brüder“ aus noch älteren Quellen
abzuleiten °), so dürfte uns doch diese aller Voraussicht nach nicht weiter hinauf-
führen, als bis in den Späthellenismus — d. h. in diejenige Periode, in der das
gesamte Weltbild, nicht ohne orientalischen Einfluß, nach zahlenmystischen Gesichts-
punkten umgeformt wurde, und in der, mit einer ganz allgemeinen Wendung vom
Konkreten zum Abstrakten, auch die antike Mathematik ihre in Diophant zum Höhe-
punkt und Abschluß gelangte Arithmetisierung erfuhr).
Die Proportionsangaben der „lauteren Brüder“ haben nun zwar als solche noch
nichts mit der künstlerischen Praxis zu tun; sie bilden das Teilstück einer har-
(x) Die in Frage kommenden Aufstellungen der Frührenalssance sind auszugsweise zitiert bei Schlosser,
a. a. O. Hinzuzufügen wären etwa noch die weniger beachteten Angaben bei Francesco di Giorgio
Martini (Il trattato di architettura civile e militare, ed. C. Saluzzo, 1841, I, р. 229 ff.), die vor allem
wegen der noch stark hervortretenden Tendenz zur planimetrischen Schematisierung Interessant sind.
Für die spätere Zeit kommen u. a. Mario Equicola, Vasari, R. Borghini und Daniel Barbaro (La
pratica della prospettiua, 1569, p. 179 fl.), in Frage, der — neben dem vitruvianischen — einen
Kanon eigener Erfindung mitteilt, welcher aber fast ganz auf den wohlbekannten g-teste-Typus hinaus-
läuft, nur daß der dritte Teil einer testa (d. Ь. die Nasenlänge) als „Daumen“ sum Modulus erhoben
wird. Dann ist die Schädelkalotte — 1 Daumen, die Fußhöhe und der Hals je — 1½ Daumen, so
daß im ganzen 9½ teste resultieren, die im übrigen ganz in der üblichen Weise verteilt werden.
(a) Schlosser, a. a. O., 8.35, Anm. Das überschießende Drittel ist für die Kniee bestimmt, wodurch
dieser pseudovarronische Kanon der Aufstellung Ghibertis einigermaßen verwandt erscheint: Ghiberti
setzt die Länge der Oberschenkel einschließlich der Kniee auf 2½, ausschließlich derselben auf ai,
Einheiten an, so daß auch bei ihm für die Kniee selbst !/, verbleibt.
(3) Kalkmann, a. а. O., S. 11.
(4) Dieterici, Propädeutik der Araber, 1865, 8. 135 ff. Die Einheit ist hier jedoch nicht die Gesichts-
länge, sondern die „Spanne“, die der Gesichtslänge beträgt.
(5) Nach Géi, Mitteilung von Herrn Prof. Ritter-Hamburg sind andere Angaben über die Proportio-
nierung des Menschen in den arabischen Quellen bisher nicht aufgefunden worden, wohl aber An-
gaben über die Proportionierung der Buchstaben; und es ist für uns wichtig, daß auch diesen
nicht das Prinzip der aliquoten Bruchteile, sondern das Modulus-System zugrunde legt.
(6) K. Simon, Geschichte der Mathematik im Altertum im Zusammenhang mit der Kulturgeschichte,
1909, 8. 348, 357.
зот
monistischen Kosmologie, d. h. sie sollen nicht eine Anweisung zur bildlichen
Wiedergabe der Menschengestalt darstellen, sondern die Einsicht in einen ungeheuren
Zusammenhang zwischen allen Teilen des Weltganzen vermitteln, daher sich auch
die hier überlieferten Maßangaben nicht auf den Erwachsenen, sondern auf das
neugeborene Kind beziehen — also auf ein Wesen, das für die bildende Kunst nur
von sekundärer Bedeutung ist, in den Gedankengängen der Kosmologie und Astro-
logie aber eine um so größere Rolle spielte!). Allein wenn die byzantinische Atelier-
praxis dieses unter so völlig anderen Gesichtspunkten ausgebildete Einteilungs-
system des Körpers so bereitwillig aufgriff und dabei den kosmologischen Ursprung
desselben schließlich vollkommen vergaß, so hat das doch seinen guten Grund. Denn,
so paradox es klingt, gerade die algebraische Maßnormierung, die der Bemessung
aller Körperlängen einen einzigen Modulus zugrunde legt, mußte — vorausgesetzt,
daß dieser Modulus nicht allzu klein war — der mittelalterlichen Schematisierungs-
tendenz in besonderem Maße entgegenkommen. Das antike System der aliquoten
Körperbruchteile vermochte ja nur die objektive Anschauung der Körpermaße zu
vermitteln, nicht aber ohne weiteres ihre zeichnerische Verwirklichung zu regulieren:
indem statt wirklicher Längen nur Relationen bestimmt wurden, erhielt der Künstler
einen Anhalt für eine lebendige Simultanvorstellung vom Aufbau des Organismus
— nicht aber ein Mittel zur sukzessiven Konstruktion des flächenhaften Abbildes.
Ganz anders das algebraische System, das den Verlust an Elastizität und Lebendig-
keit durch die unmittelbare Konstruierbarkeit ersetzte: indem der Künstler eine
bestimmte Größe überliefert erhielt, deren Vervielfältigung ihm jede Körperdimension
ergab, vermochte er durch sukzessives Abgreifen der nötigen „moduli“ jede Figur
auf der Bildfläche gleichsam zusammenzusetzen — „mit unverrucktem Zirkel“, ver-
hältnismäßig rasch und ziemlich unabhängig von der Gliederstellung*). In der
byzantinischen Kunst hat sich diese Methode einer graphisch-schematisierenden
Flächenbewältigung bis in die neueste Zeit erhalten: der erste Herausgeber des
Malerbuchs vom Berge Athos, Didron, hat noch die griechischen Klostermaler des
19. Jahrhunderts in der Weise arbeiten sehen, daß sie die Einzelmaße mit dem
Zirkel abgriffen und ohne weiteres auf die Mauer tibertrugen.
Infolgedessen hat die byzantinische Kunstlehre es sich angelegen sein lassen,
auch die Detailabmessungen des Kopfes nach einem Modulusverfahren zu bestimmen,
als dessen Einheit sich die Nasenlänge (== '/, der Gesichtslänge) darbot: die Nasen-
länge gibt (nach dem Malerbuch vom Berge Athos) nicht nur die Höhe der Stirn
und des Untergesichts an, sondern auch die Höhe des Oberkopfs und die Entfernung
von der Nasenspitze bis zum Ende des Auges, sowie die Länge der Kehle bis zur
Halsgrube. Diese Reduktion der vertikalen und horizontalen Kopfmaße auf eine
einzige Einheit ermöglichte nun ein Verfahren, in dem sich das mittelalterliche
Bedürfnis nach einer planimetrischen Schematisierung der Körperformen besonders
unzweideutig ausspricht: ein Verfahren, vermittels dessen nicht nur die Maße, sondern
(x) Das neugeborene Kind ist ja dasjenige Wesen, in welchem die Macht der das Universum be-
herrschenden Kräfte, insbesondere der Einfluß der Gestirne, viel reiner und unmittelbarer wirksam
wird als in dem durch viele anderweitige Umstände determinierten Erwachsenen.
(2) Man ist daher zum Schluß dahin gelsngt, den einmal festgesetsten Kanon auch für sitzende
Gestalten zur Anwendung zu bringen (Taf. 10, Abb. 3), — wobei die „Gesichtslänge‘“ allerdings
in unserem Falle nicht bis zur Haargrenze, sondern nur bis zum Rande des Kopftuchs rechnet
(es ist eben für diese ganz unnaturalistisch empfindende Kunst nicht die anatomische Wahrheit, son-
dern die graphische Erscheinung maßgebend). Die Handlänge paßt sich natürlich, dem Kanon ent-
sprechend, dieser Bemessung der Gesichtslänge vollkommen an.
202
auch die Formen geometrico more festgelegt werden konnten. Denn indem die
Abmessungen des Kopfes in wagerechter wie in senkrechter Richtung auf eine kon-
stante Maßeinheit beziehungsweise auf ihr Vielfaches abgezogen wurden, ergab sich
die Möglichkeit, die ganze Konfiguration durch drei konzentrische Kreise zu be-
stimmen, die ihren gemeinsamen Mittelpunkt in der Nasenwurzel hatten: der innerste —
mit einer Nasenlänge als Radius — umrahmt die Stirn und die Wangen, der zweite —
mit zwei Nasenlängen — gibt das Außenmaß des Schädels an und begrenzt das Gesicht
nach unten hin, der dritte — mit drei Nasenlängen — geht durch die Halsgrube
oder den Kehlkopf und bildet in der Regel auch den
Heiligenschein!) (Abb. 2). Klar, daß auf diese Weise
jene eigentümliche Überhöhung und Erbreiterung des
Oberkopfes entstehen mußte, die bei Gestalten dieses
Stils so oft den Eindruck einer Aufnahme in Niedersicht
erweckt, die aber in Wahrheit auf die Anwendung des
vorbeschriebenen Drei-Kreiseschemas zurückzuführen
ist und dafür zeugt, wie wenig die mittelalterliche
Proportionslehre — nur auf die möglichst handliche
Fixierung der fakturalen Maß verhältnisse bedacht —
an der „objektiven“ Unrichtigkeit derselben Anstoß
nahm: das Proportionssystem erscheint hier nicht nur
als Symptom des Kunstwollens, sondern beinahe als
Träger einer eigenen stilbildenden Kraft?).
Dieses Drei-Kreiseschema — wir bilden zur Er-
läuterung ein Blatt derselben Hamburger Handschrift
ab, der wir bereits die kanonisch proportionierte Ma- Abb. a. Das „Dreikreissschema" der
donnenfigur entnahmen, und die verhältnismäßig viele >y*#ntinischen undbyzantinisieren-
konstruierte Köpfe enthält (Taf. 29, Abb. 4) — läßt sich беш каша
innerhalb des byzantinischen und byzantinisierenden
Kunstbereichs sehr häufig feststellen: in Deutschland?) wie in Österreich‘), in
Frankreich®) wie in Italien‘), in der Monumentalmalerei”) wie in der Kleinkunst ),
vor allem aber in zahllosen Handschriftenillustrationen?); und auch da, wo — vor
allem bei kleinen Formaten — eine exakte Konstruktion mit Zirkel und Richt-
(1) Außerdem liegen die Pupillen bei geradeaus gerichtetem Blick gewöhnlich auf der Mitte zwischen
der Nasenwurzel und dem ersten Kreis, der Mund teilt die Strecke zwischen erstem und zweiten Kreis
entweder im Verhältnis 1: 1, oder (Athoskanon) im Verhältnis 1: 2.
(2) Auch diese Gepflogenheit, die Köpfe der Figuren durchweg mit Zirkelschlägen zu umreißen, hat
sich übrigens in der byzantinischen Malerei bis in die Neuzeit erhalten. Vgl. Didrons Beobachtungen
(Malerbuch vom Athos, a. a. O., 8. 83, Anm.).
(3) Zahlreiche Beispiele z. B. bei Clemen, die romanischen Wandmalereien der Rheinlande, 1916.
(4) Vgl. z. B. Buberi in Jahrb. d. Centr.-Comm., 1909, S. 25 ff., Figur бх und 63.
(5) Vgl. e, B. Album de Villard de Honnecourt, offizielle Ausgabe der Bibliothèque Nationale, Taf. XXXII,
(Auch im Stil stark byzantinisierend.)
(6) Vgl. х. В. Cavallinis Köpfe in St. Cecilia in Trastevere, Abb. bei Hermanin, le Galerie naz.
d’Italia, 1902, V, besonders Tafel IL
(7) Auch Glasgemälde kommen in Frage, z. B. neben vielen anderen die Apostelfenster des Naum-
burger Westchors.
(8) Vgl. z. B. das bei Wulff, Altchr. und byz. Kunst II, 8. 602 abgebildete Email, sowie zahlreiche
Elfenbeine.
(9) Vgl. besonders A. Haseloff, Eine thüring.-sächs. Malerschule des 13. Jahrh., 1897, namentlich
Abb. 18, 44, 66, und (besonders deutlich) 93, 94.
203
scheit nicht vorliegt, erweist der Formcharakter oft genug die Abstammung von
jenem Einheitsschema (Abb. 3)!).
Ja, die Tendenz, zur planimetrischen Schematisierung geht noch weiter: nicht
nur das frontal gerichtete Antlitz wird in der aufgezeigten Weise konstruiert,
sondern auch das ins Dreiviertel-
profil gewendete: der mittelalterliche
Geist nimmt keinen Anstoß daran, auch
den „verkürzten“ Kopf vermittels eines
Flächenschemas zu konstruieren, das —
ganz wie es bei der Konstruktion des
Enfacekopfes der Fall war— mit gleichen
Strecken arbeitet, und nur dadurch in
einfacher, wenn auch natürlich höchst
inkorrekter Weise den Eindruck der Ver-
kürzung erzeugt, daß diese graphisch
gleichen Strecken objektiv Verschiedenes
„bedeuten“.
Das Grundprinzip dieses Schemas, das
gewissermaßen eine Ergänzung zu dem
für den Enfacekopf geltenden Drei-Kreise-
system darstellt, und gleich dieseminner-
halb des byzantinischen Kunstkreises ent-
wickelt wurde’), ist das folgende; es
wird zunächst darauf verzichtet, den
IN| Kopf nach vorn zu neigen, vielmehr be-
gnügt man sich mit einer Drehung, und
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er rn einer Neigung nach rechts oder links).
Abb. 3. Gottvater, die Gestirne schaffend. Infolgedessen bleiben die Vertikalmaße
Bayr. Handschr. aus dem 3. Viertel des 12. Jahrh. eränd daß die Aufeab ich
(phot. Rehn & Tietze, München, Nr. 2444). шу ert, 30 | = каре а
darauf beschränkt, die Verkürzung der
horizontalen Abmessungen zu schematisieren, und zwar mit der Maßgabe, daß
erstens auch hierfür die übliche Einheit (eine Nasenlänge) verbindlich sei, und
daß es zweitens trotz der Längenverschiebung möglich bleibe, den Koptkontur
durch einen Kreis mit zwei Nasenlängen als Radius und gegebenenfalls den Nimbus
durch einen konzentrischen Kreis mit drei Nasenlängen als Radius zu bestimmen.
Nur wird jedoch das Zentrum dieses Kreises oder dieser Kreise wegen der
(т) Das Schema (das auch in abgekürzter Form vorkommt, indem man sich mit der sirkel-
mäßigen Bestimmung des Kopfkonturs begnügt, ohne auch den Umriß des Gesichts zu frieren)
begegnet übrigens manchmal mit einer Abänderung, die die „unnatürliche“ Überhöhung der Schädel-
kalotte bis zu einem gewissen Grade auskorrigiert: die Radien der drei Kreise verhalten sich zu-
einander nicht wie 1: 2: 3, sondern wie 1: 1½: 2½, wobei naturgemäß die Mundspalte nicht in das
Feld zwischen dem 1. und 2. Kreis hineinfällt, sondern auf dem 2. Kreise selber liegt. So bei dem
von Buberi publizierten Nonnberger Wandgemälde (vgl. Taf. 11, Abb. 5), und öfter, 3. В. — hier
wegen der Abnutzung der Farbe besonders deutlich — bei den spätromanischen Apostelbildern an der
südlichen Chorschranke des Bamberger Peterschors. Buber! hat unseres Wissens als erster auf das
Vorhandensein eines Konstruktionsschemas in romanischer Zeit hingewiesen.
(а) Z. B. trifft es auf den Kopf der Rucellaimadonna іп S. Maria Novella zu, nicht aber auf den der
Akademiemadonna von Giotto.
(3) Madonnen zeigen stets eine Rechtsneigung (vom Beschauer aus).
204
Seitendrehung nicht mehr auf die Nasenwurzel fallen können, sondern es wird
innerhalb der uns zugewendeten Gesichtshälfte liegen müssen: man verlegt es, um
überhaupt einen charakteristischen Punkt dafür zu haben, meist in den äußeren
Augen- oder Augenbrauenwinkel oder auch in die Pupille. Wird nun um diesen
Punkt, den wir Punkt A nennen wollen, der Kreis mit zwei Nasenlängen als Radius
geschlagen, so begrenzt dieser Kreis die Schädelrundung und bestimmt (bei C) die
Breite der uns abgewendeten Kopfhälfte!); d. h. (und eben dadurch kommt der Ein-
druck der „Verkürzung“ zustande) die nur zwei Nasenlängen betragende Strecke AC,
die in der genauen Frontansicht nur eine halbe Kopfbreite „bedeutet“ hatte, „be-
deutet“ innerhalb des Dreiviertelprofils mehr als das, nämlich um so viel mehr, als
der Punkt A von der Mittellinie des Gesichts entfernt ist. Echt mittelalterlich-
schematisch wird dann die weitere Unterteilung der Breitendimensionen durch
einfache Halbierung und Vierteilung der Strecke AC erreicht, wobei aber natürlich
die dadurch entstehenden Teilpunkte J, D und K dann, wenn das Kreiszentrum im
Augenwinkel liegt, andere Stellen bezeichnen, als dann, wenn es in der Pupille
angenommen wird“). (Taf. 30, Abb. 6, 7.)
Die Vertikalmaße bleiben, wie bemerkt, unverändert: Nase, Untergesicht und Hals
erhalten je eine Nasenlänge. Nur Stirn und Oberkopf müssen sich mit einem
geringeren Maß begnügen: denn der Punkt B, von dem aus die Vertikalmaße be-
stimmt werden (die Nasenwurzel), liegt ja nicht mehr, wie beim Enfacekopf, auf
einer Höhe mit dem Zentrum des Kreises, durch den der Schädelkontur bezeichnet
wird, sondern dieses letztere muß, da es in den Augenwinkel bzw. die Pupille fällt,
notwendig etwas tiefer liegen. Ist sonach die Strecke AE = zwei Nasenlängen,
so muß die Strecke BL ein wenig kleiner als zwei Nasenlängen sein. —
* *
*
Die byzantinische Proportionslehre hat, wie wir sahen, bei aller Neigung zum
Schematisieren doch bis zu einem gewissen Grade von der organischen Gliederung
des Körpers ihren Ausgang genommen; und der Tendenz zur geometrischen Form-
bestimmung hielt immer noch das Interesse für die Maße das Gleichgewicht. Das
‚gotische“ System nun — von der Antike noch einen weiteren Schritt sich ent-
fernend — dient fast ausschließlich der Bestimmung des Konturs und der Be-
wegungsrichtungen. Was der französische Architekt Villard de Honnecourt als
„art de pourtraicture“ seinen Zunftgenossen vermitteln will — das ist eine „methode
expéditive du dessin“, die mit eigentlicher Proportionsmessung so gut wie gar nichts
mehr zu tun hat und das natürliche Gefüge des Organismus von vornherein un-
berücksichtigt läßt. Hier wird der Körper überhaupt nicht mehr „gemessen“, auch
nicht einmal nach Kopf- oder Gesichtslängen, sondern das Schema hat sich gleich-
sam vom Objekte gänzlich losgesagt: das Liniensystem — vielfach nach rein
ornamentalen Gesichtspunkten erfunden und manchmal geradezu den Figuren des
gotischen Maßwerks vergleichbar — hat keinen Zusammenhang mit der Körper-
(z) In etwas rudimentärer Form läßt sich dies Schema an einem romanischen Kopf in 8. М. im
Kapitol konstatieren (Clemen, a. a.O., T. XVII): Man sieht deutlich die den Kopfkontur begrenzende
Zirkellinie, an die sich jedoch der Künstler bei der Ausführung nicht ganz genau gehalten hat.
(2) D (der Halbierungspunkt von AC) bezeichnet im ersteren Fall den Innenwinkel, im andern Fall
die Pupille des linken Auges, I (der Halbierungspunkt von AD) bezeichnet im ersteren Fall die Pupille,
im anderen Fall den Innenwinkel des rechten Auges. In beiden Fällen also kommt ein Eindruck von
Verkürzung dadurch zustande, daß faktural gleiche Stücke auf der uns abgewandten Seite einen größeren
objektiven Wert repräsentieren, als auf der uns zugewandten Seite,
205
struktur, sondern es ist, wie ein selbständiges Drahtgestell, über die Form
hertibergelegt. Die Linien, weit entfernt, sich mit den nattirlichen Körpermaßen zu
identifizieren, bestimmen die Erscheinung nur insofern, als ihre Lage ganz allgemein
die Bewegungsrichtung der Extremitäten andeutet, und als ihre Schnittpunkte mit
einzelnen markanten Stellen der Figur zusammenfallen. So wird (vgl. Abb. 4a)
die aufrechtstehende männliche Figur aus einem Gebilde gewonnen, das zu dem
organischen Aufbau des Körpers schlechterdings gar keine Beziehung hat: aus einem
verzogenen Pentagramm, dessen oberster Strahl verkiimmert ist, und dessen wage-
recht verlaufende Seite AB in den Langseiten AH und BG etwa dreimal aufgeht !).
Dann fallen A und B mit den Schulter-
gelenken, G und H mit den Fersen
zusammen, der Mittelpunkt der Strecke
AB, J, gibt den Ort der Halsgrube an,
und die die Langseiten drittelnden
Punkte C und D bzw. E und F be-
stimmen die Stelle der Hüft- und Knie-
gelenke).
Auch die Köpfe werden (bei Men-
schen wie bei Tieren) nicht nur aus
dem Viereck oder aus dem Kreis, son-
dern auch aus dem Dreieck, ja wie-
derum aus dem so ganz naturfremden
Pentagramm konstruiert). Die Tier-
figuren werden — wenn überhaupt
etwas wie eine Gliederung versucht
wird — in völlig unorganischer Weise
aus Dreiecken, Vierecken und Kreis-
segmenten zusammengesetzt (Abb. 5)‘).
Und selbst da, wo auf den ersten Blick
Abb.4. Frontfigur und Figur im Dreiviertelprofil Я Е р
(Zeichnung nach Villard de Honnecourt, Tafel XXXV ein starkes Proportionsinteresse vor-
und XXXVII der offiziellen Ausgabe der Bibl. Nat) zuwalten scheint, bei dem großen Kopf
auf Seite XXXVIII der offiziellen Aus-
gabe des Albums, der in ein reguläres Quadratnetz eingezogen ist (und übrigens in
seinen Abmessungen mit dem Athoskanon übereinstimmt) ), trägt ein aus Diagonal-
(x) Es erweckt daher durchaus falsche Vorstellungen, wenn B. Haendcke (Mon. f. Kunstw., 1912, S. 188)
mit Bezug auf diese Figuren Villards von einer „Proportion des ganzen achtköpfigen Körpers“ redet.
(a) Die magische Bedeutung des Pentagramms spielt in der „pourtraicture‘‘ Villards natürlich ebenso-
wenig mehr eine Rolle, wie die mystische bzw. kosmologische Bedeutung der Maßzahlen in der Pro-
portionsichre der Byzantiner.
(з) Solche Rezepte sind übrigens in der Atelierpraxis bis in die Neuzeit festgehalten worden: Siehe
з. В. Meder, Die Handzeichnung 1919, 8.254, wo die Tendenz dieser Praktiken mit Recht als mittel-
alterlich bezeichnet wird. Sogar in der Umgebung Michelangelos kann man sie noch beobachten:
vgl. das Blatt Fr. 290. (Siehe den Nachtrag auf Seite arg.)
(4) Auch die menschlichen Gestalten werden, falls es sich um sitzende oder in anderen ungewöhn-
lichen Stellungen befindliche Figuren handelt, gelegentlich durch Kombination von Dreiecken usw. ge-
wonnen. Vgl. 3. B. Tafel XLII.
(5) Besonders auffällig ist die Überhöhung der Schädelkalotte, die hier ebenfalls — 1 Nasenlänge ist.
— Daß unter den 26 Typen Dürers auch einmal eine Frau begegnet, bei der der Oberkopf = 1 Nasen-
länge ist, darf keinesfalls (mit V. Mortet, Mélanges d'E. Chatelain, 1910) als Beweis eines tatsäch-
lichen Zusammenhanges aufgefaßt werden.
206
linien gebildetes, übereckgestelltes Viereck sogleich еіп planimetrisch-schematisie-
rendes, mehr form- als proportionsbestimmendes Prinzip hinein (Taf. 30, Abb. 9).
Gerade dieser Kopf läßt übrigens erkennen, daß alle diese Dinge nicht etwa reine
Spielerei bedeuten (so nahe sie manchmal daran zu streifen scheinen); denn der
Kopf aus einem gleichzeitigen Reimser Glasfenster (Taf. 11, Abb. 8) stimmt nicht
nur hinsichtlich der Dimensionen mit Villards Darstellung aufs genaueste überein ),
sondern ist auch in der Formgebung mit aller Deutlichkeit durch jene Vorstellung
des übereckgestellten Vierecks bestimmt.
Auch Villard de Honnecourt hat,
wie erwähnt zu werden verdient,
eineninteressantenVersuchgemacht,
das für die frontal ausgerichtete Figur
erfundene Schema auch da zur An-
wendung zu bringen, wo der Körper
eine Dreivierteldrehung auszu-
führen scheinen soll; und er ist dabei
nach einem ähnlichen Prinzip verfah-
ren, wie wir esin der byzantinischen
Konstruktion des Dreiviertelkopfes
kennen lernten — nur daß er auch
hier weit undifferenzierter und rück-
sichtsloser zu Werke geht: das oben
beschriebene Pentagramm - Schema
wird ohne jede Veränderung auch
für die ins Dreiviertelprofil gedrehte
Figur benutzt, nur daß er das früher
auf den Punkt B fallende Schulter-
gelenk in den Punkt X, d. h. um
den vierten Teil der Strecke AB „
weiter nach links, verlegt; der Ein-
druck der Verkürzung wird also auch
hier — ganz wie bei der „byzanti-
nischen“ Konstruktion des Drei-
viertelprofils — dadurch erzielt, daß
ein und dasselbe Längenmaß (J X) auf der uns abgekehrten Seite die Hälfte, auf der
uns zugekehrten aber nur ein Viertel der Schulterbreite „bedeutet“ (Abb.4b). Hier tritt
mit besonderer Klarheit der Charakter einer Proportionslehre hervor, die — „pour
legierement ouvrier“ — ausschließlich auf die Schematisierung der fakturalen Maß-
verhältnisse ausging, während die antike Theorie sich gerade umgekehrt auf eine
anthropometrische Bestimmung der objektiven beschränkt hatte.
Abb. 5. Konstruktionszeichnungen des Villard de Honnecourt
(nach der offiziellen Ausgabe der Bibl. Nat., Tafel XXXVII).
IV.
Die praktische Bedeutung des soeben gekennzeichneten Verfahrens war natürlich
da am größten, wo das künstlerische Individuum am meisten durch Tradition und
Zeitstil gebunden war: im Byzantinismus und in der Romanik). Schon in der
(1) Eine Abweichung besteht nur in der relativen Vergrößerung der Augäpfel.
(з) Selbst hier darf übrigens diese Bedeutung nicht überschätzt werden. Nicht nur, daß die wirklich
genau konstruierten Figuren doch wohl im ganzen in der Minderzahl sind gegenüber den mehr oder
minder freihändig gezeichneten: auch da, wo der Künstler das Schema mit einer gewissen Sorgfalt
207
Hochgotik kommt ihre Anwendung in Mißkredit, und von der Kunst des 14. bis
15. Jahrhunderts darf man sagen, daß sie außerhalb Italiens — entsprechend dem
immer michtigeren Anschwellen der subjektivistischen Tendenz — von allen kon-
struktiven Hilfsmitteln abgesehen hat!).
Die italienische Renaissance dagegen hat der Proportionslehre eine un-
begrenzte Wertschätzung entgegengebracht, nur aber — im vollen Gegensatz zum
Mittelalter — nicht mehr als einer handwerksmäßigen Erleichterung der Arbeit
sondern gerade umgekehrt als der Verwirklichung eines metaphysischenPostulats
Auch demMittelalter war die metaphysische Ausdeutung des menschlichen Körper-
baus (im Sinne der Kosmologie) nicht fremd gewesen: wir sahen ein Beispiel dieser
Betrachtungsweise bei den Arabern des ro. Jahrhunderts, und auch in den Schriften
der heiligen Hildegard von Bingen hat man eine längere Darlegung nachgewiesen,
in der die Proportionen des Mikrokosmos Mensch aus dem harmonischen Plan des
Universums erklärt werden?). Allein insoweit die mittelalterliche Proportionslehre
kosmologisch-harmonistisch war, stand sie außerhalb jeder Beziehung zur Kunst —
und insoweit sie in Beziehung zur Kunst stand, hatte sie jeden Anschluß an die
Kosmologie verloren?), und war zum bloßen Atelierbehelf herabgesunken‘). Erst in
der italienischen Renaissance laufen die Strömungen wieder zusammen. In einer
Zeit, in der die bildende Kunst sich die Stellung einer „ars liberalis“ zu erringen
begann, und in der sich die ausübenden Künstler die gesamte wissenschaftliche
Bildung ihrer Epoche angeeignet hatten, während umgekehrt die Gelehrten und
Literaten das Kunstwerk als eine Offenbarung höchster und allgemeinster Gesetz-
lichkeiten zu begreifen suchten: in einer solchen Zeit konnte es nicht ausbleiben,
daß auch der praktisch angewandten Proportionslehre wieder ein tiefer metaphysi-
scher Sinn unterlegt wurde. Man verstand sie jetzt wieder als den Ausdruck einer
prästabilierten Harmonie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos — man ver-
stand sie aber auch weiterhin als die rationale Grundlage der Schönheit.
Denn dieses Zeitalter begnügte sich nicht damit, die kosmologische Auffassung
der Proportionslehre wieder herzustellen, wie sie dem Hellenismus und dem Mittel-
alter geläufig gewesen war, sondern es erneuerte außerdem den klassisch-antiken
Gedanken, daß die Symmetria das Grundprinzip der ästhetischen Vollkommenheit
sei)°: wie sich jetzt überall der Mystizismus mit der ratio, der neoplatonische Geist
angelegt hat, ist er bei der Ausführung doch vielfach wieder von den Hilfslinien abgewichen (vgl.
з. B. Taf. зо, Abb. 5, oder die oben zitierte Figur in St. Marien im Kapitol).
(1) Die Angabe eines den Figuren gleichsam Halt gebenden Mittellotes, wie es in vielen Hand-
zeichnungen begegnet, kann natürlich weder als Konstruktion, noch gar als proportionsbestimmendes
Hilfsmittel angesprochen werden.
(2) Pater Ildefons Herweghen in Rep. XXXII, S. 445 ff. Es ist kaum zu bezweifeln, daß eine genauere
Durchforschung der Quellen auch im Abendland noch mehr derartiges ans Licht bringen würde.
(3) Daß ein solcher Anschluß ursprünglich einmal bestand, ist aus historischen Gründen (vgl. oben
8. 201 f.) wahrscheinlich. Auch die Aufgabe des 10-Facies-Typus zugunsten des 9-Facies-Typus könnte
in zahlenmystischen oder kosmologischen Gedankengingen (Sphärenlehre ?) begründet sein.
(4) Es darf hier nochmals an Villards Wort von der „maniere pour legierement ouvrier“ erinnert
werden. Auch ist es für den Geist der mittelalterlichen Proportionslehre recht bezeichnend, daß das
Malerbuch vom Athos genaue Angaben darüber macht, um wieviel die Breite des bekleideten Körpers
diejenige des nackten übertreffen solle,
(5) Julius von Schlosser hat nachgewiesen, daß einer der ersten Vertreter dieses Gedankens, nämlich
Ghiberti, ihn aus einer arabischen Quelle, der Optica des Alhazen, geschöpft habe. Vielleicht
noch interessanter ist aber die Tatsache, daß die Proportionalität bei Alhazen keineswegs das Grund-
prinzip der Schönheit darstellt, vielmehr innerhalb seiner ästhetischen Kategorien wie ein recht iso-
208
TAFEL 29
‚є Ta yœ
we Le
1) Unvollendete ägyptische Kniefigur, nach C. E. Edgar, 3) Thronende Madonna aus einer sachsisch-thiiringischen
Catalogue général ... du musée du Caire .... XXV Handschrift (1. Drittel des XIII. Jahrh ) in der Hamburger
(Sculptors studies and unfinished works), 1906, Tafel IV. Stadtbibliothek; das aufgetragene Proportionssystem ent-
spriht den Angaben im Malerbuch vom Berge Athos.
4) Christuskopf
aus der gleichen Handschrift.
2) Agyptisher Papyrus mit Bildhauer-Werkzeichnung. Berlin.
a=vorderer Aufriß, b=seitliher Aufriß, b=Grundriß.
Zu: Erwin Panofsky, Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung.
mit dem aristotelischen verbunden findet, so vereinigt sich auch in der Bewertung
der Proportionslehre die harmonistisch-kosmologische Auffassung mit der normativ-
ästhetischen, die Phantastik des Hellenismus mit der Regelstrenge der polykleti-
schen Klassik. Und vielleicht ist die Proportionslehre dem Denken der Renaissance
gerade deshalb so unendlich wertvoll erschienen, weil nur sie — zugleich mathe-
matisch und spekulativ — den disparaten geistigen Bedürfnissen der Zeit genügen
konnte.
In solcher Weise doppelt und dreifach geweiht (als weiteres Wertmoment trat
ja noch das historische Interesse hinzu, das diese Erben des Altertums den spär-
lichen Andeutungen der antiken Schriftsteller schon deshalb entgegenbringen mußten,
weil es eben die Andeutungen antiker Schriftsteller waren) ), hat die Proportions-
lehre in der Renaissance eine bisher unerhörte Bedeutung gewonnen: man preist
die Proportionen als die anschauliche Verwirklichung der musikalischen Harmonie),
liertes Einsprengsel wirkt: Alhazen hat in seinem höchst merkwürdigen Exkurs über den Schénheits-
begriff nicht weniger als 2: Prinzipien oder Voraussetzungen der Schönheit aufgezählt (in dem näm-
lich sämtliche Kategorien der optischen Wahrnehmung, als Licht, Farbe, Größe, Lage, Kontinuität usw.
Kriterien der Schönheit werden können), und dieser Aufzählung fügt sich, recht unorganisch mit ihr
verbunden, das Loblied auf die „Verhältnismäßigkeit der Teile“ an. Es ist ganz ungewöhnlich auf-
schlußreich, wie Ghiberti alle jene anderen Kategorien unbeachtet läßt und — mit bewunderns-
wert feiner Witterung für das Klassisch-Antike — mit seinem Exzerpt erst gerade an dem Punkt
einsetzt, an dem das Stichwort „Proportionalitas“ fällt. — Die Ästhetik Alhasens ist übrigens nicht
nur wegen der kategorialen Einteilung der Schönheitskriterien merkwürdig, sondern vor allem auch
wegen ihres eigentümlichen Relativismus: so kann die Entfernung schön machen, indem sie die
Flecken oder Unebenheiten zurücktreten läßt — aber auch die Nähe, indem sie die Feinheiten der
Zeichnung der Gliederung in Wirkung setzt usw. (vgl. dagegen etwa Actius, in Stoicorum vet. Fragmenta,
ей. J. ab Armin, II, 1903, 8. 299 ff.: die schönste Farbe ist das dunkle Blau, die schönste Form die
Kugelgestalt usw.). Überhaupt dürfte der betr. Passus der Optica (der von Vitellio fast wörtlich über-
nommen wird), die Beachtung der Orientalisten schon um deswillen verdienen, weil dem arabischen
Denken im allgemeinen eine so rein ästhetische Betrachtung der Schönheit fernzuliegen scheint:
vgl. stwa Ibn Chaldün (Khaldoun), Prolegomona (Frans. Übers. in Notices et Extraits de la Bibl.
Imp. Paris 1862—65, XIX — XXI), Bd. II, S. 413: „ .. et c'est 1А ce qu'on entend par le terme beau
et bon“ (nämlich die rechte Proportion, die hier in ganz weitem Sinne gefaßt wird).
(x) Insbesondere wird jetzt Vitruv mit ungemeinem Eifer ausgedeutet: auch dem Mittelalter war er
zwar nicht ganz fremd gewesen (vgl. Schlosser, a. a. O., 8. 33) und sogar den „lauteren Brüdern“
ist, wenn nicht direkt, so mittelbar, die Kreis- und Klafterbestimmung bekannt geworden — allein
die mittelalterlichen Schriftsteller lassen durchweg gerade die eigentlichen Proportionsangaben aus
dem Spiel. Sie bringen in der Regel außer der Angabe über die Dreiteilung des Gesichts nur die
bekannte Nlaſter- und Kreisbestimmung, und niemals hat man den antiken Autor ernsthaft nach-
geprüft. Jetzt aber versucht man, ihn sachlich zu berichtigen (Lionardo verbessert die kontroversen
Bestimmungen über die Höhe der Schädelkalotte, Ghikerti will den die Gestalt umschreibenden Kreis
nicht um den Nabel, sondern um die Körpermitte schlagen), textmäßig zu emendieren, und überhaupt
aus seinen Angaben so viel als möglich herauszuholen, (Vgl. s. B. die Figuren auf Folio XLIXr
und Lr der Ausgabe des C. Cesariano von 1521: auf Grund der von Vitruv angegebenen Drittelung
der Gesichtslänge, die ihrerseits '/,, der Körperlänge beträgt, ist ein die ganze Gestalt umschließendes
Gradnetz mit der Einheit '/,, geschaffen worden).
(2) Vgl. s. B. Pomponius Ganricus, de sculptura (ed. H. Brockhaus, 1886, S. 130 fl.). Am weitesten
geht in dieser Beziehung ein 1525 bei Bernardino Vitali erschienenes Werk „Francisci Georgii
Veneti de Harmonia mundi totius cantica tria“. Nicht nur, daß der Verfasser (der Fra
Francesco Giorgi, der das bekannte Gutachten über S. Francesco della Vigna in Venedig abgegeben
hat) auf Folio C ı ff. aus der Möglichkeit, die Gestalt in einen Kreis einzuschreiben — den Mittelpunkt
desselben verlegt er übrigens mit Ghiberti in die Körpermitte — eine Entsprechung zwischen dem
menschlichen Körper und der Rundform des Weltalls folgert, und das Verhältnis zwischen Höhe, Breite
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 14 209
man unterlegt ihr arithmetische oder geometrische Gesetzlichkeiten, wie insbesondere
die in dieser Zeit der Plato-Verehrung begeistert aufgegriffene Regel des „goldenen
Schnittes“ ); man führt sie als die Maße der antiken Götter ein, so daß sie zugleich
einer antiquarisch-historischen und mythologisch-astrologischen Bedeutung teilhaftig
erscheinen?); und man versucht auch wohl — im Anschluß an eine Bemerkung
Vitruvs — die menschlichen Proportionen mit denen der Gebäude und Gebäude-
teile zu identifizieren, um zugleich die architektonische Gesetzlichkeit des Menschen-
leibes und den Anthropomorphismus der Architektur zu erweisen’).
Allein mit dieser hohen Bewertung der Proportionslehre hielt die Vervollkomm-
nung ihrer Methode keineswegs Schritt. Je mehr sich die Renaissanceautoren
für die metaphysische Bedeutsamkeit der menschlichen Maße begeistern, um so
weniger zeigen sie sich in der Regel zur empirischen Prüfung und Durcharbeitung
derselben geneigt; und was sie nach all’ jenen großen Worten tatsächlich bei-
zubringen wissen, beschränkt sich in der Regel auf die Wiederholung der (allenfalls
emendierten) Vitruv- Bestimmungen, oder noch öfter auf die Reproduktion der
schon bei Cennini überlieferten Neunerteilung — höchstens, daß man die Ab-
messungen des Kopfes in einer neuen Art und Weise detaillierte‘), oder die tra-
ditionellen Frontalmaße, der künstlerischen Eroberung der dritten Dimension ent-
sprechend, durch einige Angaben tiber die Tiefenwerte zu ergänzen suchte). Nur
darin kann man den Anbruch einer neuen Zeit zu spüren glauben, daß die Theo-
retiker die vitruvianischen Angaben durch Vermessung antiker Statuen nachzuprüfen
begannen — wobei sie die Angaben des Autors zunächst natürlich in vollem Umfange
bestätigt fanden“), späterhin aber auch zu abweichenden Ergebnissen gelangten)
und Tiefe mit den Dimensionen der Arche Noah in Verbindung bringt (300: 50: 30): er macht wirklich
Ernst mit der Gleichsetzung zwischen bestimmten Körperproportionen und den antiken Musikinter-
vallen. Z.B. setzt er
Gesamtlänge: Körper mit Ausschluß des Kopfes = 9:8 (tonus),
Rumpflänge: Länge der Beine — 4:3 (diatessaron),
Brust (von der Haisgrube bis zum Nabel): Unterleib — 2:1 (diapason) usw.
Die Bekanntschaft mit diesem augenscheinlich seltenen Buch, das — in der kunstgeschichtlichen
Literatur kaum herangezogen — dennoch wegen seiner vermutlichen Beziehung zu Dürers Proportions-
lehre (vgl. unten S. 216, Anm. 1) nicht unwichtig Ist, verdankt der Verfasser der Bibliothek Warburg
in Hamburg.
(x) Уа. z. B. Luca Pacioli, La divina proportione (Quellenschriften, N. F. II), S. 130 fl. Weiterhin
Mario Equicola, della natura d'amore, 1531, Folio 78 rjv.
(2) G. P. Lomazzo, Trattato dell’ arte della pittura, 1584 (Neudruck 1844), Buch VI, cap. 3; Buch I, cap. 31.
(3) So з. B. Filarete, а. a. O.; ferner Alberti, de re aedificatoria, VII, cap 13; nach ihm Giannozzo
Manetti (ed. Muratori, 98. rer. Ital, Ш, Teil II, S. 937); Lomazzo, a. a. O., Buch I, cap. 30, usw.; be-
sonders bemerkenswert sind solche Gleichsetzungen da, wo man sie bildlich su illustrieren suchte,
wie beispielsweise in einem Ms. der Budapester Stadtbibl. (Taf. 11, Abb. 10), oder bei Francesco di
Giorgio, a. a. O., Tafelband, Т. I. Die Budapester Hs. ist identisch mit dem von E. Henszimann
(Jahns Jahrb. II, 1869, S. 128 fl.) beschriebenen Codex des Angelo da Cortina, der seinerzeit dem
Grafen Zichy gehörte.
(4) Vgl. Ghiberti, der übrigens neben seinem achon erwähnten Kanon von 9½ Gesichtslängen auch
die Vitruvbestimmungen mitteilt, sowie Luca Pacioli, a. a. O.
(5) So — wohl sicher unter dem auch sonat bei ihm spürbaren Einfluß Lionardo da Vincis — Pom-
ponius Gauricus, der überhaupt verhältnismäßig noch am weitesten ins Einzelne gebt.
(6) Luca Pacioli, a. a. O., p. 135/136.
(7) Cesare Cesarianos Vitruvkommentar, a. a. O., Folio XLVII r, zitiert bei E. Panofsky, Dürers Kunst-
theorie 1015. S. 137.
210
und daß man, oft unter Berufung auf die antike Götterlehre, hie und da eine gewisse
Differenzierung des Idealkanons anzustreben scheint: schon das Nebeneinander-
bestehen der vitruvianischen und pseudovarronischen Überlieferung bedeutete das
Vorhandensein zweier Typen, von denen der eine etwa neun, der andere zehn Ge-
sichtslängen enthielt; und wenn man diese Typen noch durch einen untersetzteren
ergänzte, so gelangte man leicht zu einer Dreiheit, die man je nach Geschmack
auf bestimmte Gottheiten'), auf die drei antiken Baustile, oder auf die Kategorien
des Erhabenen, Schönen und Anmutigen?) beziehen konnte). Aber es ist bezeich-
nend, daß unsere Erwartung, nun alle diese Typen auch maßstäblich detailliert zu
sehen, fast regelmäßig enttäuscht wird: wo es auf exakte Einzelangaben ankommt,
verstummen die Autoren entweder ganz, oder aber sie greifen aus der Mehrzahl
ihrer Typen einen einzigen heraus, der sich dann als der altbekannte Vitruv- oder
Cenninimann entpuppt‘). Und wenn Lomazzos Erstes Buch durch eine große Fülle
von Typen und eine genaue Detaillierung der Maße überrascht, so hat das seinen
Grund in der sehr einfachen Tatsache, daß er seine Vorgänger, vor allem Dürer,
in der ausgiebigsten Weise geplündert hat: der Mann von 9 Kopflängen (cap. 9)
ist identisch mit Dürers Typus О, der von 8 Kopflängen (cap. то) mit Dürers
Typus B, der von 7 Kopflängen (cap. 11) mit Dürers Typus A, der überschlanke
Mann (cap. 8) mit Dürers Typus E usw.
Im Grunde haben nur zwei Künstler-Theoretiker der italienischen Renaissance
entscheidende Schritte getan, um die Proportionslehre auch in sachlich-methodischer
Hinsicht über den mittelalterlichen Standpunkt hinauszuheben und sie auf ein der
künstlerischen Praxis der Epoche entsprechendes Niveau zu bringen: Alberti, der
Prophet des neuen großen Stils, und Lionardo, sein Inaugurator’).
Beide kommen darin überein, daß sie die Proportionslehre auf die Stufe einer
empirischen Wissenschaft zu bringen versuchen: unbefriedigt durch die dürftigen
Überlieferungen Vitruvs und ihrer eigenen italienischen Vorläufer, haben sie die
Tradition durch die auf eine genaue Beobachtung des Lebens gestützte Erfahrung
ersetzt. Italiener, die sie waren, sind sie zwar nicht dazu gelangt, an Stelle des
Idealtypus eine Vielheit charakteristisch differenzierter Bildungen zu setzen, aber
sie haben aufgehört, den Idealtypus auf Grund einer metaphysischen Harmonistik
oder nach den Angaben ehrwiirdiger Autoritäten zu bestimmen: sie haben den Griff
in die Natur gewagt und nahten sich mit Zirkel und Maßstab dem lebenden Körper
(nur daß sie aus der Menge der Bildungen diejenigen auswählten, die nach ihrem
eignen Urteil und nach der Meinung kundiger Berater als die Schönsten gelten
durften). Die Idealfigur sollte gefunden werden, indem man die Normalfigur
(1) Siehe Lomazzo, а. а, О. IV, 3. Merkwürdig die schon bei Dürer begegnende Identifikation dieser
Gottheiten mit christlichen Personen.
(2) So Fed. Zuccari (vgl. Schlosser, Materlallen, VI, S. 122).
(з) Filarete, a. a. O., vgl. auch Francesco di Giorgio, a. а O., І, р. 229 ff, wo ein Typus von g teste
und ein solcher von 7 teste unterschieden wird.
(4) Mit diesem letzteren ist z. В. der „dorische“ Mensch Filaretes identisch, der seltsamerweise der
schlankste von den dreien ist.
(5) Über die literarisch beglaubigten Proportionsstudien Bramantes, über die bisher nichte Näheres
bekannt ist, bringt hoffentlich die angekündigte Arbeit А. Weixlgärtners Aufklärung, die im Rahmen
der von Egger herausgegebenen Bramante-Studien erscheinen soll.
(6) Vgl. Alberti, a. a. O., S. 201. Lionardo (Trattato della pittura, Quellenschriften XV ff., Artikel 109
und 137) läßt sogar ganz empiristisch das Urteil der allgemeinen Öffentlichen Meinung gelten, wozu
eine interessante Parallelstelle bei Plato, Polit. боз b.
211
zu ermitteln suchte. Und statt die Maße nur im Groben und nur insoweit sie in
der Fläche anschaulich wurden, zu bestimmen, suchten Alberti und Lionardo im
Sinne einer völlig wissenschaftlichen Anthropometrie die menschlichen Proportionen
nach Länge, Breite und Tiefe mit der größten Genauigkeit und
unter bewußter Anlehnung an den natürlich-organischen Körper-
aufbau zu erforschen.
So haben denn die beiden großen Theoretiker der aus dem
mittelalterlichen Flächenzwang zu antikischer Plastizität befreiten
künstlerischen Praxis eine Proportionslehre zur Seite gestellt, die
mehr leistete, als dem Künstler ein planimetrisches Zeichenschema
zu überliefern, — eine Proportionslehre, die, empirisch fundiert,
die normale Menschengestalt in ihrer organischen Gliederung und
in voller Dreidimensionalität zu bestimmen vermochte. Nur darin
unterscheiden sich die beiden großen Neuerer, daß der Eine sich
dem gemeinsamen Ziel mehr durch Vervollkommnung der Me-
thode, der andere mehr durch Vermehrung des Materials
zu nähern suchte. Alberti hat sich mit der ganzen Unbefangen-
heit, die ihn selbst der Antike gegenüber auszeichnet!), methodisch
> —
einem Sechstel der Körperlänge sein soll — ein neues sinnreiches
System erdacht, das er „Exempeda“ nennt, und durch welches
die gesamte Körperlänge in 6 „pedes“, бо „ unceolae“ und боо
„minuta“ eingeteilt wird?) — mit dem Erfolg, daß er verhältnis-
mäßig leicht und doch genau am lebenden Modell zu messen
vermochte (Abb. 6). Denn die alte Einteilung nach „teste“ oder
| , „visi“ mußte, als viel zu grobschlächtig, der Natur gegentiber von
1...2 222 vornherein versagen’); ein Messen nach aliquoten Körperbruch-
55 Sieg teilen aber war unpraktisch, da die Feststellung, wie oft eine un-
nardo schule, basie- bekannte Strecke in einer bekannten enthalten sei, stets ein zeit-
rend auf der „Exem- raubendes Herumprobieren voraussetzt; und die Anwendung des
nn erden üblichen Gebrauchsmaßes, also etwa der Ellen, Palmi und Zolle,
(Phot. Giraudon, konnte nichts fruchten bei einem Unternehmen, das nicht die
We > 28 8 absoluten, sondern die relativen Maßverhältnisse der Objekte er-
Abach nitts vom Ver. Mitteln will: der Künstler sollte ja die Figur in jedem beliebigen
fasser eingetragen) Maßstab darstellen können. Freilich: das mit dieser raffinierten
Methode erzielte Ergebnis ist etwas dürftig; es besteht in einer
einzigen Maßtabelle, die Alberti allerdings durch Untersuchung unterschiedlicher
Personen ermittelt haben will‘). Umgekehrt liegt den Aufstellungen Lionardos,
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(x) Vgl. auch 3. B. Dagobert Frey, Bramantestudien I, 1915, S. 84.
(a) Alberti, a. a. O., S. 178 ff. Der Name „Exempeda“ soll von dem Verbum éfsunsdaw hergeleitet
sein, nach anderen soll er in allerdinge verderbtem Griechisch „Sechsfußsystem“ bedeuten,
(3) Umgekehrt war das Albertische Verfahren für die Praxis vielfach zu diffizil, so daß man sich —
wie wir es auch bei Cesariano angedeutet fanden — in praxi oft mit der Einheit einer halbierten oder
dreigeteilten Testa behalf, so z. B. Michelangelo in der prachtvollen Zeichnung Thode 532 (photogr.
Braun 116, abgeb. bei J. A. Symonds, Life of М. A. B., 1893, I, 8. 264). Gerade Michelangelos
Interessen waren ja, nach seiner eigenen Aussage, viel weniger auf das Zusammentragen von Maß-
zahlen, als auf die Erkenntnis der ,,atti e gesti“ gerichtet.
(4) Alberti, а. а. O., S. 198 fl.
212
wie gesagt, kein so kunstreich durchgebildetes Messungsverfahren zugrunde: er
hat — übrigens scheinbar als Einziger unter den italienischen Theoretikern und
vermutlich im Anschluß an Vitruv!) — in der Hauptsache mit dem Verfahren
der aliquoten Bruchteile sich beholfen und ist auch von dem Gedanken einer
Körpereinteilung in neun bzw. zehn Gesichtslängen nicht losgekommen ). Dafür
Abb. 7. Proportionsßgur von Albrecht Dürer
(spätestens 1500)
aus dem Dresdner Skizzenbuch (Ausgabe von
Abb. 8. Proportionsfigur von Albrecht Dürer
(gegen 1523) aus dem ersten Buch der 1528
R. Bruck, 1905, Tafel 74). erschienenen Proportionslehre
hat er aber mit dieser relativ einfachen Methode ein ungeheures Ansehauungsmaterial
verarbeitet (zu dessen Zusammenfassung er leider nie gekommen ist), und zwar
unter einem durchaus originellen Gesichtspunkt: das Schöne mit dem Natürlichen
identifizierend, suchte er sich der ästhetischen Vortrefflichkeit seiner Normalfigur
dadurch zu vergewissern, daß er sich ihrer organischen Einheitlichkeit vergewisserte;
und das Kriterium der letzteren bestand für ihn, dessen wissenschaftliches Denken
fast ausschließlich auf der immerwährenden Feststellung von Analogien be-
(1) Den er bekanntlich exzerpiert und emendiert hat (Richter, The litt. works of L. de У, 1883, Nr. 307,
Tafel XI). Die Tatsache, daß Lomazzo das Verfahren der allquoten Bruchteile anwendet, hat ihren
Grund in seiner unmittelbaren Abhängigkeit von Dürer (vgl. 8. 211).
(а) Diese beiden Typen — der eine den Vitruvproportionen, der andere dem Cennini-Gauricus-Kanon
entsprechend — gehen bei ihm ununterschieden nebeneinander her, so daß es oft schwierig oder un-
möglich ist, eine bestimmte Proportionsangabe mit Sicherheit auf diesen oder jenen zu beziehen.
213
ruhte!), in dem Obwalten von Gleichheitsbeziehungen zwischen möglichst vielen,
oft völlig disparaten Körperstlüicken?). So kleiden sich die meisten seiner Maß-
angaben in die Form; „da xayé simile a lo spatio, che è infra vez“. — Vor allem
aber hat Lionardo die eigentliche Anthropometrie nach einer völlig neuen Seite hin
ergänzt: durch seine systematischen Untersuchungen derjenigen anatomischen und
mimischen Vorgänge, durch die die objektiven Maße des ruhig aufgerichteten
menschlichen Körpers von Fall zu Fall verändert werden. Er hat sich unablässig
bemtiht, seinen Angaben über die Abmessungen des ruhenden Körpers solche
über die Maßverschiebungen infolge der Bewegung zur Seite zu stellen, d. h. die
Verdickung der Gelenke beim Biegen zu bestimmen, oder die Ausdehnung und
Zusammenziehung, die das Beugen und Strecken der Kniee oder des Ellenbogens
im Gefolge hat’).
Und damit tritt nun das hervor, worin sich — von jenem Erwachen des wissen-
schaftlichen Forschergeistes abgesehen — die Renaissance von allen früheren Kunst-
perioden vielleicht am grundsätzlichsten unterscheidet. Wir sahen wiederholentlich,
daß es dreierlei Umstände waren, die den Künstler nötigen konnten, die fakturalen
Proportionen von den objektiven zu unterscheiden: der Einfluß der organischen Be-
wegung, der Einfluß der perspektivischen Verkürzung und die Rücksicht auf den
visuellen Eindruck des Beschauers. Allen diesen Umständen nun ist das gemein-
sam, daß sie als wesentlich subjektive Momente zu gelten haben. Mit der
organischen Bewegung, insofern sie eben eine „organische“ ist, d. h. aus dem
Wollen oder Empfinden eines lebendigen Wesens hervorgeht, ist die Subjektivität
des Dargesteliten als wirksamer künstlerischer Faktor eingeführt — mit der Ver-
kürzung die Subjektivität des Künstlers — und mit jenen „eurhythmischen“ Aus-
gleichsmitteln die Subjektivität eines präsumptiven Beschauers. Und nun ist es das
ganz Charakteristische und Neuartige, daß die Renaissance all’ diese subjektiven
Momente zum erstenmal formell legitimiert. Innerhalb der ägyptischen Kunst
hatte nur das Objektive etwas bedeutet, da die dargestellten Lebewesen sich nicht
aus eignem Wollen und Empfinden zu bewegen, sondern kraft mechanischer Gesetze
von Ewigkeit und für die Ewigkeit in dieser oder jener Lage festgehalten zu werden
schienen, da Verkürzungen nicht stattfanden, und da eine Rücksichtnahme auf den
Beschauer noch viel weniger in Betracht kam‘). Im Mittelalter hatte die Kunst
gewissermaßen gegen das Subjekt wie gegen das Objekt zugunsten der Fläche
Partei ergriffen und jenen Stil hervorgebracht, in dem die Menschen sich zwar
(x) Vgl. L. Olschki, Gesch. der neusprachl. Wiss., Litt. I, 1919, 8. 369 ff. Wir können jedoch nicht ver-
schweigen, daß wir der von O. vertretenen Auffassung Lionardos keineswegs in allen Punkten zu-
zustimmen vermögen,
(з) Vgl. Panofsky, а. а. O., 8. 105 ff, Die Methode der „Analogiebestimmungen“ ist aufgenommen
von Pomponius Gauricus und u. a. von Affricano Colombo, der seinem Planetenbüchlein (Natura et
inclinatione delle sette Pianeti) eine im übrigen ganz auf Vitruv basierte Proportionslehre für Maler
und Bildhauer angehängt hat. Schon diese Zusammenstellung astrologischer und proportions-
theoretischer Lehren ist bezeichnend für seine Auffassung, die das rein naturalistische Prinzip Lionardos
wieder ins Mystisch-Kosmologische wendet.
(3) Trattato della pittura, а. a. O., Art. 267 ff. Schon Alberti (а. a. O., 8, 203) hatte beobachtet, daß
die Breiten und die Dicken des Armes je nach der Bewegung sich verändern. Freilich hat er noch
nichts unternommen, um den Umfang dieser Veränderungen zahlenmäßig festzustellen.
(4) Ganz abgesehen von den eigentlichen Stilgründen waren ja die ägyptischen Kunstwerke zum
größten Teil überhaupt nicht zum Gesehenwerden geschaffen, sondern befanden sich an unzugäng-
lichen und dunklen, jedem Einblick entzogenen Orten.
214
bewegen, aber gleichsam nicht aus eigner Kraft und eignem Entschluß, sondern
unter dem Einfluß einer höheren Macht, und in dem es zwar recht mannigfache
Wendungen der Körper, aber dennoch keinen Tiefeneindruck gibt. Einzig in der
Antike waren jene subjektiven Momente bereits zur Anerkennung gelangt, aber —
und das ist das Entscheidende — diese Anerkennung war eine sozusagen inoffizielle
gewesen: der polykletischen Anthropometrie stand weder eine Bewegungslehre noch
eine Perspektivlehre zur Seite (wie ja auch die in der antiken Kunst begegnenden
Де d
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N
Abb. 9. Stereometrisch schematisierte Bewegungsfigur von Albrecht Dürer
(um 1520) aus dem Dresdener Skiszenbuch, Tafel 136.
Verkürzungen keine im strengen Sinne perspektivischen, d.h. keine zentralprojektiven,
sind), und auch die Ausgleichsmittel, die den Eindruck des Betrachters berichtigen
sollten, wurden nur „von ohngefähr“ zur Anwendung gebracht. Daher bedeutet es
in der Tat etwas grundsätzlich Neues, wenn die Renaissance jetzt der Anthropometrie
die Doktrinen der physiologischen (und psychologischen) Bewegungslehre und
der exakten Zentralperspektive gegentiberstellt, d. h. wenn sie die subjektiven
Veränderungen der objektiven Proportionen nunmehr ausdrücklich anerkennt und
auf wissenschaftlich begründete Regeln bringt!).
(х) Auch die „eurhythmischen‘‘ Veränderungen, denen die Abmessungen in großer Höhe oder etwa
auf gewölbter Fläche unterworfen werden müssen, werden jetzt auf exakt-perspektivischem Wege er-
mittelt: vgl. Lionardos Konstruktionsanweisung für Darstellungen auf gewölbter Wand (Richter,
a. a, O., Tafel XXXI, 3; Trattato, Art. 130), sowie Dürers Konstruktionsanweisung für die Herstellung
von Wandaufschriften, die, in verschiedener Höhe angebracht, dennoch gleich groß erscheinen sollen
(Underweysung der Messung ..., 1525, Folio K 10). Dürers Verfahren, nur statt auf Wandaufschriften
auf große Gemälde übertragen, ist wiederholt bei Barbaro, a. a. O., S. a3.
215
Wer es für erlaubt hält, die historischen Tatsachen symbolisch zu deuten, mag
darin den Geist einer spezifisch neuzeitlichen Weltanschauung erkennen, die das
Subjekt dem Objekt als etwas Selbstiindiges und Gleichberechtigtes gegenübertreten
läßt, während die klassische Antike diesen Gegensatz noch nicht zu deutlicher Aus-
prägung gelangen ließ, und während das Mittelalter sowohl das
Subjekt als das Objekt in einer höheren Einheit aufgehoben dachte.
Die Entwicklung vom Mittelalter zur Renaissance (und über sie
hinaus) spiegelt sich am klarstengim theoretischen Werke Albrecht
Dürers: beginnend mit einem planimetrischen, im Anfang nicht
einmal an die vitruvianischen Bestimmungen anknüpfenden Flächen-
schema, das — neben den Proportionen — im Sinne der mittel-
alterlichen „pourtraicture“ Gestalt, Bewegung und Kontur bestimmen
sollte (Abb. 7) ), geht er unter dem Einfluß Lionardos und Albertis
zur reinen objektiven Maßnormierung über — zu einer mit beispiel-
loser Gründlichkeit und Ausdauer betriebenen Anthropometrie, die
nicht mehr zur Ausbildung einer praktisch verwendbaren Konstruk-
tion, sondern zur Aufstellung pädagogisch wertvoller Paradigmata
führen sollte („Dann die Bilder döchten so gestrackt, wie sie vorn
Abb. ro. Schemati- beschrieben sind, nichts zu brauchen“)*). Er hat sich bei dieser
sierte Bewegungs- disziplinierten und entsagungsvollen Tätigkeit bekanntlich sowohl
16. Jahrhundert, des antik-lionardesken Bruchteilverfahrens (Abb. 8), als der Alberti-
(Erhard Schén?). schen Exempeda bedient, deren kleinste Einheit, 1/,,,, er übrigens
Stadtbiblioth.Nürn- noch in drei Unterteile spaltet“). Allein er hat die beiden großen
rn ee м Italiener nicht nur durch den Umfang und die Genauigkeit seiner
(nach einer d. Verf. Messungen, sondern auch durch eine wahrhaft kritische Selbst-
beschränkung übertroffen: er hat sich zum völligen Verzicht auf
übermitteltenPause). die Entdeckung eines idealen oder auch nur normalen Schönheits-
kanofis entschlossen, und sich der unendlich mühsameren Aufgabe
unterzogen, charakteristisch unterschiedene Typen aufzustellen, dienur — jeder
in seiner Art — die „grobe Ungestalt vermeiden“ sollten. Nicht weniger als 26 Pro-
(х) Hierin, nicht in der von Mortet aufgegriffenen Zufallsübereinstimmung zweier Kopfproportionen,
liegt die innere Verwandtschaft Dürers mit dem Mittelalter, insbesondere mit Villard de Honnecourt.
Es kann daher Wölfflin schwerlich zugegeben werden, daß Mortet (der über die Feststellung jener
singulären Entsprechung nicht hinausgeht), die Beziehung zwischen Dürers früherem Proportions-
schema und der gotischen Überlieferung bereits richtig erkannt habe (Mon. f. Kunstw. 1915, 8. 254). —
Es darf hier erwähnt werden, daß es Herrn Dr. Schilling (Frankfurt) gelungen ist, auf der vom Ver-
fasser den konstrulerten Blättern zugerechneten Sebastianzeichnung L. 190 nunmehr auch die Spuren
der betr. Zirkelschlige aufzufinden,
(a) Vgl. hierzu und zum Folgenden Panofsky, а. a. O., 8. 81 ff., besonders 89 ff. und іт ff.
(3) Es ist bisher nicht aufgeklärt, auf welchem Wege Dürer sich die Kenntnis der Albertischen Ex-
empeda verschaffen konnte, da das Buch „De Status“, in dem sie überliefert ist, erst viele Jahre nach
seinem Tode gedruckt wurde. Wir glauben nun Dürers Quelle in der oben zitierten „Harmonia
Mundi totius“ des Francesco Giorgi vermuten zu dürfen. Denn sie enthält (Folio C ır) eine genaue
Charakteristik des Albertischen Verfahrens, die als eine ausdrückliche, wenn auch etwas verderbte
Zitation desselben aufzufassen ist: „Attendendum est ad mensuras, quibus nonnulli mi-
crocosmographi metiuntur ipsum humanum corpus. Dividunt enim id per sex pe-
des... et mensuram unius ex iis pedibus hexipedam () vocant. Et hanc partiuntur
in gradus decem,unde ex sex hexipedis gradus sexaginta resultant, gradum veroquem-
libet in decem. . . minuta (Ur, (Der Autor selber will jedoch einer Einteilung in 300 statt боо
„minuta“ den Vorzug geben, um die (oben S. 209, Anm. 2) erwähnte Maßentsprechung zwischen
216
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portionen hat er auf diese Weise zusammengebracht, dazu ein Beispiel für den Kinder-
körper und die Einzelmaße des Kopfes, des Fußes und der Hand’). Ja, selbst damit
noch nicht zufrieden, hat er Mittel und Wege angezeigt, diese vielen Variationen
noch weiter zu vermannigfaltigen*). Auch Dürer hat diese rein maßstäblichen Auf-
stellungen durch eine Bewegungslehre ergänzt, die allerdings bei seinem Mangel an
anatomischen und physiologischen Kenntnissen ein wenig unbehilflich-mechanistisch
ausgefallen ist“), und eine Perspektivlehre entworfen‘), die er — gleich dem großen
italienischen Malertheoretiker Piero della Francesca — sogar auf menschliche Ge-
stalten angewendet wissen wollte. Von besonderem Interesse ist uns jedoch der
Versuch, dieser perspektivischen Konstruktion des menschlichen Körpers zuliebe
die irrationalen Formen desselben auf eine mathematisch faßbare Gestalt zurtick-
zuführen’); denn es ist ungewöhnlich aufschlußreich, diese Schemata des späten
Dürer mit denen des frühen zu vergleichen: nicht nur, daß es sich nunmehr um
ein Verfahren handelt, das in die Darstellung nicht mehr eingreift, sondern sie nur
vorbereitet, — ап die Stelle der planimetrischen Schematisierung ist jetzt die
stereometrische getreten, die den Körper und seine Gliedmaßen auf einen zwar
vereinfachten, aber plastisch-dreidimensionalen Ausdruck bringt (Abb. 9). °)
V.
Dürers „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ bezeichnen einen vorher und
nachher nicht wieder erreichten Höhepunkt der Proportionslehre; sie bezeichnen
aber auch bereits den Beginn ihres Niedergangs. Schon für Dürer selbst war die
Proportionsforschung in bedenklichem Grade Selbstzweck geworden: sie hatte bei
ihrer Akribie und Kompliziertheit die Grenze künstlerischer Anwendbarkeit immer
weiter überschritten, und schließlich den Zusammenhang mit der Praxis so gut
wie völlig verloren. Man weiß, daß die Ergebnisse dieser hochentwickelten, ja
überentwickelten anthropometrischen Technik für Dürers eigenes Schaffen viel
weniger Bedeutung gehabt haben, als die unvollkommenen Resultate seiner ersten
Bemühungen; und es genügt, daran zu denken, daß die kleinste Einheit seines Maß-
systems, das sogenannte „Trümlein“, weniger als einen Millimeter betrug, um die
Kluft zwischen Theorie und Praxis offen zu sehen.
dem Menschen und der Arche Noah zu retten.) Das Erscheinungsdatum 1525 würde zu unserer An-
nahme vortrefflich stimmen; denn es läßt sich nachweisen (vgl. Panofsky, a. a. O., S. 119), daß die
Exempeda Dürern erst in der Zeit zwischen 1523 und 1528 bekannt geworden ist.
(1) Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, I und II.
(2) Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, III.
(3) Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, IV.
(4) Underweysung . . . Folio P ı vfl.
(5) Vier Bücher... Buch IV und zahlreiche Zeichnungen. Es handelt sich um das berühmte „Kuben-
system“, das, nach Lomazzo auf Foppa zurückgehend, späterhin von Holbein, Altdorfer, Luca Cam-
biaso, Erhard Schön u, a. aufgegriffen und weitergebildet wurde (vgl. Meder, a. a. O., S. 624, Abb.
8. 319, 619, 623). Hierher gehören auch Dürers polygonal zerlegte Köpfe aus dem Dresdener Skizzen-
buch (Abb. Meder, 8. 622), die der Verfasser schon früher (Kunstchronik, N.F.XXV, col. 514) auf
italienische Anregungen zurückzuführen suchte, und zu denen jetzt Meder (Abb. 564) noch schlüssigere
Analoga beigebracht hat, als sie uns damals zu Gebote standen.
(6) In anderer, aber ebenfalls nicht mehr planimetrischer Weise wird der bewegte Körper in den
dem Erhard Schön zugeschriebenen Zeichnungen schematisiert, von denen wir in Abb. то eine Probe
geben. Nachbildungen auch bei Fr. W. Ghillany, Index rarissimorum aliquot librorum, quoe habet
bibliotheca publica Noribergensis, 1846, 8. 15. Zu der in diesen Zeichnungen befolgten Methode vgl.
die Skizziervorschrift Lionardos in Trattato, Art. 173.
217
Was der Dürerischen Proportionsiehre nachfolgt, ist daher entweder dürftiges
Werkstattprodukt, wie die (sämtlich von Dürer mehr oder weniger abhängigen)
Büchlein der Lautensack!), Beham’), Schön’), v. d. Heyden‘) oder Bergmüller’) —
oder aber starre, lebensfremde Theorie, wie die neueren Werke eines Schadow®)
oder Zeising’). Und heutzutage dürften, von einigen sonderbaren Schwärmern
abgesehen, wohl nur noch Anthropologen und Kriminalisten etwas wie Proportions-
lehre betreiben.
Allein auch dieser Abstieg entspricht der allgemeinen Kunstentwicklung. Die
Proportionslehre, nach dem sie einmal auf die Bahn der reinen Anthropometrie
zurückgelenkt war, war eine Lehre von den Maßen der körperlich begrenzten
Objekte, und ihre Schätzung und Bedeutung mußte daher davon abhängen, ob
man die Darstellung solcher Objekte als das wesentliche Ziel der Kunsttätigkeit an-
erkannte oder nicht; sie mußte sinken in dem Maße, als der ktinstlerische Genius
das Gesetz der Gestaltung statt in den Dingen in einer subjektiven Vorstellung
der Dinge zu suchen begann. Bedeutete die Proportionslehre in der Ägyptischen
Kunst fast alles, weil hier das Subjekt fast nichts bedeutete, so mußte sie in dem
Augenblick zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, da der Sieg des subjektivistischen
Prinzips entschieden war — der Sieg, den, wie wir wissen, schon das 15. Jahr-
hundert vorbereitet hatte, indem es den subjektiven Bewegungswillen des Dar-
gestellten und den subjektiven Gesichtseindruck des Künstlers wie des Beschauers
bejahte. Sobald daher die Kunst begann, diese ersten Konzessionen an den Sub-
jektivismus mit wirklicher Entschiedenheit auszunutzen, war die künstlerische Rolle
der Proportionslehre de facto ausgespielt. Der Stil, den man den malerisch-sub-
jektivistischen nennen könnte, der Stil der atmosphärischen und luminaren Wir-
kungen, wie er am reinsten in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts
und im modernen Impressionismus sich auswirkt, konnte mit der Proportionslehre
nichts beginnen, weil ihm die Gestaltung der Körper überhaupt nichts mehr bedeu-
tete gegenüber der Veranschaulichung des licht- und lufterfüllten Freiraums?);
und der Stil, den man den unmalerisch-subjektivistischen nennen könnte, der Stil
des frühbarocken Manierismus und des modernen „Expressionismus“, konnte mit
der Proportionslehre nichts beginnen, weil ihm die Gestaltung der Körper nur noch
insofern etwas bedeutete, als sie sich, einem subjektiven „Ausdrucksbedürfnis“
entsprechend, willktirlich verkürzen und verlängern, verbiegen und endlich zer-
reißen ließen).
(т) Des Cirkels und Richtscheits, auch der Perspectiva und Proportion der Menschen und Rosse kurtze
doch gründliche Underweisung, 1564. |
(2) Dieses Büchlein zeiget ап... ein Май... des Ros, 1528. Derselbe: Kunst und Lehrbichlein...
1546 und öfter.
(3) Underweysung d. Prop. und Stellung der Bossen, 1543.
4) Reißbüchlein . . . 1634.
(5) Anthroprometria, 1723.
(6) Polyklet oder von den Maßen der Menschen, r834.
(7) Neue Lehre v. d. Proportionen des Körpers 1854. Ästhetische Forschungen, 1855.
(8) Das gilt bis zu einem gewissen Grade von der nordischen Kunst überhaupt, auch schon im 15.
und 16. Jahrhundert, soweit nicht eben in einzelnen Generationen oder bei einzeinen Persönlichkeiten
(wie Dürer) die klassizistische Tendenz die Vorherrschaft gewann.
(9) Vgl. bereits die oben zitierte Äußerung Michelangelos, wonach es nicht so sehr auf die Maße,
als auf die „atti“ und „gesti“ ankomme. Selbst innerhalb der theoretischen Kunst-Literatur
die doch als solche notwendig zum objektivistischen ‚Klassizismus‘ gravitiert, macht sich in vielen
218
So ist die Proportionslehre seit der Renaissance eigentlich nur noch da gepflegt
worden, wo eine der lebendigen Entwicklung (denn diese tendiert seit jener Zeit
zum Subjektivismus) sich entgegenstemmende Gesinnung herrschte: in den Kreisen
des akademischen Klassizismus. Und es ist kein Zufall, daß niemand anders
als der zur klassizistischen Kunstauffassung herangereifte Goethe ihr ein warmes
und tätiges Interesse entgegen gebracht hat: „Auf einen Kanon männlicher und
weiblicher Proportion loszuarbeiten,“ so schreibt er an J. H. Meyer, „die Ab-
weichungen zu suchen, wodurch Charaktere entstehen, das anatomische Gebäude
näher zu studieren und die schönen Formen, weiche die äußere Vollendung sind,
zu suchen — zu so schweren Untersuchungen wünschte ich, daß Sie das Ihrige
beitrügen, wie ich von meiner Seite manches vorgearbeitet habe“ ).
Fällen ein zeitlich oder örtlich bedingtes Abflauen der eigentlichen Proportionsinteressen geltend:
der Michelangelo-epigone Vincenzo Danti plante ein (nur zum kleinsten Teile erschienenes) Werk,
das trotz seines Titels „Delle perfette proportioni‘‘ durchaus nicht mathematisch, sondern anatomisch,
mimisch und pathognomisch vorgeht (vgl. Schlosser, Materialien VI, S. 48 fl.), und der Niederländer
Vermander hat das Problem der Proportionen mit einer ganz auffallenden Gleichgültigkeit be-
handelt (vgl. Schlosser, ebendort, S. 12). Um so überraschender ist es, daß Rembrandt, der im
allgemeinen wahrlich kein Interesse für Proportionslehre hatte, doch einmal einen (bisher scheinbar
nicht als solchen erkannten) Vitruvmann im Quadrat gezeichnet hat, freilich in einer sehr
eigentümlichen Auffassung: es ist ein nach dem Modell skizzierter Orientale in Turban und langem
Mantel, ganz swanglos stehend und den Kopf ein wenig zur Seite gewendet. Wäre nicht das
Quadrat und die den Rumpf teilenden Querstriche, so würde man die schöne Zeichnung (H. d. G. 631,
repr. Kleinmann, Ser. VI, ВІ. 3) als eine Modell- und Kostümstudie auffassen und das Ausbreiten
der Arme im Sinne einer suggestiven Ausdrucksbewegung deuten.
(x) Brief vom 13.3.1791. Weimarer Ausgabe IV, 9, 8. 248.
Nachtrag zur Anmerkung 3, Seite 206.
Noch klarer zeigt sich das Nachleben der bei Villard de Honnecourt hervortretenden Tendenzen in
einem zur Zeit im Handel befindlichen, bezeichnenderweise französischen Manuskript des
16. Jahrhunderts, das dem Jean Goujon zugeschrieben wird (ein Blatt, abgeb. im Lagerkatalog der
Firma Joseph Baer, Nr. 670, Tafel I), und in dem Tiere und Menschen noch ganz in der Weise der
alten „pourtraicture“ schematisiert erscheinen — nur daß sich, der historischen Entwicklungsstufe
entsprechend, das planimetrisierende Verfahren des Villard hier und da mit dem stereometrisierenden
Verfahren der Renaissancetheoretiker (vgl. unten) verbunden findet.
EINE FRÜHE PORTRÄTZEICHNUNG
DÜRERS . Von ERNST WEIL
m Berliner Kupferstichkabinett befindet sich in der Mappe der unbekannten Zeich-
nungen des ı5. Jahrhunderts eine Silberstiftzeichnung: „Das Brustbild eines
Knaben mit hoher Mütze“ (Abb. 1), bezeichnet als Oberdeutsche Schule um 1490).
Der Erhaltungszustand ist im allgemeinen gut. Die Konturen der rechten Seite
sind mit Bleistift nachgefahren, besonders die schattenden Stellen sind übergangen
(auch in den Augen und der Mütze), außer einer Verweichung im ganzen jedoch
keine entscheidende Entstellung verursachend. Die Zeichnung war wohl etwas
gleichmäßiger und dadurch härter. Besonders gut ist die Haarzeichnung erhalten,
ebenso die skizzierende Andeutung des Körpers, auf diese Strichstärke muß der
Gesamtduktus reduziert werden.
Die Qualität dieser Zeichnung veranlaßte Woltmann®), sie Holbein dem Älteren
zuzuschreiben, in der späteren Ausgabe der ,,Silberstiftzeichnungen Hans Holbeins
des A. im k. Museum in Berlin“ (Leipzig, o. J.) zieht er diese Behauptung zurück
und schreibt sie der flandrischen Schule zu, wozu ihn wohl am meisten die so-
genannte niederländische Kappe verführte®).
Die Zeichnung ist jedoch zweifellos deutscher Herkunft‘).
Seither blieb die Zeichnung in der Literatur unbeachtet“).
(1) Inv. Nr. 2576. Silberstift auf weiß grundiertem Papier: 134 X 105 mm. Das Blatt ist aufgesogen
und es können keine Angaben über das Papier oder event. doppelseitige Grundierung gemacht werden.
(2) Woltmann, Holbein und seine Zeit, 2. Auflage, IL Band (Leipzig 1876). Verzeichnis der Werke
Seite 78, Nr. 176.
(3) Diese Mützenform ist jedoch ein Allgemeingut jener Zeit. Seidlitz (Dürers frühe Zeichnungen
Jahrbuch der preuß. Kunsts. 1907, 8. 3) schreibt anläßlich einer gleichen Kappe auf einer von Fried-
länder Dürer zugeschriebenen Porträtzeichnung von Dürers Vater (vgl. unten), daß sie Dürers Vater
aus Ungarn mitgebracht haben mag. Sie kommt auch in Franken vielfach vor, z. B. im Frühwerk
Riemenschneiders bei seinen Aposteln Lukas und Markus (Vöge, Beschreibung der Bildwerke der
christi. Epochen IV, S. 99, Nr. 203 und 204).
(4) Die Holbein-Zeichnungen der Berliner Sammlung und allem Anschein nach unsere Zeichnung
stammen aus der Sammlung des Generalpostmeisters von Nagler, an den sie (nach Woltmann, Hol-
bein und seine Zeit, 1. Auflage, Leipzig 1866, 8. 118) aus der bekannten Imhofschen Kunstsammlung
in Nürnberg übergegangen sei. In der zweiten Ausgabe von 1876 (S.78) schreibt Woltmann „früher
angeblich“ in der Imhofschen Sammlung. (Unter Nr. 44 des Verzeichnisses, das W. Imhofs Erben
1588 an Kaiser Rudolf II. schickten [Eye, Albrecht Dürer, Nördlingen 1860, S. 485 und Übersichts-
tafel] steht: Ein Contrafait mit einem silbern Griffel. Die folgende Nr. 45 ist das bekannte Silberstift
bildnis des Andreas Dürer (L 533) der Albertina. [Heller, Das Leben und die Werke Albrecht Dürers,
Leipzig 1831, S. 82 und тоо] Doch rechtfertigt eine solch vage Charakterisierung keine Weiter-
verfolgung.)
(5) Herr Geheimrat Friedlander legte mir, als ich die Vermutung Diirer aussprach, den in Vorbereitung
befindlichen Katalog vor, den ich hier zitiere: ,Die Zeichnung galt friher als ein Bestandteil der be-
rühmten Porträtfolge des älteren Holbein, von der das Kupferstichkabinett eine große Anzahl besitzt.
Woltmann bezweifelte ihre Zugehörigkeit mit Recht; die. hervorragende Zeichnung rührt aber von
einem deutschen Künstler her. Trotz ihrer malerischen Weichheit erinnert sie in mehreren Be-
ziehungen an Dürers Selbstbildnis von 1484 in der Albertina.“
Es ist in Betracht zu ziehen, daß die Zeichnung vor dem Nachfahren der Konturen und Verstärken
der Schatten härter wirkte und dadurch der Albertina-Zeichnung näher kommt.
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Mit den Holbein-Zeichnungen läßt sie sich nicht zusammenbringen, diese sind
viel derber im Strich, grober und stachliger, sie sind nach einem Schema angefertigt,
in das sich unsere Zeichnung nicht einreihen läßt. Sie verraten eine fertige, aus-
geschriebene Hand; Holbein hat eine Formel gefunden für die Haltung des Ge-
zeichneten, für die Raumausnutzung, für den ganzen Aufbau seiner Bildnisse durch-
gehend bis zur Strichellage seiner Schattengebung. Diesen typischen Reihen-
charakter wie die Holbeinzeichnungen, diese sichere und gelenke, wenn auch
schwere Hand zeigt unsere Zeichnung nicht. Eher ist der Gedanke der Beigesel-
lung unserer Zeichnung zum Kreis des Hausbuchmeisters nicht ohne weiteres von
der Hand zu weisen’). Die durch die Retouche erzeugte malerische Erweichung
lenkt auf diese Fährte. Übersetzt man sich die Zeichnung in den ursprünglichen
Zustand der gleichmäßigen Strichstärke zurück — was vor dem Original nicht
schwer fällt — so wird die Kalligraphie Dürers, die sich schon in dem Selbst-
bildnis von 1484 so entscheidend ausspricht, auch aus unserem Blatt durch-
scheinen. Denn neben jenes Blatt (L 484) sei unsere Zeichnung als eine Arbeit
des jungen Dürers gestellt, Auch hier ist noch alles Versuch der nicht aus-
geschriebenen Hand eines jungen Menschen, der Anlage und spätere Formgestaltung
des großen Künstlers verrät.
Neben das Selbstbildnis der Albertina gehalten, zeigt die Führung des Stiftes
eine größere Sicherheit, man sieht, wie viel leichter der Stift gehalten ist und
über die Zeichenfläche fährt. Der Kontur ist nun auf den ersten Strich da, aber
noch kann von der sicher umrissenen Linie Dürers nicht gesprochen werden. Es
ist noch viel Tasten da, besonders in der Schattengebung. Haar- und Augen-
zeichnung ist fast nicht über den Zustand von 1484 gelangt und doch sind dies
entscheidende Kriterien einer Zuschreibung an Dürer, zusammen mit jener schon
vorgeschrittenen skizzierenden Andeutung der Körperzeichnung, einem Element,
das weit über Zeitgenössisches hinausgeht, das beim Hausbuchmeister schlechthin
unfindbar ist und seine Parallele nur in jener Erlanger Selbstbildniszeichnung (L 429)
aus der Zeit der Wanderschaft findet. Zwischen diese beiden Selbstbildnisse sei
das Berliner Blatt vorerst gestellt, zwischen 1484 und 1492/93. Daß es näher an
dem Albertinablatt liegt, zeigt schon der erste Blick; ist doch das Erlanger Bildnis
der Ausdruck der schon zum Durchbruch gelangten Künstlerschaft Dürers. Dem
Rahmen der bekannten und unbestrittenen Zeichnungen sei das Blatt nach der
Frau mit dem Falken (L 208) eingeordnet, das vor den Eintritt in die Wohlgemut-
Werkstatt fällt. Ende 1486 erfolgt dieser. Hier ist im bekannten Werk Dürers-
eine Lücke von drei Jahren — es folgen 1489 die verschiedenen Landsknecht-
zeichnungen (L 2, L roo und eine kürzlich in England wieder aufgefundene).
Gegenüber dem befangenen Albertina-Selbstbildnis zeigt die Berliner Porträt-
zeichnung eine unbedingt größere Fertigkeit, das ist eine Hand, die über die ersten
kindlichen Versuche weg ist und sich schon geübt hat. Ich möchte die Zeichnung
(1) Der Einfluß des Hausbuchmeisters auf den jugendlichen Dürer ist des Öfteren festgestellt, schon
in Beziehung auf die Madonnenzeichnung von 1485 (L ı), im besonderen allerdings auf die Zeich-
nungen um die Zeit der Wanderschaft. (Vgl. R. Vischer, Studien zur Kunstgeschichte, Stuttgart 1886,
8. 175, Anm. 1 und 8. 414 fl.; Lehrs, Rep. f. Kunstw. 1892, S. 118 u. 8. 124; Lehrs, Der Meister des
Amsterdamer Kabinetts, Berlin 1895, S. 2; Hachmeister, Der Meister des Amsterdamer Kabinetts und
sein Verhältnis zu Albrecht Dürer, Berlin 1897, S. 38 ff. und Friedländers Rezension , Ztschr. f. bild.
Kunst 1898, 8. 246/7, die treffend die Spärlichkeit des Einflusses betont; Meder, Neue Beiträge zur
Dürerforschung, Jahrbuch des Kaiserhauses, Wien 1911, 8. 194; dort auch Zusammenstellung der
Literatur, die die Hypothese persönlicher Fühlung zwischen Dürer und Hausbuchmeister vertritt.)
221
in die Zeit der Lehre bei Wohlgemut setzen. Um 1487. Der Dargestellte, ein
Knabe von 15—16 Jahren, mag ein Werkstattgenosse oder ein jüngerer Bruder
Dürers sein. In die Familie Dürers deutet besonders die Kurvung der fleischigen
Lippen — möglich, daß es der Bruder Sebald (geboren Januar 1472) war.
Hier muß nun Stellung genommen werden zu der von Friedländer Dürer als
Porträt seines Vaters zugeschriebenen Silberstiftzeichnung: das Bildnis eines Gold-
schmieds in der Albertina (Abb. 2)!). Friedländers Zuschreibung fand mehr Ab-
lehnung als Zustimmung. Neben einer Stützung auf eine alte Kopie mit dem Dürer-
monogramm gründet Friedlinder die Zuschreibung auf einen stilistischen Vergleich
mit dem Selbstbildnis von 84 und legt sein Blatt zeitlich um 1486, also in die-
selbe Zeit etwa, in die die behandelte Zeichnung eingereiht werden soll.
Den Ausschlag der Zuschreibung unseres Berliner Blattes gab das in der Zeich-
nung so voll zum Ausdruck kommende neue Raumgefühl. Es ist eine tiefgreifende
Änderung im Sehen eingetreten, eine Bresche ist in das feste System der bis-
herigen Raumgefügtheit geschlagen, hier ist der Boden sichtbar, aus dem die theo-
retischen Schriften zur Perspektive und Proportion erwachsen konnten). So ist
es auch verständlich, daß die Zeichnung den Holbein-Zeichnungen, die alle nach
der Jahrhundertwende, die meisten um 1508—ı2 liegen, beigesellt wurde. Denn
dies schon ist die junge Generation, die sich schwach in dem Selbstbildnis von 84,
und das erstemal entschieden in dieser Berliner Zeichnung kundtut. Der ganze
Geist jener Wendezeit ist in der Art wie die Figur in die vier Seiten gestellt, wie
ein Raum geschaffen ist, zum Ausdruck gebracht. Und das ist eben die alte Gene-
ration, die die Stütze, einen Sockel gewissermaßen braucht, um aufzubauen, die
ein Brett herliberzieht zum Aufstützen des Armes, die ohne diesen Halt nicht
formen kann. Sei es nur eine Basis, die die Arme abgeben, wie es auch noch das
Kind Dürer — und doch schon in einer seltsam freien Weise (die unterlegte Stütze
ist unsichtbar) — anwendet, diesen Halt kann der Zeichner des Bildnisses eines
Goldschmiedes nicht entbehren. Hier steht er in seiner Zeit, dies ist der Zeit-
genosse Schongauers (B 87, dazu die Bemerkung Wendlands, Martin Schongauer,
Berlin 1907, S. 107), der Zeitgenosse des Hausbuchmeisters (Gothaer Liebespaar),
der Zeitgenosse eines Syrlin, der mächtig nach Verräumlichung strebt und ohne
den Grund, den er seinen Chorgestühlfiguren im Ulmer Münster durch die ge-
kreuzten Arme gibt, doch nicht auskommen kann’).
Die ganze Freiheit, den Raum zu gestalten, die Unabhängigkeit von einer Grund-
fläche zum Aufbau, zeigt das Erlanger Selbstbildnis und die Vorstufe dazu, die nur
mehr zager Andeutungen einer Armhaltung als Stütze bedarf — so zag, daß sie
nur dem aufmerksam Betrachtenden zu erraten sind — ist diese Berliner Zeichnung.
Sie reiht sich in die Lücke zwischen 1486 und 1489 und vermittelt uns von der
Entwicklung des jugendlichen Dürers ein festeres Bild.
(1) Friedländer, Dürers Bildnisse seines Vaters, Rep. f. Kunstw. 1896, S. 12 ff.; ders. in Thieme-Becker,
Allgem. Künstlerlexikon, Bd. X, 1914, 8. 64 und zuletzt derselbe: Albrecht Dürer, der Kupferstecher
und Holzschnittzeichner, Berlin 1919, S. 1489.
(2) Vgl. Schuritz, Die Perspektive in der Kunst Albr. Dürers, Frankfurt 1919, S.25. Sch. betont, daß
in der ersten auf Perspektive untersuchbaren Zeichnung Dürers, der frühen Drahtziehmühle (L 4) auf-
fallend sei, wie gut (noch bei Gefiihlsperspektive) im Gegensatz zu zeitgenössischer Malerei die Ver-
kürzung der vertikalen Strecken beobachtet sei.
(3) Die Punkte, die in der Technik der Zeichnung eines Goldschmieds gegen Dürer sprechen, sind
bei Ochenkowski, Das Bildnis eines Goldschmiede, Repert. f. Kunstw. 1911, S. 1 ff. angeführt. O. sieht
іп der Zeichnung ein Selbstbildnis Dürers Vaters und setzt es als Vorlage zu Dürers Selbstbildnis
von 84 vor dieses Jahr.
222
JOHANN MICHAEL FISCHER / EIN BÜRGER-
LICHER BAUMEISTER DER ROKOKOZEIT (1691—1766)
Von ADOLF FEULNER
n der südlichen Außenseite der Münchner Frauenkirche fällt unter den vielen
Grabsteinen, die hier über dem Sockel eingelassen sind, einer auf durch seine
gute Form, durch die Größe und die überlegte Anordnung der gotischen Lettern.
Er ist ebenso merkwürdig durch den Inhalt der Grabschrift. Sie lautet: Hier
Ruhet / Ein Kunsterfahrn Arbeitsam Redlich und Aufrichtigen Mann (Job. 1, V. 1)
Johann Michael Fischer / Dreyer Durchlauchtigsten Fürsten / Bewährter Bau-
Meister / Dan Burgerlicher Maurer Meister in Miinchen / Welcher Niemahlen Ge-
ruhet / indem Er / durch sein Kunsterfahrne und Unermüdte Hand / 32 Gottshäuser
23 Clöster / nebst sehr vielen anderen Palästen / Gemiither aber viele hundert /
durch sein alt Teutsche und Redliche Aufrichtigkeit / Erbauete / bis Er endlich /
den 6 May An. 1766 in den 75. Jahr seines alters / zum lezten Gebäu das Haus
der Ewigkeit (Ecc. 12. V.5.) als einen Grundstein geleget / den jenen welcher ist /
der Veste und Eckstein der Kirche (Ephes. 2. V. 20).
Wer war nun dieser Baumeister Johann Michael Fischer), der so viele Kirchen
und Klöster gebaut hat, und welches sind seine Schöpfungen? Man möchte glauben,
daß sein Name in das Volk dringen mußte, auch wenn seine Werke nicht die
künstlerische Bedeutung gehabt hätten, die ihnen in Wirklichkeit zukommt. Nun
stehen wir aber vor der merkwürdigen Tatsache, daß der Grabstein durch andert-
halb Jahrhunderte die einzige Form der Überlieferung blieb, daß der Name eines
Baumeisters verscholl, dessen Schöpfungen immer den Schmuck und Stolz der alt-
bayrischen Lande bildeten, daß ein Künstler ganz vergessen wurde, der zu den
größten seiner Zeit gehört hat. Von den deutschen Architekten der Rokokozeit
kann ihm nur Balthasar Neumann zur Seite gestellt werden, der ihn an Fülle der
Ideen noch ftiberragte. Oder vielleicht erscheint das uns so, weil wir nur aus
den erhaltenen Bauten einseitige Rückschlüsse ziehen können. Neumann wurde
als fürstbischöflicher Hofarchitekt zu allen möglichen Aufgaben herangezogen,
während Fischer nur ein Gebiet offen stand, der Kirchenbau; er verfügte über
ungleich mehr Mittel und konnte deshalb seine hochfliegenden Pläne viel leichter
durchsetzen als der bürgerliche Baumeister, dessen große Ideen an der Sparsamkeit
seiner Bauherren oft zerschellen mußten. In seinen Klosterbauten war Fischer
durch die Anspruchslosigkeit seiner Auftraggeber gebunden und für die Adels-
paläste in der Stadt kam er kaum in Betracht. Vielleicht hätte der Name einen
besseren Klang behalten, wenn nicht Fischer unter dem Zwange eines strengen
Pflichtgefühls seinen Beruf nur als bürgerliches Handwerk aufgefaßt hätte, für das
die Summe höchsten Könnens und intensivsten Fleißes eine selbstverständliche
Voraussetzung war, wenn er es nicht verschmäht hätte, auch für sich etwas
Reklame zu machen, wie andere Künstler seiner Zeit. Der ältere und jüngere
(1) Literarische und archivalische Nachweise: Feulner, Joh. Mich, Fischers Risse für die Klosterkirche
in Ottobeuren. Münchner Jahrb. der bild. Kunst, 1913 und Unbekannte Bauten Johann Michael Fischers.
Münchner Jahrb. d. bild. Kunst, 1914. Weitere Angaben bei Thieme-Becker, Künstlerlexikon, von Vollmer.
Die viel zu summarische und unvollständige Übersicht bei Thieme-Becker veranlaßt mich, diesen
populären Vortrag zu publizieren. Alle Hauptwerke in Abbildungen wird das von Demmler bearbeitete
abschließende Werk des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft bringen.
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Cuvilliés in München haben ihre eigenen und fremde Inventionen in einem mo-
numentalen Stichwerk einem breiten Publikum zugänglich gemacht, in dem neben-
bei auch Risse von Fischer vorkommen. Die Namen der Künstler am kurfürstlichen
Hof und an den bischöflichen Residenzen durften die Hofhistoriographen nicht
übersehen. Wer kümmerte sich um den bescheidenen, bürgerlichen Baumeister,
den der Hof nur für untergeordnete Nebenarbeiten heranzog. Nicht einmal die
obligatorischen Hoftitel sind für ihn als Almosen abgefallen.
Nur ein kleiner Kreis wußte Fischers Können richtig einzuschätzen, das waren
Herren im Münchner geistlichen Rat und die Prälaten, die Äbte der altbayrischen
Lande. In den vergessenen Archivalien über die Kirchenbauten wird der Bau-
meister immer mit besonderer Auszeichnung, als der „hochberuehmte Fischer“ er-
wähnt. Jedesmal, wenn der entstehende Bau nicht den monumentalen Plänen
eines großdenkenden Kirchenfürsten entsprach, wenn großsprecherische Stukkatoren-
architekten oder kleinbürgerliche Meister von bescheidenem Können in ein unent-
wirrbares Netz von verstrickten Problemen geraten waren, wenn niemand mehr
einen Ausweg aus den Schwierigkeiten wußte, dann wurde Fischer geholt, der bei
der Klarheit seines Denkens und der Fülle praktischen Könnens die Fäden bald
entwirrte und selbst aus verpfuschten Anfängen einen Bau hinzusetzen wußte,
der den verwöhntesten Ansprüchen genügte. Der Mann muß mit einer ungemeinen
Klarheit der Ideen und einer ungewöhnlichen Sicherheit des künstlerischen Emp-
findens begabt gewesen sein, da er immer die richtige Lösung zu finden wußte,
die uns deshalb als selbstverstiindlich vorkommt, weil sie mit logischer Konsequenz
aus der Situation geboren ist. Sie befähigte ihn, mit den einfachsten Mitteln das
Größte zu erreichen. Die Klarheit seines Wesens und die lautere Bescheidenheit
haben ihn wohl auch von den Kreisen zurückgehalten, die das’ große Wort führten.
So ging die Spur seines Schaffens verloren.
Über sein Leben wissen wir wenig. Daß er um 1691 in Burglengenfeld als
Sohn des Stadtmaurermeisters Hans Michael Fischer geboren wurde, daß er als
Maurerpolier 1723 in München der verwittibten Maurermeisterin Anna Maria Geigerin
das Handwerk um 130 fl. abkaufte, und dann 1724 das Münchner Bürger- und
Meisterrecht erhielt, daß er 1725 die ehrsame Stadtmaurermeisterstochter Maria
Regina Mayrin heiratete, die ihm in den Jahren 1725—45 nicht weniger als sech-
zehn Kinder schenkte, acht Knaben und acht Mädchen, melden uns die Pfarrbücher
und die Ratsprotokolle. Das ist alles. Daß er ein guter Bürger war, wie die
Grabschrift sagt, ist selbstverständlich. Wichtiger für uns, die wir einen Über-
blick über die Summe seiner künstlerischen Leistungen gewinnen wollen, wäre es,
wenn Nachrichten erhalten wären über seine Lehr- und Wanderjahre, über seine
Lehrmeister und Vorbilder, über die künstlerische Umgebung, aus der er die An-
regungen zu seinem eigenen Wirken gewonnen hat. Wir sind da ganz auf Ver-
mutungen angewiesen. Sicher ist nur, daß er ganz in der Zunft aufgewachsen ist,
daß auch seine Angehörigen zur Zunft gehörten. Vielleicht ist der Lehrgang 80
gewesen. Zuerst der praktische Dienst und der theoretische Unterricht in den
mathematischen Wissenschaften und im Zeichnen bei seinem Vater. Nach den
Gesellenjahren und der Ernennung zum Maurerpolier Reisen in das südliche Bayer,
in das Donautal bis nach Österreich hinein. Allem, was Fischer geschatien hat,
haftet eine gewisse Erdenschwere, das Bodenständige an, alle seine Ideen lassen
sich schließlich auf Gedanken zurückführen, die er in seiner Heimat eingesogen hat.
Eine Fahrt nach Italien auf die hohe Schule oder gar schon nach Paris, gehörte
bei einem Hofarchitekten als feinere Politur zum notwendigen Rüstzeug, bei einem
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bürgerlichen Baumeister war sie entbehrlich. Das was er brauchte, konnte ihm
schon damals das südliche Deutschland geben. Moderne kirchliche Bauten von
einer bedeutenden Größe des Wollens, von gewaltiger Wirkung, in denen die An-
regungen italienischer Architektur nach deutschem Empfinden verarbeitet waren,
standen damals schon allenthalben. In Salzburg die Kirchen des genialen Fischer
von Erlach, in Passau der Dom, die Donau entlang bis nach Wien hinein die
monumentalen Klöster, die Kirchen von Prandauer, dann in München und in der
Umgebung der Stadt die Bauten von Zuccali und Viscardi. Was die Zeit als letzte
Neuheit ansah, die feinere Eleganz im Anschluß an die französische Architektur,
das boten die eben in Bayerns Hauptstadt entstehenden Bauten, in denen Efiner,
der erst (1715) Hofbaumeister geworden war, die leichte, zierliche Manier des fran-
zösischen Rokoko einführte. Fischers früheste Bauten, der Chor der Klosterkirche
in Niederaltaich (1724), die Pfarrkirchen in Schärding amInn (1725), in Rinchnach (1727),
der Turm der Erlöserkirche in Deppendorf (1727), in Murnau (um 1724 ff.) setzen
die Kenntnis der schweren, bayrisch-österreichischen Barockarchitektur voraus.
Schon die nächsten Werke, die prächtige Klosterkirche in Osterhofen (1726) und
die feine Pfarrkirche St. Anna am Lehel in München (1727) zeigen den leichten
Rhythmus und den zierlichen Fluß der Bewegung, den der neue Zeitstil forderte,
zugleich eine Selbständigkeit der Erfindung, die die Reife des Meisters als Vor-
bedingung hat. Vorbilder können nicht genannt werden. An Effner ist nicht zu
denken. Cuvilliés war jünger als Fischer und ist erst 1725 von Paris zurückgekehrt;
sein erster Bau, das Adelspalais Piosasque de Non ist erst um 1727 begonnen worden.
Warum soll auch das Nächstliegende, die künstlerische Selbständigkeit, die geniale
Veranlagung des Baumeisters nicht das Wahrscheinlichere sein?
Seit 1723 war Fischer als Bürger und Maurermeister in München ansässig. Seit
den frühen zwanziger Jahren trat er, gestützt auf eine einflußreiche Verwandt-
schaft vom Fache, als Bauunternehmer in großem Stile auf und damit beginnt
die riesige Reihe von größeren und kleineren Kirchenbauten, von Klöstern und ein-
fachen Privatbauten, die ihn bald zum gesuchten Kirchenbaumeister südlich der
Donau machte. In Altbayern und in Schwaben, im heutigen Württemberg stehen
seine Werke, prunkvoll und einfach, je nach den Mitteln, die ihm zu Gebote
standen, die feinsten Blüten im reichen Kranz der damals sich entfaltenden kirch-
lichen Rokokokunst und bescheidene Anlagen, die nur durch die Solidität der Arbeit
erfreuen. Noch ist die Zahl von 32 Gotteshäusern und 23 Klöstern nicht ganz be-
kannt geworden, aber die sicheren Werke, worunter sich bestimmt seine besten
befinden, genügen, um uns mit Achtung zu erfüllen, vor der ungeheuren Arbeits-
kraft, mit Staunen vor der genialen Gesamtleistung. Es ist selbstverständlich, daß
bei dem Umfange des Geschaffenen nicht alles gleich gut, gleich bedeutend sein
kann. Fischer war in erster Linie praktischer Baumeister, der mit rascher Hand
eine klare Lösung fand, die ihren Zweck erfüllte. Für große Bauten war das
Beste und das Modernste gut genug; für kleine Kirchen wurde ein Grundriß oft
schematisch — man darf den Ausdruck ruhig gebrauchen — wiederholt, mit ge-
ringen Veränderungen in den Proportionen, mit wenigen Abweichungen in der Bil-
dung der Fassade, der Stellung des Turmes, aber immer so, daß der Bau aus der
Umgebung natürlich herauswächst, daß er liebenswürdig und heiter wirkt, besonders
dann, wenn auch die Meister, die die Ausstattung schufen, stilistisch auf der Höhe
standen. So sind auch viele der kleinen Landkirchen Kunstwerke geworden, kleine
Schmuckkästchen, vorbildlich in der Stimmung, in der Anpassung an die Land-
schaft. |
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. Il. 1923. 15 225
Der riesige Umfang der Arbeit mag auch die Ursache gewesen sein, daß nicht
alle Bauten in der Vollkommenheit der ersten Idee zur Ausführung gelangten. Der
technische Betrieb war im 18. Jahrhundert nicht viel anders wie jetzt, nur schwer-
fälliger. Wenn ein Neubau in Frage kam, dann wurde Fischer geholt, der sich
an Ort und Stelle die Situation besah, die Maße nahm, sich überlegte, was er vom
alten Bau stehen lassen konnte. Die möglichste Schonung des alten Bestandes,
der Respekt vor dem Geschaffenen, das er für seine Zwecke auszunutzen verstand,
paßt so recht zu seinem Charakterbild. Zu Hause zeichnete er dann die genauen
Risse. Es sind einige erhalten, für Ottobeuren, die in der exakten Technik, der
präzisen Durchführung schon als Zeichnungen Kunstwerke genannt werden müssen.
Die Ausführung selbst aber tiberließ er seinen Polieren, erprobten einheimischen
Leuten oder Münchner Meistern, die er als zuverlässig kannte. Schwieriger war
es, wenn ihm eigenmächtige Unterbaumeister aufgezwungen wurden, Nicht immer
ist so der erste Entwurf eingehalten worden. Als Unternehmer im großen Stile
konnte Fischer nur auf seinen Inspektionsreisen während der Sommermonate die
Arbeit überwachen. Dafür bekam er dann bei größeren Bauten ein jährliches Ge-
halt, durchschnittlich 100 Gulden, oder ein Gesellengeld, für jeden Mann zwei
Kreuzer. Ein fürstliches Einkommen verdiente er sich damit wirklich nicht. Die
Maler, Stukkateure, Bildhauer wurden meist vom Baumeister empfohlen. So kommt
es, daß wir in Bauten Fischers immer wieder auf die gleichen Künstler, meist
Münchner, stoßen, die Asam, Johann Baptist Zimmermann, Matthäus Günther, die
Bildhauer Straub und Ignaz Günther, die Augsburger Stukkateure Rauch und
Fruchtmaier. Es sind die besten Namen, die uns da begegnen. Nur in kleineren
oder entlegeneren Kirchen mußten lokale Größen berücksichtigt werden.
Fischers künstlerische Bedeutung liegt auf dem Gebiet der kirchlichen Archi-
tektur. Von seinen Klosterbauten — bisher können ihm von den 23, die die Grab-
inschrift nennt, vier mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit zugewiesen werden,
nämlich Niederviehbach (1731—33), das Franziskanerkloster in Ingolstadt um 1739,
Neuhaus bei Schärding (1752), und ein Teil der Anlage in Ochsenhausen — ragt
keiner über das Niveau eines tüchtigen Nutzbaues empor. Einfache Räume in
einer schlichten Architektur von angenehmem Umriß und guten Verhältnissen.
Der Außenbau hebt sich höchstens durch eine bescheidene, verständnisvoll ab-
gewogene Putzgliederung vom trivialen Bürgerhaus ab. Es fehlen die problem-
reichen Grundrißlösungen, es fehlen die monumentalen Treppenhäuser, die großen
Prunksäle, die reich dekorierten Bibliotheksräume, die andere Klosterbauten des
18. Jahrhunderts zu fürstlichen Palästen machen. Noch einfacher ist das einzige
Privathaus, das in München Fischer zugeschrieben werden darf, das Booshaus
in der Hackengasse. Außer der Putzgliederung als einziger Schmuck eine zier-
liche Madonnenbliste von Straub. Wenn man an die feinen Prunkfassaden der
Münchner Adelpalais von Cuvilliés, Е пег oder Gunatsrheiner sich erinnert, dann
begreift man leicht, daß diese bescheidene Architektur auch früher nicht gesehen
wurde.
Die kirchlichen Bauten erlauben einen ganz anderen Maßstab der Beurteilung.
Alle, auch die kleinen Landkirchen, verraten die Schaffensfreude eines hochbegabten
Künstlers, der sich mit den ästhetischen Forderungen seiner Zeit in selbständiger
Weise auseinander gesetzt hat, der die Gefäße ererbter Ideen mit neuen, originellen
Gedanken zu füllen verstand. Wenn wir uns eine Übersicht über seine Leistungen
verschaffen wollen, so gliedern wir die Bauten am besten nach den wichtigsten
Typen, in Langhausbauten und Zentralbauten, weil dadurch der Einblick in die
226
bestehenden Probleme erleichtert und das Neue der Lösungen Fischers am ein-
fachsten klargelegt werden kann.
Für den Langhausbau hatte sich im südlichen Deutschland seit den Zeiten der
Spätgotik ein bestimmtes Schema eingebürgert, das wir kurz als Langhaus mit
Kapellenreihen benennen wollen. Ein Schiff, begleitet von einer Reihe von Kapellen
zwischen den eingezogenen Streben, endigend mit einem eingezogenen Chor. In
der Spätgotik war dieses Grundrißschema nur für kleinere Kirchen brauchbar; für
die großen Dome war die Aufteilung des Innenraums in drei oder fünf Schiffe ein
Gebot konstruktiver Notwendigkeit. Die überragende Höhenentwicklung war der
ästhetisch bestimmende Faktor.
Die Renaissance hat daraus in der St. Michaelskirche in München unter dem
Eindruck der italienischen Architektur das mächtige, mit einer Tonne gewölbte,
saalartige Schiff gemacht, neben dem die Kapellen unselbständige Anbauten
bleiben. Nachdem dann Bareli in seiner Münchner Theatinerkirche das Schema
der römischen Jesuitenkirche auf deutschen Boden verpflanzt hatte, kam dazu ein
weiteres Problem, die Verbindung des Langhausbaues mit dem Zentralbau. Durch
die Einfügung eines Querschiffes entsteht eine Vierung, die, von einer mächtigen
Kuppel bekrönt, als der helle Mittelpunkt des Raumes zuerst den Blick gefangen
nimmt. Die Vierung mit der Kuppel wird dadurch der überragende Hauptraum;
die Versöhnung von Langhausbau und Zentralbau war nicht erreicht, wenigstens
nicht für den Geschmack einer späteren Epoche. Denn jede Zeit hat ihr eigenes
Kunstempfinden, ihr eigenes Kunstwollen und damit auch ihre eigenen Begriffe von
Schönheit des Raumes. Die Begriffe Mächtigkeit und Schönheit waren jetzt nicht
mehr identisch. Man liebte nicht mehr die kontrastvolle Gegenüberstellung der
kleinen, dunkeln Seitenkapellen und des riesigen Mittelschiffes, des wenig belichteten
Chors und der taghellen Kuppel, nicht mehr die stark betonte Längsentwicklung,
die den Blick fortreißt, oder die übermächtige Herausstellung eines Hauptraumes;
man wollte nicht mehr die vollplastische, mächtige, dem Blick sich aufdrängende
Wandarchitektur, die pompöse berauschende Dekoration. Das Ideal der Rokokozeit
war der lichte, freie Einheitsraum, der sich in gleichmäßiger Abgewogenheit aus-
breitet; jetzt suchte man den leichteren Rhythmus in der Abfolge der einzelnen,
durch den Kult oder die Tradition allein gebotenen Räume, die unlösbare Ver-
schmelzung aller Nebenräume mit dem Hauptraum, die gleichmäßige Verknüpfung
von Langhaus, Querschiff und Chor, die unmerkliche optische Bindung für das
Auge durch die Verschleifung der Übergänge, man suchte dem Raum die gleiche
helle Abtönung zu geben, die ein zartes Rokokogemälde trägt. Fischer hat den
Langhausbau nicht geliebt. Wo er ihn übernommen hat, in Dießen (1733), in Fürsten-
zell (1740), in Zwiefalten (1741) und Ottobeuren (1744f.), da war er, mit Ausnahme
vielleicht von Dietramszell (1729—37), einem einfachen, nicht ganz gesicherten Früh-
werk, das Zusammenhänge mit Schärding und mit altbayrischen Bauten zeigt, durch
die Beibehaltung älterer Fundamente zu bestimmten Lösungen gezwungen. Seine
Aufgabe war dann die Angleichung des Bestehenden an das Neue und die gleich-
mäßige Entwicklung des Gesamtraumes. Meist hat er die Zahl der Seitenkapellen
verringert, die Maße vergrößert, und dadurch, durch gemeinsame Maßbeziehungen,
die Kapellen an das Schiff angeglichen: er hat den Raumrhythmus herausgearbeitet.
Die hohe Kuppel mit der Eigenbeleuchtung war für ihn nicht mehr brauchbar.
nicht aus technischen Gründen hat er sie weggelassen, sondern weil das von oben
scharf einfallende Licht zu sehr isolierte. Dafür baute er die Flachkuppel, die der
Vereinheitlichung viel mehr entgegenkam, deren Deckengemälde sich inhaltlich und
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optisch mit den Gemälden in den anderen Jochen banden. Auch das ausladende
Querschiff war seinen klaren Vorstellungen von Raumgröße fremd. In Zwiefalten
geht es kaum über die Flucht der Seitenkapellen hinaus, die Ecken der breiten
Flügel sind abgeschrägt und die architektonische Gliederung mit den dekorativen
Säulen sowie die kribbelnd ausgreifende Form der Altäre und der Dekoration
stellen die optische Bindung wieder her. Nur in Ottobeuren tritt es voll zur Er-
scheinung. Auch hier standen bereits die Fundamente und so mußte die barocke
Zusammenstellung von gewaltigen Räumen beibehalten werden. Durch die starke
Abschrägung der Ecken an der Vierung hat er dann die Übergänge verschliffen;
die Zwickel der flachen Kuppel sind so verbreitert, daß die Überleitung des Blickes
unmerklich vor sich geht. Damit ist noch kein Wort gesagt tiber die Bedeutung
oder über die Schönheit der Kirchenräume selbst. Die feine, klare Eleganz in
Dießen, die malerisch reiche Großartigkeit von Zwiefalten, die imponierende Mäch-
tigkeit von Ottobeuren können nur gefühlt und erlebt werden. Wenn ein Kenner
wie Dehio behauptet hat, daß eine Kirche wie Ottobeuren nicht nur eine der ersten
Leistungen des Barocks, sondern überhaupt einer der vornehmsten Kirchenbauten
aller Zeiten in Deutschland ist, so ist damit ein Werturteil ausgesprochen, das im
Hinblick auf die Leistungen der früheren Epochen etwas sagen will. Wenn auch
an allen diesen Kirchen gegebene Anfänge weitergeführt werden mußten, die be-
stimmende Wirkung ist das Werk Fischers. Alle seine Räume atmen den Geist
der Klarheit, der Ruhe; sie haben nicht die überwältigende, genialische Wucht der
besten Bauten Neumanns, sondern die geschlossene Abgeklärtheit, die gesättigte
Schönheit, die den feinen, beruhigten aber nicht minder bedeutenden Geist ihres
Urhebers verrät.
In allen Bauten Fischers waltet ein sicheres Gefühl für ruhige Tektonik. Die
Dekoration bekommt niemals die Eigenbedeutung wie in Bauten der Asam
oder von Dominikus Zimmermann, sie ist immer gebannt in die großen Linien
einer organisch sich entwickelnden Architektur. Die gleichmäßig hellen Räume
von Schiff, Kapellen, Chor und Querhaus sind in diesen Kirchen ineinander ver-
schmolzen durch die Vereinfachung des Grundrisses, durch die durchgeführte Pro-
portionalität, durch Ausgleichung der Übergänge. Die andere Möglichkeit einer
Bindung der Räume durch Einbeziehung in die gemeinsame rhythmische Bewe-
gung kommt nur in Frühwerken vor. Ein Beispiel ist Osterhofen (1726). Das
Langhausschema mit Kapellenreihen ist auch hier wiederholt. Die Seitenkapellen
sind als Ovale gebildet. Die Form dieses Ovals ist gleichsam das Motiv, das be-
ständig wiederkehrt, in den konkav vortretenden Seitenemporen und im Gegensinn
in den Einziehungen des Gebälks, in den Ausnischungen der Ecken des Langhauses.
Der Grundriß an sich ist ein Liniengefüge von abstrakter Schönheit. Die scharf-
geschliffene Form dieser Kurvatur nimmt das Auge gefangen und führt den Blick
in einer wohlig gleitenden Bewegung in die Tiefe, in der Richtung der Hauptachse
zum Chor, der als Blickziel im hellsten Licht, in der Fülle farbigen Schmuckes
prangt. Der Chor ist nicht ein eigener, für sich bestehender Raum, ein Annex an
das Langhaus wie in älteren Bauten, er ist vielmehr auf das innigste mit dem Lang-
haus verknüpft, gleichsam die Bekrönung des ganzen Innenraumes. Diese Verknüpfung
ist durch die einfachsten und zugleich raffiniertesten, perspektivischen Mittel her
gestellt. Die Nischen am Chorbogen sind mit den formenreichen Altären gefüllt,
und das Gewölbe ist am Schluß des Langhauses muldenférmig herabgezogen, so
daß auch dadurch der Blick ungehemmt weitergleitet. Selbst im Langhaus ist das
Streben nach Vereinheitlichung zum Ausdruck gebracht. Die Altäre der mittleren
228
Kapellen sind nach der Querachse gerichtet und dadurch kommt die Idee eines
Zentralbaues als bezwingendes Motiv zum Durchbruch. Deutlicher noch kommt
diese Absicht in Schäftlarn zum Ausdruck, wo Fischer einen angefangenen Bau
weitergeführt hat. So gering die Veränderungen erscheinen, es sind geniale Ge-
danken, die einmal gefunden werden mußten, die den ganzen Raumeindruck ent-
scheidend bestimmen. Das alte Schema ist mit einer künstlerischen Überlegenheit
neu erdacht und die neue Lösung ist so typisch deutsch, daß sie selbst einem
Italiener der Richtung Guarinis als untektonisch, manieriert erschienen wäre, während
wir darin die Folgerung längst vorhandener Prämissen sehen.
Nicht mehr als Langhausbauten im hergebrachten Sinn können Kirchen wie
St. Anna am Lehel in München angesprochen werden, wenn auch die Längsrich-
tung vorherrscht. Der Raum breitet sich wohlig aus, nicht in einem Zug, in einer
bestimmten geometrischen Form, sondern differenziert, gleichsam in Parzellen, die
eine gegebene Größe rhythmisch wiederholen, buchtet er in kleine Kapellen aus,
die beim Blick vom Eingang her schon übersichtlich in Erscheinung treten. Das
Ganze überdeckt eine muldenförmige Kuppel in einer sanften Rundung, die nur
durch die illusionistische Kraft des Deckengemäldes in weite Ferne greift. Der
Grundriß nähert sich der Form des Ovals; aber die nackte, geometrische Form
des Ovales, aus der Dominikus Zimmermann seine schönsten Grundrisse in Stein-
hausen und Wies entwickelt hat, hat Fischer verschmäht, selbst in kleinen Bauten,
wie der Anastasiakapelle in Benediktbeuren (1750) ist sie modifiziert. Er hat sie
gleichsam verdeckt, weil ihm die Modellierung des Raumes wie aus Ton unarchi-
tektonisch, unklinstlerisch erschienen wire.
Fischers Liebe gehört dem Zentralbau. Die Idee einer neuen Lösung hat ihn
sein ganzes Leben lang beherrscht. Wie eine bestimmte Melodie kehrt sie in allen
Schöpfungen wieder, in neuen Variationen, vereinfacht und erweitert. Es ist die
Raumgruppe, die Gruppierung von Räumen in der Längsachse, um einen betonten
Mittelraum, das Ideal der Renaissance, aber in der subtilen, verfeinerten Auffassung
des Rokoko. Fischer setzt auch hier eine begonnene Entwicklung fort und bringt
sie zur vollendeten Lösung. Vollendet im Sinne seiner Zeit; denn schon die
nächsten Jahrzehnte haben ihre veränderte Anschauung und wie eine Kritik an
Fischers Bauten erscheint als neu Lösung des frühen Klassizismus die Kloster-
kirche von Wiblingen. Die unmittelbaren Vorbilder Fischers liegen auch für den
Zentralbau auf bayrischem Boden. Es sind Bauten, wie die Kirche in Schönbrunn,
die dem Münchner Kunstkreise angehört, und in weiterer Linie die Zentralbauten
Virscardis, die Dreifaltigkeitskirche in München und die Wallfahrtskirche in Frey-
stadt. Wollte man die Linie noch weiter zurtickverfolgen, so müßte man italie-
nische Bauten nennen. Bei Fischer kann man deutlich eine Entwicklung verfolgen,
die auf geradem Wege emporführt, bis sie ihre klassische Form in der Kloster-
kirche in Rott am Inn findet. Sein Frühwerk, die Pfarrkirche in Murnau (ca. 1720
bis 1727) steht der barocken Raumanschauung noch am nächsten. Der zentrale
Kuppelraum ist noch zu sehr betont, die Diagonalkapellen sind noch nicht in die
Zentralidee einbezogen, da Altäre nach der Längsachse gerichtet sind. Die selt-
same, kleeblattförmige Form des Chores ist nur dem erklärbar, der weiß, daß der
alte gotische Turm stehenbleiben mußte. Der Chor wird dadurch zu sehr zurück-
gedrängt und der Innenraum leidet unter den barocken Kontrasten. Der endgültigen
Lösung nahe steht die Klosterkiche in Aufhausen (1736), wo nur die Höhenentwicklung
zu sehr vorherrscht und die schlechte Beleuchtung durch die nachträgliche Ver-
kleinerung der Seitenfenster im Langhaus die klare Entwicklung des Raumes stört.
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Eine vollkommene, wenn auch vereinfachte Lösung ist bereits die Kirche in Berg am
Laim (1737), in der die Diagonalkapellen auf Nischen reduziert sind. Die starke Be-
tonung der Längsachse durch den Mönchschor, mit dem sich anschließenden Altar-
haus kommt beim Blick vom Eingang bei der mit Rücksicht auf die perspektivische
Wirkung glänzend durchkomponierten Wandarchitektur, deren gliedernde Säulen wie
Kulissen vor das Blickfeld geschoben sind, gar nicht zur Geltung. Der Innenraum mit
dem elegantenStuckdekor und den freudigen Deckenbildern Zimmermanns, den schönen
Altären Straubs in der aufs feinste proportionierten, überlegenen Architektur gehört
zu den erfreulichsten Eindrücken auf dem Gebiete barocker Baukunst. Mehr differen-
ziert und noch eleganter in der Grundrißlösung ist die Franziskanerkirche in Ingolstadt
(1736 fl.), die aber unter der rückständigen Altararchitektur leidet. Die vollendete
Harmonie von Innenraum und Ausstattung bietet dann die Klosterkirche in Rott
am Inn (1759), ein Gesamtkunstwerk von ganz hohem Range; die Verbindung der
besten Meister in ihrem Fache, des Malers Matthäus Günther, des Bildhauers
Ignaz Günther, der Stukkateure Feuchtmayer und Rauch, hat hier ein Hauptwerk
kirchlicher Baukunst in Bayern geschaffen. Der Bau hat ebenso allgemeine kunst-
geschichtliche Bedeutung. Er ist der Endpunkt einer langen Kette von Versuchen,
die auf Versöhnung von Langhausbau und Zentralbau zielen, die ideale Lösung
des Problems im Geiste der Rokokokunst. Der Zentralraum mit der Flachkuppel
auf acht Pfeilern, die im Grundriß ein Quadrat mit abgeschrägten Ecken um-
schreiben, ist auch hier der beherrschende Raum, die Dominante; er läßt aber die
symmetrisch der Längsachse nach sich entwickelnden Nebenräume erster Ordnung,
Chor und Vorraum, voll zur Wirkung kommen. Auch diese Nebenräume haben
Flachkuppeln mit Deckengemälden; sie wiederholen in Form und Proportionen
annähernd die beherrschende Zentralform und sind schon durch diese Analogie
miteinander verbunden. Als vermittelnde Größen sind zwischen diese Räume und
die flachen, nischenartigen Erweiterungen des Hauptraumes nach der Querachse
vier kleinere Diagonalkapellen eingeschoben, die durch die Zweigeschossigkeit dem
Zentralraum proportional angeglichen sind. Um den Vorraum selbst sind wieder
kleinere Nebenräume gelegt, die Vorhalle mit Kapellen, in ausgeglichenen Abmaßen.
Sie zwingen uns zuerst den Blick auf einfache Raumverhältnisse einzustellen, so daß
das Raumerlebnis beim Betreten des Hauptschiffes von überraschender Großartig-
keit wird. Das Ganze eine Raumgruppe, die komponiert ist nach dem Vorbild
eines Kristalles; die kleinen Kristalle wiederholen die Form des Mutterkristalls,
alle Teile aber sind miteinander verschmolzen und nur in der Verbindung lebens-
fähig. Der ganze Innenraum wird nicht in seiner primitiven Mächtigkeit dem Blick
angeboten, sondern gegliedert, in Abstufungen, die hell, feierlich und doch zurück-
haltend, diskret abgetönt sind. Das Prinzip der Komposition, der feingliederigen
Verteilung ist das gleiche wie auf einem feinen Rokokobild. Eine Steigerung dieser
Lösung war nicht mehr möglich. Fischers nächster Bau, die Klosterkirche in
Altomiinster (1763 ff.) schließt sich ganz an die Grundrißdisposition der Kirche in
Rott an.
Um die festen Markierungspunkte dieser größeren Kirchen schlingt sich ein Kranz
von kleinen Landkirchen, die ae das Schema dieser Zentralanlage vereinfacht
wiederholen, mit großer Frische im Ausdruck oder schematisch. Am reizvollsten
erscheinen die Frühwerke, wie Unnering bei Seefeld (1731) und Sandizell (1735),
die auch eine gute Ausstattung besitzen. Bescheidener sind Reinstetten (1740),
Gossenzugen (1749), beide in Württemberg, sowie Romenthal bei Dießen (1757),
schlecht erhalten ist Bergkirchen bei Dachau (um 1737). Wirksam sind alle, auch
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die späten Bauten wie Bichl bei Benediktbeuren (1752), und Sigmertshausen bei
Dachau (1755), weil auch in den kleineren Bauten das sichere Stilgefühl eines
überragenden Meisters zum Ausdruck kommt.
Ein Bau muß zum Schlusse noch besonders erwähnt werden, die Klosterkirche
in Andechs. Es ist eine gotische Hallenkirche mit typisch bayrischem Grundriß,
die im 18. Jahrhundert (1754 ff.) modernisiert wurde. Den Umbau leitete — wenn
uns die stilistischen Anhaltspunkte, die an den Emporen, im Chor und an den
Nebenräumen mit besonderer Deutlichkeit zutage treten, nicht triigen — Johann
Michael Fischer. Wie ein Maler eine alte, eingeschlagene Skizze durch einige
Lichter und Retuschen zu neuer Frische bringt, so hat auch Fischer den gotischen
Bau mit wenigen, aber äußerst geistreichen Mitteln dem Stilempfinden der Rokoko-
zeit angeglichen. Er hat die Schlußpfeiler entfernt, dadurch den Blick in den Chor
freigegeben und den Raum erweitert, er hat dann um den ganzen Raum eine
Empore geschlungen, die die Seitenschiffe eng mit dem Mittelschiff verknüpft, und
große Fenster da eingesetzt, wo die energische Beleuchtung den malerischen Ein-
druck steigern muß. Der festlich freudige, heitere Eindruck ist so sehr sein Werk,
daß man den gotischen Kern ganz vergißt. Die Vollendung des Eindrucks besorgt
die graziöse Dekoration Zimmermanns.
Ein Umstand überrascht bei allen Bauten Fischers: die Schlichtheit der Außen-
architektur. Er überrascht, weil niemand in der schmucklosen, einfachen Schale
die festliche Pracht des Innenraumes vermuten möchte. Eine falsche Einstellung
aber wäre es, wenn man daraus Schlüsse ziehen würde auf die Qualität des Archi-
tekten. Die plastische Durchfühlung der Außenarchitektur hat dem süddeutschen
Baumeister von jeher fern gelegen, in der Gotik wie im 18. Jahrhundert, schon
deshalb, weil ihn das Material, der Backstein, zur Vereinfachung zwang. Dazu
kommen noch andere Gründe. Ein gewisses Gefühl für künstlerische Ehrlichkeit,
das vor inhaltlosen Scheinarchitekturen zurückschreckte. Schließlich die Rücksicht
auf die Umgebung. Meist sind die Kirchen vom Trakt der Klosterbauten so eng
umschlossen, daß der Außenbau wenig sichtbar wird oder bei der Nähe des Be-
schauers nicht zur Geltung kommt. In diesem Falle wird nur die große Silhouette
mit den Türmen dem Landschaftsbild eingegliedert. Wenn die Außenseite frei-
liegt und die umgebende Architektur eine Steigerung verlangt, ist oft mit wenigen
Mitteln Wertvolles erreicht. Die Fassaden der Kirchen von Zwiefalten und Fürsten-
zell, der ganze Außenbau von Ottobeuren dürfen als bedeutende Leistungen schlecht-
hin bezeichnet werden.
Fischer gehört nicht zu den wenigen, genialen Schöpfern, die der Kunst ihrer
Zeit mit brutaler Kraft den Stempel ihres Geistes aufdrückten, nicht zu den großen
Bahnbrechern, die den Strom der Entwicklung in ein neues Bett drängten. Er ge-
hört zu den feinen, abgeklärten Naturen, deren Schaffen die Blüte schon lange
sprossender Keime bedeutet. Er hat sich der alten Formeln bedient, weil er auch
in ihnen seinen Gehalt entfalten konnte; er hat sie mit neuem Inhalt gefüllt und
sie zu neuem Wert gebracht; er hat die Forderungen seiner Zeit lebendig in sich
gefühlt und ihnen mit ererbten Mitteln erschöpfenden Ausdruck gegeben. Als Voll-
ender wird er seinen Platz unter den großen Künstlern Deutschlands behalten.
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JOHANN MATHIAS KAGER, DER STADTMALER
VON AUGSBURG (GEB. 1575, GEST. 1634), ALS ZEICHNER’)
Mit vierzehn Abbildungen auf vier Tafeln in Lichtdruck Von HERMANN NASSE
ären von Kager nur Zeichnungen bekannt, so würden sie allein genügen,
sein Andenken der Nachwelt zu erhalten; mehr: als Zeichner nimmt Kager
einen Platz als Meister ein. Sein Talent für Graphik ist ein so hervorstechendes,
daß man oft versucht ist, sich zu fragen, ob das derselbe Künstler ist, wie der
Maler von Fresken und Altarbildern. In den besten zeichnerischen Arbeiten offen-
bart sich eine Großzügigkeit des handschriftlichen Duktus, eine Fähigkeit, in knappen,
ja flüchtigen Umrissen das Wesentliche zu sagen, die überrascht, die uns zu der
freudigen Feststellung führt, daß in einer Zeit anscheinenden Verfalles der gra-
phischen Künste, anscheinenden öden Manierismus, noch ein erfinderischer Geist
am Werke ist, der an Allerbestes aus der Vergangenheit anknüpft und auf Bedeu-
tendes in der Zukunft, in der Zukunft sogar des 19. Jahrhunderts hinweist. Wir
räumen ohne weiteres ein, daß Kagers eigentlichste Begabung auf diesem Gebiet
liegt, das uns ja am ursprünglichsten die jeweiligen künstlerischen Absichten offen-
bart, das am tiefsten in die Geheimnisse des künstlerischen Werdegangs hinein-
leuchtet. Selbstverstiindlich haben wir es aber auch hier mit einer langsamen
Entwicklung zu tun, die bei den frühen Arbeiten noch eine gewisse Abhängigkeit
von fremden, hauptsächlich italienischen Vorbildern verrät, die dann tastend nach
eigenen Wegen sucht. Wir stellen einen gewissen Manierismus, eine Übertreibung
des bühnenartigen Aufbaus der Komposition, eine Übertreibung des Affekts und der
Gesten fest. Aber sehr bald folgt die Klärung und die Beruhigung, sehr bald
gewinnt Kager, von Rubens herkommend, eine großartige Steigerung des drama-
tischen Ausdrucks und eine sichere Prägnanz der Darstellung. Zum Studium dieses
Entwicklungsganges stehen uns Originalzeichnungen in genügender Anzahl zur Ver-
fügung. Wir greifen zu näherer Besprechung nur einige der besten heraus.
Früh scheint eine kleine Federzeichnung in Berlin (Kgl. Kupferstichkabinett)
„Mariens Tempelgang“ zu sein“). Abbildung 1. Vorbild ist unstreitig Tintoretto.
Schon hier verrät sich Begabung für Architekturen, für geschlossenen und ab-
schließenden Aufbau der Komposition. Erfreulicher sind die beiden dortigen alle-
gorischen Zeichnungen „Eintracht und Zwietracht“ und ,,Baukunst“*). Abbildung 2
und 3. Ackerbau, Architektur und Goldschmiedekunst huldigen der auf erhöhtem
Thron sitzenden Göttin der Eintracht, während die leere Truhe rechts deutlich
genug von den Folgen der Uneinigkeit, „ut exemplum docet“, erzählt. Der schöne
Männerkopf, der das Modell eines Gebäudes in der Hand hält, scheint E. Holl an-
zugehören. Auf dem anderen Blatt „Archimedes extra linea“ sehen wir die be-
trüblichen Folgen schlecht angewandter Regeln der Baukunst. Da wir nun die im
selben Sinn gehaltenen, bis auf geringe, aber wichtige Abweichungen überein-
stimmenden Gemälde Freybergers im Augsburger Rathaus kennen, müssen wir
den Berliner Zeichnungen eine ausführliche Besprechung widmen.
(1) Teil eines schon seit längerem ausgearbeiteten Manuskripts, das als ausführliche Monographie
über Kagers Tätigkeit vor allem auch als Maler, Innenarchitekt und Stecher berichtet. Archivalische
Studien liegen ihm zugrunde.
(2) Voll bez. Das „vixit ibidem“ natürlich später Zusatz. Nach dem Berliner Katalog irrtüml. nur Kopie.
(3) Die Bezeichnung ,,Kager F.“ auf dem zweiten Blatt ist unecht.
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Abb. 4. Titelblatt zu Justinian.
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Abb. 5. Die Königin von Saba bei Salomon.
München, Graphishe Sammlungen. Lev. Federzeichnung, weiß erhöht.
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Zu: Hermann Nasse, Johann Mathias Kager, der Stadtmaler von Augsburg als Zeichner.
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Abb. 10. Heimsuchung. Abb. 11. Verkündigung.
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Abb. 12. Anbetung der Könige. һа 13. Christi Geburt.
Vier farbige Aquarelle. Privatbesitz München. |
Zu: Hermann Nasse, Johann Mathias Kager, der Stadtmaler von. Augsburg als) Zeichner.
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Gleichzeitig mit Kager lebte und wirkte nämlich in Augsburg unter andern ein
wenig bekannter Maler, der dort im Jahre 1604 Meister wurde: Johann Freyberger.
1571 geb., ging er nach Sitte!) 1613—1618 nach Italien, starb 1631 in Augsburg’).
Er war Historienmaler und Miniaturmaler (auch für Hainhofers berühmtes Stamm-
buch), schuf die Fresken des 1611 von Holl umgebauten, 1826 abgebrochenen
Barfüßerturms und muß auch Porträtmaler gewesen sein, da drei Bildnisse,
darunter das des Geizkoflers von 1604 und des Max Rehlinger von ihm bekannt
sind. Sitte spricht von vier großen Gemälden im goldenen Saal des Augsburger
Rathauses. Sie sind noch da, wenn auch in anderen Sälen. Uns interessieren hier
nur die beiden im großen Sitzungssaale aufgehängten Gemälde der „Concordia“ und
des sog. „Archimedes“. Denn für beide lieferte Kager die Risse, d. h. die
Vorzeichnung. Es sind die erwähnten Handzeichnungen im Berliner Kupferstich-
kabinett. Im Kompositionellen stimmen die Gemälde mit den im selben Sinne
gehaltenen Zeichnungen äußerlich überein. Sieht man näher zu, so ergeben sich
aber charakteristische Abweichungen, die Gemälde treten hinter den ganz vortreff-
lichen Zeichnungen völlig zurtick, so daß man fast von gemalten Kopien zu sprechen
versucht wäre. Wie so häufig in dieser Zeit, ist der ganze, nicht schwer verständ-
liche Inhalt der Bilder und entsprechend der der Zeichnungen ein allegorischer, wozu
noch folgendes zu bemerken wäre. Die „Eintracht“ hat einen Kranz aus Ähren,
Weintrauben, Gold u. dgl. um ihr Köpfchen gewunden, in der rechten Hand trägt
sie einen Ölzweig, mit der linken deutet sie auf die ihr gegenübersitzende magere
Frau. Neben ihr stehen viele Bürger, die allerlei Zölle, Abgaben usw. für Wein,
Getreide, Konfekt u. dgl. entrichten; ihr zu Füßen bemerken wir eine offene Truhe
mit Geld: die Eintracht, d. h. der Frieden schützt Handel und Wandel. Die ihr
gegentibersitzende Figur ist die „Discordia“, auf dem Gemälde gelb und übel ge-
kleidet; die Truhe zu deren Füßen ist leer. Hunger und Armut, Neid und Kampf
sind das Gefolge des Unfriedens. Das ist kurz der Inhalt des ersten Bildes (vgl.
Abbildung 2).
Ein König, in der Tracht und Haltung eines römischen Kaisers, besichtigt auf
dem zweiten Bilde (vgl. Abbildung 3) eine Reihe von Bauten im Kreise ernst
blickender Bürger, die vor einem wohl ausgebauten Turm stehen und auf einen
zweiten blicken, der einstürzt. Archimedes steht mit einem gelehrten Buche unter
dem Arm vor ibnen und demonstriert, daß jener Turm als „krumm und außer der
Linie des Richtscheits“ notgedrungen einstürzen mußte. Rechts vom König stehen
drei Werkmeister mit ihrem Werkzeug; am Fuße des einsttirzenden Turms sieht
man noch Leute arbeiten. Lateinische Inschriften suchen auch auf den Gemälden
den etwas schwerfälligen allegorischen Sinn zu erklären. Die Gesamtfärbung der
Gemälde ist süßlich und Нап, Die einzelnen Farben sind hart und ohne Kraft.
Die Typen der handelnden Personen sind weichlich und flach und völlig ver-
schieden von denen der Zeichnungen. Wo in der Zeichnung genau charakterisiert
war, wo in der Zeichnung überall Klarheit und strengstes Bemtihen um anschau-
liche und wahrheitsgetreue Schilderung herrscht, wird in den Gemälden alles ver-
unklärt. Es ist, als ob der Maler, der hier eigentlich nur Kopist ist, in Eile alles
hingewischt und sich die Aufgabe durch Weglassen, Verkürzen usw. zu vereinfachen
gesucht habe. So wird in den Gemälden alles charakterlos, was so fest und scharf
(1) Kunsthistorische Regesten aus den Haushaltungsbüchern der Geiskofler usw. Straßburg 1908.
(2) Vgl. in Thieme und Beckers Künstlerlexikon die dort angeführte Literatur. R. А. Peltzer im Wiener
Jahrbuch, Bd. XXXIII, 1916, 8. 343, Anm. 3.
233
umrissen in den Zeichnungen vor uns steht. So gibt sich der Maler mit Einzel-
heiten, wie z. B. dem Hintergrund, gar nicht ab, sondern deckt hier einfach zu,
um den Schwierigkeiten einer wirklichen Tiefe, einer Formangabe zu entgehen.
Auf der Zeichnung der „Eintracht und Zwietracht“ z. B. ist im Hintergrunde eine
schöne, sanft ansteigende Landschaft sichtbar, die auf dem Gemälde fortfällt, auf
der des „Archimedes“ eine durch hohe Torbogen gegliederte Architektur, die auf
dem Gemälde wie eine glatte Mauer aussieht. Der lebhafte Kopf des bärtigen
Mannes, der ein Hausmodell trägt und den ich hier für Kager selbst ansprechen
möchte, ist auf dem Gemälde zu einem faden, bartlosen Jünglingskopf geworden.
Die Zeichnungen dagegen sind die Arbeit einer genialen und starken Ktinstlernatur.
Nicht nur ihre Qualität, auch ihr Stil spricht für Kager. Ein Zweifel scheint mir
ausgeschlossen; auch wenn Bedenken gegen die etwas zaghafte Signatur, die wohl
erst später daraufgesetzt ist, vorliegen. Auch kommt es oft genug vor, daß nicht
der ausführende Maler, sondern ein anderer die Zeichnungen für Wanddekorationen,
Gemälde usw. liefern muß. Ferner: Kagers zeichnerische Stileigentümlichkeiten
sind unverkennbar, wenn man die beiden Berliner Zeichnungen mit anderen
von seiner Hand vergleicht. Die Abbildung 4 bringt eine gesicherte, echt bezeich-
nete, hübsche Zeichnung zu einem Buchtitelblatt aus der Graphischen Samm-
lung zu München. Die Ähnlichkeit mit den Berliner Zeichnungen springt in
die Augen. Hier wie dort bildet der Zeichner kurze, gedrungene Füße mit wie
abgeschnitten aussehenden Schuhspitzen. Kleine Häkchen und Bogenstriche mo-
dellieren die nackten Teile. Die Linienführung ist in den Umrissen fest und
energisch, flüchtig und sprunghaft in den Details. Die Gewandteile, die Falten usw.
weisen eine flüchtige und flache Modellierung auf. Auch die Extremitäten sind
flüchtig behandelt, die Finger setzen gespreizt unmittelbar an der Handfläche ab.
Die Augen sitzen flackernd und höhlenartig. Energische Punkte geben die Höhlungen,
die Grübchen, den Nabel usw. Die Gestalten des Kriegers links auf der Münchener
Zeichnung und des „Königs“ auf der „Archimedes“-Zeichnung sind beinahe Zwillinge.
Ganz ähnlich ist die posierende Haltung, die Drehung des Beines, das Aufsetzen
der Füße auf den Boden, das fast rechtwinklige Absetzen des Unterarms vom
Körper, wobei der Oberarm mehr oder weniger verschwindet. Auf allen drei
Zeichnungen bemerken wir ein erstaunlich plastisches Herausarbeiten der Körper-
formen und eine eminente Charakterisierungsgabe. Die ruhige und absolut sichere
Wiedergabe der Architekturen, die mit aller ornamentalen Beigabe weit weniger
flüchtig gezeichnet sind als etwa die Extremitäten, verraten den geübten Archi-
tekten. Allen drei Zeichnungen ist aber auch ein gewisser manieristischer Zug
eigentümlich, das übermäßige Betonen der Gesten, Verdrehen der Körper in ihren
Achsen, das Zurschaustellen etwa der Beine, der Füße, das Herausheben der
Hauptfiguren mittels künstlicher Erhöhung, das Herausblicken zum Beschauer, die
übertriebene Unruhe, die Beweglichkeit im ganzen Bilde; wie überhaupt zur Ver-
deutlichung der Vorgänge ein etwas zu pompöser Apparat aufgeboten wird.
Diese hier mit den beiden Berliner Blättern verglichene grau lavierte flotte
Federzeichnung bringt die Vorzeichnung zu einem von К. Custos 1625 gestochenen
Titelblatt eines Buches über Kriegstechnisches 1). Weisheit und Stärke krönen mit
Palmen die Büste Justinians. Seine beiden Feldherren Narses und Belisar halten
Wacht, Gefangene schmachten im Kerker. Die geflügelten Genien sind typische,
langaufgeschossene Engeljungens. Die hervorragende Begabung für Architektur,
(1) Zween Kriegsdiskurse etc., deutsch, bei Joh. УУ. Neumayr und Кешіп, Frankfurt 1620.
234
eine etwas naive Freude, in Geste und Ausdruck zu übertreiben, wenn man die
rollenden Augen und die sprechenden Hände mit den gespreizten, gebogenen Fingern
betrachtet, springen ins Auge, aber auch anatomische Unkorrektheiten, wie z. B.
der linke Arm des Feldherrn links. Muskulaturen, durch kleine Grübchen angedeutet,
und Gelenke sind stark betont, die Bildung der Extremitäten ist flüchtig, die Richtungs-
gegensätze sind übertrieben. Die Strichführung ist ruhig und energisch.
Ausführlicher und von weit ruhigerer Haltung sind die beiden Vorzeichnungen
der Münchener Graphischen Sammlung zur hl. Elisabeth von Andex und zur
hl. Kunigunde, die R. Sadeler in getreuer Anpassung gestochen hat!). Auch hier
wird mittels zerstreut hingeworfener kleiner Häkchen modelliert, auch hier findet
sich die gleich lebhafte Mimik. Kunigunde öffnet in der Extase den Mund!
Im Stil stimmt mit diesen beiden Zeichnungen gut überein eine ebenda unter
den Unbekannten des 16. Jahrhunderts liegende, streng komponierte Federzeichnung
des Heilandes, der die Kindlein zu sich kommen läßt. Er steht mit ausgebreiteten
Armen in einem Rundtempel. Unter den assistierenden Männern und Jünglingen
erinnert ein langbärtiger Alter an den Greis auf dem Blatt der hl. Kunigunde, der
sich nachdenklich in den Bart greift. Die Kinder sehen wie Geschwister der
Engel und Putten auf K.s Gemälden aus. Manches erinnert an Sustris.
Das in der Literatur schon erwähnte Blatt der großen Vorzeichnung zu Colligrons
Stich des Besuches der Königin von Saba bei Salomon, ebenfalls in der Graphischen
Sammlung München, zeigt völlige stilistische Übereinstimmung mit dem erwähnten
Justinian-Titelblatt*). Abbildung 5. Die Figuren sowohl wie die Architekturen
sind genau so behandelt. Die Zeichnung z. B. der Augen, die der Hände und Füße
ist die gleiche. Wie dort Narses, so stemmt hier genau so jener junge Hellebarden-
träger den Arm hoch. Das gilt von der ähnlichen Fußstellung, dem etwas plumpen,
ganz geraden Abschneiden des Schuhs über dem stark herausgedrehten Fuß. Ähn-
lich ist das Abspreizen der Hände von der Handfläche weg, das übertriebene
Gestikulieren, die unruhige und doch bestimmte Führung der Umrisse. Und so wie
jene weiblichen Hermen das Zelt hinter Salomon geöffnet haben, genau so halten
und greifen die beiden Engel mit den Palmen über der Justinans-Büste. Die Sklaven
im Gefängnis stimmen völlig überein mit jenen gefangenen Kriegern des „Justinian-
Titelblattes“. Auch hier wird die Modellierung der nackten Teile mit den gleichen
flüchtigen Strichelchen und Häkchen erzielt, genau so flüchtig und doch übertrieben
im Ausdruck werden die Augen, auch der Mund hingetupft, die so viel Grimas-
sierendes in die Gesichtszüge hineinbringen. — Eine bizarre, allegorische Darstellung:
„Minerva im Kreise der Torheiten und freien Künste“ findet sich auf einer echt
bezeichneten Zeichnung der Wiener Albertina’). Abbildung 6. Im Vordergrund
ist der faule Student über seinem Buche, das der Esel auffrißt, eingeschlafen, rechts
nahen Männer der Kunst und Wissenschaft mit Alexander d. Gr., der den gordischen
Knoten durchhaut, links werden allerlei Torheiten vorgeführt, wie das Trinken aus
einem zerbrochenen Glas, Stiefelziehen über zwei Füße, Aufzäumen eines Pferdes
von hinten, Midas zwischen den Heubündeln.
Das Blatt wirkt in seiner sorgfältigen Ausführung wie ein Aquarell. Stilistisch
ist nichts Neues zu vermerken. Es sind die gleichen Vorzüge der knapp prägnanten
(1) Ziemlich genaue Gemäldekopien von Stephan Kessler, der 1622—1700 in Brixen lebte, im Ferdinan-
deum zu Innsbruck!
(2) In der Literatur oft irrtümlich Esther vor Ahasver genannt. Es ist aber der Vorgang des ersten
Buches der Könige, Kap. 10.
(3) Bez. „M. Kager von Augsburg inv. filioque suo dedicavit“.
335
Charakteristik, der Klarmachung des Vorgangs mit den gleichen Fehlern, aber die
Einzelheiten wie Augen, Nasen, Extremitäten sind weniger flüchtig ausgeführt.
Zu dem Besten aus dem graphischen Gesamtwerk gehören 13 brillante Zeich-
nungen, die das Kupferstichkabinett des Museums in Stuttgart aufbewahrt. Diese
zum größten Teil leicht kolorierten, sehr flotten und sicheren Zeichnungen stellen
in großen rapiden Umrissen das Leben Josephs dar. Sie sind von späterer Hand
numeriert und haben danach folgenden Inhalt:
1. Joseph erzählt den Brüdern seine Träume.
2. Er wird in den Brunnen geworfen.
3. Er wird an die Midianiter verkauft.
4. Die Brüder bringen Jakob den bunten Rock.
5. Joseph und Potiphar.
6. Joseph deutet dem Bäcker und Mundschenk ihre Träume.
71. Pharao läßt die Wahrsager und Weisen vor seinen Thron führen.
8. Joseph deutet Pharaos Traum ).
9. Pharao läßt Joseph im Triumphwagen fahren und vor ihm ausrufen: „Dieser
ist des Landes Vater.“
10. Die Brüder bringen Geschenke und werden reich bewirtet.
її. Die Brüder fallen vor Joseph nieder.
ı2. Joseph fällt seinem Bruder Benjamin um den Hals.
13. Joseph mit seinen Söhnen Manasse und Ephraim und seinen Brüdern am
Sterbebett Jakobs’).
Blatt 1 zieht zwei Vorgänge zusammen. Links träumt Joseph im Bett. Garben,
Stern und Mond erscheinen wie Bilder einer magischen Laterne an der Wand.
Rechts im Rahmen der Halle erzählt Joseph den Brüdern den Traum. Ein schlafender
Hund vorne. Violett-bräunlichgelbliche Lavierung.
Blatt 2, siehe Abbildung 7. Zwei machen sich mit dem bunten Rock zu
schaffen. Benjamin weist warnend zum Himmel. Bilaßrote, gelbliche, bräunliche
Lavierung.
Blatt 3. Joseph sitzt auf einem Kamel. Ein Midianiter kniet, um die 20 Silber-
linge auf einen Teppich zu schütten. Viel Grün.
Blatt 4. Jakob steht mit entsetzt erhobenen Händen vor dem Hausportal. Juda
und zwei andere zeigen ihm den blutigen Rock. Einer hinter ihnen führt heuch-
lerisch die Hand zu den Augen. Benjamin in Scham.
Blatt 5. Potiphar, mit entblößter Brust und Beinen auf dem Bett sitzend, sucht
den enteilenden Joseph am Mantel festzuhalten. Flaschen, Gläser usw. auf einem
Schenktisch links; rechts Früchte auf einem Tisch. Viel goldene Verzierungen,
grau und gelb.
Blatt 6. Links sitzt der Bäcker auf Stroh, rechts der grau gekleidete Mund-
schenk, dem Joseph (rot) den Traum deutet. Alle haben Ketten um die Füße.
Die Traumbilder in Ovalen. Wachen treten in die offene Kerkertür.
Blatt 7 sitzt Pharao im Turban mit Szepter auf seinem Thron. Joseph mit seinem
Stab steht daneben. Fünf Alte treten von rechts an die Estrade heran. Wachen
mit Lanzen schließen den Hintergrund. Viel Blau.
Blatt 8. Pharao, mißmutig im Bett liegend, fragt nach der Bedeutung des Traumes
von den sieben Kühen. Joseph ist dicht an ihn herangetreten und deutet ihm, an
den Fingern abzählend, das Traumbild.
(т) Nur grau und braun laviert.
236
Blatt 9, siehe Abbildung 8. In strenger Friesform gehalten, ist es das farben-
reichste Blatt. Der Zug wird um die Stadtbrücke herumgeführt, im Hintergrund
wird Pharaos Wagen sichtbar. Unter den vorzüglich gezeichneten gotischen Bauten
könnte der Turm rechts das alte Kreuztor in Augsburg sein. Das Blatt erinnert
an Amberger.
Blatt 10, siehe Abbildung 9. In weiter Renaissancehalle sitzt rechts Joseph allein
unter einem Baldachin. Benjamin, mit gehäuftem Teller!) ihm gegentiber, erkennt
ihn. Im mittleren offenen Arkadenbogen sieht man die Brüder vor Josephs Ver-
walter mit ihren Gaben niederknien. Knochenartiges Knorpelwerk ornamentiert
den Bogensims.
Blatt ır. Wie etwa Bassano in einer Anbetung die hl. drei Könige darstellt,
liegen hier die Brüder platt am Boden. Rechts in der Tür sieht man Kamele.
Blatt 12. Benjamin steht in Ketten an den Händen innerhalb einer Loggia vor den
Brüdern, von denen die älteren von Bewaffneten eine Treppe hinaufgeleitet werden.
In einer zweiten Loggia wird der Bruderkuß und die Verzeihung geschildert.
Blatt 13. Joseph stützt mit seinem Arm den sterbenden Jakob, während er mit
der Rechten den Schwur leistet. Neben ihm steht eine Amme mit den beiden
kleinen Söhnen. Fünf köstliche Gefäße auf langer Lade, dahinter die elf Brüder.
Wie die Oper „Joseph in Ägypten“ rauscht das Ganze in mächtigen Akkorden,
knapp und bedeutsam erzählt, an uns vorüber. Man liest wie in einem Buche.
Die Auffassung ist überraschend groß und edel. Die Kompositionen sind auf
das geschickteste in die Fläche hineinkonzentriert, als seien die teilweise qua-
drierten Blätter Vorzeichnungen für Fassadenmalereien. Die weit und geräumig
empfundenen Renaissanceräume sind Geschwister jener, die einst am Weberhaus
von Kager ausgeführt waren. Überall begegnen wir dem gleichen sicheren Archi-
tekturgeftihl, der sicheren Kenntnis der Form, der gleichen Gliederung der Füße.
Arkadenbogen trennen und zerlegen geschickt in getrennte Räume. Kagers Phan-
tastik spielt auch hier eine Rolle und liebt auch hier viel anschauliches Detail, er
erzählt überall und gern in gleich naiver Weise, wie wir es von seinen gemiit-
vollen Anbetungen her kennen. Er vereinigt auch hier italienisches Formgefühl,
das er als Architekt bewundert und kennt, mit deutscher gemütvoller Erfindung.
Daß Kager der Zeichner ist, erhellt aus einem Vergleich mit seinen bekannten
Zeichnungen, z. В. des Blattes Nr. 9 mit der Zeichnung der Begegnung Salomons
und der Saba. Wir entdecken dieselben Typen, die gleichen alten, bärtigen Männer,
die gleichen, oft zu lebhaften Gesten und Gebärden. Die Ornamente des Potiphar-
blatts sind die gleichen weichen, teigartigen Knorpel, die auf Salomons Thron-
himmel angebracht sind. Die Architekturen, ihre Gliederung, ihre Motivierung ist
genau so empfunden. Auch sind die Figuren selbst ebenso genialisch hingestrichelt,
nervös, fast hastig, nur in eiligen flüchtigen Strichen gegeben und doch groß und
außerordentlich eindrucksvoll aufgefaßt. Wir bewundern auch hier jenes Geschick
Kagers, Massen zu gliedern und zusammenzuhalten, in rapsodischen Linien das
Wesentliche der Begebenheit zu bringen. Oft ist man vor diesen Blättern ver-
sucht, an weit jüngere Zeichner, an die Nazarener, die in der casa Bartholdi ja
diese Szenen dargestellt haben, an Richters, an Schwinds Romantik zu denken’).
(1) Er erhielt fünfmal mehr als die anderen.
(2) Josephs Geschichte wurde gern behandelt. Schon L. von Leyden hatte sie in Tempera gebracht
(Beets: L. von Leyden, 8. 104). Meyers Künstler-Lexikon erwähnt, daß Amberger 12 große Leinwand-
bilder lebenswahr und plastisch in Tempera gemalthabe; Sandrardt beschreibt sie. Diese Beschreibung
trifft nirgends auf unseren Zyklus zu. Siehe auch Hassler, Der Maler Chr. Amberger, Königsberg 1894.
237
Im Vergleich mit diesen Stuttgarter Zeichnungen wirken vier im Besitze S.D. des
Fürsten Fugger-Glött befindliche Miniaturen, deren Abbildungen hier sämtlich ge-
geben werden (Abb. 10—13), in ihrer gleichmäßig sorgsamen und durchgebildeten
Ausführung wie Gemälde. Sie hängen gerade auch im Kolorit so eng mit Kagers
frühen Bildern der Augsburger Zeit zusammen, daß, wären nicht zwei von ihnen
ausdrücklich signiert, schon diese stilistische Übereinstimmung zwingend auf Kager
hinweisen würde. Das helle, etwas harte, aber nicht bunte Kolorit, die flotte und
charaktervolle Zeichnung, die anmutige Liebenswürdigkeit der Erfindung und Er-
zählung, die gegenständlich getreue Schilderung und auch die Freude an mehr
nebensächlichen Einzelheiten bestechen und fesseln. Anklänge an fremde Vor-
bilder fehlen auch hier nicht ganz. So wird man bei der im übrigen echt deutsch
empfundenen Heimsuchung!) (s. Abb. 10) auf A, del Sarto hingewiesen, wobei
aber die durch Stufen erhöhte Bühne, die Figur der kauernden Dienerin, die flüch-
tigen sicheren Architekturen typisches Requisit der Ubergangszeit sind. In der be-
wegten Verkündigung?) (Abbildung 11) lassen sich römische und florentinische Vor-
bilder denken, die Jahreszahl hier (1609) dürfte für alle vier Bilder zutreffen. Denn
die Anbetungs-Bilder in Augsburg vom gleichen Jahr gehören derselben Stilstufe
an. An gute Quattrocentisten, aber auch an aus der gleichen Quelle schöpfende
spätere deutsche Illustratoren wie L. Richter, erinnern die beiden Miniaturen der
Anbetung der Könige (s. Abb. 12) und der Geburt Christi (s. Abb. 13). Gerade in
ersterer finden wir wieder jene Vorliebe für lebhafte Gesten, erregtes Augenspiel
und dergl., die uns Zeugnis sind von Kagers Bemühungen um Ausdruck und gei-
stige Vertiefung, die ihm schon oft nachgerühmt werden konnte. Das Wappen auf
der Anbetung sagt uns, daß diese entzückenden Miniaturen in die Zeit Gregors XIII.
fallen. Sie waren wohl sicher für Marx Fugger bestimmt, der ja auch ein Porträt-
blatt von sich für Hainhofers Stammbuch bei Kager malen ließ, Sollten nicht
auch auf unserer Miniatur die beiden über das Säulenpostament gelehnten Männer
mit ihren individuellen Köpfen Porträts sein? — Die Farben sind überall dünn,
hell und zart in diesen liebenswürdigen Aquarellen?).
Nach Schulze entwarf Bronzino mit Raf. del Colle Tapeten für den Palazzo Vecchio, die teilweise noch
dort sein sollen, mit gleichem Inhalt. Hat Kager sie gesehen? 8. Abb. Bollettino d’arte Ш, 1909.
Die Gestalten Bronzinos gleichen unbekleideten Heroen.
(1) Bes, M. K. F. mit undeutlicher Jahreszahl 16. .
(a) Bes. M. K. F. MDCIX.
(3) Vier prachtvolle Miniatures der Münchner Residenz behalte ich einer späteren Veröffentlichung vor.
KARL FRIEDRICH SCHINKEL ALS LAND-
SCHAFTSMALER =! scht Abbildungen auf Von ECKART v. SYDOW
.o.u.u..090900090.000000000000000090000000009000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000P0000000000 0000000000986
er traditionelle Ruhm dieses großen Menschen wird nicht von einer umfang-
D reichen Literatur kunsthistorischer oder rein ästhetischer Art getragen oder
auch nur bestärkt. Das, was seit dem Verlöschen der eigentlichen Schülerschaft
immer wieder zu seinem Gedächtnis zurückführte, war die Not der jeweiligen
Gegenwart, die zu architektonischen Leistungen gezwungen wurde, ohne doch zu-
gleich mit jenem baukünstlerischen Talente begabt zu sein, das die Voraussetzung
wahrhafter Vollbringung ihrer Aufgaben gewesen wäre. Wegweisung und Hilfe
suchte sie nun bei dem, der allerdings noch seinen Bauten gleichsam melodischen
Fluß einzugießen vermochte, — als Zeitgenossen des Philosophen Schelling, der
die Architektur als erstarrte Musik definierte. Ward auf solche Weise weniger die
Gleichheit des praktischen Bediirfnisses, als vielmehr das Bewußtsein eigener
Hilflosigkeit in einem ausschließlich malerhaft und musikalisch begabten und inter-
essierten Geschlechte der Anstoß zum Studium Schinkelscher architekturaler Pla-
nungen, so entsprang aus der gleichen Situation die entgegengesetzte Einstellung
hinsichtlich seiner malerischen Leistungen. So ist denn zwar nicht allzulange
nach Schinkels Tod ein kurzer Aufsatz über seine Malerei erschienen!), aber seit
jener Zeit hat sich kein Kunsthistoriker oder Ästhetiker die Mühe genommen, die
malerische Hinterlassenschaft des so oft an den Tagen des Schinkelfestes Gefeierten
einmal näher zu betrachten und ihre Entwicklung präziser zu untersuchen.
Die folgenden Ausführungen beschränken sich zunächst darauf, den Entwick-
lungsgang der Malkunst Schinkels auf ihrem wichtigsten Gebiete mit möglichster
Genauigkeit zu beschreiben. Der Zusammenhang mit anderen Künstlern,
sowie die Analyse der übrigen Sonderbezirke der Schinkelschen Malerei (Figuren-,
Panoramen-Malerei) und dann seiner Zeichenkunst, soll besonderen Untersuchungen
vorbehalten bleiben.
Die frühesten Arbeiten Schinkels sind kleine Gouache-Bildchen, deren Mehr-
zahl (11 Stück) sich im Besitze der Familie von Quast in Radensleben (Kr. Neu-
Ruppin, Prov. Brandenburg) befindet ).
(1) Woltmann: „Schinkel als Maler“, Zeitschrift für bildende Kunst, III. Band. — Neben Woltmann
kommen in Betracht: Theodor Fontane: „Wanderungen durch die Mark“. — Franz Kugler:
„R. Fr. Schinkel“, Berlin 1842. — Hans Mackowaky: „Brüderstraße 29‘, in Kunst und Künstler
1919, Septemberheft, bes. S. soo ff. — Gustav Pauli: „Schinkel“, in Kunst und Künstler VII, S. 299 fl.
— Paul Mahlberg: „Schinkels Theaterdekorationen‘‘, Greifswalder Diss. 1916. — Gustav Friedrich
Waagen: „K. Fr. Schinkel als Mensch und als Künstler“, in s. Kleinen Schriften, Stuttgart 1875, —
Alfred у. Wolzogen: „Schinkel als Architekt, Maler und Kunstphilosoph‘“, Berlin 1864. — Мах
Georg Zimmermann: „Schinkels Reisen nach Italien und die Entwicklung der künstlerischen Italien-
darstellung“, Sonderdruck aus den Mitteilungen des kunsthistorischen Instituts in Florenz. Leipzig,
Verl. R. W. Hiersemann, 1917. — Nach Abschluß des Aufsatzes kommen mir die kurzen Ausführungen
von W. Kurth zu Gesicht über: „Schinkel als Landschaftamaler“, in Kunst für Alle, 1920, Oktober-
Novemberheft (wichtig durch gute Abbildungen).
Abkürzungen bedeuten: А. v. W. == Alfred v. Wolzogen: „Aus Schinkels Nachlaß“, 4 Bde.,
1863 ff., Berlin. — B.-S.-M. = Beuth-Schinkel-Museum in der Berliner Technischen Hochschule in
Charlottenburg. — М. = Mappe der Sammlung dieses Museums. — Ziller = Hermann Ziller:
„Schinkel“, in den Knackfuß-Monographien im Verlage von Velhagen & Klasing, 1897.
(2) Ehemals der Familie von Rathenow in Plänitz (Provinz Brandenburg) gehörend, sind sie von dem
Konservator der Provinz Brandenburg, v. Quast, um 1869 erworben worden. Vgl. Zeitschr. f. Bau-
wesen, 20. Bd, (1870.)
239
In öffentlicher Sammlung scheint sich nur ein einziges, nicht tadelloses Blättchen
dieser Art zu finden: im Beuth-Schinkel-Museum der Berliner Technischen Hoch-
schule. Die anderen Arbeiten erscheinen zwar infolge ihrer besseren Erhaltung
auf den ersten Blick als wesentlicher, — tatsächlich ist das Berliner Blatt das
beste dieser Gattung, die den Jahren 1797 bis 1799, also dem 16. bis 18. Lebens-
jahre Schinkels, entstammt.
Die Durchschnittsgröße dieser Arbeiten ist etwa 12:16 cm. Sie sind eingefaßt
von breitem dunklen Rahmen, der in einigen Fällen dunkelfarbig marmoriert ist
und durch verschiedenfarbige Innenleisten den Eindruck der Plastik mehrfach vor-
zutäuschen sucht. Ihre Farbigkeit ist im allgemeinen hell und leuchtend, — da
es sich um Gouache handelt, freilich auch undurchsichtig, sozusagen innerlich
stumpf, trotz ihrem Glanze. So fehlt ihnen durchweg das atmosphärisch Fließende
des Lichtes, wie auch die stärkere Intensität innerer Beseeltheit. Ebenso wie das
Licht zum Effekt geworden ist, der dekorativ verwertet und verwendet wird, so
ist auch die Naturstimmung durch die dekorative Tendenz geschwächt. Immerhin
lebt in einigen dieser zarten und farbreichen Blättchen innerlich ein noch stärkeres
Gefühl für die reale Natur, als in den späteren, umfänglicheren Ölgemälden der-
selben, gereifteren Hand. Mit pünktlicher Sorgsamkeit sind auch so früh schon
die Dinge dargestellt und im einzelnen ausgeführt. — Ganz kurz beschreibe ich
nun diese Blätter.
т. Landschaft (10,3:16 cm; bez., dat. 1797). Im Vordergrund fließt graugrünes
Wasser, in welchem ein rotgekleideter Mann Kahn fährt, — den Mittelgrund nimmt
ein gelbgrauviolettes Haus, links von bräunlichviolettem Fels, rechts von gelbgrau-
violettem Quai vor blaugriin bewachsener Felshöhe flankiert ein, — im äußersten
Hintergrunde zeigt sich rechts ein violetter Berg; der Himmel ist blau mit grau-
violetten Wolken. Das neutrale Licht kommt von links. Es fließt gleichsam über
das Bild hinaus, denn auch die Umrahmung beweist seinen Einfluß, da die Innen-
leisten rechts und oben gelblich, unten und links aber schwarz gefärbt sind. Der
breite „Rahmen“ ist dunkelgrau, und seinerseits wiederum durch vier gleichmäßig
schwarze Außenleisten umrahmt.
a. Landschaft (8,2 : 10,7 cm; bez., dat. 1797). Im Vordergrund steigen dunkel-
braune Hügel zu beiden Seiten an, zwischen ihnen beginnt vorn ein heller, gelb-
licher Weg, der weiterhin zwischen blaugrünen Wiesen verläuft, aus welchen
braune und weiße Rinder, weißliche Weidenstämme sich hervorheben, — links
davon ein heller Wasserstreif, der hinten von bläulichgrünem Inselufer begrenzt
wird, — im Mittelgrunde dann ein rötlich bedachtes Haus, — im Hintergrunde in
weiter Ferne violette Berge und darüber ein blauer Himmel mit rötlichen Wolken,
die von links her beleuchtet sind; wie denn auch über der violetten Höhe links
eine größere Helligkeit schwebt. So ist auch der grauviolette Marmorrand innen
mit schmalen Leisten versehen, die links und oben dunkelgrau, rechts aber und
unten hellgelb gefärbt sind.
3. Der Meerbusen von Neapel mit dem Ätna (12,7:17,2 cm; bez., dat. 1798).
Im Vordergrund zieht sich eine bläulichgrüne Wiese hin, auf der weiße Lämmer
weiden, dann weiterhin links blaugrünes Gebüsch in tieferer Lage, wie auch auf
einer Anhöhe auf der linken Seite, — im Mittelgrunde liegt das rötlich besonnte
Neapel unten am Meer und zieht sich auch nach oben hin zum Berge, in weiterer
Ferne dehnt sich wiederum blaues Meer und dahinter erhebt sich rötlichviolett
der rauchende Ätna, aus dessen Öffnung oben eine kleine graue Wolke aufsteigt
in den Himmel, dessen Bläue von rosig schimmernden Wolken gefleckt wird.
240
TAFEL 36
Abb. 1. K. Fr. Schinkel: Antikes Opferfest. 1805—1807 (?)
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Abb. 2. K. Fr. Schinkel. Landschaft. 1798.
Zu: Eckart von Sydow, Karl Friedrich Schinkel als Landschaftsmaler.
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4. „Potsdam beim Sonnenaufgang, von den Babelsbergen nach der
Seite von Novavess gezeichnet von Schinkel 98“ (so von Schinkel selbst
unterschrieben; 11,5:16,5 cm). Im blaugrünen Gebiisch des Vordergrundes stehen
zwei blaugekleidete Gestalten, dann folgt der Blick über eine hellgrüne Wiesen-
fläche hingehend einem Gebüschstreifen, der, schräg in die Wiese hineinstoßend,
seinen Ausgang bei einer Mühle auf der rechten Seite hat, — in weiterer Ferne
fließt ein blauer Strom, hinter dem eine vor violetter Anhöhe gelegene rötliche
Stadt auftaucht. Darüber ein blauer Himmel mit rötlichen Wolken. Überall ist
die Luft dieses Bildchens durchsonnt; rotes Licht hängt überall: im Laub der
Birke, im Grün des vorderen und des entfernteren Gebtisches, an der Mühle usw.
Auch der Rahmen nimmt an dieser Beleuchtung teil: rechts und oben sind die
Innenleisten rot, links und unten schwarz gefärbt.
5. Landschaft (10: 15,5 cm; bez, dat. 1798). Im Vordergrund steht eine helle,
bräunlichgrüne Trauerweide, dahinter dunkleres, grünes Gebüsch, im Mittelgrunde
eine hell bräunlichviolette Turmruine und Brücke, die auf der einen Seite leicht
ins Rötliche übergeht, vor graugrünem Gebüsch. Über die Brücke treibt ein röt-
lich gekleideter Hirt graue, braune und weiße Rinder. Diese Laudschaftlichkeit
liegt vor grauweißrötlichem Wolkenhimmel, ist aber an sich ohne rötliche Betontheit.
6. Landschaft (Abb. 2), — im Beuth-Schinkel-Museum (23:27 cm; bez., dat. 1798).
Unter einem großen Baume des Vordergrundes lagern und weiden weiße Rinder
gehütet von rotgekleidetem Hirt, — im Mittelgrunde fließt ein breiter, heller Fluß
zwischen hohen Ufern hin, — im Hintergrunde erheben sich weichverschwimmende
violette Berge vor einem glatten, unten rötlichen, oben ins Bläuliche sich ver-
färbenden Himmel.
7. Landschaft (12:18,3 cm; bez., dat. 1799). Im Vordergrunde liegen graue
Ruinentrümmer, den Mittelgrund nimmt eine hellschimmernde, grünliche Wiese, mit
braunen Rindern staffiert, ein — den Hintergrund violettes Gebirge. Der Himmel
ist unten rötlich und wird nach oben hin blau und ganz oben wolkig-grau.
8. Landschaft (14,2:19 cm; bez., dat. 1799). Im Vordergrunde läuft ein
brauner Weg (auf dem ein rotgekleideter Bauer geht) zwischen blaugrüner Wiese
in der Richtung auf graue Wände eines Gehöftes hin, hinter welchem wieder blau-
grüne Bäume, — dann im Mittelgrunde eine hellgriine Wiese mit rot und blau
gekleideter Gesellschaft von vier Personen, — im Hintergrunde eine rötlich be-
leuchtete Ebene folgen, an deren Rande große Kirchengebäude liegen vor violett-
rötlichem Himmel. |
9. Landschaft (oval, 7,5:10,5 cm; bez., dat. 1799, Dezember). Auf grünlich-
braunes Gebüsch des Vordergrundes und die ebenso gefärbte Ebene durchfließen-
den weißlichen Bach folgt im Mittelgrunde ein rötlichvioletter Turm mit flachem
Schutzdach vor hellgriinlichem hohen Gebüsch und (weit hinten) hellvioletten
Bergen.
то. Landschaft (15:19 cm; Reste der Bezeichnung und des Datums 1799 noch
erkennbar). Im Vordergrunde liegen blaugrtine Hügel, im Mittelgrund eine hell-
belichtete, graugrüne Hütte, dahinter eine violettblaue Turm-Ruine, rechts davon
fällt der Blick auf weißlichen Strom mit graugrünen Inseln, — im Hintergrunde
erheben sich grau und violett verschwimmende Berge. Der Himmel darüber ist
hellfarbig mit scharf sich abhebenden weißen Wolken.
11. Landschaft (9,5:13,5 cm; unbez., undat). Im Vordergrunde vor dumpf-
getönter, graugriiner Wiese, die von grauem Weg durchschnitten wird, stehen links
zwei rot und blau gekleidete Gestalten, in größerer Höhe ein roter Reiter, dann
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. IL 1921. 16 241
mehr rechts zwei Baumgruppen (zwischen denen der Weg ins Helle des bliulich-
rötlichen Himmels mündet), an die sich dann rechts ein dunkler Wald anschließt.
12. Landschaft (9,5: 14,5 cm; unbez., undat.) Im Vordergrunde lagern graue
Trümmer, erheben sich hellblaugriine Trauerweiden, die ihr weißes Laub in den
blauschwarzen Fluß herabhängen lassen, der das Bild durchquert; weiter zurück
liegt eine rotviolette kleine Felswand, mit blaugrünen Pflanzen bewachsen, vor
grünlichbraunen Bäumen. Der Himmel ist einfach blau. Das Bild ist vorn staf-
fiert mit zwei blauen und weißen Figuren.
Bei diesen frühen Gouachearbeiten herrscht manchmal noch eine intensive Natur-
stimmung, so auf der Neapeler Ansicht; zumeist aber ist doch die Dekorativität
ausschlaggebend. Die Stimmung ist durchweg idyllisch; das Dramatische fehlt
ganz. Zumeist tragen die Landschaften stidländischen Charakter, nur bei zwei
Darstellungen möchte von romantisch -intimem und niederländischem Typus die
Rede sein, der durch die Verminderung der roten Belichtung und die Staffierung
mit Ruinen in nördlicher Landschaftlichkeit gekennzeichnet ist. So beginnt also
die Landschaftskunst Schinkels mit zwei Richtungen seiner Sinneseinstellung: auf
das Nördliche und das Südliche, wobei die letzte Tendenz sich als die stärkere er-
weist; beide Richtungen aber werden nicht auf das Natur-Studium gerichtet, sondern
gewinnen ihre Bedeutung (für Schinkel) sogleich durch das Siegel des Dekora-
tivismus. Allerdings einer Dekorativität, die zugleich das ganze Weltleben in sich
einbeziehen möchte und immer den Sinn für das Komische, wenn auch tiberwiegend
auf das Irdische eingestellt, offen hält. Denn immer wieder wölbt sich der Himmel
hoch und groß über der Landschaft, — freilich mit einer Höhe und Größe, die
sozusagen dekorativ irgendwie zu „bloßem Schein“ geworden ist.
Die Organisation des Bildaufbaues ist noch nicht so konsequent und klar wie
später. Man spürt noch eine Unbestimmtheit innerlicher Art, die dann ins Spiele-
rische hintiberleitet, zum mindesten in der Farbgebung, weniger deutlich im Linien-
aufbau. Ein gewisser Schematismus ist in der Belichtung unverkennbar. Nicht
nur, daß es sich regelmäßig um sonnighelle Landschaften handelt, in die das Licht
aus unsichtbarer Quelle von links hereinflutet, — auch die Art und Weise der
Lichteffekte ist prinzipiell festgelegt: Dämmerungsbeleuchtung erfüllt die Welt mit
dem rosigen Schimmer ihres auf- oder untergehenden Gestirns. So sind denn die
Schatten lang und scharf gezogen, und die Dinge haben jenen eigentümlichen
Schmelz an sich, den ihnen in der Tat das Dämmerhafte verleiht. Doch ist es
nicht so, als habe die Naturstimmung als solche diesen Maler zu seinen farbigen
Köstlichkeiten hingeführt, sondern den Ausgang muß seine Farbphantasie vom
juwelenhaften Leuchten genommen haben, — das Stimmungsvolle ist eher die
logische Folge der Suche nach einem Darstellungsgegenstand.
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In dem gleichen Besitze, wie die Mehrzahl der besprochenen Gouache, befinden
sich zwei größere Gemälde aus etwas späterer Zeit, mit denen eine neue Epoche
Schinkelscher Kunst eingeleitet wird. Es handelt sich zunächst um ein Bild eines
wohl als Museum gedachten „Gebäudes in freier Landschaft“ (38:51 cm).
Die Farbe ist freilich so gut wie aufgezehrt. Erkennbar bleiben aber der Bau
rechts mit einem Reiterstandbild auf hohem, mit Relieffries umschlungenem Sockel,
links davon eine Baumgruppe, durch deren Stämme hindurch der Blick auf das
Meer fällt. Die Staffage dieser architektonischen Phantasie bilden mittelalterlich
Gekleidete. —- Besser erhalten ist ein anderes Bild, das auf der Inschrifttafel unter-
342
halb des eigentlichen Bildes halbverwischt die Aufschrift trägt: „Entwurf zu
einem Museum“. Dies Gemälde (43:59 cm) ist bezeichnet und mit 1800 datiert.
Im Vordergrund dehnt sich grünbräunliches Gebüsch auf einer ebenso gefärbten
Terrasse aus, — den Mittelgrund nimmt grünliches Wasser und das hellere Ge-
bäude ein, das sich vom Hintergrunde blauer Berge abhebt. Der Himmel ist gelb-
lich, ohne bestimmte Sonnigkeit. Der Aufbau dieses Bildes vollzieht sich so, daß
über dem breiten, grauen, mit graublauer Inschrifttafel versehenen Sockel dunkle,
warme Töne des Vordergrundes lagern, von welchen sich einige menschliche Ge-
stalten (hell rötlich und bläulich und gelblich gewandet) präzis abheben mit ge-
wisser dekorativer Festlichkeit ihrer Erscheinung, während dartiber die Masse der
Gebäudes hell und kühl emporsteigt. Es ist hier bezeichnend für die fortgeschrit-
tene Systematisierung der Malkunst Schinkels, daß die Farbe der vornstehenden
Bäume und ihres fächerhaft ausgebreiteten Baumschlags braun, die der dahinter-
stehenden grün ist, — so entwickelt sich die Farbperspektive oder vielmehr deren
schematisierender Ersatz.
* *
*
Nun unterbricht eine jahrelange Pause die Produktion Schinkels, — wenigstens
sind aus den Folgejahren Gemälde nicht bekannt, und auch die beiden soeben auf-
geführten Arbeiten fallen ja eigentlich eher ins architekturale als ins malerische
Gebiet. Erst die Italienreise (1803—1805) belebt seine malerische Tätigkeit von
neuem. Viele Reiseskizzen, deren Charakter M. G. Zimmermann in seiner Ab-
handlung „Schinkels Reisen nach Italien und die Entwicklung der künstlerischen
Italiendarstellung“ besprochen hat, bleiben als Zeugen seiner Fahrt. Malerische
Arbeiten geben z.B. die „Böhmische Gebirgskette in der Abenddämmerung
in der Nähe von Geiersberg“ in Gouache (24: 39,5 cm; B.-S.- M., M. II, 2) wieder.
In symmetrischem Aufbau ist der gelbbräunliche Vordergrund flach nach oben
gewölbt, flankiert auf beiden Seiten durch bräunlich dunkle Tannenwaldhöhen, —
im tieferen Mittelgrunde liegt grünlichbläulich die Ebene, aus der dann weiter
zurück blaue Berge emporsteigen in den Himmel, der sich in der Mitte gelb öffnet,
sonst aber von grauen Wolken bedeckt ist. — Weit farbiger ist eine „Ansicht von
Triest“, ein Aquarell (26:41,5 cm; B.-S.-M., M. Ib, 27, Abb. in Ziller, 8.6). Auch
hier handelt es sich um Spätabend-Beleuchtung, die den Himmel mit graubläulichen,
orangenen und violetten Wolkenflächen überdeckt; durch die Aste von zarten, weit-
gebreiteten Baumkronen scheint er hindurch, während sich unter ihm bläuliches
Meer und Gebirge und braunrötliches Stadtbild ausdehnt; im Vordergrund läuft
schräg ins Bild hinein ein brauner Weg, auf dem ein Paar rotgekleideter Mädchen
wandern. Dieses Aquarell ist eine der besten Leistungen Schinkels, lebendiger
als das vorhergenannte aufgefaßt und wirklich in seinem Stimmungsgehalt intensiv
erlebt, — während jenes andere zu ausschließlich den dekorativen Reiz der Farbe
betont.
Nach der Rückkehr Schinkels aus Italien entstehen dann — wohl von 1805
bis 1807 — unter dem Eindruck der Gemälde A. Kochs, den Schinkel in Rom
kennen lernte, zwei wirklich’ bildhaft große Werke: „Antike Stadt an einem
Berge mitOpferszene“ (Gouache; 63:97 cm; B.-S.-M.; Abb. 1) und als Erinne-
rungsbild aus persönlichem Erlebnis heraus!), eine „Ansicht von Taormina
nebst Ätna und Meer“ (Öl; 120:186 cm; B.-S.-M.). Beide Werke sind ganz
(1) А. v. W. I. 110.
243
erheblich nachgedunkelt. Der Gesamtton des ersten Werkes ist freskohaft, weich
und kühl. Die Gebäude heben sich aus seinem Blaugrünbraun als hellbräunlich
heraus. Einzelne Stellen sind von Wert, so etwa die zurückgelegene Landschaft
links vom Tempel mit ihrer schönen Idyllik des Waldsees. Die Ansicht von
Taormina läßt sich freilich infolge ihrer ungemein starken Nachdunkelung kaum
beurteilen. Doch ist interessant die Wärme ihres Tons und die goldgelbliche
Abendbeleuchtung (durch die vom Baumwipfel verdeckte Sonne), aus der sich der
Vorder- und Mittelgrund grünbräunlich, der Hintergrund mit seinen Gebirgigkeiten
grünbläulich abheben.
* *
*
Ganz anders aber, als auf diesen beiden heroischen Landschaften, gibt sich
Schinkel auf ein paar kleineren, aber viel wichtigeren Bildern. Diese Arbeiten
dürften zwischen 1807 und 1809 entstanden sein, — gleichzeitig mit seinen großen
Panoramen und Dioramen, die er für die Ausstellungen von W. Gropius malte.
Da ist zunächst ein größeres Ölgemälde „Aussicht auf das adriatische Meer
von den Triester Gebirgen“ (Abb 3; — oval, auf dunklem, viereckigem Grund;
52:98 cm; unbez., undat.; B.-S.-M.). Diese Ansicht ist nun wesentlich anders, als das
obengenannte, ähnlich betitelte Aquarell. Alles Stimmungshafte ist verschwunden.
Kühl und hell liegt das Gebirge vorn und weiter hinten das Meer panoramahaft
vor uns und einer kleinen Menschenschar, die lebhaft gestikulierend nach Triest
hinweist, das in weiter Ferne erkennbar ist. Felsen und Vegetation, die zum
tieferen Tal hinunterführen, sind graugrün, wärmere Töne beleben Meer und Stadt,
um in den Wolken, welche links oben die Sonnenstrahlen undurchdringlich ab-
blenden, wieder kälter und grau zu werden.
Wie dies Bild einen starken Eindruck der Reise!) festhält, so geschieht dies
auch auf einem der interessantesten Gemälde Schinkels, einer „Aussicht vom
Aschenkegel des Vesuv auf den Golf von Neapel“ (Abb. 5; — 36:64 cm;
unbez., undat.; B.-S.-M.) ). Es ist die Bildfläche diesmal in große, zumeist hori-
zontal laufende Streifen derart aufgeteilt, daß vorn graues Gelände links hin zum
braunen Krater hinaufführt, dann braunes, gleichmäßig hohes, welliges Gelände
sich erstreckt, das dann als gelblichgrauer Strand zum blauen Meere hin abfällt;
den hellblassen Himmel färben graue Wolkenmassen, die aus dem Vulkan auf-
steigen. Die Einzelheiten dieses Bildes sind nicht genauer ausgeführt. Die Pinsel-
striche scheinen verhältnismäßig breit und lang geführt zu sein. Doch macht die
Landschaft bei längerer Betrachtung einen irgendwie unfesten Eindruck, der sich
wohl aus der dekorativen Absicht des Malers ergibt.
Gleichzeitig muß auch „Stubbenkammer auf Rügen“ (Abb. 4; — 45:66 cm;
unbez., undat.; B.-S.-M.) entstanden sein, dessen graugrünlicher, kalter Gesamtton
und allgemeine Helligkeit, die verwaschen wirkt, dieses Bild der Triester Ansicht
beiordnen.
Da man bei der vorderhand immer noch ungenügenden Übersichtlichkeit der
Malerei vom Anfang des vorigen Jahrhunderts nur mit Vorbehalt Urteile ver-
gleichender Bewertung fällen darf, so kann die gegenwärtig mögliche und not-
wendige Einschätzung dieser frühen Schinkelbilder nur vorläufige Geltung be-
anspruchen. Mit dieser Einschränkung muß man diese Arbeiten nicht bloß als
(1) A. v. W. I. 6f. und ant,
(2) Vergl. Brief in A. v. W. I, 66.
244
geringe Nebenläufer der Leistungen C. D. Friedrichs, sondern weit höher als
selbständige Werke von Rang betrachten. Etwas Neues und Eigenes scheint
Schinkel in dieser Vereinigung von Realistik mit großem Stil aus sich heraus ge-
schaffen zu haben, das ihn ehrenvoll in die vordere Reihe der damaligen deutschen
Landschafter stellt.
Der Glanz der Gouachefarbigkeit ist in ihnen zurlickgetreten. Sachliche Härte
und Nüchternheit prägt ihnen das Kennzeichen auf. Was ihnen an differenziertem
Farbenreiz abgeht, sucht eine stark glänzende Firnisschicht zu ersetzen; — eine
Gepflogenheit, der Schinkel übrigens auch späterhin treu blieb.
Am Ende wohl dieses Jahrzehntes entsteht die stark nachgedunkelte „Wald-
landschaft mit badenden Kindern“ (33:37 cm; unbez., undat., В.-8.-М.). Dar-
auf deutet der noch altertümlich feste Baumschlag, die idyllisch ruhige Stimmung,
sowie die verhältnismäßige Primitivität der Ausführung hin, — ich möchte es
kurz vor den „Gotischen Dom hinter Bäumen“ (Federzeichnung im B.-S.-M.; abgeb.
in Ziller, S. 14) setzen.
Die großen Panoramen und Dioramen selbst sind anscheinend verloren ge-
gangen, — außer einigen Skizzen im Beuth-Schinkel-Museum. Nur ein einziges
dieser großen Arbeiten, „Die Küste von Genua“ mit frei dazu komponierten
gotischen Klosterruinen und Grabmonumenten unter Buchen rechts im Vorder-
grunde“ von 1809, ist im Depot der Berliner Nationalgalerie aufbewahrt, aber seit
langem verborgen unter anderen darüber gerollten Riesenkartons'). Es handelte
sich bei diesen Werken hauptsächlich um die getreue Darstellung von Städten der
antiken Welt und des Auslandes. Man berichtet von künstlicher, durchscheinender
Beleuchtung und unsichtbarer Vokalmusik; es ergab sich mithin eine Art Gesamt-
kunstwerk, in welchem freilich die Architektur den Ausschlag gab. Die Zeit dieser
perspektivisch-optischen Arbeiten dauerte im wesentlichen von 1807 bis 1815).
Eine Vermittlerrolle zwischen diesen umfänglichen Werken und den späteren
Staffeleibildern spielen die neuerdings von Н. Mackowsky*) veröffentlichten großen
sechs Wandbilder, die Schinkel 1813 und 1814 für ein Berliner Haus gemalt
hat und die in der Berliner Nationalgalerie aufgestellt sind. Es ist interessant, zu
sehen, daß die qualitätvollsten Stücke gerade Bilder der Dämmerung sind: „Morgen“,
„Abenddämmerung“; die „Nacht“ hat doch einen etwas zu dumpfen Ton. Im
„Morgen“ ist der Vordergrund in sattem Grün und Braun, der Mittelgrund als
bläulicher und rötlicher Seespiegel, der Hintergrund mit grünlich- und rötlich-
violettem Gebirge und Himmel gegeben.
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Daneben geht in den letzten Jahren die eigentlich malerische Arbeitsamkeit
Schinkels einher, in welcher nun diejenigen Werke entstehen oder sich vorbereiten,
die mit Recht als wahrhaft schinkelhaft gelten und zu gelten haben.
Ein „Gebirgssee mit Fischerbooten“, aus denen Netze ausgeworfen werden,
(76:102 cm; bez., dat. 1812; im Besitz von Herrn von Treskow, Friedrichsfelde
bei Berlin)“) läßt das Bild, besonders stark im Vordergrunde, von bläulichgrünem
(1) A. v. W. Ш, 400, IV, 338, Nr. 4.
(2) A. v. W. II, 344 ff., Ш, 409 und Fr. Kugler: „К. F. Schinkel“, S, 137—151; ich werde das er-
haltene Material an Zeichnungen und auch die diesbezüglichen Zeitungsberichte über diese Panoramen
und Dioramen in einem besonderen Aufsatz behandeln,
(3) in „Kunst und Künstler“, 1919.
(4) Kopie in Berlin, Nat.-Gal.; eine Zeichnung im B.-S..M., abgeb. in „Kunst u. Künstler“ 1919, S. 497.
245
Gesamtton beherrschen, dann aus dem See und seinem bewaldeten Ufer ein helles
grünliches Gebirge links aufsteigen und im Hintergrunde grauviolett werden, wäh-
rend die rechte Partie sich von gelblichrötlichem Hintergrunde des Himmels ab-
hebt, der nach links hin in dunkleres Blau übergeht; hinter violettem Gebirge der
rechten Seite verborgen steht die Morgensonne. — Dies Gemälde bezeichnet ebenso
einen Übergang, wie ein weiteres im gleichen Besitz befindliches, weniger hoch
zu bewertendes Bild „Italienisches Schloß auf einer Gebirgsinsel“ inmitten
eines Sees (76:102 cm; bez., dat. 1813)!). Hier ist es Abendstimmung. die lebendig
werden — soll: das Schneegebirge des Hintergrundes ist leicht rosig getönt und
die Schatten sind lang und dunkel. Doch ist der Himmel strahlend dunkelblau
und ungetrübt. Der Wille zur gleichsam epischen Monumentalisierung der Natur
drückt sich in beiden Gemälden aus und beherrscht von nun an fast jede Arbeit, —
ein Wille, der auch das kleine Bild „Landschaft im Charakter des Mont-
blanc“ durchdringt (37:41,5 cm; bez., dat. 1813; B.-S.-M.) ). Von diesem Jahre
an findet die Sonne ihren Platz im Bilde selbst. Freilich nicht als direkter Faktor
der Wirkung und der Anschauung, sondern abgeblendet und verdeckt, — aber
doch nicht mehr so außerhalb der Bildumfassung bleibend und von weitem wirk-
sam wie bisher. So bei der „Mittelalterlichen Stadt am Wasser“, in deren
Mitte sich ein gotischer Dom auf hoher Terrasse erhebt (76:102 em; bez., dat.
1813; B.-S.-M.) ). Auch der „Heilige See bei Potsdam“ (36, 5: 40,5 cm; bez.,
dat. 1813; B.-S.-M.) “) operiert, freilich weit stimmungsinniger, lyrischer mit dem
Licht der untergehenden Sonne; zum bräunlichen Vordergrund des Ufers mit
einem Kahn zweier Ruderer und eines Musikanten im bläulichen Wasser fließt das
rötliche Licht von der Sonne her, die hinter einer mit Pappeln bestandenen Land-
zunge versinkt, während quer über der Stadt der Abendhimmel orangefarben mit
roten, wagerechten Wolkenstreifen steht. Dann eine „Ideallandschaft“ (76: roa cm;
Nat.-Gal., Berlin; unbez., undat.) ): Blick von einem mit breitwipfeligen Bäumen be-
standenem Hügel mit einzelnen mittelalterlich gekleideten Fußgängern und Reitern
auf weites Meer, an dem eine italienische Stadt liegt; Sonnenglanz blendet vom
Meere her, aber die Sonne selbst steht hinter den dichten Baumkronen. — Dann
eine sehr schöne „Landschaft mit Sonnenuntergang“, als Gegenstück zum
vorhergehenden Gemälde wohl auch um 1813 entstanden (76: roa cm; Berlin,
Nat.-Gal.; unbez., undat.) ): eine großartige, felsige Landschaft, hinter deren tief-
gelegenem, waldigen Vordergrund im Mittelgrunde sich ein Felskegel erhebt, hinter
dem die Sonne untergeht und dessen ganz dunkle Silhouette von kleinen Tannen
sozusagen verziert und ausgefranst ist. Dieser dunkle Kegel steigt aus einem
breiten Strom auf, dessen Arme in eine zwischen Felskegel und Vordergrund ge-
legene Schlucht hinabstürzen. Farbsatte Lyrik wirkt sich in den orange und
violett streifigen, dann violett und rosa flaumigen Wolken aus, die unterhalb dunkel-
blauen Himmels stehen. Sodaß die Farbigkeit von dem Grünbraun des Vorder-
grundes durch graugrünliche Felspartien hindurch in das buntleuchtende Feuer-
(т) Auf der Rückseite bez. und dat: А. v. W. II, 339, Nr. 29 gibt an: 4. März 1814; Kopie in
Berlin, Nat.-Gal.
(2) A. v. W. IV, 336, Nr. І.
(3) Abb. in Ziller, S. 17; Replik und Kopie von Ahlborn in Berlin, Nat.-Gal.
(4) Abb. im Katalog der Deutschen Jahrhundertausstellung 1906, II, 481. Ähnlich ein gleichbetiteltes
Bild im B.-S.-M., bez, und dat. 1817 (35:43 cm).
(5) Abb. in „Kunst und Künstler“ X, 69 und „Kunst für Alle“, 1920.
(6) „Kunst für Alle“, 1920.
246
meer der Wolken und das beruhigende Dunkelblau des Himmels darüber in die
Höhe steigt.
In die erste Hälfte des zweiten Jahrzehnts möchte ich das (mir unbekannt ge-
bliebene) Original der Ahlbornschen Kopie einer ausgezeichneten „Landschaft
mit Schloßpark“ (76:104 cm; Berlin, Nat.-Gal.)!) ansetzen. Dieser Blick über
Waldschlucht, Schloßanlage, Meeresbuchten, von einer Sonne bestrahlt, die von
rotumrandeten, violetten Wolken verdeckt wird, — er gehört mit zum Ergreifend-
sten der Schinkelschen Kunst! Der Glanz dieses Lichtes, das den Himmel rötlich-
violett um graue Wolkenbänke herum färbt, auf den Gebirgigkeiten und auf der
Ebene des Hintergrundes, auf der Schloßkuppel und im Garten schwebt, verleiht
auch noch den Bäumen des Vordergrundes dunkleren roten Schimmer.
Diese Neuerungen: Monumentalisierung des Inhaltes und Mitwirkung der Sonne
als Lichtquelle im Bilde, erfahren ihre Ausbildung und Erweiterung von der Mitte
dieses zweiten Jahrzehntes ab*). Das Bild soll, so geht die bewußte Absicht, das
ganze Weltleben widerspiegeln und umfassen. So greift der Sinn in das Kos-
mische hinaus, — und wie könnte er vermeiden, das größeste der Gestirne mit
hereinzuziehen, — muß es nicht zum Mittelpunkt der Darstellung werden, da es
doch Mittelpunkt des Erdiebens ist? und sein schöpferischer Puls? Allerdings,
gerade solche Mächtigkeit und Fülle schloß damals noch die ungezwungene und
uneingeschränkte Sonnenhaftigkeit aus, — Turners Kunst liegt noch in weiter
Ferne. Vom Gewölk des Himmels bedeckt oder von Baumwipfeln abgeblendet, so
nimmt die Sonne am Leben des irdischen Planeten teil, — wie ein Herrscher in
der Tarnkappe dem Treiben seiner Untertanen zuschaut. Unter den belebenden
Strahlen der Sonne entfaltet sich nicht bloß die tippigste Vegetation an breiten
Flüssen und großen Seen vor hohen Bergen und Gebirgen, — auch die ganze
Kultur strebt nach ihrer knappsten, aber umfassenden Darstellung: Architekturen
stidlicher oder deutsch-mittelalterlicher Städte sind vom regsamen Treiben ihrer
Bewohner erfüllt. So drängt sich zur „Mittelalterlichen Stadt“ (92:137 cm;
bez., dat. 1815; B.-S.-M.) ), zu ihrem hohen, gotischen Dome, ein fürstlicher Zug
mit viel Volksgetiimmel, — von einem Regenbogen überspannt und von dunkel-
grauem Gewittergewölk überlagert. So gibt das Gegenstück „Griechische Land;
schaft mit Theater und Aufgang zur Akropolis“ (92:137 cm; bez., dat. 1815;
B.-S.-M.) ) einen Überblick und Einblick in griechisches Volksleben, wie es jene
Zeit sich ausmalte; aus bräunlichgrünem Vordergrunde ragen gelbliche Baulich-
keiten des Mittelgrundes vor duftigem, hellgrünlichen und bläulichen Hintergrund
von Fluß und Gebirge auf, — hellbldulicher Himmel steht darüber. Zu dieser
Kategorie des Kulturgemäldes gehört noch aus dieser Zeit eine „Landschaft in
südlichem Charakter“ (68:92 cm; unbez., undat.; nach А. v. W.: 1815; B.-S.-M.)®),
— ein Bild, dessen Mittelpunkt eine Terrasse bildet, die zwei große Weiden um-
rundet und auf der sich ein mittelalterlicher Fürst mit Gefolge aufhält; von dem
(х) Abb. in „Kunst ſ. Alle“, 1920.
(a) Wohl läßt sich nicht leugnen, daß die abgeblendete Sonne einem abgeblendeten vumpenlichte
ähnelt und daß die Bildstruktur des landschaftlichen Aufbaus kulissenmäßig wirkt, aber der Vergleich
der Gemälde mit den farbigen Bühnenentwürfen zeigt zumeist zu beträchtliche Unterschiede, als
daß hier von einem Umschwung der malerischen Formgebung gesprochen werden könnte, der durch
das Theatralische vermittelt worden wäre. Das Entwerfen von Theaterdekorationen für das Berliner
kel Schauspielhaus beginnt Schinkel 1815 und er endet es 1828.
(3) Abb. in Ziller, S. 23. (4) Abb. in Ziller, S. 22.
(5) Abb. im Katalog der Deutschen Jahrhundertausstellung 1906, 1, 112 und in „Kunst für Alle“, 1920.
247
braungriinen Vordergrund der Terrasse aus blickt man über einen See und eine
Stadt auf weites Gebirge hinüber, das merkwürdig rosig und unwirklich schimmert.
Dazu dann wiederum eine „Gotische Kirche auf einem Felsen im Meer bei
Sonnenuntergang“ (72:98 cm; unbez., undat., der Katalog gibt 1815 an; Berlin,
Nat.-Gal.): der Weg im Vordergrund ist braungrünlich, im Mittelgrund der Fels
und die Kirche sind grünlichbräunlich, das Meer selbst bläulich mit roten Reflexen,
— verdeckt von der Kirche bestrahlt die Sonne den Himmel gelblich, und rosig
die entfernteren Wolken.
Allgemeinere Gegenständlichkeit formuliert, — immer unter Innehaltung der
gleichen räumlichen Schematik der Vertiefung: braunem Vordergrund, grünem
Mittelgrund und bliulichem, noch lieber violettem Hintergrund, — das „Felsen-
tor“ i) und die „Italienische Landschaft“ (Gegenstücke, je 74:48 cm; das
zweite Bild bez., dat. 1817; Berlin, Nat.-Gal.), ein „Seestück“ (34:45 cm; unbez,
undat.; B.-S.-M.), dessen graugrünes Meer von rosigbläulichem Himmel überdacht
wird, in welchem die Sonne von grauen Wolken abgeblendet schwebt, — eine
kleine „Italienische Landschaft“ (18:32,5 cm; unbez., undat.; B.-S.-M.), — wohl
auch das (mir unbekannt gebliebene) Original der Bonteschen Kopie eines „Ernte-
festes“ in der Berliner National-Galerie: in fruchtbarem Tal bewegt sich ein
Erntezug sehr farbig-phantastisch gekleideter Bauern in abendlicher Beleuchtung.
Im dritten Jahrzehnt klingt diese ganze Epoche mit einem starken Schlußeffekt
aus. Am Anfang steht noch eine kompliziert, aber irgendwie schwächer durch-
gefühlte „Ideallandschaft“ (70:94 cm; bez., dat. 1820; Berlin, Nat.-Gal.) ), die,
eine Erzählung CL Brentanos illustrierend, gleichzeitig mit ihr 1815 entworfen, erst
fünf Jahre später gemalt war. Es setzt sich die Entwicklung nun wohl fort in
zwei Gemälden, die im Besitze von Herrn von Treskow, Friedrichsfelde, sich be-
finden und der Familientradition nach als Bilder der „Gegend von Owinsk“
gelten (je 50:75 cm; unbez., undat.). Das eine (Abb. 7) zeigt im Vordergrunde
zwei rötliche Rinder im blaugrünen Bach, der zwischen dunklem Gebüsch hin-
fließt, dann einen heller grünen Mittelstreifen der Wiese, dessen Ausmaß von
hohen Bäumen angegeben wird, dann im Hintergrunde rötliche Häusergruppen.
Es handelt sich bei diesem mit schwacher Sonnigkeit in der Luft getonten Bilde
wohl um Morgendämmerung, — während das andere Bild eher Abendstimmung zeigt:
seinen Vordergrund nimmt dunkles Gebüsch ein, auf das dann im Mittelgrunde
plötzlich und scharf abgetrennt ein helles Getreidefeld und hellbeleuchtete Bäume
gelblichgrün folgen, daran stoßen dann weiter zurück gelblichgriinlich violette Ge-
büsche um eine rötliche Schloßbaugruppe am See und weiter in die rötlichviolette
Ferne verliert sich der Blick im Hiigelgeliinde. Die Luft dieses Bildes ist voll
Sonnigkeit: gelbliche und zartviolette Wolkenbänke sind wagerecht im Himmel
eingelagert, oben aber wird der Himmel tiefer blau. Ein paar Gestalten, gelagert,
schreitend, zu Pferde, staffieren das Bild.
In der Mitte dieses Jahrzehnts aber folgt, vermittelt durch eine „Griechische
Landschaft“ (Abb. 8; — 30:48 cm; bez., dat. 1823; B.-S.-M.), eines der seiner-
zeit berühmtesten Gemälde Schinkels „Die Blüte Griechenlands“ von 1835
(Beckmannsche Kopie, 92:226 cm, in Charlottenhof bei Potsdam)*). Hier ver-
(т) nach Waagen „Ki. Schriften“, S. 333 aus 1818. Abb. іп „Kunst für Alle“ 1920.
(2) Abb. der angetuschten Federzeichnungsvorlage in Ziller, 8. 42.
(3) Das Original wurde von der Stadt Berlin zur Vermählung der Prinzessin Luise von Preußen mit
dem Prinzen Friedrich der Niederlande als Geschenk dargebracht, A. v. W. II, 341; Abb. in Ziller.
248
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einigte Schinkel alles bisher Erdachte zur einheitlichsten Leistung: im Vorder-
grund sind Griechen am Bau eines Tempels beschäftigt, im weiteren Hintergrunde
dehnt sich eine antike Stadt, reiches Volksleben steht zur Schau, und im breiten
Hintergrunde wölbt sich ein Hügel, heben und senken sich Berge und Täler;
Morgendämmerung liegt über der weiten Ideallandschaft, — noch steht die Sonne
verborgen hinter einer Baumgruppe.
Mit diesem Gemälde erschien wohl alles gesagt, was Schinkel auf diesem Wege
je sagen konnte. So wendet er sich späterhin der Figurenmalerei fast ausschließlich
zu. Ein Bild, das den Übergang monumental bezeichnet, ist „Knabe und Mädchen“
(181,5:132 cm; bez., dat. 1827; B.-S.-M.). Überraschende Plastik liegt in dem
Gebüsch, aus welchem die beiden Gestalten auftauchen, vor allem in den Ranken,
dem Moos und den Früchten. Hier fehlt das Atmosphärische der früheren Ar-
beiten. Vom nächsten Jahre ab beschäftigt sich Schinkel mit den Fresken für die
Vorhalle des Museums!
Neben den Ideallandschaften gehen freilich vereinzelte, aber bedeutende Ge-
mälde realistischen Charakters einher, die wie eine Erinnerung an seine Panoramen-
malerei erscheinen könnten. So das schöne Bild „Rugard auf Rügen“ (50: 130 cm;
bez., dat. 1821; B.-S.-M.) und „Stettin, von Frauendorf aus gesehen“ (Gegen-
stück, unbez., undat.; B.-S.-M.). Das erste Bild!) (Abb. 6), gibt einen weiten Uber-
blick über Gehöfte, Wälder, Felder, Landzungen, das Meer. Farbig schön ist das
satte Grün der Felder im Mittelgrund. Das andere Gemälde hat die nordische
Nüchternheit abgelegt: die Sonne, deren Strahlen am Himmel sich durch gelbe
Tinten andeuten, färbt die Felder (ein wenig süßlich werdend) ins Rotviolette. —
In diese Zeit um 1822 gehört wohl auch eine „Aussicht auf das Haff“) (22:130 cm;
unbez,, undat.; B.-S.-M.): im Vordergrunde weiden bräunliche Rinder auf niedrigem
Heidehügel, rechts davon liegt ein Gehöft in grünen Bäumen versteckt, — den
Mittelgrund nehmen die tiefgelegenen Waldungen und Baumgruppen mit ihrem
Grün ein, — zum Hintergrund hin zieht sich ein Fluß mit Segelschiffen, daran
schließt sich fernhin eine Ebene, im rosigen Himmel verschwimmend.
Späterhin entstehen nur ganz wenige kleine Arbeiten noch, die als reine Land-
schaften gelten können. Nicht bloß die bekannten Aquarelle „Einsicht“ und „Aus-
sicht“ von 1831 °), welche landschaftliche Elemente enthalten. Auch eine schwarze
Tuschzeichnung mit Gouache auf gelblichem Papier (27:41 cm; bez., dat. 1832;
Berlin, ehem, kaiserl. Schloß, Hausbibliothek, Album K 53 Mb. 7) gibt als „Land-
schaftliche Komposition“ einen ruhigen See inmitten waldreicher Ufer, hinter
ihm eine schloßartige Anlage, in der Hintergrundsferne einen See, auf dem Mond-
schein liegt, und als Abschluß Hügelreihen, — darüber zwischen weißen Wölkchen
steht der Vollmond. Doch ist es für diese Zeit Schinkels charakteristisch, daß er
den Mondschein nur auf ein paar Blättern der Vordergrundsgebüsche flecken läßt, —
sonst herrscht eigentlich Tagesstimmung, alles romantisch Innerliche fehlt. —
Ebenso stimmungslos ist die am selben Platze befindliche schwarze, mit Gouache
gehöhte Tuschzeichnung des „Verfolgten Wolfes“ (27:42 cm; bez. dat. 1832)
auf blauem Papier und das Aquarell der „Promenade bei Marienbad“ von 1832
(B.-S.-M., M. Ib, 18), nur wenig belangvoller die „Ansicht bei Gastein, vom
Hofgarten nach dem Wildbade zu“ (36:44 cm; dat. 1836; B.-S.-M., M. VIII, 44).
(х) Abb. im Katalog der Deutschen Jahrhundertausstellung.
(2) Abb. ebenda II, 481.
(3) Kopien im B.-S.-M., M. XVb, Nr. 120 und гага; die frischer wirkenden Originale in der Haus-
bibliothek des Berliner ehem, kaiser]. Schlosses.
249
Nur eine kleine reizende Gouachemalerei, eine Komposition zuGoethes Versen
„Wenn auch ein Tag uns froh vernünftig lacht, Im Traumgespinst umwickelt uns
die Nacht“ (33,5: 33,5 cm; bez., dat. 1834; B.-S.-M.) läßt noch einmal den Reiz der
frühesten Bilder aufglänzen. Ein tief dunkler, fast schwarzer Hintergrund, aus
dem sich in einem Rund die Szenerie leuchtend abhebt —: unten eine Stadt (Neapel)
mit abendrötlichen Silhouettenrändern vor dunkelblauem, ruhigen Meer und Vor-
gebirge, darüber mit leuchtend blauem Mantelschleier die hellfleischrötliche Gestalt
der Nacht, die in ihrem Mantel die mattrötlichen Gestalten von Menschen, Tieren usw.
birgt.
Aber im großen und ganzen betrachtet, endet doch die Landschaftsmalerei
Schinkels in bedauerlichem Abstieg. Freilich nur, wenn man sie so isoliert be-
trachtet! Bedenkt man aber, daß Schinkel zur gleichen Zeit mit den Wirklichkeiten
wirklichen Gesteins, wirklicher Bäume, wirklicher Wasserläufe arbeiten konnte, da
er Glienicke, Charlottenhof und andere Bauten errichtete, so stellt sich die Lage
doch anders dar im Gesamtbilde seiner Kunstbetätigungen. Denn er schuf nun
Ideallandschaften zur Realität um, — den malerischen Ausdruck seines Willens,
seiner Vision konnte er nun entbehren!
x *
*
Kurz sei nun zum Abschluß die Entwicklung der Landschaftsmalerei
Schinkels angegeben. Sie beginnt mit zarten, kleinformatigen, doch innerlich
großgedachten Gouache-Bildern (1797 99), wendet sich dann der Ölmalerei größten
Formates zu (1807—1815) und geht dann fast ausschließlich zum Staffeleibilde
über (1812—1825). Gemeinsam ist allen Perioden der Wille zur Großheit der
Darstellung und zugleich zur harmonischen Ausgeglichenheit des Ideals im Sinne
jener Zeitstimmung, die an der Antike sich orientierte, wie die deutschen Klassiker
sie sich vorstellten. Das Abbild kräftigen Weltlebens und seiner „bleibenden Ver-
hältnisse“ soll die ganze Fülle der Erscheinungen in sich bergen und doch in
makelloser Erhabenheit glänzen. Die Problematik dieses kühnen Willens über-
steigt oft genug Schinkels Kraft, — manchmal aber gelang es ihm doch, das gleich-
große Weltgefühl zum Ausdruck zu bringen, das in Goethes Gesinnung lebt, oder
wenigstens es lebhaft ahnen zu lassen.
Der Inhalt, an welchem sich dieser Gehalt äußert, ist vorwiegend die Ideal-
Landschaft. Freilich das Bild einer Idealität, die doch mehr іп das Südländische
jenseits der Alpen verwies, als in ein wirklich rein der gespannten Vorstellung
entsprungenes Bild der Phantasie. Von früh an tut sich diese Neigung zum Süden
hin kund. Der Sinn für die Antike insbesondere überwog doch gegenüber der
Tendenz zur Einfühlung in die historistisch in die mittelalterliche Vergangenheit
zurückverlegte Welt des eigenen Volkstums. — Daneben zweigt sich der Wille
der Realistik, verkiimmert, ab: geschaute, vorgefundene Wirklichkeit stellt sich nur
selten dar! Freilich gelingen auch dieser schwächeren Nebenströmung Schinkel-
schen Wirkens bedeutende Leistungen.
Die Entfaltung der formalen und technischen Mittel Schinkels vollzieht sich
im wesentlichen so. Seine Farbigkeit behält dauernd etwas Undurchsichtiges. Der
Beginn mit Gouache-Bildern ist dafür kennzeichnend. Doch verhält es sich nicht
so damit, als sei hier lediglich ablehnender Tadel am Platze. Man sollte vielmehr
einsehen, daß hier das bewuBte Prinzip der Idealisierung der Wirklichkeit wirksam
wurde, die doch auf die Realität nicht verzichten mochte. Diese anfangs juwelen-
haft schimmernde Farbigkeit durchdringt sich allmählich mit warmer Sonnigkeit,
250
um späterhin kälter und nüchterner zu werden. — Die Linienführung hat von
früh an den Willen zur Monumentalität, sucht einen beherrschenden Mittelpunkt
immer klarer hervortreten zu lassen, behält dauernd den Willen zur Einheit des
großen Zusammenhanges, folgt aber in den Einzelelementen der Komposition (bei
den Silhouetten der Baumwipfel ist es sehr deutlich) der Tendenz zur Auflösung
und zu vielfältiger Gliederung !).
Die Ausführung strebt im einzelnen nach pünktlichster Präzision der Blätter,
Bäume usw. Aber sie ist zugleich so sehr schematisierend, daß der Betrachter
alle diese ihre Einzelzüge doch als Gesamtheit empfindet, — freilich nicht als
Ausdruck eines gewaltigen, in allen Verschiedenheiten doch irgendwie gleich-
gewaltigen Urquells des Lebens, sondern eher als gleichförmige und einfirmige
Vertreter derselben Gattung. Und so kommt ein gewissermaßen begriffliches Ele-
ment in die lebendige Natur! Dem abstrakten Idealismus Fichtes, den er sehr
schätzte, zollt Schinkel so seine malerische Anerkennung; die Wahrheit, meint er,
tritt im Gattungartigen in höherem, wertvollerem Sinne hervor, als im Individuellen).
Das Problematische der Schinkelschen Kunstgebilde liegt wohl in der mangeln-
den Schwere der Plastizität. Die Dinge wirken bei ihm allesamt nicht eigentlich
vollgewichtig, sondern schweben in visionärer Leichtigkeit ohne Ballast ihres
Daseins. So sind sie gleichsam ein schöner Phantasietraum ohne Blut, oder doch
von einem so seltsam entfärbten Blute durchströmt, daß sie auf eine ganz und gar
realistisch gesinnte Generation nur gespenstisch wirken konnten, wirken mußten.
Das in sich befriedigte Gefühl des Daseins spricht aus ihnen, das seine theoretische
Formulierung in der Philosophie Hegels fand, der das Idealreich der Norm im da-
maligen Preußenstaat fast verwirklicht sah“). Ein preußisches Aristokratentum
findet in ihnen sein bildmäßiges Echo: diese Welt ist nicht von romantischen Sehn-
sichten dem Endlosen verbunden (wie іп K. D. Friedrichs Werk), sondern sie
kreist in sich und erlaubt nur gleichsam einen Einblick in ihr Getriebe, greift aber
nicht über sich hinaus, läßt niemand Anteil nehmen an ihrer Abgeschlossenheit.
* *
*
Nichts Wesenfremdes wird damit Schinkel als — im wesentlichen gelungene —
Absicht zugesagt. Er hat seine Asthetik‘) ja scharf genug formuliert. Das kunst-
wissenschaftliche Denken Schinkels kreist um diese drei Hauptpunkte: Schönheit,
Sittlichkeit, Göttlichkeit: „Das Schöne ist immer erzeugt durch das Behagen an
eigner Tätigkeit in harmonisch-sittlichem Gefühl der Weltanschauung und in dem
Gefühl des Göttlichen in der Welt“. Daraus entspringen nun alle Folgerungen,
deren werktätige Dokumente Schinkels Gemälde nicht weniger wie seine Bauwerke
sind. Wer das Kunstwerk tief erlebt, wird und sollte zugleich seine sittlichen Im-
pulse gekräftigt fühlen, da er seine Lebenskräfte auf die höchsten, großartigsten
und auf die leiblich angenehmsten Gegenstände richtet. Eine nähere Hinweisung
Schinkels betont aber das Idyllische, Fabulöse, Mythologische als kunstgemäßer,
als das Historische oder Moderne, — die Energie der realen Welt wird so als
(т) Dieselbe Tendenz ist auch sonst wahrnehmbar; vergl. über das Kunstgewerbe Schinkels meinen
diesbezüglichen Aufsatz in „Kunst und Künstler“, 1010.
(2) A. у. W. Ш, 352.
(3) Vgl. mein Buch „Der Gedanke des Ideal-Reiche . . . von Kant bis Hegel“. Leipzig 1914.
(4) Eine Materialzusammenstellung bei Hans Reichel: „Die Kunstphilosophie K. F. Schinkels und
Fr. у. Baaders“ in der „Zeitschr. f. Ästhetik u, allgem. Kunstwiss.“ VI (1911).
251
Inspirationsquell der schöpferischen Kraft abgelehnt! Und das gleichsam in der
Luft Schwebende der fabulierenden Phantasie wird als das Höchste gefeiert, so-
bald sie die ruhevolle Harmonie gestaltet: ohne Leidenschaftlichkeit, ohne Dunkel-
heit, ohne Verwirrung: lebensvolle Idealitit. Da nun solche Idealität eine wahr-
haft menschliche Angelegenheit ist, so sollte auch das bildmäßige Kunstwerk sich
mit menschlichen Beziehungen bereichern, sich durch ihre Beschreibung sozusagen
rechtfertigen. Reine Landschaften gelten Schinkel nicht als völlig wertvoll: sie
lassen Sehnsucht und Unbefriedigtheit in der Seele zurück, — die Stimmung der
Natur soll sich ins Menschliche wandeln; „der Reiz der Landschaft wird erhöht,
indem man die Spuren des Menschlichen recht entschieden hervortreten läßt“. In-
dem so die „Landschaft“ zum Kultursymbol geformt wird, folgt Schinkel der Ge-
sinnung Fichtes, der kein selbständiges Naturgefühl besaß und die Natur nur als
Schauplatz und Grundlage menschlicher Zivilisation bewerten konnte.
So rundet sich der Kreis der Tatkraft Schinkels zur sicheren Harmonie: die
Theorie erläutert das Werk und das Werk bestätigt die Weltanschauung und
Wertsetzung.
252
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DIE ERZGEBIRGISCHE KUNSTLERFAMILIE
KRODEL (EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER CRANACH-
SCHULE) Mit zehn Abb. auf fünf Tafeln in Lichtdruck Von WILH.JUNIUS-Dresden
eben einer umfangreichen Gruppe einheimischer sächsischer Meister des 16. Jahr-
hunderts, die wie Paul von Leubnitz, Jörg Mahler von Dippoldiswalde, Hans
Coler von Köln u. a. unter fränkischem Einfluß stehen, findet sich eine zweite, die
stilistisch und thematisch von der Wittenberger Cranach-Werkstatt abhängig ist,
und zu deren hervorragendsten Vertretern zwei Mitglieder der Schneeberger Künstler-
familie Krodel!) und der Kamenzer Andreas Dreßler (etwa 1540—1604) gehören.
Ob diese stilistische Abhängigkeit durch ein unmittelbares Schülerverhältnis zu
Cranach, wie bei Franz Tymmermann-Hamburg oder Heinrich Königswieser-Königs-
berg, zu erklären ist, oder ob wie bei Johannes Kemmer-Lübeck, dem Münchner
Monogrammisten A. H., dem Leipziger „Fürstenmaler“ Hans Krell, dem Kölner
Monogrammisten H. S. P. und anderen nur mittelbare Fortsetzung der Cranach-
Tradition in Frage kommt, ist urkundlich noch nicht zu belegen, da die Nachrichten
über das Leben der weniger bedeutenden Maler jener Zeit nur sehr spärlich auf-
treten.
Das älteste Mitglied der Familie Krodel ist der von 1528—1560 in Schneeberg
nachweisbare Wolfgang d. A. Von ihm besitzt die Staatliche Gemäldegalerie
zu Wien zwei kleine Bilder, welche die Jahreszahl 1528 tragen, bzw. mit W. K.
signiert sind (Taf. 40, Abb. a u. b). Die Darstellungen: „David und Bathseba“ und „Loth
mit seinen Töchtern“ erinnern in dem Figurentypus, im Gesamtton und technischen
Eigentümlichkeiten so stark an Lukas Cranach d. A. Manier, daß sie Mechel in
seinem Verzeichnis der Gemälde der k. k. Galerie im Belvedere dem Vater Lukas
Cranach 4. А, dem mystischen „Wilhelm Kranach“ zuschrieb. Es handelt sich
jedoch um zwei Jugendwerke des Wolfgang Krodel, der damals noch in den Bahnen
des Wittenberger Meisters mit jener Ängstlichkeit und Gewissenhaftigkeit des eben
entlassenen Schülers wandelte.
Aus dem gleichen Jahre stammt ein mit W. K. und der Jahreszahl 1528 bezeich-
netes „Jüngstes Gericht“, das ehemals über der Tür der Schneeberger Ratsstube
hing, schon von dem Schneeberger Chronisten von 1716, Chr. Meltzer, erwähnt
wird und sich zu Schuchardts Zeit (1851) im Besitz des herzoglichen Schloß-
kastellans Höhn in Dessau befand’).
Chr. Schuchart beschreibt das Bild: „In einer Glorie in Wolken sitzt Christus
als Weltenrichter, zur Linken ist eine Gruppe von Seligen, rechts von Verdammten,
unten Auferstehende aus den Gräbern, in der Mitte ein Papst, welchen ein Teufel
bei der Nase faßt, ein anderer Teufel hält ihm einen Ablaßzettel vor. Das Dessauer
Bild hat in Farbe, Farbenauftrag, in den Umrissen und sonst alle Zeichen der
(1) Martin Krodel, 1539—1540 nachweisbar. Wolfgang Krodel d. A. (Bruder des Martin).
8 1528—60 tätig
Mathias Krodel d. A., 1550 — 6. IV. 1605
1) TER Krodel d. J., ?—1601, 2) Wolfgang Krodel d. J., 4. IX. 1575—1624.
Vgl. H. A. Müller und H. W. Singer: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. II, S. 396 (Frankfurt a. M., 1896).
(2) Über den derzeitigen Aufbewahrungsort konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Eine diesbezügliche
Anfrage bei der Dessauer Museumsverwaltung blieb unbeantwortet.
253
Cranachschen Schule. Dagegen zeigen die Formen eine Nachahmung von Michel-
angelo. Die stürzenden Verdammten und die aus den Gräbern Auferstehenden
sind in dieser Beziehung gut, viele von großem Ernst und Charakter. Der Ein-
druck des Ganzen ist wegen zweier großen Spruchzettel über den Gruppen der
Seligen und der Verdammten, und weil die Färbung schwach ist, nicht besonders
angenehm.“
Daß Wolfgang Krodel auch die späteren rationalistischen und scholastischen
Spitzfindigkeiten der eigentlich „reformatorischen“ Arbeiten seines Lehrers nicht
fremd waren, beweisen zwei Votivbilder in der Hauptkirche zu Kamenz (Taf. 41.
Abb. a und b), die in kontinuierender Darstellungsweise, ohne jegliche Komposition
und bildliche Geschlossenheit das theologisch-dogmatische Thema: „Der alte Bund“
und „Der neue Bund“ kläubelnd interpretieren. Auf der ersteren Tafel ist im
Vordergrunde der „sündige Mensch“ dargestellt, weicher von Tod und Teufel der
Hölle zugejagt wird. Rechts stehen vier Männer: der gehörnte Moses mit den
Gesetzestafeln, ein Hoherpriester in Bischofstracht und zwei Propheten. Diese
Gestalten des Vordergrundes werden von den Figuren Adams und Evas unter
dem Baum der Erkenntnis, und der Anbetung der ehernen Schlange im Wüsten-
zeltlager der Israeliten durch ein lichtes Buschwerk im Mittelgrunde getrennt.
Über dem Ganzen schwebt auf einer gläsernen Weltkugel in einem Wolkenkranz
Christus mit den Nägelmalen. Drei Schriftfelder unterhalb der Gesamtdarstellung
und eins in der linken oberen Ecke, der Epistel Pauli an die Römer entnommen,
geben die Erklärung des gedanklichen Inhalts dieser Votivtafel: Alle Menschen
ohne Unterschied sind Sünder und werden ohne Verdienst gerecht durch den
Glauben.
Das Gegenbild (Taf. 41, Abb. b) zeigt im Mittelgrund links auf einem Berge Maria
mit der Vision des kreuztragenden Christusknaben. Zu ihren Füßen liegt im Hinter-
grunde das himmlische Jerusalem. Im Vordergrunde wird der „sündige Mensch“
von Christus (!) auf Christi Kreuzigung hingewiesen, während ganz vorn das Lamm
Gottes mit der Kreuzesfahne steht. Rechts seitlich hinter dem Kreuz das Grab
des Auferstandenen, vor dem dieser als Überwinder von Tod und Teufel mit der
Kreuzesfahne steht. In der rechten oberen Ecke wird die Himmelfahrt Christi an-
gedeutet durch die von einer Wolke getragenen Füße des Heilands. Vier In-
schrifttafeln geben die Erklärung zu diesem religiösen Anschauungs-Unterrichts-
bilde, das an der linken Ecke des Grabes, links vom Fuße des Kreuzes die Jahres-
zahl 1542 und das Monogramm Wolfgang Krodels trägt !).
Die Kamenzer Hauptkirche bewahrt noch ein drittes Bild, das, obwohl nicht
signiert und datiert, auf den älteren Wolfgang Krodel zurückgeht und zwischen
1530—40 entstanden sein mag. Die Darstellung des Gekreuzigten, jener in der
Dresdner Gemäldegalerie, angeblich von Dürer gemalten, in Einzelheiten (das
Lendentuch!) ähnlich, ist als Votivbild durch ein mit dem Sterbehemdchen be-
kleidetes, am Kreuze kniendes Kind und durch die Wappen derer von Löser,
Oelsnitz, Mistelbach und Schlieben gekennzeichnet.
Starke Abhängigkeit von Lukas Cranach d. Ä. beweist auch die „Darstellung des
ersten Menschenpaares“ aus dem Breslauer Museum, datiert von 1543 und signiert
mit den aneinandergestellten Initialen W und K, die Max J. Friediänder anläßlich
(1) Unter zahllosen ähnlichen religiös-dogmatischen Kompositionen, die in Einzelssenen eine zu-
sammenhängende Bilderpredigt, vorgetragen durch eine Folge von illustrierten Bibelsprüchen dar-
stellen, ist ein Ölgemälde der Cranach-Werkstatt im Königsberger Stadtmuseum besonders beachtlich.
254
der Erfurter kunstgeschichtlichen Ausstellung 1903 in Wolfgang Krodel auflöste.
In seiner etwas schwächlichen Figurenbildung und der nicht sehr leuchtkräftigen
Farbengebung erscheint das Bild wie eine kümmerliche und matte, nur wenig
variierte Wiederholung des Adam-und-Eva-Bildes seines Meisters im Magdeburger
Museum.
Wolfgang Krodels Tätigkeit läßt sich dann im Jahre 1555 verfolgen, in welchem
ein in der Gemäldegalerie des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt befind-
liches Gemälde der „Geschichte der Judith und des Holofernes“ entstanden ist
(Taf. 42). Rechts im Vordergrunde das Lager des Holofernes mit dem Zelte des
Feldherrn. In einem zweiten Zelte dahinter links seine Enthauptung. Über dem
Hauptzelte in grünem Kranze ein Wappen: ein Mohr mit Fahne und Schild in
rotem Felde nebst dem Monogramm W. K. und der Jahreszahl 1555. Am Meere
links dehnt sich das belagerte Bethulia aus, mit dem siegreichen Ausfall der
Israeliten, den letzten Akt dieser nach Luthers Worten „guten, ernsten, tapferen
Tragödie“ darstellend.
Beim Justizkommissar Wilke in Halle sah Chr. Schuchardt um 1865 zwei un-
datierte Porträts des Hilarius und der Margarethe von Repurch, mit W.K. be-
zeichnet und einem „Wilhelm Krodel“!) mißverständlich zugeschrieben. Andere
haben sie und ähnliche das Malerzeichen W. K. tragende Werke einem „Wilhelm
Kranach“ zugewiesen und dabei sogar an den Vater des Lukas Cranach d. А.
gedacht. Soviel sich Schuchardt 1871 noch seiner eigenen Wahrnehmungen zu
erinnern vermochte, glichen die beiden Hallenser Bildnisse, tiber deren jetzigen
Aufenthalt wir nichts in Erfahrung bringen konnten, dem äußeren Eindruck nach
und auch hinsichtlich des Kolorits, der Malweise des älteren Cranach, in der Be-
handlung aber mehr dem Darmstädter Bilde der „Geschichte der Judith“ und dem
Bildnis des Schneeberger Ratsherrn Franz Brehm von 1591 Mathias Krodel des
Älteren (Dresden, Gemildegalerie, Nr. 1958), (Taf.44, Abb. b).
An das Ende der Schaffenszeit Wolfgang Krodels d. A. sind ein in der Tauf-
kapelle der Zwickauer Marienkirche befindliches Epitaph mit der Darstellung des
auferstandenen, Tod und Teufel durchbohrenden Christus (Tafel 1V, Abb. a) und
ein gleiches in der Schneeberger St. Wolfgangskirche mit der Darstellung der
Taufe Christi im Jordan zu stellen.
Das erstere Gemälde ist eine der besten und sorgfältigst ausgeführten Kompo-
sitionen, die das bei Cranach und seinen Schiilern (Franz Tymmermann-Hamburg)
so häufig interpretierte Thema von der Auferstehung des Fleisches (I. Korinther, 15)
behandelt. Gestiftet wurde es zum Gedächtnis des 1556 in Zwickau verstorbenen
Ratsherrn Johann Leupold von dessen Ehefrau Katharina geb. Kanzler und ihren
acht Kindern. Von Franz Stoedner*) wird das Werk irrtümlich als von Mathias
Krodel d. А, (}1605) herrührend bezeichnet, Oberlehrer G. Sommerfeldt!) schreibt
es dem jungen Schneeberger Maler Wolff Cürschner, „von dem verstendige Leuth
urtheilen, daß er den allerberühmbtesten in dißer Kunst Meistern hette können
gleich werden, wo nicht fürgehen, so er nicht in seinen besten Jharen were ab-
gefordert worden“) zu.
(1) Vgl. Ludwig v. Winckelmann: Neues Mablerlexikon (Augsburg 1796), 8. 274.
(2) Deutsche Kunst in Lichtbildern (Berlin 1908), 8. 129.
(3) Mitteilungen des Zwickauer Altertumsvereins (Heft 12, 1919, S. 102--103).
(4) Petrus Albinus: Collectaneenchronik Schneebergs (Manuskript in der Sächs. Landesbibliothek).
Christian Meltzer: Schneeberger Chronik von 1716, S. 639.
255
Die inschriftliche Bezeichnung W. K. 1559 deutet auf Wolfgang Krodel d. Ä.:
sein Großneffe gleichen Namens, geboren am 4. September 1575 als zweiter Sohn
aus erster Ehe des Mathias Krodel war nach R. Steche im sächsischen Inventari-
sationswerk 1559 „zu jung, um ein derartiges Werk schaffen zu können“, was
allerdings 16 Jahre vor seiner Geburt eine unmögliche Zumutung gewesen wire.
Bezieht sich Steches Bemerkung aber auf Wolfgang Krodel d. A., der etwa um
1505—ı0 geboren ist, da sein erstes datiertes Werk aus dem Jahre 1528 stammt,
so ist sie für den etwa 54jährigen Meister in gleicher Weise unsinnig. „Wolfgang
Cürschner, Mahler“ dürfte wohl seine Werke, von denen keines erhalten ist, W.C.
signiert haben; urkundlich erwähnt wird er 1543 von dem 1551 verstorbenen Chro-
nisten Johann Hübsch in einem Schneeberger Hausbesitzerverzeichnis'). An an-
derer Stelle wird er als „in seinen besten Jahren gestorben“ bezeichnet, so daß
keine Veranlassung vorliegt, ihn 16 Jahre nach seiner ersten und einzigen Erwäh-
nung als „gar berühmt gewesenen Maler Schneebergs“ noch in Zwickau tätig zu
denken. |
Das Epitaph der Schneeberger Wolfgangskirche “) stellt die Taufe Jesu nach Ev.
Matthäi III, 16 dar. Gottvater als deus rex potentissimus sendet den heiligen Geist
auf Christus herab, dessen Gewand von einem Engel gehalten wird. In der Ferne
nehmen zwei Manner in stiller Andacht an der heiligen Handlung teil. Im Vorder-
grunde kniet der Stifter mit seiner Familie, über deren Namen die drei Wappen,
vermutlich Schneeberger Bürger, Aufschluß geben. Auch dieses Werk, das Ge-
prige der Schule Lukas Cranach d. J., zumal hinsichtlich der Stifterbildnisse tragend,
ist signiert W. К. 1561.
Die Tätigkeit Wolfgang Krodel d. A. läßt sich über das Jahr 1561 hinaus nicht
weiter verfolgen, da mit W. К. signierte Werke aus dem Cranach-Kreise mir nicht
bekannt geworden sind). Während seiner 33 Jahre nachweisbaren Tätigkeit hat
er die Tradition der Cranachs gepflegt und innerhalb des zunehmenden Verfalls
künstlerischen Schaffens in den erzgebirgischen Städten ältestes mit Treue bewahrt.
Sein Bruder Martin wird als 1539 tätiger, 1550 das Bürgerrecht Schneebergs
besitzender und 1590 an den Emporen-Malereien der Schneeberger St, Wolfgangs-
kirche tätiger Meister in den erwähnten Chroniken genannt. Nach einer vor Jahren in
den sächsischen Tageszeitungen von ungenannter Seite‘) verbreiteten Mitteilung
„fehlt es in Steches sächsischem Inventarisationswerk an Beschreibung eines in der
Sakristei der Marienkirche zu Neustädtel bei Schneeberg anzutreffenden, in kleinen
Ausmessungen gehaltenen Gemäldes mit der Darstellung einer biblischen Szene aus
Ev. Lukas XXIII (Christus vor Pilatus), (Taf. 43, Abb. b). Es wäre zu vermuten,
daß Martin Krodel, der aus Ungarn nach Schneeberg gekommene Maler, dem eine
größere Anzahl von Kunstschöpfungen in der Gegend der Nordketten des Erz-
gebirges verdankt wird, es verfertigt haben kann, der alsSchüler des Lukas Cranach
bezeichnet wird. Doch stehen die näheren Ausweise aus. Nur ein Anhaltspunkt
unmittelbarer Zeitbestimmung ist gegeben: Der obere Teil des Rahmens über den
Gestalten der Häscher, die den Angeklagten vor den in voller Amtstracht auf
einer Tribüne sitzenden Richter zerren, ist überschrieben: Andreas Schilbach.
(1) Handschrift d 48, Blatt 147 der sächsischen Landesbibliothek. Dresden.
(a) A. Dost: Die St. Wolfgangskirche zu Schneeberg, 8. 17. (Schneeberg 1899.) R. Steche, a. a. O.,
Heft VIII, S. 51.
(3) Für diesbezügliche freundliche Hinweise bin ich jederzeit zu großem Dank verpflichtet.
(4) Wahrscheinlich E. A. Seemann, Kunstchronik.
256
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(b) Wolfgang Krodel d. Al. „Der neue Bund“ (1542)
Kamenz, Hauptkirche
(c) Mathias Krodel d. Al. Altar aus Alt-Mügeln bei Oschatz (1582) Dresden, Altertumsmuseum
Zu: Wilh. Junius, Die erzgebirgische Künstlerfamilie Krodel
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Dieser, einer alten Neustädteler Fundgrübnerfamilie angehörig, wird der Inhaber
des Kirchenstandes gewesen sein, dem im 16. Jahrhundert das Bild als Hinter-
grund diente. Kein Zweifel, daß Schilbach und seine Verwandten auch die Kosten
für das Verfertigen des Gemiildes getragen haben, und es der Kirche zur Erinne-
rung an jene Zeit der Blüte des Erzbergbaues im Erzgebirge gestiftet haben.“
Durch rohe Übermalung und unsachgemäße „Restaurierung“ ist das Neustädteler
Bild zur Karikatur entstellt worden, so daß nicht mehr der geringste Anhalts-
punkt für seine Herkunft aus der Krodelwerkstatt in Schneeberg vorliegt.
Auch die Angaben Chr. Schuchardts!), auf Meltzers Schneeberger Chronik bzw.
auf die um ı580 von Petrus Albinus geschriebene Kollektaneenchronik der Stadt
Schneeberg zurückgehend, sind bezüglich Martin Krodels durch einen Lesefehler
Meltzers teilweise entstellt. Es heißt da: „Über dem großen Altarbilde in der
Schneeberger St. Wolfgangskirche (Marienkirche) “) befindet sich eine deutsche In-
schrift desselben Inhalts wie die darunter befindliche lateinische, und darüber das
kurfürstliche Wappen von Martin Krodel gemalt, welcher allhier Bürger und sonst
Lukas Cranachs Discipulus gewesen.“
Nach Meltzer habe „Martin auch etwa um 1568 bis 1570 die Apostel an den
Pfeilern der Empore gemalt“, worüber wir weiter unten uns äußern werden, und
endlich gedenkt er eines anderen Bildes Martins in der Schneeberger Hospital-
kirche). (Christus mit der kristallenen Weltkugel.)
Die dem Martin Krodel irrtümlich zugeschriebenen Gemälde sind zwar qualitativ
nicht gleichwertige, aber stilistisch zusammengehörige Werke seines Sohnes Mathias
Krodel d. Ä. An der inneren Chorwand der Schneeberger Hospitalskirche ist ein
Gemälde angebracht, das in den Maßen denen der Emporengemälde der Wolf-
gangskirche gleicht und auch durch seine stilistische Verwandtschaft seine Zu-
gehörigkeit zu jenen bekundet. Christus, stehend, hält eine kristallene Weltkugel
im Arm, also eine ähnliche Darstellung wie jene am zweiten südlichen Pfeiler der
Wolfgangskirche.
Im Jahre 1568 schmückte nach Petrus Albinus (1580) Matz Krötel‘) nach Meltzers
Stadt- und Bergchronik von Schneeberg, 1719: „Lucae Cranachs discipul.“) im Auf-
trage der Stadt und unter der Leitung des Pastors Andreas Praetorius die Vorder-
seite der die Emporbögen tragenden Pfeiler der St. Wolfgangskirche mit ro Fresko-
gemälden Christi und der Apostel, ein weiteres wurde erst 1583 zum Gedenken
an den während der Jahre 1568—1575 an der Kirche tätigen Geistlichen Praetorius
von dessen Sohn gestiftet. In der bereits mehrfach erwähnten Kollektaneenchronik
der Stadt Schneeberg’), von Peter Weise (Petrus Albinus) dem bekannten 1598 im
Alter von 64 Jahren gestorbenen Dresdner Geschichtsforscher geschrieben, heißt es:
„Im Jhar 1568 ist das Gemelde der Apostell an den Pfeilern unter der Borkirchen
yn der großen Kirchen angehangen worden durch Andream Praetorium, Pfarhern
dazumal, Matz Krötel (Mathias Krodel d. A.) von Schneebergk, Maaler.“ Da die
Gemälde zu Beginn des 17. Jahrhunderts von dem Schneeberger Maler Paul Gott-
(х) Christian Schuchardt: Lukas Cranach d. A., Leben u. Werke. (Leipzig 1851, Bd. I, 8. 245).
(2) Vgl. К. Steche, a. a. O., Heft УШ, 8. 40. |
(3) Vgl. R. Steche, a. а. O., Heft VII, 8. 35 und 54. G. F. Waagen, Kunstwerke und Künstler in
Deutschland. Teil I, 8. 59. (Leipzig 1843.)
(4) Solche Willkür in der Schreibweise von Namen begegnet uns in jener Zeit bäufig. So heißt es
z. В. in дег Zimmerschen Chronik von 1548: „Schad’ umb die große Kunst des Meisters Laux
Kronen (Lukas Cranach).
(5) Manuskript der Sächsischen Landesbibliothek, d 51, Blatt 163b. .
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 17 257
hard Blumberg teilweise rticksichtslos restauriert wurden, ist eine eingehende
Stilkritik unmöglich gemacht. Signiert ist nur das Bild des Apostel Petrus, und
zwar in folgender Form: Mi. Die Figurenfolge beginnt am zweiten südlichen
Pfeiler mit der Darstellung Christi als Salvator Mundi, Kreuz und kristallene Welt-
kugel tragend, zu seiner Rechten das Lamm.
Es folgen die Apostel Andreas, Jakobus d. Ä. und Johannes Ev.
An der Nordseite sind die Figuren von Westen nach Osten fortschreitend in
folgender Reihenfolge angebracht: „Philippus, Thomas, Jakobus minor, Simon und
Judas Thaddaeus als Bruderpaar auf einem Bilde, und Mathias.
Die zehn Gemälde sind sämtlich auf sehr dünnem Stuck, ursprünglich wahr-
scheinlich al fresco gemalt, und werden ergänzt durch drei auf Holz in Öl ge-
malte Gemälde in gleicher Größe, die früher frei an den Pfeilern aufgehängt waren,
jetzt aber sich im Chorraum befinden. Sie stellen Johannes Baptista und die
Apostel Paulus und Bartholomäus dar. Johannes, in einer Halle vor einem Kruzifix
stehend, trägt die hl. Schrift, auf welcher das Lamm Gottes ruht. Das 1583 da-
tierte Bild ist, wie oben erwähnt, eine Stiftung des Sohnes, Pastors Martin Prae-
torius, dessen Gesichtszüge Johannes d. T. tragen soll. Nach Meltzer!) trug das
Gemälde folgende begleitende Verse:
Hae pia dilecto posui monumenta parenti,
Cujus in hac faciem conspicis effigie:
Praesentem digito Christum Baptista Johannes
Monstravit; meus at voce docente pater;
Ille parare viam jussus; Sic fata volebant
Heic Domini lectas pascere jussus Oves.
Trotz der riicksichtslosen Übermalung und ihrer dadurch entstandenen kiinstle-
rischen Ungleichwertigkeit nähern sich die Gemälde, wenn man von der der
Cranach-Schule eigenen Verzeichnung von Händen und Füßen absieht, zum Teil
der edien Auffassung und Größe der Dürerschen Apostel. Insbesondere gilt dies
von der Figur Christi, Johannes des Evangelisten und denen der Apostelfürsten
Petrus und Paulus. Auf dem Tafelgemälde des Apostel Paulus trägt er als Parallele
zu den zwei Schlüsseln Petri zwei Schwerter, außerdem befinden sich unten zwei
kleine Wappenschilder und der Name (wohl des Stifters?) Wolff Schroder, so daß
also dieses Bild nicht zur ursprünglichen „Praetorius-Folge“ gehört.
Vermutlich hat Matthias Krodel auch die biblischen Darstellungen in den Briistungs-
feldern der Emporen zwischen 1568 und 1583 gemalt, die aber bereits im 17.Jahr-
hundert zerstört wurden.
In gleicher Weise signiert wie das Schneeberger Petrusbild und die Jahreszahl
1570 tragend (am Rande links) ist ein prachtvoll gezeichnetes und sorgfältigst
durchgeführtes Bildnis eines bärtigen Mannes mit Pelzmtitze in der Braunschweiger
Gemäldegalerie (Taf. 43, Abb. a). Dem langstieligen Hämmerchen nach, das das Mono-
gramm G. P. trägt, handelt es sich vielleicht um einen hohen Bergwerksbeamten
des Schneeberger Hütten- und Grubenbezirkes, nach Karl Scheffler?) um einen
Goldschmied. Der Hintergrund mit einer in lebendigem Barock dargestellten Be-
kehrung Pauli, einem darauf bezüglichen Bibeltext und einem großen Wappen
lenkt durch sein Vielerlei etwas von dem ausgezeichneten Porträt ab, das zu den
(1) Chr. Meltzer: Stadt- und Bergchronik von Schneeberg 1719, S. 307.
(2) K. Scheffler: Bildnisse aus drei Jahrhunderten. (Langewiesches „Blaue Bücher“).
258
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besten des ausgehenden 16. Jahrhunderts gehört. Es wire interessant, durch
Wappen und Monogramm die Persönlichkeit dieses Mannes festzustellen, wie es
G. Sommerfeld für das Zwickauer Epitaph und das Porträt des Schneeberger Rats-
herrn in der Dresdner Galerie gelang.
In dem Katalog des Dresdner Altertumsmuseums wird ein gemalter Fitigel-
altar, aus Mügeln bei Oschatz stammend, beschrieben, dessen Malerei von einem
Schüler oder Genossen des jüngeren Cranach herrühre, und dessen Eigenttimlich-
keiten in übertreibender Weise, ein Haschen nach Effekt in gewaltsamen, un-
schönen Wendungen, geschraubtem, oft ins Burleske fallenden Ausdruck, ver-
bunden mit oberflächlicher Behandlung des Ganzen zeige. Auch Christian Schuchardt
beschreibt im ersten Bande seines Cranachwerkes (S. 246) den Alt-Miigelner Altar,
dessen Gesamteindruck mehr auf Lukas Cranach d. J. Schule hinweise, wihrend
die manirierte Zeichnung und die Behandlung im Ganzen das Verdienst der Schule
habe. Nach den Rechnungen in den dortigen Kirchenbiichern solle es ein Werk
des Mathias Krodel sein.
Schuchardts Angabe wird bestätigt durch eine genaue Beschreibung des Werkes),
aus der hervorgeht, daß man im Jahre 1800 anläßlich einer Renovierung der Mtigelner
Stadtpfarrkirche St. Johannes das Altargemälde von Mathias Krodel als „unnützen
Gegenstand“ beseitigte, „ein schönes Kunstwerk, das nach 4 Jahrzehnten, freilich
nicht ganz ohne Verstümmelung, wieder aufgefunden und, Dank sei dem Siichs.
Altertumsverein, in dessen Museo jetzt als ein Schatz aufbewahrt wird.“ Aus der
Beschreibung des Mügelner Pfarrers Sinz geht hervor, daß die Dresdner Gemälde
zu einer ursprünglich viel stattlicheren Altaranlage gehörten, denn er schreibt:
„Der jetzige Altar stehet 4 Stufen hoch, zu beiden Seiten ist ein Geländer, der
Tisch ist steinern, die Altarwand aber von Holz sehr kunstreich geschnitzt und
ganz vorzüglich gemalt. In dem untersten Fache zeigt sich, unmittelbar über dem
Altartische, die Einsetzung des hl. Abendmahls gemalt. Darüber und in dem
mittleren Teile der Altarwand sind Doppelflügel und Türen, inwendig und aus-
wendig geschmackvoll gemalt, so daß man den Altar zweimal verändern, auf- und
zumachen kann und die Ansicht dieser Gemälde wechselt. Auf dem äußersten
Teile dieser Flügel sieht man 4 Felder, und zwar auf der Mitternachtseite die
Verkündigung Mariä, auf der ersten Türe die Geburt Christi, auf der andern Jesus
im Tempel sitzend unter den Lehrern, und auf der Mittagsseite die Taufe Christi
im Jordan von Johannes vollbracht, meisterhaft dargestellt. Bei Eröffnung beider
Türen oder Flügel erblickt man wieder 3 gemalte Felder, nämlich in der Mitte
die Kreuzigung Christi, ein Prachtstück voll Leben und Ausdruck, rechter Hand
den Kampf des Herrn im Garten Gethsemane, linker Hand seine Auferstehung
(Taf. 40, Abb.c). Oben darüber in der dritten Abteilung des Altars steht rechter
Hand und auf der Mitternachtseite das Wappen Johannis IX. von Haugwitz mit
4 Feldern, worin statt des vormaligen bischöflichen Lammes sich wechselsweise
ein Büffelkopf, als das Haugwitzsche Geschlechtswappen, und ein Adler zeigen.
Es hatte nämlich, als dieser Altar erbauet wurde, Johannes von Haugwitz auf das
Bistum Meißen schon verzichtet, lebte aber als Domprobst zu Naumburg auf dem
Schlosse Ruhethal. Gegenüber linker Hand auf der Mittagsseite befindet sich das
Miigelische Ratssiegel. Darüber ist in der vierten und kleinsten Abteilung das
Jüngste Gericht gemalt und oben darüber ragt ein kleines Crucifix hervor. Dieser
(1) Johann Gottlob Sinz: Geschichte der Stadt Mügeln und Umgegend. (Mügeln 1846), S. 148—150,
171—172. Joh. Fiedler und M. О. Zießler: Chronik von Mügeln (1754), 8. 129.
259
Altar ist 1582 ganz neu erbauet und von Mathias Krodell, Bürger und
Maler zu Schneeberg, gemalt worden und kostet 70 8. zu verfertigen,
wozu der Bischof Johann von Haugwitz, der Rat, Bürgerschaft und die ganze
Kirchfahrt das ihrige freiwillig beigesteuert haben. Dieser Mathias Krodell war
ein sehr berühmter Künstler seiner Zeit, welcher zu Kurfürst Christians Zeiten
in Dresden im Schlosse einige Wand- und Deckengemälde malen mußte und 1605
starb. Martin Krodell, welcher vermutlich sein Vater war, war ein Schüler Lukas
Cranachs, daher auch wohl unser Altargemälde als ein Werk aus der Cranachschen
Schule leicht erkannt wird; und seine Söhne, Matthias jun. und Wolfigang waren
ebenfalls in der Malerkunst sehr berühmt, wie Meltzer’) bezeugt.“
Von den Fresken, die Mathias Krodel zur Zeit Kurfürst Christian I. (1568— 1591)
im Schloß und im Stallhof (jetzt National-Hygienemuseum) zu Dresden „ufn Tünch“,
wie es in der Meltzerschen Chronik S. 639 heißt, gemalt hat, ist nichts mehr er-
halten. Wir wissen nur noch von schwarzen Sgraffitomalereien: einzelne Krieger,
Reiterzüge, Schlachtenszenen usw., mit denen alle Wandflächen des Stallgebäudes,
jener Stätte für ritterliche Kampfspiele, die bald in ganz Europa berühmt waren
geschmückt wurden?).
Hingegen besitzt die Dresdner Gemäldegalerie ein Porträt, das, deutlich auf die
Cranach-Tradition weisend, fast wie ein sehr gutes Werkstattbild der Cranach-
Schule wirkt. Seiner Bezeichnung: 1591 aetatis suae 49. MK (zusammengezogen)
entsprechend, wird es jetzt mit Recht Mathias Krodel d. Ä. zugeschrieben, obwohl
die Form des Monogramms nicht mit der Signatur des Schneeberger Apostel
Petrus in der Wolfgangskirche übereinstimmt (Taf. 43, Abb. b). Daß es sich aber
um einen vornehmen Schneeberger Bürger handelt?), geht aus dem Wappen seines
Siegelringes hervor, welches mit jenem in der rechten oberen Bildecke tiberein-
stimmend, nach Christian Meltzer‘) das des Schneeberger Ratsherrn und Stadt-
richters Franz Brehm ist. G. Sommerfeldt’) hat nachgewiesen, daß das Bildnis
zwei Jahre nach dem Tode Franz Brehms, der auch wohlhabender Hammerherr
in Unter-Plauenthal war, im Auftrage seiner Witwe Magdalena (}1596) von Mathias
Krodel d. A. gemalt worden ist. Auch Schuchardt kannte das Bild durch Autopsie,
und äußert sich im dritten Bande seines Cranachwerkes tiber es wie folgt: „Wenn
man bei dem männlichen Bildnis eines alten Mannes mit weißem Barte, in der
linken Hand ein Buch haltend, an die Bilder denkt, die ich in meinem Werke:
Lukas Cranach d. A., Leben und Werke (Bd. I, S. 245 ff.) als Werke der Künstler-
familie Krodel angeführt habe, so kann man bei dem Dresdner Porträt, signiert
M. K. 1591, weder an einen der Krodel, noch an die Cranachsche Schule denken.“
Zweifellos hat Mathias Krodels Stil nach 1582 eine Veränderung erfahren, die,
wie auch die neue Signatur des Monogramms, vorläufig noch ungeklärt ist, und
Schuchardts Skepsis durchaus berechtigt.
(1) Schneeberger Chronik, 8. 87, 407, 639.
(2) Diese und die malerische Ausschmückung der Stallgalerie dürfte auf den namhaftesten Dresdner
Maler jener Zeit, den Braunschweiger Heinrich Göding (1531—1606), seit 1570 Hofmaler des Kur-
fürsten August, zurückgehen. Auch Cyriacus Röder, Zacharias Wehme und Michael Treutting wirken
zu jener Zeit am kursächsischen Hofe, während Mathias Krodel in den Urkunden nie genannt wird,
(3) Nicht um einen dem Kreise der Wittenberger Reformatoren nahestehenden Mann, wie Karl
Schefller vermutet. |
(4) а. а. O., 8. 1088.
(5) In dieser Zeitschrift, Bd. XI (1918), S. 202.
260
“^^
G. Sommerfeldt!) schreibt, auf einer brieflichen Mitteilung E. Flechsigs fußend,
Mathias Krodel d. A. auch ein in Öl gemaltes Marienbild im Städtischen Museum
zu Nordhausen zu. Das Bild stammt aus dem Nachlaß des Nordhausener Stadt-
physikus, des bekannten Botanikers Magister Johann Thal, der im Jahre 1583 töd-
lich verunglückte. Seine Erben konnten sich bei der Erbschaftsteilung nicht über
den Besitz dieses Gemäldes einigen und stifteten es deshalb dem Rathause, wo es
in der sogenannten „Regimentsstube“ über dem „Kammerkasten“ seinen Platz fand?).
Nach der genauen Beschreibung des wertvollen Bildes, die Julius Schmidt im elften
Bande des Inventarisationswerkes der Provinz Sachsen gibt, trägt es die Jahreszahl
1564 und das Künstlerzeichen М = M. K., welches nach einer Inschrift auf der
Rückseite des Bildes den Maler Marcus Kräger bezeichnen soll. Am oberen
Bildrande ist in späteren Schriftzügen aufgemalt: „imago virginis Mariae“.
Es liegt trotz der Ähnlichkeit der Künstlerzeichen keine Veranlassung vor, den
Namen des Malers Marcus Kräger durch jenen des Mathias Krodel zu ersetzen,
da auch das Ergebnis der stilkritischen Vergleichung des Nordhausener Gemildes
mit Krodelschen Werken nicht unbedingt für die Identität des Nordhausener und
Schneeberger Künstlers spricht).
Auch erwähnt Meltzer‘) einen Mathes Krodel, Maler, der um 1620 unter den
Schneeberger Ratspersonen war. Vermutlich ist er der älteste Sohn des am
6. April 1605 verstorbenen Mathias Krodel d. А. Nach anderer Lesart soll Mathias d. J.
vier Jahre vor seinem Vater, also 1601 gestorben sein. Gemälde seiner Hand haben
sich weder von ihm noch von seinem jüngeren Bruder Wolfgang (geb. am 4. Sep-
tember 1575, gest. etwa 1627) nachweisen lassen, so daß das „Werk“ der Krodel
auf den Schultern des älteren Wolfgang und seines Neffen Mathias ruhend, fast ein
Jahrhundert der erzgebirgischen Malkunst ein eigenartiges und hochwertiges Ge-
präge verliehen hat, das Schneebergs wirtschaftlich bedeutsame Stellung in den
kursächsischen Landen auch auf künstlerischem Gebiete als gleichwertig erweist.
(х) Neues Archiv für Sächsische Geschichte, Bd. 41 (1920), 8. 131.
(2) F. Chr. Lesser: Historische Nachrichten von der Kayseri. u. d. hi. röm. Reichs Geier Stadt
Nordhausen (1740). Joh. Heinr.’Kindervater: Nordhusa illustris (1715).
(3) Zei, dagegen Max J. Friedländer in Doering u. Voß: „Meisterwerke der Kunst in Sachsen und
Thüringen“ 8. 17 (Magdeburg 1905): „Rein stilkritisch läßt sich an das Braunschweiger Porträt des
Goldschmieds von 1570 und die Madonna in Halbfigur im Museum zu Nordhausen (Katalog der
Erfurter kunstgeschichichtlichen Ausstellung von 1903 Nr. 118) eine unsignierte Madonna anschließen,
die der Fürst von Rudolstadt nach Erfurt geliehen hatte (Kat. Nr. 130).“
(4) a. a. O., 8. 429.
261
MISZELLEN.
ZUR DEUTSCHEN MALEREI UM 1500
Mit einer Tafel in Lichtdruck
р" Bild, das ich mit den folgenden Zeilen in
die Literatur einführen will, bekannt zu machen,
sur Diskussion zu stellen, ist der Hauptzweck
dieser Arbeit. Die eigne Meinung, die ich nament-
lich bes. des Autors habe, vorzutragen, ist selbst-
verständliche Pflicht. Mich eines Besseren be-
lehren zu lassen, bin ich — wie stets — gern
bereit. Was ich im Vorwort zu meinem Buche
über die niedersächsische Malerei des Mittelalters
bekannt habe: „Auch in der Wissenschaft ist das
Odem spendende Gesetz der Entwicklung alles
Fleißes und aller Mühen schönster Lohn, und eitie
Rechthaberei bleibt auch hier der Todfeind aller
Erkenntnis“ ist mein Glaube, und Gerede nicht.
Einen Dürer zu entdecken, scheint mir gering
und eitel gegen Erlebnis und Überzeugung. Ich
habe nichts vor, als der Wahrheit und unserer
schönen Wissenschaft zu dienen, wenn ich meine
Ansicht Berufeneren unterbreite. Und mehr soll
nicht geschehen.
Zunächst das Äußerliche: Das Bild, von dem
mir der Besitzer, Herr C. Hausmann in Pyrmont,
freundlicherweise eine Photographie zur Veröffent-
lichung überlassen hat, ist ohne Rahmen 55,9 cm
hoch, 39 cm breit und auf Lindenholz (mit Wurm-
fraßspuren auf der Rückseite) gemalt. Durch die
Mitte der Tafel geht ein (in der Photographie
sichtbarer) Sprung, dicht am Kinn der Maria links
vorbeilaufend. Die Rückseite wurde in der Mitte
des vorigen Jabrbunderts im Germanischen Mu-
seum in Nürnberg parkettiert. Bei dieser Gelegen-
heit scheinen die alten Verletzungen der Malerei
in und neben der Sprunglinie restauriert worden
zu sein. Der Vorbesitzer hat das Bild um 1848
von einem Grafen Wedel auf Schloß Evenburg
bei Leer erworben. Mehr konnte ich über die
Provenienz leider nicht erfahren.
Das Gegebene: Maria mit dem Kinde in der
Landschaft ist aus der Abbildung zu ersehen.
Der erste Eindruck ist wohl der, einer unaus-
geglichenen, zwiespältigen Auffassung und Formen-
sprache gegenüberzustehen. Ein rätselhafter Kampf
gegensätzlicher Weltanschauungen und künst-
jerischer Ziele scheint die Ursache zu sein. Wir
haben einen Meister des Überganges vom Mittel-
alter zur Renaissance vor uns. Zunächst das Eine:
zwei Edelsteine des Bildes: der Kopf der Maria
262
Von V. CURT HABICHT
0000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000
und die Landschaft sind ganz Mittelalter, Zeugen
des hohen Aufstiegs der Sondergotik, Reife und
Jugend zugleich. Der eigentümliche und neue
Weg der späten mittelalterlichen Kunst (nichts
anderes und namenlos, denn auch Sondergotik
sagt das Richtige nicht), der bald verschüttete und
hier schon durchkreuste, geht einem eigenen Ziele
nach. Das Wesentliche liegt in der Ankündigung
eines neuen Wollens, das naturgesättigter nach
Ausdrucksformen strebt, für die die empfindsame
Verfeinerung eines Schongauer, der unmittelbare
und lebensnahe Esprit eines Hausbuchmeisters
und die Auseinandereetsung mit dem erdrückenden
Vorbild der Niederländer nicht mehr genügen. An
Stelle der weltumspannenden Symbolik und der
ekstatischen Spiritualität des frühen Mittelalters
geht diese expressive Welle auf individuelle,
menschliche Töne aus. Der Naturalismus dieser
Sondergotik ist nur eine und keine für sich be-
stehende Seite dieser Kunst. Die Gesamtanlage
des Bildes verkündet laut ein neues Sehen mit
geputsten Augen. Voll von Duft und Flimmern,
erlebt, ist das kleine Stück Welt der Landschaft.
Das Sehen ist geklärt oder vielmehr seiner Auf-
nahmefähigkeit bewußt geworden. Erstaunlich
„beeindruckt“ von der Natur erscheinen Dar-
stellungen wie die des Flusses mit seinem Glanz,
den Lichtern und den Spiegelungen der Ufer, oder
die der Birke links. Anderes, wie der Himmel —
unten glasig graublau, oben etwas dunkler — ist
ungesehen, Schablone, Vorbildern verpflichtet.
Hart, eckig und unverbunden davor die Gestalt
der Maria, expressiv erlebt und gestaltet. Aber
dieses Ausdrucksverlangen erwächst nicht mehr
aus reiner, abstrakter Geistigkeit. Eine sehr scharfe
Individualbeobachtung wird zur Klärung des ein-
maligen, seelischen Zustandes herangezogen. Diese
mit einem dunkelgrünen Untergewand, blauem
Mantel und weißem Kopftuch schlicht gekleidete
Frau ist Trägerin des Ahnens mehr als des Gottes-
sohnes, ist heimlicher Schmerzen und stiller Weh-
mut voll. Armeleuteahnen und Kümmernis, Scheu,
Weltschmerz, Verbindlichkeit und Unnahbarkeit
sind in seltsamer Weise vereint. Eine einfache,
derbbürgerliche Frau, die zugleich Gottesmutter
ist — wie wahr, wie tief erfaßt ist das Mysterium.
Die gezierte Haltung des Kopfes, besonders die pre-
siöse, unnatürliche Art des Zugreifens, und der
Ausdruck sind die Mittel der Verdeutlichung der
maiestas. Gewiß steckt hier auch Unvermögen
des Künstlers, Suchen und Tasten, eigene Scheu,
die diesen Eindruck erzielen, aber im Grundeist er
so gemeint — und gewollt.
Die Darstellung der Landschaft und der Maria
gehen nicht zusammen, sie eint lediglich die
gleiche Stärke des inneren Erlebens. Frisch wird
die Wirklichkeit ergriffen, es zu künden. Ra-
tionalistische Überlegungen schweigen, nichts von
Komposition, Klarheit, vorgefaßtem Ziele.
Aber dann kommt plötzlich ein befremdender,
unreiner Ton in die Gestaltung. Er gebt aus von
dem italienisierenden Jesusputto, er macht den
Spielverderber, zerstört die Einheit, welscht eine
fremde Sprache. Wie gelähmt, mit eigentümlichem
Versagen, beginnt das Bild links. Eine tote, wein-
rote, leere Fliche (von der Brust des Vogels ab-
wärts) scheint wie ein Brett. Men hat das Gefühl,
els ob der Zwang, den Eindringling in dem Bilde,
den Störenfried und Verursacher der Dissonanz
darzustellen, alle Unmittelbarkeit und Unbefangen-
heit verscheucht hätte. Verstand, Erinnerung und
Wissen — anstatt Gefühl und unmittelbarem Er-
leben — diktieren schon die Haltung. Etwas
ähnliches hatte schon Schongauer im Motiv (В. 29
I u. II) gegeben. Aber dessen Stich kann Vor-
bild hier nicht sein. Alle Formen sprechen für
einen Italiener der Richtung Perigunos oder Lorenzo
di Credis, wenn es auch nicht möglich ist, das
unmittelbare Vorbild zu nennen. Dieschwammigen,
weichen Formen des Körpers, die den Putti ent-
nommene Typisierung des Gesichtes mit den
Pausbacken, die Lagerung der in der Ruhe noch
bewegten Beine sagen darüber genug. Weniger,
aber doch genügend, sind auch die Farben von
dort bestimmt, besonders das weißrötliche Inkarnat
(Haare rötlichbraun mit hellweißgelben Lichtern,
Augen graublau mit schwarzer Iris). Sehr auf-
dringlich und des Aufwandes nicht wert die Deute-
gebärde. Wirklich beobachtet, frisch dagegen der
am Schnuller pickende Vogel. Auch in den Farben
reizvoll: Brust weiß, olivgrüne Hals- und Rücken-
federn, schwarz-weiße Schwansfedern. Diese Emp-
fänglichkeit für gesehene zarte Farbtöne viel stärker
und geschlossener noch in der Landschaft — und
jedes in auffallendem Kontrast auch zu der zarten,
konventionellen Beschränkung bei der Maria. Die
breiten Lokalfarben verschwinden. Das Spiel der
vielfältigen Erscheinung, die Eindrücke, besonders
überraschend in der farbigen. Wiedergabe des
Flusses fsstgehalten, in dem das Blau des Himmels,
das Weiß der Wolken, das Grün der Uferbüsche
und das Weinrotviolett des Hauses spiegeln und
mit der graublauen Färbung des Wassers selbst
überraschend zusammengehen. Auch die feinen
Oberflichenreize der Birke mit ihrem schwarz-
grünen Stamme und weißen Flecken, der fast auf-
gelösten Blattkrone in hellgriingelben Tönen auf
dunkleren grünen sind scharf aufgenommen und
malerisch gepackt. Breit, pastos als grüne Flecken
mit helleren, häkchenartigsn Tupfen die Ufer-
büsche. Ähnlich das Stückchen Hügelland rechts.
Sehr zart der hellgelbe Weg. Braunere und dunk-
lere Töne im übrigen in den Büschen der rechten
Seite.
Trotz Zwiespältigkeit und Unausgeglichenheit
im ganzen besitzt das Bild in den starken Stellen:
Landschaft und Madonna so viel Qualität, daß es
wohl der Mühe wert ist, den Fragen einer näheren
Bestimmung nachzugehen,
Zunächst die zeitliche Ansetzung. Die Gesamt-
einstellung, die künstlerische Grundabsicht lassen
keinen Zweifel, daß das Bild aus spätmittelalter-
licher Gesinnung erwachsen ist, allerdings nun
aber bei einem Künstler, in dem sich eine offen-
bar erstmalige, oder wenigstens sicher noch nicht
oft bewältigte Auseinandersetzung mit der Formen-
welt der italienischen Renaissancemalerei voll-
zogen hat.
Die naive und hart aneinanderstoßende Ver-
koppelung zweier Formwelten spricht ferner dafür.
Wie sich die Behandlung des gleichen Themas
nach einer gewissen Sättigung mit den Renaissance-
begriffen — und Formen vollzieht, sind wir leicht
in der Lage, an einem Bilde des Germanischen
Museums zu prüfen, das E. Braun!) Hans Baldung
zuschreibt und in die Zeit um 1520 verlegt.
Zweierlei ist von vornherein für das ungeübteste
Auge mühelos festzustellen: Einmal nämlich, daß
das Nürnberger Bild später entstanden sein muß als
das unsere und ferner, daß Beziehungen zwischen
beiden Bildern bestehen. Soviel schwächer, inner-
lich ärmer vor allem das Baldung zugeschriebene
Bild ist, hat es doch „Vorzüge“, die aus einer
klareren Anschauung der Renaissanceabsichten
stammen. Wir sehen den Dürerschüler Mängel der
Zwiespältigkeit und Unausgeglichenheit sorgfältig
vermeiden, Er verbindet Figur und Landschaft,
schließt die Gruppe: Mutter und Kind als Masse
dicht zusammen, einbezieht das im Motiv bei-
behaltene Kind in eine angestrebte Dreiecks-
komposition, nähert den Typ und die Gestalt der
Maria an den italienischen des Jesusputto.
(з) Vgl. E. Braun: Studien aus der Gemälde-Gal. des Germ.
Mus. в. Mitteil. aus dem German. National-Museum 1895,
Tafel V.
263
Die Meerkatse in dem Bilde gibt einen Finger-
zeig. Wir haben das Verhältnis unseres Bildes
zu dem Stich Dürers festzustellen. Auch hier
sprechen die Formen kräftig genug, um eine
spätere Ansetzung des Stiches (B. 42):) vornehmen
su können. Die geschlossenere Einheit des Ganzen
die gelocktere, weit stirker it alienisierende Madonna,
der veränderte Typ des Schönheitsideals, die vielen
formalen Gefälligkeiten und einschmeicheinden
Töne genügen für diese Aussage. Welcher Zeit-
punkt damit für die Entstehung unseres Bildes
gewonnen ist, bleibt deshalb unklar, weil der Stich
bald um 1506, bald um 1499 datiert wird. Ich
lasse diese Frage unentschieden, stimme aber der
früheren Ansetzung zu. Wirhaben überdies weitere
Möglichkeiten, die zeitliche Eingrenzung vorzu-
nehmen. Dürers Madonna von 1506?) im Berliner
Kaiser-Friedrich-Museum zunächst. Das von man-
chen hochgepriesene, rein aus Vernunft, aus be-
wußter Formenrivalität geschaffene, dem Mittel-
alter gänzlich abgeschworene Bild verrät seine
spätere Entstehung in jedem Zuge, ja es mutet
wie eine „gereinigte“ Fassung unseres Bildes an.
Wir gehen weiter — und stoßen plötzlich auf
einen sehr engen Zusammenhang unseres Bildes
wieder mit einer Arbeit Dürers, und zwar mit der
Madonna und dem Kinde in der Anbetung der
bl. 3 Könige des Marienlebens*). Die Gesamt-
haltung der Maria, Körperwendung und besonders
die eigentümliche Kopfhaltung decken sich fast
genau. Auch bei dem Christusknaben stimmen
die Lagerung des Körpers, Kopfhaltung, Arm-
bewegung im wesentlichen mit denen unseres
Bildes überein. Ferner erscheinen hier wie dort
die von einem Tuch knollig verdeckten rechten
Hände der Maria, Gewanddarstellung, Kopftuch,
die unter demselben hervorringelnden, auf die
Schultern fallenden, Locken der Maria. Es kann
kein Zweifel sein, daß, wenn überhaupt irgendwo,
so hier, engste Verbindungsfäden laufen. Aber
welche? Ist unser Bild Kopie — oder später ent-
standen, oder ist das Verhältnis umgekehrt? Dies
sind die brennendsten Fragen. Bei näherem Zu-
sehen wird es deutlich, daß der Holzschnitt eine Reihe
von Änderungen aufweist, die man durchaus als
Verbesserungen oder zum mindestenalsÄußerungen
einer fortgeschritteneren Entwicklung anzusprechen
hat. Statt der stracken, unnatürlichen, parallelen
Beinhaltung (der offenbar ängstlich übernommenen)
unseres Bildes ist die des Holsschnittes gesehener,
(1) vgl. v. Scherer: Dürer. Stuttgar und Leipzig 1906,
8. 118. |
(2) v. Scherer: 8. 31.
(3) vgl. Scherer: а. a. O., 8. 212.
264
„richtiger“. Hier sieht der Knabe das rechte Bein
etwas gekrümmt an und hat das linke freier und
der Drehbewegung nach links entsprechender
legen. Die ungeschickte Deutegebärde der linken
Hand ist aufgegeben. Die unmöglichen, wurst-
artigen Einschnürungen des rechten Armes des
Bildes haben einer Klärung trotz der beschwer-
licheren Mittel Platz gemacht. Die scharf eckige
Haltung des Kopfes der Maria, Härten, wie das vor-
springende Kinn im Bilde, sind im Holzschnitt
leicht, aber zum Vorteil eines sanfteren, ausge-
glicheneren Schönheitsideals, geändert.
Der Holzschnitt stellt eine weitere Fassung des
gleichen Motivs und Gedankens dar, und, da er
vor 1498 entstanden ist, gehört unser Bild in eine
Zeit kurz vorher.
Dürer, kurz nach der ersten italienischen Reise!
— dies ist in der Tat mein Urteil beim ersten
Zusammentreffen mit dem Bilde auch gewesen.
Ich habe diese — für mich feststehende, aber
manchem vielleicht zu kühn erscheinende — An-
sicht noch zu vertreten.
Die zeitliche Ansetzung um 1497 dürfte un-
widersprochen bleiben. Ein Dürerschüler schaltet
somit aus. Die Beziehungen zu dem Holzschnitt
des Marienlebens sind nicht zu leugnen. Ein
Dürerschüler verarbeitet später das doch wohl von
Dürer stammende Motiv: Baldung im Nürnberger
Bild. Ein Vorläufer Diirers? Es müßte dann
schon ein Doppelgänger sein. Solche Schemen
sind beschworen. Allein — Qleichstrebende hat
es wohl sicher gegeben, namentlich dem tastenden,
noch unsicheren, jungen Künstler nahe kommende
Verbindungen 'mit gesicherten Werken Dürers
sind deshalb aufzuweisen. Ich nehme zunächst
noch einen Holzschnitt: Die hi. Familie mit den
3 Hasen (B. 192)1), da diese Arbeit gleichfalls
um 1497 gesetzt wird.
Im wichtigsten, in der künstlerischen Grund-
einstellung, überwiegt durchaus die mittelalterliche
Auffassung, verbunden zugleich mit einem leiden-
schaftlichen Suchen nach neuen Ausdrucksmöglich-
keiten (Sondergotik). Angeklammert an Schon-
gauer Schöpfungen, ängstlich und rührend unfrei,
wird doch im ganzen von einem Welt-und-Lebens-
gefühl und einem Formenwille Kunde gegeben,
die dem verehrten Vorbild fremd sind, Wie bei
unserem Bilde vermag der neue Geschmack nicht
mehr als eine Episode abzutrotzen — und wieder
ist es der Jesusknabe, der in allen Formen und
mit seinem Malochio-Kettchen die Übernahme
italienischer Vorbilder nur zu deutlich verrät. Im
(x) vgl. Scherer: a. а. O., 8. 171.
— — — — — . SEEN — — . — — — — , — „и. AR — — — eee ae ee 2 ee eee
—
——— — A —— —
TAFEL 44
Deutscher Meister um 1500 (Dürer?): Maria mit Kind.
Pyrmont, Privatbesitz.
Zu: V. C. Habicht, Zur Deutschen Malerei um 1500.
einzelnen weisen die beiden Marien engste Ver-
wandtschaft auf. Der Frauentyp, Kopfhaltung,
Kopftach, Falten, die unter dem Kopftuch hervor-
kommenden Locken sind überraschend gleich-
förmig gestaltet.
Unter den Gemälden steht der um 1497 ent-
standene Studienkopf einer Frau (Paris, National-
bibliothek) i) unserer Madonna am nächsten. Das
Pariser Bild ist offenbar eine Bildnisstudie. Des-
und der en-face-Haltung wegen sind charakteristische
Eigentimlichkeiten des Pyrmonter Bildes, so die
herbe Eckigkeit der Haltung und des Kopfes, nicht
zu erwarten. Trotz der verschiedenen Aufgaben
und Lösungen lassen sich aber leicht Überein-
stimmungen bei den wohl zeitlich nahestehenden
Arbeiten feststellen. Man vergleiche die seltsamen
chamäleonartigen Augen mit ihren schweren halb-
kugeligen Oberlidern, ferner die scharf abgesetzten,
kapselförmigen Unterlider. Hier machen sich
neben der Identität des Schénheitsideales überhaupt
auch ganz überzeugend für die gleiche Künstler-
individualität die berühmten oder berüchtigten
Marotten der Handschrift bemerkbar.
Für die Landschaftsdarstellung lassen sich ebenso
weitgehende Übereinstimmungen in dem Pyrmonter
Bilde mit gesicherten Werken Dürers aufweisen —
und zwar auf den Weimarer Bildnissen®), dem
Kasseler’) und dem Krell-Porträt‘),
Die allgemeinen Ubereinstimmungen lasse ich
beiseite. Dagegen sind es bestimmte Eigenarten,
unauffällige, nicht leicht nachahmbare, die voliste
Beachtung verlangen. Ich meine die typischen,
duftigen Buschbehandlungen mit den, auch in der
Farbe übereinstimmenden, häkchenartigen, helleren
Farblinien, die impressionistisch die gebogenen
Umrisse festhalten. Ferner stimmen Farbe der
Wege, der braungrünliche Ton der Erde, besonders
aber die hohen schlanken Birkenbäume mit ihren
schleierartigen Kronen (Kreil-Porträt) und die grün-
blauen Himmeledarstellungen völlig überein,
Ich kann mich nach allem nicht dazu ent-
schließen, an einen Doppelgänger Dürers (ein
Schüler scheidet völlig aus) als den Urheber des
Bildes zu glauben — und sehe aus zwingenden
(1) vgl. Scherer: а. а. O., 3. 9 (rechte).
(з) vgl. Scherer: a. а, O., 8. 11.
(3) ebenda 8. 1з (rechts).
(4) ebenda 8. 13 (links).
Gründen nur die Möglichkeit, Dürers Hand anzu-
erkennen. Es ist ein Werk aus der Sturm- und
Drangzeit, der suchenden und tastenden Jahre des
Werdenden — und wie alle solche Arbeiten —
naturnotwendig — ohne weiteres mit dem offiziellen
Dürer schwer zu vereinen.
Allein — das muß das Schicksal aller Zeug-
nisse des jugendlichen Genius bleiben — und die
Forschung bat es zur Genüge bewiesen, daß dem
so ist.
Das Bild, als Dürer anerkannt, würde eine will-
kommene Bereicherung unserer Vorstellung von
der Schaffensweise des jungen Meisters bedeuten.
Zunächst der wunderbaren Vergieichsmdglichkeit
mit dem motivisch ähnlichen Bilde von 1506 in
Berlin wegen, denn hier könnten die Freunde des
expressiven, der mittelalterlichen Kunst noch treu
verbundenen, Dürer eine Stütze erhalten, seine
Auseinandersetzung mit der artfremden, rationa-
listischen Formensprache zu bedauern, zumal die
Ansätze zu einer neuen, eigenen Ausdruckskunst
entscheidend und deutlich erkennbar werden.
Ferner wird die an sich nicht große Zahl der
Jugendwerke mit einer religiösen Malerei be-
reichert, die wir für diese Zeit seither überhaupt
noch nicht besaßen. Denn der später entstandene
Dresdner’) und der Münchner“) Paumgärtner-Altar
sind doch bereits — wie die jüngsten Unter-
sucbungen von Hagen und Secker erwiesen
haben — reichlich mit dem neuen Öle gesalbt.
Es bleibt eigentlich nur die Wiener Madonna
mit dem Kinde vom Jahre 1503°). Zweifellos
aber auch schon ein geschlosseneres, reiferes und
einheitlicheres Werk. Aber — trotz dieser „Fort-
schritte“ durchaus nicht mehr das, was obne den
Verführer des neuen Stiles hätte werden können.
Der Vorzug des Pyrmonter Bildes beruht in seiner
schlichteren Ursprünglichkeit, in der größeren
Stärke der Erlebnistiefe. Diese aber, Herzschlag
und überverstandesmäßiges Empfinden suchen wir
jetzt wieder mehr in der Kunst als Form, Formen-
reife und -glätte — und so wird unsere Tafel
sicher berufen sein, nicht der Wissenschaft allein
zu dienen. Und das scheint mir wertvoller —
wie Entdeckung, Beweise und Zustimmung.
(z) ebenda 8. 19.
(з) ebenda 8. soft.
(3) vgl. Scherer: a. a. O., 8. 25 (rechts).
265
DIE ERSTE BESPRECHUNG DER CORNELIUSSCHEN ZEICH-
NUNGEN ZUM FAUST
000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000 000000000 0 0000000000600 ТҮҮ Т ҮҮТ ЛҮ ТТ
Cometius’ Zeichnungen sum Faust erschienen
im Stich 1817 bei Wenner in Frankfurt, Die
Mehrzahl der Blätter war während eines Aufent-
haltee in Frankfurt a. M. 1809— 11 entstanden,
und schon damals haben sie, was bisher unbe-
kannt war, eine öffentliche Besprechung erfahren.
Verfaßt ist diese von Helmine von Chézy geb.
von Klenk, einer Enkelin der Karschin und selbst
Dichterin — von ihr rührt s. B. der Text su
Webers Euryanthe her — einer Frau, die in ihrem
Lebenslauf, ihren Schicksalen und der Unaus-
geglichenheit ihres Wesens eine echte Vertreterin
der Romantik war. Sie hielt sich eine Zeitlang
am Hofe des Fürsten Primas Kari von Dalberg in
Aschaffenburg auf, und dort wurde sie mit dem
katholischen Philosophen Professor Windischmann
bekannt, der ihr eines Tages die Originale der
Cornelius’schen Faust-Zeichnungen zeigte. Gewiß
sollte auch Dalberg für sie interessiert werden,
Sie schrieb denn über die Zeichnungen eine Be-
sprechung, die sie in ihren Lebenserinnerungen
selbst erwähnt, ohne noch angeben zu können,
wo sie erschienen sei. Der Aufsatz konnte in-
dessen wieder aufgefunden werden und zwar in
der Zschokke’schen Zeitschrift: Miszellen für
die neueste Weltkunde, У. Jahrg., Aarau 1811,
Nr. 80 (5. Oktober), S. 317. Die Besprechung ist
einmal deswegen interessant, weil sie endlich den
Streit darüber zu Ende bringt, welche Blätter be-
reits damals in Frankfurt entstanden waren und
welche nicht’). Es sind dies: Auerbach’s Keller,
erste Begegnung, Marthe’s Garten, Fahrt zum
Brocken, Gretchen in der Kirche, Rabenstein,
Skizze zur Mater Dolorosa. Zweitens aber ist die
Besprechung nicht uninteressant für den Eindruck,
den die Zeichnungen auf ein dichterisch veran-
lagtes und geistig fein gebildetes Gemüt der da-
maligen Zeit gemacht haben. Neben manchen
weiblichen Uberschwenglichkeiten findet sich manch
durchaus klares Urteil. Nach den Beurteilungen
der wenigen Cornelius’schen Zeichnungen für die
Weimarer Preisausschreiben durch die W. K. F.
ist es die erste Besprechung einer Cornelius’schen
Schöpfung, und zwar nicht aus dem klassizistischen
Lager, sondern aus dem Kreis der Romantik, eine
Probe literarischer Kunstkritik aus den Anfängen
der deutschen Kunstkritik überhaupt, gewidmet
(1) Vgl. meinen Aufsatz: Aus Peter von Cornelius’ Frank-
furter Tagen. Zeitschr. f. bild. Kunst XXIX (1917), H, 8.
8. 184.
266
Von KARL SIMON
einem Werke der neuen revolutionären Kunst, das
wie eine Fanfare wirken sollte. So wird sich die
Wiedergabe an dieser Stelle rechtfertigen.
Die Schlußverheißung darf auch heute noch
und heute wieder als erfüllt gelten, wo der Verlag
D. Reimer, bei dem später die Cornelius’schen
Zeichnungen zum Nibelungenlied erschienen, eine
sehr würdige und mit Dank zu begrüßende Neu-
ausgabe des Faust mit Originalzeichnungen des
Cornelius veranstaltet hat, die auf diese Weise
zum ersten Mai in den Dienst der eigentlichen
Illustration gestellt werden i).
Über Kornelius’ Zeichnungen zum Faust.
(Bruchstück aus einem Briefe.)
Frankfurt, im August 1811.
Noch ganz ergriffen von einer selten-schönen
Anschauung eile ich, sie in der Erinnerung noch
einmal mit Dir zu genießen. Wenn ein so reich
begabter und in den Jünglingejahren schon zur
Virtuosität gediehener Künstler, wie Cornelius,
den Weg, den jetst mancher Künstler aus Über-
zeugung wählt, auch einschlägt, und zwar auf
eine eigentümliche Weise, so läßt sich von neuem
viel für die Kunst hoffen.
Dieser Weg ist der, den Albrecht Dürer, und
auch herrliche alte Niederländer, gegangen sind:
Darstellungen im religiösen symbolischen Geiste
und im Kostüm des Mittelalters. Hier allein noch
herrscht ächt karakteristischer Styl; dies ist die
einzige Form, in welcher noch die ganze Lebendig-
keit einer schönen inneren Erzeugung in voller
Kraft ausgehaucht werden kann. Der Malerei ist
sie die günstigste, unseren Ideen noch immer die
am mindesten entfremdete; sie ist die einzige,
welche weder die Kälte der griechisch sein sollen-
den Darstellungen in sich abspiegelt, noch die in
Form und Stoff merkbare Erschlaffung der jetzigen
Zeit; sondern sie trägt noch Funken in sich, des
ächten Geistes einer kräftigen Vorzeit, einer Vor-
zeit, deren Bewußtsein noch jede wahrhaft deutsche
Brust als ein stolzer Schmerz füll and bewegt.
In wie fern Kornelius diesen Styl und Geist
ganz rein in sich aufgenommen und so, daß er
nirgend in Manier ausartet, steht mir zu beur-
theilen nicht zu. Ein Reiz, wie der, welcher in
diesen Zeichnungen waltet, besticht gar leicht das
(1) Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil mit Ze ch-
nungen von Peter Cornellus. Eingel. von Alfr. Kuhn, Berlin.
Dietrich Reimer 1920. Pr. Mk. 60.—, Luxusausg. Mk. 300.—
Auge, indem er das Herz rührt, weil er aus einer
reinen Quelle des Schönheitssinnes entfließt. Wie
in einem köstlichen Brillianten, der von allen
Seiten Licht und Farbe schöner und reicher wieder-
strahlt, weil er alles in sich konzentriert: so ist
auch in diesen Kompositionen die Lebensansicht
auf das gehaltvoliste und wärmste aufgefaßt. In
manchen dieser Gestalten entfaltet sich der Reich-
tum und die Blithe des Lebens. Es sind solche,
die nur einmal gesehen werden dürfen, um stets
in uns lebendig zu sein; bei denen auf einmal
hell zum Bewußtsein hervortritt, was dunkel im
Innersten schlief; die bloß abspiegeln, was eine
reine Seele in sich selbst als dng köstlichste trägt.
Das erste Blatt zieht mich weniger an, so witzig
und lebendig auch alles dasteht. Es ist die Szene
im Gewölbe. Die zwei Gesellen halten thre Mit-
brüder an den Nasen, Die Angegriffenen wehren
sich mit Leib und Seele. Der „Schmeerbauch
mit der kahlen Platte“ ist mit Shakespeare’schem
Witze dargestellt. Die drei anderen sind recht
durch das Wasser gesogene Naturen. Hier ist
nicht die Hogarthische Karrikatursucht, sondern
ächter Humor. Mephistopheles und Faust ent-
schweben; des Ersteren Blick und Lachen spricht
deutlich aus: „und merkt euch, wie der Teufel
spaße!“ — Faust sieht sich noch im Verschwinden
mit tiefer unwilliger Wehmut um, Das luftige Em-
porschweben ist sehr meisterhaft; Zeichnung und
Kostüm sind Dinge, die mit dem Geist dieser
Sachen in Harmonie stehen, und bei Kornelius
garnicht mehr des Lobes bedürfen, da er sich
genugsam als Meister darin bewiesen.
2. Straße; Gebäude, eine leicht und schlank auf-
strebende gothische Kirche; Gretchen ein in Schön-
beit blühendes Mädchen. Rasch und trotzig, mit
festem Schritt wendet sie sich von Faust: „bin
weder Fräulein, weder schön, kann unbegleitet
nach Hause gehn!“ So recht das ungebrochene
jungfräuliche Wesen. Sie ist doch auch froh,
daß sie schön genannt worden ist, aber Scham
und Trotz bemänteln die Freude. Faust steht da
recht abgeführt mit dargebotenem Arm und ent-
zückten Liebesblicken. Die Scene ist so lebendig,
daß man sie von selbst versteht,
Im Hintergrunde lauscht der Verworfene, Er
freut sich auf das Abentheuer.
3. Die zwei Paare spazieren im Garten. Gret-
chen hat die Blume gezupft: Er liebt mich! Faust
hat seinen Arm um sie geschlungen und gesagt:
Weist du such, was das heißt: Er liebt Dich? —
Sie neigt das blühende, liebeverklärte Angesicht
gegen die Hand, mit welcher er ihre Rechte an
das Herz drückt und läßt die zarten Fingerspitzen
der Linken in des Geliebten umschlingende Hand
gleiten. Es ist die siSeste, unschuldsvoliste Hin-
gebung der Liebe. Die Gruppe ist mit der szar-
testen Innigkeit gedacht und von unendlicher
Schönheit.
Einfacher und freundlicher als die sierliche
Kleidung Gretchens läßt sich nichts denken, und
nun dieser jungfräuliche knappe Schmuck um die
reizvollste Bildung, um den schlanken Bau der
blühenden Gestalt. Nur keine Falte, die nicht mit
rephaelischem Anmutssinn gewählt wäre! — Man
freut sich mit Erstaunen über eine sinnreiche,
blühende Eleganz, die ganz eigenthümlich und
mit als das Schönste dasteht, was sich erreichen
läßt, — Um die Liebenden her sprießen Blumen.
Auf dem Dachgiebel des Hauses sitzt ein ein-
samos Täubchen.
Das gegenseitige Paar, Mephistopheles und Frau
Marthe, ist im vollsten Gegensatz gedacht; zu
witzig und lebendig um beschrieben zu werden.
Lies im Faust, so wirst da sie vor dir sehen.
Mephistopheles sagt: er ist thr gewogen, und
Marthe: und sie ihm auch, das ist der Lauf der
Welt! Ihr frohlockender Blick nach Gretchen hin
zeugt von der Schadenfreude, daß Gretchen nun
auch werde, wie threr Eine.
Mephistopheles trigt die Hahnenfeder. die Kappe
sorgfältig über die Ohren gezogen; in jeder Zeich-
nung verräth sein ganzer Anzug den verkappten
Satan. Selbst seine Gesichtszüge sind nur wie
eine schlechte Kappe über die Verworfenheit und
den Ingrimm seines Wesens gezogen, die überall
durchschauen. Meisterhaft hat der Künstler seine
Beine verdreht, und der ganzen Stellung eine sa-
tanische Gelenkigkeit verliehen. Die aufgehobene
Hand mit den Krallen, die man für lange Nägel
ansehen könnte, ist nicht minder karakteristisch.
4. Mephistopheles und Faust auf der Fahrt zum
Brocken. Das Irrlicht zieht vor ihnen her, sehr
fantastisch und glücklich dargestellt. Mephisto-
pheles packt „des Felsens alte Rippen“, weil sich
der Windstoß erhoben hat. Faust schreitet ein-
her in seiner ganzen Zerquetschung. In tiefes
Nachdenken versunken hauset er unter den Trüm-
mern seiner verfallenen Welt. Das Heer der
Ratten, Eidexen und Molche trabt dem Mephisto-
pheles nach. Giftschwämme bezeichnen seine
Spur. Meerkatze, Schuhu, Fiedermaus, das ganze
Reich der nächtlich feindlichen Tierarten zeigt sich
bier. „Seht die alten Felsennasen, wie sie schnar-
chen, wie sie blasen!“, auch dies Bild ist glück-
lich versinnlicht. Im luftig duftigen Hintergrunde,
wo die Hexen schweben, lieset man wahrlich den
Faust Vere um Vers,
267
g. Eine herrliche Kirche. Gretchen sinkt um,
der böse Geist hinter ihr, flästernd: Luft Dir,
Licht Dir, weh! — Gretchen erreicht mit matter
Hand die betende Frau vor ihr: Nachbarin euer
Fläschchen! — Um sie her eine vortreffliche
Gruppierung betender Gestalten. Das gänzliche
Alleinsein der Verlassenen, an deren Schmerz nie-
mand Antheil nimmt, ist hier schauderhaft. So
wie, wenn in einsamer Nacht das zerrissene Herz
den Verlust des liebsten Gutes beweint, und doch
die ewigen Lichter des Himmels in freundlicher
Klarheit einherwandeln, die Düfte erquickend
wehen, die Nachtigallen singen und alles Schöne
und Liebliche nur mit schärferen Pfeilen an das
Herz dringt, eben weil es so herrlich und unge-
trübt dasteht: eben so ist auch hier die Innigkeit
heiterer Andacht, die Majestät und Schönheit der hei-
lichen Stätte, su dem schmerzgefolterten verrathenen
Herzen des armen Mädchens — und noch schmerz-
hafter ist der Gegensatz einer frommen glücklichen
Mutter, weiche betet, ihr eines Kind auf dem
Arm, dem ein anderes ihr zu Füßen einen Appfel
reicht; Eine Gruppe von Rafaelischer Schönheit!
— Du Arme, die Mutter werden soll, die, was
Leben und Liebe glühend erschaffen, auf das Ge-
heiß der finsteren Gewalten seibst zerstören wird:
kannst du es ertragen, wenn du eine glückliche
Mutter siehst, der ihr Kind zulächelt? —
6. Die kurze Scene:
Faust: Was weben die dort um den Rabenstein?
Meph.: Weiß nicht, was sie kochen und schaffen,
Faust: Schweben auf, schweben ab, neigen sich,
beugen sich.
Meph.: Eine Hexenzuntft.
Faust: Sie streuen und weiben.
Meph.: Vorbei!
Hier steht diese Scene. Vorn im Fluge Mephi-
stopheles und Faust einhersausend auf Höllen-
pferden. Faust schaut um sich nach dem gräß-
lichen Rabenstein. Auf daz Rad sind Körper
geflochten. Gräßlich schwebt obenauf ein Kopf
mit Haaren. Beil und Block, davor Gretchen als
Büßende geführt; über sie der Mutter Geist, hinten
ein Zug satanischer Gestalten mit Mordgewehren.
In den Lüften schweben Geister. Hinter dem
Rabenstein liegen, wie in Staub und Reue hinge-
worlen zwei verhüllte Männer, das ganze ist trans-
parent, von dünnem Nebel umwoben, geisterhaft
und in Hintergrund gestellt. Die Gruppe der
Reiter ist undenkbar schön, von gewaltiger Kraft
und feuriger Darstellung. Der Mephisto ist hier
frappanter als irgendwo! Ein kluger Teufel: die
alten Meister pflegten ibn mehr viehisch darzu-
stellen, die neuere Zeit belehrt uns anders. In
diesen Zügen liegt der Typus der weltverwüsten-
den Grausamkeit, die so rasch als bedächtig zu
Werke geht. Wo der Teufel erscheint, hat er
gewiß kein anderes Gesicht.
Der schöne Gedanke, die Marter des geret-
teten Gretchens als Vision darzustellen und dieser
Scene anzuschließen hat mich besonders gerührt.
7. Eine Skizze, Gretchen vor dem Bilde der
Mater Dolorosa. Ein Klosterswinger. In einer
Nische von Blumen umgeben, das Bild der schmerz-
haften Mutter, das Schwert im Herzen, wie sie
auch auf den ältesten Abbildungen des Christen-
tums steht. Nach der Skisse zu urteilen, wird
sie unnennbar schön sein:
Das Schwert im Herzen
Mit tausend Schmerzen
Stehst du bei deines Sohnes Tod:
Zum Himmel blickst du
Und Seufser echicket du
Zum Herrn für dein und seine Noth!
O neige
Du Schmersensreiche, dein Antlitz gnädig
meiner Noth!
Gretchen knieend, die Biumen opfernd, mit
Thränen’ netzend, im Schmerz unendlich schön.
Die ganze Anlage der Dichtung brachte es so
mit sich, daß sie das Schönste sein muß, die am
innigsten an das Herz geht. Hier erscheint der
Schmerz mit Jugend und Schönheit vereinigt in
seiner rührendsten Gestalt.
So lebendig reich und kraftvoll als diese Scenen
selbst in der Dichtung stehen werden sie auch
in diesen Versinnlichungen leben, und fortdauernd
anregen, freuen und beleben.
Helmine von Chézy, geb. v. Klenk.
m...
HENRIK CORNELL, Sigtuna och
Gamla Uppsala. Ein Beitrag z. Kennt-
nis der engl.-schwedischen Beziehungen
im 11. Jahrh. (schwedisch). Stockholm
1820. 109 S. 4° mit 72 Abbildungen u.
5 Tafeln.
Die ältesten Kultstätten Schwedens, das zwi-
schen Stockhoim und Upsala gelegene Sigtuna
und Alt-Upeala bilden von erhaltenen Kirchen-
bauten den Gegenstand dieser schlichten Unter-
suchung über den Ursprung der Bauweise des in
die Landschaft Uppland eindringenden Christen-
tums. In Sigtuna stehen zwei in ihrer derben
Einfachheit ungemein wirkungevolle Kirchen in
Trümmern: S. Per, ein quadratischer Turm mit
drei in den Achsen anschließenden Nischenkapelien
und einem zweischifügen Langhaus im Westen,
das mit einem zweiten Turm abschließt; 8. Olof
mit einem rechteckigen Mittelturm über einem
dreischiffigen Pfeilerlanghaus, wobei das Turm-
joch seitlich in ein kurzes Querschiff ausladet.
Beide Kirchen sind vor 1134, wahrscheinlich nahe
nach 1080 anzusetzen. Dagegen ist die noch im
Gebrauch befindliche Kirche von Alt-Upsala nach
1130 entstanden. Der Turm beherrscht hier völlig,
was im Laufe der Jahrhunderte um ihn herum
entstand; einst bildete er die Vierung, jetzt den
Westteil des verkleinerten Kirchenbaues. Cornell
vergleicht mit dieser Kirchengruppe eine Anzahl
Landkirchen, um zu zeigen, daß sich der alte
Typus weitergebildet habe, aber vereinfacht wurde.
Für den Ursprung verweist er auf verwandte
Turmkirchen in England und bringt damit in
Zusammenhang die geschichtlichen Nachrichten
über die englische Mission in Schweden.
Ich weiß nicht, ob dieser Ableitung auf die
Dauer zuzustimmen sein wird. Die angelsächsi-
schen Kirchen Englands, deren Besichtigung im
Sommer 1920 ich der Güte des bekannten Ox-
forder Theologen Dr. Headlam (dem Entdecker
vom Kodscha Kalessi) verdanke, lassen doch eine
andere Lösung möglich erscheinen. Cornell bildet
selbst einen dieser Turmbauten, den Turm von
Earis Barton sb. Nun ist dieser aber eine
so überzeugende Nachbildung eines Holsturmes
in Stein und Gußmauerwerk, daß man ruhig
sagen kann, die Folzform sei hier in geradezu
lächerlicher Ängstlichkeit in das andere Bau-
material übertragen. Andere Denkmäler sprechen
eine ähnlich deutliche Sprache, vor allem sind
die in Stein nachgebildeten, holsgedrechselten
Säulen (Fensterteilungen), von denen auch Cornell
einige abbildet, bezeichnend. Auf der Autofahrt
mit Headlam konnte ich auch den Sits Bedas in
Yarrow besuchen. Dort haben Ausgrabungen
ganze Reiben solcher sonst vereinzelt an Kirchen
noch an Ort und Stelle erhaltenen Fenstersäulen
zutage gefördert. Es scheint mir nun sehr wohl
möglich, daß ohne nähere Kunstbesiehungen
zwischen England und Schweden an beiden Orten
in gleicher Weise Baugewohnbeiten des alten
Holsbaues in den Steinbau übernommen wurden.
Das Buch Cornelis bietet für die Behandlung
solcher Fragen eine ausgezeichnete Unterlage.
Es ist sehr dankenswert, daß die Lokalforschung
einmal zusammengefaßt und auf entwicklungs-
geschichtliche Ziele hingelenkt wird. Das dürfte
der Denkmalkunde auch in Schweden wichtige
neue Beobachtungsanregungen geben.
Einer eigenen Untersuchung wird die Anwen-
dung von Gewölben in der Kirchengruppe von
Sigtuna und Gamia Upsala bedürfen. Hat sie
der nordische Steinbau selbständig entwickelt, sind
sie im Anschluß an den Holzbau geworden oder
handelt es sich um Übertragung aus dem Süden?
Die Kreusrippen im Turmjoch von 8. Per er-
wecken im Zusammenhange mit den Tatsachen
in Gotland (Roosval) Beachtung. Die Tonne im
Unken Seitenschiff des Chors von 8. Olof ist
doch alt? Josef Strzygoweaki,
WILH. LORENZEN, De Danske Domi-
nikanerklostres Bygningshistorie.
Kopenhagen 1920. In Comm. bei Gad.
Wenn unter den ländlichen Kirchen Dänemarks
93 vom Hundert dem romanischen Stil angehören
und davon 688 Beispiele des jütischen Granit-
hausteinbaus, vielleicht der schönsten Leistung
des wurselecht germanischen Baugeistes sind, so
kann es nicht wundern, daß die Aufmerksamkeit
der Forscher stets von den Werken jener Peri-
ode gefesselt wird. Zwar gibt es Übersichten über
das gesamte Gebiet der Baukunst bis herab auf
die Erzeugnisse der neuesten Zeit, aber alles, was
nach der des früheren Mittelalters geschaffen ist,
entbehrt jener Anziehungskraft, die sich bei den
früheren bewährt. Mackeprang in seinem ausge-
zeichneten Buch: „Unsere Dorfkirchen“, Kopen-
hagen 1920, kann für das Romanische auf der
Fülle der Forschungen fußen. Aber schon für
die Zeiten des 13. J. werden die Unterlagen mangel-
und lückenhaft, Hier ist nun Wilhelm Lorenzen
269
mit großem Fleiß und Verständnis beschäftigt,
eine der Lücken suszufüllen. Er hat die Kloster-
bauten gewählt. Die Erforschung dieses Gebiets
bietet den Vorteil, sich in besonderem Maße auf
dem Grunde gesicherter geschichtlicher Überliefe-
rungen bewegen zu können. So gibt der Ver-
fasser sein Werk unter dem Titel: „Die Bau-
geschichte der dänischen Klöster“ heraus, doch
mit Beschränkung auf die Zeiten nach der Periode
des romanischen Stile, Der erste Band (1913) be-
handelt die Kiöster der Heiligen-Geist-Stiftungen
(vgl. Zeitschrift für die Geschichte der Architek-
tur 1913, S. 224), der zweite von 1914 beschäftigt
sich mit den Grauen oder Franziskanerklöstern
(e, Kunstchronik 1914/15, 8. 97 ff), und der dritte
jetzt erschienene macht uns mit den Dominikaner-
klöstern bekannt, so an der Zahl, darunter zwei
für Nonnen. So wichtig der Inhalt im Zusammen-
hang mit der Geschichte der dänischen Kultur
und Baukunst ist, so dürfen wir das Werk doch
nur kurs anzeigen: in dem unerläßlichen Streben,
den Stoff zu erschöpfen, wird uns vieles vorge-
führt, was fürs Allgemeine nicht von größerer
Bedeutung ist. Der Band in Quartformat hat
hundert Seiten Text. 33 Abbildungen und 7 Tafein.
Bedeutende Leistungen des Ordens sind wenige
vorzuführen. Ein wesentliches Ergebnis ist, daß
der Bautrieb der Prediger nicht heftig gewesen
ist und hinter dem der Franziskaner, die in 29
Klöstern tätig waren, nicht unerheblich zurückge-
standen hat. Der Orden erfuhr die erste und
kräftigste Ausbreitung gleich in seiner Anfangs-
zeit; die erste Gründung geschah zu Lund 1222,
und es folgten rasch sieben weitere, sämtlich
ebenfalls an den Sitzen der Bischöfe Bis
1375 geschahen noch sieben Gründungen, im
ganzen späteren Zeitraum aber nur noch fünf,
davon die jüngste zu Helsingör 1441. Meistens
wohl brauchten sich die Prediger, die namentlich
von der Gunst der Bischöfe getragen waren, bei
dem Bau von Kirchen zunächst nicht aufzuhalten,
denn sie konnten vorhandene in vollendetem oder
unvollendetem Zustande überwiesen erhalten und
hatten dann nur für ihre persönliche Unterkunft
zu sorgen, wenn nicht auch für diese gesorgt
ward. So brauchten sie keine Gebäude von be-
sonderer Art und bestimmter Stilrichtung zu
schaffen, und ihre Werke entbehren des einheit-
lichen Zugs. Für den Forscher ist es aber an-
ziehend, zu bemerken, wie sich dann im Laufe
der Zeit an den älteren Bau das Neuere anschloß,
früher oder später. Dies wird namentlich an der
Kirche des Klosters zu Aarhus gezeigt, gilt dann
aber auch für die Kirche zu Wiborg, die jetzt
270
Pfarrkirche ist, und schließlich für das Riper
Kloster mit seiner großen und stattlichen Katha-
rinenkirche. Die Behandlung dieses Klosters bildet
eigentlich den Hauptgegenstand der Darlegungen;
sie umfaßt fast ein Drittel des Textes und sämt-
liche Tafeln. Die Perioden sind hier erstens eine
„romanische“ Kirche, etwa vom Anfang des
13. Jahrh.. in welchen Bauabschnitt auch Teile
eines Nebenbaus gehören, zweitens eine frühgo-
tische aus etwas epäterer Zeit desselben Jahr-
hunderts, drittens folgt ein großer Durch- und
Ausbau vom fünfzehnten Jahrhundert. Lorenzens
Darlegungen bieten hier viel Neues, Unerwartetes
und Wichtiges. Jeder, der Ripen kennt. kennt ja
auch diese Katharinenkirche, den zweitbedeutendsten
Bau der einst an Kirchen so reichen Bischof-
stadt. Wir mußten seither in ihr eine etwas
kahle und trockene, aber entschiedene und bewußte
Nachahmung des Domes selbst erkennen. Sie ist
eine dreischiffige Bachgedeckte Basilika, die rund-
bogigen Arkaden suf schlichten vierkantigen Pfei-
lern; eigenartig die emporenartige dreiteilige Glie-
derung in den Sargwänden über dem Arkadensims
des Hochschiffe. Nun wird uns plötzlich klar ge-
macht, daß diese Gestaltung so zu sagen nur
Ergebnis eines Zufalles ist; der Bau, erst aus spät-
gotischer Zeit, war gewölbt oder sollte es werden,
und wenn wir uns die gotischen Gewölbe hinein-
denken, so erhalten wir ein ganz anderes Bild,
nämlich in jedem Joche unter sechsteiligem Zelt-
gewölbe eine Blendengliederung der Hochwinde,
wie sich solche in sehr vielen getischen Kirchen
findet. Der gegenwärtige überwältigende roma-
nische Charakter verschwindet damit fast ganz.
Indes bleibt die Kirche ein merkwürdiges Beispiel
des Archaismus sowohl in der Hauptform als auch
in vielen Gliedern, wodurch manche Rätsel auf-
gegeben werden. R. Haupt.
S. FLURY: Islamische Schriftbänder.
Amida -Diarbekr, 11. Jahrh. Anhang:
Kairuan, Mayäfärigin, Tirmidh. с̧а S. mit
20 Taf. und 16 Textabb. Paris, Paul
Guthner. Basel, Frobenius A.-G. 1920.
Vor acht Jahren erschien von demselben Verf.
eine Abhandlung über die Ornamente der Hakim-
und Asharmoschee (Heidelberg 1912), und seitdem
hat er in einer Reihe von Aufsätzen (besonders
im „Islam“) weitere belangreiche Beiträge zur
Kenntnis der islamischen Epigraphik und Orna-
mentik geliefert. Er hat dabei einen interessanten
Versuch gemacht, der islamischen Kunstforschung
neue und eigene Wege zu eröffnen, und die vor-
liegende Arbeit legt Zeugnis davon ab, wie weit
er mit seiner Methode der paläographischen Ana-
lyse bereits gelangt ist.
An der Hand des Amidawerkes von Strsygowski
und van Berchem wird das Material an spät-
kufischen Bauinschriften aus dem n. und 1a. Jahr-
hundert eingehend untersucht und aus jedem der
dabei herangezogenen epigraphischen Denkmäler
eine Alphabettafel zusammengestellt, die alle ver-
wendeten Buchstabenvariationen berücksichtigt und
so eine zuverlässige Grundlage für stilistische
Untersuchungen und Vergleiche bietet. Auf diese
Weiss kann selbst derjenige, dem die arabische
Schrift nicht geläufig ist, sie zu ornamentgeschicht-
lichen Studien ohne Schwierigkeit heranziehen
und wird sich ohne merkliche Anstrengung in die
charakteristischen Merkmale der einzelnen Laut-
zeichen bald hineinsehen. In dieser Anregung
liegt ein Hauptverdienst des von Flury ein-
geführten Systems, dessen Anwendung auf alle
erhaltenen und künstlerisch bemerkenswerten
Schriftdenkmäler um so mehr zu wünschen ist,
weil nur auf diesem Wege das Material zu einem
vollständigen Atlas der islamischen epigraphischen
Ornamentik gewonnen werden kann.
Außer denjenigen von Amida hat der Vert noch
einige andere stilverwandte und etwa gleichzeitige
Schriftfriese herangezogen und dabei vor allem
die Abwandlungen des Fiechtband-Kufi im Auge
gehabt. Bei dem Versuch, aus der chronologischen
Ordnung der Monumente die Herkunft dieses
Motivs nachzuweisen, kommt er zu dem Ergebnis,
daß es erst durch die Seldschuken von Osten her
mach Mesopotamien getragen wurde, und die
Doppelinschrift am Turme von Radkan verleitet
ihn zu der Hypothese, daß vielleicht im persischen
Pehlewi die Vorstufen für solche Zierformen des
kufischen Duktus zu finden sein möchten. In
Wirklichkeit finden aber alle hier in Frage kom-
menden dekorativen Abwandlungen ihre volle Er-
klärung in der organischen Entwicklung der ara-
bischen Lapidarschrift aus einem ornamentalen
Stilgefühl heraus, das schon damals der islamischen
Kunst aller Linder eine sehr bestimmteRichtung gab.
Das verknotete Kufi kann sehr wohl etwa gleich-
zeitig In den verschiedensten Gegenden der moham-
medanischen Welt ohne gegenseitige Beeinflussung
aufgetreten sein, und einzig magische Vorstellungen
— an die auch der Verf. auf 8. зо mit Recht er-
innert — dürften dabei außer rein ästhetischen
Forderungen mitgewirkt haben. Aber abgesehen
von diesem prinzipiellen Gesichtspunkt wird man
betonen müssen, daß das herangezogene bzw. das
bisher erreichbare Material nicht ausreichend ist,
um bindende Schlüsse über die Wanderung von
ornamentalen Schriftformen von Land .zu Land
zu gestatten.
Erst wenn aus dem vorhandenen Bestand alle
fraglichen Denkmäler nach der von Flury be-
folgten mühsamen, aber zuverlässigen Methode
analysiert und klaffende Lücken ausgefüllt sein
werden, können wir darauf rechnen, aus örtlichen
und zeitlichen kalligraphischen Variationen die-
jenigen Merkmale zu gewinnen, die zur Begrün-
dung einer ornamentalen Paläographie innerhalb
der islamischen Kunstforschung geeignet sind.
Die philosophische Fakultät der Basler Uni-
versität hat sich selbst geehrt, indem sie kürzlich
den verdienstvollen und unermüdlichen Verf. zu
ihrem Ehrendoktor ernannte, und es ist in hohem
Maße zu wünschen, daß sich in Zukunft deutsche
Verleger für die Drucklegung seiner so wichtigen
und aufschlußreichen Arbeiten bereit finden werden.
E. Kühnel.
A. SCHRAMM, Der Bilderschmuck
der Frühdrucke. 2. Heft. Die Drucke
von Günther Zainer in Augsburg. Deut-
sches Museum für Buch und Schrift.
Leipzig 1920.
Der Herausgeber dieses groß angelegten Unter-
nehmens Prof, Alb. Schramm, Direktor des oben
bensnnten Museums, schickt dem Erscheinen der
ersten Hefte in der Zeitschrift seines Instituts
(Zeitschr. des deutschen Vereins für Buchwesen
u. Schrifttum, 1920, Heft 5/6, S. 78) einige ein-
leitende Worte voraus. Es soll die Illustration
der Frühdrucke (eine Grenze ist nicht gesetzt, os
handelt sich wohl um die Inkunabelillustration und
den bildlichen Schmuck der Einblattdrucke des
15. Jahrhunderts) vollständig reproduziert werden.
Den Abbildungen soll eine knappe Zusammen-
fassung der typographischen Forschungsergebnisse
und eine kurze Beschreibung der einzelnen Ab-
bildung vorausgehen. Für jede Druckwerkstätte
ist ein Heft in größtem Format gedacht. Vorliegt
als erstes das über 700 Abbildungen aufweisende
Heft, das die Offizin Günther Zainers in Augs-
burg behandelt. Folgen sollen in Kürze weitere
Hefte Augsburger und Ulmer Druckwerkstätten.
Es wird also der Buchholzschnitt des letzten
Drittels des 15. Jahrhunderts erfaßt, dasselbe, was
der beschreibende Katalog Schreibers in weit über
sooo Einzelnummern von Holzschnittwerken re-
gistriert. Vom kunstgeschichtlichen Standpunkt
aus kann, nachdem sich In den letzten zehn Jahren
die Forschung den Grundlagen des Holzschnitte
271
Dürers und seiner Zeit mit besonderem Interesse
in zahlreichen Arbeiten widmete, ein solches Unter-
nehmen nicht genug als glückliche Förderung
betrachtet werden. Um so mehr als die Zer-
streuung der Originale in den Bibliotheken Eu-
ropas, wobei es sich um viele, oft recht abgelegen
aufbewahrte Unica handelt, die wissenschaftliche
Arbeit auf diesem Gebiet sehr erschwerte. So
wird diese Sammlung, die schon im Anwachsen
der ersten Hefte eine Menge neuen, wichtigen
Materials eröffnen wird, einst neben dem in Vor-
bereitung befindlichen Gesamtkatalog der Wiegen-
drucke, neben Schreibers und Lehrs ausgezeich-
neten Verzeichnissen gleichwertig und sie er-
gänzend bestehen.
Die Sammlung der Holzschnitte aus den Drucken
des Augsburger Zainer ist an Hand der neuesten
Katalogisierung angelegt. G. Zainers Druckwerke
sind im „Probedruck des Gesamtkatalogz der
Wiegendrucke, Halle 1914“ zusammengestellt;
Schramms Publikation gibt einen Auszug der
illustrierten Drucke. Der Text beschränkt sich
auf eine knappe Charakterisierung Günther Zainers
und seiner Offizin unter Benützung der letzten
Zusammenstellung der typographischen Forschung
(Voullieme, Die deutschen Drucker des 15. Jahr-
hunderts, Berlin 1916), hiernach sind die Holz-
schnitte chronologisch jeweils nach einer kurzen
Zusammenfassung der das Druckwerk betreffenden
Daten einzeln inhaltlich kurz beschrieben. Es ist
nicht der Versuch gemacht, das stilistische Ver-
hältnis der einzelnen Holzschnitte zueinander auf-
zudecken oder Stellung zu der Literatur darüber
zu nehmen. Dieses Bescheiden, nur das Material
in seiner ganzen Breite vorzulegen, ist sicher ein
Vorzug. Eine vollständige Zitierung der neueren
Literatur (es ist nur die „notwendig erscheinende“
zitiert) und zum mindesten die jeweilige Benennung
Schreibers bei den einzelnen Werken würde den
Wert der Publikation erhöhen. Denn schließlich
wird dieses Unternehmen, wenn dieser Grad der
Vollständigkeit erreicht ist, gewissermaßen den
Tafelband zu Schreibers beschreibendem Verzeich-
nis (Band V, т und 3) abgeben.
Schreiber gegenüber ist die Sammlung um einige
Holzschnitte auf Einblattdrucken, die inzwischen
durch die Kommission für den Gesamtkatalog der
Wiegendrucke aufgebracht wurden, vermehrt.
(Pestregiment in Versen, Katalog der Einblatt-
drucke 1181, Schramm Abb. 296; „Ich kam auf
ein Gewilde weit“, Kat. d, E. 709, Schramm
Abb. 528; „Zwölf Früchte des Holzes des Lebens“,
Kat. 4. E. 638, Schramm Abb. 698; Die fünf Holz-
schnitte des Mysterium Eucharistiae, Proctor 1588,
272
sind von Schreiber unter Blaubirers Offizin Nr. 4818
aufgeführt.) Schreiber gegenüber fehlen seltsamer-
weise die bald hundert Flolzschnitte umfassende
Historie von Troja des Guido de Columna (Hain
5519 und 3313, Schreiber 4132 und 4133), die
der Probedruck der Wiegendrucke aufführt. Aller-
dinge mit dem Datum (1473), das nicht stimmen
kann, denn bei der Beziehung eines Stockes zum
Äsop muß es nach 1476 datiert werden. Schramm
verweist ganz richtig die Schnitte zum Äsop als
Ulmer Arbeiten in das Heft Johannes Zainer, Ulm,
das in Vorbereitung ist; unverständlich ist es, daß
der Probedruck der Wiegendrucke den Augsburger
Neudruck des Äsop mit den Ulmer Stöcken suf
(1473), im Druck des Textes sogar „um 1471“
ansetst (solche verschiedene Zeitangabe im Rahmen
desselben Werkes ist auffallend), während längs
die Holzstöcke zum Äsop auf 1476 oder Beginn
1477 festgelegt sind (vgl. E. Rosenthal, Zu den
Anfängen der Holsschnittillustration in Ulm, Mo-
natshefte f. Kunstw. 1913, 8. 185 ff.). Holsschnitte
dieses fortgeschrittenen Stiles, dessen Entwicklung
sus den Schnitten des Ulmer Boccaccio und des
Rodericus Zamorensis, Spiegel menschl. Lebens
(trotzdem dies unwidersprochen Ulmer Arbeiten
sind, hat Schramms Abbildung im Heft des Auge-
burger Zainers, da sie dort das erstemal zum Ab-
druck kamen, seine gute Berechtigung) offen liegt,
sind am Anfang der Augsburger Buchillustration
undenkbar.
Ferner fehlt Schreiber gegenüber leider die nicht
unwichtige Initiale figtirlichen Inhalts zu dem
deutschen Kalender von 1472 (Hain-Cop. 2172.
Schreiber 3148, abgeb. bei Haebler / Heita, Hundert
Kalender Incunabeln, Tafel V). Der Kalender von
1476 (nur bekannt in dem Exemplar der Krakauer
Universitätsbibliothek, Schreiber 3150), der dieselbe
Initiale D wie der Kalender von 1477 (Schramm
Abb. Taf. 80) zeigt, ist nicht erwähnt.
Zur besseren Übersicht würde ich vorschlagen,
entweder eine kurse Zusammenstellung der Ab-
bildungen nach Nummer und Tafel am Anfang
der Abbildungen einzufügen oder jeweils über den
Abbildungsseiten oder bei Einblatt-Holzechnitten
unter diesen den Titel anzugeben, da ein je-
weiliges Nachschlagen in dem Text ziemlich um-
ständlich ist,
Die Strichätzungen eind nicht gleichwertig aus-
gefallen, neben recht klaren Abdrücken stehen
solche, die tintig und verkleckst aussehen. (So
könnte beispielsweise aus den Abbildungen 680
und 68: der Schlußvignetten der Bibel von 1477
geschlossen werden, daß es sich um zwei ver-
schiedene Stöcke jenes wappenhaltenden wilden
Mannes, der mit Unrecht dem Hausbuchmeister
zugeschrieben wurde, handelt — vergleiche den
verschiedenen Mund —; das ist nicht der Fall, es
ist nur ein Stock; Abb. 680 ist die richtige.)
Sicher geht dies bis auf die Vorlage zurück, abar
dort im Original sieht man gleich den Grund, das
etwas körnigere Papier oder irgendwelchen tech-
nischen Mißstand, der den Druck mißraten ließ-
Im Original kann immer noch der Linie des
nicht vollgültigen Abdruckes gefolgt werden,
während die Reproduktion leicht zu falschen
Schlüssen über den Holzschneider usw. führen
kann. Die gewissenhafte Forschung wird ihre
Untersuchungen nur vor dem Original anstellen
und eine neue Wegbahnung zu diesem ist diese
sorgfältige und ausführliche Materialsammlung,
die sicher — ähnlich wie Schreibers beschreibende
Katalogisierung — die Holzschnittiorschung von
neuem anregen und vorwärts stoßen wird.
Anmerkung: Herr Professor Schramm teilt
mir mit, daß er Guido de Columna, Historie von
Troia mit dem Nachtrag des Berliner Incunabel-
kataloges als einen Druck des Ambrosius Keller,
der von 1479 an in den Typen H. Zainers druckt,
ansehn und die Holzschnitte deshalb nicht an
dieser Stelle zur Reproduktion gebracht habe. Der
Nachtrag des Berliner Kataloges (Beiheft 45 des
Zentralblatts für Bibliothekswesen) erschien gleich-
zeitig (1914) mit dem Probedruck des Gesamt-
kataloges der Wiegendrucke, der für die vor-
liegenden Zeilen als typographischer Ausgangs-
punkt gewählt wurde. Ernst Weil.
JULIUSv.SCHLOSSER,Materialienzur
Quellenkunde der Kunstgeschichte.
Heft I—X. Sitzungsber. der Akademie
der Wissenschaften in Wien, Bd. 177/96.
Wien, Alfred Hölder, 1914 — 1920.
Die Materialien zur Quellenkunde der Kunst-
geschichte, die Julius von Schlosser i. J. 1914 in
den Sitzungsberichten der Akademie der Wissen-
schaften herauszugeben begann, sind im vergan-
genen Jahre zu einem glücklichen Abschluß
gelangt.
Einstweilen liegt das Werk in zehn Heften m it
besonderer Seitenzählung vor, die nur durch ein
ausführliches und zuverlässiges Register zu einer
Einheit verbunden sind. Es ist aber mit Sicher-
heit anzunehmen, daß diese Einzelhefte früher
oder später ein einziges Buch mit durchgehender
Seitenzahl bilden werden.
Wenn uns heute etwas den Glauben an uns
selber stärken kann, so sind es solche Leistungen
auf geistigem Gebiet. Ludwig von Pastor hat
seit 1914 drei neue Bände seiner Papstgeschichte
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921.
erscheinen lassen und bereitet eben den Druck
der nächsten beiden Bände vor. Wilpert — um
bei solchen Beispielen in Rom zu bleiben
arbeitet an einem neuen Monumentalwerk über
die altchristlichen Sarkophage. P. Ehrie darf
hoffen, in nicht allzukurzer Zeit sein großes Werk
über die Baugeschichte des vatikanischen Palastes
abzuschließen.
Was Schlosser in den letzten Jahren seinem
Genius abgerungen hat, haben die Fachgenossen
mit steigendem Erstaunen gesehen. Alle seine
Arbeiten zeichnet die feine Kritik, die Gründlich-
keit des Wissens und ein gewisser vornehmer
Anstand aus, der sich mit einer ebenso schlichten
wie fesseinden Sprache verbindet. Aber keins
seiner Werke bedeutet einen solchen Fortschritt
in der kunstwissenschaftlichen Literatur wie diese
Quellenkunde der Kunstgeschichte. Dies Buch
wird sehr bald das unenthehrliche Handbuch aller
_ kunstgeschichtlichen Institute sein, Keine Biblio-
thek, keine Universität, in denen man Kunst-
geschichte lehren und lernen will, wird das Buch
entbehren können, Es wird in wenigen Jahr-
zehnten als unzerstörbares Dokument deutschen
Forschergeistes über ganz Europa verbreitet sein
und, in fremde Sprachen übersetzt, seinen Weg
über weite Meere nehmen.
Das Mittelalter, die Renaissance, das Quattro-
und Cinquecento, die Kunstliteratur des Manieris-
mus, die Geschichtschreibung des Barock und
des Klassizismus, die Kunstiehre des 17. und
18, Jahrhunderts werden hier überall mit derselben
Gründlichkeit und mit einer geradezu vollendeten
Klarheit und Ruhe behandelt, wie sie nur ein
Mann mit so universellem Wissen wie Schlosser
erreichen konnte. Daneben sind Vasari und die
italienische Ortsliteratur besonders behandelt.
Besonders in seinen Forschungen über Vasari
und seine wissenschaftliche Behandlung durch die
Fachleute von einst und jetzt, bietet Schlosser ein
Material, wie es noch nie geboten worden ist.
Dabei ist er sich wohl bewußt, etwas völlig Ab-
schließendes nicht schreiben zu können, ehe der
Carteggio Vasariano des Grafen Rasponi veröffent-
licht sein wird, an dessen Herausgabe Frey mit
heroischer Selbstverleugnung seine letzte und
allerletzte Kraft gewandt hat, ohne doch dis өг-
sehnte Ziel zu erreichen,
Jeder wird aus diesem unerschöpflichen Quell
sich zu eigen machen, was seinem Können, Wissen
und Wollen gemäß ist. Niemand wird dieses
einzigartige Buch ohne Förderung aus der Hand
legen. Daß eine solche Arbeit dauernd einer
reicheren Ausgestaltung im einzelnen unterworfen
273
18
sein muß, hat Schlosser schon selbst bestätigt
durch die „Nachträge“ und „Schlußnachträge“, die
er fast ohne Ausnahme sämtlichen Heften an-
gefügt hat, Es darf also unternommen werden,
bier für ein eng umrissenes Gebiet einige wenn
auch unbedeutende Anregungen zu geben.
Condivis Leben Michelangelos vom Jahre 1553
— eins der seltensten Bücher, die es gibt — scheint
Schiosser in Wien nicht gefunden zu haben. Er
hätte uns sonst über die in mehr als einem Sinne
merkwürdige Originalausgabe sicherlich mancherlei
zu sagen gewußt. Unter den deutschen Über-
setzungen Condivis ist die cines Ungenannten
nachzutragen, die im Jahre 1888 in Florenz ver-
faßt wurde und 1889 in Stuttgart erschien. Auch
ins Russische ist Condivis Michelangelo-Leben
übertragen worden und zwar bereits i. J. 1865
durch Michael Gelesnow. Vor allem aber hätte
die Ubertragung ine Englieche durch Herbert
Horne Erwähnung verdient. Dieses kleine Meister-
werk moderner Buchdruckerkunst wurde in be-
schränkter Auflage i. J. 1904 in Boston gedruckt,
Die Absicht, in Format, Papier und Typen die
köstliche Erstausgabe von 1553 möglichst genau
zu wiederholen, wurde hier erfolgreich durchgeführt.
Da auch die Dichtungen zum Tode Buonarodis,
die Domenico Legati i. J. 1564 gesammelt hat,
seit langem unauffindbar sind, so mag bemerkt
werden, daß Magherini i. J. 1875 im Anhang
seiner Biograpbie von Michelangelo die ganze
Sammlung neu gedruckt hat.
Das Leben Michelangelos von Vasari ist —
wie Schlosser vermutet — tatsächlich von Vasari
selbst mit einer besonderen Vorrede herausgegeben
worden, die an Alessandro de’ Medici gerichtet
ist und das Datum vom 6. Februar 1567 trägt.
Die falsche Paginierung (717 für 715) allerdings
ist einfach aus der Gesamtausgabe der Giunti her-
übergenommen worden.
Die Bibliografia Vasariana von Sidney Churchill,
die Schlosser nicht zugänglich war, ist tatsächlich
1. J. 1912 ohne Druckort erschienen, Die Vorrede
ist aus Neapel datiert. Diese Schrift von 45 Seiten
ist durchaus die Leistung eines klugen und ge-
bildeten Dilettanten. Die Angaben über die Zeich-
nungen Vasaris — andere Werke werden nicht
angeführt — sind unzulänglich und beschränken
sich auf Florenz und London. Auch die Biblio-
graphie ist weder alphabetisch noch chronologisch
geordnet, aber sie enthält 196 Schriften von und
über Vasari und ist mit den Churchill zur Ver-
fügung stehenden Mitteln sehr fleißig und zu-
verlässig zusammengestellt. Auch die weniger
umfangreiche Bibliographie über Cellini von dem-
274
selben Verfasser scheint Schlosser entgangen zu
sein. Sie ist in der Bibliofilia von Olschki er-
schienen (Vol. IX, 1908, S. 173 und 372). Die
Selbstbiographie des Raffaello da Montelupo ist
auch von d’Ancona in seiner Sammlung von Auto-
biographien herausgegeben, die i. J. 1863 bei
Barbera erschien.
In solchem Sinne wird sich dieses Buch in
seinem Laufe, den es durch die Jahrhunderte
nehmen wird, dauernd erweitern und verbessern
lassen. Als ein festgefügter, mit größter Sorg-
falt ausgearbeiteter Organismus wird es mehr noch
als Burckhardts Cicerone in allen Neuauflagen
bleiben was os ist: Das unveräußerliche Eigentum
eines genialen Forschers, der diese Arbeit in den
vergangenen Jahren unter Sorgen und Bedräng-
nissen geschaffen haben muß, von denen sich
wohl nur wenige eine Vorstellung machen können.
Eine seiner letzten Schriften hat Schlosser „der
deutschen Heimat“ als Dokument seiner Treue
mit beweglichen Worten dargebracht, Wenn der
deutschen Heimat ferner Männer vom Schlage
dieses Mannes reifen, dann dürfen wir in dunkler
Gegenwart einer helleren Zukunft getrost ent-
gegensehen. E. Steinmann.
KARL WITH, Java, brahmanische,
buddhistische und eigenlebige Architektur
und Plastik auf Java (Geist, Kunst und
Leben Asiens, Bd. I). Folkwang Verlag,
Hagen i/W. Mit 165 Abbild., 13 Grund-
rissen und 167 Textseiten.
Wie in seiner , Buddhistischen Plastik in Japan“
führt uns With neuerdings ein Kapitel asiatischer
Kunst in dem geschlossenen Zusammenhange eines
von 160 Bildtafeln begleiteten, in seiner ktinstle-
rischen Einfühlung und wissenschaftlichen Basie-
rung gleich wertvollen Textes vor. Die Kenntnis
der Kunst Javas war uns bisher durch eine ziem-
lich reiche holländische und englische, im wesent-
lichen monographische Literatur (Brandes, Grone-
man, Kinsbergen, Leemans, Pleyte, Rapp, v. Saher
u. and.) vermittelt, Fergusson und Tissandier gaben
ältere Zusammenfassungen, aber erst die neueren
Werke über indische Kunst von Havell und V. A.
Smith riefen ein regeres und verbreitetes Inter-
esse wach. Die deutsche Wissenschaft hat neben
älteren (A. B. Meyer, Joh. Müller) erst in neuerer
Zeit (Grünwedel, W. Cobn) Ansätze zu einer in-
tensiveren Beschäftigung mit diesen Denkmälern
zu verzeichnen, With selbst hat sich die Grund-
lagen in der indischen Abteilung des kunsthisto-
rischen Instituts Strzygowskis erworben. So be-
deutet dss Buch die erste deutsche und überhaupt
die erste moderne zusammenfassende Bearbeitung
der javanischen Kunst.
Auch hier folgt W. dem schon einmal ein-
geschlagenen und bereits in einem weiteren
Bande über „Bali“ fortgesetzten Weg, die aslati-
schen Denkmäler in ihren wichtigsten Stilgruppen
zusammenfassend zu veröffentlichen und sie ihrem
Wesen nach vorzuführen. Die entwicklungs-
geschichtlichen Zusammenhänge, soweit sie nicht
innerhalb der Gruppen selbst zu lokalen und zeit-
lichen Differenzierungen führen, sind dabei in den
Hintergrund gerückt oder nur angedeutet. Damit
sind diese von vielen ja noch immer als „Exotica“
angesehenen Werke dem modernen Empfinden
als Erzeugnisse hoher Kunst nahegebracht und
eigentlich erst die systematische Basis gelegt, auf
der die größeren noch so dunklen Entwicklungs-
zusammenhänge aufgebaut werden können. Aus
den kulturgeographischen und philosophischen
Grundlagen entwickelt W. die eigentlich künst-
lerischen Probleme. Der monumentalen Einheit
indischen Lebens steht die Vielheit des tropischen
Übermaßes entgegen. Wie Java kulturell mit dem
indischen Mutterlande verknüpft ist, so bildet auch
künstlerisch Indien für Java die durchgehende
Grundlage. Kann die mitteljavanische Periode
(8.—10. Jahrh.) mit ihrem gewaltigen buddhisti-
schen Hauptdenkmal, dem Borobodur, geradezu
als eine Wiedergeburt der reifen indischen Kultur
gelten, so fehlt diese (hier mehr hinterindische)
Grundlage auch in dem mehr brahmanischen Ost-
java (etwa rx.—15. Jahrh.) nicht, wenngleich dort
die insulare Lage vor allem durch die Wirksam-
keit des malaiischen Elementes stärker in Er-
scheinung tritt. So wird denn auch diese Kunst
zunächst als ein Ausdruck indischen Geisteslebens
geschildert, in dem als die beiden durchaus nicht
einander ausschließenden, sondern im Aufbau
eines einheitlichen Systems einander ergänzenden
Pole das metaphysisch Spekulative und die ero-
tische Triebkraft ineinander gehen und die Tota-
lität des Weitbildes schaffen. So ist jene raum-
lose, die Masse nur als eine Materialisierung des
unstofflichen Gesamtraumes, nicht ale ein kon-
struktiv Lebendiges erfassende Architektur im
höchsten Sinne „zwecklose Verkörperung weltlich-
göttlicher Verherrlichung“, die Plastik, ob sie
sich nun im Ornament, im Relief, in den bau-
plastischen Gliedern, oder in der Einzelplastik
auslebt, wieder nichts anderes als ein Ausdruck
des Unendlichkeitsprinzipes, gegeben mit den
Mitteln der Fläche, der umlaufenden Reihenfolge,
des unillusionistischen Bildraumes, der Frontalität
und des Blockes, in dem das Göttliche seine Ver-
körperung findet. Aus der geistigen Totalität, aus
der Architektur wie Piastik geboren werden, er-
klärt sich auch das innige Verhältnis, das zwischen
beiden besteht und höchst gesetzmäßige Relationen
schafft: Die Fernwirkung des gestaffelten archi-
tektonischen Aufbaues wird durch die plastischen
Elemente zur bildhaften Nahwirkung, die ab-
strakte Geradlinigkeit der Terrassen und kubischen
Baublöcke wird durch plastische Kurvaturen und
Überleitungen gestaltlich faßbar, und umgekehrt
wird die unendliche Flächenhaftigkeit der orna-
mentalen und figürlichen Paneele in ihrer Gesamt-
heit zur kubischen Baumasse usw. — Vom Boro-
bodur, als dem diese Prinzipien am reinsten aus-
prägenden Hauptdenkmal ausgebend, schildert
dann W. die Wandlung der architektonischen und
plastischen Prinzipien in den späteren mittel-
јауапізсћеп Denkmälern (Prambanankrels) und in
Ostjava. Bei den ersteren in der Architektur mit
der Einführung eines zellaartigen Innenraumes eine
Auflockerung der Masse, stärkerer Höhendrang,
Abweichen von der reinen Zentralisation, in der
Plastik entsprechend ein Zurückdrängen des die
Figuren klar absetzenden Relief hintergrundes bis
zum Tiefendunkel, statt der strengeren formalen
Bindung der Figuren eine mehr gegenständliche
Verknüpfung, Dramatik statt Epik usw., im ganzen
aber doch nur eine Differenzierung, nicht eine
völlige Umbildung der indischen Prinzipien. In
Ostjava schließlich erfahren die in der späteren
mitteljavanischen Periode angeschlagenen Ten-
denzen ihre volle Ausgestaltung in der Über-
steigerung der Höhendimension, einer Verviel-
fältigung der Terrassenschichtung und einer fili-
granartigen Oberflächenbildung; damit geht in
der Plastik als Ausdruck des bodenständigen ma-
laiischen Elementes ein unkörperlicher zeichne-
rischer Silhouettenstil und eine ornamentale Auf-
lösung des Figürlichen Hand in Hand. Daneben
machen sich aber auch neue südindische Ein-
flüsse, vor allem in einer plastisch-naturalistischen
Behundiung der Bildfiguren, geltend, Dies in
Kürze der Inhalt des vorgeführten Tatsachen-
materials, dem in einem eigenen Anhangsteil die
geschichtlichen und kulturellen Tatsachen und ein
detaillierter, mit den Angaben der Spezialliteratur
versehener beschreibender Katalog der Kunst-
werke beigefügt ist. Durch diese Trennung des
Tatsachenstoffes ist es dem Verfasser möglich,
sich im Text ganz auf die rein künstlerischen
Probleme einstellen zu können. Und hierin, in
der lebendigen Interpretation der Werke auf Grund
eines subtilen Einfühlungsvermögens, in einer
275
meisterhaften Sprache, in der der Ausdruck nie
zur literarischen Phrase wird, weil die künstleri-
schen Probleme immer im Zusammenhange mit
dem gesamten Kulturgeist gesehen werden, liegt
die Hauptstärke des Verfassers. Gerade was das
letztere anlangt, so handelt es sich hier nicht um
ein heute bei diesen fremden Kunstkreisen so be-
Hebtes oberflächliches Hineingeheimnissen sym-
bolischer Züge, mit dem man dle Erscheinungen
erklärt zu haben glaubt, das Buch verlangt die
volle Vertiefung in die fremde Geistigkeit, als
deren Manifestation, nicht als deren zweckliche
Folge die Kunst erscheint. H. Glück.
REMBRANDTS sämtliche Radie-
rungen in getreuen Nachbildungen,
herausgegeben mit einer Einleitung von
Hans W. Singer. Holbein-Verlag München.
Drei Mappen Folio, mit 312 Blättern in
Tiefdruck, 66 Autotypien und 8 Seiten
Text.
Diese soeben vollständig gewordene Nachbildung
der sämtlichen Rembrandtischen Radlerungen in
Tiefdruck, die nach dem Verbrauch der früher
erschienenen Tiefdruckausgaben eine empfindliche
Lücke ausfüllt, ist von Jaro Springer begonnen
worden. Als er vor Nowogeorgiewsk fiel, lag
nur die zweite Mappe, die 117 Blatt von 1634 bis
1643 enthaltend, fertig vor und wurde als erstes
Stück des Werkes ausgegeben. Nach dem Tode
Springere hat dann Hans W. Singer die weitere
Ausgestaltung der Ausgabe übernommen und so-
eben mit der Herausgabe des ersten und dritten
Bandes, die die 110 Blätter vor 1634 und die 93
Blätter von x645—6ı enthalten, zum Abschluß
gebracht.
Singer hat über die Grundsätze seiner Arbeit
in der kurzen Einleitung knappe Rechenschaft
gegeben. Das Genauere darüber kann man in
seiner Ausgabe der Rembrandtischen Radierungen
in dem Bande der Klassiker der Kunat in Gesamt-
ausgaben nachlesen. In seiner grundsätzlichen
Stellung zu den Fragen der Echtheit und Eigen-
händigkeit bat er nämlich seinen Standpunkt
nicht wesentlich gegenüber jenem früheren ge-
ändert, weun er auch zwei früher beanstandete
Blätter, nämlich B 200 (nackte Badende) und
B 205 (liegende Negerin) heute gelten läßt. Man
wird zu seiner Auswahl der echten Blätter, wie
er sie auch hier wieder wenigstens inForm einer
tabellarischen Zusammenstellung am Schluß der
Einleitung gibt, verschieden stehen können. Jeder
wird ein oder das andere Blatt haben, dem er
сл
27
über diese Zusammenstellung hinaus die minde-
stens teilweise Eigenhändigkeit nicht absprechen
möchte. Für den Besitzer dieser Ausgabe kom-
men derartige kleine Streitigkeiten schon deshalb
nicht entscheidend in Frage, weil er in der
glücklichen Lage ist, wenn er überhaupt Ver-
anlagung und Kenntnisse für derartige Unter-
suchungen mitbringt, in den schwebenden Prozeß
einzugreifen. Denn da der Springersche Band
die eigenhindigen und nicht eigenhändigen Blätter
chronologisch durcheinandergereiht gab, so hat
sich auch notgedrungen der Fortsetzer an diese
Art der Anordnung halten müssen, die nun in
den Blättern der ersten und dritten Mappe ein-
fach der Seidlitzschen Zusammenstellung folgt.
Für eine derartige Teilnahme des Beschauers an
der kritischen Untersuchung gibt Singer in der
kurzen Einleitung einige Fingerzeige. Soweit
sie sich auf die allgemeine Wertung und auf das
Verständnis des Künstlers Rembrandt überhaupt
beziehen, bringen sie nicht eben viel bei. Wert-
voller sind schon die Hinweise auf die Bedeutung
der technischen Mittel für die künstlerische Wir-
kung und sehr instruktiv die knappen Ausfüh-
rungen über die Geschichte der Rembrandtischen
Radierungen, ihrer Erforschung und ihrer Wieder-
gaben. Fände man im Text noch etwa einen
Hinweis darauf, daß von einigen Blättern wie
dem Abraham Franken und dem Arnold Tholinz
nur die späteren, nachrembrandtischen Zustände
gegeben worden sind, und warum man hier wie
bei den drei Kreuzen und dem Ecce homo nur
gerade die abgebildeten Zustände gegeben hat, so
wäre dem Bedürfnis des rein künstlerisch inter-
essierten Beschauers durchaus Genüge geschehen.
-Denn an diesen wendet sich das Werk vor
allem, und so entscheidet sich denn seine Be-
deutung mit der Frage nach dem Werte der
Wiedergaben. Und da muß gesagt werden, daß
die Leistung, als Durchschnitt genommen, über-
aus hoch ist, so daß die meisten Blätter dem Be-
schauer wirklich einen Eindruck der künstlerischen
Werte und Wirkungen von Rembrandts Radie-
rungen vermitteln können. Das gilt besonders
von dem zweiten Bande ziemlich uneingeschränkt,
in den beiden äußeren ist die Leistung bei
einigen Blättern durch die Schwierigkeiten der
Herstellung etwas beeinträchtigt worden. Man
braucht nicht an die verbliiffenden 19 Blätter der
Reichsdruckerei zu denken, um zu empfinden,
daß s. B. bei der Darstellung der drei Kreuze
oder des 100 Guiden-Biattes die kräftigen Töne
zu бач, die gedeckten Partien zu undurchsichtig
in der Faktur, und das Ganze in dem grauen
Ton der Wiedergabe zu farblos ist, Indessen
sind das Ausnahmen. Die Durchschnittsleistung
ist, wie gesagt, außerordentlich hoch, und der
deutsche Kunstfreund hat seit langem kein Werk
erhalten, das die Werke eines großen Meisters
so unmittelbar dem künstlerischen Genuß zugäng-
lich macht. Da auch der Preis, nicht nur an
heutigen Verhältnissen gemessen, im Verhältnis
zur Leistung außerordentlich niedrig ist, so kann
man nicht zweifeln, daß ihm der wohlverdiente
Erfolg im weitesten Umfang zuteil werden wird.
Aber warum eröffnet eigentlich in Mappe ı und 3
die englische Unterschrift den Reigen der Bezeich-
nungen und steht die deutsche erst an dritter Stelle?
Hans Friedeberger.
JULIUS BAUM, Baukunst und deko-
rative Plastik der Frührenaissance
in Italien. Stuttgart, Verlag Julius Hoff-
mann.
Wie die Biographien Goethes in ihrer zeit-
lichen Folge mehr aussagen über die psycho-
logische Situation des Betrachtenden und seiner
Epoche, als über das Objekt selbst, so auch alle
zusammenfassenden Darstellungen größerer Stil-
epochen in der Kunstgeschichte. Es können
weniger positive Fortschritte der Erkenntnis in
solchen fiziert, als das in vielen einzelnen Quellen-
forschungen zerstreute Material vom jeweilig ak-
tuellen Standpunkt neu gegliedert, neu dargestellt
und vor allem neu ausgewählt werden. Diese
Wahl und Akzentsetzung ist schon Wertung, ohne
daß diese erst literarisch formuliert zu werden
braucht.
In diesem Sinne ist die Baumsche Veröffent-
lichung überaus wesentlich, die Wahl der glänzend
gelungenen Abbildungen und das Vorwort kenn-
zeichnen markant die Einstellung unserer Zeit zur
Renaissance. Eine verschämte Neigung spricht
sich fast entschuldigend im Vorwort aus und ver-
sucht zu motivieren, warum — trotz allem —
Werke über die Renaissance auch heute noch für
Architekten und einen weiteren Kreis von Wesent-
lichkeit seien. Diese Bescheidenheit scheint mir
fast ein wenig zu weit zu gehen. „Die schweren
Erschütterungen, die unsere Beziehungen zur Re-
naissance erfabren haben“, wie der Verfasser meint,
gehen vielleicht nicht allzu tief. Die durch tausend
mißverstehende und mißverstandene Feuilletons
verbreitete angeblich vorhandene enge Beziehung
unserer Zeit zur Gotik ist letzten Endes doch nur
eine fiktive, mehr aus dem Wollen als dem tat-
sächlichen psychischen Erleben entspringende.
Denn jene im Anschluß an Scheffler und Worringer
rekonstruierte Gotik, die zur Legitimierung unserer
Zeit und unseres Kunstschaffens immer wieder
berhalten muß, ist eine Rekonstruktion, deren
wesentliches negstive Momente sind. Ja, — sie
lebt im wesentlichen von Antithesen zu den
ästhetischen Werten der Antike und Renaissance.
Hier ist es Dvofäks Abhandlung über „Idealismus
und Naturalismus in der Gotik“, die sum ersten-
mal wissenschaftlich ezakt den ganzen Abstraktions-
nebel aller mystisch ezpressionistischen Wort-
gebilde in nichts zerflattern läßt und nachweist,
daß das „Entweder — Oder“ heutiger Kunstliteraten
nur denkökonomische Schablone, nicht aber wirk-
lich zu einer in Wahrheit antithetischen Definition
der Stilbegriffe geeignet ist.
Die Einleitung Baums verzichtet zunächst auf
eine allgemeine Begriffabestimmung oder generelle
Untersuchung des Gesamtphänomens der Renais-
sance und beschränkt sich auf die Diskussion eines
der grundlegenden Probleme, nämlich ihrer Stellung
zur Antike. In der Tat scheint gerade die Unter-
suchung dieser Frage das entscheidende Moment
für unsere Stellung zur Renaissance zu sein. Ist
nämlich das Mittelalter so vollkommen antike-
fremd, so „unlateinisch“, wie Worringer und seine
Nachtreter annehmen, зо besteht die von ihm
postulierte Antithese zu Recht. Vermögen wir
aber auch im Mittelalter ein Fortleben der Antike
festzustellen, gleich einem mehr oder weniger
unterirdisch verlaufenden Strom, so kommen wir
zu der bescheideneren Erkenntnis, daß nun ein-
mal unsere ganze westeuropäische Kultur ein Kind
der Antike ist und sich dieser grundlegende Ein-
fluß nur in verschiedenen Intensitätsgraden zu
verschiedenen Zeiten bemerkbar gemacht hat.
Mit Recht hebt Baum hervor, daß die sogen.
„Protorenaissance“ eine im Mittelalter keineswegs
vereinzeite Erscheinung ist. Schon lange vor
derjenigen Epoche, die für uns durch 8. Miniato
al Monte gekennzeichnet ist, gibt es verschiedene
antike Flutwellen in der mittelalterlichen Kunst.
Die Anschauung vom völlig unantikischen Wesen
des mittelalterlichen Schaffens ist immer noch ein
Nachklang der literarischen Feststellungen Fila-
retes und Vasaris, die natürlich vom Standpunkt
ihrer Zeit aus Gegensätzlichkeiten stärker emp-
finden, Gemeinsamkeiten weniger nachfühlen
konnten. Stillschweigend, ja ohne besondere Be-
tonung bleibt der antike Formenkreis doch immer
dae Ausdrucksmittel, die Formel auch für diese
speziell mittelalterlichen Gefühlsinhalte. Allerdings
nur Formel und Ausdrucksmittel, die Gesinnung,
die hinter den Dingen steht, ist nun einmal
277
während des Mittelalters eine rein transzenden-
tale, nicht antropomorphe. Im einzelnen weist
Baum auch noch an einigen glücklichen Beispielen
antike Anregung, nicht formaler, sondern inhalt-
licher Art für das Schaffen des Mittelalters nach,
die darauf vorbereiten, daß sich auch im Mittel-
alter viel vom antiken Lebensgefühl erhalten hat
und daß es nicht wunderbar ist, wenn sogar zahl-
reiche Typen mittelalterlicher Bauten in Italien
die antike Überlieferung mehr oder weniger ver-
steckt fortführen. Die Analyse dieser einzelnen
mittelalterlichen Bauten, ihre Verbindung mit
solchen der Früh- und Hochrenaissance und die
Heranziehung der einzelnen Beispiele, insbeson-
dere 8. Andreas in Empoli, scheinen mir der
wesentlichste Abschnitt der Einleitung zu sein,
vor allen Dingen eine willkommene exakte archi-
tekturgeschichtliche Ergänzung zu den mehr all-
gemein geistes geschichtlichen Formulierungen
Dvofaks.
Für den parallelen Nachweis in der Plastik
stützt sich Baum vor allem auf die Arbeiten Voeges
und weist auf die Zusammenhänge der Schule
von Arles und oberitalienischer Plastik bin. Mit
Recht betont Baum gegenüber Weese, der in
Bamberg einen „letzten“ Nachhall der Antike
sehen will, daß diese Behauptung nicht einmal
für das nordische, aber noch viel weniger für das
südliche Mittelalter gilt, Der Nachweis der for-
malen Tradition an Vorbildern verschiedener
mittelalterlicher Plastiken stützt sich im wesent-
lichen auf bereits vorhandene Literatur. Ergebnis
st eine Formulierung, die in ihrer Prägnanz über-
aus glücklich erscheint, ,,Der Unterschied zwi-
schen Mittelalter und späterer Nachbildung (der
Antike) ist zunächst nur quantitativ, was früher
vereinzelt geschah, wird im ı5. Jahrhundert ali-
gemein. Weit wichtiger aber als der Quantitäts-
unterschied ist der Intensitätsgegensatz.“
Ein weiterer Abschnitt des Buches, das hier
nicht nachgeschrieben werden soll, beschäftigt
sich mit der Beziehung des Mittelalters zu einer
allgemeinen Verhältnislehre. Auch auf diesem
Gebiet wirkt, die Tendenz zum schematisierenden
Dogma. Man weiß, wenn schon die mittelalterlichen
Theoretiker in der Fixierung ästhetischer Zahlen-
gesetze willkürlich vorgegangen sind, wie subjektiv
und gewaltsam die Forschung neuerer Historiker
gerade in diesem Gebiet Theorien aufstellt und mit
welcher „Großzügigkeit“, um einer vorgefaßten
Idee willen, alle nicht in das Schema passende
Architektur weggelassen oder vergewaltigt wird!).
(т) Typisches Beispiel bierfür etwa neuerdings die Theorien
vom gotischen Vierbiatt in Hermann Eicken: „Der Baustil",
278
Nachdem so immer wieder der notwendige Nach-
weis der Verbindung zwischen Antike und Mittel-
alter geführt ist, kommt Baum zu dem Versuch,
positive Kennzeichen der Renaissance aufzustellen.
Es sind dies, wie sich aus dem vorhergehenden er-
gibt, weder schlechthin die Wiederaufnahme an-
tiker Formen, noch die imitativ illusionistische
Absicht. „Die Kennzeichen eines Stils ergeben
sich nicht aus der Feststellung seines Verhält-
nisses zur Wirklichkeit. Ein beträchtlicher Teil
der Kunst, die Architektur, ist mit der Wirklich-
keit gar nicht vergleichbar; nur aus der An-
schauung der Baukunst sind daher feste Gesichts-
punkte für die Anschauung auch der übrigen
Künste zu gewinnen.“ Diese Kennzeichen sieht
Baum nun in der „antropozentrischen Sensualität“,
d. h. in der Übertragung der sichtbaren und me8-
baren Gesetzlichkeit menschlicher Maße und Ge-
wichtsverteilungen. „An die Stelle einer über-
wältigenden, oft unfaßbaren Dynamik tritt eine
ausgeglichene, berechnete Statik, an die Stelle
gefühlsmäßiger treten ablesbar meßbare Verhält-
nisse“. Diese Tendenz wird nun an zahlreichen
einzelnen Beispielen im Gebiet der Plastik und
Malerei derFrührenaissance durchgeführt. Auch für
die Beziehung zur Architektur ist eben nicht die un-
mittelbare Nachahmung antiker Formen, sondern
das Wiederinkrafttreten antiker Gesetzlichkeit ent-
scheidend. Immer wieder können wir den Ver-
such zum bewußten Klarlegen der Ansichten fest-
stellen. Bei der sonst überaus fruchtbaren Ana-
lyse der einzeinen Früh-Renaissancebauten läßt
sich Baum vielleicht allzusehr von den Theorien
Thierschs beeinflussen, der, zwecks Aufstellung
einer antropozentrischen Rensissance-Proportions-
lehre, doch auch etwas zu gewaltsam die vorhan-
denen Architekturen durch seine eingezeichneten
Liniensysteme dogmatisiert.
Alles in allem ein überaus wichtiges und ge-
radezu entscheidendes Werk. Denn es ist Baum
gelungen, nicht tausendmal Gesagtes und hundert-
mal Erforschtes in populärer Form zusammen-
zustellen, sondern durchaus Eigenes zu formen.
Dieses Eigene wird vielleicht am besten durch
die Feststellung umschrieben, daß sowohl in der
kritischen Einleitung, wie in Wahl, Folge und
Aufstellung eines inneren Zusammenhanges der
wiedergegebenen Abbildungen, sich eine völlig
neue Anschauung der Renaissance manifestiert,
eine Anschauung, die gleichweit entfernt ist vom
Renaissancismus der Generation Burckhardts, wie
von der einseitigen pseudo-expressionistischen und
unhistorischen Einstellung Worringers. Daß Lite-
raturnachweis und Zusammenstellung der not-
wendigen Daten für die einzelnen abgebildeten
Bauten auf der Höhe der heutigen Forschung
stehen, braucht nicht besonders betont zu werden.
Paul Zucker.
HANS HILDEBRANDT: Wandmalerei.
Ihr Wesen und ihre Gesetze. Groß-8°.
X und 351 Seiten. 462 Abb. Stuttgart
und Berlin, Deutsche Verlagsanstalt 1920
(M. 100,—).
Mit der Gründlichkeit deutscher Forscher ist
Hildebrandt, man möchte sagen, an die Aufgabe.
seines Lebens gegangen. Denn da der vorliegende
überaus gewichtige, inhaltreiche Band nur die
theoretischen Grundlagen der Wandmalerei gibt
und weitere, sicher nicht geringere ihm folgen
sollen, so sehen wir hier allerdings ein Werk
entstehen, das ein Leben fast ausfüllen könnte.
Die Stuttgarter Atmosphäre, in der Hölzel lehrt
und eine Reihe von selbständigen und bedeutenden
Schülern herangezogen hat, war dem Gedanken
der Monumentaldarstellung besonders günstig und
bat zweifellos dem Unternehmen Anstoß und För-
derung verliehen, wie denn Hildebrandt sich ja
auch auf praktische Beispiele, die von Stuttgart
ausgingen, berufen kann (wie auf Brühlmanns und
Pellegrinis Fresken), wenn er hoffnungsvoll das
Thema der Wandmalerei als ein höchst aktuelles
bezeichnet. Wir wollen mit ihm hoffen, daß unsre
Zeit nicht nur imstande ist, monumentale Auf-
gaben in neuem Sinne zu lösen, sondern daß sie
auch die Mittel dazu finden wird. Vorläufig sieht
es nicht danach aus, daß auch nur die notwendigen
Bauten errichtet, geschweige denn, daß sie mit
Wandgemälden geschmückt werden könnten. Aber
man muß sein Ziel hoch stecken und alles daran
setzen, die Epoche daran glauben zu machen;
und aus dieser großen Gesinnung heraus, die dem
mächtigen Buche ihren Geist lieb, muß man es
betrachten und dazu bedenken, daß es völlig in
der Vorkriegszeit wurzelt, wo man freilich mehr
Recht hatte, an eine Ausbreitung monumentaler
Bedürfnisse zu denken,
Der umfänglichen Solidität und Gründlichkeit
des Bandes (den man nicht in den Händen halten
kann!) entspricht aber auch eine klare und flüssige
Sprache; der eingehenden Systematik und Lücken-
losigkeit eine große Einfachheit und Übersichtlich-
keit in der Gliederung. Man sieht sofort, worum
es sich handelt, und wird von einer weitausholenden
Begrifisgründung von Kunst im allgemeinen —
deren Gleichnischarakter der Religion zur Seite
gesetzt wird — zu dem Wesen des Wandbildes
und seiner Unterscheidung vom Tafelbilde geführt,
Dessen Doppelstellung führt dann zunächst zur
Zerlegung der Untersuchung in die Aufbauelemente
des Bildes und in die der Wand, die gesondert
nacheinander behandelt werden, als analytische
Basis jener Einheit , Wandgemilde“, deren Sinn
in der Durchdringung und Unlösbarkeit der zwei
Elemente besteht, und deren Untersuchung der
größere, zwei Drittel des Buches umfassende Teil
gewidmet ist. Den Kernpunkt und Hauptteil der
gesamten Untersuchungen bildet der Abschnitt
über die Angliederung des Wandgemäldes, in
dreifacher Hinsicht: nach geistiger, formaler und
Raumwerte schaffender Einordnung desBildgefüges,
Die Unterschiede von monumental und dekorativ,
die Stofffrage, die Probleme von Raumdarstellung,
Perspektive, Flachmalerei, Illusionismus werden
nach allen Richtungen und mit Befragung aller
Zeit- und Rassenstile geprüft und ihre Gesetze mit
einer wohltuenden Objektivität untersucht, auch
da, wo die Resultate unserm heutigen Stilempfinden
su widersprechen scheinen. Daran schließen sich
die wichtigen Spesialkapitel über Decken- und Ge-
wölbemalerei, Fassadenmalerei, Techniken, Er-
gänzungskünste wie Glasgemälde, Wandteppich,
Intarsia, FuBbodenmosaik, so daß es schlechthin
wohl kein Gebiet der Wandmalerei gibt, das
Hildebrandt hier nicht erschöpfend dargestellt
hätte. Mehr als flüchtigste Inhaltsübersicht zu
geben, ist unmöglich, weil hier wirklich eine
teppichartige Gleichmäßigkeit und Schönheit der
Behandlung sich über alle Probleme breitet und
sie klug, durchdacht, mit objektiver Klarheit dar-
stellt. Zwar keine Anweisung zum Freskenmalen,
wohl aber Anregungen fruchtbarster Art sind die
Folge; nicht bloß, sich in das unermeßliche Ge-
biet des Monumentalen forschend und genießend
zu vertiefen, sondern auch bei künstlerischer Be-
tätigung sich vor Mißgriffen zu hüten, unumstöß.
liche Gesetze nicht zu verletzen. Von einem
Schulmeisterton ist dabei nirgends die Rede, viel-
mehr alles in frische Anschaulichkeit gekleidet.
Ein unschätzbares Hilfsmittel bietet der illustra-
tive Teil in Gestalt von 460 Abbildungen, worunter
sich 266 Hilfskonstruktionen des Verfassers finden.
Man mag sagen, daß solche gewissermaßen nur
für den Anfänger berechnet seien; so wird sich
doch niemand ihrer raschen Uberzeugungskraft
entziehen können. Das Material der Wandbilder
ist in reicher Fülle den schönsten Werken aller
Zeiten und Völker entnommen, und man lernt
allein schon aus ihrer Betrachtung die Ewigkeit
und Schlichtheit der Monumentalgesetze begreifen
und die Verwandtschaft aller innerlich großen
379
Kunst. Ihr Format ist zum größten Teil genügend,
oft sehr stattlich, wo die Reproduktion ganzseitig
ist. Wie denn überhaupt die Ausstattung des
Buches nichts zu wünschen übrig läßt in Güte
von Papier, Druck (eine prachtvolle große Antiqua),
Einband und in Klarheit der Abbildungen.
Ein umfänglicher Apparat von nicht weniger
als drei Registern und einem großen und voll-
zähligen Literaturverzeichnis erhöht den wissen-
schaftlichen Wert des Buches bedeutend. Man ist
dem Verfasser für diese Mühe lebhaften Dank
schuldig und weiß demgegenüber dieZurückhaltung
durchaus zu würdigen, die er sich in Anmerkungen
auferlegt hat; so daß wirklich der ganze ungeheure
Stoff restlos in den fließenden Text verarbeitet ist.
Paul F. Schmidt.
WOLDEMAR v. SEIDLITZ: Die Kunst
in Dresden vom Mittelalter bis zur
Neuzeit. І Buch. 1464—1541. Mit
20 Tafeln und 10 Textabbildungen. 136 S.
gr. Al, Dresden 1920. Im Kommissions-
verlag der Buchdruckerei der Wilhelm
und Bertha v. Baensch - Stiftung. Preis
30 M.
Nach Abschluß des sächsischen Inventarisations-
werkes durch Cornelius Gurlitt legte im Juli 1920
der Generaldirektor der ehemaligen Königlichen
Sammlungen in Dresden das erste Buch der als
zwei stattliche Bände geplanten Geschichte des
albertinischen Sachsens mit besonderer Berück-
sichtigung der Entwicklung der Kunst vor. Be-
ginnend mit der Regierungszeit Herzog Albrechts
soll das Werk mit August III. abschließen und
die sächsische Kunst in einer Form und auch
binsichtlich des Umfanges so behandeln, wie die
Entwicklung der Kunst der Landeshauptstadt und
das Verständnis der einzigartigen Sammlungen
Dresdens es erfordern.
Auf breitester kulturgeschichtlicher, politischer
und kirchenbistorischer Grundlage entwickelt v. 8.
die Vorgeschichte bis 1464, deren Kunstblüte
nicht zuletzt auf die reichen Silberfunde und die
Entfaltung des erzgebirgischen Bergbaues in Frei-
berg, Annaberg, Chemnitz und Zwickau zurückzu-
führen ist. Ermisch, Knebel, Flechsig u. a. haben
dafür reiche urkundliche Belege und kunstgelehrte
Untersuchungsergebnisse schon früher beigebracht,
die v. 8., noch durch reiche geologische-minera-
logische Kenntnisse vertieft. Goldschmiedearbeiten
und kostbare Erzeugnisse der Toreutik aus dem
14. Jahrhundert im „Grünen Gewölbe“ und dem
Historischen Museum zu Dresden belegen die viel-
280
seitige, künstlerisch vollendete Edelmetall- und
Halbedelstein-Verarbeitung durch die Goldschmiede,
die hervorragende Technik der Piattner und
Schwertfeger in dieser Zeit. Ein bochentwickeltes
Münzwesen und somit ein wohlorganisierter Handel
haben die Grundlage des sächsischen Reichtums,
Macht und Ansehen, Wohlstand und Kunstpfiege
jener frühen Epoche begründet und gefestigt.
Nach der Teilung von 1485 und unter Albrecht
dem Beherzten treten Freiberg, Meißen und
Dresden mehr und mehr in den Vordergrund
dieses weiten mitteldeutschen Gebietes. Als wich-
tigstes baugeschichtliches Ereignis dieser Zeit ist
die Erbauung der Albrechtsburg in Meißen anzu-
sehen, worüber insbesondere Gurlitt 1920 im
$9. Bande des Inventarisationswerkes grundlegende
Forschungen veröffentlicht bat. Auch in dieser
Epoche zeigen die im „Grünen Gewölbe“ zu
Dresden erhaltenen köstlichen Erzeugnisse der
Kleinkunst gediegenste, mustergültige Materialver-
wertung und feinfühligen Formenreichtum. Das
von v. S. pg. 50 erwähnte gestickte Antependium
der Pirnaer Kirche im Sächsischen Altertums-
museum (Kat. Nr. 70) wird von ihm als eine
niederländische Arbeit der gotischen Blütezeit be-
seichnet. Ref. hält dagegen ein Werk des böh-
mischen „Meisters des Hohenfurter Heilscyklus“
um 1360 für das Vorbild des vielleicht im Nonnen-
kloster zu Riesa oder Seußlitz gestickten Altar-
vorhangs. Als Donator kommt ein Mitglied der
böhmischen Familie v. Volckrab in Frage. 1382
wurde er vom Bischof Nikolaus von Meißen dem
Pirnaer Dominikanerkloster gestiftet. Unter der
langjährigen Regierung Herzog Georg des Bärtigen
wird dann Dresden zum Schauplatz des Kampfes
gegen die Reformation, deren Entwicklung v. S,
in breit angelegter kulturgeschichtlicher Betrach-
tungsweise in ihrem Einfluß auf die Renaissance
in Sachsen schildert, S. ist hier nicht der Gefahr
entgangen, von seinem eigentlichen Thema in die
Ferne abzuschweifen und nicht von der Kunst in
Dresden sondern um die Kunst herum zu sprechen.
Auf 28 Seiten wird die Landesverwaltung, Ent-
faltung des erzgebirgischen Bergbaues, die weitere
Entwicklung des Münzwesens, diekirchenpolitische
Stellung Sachsens u. a. geschildert, während der
kunstgeschichtliche Teil knapp 15 Seiten umfaßt.
Angesichts der wertvollen, wenn auch spär-
lichen Bau- und Kunstdenkmale aus dieser Zeit
wäre eine weniger eklektische, kunstgeschichtlich
und stilpsychologisch intensivere Würdigung
derselben auf Kosten der zu extensiven kulturge-
schichtlichen und politischen Behandlung des
Stoffes vorzuziehen gewesen.
Das baugeschichtlich wichtige Eindringen der
Renaissanceformen, das beispielsweise am Georgen-
tor des Dresdner Schlosses die Übergangs-
periode von der Spätgotik sur Renaissance do-
kumentiert, ist auch in den Stidten am Nord-
abhang des Erzgebirges, wie Annaberg, festzu-
stellen, nachdem eine plastische Fabulierlust son-
dergleichen die spätgotischen Stilelemente schließ-
lich verwildern ließ. Hier vermißt man bei v. S. be-
sonders ein näheres Eingehen auf stilistisch be-
merkenswerte Werke, oder doch wenigstens reich-
lichere Literaturnachweise, die in einem zusammen-
fassenden, die geschichtliche Entwicklung ein-
heitlich darstellenden Werke am Platze sind. 80
wäre über die pg. 71 erwähnte „Schöne Thür“ in
Annaberg Oswald Schmidt: Die St. Annenkirche
zu Annaberg (Leipzig 1908) zu befragen gewesen,
für die „Tulpenkansel“ des Freiberger Domes
Wolfgang Roch (Neues Archiv f. sächs. Gesch.
Bd. 39 pg. 139), für die Grabplatten im Meißner
Dome Hubert Stierlings u. a. Vischer - Studien in
den Monatsheften für Kunstwissenschaft. Auf-
schlußreich ist auch Leo Bénhoffs Aufsatz im
Neuen Sächs. Kirchenblatt (XXIV 1917) über den
Ehrenfriedersdorfer Altar in der Dresdner Gemälde-
galerie. Die von v. 8. pg. 73 erwähnten angeb-
lich Lindenthaler Schnitzfiguren stammen, wie
Eduard Flechsig nach J. F. zu Backnitz: Skizze
einer Geschichte der Künste in Sachsen (Dresden
1811) pg. 14 einwandfrei nachgewiesen hat, aus
Zeitz, und sind von dem „namhaften und ehr-
baren“ Pankratius Grueber in Großenhain 1520/21
gefertigt worden, der Seifersdorfer Altar (pg. 73)
und stilistisch erwandte Werke sind von Jörg
Maier zu Dippoldiswalde (1508—1534 urkundlich
nachweisbar) geschaffen worden, wie Konrad Knebel
glaubhaft gemacht hat.
In der Auslese aus der nach meiner Cranach-
Bibliographie 128 Nummern umfassenden Cr.-
Literatur vermißt man bei v. 8. Friedländers
Aufsatz in Thieme-Beckers Künstlerlexikon und
in Doering und Voß: Meisterwerke der Kunst aus
Sachsen und Thüringen (Magdeburg 1904, pg. Gfl.),
sowie die ausgezeichnete Cranach - Monographie
Wilhelm Worringers oder diejenige auf reicher
Literaturkenntnis berubende Curt Glasers. Cranachs
Familienname ist weder Sonder (Joannes Sonder
Cronacensis = Hans Cranach?) noch Moller oder
Miller gewesen, sondern Lucas Moler von Kro-
nach war die übliche Schreibweise für alle
Maler jener Zeit: Rufname, Beruf, Geburtsort,
Aus der Zeit Georg des Bärtigen hat sich übrigens
noch gsnug erhalten, um an Stelle einer Ver-
mehrung der schon genügend umfangreichen
Reformations-Literatur eine Schilderung des Ers-
gusses, der Teppichweberei, des Harnischwesens,
der umgebildeten Schmuckformen und eine ein-
gehendere Behandlung des Kirchen- und Profan-
baues, der Tafelmalerei und Bildnerei geben zu
können, und die bedeutsame Stellung der Dresdner
Kunst im Rahmen der sächsischen zu kenn-
zeichnen.
Mit der Behandlung der nur dreijährigen Re-
gierungezeit Heinrich des Frommen und einer
Beschreibung der wichtigsten Kunsterzeugnisse
von 1539—1541 schließt das erste Heft der groß-
angelegten Publikation. In dieser Stilphase ist
die Synthese von gotischem Formempfinden und
renaissancistischem Kunstwollen auch für die
Kunst in den albertinischen Landen eine innigere
geworden, bis mit dem Praeponderieren der Re-
naissance sich eine selbständige Е -rmengebung
und eine bis sum Uberschwang gesteigerte Leben-
digkeit durchzusetzen vermag.
Was aus den kurzen kunstgeschichtlichen
Abschnitten weniger klar bervorgeht, tritt in der
gebaltvollen und flüssigen Darstellung der poli-
tischen und kulturellen Entwicklungsgeschichte
Sachsens in dem Seidlitzschen Buche um so leben-
diger in die Erscheinung. Mit Herzog Heinrich
nimmt die einheitliche Entwicklung Sachsens, die
zwei Menschenalter früher in der Hochgotik zu
kraftvollstem Ausdruck gelangt war, ihr Ende.
Reformation und Renaissance kulturell und künst-
lerisch einheitlich zu verarbeiten, war auch für
Sachsen eine unlösbare Aufgabe. „Unter den
deutschen Dynastengeschlechtern, die sich gegen-
über der Geistlichkeit und dem Adel eine Vor.
machtstellung errungen hatten, stand Sachsen
vermöge seines Reichtums in vorderster Reibe;
es hätte Österreich die Führung streitig machen
können, wenn es die Verbindung mit dem ihm
zugefallenen Thüringen aufrechterhalten hätte.“
Auf so gegebener Grundlage wird die weitere
voligiltige und selbständige Kunstentwicklung
Dresdens unter den Kurfüsten Moritz und August,
Christian I. und IL, den vier Johann Georgen,
August dem Starken und August ШІ, in den fol-
genden 5 Büchern dargestellt und somit ein kunst-
wissenschaftliches Monumentalwerk geschaffen
werden, für dessen in richtiger Erkenntnis des
historisch Bedeutsamen weitsichtige Förderung
dem Sächsischen Kultusm inisterium größter Dank
gebührt. Die gute typographische und illustrative
Ausstattung verdient in jetziger Zeit minder-
wertiger Druckerzeugnisse besondere Anerkennung.
Die Abbildungen bringen Waffen aus dem histo-
rischen Museum und Kostbarkeiten aus dem
281
„Grünen Gewölbe“, sodaß auch in dieser Hinsicht
das „Beschreibende Verzeichnis älterer Bau- und
Kunstdenkmäler Sachsens“ wesentlich ergänzt
wird. Wilbelm Junius.
KURT K. EBERLEIN, Deutsche Maler
der Romantik. Jena, E. Diederichs, 1920.
Brosch. M. 18.—.
Der Wert des Büchleins, daß aus dem Abdruck
von 7 Vorlesungen an der Karlsruher Volikshoch-
schule besteht, steckt einzig in dem letzten Ab-
schnitt „Kunst und Religion“, In diesem, wollen
wir hoffen, ist das üble Prinzip verlassen, das
aus einer Rede eine Schreibe und aus der vorge-
lesenen Schreibe ein überzähliges Buch gemacht
hat: denn hier werden schriftgemäß, wenn auch
nicht immer geklärt, Gedanken dargestellt, deren
Güte unmöglich in dieser Gestalt Volkshoch-
schülern einleuchten konnte. Genug: es bandelt
sich da um eine sehr erfreuliche Begriffsdeutung
von Nazarenertum und Romantik, die meines
Wissens zum ersten Mal klar und eindeutige
Trennungslinien schafft und dem s. g. Klassizis-
mus gerecht wird. Die Nazarener deutet Eberlein
als letzten Versuch einer Gemeinschaftskunst;
ihnen galt es, die alten religiösen und mytholo-
gischen Symbole neu zu beleben und in Fresken
darzustellen: Schicksal und Zerfall bedeutet ihnen
der akademische und der malerische Historismus.
Diesem Kreise der Cornelius und Overbeck gegen-
über ist die romantische Schule die Erhebung
der subjektivistischen Kunst, die neue Symbole
schaffen wollte, im Kampfe gegen die akademisch
entartete Gemeinschaftskunst, und ausschließlich
auf die norddeutschen Romantikerkreise beschränkt
(warum, sagt Eberlein leider nicht, wie er über-
baupt auf das psychologische Wesen der Roman-
tik sich nicht versteht). Sehr gut ist dann vor
allem die Erfassung der „Klassizisten“ Carstens
als ersten „Frühromantikers“ und die Notwendig-
keit der klassizistischen Grundform bei der Ent-
stehung der Romantik (Runge), worauf überhaupt
noch kaum hingewiesen worden ist. Es freut
mich dies feststellen zu können, da ich in kurzem
darüber (in einer Runge-Monographie) mich aus-
fübrlich verbreiten werde.
Von dem ganzen Rest des Buches aber ist zu
sagen, daß er besser unterblieben wäre. Mag
sein, daß den Hörern der Karlsruher Volkshoch-
schule ein wesentlicher Begriff von den fünf ro-
mantischen Malern durch Eberlein übermittelt
worden ist. Einen Vortragscyklus dieser popu-
lären Art aber als Buch herauszugeben, verlangte
eine ganz wesentlich gesteigerte Einstellung.
282
Was man da zu lesen bekommt, sind die aller-
bequemsten Trivialitäten über Runge, Friedrich,
Kersting, Richter und Schwind, die in keiner
Weise Neues oder Beziehungsreiches bringen,
und das in einer geradezu erschreckend unge-
pflegten Sprache, wie man sie etwa in Haacks
fürchterlicher „Kunst des 19. Jahrhunderts“ vor-
gesetzt bekommen hatte. Anbiederungen mit den
Hörern, das Anpreisen von Büchern wie Rich-
ters oder Stillings Lebensgeschichten , als ob sie
Eberlein eben erst habe entdecken und den The-
banern vor ihm nicht warm genug empfehlen
müssen, kurz die ganze selbstgefällige „harmo-
nische Plattheit“, wie Friedrich Schlegel das
nennen würde, sind schwer erträglich. Zum
Glück besteht beinahe die Hälfte des Textes aus
Zitaten in Prosa und Poesie, sodaß man doch
immer wieder erkennen kann, daß die deutsche
Sprache wirklich eine Sprache von Dichtern und
Denkern ist. Paul F. Schmidt.
M. SELIGER, Kunstbetrachtung und
Naturgenuß. Verlag von H. Haessel,
Leipzig 1920.
Der reich belesene Autor zitiert in der vor-
liegenden Broschüre vielfach die Bibel, Goethe,
Emerson. Aber wir fürchten: die Eingeweihten
in die Kunst brauchen seinen Wegweiser durch
Natur und Kunst nicht, und die Unwissenden
werden die teuere Broschüre (10 M.) nicht kaufen
und daher nicht lesen. Und doch enthalten die
111 Seiten neben viel Selbstverstindlichem, reich-
lich vielen Abschweifungen vom eigentlichen
Thema und manchem Trugschlu8 die gesunde
Grundforderung nach mehr Anschaulichkeit im
Schulunterricht im Gegensatz zu der heutigen
Methode des Lernballastes.
Auch an der Betonung des rein Gegenständ-
lichen in der Betrachtung der in den Schulen
aufgehängten Bildwerken von seiten der Lehrer
wird mit Recht vom Verfasser Kritik geübt. „Die
Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Farben,
die koloristischen Reise, den Wechsel und die
Verhältnisse der Formen, die perspektivischen
Erscheinungen, die Kraft der Wahrheit — die
ganze Kunst der Malerei — sieht der Schüler
nicht, und er wird nicht zur Auffindung dieser
Welt der Schönheit geführt.“
Da von allen Seiten in Wort und Schrift für
die Ausbildung der Anschauung in unseren Schu-
len zur Zeit eingetreten wird, so bleibt zu hoffen,
daß diese Wünsche sich, bald in die Tat umsetzen
mögen. Sascha Schwabacher.
FRITZ BURGER, Weltanschauungs-
probleme und Lebenssysteme in
der Kunst der Vergangenheit. Del-
phinverlag, München.
Begabungen wie die Burgersche sind nicht un-
gefährlich für die Kunstbetrachtung. Wie sie be-
fruchten, verwirren sie. Es werden allerorten die
Gesetze der spez. Disziplin, die auch für die Kritik
ihre Geltung haben, durchbrochen, um dem dich-
terischen Temperament des Verfassers Freiheit
zu geben. Die Intensität des Intellekts, die pri-
märes Werkzeug der kritischen Kunstbetrachtung
ist, steht bei Burger nicht im Verhältnis zur Ex-
pansionsiust der schweifenden Phantasie. Die
nicht außergewöhnliche, geistige Struktur des
Buches wird überschüttet und begraben unter
funkelnden und sich kreuzenden Gedankenströmen.
Burgers Buch ist ein Lobgesang auf das mystisch-
metaphysische Erlebnis der Kunst im Gegensatz
zu der rationalistisch gewordenen Kunstbetrachtung
des letzten Jahrzehntes. Postulat ist ihm wie
unserer heutigen Kunstästhetik, daß der Begriff
der Kunst nicht mit dem Begriff des Könnens
identisch zu setzen sei. Burger wendet sich da-
mit zugleich gegen die nun vergangene Periode
der naturwissenschaftlichen Philosophie, gegen die
„supranaturalistische Spekulation“. Man spürt die
Beeinflussung durch das Studium der Kabala, die
von Burger, wie von vielen ihrer neueren Jünger
aus einer Geheimwissenschaft mit fetischistischem
Einschlag in mystisch-metaphysische Idealität er-
hoben wird. Das Gefühl, daß Kunst und Kunst-
betrachtung über die Welt der von Interessen be-
herrschten Trieben hinauszugreifen habe, ist bei
Burger immer lebendig, aber aus diesem gefühls-
mäßig Erfaßten erwächst ihm keine Gestaltung,
keine schöpferische Synthese, wie sie etwa Wor-
ringer gelungen ist. Widersprüche in den Fun-
damenten des Aufbaues, 3. B. daß auf S. 12 der
„Anthropologismus (sic) im Denken“ verneint und
auf Seite ıs eine anthropomorphe Einstellung des
Geistes „nach dem Titanensturz der Naturwissen-
schaft“ gefordert wird oder daß auf der einen Seite
über die rationalistische Vereinfachung der Lebens-
vorstellung gespottet und auf der andern Seite
ein ebenso kahier, einseitiger geistig - seelischer
Monismus gepredigt wird, müssen sich natürlich
auch in der Entbreitung des Materials rächen.
Der lapidare Aufbau des Buches (es wird eine
entwicklungsgeschichtliche Darstellung der Psycho-
logie der bedeutsamsten, künstlerischen Kulturen
versucht) macht die größten Ansprüche an die
monumentale Endgültigkeit der Ergebnisse, aber
Burgers Temperament, die Anhäufung ganz all-
gemein gehaltener metaphysischer, oft unklarer
Metaphern (wie z.B. „der Pendel der Weltgeschichte
schwingt, begleitet vom ehernen Tritt des Welt-
krieges, zurück“), zerstören dem Leser immer
wieder das kaum gewonnene Anschauungsbild,
Im einzeinen kommen schön gegliederte und
begeistert empfundene Formulierungen vor, wie
in den Kapitein über die Griechen und über das
Christentum, aber seine Idee in dem entfesselten,
barocken Hellenismus der Griechen die Anfänge
des christlichen Dualismus zu suchen, ist wiederum
ein Griff ins Ungewisse und Unbeweisbare.
Allerdings teilt die Gattin des im Feld gefalle-
nen Gelehrten mit, daß sie das Buch in seiner
ersten, noch unkorrigierten Form veröffentlicht
babe. Aber das Gerüst des geistigen Gebäudes
müßte im ersten Wurf noch fühlbarer sein. Es
spricht nichts dafür, daß dieses Werk Geformteres
zu geben gehabt bätte als die früher erschienenen
Bücher Burgers, die alle an Überschwang von
Gefühl und Rhetorik kranken. Man muß heute
in der Kunst wie in der Kunstkritik fürchten, daß
die letzten Steigerungen des Pathos abgegriffen
und verbraucht werden, wenn sie oft „zum ver-
geblichen“ ausgesprochen werden. Die Tore der
Erkenntnis lassen sich nicht durch den überhitzten
Willen der Emphatiker, nicht mit Schlagworten
von „Kosmos“, „jenseits“ und „Imanenz“ öffnen,
die höchste Intuition muß vom Zügel des kriti-
schen Verstandes gelenkt und geleitet sein.
Sascha Schwabacher.
J. A. F. ORBAAN, Documenti sul ba-
rocco in Roma. (Miscellanea della R.
società die storia patria, Vol VL) Roma,
nella sede della societa alla biblioteca
Vallicelliana, 1920. CLXVI u. 659 S. 8°.
Dazu 6 Tafeln in 2°. L. 65—.
Als eine wichtige und sehr erwünschte Er-
gänzung zu den Quellenforschungen Bertolottis,
die der Kunsthistoriker immer wieder mit Erfolg
benutzt, darf die lange erwartete nunmehr vor-
liegende Arbeit Orbaans angesehen werden.
Der Titel „Documenti sul barocco“ verspricht
vielleicht mehr, als das Buch wirklich gibt, denn
abgesehen von einigen Anhängen sind nur Ur-
kunden, die sich auf das Pontifikat Pauls V. be-
ziehen, veröffentlicht. Während nun Bertolotti
sein Material nach Künstlergruppen geordnet hat,
in dem Bestreben, die Einzelpersönlichkeiten durch
urkundlich gesicherte Daten uns deutlicher vor
Augen treten zu lassen, so daß sein ganzes Werk
283
das Aussehen einer Regestensammlung erhält,
haben wir hier bei Orbaan den Versuch, ein ge-
schlossenes Kulturbild eines Zeitraums lediglich
in der Sprache der durch das ganze Pontifikat
fortlaufenden päpstlichen Avvisi zu geben. Das
Ganze will als Materialsammlung für einen künf-
tigen Geschichtsschreiber dieser Epoche angesehen
werden.
Die Darlegung dieser bei der Herausgabe be-
folgten Gesichtspunkte bildet den Beginn der
umfangreichen Einleitung. Nach einer kurzen
Charakterisierung der Pontifikate Gregors XIII.,
Sixtus V. und Clemens VIII., die nichts wesent-
lich Neues bringt, geht er zu der Besprechung
der von ihm verwandten Quellen über, die sich,
wie schon bemerkt, lediglich auf päpstliche Ur-
kunden beschränken, Es sind dies der ,Diario
del Cerimoniere“ und die sog. „Avvisi“, Nach
einer kurzen Auseinandersetzung über die Ver-
fasser beider Werke werden die für die Sichtung
und Auswahl des Materials befolgten Grundsätze
kurs dargestellt. Damit schließt der erste Teil
der Einleitung. Der zweite, über den am Schlusse
dieses Referats gesprochen werden soll, beschäftigt
sich mit den dem Buch beigegebenen Tafeln.
Die eigentliche Sammlung der Urkunden zer-
fällt in zwei große Teile und einen Appendix.
Davon beschäftigt sich der erste und wichtigste
ausschließlich mit dem Pontifikat Pauls V. Er
hat wieder entsprechend dem Quellenmaterial vier
Unterabteilungen. Den Beginn macht der , Diario
del Cerimoniere“ für die Jahre 1605—1621 (Arch.
Vat. Miscell. arm, XII, Tom. 43/4), Diese Samm-
lung soll hier auf die für den Kunsthistoriker
wichtigen Daten durchgesehen werden. Der Diario
ergibt verhältnismäßig wenig, er ist für den Kultur-
historiker durch die Schilderung verschiedener
Festlichkeiten interessant, auch der Tod verschie-
dener wichtiger Persönlichkeiten, z. B. des Kar-
dinals Agucchia, wird erwähnt. Daneben hören
wir sehr in zweiter Linie von der Grundstein-
legung zu der Fassade von S. Peter und von der
Aufstellung der Madonnenstatue auf der Säule vor
S. Maria Maggiore. Auch Künstlernamen treten
uns nicht greifbar entgegen.
Die beiden nächsten Kapitel, von denen das
erste auch den Titel „Avvisi“ trägt, während das
zweite „Notizie sulla vita artistica ed intellettuale“
diese Quelle nach einer bestimmten Richtung bin
ausbeutet, beschäftigen sich mit den päpstlichen
Avvisi (Cod. Urbin, lat. 1073/9). Sie bieten für
den Kunsthistoriker in der Tat eine überraschende
Fülle von Material. In diesen Eintragungen sind
ziemlich alie Arbeiten, denen eine größere Be-
284
deutung beigelegt wurde, verzeichnet worden, und
zwar so genau, daß sich an der Hand dieser No-
tizen die Baugeschichte einzelner Monumente fast
Schritt für Schritt verfolgen läßt. Wir sehen, um
etwas länger bei den Avvisi des Jahres 1605 zu
verweilen, die einzelnen Stadien der Erbauung der
Borghesekapelle an S. Maria maggiore, die Grund-
ateinlegung, wiederholte Besuche des Papstes da-
selbst, den Bau der Fundamente, verschiedene
Geldanweisungen usw. Die Avvisi werden noch
ergänzt durch Urkunden aus der Depositeria
generale des Staatsarchivs, die in Anmerkungen
beigegeben sind, wie es denn überhaupt das Cha-
rakteristikum des ganzen Buchs ist, daß die Noten
den Text stellenweise völlig überwuchern. Hier
sei 3. B. auf die ausgedehnte sehr wichtige An-
merkung zu p. 50 ss. hingewiesen, die auch für
eine Reihe von Künstlerpersönlichkeiten wie Ma-
derna, della Porta, di Alberti, um die wichtigsten
berauszuheben, eine ganze Reihe von Daten bietet,
Das Jahr 1606 läßt das rasche Fortschreiten der
Arbeiten an 8. Peter in einer Reihe von Ein-
tragungen verfolgen. Auch der Streit Caravaggios
mit Ranuccio Tommassini und die darauffolgende
Flucht des Meisters hat sogar hier seine Auf-
zeichnung gefunden.
Die Notizen der Jahre 1607/11 sind geeignet,
die bisber wenig bekannte Persönlichkeit des
Pompeo Targone, dem Baglione, der Historiograph
dieser ganzen Epoche, bezeichnenderweise eine
ziemlich eingehende Biographie gewidmet hat
(Vite 1733, p. 216/8), uns klarer vor Augen treten
zu lassen. Wir sehen, wie er als Ingenieur und
Baumeister des Papstes eine sehr bedeutende Rolle
gespielt und fast bei allen größeren Unternehmungen
sein Gutachten abgegeben hat. Jede einzelne Reise
ist notiert, so daß sich ein förmliches Itinerar fest-
stellen läßt,
Im Jahr 1608 wird die Grundsteinlegung der
Fassade der Peterskirche ausdrücklich erwähnt.
wir erfahren mehreres über den Fortgang des
Baues und über die zweite große Unternehmung
des Papstes, den Bau der Acqua Paola, der sich
bis zum Jahr 1610 verfolgen läßt.
Besonders ergiebig ist das Jahr 1609, das No-
tizen über den Tod Annibale Carraccis — dessen
Leichenbegängnis besondere Erwähnung findet —
und Caravaggios bringt. Wir hören daneben,
daß Lavinia Fontana den damals anwesenden
persischen Gesandten porträtiert hat, wodurch
Mancinis ausführliche Erzählung (Cod. barb. lat.
4315, f£ 104 r.) bestätigt wird. Ein weiteres
kunstgeschichtlich wichtiges Datum ergibt sich
ferner, wenn wir erfahren, daß Cherubino Alberti
am 35. Nov. іп Rom ankommt, um die Malereien
in der Aldobrandinikapelle in S. Maria sopra
Minerva fertigzustellen. Hier erschien der Papst
am g. März 1611, als auch Baroccios berübmtes
Altarbild vollendet ward.
Außer der Nachricht von der Vollendung der
Fassaden von St. Peter und der Acqua Paola be-
richten die Avvisi des Jahres 1912 recht eingehend
über die Arbeiten in 8. Maria maggiore, besonders
über die Fertigstellung der Statuen, wobei der Tod
Cordieris erwähnt wird. Ebenso hören wir von
dem Tod Flaminio Ponzios und von der Ernennung
Vansanzios zum Nachfolger (1613).
Die Nachrichten für die letztea Jahre des Fonti-
fikats Pauls V. fließen nicht mehr so reichlich,
aber auch hier ergeben sich noch wichtige An-
haltspunkte, z. B. für die Biographie d’Arpinos,
sowie für die Baugeschichte des Quirinals, die
auch wieder in einer langen Anmerkung durch
Urkunden aus der Depositeria ergänzt wird
(р. 152 n. 1).
Von den vielen in den Avvisi enthaltenen Nach-
richten ist hier nur das Allerwichtigste heraus-
gehoben worden, um eine Vorstellung von dem
Reichtum dieser Quelle zu geben. Natirlich wird
sich dem Forscher beim Studium des Buches durch
die genauen Tagesdaten, die der Chronist immer
gibt, eine Fille weiterer Anhaltspunkte ergeben.
Der folgende Abschnitt ,Notisie sulla vita ar-
tistica ed intellettuale“ basiert ebenfalls auf den
Avvisi (Cod. urb. lat. 1078/85). Er erweitert den
Inhalt des vorigen Kapitels nach der literarischen
Seite hin und enthält u. a. einige Notizen über
die Ankunft Galileis in Rom, Für den Kunst-
historiker findet sich nichts Interessantes.
Die Akten der Depositeria generale (Staats-
archiv), die der vierte Abschnitt bringt, ergänzen
die Mitteilungen der Avvisi in der wünschens-
wertesten Weise. Nur die Künstler, für die sich
wesentliche Daten ergeben, seien, da ein Eingehen
auf Einzelheiten zu Wiederholungen führen würde,
aufgezählt. Es werden Zahlungen verzeichnet an
Silla Lungo für die Statue Clemens VIII. in S. Maria
maggiore, an Flaminio Ponzio, an Targone, An-
weisungen an den Goldschmied Paolo Sanquirico,
Zablungen an G. B, Milanese und Niccolo Po-
marancio, an den Cavaliere d’Arpino, an Lanfranco
und schlieBlich an Domenichino.
Damit ist der wertvollste Teil des Buches ab-
geschlossen. Der zweite Hauptteil, der nun folgt,
führt den Titel „Viaggi dei pontefici“ und bringt
drei Reisebeschreibungen aus verschiedenen Ponti-
fikaten; I. den „Viaggio di Gregorio ХШ. alla
Madonna della Quercia“, П. einen „Viaggio di
Sisto V. a Civitavecchia e alla Tolfa“ und Ш. den
„Viaggio di Clemente УШ. nel Viterbese“ (Ottob.
lat. 2694).
Der Viaggio di Clement УШ. ist bereits von
Orbaan veröffentlicht worden (Archivio della so-
cietà Romana, Vol. XXXVI. 1913) und somit all-
gemein zugänglich. Von den beiden anderen
fesseit besonders die Reise Gregors ХШ. durch
eine Beschreibung des Schlosses von Caprarola,
die den Zustand des Baues und seiner Dekoration
im Jahre 1579 wiedergibt und daher, wie auch
der Verfasser hervorhebt, für die Kenntnis der
Baugeschichte von großer Wichtigkeit ist (Cod.
Urb. lat. 818).
Als Appendix sind die Inventare dreier römischer
Kunstsammlungen beigegeben: zunächst die Samm -
lung Alessandrino Bonello (Cod. Vat. lat. 6063,
das Inventar vom Jahre 1598), dann die Sammlung
Barberini (Cod. Barb. lat. 5635 von 1631) und
schließlich die Sammlung Massimi (Cod. Capp.
lat. 260 vom Okt. 1677). Der Wert dieser Inventare
für die Forschung — auf Einzelheiten einzugehen,
würde zu weit führen — liegt auf der Hand.
Diese Ausführungen wollen lediglich als Referat
angesehen werden, das den reichen Inhalt dieser,
wie man rubig sagen darf, wichtigsten Queilen-
publikation über die Kunst des Seicentio der letzten
Jahre, andeuten mögen. Der Band liest sich außer-
ordentlich flüssig und interessant, alles Unwesent-
liche scheint aus den riesigen Bänden der Avvisi
getilgt worden zu sein, hoffentlich nicht zu viel;
aber darüber wird nur der Urkundenforscher, der
das Material wirklich vollständig beherrscht, ein
Urteil abgeben können, Sieht man das Buch
schließlich an mit seinem ungeheuren Apparat an
Anmerkungen, die, wie schon mehrfach betont,
den Text an sehr vielen Stellen überwuchern, so
kann die Besorgnis aufkommen, daB es schwierig
sein möchte, sich in dem Ganzen zurechtzufinden,
Aber es ist durch ein wahrhaft ausgezeichnetes,
über тоо Seiten starkes Register, das in einen „In-
dice dei nomi delle persone“. einen „Indice delle
materie“ und einen „Indice topografico“ zerfällt,
für eine leichte Orientierung gesorgt.
Es ist dem Verfasser zweifellos gelungen, ein
anschauliches Bild von dem künstlerischen und
kulturellen Leben des Pontifikates Pauls V. zu
geben. Dies erfährt noch eine Ergänzung durch
die illustrativen Beigaben. Orbaan reproduziert,
um einen Begriff von der Entwicklung des Stadt-
bilds von Sixtus V. bis auf Paul V. zu geben,
eine Vedute und zwei Stadtpläne.
Das Rom Sixtus V. wird durch das Fresko der
vatikanischen Bibliothek, das den Stadtplan mit
285
den Hauptschöpfungen des Papstes darstellt, re-
präsentiert (Taja, p. 446). Die ausgezeichnete
Interpretation desselben durch den Autor (in dem
zweiten Abschnitt der Einleitung, p. LXVII ss.)
zeigt aufs neue, wie sehr ein eingehendes Studium
und eine Neuausgabe der topographischen Fresken
des Vatikans lohnen würde, die ja übrigens fast
alle schon in photographischen Aufnahmen vor-
liegen.
Der Plan Tempestas (Hülsen Nr. 84) zeigt das
Stadthild unter Clemens УШ, Allerdings wird er
nicht nach dem Stockholmer Original, sondern
nach einem Nachdruck bei Merian (Itinerarium
Italiae, Frankfurt 1648) in zwei sehr scharfen und
deutlichen Lichtdrucktafeln reproduziert,
In vier, allerdings nicht sehr klaren Tafeln wird
der Pian des М. Greuter, der den Zustand der
Stadt unter dem Borghesepapst verdeutlichen soll,
wiedergegeben (Hülsen Nr. 162). Er wird von
dem Verfasser wie auch der vorhergehende ein-
gebend kommentiert.
Diese Beigaben — die beiden Pläne waren noch
nicht von P. Ehrle veröffentlicht — sind ebenfalls
besonders dankenswert und bereichern unsere
Kenntnis dieser Zeit, da sie das Studium der
schwer erreichbaren Originale erst möglich machen.
Wie man auch in Gegenwart und Zukunft die
Leistung Orbaans beurteilen mag, so viel steht
fest, daB das Buch eine der Grundlagen für das
Studium der Kunst des Seicento darstellt. Man
wird die „Documenti sul barocco“ ebensowenig
entbehren können wie die Forschungen Bertolottis.
Ludwig Schudt.
WALTER CURT BEHRENDT, Der
Kampf um denStilimKunstgewerbe
und in der Architektur. Deutsche Ver-
lagsanstalt 1920. Mit 29 Abb.
Ein Buch, vorzüglich in die bildende Kunst der
Gegenwart einführend, soweit die angewandte Kunst
in Betracht kommt. Daß diese eigentlich auch
die Führung in den darstellenden Künsten haben
sollte, wird öfter betont. Man möchte nur wün-
schen, es wäre mit der führenden Macht der Gegen-
wart, der Großstadt begonnen worden, statt das
Kunstgewerbe an die Spitze und die „Architektur“
— wozu haben wir das gute Wort „Baukunst“? —
in zweite Linie zu stellen mit dem Stadtbau als
Schluß der ganzen Vorführung. Das Buch des
Referenten, „Die bildende Kunst der Gegenwart“,
erschien 1907, im gleichen Jahre also, in dem
der deutsche Werkbund gegründet und vollbewußt
jene Bewegung durchgesetzt wurde, die 1914 zur
286
höchsten Blüte gediehen war. Das Großstadt-
problem und alles, was damit bis herunter zum
letsten Bedürfnis der Kleinkunst zusammenhängt,
trat, die ganze Entwicklung beherrschend, in den
Vordergrund. Behrendt ergänzt also, was 1907 vor-
wiegend für die darstellende Kunst ausgesprochen
war, nach der inzwischen bahnbrechend hervor-
tretenden Richtung, der angewandten Kunst hin,
Der hervorstechendste Zug des Werkes ist sein
Aufbau auf geselischaftskundlicher Grundlage.
Gleich die Einleitung betont diese Einstellung.
Der erste Teil behandelt das Kunstgewerbe und
sucht einführend die verschiedenen Richtungen,
die sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts
geltend gemacht haben, heraussuarbeiten. Dann
wird die neue Form und der kaufmännische Be-
trieb besprochen. Schon in diesen Abschnitten
würde Referent wünschen, den maßgebenden Ent-
wicklungsgedanken mehr betont zu sehen: Weg
mit aller naturnachabmenden und die ältere Kunst
nachbildenden Gestalt; bestimmend sollen allein
die Werte der Form: Maße, Raum, Licht und
Farbe sein. Der zweite Teil über Baukunst be-
handelt wieder zuerst die Voraussetzungen des
19. Jahrhunderts, den Gegensatz von Akademie
und Ingenieurwesen und geht dann die einzelnen
Schaffensgebiete: Bürgerliche und öffentliche Bau-
kunst, die Bauten des Welthandels und Weltver-
kehrs, endlich die Stadt als Bauaufgabe durch.
Der Leser wird durch die Fülle von Beobachtungen
in Atem gehalten. Das Buch ist kein Reden über
die Dinge, sondern ein Vorführen der Denkmäler
selbst als Zeugen für das blübende und viel-
versprechende Leben vor 1915. Es kann jedem
Suchenden wärmstens empfohlen werden.
J. Strzygoweski,
BENGT THORDEMAN, „Alsnö Hus“,
Ein schwedischer Palast des Mittelalters
in seinem kunsthistorischen Zusammen-
hang. Stockholm, P. A. Norstedt & Söners
Förlag, 1920 (schwedisch).
Diese Doktordissertation der Universitit Upsala
überragt weit den Rahmen der gewöhnlichen Ar-
beiten dieser Art. Sie geht aus von Ausgrabungen,
die seit 1916 an der Stätte von Aland (jetzt Hov-
garden) auf der Insel Björkö im Mälarsee aus-
geführt wurden. Man fand die Grundmauern
eines Saalbaues, zwei durch einen Gang verbundene
Nebenräume u.a. Bauart, Formziegel und Zierat
sind die gleichen wie an der Domkirche von
Strängnäs und anderen Bauten des 13.Jabrh. Das
stimmt mit den geschichtlichen Nachrichten.
Der wertvollere Teil des Buches ist die ver-
gleichende Verarbeitung dieses Tatsachenstoffes,
Thordeman stellt zunächst den Typus der nordisch-
englischen Halle fest, der ein dreischifflger ein-
geschossiger Längsbau war und halt ihn zusammen
mit dem zweischifflgen Breittypus des Kontinents,
wie er aus Goslar, Dankwarderode, der Wartburg
und Gelnhausen bekannt ist. In der Ursprungs-
frage geht er aus von den karolingischen Palast-
spuren in Aachen, Nymwegen und Ingelheim und
findet in Mschatta, Kasr-Ibn-Wardan und anderen
syrischen Palästen den Trikonchos, das heißt den
Saalbau mit drei Absiden vorgebildet. Als Ver-
mittler zwischen Ost und West sucht er den
Theodorichspalast in Ravenna hinzustellen, der
wahrscheinlich wie Aachen eine Vermischung des
hellenistischen Perystilbaues mit dem syrischen
Blockbau war. Ein eingeschobenes Kapitel be-
schäftigt sich mit der Palastkapelle,
Die geschichtliche Entwicklung wird nun so
geschildert, daß in Aachen zum Orientalisch-
hellenistischen in der Querorientierung germani-
scher Einschlag kommt. Der ottonische Palast
setzt die Entwicklung des karolingischen fort,
doch ist mit Nebeneinflüssen zu rechnen, z. В. mit
dem Typus der Lorch-Halle. Die Lauben, die man
gerne als etwas Bodenständiges ansieht, hält der
Verfasser dagegen für eine volkstümliche Ent-
wicklung der cancellorum solari karolingischer Pfal-
zen und sucht dies am skandinavischen Speicher-
bau besonders nachzuweisen. Mit Liebe verweilt
der Verfasser bei Benno von Osnabrück, dem er
auf Grund der Ulrichskapelle in Goslar Einflüsse
auf die kölnischen Kirchen zusprechen möchte.
Im Schlußkapitel wird Alsnöhus als Vertreter
des kontinentalen Palastes in Verbindung mit
anderen skandinavischen Baudenkmälern gewürdigt.
Die Beschaffenheit des Stoffes bringt es mit sich,
daß der Verfasser viel mit Hypothesen arbeiten
muß, die nicht ohne Widerspruch bleiben werden.
Doch wird jeder diesen mit viel Sachkenntnis ge-
machten Versuch einer Zusammenfassung dankbar
anerkennen. ]. Strzygowski.
OTTO FISCHER, Chinesische Land-
schaftsmalerei. 174 S. und 5ı Taf.
Verlag Kurt Wolff, München. Preis geb.
M. 80.—.
Der erste Hauptabschnitt des Werkes gibt die
historische Entwicklung der chinesischen Land-
schaftsmalerei im Umriß, während die beiden an-
deren Abschnitte die Formen und die Bedeutung
landschaftlicher Darstellung behandeln.
Aus der geschichtlichen Betrachtung ergibt sich,
daß die Entdeckung der Landschaft in künst-
lerischer Hinsicht bei den Chinesen erheblich
früher gescbah als in Europa, wenn wir uns dieser
Tatsache auch erst neuerdings bewußt geworden
sind. Besonders hervorzuheben ist, wie Sinn und
Auffassung der Landschaft, ihre Seele, wie der
Chinese sagt, aus einer uralten, in der Volks-
psyche festwurzeinden Naturreligion, einer Art
Pantheismus, ferner aus der frih entwickelten
Philosophie und endlich aus der feinen lyrischen
Poesie der alten Chinesen hervorwächst, Die
historische Entwicklung der Landschaftsmalerei
wird dann im einzelnen von den ersten Anfängen
an verfolgt, Ein wesentliches Element für ibre
Entstehung bedeutet die Landkarte, worauf bereits
früher von anderer Seite aufmerksam gemacht
worden ist. Bildrollen, die Makimono der Japaner,
weiche Landschaften darstellen, dienten wohl ur-
sprünglich topographischen Zwecken und wurden
erst später unter der Hand wirklicher Künstler zu
Gemälden im eigentlichen Sinne.
Die erste Blüte der gesamten, wie auch der
landschaftlichen Malerei in China, finden wir im
8. Jahrhundert, zurzeit der T’ang-Dynastie. Hier
ist besonders Wu tao tse zu nennen (um 700—750),
dessen großangelegte Wandmalereien legendarisch
gerühmt werden, daneben Wang wei, der um die-
selbe Zeit lebte und als der Begründer der sog.
südlichen Schule gilt, der eine weichere, romantische
Malweise eigen ist, im Gegensatz zu der klassischen,
härteren Schule des Nordens. Sehr wichtig sind
ferner für das Verständnis der Malerei dieser
Periode die im Schatzhaus zu Nara in Japan im
8. Jahrh. deponierten Kunstschätze, die neuerdings
veröffentlicht worden sind.
Der Höhepunkt chinesischer Landschaftsmalerei
fällt in die Zeit der Sung-Dynastie, um das 12. big
13. Jahrh., die darauf folgende Periode, das 14. bis
16. Jahrh. etwa, stellt nur einen Nachklang dieser
großen Zeit dar, während dann ein stetig abwärts-
führender Verfall der Kunst einsetzt, bis zum kläg-
lichen Ende in der Gegenwart. — Als die be-
deutendsten Landschafter der Sung-Periode sind
wohl Hsia-Kuei, Liti, Li Ch’éng, Chao’ta-nien,
Kaiser Hui tsung (1101—25), Liang K’al, Ma yüan,
Mu chi und Chi jan anzusehen, deren Werke z. T.
eingehender analysiert und in guten Abbildungen
vorgeführt werden. Vergeistigung ist der Haupt-
charakterzug dieser Periode, dementsprechend wird
die Monochromie, die Schwarzweiß-Malerei das
Ideal, ferner die Konzentration auf das Wesent-
liche, daher eine skizzenhafte Behandlung der
Sujets, die unserem Empfinden oft fernliegen mag,
287
demjenigen jedoch, der sich näher mit dieser Art
beschäftigt, unendlich reizvoll zu werden vermag.
„Die vollkommenste Einheit von Anschauung und
Vergeistigung ist das Kennzeichen dieser reinen
und höchsten Blüte der Malerei.“
Unter der Mongolenherrschaft erlebt die Land-
schaftsmalerei, wie gesagt, noch eine Nachblüte,
bald aber beginnt der Manierismus, ein bewußtes
Betonen des Symbolischen gegenüber dem un-
bewußt-großen Schauen der Sung-Meister, ein
Virtuosentum entsteht, das in der Ming-Epoche
fortgesetzt den Verfall in der Neuzeit einleitet.
Aus dieser Zeit sind als besonders bekannte Meister
hervorzuheben Kao jan-hui, (Kao K’o-Kung 7), T’ang
yin, Ch’ou ying, Hsien Chin, Chang Lu u. а. m.
Das dekorative Element tritt in der Mingzeit er-
heblich in den Vordergrund, mit ihm erwacht aufs
neue die Farbenfreudigkeit, die der Verinnerlichung
den Rest gibt, indessen noch manches liebliche
Genrebild hervorbringt.
Der zweite Abschnitt behandelt die Probleme
der künstlerischen Formbildung in der chinesischen
Landschaftsmalerei. „Berg und Wasser,“ shan-
shui, ist der Ausdruck für Landschaft, Felsen und
Bäume sind ein Hauptelement derselben; die Dar-
stellung von Bergen, Gewässern, Raum und Luft,
sowie die Gesamtkomposition werden hier ein-
gehend und sachkundig erörtert. Besonders inter-
essiert uns die Frage der Perspektive. Plastik
und Tiefenwirkung werden vom chinesischen
Künstler nicht erstrebt, es gibt keinen einheit-
lichen Augenpunkt des Bildes, auch keinen Horizont,
ebensowenig wie es hier Spiegelungen und Schlag-
schatten gibt. Die Linearperspektive ist eine
andere als bei uns, denn die chinesische Malerei
„kennt den Raum in unserem Sinne überhaupt
nicht,“ sie wirkt flichenhaft und will in und mit
der Fläche wirken, Das Problem ist vielmehr die
Wiedergabe atmosphärischer Erscheinungen, die
den chinesischen Meistern oft erstaunlich gelingt,
eine Perspektive der Luft. Fern in der Atmo-
sphäre schwimmen und wogen gewissermaßen die
Teile der landschaftlichen Szenerie, die mehr mit
der Seele als mit dem berechnenden Auge zu
schauen ist. Ein bestimmter Rhythmus, ein eigen-
artiges Helldunkel, suggestive Linienführung, eine
gewisse Polarität der Bildteile ist für diese Schöp-
fungen charakteristisch und verleibt ihnen Leben
und Bewegung.
Der dritte Abschnitt behandelt den Zusammen-
hang von Bild und Schrift, erörtert das Wesen
der Inspiration beim Kunstschaffen und sucht der
Seele der Landschaft, also der Bedeutung der
Landschaftsmalerei überbaupt näher zu kommen.
288
In der Hingabe an das Kunstwerk liegt der Weg
zu seinem Verständnis.
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß das vor-
liegende Werk einen wertvollen Beitrag zum Ver-
ständnis ostasiatischer Kunst darstellt und auch
gut geschrieben ist, so daß dem Leser der an
sich nicht ganz leichte Stoff in anregender Form
dargeboten wird, daß ferner auch der Kenner
ostasiatischer Kunst völlig auf seine Rechnung
kommt und daß endlich der Druck, wie auch die
sonstige Ausstattung des Werkes, namentlich die
Tafeln, ausgezeichnet genannt werden können.
Dr. H. Kunike.
HANS GRABER, Piero della Fran-
cesca. Achtzig Tafein mit einführendem
Text. Basel 1920. Benno Schwabe & Co.,
Verlag. (Preis geb. M. 400.—.)
In seinem Vorwort erklärt der Verfasser zwar,
daß sich sein Buch nicht an Kunstgelehrte, son-
dern an Künstler und unzünftige Kunstfreunde
wende. Wer sich aber trotz dieser Einwendung
auch als Kunsthistoriker mit dieser in jeder Be-
siehung gleich vorbildlichen Veröffentlichung aus-
einandergesetzt hat, muß Graber danken für diese
grade wissenschaftlich sehr solide Arbeit über
einen der Größten aus der Zeit der Frührenals-
sance, dessen überragende Bedeutung dieses Buch
überhaupt erst offenbar gemacht hat. Seltsam
genug, daß dieses Werk erst jetzt an die öffent-
lichkeit getreten ist, nachdem selbst die soviel
Kleineren aus der Geschichte der italienischen
Malerei längst die ihnen gebührende Würdigung
— und zwar oft über die Maßen laut und an-
spruchsvoll — gefunden haben. Die Gründe für
diese Tatsache glaubt auch Graber nicht zu ver-
kennen. Piero della Francesca ist vielleicht ers!
jetzt — im Zeitalter des Expressionismus —
richtig und seinem wirklichen Format nach zu
begreifen. Denn keiner von den Künstlern der
italienischen Frühkunst (außer Giotto, Masaccio,
Pisanello und einigen Sienesen) steht im rein
Künstlerischen der Gegenwart gleich nahe wie
dieser Meister aus Borgo San Sepolcro, der des
Glück hatte, den modischen Strömungen nach
Naturnähe nicht zu erliegen, sondern als Maler
der Provinz bie zum Abschluß seines Werkes in
der ursprünglichen Strenge und Herbheit zu ver-
harren, die seinen Kompositionen jene statuariscbe
Einfachheit verleiht, die das Ergebnis eines ganz
nach innen gewendeten Künstlergeistes ist. Das
Kapitel seines Buches, in dem Graber in dem
eben angedeuteten Sinne den „Stil“ seines Meisters
erklärt, gehört zu dem Besten und Tiefgründigsten,
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was uns die neuere Literatur an künstlerischer
Analyse beschert hat. Frei von jeder Maniriert-
beit, sind die Elemente dieses Pieroschen Stils
ausschließlich auf Monumentalität gestimmt. Im
Rahmen einer architektonisch begrenzten Raum-
gestaltung werden die Figuren selbst zu Trägern
und Gliedern der Komposition, getragen und in
ihrer Erscheinung bedeutsam betont von den Fak-
toren des Lichtes, dss bei Piero ebenfalls ein
wichtiges Moment der Bildeinheit ist. In diesem
Sichdurchdringen der einzelnen Elemente steilt
die Gebärde der Menschen, gebändigt in Ver-
haltenheit und Strenge, zu jener letzten Wucht
und Eindringlichkeit empor, die keine spätere Zeit
je wieder ähnlich erreicht hat.
Doch so sehr man auch versucht wäre, gestützt
auf die hier angezeigte Publikation, der Künstler-
schaft eines Piero della Francesca weiter nach-
zugehen und diese ähnlich wie es Graber tut, vom
Standpunkt des modernen Menschen aus rein
künstlerisch zu durchleuchten, so wenig wollen
wir verkennen, daß gegenüber dem, was Graber
selbst seinem Werk als einführenden Text bei-
gegeben, der Versuch Stückwerk bleiben würde,
weil alles Wesentliche von ihm erkannt und in
feinster Ausprägung bereits gesagt worden ist.
Dieser Text, der sich aus einem knapp gefaßten
biographischen Abriß, einem Kapitel „Die Werke“
und jenem bereits hervorgehobenen Abschnitt
„Der Stil“ zusammensetzt, vermeidet absichtlich
jede Erörterung von Fragen, die lediglich das
Gebiet der engeren kunstwissenschaftlichen For-
schung berühren. Graber nahm die überlieferten
Tatsachen hin, ohne sie frelich kritischer Prüfung
zu entziehen. Aber es kam ihm nicht darauf an,
philologische Detailfragen anzuschneiden als viel-
mehr das Werk dieses Großen als Erlebnis in
seiner Totalitit zu erfassen und zu verdeut-
lichen. Dabei enthalten gerade die Abschnitte,
die der Betrachtung der einzelnen Werke ge-
widmet sind, so viel an Neuem, daß sie auch
ohne die hier dokumentierte vorbildliche künst-
lerische Beobachtungsgabe, immer als eine sehr
wesentliche Bereicherung der reinen Wissenschaft
angesprochen werden müssen. Auf den wunder-
vollen ganzseitigen Tafeln dieses großformatigen
Buches aber, deren schönste die zahlreichen
Wiedergaben wichtiger Einzelheiten sind, steht
die Kunst jenes Piero aus Borgo San Bepolcro»
dessen Werk leider nur zum Teil auf uns ge-
kommen ist und die knappe Spanne einiger dreißig
Jahre umschließt, so bezwingend und wahrhaft
groß grade über dem Werden unserer Kunst vor
Augen, daß man dem Verfasser dieses kostbaren
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921.
Buches nicht genug für seinen wohlgelungenen
Versuch danken kann, endlich einen der wirklich
bahnbrechenden Meister dem Bewußtsein der
Gegenwart zurückgewonnen zu haben.
Will der Verlag den deutschen Künstlern, die
wahrscheinlich der hohe Preis der monumentalen
Ausgsbe stark behindert, das Werk kennenzu-
lernen, ein Gutes tun, dann läßt er hoffentlich
dieser ersten Auflago bald eine Volksausgabe
folgen, die auch in kleinerem Format und bei
einem stärker reduzierten Bildanhang Tausende
willkommen heißen werden, Georg Biermann.
PAUL ERICH KÜPPERS, Der Kubis-
mus. Klinkhardt & Biermann, Leipzig.
Der um die Pflege der neueren Kunst in Han-
nover hochverdiente Paul Erich Küppers hat ein
Bändchen über Kubismus erscheinen lassen, das
in meisterhafter Weise zeigt, wie klar, sachlich,
exakt man Uber moderne Kunst schreiben kann,
ohne expressionistisches Deutsch, und daß man
trotz allem sein Thema dabei ausschöpfen und
den Leser mitreißen kann. Es ist ein wirkliches
Glück, daß ab und zu solche Bücher heraus-
kommen, welche die arg in Mißkredit gekommene
Kunstschreiberei rehahilitieren. Denn der Mutheris-
mus ist wieder ds, in einem neuen Mantel.
Küppers findet die Verankerung des Kubismus
im Geist der Mystiker, der, tief in die eigene
Brust greifend, hier das ewige über Werden und
Vergehen triumphierende Sein empfindet. In jenem
gesteigerten Ichgefühl, das nur sich selbst erleben
kann, in jenem Zustand der Seele, in der Ich
und Welt, Ich und Gott zu völligem Einklang
kommen, sieht der Verfasser den Erzeugungs-
augenblick sowohl der Mystik als auch der neue-
sten Kunst, Die Elemente des Künstierischen
haben aufgehört, das Kleid der Dinge zu geben,
sie wollen nicht mehr Erscheinungstatsachen fest-
legen, sie sind nur noch Empfindungsträger seeli-
scher Erregungen. Als guter Kenner der Haupt-
mystiker führt Küppers diese These durch, in
einer Sprache, die an Eckehart entwickelt, Bilder
von strömender Kraft sich baut. In den geome-
trischen Produkten der Kubisten, deren Ahnen-
reihe der Verfasser in zwangloser Folge auf Cé-
zanne zurückführt, findet er die Ruhe nach den
auf ihn eindringenden, ständig wechselnden Er-
scheinungsn des Alltags. Hier sieht er eine Welt
ohne Willkür, ohne Zufall, geläutert und einfach.
Für ihn ist die Basis immer wieder eine reli-
giöse, selbst wo es sich um die Sphäre reiner
Zahlen handelt, in der die neueste geometrische
Spekulation die Welt zu begreifen versucht. Diese
19 289
ganze Konstruktion hat etwas Zwingendes, dem
sich der Leser kaum zu entziehen vermag.
Trotzdem hier zum Schluß noch einige Be-
denken. Ist die Mystik, wie sie Küppers schildert,
nicht etwas einseitig gesehen? Könnte man nicht
gerade das liebevolle Eingehen auf die Erschei-
nungswelt in ihr finden, die Umarmung alles
schlechthin Seienden, wie sie sich in der goti-
schen Kunst zeigt, und worauf Dvořák in seinem
„Idealiamus und Naturalismus“ hingewiesen bat?
Und weiter: stellt sich im Kubismus nicht viel-
leicht gerade die Negation alles Religiösen dar,
nämlich die charaktervolle Selbstbejahung der
ratio? Es will mich manchmal bedünken, als sei
die Flucht aus der Erscheinungswelt hier doch
nicht in dem von Küppers aufgezeigten Maß
religiös orientiert, sondern eher eine Absage an
alles Gefühl, dss als Schwindel verworfen wird,
wie dies beim Suprematismus konsequent durch-
geführt ist. So gesehen, erscheinen die Kubisten
als eminent modern. Aus der mystischen Ver-
kleidung, in die der Westeuropäer sich ein paar
Jahre eingehüllt hatte, kommt er dann wieder als
derjenige hervor, der er nun einmal ist und sein
muß, ob er sich’s auch wegdisputieren möchte,
der Rationalist.
Dies nur der leichte Zweifel am Ende der Lek-
türe eines ausgezeichneten Buches.
Alfred Kuhn.
VINZENZ SEUNIG: Die kretisch-
mykenische Kultur. Universitätsbuch-
handlung Leuschner & Lubensky, Graz
1921. 130 S. und 25 Abb. M. 17.—.
Verfasser will nichts Eigenes, Neues zu dem
verwickelten Problem der kretisch-mykenischen
Kultur beisteuern, sondern die Ergebnisse der
wissenschaftlichen Forschung zusammenfassen,
Das ist ihm in keiner Weise gelungen. Es fehlt
dem Verfasser durchaus an den nötigen Kennt-
nissen, er ist nicht einmal tief genug in den Stoff
eingedrungen, um sich selbst ein auch nur einiger-
maßen klares Bild von den Kulturzuständen des
östlichen Mittelmeergebietes im zweiten vorchrist-
lichen Jahrtausend zu machen. Es fehlt ihm auch
die Fähigkeit, die Resultate der wissenschaftlichen
Forschung zu verarbeiten und miteinander in
Übereinstimmung zu bringen. Deshalb finden sich
Widersprüche, sogar wo es sich um Fundamental-
fragen handelt. — Die Urkreter sind Indogermanen,
das wird immer wieder betont, p. 53 heißt es dann
plötzlich: Die altkretischen Bauanlagen sind nicht
griechisch, sondern wahrscheinlich karisch-lyki-
schen Ursprungs, jedenfalls sind sie nicht mit
290
Indogermanischen Bauten zusammenzustellen. —
Verf, geht zudem die Fähigkeit ab, Theorien und
Ansichten anderer aufihren Wert und ihre Wissen-
schaftlichkeit hin zu prüfen und zu beurteilen —
so folgt er з. B. vielfach v. Lichtenbergs Phan-
tastereien — auch ist ihm nicht überall die neueste
Literatur bekannt — Ed. Meyer, Geschichte des
Altertums II kennt er nur in der т. Auflage 1893,
Schuchhards Akademieabhandlungen, auch Alt-
europa, überhaupt nicht, Aber man soll nicht
kleinlich sein; wenn das Buch imstande wire,
dem Leser ein klares, lebendiges Bild der kretisch-
mykenischen Kultur zu vermitteln, ich würd’s
dennoch empfehlen, und wenn es noch auf dem
Standpunkt stände, den die Fachgelehrten vor zehn
Jahren eingenommen. Aber auch das vermag das
Buch m. E. nicht zu leisten. Die Darstellungsart
ist wenig geschickt, der Stil nicht gerade flüssig,
das Deutsch miserabel. —
Die Abbildungen stehen in keinem Zusammen-
hange mit dem Texte; was in einem Buche über
kretisch-mykenische Kultur eine Abbildung des
Hafens von Korfu oder einer Straße von Athen
oder vom Erechtheion soll, ist mir unerfindlich.
Es ist zu bedauern, daß in unserer Zeit, in der
selbst die besten Bücher nur mit großen Schwierig-
keiten herauszubringen sind, ein solches Buch er-
scheinen konnte. Keinem ist damit gedient, aber
einem guten Buche wird der Lebensweg eingeengt,
wenn nicht gar gesperrt. Ich halte es daher grund-
sätzlich für durchaus nötig, daß solche Bücher in
schärfster Form abgelehnt werden, im Interesse
des Käufers, wie im Interesse des Verlegers, der
seine Arbeitskraft dann nur wirklich guten Büchern
zuwenden wird. Und damit wäre viel gewonnen,
Aug. Köster.
OTTO GRAUTOFF: Französische
Malerei seit 1914. Berlin, Mauritius-
verlag 1921.
Grautoffs Reise nach Paris im Sommer 1920
wird fruchtbar in vielen Zeitschriftenartikeln und
Büchlein, Wenn diese nur auch gut orientierten
über das, was in Frankreich bei den Künstlern
geschieht! Man hört aber doch einigermaßen
deutlich den Widerhall der Audienz heraus, die
Matisse dem Deutschen gewährt hat, und kann
mit Bedauern feststellen, daß Grautoffs Ansichten
nichts hinzugelernt haben seit 1912 und 14, Ma-
tisse und Derain: nun gut, wir wissen, daß sie
führende und wirklich große Künstler sind; wußten
es etwa ebensolange wie Grautoff. Aber wie stehts
mit Picasso? Ist das genug, was wir durch ver-
mittelndes Organ seines intimen Feindes Matisse
über ihn bören? Mich dünkt, hier klafft eine Lücke,
Und vollends die Kubisten: da muß immer noch
die leidige Phrase von ihrer Theoretik herhalten;
kein Wort von der unendlichen Wandlung Légers,
Gleises, Archipenkos; kein Gedanke daran, daß
hier eine europäische Entwicklung sein könnte,
daß es Namen wie de Chirico, Groß, Schlemmer,
Baumeister, Zrzavy gäbe, die eine Linie mit jenen
verbinden könnte. Sollte man zu dem Resultate
gelangen, daß dieses mit guten Abbildungen ver-
sehene hübsche Bichelchen eine Parteischrift und
Wiederbolung dessen sei, was Grautoff — keines-
wegs unwidersprochen — in deutschen Zeitschriften
bereits niedergelegt habe? Aber es ist vielleicht
zuviel verlangt, daß die erste Friedenstaube von
diesseits des Rheines auch gleich bis zu den letzten
Verästelungen, bis zur Gegenwart der Kunst vor-
dringe, wo es so angenehm zu nisten ist bei
Matisse und seinem Kreise! Paul Е. Schmidt.
ALBERT NEUBURGER: Die Technik
des Altertums. 2. Aufl. 570 S. mit
676 Abb. R. Voigtländers Verlag, Leipzig
1921. Geb. М. 65.—.
Daß nach zwei Jahren bereits eine neue Auflage
des Buches nötig wurde, beweist, wie notwendig
eine Zusammenfassung alles dessen war, was wir
über die antike Technik wissen, hat aber zugleich
den Ubelstand im Gefolge, das dem Verfasser
nicht genügend Zeit blieb, die zweite nun auch
wirklich als verbesserte Auflage herauszugeben.
In seiner Besprechung der ersten Auflage rügt
Feldhaus (Geschichtsblätter für Technik und In-
dustrie Bd. 6, p. 120) eine ganze Reihe von Un-
richtigkeiten, die sich noch beträchtlich vermehren
ließen, die aber alle darauf zurückzuführen sind,
daß Verf. trotz heißen Bemühens der Altertums-
wissenschaft fern steht, und daß er verschmäht
hat, einen Archäologen zur Mitarbeit oder zur
Korrektur heranzusiehen. Die archäologische
Literatur, z. T. gerade die grundlegenden Arbeiten
sind Verf. in vielen Fällen unbekannt geblieben.
So kennt er z. В. nicht die Untersuchungen über
die antike Bronzetechnik von Pernice (Öster-
reichische Jahreshefte), oder über die antike Mal-
technik von Reichhold (in Furtwängler Reichhold,
Vasenmalerei und Reichholds Skizzenbuch grie-
chischer Meister). Das sind Werke, die jeder
Student im zweiten Semester kennt, und obne
deren Berücksichtigung eine Darstellung der be-
treffenden Technik nicht denkbar ist. Und was
sonst an archäologischen Untersuchungen und
Darstellungen übersehen ist, geht ins MaBlose.
Der Techniker kann eben nicht zugleich Archäo-
loge sein und dessen z. T. entlegene Fachliteratur
eingehend beherrschen. Die Folge ist nun natür-
lich eine Reihe von Fehlern und Mängeln, wie
sie Feldhaus rügt, dessen Ausführungen übrigens
manchmal für den Kenner komisch wirken. 8. 131
sagt ег z. B.: „Im Abschnitt über die Zahnräder,
der trotz der Wichtigkeit für den Maschinenbau
recht dürftig ist, kennt N. weder meine Studie
von 1911, noch den Fund römischer Zahnräder
der Saalburg.“ Dazu ist zu bemerken, daß die
angepriesene Studie von 1911 ebenso mangelhaft
ist, denn den im Jahre 1900 bei der Insel Anti-
kythera aufgefundenen antiken Mechanismus mit
Räderwerk, das bedeutendste dieser Art, was uns
aus dem Altertum erhalten ist ( Een, dey. 1910)
kennt weder N. noch sein Rezensent Feldhaus,
der N.’s Unwissenheit rügt. —
Die Unrichtigkeiten und Fehler setzen den Wert
von N.s Buch erheblich herab, aber es wird da-
durch doch nicht wertlos. Es hat unzweifelhaft
seine Vorzüge, ist zu rascher Orientierung ge-
eignet, verweist auf die einschlägige Literatur und
erspart viel Zeit und Arbeit.
Wo ein wissenschaftliches Problem absolute Zu-
verlässigkeit, dem neuesten Stande der Wissen-
schaft entsprechend, erfordert, ist allerdings Vor-
sicht geboten, aber in solchem Falle wird man in
der Regel ohnehin lieber aus der Quelle schöpfen,
als aus einem Kompendium, wie es die Arbeit N.s
ist und sein will. Sollte N. sich entschließen
können, die nächste Auflage von einem Archäologen
bearbeiten oder durcharbeiten zu lassen, so würde
das Werk als hervorragend gepriesen werden
können. Aug. Köster.
BIBLIOTHECA D'ARTE, diretta da
Armando Ferri e Mario Recchi.
Anno I. Fasc. I—IV.
I. Borromini, A cura di Antonio Munoz.
13 S. 29 Taf.
П. Domenico Feti. A cura di R. Oldenbourg.
15 S. 25 Taf.
Ш. Bernardo Cavallino. А cura di A. de Ri-
naldis. 19 8. 26 Taf.
IV. Caravaggio. А cura di Lionello Venturi.
16 8. 32 Taf.
Einzelheft L. 7.50. Abonnement auf
ı2 Hefte L. 75.—.
Die vier ersten Bändchen der Sammlung von
Künstlern des Sei- und Settecento, die Armando
Ferri und Mario Recchi herausgeben, liegen jetzt
vor. Sie sind nach einem einheitlichen Plan ge-
arbeitet: ein kurzer Text, der über die kunst-
291
geschichtliche Stellung des jeweilig behandelten
Künstlers Aufschluß gibt, ein Oeuvrekatalog und
eine kurze Bibliographie bilden den textlichen
Teil, meist 15—-20 Seiten stark. Ein Abbildungs-
material von 25—30 Tafeln ist jedem Bande bei-
gegeben.
Das Programm der ersten Serie des groß an-
gelegten Unternehmens geht dahin, die italienischen
Meister des Sei- und Settecento uns wieder näher
zu bringen, also eine vollständige Terra incognita
die hier zum erstenmal planmäßig von Forschern
bearbeitet werden soll, die mit der Zeit und ihren
Künstlern vertraut sind. Außer den hier angezeig-
ten Bänden werden im Laufe dieses Jahres noch
Arbeiten über Pietro da Cortona, Sacchi, Strozzi,
Plazetta usw. erscheinen. Eine zweite Serie über
die Meister des nordischen Barocks soll später
folgen.
Betrachten wir die einzelnen Hefte näher, so
zeigt die Arbeit von Munoz über Borromini alle
Vorzüge des Autors. Der Text ist klar und flüssig
geschrieben. Ein sorgfältig gearbeiteter Katalog
der Werke ist beigefügt. Die Klischees sind durch-
weg vorzüglich gelungen, besonders ist die Wieder-
gabe schwer zugänglicher und bisher wenig be-
kannter Monumente zu rühmen.
Oldenbourgs „Domenico Feti* vermittelt einem
größeren Publikum zum allererstenmal die Be-
kanntschaft dieses eigenartigen Künstlers. Der
Katalog der Werke beruht auf Endres-Soltmanns
besonders tüchtiger Dissertation. Die Abbildungen
sind gerade hier von besonderer Wichtigkeit, weil
wir noch nie Gelegenheit gehabt haben, irgendwo
das Lebenswerk Fetis beieinander zu sehen.
Rinaldie geht in seiner Studie über Bernardo
Cavallini völllg eigene Wege. Der ausgezeichnete
Katalog, der um so verdienstvollerist, ale sich die
meisten Werke in schwer zugänglichem Privat-
besitz befinden, stellt das recht verstreute Material
zu einer klaren Übersicht zusammen, die Ab-
bildungen, deren Beschaffung zum großen Teil
sehr schwierig gewesen sein muß, unterstützen
den Text in wirkungsvollster Weise.
Am wichtigsten, schon wegen der Bedeutung
des Künstlers, ist Lionello Venturis „Caravaggio“.
Auch bier müssen die Abbildungen besonders her-
vorgehoben werden. Endlich einmal haben wir
ziemlich den ganzen Caravaggio in einer leicht
und allgemein zugänglichen Publikation vor uns
und finden auch Werke wieder, die sonst fast
immer fehlten. Von dem Text ist vor allem der
Katalog der Gemälde hervorzuheben, der den ersten
Versuch einer kritischen Sichtung der Werke dar-
stelit. Dabei mag hervorgehoben werden, daß
292
Venturi seine früher (in Arte Bd. ХШ) gemachten
Zuschreibungen nicht mehr aufrecht erhält. Von
den Berliner Bildern werden nur noch der Amor
als Sieger (Kat. von Posse, Nr. 369), der Matthäus
(Nr. 365) und das Frauenporträt (Nr. 356) als
Werke Caravaggios anerkannt. Von den Bildern
in Sizilien bleiben die Geburt Christi im Museum
zu Messina, die Geburt Christi im Oratorio der
Compagnia di 8. Lorenzo in Palermo und der
Tod der beiligen Lucia in Syracus als authentisch
übrig.
Diese kurzen Ausführungen mögen ein Bild von
dem reichen Inhalt geben, den die Sammlung
bieten wird,, Zur Mitarbeit haben sich Gelehrte
der verschiedensten Nationen bereit erklärt. Druck.
Schriftsatz sowie die äußere Ausstattung der Bänd-
chen zeugen von ausgezeichnetem Geschmack,
auch ist das verwandte Papier recht gut und in-
folgedessen die Tafeln, wenigstens zum großen
Teil vorzüglich gelungen, Diese Leistung ist bei
den heutigen Schwierigkeiten in der Buchherstellung
boch zu bewerten.
So wird man dem Unternehmen, das endlich
einmal über die Kunst des Cinquecento hinausgeht
und unsere dürftigen Kenntnisse des Sei- und
Settecento zu bereichern strebt, wohl einen durch-
schlagenden Erfolg prophezeihen dürfen. Völlig
neue Gebiete der Kunstwissenschaft sollen hier
endlich den weiteren Kreisen erschlossen werden.
Ludwig Schudt.
FRANZ MARC: Briefe, Aufzeich-
nungen und Aphorismen. Berlin,
Paul Cassirer 1920.
Man fühlt in der vorliegenden Publikation (ein
Text- und ein Abbildungsband) beglückt und er-
schüttert die vollkommene Einheitlichkeit des
Menschen und Künstlers. Einer ist hier vor seiner
Zeit von der sinn- und wahllosen Kriegsmaschine
hingerafft worden, der Zeugnis ablegte für die
Wahrhaftigkeit und Notwendigkeit der Strömung,
die wir „Expressionismus“ nennen, deren lebendiger
Inhalt heute schon wieder von Sensation, von
nervöser Gefall- und Modesucht verschüttet ist.
Des Expressionismus tiefster Anspruch, die Ent-
materialisierung und Gestaltung der Erscheinungen
in einer neuen Welt der verdichteten, künstlerischen
Form, entspricht Marcs menschlichem Sein, das
glücklich, rein und schlicht im Irdischen stand
und sich dem Geistigen entgegenhob.
In manchen Briefen sucht der Künstler mit der
Besessenheit, die allen Wegbereitern eigen ist,
den Sinn seiner künstlerischen Arbeit: „Was hat
— « — ———
— — afferen Aug, 1 LL *
der schöne runde Apfel mit der Fensterbank ge-
mein? Wenn man das Problem auf ‚Kugel und
Fläche‘ stellt, so fällt der Begriff Apfel im Ernste
weg; wenn wir aber den Apfel, den schönen Apfel
malen wollen? oder das Reh im Walde? oder die
Eiche?“ Die Naturalisten gaben das Objekt, andere
gaben ihre innerliche Welt, das Subjekt. Wenn
man den Band der Zeichnungen betrachtet, die
fabelhafte Melodik, in der hier Seele, Sinne und
Form eins geworden sind, erkennt man, was Marc
malen wollte: das Blühen der Rose, das Fühlen
des Pferdes, „das Prädikat“. „Wer vermag das
Sein eines Hundes zu malen wie Picasso das Sein
einer kubistischen Form malt?“ Man kann kritisch
wissen, daß niemals unsere erdgeborenen Augen
erfahren werden, wie die Natur sich sieht, wie das
Tier, wie die Blume, wie die Dinge dasKreißen ihres
Seins erleben, Aber man kann verstehen, daß
Marc, der die kleinen Rehe seines Gartens und die
trächtige Mutter mit zärtlichem Vatergefühl um-
schloß, die uns ewig unbekannte Wesensluft dieser
geliebten Tiere zu erahnen glaubte, „das Reh reht“.
Die kalte Spekulation, mit der die radikalen Aus-
läufer des Kubismus das Naturerlebnis verleugnen,
steht in schroffem Widerspruch zu Marcs instinkt-
haftem und bewußtem, künstlerischem Werk, „Der
(Gegenstand) steckt immer drin, ganz klar und
eindeutig, nur braucht er nicht immer äußerlich
da und augenfällig zu sein. Ich denke viel über
diese Dinge nach; sie sind im Grunde so einfach.“
Dieser Mensch, der den Sinn seines Daseins
immer „ins Geistige hinüberspielt“, lehnt in der
ruhigen Vitalität seines Wesens die Askese Tol-
stojs ab, die bei jenem als eine Reaktion auf das
Übermaß von irdischem Verlangen zu deuten ist.
„Am Ende traut er sich auch einmal nicht mehr
durch einen Blumengarten zu gehen. Der erotische
Witz sowohl wie die erotische Erregbarkeit und
Leidenschaft sind Grundelemente des menschlichen
Fühlens, die man nicht durch christliche Liebe
zudecken oder abschnüren kann und darf und soll,“
Und er sagt von Emanuel Quint, dem Werke, in
welchem Hauptmanns reine Seele sich fast über
alle Kunst hinweg ausspricht, als ob er von sich
selbst spräche „Durch Quints Leben geht jene
abstrakt reine Linie des Denkens, nach der ich
immer gesucht habe und die ich auch immer im
Geiste durch die Dinge hindurch gezogen habe;
es gelang mir freilich fast nie, sie mit dem Leben
zu verknoten, — wenigstens nie mit dem Menschen-
leben. Quint bat wohl seine reine Idee manchmal
mit dem Leben verknotet; daß er dabei doch rein
geblieben ist, darin liegt seine göttliche Größe.“
In einem großartigen Brief an seine Mutter
schließlich (einen Monat vor seinem Tode ge-
schrieben) schwingt sich das glückliche Gleich-
gewicht dieser reichen, schöpferischen Seele in
buddhahafter Ergebenheit aus. „In meinen ge-
malten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille.
Sonst aber hat der Tod nichts Schreckhaftes; er
ist doch das allen Gemeinsame und führt uns
zurück in das normale ‚Sein‘. Die Strecke zwischen
Geburt und Tod ist der Ausnahmezustand, іп dem
os viel zu fürchten und zu leiden gibt — der
einzige wirkliche, konstante, philosophische Trost
ist das Bewußtsein, daß dieser Ausnahmezustand
vorübergeht, und daß das immer unruhige, immer
pikierte, im Ernste ganz unzulängliche „Ich-Be-
wußtsein“ wieder in seine wundervolle Ruhe vor
der Geburt zurücksinkt.“ 8. Schwabacher.
293
CURT GLASER: Lukas Cranach. Mit
117 Abbild. Deutsche Meister, heraus-
gegeben von Karl Scheffler und Curt
Glaser. (Insel-Verlag, Leipzig 1921.)
OTTO FISCHER: Chinesische Land-
schaftsmalerei. Mit 63 Bildwieder-
gaben. (Kurt Wolff. Verlag, München 1921.)
MAURICE RAYNAL: Picasso. Aus
dem französischen Manuskript übersetzt.
Mit 8 Kupferdrucken und 95 Abbildungs-
tafelnnachRadierungen,Handzeichnungen,
Skulpturen und Gemälden. (Deiphin-Verlag,
München 1921.)
K. ZOEGE von MANTEUFFEL: Hans
Holbein, der Zeichner für Holzschnitt
und Kunstgewerbe. Mit 71 Abbildungen.
DERSELBE: Hans Holbein, der Maler.
Mit 60 Abbild. (Beide Verlag Hugo Schmidt,
München.)
HANS TIMOTHEUS KROEBER: Sil-
houetten aus Lichtenbergs Nachlaß
von DanielChodowiecki. (Verlag Heinr,
Staadt, Wiesbaden 1920.)
MAX OSBORN: Geschichte der Kunst.
(Verlag Ullstein & Co., Berlin.)
JOS. AUG. BERINGER: Trübner, des
Meisters Gemälde. Mit 450 Abbildgn.
(Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin.)
EMIL WALDMANN: Sammler und
ihresgleichen. Mit 52 Abbildungen.
(Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1920.)
PAUL HEIDELBACH: Stätten der
Kultur: Kassel. (Verlag Klinkhardt & Bier-
mann, Leipzig.)
ATTILIO SCHIAPARELLI: Leonardo
Ritrattista. Mit 40 Abbild. (Verlag Fra-
telli Treves, Milano 1921.)
OTTO HIRSCHMANN: Verzeichnis
des graphischen Werkes von Hen-
drick Goltzius 1558—1617. Mit Be-
nutzung der durch E. W. Moes + hinter-
lassenen Notizen zusammengestellt. (Verlag
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1921.)
294
J. J. ROUSSEAU: Die neue Heloise.
Mit 24 Kupfern von Chodowiecki u. Gra-
velot in 2 Bänden.
VOLTAIRE: Die Jungfrau. Mit 21
Kupfern von Moreau le Jeune. (Beide im
Pantheon-Verlag, Berlin.) В
OTTO GRAUTOFF: Die neue Kunst.
(Verlag Karl Sigismund, Berlin 1921.)
FÜHRER DER HAMBURGER KUNST-
HALLE:
Nr. ı. Die Kunsthalle. Ihr Bau und ihre Ein-
richtung.
a. Alfred Lichtwark.
3. Meister Bertram und der Hauptaltar von
St. Petri (Grabower Altar.)
4. Die Muttergottes von Castellaun.
5. Joseph Anton Koch,
6. Rembrandt, Simeon im Tempel.
8. Moritz v. Schwind: Nizen, einen Hirsch
trankend.
„ 9. Gottfried Schadow: Doppelstatue der Kron-
prinzessin Luise u. der Prinzessin Ludwig.
10. Caspar David Friedrich.
11. Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeckschen
Kinder,
12. Ferd. v. Rayski: Das Bildnis des Herrn
Benecke von Gröditzberg.
(Sämtlich gedruckt im Auftrag des Vereins von
Kunstfreunden von 1870.)
AUGUST SCHMARSOW: Gotik in der
Renaissance. Mit 16 Abbild. (Verlag von
Ferdinand Enke, Stuttgart 1921.)
LEO BAER: Erkard Schön. Unter-
weisung der Proportion und Stellung der
Posen 1542. In getreuer Nachbildung
herausgegeben. (Verlag Joseph Baer & Co.,
Frankfurt a. M. 1920.)
Dr. HALD: Auf den TrümmernStobis.
Beiträge zur Geschichte und Geographie
Altmazedoniens. Mit 62 Abbildungen u.
Kartenskizzen. (Verlag Strecker & Schröder,
Stuttgart.)
HANS EHRENBERG: Tragödie und
Kreuz. L Band: Die Tragödie unter dem
Olymp. II. Band: Die Tragödie unter dem
Kreuz. (Patmos-Verlag, Würzburg.)
W.WORRINGER: KünstlerischeZeit-
fragen. (Verlag Hugo Bruckmann, Münchenıga1 .)
HANS MUCH: Islamik. Westlicher Teil
bis zur persischen Grenze. Mit Abbild.
(Verlag L. Friederichsen & Co., Hamburg 1921.)
— — —
HEINRICH SCHENCK: Martin Schon-
gauers Drachenbaum. Sonderabdruck
aus der naturwissenschaftlichen Wochen-
schrift. Neue Folge. 19. Band, unter Zu-
gabe zweier weiterer Abbild. Mit drei
Tafeln. (Verlag von Gustav Fischer, Jena 1920.)
Dr. JOSEPH BERNHART: Die Sym-
bolik im Menschwerdungsbild des
Isenheimer Altars. Mit vier Abbild.
(Patmos-Verlag, München 1921.)
HEINRICH WÖLFFLIN: Die Bam-
berger Apokalypse. Eine Reichenauer
Bilderhandschrift vom Jahre ооо. Zweite
vermehrte Auflage. Mit 63 Lichtdrucken
und 2 farbigen Tafeln. (Kurt Wolff-Verlag,
München 1921.)
DENKMÄLERdesPelizaeus-Museums
zu Hildesheim. Unter Mitwirkung von
Albert Ippel bearb. von Günther Roeder.
Mit 78 Abbild. und 16 Tafeln. (Verlag Karl
Curtius, Berlin 1921.)
—— ——
STADEL-JAHRBUCH. Herausgegeben
von Georg Swarzenski u. Alfred Wolters.
Mit 260 Abbildungen. Inhalt des ersten
Jahrgangs:
Karl With: Chinesische Plastik in der Frankfurter
Städtischen Galerie.
Hans Schrader: Die Aussendung des Triptolemos.
Rosy Kahn: Hochromanische Handschriften aus
Kloster Weingarten in Schwaben.
Rudolf Kautsch: Der Dom zu Speier.
Otto Schmitt: Ein Bamberger Engel.
Edmund Schilling: Beitrag zu Dürers Handzeich-
nungen.
Heinrich Weizsäcker: Ein neuer Elsheimer im
Städelschen Institut.
Alfred Wolters: Die Wäscherinnen von Civitella
von August Lucas im Städelschen Institut.
Georg Swarzenski: Deutsche Alabasterplastik des
15. Jahrhunderts.
(Frankfurter Verlagsanstalt A.-G., Frankfurt a.M.)
GENIUS. Halbjahresschrift für werdende
und alte Kunst. r.u.2.Buch 1920. Her-
ausgeber Dr. Carl Georg Heise u. Dr. Hans
Mardersteig. (Verlag Kurt Wolff, München.)
JULIUS SCHLOSSER: C. Fr. v. Rumohr.
Italienische Forschungen mit der „Bey-
gabe zum ersten Bande der italienischen
Forschungen“ und einem Bildnis. (Frank-
furter Verlagsanstalt A.-G., Frankfurt a. M., 1920.)
RUDOLF BLÜMNER: Der Geist des
Kubismus und die Künste. (Verlag „Der
Sturm“, G. m. b. H., Berlin 1921.)
WILHELM HAUSENSTEIN: Kairuan
oder eine Geschichte vom Maler
Klee und von der Kunst dieses Zeit-
alters. Mit 43 Abbild. (Verlag Kurt Wolff,
München 1920.)
HERMANN SCHMITZ: Die Gotik im
deutschen Kunst und Geistesleben,
(Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1921.)
HERMANN SCHMITZ: Bildteppiche.
Geschichte der Gobelinwirkerei. Heraus-
gegeben im Auftrag des staatlichen Kunst-
gewerbemuseums Berlin m. Unterstützung
der Orlopstiftung. Mit 158 Abbildungen.
Zweite Auflage. (Verlag für Kunstwissenschaft,
Berlin 1921.)
MAURICE RAYNAL: Braque. Mit 32 Ab-
bildungen. (Verlag Valori Plastici, Rom 1921.)
WILH. R. VALENTINER: Rembrandt.
Wiedergefundene Gemälde (1910—1920)
in 120 Abbildungen. Klassiker der Kunst,
Bd. 27. (DeutscheVerlagsanstalt Stuttgart 1921.)
E.TIETZE-CONRAT: Österreichische
Barockplastik. Mit 97 Abbildungen,
LILI FRÖHLICH-BUM: Parmigianino
und der Manierismus. Mit 195 Ab-
bild. im Text und 24 Taf. in Lichtdruck.
(Beide Kunstverlag Anton Schroll & Co., G. m. b. H.,
Wien.)
HUGO KEHRER: Anton van Dyck.
Mit 60 Abbildungen, Briefen, Rechnungen
und dem Testament des Künstlers. (Hugo
Schmidt-Verlag, München.)
FRITZ v. OSTINI: Fritz Erler. Mit
140 Abbildungen nach Gemälden u. Zeich-
nungen, darunter 25 farb. Kunstbeilagen
und Textbilder. (Künstler- Monographien
Nr. 111.) (Verlag Velhagen & Klasing, Bielefeld
und Leipzig 1921.)
295
EMIL SCHAEFFER: Sandro Botti-
celli. Ein Profil. Mit 80 Tafeln nach
Gemälden Botticellis in Schnellpressen-
kupferdruck und 8 Tafeln nach seinen
Handzeichnungen zu Dantes göttlicher
Komödie in Lichtdruck. (Verlag Julius Bard,
Berlin 1921.)
OTTO KÜMMEL: Die Kunst Ost-
asiens. Mit 168 Tafeln und 5 Text-
abbildungen. Die Kunst des Ostens,
herausgegeben von William Cohn, Bd. IV.
(Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1921.)
E. W. BREDT: Rembrandt-Bibel.
Vier Bände mit 270 Abbildungen. Bd. І
und II: Altes Testament. Bilderschatz
zur Weltliteratur 4.u.5.Bd. (Hugo Schmidt,
Verlag München.)
PAUL COLIN: JamesEnsor. Mit 74 Ab-
bildungen. Autorisierte Ubertragung von
Hans Jacob. (Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots-
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WILHELM BODE: Florentiner Bild-
hauer der Renaissance. 4. Auflage.
(Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1921.)
A. EFROSS u. J. TUGENDHOLD: Die
Kunst Marc Chagalls. Mit 63 Ab-
bildungen. Autorisierte Übersetzung aus
dem Russischen von Frida Ichak-Rubiner.
(Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1921.)
MAX J. FRIEDLÄNDER: Albrecht
Dürer. Mit 115 Tafeln. (Insel-Verlag,
Leipzig 1921.)
PAUL FECHTER: Das graphische
Werk Max Pechsteins. (Fritz Gurlitt-
Verlag 1921.) |
HANS CHRIST: Ludwigsburger Por-
zellanfiguren. Mit 162 Abbildungen in
Kupfertiefdruck nach Aufnahmen von Otto
Lossen. —- Biicher der Kunstsammlungen
des Wiirttembergischen Staates, Bd. I.
(Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart u. Berlin 1921.)
Bd. II, 192r.
E. und J. de GONCOURT: Die Kunst
des 18. Jahrhunderts. I u. IL Band.
Mit 42 ganzseitigen Abbildungen. (Hyperion-
Verlag, München 1921.)
ALFRED KUHN: Die neuere Plastik
von 1800 bis zur Gegenwart. Mit 68
Netzätzungenu. 14Strichätzungen. (Delphin-
Verlag, München 1921.)
ADOLF FEULNER: Die Zick. Deutsche
Maler des 18. Jahrhunderts. Mit 38 Abb.
(Hübschmannsche Buchdruckerei H. Schröder,
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KARL WITH: Asiatische Monumen-
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ECKART v. SYDOW: Die Kultur der
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FRIEDR. KURT BENNDORF: Robert
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HERM. UHDE-BERNAYS: Münchner
Landschafter im то. Jahrhundert.
Mit 84 Abbildgn. (Deiphin-Verlag, München.)
О. KAROW: Die Architektur als
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ARTHUR KRONTHAL: Werke der
Posener bildenden Kunst. Mit 13 Ab-
bildungen und einem Anhang. (Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger, Walter de Gruyter
& Co., Berlin und Leipzig 1921.)
GUIDO HARTMANN: Ludwig Hart-
mann. Ein Künstlerleben. Mit то Ab-
bildungen. (Max Kellerere Verlag, München 1921.)
ADOLF HACKMACK: Der chinesische
Teppich. Mit 26 Tafeln, einer Landkarte
und 5 Abbildungen im Text. (Verlag L.
Friederichsen & Co., Hamburg 1921.)
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Hannover, Große Aegidienstraße 4.
Telefon Nord 429. — Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissen-
schaft KLINKHARDT & BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467.
296
MONATSHEFTE
KUNSTWISSENSCHAFT
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DR. G. BIERMANN
1922
LEIPZIG
e е
ФӨ®®өөзөзөөөвөвөзөөө®Фөз@есбвөеевеөеөбөоеөөөө@®өөөзөөәзөөөөөөөөгө® 2020002000000 80000000000090908000909000890000000080090 BE 1 08811 9 BOB BE DH DL 8 000 ©
ABHANDLUN GEN —————
Seite
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Zweig, Marianne, Wiener Bürgermöbel aus
theresianischer und josephinischer Zeit 1740
bis go (M. Schuette), S. 337.
Neue Bücher 8. 77. 160. 248.
Buchdruckerei Julius Klinkhardt, Leipsig.
IV
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MAI 1922
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XV. JAHRGANG · HEFT 1—3.
VERL AG KLINKHARDTE BIERMAN
TE а ы — m am
Monatshefte
für Kunstwissenschaft
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG
Preis des Heftes Mark 75.—
INHALTSVERZEICHNIS HEFT LI
ABHANDLUNGEN
E. F. BANGE, Eine frühromanische
Evangelienhandschrift mit Malereien
des Hildesheimer Kunstkreises. Mit
12 Abb. auf 4 Taf. in Lichtdruck. S. ı
OTTO HÖVER, Vierzehnheiligen und
Neresheim. Zur Würdigung der Raum-
phantasie des Balthasar Neumann. Mit
7 Abb. auf з Taf. in Lichtdruck. S. 16
HUBERT STIERLING, Kleine Beiträge
zu Peter. Vischer. X. Neue Vischer-
werke in Baden-Baden. Mit ro Abb.
auf 4 Tafeln in Lichtdruck . . S. 23
ECKART v. SYDOW, Carl Gustav
Carus und das Naturbewußtsein der
romantischen deutschen Malerei. Mit
4 Abb. auf 2 Taf. in Lichtdruck. S. 3r
У. С. HABICHT, Jugendwerke des
M. Grünewald. Mit 8 Abb. auf 4 Taf.
in Lichtdruck ........ . . . S. 40
GEORG STUHLFAUTH, Kleine
Beiträge zu Dürer S. 57
MISZELLEN
KARL SIMON, Nicolaus Bergner in
Frankfurt а. Main S. 65
REZENSIONEN
A.E.BRINCKMANN, Die Baukunst des 17.
und 18. Jahrhund, in den romanischen Ländern.
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion,
Berlin. (Handbuch der Kunstwissenschaft.)
(Paul Zucker) S. 67
CURT GLASER, Lucas Cranach. Mit 117 Abb.
Leipzig, Inselverlag 1921 (P. F. Schmidt) S. 68
GEORG DEHIO, Geschichte der deutschen
Kunst. Zweiter Band. Textband u. Tafelband.
‚ Berlin u. Leipzig 1921. Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger (Kurt Gerstenberg) S. 69
KURT PFISTER, Deutsche Graphiker der
Gegenwart. Mit 23 Künstler-Originalbeiträgen
und 8 Reproduktionen. Leipzig, Klinkhardt
& Biermann 1920 (M. 160) P. F. Schmidt) 8. 72
BRIEFE JAKOB BURCKHARDTS an Gott-
fried (und Johanna) Kinkel, Herausgegeben
von Rudolf Meyer-Kraemer. Verlag Benno
Schwabe & Co., Basel 1921 (Kurt Gersten-
berg) . 73
FRANZ ROH, Holländische Malerei.
E. Diederichs Verlag, Jena (Willi Wolfradt)
| 8. 74
PAUL WESTHEIM, Das Holzschnittbuch.
Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1921.
(Sascha Schwabacher) 8. 75
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PAUL F. SCHMIDT, Deutsche Landschafts-
malereivon 1750—1830 (Willi Wolfradt) 8. 75
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Abb. 2. Bild des Evangelisten Lukas.
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. 1.
Abb. 1. Bild des Evangelisten Markus.
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. I.
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Abb. 3. Bild des Evangelisten Johannes. | Abb. 4. Kreuzigung Christi.
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. 1. Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. I.
Zu: Е. F. Bange, Eine frühromanishe Evangelienhandschrift mit Malereien des Hildesheimer Kunstkreises.
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EINE FRÜHROMANISCHE EVANGELIEN-
HANDSCHRIFT MIT MALEREIEN DES
HILDESHEIMER KUNSTKREISES
Mit zwölf Abbildungen auf vier Tafeln in Lichtdruck i) Von E. F. BANGE
m Besitz des Berliner Kupferstichkabinetts befindet sich eine friihromanische Evan-
gelienhandschrift (Cod. 78, A.I), sicher deutschen Ursprungs, deren künstlerische
Ausstattung in mehrfacher Beziehung Beachtung verdient. In der Literatur findet sich
der Codex zweimal erwähnt. Bei Beissel in der Geschichte der Evangelienbücher
(Freiburg 1906) S. 292, Anm. 2, der eine nicht mehr nachzuprüfende Provenienz-
angabe, die Handschrift sei in Bremen gekauft worden, abdruckt und bei Swarzenski:
Die Regensburger Buchmalerei (Leipzig 1901), S. 17, Anm. 13, der den Codex mit
einer in München verwahrten, auf Bremen zu lokalisierenden Handschrift Clm. 9475
zusammenbringt und ebenfalls für Bremen in Anspruch nimmt. Ein eingehender
Vergleich ergibt aber, daß sich die Verwandtschaft des bildlichen Schmuckes beider
Handschriften lediglich auf den gemeinsamen norddeutschen Charakter beschränkt
und daß Zusammenhänge bestimmter Art, die eine Annahme enger Schulgemein-
schaft rechtfertigen könnten, nicht vorhanden sind. Der Zettelkatalog der Berliner
Sammlung verzeichnet vermutungsweise Trier als Entstehungsort und setzt die
Handschrift in die Mitte des 11. Jahrhunderts.
Es soll versucht werden, alle mit dem Codex zusammenhängenden Fragen, na-
mentlich die kunstgeschichtliche Stellung seines Schmuckes, nach Möglichkeit zu
klären oder die Probleme anzudeuten, wo diese selbst noch nicht gelöst werden
können.
Über die Geschichte der Handschrift kann bis auf eine Schenkung des Codex an
ein nicht näher zu ermittelndes Kloster im 16. Jahrhundert nichts ausgesagt werden.
Bestimmte Angaben im Text, Besitzvermerke, Urkunden oder liturgische Besonder-
heiten, mit deren Hilfe der Ursprungsort festgelegt werden könnte, sind nicht vor-
handen. Ein einziger handschriftlicher Eintrag auf Blatt ıa, ein Dedikationstitulus,
ist unvollständig und ganz allgemein in seinen Aussagen. Er stammt von einer
Hand des 16. Jahrhunderts und lautet:
Archediaconus ordinis Brigidae dedit hunc
librum et sep.....
anno dm. MCCCCCC
Der Codex ist demnach während des 16. Jahrhunderts von einem Archediakonus
eines Brigiden- oder Birgittenordens, wie er in Deutschland in dieser Zeit ohne
Unterscheidung ebenfalls genannt wird, irgendeiner Bibliothek geschenkt worden.
Die ausdrückliche Hervorhebung „ordinis Brigidae“ im ‚Gegensatz zu sonstigen De-
dikationsinschriften, die sich mit „huius monasterii“ oder mit der Nennung des
Klosters begnügen, läßt den Schluß zu, daß ein Kloster außerhalb des Brigiden-
ordens der Empfänger gewesen ist. Darüber hinaus läßt der Titulus Vermutungen
bestimmterer Natur nicht zu. Für die uns in erster Linie interessierende Ent-
stehungsgeschichte des Evangeliars würde auch dann nichts gewonnen werden,
(1) Anm. Aus drucktechnischen Gründen war eine Änderung in der ursprünglich vorgesehenen
Reihenfolge einzelner Abbildungen (7 u. її) notwendig. Das von den übrigen Abbildungen ab-
weichende Format der Abb. Taf. П u, Ш ist versehentlich von der Reproduktionsanstalt veranlaßt
worden.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1923, 2. 1 | ї
wenn irgendeine der hier möglichen Kombinationen von anderer Seite eine Be-
stätigung in dieser oder jener Form erfahren würde. Der Stilkritik ist es vor-
behalten, die nähere Heimat der Handschrift zu umschreiben.
Der Codex enthält die vier Evangelien und die Vorreden. Als Abschluß dürfte
ursprünglich ein Perikopenverzeichnis vorhanden gewesen sein, da das Fehlen
mehrerer Lagen zwischen dem jetzt letzten Blatt und dem Rückendeckel deutlich
erkennbar ist. Den künstlerischen Schmuck bilden eine Reihe kleiner Initialen an
den Anfängen der Evangelien und wichtiger Kapitel, die Kanonbögen, eine Orna-
mentseite, Evangelistenbilder und einige mit diesen zusammengehende ganzseitige
Darstellungen. Der Inhalt der ganzen Handschrift verteilt sich wie folgt:
Blatt: та Hdschrftl. Notiz aus dem 16. Jahrh.
» Ib Plures fuisse......
» 2b Novum opus......
„ 4a Sciendum etiam
» ба
| Kanonbigen
„ 2b
„ 13a, b leer
„ 14a
Vorrede und Breviarium
„ 16a
„ zwischen 16 u. 17 fehlen zwei Blätter (Bild des Matthäus)
„ Ia Initial L zu Matthäus
„ 46b das Evangelium bricht hier ab, die beiden Schlußseiten sind
herausgeschnitten
» 470
Vorrede und Breviarium
» 48b
» 49a, b leer
» 50b Bild des Evangelisten Markus (Abb. 1)
„ 5ra Initial I zu Markus
„ 71а Schluß des Evgls.
„ 72b
Vorrede und Breviarium
» 76a
» 77a Kreuzigung (Abb. 4)
» 77b Bild des Evangelisten Lukas (Abb. 2)
» 78a Initial zu Lukas
„тода Schluß des Evgls.
„1106
Vorrede und Breviarium
„Iııa
„ıı3b Das Wort bei Gott (Abb. 11)
„ 1144 Ornamentseite
„115b Bild des Evangelisten Johannes (Abb. 3)
„116 a Initial zu Johannes
Der Einband ist unansehnlich. Er besteht aus zwei Holzdeckeln mit einfachen,
längs und diagonal gestreiftem Schweinslederbezug. Einbände dieser Art sind im
15. und 16. Jahrhundert in den Bibliotheken norddeutscher wie süddeutscher Klöster
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fast allgemein beliebt gewesen. Man darf entweder annehmen, daß eine Beschä-
digung des ursprünglichen Einbandes eine Neubindung nötig gemacht hatte, oder
daß der Blatt ra genannte Donator den Codex für den besonderen Geschenkzweck
neu hat binden lassen. Die Maße der Handschrift sind 12,5><16 cm für den Ein-
band und 12><15,5 cm für die Seite. Das zur Verwendung gekommene Pergament
ist gut bearbeitet, sorgfältig geglättet und schmiegsam. Eine Ausnahme bilden die
verschiedenen mit Bildern zu den Evangelien, nicht aber die Blätter mit den Kanon-
bögen, versehenen Pergamentseiten, die hart und dick sind; eine Erscheinung, die
mit anderen, noch zu erörternden Beobachtungen von Bedeutung ist. Der Codex
enthält 17 Lagen mit zusammen 137 Blatt. Mit Ausnahme der ersten Lage, die
zwei Bogen oder vier Blatt, und der sechsten, die fünf Bogen zählt, sind alle
Lagen ihrem ursprünglichen Bestande nach Quaternionen. Eine genaue Unter-
suchung ergibt, daß jedesmal die mit ktinstlerischem Schmuck versehenen Lagen
in ihrer Zusammensetzung Besonderheiten aufweisen, die zu bestimmten Schlüssen
Anlaß geben. Die Kanonbögen bilden eine Lage für sich, die dritte Lage, in der
das jetzt nicht mehr vorhandene Matthäusbild seinen Platz haben müßte, ist ein
Bild des Evangelisten Markus Kreuzigung, Bild des Evangelisten Lukas
— —
Wort bei Gott, Ornamentseite, Bild des Evangelisten Johannes
—
ш
Quaternio und unverändert. Für die fünfte Lage mit dem Bild des Evangelisten
Markus vgl. Skizze I, für die zehnte Lage, mit der auf Blatt 77 (a u. b) befind-
lichen Darstellungen zum Lukasevangelium Skizze II und für Lage 15 mit den drei
Bildblättern zum Johannesevangelium, von denen Blatt 114 und 115 zusammen-
geklebt waren, Skizze III.
Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß in jedem Falle ein Quaternio zugrunde
liegt, und daß nur die mit Darstellungen versehenen Pergamentblätter den ursprüng-
lichen Bestand verändern. Es kommt hinzu, daß diese im Gegensatz zur übrigen
Handschrift ein bedeutend gröberes, sehr viel weniger schmiegsames Pergament
verwenden. Es liegt der Schluß nahe, daß hier eine nicht ursprünglich vor-
gesehene Gestaltung der Handschrift angenommen werden muß. In der Tat ist
der künstlerische Charakter der in dem Codex enthaltenen Malereien ein zwie-
spältiger. Während die Kanonbögen und die im Text verstreuten Initialen zu-
sammengehören, die künstlerisch nur untergeordnete Bedeutung besitzen, bilden
die Darstellungen zu den verschiedenen Evangelien eine künstlerisch geschlossene
Gruppe, die wesentlich jünger ist und einem in seinen Grenzen bedeutenden
Künstler zugeschrieben werden muß. Es darf demnach als sicher gelten, daß
der Codex ursprünglich lediglich die vier Evangelien, einschließlich der Vorreden,
3
Kanonbögen und des jetzt nicht mehr vorhandenen Perikopenverzeichnisses (?) ent-
halten hat. Dem entspricht ferner, daß Text und Initialen in ihrem Nebeneinander
durchaus einheitlich empfunden sind, und daß der paläographische Charakter der
Schrift), der an Westdeutschland, an Köln, denken läßt, dem Anfang des 11. Jahr-
hunderts entspricht, einer Zeit, die auch für die künstlerische Erscheinung der
Kanonbögen und Initialornamentik in Frage kommt. Erst nach Jahren hat man
den Codex durch Einheften von Bildern aus irgendwelchen Gründen zu einer be-
sonderen Kostbarkeit umgestaltet.
Die Handschrift in ihrer ursprünglichen Gestalt interessiert in erster Linie durch
die Auswahl und die Reihenfolge der eröffnenden, gewöhnlich als Vorreden be-
zeichneten Briefe. Beissel hat im Anhang seiner Geschichte der Evangelienbücher
eine sehr dankenswerte Zusammenstellung dieser Briefe und ihrer verschiedenen
Ordnungen gegeben. Die im vorliegenden Codex ausgewählten Briefe Novum
Opus ... I, Sciendum etiam ... —II— und Plures fuisse ... —OII— unter Aus-
lassung des mit Ammonius beginnenden Briefes des Eusebius an Carpian und ihre
Aufeinanderfolge III — I — П entspricht der von Beissel mit IIIb bezeichneten,
nur ganz ausnahmsweise vorkommenden Reihe. Beissel muß die Eigentümlichkeit
unserer Handschrift entgangen sein. Er kennt lediglich ein karolingisches Evangeliar
(B. II, 11) in Basel, so daß unser Codex als zweites Beispiel diesem anzureihen ist.
Andere ebenfalls hier anzuschließende Handschriften sind mir nicht bekannt geworden.
Die Fassung der verschiedenen Evangelientexte sowie der jedesmal vorangestellten
Vorreden und Breviarien ist die allgemein übliche und daher ohne besonderes Interesse.
Daß der Codex auf Grund seines Schriftcharakters in der Kölner Gegend, jeden-
falls am Rhein, entstanden zu sein scheint, widerspricht der im folgenden beabsich-
tigten Einordnung der später eingefügten Malereien in den Hildesheimer Kreis
keineswegs. Die Handschrift kann gelegentlich der Stiftung St. Michaels, dessen
erster Abt ein Kölner war, nach Hildesheim gekommen sein. Der künstlerische
Charakter der Initialornamentik und Kanonbögen, die einer ganz untergeordneten
Hand angehören, ist so allgemeiner Natur, daß eine bestimmte lokale Begrenzung
nicht möglich ist. Die Initialen sind einfache, ungeschickt gezeichnete Ranken-
gebilde, die meist rot konturiert sind und den Pergamentton als Füllung verwenden.
Die einzelne Ranke endigt mit Vorliebe in knollenartigen, verschiedentlich grlin-
getupften Blattgebilden. In zwei Fällen finden sich bescheidene Ansätze, figtir-
liche Motive einzuflechten. Die Kanonbögen sind unter sich gleich und ent-
sprechen mit ihrem dünnen, lasurartigen Farbauftrag unter starker Benutzung hell-
gelber, roter und grüner Töne sowie des sich hiermit verbindenden Gelb des
Pergaments durchaus der Zeit kurz nach dem Jahre 1000, zumal ein vollständig
unselbständiger Künstler in Frage kommt, der noch ganz in der vorangegangenen
Entwicklung steht und namentlich auch, besonders seiner farbigen Erscheinung
nach, karolingische Elemente verarbeitet.
Unser eigentliches Interesse gehört den nachträglich hinzugekommenen Malereien.
Sie sind künstlerisch wertvoll und durch ihre weiter unten noch ausführlich zu
behandelnden Stellung zum Bernwardsevangeliar im Hildesheimer Domschatz (Nr. 18)
kunsthistorisch bedeutsam. |
Die Bilder stehen, abgesehen von wörtlichen Entlehnungen, die schon allein das
Abhängigkeitsverhältnis sicherstellen, derart innerhalb des Gedankenkreises dieses
Codex, daß sie nur im Zusammenhang mit ihm verstanden werden können.
(x) Für die Beurteilung des paläographischen Charakters verdanke ich Herrn Prof. Degering-Berlin
wertvolle Hinweise.
4
Die Evangelistenbilder sind in der Anlage untereinander gleich. Alle rahmt eine
einfache Goldleiste, die außen und innen rot konturiert und am Rande mit weißen
Punkten verziert ist. Die Evangelisten sitzen vor ornamentierten Hintergründen,
auf steinernen Thronbauten, die außer bei Markus auf der unteren Rahmenleiste
aufstehen. Ein Sitzkissen wird nur bei Lukas sichtbar. Die Fußbänke sind recht-
eckig und selbständig vorgelagert. Rechts bzw. links vom Evangelisten steht ein
einfacher Pultständer mit schmaler Platte, in die ein Tintenhorn eingelassen ist.
Markus, Lukas und Johannes sitzen unterschiedslos in Vorderansicht mit unter
sich vollkommen gleichmäßig behandelten Unterkörpern. Den verschiedenen Be-
wegungsmotiven entsprechend ist die Haltung der Oberkörper verändert. MARKUS
blickt zu dem aus der oberen rechten Ecke herunterfahrenden Symbol auf, das
ein Buch hält, nimbiert und geflügelt ist. Die Hautfarbe ist graugrün, seine
Flügel sind weißlich blau und der Nimbus ist rot. Der Oberkörper des Evan-
gelisten hat durch die starke Drehung des Kopfes eineganz geringe Wendung
nach rechts erhalten, ohne jedoch den Eindruck der reinen Vorderansicht zu
stören. Die Arme sind seitlich erhoben. In der rechten Hand hält er auf-
fallend ungeschickt eine Feder, die er einzutauchen beabsichtigt, mit der linken
hält er ein geschlossenes Buch, das auf dem linken Knie aufsteht. LUKAS ist
im Augenblick damit beschäftigt, das schon fertiggestellte Buch aufzuschlagen.
Er hat den Oberkörper ein wenig zur Seite geneigt und durch die Bewegung
des rechten Armes kaum merklich nach rechts vorwärts gedreht. Auch hier
wird das Symbol mit einem geschlossenen Buch, geflügelt und mit einem Nimbus
geschmückt, in der oberen rechten Ecke sichtbar. Es hat eine graublaue Haut-
farbe, grünblaue Flügel und einen roten Nimbus. Auf eine engere Verbindung
zwischen Evangelist und Symbol in irgendeiner Weise ist hier und auch im folgen-
den Bilde verzichtet worden. JOHANNES ist in strenger Vorderansicht mit seit-
lich erhobenen Armen dargestellt. Mit der Feder іп der rechten und dem Buch
in der flachgeöffneten linken Hand verkörpert er den jederzeit beliebt gewesenen
repräsentativen Typus des Evangelistenbildes. Das Symbol erscheint ohne Buch.
Es hat braungelbes Gefieder und grünblaue Flügel. Der Nimbus ist rot. Die
Evangelisten tragen wie üblich ein Unterkleid und darüber ein weites, mantel-
artiges Tuch, das auf mannigfachste Weise um den Körper gelegt werden kann.
Nur Markus hat noch ein drittes Gewandstück, ein besonderes Schultertuch an-
gelegt, das rechts und links auf die Brust herabfällt, während in der Regel wie
bei Lukas und Johannes der Mantel allein die Schulter bedeckt und über dem
rechten Arm endigt. Ungewöhnlich ist das straff, fast panzerartig um den Ober-
körper gezogene Oberkleid bei Markus, wofür mir eine Parallele nicht bekannt ge-
worden ist. Am ehesten möchte man an geschnitzte Vorlagen denken, etwa in
der Art zahlreicher karolingischer Majestasdarstellungen, die den bekleideten Ober-
körper in Vorderansicht ähnlich stark betonen. Borten an den Kleidern wie bei
Johannes sind schon immer üblich gewesen. Die Gewandfarben sind Grünblau,
Graugrün und Purpur. Die Faltenlinien sind entweder schwarz oder der Farbe des
Kleides entsprechend hell oder dunkel eingetragen. Die Gewandsäume sind teil-
weise leuchtend weiß. Die Füße sind überall nackt. Johannes ist als bärtiger
Greis dargestellt, Markus und Lukas sind jugendlich, sie tragen kurzes, dunkel-
braunes Haar und sind bartlos. Ihre Nimben verwenden abwechselnd Gold und
Purpurrot, sind rot konturiert und mit einem weißen Punktrand verziert. Besondere
Bedeutung gewinnt der Hintergrund, der von Bild zu Bild anders gemustert ist.
Da eine erschöpfende Untersuchung über die Ikonographie des Evangelisten-
5
bildes bisher immer noch fehlt, wird jede versuchte Einordnung von Evangelisten-
bildern in ihrem allseitigen Zusammenhang vorerst noch einen mehr oder weniger
fragmentarischen Charakter behalten.
Die Evangelisten sind nicht bei der Niederschrift selbst oder einer anderen für
sie üblichen Tätigkeit dargestellt, sondern immer im Augenblick vor der eigent-
lichen Handlung. Lukas öffnet soeben das Buch, um darin zu lesen und Johannes
ebenso wie Markus befindet sich unmittelbar vor der Ausführung seines Vorhabens
in einem Zustand geistiger Spannung, die der Künstler der individuellen Veranlagung
der Dargestellten entsprechend verschieden stark auszudrücken bestrebt ist.
Die eigentliche Handlung nur anzudeuten und durch ein Vorstadium, das oft-
mals von einem Zwischenstadium nur sehr schwer unterschieden werden kann,
um so eindringlicher zu gestalten, ist eine auf karolingische Anregungen zurück-
zutiihrende Art, die im 11. Jahrhundert, vor allem in Bayern, speziell in Salzburg,
eine bewußte Ausbildung gefunden hat. Die in Frage kommende Gruppe von zu-
nächst drei Handschriften, den Evangelienbüchern von St. Peter, Michelbeuren (das
die verwandteste Erscheinung bietet) und Kloster Nonnberg, aus dem Anfang des
Jahrhunderts hat Swarzenski (Die Salzburger Malerei, S. 24ff.) eingehend behandelt.
In Norddeutschland ist es das Bernwardsevangeliar, das diesen Typus vertritt und
der Hildesheimer Malerei, dem Evangelienbuch Nr. 33 und namentlich dem Evan-
geliar des Hozilo vermittelt hat. Es sind gewissermaßen nur Dialektunterschiede
wie hier und dort, in Hildesheim und Bayern, der Augenblick vor der eigentlichen
Handlung zum Ausdruck gebracht wird. Das Vorweisen der Feder und der damit
verbundene Hinweis auf die kommende Tätigkeit ist im Bernwardscodex ganz be-
sonders stark, am ausgeprägtesten im Johannesbilde, in den Vordergrund gerückt
worden. Ob bei den mannigfachen Beziehungen Hildesheims und besonders des
Bernwardscodex zu Bayern eine Beeinflussung durch den Süden angenommen wer-
den darf, oder ob es als wahrscheinlicher zu gelten hat, daß die mehr oder weniger
unmittelbaren Nachwirkungen karolingischer Schöpfungen hier und dort zu so über-
raschend verwandten Resultaten geführt hat, mag unentschieden bleiben. Es ist
zudem im vorliegenden Falle von nur sekundärer Bedeutung, als sich die Evange-
listen unserer Handschrift aus der Verschmelzung der in Hildesheim im Bernwards-
codex und der Handschrift Nr. 33 vertretenen Typen unmittelbar herleiten. Ein-
wirkungen des Hezilo-Evangeliars kommen nicht in Frage, da dieses, wie noch
wahrscheinlich gemacht werden soll, später als unsere Blätter entstanden ist.
Der jugendliche Typus für Markus und Lukas, der dem g. Jahrhundert geläufig
gewesen ist, der im ro. Jahrhundert nur noch ausnahmsweise belegt werden kann,
bedeutet im 11., 12. und 13. Jahrhundert ein Sonderfall. In der Regel wird ledig-
lich einer von beiden, bald Markus, dann wieder Lukas, jugendlich, mit kurzen
Haaren und langem Bart dargestellt. Andere, weniger oft vorkommende Fälle
daß beide Evangelisten mit dunklem Haar und Bart erscheinen, können namentlich
in Tegernseeer und Salzburger Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts nach-
gewiesen werden. Daß Johannes als Greis charakterisiert ist, entspricht einer seit
dem ır. Jahrhundert aufkommenden, bald allgemeiner verbreiteten Sitte, die jedoch
die bis dahin üblichen Darstellungsweisen, ihn jugendlich wiederzugeben wie vor-
nehmlich im 9. Jahrhundert oder auch dunkelhaarig und bärtig, wie es im ro. Jahr-
hundert mehrfach beobachtet werden kann, nicht gänzlich hat verdrängen können.
Es darf festgestellt werden, daß die Entwicklung im Abendland einen feststehen-
den Kanon für die Charakterisierung der verschiedenen Evangelisten, von einzelnen
Typenreihen abgesehen, die auf lokalbegrenzte Bezirke oder auf eine engere Tra-
6
dition innerhalb bestimmter Schulen beschränkt geblieben sind, nicht hervor-
gebracht hat.
Die Symbole sind, wie fast allgemein üblich, nimbiert und mit Flügeln dar-
gestellt. Das von ihnen gehaltene Buch kann wie hier geschlossen oder geöffnet
sein, es kann durch eine Schriftrolle ersetzt werden oder wie beim Johannessymbol
überhaupt fortfallen, ohne daß für die eine oder andere Art der Darstellung eine
unbedingt feststehende ikonographische Reihe aufgestellt werden könnte. Am
häufigsten findet sich noch der Adler ohne Buch oder Band, wie es im Godeskalk
Evangeliar zum ersten Male belegt werden kann und auch später im 11. Jahr-
hundert in Handschriften der Reichenau, St. Gallens und Salzburgs nachweisbar
ist. Bestimmter kann die Anbringung der Symbole in der oberen rechten Ecke
gefaßt werden, die innerhalb der Entwicklung des Evangelistenbildes eine an-
nähernd genau zu umgrenzende Bedeutung gewinnt. Die früheste mir bisher be-
kannt gewordene Ausprägung dieser Art findet sich іп dem kurz nach dem Jahre 1000
entstandenen Evangelienbuch aus dem Kloster Nonnberg in München (Staatsbibl.:
Сип. 15904).Sie findet sich ferner in der frühen, weiter oben schon genannten nord-
deutschen Handschrift Clm. 9475 (ebenfalls in München) und außer in unserem Codex
nur noch in der Weingartner Handschrift A.a.21 der Fuldaer Landesbibliothek, in
dem nach St. Gallen gehörenden Evangelienbuch Clm. rrorg (München) und dem
in Regensburg um 1080 entstandenen Evangeliar Heinrichs IV. im Krakauer Dom-
kapitel (Cod. 208). Seine eigentliche Ausgestaltung hat dieser Typus erst im
12. Jahrhundert, ausschließlich in Süddeutschland, speziell in Bayern, erfahren, wo
er die Mehrzahl der Handschriften beherrscht und von den Künstlern des 13. Jahr-
hunderts aufgenommen worden ist. Diese Entwicklung ist bedeutsam. Ein Krite-
rium bestimmter Art für unsere Handschrift, die an ihr teilnimmt, liefert sie jedoch
nicht, da sich die genannte Art der Symboleinordnung im 11. Jahrhundert, dem
unsere Handschrift angehört, in Norddeutschland ebenso wie in Süddeutschland
findet und erst später eine mehr geographisch begrenzte Ausprägung erhalten hat.
Besondere Beachtung verdienen die ornamentierten Hintergründe, die nichts
anderes als Nachahmungen gewebter Stoffe sein wollen. Hintergründe dieser Art
sind in der Buchmalerei seit der Zeit des ausgehenden ro. Jahrhunderts beliebt
geworden. Sie sind in erster Linie in Handschriften der von Vöge behandelten
südwestdeutschen Gruppe sowie in Echternacher Arbeiten zur Ausbildung ge-
kommen. In Süddeutschland können sie ferner in Handschriften St. Gallens und
des Regensburger Kunstkreises, im Regelbuch von Niedermünster und im Uta-
Codex nachgewiesen werden. In Norddeutschland finden sie sich im Hildesheimer
Bernwardscodex, im Sakramentar Nr. 19 (Domschatz), in dem späteren, zwischen
1054 und 1079 entstandenen Hezilo-Evangeliar und schließlich auch in den viel-
leicht von Hildesheimer Arbeiten abhängenden Evangelienbüchern im Trierer Dom
aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts (Cod. 137, 138, 139).
Die vielfache Verwendung von kostbaren Stoffen, Teppichen und Geweben aller
Art, zumeist orientalischer Herkunft, in den Kirchen beim Gottesdienst mußte es
nahelegen, die hier gebotene Pracht auch der Malerei nutzbar zu machen. Am
deutlichsten zeigt das Markusbild diese Zusammenhänge. In mattroten Kreis-
scheiben auf purpurfarbigem Grund stehen gleichfalls purpurrot Ornamente, Tiere,
vielleicht Löwen, mit erhobener rechter oder linker Vordertatze, und Vögel in ver-
schiedenenStellungen. Zwischen den einzelnen Kreisen, sowie an ihren Berührungs-
punkten sind rote, kreisrunde Tupfen eingefügt, die wesentlich dazu beitragen, den
Eindruck schematischer Aneinanderreihung zu vermeiden und den Hintergrund als
7
geschlossene Einheit empfinden zu lassen. Der interessante Wechsel in den Fül-
lungen, die Vermeidung jeder Schematisierung trotz der sich gleichbleibenden
Grundbewegung der Löwen, ferner die eigenartige Verschiedenheit der beiden
Vögel läßt vermuten, daß der Künstler ein ihm bekannt gewesenes Gewebe mit
all den kleinen hierfür eigentümlichen Einfällen und Launen hat wiedergeben
wollen, während umgekehrt, sofern man hierin eine reine Gedächtnisschöpfung
erkennen will, ein schematischer Aufbau das nattirlichere sein müßte, der alle
Einzelheiten pedantisch gegeneinander abwägt und von allen Zufälligkeiten in den
Bewegungsmotiven, wie sie hier vorkommen, sicherlich hätte freibleiben müssen.
Parallelerscheinungen in Handschriften, die ebenfalls gewebte Stoffe mit figür-
lichen Motiven nachahmen, bieten vor allem der Eptermacensis in Gotha, mit ganz
verwandten Arabeskenmotiven, der Uta-Codex (München, Cim. 13601) mit dem
Erhartbild und eine Evangelienhandschrift des späten 11. Jahrhunderts in der Fuldaer
- Landesbibliothek (А.а. 21), vielleicht kölnischen Ursprungs, die eine Schmuckseite
in viereckige Felder teilt und je zwei einander entsprechende Löwen nebeneinander
stell. Von erhaltenen Geweben kommt ein spätantiker Seidenstoff in Sens aus
dem 5. Jahrhundert n. Chr., den Falke im ersten Bande seiner Kunstgeschichte
der Seidenweberei (Abb. 55) abbildet, dem Hintergrunde unseres Bildes am nächsten.
Besonders verwandt ist das Ornament. Tiere mit erhobener Vorderpfote und
Vögel wechseln miteinander ab. Es ist ein Stück, das sich im Stil den Arbeiten
von Antinoe des 6. Jahrhunderts nähert, die namentlich auch eine Aufteilung der
Fläche in Kreise bevorzugen. Namentlich das von Falke, a. a. O., S. 22 ab-
gebildete Stück im Lyoner Textilmuseum wird in diesen Zusammenhang gestellt
werden müssen. In solchen Arbeiten werden die ersten Ansätze zu Geweben zu
suchen sein, die möglicherweise in byzantinischer Umgestaltung unserem Künstler
vorgeschwebt haben, da gerade auch an byzantinischen Stoffen, namentlich des
ro. Jahrhunderts, eine besondere Vorliebe für eine Aufteilung der Fläche in Kreise
beobachtet werden kann. Wesentlich einfacher ist der Hintergrund des Lukas-
bildes. In senkrecht verlaufenden, durch schmale Streifen abgetrennte Bänder
sind abwechselnd übereck gestellte Rechtecke und Kreise aneinandergereiht und
mit roten Punkten verziert. Die Musterung steht hellgrün auf dunkelgrünem Grund.
Ornamentierungen dieser Art sind nicht gerade häufig und in genau entsprechen-
der Weise nicht ein zweites Mal zu belegen. Am verwandtesten sind die Hinter-
gründe der schon mehrfach genannten Evangelienhandschrift Nr. 18 im Hildes-
heimer Domschatz, in der breitgestreifte Hintergründe eine besondere Ausbildung
erfahren haben. Die Hintergrundfläche des Johannesbildes wird durch recht-
winklig sich kreuzende Doppelbänder in Felder aufgeteilt, in die jedesmal eine
vom Rahmen überschnittene, für sich wieder gerahmte Rosette gestellt ist. Der
allgemeineren Verwandtschaft des Hintergrundes im Lukasbilde mit dem Bernwards-
codex stellt sich mit diesem Bilde ein enges Abhängigkeitsverhältnis von dem
Johannesbild (Abb. 5) und einer der reich ausgestatteten Zierseiten, die das gleiche
Rosettenmotiv verwendet, desselben Codex an die Seite. Rosetten und Rahmenbänder
stehen hellrot auf Purpur mit vereinzelt vorkommenden schwarzen Konturen. Die
Zierkreise auf den Leisten sind rot. Selbständig gegenüber dem Bernwardscodex
ist die Rahmung jeder einzelnen Rosette, wodurch die Fläche zur abschließenden,
festgefügten Wand wird, wogegen das Wandbehangartige der Vorlage nur noch
geahnt werden kann. Das Rosettenmuster als solches ist alt und in der Bildnerei
ebenso wie in der Malerei allgemein gebräuchlich. In der abendländischen Malerei
kann es seit den Anfängen in der merowingischen Zeit, besonders in der Schule
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von Luxeuil, immer wieder beobachtet werden. Als Musterung von Hintergründen
im engsten Nebeneinander wie hier hat dieses Motiv bisher nur im Bernwards-
codex nachgewiesen werden können, unter dessen Eindruck der Künstler unserer
Blätter gestanden haben muß.
Außer den Evangelistenbildern enthält die Handschrift noch zwei durch den In-
halt der Texte, des Lukas- und des Johannesevangeliums, bestimmte Darstellungen.
Zunächst eine Kreuzigung mit Maria, Johannes und den Personifikationen des
Mondes und der Sonne vor purpurfarbigem Grunde, die sich mit dem Lukasbilde
auf der Rectoseite desselben Blattes befindet und mit diesem das Evangelium er-
öffnet. Maria trägt schwarze Schuhe, ein langes, den Körper schlauchartig um-
schließendes grünes Kleid, das mit einer senkrecht verlaufenden goldenen Borte
und roten Ärmelaufschlägen verziert ist, sowie ein weißes Kopftuch, das die Haare
verdeckt. Ihr Haupt schmückt ein goldener Nimbus, der mit einem weißen Punkt-
rand versehen ist. Ihre linke Hand stützt die Wange, die rechte weist mit aus-
gestrecktem Zeigefinger auf Christus. Johannes in einem grünen Gewand mit
purpurrotem Umhang vertritt ebenso wie Maria den an dieser Stelle üblichen
Typus. Er ist bartlos, hat kurzes, wolliges Haar und ist wie Maria nimbiert.
Während die linke Hand ein Buch hält und für den Ausdruck der Figur nicht
mitspricht, bedeutet die flachgeöffnete rechte Hand Entsetzen und schmerzliches
Trauern. Christus trägt einen purpurroten, mit goldenen Umschlägen und weißen
Säumen verzierten Schurz. Er steht mit den Füßen fest auf dem Suppedaneum
auf und hat mit wagerecht ausgestreckten Armen mehr die Haltung eines Stehen-
den, als eines Hängenden. Aus vier Nagelwunden tropft Blut. Die Brustwunde
fehlt. Christus ist bartlos dargestellt und trägt langes, in Strähnen auf die Schul-
tern herabfallendes Haar. Auch hier ist der Nimbus vergoldet und mit weißen
Randpunkten verziert. Oberhalb des Kopfes ist eine leere Inschrifttafel angebracht.
In den Ecken rechts und links erscheinen die Personifikationen von Sol und Luna
in glorienartiger Einfassung. Sie sind grün gekleidet, haben die rechte Hand flach-
geöffnet erhoben und halten in der linken entzündete Fackeln. Am Fußende des
Kreuzes erscheint der Kopf eines Ochsen.
Das Kreuzigungsbild hat abendländischen Charakter. Christus ist bartlos, hat
die Augen weit geöffnet, die Füße stehen auf einer Fußbank (wie es sich ur-
sprünglich vielleicht von Byzanz herleitet, seit der zweiten Hälfte des ro. Jahr-
hunderts im Abendland aber ganz allgemein üblich ist), und am oberen Ende des
Kreuzes die Inschrifttafel. Es ist die einfache Kreuzigungsdarstellung ohne histo-
risches Beiwerk, das namentlich in Darstellungen des ro. und auch noch des
II. Jahrhunderts in erster Linie auf Elfenbeinen beliebt gewesen ist, das aber im
Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts mehr und mehr zurücktritt und im 13. Jahr-
hundert gänzlich ausscheidet. Die Personifikationen von Sol und Luna tragen am
Kopfe die sie charakterisierenden Abzeichen, die Strahlen der Sonne und die Mond-
sichel. Die rechte Hand haben beide im gleichen Gestus wie Johannes erhoben,
in der linken halten sie Fackeln, die aufrecht wie hier oder gesenkt gehalten
werden und seit dem 9. Jahrhundert in den verschiedensten Schulen und Gegenden
des Abendlandes beobachtet werden können. Während die verschiedenen, unser
Kreuzigungsbild auszeichnenden Elemente in den beiden entsprechenden Darstel-
lungen des Bernwardscodex zwar ihre Parallelen haben, auf einen unmittelbaren
Zusammenhang aber nicht zwingend schließen lassen, gibt der Stierkopf am Fuß-
ende des Kreuzes einen Hinweis ganz bestimmter Art. Im Lukasbilde des Bern-
wardsevangeliars (Abb. 6) ist das Lukassymbol in unzweideutige Verbindung mit dem
9
Kreuzigungsbilde gebracht worden. Der Hinweis H. H. Jostens in seinen Studien
zum Bernwardsevangeliar S. 31 (Straßburg 1909) auf die Bedeutung des Ochsen
als Opfertier und seine Erklärung an dieser Stelle auf Grund der hymnologischen
Dichtung ist sicherlich richtig. Dieser sonst an keiner anderen Stelle zu belegende
Fall einer Vereinigung von Lukassymbol und Kreuzigung läßt im Verein mit den
bisher von Bild zu Bild betonten Zusammenhänge mit dem Bernwardsevangeliar,
die in dem noch zu besprechenden letzten Bild der Handschrift bestimmteste Ge-
stalt annehmen werden, ein unmittelbares Abhängigkeitsverbältnis unserer Dar-
stellung von diesem Codex zwanglos erkennen. Wie wichtig dem Künstler das
Evangelistensymbol an dieser Stelle erschienen sein muß, wird durch die beson-
dere Rahmenausbuchtung und die damit gewonnene ausdrückliche Betonung noch
ganz besonders zum Ausdruck gebracht. Die im Hildesheimer Codex auf einer
Blattseite vereinigten Darstellungen sind in unserer Handschrift, vielleicht als
Folge des ungleich kleineren Formates, auf zwei Blattseiten (77a und b) verteilt
worden. Daß auch diese Zusammenstellung, die ebenfalls nicht wieder belegt
werden kann, nur unter dem Eindruck des Bernwardscodex von unserem Künstler
gewählt sein kann, wird keiner besonderen Begründung bedürfen.
Wie dem Bild des Evangelisten Lukas ist auch dem Evangelisten Johannes eine
aus dem Sinn des Evangeliums heraus zu verstehende Darstellung beigegeben
worden. Sie bedeutet „das Wort bei Gott“, findet sich ebenso in genau dem
gleichen Zusammenhang im Bernwardsevangeliar und liefert durch ihre formale
Übereinstimmung der Hauptfigur mit der Darstellung im Bernwardscodex eine
letzte, in gewissem Sinne mathematisch faßbare Bestätigung des von uns angenom-
menen Abhängigkeitsverhältnisses unserer Bilder von den Malereien des Hildes-
heimer Codex.
Innerhalb einer rechteckigen Leistenrahmung sitzt Gottvater auf der Weltkugel,
von einer Glorie umstrahlt, vor purpurfarbigem Hintergrund, aus dem Weltkugel
und Glorie dunkel- und hellgrün mit grünweißen Rändern hervorleuchten. Ober-
und Untergewand sind weißgrün und gelbbraun. Er ist bartlos und trägt langes,
in Strähnen auf die Schultern herabfallendes Haar. Sein Haupt schmiickt ein
schwarz konturierter, mit weißen Punkten verzierter roter Nimbus mit goldenem
Kreuz. In der rechten Hand hält er eine goldene Scheibe mit der Darstellung
eines rot nimbierten, weißen Lammes. In der linken hält er ein Buch. Weltkugel
und Glorie werden von fünf Engeln gehalten, die grüne Kleider tragen, mit weißen
Nimben geschmückt sind und abwechselnd grüne und weißgraue Flügel haben.
Mattrote, aus dem Hintergrund ausgesparte Kreise schweben gleich Gestirnen
rechts, links und unterhalb der Hauptfigur. In den Ecken in gleichfalls ausgesparten
Quadraten sind die vier Evangelistensymbole untergebracht. Der Homo ist den
Engeln entsprechend grün gekleidet. Der Adler hat purpurrotes Gefieder und
weißgelbe Fänge, Ochse und Löwe, die sich ihrer Stellung nach nicht unter-
scheiden, sind purpurrot und hellgelb. Alle haben weiße Nimben und grauweiße
oder rote Flügel.
Die Abbildungen (7 und rr) beider Darstellungen auf Tafel III und IV, der
Berliner Handschrift und des Bernwardscodex lassen über die Abhängigkeit der
Hauptfigur unseres Bildes von der des Hildesheimer Evangeliars keinen Zweifel,
Die Abänderungen gegentiber der Vorlage sind gering und aus dem Streben nach
möglichster Selbständigkeit innerhalb bestimmter, vielleicht durch den Auftrag ge-
zogener Grenzen verständlich. Die Scheibe mit dem der Vorlage gegenüber form-
sicher gezeichneten Lamm wird weiter unten gehalten, das Buch, dessen Auf-
10
schrift nicht wiederholt wird, hat eine perspektivische Korrektur erfahren. Die
Unterschenkel sind gegenüber dem Vorbild besonders stark betont und durch die
neu eingeführte Falte zwischen den Knien wird der Unterkörper in die Breite ge-
zogen. Die Fußstellung, die der des Johannes im zugehörigen Evangelistenbild
entspricht, verlangt deutlich eine Stütze, entweder eine Bank oder eine Boden-
erhöhung wie im Bernwardscodex. Das Nimbenkreuz tiberschneidet nicht mehr
den Kontur und die Krone ist fortgelassen. Die drei Kreisscheiben entsprechen
den Sternen der Vorlage. Die Engel in der hier vorliegenden Auffassung und die
Evangelistensymbole fehlen in der Hildesheimer Darstellung. Es sind Anklänge
an Majestasdarstellungen, die an dieser Stelle verständlich sind. Für die Ikono-
graphie der Szene kann auf die schon genannte Untersuchung H. H. Jostens zum
Bernwardsevangeliar verwiesen werden. Unsere Darstellung gewinnt dadurch an
Bedeutung, daß sie eine Vermischung der beiden von Josten gekennzeichneten
Typen darstellt, die durch das Bernwardsevangeliar auf der einen und dem Wysch-
herader Codex der Prager Universitätsbibliothek (Cod. XIV, A. 13) auf der anderen
Seite vertreten werden. Dem Bernwardscodex mit seinen zahlreichen, die Haupt-
figur begleitenden, lediglich symbolisch zu verstehenden Darstellungen und dem
Wyschherader Codex, der sich auf die Hauptfigur mit segnend erhobener rechten
Hand und mit einem Buch in der linken Hand, die von Engeln gehaltene Man-
dorla und die Evangelistensymbole beschränkt. Da die Prager Darstellung später
ist als unsere und diese deutlich zu dem dort vertretenen Typus Beziehungen
aufweist, ist es wichtig festzustellen, daß die zeitliche Fixierung seines Auftretens
innerhalb der abendländischen Malerei eine Verschiebung erfährt, die nicht an die
Datierung unseres Blattes, das diesen Typus als bekannt voraussetzt, gebunden ist.
Die stilistische Erscheinung bestätigt die bisherigen Untersuchungsergebnisse.
Sie stellt den Künstler in den Hildesheimer Kunstkreis des 11. Jahrhunderts und
ermöglicht eine annähernd genaue Datierung der Bilder. Es wird sich ergeben,
daß sich ihre künstlerische Erscheinung aus dem Zusammenfluß der unter Bern-
ward tätigen Kräfte, wie sie uns durch das Bernwardsevangeliar (Nr. 18) auf der
einen und der Guntbaldgruppe, der sogenannten Bernwardsbibel (Nr. 61), dem
Evangelienbuch Nr. 33 und dem Sakramentar Nr. 19, auf der anderen Seite be-
kannt sind, erklärt werden muß.
Die Proportionen der sitzend dargestellten Personen, der Evangelisten also,
zeigen starke Verwandtschaft mit den Evangelisten des schon genannten Evange-
lienbuches Nr. 33 und ein Vergleich des Johannesbildes (Abb. 3) mit dem Matthäus
dieses Codex (Abb. 10) wird die bestehenden Zusammenhänge unschwer erkennen
lassen. Es ist namentlich das Verhältnis von Ober- und Unterkörper zueinander,
die Betonung des Kopfes dem Körper gegenüber und ganz besonders auch die
Beweglichkeit in erster Linie der Arme und Hände, die meist weitausholende
Gebärde und die Art der Bewegung in den Gelenken. Anders der Bernwards-
codex, dessen zwar einheitlicher gesehenen Gestalten immer eine kleinliche Ängst-
lichkeit verraten, der die Akzente anders verteilt und namentlich dem Kopf dem
Körper gegenüber eine wesentlich andere, unbedeutendere Rolle zuweist. Die im
Gegensatz zu den Sitzfiguren schlanken und mehr eleganteren Standfiguren stehen
dagegen in der Nachfolge des Bernwardscodex, wofür sich gerade in Abbildung 6
mit dem Bild des Evangelisten Lukas und der Kreuzigung eine Reihe der über-
zeugendsten Parallelen finden. Ferner darf auf eine mögliche Beeinflussung durch
das einzige Bild der Bibel Nr. 61 (Abb. 9) hingewiesen werden, dessen Gestalten-
bildung, obwohl im Vergleich mit den entsprechenden Figuren im Bernwardscodex
II
und ebenso den unsrigen schwerer, sehr wohl anregend gewirkt haben kann. Dies
umsomehr, als weiter unten dieser Codex erneut mit den Malereien unserer
Handschrift in Verbindung gebracht werden muß. Die kurz-breiten Köpfe finden
sich ebenso in dem Sakramentar Nr. 19 (hier jedoch weniger stark), in der Bibel
Nr. бї und namentlich wieder im Bernwardscodex. Ohne Beziehung sind hin-
gegen die Kopfformen der Handschrift Nr. 33, die bedeutend größer, mehr hoch
als breit und sehr viel plumper sind. Die Augenzeichnung mit dem kaum merk-
lich geschwungenen roten Oberlid, an dem die schwarze, bald große, bald kleine
Pupille hängt, mit dem stark ausgebogenen Unterlid, das mit dem Pinsel graugrün
eingetragen ist, und dem grauweiß angelegten Augenfeld ist allein von dem Codex
Nr. 33 abhängig, wie es die Abbildungen то, ı und 4 verdeutlichen. Die Aus-
drucksfähigkeit der Augen ist nur gering und ein Vergleich der beiden Köpfe der
Evangelisten Abb. ıı und des Gekreuzigten Abb. 4 kann über den hier bestehen-
den Zusammenhang keine Zweifel lassen. Anders wieder die Nasenzeichnung, die
verschiedene aus dem Bernwaldscodex, der Bibel Nr. бї und der soeben ge-
nannten Handschrift herübergenommenen Elemente bestimmen. Die Nasenspitze
mittels eines kleinen roten Winkels anzudeuten und nur die eine der Rücken-
linien oberhalb des rechten bzw. linken Häkchens ansetzen zu lassen, sie rot oder
auch braunschwarz einzuzeichnen, die andere aber fortzulassen, geht deutlich auf
Vorbilder im Berwardscodex zurück (Abb. 2 u. 6). In Anlehnung an die Hand-
schrift Nr. 33, Abb. ro erklärt sich die Verbindung des Nasenrückens mit der
Braue ebenso wie die Art ihrer Schwingung und eine Nebeneinanderstellung der
Kreuzigung Abb. 4 und des Matthäusbildes Abb. то zeitigt auch hier wieder die
überraschendsten Analogien. Der hier nicht vorkommende Oberlippenspalt, auf
den unsere Bilder fast an keiner Stelle verzichten, finden sich in den übrigen ge-
nannten Handschriften, im Bernwardscodex, im Sakramenter Nr. 19 und am aus-
geprägtesten in der Bibel Nr. 6r. Die Zeichnung der Nase in Vorderansicht verrät
eine gewisse Selbständigkeit. Gegenüber ähnlichen Bildungen dieser Art im Bern-
wardscodex, der allein frontal gestellte Figuren zum Vergleich bietet, bedeutet sie
aber eine unerfreuliche Vergröberung, wie es vor allem im Johannesbilde zum Aus-
druck kommt, wogegen Abb. ır den Zusammenhang mit Abb. 9, der Darstellung
des Bernwardscodex, immerhin noch ahnen läßt. Der Mund wird auf zweifache
Art gezeichnet. Einmal mit zwei roten, einem kurzen und einem längeren Strich,
der an den Ecken umgebogen ist (Abb. 2 und 4), wie es ebenso der Homo Abb ro
des Matthiusbildes der Handschrift Nr. 33 hat, und ferner (am deutlichsten Abb. т)
mit nur einem, an den Ecken ebenfalls umgebogenem Strich, der das Gesicht stark
in die Breite zieht, wofür direkte Parallelen weder in den hier in Frage kommen-
den Hildesheimer Handschriften, noch solchen anderer Kunstkreise vorhanden sind.
Die Inkarnatbehandlung ist deutlich vom Bernwardscodex abhängig. In beiden
Handschriften herrscht ein trockenes Weiß ohne nennenswerte Modellierung vor.
Im Gesicht Gott-Vaters (Abb. 11) hat eine spätere Hand zu retouschieren versucht
und so eine recht wenig erfreuliche, auch in der Abbildung zu erkennende Weich-
heit hineingetragen. Im Kreuzigungsbilde ist die Gesichtsfarbe von Johannes und
Maria und die Personifikationen von Sol und Luna grünlich-gelb und wird Trauer
— Schrecken — Schmerz bedeuten. Die Haare werden ganz wie im Bernwards-
codex entweder zu Ballen zusammengenommen oder, wie beispielsweise im Kreu-
zigungsbild, in einzelne Strähnen aufgelöst. Parallelen für die erstere Art finden
sich von Bild zu Bild, für gesträhntes Haar bietet Abb. 7 mit den beiden Kindern,
die Terra im Arme hält, fast wörtliche Übereinstimmungen. Im Bernwardscodex
I2
ist es ferner zu belegen, daß die aufrechtstehenden, schlanken, fast zierlichen Ge-
stalten durch einen entsprechenden Kopftypus ausgezeichnet werden; nicht allein
als Folge der Größenunterschiede, sondern in deutlich erkennbarer Absicht, die in
unserer Handschrift im Kreuzigungsbilde (Joh.) bis zur Übertreibung gesteigert ist.
Doch kann der Zusammenhang mit den in Abb. 6 wiedergegebenen Kopftypen
nicht zweifelhaft sein, und die Engelköpfe Abb. 11 haben ihre unmittelbaren Vor-
läufer in der gleichen Darstellung Abb. 7. Andere hier nicht abgebildete Beispiele
bieten die bei Beissel zu vergleichenden Darstellungen Blatt 174b und 77a; Gleiches
gilt von der Zeichnung der Hände und Füße. Die Hände mit kleinen Handflächen
und langen, zittrig bewegten Fingern sind hier wie dort charakteristisch und am
deutlichsten in den abgebildeten Lukasbildern zu vergleichen. Gelenke und Nägel
sind an keiner Stelle angegeben. Die Füße zeichnen sich durch längere Zehen
aus, die ebenso in dem Hildesheimer Evangelienbuch des Bischofs Hezilo, dessen
Stellung zu unserer Handschrift noch besprochen werden muß, zu beobachten sind
und in Hildesheim eine Zeitlang beliebt gewesen sein müssen. Wie sehr aber die
Fußbildung von dem Bernwardscodex abhängig ist, lassen die Füße der Gekreuzig-
ten Abb. 4 und 6 erkennen. Die charakteristischen Einschnürungen kehren ebenso
deutlich wieder, wie die hier schwächere Knöchelbetonung, die am ausgeprägtesten
am Elienbogen hervortritt und in Abb. 7 an der Figur der Terra genau ebenso
zu beobachten ist.
Die Art der Gewandzeichnung steht dem Bilde der Bibel Nr. 61, Abb. 9 unter
allen hier zu nennenden Handschriften am nächsten. Die fest konturierten Ge-
wandflächen, die beispielsweise am Gewande der nimbierten Heiligen rechts (Abb. 9)
und Einzelheiten, wie die Überschlagfalte am Arm und der Schulter (in unserer
Handschrift in Abb, 1, 2 und 4) sowie auch der Zeichnung des Kopftuches über
der Stirn mit einzelnen vom Rande schräg einwärts geführten Strichen, kommen
in ganz verwandter Variierung in unserer Handschrift vor. Die charakteristische
Umschlagfalte, deren schematisch gezeichnete Form nebenstehend wiedergegeben
ist, findet sich ferner, obwohl weniger ausgeprägt, im Bernwardscodex und —
gleichfalls auch in den beiden anderen, mit der Bibel eine Gruppe bildenden 11
Codices. Man wird sie als eine in Hildesheim besonders beliebte Art der Falten-
zeichnung in Anspruch nehmen dürfen, zumal sie auch in dem späteren Hezilo-
Evangeliar ganz ähnlich wieder beobachtet werden kann. Die Zeichnung des
Kopftuches kommt in der genannten Weise nur noch im Sakramentar Nr. 19 vor;
entsprechende Bildungen im Bernwardscodex sind ausnahmslos ganz anderer Art.
In mancher anderen Beziehung sind es wieder Zusammenhänge mit dem Bernwards-
codex, die in den Vordergrund gertickt werden müssen. Die wie geplättet an-
liegenden Kleider der unter dem Kreuz Stehenden können mit den Gewändern der
entsprechenden Gestalten Abb. 6 verglichen werden, das bei Sitzfiguren von Bild
zu Bild gleiche Faltenmotiv unterhalb der Knie steht in der Nachfolge der Bern-
wardsfiguren (Abb.8 und 7) und das verschiedentliche Umbiegen der Gewandecken
am Boden wie in Abb. 2 oder ıı kann im Bernwardscodex namentlich in der Er-
weckung des Lazarus Fol. 174b belegt werden. Ebenso die farbige Behandlung
der Gewänder, die dieses Vielfache der aus der Hildesheimer Produktion sich her-
leitenden Einflüsse in noch auffälligerer Form und zwar in Gestalt eines unfrucht-
baren Dualismus in die Erscheinung treten läßt. Einmal ist es ein Streben nach
möglichst flächig-dekorativer Wirkung, das im Lukasbilde mit stark betonten Kon-
turen und eingezeichneten Faltenlagen, neben denen sich schwache Ansätze, mit
farbigen Mitteln zu modellieren, nicht zu behaupten vermögen, ganz augenfällig ist.
13
Ferner ein Drang nach modellierender Gewandbehandlung mit Hilfe der Farbe
und damit im Zusammenhang der Wunsch, den vom Gewand bedeckten Körper,
wie beispielsweise im Markusbilde, möglichst zu betonen oder anders in den Abb. 3
und її, in denen es zu Kompromissen mit den flächig-dekorativen Tendenzen kommt.
Dieses Hin und Her ist kein Arbeiten mit geläufigen Formeln innerhalb der
Grenzen bestimmter Gestaltungsabsichten. Das flächig - dekorative Faltensystem,
das mit Rot und Schwarz rein schematisch auf eine ebenfalls rot, weniger oft
schwarz konturierte Gewandfläche aufgetragen wird, entspricht ganz und gar dem
Bernwardscodex, der namentlich in den unter dem Kreuz stehenden Figuren oder
in Abb. 8 eine ganz entsprechende Behandlung zeigt. Der modellierende Gewand-
stil, der mit farbigen Mitteln arbeitet und bemüht ist, die faltenzeichnende Linie
auszuschalten, der die Kleidermassen bläht, in den Falten wühlt, hat seine stärkste
Ausprägung in südwestdeutschen Werken vom Anfang des Jahrhunderts gefunden.
In Hildesheim zeigen sich die ersten bescheidenen Ansätze in der Bibel Nr. 61,
in dem Sakramentar Nr. 19 und in dem zeitlich zwischen Bibel und Sakramentar
anzusetzenden Evangelienbuch Nr. 33, das rorr datiert ist, Es sind aber lediglich
noch tastende Versuche, indem nur schrittweise von dem rein flächig linearen
Stil abgertickt wird und zunächst an Stelle roter oder schwarzer Einzeichnungen
Faltenlinien und Bäusche zwar im Lokalfarbenton, aber unvermittelt und hart auf-
getragen werden und von einer langsamen, allmählichen Aufhellung der Farben
noch keineswegs gesprochen werden kann. Erst in dem zwischen 1054 und 1060
etwa entstandenen Hezilo-Evangeliar (Domschatz Nr. 34) liegt dieser Stil aus-
gebildet vor und zwischen diesem und den frühen Hildesheimer Arbeiten steht der
Künstler unserer Blätter. Er haftet am Alten, versucht das in Hildesheim bisher
noch unverstandene Neue zu meistern und führt in einigen Bildern bis unmittelbar
an das Hezilo-Evangeliar heran, dem er den Boden bereiten hilft. Die zeitliche
Einordnung ist damit annähernd gegeben. Die Blätter dürften um die Mitte des
Jahrhunderts kurz vorher oder nachher entstanden sein.
Maltechnisch bieten sie außer dem verschiedentlich bereits Gesagten nichts
eigentlich Erwähnenswertes. Es handelt sich um Deckmalereien mit Farben bester
Qualität. Aufgelegtes Gold, das rote Untermalung zeigt, ist verschiedentlich ab-
geblättert, überall aber von ursprünglicher Leuchtkraft. Die Farben sind dickflüssig
und erscheinen im Auftrag zäh und spröde. Den farbigen Gesamtcharakter be-
stimmt ein mit Vorliebe verwendetes kalkiges Weiß, das die Farben mehr oder
weniger durchsetzt oder auch ungemischt auftritt, sowie eine Bevorzugung heller,
besonders grüner Farben, während warme, emailleartige Töne nur vereinzelt vor-
kommen und überstimmt werden. Die bisherigen Ergebnisse, namentlich die zeit-
liche Einordnung, werden durch die farbige Einstellung nur bestätigt. Sie steht
ebenso, wenn auch weniger nachhaltig, unter dem Eindruck der warmen, zurück-
haltenden, auf flächige Wirkung eingestellte Farbengebung des Bernwardscodex,
wie der lebhaften, von auswärts, mit großer Wahrscheinlichkeit von Süden her
eindringenden aufgehellten Farbengebung, mit der eine Auseinandersetzung an-
gebahnt wird, die aber erst im Hezilo-Evangeliar zum Abschluß gelangt.
Kurz zusammengefaßt sind die Ergebnisse folgende: der Codex selbst stammt
aus dem Anfang des Jahrhunderts und scheint im Westen, vielleicht in Köln, ent-
standen zu sein. Wie er nach Hildesheim gelangt sein kann, ist im einzelnen
erörtert worden. Etwa um 1050 ist er aus irgendeinem Grunde mit Malereien
ausgestattet worden, deren künstlerische Erscheinung enge Abhängigkeit und frei-
schaffende Selbständigkeit charakterisiert, und die sich deutlich zwischen die Hil-
14
TAFEL 4
Abb. 9. Phot, Bödecker-Hildecheim ` Abb. 10. | Phot. Bödecker-Hildesheim
Titelblatt zur Bernwardsbibel. Bild des Evangelisten Mathäus
Hildesheim, Domschatz, Hdscr. Nr. 61. Hildesheim, Domschatz, Hdschr. Nr. 33
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Abb. 11. Das Wort bei Gott. Abb. 12. Bild des Evangelisten Markus.
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. I. Hildesheim, Domschatz, Hdschr. Nr. 34
(nach Jostan)
Zu: E. F. Bange, Eine frühromanische Evangelienhandschrift mit Malereien des Hildesheimer Kunstkreises.
М. f. K. Ва, И 1921
desheimer Arbeiten vom Anfang des Jahrhunderts (dem Bernwardscodex und die
Handschriften der Guntbaltgruppe) und das Hezilo-Evangeliar stellen. Über die
fernere Geschichte der Handschrift herrscht Unklarheit. Das Fragment eines Dedi-
kationsverses aus dem 16. Jahrhundert am Anfang der Handschrift ergab keine
Aufschlüsse bestimmterer Art.
Für unsere Kenntnis der von Bernward geschaffenen und im weiteren Verlauf
des 11. Jahrhunderts in Hildesheim blühenden Malstube sind die Blätter der Ber-
liner Handschrift ein Gewinn von Bedeutung.
15
VIERZEHNHEILIGEN UND NERESHEIM.
ZUR WÜRDIGUNG DER RAUMPHANTASIE DES BALTHASAR
NEUMANN Mit sieben Abbildungen auf drei Tafeln in Lichtdruack Von OTTO HOVER
п der Mittelachse von Vierzehnheiligen!) schließen sich drei Langovale aneinander.
Die mittlere, größte Ellipse umschließt den Gnadenaltar der vierzehn Nothelfer,
dessen Grundriß eine hufeisenférmige Gestalt hat. Gemäß dem Thema der Wall-
fahrtskirche ist der Altar in die Mitte des ganzen Gefüges gerückt, beherrschendes
Zentrum. Das Einzigartige der Neumannschen Leistung besteht darin, die Basilika
der Idee der zentralen Wallfahrtskirche mit allen Mitteln und Künsten dienstbar
gemacht zu haben. An sich ist die gesamte Ostpartie nichts anderes als eine
Dreikonchenanlage (in den Ecken zwischen den Konchen liegen Sakristeiräume).
Die seitlichen Apsiden sind in drei Seiten des Sechsecks geschlossen, innen ergänzt
man, angeregt durch die Gurtungen der Decke, volle Kreisräume. Diese zentrali-
sierte Mehrapsidenanlage hätte bescheidenen und konservativen Ansprüchen völlig
genügen können sowohl für die Zwecke der Wallfahrtskirche wie für die in einer
höheren Sphäre liegende Verwirklichung kreisender Bewegtheit. Im Würzburger
Käppele mußte sich Neumann mit einem zentralen Dreikonchenbau als Wallfahrts-
stätte begnügen“). Doch seine Phantasie strebte weiter. In Vierzehnheiligen darf
er seine ganze raumkiinstlerische Kontrapunktik entfalten. Das Langhaus soll das
Zentrum enthalten, und das Geheimnis der synkopischen Rhythmik der Räume
von Haupt- und Nebenschiffen besteht wohl darin, daß in dem dreischiffigen
Langhaus die Haupt- und Nebenovale gegeneinander verschoben sind; wichtiger
aber ist, daß die große Raumellipse über dem Gnadenaltar nichts anderes zu sein
scheint als eine in das Langhaus transponierte Vierung. Neumann ist kühn genug,
an der Stelle der Vierung nur tangierende Gurtbögen zu geben, die gleich wind-
gebauschten Bändern von einem Kämpferpunkt zum gegentiberliegenden flattern,
zueinander streben und nach leichter Berührung sich wieder fliehen wie die bunten
Fähnchen an den Stäben von Schäfer und Schäferin beim zierlichen Tanzspiel.
Die von der Bewegung der Umräume aufgewühlten zentrifugalen Wellen kommen
hier gleichsam zur Interferenz. Wo sonst ein Italiener des Hochbarock sich mit
einer Langhauskirche nach dem Schema des Gesü abzufinden hatte und gleich-
zeitig die Bedingungen einer Wallfahrtskirche größten Stils erfüllen mußte, da
blieb ihm immer die Vierung sakrosanct, kultliches wie raumkünstlerisc hes Zentrum 5)
Als Bernini in dem durch Maderna neuredigierten Langbau von S. Peter sein
Tabernakel aufstellte, gab er sich zwar alle Mühe, den Sinn des Zentralwerkes
von Michelangelo wiederherzustellen, machte aber eine Konzession an den Lang-
bau insofern, als er das Tabernakel nicht lotrecht unter den Kuppelscheitel stellte,
sondern es nach dem Chor hin etwas verschob. Das war echt italienisch, die
Längsachse mußte so oder so die Dominante bleiben.
Neumann nimmt umgekehrt den Gnadenaltar nach vorn in das Langhaus, arbeitet
sonach fast wörtlich der Longitudinalität entgegen und denkt von diesem Zentrum
im Langhaus das ganze Raumgefüge: ein köstliches Gehäuse um die heiligste Stätte.
(1) Bei Lichtenfels am Main, Oberfranken, B.-A. Staffelstein; erbaut von 1743 bis 1772.
(2) Vgl. auch A. Feulner, Balthasar Neumanns Rotunde in Holzkirchen, konstruierte Risse in der
Barockarchitektur, Zeitschr. f. Gesch. d. Archit., Bd. VI.
(3) Das gilt selbst für Guarini; vgl. seinen Kirchenbau 8. Maria della Divina Providenza in Lissabon.
16
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Die um dieses Zentrum kreisende Bewegung überträgt dann diktatorisch ihre Kraft
auf alle umgrenzenden Teile; die Kolonnaden geraten in konkave Schwingungen.
Das ist sicher nicht zum Vorteil für die Abseiten, aber was tut das. Die unmög-
lichen Konvexräume der Seitenschiffe werden gar nicht um ihre Existenz gefragt,
wo die dynamischen Kurven des Hauptraumes allein den Ton angeben. Es kommt
nicht darauf an, daß die Teilräume als solche in ihrer architektonischen Gegen-
ständlichkeit zu Vollräumen ergänzt werden — das mochte bei den Italienern
gelten —,sondern es handelt sich darum, daß die kreisenden Kurven der Bewegung
gefühlt und im Geiste ergänzt werden.
Indem nun in der mittleren, hufeisenförmigen Hauptapside noch ein mächtiges
Altarwerk installiert ist, das mit seinem plastisch-figürlichen und tektonischen
Apparat ein eigenes Konzert ausführt, haben wir es eigentlich mit zwei kultlichen
und räumlichen Zentren zu tun. Die von diesen Zentren ausstrahlenden Kräfte
agieren äußerlich genommen gegeneinander, scheinen sich sogar gegenseitig aus-
zuschließen, was in dem Kampf der gegeneinander geführten Gurtungen zum Aus-
druck kommt, dennoch beseitigt die allerfüllende Bewegtheit des Ganzen jeden
Konflikt. Die Zweiheit der kultlichen Zentren geht in der Einheit der künstle-
rischen Dynamik auf, wie diese ebenfalls alle Körperformen, alles Dekorative sich
untertan gemacht hat. Selbst am Außenbau miissen die Strebebögen über den
Seitenschiffen den inneren Raumellipsen folgen. Je zwei Paar Strebemauern sind
windschief verdreht. Die Kraft der Bewegung des Hauptraumes um den Gnaden-
altar reicht dann vollständig aus, um das Choroval in seinen Wirbel hineinzu-
zwingen. Schließlich gehört der hintere Altarbau mit seinen Umrahmungen un-
mittelbar zum Gehäuse des Gnadenaltares. Vom Eingang der Zweiturmfront aus
rollen die Kurven kontinuierlich durch alle Ovalräume und werden vom rück-
wärtigen Altar hohlspiegelartig reflektiert und auf ihr eigentliches Zentrum im
Mittelraum hingewiesen.
Faßt man den Gesamtraum von Vierzehnheiligen nur unter dem Gesichtspunkt
einer „Vielbildigkeit“ auf!), so überwiegt natürlich der Eindruck der Unruhe. Der
Raum ist bis zum Übermaß vollgestellt mit tektonischen Körpern. Und doch ist
diese Unruhe nichts anderes als das ewige Kreisen der Kurven. Die vielfältige
körperliche Gliederung hindert die Bewegtheit nicht, macht ihr im Gegenteil Platz
und legt die Mittelpartien, das eigentliche Feld der Kurven, vollkommen frei. Was
von der Komplizierung des Körperformenapparates aus leicht negativ gedeutet
wird, gewinnt vom Erlebnis der rhythmischen Pulsationen des Raumes her einen
eminent positiven Wert. Auch die Vielfenstrigkeit wurde bei Vierzehnheiligen
gerügt (Dehio). Wir meinen, daß gerade die durch sie gewährleistete Lichtfülle
jene Unkörperlichkeit des Aufbausystems bewirkt, die das geniale Werk des Neu-
mann wie aus lauter Wolken gebaut erscheinen lassen. Man muß das etwa an
einem klaren Frühlings- oder Herbsttage erlebt haben. Ist infolge der Durch-
lichtung des Ganzen, durch die Überstrahlung den Pfeilern, Säulen sowie den de-
korativen Einzelheiten ihre Konsistenz genommen, ist die Schwere der Materie
überwunden, so kann von einer Beunruhigung, von einer Störung des eigentlichen
Raumerlebnisses nicht mehr die Rede sein. Schließlich sind alle Lichtquellen auf
das sakrale Zentrum des Gnadenaltares bezogen. Die Tambourkuppel der Italiener
gab immer eine gesammelte, ruhige Beleuchtung, fast eine Materialisierung, weil
Kanalisierung des Lichtes. Für Neumann kommt die Kuppel als direkte Licht-
(х) Vgl. Paul Franki, Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst. Leipzig und Berlin 1914.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1923, 1. з 17
quelle gar nicht in Betracht. Er verschmäht es, aus einem Tambour ein ge-
sammeltes Strahlenbündel wie aus einem Scheinwerfer auf das Allerheiligste zu
werfen. Er taucht lieber das Ganze in eine höchste Lichtflut, die durch viele
Öffnungen rauschend hereinbricht und sich doch in einem unwägbaren Zentrum
vereinigt. Für den Standpunkt in diesem Zentrum (etwa im Mitteloval) erscheinen
die meisten Lichtquellen verdeckt. Auch darf man nicht vergessen, daß die Viel-
fenstrigkeit dazu dient, die Außenwände nach Möglichkeit zu negieren, also ein
gotisches Prinzip nach barocker Auffassung umgemodelt ist.
In der Abteikirche zu Neresheim!) ist der Gesamtraum in еіп Gefüge von sieben
ellipsoiden Teilräumen aufgelöst. Langhaus und Chor sind als vollkommen gleiche
Hälften in je zwei querovale Kompartimente zerlegt. Das demgemäß genau in
der Mitte des Ganzen liegende Längsoval der Vierung ist als beherrschendes
Zentrum ausgestaltet. Der Raum weitet sich mächtig aus. Die Ovale des Lang-
hauses sind wie ein allmählich vorbereitendes Crescendo, die des Chores wie ein
langsam abklingendes Decrescendo für die eine geweitete Raummitte. Die flankie-
renden kurzen Transseptarme sind dann für sich als kleinbemessene Langovale ge-
formt. Die Abseiten des ganzen Langraumes sind nur noch schmale Gänge. Ja,
eigentlich ist die Wandung nur in zwei Schichten zerlegt. Dazwischen bleibt ein
Laufgang frei, der in schmalen Galerien wiederholt wird. Selbst über dem Kranz-
gesims sind in den Ansätzen der Gurtbögen über den Pfeilern Durchlässe angebracht
und lassen eine Kommunikation zu. Die schmale Zone des Umganges ist alles,
was von dem Abseitenschema der Münchener Michaelskirche“) übriggeblieben.
Die Analogie mit der Wandzerlegung — Laufgänge zwischen zwei Wandschichten
— in der Lichtgadenzone bei den Basiliken normannischer Protogotik ist frappant.
An den Außenwänden zählt man im Langhaus wie im Chor je vier Fenster-
achsen; dieses vierteilige System der äußeren Schichten der schmalen Abseiten
muß sich aber der Zweiheit der Querovale des Mittelschiffes unterordnen. Die
Pfeiler der inneren Wandschicht bilden die Vermittlung. Sie lassen nämlich nur
drei Öffnungen frei. Je zwei entsprechende Öffnungen dieses inneren Pfeiler-
systems flankieren alterierend die Mitte der Querovale. Auf die mittlere Öffnung
trefien jeweils im Langhaus und im Chor tangierende Gurtbögen. Die einfache
Reihung der unteren Zonen ist oben in eine komplizierte Rhythmik verwandelt.
Es resultiert eine Art gebundenen Systems, das Besondere liegt aber darin, daß
eine Ovalkuppel immer nur anderthalb Travéen des Abseitenaufbaues zusammen-
faßt. Die synkopische Stimmführung ist wieder erreicht. Die Form der inneren
Pfeiler mitsamt dem Gebälk muß überall der Bewegung der Ovalräume folgen.
„Das ganz Eigentümliche liegt in der Verbindung einheitlicher Raumbildung mit
einem grandios bewegten Rhythmus der Wandarchitektur“, sagt Dehio (Hdb. d.
deutschen Kunstdenkmäler III).
Vielleicht war beabsichtigt, auch im geweiteten Langoval der Vierung von Neres-
heim einen großen tabernakelförmigen Altar als sakrales Zentrum aufzustellen —
das jetzige kümmerliche, schmalrechteckige Altarbild an der Rückwand des Chores
ist auf jeden Fall nur ein Notbehelf —, daß dies unterblieb, kommt dem rein
(х) Vgl. Willi P. Fuchs, Balthasar Neumanns Abteikirche zu Neresheim; Dissertation, Stuttgart 1914.
Neresheim ist ehemaliges Benediktinerkloster. Der Neubau begonnen 1745, vollendet 1792. Es liegt
in Württemberg (Jugstkreis; an der Bahn Aalen—Dillingen, Härdtfeldbahn),
(2) Diese Kirche ist trotz scheinbarer Renaissancehaltung der frühe Schöpfungsbau (1597) des deutschen
Barock!
18
künstlerischen Eindruck zugute. Auch ohne ein eigentliches kultliches Zentrum
setzt die Vierung die Suprematie ihrer Raumkurven bedingungslos durch. Die
schmalen Umgänge der Abseiten sind um das Mitteloval herum beibehalten, nur
die Emporen setzen aus. Vier Paare mächtiger gekuppelter Säulen (aus Holz!)
gehen zur Flachkuppel hoch. Das Schema des Hauptraumes der Wieskirche’) ist
zum Mittelpunkt einer gestreckten, mehrriumigen Gesamtanlage geworden, in der
jedoch die gesteigerte Longitudinalität durch die kreisende Dynamik illusorisch
gemacht ist.
Mit stuckierter Dekoration ist äußerst sparsam gewirtschaftet. Die eigentlichen
tektonischen Glieder, vor allem die Gebälke, bleiben vollkommen frei davon.
Nirgends überwuchern die Rocailles wie „gespritzter Schaum“ die Grenzlinien der
Architrave und anderer rahmender Teile. Eine neue Gesinnung macht sich schon
bemerkbar. Neresheim wurde erst 1792 beendet. Trotzdem siegt die Raum-
phantasie immer noch über einen beginnenden architektonischen Purismus. Dehio
bekennt, daß, obwohl Neumanns Gedanke gleichsam in Knechtsgestalt in die Wirk-
lichkeit getreten, doch der Bau noch immer erschütternd großartig wirkt. „Die
Barockarchitektur nicht nur Deutschlands, sondern Europas hat weniges, was sich
mit ihm messen kann. Der Vater des Barock, Michelangelo, hat in Neumann
einen kongenialen Enkel gefunden, ebenso in der Größe der Konzeption wie in
der Nichtachtung der gewohnten Harmoniegesetze.“ Demgegenüber bedenke man,
wie weit Frankreich derzeit schon auf der Bahn des Klassizismus vorgeschritten war.
A Ф
*
Neuerdings sind Versuche unternommen, die Bedeutung Balthasar Neumanns in
etwas herabzumindern. So anerkennens wert, zumal mit Beziehung auf die Würz-
burger Residenz und ihre Vorbilder, die durchaus sachliche Kritik ist, die von Rich.
Sedimaier und Rud. Pfister in ihrem Beitrag „Balth. Neumanns Stellung im deut-
schen Barock“ (Kunstchronik 1921, Nr. 19 und die dort angegebene Literatur) vor-
gebracht wird, so möchten wir uns an dieser Stelle doch das Recht eigener Mei-
nung tiber der Fürstbischöfe Schönborn genialen Architekten in jedem Falle wahren.
Unsere durchaus positive Stellungnahme gründet seit langem in höchst gestei-
gerten Erlebnissen jener tiberdinglich - geistigen Wesenheiten, die Neumann im
Raumgefüge der behandelten Sakralbauten zu verwirklichen gewußt hat. Sicherlich
geht er von mathematischen Erwägungen und Projektionen äußerst komplizierter
Natur aus. Doch scheint uns gerade dieses Mathematische oder besser Trigono-
metrische wiederum nur der abstrakte Niederschlag eines unerhört reichen Raum-
vorstellungsvermögens, vor dessen gewagten, immer aber bewunderungswürdigen
Expressionen unsere Generation, der Raumempfindlichkeit so ganz abhanden kam,
fast machtlos dasteht. Nicht die Dientzenhofer — die Kirche von Banz bietet
rein räumlich nur eine wenig schwungvolle Variation der für das 17. und 18. Jahr-
hundert obligaten Langhauskirche mit eingezogenen Streben — überwinden die
absonderlichen Körperformkünsteleien Guarinis, des italienischen Mönchs und Mathe-
matikers, sondern allein Balthasar Neumann. Das Rechnerische und Nur-Ingenieur-
hafte des Bauens macht, gehoben durch seine sieghafte Raumphantasie, eine
läuternde Metamorphose durch und steigt zu letzten Dingen sinnlich-seelischer
(x) Nur sind die acht Paare gekuppelter Pfeiler der Wieskirche auf vier Paare gekuppelter Säulen
reduziert, Die Wallfahrtskirche in der Wies bei Steingaden (Oberbayern, Bez.-Amt Schongau) ist
das Hauptwerk des Baumeisters Dominikus Zimmermann aus Landsberg am Lech.
19
Wirkung des Räumlichen überhaupt empor. Die möglichen Kegelschnitte (Ellipse,
Parabel usw.) sind dem Denker des Dreidimensionalen nur graphisch-abstrakte
Symbole für die kreisende Dynamik seiner sakralen Interieurs. Von der Vision
dieser inneren Bewegtheit des Raumes aus beurteilt werden die unmöglichen
„Resträume“ der Abseiten und Ecken verständlich, wirken die schwingenden
Gurtungen, die teils eckig gebrochenen, teils kurvig geführten Horizontalgliede-
rungen als sichtbare Grenzmarken der Raumrotation, in solcher Funktion ebenso
selbstverständlich wie — in seiner Art — dorisches Gebälk!
Werden freilich immer nur temperierte Kunstideale italienischer Schulung aus-
schließlich als Maßstab genommen auch für die Raumwunder deutschen Spät-
barocks, die doch in gewissem Sinne einen Punkt weitester Entfernung von allem
Renaissance-Barock südlich der Alpen einnehmen, haftet man ferner unentwegt
an den Möglichkeiten einer nur tektonisch-plastischen Baugebarung, so muß die
schwingende Seelenachse des Räumlichen und ihr Geheimnis allerdings dem Blick
ewig verhüllt bleiben. Deutscher Spätbarock erschließt sich nur, gleichviel ob
es sich um Vierzehnheiligen, Neresheim, Ottobeuren, ob um die Treppenhäuser
von Bruchsal und aus der Württembergischen Abtei Schöntal oder um die Dres-
dener Frauenkirche sowie die große Michaelskirche in Hamburg handelt, wenn von
vornherein und ganz primär alle ästhetischen Sensorien auf intensivstes Erleben
des Raumhaften, ja auf letzte, fast schon „metaphysische“ Wesenheiten des
Architekturalen eingestellt sind. Und vom Spätbarock schwingt dann eine Linie
bodenständiger Eigenart deutscher Raumgestaltung zurück über die Spätgotik bis
zur Spätromantik!
Neumann fand den Weg zu den metaphysischen Möglichkeiten der Baukunst,
fand ihn von der Mathematik aus und erscheint solchermaßen insgeheim allen
Meistern französischer Kathedralarchitektur verwandt. Oder verlieren die Gotiker
etwa deswegen etwas von ihrer schöpferischen Potenz, weil sie von der Mathe-
matik ihrer konstruktiven Überlegungen aus den Weg zu Gott suchten und fanden,
indem eine schrankenlose Vertikalität der Bewegung — als Symbol jenseitiger
Sehnsüchte — in gleichsam mathematisch bestimmte Bahnen (Pfeiler, Rippen,
äußeres Strebewerk) gelenkt wurde! Nur was in der Gotik in erster Linie noch
an den Problemkreis plastischen Bauens gebunden ist, kreist bei Neumann einzig
und allein um den Pol raumhaften Denkens! Gewiß, unser Meister war Artillerie-
Ingenieur, aber seine Größe liegt eben darin, daß er das Technische und Nur-
Konstruktive überwand durch Wunderleistungen seiner fabelhaft beschwingten Raum-
phantasie, die sich dann im Absolut-Künstlerischen erging. Er machte den um-
gekehrten Weg unserer heutigen Polytechniker, er wurde — trotz allem — aus
einem Ingenieur zu einem Raumkünstler allerersten Ranges und erfüllte auf diese
Weise die letzten immanenten Gesetzlichkeiten der Architektur überhaupt. Daß
so manche seiner ktihnen Ideen nach seinem Tode dann von minder begabten
Epigonen und vermittelst konstruktiver Surrogate (Holzkuppeln) zu Ende geführt
wurden, braucht auf Seiten der baumeisterlichen Qualitäten des Neumann keines-
wegs als ein Minus gebucht zu werden.
Rationalismus ist der Denkstil des Barock. Alle Mathematik war notwendige
wissenschaftliche Grundlage dieser philosophischen Einstellung. Und das künstle-
rische Schaffen hatte sich dieser Kurve so oder so irgendwie einzuschwingen. Von
diesen Voraussetzungen aus aber schlugen französische und deutsche Geistigkeit
allerdings ganz verschiedene Bahnen ein. Französische „ratio“ blieb immer mehr
dem Materialismus verhaftet. Ein dualistischer Rest — etwa extensio und cogitatio
20
TAFEL 7
5. Vierzehnheiligen: Blick durch den Mittelraum auf ein Raumfragment der nördl. Abseite.
(photo. cand. hist. art. Schlegel)
12 5,917 Tr O
6. Neresheim: Aufbausystem an der Nordseite 7. Neresheim: Aufbausystem an der Nordseite
des Mittelovals. | des Chores.
(photo. cand. hist. art. Schlegel) (photo. cand. hist art. Schlegel)
Zu: Otto Höver, Vierzehnheiligen und Neresheim.
Zur Würdigung der Raumphantasie des Balthasar-Neumann
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bei Descartes — wird niemals recht überwunden. Innerhalb des Architekturalen
äußert sich das in der fast ausschließlichen Vorliebe für alle plastisch - tektonischen
Wesenheiten, für die sozusagen physische Seite des Bauens: Quintessenz des un-
entwegten Klassizismus orthodoxer Akademiker seit der Renaissance, eines Klassi-
zismus, dem selbst im späten 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur
ein schwaches barockes Vorzeichen zuzubilligen ist.
Deutscher Rationalismus hingegen stand von vornherein ganz entschieden und
eindeutig auf der Seite eines Spiritualismus, war völlig monistisch orientiert. Phan-
tasie trug auch hier den Sieg über intellektualistische Kühle davon und strebte
nach dem Metaphysischen schlechthin. Leibniz unternahm es, das Wesen der
gesamten Welt aus spirituellen Zentren, Emanationspunkten des Schöpferischen zu
begreifen, Monaden, und wurde zum Repräsentanten deutsch-barocker Philosophie.
Nicht anders ist die schaffende Energie bei Balthasar Neumann und seinen
bauenden Zeitgenossen diesseits des Rheins zu beurteilen. Der geistige Pol des
Bauens, das Raumhafte, hat den Primat auf der ganzen Linie. Durch das Mathe-
matische mußte auch Neumann hindurch, bedingungslos, doch gegen die „ratio“,
die ntichtern-saubere Verstandesmäßigkeit französischer Tektoniker und gelehriger
Schüler des Vitruv und Palladio von diesseits und jenseits des Kanals setzte er
seine Phantasie, die alles Mathematische sofort in räumliches Gefüge transponierte
und sich zur Vergeistigung des Architektonischen emporschwang. Ja, ihm gelang
es, letzte der Baukunst mögliche Spiritualisierung zu erreichen. Und damit steht
er eben nicht allein bei uns.
Der große George Sonnin, Erbauer und Vollender von Groß-St.-Michael in Ham-
burg, studierte Theologie und Mathematik, konstruierte dann mit bedeutendem
Scharfsinn allerlei feinmechanische und physikalische Instrumente, bis ihn der Rat
der Stadt Hamburg zum Werk an der Michaelskirche berief. Da strömte seine
ganze Genialität aus in die machtvolle Raumdynamik des vornehmsten protestan-
tischen Kultbaues der norddeutschen Küsten. Die raumbeherrschende Phantasie-
kraft triumphierte auch hier wieder über alles Kläubeln und Basteln mathematisch-
abstrakter Gelehrsamkeit sowie über spitzfindige Kleinlichkeiten eines engen Pro-
gramms für den spezifischen protestantischen Kirchenbau (Predigtkirche). Letztlich
steht im Süden und Norden diese unerhörte Phantasie jenseits von Protestantismus
und Katholizität, ist sich der einen hohen Aufgabe bewußt: des Dienstes an einer
„wahrhaftigen Baukunst“ im Ringen um die beste Erfüllung raumbildnerischer
Gesetze.
Rudolf Kassner sagt in einem seiner schönen Bücher, Pietismus sei Mystik ohne
Phantasie. Dieser Pietismus aber ist eine sonderlich protestantische Angelegenheit,
Rationalismus mit anderen Mitteln. Protestantismus und klassizistische Baugebarung
stehen überall in engster Wechselbeziehung — Quäker in England- Amerika und
„colonial style“. Sonnin überwand kraft seiner wundersamen Raumphantasie, die
sich plötzlich ungehindert entfalten durfte, Protestantismus und Klassizität, rettete
in allerletzter Stunde an den Nordgrenzen noch einmal den Barock mit den Mitteln
differenzierter Raumgestaltung, rettete noch einmal die Mystik im allgemeinen und
das Mystische, das Metaphysische des Architekturalen im besonderen: die kreisende
Bewegung deutscher Raumgestalt, bevor die Wellen pastoraler Kultur und anti-
kischer Bildung sentimentaler Philhellenen darüber zusammenschlugen. Wie Bal-
thasar Neumann war Sonnin — in Dresden dem Ratszimmermeister Georg Bähr —
glückhaftes Schicksal beschieden, zu letzten Dingen baumeisterlicher Kultur durch-
zustoßen.
21
Die divergierenden Wege des französischen und deutschen Rationalismus lassen
sich übrigens schon früher feststellen. Wie Descartes gegen Leibniz, ewiger
Klassizismus gegen Raumbarock bester Prägung stehen, so heißen im Mittelalter
die Pole: Scholastik mit ihrer Hochburg Paris — Philosophie der Begrifflichkeiten
— und deutsche Mystik — Wesensschau des Geistigen, Versenkung in das Wesen
des Allgeistes. Entsprechend konfrontieren sich: plastische Strukturen am Gerüst-
werk der Kathedralen nordfranzösischer Früh- und Hochgotik und geheimnisreicher
„Raumstil“ deutscher Hallenkirchen der Spätgotik. Der Deutschen beste Kunst-
gedanken haben sich zu allen Zeiten am eindringlichsten in den Spätstilen geäußert.
Auch die Mystik kam bei uns spät zu sich selber.
Alles in allem fanden die Zeitalter schöpferischen Bauens recht eigentlich mit
Balthasar Neumann ihr endgültiges Ziel. Wir stehen nicht an, ihn, seine große
Gesinnung und seine Werke auf eine Stufe höchster Leistung zu stellen mit jenen
spätgeborenen kleinasiatischen Griechen, die einst für Justinian die Kirche der
Heiligen Weisheit errichteten. Im Schöpfungsbau der Anthemios und Isidoros wie
in Vierzehnheiligen und Neresheim endet jeweils ein Gesamtverlauf bauktinstlerischen
Schaffens — Antike und Nachantike — unter ähnlichen Symptomen eines hoch-
differenzierten Raumbarock, ein wichtiger Beleg für die periodische Gesetzmäßigkeit
alles Kunstgeschehens’).
(х) Im übrigen vgl. die größere Arbeit des Verfassers, die demnächst als Buch erscheinen wird:
Deutsche Raumphantasie. Ein Beitrag zur vergleichenden Architekturgeschichte.
22
KLEINE BEITRÄGE zu PETER VISCHER. X.
NEUE VISCHERWERKE IN BADEN-BADEN
Mit zehn Abbildungen auf vier Tafeln Von HUBERT STIERLING
©0900000000000 000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000 000000000000 000000000000 SSS 00000000 0 0 05
m Jahre 1673 weilte ein französischer Offizier in Philippsburg, dessen heil-
kräftige Bäder er benutzte. Seine freie Zeit führte ihn mehrfach nach Baden-
Baden, wo er sich mit dem Abzeichnen der in der dortigen Stadtkirche befindlichen
Grabdenkmäler vergnügte. Seine Zeichnungen sind sehr unbeholfen, trotzdem sind
wir ihm dankbar, denn er hat uns die Grabplatten der Markgräfin Catharina geb.
Herzogin von Österreich (} 1493), der Markgräfin Catharina geb. Herzogin von
Lothringen (f 1439), der Herzogin Elisabeth geb. Herzogin von Bayern (t 1522) und
zweier anderer Fürstlichkeiten (Ottilie und Friedrich) überliefert, die im Gegen-
satz zu den drei erstgenannten noch heute erhalten sind. Leider sind die Zeichnungen
so mangelhaft, daß man nicht viel mehr als das Schema aus ihnen entnehmen
kann. Aber auch das ist nicht ganz zu verachten, wie sich nachher ergeben wird.
Wenige Jahre später — 1689 — sind von den drei zuerst genannten Platten
zwei bei dem bekannten Verwüstungszuge der Franzosen wahrscheinlich zugrunde
gegangen. Das Epitaph der Markgräfin Elisabeth war dagegen noch 1754 vorhanden
und wir besitzen davon eine Federzeichnung jener Zeit, welche an Feinheit weit
über die Skizze des französischen Kurgastes hinausgeht. Allerdings läßt sie auch
erkennen, daß im Laufe der Zeit bereits einiges verloren gegangen war, was der
Franzose noch gesehen hatte ). Dieses Epitaph kam mit anderen zur Ausbesse-
rung nach Rastatt, blieb dort liegen und ging zugrunde! Im Jahre 1800 waren in
Rastatt nur noch das Epitaph der Ottilie (Abb. 3) und die Fragmente einiger Um-
schriften vorhanden. Das andere war 1796/97, wo das Schloß als Lazareth diente,
entwendet oder zerstört worden. Nun aber setzte die große Restauration ein, von
der die Baden-Badener Denkmäler vielfach sichtbare Spuren zeigen, indem sie
Fassungen aufweisen, die einen ausgesprochenen Empire-Charakter tragen. Ein-
zelne alte Fragmente sind aber in diese Fassung übernommen worden, vgl die
Abb. der Ottilie bei Daun, S. 50.
Ich habe bereits gesagt, daß uns die Epitaphien der zwei Catharinen von 1439
und 1493 nur geringes Interesse abgewinnen können, da die Zeichnung des Fran-
zosen doch zu mangelhaft ist. Ganz anders aber verhält es sich um die Platte
der Elisabeth und zwar weniger in der Zeichnung des Franzosen als in der un-
bekannten von 1754 (Abb. 2). Denn hier lernen wir mit ziemlicher Sicherheit ein
untergegangenes Vischerwerk, das ungefähr dem Jahre 1522 entstammt, kennen.
Es gehört dem großen Kreise der weiblichen Standfiguren an, und es ist aufs
nächste verwandt mit der Nürnberger Madonna und der noch in Baden-Baden
in der gleichen Kirche erhaltenen Platte der Markgräfin Ottilie.
Weibliche Standfiguren hat Vischer in großer Reihe geschaffen. Als frühester
Vorläufer erscheint um 1486 die Grabplatte der Kurfürstin Margarethe in der
Altenburger Schloßkirche, von der die einzig brauchbare Abbildung bei Reyher,
1) Pbotographien der drei französischen Zeichnungen und der unbekannten von 1754 befinden sich
im Badischen General-Landes-Archiv in Karlsruhe. Ich bin Herrn Geheimrat Obser für die Her-
leibung zu großem Dank verpflichtet. Vgl. auch den Artikel desselben „Aus den Aufzeichnungen
eines französischen Kurgastes über Baden-Baden vom Jahre 1673“ in der Ztschr. für Geschichte des
Oberrheins, N.F. XXX, 110 fl.
23
Monumenta Landgraviorum ... Gotha 1692 erschienen ist. Um die Jahrhundert-
wende folgen weibliche Standfiguren plötzlich in dichter Reihe: 1502 die Meißner
Amalie, 1503 die Torgauer Sophie, 1504 die Wismarer Sophie, 1505 die Stolberger
Elisabeth (deren Herkunft allerdings nicht sicher ist), 1510 die Meißner Sidonie,
1517 die Badener Ottilie, 1521 das Regensburger Tucher-Epitaph, 1522 die Badener
Elisabeth und endlich die undatierte Nürnberger Madonna, deren Zusammenhang -
mit der Vischerhütte G. v. Bezold klar erkannt hat!). Ich unterlasse es, die Denk-
mäler im einzelnen zu besprechen, da es ohne Abbildungen nicht anschaulich genug
geschehen könnte. Aussprechen aber möchte ich, daß durch diese ganze Gruppe
ein merkwürdig einheitlicher Zug geht. Daher ist es denn im künstlerischen
Sinne ohne jede Bedeutung, wenn uns von der Torgauer Platte überliefert ist,
daß Jakob Walch für die Visierung eine Summe Geldes erhielt; seine Mitarbeit
kann sich nur auf untergeordnete Dinge bezogen haben, denn die Torgauer Sophie
hält sich durchaus im Rahmen der übrigen, und die Gesamtgruppe bleibt von ab-
soluter Geschlossenheit! Natürlich begegnen Abwandlungen — sogar von höchst
reizvoller Art, aber sie weisen immer wieder auf den gleichen, reichen und doch
strengen Geist der Werkstatt zurück. Der Vischersche Stil war schon in der
Gotik von einer so merkwürdigen Geschlossenheit, daß die hereinbrechende Re-
naissance in den Grundprinzipien der Formauffassung keine elementaren Wand-
lungen hervorzurufen brauchte. In der Vischerschen Spätgotik steckt ohne Frage
bereits ein Stück latenter Renaissance, so daß der endliche Durchbruch dieses
neuen Stils für die Nürnberger Hütte eine Art wahlverwandter Bereicherung dar-
stellte. Wahrlich, ein seltener Fall in jenen Tagen!
Legt man sich einmal die Abbildungen der Nürnberger Madonna, der Badener
Elisabeth (T 1522) und der Badener Ottilie (| 1517) nebeneinander, dann ist die
Zusammengehörigkeit auf den ersten Blick klar. Ottilie scheint voranzugehen, da
das Standmotiv bei Elisabeth in einer komplizierteren Form gegeben ist. Ich
rechne dahin nicht nur die leichte Profilstellung, sondern auch die Neigung des
Hauptes, durch welche der Figur Anmut und Innigkeit gegeben ist. Die Nürn-
berger Madonna schließlich dürfte der Endpunkt dieser Entwicklung sein. So folge-
(1) Über die schwierigen Herkunftsfragen der Wismarer Sophie vgl. Kleine Beiträge a, M. f. R. X,
297 ff. Ich habe dort die Platte für Nürnberg in Anspruch genommen, obwohl der eingravierte
Gießername (?) nach dem Nordwesten Deutschlands wies und die umlaufende Inschrift niederdeutsch
war. Mittlerweile ist mir aber die Abbildung einer anderen nordwestdeutschen Platte bekannt ge-
worden, die im stilistischen Aufbau gleichfalle starke Verwandtschaft mit Vischer zeigt, daneben aber
auch gewisse Abweichungen, die es unwahrscheinlich machen, daß die Platte in Nürnberg gegossen
sei. Ich meine das Denkmal des Bischofs Barthold von Landsberg in der Vorhalle des Doms in
Verden, abgebildet im Hannoverschen Inventar V, ı, Taf. 7. Diese Platte berührt sich im Ornament
mit der Wismarer auf eine Weise, die zu denken gibt. In Wismar war nämlich um 1850 neben
den Schultern der Herzogin das Fragment einer scharf gewundenen Säule vorhanden (vgl. die Zeich-
nung von H. Thormann im Schweriner Museum, dazu M. f. K. X, 300). Ferner durfte man an-
nehmen, daß über der Figur eine Art Baldachin vorhanden war. Beides findet sich in Verden
wieder: Die scharf gewundene Säule und der baldachinartige Kielbogen, welcher das Kopfkissen der
stehenden Figur (auch in Wismar vorhanden) überschneidet. Vielleicht sind diese äußerlichen Ähn-
lichkeiten nicht belanglos, sondern weisen event. darauf hin, daß auch die Wismarer Platte aus dem
Westen Norddeutschlands stamme, wohin bereite der Name des Gießers wies. Sie wäre dann aus
der Liste der Vischerschen Werke zu streichen, aber sie zeigt ebenso wie die Verdener sehr in-
struktiv, daß der Formenapparat der Nürnberger Hütte so vorbildlich war, daß er geiegentlich auch
in Norddeutschland angewandt wurde. Vielleicht haben ja auch beide norddeutsche Meister die
Nürnberger Hütte auf ihrer Wanderschaft kennengelernt.
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TAFEL 9
Abb. 4. Epitaph des Markgrafen Christoph f 1527.
Baden-Baden, Stadtkirche.
Zu: Hubert Stierling: Kleine Beiträge zu Peter Vischer X.
richtig hier die neuen Motive im Kontrapost, im zurtickgebogenen Haupte und den
etwas kokett gefalteten Händen sein mögen, so ist es doch andererseits nicht zu
verkennen, daß sich hier eine gewisse Leerheit der Eleganz ankündigt, die in der
Vischerhütte weder Vater noch Söhnen eigen gewesen ist. Es spielt hier offenbar
eine neue Hand hinein, die sich zwar an Vischerscher Kunst geschult hatte, aber
glaubte, durch eine (nur scheinbar) stärkere Beseelung über die Strenge, ja Trocken-
heit Vischerscher Formauffassung hinauskommen zu können.
Nach mittelalterlicher Weise sind die Vischerschen Erzbildnisse fast immer Ideal-
gestalten. Schon die drei hier besprochenen Erzplatten zeigen das deutlich, denn
es wäre doch merkwürdig, wenn diese drei Frauen, in deren Adern kein Tropfen
verwandten Blutes rollte, einander so ähnlich gewesen wären!). Zieht man nun
gar die übrigen Frauen dieser Gruppe heran, so begegnet uns immer wieder der-
selbe milde, etwas indifferente Typus; ja selbst die Weimarer Margarethe ({ 1521),
die von Vischers Schwager Mülich zu stammen scheint, hat diesen Typus über-
nommen. In allem übrigen ist sie freilich trotz sklavischer Anlehnung das Gegen-
beispiel Vischerscher Kunst!
Für die Vischerforschung ist es als ein Glück zu bezeichnen, daß uns von der
untergegangenen Platte der Badener Elisabeth wenigstens die Karlsruher Zeich-
nung erhalten ist, da wir dadurch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die seit-
liche und obere Umrahmung auch der Ottilie kennen lernen. (Die heutige Ein-
fassung, die aus der Renovationszeit um 1802 stammt, ist bei Daun, Abb. 39 zu
sehen. Sie ist also nicht modern, wie der Verfasser S. 49 meint). Man darf nun
getrost behaupten. daß uns in der Umrahmung ein Stück besonders charakteristi -
scher Vischerkunst verlorengegangen ist, denn gerade in diesen ornamentalen
Dingen herrschte in der Vischerhütte nicht nur eine hervorragend glückliche geist-
volle Erfindungsgabe, sondern derartiges Rankenwerk wurde in ganz Deutschland
von niemand so schwungvoll gezeichnet wie gerade von den Vischern. Hierin
blickten sie auf eine glückliche Tradition zurück; die besten heraldisch ornamen-
talen Formen des Mittelalters lebten in ihnen weiter. Das schönste Beispiel
saftiger, knorriger deutscher Formauffassung bietet hier vielleicht die Meißener
Amalie von ı502. — Übrigens ist das Bild, wie es uns die Karlsruher Zeichnung
des ı8. Jahrhunderts überliefert, gerade im Ornament nicht ganz vollständig. Ver-
gleicht man es mit der Zeichnung des eingangs genannten Franzosen, so sieht
man, daß die seitlichen Säulen durch ein zweites größeres, wiederum delphinartig
geschwungenes Blatt, ferner durch mittlere Ringe und durch obere hängende Perl-
schnüre bereichert waren. Es sind also wiederum die Formen der oberitalienischen
Renaissance, die den Vischerschen Stil bestimmen. Die Zeichnung des Franzosen
ist uns auch insofern wertvoll, als sie uns die volle Inschrift überliefert ).
Die perspektivische Quadrierung des Fußbodens war Vischer bereits von den
ältesten Zeiten her gewohnt. Schon die Altenburger Margarethe (f 1486) zeigt
dieses Motiv. Dagegen hat Vischer sich erst im Laufe der Zeit von der alten
Sitte emanzipiert, die Wappen in den vier Ecken der Platte anzuordnen. Die eben
genannte Margarethe zeigt sie noch daselbst. Um 1500 dagegen beginnt er, sie
(х) Es wird auch niemand auf die Vermutung kommen, daß die noch recht jugendliche Ottilie (Abb. 3)
Mutter von ı5 Kindern gewesen ist; vgl. Val. Stösser, Grabstätten und Grabschriften der badischen
Regenten, Heidelberg 1903, 8. 86.
(2) Deep, Do, Elisabeth. Ex. Ill’. Dvcv. Bavariae. Co’. Pal’. Rhen’. Ac. Pr, Elec’. Stemate. Nata.
П”. Pro’. Ac. Do. Phil’. Marchois. A. Baden. Сопх. Legitima. Die. Јо. Bap’. Def. Hic. Quiescit.
M. D. XXIL
25
allmählich ins Laubwerk zu versetzen. Übrigens darf es dabei nicht unerwähnt
bleiben, daß bei einer anderen Badener Platte, die uns in einer Zeichnung des-
selben Franzosen tiberliefert ist, nämlich derjenigen der Markgräfin Katharina, ge-
borenen Herzogin von Österreich (+ 1493), bereits dieselbe Anordnung der Wappen
erscheint: zwei zu Füßen, drei zu Häupten. Leider aber hat der französische
Offizier den Zeichenstift so schwerfällig geführt, daß wir nicht entscheiden können,
ob auch diese Platte etwa auf Vischer zurlickgehe, was dem Todesdatum und
dem Ornament nach durchaus möglich ist! Jedenfalls sieht man deutlich, daß
Vischer sich in der Badener Ottilie und in der untergegangenen Elisabeth an das
Schema der 1493 gestorbenen Katharina gehalten hat, und die Katharina ihrerseits
steht im Schema der älteren Katharina von 1439 durchaus nicht fern. — Man
bemerkt also, daß in allem eine bewußte Tradition herrscht, wie es dem Sinne
des Mittelalters entspricht, zumal hier, wo es sich um die Glieder derselben
Familie handelt. Insofern sind uns die Zeichnungen des französischen Offiziers
von Wert und es ist zu begrüßen, daß das Karlsruher General-Landesarchiv die
Bilder der Arraser Handschrift kurz vor Kriegsausbruch hat photographieren lassen,
denn nun sind sie wohl ein Raub der Flammen geworden. Übrigens entspricht
die Badener Katharina von 1493 in der Anordnung der unteren Hälfte einiger-
maßen derjenigen der schon genannten Weimarer Margarethe von 1521 von Vischers
Schwager Mülich. Das mag also ein weiterer Grund sein, auch vor dieser Katha-
rina von 1493 die leise Frage zu erheben, ob sie etwa aus der Vischerhiitte hervor-
gegangen sei. Ich erinnere daran, daß auch der inschriftlich beglaubigte Johannes
Roth (1495) in Breslau auf einem derartigen Sockel mit seitlichen Wappen steht,
wie die schon genannte Margarethe von Vischers Schwager in Weimar. Auch die
Architektur zu Häupten dieser Karlsruher Margarethe könnte recht gut vischerisch
sein. Bei Kurfürst Ernst in Meißen (f 1486), bei Kardinal Friedrich in Krakau
(T 1503) und bei Johann Roth in Breslau (gegossen 1496) begegnen Architekturen,
die man in ihrer Formauffassung als verwandt bezeichnen darf. Freilich weist
das Schema der Katharina von 1493 eine Bereicherung desjenigen der Katharina
von 1439 auf, so daß die Frage sich kaum entscheiden läßt, zumal wir ja nicht
wissen, wann die Platte der 1439 Gestorbenen gegossen ist. In diesen Erz-
platten herrscht Tradition und noch einmal Tradition und das ist im Hinblick auf
die Entwicklung eines soliden Handwerks von größtem Segen gewesen.
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*
Im gleichen Jahre (1517) wie die Markgräfin Ottilie verschied auch der Mark-
graf Friedrich von Baden, der zeitweise Bischof von Utrecht gewesen war.
Auch sein Denkmal scheint Vischerische Züge zu tragen, und schon Robert Vischer
hat 1889 im Jahrbuch der K. Pr. Kunstsammlungen geglaubt, die Arbeit für seinen
berühmten Namensvetter in Anspruch nehmen zu dürfen. Daun ist ihm un-
abhängig gefolgt; kaum mit Recht, denn der Unterschied in der Durchführung
dieser Tumba ist so gewaltig gegen das Magdeburger Ernst-Denkmal, daß man
beide Gräber nicht in einem Atem nennen darf. Das Magdeburger ist ihm in der
Monumentalität und erzmässigen Geschlossenheit trotz seiner viel früheren Ent-
stehung so wesentlich überlegen, daß ein Absturz zu dem Badener Denkmal in
keiner Beziehung glaubhaft ist. Zwar kommen auf dem Mantelsaum einige kleine
Apostelreliefs vor, die an die Sebalder Apostel erinnern. Aber derartige An-
lehnungen können ebensogut als Gegenbeweis gewertet werden. Das Denkmal
ist in seiner Gesamtheit doch kaum mehr als brav, ja das Gesicht des Bischofs
26
ist sogar fein und klug, aber das Grab im ganzen ist doch schülermäßig, geistlos
und auseinander fallend’).
Anders dürfte es sich um das Epitaph des MarkgrafenChristoph (1453—1527)
verhalten, welcher der Gatte der oft genannten Ottilie war (Abb. 4)! Schon das
bringt ein Stückchen äußerer Wahrscheinlichkeit für den Vischerschen Ursprung
mit sich.
Die Platte ist als Bruchstück auf uns gekommen. In einer bald nach 1800 ent-
standenen Handschrift von Herr, Begräbnisse des Hauses Baaden .. . (1391—1739
(zitiert bei Stösser a. a. O. 86) heißt es: „Ehemals war auch dieser Grabstein bey-
nahe ganz mit Bronze von herrlicher Arbeit bedeckt, da der noch vorhandene
große Wappenschild und noch Vier besondere Helme mit vollem Schmuck, nem-
lich die von Üssenberg, Lahr, Badenweiler und Mahlberg, nebst einer doppelten
Reihe von Innschrifften ihn schmtickten. Im Jahre 1752 war nur der Wappen-
schild nebst dem Üssenbergischen und Lahrischen Helm vorhanden, das übrige
aber bereits verlohren, und durch das Entkommen zu Rastatt [vgl. die einleitende
Bemerkung] giengen auch diese beyden letzte Stücke noch verlohren nebst dem
Lamme vom Orden des Goldenen Vliesses“. Danach stellt also Abb. 4 nur ein
Fragment dar. Aber ich glaube, es reicht hin, den Vischerschen Ursprung er-
kennen zu lassen. Ein so souveränes Schalten mit den heraldischen Elementen
war — wenigstens im Erzguß — nur den Vischern möglich. Hier ist jede Einzel-
heit durchgefühlt; die steigenden Löwen sind von prachtvoller Energie, das schwere
Laubwerk mit spätgotischer Kraft und Fülle gesättigt. Die Anordnung im ganzen
ist so mühelos, daß sie fast kunstarm erscheint. Das Erz ist so meisterlich ge-
flossen und so tief in seinem Glanze, daß es wie bei den meisten guten Vischer-
werken wie schwarzer Marmor erscheint. Das einzige was stört, ist, daß das
umschließende Laubwerk nicht genügend Platz zur Entfaltung bekommen hat, so
daß es ein wenig eingepreßt erscheint.
Im ganzen darf man sich vielleicht an die wundervolle, wenig ältere Grabplatte
der Herzogin Helene von Bayern (f 1524) im Schweriner Dom erinnert fühlen,
Im einzelnen stimmt kaum etwas überein; auch auf die Anordnung des mittleren
Helms darf man nur im Vorübergehen hinweisen. Aber es ist dieselbe heraldische
Kraft und dieselbe meisterliche Behandlung der Erzhaut. Vielleicht war auch die
Stellung der verlorenen Badener Wappen und Inschriften ein wenig verwandt.
2. Vischermotive bei Flötner und den Beham.
In dem Buche von Е. F. Leitschuh, Flötner-Studien I, 42 (Straßburg 1904) findet
sich der merkwürdige Satz, daß Veit Stoss und Peter Vischer sich an Flötner
innig und willig angeschlossen hätten und daß sein Auftreten für diese mehr be-
deute als man bisher angenommen habe. Umgekehrt wird ein Schuh daraus,
Denn Stoss und Vischer waren wesentlich älter als Flötner, der erst in den goer
Jahren des 15. Jahrhunderts geboren ist (Lange, Peter Flötner 12), als die beiden
anderen längst gereifte Meister waren. Es ist auch nicht schwer, stilistisch den
Gegenbeweis zu führen, denn es gibt Plaketten Flötners, die sich so eng an Pla-
ketten und Kleinplastiken Vischers anschließen, daß man sich wundern muß, daß
diese Zusammenhänge von den Flötner- Biographen nicht bereits festgestellt wurden.
Da sind zunächst aus der Reihe der Flötnerschen Musen die Musica und die Erato
(1) Vgl. Daun Abb. 38. Zwei wesentlich bessere Abbildungen hält der Photograph Kratt in Karlsruhe
vorrätig.
27
(Abb. 5 u. 6), welche ganz deutlich auf den Orpheus der Berliner Plakette Vischers
(Abb. 7) zurückgehen. Es braucht dabei wohl nicht bewiesen zu werden, daß
Vischer — es kommt hier nur Peter Vischer d. J. in Betracht — der zeitlich Voran-
gehende ist. Vischers Plakette mag etwa um 1515 liegen, Flötners wohl mehr
als ein Dutzend Jahre später; er wanderte erst 1522 in Nürnberg ein (Lange 9),
und seine älteste datierte Arbeit, der Mainzer Marktbrunnen, stammt von 1526.
Der Zusammenhang der drei Kunstwerke untereinander ist angesichts der Abbil-
dungen 5 bis 7 leicht erkenntlich: Die Beinstellung, die Haltung der Geige und
des geigenden Armes, die Kopfhaltung usw. entsprechen sich völlig. Die Hinter-
gründe aber, Flötners Spezialität, hat dieser selbständig hinzugefügt. Dagegen
weist das merkwürdige Gebilde, auf welches die kleine Erato das Spielbein setzt,
wieder auf eine andere Arbeit Peter Vischers d. J. hin, mit welcher gleichfalls
enge Beziehungen bestehen. Ich meine das Tintenfaß in Stanmore (Abb. 8). Es
gibt nämlich eine andere Plakette Flötners, den Merkur aus der Reihe der Planeten
(Abb. 9), welcher in seiner Beinstellung und in dem aufwärts weisenden linken
Arme eine Beziehung zu Peter Vischer dem J. aufweist, die man wohl nicht als
zufällig anzusehen braucht, nachdem sich auf dem vorigen Beispiele die Tatsache
eines Zusammenhangs bereits ergeben hat. In gewisser Weise aber noch näher
als Merkurius steht eine Handzeichnung des Berliner Kupferstich-Kabinetts (Abb. 10).
Zwar ist das Motiv von Stand- und Spielbein anders behandelt, dafür aber ruht
dort der linke Arm wie bei Vischer auf einem gleich hohen Gefäße und die rechte
Hand weist in verwandter Weise gen Himmel. Aber nun kommt der rechte
Schalk — der Ausdruck ist viel zu gelinde — bei Flötner zum Vorschein: Denn
während bei Vischer die Hand zur vita aeterna emporweist (entsprechend der
Tafel zu Füßen der Figur), zeigt die Flötnersche Gestalt auf einen Phallus in den
Wolken, den sie gleichsam heranzuwinken scheint. — Nebenbei sei auch auf die
untersetzten Körperverhältnisse hingewiesen, die von beiden Künstlern angewandt
werden.
In diesem Falle läßt es sich mit aller wünschenswerten Deutlichkeit beweisen,
daß Flötner der Nehmende war, denn seine Handzeichnung ist auf 1537 datiert;
damals aber ruhte Peter Vischer d. J. bereits neun Jahre unter der Erde. Auch
sein Vater war schon acht Jahre tot. |
Lange sagt auf der letzten Seite seines Buches, daß Flötner selbst da, wo er
Vorbilder benutzte, über diese weit an Lebendigkeit hinausgegangen sei. Auf die
eben besprochenen Beispiele trifft das aber durchaus nicht zul
Im übrigen möchte ich diesem Zusammenhang nur bescheidenen Wert bei-
messen. Er interessiert aber vielleicht in dem Sinne, daß die Dürerschen Adam
und Eva von 1504 in den Flötnerschen Plaketten gleichsam ihre Enkelkinder
finden, wenn man die Vischersche Darstellung von Orpheus und Eurydice als die
Mittelstufe der Eltern betrachtet (Monatshefte für Kunstwissenschaft VIII, Tafel 83;
vgl. auch XI, Tafel 54). Man wird eben immer wieder darauf hingewiesen, welche
hohe programmatische Bedeutung dem Dürerschen Kupferstiche von 1504 eigen war.
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In diesem Zusammenhange möchte ich nicht unterlassen darauf hinzuweisen,
daß auch ein anderer Künstler der folgenden Generation sich gelegentlich den
jüngeren Peter Vischer zum Vorbild genommen hat. Ich meine Bartel Beham,
der zwei Putten vom Sebaldusgrab im Kupferstich nachgebildet hat, vgl. Pauli,
Bartel Beham, Studien zur deutschen Kunstgeschichte 135 (1911), Taf. VI, Fig. 55 u. 60.
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Abb. 6. Flötner,
Plakette der Erato.
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Abb. 7. P. Vischer d. J., Plakette des Orpheus
und der Eurydike. Berlin.
Zu: Hubert Stierling: Kleine Beitrage zu Peter Vischer X.
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Abb. 10. Flötner, Handzeichnung von 1537.
Berlin, Kupferstichkabinett.
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Flötner,
Merkurius-Plakette.
Abb. 9.
Hubert Stierling, Kleine Beiträge zu Peter Vischer X.
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Auch Bartels Bruder Hans Sebald hat sich gelegentlich an Vischer angelehnt.
Vergleicht man die mittlere Figur von seinem Holzschnitt „Die drei Schutzpatrone
Ungarns“, abgebildet z. B. im Cicerone 1920, S. 266 mit Vischers König Theo-
derich in Innsbruck, so kann es kaum fraglich sein, daß Beham Gelegenheit gehabt
hat, den Vischerschen Erzguß oder eine Zeichnung nach demselben kennengelernt
zu haben. Die Beinstellung, die Schild- und Lanzenhaltung, die Form des Schwertes,
das Zattelwerk auf der Rüstung u. a. entspricht sich mit leichten Variationen.
Beide Figuren gehen letzten Endes auf den Dürerschen Lucas Baumgartner in
der Münchner Pinakothek zurück. Es wiederholt sich also hier derselbe Fall wie
bei den eben besprochenen Flötnerschen Plaketten, wo auch das Motiv seine
Quelle bei Dürer hatte, aber Flötner erst durch eine Vischersche Mittelstufe an
die Hand gegeben war.
3. Die letzte Geldsammlung für das Sebaldusgrab.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich die Errichtung des Sebaldusgrabes über
тт Jahre erstreckt. Man ist leicht versucht zu glauben, daß der Eifer Vischers
zur Vollendung seines Auftrages nachgelassen habe, aber man täte dem Meister
wahrscheinlich erhebliches Unrecht. Der Grund seines Zögerns war vielmehr, daß
ihm von seinen Auftraggebern nicht die genügenden Geldmittel zur Verfügung ge-
stellt wurden. So war er gezwungen, viele andere Arbeiten in Angriff zu nehmen,
um sich und seine große Familie sicherzustellen. Wie wenig Vischer im Gegen-
teil einen Vorwurf verdient, geht daraus hervor, daß ihm noch in den Jahren 1521
und 22, d. h. zwei und drei Jahre nach der Vollendung seines Werkes, annähernd
soo fl. nachgezahlt werden mußten; im Jahre 1519, als das Sebaldusgrab voll-
endet wurde, fehlten sogar noch 845 fl., d. h. annähernd !/, der benötigten Kosten
(die sich im ganzen auf 3145 fl. und тб sh. belaufen). Um diesen Restbetrag zu-
sammenzubringen, berief der Kirchenpfleger Anton Tucher am 17. März 1519 und
an den beiden folgenden Tagen die angesehensten Bürger der Stadt und bat sie
mit eindringlichen Worten um ihre Unterstützung. Die Rede Tuchers ist uns von
Andreas Würffel in seinen historischen, genealogischen und diplomatischen Nach-
richten zur Erläuterung der Nürnbergischen Stadt- und Adelsgeschichte I, 247 ff.
(Nürnberg 1766) überliefert worden, So interessant dieser Aufruf nun ist, so hat
ihn trotzdem in den vergangenen 155 Jahren kein Vischer-Biograph zum Abdruck
gebracht; nur in dem Bergauschen Aufsatze „Peter Vischer und seine Söhne“, der
sich in dem Dobmeschen Sammelwerk Kunst und Künstler (Leipzig 1878) findet,
wird einmal ein kurzes Zitat gegeben, das aber völlig ungenau ist und nicht auf
die Quelle selber zurückgehen kann. Bei der hohen Bedeutung des Sebaldus-
grabes ist es daher gewiß berechtigt, hier die Rede Tuchers zu wiederholen, wobei
freilich die Frage offen bleibt, woher Würffel den Wortlaut genommen habe.
Vorher aber möchte ich noch dem Einwand Seegers in seinem bekannten Buche
über Peter Vischer den Jüngeren S. 154 begegnen, daß die herannahende Refor-
mation idie Opferwilligkeit der Nürnberger Bürger zum Stillstand gebracht habe.
Lochner sagt in seiner Neudörffer-Ausgabe S. 28 mit Recht, daß Luthers Name
damals erst im Begriff war, bekannt zu werden, und daß noch niemand an einen
Bruch mit der alten Kirche dachte. Nicht einmal Luther selber. Aber welches
nun auch die Ursachen der Geldstockung gewesen sein mögen, für uns Heutigen
haben sie ungewollt die gute Folge gehabt, daß den Söhnen des Altmeisters ein
stärkerer Einfluß ermöglicht wurde, so daß aus dem gotisch geplanten Denkmal
schließlich die erste große Schöpfung der deutschen Frührenaissance geworden ist.
Andreas Würfel berichtet:
Die angesehensten Bürger in Nürnberg werden Ао. 1319. d. 17. Martii, in die Sebalde
Kyrchen zusammen beruffen'), und ermahnet, zu Errichtung des Grabes Sebaldi, einen
Beytrag zu leisten.
Lieben hern vnd frevndt. Lasarus Holsschuer kirchenmeister dez geleichen Peter Imhof vnd
Siegmund Fürer alz verordet vnd verwalter des lieben hrn Sant Sebolt ) ein new grab’) auf zu richten
auch ich als ein unwürdiger Pfleger‘) dieser kyrch Sant Seboltes, die haben euch pitlich ansuchen
hieher zu kommen erfordern lassen. Vnd das darumb, ich bin on tsweiffel ir alle oder der Merer
tayi auß euch, dem sey wisset vnnd noch Ingedenk, wie des vor 10 oder 12 Jaren vngefärlich
guter Meynung fürgenommen ist, dem lieben Herrn Sant Sebolt, der vnser aller Patron ist, ein new
grab in seiner Kirchen aufzurichten vnd daselbig nach ewren ratt vnd gut bedüncken zw machen
firgenommen ist, nit von stain, nit von holtz, Sunder von kupffer, damit es dester lanckwiriger, als
es on tzweiffel am pesten ist. Vnd so nun derselben tzeit verortnet worden sint, nemlich Peter im
Hof wnnd Sigmund Fürer, als verwalter SolchB Grab zu uertig machen lassen, wie sy dann der-
selben tzeit, dasselbig verdingt vnd angedingt haben, nemlich Maister Petern Fischer pel et katherina,
der iezt alspald auch vor augen ist, vnnd was Ime dafür fir ein Summ gegeben werden sol das get
sein weg, vnd so nun solch grab zu Ende verfertigt ist, das es, ob Got wil, noch vor Ostern oder
pald darnach aufgesezt mag werdens) aber jezo erscheinet dieser mangel in der Sach, das man, an
dem gemelten grab, Ime dem meister Peter daran hintterstellig schuldy sein wirt pey 7 in 8 guiden
vngefarlich, wie sich das am gewicht vond in rechnung erfinten wird. Auf das haben wir euch er-
fordern lassen, und wollen euch güttlich vnd freuntlich pitten іг wollet darinnen ratten vnd helffen,
euer allmußen milttiglich darzu raichen und geben, dargegen wert ir on tzweyfiel nit allain von Gott
dem allmächtigen, Sunder auch von den lieben hern Sant Sebolt der vnser aller Patron ist, an Sel
уппа layb reiche belunung entpfahen vnd hoffen, auch, er wird euch in allen ewren handlung vnd
hantierungen, deßder glücklicher sw Steen, Se wollen wir auch, das für vnser Person, vmb euch Alle
sämtlich vnnd Sunderlich, mit willen vnnd gern verdienen; was nun ewer jeder nach Seiner Gelegen-
heit vnnd nach Seiner andacht pey Im entschliessen wirt daran tzu geben, es sey wenig oder vil
der mag solches in so oder 14 tagen vngefärlich dem Peter im Hof oder Sigmund Fürer anzeigen.
Solch ir allmussen Ir ainen peyhendig machen vnnd zw stellen, damit das gemelt grab, von Meister
Peter erhebt vnnd ledig gemacht werde, уппа so ir nun also vernommen habt, warumb ir erfordert
seyt, darneben vnser pitlich ansuchen gehört habt, So wollen wir euch nit länger aufhalten, mügt
darauf abgeen, уппа ewch in solchen halten, wie vnnser vertrawen tzu euch Stet, dargegen die Be-
lunung nehmen, wie vor gemelt ist.
Erläuterungen:: 1) Diese Convocation geschahe 3. Tag hinter einander, und erschienen von
denen Herren Kaufleuten nur allein in die 180 Personen. 2) Von dem H Sebaldo ist Nachricht zu
suchen, in Moller) Dissertatione de S. Sebaldo. Wagenseil in Comment. de Civitat. Norib. р. 37 seq.
hat die Geschichte des Heil. Patrons und Beichtigers sant Sebalds mitgetheilet. Vertrautes Send-
schreiben an Herrn J. H. von Falkenstein, darinnen die Ehre des Heil Beichtigers Sebaldi gerettet
wird. Folio 1735. 3) Neu Grab. Von diesem Grab ist zu lesen, Wagenseil Comm. de Civitate
Norib. р. 64 ssq. histor. Nachrichten von Nürnberg p. 322 a. 1519. 4) Das war Herr Anthoni Tucher,
der ist von a, 1505 biß 1523, Kirchenpfleger bey St. Sebald gewesen. 5) Dieses Grab ist besag der
histor. Nachrichten von Nürnberg р. 322. allererst den 19. Julii aufgesezet worden.
CARL GUSTAV CARUS UND DAS NATUR-
BEWUSSTSEIN DER ROMANTISCHEN DEUT-
SCHEN MALEREI Von ECKART v. SYDOW
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck
EN Umkreis des Lebens und der anregenden Tätigkeit von С. С. Carus er-
schöpft sich nicht mit dem Hinweis auf die weitverstreuten Resultate seiner
Malerei und Zeichnung. Man könnte zweifeln, welcher Berufskategorie man ihn
eingliedern sollte, wenn man die Fülle seiner Veröffentlichungen überblickt, und
dabei Arbeiten in allen möglichen Wissensgebieten feststellt; allgemein natur-
wissenschaftliche, philosophische, ärztliche, literarisch - kritische, ästhetische und
schließlich autobiographische Themata ermunterten ihn unaufhörlich zu seinen oft
mehrbändigen Werken, die annähernd zwanzig Bücher umfassen. Nimmt man dazu,
daß er lange Zeit ein vielbeschäftigter Arzt Dresdens war, dann als Leibarzt des
sächsischen Königs repräsentativen Verpflichtungen unterlag, — erwägt man seine
ausgesprochene Liebe für das Theater und durchzählt den großen Kreis seiner Be-
kannten und Freunde, mit denen er einen anscheinend regen mündlichen und schrift-
lichen Verkehr aufrecht erhielt, so sieht man eine rastlos tätige Lebendigkeit,
die allüberall sich versuchte und die Spuren ihrer Tätigkeit hinterließ. Und nun
noch ein großer Reichtum malerischer Produktivität! Das Erstaunen über solche
fast unglaubliche Tatkraft wird nicht geringer, wenn man bedenkt, daß eine ähn-
liche Vielseitigkeit unter seinen Zeitgenossen in der ersten Hälfte des ı9. Jahr-
hunderts nicht ungewöhnlich war: Die ganzen damaligen Generationen waren maß-
los produktiv! Aber doch eignete weder Immanuel Hermann Fichte, noch den
Humboldts, weder den Schlegels, noch Ludwig Tieck diese unermüdlich alle Lebens-
gebiete beobachtende, anregende und ausführlich bearbeitende Kraft der Auffassungs-
fähigkeit und Darstellungsgewandtheit. In gewissem Sinne möchte man an Goethe
denken, wenigstens um einen Vergleich für die allseitige Weltanschauung zu finden,
die Carus eigentümlich war, — diesem eigentümlich war natürlich nur in weit
geringerem Maße des Wertes. Denn es läßt sich freilich nicht verhehlen, daß die
Schnelligkeit seines Intellektes die Tiefe oder gar die Originalität seiner instink-
tiven Spürkraft unvergleichbar übertraf. Läge in der Formulierung nicht eine
allzu herabsetzende Nüance, so möchte man Carus als den Goethe des Mittel-
standes bezeichnen. Das unmittelbar Tatsächliche der allseitigen Rezeptivität
wäre durch diese Wendung richtig bezeichnet. Nicht nur insofern als Carus selbst
sich als nahen Jünger Goethes gefühlt hat, auch nicht nur insofern, als Goethe
selbst ihn schätzte, — sondern die vielfältige Identität der Interessen des altern-
den Meisters mit der Richtung und den Ergebnissen der Studien, die Carus mit
nie rastender Einzigkeit betrieb, brachte eine große Zahl von Berührungspunkten
hervor, die Carus in seinen „Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten“ zu be-
tonen nicht müde wird und die in der Tat auch zugestanden werden muß.
Der qualitative Unterschied bleibt bei alledem bestehen. Betrachtet man die in
jenem vortrefflichen autobiographischen Werke ausgebreitete Regsamkeit des
Lebens, prüft man den inneren Wert dieser Aufzeichnungen, und findet man dann
einzelne, wirklich wundervolle Briefe Goethes an Carus an passender Stelle aus-
führlich eingereiht, so hət man den Eindruck, als führen wir bequem- gesellig auf
31
einem vielfältig sich durch reiches, weites Land zerteilenden und breitem Flusse
dahin, aus dessen gewaltigen Uferhöhlungen her ein dumpfes und erhabenes Brausen
orphisch dunkel widerhallt. Der riesenhafte Schatten des großen Meisters ist der
wahre Hintergrund des reichhaltigen Daseins von Carus, das sich in der säch-
sischen Hauptstadt abspielt und das durch den engen Verkehr mit Tieck, C. D.
Friedrich, Krause, Rietschel usw., dann durch die entferntere, aber wirkungsvolle
Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt usw. eine erstaunliche Weite gewinnt.
Was dieser Mann für die damalige Geistigkeit bedeutet hat, ließe sich erst auf
Grund von eingehenden wissenschafts- und gesellschafts-geschichtlichen Studien
zeigen. Die folgenden Ausführungen möchten die Wandlung beschreiben, die das
romantische Naturerlebnis in ihm und in seiner Malerei genommen hat. Sehr zu-
statten kommt es uns dabei, daß er ausführliche Darstellungen seiner Erlebnisse,
seiner Theorie hinterlassen hat, so daß sich die Analyse seines malerischen Werkes
nachprüfen läßt an den Formulierungen seiner eignen Bewußtheit.
Das Erlebnis.
Kaum bedarf es nach der jahrzehntelangen Schulung durch die Impressionisten
der ausdrücklichen Feststellung, daß sich die Wirklichkeit für den Maler als durch
den Augenschein vermittelt darstelle, — daß also das Erlebnis des Malers wesent-
lich gründe im Eindruck, den seine Augen entsenden. Für die damalige Zeit galt
dies freilich nicht. C. D. Friedrich, der Freund Carus’, formulierte den Satz:
„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst sehest
dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkel gesehen, daß es zurück wirke
auf andere von außen nach innen.“ Und Runges Farb-Enthusiasmus entfließt doch
mehr metaphysizierender Symbolistik, als unmittelbarer, körperhafter Beziehung
zur Außenwelt. Viel realistischer als dieser beiden Vorgänger und Zeitgenossen
ist die Natur von Carus gewesen. Möchte man nicht an einen der spätesten neu-
zeitlichen Impressionisten denken, wenn man seine Naturskizzen liest? — eine der
lebendigsten möge folgen: „Ich machte einen Gang durch den Großen Garten (in
Dresden) und auf den Höhen am östlichen Ende, hinter den schönen Kiefergruppen,
kam mir ein Genuß an wunderbaren Farben und Formen, wie er uns nur an
glücklichen Tagen zuteil wird. Es hatte vormittags etwas geregnet und gewitter-
haftes, doch geflocktes und köstlich gefärbtes Gewölk war an dem gedämpften
Blau des abendlichen Himmels harmonisch verteilt. Der volle segensreiche Duft
des ersten Juni lagerte sich um die herrlichen Formen, auf denen einzelne Sonnen-
blicke umherirrten, nur überall glänzte die Natur in zarter Verklärung dem be-
wegten Auge entgegen. Selbst der Hügel, auf welchem ich stand, war mit dem
üppigsten Walde eines herrlichen Grases dicht geschmückt und von der dunkel-
blauen Blüte der hier in ungewohnter Menge wachsenden Salvia pratensis sowie
von den violetten Biüten des Symphytum, vom herrlichsten Klee, vom Ultramarin-
blau der Ajuga pyramidalis und anderem reizend geziert. Jeder Gedanke wurde
ein Gebet und der Hügel zur geheiligten Stätte des Herren!“ (aus 1817). Oder
ein Jahrfünft später eines der vortrefflichen „Fragmente eines malerischen Tage-
buchs“: „Januar 1823. Letztes Viertel des Mondes ... Abendspaziergang nach dem
Großem Garten nach 4 Uhr. — Vor dem Tore schneidend kalt, reiner Himmel;
im Westen viel rötlich-grauer Dunst, darüber Abendröte. Der bläuliche Dunst
(erleuchtetes, trübes Vordunkel, deshalb blau) überzog die obere Hälfte der Bäume.
Schneefläche vor den Bäumen ins Violettgrau, immer dunkler als Himmel, an
welchem am hellsten rosarötliche Flockenwélkchen erscheinen, welche durch den
32
TAFEL 12.
С. G. Carus: Fingalshöhle (um 1845) 0,91>1,15 m
bei Pastor Rietschel, Leipzig.
С. G. Carus: Schloß Warwick in Schottland (um 1845) 0,52><0,71 m
bei Pastor Rietschel, Leipzig.
Zu: E. v. Sydow, Carl Gustav Carus und das Naturbewußtsein der romantishen deutschen Malerei.
oberwärts sich verlierenden Dunst am westlichen Himmel sichtbar wurden. Im
Walde war eine Durchsicht gegen Osten schön, wo nur der Schnee gegen die
aufsteigende Nachtdämmerung, welche oberwärts in reines Blau verklang, hell er-
schien. Die näheren Bäume waren aus Violett ins Orange gehalten, ein vorragen-
der Ast mit ockergelbem Laube trug wie die anderen horizontalen Zweige zier-
liche Schneelichter. Weiterhin wurde das Violett duftiger und ein noch weiterhin
ausgebreiteter vorspringender Baum war in dunstiges Bläulichgrau gehüllt.“
Diese reine Empfänglichkeit für das Farbig-Anschauliche der Natur begleitete
ihn auf seinen Reisen durch Deutschland, Italien und die Schweiz (1828), die Rhein-
gegend und Paris (1835), und durch England und Schottland (1844). Manchmal
formt sich der Eindruck zu solchen Notizen, wie diese hier: „GegenPirna zu brach
ein rosenfarbiges Morgenrot über den Rohrsberg hervor und stand gut zum dunkel-
bewölkten Himmel, fast wie ein feurig aufblitzendes Liebeslicht zu einer dunkel-
gestimmten, tiefsinnigen Gemiitsart. In den Tannengebirgen gegen Gießhübel
dampften dicke Nebel auf, Schneeflächen wurden häufiger sichtbar und die kalt
durchziehende Luft gab der Gegend noch mehr winterlichen Charakter,“ — so
beginnt die Reisebeschreibung der Fahrt durch Deutschland, Italien und die Schweiz.
Oder Carus beschreibt kurz skizzierend eine nächtliche Wanderung durch das
Kolosseum: „Noch nie habe ich ein Menschenwerk gesehen, welches so sehr als
Naturwerk mir erschienen wäre, als dieser Riesenbau! — Und dabei nun alles so
eigentümlich! — Die ruhigste, angenehme, kühle Nacht — von weitem das ein-
tönige Geräusch des Marmorsägens — Geruch von blühendem Klee an den Wänden
— Nachtigallen nah und fern — mitunter Eulenruf — dazwischen ein Schuß.“
Das Verschwimmende der Atmosphäre, das Zerfallende alter Ruinen, das Ver-
blaßte der Farben liegt ihm immerdar am nächsten. Das Mondlicht spielt dabei
eine große Rolle mit seinen gespensterhaften Effekten. Fast immer sind es abend-
liche und nächtliche, manchmal auch morgendliche Stimmungen, deren Farbigkeit
Carus beobachtet und fühlt, nur selten kommt auch die Tageszeit zu ihrem Recht.
Fast ausschließlich ist Carus auf das, was ihm als „romantisch“ gilt, eingestellt, —
so merkwürdig dies mit seiner selbstsicheren Lebensführung kontrastiert. Er selbst
erklärt den Widerspruch zwischen seinen Lebenstendenzen auf lehrreiche Art.
„Leichensteine und Abendröten, eingestürzte Abteien und Mondscheine, die Nebel-
und Winterbilder, sowie die Waldesdunkel mit sparsam durchbrechendem Himmels-
blau, sind solche Klagelaute einer unbefriedigten Existenz (der modernen Zeit).“
Und in seiner Biographie bekennt er, daß er (den eigentlich immer in der Tiefe
des Gemütes ein Zug leiser Melancholie überschatte), „das innerste Geheimnis
der Seele von schwerer Trübung zu reinigen“ unternahm, indem er „dunkle Nebel-
bilder, in Schnee versunkene Kirchhöfe und Ähnliches in bildlicher Komposition
entwarf.“
Sein Naturerlebnis beschränkt sich freilich nicht auf die Konstatierung von Wahr-
nehmungen. Mögen sie bei ihm auch noch so feinfühlend sein, — was ihn von
der Neuzeit unterscheidet, ist der Schellingsche Gedanke der „Welt-Seele“, freilich
mehr in der Art Goethes in das Idyllische gewendet. Religiöses Pathos klang ja
in dem ersten der zitierten Stücke an. — Es tritt das romantisch Sentimentale
der damaligen Zeit hinzu und wendet das Farbige ins Symbolhafte um: Töne und
Farben drücken Gemiitsstimmungen aus.
Ein interessanter Zug der inneren Wandlung Carus’ macht sich bald bemerkbar,
wenn man seine drei Reisebeschreibungen vergleicht. Da zeigt sich eine all-
mähliche Abschwächung der ursprünglichen Auffassung, ein gemaches Trockner-
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 1. 3 33
Fülle seiner noch erhaltenen Arbeiten, deren letzte 1867, drei Jahre vor seinem
Tode, entsteht. Zwischen beiden Jahren, die also den vierundfünfzigjährigen Zeit-
raum 1812—1867 einfassen, ist fast jedes Jahr durch ein signiertes Bild zu be-
legen, — nur in den fünfziger und vierziger Jahren sind nur ein paar Jahre ver-
treten. Zu den ausgeführten Ölbildern kommen noch sehr zahlreiche Bleistift-
skizzen hinzu und kleinere Ölbildchen, die zwischen dem Staffeleigemälde und der
kleinen (oft nur postkartengroßen) Zeichnung vermitteln, — ferner noch Kohle-
zeichnungen, besonders in seinen späteren Jahren. So zeigt sein Werk einen äußer-
lich imponierenden Reichtum der Dokumente. Doch ist die Qualität kaum ebenso
hoch zu schätzen. Denn seine Arbeiten gehen nur zu gut mit den Leistungen
leidlicher Dilettanten zusammen und sie fallen andererseits ab, wenn man sie mit
wirklichen Kunstwerken vergleicht. Irgendeine Schwäche steckt in ihnen, allem
offenbaren Fleiße und gutem Willen zum Trotz, — fast flau wirkt ein Carus neben
einem Friedrich! Seine eigentliche produktive Kraft ist mit den Bildern erschöpft,
die aus der Erinnerung an Erlebnisse auf seiner englisch-schottischen Reise ent-
standen, — ungern betrachtet man die Arbeiten von der Mitte der vierziger Jahre
ab. Das dauernde Anwachsen der Tendenz, die auf Objektivität hindrängte, ist
seiner Kunst nicht von Vorteil gewesen, — der Wille zur Gefühlsmäßigkeit, die
seiner melancholischen Ader entquoll, brachte es in seinem letzten Lebensjahrzehnt
nur noch zu trüben Sentimentalitäten.
Dennoch hat man so manchen Genuß bei dem Betrachten seiner Arbeiten, so-
bald man nur die allzu hohen Ansprüche mäßigt, die er durch seine eigenen Worte
zur drängenden Forderung sich selbst gegenüber antürmte. Seine Zeichnungen
nach knorrigen Bäumen, verzwickt sich verschlingendem Wurzelgeflecht, grossen,
niedrigen Blattpflanzen, führen freilich nur um ein weniges über die naturwissen-
schaftlich richtige Wiedergabe hinaus. Dennoch liegt oft auch in ihnen ein eigener
Reiz: ganz ruhig durchstrémt das Leben der Natur diese bis ins einzelnste genau
abkonterfeiten Dinge, die sich so fein verästeln und die in so breite Blätter aus-
laufen. Gleichwohl: auch die besten Zeichnungen dieser Art bleiben sozusagen
um ein wenn auch nur unendlich Kleines unterhalb des Niveaus, auf welchem
erst das Kunsthafte wahrhaft beginnt, die Dinge der Außenwelt in Elemente
musikhafter Rhythmik zu verwandeln. Seine Waldwinkel, Häuserecken, selbst die
Wasserspiegelungen und Wolkenstudien haben ein allzu festes Bestehen, als daß
sie sich in Schein auflösten. Sie sind auch zu irdisch, als daß sie am Leben der
Welt, des Kosmos teilnähmen. Und so: noch nicht hereingezogen in den eigent-
lich kunsthaften Bezirk der selbständigen Form, — noch nicht aufgewachsen zu
planetarischer Landschaftlichkeit wie bei Koch — auch noch nicht so von seeli-
schem Gefühl erfüllt wie bei C. D. Friedrich — so müssen sie der letzten An-
ziehungskraft entbehren, die sie uns zu menschlich sehr wesentlichen Gebilden
machen würde. Und doch entströmt ein rein naturhaftes Entzlicken so manchem
Frtihlingsbilde und reizendem Laubgewirr. Und was immer wieder das Interesse
wachruft und ein gewisses Maß von erstaunter Bewunderung, das ist der Wage-
mut, mit dem Carus an einzelne malerische Probleme herantritt. Seine Feinfühlig-
keit allen farbigen Schattierungen gegenüber findet die Bestätigung ihrer literari-
schen Bezeugung in seinen Arbeiten. Es ist da ganz erstaunlich, wie bravourös
Carus da und dort bunte, leuchtend helle Töne in dunkleren Schatten einfügt, —
wie er das leuchtende Grün moosbewachsener Stämme charakterisiert, — wie er
das Fluktuierende der Wolken am offenen Himmel andeutet. In strengem Ge-
horsam vor der wahrgenommenen Wirklichkeit schreckt er vor keiner Kraßheit
36
С. G. Carus: Frühlingslandschaft des Rosenthals (1814) 0,34><0,43 m
Dresdener Gemäldegalerie.
С. G. Carus: Baumstudie (Bleistift) 0,20><0,16 m
TAFEL
13
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momentanen Pinselstrichs zurück! In der Treue gegenüber der Natur und in der
Feinnervigkeit seines Sehorgans ist er ein Impressionist von reiner Prägung. Wohl
trennt ihn von der späteren Generation das Bewußtsein von der Gottdurchflossen-
heit der Erde. Aber am einleuchtendsten ist er doch wohl dort, wo dies Wesen
gleichsam nur Theorie bleibt, wo er annähernd reiner Naturwissenschaftler ist.
Sucht er nach „höheren Aspekten“, so versagen doch seine Mittel. Er wirkt dann
leicht sentimentalisch, trotzdem gerade er die sentimentalen Landschaften ablehnte.
Solche Häuser, deren rote Fensterscheiben aus dunklem Abend aufleuchten, —
Wanderer in nächtlich drohender Felsenlandschaft, — Schwäne, die bei Mond-
schein heranrudern, — sie alle haben etwas innerlich Problematisches an sich.
Die Theorie der Reinigung der Seele von schmerzlichem Erleben, der er instinktiv
folgte, findet in der Qualität dieser Gemälde und Kohlezeichnungen keinerlei Stütze!
(Wie leicht wirkt nicht ein Gefühl unwahr, das aus dem Willen geboren ist. Und
ist solch Reinigungsprozeß nicht etwas Willensmäßiges? !)
* *
*
Carus ist fast ausschließlich Landschaftsmaler, — das Wort „Erdleben- Künstler“
muß man ihm trotz seiner Autorschaft wohl vorenthalten. Aus Deutschland, Italien,
England, Schottland stammen seine Vorwürfe. Romantische Landschaften bleiben
sie im allgemeinen. Denn die Vorliebe für Mondnächte und Gebirgigkeiten, für
Vorfrühlingsstimmungen und Herbstlichkeiten heben sie über das Gewöhnliche des
Alltags, über das Durchschnittliche empor. Und diese romantische Einstellung be-
herrscht nun einmal die Mehrzahl seiner Arbeiten — mag man auch seine eigent-
liche Leistung in den Werken erblicken, die das Romantische nur ganz von
ferne ahnen lassen. Er war eben doch ein Freund von C. D. Friedrich, mit dem
zusammen er draußen skizzierte und dem er einen oft geübten Kunstgriff verdankte,
wie am besten die Einheitlichkeit des Blickfeldes zu erzielen sei: anläßlich eines
„Mondschein-Bildes“, das Friedrich gefiel, bat ег Carus „eine dunkle Lasur auf die
Palette zu nehmen und außerhalb des Mondes und der nächst erleuchteten Stellen
alles, und je mehr gegen den Rand des Bildes um so dunkler, damit zu über-
tuschen ... Ich tat es, und das Bild war mit eins ein anderes geworden; nun
erst war die Illusion der Mondbeleuchtung deutlich,“ — so berichtet Carus in seinen
‚Lebenserinnerungen“, die auch sonst mancherlei von Friedrich mitzuteilen wissen.
Aber trotz solchem Kunstgriffe, den er dann häufig anwandte, bleibt auch seinem
Gefühl das gleiche Moment der Schwäche immanent, das seine Wirklichkeits-
wiedergaben größeren Formates zumeist stigmatisiert. Die Probe des Neben-
einander mit Friedrichs Arbeiten (sehr deutlich in Dresden) wird zu einer „pein-
lichen Frage“, die Carus nicht besteht.
Nur ganz selten hat sich Carus an andere Themata gewagt, als an Landschaften
oder einzelne Pflanzlichkeiten. Von Interesse ist darunter ein großer ,,Wolfhunds-
kopf“ in der Lahmannschen Sammlung auf dem Weißen Hirsch-Dresden. Aber
man denke während seiner Betrachtung nicht an Rayski, dessen Tiere von ganz
anderer Naturkraft zeugen! — Porträte, in denen er manche berühmte Persönlich-
keiten, wie die Schröder-Devrient, malte, scheinen nicht mehr erhalten zu sein.
So bleibt das Wesentliche seiner Hinterlassenschaft die Unzahl von Landschafts-
bildern in Bleistift, Aquarell, Kohle und Öl, in denen er sein nicht sehr tief gehendes
aber außerordentlich weitherziges Naturgefühl und eine überaus große Empfindlich-
keit für die differenziertesten farbigen Erscheinungen der Umwelt dokumentierte.
* *
*
37
JUGENDWERKE DES M. GRÜNEWALD
Mit acht Abbildungen auf vier Tafeln in Lichtdruck Von V. С. HABICHT
nsignierte und durch keine urkundlichen Beweise gestützte Werke und nun
gar Jugendwerke, also Arbeiten, denen das gesicherte Gesicht der erarbeiteten
Form fehlen muß, das bekannte (allzubekannte) einer gereiften Persönlichkeit
diese rührenden Zeugnisse jugendwacher Geister bekanntzugeben, ist ein undank-
bares Geschäft. Eine Anmaßung scheint an ein gefestigtes Gebäude, einen neidisch
behüteten Schatz greifen zu wollen — und nur zu begreiflich ist der Widerstand,
der von Treue zeugen kann, aber auch von Enge, Dogma und Erstarrung. Allein
— wenn etwas der Wissenschaft Sinn und Berechtigung geben kann, so ist es
nur die Erweiterung des Wissens und sicher nicht allein das Hüten eines wohl-
verwahrten Schatzes. Das Wahre spricht gewiß für sich selbst und bedarf keiner
Entschuldigung. Aber so sicher das Wahre von heute ein Paradox von gestern
ist, um so nötiger ist es, das Paradox zur Geltung zu bringen. Es bedarf, damit
es überhaupt gehört und eine Wahrheit werde, der Entschuldigung. Jede captatio
benevolentiae ist eine Tat der Achtung und des Taktes, und es ist ein gutes Recht,
sie zu fordern, am ehesten in rein wissenschaftlichen Leistungen, denn hier wird
mehr an Glauben gefordert als in irgendeiner Dichtung. Denn, sie wendet sich
an den Widerpart des Glaubens, die schwer besiegbare und zu überzeugende ratio,
die selbst nichts anderes bedeutet als eine aus Erinnerungen aufgebaute Festung.
Wie lange es dauert, bis sie eine Erkenntnis in den Ring ihrer Gegebenheiten
aufnimmt und welcher Mühseligkeiten es bedarf, in sie einzudringen, hat der Ver-
fasser an diesem Falle selbst aufs genaueste erlebt — und meine captatio bene-
volentiae soll in nichts anderem als in einem Berichte über dieses Faktum bestehen.
Ich habe von meiner Heimatstadt Darmstadt aus Erbach (UO. und das Schloß
mit seinen wenig gekannten Kunstschätzen oft besucht. 1915 fielen mir die Kunst-
werke, die den Gegenstand dieser Abhandlung bilden sollen, zum ersten Male auf.
„Grünewald!“ mir schien die innere Antwort auf die Frage nach dem Künstler
trotz ihrer Bestimmtheit und mangelnder Feigheit zum Bekenntnis unerhört, zweck-
los und lächerlich. Der Gedanke, die Scheiben zu veröffentlichen und den er-
lauchten Namen mit ihnen in Verbindung zu bringen, kam mir überhaupt nicht.
Ich habe die Arbeiten inzwischen noch mehrere Male an Ort und Stelle genau
angesehen, besorgte mir 1919 die, zu den folgenden Abbildungen dienenden, Photos,
lediglich in der Absicht, sie als ein Beitrag zur Geschichte der Glasmalerei zu ver-
öffentlichen. Die Autorfrage, den leisesten Gedanken an Griinewald, ließ ich bei-
seite. Ich habe die Arbeit nicht abgeschlossen und konnte sie nicht abschließen,
obwohl mich kaum eine andere so intensiv und langandauernd beschäftigt hat,
so oft vorgenommen und wieder zurückgelegt, umgearbeitet und geändert worden
ist — wie sie, weil das ihr Abzufragende künstlich unterdrückt war. Ich habe —
nach einer erneuten Besichtigung — dem verwegenen Ruf der inneren Stimme
dann schließlich nachgegeben — und ich glaube, daß sie recht haben muß. Einen
Ehrgeiz habe ich an der Frage nicht, eine Intuition steht außerhalb aller Beweise,
mein Erlebnis ist mir nicht zu rauben. Den Mut, von ihm zu sprechen, bringe
ich gerne auf. Was ich biete, ist keine Hypothese. Fest davon überzeugt, daß
künstlerische Werte nicht mit der ratio ergriffen werden können, und auch davon,
daß sogenannte stilkritische Beweise einen circulus vitiosus bedeuten und für letzte
40
Abb. 1. Verkündigung. Kabinettscheibe im SchloBe zu Erbach і. O.
7. Geburt Christi. Kabinettscheibe i im lass: zu Erbach i. О.
Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald.
TAFEL 14.
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Vorstellungen nicht reichen — so gut und sehr brauchbar sie für bestimmte, äußere
(bekannte) Zwecke sind —, geht diese Untersuchung im eigentlichen einen eigenen
und neuen Weg. Sie geht von der innersten Bewußtseinslage und Erkenntnisart
des Künstlers der zu behandelnden Kunstwerke aus, sie weiß aus eigenen Erleb-
nissen schöpferischer Tätigkeit her um die Identität des schöpferischen Ichs, die
unwandelbare, und um die Bedingtheit und Nebensächlichkeit der faßbaren Form,
ganz besonders in den tastenden Werken der ersten Emanationen dieses Geist-
kernes. Die Schöpferqual ist nichts anderes als der grauenhafte Zwang, in die
Welt der Erscheinungen hinunterzusteigen. Allein — so bedingungslos die Unter-
werfung des erwachenden schöpferischen Geistes auch erscheinen mag, so furchtbar
im Grunde die Übermächtigung durch die sinnlich packbaren Formen ist — meist
in sklavischer Übernahme vorhandener Ausdruckselemente — so bleibt der Genius,
und das ist der schöpferische Mensch, doch unverkennbar und gefeit, sehr zum
Unterschied gegen die vielen und oft sehr tüchtigen Künstler, die eben nur Künstler
und keine Genien sind. Ein Pieter Lastmann kann keinen Rembrandt, auch den
in rührender (scheinbarer) Ohnmacht beginnenden und sklavisch Anschluß suchen-
den, überdecken — und mit Grünewald kann es anders nicht sein. Hätten wir
von Rembrandt als frühestes Werk nur die Nachtwache, es gehörte ein Heiden-
mut dazu, ihm das wohl früheste Bild, den Prophet Bileam, zuzuschreiben. Jeden-
falls wäre dann zunächst einmal von dem Begrifisschatz, der festgefiigten Vor-
stellung der Form abzusehen. Allein — die Aufgabe wäre immerhin noch leichter
als unsere, denn es würde sich um Kunstwerke gleicher Art handeln, während wir
Glasmalereien mit Gemälden zu vergleichen haben. Unsere Aufgabe erfordert Wohl-
wollen und Geduld. Ein rasch vollzogener Vergleich auf Grund der Form hier
und dort, ein unbedingtes Haften an dem bekannten Vorstellungsbild: „Grünewald“
würden die Anforderung, die gestellt ist, unbillig leicht erledigen. Wir wollen
den Weg erleichtern und versuchen, ganz unbefangen an die Werke und die Auf-
gabe heranzutreten.
1. Der Befund.
Im Rittersaale des gräflichen Schlosses zu Erbach i/O. befinden sich, in moderne
Fenster eingelassen, acht Rundscheiben, die im Lichten 30 cm mit einem 3½ cm
breiten Rand messen. Sie stellen dar:
te Die Verkündigung (Abb. 1). Die Scheibe ist nicht im ursprünglichen Zu-
stande erhalten. Die linke Gruppe mit dem auf einem Thron sitzenden Gottvater
und dem den Thron anfassenden Engel gehörte ursprünglich offenbar zu einer
Marienkrönung. Das Stück ist echt und alt (ungefähr gleiche Zeit wie die Scheiben:
Ende 15. Jahrhundert), stammt aber aus einem ganz anderen Kunstkreise und hat
stilistisch mit unseren Arbeiten nichts zu tun. Von dem ehemals links vorhanden
gewesenen Engel Gabriel ist nur das Szepter und Spruchband übrig geblieben,
sowie der untere Teil seines Gewandes, das zu dem darüber befindlichen Gott-
vater nicht paßt. Ob die unklaren Architekturteile über der linken Gruppe zu der
ursprünglichen Scheibe gehören, oder gleichfalls (dann von einer dritten) eingesetzt
sind, ist schwer festzustellen. Alt und original zur Scheibe gehörend ist die Land-
schaft und die Strahlenglorie: Aber auch dieser Teil wird durch ein dunkles, später
eingesetztes Stück unterbrochen, das bis zu dem Heiligenschein der Maria reicht.
Hier und weiter rechts mit einem Stück der Taube beginnt der intakte Teil der
Scheibe, der den ganzen übrigen Raum füllt. Sind auch die Verluste, namentlich
der Gestalt des Engels Gabriel, zu beklagen, so bleibt doch genug sowohl für die
41
künstlerischen Absichten. Die aber gehen stark und klar auf die Sache, den Kern,
die Hauptsache. In großer Ruhe steht Christus dem vom Dämon gequälten und
gezwackten, von zwei in Anstrengung mitbewegten Männern gehaltenen, Besessenen
gegenüber. Nur scheinbar jedoch ist die Festhaltung des motorischen Geschehens
das Ziel. Unendlich wichtiger der Drang, das Dahintersteckende zu bannen. Zum
Verständnis ist auf den Wunderbericht zurückzugreifen, der am ausführlichsten bei
Markus gegeben ist. Danach bringt einer aus dem Volke seinen Sohn zu Christus,
schildert sein Besessensein und sagt: ‚ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß
sie ihn austrieben, und sie können es nicht.“ Als Vorbedingung fordert Christus
den Glauben wie bei allen seinen Wunderhandlungen, jedoch in einer schwer ver-
ständlichen Form, denn er antwortet dem Vater auf die oben zitierten Worte un-
mittelbar: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie
lange soll ich mit euch leiden? Bringet ihn her zu mir!“ Und er wird gebracht,
und der Anfall spielt sich vor Christi Augen ab. Und nun erfolgt auf Christi Frage
„Wie lange ist es, daß ihm dieses widerfahren ist?“ die Antwort: „von Kind auf.
Und oft hat er ihn in Feuer und Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte!“ Und
dann die Worte, die Christi Ausruf: „O du ungläubiges Geschlecht...“ völlig auf-
klären und rechtfertigen, und die lauten: „Kannst du aber was, so erbarme dich
unser und hilf uns.“ Sie enthalten Zweifel und Unglauben, wie sie Christus vor-
ausgesehen und ausgesprochen hat. Und Christus spricht: „Wenn du könntest
glauben, alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Und alsbald schrie des
Kindes Vater mit Tränen und sprach: „ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Un-
glauben.“ Darauf vollzieht sich das Wunder. Wenn irgendein Bericht, so trägt
dieser für den Tieferblickenden den Stempel der Echtheit an der Stirn. Doch diese
Frage kann uns hier nicht weiter beschäftigen. Unsere Aufgabe ist, nachzuforschen,
wie ihn der Künstler verstanden hat. Er hat ihn verstanden; er hat den natür-
lichen Vorgang, die Hilfe, die Christus dem schließlich überzeugt und ehrlich
bittenden Vater („hilf meinem Unglauben“) angedeihen läßt, als den Kernpunkt
erfaßt. Gewiß nicht wissend und im Verstande. Als mittelalterlich denkender
Mensch und im Dienste eines Auftrages (doch wohl eines Geistlichen) durfte er
das an sich ja auch keineswegs gleichgültige, sinnfällige Geschehen der Wirkung,
der Heilung von der Besessenheit übergehen. Aber er hat das Tiefere erfaßt, ja,
es liegt ihm zweifellos daran, es besonders deutlich zu machen. Wir sehen rechts
den Vater mit Kopftuch und Judenhut stehen. Die Gesichtszüge drücken das
Schreien, Weinen und die Wandlung aus. Mehr aber noch wird der Kampf, der
hier von dem „Wunder“ Heischenden selbst zu bestehen war, durch die seltsam
gekrampfte, deutlich gezeigte Hand ausgedrückt. Auf den Glauben kommt es an.
Es gibt keine Wunder für den Glauben, alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
Aus keiner anderen Erkenntnis ist die — nach den Evangelien unmotivierte —
_ Frauengestalt zu erklären. Was bei der Darstellung des gescholtenen Ungläubigen
nicht möglich war, hier ist es, aus einem unglaublich tiefgehenden Bedürfnis heraus
zur Darstellung zwingend, möglich geworden. Diese Gestalt, wohl ohne Zwang
als die Mutter des Besessenen zu denken, drückt in vollkommenem Grade den
Glauben aus, der Berge versetzen kann.
Christus und das Kananäische Weib. (Abb.4). Christus’ Gewand wie auf 3,
Frau: blaues Untergewand; schwarzes, gelb durchwirktes Kleid (Brokat); Petrus:
blaues Untergewand, roter Mantel; Apostel am weitesten links: grünes Unter-
gewand, manganvioletter Mantel; dritter Apostel von links: ganzes Gewand grau-
weiß. Weg: dunkelgrau; Himmel: dunkelblau.
44
TAFEL 15.
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3. Christus treibt Teufel aus. Kabinettsheibe im Schloß zu Erbach i. О.
4. Christus und das Kananäishe Weib. Kabinettscheibe im Schloß zu Erbach i. O.
Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald.
Die Konzentration auf den geistigen Vorgang ist der vorher behandelten Scheibe
gegenüber noch weiter fortgeführt, die Zurückdrängung der Akzessorien dement-
sprechend noch stärker. Durch die Isolierung der Christusgestalt auf der einen
Seite, die Zusammenfassung der „anderen“ Welt mit den Jüngern („Laß sie doch
von dir, denn sie schreiet uns nach“) und der Fred („Herr, hilf mir!“) auf der
gegentiberstehenden, erfolgt eine ungewöhnliche Vertiefung des legendarischen Be-
richtes. Gewiß schimmert auch hier das äußere Geschehen durch, jedoch nur
soweit, als es für Herausstellung des geistigen Kernes nötig ist. Die unwilligen
Jünger sind ebenso bedürftig und hilfeangewiesen wie das jammernde Weib. Nur
ein sehr großer Erleber und Seelenkenner konnte der Gestalt Christi in dieser
Hilfe- und Wunderszene die Abwehrgeste und den Frage-Vorwurfsblick gegen die
Jünger geben. Denn hier liegt der Brennpunkt. Das Wunder tritt zurück. Der
Frau hat der Glaube bereits geholfen. Die Taterzählung, die jeder andere Künstler
gegeben hätte, der Bericht des Wunders, kümmern unseren Meister sehr wenig.
Diese einzigartige Erfassung, die von einer heimlichen Begabung des Künstlers
und von nichts anderem als einem mystischen Erleben aufs klarste zeugt, ist —
wie schon hier betont werden muß — keine Alltagsgabe. Ihr ist Christus ein
lebendiges Gut. Was der Verstand der Verständigen nicht sieht, kein Wissen und
keine ratio je begreifen können, und kein noch so hohes Anbeten des Gottessohnes,
ist auf einem anderen Wege, von dem wir noch ausführlich zu sprechen haben
werden, gefunden. Von aller Form abgesehen, ist es diese singuläre Gabe, die
das Eigentliche und Wesentliche dieses Künstlers ausmacht. Doch wir wollen
unserem Ziel nicht vorauseilen und uns zunächst auf die bloße Beschreibung be-
schränken,
In einer aufs allernötigste beschränkten Landschaftsdarstellung erscheint Christus
rechts allein vor einem tief hinter seinem Rücken sich herabsenkenden weißen
Hintergrund. Die auffallende Isolierung und Betonung der Gestalt entspringen nun
keineswegs der flachen Absicht, „die zwei Welten“ gegeneinanderzustellen, sie
zwingen vielmehr vor allem zur Beachtung der eigentümlichen und kühnen Auf-
fassung und Behandlung der Hauptfigur. Die alles überragende Gewalt des Meisters,
des „Wundermannes“, der er in diesem Fall eo ipso auch ist, verdeutlicht kein
äußerliches Mittel, wie Größenmaßstab, Gewand, Attribute, Geste. Ich sehe nichts
in die Darstellung hinein, ich sehe mich aber auch außerstande, die magische Kraft
zu beschreiben, einfach deswegen nicht, weil es keine erklärbaren Mittel sind, mit
denen die Wirkung erreicht wird. Alle Formen sind nur ein Fingerzeig, Pfade
zur Erkenntnis des Wesentlichen, das nur erlebt werden kann. Aus der kompakten
Masse der Gegenspieler tritt zunächst die kniende Frau deutlich hervor. Die
gläubig gebreiteten Hände, der erstaunte Ernst und die Andacht der angespannten
Züge sprechen voll und deutlich das aus, was nach dem Bericht zuerst von dieser
Gestalt zu sagen ist. In eigentümlichem, gewolltem Gegensatz zu dieser Inner-
lichkeit steht die prächtige und phantastische Gewandung; d. h. so ist nicht genau
gesprochen. Die Gegensätzlichkeit beruht auf der Gegenüberstellung dieser Figur
überhaupt zu den Aposteln. Damit ist eine fundamentale Erkenntnis aufgewiesen,
nämlich die, daß Glauben und Erleben des Göttlichen an nichts Äußerliches ge-
bunden sind, daß kein Privileg dazu verhelfen kann und daß die Gnade stets aufs
neue erworben werden muß. Von den Aposteln selbst sind drei als Ausdrucks-
träger vorgeschoben und allein von der seltsam primitiv, zweidimensional dar-
gestellten Gruppe abgelöst. Der Einwand, die Klage gegen das Weib, der leichte
Vorwurf gegen Christus werden von dem am weitesten rechts stehenden (Petrus?)
45
Auferstehung (Abb. 8). Die Scheibe ist leider schlecht erhalten, wenigstens
ist die fehlende Hauptfigur, von der nur der rechte Fuß des heraustretenden Beines
noch geblieben ist, mit keiner Phantasie zu ersetzen und ihr Verlust sehr zu be-
klagen. Daran kann auch die Tatsache nichts mildern, daß im großen das alte,
übliche Motiv des Heraussteigens aus dem Sarkophage gegeben gewesen sein muß.
Die Farbtöne der erhaltenen Teile lassen allerdings keinen Zweifel, daß doch ein
gewichtiges, neues — und auch für unsere Autorfrage bedeutsames — Moment
eingeführt ist: das Licht, das von der magisch verklärten Gestalt des Auferstan-
denen ausgegangen sein muß. Die in silbergrauen Tönen, mit braunen Schattie-
rungen gehaltenen Rüstungen spiegeln im Metall ein helles, seltsames Licht, ebenso
die meist gelb gehaltenen Gewandteile und der braunrosa gegebene Sarkophag.
Altertümlich dagegen wieder die Benutzung des assistierenden, den Sarkophag-
deckel hebenden und beiseite schiebenden, Engels. Zwar nicht neu, aber doch
stark gefühlt und selbst erlebt erscheint die Skala der psychologischen Reflexe
innerhalb der Wichtergruppe. Dumpfer Schlaf, geblendetes Erwachen, taumelndes
Getroffensein und blöde Verwunderung wechseln von rechts nach links herum
Wie primär und geschlossen die Visionen unseres Künstlers sind, wissen wir; wie
empfindlich die Herausnahme eines Teiles, und gar des Hauptteiles, stört, sehen
wir hier. Gewiß hat im ganzen die breite Diagonalbasis des Sarkophags nicht
die Bedeutung gehabt, wie es jetzt erscheint, da dieses nebensächliche Stück um
Beachtung und Zuerkennung einer Bedeutung trotzt. Auch scheinen mir die Frei-
heiten in Bewegungsdarstellungen, die Kühnheiten der Überschneidungen, die
Schärfe der Beobachtung nicht überschätzt werden zu dürfen. Sie sind hier nur
gegeben, weil das Thema diese schärfere Berücksichtigung sinnfälliger Gegeben-
heiten, die zugleich die Bannung in die niedere Seinsstufe versinnbildlichen, forderte.
2. Vorläufige kunsthistorische Einreihung.
Nach einer gütigen Mitteilung der gräfl. Erbach-Erbach und Wartenberg-Rothischen
Rentkammer ist über die Herkunft der Scheiben folgendes bekannt. Im handschrift-
lichen Katalog Nr. 15 ‚Description der Sammlungen des Schlosses zu Erbach“
(vom Grafen Eberhard zu Erbach 1876 verfaßt) findet sich S.61 folgender Eintrag:
„Zwischen diesen uralten mandelförmigen Wimpfener Scheiben wurden zur Com-
plettierung der Renaissance schon angehörige, feine runde Glasgemälde gefaßt.
Auch sie vergegenwärtigen Szenen aus der Heilsgeschichte und bilden einen kleinen
Kreis von Glasgemälden, welche vom Grafen Karl!) in Ulm erworben wurden, und
der mit dem XV. Jahrhundert angebahnten Vervollkommnung dieser Kunst angehören,
sie entstammen der Kiinstlerhand Carlettos.“ Außer dieser Erwähnung findet sich
keine in den übrigen 19 handschriftlichen Katalogen. Da Graf Karl bereits 1832
starb, sind auch die obigen Provenienzangaben, die erst 1876 vom Grafen Eber-
hard angegeben werden, nicht absolut sicher und jedenfalls mit Kritik zu benutzen.
Die weitere Beschreibung und Bestimmung braucht uns nicht zu beschäftigen.
Wissenschaftliche Behandlung haben die Scheiben bis jetzt nur in anderem Zu-
sammenhange erfahren. In Verbindung mit dem berühmten Glasmaler Hans Wild
werden sie ganz kurz bei Frankl in seinem Buche?) und in dem H. Wild gewid-
meten Aufsatz?) erwähnt, ohne daß sich Frankl zu einer Zuschreibung an H. Wild
(1) regierte 1823—32.
(a) vgl. P. Frankl: Die Glasmalereien des 15. Jahrhunderts in Bayern und Schwaben. Straßburg 1912,
Seite 169.
(3) id.: Der Ulmer Glasmaler H. Wild. (Jahrb. d. k. preuß. Kunstsammlungen. 33. Bd. Berlin 1912, S. 77.
48
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Abb. 5. Speisung der 5000. Kabinettsheibe im Schloße zu Erbach і. О.
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Abb. 6. Steinigung im Tempel. Kabinettsheibe im Schloß zu Erbach і. О.
Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald.
TAFEL 16.
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entschließt, zumal er die Werke nicht aus Autopsie kennt. Eine kritiklose Zu-
weisung ап Н. Wild nimmt Fischer!) vor. Am eingehendsten und wertvollsten
sind die Werke bei Schmitz?) behandelt, der sich aber auch mit der Reproduktion
von zwei Scheiben begnügt, die Zuweisung an H. Wild ablehnt und wichtige Hin-
weise auf die stilistischen Verbindungen mit der rheinisch-elsässischen Schule gibt.
Zu dem Gedanken an H. Wild als Autor mag wohl zunächst die erwähnte Pro-
venienzangabe verführt haben. Auch wenn sie stimmen sollte, ist mit dem Ankauf
der Scheiben in Ulm natürlich nichts Endgültiges über die wirkliche Herkunft aus-
gemacht. Überdies lehrt ein kurzer Vergleich, daß unsere Scheiben mit der sehr
ausgeprägten und von Frankl genügend deutlich gemachten Kunst H. Wilds nicht
in Verbindung gebracht werden dürfen. Es genügt, auf die in jeder Hinsicht
andersartige Auffassung und Darstellung gleicher und ähnlicher Szenen zu ver-
weisen und etwa die Auferstehung der Magdalenenkirche zu Straßburg?) und die mit
ihr fast genau übereinstimmende des Ratsfensters in Ulm‘) mit der unserer Scheibe
oder die Szenen der Heilung des Везеззепеп 5) und des kananäischen Weibes“)
des Ulmer Ratsfensters mit den Erbachern zu vergleichen.
Wir nehmen die von Schmitz gewiesene Spur auf und werden in der Lage sein,
engere Beziehungen zu den elsässischen Werken aufzuweisen, allerdings nur solche,
die die Anlehnung oder das Übernehmen brauchbarer Formen durch unseren
Künstler verraten. Es handelt sich vor allem um die Scheiben im nördlichen Quer-
schiff von St, Georg zu Schlettstadt”) und um die der Pfarrkirche zu Zabern’),
für die wir bei Bruck Bestimmungen vorfinden. Bruck verlegt die Schlettstadter
Fenster mit der Legende der hl. Agnes in das Ende des 15. Jahrhunderts “), die
der Marienkapelle zu Zabern in die Zeit um 1465 und nimmt für sie Entwürfe
des Н. Isenmann ап!) (eine Annahme, die ohne Grund von Fischer übernommen
wird). Für unsere Zwecke genügt es, festzustellen, daß die beiden Fenstergruppen
aus der Zeit um 1470 stammen, jedenfalls vor den Erbacher Scheiben entstanden sind,
Sie können für uns — wie bemerkt — lediglich zur Herleitung des Stiles der
Erbacher Arbeiten herangezogen werden.
Ich wähle zunächst ein Beispiel der Schlettstadter Fenster: die Vorführung der
hl. Agnes vor dem Präfekten.
Da wir sahen, daß sich das Interesse des Meisters der Erbacher Fenster auf die
Physiognomik geradezu stürzt, daß hierzu im Formalen mit ein Kernpunkt dieser
Arbeiten zu suchen ist, versteht es sich, nach Anregungen für diese Erscheinungen
Umschau zu halten. Der Präfekt und die beiden Schergen der Szene bieten voll-
kommene Gelegenheit, eine Schärfung der Individualbeobachtung mit einem hart
an die Karikatur streifenden Zuge festzustellen. Der Henker rechts mit seinen
Negerlippen, der Knollennase, den gekniffenen Hundsaugen ist ein gutes Beispiel
dieser Übertreibung, zugleich etwas wie ein Vorläufer des Besessenen unserer
Teufelaustreibungsszene etwa. Der andere Henker mit seinem geöffneten Munde,
der hängenden, vorgeschobenen Unterlippe ist etwa mit dem vorderen Henker der
Teufelaustreibungsszene zu vergleichen.
Ähnliche oder geradezu karikierende Physiognomien weisen die Fenster in Zabern auf.
(1) vgl. J. L. Fischer: Handbuch der Glasmalerei. Leipzig 1914, S. 158.
(2) H. Schmitz: Die Glasgemälde des k. Kunstgewerbemuseums in Berlin. Berlin 1913, 8.101.
(3) R. Bruck: Die elsässische Glasmalerei. Straßburg 1902, 8. 138 und Taf. 67. (4) Jahrb. d. preuß.
Kunstslgn. 1912, Abb. о (S.49). (5) Jahrb. d. preuß. Kunstsign. 1913, Abb. 7 (8. 45). (6) Jahrb. d.
preuß. Kunstslgo. 1912, Abb. 7 (8. 45). (7) vgl. Bruck: a. а. O., Taf. 61. 8) id.: Taf. 53 und 54.
(9) id.: Seite 127. (10) id.: Seite rogff.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 1. 49
Es kann auch kein Zweifel sein, daß die neue Bewegung am Ausgang des Mittel-
alters, die man gemeinhin als Sondergotik zu bezeichnen pflegt, die dem Renais-
sancegeist und seiner Kunst erliegen mußte und dienur wenige einheitliche Schöpfer-
persönlichkeiten hervorgebracht hat, von diesen Kräften besonders stark erfüllt
gewesen ist. Allein — mit dem bloßen Willen ist es nicht getan. Eine Aus-
erwählung, die Beschenkung mit einer seltenen Gabe müssen dazu kommen, wenn
diese Einstellung zu mehr als gewöhnlichen Ergebnissen führen soll. Versteht man
unter Mystik das unmittelbare Ergreifen der geheimen Wirklichkeit — und dies
ist der Urgrund, von dem aus sich alle weiteren Erkenntnisse des eigenen Ichs usw.
von selbst ergeben —, so ist es diese Gabe (die durchaus keine Zeiterscheinung
ist), die uns in höchstem Maße bei dem Schöpfer unserer Scheiben entgegentritt.
Der Gedanke an eine denkbare Beeinflussung oder an Wünsche des Bestellers ist
deshalb als unmöglich abzuweisen, weil sich diese Einsichten nicht mitteilen lassen
oder wenigstens nur dem, der die gleichen Erlebnisse urtiimlich besitzt.
Wie sehr und ausschließlich dieses Seinserlebnis oder die religiöse Gabe (was
dasselbe ist), das Zentrum des künstlerischen Schaffens und damit den Schlüssel
zum Verständnis bilden, ist an der Formsetzung nachzuweisen.
Im Gegensatz zu den schweifenden Gebilden einer der ratio entstammenden
Phantasie hat die Schau oder die Vision von vornherein den Charakter des Ge-
schlossenen, einfach deswegen, weil eine Wahrheit oder Seinserkenntnis eine ein-
deutige sein muß. Diese aus Einfalt geborene und an Einfalt gemahnende Einfach-
heit und Unbeirrbarkeit gewähren ein einheitliches Gebilde. Die Werksetzung
besteht in nichts anderem als der Wiedergabe, sie stellt eine organische Ein-
heit dar. Bei den sämtlichen Scheiben ist dieser primäre Akt unverkennbar. Kein
Wissen und Suchen trägt Einzelelemente, die als brauchbar erkannt sind, zusammen;
wohlverstanden im wesentlichen — in der Schau, der Vision. Diese steht klar
und unverrückbar fest. Das geistige Geschehen wird als Spannung, als Kontrast
erlebt, nicht nur, wo dies selbstverständlich ist: bei den Christusszenen, auch bei
der Darstellung der Verkündigung etwa. Hieraus erklärt sich die Abweisung alles
Unnötigen, die Vermeidung von Leere und der Anbringung von rein füllenden Bei-
gaben aus ästhetischen Gründen. Die Spannungspole sind in den Figuren straff
festgehalten, jede einzelne Gestalt in die eine oder andere Seite einbezogen.
Zur Verwirklichung dieser Absichten dienen eine Reihe — zweifellos unbewußt
verwandter — Mittel, die für uns aber zur Erkenntnis der Art der Materialisierung
— und auch der Künstlerpersönlichkeit von hohem Werte sind. Das Wechselspiel
der polaren Geistkräfte, das Hin- und Herfluten sinnfällig zu machen, kann kaum
etwas anderes als die Diagonale besser dienen. Es sei im Voraus aber noch ein-
mal ausdrücklich betont, daß es sich hierbei um sekundäre Dinge handelt und
daß das Eigentliche und Wesentliche in der Gesamtschau, der Fixierung der Vision
bereits gegeben ist. Besonders bei den Wunderszenen (Speisung, Heilung und
kananäisches Weib) tritt die Diagonale als Hilfsmittel der Verdeutlichung stark
hervor. Es genügt, auf die Speisungsszene aufmerksam zu machen und darauf hin-
zuweisen, wie hier von den Händen Christi zu denen des Johannes eine Diagonale
aufsteigt, die in den vorgestreckten Armen des brotverteilenden Apostels wie in
zwei Antennen nach abwärts schießt. Zugleich wird hier deutlich, daß die Form
keinen Selbstzweck hat, daß mit diesen beiden Diagonalen der „Stromleiter“ un-
zweideutig gemeint ist. Eine natürliche Folge der künstlerischen Gesamtabsicht
st die gleichzeitige Bevorzugung von Parallelen, schon deswegen verständlich und
nötig, da es sich öfters darum handelt, die Polarität in mehreren Gestalten an-
52
TAFEL 17.
Abb. 8. Auferstehung. Kabinettsheibe im Schloße zu Erbach i. O.
Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald.
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zudeuten (z. B. parallele Haltung der Köpfe bei dem Vater des Besessenen und
der Frau.)
Gegenüber diesen klaren, bedeutungsvollen Linienelementen finden sich solche,
die allgemeiner von dem inneren Spannungsverhältnis des Künstlers selbst sprechen.
Ich meine vor allem die reichen und komplizierten Faltenspiele, die in der Ge-
wanddarstellung Verwendung finden. Unbestreitbar handelt es sich in der Vor-
liebe für diese Dinge, wie ebenso stark in der stilistischen Gestaltung, um all-
gemeine Erscheinungen der Zeit. So merkwürdig es für den ersten Augenblick
auch klingen mag, so sehen wir doch selbst in der Behandlung der Figur und in
dem Ausdruck der Köpfe sekundäre Werte, die jedenfalls gegenüber der Stärke
der geschlossenen Vision bei dem jungen Künstler zurücktreten. Sie sind zum
Teil, wie wir bereits sahen, Formgut der Zeit. Das Erstaunliche liegt weniger
im Gegebenen als zu Erahnenden. Denn hinter dem entlehnten Formengut spricht
doch deutlich die eigenwillige und starke Persönlichkeit und zuweilen gelingt es
ihr auch, das ihr Vorschwebende neu und mit eigenen Mitteln zu bannen. Ich
verweise auf den Christus der Brotvermehrungsszene oder auf die Apostel am
weitesten links auf der Szene mit dem kananäischen Weib. Das gleiche, nämlich
die Erkenntnis der Bedeutung, das klare Wollen und das nur teilweise Gelingen
gilt für die Darstellung der Hände. Wundervoll, bedeutungsvoll und in vollendeter
Realität (womit hier alles andere als die Tagesrealität und Naturalismus der Dar-
stellung gemeint ist), z. B. die Hand Christi beim Einzug oder die des Vaters bei
der Heilung des Besessenen. Der Gegenbeispiele sind so viele, daß sie nicht ge-
nannt zu werden brauchen.
Eine eigentümliche und wichtige Rolle spielen schließlich noch die Farben. Zu-
zugeben ist auch hier wieder, daß wir in dem expressiven Wollen der neuen Welle
der Spätgotik an sich auf ähnliche Züge stoßen, daß auch hier die Abwendung
von einer sach- und dinggefesselten, objektiv-realistischen Wiedergabe stattfindet.
Wir dürfen uns auch nicht durch die leuchtende Kraft des Materiales verführen
lassen. Allein — trotz dieser Einschränkungen und Voraussetzungen dürfen die
Werte nicht übersehen werden, die bereits in den Entwürfen niedergelegt gewesen
sein müssen, wie auch keinenfalls vergessen werden darf, daß die Kabinettscheiben-
malerei durchaus auf veristische Momente drängte. Die symbolische Kraftentfaltung
der Farbe, namentlich auch mit Heranziehung magischer Lichtwerte (wie in der
Auferstehungsszene), die durch Reduzierung auf wenige leuchtende Haupttöne er-
reicht wird, bildet unbedingt einen wesentlichen und besonderen Teil der Entwürfe.
4. Der Autor.
Die Scheiben stehen völlig allein. Irgendeine Verbindung mit anderen Werken
der Glasmalerei, die auf die gleiche oder eine entwickeltere Hand schließen lassen
könnten, gibt es nicht. Züge erstaunlichster Art sind uns in ihnen entgegen-
getreten: eine Kraft der Vision, ein Erfassen des Wirklichen, ein expressiver Drang,
die aufmerken lassen. Gab es so viele religiöse künstlerische Genies am Ausgang
des Mittelalters? Sollte dieser Große spurlos verschwunden sein? Oder, da es
sich zweifellos um eine jugendliche Anfängergestalt handelt, sollte er nur gelegent-
lich auf diesem Gebiete tätig gewesen sein?
Es ist seltsam, daß ein dunkles Gefühl irgendeine Verbindung Grünewalds mit
der Glasmalerei als vorhanden, ja als nötige Voraussetzung, empfunden hat. Es
sind andere Gründe, die mich (abgesehen von dem geschilderten ersten Eindruck)
schließlich auf den Meister geführt haben.
53
Es ist zunächst die Tatsache, daß neben vielen ausdrucksreichen Künstlern der
Sondergotik eben doch nur ein religiöses Genie als Künstler bestehen bleibt. Diese
Gabe, wohlverstanden diese, ist bei unserem Künstler unbedingt gleich groß wie
beim gewaltigen Schöpfer des Isenheimer Altares. Diese Tatsache ist durch noch
so großen Abstand der stilistischen Mittel nicht zu erschüttern. Nun wäre es ein
leichtes, die Wege von der Emanation eines jungen religiösen Künstlergenies zu
den reifen und der Mittel bewußten aufzuweisen. Nur bei Grünewald ist es kaum
möglich, da uns der Künstler als eine reife und formgewandte Persönlichkeit ent-
gegentritt. Mayer!) ist durchaus zuzustimmen, wenn er behauptet, „als fertiger
Künstler steht Grünewald in seinem frühesten uns erhaltenen Werk, der Kreuzigung,
in der öffentlichen Kunstsammlung zu Basel vor uns,“ auch wenn man die Münchener
Verspottung noch vor diese legt.
Es ist also der Mut aufzubringen, die bequeme stilistische Stütze beiseite zu
lassen und die Identitätsprobe am Eigentlichen vorzunehmen. Ich wähle die Dar-
stellung der Begegnung des hl. Paulus und hl Antonius des Isenheimer Altares
und die Scheibe mit dem Brotwunder, lediglich weil hier und dort Wunderdarstel-
lungen gegeben sind und der Kern des religiösen Erfassens hier vergleichsweise
am besten zu packen ist.
Um zu verstehen, was Grünewald mit der Darstellung der Besuchsszene be-
absichtigt hat, ist es nötig, sich die Unterlagen anzusehen. Sie lautet in der legenda
aurea: ... Cumque hora prandii adesset, corvus duplicatam panis partem attulit,
cumque de hoc Antonius miraretur, respondit Paulus, quod Deus sibi omni die
taliter ministrabat et praebendam propter hospitem duplicaverat. Pia lis oritur, quis
magis dignus esset panem dividere. Defert Paulus hospiti et Antonius seniori.
Tandem uterque manum apponunt et in aequas partes panem dividunt .. .“ Das
Superstitionelle des Wunders und der sinnfällige Bezug auf das Brotbrechen Christi
bilden den Inhalt des Berichtes. Keines dieser Motive hat Grünewald dargestellt.
Als echter Mystiker weiß er, worum es sich handelt. Der Träger des geistigen
Vorgangs, der, in dem er allein Realität besitzt, ist der hl. Paulus. Einzig und allein
sein ekstatischer Wille schafft das Geschehen, suggeriert es, bannt es in die Er-
scheinung. Es gibt nur einen einzigen deutschen Künstler, der das Menschlich-
Übermenschliche mystischer Vorgänge mit dieser Klarheit erfaßt und dargestellt hat.
Genau die gleiche Gabe tritt uns — trotz aller natürlichen und notwendigen for-
malen Abweichungen — in der Darstellung des Wunders der Brotvermehrung ent-
gegen. Auch hier wird nichts Superstitionelles, handgreiflich Wunderbares, ein
Bluff für einfältige Gemüter, sondern der seelisch-geistige Vorgang in Christus, sein
Wille und dessen Wirkung auf die in seinem Banne Stehenden geschildert. Von
hier aus gesehen ist die Frage: „Wer anders als Grünewald?“ berechtigt. Denn
sie ist, da es sich um Wesentlicheres als materielle Dinge handelt, nur eindeutig
zu beantworten.
Nun erst mag es einen Sinn haben, danach zu suchen, ob die tastenden Ema-
nationen der Werksetzung auch äußerliche Beziehungen zu den späteren aufweisen.
Der öfters wiederkehrende Feiste und der Negertyp stammen von Anregungen
Schongauers. In unseren Scheiben können wir die erste selbständige Umbiegung
dieser Vorbilder und das Verhältnis zu den späteren Ausprägungen deutlich verfolgen.
Auf drei Scheiben erscheint dieser seltsame negroide Typ: bei der Heilung des
Besessenen: der Kranke selbst, beim Einzug Christi in Jerusalem der linke untere
(1) vgl. A. L. Mayer: М. Grünewald. München 1919. (2) vgl. Graeße. S. 95.
DA
Zuschauer der rechten Gruppe, bei der Brotverteilung der Trinkende rechts im
Hintergrunde und die Frau in der Mitte, hinter deren Rücken ein Kind steht. Die
breiten, wenig vorstehenden, platten Nasen, die wulstigen Lippen und etwas ge-
schlitzten Augen verursachen den Eindruck der fremden Rasse, an deren Dar-
stellung natürlich nicht gedacht ist. Der naheliegende Vergleich mit dem hl. Mau-
ritius des Münchener Bildes hat deshalb zu unterbleiben. Die zweifellos lediglich
aus dem Drang nach Ausdruck, nach physiognomischen Eigenarten zu erklärenden
Erscheinungen kommen deshalb Fassungen ähnlicher Art wie der Königstochter auf
dem Frankfurter Bild des hl Cyriacus oder der Kreidestudie in Paris am nächsten.
Vergleicht man diesen Kopf näher mit dem Besessenen unserer Scheiben oder
der Frau des Brotwunders, so ist deutlich, daß die grimassierende Physiognomik
Widerhall einer Erregung sein soll; dabei fällt dann auch weiter die tibereinstim-
mende scharfe Anspannung und Belebung der hageren Wangenpartien auf. Es
bestehen hier jedenfalls sichtbare formale Verbindungen zwischen der Kunst unseres
Meisters und der Grünewalds.
Ein ähnlicher Fall liegt bei der Übernahme des Typs des älteren, feisten Mannes
vor, der gleichfalls von Schongauer in der deutschen Kunst vorbildlich (bekanntlich
auch für gleiche Gestalten Dürers), eingeführt wurde. Der Vater auf der Heilungs-
szene des Besessenen ist mit dem höhnenden Pharisäer in Berlin und der Zeich-
nung in Kopenhagen wohl in Parallele zu setzen. Da wir für die eigentlichen
Glasmalereien eine zweite Hand annehmen, sind unmittelbare Beziehungen der
„Schrift“ hier so wenig wie sonstwie festzustellen. Die Vergleichspunkte müssen
in der Auffassung gesucht werden, und da ist es wohl möglich, hier wie dort eine
ähnliche tiefe Beseelung des modischen Typus zu erkennen.
Dagegen scheinen mir in einem weiteren Punkte so auffallende, dem Zeitwollen
entgegengesetzte, Berührungspunkte vorzuliegen, daß von einem Zufall kaum ge-
sprochen werden kann. Wir sahen eine ausgesprochene Vorliebe unseres Meisters
für Raumengen (Verkündigung oder Steinigung etwa) zu eigentümlichen Gestal-
tungen von Innenräumen gelangen. In Grünewalds Werk (Verkündigung oder
Tempel auf Geburtszene des Isenheimer Altares) kontrastiert diese Vorliebe in
auffallender Weise zur Weite der Landschaftsdarstellungen. Jedenfalls zieht er
bei Innenraumdarstellungen eine scharfe, enge, seitliche Umgrenzung in schmalen
Räumen in seltsam übereinstimmender Neigung allen anderen Möglichkeiten vor.
Wir beschließen diesen Überblick, der für uns von vornherein von sekundärer
Bedeutung ist, weil die Identität von außen her aus den verschiedensten Gründen
kaum oder nicht zu finden sein kann.
5. Ergebnis.
Kein Genie braucht sich wegen der Ungeschicklichkeiten und Gebundenheiten der
ersten Emanationen seiner Jugendwerke zu schämen. Denn rein und reich wird
in ihnen auch schon der wahre Schatz der Persönlichkeit gebettet liegen, mag
auch die Kluft zwischen Werksetzung und Wollen noch so groß sein. Die Frage,
ob Grünewald ein Dienst damit erwiesen ist, die tastenden Zeugnisse seines
Geistes bekanntzugeben, ist darum müßig und verfehlt.
Das Bild des gewaltigen, gereiften, seiner Mittel sicheren Meisters wird durch
sie nicht verdunkelt — und seiner Größe gewiß kein Abbruch getan. Denn die
wahrhafte Größe seines Wesens strahlt in diesen bescheidenen und gebundenen
Werken in der gleichen Einzigartigkeit ihres Wertes wie in allen späteren be-
wunderten Schöpfungen. Sie aber haftet nicht an Meisterschaft, Technik und
55
3. B. 44 der Kleinen Passion (b),
4. L. 86 (1521) (a),
5. L. 198 (1521) (a).
Alle übrigen einschlägigen Darstellungen sind Beweinungen. Ich zähle sie auf
nach Gemälden, Kupferstichen, Holzschnitten und Handzeichnungen geordnet.
I. Gemälde:
т. Nürnberg, Germanisches Museum (um 1498);
2. München, Alte Pinakothek (1500);
[3. Dresden, Gemäldegalerie, letztes Bild des Zyklus der sieben Schmerzen
Mariae (Dürerschule)].
IL Kupferstich:
4. Gestochene Passion, B. 14.
ПІ. Holzschnitt:
5. Große Passion, B. 13;
6. Kleine Passion, B. 43.
IV. Handzeichnung:
7. L. 25 (nicht „Entwurf zu einer Kreuzabnahme oder Beweinung“, sondern
Entwurf zu einer Beweinung);
8. L. 117 (nicht „Die Kreuzabnahme“) (1513 ?);
9. L. 129 (1522);
ro. L. 379 (1521);
11. L. 489 = letztes Bild der Grünen Passion (nicht „Die Grablegung Christi);
1a. L. 559 (1519).
Allen diesen Bildern ist charakteristisch, daß der vom Kreuz ab-
genommene, am Boden liegende Leichnam Jesu am Oberkörper auf-
gerichtet wird, um der Maria „gezeigt“ zu werden. Verkehrt ist es dem-
nach, wenn der Text zu L. 489 (Nr. 11) behauptet, Christi Leichnam werde „auf
den Boden gelegt“.
Des Amtes, den Oberkörper Jesu vor Maria aufzurichten, waltet, mit einer ein-
zigen Ausnahme, ein Mann und zwar entweder der Evangelist Johannes (1, 3, 4, 5)
oder, in der Mehrheit der Fälle, Joseph von Arimathia (a, 6, 8, 10, тт, 12)*). Die
einzige Ausnahme bietet Nr. 9 = L. 129, wo Maria selbst das Haupt des Sohnes
hebt.
Außer dem nie fehlenden und an seinem jugendlichen Aussehen und seinem
Lockenkopf nie zu verfehlenden Johannes ist nebst dem schon genannten Joseph
von Arimathia in der Regel bei der Beweinung, aber auch bei den beiden späten
Grabtragungen L. 86 und 198 noch ein Mann anwesend, der durch ein großes
Salbengefäß gekennzeichnet ist. Wer ist dieser? Der Lippmann-Text nennt ihn
in der Beschreibung von Nr. 8 unserer Reihe = L. 117 Joseph von Arimathia,
in der Beschreibung von Nr. 379 Nikodemus. Was ist richtig? Unsere Entschei-
dung ist schon vorweggenommen, indem wir den Mann, der in der Darstellung
der Beweinung mit Johannes sich in die Rolle, den Oberkörper Jesu aufzurichten,
teilt, Joseph von Arimathia nannten. Daß aber der Mann mit dem Salbengefäß
nicht Joseph von Arimathia, sondern Nikodemus ist, ergibt sich unzweifelhaft aus
dem Johannesevangelium, in welchem wir Kap. 19, 38f. lesen: „Darnach bat den
Pilatus Joseph von Arimathia, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich aus Furcht
(х) In der Skizze Nr. 7 = L. 25 ist nur der tote Körper mit der die Füße küssenden Magdalena ge-
zeichnet.
58
vor den Juden, daß er möchte abnehmen den Leichnam Jesu. Und Pilatus erlaubte
es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu herab. Es kam aber auch Niko-
demus, der vormals bei der Nacht zu Jesu kommen war, und brachte Myrrhe
und Aloe untereinander bei hundert Pfunden.“ Diesem und nicht dem
Joseph kommt also die Salbenbüchse zu.
Ein vierter Mann, der bei der Kreuzabnahme der Grünen Passion und bei den
Grablegungen, hier mehrmals neben weiteren, noch gegenwärtig ist, ist als Simon
von Kyrene zu bestimmen. Er ist aber nicht etwa zu erkennen in einem der
beiden Männer links im Hintergrunde des letzten Bildes der Grünen Passion (L. 489).
Vielmehr stellen diese beiden den Hohepriester (links) und einen Pharisäer (rechts,
mit dem Hammer) dar, welche gekommen sind, nach der Beisetzung des Heilandes
das Grab zu versiegeln (Matth. 27, 66).
Wer ist der Dicke in dem Ecce homo-Blatt der Großen Passion (B. 9)?
Auf dem Ecce homo-Blatt der Großen Passion steht zwischen den beiden Profil-
gestalten im Vordergrunde ein mehr dem Beschauer zugewendeter barhaupter
Mann in priesterlich gearteter Tracht, der durch starke Fettleibigkeit auffällt. Wer
ist dieser? Von den Erklärern faßt nur einer ihn näher ins Auge, und der nennt
ihn einen Mönch, während ihm der Bärtige in weitem Gewande und mit um-
hülltem Kopf vor ihm ein Hoherpriester zu sein diinkt*).
An sich läge es nicht außer dem Bereich des Möglichen, daß Dürer zu den
moralischen Mördern Jesu einen Mönch gesellt habe. Hat er doch auch in der
Offenbarung aus seiner Gesinnung gegen Klerus und Mönchtum kein Hehl gemacht.
Gleichwohl findet sich in der Großen Passion, wie auch in keinem anderen der
nachapokalyptischen Zyklen oder Werke, von den beiden Münchener Aposteltafeln
abgesehen, eine solche Spitze gegen die Vertreter der alten Kirche nicht, ins-
besondere also auch nicht in unserem Holzschnitt.
Dürer wollte vielmehr in dem Dicken, der unter dem Volke als die Hauptperson
fungiert, den Hohenpriester, d. h. einen wirklichen Hohenpriester zeichnen, nicht
einen als Hohenpriester fungierenden Mönch. Der Beweis ist unschwer zu führen.
Erstens ist die Tracht des Mannes zwar priesterlicher Art, aber keine Mönchs-
tracht. Zweitens ist die Tracht, die der feiste Mann des Ecce homo-Holzschnittes
der Großen Passion trägt, im wesentlichen dieselbe, die Joachim trägt im Marien-
leben, insbesondere auf dem Blatt seiner Begegnung mit Anna am Goldenen Tor
(B. 79). Drittens aber ergibt sich die Identifizierung des Dicken als des Hohen-
priesters unzweifelhaft aus den parallelen Darstellungen. Dürer stellt den re-
gierenden Hohenpriester regelmäßig als widerwärtig feist dar, so in
der Kleinen Passion B. 29 (Hannas dagegen ist als schlanker Alter wiedergegeben,
B. 28), desgleichen in der Grünen Passion L. 478, wo er den Judenhut auf dem
Kopfe hat. Dasselbe Modell erscheint nun in der Grünen Passion noch einmal
und zwar in der Darstellung des Christus vor Pilatus L. 480, hier mit über-
gezogener Kapuze. Schließlich bringt es die Kupferstichpassion abermals in den
beiden Darstellungen des Christus vor Kaiphas (B.6) und des Christus vor Pilatus,
wobei dem Kaiphas dort eine hohe Mütze auf den Kopf gegeben ist, während ihn
der „Dicke“ hier wiederum mit der Kapuze bedeckt hat. Daß also der „Dicke“
in allen Fällen mit dem Hohenpriester Kaiphas identisch ist, kann hiernach nicht
mehr fraglich sein.
(x) K. Tscheuschner, Albrecht Dürers Holzschnittfolgen. Erläuternder Text. Leipzig, o. J., S. 37.
59
Sämtliche Evangelien bemerken ausdrücklich, daß mit dem Volke die Hohen-
priester vor Pilatus erschienen. So wird auch von dem Evangelientexte aus die
Anwesenheit des Hohenpriesters in dem Ecce homo-Blatt der Großen Passion und
Parallelen gefordert bzw. bestätigt. Wenn die Evangelien aber in der Pilatus-
Perikope immer von den Hohenpriestern sprechen, so wird man hieraus nicht den
Schluß ziehen wollen, daß in unserem Holzschnitte auch der tänzeind vorschrei-
tende Vordermann des als Hoherpriester Festgestellten Hoherpriester sei. In Wirk-
lichkeit hat Dürer sich auf den einen Hohenpriester beschränkt, und in dem ganz
anders gekleideten Bärtigen einen der Obersten oder Ältesten unter den Juden
wiedergegeben, von denen die Hohenpriester nach Luk. 23, 13 bzw. Matth. 27, 20
begleitet waren. Ein zweiter Oberster oder Ältester steht überdies im Hinter-
grunde zwischen dem Hohenpriester und dem Landsknecht, und weitere Juden sind
als solche durch die Spitzhüte bezeichnet, die weiter zurück aus der Menge ragen.
Die Alte des Holzschnittes „Christus vor Hannas“ in der
Kleinen Passion (B. 28).
In dem Blatte der Kleinen Passion, das Christus vor dem Hohenpriester Hannas
zeigt, erscheint rechts, vom Bildrande durchschnitten, eine Greisin, die ihre Linke
auf einen Krückstock stützt und die Rechte dem unter dem Baldachin thronenden
Hannas auf die Schulter legt. Sie ist eine crux interpretum.
Wir wissen in den Passionsgeschichten von zwei Frauen, die in das Verhör
eingreifen. Die eine ist des Pilatus Weib. Sie schickte, so berichtet Matthäus
(27, 19), da er auf dem Richtstuhl saß, zu ihm und ließ ihm sagen: „Habe du
nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum
von seinetwegen. Die andere ist die Veronika genannte Blutflüssige. Von ihr er-
zählen die apokryphen Gesta Pilati (c. VII), daß sie nebst anderen von Jesus Ge-
heilten für diesen vor dem Landpfleger Zeugnis ablegte ). Die Vertraulichkeit, mit
der die Alte dem Hohenpriester im Holzschnitt naht, würde an sich mehr auf die
Gattin als auf eine ihm fremde Persönlichkeit schließen lassen; andererseits könnte
der Umstand, daß nach Matthäus des Pilatus Weib nicht selbst erscheint, sondern
zu ihm schickt (scil. einen Boten), während in den Gesta Pilati Veronika persön-
lich gegenwärtig ist, im Bilde mehr für diese als für jene sprechen. Allein jede
derartige Kombination fällt dadurch in sich zusammen, daß es sowohl bei Mat-
thäus als in den Gesta Pilati Pilatus der Landpfleger ist, zu dem die Frauen
warnend und zeugend kommen, und nicht Hannas der Hohepriester. In der Peri-
kope Christus vor Hannas, Joh. 18, 12—24, der einzigen, die uns über das Verhör
Jesu vor dem alten Hohenpriester erzählt, ist von einem Weibe, das in der Ver-
handlung eine Rolle spielte, mit keiner Silbe die Rede.
Einstweilen kann ich mir die Alte im Holzschnitt nur so erklären, daß Dürer
die Frau aus der Pilatusperikope des Matthäus in seine Hannasszene aus künstle-
rischen Rücksichten übertragen hat.
Christus am Kreuz in der Gestochenen Passion (B. 13).
Wölfflin?) findet in diesem Stich die Betonung einer engen Beziehung zwischen
Christus und Johannes; die hierdurch betätigte Absicht solle den bestimmten seeli-
schen Moment veranschaulichen, wo die Mutter dem Jünger empfohlen wird.
(x) Evangelia apocrypha ed. Tischendorf, 1. А., 8. 335, 2. А., 8.356: Item et mulier quaedam Vero-
nica nomine a longe clamavit praesidi Fluens sanguine eram ab annis duodecim, et tetigi fimbriam
vestimenti eius, et statim fluxus sanguinis mei stetit.
(a) Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers. 2. A., München 1908, 8. 217.
60
Richtig ist, daß der aufwärts gerichtete Blick des Evangelisten an sich als ein
Hinaufhorchen gedeutet werden könnte. Aber notwendig und die nächstliegende
ist diese Deutung keineswegs, und sie verbietet sich, wie sich sogleich ergeben
wird, aus dem Bilde selbst. Denn Christi Mund ist geschlossen — wie seine
Augen —; Christus spricht weder zu Maria noch auch zu Johannes. Sein Mund
ist geschlossen für immer: Christus ist tot. Bestätigt wird diese Tatsache einmal
durch den Frieden, der über Jesu Angesicht liegt, sodann rein äußerlich-objektiv
durch das Wundmal an seiner rechten Seite; der Lanzenstich ist bereits erfolgt.
Die Nacht ist hereingebrochen, und in stiller Andacht stehen, während drei Hinter-
grundfiguren samt dem Totenschädel aus vorwiegend künstlerischen Gründen die
Szene beleben, Maria, auch diese mit geschlossenen Augen, und Johannes unter
dem Kreuze des Vollendeten.
Die Situation ist also, was den Gekreuzigten betrifft, dieselbe wie die in den
Kreuzigungsbildern der Großen Passion (B. 11), wo die Engel das Blut auffangen;
der Kleinen Passion (В. 40), wo der (türkische) Hauptmann bezeugt: „Wahrlich,
dieser ist ein frommer Mensch gewesen“; oder in dem herrlichen Meßbilde von
1516 (В. 56), wo die Augen des Herrn gebrochen sind, aber noch halb geöffnet
scheinen und doch das Blut ihm aus der Seite rieselt. Dagegen ist in der Grünen
Passion der Gekreuzigte noch am Leben, wie denn hier auch die Seitenwunde fehlt.
Der „Raubvogel“ im Holzschnitt der sieben Posaunenengel
(Offenbarung B. 68).
Tscheuschner!) kann sich in dem Holzschnitt zu Apokalypse 8 den Raubvogel
nicht erklären. Er verweist darauf, daß es nach dem Wortlaut der Schrift (v. 13)
ein Engel sei, der mitten durch den Himmel fliege und das dreimal Wehe rufe.
„Dürer setzt nun“, meint er, „merkwürdigerweise (vielleicht aus Raummangel) an
die Stelle des Engels einen großen Raubvogel und läßt aus dessen Munde das
dreifache Wehe ertönen.“
So geht es, wenn man den Dichter will verstehen, ohne in Dichters Lande zu
gehen. In diesem Falle heißt das, man muß den Bibeltext einsehen, den Dürer
benutzte. Das war aber, 1495—1498, nicht der Luthertext, sondern die Vulgata.
Und hier steht Apc. 8, 13: Et vidi, et audivi vocem unius aquilae volantis per
medium caeli, dicentis voce magna: Vae, vae, vae etc, (Die Vulgata folgt mit
aquilae der echten ursprünglichen Lesart deroö, während die Lesung dyy&iov, die
der Lutherübersetzung zugrunde liegt, jüngere Variante ist.) Der „Raubvogel“ ist
also ein Adler, und dieser ist Dürer gegeben in der von ihm benutzten lateinischen
Bibel. Daß Dürer den Vulgatatext vor sich hatte, ergibt sich auch aus dem wfale
v(a)e v(a)e (in der lateinischen Form), das der Adler wie im Texte, so im Holz-
schnitte ruft.
Das Faß in der „Ruhe auf der Flucht“ des Marienlebens (B. 90).
In dem Hofraum, der an der Rückseite von dem hochragenden Wohnhause, vorn
von dem arbeitenden Joseph und nach rechts von der spinnenden Maria begrenzt
wird und in dem hinten ein laufender Brunnen plätschert, liegt mitten inne ein
Faß, über das sich ein Stoffstreifen oder eine Matte schmiegt. Was hat es zu be-
deuten?
(x) К. Tscheuschner, Albrecht Dürers Holszschnittfolgen. Krläuternder Text. Leipzig, o. J., S. 17.
61
Merkwürdigerweise haben die Erklärer, so viel ich sehe, diesem Faß nie irgend-
welche Aufmerksamkeit zugewendet. Der einzige, Springer, der es erwähnt!), er-
wähnt es eben nur; eine Erklärung gibt er nicht; er faßt es offenbar nur als Aus-
stattungsstück, dem ein besonderer Sinn nicht zukommt. Allein daß es lediglich
zur Füllung, allgemeinen Bereicherung und Belebung der Hofausstattung diene,
daß es nur um dieser willen da sei und sein Vorhandensein in diesem Zweck
sich erschöpfe, ihm also sachlich eine ganz gleichgtiltige Rolle zugewiesen sei,
wird man schon darum nicht annehmen können, weil es im Gesamtbilde zu stark
hervortritt und augenscheinlich betont ist. Offenbar verknüpft Dürer mit ihm eine
besondere Aussage, einen eigenen Gedanken.
Das wird um so deutlicher, wenn man andererseits die Frage stellt, ob es
künstlerisch, im Rahmen der Komposition als unbedingt notwendig zu erkennen sei.
Man wird diese Frage verneinen dürfen; es könnte im Hofe fehlen, ohne daß man
es vermissen würde. Wenn aber doch der Künstler das Bedürfnis empfunden
haben sollte, den freien Platz noch zu beleben, würde man erwarten, daß er dazu
neben Hahn und Huhn gerade das so stark in die Augen springende Faß wählte?
Wollte man es jedoch mit Josephs Handwerk in Verbindung bringen, so widerlegt
sich auch diese Kombination in sich selbst; denn der Zimmermann macht keine
Fässer.
Wie man es auch ansehen mag, unser Faß zwingt zu der Einsicht, daß der
Meister, der es zeichnete, ihm einen besonderen Sinn zugewiesen. Welches ist
dieser ?
Auf das, wie ich glaube, zutreffende Verständnis führt die Tatsache, daß in
Dürers Tagen das Faß nicht bloß als Behälter für Flüssigkeiten, sondern auch als
Packfaß in Gebrauch war. An zwei Stellen seines niederländischen Tagebuches
nennt Dürer unter der Bezeichnung „Stübig“ selbst ein solches. Im ersten der
in Betracht kommenden Einträge?) (16. März 1521) bemerkt der Künstler, er habe
dem Jakob und Endres Heßler sein Bällein nach Nürnberg aufgegeben, daß er es
Herrn Hans Imhof d. A. zuführe: „mehr“, fährt er fort, „hab ich ihm“, d. i. dem
Frachtfuhrmann, „auf еіп Stübig eingebunden“. Die zweite Stelle“) vermerkt u. a.
nur, daß er 7 fl. für ein Stübig bezahlte. Für Wort und Sache finden sich in
Grimms deutschem Wörterbuch s. v. Packfaß zahlreiche weitere Belege.
Sollte demnach das Faß in der „Ruhe auf der Flucht“ nicht ein solches Pack-
faß darstellen? Es ist der einzige Gegenstand im ganzen Blatt, der es bezeugt:
die heilige Familie, die hier so friedlich zusammen ist, befindet sich nicht daheim,
sondern weilt in der Fremde.
Zwar ist mir bisher in keiner anderen Darstellung der „Ruhe auf der Flucht“
oder der „Flucht nach Ägypten“ das Faß wiederbegegnet. Wenn Joseph etwas
bei sich trägt, so ist es eine Flasche‘) oder ein Ballen’), gelegentlich auch ein
Sack). Man wird aber zu bedenken haben, daß ja das Packfaß nicht von den
Reisenden selbst mitgeführt zu werden pflegte, sondern wohl regelmäßig dem
Frachtfuhrmann oder dem Schiff überlassen wurde. Allerdings ist es mir trotz
mancherlei Suchens bisher auch nicht gelungen, es in anderen Bildwerken fest-
(т) A. Springer, Albrecht Dürer, 1892, S. 45.
(2) L.—F. 152, тт.
(3) L.—F. 173, 20f.
(4) So Schongauer, Kupferstich B. 7.
(5) So Virgil Solis, Kupferstich P. 561.
(6) Israel von Meckenem, P. 30.
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zustellen. Dennoch scheint es mir nicht zweifelhaft, daß das Faß unseres Dürer-
holzschnittes nicht anders denn als Packfaß verstanden und gedeutet sein will.
Ob dabei die darüber gebreitete Matte noch ihre besondere Bedeutung hat, mag
dahingestellt bleiben.
Ein neuer Dürer-Holzschnitt?
In diesem letzten der hier vorgelegten kleinen Beiträge zum Dürerwerk möchte
ich die Dürerforschung auf einen neuen Dürerholzschnitt — um einen solchen
handelt es sich allem Anschein nach — hinweisen, der bereits seit mehreren Jahren
an einer ihr sehr abgelegenen Stelle veröffentlicht ist. Liegt seine Bedeutung und
sein Wert auch nicht so sehr auf künstlerisch-ästhetischem als auf kulturgeschicht-
lichem und persönlichem Gebiete, so genügt doch beides zusammen, zumal in
Verbindung mit dem Namen Dürers, ihm ein volles Maß der Beachtung zu sichern.
Der Holzschnitt ist mitgeteilt von dem Bibliothekar Karl Schottenloher an
der Staatsbibliothek zu München mit einer Abhandlung „Konrad Heinfogel. Ein
Nürnberger Mathematiker aus dem Freundeskreise Albrecht Dürers“ in der Reihe
der „Beiträge zur Geschichte der Renaissance und Reformation, Joseph Schlecht
am 16. Januar 1917 als Festgabe zum sechzigsten Geburtstag dargebracht“, München
und Freising 1917, S. 300—310 nebst Tafel 3). Er findet sich abgedruckt in einem
„Almanach“ Johann Stöff lers vom Jahre 1499, den die Bibliothek zu Bamberg ver-
wahrt und den sein ursprünglicher Besitzer, Dürers Freund Konrad Heinfogel
( 13. z. 1517), zu persönlichen Aufzeichnungen benutzte. Der Holzschnitt, 94 h >< 88 br.),
stellt dar die Muse „Urania“, „die himmlische Beschützerin der Astronomie“ ). Die
Muse, nackt, mit fliegendem Haar, sitzt vor dunkler, nach oben sich lichtender
Luft auf der reichgestirnten Himmelskugel im Viertelprofil nach rechts und hält
in der über die Brust erhobenen Linken einen Sextant, in der gesenkten Rechten
eine Armillarsphäre. Rechts von ihr, durch einen Wolkensaum von ihr geschieden,
erscheinen zwischen der Erde (unten) als dem zentralen Weltkörper und dem
gestirnten Himmel oben die durch Kreisbogen voneinander getrennten sieben
„Planeten“zeichen: Mond (zunehmend), Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn,
jedes, außer Mond und Sonne, von einem nach links gesetzten Stern begleitet.
Über dem Bilde steht zu lesen: Urania Musa celestis; unter ihm, ebenso von
Heinfogels Hand geschrieben, eine Reihe von zehn Widmungsversen auf den
gleichfalls zum Freundeskreise Dürers gehörenden kaiserlichen Hofgeschichtsschreiber
Johann Stabius mit der Überschrift: Uranie sacrum. Die Verse selbst lauten:
Maxima stellifero resides que Nympha sub arcu
Et regis ad nutum luctancia sidera motus
Contra mu[n]danos | certaque lege choreas
Etheris exerces | spheras diffusa per omnis
Tu portenta poli’ tu sidera carmine monstras
Una sacris semp(er) dum summa es gloria rebus
Dulcibus astrigeros dum mulces cantibus orbes
(1) Inc. typ. Н. IV, ax (L. Hain Repertorium bibliogr., 1826 fl., Nr. 15085).
(2) Die Linien über und neben dem Hach. sind mit roter Tinte gezogen. Ich danke diese Angaben
der Bayer. Staatsbibliothek in München, an die der Stöfflerband der Bamberger Staatsbibliothek zur
Zeit meiner Anfrage ausgeliehen war.
(3) Schottenloher, ebda. 8. 310.
63
Urania potens penetralia noscere mu(njdi
Da diua etherias Stabiulm] describere formas
Da diua archanos fatorulm] pandere cursus.
Weitere Abdrücke des Holzstockes, von dem Schottenloher mit Recht vermutet,
daß Heinfogel ihn besessen haben miisse, sind einstweilen nicht bekannt. Um so
bekannter ist die enge Verbindung, in der Heinfogel mit Dürer und Stabius stand,
aus den beiden berühmten Sternkarten vom Jahre 1515 (Hsch. В. 151, 152), die
Dürer im Auftrage des Stabius nach den Angaben Heinfogels zeichnete und die
sie zusammen dem Kardinal Erzbischof Matthäus Lang von Salzburg widmeten.
— чи ши ͤͤ ü
MISZELLEN.
NICOLAUS BERGNER IN FRANKFURT AM MAIN
Von KARL SIMON
1 der Geschichte der Reramik ist Frankfurt be-
kannt — und auch dieses noch nicht sehr
lange, seit etwa einem Jahrzehnt — durch seine
Fayencefabrik, die in den Jahren 1666—1772 be-
standen und eine vielleicht nicht sehr große Zahl
von Stücken, dafür aber Qualitätsware hervor-
gebracht hat; in der Abgrenzung gegen die Fabri-
kate der benachbarten Hanauer Fabrik ist das
letzte Wort noch nicht gesprochen. — Aus älterer
Zeit wissen wir über die Keramik in Frankfurt
dagegen nur verhältnismäßig wenig; seinerzeit
bat Otto Lauffer festgestellt, was über die Ge-
schichte des Häfnerhandwerks und speziell übe:
die Geschichte des Kachelofens in Frankfurt zu
ermitteln war!). Die eigentlichen Akten beginnen
danach erst im Jahre 1602, wo vier Sachsenhäuser
Häfner sich über das „Pfuschen“, besonders von
Maurern, beklagen. Doch hat es natürlich schon
friber Hafner hier gegeben?). Aus späterer Zeit
möge ein Zufallsfund bier folgen; in den Rats-
protokollen von 1583—84 (Stadtarchiv, fol. go),
wird von Peter Mangolt von Mülhausen, Nicolaus
Beschir von Weimar, Veltin Reichardt von Hain-
statt, alle drei Hafnergesellen, berichtet, daß man
sie wegen einer nächtlichen Schlägerei „fänglich
bat einziehen lassen“.
Aus dieser selben Zelt stammt nun auch ein
Mann, der ale Keramiker und Bildhauer die For-
schung bereits mehrfach beschäftigt hat: Nicolaus
Bergner. Das Werk, das seinen Namen vor allem
lebendig erhalten hat, ist das gewaltige Alabaster-
denkmal für den 1595 in der Verbannung ge-
storbenen Herzog Jobann Friedrich den Mittleren
in der Moritskirche zu Coburg. Ein 12 m hoher
Aufbau in fünf Geschossen mit reichem figür-
lichem Beiwerk, an dem die kluge Anpassung an
den Raum, das stark entwickelte Gefühl für Mo-
numentalität, der Reichtum der Phantasie und die
sichere Charakteristik in den Köpfen, vor allem
(1) Otto Lauffer: Der Kachelofen in Frankfurt. Festschr.
2. Feier des asjahr. Bestehens des Städt. Hist. Museums.
Frankfurt a. M. 1903, S. 103f.
(2) Urkundlich kommen Häfner im 14. Jahrhundert erst gans
vereinzelt vor: von 1484 an erscheinen in den Beedebüchern
(Steuerlisten) ein bis zwei. „Sicher hatte Frankfurt im
Mittelalter keine entwickelte Geschirrtöpferei“. (Bücher:
Die Berufe der Stadt Frankfurt im Mittelalter. Leipsig 1914.
Abh. der Phil.-Hist. Klasse der k. Sächs. Ges, der Wissen-
schaften. XXX. Bd., Nr. III, s. v. hafner).
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, т.
in den Köpfen der fiirstlichen Familie, hervor-
gehoben wird’). In Coburg ist Bergner mindestens
von 1596 ab bis 1605 tätig gewesen und seine
Beteiligung auch an dem 1597 begonnenen Re-
gierungsgebäude ist urkundlich bezeugt. Vorher,
1587, ist der aus Pößneck in Thüringen gebürtige
Meister in Rudolstadt nachzuweisen. Noch früher
dagegen begegnet er in Westdeutschland. Zum
ersten Male erfahren wir von ihm aus einem
Briefe (wie die folgenden im Staatsarchiv zu Mar-
burg) des Landgrafen Wilbelm IV. von Hessen-
Cassel an seinen Bruder Georg von Hessen-Darm-
stadt vom 15. Februar 1582. Er habe durch seinen
Bruder von einem Meister erfahren, der „in Wachs
abzuconterfeten sehr gutt sein vnnd sich zu Frank-
furtt halten solte ).“
Er wolle nun wissen, ob „er auch gleichfalls in
Gibs arbeiten vnd die Conterfett so gross als das
Leben machen könne“; erwünscht sei eine Probe-
sendung von einem ,,Conterfett oder Bildt, so er
in Wachs geferttiget“; er wolle ibn dann nämlich
zu sich kommen lassen und ihm Arbeit geben.
Die Antwort vom 22. Februar enthält die Angabe,
daß sich Bergner jetzt in Darmstadt aufhalte;
augenblicklich mache er auch einige „Köpffe zu
den Gehörnen“, die der Fürst von seinem Bruder
zum Geschenk erhalten habe. „Weil den berurtter
meister nicht allein in wachs abzuConterfeijen
geubt, sondern auch darneben ein Bildthawer ist
und auch mit der Steinmetzen arbeit umbzugehen
weiß, So haben wir ihnenn bestellet, das er itz-
künfftigen somer uber, neben unserm Baumeister,
vif unsere Gebew die vffsicht haben . . olle.“
Er solle aber versuchen, wunschgemäß etwas
in Gips anzufertigen. Am 27. Februar bittet Land-
graf Wilhelm dann, Bergner möge das Conterfet
seines Bruders „so gross als das Leben, doch
brustbildtsweiss verferttigen vnd fein mit seinen
farben wie ers sonst ins wachss zu arbeittenn
pflegt, außstreichen lassenn . . . Außerdem sei
Nachricht erwünscht, „wenn wir ihm die Conterfet
gemahlet zuschicken, ob er sie daraus auch machen
konnte.“
Georg I. erwidert darauf am 9. Mirz, der Bild-
(т) K. Koetschau in Thieme-Beckers Lexikon II, 8. 412.
(a) C. v. Drach: Ein deutscher Porträttöpfer des 16. Jahr-
hunderts. Kunstgewerbeblatt IV, 8. 23.
65
hauer habe schon die Büste begonnen und werde
von ihm gern beurlaubt werden, daß er in Cassel
für den Landgrafen Wilhelm arbeiten könne.
Außerdem weist er aber noch auf folgendes hin:
„Es kan ermelter meister Niclas solche vnd der-
gleichen Bildtnus aus thon, viel besser, als aus
Gibs machen упа nehmen die aus thon gemachten
Bildtnüsse vnd andere dinge, welche er dan brennen
lest, das sie gantz hartte werden, die farbe viel
besser an sich als die, so da von Gips gemacht
sein, vnd ob er auch wol in Gips allerleij possiren
vnd machen kan, So kan man doch, denselben
die Farben nicht sowoll geben als denen, so aus
thon gemacht werden,‘
Erhalten hat sich, wie es scheint, von diesen
Arbeiten fiir den Landgrafen nichts, wenn sie
überhaupt, was wir nicht wissen, zustande ge-
kommen sind. Wir wissen nur, daß im Casseler
Museum lebensgroße Wachsbilder hessischer Für-
sten sich befanden, die 1825 eingeschmolzen wurden.
Noch heute sind dagegen Modelle und Kopien
von Büsten hessischer Landgrafen und Land-
grifinnen vorhanden, deren Originale 1811 bei
einem Brande zugrunde gingen. Ein Rückschluß
auf den Kunstwert der Originale kann aus ihnen
aber nicht gemacht werden i).
Dagegen liegt es nahe, in ihm den Verfertiger
des in der Stadtkirche zu Darmstadt an der Süd-
seite des Chors angebrachten Denkmals zu sehen
das Gräfin Anna von Waldeck, die Tante der
Landgräfin Magdalene, ihrem zu Darmstadt am
9. November 1579 verstorbenen ältesten Sohn,
Graf Philipp IV. 1583 errichten ließ 2). Es trägt
auf einem Schildchen das (ligierte) Meisterzeichen
NB, das auf Bergner sehr gut passen würde;
1582 war er ja, wie der Briefwechsel ausweist, in
Darmstadt anwesend.
Am 24. März des gleichen Jahres 1582 wird der
Künstler an den Pfalzgrafen in Heidelberg „ge.
(1) v. Drach, a. a. O.
(2) Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, IV, 26.
66
lieben“, ohne daß wir erfahren, zu welchem Zwecke.
Erst 1587 hören wir wieder von ihm, als Land-
graf Georg das Grabmal seiner Gemahlin Magdalena
(t 26. Februar 1587) durch Bergner, der sich, wie er-
wähnt, in Rudolstadt auf hielt, machen lassen wollte.
Auf die deswegen an ihn ergehende Anfrage
(37. April 1587) antwortet Bergner am 6. Mai,
er könne vor einem Monat „nicht darvohn kommen“,
schickt aber inzwischen, „die weyli wihr denn nuhn
so gutten stain bey unss haben“, zwei Alabaster-
proben aus seinem Heimatl ande „Diringen“!),
Verfertigt ist das Denkmal dann aber schließlich
nicht von ihm, sondern von Peter Osten aus Mainz,
Wo er vorher ansässig war, wußte man bisher
nicht; schon Schenk zu Schweinsberg sprach die
Vermutung aus, sein Vater habe in der Nähe von
Darmstadt, vermutlich in Frankfurt, gewohnt, wo
er selbst nach dem ersten Briefe des Landgrafen
gesucht werden mußte“). Auch O. Lauffer, der
der Sache nachgegangen ist’), hat nichts Näheres
darüber feststellen können. Tatsächlich läßt sich
aber der urkundliche Beweis dafür erbringen, daß
zwar nicht Bergners Vater, wohl aber er selbst
in Frankfurt ansässig und Frankfurter Bürger
gewesen ist. Im Frankfurter Bürgerbuch (Stadt-
archiv) findet sich in Bd. VI, fol. 311 die fol-
gende Eintragung: Niclauss Bergner, Bildthawer,
von Bissneckh, duxit filiam civis, juravit den
8. Aprilis 1581 dt. 146. Das ist die früheste ur-
kundliche Nachricht über ihn, die wir besitzen.
Sonstige Spuren seiner Tätigkeit in dieser Gegend
sind bisher nicht nachgewiesen, lassen sich aber
gewiß mit der Zeit noch finden. Lange schein
sein Aufenthalt in der Mainstadt freilich nicht
gedauert zu haben, wenn Wir ihn, wie erwähnt,
1587 schon in Rudolstadt finden.
(1) Georg der Fromme, Landgraf su Hessen. Denkechrift ,.
von dem Histor. Verein f. d. Großhersogtum Hessen. Darm-
stadt 1896, S. 63. Vgl. Н. Wagner in den Blättern f. Archi-
tektur u. Kunsthandwerk І, S. 13. Hessische Quartalblätter
1889, S. 21.
(2) Kunstgewerbebl., a. а. O., 8. as.
(3) Lauffer, a. a, O., 8. 133.
A. E. BRINCKMANN, Die Baukunst
des 17. und 18. Jahrhunderts in den
romanischen Ländern. Akademische
Verlagsgesellschaft Athenaion, Berlin.
(Handbuch der Kunstwissenschaft.)
Eine gewissenhafte Besprechung der Arbeit vor-
nehmen, bebe eigentlich wieder ein Buch, zu-
mindest einen umfangreichen Aufsatz über das
gleiche Thema schreiben — so umfassend der
Stoff, so verwickelt und verschränkt die an-
geschnittenen Probleme —, so vom besonderen
ins allgemeine weisend die Art der Betrachtung.
Trotz Gurlitt und der wesentlich formalistischen
Arbeiten Wölff lins, Schmarsows und Eschers —
(Riegis Barockbaukunst in Rom kann in diesem
Zusammenhang nicht genannt werden) — be-
saßen wir noch keine zusammenfassende Ge-
schichte der Barockbaukunst — zudem ist seit
dem Erscheinen von Qurlitts bahnbrechendem
Werk gerade auf diesem Gebiet eine Unzahl in
einen größeren Zusammenhang noch nicht ein-
geordneter Spezialforschungen entstanden. So war
das Problem: Darstellung der Zeit im Rahmen
eines Handbuchs schon rein stofflich ein un-
geheures, wenn annähernde Orientierung erreicht
werden sollte. Hinzu tritt entscheidend ein zweites:
die Aufstellung eigener, neuer ästhetischer Kate-
gorien, die einerseits erst an den gegebenen histo-
risch eingegrenzten Beispielen erklärt und geklärt
werden mußten, andererseits aber gerade zur Er-
klärung und Deutung des Zusammenhanges, der
Entwicklung, der Parallelitäten und Divergenzen
dienen sollten.
So kann es sich bei einer Besprechung nun
auch keineswegs darum handeln zu der Analyse
des einen oder anderen Bauwerkes oder irgend-
einer Künstlerpersönlichkeit die eigene zastim-
mende oder abweisende Meinung zu notifizieren,
— sondern lediglich um prinzipielle Stellung-
nahme, Denn damit, daß jemand etwa über Michel-
angelo ale Architekt oder die Erbauungsdaten
einzeiner Paläste und Kirchen zu anderen Resul-
taten gekommen ist, wird nichts Wesentliches zum
Thema ausgesagt.
Zum Stofflichen sei bemerkt, daß von den bei-
den vollkommen symmetrisch behandelten Teilen:
Italien und Frankreich — der Frankreich behan-
deinde wesentlich mehr gibt — wahrscheinlich
aus der Überlegung heraus, daß hier für die deutsche
Kunstgeschichte schon das Heranbringen des Ma-
terials wissenschaftliches Verdienst bedeutet, wäh-
rend über die italienischen Bauten schon hin-
reichendes Material vorliegt. So benützt Brinck-
mann denn auch die italienischen „Gegebenheiten“
um an ihnen seine Auffassung vom Wesen der
Barockbaukunst überhaupt zu erläutern. Er arbeitet
weder formalistisch noch psychologisch, sondern
er geht von der Vorstellungskraft des pro-
duktiven, schaffenden Architekten aus. Hieraus
folgern seine Kategorien und ihre Gegenüber-
stellungen — vor allem des Räumlich-Körper-
lichen und des Plastisch-Körperlichen. Ge-
rade wer, wie der Referent, mit Brinckmann in
der sauberen begrifflichen und vorstellungsmäßigen
Herausarbeitung dieser beiden Urelemente des
Architektonischen die einzige Möglichkeit zur
ästhetischen Durchdringung der Architekturge-
schichte sieht (vgl. Zucker, Kontinuität und Dis-
kontinultät, Zeitschrift f. Ästhetik und Kunstwiss.,
Bd. XV, Heft 3), darf ein Bedenken gegenüber
Brinckmann ehrlich aussprechen. So fruchtbar
auch für uns, als Betrachtende, diese Anschauungs-
form ist, — was gibt Brinckmann das Recht, zu
behaupten, daß auch die produktiven Archi-
tekten des 17.und 18. Jahrhunderts von ihr aus-
gingen? Ist nicht auch hier vielleicht ein Psycho-
logismus latent, wenn auch ein historisch
orientierter und natürlich nicht von modernen
psychologischen Voraussetzungen ausgehender? —
Ist es überhaupt irgendwie denkbar, daß wir —
auch mit der genialsten Einfühlungsgabe — aus
dem vollendeten Kunstwerk oder einer Reihe
solcher rekonstruierend zwei Jahrhunderte später
irgend etwas über die Vorstellungsform des
Schaffenden aussagen? Wir können nur die all-
mähliche Vermehrung, Bereicherung oder Ver-
änderung des Vorstellungsinhaltes konsta-
tieren, im Verfolg der historischen Entwicklung
von Bau zu Bau, Körper zu Körper, Raum zu
Raum, also nur eine Relation. Ein Absolutes
über die Vorstellungsweise vergangener Genera-
tionen oder Individuen zu bebaupten, ist nach
Ansicht des Referenten nicht möglich — nicht
einmal die größere oder geringere Wahrschein-
lichkeit einer Auffassungsform kann festgestellt
werden. Denn es fehlt ja jeder außerhalb des
Zeitlichen liegende Vergleichsmaßstab! Immer
wieder sind wir es, mit unserem Vorstellungs-
vermögen, die zu urteilen haben. Und die Trak-
tate und Kiinstlerbriefe, die Brinckmann so oft
zur Stütze seiner Anschauungen heranzieht, müssen
— so eindeutig sie auch über die gestalterische
Absicht in besonderen Fällen zu sprechen schei-
67
nen — doch ımmer erst in unsere Sprache (um
nicht zu sagen Vorstellungsform) übersetzt werden.
Von diesem einen generellen Einwand, derÜber-
schätzung der Erkenntnismöglichkeiten des ana-
lysierenden Historikere abgesehen, kann man
Brinckmann in fast all seinen formalen Analysen
des Stilwechsels, der Übergänge und Entwick-
lungen zustimmen, — auch ohne noch einmal
besonders zu betonen, daß er auf dem Gebiet der
französischen Baukunst zum mindesten all seinen
deutschen Beurteilern wohl schon einfach an Kennt-
nis und positivem Wissen überlegen sein dürfte.
Bei der Behandlung des italienischen Barock
wird mit Recht der Hauptakzent auf das neue
Verhältnis der einzelnen Räume und Raumgruppen
zueinander gelegt: Betonung eines Flauptraumes,
Unterordnung der anderen unter diesen, ähnliche
Beziehungen in der Behandlung der abschließen-
den Flächen (Fassaden und Innendekoration). Der
gesamte Baukörper wird aufgefaßt als eine ein-
heitliche plastisch-räumliche Erscheinung, doch
ändern und entwickeln sich die Beziehungen der
räumlichen und plastischen Einselelemente zu-
einander. (Die Anweisung zu einer einfühlen-
den Betrachtung, wie auf S.35, scheint mir pä-
dagogisch die Probleme eher zu verunklaren. Viel
besser der an anderen Stellen oft wiederholte Hin-
weis auf die einzelnen allmählich neu auftreten-
den Faktoren architektonisch - räumlicher und
pisstischer Vorstellungskraft) Glänzend die Ana-
lyse spätbarocker römischer Bauten, die Steige-
rung der Intensität räumlicher Verknüpfung von
Boromini an,
Hier sind die Raumanalysen meisterhaft und
die Auffassung Brinckmanns von der Durch-
dringung plastischer und räumlicher Körper klärt
und erklärt etwa die Bauten Guarinis in durchaus
„vorstellungsökonomischer“ Weise. Besonders der
sich so ungebeuer schwer erschließende Innen-
raum von 8. Lorenzo in Turin ist hier zum ersten-
mal vollkommen deutlich und einleuchtend ana-
lysiert — gegenüber der Phrase vom ,,Malerischen
des Barock“, mit der die meisten mir bekannten
Beschreibungen diesen nicht einfachen Bau-Pro-
totyp von größter Klarheit bei bewegtester Vorstel-
lungskraft umhüllen. Gegenüber diesen vollendeten
Klarstellungen hochbarocker Formungen wird ita-
lienischer Klassizismus vielleicht allzusehr ledig-
lich als Reaktionserscheinung aufgefaßt und die
ständige unterirdische Parallelströmung, die ja
schon immer vorhanden, in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts nur nach außen hin deut-
licher das Übergewicht gewann, nicht genügend
stark betont.
68
Wundervoll herausgearbeitet dann wieder der
Unterschied zwischen französischem und italie-
nischem „Vorstellungs vermögen“ — zumindest für
die Architekturästhetik eine präzisere Bezeichnung
ale das zu Tode gehetzte „Kunstwollen“. Mit
Recht wird auch die Äußerlichkeit der Übernahme
italienischer Dekorationselemente betont — der
eigentliche Barock beginnt in Frankreich erst viel
später und bleibt stets rationalistischer als in Italien.
Sehr wesentlich die Probleme des Zusammen-
klanges zwischen Innendekoration und großer
Architekturform, deren „Stile“ keineswegs parallel
laufen, — sich erst im Beginn des ı8. Jahrhun-
derts begegnen, um im Rokoko sich wieder zu
spalten und erst im Neoklassizismus wieder zu
vereinigen. Auf die Analyse dieser Entwicklung
undauchaufdie Kritik der in den verschiedenen zeit-
genössischen Traktaten theoretisch festgelegten Pro-
portionslehre, deren Wichtigkeit nicht leicht über-
schätzt werden kann, einzugehen, ist hier leider
nicht der Ort. Es würde sich die höchst inter-
essante Geschichte eines „Klassizismus wider
Willen“ ergeben, — steter Kampf des Raisonne-
ments gegen das von Rom her mächtig suggerierte
Formgefühl.
Aber, wie schon im Anfang gesagt, alle diese
Einzelheiten treten vor dem riesenhaften Gesamt-
gemälde der Zeit zurück, das Brinckmann in der
Baugeschichte und gleichzeitig in der hier nur
zu erwihnenden Geschichte der Barockskulptur
gibt: Abbild der gewaltigen formenden Kräfte
jener beiden Jahrhunderte, auf denen — nach
dem unfruchtbaren Eklektizismus des ı9. Jahr-
hunderts — nun doch einmal zum mindesten in
der Architektur alles beruht, was heute noch aus
der Tradition der Vergangenheit heraus weiter-
baut. Paul Zucker.
CURT GLASER: Lucas Cranach.
Mit 117 Abb. Leipzig, Inselverlag 1921.
Sehr wohltuend ist die Wärme und Gleichmäßig-
keit des Vortrages und des Interesses, der ruhig
überzeugende Gang der Darstellung und die Vor-
sicht, mit der die schwierigen Probleme der For-
schang in diesem Buche angefaßt werden; mit
einem Worte, es ist sicher die beste Darstellung,
die man uns vom Wesen und der Problematik
der Cranachschen Kunst heute geben kann. Wenn
eine Kiinstlermonographie sich angenehm und
flüssig liest und sachlich überzeugt, so ist eigent-
lich das Beste darüber gesagt, was sich sagen
läßt, denn alles andere folgt aus diesen Tugenden
von selbst.
Der Inselverlag war wohl beraten, als er seine
Serie „Deutsche Meister“ mit diesem Thema und
diesem Autor eröffnete. Beide kommen vortrefflich
zusammen, und so entsteht ein gutes Buch: das
unbezweifelbare Deutschtum Cranachs ist so um-
hegt vom Dorngestrüpp stachliger Fragen, daß die
ganze Besonnenheit und gelassene Erfahrung eines
Autors wie Curt Glaser dazu gehörte, um diese
Fragen in die Kunstform der Monographie ein-
zubeziehen; und gerade so entstand die Möglich-
keit einer höchst abwechselnden, vielseltigen, ја
spannenden Schilderung eines Heldenlebens auf
dem Felde der Malerei.
Dazu taugt schon der Meister selber in be.
sonderem Maße. Cranach ist im Laufe der Jahr-
hunderte von verschiedenen Seiten aus bewertet
worden, an seiner Popularität und Deutschtümlich-
keit ist niemals gerüttelt worden. Im gewissen
Sinne hat sich der Kreis der Bewunderung um
ihn geschiossen, indem die gegenwärtige Schätzung
wieder zu der Liebhaberei an seinen Spätwerken
zurückzukehren scheint; während unsere vorher-
gehende Generation seine Jugendwerke mit dem
Eifer der Gesinnungsverwandtschaft entdeckte und
emporhob: Dinge, deren merkwürdiges Pathos und
Intensittät deutschen Empfindens uns nie wieder
verloren gehen können und heute wohl in gleichem
Maße unsre Liebe verdienen wie das köstliche
Rokoko seiner späteren Aktfigürchen.
Glaser hat darum sehr recht gehandelt, wenn
er dem früheren und dem Wittenberger Cranach
gleiche Liebe entgegenbringt. Es gelingt ihm
dabei sogar, soweit das überhaupt möglich ist,
den tiefen Riß in dieser Entwicklung zwischen
1504 und 1506 psychologisch und stilkritisch ver-
ständlich zu machen. Überzeugend ist die Her-
leitung von Cranachs Frühkunst aus Anregungen
der Münchner (Pollak, Mäleskircher) und der
Donauschule, als deren Mitbegründer mehr denn
Schüler er durch sein frühes und selbständiges
Auftreten gelten muß. Der Umschwung in Witten-
berg kann dann sehr wohl auf Rechnung italienischen
Einflusses gesetzt werden (Dresdner Katharinenaltar
von 1506); bedeutet doch gerade diese Zeit auch
für Dürer und andere Deutsche den ersten Höhe-
punkt der Renaissancewelle: und Cranach, der so
souverän in seiner Zeit dasteht, gebt auch hier
als einer der Ersten mit Entschiedenheit vor und
bricht bewußt mit der bsrocken Raumbewegtheit
seiner Frühwerke, vielleicht nicht ohne Einfluß der
sächsischen Humanisten.
Der größte Teil des Buches gehört naturgemäß
der Wittenberger Zeit, die mit glücklicher Hand
in ihrer Entwicklung klargelegt wird. Das an-
scheinend ganz unlösbare Problem des „Pseudo-
Grünewald“ wird als solches mit Offenheit zu-
gestanden und durchsichtig geschildert; die Wahr-
scheinlichkeit, daß es sich um , Werkstattarbeiten“
handelt, ist durchaus einleuchtend, die Flechsigsche
These von Übernahme der Werkstatt durch den
älteren Sohn Hans 1522 wird mit Recht abgelehnt
und die Betätigung des alten Cranach bis zu seinem
Tode unwiderleglich bewiesen. Kurz, man erhält
ein Bild dieser vielseitigen und rätselvollen Tätig-
keit von erfreulicher Klarheit; und wenn spätere
Forschung Einzelzüge zu berichtigen hätte, so
würde das der Einheitlichkeit der Glaserschen
Darstellung keinen Abbruch tun können.
Paul F. Schmidt.
GEORG DEHIO, Geschichte der deut-
schen Kunst. Zweiter Band. Text-
band und Tafelband. Berlin u. Leipzig
1921. Vereinigung wissenschaftl. Verleger.
Der zweite Band von Dehios Geschichte der
deutschen Kunst umfaßt die Zeit von 1250—1500,
mit andern Worten also die Zeit des Vordringens
der Gotik in der zweiten Hälfte des dreizehnten
Jahrhunderts, ihre Herrschaft in ausgebildeter Form
im vierzehnten Jahrhundert und ihre Umsetzung
in einen anderen Stilcharakter im fünfzehnten
Jahrhundert. Dehio, der nach seinen eigenen
Worten eine Geschichte des deutschen Volkes
im Spiegel seiner Kunst schreiben will, kommt
nun in dem Buch, das sich mit dem vierzehnten
Jahrhundert beschäftigt, zu Werturteilen, die sich
zunächst restlos aus der synthetischen Betrach-
tung mit der politischen Geschichte zu erklären
scheinen. Denn die Darstellung ist von dem
Standpunkt aus gegeben, daß notwendig mit dem
Niedergang des Kaisertums die deutsche Kunst
auch gesunken sei, „der romanische und früh-
gotische Stil waren die Stile der deutschen Kaiser-
zeit gewesen, der hochgotische hatte zum Hinter-
grund den obsiegenden Partikularismus“. Aber
bei der Einschätzung des vierzehnten Jahrhunderts
scheint doch noch ein anderer tieferer Grund mit-
zusprechen als der, daß hier das Problem der
deutschen Kunst in seiner Verbindung mit der
gesamten Geschichtsentwicklung gesehen ist. Die
Generation von Historikern, die unter dem über-
ragenden Eindruck Jakob Burkhardts aufwuchs,
hat die Gotik des vierzehnten Jahrhunderts als
die blutlose Verknöcherung angesehen, die von
der Renaissance überwunden werden konnte und
überwunden werden mußte. Diese Auffassung
findet sich nun auch bei Dehio noch nicht ganz
69
verflüchtigt. Sieht man die großen zusammen-
fassenden Darstellungen daraufhin durch, so kommt
einzig in Scbhnaases Geschichte der bildenden
Künste, Band 6 (1874) eine Anschauung zu Worte,
die ausdrücklich gegen die Mißachtung des vier-
zehnten Jahrhunderts Front macht. Nach einer
Darstellung der Aufnahme und Vereinfachung des
gotischen Systems in Deutschland, die seine Aus-
führungen in der Kirchlichen Baukunst des Abend-
landes kurz und anschaulich zusammenfaßt, gibt
Dehio eine Übersicht der Baudenkmäler. Aber
gerade in dieser Übersicht zeigt sich nun, daß
zwar die Feststellungen und Errungenschaften,
mit denen Dehio in der Kirchlichen Baukunst des
Abendlandes die Wissenschaft von der Gotik des
vierzehnten Jahrhunderts auf eine neue Stufe hob,
im wesentlichen Geltung behalten haben, daß aber
der Gesichtswinkel, unter dem er die Kunst dieser
Zeit betrachtet, sich völlig verschoben hat, daß
die Auffassung also, mit der doch diese ganze
Darstellung durchtränkt ist, nicht mehr die unsrige
sein kann. Für Dehio ist das vierzebnte Jahr-
hundert nur das der Erstarrung des gotischen
Stils, eine Zeit, in der die frischen Triebe еіп.
trocknen, in der die lebendigen Quellen schöpfe-
rischer Kraft versiechen und daher die künstle-
rische Leistung mehr errechnet ale erfühlt wird,
und in zwar reiner, aber akademisch gewordener
Formgebung in die Erscheinung tritt. Ich ver-
mag diese Auffassung nicht mehr zu teilen, sehe
vielmehr in der Gotik des vierzehnten Jahrhun-
derts erst die völlige Reife des Stils, während
die Gotik des dreizehnten Jahrhunderts noch immer
mit Resten romanischer Formanschauung versetzt
war, so daß ihre „Entwicklung“ eigentlich in der
Eliminierung dieser stilfremden Elemente bestand,
Die Reifheit des Stils ist doch nicht gleichzusetzen
mit Erstarrung und dort, wo Dehio unter dem
Eindruck einzelner Bauwerke steht, ist sein Urteil
auch von solcher Auffassung ungetrübt geblieben.
Dehio hat die Einheit in der Gesamterscheinung
der Kunst des vierzehnten Jahrhunderts klar ge-
sehen, aber die gleichartige geistige Prägung bleibt
ihm etwas unlebendig Starres, die Reinheit in der
Durchbildung der gotischen Formenwelt mit der
Vorherrschaft der Architektur scheint ihm mehr
Fessel als strafies Band. „Hinter der großen
Form stand nicht mehr ein gleichgroßes Gefühl.“
Die Baukunst der Bettelorden, heißt es, komme
nicht über eine mittlere bürgerliche Stimmung
hinaus. Aber wie soll eine solche Anschauung,
die in dieser Zeit nur kleinbürgerliche Trocken-
heit sieht, etwa einem Denkmal wie der Prediger-
kirche in Erfurt gegenüber bestehen, die doch,
70
rein durch die Proportionen edelste Gotik, von
einem Geist der Unsinnlichkeit erfüllt ist, der
nicht im geringsten ins Weltliche, Behagliche ab-
weicht?
Alles, was Dehio über die Glasmalerei in ihrer
Wechselwirkung mit der Architektur, über die
Bauplastik zwischen 1250 und 1400 in ihrem dy-
namischen Zusammenhang mit der Architektur
schreibt, ist von jener meisterlichen Art, die far-
bige Fülle mit wenigen Strichen zu geben weiß.
Gewiß ist nun auch im einzelnen in der Geschichte
der Plastik genug an neuen Resultaten vorhanden,
die erwähnenswert wären. Nicht umsonst sah
Dehio ein balbes Leben lang das Straßburger
Münster ragen. Er erkannte die Verteilung der
seitlichen Portale der Westfront an zwei Meister,
die Weiterwirkung des einen dann in Freiburg,
womit der gordische Knoten des so wirren Pro-
blems der Vorhallenplastik durchschlagen wird.
Von Bedeutsamkeit ist auch der Hinweis auf die
Zwischenstufe der Mainzer Madonna für das
Magdeburger Portal der klugen und törichten
Jungfrauen. Aber es muß doch nun auch das
Negative erwähnt werden. Die Behandlung der
Glasmalerei ist kiimmerlich. Außer von Jahr-
hundertkontrasten ist von Stil nicht die Rede und
auch nicht von der bedeutenden Einwirkung, die
Mitteldeutschland damals von Süddeutschland er-
fuhr (z. В. Nürnberg-Erfurt). Achtet man nun
gar auf Datierungsfragen, so ist eigentlich alles
strittig, was Dehio im vierzehnten Jahrhundert
angibt. Um ein Beispiel zu nennen: den Triangel
in Erfurt setzt Dehio mit 1350 sicher um zwei
Jahrzehnte zu spät. Aber das sind schließlich
Dinge sekundärer Ordnung, da die Forschung sich
dem vierzehnten Jahrhundert noch nicht im wün-
schenswerten Maße zugewandt hat, obwohl für
die Plastik des Jahrhunderts Pinder in seiner
Würzburger Plastik schon 1911 die Richtungs-
pfähle eingesetzt hat. Wichtiger ist, daß die
Anschauung von der Überlegenheit des anthro-
pozentrischen Idealismus der Renaissance Dehio
doch noch so im Blute steckt, daß er nun auch
bei der Betrachtung der Statuen im Kölner Dom-
chor in folgende Charakteristik ausgleitet: „Als
Einzelmotive betrachtet sind die stereotypen
Biegungen dieser binsenschlanken, muskel- und
knochenlosen Halbmänner unerträglich; einen Sinn
erhalten sie erst aus dem Zusammenklang mit den
Schwingungen der Architekturglieder, der Bogen
und Rippen.“ Solche vom Renaissancestandpunkt
dixtierte Formulierung ist heute Wissenschaft von
ehemals, nachdem Dvofak 1918 gezeigt hat, daß
der Sinn dieser Figuren durchaus nicht nur in
dem Zusammenhang mit der Architektur besteht,
sondern aus dem spiritualistischen Idealismus der.
Zeit seine Erklärung findet.
Dehio versteht es vorzüglich, Abstand von den
Dingen zu wahren, und so gelingt ihm die Heraus-
arbeitung der großen führenden Linien, In der
Plastik sieht er die Welle von Westen nach Osten,
der eine andere im Gegensinne von Böhmen her
antwortet. Befremdlicherweise will Dehio dann
aber für die Malerei ein Gleiches nicht gelten
lassen. Meister Bertram sei auch anders zu er-
klären als aus dem Zusammenhang mit der böh-
mischen Kunst. Aber hier scheint mir nun gerade
ein mächtiger Wellenring von Böhmen auszu-
schwingen: Zu Bertram in Hamburg muß man
etwa die Tafeln im Brandenburger Dom und das,
was Ehrenberg fälschlich als Einfluß von Hamburg
her in der Tafelmalerei Preußens feststellte, zu-
sammennehmen, um die weiten Ausmaße zu haben,
in denen diese Stilphase verlief,
Mit der Darstellung des fünfzehnten Jahrhun-
derts, das der zweite Teil des vorliegenden Bandes
behandelt, wendet sich das Blatt. Man sieht, wie
in der Gesamtanordnung auch aus schriftstelleri-
schen Gründen Unterschiede gemacht wurden, wie
im vierzchnten Jahrhundert gedämpft und zurück-
gehalten wurde, um im fünfzehnten Jahrhundert
mit kräftigeren Farben zu wirken. So ist Dehios
Darstellung dieser beiden malerischen Jahrhunderte
selber wie einer der Fligelaitire, die nun die
wesentlichste der neu auftretenden Kunstschöp-
fungen sind: eingangs still und monochrom, um
erst bei der Wandlung in voller Farbigkeit zu
leuchten. Dehio erkennt das herrschende Gesetz
in der Kunst dieser Zeit: „Auch das fünfzehnte
Jahrhundert füblte es sehr gut, daß alle in ein
und demselben Architekturraum befindlichen Kunst-
werke miteinander in Wechselwirkung stehen,
nur faßte es diese Beziehungen nicht mehr als
architektonischen, sondern als malerischen Rhyth-
mus, und zugleich betrachtete es jedes einzelne
derselben als etwas, das auch für sith Bedeutung
hat.“ Damit ist in der Tat das Entscheidende ge-
sagt. Das Schwergewicht verschiebt sich dem-
nach zu den darstellenden Künsten, die in diesem
Buch breit und überwiegend nun auch nach Land-
schaften einzeln behandelt werden. Ein neuer
Geist der Weltbejahung, eine Durchdringung der
Natur mit menschlichem Lebensgefühl führt eine
neue Kulturblüte herauf. Die universelle Einheit
des gotischen Stils enthält nicht mehr genug
Ausdruckskraft, um den frischen Antrieben natio-
nalen Sonderwillens zu genügen. Dehio war einer
der ersten, der erkannte, daß auch für den Norden
um 1400 dis Neuzeit beginnt, und er verfocht die
Anschauung, daß hier nicht von Renaissance im
Sinne der italienischen Stilwandlung gesprochen
werden könne. Keine Verbindung mit der Antike
tritt ein. Das neue Verhältnis zur Natur formt
sich vielmehr seinen Ausdruck in einer Fortbil-
dung und Umbildung des gotischen Apparates.
Vortrefflich ist Dehios Schilderung der Kultur-
bedingungen, die für die neue Kunst des begin-
nenden fünfzehnten Jahrhunderts in Deutschland
bestanden gegenüber den Niederlanden, und der
Nachdruck, mit dem Dehio auf die Eigenwüchsig-
keit dieser Kunst hinweist. In der Zeichnung
dieser spezifisch bürgerlichen Kultur sind Schwarz
und Weiß wohl abgewogen. In allem, was Dehio
über die Baukunst des fünfzehnten Jahrhunderts
ausführt, stimmt er vollkommen mit der Darstel-
lung in meiner „Deutschen Sondergotik“ überein,
wobei er mit Recht betont, daß in diesem Stil
die deutsche Ur- und Grundstimmung durohschlägt.
Plastik und Malerei des fünfzehnten Jahrhun-
derts bieten Stoffmassen, die schier uferlos echwellen.
Dehio hat sie energisch zusammengerissen und
doch füllt ihre Darstellung fast ein Drittel des
ganzen Buches, Über die Hauptgliederungen dieser
reichen Landschaft gibt Dehio knappe, klare Aus-
kunft, und ab und zu werden in einem stilistischen
Wetterleuchten sonst verdeckte Zusammenhänge
jählings erhellt. Es scheint mir unbillig, hier im
einzelnen zu rechten; dem einen mag dies, dem
anderen jenes noch fehlen zur Vervollständigung
des Bildes dieser Zeit. Was ich aber vermisse,
ist die Aufdeckung der stilistischen Bezüge zwi-
schen Baukunst und naturnachahmenden Künsten,
Es fehlen die begriff lichen Formulierungen, die
erkennen lassen, wie alle Form einer einheit-
lichen stilistischen Gesamtanschauung entstammte.
Ja, nicht einmal zeitlich hat Dehio Baukunst und
darstellende Künste bis zu einem Punkte geführt.
Ganz notwendig hätte er doch, um ein einheit-
liches Bild der Gesamtentwicklung zu geben, die
Barockstimmung des beginnenden sechzehnten
Jahrhunderts, die urdeutsche Grundstimmung, die
er bei der Baukunst bis in die Gruppe der ober-
sächsischen Kirchen verfolgt, auch in den Bild-
künsten dartun müssen. So geht das Spiel zu
Ende und Dehio, behält zwei Trümpfe in der
Hand. Veit Stoß wird erwähnt, aber nichts von
Backofen, nichts von Grünewald. Nach einem
matten Kapitel, das Kupferstich und Holzschnitt,
Glasmalerei und Kunstgewerbe allzu kurz abtut,
steigt die Darstellung wieder zu einer bewunde-
rungswürdigen Höhe im 6. Buch, das den Profan-
bau, die Burg und die Stadt mit ihren bürger-
71
lichen Bauten behandelt. Nur auf Grund einer
Lebensarbeit, die wesentlich der Architektur ge-
widmet war, konnten diese Abschnitte so reif und
meisterlich gegeben werden.
Es sind nicht nur ästhetische Vorzüge, die
Dehios Geschichte der deutschen Kunst zu einer
überragenden Erscheinung in der kunstgeschicht-
lichen Literatur der letsten Jahre machen, sondern
auch ethische. Auf das Nachdrücklichste wird
immer wieder der Zusammenhang der deutschen
Kunst als einer Einheit betont, die aus sich selbst
lebens- und entwicklungsfähig war. Stil ist für
Dehio Verkörperung menschlicher Wertungen, und
alle Stilfragen erbalten für ihn erst Bedeutung,
weil ein Wechsel des ethischen Ideals dahinter
sichtbar wird. Es mag in diesem Zusammenhang
unerörtert bleiben, ob das Wesen eines Stils da-
mit erschöpfend klargelegt werden kann, zumal
Dehio in seiner Geschichte der deutschen Kunst
mehr Geschichte des Kunstträgers ale reine For-
mengeschichte gibt und geben will. Für den Wert
des Buches jedenfalls ist das nicht entscheidend.
Wilhelm von Humboldt bemerkt einmal, daß man
alle Bücher in lebendige und tote abteilen könne;
nur jene könnten bilden, diese allein belehren.
Wer Dehios Geschichte der deutschen Kunst ge-
lesen hat, wird nicht zweifeln, daß sie solch ein
lebendiges Buch ist. Kurt Gerstenberg.
KURT PFISTER: Deutsche Gra-
phikerder Gegenwart. Mit23Künstler-
Originalbeiträgen und 8 Reproduktionen.
Leipzig, Klinkhardt & Biermann 1920
(M. 320).
Ein grundsätzlich anderes Unternehmen als das
komprimierte Bändchen Hartlaubs über neuere
Graphik (in der Serie „Tribüne der Kunst und
Zeit"); gewissermaßen die bildliche Ergänzung
dazu in monumentalem Format, in kostbarster
Ausstattung. Der Text von Kurt Pfister will gar
nicht konkurrieren mit einer historisch-sachlichen
Einführung in Art und Entwicklung deutscher
Graphik. Er umschreibt ihr Wesen in schönen
Arabesken und widmet ein paar der besten Künstler
einige freie Seiten voll geistreicher Analyse ihrer
Kunst, nicht einzelner Werke; und man darf es
ihm vielleicht nicht allzu schwer anrechnen, wenn
er nicht gerecht bleibt bei Verteilung der Akzente,
da ihm der elegante und wohlberechnete Rhythmus
seiner Dialektik höher steht als wissenschaftliche
Akribie. Indessen, gesagt muß es werden, daß
man nicht Großmann und Seewaid mehrere Seiten
72
widmen darf, wenn Nolde, Kollwitz, Schmidt-Rott-
luff, Kirchner, Marc nur eben einmal erwähnt,
wenn Segall und Nauen überhaupt nicht genannt
werden; und daß Schäfler, Teutsch, Tappert „wich-
tige Dokumente“ in solchem Zusammenhange dar-
stellen, davon wird uns Pfister nicht überzeugen.
Aber das Buch als Ganzes ist unvergleichlich,
und wenn man zu dem Konto der Abbildungen
kommt, müssen die auch hier möglichen Ein-
wendungen schweigen vor der Tatsache des Ge-
botenen. Es ist ein glänzender Gedanke, ein Werk
über derzeitige Graphik mit Originalen der wesent-
lichen Künstler auszustatten; daß er es unter-
nommen, und die Großzügigkeit, wie er es durch-
geführt hat, muß man dem Verlage Klinkhardt &
Biermann ehrlich danken. Wo es irgend möglich
war, sind die Künstler selber aufgerufen; unmög-
lich war es (wer die intimen Verhältnisse kennt,
wird das von vornherein wissen!) z.B. von Kirch-
ner, Marc, Macke Blätter oder auch nur Abbildungen
zu bekommen; und dewundernswert bleibt, daß von
3ı Beilagen nur 8 Reproduktionen sind, die aus
äußeren Gründen eben nicht durch Originale zu
ersetzen waren. Unter diesen aber, die sich auf
15 Lithos und 8 Holzschnitte verteilen, und die
lauter erstmalige und damit erst im Handel er-
scheinende Originale bedeuten, findet sich eine
so große Anzahl bedeutender Schöpfungen, daß
das Buch dadurch auch in der gewöhnlichen Aus-
gabe schon einen Leckerbissen für Bibliophile
darstellt. Will man einige als besonders gediegene
herausbeben, so seien es die Lichos von Käthe
Koliwitz, Beckmann, Gaul, Klee, G. Groß, die
Holzschnitte von Campendonk, Heckel, Schmidt-
Rottluff, Felix Müller und Feininger. Der Vorzugs-
ausgabe ist eine signierte Radierung von Beckmann
beigegeben; einige der Werke sind auch als signierte
Einzelblätter gesondert zu beziehen. Es verdient
bervorgehoben zu werden, und ist angesichts so
vieler wahlloser graphischer Mappenpublikationen
besonders rühmlich, daß die Auswahl der 31 Künst-
ler — mit wenigen z. T. schon erwähnten Aus-
nahmen — wirklich die Hervorragendsten und die
Führer der heutigen Graphik in Deutschland trifft
und somit ein wahrheitsgetreues Bild unsrer Pro-
duktion in Originalen darstellt,
Auch die sonstige Ausstattung des Buches ist
gut und solide; vielleicht hätte ein Freund schöner
Graphik nur den Wunsch auszusprechen, es möchte
nichts auf so starken Karton abgezogen werden,
wie es bei den meisten Blättern der Fall ist.
Paul F. Schmidt.
BRIEFE JAKOB BURCKHARDTS an
Gottfried (undJohanna)Kinkel. Her-
ausgegeben von Rudolf Meyer-Kraemer.
Verlag Benno Schwabe & Co., Basel 1921.
Als Separatabdruck der Basler Zeitschrift für
Geschichte und Altertumskunde, Bd. 19, erschien
bei B. Schwabe in Basel eine neue Reihe Jugend-
briefe Jakob Burckhardts. Sie waren die Aus-
wirkung einer Freundschaft, die Burckhardt noch
als Student in Bonn im Sommer 1841 mit dem
um drei Jahre älteren Gottfried Kinkel schloß,
der damals Privatdozent der Theologie war. Die
feurig belebende Kraft Kinkels hatte Burckhardt
schnell auftauen lassen, und er kam in den Kreis
der Auserwählten, die sich zum sogenannten
Maikäferbund zusammengeschlossen batten, Kinkel
hatte die geistige Leitung und redigierte das
wöchentliche Bundesblatt „Der Maikäfer. Eine
Zeitschrift für Nicht-Philister“. Der Herausgeber
der Briefe hat in kurzer Einleitung darauf hin-
gewiesen, wie Burckhardt gerade hier eine poe-
tische und musikalische Anregung empfing, dio
erst sein Wesen vollendete. Im Nachwort findet
sich zusammengestellt, was Burckhardt an poe-
tischen Beiträgen in der nie gedruckten Zeitschrift
1841—46 beigesteuert hat: viel Lyrisches, dann
Bruchstücke von Dramen und einem Roman. Sie
verteilen sich so, daß man sieht, wie bis 1843
die Lust am poetischen Schaffen rege bleibt, um
dann abzuflauen, wofür sich die Gründe in den
Briefen finden.
Die Briefe enthalten zunächst die Geschichte
der Freundschaft mit Kinkel. Der junge Schweizer
war anfangs entzückt von dem anmutig leichten
rheinischen Geist Kinkels. Hier wurde seine dich-
terische Begabung zum Klingen gebracht, was
ihn zunächst frobgemut machte. Die Freund-
schaft hielt so lange, bis Burckhardt die auf-
fiackernde lyrische Flamme bewußt auslöschte,
Sie zerbrach nicht aus kleinlichem Anlaß, son-
dern weil Burckhardt klar den Unterschied seiner
Weltanschauung und .der Kinkels erkannte und
ein ausgeprägtes Bedürfnis reinlicher Scheidung
besaß. Man spürt das Wehen vormärzlicher Luft.
Kinkels revolutionäre Gesinnung brach durch,
Burckhardt blieb aristokratisch konservativ, ließ
sich nicht in den Strudel hineinreißen, warnte
vielmehr vor dem „Liberalismus der Schwünge
Knoten und Dorfmagnaten“. Burckhardt wird
dringlicher in seinen Mahnungen an Kinkel, un-
nötige Opposition sein zu lassen, Es fehlt nicht
an deutlichen, ja harten Worten, die fast schon wie
Zurechtweisungen klingen. Ob und wie der Heiß-
sporn Kinkel darauf geantwortet hat, kann nur
geahnt werden; Briefe sind nicht erhalten. So
bricht denn die Brieffolge mit August 1847 jäh
ab. Anfangs war Burckhardt in dieser Freund-
schaft der Empfangende, dann aber sinkt seine
Wagechale gewichtig: er erwies sich dem gäh-
renden, drängenden, suchenden Kinkel als über-
legen, weil er früh das innere Gleichgewicht
gewann.
Das eigentlich Packende in den Briefen ist nun
auch, wie Burckhardt sich selber fand, wie sich
der Historiker in ihm immer vernehmlicher mel-
dete, wie er empfand, daß das Dichten seinen
eigentlichen Wesenskern nicht reiner leuchten
lasse, sondern verhiille. Burckhardt erkannte ев,
weil er auf die innere Stimme horchte und machte
es sich klar im Vergleich mit Kinkels rascher
Produktivität, mehr noch im Vergleich mit Geibels
sprudelnd genialem dichterischen Schaffen. Und
nun kommen die Absagen an die Poesie. Immer
wieder wird zum letzten- und allerletztenmal ab-
geschworen. Schon früh heißt es, daß ihm die
Anerkennung seiner Berufung zur Geschichte wert-
voller sei. Am 26. April 1844 heißt es, daß das
Talentchen mit leichtem Mut schlafengelegt werde,
dann aber wieder am 30. Juni deseelbsn Jahres,
er müsse zugrundegehen ohne das bißchen Poesie;
schließlich am 23. Dezember 1844 sogar mit einer
bei Burckhardt ganz ungewohnten Sentimentalität:
„O Gott, ein Jahr Freiheit, Poesie und dann
sterben!“ Da Burckhardt mit historischem Sinn
auch sein eigenes Leben betrachtete, wurden ihm
die Gedichte schließlich nur wertvoll als Tage-
buchblätter, als „Zeugnis einer Stimmung“. An-
fang 1843 schreibt er über seinen Beruf zur Ge-
schichte: „Ein Gelübde habe ich mir gethan: mein
Lebenlang einen lesbaren Styl schreiben zu wollen
und überhaupt mehr auf das Interessante, ale auf
trockene faktische Vollständigkeit auszugehen.“
Zur Darstellung drängt es ihn, „in der Geschichte
etwas wahrhaft Neues zu leisten“, ist sein Begehr
(7. Febr. 43). Schließlich im Brief vom 17. April
1847 neben ergötzlichen Ausfällen gegen Nichtig-
keitskrämerei bei Geschichtsschreibern die schöne
Bemerkung, „daß wahre Geschichtsschreibung ein
Leben in jenem feinen, geistigen Fluidum ver-
langt, welches aus Monumenten aller andern Art,
aus Kunst und Poesie ebensogut dem Forscher
entgegenweht, wie aus den eigentlichen Scriptoren.“
Burckhardt hat ein solches Leben gelebt.
Der Stil dieser Briefe ist jugendlich schwarm-
selig, romantisch begeistert, dann wieder von
drastisch humorigen Bildern und skeptischer Ironie
erfüllt. Hin und wieder spürt man schon die
73
Klaue des Löwen. Was der Herausgeber an nütz-
lichen Zusätzen und Bemerkungen zu machen
hatte, ist nicht im ganzen vorweggegeben, son-
dern zwischen die Briefe eingeflochten. Für jene,
die nur einmal hineinschnuppern wollen, mag das
gut und bequem sein, wer aber diese Briefe sämt-
lich und in einem Zug liest, will doch nur die
eine Stimme hören. Es fördert nicht die ein-
beitliche Stimmung, wenn ein Conferencier ein
dutzendmal den Vorhang auseinanderreißt und da-
zwischenruft, nun komme dies und das, und das
habe diesen und jenen Zusammenhang.
Kurt Gerstenberg.
FRANZ ROH, Holländische Malerei.
E. Diederichs Verlag, Jena.
Durch Ernst Heidrichs Kriegstod war das viel-
leicht gelungenste und bedeutsamste aller moder-
nen kunstgeschichtlichen Serienunternehmen zu
leidigem Stillstand gebracht worden: die „Kunst
in Bildern“ des Verlages Diederichs. Nach acht-
jäbriger Pause ist nun der VI. Band heraus-
gekommen, der, im zeitlichen Anschluß an die
Vorläufer, der holländischen Malerei des 17. Jabr-
hunderts gewidmet ist. Er ist reproduktions-
technisch und überhaupt der Anordnung und
äußeren Erscheinung nach von den früheren Bän-
den nicht zu unterscheiden, vereinigt also, wie
diese, mit 200 ausgezeichneten, wohlgewählten,
tonschön wiedergegebenen Bildern einen größeren
Textteil und einen kurzgefaßten, über biographische
Daten, Literatur usw. orientierenden Anhang. Das
anfangs gefundene Schema der Buchdisposition
hat sich ale so glücklich erwiesen, es war mit
diesen sämtlich hervorragend eingeleiteten Büchern
ein so brauchbarer Typus zwischen populärer Dar-
stellung und gleichwohl wissenschaftlich frucht-
barer Zusammenfassung geschaffen worden, daß
die Beibehaltung des Apparates selbstverständlich
war. Wir hoffen, daß der Verlag sein Unter-
nehmen nunmehr planmäßig durchführen und auch
für die Folge so bemerkenswerte Bearbeiter finden
mag, wie bisher, — wie auch im vorliegenden Fall,
Für den Verfasser, der sich mit diesem Werk
in die Kunstwissenschaft einführt, lag die Auf-
gabe insofern erschwert, ale er sich nicht nur
einer vorgezeichneten Disposition, sondern auch
einem bereits, und zwar noch von E. Heidrich,
ausgesuchten Abbildungsmaterial anzupassen hatte»
und eben doch eine ganz selbständige, keineswegs
nur kommentierende, sondern großzügig sichtende
und die Ganzheit eines Verlaufs fassende Inter-
pretation zu geben hatte, unvermeidlicherweise im
74
Vergleich mit der ganz ungewöhnlich lebendigen,
feinfühligen, weitblickenden Leistung seines Vor-
gingers. Und da ist zu sagen, daß Roh diesen
Vergleich nicht zu scheuen hat, ohne daß wir ihn
hier durchführen wollen. Das Buch ist ein bruch-
loses Ganzes; nur ganz selten und bei genauem
Zusehen wird man etlicher Stellen gewahr, die
eine gewisse Inkongruenz zwischen Bilderauswahl
und der Ansicht des Verfassers über einzelne
Künstler erkennen lassen. Zum Beispiel darf man
vermuten, daß Roh Wouvermann etwas anders
repräsentiert hätte. Trotz der großen Schwierig-
keit, diese von Werken und Individualitäten
übervolle Spanne in einer zugemessenen Bilder-
zahl gerecht und lückenlos zu würdigen, hätte,
so scheint es, der literarische Interpret kaum auf
ein Beispiel für Porcellis, auf den „Stieglitz“
des C. Fabritius verzichten mögen. Vielleicht
wird manchem Leser überhaupt Seestück und
Stilleben etwas zu kurz bebandelt sein. Doch
wiegen dergleichen Mängel wenig gegenüber
dem Positiven und Eigenen. Die Epoche hat
ein Gesicht; die Züge sind stark herausgearbeitet
und doch mannigfach genug miteinander ver-
woben, um die physiognomische Totalität nicht
aufzuheben. Die große Entwicklungskurve zeigt
sich immer wieder in individueller Brechung am
thematischen oder persönlichen Einzelablauf. Dem
Leser wird ein Blick für die Anfangs-, Reife- und
Abklangsstimmung, ein Organ für noch mittel-
alterlichen Nachhall und Rokokovorgeschmack ge-
bildet. Der Verfasser hat ein besonderes Spüren
für Werte der Substanz, der materialen Beschaffen-
heit, also für die Differenzen der Textur, Schwere,
Festigkeit, Feuchte, Elastizität etwa, eine Ein-
stellung, die allenfalls bei gewissen Schriftstellern
zur Moderne, kaum bei wissenschaftlicher Betrach-
tungsweise noch recht begegnet ist, und eine neue
und charakteristische Note der vorliegenden ab-
gibt. Daneben sind es die Raumrichtungen, die
Vor- und Tiefenstöße, die Verhältnisse der Dimen-
sionen und Gründe, der rahmenden und zentralen
Werte, der Massierungen und Auflockerungen zu-
einander, denen das besondere Augenmerk des
die Wölfflinschule nicht verleugnenden Verfassers
gehört. Gerade für Holland wünschte man sich
demgegenüber Soziologisches etwas stärker betont.
Die Gefahr eines (allerdings höheren) Morellitums
droht gelegentlich von weitem her, d.h. der Kennt-
lichmachung eines Stils durch Einzelsymptome,
Doch fängt ein überformalistischer Wille solche Lö-
sungen stets ab, indem die Darstellung trotz an-
gestrebter Präzision oft und oft den dunklen Be-
reichen der wirklich künstlerischen, unkontrollier-
baren Impulse, der geheimen Gehalte zustrebt. So
ist etwa der Tiefsinn der warmen Schattendämmer
bei Rembrandt (dem fast ein Drittel des Buches ge-
widmet ist), die Rolle des silberglänzenden Vorder-
grundmotivs bei Wouverman, J. Ruysdael, Terborch
u. a., das Gelenkte der Gebärden bei den Frühen auf
dichterische Weise erspürt und spürbar gemacht.
Wer die Sterilität und Unberührtheit von allem
Geheimnis in weitaus der meisten Kunstschrift-
stellerei der letzten Jahrzehnte und noch der
Gegenwart kennt, wird in Roh eine verheißende
Ausnahme begrüßen. Sein Stil haftet ein bißchen
an einigen mit Vorliebe verwendeten Begriffen,
wie z. В. „gesteifte Form“, „durchstellen“,
„schwank“ u. a. Oft nimmt er eine fast galop-
pierende Kürze an, wobeiHilfsverben, Artikel und
Interpunktionen zuweilen in Verlust kommen und
die Worte in etwas atemlose Reihenfolge. (Auf
Kritik seiner Sprache hat ein Gelehrter Anrecht,
dessen Schaffen sich durch eine so starke sprach-
liche Gestaltung, durch so eigenes Idiom, durch
solche Kühnheit im Verlassen ausgefahrener und
des künstlerischen Nachbildens unmächtiger Rede-
weise auszeichnet.) Darin ist, bei allen kleinen
Härten, hier etwas ganz Bedeutendes geleistet: die
Dynamik einer Raumdarstellung, einer Schatten-
intensität oder einer spezifischen Substanzbe-
schaffenheit von Fleisch oder Draperie, Krume
oder Fell so bildvoll und unverrückbar mit einem
Wort getroffen, daß man nicht selten innehält,
um den sprachlichen Griff voll mitzuerieben. Ohne
im .schriftstellerischen Glanz sich zu gefallen, ist
das Ganze somit eine vielleicht nicht immer ganz
runde und frei ausschwingende, doch überaus
reiche, erfüllte und kräftige Erörterung, die man
Jedwedem zur Hand wissen möchze.
Willi Wolfradt.
PAUL WESTHEIM: Das Holzschnitt-
buch. Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots-
dam 1921.
Dieses neue Buch von Westheim greift auf
Vorarbeiten zurück, die der Verfasser in einem
Sonderheft des „Kunstblatt“ vom Februar 1917
veröffentlicht hat. Das Werk bringt die Entwick-
lung des Holzschnitts vom 14. Jahrhundert bis
zur Gegenwart. Unter Verzicht auf eine streng
historische Darlegung und eine formal ästhetische
Betrachtung werden die geistigen und handwerk-
lichen Schaffenstendenzen der Jahrhunderte, von
unserm heutigen „werkgerechten“ Standpunkt aus,
vergleichend nebeneinandergestellt.
Dementsprechend rückt der primitive, deutsche
Holzschnitt vom 14. Jahrhundert in den Vorder-
grund der Analyse, während der Holzschnitt der
Renaissance, selbst der Schedelschen Weltchronik,
als nicht mehr einheitlich werkliche Leistung
(das Holzschnittwerk ging schon durch mehrere
Hände) betrachtet wird.
Nach Westheim erscheint der Holzschnitt erst
wieder in seiner künstlerischen Reinheit, ais sich
am Ende des 19. Jahrhunderts (die entdeckten,
japanischen Holzschnitte gaben reinigende und
belebende Impulse) die moderne Graphik seiner
ausdrucksvollen Sprache wieder zuwandte. In
Arbeiten von Gauguin, Munch, Nolde, Kirchner,
Heckel, Schmitt-Rottluff wird der dem Holz allein
zugehörige Strukturreiz wieder ausgenützt und die
Fläche in der tektonischen Gestaltung betont.
Die durch reiches Abbildungsmaterial gestützte
Arbeit Westheims trägt das Signum ihres Ver-
fassers: eine temperamentvolle Einstellung, ein
persönliches Glaubensbekenntnis. Da aber künst-
lerische Beglückung uns noch mehr von der schöpfe-
rischen Potenz des Künstlers und der Zeit als
von dem technischen Purismus der Arbeit (Gegen-
beweise: Menzel im Holsstich und Poelzig in der
Architektur), so bleiben Westheims Theorien nur
bedingte Wahrheit, Noch mehr: uns dünkt West-
heims Bevorzugung der frühen, gotischen Holz-
schnitte und der Moderne — das ist der Vorzug
und Nachteil — ebenfalls eher einer gefühlsbetonten
Bejahung dieser Kunstperioden als erkenntnis-
theoretischer Gerechtigkeit zu entspringen.
Sascha Schwabacher.
PAUL F. SCHMIDT: „Deutsche Land-
schaftsmalerei von 1750 bis 1830“.
(108 Abb. R Piper & Co., München 1922.)
Das trotz dem Anstoß durch die Darmstädter
Jahrhundertausstellung und Georg Biermanns Publi-
kation noch so gut wie vergessene und unent-
wirrte 18, Jahrhundert deutscher Malerei wird hier
hinsichtlich seiner Landschaftsdarstellung geklärt.
Der Verfasser geht von den barocken Komposi-
tionen der Thiele, Brand usw. aus und verfolgt
die Entwicklung des idealistischen Typus über
die Idylle Geßners und Reinharts und den Klassi-
zismus Hackerts hin bis zu der heroischen Land-
schaft des beginnenden 19. Jahrhunderts; zeigt
andererseits die Entstehung des Realismus aus
der hollandistischen Manier, wie er sich mit den
Tendenzen des Rokoko und dem klassizistischen
Linearismus durchdringt und auf vielen Wegen,
über die Schweiz, Dresden, München, Hamburg,
Berlin vor allem, das romantische Naturempfinden
zum malerisch-naturalistischen Ausklang geleitet.
75
Die stärkeren Verselbständigungen: die nazare-
nische Landschaft und die „Erdiebenkunst“ treten
schließlich gesondert vor uns. Die vielverkreuzte
Entwicklung des Wirklichkeitssinnes, ihre Kul-
mination im pantheistischen Pathos der Früh-
romantiker, ihr Verflauen im biedermeierlichen
Landschaftern nach 1830 wird überzeugend aus
der Fülle der sich hin und wider beeinflussenden
Individualitäten und Lokalschulen herausgehoben.
Es stellt einen besonderen Wert dieser Darstellung
eines Stückes vernachlässigter Geschichte dar,
daß nirgends das Gefühl aufkommt, diese Arbeit
geschehe um der schließlich doch unumgäng-
lichen Komplettierung willen, — daß man viel-
mehr stets die sucherische Erlebnisfreude eines
durchaus auf den Wert Eingestellten am Werke
spürt und auch dem Unansehnlicheren noch eine
Bedeutsamkeit vom Sinn der gesamten Kurve,
vom Ziel des Nexus her zuerteilt weiß. Besonders
eindringlich und umfassend kennzeichnet der Verf.
denn auch den entscheidenden Gesinnungswandel
um die Jahrhundertwende jenes Aufkommen einer
herben Andacht vor der Schöpfung, verbunden
mit einem nationalen, antiraffaelischen Bekenntnis,
den Wechsel von letztem Kompositionsschematis-
mus zu streng linear aufgebauter Raumeinheit und
zeichnerischer Bestimmtheit.
Das Buch hatte eine Menge von wenig bekann-
ten Namen zu verarbeiten und mußte so etwas
zu sehr das Gepräge einer Künstlergeschichte
bekommen. Die individuelle Charakteristik, und
zwar eine sehr feinfühlige und prägnante, nimmt
einen großen Teil des Textes ein und wird durch
technisch bestens gelungene Reproduktionen und
einen sorgfältig abgefaßten Katalog der Maler
vorteilhaft ergänzt. Die wissenschaftliche Frucht-
barkeit bestimmte die Anordnung; und es steht
zu hoffen, daß das Werk die so sehr erwünschte
Anregung zum Studium dieses dunklen Gebietes
im einzelnen wird. Gerade durch die glückliche
Vereinigung von Übersichtlichkeit sowohl der
Buchgestalt wie der historischen Gruppierung und
einer ungewöhnlichen Frische in der Würdigung
des Unbeachteten, gerade durch die Mittellage
swischen Systematisierungsversuch und künstie-
rischer Kritik möchte es wohl einen wertvollen
Anreiz für weitere Untersuchungen hergeben.
Indem die Zeichnung so besonders herangezogen
wird, will Schmidt dem bereits durch Hagen auf
gestellten Grundsatz Nachdruck verleihen, daß die
neuen Gedanken der deutschen Malerei gerade in
der Zeichnung zuerst scharf erkennbar werden.
Der Hinweis auf diese so selten geöffneten Mappen
der graphischen Sammlungen wird kaum verhallen.
Ein bequemes Buch ist das vorliegende nicht,
es will durchgearbeitet sein. Das Wort ist nir-
gends breit vorgetragen, die Darstellung vielmehr
bei aller künstlerischen Lebendigkeit sehr kon-
zentriert. Die Besonderheiten sind äußerst treffend
erfaßt, aber ganz sparsam und gezügelt dargestellt.
Die Fülle der Namen zerteilt, zumal ihre Wieder-
holung in verschiedenem Zusammenhang unver-
meidlich war, mehr als angenehm den Gesamt-
überblick. Wilhelm von Kobells Spätstil ist
vielleicht unterschätzt und in seinem kristallhellen
Reiz nicht voll erfaßt. Den einzigen wesentlichen
Einwand hätte ich zu erheben gegen die vor-
genommene Unterscheidung von Naturalismus und
Realismus, die ja im Verlaufe des Buches eine
wichtige Rolle spielt. Und zwar stelit Schmidt
in diesen beiden viel mißbrauchten und an sich
wenig glücklichen Begriffen die malerisch - all-
gemeine Erfassung des Individuellen (Naturalismus)
der zeichnerischen Bestimmtheit (Realismus) gegen-
über. Die Durchführung gelingt nicht (vgl. den
Abschnitt Dahl!) und kann nicht gelingen, weil
sich diese beiden Begriffe gar nicht antithetisch
konfrontieren lassen. Der Gegensatz von Natu-
ralismus wäre Idealismus, der von Realismus etwa
Phantastik. Man kann einen Baum idealisieren
und doch als Wirklichkeit darstellen, und zwar
ebensowohl in malerischer wie linearer Formen-
sprache. Naturalismus bezieht sich auf die Dar-
stellungsweise, Realismus auf den künstlerischen
Gegenstand. Insofern die Begriffe nicht etwa das-
selbe meinen, unterscheiden sie sich kategorial.
Am besten wird sie die Kunstwissenschaft ganz
vermeiden. Willi Wolfradt.
KUNSTSCHÄTZE der Sammlung Dr.M.
Strauß in Wien. Herausgegeben vom
Auktionshaus für Altertiimcr Glückselig
& Wirndorfer. (Verlegt bei Carl Gerolds Sohn,
Wien 1921.)
ALEX. HEILMEYER: Die Plastik seit
Beginn des 19.Jahrhunderts. (Samm-
lung Göschen.) Mit 40 Abbild. Zweite
veränderte Auflage. (Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co,
Berlin und Leipzig 1921.)
OTTOGLEICHMANN: Chimären. Acht
Steinzeichnungen mit Einführung von Hans
Koch, Düsseldorf. (Mappe X der Ausgaben
der Galerie Flechtheim, Düsseldorf 1921.)
PAUL GUSTAVE van HECKE: Pour
réparer le Retard et le Malentendu.
Une explication illustrée de reproductions
de tableaux anciens et modernes. (Numéro I
des Tracts „Selection“, Brüssel 1921.
ANDRE SALMON: La Révolution de
Seurat. Avec 8 reproductions d’aprés
les tableaux de Seurat. (Numéro П des
Tracts „Selection“, Brüssel 1921.)
LES ECRITS de James Ensor. Avec
36 reproductions d’aprés les dessins ori-
ginaux du peintre. (Editions „Selection“, Brüs-
sel 1921.)
JULIUS BAUM: Gotische Bildwerke
Schwabens. (Verlag Dr. Benno Filser, Augs-
burg-Stuttgart 1921.)
MAX RAPHAEL: Idee und Gestalt.
Ein Führer zum Wesen der Kunst. Mit
24 Abbildgn. (Deiphin-Verlag, München 1921.)
FRIDA SCHOTTMULLER: Wohnungs-
kultur und Möbel der italienischen
Renaissance. Mit 590 Abbildgn. (Bau-
formenbibliothek Bd. XIII.) (Verlag Julius
Hoffmann, Stuttgart 1921.)
BRIEFE JAKOB BURCKHARDTS an
Gottfried und Johanna Kinkel. Hrsg.
von Rudolf Meyer-Kraemer. (Verlag Benno
Schwabe & Co., Basel 1921.)
LEOPOLD ZAHN: Paul Klee. Leben,
Werk, Geist. (Gustav Kiepenheuer -Verlag, Pots-
dam 1920.)
ALLGEMEINES LEXIKON der bilden-
den Künstler von der Antike bis zur
Gegenwart. Herausgegeben von Ulrich
Thieme und Ferdinand Willis. 14. Band.
(Verlag E. A. Seemann, Leipzig 1921.)
DAUDET: Die Abenteuer des Herrn
Tartarin aus Tarascon. Neu über-
setzt von Klabund. Mit vielen Vollbildern
und Vignetten von George Groß. (Erich
Reiß-Verlag, Berlin 1921.)
AMBROISE VOLLARD: Auguste Re-
noir. Avec onze Illustrations, dont huit
Phototypies. (Artistes d’hier et d’au-
jourd’hui.) (Les éditions d. Crès et Cie., Paris 1920.)
ALFRED OVERMANN, Prof. Dr.: Die
Kunst und wir. (Gebauer-Schwetschke, Drucke -
rei und Verlag m. b. H., Halle.)
GEORG LEHNERT, Prof. Dr.: Ge-
schichte des Kunstgewerbes. 1. Das
Kunstgewerbe im Altertum. (Sammlung
Göschen.) (Vereinigung wissenschaftl. Verleger
Walter de Gruyter & Co., Berlin u. Leipzig 1921.)
WOLFGANG GOETHE: Die Leiden
des jungen Werther. Mit ıo Bild-
beilagen nach den Steinradierungen des
Tony Johannot. (0. C.Recht-Verlag,München.)
HELMUT vom HÜGEL: Legenden.
то Original-Lithos. Mit einem Vorwort
von Wilhelm Uhde. (Veröffentlicht durch „Die
Freude“, Burg Lauenstein, Oberfranken.)
EUGEN LÜTHGEN:RheinischeKunst
des Mittelalters aus Kölner Privat-
besitz. Mit 107 Abbildungen auf 104
Tafeln. — Forschungen z.Kunstgeschichte
Westeuropas Bd. L (Verlag Kurt Schroeder,
Bonn und Leipzig 1921.)
WILHELM v. BODE: Sandro Botti-
celli. (Propyläen-Verlag, Berlin 1921)
77
FRIEDRICH KNAPP: Die künstleri-
sche Kultur des Abendlandes. Das
Werden des künstlerischen Sehens und
Gestaltens seit dem Untergang der alten
Welt. Band I: Vom architektonischen
Raum zur plastischen Form. Mittelalter
und Frührenaissance. Mit 364 Abbildgn.
(Kurt Schroeder, Verlagsbuchbandlung, Bonn und
Leipzig 1921.)
FRANZ ROH: Holländische Malerei.
200 Nachbildungen mit geschichtlicher
Einführung u. Erläuterungen. — Die Kunst
in Bildern. (Eugen Diederichs Verlag, Jena 1921.)
J. J. de GELDER, Dr.: Bartholomeus
van der Helst. Mit einer Studie über
seine Werke, seine Lebensgeschichte,
einem beschreibenden Katalog, einem
Register und 41 Abbildungen. (w. L. & J.
Brusses Uitgeversmaatechappy, Rotterdam 1921.)
REMBRANDTS Handzeichnungen.
L Band: Ryksprentenkabinet zu Amster-
dam. Herausgegeben von Kurt Freise,
Karl Lilienfeld und Heinrich Wichmann.
Zweite verbesserte Auflage. (Verlag Her-
mann Freise, Parchim in M. 19321.)
L. PLANISCIG: Venetianische Bild-
hauer der Renaissance. Mit 711 Ab-
bildungen. (Kunstverlag Anton Schroll, G.m.b.H.,
Wien 1921.)
P. F. SCHMIDT: Gessner. Der Meister
der Idylle. Mit 34 Abbildungen. (Deiphin-
Verlag, München 1921.)
GEORGE KRAUSE: Insel Bali. П. Bd.
Tänze, Tempel und Feste. — Schriften-
serie: Geist, Kunst und Leben Asiens.
Herausgegeben von Karl With. Bd. U
und III Insel Bali. (Folkwang - Verlag, O. m. b. H.,
Hagen i. W. 1920.)
KARL WITH: Java. Brahmanische,
buddhistische und eigenlebige Architektur
und Plastik auf Java. Mit 165 Abbildgn.
u. 13 Grundrissen. — Schriftenserie: Geist,
Kunst und Leben Asiens. Herausgegeben
in Verbindung mit dem Institut fiir in-
dische Forschung in Hagen i. W. von
Karl With. (Folkwang-Verlag, G. m. b. H.,
Hagen i. W. 1920.)
78
WILHELM UHDE: Henry Rousseau.
Mit 13 Netzätzungen.— Künstler der Gegen-
wart, herausgegeben von Dr. P. F. Schmidt,
П. Bd. (Rudolf Kaemmerer-Verlag, Dresden 1921 )
WILHELM FRAENGER: Die Radie-
rungen des Herkules Seghers. Ein
physiognomischer Versuch. Mit einer far-
bigen Tafel und 41 schwarzen Abbildgn.
(Eugen Rentsch - Verlag, Erlenbach - Zürich, München
und Leipzig 1921.)
KURT HIELSCHER: Das unbekannte
Spanien. Baukunst, Landschaft u. Volks-
leben. (Verlag Ernst Wasmuth A.-G., Berlin 1921.)
RUDOLF OLDENBOURG: P. P. Rubens.
Des Meisters Gemälde in 538 Abbildgn.
Mit einer Einleitung von Adolf Rosenberg.
Klassiker der Kunst, 5. Bd. Vierte, neu-
bearbeitete Auflage. (Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart 1921.)
WILHELM WAETZOLD: Deutsche
Kunsthistoriker. Von Sandrart bis
Rumohr. (Verlag E. A. Seemann, Leipzig 1921.)
P. ADALBERT SCHIPPERS: Die Stif-
terdenkmäler der Abteikirche Maria
Laach im 13. Jahrhundert. Mit einem
Vorwort des Herausgebers und 21 Ab-
bildungen. — Beiträge zur Geschichte des
alten Mönchtums und des Benediktiner-
ordens, herausgegeben von Iidefons Her-
wegen O.S.B., Abt von Maria Laach, Heft8.
(Aschendorfische Verlagsbuchhandlung, Münster
i. Westf. 1921.)
WOLFGANG van der BRIELE: Chri-
stian Rohlfs. Der Künstler und sein
Werk. (Verlag von Gebrüder Lensing, Dortmund.)
WILHELM NIEMEYER: Mathias
Grünewald. Der Maler des Isenheimer
Altars. Mit 21 einfarb. Bildern im Text,
10 mehrfarbigen Bildtafeln und 3 Zeich-
nungen der urspriinglichen Ubersicht des
Isenheimer Altars. (Furche-Verlag, Berlin 1921)
FELIX BECKER: Handzeichnungen
alter Meister in Privatsamm lungen.
50 bisher nicht veröffentlichte Original-
zeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts.
(Verlag von Bernhard Tauchnitz, Leipzig 1922.)
DAS MINIATURENKABINETT DER
MÜNCHENER RESIDENZ. Mit 69 Ab-
bildungen in ein- und mehrfarb. Licht-
druck. Vorwort u. kritischer Katalog von
Hans Buchheit und Rudolf Oldenbourg.
(Verlag von Franz Hanfstaengl, München 1921.)
A. Е. BRINCKMANN: PlastikundRaum
alsGrundformen künstlerischer Ge-
staltung. Mit ı8 Textabbildungen und
42 Tafeln.
PAUL FERDINAND SCHMIDT: Deut-
sche Landschaftsmalerei von 1750
bis 1830. Mit 108 Abbildungen — P. F.
Schmidt: Deutsche Malerei um 1800.
I. Band: Die Landschaft.
WILHELM HAUSENSTEIN: Barbaren
und Klassiker. Ein Buch von der Bild-
nerei exotischer Völker. Mit 177 Tafeln,
JULIUS MEIER-GRAEFE: Vincent.
Band I und U.
(Sämtlich Verlag R. Piper & Co., München 1922.)
W. К. VALENTINER: Franz Hals,
Des Meisters Gemälde in 318 Abbildgn.
Mit einer Vorrede von Karl Voll (}). —
Klassiker der Kunst, 28. Band. (Deutsche
Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1921.)
LOTHAR BRIEGER: Das Pastell. Seine
Geschichte und seine Meister. Mit 262 Ab-
bildungen u. 9 Mehrfarbendrucken. (Verlag
für Kunstwissenschaft, Berlin 1921.)
WALTER FRIEDLÄNDER: Claude
Lorrain. (Verlag Paul Cassirer, Berlin 1921.)
JAHRBUCH des Vereins für christl.
Kunst in München. E.V. 5. Bd.: Die
Vereinsgabe für das Jahr 1921. (Im Verlag
des Vereins u. im Kommissionsverlag d. Lentner
schen Hofbuchhandlung IJ. Stahl], München 1921.)
ALFRED KUHN: Peter Cornelius und
die geistigenStrémungenseinerZeit.
Mit 43 Abbildgn. in Lichtdruck. (Verlag
Dietrich Reimer [Ernst Vohsen], A.-G., Berlin 1921.)
CHARLES R. MOREY: East christian
Paintings in the Freer Collection.
(The Macmillan Company, New-York. Macmillan
and Company, London 1914.)
DEUTSCHE KUNST. Bilderhefte, hrsg.
vom bayer. Nationalmuseum München.
1. Folge: Heft 1. Philipp Maria Haim: Die
Madonna mit dem Rosenstrauch im bayer.
Nationalmuseum, Mit 7 Bildtafeln.
Heft a. Georg Lill: Das Bamberger Heinrichs-
grab Til Riemenschneiders. Mit 7 Bildtafeln.
Heft3. Hans Karlinger: Das Sechstagewerk.
Regensburger Federzeichnung a. d. 12. Jahr-
hundert. Mit 8 Bildtafeln.
Heft 4. Konrad Weiss: Die Giasfenster der ehe-
maligen Minoritenkirche in Regensburg.
(Bayer. Nationalmuseum.) Mit 8 Bildtafeln,
(Sämtlich im Verlag für praktische Kunstwissen-
schaft, F. Schmidt, München 1921)
POL de MONT: De Schilderkunst in
Belgie van 1830 tot 1921. Met 120
Platen. (s’Gravenhage Martinus Nijhoff, 1921.)
M. BERNSTEIN: Die Schönheit der
Farbe in der Kunst und im täg-
lichen Leben.
KURT PFISTER: Marées. Der deutsche
Maler in Rom. Mit 31 Bildern. (Deiphin-
Kunstbücher.)
ANITA ORIENTER: Der seelische
Ausdruck in der altdeutschen Ma-
lerei Ein entwicklungsgeschichtlicher
Versuch. Mit 94 Abbildungen.
(Sämtlich im Delphin-Verlag, München 1921.)
BIBLIOTHEK der Kunstgeschichte.
Herausgegeben von Hans Tietze.
Bd. 1. Heinrich Wölfflin: Das Erklären von
Kunstwerken.
a. Heinrich Schäfer: Das Bildnis im alten
Ägypten.
3. Max J. Friedländer: Die niederländischen
Manieristen.
4. Hans Tietze: Michael Pacher u. sein Kreis.
5. E. Waldmann: Wilhelm Leibl.
6. J. Schlosser: Oberitalienische Trecentisten.
7. E. Praschniker: Kretische Kunst.
8. E. Panofsky: Die Sixtinische Decke,
9. Curt Glaser: Vincent van Gogh,
10. K. With: Japanische Baukunst.
11. K. Zoege v. Manteuffel: Das flimische
Sittenbild des 17. Jahrhunderts.
12. A. Matéjcek: Die béhmische Malerei des
14. Jahrhunderts,
. William Cohn: Die altbuddhistische Ma-
lerei Japans.
. Wilhelm Waetzold: Bildnisse deutscher
Kunsthistoriker.
August Grisebach: Deutsche Baukunst
im 17. Jahrhundert.
(Sämtlichim Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1921.)
n 15-
79
EMIL HANNOVER: Keramisk Haand-
b og. Foerste Bind: Fayence — Maiolika—
Stentoi. Med et indledende Afsnit om
oldtidens Terracotta. (Henrik Koppels-Forlag,
Kobenhavn 1919.)
CURT GLASER: Die Graphik der Neu-
zeit. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart. (Verlag Bruno Cassirer,
Berlin 1922.)
EUGEN LUTHGEN: Gotische Plastik
in den Rheinlanden. Mit 80 ganz-
seitigen Abbildungen. (Verlag Friedr. Cohen,
Bonn 1921.)
DAS BILD. Atlanten zur Kunst. Hrsg.
` von Wilhelm Hausenstein. ı.Bd.: Tafel-
malerei deutscher Gotik. Auswahl und
Nachwort von W. Hausenstein. Mit 75
Tafeln und einem Titelbild.
2. Bd.: Die Bildnerei der Etrusker. Aus-
wahl und Nachwort von W. Hausenstein,
Mit 66 Tafeln und einem Titelbild. (Verlag
R. Piper & Co., München 1922.)
W. WARTMANN: Tafelbilder des
15./16. Jahrhdts. 1430—1530. Schweiz
und angrenzende Gebiete. — Züricher
Kunstgesellschaft, Neujahrsblatt 1922.
Mit 50 Abbildungen. (Verlag der Züricher
Kunstgesellschaft, Kunsthaus Zürich.)
HERIBERT,REINERS:KölnerKirchen.
Mit 130 Abbild. Zweite neubearbeitete
Auflage. (Verlag J. P. Bachem, Köln 1921.)
— —
1922, I.
ADOLF FREY: Ferdinand Hodler.
Mit einem Originalholzschnitt und zwei
Originalzeichnungen von Ernst Würten-
berger. (H. Haessel-Verlag, Leipzig 1922.)
GEORG WEISE: Die gotische Holz-
plastik um Rottenburg, Horb und
Hechingen. I. Teil: Die Bildwerke bis
zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Mit 61
Abbildungen. — Forschungen zur Kunst-
geschichte Schwabens u. des Oberrheins.
т. Heft. Hrsg. von Prof. Dr. G. Weise,
Tübingen. (Verlag von Alexander Fischer, Tù-
bingen 1921.)
— —wä½ e—
CLIVE BELL: Kunst. Herausgegeben
und eingeleitet von Paul Westheim. (im
Sibyllen-Verlag Dresden 1922.)
KARL ANTON NEUGEBAUER: Antike
Bronzestatuetten. Mit 8 Text- und
67 Tafelabbildungen. (Schoetz & Parrhysius-
Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921.)
DAS GRAPHISCHE JAHR FRITZ
GURLITT. (Fritz Gurlitt-Verlag, Berlin 1921.)
O. RIESEBIETER: Die deutschen
Fayencen des 17. und 18. Jahrhun-
derts. Mit 442 Abbild. (Klinkhardt & Bier-
mann, Leipzig.)
JAHRBUCH DER JUNGEN KUNST 1921.
Herausgegeben von Prof. G. Biermann.
(Klinkhardt & Biermann, Leipzig.)
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/Tegernsee, Post Rottach.—
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissenschaft KLINKHARDT
& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467.
80
> чь "ы ч Чы Чы ы T u CT CC CE Чы ЧЫМ МЫ cc KEINEN — чаа ача мача ааа ла мәә ла
— —
. HEFT 4-6 · SEPTEMBER 1922
VERLAG KLINKHARDT OBIERMANN: LEIPZIG
ee "TTT
Monatshefte
für Kunstwissenschaft
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG
Preis des Heftes Mark 200.—
INHALTSVERZEICHNIS HEFT IV-VI
ABHANDLUNGEN
W. A. LUZ, Hubert Gerhards Tätigkeit
in Augsburg und München. Mit
15 Abbildungen auf 5 Tafeln in Licht-
йге ы азый a en 5. 81
ALBERT DRESDNER, Johann Tobias
Sergel. Mit 5 Tafeln in Lichtdruck.
Seite еве een 96
W.v.GROLMAN, Zur Kenntnis Riemen-
schneiders. Der Heroldsberger Cruci-
fixus. R. als Steinbildhauer. Der
Christusknabe am Lorenz - von- Bibra-
Denkmal. Mit 7 Abbildungen auf drei
Tafeln in Lichtdruj ck S. 116
Dr. MITTERWIES ER, Archivrat,
München, Die Baurechnungen der
Renaissance-Stadt-Residenz in Lands-
hut (1536—1543) ........ S. 122
WILHELM JUNIUS-Dresden, Der Mei-
ster H.W., Ein erzgebirgischer Pla-
stiker am Ausgang des Mittelalters.
Mit ı2 Abbildungen auf 5 Tafeln in
Lichtdru el S. 137
MISZELLEN
KARL SIMON, Ein Griinewaldkopf von
Ph. Uffenbach? Mit 3 Abbildungen
auf einer Tafel in Lichtdruck . S. 148
REZENSIONEN
LILI FROHLICH -BUM, Parmigianino und
der Manicrismus. (Kunstverlag A. Schroll,
Wien 1921). (H.v.d.Gabelents) .. . S. 149
OSKAR HAGEN, Deutsche Zeichner von der Gotik
bis zum Rokoko. Mit ro Abbildungen. München,
R. Piper & Co., 1921. (P. F. Schmidt) S. 149
HEINRICH GLÜCK, Probleme des Wölbungs-
baues, Band I: Die Bäder Konstantinopels.
Aufnahmen, Beschreibungen und historische
Erläuterungen mit 117 Abb. 4°. 176 Seiten.
(Arbeiten des kunsthistorischen Instituts der
Universität Wien, Lehrkanzel Strzygowski,
Bd. XII), Wien, Halm & Goldmann, 1921,
М. оо. (Karl Ginhart)......... 8. 150
DAS MINIATUREN-KABINETT DER MUN-
CHENER RESIDENZ. 69 Abbildungen in
ein- und mehrfarbigem Lichtdruck. Vorwortund
kritischer Katalog von Hans Buchheit und Rudolf
Oldenburg. Verlag von Franz Hanfstaengl,
München 1921. (Georg Biermann) . . S. 151
F.v. LUSCHAN, Die Altertümer von Benin. Berlin
ч. Leipzig 1919. Vereinigung wissenschaftl,
Verleger. 4°. Bd.I. XII u. 522 S., 889 Abb. im
Text u. Taf. A—Z; Bd. II: Taf. 1 - 50; Bd. DI:
Taf. 51—129 (= Verdfftich. Mus. Vikerkde.
Berlin, Bd. VIII X). (Bernh. Struck) S. 152
ADOLF FEULNER: Die Zick. München 1920.
(V. C. Habicht S. 157
OELENHEINZ, LEOPOLD, Der Wünschelring
(Differenzialpendel, siderischer Pendel), insbes.
seine Anwendung auf die Meisterbestimmung
bei Gemälden usw. Mit 52 Abbildung. Leipzig,
Max Altmann. Geb. 18 M. (Voll)... S. 158
NEUE BÜCHER ........... S. 160
HUBERT GERHARDS TATIGKEIT IN AUGS-
BURG UND MÜNCHEN Von W. A. LUZ
Mit fünfzehn Abbildungen auf fünf Tafeln in Lichtdruck
ürnberg lag insofern ungünstig für den Betrieb einer BildgieBerei, als das Erz
nicht im Frankenlande gewonnen wurde, sondern aus den Bergwerken in
Ungarn, Kärnten und Tirol bezogen werden mußte). Peter Vischers Arbeit be-
günstigte jedoch die anfängliche Konzentration des Erzhandels in dieser Stadt,
Durch Vermittlung der daran beteiligten Handelshäuser war das Erz für den
Meister leicht zu erreichen. Auch ermöglichte der lebhafte Verkehr Absatz nach
dem Norden wie nach dem Süden Deutschlands. Hätte allerdings Peter Vischer
Briefe hinterlassen wie Albrecht Dürer, so hätte man bei ihm dieselben bitteren
Worte über die Teilnahmlosigkeit der heimischen Bestellerkreise erwarten können.
Er arbeitete vielfach nicht für Nürnberg.
Schon im Werke Peter Vischers macht sich eine auswärtige Bestellerfamilie be-
merkbar, aus der im Laufe des 16. Jahrhunderts Großauftraggeber für Erzplastik
hervorgehen. Aus Gründen, die man nicht kennt, hatten die Fugger Peter Vischers
Erzgitter für ihre Grabkapelle in St. Anna zu Augsburg zwar abgelehnt, sie hatten
es jedoch bei ihm in Auftrag gegeben“). Daß diese Familie den Arbeiten des
Nürnberger ErzgieBers und Künstlers schon am Anfang des 16. Jahrhunderts Auf-
merksamkeit schenkte, ist nicht verwunderlich. Sie hatte es verstanden, sich all-
mählich eine Art Monopol auf die Erzbergwerke und den Erzhandel zu sichern.
Mit ihrem Namen verknüpft sich später die weitere Entwicklung der süddeutschen
Erzplastik, wenn sie auch dann nur als Anreger, nicht als dauernder, opferwilliger
Förderer erscheint. Der Niedergang der Nürnberger Gießhütte, von der sich die
Fugger nach einem ersten Versuch abwendeten, findet seine Erklärung in dem
wirtschaftlichen Übergewicht, das Augsburg durch die Konzentrierung des Erz-
handels in den Händen dieser Familie erhielt. Dies ist einer der Gründe, welcher
zum Verfall der Nürnberger Hütte führte.
Für die Begründung einer künstlerisch geleiteten Erzgießhütte lagen Städte wie
Augsburg und München weit günstiger als Nürnberg. Innsbruck mit seiner Lage
mitten im Gebiet des Kupferbergbaus, war ja auch ihnen gegenüber immer noch
im Vorteil. Da die Augsburger Handelshäuser jedoch die Bergwerkgerechtigkeiten
in Kärnten und Tirol besaßen, schied die erzherzogliche Gießhütte in Innsbruck
aus dem wirksamen Wettbewerb aus. Durch Augsburg und München wurde je-
doch das Erz auf seinem Weg nach dem Westen und Norden Europas befördert.
Hier war es daher leichter zu fassen als in Nürnberg. Daß die einzige Nachricht,
welche vom Ankauf von Metall für ein monumentales Kunstwerk spricht, einen
Münchener Gastwirt als Verkäufer nennt, bezeichnet den Zusammenhang zwischen
der Beförderungsstraße und dem Aufkommen der Erzplastik “).
(x) Vgl. Dobel, Der Fugger Bergbau und Handel in Ungarn. Ztschr. d. hist. Vereins f. Schwaben
und Neuburg. Bd. VI, S.33 ff. und Derselbe, Über Bergbau und Handel des Jakob Fugger in Kärnten
und Tirol. 1495—1560. Ebda Bd. IX. — Strieder, Zur Genesis des modernen Kapitalismus, Leipzig 1904.
(2) Vgl. über die kürzlich erfolgte Wiederauffindung von Teilen dieses Gitters meinen Aufsatz Frank-
furter Zeitung, Nr. 621, 1921.
(3) Westenrieder, Beyträge zur Vaterländischen Historie, Geographie u.s.f, 9 Bde. München 1788
bis 18:12. Bd. Ш, 8. 101.
Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1923, 4—6. 6 8т
Als die Fugger sich gegen Ende des Jahrhunderts entschlossen, auf einem Gebiet,
das politisch ihrem Einfluß unterstand, eine Erzgießerei für große Bildgüsse zu
errichten, griffen sie bezeichnenderweise nicht mehr zurück auf die Nürnberger
Überlieferung. Die Nachfahren Peter Vischers konnten Besteller nicht mehr be-
friedigen, welche die italienische Kunst vielfach aus eigener Anschauung kannten.
In künstlerischen Fragen äußerst fortschrittlich gesinnt, beriefen diese empor-
gekommenen Bürgerlichen einen Künstler aus der Werkstatt Giovanni da Bolognas
in Florenz. Es war ein Holländer von Geburt: Hubert Gerhart. Grundsätzlich
unterscheiden sie sich in dieser Wahl von dem aristokratischen, im alten Geiste
wirkenden Besteller, dem die Sorge für das Innsbrucker Maximiliansgrab oblag.
Er berief gleichzeitig noch immer deutsche Erzplastiker.
Die bisher bekannten Lebensdaten Hubert Gerhards sind von Peltzer tibersicht-
lich zusammengestellt und verarbeitet worden i). Ihnen ist vorläufig nur wenig
nachzutragen. Eine gründliche Prüfung seiner Zuschreibungen erweist sich jedoch
notwendig. 1581 taucht der Künstler in Deutschland auf und zwar ist er be-
schäftigt, einen Auferstehungsaltar für Christof Fugger herzustellen“). Er war für
die Dominikanerkirche bestimmt und ist heute verloren. Die Geschichte dieses
Altars bezeichnet den Willen der Fugger zu deutlich, trotz aller Widerstände und
Unglücksfälle die Bildgießerei in Süddeutschland heimisch zu machen. Der Altar
sollte in weißem und rotem Marmor gefertigt und mit einer Auferstehungsgruppe
in Messing sowie vier Propheten aus dem gleichen Stoff geschmückt werden.
Bekannt ist, daß der Bildhauer Paul Mair aus Augsburg zehn Visierungen auf
Tafeln dazu anfertigte. Als man zum Guß schritt, wurde die Berufung eines Ita-
lieners namens Carlo Ballas (Pallago) nach Innsbruck für notwendig erachtet. Was
er jedoch leistete, scheint nur Hilfsarbeit gewesen zu sein. Für die Bildstoffe,
welche zum Gießen notwendig sind, und für eigene geringfügige Modellierungs-
arbeit erhält er etwas mehr als ıo fl. Ferner fertigt er die Negative zum Abguß
der Modelle für 50 fi. an. Das sind so geringe Summen, daß man nur annehmen
kann, daß Pallago die Modelle fertig übernahm. Der Bildhauer Paul Mair hatte
für den Altar insgesamt 770 fl. und für den zugehörigen Grabstein mit Messing-
tafel und Wappen noch weitere Go fi. erhalten. Ist bei solchen Summen der
Schluß nicht gerechtfertigt, daß Mair neben den Plänen und der Steinarbeit auch
Modelle, vielleicht sogar Holzmodelle ausgeführt hätte? — Beim Guß hatte der
Augsburger Rotschmied Jeremias Reisinger jedoch wenig Glück. Die Auferstehungs-
gruppe schlug völlig fehl. Ein Moses, Elias und ein nicht näher bezeichneter
Prophet sowie zwei große Engel scheinen leidlich geglückt zu sein. Die dafür
verrechneten Verschneidungsarbeiten von 124 fl. bleiben unter dem regelmäßigen
Maß. Im gleichen Jahr wurden die Auferstehungsgruppe und andere nicht ge-
lungene Stücke noch einmal gegossen. Für deren Modelle wird nun zum ersten
Male der Name des „Bildmachers“ „Robert Gerard“ genannt. Als Retter aus der
Not ruft man ihn aus Florenz herbei, denn das Vertrauen zu Mair, zu Pallago und
zu Reisinger scheint man gleicherweise verloren zu haben. Gerhard ist jedoch zu-
nächst nicht glücklicher. Die große Himmelfahrt Christi gelang auch diesmal nicht,
aber einer der beiden großen Engel wie auch die vier Propheten und zwei Engelchen
(1) Vgl. Artikel Hubert Gerhard in Thieme-Beckers Künstlerlexikon und Peltzer in „Kunst und Kunst-
handwerk“ 1918. 21. Jahrgang. |
(2) Wiedenmann, Die Dominikanerkirche in Augsburg. Ztschr. 4. Histor. Vereins f. Schwaben und
Neuburg 1917. 43. Bd. *
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glückten. Die fehlgegossenen Stücke wurden sogleich wiederholt. Gerhard hatte
die Genugtuung, daß sie ihm beim zweiten Male gelangen. Für alle seine Arbeiten
wurde er allerdings nur mit 160 fl. entlohnt, ein Betrag, der jedoch um ein Mehr-
faches die Summe übersteigt, welche Pallago erhalten hatte. Für die Verschnei-
dung und Reinigungsarbeiten an den beiden letzten Stücken wurden im Jahr 1583/4
102 fi. bezahlt. Sie wurden vergoldet. Im Jahre 1583 stellte Hubert Gerhard
noch „Colona, gibgen, auch ettliche köpff, arm und fuess zum grossen stückh“ her,
welche später gegossen und verschnitten wurden. Diese Nachricht ist deshalb
wichtig, weil aus ihr zu entnehmen ist, daß die Auferstehung als Relief ausgeführt
wurde. Es entspricht dem Gebrauch der Bolognawerkstatt, daß Arme und Köpfe
freiplastisch aus dem Reliefgrund herausgehoben werden. Sie mußten für sich ge-
gossen werden, weil das flüssige Erz nicht durch die dünnen Hohlräume der Hälse
und Handgelenke drang. Bei der Besprechung der Münchener Arbeiten wäre auf
ähnlich behandelte Reliefs der Gerhardwerkstatt hinzuweisen wie die Meermann-
Grabplatte in der Frauenkirche und die vier Erzreliefs in der Michaelskirche. Unter
diesen findet sich auch eine Auferstehung, welche Christus über dem Grabe in
einem Wolkentrichter stehend zeigt. Da diese eigentümliche Trichterbildung auch
sonst im München-Augsburger Kunstkreis vorkommt, ist man versucht, als Aus-
gangspunkt für diese Darstellungen Gerhards verlorenen Auferstehungsaltar an-
zunehmen. Damit war Hubert Gerhards erstes Werk auf deutschem Boden voll-
bracht. Nach drei kostspieligen Güssen sahen seine Auftraggeber ihren Versuch
geglückt, das Kupfererz ihrer sich erschöpfenden Bergwerke als künstlerischen
Bildstoff verwenden zu lassen. Wie sich in der Folge zeigte, empfahl es sich bald
anderen Auftraggebern.
Schon plante jedoch Hans Fugger Größeres. Für das neu errichtete Fugger-
schloß Kirchheim in Schwaben sollte Hubert Gerhard einen Riesenbrunnen schaffen.
Als Aufstellungsplatz war der Schloßhof vorgesehen. Ein weltliches Thema wurde
daher in Aussicht genommen, ein Thema, das monumental ausgeführt an sich
schon eine ungeheure Tat bedeutete. Mars, Venus und Amor als Mittelgruppe,
umgeben von einer Schar von Fluß- und Wassergittern! Diese Entfaltung eines
freien, zeugungsfreudigen Lebensgefühls mußte selbst auf manchen deutschen Huma-
nisten herausfordernd wirken. Was Hubert Gerhard hier an erotischer Leiden-
schaft zu geben wagte, überstieg die Leistung der Kleinmeister. Da sich nur die
Hauptgruppe im Garten des Bayr. Nationalmuseums erhalten hat, muß die Er-
gänzung des Brunnens aus Rechnungseinträgen vorgenommen werden. Nach Lill
lagen am Rande des untersten Beckens auf vorspringenden Muscheln acht Figuren.
Ferner gehörten zum Brunnen acht wasserspeiende Köpfe, abwechselnd Satyrn
und Löwen, acht Delphine und zwei große Fuggerwappen!). Aber der Guß der
viele Zentner schweren, tiberlebensgroBen Hauptgruppe stellte Künstler und Auf-
traggeber vor eine Riesenaufgabe. Zweimal, wenn nicht gar dreimal mußte der
Guß wieder zerschlagen und eine neue Form hergestellt werden. Vom Jahre 1583
bis zum Jahre 1594 währen die Arbeiten an dem Werke. Der Torso des Brunnens,
wie er heute vorliegt, zeigt Mars und Venus auf einer niedrigen Sockelbank in
engster Umschlingung. Der kleine Amor hockt vor dem Paar, in der Rechten
eine Traube. Er wendet sich um und greift lachend nach dem Granatapfel hinauf,
welchen ihm Venus herunterreicht. Das Gesims des Sockels stützen vier geflügelte
Hermen, abwechselnd männlich und weiblich gebildet (Abb. то). Wahrscheinlich
(z) Lill, Hans Fugger und die Kunst. Leipzig 1908, S. 171.
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sind sie über dem gleichen Modell abgeformt, wobei jedoch einzelne oberflächliche
Veränderungen vorgenommen wurden. Der Merkwiirdigkeit halber sei bemerkt,
daß Hubert Gerhard das Werk mit seinem Namen nicht bezeichnet hat, wohl aber
hat einer der Verschneider am linken Oberschenkel der Venus vorwitzig sein
Zeichen angebracht. Es gleicht einem A und könnte daher das Zeichen des Aug»
burger Goldschmiedes Anthony sein, der urkundlich beim Verschneiden betei-
ligt ist!).
Die Vorbereitungen für den Riesenguß im Augsburger Gießhaus waren offenbar
so umständlich, daß Hubert Gerhard Zeit fand, auch noch andere Arbeiten im
Dienst der Fugger auszuführen. Wenn man bedenkt, daß nicht alle Jahreszeiten
sich gleichmäßig zum Guß eigneten, und daß möglicherweise Umbauten oder Neu-
bauten der Öfen und Gebäude stattfanden, so wird man sich darüber nicht wundern.
Zusammen mit Carlo Pallago arbeitet er in den Jahren 1582—85 die Kirchheimer
Saalfiguren aus. Sie sind tiberlebensgroB aus gebranntem Ton geformt und trotz
dieses weder edien noch zu solchen Ausmaßen besonders haltbaren Bildstoffs aus-
gezeichnet erhalten. Das Thema ist im Sinne der Zeit ein heroisches*). Berühmte
Männer und Frauen der antiken und der deutschen Geschichte stehen einander
gegenüber. Cyrus, Alexander, Cäsar, Augustus, Karl der Große und Karl V. (Abb. 8).
Judith, Lukretia, Helena und Adelheid, die Gemahlin Karls V. bilden ihre weib-
lichen Gegenstücke. Auch am Kamin hat Hubert Gerhard im Jahre 1587 den
plastischen Schmuck ausgeführt. Mars und Venus erscheinen hier im ersten
Stadium der Verliebtheit. Über das Mittelstiick des Kamins hinweg werden erst
Blicke und Worte ausgetauscht. Über ihnen schmiedet jedoch schon Vulcan das
Netz, in welchem er das Paar fangen wird. Wieder ist man durch Lills Forschung
über diese Werke genau unterrichtet. Alle sind sie rasch und flüchtig hergestellt.
Gerhards Hand wird vor allem kenntlich an den sorgfältiger ausgeführten Figuren
des Kamins, wogegen der Gehilfe Pallago vielfach zu den Nischenfiguren heran-
gezogen wurde. Von ihm allein rühren wahrscheinlich die Stützhermen dieser
Figuren her.
Als Gerhards Arbeit ist schließlich noch ein Grabstein zu nennen. Hans Fugger
denkt frühzeitig an sein Grabmal: schon 1584 stellt Hubert Gerhard das Wachs-
modell fertig, nach welchem Alexander Colin in Innsbruck den Marmorblock wählt
und zuhaut. Nach dem Eintreffen des Steins im Jahre 1587 führt Gerhard selbst
den Kopf bildnismäßig in Marmor aus. Das Grabdenkmal hatte ursprünglich in
der Kirchheimer Schloßkapelle gestanden, wo es Bianconi bewunderte ). Jetzt ist
es in der Augsburger Ulrichskirche.
Noch eine Arbeit hat Hubert Gerhard 1587—94 in Augsburg vollendet: den
Augustusbrunnen. Für einen so umfangreichen und kostspieligen Auftrag wurde
der Rat zweifellos durch Gerhards Leistung im Dienst der Fugger gewonnen.
Durch Buffs und Rogges Forschungen ist man über die Entstehungsgeschichte
dieses Brunnens sehr gut unterrichtet). Er wiederholt offenbar die Anlage des
Mars-Venus-Amor-Brunnens, ohne daß Muscheln vorgesehen waren. Ein mittlerer
Pfeiler trägt die Gestalt des großen Namenspatrons. Zu seinen Füßen liegen auf
(x) Lill, a. a. O., 8. 119.
(2) Vgl. Weisbach, Die Kunst der Gegenreformation. Berlin 1921.
(3) Vgl. Bianconi, Lettere al Marchese Filippo Hercolani...sopra alcune particolarista della Baviera.
Lucca 1763. — Lill, a, a. O., 121 ff.
(4) Buff, Augsburg in der Renaissancezeit, Bamberg 1893, und Rogge, Die Augsburger Brunnen, Ztschr.
f. bild. Kunst, 17. Bd., 1882.
84
ww. vn vr.
TAFEL 18.
Abb. 1. Büste Wilhelms V, Modellierzement, Abb. 2. Kaiserkopf, Erz, lebensgroß,
lebensgroß. Bayr. Nat.-Mus. Erzgießerei von Miller.
Ky Ned
FLAN"
Abb. 3. Kopf des Ritters auf der NO Ecke des Abb. 4. Kopf des Ritters auf der S.-W. Ecke des
Ludwigsgrabmals, Erz, lebensgroß. Ludwigsgrabmals, Erz, lebensgroß.
München, Frauenkirche. Munchen, Frauenkirche.
Zu: W. A. Luz: Hubert Gerhards Tätigkeit in Augsburg und Münden.
dem Brunnenrande vier Flußgötter, während auf den Eckvoluten des Sockels vier
Bübchen und in der Seitenmitte vier Sirenenhermen angebracht sind. Aus den
Urkunden über den Augustusbrunnen wird auch ersichtlich, daß Hubert Gerhard
Holländer war und aus Hertogenbosch stammte. Die Lösung, welche Ammanati
mit seinem Neptunbrunnen gebracht hatte, Beckenrandfiguren zu Füßen der Sockel-
figur, übernimmt auch Hubert Gerhard.
Inzwischen war Hubert Gerhard auch schon für den Münchener Hof beschäftigt.
Herzog Wilhelm V. betraut ihn im Jahre 1584 mit einer Arbeit für die Münchener
Franziskanerprozession, einem Christus und zwei Schächern am Kreuz. Wahr-
scheinlich ist, daß sie aus vergänglichem Stoff hergestellt waren. Sonst hätte man
vermuten dürfen, es wären die Stücke, weiche Hainhofer in Wilhelms V. Ein-
siedelei Schleißheim in Erz gegossen sieht). Bedeutungsvoll ist aber die Nach-
richt deshalb, weil sie beweist, daß Hubert Gerhard im Dienste der Fugger nicht volle
Beschäftigung fand. An Werken gehört dieser Zeit die Holzbüste Wilhelms V. an,
welche an unzugänglichem Platze in einem Durchgang zur Sakristei der Michaels-
kirche steht. Nach dem Lebensalter des Dargestellten gehört diese Büste in den
Anfang der 80er Jahre. Sie ist das erste erhaltene Werk Gerhards, das bisher іп
München nachzuweisen ist. Da das Holz mit Bronze überstrichen ist, wird man
in der Vermutung bestärkt, daß es sich um ein Holzmodell für einen Erzguß han-
delte, der nicht zur Ausführung kam. In der Folgezeit taucht Gerhards Name
immer wieder in den Urkunden auf. Beschäftigt teils mit Sonderaufträgen, teils
mit laufender Arbeit, kommt er sowohl in den Hofzahlamtsrechnungen als in dem
Materialienbuch und den Jesuitenakten vor, 1589 wird er mit einem Gehalt von
100 fl. fest angestellt“.
Die Werke, welche er in München schuf, lassen sich nach ihren Aufstellungs-
orten in zwei Gruppen einteilen. Hubert Gerhard stattet die Höfe und Gärten der
Residenz mit Erzbrunnen aus, und er liefert den plastischen Schmuck der Michaels-
hofkirche, die Nischenfiguren aus Gips und Erz und die Erzbildwerke zum ge-
planten Wilhelmsgrabmal. Abseits von diesen umfangreichen plastischen Gesamt-
kunstwerken liegen der Ferdinandsbrunnen auf dem Rindermarkt, die Muttergottes
auf der Mariensäule und das Grabmal des Kardinals Philipp im Regensburger Dom.
Auch in München währte es wohl mehrere Jahre, bis die Einrichtung der Gieß-
hütte soweit gediehen war, daß auch große Stücke ausgeführt werden konnten.
Nach der Menge der überlieferten und literarisch bekannten Werke ist jedoch an-
zunehmen, daß der Betrieb von einem Zeitpunkt nach der Mitte der 80er Jahre
frühestens bis zur Abdankung des Herzogs Wilhelm im Jahre 1596, ja vielleicht
noch ein paar Jahre später nicht mehr ruhte. Hubert Gerhard, der Künstler, und
Herzog Wilhelm V., der Auftraggeber, scheinen sich gegenseitig angespornt zu
haben. Immer größer, immer ausgreifender werden ihre Pläne. Hubert Gerhard
sieht sich schließlich außerstande, sie allein zu bewältigen. Vielfach muß er sogar
die Wachsmodelle Gehilfen anvertrauen. Wenn schließlich sich die Landstände
ins Mittel legen und den Rücktritt Wilhelms V. erzwingen, um den Staatsbankrott
zu vermeiden, der infolge der riesigen Kunstunternehmungen drohte, so hat daran
der kostspielige Betrieb der Gießhütte nicht die geringste Schuld.
Eine der ersten Arbeiten, welche Hubert Gerhard für die Residenz ausführte,
(1) Haeutle, Die Reisen. . Hainhofer u.s.f., a, a, О. Ztschr. d. Hist. Vereins f. Schwaben und
Neuburg. 8. Jahrg., Augsburg 1881, 8. 123.
(2) Westenrieder, a. a. O., Ш., 8. тоз.
85
war wohl der Perseusbrunnen des Grottenhofs. Auf ihn bezieht sich wahrschein-
lich ein Eintrag im Malerbuche, auf welchen schon Rée aufmerksam machte).
Bassermann-Jordan, der eine erhaltene Zeichnung zu diesem Brunnen Friedrich
Sustris zuschreibt, könnte ich nicht zustimmen, wenn er dem Hofmaler Wilhelms V.
den ganzen Erzbrunnen geben wollte). Wohl zeigt der Perseus, verglichen mit
einem gesicherten Werke Gerhards, wie dem Kaiser Augustus vom Augustus-
brunnen, sehr viel schlankere Körperverhältnisse und zierlichere Bewegungen. Aber
die Einzeldurchbildung des Lederpanzers wie des Schurzes ergibt andererseits auf-
fallende Übereinstimmungen. Auch die Form der Ohrmuschel läßt sich aus an-
deren gesicherten Werken Gerhards belegen, und die tänzelnde Bewegung läßt
sich auch im Alexander des Kirchheimer Saals erkennen. Den Ausschlag gibt für
mich nicht die spätere Unterschrift der Zeichnung, von welcher Bassermann-Jordan
ausgeht. Aber man darf ihrem zweiten Teil doch nicht überhaupt keine Beachtung .
schenken, wenn auch hier die Tinte verblaßt ist. Er lautet: „.. . E aeris stat:
f. Hub. Gerardi.“
Beim Wittelsbacher Brunnen hat man sich immer wieder durch die geringere
Güte des Gusses und durch die Leichtigkeit, mit der die vier Götter monumental
eingebunden sind, von der Zuschreibung des gesamten Werks an Gerhard abhalten
lassen (Abb. 5 u. 7). Haeutles Versuch, den Brunnen bis in die 70er Jahre zurück-
zuführen, ist jedoch stilistisch ganz unhaltbar“). Das Werk stammt bis auf die
Wappendekoration des Pfeilersockels, welche der maximilianischen Zeit angehört,
aus der Hand Hubert Gerhards, wenn es auch nicht sicher ist, daß er schon die
vier Götter vorgesehen hatte. Ihre Steinsockel mußten ja rlickwärts abgeschrägt
werden, da sie für den schmalen Schalenrand viel zu breit sind. Es könnte sein,
daß diese vier Götter aus den Wilhelminischen Gärten stammen und anläßlich der
Maximilianischen Neubauten umgestellt wurden. Die früheste Wiedergabe des
Brunnens aus dem Jahre 1613 zeigt schon die gegenwärtige Aufstellung‘).
Die Anlage des Wittelsbacherbrunnens entspricht völlig der des Augustusbrunnens,
Auf einem mittleren Pfeiler erhebt sich das Standbild des Grafen Otto von Wittels-
bach, des Begründers der bayrischen Dynastie. Auf den Schalen lagern vier FluB-
götter. Sie kommen diesmal auf die Kreisbigen des vierpaßförmigen Grundrisses
zu liegen, wo sie beim Augustusbrunnen auf dessen Ecken ihren Platz gefunden
hatten. Die schon erwähnte Abweichung liegt vor, daß vier Götter kleineren Maß-
stabs auf den Ecken des Vierpasses Aufstellung gefunden haben. Zug um Zug
sind die einzelnen Figuren auf gesicherte Werke Gerhards zurückzuführen, so
etwa die Mantelbehandlung rückwärts und vorwärts auf dem Kaiser Augustus in
Augsburg und die Kaiserreihe in Kirchheim oder Juno und Vulkan auf Venus und
Vulkan am Kirchheimer Kamin. Die Tritonenbübchen, welche in den Ecken
der Schale auf Seetieren reiten, sind so lebhaft bewegt wie die vier Bübchen des
(1) Ree, Peter Candid. Leipzig 1885, S. 88 f.
(2) Bassermann-Jordan, Der Perseus des Cellini und der Perseusbrunnen in München, Münchener
Jabrb. f. bild. Kunst 1906.
(3) Haeutle, Residenz, 5. 28. (Text zu Böttger, Die Innenräume der kel, Alten Residenz... München 1805.
Vgl. auch Buff, Jahrb. f. Münch. Geschichte. 4. Jahrg. Bamberg 1890, S. ı fl.
(4) Zimmermann, Wilh. Pet., Beschreibung...der... Hochzeit... Wolfgang Wilhelm Pfaltzgraff bey
Rhein... mit der... Magdalena... Hertzogin in Ober und Nidern Bayrn zu München.. , Augsburg 1614.
Aus Fröschels Bericht aus dem Jahre 1596 erfährt man leider nur, daß ein schöner Röhrkasten im
Belvedere der Residenz steht. Es könnte ebensogut der Perseus- wie der Wittelsbacher Brunnen
gemeint sein. Roth, Ztschr. d. Hist, Vereins für Schwaben und Neuburg 1912, 8. 57 ff., Anm. 3.
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Augustusbrunnens und tragen teilweise entsprechenden Lockenaufbau Nur die
vier Tierkämpfe, welche mit ihnen abwechseln, lassen sich noch nicht auf Be-
kanntes zurückführen. Vergleicht man aber die Löwenköpfe mit den Köpfen der
Löwen vor den Residenztoren (Abb. 14, 15), welche sogleich als für Hubert
Gerhard gesichert nachgewiesen werden, so wird man Übereinstimmungen sowohl
im Ausdruck des Affekts wie in der Behandlung der glatten und der behaarten
Oberflächen finden. In diesen phantastischen Tiergruppen steckt vielleicht etwas
von der heimatlichen Kunstweise des Meisters. Hubert Gerhard wuchs ja auf im
Kunstkreise des Hieronymus Bosch. Am leichtesten überzeugt man sich jedoch von
der Autorschaft Gerhards an diesem Werk, wenn man ein Figürchen wie die Ceres
mit der Badenden Nymphe des Giovanni da Bologna aus den Boboligärten ver-
gleicht!). Es stellt sich heraus, daß sie eine wortwörtliche Kopie ist. Sie anzu-
fertigen konnte doch nur ein unmittelbarer Schüler des Florentiner Bildhauers
unternehmen.
Haben sich diese beiden Brunnenanlagen erhalten, so ist eine Anzahl weiterer
Erzbrunnen und Gartenfiguren zerstört (Abb. 13). Bruchstücke einer figurenreichen
Gruppe, welche Hainhofer beschreibt, finden sich heute im Königsbauhof?). Der
Neptun stand ursprünglich vor einer Nische inmitten eines kleinen Teiches. Haeutle .
will ihn zwar erst in der Zeit Max Emanuels entstanden wissen“), Hainhofer hat
ihn jedoch schon bemerkt und verschiedentlich erscheint er auf Stichen der Resi-
denz im südlichen Residenzgarten vor einer nischenförmigen Grotte aufgebaut. Die
Satyrn und Flußgötter erwähnt Hainhofer schon in diesem Zusammenhang, nicht
mehr festgestellt werden kann jedoch das Weib oder die Wassergöttin, welche
neben dem Neptun stand. Es unterligt keinem Zweifel, daß die vorhandenen
Stücke aus der Hand oder aus der Werkstatt Hubert Gerhards hervorgegangen
sind. Für eigenhändig halte ich den Neptun. Obwohl der Körper mager und
sehnig ist, läßt er sich in der ausgreifenden Bewegung mit dem Neptun des
Wittelsbacher Brunnens vergleichen. Die Bartbehandlung führe ich über die FluB-
götter des Wittelsbacher Brunnens auf den Lech und den Brunnenlech des
Augustusbrunnens zurück. Später wird es vielleicht auch einmal möglich sein,
die Gehilfen, welche bei den Satyrn und den Flußgöttern geholfen haben, nament-
lich festzulegen. Die Hand des Meisters verrät sich stärker bei den Satyrn. Da-
gegen wird die Persönlichkeit des Gehilfen, der die Flußgötter schuf, auch in
einigen anderen Werken deutlich, so in den vier Erzreliefs der Michaelskirche
und der Meermann-Grabplatte der Frauenkirche. Es dürfte jedoch kaum gelingen,
die Urheber der drei Göttinnen zu bestimmen, welche im gleichen Hof Aufstellung
gefunden haben. Die Venus mit dem Spiegel ist ein anmutig bewegtes Figtirchen.
Da es nachweisbar ist, daß der Hofmaler Friedrich Sustris Zeichnungen für Bild-
werke lieferte und selbst als Plastiker auftrat, könnte sich vielleicht in ihr sein
Einfluß geltend machen‘).
Die Bübchen des Grottenhofs sind Bruchstücke aus einer Brunnenanlage, von
(1) Abbildung bei Desjardins, Vie et oeuvre de Jean, Boulogne 1883.
(2) Haeutle-Hainhofer, а. а. O., 8. 74 ff.
(3) Haeutie-Böttger, а. а. O., 8. 94.
(4) Zottmann, Über die Gemälde der Michaelshofkirche. Münchener Jahrb. d. bild. Kunst 1910, 8.71 ff.—
„1580, 9. Juni, Fried. 8. Bildlin zu poss. u.s.f. u. Gmelin, Die St. Michaelshofkirche in München und
ihr Kirchenschatz. Bamberg 1890, S. 53. Auszug aus Jesuitenakt 1777 b. Fol.: „mangle allein an
deme, dass die Tafeln so aus Metall zu giessen, und Friedrich Suchtris die visier darzue fertigen soll,
noch nit vorhanden.“
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welcher Hainhofer nichts berichtet. Waren Wasserzuleitung und Wasserauslauf
so angebracht, wie man sie heute nach den Löchern im Rücken und im Leib der
Bübchen ergänzen muß, so müßten wir von diesen Brunnenfigürchen in einer zu
auffälligen Verrichtung begriffen gewesen sein, als daß sie ein Besucher der Resi-
denz nicht bemerkt hätte. Vier andere von den Bübchen sind beschäftigt, schwanen-
halsige Ungeheuer zurückzuhalten, während die schon genannten vier ersten Del-
phine fassen. Es sind sämtlich Werkstattarbeiten. Die leichte, mit der Schwie-
rigkeit spielende Behandlung der Drachenköpfe läßt hier jedoch die Hand des
Meisters vermuten. Auch das Köpfchen des völlig nackten Jungen mit dem Delphin
zeigt eine geschickte Wiedergabe der Haut und des Lockengekräusels, welcher die
des übrigen Körpers in keiner Weise entspricht. An diesen Stellen würde ich die
bessernde Hand Hubert Gerhards vermuten. Der Grottenhof birgt in noch ur-
sprünglicher Aufstellung einen Merkur auf dem Windstoß, der in der Muschelgrotte
auf ein Hiigelchen von Kristallen, Gesteinen, Sintern und Muschelschalen aufgesetzt
ist. Seine Patina ist außerordentlich schön. Unter der grünen Haut schimmert
das vergoldete Erz hindurch. Die vielfach körnige Oberfläche fällt auf. Ich glaubte
eine Zeitlang in diesem Werk die „opera anticha“ erkennen zu sollen, welche der
Großherzog von Toskana im Jahre 1596 an den Herzog Wilhelm von Bayern
sandte). Darin folgte ich Schlosser). Das Stück ist zu gering, um als Original
aus Giovanni da Bolognas Hand gelten zu können: Brinckmann dürfte darüber wohl
seine Entdeckungen veröffentlichen. Ebensowenig kommt Hubert Gerhard in Be-
tracht für die badende Nymphe, welche früher hinter der Schatzkammer stand und
während des Krieges nach Berchtesgaden gebracht wurde. Ein Vergleich mit
dem Herkulesbrunnen in Augsburg läßt die Zuschreibung an Adriaen de Vries als
sicher erscheinen. Der Schmiegsamkeit weiblicher Körperumrisse weicht Gerhard
immer aus,
Schon Maximilian hat Erzfiguren aus dem südlichen Residenzgarten nach dem
Hofgarten gebracht, den er an der Stelle des heutigen außerhalb der Mauer an-
legen ließ. Auf das Tempelchen, welches er in seiner Mitte errichten ließ, stellte
er wahrscheinlich die Bavaria. Im Jahre 1611 hatte sie Hainhofer noch im süd-
lichen Residenzgarten gesehen und beschrieben?).
Man bemerkt eine Anzahl von kleinen Veränderungen. So trägt die Figur heute
kein Eichenlaub mehr auf dem Kopf und auch von Salzscheibe und Salzpfanne
sieht man heute nichts mehr. Obwohl Hainhofer das Hauptstück, den Reichsapfel
inder Rechten, nicht nennt, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß mit Hain-
hofers Beschreibung die Bavaria auf dem Hofgartentempelchen gemeint ist. Heute
(z) Baldinucci, II, 572.
(2) Schlosser, Werke der Kleinplastik in der Figurensammlung des a.h. Kaiserhauses, Wien тото,
1, 8. то.
(3) Haeutle-Hainhofer, а. а. O., S. 75: „.. . ein grosser felsenberg oder grotta, darauf stehet ein
gross Metallin Weibsbild lebensgrösse, die hat auf ihrem huet ein Aichen laub, welches das gehültz
inn Bayern bedeüttet, umb den rechten arm hangt aine hirschbaut mit ainem gossenen hirschkopf
und gewicht daran, dass bedeutt das gewild inn Bayerland; inn der linckhen Hand hats einen eher,
der bedeüttet dass getrayd, bey den füessen ligt ein weinfisslin, dass bedeuttet den Weinwachs inn
Under Bayrn, darneben aine Saltzscheüben, die bedeüttet das Saltz und Saltzpfannen. Umb den Berg
hero fische, schneckhen, muschlen, die bedeüttet das Saltz und Saltzpfannen. Umb den Berg hero
fisch, schneckhen, muschlen, die bedeutten das wasser und die fisch. Vor dem Bild stehet ein
grosser hund und bär, die den hauffen wasser ausspeyen, welches auch, dass dise thier so gross imm
Bayrland fallen und gefunden werden, bedeüttet.“
88
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umgeben die Bavaria vier Bübchen mit je einem Eichenzweig, einem Kurfürsten-
hütchen, einer Kapelle und einem Füllhorn. Während aber die Bavaria die Stil-
merkmale Gerhards aufweist, weichen die Bübchen merklich davon ab. Die Bavaria
hat die langen schlanken Beine, die schmalen Brüste und den hohen Hals der
Flußgöttinnen am Augustusbrünnen, bei den Bübchen vermißt man jedoch die
Beweglichkeit Gerhards. Sie stammen von Gerhards Schüler und Nachfolger Hans
Krumper und sind Arbeiten, welche offenbar anläßlich der Umstellung der Figur
ausgeführt wurden. Von der Tiergruppe aus Hainhofers Bericht haben sich offen-
bar die Hunde erhalten, der Bär ist dagegen verloren. jene stehen augenblicklich
im Bayrischen Nationalmuseum. Es ist ein glatthaariger und ein langhaariger Hund,
welche beide mit einem Wasserauslauf durchs Maul versehen sind. Ihr späterer
Aufstellungsort war der Teich, welcher, ehemals zum Hofgarten gehörig, in der
Niederung vor dem Armeemuseum angelegt war. Auf den Stichen (Wening) glaubt
man sie zusammen mit dem Bären dort auf einer Insel zu erkennen!). Daß sie
vor 1593 entstanden sind, beweist ihre Nachahmung auf einem Grabstein in der
St. Annakirche zu Augsburg mit der Auferweckung des Lazarus, Er gehörte zum
Hopferschen Grabdenkmal, das so zu datieren ist”. Daß diese Hunde innerhalb
des Schulzusammenhangs der Gerhardwerkstatt entstanden, beweist die Über-
schneidung der Iris durch das obere Augenlid, was ein Stilmerkmal Hubert Ger-
hards ist. Der Meister scheint aber hier dem Gehilfen nicht einmal mit einer Vor-
zeichnung an die Hand gegangen zu sein.
Das bayrische Nationalmuseum bewahrt noch weitere Werke auf, welche Hubert
Gerhard und seine Gehilfen für die ehemaligen Gärten der Residenz schufen. So
gingen aus der Werkstatt des Meisters die vier Jahreszeiten hervor (Abb.9). Hain-
hofer nennt mehrfach vier Jahreszeiten, so im Grottenhof und auf dem Rundtempel
des südlichen Residenzgartens. Leider versäumt er, eine nähere Beschreibung zu
geben. Die vier Jahreszeiten des Bayrischen Nationalmuseums sind sehr sorgfältig
ausgearbeitete Stücke. Der Frühling und der Sommer stellen die Verbindung zu
Gerhards Werk am leichtesten her. Sie bringen Haltungstypen und Gesichtstypen,
welche der Lukretia vom Kirchheimer Saal und den Flußgöttinnen vom Augustus-
brunnen entsprechen. Zugegeben muß jedoch werden, daß Hubert Gerhard weder
ein so studiertes Faltenrelief, noch papierdünne Blumenblätter zu bringen gewohnt
ist. Zugegeben muß auch werden, daß die tiberschlanken Körperverhältnisse Ger-
hards hier ausgeglichen sind. Verbirgt sich hinter diesen Werken nicht ein selb-
ständiger, sehr geschickter Gehilfe Gerhards, so gehören sie zum mindesten der
letzten Zeit in München an. Noch immer glaube ich auch hier ein Durcheinander-
arbeiten von Lehrer und Schüler annehmen zu sollen. Um so wahrscheinlicher
ist mir dies, als Hans Krumper für den Winter durch Stilvergleich aus seinem
eigenen Werke als Urheber festgestellt werden kann. Für den Frühling, den
Sommer und den Herbst ist meines Erachtens eine Beteiligung Hubert Gerhards
nicht auszuschließen. Ähnliche Verhältnisse liegen bei der Virtus und der Nymphe
mit dem Herzen des Bayrischen Nationalmuseums vor. Hat sich jedoch die Arbeit
Gerhards bei jener Figur bestenfalls auf den Kopf beschränkt, so hat er diese
offenbar überhaupt nicht berührt. Nach der Anregung seiner Werke scheint sie
ein stiimpernder Gehilfe selbständig zusammengesetzt zu haben. Ein Werkchen,
das man wohl als Original aus der Hand Gerhards ansprechen muß, liegt aber in
den beiden Feuerhunden des Bayerischeu Nationalmuseums vor.
(x) Trautmann, Die Wartburg. München 1874, 8. 71 und 1881, 8. 54.
(2) Abbildung bei Kempf, Alt-Augsburg 1898.
Aus den Residenzgärten stammt auch eine Anzahl von Figuren, welche im Lauf
des vorigen Jahrhunderts zum Einschmelzen in die Erzgießerei von Miller gebracht
wurden (Abb. 2). Eines prachtvollen Kaiserkopfes erbarmte man sich. Er wurde
ausgeschnitten und blieb so glücklicherweise erhalten. Marc Aurel nachempfunden
blickt er lorbeerbekränzt aus großen schwärmerischen Augen seitwärts. Es ist
gewählte feine Arbeit, so fein, daß man einen Augenblick daran zweifeln mag, ob
so etwas aus der Hand Gerhards hervorgehen konnte. Ich glaube, die Frage nach
dem Vergleich der Bart- und Augenbehandlung sowie der Panzerornamentik be-
jahen zu können. Den Gegensatz zum übrigen Werk erkläre ich daraus, daß
Hubert Gerhard sich für die Ausführung dieses Kopfes Zeit günnte, wogegen er
sonst oft unter dem Zwang der Großaufträge flüchtig arbeiten mußte. Einmal ist
er diesem Gesichts- und Haartypus schon nahe gekommen, im Brunnenlech des
Augustusbrunnens. Der Kaiserkopf scheint mir jedoch wie die Jahreszeiten in den
ausgeglichenen Verhältnissen von Länge und Breite in den letzten Jahren der
Münchener Tätigkeit entstanden zu sein.
Ein Werk aus den Residenzgärten, das völlig verloren ging, muß noch genannt
werden. Auf dem erwähnten Rundtempelchen des südlichen Residenzgartens war
ein fliegendes Pferd aus Erz angebracht. An der Hand der kleinen Stichnachbil-
dungen bleibt es durchweg ungewiß, ob dieses Werk gegossen oder getrieben war.
Auch die Berichte erwähnen nur den wunderbaren Gegenstand, nicht den Bildstoff!).
Andererseits kann auf einige Nachrichten von einem ähnlichen Werke hingewiesen
werden, das man mit einer gewissen Sicherheit Hubert Gerhard zuschreiben kann,
wiewohl es verloren ist. Auf dem Rindermarkt vor dem Hause des Herzogs Fer-
dinand stand ein Brunnen, in dessen Mitte ein Ritter auf einem springenden Pferd
aufgestellt war. Zu seinen Füßen, offenbar auf der Brunnenschale, sitzen Wasser-
götter). Der Brunnen scheint also das Schema der Gerhardischen Anlage wieder-
holt zu haben, wie man sie vom Wittelsbacher und vom Augustusbrunnen her
kennt. Neuerdings ist auch von Feulner eine Zeichnung gefunden worden, welche
diesen Brunnen wiedergibt. Ein Ritter mit wehendem Federbusch galoppiert auf
einem Pferd, dessen Vorderleib durch einen Baumstamm abgestützt wird. Aller-
dings fehlen auf diesem Blatt die vier Wassergitter oder Elemente. Da man
jedoch vermuten muß, daß es eine Zeichnung für die Schale und ihre Profile ist,
wäre es nicht verwunderlich, wenn die Figuren weggeblieben wären, um die Deut-
lichkeit nicht zu beeinträchtigen. Mit auffälliger Sorgfalt ist die Schale nach-
gezogen, wogegen der Ritter flüchtig mit der Feder hingestrichen ist.
Das zweite Feld seiner Tätigkeit findet Hubert Gerhard in der Michaelskirche.
Wie in der Residenz scheint ihm auch hier das gesamte plastische Programm unter-
stellt gewesen zu sein. Unter seiner Leitung entstehen die Scharen der Engel mit
den Leidenswerkzeugen im Hauptschiff und die Apostel und Ordensgründer im
Chor, alles Werke, welche noch in Gips hergestellt wurden und eine größere Zahl
Gehilfen voraussetzen. Der Meister allein arbeitet jedoch an dem mächtigen Erz-
bildwerk, das die Schauseite schmücken soll. Die Gruppe des Erzengels Michael
ist für Gerhard urkundlich gesichert®). Hier sei nur gestattet, auf die Erfindung
des Teufels hinzuweisen, welche eine eigentümlich krause Einbildungskraft verrät.
(1) Haeutle-Hainhofer, a. a. O., 8.76.
(2) Braun und Hohenberg, Contrafaktur und Beschreibung von den vornehmbsten Stätten der Welt.
4 Bde, Cölln 1590, und Greill von Seinfeldt, Ein schöner Lobspruch von der fürstlichen Hauptstadt
München, München 16:11.
(3) Westenrieder, a. a. O., 8. 109.
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Abb. 10. Sirenenherme vom Sockel Abb. 11. Kardinal Philipp, Erz, lebensgroB.
des Mars-Venus-Amor-Brunnens, Erz, Regensburg, Dom.
lebensgroß. B. N. M. (Phot. Sternetseder).
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Abb. 12. Weihbrunnengel, Erz, lebensgroß. | Abb. 13. Neptun und Satyr. Erz, lebensgroß.
München, Micdhaelshofkirce. München, Residenz.
Zu: W. A. Luz: Hubert Gerhards Tätigkeit in Augsburg und Münden.
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Wie bei den Tierkämpfen des Wittelsbacher Brunnens (Abb. 7) glaube ich in der
grotesken Art, mit welcher an ihm die Züge der Häßlichkeit gehäuft sind, die
heimatlichen Elemente in der Kunst Hubert Gerhards feststellen zu können. Der
Hieronymus Bosch-Einschlag tritt hier wieder in Erscheinung. Größere Schwierig-
keiten bietet jedoch die Zuweisung des Wappens unter dem Erzengel Michael.
Auf dieses Wappen hat man einen Eintrag bezogen, welchen Gmelin aus den
Jesuitenakten mitteilt i). Dieses Wappen zeigt Engelchen, welche das Kurfürsten-
hütchen und die Kette des Goldenen Vließes halten. Sie stehen keck auf Kar-
tuschenbögen. Den Abschluß nach unten bildet ein Löwenkopf, der zwei seitwärts
herabhängende Bänder im Maule hält. Diese vielteilige lockere Form hebt sich
ab von einem Tuch, das im Hintergrund gespannt ist. Meiner Ansicht nach ist es
trotzdem nicht möglich, dieses Wappen Hubert Gerhard abzusprechen. Aus der
Häufung der unplastischen Schmuckmotive kann man nur schließen, daß vielleicht
ein Maler für die Entwurfsskizze verantwortlich zu machen wäre. Die Möglichkeit
bleibt aber immer noch offen, daß die Tafel, welche aus Metall zu gießen war,
eine einfache Inschriftentafel ist, deren Maße vom Architekten bestimmt werden
mußten. Die Urheberfrage der Michaelskirche würde dann einen neuen Stoß (durch
diese winzige Notiz) bekommen. Es kann jedoch nicht die Absicht sein, jüngste
wohlbegründete Zuschreibungen des ehrwürdigen Gebäudes damit zu erschüttern.
Festgestellt sei aber schließlich, daß das Wappen der Michaelshofkirche Hubert
Gerhard nur mit gewissen Vorbehalten zuerteilt werden kann, welche der persön-
lichen künstlerischen Form weite Spielräume sichern.
Wie der Erzengel Michael sind auch eine Anzahl Werke für Hubert Gerhard
gesichert, welche für das Wilhelmgrabdenkmal in der Michaelskirche bestimmt
waren, einem Riesenplan, der die Kraft des Auftraggebers überstieg. Peltzer hat
die sehr wichtige Nachricht in die Fachliteratur eingeführt. Da bei der Deutung
Abweichungen von Peltzer notwendig werden, sei nochmals der volle Wortlaut
hierher gesetzt). Im Jahre 1596 standen offenbar die gesamten Figuren fertig
da. Gerhard zeigt diese Teile eines gewaltigen Werks stolz der Augsburger Ge-
sandtschaft, deren Mitglieder er sicher aus der Zeit seiner Arbeiten für die Fugger
und den Rat persönlich kannte. Zweifellos sind der Engel (Abb. 12) in Fröschels
Bericht identisch mit dem Weihbrunnengel der Michaelskirche, die vier Helden
mit den vier Rittern vom Ludwigsdenkmal (Abb. 3, 4) und die vier Löwen mit
den Löwen, welche heute vor der Residenz stehen (Abb. 14, 15). Die beiden
großen Frauenfiguren sind jedoch offenbar verloren, denn es geht nicht an, sie mit
(x) Gmelin, die St. Michaelshofkirche in München und ihr Kirchenschatz. Bamberg 1890, 8.53 und
oben Anm. 3, S. 87.
(2) Roth, Der Augsburger Jurist Hieronymus Fröschel und seine Hauschronik von 1528—1600. Ztschr,
d. Hist. Vereins f. Schwaben und Neuburg 1912, S. 57 ff.: „Am 24 April hat m. Ruprecht Gerhardi,
statuarius, ein Niederländer, mit uns gen mittag gessen, welcher hie auf dem Perlach den götzen-
rörkasten formirt und gossen und jetzt zu München in die neue Jesuitenkirchen ein gantzen haufen
götzen, desgleichen h. Wilhelmen begrebnus gar kunstlich mit gegossenen bildern zugericht.
Am 25. April hat uns obengenannter m. Ruprecht vormittags in der Jesuiter noch unausgebaute
Kirchen gefuert, davon in einem Gemach beisammen gesehen 25 grosse heilgen bilder, so in ge-
dachte kirchen kommen sollen, grösser als menschengrösse, er fiert uns auch in sein werckstatt; dar-
nach abends an andre ort, alda wir gesehen etliche schöne stuck capitel und gesimps von schwartzem
marmelstein. Item ein grosses crucifix, mannsgröss, von metall gossen, so der treflich künstler Joann
de Bologna, jetziger Zeit zu Florentz, soll gemacht haben. Item ein grossen engel, 2 grosse weibs-
bilder, 4 helden oder ritter, vier lewen, alle zu dem fürstlichen epitaphio gebörig, gar künstlich von
ime, m, Ruprechten, gemacht.“
denen gleichzusetzen, welche heute am Ludwigsgrabdenkmal angebracht sind. An
anderer Stelle werde ich beweisen, daß diese der Zeit der Errichtung des
Ludwigsgrabdenkmals angehören und von Hans Krumper geschaffen sind. Der
Gekreuzigte Giovanni da Bolognas hat sich gleichfalls in der Michaelskirche er-
halten. Zu ihm hatte Hans Reuchlen die Maria Magdalena im Jahre 1595 her-
gestellt, von welcher Fröschel nicht spricht, da Gerhard den Augsburgern nur
seine eigenen Werke vorführen wollte'). Zweifel sind dariiber aufgetaucht, ob alle
vier Ritter und alle vier Löwen Gerhards Werk seien. Ich verkenne die Unter-
schiede innerhalb der Gruppen nicht. Die Ritter, welche heute auf der Ostseite
des Ludwigsgrabdenkmals stehen (Abb. 3), erscheinen in der Oberflächenbehandlung
der Rüstung, der Haut und des Bartes trockener. Nach Ausweis der alten Zeich-
nungen, welche die Graphische Sammlung aufbewahrt, befanden sie sich ursprüng-
lich auf der Nordseite des Grabmals. Erst bei dessen Versetzung aus dem Chor
hat man sie ausgetauscht. Zu der weniger sorgfältigen Ausarbeitung dieser beiden
Ritter mochte sich Hubert Gerhard im Hinblick auf den dunklen Aufstellungsort
im Schatten des Grabüberbaus berechtigt halten. Einzelnes mochte selbst in der
Eile der Arbeit Gehilfen überlassen geblieben sein. Durch die Vergleichung der
Augenbehandlung gewinne ich jedoch die Überzeugung, daß Gerhard das Wesent-
liche auch an diesen Figuren selbst schuf. Auch die Löwen vor den Residenz-
toren sind paarweise verschieden. Während das Paar vor dem Kaiserhoftor be-
haglich schnauft (Abb. 14), knurrt das vor dem Kapellentor drohend (Abb. 15). Die
Behandlung des Felles und der Mähne rechtfertigen nicht, daß man für den an-
deren Affekt einen anderen Künstler verantwortlich macht. Lediglich die Schilde
sind entsprechend dem neuen Schmuckprogramm der Residenzschauseite mit anderen
Füllungen versehen worden. Nur diese sind nicht Gerhards Werk.
Fröschel berichtet über einige Stücke nicht, welche gleichfalls zum Grabmal
Wilhelms V. gehörten und sich bis heute erhalten haben. Die vier Erzleuchter,
welche auf den Schranken des Haupt- und zweier Seitenaltäre stehen, sind zweifel-
los auch von Hubert Gerhard geschaffen worden. Zwar sind mir keine Vorbilder
aus der Bolognawerkstatt bekannt geworden, auf welche sie sich unmittelbar zurtick-
führen ließen. Auch scheinen die zierlichen Blumengewinde und die sorgfältige
Kleindurchbildung dem Geiste des Gerhardischen Werkes zu widersprechen. Als
Grund gegen die Zuschreibung an Gerhard kann neuerdings auch geltend gemacht
werden, daß sich unter einem Packen Zeichnungen aus dem Nachlaß Hans Krumpers
die Werkzeichnung zu den Leuchtern fand). Für die Zuschreibung an Gerhard
kann jedoch gerade die Meinung des Herausgebers dieser Zeichnungen angeführt
werden. Feulner glaubt, dieses Blatt, welches einen Leuchter in natürlicher Größe
wiedergibt, seiner schwungvollen Strichführung wegen aus der Menge der übrigen
Zeichnungen absondern und einem anderen Urheber zuteilen zu müssen. Sein Stil
ist frischer und die Erfindung reicher als man sie von Krumper zu sehen ge-
wohnt ist.
Auch die vier Erzreliefs der Michaelskirche, welche Fröschel gleichfalls nicht
nennt, gehören unzweifelhaft zum Grabdenkmal Wilhelms V. Schon die Wahl
der Themen (Auferstehung des Fleisches, Auferstehung Christi, Auferweckung des
Lazarus und Auferweckung von Jairis Töchterlein) bringen den Hinweis auf ein
Grabschmuckprogramm. Aus diesem Grunde kennzeichnet sich ihre ungewöhnliche
(1) Vgl. Heigel, a. a. О, 8. 351. — Vgl. auch Luz, Hans Reuchlens Michaelsgruppe . . . Zeitschrift
für Bild. Kunst 1922.
(2) Feulner, Münchener Jahrbuch 1921 mit Abbildungen, und Luz, Kunstchronik rgaz, Nr. 49.
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Rahmung und Aufhängung an der Wand als eine spätere Maßnahme. Daß diese
Platten mit dem Grabmalsplan Wilhelms V. in Verbindung gebracht werden müssen,
beweist auch die Anbringung einer Bildnisfigur Albrecht V., in dessen Testament
angeordnet war, daß sein Nachfolger ihm ein Grabmal mit seinem Bildnis setzen
sollte 1). Ein schüchterner Versuch dazu war es, wenn sein Bildniskopf dem rechts
stehenden Jünger auf der Auferweckung des Töchterleins aufgesetzt wurde. Der
Vergleich mit dem Albrecht V., den später Hans Krumper für das Ludwigsgrab-
denkmal schuf, überzeugt von der Ähnlichkeit des Fiirstenbildnisses. Offen muß
jedoch die Frage bleiben, ob auch für das Relief Hans Krumper, damals der Lehre
Gerhards kaum entwachsen, in Betracht kommt. Nur soviel sei gesagt, daß diese
vier Reliefs offenbar nach Gerhards Angaben und unter seiner Oberleitung an-
gefertigt wurden. Eigenhändig ist auch nicht die Meermann-Grabplatte mit der
Auferstehung des Lazarus in der Frauenkirche. Auch hier dürfte der gleiche Ge-
hilfe, der Reliefmeister, gewirkt haben. Da diese vier Erzreliefs Werkstattarbeiten
waren, hatte Hubert Gerhard keinen Grund, sie der Augsburgischen Gesandtschaft
ausdrücklich zu zeigen. Fröschel erwähnt sie deshalb nicht.
Noch ein Grabmal hat Hubert Gerhard in dieser Zeit unternommen. Der Sohn
Wilhelms V., der Kardinal Philipp von Regensburg, war in der Blüte der Jugend
einem Brustleiden erlegen. Ihm wünschte der Vater ein prachtvolles Erzgrabmal
zu setzen (Abb. 11). Hubert Gerhard modellierte die Figur des Toten. Ein Kreuz-
altar scheint vorgesehen gewesen zu sein. Man entnimmt es dem erhobenen Blick
und den betend vor der Brust gefalteten Händen. Die Aufstellung, welche andert-
halb Jahrzehnte später im Dom von Regensburg erfolgte, scheint demnach dem
ursprünglichen Plan zu folgen. Wie für die Aufstellung des Ludwigsdenkmals und
die Ausführung einzelner größerer Teile ist Krumper hier für die Anordnung des
Ganzen und für das große Wappenschild verantwortlich. Die Figur des Kardinals
halte ich jedoch für ein Werk Gerhards. Seine Hand verrät sich in der nach-
lässigen Behandlung der Gewandfalten. Deren pfeilförmige Motive kommen auch
am Mantel Ottos von Wittelsbach und an dem des Kaisers Augustus vor. Hubert
Gerhards Stil macht sich vor allem auch bemerklich in der Behandlung der flei-
schigen Haut, des Haares und des Bartes. Gegen Krumper läßt sich Gerhards
Werk stets am leichtesten durch den Vergleich der Irisbehandlung abgrenzen.
Beim Kardinal Philipp ist der Lichteindruck der Iris wiedergegeben, das heißt,
deren Farbe ist plastisch verarbeitet. Krumper legt meist, sich der äußeren Ober-
fläche des Auges anpassend, ein flaches Plättchen auf den Augapfel auf, in dessen
Mitte er zur Bezeichnung der Pupille eine Grube anbringt.
Mitten in der Ausführung der größten Pläne begriffen, sollte Gerhard jedoch un-
vermittelt abbrechen müssen. Auf das Drängen der Landstände hin mußte der
Herzog Wilhelm V. abdanken. Er tat es, nachdem er sein Lieblingswerk, die
Michaelskirche, vollendet und den Jesuiten übergeben hatte. Sein Nachfolger,
Maximilian L hatte die zerrütteten Finanzen in Ordnung zu bringen. Sparsamkeit
war der Leitgedanke seiner ersten Regierungsmaßnahmen. Die kostspielige Erz-
gießerei traf in erster Linie die Stillegung. Einige Zeit zwar scheint sich Hubert
Gerhard noch in der Nähe seines Gönners aufgehalten zu haben und aus der Privat-
schatulle besoldet worden zu sein. Nach den Hofzahlamtsrechnungen empfing er
seit 1595 von dieser von den Landständen kontrollierten Stelle keine Besoldung
mehr. Aus dieser letzten Münchener Zeit mag eine Büste aus Modellierzement
stammen, offenbar ein Modell für einen Erzguß (Abb. ı). Sie zeigt den Herzog
(1) Heigel, a, a. O., 8. 365.
93
als einen Mann im Anfang der Vierziger, muß daher Ende der neunziger Jahre
dieses Jahrhunderts angesetzt werden. Daß Gerhard diesen Kopf modellierte, ver-
raten nicht allein die Zierraten der Rüstung, sondern läßt auch die Haar- und
Augenbehandlung vermuten. An den Augen ist vor allem auf die Überschneidung
der Iris durch das obere Augenlid hinzuweisen.
Hubert Gerhard verließ München, weil es hier für ihn nichts mehr zu tun gab.
Er wanderte nach Süden und von den Bergen mag er noch einmal mit Ingrimm
und Bitterkeit nach dem Lande seiner getäuschten Hoffnungen zurückgeblickt haben.
Bayern war zu klein, seine Herzöge zu arm, um dauernd eine Erzgießhütte be-
schäftigen zu können. Aber wo in Deutschland hätte ein Künstler wie Gerhard
sonst die opferfähige Begeisterung finden können? Zwei Jahrzehnte hatte man ihn
beinahe arbeiten lassen.
Einem neuen Ziele wandte er sich jetzt zu. 1602 trifft er in Innsbruck ein und
ist dort bis 1613 im Dienste des Erzherzogs Maximilian’). 1620 soll er gestorben
sein?).
Da er seine Familie in München zurückgelassen hatte, reist er zum Besuch öfters
herüber. Während eines solchen Münchener Aufenthalts könnte ein Grabdenkmal
geschaffen worden sein, das nach dem Wortlaut seiner Inschrift nach 1603 ent-
standen sein muß. Die Grabplatte des Gießers Martin Frey ist heute in der Frauen-
kirche unter dem Südturm eingemauert. Nicht für die Zuschreibung an Gerhard
scheint allerdings die übergroße Schlankheit und Leichtigkeit der Figuren zu sprechen.
Auch ist es bedenklich, daß die Bildnismedaillons der Grabplatte sich auf eine
andere Hand, auf die Hans Krumpers zurückführen lassen. Um das Werk ganz
Hans Krumper zu geben und die Stilverschiedenheit aus der Nachahmung eines
Stichs zu erklären, scheint mir das Werk jedoch zu viel Qualität im Gerhardischen
Sinn zu enthalten. Sonst kommt Gerhard für kein Münchener Erzbildwerk mehr
in Frage.
Zur Erleichterung der Übersicht über die Augsburg-Münchener Tätigkeit Hubert
Gerhards schließe ich eine Zeittafel an.
+ *
Zeitliche Folge der überlieferten Werke Gerhards.
1582—85. Kirchheimer Nischenfiguren. (Abb. 8.) Rechnungseintrag Lill, S. 119.
Anfang 80er Jahre. Holzbüste Wilhelms V. Nach dem Lebensalter geschätzt.
1584. Beginn der Güsse für den Mars-Venus-Amorbrunnen. (Abb. то.) „Alter Bericht“ Lill, S. 116
Anmerkung.
1584. Wachsmodell Grabstein Hans Fugger, Lill, 8. 122.
1584—86. Pietä, durch Sadelers Stich erhalten. Peltzer-Gerhard, 8. 129. Dort auch Abbildung.
1587. Kirchheimer Kamin vollendet. Besichtigung Lill, S. 116.
1587. Pläne zum Augustusbrunnen. Buff, 8. 136.
Nach 1587. Kopf des Hans Fugger. Grabstein. 1587 Eintreffen des Grabsteins, Lill, S. 123.
1588. Köpfchen zum Perseusbrunnen? Wachs im Malerbuch, Rée, S. 88f.
1588, Erzengel Michael, gegossen. Gießerrechnung bezahlt. Westenrieder, S. 109.
1589/90. Wittelsbacher Brunnen (oder Ferdinandbrunnen ?) (Abb. 5—7.) Besichtigung durch den Augs-
burger Stadtwerkmeister, Rée, S. 14. Vgl. auch Buff, Wittelsbacherbrunnen, 8. 10,
1590. Engel der Michaelskirche? fertig? Höhe der Zahlungen in Jesuitenrechnungen. Gmelin, S. 67£.
(1) Peltzer, a. a. O., 8. 134.
(2) Stöcklein, Archiv f. Medaillen- und Plakettenkunde. Bd. 1, 1913/14, 8. 45, Anmerkung 1.
94
1590. Mars-Venus- Amorbrunnen, Hauptgruppe, fertig. Überführung nach Kirchheim, Lill, 8. 116f.
(Abb. 10.)
Nach 1590. Wappen unter dem Erzengel Michael, fertig. Visier angefordert, Gmelin, 8. 53.
1592. Erzengel Michael. Formieren und Verschneiden bezahlt. Westenrieder, S. 109.
1592. Weitere Wachsmodelle für die Figuren der Brunnenschale am Kirchheimer Brunnen,
fertig. Lill, 8. 118.
1594. Augustusbrunnen aufgerichtet. Urkundlich Rogge, 8. g fl.
1594. Mars-Venus-Amorbrunnen aufgerichtet. Lill, S. 117.
Um 1394. MuttergottesMariensäule.StilistischeVerwandtschaft mit dem Augustusbrunnen(Bübchen).
Um 1596. Bavaria. Stilistische Verwandtschaft mit den Rittern.
Mitte goer Jahre. Erzreliefs der Michaelskirche; Meermanngrabplatte, zwei Flußgötter.
Siehe oben 8. Bot stilistischer Zusammenhang mit den Grabmalplänen.
96. Vier Löwen, vier Ritter, Weihbrunnengel, 25 Apostel und Heilige, fertig. (Abb. 14, 15; 3, 4: 1a).
Fröschels Bericht; Roth, 8. 57.
Mitte goer Jahre. Neptun mit Satyrn. (Abb. 13.) Hilfe vom Reliefmeister.
Nach 1595. Doppelwappen. Vermählung Maximilians 1595.
Nach 1598. Kardinal Philipp. Todesdatum 98. (Abb. 11.)
Um 1598 Lorbeerbekränzte Büste. (Abb. з.) Stilistische Verwandtschaft mit dem Kardinalskopf.
Vor 1602. Büste des Herzogs Wilhelm. (Abb. 1.) Vor dem Eintreffen Gerhards in Innsbruck ge-
schätzt nach dem Lebensalter.
Vor 1602. Vier Jahreszeiten. (Abb. 9.) Krumper Mitarbeiter. Vielleicht abgebrochene Arbeit Gerhards.
Nach 1603. Freygrabplatte. Todesdatum 1603. Krumper Mitarbeiter.
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JOHANN TOBIAS SERGEL
Mit drei Tafeln in Lichtdruck Von ALBERT DRESDNER
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ährend der Bildhauer Johann Tobias Sergel in seinem Heimatlande Schweden
als einer der bedeutendsten Meister der nationalen Kunst anerkannt und
verehrt wird, ist er in Deutschland nur wenig bekannt. Eine selbständige Behand-
lung ist diesem Künst er in der deutschen Kunstliteratur meines Wissens noch
nicht zuteil geworden; die Handbücher der Kunstgeschichte finden ihn, sofern sie
ihn überhaupt erwähnen, mit ein paar dürftigen Bemerkungen ab und nur der
hundertäugige Wörmann hat auf seine europäische Bedeutung Acht gehabt’).
Nicht immer ist es so gewesen. Sergels Name hatte zu seinen Lebzeiten, man
darf wohl sagen, europäischen Ruf. Er war Mitglied der Akademieen in Berlin und
Kopenhagen und agréé der Pariser Akademie, seine Werke waren zum Teil in
englischem und französischem Besitze, und in England, Deutschland, Österreich,
Frankreich lebten alte Kameraden aus seiner römischen Zeit, die den schwedischen
Künstler und sein Schaffen in Ehren hielten; es seien von ihnen hier nur Füßli in
London, Mannlich in München, Weinlig in Dresden, Zauner, Füger und Hubert
Maurer in Wien genannt. Der Berliner Schadow hat Sergel auf seiner großen
nordischen Reise im Jahre 1791 in seiner Heimat kennengelernt und hat in auto-
biographischen Aufzeichnungen wie in Briefen seiner großen Bewunderung für ihn
Ausdruck gegeben?). Heinrich Meyer, Goethes Kunst-Minister, hat Sergel, dessen
‚Faun“ ihm in Rom bekannt geworden war, in seine Übersicht der Kunstgeschichte
des ı8. Jahrhunderts eingereiht, und auch Goethen selbst ist Sergels Name nicht
fremd gewesen!). Noch Rauch soll ihn nach einer freilich unsicher beglaubigten
Überlieferung über Canova und Thorwaldsen gestellt haben‘).
Aber im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts ist Sergels Gedächtnis in Deutsch-
land mehr und mehr verblaßt. Der unwiderstehlich sich ausbreitende Ruhm Thor-
waldsens löschte den seinigen aus, und wenn ein deutscher Kunstschriftsteller sich
noch Sergels erinnerte, so sah er ihn nur im Lichte eines würdigen Vorgängers
Thorwaldsens®). Dies ist um so begreiflicher, als man bei uns mit Thorwaldsens
(x) Geschichte der Kunst Ш! 533. Außerdem wäre etwa noch auf С. Gurlitts Sätze über Sergel
in seiner Geschichte der Kunst 11 648 hinzuweisen,
(2) Kunst-Werke und Kunst-Ansichten, 1849, 8. 19. Aufsätze und Briefe, herausg. von Jul. Fried-
länder, 2. Aufl., 1890, 8. 6, 19, 97. — Hagens Angabe (Die deutsche Kunst in unserm Jahrhundert I,
1857, S. 38), daß Schadow in Rom mit Sergel in ein freundschaftliches Verhältnis getreten sei, ist
schon chronologisch unmöglich: als Schadow 1785 nach Rom kam, war Sergel bereits für immer
nach Schweden zurückgekehrt.
(3) Heinr. Meyer in: Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert, 1805, 8. 352. — Goethe er-
wähnt in Hackerts Leben (Werke, Jubil.-Ausg. 34, 210), daß Sergel mit den Brüdern Hackert zu-
sammen in der Gallerie Farnese kopiert, sowie mit ihnen eine Campagnafahrt unternommen habe.
(4) Das will der schwedische Gesandte in London, Baron von Hochschild, Enkel von Sergels Lehrer
und Gönner J. E. Rehn, in Berlin „oft“ von Rauch selbst gehört haben, wie er in einem Briefe an
Chennevières in Rev. Univ. des Arts III, 1856, S. 99 angibt. Recht lehrreich ist, daß Cicognara
bereits 1818 nur noch eine verschwommene Vorstellung von Sergel hat: „Lo svedese Sergiel (sic!) in
quel tempo passava per uno de’ migliori, avendo scolpito un Diomede, che piacque non poco, e un
Amore e Psiche che gli valse il titolo di accademico di Francia (diese Annahme ist Irrig). Storia
della Scultura 3, 234.
(5) So Hagen i, J. 1857: a. a. O. 1, 38. 58. Hagens Quelle für seine Angaben über Sergel bildete
übrigens wohl der Artikel bei Nagler 16, 280..
96
Schaffen aus Originalen und aus allgemein zugänglichen Reproduktionswerken sehr
wohl vertraut war, während man von Sergel nichts sah und kannte; seine Arbeiten
waren nach und nach fast sämtlich in Schweden vereinigt worden, und nur ab
und an wußte etwa ein kunstsinniger Besucher des Norden zu berichten!). Aber
auch in Frankreich ist Sergel während der ersten Häfte des 19. Jahrhunderts schnell
in Vergessenheit geraten, obgleich er sich zweimal in Paris aufgehalten hatte, unter
den dortigen Künstlern zahlreiche Freunde besaß und einige seiner Werke ziem-
lich lange im Luxembourg aufgestellt waren“). Als Ph. de Chennevières es 1856
unternahm, ein Bild Sergels zu zeichnen, vermochte er seine schon halb ver-
schollene Gestalt nur mühsam und nur bruchstückweise zu rekonstruieren“).
In Schweden selbst lebte Sergel als eine der repräsentativen Gestalten des
glänzenden gustavianischen Zeitalters fort, allein, nachdem die Generation derer,
die noch den Zauber seiner Persönlichkeit erfahren hatten, dahingegangen war,
wurde doch auch hier durch die allgemeine kulturelle und künstlerische Reaktion
gegen Geist und Geschmack des 18. Jahrhunderts das Interesse für ihn in den
Hintergrund gedrängt. Da war es die seit den sechziger und siebziger Jahren sich
allmählich konsolidierende kunstgeschichtliche Forschung, die, Karl Gustav Est-
lander und C. R. Nyblom an der Spitze, sich des Meisters anzunehmen begann‘).
Bahnbrechend wurde jedoch das Werk eines dänischen Gelehrten: Julius Langes.
Er hat in seinem 1885 veröffentlichten Buche „Sergel og Thorwaldsen“ Sergel,
man darf sagen, der europäischen Kunstgeschichte zugeführt, indem er mit der
ihm eigenen feinen und anmutigen Plastik das Bild seiner künstlerischen Persön-
lichkeit formte und seine Stellung in der allgemeinen Stilentwicklung umsichtig
bestimmte®). Auf der so geschaffenen Grundlage hat dann die schwedische For-
schung mit rastloser Emsigkeit und glücklichem Erfolge fortgearbeitet. Im Mittel-
punkte steht die verdienstvolle Tätigkeit Georg Göthes, der in Einzeluntersuchungen
eine Reihe von Sergelfragen geklärt und dem Künstler schließlich in seiner zu-
sammenfassenden Monographie 1898 das biographische Denkmal gesetzt hat, das
noch heut das Hauptwerk über den Künstler bildet“).
(1) 8. Göthe, Sergel, 8. 10.
(а) „J'ai fait à Rome quantité de groupes en terre cuite, qui sont en France“, gab Sergel i. J. 1797
an, und noch 1813 will Per Tham seinen „Zentauren“ im Luxembourg gesehen haben: Göthe, Ser-
gelska bref, S. 30, 4. Das heute in Helsingfors befindliche Marmorezemplar des „Fauns“ ist erst
nach dem Sturze des Ersten Kaiserreichs aus dem Luxembourg verschwunden: Göthe, Sergel, 8. 63.
(3) Rev. Univ. des Arts a. а. O., 97 fl. Von neueren französischen Forschern ist Hautecoeur zu
nennen, der Sergel in seiner Darstellung der Entstehung des Klassizismus angemessen eingeordnet
hat, ohne jedoch des Näheren auf seine Persönlichkeit und sein Schaffen einzugehen: Rome et la
Renaissance de l’Antiquite, Paris 1912, S. 180.
(4) Das Nähere über die ältere schwedische Sergel-Literatur in den bald zu nennenden Werken Göthes
8. 10 ff. und Jul. Langes, 8. 3 und 8. 25, Anm. 1.
(5) Langes Buch ist 1886 zu Kopenhagen erschienen, In der u. d. Titel „Thorwaldsens Darstellung
des Menschen“ zu Berlin 1894 veröffentlichten deutschen Ausgabe hat leider die Studie über Sergel
(und ebenso übrigens der geistvolle Abriß „Germanisch und Klassisch“) keine Aufnahme gefunden.
(6) Johan Tobias Sergel. Hans Lefnad och Verksambet. Af Georg Göthe, Stockholm (1898) —
hier in der Regel nur als „Göthe“ angeführt. Von seinen Einzeluntersuchungen werden die wichti-
geren im Laufe der Darstellung genannt werden, Flinzuweisen ist auch auf Göthes Beitrag „Skulp-
turen under 1700 == dalet“ in Romdablis und Roosvals „Svensk Konsthistoria‘ (Stockh. 1913),
S. 426 ff. Wertvolle neue Veröffentlichungen zur Sergelliteratur hat die hundertste Wiederkehr seines
Todestages 1914 gebracht, Harald Brising hat in seinem tüchtigen Buche ,Sergels Konst“ das
Verständnis der stilgeschichtlichen Probleme vielfach gefördert, während in dem Werke des um die
Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1922, 4-6. 7 97
Sergels Lebens- und Schaffensgang ist nun soweit erforscht und bekannt, daß
wesentliche Ergänzungen oder Veränderungen kaum zu erwarten sein werden.
Der urkundliche und literarische Stoff ist gesammelt und sorgsam durchgeprüft;
die Einflüsse aus alter und neuer Kunst, die auf Sergel gewirkt haben, sind nach
allen Seiten hin verfolgt worden. Wenn dennoch bei der Behandlung des Meisters
— glücklicherweise! — ein problematisches Element zurückbleibt, so liegt dies in
seiner künstlerischen Persönlichkeit und in deren Stellung in der stilgeschichtlichen
Entwicklung begründet, die nicht ganz leicht eindeutig zu bestimmen sind. Sergel
ist in der europäischen Bildnerei wohl der erste Künstler gewesen, der mit den
klassizistischen Forderungen Ernst gemacht hat, aber die Überlieferung des Rokokos
und die klassizistischen Formgedanken begegnen sich in seinem Schaffen und liegen
darin unausgesetzt im Streite, und je nachdem man ihn von dieser oder von jener
Seite ansieht, erscheint seine Gestalt in anderem Lichte. So wird er zum typi-
schen Vertreter der Übergangszeit in jener Stilwende, und gerade als solcher er-
regt er ein Interesse, das über den engeren Kreis der nordischen Kunstgeschichte
hinausreicht.
П.
Johann Tobias Sergel!), geboren am 20. August 1740 zu Stockholm, war deut-
schen Gebliites. Der Vater, Christophen Sergel, stammte aus Jena, die Mutter aus
Neustadt in Thüringen; wahrscheinlich im Jahre 1739°) ist das Ehepaar in Stock-
holm eingewandert, wo Vater Sergel sich als geschickter und gutbeschäftigter Gold-
und Silbersticker eine Existenz begründete und es bis zum „Hofbrodeur“ brachte.
Johann Tobias erhielt seine Ausbildung an der Deutschen Schule zu Stockholm,
schwedische Kunstgeschichte verdienten Sekretärs der Kunstakademie Ludvig Looström „Johan
Tobias Sergel. En gustaviansk tidsbild“ Sergels Persönlichkeit im Rahmen seiner Zeit in Wort und
Bild zur Darstellung gebracht ist. — Axel L. Romdahl hat in einem Aufsatse ,Sergels Konst-
närlynne“ in „Kunst og Kultur VI (Bergen 1916/17), S. 82 ff., des Künstlers Gestalt mit klaren und
geistreichen Strichen umrissen. Johnny Roosvals 1909 in „Svenska Dagbladet“ veröffentlichte
Sergelstudie ist mir unbekannt geblieben,
(1) Unter den Quellen zu Sergels Leben stehen in erster Reibe zwei von ihm gelieferte autobiogra-
phische Aufzeichnungen. Die eine stammt aus dem Jahre 1785 und ist zuerst 1877 von F. Sander
in schwedischer Sprache mitgeteilt, dann aber in der französischen Originalfassung von Göthe in
seinem Sergelbuche abgedruckt worden. Die andere bildet der Brief, den Sergel zur Benutzung bei
Abfassung seiner Biographie im Jabre 1797 an den Bibliothekar Gjörwell geschrieben bat; vollständig
veröffentlicht bei Göthe, Sergelska Bref, Stockholm 1900, 8 27 fl. Beide Aufzeichnungen sind aber
in ihren Einzelangaben nicht immer zuverlässig; besonders hat Sergel manche chronologische Irr-
tümer begangen. Über seine Reisetagebücher aus Italien und Frankreich und seine Briefe s. Göthe,
S. 9, 10, Wertvolle Einblicke in Sergels menschliche Persönlichkeit eröffnen seine Briefe an seinen
dänischen Freund, den Maler A. bi Wgaard, aus den Jahren 1797 bis 1806, herausgegeben von Göthe,
Sergelska Bref. S. 33 fl. Für das Verständnis seiner künstlerischen Überzeugungen und Bestrebungen
sind die Briefe von besonderer Wichtigkeit, die er in seinen letzten Lebensjahren (1811—1813) an
seinsn Lieblingsschüler Byström nach Rom berichtet hat; veröffentlicht 1877 von С. R. Nyblom in
Upsala Universitets Arsskrift, Festskrifter till Ups. Univ. 400. Jubelfest, S. 59 ff. — Die zeitgenössische
schwedische Literatur, Denkwürdigkeiten, Briefwechsel usw. sind von den schwedischen Forschern
gründlich für Sergels Biographie ausgebeutet worden; eine von ibnen übersehene Quelle sind die Er-
innerungen seines römischen Kameraden und Freundes, des Malers J. C. Mannlich („Ein deutscher
Maler und Hofmann.“ Berlin 1910); darüber s. meinen Aufsatz „Ur Sergels romerska Vänskapskrito“
in Tidsskrift för Konstvetenskap VI (1921), S. 25 ff.
(2) Dieser Zeitpunkt ist wahrscheinlich gemacht durch Ludv. Looströms Untersuchung „Joh. Tob.
Sergels föräldrehem“ іп Samfundet Skt. Eriko Arsbok, 1918, 8. 8g ff.
98
und vergessen hat er wohl die Sprache seiner Eltern sein Lebtag nicht!). Aber
weiter erstreckt sich unser Anspruch auf Sergel nicht. Nirgends wird erkennbar,
daß er für das Land und Volk, dem seine Familie entstammte, ein besonderes
Interesse gehabt hätte. In seinen Briefen, selbst in solchen vertraulicher Natur,
bediente er sich mit Vorliebe der französischen Sprache, deren Rechtschreibung
er mit souveräner Freiheit be- und mißhandelte; übrigens aber ist er schlecht und
recht Schwede gewesen, ja er will uns in seinem stolzen Selbstgefühle, in seiner
noblen Denkweise, seiner breiten Lebensführung und seiner Neigung zu kräftigem
und selbst ungezügelten Lebensgenusse um so mehr als ein echt schwedischer
Typus erscheinen, als alle diese Eigenschaften vor dem dunklen Hintergrunde einre
stets leicht erregbaren Melancholie stehen, wie sie so oft dem schwedischen Volks-
charakter beigemischt ist). Mit Recht durfte sich daher Julius Lange auf Sergel
als ein klassisches Beispiel der Erscheinung berufen, wie schnell und vollkommen
Abstämmlinge eines germanischen Volkes in ein germanisches Schwestervolk ein-
schmelzen können.
Sergels künstlerische Ausbildung war handwerklich und akademisch zugleich.
Im Mittelpunkte des Stockholmer Kunstlebens stand damals die Innenausstattung
des imposanten, nach den Plänen des jüngeren Tessin erst kürzlich von Härleman
vollendeten Königsschlosses, die viele Hände beschäftigte. Um junge Kräfte für
den Schloßbau heranzuziehen. war 1735 die Kunstakademie begründet worden,
deren Lehrer zugleich bei den Schloßarbeiten Verwendung fanden. Die künstle-
rische Führung war ganz in französischen Händen, seitdem im Jahre 1732 neun
Pariser Künstler nach Stockholm berufen worden waren, denen im Laufe der
nächsten Jahrzehnte noch weitere folgten®). Aus Frankreich stammte auch der
Ornamentbildhauer Mascelicz, bei dem Sergel, nachdem er schon während seiner
Schulzeit viel auf eigene Hand gezeichnet und modelliert hatte, in die Lehre ging.
1756 trat er bei ihm ein, 1763 wurde ihm der Meistertitel zugesprochen; die ge-
diegene Handwerkslehre hat sich bei ihm nie verleugnet: all sein Lebtag ist er
ein Meister und zugleich ein großer Liebhaber des „metier de la sculpture“ ge-
wesen‘). Seit 1757 aber studierte er auch an der Akademie, und hier war sein
Lehrer der französische Bildhauer Pierre Hubert Larchevéque (1721--1778), ein
Schüler Edme Bouchardons, der dessen 1753 verstorbenem Bruder Jacques Philippe
Bouchardon in seiner Stellung an der Stockholmer Akademie gefolgt war. Zehn
Jahre ist Sergel in Larchevéques Klasse und Werkstatt verblieben, erst als sein
Schüler, späterhin als Mitarbeiter an seinen künstlerischen Unternehmungen.
Larchevéque wußte bald, daß der junge Sergel das beste Pferd in seinem Stalle
war und er ließ seinem Lieblingsschüler jede Förderung angedeihen. Bereits 1758
erhielt Sergel die kleine Medaille der Akademie, und im selben Jahre nahm ihn
sein Meister auf einer Reise nach Paris mit, wo er vom Frühling bis zum Herbste
(1) Noch eine Zeichnung aus dem Jahre 1811 (bei Looström, Sergel, 8. 118), trägt die deutsche
Beischrift: „Wils Godt nach Porla“.
(2) Manchen verwandten Charakterzug und vor allem eine ähnliche Mischung von bakchantischem
Lebensdurste und tief melancholischer Grundstimmung bemerkt man an Sergels Freund und häufigem
Gefährten seiner Freuden dem genialen Sänger С. М. Bellman.
(3) Zur Baugeschichte des Stockholmer Schlosses: G. Upmark, Svensk Byggnadskonst 1530—1760,
Stockh. (1904), 8. 193 fl. Über die Begründung der Akademie und die Berufungen französischer
Künstler: L. Looström, Den svenska Konstakademieen 1735--1835, Stockh. (1887), besonders S. 33 fl.,
57, 87. А
(4) Vgl. seine Außerung ап Byström bei Nyblom, а. a. О., 8, бо
99
verweilte und studierte und wo er wieder eine Medaille errang. Überhaupt konnte
sich sein Talent im Sonnenscheine allgemeinen Wohlwollens entfalten. Es war
eben die Zeit, wo die Kunst in Schweden, die bis dahin noch immer großenteils
von Ausländern ausgeübt und getragen worden war, sich zu nationalisieren begann
und mehr und mehr in die Hand einheimischer Künstler tiberging'). Schon war
eine nationale Malerschule in frischem Aufblühen, aber über einen schwedischen
Bildhauer von Rang, dessen Talent auch monumentalen Aufgaben gewachsen ge-
wesen wäre, verfügte man noch nicht, und mit besonderer Genugtuung begrüßte
daher der Oberintendant Adelcrantz in Sergel den ersten Schweden, „der es in der
Denkmalsbildnerei zu einer gewissen Vollendung brachte“. 1760 wurde ihm die
große goldene Medaille der Akademie zugesprochen, und bereits im selben Jahre
erhielt er eine feste Anstellung am Schloßbau, wo er an der plastischen Aus-
schmückung des Reichssaales beteiligt wurde; mancherlei Privataufträge fielen ihm
zu, und in der Werkstatt seines Lehrers fand er Gelegenheit, sich an monumen-
talen Aufgaben zu versuchen, besonders, indem er an den Entwürfen zu den Denk-
mälern Gustav Wasas und Gustav Adolphs mitarbeiten konnte, die Larchevéque
übertragen worden waren.
Es war also durchaus die Atmosphäre französischer Kunstüberlieferung, in der
Sergel aufwuchs. Die schwedische Kunst, die noch bis ins 18. Jahrhundert hinein
vornehmlich nach Süden, nach Italien, den Niederlanden, Deutschland, orientiert
war, hatte nun ihr Gesicht westwärts gewandt. Paris wurde das Ziel der schwe-
dischen Maler, das bis dahin Rom gewesen war; Gustav Lundberg war der erste,
der den neuen Weg nahm, und seit er 1745 nach Stockholm zurückgekehrt war
und durch den pikanten Schmelz seiner Pastellbildnisse nach Rosalba Carrieras
Art Hof und Gesellschaft bezauberte, war der Sieg des Rokokostiles in der schwe-
dischen Malerei, dem der 1732 an die Akademie berufene Guillaume Thomas Taraval
den Boden bereitet hatte, entschieden. In der Bildnerei war jahrzehntelang der
aus Deutschland stammende Burchard Precht die führende Persönlichkeit gewesen,
und er hatte in der schwedischen Plastik sein kräftig-reiches deutsch-italienisches,
von bernineskem Einflusse gesättigtes Barock zur Herrschaft gebracht”). Aber als
er 1738 die Augen schloß, hatte er sich bereits überlebt. Auch in der Skulptur
drang die leichtere und verfeinerte Eleganz des französischen Stiles durch und an,
der Akademie vertraten J. Ph. Bouchardon und sein Nachfolger Larchevéque das
Rokoko. Larchevéques großes Altarrelief in der Schloßkirche, an dem übrigens
Sergel mitgearbeitet hat, ist ein auf illusionistische Wirkung inszeniertes plastisches
Gemälde, in dem durch allgemeine Verwendung von Gegensatzmotiven eine heftige
äußere Bewegung erreicht ist und eine derbe Theatralik sich mit der Süßigkeit
der vom Zeitgeschmacke so dringend geforderten Grazie in Formengebung und
Linienführung begegnet; sein temperamentvolles erstes, von Sergel mit Recht ge-
schätztes, doch von den schwedischen Ständen verworfenes Modell zum Denkmale
Gustav Adolfs zeigt in echt barocker Komposition, vielleicht in Anlehnung an einen
frühen Entwurf Edme Bouchardons zum Reiterstandbilde Ludwigs XV., den König
in antiker Tracht auf stiirmisch ansprengendem Rosse, in gestrecktem Galopp von
einer Siegesgöttin gefolgt. Larchevéque war kein Künstler von starker eigener
Prägung?), allein sein Einfluß auf Sergel fällt schwer in die Wagschale, und Sergel
(1) Hiezu mein Aufsatz „Deutsche Meister in schwedischer Kunst“ im 3. Bande des „Nordischen Jahrbuchs
(2) Über G. Lundberg: Oscar Leverdin, Stockholm 1902. Über Precht: Roosval in Romdahls und
Roosvals Sv. Konsthist., S. 302 ff. und eigene Monographie, Stockholm 1905.
(3) A. Roserol, Edme Bouchardon, Paris 1910, sagt (S 151) von ihm: „Sa manière était générale-
100
selbst hat oft darüber geklagt, wie schwer es ihm gefallen sei, sich davon zu be-
freien’), Larchevéque hat die Überlieferung des französischen Barocks tief in
seinen Schüler eingepflanzt, er hat seine plastische Phantasie und seine Hand an
diesen Stil gewöhnt, der so verführerisch war, weil er sich allen Möglichkeiten
gewachsen zeigte und für alle Aufgaben wohldurchgearbeitete Formeln bot. Sergels
halbjähriger Aufenthalt in Paris, wo er Edme Bouchardon, Pigalle, Falconet in
ihrer Blüte sah, konnte diese Einwirkungen nur noch verstärken, Daß die antiken
Bildwerke, die er in Stockholm und besonders in Paris in Abgüssen kennen zu
lernen Gelegenheit hatte, auf sein Schaffen in der vorrömischen Zeit Einfluß aus-
geübt hätten, ist nicht erkennbar. Immerhin tut man gut, im Auge zu behalten,
daß die Wurzeln seiner Kunst in der französischen Bildnerei liegen, die allezeit
an der Verbindlichkeit der Antike festgehalten und den Anschluß an sie nie auf-
gegeben hat, und daß er im besonderen durch seinen Lehrer Larchevéque ein
Enkelschüler Edme Bouchardons war, der ein Freund des Grafen Caylus, ein
leidenschaftlicher Bewunderer der Antike und innerhalb seiner Generation der
Vertreter des „strengen“, an der Antike geläuterten Stiles war?). So zeigt denn
Sergels Jugendproduktion, so viel von ihr bekannt ist?), im allgemeinen das Ge-
präge des Rokokostiles, zugleich aber doch auch ein Bestreben, eine gewisse äußere
antikisierende Haltung und Würde zu geben. Wenigstens gilt dies für die deko-
rative Figur der „Wahrheit“ im Reichssaale des Schlosses, die ihm mit aller Wahr-
scheinlichkeit zugeschrieben wird. Er mag sich bei ihr an Bouchardons den
Grenelle-Brunnen krönenden Gestalt der Stadt Paris inspiriert haben, bei der ihrer-
seits wieder der Typus antiker Stadtgöttinnen zu Pate gestanden hat. Aber die
höchst charakteristische und lebhafte Gegensatzbewegung, auf die Bouchardon die
Komposition gestellt hat, dämpfte Sergel in allen Teilen ab; ihren energisch ge-
gliederten, nach allen Seiten hin reich ausströmenden Rhythmus bemüht er sich
durch Zentralisierung der Motive innerhalb eines geschlossenen Umrisses zu er-
setzen, auch das kiihne System des Bouchardonschen Faltenwurfes zu vereinfachen,
wobei sich freilich die Unsicherheit des Anfängers verrät“). Die stärksten Talent-
proben seiner Frühzeit aber sind einige Bildnisbüsten. Sie sind in Hermenform
gebaut und erinnern an den Stil antiker römischer Bildnisse, aber das Porträt
ment lourde; son principal mérite est d’avoir formé Sergell“. Über Bouchardons Modell zum Denk-
male Ludwigs XV. ebendas, S. 101. Sergel über Larchevéque besonders im Gjörwell-Briefe: Sergelska
Bref, 8. 31. Abbildungen der erwähnten Werke Larchevéques (201, unzulänglich) bei Brising, 8. 15
und 8. 4. Brising weist darauf hin, daß auch Larchevéques Vorgänger J. Ph. Bouchardon bei einem
Entwurfe zu einem Denkmale für Karl XII. einen ähnlichen Kompositionsgedanken verwandt hat wie
Larchevéque beim Gustav Adolf-Modelle. Vgl. über das Problem des Reiterdenkmals im Barock
Brinckmann, Barockskulptur 238 ff.
(1) Sergeiska Bref, 8. 28. Göthe, 8. 320. Nyblom, S. 66.
(2) Der Graf Caylus hat ihm 1762 in der Akademie einen Eloge historique gehalten, der in André
Fontaines Ausgabe von Caylus’ Vies d’Artistes, Paris 1910, 8. 76 ff. abgedruckt ist. Übrigens über
Bouchardon das angeführte Werk von Roserol und Brinckmanns Bemerkungen a. a. O., 392.
Zum Verhältnisse der französischen Bildnerei zur Antike sei gleichfalls auf Brinckmanns Dar-
stellung und auf meine Entstehung der Kunstkritik, S. 215, verwiesen.
(3) Am eingehendsten dargestellt von Brising, a. a. O.
(4) Brising, 8. 9, will Sergels „Wahrheit“ mit Coysevox’ Gestalten am Grabdenkmale Mazarins in
Verbindung setzen, aber der reiche und belebte Bronzestil dieser Arbeiten weicht doch von der
Formengebung in Sergels Werke zu weit ab, als daß man in ihnen sein Vorbild sehen könnte.
Bouchardons Figur stand ihm zeitlich, menschlich und künstlerisch erheblich näber.
seines Vaters ist in seiner gedrungenen plastischen Form und seiner lebensvollen
Charakteristik das Werk einer frischen, gesunden, männlichen Kraft.
Im Jahre 1767 bewilligten die Stände Sergel das große Reisestipendium. Es würde
nach seinem Entwicklungsgange nicht überraschen, wenn er sich nun wiederum
nach Paris gewandt hätte. 1750 hatte noch Hans Wiedewelt, der als der erste
einheimische Großplastiker in der dänischen Kunstgeschichte einen ähnlichen Platz
einnimmt, wie Sergel in der schwedischen, seinen Weg dahin genommen, um erst
vier Jahre später in Rom zu landen und an Winckelmann Anschluß zu finden,
dessen künstlerisches Glaubensbekenntnis er seit seiner Rückkehr nach Kopenhagen
im Jahre 1758 im Norden mit Eifer vertrat und verbreitete’). War seine Botschaft
vielleicht auch zu Sergel gedrungen?) Jedenfalls begann die Magnetnadel der
nordischen Kunst bereits wieder nach Süden zu weisen, die Welle des Klassizis-
mus war im Ansteigen, und Sergel entschied sich für Rom. Dieser Entschluß hat
über seine ganze Zukunft entschieden.
ш.
So zog Sergel im August des Jahres 1767 durch die Porta del Popolo ein, um
volle elf Jahre, bis 1778, in Rom zu verweilen’).
Es war das Rom Mengsens und Winckelmanns, das er betrat. Mengs traf er
freilich nicht mehr an, er war bereits nach Spanien tibergesiedelt, und Sergels
persönliche Bekanntschaft mit ihm kann daher frühestens von dessen Besuch in
Rom 1771/72 datieren‘), Aber Winckelmann war noch in der Ewigen Stadt an-
sässig, wo er sich eben zu der Reise nach Norden rüstete, auf der ihn im nächsten
Jahre der Mörderstahl treffen sollte. Ob Sergel noch selbst zu Winckelmann in
persönliche Beziehung getreten ist, ist bisher unbekannt gewesen, allein aus Mann-
lichs Aufzeichnungen geht hervor, daß er ihm zusammen mit Mannlich und mit
dem sächsischen Architekten Weinlig im Herbste 1767 einen Besuch abgestattet
hat, wobei die Empfehlungen an den Gelehrten, die Weinlig aus Dresden mit-
brachte, als Einführung gedient haben werden’). Ein unmittelbarer persönlicher
oder literarischer Einfluß Winckelmanns auf Sergel kann aus dieser flüchtigen Be-
rührung natürlich nicht gefolgert werden, allein ein aufgeweckter junger Künstler,
der anno 1767 nach Rom kam, brauchte nicht in Winckelmanns persönlichen Bann-
kreis zu treten, um sich mit den Ideen des Klassizismus zu erfüllen. Rom war
bereits voll von ihnen, und sie werden damals sicherlich ebenso sehr das Tages-
gespräch in den Künstlerwerkstätten gebildet haben, wie heut etwa die Lehren
des Expressionismus. Für seine Person war Sergel übrigens durchaus Mann des
Metiers und wenig zu theoretischen Spekulationen geneigt; mit der Lesung kunst-
theoretischer Schriften wird er sich wenig beschwert haben, und nichts deutet
(1) Über Wiedewelt s. den vortrefflichen Abschnitt bei Justi, Winckelmann II®, 75ff. und Opper-
mann, Kunsten i Danmark under Fredrik V. og Christian VII. Kjbbvn 1906, S. 79 ff.
(2) Wiedewelt hatte 1762 eine Schrift über den Geschmack in den Künsten (Tankerne om magen udi
Konstarne i Atmindetighed“), teilweis unter wörtlicher Anlehnung an Winckelmann, herausgegeben.
(3) Sergels römische Zeit ist von G. Göthe in einem eigenen Aufsatze behandelt worden: „Sergel 1
Rom“ in Festskrift utg. af Kungl. Akademin för de fria Konsterna, Stholm 1897, 8. 77 fg.
(4) Daß er Mengs persönlich gekannt hat, geht daraus hervor, daß er ihn in der Liste der bedeuten-
den Künstler aufführt, zu denen er in Beziehung getreten ist: bei Göthe, 8. 322.
(5) Hierüber s. meinen früher genannten Aufsatz in Tidsskrift för Konstvetenskap“, Bd. V. Mannlich,
a. а, O. Uber denselben Besuch und über seine Beziehungen zu Winckelmann berichtet Weinlig
in seinen „Briefen über Rom“, Dresden 1782, 114.
darauf hin, daß ihm Winckelmanns Werke selbst bekannt gewesen seien. Erst in
vorgerücktem Lebensalter zeigte er eine gewisse Neigung zu theoretischer Aus-
sprache; seine eigene Schaffenskraft war damals bereits unverkennbar geschwächt,
und die Kunsttheorie war ihm inzwischen wohl durch verschiedene Freunde per-
sönlich näher gebracht worden: durch Abildgaard, der in Kopenhagen das klassi-
zistische Bekenntnis stramm vertrat, durch den Grafen Ehrensvärd, der es in
Schweden zuerst literarisch formulierte, durch den Maler Masrelicz, der es an der
Stockholmer Akademie vortrug'). Was er da an künstlerischen Lehrmeinungen
ausgesprochen hat, das geht tiber den Rahmen der bekannten, zu seiner Zeit so
vielgebrauchten Formel „Natur und Antike“ nicht hinaus.“ L’Antique est le choix
de la plus perfaite Nature, qui porte le nom de Style“, erklärte er 1797, und seinem
Schüler Byström schärfte er später ein: „La nature pour le mouvement vrai, et
antique pour corricher les parties qui demandent а être nourries ou annoblies
selon le caractaire“?). Eines aber ist doch bemerkenswert. Während im Hoch-
klassizismus Thorwaldsens die Natur von der Antike sehr in den Hintergrund ge-
drängt ist, legt Sergel auch in seinen theoretischen Sätzen auf die Natur und ihr
Studium einen merklichen Nachdruck. Er rät Byström: „Soijez l’exacte examina-
teur de la nature simple dans ses mouvements, prenez la sur le faite, et vous est
sure de ne pas vous tromper ... Prenez uniquement conseille de la nature avec
les yeux d’un artiste grec,“ und als sein einziges Verdienst bezeichnet er „d’avoir
été le premier jeune statuair qui a osé uniquement suivre la nature dans le prin-
сіре des anciens‘“?),
Es war ein fruchtbarer Zeitpunkt, zu dem Sergel in Rom erschien. Eine neue
Formanschauung war im Werden begriffen und auf dem ganzen Gebiete ktinstle-
rischen Schaffens im Vordringen, ohne daß es ihr doch bisher gelungen gewesen
wäre, solche Werke hervorzubringen, in denen ihr Wille vollständig und eindeutig
künstlerische Sichtbarbeit geworden wäre. InRom hatte Mengs mit seinem „Parnaß“
einen großen Schritt getan, indem er, bis auf Raffael zurückgreifend, die raum-
erweiternde Funktion der Deckenmalerei preisgab, die Bildfläche von der Mittel-
(1) Durch Masrelicz und Ehrensvärd ist die Kunsttheorie und zwar in der Form der reinen klassi-
sistischen Lehre, zuerst in Schweden eingeführt worden. Der Maler Adrien Louis Masrelicz weilte
spätestens von 1775 bis 1783 — also noch mehrere Jahre zusammen mit Sergel — in Rom; nach
Stockbolm heimgekehrt. entwickelte er sein künstlerisches Programm in seiner Antrittswoche in der
Akademie der Wissenschaften; es ist auszugsweise mitgeteilt von Azel Gauffin in Romdahls und
Roosvals Sv. Konsthist., S. 413. Graf Karl August Ehrensvärd, Seeheld, Philosopb, Kunstdilettant
und Kunstliebhaber, unter allen Freunden Sergels wohl der, der seinem Herzen am nächsten gestanden
hat, hielt sich von 1780 bis 1782 in Rom auf und hat dort Masrelicz’ Anleitung genossen. Er ver-
Sffentlichte 1782 die in einer etwas wunderlichen Frage- und Antwortform abgefaßte Schrift „De fria
Konsters philosophie“, deutsche Ausgabe u. d. Titel „Die Philosophie der freien Künste“, 1805 (ohne
Ortsangabe). Vgl. über ihn die Monographie von Warburg, Göteborg 1893. — Über Abildgaard ist
außer dem früher bereits genannten Werke von Oppermann die Darstellung von Jul. Lange, Udv.
Skrifter I (Kbhvn 1909, S. 88 ff.) anzuführen.
(2) Wichtige Stellen zu Sergels kunsttheoretischen Überzeugungen im Briefe an Gjörwell (Göthe,
Sergelska bref, 8. 28, 29) und in seinen Briefen an Byström bei Nyblom, a. a. O., besonders 8. бо.
бз, 66, 68. Vgl. auch Brising 160 fl., und über das Programm „Natur und Antike“ allgemein meine
„Entstehung der Kunstkritik“, München 1915, S. 218 ff.
(3) Nyblom, 8. 66. Man vgl. die nah verwandte Auffassung des Grafen Caylus: aus dem Mskr. der
Vorlesung „Sur la manière et les moyens de l'éviter“ mitgeteilt bei Fontaire, Doctr. d'art en France,
P. 1909, S. 222. Ganz im Sinne Sergels verlangt auch Cicognara, Storia della Scultura IV (18:8),
so „Esame sulla natura e studio sull’ antico.
103
achse aus klar und rational gliederte, den Bildraum der Bildfläche parallel aufbaute,
die Figuren reliefartig anordnete und eine rhythmische Auswiegung der Bildhälften
anstrebte. Obgleich es ihm nicht gelungen war, seine Absichten restlos zu ver-
wirklichen und obgleich er in seinem Geschmacke stark vom Rokoko gefärbt war,
war seine Schöpfung dennoch wegen der darin sich bekundenden entschlossenen
Abwendung von den Barockprinzipien als bahnbrechende Leistung der neuen Ge-
sinnung mit großer Bewunderung aufgenommen worden. Eine ähnliche Leistung
war der Bildnerei bis dahin noch nicht gelungen. Hans Wiedewelt, der dänische
Freund und älteste Jünger Winckelmanns, war schon lange vom römischen Schau-
platze verschwunden und hatte es übrigens daheim in seinem flauen Formen-
gefühle über eine äußere Angleichung seiner Bildwerke an die Antike nicht weit
hinausgebracht. Die Parole „Nachahmung der Antike“ deckte in Wirklichkeit nicht
das eigentlich Neue, was in der Bildung war. Die Vorbildlichkeit der Antike war,
was die Bildnerei anlangt, theoretisch nie geleugnet, nur zeitweis eingeschränkt
worden, und speziell die französische Plastik hatte von der Zeit Ludwigs XIV. bis
auf Edme Bouchardon auf ihre Art immer wieder Anschluß an die Antike gesucht
und gefunden. Aber wenn Winckelmann bei der Deutung der antiken Skulpturen
auf Einheitlichkeit und Einfachheit ihrer Formgebung, auf Maßhaltigkeit in der
Komposition, auf Vorsicht in der Abstimmung der Formen, auf Adel und Geschlossen-
heit der Linienführung hinwies'), so zeigte er damit den Künstlern die Antike von
einer Seite, die bisher im Schatten gelegen hatte und die nun dem in einer Wand-
lung begriffenen, aber sich selbst erst noch suchenden Formwillen neue Möglich-
keiten eröffnete, um sich daran seiner selbst bewußt zu werden und sich zu kon-
solidieren. In diesem Sinne gewann allerdings das Studium der Antike für die
Künstler eine neue und wesentliche Bedeutung, während deren Nachahmung eine
Schwäche der neuen Schule bildete, die sich um so empfindlicher fühlbar machen
solite, je weiter ihre Entwicklung fortschritt. Bedenkt man aber, welche Festig-
keit und Leistungsfähigkeit die barocke Tradition im Laufe von etwa zwei Jahr-
hunderten erlangt hatte, erinnert man sich, daß die Rokoko-Plastik eben zu der
Zeit, da Sergel in Rom weilte, noch zahlreiche Werke vorzüglichsten Wertes zu
schaffen die Kraft hatte, so versteht man, daß die Aufgabe, sich von der Barock-
form abzulösen, an einen jungen Bildhauer außerordentliche Anforderungen stellte
und ihm eine völlige Neuorientierung seiner Formanschauung zumutete. Dieser
Gesichtspunkt darf bei der entwicklungsgeschichtlichen Beurteilung Sergels nicht
außer Acht gelassen werden.
IV.
In Schweden hatte es Sergel bereits in jungen Jahren zu einem gewissen An-
sehen gebracht. Er war dort eine Klasse für sich gewesen, seine Mitschüler bis
Larchev&que konnten ihm nicht das Wasser reichen, dieser selbst hatte große
Stücke auf ihn gehalten, und alle Welt kam ihm mit Achtung und Vertrauen ent-
gegen. Jetzt sah er sich in die Weltstadt der Kunst versetzt, wo man mit den
bedeutendsten Bildwerken vertraut war und wo die stärksten Talente aus aller
Herren Länder zusammenströmten. Houdon war eben in Rom, Clodion war da,
an der französischen Akademie studierten begabte Bildhauer, wie Boizot; die rö-
mische Werkstattüberlieferung wurde von Künstlern wie Pietro Bracci und Agostino
Penna ehrenvoll vertreten. In dieser Umgebung galt der Ankömmling aus dem
(1) Vgl. ж. B. Gesch. der Kunst im Altertum IV, 2, 22 und V, 3, af, sowie Gedanken über die Nach-
abmung der griech. Werke § 57, 83.
104
TAFEL 23.
Joh. Tob. Sergel: Faun. Marmor.
Joh. Tob. Sergel: Schwerer Traum - Federzeichnung.
Zu: Albert Dresdner, Johann Tobias Sergel.
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hohen Norden nur als ein unbekannter und bescheidener Anfänger, und diese Er-
fahrung war für den empfindlichen und selbstbewußten Sergel so schmerzlich, daß
sie ihn in eine Monate währende schwere seelische Krisis stürzte 1). Was diese
Krise verschärfte, war die Erkenntnis, daß sein bisheriger Studiengang verfehlt
gewesen sei. Wie sein Unterricht in Stockholm beschaffen gewesen war, davon
kann man kein klares Bild gewinnen. Er erwähnt ,,plusieurs cours d’anatomie“
bei dem Prosektor Hedin, an denen er teilgenommen habe; er spricht von „Etudes
d’apres Nature“ in Larcheveques Werkstatt, und daß dieser ihn „fit étudier d’aprés
ses deseins“. Vom Studium nach der Antike erwähnt er nichts, und selbst wenn
er (was hiernach doch nicht recht wahrscheinlich ist) ein solches betrieben haben
sollte, so kann es bei der Spärlichkeit der antiken Abgüsse und deren mangelhafter
Unterbringung in Stockholm nicht erheblich gewesen sein?). Darf man nach dem
allgemein üblichen Zuschnitte des akademischen Lehrverfahrens zu seiner Zeit
schließen, so möchte man vermuten, daß Larcheveque ihn viel habe nach seinen
Arbeiten zeichnen lassen — worauf auch Sergels angeführte Worte hindeuten —
vielleicht auch nach solchen ihm nahestehender französischer Meister; denn das
damalige Lehrverfahren drängte allgemein zur Nachahmung gangbarer Muster und
besonders zu der des Meisters). Die Erkenntnis, die Sergel unter den neuen Ver-
hältnissen aufging und die ihn so tief erschütterte, muß denn wohl die gewesen
sein, daß er Gefahr lief, sich in Manier zu verlieren. Jedenfalis faßte er, als er
sich wieder in seiner Gewalt hatte, den Entschluß, von neuem zu beginnen; bei
aller Verehrung gegen seinen alten Lehrer hat er es diesem nie vergeben, daß er
in dessen Werkstatt seine Jugendjahre verspielt zu haben glaubte.
Mit angespanntem Willen machte er sich ans Werk, Er arbeitete Tag und
Nacht. Seinen Studienplan baute er allein auf Natur und Antike auf. Tagsüber
zeichnete er in Roms Palästen und Sammlungen nach den Werken der Antike,
von denen er auch einige kopierte“). Das Modellstudium betrieb er, wie das da-
(1) Die Angaben über dies Erlebnis in den beiden Selbstbiographien. Im Gjdrwell-Briefe (Sergelska
Bref 28) bringt Sergel die Neapeler Reise mit der Krisis in Zusammenhang und stellt sie als deren
Abschluß und als Vollendung des Genesungsprozesses dar. Das ist aber ein chronologischer Irrtum,
denn die Reise nach Neapel unternahm 8. erst ein volles Jahr später. Die richtige Angabe ist sicher-
lich die in der Selbstbiographie von 1785 (Göthe 321), daß die Krise „dura quatre mois“.
(2) Die von Nicodemus Tessin d.J. in Paris eingekaufte Sammlung von Gipsabgiissen nach antiken Bild-
werken war jedenfalls in den ersten Jahren der Stockholmer Akademie in Kellern magaziniert; Sergel
soll in Stockholm nur den Laokoon, den Apollo von Belvedere und die mediceische Venus kennen-
gelernt haben. S. Looström, Den svenska Konstakademien, S. 45; Nyblom, а.а. O., 13; Brising 20.
(3) Uber die Organisation des akademischen Unterrichts im allgemeinen Hautecoeur, Rome et la
Renaiss, de l’Antiquite, S. 42 ff., über die Stockholmer Akademie speziell Looström, а. a O., 43f.
Wie das akademische Lehrverfahren die Schüler überall aufs Kopieren hindrängte, schildert 3. B.
Angelo Borzelli in „Napoli Nobilissima“ IX, 72. Für den Norden ist die Organisation des Zeichen-
unterrichts an der Kriegsschule in Christiania lehrreich (Schnitter, Malerkunsten i Norge i det
attende aarhundre 5. rox f.), wo z. B. (1778) Boucher kopiert wurde, und Boucher bekam auch der
junge Schadow bei seiner Mme. Tassaert zu kopieren (Friedländer, a. a. O., S. 3).
(4) Sergel kopierte den bis 1775 in der Villa Medici befindlichen Apollino, den er zwischen 1772 und
1776 in Marmor ausgeführt hat: Göthe, Sergel 58, 59. Ferner fertigte er eine Reliefkopie in ge-
branntem Ton nach dem Herkules Farnese an. Aber auch seine um 1780 zu Stockholm in Marmor
ausgeführte Venus Kallipygos ist trotz leichter stilistischer Umstellungen (über diese Brising, S. 131)
doch nur als Kopie anzusprechen. Auf Befehl Gustavs III, hat er dem Bildwerke den Bildniskopf
der schönen Hofdame Ulla von Höpken aufgesetzt. Über diese Arbeit und ihre Geschichte s. Göthe
142; Brising 129. Sergels Werke befinden sich fast sämtlich im Stockholmer Nationalmuseum; nur
wo das nicht der Fall ist, ist eine besondere Angabe über den Aut bewahrungsort gemacht.
105
mals in Rom allgemein war, in den Abendstunden, und zwar in der französischen
Akademie, sowie in einer privaten Akademie, zu der er sich mit anderen jungen
Künstlern vereinigte ).
Es war die Académie de France, wo Sergel in seinen ersten römischen Jahren
vornehmlich Anschluß suchte und fand. Sie hatte damals ihr Heim im Palazzo
Mancini am Corso und stand unter Natoires Leitung. Außer Franzosen studierten
dort auch Deutsche, Dänen, Russen. In diesem Kreise fand Sergel seine Freunde,
zumeist Franzosen, von Deutschen hauptsächlich J. C. Mannlich, den Schützling
des Herzogs von Pfalz- Zweibrücken, den Sachsen Chr. T. Weinlig, der Architektur
studierte, und die Gebrüder Hackert*)- Mit Mannlich, Weinlig, dem Sachsen Reh-
schuh und den französischen Pensionären Charles Vanloo und Lefebore unternahm
Sergel im Herbste 1768 eine mehrwöchige Reise nach Neapel, die ihm reiche An-
regungen vermittelte und ihn auch körperlich erfrischte, und bei den lustigen
Sonntagsausflügen, die die Pensionäre und Studierenden der Akademie nach der
Villa Madama zu unternehmen pflegten, fehlte der lebenslustige Schwede nicht ).
Immer hat Sergel seiner römischen Freunde und der künstlerischen Förderung,
die ihm aus ihren aufrichtigen Urteilen und Ratschlägen erwuchs, treu und dankbar
gedacht.
Welche Einflüsse hat Sergel in der reichen römischen Kunstatmosphäre ein
gesogen?
Berninis Name findet sich in seinen römischen Tagebuchaufzeichnungen häufig
erwähnt, doch hat der Großmeister der barocken Plastik, dessen Werken Sergel
in Rom auf Schritt und Tritt begegnete, in seinem eigenen Schaffen kaum eine
Spur hinterlassen. Für die Verdienste der Barockbildnerei ist Sergel indes so
wenig blind gewesen, daß er noch auf der Heimreise aus Italien Pugets Schöp-
fungen eine besondere Bewunderung widmete, aber ihren Geschmack lehnte er ab‘).
In Michelangelo, nach dessen Gemälden in der sixtinischen Kapelle er gezeichnet
hat, hat er kein Verhältnis gewinnen können’). Anders war seine Stellung zu
(1) „Accademia“ hieß nach italienischem Sprachgebrauche jede Vereinigung von Künstlern zu ge-
meinsamem Studium nach dem lebenden Modelle (vgl. meine Bemerkungen in Monatsh. f. Kunstw.
XI, 1918, S. 276). Solche Akademien hat es in Rom schon seit dem 17. Jahrhundert in beträcht-
licher Zahl gegeben, während an der Lukasakademie erst unter Benedikt XIV. (1740—58) eine Modell-
klasse ins Leben gerufen worden war.
(2) Mannlich, 8. ros.
(3) Über die Reise nach Neapel liegen drei Berichte vor: Sergels Tagebuchaufzeichnungen (Göthe,
S. 45 f.), die Darstellung Mannlichs in seinen Erinnerungen, 131 ff. und die Weinligs in seinen
„Briefen über Rom“, Ш, 4 ff. — Über die Sonntagsausflüge Mannlich 105 und Brief Sergels bei
Göthe so.
(4) Vgl. Göthe, 8, 43, 46, 54, 111. Die Fiußgötter auf dem frührömischen Studienblatte bei Kruse,
Sergels Handteckningar, Blatt No. VI4, könnten wohl von Bernini inspiriert sein.
(5) Göthe teilt S. 77 mit, daß Sergel einige der Sibyllen der sixtinischen Kapelle „in einem etwas
antikisierenden Stile“ gezeichnet habe. Michelangelos Ruhm befand sich gerade in einem Wellen-
tale; weder das Rokoko noch der Klassizismus hatten Verständnis für ihn, und selbst Goethe hat
sich ja noch sozusagen an ihm vorbeigedriickt. Aber gerade in Sergels engstem Freundeskreise
schlug eine neue, im Widerspruch zum Zeitgeschmacke stehende Michelangelo-Bewunderung Wurzel,
deren Träger Abildgaard und J. H. Füßli waren. Abildgaards reifstes Werk aus seiner römischen
Zeit, der „Philoktet“ (Kunstmuseum, Kopenhagen) bezeugt Michelangelos Einfluß; lehrreich ist in
dieser Hinsicht auch sein aus dem Besitze Sergels stammender männlicher Akt bei Brising, 9. 29.
Von Abildgaard führt dann die Linie zu Carstens, der ja jedenfalls in Kopenbagen Anregungen von
ihm erfahren hat. Vgl. bierzu Hautecoeur, 8. 92, 114, 190 und passim: meine Entstehung der
106
Raffael, Annibale Carracci, Domenichino, also jenen Meistern, die auch die Theo-
retiker des Klassizismus anerkannten, weil sie in ihren Werken den Geist der
Antike zu erkennen glaubten. Nach ihnen hat er mehrere Monate kopiert“), und
aus dieser Quelle sind ihm reiche Anregungen zugeflossen. Die heitere Götterwelt
des Amor- und Psyche-Zyklus in der farnesinischen Villa und die der Gemälde
Carraccis im Palazzo Farnese hat auf ihn einen so tiefen Eindruck gemacht, daß
er ihr die Motive zu einer Anzahl von Kompositionen seiner römischen Frühzeit
entlehnte, ja noch in seinen späten und spätesten Lebensjahren kehren die Typen
dieses Bilderkreises in seinen Zeichnungen wieder?). Ihrer Bewunderung ist er
immer treu geblieben, allein er hat sich nicht zu lange damit aufgehalten, nach
ihren Werken zu zeichnen, und bemerkenswert ist die Begründung, die er dafür
gibt: er habe erkannt, daß diese Meister aus derselben und einzigen Quelle, der
Antike und der Natur, geschöpft hätten, und so zog er es vor, sich auch seiner-
seits selbst an diese Quellen zu halten?).
Ganz unzweifelhaft ist es die Antike gewesen, um die sich Sergels Interesse in
Rom von Anfang an gesammelt und die den stärksten Eindruck auf ihn hervor-
gebracht hat. Seine Skizzenbücher legen davon reichlich Zeugnis ab. Doch voll-
zog sich seine Entwicklung nun nicht etwa in der Weise, daß er sich alsbald mit
Haut und Haaren der Antike verschrieben hätte. Aufschlußreich ist in dieser Hin-
sicht eine Gruppe von kleinen Arbeiten in Terrakotta, im ganzen etwa ein Dutzend,
Einzelfiguren, Figurengruppen und Reliefs, die sich teils im Stockholmer Museum,
teils in schwedischem Privatbesitze oder in dem der Universität Upsala befinden,
und die am vollständigsten von Brising zusammengestellt und abgebildet worden
sind‘). Die Motive sind überwiegend dem unbekiimmerten Genuß- und Liebesleben
der Götter und Halbgötter entnommen: bei „Jupiter und Juno“ hat er aus dem
Vorrate der Gallerie Farnese, bei „Merkur und Psyche“ aus dem der farnesinischen
Villa geschöpft — ein Verfahren, bei dem er sich der französischen und der älteren
Barocküberlieferung anschloß°); — in den Reliefs stellte er die Spiele, Tänze und
Scherze der Satyre, Faune und Nymphen dar. Die Formengebung dieser Arbeiten
macht es wahrscheinlich, daß sie nicht als Kompositionsmodelle für spätere Aus-
führung im großen anzusehen sind, sondern daß sie als selbständige Kleinwerke
angelegt und vollendet worden sind. Derartige Kleinplastiken lagen ja im Ge-
schmacke des Rokokos, und eben während Sergels erster Jahre in Rom hatte
Clodion dort mit Schöpfungen dieser Gattung lebhaften Erfolg. Es ist denn nicht
unwahrscheinlich, daß Sergel mit ihm hat wetteifern wollen, und diese Annahme
Kunstkritik, 8. 312 und 335, Anm. 60; Harnack, Deutsches Kunstleben in Rom im Zeitalter der
Klassik, 8. 21; P. F. Schmidt in den Monatsheften f. Kunstwissensch. IX (1916), besonders 8. arr.
(1) In der Selbstbiograpbie von 1785 heißt es: „en 1770 je desinais d’apres Raphael et Hanibal
Carache“. In bezug auf seine Studien nach Carracci scheint diese Angabe irrig zu sein. Wir wissen
aus Goethes Hackert (Werke, Jubil. Ausg. 34, 210), daß dieser und Sergel in der Gallerie des Pal.
Farnese zeichnen durften, während der dort wohnende Kardinal Orsini nach dem Tode Clemens XIII.
(t 2. Febr 1769) dem Konklave beiwobnte. Der neue Papst, Clemens XIV., wurde am 9 Mai er-
wäblt — danach läßt sich also Sergels Tätigkeit in der Carracci. Gallerie zuverlässig datieren. Gleich
nach dieser scheint er sich an den Amor- und Psyche-Zyklus gemacht zu haben, wie aus seinem
Briefe an den Grafen С. Bonde vom 26. Aug. 1769 (Sergelska Bref 3, Anm ) zu schließen ist.
(2) S. Looström, Sergel, 8. 108, 109 und die Zeichnung No. VI6 in Kruses Ausgabe.
(3) Sergelska Bref ag.
(4) 8. 44 f., got
(5) Vgl. Brinek mann, a. a. O., 8. 390.
107
wird durch den Stilcharakter seiner Terrakotten bestätigt. Nach Stil und Geschmack
gehören sie der Genrekleinplastik des Rokoko zu; die meisten der Figuren und
Gruppen könnten ganz wohl als Modelle für Sevres gelten. Das entscheidende
formale Element bildet die geschmeidig ausdrucksvolle Linie, das Geistige, das Ge-
fällige, Reizend-Sinnliche. Die glücklichste unter diesen Arbeiten ist die Gruppe
„Venus und Anchises“, in der ein beträchtlicher Aufwand an plastischen Motiven
klar und geschmackvoll geordnet und in ein Liniensystem von schmelzendem Flusse
eingebunden ist; individuell am interessantesten ist die Figur eines verzweifelt am
Meeresstrande hingeworfenen Achilleus, dessen leidenschaftlich ausgestreckte Arme
den Raumbereich des Bildwerks durchstoßen und seinen Umriß sprengen. Doch
bleibt im Pathos dieser barock empfundenen Gestalt etwas Theatralisches fühlbar,
da der Ausdruck der Empfindung nicht mit gleicher Stärke durch alle Formen
hindurchgeführt ist.
Leider fehlen zur chronologischen Sicherstellung und Ordnung dieser Gruppe von
Sergels Arbeiten die hinlänglichen Grundlagen. Sergel selbst gibt nur an: „Jai
fait А Rome quantité de groupes en terre cuite.“ Gewöhnlich weist man sie der
Zeit vor der Vollendung des „Faun“ (1770) zu; das wird für die Mehrzahl zu-
treffen, ich zweifle, ob für alle. Denn es steht so — und das soll weiter noch im
einzelnen nachgewiesen werden —, daß das diese Werke bestimmende Stilgefühl
in Sergels Schaffen auch nach seiner entschiedenen Hinwendung zur Antike nicht
erloschen, sondern immer darin wirksam geblieben ist; und so lassen sich denn
auch deutliche Beziehungen zwischen Sergels römischen Kleinarbeiten und den
Schöpfungen seiner reifen Zeit erkennen, Der „Verzweifelte Achilles“ z. B. ist in
Problemstellung und Komposition sowohl dem „Faun“ wie auch dem 1778 in Paris
modellierten „Othryades“ verwandt; und was die Gruppe „Achilleus und Chiron“
angeht, so würde sie stilkritisch sehr wohl ihren Platz unter Sergels späteren
römischen Werken finden, da die Gestalt des speerschwingenden Achilleus in An-
lehnung an eine der Dioskurenfiguren auf dem Monte Cavallo entstanden sein
dürfte. Wie dem aber auch sei, so beruht die Bedeutung dieser Terrakotten für
das Verständnis Sergels jedenfalls darauf, daß sie sprechend bekunden, wie kräftig
das Rokoko-Grundgefühl in ihm auch in Rom, auch während seines eifrigen Studiums
der Antike, lebendig geblieben ist.
In ein inneres und klares Verhältnis zu dieser tritt er erst mit dem 1770 voll-
endeten Faun (vgl. Abb.). Dies ist Sergels erste selbständige Arbeit von Be-
deutung; sie bezeichnet den Wendepunkt in seinem künstlerischen Entwicklungs-
gange.
Der bakchische Stoffkreis war in der Bildnerei der Zeit beliebt. Clodion be-
diente sich seiner gern, Bouchardon hatte eine meisterliche Kopie vom barberini-
schen Faun angefertigt. Mit der Wahl des Motivs ging also Sergel über die
Grenzen des Zeitgeschmacks nicht hinaus, aber in der Art der Behandlung bot er
allerdings Neues. Die Frage, welches Werk des Altertums ihm als Vorbild bei
seinem Faun gedient habe, ist seit Nyblom viel erörtert und ein reiches Material
ist dafür beigebracht worden ). Mir will indes scheinen, daß die Fragestellung in
dieser Form zuletzt doch nicht entscheidend ist. Denn es läßt sich Sergels Ver-
hältnis zu seinen antiken Vorbildern allgemein dahin bezeichnen, daß er in der
Regel wohl ein bestimmtes, im Altertum ausgebildetes Motiv oder auch ein ein-
zelnes Werk zum Ausgangspunkte wählt, bei der weiteren plastischen Entwicklung
(1) Vgl. Nyblom, 21; Brising, 66; Kruse, Sergels Teckningar. Del I, Einleitung.
108
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und Durcharbeitung des Entwurfes aber auch noch allerlei andere antike Motive und
Formgedanken heranzieht und sie in die Konzeption einschmilzt. Entscheidend
bleibt, daß diese Einschmelzung meist so vollzogen wird, daß die an der Ent-
stehung der Komposition beteiligten Elemente nur noch als allgemeiner Form-
charakter oder als Anklang erkennbar werden, und daß Sergels Hauptschöpfungen
zuletzt doch alle aus einer selbständigen und organischen plastischen Vorstellung
erwachsen sind. Auf den Faun angewandt bedeutet dies, daß man darin wohl
formale und Charakterzüge verschiedener antiker Faunstypen, teils deutlicher, teils
verdeckter, finden kann, daß er aber schließlich und hauptsächlich eben Sergels
Faun ist und bleibt.
Es gibt zu diesem Bildwerke Vorstudien in Gestalt von zwei Rötelzeichnungen!),
die von dem ausgeführten Modelle in bemerkenswerter Weise abweichen. Auf
dem einen Blatte schwebt das linke Bein des Fauns, auf irgend etwas gestützt,
frei in der Luft; auf dem andern hat Sergel daran gedacht, ihn den linken Arm
weit nach rückwärts ausstrecken zu lassen — eine Gebärde, die an die des „Ver-
zweifelten Achilleus“ erinnert. Beide Bewegungsmotive würden den idealen Raum-
bereich des Bildwerks durchstoßen, und in seinen Rhythmus starke exzentrische Akzente
eingelegthaben. Das vollendete Werk zeigt eine andere Redaktion. In Sergels Faun
ist die „ideale Reliefwand“ gewahrt. Alle Formen sind in klaren Relationen in der
Vorderansicht ausgebreitet. Die Gliederung der plastischen Masse erfolgt nicht
durch starke Aushöhlungen, sondern durch feine, einander aufnehmende und deu-
tende Verschiebungen. Licht und Schatten finden nicht Gelegenheit, einwühlend
einzudringen, sondern sie spielen in zarten, gleitenden Nüancen über den ganzen
Körper hin. Die Gestalt wird nicht in den Raum hineingedrängt, sondern als ge-
schlossene plastische Erscheinung von ihm abgesondert. Der rhythmische Aufbau
der Figur beruht nicht auf der Verwendung gegensätzlicher Bewegungsmotive,
sondern er ist in einem einheitlichen Rhythmus durchgeführt, der in gleichmäßigem
Flusse vom erhobenen Oberkörper bis zu den Fußspitzen niederströmt und sich in
einem in sich geschlossenen Umrisse rundet. Vergleicht man das vollendete Werk
mit den Vorstudien, so kann man wohl verstehen, was Sergel meinte, wenn er
„die wahre Bewegung“ in der Natur suchte, in der Antike aber „die Regel in
den Künsten“ sah?): er ging aus von einem lebhaften Bewegungsmotive, das er
dann an antikem Vorbilde plastisch disziplinierte; seine künstlerische Phantasie
wurzelte im Rokoko, seine künstlerische Intelligenz hielt sich an die Antike. Der
Vorgang ist, wie sich noch zeigen wird, für Sergel typisch. Eben durch dies Ver-
fahren behauptet sein Faun auch den antiken Vorbildern gegenüber seine Selb-
ständigkeit. Kein Werk des Altertums steht ihm so nahe, wie der im Vatikan
aufbewahrte, zum Teil ergänzte Torso eines trunkenen Fauns aus grünem Basalt’).
Aber durch die Abweichungen, die Sergels Werk aufweist (der herabhängende Arm,
der hintenüber gebogene Kopf, die malerische Behandlung der Unterlage usw.) ist
die Masse gelockert, der Umriß freier bewegt; und der formalen Umredigierung
des Motivs entspricht die Umstellung in der Auffassung des Charakters. Denn
während der vatikanische Faun, überwältigt vom Weine und vom Schwärmen durch
Wald und Feld, erschöpft und schwer dem Schlafe anheimgefallen ist, schwebt
(x) Veröffentlicht bei Kruse, а. а. O., Blatt VIz und VIa.
(2) Siehe oben und Sergelska Bref, S. 29.
(3) Reinach, Repertoire de la Statuaire grecque et romaine I, 405. Vgl. Helbig, Führer I, 303 und
Braun, Die Ruinen und Museen Roms, 8. 478.
109
der Sergels zwischen Schlaf und Wachen. Seine Züge besonnt ein glückliches
Lächeln, der Abglanz genossener oder die Vorfreude künftiger Seligkeiten. Er mag
sich vielleicht eben zum Schlummer hinstrecken oder er mag auch nach bereits
genossener Ruhe zu neuen Freuden erwachen: jedenfalls ist seine Gestalt elastisch,
zu augenblicklichem Aufschnellen bereit, ein Bild unverbrauchter Genußkraft; die
Glieder sind leicht gelöst, doch nicht dem Willen entzogen; und eben aus diesem
Wechselspiele von Anspannung und Entspannung entspringt der feine Lebensstrom,
der die ganze Gestalt durchkreist. Das antike Vorbild ist mit einem eigenen und
frischen Naturgefühle erneuert, das Funktionelle des Körpers ist sicher und über-
zeugend ausgesprochen, die Formen sind geschmeidig und fein, mit einem un-
verkennbaren Wohlgefiihle an Reiz und Leben der Einzelform durchgearbeitet, ihre
Zierlichkeit und Delikatesse erinnert an den Rokokogeschmack, dem das Bildwerk
auch durch sein Format nahe steht — der Faun ist nur etwa halblebensgroß.
Aber vom Rokoko scheidet sich Sergels Schöpfung durch ihren kräftigen und ge-
sunden Charakter, durch die zielbewußte Isolierung der plastischen Formen in der
Vorderansicht und den Verzicht auf Tiefenillusion, durch die Einfachheit und Maß-
haltigkeit der Bewegung; mit dem späteren reinen Klassizismus verglichen erfreut
sie durch ihr liebenswiirdig-frisches Naturgefiihl'). Sie ist entstanden in einem
jener glücklichen Zeitpunkte, da eine noch lebenskräftige Überlieferung sich mit
einem neuen, verjüngenden Formwillen begegnet. Sergel war nicht der einzige
Bildhauer, der den Zeitpunkt verstand und nutzte. Er fand einen Nebenbuhler
іп dem Franzosen Pierre Julion, der gleichzeitig mit ihm, von 1768 bis 1773, in
Rom studierte und als Frucht seiner Studien 1779 den „Sterbenden Gladiator“
vollendete?). Das Verhältnis dieses Werkes zur Antike ist annähernd dasselbe wie
das des Fauns, und beide Arbeiten teilen sich in den Anspruch, die Vorposten der
klassizistischen Bewegung in der Bildnerei zu sein. Allein Juliens „Gladiator‘ steht
doch dem Formgefühle des Rokokos noch beträchtlich näher, und während er bei
aller Tüchtigkeit der Arbeit schließlich eine typisch-akademische „piece de réception“
bleibt, hat Sergels Faun den Vorzug warmer persönlicher Beseelung. Er ist er-
füllt von einem ungebrochenen und unbeschwerten Gefühle der Lust am Leben
und am Genusse und erscheint so als ein Abbild der glückhaften Existenz des
Künstlers zu jener Zeit, da er die freie Herrschaft über sein Talent gewann, mit
sich und seiner Aufgabe einig wurde und mit tiefem Behagen sein römisches
Künstlerleben genoß.
V.
Durch seinen „Faun“ wurde Sergel mit einem Schlage berühmt. Das Modell
erregte in Rom sogleich Aufsehen, und er erhielt zwei Aufträge auf die Ausführung
in Marmor: einen von Gustav III. und einen zweiten vom französischen Gesandten
in Neapel, Baron de Breteuil?). Sergel war glücklich; die Anerkennung, die er sich
nun errungen hatte, gab ihm sein inneres Gleichgewicht wieder. Es ist wohl nicht
zufällig, daß er um diese Zeit — vermutlich 1771 oder 1772 — sein Verhältnis
zur französischen Akademie gelockert und von der weiteren Beteiligung an ihrer
(1) Vgl. Lange, 35.
(а) Uber Julien und seinen „Gladiator“; Pascal, Pierre Julien, Paris 1904, 8. 26 ff. (und Gaz. des
B.-Arts 3me per. 29, 8. 332) und Hautecoeur, a. a. O., 188.
(3) Das Exemplar Gustavs Ш. befindet sich heut im Stockbolmer Nationalmuseum, das de Breteuils
ist über das Luxembourg schließlich im Athenäum zu Helsingfors gelandet. 8. über die Geschichte
der Modelle und Ausführungen des Fauns Göthe 62; Brising 64.
110
Modellklasse Abstand genommen hat. Er hatte seine römischen Lehrjahre hinter
sich und durfte sich als ein Meister von eigenen Gnaden fühlen; überdies war von
den alten Akademiekameraden der ersten Jahre einer nach dem andern, zuletzt
noch 1771 Mannlich, heimgereist. Ein neuer Kreis begann sich nun um ihn zu
bilden. 1770!) kam der phantasievolle J. Н. Füßli, 1772 der dänische Maler Nicolai
Abraham Abildgaard nach Rom, denen beiden Sergel besonders nahe getreten ist;
er stand ferner mit der Gruppe junger österreichischer Künstler um Füger und
Zauner in Umgang, und mit den nordischen Künstlern, die nach Rom kamen, hielt
er wohl sämtlich landsmannschaftliche Fühlung. Die Künstler dieses Kreises einte
insofern eine gemeinsame Überzeugung, als sie sich alle zu den klassizistischen
Grundsätzen bekannten; sie bilden die Zwischengeneration, die die Mengs-Winckel-
mannsche Zeit mit der großen Gruppe klassizistischer Maler und Bildhauer ger-
manischer und romanischer Herkunft verbindet, die gegen und nach 1780 die
Führung im römischen Kunstleben übernahm. Sergel konnte ungewöhnlich lange
in Rom verweilen und rückte allmählich in Stellung und Autorität eines „alten
Römers“ ein; er war ein bereits anerkannter Meister und in Arbeit und Genuß ein
unverwüstliches Temperament: so wurde er der natürliche Mittelpunkt und die
führende Persönlichkeit in diesem Kreise, dessen Menschen und Treiben er in einer
Reihe prächtiger, lebens- und humorvoller Zeichnungen geschildert hat?).
Alles deutet darauf hin, daß der Zeitraum von 1770 etwa bis 1774 die Höhe in
Sergels Schaffen bildet. Seine Hauptwerke scheinen in ihrer Entstehung sämtlich
auf diese Jahre zurückzugehen. Dem Faun folgte unmittelbar der Diomedes, der
seinen Ruf bestätigte und weiter ausbreitete; es schlossen sich die beiden Gruppen
„Amor und Psyche“ und „Mars und Venus“, sowie die Figur der aus dem Bade
steigenden Venus an. Der „Diomedes“ ist im Modelle wahrscheinlich schon 1772,
in der Marmorausführung spätestens 1774 vollendet worden?); die letztere erfolgte
(1) So nach Thieme-Becker 12, 566; Göthe (S. 66) gibt 1772 an. Füßli blieb in Rom bis 1778,
Abildgaard bis 1776. Was die im folgenden genannten Künstler angebt, so kam Füger 1775, Zauner
1776 nach Rom. Einer von diesen Österreichern, Hubert Maurer, hat 1776 das im Besitze der Kunst-
akademie zu Stockholm befindliche Bildnis Sergels gemalt; Abbildung bei Göthe 93; Looström,
Tafel 7. Unter Sergels nordischen Freunden ist vor allem Jens Juel zu nennen (in Rom 1772 bis 1776),
sowie der bereits früher erwähnte schwedische Maler Masrelicz, der gleichfalls während der siebziger
Jahre in Rom eintraf.
(2) Hans Tietze weist im Repert. für Kunstwiss. 40,94 auf die Existens eines bodenständigen römi-
schen Frühklassizismus um 1775 hin und beruft sich dabei besonders auf Pacettis Reliefs in der Villa
Borghese. Da ich diese seit Jabren nicht gesehen habe, muß ich mich eines Urteils darüber enthalten.
Wenn aber Tietze die Frage nach den Einflüssen aufwirft, die an der Entstehung dieses römischen
Frühklassizismus beteiligt gewesen sein mögen, und Lierbei vermutungsweise auf Trippel hindeutet,
so wird doch, wie mir scheint, zu erwägen sein, ob hier nicht Sergel als Gliei in die Entwicklungs-
reihe einzusetzen ist. Nachzuweisen ist sein Einfluß allerdings nicht. Aber er bat seit der Vollendung
des „Fauns“ (1770) unzweifelhaft in Rom die Stellung eines führenden Bildhauers eingenommen; er
ist der erste gewesen, der dort anerkannte und bewunderte klassizistische Bildwerke geschaffen und
gezeigt bat; daß er auf den ibm befreundeten, jüngeren und beträchtlich später (1776) in Rom ein-
getroffenen Zauner Einfluß ausgeübt hat, ist doch als natürlich und wahrscheinlich anzunehmen, und
man wird daher kaum umhin können, Sergels Anteil an der Entstehung des Frühklassizismus in An-
schlag zu bringen. Daß er bisber allgemein unbeachtet geblieben ist, gehört zu Sergels geschicht-
lichem Schicksale.
(3) Anfang 1772 sah der schwedische Reisende J. J. Björnstätt in Rom den Diomedes in Sergels
Werkstatt in Arbeit; vgl. seine „Resa till Frankrike, Italien etc.“ I, Stockh. 1780, 8. 320, Deutsche
Ausg., Leipzig und Rostock 1780, П 6. Die Angabe Langes, 8. 37, daß Sergel den Diomedes in
ІІІ
auf Bestellung eines Lords Talbot; da aber der Marmor in England verschollen
ist, so beruht die Würdigung des Werkes auf den vorbereitenden Originalmodellen
im Stockholmer Nationalmuseum und auf dem Exemplar in Gips im Besitze der
dortigen Kunstakademie, der mit der Jahreszahl 1774 bezeichnet ist. Dargestellt
ist der griechische Held, wie er das erbeutete Palladium im linken Arme davon-
trägt, und zwar in einem Augenblicke, wo er sich verfolgt glaubt und angespannt
zum Widerstande bereit ist. Ursprünglich (s. Abb.) gibt Sergel ihn in eiligem
Laufe stockend, der rechte Arm und das rechte Bein holen kräftig aus, die Masse
ist daher lebhaft gelockert, das Haupt ist mit einem Ausdrucke kühner Ent-
schlossenheit nach aufwärts gewandt. Im Fortgange der Arbeit aber wird die
Gestalt durch Heranziehung von Bein und Arm zusammengenommen, der Umriß
daher verdichtet, und die Figur in einen geschlossenen Raumblock eingesetzt, das
Tempo des Schreitens wird verlangsamt, das Ganze der plastischen Erscheinung
wird entschiedener frontal orientiert, der Kopf wird stark zur Seite gedreht, gleich
als ob Diomedes sich nach seinen Verfolgern umsähe, und der Bewegung auf
diese Weise ein retardierendes Gegenmotiv gegeben. Als Vorbild mag Sergel, wie
Brising wahrscheinlich gemacht hat, den damals in der Villa Albani, jetzt in der
Münchener Glyptothek (Nr. 304) aufbewahrten Diomedes benutzt haben, aber wäh-
rend er das Motiv zu Anfang etwa im Sinne der Dioskuren vom Monte Cavallo
auffaßte, hat er es weiterhin dem Typus des belvederischen Apolis angenähert,
dessen Formideal in dem Gipsabgusse unzweifelhaft fühlbar ist. Die Entwürfe
sind frischer, temperamentvoller, dramatischer, doch nicht ohne einen leichten
Hauch von theatralischem Pathos; die Schlußfassung ist gelassener, geschlossener,
sorgsam ausgewogen und offenbar bestrebt, das Genrehafte zu vermeiden. Auch
in der Behandiung der Körperformen wird ein Wandel erkennbar, der dann in
Sergels weiteren Schöpfungen sich immer stärker geltend macht, indem er, an
antiken Vorbildern geschult, danach strebt, das Typische im Formcharakter zu be-
tonen, die Flächen breiter und größer aneinanderfügt und so das belebte Spiel der
Oberfläche monumental zu stilisieren sucht. Man wird wiederum darauf geführt,
daß Sergel eine ursprünglich dem Barockempfinden eng verwandte Konzeption be-
wußt nach der Antike umredigiert hat. Dabei ist es ihm gelungen, einen für seine
Zeit neuen Typus heldenhafter Männlichkeit zu schaffen, indem das Übersteigert-
Pathetische und das Sinnlich-Weichliche der Barock- und Rokokohelden ausgetilgt
erscheint. Von diesem Diomedes führt eine Linie zum Perseus Canovas, eine
andere zum Jason Thorwaldsens.
Vor neue Probleme sah Sergel sich gestellt, als er zum ersten Male eine große
Gruppenkomposition in Auftrag erhielt. Der Auftrag stammte von Ludwig XV.,
der für die Dubarry eine Gruppe „Amor und Psyche“ bestellte, aber durch den
Tod des Königs (1774) wurde die Bestellung hinfällig. Danach ist es wahrschein-
lich, daß Sergel vor 1774 mit der Arbeit begonnen und jedenfalls das erste Modell
fertiggestellt hat; eine spätere Äußerung des Künstlers, sowie eine römische Zeich-
nung Füßlis, die ihn bei der Arbeit an der Gruppe zeigt, lassen vermuten, daß er
noch in Rom, vielleicht um 1776—77, mit der Marmorausführung begonnen hat’),
aber erst ein gutes Jahrzehnt später hat Sergel, nachdem Gustav III. von Schweden
die Bestellung übernommen hatte, das Werk in Stockholm vollendet: 1787 war es
Bronze ausgeführt habe, geht auf eine wohl als Schreibfehler anzusehende Angabe in Sergels Auto-
biographie zurück und findet jedenfalls sonst durch nichts Bestätigung. Vgl. hierzu Göthe, 8. 64.
(1) S. Göthe, S. 70; Brising, 104. Füßlis Zeichnung bei Götbe, 67.
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fertig, an letzten Einzelheiten hat Sergel sogar noch bis 1789 gearbeitet. Gustav III
wollte die Gruppe in einem Tempelchen im Parke seines Schlosses Haga auf-
stellen, zu dem er Desprez einen Entwurf machen ließ!), indes ist dieser Plan nie
zur Ausführung gekommen, und noch bei Sergels Tode hat die Arbeit in seiner
Werkstatt gestanden, um von da ins Nationalmuseum überzusiedeln. Doch schon
von der Werkstatt aus hat sich ihr Ruf verbreitet; „Amor und Psyche“ wurde
das berühmteste Werk des Meisters, er mußte mehrere Wiederholungen in klei-
nerem Formate davon anfertigen, und noch heut genießt es eine Bewunderung und
Beliebtheit wie keine andere seiner Schöpfungen.
Mochte das Thema von Paris aus gestellt oder von Sergel selbst vorgeschlagen
sein, jedenfalls gehörte es schon von altersher zum gangbaren Motivenvorrate der
Bildnerei. Allein es ist für Sergels aufs Dramatische und Energische gerichtete
Temperament bezeichnend, daß er nicht das bekannte Motiv der zärtlich-idyllischen
Vereinigung Amors und Psyches, sondern einen tragisch bewegten Vorgang aus
der Handlung des alten Märchens, nämlich den Augenblick wählte, wo Amor nach
der nächtlichen Entdeckung der neugierigen Psyche im Begriffe steht, sie zu ver-
lassen?). Für die Psyche benutzte er von vornherein das Vorbild der sogenannten
kauernden Venus, die er in eine knieende Gestalt verwandelte. Wäre von seiner
Arbeit an dieser Gruppe zufällig nichts übrig geblieben, als das erste, in gebrannter
Erde ausgeführte Modell des Stockholmer Nationalmuseums, so würde man kaum
Bedenken tragen, dies Sergels früher besprochenen römischen Klein-Terrakotten
zuzuweisen. Ein Überschuß von Affekt ist hier genreartig verarbeitet. Psyche
klammert sich schreiend an Amor an, dessen Gesichtsausdruck man am ehesten
als den eines trotzigen Schmollens bezeichnen dürfte. Ihr reifentwickelter Körper
steht in merkwürdigem Gegensatze zu der jungenhaften Erscheinung des Gottes.
Ein weiter Weg führt von diesem ersten Entwurfe zu der endgültigen Gestaltung
des Werkes. In dieser ist Amor im Anschlusse an den Eros von Contocelle ge-
bildet und hat damit ein wesentlich reiferes und göttlicheres Gepräge gewonnen.
Ein Zug echter Tragik ist in die Komposition eingegangen: Psyche in stummer
Verzweiflung, Amor voll trauriger, doch unerschütterlicher Entschlossenheit; die
Ehestandsaffäre des ersten Modelles ist in einen Vorgang von schicksalhaftem
Ernste umgesetzt, und man wird in dieser ethischen Neueinstellung, in dieser Über-
tragung des Motivs aus dem genrehaft Spielenden ins Bedeutende, ja Heroische
einen Einsatz der neuen Gesinnung sehen dürfen. Formal ist „Amor und Psyche“
dasjenige unter Sergels Großwerken, in dem die Kreuzung der sein Schaffen be-
herrschenden Stilelemente am augenfälligsten sich vollzieht. Die warme Anmut
der Gruppe, die sich in Psychens Gestalt bis zu blühender Sinnlichkeit raffiniert,
der in weichen Windungen sich aufschraubende weibliche Körper, die geistreiche
Asymmetrie der Komposition, die rationale Ordnung und Abstimmung einer reichen
Fülle gegensätzlicher Bewegungsmotive: alle diese Eigentümlichkeiten der Arbeit
weisen sie dem Rokoko zu, und es gibt unter Sergels Hauptwerken keines, in dem
er sich diesem Stile so weit hingegeben hätte, wie in Amor und Psyche. Und
doch ist der Formcharakter auch dieser Gruppe zu einem guten Teile von klassi-
zistischen Anschauungen durchsetzt. Um dies zu erkennen, muß man sich aller-
dings daruber klar werden, daß die Gruppe nicht als Frei- und Rundbildwerk im
(х) Abgebildet bei Brising, S. 105.
(2) Nach einer aus der Sammlung Borghese stammenden Gruppe des Louvres (Nr. 536; s. Reinach,
Répert. des Statuaire 1, 134) zu urteilen, scheint dies Motiv dem Altertume nicht fremd gewesen zu sein.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 4—6. 8 113
Sinne des Barocks in die Raumtiefe hinein gebaut, sondern daß auch sie frontal
znsammengeschlossen ist. In dieser Hinsicht ist die Auffassung der schwedischen
Forschung meines Erachtens zum Teil fehlgegangen; doch weist schon die ur-
sprünglich in Aussicht genommene, sicherlich unter Sergels Beteiligung oder doch
wenigstens Zustimmung festgesetzte Art der Aufstellung des Bildwerks in Desprez’
rechteckigem (oder quadratischem) Tempelchen darauf hin, daß der Meister es
dem Beschauer in der .achsialen Vordersicht gezeigt zu sehen wiinschte’). In
dieser sind die Formen so geordnet und verteilt, daß alle funktionellen Werte der
Komposition sich restlos aussprechen und deuten; sie vereinigen sich zu geschlos-
sener Darstellung in einer Fläche, deren Rückwand durch das mächtige Flügel-
paar Amors nachdrücklich betont ist (man vergleiche etwa, in wie völlig anderem
Sinne Bouchardon in dem Amor mit der Keule des Herkules im Louvre dies Motiv
ausgenutzt hat). Eine Nötigung des Auges, die Gruppe zu umwandern und sie
sich nacheinander in ihrer räumlichen Anordnung und Ausdehnung zu eigen zu
machen, ist nicht gegeben. Sorgfältig hat Sergel die Formen eng aneinander ge-
bunden und es vermieden, sie durch Raumeinfüllung zu lockern. Der ideale Raum-
block ist fest gewahrt; nirgends drängt die Form über seine Grenzen hinaus; die
Asymmetrie der Gruppenhälften ist mit vorsichtiger und feiner Berechnung aus-
gewogen. So kann man gerade an dieser Schöpfung in lehrreicher Weise be-
obachten, wie streng Sergel seine Formanschauung in antikisch-klassizistische Zucht
zu nehmen bestrebt war.
Die zweite Großgruppe der römischen Zeit, Mars und Venus, zeigt ihn in dieser
Anschauung wesentlich gefestigt. Über ihre Entstehungsgeschichte weiß man nur
so viel, daß Sergel auf Bestellung eines „Chevalier Neikt“, vermutlich eines Eng-
länders, das Modell noch in Rom vollendet hat. Der Besteller starb, die Arbeit
blieb liegen, und erst viel später, 1812, wenige Jahre vor seinem Tode, stellte der
Künstler ein Marmorexemplar für den schwedischen Grafen de Geer fertig, das
aus dessen Familie unlängst in den Besitz des Stockholmer Nationalmuseums über-
gegangen ist. In bezug auf Energie und Frische der Formbehandlung wird der
Marmor jedoch bei weitem übertroffen von dem gleichfalls im Nationalmuseum
befindlichen Modelle (s. Abb.), das mit Sergels ganzem Feuer durchgeführt ist und
an Kraft, Freiheit und Schwung der Formensprache wohl überhaupt die erste
Stelle unter seinen Schöpfungen verdient. Das Motiv ist Mars, der im Begriffe
steht, die ohnmächtig gewordene Venus aus dem Kampfgetümmel zu entführen.
Von antiken Vorbildern ist auf die bekannte Gruppe des Galliers mit seinem Weibe
hingewiesen worden; in erster Linie hat sich Sergel jedoch offenbar an der Pasquino-
Gruppe inspiriert. Was er aus ihr entwickelt hat, ist als eine durchaus selbstän-
dige Schöpfung anzusprechen. Er hat die schlanke pyramidale Komposition des
antiken Bildwerks in ein kraftvolles Rechteck umgebaut, die dort räumlich durch-
setzte plastische Masse in einen festen Block eingespannt, der Gruppe Volumen
gegeben, den Formenaufbau aus der mächtigen Fläche des männlichen Körpers
entwickelt. Gegen die das ganze Bildwerk stützende und beherrschende Wucht
dieser Fläche ist die flüssig und elegant geführte Diagonale der weiblichen Gestalt
ausgespielt, deren Kopf den sonst streng geführten Umriß in schwingende Be-
(?) Wiedergegeben bei Göthe, 69, Brising, 99.
(1) Es ist wohl als eine Folge der irrigen Auffassung der Gruppe durch die schwedischen Forscher
anzusehen, daß die gebräuchlichste Aufnahme der Gruppe sie in seitlicher Ansicht zeigt. Auch die
beigegebene Abbildung ist nach dieser Aufnahme hergestellt und daber leider irreführend. Die rich-
tigere Aufnahme bei Looström, Tafel 4.
114
wegung versetzt. Der umgreifende linke Arm, das vorgesetzte rechte Bein des
Mars wirken als nachdrückliche plastische Werte; der girlandenartig sich schlin-
gende Faltenbausch des Gewandes der Venus bringt ein feines Moment der Irra-
tionalität in die mit vollkommener Beherrschung durchgeführte Ordnung der Formen,
deren kluge Berechnung durch die an keinem Punkte stockende, das ganze Werk
durchströmende Energie der Empfindung mit persönlichem künstlerischen Leben
erfüllt wird. Den Gegensatz zwischen männlichen und weiblichen Formen, der
gewissermaßen potenziert ist durch die Kontrastierung von entschlossener Tatkraft
und hilfloser Ohnmacht, hat Sergel im ganzen wie in allen Einzelheiten sehr lebens-
voll und mit starker plastischer Spannung durchgefühlt und durchgeführt: wuchtig
stemmt sich Mars auf, indes der Körper der Venus willenlos in den Gelenken hängt;
seine nervigen Hände greifen fest zu, während ihr schöner, weicher Arm schlaff
herabfällt; ihr Kopf sinkt gleich einer geknickten Blume zur Seite, das energie-
geladene, behelmte Haupt des Gottes krönt die Gruppe mit wuchtigem Akzente.
In der Darstellung athletisch-heroisch gesteigerter Männlichkeit hat Sergel nichts
Vollendeteres und Überzeugenderes geschaffen als den Mars, und er hat so seinen
Anteil an der Ausbildung eines Typs, den die klassizistische Plastik mit besonderer
Vorliebe entwickelt und verwertet hat. Dagegen bekunden Typus und Form-
behandlung der Venus, ebenso wie die der Psyche, daß Sergel sich in der Dar-
stellung der Frau nie ganz vom Rokokogeschmacke hat ablösen können. Immer
gibt er ihr die gefälligen Formen, die schmelzende Grazie, die süße und kokette
Sinnlichkeit, das blühende Fleisch. Er sah das Weib nicht heroisch, sondern ero-
tisch, und für die strengeren Frauentypen, die ihm der antike Vorbildervorrat bot,
scheint er kein Interesse gehabt zu haben. Auch die im Entwurfe auf die römische
Zeit zurückgehende, in Marmor aber erst gegen 1785 ausgeführte Figur der aus
dem Bade steigenden Venus hält sich in derselben Sphäre; sie erinnert in ihrer
kokett bewegten Haltung und ihrem erotischen Reize noch mehr an Clodion als an
das Vorbild der mediceischen Venus. (Schluß folgt.)
115
ZUR KENNTNIS RIEMENSCHNEIDERS
DER HEROLDSBERGER CRUCIFIXUS — R. ALS STEINBILD-
HAUER — DER CHRISTUSKNABE AM LORENZ-VON-BIBRA-
DENKMAL Mit sieben Abbild. auf drei Tafeln in Lichtdruck Von W. v. GROLMAN
m Jahrgang 1910 der Monatsh. f. Kunstw. hat Vöge den Crucifixus zu Herolds-
berg bei Nürnberg kurz besprochen (S. 242) und sich mit Recht gegen Hampe
gewandt, der in seiner Kritik der Daunschen Knackfuß-Monographie (Monatsh. d.
Kunstw. Lit. П, 66) dem Autor einen Vorwurf daraus machte, daß er diesen „ viel-
leicht bedeutendsten Crucifixus, den Veit Stoß geschaffen hat, ein ergreifendes
Werk voll starker und tiefer Empfindung unbeachtet gelassen“ habe. Demgegen-
über erklärt Vöge, daß dieses Werk „nach Empfindung und Stil in der Art des
Riemenschneider und vielleicht von dessen Hand ist“, es sei eine edle Schöpfung
und dem Crucifixus im Kaiser-Friedrich-Museum in der Modellierung des Nackten
überlegen. Ich hoffe im Folgenden beweisen zu können, daß das Werk tatsächlich
von niemand anders als von Riemenschneider sein kann und auch eine eigen-
händige Arbeit darstellt, obwohl es unbegreiflicherweise von den beiden Biographen
Riemenschneiders Tönnies und Weber nicht einmal erwähnt wird. Im übrigen
sollte man es kaum für möglich halten, daß jemandem, dem auch nur entfernt eine
Idee von der Kunst der Stoß und Riemenschneider aufgegangen ist, eine Ver-
wechslung ihrer Autorschaft unterlaufen könnte; ja, wer nur einen einzigen Kruzi-
fixus von Stoß gesehen hat, sollte dagegen gefeit sein, den in allen Einzelheiten
typischen Riemenschneider zu Heroldsberg dem Stoß zuschreiben zu wollen.
Größere Gegensätze sind gar nicht denkbar. Stoß ist stets kraftvoll und
dramatisch bewegt, entsprechend dem Feuergeist, der in dieser ebenso unruhigen
wie vielseitigen Natur wohnte und dem ein stilles, gottergebenes Leiden und
Dulden, wie es für die meisten Spätgotiker und für keinen mehr als Riemen-
schneider typisch ist, völlig fremd war.
In den Frühwerken sehen wir ihn den Spuren tiefster seelischer und körper-
licher Qual mit einer fast grausamen Akribie nachgehen, so in dem erschiitternden,
jetzt mit einer Dornenkrone aus der Barockzeit versehenen Kruzifix der Krakauer
Marienkirche und dem diesem nahestehenden, darum auch zeitlich — wie Loß-
nitzer schon betonte — in seine Nähe zu rückenden Crucifixus der Lorenzkirche,
oder dem aus der Spitalkirche in das Germanische Museum gekommenen, den man
freilich nicht in der nach der süßlichen modernen Bemalung gemachten Auf-
nahme, sondern in der noch am alten Ort von Daun (Knackfuß- Monogr., Abb. 88)
genommenen, bzw. in der Detailaufnahme des Kopfes, wie ihn die Wiesbadener
Sammlung enthält, studieren muß. Etwas gemildert ist diese Auffassung in dem
schönen, kürzlich von Franz Heege im Tiroler Schlosse Matzen entdeckten Ge-
kreuzigten!). Nicht weniger erregt dagegen als die Stimmung der Frühwerke ist
trotz aller Gegensätzlichkeit die des großartigen Christus der Sebalduskirche, wo
das sieghaft erhobene stolze Haupt die beginnende Renaissance anzeigt (vgl. LoB-
nitzer). Stoß ist überhaupt ein Künstler, der, obwohl er formal nie recht aus der
Gotik herauskam, doch durch seine selbstbewußte Männlichkeit im Gegensatz zu
den meisten seiner Zeitgenossen im Seelischen der Renaissance innerlich merk-
(1) Abb. in The Sphere, Heft vom 3, April 1920.
116.
würdig nahe stand. In meiner Arbeit „Zur Würdigung des Veit Stoß“ (Monats-
hefte für Kunstwissensch. 1919, 12, 1920,1) habe ich gelegentlich der Analyse des
Himmelfahrtreliefs vom Krakauer Altar und des von fremder Hand herrührenden
Pfingstwunders ebenda hierauf schon ausführlicher hingewiesen; es sei auch noch
der dort abgebildete Christus aus der Kreuzabnahme herangezogen, der ebenfalls
schon in der ganzen Stimmung etwas Renaissancemäßiges besitzt.
Nun gar die Aktbehandlung: Bei Veit Stoß schärfstes, durchaus naturalistisches,
Studium der Anatomie, das wir von dem zwar überaus mageren, trotzdem aber
vorzüglich proportionierten und in den kleinsten Einzelheiten anatomisch und
physiologisch verstandenen Krakauer Akte bis zu dem vornehmen, bei allem
Reichtum an Details bereits ganz einheitlich gesehenen Körper des Sebalder
Werkes verfolgen können; in Heroldsberg dagegen ein Akt von schlechten
Verhältnissen mit dem überlangen gotischen, in der Taille eingezogenen Ober-
körper, dem anatomisch verbildeten Brustkorb usw., alles im schärfsten Gegensatz
zu den breitbrüstigen, schön gebildeten, von gotischer Einschnürung und Propor-
tion völlig freien Oberkörpern der Stoßschen Akte. Auch das funktionelle Ver-
ständnis für die Muskulatur der Extremitäten, besonders der Arme, steht hinter
dem der Stoß-Akte zurück. Bleibt noch das Lendentuch: Hier ist in der Tat
eine Verwandtschaft mit Stoßschen Formen vorhanden, aber die große Unruhe
und die Stoßschen „Ohren“, an die man erinnert hat, finden sich genau so auf
vielen der bekanntesten Werke des Riemenschneider, der eben hier unter dem Ein-
fluß des großen Niirnbergers steht.
Was mich jedoch heute in erster Linie zu diesen Mitteilungen anregt, das ist
die Beobachtung, daß wir in einem der bekanntesten Gekreuzigten des Riemen-
schneider, nämlich in dem des Detwanger Altars, geradezu eine wortgetreue Wieder-
holung des Heroldsberger besitzen. Die Gegenüberstellung der beiden Abbildungen
überhebt mich fast eines eingehenden Beweises. Man findet hier genau den
gleichen Kopf mit der unverkennbaren langen Schnupfennase, der niederen Stirn
und der eigenartigen Bildung des Rumpfes, der nur in der Taille schon weniger
eingezogen ist und etwas bessere Längenverhältnisse besitzt, aber in der Art
seiner Formgebung, besonders der Modellierung der Rippen ganz mit dem Herolds-
berger übereinstimmt. Dann beachte man die Hand- und Fingerstellungen, sie
wiederholen sich auf beiden Werken bis ins einzelne; ebenso übereinstimmend ist
die Modellierung der unteren Extremitäten mit der sogleich in die Augen fallenden
scharfen Furche, die nach innen und oben die rechte Kniescheibe begrenzt.
Weiterhin wiederholt das Lendentuch des Detwanger Werkes alle einzelnen Motive
des Heroldsberger, wobei nur zu beachten ist, daß der am linken Oberschenkel
herauskommende Zipfel in Detwang kurz abgebrochen ist. Dagegen findet man
den an der linken Hüfte über den querliegenden Teil herauskommenden Bausch
des Heroldsberger in noch etwas stärkerer Ausbildung auch in Detwang. Endlich
ist die Art, wie das Lendentuch mit der schräg von rechts oben nach links unten
ziehenden Kante um die Hüfte gewickelt ist, in beiden Fällen die gleiche.
Durch diesen Nachweis der völligen Übereinstimmung des Detwanger und Herolds-
berger Christus ist nun zugleich eine Datierung für letzteren gefunden; er gehört
jedenfalls in die nächste Nähe des um 1500 entstandenen Detwanger Werkes, und
zwar muß er diesem vorausgegangen sein, wie namentlich die oben genauer ge-
schilderte, noch viel gotischere Formgebung des Brustkorbes beweist. Unter-
suchen wir daraufhin die übrigen Gekreuzigten Riemenschneiders, so können wir
uns leicht überzeugen, wie der Brustkorb in den späteren Werken allmählich
117
immer breiter wird, während zugleich auch die Muskulatur des Bauches und der
Rippen mit tieferem Verständnis erfaßt ist. Belege bilden der treffliche kleine
Darmstädter Crucifixus im dortigen Museum, den Tönnies um 1505 ansetzte, und
der vielleicht bedeutendste, den der Künstler geschaffen hat, in der Pfarrkirche zu
Gerolzkofen (nach Tönnies 1505—10, u. E. wahrscheinlich dem letzteren Datum
näher stehend als den ersteren), endlich der Crucifixus des Würzburger Bürger-
spitals, der bei geringerer Modellierung in der Formgebung dem vorigen sehr nahe
steht, aber im Seelischen auch nicht entfernt an ihn heranreicht (nach Tönnies
etwa 1510—15).
Trotz der großen Befangenheit in der Körperbildung des Heroldsberger wird
man diesem aber vor dem Detwanger den Vorzug geben müssen. Wenn Bode
von letzterem in seiner Geschichte der deutschen Plastik sagte, er sei „durch den
edien Ausdruck des hehren Hauptes, die glücklichen Verhältnisse und die weiche
Behandlung des Körpers, die Anordnung des in große Falten gelegten Schurzes
eine der edelsten Darstellungen des Gekreuzigten in der deutschen Kunst“, so muß
ich gestehen, daß mir dieses Urteil des verehrten Mannes unverständlich ist, und
ich glaube, daß die große Detailaufnahme der Wiesbadener Sammlung nicht dazu
beitragen wird, es zu befestigen; auch haben wir seit dem Erscheinen des Bode-
schen Werkes in den Gekreuzigten des Nikolaus von Leiden und Hans Seyfer
tiefere, in denen des Stoß weitaus mächtigere Darstellungen dieses Gegenstandes
kennengelernt bzw. erkannt. Das Prädikat „hehr“ dürfte überhaupt zur Charakte-
risierung Riemenschneiderscher Geschöpfe äußerst selten in Frage kommen; der
Detwanger Crucifixus aber scheint mir von allen Christusgestalten des Meisters
ihm am fernsten zu stehen. Auf mich machten sowohl das Original wie die ver-
schiedenen Aufnahmen, ich möchte sagen, immer einen etwas kleinlichen, ver-
stimmten Eindruck, jedenfalls fehlt dem Detwanger das durchaus tief Ergreifende,
Feine, freilich auch nichts weniger wie Hehre des Heroldsberger Christus. Der
vielleicht durch Großzügigkeit der Formen am ehesten diesem Begriffe sich
nähernde Christus Riemenschneiders ist der ganz auf die Frontansicht berechnete
— wie schon die prachtvolle symmetrische Anordnung der Mantelfalten zeigt —,
leider aber oft in halber Seitenansicht aufgenommene Heiland mit der Weltkugel
von der Marienkapelle, der jetzt im Würzburger Dom aufgestellt ist; er hat in der
Tat etwas in hohem Grad Feierlich- Erhabenes. Ihm nähert sich in der Auf-
fassung der Christus des spätesten Werkes, des Maidbronner Reliefs, von welchem
ich hier die Photographie eines Gipsabgusses wiedergebe, den ich im Germa-
nischen Museum zwischen zwei weiteren Abgüssen aus dem gleichen Werk fand,
ohne daß man dort wußte, was sie darstellten. Selbst auf der trefflichen Stoedtner-
schen Aufnahme des Originals kommt der Christuskopf lange nicht so zur Wirkung,
er hat auf dieser wieder etwas von dem Allzuschmächtigen der Riemenschneider-
schen Gestalten an sich. Merkwiirdigerweise zeigt auch die Körpermodellierung
dieses Spätwerkes wieder die gotische Schmächtigkeit der frühesten Arbeiten,
freilich ohne die gotische Einschnürung der Taillengegend, die vielmehr ganz
normal gesehen ist. Auch die Wiedergabe der Johannesmaske dürfte von Inter-
esse sein, zumal auf den Photographien des Reliefs man den Kopf nicht wie hier
in der Vorderansicht zu sehen bekommt.
Das Maidbronner Relief, das trotz seiner fatalen Kompositionsschwächen allein
wegen der groß gesehenen prachtvollen Hauptgruppe zu den bedeutendsten
Schöpfungen Riemenschneiders zählt, ist in Stein gearbeitet. Die Popularität
und der Ruhm des Meisters ruhen jedoch anscheinend auch heute noch vor
118
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allem auf den Schöpfungen des Bildschnitzers. Bode hat seinerzeit bekanntlich
sogar die Taubergrundwerke einem besonderen Meister zuschreiben zu müssen
geglaubt, da sie für Riemenschneider zu gut seien, die Steinwerke des Meisters
aber waren auch schon damals als Arbeiten seiner Hand erkannt. Demgegen-
über muß ich auf Grund vieljährigen Umgangs mit den über roo großen Auf-
nahmen der Wiesbadener Sammlung und genauer Kenntnis der meisten der Ori-
ginalwerke bekennen, daß ich den unbedingten Eindruck der Superiorität des Stein-
werkes gewonnen habe, das auch, wenn man nicht nur die Stücke zählt, sondern
zugleich die Größe der einzelnen Figuren und den Reichtum an Details beachtet,
keineswegs an Umfang allzusehr hinter dem Werk des Holzschnitzers zurücksteht.
Greifen wir nur die wichtigsten Arbeiten heraus, so zählen wir in chronologischer
Folge: Die Adam-und-Eva-Gruppe von der Marienkapelle, den Scherenberg des
Würzburger Doms, den Ritter von Schaumberg in der Marienkapelle, Christus und
die Apostel, jetzt im Dom, das Kaiser Heinrich-Grab — zwei lebensgroße Figuren
und fünf Reliefs enthaltend — die Dorothea von Rieneck, die Frankfurter Madonna,
den Trithemius in der Neumünster Kirche und das große Maidbronner Relief mit
der Grablegung. Sie alle sind mit ganz vereinzelten Ausnahmen — eigentlich ge-
hört hierher nur der Nikodemus des letztgenannten Werkes — frei von der oft so
unangenehmen Beschränktheit und engherzigen Spießigkeit, die viele männliche
Figuren des Künstlers entstellt, wie von der schwächlichen Geziertheit nicht
weniger seiner weiblichen Gestalten. Auch wird man niemals bei den Steinwerken
die schematische Bildung des viel zu kleinen, ausdrucksiosen oder süßsäuer-
lichen Mündchens finden, das namentlich bei den weiblichen Holzfiguren oft so
unangenehm auffällt, aber auch bei Männern nicht selten getroffen wird. Es genügt
in dieser Beziehung eine im übrigen so starke Arbeit wie den Evangelisten Matthäus
in Berlin zu nennen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Ursache für die
weit sorgfältigere und abwechslungsreichere Mundbildung bei den Steinwerken,
der sich auch eine individuellere Kopfbildung gesellt, vor allem in der Verschieden-
heit des Materials erblickt. Der überaus viel beschäftigte Meister ergeht sich
namentlich bei den späteren Arbeiten in dem weichen Holz mit der Flüchtigkeit
des Routiniers: man sieht ordentlich, wie er mit kühnem Griff, sozusagen in einem
Zug, das Mündchen mit dem Messer herauszuheben pflegt und Näschen wie Stirn,
namentlich bei den Frauen, nach bewährtem Rezept virtuosenhaft vollendet. Der
Stein aber setzt durch seine natürliche Härte von vornherein solch flüchtiger und
eiliger Arbeit überlegenen Widerstand entgegen und zwingt zu sorgfältiger, mit
größerer Ruhe und Überlegung gepaarten Arbeit; man muß sich dabei vergegen-
wärtigen, daß Riemenschneider — im Gegensatz zu dem leidenschaftlichen Stoß — wie
ja auch die meisten seiner Zunftgenossen, eben als Handwerker fühlte und handelte.
Aus den gleichen Gründen wird man bei den Steinwerken überhaupt den nach
fabrikmäßigem Betrieb schmeckenden Manierismus vermissen.
Der freien Großheit des Christus von der Marienkapelle, die nahezu einzig da-
steht in ihrer Zeit, habe ich schon gedacht, aber schon das erste große Werk, die
Adam-und-Eva-Gruppe, stellt eine Emanation typisch spätgotischen Geistes dar,
wie er unter dem Einfluß der Mystiker und ihrer Nachfolger sich herausgebildet
hatte, durch die Riemenschneider ein für allemal in die vorderste Reihe unserer
nationalen Künstler tritt; hier ist eine Zartheit und Tiefe seelischen Emp-
findens, die nie und nirgend außerhalb Deutschlands erreicht wurde,
in unserem Vaterlande aber, wie an anderer Stelle gezeigt werden soll, eine fast
unübersehbare Reihe herrlichster Blüten von ganz originalem und spezifisch deutsch-
119
nationalem Charakter getrieben hat!) Zum Lobe der Scherenberggestalt (Abb. 6),
dieser Verkörperung abgeklärtester Altersweisheit hier ein Wort zu verlieren, hieße
Eulen nach Athen tragen, dagegen gebührt dem Konrad von Schaumburg eine
Rehabilitation; nennt ihn doch Bode „eine handwerksmäßige Arbeit ohne indivi-
duelle Durchbildung“. Ich gebe den Kopf in der Vergrößerung der Stödtnerschen
Originalaufnahme wieder, die sich in der Wiesbadener Sammlung befindet?). Sie
zeigt m. E. ein hageres, schmerzbewegtes Antlitz von höchst individueller Charak-
teristik — in allen Einzelheiten wie auch in der reichen Lockenfülle mit größter
Sorgfalt und Liebe technisch meisterhaft durchgebildet —, dessen ergreifender
Gesamtwirkung sich niemand wird entziehen können. Das Gipfelwerk der Riemen-
schneiderschen Kunst aber glaube ich trotz des Creglinger Marienaltars im Kaiser-
Heinrich-Grab erblicken zu sollen. Der hoheitsvollen Erscheinung des Kaiser-
paares, das man freilich nicht in der durch grelles, vom Fußende kommendes
Rampenlicht entstellten Originalaufnahme des fleckigen Marmors, sondern in der
Streitschen Wiedergabe des Gipsabgusses studieren muß, gesellt sich in den Reliefs
eine immer auf das Neue durch die Vielseitigkeit der Charaktere und die Freiheit
von kleinbürgerlicher Enge überraschende Schar lebensvollster Gestalten. Man
vergleiche daraufhin den Kopf des jungen Verleumders der Kaiserin oder die jugend-
frische Erscheinung des Jünglings mit dem Römerkopf am Fußende des Todes-
bettes Kaiser Heinrichs und daneben das wunderbar beseelte Leidensantlitz des
Arztes aus der Steinoperation (s. Abb. 5 u. 7).
Die in den erstgenannten Köpfen angeschlagenen Töne wird man in dem ganzen
übrigen Werk des Meisters kaum finden. Dem kostbaren Porträt des Trithemius,
dieser wahrhaft überlegenen, von einem leisen ironischen Unterton belebten Schil-
derung eines bedeutenden Menschen, wußten weder Tönnies noch Weber gerecht
zu werden. Ersterer sagt: „es stellt einen älteren, nicht gerade freundlich drein-
schauenden, aber aufmerksam beobachtenden Mann mit herb geschlossenem Mund
und Doppelkinn dar“, letzterer meint dagegen: „es scheint Wohlwollen aus den
Zügen zu sprechen, wenn auch die hochgeschobenen Brauen dem aufmerksamen
Beobachter und fleißigen Sammler (!) gehören“. Man fühlt die Verlegenheit aus
den Worten der beiden Autoren heraus, die sie gegenüber diesem geistreichsten
Bildnis des Meisters empfanden. Der Schottenabt ist anscheinend in herkömm-
licher Weise mit Mitra, Pedum und Buch auf dem Grabstein wiedergegeben. Sieht
man aber genauer zu, so enthüllt sich das Bildnis als eine höchst pointierte
Momentaufnahme. Der hervorragende Mann ist in einem Augenblick festgehalten,
wo er unbewußt persönlichste Seiten seines Inneren enthüllt; man könnte glauben,
der Abt blicke, gestört durch eine Ungehörigkeit beim Gottesdienst, höchst
verstimmt oder, besser gesagt, sehr ungnädig nach der Gemeinde, um den Misso-
täter ausfindig zu machen, oder er fixiere in lebhaftem Gespräch seinen Gegner.
Wie köstlich wirkt allein die in der Erregung hochgezogene rechte Augenbraue.
Über das letzte große Porträtwerk, den Lorenz von Bibra, gehen die Meinungen
etwas auseinander, es ist eine mehr objektiv-ruhige Porträtschilderung und fesselt
(т) Beste Abbildung, die allein den Ausdruck des Kopfes restlos wiedergibt, in Langewiesches Mittel-
alterlicher Plastik (Blaue Bücher).
(2) Anm. während der Korrektur, Leider mußte der Lichtdruck durch Vergrößerung eines Positiv-
abzugs gemacht werden, da die Wiesbadener Photographie zur Zeit der Drucklegung in Cöin aus-
gestellt war; die Modellierung des Kopfes erscheint dadurch unscharf und flau, während sie in Wirk-
lichkeit durchaus scharf im Detail ist; auch mußte aus dem gleichen Grund auf die Wiedergabe des
Trithemius verzichtet werden.
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TAFEL 27. |
Riemenschneider: Köpfe aus dem Maidbronner Relief.
nach Gipsen i. Germ. Mus.
Photo. F. Schmidt Nachf., Nürnberg, Burggrafenstr. 2.
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Riemenschneider: Kaiser Heinrich Grab,
Kopf des jugendlichen Verleumders der Kaiserin.
Photogr. Dr. Stoedtner.
Е Riemenschneider: Kaiser Heinrich Grab,
Kopf des Arztes aus der Steinoperation.
Photogr. Dr. Stoedtner.
Zu: W. v. Grolmann, Zur Kenntnis Riemenschneiders.
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allerdings nicht in dem Maße wie der Scherenberg und Trithemius, aber schon
Dehio hebt rühmend das ausgezeichnete Verhältnis hervor, in dem die Figur zu
der Gesamtmasse des Denkmals steht. Das Ganze stellt sich trotz der spielerisch
unorganischen Frührenaissancearchitektur als ein dekoratives Prachtstück dar. Zu
den edelsten Früchten Riemenschneiders aber zählen die beiden kleinen Heiligen-
figiirchen oben auf den Kapitälen der Säulen, und bei den Putten erweist sich
unser Meister wieder als einer der wenigen Spätgotiker, die wirkliches Verständnis
für die Natur des Kindes haben. In wie verschiedenartiger Weise wissen die sechs
als Wappenhalter angestellten kleinen Kerle ihres Amtes zu walten! Ob die mun-
teren Engelknaben oben im Rundbogen auch dem Meister selbst gehören, oder
einem vielleicht in Italien vorgebildeten Gesellen, bleibe dahingestellt. Merkwürdiger-
weise scheint man bisher ganz übersehen zu haben — wenigstens die beiden
Riemenschneider-Biographen Tönnies und Weber wissen nichts davon —, daß diese
dem in der Mitte thronenden, die Weltkugel in der Hand haltenden Christusknaben
huldigen; es wirkt daher einigermaßen erheiternd, wenn der sittenstrenge Regens-
burger Geistliche, der auch schon wegen des mit der Zehe spielenden Kindes der
Neumiinsterer Madonna eine ergötzliche Fehde mit Tönnies hatte, vor unserem
Werk emphatisch ausruft, daß für das Grabmal eines Bischofs diese Amoretten-
gesellschaft ein wenig passender Vorwurf sei.
DIE BAURECHNUNGEN DER RENAISSANCE-
STADT-RESIDENZ IN LANDSHUT. (1536—1543)
Von Dr. MITTERWIESER, Archivrat, München
n der breiten Altstadt der Dreihelmenstadt, fast gegenüber dem Rathaus und
unweit vom St. Martinsdome liegt ein Renaissancepalast, heute noch der Neubau
genannt, der in der Kunstgeschichte!) immer schon ob seiner rein italienischen
Bauart und der Ausstattung seiner Prunkräume erhebliche Beachtung gefunden hat.
Mit diesem Interesse hat die Verwertung der schriftlichen Quellen nicht gleichen
Schritt gehalten. Diese Lücke möchte ich nun, nachdem im Kreisarchiv auf der
nahen Trausnitz sämtliche Rechnungen der acht Baujahre (1536 mit 1543) liegen,
gründlich ausfüllen.
Die erste der Rechnungen gibt anfangs über die wichtigsten Baudaten AufschluB.
Am 2. März 1536 wurde mit dem Abbruch der vordern alten Häuser begonnen.
Am 6. Mai ist sodann „ain gehauen stuck, darin herzog Ludwig mit namen ge-
hauen und die jarzal 1536, gelegt worden“. Am 19. März des nächsten Jahres „ist
an den mitern heusern ze prechen angefangen worden“; am vorletzten Mai darauf:
„ist der erst stain des mittern haus gelegt worden“. Am ro. Mai 1540 ist „an
den hindern heusern ze prechen angefangen worden“; zum Schluß steht noch die
Bemerkung: „Anno x40 ist an dem hindern haus und ställen der erst stain gelegt
worden“.
Ein Zollhaus wollte nach der Aufschrift auf allen diesen Rechnungen, die des-
wegen lange verkannt wurden, der Herzog eigentlich bauen“). Wie schon bisher
bekannt war, wurde der Straßenflügel zuerst aufgeführt und zwar von deutschen
Bauleuten unter deutschen Baumeistern. Der erste Baumeister war Niclas Über-
reiter; nur er spricht mit „ich“ in allen vom Bauschreiber Hans Traut geführten
Rechnungen. Seine Bezüge sind in den Baurechnungen nicht angegeben, da er in
Diensten des Herzogs fest angestellt war. Nach der Kammermeisterrechnung von
1540 bezog er damals einen Jahressold von 80 Gid. Die Hofkastenrechnung vom
selben Jahre verrechnet für ihn daneben keine Getreidebeztige. Der zweite Bau-
leiter, anscheinend der Palier über die Maurer, zu denen auch die Steinmetzen ge-
hörten, war Steinmetzmeister Bernhard Zwietzl aus Augsburg, der Weib und
Kind nach Landshut nachkommen ließ). Er hatte einen Wochengulden und außer-
(1) Vgl. Dehio, Gg., Handbuch, Bd. Ш, Süddeutschland, Bassermann-Jordan, Die dekorative
Malerei der Renaissance am bayr. Hofe u. Lübke, Gesch. d. deutschen Renaissance, Sighart im
Eisenbahnbüchlein, Kalcher, Führer durch die Stadt Landshut und die übrige Ortsliteratur, wie
Staudenraus, Wiesental,
(2) Schon im ersten Baujahr hat ein Steinmetz „des Bayrlandts wappen, das ob der zollthür im neuen
pau ist, gehauen“. Von dem „zolstubl“, der „zolstuben“ ist in den Rechnungen von 1538 und 1539
die Rede. Es hat nämlich der Zinngießer ins „zolstübl ain cästl mit zin gemacht sambt dem hand-
und giesfas“. Vielleicht darf man auch unten bei den Schreinerarbeiten die Ausführungen über die
Kantzlei auf die Amtskanzlei des Mautners beziehen. Nach den beiden ältesten Stadtsteuerbüchern
von 1493 und 1549 im Stadtarchiv stand vorne an der Altstadt an Stelle der Residenz das herzogliche
Zollhaus und wurde dieser neue Flügel wieder als solches benutzt. Denn das Register von 1549 sagt:
„Neupau unsers gnädigen herrn; ibidem Hans Gätikover, schreiner“, sein Vater und sein Bruder, dann
„Cristoff Hertzog, zollner“.
(3) Nach einem Briefwechsel des Herzogs aus dem ersten Baujahre am Hauptstaatsarchiv zu München
(Landshut, Ger.-Lit. 78) hatte er auf Lichtmeß schon eintreffen sollen. Aber am 10. Februar ent-
122
dem zehn Gulden Quatembergeld. Einen Wochengulden hatte auch der Steinmetz
Leonhard Dürr, der in der Osterwoche antritt. Auf Pfingsten kamen noch zwei
Steinmetzen dazu, dann zwei Gesellen und ein Junge. Mitte August tauchen auch
3—4 „hiesige“ Steinmetzen auf. Erst im November tritt als weiterer Steinmetz
„Leonhard von München“ dazu. Die Zahl der Zimmerleute, Maurer und Taglöhner
schwillt im Frühjahr langsam an und sinkt im Spätherbst wieder herab. In der
Kar- und Osterwoche z.B. waren je vier Tage in der Woche beschäftigt: 4 Zimmer-
leute, ıo Maurer, 38 Taglöhner bzw. 2 Zimmerleute, 7 Maurer, 35 Taglöhner.
Im Juli waren bei nur 3 Zimmerleuten und ro Maurern durchweg 120—130 Tag-
werker beschäftigt; in der Weihnachtswoche arbeiten noch 3 Zimmerleute, 3 Maurer,
14 Taglöhner und, den Meister Zwietzl dazu gerechnet, 8 Steinmetzen. Mehrere
Tausend „gespündt und gefast stein“ haben die Maurer neben Zehntausenden von
Maurersteinen, 22 großen und 38 kleinen geschnittenen Gesimssteinen verarbeitet.
Die Taglöhner mußten ihnen wohl zutragen, den Abbruchschutt entfernen und die
zwei großen und zwei kleinen Keller ausheben’).
Das Hausteinmaterial war von Kelheim und Kapfelberg. Es ist von „Stuck“,
von „Gredier“- und Tuftsteinen die Rede. Die Fracht der von Hallein?) stammen-
den zwölf Marmorsäulen der Vorhalle kostete „von Hällel bis hieher“ über
138 Gulden.
Um die Jahreswende wurde nur etwa 10— 14 Tage mit der Arbeit ausgesetzt.
Mit Dreikönig begann sie wieder. Maurer stelle ich anfangs nur drei fest, Zimmer-
leute 6—ı0, Taglöhner 12—14. Als Höchstzahlen das übrige Jahr sind (meist nur
vorübergehend) bei diesen Zimmerleuten, Maurern und Taglöhnern 49, 17 und 79
zu lesen. An Steinmetzen zähle ich im August 8—ıo, neben den vier hiesigen
und Bernhard Zwietzl. Nun kommt als Steinmetzmeister ein Hans Schnitzer auch
mit je einem Gulden auf vier Wochen dazu, der dann erst anfangs Dezember
wiederkehrt, aber dann bis zum Schluß aller Rechnungen Beschäftigung gefunden hat.
Der deutsche Flügel muß im Rohbau 1537 fertig geworden sein; denn da wird
mit тоо Glid. „Maister Bernhard Zwietzi vom vordern bau“ abgefertigt“). Aber
schon am Jahresanfang hatte man eine ganz andere Bauweise im Sinne.
schuldigt er sich, daß sein Weib ihrer Stunde entgegensähe und daß ihm ein Kind erkrankt sei. In
den beiden Schreiben in dieser Sache an den Stadtrat sagt der Herzog, daß er „ainen treffenlichen
pau“, „ein ansechlichen рач“ fürhabe und daß er деп Zwietzl „als paufuerer und obristen werchman“
bestellt habe, auch hab derselbe tüchtige Steinmetzen mitzubringen in Aussicht gestellt. Wegen
solcher „stainmetzen (so kunstreich sind) drei oder vier“), wandte sich dann anfangs März der Herzog
in gleichlautenden Schreiben auch an die Städte München, Regensburg und Ingolstadt. München
nennt dann vier Namen, darunter einen „Leonhardt Khari“, der im Text oben als später eingetroffen
gleich genannt wird.
(х) Nach der Kellermeisterrechnung von 1537 wurden noch im Spätherbst 8—10 „Pfund“ Brot die
Woche dem „paumaister“ geliefert, Da auf ein Schaff Korn (das Landshuter Schaff hatte 20 Metzen)
31 Schilling, also 930 Brote gerechnet werden, kann es sich nur um Roggenlaibl handeln. Zehn
„Pfund“ Brot sind also 2400 Stück, was für alle Bauarbeiter wohl leicht reichte, nicht bloß für des
Baumeisters Person. Wer „Pfund“ zu der Zeit als Gewicht, nicht als Zahleinheit (240 Stück) auf-
faßt, macht weittragende Fehler. Geldiohn und reichlich Roggenbrot erhielten also die Bauarbeiter.
(2) Wegen dieser Marmorsäulen wandte sich der Herzog schon im Januar 1536 an den Kardinal von
Salzburg und den Pfleger seines Bruders in Traunstein. Bis Georgi wollte er sie schon haben (Haupt-
staatsarchiv München, Ger.-Lit. Landshut 78).
(3) Er kehrt aber trotzdem im nächsten Jahre als Steinmetz wieder und bezieht bis in den Spätherbst
hinein seinen Wochengulden. Er hat z. В. die marmorsteinernen „Scheibl“ in die Kamine gefertigt.
Übrigens heißt es erst 1538, daß die Zimmerleute „das vordere zimmer aufgezogen“, also den Dach-
123
Ein welscher Baumeister trifft schon Mitte Januar 1537 ein. Er heißt immer
nur Meister Sigmund, Baumeister, und erhält mit seinem Diener Antoni, der
einmal sein Geselle genannt wird, nun sieben Jahre lang einen Jahresgehalt von
280 Gulden, entstanden aus 20 Goldgulden Monatsgehalt. Beide werden heuer
und die kommenden Jahre beim Gastwirt Asem Maler einlogiert; es erhalten „die
2 Walhen von Mantua“!), wie sie manchmal genannt werden, fürs erste auf
14 Wochen (und dann ständig die langen Jahre) auch ihren Verzehr mit 45 Gld.
5 Schill. bei diesem Wirte bezahlt, so das ganze Jahr 1539 etwas über 210 Gulden.
Dieser Meister Sigmund Walch, Baumeister, erhält auch in diesem ersten Jahre,
als er wieder nach Welschland geschickt wurde, „das er in Italia die bevestigung
besichtigt und abconterfeten lassen“ zur Zehrung 66 Gulden. Ein auch schon
frühe herausgekommener Bernhard Walch aber bekam ı5 Gid., als er zum ersten-
mal um die welschen Maurer zog, also solche anwerben mußte. Durch die
Wochenliste?) wissen wir genau, daß er in der Woche Christi Himmelfahrt samt
zwölf ,,welschen Maurern“ zum erstenmal entlohnt wird. Anfangs November (in
der Leonhardiwoche) verschwanden genau wie vor dem letzten Kriege ihre Nach-
kommen diese Zugvögel wieder in die Heimat. Die kommenden Jahre tauchen
sie (immer mit ein paar Jungen) stets Mitte der Fastenzeit erstmals auf und be-
geben sich, immer mit ein paar Gulden Zehrung bedacht, Ende November den
FluBlauf entlang in die Heimat, nicht ohne einen oder ein paar Genossen den
Winter über zurückzulassen. Gegen heute ist nur der Unterschied, daß sie, nicht
die deutschen Maurer, die höheren Wochenlöhne (т Gid. 80 Pfen.) bezogen. Im
Jahre 1538 waren, Meister Bernhard eingerechnet, 16 welsche Maurer da, im
‚nächsten Jahre sind es ebensoviele, 1540 wechselt die Anzahl zwischen ı8 und 20,
1541 sind es 20 bis 25 (immer mit diesem Meister Bernhard, doch diesmal ohne
die zwei welschen Maurer, so „in die Gewölbe drucken“); im nächsten Jahre zähle
ich 18 (ohne die „Drucker“ Thomas und Philipp), im letzten Jahre aber nur mehr
sechs). Die deutschen Maurer wurden von ihnen nach Fertigstellung des deut-
stuhl auf den Vorderbau aufgesetzt haben. Im Jahre 1538 lese ich auch: „Item alls Pauls pillthauer
von hie aus widerumb haim geen Augspurg zogen, ime zur zerung geben 4 gulden“.
(1) „Maister Sigmund und Anthoni, baid Walhen von Manntua® (1538), „Maister Sigmunden sambt
Anthonien, paumaister das jar sein besoldung 280 fl. (1540), Maister Sigmundten welschen paumaister
sambt seim mitgesellen“ (1542). Nach der einzeln erhaltenen Stadtkammerrechnung (Stadtarchiv) von
1540 wurden von der Stadt 7 Kronen verehrt, „maister Sigmundt dem wälschen maister im neuen
paue ... darumb das er im vordern schieß am radthaus hilflich und radsam gwest“. Der Renais-
sanceerker des gotischen Rathauses scheint mir aber etwas zu früh und zu deutsch zu sein, um von
diesem Welechen zu stammen.
(2) Schon im ersten Baujahre werden 5 Schill. 15 Pfen. bezahlt, „von 500 zaichen ze stemben“, dar-
auf „das wegkl“ neben des Bauherrn Namen, „so man den arbaitern alle tage geben hat“; боо solcher
Zeichen werden später wieder verrechnet und im Jahre 1538 gar 900.
(3) Meister Bernhard hatte 1539 sogar 27 welsche Maurer herausgebracht, die zum Teil auch in
Erding arbeiten sollten. Weil zu Erding (Pfiegschloß?) nicht gebaut wurde, wurden sie mit 83 Gid.
3 Schill. Abfertigung wieder (in die Heimat?) entlassen. Daß in den Baurechnungen, auch wenn die
Höchstzahl der Italiener schon erreicht ist, oft wochenlang diese weniger, dann wieder mehr sind,
daran waren wohl weniger zahlreiche Erkrankungen als vielleicht ein gewisser Wechsel mit Ingol-
stadt oder den beiden Neuburg schuld. Es wurde übrigens in den Jahren 15341 und 1542 auch ein
„neuer keller im schloß“ oder ein „neuer keller zu hof“, was wohl nur der sog. tiefe Keller auf
der Trausnitz sein kann, mit 3392 014. Kosten gebaut, wobei immer 5—13 welsche Maurer, also
in der Zahl auch wechselnd, beschäftigt waren. Nebenbei bemerkt wurden nach der Hofbaurechnung
von 1558 damals auch „welsche maurer“ auf der Trausnitz verwendet. Dieses Auftreten welscher
Bauhandwerker in Südbayern gäbe einmal eine schöne. volkswirtschaftliche Arbeit.
124
schen Flügels fast ganz verdrängt; denn von 1540 ab sind nur ab und zu ein bis
zwei vereinzelte deutsche Maurer (z.B. im August 1542) einige Wochen beschäftigt.
Meister Sigmund war also der technische Meister des italienischen Baues. Aber
Meister Niclas Überreiter brauchte deswegen nicht abzutreten. Ich halte ihn so-
gar für den wirklichen Bauleiter, da er auch diese Rechnungen führen läßt. Am
Bau gab es ja ausschließlich deutsche Zimmerleute, dann fast nur landgeborne
Handwerker und das große Heer der einheimischen Taglöhner. Schon aus sprach-
lichen Gründen mußte der Baumeisterposten doppelt besetzt sein. Überreiter hatte
jedenfalls für die Herbeischaffung des vielen Baumaterials zu sorgen. Damit er
und sein bald abtretender Mitmeister Zwietzl und der Zimmerpolier Hans eine
Ahnung bekämen, wie ein neumodischer südländischer Bau aussehe, wurden sie
alle drei 1537 mit 5 Gid. 40 Pfen. Zehrungsgeld zum Grafen Nikolaus II. von
Salm i), dessen gleichnamiger Vater der Türkensieger von Wien und Bezwinger
des Franzosenkönigs in Italien war, und der in der Burg Neuburg a. J. oberhalb
Passau die heute wieder erneuerten, hervorragend mit Terrakotta geschmückten
Renaissancesäle gebaut hatte, wohl zur Besichtigung dieser Neuheit geschickt. Im
selben Jahre wurde Meister Sigmund mit dem herzoglichen Rentschreiber Adrian
nach Ingolstadt gesandt; letzterer hat „das maß von der stadt genomen“ ).
Meister Sigmund war im gleichen Jahr noch ein zweitesmal dort und zwar mit
einem Christoph Götschl. Baumeister Überreiter®) aber war mit Jakob Maurer in
Regensburg, wo sie „aus dem Kloster‘ — welches, ist nicht gesagt — ein steinernes
Gewölbe herausbringen und mit 42 „Geschirren“, d. i. Fuhrwerken nach Landshut
bringen ließen, wo dieses Klostergewölbe anscheinend im Neubau verwendet wurde.
Die Herkunft des Baumaterials geben die Rechnungen gewissenhaft an, Für
die Walchen wurden gleich anfangs 12 Steinmodel in den Ziegelstadel gemacht.
Zur Anleitung für die deutschen Ziegler anscheinend sind „die zwen walhen ziegler
von Neuburg am Yn alher ervordert worden“, die 5 Gld. Heimzehr erhielten und
in Landshut selbst halb soviel Zeche machten, also kaum über zwei Wochen da
waren. In den Rechnungen werden daher 1538 9730 „Walchensteine“ (dazu 1760
„große lange“) bzw. i. J. 1541 16250 solcher verrechnet; i. J. 1539 aber heißt es
genauer: „29000 walhenstain mit fasn, stäben, kellen und collaun, auch mit fillungen,
klein lang und groß“. Die Hunderttausende der gewöhnlichen oder Landmauer-
steine, die für den Bau in den acht Jahren verbraucht wurden, aufzuzählen, wäre
(1) Er stand mit der hohen Jahressumme von боо Gid. Dienstgeld nach der Kammermeisterrechnung
1540 im Solde des Herzogs. Nach dieser Quelle wurde er, wie auch sein Bruder, Graf Wolfgang
v. Salm, der spätere Passauer Bischof, als Gäste des Herzogs beim Rohrer „ausgelöst“. Die Brüder
haben sich also des Herzogs Neubau persönlich beschaut.
(2) Adrian, mit dem Zunamen Littich, war im nächsten Jahre zweimal wieder in Ingolstadt, einmal
mit 14 Walchen. Diese Reisen nach Ingolstadt hängen mit dem dort 1537 begonnenen Ausbau der
Festungswerke zusammen, bei dem auch viele Welsche nach den auch im Kreisarchiv Landshut
liegenden, noch unveröffentlichten Baurechnungen beschäftigt waren; vgl. „Kunstdenkmale Bayerns“
I, 8. 17 und 61. Mit den Ingolstädter Befestigungsarbeiten, nicht mit dem Landshuter Schloßbau,
hängt auch die obenerwähnte Heimsendung des Meisters Sigmund nach Italien zusammen.
(з) Schon 1536 war er mit Hans Zimmermann in Tölz, jedenfalls um Holz, Beide waren 1540 wieder
in Reisbach um Eichenholz. Im gleichen Jahre war Überreiter mit Baumeister Sigmund in Tölz im
Steinbruch und dreimal mit diesem Zimmermeister zu Hausen um Kalk. Im nächsten Jabre war er
mit dem Maurermeister Jakob zu Hausen und Kelheim um Steine und Kalk. Im Jahre 1539 reiste
er mit Meister Sigmund wieder nach München und von da mit zwei anderen nach Tölz in den Stein-
bruch. Im Jahre 1541 war Sigmund wieder in Ingolstadt und dann wieder in München, um Bims-
steine zum Polieren des Marmors einzukaufen.
125
wirklich eine Geduldsprobe für Schreiber wie Leser, weil ich dazu auch die eigens
hergestellten Pflastersteine und Dachplatten!) nehmen müßte. In den beiden Jahren
1538 und 1541 zähle ich 511750 bzw. 459900 gewöhnlicher Ziegel. Es war nicht
bloß der Stadtziegler von Landshut reichlich beschäftigt, sondern auch die Ziege-
leien zu Moosburg, Isareck, Wartenberg, Weihmichl, Achdorf, Geisenhausen, Eggl-
kofen, Frauenhofen, Vilsbiburg und Neumarkt, Eherding (Erding?), so daß anschei-
nend alle damals in der Umgegend bestehenden Ziegeleien für den Bau zu tun
hatten. Im Isarecker Ziegelofen des Moosburger Kollegiatstifts durfte 1539 „das
glasiert dach geprent“ werden, nachdem Meister Bernhart Walk es beschaut hatte.
Die Zahl der Kalkfässer, die anscheinend aus der Tölzer Gegend auf Flößen ge-
kommen waren und die der Sandkarren, die nur vom Landshuter Gries waren, Jahr
für Jahr aufzuzählen, wäre gleichfalls langweilig. Im ersten Baujahre sind 3986
Kalkfässer „angesetzt“ und 4227 Karren Sandes angefahren worden; im übernächsten
Jahre sind die entsprechenden Zahlen 5295 und 4850. Ja, „wenn Könige bauen,
haben die Kärrner zu tun“!
Die Hausteine lieferte auch in diesem zweiten Baujahre wieder Kelheim, näm-
lich 160 Stuck von 1309 Werkschuhen und Tölz, nämlich 57 „werung“ Gredier-
steine). Von Burghausen aber kamen wieder Marmorsäulen auf fünf Fuhren
u. a. Marmorblöcke auf 53 Fuhren herüber. Sie waren sicher auf der Salzach von
Hallein herabgeschwommen, da im nächsten Jahre unser Rentschreiber Adrian
wegen Marmor nach Hallein geschickt wurde, worauf wieder zehn Marmorfuhren
von Burghausen herüberkamen. In Kelheim aber wurden dieses Jahr wieder 474
Stück von insgesamt 1704 Werkschuhen, dann von dem diesem benachbarten Saal
578 weiße Pflastersteine angekauft. Auch 1539 kamen wieder 146 Steinfuhren von
Kelheim und Saal und neun Marmorfuhren von Burghausen herüber. Im Jahre 1540
aber heißt diese Abschnittsüberschrift „Bruchstein und Mörbelstein von Burg-
hausen“. Es kommen aber darunter auch die fünf Wagen weißer breiter Platten-
steine auf die Fenster „des welschen Haus“ aus Saal vor und etliche Stuck Stein
von 324 Werkschuh aus Kelheim; vielleicht sind dies die „Bruchsteine“, welche
auf 57 Fuhren von Saal und Kelheim heuer ankamen. Der Hauptmann von Burg-
hausen aber sandte ein Stuck Marmorstein und „ein marbelstaines brunkar“ ) her-
über. Von dorther kamen außerdem 29 Fuhren mit Marmor, worunter auf 21 Fuhren
das Pflaster für die Keller war. Aber auch von Neustadt und Regensburg wurden
Steine herübergebracht, so vermutlich von Neuburg oder Eichstätt her bis dahin
auf dem Wasser gekommen waren. Als dann im nächsten Jahre (1541) über der
Länd drüben auch die Stallung gebaut wurde, kamen die heute noch dort zu sehen-
den 16 Säulen aus Sandstein — heute sind es 19 Stück — auf neun „Pfaffen“
(х) Im Jahre 1540 werden welsche Gesimssteine vom Ziegler bezogen, das Tausend zu 3 Gld., von
Achdorf aber 16000 „groß welsch dach“. Von den 3500 welschen Pflastersteinen, die 1543 bezahlt
werden, ist wohl noch ein Rest im Kapellengang und im zweiten Saal der Modellsammlung (ich
meine die lappentérmigen oder weinblattartigen) zu sehen. Mit dem Dach scheint man kein Glück
gehabt zu haben, Denn schon 1551 werden nach der Hofbaurechnung 13000 Taschendach in den
Neubau gefahren.
(2) Über den Begriff der Währung im Verkehr mit Hausteinen vgl. Schmeller-Frohmann mit meinen
Ausführungen über den Freisinger Dom (1480) im 11. „Sbl. d. histor. Ver. Freising“, S. 17. Über
Gradierstein finde ich bei Schmeller keine Worterklärung. Man darf es wohl mit gradus in Zusammen-
hang setzen. — Als Fuhriohn für eine Fuhr Steine von Kelheim finde ich 28—42 Pfen., von Burghausen
her aber kostete eine Fuhr Marmor gewöhnlich 5 Old.
(3) Schon 1537 war von München ein großer langer Steingrand gekommen.
126
geschirren“, d.i. Fuhrwerken von Ökonomiepfarrern von Kelheim herliber, die ohne
den Fuhrlohn etwas über 57 Glid. kosteten. Da es Sandstein ist, stammen sie ver-
mutlich aus einem andern Bruch donauaufwärts. Von Kelheim kamen aber auch
582 Werkschuh Bruchsteine und außerdem auf die Fenster 16 große Stuck, dann
von Saal 3521 weiße Pflastersteine. Von Burghausen konnten dieses Jahr nur
ı3 Fuhren geholt werden. Im Jahre 1542 aber mußten 8 Stuck Steine von Ingol-
stadt und Eichstätt!) hergefahren werden. Zweifellos wieder von Saal kamen
die 1806 weißen Pflastersteine, während von Burghausen wieder 27 Fuhren „die
roten märblstain-pflasterstain“ brachten und fast die doppelte Anzahl Fuhren von
Kelheim und Saal Bruchsteine holte. Von letzterem Steinbruch stammen im
letzten Baujahre nur mehr 28 Stuck weiße Plattensteine auf die Fenster.
Auch mit den anderen Baumaterialien und den Bauhandwerkern will ich mich
kurz beschäftigen. Die gut 7½ Zentner Blei, welche die deutschen und welschen
Steinmetzen zum Vergießen der Hacken brauchten, sind vielleicht in Landshut ein-
gekauft worden; von Burghausen herüber aber kamen 1539 drei Fuhren dieses
Metalls zu Brunnröhren. Ob die 16 Zentner Blei, welche nächstes Jahr von Salz-
burg beigefahren werden, dem gleichen Zwecke dienten, vermag ich nicht zu sagen.
Im selben Jahre wurden für 64 Zentner Kupfer, die auf der Achse von Wasser-
burg her, bis dahin wohl aus einem Tiroler Bergwerk, auf dem Inn gekommen
waren, 544 Gld. ausgegeben; zwei Faß Kupfer folgten ihnen von dorther nach zwei
Jahren wieder nach. An Nägeln werden in den Jahren 1539 und 1542 29500 bzw.
13450 Bretter-, 6500 bzw. 26200 Halbnägel verrechnet, wozu im letzteren Jahre
noch 1000 „pinnagl“ (Bühnnägel?) kommen, die aber noch nicht den ganzen Ver-
brauch darstellen. Das Eisen wurde in der damals gewöhnlichen Stab- und Buschen-
form zu „schleidern und häften“ u. a. Bauzwecken in Diessen am Ammersee und
von einem Pühelmaier von Pfarrkirchen, der es aus Steiermark („loymisch eisen“)
bezog, eingekauft. Im Jahre 1538 zähle ich 155 Ztr. 33 Pfd. Eisen. Im nächsten
Jahre wurden um 278 Gld. rund 85% Ztr. erworben. Das meiste diente wohl zu
den ausladenden starken Fenstergittern?), die der Bau zu ebener Erde an der Süd-
und Westseite, auch oben am Isarturm und vor verschiedenen anderen Fenstern
besitzt. Die Schlosser?) haben daher in den beiden letzten Baujahren nicht
weniger als 2200 Gld. verdient. Auch von mancher Zinngießerarbeit ist die Rede.
Es waren meist, wie gelegentlich schon erwähnt wurde, die damals in den Wohn-
räumen zum Händewaschen gebräuchlichen „Gießfässer“. Die Glaser‘) hatten
natürlich auch nicht wenig Arbeit. Sowohl das Glasblei wie die runden Scheiben
kamen von Salzburg; 1540 nicht weniger als 22 Truhen Glasscheiben (deren eine
2500 kleine und 1200 große Scheiben enthielt), das Jahr darauf zwei Truhen Glas-
blei. Der Hofglaser Kreutzberger verdiente trotzdem 533 Gid. im Jahre 1542.
Die Prunkräume haben die der Renaissance eigentümlichen Kamine’). Sie haben
(1) Schon 1538 und 1539 war der Steinmetzmeister Hans Schnitzer erst in Ingolstadt, dann in Neu-
burg a. D. und Eichstätt in den Steinbrüchen. Noch 1543 kamen von Eichstätt 8 Stuck Steine.
(2) Zu den mächtigen, eigens überdachten beiden Gittern, die allein in den 1541/42 gebauten tiefen
Keller auf der Trausnitz Licht einlassen, wurden von Sedlmaier in Diessen 50'/, Ztr. Eisen in Stangen-
form um 217 Old. bezogen.
(3) Über den Uhrmacher habe ich nur die eine Notiz, daß einer namens Christoph 33 Old. im Jahre
1542 verdiente, während Schlosser Leonhard damals 1200 Gid. (wohl für die vielen Gitter) einstrich.
(4) Wenn 1540 Marx Jud mit 18 Gid. Zehrung nach Venedig „umb das glaswerg gezogen“, so sind
damit vielleicht die fünf Kronleuchter aus Venezianer Glas im italienischen Saal und den beiden
Zimmern vorher gemeint.
(5) Im Jahre 1539 ist Meister Hans Ässlinger, Bildhauer, ,umb ettlich stuck zu den comin gen Neu-
127
fast durchwegs Verkleidung in Rotmarmor. Der schönste ist der im italienischen
Saale. Er hat nicht nur in Gips wie an der Decke des Apollozimmers die vier
Jahreszeiten durch Götter dargestellt, sondern auch in Kelheimerstein, der schönen
Elfenbeinton aufweist, das Wappen des Bauherrn, umgeben von sieben zierlichen
Reliefs. Er erinnert an den schon 1535 auf der Trausnitz ganz in Kalkstein aus-
geführten Kamin über der Kapelle.
Öfen waren deswegen im stolzen Bau nicht verpönt. Von Lucas Lochner in
Nürnberg wurde, vermutlich für den Vorderfitigel, in die untere große Stube ein
Ofen bezogen und im Jahr darauf einer ins Gewürzstübl Ein Hafner von Braunau,
vermutlich der von Dehio beim Schloß Neuburg a. D. um diese Zeit genannte Kolb
hat 1540 um 60 Gid. einen Ofen geliefert, zu dem er im Jahr vorher das Maß
genommen. Um denselben Preis lieferte ein Deggendorfer Meister zwei Öfen,
während Hofhafner Gabriel Törringer sonst am Bau, vielseitig, sogar mit dem
Dache, beschäftigt war.
Auch mit Schreinerarbeit hat man nicht ausschließlich einheimische Meister be-
auftragt. Ob der Schreiner Leonhard Prenner, der von 1538 bis zum Bauabschluß
ständig auf Wochenlohn (т Gld.) beschäftigt war, ein Landshuter war, kann ich
nicht sagen. Im Jahre 1538 hat ein Schreiner von Tölz zu zwei Böden, die dann
ein Flößer herunterbrachte, 291 sechs- und dreieckige „geforniert tafl“ gemacht
und dafür 135 Gld. bekommen. Im nächsten Jahre hat man von dorther, an-
scheinend wieder auf einem Floße, Tische und Bänke hergebracht. Damals er-
hielten auch zwei Münchener Schreiner heimwärts Zehrung. Ein Straubinger
Schreiner lieferte im folgenden Jahre ein Türgericht. Ein Meister von Wasser-
burg hat in einen Turm einen Boden gemacht, der auf drei Fuhren beigefahren
wurde, ihn aufgeschlagen und со Gid. dafür erhalten. Der Schreiner Andre Fuegl!)
hat 1543 ohne nähere Angabe 80 Glid. verdient; ebenso einer namens Achaz Fuegl
ı6 Gid. Meister Nikolaus Lendorfer aber machte für den vorderen Bau einen
Schenktisch. Nach zwei Jahren aber wurden in die Kanzlei eine lange Tafel mit
sechs Schubladen, drei Schreibtischl und zehn Stühle, auch zwei große Kästen
mit 56 Schubladen hergestellt. Der alte Marbeck aber fertigte in den vorderen
Turm vier Kästen und auf den Gang über die Gasse zwei Gitter, während er in
den „Yserthurn“?) vor ein Fenster einen „korb“ tischlerte. An Fenstern aber
burg geschickt worden, hat er dieselbn bis zur Neustat pracht“. Die heute in den Prunkräumen
vorhandenen wenigen Eisenöfen stammen aus Karl Theodors Zeit.
(1) Ob er an der schönen Decke des Saales im Vorderbau mit ihren 40 in Farbhölzern ein-
gelegten Kassetten gearbeitet hat? In der Rechnung von 1541 steht der zu beachtende Bericht:
„Anndre Fuegl, schreiner, hat in meines gnädigen Fürsten und Herrn stuben ain obern und fueB-
poden, auch ain wanndt und dreu thürgericht, auch ain ober poden in dem ganng gegen des Zerntzen
wirdts haus gemacht; für alls 400 gid.“ Die ungewöhnlich hohe Summe spricht sehr dafür, daß
dieser erstere „obere poden“ unsere Saaldecke ist. Dann hat der Herzog für gewöhnlich doch nicht
die Prunkräume, sondern die getäfelten Räume gegen den Markt zu bewohnt. Daß wir дев Wirte
Zenz Haus nicht feststellen können, macht sich auch hier unangenehm bemerkbar. Die „zwei
Schnitzer von Regensburg“, die 1539 schon heimkehren, und der obgenannte Prenner könnten auch
daran ihr Können gezeigt haben. Merkwürdig ist nur, daß für diese schöne, langwierige Gedulds-
arbeit nicht auch Material greifbar verrechnet wird. Sie könnte also auch erst nach Abschluß der
Baurechnungen entstanden sein. Es hat ja auch die Balkendecke des Isarganges die Jahrzahl 1556
Daß des Herzogs Stube gegen die Altstadt heraus war, ergibt sich aus Neubauinventuren von 1596
und 1603. In mehreren der Prunkzimmer standen damals Himmelbetten und waren wenige Ölbilder
aufgehängt.
(2) Über dem Haupteingang an der Altstadt erhob sich noch nach Wenings Stich ein vierseitiger
128
waren schon 1537 47 Kreuz- und „sechslichtige“ Fenster, 1541 aber auf die Gänge
19 Fenster fertig. Wohl für solche waren von Mittenwald 1538 zwei Lärchen-
flöße herabgeschwommen. Zum Getäfel aber sind schon 1536 210 Eschenbiutne
verrechriet worden. In eine Schneckenstiege aber kam 1539 „ain sichen schneckhen“.
Zum Hereinfahren des langen Zitfimerholzes aus einer benachbarten Waldung
brauchte nran 1538 in 17 Geschirren 64 Rosse, die 12—13 Nächte in städtischen
Stallungen standen. Wenn erst 1342 verrechnet wird, daß der Sagmüller 135 Schnitt
„zu latten auf das vorderhaus“ gemacht Hat, so wurde auf diesem Flügel entweder
die Dachung Bald gewechselt oder der Sagritifier wurde erst damals für seine
vielleicht fünf Jahre vorher getane Arbeit bezahlt.
Vom Dezember 1537 an sind die welschen Steinmetzen am Bau (getrennt
von den deutschen, die noch auf Wochenlohn arbeiten, während die welschen
. Monatsgagen erhalten) in den Rechnungen beliandelt. Meister Samaria erhält
monatlich ro Gld., die andern alle aber 8 Old. Sie heißen — sichtlich alle nur
mit dem Vornamen benannt —: Zenin, Niclas oder Nicolai, der kleine Victor, Bar-
tolmei „im rotn part“ und zwei namens Bernardin. Einer der beiden letzteren hat
vom nächsten Jahre an ebenfalls ro Gld. Monatszahlung. Der kleine Hartsi, zwei
Jakob und ein Jakob Philippo, ein Caesar, éin Tomaso und ein Thomesa, ein Andrea,
ein weiterer Nicola, ein Fraricisei und ein Benedikt treten zu diesen noch in den
nächsten Jahren bzw. lösen einige davon ab, durchweg mit 8 Gld. Moratslohn.
Letzterer aber erhält vom т. September 1539 an sogar ı2 „Crona“ (= 18 614.)
im Monat. Er ist 1541 auch unter den Stuckatoren zu finden. Neben dem Meister
Sigmund und seinem Schatten Anton, die ich auch für Steinmetzen halte, sind in
diesem Jahre noch sechs welsche Steinmetzen tätig. Im nächsten Jahre (1542)
sind bis in den April Thomas, Bartholme, Viktor, Francesco, Nicola und Andree
mit Monatsgage (8 Gid.) bezahlt, hernach lese ich unter det Wochenlöhnen fast
immer: „Sechs welischen stainmetzén rr gld., 42 den., Bernnharden sambt aim
jungen 3 gid.“ Während im Oktober und November es sogar acht sind, finde ich
die ersten 16 Wochen des letzten Baujahres ständig: „Item 6 stainmetzen 11 #14.
42 den.: mer aim stainmetzen 1 gid.“ Noch vor Sonnenwend treten die letzten
3—4 ab; alle Wochenlöhne aber hören Ende August 1543 ganz auf. Seit Beginn
des welschen Baues aber sind unter diesen stets auch 3—4 deutsche Steinmetzen
aufgeführt, die mit Namen Hans Schnitzer, Wentzl, dann Mang und Anton Schreiner,
vermutlich Brüder, heißen ). Dieser großen, zwiesprachigen Steinmetzgilde mußte
der Windenmacher ständig die Werkzeuge schleifen und spitzen. Im Jahre 1538
verrechnet er 10975 und im nächsten Jahre 10350 Spitzen; 1540 hat er in vier
Wochen den fleißigen Klopfern 2049 Spitzen gemacht. Dazu lieferte er ihnen
1538 auch 144 Steineisen, und dann hat er ihnen ‘auch HOCHEDREIDER, spitz- und
flachhemer, feiln und zirgkl gemacht und ain grossen schlegl.“
Das Fortschreiten des Baues setzte auch die feineren Handwerker und
Künstler in Tätigkeit. Die Gewölbe, die, entgegen der damaligen deutschen Bau-
niedriger Turm; der Isarturm auf der Stadtmauer war auch nicht hoch und steht heute noch. Die
schönste Ansicht von unserer Residenz, jeder bildlichen vorzuziehen, gibt das dreißig Jahre nach dem
Bau entstandene Sandnersche Holzmodell der Stadt Landshut im Nationalmuseum zu München.
(1) Im Jahre 1540 wurde von Rattenberg her ein Steinmetz „der marbistain halbn“ geholt. Von
diesem und dem vorhergehenden Jahre aber sind zwei Stellen, daß sowohl vom Propst von Ellwangen
als von "Schwaz ein Steinmetz wegen der Keller kam, dunkel. Hans Schnitzer erhielt nach der Hof-
kostenrechnung von 1540 ein Schaff Getreide, war also ein einheimischer Meister oder hatte seine
Familie hier. i
Monatshefte für Kunstwissenschaft. тоза, 4—6. 9 129
~
art mit Ausnahme des Kapellenganges auch im ganzen ersten Stockwerk an-
gewendet wurden, sind in diesem Renaissancebau bekanntlich fast alle stuckiert *).
Der Ausdruck Stuckatoren kommt aber nie vor, sondern die welschen Stein-
metzen, welche diese Kunst verstanden, werden einfach „Drucker“ genannt. Im
Jahre 1540 hat ein Schreiner ein Muster gefertigt, „wie die Welschen an die ge-
welb machen“; dazu gehörte vermutlich das Birnbaumholz „den Welschen zu
mödL“ Schon im Jahre vorher war von dem unter den Steinmetzen stehenden
Benedikt, „so von Neuburg herkommen ist und der die gewölb ausbrait hat“, um
3 Gld. 15 solcher Мба! gekauft worden. Von den zwei, später drei Walchen, so
1542 „die druck in die gewelb machen“, hießen zwei Thomas und Philipp. Es
erhielten zwei solche 123 Gid. vom ı. Januar bis 22. August 1540. Im Jahr 1541
bekam obiger Benedikt, „so in den gewölben druckt“, oder Benedikt „drucker“ vom
26. Mai bis 26. August бо Glid. ausbezahlt.
Auf ‘die Stuckatoren folgen die Vergolder?), auch „Zubereiter“ genannt. An-
fangs Mai 1541 ist Christoph ,,zuebereiter“ oder „bereiter, so den druck in den
gewelben vergult“, auf Fronleichnam ein „deutscher zubereiter“ genannt. Im Hinter-
hause hatten zwei Vergolder ein Gewölbe vergoldet, wofür sie 20 Gld. erhielten
und außerdem 2 Gid. Zehrung zur Heimkehr. Von Ende Juni des nächsten Jahres
an sind wieder zwei Vergolder wochenlang beschäftigt, später nur mehr einer.
Nach Ostern des letzten Baujahres fangen zwei Vergolder an; von Fronleichnam
an sind es vier Vergolder bis zum Aufhören der Wochenlöhne um Bartholomii,
also Ende August. |
Nun kommen wir noch zu den Malern“). Deren Tätigkeit, sogar die Nationa-
lität, war bisher vielumstritten. Ich glaube, die Frage auf Grund der Rechnungen
einigermaßen befriedigend lösen zu können. Über die drei meistgenannten Maler
Herman Posthumus, Hans Bocksberger d. Ä. aus Salzburg und Ludwig
Reffinger aus München hat schon Bassermann-Jordan in seinem fleißigen Werke
„Die dekorative Malerei der Renaissance am bayerischen Hofe“ (S. 39—42) ver-
dienstvoll geschrieben, Ich will vor allem die drei längeren Stellen, die in den
(x) Der hierzu nötige Gips („ypa“) war vermutlich aus der Tölser Gegend, da er 1538 auf drei und
im nächsten Jahre auf zwei Flößen die Isar herabkam. Es wurden auch 1539 vom Kupferschmied
„2 groß weitt pfannen zu dem yppsprennen“ gekauft,
(2) Außer anderm besonders in der Kapelle 1540 verbrauchtem Gold ist 1541 angegeben, daß 20 Buch
Feingold für die Gewölbe von Ulm um 70 Gid., im Jahr darauf ebensoviel Buch bezogen wurden.
Die Stuckaturen sind natürlich nicht durchweg vergoldet. Die Färbung der des italienischen Saales
in Gold-Weiß-Blau ist wohl noch die ursprüngliche, ebenso die des zweiten Zimmers der Modell-
sammlung, während diese Stuckaturen an anderen Gewölben vielfach verändert, namentlich überweißt
worden zu sein scheinen.
(3) Im Jahre 1540 wird für die Maler Bleiweiß, Kienschwarz, Rotbraun und Obergelb für 5 Gld. 3 Schill.
28 Pfen. eingekauft, 1541 für sie 3 Pfund blaue und vorher 18 Pfund blaue und grüne Farbe er-
worben; außerdem heißt es im letzteren Jahre, daß für die welschen Steinmetzen, Maler und den
Estrichmacher 25 Gid. 54 Dien. ausgegeben wurden „umb kreiden, pleiweiß, polermennig, gelb, rer,
schwamen, gelb weiß und rott wax, saffran, grien varb, pappier, mastix, pämwol und englisch peittl-
tuch“. Der Mening gehörte für den Estrichmacher, für den 16 Pfund davon 1540 angeschafft wur-
den, worauf er für acht Estriche 40 Gid. bekam, Die Notiz für den Bedarf der welschen Steinmetzen,
einschließlich des Baumeisters Sigmund, heißt 1538: rotes und weißes Wachs, Bims, Mastix, Kessel-
braun, Bleiweiß, Schwefl und Schwämme; im nächsten Jahre wird wieder zum Kitt der Steinmetzen
aus der Apotheke Terpentin, Mastix, BleiweiS und weißes Wachs genommen. Im Jahre 1542 werden
Bimssteine und Schwämme von Venedig bezogen, auch eine Korduanhaut zum Polieren des Marmors
eingekauft.
130
Rechnungen von 1542 und 1543 über die beiden letzteren Maler stehen und die
bisher nur bruchstücksweise!) bekannt waren, hieher setzen. Erstere sagt:
„item als maister Hanns Pockhsperger, maller von Salltzpurg, zwen sil, zwai
chomingewelb, den ganng bei der cappeln ), sechs materi aussn am walhnhaus,
auch im hindern thurn und zwai grosse thuech gemaldt, ime geben 142 guldn.
So hat ime mein gnädiger herr herzog Ludwig geben 40 gulden und als ine sein
gnad abgefertigt, geben 170 gulden, thuet als . . . . . . =. . 352 guiden.“
Die Rechnung von 1543 schreibt unter eigener Rubrik „Maller betreffennt“:
„Item maister Hannsen Pockhsperger, maller von Saltzpurg, als er den unndern
ganng im hof gegen dem Zennzen wirdt, auch in dem obern sall ain kindl driumpf
gemalt, hat ime mein gnädiger fürst und herr geben - . 40 gulden.“
Item Ludwigen Reffinger, maller von Miinchen, hat ain gewelb gemacht mit des
himls lauff, auch mit dem Wachus und herniden dreu gewelb gemalt, auch den
ganng, so über die gassen geet, sambt 24 vissierungen zu den geschmelzten scheiben;
ime geben %%%
Item Pauls maller umb arbait zalt e ea Ж e 37 gulden.“
Uber Bocksberger ist sonst keine Notiz mehr zu KEE dagegen beziehe ich
die 1542 unter Handwerker stehende Notiz „Ludwig maller 186 fl“ auf unsern
Ludwig Reffinger, zumal schon die Hofkostenrechnung von 1540 sagt, daß auf des
Herzogs Befehl dem Ludwig, Maler von München, ı Schaff Korn verabreicht wurde.
Manche, aber kaum eine längere Rechnungsnotiz haben wir in denen von 1540 bis
1542 über den Maler Hermann, der nie mit seinem Zunamen genannt wird. Die
von 1541, daß sein Bruder, „als dieser in eine gefihlte ramb х gemaltes tuch ge-
malt hat, laubwerch in den ramen geschniten“ und dafür 4 Glid. erhielt, möchte
man auf das auch von Bassermann-Jordan (S.42) erwähnte Altarbild der Residenz-
kapelle, das nun auf der Trausnitz trauert und uns seinen. Zunamen überliefert hat,
beziehen. Die Anbetung des Kindes durch die Hirten und Könige ist aber beide-
male auf Holz gemalt. Sonst ist in diesen drei Jahrgängen mitten unter den
italienischen Steinmetzen immer angegeben, wie lange „maister Herman,
maler“ gearbeitet und wieviel er Lohn bekommen habe. Er muß sich als Wel-
scher gefühlt haben und war auch anscheinend ein solcher, da er wie die „Drucker“
sich in „Crona“ zahlen ließ, nämlich deren 12 im Monat, gleich r8 Gulden in
Münze bezog. Im Jahre 1540 war er nur drei Monate beschäftigt, nämlich vom
24. April bis 24. Juli; da er das ganze nächste Jahr im welschen Bau malte, be-
kam er 216 Gulden. Zu Anfang 1542 war er nur mehr vier Monate beschäftigt,
kommt aber auch anschließend zwischen Ostern und Himmelfahrt noch mit vier
Wochenlöhnen (je zu 4 Gld. 3 Schill. 15 Pfen.) vor, so daß er rund 350 Gulden davon-
trug, also zwischen Reffinger und Bocksberger mit seinem Verdienst steht.
Ich will nun auf Grund dieser unanfechtbaren Quellen zeigen, welche von den
heute noch erhaltenen Deckenmalereien?) den einzelnen dieser drei meistbeschäf-
(1) Sitzungs-Ber. d. Münch. Akad. d. Wiss. 18021, S. 148 u. Bassermann-Jordan, a. a. O., S. 39, beide
fußend auf Meidingers Lokalgeschichte und Mitteilung von Dr. K. Trautmann.
(а) Von der Kapelle ist selten die Rede. Die zwei großen Leuchter, die 1542 um 8 Gid. 70 Pfen.
gekauft werden, gehörten wohl dahin. Sicher ist das von den „messigen seuln, so in der capelin
sein“, und die 1542 ein Fuhrmann brachte. Von der Einweihung derselben lese ich erst in der Haus-
kämmereirechnung von 1571, als der fromme Wilhelm als Kronprinz auf der Trausnitz reeidierte.
Damals wurde die Stadtresidenz herabgeputst.
(3) Der italienische Saal hat neuere Marmorverkleidung an den Wänden, die übrigen Prachträume
dort graue Malereien von 1780; nur vom Kapellengang waren die Wände ursprünglich bemalt, Zur
131
tigten Meister zuzuweisen sind. Da hat denn Hans Bocksberger sicher gemalt:
den Kapellengang und den Putten- oder Kinderfries im italienischen Saal. Dem
Ludwig Reffimger ist von dem Erhaltenen sicher suzuteilen: Die Decken des Planeten-
und des Götterzimmers; denn ersteres ist das ,Gewelb mit des himls lauff“;
„Wachus“ gleich Bacchus ist nur im Götterzinmmer abgebildet, dort zwar nicht
die wichtigste, aber durch ihre Weinseligkeit auffallende Figur. Die Notizen über
diese beiden Maler geben uns aber auch Hinweise auf Malereien, die heute ver-
schwunden sind. Von Bocksberger sind sicher nicht mehr vorhanden die „sechs
materi aussen am Walhnhaus“, worunter vermutlich die Stallungen!) zu verstehen
sind, dann die Malerei „im hindern thurn“, zwei Leinwandbilder, die vielleicht
noch in einer Galerie zu suchen sind, endlich die Malereien im „undern gang im
hof gegen dem Zennzen wirdt“, worunter vermutlich die Säulenhalle des westlichen
Verbindungsbaues unter dem Kapellengang zu verstehen ist. Von Reffinger ist
nicht mehr erhalten: Die Malerei im „gang, so über die gassen geet“, d.h. in dem
auf zwei Bögen über die Ländgasse führenden Gange. Die „24 vissierungen zu den
geschmelzten scheiben“ sind uns indirekt zur Hälfte im Nationalmuseum erhalten,
Der Katalog Glasgemälde desselben zählt nämlich unter 155—166 bei Jörg Breu d. А.
zwölf Glasbilder aus der Landshuter Residenz auf, welche die Geschichte des
Agyptischen Joseph behandeln. Da nur von Visierungen, also Entwürfen die Rede
ist, braucht die Ausführung durch Jörg Breu) nicht zu überraschen.
Wir haben nun auf Hans Bocksberger und Ludwig Reffinger auch die mehr-
deutigen Stellen in unseren Quellen richtig zu verteilen, was nach den 1780 ff.
unter Kari Theodor und schon früher vorgenommenen Ubermalungen*) und den
Wobhalichkeit von Renaissanceräumen trug immer reichliche Verwendung von Gobelins bei, die nur
aufgemacht wurden, wenn das Schloß von den Hoerrschaften bewohnt war. Die Hauskämmerei-
rechnungen gäben manche Notiz dafür. So erhielten 1561 die Wächter, welche für die Ankunft
Albrechts V. die Teppiche aufmachen mußten, Bier und Brot. Nach sechs Jahren war er wiederholt
gelegentlich des Regensburger Reichstags und der Hirschfaist da. Schon auf Georgi waren im
,welschen pau die hackn zu den eisnen stenngin, daran die töbich hanngen, eingemacht“ worden.
(х) Nur die Stallungen haben außen an ihrer glatten Front noch Platz für Malerei; in Mantua waren
ja auch die Lieblingspferde des Herzogs Frederigo Gonzaga (vgl. Denkmalpflege VII (1905), 8. 111).
an die Wand gemalt. Die Hauptfront an der Lind mit ihrer Rustika hätte höchstens in den fünf
Blindfenstern neben dem großen Wappen solchen Raum geboten.
(2) Da nach dem erwähnten Katalog (Nr. 173) Barthel Beham mit Reffinger in der Werkstatt des
Wolfgang Mielich zusammen gearbeitet hat, kann auch Jörg Breu dort gelernt haben. Ein Teil dieser
runden Glasbilder war im Kapellengang. Denn Bocksberger hat die Spiegelbilder dieser Gangfenster
auf der fensterlosen Wand gegenüber aufgemalt und dabei jedem Flügel oben ein blaugefaßtes Rund-
fensterchen eingesetzt.
(3) Auch über die Instandsetzung der Residenz für den jungvermählten Pfalzgrafen Wilhelm von
Birkenfeld ist von 1780 eine Rechnung da. Der Voranschlag lautete auf 9367 Gid. Die Maurer,
Zimmerleute, Taglöhner und Steinmetzen bezogen aber allein schon 8803 Gid. an Löhnen. Die wirk-
lichen Kosten waren schließlich 29008 Gid. Zweimal wurden je 127 Fässer Gips bezogen; FloSmeister
von München und Tölz lieferten auch sonstiges Baumaterial. Der Münchener Bildhauer Anton
Zechenberger bekam für „її Trumeau-Spiegel-Ramen und 9 Consol-Tische“ 462 Gid.; der kurfürsti.
Maler Augustin Joseph Domel für deren Fassung 224 und für seine sonstigen Arbeiten, also obige
Über- und Wandbemalung 745 014. Die Landshuter bürgerlichen Maler Frs. Schmid, Zacharias Lehr-
huber und Joh. Kaufmann erhielten die Anstreicharbeiten. Der Landshuter Bildhauer Christian Jorhan
verdiente nur 83 Gid. Von München kamen auch acht Stuck Marmor für einen welschen Kamin.
Zum Schluß schwamm auch auf drei Flösen des Pfalsgrafen „Bagage“ von München her. Der Hof-
Oberbaudifektor Lespilliez war zum Nachschauen einmal vier Tage von München fort. — Schon
bald nach dem Ableben des Schloßerbauers fanden in der Kirche und in etlichen Sälen Übermalungen
132
Übertünchungen nicht leicht ist, wie schon Bassermann-Jordan, der auch sehr dar-
unter zu leiden hatte und deshalb mangels der Quellen fehlgreifen mußte, an vielen
Stellen hervorhob. Da werden unbestimmt dem Meister aus Salzburg noch „zwen
sil, zwai chomingeweib“, also zwei Sue und zwei Kamingewölbe zugeschrieben,
dem Meister aus München aber „herniden dreu gewelb“. Wenn die feste Zuteilung
dieser sieben Räume gelänge, wäre die Frage sicher gelöst, da der Rest dann für
Hermann Postumus verbliebe, nachdem wir als ziemlich sicher annehmen dürfen,
daß die hernach noch zu behandelnden Maler keine ganzen Innenräume auszu-
malen hatten. Daß unter dem einen der beiden Süle, die Bocksberger auszumelen
hatte, der italienische Saal zu verstehen ist, ist naheliegend. Es ist sogar sicher,
wenn wir aus dem verbürgt ihm zugeschriebenen Kapeliengang die Bärte und
Rüstungen mit den Brustbildern antiker Helden und Heoerftthrer in den acht-
eckigen Gemälden dieses Saales vergleichen. Sollte der zweite Saal der ungewölbte
deutsche Saal des Vorderbaues sein, über dessen schöner Kassettendecke in Farb-
holz nichts Greifbares in den Baurechnungen steht, die aber nicht viel später sein
kann? Es könnte sich bei diesem unstuckierten Saale übrigens nur um Wand-
malerei handeln. Bei den beiden „Kamingewölben“ haben wir, da im Apello-
zimmer die düstere Farbengebung sowohl wie die Steifheit des Apollo und das
Durchziehen von Figuren durch mehrere Stuckfelder (vgl. Planetenzimmer) ganz
für Reffinger spricht, die Wahl zwischen dem anstoßenden, tbertünchten fünf-
eckigen Zimmer und dem folgenden Venuszimmer im oberen Stock und der sog.
Konditorei und Kaffeeküche zu ebener Erde. Dem Ке прег sind hier auch, weil
es „hernieden“ heißt, drei Gewölbe zuzuteilen. Seinen dunklen Farben entspricht
am ehesten das Eckzimmer der Modellsammiung mit seinen 25 Kassetten. Also
wird er auch den anschließenden, heute übertünchten Saal der Sammlung und das
gleich daneben liegende Einfahrtsgewölbe bemalt haben. Für Posthumus bleibt
dann an noch erhaltenen ganzen Räumen das schöne Dianazimmer, vielleicht auch
die Konditorei und Kaffeektiche, endlich der Bibelzyklus der Vorhalle. Sollte da
nicht er der sein, der die ganz italienisch anmutenden Grotesken und Lorbeerzweige
im Planetenzimmer, auch im Kappellengang, endlich die in Rosa fast ganz über-
tünchten Grotesken des Götterzimmers gemalt hat? Denn anzunehmen, daß jedem
Maler immer nur ganze Gewölbe zum Ausmalen zugeteilt wurden, wäre doch zu
schablonenhaft. |
Vielleicht darf ich hier noch über den von Bocksberger rings um den italienischen
Saal gemalten Puttenfries, in der Rechnung „Kindleintriumph“ genannt, den ich gar
hoch schätze, von dem ich aber leider nur ein ungentigendes Bild bringen kann,
ein paar Worte verlieren. Es ist in goldenen Unzialbuchstaben der für die da-
maligen Wittelsbracher Brüder wegen des jungen Erbfolgegesetzes so wichtige
Spruch dargestellt:
„CONCORDIA PARVAE RES CRESCUNT,
DISCORDIA MAXIMAE DILABUNTUR.*
statt. Die Landshuter Hofbaurechnung von 1553 sagt, daß dort acht Zimmerleute „dem maister
Hanns Zentzn, malier von Munichen gerust aufgemacht, damit er die verdorbenen gemäll widerumb
hat ausgepessert“. Schon im nächsten Jahre hat ein Maler Wolfgang am vordern Schief das geo-
malte Gesims, das vom Wetter beschädigt worden und nach dem folgenden auch erst 15 Jahre alt
war, vom Korb aus neu gemalt. Übertüncht sind nicht nur mehrere geschlossene Räume in beiden
Stockwerken, sondern auch die beiden anderen offenen Hallen des Hofes, bei denen bei starker Luft-
feuchtigkeit die alten Bilder noch durchschlagen.
133
Die beiden Worte Concordia und Discordia nehmen je eine Schmalseite des
Saales ein. Zwischen und mit den Unzialen spielen nackte Putten, zu Hunderten
darf man sagen, da auf ersteres Wort allein 60, auf letzteres so treffen. Bewun-
dernswert ist die Abwechslung, die der Künstler in das lange Band hineinbrachte.
Eine Gruppe trägt einen Kameraden auf den Schultern, eine andere einen an Armen
und Beinen; andere Gruppen spielen mit selten angebrachten Tieren (Hund, Ziege
und Schwan) oder mit Musikinstrumenten oder Windrädchen. Nach Kinderart
sind auch die Buchstaben ihr Spielzeug zum Durchkriechen und Versteckensspiel.
Das O suchen sie zu rollen, ein C als Schaukel zu benützen. Gleich mit dem
zweiten Teil des Spruches beginnt der Streit der großen Gesellschaft, was zeigt,
daß der Maler den Spruch miterlebte. Die Knirpse werfen und zerren einander,
ziehen entgegengesetzt, verbläuen einander alle möglichen Körperteile, raufen
um ein Fähnlein, kurzum, führen miteinander Krieg, sogar mit Pfeil und Bogen
und Wurfspeer. Fürwahr ein Meisterwerk dieses bis jetzt leider so wenig be-
kannten älteren Bocksberger!
Sonst ist nur ein Landshuter Maler Paulus genauer faßbar ). Es wurde nämlich
nach der Kastenrechnung von 1540 an „Paulsen maler hie“ auf herzoglichen Be-
fehl ein Schaff Korn verabreicht; 1543 verdiente er am Bau 37 Gulden; fast das
Doppelte davon, nämlich 70 Gulden, bekam er vier Jahre vorher „von dem vordern
schieß ze malin.“ Ein Einheimischer war also der erste am Bau beschäftigte
Maler. Seinen Laokoon und drei andere Heroengestalten, die er nach dem Ge-
sagten am deutschen Flügel neben die zwei Fensterpaare über dem Haupteingang
malte, zeigt noch Wenings Kupferstich der Residenz.
Ein Christoph, Maler von München, ist im Oktober 1540 mit Wochenlohn am
Bau beschäftigt und gleich darauf „2 maler von München.“ Vor Schluß aller Bau-
arbeiten, nämlich von der Fronleichnamswoche 1543 bis in den Juli hinein ist mit
einem Wochenlohn von т Gld. 3 Schill. 15 Pfen. „maister Michel, maler von
München“ beschäftigt. Über die Tätigkeit dieser letzten Münchener Maler ist sonst
nichts Näheres angegeben. Sie werden bei ihrer kurzen Tätigkeit kaum selb-
ständige Aufgaben zu erledigen gehabt haben, sondern nur gehilfenmäßig tätig ge-
wesen sein.
Es ist in den Rechnungen keine Spur vorhanden, daß außer Meister Herman
auch nur ein ausgesprochen weicher Maler am Baue tätig war. Insbesondere ist
keine Andeutung gemacht, daß Baumeister Sigismund oder sein Diener Anton auch
als Maler gearbeitet haben. Sie scheinen nur Steinmetzen gewesen zu sein. Ein
Maler oder Baumeister Antonelli, der in der Literatur über diesen Bau immer
spukt, ist geradezu als Erfindung zu bezeichnen.
Die Hauptdaten über die Inangriffnahme der einzelnen Baugruppen wurden schon
eingangs gegeben. Auch über das Fortschreiten des Baues sind wir außer
durch Inschriften?), die mit Vorliebe an Türstöcken angebracht sind, durch ge-
legentliche Notizen einigermaßen unterrichtet. Maurer, Taglöhner und Zimmer-
(x) Den Landshuter Maler „Steffan Sibenwürger“, der nach der Kastenrechnung 1540 ein Schaff Korn
vom Herzog erhält, finde ich am Bau nicht beschäftigt.
(a) Aus Bassermann-Jordan sind sie zu ersehen. Das Jahr 1540 steht an einem der Herkules-Reliofs
im großen Saal (S. 32), 1541 am dort befindlichen Herzogswappen (S. 30) und den Grotesken des
Venuszimmers (8. 35), 1542 auf dem Türsturz der Modelisammlung (8. 18), im Götterzimmer (8. зо)
auch eingelegt in einer Saaltüre (S. 35) und am Türsturz an der Isar (S. 35), 1543 endlich zeigt
die Umschrift der italienischen Vorhalle.
134
leute erhielten 1537 vier Gulden zu „Beschlußwein“!), als erstere die vier Keller-
gewölbe „gar gewölbt“ hatten. Im Jahre 1538, vermutlich im Herbst, bekamen
diese Maurer wieder Beschlußwein, als sie „das untere gewölbe ganz geschlossen
haben“; im nächsten Jahre wurde „den welschen, als si das groß, hoch, lanng ge-
welb geschlossen“, vermutlich also die Tonne des sog. italienischen Saales im
ersten Stocke des wappengeschmückten Flügels an der Länd fertig hatten, 2 Gulden
verabreicht. In diesem Jahre wurde im Ziegelofen des Moosburger Chorstifts zu
Isarek „das glasiert dach gesprent“, das Meister Bernhard Walch vorher be-
schaut und wozu der Hafner Alban ein Muster gemacht hatte. Im Jahre 1540
wurde der Keller mit Marmor gepflastert, andererseits vom Vergolder Strasser
die 17 Buchstaben?) am großen Steinwappen der Ländfront, die Gießer Bern-
hard?) gegossen hatte, dann die 14 Buchstaben der heute noch zu sehenden In-
schrift „Domus orationis“ ober des Kapelleneingangs vergoldet, auch von diesem
oder einem andern „zuebereitter“, der kurze Zeit beim Wirt Aham Maler ver-
köstigt wurde, in der Kapelle Vergoldung angebracht. Im nächsten Jahre wurden
die beiden Höfe gepflastert und für den ,,welschen Stall“ ein Brunnkar beigebracht,
In diesen „Walchenstall“ kamen 1542 vier Betti für die Knechte anscheinend und
in des welchen Stallmeisters‘) Zimmer 3 Gießfaß (zum Händewaschen) und ein
„Reisbettl“. Man hat damals auch zum hintern Tor „56 зїп nagl schleifen“ und
dann polieren lassen.
Rechnerisch und wirtschaftlich veranlagte Leser werden auch nach den Bau-
kosten fragen. Ich habe die acht Baujahre 1536 bis 1543 fast auf den Pfennig
55100 Gulden errechnet, mit den Jahren 1538 und 1541 als Höhepunkten. Das
ist aber noch nicht die ganze Summe, wenn man bedenkt, daß vom Holz aus
eigenen Waldungen nur die Fuhrlöhne verrechnet sind, die Gehälter für den Bau-
schreiber und den deutschen Baumeister Überreiter in diesen Rechnungen überhaupt
nicht erscheinen, ebensowenig die Getreidebezüge, die solche Bauleute und Künstler
sicher nicht bloß in dem erhaltenen Jahrgang 1540 der Hofkastenrechnungen er-
hielten. Die aus dem gleichen Jahre auch vereinzelt erhaltene Kammermeister-
rechnung des Herzogs läßt stark vermuten, daß die Mittel durch Anlehen auf-
gebracht wurden. Die Münchener Wittelsbacher des 16. Jahrhunderts waren ja
bekannt dafür, daß sie weit über ihre Einkünfte Ausgaben machten.
x *
*
Die Landshuter Residenz steht durch ihre rein italienische Art nach der Anlage
und Ausfiihrung fast vereinsamt in der bayerischen, ja deutschen Kunstgeschichte
da. Darob dürfen wir aber die zeitlichen und sachlichen Zusammenhänge nicht
(х) Diese drei Arten eigentlicher Bauarbeiter erhielten auch jeden Aschermittwoch „nach altem ge-
prauch zu verdrinken“ ein paar Gulden, Bei den Zimmerleuten waren außerdem jede andere Woche
2 Pfen. „Badegeid“ auf den Mann üblich.
(2) Ich kann aus der Inschrift „Lud. utr. Bav, dux“ nur 12 herausbringen. Wenn fünf fehlen sollten,
waren sie über dem Wappen angebracht. Der Künstler dieses italienisch empfundenen Wappens ist
aus den Rechnungen nicht ersichtlich, Die Rechnung 1538 sagt: „Item umb die vier stugk stain
daraus man das wappen gemacht“, samt Fuhrlon 73 Gid. a1 Pfen. |
(3) Dieser Bernhard „giesser“ war anscheinend für Geschützwesen in ständigen Diensten des Herzogs.
Nach der Kammermeister- und Hofkastenrechnung von 1340 bezog er 50 Glid. Sold und außerdem
auf herzoglichen Befehl 1/, Schaff Weizen und 2 Schaff Korn.
(4) Nach der Kammermeisterrechnung von 1540 war damals schon „Piero Walh“ mit 210 Gid. im
Stall weitaus der bestbezahlte,
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aus dem Auge lassen. Auf die nach Neuburg a. L, Ingolstadt und Neuburg a,D.
führenden Fäden wurde eben achan hingewienen. Die Beteiligung Welscher an
jenen Bauwerken war bis jetzt nicht bakanat, bw. prägte den Ingolstädter
Festyngswerken und Erdwällen keinen Charekter auf. Von 1530 an haben aim- .
lich die Pfalzgrafen Ottheinrich und Philipp, von denen ersterer bekanntlich der
Schöpfer des berühmten Fitigels am Heidelberger Schloß wurde, in Neubrzg a, D.
und im benachbarten Griinay’) sich ein Stadt- bzw. Jagdschloß im neuen Sti) bauen
lassen. Am altmadischeten war noch der Burgumbau, den Herzog Wilhelm IV.
in Wasserburg а. І. in den Jahren 1596—1543 aufführte. Der früheste Bau,
auch nach nicht frei von der Gotik, ist der des Onkels der genannten vier Wittels-
bacher, des Bischofs Philipp von Freising im Hofe seiner Residenz. Mit einer
Ausnahme sind die Bauherren lauter Wittelsbacher. Es stehen von dea damals
regierenden Wittelsbachern nur Herzog Erost in Passau und Pfalzgraf Johann in
Regensburg aus. An den die Verbindung mit Italien herstellenden Wasserwegen
der Isar, des Inne und der Donau liegen bezeichnenderweise alle diese Orte. Bis
auf Freising gehörten sie beachtenswerterweise alle dem zerschlagenen Gebiete
der ehemaligen reichen Herzöge von Landshut an. Von deren Hauptstädten fehlt
nur Burghausen. Ein schon aus dem Mittelalter überkommener Handelsverkehr
mit Italien und eine gleichfalls alte Wohlhabenheit des Gebietes bedingten das
frühe Eindringen der neuen Bauweise in Altbayern.
(1) Das in die Münchener Residenz überführte Renaissanceportal aus Neuburg a. D. ist aus unserer
Bauzeit. Die im dortigen Nationalmuseum befindliche Inschrifttafel mit der Jagdszene aus Grünsu ist
auch zu beachten. Meister Veit Guldin hieß hier der Baumeister. Welsche Maurer unter einem
Meister Bernhart wurden dort zu den Keller- und Kapellengewölben verwendet. (Einige Monats-
rechnungen von 1539—1541 sind im Kreisarchiv Landshut); Dr. Ph. M. Halm im Jahrg. 1005 (S. 1096.)
der „Denkmalpflege“ kannte diese italienischen Beziehungen nicht.
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Abb. 1. Freiberg, Dom. Schalldeckel der Tulpenkanzel Abb. 2. Freiberg, Dom. Kelch der Tulpenkanzel nach Westen.
ә Abb. 3. Freiberg, Dom Abb. 4. Freiberg, Dom. Mittelteil der Tulpenkanzel.
Angebl. Selbstbildnis des Meisters der Tulpenkanzel.
Zu: W. Junius, Der Meister H. W.
DER MEISTER H. W., EINERZGEBIRGISCHER
PLASTIKER AM AUSGANG DES MITTEL-
ALTERS Mr "wit Abbiläungen suf faf Von WILHELM JUNIUS-Dresden
000000000000 000000000000 000000000000000000000000 SHOT HPSSHSHSS HHS HPSHHSHPPOSS SHH SHHSCHHS SOSSHHH OADS HOSS о ооовоооооосооофовоооооооео
is Bode in seiner 1887 erschienenen „Geschichte der deutschen Plastik“ die
spätgotische obersächsische Bildnerei in den Städten am Nordabhang des
Erzgebirges beschrieb, war ihm aus der Masse der unerfreulichen Durchschnitts-
arbeiten eine Gruppe von stilistisch eigenartigen und künstlerisch wertvollen Werken
entgegengetreten, deren Formbehandlung ihn an Adam Krafft und Tilman Riemen-
schneider erinnerte. Seither hat sich eine Anzahl von Einzeluntersuchungen und
gelegentlichen Hinweisen mit dieser erzgebirgischen Bildnerei beschäftigt, ohne
indessen den Schleier, der über der Meisterpersönlichkeit und ihren Schöpfungen
legt, heben zu können.
Es handelt sich zunächst um die tonsteinerne’) „Tulpenkanzel“ im Freiberger
Dom (Abb. 1—4). Wolfgang Roch, der im Kriege gefallene Bautzener Museums-
direktor, hat ihr einen Aufsatz gewidmet, den ich aus seinen nachgelassenen
Schriften im 39. Bande des Neuen Archivs für sächsische Geschichte veröffentlicht
habe, und der die in Betracht kommende Literatur aufführt. Unkontrollierbare
Überlieferungen schreiben sie einem Hans von Köln zu, der sie zwischen
1480—90 errichtet habe). Bode hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Figur
des älteren ernsten Mannes am Fuße der Kanzeltreppe (Abb.3) und der die Treppe
stützende junge Bursche in ähnlicher Weise zu dem Werke in Beziehung ge-
bracht seien, wie dies Adam Krafft an seinem 1493—96 geschaffenen Sakrament-
haus in der Nürnberger Lorenzkirche getan habe, und wie die Freiberger Kanzel,
so zeigt auch Kraffts Tabernakel den gleichen Überschwang technischen Könnens
und kühnster Phantastik. `
R. Bruck hat 1916 im VIL Jahrgang der „Mitteilungen aus den sächsischen Kunst-
sammiungen“ die Existenz des traditionellen Meisters Hans von Kiln abgelehnt,
insbesondere stilistische Beziehungen der ,,Tulpenkanzel“ zu einigen erzgebirgischen
Plastiken der gleichen Epoche, Bildwerken, in die in gleicher Weise der aus der
Anonymität nur zögernd heraustretende Meister mancherlei spielerischen Kleinkram,
allegorisch-symbolische Gestalten u. a. hineingeheimnist hat, bestritten. Es kommen
im wesentlichen in Frage die Annaberger „Schöne Tür“, die Chemnitzer Geiße-
lungsgruppe und die Ebersdorfer Pulthalterfiguren, sowie der Bornaer, Gilösaer,
Mittelbaeher Altar und eine Marienfigur im Chemnitzer Museum, deren stilistische
Zusammengehörigkeit wir hier erneut betonen möchten )).
Auf dem in Holz geschnitzten Schalldeckel der ,,Tulpenkanzel“ (Abb. 1) sind
H Das Material, Wiesaer oder Fléhaer Tonstein, bei Chemnitz gebrochen.
(2) 1484, am Montag nach corporis Christi, ging fast die ganze Stadt Freiberg in Flammen auf, wo-
bei auch die romanische Domkirche ausbrannte. Auf Anordnung Herzog Albrechts von Sachsen be-
gann man dann, die wenigen Reste der Brandmauern völlig abzutragen und von Grund auf den Dom
neu zu bauen. Noch 1491 mußte der stockende Kirchenbau durch einen vom Papst Innocenz ПІ.
erteilten Indulgenzbrief gefördert werden, und erst 1512 ist der Neubau des Domes in spätgotischem
Stil beendet worden, wohl unter der Leitung von Johann Falkenwalt, Die Aufstellung der Tulpen-
kanzel kann also vor 1512 nicht erfolgt, und ihre Entstehung dürfte zwischen 1512 — 20 anzusetzen sein.
(3) Vgl. auch Neves Archiv f. sächs. Geschichte, Bd, 38, S. 201.
137
die Attribute der vier Evangelisten dargestellt, und über ihnen wächst gleichsam
aus einem Blütenkelch hervor Maria mit dem Kinde i). Diese Madonna erinnerte
mich an diejenige über dem Hauptportal der Chemnitzer Schloßkirche
(ehemalige Klosterkirche der Benediktiner), das laut Inschrift im Jahre 1525 durch
Abt Hilarius errichtet wurde (Abb. 5 und 6). Schon Steche wies im 7. Bande
der „Bau- und Kunstdenkmäler Sachsens“ darauf hin, daß der Schöpfer des
Chemnitzer Portals zwar namentlich unbekannt sei, aber der Schule des Frei-
berger Kanzelmeisters entstamme, wenn nicht gar mit ihm identisch sei. Dieses
Zögern in einer unbedingten Zuweisung wird erklärlich, wenn wir berücksichtigen,
daß die Verschiedenheit des Materials (in Freiberg weicher Tonstein bzw. Holz
und Stuck, in Chemnitz spröder Porphyrtufistein) auch stilistische Abweichungen
und eine andere Schnittformel bedingt: die Faltenzüge der Chemnitzer Portalfiguren
sind schwülstiger und plumper, die Haltung unbeholfener und unfreier. Nehmen
wir noch einen Unterschied von etwa ro Jahren zwischen der Entstehungszeit
der Kanzel und der des Portals an (legt man die m. E. unrichtige Stechesche
Datierung 1480 zugrunde, so beträgt der zeitliche Abstand sogar 45 Jahre), dann
wird man Steche und Gurlitt?) durchaus beipflichten müssen und den Gedanken
des Umschaffens der Architekturformen in Naturgebilde („sächs. Baumstil“), den
Entwurf dem Meister der Freiberger Tulpenkanzel, die Ausführung aber einem
jener zahlreichen zugereisten Steinmetzen zuschreiben, die in den erzgebirgischen
Bauhütten um 1255 tätig waren.
Die gleiche Phantastik des Entwurfs und Konsequenz der realistischen Dar-
stellung zeigt auch die im Innern der Chemnitzer Schloßkirche aufgestellte, über
3½ cm hohe, aus einem Lindenstamm geschnitzte Geißelungsgruppe. Auch
hier jenes kunstreich verschlungene Astwerk wie bei dem Portal, dessen „Baum-
stil“ wiederum so untrügliche Verwandtschaft mit der „Tulpenkanzel“ zeigt, die
gleich naturwahr durchgebildeten Gestalten: zwei rohe Henker, die Christus
geißeln, ein dritter, der den zusammenbrechenden Heiland mittels eines unter
den Armen durchgezogenen Seiles von hinten am Stamme hochzerrt, und ein
kauernder jüngerer Mann, mit dem Binden einer Dornenkrone beschäftigt (Abb. ro).
Hinsichtlich ihrer Naturalistik haben die fünf Figuren der Geißelungsgruppe in
der sächsischen spätgotischen Plastik Parallelen nur noch in den Gestalten der
Tulpenkanzel (Meister, Geselle, die vier Kirchenväter) und jenen der Annaberger
„Schönen Tür“. In Einzelheiten sei auf die Haarbehandlung bei dem Christus-
kinde und den tanzenden Engeln der Kanzel, verglichen mit derjenigen der Chem-
nitzer Gruppe, hingewiesen: ein Auflockern der Haare in einzelne Biischel. Die
feine Artikulation der Hände ist ebenfalls in dieser Vollendung bei keinem ober-
sächsischen Plastiker dieser Zeit zu finden. jenes unvergeßliche schmerzvolle
Gesicht des eine Dornenkrone mit einem Strick zusammenbindenden Jünglings
zu Füßen des Heilands erinnert an den die Kanzeltreppe tragenden Gesellen in
Freiberg, vor allem aber an die Ebersdorfer Pulthalter, die Engel im Tympanon
der Annaberger „Schönen Tür“ von 1512 und im Mittelschrein des Bornaer Altars
von 1511.
Der plastische Gedanke, der dem Ebersdorfer Pulthalter zugrunde liegt,
war uns bereits früher einmal in der Gestalt eines Subdiakons als Pultträger im
(1) Vgl. die ausführliche Beschreibung im 3. Bande des sächs. Inventarisationswerkes; ferner C. Gurlitt:
„Kunst und Künstler am Vorabend der Reformation“, S. 133 (Halle 1890).
(2) a. a. O., S. 138.
138
Naumburger Dom vermittelt worden!), und der Chemnitzer Meister muß diese
Figur, die er in freier und durch Wegfall der Pultstütze ungezwungener Weise in
den beiden Ebersdorfer Schnitzfiguren ,,kopierte“, gekannt haben. Ob der Meister
diese Ambonen-Bildwerke wirklich für das kleine Ebersdorfer Kirchlein geschnitzt
hat? Ich glaube, — nein, — und komme immer mehr dazu, bei jedem ober-
sächsischen Werke aus vorreformatorischer Zeit in den Dorfkirchen aber auch den
größeren Stadtkirchen die Frage zu stellen: ist es für diese geschaffen worden oder
woher stammt es? Seit 1540 setzt ein Umzug von Altären und kirchlichen Kunst-
werken ein, der sehr erheblich gewesen sein muß, und Dörfer werden schwer-
lich sich die Kosten haben machen können, die solche Werke wie die Ebers-
dorfer Pulthalter verursacht haben. So ist die Annahme nicht ungerechtfertigt,
daß auch sie ursprünglich für die Chemnitzer Benediktiner bestimmt waren.
Auch die Annaberger Franziskanermönche haben 1512 für ihre Klosterkirche,
die jetzige Annenkirche, den für Freiberg und in Chemnitz tätigen Künstler ge-
wonnen. Von ihm stammt die polychromierte und reich vergoldete „Schöne Tür“,
die in der Literatur schon oft gewürdigt wurde?). Die geflügelten Engelsgestalten
des sandsteinernen Portals sind die gleichen wie der pulttragende Engel und der
jugendliche Diakon in Ebersdorf; die Übereinstimmung ist selbst für ein un-
geschultes Auge so stark, daß auf eine eingehende stilkritische Vergleichung ver-
zichtet werden darf. Wichtig ist der Umstand, daß an diesem Werke der bisher
unbekannte Künstler erstmalig sich bezeichnet hat: Anno domini 1512 H. W.
(an der Unterseite des Türsturzes). Als Stifter sind den von Engeln getragenen
Wappenschildern oberhalb der Eingangstüre nach Georg der Bärtige und seine
polnische Gemahlin Barbara anzusehen.
Schmidt?) behauptet, daß dieses Monogramm in Hans Warnitz aufzulösen sei,
und bezieht sich dabei auf Meyer‘): „Die kunstmäßige Ausarbeitung dieses herr-
lichen Tores fällt jedermann sogleich in die Augen, zumal nachdem dasselbige 1690,
wie es die Aufschrift ausweist, von neuem gemahlet und schön vergoldet worden
ist. Die Unkosten dazu (nämlich zur Restaurierung!) gab ein damaliger Kaufmann
allhier, Christian Beyer, und die Arbeit dazu verrichtete ein gewisser Künstler,
Warnitz genannt, зо daß diesem Thor mit Recht der Nahme des Schönen beygeleget
werden kann.“ Gurlitt“) hatte schon 1890 das Werk ausführlich besprochen, es
(1) Vgl. А. Schmarsow und E. у. Flotwell: Meisterwerke der deutschen Bildnerei I. Naumburger Dom.
(Magdeburg 1892.)
(a) Petrus Albinus: Annabergische Annales von 1492—1539 (Makr. der Sächs. Landesbibliothek in
Dresden). Chr. Emmerling: Herrlichkeit des ber. Annaberger Tempels (Schneeberg 1713). Johann
Christian Meier: Die Herrlichkeit des Annabergischen Tempels (Chemnitz 1776). Georg Arnold:
Chronik von Annaberg (Annaberg 1812). Joh. Friedr. Hübschmann: Denkwürdigkeiten Annabergs (1819).
Spieß: Rückblicke auf Annabergs Vorzeit. Heft V (Annaberg 1858). R. Steche: a. a. O., Bd. IV,
8.17. C. Gurlitt, a. а. O., S. 135—138. Oswald Schmidt: Die St. Annenkirche zu Annaberg (Leipzig 1908).
Kurt Gerstenberg: Deutsche Sondergotik, 8. 83 und 169. Wilhelm Junius: Spätgotische sächsische
Schnitzaltäre (Dresden 1914), S. 73.
(3) a. а. O., S. 112.
(4) a. a. O., S. 27.
(5) a. а, O., 8. 135—138. 1913 veröffentlichte Kurt Gerstenberg seine geistreiche stilpsychologische
Arbeit: „Deutsche Sondergotik“, in der es 8. 169 als Anmerkung su S. 83 heißt: „Die schöne Pforte
in Annaberg ist erst seit rs97 vom Franziskanerkloster in die Annenkirche versetzt. Dem gleichen
Meister H. W. sind von Fiechsig die Ebersdorfer Pulthalter u.a. zugeschrieben worden. Vgl. Flechsig:
Die Sammlung des Sächs. Altertumsvereins zu Dresden, 1900.“ Gerstenberg irrt hier insofern, als
139
als dem Freiberger „Meister der zwölf Apostel“ (Dresden, Altertums-Museum) sowie
dem Meister der Tulpenkanzel nahestehend bezeichnet und insbesondere auf die
stilistische Verwandtschaft mit den Ebersdorfer Pulthaltern bzw. der Chemnitzer
Geißelungsgruppe hingewiesen. Des Meisters Н. W. eigenartig gesogene, einem
länglichen Viereck sich nähernden ausdrucksvollen Gesichter, der merkwürdige
Schwung der Linien und die derbe Unbefangenheit der Form, die porträtertige
Bildung der etwas schwerfälligen Köpfe, erinnerten ihn an Dürersche Männerengel
und en die Richtung des Michael Pacher von Prawnegk, wobei er sogar cine
„mittelbare Beziehung zwischen Tirol und Annaberg für nicht ausgeschlossen“ hält,
„waren doch unter den Gesellen in Annaberg ein Hans von Bozen und Thomas
von Lienz“. Andererseits ist der Zusammenhang mit Würzburg evident, doch hat
Meister H. W. eine gesteigerte Lebenskraft, die Riemenschneiders Vitalität oft
übertrifft. Als stilistisches Bindeglied zwischen den Chemnitz-Ebersdorfer Werken
und dem Annaberger Portal dienten uns die Engelsgestalten bzw. der Dornen-
kronenflechter der Geifelungagruppe. Wem sich die Gesichtsbildung und Haar-
behandlung (Bei den minnlichen Gestalten, auch bei den Putten der Tulpenkanzel,
ein Auflösen in einzelne Büschel, die in spitze Zotteln auslaufen; bei den weib-
lichen Figuren niemals festgeflochtene, sondern lockere, in großen Zügen etwas
„liederliche“ Zöpfe mit kurzen, heraushängenden, nicht „ mitgenommenen“ Haar-
enden. Wihrend das Haar bei den männlichen Figuren und großen Engeln stets
gleichmäßig gebildet wird, ist bei den weiblichen Gestalten die Haarbehandlung
kein untrügliches Kriterium der Stilanalyse von Werken des Meisters H.W.), die
schlanken, ausdrucksvollen Hände und die energische, großzügige, auf alles gotische
Gewandfaltenpathos verzichtende Schnittformel des Meisters H. W. eingeprigt hat,
wird die gleichen Merkmale (etwas von der schwärmerischen Askese Riemen-
schneiderscher Gestalten ist seinen Figuren eigen) an einigen obersächsischen
Altären und Altarresten, die Gurlitt und Voß!) nicht erwähnen, Flechsig*) aber
1912 nennt, wiederfinden, nämlich an dem Bornaer, Glösaer, Mittelbacher Altar,
an einer trauernden Madonna, zu einer Kreuzigungsgruppe gehörig, aus der Chem-
nitzer Jakobikirche stammend, und entfernter an einigen Schnitzfiguren des Ehren-
friedersdorfer Altares.
Der Bornaer Altar (Abb. 12), erstmalig 1914 von mir publiziert“), zeigt ebenfalls
das Monogramm H.W.Z. und die Jahreszahl 1511, welche sich auf die geschnitzten
Teile bezieht. Die Bedeutung des dritten Buchstabens Z vermag ich noch nicht zu
erklären. Im Mittelschrein, der in ziemlich flach geschnitzten Figuren die Begegnung
Marias und der Elisabeth darstellt, begegnen wir den Annaberger und Ebersdorfer
Flechsig 1900 zwar den Meister der Ebersdorfer Pulthalter mit dem Meister der schönen Pforte iden-
tiisierte und ihn Hans von Köln nannte, jedoch auf den Meister H. W. des Bornaer Altares an dieser
Stelle noch nicht hinwies.
(1) Georg Voß: Thüringische Holzschnitzerei des Mittelalters und der Renaissance (in Doering und
Voß: Meisterwerke der Kunst aus Sachsen und Thüringen.) Magdeburg 1904. Katalog der kunst-
geschichtl. Ausstellung zu Erfurt (Magdeburg 1903).
(2) Eduard Flechsig: Sächs. Bildnerei und Malerei vom 14. Jahrh. bis zur Reformation. 3. Lieferung.
(Leipzig 1912.)
(3) а. а. O., 8. 66 fl. A. Schmarsow bestätigte mir brieflich die seinerzeit von Roch gemachte An-
gabe, daß er bereits 1904 im Leipziger kunsthistorischen Universitätsinstitut anläßlich der Rochschen
Untersuchung der Freiberger Tulpenkanzel auf den Bornaer Altar des Meisters H. W. von 1517 auf-
merksam gemacht habe, und daß dieser Altar gleichsam den Schlüssel zur Kenntnis des Meisters der
Kanzel bilde. Schmarsow fällt also das Prioritätsrecht der Entdeckung des Meisters H. W. zu.
140
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Chemnitz (SchloBkirche), Nordportal
Gewändefiguren der linken Seite.
Chemnitz (SchloBkirche), Nordportal.
Abb. 6.
Abb. 5.
Gewändefiguren der rechten Seite.
W. Junius, Der Meister H. W.
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Abb. 7. Ehrenfriedersdorfer Altar. Abb. 8. Chemnitz (Museum).
St. Katharina. Marienfigur vom Hochaltar der
Chemnitzer Jakobikirche.
Zu: W. Junius, Der Meister H. W.
TAFEL 31.
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Engeln wieder; die flächige Schnitztechnik, die dem Reliefcharakter hier angemessen
ist und nur durch eine gewisse Unbeholfenheit in Einzelheiten auffällt, beweist,
daß der Steinstil unwillkürlich auch den Holzstil des Meisters beeinflußt hat, sowie
umgekehrt an der Annaberger „Schönen Tür“ mancherlei an den Bildschnitzer er-
innert, der sich im Steinwerk versucht. Das in großen Ausmaßen gehaltene sechs-
flügelige Werk ist gleich der „Schönen Tür“, der Geißelungsgruppe und der
Tulpenkanzel durch das sächsische Wappen als fürstliche Stiftung gekennzeichnet.
Der Glésaer Altar (Abb. 9):) steht qualitativ dem Bornaer Altar nach, läßt
aber trotzdem die charakteristische Schnitzweise des Meisters erkennen, um unter
Verzicht auf ins einzelne gehende Stilkritik auf die diesem Aufsatz beigegebenen
Lichtdrucktafeln verweisen zu können. Die in Anordnung, Figurentypus und Technik
auffällige stilistische Verschiedenheit zwischen der Gldsaer und der Bornaer Predella
beweist mir, daß in der Werkstatt des Meisters H. W. ein Geselle tätig war, der
zwar hinsichtlich der Manier dem großen Künstler manches „glücklich abgeguckt“,
aber von dem Geist und der Seele dieses Romantikers nichts verspürt hatte.
Und das gilt auch von dem Mittelbacher Altar (Abb. 11), dessen rohe, ungeftige
Art im Rahmen der bisher genannten Werke wie plumpe Werkstatt-Massen-
lieferung wirkt, wo des Meisters eigene Handschrift durch Gehilfennachahmung
ersetzt ist. Vergleicht man die Predella (Tod der Maria) mit der gleichen Dar-
stellung im ersten inneren rechten Flügel des Bornaer Altars, so findet man allein
schon hier in Komposition und Technik bis ins Einzelne gehende Übereinstim-
mung. Das Eindringen renaissancistischer Ornamente in noch gotische Schmuck-
formen zeigt, daß der Glösaer Altar später als die bisher genannten Werke des
Meisters Н. W. entstanden ist (gleichzeitig mit dem Chemnitzer Schloßkirchen-Portal?)
während der Mittelbacher Altar als ältere Arbeit durch das Fischblasenmaßwerk
gekennzeichnet wird, das den Fußstreifen unterhalb der einfachen Figurensockel
der Flügel ausfüllt, und ursprünglich auch den Schrein oberhalb der Figuren ab-
geteilt hat. Der jetzige Abschluß mit Rankengeschling und Blüten ist eine Er-
gänzung aus dem Jahre 1912 anläßlich der Wiederherstellung des Altars).
Auch die geschnitzten Teile des Ehrenfriedersdorfer Altars (Abb. 7)
lassen sich in manchen Teilen in Parallele setzen zu dem Figurenwerk der bis-
her erwähnten Werke des Meisters H. W. Vergleicht man dann aber die heilige
Katharina im Ehrenfriedersdorfer Schrein mit jener im linken Flügel des Glösaer
Altars (Abb. 9)?), so wird der stilistische Abstand zwischen Borna, Glösa,
Mittelbach, Freiberg, Chemnitz, Annaberg und Ehrenfriedersdorf offenbar: die
sorgfältigere Behandlung, die reicher ausgeführte Gewandung mit ihrem lebhaf-
teren Faltenwurf, modische Wandlungen in der Haartracht (Barbara im linken
Flügel des Ehrenfriedersdorfer Altars), die differenziertere Handhaltung der hl. Ka-
tharina des Ehrenfriedersdorfer Altars verglichen mit jener des Glösaer, machen
es schwer, den künstlerischen Duktus des Meisters H. W. auch in dem Ehren-
friedersdorfer Werk zu spüren. Die Abgrenzung der Mitarbeit des Meisters H.W.
an den plastischen Teilen des Ehrenfriedersdorfer Altars ist schon wegen ihrer
Ungleichwertigkeit im einzelnen kaum möglich. Die kleinen Gruppen in der Be-
krönung: „Darstellung X., X. vor Pilatus, und Maria und Jobannes zu Seiten des
(1) Im Chemnitzer Museum,
(а) Auch der Вогпаег Altar wurde 1867 einer gründlichen Restaurierung unterzogen, wie eine latei-
nische Inschrift an der Schreinumrahmung besagt.
(3) Irrtümlich in dem für St. Brigitte bestimmten Flügel aufgestellt.
141
Gekreuzigten“ sind in Anbetracht der Höhe ihres Anbringungsortes roher geschnitzt
als die Auferstehung in der Predella, und die Fitigel- und Schreinfiguren zeigen
wiederum erhebliche Abweichungen stilistischer Art. Ist es übrigens bloß ein
Zufall, daß die hl. Katharina sowohl auf dem Brustsaum des Untergewandes ein
eingesticktes W zeigt und außerdem noch an einer geflochtenen Goldschnur ein
Medaillon mit dem Buchstaben W trägt?’ Die Schreinfigur des hl. Nikolaus ist
bestimmt nicht vom Meister H. W., erinnert vielmehr an Döbelner, Rochlitzer
und Freiberger Bildschnitzer. Die nach außen schielenden Augen sind typisch
für die Freiberger Schule. (Vgl. Doering und Voß, a. a. O., S. 64). Robert Bruck!)
setzt den Ursprung des Altars in die Zeit um 1506 und bezeichnet im Gegensatz
zu Fiechsig*) als Meister der Flügelgemälde einen unbekannten Künstler süd-
deutscher Herkunft aus dem Kunstkreise, der in Hans Holbein d. Ä. seinen Haupt-
vertreter hatte und dem auch Mathias Grünewald entstammte). Hans Coler von
Köln kommt nach Bruck nicht in Frage‘). Als Schöpfer der Schnitzwerke lehnt
er den Meister H. W. nebst den Zuschreibungen anderer Werke auf Grund ver-
gleichender Stilkritik durch Flechsig und Junius in Bausch und Bogen ab, ohne
indes einstweilen einen bestimmten anderen Meister nennen zu können, oder seine
Ablehnung stichhaltig zu begründen. In der Tat sind neben aller stilkritischen
Attribution, der beliebtesten aber auch unsichersten kunsthistorischen Methode,
archivalische und chronikalische Bestätigungen trotz dem boshaften Vergleiche, den
einst der Meister der Stilkritik, Giovanni Morelli, den Archivforschern anhängte,
nicht zu verachten; denn sie geben noch immer die sicherste Grundlage auch für
kunstgeschichtliche Forschungen. Die bisherige ablehnende Kritik aber vermag
sich auf solche Funde nicht zu stützen, und stellt nur wieder ihre Einfühlungs-
gabe, Bilderinnerungsvermögen und Formengedächtnis der gleichsam mathematischen
Wahrscheinlichkeitsrechnung eines anderen Fachgenossen gegenüber“). Eine
Personengleichheit zwischen Meister Hans von Köln (Hans Koler, Coler oder Köler
von Köln) und dem Meister H.W. besteht natürlich nicht; ersterer ist ausschließ-
lich als Maler tätig gewesen und hat vorübergehend gemeinsam mit dem Bildhauer
in Chemnitz gearbeitet.
Als letztes Werk möchte ich an dieser Stelle die zu einer Kreuzigungsgruppe
gehörige Marienfigur aus der Chemnitzer Jakobikirche im dortigen Museum
besprechen (Abb. 8), die mir ausgeprägter den Stil des Meisters zu tragen scheint
als die von Flechsig a. a. O. erwähnte Waldkirchener Madonna. Man kann diese
trauernde Mutter Gottes keiner anderen gleichzeitigen erzgebirgischen an die Seite
(т) Vgl. 1. Mitteilungen aus den sächs. Kunstsammlungen (Jahrg. VII, 1916, S. 11). a. Neues Archiv
für sächs. Geschichte, Bd. 38 (1917), 8. зог. 3. Neues Sächs. Kirchenblatt XXIV, 1917, S. 19—24.
4. Sächs. Heimat. 5. Jahrg. 1921, Heft 5 u. 6, 8. 94. 5. Schreiber- Weigand: Der Meister des Ehren-
friedersdorfer Altars. (Chemnitzer Volkshochschule, 2. Jahrg. Nr. 6).
(2) Sächs. Bildnerei und Malerei (III. Lieferung.) Leipzig 1912.
(3) Auch in dieser Hinsicht stimme ich Flechsig zu, der auf niederländische Einflüsse hinweist.
Endlich sind auch kölnische Meister m. E. in Betracht zu ziehen.
(4) Vgl. dagegen Leo Bönhoff im N. Sächs. Kirchenblatt XXIV, 19ff.
(5) Daß der Meister H. W., wie wohl alle Künstler seiner Zeit, je nach Laune und Neigung, oder
dem ausbedungenen Lohn und der Persönlichkeit des Auftraggebers entsprechend seinen Werken
mehr oder weniger technische Sorgfalt und künstlerische Durchbildung zuteil werden ließ, lehrt z. B.
ein Vergleich der Predellen des Bornaer und Giösaer Altares, beide mit den geschnitzten Gruppen
der hl. Sippe. Auch hier können einem Zweifel an der Identität der Verfertiger aufkeimen, wenn uns
nicht die Schreinfiguren darüber belehrten: es ist der Meister H. W.
142
stellen: ihre tiefe Verinnerlichung übertrifft an Eindruckstiefe und Ausdruckskraft
alle, und es steckt etwas von dem Geist des Meisters der berühmten aufblickenden
„Nürnberger Madonna“ (Holzmodell für ein Gußwerk der Vischer-Hütte?) in diesem
Werke. Aus der Gesichtsbildung und den Händen sprechen der Stil der Ebers-
dorfer Pulthalter und wie bei diesen sind die Faltenziige nicht von jener knittrigen,
scharfbrüchigen und stellenweise unruhig ausbrechenden Art, sondern weicher
fließend und einhiillend.
Gurlitt!) und ihm folgend Georg Voß?) haben des Meisters H. W. Tätigkeit auch
in Saalfeld von 1510—1517 nachweisen zu können geglaubt, und insbesondere
auf den Altar von Dienstädt bei Orlamünde (Sachsen - Altenburg) als wichtiges
Bindeglied zwischen den erzgebirgischen Werken des Meisters H.W. und einigen
thüringischen Schnitzaltären der Saalfelder, nach Fiechsig*®) Altenburger, Schule
aufmerksam gemacht. Voß führt 11 Werke als Arbeiten des Meisters H. W. (alias
Hans von Köln) auf:
т. den Dienstädter Altar (zwei Lichtdrucke in den „Bau- und Kunstdenkmälern
Thüringens“, 2. Bd., S. 74—75);
a. den Altar von Geiben bei Gera. Die Schreinfigur des hl. Erasmus ist ab-
gebildet im Katalog der kunstgeschichtlichen Ausstellung zu Erfurt, Sept. 1903;
3. den Altar von Zwätzen bei Jena (datiert 1517), abgeb. in Heft ХШ der
Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, S. 238;
4. den Altar von Kalbsrieth bei Allstedt (Sachsen-Weimar). Lichtdruck in
Heft XIII der Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, S. 282;
5. den Altar von Breitenhain bei Neustadt a. d. Orla (Sachsen-Altenburg);
6. die Ebersdorfer Pulthalter (Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.);
7. eine Marienstatue aus Waldkirchen bei Zschopau im Dresdener Altertums-
museum (Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.);
8. die „Schöne Tür“ vom Annaberger Franziskanerkloster, 1597 in die Annen-
kirche übertragen);
g. die Statue St. Wolfgangs aus dem Freiberger Dom im Dresdener Altertums-
museum (Lichtdruck bei Flechsig a. a. O.);
то. den Altar aus Helbigsdorf bei Wilsdruff (Amtshptm. Meißen) im Dresdener
Altertumsmuseum (Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.);
1x. einige Figuren aus St. Egidien bei Glauchau im Dresdener Altertumsmuseum
(Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.).
Wer die Gepflogenheit des Meisters Н. W. kennt, das Haupt- und Barthaar in
einzelnen Büscheln zu schnitzen und meißeln (auch an den Tierfiguren der Tulpen-
kanzel in charakteristischer Weise ausgebildet), die in der obersächsischen Kunst
besonders auffällige Bildung des Kopfes mit den feingebogenen Nasen und der stark
entwickelten protuberantia mentalis, die zumeist sehr zartgliedrig und beweglich
gebildeten langen schmalen Hände seiner Figuren kennt und weiß, wie der Meister
seine asketisch schlanken Gestalten in enge, sich den Gliedern gleichsam wie naß
anlegende Gewänder hüllt, überaus sparsam in der Faltenbildung große Flächen
(x) a. a. O., S. 135.
(2) in: „Meisterwerke der Kunst aus Sachsen und Thüringen“, herausgegeben von Doering und Voß.
(Magdeburg 1904.)
(3) Wanckel und Flechsig: Die Sammlung des Sächs. Altertumsvereins zu Dresden in ihren Haupt-
werken. (Dresden 1900), S. 33a.
(4) Lichtdrucke bei Steche und Osw. Schmidt. Detailaufnahmen durch Dr. Franz Stoedtner,
Berlin NW. 7.
143
nur durch die leichte Wellung einer oft scharf gebrochenen, nervös in spitzem
Winkel ausfahrenden einzigen Röhrenfalte umsäumt!), wer beobachtet hat, wie
der Meister H. W. niemals in rauschender Faltenorchestrierung seine Gestalten
von Gewandmassen umbranden läßt, sondern sich der denkbar knappsten Schnitt-
formel bedient, wird allenfalls bei dem Dienstädter Alter ganz flüchtig an unseren
erzgebirgischen Meister erinnert werden. Man wird aber eine solche Fülle auf-
fallendster stilistischer Abweichungen feststellen, daß ihre Aufzählung den Rahmen
dieser Veröffentlichung weit überschreiten würde?). Ich kann nur sagen: die von
Voß dem Meister H.W. zugeschriebenen Werke, die dieser nach seifier angeb-
lichen Ubersiedelung von Chemnitz nach Saalfeld geschaffen haben soll, ebenso
die als seine Arbeiten bezeichneten Altäre und Figuren des Dresdener Altertums“
museums beweisen in allen Einzelheiten, wie der Meister H. W. niemals ge-
schnitzt hat.
Auf der Suche nach weiteren Spuren der Tätigkeit des Meisters Н. W. wurde
ich auf die Figur der Kreuzfinderin Helena an der Nordwestecke des Rathauses
zu Halle a/S., die das Meisterzeichen (?) H.W. und das Künstlerzunftwappen trägt,
aufmerksam, mußte jedoch feststellen, daß es das Monogramm eines Restaurators
aus dem 17. oder 18. Jahrhundert sei. Irgendweiche Beziehungen Zwischen dem
Hallenser Backoffenschtiler*) und dem Meister H. W., wie Marie Schütte an-
zunehmen scheint, bestehen ebenfalls nicht.
Im Erfurter Stadtmuseum, an einem Epitaph des Georg Utensperger von 1511,
einem Relief tiber dem südlichen Eingang der Erfurter Predigerkirche und einem
Epitaph für Berit Starke an der Erfurter Lorenzkirche begegnen wir ferner einem
Steinmetzen aus der Schule Adam Kraffts, namens Johann oder Hans Wydemann,
auf den das Monogramm H. W. passen würde. Auch Maler und Graphiker, die
H.W. oder h. W. signieren, sind mehrere bekannt. Wir erinnern hier nur an den
Schongauer-Nachfolger H. W. und dessen Garten-Madonna von 1504 (Bartsch VI,
S. 4151; Passavant ПІ, S. 288), an den Kupferstecher mit dem Zeichen h. W. (Passa-
vant II, S. 155’), an den fränkischen Tafelmaler der Dürer- Schule, und dessen
1511 datierte und H. W. signierte Beweinung Christi in der Nürnberger Burg. Bei
allen diesen Werken kann an eine Beziehung zu unserem erzgebirgischen Meister
H. W. nicht gedacht werden: es fehlt in der Behandlung des Faltenwurfs seine 80
ausgeprägte Eigenart (die viel schwerer dialektisch zu charakterisieren als mit
dem nachprüfenden Blick zu erfassen und einzuprägen ist), es fehlen die um-
geschlagenen Säume der scharfknittrigen Gewänder mit ihren tellerartigen oder
in Schaufelspitzen auslaufenden Flächen, in die einzelne kleine, tiefe und scharf-
kantige Falten eingeknickt sind, es fehlen die in Vertiefungen von dreieckiger
Form verlaufenden Faltenztige und andere individuelle Merkmale seines Stils.
(1) Man könnte an einen in Metallarbeiten geübten Meister denken, der dünnes Blech in großen
Flächen treibt und punzt, die Lötnähte dann durch aufgelegte bleirutenähnliche Konturen nochmals
nachzieht. Es entstehen auch Faltengebilde, die wie dünne, geknickte, zinnerne Orgelpfeifen aus-
sehen, und endlich beachte man das pflugscharähnliche Auslaufen der Gewandecken und Stoffsäume
u, a, an der Tuipenkanzel am Sudorium des Bischofsstabes des hl. Augustin und am Bornaer Altar
im Flügelrelief mit dem hi. Joachim bzw. am Gewandsipfel Marias bei der Anbetung des Kindes.
(2) Man beachte z. B. die greisenhafte Mundbildung der Kalbsriether Figuren, die grundverschiedene
Form- und Haarbehandlung beim Zwätzener und Dienstädter Altar; auch unter sich sind die einzelnen
Werke nicht einmal verwandt, geschweige denn mit dem Bornaer Meister H.W. in Verbindung zu bringen.
(3) Vgl. R. Kautzsch: Der Mainzer Bildhauer Hans Backoffen und seine Schule, (Leipzig, Klink-
hardt & Biermann, 1911.)
144
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Altar während der Restaurierung.
Mittelbach b. Chemnitz.
Abb. 11.
Abb. 12. Borna. 6-Flügel-Altar von 1511.
zu: W. Junius, Der Meister H. W.
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Was den friiher irrtümlich mit der Tulpenkanzel in Verbindung gebrachten Hans
von Köln (alias Hens Koler von Köln oder Kolin) anbelangt, so verweise ich auf
Leo Bönhoff und Oswald Schmidt, a. а. О. Unter anderen Meistern gleichen oder
ähnlichen Namens wäre zu erwähnen ein Johann von Collen, der Meister des
Antoniusaltars von 1522 aus der Lübecker Burgkirche im Lübecker Museum).
Für die Salzwedeler Marienkirche fertigte in dem gleichen Jabre der nürnbergische
Erzgießer Hans von Cöln den Taufbeckenständer und das dazugehörige Gitter, und
endlich begegnet uns der Name Hans Koler (also die gleiche Namensform wie in
der Annaberger Urkunde) unter den Nürnberger Stadtbaumeistern °).
Meine bisherigen Untersuchungsergebnisse, die nicht den Anspruch monographi-
scher Abgeschlossenheit erheben, sandern nur anregend auf diegen bisher zu wenig
gewtürdigten Meister hinweisen wollen, lassen sich dahin verdichten, daß der Meister
H. W. der einheimischen sächsischen Schule nicht angehört, sondern nur vorüber-
gehend in Chemnitz, Annaberg und Freiberg tätig gewesen ist“). Er hat einen
Mitarbeiter und „Doppelgänger“ zeitweilig zur Seite gehabt, worauf u.a. stilistische
Abweichungen am Ehrenfriedersdorfer Altar (Aufsatzgruppen und Schrein- bzw
Flügelfiguren sind nicht von der gleichen Hand geschnitzt)‘), schließen lassen.
Dieser „Geselle“ des Meisters H.W. hat sich selbständig z.B. am Mildenauer Altar
(Amtsh. Annaberg) betätigt, den man fast für eine Werkstattarbeit des Meisters
H. W. halten könnte. Auch der Mittelbacher Altar dürfte als Werkstattarbeit und
nicht als eigenhändige Schöpfung des Meisters H.W. anzuseben sein.
2. Die von Voß angenommene Übersiedelung von Chemnitz nach Saalfeld halte
ich auf Grund eines eingehenden Vergleiches der aufgeftihrten thiiringischen Altäre
mit den erzgebirgischen Arbeiten des Meisters H. W. für eine Fiktion, die z. T.
auf der irrtümlichen Identifizierung des Hans von Köln mit Meister H. W. beruhen
dürfte.
3. Daß der Meister aus Norddeutschland oder außerdeutschen nördlichen Kunst-
zentren stammt, erscheint mir unwahrscheinlich, und ich schließe mich da, soweit
Schweden in Frage kommt, J. Roosval an. Schwäbische Plastiker der gleichen
Zeit zeigen ebenfalls keine Beziehungen zu des Meisters H. W. Stilformen“). In
den Sammlungen Schnütgen (Köln, Kunstgewerbemuseum), dem Suermondt-Museum-
Aachen®), dem Germanischen Museum-Nürnberg, dem Bayerischen Nationalmuseum-
München und der ehemaligen Sammlung Dr. Oertel-München, in denen die Kunst
(x) Vgl. A. Goldschmidt: Lübecker Malerei und Plastik bis 1530 (Lübeck 18до).
(2) Von einem Nürnberger Stadtbaumeister Lutz Steinlinger, der 1452 Nachfolger des Stephan Schuler
wurde, rührt die erste der drei großen Aufzeichnungen her, die über Verwaltung und Betrieb des
Nürnberger Bauamts am Ende des Mittelalters erschöpfende Kunde geben. Sein Nachfolger im Amte
ist der Stadtbaumeister Hans Koler, der 1452—1461 amtierte, und von Endres Tucher abgelöst
wurde (Bibliothek des Literarisechen Vereins Stuttgart, 1864).
(3) Wir erinnern an Jakob Helbwig von Schweinfurt, Theophilus Ebrenfried, Frans von Magdeburg,
Hans von Calbe u.a., die auch zugewanderte Meister waren, Zwischen dem Selbstbildnis des Theo-
philus Ehrenfried von 1499 an der Emporenbrüstung der Annaberger Kirche und dem Selbatbildnis (?)
des Tulpenkansel- Meisters in Freiberg vermeine ich auch eine Ähnlichkeit zu finden, die vielleicht
nur eine zufällige ist.
(4) Zahlreiche Einzelaufnahmen im Bäche. Landesamt für Denkmalpfiege in Dresden, die mir der
Landeskonservator Dr. Bachmann in dankenawerter Weise sur Vesfügung stellte,
(5) VgL Marie Schustte: Der schwäbische Schnitssiter (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 91).
Straßburg 1907.
(6) Vgl. Hermann Schweitzer: Die Skulpturensammlung des städtischen Suermondt-Museums su Aachen.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1982, 4—6. 10 145
Westdeutschlands, der Niederlande sowie Bayerns in hervorragenden Stücken ver-
treten ist, fand ich kein Werk, das deutlich Analogien zu der Formengebung, Aus-
drucksbewegung und Gestaltungskraft des Meisters H. W. zeigte. Auf ein Werk
aber möchte ich hinweisen, das mir einen wichtigen Fingerzeig zu geben scheint.
In der Dezember 1912 in Köln versteigerten Sammlung Carl Roettgen-Bonn befand
sich ein kleiner, durch zwei Flügel geschlossener Altarschrein mit einer den Schrein
ausfüllenden, fast vollrund geschnitzten Gruppe: Christus beim Pharisäer Simon.
Roettgen hatte den Altar in Wesel erworben, doch ist er nach Heribert Reiners
hessische oder sächsische Arbeit’). Die Gewandfaltenbehandlung an der Figur
des seitlich links am Tisch auf einer Truhe sitzenden Christus ähnelt sehr der in
der Werkstatt des Meisters H. W. beliebten Schnitzweise, die m. E. für einen noch
näher zu bestimmenden mittelrheinischen (Mainz ?) Kunstkreis typisch sein dürfte.
4. Auf die Möglichkeit einer Beziehung zu Krafft und auf die Wahrscheinlichkeit,
daß der Meister H.W. der Schule Riemenschneiders entstammt, wurde mehrfach
hingewiesen. Doch fehlt der seinerzeit von mir im Sächs. Altertumsverein?) ge-
äußerten Vermutung, er habe sich in den Jahren 1472—1495 unter der stattlichen
Anzahl Würzburger Kunstgesellen befunden, die wie T. Riemenschneider, Ulrich
Hagenfurter und sein Schüler Hans Wagenknecht an der Marienkapelle beschäf-
tigt waren, die urkundliche Bestätigung 5).
5. Schwierig ist eine auch nur annähernd richtige Anordnung der Werke des
Meisters H. W. hinsichtlich ihrer Entstehungszeit. Als früheste Arbeit ist seine
Mittätigkeit am Ehrenfriedersdorfer Altar zu bezeichnen. 1507—10;
Bornaer Altar 1511 datiert;
Annaberger „Schöne Tür“ - Altar 1512 datiert;
Ebersdorfer Pulthalter
Chemnitzer Madonna zwischen 1510— 20 in Chemnitz
Geißelungsgruppe entstanden;
Gl&saer Altar
Freiberger Tulpenkanzel um 1512 wohl auch in Chemnitz ent-
standen und im Freiberger Dom aufgestellt;
Mittelbacher Altar, vielleicht nur Werkstattarbeit und nicht eigen-
händig um 1511 wie Borna;
Chemnitzer Schloßkirchenportal, 1525 beendet. Entwurf vielleicht
vom Meister Н. W.
Des Meisters H.W. Stil unterscheidet sich so auffallend in seiner spröden, scharf-
brüchigen und knittrigen Gewandanordnung, herben Figurenhaltung und Gesichts-
bildung (metaphorisch ausgedriickt: einer Orchestrierung in Dur vergleichbar) von
der weichgeschwungenen Mollkantilene lieblicher und anmutiger Gestalten, und
den wogenden, sich bauschenden Gewändern der zeitgenössischen fränkisch-
sächsischen Schule, daß seine Sonderstellung unter den Plastikern des ausgehenden
1) Vgl. Paul Clemen-Bonn: Kunstdenkmäler der Rheinprovinz V, 3, 8.215, Nr. g.
(2) VI. Jahresbericht des Sächs. Altertumsvereins 1915, 8. 7.
(3) Vgl. „Liber ad causas de anno 1434 biss 1488“ (Msc. des Würsburger Stadtarchivs), wonach in
den 23 Jahren von 1472—1495 nicht weniger als 130 Maler und Bildschnitzer aus Franken, Bayern,
Thüringen, vom Rhein, aus Böhmen, Schlesien, Pommern und Lübeck, sogar aus Ungarn und der
Schweis in die Zunft eingetragen sind. jedenfalls erklärt uns die Freizügigkeit und Wanderlust der
Jünger der edlen Schnitskunst leicht ähnliche stilistische und technische Gewohnheiten an örtlich
weit getrennten Plätzen.
146
Mittelalters überall klar in die Erscheinung tritt, und seine Werke, wo auch immer
sie auftreten mögen, unschwer kenntlich sind. Aus der bestimmenden und be-
drückenden Enge mittelmäßiger Durchschnittsarbeiten aus sächsischen Altarwerk-
stätten führen seine Werke hinüber in die großen westlichen Kunstzentren?), in
das Gebiet freier und wahrhaft bedeutender Meister.
(1) Lassen sich folgende Rechnungsvermerke in Steffan Stroels Ausgabenbuch (Ernest. Gesamtarchiv,
Weimar B.b. 4188) auf Hans von Köln und die Gemälde des Ehrenfriedersdorfer Altares beziehen?
„1505, XXI fl. ІХ gl an XX goldgulden an müntz Einem maler zcu Kolnn sol m. g. h. (Kur.
fürst Friedrich der Weise) ein taffel machen gen Witt.(enberg) auf Erbaydt, hat Im pfeff. (inger) geben.*
Ferner ebenda B.b. 4198 Limbachs Rechnung Bartholome, bis Galli 1507: „11 guiden furion mit
zweien Tafeln von Collen komen gein Wittenberg und mit denselben wein ana lachs.“
147
MISZELLEN аана
EIN GRÜNEWALDKOPF VON PH. UFFENBACH ?
Mit zwei Abbildungen auf einer Tafel in Lichtdruck
rünewalds Schüler Grimmer war wieder der
“Л Lehrer des Frankfurter Malers Uffenbach.
Außer dem großen Altarwerk mit der Himmel-
fahrt Christi und der Auferweckung der Gebeine
in der ehemaligen Dominikanerkirche (jetzt im
Historischen Museum) hat dieser eine größere
Frauen, deren vertrocknete Gebeine sich wieder
zu Leibern zusammenbauen (Abb. 1).
Unter all den Köpfen, die hier gezeigt werden,
fällt einer durch individuelles Gepräge auf; er ge-
hört einem Manne zu, der rechts vom Propheten
auf der Erde kniet und sich mit beiden Händen
aufstützt, während der Mund sich halb öffnet, und
die großen Augen sich dem Propheten zuwenden.
Eine Ähnlichkeit mit dem Kopf des h. Sebastian
auf dem Isenheimer Altar scheint mir nicht zu
verkennen zu sein: in der Form der Nase mit
der breiten Wurzel, der leichten’Einsattelung und
dem etwas klobig verdickten Ende, den starken
Nasenflügeln in den großen ausdrucksvolien, barock-
mäßig noch etwas weiter geöffneten Augen mit
ihrer Umgebung, der Einsenkung zwischen Backen-
knochen und Unterkiefer, in der Gestaltung des
Mundes mit den schräg abwärts gehenden Falten
und der fleischigen Unterlippe, während die Ober-
lippe flüchtiger behandelt ist (Abb. 2).
Das bei dem Sebastian schon kräftige, breite
Untergesicht ist bei Uffenbach fast übertrieben
breit und eckig, zeichnerisch in den Proportionen
nicht ganz bewältigt, und bei beiden sind die
Halsknochen stark betont, die sehr weit nach
unten geführt sind. Auch das weiche lange Haar,
das weit in den Nacken hinunterfällt, würde, wenn
auch nicht so sorgfältig gelegt und behandelt,
seine Analogie bei dem Sebastian finden und tritt
ja auch bei den Frankfurter Tafeln des Cyriacus
und Laurentius auf, Bei den anderen Männern
des Uffenbachschen Bildes bleibt der Nacken frei.
Daß hier etwas Besonderes mit diesem Kopf
beabsichtigt ist, scheint mir zweifellos; der Ge-
Von KARL SIMON
Tafel mit der Vision Ezechiels (Kap. 37) geschaffen
(ebenfalls im Hist. Museum). In der Mitte vorn
der niederkniende und nach oben blickende Prophet,
hinter ihm das Totenfeld mit der Menge der Auf-
erstehenden in kleinen Figürchen, neben ihm in
größeren Dimensionen Gruppen von Männern und
chtstypus sonst ist völlig abweichend und ha
mit seinen hohen Stirnen und scharfen Nasen
bei den Männern etwas Konstruiert-Akademisches,
während die Frauen mehr nach dem Puppenhaften
zu abgewandelt sind. Selbst der Ezechiel hat
nichts eigentlich Individuelles, sondern Typisch-
Patriarchenhaftes. Unser Kopf allein hat auch
etwas von dem Ausdruck eines innerlich irgend-
wie gehemmten Lebens, ein Ausdruck, der sich
auch bei dem Sebastian, wenn auch weniger stark
und hier unmittelbar begründet, findet. So be-
kommt die unsweifelhafte Verwandtschaft mit dem
Sebastianskopf ihre besondere Bedeutung; jenem
Kopf, in dem Rieffel und Schmid ein wirkliches
Selbstbildnis Grünewalds zu sehen geneigt sind
(Schmid, S. 60, 147), eine Vermutung, die jetzt
vielleicht durch diese Beziehung — wenn ihre
Berechtigung anerkannt wird — noch an Wahr-
scheinlichkeit gewinnt.
Ob Uffenbach jemals in Isenheim war, wissen
wir nicht; vielleicht aber befand sich ein Blatt
mit einem solchen Kopf in dem Handseichnungs-
bande, den Uffenbach von Grimmer überkommen
hatte. Wußte Uffenbach wohl, daß dieser Kopf
ein Bildnis Griinewalds war, und wollte er dem
großen Meister ein besonderes Denkmal setzen?
ihn für die, die ihn kennen, mit Namen bezeich-
nen in dem Limbus der Namenlosen, ihm eine
besondere Stelle anweisen in dem „großen Hoer“
derer, in „die Odem kommt, und die wieder leben-
dig werden und sich auf ihre Füße richten?“
Und ist Grünewald nicht schon jetzt in einem
ganz spezifischen Sinne wieder lebendig ge-
worden?
— ni — — ` wf m rn
TAFEL 3
IZAN ;
Abb. 1. Philipp Offenbach; Die Auferstehung der Gebeine.
Frankfurt a. M., Historisches Museum.
| = \ REIT УУ |
Abb. 2. Ausschnitt aus Abb. 1 Abb. 3. Grünewald: Kopf des h. Sebastian.
Colmar, Isenheimer. Altar.
Nach H. A. Schmid: Grünewald. Straßburg 1911—13.
"Jinan Wanani Cre ЕЕ Rm Еч У 1.11. _£ Dr т^ hk. kk. o S
REZENSIONEN
LILI FRÖHLICH-BUM, Parmigianino
und der Manierismus. (Kunstverlag
A. Schroll, Wien 1921).
Die Verfasserin knüpft an die Persönlichkeit
Parmigianinos eine ebenso weitausgreifende wie
leinsinnige Betrachtungen über den maniéristischen
Stil, der von seinen Anfängen im malerischen,
seichnerischen und graphischen Werk des Malers
von Parma bis zu seinen letsten Auswirkungen
in Malerei, Plastik und Kunstgewerbe verfolgt wird.
Wurde die Aufgabe einmal so umfassend ge-
staltet, das Ziel so weit gesteckt, dann war Be-
schränkung auf den engeren Schulkreis oder auch
nur auf die Malerzunft ausgeschlossen. Neben
Schülern im eigentlichen Sinn und Künstlern wie
Vasari, Salviati, Bronzino, Rosso, Niccolo dell’
Abbate, Pontormo, in deren Werken Parmigianinos
Formauffassung nachklingt, werden auch die Schule
von Fontainebleau, die Bildhauer J. Goujon, Pilon,
Benvenuto Cellini, Alessandro Vittoria, Giambo-
logna, Adriaen de Vries gewürdigt. Den Künstler-
kreis, der sich am Hofe Rudolphs IL um den be-
raéhmten Kunstsammler und Mäcen geschart hatte,
die Hofmaler Bartholomäus Spranger, Hane von
Aachen, Josef Heinz behandelt Verfasserin im Zu-
sammenhang mit Parmigianinos Kunst.
Bis nach Nürnberg, München, Wien werden
die Spuren des manieristischen Stils verfolgt.
Hans Vischer, Wenzel Jamnitzer, Peter Candid,
Hubert Gerhardt, Georg Raphael Donner — ich
greife nur die klangvolisten Namen heraus —
finden eingehende Beachtung. Mit wachem Spär- `
sinn deckt Verfasserin an ihren Werken Kenn-
seichen des Manierismus auf.
Fraglos erhält die auf breitester Grundlage auf-
gebaute Arbeit besonderen Wert durch die nach
verschiedensten Kunstrichtungen hinweisenden
Verknüpfungen, wenn man auch vielleicht nicht
in allen angeführten Künstlern und ihren Werken
unmittelbar oder mittelbar Parmigianinos Einfiuß
wird finden wollen.
Neben den Großen seiner Zeit, Michelangelo,
Raphael, Correggio geht Parmigianino seinen
eigenen Weg, verfolgt eigene Ziele. Ein neues
Schénheitsideal stellt er auf, das, aus dem uner-
meßlich reichen Born antiker Menschenbildung
schöpfend, beredten Ausdruck findet in schlanken,
überschlanken, feingegliederten Gestalten, knappen,
gestrafften Körperformen, ausdrucksvollen Händen,
auf biegsamem Halse stolz und elegant getragenen
Frauenköpfen, „griechischen“ Profillinien, durch-
geistigten, lebendigen Gesichtszügen (ver allem
in den männlichen Bildnissen). In Parmigianines
Frauengestalten verkörpert sich zum erstenmal
der moderne Begriff der „Dame“ mit allen ihren
feinsten inneren und äußeren Abschattierungen.
Der „Dame“ steht die kühle, vornehme Zurück-
haltung wohl an, die fast allen weiblichen Figuren
Parmigianinos, ja überhaupt dem manieristischen
Stil eignet. Welch Gegensatz zu Michelangelos
Ausbrüchen vulkanischer Leidenschaft oder Correg-
gios himmelanstürmendem Überschwang und
süßer Trunkenheit! Raphaels Figuren römischer
Zeit wirken wie gesunde Naturmenschen gegen-
über Parmigianinos anmutigen, zierlich bewegten
Frauen und Mädchen, die einer leichten Koketterie
nicht entbehren.
Mit Recht betont Verfasserin den tief einschnei-
denden Unterschied zwischen Barock und Manie-
rismus. Dort Ausdruck einer leidenschaftlich be-
wegten Seele, Natureindruck, hier eine durch
strenge Schönheitsgesetze gebändigte Form, Stil,
An den Gewändern, die wie feucht anklebend
die Körperformen mehr hervorheben als verhüllen,
der Gesichtsbildung, der bisweilen reliefartig wir-
kenden Zusammenstellung der Figuren, nimmt
man neue, starke Anregungen wahr von seiten
des klassischen Altertums auf die neuzeitliche
Kunst. |
Rein malerisch betrachtet eröffnen die Bilder
Parmigianinos neue Ausblicke auf unbetretene
Bahnen — ich denke besonders an die schöne
Madonna mit Johannes dem Täufer und Stephanus
der Dresdner Gelerie — die weiter zu verfolgen
sich wohl verlohnen würde,
Die vortreffliche Arbeit wird durch ein überaus
reiches Abbildungsmaterial unterstützt, für das
wir der Verfasserin wie dem Verlag gleich Dank
wissen, Н. v. d Gabelentz.
OSKAR HAGEN: Deutsche Zeichner
von der Gotik bis zum Rokoko. Mit
110 Abb. München, R. Pieper & Co. 1921.
Was der Titel verspricht, hält das Buch mit
nichten; es sind im wesentlichen die Erscheinunged
Schongauers, Dürers, Altdorfers, Wolf Hubers und
Rembrandts, deren zeichnerischer Stil von Hagen
in glänzender Weise analysiert und in Verhältnis
zueinander und zur deutschen Sehform schlechthin
gesetzt wird. Aber es bringt weit mehr, als der
Titel verspricht; und wenn man Hagen kennt, so
weiß man auch, worauf es hinaus will. Zunlichst
sind da über 100 ausgezeichnet gewählte AbBil-
149
dungen, die das Buch zu einem unschitsbaren
Behälter von Anschauungsmaterial machen, die
aus vielen Kupferstichkaßinetten mit Sorgfalt und
Geschmack zusammengesucht und vorzüglich re-
produsiert sind (in das Verdienst dieser muster-
haften Publikation teilen sich der Pipersche Ver-
iag und die Druckerei A. Wohlfeld). Erst auf
solcher Basis kann die eingehende Analyse Hagens
fußen, die das Wesenhafte deutscher Zeichnung
im 16. und 17. Jahrhundert auseinandersetzt; erst
auf Grund solcher Anschauung kann uns der Be-
weis deutscher Formanschauung bezwingen. Das
Uberseugende an der These Hagens, der er nun
schon das zweite Werk, und mit wachsender Ein-
dringlichkeit, widmet, ist ihre Einfachheit; das
Besondere im vorliegenden Falle die geistvolle
und treffsichere Abwandlung durch wechselnde
Epochen des Formgefühls, indem z. B. Dürers
durchdringende Naturerkenntnis der systematisch
stiischöpferischen und wegebereitenden Arbeit
Schongauers gegenübergestellt wird; indem Wolf
Huber als die freiere und naturunmittelbarere Aus-
deutung des großen Entdeckers Altdorfer in sehr
Hebevoller Weise und wahrhaft kongenial durch-
gezeichnet wird. Was auch dieses Buch aber,
und ganz besonders dieses, so wertvoll macht, ist
die Eindrücklichkeit des Eriebnisses, aus dem
heraus es geschaffen ist. Darin ist Hagen wie
ein Künstler anzusehen, daß seine Bücher aus def
Notwendigkeit und aus dem Herzen stammen,
daß sie ihm Tatsachen inneren Erlebens darstellen
und darum ganz unmittelbar und überwältigend
wirken. Es wird ohne Zweifel Kunsthistoriker
geben, welche diese Methode und ihre Resultate
gründlich mißbilligen, denen die Wissenschaftlich-
keit Hagens nicht ernsthaft genug dünkt. Darum
sei hier prinzipiell festgelegt, daß es eine objektive
Wissenschaftlichkeit im Sinne der Naturwissen-
schaften bei den Geistes- und vor allem Kunst-
wissenschaften nicht gibt, und daß die eigentliche
Arbeit des Kunstwissenschaftlers erst jenseits aller
gelehrten Feststellungen beginnt, Das Objektive
in der Kunstgeschichte ist im Grunde die Kärrner-
arbeit, und eine schöpferische Tätigkeit kann erst
bei der synthetischen Brauchbarmachung des Stoffes
einsetzen. Eine solche aber ist niemals Sache der
philologischen Gründlichkeit, sondern einer In-
tuition, die weit näher beim Künstler als beim
„strengen“ Wissenschaftler steht. Selbstverständ-
lich ist die Akribie und kritische Zuverlässigkeit
des Quellenforschers und Denkmäleraufzeichners,
des historischen Griblers und des Methodikers
durchaus vonnöten; war, den materialistischen
Verdiensten des 19. Jahrhunderts entsprechend,
150
die wesentliche und grundlegende Arbeit der voran-
gehenden Generationen, Aber nur Stoff zusammen-
zuhäufen und die Haufen systematisch nach Jahr-
hunderten und Namen zu schichten, ist nicht die
letzte Perspektive der Kunstwissenschaft. Mit dem
Eroberten zu schalten und ein Gebäude zu er-
richten, in dem der Geist wohnen kann und der
Kunst selber der Hochaltar errichtet wird: das ist
nun die Aufgabe, die vor uns steht. Das un-
schätzbar große und weitwirkende Verdienst Hein-
ich Wölfflins ist es, den Weg zur Synthese
gezeigt nnd beschritten zu haben. Wenn sich
Hagen nun — wie vor ihm schon Worringer u. а. —
gegen ihn stellt, so bedeutet das nicht eine Gegner-
schaft des Prinzips, sondern eine Antinomie der
Anschauung. Aus dem lebendigen Miterleben der
gegenwärtigen Kunst heraus hat unsere Generation
ein anderes, ein umfassenderes Ideal der Kunst
gewonnen und versucht, alteingerostete Anschau-
ungen auch über alte und älteste Kunst zu ver-
rüngen und durch fruchtbarere Systematik oder
deren Gegenteil zu ersetzen. Uns ist Dürer nicht
mehr der Dürer Thausings und nicht einmal der
von Wölfflin. Unsere Führer entdecken neue
Herrlichkeiten unter dem Allbekannten, das uns
ein Schulmeistertum von Winckelmanns Gnaden
längst zum Ekel gemacht hatte; und unsere Pio-
niere entdecken kostbares Neuland von den Felsen-
tempeln Dekkans bis zu den mexikanischen Götzen
und den Bronzen von Benin.
Bücher aber, die neues Material bringen und
zugleich aus ihm die künstlerische Folge ziehen,
die ein Erlebnis daraus projizieren wie die, Deut-
schen Zeichner“ von Hagen, scheinen mir darum
die wertvollsten zu sein. Deutsche Zeichnung ist,
bis auf Dürer, Holbein und allenfalls Chodowiecki,
das Unbekannteste und dennoch Wertvollste in
unserer Kunst. Mit diesem Buch hat sich Hagen
ein noch größeres Verdienst erworben als mit
seinem Grünewald und ein Recht bekommen, unter
unseren Kunstschriftstellern mit an erster Stelle
genannt zu werden: wegen der Echtheit und Größe
seiner künstlerisch-wissenschaftlichen Vision; trotz
allen Einwänden, die man dagegen erheben könnte,
und die nicht das Wesentliche treffen.
Paul F. Schmidt.
HEINRICH GLUCK, Probleme des
Wölbungsbaues, Bd.I: Die Bäder
Konstantinopels. Aufnahmen, Be-
schreibungen und historische Erläute-
rungen mit 117 Abb. 4°. 176 S. (Arbeiten
des kunsthistorischen Instituts der Uni-
versität Wien, Lehrkanzel Strzygowski,
Bd. XII), Wien, Halm & Goldmann, 1921.
М. 100.—.
Der Verfasser nimmt die türkischen Thermen-
bäder Konstantinopels zum Anlaß, um, von ihnen
ausgehend, eine „der brennendsten Fragen der
Kunstgeschichte“ (8. 7), nämlich Ursprung und
Entwicklung des Wölbungsbaues in Ost und West,
zu untersuchen. Er verspricht, im Sinne der
universal gerichteten Einstellung, wie sie das
Wiener Institut Josef Strzygowskis auszeichnet,
den prähistorischen, antiken, christlichen und
islamischen Wölbungsbau zu behandeln. Diese
typengeschichtliche Untersuchung soll der zweite
Band bringen. Man darf darauf gespannt sein,
denn in H, Glück ist im Laufe der Jahre, wie
seine Arbeiten über syrische, armenische, sassa-
nidische, byzantinische und islamische Kunst be-
zeugen, einer der tüchtigsten Kenner östlicher
Kunst herangereift.
Der vorliegende erste Band führt 26 eingehend
aufgenommene Bäder Konstantinopels vor und
gewährt damit hinreichende Übersicht über die
Haupttypen dieser kulturell und künstlerisch außer-
ordentlich wichtigen Gruppe von Zweckbauten.
Man konnte sich bisher nach den paar vereinzel-
ten Aufnahmen bei Texier und Gurlitt keine ihrer
Wertstellung entsprechende Vorstellung machen.
Glücks Buch bereichert also wesentlich unsere
Kenntnistürkischer Monumentalarchitektur, — denn
dazu gehören die Bäder, deren großzügige Anlage,
veranlaßt durch die kultlich-religiöse Bedeutung,
die der Islam mit dem Gebrauch des Bades ver-
bindet, weit über das bloß Zweckliche hinausragt.
Die prachtvollen Raumanordnungen — es han-
delt sich stets um die Folge: Auskleide-, Halb-
warm- und Warmraum (Djamken, Soukluk, Ha-
rara) — und Raumbildungen in den sauber ge-
zeichneten Grundrissen und Schnitten auf sich
wirken zu lassen, bietet hohen künstlerischen
Genuß. Vielfach erinnern die einzeinen Zentral-
anlagen gestaltlich an abendländische Barock-
schöpfungen und verstärken die schon anderwärts
durch Strzygowski (Baukunst der Armenier, S. 863 f.,
Leonardo - Bramante - Vignola im Rahmen vergl.
Kunstforschung, Mitt. d. Kunsthist. Inst. in Florenz
Ш, 8. 1, Berlin 1919) und H. Glück (Östlicher
Kuppelbau, Renaissance und St. Peter, Monatsh.
f. Kunstwiss. 1919, 8. 162, Kunst und Künstler
an den Höfen des ı6.—ı8. Jahrh. und die Be-
deutung der Osmanen für die europäische Kunst,
Histor. Blätter I, 192r, S. 303) ermittelten ent-
wicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge zwi-
schen westlicher und östlicher Nordkunst. Wer
daraufhin Fischer von Erlachs „Entwurf einer
historischen Architektur“ durchsieht, wird weitere
Belege dafür finden, von manchen gestaltlichen
Dekorationselementen, zumal im Spätbarock, ganz
abgesehen, deren wörtliche Übernahme aus dem
Formenschatz der viel zu wenig geschätzten und
in den Vorstellungsbesitz des abendländischen
Kunstforschers kaum noch eingedrungenen türki-
schen Großbaukunst außer Zweifel steht.
Zum Aufbau des Buches ist zu bemerken, daß
es methodisch nicht angeht, die Wesensunter-
suchung dem Denkmälerkatalog und der litera-
rischen und historischen Kunde voranzustellen.
Es wird dadurch im ersten Teil (Wesensunter-
suchung) ein ständiges Bezugnehmen auf den
zweiten nötig, ohne daß der Leser die Denkmäler,
deren Wesen untersucht wird, schon kennt. Ferner
nimmt der Verfasser den Wesensbegriff „Gestalt“
zu eng, wenn er darunter nur die „architektoni-
schen Einzelformen“ (S. 22) begreift. Es wirkt
auch, zumal für jemanden, der in Strzygowskis
planmäßige Wesensuntersuchung nicht eingearbei-
tet ist, verwirrend, im Gestaltabschnitt von Formen
zu sprechen, da Strsygowski scharf zwischen Ge-
stalt und Form unterscheidet. Allein durch alle
diese Umstände erfährt der Wert des Buches, das
im einzelnen sehr gewissenhaft und gediegen ge-
arbeitet ist und uns ein schönes Stück östlicher
Kunst neu erschließt, keine wesentliche Beein-
trächtigung. Hoffentlich erscheint bald der zweite
Band mit der entwicklungsgeschichtlichen Ein-
stellung der türkischen Thermenbäder in den all-
gemeinen Wölbungsbau und hoffentlich — das
ist eine Forderung! — bewilligt dann der Verlag
für die Autotypien geeigneteres Papier. Von den
57 Autotypieabbildungen gelangen aufdem rauhen
Textpapier kaum ein Drittel zu genügender Wir-
kung. Das ist sehr bedauerlich und schädigt als
einziges den Wert der wichtigen Publikation. Der
Verlag muß Sorge tragen, daß der Übelstand in
einer Neuauflage und vor allem im zweiten Band
verschwindet, Karl Ginhart.
DAS MINIATUREN-KABINETT DER
MÜNCHENER RESIDENZ. 69 Abbil-
dungen in ein- und mehrfarbigem Licht-
druck. Vorwort und kritischer Katalog
von Hans Buchheit u. Rudolf Olden-
burg. Verlag von Franz Hanfstaengl,
München 1921.
Mag auch die rein kunstwissenschaftliche Aus-
beute, die die technisch vorbildliche Veröffent-
151
die geschnitzten Zähne dem гу. Jahrhundert, die
Holseschnitsereien dem späten 18. und dem 19. Jabrt
hundert an.
Statt aller Einzelheiten der Technik, für deren
Zusammenstellung ich auf das Original und auf
meine gleichzeitig in der Ztschr. f. Ethnol, er-
scheinende Besprechung verweise, muß wenigstens
die vollendete Beherrschung des cire perdue-Ver-
fahrens hervorgehoben werden, die mit stark
wechselnden Legierungen (s. Kap. 66) jedenfalls
die Höhe des überhaupt Erreichbaren darstelk
und in der Dünne des Gusses, der Kühnbeit der
Unterschneidungen und der nachweislich schon
in der Wachsform vorhandenen Detaillierung der
gleichzeitigen Technik in West- und Mitteleuropa
eher überlegen ist. Platten mit susgedehnteren
Gußfehlern wurden zerbrochen (8. 51) und ein-
geschmolzen, kleinere Gußfehler mit Kupferplomben
so geschickt ausgebessert, daß sie nur bei zufällig
an solchen Stellen beschädigten oder von der late-
ritischen Patina gewaltsam gereinigten Stücken
zum Vorschein gekommen sind, Mit Bronze um-
fangene Eisenkerne längerer Geräte und andere
umgossene Einlagen zeigen, daß den Beninkünst-
lern die relativen Schmelstemperaturen der Metalle
vertraut waren. Alle Gußwerke besserer Zeit
lassen eine wochenlange Überarbeituug erkennen,
zu der auch eine bewundernswert feine Punzie-
rung vieler Einzelheiten der Tracht und Tito-
wierung sowie bei den Platten des ganzen Unter-
grundes gehört. Entsprechend neigt auch der
Stil der Elfenbeinschnitzereien dazu, glatte Flächen
durch Kerben zu beleben (8. 465); die Holz-
schnitzerei zeigt eine regelmäßige Mischung von,
trotz des sonstigen Verfalls, gut beherrschter Kerb-
und Keiltechnik (S. 489). Repoussierte Arbeiten
sind wenig zahlreich, spät und vergleichsweise
ganz roh (Kap. 41), dagegen sind als besonders
kostbar die nach chinesischer Art doppeltgeschach-
teiten Elfenbeinarmbänder hervorzuheben (8. 400),
die wir einzig und allein aus Benin kennen und,
schon im 16. und 17. Jahrhundert in fürstliche
Kunstkammern gelangt, erst jetzt sicher unter-
gebracht werden konnten.
Im Gegensatz zu den letztgenannten, sozusagen
allgemeinen Techniken, war die Bronzekunst eine
durchaus höfische. Nicht nur, daß der Bronze-
gießer zum engeren Hofstaat dea jeweiligen Königs
gehörte und seine Werkstatt sich in dem Bezirk
der weitausgedehnten Fiöfe selbst befand, sondern
der Künstler scheint auch, wie noch in den 80ег
Jahren in einem Negerkleinstaat des benachbarten
Dahomevorlandes, nur für den König gearbeitet
zu haben, und bis zu dem großen Bürgerkrieg
154
1691 — 1701 dürfte der Besits von Bronzewerken.
überhaupt der königlichen Familie vorbehalten ge-
wesen sein (vgl. 8. 153). Speziell die Platten
dienten ausschließlich dem Schmuck der Trage-
pfeiler in den Galerien des Palastes, und so ist
es nicht verwunderlich, daß auf ihnen wie auch
in den meisten Rundgüssen Personen und Gruppen
des Hoflebens, des offisiellen Kultes des wels-
beinigen Meergottes und europäischer Gäste vor-
herrschen und selbst die Kleinkunst sich über-
wiegend seremonialen oder sakralen Gegenständen
widmet,
Muß auch die Frage nach der Herkunft der
Gußtechnik noch offen bleiben (frühe transsaha-
rische Entlehnung ist allerdings immer wahr-
scheinlicher geworden), und geht das Rohmaterial
wenigstens teilweise sicher auf portugiesische, in
Form von hufeisenförmigen Geldringen eingeführte
Handelsware zurück, so ist doch „der Stil der
Erzarbeiten aus Benin rein afrikanisch, durchaus
und ausschließlich ganz allein afrikanisch“ (8. 15).
v.Luschan führt aus der großen Reihe von mo-
dernen afrikanischen Köpfen und Figuren in Taf.ı27
und 128 zwei ausgesucht schöne Stücke vor, deren
Herkunft (Nordwestkamerun, inneres Kongobecken)
europäischen oder orientalischen Einfluß schlech-
terdings ausschließt, die aber in Holz genau die-
selben stilistischen Eigentümlichkeiten zeigen wie
die Bronzegüsse aus Benin, und Woermann
bat ja bekanntlich die gleiche Auffassung ver-
treten (Geschichte der Kunst usw., з Aufl., Bd. a,
S. 63—65). In alter Zeit aus Europa eingeführte
Gegenstände, die uns mehrfach erhalten sind
(Kap. 64), verraten dagegen gänzlich andere Tra-
dition. In der Beninkunst ist, während die ein-
heimische Tracht und Bewaffnung stets mit einer oft
übertrieben minutiösen Treue dargestellt werden,
nicht nur die der Europäer jedesmal in einem
oder mehreren Punkten völlig mißverstanden (vgl.
bes. 8. 27), sondern auch diese selbst sind hin-
sichtlich des langen schlichten Haares und der
schmalen hohen Nasen so übertrieben dargestellt,
daß es sich eben nur um Künstler handeln kann,
denen der Europäer als solcher fremdartig war.
Vielleicht ist ao auch die merkwürdige „knie-
weiche“ Haltung der meisten Europäerfiguren zu
verstehen. Wenn also „auf allen bisher bekannten
Kunstwerken aus Benin der Neger stets so dar-
gestellt wird, wie er ist, der Europäer aber stets
so, wie er scheint“ (S. 23), so kann v.Luschan
mit Recht daran erinnern, daß ja auch bei den
ganz großen Japanern die Europäer kaum mehr
als Karikaturen sind. Mit dem Negerstil über-
haupt teilt so Benin einerseits das Betonen der
Einzelheiten (typisches Beispiel S. 138 unten) der
Kleidung, Bewaffnung und Tätowierung, anderer-
seits die flüchtige, rohe Behandlung der Füße
und Hände, die völlig schematische Darstellung
der Gesichtszüge (vgl. auch über Iris und Pupille
8. 420, Anm.), und die Verkürzung der unteren
Extremität gegenüber Rumpf und Kopf. Nur ein-
mal erscheinen auf den Gruppen Taf. 79/80 u. 81
die Königsbegleiter überschlank und sind somit,
wie auch sonstige Einzelbeiten bezeugen, als in
den Proportionen „verfehlt“ zu denken (S. 311);
wo man der oberen Körperhälfte als der Trägerin
alles die soziale Stellung beseichnenden Schmuckes
willkürlich stärksten Nachdruck gibt, kann die
anatomische Richtigkeit keine Rolle spielen, und
daß hier von der Wirklichkeit sozusagen absicht-
lich abgewichen wird, zeigen die sozial minderen
Nebenpersonen, die vielfach auf ein „richtigeres“
Proportionsbild abgestellt sind. Im übrigen be-
herrschen Frontalität und Symmetrie die ganze
Beninkunst. Ausnahmslos im Profil erscheinen
nur die auf nicht wenigen Platten den dargestellten
Personengruppen im oberen Feld beigesetzten
Europäerbrustbilder, was jedenfalls für eine Tren-
nung vom übrigen Kunstschatz, d. h. für Ent-
lehnung spricht, so daß sie v. Luschan wohl
mit Recht zu den antiken „busti“ gestellt hat.
Die Mehrzahl der Platten zeigt in der Mitte die
Hauptperson, zu beiden Seiten symmetrisch ge-
bildete Begleiter, und dieses Schema streng auch
da durchgeführt, wo weitere Begleiter, kleiner dar-
gestellt und im Hintergrund zu denken, hinzu-
kommen (vgl. bes. S. 249, 251). Die Symmetrie
geht so weit, daß, wenn die zwei Begleiter Schild
und Speer tragen, der eine den Speer regelmäßig
mit der Linken und den Schild mit der Rechten
fassen muß (S. 129, 156). Taf. 19B, wo die vom
Beschauer ganz links sichtbare Figur als Haupt-
person aufzufassen ist, bildet eine seltene Aus-
nahme (S. 109); Abb. 353 als weitere solche gelten
zu lassen, muß schon fraglicher erscheinen (8. 237).
Von einigen wenigen überaus figurenreichen Platten
abgesehen, ist Asymmetrie auch im kleinen зо
selten, daß v. Luschan solche Fille besonders
bemerkt hat (s. S. 129 die stets links getragene
„Prinzenlocke“, 8. 193 die parallel, also nicht
symmetrisch gehaltenen Biashörner der beiden
Begleiter); die Asymmetrie der Platten mit vier
Eingeborenen istausdersymmetrischen 3- Personen-
darstellung nach bestimmtem Schema entwickelt
(8. 248, vgl. auch 8. 215), für das auf die Origi-
nale verwiesen sei. Auch ganze Platten scheinen
ale symmetrische Gegenstücke angefertigt worden
zu sein (S. 156), ebenso wie den in sich stets
symmetrisch aufgebauten Sockelgruppen (vgl. bes.
Taf. 84 und S. 315) größere einzeln gegossene
Rundfiguren in paarweisem Vorkommen ent-
sprechen, wie die des rätselhaften Mannes mit
Schnurrhaaren (8. 289) und die herrlichen, ge-
radezu an fatimidische Kunst erinnernden Panther
(8. 335). Das gleiche Gesetz ist auch auf den
geschnitzten Zähnen zu erkennen, wenn man da-
von ausgeht, daß die Mitte der konvexen Vorder-
fläche die Symmetrieachse bildet (S. 465). Im
ganzen gleich selten sind Ausnahmen von der
Frontalitit. In für die Einzelheiten der Tracht
lehrreicher Weise zeigt z. B. Taf. 34B zwei im
Dreiviertelprofil einander gegenüberkniende Leute,
der eine eine Schale haltend, in die der andere
aus einem Flaschenkürbis etwas eingießt (S. 99)
und ähnlich sind mehrfach die Seitenpersonen
der „dämonischen Trias“ (8. 87, 285), schießende
Europäer (S. 33 ff.), ein eingeborener Jäger (S. 81)
sowie einige Figuren der interessanten „Platten
mit Kampfszenen“ dargestellt S. 257). Letztere
sind zugleich aber nicht nur die einzigen Dar-
stellungen historischer Vorgänge (S. 79 u. Kap.5E),
sondern auch die wichtigsten Ansätze zum Auf-
geben der sonstigen, mit der Frontalität verbun-
denen Bewegungsarmut. Beachtung verdient hierzu
noch die hervorragende Platte, die einen Jäger
unter einem Baume nach einem darauf sitzenden
Vogel zielend zeigt (Taf. 29 u. 8. 260f.), und das
übrigens viel spätere Eifenbeinkästchen, auf dessen
Deckel zwei durch nebenstehende Branntwein-
flaschen als betrunken gekennzeichnete Europäer
sich an den Haaren reißen und mit Stöcken be-
drohen (8. 483, Abb. 832). Ob der auf zwei
Platten „vorstürmende Krieger“ (8. 156, 203) wirk-
lich in so lebhafter Bewegung beabsichtigt ist,
bleibe dahingestellt, ebenso ob die unsymmetrische
Darstellung eines dreizackigen Spießes auf der
Europäerplatte Taf. 4B als Versuch einer sonst
ganz ungewöhnlichen perspektivischen Behand-
lung aufzufassen ist (S. 37). Die Würde, Steif-
heit und Feierlichkeit der meisten Darstellungen
entspricht dem höflschen Charakter dieser Kunst;
wenn aber für manchen Beschauer, namentlich der
sich in engen Variationsgrenzen haltenden vielen
Hunderten von Platten der Eindruck bald sogar der
der Langeweile zu werden droht, so ist das ein
sicher ungerechtes Urteil: fast alle die dargestellten
Personen, Würden und Zeremonien können uns
ja nichts mehr sagen und, außer etwa bei ge-
wissen Platten mit mehreren Personen (vgl. z.B.
die Wachablésung S. 248), sind wir eben nur
durch umständliche Vergleichung der Attribute
imstande, zu mehr oder weniger sicheren Deu-
155
wächst. 1759 entsteht das Weattsaukabinett im
Bruchsaler Schloß. Er kommt dann in kurtrieri-
sche Dienste, macht sich in Ehrenbreitstein seß-
haft, wo er am 14. November 1797 stirbt.
Der Verfasser behandelt darnach zunächst die
Werke des Johannes Zick, soviel ich nach meinen ei-
genen Forschungen über den Künstlersehe,vollzählig
und erschöpfend. Um 1730 entstehen die noch
bäuerlichen Fresken in Kreusberg. 1738 folgen
die Fresken in Raitenhaslach. „Zick ist ein volks-
tümlicher Erzähler“, mit diesen Worten kenn-
zeichnet Feulner diesen ersten größeren Auftrag,
zunächst einmal im allgemeinen. „Die unruhige
Beweglichkeit, die sprunghafte Farbigkeit wirkt
lebendig, reich, wie das Ornament der Ausstat-
tung und läßt das Auge nicht zur Ruhe kommen.
Im einzelnen haben die Fresken viel Handwerk-
liches, Bäuerliches an sich.“ Zu den Fresken in
Schussenried: „Wieder freut man sich über die
naive Fabulierlust des Malers, über seine Kunst
mit sachlichen, verständigen Worten zum Volke
zu sprechen. Das ist eine angeborene Gabe,
die sich verliert, je mehr die formalen Probleme
seine Interessen absorbieren.“ In einem entzük-
kenden Sommer (1912) auf den Spuren Zicks
haben mich die Arbeiten in Raitenbarlach, Schus-
senried, Biberach stark gefesselt, die frische Ur-
sprünglichkeit einer natürlichen Kunst steht noch
deutlich vor mir., GewiB der Weg zu den Bruch-
saler Fresken ist weit und die Anschmiegung an
die große Form des perspektivischen, kühnen
Dlusionismus eines Trapolo klar. Eine erschöp-
fende Kennzeichnung der Haupt- und Spit-
werke beschließt diesen Abschnitt. Die Behand.
lung der Tafelbilder gibt Feulner Gelegenheit,
näher auf die außerordentlich starken niederlin-
dischen Einflüsse, das Erwachen eines bürger-
lichen Naturalismus und seine Folgen einzugehen.
Dieses aufschlußreiche Kapitel gehört mit zu den
besten des Buches.
Die Betrachtung der Tafelbilder des Januarius
Zick gibt notwendige Gelegenheit, diese Gedanken
fortzusetzen, denn die Jugendwerke des jüngeren
Zick hollandisieren ebenso wie die seines Vaters
und seiner Zeitgenossen. Diese Züge, dazu klas-
sizistische Einschläge, rokokobafte Spitzpinselig-
keit und malerische Feinheiten bestimmen die
Kunst des Januarius Zick, Diese Eigenarten hebt Feul-
ner an den Einzelwerken, besonders liebevoll auch an
den bekannten Bildnisdarstellungen, ohne Wieder-
holungen und mit feinem Verständnis, heraus
Bei der Behandiung der Fresken des Januarius
geht Feulner von dem früheren Klassizismus und
seiner eigentümlichen Bedeutung für den Künst-
158
ler aus. Der jüngere Zick hatte Sinn für male-
rische Qualitäten, die Pariser Schule hat ihn ge-
schärft und verfeinert und so bleibt er vor der
Kälte des späteren Klassizismus bewahrt. Dabei
erkennt er die Ziele des neuen großen Stiles und
weiß „die Regeln klassizistischer Ökonomie" für
die Bildanlagen geschickt zu verwerten. Feulner
geht der chronologischen Reihe nach an die
Einzeiwerke heran, zeigt für die Wiblinger
Tätigkeit die Vielseitigkeit und den Geschmack
Zicks an seiner bedeutendsten Leistung mit ge-
bührender Breite und Sorgtalt und versteht es
auch den späteren Werken das Wesentliche und
den Sinn der künstlerischen Ziele abzugewinnen.
Ein Anhang gibt einen annähernd vollständigen
Katalog der Werke der beiden Zick und eine Reihe
von Abbildungen erleichtert die ungefähre Vor-
stellung vom Schaffen.
Das Buch füllt unbezweifelbar eine Lücke, und
zwar sehr repräsentabel, zuverlässig und vielseitig
bereichernd. V. C Habicht.
OELENHEINZ, LEOPOLD, Der Wün-
schelring.(Differenzialpendel,siderischer
Pendel), insbes. seine Anwendung auf die
Meisterbestimmung bei Gemälden usw.
Mit 52 Abbildungen. Leipzig, Max Alt-
mann. Geb. ı8 M.
Das mit einem ausführlichen Namen und Sach-
weiser ausgestattete neueste Werk des Verfassers
behandelt zunächst die Grundlagen der neuen,
bzw. erneuten Wissenschaft vom siderischen Pen-
del, Wesen, Namen, die Ausübung des Pendeins,
die Pendelseichen, ihre Beeinflussung durch Be-
rührung, Stoß, Schlag auf die Unterlagen, die
Polarisierung und Verladung und geht auch auf
die Einwände der Gegner ausführlich ein, um
dann auf die Anwendung der in der Hand der
Sensitiven äußerst feinfühligen Vorrichtung auf
die Meisterbestimmung bei Gemälden, Handzeich-
nungen, Handschriften einzugehen. Es verbreitet
sich auch auf die Wirkung des Pendels über Photo-
graphien, die wesensidentisch mit dem Urbild
wirken, was die Grundlage für das neue Verfahren
der Meisterbestimmung bildet. Den Schluß macht
eine ausführliche Geschichte des Wünschelrings
bei den alten Völkern bis in die Neuzeit zu Goethe,
Schelling, Hegel, v. Baader und die Physiker
Stefan Gray, Joh. Reichenbach, Joh. Kari Bähr,
Wilh. Ritter u. a. m., insbesondere wird das
Problem des Goetheschen Faust won der Seite
der Wünschelrute aus betrachtet, die in ihrer Form
nur einen einfacheren Pendel (Ebenenpendel) dar-
stellt. Der Nibelungenring und die Ringe derWalkü-
ren werden als solche Wünschelringe nachgewiesen.
Die seit Reichenbachs Tagen vergessene Vor-
richtung habe ich zuerst wieder ıgıo in meinem
Büchlein „Wünschelrute und siderischer Pendel“
aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, worin ich
nachwies, daß jeder Mensch seine besondere
Schwingung durch den Pendel zeige. Kallenberg
kam dann dadurch angeregt zu der weittragenden
Entdeckung, daß diese eigende Pendelbahn auch
auf sein Lichtbild und auf alles übergehe, was mit
ihm in Berührung komme. Leider gingen Kallen-
berg und seine Anhänger viel zu sehr ins Trans-
sendentale über. Oelenheinz ging aber der Sache
wissenschaftlich nach und verwendete sein Haupt-
studium auf die Erforschung der Wirkung der
Gemälde und ihrer Photographien usw. auf den
Pendel im Verhältnis zum Urheber, dem Meister.
Die Frage, ob die Menschen verschiedene Schwin-
gungen im Pendel, einem einfachen metallischen
Schwerkörper an einem dünnen Faden, auslösen,
ist am sinnfälligsten zu beantworten, d. b. durch
Versuch zu klären bei dem Gegensatz der Ge-
schlechter. Es muß auch bejaht werden, daß bei
Berührung mit der Hand etwas auf den berührten
Körper auf eine Zeitlang übergehe. Kein Mensch
wird sich wundern, wenn ein Polizeihund die
Spuren eines Verbrechers weithin verfolgt. Man
muß also als sicher annehmen, daß unsichtbare
wesensidentische Spuren durch die Berührung
zurückbleiben. Der Hund unterscheidet sie von
anderen dadurch, daß er erst durch „Witterung“
an Anhaltspunkten sich ein „Differenzgefühl“
sichern konnte. Irgendeine Ausdinstung oder
„Strablung“ des Menschen muß die Spuren im-
prägniert haben. Hier bei den Füßen. So muß
es auch bei den Händen sein. Dieses bis jetzt
unbekannte Etwas kann auch mit dem Pendel
nachgewiesen werden, aber — und das ist die
Hauptzache — nur von besonders begabten und
darauf eingeschulten Menschen. Wodurch der
Pendel empfindlich wird, oder wie der Mensch
durch ihn so empfindlich wird, kann man heute
noch nicht genau angeben. Sicher scheint zur Zeit,
daß der Mensch eine Art elektrisch betriebene
Präzisionsmaschine ersten Ranges ist, wobei der
Salzgehalt des Blutes eine große Rolle spielt, wie
Tierversuche ergaben.
Zuzugeben ist also, daß sich die Spuren von
der Hand des Meisters auf dem Gemälde erhalten.
Oelenheinz will sogar nach Vorgang Kallenbergs
auf Lichtbildern und Autotypien die Hand des
Meisters erkennen. Es werden im Lichtbild die
gesamten Strahlen, die ein Mensch aussendet,
wie durch ein Brennglas auf der Platte gesammelt
und dort festgehalten. Es ist durchaus möglich,
daß diese Strahlen — noch unbekannter Natur —
auch beim Abdruck wieder aufs Bild kommen.
Man kann sich auch das Licht als Träger denken.
Unter der Voraussetzung, daß die Platte die Strahlen
wieder aufs Papier überträgt, welche weder kühn
noch gezwungen erscheint, muß auch der Pendel
über dem Abklatsch schwingen wie über dem
Menschen selbst. So ist es klar, daß begabte
Menschen auf einem Lichtbild die Spur des
Meisters von der der Gebilfen oder Restauratoren
unterscheiden können. Oelenheinz zeigt das ein-
gehend z.B. an einem Schäferstück vonP.P. Rubens.
Wie genau der Pendel seine Angaben macht,
zeigt sich auf diesem Bild an dem Schäferstab
des Schäfers, als welcher Jakob dargestellt ist.
In dessen oberer Hälfte läßt sich eine Überraschung
feststellen. Weiteres lese man S. 143/44 nach.
Interessant ist auch die Feststellung eines Bild-
nisses von Leonardo da Vinci als von Fra Bar-
tolomeo gemalt, die Übermalung eines Burgk-
mairbildes im Germanischen Museum in Nürnberg
in der oberen Hälfte, die mit anderen Oelenheins
nach Aufgabe dort festgestellt hat, und die den Tat-
sachen entspricht. Es werden, Dürer, Rembrandt,
Vandyck, Brueghel u.a. Meister behandelt an der
Hand von vorzüglichen Abbildungen. In dem Heft 8
des Cicerone ist im 12. Jahrg. das Problem Vandyck
in den Liechtensteinbildern und von Leonardo auf
Grund der Pendeluntersuchungen dargetan worden.
Gerade in unserer Zeit des wirtschaftlichen
Niedergangs und der Umwertung aller Werte sollte
dem neuen Verfahren der Meisterbestimmung ein
besonderes Interesse dargebracht werden; wird
es doch mit dazu beitragen, die Tüchtigkeit Deutsch-
lands im Ausland, das solchen Dingen mit viel
weniger ungerechtfertigter Skepsis gegenübersteht,
in seiner Weise mit zu neuer Geltung zu bringen.
Das Oelenheinzsche Buch, vielleicht für gewisse
Kreise ein Wagnis in Deutschland, trägt ein gut
Teil zur Aufklärung bei und wird für die Kunst-
wissenschaft mindestens eine Erscheinung sein,
an der sie, mag sie auch heute dem Neuen noch
fremd gegenüberstehen, nicht vorübergehen kann.
Dr. med. Voll.
159
NEUE BÜCHER на
ALFRED BAEUMLER: Hegels
Ästhetik. Unter einheitlichem Gesichts-
punkt ausgewählt und mit verbindendem
Text versehen. (C. H. Becksehe Verlagsbuch-
handlung, Oskar Beck, München 1922.)
KURT GASSEN: Der absoluteWert
in der Kunst. Entwurf einer grund-
wissenschaftlichen Klärung des Kunst-
urteils. (Verlag L Bamberg, Ratsbuchhandlung,
Greifswald 1921.)
ADOLF FEULNER: Münchener Ba-
rockskulptur. Mit 106 Abbildungen.
Sammelbände zur Geschichte der Kunst
und des Kunstgewerbes, Bd. L (Buch- u.
Kunstverlag Riehn & Reusch, München 1982.)
KARL GRÖBER: Schwäbische Skulp-
tur der Spätgotik. Sammelbinde zur
Geschichte der Kunst und des Kunst-
gewerbes. Bd. П. (Buch- u. Kunstverlag Riehn
& Reusch, München 1922.)
JULIUS MEIER-GRAEFE: Ganymed.
Jahrbuch für Kunst, III. Bd. Geleitet von
Wilhelm Hausenstein. (R. Piper & Co., Verlag
der Marées-Gesellschaft, München 1981.)
CURT GLASER: Die Graphik der
Neuzeit. Vom Anfang des то. Jahrh.
bis zur Gegenwart. (Verlag Bruno Cassirer,
Berlin 1922.)
— äÜGmSãõ——ñ0—
MAX SAUERLANDT: Emil Nolde. Mit
тоо Tafeln. (Kurt Wolf- Verlag. München 1931.)
HANS KAUFFMANN: Rembrandts
Bildgestaltung. Ein Beitrag zur Ana-
lyse seines Stils. Mit einem Titelbild.
(Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.)
LUDWIG COELLEN: Der Stil in der
bildenden Kunst. Allgem. Stiltheorien
u, geschichtl. Studien dazu. (Arkaden-Verlag,
Traisa-Darmstadt 1922.)
-~ — — —
1922, 4—6.
MAX J. FRIEDLAENDER: Pieter
Brueghel. (Propyläen-Verlag, Bertin 1921.)
—
PAUL FECHTER: Die Tragödie der
Architektur. (Verlag von Erich Lichtenstein,
Jena 1991.)
BRIEFE Daniel Chodowieckis an
Anton Graff. Hrag. von Dr. Charlotte
Steinbruker. (Vereinigung wissenschaßlicher
Verleger Walter de Gruyter & Co, Leipsig und
Berlin 1921.)
nr
HERIBERT REINERS: Rheinische
Baudenkmäler. Kunstdenkmiäler der
Rheinprovinz, Bd. L) Mit 160 Abbildgn.
(В. Kühlens Kunstverlag, München-Gladbach.)
CARL JUSTI: Briefe aus Italien. (Verlag
Friedrich Cohen, Bonn 1922.)
ALFRED SALMONY: Europa — Ost-
asien. Religiöse Skulpturen. (Verlag ven
Gustav Kiepenbeuer, Potsdam 1982.)
ROBERT WEST: Entwicklungsge-
schichte des Stils. Band 1—4.
Bd. x. Die klassische Kunst der Antike.
a. Frühchristl. Antike u. Vélkerwanderungs-
„ 3. Die romanische Periode. [kunst.
„ 4. Gotik und Frührenaissance.
(FHiyperion-Verlag, München 1922.)
FRIEDRICH SARRE: Die Kunst des
alten Persien. Mit 150 Tafeln. (Die
Kunst des Ostens, herausg. von William
Cohen, Band V.)
ERNST GROSSE: Die ostasiativche
Tuschmalerei. Mit 160 Tafeln. (Die
Kunst des Ostens, Bd. VL)
ERNST KÜHNEL: Miniaturmalerei
im islamischen Orient. Mit 154 Taf.
und 5 Textabbild. (Die Kunst des Ostens,
Bd. VIL)
(Sämtlich im Verlag von Bruno Cassirer, Berlin 1922.)
ALEXANDERELIASBERG: Russische
Baukunst. (Georg Müller-Verlag,München одла).
— — [——Ä——) — — — — —
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/ Tegernsee, Post Rottach.
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunst wissenschaft KLINK HAND T
& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13 467.
160
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IMONATSHEFTE
FÜR
XV. JAHRGANG - HEFT 7-9
VERLAG KLINKHARDT&BIERMANN:LEIPZIG |
.
a= = Чы М = & ES
Monatshefte
für Kunstwissenschaft
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG
Preis des Heftes Mark 3000.—
INHALTSVERZEICHNIS HEFT VI IS
ABHANDLUNGEN
RUDOLF BERLINER, Die große
Moschee von Diyarbakr. Mit 6 Ab-
bildungen auf 3 Tafeln S. 161
ALFRED ROHDE-Hamburg, Das geist-
liche Schauspiel des Mittelalters und
das gemalte Bild bei Meister Bertram
von Minden. Mit ı2 Abbildungen auf
2 Tafeln in Lichtdruck ... . S. 173
EMIL SPAETH, Quellenkundliche Bei-
träge zur Augsburger Plastik um 1500.
Mit 2 Abbildungen im Text . S. 180
KURT GERSTENBERG, Gaspard
Dughet genannt Poussin, 1613—1675.
Mit 4 Tafeln in Lichtdruck . . S. 193
ALBERT DRESDNER, Johann Tobias
Sergel (Schluß). Mit ı Tafel in Licht-
druck 2 22 2er S. 203
GEORG TSCHUBINASCHWILI, Die
christliche Kunst im Kaukasus und ihr
Verhältnis zur allgemeinen Kunst-
geschichte. (Eine kritische Würdigung
Josef Strzygowskis „Die Baukunst der
Armenier und Europa“.) . . . S. 217
MISZELLEN
RICHARD HAUPT, Altere kirchliche
Kunst in Schonen........ S. 237
REZENSIONEN
NEUE LITERATUR über die Baukunst des
Klassizismus. (A.Grisebach) ..... 8. 240
HANS ROSE, Spätbarock. Studien zur Geschichte
des Profanbaus in den Jahren 1660 — 1760.
Verlag Hugo Bruckmann, München 1922.
(A. E. Brinckmann- ))) 8. 241
SANDRO BOTTICELLI, Zeichnungen zu,, Dantes
Göttlicher Komödie“. Herausgegeben von
F. Lippmann. 2. Aufl. G. Grotesche Verlags-
buchhdlg., Berlin 1921. (Hans v. d. Gabelentz)
Seite EH S. 244
ERWIN HINTZE, Nürnberger Zinn. Mit 84 Taf.
u. 2 Textabbildungen. Klinkhardt & Biermann,
Leipzig 1921. (Max Sauerlandt) . . . S.245
J. BAUM, Gotische Bildwerke Schwabens.
Dr. Benno Filser -Verlag, Augsburg - Stuttgart
1921. (У. C. Habicht).......... 5. 246
ANITA ORIENTER, Der seelische Ausdruck in
der altdeutschen Malerei. Mit 94 Abbildungen’:
München, Delphin- Verlag 19a 1. [Rosa Schapire)
Seite
DIE GROSSE MOSCHEE VON DIYARBAKR
Mit sechs Abbildungen auf drei Tafeln Von RUDOLF BERLINER
MA o es S. Guyer in seiner ausgezeichneten Arbeit!) über Amida m. E. nicht
gelungen ist, die Probleme der Westfassade des Moscheehofes zu Diyärbakr
(Abb. ı) trotz seiner vortrefflichen Methode und unerreichten Materialkenntnis voll-
kommen zu lösen, so liegt die Schuld an zweierlei: er verfügte nicht über ge-
nügende Aufnahmen des Bauwerkes, und er widerstand nicht der Versuchung,
den — nicht vollständig erkannten — Befund mit den ebenso zahlreichen wie viel-
deutigen Schriftquellen*) in Übereinstimmung zu bringen. Leider kann auch ich
noch nichts vorlegen, was den Anspruch erheben kann, endgültig zu sein, aber
ich hoffe doch, daß schon das Stückwerk uns wird etwas weiter führen können?).
Ich halte Guyers Beweise für geglückt, soweit sie sich auf das Entstehungsdatum
der im Ilaldibau verbauten älteren Bauglieder: „nach 600% beziehen‘), Wie weit
ich ihm sonst folge, das wird sich aus dem Nachstehenden ergeben.
Die Gebälke. Für die Beurteilung der Herkunft der Spolien war fiir Guyer
von entscheidender Bedeutung, ob die jetzige Zusammenstiicklung der Gebilke
wohl den urspriinglichen Zustand reproduziert oder nicht. Ist ersteres der Fall,
dann stiirzt der eine Eckpfeiler fiir den hypothetischen Teil seiner Arbeit ein.
Es ist unumgänglich, daß ich, um die Erkenntnis zu ermöglichen, die eingehende
Betrachtung der horizontalen Zusammensetzung der Gebälke nachhole, die Guyer
nicht angestellt hat. Sie ist nicht an Ort und Stelle vorgenommen, sondern an
Hand der Aufnahmen; einige Unklarheiten werden also der Nachprüfung bedürfen,
das Wesentliche glaube ich aber bringen zu können.
Ich numeriere die Säulen (S) und Verkröpfungen (V) von Süden nach Norden,
also für den Beschauer von links nach rechts mit I—X; zwischen ihnen in der
gleichen Reihenfolge die Traveen (T) I—IX; E bedeutet Erd-, O Obergeschoß.
In vertikaler Richtung ist die Schichtung durchgängig so, daß der Fries zu-
sammen mit dem verkümmerten Architrav (Fr) und das Kranzgesims (Kr) aus је
einem Block gearbeitet sind. In der horizontalen Richtung ist die Zusammen-
setzung jeder Schicht komplizierter und muß daher einzeln verfolgt werden. Ich
untersuche zunächst die Lage des Fugenverbandes zwischen den Verkröpfungen
und den Traveen; von Bedeutung ist, ob er in die Traveenzone verschoben ist
oder nicht.
(1) Repertorium für Kunstwissenschaft XXXVIU (1915), S. 193 ff.
(2) Sie wurden wie die monumentalen Quellen zuerst im Zusammenhange veröffentlicht und behan-
delt in M. van Berchem und J. Strzygowski, Amida (Heidelberg 1910). Ich zitiere es als Amida-
werk (AW.).
(3) Meiner Studie liegen die Aufnahmen zugrunde, die ich im Sommer 1913, in Gemeinschaft mit
Major W. Bever in Hamburg, dem vor allem die Lichtbilder zu danken sind, erstellt habe,
(4) Darin haben mich auch die Ausführungen Strzygowskis und Н. Glücks (Repertorium XLI, 1919,
S. 125 ff.) nicht wankend machen können.
Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1923, 7—9. 11 161
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1) Die Kante ist krumm. )) Anscheinend. ) Oben im Winkel, unten krumm. ) In Wirklichkeit
oft krumm. °) Da den Nachbargebäuden zugokehrt, nicht voll ausladend.
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ante von Кг
rechte
Die ER der einzelnen Traveen ist die Sen :
Zahl der Einzel-] Fr 2 2
stücke bei Kr 2 2
Davon Einschübel Fr
des 12, Jahrh. beif Kr
Mit Ausnahme von T IO besteht Fr einer jeden Travee aus einem großen und
einem bzw. mehreren kleineren Stücken. Das große Stück zeigt jeweils rechts und
inks von einer Vase!) die Wellen einer Weinlaubranke. Die kleineren Stücke nehmen
im Rankenverlauf keinen Bezug auf die Nachbarstücke; nur in T IO bilden zwei
genau aneinander passende Stücke das große Stück der übrigen Traveen. Das
Verhältnis der Zahl der Wellen zu seiten des Mittelmotivs ist kein BIEICHDIEIDERASR:
links 3+!) 3
rechts (ail,
s+|3
313 | з |22/, 28|,
gt
22, ap,
Sih 3| з | з | 2°/,| 2¼
3 3 3
Wellenzahl | 1% 1½% 2% % al 33 3
1) Das Zeichen + bedeutet eine geringe Vergrößerung.
Für Kr ist kein so absolutes Maß wie die Wellenzahl zu finden. Zwanzig nach-
prüfbare große Stücke ergeben aber als ihr Normalmaß das von fünf Konsolen
mit vier Intervallen: es findet sich bei 14; zwei zeigen fünf Konsolintervalle ),
vier zeigen drei.
Ich fasse die Hauptergebnisse der Zusammenstellungen zusammen; sie 8
für die 20 Verkröpfungen: in der Frieszone fallen die Fugen mindestens bei sieben
nicht in den Winkel, und zwar bei mindestens einer auf beiden Seiten, bei zwei
anderen ist die Fuge krumm, teils im Winkel, teils daneben; für die Kranzgesims-
(x) In T ПО ist es keine Henkelvase, sondern ein Pokal.
(2) In T ШО mit 4, in T VIO mit 5 Konsolen. Die Breite entspricht also in T ШО der üblichen.
162
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Abb. 1. Diyarbakr. Große Moschee. Hofansicht nach Westen.
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Abb. 5. Diyarbakr. Große Moschee. Hofansicht nach Südwesten.
Zu: R. Berliner, Die große Moschee von Diyarbakr.“
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zone sind die entsprechenden Zahlen: mindestens fünf, aber wahrscheinlich sechs,
davon bei einer auf beiden Seiten;
für die 18 Traveen: von den großen Friesstücken haben beidseits vom Mittel-
motiv die gleiche Zahl Wellen 141), und zwar 9 je drei und 4 je zweidreiviertel;
es sind unsymmetrisch 4, und zwar 2 mehr (3: 1½) und 2 weniger;
die kleinen Friesstticke sind nur mit Rankenmotiven dekoriert, es findet sich
keine Spur eines Mittelmotivs (es sind also keine zersägten großen Stücke, sondern
wahrscheinlich ad hoc gearbeitet);
die Einheiten des Kranzgesimses sind schmäler als die großen Friesstiicke;
für die späteren Einschübe im Obergeschoß: die Zahl der Traveen, innerhalb
deren sie verwendet werden, ist für Fries und Kranzgesims stark verschieden:
8 und 3, dementsprechend ist also die Gesamtbreite der neu angefertigten Fries-
teile bedeutend höher als die der Kranzgesimsteile (von denen demnach weniger
ergänzt werden mußte).
Eine Erklärung dieser Tatbestände bietet nur die Annahme, daß die Arbeit von
vornherein nicht sehr exakt war, und daß auch ursprünglich nicht jede Travee
bloß aus einem Block bestand, wie Guyer annimmt, sondern stets aus mehreren.
Wie schon erwähnt, ist an einer Stelle auch das große Friesstück in zwei Teilen
gearbeitet, die vollkommen aneinanderpassen. Ob sonst ursprünglich im all-
gemeinen die Einschubstücke das Muster fortlaufen ließen oder nicht, ist nicht
ersichtlich; wahrscheinlicher dünkt mich aber das letztere, da Willkürlichkeiten,
wie das Übergreifen der Verkripfungsblicke in die Traveenzone dafür sprechen,
daß man sich von den Zufälligkeiten des Steinmateriales leiten ließ, ohne gerade
Genauigkeit der Arbeit oder der Masse zum Ziel zu nehmen. Ob die ursprüng-
liche Breite der Traveen der jetzigen genau entsprach, läßt sich nicht mit Sicher-
heit beurteilen. Aber für wahrscheinlich halte ich auch das; denn es ist unerfind-
lich, warum man sonst dazu übergegangen wäre, im Fries der Traveen des Ober-
geschosses mehrere Einschubstücke anzubringen gegen eines im Untergeschoß,
und es ist einleuchtender, daß mehr von solchen kleinen Teilen verlorenging, als
es von größeren der Fall wäre,
Guyers hypothetische Berechnung der ursprünglichen Traveenbreite ruht also
auf ungenügenden Grundlagen; der Befund und die Wahrscheinlichkeit sprechen
im Gegenteil durchaus dafür, daß der ursprüngliche Zustand wiederholt ist. Auch
stilistisch erscheint mir die lastende Proportionierung des Obergeschosses die einzig
zeitgemäße zu sein. Es ist leicht, durch Entfernung des Schriftfrieses für den Ober-
stock den alten Eindruck zu erwecken.
Die Schriftquellen. Der Legende der Teilungen von Kirchen zwischen Mos-
lem und Christen ist nun endlich durch Schriftquellen ein Ende gemacht?), nachdem
die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit solchen Vorganges rein aus den kultur-
und baugeschichtlichen Möglichkeiten heraus nicht schlagend zu beweisen war.
Damit ist die auf einer Behauptung des Pseudo-Wäqgidi ruhende Gleichsetzung der
Thomaskirche mit der großen Moschee hinfällig geworden. Wodurch wird aber
jetzt noch die Gleichung Heraklioskirche — Moschee gestützt? Nach Dionysios
von Tell-Mahré*) wurde die Kathedrale von Amida zur Zeit des Bischofs Thomas
(т) Einschließlich Т 10,
(2) 8. E. Hersfeld, der dem Prinzen Caetani und C. H. Becker folgt, im Guyerschen Aufsatze, a. a, O.,
8. 230 f.
(3) J. В. Chabot, Chronique de Denys de Tell-Mahré (Bibl. de l'école des hautes études. Fasc. 112).
Paris 1895, 8. 3, 7, 96 der Übersetzung.
163
im Jahre 628/9 durch Kaiser Heraklios erbaut oder erneuert und im Jahre 770
restauriert. Bei allen übrigen Nachrichten ist es nicht sicher, welches Gebäude
gerade der Schreiber unter der „großen“ Kirche verstand, um so wichtiger ist es
daher, daß Dionysios es sichert, daß die Heraklioskirche den Christen verblieb, daß
er also als einzige eindeutige Schriftquelle die Gleichung verneint. Wer anders
zu schließen geneigt ist, wie van Berchem (AW. 51) oder Herzfeld-Guyer (а. а. О.
231 f.) kann sich nur auf Vermutungen oder Konjekturen stützen. Herzfeld hat
mit seiner Ersetzung der „Restauration“ der Heraklioskirche im Jahre 770 durch
„Neubau“ allerdings die Schwierigkeiten, die für ihn entstehen mußten, beseitigt),
aber der Wortlaut der Quelle schließt einen Neubau aus. Die große Moschee ent-
stand demnach nicht auf dem Gelände der „Thomaskirche“ und verdrängte auch
nicht die „Heraklioskirche“.
Mit diesen beiden Absätzen glaube ich die Hauptschwierigkeiten, die einer rich-
tigen Einordnung der Spolien noch im Wege standen, beseitigt zu haben. Jetzt
können und müssen die Steine wieder für sich selber zeugen. Ehe ich aber er-
Srtere, was sie mir zu sagen scheinen, will ich an Hand bisher unpublizierter
Aufnahmen einige Lücken in der allgemeinen Kenntnis des Baukomplexes aus-
zufüllen versuchen.
Der Grundriß. Ich errechne für die Hoffassade des eigentlichen Moschee-
gebäudes bei einer inneren Breite von 73,54 m eine Länge von 66 m; die Länge
der Westfassade haben wir mit 30,10 m gemessen, die der Nordseite mit 62,61 m
(die Angabe von Miß Bell?) 59,84 ist irrig). Für den Ostbau gibt Miß Bell eine
Fassadenlänge von 29,63 m, Texier?) von 30,25 m: das Mittel wäre also 29,94 m.
Die Ecke der Westfassade und der Moschee bildet demnach nicht den spitzen
Winkel, den der Grundriß Miß Bells zeigt. Diese stark schräge Stellung der West-
fassade hätte auch nicht unbemerkt bleiben können, was aber tatsächlich der Fall
ist, wenn man Miß Bell ausnimmt‘). Mit meinen Zahlen kann man den Grundriß
in Trapezform konstruieren, in dem West- und Ostfassade auf die Südseite mit
Winkeln stoßen, die zwar auch spitzer als R sind, die aber keinen so unregel-
mäßigen Eindruck macht wie der Bellsche Plan, der der Wirklichkeit — auch ab-
gesehen von dem Maßfehler — nicht entsprechen kann.
In Abbildung 2 bringe ich eine Aufnahme der Rückseite der Westfassade (nach
N zu gesehen). Wie die den Gang nach außen abschließende Mauer in ihrem
südlichen Teil von innen aussieht, zeigt Abbildung 3. Sie erweist, daß im Ober-
geschoß ursprünglich Mauerpfeiler mit bis auf den Fußboden reichenden über-
wölbten Öffnungen abwechselten, die aber mit den Fensteröffnungen der Fassade
nicht korrespondieren, also Bezug hatten auf etwas, was hinter dieser Mauer lag.
Ich schließe daher auf Zugänge, die aus einem hinter diesem Gange sich er-
streckenden Bau zu der Fassadenhalle führten. Wir haben auch vom Dache der
nördlichen Madrasa aus im Häuserkomplex gleich im Westen der Moschee einen
Pfeiler aufragen sehen, der sich durch sein Steinmaterial und seine Isoliertheit aus
der Umgebung heraushebt und sich sofort als zum Ilaldibau gehörig erweist — die
(1) Anders noch in der Orientalischen Literaturzeitung (OL), 1911, Sp. 409. Mit beiden Möglichkeiten
scheint er dann neuerdings im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen XLU (192:), 8.127 su rechnen,
(2) Palace and mosque at Ukhaidir (Oxford 1913), Pl. go.
(3) AW. 8. 298.
(4) X. Hommaire de Hell, Voyage en Turquie etc. I, 2 2 (Paris 1835) sagt S.455 von den Fassadon nur:
elles ne sont pas complétement paralléles,
164
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feindselige Haltung der Bevölkerung machte aber weitere Nachforschungen oder
Aufnahmen unmöglich. Jedenfalls halte ich soviel für gesichert, daß der Ilaldibau
als vorgelagerte Portikushalle für ein dahinterliegendes umfangreicheres Gebäude
entstanden ist. Es lag also nahe an van Berchems ingeniöse Vermutung (AW. 64)
zu denken und damit die Verbindung der Westfassade mit einem Palast für er-
wiesen zu halten. Sicheres können erst Untersuchungen im genannten Häuser-
viertel ergeben; heute spreche ich aber diesen Lösungsvorschlag um so lieber aus,
nachdem K. M. Swoboda in seinem klugen, grundlegenden Buche über spätrömische
und romanische Paläste!), obwohl sonst natürlich ganz auf Guyer fußend, rein aus
seiner stilistischen Beurteilung der Fassade heraus ihr eine Stelle in der Entwick-
lung des mittelalterlichen Palast- und Villenbaues angewiesen hat.
Zur Lösung der Frage, was sich früher im Süden und Norden an die Ilaldi-
fassade anschloß, ist bisher noch nicht viel bekannt. Aus Abbildung 4 wird er-
sichtlich, daß im Süden die Fassade mindestens im Oberstock durch einen schmalen,
glatt behandelten Mauerstreifen abschloß, der immer nur als Außenwand gedient
haben kann: der Bau endigte also dort, und die Mauer bog nach Westen um. Wie
die Verbindung mit dem Moscheegebäude war, ergibt sich nicht: organisch kann
sie aber, wenigstens im Obergeschoß, nicht gewesen sein. Im Norden war es
anders. Da stieß im Zuge der heutigen Madrasa ein Bau an die Fassade, von
dem auf Abbildung 5 deutlich der Ansatz und auch der Rest eines Profiles in Höhe
des Fußes des zweiten Säulenstumpfes von Säule XE zu sehen ist. Der Bau war
zweistöckig; die fehlende Bearbeitung von Kapitell, Säulenschaft und Kranzgesims
(V XO, Abbildung 6) beweist, daß sie einer Mauer zugekehrt waren; auch der
Steineverband der Mauer scheint diesen Schluß zu erheischen.
Der Rest des alten Baues in der Nordwestecke zeigt auch auf der Abbildung das
Ansetzen einer Archivolte. Daraus kann man schließen, daß dort, wie heute noch
am Nordostende, ein Eckpfeiler stand, mit dem eine Arkadenreihe begann. Die Höhe
des Profilansatzes steht an beiden Stellen im gleichen Verhältnis zu den Säulen-
schäften der angrenzenden Fassaden. Daß ursprünglich die ganze Nordseite im
Erdgeschoß durch eine Arkadenreihe begrenzt wurde, zeigt auch ein Bogen, der
aus der Madrasa kommend in das Haus stößt, das in der westlichsten Arkade
der noch stehenden Reihe sich eingenistet hat, und der also die Eingangsgasse
überquert. |
Problematisch ist, daß die an sich wahrscheinlich schon kurzen Säulenschäfte der
Nordarkade offenbar um Kapitellhöhe im Boden stecken, während die Scheitel-
höhe der Archivolten sich mit der an den Fassaden deckt. Eine gegenseitige
Rücksichtnahme ist also jetzt vorhanden, und es entsteht die Frage, wie sich die
alte Westfassade in dieser Hinsicht verhalten haben mag, und ob die alte West-
und die Nordseite einheitlich konzipiert gewesen sein mögen.
Das führt zu dem alten Pfeilerunterbau der Westfassade, den Strzygowski über-
sehen hatte, und auf den dann Herzfeld aufmerksam machte (OL. 399). Heute
sind die Pfeiler mit neuem, sehr dickem Verputz beworfen, doch sind die dem
Hofe zugekehrten Ecken in ihrem unteren Teil deutlich abgerundet, während die
rückwärtigen abgeschrägt sind. Der Verputz hat auch vielfach den Absatz ver-
schwinden lassen, der dort entstand, wo die kantigen Quadern auf dem Eck-
säulchen aufsitzen. Wir haben für die dem Hofe zugewendeten Ecken folgende
Höhen des Absatzes über dem Erdboden gemessen: VI links 2,15 m, rechts 2,41 m;
(1) Wien 1919, S. 185 fl.
165
haben als die Gleichsetzung des Areals der Moschee mit dem einer Kirche. Denn
was die Spolien über ihre ursprüngliche Verwendung selbst aussagen, hat Guyer
(a. a. O. 233) richtig, wenn auch nicht ganz vollständig formuliert: die Säulen-
stellung mit ihren Gebälken gehörte dem Äußeren eines Gebäudes an und sie stand
vor einer geraden Wand. Die Konstatierung de Hells (a. a. O. 442), daß sich kein
christliches Symbol in der Ornamentik finde, hat er sich so wenig zu eigen ge-
macht wie Strzygowski (AW.151). Ich kann aber die Richtigkeit der Beobachtung
des Hell nur bestätigen, soweit der Erhaltungszustand heute ein Urteil noch erlaubt.
Strzygowski hat unter Vorbehalt zusammengestellt, was er auf den Verkröpfungen
zu sehen glaubte. Ich weiche in folgendem von ihm ab; ich sehe: IE symme-
trisch, ПО einen vegetabilisch gefüllten Dreifuß als Mittelmotiv, VIE Blattwerk,
УП О unsymmetrisches Blattwerk, VIII O eine Blattpalmette als Mittelmotiv, VIIIE
die Eckblätter sind ohne Mittelmotiv umgeschlagen und füllen die Fläche, IX O
vegetabilisch gefüllte Vase zwischen Eckblättern, IXE ein Tier (?) zwischen Eck-
blättern, XO außer den Eckblättern ist vielleicht noch der Hals einer Vase zu er-
kennen, XE zwischen den Eckblättern hochfüßige Vase oder langstielige Blüte.
Also nichts, was christlich betont wäre. Strzygowskis zweimalige Erklärung des
vegetabilischen Mittelmotivs als Lebensbaum erscheint mir auch zu zugespitzt.
Denn VIIE zeigt in der Mitte eine unten ansetzende, sich nach rechts und links
gabelnde und in die Eckblätter einmündende Ranke, in deren — nicht gleichmäßigen
— Wellen die Tiere stehen; ШО ist das gleiche Motiv deutlich in geometrische
Stilisierung übersetzt und zeigt, wo der Ton liegen soll: die Rankenwellen sind
ersetzt durch Blattdreiecke; das Zentralmotiv tritt daneben zurück. Wenn man
auch nicht mehr aus dem Fehlen christlicher Symbole folgern will, so wird man
doch zugeben müssen, daß die Fassade nicht notwendigerweise ein Teil einer
christlichen Anlage gewesen sein muß. Hält man aber hinzu, daß Guyer — mit
Recht — betont, daß nur eine Apsisrückfront in Frage kommen kann, wenn man
die ursprüngliche Verwendung an einem Kirchenbau sucht, und daß Swoboda
(а. а. О. 168 ff., 188) — mit gleichem Recht — auf die Herkunft dieser Rückfront-
lösung von der Fassadenbehandlung hinweist, so daß also dem Architekten des
Ilaldibaues die große Tat der Zurückgabe des verloren gegangenen ursprünglichen
Sinnes an die Spolien schöpferisch gelungen sein müßte, ganz abgesehen davon,
daß eine derartig gestaltete gerade Apsisrückwand nicht bekannt ist, — hält man das
alles mit dem zusammen, was ich sonst oben über Guyers Rekonstruktion ausführte,
so glaube ich auf Zustimmung für meine These rechnen zu dürfen: die Spolien
stammen von keiner Kirche, sie stammen von einem Fassadenbau ähnlich dem
jetzigen. Und zwar muß er einen Affektionswert gehabt haben, der — außer der
Geeignetheit für den zu erfüllenden praktischen Zweck: zugleich Abschlußkolonnade
für den Moscheehof und Vorhalle des Palastes zu sein — erst die Möglichkeit
schaffen konnte, diesen Bau rund um ı120 als einen islamischen aufzuführen.
Swoboda scheint mir die Brücke geschlagen zu haben, die zur Verknüpfung der
verschiedenen Gesichtspunkte tauglich ist, indem er die Westkolonnade als Glied
der Entwicklungsreihe des Portikushauses erwiesen hat. Und so halte ich die
Vermutung für die wahrscheinlichste, daß die Fassade einem Palastbau entstammt
und in ihren wesentlichen Teilen für einen gleichen Zweck übertragen wurde. Es
ist das — ich wiederhole es — natürlich nur eine Vermutung, aber sie allein
scheint mir geeignet, allen von mir im Laufe der Untersuchung auseinandergesetzten
Problemen zu begegnen.
Die wichtigste Folgerung, die die Annahme dieser Vermutung mit sich bringt,
168
TAFEL `
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Abb. 4.
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Diyarbakr. Große Moschee. Nördlicher Teil der Westfaßade.
Abb. 6. Diyarbakr. Große Moschee. Südende der Westfaßade im
Zu: R. Berliner, Die große Moschee von Diyarbakr.
Oberstock.
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— — —
ist die, daß die Spolien dann auch einem islamischen Bau entstammen können.
Herzfelds Ausführungen in der Orientalistischen Literaturzeitung (Sp. 401 f. 430)
und im Islam (I. 1910, S. 144) rechnen, wenn ich sie nicht sehr mißverstehe,
durchaus mit omayadischer Entstehung der Spolien. Auch er ist wohl erst unter
dem Zwange der angeblichen Gleichung Heraklioskirche=großer Moschee dazu ge-
kommen, den Zeitansatz „Kaiser Heraklios“ als den richtigen zu betrachten. Bei
Guyer liegt dieser Sachverhalt ganz klar: „Zweierlei dürfte also nach dieser analy-
tischen Untersuchung feststehen: erstens der enge Zusammenhang und die Zu-
gehörigkeit der Gebälke von Diyärbakr mit der nordmesopotamischen Schule vom
Ende des 6. Jahrhunderts und zweitens die Tatsache, daß sie wohl erst einige
Zeit nach dem Jahre 600 entstanden sein können. Dadurch kann es sich nur noch
darum handeln zu untersuchen, in welchem Jahrzehnt der Zeit nach 600 am ehe-
sten die Bedingungen zu ihrer Entstehung gegeben sind. Da jedoch die Beant-
wortung dieser Fragen weniger ein stilkritisches als vielmehr ein historisches
Problem ist, verweise ich auf die historische Untersuchung usw.“ (S. 218). Stil-
kritisch findet er sonst an Datierungen: für die Kapitelle nicht vor um 600 mit
ziemlich großem Spielraum nach der späteren Zeit (S. 222), für die Säulenschäfte
keinesfalls vor 600, möglicherweise aber bald später (S. 226), für die Säulenbasen
spätes 6.—8. Jahrhundert (S. 227). Also ein wirklich ausschlaggebender Grund,
daß der Bau nur in wenigen bestimmten Jahrzehnten der ersten Hälfte des 7. Jahr-
hunderts entstanden sein kann, war nicht zu ermitteln. Aus der stilistischen Ana-
lyse wird er auch kaum so bald zu gewinnen sein; sie wird vorläufig nur ergeben
können, daß wir es mit einer Schöpfung zu tun haben, die in der Übergangszeit
zwischen dem noch antikischen und dem schon islamischen Stil entstanden ist.
Man kann höchstens den erreichten Grad des Überganges andeuten, daraus aber
keinen festen Zeitansatz gewinnen, zumal für jede Gegend besondere Verhältnisse
in Frage kommen können Es fehlen noch die tauglichen und einleuchtenden
Maßstäbe.
Wir verdanken Guyer den überzeugenden Nachweis, daß die Gebälke an den
Schluß der einschlägigen christlichen Architektur gehören; er hat verabsäumt, es
vielleicht verabsäumen miissen, den Blick nach vorwärts, auf die islamische Fort-
entwicklung zu richten. Zwei Monumente sind es, die vorläufig nur in Frage
kommen: der Mihrab der Djami al-Khasaki in Bagdad!) und Mschatta?). Die Be-
ziehungen zwischen Diyärbakr und Mschatta hat Herzfeld betont und klargelegt *)
die zum Mihrab lassen sich nur in Relation zu etwas drittem andeuten, und ich
wähle dazu den Fries der nördlichen Seitenkapelle des Martyrions von Rusäfah‘),
da sich auch dort die aus einer Vase entspringende Weinranke findet. Faßt man
die Vasen schärfer ins Auge, so ergibt sich, daß die Gefäßform unvermengt mit
dem Vegetabilischen klar in ihrer eigentümlichen Bildung wiedergegeben ist. Der
Bildner des Mihrab kannte solch Interesse nicht: Vegetabilisches und Anorgani-
sches geht ineinander über und vermischt sich; der Klarlegung der Formen des
künstlerischen Gebildes ist keine Aufmerksamkeit geschenkt. In Diyärbakr ist diese
Stufe prinzipiell schon erreicht. Zwar ist die Form der Gefäße im großen noch
deutlich, aber die Durchsetzung mit Vegetabilischem, die Einbeziehung in den
Rankenlauf hat schon begonnen, so daß nicht mehr überall die Scheidung der
(т) Hersfeld im Islam I, 1910, 8.33 ff. Taf. If. Reisewerk II, S. 139 fl.; Ш, Taf. XLV f.
(2) Jahrbuch der k. preuß. Kunstsammlungen, XXV, 1904.
(3) Der Islam I, rgro, S. 116, 139 f. (4) Reisewerk II, S. 34, Abb. 150, III, Taf. LXII.
169
beiden Elemente restlos gelingt (z. В. Tr. ШЕ). Solche Analyse sagt natürlich
nur etwas aus über den Gang der Entwicklung, aber nicht über deren Zusammen-
fall mit dem Ablauf der Jahrzehnte.
Wenn ich trotzdem für islamische Entstehung der Spolien eintrete, so liegt der
Grund in meiner Überzeugung, daß der Stil der Spolien vollkommen charakterisiert
ist durch die Merkmale, die Herzfeld grundlegend als die der frühislamischen De-
koration wesentlichen bezeichnet hat!). In diesen Zusammenhang gehört auch die
von Guyer erwiesene Verwendung ägyptischer Dekorationsprinzipien. Ich weiche
auch hierin von ihm ab, wenn ich annehme, daß die Säulen des Obergeschosses
auf ägyptische Steinmetzen zurückgehen. Meiner Ansicht nach sind die Gebilke
in der Zeichnung wie in der Flächenbesetzung spitzer und unruhiger empfunden
als die gleichmäßigeren Säulenmusterungen. Wie dem aber auch sei, lassen sich
ägyptische Einflüsse im einzelnen auch an anderen mesopotamischen Bauten der
Zeit aufweisen, so findet sich doch nur hier die für den Gesamteindruck entschei-
pende Vermischung der Details verschiedener Stilkreise.
Es befremdet freilich zunächst, daß das Schema der Architektur vollkommen
innerhalb der hellenistischen Tradition bleibt, ohne daß von dem Eindringen spe-
zifisch islamischer Formen etwas zu merken ist. Aber die Erinnerung an die
Fresken von Kusejr (Атга?) genügt, um deutlich zu machen, daß hier in Diyärbakr
kein Einzelfall für das Schaffen aus der klassizistisch-hellenistischen Tradition her-
aus vorliegt. Die beiden Stätten sind in ihrer Bedeutung vielleicht sogar erst
ganz zu verstehen, wenn sie in Beziehung zueinander gebracht werden, weil sie
dann aus ihrer bisherigen Isolierung heraustreten und sich als Früchte eines Stammes
erweisen. Versucht man die Stellung der Fresken des arabischen Wüstenschlosses
innerhalb der Geschichte der Malerei auf die kürzeste Formel zu bringen, so ist
es die, daß sie aus einer Tradition heraus geschaffen sind, für die der Körper, der
nackte menschliche Körper in seiner Struktur im besonderen, das Zentralproblem
bedeutete). Und die gleiche struktive Tendenz ist es gerade, die an dem Appa-
rate der Säulen und Gebälke in Diyärbakr von jedem als das Erstaunlichste emp-
funden werden muß. Nachdem Kusejr Amra bekannt geworden, kann also die An-
knüpfung an diese klassizistisch-hellenistische Tradition an sich als Grundlage für
einen Einwand gegen islamische Entstehung nicht benutzt werden.
Es ist Guyers großes Verdienst, daß er auf „eine Art Renaissance, ein bewußtes
Zurückgreifen auf antike Baugedanken“, die in Syrien und Mesopotamien im Laufe
des 6. Jahrhunderts einsetzte‘), hingewiesen hat. Die Hauptbedeutung dieser Kon-
statierung sehe ich über den Einzelfall hinaus in ihrer prinzipiellen Seite: sie
bringt an Stelle der Theorie des mechanistischen unentrinnbaren Ablaufes eines
theoretisch gesetzten Prozesses der immer mehr fortschreitenden Orientalisierung,
die ungleich lebendigere des Schicksals endlich wieder zur Geltung, dem die Kunst
wie jedes Menschen- oder Naturwerk unterliegt. Es würde zu weit führen, wollte
ich die Prinzipien der Architekturentwicklung im Osten des Mittelmeeres in
den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung erörtern’). Einige Andeutungen
(1) In seinem Aufsatz im Islam I.
(а) Kusejr Amra, herausg. von der Kais. Akademie der Wissenschaften. Wien 1907.
(3) Was E. Herzfeld im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen XLII, S. 133 als persisch in den
esken anspricht, betrifft im wesentlichen nur Ikonographisches,
(4) 8. 227. S. 236: „während des 5. und 6. Jahrhunderts“.
(s) Viel weniger noch steht mir der Raum zu einem Überblick über die gleichzeitige gesamte Kunst-
entwicklung jener Gebiete zur Verfügung.
170
müssen hier leider genügen. Die Hauptthese wäre die, daß es sich nicht um eine
einheitliche, überall gleich ablaufende Entwicklung handelt, sondern um einzelne
Kunstkreise, die sich schneiden oder berühren mögen, die aber hinsichtlich der
Datierung gegenseitig keine Verbindlichkeiten begründen können. Es würde als
zweite die These folgen müssen, daß als Wurzeln und als Stämme für die weitere
Entwicklung drei zu berticksichtigen sind: das alt-einheimische Orientalische, das
Hellenistische, endlich das Weitreich-Römische, an dessen Stelle zu einem ge-
wissen Zeitpunkte das Weltreich-Rhomäische!) tritt. Die dritte, in gewissem
Sinne eine Trivialität, wäre die, daß Architektur damals auch von Architekten für
Bauherren gebaut wurde, d. h. daß alle Möglichkeiten und Zufälligkeiten, die den
Stil eines Bauwerks vom Erbauer oder Besteller aus bestimmen können, in der
Wagschale liegen.
Kehren wir zu den Bauwerken selbst zuriick, so ergibt schon eine oberflächliche
Betrachtung, daß die Apsis der Kirche von Qal‘at-Simän?), die man dabei so gern
mit der Fassade von Diyärbakr in Parallele stellt, eine ganz andere Stilstufe ver-
tritt als diese: hier das Bestimmende Säulen und Gebälke als struktive Elemente,
dort das festgefügte Mauerwerk, dem Säulen und Gebälk nur zur Rahmung dienen
Qal’at-Simän vertritt also hierin einen von der Antike abgewandteren und dem,
was wir im Westen Romanisch nennen würden, zugewandteren Stil. Zieht man
als Gegenbeispiel das Mausoleum des Diokletianspalastes in Spalato), das rund
1½ Jahrhunderte älter als Qal‘at-Simän ist, heran, so wird noch klarer, wo
Diyäbakr stilistisch einzuordnen ist. Da haben wir auch den Säulenaufbau mit
lastendem Gebälk, das im oberen Stockwerk durch den Fries noch verstärkt wird,
und wo die Mauer nur als Füllung ohne struktive Bedeutung erscheint, ihr ästhe-
tischer Wert nur in der Raumbegrenzung liegt. (Da sie das Hauptcharakteristikum
beibehält, kann man diese Stufe die hellenistische nennen, während die Stufe Qal‘at-
Simin ebenso schlagwortartig der reichsrhomäischen einzugliedern ist.) Es er-
weist sich also ein Bau, der wie Qal'at-Simun älter ist als die Spolien in Diyärbakr,
als der stilistisch fortgeschrittenere, als der wirklich modernere als diese. Und
doch wire es falsch, die alten Teile der Westfassade nun auch zeitlich mit dem
Diokletiansbau in Verbindung bringen zu wollen, da die Entwicklung in Mesopo-
tamien eine ganz andere gewesen ist, wie jetzt durch das feststehende frühe Datum
— 359 — für die Taufkirche von Nisibis‘) für jeden, der sehen will, erst recht
klar geworden sein muß. Denn bei einem Vergleich zwischen ihr, im speziellen
etwa ihrer Tür’), und dem mindestens rund zwei Jahrhunderte jüngeren Torbau
von Rusäfah®) lehrt der einfache Augenschein, um wieviel entfernter von den
struktiven Tendenzen der Antike Nisibis ist als Rusäfah, das man doch zuerst naiv
viel eher geneigt wäre, etwa mit Spalato zeitlich in Verbindung zu bringen, als
Nisibis. Freilich reiht sich die Formenbehandlung im einzelnen, z. B. der Schnitt
des Ornamentes in Nisibis, unmittelbar seinem Jahrhundert ein, während eine Detail-
aufnahme von Rusäfah sofort zeigt, daß die Formengabe sich von der antiken
streng unterscheidet; ich verweise nur auf den Ersatz des Zahnschnitts durch
ein Mäanderband. Ја, wo man sich bemüht, antike Gedanken auszusprechen, wie
(1) Ich vermeide das Wort „byzantinisch“, das man als Oberbegriff zu verwenden gewohnt ist.
(2) M. de Vogüé, La Syrie centrale (Paris 1865 ff.). (3) ж. B. AW. 8. 148, Abb. бо.
(4) Reisewerk II, 337 ff.
(5) ebenda IV, Taf. CXXXIX. C. Preußer, Nordmesop. Baudenkmäler (17. Wiss. Verdffu. der D.-Orient.
Ges. Leipzig 1911), Taf. 30. Herzfelds Rekonstruktion: Reisewerk U, 8. 342.
(6) Reisework Ш, Taf. LIVE,
171
etwa in den Vasen des Apsisfrieses des Martyrions, da wird so recht deutlich,
wie unantik die Formensprache im einzelnen ist.
Ich griff diese beiden Beispiele aus der großen Zahl ihrer Gefährten heraus, weil
nur sie unanfechtbar datiert sind, Rusäfah wenigstens in Bezug auf den in unserem
Zusammenhange allein wichtigen terminus a quo. Denn sie ergeben den unumstöß-
lichen Beleg, daß man in Mesopotamien nach 500 im engeren Anschluß an die
hellenistische Antike baute als im 4. Jahrhundert, daß man also im 4. Jahrhundert
fortschrittlicher, moderner gesonnen war als später, wo eine — wie wir heute
sagen würden — klassizistische Tendenz herrschte. Aus dieser mesopotamischen
Entwicklung, und nur aus ihr, ist die Möglichkeit des Urbaues von Diyärbakr zu
verstehen. Zu verstehen auch, warum die Fassade mit dem Korrespondieren der
tragenden Glieder in beiden Stockwerken — worauf Swoboda hinweist — alter-
tümlich ist; zu verstehen auch, wieso dieser Bau als einer der neuen islamischen
Herrscherkaste entstehen konnte, die sich der Kunstkräfte, die ihnen die unter-
worfenen Völker stellten, bedienen mußten, wollten sie mit Einheimischen etwas
schaffen. Und von der Stärke dieses genius loci ist es ein später aber eindrucks-
voller Beweis, daß die Reproduktion im ı2. Jahrhundert möglich war, und zwar
mit einem Erfolge, den man voll begreift, wenn man zum Vergleich heranzieht,
was etwa im Westen in diesen Jahrhunderten als bewußte Nachahmung antiker
Baukunst aufgeführt wurde.
172
DAS GEISTLICHE SCHAUSPIEL DES
MITTELALTERS UND DAS GEMALTE BILD
BEI MEISTER BERTRAM VON MINDEN
Mit zwölf Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck Von ALFRED ROHDE-Hamburg
er Kunsthistoriker fühlt sich leicht in seiner Beschäftigung vor Fragen gestellt
die geeignet sind, ihn in Verlegenheit zu setzen. Es ist kein Vergnügen für
ihn, das sichere Gebiet der Wissenschaft zu verlassen und ohne die Hand eines
geeigneten Führers mit tiefgründiger Sachkenntnis als Dilettant in einem für ihn
fremden Lande zu wandeln. Aber er hat die Hoffnung, daß man ihn darum um
so weniger vor ein scharfes Fachgericht von der anderen Seite her fordern wird,
als ihm ja gar nicht daran liegt, in diesem fremden Lande auf Neuentdeckungen
auszugehen, sondern lediglich dort erzielte Resultate an seiner eigentlichen Wissen-
schaft zu orientieren. Wird man unbilligerweise nicht vom Kunsthistoriker ver
langen, daß er Germanist oder Literarhistoriker ist, so wird man ihm doch das
Recht zubilligen, daß er diese Zweige für seine Zwecke als Hilfswissenschaft aus-
beutet, wenn er auch — und das wird man ruhig betonen dürfen — sich hier nur
als interessierter Dilettant gebärden kann.
Die Frage des kirchlichen Schauspiels“) in seinem Einfluß auf die bildende Kunst
ist sicherlich nicht neu. Für eine frühe Zeit des Mittelalters ist sie sogar recht
erschöpfend behandelt durch die Untersuchung von Weber über die Kirche und
Synagoge. Deutlicher tritt sie wieder im Dürerkreis hervor. Aber fast völlig
brach liegt die Zeit primitiver Malerei des 14. und ı5. Jahrhunderts, die im Norden
durch die Entwicklung von Bertram bis Franke belegt ist. М
Man ist leicht geneigt, die illustrative Anlage eines Werkes wie des Petrialtares
von Meister Bertram auf die Heilige Schrift zurückzuführen, ohne zu bedenken,
daß wir ja im 14. Jahrhundert, also dem ausgehenden Mittelalter, in einer Zeit
leben, wo selbst dem Klerus die Bibel kaum zugänglich war. Aber gerade, weil
die Bilder so illustrativ, stellenweise fast anekdotenhaft lebendig sich präsentieren,
wird man auch eine lebendige Quelle suchen, eine Quelle, die lebendiger sein
mußte, als die Heilige Schrift selbst. So darf man schon von vornherein auf die
Mysterienbühne hindeuten, in der die Heilslegende dem Volke vor Augen geführt
wurde.
Ursprünglich engstens mit der Kirche verbunden, hatte sie eine belehrende Ten-
denz. An bestimmten Festtagen bildeten sich aus den kirchlichen Gesängen be-
stimmte Tropen, die zu szenischer Darstellung lockten. So die Grabesszene am
Ostermorgen, ftir welche kirchliche Gesänge und Gewohnheiten den Anlaß gaben,
ein Kern, an den sich dann neue Elemente ankristallisierten (Sequenz Victimae
Paschalis, Maria Magdalena, Wettlauf der Apostel Petrus und Johannes u, a.).
Neben diesem kirchlichen Osterspiel steht das Höllenfahrtsspiel, das Emmausspiel,
das Weihnachtsspiel, das Spiel des Kindermordes, das Dreikönigsspiel usw. Bei
der Gruppe der Spiele um Weihnachten beobachten wir zum erstenmal die Tendenz
(1) Vergleiche außer Mone, Milchsack u. a. älteren Schriftstellern vor allen Dingen Creizenach, Ge-
schichte des neueren Dramas, 2. Aufl., Halle 1911. Für den Einfluß auf die Kunst siehe Creizenach,
а. а. O., 8. 214 ff., Male, L’Art religieux, Paris 1908, Tscheuchner, Repertorium, Bd, 27 und 28 für
das 15. und 16б. Jahrhundert,
173
der Vereinheitlichung zu einer geschlossenen Gruppe, die mit der Geburt Christi
anfängt und dann abschließt mit der Flucht nach Ägypten, wobei Herodes sich
mit der Zeit — besonders in der späteren volkstümlichen Periode — als Haupt-
person herausbildet: der Charakter des tibertilpelten Tyrannen!
Die Mysterienbühne des ausgehenden Mittelalters hat diese über ein Jahr ver-
teilten Szenen und Gruppen zu einer großen gewaltigen Schaustellung vereinigt,
die anfängt mit der Erschaffung der Welt und endet mit dem Jüngsten Gericht.
Der deutsche Maler des Mittelalters, der in seiner handwerklich-zunftmäßigen
Gebundenheit entgegen dem gleichzeitigen italienischen Künstler eigentlich nur
Kunsthandwerker im besten Sinne des Wortes ist, den wir innerhalb seiner Zunft
an diesen Aufführungen mitwirken sehen, der selbst oft Regisseur und Leiter solcher
Schaustellungen war!), fand hier recht eigentlich eine Vorbildkammer für sein Metier.
Die überraschende thematische Verwandtschaft mancher Bilder des 14. Jahr-
hunderts, die örtlich in getrennten Gegenden entstanden sind, lassen sich auf
solche Biihnenbilder als Urvorbilder deuten. Können wir stellenweise direkt Belege
anführen, so müssen wir uns oft jedoch auf Mutmaßungen beschränken, die sich
durch die novellistisch-anekdotenhafte Behandlung des Themas von selbst be-
kräftigen.
Der erste Schöpfungstag der Bibel schildert die Schaffung des Lichtes und die
Scheidung von Licht und Finsternis. Bertram schildert etwas ganz anderes (Abb. 1):
aus einem krausen, runden Gebilde mit dem Christuskopf in der Mitte — den
Himmel darstellend — stürzen schwarze und graue affenartige Teufelchen teils
mit Hörnern auf dem Kopf, teils mit Schwimmbhäuten an den Füßen auf einen
grünen Ball, der die Erde vorstellen soll, hier bohren sie sich in die Oberfläche
ein, um in das Erdinnere zu gelangen, wo sich der Meister die Hölle dachte.
Unter diesen Äffchen befindet sich einer, der sich besonders schrecklich und un-
Вано gebärdet; er spreizt die Beine mit den großen Schwimmhäuten und dorn-
artigen Krallen, er hat ein wildes Gesicht mit einer Rüsselnase. Auf dem Kopf
mit langen Ohren hat er eine Krone und in der rechten Hand hält er ein Schrift-
band mit den Worten: Ascendendo super altitudinem nubium similis ero altissimo.
(Wenn ich über die Wolken emporsteige, werde ich dem Höchsten ähnlich sein).
Er strotzt also vor Hochmut und möchte sich dem Schöpfer gleichsetzen.
In der königlichen Bibliothek im Haag befindet sich eine Handschrift eines Spieles
aus Mastricht”), das mittelfränkische Mundart zeigt und wohl noch dem 14. Jahr-
hundert angehört. Beim ersten Schöpfungstag tritt hier Luzifer auf und spricht
Ich sien in minen claren schin
dat is mich dunke werdlich sin
dat ich minen stul in oisten
sezze ende gelich dem hoisten.
nu pruuet geselle alle
wie uch dit beualle.
Darauf spricht ein Engel Satan für die anderen:
Uns dunckit gut de selue wain,
dar umbe wir dich gestain.
Jetzt wird Luzifer verstoßen, indem der Herr spricht:
Luzifer, din ouvermuet
hait die benomen al dat guet,
(1) Creizenach, a. a, O., 8. 219. Male, а. a. O., S. 20.
(2) Zeitschrift für deutsches Altertum II, S.303. Creizenach, a. a. O., 8, 117.
174
4,
KZ:
at
u, vers KE ә ë he ta
Abb. 1. Schöpfungstag.
Abb. 3. Verwarnung.
> ` ы e
KH —
Abb. 4. Sündenfall.
йы
Abb. 5. Entdeckung. Abb. 6. Austreibung.
Abb. 7. Bau der Arche.
Abb. 1—7. Hamburger Petrialtar, Hamburg, Kunsthalle.
: Alfred Rohde. Das geistliche Schauspiel des Mittelalters und das gemalte Bild bei Meister Bertram von Manden.
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inde dat der himel beueit,
dat der zu vrouden was gereit
ende alle dinen gesellen.
nu vart zu der hellen
da ir quelit inne
van disen aneginne
immer sunder ende
in iemerlich meswende.
Und auch die affenartigen Gestalten Bertrams kehren wieder, denn jetzt werden
die Engel in eine „arge vorme“ verwandelt, sie werden „arme Affen“! Wie ver-
wandt erscheint der Gipfel des Hochmutes bei Luzifer, der sich bei Bertram in
die Worte ausdrückt: „Wenn ich über die Wolken steige, werde ich dem Höchsten
gleich sein“, im Spiel in die Worte: „dat ich minen stul in oisten sezze ende
gelich dem hoisten“. Damit ist nicht gesagt, daß nun Bertram von diesem be-
stimmten, zufällig erhaltenen Spiel ausgegangen ist. Die Spiele wurden von Ort
zu Ort getragen. Regie- und Rollenheftchen sind mehrfach erhalten, ebenso wan-
derten die Bühnenanweisungen, in Kleinigkeiten voneinander abweichend, aber man
ersieht leicht, daß dieser anekdotenreiche Schöpfungstag seine Quelle in der leben-
sprudelnden Form der Mysterienbiihne hat.
Die Geburt der Eva (Abb. 2) zeigt, mit welchem Wirklichkeitssinn die Bühne
arbeitete. Dieser Wirklichkeitssinn ging so weit, daß bei der Kreuzigung der
Christus unter seinem Trikot eine Schweinsblase mit Blut zu tragen pflegte, in die
Longinus hineinstach. Bei unserem Bilde liegt Adam auf einem Felsen, der an-
steigt und hinter ihm steil abfällt; damit ist für Eva eine Versenkung gegeben,
aus der sie erscheinen konnte, um den Vorgang dem Publikum so wirklichkeits-
getreu wie nur irgend möglich zu machen, und das Büschlein, das unter der Rippe
hervorsprießt, trägt nur dazu bei, die Illusion zu erhöhen. Der Gott-Vater Bertrams
steht mit beiden Füßen auf festem Boden, er ist von dieser Welt: So trat er auf
der Passionsbühne auf; so tiberschritt er schöpfend und gestaltend, ordnend und
teilend die Bühne. Er ist zugleich für den Künstler das wandelnde Motiv, das in
ewig neuer Gestaltung über die Einerleiheit der Schöpfungstage hinweghilft. Die
Abgrenzung des Paradieses (Abb. 3) durch eine Mauer findet ihre Parallele in dem
Szenenvermerk eines französischen Adamspieles, wo vorgeschrieben wird, daß das
Paradies mit seidenen Vorhängen, bis zur Schulterhöhe abgegrenzt sein soll. Die
Schlange, die sich am Baum des Lebens (Abb. 4) emporschlängelt, ist eigentlich
kein lebensfähiges Wesen ihrer Gattung; sie ist mehr ein papierener, aufgeblasener
Wurm, eine „künstliche Schlange“, wie es in demselben Adamspiel ausdrücklich
heißt („tunc serpens artificiose compositus ascendit iuxta stipitem arboris vetite“).
Die Entdeckung des Sündenfalles (Abb. 5) ist lebenswahr auf der Bühne er-
schaut, wie der Herr droht, Adam auf Eva, Eva auf die Schlange weist.
Adam: Dat wyf, dat du mir geues, here,
die dede is, ende hor lere
dat ich mig han uirgessen
inde van den appel gessen.
Eva: Here in dait is selue niet!
dis slange hi steit mir dat riet.
Gerade die Bezeichnung „dat wyf“ und „dis slange“ illustrieren schon die hin-
weisende Gebärde, wie sie uns der Maler überliefert hat.
Die Vertreibung aus dem Paradiese (Abb. 6) weicht wieder sachlich von dem
Text der Bibel ab. Hier heißt es: „Da ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten
Eden, daß er das Feld bauete, davon er genommen. Und trieb Adam aus“, erst
175
jetzt kommt die Erwähnung des Engels mit dem Schwerte: „Und er lagerte vor
dem Garten Eden, den Cherub mit einem bloßen Schwerte zu bewahren, den Weg
zu dem Baum des Lebens“. Der Engel tritt also nicht als Agens auf. Dagegen
ist er bei Bertram handelnde Persönlichkeit, er packt Eva an der Schulter und stößt
sie zur Tür hinaus, während in der rechten Hand das gezückte Schwert nichts
Gutes verheißt. Adam und Eva eilen davon wie geknickte und zerknirschte Böse-
wichter. In der rechtwinkligen Brechung von Kopf, Leib, Ober- und Unterschenkel
gegeneinander drückt sich formal — man möchte sagen erlebt — die seelische
Zerrüttung der Ausgewiesenen und des Ausgewiesenseins aus. Ähnlich schildert
das Spiel:
„Hie driuet Cherubim, dir Engele, Adame ende Yuen usser dem paradyse mit
einem swerde“,
Und nicht genug mit dieser Bühnenanweisung, er weist sie noch zurecht, belebt
noch durch Worte seine Handlung, um ihr den nötigen Nachdruck zu verleihen:
„Adam ende Yue, ir hait versumt
vg. dit paradis nu rumt
inde ilet her vore;
ich muz huden dise dore.“
Die weitere Auswahl der Bilder des Petrialtares (Abb. 7) zeigt das Prinzip der
Gegenüberstellung, wie sie die damalige Bühne liebte. Nicht so restlos klar er-
scheinen die Szenen aus dem Leben der Patriarchen. Immerhin hat es den An-
schein, als ob der Schöpfung ein Bild der Zerstörung gegenübergestellt werden
sollte (Kain und Abel, Abrahams Opfer, die Sintflut, Jakobs Betrug!). Deutlicher
fügt sich die Geschichte der Maria (Verkündigung bis Flucht nach Ägypten) als
Gegenstück an den Stindenfall an, der eigentlich hier eine Geschichte der Eva ist.
Das reizende Wortspiel von Eva und Ave (Ave Maria!) lag dem mittelalterlichen
Geiste nur zu sehr am Herzen, und der Maria wird gern der Sündenfall entgegen-
gehalten, um ihre Reinheit, trotzdem sie ja auch nur eine Evastochter ist, ans
Licht zu rücken. So erscheint hier die Geschichte des ersten Paares als eine
Präfiguration. Diese Deutung — immer im Hinblick auf die Mysterienbühne —
erklärt zugleich die Teilung des ganzen Bildfeldes in vier Gruppen zu je sechs in
sich geschlossenen Bildzyklen, von denen nur die Gruppe der Patriarchen etwas
stark lückenbtißend erscheint. Die Zusammenziehung dieser scheinbar so hetero-
genen Themen zu einem Altar, die meines Wissens vergebens ihr Analogon sucht,
findet so ihre natürliche Erklärung. Daß die Auswahl nicht willkürlich war, scheint
mir durch die klare Teilung des Altares in vier Bildgruppen hinreichend bewiesen
zu Sein.
Einen deutlichen Zusammenhang mit der Wirklichkeit zeigt das Bild der Sint-
fiut (Abb. 8). Nicht die fertige Arche, nicht der Kampf des Fahrzeuges mit der
Flut, nicht die endgültige Rettung, Landung und das Dankesopfer Noahs wird hier
gewählt: Bertram gibt einen Ausschnitt werktätiger Arbeit. Noah erhält im Hinter-
grund den Befehl des Herrn: Fac tibi arcam de lignis linegatis (Bau dir eine
Arche aus glattem Holz), während im Vordergrunde kräftig an dem Schifflein ge-
hämmert und gebaut wird. Dabei ist die Arbeit der Zimmerleute gut beobachtet,
wie die Bohlen aneinandergefügt sind, die Sitzbank durch die Schiffswandung durch-
greift, die eisernen Beschläge befestigt sind, die Werkzeuge gebraucht werden.
Neben der eigentlichen Mysterienbühne ist die Prozession des Fronleichnams-
festes von einschneidender Bedeutung, besonders durch ihren Zusammenhang mit
den Zünften. Ähnlich der Triomfi der italienischen Renaissance war diese Pro-
176
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Abb. 9. Kindermord d. Petrialtares.
Abb. 10. Kindermord d. Buxtehuder Altares.
Abb. 12. Kindermord
im German. Museum Nürnberg.
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Abb. 13. Besuch d. Engel vom Buxtehuder Altar.
Zu: Alfred Rohde, Das geistliche Schauspiel des Mittelalters und das gemalte Bild bei Meister Bertram von Manden.
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zession ein wahrer Triumphzug der Religion, der sich in England ausgebildet hatte
und im Laufe des 14. Jahrhunderts nach Deutschland übergriff. Jede Zunft stellte
am Fronleichnamstag auf einem Wagen eine Szene aus der Bibel dar. Die Wagen
fuhren in bestimmten Abständen, und an bestimmten Punkten spielte jede Gruppe
ihre kurze Szene. Spielte also die erste Gruppe bei der dritten Haltestelle die
Erschaffung der Welt, so spielte gleichzeitig die zweite Gruppe bei der zweiten
Haltestelle den Siindenfall, während die dritte Gruppe bei der ersten Haltestelle
Kain und Abel aufführte und so fort. Dieselben Personen, die in den einzelnen
Gruppen aufzutreten hatten, waren natürlich bei dieser Art der Aufführung jeweils
durch andere Personen dargestellt, so daß also eine solche Prozession im Gegen-
satz zum Passionsspiel über eine ganze Anzahl von Christusdarstellern verfügte.
Die Zuteilung der Gruppen an die Zünfte war meist nicht willkürlich, sondern man
ließ das Charakteristikum der einzelnen Zünfte zur Geltung kommen. So wurden
die Heil. drei Könige oft durch die Schneider (modische Trachten auf den Bildern!)
oder durch die Goldschmiede (Darstellung von silbernen und goldenen Prunk-
gefäßen!) dargestellt. Bei diesen Festlichkeiten stellten nun oft die Zimmerleute
die Arche Noah und an eine solche Gruppe mag unser Meister Bertram bei seinem
Bilde gedacht haben’).
Noch ein Wort über den Kindermord (Abb. 9—12). Er tritt in der Bibel wenig
hervor, ist in der Kunst aber bis in die Spätzeit der Niederländer hinein ein be-
liebtes Thema geworden. Der Bertramsche Kindermord ist voll von Handlung
und Bewegung. An sich hat der Mord selbst nichts mit dem thronenden Herodes
zu tun, auf den ein Ritter einspricht. Es sind zwei örtlich und zeitlich getrennte
Handlungen, die sich hier abspielen. Das Nebeneinander der Handlung war aber
für die Bühne etwas Selbstverstindliches. Hier fand der Zuschauer die einzelnen
Gruppen nebeneinander aufgestellt, ehe die Handlung begann. Das oben erwähnte
Spiel dehnt den Kindermord sehr aus. Nicht gibt Herodes ohne weiteres den
Befehl zum Mord. Ein Ritter rät ihm:
„Here, du dine riddere senden
widen in allen enden,
inde du alle die kindolin
die bennen zwen iaren syn
so wo si se venden doit slaen?“
Herodes antwortet:
„Du hais mich wale geraden
vp riddere enpe boden!
Duet doden alle di kindolin
di bennen zwen laren sin.“
Dieser Dialog scheint sich auch bei Bertram abzuspielen. Als Sprecher tritt
während des Mordgeschäftes im Spiel ein Ritter auf. Dieser eine Ritter handelt
auch in unserem Kindermord; er tritt auf dem Buxtehuder Altar auf, während auf
dem sonst zu dieser Gruppe gehörenden Bild im Nürnberger Museum und beim
Kindermord von Schotten am Mittelrhein zwei Ritter sich in der Arbeit teilen.
Der allgemeine Eindruck ist aber auf allen vier Bildern identisch. Identische Bild-
motive erscheinen auch bei der Gruppe der Frauen. Eine kauert am Boden, und
kost ihr totes Kind, eine andere faltet inbrünstig die Hände zum Gebet und schaut
verzweifelt zum Himmel auf, während die Dritte entsetzt von dem Anblick des
Ritters ist, ihn anpackt und von seinem Vorhaben abbringen möchte. Im Spiel
(1) Creizenach, a. a. O., S. 169 ff.
Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1922, 7—9. 12 177
ist die Handlung auf eine Persönlichkeit „Rachel“ те die anfangs ent-
setzt ist und schließlich in stilles Gebet versinkt:
„wat sulen ire gerothte swert
inde ire vresliche gebere?“
Der Ritter reißt ihr das Kind fort:
„Gef her din kent, baude wyf,
wilt du behalden dinen lyf.“
Darauf faltet Rachel die Hände zum Gebet:
„Here got van hiemelriche,
nu musse dis iemerliche
doit vor dinen ougen sin
van deme linen kende min.“
Und sie wünscht nur, daß Jesus gerettet werden möchte,
„van deme der kuninc Salomon
lange ze uoren hait gesait.“
So geht auch diese Szene auf das Erlebnis der Bühne zurück. Zwar läßt das
Mastrichter Spiel die Flucht nach Ägypten dem Kindermord vorangehen, aber das
Benediktbeurener Weihnachtsspiel bringt die Darstellung in derselben Reihenfolge
wie unser Maler.
Man würde kein abgeschlossenes Bild für diese Betrachtungen des Zusammen
hanges beim Meister Bertram geben, wenn man nicht ein Bild aus der Bertram-
schule als letztes beweisendstes heranziehen wollte: den Besuch der Engel vom
Buxtehuder Altar (Abb. 13). Diese Gruppe ist im 14. Jahrhundert so überraschend,
daß schon Lichtwark hier einen Einfluß der Dichtung annahm: „Die Dichtung,
aus der der Stoff stammen dürfte, kann ich noch nicht nachweisen,“ heißt es in
der bewußten Lichtwark-Sprache. Die bürgerlich versonnen dasitzende Maria, die
ihr Jäckchen fleißig strickt und gerade ihre Maschen zu zählen scheint, der kleine
Jesus, der durch ein jugendlich wildes Kreiselspiel — Kreisel und Peitsche liegen
noch neben ihm — etwas aus seiner Erlöserrolle zu fallen glaubte und infolge-
dessen aus einer Erbauungsschrift sein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen
scheint, diese banale Auffassung der heiligen Personen, zu der die Heiligenscheine
und der gotisierende Thronbaldachin in scharfem Gegensatz stehen, muß ebenso
überraschend bei den Zeitgenossen gewirkt haben, wie etwa der Arme-Leute-Geruch,
der von den religiösen Bildern Uhdes ausgeht oder die religiöse Malerei Noldes,
die man wegen ihrer sogenannten Banalität als Blasphemie ablehnen möchte. Zu
dieser beschaulichen Szene bürgerlichen Erdendaseins treten zwei Engel, der eine
mit Spieß und Dornenkrone, der andere mit Kreuz und Nägel. Was bedeutet diese
Szene? Das geistliche Drama empfand die gewaltige Liicke zwischen dem Christus-
kind im Tempel und der Hochzeit zu Kanaa sehr empfindlich und war bestrebt,
diese Lücke auszufüllen; die Kirche, die sich in ihrem historischen Verlauf so oft
den von außen an sie herantretenden Fällen sehr wohl und leicht anzupassen
verstand, sah hier die Gefahr der fabulierenden Phantasie, nahm daher die Aus
füllung dieser Lücke selbst in die Hand, erfand einen dogmatischen Dialog zwischen
dem jungen Christus und seiner Mutter, worin Christus seiner Mutter voraus-
schauend die späteren Ereignisse seines Lebens, besonders seiner Passion, erzählt,
und die Notwendigkeit seines Erlöserwerkes und seines freiwilligen Opfers — zu-
gleich belehrend für das Publikum — darlegt. So tritt uns diese Szene schon im
Marienleben Walthers von Rheinau!) entgegen: „Hie vahet an dü wehselrede des
(x) Mone, Schauspiel des Mittelalters, Bd. I. S. 181—195.
178
heinlichen gespreches, das dii magt Maria unde ir sun Jhesus sament beten, und
dann erstreckt sich dieses liebliche Gespräch voll lyrischer Schönheit über 380 Verse.
Eine solche Szene der Bühne hat uns der Maler des Buxtehuder Altares in seinem
Bilde vor Augen führen wollen; in der Reihenfolge seines Bilderzyklus steht sie
daher zwischen dem Christuskind im Tempel und der Hochzeit zu Kanaa. Den
dogmatischen Inhalt des Gespräches illustriert er durch die beiden Engel mit den
Marterwerkzeugen, vielleicht aber kannte auch die Bühne selbst an dieser Stelle
das Auftreten der Engel.
So sehen wir an einem Meister, an einer Schule verfolgt, wie eng die bildende
Kunst mit der Bühne verknüpft war. Neben einer Typenwanderung durch fahrende
Malergesellen spielt in der Malerei des 14. Jahrhunderts eine Wanderung und Über-
lieferung der aufzuführenden Spiele eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie haben
manchen Bildern, in so verschiedenen Gegenden sie auch entstanden sein mögen,
den Stempel der Verwandtschaft aufgedrückt. Wie die Mysterienbühne die Stätte
religiöser Erbauung für das Volk war, so war sie auch die Stätte, wo der Künstler
seine Inspirationen erhielt.
179
QUELLENKUNDLICHE BEITRÄGE ZUR
AUGSBURGER PLASTIK UM 1500
Mit zwei Abbildungen im Text Von EMIL SPAETH
L
ZU GREGOR UND MICHEL ERHART!').
Zu Gregor Erhart.
as Werk Gregor Erharts, in welchem wir mit großer Wahrscheinlichkeit einen
der bedeutendsten deutschen Plastiker um ı500 erblicken dürfen, bleibt nach
wie vor in Dunkel gehiillt. Die Zeitgenossen sprechen von ihfn in Ausdrücken un-
gewöhnlichen Lobes?), was mehr bedeutet, die mit seinem Namen verbundenen
Werke zählen zu den wichtigsten der Epoche. Die von Vischer in verdienstvoller
Weise angezogenen Notizen?) des Augsburger Archivs geben die äußeren Daten
seines Lebens, soweit es in Augsburg verflieBt. Wir wiederholen kurz:
1494 kommt der Meister in die Lechstadt. Er wohnt in der Kawtschengasse,
heiratet 96, wohnt 1497 bei Ursel Schneider, seit 1501 am Kitzenmarkt, 10 Jahre
lang. Nach dem Tode seiner Frau gibt er das Haus auf, zieht nach Salta zum
Schlechtenbad und wohnt noch anderwärts, genug, er gibt seine Gerechtigkeit 1531
an seinen Sohn Pauls Maier; 1540 wird sein Tod gemeldet.
Von seiner Tätigkeit erfahren wir:
1498 Kruzifix für Ulrich und Afra.
1502—07 Moritzkirche.
Arbeiten für Sakramentshaus und Frlihmeßaltar.
1502 Kaishaimer Altar.
1509—ı0 Statue Maximilians.
Fassen wir kurz einmal zusammen, was unsere neugefundenen Quellen an bisher
unbekannten Tatsachen über Gregor Erhart vermitteln:
Das Wichtigste aus dem Eintrag von 1510:
Gregor Erhart ist der Sohn des Michel Erhart von Ulm. Er steht mit diesem
seinem Vater noch in Augsburg in enger Verbindung, indem er ihm z.B. eine
Zahlung für eine von Michel für Ulrich und Afra abgelieferte Bestellung über-
mittelt.
Wir brauchen nicht mehr anzunehmen, daß die Tätigkeit Michel Erharts für
Augsburg gerade in dem Augenblick aufhört, in welchem Gregors Arbeit daselbst
einsetzt und daraus auf ein absichtliches Verzichten des Älteren zugunsten des
(x) Die nachfolgenden Studien fiber die beiden Erhart und Adolf Daucher wurden ermöglicht durch
die Neuauffindung eines alten Zechpflegebuches von Ulrich und Afra im Augsburger Stadtarchiv.
Für die Mitteilung von dieser Neuauffindung bin ich Herrn Archivar Dr, Wiedenmann zu besonderem
Dank verpflichtet. — In seiner „Ulmer Plastik um 1500“, Stuttgart 1911, sowie in dem Artikel Ztschr,
f. bild, Kunst, 1916, Heft 11: „Schaffner und Mauch“ hat Baum einige der hauptsächlichen Lücken
aufgezeigt, die in unserer Erkenntnis des Überganges der Ulmer in die Augsburger Plastik bzw. der
Entwicklung der Augsburger Frührenaissance auf dem Gebiete der Plastik noch offen stehen. Die
folgenden Untersuchungen wollen zur Klärung dieser Probleme ein geringes beitragen.
(2) Clemens Sender, Chronik.
(3) Studien zur Kunstgesch., Stuttgart 1886.
180
Jüngeren zu schließen!), vielmehr sehen wir ein einträchtiges Nebeneinanderarbeiten
von Vater und Sohn für die reichen Auftraggeber.
Die Bestellung selbst, welche Michel Erhart für Ulrich und Afra ausführt, wird
uns wohl nur teilweise durch unsere Quelle bekanntgegeben, welche von „Engeln“,
wohl größeren plastischen Arbeiten, wahrscheinlich in Stein, möglicherweise in
Holz berichtet. Sie mögen Teile eines geschnitzten Altarwerkes gewesen sein?).
Nebenbei mag noch bemerkenswert erscheinen: der Meister, welcher 1498 für
Ulrich und Afra den Kruzifix, 1509 den Maximilian fertigt, steht auch in der
Zwischenzeit mit dem Kloster in Verbindung.
Schließlich, der Vollständigkeit wegen, sei noch ein kleines Parergon seiner
Hand aus der Moritzkirche erwähnt, von 1506 „ein klain altar oder pettstainlen‘?)
aus jener Zeit, in welcher der Meister umfangreiche Arbeiten für diese Kirche an-
fertigte.
Für die bedeutsamste Nachricht halten wir die, daß Gregor Erhart der Sohn des
Michel von Ulm ist. Die von Ulm nach Augsburg verlaufende Entwicklung ge-
winnt durch die uns nun bekannt gewordene Tatsache an Klarheit‘),
Beziehung Gregor Erharts zum Altar von Blaubeuren.
Die vielleicht interessanteste Frage betrifft aber die Zuweisung der Skulpturen
des Blaubeurer Altars an Gregor Erhart. Es mag daran erinnert sein, daß Baum
den von Vöge?°) stilistisch aufgestellten Werkstatt-Zusammenhang der Madonna des
Kaiser-Friedrich-Museums, angeblich aus Kaisheim, mit der von Blaubeuren an-
erkennend die Einreihung dieser Gruppe in das Werk Gregor Erharts als höchst-
wahrscheinlich dargestellt hat ).
Aus der Tatsache, daß Michel Erhart schon 1474 einen großen Auftrag erhält
(vielleicht schon 1469 erwähnt wird), und noch 1516 seiner Werkstätte vorsteht,
ergibt sich, daß er, vermutlich zwischen 1440 und 1445 geboren, als Greis noch
seine künstlerische Tätigkeit nicht niedergelegt hat.
Für Gregor Erhart nun, seinen Sohn, ersehen wir, daß er, wenn anders wir in
ihm wirklich den Schöpfer des Blaubeurer Altars zu erblicken haben, in jungen
Jahren wie sein Vater einer großen Aufgabe gewürdigt worden sein muß.
Allerdings stehen die Daten für den Blaubeurer Altar (für die Vergebung des
Auftrages insbesondere) nicht genügend fest: doch müssen wir 94 als spätesten
Zeitpunkt des Beginnes im Auge behalten“). Ein weniger als Fünfundzwanzig-
jähriger aber. könnte den bedeutenden Auftrag wohl nicht erhalten haben: so müßte
Gregor Erhart spätestens um 1468 geboren sein, wenn wir annehmen dürften, er
(x) Baum: „Ulmer Plastik“, S. 91.
(2) Zur Aufstellung oder Aufbängung der Engel scheinen ungewöhnliche Zurüstungen notwendig ge-
wesen zu sein. Es legt dies die Annahme schwerer steinerner Engel oder eines schwer zu erreichen-
den Aufstellungsortes nahe,
(3) Zechpflegbuch von St. Moritz (Stadtarchiv Augsburg) 1506, 15. Juni. (Die Stelle ist bei Vischer
übergangen.)
(4) Wie unsicher über diesen Punkt die bisherigen Überlieferungen waren, geht aus einer Bemerkung
Felix Maders in seinem Aufsatz über Gregor Erhart hervor (Die christliche Kunst III, 1907, Heft 7,
S. 164); er hält es für ausgeschlossen, daß wir in Gregor Erhart Michel Erharts Sohn zu erblicken
haben.
(5) Vöge, Monatshefte für Kunstwissenschaft 1909, 8. 11.
(6) Ulmer Plastik, a. a. O. |
(7) Baum, а. a. О., 8. 81 glaubt offenbar, der Altar sei 1493/94 geschaffen worden,
ї8ї
habe das Werk im eigenen Auftrag ausgeführt. Nehmen wir das manchmal an-
gegebene Jahr or für den Beginn der Arbeiten an: so mag die Geburt des Meisters
spätestens um 65 gesetzt werden, während sein Vater um 45 geboren sein wird,
als Siebziger also noch seiner Werkstätte vorstand. Wir wollen schließlich auch
eine Art Grenzfall nicht außer acht lassen: vielleicht war Michel Erhart imstande,
noch achtzigjährig seine Werkstatt zu versehen. Wir dürfen dann, was uns für
den Meister des Werkes von Blaubeuren bequemer erscheinen muß, mit dem
Geburtsjahr Gregors bis auf etwa 55 zurückgehen. Im hohen Alter von 85 Jahren
wäre Gregor dann gestorben. Es scheint mir dies unwahrscheinlich.
Wir sehen so, die Angaben, welche uns zur Verfügung stehen, würden es als
solche gestatten, Gregor Erhart als Meister des Blaubeurer Altars zu betrachten.
Doch müßte er wohl in verhältnismäßig jungen Jahren den bedeutenden Auftrag
erhalten haben. Jedoch wird aus anderen Gründen!) die Zuschreibung des Blau-
beurer Altars an Gregor Erhart noch nicht als gesichert betrachtet werden dürfen.
Im übrigen gewinnen wir aus unserer Überlegung wenigstens die wahrschein-
lichen Geburtsdaten für Michel und Gregor Erhart, wobei ich für Michel Erhart
etwa an 1440—45, für Gregor Erhart etwa an 1463—68 denken möchte; müssen
wir doch annehmen, daß Gregor bei seiner 1494 erfolgten Ubersiedlung nach Augs-
burg mindestens im Alter von 25 Jahren gestanden habe, während auf der andern
Seite die 1531 erfolgte Übergabe seiner Meistergerechtigkeit an den Sohn einen
gewissen Anhaltspunkt gewährt. Über die Autorschaft am Blaubeurer-Altar wird
durch diese Ansetzung nichts ausgesagt. Zur Not könnte nach ihr Gregor Erhart
als Blaubeurer Meister betrachtet werden.
Gregor Erhart in der Werkstätte Michel Erharts?
Das stilistisch Plausible’) in Vöges Zusammenstellung der drei Madonnen ver-
anlaßt uns verschiedene Möglichkeiten zu erwägen: hat Gregor Erhart, wenn anders
wirklich Meister des Blaubeurer Altars, diesen in Ulm bereits in eigener Werk-
stätte oder vielmehr in der seines Vaters Michel Erhart — daß er hier gelernt
hat, wird nicht mehr zu bezweifeln sein — ausgeführt?
Holen wir kurz die bekannten Daten der Werke aus Michel Erharts Werk-
stätte nach:
Michel erhält 1474 von den Münsterpflegern den Auftrag für die Tafel, die kurz
vorher bei Syrlin bestellt ist: „etlich bild“ zu fertigen. 1503 ist dieses Werk
vollendet.
1485 fertigt er eine Tafel für die Fugger in Ulrich und Afra in Augsburg.
1493 liefert er einen Altar für das Kloster Weingarten.
1494—95 Kruzifixe für Ulrich und Afra. |
1394 Haller Kruzifix. |
1516 die Apostel am Ulmer Ölberg.
Der Meister hat im Jahre 1510, wie wir aus unserer neuen Quelle hören, für
Ulrich und Afra „Engel“ geliefert. Eine bestimmte Vorstellung von deren Art
können wir uns nicht machen, lediglich aus ihrer Aufstellung schließen, daß es
sich um ziemlich umfangreiche Stücke dieser Gattung gehandelt hat. Auch darf
soviel angenommen werden, daß sie noch nicht renaissancemäßig empfunden waren.
Sind doch selbst die letzten Arbeiten, die uns aus Michels Werkstätte bekannt sind
(х) Vöge selbst а. a. O. hält die Herkunft der Berliner Madonna aus Kaisheim nicht für gesichert.
(2) wenn auch nicht über jeden Zweifel Erhabene.
182
— ihre Verfertigung dürfte sein Sohn Bernhard geleitet oder selbst bewerkstelligt
haben — echte Kinder der Ulmer Gotik.
Die Annahme nun, Michel Erharts Werkstätte habe die Aufträge für die Plastiken
des Blaubeurer Schreins erhalten, scheint eine Stütze zu finden in der Tatsache,
daß Michel Erhart schon 20 Jahre früher mit der Syrlin-Werkstätte zusammen-
gearbeitet hat. Diese selbe Syrlin-Werkstätte ist es, wenngleich nun durch den
Sohn des älteren Syrlin vertreten, welche Chorgestühl und Dreisitz im Chor der
Blaubeurer Klosterkirche geschaffen hat und welcher auf Grund einer früher viel
erörterten Inschrift!) auch das Schreinwerk des Altars zuzuschreiben wäre. Hat
Michel Erhart seinem Sohn Gregor in diesem Falle den bedeutenden Auftrag über-
geben? Oder wäre Michel Erhart selbst der Blaubeurer Meister?
Zum Stil des Blaubeurer Altars stimmt nicht der des Haller Kruzifixes vom
selben Jahr 1494 und so wird die Autorschaft Michel Erharts fraglich. Im übrigen
sind uns ja aus seiner Werkstätte lediglich die Propheten vom Ulmer Ölberg er-
halten.
Aus der Signatur des Weingartner Altars von 1491 geht ein Doppeltes hervor:
daß Michel Erhart eine weithin bekannte Werkstätte unterhielt, ferner, daß er
bereits mit dem älteren Holbein zusammenarbeitete. Wenn wir annehmen, daß
er es war, der den Auftrag für Blaubeuren erhielt, so wäre der Mangel seiner
Signatur in Blaubeuren nicht besonders schwer zu nehmen; in jener Zeit kommen
häufige Abweichungen vor.
Ebenso wie seinen Sohn Bernhard dürfte Michel Erhart seinen Sohn Gregor
in der eigenen, weit bekannten Werkstätte in Ulm beschäftigt haben. Es hätte
keine Schwierigkeit, anzunehmen, daß Michel Erhart, von anderen Arbeiten tiber-
btirdet, selbst einen so bedeutenden Auftrag wie den Altar von Blaubeuren seinem
Sohn, wenigstens zur Ausführung des hauptsächlichen plastischen Schmuckes, über-
tragen hätte. Andererseits wäre die Annahme, ein so bedeutender Auftrag sei an
die altbekannte Werkstätte Michel Erharts vergeben worden, derjenigen vorzuziehen,
sie sei dem sicher noch jungen Gregor Erhart zuteil geworden. Für jeden Fall
dürfte diese Hilfshypothese m. Е. ernster Beachtung wert sein. (Zuweisung an
Gregor Erhart in Werkstatt Michel Erharts.) Immerhin: sie kann nur heran-
gezogen werden, wenn die Vögesche Hypothese zutrifft, insbesondere, wenn die
Berliner Madonna mit der des ehemaligen Kaisheimer Hochaltars identisch ist.
Die Tatsache, daß noch 1516 die Steinplastiken des Ulmer Ölbergs nicht renais-
sancemäßig erscheinen, könnte durch das 1494 erfolgte Ausscheiden Gregors aus
der Ulmer Werkstätte wohl erklärt werden. Michel Erharts Werkstätte hätte
noch weiterhin gotisch gearbeitet, während Gregor in Augsburg möglicherweise
renaissancemäßige Elemente aufgenommen haben könnte; wir wollen dieser Frage
nun etwas näher treten.
Die Fragen nach Gregor Erharts Entwicklung.
Der wichtige Artikel Baums in der Zeitschr. f. bild. K. 1916, S. 290: „Schaffner
und Mauch“ hat bereits gezeigt, wie notwendig es im Rahmen der Untersuchung
der Ulm- Augsburger Plastik um 1500 wäre, auch nur etwas Genaueres über
Gregors Entwicklung zur Renaissance zu wissen. Wir sind heute kaum in der
Lage, mehr als Frühere darüber auszusagen. Sehen wir zunächst von der Vöge-
schen Hypothese ab (Gregor Erhart als Meister des Blaubeurer Altars), so können
(1) Vgl. Bach-Baur: „Hochaltar von Blaubeuren“. Blaubeuren 1894.
183
wir lediglich das aussagen, daß der Meister im Jahre 1509 im entschiedenen Re-
naissancestil gearbeitet haben muß; hätte es doch sonst keinen Sinn gehabt, einen
Entwurf wie den Burgmaierischen Gregor Erhart in Auftrag zu geben. Im übrigen
jedoch hätten wir keine Möglichkeit, näheres über die Entwicklung Gregors zu
erfahren.
Anders, wenn wir Gregor Erhart als Blaubeurer Meister akzeptieren. Hier
dürfte dann zu den eingehenden Ausführungen Baums jene eigenartige Entwick-
lung Gregors in die Renaissance eingefügt werden, welche sich bei dem Blau-
beurer Meister mit der Kaisheimer Madonna zeigt; entschiedene Gegensetzung
von Vertikale und Horizontale, Kontrapost des Kindes u. a. Ein Jahr vor ihm
hätte Daniel Mauch, dessen Verhältnis zu Gregor Erhart nach wie vor unklar
bleibt, im Bieselbacher Altar den entscheidenden Schritt, welchen der Blaubeurer
Meister in Kaisheim für die plastische Ejinzelfigur unternommen hatte, für die
Gesamtkomposition getan, wie Baum gezeigt hat. Wenn wir nun dazunehmen
könnten, daß dem nämlichen Gregor Erhart die Ausführung eines Entwurfes wie
des Burgmaierschen zugemutet werden durfte, so könnten wir den Weg, welchen
Gregor Erhart zurückgelegt hat, wenigstens ahnen. Sehen wir uns nach den
Augsburger Weggenossen zu einer renaissancemäßigen Gestaltung auf dem Gebiete
der Plastik im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts um, so mag insbesondere auf
die Entwicklung Hans Beierleins hingewiesen sein’), dessen Stil so viele Elemente
der neuen Kunst in sich trug.
Das Maximilians-Denkmal bei Ulrich und Afra.
Die Statue Maximilians nimmt in der zeitgenössischen Literatur einen Ehrenplatz
ein. Nachdem es nun Baldass und Habich geglückt ist, die Visierung Burgmaiers
dazu aufzufinden?), können wir behaupten, es wäre in dem ausgeführten Denkmal
wohl das stolzeste Reiterbild der frühen deutschen Renaissance entstanden.
Im Jahre 1509 (noch 1510 liefert Michel Erhart Arbeiten für Ulrich und Afra!)
entstand der Anfang des stolzen Werkes. — Es mag nicht ohne Interesse sein,
hier anzumerken, daß um eben diese Zeit in Augsburg an einem anderen stolzen
Renaissance-Denkmal für Maximilian gearbeitet wurde: 1510 unterhielt Lorenz
Sartor eine Gießerei für das Innsbrucker Grabmal?).
Baldass‘) setzt die Burgmaier-Visierung „um 1510“ — mit schwerwiegenden
Gründen. Wenn wir nun wirklich diesen neu gefundenen Entwurf als den ent-
scheidenden ansehen, so müssen wir, glaube ich, um so mehr annehmen, daß die
Visierung bereits 1509 fertig gewesen sei, als der Block fertig gehauen „gerau-
werkt“ aus den Steinbrüchen von Rottenbuch gekommen war, daß man also den
Entwurf nicht später als 1509 ansetzen dürfte. (Womit übrigens nur eine ganz
unwesentliche Abweichung von Baldass festgestellt sein soll.)
Betrachten wir die Entstehung zeitgenössischer Reitermonumente, z. B. Leonar-
dos oder auch des Innsbrucker Kaisergrabmales, so sehen wir, daß nicht nur ein
Entwurf geschaffen wurde, vielmehr die Visierungen häufig verbessert wurden,
(1) Ph. М. Halm: Hans Beierlein, Münchener Jahrb. d bild. Kunst 1911, S. 27.
(a) L. v. Baldass: „Burgkmaiers Entwurf zu Jörg Erharts Reiterdenkmal“, Jahrbuch 1913, S. 359.
Georg Habich: „Das Reiterdenkmal Kaiser Maximilians in Augsburg”. Münchener Jabrbuch d. bild.
Kunst 1913, S. 255.
(3) D. v. Schönherr, Jahrb. XI, S. 149.
(4) Baldass, a. a. O.
184
bis ein endgültiger, zur Ausführung bestimmter, vorlag. In diesem Sinne würden
wir den Burgmaier-Entwurf vielleicht lieber als „einen“ Entwurf zum Kaiser-
denkmal, anstatt als „den Entwurf“ ansprechen. Es soll damit nicht die Mög-
lichkeit bestritten werden, daß dieser Entwurf der zur Ausführung bestimmte war,
jedoch die Existenz konkurrierender Entwürfe als wahrscheinlich bezeichnet werden.
Weitere Zuschreibungen an Gregor Erhart.
Von den bis jetzt zu den Namen Gregor Erharts in Beziehung gesetzten Werken
stehen die von Mader!) bedeutend vermehrten Herbergerschen Zuschreibungen
bis jetzt ohne sichere Verbindung mit ihm da. Hier sei jedoch besonders noch
einmal auf den Simpertustumbendeckel?) hingewiesen. Der Meister dieses Werkes
wäre wohl imstande gewesen, ein stolzes Reiterdenkmal auszuführen. Jedenfalls
gehört die meisterhafte Puttendarstellung (vor 1495!) zum Besten der frühen
deutschen Renaissance-Plastik. Gerade diese Darstellung von Wolf und Kind läßt
einen bequemen Vergleich mit dem Mörlin-Denkmal in Augsburg zu. Sie muß
m. E. unbedingt zum Vorteil des Münchener Stückes ausfallen. — Wiewohl Gregor
Erhart zu den wenigen Plastikern zu zählen sein dürfte, welche damals in Ulrich
und Afra mit ähnlichen Aufträgen betraut worden sein dürften, so genügen doch
offenbar heute die Anhaltspunkte zu einer Zuschreibung dieser Werke an ihn
noch nicht.
Das Fechtbuch des „Gregory Erhartt von Augspurg“.
In der Fürstlich Wallersteinschen Bibliothek in Maihingen befindet sich neben
anderen aus dem Besitz des Augsburger Stadtschreibers Paul Hector Mair stam-
menden Fechtbüchern ein unter dem Namen des Gregory Erhartt von Augspurg
bekanntes). Fr. Roth hat im letzten Bande seiner Augsburger Chroniken auf
dieses Manuskript u. a. hingewiesen“). In einem hübschen Gedicht, welches die
erste Seite des Fechtbuchs füllt, nennt sich der Autor selbst und zwar in der.
SchluBwendung: „... (der) . . und kunst nit glernett hatt / das klag ich mich gregory
erhartt von augspurg frw unnd spatt / im 1533 jar.“ / (s. Abbildung). Diese zunächst
so persönlich klingende Wendung (man denkt fast an Dinge wie Konrad Witz: „Schrie
kunst und klag dich sehr“ usw.) ist jedoch eine in den Fechtbiichern häufig wieder-
kehrende; das ganze Gedicht mit geringen Veränderungen findet sich z. B. schon
im Fechtbuch des Talhofer von 14595). Wassmannsdorf*) zitiert unseren Kodex
als W. E. Mit der von Dörnhöffer veröffentlichten“) Fechthandschrift Dürers hat
die unsrige ebensowenig zu tun wie mit dem gedruckten Fechtbuch des Hans
Weiditz, vielmehr scheint ihr die Fechtkunst des „Juden Ott“ zugrunde zu liegen,
von welcher eine Reihe von Varianten vorkommen. Insbesondere sei hier noch
als zeitlich und örtlich naheliegend an die von Wassmannsdorf nicht erwähnte
Fechthandschrift des Jörg Wilhelm Huter von Augsburg aus dem Jahre 1523 hin-
gewiesen (Cgm. 3711).
(1) a. a, О.
(2) Saal 15 des Münchener Nationalmuseums. Es muß hier hingewiesen werden auf die Darstellung
des Hagiologiums (Schmidbauer, a. а. О.), weiche (wirklichkeitsgetreu ?) eine romanische Säulenbogen-
architektur an den Seiten der verlorenen Tumba zeigt.
(3) In Quart. Signatur: I, 6, Nr. 4.
(4) Fr. Roth: Chroniken deutscher Städte 32, Augsburg VII, S. LVII.
(5) Hgg. Gust. Hergsell. Prag 1889.
(6) Karl Wassmannsdorf: „Die Ringkunst des deutschen Mittelalters usw.“ Leipzig 1870.
(7) Dörnhöffer: „Albrecht Dürers Fechtbuch“. Jahrb. des Kaiserhauses, Wien 1909, S. I ff.
185
Warum wir von dieser doch zunächst abliegenden Fechthandschrift von 1533
sprechen? Es ist natürlich der Name Gregor Erharts, welcher uns hier inter-
essiert. Ein Fechtmeister dieses Namens aus Augsburg ist in dieser Zeit nicht
bekannt, ja, die Augsburger Steuerbücher zeigen überhaupt keinen Bürger gleichen
Namens zu jener Zeit an, — als eben unseren Bildhauer Gregor Erhart. Selbst-
verständlich haben wir hier die Frage zu diskutieren: Kann unser Gregor Erhart,
der Bildhauer, der Verfasser des vorliegenden Fechtbuches sein? Nach aller Wahr-
scheinlichkeit müßten wir auf Grund der Inschrift unseres Fechtbuches annehmen,
daß Gregor Erhart selbst Fechtmeister gewesen wäre. Ein Ratsentschluß, welcher
ihm die Erlaubnis erteilen würde dieses Handwerk auszuüben, ist uns nicht er-
halten, doch würde dies nicht allzuschwer in die Wagschale fallen!). Auch daran,
daß der hochgeschätzte Bildhauer ein so völlig anderes Handwerk nebenbei aus-
geübt haben sollte, brauchten wir uns um so weniger zu stoßen, als der Beruf
des Fechtmeisters in Augsburg meist von irgendwelchen Handwerkern außer ihrem
eigentlichen Handwerk ausgeübt wird. Das anatomische und künstlerische Interesse
des Plastikers könnte außerdem in hohem Maße interessiert gewesen sein (wie ja
auch wohl bei Dürer ähnliche Motive den Ausschlag zur Verfertigung seiner Hand-
schrift gegeben haben dürften). Eine ernstliche Schwierigkeit jedoch bereitet uns
ein anderer Punkt: der nämlich, daß die in dem Fechtbuch vorkommenden Feder-
zeichnungen keineswegs diejenige Höhe künstlerischer Ausführung erreichen, welche
wir von dem künstlerischen Rufe eines Gregor Erhart zu erwarten berechtigt sind
(s. Abbild. 2). Es sind diese Fechterpaare nicht schlecht ausgeführt, jedoch fehlt
ihnen diejenige Sicherheit der Anatomie und diejenige formbezeichnende Kraft der
Linie, wie sie doch einen künstlerisch hervorragenden Zeitgenossen Dürers und
Burgmaiers ausgezeichnet haben dürfte.
Immerhin: wir kennen ja keinen Strich von der Hand Gregor Erharts und können
so nur behaupten, daß die Qualität der Zeichnungen einer Meinung widerspricht,
welche wir uns auf Grund von erhaltenen Nachrichten über ihn gebildet haben.
Außerdem besteht ja noch die Möglichkeit, daß einer seiner Gehilfen die Zeich-
nungen ausgeführt hätte. i
Ziehen wir aus dem Ausgeführten die Summe: wir sind der Meinung, die Frage
des Zusammenhanges des Fechtbuches von 1533 mit unserem Bildhauer Gregor
Erhart müsse jedenfalls in ernstlichste Erwägung gezogen werden.
П.
DIE FIGUREN ADOLF DAUCHERS FÜR DEN FRÜHMESS-ALTAR
IN ULRICH UND AFRA.
Durch das im Augsburger Stadtarchiv wieder aufgefundene Zechpflegebuch sind
die von Placidus Braun benutzten Einträge über die ursprünglichen Zahlungen an
Adolf Daucher (,,Kastner“, s. Exkurs) wiedergewonnen worden. Wir werden nicht
fehlgehen, wenn wir in dem nicht mehr erhaltenen Werk eine wichtige Etappe
der deutschen Friihrenaissance vermuten. Es handelt sich offenbar um den von
Braun?) erwähnten „Pfarraltar“, welcher Pfingsten 1499 geweiht wurde. Von
(z) Vor 2540 ist nicht der hundertste Teil der Ratsentschlüsse enthalten (gütige Mitteilung von Pro-
fessor Roth).
(a) Placidus Braun: „Geschichte der Kirche und des Stiftes der Heiligen Ulrich und Afra“, Augs-
burg 1817, 8. 22, Wiegand, a. a. O., 8. 20ff. Die ebendort 8. 29 gezogenen Folgerungen aus einer
Notiz des Malerbuches von 1504, als hätte Daucher gerade die Figuren des Frühmeßaltares bemalt,
187
den Zahlungen händigt dem Meister im Jahre 1498 Bürgermeister Hoser die erste
Rate mit 150 Я, ein, ferner erhält Adolf Daucher durch den Zechpfleger 180 fl.,
die restlichen 20 fl. werden 1499 erledigt: „Darmit ist er gar bezahlt.“
Von den Malern, welche an diesem Altar gearbeitet haben — seit 1484 werden
der Reihe nach Thoman Burgmaier, Ulrich Abt und Lienhardt Beck genannt —
können wir keinem die Altarfitigel zuschreiben, da sie nur mit nebensächlichen
Arbeiten beschäftigt sind.
Erfreulicherweise ist uns auch der Name des Schmiedes überliefert, welcher das
Gitter zum FriihmeBaltar angefertigt hat: Marx Kaiser !). Aus der Tatsache, daß
Adolf Daucher gelegentlich in der Moritzkirche die Visierung zu einem Gitter stellt,
wie aus erhaltenen Resten und Nachrichten geht zur Gentige hervor, daß auch
unter diesen Gittern häufig beachtenswerte Kunstwerke zu finden waren.
Anlage.
ZUM KAISHEIMER ALTAR.
Die im Reichsarchiv München aufbewahrte handschriftliche Kaisheimer Chronik
des Cölestin Angelsprugger schreibt neben der von Hüttner herausgegebenen,
regelmäßig zitierten deutschen Chronik eine alte lateinische Kaisheimer Chronik
ab). Dort nun finden wir eine wesentlich ausführlichere Stelle über den Kais-
heimer Altar als in der Knebelschen Chronik. Sie möge hier Platz finden.
S. 681 Anno 1502:
Domus Villa nova funditus per incendium demolita est. non tamen impediebat,
quod abbas in sua basilica altare summum magnis expensis tabula perquam magni-
ficia (?) tribus a principibus artificibus Augustanis, qui pro illa aetate nominis cele-
britate prae caeteris floruere confici et erigui (?) fecerit. Videlicet primo fabro
lignario Adolpho Kastnero, Caesariensium aedium Augustae praefecto, alteri sculptori
gregorio, tertio pictori Joanni Holpain nomen fuit. Cuius ultimi nomen in altaris
inferiori tabula, ubi Magdalenam cum sua pixide intueris, pixidi inscriptum invenies.
Sed miror, quod de Alberto Dürero tunc temporis inter pictores vere principe nulla
fiat mentio, cum tamen ex posteriori parte altaris, prout semper consueverat, suum
nomen assignare, idipsum pateat sub hisce literis. —
G.h. 106: A.D.D. (?) 1502:
„hoc excellentissimum altare propter vetustatem et defectus, quos ex parte supe-
riori рег vermium corrossiones patiebatur a R™° D. Benedicto abbates (!) ut infra
patebit, fuit amotum et novum insigne erectum. Sed ex tabulis quadratis tribus,
quae ex parte inferiori stabant, et referebant (?), primum quidem Dominum cruci-
fixum, secunda depositionem de cruce, tertia sepulturam. Duae primae ad instan-
tiam Ducissae Serenissimae Neoburgi fuere donatae et ab eadem serenissimo suo
coniugi ad diem natalis qui singulari erga easdem figuras ferebatur devotione,
a, 1671, 1672 tertia tabula, haud dubius (?), serviet quoque ad duas priores, ut sic
quasi funiculo triplici rapiantur, (ut etc.) principes ad amorem erga monasterium.“
scheint mir nicht beweiskräftig zu sein, nachdem die Arbeit zu diesem Altar schon 1499 beendigt
sein dürfte. Inzwischen war 1502 eine Arbeit wie die für Kaisheim fertiggestellt worden.
(x) In dem vorliegenden Zechpflegebuch wird dieser Marx Kaiser mehrmals erwäbnt, doch handelt es
sich nicht um bemerkenswerte Dinge, Der 1516 mit Aufträgen für Maximilian genannte Marx Schlosser
ist offenbar ein Sohn von Marx Kaiser.
(2) Kaisheim, Kl. Lit, Nr. 139. Im ganzen ist allerdings die deutsche lateinische Chronik vorzuziehen;
insbesondere zeigt der Text ohne weiteres die verständnisiose Wiedergabe des Originals.
Kein Zweifel dürfte darüber herrschen, daß hier die drei Gemälde in der Augs-
burger Galerie gemeint sind, welche eine gut unterrichtete Inventarnotiz bereits
als von Kaisheim herrührend bezeichnet’), Wir dürfen dieser Inventarnotiz wohl
trauen, auch in der Nachricht, daß die Gemälde von 1502 seit 1715, in prächtige
Rahmen gefaßt, am Kircheneingang aufgestellt waren, Sie ist jedoch auf Grund
der soeben zitierten Abschrift einer lateinischen Chronik dahin richtig zu stellen,
daß gerade die drei in Augsburg befindlichen Gemälde 1671—72 der Herzogin in
Neuburg und von dieser ihrem Gemahl zum Geschenk gemacht wurden?) und so
von den übrigen Tafeln getrennt waren. Ch. v. Mannlich?) schreibt von 17 Ge-
mälden, welche er in Kaisheim gefunden habe, während nun in der Pinakothek
nur 16 aufbewahrt werden, jedoch kann keines der heute in Augsburg befindlichen
hierher bezogen werden. Ein weiteres Eingehen auf die Gemälde dürfte hier
nicht am Platze sein, vielmehr muß uns nur daran liegen, den von Baum auf-
gezeigten Widerspruch in der Überlieferung über das Schicksal der Tafeln des
Kaisheimer Altars aufzuklären. Vielleicht lassen sich später noch weitere Punkte
erhellen.
Die angezogene Stelle der bei Angelsprugger abgeschriebenen lateinischen Chronik
dürfte auch geeignet sein, uns über einen weiteren Punkt aufzuklären. — Man stand
seit langem vor der nicht leicht zu lösenden Frage, ob der in der Knebelschen
Kaisheimer Chronik“) als Mitarbeiter Gregor Erharts genannte Wolf oder Adolf
Kastner mit Adolf Daucher gleichgesetzt werden dürfe. Wiegand“) glaubt die
Lösung gefunden zu haben durch die Gleichsetzung von Kastner und Kasten-
macher, sowie durch den Hinweis darauf, daß im Kaisheimer Hof zu Augsburg
sich kein anderer Bildhauer Adolf nach Ausweis der Augsburger Steuerbücher ge-
funden habe. Demgegenüber möchten wir erwähnen, daß uns der Ausdruck Kastner
für Bildhauer weder bei Adolf Daucher noch sonst in archivalischen Quellen bei
einem gleichzeitigen Meister begegnet ist“). Wohl aber bedeutet „Kastner“: „Be-
wahrer des Getreidespeichers“, Vorsteher der Wirtschaft; Kastneramt usw. waren
in der älteren Zeit gebräuchliche Ausdrücke). Von dieser Seite her scheint die
Bemerkung der Kaisheimer Chronik Knebels über die Autorschaft Adolf Dauchers
erst gesichert werden zu müssen. — In der oben zitierten Chronik nun wird
Adolf Kastner als „Praefectus Caesariensium aedium Augustae“ bezeichnet. —
Halten wir dazu die aus den im Reichsarchiv erhaltenen Akten des Klosters Kais-
heim®) festzustellende Tatsache, daß dort zu jener Zeit das Kastneramt bestand,
so werden wir die Bezeichnung Adolf Kastner als „Pfleger und Kastner“ zwanglos
deuten können.
Es bleibt noch ein Bedenken: konnte ein so vielbeschäftigter Künstler wie Adolf
(x) Katalog der Filial-Gemäldegalerie zu Augsburg. 3. Aufl. 1912, S. 32.
(a) Die von Baum „Ulmer Plastik“, 8. 89 benutzte Schaidlersche Chronik bringt einen schlechten
Auszug aus den bei Angelsprugger wiedergegebenen Kaisheimer Chroniken.
(3) Ch. von Mannlich, Kgl. bayer. Gemäldesaal zu München und Schleißheim. München 1817, Nr. 11.
(4) Herausgegeben von Hüttner, Bibl. des lit. Vereins, Stuttgart, Tübingen 1902.
(5) a. a. O., S. 26.
(6) Eine Zusammenstellung anonymer Bezeichnungen Wittwers, S. 434 „a cistifice vel a cisternario
vel ymaginario vulgariter pildschneyder vel kystier Adam nomine.“
(7) Schmeller, Bayer. Wörterbuch.
(8) Kaisheimer Registratura originalium litt. Fasc. 36, Nr. 187, 8, 20 D anno 1522, Nr, 188, 8. 34.
Augsburg A, ı522: „Nikolaus Hirschmann als Pfleger und Kastner des Hofs allda mit Bewilligung
jährlich 4 fl.“
189
Daucher noch im Nebenamt sich als „Kastner“ betätigen? Würde für die Wahr-
scheinlichkeit der Tatsache nicht bereits der Ausdruck „Caesariensium aedium
Augustae praefectus“ genügen, so könnte noch eine Stelle der Knebelschen Chronik
angeführt werden: „1499 läßt Abt Georg einen Altar in Ulm schnitzen bei „unserm
Hauswiirdt michel Amann“. Es scheint also die Zeit an dieser Doppelstellung
des Künstlers keinen Anstoß genommen zu haben. (Der Tatsache, daß der Name
Kastner in der fraglichen Zeit als Familienname vorkommt, ja, daß der Kaisheimer
Abt diesen Namen führte, kommt nach dem Ausgeführten wohl keine Beachtung
zu. Auch daß der Verfasser der lateinischen Chronik auf Grund der Ausdrucks-
weise der früheren deutschen Chronik sein „Caes. aed. Aug. praef.“ aus „Kastner“
geprägt habe, scheint mir nicht wahrscheinlich.)
ARCHIVALISCHE BELEGE.
Zechpflegebuch von Ulrich und Afra’).
Blatt 87b, Eintrag 7: 1510.
Jtem ich hab aussgeben am sontag nach sant Endry tag dem mayster Geor-
gory 10 fl die er seinem vatter mayster Michel gen Vim geanttwurt hat 20
denen fi die VIJ der Harder geben hat auff die eegeding weiss machen sol.
Blatt gob Eintrag 5: 1510.
Jtem ich hab aussgeben am aftermäntag in pfingst feren dem maister Künratt
ı!/, В dass er den zug daran die engel hangend über die rechtten lecher ge-
henckt hat und roo eyssny negel dartzü gebraucht hat 1!/„ fi
Eintrag 6:
Jtem dem maisster Michel von Ulm die (!) die engel gebracht hat in der wuche
vor pfingsten die send von im gedingt worden umb бой dann hat er sich bart
klagt er hab der arbaid grossen schaden miessen nemen also seinen wir mit
im abkomen durch den purgermaister Hosser und maister Burckart und maister
Jörg Seld goldschmid Hanss Harder und Petter Wolfistrygel und zunftmaister
Engelberg und Hanss Winder Petter Ketzer und ist im me 20 denen бо fi
gesprochen wordenn durch die erber leid 30 fl dit in ainer sum go fi daran
hat er eingenomen nach inhalt dess büchss so fl der Harder hat im me 3 fl
geben damit hat er empfangen 53 fl dar auf hab im zahlt an der mittwuchen
in pfingstfeyren 37 fl ich gab dem Harder die 3fl dem maister Michel gem hat.
Blatt gra Eintrag 1: 1510.
Jtem der Harder hat im me geben 3 Я daruv hat er empfangen 53 Я dar auf
hab ich im zalt 37 fi.
Jtem ich hab zalt dem Harder die 3 fl die er dem maister Michel geben hat
dar mit hab ich aussgeben an den mitwuchen р. pfingsten go 8.
. Jtem hab me auss geben umb die bretter dar in man die engel gefirt hett
15 kreytzer.
Jtem ich hab aussgeben an dem messmer und dem Werlin trinck gelt 6 kreytzer.
Jtem me dem von Utzen dass er der enge(l) hiet hat 1 kreytzer.
Jtem ich gab me dem ballier trinck 6 kreytzer.
Jtem ich gab me den stainmetzeln 7 kreytzer die die enngel habend hellffen
auf ziechen.
(1) Das Buch, schmalfolio, trägt eine alte Signatur (18. Jahrh.) „Partit. II, Fasc.: Lit. C, Nr. 17“ etc.
Die Einträge sind ausnehmend flüchtig, was sich sowohl in der Formulierung der Sätze, wie in der
Schrift bemerkbar macht,
190
Blatt оза Eintrag 1: 1510.
Jtem ich hab auss geben dem sayler umb 2 sayl darann die engel hangend
wieged 46 Pfund ı Pfund und 3 kreytzer.
Eintrag 2:
Jtem ich hab auss gebenn dem Apt maller dass er die 3 say!) die zu denn
engelen geherend rot angestrichen hat т fl.
Blatt 92a Eintrag 6: 1510.
Jtem ich hab aussgeben amm sampstag nach sant Affrenn tag dem mayster `
Künratt 2½ Я fir den... oder haspel den er gemacht hat zu den engeln
ich gab denn knechten 3 kreytzer trinckgelt 2½ fl 3 kreytzer.
Eintrag 7:
Jtem ich hab me aussgeben auf denselben tag dem pallier und dem stain-
metzel fir ir arbaid die sy mitt den engeln gehept habend 46 kreytzer.
Eintrag 12.
Jtem ich hab me aussgebenn dem Marx schlosser 10 gl. umb zu dem stein-
haspel.
Blatt 92b.
Jtem ich hab auss geben dem sayller umb die 2 sayl dar ann dass gewerck
hanget zu denn englen habend gewegen 23 Pfund ı Pfund umb 3 kreitzer.
Her ab und an dem ander blad 20 Я 39 kreytzer 2 pf.
FRÜHMESSALTAR ULRICH UND AFRA.
Zechpflegbuch Ulrich und Afra.
Blatt 38 Eintrag 2: 1498.
Jtem ich hab auss gebenn am samsstag nach sant nicklauss tag im 98 jar dem
maister Adolf Daucher zu den 1!/„ hundert guldſen] die er von den alltten
zechmaister eingenommen hat 180 fi.
Eintrag 3.
Jtem me auf denn selben tag gab ich im 3 fi die sol er seiner hawssfraw und
denn knechten und wem ess zü gehert zu ainem trinkgelt geben allso hat er
auff die taffel 350 fl und beleipt noch hinderstellig 20 fi die selben 20 fi söllen
wir im oder seinen erbenn bezallen zwischen hie und sant Jörgen tag im
99 jar wen er der selben 20 fi bezalt ist, so ist man im darnach nichtzt mer
schuldig.
Blatt 40 Eintrag 1: 1498.
Jtem ich hab aussgeben am afftermänntag in kreytzwuchen dem maister Adolf
Dacher 20 fl. Darmit ist er gar bezalt.
Blatt 41b Eintrag 7: 1498.
Item ich aussgeben am dornderstag nach pfingsten dem maister Adolf umb
die 5 kreytz 20 kreytzer.
Eintrag 8:
Jtem ich hab aussgeben dess maister Adolff knechtten zü trinkgelt dass sy die
5 kreytz in den feyentag messen machen 4 kreytzer.
(1) Seile? Säulen?
191
Dazu gehört als der Reihe nach früheste eine spätere Eintragung:
Blatt 51 Eintrag 1: 1498.
Sannt Uolrich.
Jtem der maister Adolf hat empfangen von der der dafel die gehert zi dem
friemesaltar von dem bürgermaister Hoser hündert und finftzt [ig] guld [en]
nach laut seiner hant geschrift die er dem burger maister Hoser geben hat
die hand geschrift han ich empfang [en] am after montag nach sant partel-
mestag von dem bürger Hoser im 98 jar
zedel
Jtem und die alten al ab!).
Die folgenden Ausgaben zum Frühmeßaltar sollen, da für uns nicht besonders
wichtig, nur als Stichproben aus ähnlichen Notizen angeführt sein.
Blatt 8 Eintrag 9: 1484.
jtem dem Purgmair maller ain guldin für ain daffel ze mallen von zwey fligel
und daffel pessern und von getterlachen rot ze machen zu friemas alter.
Blatt ı3a Eintrag 4: 1486.
Jtem ich han geben dem Apt maller von der daffel vor dem friemessaltar
20 groschen und 2 krizer dem knaben drinkgelt.
Blatt 23b Eintrag 1491.
Jtem 3 gid. zalt ich pro dem Apt maler adi 24. setembris von dem getter
anzustreichen, das umb den friemessaltar ist.
In einem folgenden Zechpflegbuch fiir Ulrich und Afra, welches ebenfalls im
Augsburger Stadtarchiv aufbewahrt wird, findet sich zum Jahre 1538 (auf S. 326)
eine Eintragung, welche über Malerarbeiten des „Lienhard Beck“ am Frühmeß-
altar berichtet. —
Über das Gitter.
Blatt 23 Eintrag 4: 1491.
Jtem тб gid. gab ich pro Marxen Kaysser dem schlosser adi 13. setembris
auf rechnung auf das getter, das er fier den friemessaltar zü sant Ulrichs hat
gemacht.
Blatt 23 Eintrag 1:
Jtem 12 gid. zalt ich pro mayster Marx Kaysser schlosser, adi 12. setembris
auf rechnung auf das getter, das er fier den friemessaltar zü st. Ulrich hat
gemacht.
Eintrag 2:
Jtem 5 gid. 14 sh. ı h zalt ich pro mayster Marx Kaysser, schlosser adi
28. oktober rest am getter, das er umb den friemessaltar hat gemacht.
(x) Bei dieser Eintragung handelt es sich offenbar um eine Abschrift.
192
GASPARD DUGHET cenannt POUSSIN, шз
BIS 1675 Mit vier Tafeln in Lichtdruck Von KURT GERSTENBERG
......u...0..9.000000909009009000000000099000900000000000000000000000 000000000000 000000000000000000000000 000000000000 000000000000
eben Nicolas Poussin steht Dughet als der hervorragendste Vertreter der he-
roischen Landschaft, wenn man diesen Begriff in einem strengeren Sinne
faßt!). Aber der Schatten des großen Poussin lastet auf ihm und verhindert, daß
er seiner Bedeutung nach richtig eingeschätzt wird. Die Meinung tut unrecht, die
besagt, daß Dughet, der den Schwager so verehrte, daß er seinen Namen wie
einen Schmuck begehrte und erwarb, die Landschaft nur im gleichen Geiste und
mit gleichen Augen wie Poussin gesehen und gestaltet habe und nichts Besseres
sei als dessen arbeitsfrohester und werkreichster Nachfolger. Frühere Genera-
tionen haben Dughet höhere Anerkennung gezolit, am gehaltvolisten hat Jakob
Burkhardt im Cicerone geurteilt: „Bei ihm redet die Natur die gewaltige Sprache,
welche noch jetzt aus den Gebirgen, Eichwäldern und Ruinen der Umgegend Roms
hervortönt; oft erhöht sich dieser Ton durch Sturmwind und Gewitter, welche
dann das ganze Bild durchbeben; in den Formen herrscht durchaus das Hoch-
bedeutende, namentlich sind die Mittelgründe mit einem Ernst behandelt wie bei
keinem andern.“ Je höher Nicolas Poussins Landschaftskunst in den letzten Jahr-
zehnten eingeschätzt wurde, desto niedriger galt Dughet. Wortführer waren die
Franzosen. Emile Michel faßt sein Urteil so zusammen: „I y a loin de la a
Funité puissante, aux belles proportions, а la force expressive de Poussin et celle
surcharge d’ornements inutiles et incohérents montre plus de paresse d’esprit que
de richesse d’imagination. (Les Maitres du Paysage. Paris s. a. S. 120.) In der
Histoire du Paysage en France, die Henry Marcel mit anderen Mitarbeitern heraus-
gab, ist von Dughet überhaupt nicht die Rede, so leer schien seine Wagschale zu
schwanken“). Soweit diese Beurteilung nur die ästhetische Einschätzung der
Werke Dughets betrifft, könnte man sie auf sich beruhen lassen, bis einmal eine
Geschichte des Geschmackswandels geschrieben wird;. da sie aber mit dem An-
schein der historischen Gerechtigkeit auftritt, müßte sie auch jederzeit einer kriti-
schen Prüfung standhalten. Sie tut es nicht. Vielmehr zeigt sich, daß Dughets
heroischer Landschaftsstil schon herangereift war und seinen eigenen Charakter
besaß, bevor Poussin die ersten reinen Landschaften malte (1648), die dann aller-
dings mit der Kraft eines neuen Gesetzes auf Dughet wirkten, bis dann zuletzt
seine ursprüngliche Natur wieder durchbrach und eine Vereinigung der neuerwor-
benen Erkenntnisse über den Bau des Landschaftsbildes mit dem Stil seiner Jugend
herbeiführte.
* *
*
Über Dughets Leben sind wir durch zwei zeitgenössische Quellen unterrichtet,
durch die Viten Baldinuccis®) und Pascolis‘). Pascoli erzählt, wie Poussin die Be-
(x) Vgl. darüber meine Habilitationsschrift: „Claude Lorrain und die Typen der idealen Landschafts-
malerei“. Halle 1919.
(2) Es liegt nicht daran, daß der Begriff „Landschaftsmalerei in Frankreich“ rein geographisch ge-
faßt wäre und die Kunst außerhalb des Landes unberücksichtigt geblieben, denn Poussin und Claude,
die neben Dughet in Rom lebten, erhielten ihre ausgedehnten Kapitel.
(3) edis. F. Ranalli, Tom. V, goof. Firenze 1897.
(4) Lione Pascoli, Vite de’ Pittori, Scultori, ed architetti moderni etc. Roma 1730.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1923, 7—9. 13 193
gabung des Knaben erkannte und ihn in seiner Neigung zum Landschaftszeichnen
bestärkte. Baldinucci nennt Poussin nicht ausdrücklich den Lehrer Dughets, be-
tont nur, wie dieser den jungen Schwager durch Ratschläge unterstützte, wie: er
solle nicht ablassen vom Figurenzeichnen, um selber seine Landschaften damit
schmücken zu können. Die besonders unter den Niederländern verbreitete Gewohn-
heit der Arbeitsteilung zwischen Landschafter und Staffagemaler muß Poussin, dem
Meister einheitlicher und reingestimmter Bildgestaltung, freilich an die Nieren
gegangen sein. Dughet war ein eigenwilliger Charakter und liebte die ungebundene
Selbständigkeit. Gleichzeitig hatte er vier Häuser zur Miete, zwei an den höchst-
gelegenen Punkten Roms, je eins in Tivoli und Frascati, um von dort aus das
weithin gelagerte Land zu malen. Als leidenschaftlicher Jäger durchstreifte er die
Campagna und stärkte das Auge im Weitblick. Er malte und zeichnete ununter-
brochen nach der Natur vedute amene e deliziose (Baldinucci). Schon im 17. Jahr-
hundert waren Dughets Landschaften über ganz Europa verbreitet. Es ist bisher
niemals der Versuch unternommen worden, die Masse der vorhandenen, sämtlich
undatierten Gemälde zu ordnen. Und doch läßt sich das Werk Dughets in drei
Stilperioden gliedern. Deutlich faßbar ist die Zeit jugendlich ungestümer Kraft in
ihrem von Poussin völlig unabhängigen Stil, die etwa von 1630—45 währt, dann
die Stilperiode unter dem beherrschenden Einfluß Nicolas Poussins bis ungefähr
1655 und schließlich die Zeit des reifen Stils bis zu Dughets Tode 1675.
In den Sammlungen Roms haben sich Werke aus der Frühzeit Dughets zahlreich
erhalten und lassen erkennen, was auf das frühreife Talent den größten Eindruck
gemacht hat. Das Werk, das zwischen dem dritten und vierten Jahrzehnt des
17. Jahrhunderts die anerkannt größte malerische Leistung darstellte, waren die
Fresken mit biblischen Geschichten am Gemälde von S. Andrea della valle, die
Domenichino 1624—28 gemalte hatte!). Aus dieser Quelle trank der junge Dughet.
(Taf.I). Als ein wichtiges Frühwerk kann die Landschaft mit Maria Magdalena in der
Galerie Colonna angesprochen werden. Sie ist chaotisch durchwiihlt und voller
Unwahrscheinlichkeit; ödes Bergland jagt auf in erstarrten Wellen und dicht am
Ufer, wo das Meer mit ruhigem Spiegel liegt, rauschen abgrundtiefe Wasser hinab.
Hier sind nun die Bezüge zu Domenichino mit Händen zu greifen. Domenichinos
Fresken zeigen Geschichten des Neuen Testaments in großartiger heroischer Szenerie.
Bergige Wüsteneien von wuchtiger Formation, oasenhaft eine Gruppe von Busch
und Baum. Wenige große Figuren bewegen sich im Vordergrund. Die Figuren
sind nicht auf der Fläche gegeneinander abgewogen, sondern ihre Gruppe erhält
in der Raumschräge durch eine Baumgruppe das Gleichgewicht. Mit einem Ruck
schließt der Mittelgrund an, Kulisse nur bleibt die Baumgruppe. Das Verhältnis
per Figur zur Landschaft, den Kontrast der unfruchtbaren Bergwelt in ihrer rauhen
Erhabenheit mit dem saftigen Baumwuchs vorn sind die Faktoren, die auch Dughet
in die Bildrechnung stellt. Aber selbst in der Art, wie bergig ansteigendes Ge-
lände vom Meer umspült wird, und wie dicht am Ufer ein rundes Kastell mit aus-
ladendem Wehrgang sich aufbaut wie auf der Darstellung, wo Jesus Petrus und
Paulus zu sich ruft, wird Vorbild für Dughet. Der Wert der Landschaften Dome-
nichinos besteht in ihrer kraftvollen dekorativen Haltung, der allerdings eine klare
Raumentwicklung mangelt. Die reifere Raumgestaltung konnte Dughet in den
Werken des Annibale Carraccis finden, der in der Landschaft mit Maria Magdalena
in der Galerie Doria der Figur auch eine vorherrschendere Stellung eingeräumt
(1) Über ihre Bedeutung innerhalb der Barockmalerei überhaupt vgl. Herm. Voß in Thieme-Becker, Lex.
d. bild. Künstler, Bd. о.
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Rom, 5
Domenichino.
Rom, Galleria Doria.
Dughet gen. Poussin.
Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt Poussin.
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hatte als sonst in seinen Landschaften. Von der tektonischen Landschaftsgestal-
tung Carraccis, die die Randlinien stärkt und die Mitte betont, hat Dughet gelernt,
sucht sie jedoch unauffälliger zu halten. Die Stärkung der seitlichen Abschlüsse
durch Bäume spricht auf Dughets Bild noch kräftig, aber die Betonung der Mitte
durch Berg, Wasserfall und Figurengruppe im Mittelgrund erfolgt schon fast un-
merklich. Die wachen Sinne Dughets haben ihn auch mit der anderen Großmacht
der Landschaftskunst, mit der Auffassung der Niederländer ein Bündnis schließen
lassen. Im Vordergrund dieser Frühlandschaft mit Maria Magdalena waltet ein
stillebenartiger Sinn und belebt das Bild mit allerhand Getier und großblütigen
Malven, Königskerzen und Winden, fast wie wenn der Sammet-Breughel dabei
die Hand im Spiel gehabt hätte. Den Gegensatz der festlaubigen Steineiche und
der feinen Laubsilhouette einer jungen Pappel hat Dughet zeitlebens geliebt. Nie-
mals aber mit einer solchen Aufdringlichkeit vorgerückt wie hier. Der Mittelgrund
mit der kleinfigurigen Szene der letzten Kommunion der Heiligen schließt un-
mittelbar an wie bei Domenichino. Das Bestreben, reich zu erscheinen, führt noch
zu heterogenen Bildelementen. Das steinige, unfruchtbare Gebirge ist mit weichen
Tönen gemalt, die überzeugender Plastik entbehren; ihre breite Malerei steht im
Gegensatz zu der spitzpinseligen Sorgfalt in der Laubdarstellung. Paradiesische
Lieblichkeit vorn, unfruchtbare Wildnis in der Tiefe; man spürt die Mühe und
Ernsthaftigkeit, ein großempfundenes Ganzes zu geben, aber es bleiben Bildteile.
Raumsinn mangelt nicht, wirkt aber noch sprunghaft. Alles das sind Beweise
genug für die frühe Entstehung des Bildes. Niederländerisierende Neigungen
kommen nicht auf. Dughet streift sie ab, denn seine großdekorative Anschauung
in der Landschaft zog ihn einzig zu Domenichino.
In schwungvoll dekorativer Behandlung ordnet Dughet seine Landschaftsbilder.
Mächtige Kulissen werden zusammengeschoben wie bei Domenichino, nur daß
Dughet diese starre Welt mit seinem heißen Temperament anglühte und in Wal-
lung brachte. Dughets reiche Phantasie erfand spielend ganze Folgen von Land-
schaften, und so hat er zuerst in vielgliedrigen Landschaftszyklen gearbeitet,
Landschaften, bei denen die Figuren, inhaltlich bedeutungslos, oft nur ein vegeta-
tives Leben führen, ja auf manchen überhaupt nicht aufgenommen sind. Die großen
Motive der gebirgigen Campagna, immer neu zusammengeordnet, sind darin zu
Trägern einer großen Gesinnung geworden. Sie gehen zurück auf unermüdliche
Studien vor der Natur, die Dughet mit rastlosem Fleiß häuftee Man wird in den
graphischen Kabinetten meist vergeblich nach diesen Studien fahnden, wenn man
sie unter Dughets Namen sucht. Sie sind vergraben unter den Zeichnungen
Poussins und Claudes, die noch der kritischen Sichtung harren. In Rom sind drei
große Landschaftszyklen erhalten geblieben. Je 13 Landschaften, umfangreiche
Wandbilder in Wasserfarben hängen im Palazzo Doria und im Palazzo Colonna.
Baldinucci berichtet, wie mit wachsendem Ruhm Dughets der Principe Colonna
(es war Filippo Colonna, der 1620 mit dem Neubau des Palazzos begonnen hatte)
in seinem Hause einige Zimmer mit Friesen und Sopraporten ausmalen ließ, wie
dann Aufträge des Principe Borghese und auch des Lorenzo Bernini folgten.
Letzteres war in Baldinuccis Augen die höchste Anerkennung?), die einem Maler
in Rom überhaupt zuteil werden konnte. Als erste Auftraggeber werden die Kar-
meliter von S. Martino ai Monti genannt. Aber diese Landschaften mit Ge-
schichten aus dem Leben des heiligen Elias in den Seitenschiffen der Kirche, die
(х) Noch ausführlicher spricht Pascoli von jetzt untergegangenen Wandmaiereien Dughets,
| 195
dritte erhaltene Folge, sind keine Friihwerke, sie zeigen aber, daß die Großartig-
keit der Formengebung Dughets, der hohe Schwung seiner Auffassung schließlich
mit innerem Recht die Maße des Mauerbildes beanspruchen durfte.
In den Zyklen im Palazzo Colonna (die neun Landschaften in der Galerie Colonna
sind stilistisch später) und im Palazzo Doria zeigt sein Stil die volle Reife, ein
Stil, dessen heroische Haltung mit brausendem Pathos und einer gallischen Rhe-
torik vorgetragen wird und nichts zu schaffen hat mit der inhaltreichen Knappheit
und geläuterten Formenreinheit Poussins. Die Landschaft mit den beiden jungen
Pappeln aus dem Colonnazyklus schiebt noch raumlose Kulissen hintereinander (Taf. II).
Hinter dunklem repoussoir bleibt das Gelände unübersichtlich und ohne klare Ent-
wicklung; hinter dem Bergvorsprung mit dem Kastell hört die Welt auf. Die
räumliche Vorstellung versagt. Das Bild ist rein dekorativ in der Flächeneinteilung,
und in spitzen Keilen sind Hell und Dunkel ineinander verzahnt. Das Licht durch-
stößt das Bild mit gellender Heftigkeit. In diesen beiden Landschaftsfolgen für
Colonna und Doria hat Dughet schon durch die farbige und formale Haltung zum
Ausdruck gebracht, daß es sich um dekorative Wandbilder handelt. Auf Leinwand
gemalt und in Rahmen gespannt sollen sie unzweifelhaft Ersatz bilden für Wand-
teppiche, ebenso wie die von Domenichino und Viola 1608 für den Palazzo Belvedere
in Frascati entworfenen Landschaftsfresken!). Die großformige Behandlung gleitet
hin und wieder zum Grobformigen ab. Die farbige Haltung aber erweckt die Er-
innerung an Gobelins, sie ist reserviert, fast monoton in Laub und Land, graugrün
in stumpfen Tönen und wie eingestäubt. In derber, handfester Malweise, die den
Schmiß des Pinselstriches erkennen läßt, sind die Bilder rasch entstanden. Bal-
dinucci erwähnt rühmend, Dughet habe eine solche Pinselfertigkeit erlangt, daß er
an einem einzigen Tage eine Leinwand von fünf Spannen im Geviert mit ver-
schiedenen Figuren darauf vollendete.
In den 13 Bildern der Doriafolge, die um 1640 entstanden zu denken ist, hat
Dughet den Raum gewonnen, und man erkennt auch, wer ihm dazu verhalf. Eine
kraftvoll modellierte Plastik besitzen alle Formen, die in unruhigen Silhouetten ge-
randet sind. Das Gelände wirft sich in mächtigen Brechungen, und in plötzlichem
Abfall klaffen Schluchten, aber der Raum wird dabei doch kontinuierlich entwickelt.
Immer noch erfüllt die Bilder ein kontrastreiches Allzuviel, niemals wird ein
großes Motiv von Hebung und Senkung rein durchgeführt. Eine romantische Ge-
sinnung dokumentiert sich in diesen Werken. Zu der wogenden Wucht der Formen
auf der Erde gesellen sich am Himmel die Wolken, geballt und getürmt zu ge-
wittriger Stimmung, und unter solch unheildrohendem Himmel liegen wieder still-
spiegelnde Wasserläufe, belebt von wenigen Segelbooten und am Rande begleitet
von einzelnen Wachttürmen und zerfallenen Burgen. Den gleichen Stimmungston
trägt die Staffage, die nicht antikisierend gehalten ist, sondern zeitgenössische
Volkstypen, Reiter und Hirten, Maultiertreiber, Fischer und Schiffer, verwendet.
Auf der Landschaft mit den beiden Reitern (Taf. II) dient das Licht nicht allein
der Form, es ist vielmehr auch Ausdruck des jähen Temperaments. Hinter einer
dunklen Baumkulisse rechts prallt seine Weiße heftig herein. Blinkhelle Baum-
wipfel schäumen auf im Licht, die gleiche drängende Gewalt in den Formen.
Randnah stoßen die Bäume hoch in elastischen Kurven, benachbarte Stämme
kreuzen sich, wobei dies alte Kontrastmotiv Tizians ins Barocke gesteigert wird.
(1) Jetzt in der Sammlung des Grafen Lauckorowski in Wien. Vgl. die Abbildungen im Archiv für
Kunstgesch, 1913, Tafel 69 ff.
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Poussin. Rom, Palazzo Colonna.
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Dughet gen. Poussin. Rom, Galleria Doria.
Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt) Poussin.
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Das Laub, unverhältnismäßig groß im einzelnen Blatt, ist doch auch im Begriff,
die Einzelform der Gesamtbewegung dem Eindruck von Laubmassen zu opfern.
Die mächtige Masse schwillt schwer am oberen Bildrand hin, wird oft von ihm
überschnitten. Deutlich werden zwei Baumarten bevorzugt, die großblättrige Ka-
stanie, die die Belaubung einzelner Äste und Zweige gesondert trägt, und die
Steineiche mit kleinerem Blattwerk, das aber zu dichteren, dunkler grünen Massen
zusammenschlägt. Die flotte Arbeitsweise höht bei dieser über flockig grünem
Grund den Glanz einzelner Blätter in spritzigem Weiß, läßt bei jener Zweig um
Zweig entstehen, nichtachtend der einheitlichen Erscheinung, so daß die Blätter
wie windzerwühlt auseinanderfahren. Unerschöpflich rauscht die pathetische
Rhetorik. Der Erfindungsreichtum ist erstaunlich. Dughet ermüdet nicht durch
Wiederholung, auch nicht durch die Eintönigkeit des Kolorits, wohl aber durch
das Fortissimo des Vortrags. Die Fläche ist durchwühlt von jähzuckenden,
stoßenden Linien, aber der Raum ist im Gegensatz dazu, wenn auch im Vorder-
grund oft grellere Kontraste sind, durchflutet von einem weichen, magischen, manch-
mal feierlichen Licht. Auf der Sorgfalt dieser Lichtorganisation beruht überhaupt
erst der neue Raumeindruck. Man spürt aus ihr die Nähe des großen Claude, und
Baldinucci bemerkt denn auch ausdrücklich, daß Dughet, als er von Reisen nach
Neapel, Perugia und Florenz zurückgekehrt war, viele Studien unter der Anleitung
Claude Gellées gemacht habe.
Als die stärkste künstlerische Potenz in der Landschaftsmalerei, ehe Nicolas
Poussin mit seinen Landschaften auftrat, darf Claude in Rom gelten, er, der das
Erbe der niederländischen atmosphärischen Landschaftsmalerei der Elsheimer und
Brill angetreten hatte, aber doch auch mit seinem Pfund, der tektonischen Grund-
auffassung der Natur, wucherte. Unter den Landschaften Dughets gibt es einige,
die in allen Elementen und selbst ihrer Anordnung weitgehend mit Bildern Claudes
übereinstimmen und doch bei der Verschiedenheit der Charaktere und der Aus-
schließlichkeit der Temperamente der beiden Maler sich nicht auf eine Linie bringen
lassen. Die Hafenansicht Claudes in Windsor!) zeigt seine Kunst in der wölbigen
Kraft der Bäume, deren Kronen wie eine Wolke im Luftraum schweben (Taf. Ш).
Ein Hafen öffnet sich nach der Ferne, und das Weben des Lichtes umfängt ihn
mit seinem goldigen Zauber. Auch Dughet hat in dem Bilde einer Flußmündung
links eine Baumgruppe angeordnet, doch ist sie ohne die räumliche Funktion ge-
dacht wie bei Claude. Sie bleibt dicht am vorderen Bildrand und entbehrt der
wohligen Sattheit der Form, und die sublime Zartheit der Lichtschleier Claudes
fehlt auch, und doch ist der Einfluß dieses Meisters auf die Lichtführung mit dem
milden Hinschwinden am Horizonte unverkennbar. Gemeinsam ist auch die sub-
jektive, die romantische Auffassung der Natur, die sich bei Dughet so lange hält,
bis er in die gebieterische Machtsphäre Nicolas Poussins gerät. Am nächsten
stand Dughet dem Stil und der Auffassung Claudes bei der Wiener Landschaft
mit dem Grabmal der Cäcilia Metella. Tief in den Raum geriickt haben die beiden
Pinien die einheitliche Krone wie eine Kuppel. Es gibt kein weiteres Bild Dughets,
das solch prächtiges Zentralmotiv im Sinne Claudes verwendete und damit eine
stille poetische Stimmung entfachte, die mit der Naturstimmung, die Schwüle und
Feuchte einer regengereinigten Landschaft atmet, zusammenklingt.
= *
*
(1) Um 1640 entstanden. Nicht im Liber Veritatis. Pattison, Claude Lorrain, Paris 1884, Catal.
Windsor Nr. а.
197
Die Annahme, Dughet sei als Schüler Nicolas Poussins aufgewachsen, geht auf
Baldinucci zurück, der erzählt, das Schicksal habe den Entschluß des jungen
Dughet, Maler zu werden, begtinstigt, indem es fügte, daß Nicolas Poussin sein
‚Schwager wurde. Die Hochzeit Poussins fand 1630 statt. Gaspard Poussin war
damals 17 Jahre alt, lebte aber im nächsten Jahre bereits selbständig und nicht
mehr in Rom. Da nun Poussin in diesen Jahren völlig unter venezianischem
Einfluß stand, wie Grautoff') dargelegt hat, so müßte sich doch diese charakte-
ristische Stilperiode Poussins auch irgendwie in den Arbeiten Dughets spiegeln.
Aber nichts von alledem; die stilkritische Untersuchung zeigt vielmehr, daß Dughet
unter dem bestimmenden Eindruck Domenichinos begann, dann aber seinen eigenen
Stil zur Reife brachte, wobei er wesentliche Einwirkung von Claude Lorrain er-
fuhr. Die Behauptung, die Dughet einfach den Schüler Poussins nennt, unterschlägt
die Entwicklung Dughets bis zur Jahrhundertmitte, vernachlässigt die eine Hälfte
seines malerischen Werkes.
Um 1650 nämlich vollzieht sich eine Wandlung in Dughets Stil, die aus dem
Saulus einen Paulus macht. Dughet gerät eine Zeitlang völlig in den Bann
Poussins. Von diesen Landschaften Dughets mag das Wort Félibiens*), sie seien
die Reste der Gastmähler Poussins, wie man einst gesagt habe, die Tragödien des
Euripides seien die Reste der Gastmähler Homers, mit dem gleichen Recht und
Unrecht wie für den antiken Dichter gelten. Dughet war auf den Grundlagen der
römischen Landschaftsmalerei der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts zu einem
tektonischen Stil gelangt. Durch unablässiges Zeichnen nach der Natur hatte er
seine Anschauung bereichert, aber vor der Fülle kam er nicht zur Klarheit und
wußte nicht, daß man mit weniger Motiven reicher und bedeutender wirken konnte.
Auf Studienausflügen, die Poussin nach Sandrarts Erzählung unternahm, mag
Dughet des öfteren mit seinem Schwager zusammengewesen sein. Aber was
Poussin unter einer Landschaft verstand, wie er alle Naturformen zu größter
Schaubarkeit gebracht wissen wollte und in der Klarheit der Erscheinung auch
ihre Würde sah, das erkannte Dughet doch erst, als Poussin selber reine Land-
schaften malte, wovon zuerst 1648 die Rede ist. Dughet war schon 35 Jahre alt,
aber es muß ihm wie Schuppen von den Augen gefallen sein. Zu der gleichen
sicheren Bildorganisation zu gelangen, wurde nun sein Streben, und er ruhte nicht,
bis er Ähnliches erreichte und mit Recht, aus einer inneren Verwandtschaft her-
aus, den Namen Poussin trug, den er bisher um der äußeren Verwandtschaft
willen (Baldinucci) angenommen hatte. Wenn Poussin ein Gebäude zeichnete,
vermied er die malerisch verschobene Aufnahme übereck, brachte es vielmehr auf
eine baumeisterliche Ansicht, die in fast geometrischer Strenge Plan und Aufbau
offenbarte, etwa bei der Ansicht von S. Maria in Cosmedin (Zeichnung in Oxford).
Mit solcher Auffassung hat Dughet die Ostfassade von S. Giovanni in Laterano
emalt ).
т Ез * eine durchaus logische Entwicklung, die der Stil Dughets durchmacht,
wenn diese Entwicklung auch scheinbar unüberbrückbare Gegensätze enthält, die
etwa denen im Stil des jungen Cranach um 1500 und des älteren Cranach nach
1520 ähneln. Schritt um Schritt erweitert sich Dughets Raumanschauung. Von
den plastisch stark empfundenen Bergkulissen im Sinne Domenichinos führt ihn
(x) О. Grautoff, Nicolas Poussin I, 8. 97 fl.
(a) Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres, 1725, T. IV, p. 164.
(3) Hermann Egger, Rémische Veduten I, Taf. 86.
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Claude Lorrain. Windsor, Galerie.
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Dughet gen. Poussin. Rom, Galleria Doria.
Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt Poussin.
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sein Weg zu den lichtverschleierten Raumlandschaften Claudes, die seiner un-
gestiimen Robustheit innerlich wesensfremd blieben. Um so mehr hatte ihm das
durchdachte Bildgefüge Poussins zu sagen, das den Raum bis in die tiefsten Tiefen
deutlich erhielt, als sich ihm darin weniger eine seelenvolle Harmonie denn eine
beherrschte Leidenschaft offenbarte. Poussins Landschaft mit den beiden Nymphen
in Chantilly (Grautoff Nr. 154) mit ihrer kristallenen Durchsichtigkeit der Gründe
und der baumeisterlichen Klarheit im Gegeneinander von Senkrecht und Wagerecht,
im Hintereinander von dunklen und hellen Schichten, zeigt deutlich, wie die Vor-
bilder für Dughets FluBlandschaft mit der büßenden Maria Magdalena in Madrid be-
schaffen waren (Taf. IV). Die jähe Ungebundenheit früherer Bilder ist einer maß-
vollen Haltung gewichen. Zügel sind angelegt und Zug um Zug wird die Tiefe ge-
wonnen. Statt zerklüfteter Berge, deren Fuß nicht sichtbar ist, jetzt die sorgfältige
Planbreitung der Erde, von der sich alles verfolgbar erhebt. In Gelände und Baum-
schlag ist eine neue Intensität der Naturbeobachtung, die auch die kleinteilig
zackigen Laubsilhouetten in aller Klarheit vor Augen stehen läßt, was einer prä-
zisen scharfen Formzeichnung an Stelle der breiten Pinseltechnik von früher ver-
dankt wird. Die Baumsilhouetten bleiben aber immer um einen Grad bewegter als
bei Poussin und im Rhythmus von Hell und Dunkel flackert noch die Leidenschaft,
Das Bild wird um 1650 entstanden sein. Dughet hatte sich nun in der Hand, und
die ungebärdige Wildheit der Landschaft in der Galerie Doria, die doch auch eine
Maria Magdalena in ihrer Buße umgab, liegt weit hinter ihm. An Bildklarheit hat
er gewonnen, an unmittelbarer Überzeugungskraft verloren: Die fast apokalyptische
Großartigkeit der Einöde hat sich in eine friedlich-freundliche FluBlandschaft ver-
wandelt.
In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens hat Dughet seinen reifen Stil
gefunden, der ihm schon zu Baldinuccis Zeiten europäischen Ruhm einbrachte.
Die letzte höchste Vollendung der Landschaftskunst, in der Harmoniegefühl und
anschauliche Erkenntnis sich decken, ist ihm versagt geblieben. Dughet hat die
darstellerischen Prinzipien der Landschaftsmalerei Poussins rein bewahrt, aber
nicht selbständig zu entwickeln vermocht. Die heroische Gewalt seiner Früh-
kunst brach wieder durch. Der gehaltenen Gebärde Poussins konnte er sich nicht
anbequemen, er streifte sie, als seiner Natur entgegen, wieder ab. Dughets Aus-
drucksstil schwingt von stürmischer Bewegung aus zu einer noch bebenden Ruhe,
das leidenschaftliche Pathos wird gezügelt zu einer Gehaltenheit, die das Gewalt-
same dieses Temperaments noch erkennen läßt. Dughets Darstellungsstil gelangt
von zügig kraftvoller Anordnung von Formen, die die Bildfläche einfach mächtig
teilen, aber ohne Raumtiefe sind, bis zu einem raumbeherrschenden Aufbau, der
die Gründe im Wechsel von Hell und Dunkel klärt. Das Gute in diesen Spät-
bildern ist die Energie, mit welcher der Raum gestaltet wird, wobei der Wechsel
von Hell und Dunkel manchmal wie in Böen die Bildfläche rhythmisiert. An
künstlerischer Einsicht erheben sich die Spätbilder über die Frühwerke, an urtüm-
licher Kraft bleiben sie nicht hinter ihnen zurück. Ein charakteristisches Bild
seiner reifen Zeit ist die römische Gebirgslandschaft in Berlin die rund 20 Jahre
später entstand als die Landschaft mit den beiden Reitern im Doria-Zyklus, mit
der man sie vergleichen kann. Die Schönheit langfließender Linien durchtönt
das Bild. Die Naturhaftigkeit dieser gewaltigen Campagna überzeugt mit hin-
reißendem Schwung. Kein Baumnetz fängt vorn noch den Blick, das Auge strömt
in die Tiefe, stürzt den Fall der stürzenden Wasser, taucht auf aus schattiger
Feuchte und durchsteigt den nachdrücklichen Ernst der Mittelgründe, um in der
sonnigen Ferne zu vergleiten. Nichts hindert vorn den Blick. Die Baumgruppen
stehen tief raumeinwärts. In schichtiger Klarheit dehnt sich das helle Land, über
das Poussin und Claude die segnende Hand halten.
Das eigentümlich Drängende der Linien, der wuchtige Rhythmus heller und
dunkler Massen erfüllt die Bilder Dughets mit mehr barockem Zeitcharakter, als in
den Landschaften Poussins zu spüren ist. In der Natur um Rom sah Claude die
lichtreiche Feierlichkeit, Poussin die weltgeschichtliche Größe und Dughet den
ans Drohende streifenden Ernst. Der große Zug dieser Natur hat Dughet immer
wieder ergriffen; um ihre Wirkung rein schwingen zu lassen, greift er auch zu
ungewöhnlichen Bildformaten, Spätwerke wie die breite Landschaft in der Lon-
doner National-Gallery halten nicht mehr einen Raumausschnitt beidseitig tekto-
nisch festgelegt, sondern lassen auf einer Seite den Raum für die Phantasie weiter-
strömen, der Vordergrund ist breit zusammengestrichen, ohne Kraut noch Busch-
werk, der Schatten des baumbestandenen Hangs läuft in schmaler Zunge dartiber
aus. Das Auge muß notwendig den weiten Raum bis auf den Grund trinken, wo
in wunderbar räumlicher Klarheit das Stadtbild erscheint. Wie eng und raumlos wirkt
gegen die Weite solcher Raumwelt die Landschaft mit den beiden jungen Pappeln
aus dem Colonna-Zyklus! (Taf. II). Die Energie der Berglinie hat Dughet im
Frühbild selbst geschädigt durch die beiden Bäumchen, die sie überschneiden.
Hier ist ein ganzer Wald vorhanden, bleibt aber untergeordnet: so hoch ist der
Augenpunkt, so weit der Abstand genommen, Das Kastell im Frühbild war Sil-
houette, war pittoreske Gruppe. Die Stadt auf dem Londoner Bild ist die kristal-
linisch feste Fassung rechteckiger Haus- und Turmblöcke. Diese plastisch klaren
Gebilde sind eingebettet in die Senke der großformigen Geländemodellierung, so
daß die himmelstürmende Wucht der Berglinien durch keine Unterbrechung ge-
hemmt wird.
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*
Die Stellung Dughets innerhalb der einheitlichen Entwicklung der Landschafts-
malerei im 16. und 17. Jahrhundert wird durch nichts besser gekennzeichnet als
durch seine Gewitterlandschaften. Das 16. Jahrhundert hatte theoretisch die For-
derung einer Wiedergabe der Elemente im Aufruhr gestellt. Dughet hat diese
Forderung erfüllt. Das Versprechen, das die Renaissance gegeben hatte, konnte
erst die Darstellungsstufe des Barock, der auch die atmosphärischen Erschei-
nungen nicht verschlossen waren, einlösen. Dughet hat das Thema mehrfach be-
handelt. Die Wiener Gewitterlandschaft Dughets entstammt der Zeit des geklärten
Raumstils. Windgepeitscht stiebt das Laub, biegt das Gezweig. Wolkensiicke
schleifen am Berggipfel. Ein Blitz zuckt und zündet ein Haus am fernen Fels-
hang. Wanderer kämpfen gegen die Gewalt des Sturms an. Nach Baldinucoi
stellte auch Dughets letztes und bestes Bild ein Unwetter auf der Erde dar. Das
Bild kam an einen Grafen Berk, der es mit nach Deutschland nahm. Die Be-
schreibung Baldinuccis paßt auch auf die Wiener Landschaft). „Lebendig waren
auf dieser Leinwand die heftigen Wirkungen eines Gewittersturms dargestellt,
Bäume vom Winde gebogen, dunkle Wolken, ein zuckender Blitz, aufwirbelnder
Staub, dahingeführt von der gewaltigen Luftbewegung und anderen ähnlichen
Erscheinungen in wunderbarer Nachahmung“ (Baldinucci, a. a. O., 304). Das ist
die tatsächliche Bewältigung dessen, was Lionardo anderthalb Jahrhunderte
(1) Dae Bild wurde 1786 vom Grafen Nostitz in Prag erworben. Weiteres ist über die Proveniens
nicht bekannt. (Gef. Mitteilung von Prof. Tietze.)
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Dughet gen. Poussin.
Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt Poussin.
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früher vorgeschwebt hatte, als er die Darstellung eines Unwetters mit ähnlichen
Worten beschrieb!).
Die Fassung in Wien ist zu äußerlich. Die Landschaft bleibt offen mit heiterer
Ferne, die freie Weite läßt nicht den Gedanken an eine vernichtende Gewalt des
Unwetters aufkommen und das räumlich befangenere, aber von der Gewalt des
sttirmischen Temperaments des jungen Dughet durchbebte Gewitterbild in Madrid
(Taf. IV) vermag die Stimmung dramatisch packender zu gestalten. Es ist wahr-
haft die zermalmende Wucht des Unwetters darin. Bedrückend eng wirkt der
Aufbau durch den Berghang, der fast das ganze Bild füllt und nur ein winziges
Stück hellen Horizontes sichtbar werden läßt. Der Rand dieses Berges läuft
wellig wie ein tosendes Meer und ist übergischtet vom hellblinkenden Laub sturm-
gebeugter Bäume. Der Eindruck der Linienführung ist so, als ob ein unentrinn-
bares Verhängnis sich aufzutürmen scheint. Wasser stürzen, Felsen wanken. Jah
überjagen Hell und Dunkel die Fläche. Das konnte nur ein Maler schaffen, der,
im ständigen Verkehr mit der Natur wie der Jäger Dughet, die elementare Heftig-
keit solcher Unwetter erlebt hatte.
Dughet hat so wenig wie ein anderer Zeitgenosse die Studien vor der Natur
schon als Bild gelten lassen. Was er aber in der Werkstatt bei der Komposition
in seine Bilder hinüberrettete, ist die sinnliche Frische, mit der sein Farbenauge
sah. In ungetrübter Schärfe hat er, was vorzüglich Bildern kleineren Formates
zugute kam, die wenigen Farben seiner Landschaften zu größtem Reichtum aus-
einandergelegt, die Ockertöne des lehmschweren fetten Bodens und vor allem die
Grüns von feuchter Saftigkeit bis zu einer silbrighellen Trockenheit.
* *
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Was die historische wie die ästhetische Betrachtung der französischen Malerei
so genußvoll macht, ist der Umstand, daß sie sich in specie zu unerschöpflicher
Vielartigkeit entfaltet, in genere aber eine edle strenge Festigkeit und Unveränder-
lichkeit wahrt. Diese einheitliche Struktur der französischen Malerei von Poussin
bis Cézanne hat es vermocht, daß scheinbar so entgegengesetzte Mächte wie Dela-
croix und Ingres sich in Poussin wiederfanden. Eine noch heute unerschöpfte Kraft,
hat Poussin immer wieder im Geist der großen Maler Frankreichs seinen Wohn-
sitz aufgeschlagen. Claude Lorrain ist in Vernet, am reinsten aber in Corot wieder
aufgeklungen. Und Dughet ist, was vielleicht überraschend anmutet, der Hiiter
jenes Schatzes gewesen, den Courbet wieder besaß und auf den der Normanne
als ihm und nur ihm gehörend so laut pochte. Selbst das, was das eigentlich Neue
an Courbet schien, das Aufsuchen der einfachsten Naturansichten, die scheinbare
Motivlosigkeit gibt es schon bei Dughet. Ein simpler Hang mit Wiesengrün und
Gebtisch, darüber ein Stück Himmel, das genügt ihm als Bildinhalt (eine solche
Landschaft Herbst 1921 im Berliner Kunsthandel). Aber wie dieses einfache Stück
Natur nun seiner stofflichen Beschaffenheit nach erfaßt ist und malerisches Leben
gewonnen hat, wie hier mit Feinfühligkeit Oberflächenreize erkannt worden sind,
die dem gewöhnlichen Auge entgehen, das zeigt die innere Verwandtschaft mit
Courbet. In dieser Augenempfindlichkeit ging er über seine Zeitgenossen weit
hinaus und es ist zu verstehen, daß die klassizistische Kunstanschauung Baldi-
(1) Das Buch von der Malerei. Hrsg. Ludwig. 1888, Nr. 47 und auch 504.
nuccis gerade dies getadelt hat. Baldinucci warf Dughet vor, er habe sich beim
Schattieren zu sehr an eine Farbe, an das Grün gehalten).
Das ist derselbe Vorwurf, der sich im 129. Jahrhundert erst gegen Constable,
dann auch gegen Courbet richtete. Aber gerade diese so einfach scheinende Er-
kenntnis, daß die Natur grün ist, diese Darstellung des Wiesengeländes und
Laubes ohne schwärzliches Braun und rötliches Gelb, einzig durch die stufenreiche
Abwandlung des einen grünen Farbtons ist es, was manchen Bildern Dughets
einen so hohen Reiz verleiht.
(1) a. a. O., 304. Ebbe Gaspero Poussin una maniera di far paesi, che fu assai gradita, non per la
macchia, nella quale troppo зі tenne a un sol colore, cioè al verde — .. .
JOHANN TOBIAS SERGEL (вна)
Mit drei Tafeln in Lichtdruck Von ALBERT DRESDNER
VI.
m Jahre 1771 hatte Gustav III. den schwedischen Thron bestiegen. Jung, ehr-
geizig, lebens- und repräsentationslustig wolite er gern seinen Hof mit hervor-
ragenden Persönlichkeiten geziert sehen, und es war natürlich, daß sich seine Auf-
merksamkeit auf „unsern schwedischen Phidias“ richtete, der es in Rom zu so
schönem Erfolg gebracht hatte. Als Larchevéque krankheitshalber seine Professur
nicht mehr versehen konnte und nach Frankreich beurlaubt wurde, erschien Sergel
als sein gegebener Nachfolger. So wurde er 1778 nach Stockholm zurückberufen.
Es fiel Sergel ungemein schwer, von Rom zu scheiden. Rom — es war und
blieb ja doch sein großes Erlebnis. Hier hatte er in einer stets bewegten Kunst-
atmosphäre die unerschöpfliche Anregung eines unvergleichlichen Denkmilerschatzes
und den anspornenden Umgang mit Künstlern aus aller Herren Länder genossen;
hier hatte er den Erfolg gefunden, der von diesem Mittelpunkte aus nach allen
Richtungen ausstrahlte; hier hatte er im vollen Sonnenscheine eines freien, sich
selbst genügenden Künstlerdaseins leben können. Alle diese Vorteile mit einer
Hof- und Professorenstellung im fernen, kunstarmen Norden zu vertauschen, kam
ihm hart an, aber seine Bemühungen, den König umzustimmen, blieben erfolglos.
Im Juni 1778 verließ er Rom — er ließ seine Jugend und seine Sehnsucht zurück.
Immer blieb Rom für ihn „die einzige und wahre Stätte der Künste, wo der
Künstler geboren werden, leben und sterben muß“; wenn er späterhin auf Rom zu
sprechen kam, wurde er warm und weich, und noch in vorgertickten Jahren hat
er sich mit Reiseplänen nach der Stadt seiner Liebe getragen).
Den Heimweg nahm er über Paris, auch machte er einen Abstecher nach London.
In Paris, wo er gerade vor zwanzig Jahren als Anfänger studiert hatte, wurde er
nun als Meister empfangen und geehrt. Der damalige Direktor der Kunstakademie,
Pierre, legte ihm nahe, sich um die Aufnahme in die Akademie zu bewerben.
Sergel modellierte einen „sterbenden Othryades“ und wurde daraufhin „agreiert“.
Gegen die Mitte des Jahres 1779 traf er in Stockholm ein.
Er trat da in einen merkwürdigen und bewegten Kreis. Auf der „gustaviani-
schen Epoche“ ruht der volle Abendglanz des ancien régime. Man genoß das
Leben und man verstand es zu genießen. Man war nicht mit Skrupeln belastet
und nahm alles mit, das Feine wie das Derbe. Man war geistreich und zynisch,
ästhetisch und materiell, man schwärmte und war ausschweifend. Man huldigte
den Frauen und den Künsten — Gott Bacchum nicht zu vergessen. Niemand
konnte trefflicher in dies Leben passen als Sergel. Unverwiistlich, lebensprühend,
zum Gesellschaftsmenschen geboren, wurde er bald eine Vordergrundgestalt unter
den „Gustavianern“, Alles sah ihn gern, lud ihn ein, schätzte seine Einladungen.
Er wurde eine der Zelebritäten der Stadt: „Hier in ganz Stockholm kennt diesen
Künster der lumpigste Kerl,“ konnte Schadow 1791 seiner Frau berichten?). Sein
Umgangskreis umfaßte so ziemlich alle Gesellschaftsklassen: die Grandseigneurs
des Reiches wie die Damen und Herren vom Theater, die Hofleute, die Handels-
(1) 8. seinen Brief an Boström vom Jahre 1811 bei Nyblom, 59, und seine Briefe an Abildgaard
aus dem Jahre 1806 bei Göthe, Sergelska Bref, 8. 73, 67.
(2) Aufsätze und Briefe, 8, 19.
303
magnaten und die Dichter — und, versteht sich, die ganze Ktinstlerschaft von
Stockholm. Mit allen war er gut Freund; an den wenigen aber, die er als echte
Freunde schätzte, hing er mit fast leidenschaftlicher Innigkeit. Er hat sich selbst
als einen ,,Entousiaste en amitié“ bezeichnet, und daß er hierin nicht tibertrieb,
bezeugt sein schönes Verhältnis zum Grafen K. A. Ehrensvärd und zu seinem
alten Romkameraden Abildgaard, den er zweimal, 1794 und 1796, in Kopenhagen
besucht hat!). Ihren vorzeitigen Hingang hat er nie verschmerzt. Den Fesseln
der Ehe hat er die freie Liebe vorgezogen; seine liebenswürdige Freundin Anna
Rella schenkte ihm zwei Kinder, denen er ein sorgsamer und zärtlicher Vater ge-
wesen ist.
Er wurde mit der Zeit ein großer Herr: Akademieprofessor, Hofbildhauer, Ritter
von allerlei hohen Orden; schließlich ward er 1808 sogar in den Adelsstand er-
hoben und damit auch Mitglied des schwedischen Reichstages. Nichts kann seine
noble, aufrechte und selbständige Persönlichkeit in helleres Licht stellen als die
Art, wie er sich zu dieser Ehrung verhielt. Er lehnte es ab, seinen Platz im
Ritterhause einzunehmen und schrieb darüber (1812) seinem Freunde Per Tham:
„Der König kann adeln, aber er kann nicht die Kenntnisse verleihen, deren es be-
darf, um einen Platz als Reichstagsmann richtig auszufüllen. Und ich mische
mich nie in Dinge, von denen ich nicht voll überzeugt bin, daß ich mich auf sie
verstehe. Kein Mensch in der Welt ist empfindlicher für eine solche Mystifikation
als ich. . . Ich habe mein ganzes Leben die Denkweise eines Edelmanns be-
sessen, ob ich gleich nicht Adliger war, ein Titel, den ich ausschließlich um meines
Sohnes willen angenommen habe.. Für mich ist dieser Titel überflüssig oder,
um gerade heraus zu reden, wertlos“ ).
In der schwedischen Kunstgeschichte lebt die gustavianische Epoche in glanz-
voller Erinnerung. Zum ersten Male konnte sich auf schwedischem Boden ein
reges Kunstleben entfalten, das allein von Einheimischen bestritten wurde. Pilo,
aus Kopenhagen verdrängt, war an die Spitze der Akademie getreten und schuf
in der „Krönung Gustavs IIL“ sein vorzüglichstes Werk. Lundberg, obgleich schon
hochbetagt und in seiner Leistungsfähigkeit geschwächt, malte doch noch seine
beliebten Pastellbildnisse. Der ältere Krafft, der jüngere Pasch waren tüchtige
Porträtmaler, Elias Martin begründete die Landschaftsmalerei, Per Hilleström das
bürgerliche Genre im Sinne Chardins. Aber in diesem Kreise nicht gemeiner Ta-
lente war Sergel doch die stärkste und originellste Persönlichkeit; er wurde sein
natürlicher Mittelpunkt; er genoß die Autorität eines „Römers“ und brachte den
frischen Luftzug neuer Ideen und Anregungen mit sich. Als er 1778 nach Stock-
holm heimkehrte, herrschte dort noch die französische Überlieferung, die Mehrzahl
der Künstler hatte in Paris die Schule durchgemacht und Rokoko war Trumpf.
Mit Sergel kam die neue Botschaft des Klassizismus, und er hatte die Genug-
tuung, bereits binnen kurzem den Sieg seiner Ideen zu erleben. Im Jahre 1783
trat Gustav III. eine Reise nach Italien an, auf die er Sergel, dessen künstlerische
Einsicht und dessen Urteil er besonders schätzte, als seinen Cicerone mitnahm.
Das Jahr darauf kehrte der König als begeisterter Bewunderer der Antike und
überzeugter Anhänger der auf sie sich stützenden Kunstrichtung zurück, die er
(x) Über Sergels Umgang und Freundschaften findet man das Nähere in den Biographien von Göthe
und Looström. Sergels Briefe an Abildgaard sind veröffentlicht von Göthe in „Sergelska Bref“.
Über Ehrensvärd und seine Beziehungen zu Sergel vgl. Warburg, Karl Aug. Ehrensvärd, Stock-
holm (1893).
(2) Göthe, S. 282.
304
alsbald in Schweden ein- und durchzuführen unternahm. In dem Maler A. C. Masreleiz
und dem Dekorateur und Architekten Desprez brachte er sich die geeigneten
Künstler mit, und so ist von Gustavs Italienfahrt die Periode des Klassizismus in
Schweden zu datieren’).
Auf diese Weise fand Sergel Gelegenheit, nach mehr als fünfjähriger Abwesen-
heit sein geliebtes Rom wiederzusehen und noch einmal aus der Quelle rimischen
Kunstlebens zu trinken. Er konnte sich davon überzeugen, daß die Entwicklung,
deren Zeuge er bereits in seinen späteren Romjahren, besonders etwa seit 1775,
gewesen war, inzwischen starke Fortschritte gemacht hatte. Die Stunde des
Triumphes hatte für den Klassizismus in Rom geschlagen. Unter Viens Leitung
war die Acad&mie de France in sein Lager übergegangen, Trippels Schule war zu
einer Hochburg der reinen Lehre geworden, die liebenswürdige Angelika bildete
den Mittelpunkt eines klassizistischen Musenhofes. David wurde in Rom erwartet,
wo er seine „Horazier“ auszuführen und damit die klassizistische Sache endlich
auch in der Malerei zum Siege zu führen gedachte. Der junge Canova hatte sich
ihr gleichfalls angeschlossen und eben den ,, Theseus“ vollendet, mit dem er seinen
ersten großen Erfolg auf römischem Boden erringen sollte). Sergel, der mit Ge-
nugtuung feststellen konnte, daß sein Name in Rom noch nicht in Vergessenheit
geraten war“), kannte Vien und vielleicht auch Trippel schon von früher her;
Canovas Werk sah er in dessen Atelier. So mußte, was er jetzt in Rom erlebte,
ihn in seinen künstlerischen Überzeugungen bestärken. Aber die Note des römischen
Klassizismus hatte sich doch während des Jahrftinfts, das Sergel in Stockholm ver-
lebt hatte, bereits geändert. Er war „reiner“, strenger, orthodoxer, die Ablehnung
der französischen Schule war allgemeiner und schärfer geworden. Diese Erfahrung
ist auf Sergel nicht ohne Einfluß geblieben. Man spürt ihn in der Fassung, die
er späterhin seinen theoretischen Bekenntnissen gab, in dem Nachdrucke, mit dem
er die Vorbildlichkeit der Antike predigte und die Verwerflichkeit der „abscheu-
lichen französischen Manier“ einschirfte‘). Man spürt ihn in der glatteren und
kühleren Formbehandlung der in seiner späteren Stockholmer Zeit vollendeten
Marmorausführungen von Mars und Venus und Amor und Psyche. Die schon vor
der römischen Reise fertiggestellten Entwürfe zum Altarrelief der Auferstehung
Christi und zur Sockelgruppe des Gustav Adolfdenkmals wurden nach der Heim-
kehr im Sinne der neuen strengeren Anschauungen umstilisiert“). Hatte Sergel
seinem ersten römischen Aufenthalte die Entfaltung seiner Kraft zur höchsten
Leistungsfähigkeit zu verdanken gehabt, so ist die Wirkung, die sein zweiter Be-
such in seinem Schaffen hinterließ, nicht günstig gewesen. jene gewisse frische
Naivetät, mit der er in den Werken seiner besten Zeit Formelemente der franzö-
sischen Überlieferung mit solchen der klassizistischen Anschauung organisch zu
verschmelzen verstanden hatte, wurde dadurch gestört, daß der nun doch schon
an Jahren vorgerückte Meister sich in Rom vor neue Forderungen gestellt sah,
mit denen er nicht mehr hat voll ins reine kommen können. Er hat sie wohl
akzeptiert, aber in den innersten schöpferischen Kern seiner Persönlichkeit sind
sie nie ganz eingegangen. Die eingeborene, durch seinen Bildungsgang bekräftigte
(1) Über Gustave Ш. italienische Reise berichtet О. G. Adlerbeth in „Gustafs Ш. Resa i Italien.“
Utg. af H.Schück (Svenska Memoarer och Bref, Bd. 5, 6). Stockholm (1903.)
(а) Vgl. Mala mani, Canova, 8. 25. A. G. Meyer. Canova, 8. 14. Vgl. Nyblom, 8. 70.
(3) 8. Adlerbeth, 8. 155.
(4) Vgl. oben und Brief an Byström bei Nyblom, 8. 66.
(5) Vgl. Göthe, 147, 156. Brising, 132. S
205
Sinnesart und der künstlerische Intellekt wollen nun nicht immer Hand in Hand
arbeiten, und so kommt in sein späteres Schaffen ein Zug von Unsicherheit, ein
Schwanken zwischen verschiedenen Polen.
Fraglich bleibt allerdings, ob nicht Sergel bereits 1778, als er von Rom scheiden
mußte, seine künstlerische Akme überschritten hatte; jedenfalls sticht der in Paris
modellierte Othryades durch seine theatralische Haltung von Sergels reifen römi-
schen Werken unvorteilhaft ab; er ist gesuchter und trotz eines gewissen Auf-
wandes an Pathos kühler als jene. Nun muß man vielleicht bei dieser Arbeit
in Betracht ziehen, daß sie mit einiger Eile ausgeführt wurde, und Sergel zählte
zu den Künstlern, die die volle Leistung nur erreichen, wenn sie ihre plastischen
Ideen bedachtsam durcharbeiten und ausgestalten können: „il faut fair et refair,
si un artiste veut attaindre son butte,“ lautet sein Bekenntnis'). Allein auch
während der drei Jahrzehnte, die er dann noch in Stockholm gelebt und gewirkt
hat, ist ihm — mit einer Ausnahme — kein Werk mehr gelungen, das ein ent-
scheidendes Schwergewicht in die Wagschale seiner Leistung wiirfe. Daß der
frische Strom seines Schaffens in der zweiten Hälfte seines Lebens ins Stocken
geraten sei, davon hat er selbst ein Gefühl gehabt. „je n’ai été que dans le chemin
sans atteindre le bute“: mit diesen resignierten Worten hat er in hohem Alter die
Bilanz seines Lebenswerkes gezogen*), und die Schuld hieran schob er vor allem
auf seine verfehlte künstlerische Ausbildung durch Larchevéque, die ihn die ganze
Jugendzeit gekostet habe, daneben aber auch auf seine Versetzung nach dem Norden.
Stand er doch hier mit seiner Kunst völlig allein; er wurde nicht durch den Wett-
eifer mit andern angeregt und verjüngt, er vermißte den Rat und die Kritik sach-
verständiger Kameraden, er vermißte das Kunstklima überhaupt: im Norden friert
seine Seele und seine Phantasie). Diese Stimmung beherrschte ihn besonders
unter den Nachfolgern Gustavs IIL, die für ihn und für die Kunst wenig übrig
hatten — „Kunst und Künstler sind in Schweden begraben,“ erklärte et kurz und
bündig im Jahre 1797‘). Der Trubel des bunten Genuß- und Gesellschaftslebens,
in dem er sich bewegte, konnte in ihm nicht das schwermütige Gefühl betäuben,
daß er aufs Trockene gesetzt sei; es ist ergreifend, wenn er sich in einem seiner
letzten Lebensjahre mit Canova vergleicht, dem Glücklichen, der in Rom lebt und
große Werke schaffen kann — er kann seine Entwürfe nicht ausführen, kann sein
Talent nicht in seinem ganzen Umfange bekannt machen: „je suis а plaindre“®).
Gustav III. hat unzweifelhaft große Stücke auf Sergel gehalten, aber ein tieferes
Verständnis für ihn, ein inneres Verhältnis zu seinem Schaffen hat er wohl kaum
gehabt, und im ganzen hat er in der Kunst doch wohl vor allem ein vornehmes
Repräsentationsmittel gesehen. Womit er seinen Hofbildhauer hauptsächlich be-
schäftigte, das waren Bildnisaufträge, und da bei Sergel auch aus andern Kreisen
Porträtbestellungen in nicht geringer Zahl eingingen, so hat er auf dieseni Gebiete
eine recht umfängliche Tätigkeit entfaltet. Im ganzen werden ihm über vierzig
Porträtbüsten, dazu noch mehr als hundertundachtzig Medaillonbildnisse zu-
(х) Nyblom, 8. 76.
(2) Ebdas. 61,66. Gelegentliche Ausbrüche völliger Verzweiflung an seinem Talente sind wohl starken
seelischen Depressionen zuzuschreiben, wie z.B. der in einem Briefe an Abildgaard vom 26. Aug. 1799:
„Je suis degouté de mon talant, je deteste tout ce que j’al fais et encore moin envie ou faculté de
fair quelque chose“ (Serg. Bref 35).
(3) An Abildgaard: Serg. Bref, 8. 34, 75.
(4) In der Selbstbiographie für Gjörwell: Serg. Bref, 8. 31.
(5) Nyblom, 70.
206
geschrieben'). Es sind durchweg achtbare und tüchtige Arbeiten, aber sie gehen
über den Stil und den guten Durchschnitt der Porträtplastik des 18. Jahrhun-
derts nicht hinaus. In erster Linie für den Repräsentations- und Gesellschafts-
bedarf bestimmt, halten sie sich ans Typische und Weltmännische; die Männer
sind vornehm und elegant, die Frauen liebenswürdig und anmutig, aber nur in der
Büste der Gräfin Fersen in Witwentracht ist eine individuellere Charakteristik
und eine lebendigere Menschlichkeit erreicht. Sergel ist auch mit dem Herzen
kaum bei diesen Arbeiten gewesen; mit der ganzen Ästhetik des 18. Jahrhunderts
sah er im Porträt eine untergeordnete Gattung, und unwirsch klagte er seinem
Schüler Byström, in Rom spreche man von Statuen, in Stockholm denke man nur
an Büsten und Medaillons).
Mit Monumentalaufträgen aber war es freilich — schon aus Mangel an Geld-
mitteln — knapp bestellt, und was es etwa an solchen gab, das blieb im Gips
stecken oder mußte sich mit der Ausführung in unedlem Matnriale begnügen.
Sergels früheste Stockholmer Arbeiten monumentalen Charakters sind zwei Werke
in der Adolf Friedrichskirche. Das eine ist ein bereits 178r vollendetes, in Blei
gegossenes Grabdenkmal für den in Stockholm verstorbenen Philosophen Descartes,
das andere ein Gipsrelief der Auferstehung Christi, das 1785 über dem Altare der
Kirche aufgestellt wurde. Dort zieht ein auf massiven Wolken schwebender Genius
mit großem Griffe eine Decke von der Erdkugel weg, indem er auf diese Weise
die Aufklärung der Welt durch den Philosophen symbolisch zum Ausdrucke bringt;
hier steigt Christus mit weitgeöffneten Armen, von leichter Gewandung umflattert,
steil empor, während das Bahrtuch in schwerem, breitem Flusse von ihm nieder-
sinkt. Das Motiv des Grabmals trägt Berninisches Gepräge, und auch das Auf-
erstehungsrelief, das nichts anderes als ein in plastische Formen übertragenes Ge-
mälde ist, gehört seiner ganzen Auffassung und Bebandlung nach dem barocken
Stilkreise zu. Aber der Christus auf diesem Relief ist ein antiker Heros und die
Engel sind gleichfalls mit antiken Typen gegeben: die Stilelemente klaffen eigen-
tümlich auseinander, ohne daß Sergel sie organisch zu verschmelzen oder aus-
zugleichen vermocht hätte ). Glücklicher ist die Mischung in zwei reizvollen,
gleichfalls den achtziger Jahren entstammenden dekorativen Bildwerken gelungen,
einer eine Schale tragenden Karyatide und einer die Proserpina suchenden, in
jeder Hand eine Fackel hoch emporhebenden Ceres, in denen die in Anlehnung
an die Antike aufgebauten Figuren von einem breiten, schwellenden Leben der
Formen erfüllt und mit sicherer Hand auf festlich-dekorative Wirkung stilisiert sind.
Gipsmodell blieb auch die 1789 vollendete Sockelgruppe für das von seinem
Lehrer Larchevéque stammende Denkmal Gustav Adolfs. Dies Denkmal fand seine
Stelle auf einem Platze, der als eine Art monumentalen Vor- und Ehrenhofs zum
Königsschlosse angelegt war, und zwar wurde es achsial zu diesem aufgestellt.
Dem trug Sergel Rechnung, indem er seine Gruppe der Vorderfront des Denkmals
breit vorlegte und diese dadurch wuchtig akzentuierte. Die Gruppe stellt Gustav
(x) Hierüber s. Göthes Abhandlung über Sergels Porträtbüsten in der Festschrift „Statens Konst- |
samlingar 1794—1894“.
(2) Nyblom, 76. Vgl. seine Äußerung über die Bildnismaler, sie seien plus fabricante qu’artists
(an Abildgaard: Serg. Bref, 8. 48). А
(3) Man vergleiche zu dieser Stilmischung die wunderliche Zeichnung der Auferweckung des Lazarus
von Sergels Freunde, dem Grafen Ehrensvärd, bei Warburg, Ehrensvärd, 8. 96, wo der Vorgang
etwa in der Art einer antiken Opferszene behandelt ist und ein von einer Glorie umstrahlter Apollo
den Mittejpunkt bildet.
207
Adolf Kanzler Oxenstierna dar, wie er der Muse der Geschichte seines Königs
Taten diktiert. Auf kräftig aus dem Denkmalssockel herausgeschobener Stufe steht
Oxenstierna und weist diktierend auf die Schriftrolle in der Hand der zu seinen
Füßen sitzenden, lauschend zu ihm aufblickenden Muse. Dies ist das Werk, in dem
Sergel am konsequentesten versucht hat, die Erfahrungen seines neuerlichen römi-
schen Besuches in die Tat umzusetzen und im klassizistischen Stile der strengeren
Observanz zu schaffen. Die Gruppe ist grundsätzlich auf „edle Einfalt“, auf sta-
tuarische Gelassenheit eingestellt). Sie ist in parallelen Flächenschichten auf-
gebaut; die infolge der Höhen verschiedenheit der beiden Figuren einige Schwierig-
keit bietende Verbindung zwischen ihnen ist mit dem möglichen Mindestaufwande
an Bewegung und Verschiebung hergestellt. Es liegt nahe, die Gruppe sich aus
der Sockelwand heraus entwickelt zu denken; allein dadurch, daß Oxenstiernas
Gestalt über den Sockel hinauswächst und die Basis des Reiterstandbildes selbst
überschneidet, wird dieser Eindruck verunklärt. So ist wenigstens das Verhältnis
in der jetzigen Aufstellung, die erst 1906 erfolgt ist, nachdem nach Sergels Modell
ein Bronzeguß hergestellt worden war; es muß dahingestellt bleiben, ob der
Künstler, hätte er selbst die Gruppe ausführen und aufstellen können, die Kom-
position in dieser Form belassen hätte. Die Wirkung ist jedenfalls, daß sie so eine
Selbständigkeit gewinnt, die mit ihrer Aufgabe als Sockelschmuck nicht zusammen-
geht; sie hat sich zu einem Denkmal am Denkmale ausgewachsen, welches, nur
äußerlich dem Denkmalskirper vorgesetzt, ohne funktionelle Verbindung mit ihm
bleibt, daher die plastische Einheitswirkung des Monumentes zerreißt und die be-
herrschende Bedeutung der Reiterfigur gefährdet. Hiervon abgesehen ist die Kom-
position auf das Sorgfältigste durchgerechnet, von vollkommener Klarheit und Ein-
deutigkeit — aber ein Hauch kühlen Akademismus geht von ihr aus; Sergels sonst
nie sich verleugnendes blutvolles Temperament hat hier vor der klassizistischen
Forderung kapituliert. Bemerkenswert ist, daß die Gestalt Oxenstiernas ohne jeden
Versuch antiker Bemäntelung in der Zeittracht dargestellt ist, und man versteht,
daß dem Berliner Schadow dies „schöne Frontispice“ in seiner planen Verständ-
lichkeit und streng rationalen Formsprache in hohem Grade zusagte*). Wenn
Schadow Sergels Verfahren, die Sockeldekoration ganz auf die Vorderseite des
Denkmals zu beschränken, als etwas Neues anmerkt, so ist dies insofern zutreffend,
als die Dekoration der Barockbildnerei den Sockel von Freidenkmälern rundum
zu umfassen, ihn als einheitlich geschlossene Masse nach allen Seiten hin gleich-
mäßig zu entfalten und zu betonen liebte, während durch Sergels Anordnung das
Monument gewissermaßen auf die Fläche projiziert wurde °).
(х) Welchen Wert der strenge Klassizismus auf diese Eigenschaften legte, ist aus den 1818 ver-
öffentlichten programmatischen Darlegungen Cicognaras im 3. Bande seiner Storia della Scultura,
8. 451. zu ersehen.
(2) Aufsätze und Briefe, 8. 33, 37.
(3) Es mag an Beispielen für die barocke Denkmalsdekoration aus Sergels Jahrhundert auf die Denk-
mäler Lemoines und Bouchardons für Ludwig XV. von 1743 und 1768 hingewiesen sein: jenes bei
Patte, Monum. érigés . . à la gloire de Louis XV., Р. 1767, Tafel 14; dieses bei Marcette, Descr.
des Travaux qui ont précedé . . la fonte. . de la Statue de Louis XV., Р. 1768, 8. 161. Auch Gui-
bals Standbild für Ludwig XV. in Nancy (1755) bei Patte ist lehrreich, Trotz seiner Bewunderung
für die von Sergel gewählte Anordnung ist Schadow ihr nicht gefolgt, sondern hat in seiner Zeich-
nung sum Friedrichdenkmal (Abbildung im Kataloge der Schadow-Ausstellung der Berliner Akademie
1909) wieder allegorische Gestalten an den vier Ecken des Sockels vorgesehen, und auch Rauch hat
ja dann am Denkmale Friedrichs des Großen die Sockeldarstellungen bekanntlich unter nachdrück-
licher Betonung der Ecken rund herum geführt.
208
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Erst an seinem späten Lebensabend erhielt Sergel in Stockholm einen bedeuten-
den Monumentalauftrag. Es war das Denkmal für Gustav III.
Sergel hatte für diesen fürstlichen Charmeur eine bis zur Anbetung gehende
Liebe gefaßt. „Hier findet sich Vollkommenheit!“ schrieb er schwärmerisch auf
ein Blatt mit feinen Bildnisstudien des Königs). Der Pistolenschuß, der dessen
Leben ein vorzeitiges Ende setzte, hat auch dem Herzen seines Hofbildhauers eine
nie verheilende Wunde zugefügt. Mit allen „alten Gustavianern“ hielt Sergel das
Andenken an den Monarchen als ein heiliges Vermächtnis in Ehren. Anläßlich
der Enthüllung seines Denkmals fand sich eine Anzahl von ihnen zu einem Fest-
mahle zusammen, bei dem es gustavianisch scharf herging. Einige der Teilnehmer
lagen schon unter dem Tische und Sergel selbst mußte gestützt werden, als er
sich zum Trinkspruche auf den königlichen Patron erhob. Er rief: „Tausend Teufel
sollen mich holen, war nicht Gustav III. ein Strahl vom ewigen Lichte!“ In vino
veritas: in diesen drastischen Worten Sergels spiegelte sich das Bild, das ihm von
dem Dahingegangenen vorschwebte. In der Büste, die er für seine Aufbahrung
schuf und später in Marmor ausführte, gab er Gustavs Züge, in einen Apollotypus
einbeschrieben, in sehr summarischer Formgebung, und mehr als Apotheose denn
als Bildnis — aber ein heiteres inneres Leuchten strahlt von diesem freien und
schönen Haupte aus: es ist Gustav, wie er in Sergels Seele lebte. Und als er
sein Denkmal zu modellieren hatte, da wußte er, um sein Wesen in Sichtbarkeit
umzusetzen, keine geeignetere Form als das höchste Bild vergöttlichten Menschen-
adels, das er kannte: den Apollo von Belvedere. Der belvederische Apollo hat
seiner Gustav-Gestalt Haltung, Bewegung und Proportionen geliehen; und als Sergel
dies tadelnd vorgehalten wurde, bemerkte er ironisch, er werde für das kritisiert,
wofür man ihn loben müßte). Und hierin hatte er insofern recht, als er sich nicht
in eine Nachahmung des antiken Vorbildes verloren, sondern ihm neues, eigenes
künstlerisches Leben abgewonnen hat. Der schwedische Offizier, als den Sergel
den König mit nur leichter Idealisierung der Tracht dargestellt hat, hat die ihm
verabreichte Dosis Antike trefflich vertragen und verarbeitet (s. Abb.): leicht und
frei, elegant und anmutig tritt Gustav an der Stelle, wo er nach dem finnischen
Feldzuge zum ersten Male wieder den schwedischen Boden bestieg, vor sein Volk,
den Kranz des Siegers und den Ölzweig des Friedens in den Händen tragend, be-
zaubernd und seinen Zauber genießend, ein Festkönig — ein Theaterkönig, wenn
man will, aber in Erscheinung und Charakter jedenfalls eine überzeugende Ver-
körperung jenes schwedischen ancien régime, wo der Absolutismus sich volksnah
und volkstümlich zeigte und zu zeigen liebte, und wo sich die Welt noch einmal
mit schönem Scheine zu schmücken verstand.
Das Denkmal, das in der Skizze bereits 1790, im großen Gipsmodelle 1793 fertig
war, wurde erst im Jahre 1808 im Bronzegusse vollendet und aufgestellt. Seine
Enthüllung war eine der letzten großen Freuden, die dem alten Künstler beschieden
war. Eine trübe Zeit des Niederganges war über Schweden hereingebrochen, `
im Kunstleben herrschte Öde, die besten unter den Freunden waren dahin, und
Sergel selbst wurde mehr und mehr von Krankheit gebeugt. Sein alter Erb-
feind, die Gicht, setzte ihm hart zu, schließlich konnte er sich kaum noch ohne
fremde Hilfe bewegen und periodenweise verdüsterte eine schwere Hypochondrie
seinen Geist. Aber immer wieder riß ihn sein urkräftiges Temperament empor,
(z) „Se! Häpna! Se och vet. Dir fins fullkomlighed“: Bileistiftstudie, Florens 1783, bei Kruse,
Blatt П, 1.
(2) Nyblom, 65.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 7- 9. 14 209
immer wieder griff er nach dem vollen Becher des Lebens, und immer noch ver-
breitete der unverwüstliche Greis, wo er erschien, Leben, Wärme und Heiterkeit.
Noch einmal, im Jahre 1813, konnte er einen heftigen Anfall überstehen, allein er
blieb nun doch in kümmerlicher Verfassung zurück, und im nächsten Jahre, am
26. Februar, schied er dahin. Auf dem Kirchhofe der Adolf Friedrichskirche, seinen
Werken nahe, ward er zur letzten Ruhe bestattet.
A +
Ф
Versuchen wir hiernach, уоп Sergels ktinstlerischer Persönlichkeit ein zusammen-
fassendes Bild zu gewinnen, so zeigt es sich, daß den Umkreis seiner kräftigen
und bedeutenden Begabung vorzüglich das Lebensvoll-Sinnliche bildete. Seine Ge-
stalten sind an Leib und Seele gesund, wohlgeschaffen, von Künstlichkeit frei,
lebensfähig und lebensfroh; seine Formensprache ist klar, gerade, natürlich, allem
Übertriebenen, Verschrobenen und Morbiden abgeneigt und fern. Merkwiirdig ist,
daß die Melancholie, mit der er so oft schwer zu ringen gehabt hat, in sein Werk
keinen Schatten geworfen hat; da herrscht Heiterkeit, Kraft und selbst Festlichkeit,
und auch in den wenigen Fällen, wo er religiöse Motive zu behandeln hatte, hat
er nicht Gelegenheit zum Bekenntnisse von Seelenängsten und Seelennöten ge-
nommen. Er war wohl im Punkte der Religion ein Mann des Aufklärungszeitalters,
überhaupt aber kein Grübler oder Mystiker, sondern ein Kind der Welt. Er war
ein männlicher Charakter mit einer starken dramatischen Ader, hielt sich gleicher-
maßen von Roheit wie von Süßlichkeit fern und bewahrte stets einen gepflegten,
unaufdringlichen Geschmack. So war er, wie als Mensch, so auch als Künstler
durchaus ein Sohn des 18. Jahrhunderts. Sein großes ktinstlerisches Erlebnis bildete
die Begegnung mit der Antike, in der er eine höhere und vollkommnere Form des
plastischen Gesetzes und Ideales erblickte, als der Rokokostil zu geben vermochte.
Vom Zeitpunkte dieser Begegnung an bildet den Inhalt seines Schaffens die Aus-
einandersetzung mit dem neuen Ideale, dem sein angeborenes Temperament und
seine künstlerische Erziehung ernste Widerstände entgegensetzten. Jede Aufgabe
wurde ihm so zu einem neuen Probleme, und sein Schaffen erhält dadurch eine
innere Spannung, durch die es dem Thorwaldsens überlegen ist, das, nachdem er
einmal seine Form gefunden hat, Jahrzehnte hindurch fast unproblematisch fortläuft,
Seine plastischen Vorstellungen setzten sich nicht, wie die Thorwaldsens und
anderer Vertreter des Hochklassizismus, gleichsam automatisch in antike Formen
und Typen um, sondern konnten von ihm erst in bedachtsamer Arbeit und nicht
ohne Mühe in Einklang mit dem antiken Ideale gesetzt werden, und sie haben
dadurch einen frischeren und individuelleren Charakter bewahrt. Als einer der
ersten europäischen Bildner hat er eine Anzahl der grundlegenden Formgedanken
des Klassizismus erfaßt und verwirklicht, aber die Schwierigkeit, die diese Aufgabe
ihm bereitete und späterhin seine Isolierung im Norden, fern vom lebendigen Um-
triebe der allgemeinen Kunstentwicklung, haben es mit sich gebracht, daß sein
Werk sich auf einen verhältnismäßig bescheidenen Umfang beschränkt und daß er
nur in einer kleinen Anzahl von Schöpfungen zur vollen Flöhe seiner Kraft auf-
zusteigen vermochte. Seine künstlerische Persönlichkeit ist reicher und breiter als
seine plastischen Arbeiten sie ausweisen. Man gewinnt den vollen und freien
Ausblick auf sie erst durch das Studium seiner Zeichnungen.
210
VIL
Sergel war ein leidenschaftlicher Zeichner. Man schätzt die Zahl seiner Zeich-
nungen auf etwa 2000; ihrer 700 etwa besitzt das Stockholmer Nationalmuseum!).
Ein Teil davon hängt unmittelbar mit Sergels künstlerischem Werden und
Schaffen zusammen. Es sind Studien nach Bildwerken der Antike, gelegentlich
auch wohl nach solchen des Barocks, und nach den Gemälden der Großmeister
der Hoch- und Spätrenaissance. Es sind weiter Entwürfe zu eigenen Kompositionen.
Diese Entwürfe zeigen eine leicht fließende, schwungvolle, oft geistreiche Erfindungs-
gabe. Es sind vorzügliche Blätter darunter; beispielsweise sei die der römischen
Zeit entstammende Federzeichnung eines trauernden Achilleus mit der knieenden
Briseis hervorgehoben (Kruse VI, 5), ein Blatt von großartigem Duktus, wo jeder
Strich seine Ausdruckskraft und seine Funktion hat und mit bescheidenem Auf-
wande an Mitteln eine reiche, lebensvoll rhythmisierte Formanschauung erzielt
wird.
Aber woran das Interesse sich doch vor allem heftet, das ist Sergels Selbstbio-
graphie in Zeichnungen, zu der die Kunstgeschichte wohl kaum ein Seitenstück bietet.
Hunderte von Improvisationen bilden schließlich zusammen eine ganze Lebens-
chronik, durch deren Blätter, stattlich und beherrschend, Johann Tobias Sergel als
Held dahinwandelt. Wir lernen ihn genau kennen: einen großen, wohlbeleibten
Herrn von gemessener Haltung, mit kräftig ausgebildeter Nase und ernstem Blicke,
zeitig schon auf den Gebrauch des Stockes oder der Krücken angewiesen. Wir
begleiten ihn von Rom nach London und Stockholm, folgen ihm in seine Wohnung,
ins Wirtshaus, zu den Landsitzen seiner Freunde, in den Badeort. Wir sehen ihn
schreibend, schlafend, reisend, kneipend und tanzend, Ochsenzungen einpökelnd
und gelähmt von der Gicht, unfähig, sich allein fortzubewegen. Sein ganzer Um-
gang passiert in einer Reihe höchst lebendiger Gestalten vor uns Revue: Abild-
gaards schlotterichte Figur, der unruhig-bewegliche Füßli, seine knochige, römische
Haushilterin Lucia; König Gustav im Staatsaufzuge und bei vertraulichem Besuche;
Diplomatie und Gesellschaft von Stockholm; Bellman, der Sänger, der gefräßige
Maler Elias Martin, Ehrensvärd, der Seeheld mit dem Gelehrtengesichte, und dann
die holde Weiblichkeit: Anna Rella, die Freundin seines Herzens, seine reizbare
Haushälterin Fredrika Löf und die üppige „Nymphe Maja“, an der sein Altersfreund
Per Tham Interesse nimmt, und noch so manche andere. Am ganzen Tages- und
Jahresleben des Sergelschen Kreises nehmen wir teil: an Gelagen, Ausflügen, Be-
suchen, Liebeleien, Hausstandsszenen, Unfällen, Abenteuern, Späßen, und wir werden
selbst Zeugen des Schlaganfalls, von dem Sergel 1812 im Bade Porla getroffen
wurde.
Diese Zeichnungen waren nicht auf künstlerische Vollendung berechnet und nicht
zur Kenntnisnahme der Welt bestimmt. Es sind Intima. Das Zeichnen war für
Sergel eine Unterhaltung, die er daheim wie auf Reisen betrieb“); er beobachtete
(x) Sergels Zeichnungen im Nationalmuseum hat im Auftrage von Foreningen för Grafisk Konst
J. Kruse zu veröffentlichen begonnen; leider ist die schöne Ausgabe durch den Tod des Verfassers
vorzeitig unterbrochen worden. Unter den Sergel- Biographien vardient die Looströms wegen ihres
reichen und vortrefflich ausgewählten Abbildungsstoffes an Zeichnungen besondere Beachtung. Es
gehört zu Georg Göthes Verdiensten, auf die Bedeutung Sergels als Zeichner zuerst hingewiesen zu
haben; s. seine Sergel- Biographie 223 f.
(2) „Je m’amuse & crocailier comme chez toi,“ schreibt er am 28. Mai 1800 an Abildgaard (Serg.
Bref 44), und von seinem Besuche bei Ehrensvärd auf Dömestorp im Jahre 1796 berichtet er seinem
Freunde, dem Landschaftsmaler Elias Martin: „Wir zeichneten Wette“ (Kruse, Einleitung su Teil II, S. 11).
211
immer, sich wie andere, und er zeichnete, was er sah, Mönche, Badegäste, Tänzer,
Landschaften, oder er phantasierte sich auch was zusammen. Gelegentlich liebte
er sogar seine Briefe, z. B. an Ehrensvärd und Tham, zu illustrieren, und es ver-
steht sich, daß sich unter den Hunderten von Zeichnungen dieser Art viele be-
finden, die nur Gelegenheitsscherze sind und die Freunde einen Augenblick amü-
sieren sollten. Im ganzen aber tibt diese gezeichnete Biographie eine geradezu
unwiderstebliche Anziehung aus. Man sieht eine hohe zeichnerische Kraft, die
ohne alle Hemmungen, unbekümmert um Regeln oder Vorbilder, frei ihren Impulsen
folgt; der federnde Strich verrät das Behagen des seiner selbst sicheren Impro-
visators; restlos, mit überlegener Leichtigkeit, wird die Konzeption in Form um-
gesetzt. Zuweilen drängen wenige, wuchtig hingesetzte Striche der Fläche ein
konzentriertes Leben ab — wie z. B. in dem Bildnisse des Malers Vincent —: dann
erkennt man in der plastischen Modellierung der Form die Hand des Bildhauers.
Aber in zahlreichen anderen Zeichnungen entwickelt er eine überraschende male-
rische Begabung, füllt er das Blatt mit dem lebendigen Spiele von Licht und
Schatten, löst die Formen in zarten Übergängen auf, schildert die sonnige Luft
oder das Weben des Mondscheins im Innenraume oder den großen Zug der Wolken
über einer weiten Landschaft. Wieder in anderen Zeichnungen deutet der ans
Ornamentale streifende Zug seiner Feder auf eine geheime Lust an der Arabeske.
Aber welchen Verfahrens er sich auch bedienen mag, immer ist die Form fest
gepackt, das Hauptsächliche kräftig herausgeholt, die Fläche glücklich gegliedert
und gefüllt. Immer sind die Zeichnungen in allen Teilen mit Leben geladen, und
manche davon funkeln geradezu von Geist.
Den meisten seiner Zeichnungen ist ein Element der Karikatur beigemischt.
Sergel hatte ein scharfes Auge für das Charakteristische, Individuelle; es gibt von
ihm physiognomische Studien, die an ähnliche Versuche Lionardos erinnern. Gern
hebt er das Charakteristische durch karikierende Unterstreichung hervor; er sieht
das bunte Spiel des Lebens im Lichte der Satire, und er tut sich keinen Zwang
an — er wird derb, vulgär, zynisch. Treffend hat Carl G. Laurin auf die Ver-
wandtschaft seiner Zeichnungen mit den Arbeiten der englischen Karikaturisten
und Sittenschilderer wie Rowlandson und Gillray hingewiesen'). Aber das Vor-
züglichste erreicht er doch in solchen Blättern, wo Karikatur und Satire nur noch
in feinster Verdünnung mitspielen, wie z. B. in der berühmten Zeichnung, in der
er sich selbst Ochsenzungen einpökelnd dargestellt und in der er das urkräftige
Behagen seiner römischen Existenz hinreißend zum Ausdrucke gebracht hat (Kruse,
I, 2), oder in der Zeichnung des polnischen Grafen Sierakowski (Kruse, III, 3), in
der das Individuelle wie das eigenttimlich Nationale mit prachtvollem Griffe fest-
gehalten ist. Dann erreicht seine Charakteristik zuweilen eine überraschende Tiefe.
Niemand hat das Zwiespältige im Wesen des Dichters Bellman mit so sicherer
Intuition verstanden und aufgezeigt, wie Sergel, der hinter den Zügen des bakchan-
tischen Sängers und Lebensgenießers das Gespannte, Müde, Hypochondrische er-
kennen läßt (з. Abb.); wenn er ihn bei seinem Morgenschnaps und Frühstück „müd
und mürrisch“ zeichnet, so streift er ans Tragische (Kruse, П, 5). In den Zeich-
nungen, die den Grafen Ehrensvärd auf einem Spaziergange und in Begleitung
eines Bauern auf einem Ritt über Land darstellen, erinnert er in der Ausdrucks-
kraft des Umrisses und der dramatischen Abstimmung von Helligkeiten und Dunkel-
heiten an Daumier, während in der düster bewegten Schilderung seines Schlag-
(х) Nach Kruse, Einleit. zu Teil I, S. 2. Vgl, Gdthe, 134.
212
anfalls, wo der aus dem Dunkel ausgestreckte Arm eines Zuschauers wie ein Mene
Tekel auf ihn hinweist, eine visionäre Stimmung erreicht ist, die an Goya anklingt.
Und im „Albdruck“ (s. Abb.) vermag die visionäre Kraft seiner Phantasie das Un-
wirkliche, Unfaßbare in leidenschaftlich aufgewühlten Linien und Flächen, in denen
die tiefe Erregung des seelischen Erlebnisses zittert, zu schreckhafter Wirklichkeit
zu bannen.
Nicht immer hat Sergel seine Zeichenfeder ins Ätzwasser der Satire getaucht.
Wenn er von seiner Anna Rella erzählt, entfaltet seine Zeichnung Zartheit, und
dann vertauscht er gern die kecke Feder mit dem behutsameren Bleistift, mit dem
er ihre Gestalt auf einem duftigen Blatte umreißt. Ein andermal gibt er ihren
Kopf mit Watteauscher Anmut, oder er belauscht sie, ein Bild saftiger Gesundheit,
beim Schlafe. Wenn er sie aber mit seinem Söhnchen Gustav zeichnet, dann
spürt man, selbst wenn er das Familienidyll mit leichter Ironie behandelt, sein
Wohlgefühl in der beschwingten Grazie seiner Strichführung.
SchlieBlich ist noch der Landschaftszeichnungen Sergels zu gedenken, die eine
bemerkenswerte Unbefangenheit des Naturgefiihls bezeugen. Wir wissen aus
manchen seiner Äußerungen, daß er die Natur liebte und genoß, und das wird
durch seine Landschaftszeichnungen bestätigt. Sie sind nicht nach einem der zu
seiner Zeit beliebten Kompositionsschemata gebaut und gehen nicht darauf aus, die
Natur zu idealisieren oder zu stilisieren. Es sind frische Abdrücke eines Natur
erlebens, in denen der Charakter und die großen Formen der Landschaft breit und
sicher festgehalten sind; in der „Aussicht von Dömestorp in Halland“ (Kruse, УШ,2)
ist ihm durch die кеске Behandlung des Himmels auch eine glückliche atmosphä-
rische Belebung des Naturbildes gelungen. Gar wohl stimmt es zu diesen Zeug-
nissen seines Naturgefühls, daß er tiber die Landschaftsmalerei sehr vorurteilslos
dachte: hier gelte es nur „schöne Natur“; sie gewissenhaft wiederzugeben, sei viel
besser als Kompositionen herzustellen, die der Wirklichkeit immer unterlegen seien
und das Auge des Naturbeobachters nie ansprichen’).
Erst wenn man Sergel den Bildner und Sergel den Zeichner zusammenhält, ge-
winnt man ein Rundbild seiner künstlerischen Persönlichkeit. In seiner Bildnerei
liegen angeborenes Temperament und erworbenes Kunstideal oft in einem Streite,
den er nicht immer reinlich zu schlichten vermag; er zeigt sich vorsichtig in der
Arbeit, nimmt sich in strenge Zucht, stellt sich entschlossen auf eine Stilform ein.
In den Zeichnungen hingegen ein strömendes, nach allen Seiten frei spielendes
Temperament, Explosion eines Kriftetiberschusses, ein herzhafter Wirklichkeits-
sinn, eine bewegliche, bis ins Helldunkel des Romantischen schweifende Phantasie.
Erst in ihnen wird man des germanischen Grundelementes in Sergels Persönlich-
keit habhaft, einer ungezügelten, das Leben mit allen Poren einsaugenden und es
in barocken Reflexen widerspiegelnden Naturkraft, die sich in der Bildnerei durch
die Festigkeit und Klarheit romanischen Formdenkens gebändigt zeigt.
VUL
Der Norden und der Klassizismus,
Die Stellung der nordischen Völker zum Klassizismus ist sehr verschieden.
Dasjenige Land, wo er die tiefsten Wurzeln geschlagen und die reichsten Früchte
getragen hat, ist Dänemark. Hier kam der Klassizismus jenem Zuge des Volks-
charakters entgegen, den die Dänen selbst als ihre „jevnhed“ bezeichnen: der
(1) Göthe, 226,
213
Neigung zum Ebenmäßigen, Ausgeglichenen, Feinabgestimmten, nach keiner Seite
das Maß und die Harmonie Uberschreitenden. Keines unter Europas Kulturvilkern
steht dem Barock innerlich so fern, wie die Dänen; erst im Zeichen des Klassi-
zismus wurde die dänische Kunst selbständig, gewann sie nationales Charakter-
gepräge, und alsbald entfaltete sie so frische Triebkraft, daß sie über Dänemarks
Grenzen hinaus zu wirken vermochte. So ist es wohl mehr als nur ein Zufall,
daß der Düne Hans Wiedewelt einer der ersten Jünger der klassizistischen Lehre
wurde; der Ruf seiner künstlerischen und Lehrtätigkeit war doch groß genug, um
den Schweizer Trippel zur Pilgerfahrt nach Kopenhagen zu veranlassen; bald er-
hielt der Klassizismus an der dortigen Akademie durch Abildgaards Rückkehr aus
Rom eine wesentliche Verstärkung, und in dieser von der Verehrung der Antike
erfüllten Kopenhagener Kunstatmosphäre war es, wo Carstens entscheidende Ein-
drücke empfing. Durch Trippel und Carstens strahlten von der nordischen Haupt-
stadt Einflüsse aus, die zu einem bedeutenden Einschlag in der Entwicklung des
Klassizismus auf römischem Boden wurden; von Wiedewelt, Abildgaard und Car-
stens aber führt die Linie dann weiter zu Thorwaldsen: Wiedewelt und Abildgaard
waren seine Lehrer, Carstens’ Zeichnungen aber kopierte er und verehrte er hoch.
Wenn Thorwaldsen zur Mittelgestalt des germanischen Klassizismus werden konnte,
so muß man zur Würdigung seiner Wirkung die Geistigkeit berücksichtigen, die
in seinem Schaffen lebendig ist. Der deutsche Humanismus, der Humanismus
Goethischer Observanz, war in Dänemark mit offenen Armen aufgenommen worden
und hat das nationale Leben des Landes auf Jahrzehnte hinaus infiltriert!); und
während der französische Klassizismus die politische und aktivistische Note an-
schlug, verkörperte sich in Thorwaldsens Kunst die germanische, rein ästhetisch-
ethische Spielart, die einen neuen Olymp voller Anmut und Würde schuf, wo
heidnische und christliche Gestalten sich in heiterer Idealität begegneten.
Die Baukunst blieb nicht zurück. Hier war es der ausgezeichnete Kaspar Fried-
rich Harsdorff, der den Klassizismus nach Dänemark tiberpflanzte. Die geschmack-
volle Maßhaltigkeit seiner Formengebung, seine Vorsicht in der Wahrung der
architektonischen Fläche, die zart rhythmisierte Feinheit seiner Verhältnisse sagten
dem dänischen Kunst- und Kulturgefühle auf das Glücklichste zu; er konnte, als
Kopenhagen nach einem Brande neu erstand, der baulichen Physiognomie der
Stadt bestimmende Züge aufdrlicken, und hierin fand er einen Nachfolger in seinem
Schüler С. F. Hansen, der die hellenisierende Sprache des nordischen Schinkels
in die massivere Mundart des Empires übersetzte. So wurde der Klassizismus
auch in der Baukunst zum nationalen Stile Dänemarks, und wiederum entsandte
er seine Ströme südwärts: der Harsdorffschüler Lillie erbaute das feine Behnsche
Haus in Lübeck, C. F. Hansen aber entfaltete in Altona und Hamburg eine reiche
architektonische Wirksamkeit, und in einer späteren Generation trugen die Brüder
Christian und Theophil Hansen die dänische Baukultur bis nach Athen und Wien.
Allein auch die dänische Malerei, die doch durch Eckersberg einer vorurteils-
losen, geschmackvoll-gesunden, wennschon etwas eng bürgerlichen Wirklichkeits-
und Heimatskunst zugeführt wurde, hat im Herzen das klassizistische Ideal bewahrt.
Eckersberg selbst war durch Davids Schule gegangen, hatte sich dann in Rom
verehrend an Thorwaldsen angeschlossen und bemühte sich stets, wo er „höhere“
Vorwürfe behandelte, seinen Bildern und Gestalten klassizistischen Wurf und Hal-
tung zu geben. Sein Schüler Constantin Hansen aber arbeitete eine klassizistische
(a) Vgl. meinen Aufsatz „Zur dänischen Geistesgeschichte“, Deutsche Rundschau, Januar 1983.
214
Stilkunst heraus, deren hervorragendstes Denkmal seine Universitätsgemälde in
Kopenhagen bilden. Und lange noch schwebt über der dänischen Bürgerkunst ein
feiner humanistisch-klassizistischer Hauch; die ganze dänische Bürgerkultur trägt
klassizistisches Stilgepräge.
So ist Dänemark als ein Brennpunkt in der Geschichte des europäischen Klassi-
zismus anzusehen. Seinen Gegenpol im Norden bildet Norwegen.
Seit dem 14. Jahrhundert aus dem Kreise der aktiven Kulturvölker Europas aus-
geschieden, haben die Norweger die Erlebnisse und Ergebnisse der europäischen
Kultur seitdem wesentlich als fertige Einfuhr überkommen, und an keiner der
großen Auseinandersetzungen mit der Antike, vom Humanismus und der Renais-
sance an, haben sie sich aus eigenem Antriebe und Bedürfnisse, mit eigenem Ein-
satze und eigenen Zielen beteiligt. War die nationale Kunstgesinnung und das
Kunstschaffen bis zum Eindringen des Christentums hartnäckig anti-antik, durchaus
nordisch-barbarisch gewesen, so standen die Norweger nun auch wieder beim Neu-
erwachen ihrer nationalen Selbständigkeit und ihrer künstlerischen Schöpferkraft
um und nach 1800 der Antike so fern, waren sie ihr innerlich so fremd wie kein
zweites unter Europas Kulturvölkern!), und die Schößlinge des Klassizismus trafen
daher hier auf steinigen Boden. Grosch aus Lübeck führte den Stil in Kristiania
ein, wo er die alte Bank (Reichsarchiv), die Börse, das Reichshospital und mit
Schinkels Unterstützung die Universität in klassizistischen Formen erbaute; am
alten Polizeihause in Bergen waren wohl C. F. Hansensche Einflüsse wirksam, und
‚auch sonst nahm die Baukunst im Lande hier und dort klassizistische Formen und
Abzeichen an, allein eine Tradition haben diese Leistungen und Versuche nicht
zu bilden vermocht. Der Klassizismus blieb in der Baukunst Episode, eine Bild-
nerei gab es in Norwegen nicht, und was die Malerei angeht, so war zwar J. C.
Dahls Lehrer Johann Georg Müller in Bergen an der Kopenhagener Akademie in
dem Stile ausgebildet worden, aber Dahl hat gerade dies Stilelement schnell und
gründlich ausgeschieden und die norwegische Malerei ganz anderen Bahnen zu-
geführt. Auch die Empirehaltung der Bildnisse Jakob Munchs war nicht mehr als
eine Zeitmode, wie sie auch das Kunsthandwerk mitmachte — für die innere Ent-
wicklung der norwegischen Kunst aber kann man sagen, daß der Klassizismus ins
Wasser geschrieben war.
Was schließlich Schweden anlangt, so war es ja mit der Person und dem Werke
Sergels frühzeitig und bedeutungsvoll in die klassizistische Bewegung im Norden
eingetreten, und nach Gustavs Ш. italienischer Reise konnte sich, wie bemerkt,
der klassizistische Stil auch die Baukunst erobern. Aber trotz königlicher Protek-
tion und vielfacher Verwendung ist er in Schweden nie recht zu gedeihlicher Blüte
gelangt. Er hat keine originellen Lösungen gefunden und keine selbständigen Züge
entwickelt; den klassizistischen Bauten Schwedens pflegt etwas Formelhaftes an-
zuhaften; das Institutionsgebäude im Botanischen Garten zu Upsala, dem die kräftige
Plastik des Baukörpers eine eigene monumentale Haltung gibt, ist die Schöpfung
des eingewanderten Franzosen L. J. Desprez. In der Malerei ist der Klassizismus
ohne Gewicht geblieben: Masreliez’ Werke waren eine recht unvollkommene Unter-
stützung seiner Lehre, und Wertmüller, dessen Klassizismus noch von Vien her-
stammte, gab in seiner Heimat nur Gastspiele. So war und blieb Sergel in der
Stockholmer Kunstatmosphire isoliert, und nun war es auch ihm nicht vergönnt,
(z) Hierzu s. meinen Aufsatz „Edvard Munchs Aulabilder und ihre Stellung in der norwegischen Kunst“
im Kunstwanderer, Juli 1931.
215
eine lebenskräftige Schule zu bilden. E. G. Göthe war ein gefälliges, dem An-
mutigen und Genrehaften zugeneigtes Talent; Sergels Lieblingsschüler A.N. Byström
aber, von dem sein Meister das Höchste erwartete, wurde eine Enttäuschung, in-
dem der Klassizismus in seinen Arbeiten zu einem frostigen, bei äußerer Prätension
innerlich ärmlichen Akademismus erstarrte. Für das Schicksal des schwedischen
Klassizismus ist es wohl entscheidend gewesen, daß er aus der nationalen Kultur
nie hat recht Nahrung ziehen können; die große humanistische Kulturwelle, die in
Dänemark auch die Kunst trieb, blieb hier aus — Schweden ist von der Aufklärung
des 18. mit ziemlich schnellen Schritten zur Romantik des 19. Jahrhunderts über-
gegangen, und so konnte die klassizistische Kunst nicht in den Kulturkörper ein-
wachsen und in seinen Blutumlauf eingehen. Der schwedische Genius, der der
. bürgerlich-humanistischen Kultur kühl und verlegen gegenüberstand, begann erst im
Zeichen der Romantik seine Schwingen wieder freier zu regen.
Und in diesem Lichte wird auch Sergels Schicksal und dessen Tragik verständ-
licher. Er war ein ungewöhnliches Talent und eine reiche künstlerische Persön-
lichkeit. Aber die Geschichte hat ihn auf einen verlorenen Posten gestellt. Sie hat
ihn aus dem lebendigen Strome der europäischen Kunstbewegung herausgerissen
und ihn in ein Land versetzt, wo seine Kunst im Grunde doch wurzellos war.
Auch das bedeutendste Talent kann nicht zur vollen Entfaltung gelangen, wenn
ihm nicht der Volks- und Zeitgeist fördernd entgegenkommen und es tragen. So
hat Sergel kein europäischer und auch wieder nicht ein in seiner engeren Heimat
eigentlich volkstiimlicher Künstler werden können. Sein Gegenbild ist Thorwaldsen,
dem europäischer Ruhm und Einfluß und die allgemeine Verehrung seiner Nation
gleicherweise mühelos als Geschenk der Götter in den Schoß fielen. Auf seine
Persönlichkeit stößt der, der die neuere Kunstgeschichte durchwandert, immer
wieder und selbst öfter als erwtinscht ist; die Spuren von Sergels Wirksamkeit
. aber sind verwischt. Will man indessen von der Entstehung des Klassizismus ein
rechtes Bild gewinnen, so ist es erforderlich, sich zu vergegenwärtigen, wie die
neue Kunstgesinnung neben- und nacheinander in Persönlichkeiten verschiedenster
nationaler und künstlerischer Herkunft sich bildete und mit welchen Schwierigkeiten
sie in ihren Anfängen zu kämpfen hatte. Man trifft dann in der Geschichte der
Bildnerei auf eine Übergangsgeneration, die kein beherrschendes Talent hervor-
gebracht, aber im ganzen doch erst die Bedingungen für den endgültigen Stil-
umschwung geschaffen hat. In diesem Zusammenhange nimmt auch Sergel und
sein Werk eine Stellung in der europäischen Kunstgeschichte ein.
Zu dem in Heft 4—6 veröffentlichten ersten Teil seines Beitrages über Sergel gibt Dr. A. Dresdner
folgende Berichtigung bzw. Ergänzung: Im ersten Teile dieser Arbeit ist leider eine größere Anzahl
von Druckfehlern stehen geblieben, durch die u. a. ein Teil der Eigennamen entstellt ist. So heißt
der mehrfach erwähnte schwedische Maler Masreliez, und aufS.98, Anm. ı soll der grausam miß-
handelte Name des dänischen Freundes Sergels Abildgaard lauten. 8.97, 2. 4 ist zu lesen: „wußte
etwa ein kunstsinniger Besucher des Nordens davon zu berichten“. 8. 108, 2.4: „das
geistige das Gefällige“.
Nachgetragen sei bei dieser Gelegenheit, daß Trippel während seines ersten römischen Aufenthaltes
(1776—78) Sergels Bekanntschaft gemacht hat (Neujahrsbl. des Kunstvereins Schaffhausen 1893, S. 18).
Den Litteraturangaben ist Axel L. Romdahls Büchlein über Sergel (Band 3—4 der „Nordischen
Kunstbücher“; Wien, о. J.) hinzuzufügen.
DIE CHRISTLICHE KUNST IM KAUKASUS
UND IHR VERHÄLTNIS ZUR ALLGEMEINEN KUNST-
GESCHICHTE (EINE KRITISCHEWÜRDIGUNG VON JOSEF
STRZYGOWSKIS „DIE BAUKUNST DER ARMENIER UND EUROPA“)
Von GEORG TSCHUBINASCHW ILI,
Professor der Kunstgeschichte an der Universität Tiflis i)
oo......“oeu.0.00000000000000000060000000000060000900080000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000 900 90 0 0 00
Da Baukunst Georgiens und Armeniens blieb bis zur letzten Zeit ein völlig ungehobenes Gebiet,
das auch keine bestimmte Stelle in der allgemeinen Kunstgeschichte zu behaupten wußte. Sie
wurde im allgemeinen als ein Teilgebiet der byzantinischen Kunst betrachtet, obwohl ein augensicht-
licher Unterschied beider nicht zu verschweigen war. Diese Sachlage hat zunächst ganz allgemeine,
der gesamten Kunstgeschichte und ihrer wissenschaftlichen Entwicklung eigene Ursachen. Alsdann
müssen auch ganz eigenartige, allein diesem Kunstzweig eigene hervorgehoben werden. Die ein-
zelnen Denkmäler der christlich -kaukasischen Baukunst selbst blieben unbekannt, da sie im besten
Falle nur durch ganz allgemein gehaltene Maß- und photographische Aufnahmen zugänglich waren.
Einen den gegenwärtigen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Untersuchung einzeiner
Baudenkmäler vermissen wir bis zur allerletzten Zeit noch. Erst während des Weltkrieges or-
schienen einige wenige Einzelveröffentlichungen über die armenische Kunst, herausgegeben von
dem Altertumsmuseum von Ani in St, Petersburg, wie dessen Monuments de l’architecture
arménienne (Heft I), Monuments de l’épigraphie arménienne (Hefte I, II), Les antiquités
d’Ani (Hefte I, П, Ш) und andere, Was aber eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Einzel-
tatsachen unter allgemeinen Gesichtspunkten enbelangt, so verfügten wir bis vor kurzem nur über
den kurzen und — auch nach dem Urteil des Verfassers selbet — veralteten Aufsatz von Kondakoff
über die alte Baukunst Georgiens (russisch, 1876) und einen noch älteren, ganz kurzen Aufsatz
von Carl Schnaase in dessen Geschichte der bildenden Künste (Bd. Ш, 1855, 1869).
am Schluß des Jahres 1918 erschien endlich in Wien die hervorragende zweibändige Untersuchung
des bekannten Fachmannes auf dem Gebiete der Kunstgeschichte überhaupt und insbesondere der des
christlichen Orients, Professor Josef Strzygowskis. Das Werk ist der armenischen Baukunst bis
etwa um 1100 gewidmet, Es ist — offengestanden — die erste eingehende, systematisch angelegte
Untersuchung über die Anfänge der Entwicklung christlicher Baukunst im Kaukasus im Rahmen
einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte der christlichen Капа).
Strzygowskis Untersuchung hat eine lange Vorgeschichte, nicht so sehr im eigentlichen Sinne
des Wortes wie im übertragenen, als Resultat der Zusammenfassung allgemeiner Gesichtspunkte des
Verfassers über die Entwicklungsprobleme der christlichen Kunst überhaupt. Seine erste Forschungs-
reise in den Kaukasus vom Jahre 1889 kuminierte in der Überzeugung, daß „die armenische Kunst
(1) Dieser Aufsatz war für den II. Band des Bulletin de l'Université de Tiflis bestimmt. Da
aber dessen Drucklegung seit Abfassung des Aufsatzes immer noch nicht in Angriff genommen
werden konnte, die hier gestreiften Fragen aber von ausschlaggebender Bedeutung sind, sehe ich mich
genötigt, den Aufsatz nicht länger zurückzuhalten und ihn somit anderorts zu veröffentlichen. [Daß
die Korrektur des Aufsatzes von Prof. F. Sarre gelesen worden ist und dem Verfasser nicht vorgelegt
werden konnte, sei auf besonderen Wunsch des letzteren bemerkt.]
(2) Strzygowski zitiert außerdem noch häufig zwei andere, ebenfalls vor kurzem herausgegebene
Werke, die das kaukasische Material benutzen. Es ist die Dissertation von Th. Kluge, Versuch
einer systematischen Darstellung der altgeorgischen Kirchenbauten und Millet,
L’&cole grecque dans l’architecture byzantine. Soweit ich aus Strzygowski schließen
kann, benutzen beide Verfasser nur allgemein zugängliches Material von älteren Publikationen
und photographische Aufnahmen Jermakoffs (Tiflis). Mit andern Worten: beide Werke sind
‚gebunden in ihren Schlußfolgerungen durch eine zufällige Stoffauswahl und ebenso eine zufällige
Bearbeitung desselben. Daher konnten sie kaum mehr als bloß Parallelen zu Erscheinungen anderer
Gebiete beibringen, da ihnen eine Kenntnis des inneren Entwicklungsganges der Kunst im Kaukasua
abgeht. Im Gegensatz dazu arbeitete Strzygowski zusammen mit einem das Material eingehend
kennenden Architekten, der auch eine Auswahl der Denkmäler nach der chronologischen Seite hin
bis 1100 traf. Somit verfügt Strzygowski über ein bestimmt gewähltes Material, das dazu noch
sorgfältig und möglichst von neuen Gesichtspunkten der Chronologie aus betrachtet im einzelnen
durchgearbeitet wurde. |
217
sich nur als Ableger der byzantinischen verstehen lasse“ (8, 745). Aber bereits nach 10—15 Jahren
machte diese Erkenntnis einer diametral entgegengesetsten Platz: er versucht, gewisse Erscheinungen
der armenischen Baukunst als eine total eigenartige, urwüchsige Tat zu verstehen (vgl. sein „Der
Dom zu Aachen, Kleinasien"). Immerhin waren es bloß Gelegenheitsäußerungen; eine ein-
gehende Erforschung der armenischen Baukunst aber beginnt er erst 1011; 1913 hält er dann Seminar-
übungen über die armenische Baukunst auf Grund von Materialien ab, die dem kunsthistorischen
Institute der Wiener Universitit vom Architekten Thoros Thoramanian bereitwilligst überlassen
worden waren (8. VI). Diese Übungen überzeugten Strzygowski endgültig von der Notwendigkeit,
eine spezielle Forschungsreise vorsunehmen. Er unternimmt dieselbe im Herbst d.J. auf einen Monat,
wobei derselbe Thoramanian die Wahl der zu besichtigenden Denkmäler bestimmt. Das während
der Reise gesammelte Material sowie die Zeichnungen Thoramanians und die verschiedentlich zu-
sammengebrachten photographischen Aufnahmen bilden den in der oben genannten, 1918 erschienenen
Untersuchung bearbeiteten Stoff.
I
Das Werk „Die Baukunst der Armenier und Europa“ unterscheidet sich ganz wesentlich von früheren
Arbeiten Strsygowskis. Hier ist wohl zum erstenmal in seinen Architekturuntersuchungen eine
systematisch gegliederte und einheitlich durchgeführte Monographie dem Leser vorgelegt, und seine
Ausführungen laufen ohne plötzliche Sprünge fort, ohne den Leser im Stoff hin- und herzuwerfen.
Die Darstellung ist hier einheitlich gegliedert, planmäßig eingeteilt und ohne Weitschweifigkeiten ge-
staltet; der gesamte Stoff wird den seit mehr als ro Jahren von ihm angewendeten allgemeinen
Gesichtspunkten, eigentümlichen kunstwissenschaftlichen Methoden, gemäß bearbeitet. Zwar sind
auch in diesem Werke noch viele Unebenbeiten, auch hier gelingt es nur am Schluß einer 20.
sammenstellung einzelner Stellen des Werkes, oder vielleicht ganz zufällig, die eigentlich vom Ver-
fasser gesuchte Behauptung klarzulegen und herauszuschälen; aber das ist mit seiner allgemeinen
Schreibweise nun einmal wurselecht verbunden. Sein Schema, demgemäß der bei weitem größere
Teil der Arbeit gestaltet ist, nämlich die kunstwissenschaftliche Untersuchung über „das Wesen“
(Buch II), ist — wie man sich leicht gerade nach dieser seiner Darstellung überzeugen kann — sehr
schwerfällig, aber zweifelsohne hat sie in Schulzwecken einer allseitigen Behandlung kunstwissen-
schaftlicher Fragen volle Berechtigung. Vielleicht ist es gerade dem Wunsche, dies Schema streng
in einer hervorragenden Untersuchung durchgeführt zu sehen, zu danken, daß sie eine für Strsy-
gowski so außerordentlich klargegliederte und systematich gehaltene Darstellung aufweist‘).
Der Stoff der ganzen Arbeit ist in vier Büchern behandelt, Dieser eigentlichen Darstellung ist noch
eine umfangreiche Einleitung vorangeschickt, die über den Aufbau der ganzen Arbeit belehrt und
in einer besonderen Besprechung der Chronologie der ältesten Denkmäler Armeniens eine allgemein-
historische Grundlage schafft. Hier, in den Datierungsfragen einzelner Denkmäler nach ihren In-
schriften, Ist vieles bei weitem nicht in Ordnung. Selbstverstindlich muß man diese Mängel eher
Strzygowskis Mitarbeitern als ihm selber zuschreiben. Die Datierung von Baudenkmälern auf
Grund ihrer Inschriften ist eine der besten und sichersten Methoden, aber nur, wenn sie mit allen Kau-
telen gehandhabt wird. Die armenische Epigraphik ist heutzutage durch die Arbeiten Prof. N. Marrs
und Josef Orbelis in einer ganz besonders glücklichen Lage — wir verfügen tatsächlich über aus-
gezeichnete, mustergültig edierte und bis ins einzelne allseitig untersuchte Texte. Strzygowski
nennt zwar diese grundlegenden, gerade die Kirchen der ältesten Zeit behandelnden Arbeiten; aber er
macht sich leider deren Feststellungen lange nicht zu eigen, obwohl die ihm von Lissitzian über-
gebene Darstellung im großen und ganzen nur eine Wiedergabe von Orbelis Arbeiten ist.
Was die erste lange Inschrift der Kirche von Bagaran vom J. 631 anbetrifft, so „spricht“ — nach
Orbelis Worten — „eine Reihe gewichtiger Überlegungen für eine weitaus spätere Entstehung der
Inschrift in ihrer jetzigen Ansicht, als für das 7. Jahrhundert“ ). Diese Feststellung wird gar nicht er-
wähnt. Orbeli hebt dann eine zweite Inschrift hervor, die allem Anschein nach original ist und in
der Kirche selbst auf dessen süd-östlichem Pfeiler noch vor Abschluß des Baues angebracht wurde ).
(1) Strzygowaki selbst betont, daß dieser Plan „eine Lebensarbeit für sich bedeutet“, und gibt der
Hoffnung Ausdruck, daß Fachmänner denselben würdigen werden (8. 60).
(2) 8. seinen Aufsatz in „Der christliche Orient“, eine von der Akademie der Wissenschaften in
St. Petersburg (russisch) herausgegebene Serie, Bd. II, 8. 130. |
(3) Daselbst, Bd. Ш, 76—77.
was übrigens auch nicht erwähnt wird. Immerfort wiederholt sich im Buche die Angabe, daß die
Palastkirche von Ani 632 erbaut worden sei Diese Datierung auf Grund einer Inschrift wurde mehrmals
bezweifelt, bis es Orbeli endgültig zu beweisen gelang, daß die in Frage stehende Inschrift nicht zu
Ende geschrieben ist, kein Datum aufweist und einen späten, aus dem 10.— 11. Jahrhundert stammen-
den Text darstellt!). Auch die große Inschrift von Tekor könnte, nach Marrs Meinung, eine un-
beendigte Inschrift des Wiederherstellers der Kirche nach 1014 sein); Marr hat gerade gezeigt, daß
diese Inschrift von der letzten Zeile nach oben zu lesen ist, was auch Strzygowski bemerkte (S. 39).
Einer besonderen Beachtung aber ist die Inschrift der Kirche von Talisch würdig. Strzygowski
ist der Meinung, sie sei eine originale Inschrift aus dem 7. Jahrhundert (S. 38 u. a.), die das Datum
668 am 23. März tragen solle (8. 49). Dagegen ist Orbeli?) ganz kategorisch der Ansicht, daß sie
eine Kopie des verschollenen Originals sei (II, 142) und mehr als das: er beweist überzeugend,
daß man „sie gens bestimmt ins 11. Jahrhundert verweisen kann“ (111, 91). Nach einer solchen Fest-
stellung bekommt die Aufnahme (Abb. 40, Б. 46) ein neues Interesse, wo von Strzygowski beson-
ders die „Einfügung der gerahmten Platte in die umgebenden Verblendungsplatten hervorgehoben
wird“ (S. 47); diese Aufnshme spricht gans deutlich von einer Veränderung der Kirche. Zu dieser
Frage werden wir noch unten (§ VI) zurückkommen, da sie von einer außerordentlichen Bedeutung iat.
Immerhin ist es von höchster Bedeutung, daß sich Strzygowski die allgemein-historischen Mit-
teilungen und insbesondere die der Inschriften zu Nutzen macht und sich so seine kunstwissen-
schaftlichen Feststellungen zu begründen und zu bekriftigen bemüht.
Nach der Einleitung gibt Strzygowski im ersten Buche die Beschreibung der Denkmäler, welche
typologisch geordnet ist. Er behandelt drei, zugleich zeitlich aufeinanderfolgende Gruppen — strahlen-
förmige Kuppelbauten, längsgerichtete Tonnenbauten, längsgerichtete Kuppelbauten. Das zweite Buch,
welches die Hälfte der ganzen Arbeit umfaßt, behandelt das kunstwissenschaftliche „Wesen“ der
Denkmäler, das in folgenden Abschnitten besprochen wird: Baustoff und -technik; dis Wechsel-
besiehungen der Formen und der Bestimmung der Bauten; die von auswärts übernommenen oder
überlieferten künstlerischen Elemente („die Gestalt“); endlich die Ausarbeitung des ursprünglich Na-
tionalen, Bodenechten in der armenischen Baukunst („die Form“). Im dritten Buche ist der Ver-
fasser bemüht, einen Abriß der armenischen Geschichte auf Grund von kunstgeschichtlichen Tat-
sachen, die mit allgemein historischen zusammengestellt werden, zu geben. Endlich faßt er im
vierten Buche die Bedeutung seiner Forschungsergebnisse für die Verbreitung der in Armenien ge-
formten Kunstmotive zusammen und beweist dadurch den Zusammenhang zwischen der Baukunst der
Armenier und Europas.
x40 Seiten, die der Beschreibung der Denkmäler gewidmet sind, vermitteln bloß eine allgemeine
Vorstellung; „ein liebevolles Eingehen auf das Einzelne“ (877) vermissen wir auch hier trotz der
Worte des Verfassers. Man kann natürlich der Arbeit auch in dieser Hinsicht einen bedeutenden
Unterschied zu seinen anderen Werken nicht absprechen, aber eine vollständige Beschreibung ein-
zeiner Denkmäler gewährt auch diese Publikation nicht. Dies ist aber auch schwer zu erwarten,
in Rücksicht auf die eilige Arbeitsweise während der Reise, wo es nicht nur zu beschreiben, sondern
auch noch zu photograpbieren und zu messen gibt. Daher werden fast sämtliche Denkmäler als ein-
malig entstanden und keinen späteren Änderungen, Restaurationen u. dergl. unterzogen, aufgefaßt.
Man ist aber imstande, solche auf Grund der von Strsygowski selbst gelieferten Abbildungen leicht
festzustellen. Und wenn wir dazu noch die Feststellungen der jahrelangen Forschungen auf dem
Trümmerfelde von Ani und deren Umgegend hinzunehmen, so wird dies zur vollen Gewißheit; denn
es ist dort klar und endgültig festgestellt worden, daß sich in Armenien stets eine unausrottbare Sucht
und Gier nach einer den jeweiligen Forderungen der Mode sich anpassenden Abänderungen der Ge-
bäude betätigte.
Aber auch abgesehen von dieser Schwierigkeit der Erforschung selbst sind im beschreibenden Teile
lange nicht alle Mitteilungen über dieses oder jenes Denkmal vereinigt; nicht selten werden in
folgenden Teilen die Beschreibungen vervollständigt und sogar ganz neue Mitteilungen gemacht. Seine
Beschreibungen nebmen sich vor, zunächst und vor allem eine Charakteristik des Denkmals als Gattungs-
vertreter zu liefern, nicht so sehr aber eine Beschreibung des einzelnen Denkmals. Strzygowski
(з Daselbet, Bd. Ш, 8: fl.
2) Daselbst, Bd. Ш, 56—71.
(3) Daselbst, Bd. II, 138— 141 und Bd. Ш, 80—91.
bemerkt auch mehrmals, daß es Thoramanians Sache sein solle, „jene große Veröffentlichung in
Angriff zu nehmen, die jedes einzelne Denkmal mit allen Hilfsmitteln und der nötigen Muße vorzu-
führen“ hat (60,30—ı1, 26); er selber setze sich nur das zum Ziel, „über Zeitstellung und Grundformen
klaren Aufschluß zu geben“ sowie „den Ursprungsfragen“ nachzugehen (26), dabei sei „die Herbei-
schaffung und Veröffentlichung neuer Denkmäler“ lediglich „Nebensache“ (63) *).
Der Gang der Darstellung der übrigen Bücher des Werkes wird zum eigentlichen Inhalt unserer
weiteren Besprechung, wobei ich nur die allgemeinen Leitgrundsätze, die wie ein roter Faden die
ganze Arbeit durchziehen, besprechen kann. Wie bereits gesagt, schreitet Strzygowski hier in der
Darstellung nur langsam Schritt für Schritt vorwärts, obgleich von Anfang an (bereits im ersten be-
schreibenden Buche) seine Darstellung so gehalten ist, als ob diese Grundsätze ein längst bewiesener
Gemeinbesitz wären. Dabei ist der Inhalt überaus reich an verschiedenen Einzelbetrachtungen, Be-
sprechungen von Grensfragen, endlich an allerlei Beobachtungen und Annahmen über einzelne Denk-
mäler u. dgl. mehr.
Es ist beseichnend, daß Strzygowski diese seine Untersuchung als eine seine ganze Forscher-
arbeit abschließende bezeichnet. In der Tat stellt er denn im vierten Buche eine allgemeine Über-
sicht der Abhängigkeitsäußerungen Westeuropas vom Oriente in der Kunst her. „Wer meinen Lebens-
weg überblickt, dürfte erkennen, daß ich von Rom ausgehend nach den Wurzeln der Entwicklung
der christlichen Kunst gesucht und überall zunächst Durchgangsgebiete gefunden habe. In Armenien
zum erstenmal fühlte ich festen Boden unter den Füßen ... Es scheint, daß damit meine Tätigkeit
im Orient, die mich suchend seit 1889 festgebalten hat, im wesentlichen zu Ende sein wird“ (8.877,
cf. 8. 59). Es ist also begreiflich, daß er auch der ganzen Darstellungsart mehr Aufmerksamkeit ge-
widmet hat und eine allgemeine Abgeschlossenheit sowohl der Darstellung überhaupt als auch der
übersichtlichen Zusammenfassung allgemeiner Erkenntnisse angestrebt hat,
u
Als Ganzes setzt Strzygowskis Untersuchung eine bestimmte Theorie oder gar Hypothese von
der Entwicklung armenischer Baukunst voraus, auf der und im Hinblick auf die sich die ganze Dar-
stellung aufbaut. Und diese Hypothese schimmert bereits im ersten beschreibenden Buche durch
— sein Typenkatalog ruht auf einer dem Leser noch nicht ausdrücklich genannten Hypothese, die er
aber merklich fühlt. Somit ist man von vornherein gezwungen, immer eine Scheidung vornehmen
zu müssen zwischen dem, was rein Tatsächliches vorliegt, und was mit all seinen Folgerungen als
erster Strzygowski ausgesprochen hat, und zwischen dem rein bypothetischen Aufbau, der auf
Grund des rein Tatsächlichen und den Vergleichen mit der frühchristlichen Kunstentwicklung außer-
balb Armeniens postuliert oder konstruiert wird. Dieser Aufbau scheint mir völlig entbehrlich für die
Beweisführung der für den Verfasser wichtigsten grundiegenden Behauptungen, die auch abgesehen
davon m. E. gegenwärtig als unumgänglich annehmbar und feststehend angesehen werden müssen ).
Diese grundlegenden Behauptungen, denen Strzygowski bereits seit 35 Jahren nachgeht, laufen
dahin aus, daß die christliche Kunst orientalischen, asiatisch-orientalischen Ursprunges sei. Langsam
seinen wissenschaftlichen Forschungsgang von Rom und der hellenistischen Kunst aus beginnend,
gelangt er nach Byzanz, von Byzanz nach Kleinasien, Syrien, Mesopotamien, endlich nach Armenien und
Iran. Erst in den letzten Gebieten glaubt Strzygowski die Grundlage der gestaltenden Elemente
der christlichen Kunst gefunden zu haben. Er zeigte, daß die hellenistische holsgedeckte Basilika
keine progressive Erscheinung bedeute, sondern ein Überbleibsel. Daß die neuen schöpferischen
Momente mit derselben nichts Gemeinsames haben, daß sie vollkommen andere Grundlagen voraus-
setzen, die eben einzig und allein im Oriente zu finden sind (713). Seine Werke machen es voll-
kommen offenkundig, daß im Konstruktiven das Tonnengewölbe und die Kuppel diese neuen Momente,
von denen das erste in Mesopotamien und das zweite im Kaukasus allgemein verbreitet ist, be-
(2) Jedenfalls finden wir auch in diesem Werke einige neue Abbildungen, die teilweise nirgends im
uch Verwendung gefunden haben, so z. B. die Kuppelkirche in Aschtarak nach der Aufnahme von
J. I. Smirnow (Abb. 10, 8.11) oder Oghuslu (Abb. 253, S. 216), Tailar (Abb. 245, 8. 209) u. a.
(2) Meines Erachtens bemerkt Strzygowski vollkommen mit Recht (480—481), daß seine Gegner
„doch endlich einmal ihren Widerstand, der sie in einer verlorenen Sache zu immer neuen Aus-
flüchten führt, aufgeben und die wissenschaftliche Forschung nicht länger beunruhigen und in falscher
Richtung aufhalten“ sollten.
220
deuten. Auch die weitere These, daß nämlich die ganze christliche Welt erst allmählich und langsam,
aber ohne Unterbreitung von diesen beiden Gundelementen der christlichen, d. h. neuen Kunst er-
obert wurde, steht außer Zweifel, obwohl in beiden Fragen noch keineswegs endgültige Klarheit
und Bestimmtheit im einzelnen herrschen. Wie immer überläßt Strzygowski auch in diesem
Werke Sonderformulierungen das Hauptgewicht, wodurch die Beweiskraft seiner Auseinanderlegungen
stark zu leiden hat.
Im Armenienwerke rückt Strzygowski ebenfalls eine Sonderbehauptung in den Vordergrund, die
jene allgemeine These bestätigen soll. Er führt sie ganz schroff durch alle Teile seines Werkes
hindurch, wie auch eine Anzahl anderer allgemeiner Ansichten über die Kunst im Kaukasus, insbeson-
dere Armeniens. Ich kann nicht umhin, diese Behauptungen einfach als Hypothesen und sogar als
Postulate zu bezeichnen. Mit der Besprechung des Hauptpostulates müssen wir uns nun zunächst im
einzelnen näher befassen,
Strzygowski nimmt eine Blüteperiode des armenischen Kuppelbaues im 4. bis 6. Jahrhundert!)
und sogar noch früher, in heidnischer Zeit, im 3. Jahrhundert beginnend, an*). Diese letzte Modifizierung
wird nur beildufig im Hinwels auf eine mögliche Abhängigkeit der christlich-kirchlichen Baukunst
von dem heidnischen Palastbau erwähnt (8. 546, 635, аба), Es ist nur eine Hypothese, denn
Kuppelbauten Armeniens, die einer früheren Zeit ale dem 7. Jahrhundert angehören, konnte er nicht
ausfindig machen). Ältere Bauten sind in Armenien nur in Basilikaform mit scharf ausgeprägten
Zügen fremden Einflusses (Syrien, Mesopotamien) bekannt. Im 7. Jahrhundert findet er dann plötz-
lich einen ungemein großen Formenschatz von Kuppelbauten, die meistenteils dazu auch noch keine
Wiederholungen aufzuweisen haben. Es drängt sich von selbst die Frage auf: „Wie ist das zu be-
greifen?“ (682). Die Antwort lautet für ihn wie selbstverständlich: diese Erscheinung ist einzig und
allein als das Ergebnis einer vorhergehenden Entwicklung zu begreifen, wo auf eine Bauform eine
andere folgte und dann ihrerseits eine folgende bedingte. Im 7. Jahrhundert aber seien alle diese
Formen gleichzeitig vertreten.
Tatsächlich erlaubt das armenische Material kaum, Beobachtungen über Entwicklungs- oder Ab-
hängigkeitssusammenhänge einzelner Bauformen anzustellen, zumal ja Strzygowaki alle (so—ı2)
verschiedenen Typen von Kuppelkirchen, die ег für Armenien festgestellt hat, ale dem 7. Jahrhundert
angehörige vorführt. Hätte er ebenso eingehende Studien über die georgische Architektur angestellt
wie er es über die armenische getan hat, so könnte er über ein genügendes Material zum Aufdecken
von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Bautypen verfügen. Während sämtliche Beispiele
ältester armenischer Kuppelkirchen dem 7. Jahrhundert angehören, gelang es, in den in letzter Zeit
angestellten Untersuchungen über die georgische Baukunst, namentlich über die Kirchen des hl. Kreuzes
von Mzchetha und über die Domkirche von Nino-tzminda, als deren Bauzeit die zweite Hälfte des
6. Jahrhunderts festzustellen‘). Fernerhin erhalten wir auch noch volle Möglichkeit, die Richtung der
Entwicklung selbst zu bestimmen und deren Stufen durch Beispiele zu belegen. Diese Stufenfolge
umfaßt aber — was die zunächst in Frage kommende älteste Periode anbetrifft — lange nicht alle
ıo—ı2.Typen. Im 7. Jahrhundert, wie ich unten beweisen zu können hoffe, haben wir es nur mit
einem Teil dieser Anzahl zu tun; diese Typen sind innerlich verbunden und ermöglichen die Fest-
stellung einer Entwicklung bereits in dieser ältesten Periode. Daraufhin folgte dann viel später, etwa
im 9.—10. Jahrhundert, die Entwicklung der Kuppelhalle u. dgl. (vgl. unten).
Wir haben demnach ein klares Bild der künstlerischen Entwicklung von Bauformen einer eng zu-
sammenhängenden Gruppe im 6.—7. Jahrhundert vor uns, auf die Jahrhunderte später eine weitere
Entwicklung einer anderen, wiederum eng zusammenhängenden Gruppe von Bauformen folgt. Wir
haben mit anderen Worten die Möglichkeit, die Entwicklung in der Zeitabfolge annähernd in allen
ihren Phasen zu untersuchen. Nach alledem muß man Strzygowskis Hypothese, sein Postulat von
z. B. 8S. 489, 576, 746.
Jene vereinzeiten Versuche, Bauten ins 6. Jahrhundert zu datieren, die Strzygowski ein paarma
unternimmt, können einer strengen Kritik nicht Widerstand leisten (vgl. unten).
(4) Diese Untessuchungen werden in meinen „Untersuchungen zur Geschichte der georgischen Bau-
kunst“ (deutsch, in Heft II des ersten Bandes und im zweiten Bande) erscheinen. — Zur Datierung
der großen Kirche des hi, Kreuzes von Mzchetha s. jetst schon daselbst, Bd. I, Heft 1, Tiflis 1921,
Kap. Ш.
ы Vgl. z. В. 88. 58, 329, 437—438, 470, 490, 504—505, 512, 538, 569, 576, 725, 746, 747, 757.
2
3
221
der früheren Biüteperiode des armenischen Kuppelbaues und von der angeblichen Wiederholung der
berühmten Kathedralen des 4.—5. Jahrhunderts in den Kirchen des 6.—7. Jahrhunderts (8. 470), fallen
lassen: wir stellen ja kein Kopieren, kein Wiederholen früherer Bautypen, also kein schöpferischer
Betätigung bares, sie entbehrendes Bauen fest!), sondern individuell, zum Teil äußerst scharf umrissene
Kunstschöpfungen, wo die Entwicklung von einem Bau zum anderen klar und bestimmt festgelegt
werden kann, — Aber auch abgesehen von diesen konkreten Fällen sind uns ja nirgends in
den christlichen Landen Kuppelkirchen von hervorragenden Abmessungen vor dem 6. Jahrhundert
bekannt. Erst im 6. Jahrhundert, und zwar wie plötzlich an verschiedenen Weltenden — in Syrien
und Mesopotamien, in Kleinasien und Konstantinopel sowie im Kaukasus — entstehen ansehnliche
Zentralbauten mit Kuppeln. Dabei ist es äußerst bezeichnend, daß die Formen dieser zentralen Kuppel-
bauten allerorts verschieden eind. Meines Erachtens ist es ein Zeichen davon, daß zu jener Zeit
endlich das Christentum all jenes, zum Teil widerspenstige geistige Gut — übernommenes und
selber geschaffenes — verarbeitet und geformt hat. Und es entstand dadurch endlich jene Schaffens-
freiheit der Kunst im christlichen Orient, deren Ausdruck wir an verschiedenen Orten fast gleich-
zeitig, aber in verschiedenen Formen kennenlernen. Und eben auf diese Art kann man einzig und
allein, glaube ich, die geniale Schöpfung der hi. Sophia von Konstantinopel, nämlich als Ergebnis
einer rasch entfalteten, in kürzester Frist vollendeten Entwicklung verstehen “).
Daß diese ebenso mächtige wie plötzliche Architekturentfaltung des Kuppelbaues im Kaukasus kaum
früher als im 6. Jahrhundert sich vollzogen haben könnte, ergibt sich, glaube ich, aus der Tatsache,
daß der Mittelraum der kleinen Kirche des hl. Kreuzes von Mschetha, die um die Mitte des 6. Jahr-
hunderts erbaut worden ist, nicht durch eine Kuppel überdeckt war, sondern ein Kreuzgewölbe aufweist.
Dabei ist dieser Bau seiber durch dae Aufblühen des Staates und seine frische, neue Schöpferkraft
zum Leben gelangt; mit andern Worten: es war um die Mitte des 6. Jahrhunderts die Kuppel noch
nicht als ein allgemein anerkanntes baubildendes Element der Architektur im Kaukasus verbreitet
worden), obwohl damals, wie es scheint, einige erste Versuche von Kuppelbauten nachgewiesen
werden können. Im Sinne Strsygowskis könnte dieser meiner Beweisführung entgegnet werden,
daß das vielleicht für Georgien stimmen könne, nicht aber für Armenien, dessen Ableger in der
Kunst jenes sein solle. Darüber gleich unten. Hier ist aber jedenfalls eins im Auge zu behalten,
daß Strsygowski sich weder mit der georgischen Baukunst noch deren Chronologie näher befaßt
hat (vgl. 8. 725, 7, 36 f.), sondern lediglich, und zwar kritiklos, alles Unmögliche, auch einfach
widersinnige Datierungen angenommen hat; denn er bekennt: „mir kam es ja gerade darauf an,
dem bisher gern in den Vordergrund gestellten Georgischen gegenüber Armenien zur Geltung zu
bringen“ (725).
Meiner Meinung nach ist also Strzygowskis Behauptung von einer Blüteperiode der armenischen
Baukunst im 4. (resp. sogar 3.!) bis 6. Jahrhundert eines von den garnicht begründeten und absolut
unnötigen, entbehrlichen Postulaten, welche seinen gesamten Aufbau der Entwicklung christlicher
Kunst äußerst schwankend und strittig machen und die ganze Fragestellung, speziell in betreff Arme-
niens, komplisieren und verwirren. Trotzdem aber zeigt die Tatsache, daß wir im 6.—7. Jahr-
hundert im Kaukasus eine aufblihende Architektur feststellen können, deren zahlreiche Denkmäler
eine überaus reiche Skala an Typen der Kuppelbauten aufweisen, eine Schaßfenskıaft von einer un-
gewöhnlichen Stärke und Individualität, die auf eine bodenständige nationale Kultur hinweisen.
ш
Ein zweites, nicht minder verhängnisvolles Postulat, das Strzygowski, wenngleich nicht seinem
gedruckten Werke, so doch der Auswahl der betrachteten Denkmäler im Herbst 1913 zugrunde gelegt
hat, betrifft das Verhältnis der georgischen und der armenischen Kunst. Strzygowski hält für fest-
stehend, wie es vor ihm bereits Dubois und einige andere getan haben, daß die georgische Bau-
(:) Wir können auch ein Beispiel dieser Art angeben, wo die Kopie aber höchstens ein paar Jahr-
zebnte später hergestellt worden war. Es ist dies die Zionskirche von Ateni, welche eine absolute
Wiederholung der großen Kirche des Ы, Kreuzes von Mschetha ist. Hier sind selbst topographisch
bedingte Einzelheiten sklavisch wiederholt trotz diametral entgegengesetzter Lage, u. dgl. mehr.
(2) Woher könnte man sonst von „Notlösung“ reden, wie es selbst Strzygowski tut (S. 561), der
die Hagia Sophia (S. 745) ein „Rätsel“, ein „Wunder“ der Kunst nennt.
(3) Vgl. meine bereits erwähnte Untersuchung.
kunst als ein Ableger der armenischen zu betrachten sei. Sie habe kein Recht, auf ein selbständiges
Interesse Anspruch zu erheben, und könne nichts zur Lösung von allgemeinen Fragen beitragen.
Daher widmet er den Georgiern nur im 4. Buche einen besonderen Abschnitt über die Verbreitung
der „armenischen Tat“ nach dem Westen hin (8. 725—726). Diese ganze Behauptung entbehrt, wie
bereits angedeutet, jeder Begründung — sie ist eben nichts als ein angenommenes, aber keinerlei
Prüfung unterzogenes Postulat. Und gerade Strsygowski sollte mehr Vorsicht dieser Meinung
gegenüber zeigen, da sie ja vice verso auch in betreff der armenischen Kunst und fernerhin auch
in betreff der georgischen und der armenischen Kunst zusammen gegenüber der byzantinischen
angenommen wird, was alles den Vorwand zu einer heftigen Polemik für Strsygowski selber ge-
liefert hat (S. V).
Durch das eingehende Studium der georgischen Denkmäler des Kuppelbaues ist es festgestellt
worden, daß die georgischen Vertreter eines bestimmten Typus zum Teil älter sind als solche Arme-
niens, und дай sie eine Feststellung von Entwicklungsphasen des Typus selbst erlauben. Zugleich
wird auch die Frage des Ursprungalandes der einzelnen Bauelemente, die sowohl in Georgien wie in
Armenien vorkommen, gegenüber Strzygowskis Behauptungen zu berichtigen sein,
Strsygowski bemerkt bereits im Anfange seiner Untersuchung, daß „eigentlich eine völlig rein-
liche Scheidung zwischen armenischer und georgischer Kunst notwendig wäre, obwohl beide auf das
engste verwandt und oft kaum zu trennen sind“ (8.7). Gegen Schluß modifiziert er ein wenig diese
Aussage: „Im Gebiete der bildenden Kunst [bat] zwischen Armenien und Georgien eine derart leb-
hafte Wechselwirkung bestanden, daß man zwar gut tut, das ... Zusammenwerfen von Armenischem
und Georgischem aufzugeben, doch aber im einzelnen Falle stets beide Ströme nebeneinander im
Auge zu behalten“ (8. 725). Welter charakterisiert er auch sein Verhalten der georgischen Baukunst
gegenüber im allgemeinen folgendermaßen: „Ich gestehe, daß meinem Gefühl nach die georgischen
Denkmäler im vorliegenden Werke zu wenig für sich durchgearbeitet wurden“, „mir kam es ja
gerade darauf an, dem bisher gern in den Vordergrund gestellten Georgischen gegenüber Armenien
zur Geltung zu bringen“ (8. 735). Strsygowski hat also ganz bewußt sich der Bearbeitung des
georgischen Materials enthoben; der Hinweis, er habe sich, was die Bearbeitung der georgischen
Kirchen anlangt, „auf Kluge“ (725) verlassen, ist bloß eine Ausrede und kann nicht im Ernst gemeint
sein. Er sagt denn auch tatsächlich selber (726), daß trots des reichen Tatsachenmaterials in Publi-
kationen der georgischen Kunst ,Kluges Versuch einer systematischen Darstellung des altgeorgischen
Kirchenbaues freilich enttäuscht“ (726). Trotz der sngeführten Bekenntnisse über eine ungenügende
Erforschung des georgischen Materials und über die Forderung einer gesonderten Bearbeitung beider
Kunstzweige begnügt sich Stray gowski zwar allein damit, die armenischen Denkmäler zu untersuchen
und das Georgische vollkommen außer acht zu lassen, soweit er grundsätzlich beschlossen hatte,
die georgischen Denkmäler heranzuziehen, „dann nämlich, wenn es außer Zweifel steht, daß Arme-
nien der gebende Teil war“ (7). Wie kann aber in jedem Einzelfall eine solche Entscheidung gefällt
werden, wenn eine gründliche, ebenso ins Einzelne gehende Untersuchung beider zusammengestellter
Gruppen fehlt? Strsygowski zählt denn auch zu solchen „außer Zweifel“ stehenden Beispielen
Bauten, wie die große Kirche des Ы. Kreuzes von Mschetha, die Zionskirche von Ateni, den Kutaiser
Dom des Königs Bagrat Ш. (gegen тооз), die Kirche von Bana und viele andere (cf. 8. 725), was
ein schreiendes Mißverständnis bedeutet, Strzygowski hat, wie er selber bezeugt, ganz bewußt
eine Bearbeitung des georgischen Materials abgelehnt. Methodologisch ist eine derartige Beschrin-
kung berechtigt, wenn nur keine Übertretung derselben stattfindet. Strsygowski läßt nun aber
nicht nur in Einzelfällen sich volle Freiheit, über die Denkmäler der georgischen Baukunst Urteile
zu fällen, sondern er zögert auch nicht, allgemeine Werturteile über georgische Kunst zu fällen
und ihr Verbältnis zur armenischen, das heißt zwischen einem von ihm unbearbeiteten und einem
bearbeiteten Gebiet, zu bestimmen. Er formuliert seine Urteile kategorisch und schroff, gleich einer
selbstverständlichen Sache —, Armenien sei „der gebende Teil“ gegenüber Georgien, Georgien stünde
unter stetigem Einflusse Armeniens, dem es vollkommen unterstellt sei, ferner verfalle Georgien
überhaupt leicht allerhand Einflüssen von außen (was gerade nicht behauptet werden kann), schließ-
lich seien die Bauformen Armeniens in Georgien spielerisch behandelt worden, im allgemeinen aber
„haben die Georgier . . armenische Formen angenommen und verbreitet“ (725). `
Dieses allgemeine Verhalten dem Georgischen gegenüber hat — soweit man gelegentlichen Aus-
sprüchen Strzygowskis selbst und seines Mitarbeiters Dr. Glück entnehmen kann — eine einzige
223
auf Tatsachen beruhende Begründung. Strzsygowski akseptiert ohne weiteres die vollkommen
sagenhafte Erzählung von der Erfindung des georgischen Alphabets durch den armenischen Kirchen-
vater Meerop'), was ihn zum Hervorheben, zur Folgerung einer kulturellen Abhängigkeit Georgiens
von Armenien befähigt (725, 7 u. в). Dieselbe Tatsache erlaubt ihm die Schlußfolgerung einer
späteren „Nationalisierung Georgiens“ (791) und verbunden damit einer späteren Verarbeitungsmöglich-
keit fremder Elemente zu ziehen.
Trotsdem aber verhehlen sich seinem scharfen Forscherauge manche charakteristische Erscheinungen
einer gänzlichen Selbständigkeit der georgischen Kunst nicht (cf. auch 8. 7). Er hebt beispielsweise
den Einfluß hervor, den die georgische Baukunst sur Zeit der Errichtung der georgischen Kiöster
in Jerusalem, auf dem Berge Sinai und insbesondere auf dem Berge Athos ausgeübt hat (725, 726,
769—770). Oder er bespricht die Verbreitung des Knaufes und des Bandgefiechtes in Armenien im
7. Jahrhundert vom Norden her, aus Georgien (437, 441)*). Er ist daher manchmal gezwungen, seine
strenge Formel der Unterwerfung Georgiens zu beschränken; so z. B. wenn er schreibt: „Man wird
also in der Frage des Verhältnisses von Armenien und Georgien auch mit der Vermittiung eines
dritten Kreises, eben des iranischen, rechnen müssen“ (764). In solchen Einschränkungen gelangt
der stetige Mangel seiner Untersuchungen zum Ausdruck: eine ungemein starke Unabgeschlossen-
heit, eine ungenügende Durcharbeitung und eine flüchtige Darstellungsart: die wichtigsten Fragen
und Behauptungen der Untersuchungen werden einfach hingeworfen in einer unbearbeiteten Form,
das Stoffgebiet wird ungemein erweitert, aber ohne eigentliche Bearbeitung, obendrein wird alles von
schiliernden Gedanken und grellen Vergleichen überstreut, usw... Nicht zu verwundern, daß eine solche
Darstellung notgedrungen an inneren Widersprüchen zu leiden hat. So auch in betreff der letzt-
genannten Behauptung einer gemeinsamen Quelle der Entwicklung christlicher Baukunst in Georgien
und Armenien; hier fügt er weiter hinzu: „Nur freilich in der Frage des Konchenquadrates ist, glaube
leh, diese Erklärung nicht zulässig, weil die Anschiebung von Strebenischen erst in Armenien, nicht
schon in Iran erfolgte, zusammen mit der Freistellung der quadratischen Kuppel und dem Anwachsen
ihrer Größe“ (764). Er hat aber nirgends im ganzen Werke diese seine Sätze bowiesen, ja sogar
nichts dazu beigetragen, diese Annahme auch nur plausibel zu machen: er legt einfach das bunte
Material der armenischen und der georgischen Kirchen des 7. Jahrhunderts mit all den genannten
Bauelementen vor, d.h, er zeigt nur das fertige Resultat, nicht den Vorgang selbst. Es bleibt also die
These unbewiesen, und man hat volle Freiheit, das Werden jener schöpferischen Phasen anderwärts
zu suchen.
Bezeichnend und typisch für diese seine Stellung zur georgischen Baukunst ist unter anderem die
Art und Weise, wie er jene komplizierte, strittige Frage behandelt, die die Entwicklung des Vierpaß-
typus mit Umgang, wie er in Ischchan, Suartnots, Bana vertreten ist, zum Inhalt hat. Strsygowski
ignoriert vollkommen (oder blieb ihm diese Tatsache unbekannt?), daß Nerses Ш, der Erbauer der
Katholikos Armeniens, ein Anhänger der orthodoxen Kirche, zunächst Bischof von Ischchan, seinem
Mutterorte in der Provinz Tao war, die ja zum georgischen (nicht armenischen) Patriarchate gehörte
und von dem Katholikos Georgiens in Mschetha hierarchisch abhängig war. Zur ganzen Frage macht
Strzygowski bloß diese Bemerkung: „Aber die im Tschorochgebiet liegenden Städte Ardwin und
Ardanusch [die letste — Sitz des georgischen Könige Aschot im 8.—9. Jahrhundert!] sind armenisch,
und das gesamte Gebiet Taik... muß nach den in der Wiener Mechitaristen-Kongregation zahlreich
aus diesen Gegenden stammenden Armeniern auch heute noch eine dichte armenische Bevölkerung
aufweisen“ (726). Somit ist die schwierige und minutiöse Arbeit Prof. Marre zur Klarstellung der
Abwechslung armenischer und georgischer Bevölkerung in diesen südwestlichen Provinzen von Tao-
Klardshethien vollkommen belanglos geblieben; Strzygowski beurteilt einfach alles nach dem Be-
stand der gegenwärtigen Wiener Mechitaristen- Kongregation )).
(1) Er glaubt, daß auch das armenische Alphabet vor Mesrop überhaupt nicht vorhanden war; Mesrop
hätte es im Jahre 409 oder gar 407 erfunden (S. 29 u.s.).
(2) Weshalb er aber S. 764 beim Erwähnen einer leichteren Akkomodation der georgischen Kunst
an fremde Einflüsse gerade diese Stellen seines Werkes zitiert, bleibt mir vollkommen ein Rätsel,
(3) Man ist gezwungen, ganz allgemein hier zu bemerken, daß Strsygowski im gansen Marrs
Arbeiten im Gebiet der armenischen Altertumsforschung verschweigt. Er sagt kein Wort darüber,
daß die ganze Thoramaniansche Fragestellung erst möglich geworden ist, nachdem dieser in Ani
mit Marr gearbeitet hat.
224
Strsygowski ist so von der absoluten Natur seines Postulates überzeugt, daß er sogar das Pro-
gramm einer künftigen Bearbeitung der Geschichte georgischer Baukunst entwirft: „Es wäre wichtig,
wenn jemand, wie ich es für Armenien getan habe, die altchristliche Kunst Georgiens im besonderen
bearbeiten und zeigen wollte, auf welchen Grundlagen sich dessen überaus zahlreiche Denkmäler
des 10.— 12. Jahrhunderts aufbauen“ (726, vgl. 7). Eine selbständige Fragestellung scheint ihm an-
scheinend ausgeschlossen zu sein.
Strzygoweki verfügte also über keine inneren, durch den Stoff selber gebotenen Gründe für die
Aufstellung jener Behauptungen, die er über das Verhältnis der georgischen und der armenischen
Kunst gemacht hat; und er konnte auch über keine verfügen, da er sich ja einer Bearbeitung des
georgischen Tatsachenmaterials von vornherein entzog. Wenn Strzygowski Armenien den Vorzug
gibt vor Georgien, so sind dazu augensichtlich Motive ganz anderer Ordnung im Spiele. Seine
während des Weltkrieges erschienenen Schriften, wie die hier besprochene Baukunst derArmenier,
so besonders Altai-Iran und Völkerwanderung (1917) befremden den Leser durch die zur
vollen Blüte gelangte rassentheoretische Unterlage aller künstlerischen Entwicklung, die bereits früher
(vgl. sein Kleinasien, 1903), sehr zaghaft aber, mitgesprochen hat. In den letstgenannten Schriften
aber ist das Rassenproblem zum Leitmotiv der Darstellung gemacht; der Verfasser hantiert immer-
fort mit einer Gegenüberstellung der arischen und der semitischen Rassenpsychologie, wobei er der
nordischen (arischen) die südliche (semitische) gegenüberstellt. Dabei rechnet er zwar die Türkvölker
ihrer Psychologie nach zu den Агіегп, desgleichen auch die Araber. Als Träger des reinen arischen
Kunstschaffens erscheinen im Gefolge seiner Theorie der arischen Rassenpsychologie — die Parther
und die Armenier. Daß die Georgier keineswegs ale Arier zu behandeln sind — das ist für ihn
klar; daß die Armenier aber kein Volk reiner Rasse sind, sondern ein ausgesprochenes Mischvolk dar
stellen, das ignoriert er einfach. „Die Armenier sind von Haus aus Arier“ — schreibt Strzygowski-
„es scheint, daß die beobachtete Entwicklung ihrer christlichen Baukunst damit zusammenhängt . ..
Da den beiden verhältnismäßig selbständigen Einheiten, der griechischen und nordischen, von nun ab
als dritte die armenische zuzurechnen sein wird, gewinnen wir welteren wichtigen Vergleichsstoff für
die Bestimmung arischer Eigenart, und es entsteht die Frage, inwieweit die Rasse bei der Entstehung
dieser Stile und der armenischen Baukunst im besonderen mitbetelligt war“ (575, 519 et passim).
Diese verhängnisvolle und wissenschaftlich absolut unhaltbare Hypothese einer einheitlichen Rassen-
psychologie hat ihn zu Schlüssen geführt, die auch selber unhaltbar sind und von vornherein auch
dieser Rassentheorie spotten, anstatt rein wissenschaftlich entwicklungs- oder völkerpsychologische
Gesichtspunkte den Fragen über Entwicklung der künstlerischen Erscheinungen zugrunde zu legen.
IV
Ich habe zunächst jene beiden Leitmotive der Darstellung im Werke Strzygowskis besprochen
Leitmotive, die als irrige Annahmen, irrige Postulate, die Untersuchung beherrachen. Selbstverständ-
lich ist hier weder der Ort noch die Zeit, sie als irrig auf Grund von Darlegung und Behandlung
des Materials selbst zu erweisen, noch auch die Möglichkeit; denn es erfordert zusammenhängender
Untersuchungen zur Architektur Georgiens und Armeniens. Hier bandelte es sich lediglich darum,
die Postulate scharf zu formulieren und ihre methodologische Berechtigung zu prüfen; einen positiven
Aufbau aber können allein Einzeluntersuchungen fördern, wie sie von mir zum Teil vorbereitet und
seit 1916 der Drucklegung harren, zum Teil aber, wie die besenders in diesen Fragen ausgiebige
über die Baukunst Kachethiens, in nächster Zeit fertiggestellt werden’).
Nachdem wir also die Postulate besprochen haben, können wir zu den konkreten Aufstellungen
übergehen, die Strzygowskis Schrift in Menge aufweist. Es kann sich daher wiederum bloß um
eine Besprechung der ausschlaggebenden Punkte handeln, denn das ganze Werk ist so reichhaltig,
daß es nicht anders möglich ist. Wir beginnen mit der Kardinalfrage vom Ursprung der Kuppel.
In den Kuppelbauten der altchristlichen Periode sind zwei typische Arten zu unterscheiden. Wenn
die Kuppel — es sei denn eine Trommelkuppel oder nicht — einen runden Raum überdeckt, wie
wir es im hellenistisch-römischen Kreise (in Syrien, Kleinasien, in Italien) wiederfinden, dann besteht
in dessen Aufbau keine bauliche Schwierigkeit; er birgt in sich kein konstruktives Problem, Ganz
anders verhält es sich, wenn der Übergang von einem quadratischen Grundrisse zum Rund der
(1) Sie werden alle in der von mir bereits begonnenen Serie erscheinen.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1938, 7—9. 15 225
Kuppel gefunden werden soll. Hier knüpft ein konstruktives Problem ans andere an. Es darf dabei
nicht übersehen werden, daß die runden Kuppelbauten (oder die oktogonalen) nur kurze Zeit zur Aus-
führung gelangten, sie wurden bereits sehr früh schon durch den quadratischen Grundriß in der
christlichen Baukunst verdrängt. Wenn bereits allein die Verbindung des Kuppelrundes mit dem
quadratischen Grundrisse eine architektonische Leistung bedeutet, so ist es um so mehr, wenn die
Halbkugel der Kuppel noch eine Fenstertrommel erhält. In diesem Fall kommt noch das Verstrebungs-
problem hinzu, Alle diese Momente sind von Strzygowski mit einer besonderen Aufmerksamkeit be-
achtet worden und erfreuen sich besonderer wissenschaftlichen Konstruktionen in seiner Untersuchung.
Strzygowski gebt ganz methodisch vor bei Behandlung dieses Entstehungsproblems der Kuppel.
Er begnügt sich nicbt mit einer Feststellung der Entwicklungsphasen in der kirchlichen Kunst allein,
sondern sucht nach ihren Quellen im volkstümlichen Bau selbst, d. h. er sucht nach den psycholo-
gischen Grundlagen der Entstehung des monumentalen Kuppelbaues in jahrtausendelangen traditio-
nellen Gegebenheiten, indem er lediglich auf diese Weise einen festen Boden zum Verständnis des
ganzen Vorganges zu finden hofft. Aber in diesen seinen Bemühungen nach einer möglichst breiten
Grundlage übersieht er einige bedeutende Tatsachengruppen. Und gerade von seiner Expedition
sollte man das nicht erwarten, denn sie schloß als Teilnehmer „den Ethnologen Dr. Edmund
Küttler“ (S. 14) ein. Und dennoch, wie gesagt, blieb für Strzygowski die geläufige Form von
hölzernen Bauernhäusern Georgiens und der anliegenden Teile Armeniens vollkommen unbekannt,
die zum großen, ja teilweise größeren Teile in der Erde sitzend, einen zentralen, fast quadra-
tischen Raum bilden, der stufenweise sich zum Zentrum, wo die Öffnung für Rauchausgang an-
gebracht ist, erhebend überdeckt wird i). Statt dessen wendet Strzygowaki seine ganze Auf-
merksamkeit der Dorfarchitektur in Chorasan (nordöstliches Iran), im nördlichen Syrien und nörd-
lichen Mesopotamien sowie im Chotan, Seistan (Afghanistan) und Turfan zu, wo in breiter Schicht
Häuser mit Kuppeln über dem Quadrat vorgefunden sind, die aus Rohsiegeln gebaut wurden. Die
Kuppeln bilden sich in solchen Häusern ganz von selbst ale Ergebnis des Übereckgewölbes (365—366).
In diesem Übereckgewölbe eben sieht Strzygowski den Keim der Kuppelform über dem Quadrat,
die auf Trompen errichtet wird. Es ist nicht der Mühe wert, besonders beweisen zu wollen, daß all
solche ethnographische Tatsachen und Besonderheiten als Ausdruck einer uralten Tradition zu behandeln
sind, und daß folglich auch in unserem Fall solche Häuser schon lange vor Christi Geburt erschienen
sein müssen. Wenn wir nun in allen diesen Gegenden sowie unabhängig davon auch in den Holz-
häusern des Kaukasus analoge Formen antreffen, so spricht das keineswegs für ein bestimmtes Zentrum
der Entstehung solcher Form und noch weniger für eine Entstehung gerade in Iran. Dazu ist über-
haupt bisher kein Beweis beigebracht. Es bleibt also eins von beiden übrig: entweder muß man sich
der hypothetischen Aufstellungen entbalten oder Beweise für diese beibringen. Für meinen Teil
schließe ich mich gern der ersten Möglichkeit an, obwohl gerade heutzutage die Frage nach der ur-
sprünglichen Bevölkerung aller genannten Gegenden durch Prof, N. Marrs Untersuchungen der
letzten Jahre in Fluß gebracht ist, da er in den Sprachen ausgesprochen „japhetische“ Elemente
aufgedeckt hat,
In den christlichen Bauten des Kaukasus sind alle Kuppelbauten der ältesten Zeit auf einen quadra-
tischen Mittelraum gegründet, und die Überleitung vom Quadrat zum Rund der Kuppel geschieht
mittelst Trompen. Dasselbe System, aber mit der Überleitung mittels Pendentifs, erlangt allgemeine
Herrschaft in der gesamten christlichen Welt. Der Rundbau und das Oktogon, die „ursprünglich
herrschend“ waren im Mittelmeergebiete, werden bald „durch den quadratischen und Vierpfeilerbau
verdrängt“ (746), wie Strzygowski ganz richtig hervorhebt. Was die Verstrebung durch Nischen
anbetrifft, so meint Strzygowski, daß, wo wir immer in römischen Kuppelbauten Nischen im Mauer-
rund auffinden, diese eine total andere Bestimmung haben als in den kaukasischen Bauten, nament-
lich sind in ihnen die Nischen nur „zur Erzielung von Ersparungen im Baustoffe eingetieft“. „Die
Kuppel ruht dann auf dem Mauerzylinder wie im Pantheon und das scheinbar vorliegende Konchen-
quadrat im Grundriß kann nie über die fehlende Nischenverstrebung hinwegtäuschen“ (466). Was
aber einen Bau wie Minerva medica anlangt, so ist dieser „Bädersaal der Villa des Licinius Gallienus
(260—268) in Rom der Gruppe der armenischen Strebenischenbauten anzuschließen“ (737); des-
(x) Und doch erwähnt Strzygowski die Aussage Leonhardts über solche unterirdische Häuser
(368 — 369)!
226
gleichen auch S. Lorenzo in Mailand (738) und sogar die Fenstertrommel der S. Constanza (371). In
dieser Hinsicht, wie wir sehen, legt sich Strzygowski keine Schranken für seine Behauptungen auf.
Bei dieser seiner Beweisführung des orientalischen Ursprunges der Kuppel in armenischen und
georgischen Kirchen ist Strzygowski also einerseits bemüht, denselben im nördlichen Iran auf-
zusuchen, und andererseits gezwungen, älteste römische Beispiele abzulehnen. Nachdem er das Auf-
finden der Kuppel als solches für eine Tat, die in Iran stattgefunden hat, erklärt und als dessen un-
mittelbare Belege die Paläste von Sarvistan und Firuzabad nennt, behauptet er, daß erst für christlich-
kirchliche Zwecke die Kuppel durch eine Fenstertrommel erhöht wurde und so seine besondere,
dominierende Stelle erhalten hat. Die Erhöhung der Kuppel durch die dazwischengeschobene Fenster-
trommel erfordert eine bestimmte Berechnung von Druck und Schub, welche zum Hervorziehen
einzelner Teile des Mauerquadrats in Form von Apsiden führte. Gerade dies bezeichnet Strzy gowski
als „die schöpferische Tat“, ala „den neuen Baugedanken der Armenier“ (460). Diesen Schritt von
einfachen Mauerquadraten mit der direkt über Ecktrompen gesetzten Kuppelsphäre erklärt er für eine
„Tat“ der armenischen Architektur, da Armenien das Grenzgebiet Irans bildet.
Mir scheint es aber, daß solche kategorischen und allzu einfach geradlinigen Konstruktionen jeder
psychologisch tiefergehenden Analyse versagen. Wenn wir in den ältesten Bauten Roms, wie der
genannten Minerva medica, oder in S. Constanza, oder dem Oktogon Konstantins in Antiochien
Fenstertrommeln aufweisen, so bedeutet das zunächst nur das Auftreten solcher bereits in hellenisti-
schen Rundbauten, wie sie vielleicht sogar selbst bis in den Kaukasus hinein vorkamen!). Keines-
wegs aber ist man berechtigt, schlechtweg alle solche Bauten als „armenische“ zu qualifizieren und
sie sogar direkt als von Armeniern erbaute zu erklären (493,495). Daher wäre jedenfalls die Beweis-
möglichkeit näher, für den Kaukasus einzig den Versuch einer Verbindung vom Kuppelbau über
einem quadratischen Grundrisse mit der Fenstertrommel in Anspruch zu nehmen. Dies kann hier
kaum eher als im 6. Jahrhundert stattgefunden haben. Mit andern Worten konnte meines Erachtens
die Fenstertrommel unabhängig auch in anderen, namentlich in Rundbauten auftreten, nach einer flüchtig
von Strzygowski hingeworfenen Bemerkung, als eine Nachahmung des Lichtgadens in basilikalen
Kirchen (463, 464).
Auch in diesem Punkt wiederum ist man also gezwungen, Strzygowskis „Historismus“ gegenüber
eine komplizierte Entwicklungserforschung zu erstreben und zu fordern, wobei der Bedeutungs- und
Motivwandel der Formen in verschiedenen Kombinationen ebensowenig wie die Möglichkeit zusammen-
treffender, gleichförmiger Endergebnisse aus ganz verschiedenen Entwicklungsreihen vernachlässigt
werden darf.
Wie erwähnt, besteht der folgende Schritt im Schaffen des Architekten darin, daß das einfache
Kuppelquadrat zur Verstrebung die hervortretenden Apsisnischen erhielt. Das ist die zweite Tat des
armenischen Architekten. Diese Strebenischen, „die, vom Boden ап im Grundriß halbrund, gestelzt
oder hufeisenförmig, ansteigen“, d. h. „eine außen sichtbare Verstrebung, also grundsätzlich von der
Art der ‚Gotik‘“ besitzen, haben — „es könnte sein“! — „mit der persisch-mesopotamischen [Art] keine
unmittelbare Verbindung“ (462). „Die iranische Baukunst war nicht hinausgekommen über die Ver-
wendung der Kuppel auf dem geschlossenen Mauerquadrat. Dieses war und blieb dort die übliche
Wohnzelle“ (465). Erst der christliche Kirchenbau erforderte eine Abgrenzung des Raumgebildes
und eine Erweiterung seiner Fläche. „Die Freistellung der Kuppel und die Steigerung ihrer Größe
ging Hand in Hand mit dem Zwange, sie zu verstreben. So mußte die Aufhebung des wachsenden
Kuppeldruckes bei Anbabnung von Erweiterungsmöglichkeiten für das bis dahin geschlossene Grund-
quadrat mitsprechen. Eine Öffnung der Wände war möglich in der Hinausschiebung der Umfassungs-
mauern, einmal nach den Achsen, dann nach den Diagonalen“ (465). So werden verschiedene Typen
von Bauten möglich, aber ihre Grundform ist allen gemeinsam, und sie ist, nach Strzygowskis
Meinung, zuerst gerade im Kaukasus geschaffen worden, der „von der Grundform des Quadrates als
betonter Mitte ausgehend, die Kuppel zwar nach iranischer Art auf vier Mauern ruhen, aus diesen
Mauern aber auf allen vier Seiten in den Achsen halbrunde Ausbuchtungen vortreten ließ. Der Raum,
der auf diese Weise mit der Kuppel überdeckt werden konnte, ist ziemlich groß“ (466). Das bier
(1) Vgl. die Erwähnung eines georgischen Fürstenpalastes aus dem ersten Viertel des 5. Jahrhunderts
in der Lebensbeschreibung von Peter dem Iberer, geschrieben um 500, wo ein Saal mit Kolonnen
und acht Konchen erwähnt wird (Petrus der Iberer, hrsg. von P. Peters, 1895).
227
gekennzeichnete Prinzip ist zweifellos richtig charakterisiert, aber es ist nicht allein das Ergebnis
der konstruktiven Überlegungen, sondern ist in seiner Entstehung weit komplisierterer Natur, da ja
auch einfach eine Tradition der früheren Grundrißschemata hier weiterlebt.
Die bis jetzt genannten Entwicklungsphasen sind zeitlich dicht aneinander gebunden, wie es Strsy-
gowski meint. Demgegenüber ist ein anderes Konstruktionsmoment eher ein Ergebnis, das nach
einem gewissen Zeitablaufe auftritt. Es ist der Ersatz der Nischenverstrebung durch Verstrebung
durch Tonnen und die der Pfeiler (481, 482, 502, 504—505). „Bisher hatten sowohl im Kuppel- wie
im Tonnenbau die Umfassungsmauern ausgesprochen tragende Bedeutung. Ohne sie war die Ein-
wölbung der Bauten undenkbar. Das wird nun anders. Sobald Tonne und Kuppel zusammenwirken,
man die ursprüngliche Konchenverstrebung aufgibt und dazu übergeht, innerhalb der Umfassungs-
mauern Verstrebungen der Gewölbe untereinander aufzuführen, die an die Umfassungsmauern als
tragende Teile selbst keine Ansprüche stellen . . werden diese Mauern überflüssig. Die Gewölbe
erscheinen . . von Strebepfeilern getragen“ (504—505).
Es ist bedeutsam, daß als Stützen hier allerorts Pfeiler, nicht Säulen angewendet werden, Sie
konnten tatsächlich konstruktiv eine wichtige Rolle spielen (217, 308—309).
Die eben besprochenen Hauptmomente in der Konstruktion von Kirchenbauten im Kaukasus liegen
jenen konkreten Lösungen, d. h. Kirchentypen zugrunde, deren Aufeinanderfolge von Strzygowski
besonders eingehend behandelt wird, und deren Besprechung wir demnächst aufnehmen müssen,
Diese drei konsequenten und radikalen architektonischen Schöpfungsmomente, die vom christlich-
kaukssischen Architekten entdeckt und vollbracht worden sind, sind von Strzygowski scharf-
sinnig umrissen, obwohl — wie bereits des öfteren hervorgehoben — zu einfach, als das Er-
gebnis allein konstruktiver, logischer Überlegungen. Strzygowski will denn auch die Zeit dieser
schöpferischen Taten ins 3. bis 4. Jahrhundert verlegt wissen, waa nun keineswegs zu beweisen ist.
Im Gegenteil dazu ist dieser Prozeß im 6. — Anfang 7. Jahrhunderts — geschehen, und dies beweist,
wie ungemein stark, aktiv und schöpferisch jene geistige Kraft war, die in rascher Folge eine ganze
Skala von Entwicklungsstufen durchgemacht hat, hier im Kaukasus, wie anderorts im christlichen
Orient.
у
Die im vorangehenden Abschnitt besprochenen Elemente zeigen, welch hohe Bedeutung und Selb-
ständigkeit die christlich-kaukasische Baukunst zu behaupten imstande ist. Sie zeigen zugleich, daß
dieselbe eine hervorragende Bedeutung für die Entwicklung der gesamten christlichen Architektur
hat, Wenn diese neue Erkenntnis in Fragen einer grundlegenden Bedeutung festgestellt worden ist,
so muß sie auch eine Anwendung in betreff verschiedener sekundären Erscheinungen haben. Dies
ist denn auch tatsächlich der Fall, Strzsygowski streift an einzelnen Stellen seiner Untersuchung
solche Neuergebnisse sekundärer Art. Deren Zahl ist so groß, daß eine kritische Betrachtung der-
selben geradezu unendlich zu werden droht, zumal ja vieles auf Widerspruch stößt. Und es ist nicht
möglich, in einem kritischen Aufsatz abweichende Ansichten zu beweisen; alles das hoffe ich — wie
erwähnt — in nächster Zeit in positiver Form von Einzeluntersuchungen darlegen zu können, Hier
will ich nur noch einige wichtigste Sonderfragen der kaukasischen Baukunst behandeln.
Es ist notwendig, zunächst in diesem Zusammenhange die Frage zu streifen, ob die christlich-
ksukasische Architektur tatsächlich eine Gußmauerwerk- und Verkleidungsarchitektur sei, wie sie uns
Strzygowski vorstellt. Er beginnt seine ganze Schrift mit einem bezeichnenden Paragraphen über
„die Bedeutung der armenischen Denkmäler für die Baukunst der Gegenwart“, in dem er gerade die
Behauptung aufstellt, daß die armenische Architektur eine Gußmauerwerk- und Verkleidungsarchitektur
sei und somit die nächste Parallelerscheinung zum modernen Eisenbetonbau darstelle. Strzygowski
behauptet entschieden, daß „sämtliche Bauten, die im vorliegenden Werke vorgeführt werden (4), Quß-
mauerwerk mit Plattenverkleidung darstellen“. Er kommt dann im folgenden zweimal zu dieser Frage
zurück (207 ff. und 349 ff.) und erklärt dabei, daß „das armenische Gußmauerwerk nicht nach römi-
schem Muster gehandhabt wird. Vielmehr steht es der vorderasiatischen Art darin nahe, daß es ohne
Ziegelrippen als Füllung zwischen Steinschichten gegossen wird. Und doch besteht . . noch ein
sehr wesentlicher Unterschied.. . Dort überall ist der Stein die Hauptsache, die Füllung verhältnis-
mäßig dünn. In Armenien aber ist das Füllmauerwerk so dick und dafür der Plattenbelag verhältnis-
mäßig so dünn, daß die Hauptsache eben das Gußmauerwerk ist“ (355). Dabei fügt Strzygoweki
ausdrücklich hinzu, daß dieses Bausystem keine Erfindung der armenischen Architekten sei, sondern
228
„vom Osten her“ übernommen (355, 353). „In vorchristlicher Zeit scheint Armenien nur den reinen
Steinbau gekannt zu haben“ (353), bemerkt Strzygowski ganz richtig. Es findet hier also eine
radikale Änderung statt; erst in christlicher Zeit taucht jenes Gußmauerwerk auf. Dabei muß man
aber beachten, daß diese Änderung keineswegs plötzlich auftritt, sondern im Gegenteil einen all-
mählichen Übergang aufweist. In den ältesten Bauten ist der Gußkern sehr dünn, die Hauptsache
macht die Quaderfügung aus, und in einigen Bauten ist der Gußkern so gut wie gar nicht vorhanden,
so z. В. in der kleinen Kirche des Ы. Kreuzes von Mzchetha, in einzelnen Kirchen Klardshethiens und
Schawschethiens u, a. Erst in Bauten des 10, und 11, Jahrhunderts wird der Gußkern auf Kosten
der Quaderfügung immer stärker und stärker, 80 dap diese endlich einfach zur Verkleidung wird.
Dieser Prozeß läßt sich desgleichen auch in Armenien nachweisen; so ist die Basilika von Jererujk
eben eine derartige Kirche aus Quadersteinen gefügt mit einer ganz dünnen inneren Qußkernschicht;
und in den Bauten am Trümmerfelde von Ani kann man ganz gut auch den allmählichen Übergang
beobachten und seine zeitliche Einordnung feststellen. Auch sind die kolossalen Dimensionen von
Quadersteinen, wie sie Strzygoweski für die Kirche im Kloster von Gelathi erwähnt, gar nicht eine
Ausnahme, wie er es behauptet (213, 353).
Der Nachdruck also, den Strzygowski auf dieses Element kaukasischer Baukunst legt, ist un-
begründet, denn wir können keineswegs das Kennzeichen armenischer Baukunst darin sehen, daß sie
eine Verkleidungsarchitektur sei im Unterschiede von der Darstellungsarchitektur der Griechen, die
es nach dem semitischen Vorbilde machten, Wir haben es hier mit einem Handgriff zu tun, der all-
müblich entstand. An und für sich bildete er zunächst gar nicht irgendeine lose Verkleidung, son-
dern eine Einheit, er war nur aus ökonomischen Gesichtspunkten angewandt worden. Und diesen
inneren Zusammenhang hat selbst Strzykowski bemerkt. Er rühmt die „gesunde Einheitlichkeit
des Baugedankens“, da in den kaukasischen Bauten der Mauerkern und die Verkleidung untrennbar
sind, so, daß die „Steinhülle zugleich das Gerüst war, das den Guß ermöglichte“ (354). Das Prinzip der
Verkleidung, der Verblendung eines für sich bestehenden Bauganzen ist also durch dies Geständnis
annulliert. Vielleicht läßt es sich so ausgleichen, daß in Wahrheit Strzygowski zwei Tatsachen-
reihen kennengelernt hat, sie aber nicht weiter miteinander in Beziehung, Verbindung u. dgl. gesetzt
bat und also zweierlei Meinungen auszusprechen gleichsam gezwungen wurde, Er charakterisiert
bereits einleitenderweise die eine Art — wo „der Verguß trotzdem unberührt stehenbleiben“ konnte,
daß „die Platten im Laufe der Jahrhunderte sich loslösten, aus dem Gefüge gerieten und abflelen“
(S. 3 und Abb. 1) und eine andere — wo der „Bau ohne Platten nicht stehenbleiben“ könnte (8. 4
und Abb. 4).
Gleichzeitig mit dieser konstruktiven Besonderheit, die er geradezu als ein Charakteristikum be-
handelt, hebt Strzygowski hervor, daß „man in Armenien mit ganz anderen Mauerstärken rechnen“
muß, nämlich welt größeren, „als im Westen und Süden, und gerade das ist eine Eigentümlichkeit
der vom Osten her nach Armenien vordringenden Kuppelbauten aus dem sehr einfachen Grunde,
weil diese dort ursprünglich in Rohziegeln erbaut waren und doch den Druck der Kuppel aushalten
mußten“ (355). Mit andern Worten: hier gibt Strzygowski bereitwillig zu, daß ein dbernommener
Handgriff ohne jede weitere Prüfung und Adaptation angewendet wird, und dies neben den außer-
ordentlichen konstruktiven Errungenschaften, die er den armenischen Architekten zuschreibt, Es
kommt also in den ganzen theoretischen Aufbau Strzygowskis von einer ungemein großen Meister-
schaft und Schöpferkraft armenischer Architekten ein nicht zu übersehender Riß hinein ).
Eine weitere bauliche Eigentümlichkeit der Kirchen im Kaukasus bildet das Tonnengewölbe als
Überdeckungsart, nebst der Kuppel. Es ist kein einziger Bau mit flacher Decke, auf Hols-
gerüsten u. dergl. etwa da, Das heißt also, in dieser Hinsicht besteht ein bestimmter Unterschied
zwischen den hiesigen Bauten und den basilikalen Kirchen vom hellenistischen Typus, wie er in Klein-
asien, Syrien und auch in Westeuropa bekannt ist, Strzygowski ist bereits jahrzehntelang auf der
Suche nach dem Ursprungslande des Tonnengewölbes. Erst in diesem Armenienwerke fällt er sein
positives Ergebnis: der tonnengewölbte Kirchenbau geht von Mesopotamien aus (59), Wenn auch
sein Schluß so kategorisch klingt, so ist doch die Darstellung im Buche selbst ganz anders, Er über-
läßt in dem gerade dieser Frage gewidmeten Paragraphen das Wort seinem Assistenten und Mit-
(1) Es sei hier nebenbei bemerkt, daß die georgischen Kirchen in ама Fällen nur die Dicke der
Mauern von ı m übertreten; als Regel gilt eben die Mauerdicke von 0,70 bis ı m,
229
arbeiter während der Expedition, Dr. Heinrich Glück, der eine im allgemeinen abweichende Dar-
stellung gibt. Nachdem Glück festgestellt hat, daß das Tonnengewölbe als Grundform der Über-
deckung in den angrenzenden Ländern Armeniens, im zentralen Kleinasien und im nördlichen Meso-
potamien verbreitet ist (381), bemerkt er, daß die Herstellung der Tonnengewölbe „offenbar mittelst
hölzerner Lehrbögen“ geschah. „Gewöhnlich werden, wo nicht (in kleineren Bauten) stehende Gerüste
verwendet wurden, die Kapitelle der Pfeiler genügende Stützpunkte für ein Schwebegerüst gewährt
haben“ (381—382, cf. 216). Die Pfeiler sind also als Stützpunkte bei der Gewölbeherstellung not-
gedrungen gefordert, was beispielsweise in Mesopotamien nicht der Fall war, da dort ohne Lehr-
gerüste die Gewölbe aufgeführt wurden. H. Glück leitet denn auch die Anwendung von Pilastern
mit Tragbögen einerseits aus dem arabischen System, das sich im 1.— a. Jahrhundert n. Chr. in Ost-
syrien, Hauran und Mesopotamien verbreitet hat (383), und andererseits aus der hellenistischen Tra-
dition (386—387). Glück sieht also die offensichtliche Kompliziertheit des Tatbestandes !) im Gegen-
teil zu Strzygowskis simplizistischer Goradlinigkeit des Aufbaues*). Diese Zusammenstellung
Н. Glücks läßt also die Möglichkeit einer unabhängigen und selbständigen Entstehung an verschie-
denen Orten bestehen, was anscheinend auch er selber anzunehmen geneigt ist, wenn er zugibt, daß
die Basiliken Kleinasiens, Nordsyriens und Armeniens — Bauten verschiedener Typen seien (391—392).
Wie dem auch sei, jedenfalls besteht die Unterscheidung zu Rechte, die Strzygowski zu be-
gründen bemüht ist, zwischen den Basiliken vom orientalischen Typus mit dem Tonnengewölbe und den
mit Holz flachgedeckten vom hellenistischen Typus. Wie aber die Entstehung des Tonnengewölbes
vor sich gegangen ist, das bleibt anscheinend noch immer eine offene Frage.
Endlich noch einige Worte über die dritte konstruktive Eigentümlichkeit christlich-kaukasischer
Kuppelbauten der ältesten Zeit, nämlich über die Trompenkonstruktion bei der Überleitung vom
Quadrat zum Rund der Kuppel. Bereits Choisy und Dieulafoy haben die besondere Art dieses
Überganges іп den sassanidischon Palästen hervorgehoben. Strsygowski hat dann viel Mühe dieser
Frage gewidmet. Er meint, die Trompen in den Ecken des Quadrates, die die Überleitung zum
Achteck und dann zum Rund der Kuppel vermitteln, seien iranischen Ursprunges, Er leitet sie vom
Übereckgewölbe ab, Daneben gewahrt man bei ihm in dem Armenienwerke ein Schwanken, ob nicht
die Trompen einheimisch im Kaukasus wären, ob sie nicht im Kaukasus ein Produkt selbständiger
Entwicklung wären (372, 755, cf. 369). Dabei aber versäumt er es natürlich nicht, ihren orientali-
schen Ursprung und ihre Übernahme in Ravenna und Westeuropa vom Osten her, zu betonen.
Wie gesagt, kann ich hier andere konstruktive Elomente, wie das Kreuzgewölbe, den Hufeisen-
bogen und den Spitzbogen, die Pfeilerstützen, die Dreiecknischen an den Fassaden, die Emporen-
anlagen u. a. m., nicht besprechen,
VI
Indem wir zunächst die Postulate kritisch zu besprechen uns bemüht haben, die Strzykowski
seinem Werke zugrunde legt, dann die hauptsächlichsten und grundlegenden Behauptungen über die
Eigentümlichkeiten „armenischer“ Baukunst und deren Entwicklungsphasen kennengelernt haben, ist
es nun an der Reihe, uns mit dem Gesamtschema der Entwicklung der Baukunst im christlichen
Kaukasus, wie sie von Strzygowski mit Nachdruck und Eifer im Verlaufe der ganzen Untersuchung
dem Leser aufgepreßt wird, zu befassen, |
Der Ausgangspunkt der Entwicklung des Kuppelbaues im Kaukasus ist ganz konsequent mit der
allgemeinen Form der Raumgebilde verbunden, die für die Architekten im Kaukasus typisch sind,
Strzygowski hebt mit Recht hervor, daß der kaukasische Architekt einen über jeden Zweifel er-
habenen Drang offenbart, den Raum als momentan, simultan zu erfassenden zu schaffen, einen Raum
also, der keine aufeinanderfolgende, rhythmisch bewegte Eindrucksreihe voraussetzt, mit anderen
Worten: er hebt die einheitliche Zentralität des Raumgebildes hervor?), Auch ein zweites gestalten-
(1) S. 382 erwähnt Glück ferner noch die Tonnenwölbung im Niltale.
(2) Zwar spricht auch Strzygowski gelegentlich, daß „im einschiffigen Tonnenbau [Armeniens]
ältere einheimische Überlieferungen am Leben geblieben sein“ könnten (372); oder in der Note zu
8. 711 über „die Ausnahme in Ostsyrien“, die „vom Arabismus her zu begründen ist“, Aber das
sind Gelegenheitseinfalle mehr, als strenge Darstellung.
(3) Um nicht mißverstanden zu werden, sei bemerkt, daß in diesen Ausdrücken natürlich auf keine
psychologische Analyse ausgegangen ist, sondern lediglich das Unterscheidende gegenüber einer
rhythmisch gegliederten Reibe in der Raumgestaltung romanischer oder gotischer Kathedralen etwa
hervorzuheben das Ziel war.
230
des Element im Prozesse der Schöpfungsarbeit des Architekten — das Vorherrschen der Kuppel —
wird von ihm ganz mit Recht betont. Dabei sind die Kuppelbauten immer auf einer quadratischen
Grundlage errichtet. Diese Einsichten erlauben Strzygowski, wie er meint, an die Spitze aller
Entwicklung von Kirchenbauten im Kaukasus das Kuppelquadrat mit Strebenischen (den „Mastara-
typus“) zu setzen (ao et pass.). Erst aus der Mitte des 7. Jahrhunderts sind uns die datierten Ver-
treter dieses Typus bekannt, wogegen die Vertreter anderer Typen aus einer früheren Zeit stammen.
Strzygowski kann auf diese Weise natürlich nur mit Hilfe jenes Postulates von einer voran-
gehenden Blüteperiode seine Behauptung oder vielmehr seine Konstruktion glaubhaft machen: das
tatsächliche Nebeneinander der Mehrzahl der von ihm angeführten Beispiele (Bauten des 7. Jahr-
hunderte) ignoriert er vollkommen und teilt diese seinem Entwicklungsschema gemäß auf. Somit is
von einem realen Anwachsen von Bauformen, von einem lebendigen Entwicklungsprozesse eines
inneren Wachsens und einer schöpferischen Arbeit nichts zu spüren,
Für Strzygowski ist diese Entwicklung ein Nacheinander von Formen in einer geraden Linie,
wo jede neue Form einer anderen wie an einer Schnur folgt. So hebt er zunächst die Entwicklung der
strahlenförmigen Kuppelbauten hervor, nach deren Abschluß nun das Eindringen einer fremden Bauart
und Bauform künstlich (aber gerade zur rechten Zeit) dem Lande aufgezwungen wird. Es ist die
kuppellose Form der Basilika oder eines einschiffigen Tonnenbaues. Eine Zeitlang später nun ent-
steht der Versuch, die strahlenférmige Kuppelform der Kirche mit der Längsrichtung der Tonne zu
verbinden. Und wiederum geschieht dies in einer Form, wo ganz präzise eine Abart nach einer
anderen ihr Dasein erhält. Diese Art Konstruktion ist von Strzygowski ganz konsequent in seinem
Werke festgehalten und einmal sogar ganz drastisch ausgedrückt. An jener Stelle nämlich, wo er
behauptet, daß „dem Vierpaß als Ursache das Konchenquadrat vorausgegangen sei“, gibt er seinem
Verwundern über „die Folgerichtigkeit der Entwicklung“ vollen Ausdruck in diesen Worten: „Bezeich-
nend ist daran, daß ein folgerichtiger Schritt den nächsten auslöst, also jeder künstlerischen Tat eine
andere als Ursache vorausgeht, und ebenso eine andere als Wirkung folgt“ (484). Meine Unter-
suchungen der Tatsachen selbst aber, wie auch die allgemeinen methodologischen Überlegungen lehren
ganz anderes. Wir haben ein äußerst bewegtes, sich verschlingendes und mehrseitig bedingtes Zu-
sammenwirken verschiedener Momente und Motive beim Entstehen neuer Bauformen. Zum Teil muß
man ein gleichzeitiges, paralleles Entstehen annehmen, zum größeren Teil aber lassen sie sich in
eine zeitlich genau zu bestimmende Abfolge einordnen. — Trotz der methodisch, wie rein tatsächlich
unzulänglichen Konstruktion der Entwicklung ist es aber lehrreich, Strzygowskis Aufstellungen
im einzelnen kritisch zu betrachten.
Strzygowski teilt die Gesamtheit der Kirchenbauten im Kaukasus in drei Hauptgruppen auf:
ı. Strahlenförmige Kuppelbauten,
2. Längsgerichtete Tonnenbauten,
3. Längsgerichtete Kuppelbauten.
Man sieht schon diesen Bezeichnungen ab, daß es sich hier in der dritten Gruppe sozusagen um
eine Synthese der beiden ersten handelt, eine Synthese in der Richtung auf den Kuppelbau. Und es
handelt sich hier, wie im Verlauf der ganzen Untersuchung mehrfach behauptet wird, eben um ein
zeitliches Aufeinander dieser drei Gruppen. Mit dieser Behauptung steht im Zusammenhang jenes
erste Postulat: die Entstehungszeit der Basiliken um die Wende des 5. und 6. Jahrhunderts ist ja
bekannt.
Jede der obengenannten drei Gruppen wird dann weiter in Untergruppen geteilt. So besteht die
erste Gruppe der strahlenférmigen Kuppelbauten aus zwei Untergruppen: 1. Kuppelquadrate mit Strebe-
nischen und 2. Reine Strebenischenbauten. Strzygowski wird wohl selber das Gefühl gehabt
haben, daß es sich nicht gerade reimt, wenn reine Strebenischenbauten aus irgendeiner Mischform ab-
geleitet werden (482, 99), denn das von ihm hervorgehobene Motiv der Raumerweiterung hat ja eben
in den Formen des Kuppelquadrates seine Geltung. Eine richtige Beweisführung dieses Aufbaues
und dieser Aufeinanderfolge werden wir vergebens in seinem Werke aufzufinden uns bemühen. In der
Tat handelt es sich hier nur um eine hypothetische Behauptung!).
Aber auch abgesehen von diesem Verhältnis im großen sucht Strzygowski für beide Unter-
(1) Meine Ansichten über das Verhältnis dieser Formen sind näher ausgeführt und begründet in
meinen Unterauchungen, Band I, Heft 2 und Band II (druckfertig).
+
231
gruppen nach verschiedenen Arten und kann für „reine Strebenischenbauten“ solche kaum auf-
weisen. Er bilft sich dann auf einem total irreführenden Umwege aus: er glaubt, die quadratische
Grundlage jedweden konstruktiven Kuppelbaues im Kaukasus verlassen zu dürfen, indem er so fort-
fährt: „Zunächst mag, könnte man annehmen, die unmittelbare Zusammenstellung der bereits üblichen
vier Nischen darauf geführt haben, auch mehr solche Konchen um einen Mittelpunkt anzuordnen,
з. B. im Sechseck“ (482). Das heißt, „man könnte“ hier „den Ansatz zur Entwicklung des reinen
Rundnischenbaues vermuten“ (482)! Somit vermutet er dies snscheinend nicht. Weshalb sind dann
aber Sechs- und Achtpässe in sein Schema aufgenommen, wo sie ja keine Anlehnung ans Quadrat
erlauben? Weshalb werden jene meist in Ani angetroffenen Bauten als späte Vertreter einer frühen,
im 5.—7. Jahrhundert blühenden Form gekennzeichnet (490, vgl. 494)? Offensichtlich haben wir es auch
hier wiederum mit jenen leider nicht so seltenen Unausgeglichenheiten, ja direkten Widersprüchen zu
tun, die der ungenügenden Gesamtbearbeitung und Vertiefung seiner Untersuchungen zuschulden ge-
macht werden muß — der rastiose Drang, seine Entdeckungen und neue Horizonte allgemein bekannt
zu machen, kommt keineswegs zugute, ja hemmt geradezu die Gründlichkeit der Durcharbeitung des
Rohmaterials und fördert keineswegs eine Abgerundetheit der Darstellung. Strsygowski gibt gegen
seinen Willen, jedenfalls im Widerspruch mit seinen eigenen Feststellungen, den Sechs- und Acht-
pässen Platz neben den Vierpässen, als deren weiteren Abzweigungen; für die Achtpässe „mag eine
eigene Anregung schon in den Konchenquadraten mit verstrebten Ecken gelegen Haben“ (483). Er
sucht sich auch hier durch seine Postulate zu helfen: „Die Auffassung des Quadrates hat sich zuerst
im Äußeren, dann auch im Inneren vollsogen, dann könnte der Übergang zum Sechs- und Achteck
erfolgt sein“ (99).
Wie angedeutet, ist diese Zusammenstellung, diese Verbindung ganz unbegründet und muß fallen
gelassen werden. Sechspässe treffen wir keineswegs vor dem 10. Jahrhundert an, sowohl in Georgien
wie in Armenien (bier alles Bauten von Ani aus der ,Renaiseance"-Zeit dieser Stadt). Das ist eben
jene Zeit, wo im allgemeinen konstruktive Probleme den dekorativen Platz machen, wo man nicht
weiter sich konstruktiv gebunden fühlte. In Georgien bilden die bekannten Sechspässe denn tatsäch-
ich eine Reihe eigenartiger dekorativen Bearbeitungen eines baulich-dekorativen Gesamtthemas. Und
wenn daher Strzygowski über die georgischen Sechspässe diese Bemerkung fällt: „Sehr seltsam
sind in diesem Zusammenhange die späteren Spielereien in Georgien“ (490, vgl. 131), so kann ich
nicht umhin, als nur meine Verwunderung auszusprechen. Es handelt sich ja gerade ganz allgemein,”
wie für Georgien, so für Armenien, um eine Zeit, die lediglich als Übergangsepoche von konstruk
tiven zu dekorativen Aufgaben charakterisiert werden muß. Gerade diese Übergangsepoche seitigte
eine Anzahl Sechs- und Achtpässe, sowohl in Armenien, wo sie sehr dürftig in formaler Hinsicht
sind, ale auch in Georgien, wo das dekorative Moment voll entwickelt und eigentümlich bearbeitet
erscheint). Diese ganze Reihe von georgischen Kirchen in Gogüba, Kiaghmis, Kumwido, Nikortz-
minda, Kasch u, s, wird denn auch von Strzygowski anderenorts der Wahrheit näher, als „selt-
same Baueinfälle“, charakterisiert (781—783, vgl. 131).
In diesem Zusammenhange muß auch jenes Kirchentypus gedacht werden, der seit Dubois schon
den Grundstock allen Beweises von der Abhängigkeit der georgischen von der armenischen Baukunst
bildete, nämlich des Typus der großen Kirche des Ы. Kreuzes von Mzchetha oder, wie ihn Strzy
gowski nennt, des Kripsimetypus®). Wie diese seine Benennung es anzeigt, meint er, der Typus
sei eine Schöpfung eines armenischen Architekten. Er gedenkt dabei Prof. N. Marrs Bemerkung
daß die große Kirche des hi, Kreuzes von Mschetha in Georgien bereits vor jener der hi. Kripsime
in Armenien erbaut worden ist. „Letztere könne daher nicht Vorbild der ersteren, der georgischen
Kreuzkirche gewesen sein“ (471). Für Strzygoweski aber bestehen in dieser Hinsicht keine Schwie-
rigkeiten: „die Bauform an sich ist in Armenien älter“. Und der Beweis folgt anscheinend schlagend:
„Beweis dafür zunächst die Kirche von Awan bei Erivan (S. 89), die ungefähr gleichaltrig mit der
Kirche bei Mzchet ist“. Seiner eigenen Anzahl gemäß, die auf Sebeos’ Mitteilung beruht, ist die
(1) Beiläufig sei bemerkt, daß die Heilandskirche in Ani (Воть Prkitsch) mehrmals und dabei durch-
greifond umgebaut wurde; die Trommelkuppel ist u. a. nicht aus der Entstehungszeit von 1035—36
(wie bei Stırzygowaki, S. 593, Note 2), sondern aus dem Jahre 1393.
(2) Auf eine gegenständliche Besprechung der Frage kann ich hier nicht eingehen; die entsprechende
Untersuchung ist bereits abgeschlossen und wird als Heft 2 des ersten Bandes meiner Unter-
suchungen veröffentlicht.
232
Kirche von Awan durch Katholikos Johann von Bagaran als seine Ruhestätte gebaut. Johann war
Katholikos von 591—611 (8. 89 N., 676)*), mit andern Worten: er beweist dadurch rein nichts,
denn eine Analyse der in Frage stehenden Bauten ist von ihm auch nicht einmal versucht worden.
Es folgt dann eine zweite Art von Beweisführung: „Der Kripsimetypus muß bereits in Blüte gewesen
sein im 5. Jahrhundert, als die griechisch-syrische Strömung einsetzte. Es gibt mehrere Anzeichen,
die darauf hinweisen, so die Einführung des Giebels und der zwischen Quadrat und Konche ein-
geschobenen Tonnen, die der Längrichtung Bahn brechen“ (471). Ich bin wohl nach diesem Zitat
von jeder Kritik befreit; man sieht deutlich, Strsy gowski kann, ebenso wie Marr, ihre gemeinsam
verfochtene Thesis von der Entstehung dieses Bautypus in Armenien keineswegs glaubhaft machen,
dabei aber bemüht sich Strsygowski, dies zu verhüllen?®).
Durch seine zeitliche Dreiteilung der Entwicklung der kaukasischen Baukunst und durch seine
allgemeinen methodologischen Handgriffe sieht sich Strsygowski gezwungen, eine Gruppe von
Kuppelbauten, die mit dem Namen von Dreipässen (Trikonchos) gedeckt werden können, zeitlich weit
von den eben besprochenen zu setzen. Er verbindet durch diese aligemeine Bezeichnung zwei
Untergruppen, aber eigentlich besteht die erste wiederum aus Bauten zweierlei, ziemlich ver-
schiedener — jedenfalls entwicklungspsychologisch verschieden komplizierter Natur. Es sind dies
Trikonchen und dann Kirchen mit drei rechteckigen Kreusarmen (von der Art des Grabmales der
Galla Placidia), die Strsygowski auch geneigt ist für Trikonchos zu erklären (361,834). Die zweite
Unterart umfaßt dann solche Bauten mit drei Konchen, deren Kuppel auf vier freistehenden Pfeilern
ruht. Dies ist ein Moment, das von einer ganz entscheidenden Bedeutung ist, wie unten noch aus-
zuführen sein wird. Strzygowski hält alle die genannten Formen von Kirchenbauten für den
Ausdruck der Durchsetzung strablenférmiger Kuppelbauten durch die Längsrichtung, welche von den
tonnengewölbten Längsbauten hergenommen worden ist. Dagegen aber sind uns in Georgien Bauten
der Form des Grabmals der Galla Placidia aus dem 6.—7. Jahrhunderts bekannt, die zum Teil gleich-
lange Arme, zum Teil aber auch einen längeren Westarm aufweisen. Wie gesagt, meint Strsy-
gowski, alle diese Bauten in unmittelbare Abhängigkeit von dem fremden Machteinschlage jener
tonnengedeckten Längsbauten setzen zu müssen, „Die Kuppel ging ursprünglich ihre eigenen Wege
ebenso wie die längsgerichtete Tonne. Die Versuche, beide zu vereinigen, scheinen erst auf arme-
nischem Boden zielbewußt und folgerichtig so durchgeführt worden zu sein, daß damit der Welt
etwas dauernd Gültiges gegeben wurde“ (495). Das ist, wie auch vieles bereits Besprochene, nur
Konstruktion: es kann ohne Schwierigkeit an der Hand von Einzelbeispielen gezeigt werden, wie ganz
allmählich, unbemerkbar dieser Akzent der Längsrichtung auftaucht, durch die eigentlichen Ziele der
Kirche mit dem Gottesdienste im Altarraume hervorgerufen. Gerade im eben besprochenen „Kripsime-
typus“ ist dieser Zug bereits erkennbar; dasselbe war durch das Giebeldach such von außen in der
kleinen Kirche des hi. Kreuzes von Mzchetha angedeutet“). Deshalb ist diese ganze Fragestellung
beiStrzygowski verfehlt, sie entbehrt leider vollkommen jeglicher psychologischen Gesetzmäßigkeit,
Zwar fühlte sich der kaukasische Architekt unwillkürlich gezwungen, ein nach den Achsen gleiches,
symmetrisch gestaltetes Raumgebilde zu schaffen, dies war aber noch bei einer gewissen Längs-
richtung gut zu erzielen. Daher reicht dieses Merkmal an und für sich noch nicht aus, als ein Mark-
stein für die zeitliche Aufeinanderfolge betrachtet zu werden; es ist lediglich ein die Beantwortung
der Frage komplizierendes Moment, und somit ist auch der Dreipaß keine Beantwortung der Aufgabe
von einer Verbindung des Kuppelquadrates mit Längsbauten, Ein richtiger Trikonchos birgt in seiner
Entwicklungsgeschichte auch eine ansehnliche Zahl von komplizierenden Momenten. Es waren hier
im Spiel der Typus des Grabmals der Galla Placidia, Vierpässe, Kuppelquadrate mit Strebenischen
in den Achsen und Ecken u. a. m. Strzygowski bemerkt selber, wieviel Mühe in der Literatur
verwendet worden ist, um die Entwicklungsgeschichte dieser Bauform — des Dreipasses, Kieeblattes
und dergl. — festzustellen (495ff.); er selber fügt noch eine Anzahl von Überlegungen bei; keine der-
selben auch nur einigermaßen durchgearbeitet. So wirft er den Gedanken hin, daß die DreipaSkirchen
(1) Strzygowski gibt aber auch irreführende Jahresangaben für ihn an einigen Stellen an (so 8.89
Text, 8. 470).
(2) Zwar unausgesprochen ist doch das Verhältnis zur Frage der Zionskirche von Ateni (Georgien),
die einem Mißverständnis gemäß im 10.—11. Jahrhundert gebaut sein soll, und swar durch einen
Armenier. Die Rlarlegung dieser Frage findet sich in meiner obengenannten Untersuchung.
(3) Siehe meine Untersuchungen, Band I, Heft 1.
233
vom Palastbau „angeregt sein könnten“ (496); dann, daß dieselben „als eine Durchsetzung des tonnen-
gewölbten Querbaues, der im mesopotamischen Boden wurzelt“, mit der Kuppel (496); endlich meint
er, daß der Dreipaß in Armenien aus quadratischen Kuppelkirchen mit Strebenischen sich entwickelt
habe „mit der Anfügung einer Tonne statt der Nische an der vierten, der Westseite“ (497). So sehen
wir, wie Strzygowski eine ganze Anzahl von Möglichkeiten in Gang setzt, da er ja die Entwicklung
von Kunstformen nur als einen formalen Prozeß auffaßt und um die Gesamtheit der psychologischen
Schaffensprozesse sich nicht kümmert (vgl. 497—498). Hier ist er aber gleichsam vom Material selbst
gezwungen, selbständige Entwicklungen annehmen zu müssen, die an verschiedenen Orten verschieden
verlaufen, am Schluß aber zu gleichartigen Resultaten (hier namentlich der Dreipaßform) gelangen.
Wenn Strzygowaki somit den Hauptnachdruck auf die Strahlenförmigkeit resp. die Längsrichtung
legt, was ihn sogar zur offensichtlichen Verstiegenheit führt, so legt er einem anderen Element —
der Pfeilerverstrebung — nur nebenbei Bedeutung bei. Alle die bisher besprochenen Kirchenformen
verbinden die Kuppel mit den Außenwänden des Baues, die Verstrebung geschah mittels Konchen
oder Tonnen. Ein neues Verstrebungs- und Bausystem im ganzen taucht mit der Einführung von
vier Pfeilerstatzen unter der Kuppel auf. Die offensichtlichste Folgeerscheinung, die sofort eintritt,
ist eine bedeutende Minderung des Kuppeldurchmessers, die Raumgröße bleibt aber dieselbe.
Die Kuppelkirchen mit Pfeilerstützen unter der Kuppel bilden eine zusammenhängende Gruppe, wie
andererseits die vorher betrachteten Formen auch. Die einzelnen Entwicklungsphasen, die Bedingungen
und Umstände, welche zur Einführung dieses Elementes geführt haben, sind noch nicht restlos aus-
findig gemacht worden. Wenn Strzygowski geneigt ist zu vermuten, daß wir hier mit einem Ein-
fluß weltlicher Baukunst, des Burgbaues (nach Analogie der schwedischen Beispiele, S. 476—477) zu
tun haben, so birgt diese Vermutung nichts Überzeugendes in sich. Wie dem aber auch sei, die
Gruppe solcher Kirchen ist ziemlich groß; einzelne Vertreter stehen zweifellos untereinander, wie auch
mit verschiedenen anderen Formen im Zusammenhange.
Die Zeit der Einführung dieses neuen Elementes im Kuppelbau kann bereits ganz bestimmt an-
gegeben werden. Die neue Baumöglichkeit zeitigte zunächst eine Anzahl noch erhaltener Bauten, die
in verschiedenen Richtungen bedeutende Unausgeglichenheiten, ein Suchen und Tasten aufweisen,
Zugleich sind auch die Formen äußerst verschieden und erlauben zum Teil keine weitere Entwick-
lung, da sie zu individuell sind. So scheint dies gerade in betreff der von Strzygowski überaus
gepriesenen Kirche von Bagaran der Fall zu sein. Nur in Frankreich, in Germigny-des-Prés ist
ein zweites Beispiel dieses Typus bekannt. Wenn Strzygowski sie in eine Gruppe mit den Kuppel-
quadraten mit Strebenischen setzt, sich aber nicht durch die Pfeilerverstrebung geführt fühlt, so muß
dies entschieden als Mangel betrachtet werden. Er reißt hier Formen, die eher zusammengehören,
auseinander, wie er es auch durch das Einordnen „einschiffiger Dreipässe“ zu anderen Kirchenbauten
mit freistehenden Pfeilern unter der Kuppel gemacht hat.
Strzygowski konnte aber auch gar nicht dieser Tatsache der Pfeilerverstrebung eine entsprechende
Stellung zuweisen, da er ein anderes Prinzip: Strahlenförmigkeit — Längsrichtung, als formbildend
bezeichnet und dazu sich an die Einheit der Bedingtheit festklemmt. Wenn wir aber in seinem
Schema die dreischiffigen Dreipässe mit den einschiffigen vergleichen, welche beide nur Unterarten
А und B einer Gruppe der lingsgerichteten Kuppelbauten bilden, so sieht man sogleich, daß zwischen
beiden eine Kluft bestebt, die ganz prinzipiell ist und nicht zu vergleichen mit dem Unterschiede
zwischen dreischiffigen Dreipässen und verschiedenen anderen dreischiffigen Kuppellängsbauten ohne
Strebenischen. Dies ist natürlich auch dem scharfen Blicke Strzygowskis nicht entgangen, wenn
er die Strebenischen in den dreischiffigen Dreipässen nur als ein Rudiment bezeichnet, das keine
konstruktive Bedeutung mehr hat, die durch die Tonnenverstrebung aufgehoben wird (502—503
504, 506). Mehr als das noch: eine aufmerksame Sichtung jener photographischen Aufnahmen, die
Strzygowski in seinem Werke von der Kirche zu Thalin gibt, läßt unwillkürlich Zweifel an der
von Mesrop Ter-Mowsesian, Th. Thoramanian und J. Strzygowski einstimmig angegebenen
Entstehungszeit der Kirche um die Mitte oder gegen das Ende des 7. Jahrhunderts (und jedenfalls
vor 783 (S. 167) 1) entstehen. In diesem Bau ist, wie Strzygowski es richtig kennzeichnet, „die
(1) Dies Datum ist einer Inschrift entnommen, die aber wie der Sprache, so auch dem Inbalte nach
so vulgär ist, daß man eigentlich keinen Grund hat, sie nicht für das 14. Jahrhundert etwa in An-
spruch zu nehmen.
234
Kuppel derart von der Apsis abgerückt, daß der künstlerische Zusammenhang der drei Strebe-
nischen ganz verlorenging“ (so2). Er spricht weiter dann noch darüber: „Nur die armenische Kunst
reißt diesen einst von ihr im Tetrakonchos geschaffenen Zusammenhang auseinander“ (502) und will
dies so erklären: „Das oberste Gesetz ist ibr der Grundsatz: Der Kuppel die Mitte“. Dies alles ist
nur eine schematisch ganz glatt ablaufende Entwicklung; tatsächlich aber scheint es keineswegs dem
so zu sein. Die vorspringenden Konchen sind ein Zusatz zu dem im übrigen ansehnlichen Bau,
eine Anzahi Parallelerscheinungen der kaukasischen Architektur mahnt auch zur Vorsicht in diesem
Punkte. Es scheint vielmehr, daß dieses Motiv nur ein dekoratives Verlangen zu stillen berufen war.
Und man muß seibst den Ausdruck Trikonchos zu dieser Bauform nur sehr mit Vorbedacht anwenden!).
Als neue schöpferische Bemühungen sind konstruktiv von Bedeutung im Gegensatz zu den eben
besprochenen die Kirchen aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts, wie Mren, Odzun in Armenien oder
Tzromi in Georgien zu bezeichnen. Hier sieht man das Ringen um die Form, da der Architekt tat-
sächlich der Kuppel die Mitte bewahren will. Diese Form der längsgerichteten Kreuzkuppelkirchen
enthielt eine ganze Reihe von Änderungsmöglichkeiten, was auch zum Teil tatsächlich im Laufe der
Zeit seinen Ausdruck fand. Strzygowski sondert eine Unterart, die seiner Meinung nach ent-
wicklungageschichtlich von Bedeutung zu sein scheint, nämlich die längsgerichtete Kreuzkuppelkirche
mit zwei freistehenden Pfeilern. Als Beispiele führt er die Kirchen von Akori und Astapat an, die
er ins 7. Jahrhundert, jedenfalls nicht später als 989, resp. 976, ansetzt. Diese Unterscheidung ist,
wie es sich leicht versteht, wiederum auf einer hypothetischen Grundlage erwachsen. Der Verfasser
scheint auch nicht recht an das angegebene Alter dieser Kirchen zu glauben, wie es tatsächlich
auch der Fall ist, da diese Form erst im 10. Jahrhundert auftaucht und danach sich immer stärker
und stärker verbreitet.
Desgleichen ist auch seine Zeitbestimmung der Kuppelhalle ins 7. Jahrhundert ganz verfehlt.
Strzygowski meint, daß die Kuppelhalle „als Bauform doch schon im 6. Jahrhundert entstanden“
sei, da „das erste gesicherte Beispiel, Thalisch, aus dem 7. Jahrhundert stammt (S. 190 f.)“ (588).
Aber er bemerkt selber, daß: „diese Bauform als Gattung für die Spätzeit der armenischen Kunst ebenso
bezeichnend ist, wie die Konchenquadrate und die reinen Strebenischenbauten für ihren Anfang...
Die Kuppelhalle hat sich in der armenischen Kunst, nach dem Jahre 1000 etwa, derart eingebürgert,
daß sie für die spätere Zeit als die armenische Bauform schlechtweg gelten kann“ (508, 588, 854).
Und Strzygowski führt dann über 25 Kirchen an, dem Namen nach oder näher beschreibend, die
— abgesehen von zweien, die am Ende des 9. Jahrhunderts erbaut worden sind — alle aus dem Ende
des то. Jahrhunderts und später stammen. Dieser ganzen Reihe ist allein die Kirche von Thalisch
als ein Bau des 7. Jahrhunderts, gegenübergestellt. Diese Behauptung beruht auf der Inschrift aus
dem Jahre 668 oder 671 (vgl. Abb. 40, 8. 46). Diese Inschrift wird in Strzygo wskis Untersuchung
als zweifellos original vorgeführt und kein Wort darüber gesagt, daß sie von Orbeli (vgl. oben) als
eine späte Kopie erwiesen worden ist. Orbeli hat diese Tatsache unwiderlegbar bewiesen (in
Strzygowskis Besprechung dieser Inschrift von Thalisch wird unmerklich gegen Orbeli polemi-
siert) und die Zeit ihrer Entstehung im 11. Jahrhundert angesetzt. Somit muß sie bei Besprechung
der jetzt bestehenden Kirche außer Spiel fallen. In der Tat wird dieses hohe Alter durch die Auf-
nahmen keineswegs bekräftigt. Und so kommt man auch von dieser Seite her zu dem Schluß, daß
die Kuppelhalle im Kaukasus etwa im 9. Jahrhundert entsteht. Dies läßt sich auch auf Grund des
georgischen Materials rechtfertigen, denn trotz Strzygowskis Behauptung (854) finden wir auch in
Georgien Kuppelhallen, wenn sie hier auch keine so überwältigende Verbreitung gefunden haben.
Hier hat sich dagegen die Kreuzkirche mit vier und insbesondere zwei Pfeilern verbreitet.
Ich begnüge mich mit diesen Bemerkungen über das Schema der Formenentwicklung „armenischer“
Baukunst, obgleich sie nur einiges besonders Wichtige behandeln. Mit diesen behandelten Punkten
sind auch weitere Folgebebauptungen verbunden — ich konnte aber hier keineswegs alles besprechen.
Ich konnte auch vor allem nicht das genügend angeben, was in diesem Schema meiner Meinung
nach als ein dauernder Gewinn zu bezeichnen ist. Diese äußerst wichtigen Prinzipien und fein be-
obachteten Charakterzüge werden, wie wir sahen, mit unannehmbaren Aussagen verquickt. Im
(1) In betreff der Kirche von Alawerdi (Georgien) bemerkt Strzygowski, sie sei in Exedern geteilt
(167), was er den Maßaufnahmen Grimms entnimmt. In Wirklichkeit aber sind diese Exedern
durch spätere Vermauerung entstanden.
235
ganzen läßt die obige Besprechung der Formenentwicklung uns ein kontinuierliches Werden und
Entwickeln beobachten, das Jahrhunderte geschichtlichen Lebens umfaßt, Zwar könnte man hoffen
daß im dritten Buche, der „Geschichte“, Strzygowski eine Begründung seiner Konstruktion liefern
würde. Dem ist aber nicht so — es ist eine Skizze, die leider nichts beweist, sondern nur Be-
denken erweckt.
ҮП
Zum Schluß unserer Betrachtung ist es noch notwendig des Zusammenhanges zu gedenken, den
Strzygowski bereits im Titel seiner Untersuchung „Die Baukunst der Armenier und Europa“
angibt. Wohi erst im letzten Moment muß seine Untersuchung diese Richtung erhalten haben.
Sie ist bereits im anderen Werke „Altai-Iran und Völkerwanderung“ sowie in „Die bildende Kunst
des Ostens“ vertreten. Es handelt sich nämlich nicht allein um das Verhältnis der Kunst im Kaukasus
zur europäischen, sondern tiefer gehend um ein Rassenproblem, um das Verhältnis der armenischen
Kunst als eines Zweiges der arischen Kunst überhaupt. Für ihn sind die Armenier — Arier schlecht-
hin. Und es versteht sich demnach, weshalb er nur nebenbei die Kunst der Georgier behandelt,
und dieselbe geradezu für eine Ablegerkunst der Armenier erklärt: die nicht-arische Abkunft der
Georgier unterliegt ja weiter keinem Zweifel, mag sie auch positiv strittig erscheinen. Bei alledem
ist es aber nicht erlaubt, die Kompliziertheit der Frage so glatt zu verschweigen, wie es leider hier
geschieht. Strzygowski mußte meines Erachtens die Tatsache wohl erwogen haben, daß die
Abstammungsfrage der Armenier seit langer Zeit bereits stark debattiert wird und jedenfalls — mag
man als Nicht-Fachmann vielleicht sich nicht so oder anders entscheiden — sehr verschieden in den
einzelnen Wissenschaftsrichtungen behandelt wird.
Trotzdem aber, daß Strzygowski die Kunst der Armenier für eine arische erklärt und behauptet,
daß von nun an neben die beiden anderen Ausdrucksformen arischer Kunst — die griechische und
nordisch-gotische — ein dritter, bisher unbeachtete Zweig arischer Kunstbetätigung — der armenische —
herantritt, welcher gerade der am meisten typische und unbeeinflußte sei — verschließt er sich nicht
der Erkenntnis, daß die westeuropäische Kunst der christlichen Zeit doch etwas Selbständiges ist und
nicht eine Abzweigung oder Weiterführung der armenischen. Ab und zu bringt er zwar auch ein-
zelne dieses bekräftigende Zusammenstellungen, aber sie beziehen sich immer nur auf die Zeit vor 1000.
Die Kunst des Mittelalters und insbesondere die Baukunst der italienischen Renaissance erklärt er
prinzipiell für selbständig entstanden, und dies trotz der oftmaligen Übereinstimmung in den Grundriß-
formen. Man kann natürlich nur sehr bedauern, daß er keine ähnliche Aufmerksamkeit und Vorsicht
auch in anderen Fragen und Zusammenhängen offenbart hat.
Die hier eingehend besprochene Untersuchung Strzygowskis bringt somit nicht nur ein ganz
neues und überaus reichhaltiges Tatsachenmaterial der allgemeinen Kunstgeschichte bei, sondern sie
gibt zugleich einen Versuch, dieses Material allgemeinen Gesichtspunkten und den bereits in der
Wissenschaft ausgesprochenen Zusammenhängen einzuordnen. Sie ist somit ungemein wertvoll, da
hier zum erstenmal wirklich der Versuch gemacht worden ist, die Kunst des christlichen Kaukasus
in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Kunstgeschichte zu verstehen und zu würdigen. In letzter Hin-
sicht sind ganze Abschnitte dieses Werkes überaus wichtig, wo die kaukasische Architektur zusammen-
fassend charakterisiert wird, so 88. 304—329, 544—569.
Wir haben uns bemüht, die ausschlaggebenden Momente und Behauptungen der hochbedeutenden
Untersuchung Josef Strzygowskis hervorzuheben und sie zu besprechen. Dieser Untersuchung ist
auf lange Zeit beschieden, die Hauptquelle beim Behandeln armenischer und zum Teil selbst georgi-
scher Baukunst zu sein. Daher war eine eingehende kritische Besprechung sehr geboten, und sehr er-
forderlich. Ich konnte selbstverstindlich aber nur die Grundlagen der ganzen Untersuchung be-
sprechen, ihren theoretischen Aufbau und die theoretisch wichtigsten Ergebnisse, keineswegs aber
das überaus reichhaltige Tatsachenmaterial und die nicht minder reichhaltigen Einzelbemerkungen
des Verfassers im ganzen. Dies wäre eine Aufgabe für sich, die nur in einer eigenen Gesamtunter-
suchung des Materials selbst, als Parallelbehandlung auszuführen ist!). Aber auch abgesehen davon
liegt meines Erachtens die Hauptbedeutung dieser bedeutenden Arbeit gerade in den allgemeinen Ge-
(т) Wenn ich ab und zu einzelne Kleinigkeiten vermerkt habe (keineswegs erschöpfend), so hatte es
den Zweck, auch darauf aufmerksam zu machen, daß hier manchmal nicht alles ganz korrekt ist
(so auch in einigen Aufnahmebezeichnungen).
236
sichtspunkten, die unserem Verständnis der Baukunst dieses selbständigen Gebietes der christlichen
Welt im Oriente ein ganz neues Fundament gibt. Und diese allgemeinen Gesichtspunkte, trots
allerlei Widerspruch, den ich zu erheben mich gezwungen sah, erkläre ich für einen als neue
Erkenntnis überaus wichtigen Beitrag für die allgemeine Kunstgeschichte. Auch dieses Werk, wie
andere Werke desselben Verfassers, wirft in die Forscherwelt eine Unmenge von neuen Frage-
stellungen, neuen Problemen; mögen die Antworten, die der Verfasser gibt oder ahnt, auch nicht
immer ausreichend begründet oder stichhaltig sein.
ÄLTERE KIRCHLICHE KUNST IN SCHONEN. Von RICHARD HAUPT
Ir Jahre 1914 war in Malmö eine große Ausstel-
lung für die Ostseeländer veranstaltet. Der im
selben Jahre geschehene Ausbruch des Krieges
hat bewirkt, daß diese Ausstellung für uns ohne
die volle Beachtung vorübergegangen ist, die ihr
gebührte. Das ist auch für die Altertumswissen-
schaft recht bedauerlich, denn es hatten treffliche
schwedische Gelehrte in wunderbarer Rührigkeit
damit eine Schau über den ganzen alten Kunstbe-
stand in dem wichtigsten Bereich des germanischen
Nordens, in Schonen, verbunden. Aus 200 Kir-
chen hatten sie zusammengebracht, was irgend
dem Zweck dienen konnte und nicht am Platze
fest war. So ist die Ausstellung in ihren 611
Stücken, vom Kelch und Rauchfaß bis zum Tauf-
stein und Altarschrein, ein Ereignis gewesen von
besonderer Bedeutsamkeit, das nur zu achnell vor-
übergerauscht ist. Es war auch für die Zusam-
menstellung trefflich gesorgt, und daß die Veran-
staltung auf die Dauer ertragreich sei, dafür sorgt
eine jener schönen Veröffentlichungen, die sich in
Schweden an die großen archäologischen Ausstel-
lungen anzuschließen pflegen). Und es ist nicht
zu leugnen, daß wir bei persönlichem Besuche
nicht so viel Schönes hätten genießen und uns
aneignen können, als uns jetzt in der Beschrei-
bung geboten wird. Sie vergegenwärtigt uns die
Ausstellung in Wort und Bild, und daran schließt
sich eine Fülle bester Belehrung, die uns auch
zeigt, was aus der schonischen Kunst in der Be-
rührung mit der Kunst anderer Völker und nament-
lich der Deutschen, geworden ist. Das herrlich
ausgestattete Werk in groß Oktav hat 280 Seiten
und 218 Abbildungen, und der Titel lautet zu
Deutsch: Ältere kirchliche Kunst in Schonen, Stu-
(1) Rydbeck och Wrangel: Äldere kyrklig Konst
ißkone. Trykt: Berlingska Boktr. i Lund 1921.
dien, in Anlaß der Malmöer kirchlichen Ausstel-
lung von 1914 herausgegeben von Otto Rydbeck
und Ewert Wrangel, Der Inhalt beschäftigt sich
nicht ausschließlich mit den suf der Ausstellung
vertreten gewesenen Gegenständen, sondern es
wird namentlich auch das, was in der Sammlung
der Lunder Universität enthalten ist, mit berück-
sichtigt.
Da das Buch in Deutschland unter den heutigen
Verhältnissen nur wenigen zu Gesichte kommen
kann, und da auch nicht viele davon den vollen
Ertrag haben könnten, weil es zu den ausgezeich-
neten Abbildungen keinen deutschen Auszug ent-
hält, dergleichen uns die Schweden sonst öfters
so freundlich beigaben, so ist für uns ein gerech-
ter Anlaß gegeben, den Inhalt etwas eingehender
vorzuführen.
An erster Stelle schildert Otto Rydbeck, Dozent
an der Lunder Hochschule, die Ausstellung selber.
Im Anschluß daran gibt er uns Rechenschaft über
die wissenschaftliche Ausbeute derselben. Diese
Arbeit ist eine kleine Archäologie der schonischen
kirchlichen Kunst, wie sie sich an beweglichen
Gegenständen kundgibt.
Dann folgen Abhandlungen über einzelne The-
mata. Karl Wilhelm Wohlin behandelt einige
Stücke der schonischen Kunst in Metallarbeit des
13. Jahrhunderts, Namentlich gehören hierher
einige kleinere Kreuze, mit vergoldeten Kupfer-
platten belegt, und metallene Kronen von hölzer-
nen Cruxiflxen .
Hans Wohlin, Mitarbeiter am historischen Mu-
seum von Lund, gibt eine Abhandlung, betitelt:
Französischer Stil in den mittelalterlichen Holz-
(а) Ein solches Metallkreus ist auch del uns su finden in
der Kirche su Süsel in Wagrien. Es ist durch irgendwelche
Zusammenhänge in unser nordelbisches Land verschlagen.
237
skulpturen Schonens. Er beschäftigt sich beson-
ders mit Kruzifixen und mehreren Marienbildern
des 14. Jahrhunderts. Otto Rydbeck faßt alles
zusammen, was über den Chorbalken und den
Lettner beizubringen ist. Es fällt bier auf, wie
wenig hierüber aus Schonen zu gewinnen ist. Ja,
es besitzt das ganze große Schweden wie auch
Dänemark keinen Lettner mehr, so kann
selbst über den Lettner des Domes zu Lund nur
auf Grund alter Nachrichten geurteilt werden. Er
stammte aus dem 13. Jahrhundert. Noch weniger
ist über den zu Dalby zu ermitteln gewesen. Selbst
an Chorbalken des Mittelalters gibt es merkwür-
digerweise nur zwei. Aber sehr beachtenswert
und in spannender Darlegung geschildert ist das,
was Rydbeck über eine jetzt im Lunder Museum
ausgestellte mittelalterliche Lettnerbühne aus Holz
mitteilen kann, die aus der Kirche Skärby stammt,
ursprünglich aber wahrscheinlich in der Kirche
zu Balkokra gewesen ist. Von ihr ist nur das
Gerüst übrig: zweimal vier Pfosten, deren ge-
schnitzte Arbeit auf früh mittelalterliche Zeit deutet,
tragen den Oberbau, der eine Bühne gebildet haben
muß. Auf dem vorderen Rahmholz war die Kreuz-
gruppe angebracht. Man hatte diese Bühne am
Ende des 17. Jahrhunderts umgestaltet; jetzt ist
alles in verständiger Weise im Museum auf-
gestellt!).
In der vierten Abhandlung begegnen wir dem
gelehrten Erforscher der schonischen Taufsteine,
dem Pastor Lars Tynell. Über die Taufsteine des
ganzen Bereichs hat er ein besonderes wunder-
schönes und wohl abschließendes Werk heraus-
gegeben und kürzlich vollendet. Hier bringt er
das, was über metallene Taufen zu berichten ist,
und
(1) Zu diesem Gegenstande können wir unserseits nicht
ohne einige Genugtuung aus dem Bereiche Schleswigs
einige Anmerkungen hinzufügen. Es gibt hier, von An-
deutungen oder Stücken alter Chorbalken abgesehen, an
denen es nicht fehlt, nicht bloß eine große Anzahl nach-
mittelalterlicher, zum Teil zu vollständigen Chorschranken
gehöriger Triumphkreuze im Chorbogen, sondern auch drei
echte, ordentlich erhaltene Chorbalken aus der älteren Zeit:
einen romanischen zu Rieseby aus dem 13. Jahrhundert
und die spätgotischen zu Kating und zu Warnitz, Der Ka-
tinger ist im 19. Jahrhundert leider allzusehr verschönert
worden, aber immer noch ein herrliches Stück, an dem
sich auch der Humor der alten Zeiten erweist; der von
Warnitz bedurfte keiner Verschönerung. Dieser hat die
Form eines Eselrtickens, aus dem ein treffliches romani-
aches Kruzifix hinaufwächst, So ist er ein bescheidenes
Gegenstück der herrlichsten aller derartigen Schöpfungen,
des Triumphkreuzes im Lübecker Dome. Wir glauben auch
richtig erkannt zu haben, daß wir Bruchstücke von roma-
nischen Chorschranken besitzen, nämlich zu Bjerning bei
Hadersleben und die erst neuerdings zutage gekommenen
geschnitzten Holzplanken zu Humptrup im Kreise Tondern.
Schließlich ist auch ein Lettner vollständig vorhanden,
wenn er auch nicht mehr an seinem Orte steht, sondern,
in zwei Teile gespalten, abseits gestellt ist. Er steht im
Schleswiger Dome.
238
anknüpfend an die spätgotische Bronzefünfe aus
Asmuntorp, die zu Malmö mit ausgestellt war.
Es werden uns ferner vorgeführt die Taufe aus
dem Dom zu Lund von 1596, von Ronneby 1604,
von Ystadt 1611. Diese ist gegossen von Rein-
hold Benning zu Lübeck; aber auch die andern
sind lübisch oder wenigstens von Lübeck ab-
hängig. Der sehr schöne Kessel von Asmuntorp
ist undatiert und ohne Inschrift, schließt sich
aber klärlich an an die Taufen im Dome zu Lübeck
von Laurenz Grove 1455, zu Mölln von Peter
Wulf 1509 und zu Eutin von 1511. So haben
wir wieder einen Zuwachs zum Bestande von
Kunstwerken, die in Niedersachsen ihre Heimat
hatten, und die diesem Lande fast eigentümlich
sind, so daß es auf diesen Reichtum der ganzen
Welt gegenüber stolz ist?).
Im fünften Teile hat es Helge Kjellin gewagt,
einen Gegenstand neu und vollständig zu behan-
deln, der schon zahlreiche Forscher aufgeregt und
gequält hat, ja über den in vorigen Zeiten etliche
ihren Verstand darangegeben haben sollen: die
messingenen Taufschalen und ihre Inschriften.
Diese Sache geht wieder ganz wesentlich uns
Deutsche an, Denn obwohl man sich alle Mühe
gibt, derlei Arbeiten niederländischen Becken-
schlägern zu- und dann uns abzusprechen, als ob
die Niederlande nicht auch deutsche Lande wären,
so ist doch auch unser engerer Bestand daran so
ungeheuer groß, daß der tatsächlich recht reiche
von Schonen dagegen nicht beträchtlich ist. Immer-
hin ist er mannigfaltig und vollständig und der
Beachtung durchaus würdig, die ihm Kjellin zuteil
werden läßt. Er führt uns sechs der schonischen
Schüsseln vor, dazu in ıı Abbildungen die In-
schriften. Dazu kommt eine Menge von Stücken
aus Deutschland, namentlich dem Germanischen
(2) Vgl. Albert Mundt, Die Erstaufen Norddeutschlands,
Leipzig, Klinkhardt & Biermann 1908. Niedersachsen ist
das Gebiet der Ersfünten, am meisten sind sie auf beiden
Seiten der Niederelbe zu Hause Zur Ergänzung von
Mundts Verzeichnis lasse ich hier ein neueres folgen aus
der Handschrift: Geschichte und Art der Baukunst in Hol-
stein 21, 20: Von den aus alter Zeit im Bereiche der Deut-
schen noch vorhandenen und nachweisbaren Taufgrapen,
an der Zahl 175, kommen auf Friesland, Hannover, Nord-
elbingen, Mecklenburg 110, auf Schleswig einschließlich
Hollands 7, Pommern 1, Brandenburg 15, die Provinz Sachsen
und das Harzland 25, Westfalen 4, Schlesien 3, West-
preußen 2 Süddeutschland 5 und Flandern 3. Hiervon be-
sitzt Ditmarschen 9, Holstein und Stormarn 14, Wagrien
und Polaben 17 und Mecklenburg 10. Das sind zusammen so.
Von diesen kommen ı5 auf das Mündungsgebiet rechts der
Elbe und von den anderen 60 stehen am linken Ufer der
Unterelbe zwei Drittel. Wenn wir also von den anderen
s5 die des Harzlandes, der Provinz Sachsen und Branden-
burg nebst Nordelbingen, Mecklenburg und Schleswig hin-
zurechnen, so fallen von den 175 bekannten deutschen
mittelalterlichen Taufgrapen auf Sachsen, namentlich Nieder-
sachsen, 157.
Museum!). Kjellins Bemühung ergibt eine ab-
schließend erscheinende Lösung der Frage nach
den Inschriften, soweit diese Lösung überhaupt
möglich ist. Am meisten natürlich beschäftigt
ihn die Bedeutung der sich gewöhnlich fünfmal
wiederholenden Buchstaben Benedi.
Zum Schluß handelt Ewert Wrangel über die
schonischen Altarschreine und bewährt wieder
seine genaue und tiefe Vertrautheit mit der deut-
schen Wissenschaft und die Bestimmtheit seiner
Beziehungen zur Lübecker Plastik. Die schoni-
schen Altarwerke, zum Teil von vorzüglicher Güte,
gehören fast ohne Ausnahme dem Kreise der
Cimhrischen Halbinsel, und namentlich der lübi-
schen Kunst an. Man kann in diesem Schluß-
abschnitt eine Krönung des ganzen Werkes or-
kennen. Es ist aber nicht geraten, seinen Inhalt
bier vorzutragen, wo keine Abbildungen gegeben
worden können.
In die Freude am Genusse dieses schönen
Werkes mischt sich ein gewisses Bedauern, da
wir fühlen, wie die Verbindung zwischen Deutsch-
land und unsern nächsten Verwandten im Norden,
an der uns so viel gelegen ist, sich nur mit großer
Anstrengung aufrechterhalten läßt. Das Werk
ist nur in 600 Abzügen gedruckt. In Deutsch-
land werden sich nur wenige seines Besitzes zu
erfreuen haben. Aber schon die Betrachtung der
Abbildungen ist lohnend und genügt, um daraus
einen erheblichen Gewinn zu ziehen.
In einer Hinsicht sah sich die Erwartung be-
richtigt oder man kann auch sagen enttäuscht.
Man konnte denken und hoffen, daß aus der Aus-
stellung unsere Kenntnis von der eigentlichen
germanischen Kunst oder wenigstens von den
eigenen Zügen, in denen sich das nordisch-ger-
manische Kunstgefübi in den Leistungen der
weiter entwickelten Kunst offenbart, neuen Zu-
strom erhalten werde, Solche Züge treten aber
in dem Werke nicht hervor, und es hat sich auch
(1) Wir könnten unserseits aus Holstein und Schleswig für
eine vollständige Aufführung, wenn es der Mühe wert wäre,
sie zu geben, eine recht namhafte Anzahl beisteuern: das
Register unseres Inventars der Baudenkmäler 3. 104 f. führt
307 auf.
leider keine Gelegenheit ergeben, zu den abhan-
delnden Kapiteln noch eines hinzuzufügen, das
sich mit diesem für uns doch vor allem bedeut-
samen Gebiete beschäftigte. Es ist wichtig, hier-
für eine Erklärung zu suchen. Sie liegt zunächst
darin, daß Schonen von altersher kein Teil Schwe-
dens, sondern Dänemarks ist. In den dänischen
Landen hat die Kraft, in der die ausländischen
Stilrichtungen aufgenommen worden sind, das
einheimische Kunstgefühl, und zwar ganz beson-
ders in der kirchlichen Kunst, schnell zurück-
gedrängt und überwunden. Und es stammten
von den Gegenständen der Ausstellung auch nur
ganz wenige aus Zeiten, die vor dem 13. Jahr-
hundert liegen, also in die Anfangsperiode zurück-
gehen. Die Scheide zwischen Heiden- und Christen-
tum ist etwa das Jahr 1000. Ferner aber ist ge-
rade die Gruppe von Schöpfungen der Kunst, in
der der germanische Geist am meisten lebendig
war, und aus deren Betrachtung so viel zu ge-
winnen ist, nämlich die Taufsteine, bei der Aus-
stellung nicht wesentlich beteiligt gewesen.
Die Veranstalter der Ausstellung haben gewiß
lebhaft bedauert, gewisse Gegenstände nicht mit
vorführen zu dürfen, aus deren Betrachtung sich
ergeben mußte, daß im Gesamtbilde der schoni-
schen Kunst der rein germanische Zug nicht
fehlen darf und kann. So ist es eine für uns er-
freuliche und willkommene Ergänzung des hier
besprochenen Werkes, daß Prof. Ewert Wrangel
kürzlich in der historischen Zeitschrift für
Schonen (7, 271—298) ausgiebig und umfassend,
durch 30 Abbildungen erläuternd, über die Reli-
quienschreine von Kammin und Bamberg
gehandelt hat. Hier finden wir erschöpfende Dar-
legungen über die Ornamentik, über das Herein-
spielen menschlicher und tierischer Gestalten, über
die Beschläge und über die Technik. Zum Schluß
wird gefragt, wie diese Schreine aus Schonen
nach Deutschland gelangt sind. Das ist in den
frühen Zeiten des 12. Jahrhunderts geschehen, und
der Bischof Otto von Bamberg, der Apostel Pom-
merns, hat daran seinen Anteil.
239
REZENSIONEN .
NEUE LITERATUR über die Bau-
kunst des Klassizismus,
Den Architekten, die sich für die Bauten des
Klassizismus erwärmten und sie für die Gegen-
wart fruchtbar zu machen hofften, verdankt man
eine Reihe von Abbildungswerken, deren bestes,
das von Paul Mebes herausgegebene „Um 1800“,
in der zweiten Auflage durch Abbildungen und
eine beredte Einleitung von W. C. Behrendt be-
reichert ist, Die wissenschaftliche Bearbeitung
dieses baugeschichtlich ungemein interessanten
Kapitels steckt noch in den Anfängen. P. Klopfers
Versuch einer zusammenfassenden Darstellung
„Von Palladio bis Schinkel“ (1911) war durchaus
unzureichend. Am Beginn eingehenderer Behand-
lung eines Teilgebietes steht Hermann Schmitz
„Berliner Baumeister vom Ausgang des 18. Jahr-
hunderts“ (1914). Zwar liegt auch hier noch der
Nachdruck auf den (vorzüglichen) Photographien,
doch bringt auch der Text wesentliches Material
nicht nur für den historischen Tatbestand, sondern
auch zur Charakterisierung dieser über Preußen
hinaus einflußreichen Schule. Eine zutreffende
Vorstellung von der Gesamterscheinung des Stils
wird sich orst gewinnen lassen, wenn weitere
Einzeluntersuchungen vorliegen.
Über einen der in Deutschland führenden Männer
besitzen wir sie seit kursem: dem Karlsruher
Friedrich Weinbrenner hat Arthur Valde-
naire eine mit großer Sorgfalt und Liebe aus-
geführte Arbeit gewidmet (C. F. Müllersche Hof-
buchhandlung, Karlsruhe 1919, 324 S. mit 254 Ab-
bildungen). Zum ersten Male wird die Bekannt-
schaft mit dem umfangreichen, das erste Viertel
des ı9. Jahrhunderts umfassenden Gesamtwerk
Weinbrenners vermittelt, die Geschichte der aus-
geführten Bauten sowie der erhaltenen Entwürfe,
womöglich auf Grund urkundlicher Nachrichten
dargestellt. Die Abbildungen bringen eine Fülle
bisher unveröffentlichten Materials. Die gewissen-
hafte Darlegung des Tatsächlichen ist das wesent-
liche Verdienst Valdenaires. Was er über die
kunstgeschichtliche Stellung W.s äußert, tritt dem-
gegenüber zurück, Nicht nur die Beziehung Wa
zur römischen Antike zu verfolgen, ist, wie der
Verf. anregend meint, eine dankenswerte Auf-
gabe, sondern vor allem das Eigentümliche der
Weinbrennerschen Ausdrucksweise gegenüber den
gleichzeitigen Baumeistern. Bei einem Vergleich
mit Schinkel ist übrigens zu bedenken, daß W.
15 Jahre älter gewesen ist und daß er (1826)
240
starb, als Schinkel noch anderthalb Jahrzehnt
Schaffenszeit vor sich hatte. Doch erklärt dies
den Unterschied gewiß nicht allein. W.s Stil,
sagt Valdenaire, sei „wärmer, voller, unbefangener“
als der Schinkels. Damit umschreibt er den näm-
lichen Gegensatz, den W. selbst in seinen „Denk-
würdigkeiten“ als einen allgemeinen zwischen
Nord- und Süddeutschland empfunden hat: „Wenn
ich mir gleichwohl gestehen mußte, daß Wien
und andere mehr südlich gelegene Städte in Hin-
sicht der Kunst im allgemeinen vieles vor Berlin
voraus hatten, so fand ich doch an letzterem Ort
im geselligen Leben mehr Ideen über Kunst ver-
breitet; man begnügte sich hier nicht mit all-
gemeinen Urteilen, sondern wußte diese Urteile
tiefer zu begründen. Den Südländer führt mehr
ein glücklicher Trieb, während seine nördlichen
Landsleute das Reich der Begriffe zu erweitern
streben.“ Für die ideologische Richtung der
spätern Schinkelschen Entwürfe wire W. nicht
zu haben gewesen, auch wenn er einer jüngeren
Generation angehört hätte.
Nach Seite der Anschauung wird Valdenaires
Buch mehrfach ergänst durch ein kürzlich bei
Ernst Wasmuth in Berlin erschienenes Heft
„Friedrich Weinbrenner“, hreg. von Max
Koebel (118 8. mit 133 Abb.): neben guten
Photographien großen Formats bringt der Verf.
eigne maßstäbliche Aufnahmen der wichtigsten
Bauten. In der Einleitung wird die Kunst W.s
mit Verständnis und Empfindung umrissen.
Schließlich sind Weinbrenners eben erwähnte
' ,Denkwtrdigkeiten aus seinem Leben von
ihm selbst geschrieben“ bei Gustav Kiepenheuer,
Potsdam, in einem sehr hübschen Gewande neu
erschienen (278 S. mit 9 Abb.). Sie umfassen
seine Lehr- und Wanderjahre in der Schweiz,
Wien, Berlin und vor allem Italien bis zum Be-
ginn seiner Bautätigkeit in badischen Diensten
(1797). Über künstlerische Dinge äußert er sich
nicht viel, aber den Menschen Weinbrenner lernt
man aufs erfreulichste kennen und seine anschau-
lichen Schilderungen mannigfacher Reiseabenteuer
und der römischen Zustände machen das Buch
zu einer recht unterhaltsamen Lektüre. Kurt K.
Eberlein, dem wir die Neuausgabe verdanken,
widmet seinem Landsmann ein feinsinnig be-
schwingtes Nachwort.
Einen jüngeren Zeitgenossen Weinbrenners, den
mecklenburgischen Hofbaumeister Joh, Georg Barca
(1781—1826) lernen wir aus einer kleinen an-
genehmen, mit guten Abbildungen versehenen
Schrift von Joh. Paul Dobert „Bauten und
Baumeister in Ludwigslust“ (Magdeburg,
Karl Peters Verlag 1920) kennen. Barca, ohne
starke Besonderheit, aber in bescheidenen Grenzen
tüchtig und gediegen, zeigt, wie auf der Grund-
lage damaliger Schulung (in Berlin und Paris)
ein anständiger Durchschnitt aufwachsen konnte.
Sein Hauptwerk ist das Rathaus in Wismar.
Schinkels Kunst wird man erst dann erfassen
können, wenn die über 3000 Zeichnungen seines
Nachlasses im Charlottenburger Schinkelmuseum
neu geordnet und gesichtet sind. Diesen Wunsch
spricht auch Erich Gloeden aus, der in den
von C. Gurlitt herausgegebenen bauwiss. Beiträgen
(Der Zirkel, Arch. Verlag, Berlin 1919, 96 8. mit
ı5 Abb.) eine Abhandlung „Die Grundlagen
zum Schaffen С. Fr. Schinkels“ verdffent-
licht hat. Eine dem Studium günstigere Aufstel-
lung jenes Materials wäre auch für Gloedens Arbeit
nützlich gewesen. Denn er stellt nicht nur, was
vielleicht der Titel vermuten läßt, zusammen, was
an architektonischer Anschauung bei Sch.s Ein-
tritt in die Baugeschichte herrschend war, son-
dern versucht auch eine kritische Würdigung der
Schinkelschen Tätigkeit in ihren verschiedenen
Phasen. Das geschieht in etwas aphoristischer
Weise und bizweilen stößt man auf merkwürdige
subjektivo Werturteile. So wenn er von Friedrich
Gillys „sehr trocknen und unfruchtbaren“ Ideen
spricht, oder wenn er es übel vermerkt, daß Sch.
in seinen Entwürfen für Berliner Wohnungen
keine Badezimmer vorgesehen hat, oder wenn er
sagt, das Gebäude der Bauakademie sei „keines-
теке Ausdruck seines innersten Wesens“ . Aus
dieser letzten Bemerkung möchte man annehmen,
der Verf. verkenne den komplizierten, problema-
tischen Charakter der Schinkelechen Persönlich-
keit. An anderen Stellen aber bekundet er eine
sutreffendere Vorstellung: Er wendet sich s, B.
gegen die mehrfach geäußerte Ansicht, Sch, habe
eine „romantische Epoche“ gebabt (bis 1815), viel-
mehr begleite das verzehrende Ringen um zwei
entgegengesetzte Pole Schinkels ganzes Leben
und habe nie einen endgültigen Ausgleich ge-
funden. Und das Richtige trifft Gloeden m. E. auch
mit den Sätzen am Schluß seiner Beobachtungen
(die häufig zum Widerspruch reisen, aber für den,
der sich bereits mit dem Thema beschäftigt, an-
regend und fruchtbar sind): „Schinkel hat den
Entwicklungsgang des 19. Jahrhunderts nicht nur
eingeleitet, man kann ruhig sagen, er hat ihn
schon zu Ende geführt! Da ist keine Form, keine
Technik, keine Idee irgendwelcher Art, die nicht
in seinen Worten und Werken bereits vernehm-
Monatshefte für Kunstwissenschaft eng, 7—9. 16
lich vorklingt. Und noch dazu vieles, was er
nicht übernahm, sondern völlig aus sich selbst
heraus esschuf. Mag man das Ergebnis an und
für sich unvolikommen finden, die innere Kraft-
leistung an sich ist die eines Genies.“
A. Grisebach,
HANS ROSE, Spätbarock. Studien zur
Geschichte des Profanbaus in den Jahren
1660—1760. Verlag Hugo Bruckmann,
München 1922.
Rose hat vor einiger Zeit in einer gut lesbaren
Übersetzung die Memoiren des Mr. de Chantelou
herausgegeben, die vor vielen Jahren in einer
ganzen Reihe von Jahrgängen der Gazette des
Beaux-Arts erstmalig veröffentlicht wurden, infolge-
dessen von der weiteren Forschung ziemlich un-
gewertet blieben. Die Beschäftigung mit diesen
Memoiren des französischen Ehrenherrn, der dem
Italiener G. L. Bernini Zeit seines Aufenthalts
in Paris 1665 beigegeben wurde, hat Rose dazu
geführt, das Problem des Barocks umfassend an-
zugreifen und jetzt eine Zeitspanne von gut hun-
dert Jahren, die er als Spätbarock bezeichnet,
herauszuschälen, innerhalb der er die Entwick-
lung des Profanbaus in weitestem Sinn für Italien,
Frankreich und Deutschland behandelt, Nach
einer allgemeinen Einleitung, in der die Begriffe
„Dekorativer Stil“, „Transitorisches Moment“ und
„Der Ausgleich der Werte“ — nach Rose bedingt
der Drang zum synthetischen Sehen eine Quali-
tätsverminderung der Einzelobjekte — behandelt
werden, rollt sich vor uns das gewaltige Schau-
spiel in seinen Komponenten auf, beginnend mit
der Landschaft, der Gartenkunst und dem Stadt-
bau, weiterhin die Gebäudeform und die Raum-
form darstellend, um schließlich mit der Deko-
ration zu enden, die bis zur Behandlung des
Zimmers und der Möbel durchgeführt wird. Das
Gebiet wird also umgekehrt durchschritten, wie
sonst allgemein in dem Bestreben, synthetisch
vom Kleinen zum Größeren voranzuschreiten,
üblich war, Denn schließlich ist der Wandel der
Raumform auch das Primäre für die Entwicklung
der Stadtbaukunst und der Gartenanlagen. Aber
gern soll zugegeben werden, daß mit der ge-
wechselten Perspektive neue Anblicke sich auf-
tun. Eine Fülle sehr beachtenswerter Einzel-
beobachtungen ergeben sich, zumal Rose erneut
aus den Quellen geschöpft hat. Im Zentrum der
gesamten Darstellung steht das Problem des
Louvrebaus, auf das ja des Tagebuch Chantelous
nachdrücklich verweist. Merkwürdigerweise be-
241
nutste Rose nicht jene vielleicht noch wichtigere
Quellenschrift, die sich uns in den „Mémoires
de ma vie“ des Bruders von Claude Perrault, des
Charles Perrault, bietet, des Vertrauten des all-
mächtigen Colberts, der der eigentliche Gegen-
spieler Berninis gewesen ist. So stellt auch Rose
die erste Entwicklung dieser bedeutsamen Peri-
pethie italienischer und französischer Baukunst
nicht richtig dar. Er übersieht, daß die ersten
Pläne der Franzosen von 1664 in Rom zur Be-
gutachtung Bernini, Pietro da Cortona und Boro-
mino vorgelegt wurden und bestreitet, wie mir
scheint zu Unrecht, daß Bernini daraus An-
regungen schöpfte: zumindest ist doch die Drei-
Risalit-Front in dieser ausgesprochenen Form
französisches, nicht aber italienisches Motiv.
Schließlich sind diese Details jedoch belanglos,
ebenso belangios wie die verschiedenen Unrichtig-
keiten, die bei der Darstellung der historischen
Tatsachen und bei der Beschreibung ausgeführter
Bauten Rose unterlaufen — die jüngeren deut-
schen Kunsthistoriker werden kaum mehr in der
Lage sein, durchweg aus eigener Anschauung
zu urteilen. Vorzüglich scheint mir, was Rose
über die Entwicklung des französischen Hötel-
baus trotzdem schreibt: er erkennt, geleitet durch
die französischen Theoretiker, die entscheidenden
Momente. Einzig bei seiner Darstellung der
Treppenbildung häufen sich auf wenigen Seiten
die Einwendungen, die eine ernsthafte, der dis-
ziplinierten Haltung des Buchs entsprechende
Kritik nun doch nicht ganz zu unterdrücken ver-
mag: Die Antike kannte den Stockwerkbau und
die Treppensysteme. Die ovale Wendeltreppe ist
keine eigentliche Barockerfindung, denn sie kommt
in Frankreich schon in Schloß Verneuil vor. Die
vierfiigelige Wendetreppe mit kupplig gewölbten
Absätzen erscheint in Rom schon im Pslazzo
Mattei di Giove, allerdings mit geschlossenem
Kern; so ist die bekannte Treppe Berninis im
Palazzo Barberini weniger originale Schöpfung
als eine Kombination dieser Form mit der Wen-
deltreppe um geöffneten Kern. Die Ecktreppen-
türme im SchloBhof sind keineswegs nur deut-
sches Motiv, das sich in Frankreich nach Rose
nicht findet, — eine ganse Anzahl französischer
Schloßbauten lassen sich dafür aufsihien, so daß
Bernini hier ein französisches Motiv verwendet
und nicht etwa, wie Rose meint, auf deutsche
Festungsschiösser zurückzugreifen braucht; ich
nenne dafür: Gaillon, Blois (Ludwigsbau), Folem-
bray von Ducerceau, S. Germain. Ancy le Franc
hatte sogar sehr bedeutsame Treppenturmldsungen
in plastischer Verklammerung mit dem Haupt-
242
körper gefunden, der gegenüber Berninis Lösung
als archaistische Form wirkt. Das Mittelrisalit
reserviert für die Treppe bereits Azay le Rideau,
ferner das Hétel de Ville in Chartres zu Anfang
des 17. Jahrhunderts, wogegen in Blois am Gaston-
bau seitsamerweise nicht das dreiachsige Mittel-
risalit von dem nun räumlich gans neu disponier-
ten Treppenbau eingenommen wird, sondern nur
dessen beide linken Achsen, wodurch sich eine
eigenartige Lösung des Treppenvestibüls ergibt.
Aber ich betone nochmals: diese Errata sind für
den Aufbau der gesamten Darstellung eigentlich
belanglos. Ein vortreffliches Abbildungsmaterial
begleitet den Text, wenn es auch der üblichen
Gepflogenheit entsprechen würde, daß der Ver-
fasser die Abbildungen, die er anderen Büchern
in reichlicher Weise entnimmt, und die immer-
hin einen gewissen ideelien und materiellen Wert
der Verfasser darstellen, als solche Entlehnungen
bezeichnet.
So wenig man dem Buch Roses mit einer Kritik
der einzelnen Tatsachenangaben gerecht würde,
so entschieden verlangt es eine Aussprache über
seine allgemeine Einstellung. Rose sagt: „Ich
unternehme es, die Bezeichnung Spätbarock zum
Stilbegriff zu erweitern.“ Er will hierbei die
von Wölfflin formulierten kunstgeschichtlichen
Grundbegriffe systematisch weiterbilden (was aller-
dings keineswegs deutlich wird). „Nachdrücklich
warnen möchte ich vor den Worten Klassik und
Klassizismus, deren leichtfertige Anwendung die
ganze Systematik des Barock in Frage stellt“ —
es stößt ihm dann allerdings zu, daß er selbst
schreibt: „die Perraultfassade begründet die fran-
sösische Salonklassik“ (was richtig ist, denn die
seitgenössischen Theoretiker bezeichnen diese
Epoche als die klassische, und zur „Klassik“ szu-
rückzukehren, verlangen die französischen Theo-
retiker des beginnenden Klassizismus). Rose
wünscht also, die gesamte Entwicklung in Italien,
Frankreich und Deutschland auf einen Nenner zu
bringen, wobei allerdings Holland ohne genügende
Kenntnis seiner Baukunst um 1700 nur ab und
zu erwähnt wird, England und Spanien ganz aus-
fallen. Damit aber wird eine Frage von prinsi-
pieller Bedeutung angeschnitten, die mir eine
Klärung zu verlangen scheint.
Die Entwicklung unserer Kunstwissenschaft
seigt, wie die allgemeinen Begriffe von Kunst-
epochen, vornehmlich Gotik und Renaissance,
zeitlich und völkerindividualistisch differenziert
worden sind. Noch gegen Ausgang des 18. Jahr-
hunderts war der Begriff Gotik ein geschlossener,
der sich zunächst entstehungsgeschichtlich ge-
spalten hat, um dann zeitlich sich zu gliedern.
Der geschlossene Begriff wuchs sich zu einem
vielteiligen Organismus aua, gerade die deutsche
Kunstwissenschaft hat soiche Differenzierung, die
sie schließlich zur Spätgotik und Sondergotik zer-
legte, diese wiederum nach einzelnen Land-
schaften bestimmend, als eine ihrer Hauptaufgaben
angesehen. Ebenso ging es mit dem Begriff der
Renaissance, deren italienische Form Burckhardt
bestimmte, während die nordischen Formen gleich-
zeitig von Lübke formuliert, wenn auch keines-
wegs interpretiert wurden. Es ergab sich das
wissenschaftlich überaus interessante Schauspiel
der Durchströmungen, die für Italien-Deutschland,
Italien-Frankreich untersucht wurden, während die
Durchströmung Frankreich, Deutschland noch wenig
beachtet ist, obgleich sie für Büdwestdeutschland
eine nicht zu verkennende Bedeutung hat, Weiter
wurde man darauf aufmerksam, daß nicht nur in
einem Querschnitt ungemeine Differenzierungen
sich zeigen, sondern daß auch die Längsschnitte
ganz verschieden verlaufen, daß nicht allein die
Wellenlänge der Gotik im Norden anders ist als
im Süden, sondern daß in den verschiedenen
Ländern die verschiedenen „überwundenen“ Ent-
wicklungswellen verschieden nachwirken, Gotik,
in Italien so gut wie spurlos verschwindend, taucht
mit neuem Schuß Anfang des 17. und gegen
Mitte des ı8. Jahrhunderts in Deutschland, um
1700 und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts in Frankreich wieder auf, um dann su Be-
ginn des 19. Jahrhunderts im gansen Norden su
erwachen. So ergab sich ein ungemein kompli-
ziertes System. Das Gleiche aber gilt für den
Barock, Mitte des 17. Jahrhunderts vollbringt
Italien seine größten Leistungen, gegen Ende des
Jahrhunderts wendet sich die Entwicklung auf
baulichem Gebiet von Rom nach Piemont; Frank-
reich erklärt sich rfickgreifend auf die Antike
programmatisch gegen Italien, in England halten
Wren und Jones am Palladianismus fest, in Hol-
land hat um diese Zeit der alte Rembrandt die
barocke Einstellung des jungen überwunden. Nur
unhistorischer Vereinfachungswille sucht noch
nach einer Wurzel, nach einem generellen Ab-
lauf, er versagt sich doktrinär die Anerkennung
der kontrastreichen, in sich bis zur Zersplitterung
differenzierten Mannigfaltigkeit, die nicht auf einen
Nenner zu bringen ist, wenn dieser nicht unend-
lich klein genommen wird, Das Bestreben Roses
nun aber geht gerade darauf hinaus, diesen Nenner
übergroß zu machen. Er gibt eine Konstruktion,
die nicht der Erkenntnis dient, sondern die sur
begrifflichen Schematisierung drängt. Rose lehnt
für französische Kunst der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts den Begriff Klassik ab, den ich
aus dem französischen Theoretikern heraus und
aus dem von ihnen mit aller Bewußtheit unter-
strichenen Gegensatz zum Barock-Rom definierte.
So tritt ihm schließlich der Zeitbegriff, das Äußer-
lichste, an Stelle des notwendig zu differenzieren-
den Formbegriffs. Er schreibt von Schloß Maisons,
„das die Franzosen als ein klassisches Bauwerk
verehren“: „seine Entstehungszeit muß, wenn
man es mit Italien oder Holland vergleicht, doch
ohne Frage als Hochbarock bezeichnet werden“.
Ja, diese klassische französische Epoche paßt ihm
so wenig in die Konstruktion „Spitbarock“, daß
er meint, „von diesen Vorläufern des Spätbarocks
(Bauten von ca. 1650—60), würde ich es für mög-
lich halten, in gerader Linie sum Rokoko über-
zugehen und die dreißig Jahre zu überspringen,
die mit dem Aufstieg der Hofkunst angefüllt sind“.
Das ist allerdings eine Art historischer Verein-
fachung, die Tatsachenbestände zur Seite schiebt,
statt in wissenschaftlicher Art Grund und Wahr-
heit eines Tatsachenbestandes darzustellen. Ein
anderes Beispiel für die Gefährlichkelt dieser ver-
einfachenden historischen Systematik. Rose stellt
den Satz auf: „der weitere Spätbarock ist un-
originell“. Zu diesem Satz passen allerdings
nicht die Namen Guarini, Alfieri, Juvara, Vitone,
die man in dem Buch vergeblich sucht. Weiter-
hin: „Man erreicht zwar die dekorative Einheit,
die man anstrebt, aber man erreicht sie auf Kosten
des Qualitätskunstwerks“. Dutzende von Fragen
drängen sich hervor. Sind die Gitter Oeggs an
der Würzburger Residenz keine Qualitätskunst-
werke?’ Sind es die neuen französischen Möbel-
formen um 1735 ebensowenig? Was wird der-
jenige, der die Entwicklung des Farbenproblems
verfolgt, sagen, wenn er liest: „Tiepolo war eben
kein Genie, sondern Dekorateur.“ Dekorative
Arbeiten aber, во heißt es bei Rose kurs vorher,
wollen nicht mit dem Maßstab vollwertiger Kunst-
leistungen gemessen werden. Und weil für Rose
das Flügelmotiv im Schloßbau etwas echt Spit-
barockes ist, übersieht er, daß diese Disposition
ja längst von Palladio ausgearbeitet wurde und
daß sich sehr leicht nachweisen läßt, wie dieses
Palladiomotiv bis zum „Spätbarock‘“ wanderte,
Rose gehört zu den ernstesten unserer Jüngeren
Forscher, und die Behandlung prinzipieller Fragen
in einer Buchanzeige beweist zumindest, daß in
seinem Buch der Referent mehr sieht als eine aus-
gedehnte Zusammentragung von Material. Jedes
tiefer greifende wissenschaftliche Werk wird ver-
suchen, über das rein Tatsächliche hinaus vor-
243
sadringen, über die Historie eine Systematik zu
stellen. Die Wendung der neueren Philosophie
vom Historischen sum Systematischen muß ihren
Widerball auch in unserer Wissenschaft finden.
Doch scheint mir eine Systematik der Kunst-
wissenschaft auf etwas gans anderes hinauszu-
laufen, nämlich auf eine Systematik der Möglich-
keiten künstlerischer Gestaltung. Die Einspannung
historischer Vorgänge in ein System dagegen
widerspricht der Entwicklung unserer Forschungs-
methode, die auf stote Differenzierung des All-
gemeinen hinausgeht. So scheint mir dies Buch
geradesu ein Riickechritt zu sein, während es
darauf ankime, den Allgemeinbegriff Spätbarock
nicht ,,su einem Stilbegriff zu erweitern“, sondern
die ungemeine Differensiertheit und Komplizierung
gerade dieser Epoche der Kunst darzutun, den
Begriff zu spalten. Je weiter wir in unserer Er-
kenntnis dieser Epoche vordringen, um so er.
staunlicher erscheint der Reichtum der Barock-
kunst, für die schließlich nur ein allgemeinster,
für wiseenschaftliche Erkenntnis fast bedeutungs-
loser Nenner übrig bleibt: die Zelt.
А. E. Brinckmann.
SANDRO BOTTICELLI, Zeichnungen
zu Dantes Göttlicher Komödie. Her-
ausgegeben von F. Lippmann. Zweite
Auflage. G. Grotesche Verlagsbuchhdlg.
Berlin 1921.
Man konnte die Erinnerung an Dantes 600 jäh-
rigen Todestag nicht würdiger, nicht eindrucks-
voller feiern als durch die Neuausgabe der Zeich-
nungen Sandro Botticellis zur Göttlichen Kömödie,
die der Verlag G. Grote in mustergültiger Weise
besorgte.
Die berühmten Zeichnungen, die in vorziige
tichen verkleinerten Nachbildungen nach den Ori-
ginalen im Berliner Kupferstichkabinett und der
vatikanischen Bibliothek, gedruckt in der Reichs-
druckerei, nunmehr in zweiter Auflage weiteren
Kreisen zugänglich gemacht wurden, erregten,
ale sie 1882 aus Hamilton Palace nach Berlin
gebracht wurden, sogleich die höchste Bewunde-
rung und Anteilnahme aller Kenner und Kunst-
liebhaber.
Aufseichnungen eines ungenannten Florentiners
sus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (ge-
sammelt im Codice Magliabechiano) erwähnen
zum erstenmal Zeichnungen auf Pergament, die
Botticelli für Lorenzo di Piero Francesco de’ Me-
дісі susführte. Daß diese mit den Berliner bezw.
römischen Zeichnungen identisch sind, unterliegt
244
keinem Zweifel. Die Blätter sind um so beo-
merkenswerter, als sie zu einer Zeit entstanden,
da der neuerfundene Buchdruck in Wettbewerb
trat mit der Handschriften-Malerei. Freilich galt
auch nach Erfindung des Buchdrucks und im
Vergleich zu dem in Kupferstich oder Holzschnitt
ausgeführtem Buchschmuck die Miniaturmalerei
lange noch als die vornehmere Kunst, deren sich
die Großen bedienten, wenn sie in der Lage
waren, die immer teurer well seltener werdenden
Bücherschreiber und Buchmaler zu bezahlen.
Wahrscheinlich von einem Deutschen, Johann
Neumeister, wurde im Jahre 1472 zu Foligno der
erste Druck der Göttlichen Komödie besorgt. Seit
1481 erschienen noch vor Ablauf des Jahrhun-
derts in rascher Aufeinanderfolge mehrere illu-
strierte Ausgaben von Dantes Hauptwerk. Die erste
fllustrierte Ausgabe von 148: mit dem Kommentar
des Cristoforo Landino enthält то Kupferstiche
eines wenig bedeutenden unbekannten Stechers,
der sich als durchaus abhängig von Botticeltis
Zeichnungen erweist. Wahrscheinlich hat Botti-
celli, als er 1448 nach Rom zur Ausmalung der
Siztinischen Kapelle reiste, nur zu den 19 ersten
Gesängen des Inferno die Zeichnungen ausgeführt.
Der unbekannte Stecher scheint nach Abreise
seines Vorbilds entweder den Mut oder die Zeit
nicht gefunden zu haben, su einer weiteren selb-
ständigen Buchausschmückung.
Mittelbar wirkte Botticelli auch auf mehrere
Holsechneider, die die erwähnte Kupferstichaus-
gabe von 1x48 für ihre Flolsschnitte zur Gött-
lichen Komödie benutzten. Freilich ist das ur-
sprüngliche Vorbild in diesen späteren Ausgaben
kaum noch zu erkennen, so unbeholfen, hand-
werksmäßig wirken die ärmiichen Holsschnitte
tm Vergleich zu Botticellis feinnervigen Teich-
nungen. Diese sind mit Metallstift auf Perga-
ment leicht angelegt, mit Feder in brauner und
schwarser Tinte nachgesogen, nur wenige mit
Deckfarben ausgeführt. Ihre Eigenhändigkeit wird
durch Inschrift des Namens „Sandro di Mariano“
auf einem Täfelchen einer Zeichnung zum 28.
Gesang des Paradiso bezeugt. Noch nach hun-
dert Jahren entlehnte Federigo Zucchero Motive
aus Botticellis Zeichnungen in seinen Entwürfen
zur Göttlichen Komödie, die, in Rötel, Kreide und
Feder ausgeführt, in den Uffisien aufbewahrt werden.
Der Ubersichtsplan sur Hölle (Vatikan), dem
Querschnitt eines bis in den Mittelpunkt der Erde
herabreichenden Riesentrichters vergleichbar, er-
scheint ähnlich wieder in den Aldus-Ausgaben
und in Manettis Dialog über Dantes Inferno.
Spätere Ausgaben des 16. Jahrhunderts zeigen
einen kreisförmigen Horizontalschnitt, so daß man
gewissermaßen senkrecht von oben bis in den
Grund der Hölle herabsieht.
Verglichen mit den illustrieten Drucken ver-
mitteln Botticellis Entwürfe weit anschaulicher
Dantes großartige Visionen, soweit diese über-
haupt im Bilde zu fassen sind. Wahrhaft er-
staunlich sind der Reichtum an wechselnden
Stellungen und Bewegungen, die Aus drucksfihig-
keit im Mienen- und Gebärdenspiel, die der Zeich-
ner seinen verdammten und büßenden Seelen zu
geben vorstand. Wie armselig, ja geradezu kin-
disch wirken dagegen die puppenhaften Figuren
in den Stichen und Holzschnitten. Nirgends findet
man auch nur den Versuch, jenen unerhörten
Vorgängen, von denen der Dichter berichtet, zeich-
nerich nahe zu kommen.
In ununterbrochener Erzählungsweise folgt der
Zeichner Szene für Szene dem Dichter, läßt gleich-
sam vor unseren Augen Dante und seinen Führer
immer tiefer in den Hélienschlund herabtauchen,
indes vor ihren und unseren Blicken die furcht-
barsten Begebenheiten, die je eines Menschen
Phantasie erfunden hat, sich abspielen. Die Bilder
rollen sozusagen kinematographisch an uns vor-
über, so zwar, daß jedes nachfolgende sich an den
unteren Rand des vorhergehenden Bildes anfügt.
Dante und Vergil erscheinen auf demselben Blatt
oft mehrmals, durch Haltung und Stellung ein
Immer —tiefer— Herabschreiten zum Ausdruck
bringend. Der Standpunkt des Zuschauers ist
stark erhöht gedacht, man sieht die Vorgänge
meist schräg von oben. Perspektivisch ist das
schwierige Problem nur unvollkommen gelöst.
Umgekehrt führt im Purgatorio der Weg aus der
Tiefe in immer lichtere Höhen empor, was auch
in den Bildern, die jedem einzelnen Gesang ent-
sprechen, deutlich zus Anschauung gebracht ist,
Im Paradiso endlich wird der Zug nach Oben
immer unwiderstehlicher, Botticelle weiß das über-
seugend in den beiden Hauptfiguren von Dante
und Beatrice darzustellen. In den meisten Zeich-
nungen erscheint der Himmel als einfacher Kreis.
Ist diese Wiedergabe der himmlischen Sphäre
auch etwas dürftig, so wirkt sie doch immer noch
besser als die tapetenartig angsordneten Sterne
auf den Paradiesbildern der illustrierten Drucke,
und jedenfalls ist in die Gestalten des Dichters
und seiner Führerin eine Inbrunst gelegt, die
man auch in späteren und vollkommeneren Dar-
stellungen als es die der Frühdrucke des 15. Jahr-
hunderts waren, vergebens sucht.
Zum Verständnis für Dantes gewaltige Schöp-
feng und sur Kenntnis Botticellis tragen die
Zeichnungen jedenfalls wesentlich bei, darum bo-
grüßen wir dankbar diese Neuauflage, die zu-
gleich eine Empfehlung für das deutsche Buch
darstellt. Hans v. d. Gabelents.
ERWIN HINTZE, Nürnberger Zinn.
Mit 84 Tafeln und 2 Textabbildungen.
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1921.
Dem ersten Bande seines bei Hierasmann in
Leipzig erschienenen umfassenden Werkes über
die deutschen Zinngießer und ihre Marken hat
Hintze eine mit reichem Abbildungsmaterial —
die 84 Tafeln geben 143 ausgezeichnet reprodu-
zierte Zinnarbeiten wieder — versehene Darstellung
der künstlerischen Entwicklung des Nürnberger
Zinnes folgen lassen. Damit hat Hintse den An-
tang mit dem gemacht, was wir neben seinem
großen Markenwerk, von seiner ausgebreiteten,
nicht leicht noch einmal von einem zweiten zu
erreichenden Materialkenntnie und der aus ihr
Sießenden Kennerschaft zuversichtlich erwarten
müssen: eine große, in die Einzelbeiten gebende
Geschichte der deutschen Zinngießerkunst und des
deutschen ZinngieSergewerbes.
Wie eng dies beides — das gewerbegeschicht-
liche und das künstlerische — gerade in diesem
Zweig. des deutschen Kunsthandwerkes verschwi-
stert ist, weiß jeder, der sich irgendwie einmal
wissenschaftlich oder ale Sammler näher mit der
Materie befaßt hat. Die große Schwierigkeit liegt
hier — wie auf anderen verwandten Gebieten,
з. В. dem des deutschen Renaissancesteinzeugs —
in der richtigen Abgrenzung der Leistungen des
Formstechers und des ausführenden Werkstatt-
inhabers, die oft, aber durchaus nicht immer, wie
auf unserm Gebiet der klassische Fall Caspar
Enderlein lehrt, ein und dieselbe Person ge.
wesen sind.
Hintses alle wesentlichen Momente der Stil-
entwicklung knapp und klar herausarbeitende Ein-
leitung und seine eingehenden Bemerkungen zu
den einzeinen Tafelabbildungen geben von diesen
verwickelten Verhältnissen ein treffendes, die Er-
kenntnis klärendes Bild.
Wir überblicken den langen Weg, den das
Nürnberger Zinn von den reich (in der Art der
gleichzeitigen Schlesischen Kannen, und vielleicht
unter deren Einfluß) gravierten oder glatt ab-
gedrehten Schenkkannen des 15. und des bogin-
nenden 16. Jahrhunderts über die Frührenaissance-
güsse aus flach geätzter Form zu den künstlerisch
am reichsten ausgestatteten Hochrenaissance- und
Frühbarockgüssen aus tiefgestochener Form zu
den wieder glatt faconnierten Arbeiten der Spit-
245
seit „auf Silberart“ genommen hat. In jedem Fall
werden die Werke der führenden Meister in oft
erschöpfender Vollzähligkeit der erhaltenen Mo-
delle vorgeführt und ihrem Werk die Gefolgschaft
mit charakteristischen Arbeiten angeschlossen. So
erleben wir die Fortbenutzung älterer Modelle in
jüngeren Werkstätten, sehen, wie früh geschaffene
Gußformen in dem traditionsfrohen und traditions-
sicheren Nürnberger Handwerk von Hand zu Hand
gehen und werden uns dessen bewußt, daß gerade
das deutsche Renaissancezinn für seine gerechte
Beurteilung ein sehr hohes Maß spezialisierter
augenscharfer Kennerschaft zur unbedingten Vor-
aussetsung hat.
So kurs zusammengefaßt Hintses Text ist, er
enthält eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse. Vor
allem rückt nun — wohlverstanden, als Zinngießer
und Formstecher — Jacob Koch I, der Stammvater
einer durch drei Generationen in Nürnberg tätigen
Zinngießerfamilie an die erste Stelle vor Caspar
Enderlein, der ausschließlich für fremde Meister
gestochen, den Guß aber nicht selbst ausgeüht zu
haben scheint.
Die Erläuterungen der Tafelabbildungen nimmt
überall Bezug auf den zweiten Band von Hintses
großem Markenwerk. So ergänzen sich diese
beiden Bände in erwünschtester Weise gegenseitig.
Wir betrachten das vorliegende Werk über das
Nürnberger Zinn als eine Abschlagzahlung und
hoffen, daß es Hintze möglich werden wird, auch
den anderen Bänden seines Markenwerkes die
entsprechenden Text- und Abbildungswerke an
die Seite zu stellen. Мах Sauerlandt,
J. BAUM: Gotische Bildwerke Schwa-
bens. Dr. Benno Filser- Verlag, Augsburg-
Stuttgart 1921.
Daß Baum ein ausgeseichneter Kenner der
schwäbischen Bildhauerkunst ist, daß er uns über
dieses Gebiet eine Reihe grundlegender Werke
geschenkt hat, wissen wir. Daß das neue Buch
nicht unnötig ist, kein werbesserndes Nachholen
von Versäumtem bedeutet, zeigt der erste Blick,
„Sehe jeder, wo er bleibe“, gewiß, doch die An-
sicht ist neu, die Aufgabe geändert. Den Sinn
des Buches ansehen, heißt die neue Kunst-
geschichtsschreibung verstehen oder nicht. Wich-
tige Ansätze bei Baum sind da. Es ist nämlich
allmählich klar, daß auch die Kunstgeschichte der
neuen Einstellung zur Kunst Rechnung tragen
muß, sie aber verlangt: Erleben. Jedoch Erleben
beißt nichts als Wissen, restloses Erfassen aus
der Grundstimmung, dem Eigentlichen des Men-
246
schen, her. So ist es schon kein Geheimnis mehr,
daß, da die Form versagt und jeder Versuch von
außen her abgelehnt und immer stärker abgelehnt
werden wird, daß mit ganz neuen Mitteln, ganz
anderer Einstellung, ganz anderer Intensität an
die Ureprungsquelien herangegangen werden muß.
Wir wissen vom Mittelalter zu wenig, fast die
eine Hälfte nur haben wir immer gesehen, die
überlieferten Begriffe wurden ahnungelos weiter-
geschleppt, man merkte es gar nicht, daß der
Boden trog. Wir sahen Mittelalter wie Franzosen
den Krieg 70/712 durch tendenziöse Geschichts-
darstellungen. Gewiß, man ging an die Quellen,
aber alle diese Quellen waren machtkirchliche, ge-
firbte. Geflissentlich wurden die tausende und
abertausende von Zeugnissen einer anderen Welt,
der für die Kunst wichtigeren, übersehen, gemieden.
Und doch, was in dem bekannten Prozeß der
Beham und Pencz nur ein trübes, scheeles Nach-
flackern bedeutet, war im Mittelalter gang und
gäbe, im Eigentlichen stets wirksam. Jedoch es
soll nicht hier, sondern die Aufgabe eines Buches
sein, diese vergessene Welt, die die Kunst min-
destens ebenso bestimmende, wie die offiziell
bekannte, zu beschwören.
Baums Buch gibt aber Anlaß, über diese Wen-
dung der Kunstgeschichte und die aus ihr not-
wendig entspringenden Aufgaben und Einstellungen
zu sprechen, In zehn Kapitein wird die Wand-
lung der Formgestaltung von um 1300 — um 1400
klargelegt. Gleich zu Anfang wird an die Ursachen
des Grunderlebnisses gerührt, die mittelalterliche
Mystik genannt, ihre Einflüsse auf die Kunst —
natürlich nicht nur die ikonographischen, sondern
die die Eriebnisweisen ändernden — werden aus-
einandergelegt. Man hat solche Verknüpfungen
früher schon geboten; jedoch der Unterschied ist
klar. Nicht mehr um geistreicheinde Parallel-
aufweise, kulturgeschichtliche Verbrämungen,
schüchterne Versuche, an die Geistquellen zu
geben, handelt es sich, sondern um den Aufweis
des unbedingten Einsseins, des ursächlichen Zu-
sammenhanges, die Erschließung des tatsächlichen
geistig-seelischen Zustandes, Abstraktion und Ent-
sinnlichung werden ale Grundkrifte erkannt; die
Folgen für die Kunst klargelegt. Man muß Baum
für die hier nur andeutbare Neueinstellung und
die Betonung der gewonnenen Gesichtspunkte
danken. Es ist klar, daß der Versuch nicht alle
Forderungen erfüllen kann. Es gilt — wie ge-
sagt — die unzureichende offizielle Vorstellung
von Mittelalter, Mystik usw. zu zertrimmern, wir
müssen unendlich viel aus dem Wege noch
räumen und ebensoviel Unterdrücktes ins Licht
heben, um die Seele des mittelalterlichen Men-
schen wirklich bloszulegen, den Hersschlag des
entscheidenden Erlebens zu fühlen. Bei jeder
versunkenen Weit geht das ohne Gelehrsamkeit
nicht ab. Sie und Forschen müssen aufgebracht
werden, wenn uns die Form nicht ein Selbst-
zwock, visuelles Spiel, sensualistisch - intellektua-
listische Angelegenheit sein soli, die sie im Mittel-
alter in der Hauptsache nie war. Sehr fein setzt
Baum die allmähliche Änderung von der zweiten
Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts ab auseinander.
Die Bildnerkunst wird malerisch, malerische Grup-
penbildungen werden Ziel, neueKörperlichkeitdrängt
sich am Ende vor, und um 1400 ist ein neuer
plastischer Stil da. Baum dringt in die abgestuften
Wandlungen und Unterschiede mit einer seltenen
Klarheit ein. Seltsam nur, daß er hier die ur-
sächlichen Zusammenhänge mit dem Grunderleben
weniger (oder gar nicht) aufzuweisen für nötig
hält, Ein zweiter Hauptteil des Buches ist den
innerlichen Bedingtheiten und Abhängigkeiten von
Form und Inhalt gewidmet. Einleitend wird mit
größtem Recht u. a, bemerkt: „Dennoch werden
wir den Kunstwerken eine noch größere Liebe
zuwenden, wenn wir den ganzen Reichtum von
Begebnissen, Vorstellungen, Ideen, Stimmungen
kennen; .. .“ und... „wie also die Kunstwerke
in der Tat nicht nur um ihrer. sichtbaren for-
malen Eigenschaften willen beobachtet werden
müssen, sondern auch ais Schlüssel zu einem
hinter ihrer Oberfläche liegenden geistigen Reiche
dienen.“ Baum geht dem Zusammenhang be-
stimmter Stoffe wie: Maria im Wochenbett, Schuts-
mantelmsdonna, lignum vitse, Johannes an der
Brust Christi und den Vesperbildern und mysti-
schen Anschauungen nach, nun aber keineswegs
allgemein, sondern mit konkreten Paralleläuße-
rungen und nicht des rationalistischen Aufweises
der Ikonographieherkunft, sondern der inner-
geistigen Verknüpfung wegen. Pinder hat in
weitsichtiger Erkenntnis den Weg für die Marien-
klage und Vesperbilder beschritten. An ihn an-
knüpfend und seine neue Erkenntniseinstellung
für weitere Stoffe ausnützend, geht: Baum mit
dem hierzu nun einmal nötigen Wissen, das ein
intellektualistisches und intuitives in jeder Wissen-
schaft sein muß und sein sollte, vor und be-
reichert unsere leidenschaftliche Sehnsucht nach
Ganzheit des Erlebenkönnens des mittelalterlichen
Menschen — und seiner Kunst sehr.
In einem dritten Abschnitt bringt Baum kunst-
geschichtliche Nachweise; d. h. eine knappe und
erschöpfende Geschichte der stilistischen Wand-
lungen der schwäbischen Plastik in dem ge-
wählten Zeitabschnitt, deren Ergebnisse nicht
wiederholt zu werden brauchen (da sie im wesent-
lichen sich mit Baums früherenDarlegungen decken),
und an denen bei der Kennerschaft Baums auch
Ausstellungen nur auf breitester Grundlage be-
rechtigt wären.
Ein sehr sorgfältiges und reiches Register und
ausgezeichnete Tafelabbildungen erhöhen Brauch-
barkeit und Nutzen des Werkes.
V. C. Habicht.
ANITA ORIENT ER, Der seelische
Ausdruck in der altdeutschen Ma-
lerei. Mit 94 Abbildungen. München,
Delphin-Verlag 1921.
Eine sehr fleißige, aus einer Hallenser Disser-
tation erwachsene Arbeit. Als ihre Vorbilder
nennt die Verfasserin Julius Lange und Male, ihr
„kam es einzig und allein auf die Idee an, die
der Entwicklung der seelischen Inhalte sowie dem
Stil als Ausdruck eines Seelisch-Geistigen zugrunde
liegt.“ — Fruchtbarer als die Einteilung nach
seelischen Inhalten wie Schmerz, Trauer, Hohn,
Wut, Schreck, Verzweiflung, Liebe und religiöse
Erregtheit ist der zweite Teil des Buches, in dem
die Bedeutung des seelischen Gehaltes für den
Bildaufbau vom hohen Mittelalter bis in das
16. Jabrhundert hinein untersucht wird. Zu wesent-
lich neuen Gesichtspunkten kann man bei dieser
Art der Fragestellung nicht kommen. Das Buch
enthält eine Reihe interessanter Abbildungen aus
dem frühen Mittelalter, darunter zwei bisher un-
veröffentlichte aus dem Brandenburger Evangeliar
um 1230 und der Niederrheinischen Bibel in der
Berliner Staatsbibliothek. Rosa Schapire.
247
NEUE BUCHER ..............................................................
JOSEPH BERNHART: Holbein der
Jüngere. (O.C.Recht-Verlag, München 1922.)
HERBERT KUHN: Die Malerei der
Eiszeit. (Delphin- Verlag, München rgss.)
KARL LOHMEYER: Die Briefe Bal-
thasar Neumanns an Friedrich Karl
von Schönborn, Fürstbischof von Würz-
burg und Bamberg und Dokumente aus
den ersten Baujahren der Würzburger
Residenz, |(Gebr. Hofer, Verlagsanstalt, Sear-
brücken, Berlin, Leipzig, Stuttgart тоаг.)
ALBERT HÜMMERLE: Die Augs-
burger Ktinstlerfamilie Kilian. (Augs-
burger Buch- u. Kunstantiquariat, Augsburg 2922.)
HANS v. d. GABELENTZ: Fra Bar-
tolommeo u. die Florentiner Renais-
sance. In 2 Banden. Mit 64 Abbildg.
in Lichtdruck. (Verlag von Kari W. Hierse-
mann, Leipzig 1922.)
WILHELM R. VALENTINER: Georg
Kolbe: Plastik und Zeichnung. Mit 64
Abbildungen. (Kurt Wolff-Verlag, Münchenı922.)
JULIUS KURTH: Der japanische Holz-
schnitt. Ein Abriß seiner Geschichte.
Mit 88 Abbildungen und 3 Signaturen-
tafeln. Dritte durchgesehene Auflage.
(R. Piper & Co., Verlag, München 1922.)
VICTOR KURT HABICHT: Der Roland
zu Bremen.
VICTORKURT HABICHT: Die goldene
Tafel derSt.Michaeliskirche zuLtine-
burg. Bd. I u.II der „Niedersächsischen
Kunst in Einzeldarstellungen“. (Heraus-
gegeben von Ludwig Roselius und Prof.V.
C. Habicht. (Angelsachsen-Verlag, Bremen 1922.)
WILHELM TISCHBEIN: Aus meinem
Leben. Herausgeg. von Lothar Brieger.
(Im Propyläen-Verlag, Berlin 1922,)
1922, 7 — 9.
JUNGE KUNST: Bd. 25—32.
Bd. 25/26. Gustav Hartlaub; Vincent v. Gogh.
» 37. Н. Kolle: Henri Rousseau.
„ 28. F. М. Huebner: Lodewijk Schelfhout.
„ 29. E. Suermondt: Heinrich Nauen.
„ 30. H. von Wedderkop: Paul Cézanne.
» 92. C. Einstein: M. Kisling,
» 32. W. Cohen: August Macke.
(Sämtlich im Verlag von Klinkhardt & Biermann,
Leipzig 1922.)
RICHARD HAMANN: Kunst und Kul-
tur der Gegenwart. (Verlegt durch das
kunstgeschichtliche Seminar in Marburg 1923.)
JULES ROMAINS: Le Fauconnier.
Vingt-deux reproductions de peintures.
(Bibliothèque du Hérisson, Librairie Edgar Mal-
fare, Amiens.)
MARIANNE ZWEIG: Wiener Bürger-
möbel aus Theresianischer und Josephi-
nischer Zeit. Mit roo Tafeln. Zweite
vermehrte Aufl. (Kunstverlag Anton Schroll
& Co., G. m. b. HL, Wien 1922.)
FRIEDRICH MARKUS HUEBNER: Mo-
derne Kunst in den holländischen
Privatsammlungen. Mit 64 Abbildgn.
(Bd.I der modernen Kunst in den Privat-
sammlungen Europas.) (Verlag Klinkhardt
& Biermann, Leipzig 1922.)
AUGUSTL.MAYER: Mittelalterliche
Plastik in Spanien. Mit до Tafeln.
(Delphin-Verlag, München 1923.)
ADOLF FEULNER: Das Residenz-
museum in München. (Е, Bruckmann,
A.-G., München 1928.)
RUDOLF OLDENBOURG: Peter Paul
Rubens. Sammlung der von R. O. ver-
öffentlichten oder zur Veröffentlichung
vorbereiteten Abhandlungen über den
Meister. Herausgegeben von Wilhelm
v. Bode. Mit 131 Abbildungen. (Verlag
von R. Oldenbourg & Co., München u. Berlin, 1922.)
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/ Tegernsee, Post Rottach.
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissenschaft KLINKHARDT
& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467.
248
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MONATSHEFTE
I KUNST
IWISSENSCHAFT
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XV. JAHRGANG · HEFT 10-12
VERLAG KLINKHARDT&BIERMANNL
Monatshefte für Kunstwissenschaft
Herausgeber Prof Dr.
GEORG BIERMANN
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG
Preis des Heftes Mark 3000.—
INHALTSVERZEICHNIS HEFT X-XII
ABHANDLUNGEN
ALBERT BOECKLER, Zur Heimat
der Berliner Eneit-Handschrift. Mit
7 Abbildungen auf 2 Tafeln in Licht-
druck und 2 Textabbildungen . S. 249
GEORG von KIESZKOWSKI, Kleine
Beiträge zu Peter Vischer. XI. 1. Eine
neue Vischerplatte in der Kathedrale
zu Krakau. Mit 2 Abbildungen in Licht-
druck 2.3.0 ³ AA ees 5. 258
2. Ein untergegangenes Vischergitter
im Dom zu Krakau ...... S. 261
ERWIN PANOFSKY, Die Treppe der
Libreria di S. Lorenzo. Bemerkungen
zu einer unveröffentlichten Skizze
Michelangelos. Mit ı Tafel und 4 Text-
abbildungen ......... .. S. 262
WILHELM JUNIUS-Dresden, Dürers
„Marter der 10000 Ritter“ . S. 275
FRIED. NOACK, Deutsche Gold-
schmiede in Rom........ 8. 283
MISZELLEN
GEORG STUHLFAUTH, Das Faß
der „Ruhe auf der Flucht“ in Dürers
Marienleben ........ . . . S. 299
REZENSIONEN
ROBERT WEST, Entwicklungsgeschichte
des Stils. Hyperion-Verlag, München 19232.
Roso) а en ee 8. 300
JOSEPH POPP, Die figurale Wandmalerei, ihre
Gesetze und Arten. Klinkhardt & Biermann,
Leipzig 1921. (Paul Frank)) 8. 302
ALLGEMEINES LEXIKON DER BILDENDEN
KÜNSTLER. Begründet von Ulrich Thieme
und Felix Becker. Herausgegeb. von Ulrich
Thieme und Fred C. Willis. XIV. Bd. Giddeus-
Gress. Leipzig, Seemann 1921 us
W.Binger-Dresden) .........-. 8. 305
ALLGEMEINES LEXIKON usw. XV. Band:
Gresse-Hanselmann. Gr. 8°, Seemann, Leip-
zig 1922. (H. W. Singer-Dresden) . . . 8. 306
CHR. VOIGT, Schiffe-Asthetik. Die Schönheit
des Schiffes in alter und neuer Zeit. 125 8.
mit 102 Abb. Verlag der Zeitschrift ,,8chiff-
bau“ (Reinhold Strauß, Komm.-Ges.), Berlin
1922. (A.Köster) ............ 8. 306
A. GERKE und ED. NORDEN, Einleitung in die
Altertumswissenschaft. II. 3. Aufl. УШ und
494 8. B.G. Teubner, Leipsig 1922. (A. Köster)
/// ⁰ CN 307
FRIEDRICH SARRE, Die Kunst des alten Persien.
Mit 150 Tafeln u. 19 Textabb. X u. 69 8. Bruno
Cassirer Verlag, Berlin 1932. (H. Glück). 8. 308
ERNST KÜHNEL, Miniaturmalerei im islamisch.
Orient. Mit 154 Taf. und 5 Textabb. Bruno
Cassirer Verlag, Berlin 1922. (H. Glück) S. 309
OTTO HOVER, Kultbauten des Islam. gr. 8°.
16 8. Text, 62 ganzseitige Abb. Wilhelm Gold-
mann Verlag, Leipzig 1922 (H. Glück). 8. 309
ALFRED SALMONY, Europa-Ostasien, religiöse
Skulpturen. Mit 44 Abb., 82 S. Gustav Kiepen-
heuer Verlag, Potsdam 1922 (H. Glück). S. 310
W. GROTE-HASENBALG, Der Orientteppich.
Seine Geschichte und eeine Kultur. Berlin,
Scarabäus-Veorlag 1922 (K. Berliner). 8.311
W.v.BODE und E.KÜHNEL, Vorderasiatische
Knüpfteppiche aus älterer Zeit. (Monographien
des Kunstgewerbes.) 3. verb. u. verm, A
Klinkhardt & Biermann, Leipzig (R. Berliner).
CC); TT 313
KARL ANTON NEUGEBAUER, Antike Bronze-
ststuetten. Mit 8 Text- und 67 Tafelbildern.
Bd. 1 der Serie „Kunst und Kultur“. Berlin,
Schoetz & Parrhysius 1921. (Hans Nachod).
BONG. Gë A Re ee ҮЛҮ ТҮ 315
HERM. KEES, Studien zur ägyptischen Pro-
vinsialkunst, 328., 9 Taf. Verlag J. C. Hin-
rich’sche . Buchhandlung. Leipzig 1921.
(A. Küster 8. 316
А. у. SALIS, Die Kunst der Griechen. a Aufl.
Ж u. 303 8. mit 68 Abb. Verlag 8. Hirzel,
Leipzig 1922 (A. Köster 8. 316
AUGUST DIEHL, Die Reiterschépfungen der
phidiasischen Kunst. 131 8., 17 Taf. u. 1 Titel-
bild. Vereinigung wissenschaftlich. Verleger,
Berlin und Leipzig тоз (A. Köster) . 8. 317
HANS LAMER, Römische Kultur im Bilde.
64 8. u. 96 Tafeln. 4. Aufl, 28. bis 38. Tausend.
(Wissenschaft u. Bildung, Bd. 81.) Verlag von
Quelle & Meyer in Leipzig, 1921 (A. Köster).
Belle su. Oe eh ъс а EEGENEN 317
HANS BERSTL, Das Raumproblem in der
altchristlichen Malerei. 4.Bd. der Forschungen
zur Formgeschichte der Kunst aller Zeiten
und Völker. Verlag Kurt Schroeder, Bonn
und Leipzig 1920 (R. Bernoulli). . . 8.317
WILLIAM ANDERSON, Den äldere kyrkliga
Konsten i Blekinge. Zweites Beilageheft zu
N. M. Mandelgrens Atlas über Schwedens
Geschichte der Altertümer. 45 Seiten, gr. 4°.
53 Abbildungen. Lund 1922 (R. Haupt) 8. 318
(Fortsetzung siehe 3. Umschlagseite.)
ZUR HEIMAT DER BERLINER ENEIT-HAND-
SCHRIFT м" ten und soci Testabbildungen Von ALBERT BOECKLER
iesen Codex fand ich auf meinen kaufmännischen Reisen im südlichen Deutsch-
e land im Jahre 1819 bei einem Manne, der ihn mit einem Wust alter Papiere
und Bücher aus den in Bayern aufgehobenen Klöstern gekauft hatte
Hessen-Cassel 1822.
Carl Carvacchi.“
So der Eintrag auf dem Rekto des zweiten, nachträglich — eben durch Car-
vacchi — vorgeklebten Papierschmutzblattes der Eneit-Handschrift, die jetzt als
germ. fol. 282 in der Berliner Staatsbibliothek liegt. Weitere äußere Anhalts-
punkte zur Lokalisierung des Codex fehlen. Um zu einer solchen zu gelangen,
ist man also darauf angewiesen, nach stilistisch verwandten Miniaturen zu suchen
und diese gegebenenfalls örtlich zu fixieren. Entsprechend der Provenienzangabe
wird man dabei besonders bayerische Buchmalereien zu berücksichtigen haben.
Eine bibliographische Rekonstruktion der Handschrift!) sowie eine Beschreibung
der Miniaturen muß einer monographischen Behandlung vorbehalten bleiben, ebenso
eine Untersuchung über das Verhältnis des Illustrators zum Text). Hier genügt
es, Technik und Stil zu charakterisieren, um Kriterien für einen Vergleich mit
anderen Denkmälern zu gewinnen. |
Von einfachen, rechteckig gerahmten, blau, grün, hellgelb oder braunrot be-
malten, in Mittelfeld und breiten Rahmen aufgeteilten Hintergründen heben sich
Figuren und Gegenstände, mit brauner und roter Tinte gezeichnet, pergamentfarben
ab. Farbige Ausmalung größerer Gewand- und Ausrüstungsstücke ist selten und
meist durch entsprechende Angaben des Textes bedingt. Dagegen sind Einzel-
heiten wie Schild- und Helmzeichen, Fenster, kleine Teile der Gewandung, be-
sonders Schuhe und Strümpfe regelmäßig mit schwarzer oder roter Tinte aus-
gefüllt und die Faltentiefen werden mit brauner oder roter Tinte gedeckt. Gold
findet nur für kleine Gegenstände Verwendung, etwa für Zepter, Kronen, Zaum-
zeug, Pokale, Zinnen. Die wenigen obengenannten Farben werden in glatten
Flächen dünn und gleichmäßig aufgetragen, und diese treten nicht unmittelbar
nebeneinander, sondern sind stets durch pergamentfarbig ausgesparte Formen von-
einander getrennt.
Die Miniaturen füllen die ganze Seite und stehen in einem schmalen ungemusterten
Rahmen. Selten nimmt nur eine Szene die ganze Seite ein, vielmehr wird diese
gewöhnlich in der Mitte durch einen Querstreifen von der Art der äußeren Um-
rahmung in zwei oblonge Bildfelder geteilt.
Das zunächst in die Augen fallende Charakteristikum der Miniaturen bietet der
Gewandstil. Seine Wirkung beruht auf dem Kontrast zwischen Teilen, die sich
eng an den Körper anschmiegen und wenig Innenzeichnung haben, und zwischen
(1) Die diesbezüglichen Feststellungen Otto Behaghels: Heinrichs v. Veldeke Eneide. Heilbronn 1883,
S. I bedürfen bezüglich der jetzigen Lagen x und 5 einiger Berichtigungen.
(2) Beides findet man in der feinsinnigen, während der Drucklegung dieses Aufsatzes erschienenen
Arbeit von Marg. Hudig-Frey: Die älteste Illustration der Eneide des Heinr. v. Veldeke, Straßburg,
Heitz 1921, Ich werde das Buch demnächst in der Kunatchronik besprechen. Immer noch von Wert
bleibt die Abhandlung von Franz Kugler: Die Bilderhandschrift der Eneit, ein Beitrag zur Kunst-
geschichte des 12. Jahrhunderts, Berlin 1834.
Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1988, 20—12. 17 249
reich gefalteten, meist lebhaft bewegten Stoffmassen, deren rot oder braun aus-
gefüllte Faltentäler jene hellbeleuchteten anliegenden Partien kräftig hervortreten
lassen. Die unruhige wellige Bewegung des Gewandes in Verbindung mit sehr
fester Linienführung sowie das Bestreben, den Körper plastisch zur Erscheinung
zu bringen, erlauben die Datierung der Handschrift auf Anfang saec. 13. Sie finden
in anderen Handschriften dieser Zeit ihre Analogien, z. B. in dem in Weingarten
entstandenen Codex Nr. 37 in Holkham Hall!) oder in der Münchener Handschrift
Clm 4510 aus Benediktbeuren.— Der Eneit eigentümlich aber ist die Verbindung
der lebendigen Gewandbewegung mit der leichten Übersichtlichkeit der einzelnen
Faltenzüge. Diese werden sorgfältig, wie glatt geplättet nebeneinander gereiht,
Einknickungen der einzelnen Falten sind selten, die romanische Aufteilung in fest-
geschlossene Flächen tritt noch deutlich hervor ).
Dabei sind die wesentlich zur Verwendung gelangenden Schemata der Gewand-
zeichnung ebenso eigenttimlich, als ihre Anzahl gering ist:
Scharfe ineinandergreifende Winkel fungieren als Schüsselfalten (Abb. 12). Schmale
nebeneinander gelegte Bänder charakterisieren das Zusammenschieben des Stoffes,
s. Abb. I2 (Ärmel der Dido).
In schlängelnden Windungen sich zusammenlegende einzelne schmale Stoff-
wiilste stellen ein blusiges Überhängen des Gewandes über den Gürtel dar (Abb.I2
oder besser Lavinia, S. 52)°).
Dazu kommen lange, schmale, teils grade herabhingende, teils auch seitlich
flatternde, bisweilen den Körper überschneidende Tütenfalten, meist durch einen
feinen Mittelstrich der Länge nach geteilt. An den Seiten treten sie oft zu ganzen
Büscheln zusammen (Abb. I2 und 4).
An Stellen, an denen das Gewand anliegt, bilden sich gern festgeschlossene,
weiß stehen bleibende, meist ovale Formen (Abb. 12), an Schenkeln und Armen oft
auch steile, sichelförmige Falten.
Zu dieser Art der Gewandzeichnung bietet nun die Handschrift Clm 3901 der
Münchener Staatsbibliothek die nächste Parallele. Es ist eine Bibel größten
Formates (71:48cm). Ihre Ausstattung beschränkt sich auf teils figurengeschmiickte,
teils nur mit krausem Rankenwerk und etlichen Tieren verzierte Initialen. Diese
sind іп der Hauptsache von einem Miniator gemalt. Nur die Zierbuchstaben fol. 213
und 215—232 stammen von einem weniger fortgeschrittenen, aber gleichzeitig mit
jenem arbeitenden Künstler derselben Schule, und die wenigen sehr schlechten
Initialen fol. 233 und 234 fordern keine Beachtung‘).
Hier interessieren nur die Initialen des erstgenannten Miniators, denn sie zeigen
(z) Vgl. Leon Dorez: Les manuscrits a peintures de la bibliotheque de Lord Leicester a Holkham
Hall. Norfolk, Tafel 12—21 und 8.7. Man wird diese unter Abt Berthold (1200—1231) entstandene
Handschrift in den Anfang der Regierungszeit dieses Abtes setzen, da der stilistische Fortschritt
gegenüber den aller Wahrscheinlichkeit nach noch unter Abt Meingoz (1188—1200) gemalten Heinricus-
Missale (Dorez, 1. с. S. 11/12) nur gering ist.
(2) Dieses Prinzip flächenhafter Nebeneinanderreihung macht sich auch geltend in der Art, wie die
Figuren aus einzelnen Schematen zusammengesetzt werden. Man beachte etwa, wie die Konturen
der Beine zusammenhängend durchgeführt und dann die seitlichen Falten unorganisch angefügt
werden, oder wie die Mantelborten die bewegten Stoffe faltenlos durchschneiden (Abb. 14).
(3) Es werden hier immer die oben auf der Seite angebrachten Seitenzahlen der Berliner Handschrift benützt.
(4) Zu Anfang der Bibel findet sich ein riesiges E in Deckfarben, Gold und Silber. Entsprechend der
anderen Technik sind die Formen hier etwas vereinfacht, man erkennt aber doch die Hand des
Minlators 1.
250
dieselben Farben und die gleiche Technik wie die Eneit. Wir finden die Falten-
täler ebenfalls mit Farbe gedeckt, finden auch dieselbe Behandlung der Hinter-
gründe sowie das anderswo seltene charakteristische Braunrot der Berliner Hand-
schrift. Nur das helle Gelb fehlt, und statt der braunen wird in Cim 3901 lila-
farbige Tinte verwendet. Der Miniator der Folien 213 und 215—232 dagegen
zeichnet ebenfalls mit roter und brauner Farbe wie derjenige der Eneit.
Hierzu treten formale Übereinstimmungen. Die unruhig und lebendig bewegte
Gewandung setzt sich in Clm 3901 aus den nämlichen Motiven und nur aus diesen
zusammen, wie in der Berliner Eneit. Die Abb. Ix und 2 zeigen dieselbe Wieder-
gabe der weiten Frauenärmel durch schmale Faltenbänder mit feinem Mittelstrich.
Man findet ferner dieselbe Faltenzeichnung an den Unterschenkeln sitzender lang-
gewandeter Personen, desgleichen bei dem toten Moses Abb. 15 und etlichen an-
deren Figuren in Clm 3901 das Herausheben eines geschlossenen Ovals am Ober-
schenkel in derselben Art, wie bei dem Truchseß ganz links auf Seite 17 und
sonst oft in der Eneit.
Das blusige Überhängen des Kleides über den Gürtel (Abb.I5 und noch deut-
licher das L zu Numeri in Clm 3901) sowie Art und Verwendung der Tütenfalten
mit feinem Mittelstrich und die Darstellung der Schüsselfalten (schreibender Hiero-
nymus in Clm 3901) stimmen ebenfalls mit den Miniaturen der Berliner Handschrift
überein.
Schließlich mögen die Abbildungen I4 und 5 zeigen, wie gleichartig die Gewan-
dung hier und dort auch im Gesamteindruck ist. |
Hierzu kommt noch die gleiche Zeichnung des Haares. Es liegt meistens am
Scheitel glatt an, bauscht sich am Hinterkopf und an den Seiten, und die Innen-
zeichnung in parallelen Strichen läßt den Scheitel frei An den Enden der langen
Strähnen von Haupthaar und Bart befinden sich oft kleine krause Locken.
Sehr deutlich ferner ist die Übereinstimmung der Hände hier und dort: An viel
zu schmalem, stengelartig dünnem Gelenk eine breite, flache und knochenlose Hand
mit langen, an der Spitze oft etwas aufgebogenen Fingern ).
Nun bietet zwar auch Clm 3901 keine äußeren Anhaltspunkte zur Lokalisierung),
aber nach dem Stil der Ausstattung kann kein Zweifel bestehen, daß die Miniatoren
dem Regensburg-Prüfeninger Kunstkreis angehören. Das beweist ein Vergleich der
Rankeninitialen von Hand ı mit denen von Clm 14049, einer Handschrift der
Münchener Staatsbibliothek, die nach dem Eintrag des Schreibers unter Abt Pernger
(1177—1201) in Prüfening entstanden ist (vgl. die Abb. Ir und 3).
Die Initialen von Cim 14049 und 3901 repräsentieren die Regensburg-Prüfeninger
Ornamentik, wie wir sie etwa durch die Handschriften Clm 13002, 14047 und 14048
in München kennen, nur auf einer späteren Entwicklungsstufe. Ebenso lassen sich
Gesten, Gewandung, Gesichts- und Körperbildung der Figuren ohne Schwierigkeit
dem Kreis der Regensburg-Prüfeninger Malschule einordnen’).
(1) Die Handgelenke sind im allgemeinen, abgesehen von dem linken der Judith, in Cim здох nicht
so schmal wie in der Eneit. Wir werden aber hierfür schlagendere Analogien in anderen, an Clm 3901
anzureihenden Monumenten finden,
(2) Die Provenienz aus der Regensburger Stadtbibliothek besagt ebensowenig als der erst später —
Mitte saec. XIII — hinzugefügte Eintrag fol. II: Anno incarnationis domini 1241, ХУШ. Kal. Sept.
in die sanctae Mariae assumptionis dominus Hanricus protonotarius illustris ducis Bavarorum bone
librum contulit ecclesiae sanctae Mariae Augustensis hac intentione, ut eius memoria apud canonicos
de cetero habeatur.
(3) Es ist nicht möglich, Unterschiede zwischen den Miniaturen und Initialen, die in Prüfening ent-
251
Die Einreihung von Clm 3901 in die Regensburg-Prüfeninger Schule ergibt zu-
nächst eine ungefähre Datierung dieses Codex auf die neunziger Jahre saec. 12 oder
Anfang saec. 13; denn der stark bewegte manierierte Stil wie ihn Clm 3901 zeigt,
läßt sich nach meiner Kenntnis der Denkmäler vor 1190 nicht nachweisen, und
andrerseits ist die stilistische Parallele Сип 14049 in der Zeit zwischen 1147 bis
1201 entstanden.
Vor allem aber gewinnt man nun durch die Lokalisierung von Clm 3901 neues
Vergleichsmaterial für die Eneit und bekommt die Möglichkeit, sie der Gesamtheit
der Regensburg-Prüfeninger Schule gegenüberzustellen, deren Eigentümlichkeiten
eventuell in ihr aufzuzeigen und so den Beweis ihrer Entstehung in diesem Kunst-
kreis zu erhärten.
Die Federzeichnung, die man in der Eneit trifft, ist die bevorzugte Technik der
Regensburg-Prüfeninger Miniatoren. Gewöhnlich stehen die Figuren zwar auf dem
Pergamentgrund; die Einzelblätter K 588—521 der Münchener graphischen Samm-
lung?) zeigen aber, daß es schon vor der Anfertigung von Cim 3901 in der ge-
nannten Malschule üblich war, die Hintergründe in Mittelfeld und Rahmen auf-
zuteilen und blau und grün zu bemalen, während die Figuren pergamentfarbig
stehen bleiben. Die braunroten Hintergründe findet man auch in der Münchener
Handschrift Cim 13002, desgleichen die Verwendung hellgelber Farbe. Allen
Regensburg-Prüfeninger Miniaturen ist nun eine besondere Kompositionsweise eigen:
Die einzelnen Teile des Bildes werden sauber, aber etwas eintönig und langweilig
nebeneinander aufgebaut. Ein überzeugendes, energisches Ineinandergreifen der
Personen zu einer Handlung fehlt gewöhnlich, die Figuren wirken oft isoliert. Es
herrscht eine ausgesprochene Vorliebe für ruhige Flächen und damit zusammen-
hängend die Tendenz, die Linie der Vertikale und Horizontale anzunihern. Dies
äußert sich ebenso in der häufigen Zusammenfassung mehrerer Personen zu ein-
fach begrenzten, festgeschlossenen Komplexen, wie in den ruhigen Umrissen von
Architektur und Landschaft. |
In diese etwas gleichförmige reliefmäßige Anordnung wird im wesentlichen eine
Gliederung nur gebracht durch die Verschiedenheit des Volumens der einzelnen
sparsam bewegten einfachen Formen und ihre Distanzierung. Mit Vorliebe werden
einander zwei verschieden große, in sich geschlossene Massen gegentibergestellt;
zwischen ihnen bleibt ein mehr oder weniger breiter Zwischenraum stehen, und
dieser trägt wesentlich dazu bei, die Handlung zu verdeutlichen. Da, wo der
Miniator aus irgendwelchen Gründen auf solche klärenden Zäsuren verzichtet, wird
die Erzählung oft schwer verständlich, vgl. Nr. 2631 der Teufelschen Photographien-
sammlung oder Teufel Nr. 2630. Die Flächenfüllung ist auffallend ungleichmäßig.
Am deutlichsten werden diese Regensburg-Prüfeninger Eigenheiten durch einen
Vergleich der Schöpfungsbilder in der Gebhard-Bibel in Admont mit denen von
standen sind, und denen der sicher in Regensburg selbst gemalten Handschriften festzulegen. Diese
Schule, zu der wiederum in Regensburg selbst sowohl Obermünster als St. Emmeran zu rechnen
sind, scheint ihre Kreise ziemlich weit gezogen zu haben, so daß sich obiger Sammelname rechtfertigt.
(1) Eine Zusammenstellung derselben hoffe ich an anderer Stelle zu geben. Damrich: Die Regens-
burger Buchmalerei saec. 12 (Münchener Dissertation 1902) bringt das Material nicht vollständig
und gibt kein Bild von der künstlerischen Entwicklung, ist aber wegen der Aufzählung und inhalt-
lichen Erklärung der wichtigsten Regensburg-Prüfeninger Miniaturen zu berücksichtigen, — Riehl
„Bayerns Donautal“, bringt kaum Neues. Weitere Literatur zur F Malerei im
Index bei Clemen: Die Romanische Monumentalmalerei in den Rheinlanden.
(2) Den Hinweis darauf verdanke ich Fri. Dr. Kahn-Frankfurt a/M.
252
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Sb 13401
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Cim 14399 (Swarzenski: Salzburger Buchmalerei, Abb. gı und Teufel Nr. 2445).
Diese beiden Darstellungen stehen in engster Beziehung zueinander, wie Swarzenski
zuerst beobachtet hat!). In Cim 14399 gegenüber den Miniaturen der Gebhards-
Bibel eine offenbare Verarmung an Bewegungsmotiven, Annäherung an die Ver-
tikale. Die Handlung wird kraftlos; die einzelnen Figuren sind ohne stärkere
Überschneidungen nebeneinander gestellt; große Flächen des Bildfeldes bleiben un-
dekoriert.
In früheren und späteren Werken der Salzburger Miniatoren findet man diese
Eigentümlichkeiten ebensowenig als sonst in Bayern, Schwaben oder Sachsen;
ausgenommen bleiben die Miniaturen der Theophilus- und Abtissin-Legende und
die apokalyptischen Darstellungen im Scheyerner Matutinalbuch in München, auf
die unten deswegen noch kurz zurückzukommen sein wird.
Die obige Formulierung der Kompositionsprinzipien in Regensburg- Prüfeninger
Miniaturen läßt sich nun ohne weiteres anwenden bei einer Analyse der Eneit.
Es finden sich sogar einige der in der Berliner Handschrift verwendeten Kom-
positionstypen?) ganz entsprechend in gesicherten Regensburg-Prüfeninger Minia-
turen, z. B. der für Mitteilungen an eine größere Anzahl von Personen übliche
Typus (vgl. Teufel 2619 unten und Eneit, S. 12 oben). Die Ankunft des Aeneas
und der Sibylle bei den Selbstmördern ist nach demselben Schema komponiert wie
in der Münchener Handschrift Clm 13074 die Ankunft des Apostels Thomas und
seines Begleiters am Schiff. Ferner ist der Tod der Camille, S. 35, ganz ähnlich
dargestellt wie die Ermordung des Apostels Thomas in der eben genannten
Münchener Handschrift.
Besonders wichtig aber wird die Übereinstimmung da, wo sie nur durch ein Ab-
weichen des Eneit-Illustrators vom Text erreicht wird. Auf S. 37 oben nämlich
soll die Klage des Turnus an der Bahre der Camille dargestellt werden, bevor die
Leiche nach Volkäne gebracht wird. (Behaghel 9283—9353.) Statt dessen bietet
der Maler eine Grablegung mit klagender Mittelfigur ganz entsprechend der Be-
stattung des heil. Andreas in Clm 13074 (Teufel 2622). Er übernimmt also offen-
sichtlich einen fertigen Typus. Dabei stimmt sogar die eigenartige Faltenbildung
des Leichentuches überein. |
Da aber, wo keine solchen direkten Übereinstimmungen sich feststellen lassen,
sind doch die Gebärden, die lässige Art des Zugreifens oder Festhaltens dieselben.
Die Arme werden ganz dicht an den Leib genommen, so daß die Hände oft vor
den Körper zu liegen kommen. Besonders häufig greift der Unterarm von hinten
nach vorn über den Leib herüber, die Hand faßt in den Gürtel oder wird glatt
vor die Brust gelegt, auch die redend erhobene Hand wird gern dicht vor
der Brust gehalten. Bisweilen sind beide Hände vor dem Leib übereinander gelegt.
Auch für die Gesichtstypen und für die Formen der Hände bieten die vor Clm 3901
entstandenen Miniaturen der Regensburg-Prüfeninger Schule sehr nahe Analogien
zur Eneit (vgl. Abb. Пт und 2, z. B. Rahab und Aeneas).
(x) 1. c., 8.73, Anm. 5.
(2) Wie die Gewandung, so lassen sich auch die Kompositionen der Berliner Handschrift, soweit sie
nicht seltene und ungewöhnliche Vorgänge illustrieren, auf wenige, nur immer wieder leicht ab-
gewandelte und im Verhältnis zum Rahmen verschobene Typen zurückführen: Die Gastmähler sind
ebenso alle nach einem Schema dargestellt (S. 17 oben, 56 unten, 170 unten) wie das Betreten oder
Verlassen eines Raumes durch eine Person (8.3 oben, 42 oben, 45 oben, 55 unten, 133 unten) oder
wie Zwiegespräche, Zweikämpfe zu Fuß und zu Pferd, ruhende Helden im Zelt, Bestattungs- und
Klageszenen usw.
253
Ich verzichte darauf, den Vergleich zwischen Eneit und gesicherten Regensburg-
Prüfeninger Miniaturen in allen Einzelheiten durchzuführen und greife nur noch
einige besonders deutliche Übereinstimmungen heraus.
Auffallend sind in der Berliner Handschrift die sehr langen, übermäßig dünnen
Beine, die winzigen Füße!) und die Beinstellungen. Bei stehenden Figuren sind
die Knie meist durchgedrückt, Stand- und Spielbein selten und dann kaum merk-
lich differenziert, vielmehr beide Füße gleichmäßig und sehr dicht nebeneinander
gesetzt. Die Figuren wirken dadurch steif und unfest. Der schwere Oberkörper
scheint die viel zu schwachen, leblos im Hüftgelenk hängenden Beine umzureißen
(siehe z.B. 5. 129 oben). Auch auf das Schreitmotiv erstrecken sich die genannten
Eigenheiten der Formgebung, und hier ist die gliederpuppenartige Bildung beson-
ders deutlich.
Daneben, besonders wenn der Rock die Beine frei läßt, eine andere Art des
Ausschreitens mit gleichmäßig geknickten wie entgleitenden Beinen, z.B. S. 66 oben.
Bei starker rechtwinkliger Beugung des Knies, etwa bei dem aus Charons Nachen
aussteigenden Aeneas hängt der dünne Unterschenkel an dem viel zu starken, ein
fast geschlossenes Oval bildenden Oberschenkel.
Liegende und umsinkende Personen strecken die Beine steif und gleichmäßig
nebeneinander gelegt von sich (Pallas, S. 105 und 106). — Alle diese Eigentüm-
lichkeiten der Stellung, die äußerst dünnen Schenkel und die unnatürlich kleinen
Füße finden sich ganz entsprechend in Regensburg - Prüfeninger Miniaturen, vgl.
z. B. die Darstellung der fünf Könige in der Höhle (Josua X, 22) in Clm 14159
(Abb. Пт) mit Aeneas auf Abb. Da
Von den Besonderheiten des Kostiims, an denen die Eneit ja sehr reich ist),
wären zunächst die Formen der Kronen als lokale Eigentümlichkeit zu bezeichnen.
Sie entsprechen den in Regensburg - Prüfeninger Handschriften vorkommenden
Kronen, nur haben sie statt der geschweiften oder spitzwinkligen unteren Abschlüsse
eine gerade Kante. Auch das Kopftuch der Frauen, das der Text Gebende nennt,
ist kennzeichnend. Es wird so geschlungen, daß über den Vorderkopf ein schmales
Band läuft, welches bei Dreiviertelansicht über der Stirn einen spitzen Winkel
bildet, bei Darstellung von vorn dagegen in flacher Kurve den Kopf überquert.
Schließlich sei, abgesehen von der wieder mit Regensburg-Prüfeninger Malereien
übereinstimmenden Form der Szepter, hingewiesen auf die seltsame Art, wie der
Frauenmantel über den Kopf gezogen und von einer Krone oder auch vom Mantel-
(1) Sind die Füße nackt und nicht beschuht, so werden sie breiter gebildet, damit die Zehen ein-
gezeichnet werden können (vgl. dieselbe Beobachtung bei Damrich: Regensburger Buchmalerei, S. 15,
drittletzter Absatz).
2) Die schalartig umgeschlagenen schmalen Tücher, wie sie Aeneas, Turnus und auch einige andere
Männer tragen, lassen sich nur aus einer archäologisierenden Absicht des Miniators erklären, der
durch dieses bei Antiken sehr häufige Gewandstück seine Figuren als „antikisch“ kennzeichnen wollte.
Dabei braucht man nicht an eine direkte Bekanntschaft mit antiken Monumenten zu denken, denn
diese Tücher dienen in der mittelalterlichen Kunst häufig dazu, eine Person „antik“ zu bekleiden;
wir finden sie z. B. bei heidnischen Götterbildern (vgl. Amelli: Encyclopädie des Rhabanus Maurus,
Taf. 102) und ebenso in Terenz-Illustrationen (Codices graeci et latini photographice depicti VIII,
Taf. то, 11, 35 und oft), Andere Seltsamkeiten der Tracht sind durch den Text vorgeschrieben. So
die Bänder, die Camille und ihr Gefolge um Helm und Stirn gewunden tragen und welche seidene
Schleier vorstellen (Behaghel 8817—23). Diese dienen ebenso wie die bisweilen vorkommenden langen
Frauenärmel des Waffenrockes dazu, die Amazonen, die ja Männerkleidung tragen, aus der Menge
der Krieger herauszuheben.
254
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Cim. 14095.
Abb. 6.
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Albert Boeckler, Zur Heimat der Berliner Eneit Handsch e
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band, das Stirn oder Scheitel überquert, festgehalten wird (Ruth in Clm 3901 und
Eneit, S. 21 oben!). Ез ist mir bisher nicht gelungen, diese Besonderheit in
anderen Denkmälern der Zeit festzustellen, abgesehen von dem Theophilus-Zyklus
in Clm 17401, also immerhin möglich, daß sie als Schuleigentümlichkeit anzu-
sprechen ist.
Die Architekturen der Eneit ferner zeichnen sich durch ihre oft nahezu aufriß-
artige Einfachheit aus. Die aus Hausteinen*) regelmäßig in horizontalen Lagen ge-
fügten Mauern haben fast immer ein durch kleine runde oder sehr schmale rund-
bogige Fenster ausgezeichnetes Simsgeschoß, tiber dem ein einfacher Zinnenkranz
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Ornamente aus gesicherten Regensburg-Prüfeninger Miniaturen.
den Abschluß bildet. Auch die rechteckigen Türme, ebenfalls ohne Andeutung der
dritten Dimension, aus demselben Mauerwerk und mit demselben Zinnenkranz,
zeigen oft auch ein Fenstergeschoß. Eigenartig sind die sehr großen Rundbogen-
fenster, die meist die ganze Breite des Turmes beanspruchen. Die Ubereinstim-
(х) Hier sind erst später aus den rot gezeichneten Mantelbändern der Begleiterinnen der Dido durch
Überzeichnung mit brauner Tinte schmale Reifen gemacht worden. In der Berliner Handschrift wird
der Mantel nur bei offiziellen Gelegenheiten so über den Kopf gezogen, bei denen eine gewisse Re-
serve gewahrt werden soll.
(2) Die Schattierung der Bausteine auf Abb. IIx ist in gesicherten Regensburg -Prüfeninger Sachen nicht
die Regel.
255
mung dieser Bauten mit gesicherten Prüfeninger Denkmälern zeigen die Abbil-
dungen Пт und 2°).
Auch die Darstellung der Tiere und das Landschaftliche passen gut zu der Ein-
reihung der Eneit in die Regensburg-Prüfeninger Schule und die Ornamentik, die
bei der Lokalisierung mittelalterlicher Handschriften von ausschlaggebender Be-
deutung ist, bestätigt sie.
Leider enthält die Eneit keine einzige ornamentierte Initiale. Aber infolge der
häufigen Verwendung gemusterter Stoffe bekommen wir doch eine Auswahl an
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Ornamenten, die, selbst wenn Cim 3901 nicht erhalten wäre, ausreichte, die Eneit
dem genannten Kunstkreis einzuordnen, siehe Abb. 8 und 9; dabei ist der kritze-
lige Charakter dieser an sich sehr einfachen Muster Stilprinzip und lokale Eigen-
tümlichkeit.
Man wird nach alledem an der Lokalisierung der Eneit nach Regensburg-Prüfe-
ning festhalten, denn eine gemeinsame Beziehung zu Salzburg kann die Über-
einstimmungen der Berliner Handschrift mit Regensburg-Prüfeninger Malereien
nicht erklären. Erstlich ist das Ornament der Regensburg-Prüfeninger Handschriften
(3) Die anderen Architekturformen der Berliner Handschrift sind teils als allgemein üblich, teils als
bayerisch zu bezeichnen, finden sich aber auch in Regensburg-Prüfening und zeigen alle die in dieser
Schule übliche Zweidimensionalität und wenig dekorierte Großflächigkeit,
256
und der Eneit erheblich von der Salzburger Ornamentik verschieden, ferner ist die
Abwandlung der von Salzburg her übernommenen Formen dieselbe in den Berliner
und den übrigen Regensburg-Prüfeninger Miniaturen, und schließlich findet man
in der Eneit nur die verhältnismäßig wenigen Salzburgischen Formen, die auch
Prüfening tibernommen hat, keine einzige der vielen übrigen. Und wenn die
Scheyerner Theophilus-Legende, sowie die zugehörigen apokalyptischen und Äbtissin-
Darstellungen viele Berührungspunkte mit der Eneit haben, so erklärt sich das
aus einer starken Abhängigkeit des Scheyerner Miniators von der Prüfeninger Kunst ).
. Leider gibt die Lokalisierung der Eneit keinen Anhaltspunkt zur genaueren
Datierung derselben, denn die später aus derselben Schule hervorgegangene Wiener
Handschrift 12600, die in ihren Miniaturen schon den eckigen Stil zeigt, läßt sich
nicht genauer zeitlich fixieren, so daß uns eine untere Zeitgrenze für die Eneit-
Illustrationen fehlt. Man muß sich also vorläufig mit ihrer Datierung auf Anfang
saec. 13 begnügen.
(1) Man kann an diesem Abhängigkeitsverhältnis nicht zweifeln, wenn man etwa die Abbildung 2
bei Damrich: ein Künstlerdreiblatt des 13. Jahrhunderts, Straßburg, Heitz 1904, mit Abbildung 245
in Swarzenskis Salzburger Buchmalerei zusammenhält oder die Ähnlichkeit der einen Art von Initialen
des Scheyerner Matutinalbuches mit Prüfeninger Initialen beachtet. Die Beziehungen zwischen Prü-
fening und Scheyern sind ja auch dadurch gesichert, daß die Münchener Handschrift Cim 17403 die
in letzterem Kloster gefertigte Kopie des in Prüfening entstandenen Codex Cim 13002 ist.
257
KLEINE BEITRÄGE zu PETER VISCHER. XL
1. EINE NEUE VISCHERPLATTE IN DER KATHEDRALE ZU
KRAKAU Mit zwei Abbildungen in Lichtdruck Von GEORG v. KIESZKOWSKI?)
ie ungefähr aus der Zeit 1503—1515 stammenden Vischerschen Grabplatten
in Krakau: die des Kardinal Friedrich (f 1503) samt der dazu gehörigen
Relief-Tafel (1510) der Vorderseite und Peter Kmita’s (} 1505) in der Domkirche,
ferner jene der beiden Salomons in der Marienkirche, schließlich die nach dem
Entwurfe des Veit Stoß ausgeführte Callimachus-Erztafel in der Dominikanerkirche
gehören unstreitig zu den künstlerisch bedeutendsten Werken Peter Vischers.
Eine spätere Arbeit als die erwähnten Platten ist, wie Daun (P. Vischer u. A. Krafft,
Knackfuß-Mon. 1905) mit Recht bemerkt hat, die „bisher unerwähnte und ohne
Inschrift erhaltene Bronzetafel eines Kardinals*) (in Halbfigur, abgeb. Fig. 17) in
der Domkirche. An die früheste Krakauer Erztafel (des Kardinals Friedrich, } 1503)
reiht sich hingegen jenes Werk der Vischerschen Gießhütte in der Kathedrale zu
Krakau, das ich in meinem Buche „Kanzler Christoph Szydlowiecki“ als Grab-
platte des Domherrn Paul Szydlowiecki ({ 1506) publiziert habe. Den ausländi-
schen, insbesondere den deutschen Forschern ist diese Erztafel entgangen?) —
und so will ich hier eine freie Bearbeitung des in Betracht kommenden polnischen
Textes meines Buches geben.
Die Erztafel galt bis in die letzten Zeiten als verschollen. Nur die Inschrift, mit
der sie versehen war, haben uns polnische Schriftsteller des r6., 17. und 19. Jahr-
hunderts überliefert. Sie lautete:
Paulo de Schidloviec, Praeposito Posnanien. Custodi Cracovien. Secretario Regio,
Virtute, Doctrina, Ingenio Generisque Nobilitate Insigni, Christopherus et Nicolaus
(x) Die folgenden Beiträge wurden mir von dem Verfasser, dem Krakauer Universitätsdozenten und
Leiter der Graphischen Universitäts-Sammlung übersandt mit dem Anheimgeben, sie für deutsche
Leser nötigenfalls zu ändern und zu kürzen. Ich habe von diesem Rechte Gebrauch machen müssen,
weil der Verfasser vieles Genealogische erörterte, was für den deutschen Kunsthistoriker nicht in
Betracht kam. Auch habe ich mir erlaubt, seine Beweisführung umzuschreiben, und die Abbildung
der meisterhaften Lubranskiplatte beizufügen, — Dem ersten Aufsatze ging ursprünglich ein anderer
voraus, welcher eine in Galizien angeblich entdeckte Glocke Peter Vischers behandelte. Kurz vor
der Drucklegung teilte mir jedoch der Verfasser mit, daß die ganze, sehr detaillierte Nachricht auf
Schwindel beruhe. Aus diesem früheren Aufsatze habe ich daher nur den kleinen Absatz über ein
bisher unbekanntes Bronzegitter des Hans Vischer für eine Krakauer Domkapelle übernommen.
Meines Wissens ist diese Nachricht völlig unbekannt. Das Gitter ist verloren gegangen, während
von dem anderen berühmteren Gitter der Fuggerkapelle kürzlich namhafte Teile in Frankreich wieder
aufgetaucht sind. Ich komme demnächst darauf zurück. Stierling.
(2) Soll wohl heißen: eines Domherrn. Denn abgesehen von der herkömmlichen Kanonikus- Tracht
(wie sie ja auch auf der von Daun, auf derselben Seite seines zit. Buches, Fig. ı8 veröffentlichten
Tafel des Domherrn Johann von Heringen im Kreuzgange des Erfurter Domes zu sehen ist), hatte
Polen іп den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts, in welche Zeit die erstgenannte Erztafel gehört,
überhaupt keinen Kardinal und auch für einen fremden Purpuraten wurde damals, in Polen, keine
Grabplatte errichtet.
(3) Wohl aus dem Grunde, weil sie verdeckt war. Durch Jahre nämlich, als noch die Tafel in den
Steinboden der Domkirche, vor der in ihrer Mitte freistehenden Kapelle des St. Stanislaus-Bischof,
eingelassen war, war sie stets mit einem Teppich zugedeckt. Erst anläßlich der letzten Restaurierung
der Kathedrale vor etwa 20 Jahren wurde sie gehoben und an der inneren Wand des rechten Seiten-
schiffes, unwelt des Südeinganges, befestigt.
258
Fratri Carissimo Ac Bene Merenti Posuerunt. Obiit (Auriaci == Herzogenaurach
bei Nürnberg) Annum agens 26, Magno Hominum Post Se Desiderio Relicto,
Anno 1506, Die 20 Junii.
Sucht man nun in der Krakauer Domkirche die mit der obigen Inschrift ver-
sehene Grabplatte Paul Szydiowieckis, so findet man sie freilich nicht. Dennoch
ist sie erhalten geblieben und zwar, wie ich tief überzeugt bin, in der Reliefplatte
„eines näher nicht bekannten Domherrn“, die bis zur Zeit der letzten Restaurierung
der Kathedrale (vor etwa 20 Jahren), in das Paviment, unmittelbar vor der in der
Mitte des Hauptschiffes freistehenden St. Stanislaus-Kapelle eingelassen war und
sodann an der inneren Wand des rechten Seitenschiffes, unweit des Südportales,
befestigt wurde.
Nun, abgesehen davon, daß die Erztafel einen Domherrn oder einen Prälaten
darstellt, Paul Szydlowiecki aber eben ein Prälat (Kustos) des Krakauer Dom-
kapitels gewesen, sprechen für meine obige Hypothese folgende Momente:
a) Der — heraldisch — rechts in der unteren Ecke angebrachte Schild mit dem
Wappen Odrowaz') deutet darauf hin, daß der Vater des auf der Platte Dar-
gestellten sich eben dieses Wappens bediente; das — heraldisch — linksseitige,
ebenfalls in der unteren Ecke sichtbare Schild mit dem Wappen Labedu (Schwan)
weist wieder auf die Mutter des Dargestellten hin. Und da wir wissen, daß der
Vater des Domherrn Paul, Stanislaus Szydłowiecki, tatsächlich das erstere, seine
Mutter, Sophie von Gozdziköw und Pleszöw aber das zweite Wappen führten,
so paßt die Figur des Dargestellten vortrefflich zu diesem Elternpaare, und zwar
um so mehr, als ein gleichzeitiger Krakauer Domherr, dessen Eltern jene Wappen
im Schilde geführt hätten, unbekannt ist;
b) da man die früher in den Steinboden eingelassene Erztafel, wahrscheinlich
Jahrhunderte hindurch, mit Füßen getreten hat, so erscheint heute selbstverständ-
lich die Nase des Domherrn ganz verflacht. Aus diesem Grunde ist es unmöglich,
die Gesichtszüge Pauls mit jenen eines erhaltenen Miniaturporträts vergleichen zu
wollen. Immerhin aber muß hervorgehoben werden, daß in beiden Bildnissen
die gekräuselten Kopfhaare in ganz derselben Weise unter der Kopfbedeckung
herausstehen, nämlich als Haarbüschel an beiden Schläfen, was bei der Erzplatte
allerdings auch auf Konvention in der Vischerhütte beruhen kann;
c) der Übergangsstil der Erztafel weist schließlich auf das erste Dezennium des
16. Jahrhunderts, also auf die Zeit hin, in welcher dem im Jahre 1506 verschie-
denen Paul S. dessen Brüder — höchstwahrscheinlich gleich nach seinem Tode —
die Grabplatte errichtet haben.
Aus der Tatsache, daß heute die Erztafel von einer Renaissance-Inschrift, die
zu der nicht mehr erhaltenen Grabplatte des Kanonikus Nikolaus Czepiel (f 1518)
gehörte, eingefaßt erscheint, ist wohl der Schluß berechtigt, daß die Erztafel Pauls
ursprünglich an einer anderen Stelle angebracht war. Und tatsächlich, Staro-
wolski berichtet, daß die dem Domherrn Szydtowiecki gewidmete Inschrift (und
zweifellos auch die Tafel selbst): ad altare Kmitarum) (also nicht vor der St. Sta-
nislaus-Kapelle) zu sehen war.
(х) Die Familie derer von Szydlowiecki entsprang dem altadeligen, in Klein-Polen begüterten Ge-
schlechte der Odrowaze.
(2) Es kann sein, daß hier von dem St. Anton-Altare die Rede ist, an dessen linker Seite, gegenüber
der Kapelle der Familie Szafraniec, ursprünglich die berühmte Vischersche Erztafel Peter Kmitas
(+ 1505) angebracht war.
259
Im Laufe der Zeit ist die Inschrift vom Grabe Paul S.s verschollen oder wurde
vernichtet. Vermutlich anläßlich irgendwelcher Ordnungsarbeiten in der Kathe-
drale — vielleicht nach den schwedischen Plünderungen im 17. Jahrhundert —
wurde unsere Erztafel mit der von der Grabplatte Czepiels zurückgebliebenen
Inschrift vereinigt und in den Steinboden vor der Stanislaus-Kapelle eingelassen.
(Bekamntlich fehlt auch die Inschrift der prachtvollen gravierten Platte eines un-
bekannten Mitgliedes der Familie Salomon in der Marienkirche zu Krakau.)
Schauen wir uns die Tafel des Domherrn S. näher an. Sie ist eine Reliefplatte
von beträchtlicher Größe: 1,40 m lang, 0,77 m breit und trägt alle Kennzeichen
Vischerscher Kunst, zumindest seiner Werkstätte!). Zuerst ist daran zu erinnern,
daß sich in Krakau eine ganze Reihe hervorragender Erztafeln aus der Nürnberger
Hütte befinden. Es liegt also rein äußerlich nichts Überraschendes darin, wenn
noch eine weitere auftauchen sollte. Rein äußerlich ist auch zu bedenken, daß
das heraldisch linke Wappen der neuen Tafel (der Schwan) auf den Krakauer
Vischertafeln des Peter Salomon und des unbekannten Salomon wiederkehren, ja
vielleicht sogar auf den Tafeln eines unbekannten Salomon und des Calimachus,
wo der Schwan wohl nicht zufällig in den Bogenzwickeln zu beobachten ist. (Ab-
bildungen sämtlich bei Daun.) Das heraldisch rechte Wappen (Hausmarke) da-
gegen kehrt auf der Posener Vischerplatte des Domherrn Lubranski wieder. (Ab-
bildung 2).
Bei Lubranski (und vielen anderen) ist auch die Stellung der gegeneinander ge-
neigten Wappen zu Füßen des Geistlichen genau die gleiche.
Mit der eben genannten Posener Platte ist die Verwandtschaft auch in vielen
anderen Punkten nicht zu verkennen. Die seitlichen Säulen und ganz entsprechen-
den Säulenfüße und der an Schnüren aufgehängte Teppich des Hintergrundes fallen
sofort als Gemeinsamkeit ins Auge. Charakteristisch ist dabei die Art, wie der
Baldachinbogen in verwandter Schwingung, unterbrochen von senkrechten Stützen,
über dem Haupte der Domherren gipfelt!
Im übrigen aber darf nicht verkannt werden, daß die neue Krakauer Platte (auch
wenn man die Verstiimmelungen und die nicht zugehörigen Schriftbänder berück-
sichtigt) sich mit den übrigen Krakauer Denkmälern qualitativ nicht vergleichen
läßt. Diese sowohl als vor allem die ihr in manchen Punkten am nächsten ver-
wandte Posener Platte des Lubranski sind sehr viel geistvoller behandelt. Die
parallele Stellung der großen Füße ist auf der neuen Krakauer Platte recht fatal.
Ebenso die Parallelität der Falten, die sich besonders in den großen Hängeärmeln
äußert, und die im vollen Gegensatz zur Behandlung desselben Motivs bei der
Lubranski-Platte steht. Man fühlt sich bei derartigen Plumpheiten bedenklich an
die Grabplatten des Gnesener Domherrn Johannes Groth (1532) oder an die Wei-
marer Margarethe von 1521 erinnert, welche Vischers Schwager Mülich zu-
geschrieben wird.
Alles in allem ist es schwer zu entscheiden, ob wir einem Werk Vischers oder
nur seiner Hütte gegenüberstehen! Da Erztafeln nur ausnahmsweise signiert sind,
wird es kaum je gelingen, ganz scharfe Kriterien zu gewinnen. Jedenfalls sind
hier Vischersche Motive reichlich und ungezwungen verwandt, ja die ganze obere
Hälfte der Tafel ist einwandfrei und nur die untere Hälfte zeigt ein beträchtliches
(z) Die folgenden Ausführungen des Verfassers habe ich wesentlich gekürzt und geändert, denn mir
scheint der Zusammenhang mit der Vischerhütte so unmittelbar, daß ich vieles von der sehr ein-
gehenden Argumentation des Verfassers mit gutem Gewissen weglassen zu dürfen glaubte.
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Erztafel des Domherrn Paul von
Krakau, Kathedrale.
Szydlowiecki T 1506. (Der Schr
Abb. 1.
Abb. 2. Posen, Dom. Bernhard von Lubranski 1499.
iftrand nicht zugehörig.)
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a?
Erlahmen der Formenphantasie. Gerade in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit
den. Würzburger Tafeln oder der Halberstädter sehr lehrreich: es ist auffallend,
wieviel mehr Bewegungsreichtum Vischer diesen gleichfalls unsignierten Güssen
des Albert von Bibra 1511 und Peter von Aufseß 1522 in Würzburg!) oder des
Balthasar von Neuenstädt (1516 oder früher!) in Halberstadt verliehen hat. Die
letztgenannte Halberstädter Tafel (Abbildung im Inventar und bei Dr. Stoedtner)
ist diejenige, die in ihrer frontalen Haltung des Dargestellten und sozusagen in
ihrem Körpervolumen der neuen Krakauer am nächsten steht. Vielleicht ist sie
daher zum Vergleich noch besser geeignet als die Lubranski-Platte, die kunst-
reicher, aber gewiß auch — was man nicht übersehen sollte — teurer war.
2. EIN UNTERGEGANGENES VISCHERGITTER IM DOM
ZU KRAKAU
Im Jahre 1535 hat Hans Vischer nach dem Tode seines Vaters und zweier Brüder
die große Zahl der in Krakauer Kirchen aufbewahrten Werke seiner väterlichen
Hütte um ein neues vermehrt. Der Bischof Peter Tomicki hatte bei ihm ein seine
Kapelle in der Domkirche abschließendes Gitter mit den daraufstehenden Erzfiguren
des Engelsgrußes und der Heiligen Wenzeslaus und Florian bestellt. Es war jetzt
vollendet und der filius opificis, d. h. der Sohn des Hans Vischer, brachte es nach
Krakau, um es an Ort und Stelle aufzurichten“).
Das Gitter samt dem figuralen Schmuck besteht nicht mehr. Im Jahre 1657
haben es die Schweden geraubt. Aber dank den Krakauer Archivalien wissen wir,
daß nicht nur Hans Beham?) und Hans Dürer, sondern auch Peter Vischer d. A.
und sein Enkel (in Vertretung seines Vaters Hans Vischer) Polens alte Krönungs-
stadt aufgesucht haben‘).
(x) Abbildungen der Würzburger Tafeln in Stierling, Kleine Beiträge zu Р. Vischer УП. (Monats-
hefte XII, 1919, Tafel 25—30.)
(2) Die auf Krakauer Archivalien beruhende Schilderung jener Bestellung entbält Kieskowskis Arbeit:
Przyczynki do kulturalncj dsialalnosci Piotra Tomickiego („Beiträge zur kulturellen Tätigkeit des Bischofs
Р. Tomicki“ in den Berichten der kunsthistorischen Kommission der Ak. d. W. in Krakau 1906, Bd. 7).
(3) Er hat 1520 in Krakau die berühmte und größte Glocke in Polen, die sogenannte Sigismundglocke,
gestiftet von König Sigismund І, in der Domkirche gegossen.
(4) Hans Vischer hat zwei Jahre am Gitter gearbeitet. Severin Boner, der Krakauer Burghauptmann,
hatte den Auftrag vermittelt.
DIE TREPPE DER LIBRERIA DI S. LORENZO
BEMERKUNGEN ZU EINER UNVERÖFFENTLICHTEN SKIZZE
MICHELANGELOS Mit en 5 Text- Von ERWIN PANOFSKY
ie Treppe, die den Vorraum der Biblioteca Laurensiana mit dem höhergelegenen
Hauptsaal verbindet (Abb. r und 2), ist bekanntlich erst im Jahre 1560 ge-
baut worden: nach früherer Vermutung von Vasari, nach jetziger, wohl allgemein
akzeptierter Annahme von Ammanati, sicher aber auf Grund eines von Michel-
angelo angefertigten Tonmodells, das der Meister am 13.Januar 1559 aus Rom nach
Florenz geschickt hatte, und das etwa sechs Wochen später (am 22. Februar) vom
Herzog Cosimo genehmigt worden war!). — Wüßten wir von dem Hergang nichts
weiter als dieses, so würde schwerlich jemand daran gezweifelt haben, daß die
ausgeführte Treppenanlage im großen und ganzen — d. h. soweit das skizzenhafte
Modell, „un poco di bozza piccola di terra“, einen Anhalt gewährte °) — dem Plane
Michelangelos entspreche. Nun aber besitzen wir einen vom 28. September 1555
datierten, an Vasari gerichteten Brief des Meisters’), dessen Inhalt nicht nur rein
sprachlich dem Verständnis Schwierigkeiten bereitet, sondern auch sachlich mit der
gegenwärtigen Gestalt der Treppe so wenig vereinbar erscheint, daß entweder auf
seiten Michelangelos ein zwischen 1555 und 1559 eingetretener Planwechsel, oder aber
auf seiten des ausführenden Architekten ein Abweichen von Michelangelos Modell
vorausgesetzt werden muß. Die Forschung hat sich bald für die eine, bald für
die andere Annahme entschieden, gelegentlich auch eine Art von Kompromiß ver-
sucht‘), — allein in allen Fällen mußte die Lösung schon deshalb unbefriedigend
bleiben’), weil es bisher noch nicht gelungen ist, den Brief von 1555 in zweifels-
freier Weise zu interpretieren.
1.
Dieser Brief lautet — mit berichtigter Interpunktion — folgendermaßen:
„Messer Giorgio, amico caro.
Circa la scala della libreria, di che m’é stato tanto parlato, crediate che, se io
mi potessi ricordare, che io non mi farei pregare. Mi torna nella mente come
un sogno una certa scala; ma non credo, che sia appunto quella, che io pensai
all’ hora, perchè mi torna cosa goffa; pure la scriverò qui, cioè che i’ togliessi una
quantita di scatole aovate di fondo d'un palmo l'una, ma non d’una lunghezza е
larghezza; e la maggiore e prima ponessi in sul pavimento, lontana dal muro
tanto, quanto volete, che la scala sia dolce o cruda, e un altra mettessi sopra
questa, che fussi tanto minore per ogni verso, che in sulla prima disotto avanzassi
tanto piano, quanto vuole il pié per salire, diminuendole e ritirandole verso la
(1) Gaye, Carteggio . . . III, S. 13. |
(2) Le lettere di Michelangelo Buonarroti, ed G. Milanesi (fernerhin zitiert als „Mil.“), 1875, S. 344.
(3) Mil., S. 548 (mit falscher Datierung und mißverständlicher Interpunktion); ferner Vasari, ed. Mi-
lanesi, VII, S. 237.
(4) So Thode (Michelangelo, Krit. Untersuch. П, 1908, S. 134), „. . . es geht aus allen unseren Dar-
legungen hervor, daß die heutige Treppe im wesentlichen den ursprünglichen Entwurf [scil. den
von 1555], ausgeführt zeigt, nur daß die Seitenläufe der oberen Treppe — vielleicht auf Michelangelos
eigene spätere Entscheidung — weggelassen worden sind.“
(5) Vgl. Р. Frankl, Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst, 1914, 8. go, Anm.
262
porta fra una e laltra sempre per salire, e che la diminutione dell’ ultimo grado
sia quant’ ё '1 vano della porta. E detta parte di scala aovata habbi come due ale,
una di qua et una di la, che vi seguitino i medesimi gradi e non aovati; di queste
serva il mezzo per il signore. Dal mezzo in su di detta scala, le rivolte di dette
ale ritornino al muro; dal mezzo in giu insino in sul pavimento si discostino con
tutta la scala dal muro circa tre palmi, in modo che l’imbasamento del ricetto non
sia occupato in luogo nessuno, e resti libera ogni faccia. Io scrivo cosa da ridere,
ma so ben, che voi troverete cosa al proposito.“
Daneben ist uns, freilich nur fragmentarisch, auch das Konzept zu diesem Briefe
erhalten: wertvoll insofern, als es das Datum und die Interpunktion der Milanesi-
schen Ausgabe zu berichtigen erlaubt
und auch in technisch-terminologischer
Beziehung an einigen Stellen klarer ist
als das Mundum. Dieses Konzeptfrag-
ment, das von Karl Frey in dem be-
kanntenMichelangelokodexderBibliotheca
Vaticana entdeckt wurde und scheinbar
schon am 1. Januar des Jahres 1555 ab-
gefaßt ist, hat folgenden Wortlaut:
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Abb. ı. Die Treppe derLibreria diS. Lorenzo, gegen- Abb. 2. Die Treppe der Libreria di S. Lorenzo,
wärtiger Zustand, Längsschnitt (mit Benutzung von gegenwärtiger Zustand, Grundriß
v. Geymüller, Die Arch. d. Renaiss. in Toskana), *) (nach v. Geymiller).
„. . . diritto, е la [sc. parte oder scala] di mezzo aovata intendo pel Signore;
le parti d’accanto pe’ servi andando a veder la libreria. Le rivolte di dette alie
dal mezzo іп su, in sino al riposo di detta scala, s’appiccano col muro; dal mezzo
in giu, in sino al pavimento, detta scala si discosta dal muro circa quattro palmi,
in modo che l’imbasamento del ricetto non ё offeso in luogo nessuno е attorno
resta libero“).
Der Anfang der Beschreibung ist eindeutig: Michelangelo denkt an eine drei-
teilige Anlage, deren nach unten zu sich verbreiternder Mittellauf fiir den Herzog
reserviert bleiben soll, während die Seitenläufe (, ale“) für Leute geringeren Standes
bestimmt sind. Die Stufenfolge ist bei allen drei Läufen die gleiche, doch sind die
Stufen des Mittellaufes konvex geschwungen (aovate), die der Seitenläufe geradlinig.
Die Höhe der Stufen wird auf einen palmo festgesetzt (so daß wir, da ein Niveau-
unterschied von etwas über 3 m zu überwinden war, mit einer etwa vierzehn-
stufigen Anlage zu rechnen haben), und die oberste Stufe des Mittellaufs soll gerade
Ф) Infolge eines Versehens ist der Längsschnitt in kleinerem Maßstab reproduziert worden als der GrundriB.
(x) Vgl. Karl Frey, Die Gedichte des Michelagniolo Buonarroti im Vaticanischen Codex, Jahrb. der
k. pr. Kunstsammi, IV, 1883, S. 40 ff.
263.
so breit sein, wie die lichte Weite der Eingangstür („il vano della porta“), d. h.
etwa 1,90 m. Die Festsetzung des Neigungswinkels dagegen — und damit auch
die Bestimmung der Ausladung gegenüber der Wand — wird dem Ermessen des
ausführenden Architekten anheimgegeben, wie auch bezüglich der Verbreiterung
des Mittellaufs und der daraus sich ergebenden Schrägstellung der Seitenläufe keine
genaueren Weisungen vorliegen.
Wie aber ist der passus von „dal mezzo in su“ bis „resta libera ogni faccia“
zu interpretieren? Die Ansichten der Erklärer gehen weit auseinander: Heinrich
v. Geymiiller') hält es zunächst für ausgemacht, daß auf halber Höhe der Treppe
ein Podest geplant gewesen sei. Oberhalb dieses Podestes gehe der Mittellauf
mit seinen ovalen Stufen gerade in derselben Richtung fort bis zu einem zweiten
Podest, der „in der ganzen Breite des Vestibüls vor der Saaltür wie eine Tribüne
liegt. Die Seitenläufe setzen unten zuerst neben dem Mittellauf ein, begleiten
diesen, durch eine Balustrade getrennt, bis zur Hälfte der übrigen (?) Höhe, wenden
sich rechtwinklig nach außen (!), steigen längs der oberen Podestmauer herauf und
münden je auf einen quadratischen Podest, welcher an den oberen Enden des
Treppenpodests vorspringt.“
Karl Frey*) nimmt eine absatzlose Treppe an, die „nur oben an der Tür mit der
Mauer des Gebäudes zusammenstoßend“, sich „allmählich“ (also offenbar in schräger
Richtung) von der Wand entfernen sollte, bis der Abstand zwischen der unter-
sten Stufe und der Mauer 4 (resp.3) palmi betrug; „auch die Seitentreppen hängen
somit nur oben an der Tür, am Ende der Mitteltreppe — „il riposo“ — mit der
Mauer zusammen, .... Wenn Michelangelo von den „rivolte“, den „Windungen“
der Flügel spricht, so meint er damit ihre schrägere Richtung, besonders an der
äußeren Seite, im Gegensatz zur Mitteltreppe*), um zur Tür oben anzusteigen.“
Thode endlich‘) geht gleichsam einen Mittelweg, indem er es auf der einen
Seite mit Geymiiller für unzweifelhaft hält, daß in halber Höhe ein Podest vor-
gesehen war, sich auf der anderen Seite aber die Ansicht Freys zu eigen macht,
wonach die „rivolte“ der Flügeltreppen ihr „Sich-Wenden schräg nach der Tür zu“
bezeichnen, deren Schwelle mit dem riposo gemeint wäre. Die Seitenläufe würden
also vom Podest an „in dreieckigem Grundriß spitz zu dem Türpfosten verlaufen.“
* *
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Gegen alle diese Deutungen sind sowohl von der philologischen als von der
künstlerischen Seite her Einwände geltend zu machen: die Geymiillersche Rekon-
struktion ist eine reine Phantasie, eher in biedermeierischem als in michelangeles-
kem Geschmack, und steht mit der Bestimmung in Widerspruch, daß das ,,im-
basamento del ricetto“ auf allen Seiten frei bleiben solle); die Lösung Freys ist
(x) 8. Giorgiowerk (die Architektur der Renaissance in Toscana), Bd. УШ, Michelangelo Buonaroti,
1904, 8. 48.
(2) A. a. O., 8. 4а.
(3) Der Zusatz, „besonders an der äußeren Seite“, erscheint nicht ganz verständlich: die innere
Grenze der Seitenläufe ist ja ohne weiteres identisch mit der äußeren Grenze des Mittellaufs.
(4) A. а. O., S. 42.
(5) An und für sich wäre es ja möglich, den der Saaltür vorliegenden „Tribünenpodest“ als ein balkon-
artiges Podium zu denken, das das „imbasamento“ nicht in Mitleidenschaft ziehen würde — dann
aber bliebe die Bestimmung unerfüllt, wonach die „rivolte“ mit einer Mauer verwachsen sein sollen
(„appiccarsi col muro“), daher sich denn auch Geymüller selbst seinen Tribünenpodest als eine massive
Aufmauerung vorstellt, an deren Vorderwand die „rivolte“ der Seitentreppen „heraufsteigen“ würden.
264
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elo, Skizze für die Libreriatreppe vom jahre 1555
3211, fol. LXXXVII v., phot. Sansaini).
Michelang
(Cod. Vat.
Michelangelo, Skizzen für die Libreriatreppe um 1525, Florenz, Casa Buonarroti
"MS K. Frey, Die Handzeichn. Michelagniolos, Taf. 165 g, h, K).
r es der Libreria di S. Lorenzo.
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nicht nur deshalb abzuweisen, weil die keilförmig zugespitzten, an den Türpfosten
sich totlaufenden Seitentreppen ein Unding sind, sondern auch deshalb, weil sie
dem in den Worten „dal mezzo in sù — dal mezzo in giù“ deutlich zum Ausdruck
kommenden Gegensatz nicht gerecht wird, und weil es, rein sprachlich genommen,
nicht angeht, den Terminus „rivolta“ im Sinne eines schrägen Zulaufens zu deuten;
und Thodes Auslegung versucht zwar, die in der Antithese „dal mezzo in su —
dal mezzo in giù“ liegende Schwierigkeit durch die Annahme eines in halber Höhe
befindlichen Podestes zu beseitigen, begegnete aber im übrigen den gleichen Be-
denken wie diejenige Freys — ganz abgesehen davon, daß ein solcher Podest
durch Michelangelos Beschreibung in keiner Weise beglaubigt wird.
Daß diese Kontroverse immer noch nicht beseitigt ist, erscheint .um so ver-
wunderlicher, als wir zu ihrer Entscheidung ein ungewöhnlich gutes Hilfsmittel
besitzen, nämlich eine eigenhändige Zeichnung Michelangelos, die zu dem
Briefentwurf vom ı./r. 1555 gehört, und die die Treppe sowohl in Vorder-
ansicht als in seitlichem Aufriß zur Darstellung bringt. Diese Zeichnung (Cod.
Vat. 3211, fol. LXXXVIIv.) ist zwar keineswegs unbekannt, sie wird vielmehr so-
wohl von Frey!), als auch von Thode?) ausdrücklich erwähnt; allein sie ist bis-
her weder veröffentlicht, noch bei der Auslegung der strittigen Texte herangezogen
worden, obgleich sie, bei aller Flüchtigkeit und Unscheinbarkeit, durchaus geeignet
ist, derselben ein sicheres Fundament zu geben. Aus dieser Zeichnung (siehe Tafel)
gehen zunächst unzweifelhaft drei Tatsachen hervor: Erstens, daß ein Podest
in halber Höhe nicht vorhanden ist, daß vielmehr die Treppe von unten bis oben
absatzlos ansteigt; zweitens, daß die Seitentreppen nicht, auf dreieckigem Grund-
riß, spitzwinklig zulaufen, sondern sich, auf trapezförmigem (vielleicht sogar recht-
eckigem) Grundriß, nach oben zu nicht oder nur unwesentlich verschmälern;
drittens (was ja bei dieser Anordnung ganz selbstverständlich ist), daß die drei
Läufe nicht unmittelbar zur Türe führen, sondern vorher von einer oberen Platt-
form — riposo! — aufgenommen werden, deren Ausladung wir auf Grund des seit-
lichen Aufrisses auf etwa vier oder fünf palmi beziffern diirfen*). Sodann aber er-
halten wir auch Aufschluß über den rätselhaften Satz mit den „rivolte“: der Profil-
riß nämlich läßt in halber Höhe der Treppe eine Horizontallinie erkennen, die in
einiger Entfernung von der Mauer rechtwinklig nach unten umbricht, und es ist
kaum zweifelhaft, daß damit ein unter der Treppe hindurchführender Durchgang
von rechteckigem Querschnitt bezeichnet werden soll — ein Durchgang, wie
er auch bei der endgültigen Ausführung angeordnet wurde, nur daß er dort wesent-
ich höher bemessen ist‘). Damit ist der Sinn der schwer verständlichen Aussage
(1) A. a, O., S. 42, 43.
(2) A. a. O., S. 133 (die Angabe: LXXXVII, 6 ist wohl verdruckt aus LXXXVII b), und Krit. Unt. III
unter Nr. 515 b.
(3) Diese breite obere Plattform ist auch in einem Entwurfe vorgesehen, den uns Antonio da Sangallo
überliefert hat (Abb. bei Geymüller, 8. 49, Fig. 38 rechts oben). Der Unterschied gegenüber dem
Projekt von 1555 besteht, soweit der Grundriß und die Vorderansicht in Frage kommen (ein seit-
licher Aufriß ist bei Sangallo nicht mitgezeichnet), darin, daß die Stufen der Seitentreppen mit denen
des Mittellaufes nicht Niveau halten, sondern ihnen gegenüber um die Hälfte ihrer Höhe (1/, braccio)
versetzt sind — so daß, wie Sangallo es ausdrückt, ein auf den eigentlichen Treppenläufen empor-
steigender Benutzer bei jedem Schritt !/, braccio zu überwinden hat, während derjenige, der in einem
der „Winkel“ zwischen der „scala aovata“ und den Seitentreppen emporsteigt (d. h. abwechseind auf
eine Stufe des Mittellaufes und auf eine Stufe des anstoßenden Seitenlaufes tritt) jedesmal nur '/,
braccio zu steigen hätte.
(4) In der ausgeführten Anlage erscheint dieser Durchgang gewölbt; doch ist die Wölbung nach
Monatshefte für Kunstwissenschaft 1923, 10—12. 18 265
klargestellt: wenn Michelangelo von den „rivolte di dette alie“ spricht, so meint
er damit weder, wie Geymüller wollte, rechtwinklig nach außen umbiegende Ab-
schnitte der Seitentreppen, noch auch, wie Thode und Frey vermuteten, deren
„schrägere Richtung“ auf die Türe zu, sondern (viel einfacher und natürlicher), die
„Seitenfronten“ oder „Wangen“ der Nebentreppen, die — rückwärts in die
Tiefe führend und insofern der Richtung der Stufen gegenüber „umbiegend“ —
sehr wohl als „rivolte“ bezeichnet werden konnten. Diese Treppenwangen — das
ist der durch die Zeichnung beglaubigte und mit Michelangelos sonstigem Sprach-
gebrauch durchaus übereinstimmende Sinn unserer Briefstelle!) — sollen sich in
halber Höhe zur Mauer wenden, so daß sie oberhalb dieser halben Höhe mit der
Wand im Verbande stehen, unterhalb derselben aber um drei bzw. vier palmi von
der Mauer sich fernhalten. Es sei erlaubt, nunmehr die wörtliche Übersetzung
des Passus hierher zu setzen:
a) in der Fassung vom 28./9. 1555.
„Dal mezzo in su di detta scala, le
rivolte di dette ale ritornino al muro;
dal mezzo in giu insino in sul pavimento
si discostino con tutta la scala dal muro
circa tre palmi, іп modo che l’imbasa-
mento del ricetto non sia occupato in
luogo nessuno, e resti libera ogni faccia.“
„Von der Mitte dieser Treppe nach
oben (gerechnet) sollen sich die Wangen
der besagten Seitenläufe nach rückwärts
zur Mauer wenden; von der Mitte nach
unten bis auf den Fußboden sollen sie
sich mitsamt der ganzen Treppe‘), um
etwa drei Palmi von der Mauer ent-
fernt halten, so daß das Imbasament des
Vestibüls nirgends in Anspruch genom-
men wird und sämtliche Wände frei
bleiben.“
b) (noch eindeutiger den іп der Zeichnung festgelegten Sachverhalt bezeichnend“)
in der Fassung vom тї./ї. 1555.
„Le rivolte di dette alie dal mezzo in „Die Wangen der besagten Seiten-
su, in sino al riposo di detta scala s'ap- läufe stehen von der Mitte nach oben
außen hin in der Weise maskiert, daß der Eindruck eines rechteckigen Querschnitts gewahrt bleibt
(vgl. Abb. 2).
(1) Um einen Terminus wie dieses „rivolta“ richtig zu verstehen, muß man natürlich den Sprach-
gebrauch der Zeit, womöglich des Autors, festzustellen suchen. Das ist in unserem Fall insofern
leicht, als das betreffende Wort in dem Kontrakt über die Lorenzofassade (Mil. 671), sowie in dem
Kontrakt über das Juliusgrab von 1516 (Mil. 646) gebraucht wird. Es bezeichnet in beiden Fällen die
mit der Vorderfront in rechtem Winkel zusammenstoßenden einachsigen Seitenfronten, d. h. der
Ausdruck tritt auch diesmal da ein, wo eine Front bezeichnet werden soll, die, von der Schauseite
aus betrachtet, senkrecht „umbiegend“ in die Tiefe führt, und deren künstlerische Bedeutung
daher nicht groß genug ist, um dte Bezeichnung „faccia“ oder gar „facciata“ zu rechtfertigen: „et
nelle rivolte de la dicta faccia, che vanno al muro, cioé nelle teste . . .“, heißt es mit Bezug auf
das Juliusgrab nach dem Entwurf von 1516, dessen Situation ja der der Laurenzianatreppe insofern
ganz analog war, als es sich hier wie dort um ein an eine Wand (muro) sich anlehnendes Architektur-
gebilde handelt. Wir haben also um so mehr das Recht, in unserem Falle das, rivolta“ mit „Treppen-
wange“ zu übersetzen, denn die „Wange“ entspricht ja bei einer Treppenanlage ganz dem, was bei
einem Gebäude oder einem Grabmal als „Seitenfront“ bezeichnet werden würde.
(а) Ohne den Zusatz „con tutta la scala“ hätte unter Umständen das Mißverständnis entstehen können,
daß — im Gegensatz zu den Seitentreppen — der Mittellauf auch unterhalb der halben Höhe mit
der Mauer hätte im Verbande bleiben sollen.
(3) Der Verfasser darf erwähnen, daß er noch ohne Kenntnis der Vatikanischen Zeichnung das Brief-
konzept vom 1./ 1. 1555 durchaus in ihrem Sinn interpretiert hatte.
266
picano col muro; dal mezzo in giu, in
sino al pavimento, detta scala si discosta
dal muro circa quattro palmi, in modo
che l’imbasamento del ricetto non ё
offeso in luogo nessuno e attorno resta
ibero.“
bis zur Plattform der Treppe im Verband
mit der Mauer; von der Mitte nach unten
bis auf den FuBboden hilt sich die Treppe
um etwa vier palmi von der Wand ent-
fernt, so daß das Imbasament des Vesti-
biils nirgends in Mitleidenschaft gezogen
wird und tiberall frei bleibt.“
Die flüchtige Skizze des vatikanischen Codex gestattet uns also, Michelangelos
Aussage von 1555 in zweifelsfreier Weise zu interpretieren und ihre zwei Fas-
sungen miteinander in Einklang zu bringen. Durch die Deutung des Ausdrucks
„rivolta“ im Sinne von „Treppenwange“ wird der Gegensatz „dal mezzo in su —
dal mezzo in giù“ insofern verständlich, als die Treppe oberhalb der halben Höhe
mit der Wand im Verbande steht, unterhalb derselben aber durch einen drei bzw.
vier palmi breiten Durchgang von ihr getrennt ist, und zugleich wird die Tatsache
erklärt, daß Michelangelo in bezug auf jene „rivolte“ die Ausdrticke ,,ritornare al
Abb. 4. Das Vorprojekt von 1555,
Grundriß (Rekonstrukt. auf Grund
der Vatikanischen Skizze).
Abb. 3. Das Vorprojekt von 1555, Aufriß
(Rekonstruktion auf Grund der Vatika-
nischen Skizze).
muro“ und „appiccarsi col muro“ gewissermaßen als Synonyma verwenden kann;
wenn die Treppenwangen sich in halber Höhe „nach rückwärts wenden“, so ist
das ohne weiteres gleichbedeutend damit, daß sie oberhalb dieser halben Höhe
mit der Mauer „verwachsen sind“. Eine Auszeichnung der Vatikanischen Skizze —
bei dem flüchtigen und in vieler Beziehung dem Ermessen des ausführenden Archi-
tekten Spielraum gewährenden Charakter der Zeichnung natürlich nur von approxi-
mativem Wert — mag das Projekt von 1555 noch etwas klarer veranschaulichen
(Abb. 3, 4).
П.
Wie verhält sich nun dies „Vorprojekt“ von 1555 zu dem ,,Definitiventwurf* von
1559? Das Ammanati übersandte Tonmodell, das, freilich ohne sich auf Einzel-
heiten einzulassen, die „invenzione“ endgültig festlegte, ist uns nicht mehr er-
halten; wohl aber das die Sendung begleitende Schreiben, das den Verlust des
Modells bis zu einem gewissen Grade auszugleichen vermag'): „Messer Bartolomeo.
(1) Mil. 550. Auch hier ist die Interpunktion stellenweise ebenso fehlerhaft, wie in dem (in dieser
Beziehung bereits von Frey berichtigten) Brief an Vasari.
267
Io vi scrissi com' io avevo fatto un modello piccolo di terra della scala della Li-
breria; ora ve lo mando in una scatola, e per esser cosa piccola non ho potuto
fare se non l'invenzione, ricordandomi che quello che gia vi ordinai, era isolato е
non s’appoggiava se non alla porta della Libreria. Sommi ingegniato tenere il
medesimo modo, e le scale, che mettono in mezzo la principale, non vorrei
ch’avessin nell’ estremita balaustri, come la principale, ma fra ogni due gradi un
sedere come è accennato. Dagli adornamenti, base, cimase a que’ zoccoli ed altre
cornicie non bisogna ch’io ve ne parli, perchè siete valente, e essendo nel luogo,
molto meglio vedrete il bisogno, che non fo io.“
Aus diesem Schreiben geht hervor, daß das Modell von 1559, soweit wir es
uns nach Michelangelos Angaben vorstellen können, von dem Entwurf des Jahres
1555 in einem ganz bestimmten Punkte abwich: während sich die Treppe damals
sowohl unterhalb als auch zu seiten der Eingangstür an die Rückwand des Ricetto
anlehnen sollte (denn die Breite der oberen Plattform, die die drei Läufe in sich
aufzunehmen hatte, mußte naturgemäß die Breite der Tür um mindestens das
Doppelte übertreffen, und das ganze Massiv sollte ja „dal mezzo in su“, d. h. von
der Schwelle bis etwa 1'/, m unterhalb derselben, mit der Mauer zusammen-
hängen), sagt Michelangelo nunmehr aus, daß er die Treppe als eine gänzlich iso-
lierte, und nur „an der Tür mit der Mauer verwachsene“ gestaltet wissen wolle.
Das ist bei einer dreiteiligen Anlage nur dann denkbar, wenn der die drei Läufe
aufnehmende breite Podest um einige Stufen herabgertickt und mit der Tür nur durch
ein schmales Zwischenstück verbunden wird — mit andern Worten, wenn die An-
lage sich wesentlich so gestaltet, wie wir sie in der Ausführung verwirklicht sehen.
Die gegenwärtige Anordnung stimmt also mit dem Plan von 1559 über-
ein, wie wir ihn aus dem Brief an Ammanati erschließen müssen (und zwar nicht
nur in bezug auf die Bestimmung, daß die Mitteltreppe durch Balustraden, die
Seitenläufe dagegen durch Quadern eingefaßt werden sollen, sondern auch in bezug
auf die architektonische Gesamtkonzeption) — und widerspricht insofern dem
Vorprojekt von 1555, wie es sich aus dem Brief an Vasari und mit noch
größerer Unzweideutigkeit aus der vatikanischen Zeichnung ergab.
Die einfachste und bei dem ganzen Sachverhalt natürlichste Erklärung dieses
Widerspruchs bestünde in der Annahme, daß Michelangelo selbst zwischen 1555
und 1559 seine Meinung geändert hätte, doch scheint dieser Annahme die Tatsache
entgegenzustehen, daß Michelangelo in seinem Brief an Ammanati ausdrücklich er-
klärt, „schon früher“ eine völlig isolierte, nur an der Türe mit der Wand zusammen-
hängende Treppe geplant zu haben. Allein wie, wenn dieses „già vi ordinai“ sich
gar nicht auf das Projekt von 1555, sondern auf eine viel weiter zurück-
liegende Planung bezöge?
Daß dies tatsächlich der Fall ist, geht unzweideutig aus einem schon von
Gaye veröffentlichten, aber anscheinend bisher nicht genügend beachteten Schreiben
hervor, das Ammanati am 18./2. 1559 an Herzog Cosimo gerichtet hat: „Ilustris-
simo et eccellentissimo Signor mio semper osservandissimo.
Di poi ch'io vidi che У. E. I. era risoluta di far fornire la scala del ricetto alla
libreria, e che Тореппіопе Sua era, che l’havesse a stare come quel modello
di mano di Michelagnolo Buonaruoti cho le mostrai — e tanto parve an-
cora a me, e secondo che Michelagnolo di poi mi ha scritto, era prima
così il suo pensiero — mi confidai tanto nella buona mente sua... ch'io
disegnai il luogo, e l’uno e l’altro modo di scala, scrivendogli e pre-
gandolo che m’avvisasse quale era il vero del uno de’ doi. Dilché non è
268
bastato alla bontà sua, mandarmi una lettera con i buoni avvertimenti, che V. E. I.
vederà, che ancora m'ha fatto un modello di sua mano, che dichiara tutta la sua
opinione, il quale е la quale [sc. lettera], hora con questa mia mando а У. E. I.,
pregandola, che fatta la risoluzione la sia contento luno e l'altra rimandarmi, che
subito ch'io haverò la commessione da Lei, con la maggior diligenzia e solecitu-
dine che per me si potrà, comminciarò a metterlo in opera, mostrando a Michel-
angelo che la credenza, ch'egli ha di me, per quanto mai potrò non sia falsa“ 1).
Aus diesem in der Form ein wenig ungewandten Schreiben vermögen wir die `
ganze Vorgeschichte des um die Wende des Jahres 1558 spielenden Schrift-
wechsels zu erkennen?): wir erfahren, daß schon vor der Einleitung dieses Schrift-
wechsels ein Originalmodell von Michelangelos Hand dem Herzog vorgelegen hatte,
daß aber dieses ältere Modell (das offenbar zu den „schizzi di terra“ gehörte, wie
sie laut Mitteilung Vasaris bei Michelangelos Abgang in Florenz zurückgeblieben
waren)), mit einem andern, ebenso authentischen Entwurf in Widerspruch stand:
beide, der Architekt wie der Herzog, hatten das ältere Modell als geeignet für die
Ausführung befunden, allein es gab noch eine andere Version (,I uno e l’altro modo
di scala“), die man nicht zu verwerfen wagte, ohne die eigene Ansicht des Meisters
gehört zu haben. Dieser hatte daraufhin die Alternative zugunsten des älteren
Modells entschieden, das seinen ursprünglichen Gedanken richtig wiedergebe (,,e se-
condo che Michelangelo di poi mi ha scritto, era prima cosi il suo pensiero“) und
überdies ein weiteres Modell gesandt („ancora m'ha fatto un modello“), das alle
Zweifel eln- für allemal behob. Durch diesen Satz: „secondo che Michelangelo di
poi (d. h. nach dem entscheidenden Gespräch des Ammanati mit dem Herzog)
mi ha scritto“ wird einwandfrei bewiesen, daß derjenige Plan, den Michelangelo
am 13./1. 1559 als den ursprünglich von ihm ins Auge gefaßten bezeichnet, und
auf den er mit dem Worte „già“ zurückverweist, nicht mit dem Vorprojekt von 1555
identisch ist, sondern in jenem älteren Modell fixiert worden war, das in der Be-
sprechung zwischen Ammanati und dem Herzog die Billigung beider Beteiligter
(1) Gaye Carteggio Ш, S. 11 ff. Die Interpunktion der Deutlichkeit wegen an einer Stelle verändert.
Es dürfte sich empfeblen, eine deutsche Übersetzung folgen zu lassen: „Nachdem ich gesehen hatte,
daß Ew. Durchlaucht entschlossen war, die Treppe im Vorraum der Bibliothek ausführen zu lassen,
und daß Ew. Durchlaucht Meinung dahin ging, sie müsse so werden, wie jenes Modell von Michel-
angelos Hand, das ich Derselben zeigte — und dieser Meinung war auch ich, und nach dem, was
Michelangelo mir seither [d. h. zwischen der Rücksprache mit dem Herzog und dem gegenwärtigen
Schreiben] geschrieben hat, ging seine Absicht ursprünglich in diese Richtung — zeichnete ich, im
Vertrauen auf seinen guten Willen, die Örtlichkeit, sowie die eine und die andere Möglichkeit der
Treppenausführung, und schrieb ihm mit der Bitte, mich wissen zu lassen, welche von beiden die
richtige sei. Daraufhin begnügte er sich in seiner Freundlichkeit nicht damit, mir einen Brief mit den
trefflichen Anweisungen zu schreiben, den Ew. Durchlaucht sehen wird, sondern er hat mir mit eigener
Hand noch ein Modell gemacht, das seine ganze Planung klarstellt; dieses und jenen [d. b. Modell
und Brief] übersende ich Ew. Durchlaucht mit gegenwärtigem Schreiben, und bitte Dieselbe, mir nach
Beschlußfassung gütigst beides zurückzusenden; denn sobald ich Ew. Durchiaucht Auftrag erhalten
habe, werde ich mit der größten Sorgfalt und Achtsamkeit, die mir zu Gebote steht, das Modell zur
Ausführung bringen, um Michelangelo zu beweisen, daß sein Vertrauen zu mir, soweit es irgend in
meinen Kräften steht, nicht ungegründet sei.“
(2) Die Anfrage Ammanatis ist, wenn überhaupt erhalten, bisher nicht veröffentlicht; sie muß noch
ins Jahr 1558 fallen, da Michelangelo in seinem vom 16./ 1a. dieses Jahres datierten Schreiben an
Lionardo (Mil. 344) darauf Bezug nimmt.
(3) Vasari VII, 236: „e quantunque vi fussero segni in terra in un mattonato ed altri schizzi di
terra, la propria ed ultima risolutione non se ne trovava.“
269
gefunden hatte und das, wie ohne weiteres vermutet werden darf, noch aus der
Florentiner Zeit des Meisters stammte.
Dies ältere Modell, und nicht der Brief von 1555, deutete also auf eine „von
allen Seiten isolierte, nur an der Türe mit der Wand zusammenhängende“ Treppen-
anlage hin, und damit ist klargestellt, worin der Widerspruch zwischen den beiden
„modi di scala“ bestand: wenn, wie wir nunmehr wissen, ein durchaus authen-
tisches, von jeher in Florenz befindliches Modell das Treppenproblem im Sinne
der völligen Isolation löste — dann mußte gerade der Brief von 1555, der einen
„dal mezzo in su“ mit der Mauer verbundenen Treppenbau vorsah, die
Florentiner in große Verlegenheit stürzen. Was war die wahre Meinung Michel-
angelos, die bis auf einen kleinen Türpodest vollkommen von der Mauer abgelöste
Treppe, wie sie das ältere Modell erkennen ließ — oder die „dal mezzo in sü“,
an die Rückwand sich anlehnende Treppe mit breiter Oberplattform, wie das
Projekt von 1555 sie vorsah? Das dürfte die Frage gewesen sein, die Ammanatis
Brief dem Meister vorzulegen hatte, und die wir aus dem Wortlaut seiner Antwort
(„ricordandomi, che quello, che gia vi ordinai, era tutto isolato е non s’appoggiava
al muro se non a la porta“) noch deutlich heraushören können. Daß Michel-
angelo durchaus im Rechte war, wenn er die „gänzlich isolierte“ Anlage als seiner
ursprünglichen Absicht entsprechend bezeichnete, zeigt uns ein Blick auf das
das Blatt Fr. 164/165 (besonders deutlich Fr. 164d und f) ), das mehrere Skizzen
der 20er Jahre in sich vereinigt: bei aller Abweichung im einzelnen stimmen sie
:doch alle darin überein, daß die Läufe der zwei- oder dreiteiligen Anlage oben in
einem kleinen, nur gerade der Eingangsweite entsprechenden Podium zusammen-
gefaßt werden — daß, anders ausgedrückt, der ganze Bau tatsächlich nur an der
Tür mit der Mauer zusammenhängt. Wir dürfen also sagen, daß Michelangelos
Brief vom 13./1. 1559, weit entfernt, eine Deutung des Briefes vom 26./9. 1555
zu geben, vielmehr eine Desavouierung desselben darstellt: die endgültige Kon-
zeption, wie Michelangelo sie 1559 festgelegt hat, greift gleichsam über das Projekt
von 1555 hinweg auf die Entwürfe der 20er Jahre zurück, als deren konsequente
Weiterbildung sie sich darstellt. Die die drei Läufe aufnehmende Plattform rückt
nur noch um einige Stufen tiefer herab, so daß der kleine horizontale Türpodest
zu einem in fünf Stufen aufsteigenden Verbindungssteg wird, und die Berührungs-
fläche zwischen Wand und Treppe eine noch weitergehende Reduktion erfährt.
Demgegenüber hatte das Projekt von 1555, das jenen breiten oberen „Riposo“ vor-
sah und das Massiv der Treppe zur Hälfte mit der Wand verbinden wollte, ge-
wissermaßen einen Schritt vom Wege bedeutet — wie ja auch Michelangelo selbst
ganz deutlich empfunden hat, daß es seiner ursprünglichen Absicht nicht völlig ent-
spreche. „Ma non credo che sia appunto quello, che io pensai all’ hora.“ Wie es
zu dieser Abweichung von dem in früheren Jahren verfolgten Gedanken gekommen
ist, vermögen wir nur vermutungsweise anzugeben: auf der einen Seite strebt
Michelangelo in seiner späten Zeit ganz allgemein die einheitlich - geschlossene
Wirkung an, wie sie naturgemäß da, wo die ganze Treppe als eine einzige pla-
stische Masse zusammengehalten ist, in höherem Grade erreicht werden konnte
als da, wo sie in einen mächtigen Unterbau und ein demselben unvermittelt gegen-
(1) Es ist irreführend, wenn Thode (a. a. O. IL, S. 129) mit Bezug auf die Zeichnung 164f. von
einem „breiten“ Podest vor der Türe spricht. Die Anlage ist vielmehr, wie aus der zugehörigen
zeichnung 165k mit Sicherheit hervorgeht, in der Weise gedacht, daß der Podest nicht breiter ist
als die Eingangstür, und — von einer tiefer gelegenen Plattform aus — auf seitlichen Stufen er-
stiegen werden muß, ganz ähnlich wie in Fr. 165g und h,
270
übertretendes schmales Oberstück auseinander fällt — auf der andern Seite mag
er (ein gerade in dem Schreiben an Vasari besonders betonter Gesichtspunkt) auf
eine wirklich konsequente Scheidung zwischen dem „Signore“ und den „Servi“
Wert gelegt haben, die bei der gegenwärtigen Anordnung zunächst auf die Seiten-
treppen verwiesen werden, zuguterletzt aber dennoch die „scala principale“ be-
nutzen müssen). Um so deutlicher liegen die Gründe zutage, die bald danach
zur Aufgabe des Vorprojekts von 1555 führten. Der an Vasari gerichtete Brief
verrät die ängstlichste Sorge um die Erhaltung des „Imbasamentes“, das durch
den Treppenbau an keiner Stelle beansprucht werden sollte, damit die Gliederung
der Wände völlig unversehrt erhalten bleibe; allein Michelangelo war damals mehr
als zwanzig Jahre von Florenz entfernt, seine älteren Entwürfe und Skizzen waren
ihm ebensowenig zur Hand, wie eine zeichnerische Aufnahme des fertigen Raumes,
und er hebt selbst ausdrücklich hervor, daß er sich seiner Pläne nur noch dunkel,
„wie im Traum“, entsinnen könne. Da ist es keineswegs verwunderlich, wenn
ihm ein Umstand nicht mehr gegenwärtig war, der, wenn er ihm noch klar ge-
wesen wire, ihn sicherlich schon damals zu einer andersartigen Lösung gedrängt
haben würde: der Umstand nämlich, daß die projektierte breite Oberplatt-
form die Doppelkonsolen unter den die Türe flankierenden Säulen-
paaren hätte verdecken müssen. Er glaubte, das „Imbasamento“ genügend
geschont zu haben, wenn er den eigentlichen Wandsockel und den unmittelbar
anschließenden Mauerstreifen freiließ, und erst der Brief Ammanatis, der ihm nicht
nur seine eigenen früheren Entwürfe (den „altro modo di scala“) ins Gedächtnis
zurückrief, sondern auch, wie in dem Schreiben an den Herzog ausdrücklich be-
tont wird, von einem „disegno del luogo“ begleitet war, erinnerte ihn daran,
daß er ursprünglich eine „gänzlich isolierte“ Treppe vorgesehen hatte, und belehrte
ihn über die Tatsache, daß eine dem Projekt von 1555 entsprechende Anordnung in
jener Hinsicht mit der von ihm selbst geschaffenen Gliederung der Rückwand
kollidieren würde. Sobald ihm dieser Konflikt zwischen Treppenpodest und Säulen-
konsolen zum Bewußtsein gekommen war, zögerte er nicht, ihn zugunsten der
letzteren zu entscheiden, d. h. — die Gedanken der zwanziger Jahre wieder auf-
nehmend und gleichsam zu Ende denkend — das Vorprojekt im Sinne der heutigen
Anlage zu modifizieren.
ш.
Wir werden also davon absehen müssen, den ausführenden Architekten für die
endgültige Gestaltung der Treppenanlage verantwortlich zu machen. Ist es schon
an und für sich durchaus unwahrscheinlich, daß Ammanati mutwillig von dem
Modell des großen Meisters abgewichen sein sollte — von jenem Modell, das er,
nach Aufwendung von vieler Güte und Geduld), mit ehrfurchtsvoller Begeisterung
(1) Dieses dynastische Motiv scheint überhaupt erst allmählich zur Geltung zu kommen und erst
verhältnismäßig spät zu ausschlaggebender Bedeutung zu gelangen: die frühesten Entwürfe sehen ent-
weder eine einläufige Anlage vor, die unterschiedslos von allen Besuchern benutzt werden mußte, oder
sogar eine zweiläufige, die selbst dem „Signore“ den Weg über eine der Seitentreppen zugemutet
hätte (vgl. Fr. 165 g und b). Es darf in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß die
monarchische Staatsform erst im Jahre 1537 in Florenz legalisiert wurde.
(а) Vgl. das Schreiben des Francesco di Ser Jacopo an den Herzog: „Bartolommeo Ammanati con la
sua patienza е bontà a fatto tanto, chegli ha avuto da Michelagnolo Buonaroti un modello della
schala . . (Gaye, Carteggio Ш, S. 1a).
271
in Empfang genommen hatte), und das er nun mit aller Achtsamkeit ins Große
übertragen wollte, um nicht etwa des Herzogs, sondern Michelangelos Zufrieden-
heit zu erwerben?) —, so haben wir außerdem feststellen müssen, daß Michel-
angelos Brief von 1555 — das einzige Beweisstück, das gegen seine Autorschaft
an der heutigen Treppe zu zeugen schien — bei der Beurteilung der Frage ganz
auszuschalten hat, während umgekehrt gerade das, was an der jetzigen Anlage be-
anstandet wurde (das „Mißverhältnis“ zwischen Ober- und Unterteil, den man
geradezu mit einem auf den Schultern eines Riesen hockenden Zwerge verglichen
hat), nicht nur durch Michelangelos Schreiben von 1559 beglaubigt erscheint,
sondern auch durch frlihere authentische Entwürfe vorbereitet wird, und in Michel-
angelos immer wieder zum Ausdruck gebrachter Sorge um die Erhaltung der Wand-
architektur seine Begründung findet. Diese Sorge, die selbst die tatsächlich un-
sichtbaren, weil durch die Treppe verdeckten Teile des Imbasaments unangetastet
wissen will?), ist nun für Michelangelos Kunstauffassung in höchstem Grade cha-
rakteristisch: es lebt darin etwas von jener gleichsam totemistischen Empfindung
des Steinbildhauers, dem jeder gemeißelte Block so heilig ist, daß seine Zerstörung
oder Verletzung gewissermaßen als persönlicher Schmerz gefühlt wird (wie be-
zeichnend ist z. B. die Empörung, mit der der gegen Malereien so riicksichtslose
Michelangelo die zertrümmerten Monolithsäulen von Alt-St.-Peter beklagt, die
Bramante leichtfertig habe zugrunde gehen lassen, obgleich es so schwer sei, solch
eine Säule aus dem Stein zu hauen, anstatt in simpler Maurerarbeit „Ziegel auf
Ziegel zu setzen!“) — und es äußert sich darin zugleich das eigentümliche Ver-
hältnis Michelangelos zur Baukunst als solcher. Er, der gelegentlich die Architektur
als eine „Art von Reliefkunst“ (nicht einmal als eine Art von Skulptur!) bezeichnet
hat), empfindet letzten Endes die Wirkung der plastisch profilierten Wand als
wesentlicher, denn die Wirkung des architektonisch gestalteten Raumes“), er opfert
(1) Ammanatis Dankschreiben ist abgedruckt bei Karl Frey, Sammi. ausgew. Briefe an Michelagniolo
Buonarroti, 1899, S. 359. |
(2) „Mostrando a Michelangelo che la credenza, ch’ egli ha di me, per quanto mai potrö non sia
falsa."
(3) Es ist gewissermaßen tragisch, da8 die von Michelangelo so sorgsam gehütete Gliederung der
Rückwand endgültig doch der Zerstörung anheimgefallen ist: in die Wandfüllungen unterhalb der
Fenster sind große Löcher eingeschlagen worden (vor kurzem mit Zement notdürftig repariert), und
auch die Profile zu seiten der Säulenkonsolen, ja selbst der profilierte Wandsockel, sind großenteils
vernichtet, Ob man eine Zeitlang — worauf die stufenförmigen Einschläge in dem verbliebenen
‚Stück des Wandsockels schließen lassen könnten — an eine von unten an mit der Wand ver-
bundene, symmetrisch an ihr emporführende Treppe gedacht hat? Daß Michelangelo selbst für diese
Eingriffe nicht verantwortlich ist, bedarf nach dem oben Ausgeführten keiner Erörterung — aber es
gab immerhin ganz frühe Entwürfe von seiner Hand, die einen mit der weiteren Entwicklung nicht
vertrauten Baumeister in jene Richtung hätten weisen können (vgl. z. B. die in mehreren Kopien
überlieferte Zeichnung, die Geymüller auf S. 47 unter Nr. 37 abgebildet hat).
(4) Condivi ed. Karl Frey (Le vite di Michelagniolo Buonarroti, scritte da Giorgio Vasari е da Ascanio
Condivi, 1887), 8. 11a.
(5) Vgl. Panofsky, Bemerkungen zu Dagobert Freys Michelangelostudien, Archiv f. Gesch. und Ästh,
d. Architektur II, 1921, S. 39.
(6) Wie merkwürdig ist es z. B. schon, wenn ein Architekt bei der Gestaltung eines Raumes, der
doch im wesentlichen zur Aufnahme einer Treppe bestimmt war, bei seiner Konzeption auf diese
Treppe gar keine Rücksicht nimmt (auch die Decke des Ricetto negiert den durch die Treppe über-
wundenen und betonten Niveau-Unterschied, indem sie mit der des Hauptsaals in gleicher Höhe liegt),
ja nicht einmal die Form derselben festlegt, sondern sein ganzes Interesse auf die Organisation der
272
die imposante Erscheinung eines trotz seiner Dreiteilung kompakten Treppenmassivs,
um die Integrität der reliefmäßig durchgearbeiteten Wandgliederung zu sichern.
Im einzelnen mag Ammanati von der ihm ausdrücklich erteilten Vollmacht
zu freier Ausgestaltung des Details in weitem Umfang Gebrauch gemacht haben;
wir würden ihm z. B. die Profilierung der Mittelstufen zuschreiben, deren merk-
würdiger Doppelschwung zu der Geradlinigkeit der Seitenstufen in einen weniger
harten und eben deshalb minder michelangelesken Gegensatz tritt, als eine reine
Ovalform, sowie — vielleicht — die Anordnung des oberhalb der zweiten Stufe
eingeschobenen Zwischenpodestes, der offenbar den Kontrast zwischen der Größe
des Unterbaues und der Kleinheit des „Verbindungssteges“ durch rhythmisierende
Teilung des ersteren zu mildern versucht: im ganzen aber dürften wir die Lau-
renzianatreppe auch in ihrer heutigen Gestalt als ein authentisches Werk Michel-
angelos zu betrachten haben.
In der Tat ist ja das wesentlichste und eigenartigste Kompositionsmotiv durch
die Planänderung des Jahres 1558/59 in keiner Weise berührt worden: das Motiv
einer bis zum Konflikt gesteigerten Spannung zwischen den Seitenflügeln und dem
Mittelianf, die zugleich eine Spannung zwischen der Geraden und der Kurve, der
Ebene und der konvexen Wölbung ist. Wir können die Genesis dieses Gedankens
schon in den Zeichnungen der 20er Jahre verfolgen: Michelangelo schwankte zu
Anfang zwischen einer einfachen Ovaltreppe ohne Seitenflügel!) und einer gerad-
linig geführten Doppeltreppe ohne Mittellauf). Allein schon früh begegnet ein
Versuch, die beiden Motive miteinander zu verbinden: die Zeichnung Frey 165k
skizziert eine Anlage, die eine kurvige Mitteltreppe mit geradlinigen Seitenläufen
vereinigt zeigt (wobei der Meister ursprünglich an eine konkave Gestaltung des
Mittelteils dachte, späterhin aber einer konvexen den Vorzug gab?) Erst da-
vier Wände konzentriert! Auch daß sich Michelangelo die Treppe noch im Jahre 1559, gleich einem
versetzbaren Möbelstück, in hölzerner Ausführung vorstellen kann (Brief an Ammanati, Mil. 550),
beweist, wie wenig er sie im Sinne einer architektonischen Gesamtkonzeption mit den Wänden zu-
sammengedacht hat. Mit Recht hat Frankl (a, a. O., S. 90), die Libreriatreppe „wie nachträglich in
den Raum hineingestellt“ empfunden, und bei H. Rose (Spätbarock 1920, S. 188) heißt es geradezu:
„Michelangelo überträgt das Prinzip der Freitreppe auf den Innenraum.“
(1) Hierher gehört, neben der bereits erwähnten Zeichnung, Geymüller, Figur 37, das Blatt Mar-
cuard XII. Auf dem Haarlemer Blatt befindet sich übrigens ein Entwurf noch primitiverer Art: eine
einfache einldufige Treppe, die von der Tür in gerader Richtung nach unten führt.
(а) Frey, 165 g und h.
(3) Vgl. auch Frey, 1641. Zwischen dieser Lösung und der in Frey, 165g und h festgelegten dürfte
der Entwurf Frey 164d stehen, der schon die dreigeteilte Anlage zeigt, aber auch für den Mittellauf
noch geradlinige Stufen vorsieht. — Der Übergang von der Konkav- zur Konvezanlage läßt sich
gerade an der Zeichnung Fr. 165 К deutlich verfolgen: es handelte sich hier nämlich ursprünglich
um eine Anordnung mit konkavem Mittellauf (vgl. den zugehörigen Grundriß Fr. 164 f.), die erst
nachträglich durch Einzeichnung der konvexen Stufen abgeändert wurde — wobei es dahingestellt
bleiben mag, ob Michelangelo ursprünglich daran dachte, diese konkaven Stufen (im Sinne der
Bramantetreppe des Giardino della Pigna) mit den konvexen zu kombinieren, oder ob er von vorn-
herein die Ersetzung — und nicht bloß die Ergänzung — der konkaven Treppe durch die konveze
ins Auge gefaßt hat. Selbst wenn das erstere der Fall gewesen sein sollte, so hätte dieser Plan doch
jedenfalls bald aufgegeben werden müssen, denn Michelangelo wäre rasch zu der Einsicht gelangt,
daß eine Kombination konvexer und konkaver Stufen, die nur unter der Bedingung zustandekommen
kann, daß der konkave Teil sich trichterförmig nach oben erweitert), an diesem Orte weder praktisch
noch ästhetisch möglich war, und daß es sich daher nicht um ein Sowohl-Als-Auch, sondern nur
` um ein Entweder-Oder handeln konnte. Zu vergleichen ist auch die Skizze Fr. 273e, von der es
273
mit hat Michelangelo den Weg zu einer seinem Kunstwollen vollkommen ent-
sprechenden Lösung gefunden: während er früher — freilich von vornherein das
Oval an Stelle des reinen Rundes erwählend — die Bewegung der kurvigen
Stufen nach allen Seiten sich ausdehnen ließ, setzt er ihr jetzt gewissermaßen zwei
Dämme, von denen eingepreßt, sie nur in einer einzigen Richtung sich auswirken
kann. Der Druck der nunmehr mit verdoppeiter Kraft nach vorne flutenden Masse
vermag die Seitenflügel wohl etwas auseinander zu treiben — aber ihre seitliche
Ausdehnung bleibt ebenso eingedämmt, wie ihre Vorwärtsbewegung dadurch auf-
gehalten wird, daß die konvex hervorgewölbten Stufen der Mitteltreppe mit den
in der Ebene fixierten Stufen der Nebenläufe zu einer Einheit verbunden sind.
Wie die Bewegung der michelangelesken Plastiken gegen die Starrheit der Block-
ebenen ankämpft, ohne sie überwinden zu können, so scheint in dieser Treppen-
anlage die Dynamik der „Scala aovata“ zugleich gebändigt und gesteigert zu werden
durch die einengende und zurückhaltende Statik der geradlinigen Seitentreppen:
die klassische Renaissance, repräsentiert durch die in reiner, klar begrenzter Run-
dung sich entfaltende Bramantetreppe im Giardino della Pigna, will „Form“ und
„Freiheit“ miteinander versöhnen — der Barock (vgl. die wie eine „zähflüssige
Masse“ sich langsam herniederwälzenden Stufen des Petersplatzes’) gibt unter
Umständen die Form der Freiheit zuliebe preis — das Kunstwerk Michelangelos
zeigt Form und Freiheit in einem unaustragbaren Gegensatz.
aber nicht sicher ist, ob sie noch den 20er Jahren angehört (vgl. Freys Text). Es wire möglich,
daß diese Skizze, deren Beziehung auf die Libreria uns unzweifelhaft erscheint, aus einer Zeit stammt,
als der Meister sich unter dem Eindruck florentinischer Anfragen seine alten Projekte ins Gedächtnis
zurückzurufen versuchte. Für diese Annahme könnte die Tatsache sprechen, daß einige auf dem
gleichen Blatte befindliche Skizzen sich auf den Ausbau des Palazzo Farnese zu beziehen scheinen,
und daß die in Fr. 2736 angedeutete Lösung der in der vatikanischen Zeichnung von 1555 gegebenen
bereits verhältnismäßig nahekommt.
(1) Wölfflin, Renaissance und Barock, 3. Aufl. 1908, S. 29.
274
DURERS „MARTER DER 10000 RITTER“
Von WILHELM JUNIUS-Dresden
[е den frühen Holzschnitten Dürers gibt es eine „Marter der тоооо Christen“,
von dem wir annehmen, daß er Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen
vor Augen gekommen sein muß. Etwa 1507 erteilt der Kurfürst Dürer den Auftrag,
dies graphische Blatt als Vorlage für ein Gemälde zu benutzen, wohl zum Schmucke
der Wittenberger Allerheiligenkirche bestimmt. Dürer hat, vermutlich durch die
mantegneske Behandlung ähnlicher Themen in Padua (etwa das Motiv des mit
dem Holzhammer erschlagenen Heiligen) beeinflußt, und, wie Wölfflin nach-
gewiesen hat, angeregt durch eine perspektivische Zeichnung aus dem Musterbuch
des Jean Pélerin (alias Jean Viator oder Johannes Pilgram), die Komposition figural
wesentlich bereichert. So sehen wir auf knapp ıoo cm im Geviert die Leinwand
bedeckt mit der Darstellung eines schrecklichen Massenmartyriums, dessen grausige
Einzelheiten Dürer mit der Freude an der Möglichkeit, eine Fülle von Aktstudien
oder Bewegungsmotiven unterzubringen, und in dichter figuraler Belebung weit
drastischer und anschaulicher als auf dem Holzschnitt schildert. Nicht ohne Stolz
ob der Bewältigung des krassen Stoffes und der kompositionellen oder zeichne-
rischen Schwierigkeiten stellt er sich und Freund Willibald Pirkheimer in den
Brennpunkt des scheußlichen Gemetzels, vielleicht auch nicht ganz ohne satirische
Nebenabsicht, gleichsam in alter Bänkelsängerweise die „schauerliche Moritat“ vor-
tragend und mit der auf einen Stab gespießten Papierfahne, die die selbstbewußte
Inschrift trägt: „Iste faciebat anno domini 1508 Albertus Durer Alemanus“, seine
Autorschaft bezeugend. Und wüßten wir’s nicht aus dem Selbstbildnis, so würde
uns ein Brief Dürers vom ıg. März 1508, an Jakob Heller gerichtet, darüber be-
lehren, wie viel der Meister in monatelangem fleißigen Kläubeln. und höchster
technischer Sorgfalt in das Bild hineingemalt hatte: „Ich wollte, daß ihr meines
gnädigen Herren Herzog Friedrichs Arbeit sähet! Ich bin der Meinung, sie würde
euch wohlgefallen!“
Allerdings mit dem geforderten Ehrensold von 280 rheinischen Gulden, die sein
Wittenberger Gönner ihm ausgelobt hatte, scheint sich Dürer nicht angemessen
entschädigt gesehen zu haben, denn „in dem Bilde stecke die Arbeit eines Jahres,
und verdient habe er nichts dabei, da er von den 280 Gulden gerade den Lebens-
unterhalt für dieses Jahr hätte bestreiten können.“ „Es verzehrts einen schier
dabei.“ Aber wir wissen, daß Dürer mit solchen Äußerungen den immer klagen-
den Landwirten gleicht, denn bald nachher kann er sich Haus und Garten kaufen.
Eins ist gewiß: Dem Besteller hat das Bild Freude gemacht, und ihm wie seinen
Nachfolgern war es ein kostbarer Besitz, der später nach einer merkwürdigen
Odyssee den Wiener kaiserlichen Kunstsammlungen einverleibt wurde. Überaus
interessant ist die Vorgeschichte der Erwerbung dieses Dürer-Werkes für Wien,
die ich mit nachfolgender Veröffentlichung von neuen Urkundenfunden in ein
helleres Licht setzen zu können glaube.
Waagen hatte ohne Begründung behauptet, das Bild sei als Geschenk des Kur-
fürsten August, oder, wie das „Handbuch der deutschen Malerschulen“ besagte,
als Geschenk des Kurfürsten Christian II. von Sachsen in die Sammlung Kaiser
Rudolf IL gekommen. Erst v. Eye hatte in seinem Buche: „Leben und Wirken
Albrecht Dürers“ der Vermutung Ausdruck gegeben, das für Kurfürst Friedrich Ш.
275
zwischen 1507—1508 gemalte Bild sei aus der Allerheiligenkirche zu Wittenberg
auf Verlangen des Kurfürsten Johann Friedrich des GroBmiitigen nach Brüssel ge-
schickt worden. Diese Vermutung trifft annähernd das Richtige, wie ich es durch
einige Urkundenfunde im Weimarer Archiv belegen kann.
Aus Augsburg schreibt am Montag nach Johannes Baptista 1548 der seit dem
24. April 1547 vom Kaiser gefangen gehaltene Kurfürst Johann Friedrich d. Ä. an
seine Söhne!):
„Freuntliche liebe sone, nachdem Lucas maler noch allerlei gemelde, so uns
zustendig, bei sich hat, auch das Tuch, so wir zu Lichtenberg uffn sahl haben
mahlen lassen‘), wider abgenohmen und zu sich genohmen, und wir besorgen, do
es die Leng anstehend blieb, das sie nicht gefordert, das sie hinweg komen und
verlohren werden mochten. So begeren wir freuntlich, E. L. wollen beschaffen
lassen, das sie von im gefordert und jegen Weymar bracht und aufgehoben werden.
In sonderheit aber ist eine Tafel vorhanden, daruff die zehntausent ritter
gemahlet, dieselb wollen E. L. fordern und dem Renthmeister befehlen lassen,
das er sie in itzigem Leiptzischen Mark(t) mit vleis einmache, domit sie nicht
schaden nehme und sie der Schetzen oder Herbrots Factor zustelle, domit sie mit
den gütern gegen Franckfurt und dodannen nach Antorff?) gebracht und uns
überschickt, dan wir seindt willens dieselb zu verschencken.“
In Erledigung des väterlichen Auftrages schreiben nun des Kurfürsten Söhne,
Johann Friedrich der Mittlere und Johann Wilhelm an „Lucas Mahlern zu Wittem-
berg“ (Cranach d. A.) am 26. Dezember 1548‘):
„Liber getreuer. Wir geben Euch zu erkennen, das uns der hochgeborne Fürst,
her Johans Friedrich der elter, Herzog zu Sachsen etc., unser gnediger liber Herr
und Vatter itzo von Brüssel aus geschrieben und uns Euch anzuzeigen be-
volhen, nachdem Ir allerley Gemelde, auch das Tuch, so zu Lichtenberk auf dem
Sahl gestanden, bei Euch hettet, welchs alles iren gnaden gehorig, das Ir das-
selbe alles mit vleis einmachen, in itzigen Neuenjarßmarkt gegen Leipzik schicken
und den unsern in Marcus Buchners Haus überanthworten sollet. Und dieweil Ir
auch darüber eine schone Taffel, darauff dy zehentausen(t) Ritter ge-
mahlt, in Eurer Verwarung hettet, so sollet Ir dieselbe Taffel in Sonderheit und
mit allem Vleiß alain auch einmachen, dasselbe mit einem großen A“) auswendig
zeichnen und den Unsern, wy berurt, zu Leipzik in Buchners Haus neben dem
andern auch überantworten lassen. Demnach begeren wir, Ir wollet Euch des-
selben auff unsern Kosten also halten und in sonderheit obgemelte Taffel, darauf
die zehentausent Ritter gemahlt sonder und alein dermaßen einmachen, do sie
gleich einen weitern Wege dan das andere Gemaehl gefürt werden solte, das sie
davon deßgleichen von Regen und Unwetter keinen Schaden nehme. So haben
wir auch den Unsern so zu Leipzik in Buchners Haus sein werden, bevolhen, das-
selbe von Euch oder den Euern anzunehmen und sich damit weiter unsers gnedigen
liben hern Vatters Befehl zu halten. Doran tut ir Irer Gnaden und unser gefällige
Meinung.
Datum. Weimar am tag Steffani anno 1548.“
(x) S. Ernest, Gesamt-Archiv — Weimar. Reg. L. pag. 183—197. B. 7, Nr. 5, Beizettel.
(2) Vgl. Beilage Nr. 6 zu Reg. L., fol. 231, Nr. 1.
(3) Antwerpen.
(4) L. fol. 231, C. 1. (2. Schreiben Beilage 6), Concept.
(s) Wohl als Signatur für den Bestimmungsort Antwerpen, nicht aber auf Albrecht (Dürer) bezüglich
zu denken,
276
Diesem Briefe der Herzöge an Lukas Cranach ist noch eine Nachschrift bei-
gefügt: Cedula’).
„Wir begeren auch, Ir wollet uns durch euer Widerschreiben bei disem Boten
unterschidlich vermelden oder eine Vorzeichnis zuschicken, wie vihl und was vor
Stuk Ir gegen Leipzik schicken werdet, auf das davon nichts verlohren und wir
es alhir wiederumb also empfahen mogen.
actum ut supra.“
Ebenda befindet sich das Konzept eines Briefes vom ı. Januar 1549, den die
Söhne des gefangenen Kurfürsten „an Jacob Herbroths von Augsburg Factor zu
Leipzig“ gerichtet:
„Lieber besonder. Uns hat der hochgeborne Fürst, Herr Joh. Frid. Herzog zu
Sachsen etc... . .. itzo von Brüssel aus geschrieben, das wir iren Genaden ein
schön kunstreich Gemehl oder Taffel durch Dich mit Deines Herrn Güttern
pis gegen Antorff und dodannen fürder gegen Brüssel zuschicken sollen. Die
weren ire Gnaden fürder zu verschenken bedacht. Demselben nach begeren
Wir gnediglich, Du wollest dieselbe Taffel von unsern Geschickten itzo zu Leipzik
ahnnehmen, diselbe neben Deines Hern Giittern gegen Anthorff und dodannen
furder nach Brussel vorschaffen und unserm gnedigen liben Hern Vettern daselbst
überanthworten lassen, was dieselbe mit Furlohn gistet (kostet), das werden ire
Gnaden auf Deinen Bericht lassen bezalen und Vleis haben, damit derselben Taffel
unterwegen mit Zurprechen vom Wetter oder sonsten vorsetzlich kein Schaden
zugefügt werde.
Datum Weimar am Neuenjahrstag anno 49.
Mutatis mutandis ahn den Schetzischen Factor.“
Am Sonnabend nach Erhardi (12. Januar) 1549 schreiben die Söhne an den
Kurfürsten °):
„Wir haben auch auff E. G. Bevehl Lucas Mahlern alspaldt geschrieben, das
er alles E. G. Gemehl mit Vleis einmachen und das Teflichen mit den Xtau-
send Rittern alein sonderlich und wohl verwarn und das alles auf unsern Kosten
in dem vergangenen neuen Jahrsmarkt gegen Leipzik schicken und den Unsern
daselbst zustellen solte, wie sich dann Herbrots Factor E. G. berurts taffelein zu-
geschicken erboten; Dorauff auch Meister Lucas uns beigelegte anthwort gegeben,
aber ungeacht derselbe seiner anthwort hat er gar nichts gegen Leipzik geschickt,
wie dan die unsern pis zu Ende des Markts darauff gewartet, wie es aber zugen
muß und was den Mahn doran verhindert hat, das konnen wir nit wissen, wir
wollen uns aber darumb furderlich erkunden und E. G. davon weitern Bericht
thun.“
Am 8. Februar 1549 erfahren wir aus einem Schreiben des Kurfürsten bzw. durch
ein beigelegtes Verzeichnis?), welche Gemälde seinerzeit Lukas Cranach während
der unruhigen Zeitläufte des schmalkaldischen Krieges in sichern Verwahr ge-
nommen hatte:
„Nachdeme wir auch bishere von Euern Libden nit bericht worden, ob unser
Conterfeit, davon wir E. L. jüngst geschrieben, zu Weimar ankomen und unsern
Befehlich nach angeschlagen worden sey. So wollen E. L. uns davon bericht
thun. Und dieweil Lucas Maler die Tafeln mit den Zehentausent Rittern
(x) Reg. L. fol. 231. С. т.
(2) Reg. L. pag. 231, C. x (2. Schreiben, Beilage 6).
(3) L. fol. 231, С. т.
277
E. L. zugeschickt, die E. L. durch Hieronymus Widman zu Erffurt nach Antorff
besteltt, uns durch Ir Schreiben zu erkennen geben, bei weme wir solche Tafeln
zu Antorff fordern lassen sollen.
So vorstehen wir auch, das Meister Lucas darneben noch zwei gemalte Tucher
uberschickt. So wollen E. L. mit dem einen, doruff die Hasenjagt ist, die Ver-
ordnung thun, das es uff dem neuen Jhagthaus zu Wolffersdorff, wan das baufertig,
angeschlagen werde. Und wan das andere Tuch in unser Stuben, dorin E. L. nun
furtan mit unser Gemahel!) essen sollen, nitt konnte aufgeschlagen werden, Platzes
halber, dasselbige zu Wolffersdorf in Gleichnus aufschlagen lassen und mit dem
Baumeister die Verfügung thun, daß mit dem bewilligten Nachschuß des Baugeldes
der Bau daselbst zu Wolfersdorf volgend gefertiget werde, das er uffn Sommer?)
gewisslich fertig sei.
Datum ut supra.“
Es liegt diesem Briefe bei ein „Vorzeichnis der Taffeln und gemalter Tücher,
welche Lucas Mahler (Cranach) von Wittenbergh anher geschikt“)
т. ein taffel, darauff dy zehen Tausent Ritter gemahlt, „das Kunststüke“ ge-
nant.
2. ein groß gemahlt tuch, dorauff mein genedister elter her‘) und etzliche seiner
gnaden rethe conterfedt sein, welchs zu Lichtenberk gewest.
3. ein tuch, do die Hasen dy Jeger fahen und brathen.
4. ein tuch Sodoma und Gomorra.
5. ein tuch, do Cristus Jungern auß dem Weingarten gejagt werden.
In einem Briefe vom то. Februar 1549°) erfahren wir, daß Dürers im Gewahr-
sam Lukas Cranachs zu Wittenberg befindliche „Marter der 10000“ nach Weimar,
und durch Vermittelung des Botenfuhrmanns Hieronymus Wydman in Erfurt nach
Antwerpen in die Fuggersche Agentur befördert werden soll.
„Hieronymus Wydman an die Herzöge Johann Friedrich und Johann
Wilhelm
.. . E. F. G. Schreiben, eins Theffleins halben, dar auff ein Kunststück ge-
malt sein soll und das E. F. G. gnediger lieber Herr und Vather, mein gnedigister
Herr, der Churfürst befohlen, dasselb durch meine Forderung gegen Antorff zu
bringen, hab ich undertheniglich empfangen und ferners Inhalts verlesen. Darauff
mein underthenig Antwort, das ich gehorsam und ganz willig zu furdern berurte(s)
Thefflein gegen Anttorff zu bringen und in meiner Herrn Behausung daselbst zu
verfügen, da man auch dasselbig anzutreffen und finden soll. Was es aber mit
der Fhur dahin zu furen geschen mag, kan ich nicht wissen, weil mir verporgen,
wie schwer es am Gewicht ist, das man woll befinden kann, da man es wiget,
das E. F. G. oder derselbigen Rentschreiber ich untertheniglich woll will berichten
(x) Sibylle von Jülich, Cleve und Berg, die Mutter der Herzöge Johann Friedrich und Johann Wilhelm.
(2) Die Hoffnung, schon den Sommer 1549 auf dem Jagdschlo8 Wolfersdorf verbringen zu können,
war vergebens, denn erst im September 1552 hielt der freigelassene Kurfürst Einzug in seine alten
Lande. In dem Kapitalregister der Einnahmen und Ausgaben des Kammerschreibers Jobst Apel für
Herzog Johann Friedrich d, J. ist 1552 folgendes eingetragen: „3 Gulden 9 Groschen dem Schweizer
Calbierer an einem Doppelducaten von wegen das er m. g. H. die erste Botschaft bracht, das seiner
Gnaden Herr und Vatter seiner Gefengnus entledigt sei. Mitwoch am Abende Himmelfahrts Christi
umb ro Uhr zu Mittage.“ (Bb. 4692.)
(3) Beilage Nr. 6 zu Reg. L, fol. 23x C, Nr. 1.
(4) Wohl Friedrich der Weise oder Johann der Bestindige.
(5) Reg. L. pag. 231 Cx (2. Schreiben Beilage 6).
278
nach dieser Zeit. Derwegen wollen E. F. G. gnediglichen befugen lassen, daß be-
rurte(s) Thefflein mir gegen Erffurdt in mein Behausung geschickt, will ichs fürder
nach Antorff, wie E. F. G. begeren, aufs furderlichst untertheniglichen verschicken,
da esE.F.G. Herrn und Vather mein gnedigister Herr in meiner Herrn der Fugker
Behausung mag lassen fordern.
Datum: Suntags nach Dorothea Anno dom. 1549.“
Am Montag den 11. Februar 1549 schreiben die Söhne des Kurfürsten an den
Fuggerschen Agenten Wydman (Wiedemann) in Erfurt’).
„1549 montags nach Dorothea.
Die Herzöge Joh. Friedr. u. Joh. Wilh. an Jeronimus Wideman. Liber
getreuer. Auf die Anthwort, so du uns gestern auf unser schreiben gegeben, tun
wir dir die Taffel hirmit zuschicken und begeren gnediglich du wollest diselbe
gegen Antorff in deiner Herrn der Fugger Haus zu furen bestellen, alda wirdet sie
unser gnediger liber her und vatter holen und furder zu sich bringen lassen.
Was du auch derwegen zu Furlohn von Erffurt gegen Antorff geben wirdest,
das sol Dir auf Dein Anzeige alhir aus unser Renterei wider erlegt werden.“
Es folgt die ebenfalls vom 11. Februar 1549 datierte Empfangsbescheinigung des
Erfurter Fugger-Agenten Wydman?).
„1549 (Montag nach Dorothea). Erfurt.
Jheronimus Wydman an Herz. Joh. Friedr. d. M. u. Joh. Wilh.
.. . Е. F. G. Schreiben, darneben die eingemachte thaffel in plahen (Segeltuch)
verwart, hab ich bei diesem furmann brieffszeiger woll empfangen und wiewoll
dieselbige furleutt die nach Anntorff fahen wolln, diesen tag, ehr die Thaffell komen
vermughe; weil die aber zu Farrenroda mit Haus gesessen, drei in vier tag sich
anheim enthalten werden und ich mit ihn verlassen, daß sie diß Kunststück mit-
nemen wolln, will ich solchs mit eigener Fhur ohn Hans Schweygker zu Eysse-
nach verschaffen, alda wollin sie solche Thaffell fordern, aufladen und mit nach
Antorff nemen, in meiner Heren der Fugker behausung antworten. Darneben will
ich Bericht schreiben, soll.. . meinem gnedigsten herrn dem Churfürsten, E. F. G.
herrn und lieben Vathern, weiter zugestellt werden. Waß furlohn darauff geht
von Erfurdt bieß gen Anntorff, will ich erlegen und zu gelegener Zeit in E. F. G.
Rentherei anzeigen.“
Nachdem nunmehr der Transport des „Kunststückes“ nach Antwerpen in die
Wege geleitet ist, berichten am gleichen Tage die Herzöge ihrem Vater von dem
Empfang eines für die Weimarer Stadtkirche bestimmten, wohl während der Ge-
fangenschaft gemalten Bildnisses des Kurfürsten und melden den Abgang der
Sendung von Erfurt nach Antwerpen.
„1549. Montags nach Dorothea. Februar 11. Weimar.
Joh. Friedr. d. M. u. Joh. Wilh. an Johann Friedr. d. Ä.°).
Euer gnaden Conterfet haben wir von dem Glaitzman zu Erfurt empfangen.
Und wiewoll E.G. bevolhen, das wir dasselbe gegen dem Predigstulh uber‘) hetten
uffmachen lassen sollen, weill aber die Leuthe vast alle die Angesicht nach dem
Predigstulh kheren, so hette es nymandes dann wir und wher unter dem Predig-
stulh stehet, der doch wenig seind, sehen konnen.
(1) Reg. L. pag. 231. C. 1. (a. Schreiben, Beilage 6.)
(2) L. fol. 231, C. x. (2. Schreiben, Beilage 6.)
(3) Reg. L. fol. 231—239, Ст, Blatt 11 ff. (Altes Konzept.)
(4) Der Kanzel gegenüber.
279
Dorumb ist es mit der Rethe Bedenken neben den Predigstulh zwischen uns
und dem Predigstulh uffgemacht worden und wirdet das Volck durch die Predi-
canten vor E. G. vleissig zu bietten treulich ermhanet. Dem Fhurman, welcher
das Conterfey gegen Erffurt bracht, haben wir zwen Gulden und etzlich Groschen
zu Fhurlhon geben lassen).
So hetten wir auch E. G. die Tafell mit den zehentausend Rittern gerne
eher nach Antorff geschickt, haben aber keine Fhure darzu erlangen konnen. Wir
haben aber durch Jheronimus Wiedemann berurte Tafel heut Montags nach
Dorothea gegen Antorff geschickt, doselbst in der Fugger Hauß werden E.G.
dieselbe fordern lassen, und wir wollen das Fhurlhonn von hiennen aufs bis gegen
Antorff entrichten.
Was auch Lucas Maler neben derselben Tafel vor gemalte Tucher anher gesand,
das findet E. G. uff eingelegter zeddel zu vornehmen und wollen uns mit den
baiden Tuchern, die gegen Wolffersdorff sollen gesandt werden, E. G. Befehls
halten.“
Ein letztes Mal wird die Marter der 10000 noch in einem Briefe des Kurfürsten
(wohl aus Brüssel?) an seine Söhne am 28. Februar 1549 erwähnt?).
.. . „Das Е. L. unser contrafedt neben dem bredigstul umb des Volks willen
haben ufschlagen lassen, seind wir auch zufriden. So wollen wir die bestellung
thun, das wir die uberschickte Taffel von Antorff anher bekomen.
Es hatt aber Lucas maler noch vil mer taffeln und gemelde, die unser seint und
zu Wittenberg in der Kirchen gewesen, damit nun wir nach seinem rode fl umb
(1) Vielleicht bezieht sich auf dieses Bildnis folgender Vermerk in den Rechnungen des Kurfärsten
aus der Gefangenschaft 1547/48: „Ausgab XV Gulden an X Cronen dem Maler von Louen (Löwen)
mein gestrengen Herrn zweimal abconterfeit.
П Gulden Ш Patzen an II Philippsfi. bemelten Maler von Louen geschenkt zu Vererung, als er
die eine Taffel anders gemacht.
XV Gulden an X Cronen dem Maler von Louen von der Taffel abzumalen, darin mein g. H. u. der
Spanisch Hauptman abconterfeit. Actum am Karfreitag.“ (Weimar, Ernest. Gesamt-Archiv, Bb. 4666.)
Ferner ebenda „Rechnung über alle Einnam u. Ausgab Herzog Joh. Friedr. d. & (während der
Gefangenschaft) von Peter von Konitz gehalten. 1548/49. Ausgab auf Befehl. 30 fi. X patzen an
20 französische Cronen dem Maler zu Prüssel vor zweie Taffeln zu Conterfacten, die eine m. g.
Herrn und dem Hauptmann uff ein Taffel, hat m. gn. Her dem Hauptman geschenkt und dan ein
clein Teffelein ist m. gst. Frauen geschickt worden.“
(2) Reg. L. pag. 231—239, С. т. fol.74b, 75. Antwort zum 2, Schreiben.
(3) Cranachs Gesundheitszustand mochte zu solchen Befürchtungen Anlaß geben, wie aus folgendem
Brief Cranachs an den Kurfürsten hervorgeht: 1547. August 14.
„Durchlauchtiger hochgeborner gnediger Fürst und herre. Ewer fursti. gnaden mein unterthenige
schuldige und willige Dinate alzeit zuvor, so habe (ich des) datum suntag nach Laurenti ein (Schreiben)
von е. f. g. entpfangen. darfinnen) ө. f. g. begeren verstanden, das ich (zu) ө. f. g. gegenn Aus-
purg (Augsburg) komen, we(s ich) gernen thun wolt und schuldig bin, Darauff ich e. f. g. unter-
thenig nicht verbalten wil, das ich mit sch(wäche) meines leiba noch zur zeit nicht raisen kan, dan
ich denn schwindel im heubt habe und off in firzehn thagen nicht aussm hause komen kan, aber so
mir (besser ist?) und es mit dem schwindel nachlasen wird, ich mich nicht seumen und zu e. f. g.
komen, bin auch sonsten im willen gewesen, e.f.g. in der anligenden nott zu bes(uchen) und e.f.g.
die arbet gebracht haben, welche ich verfertiget habe. Aber so ich wider frisch wurde, wil ich е. f. g.
die arbet mitbringen. Ihm fal aber, das es mit mir nicht besser wurde, wil ich mit mein diner e. f. g.
die gemachte arbet zuschicken und auch etzlichen spannigem (Wein), denen ich geerbt zuschicken.
Darneben sonsten etzlich gemelde und solches е. f. g. zuforen besichtigen lassen, ob ө. f. g. derselben
haben woldet und е. f. g. darvon nemen mocht, was e. g. gefellig sein mocht. So hette ich е. f. g.
280
dieselbige taffeln und was er batt, nicht komen, so wollen E. L. von ime ein in-
ventarium und verzeichnis fordern und die beilegen. Und nachdem zu Wittenbergk
die taffel, so über Doctor Martini (Luther) gotseligen Grab geordnet'), weg ge-
nomen und bevolhen ist worden, mit nach Weymar zu nemen, so wollen E. L.
uns berichten, ob es geschehen oder nicht und so sy zu Weymar, dieselbe in die
` Kirchen ufmachen lassen.“
Aus den Worten Kurfürst Johann Friedrichs „wir seindt willens dieselb zu ver-
schenken“, geht zweifelsfrei die Absicht hervor, das Los seiner Gefangenschaft
in Brüssel dadurch zu mildern, daß er die Tafel mit den 10000 Rittern (das Bild
wird heute nur noch „die Marter der 10000 Christen unter König Sapor П. von
Persien“ genannt), „das schön kunstreich Gemehl“ oder das „ Kunststücke“, wie es
in der weiteren Korrespondenz bezeichnet wird, dem bekanntesten Kunstsammler
der Zeit, dem einflußreichen Kanzler Kaiser Karls V., Nikolaus Perrenot, zum
Geschenk mechte. Der erst 1536 erbaute prachtvolle Perrenotsche Palast in Be-
sancon barg die erlesensten Gemälde Italiens, Flanderns und Deutschlands, urd
so konnte in der Tat die versöhnliche Wirkung durch diese kostbare Bereicherung
der Sammlung des kaiserlichen Kanzlers nicht ausbleiben. Des Kaisers Zorn wäre
wohl durch ein Gemälde nicht zu besänftigen gewesen, selbst wenn es sich um
ein Werk Dürers handelte. Von diesem wichtigen Vermittler zwischen dem säch-
sischen Kurfürsten und dem Sieger von Mühlberg schrieb Karl V. selbst 1545 an
seinen Sohn: „Er hat einige Passionen, unter anderem viel Lust, seine Familie
hochzubringen und zu bereichern.“
Das „Kunststücke“ dürfte im Sommer des Jahres 1549 in Antwerpen eingetroffen
sein; der glückliche Empfänger hat sich also nicht lange des Besitzes freuen können,
denn Kanzler Nikolaus Perrenot starb 1550. Kurfürst Johann Friedrich hat seiner-
seits in Brüssel Gemälde erworben, die er nach Weimar sandte, wie aus nach-
folgenden Briefen hervorgeht’):
1549. November 21. Johann Friedrich d. M. an den Vater.
„Es haben mir E. G. etliche tucher zugeschickt, mit denselben sol es E. G. be-
vehl nach gehalten werden. Das tuch, darauff die Stat Mechel(n) gemalet, ist ganz
schrecklich und ist ein anzegung des Zorns Gotts wider die sunde. — E. G. die
haben mir auch bei der nechsten post geschriben, zweier Kasten halben, dorinnen
vil Kunststuck und anders sein solle und das der rentmeister E. G. bericht hette,
als hett ich die Kasten in Verwarung. Dorauf wil ich E. G. nicht verhalten, das
fel zu klagen und mit e. f. g. zu reden, wollen sich nicht wol schreiben lassen. Wollen got den
Allmechtigen fur e. f. g. tbreulich bitten, das e. f. g. mogen frisch frolich gesunt zu Lande komen
Der al mechtige got gebe e. f. g. gnade durch den heiligen geist auf dem reibß, das ө. f. g. mogen
glük und sig haben. Amen. Domit sein e f. g. dem almechtigen got ihn sein schutz und scbirrm
bevoln. Datum Witenberg suntag nach Laurenti im 1547 jar Euer furstlichen gnaden ganz unter-
theniger diner Lucas Cransch Maier: (S. Ernest. Gesamt-Archiv Weimar. J. рар. 577 Y No. 16. Zwei
Blätter mit Verschlußsiegel, Originalpapier).
(x) Vielleicht identisch mit der nachfolgend erwähnten: Einname und Ausgabe des Leipziger Oster-
markt 1549. Ausgabe auf Befehl. 70 Gulden auf meiner gnedigen jungen Herrn muntlichen Befehel
Heinrich Zigelern dem Jungen zu Erfurt vor das gegossene Bilde Doctorls Martini Luthers
loblicher und seliger Gedechtnus Contrafei mit umbgossener Schr. ft, welchs hievor laut churfürstlichs
Befehela dem Zigeler nach dem Zentner zu bezalen angedingt, hat aber das aus Unterthenickeit in
Ansehung der Gelegenheit überhaupt mit 70 Gulden zu bezalen gelassen laut seiner Bekenntnus,
(Bb. 4680.)
(2) Reg. L. fol. 287—296, Faszikel C. 7, S. 26
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 10—12. 19 281
ich wol nach solchen Kasten gefragt, aber nichts darvon erfaren konnen, wo sie
sein oder wer sie habe. Habe sie auch bis auf dise stunde nicht gesehen. Aber
das bin ich berichtet worden, das sie zu Torgau eingeschlagen worden sein. weiter
weiß ich nichts darumb, so ich aber erfare, wil ich E. G. bevehl nach dormit ge-
baren lassen.“
Die Antwort des Kurfürsten auf diesen Brief ist datiert 1549 Dezember 7.
Brüssel).
Kurfürst Joh. Friedr. d. 4. an Joh. Friedr. d. M.
„. Was die gemalten Tucher belanget, zweifeln wir nit, E. L. werde darob
(bedacht) sein, das damit unserm befehl nachgegangen. Wir begern aber freunt-
lich wan Doctor Bruck der alte zu Weymar sein wirdet E. L. wollen ihme das
Gemeld und Contrafeit, wie die Stadt Mecheln durch das Wetter vom Pulver be-
schedigt, sehen lassen und an ihm horen, wie es ime gefalle.
Die zwen Kasten, darinnen die Kunststück und anders verwarlich eingelegt
worden, ist es an dem, das wir von dem Renthmaister bericht worden seindt,
das E. L. dieselben Kasten in Verwahrung haben solten, weil dem aber nicht also,
so haben wir unserm Secretario Johan Rudolf befohlen sich weiter derwegen zu
erkundigen und do sie wie wir uns vorsehen wollen, zur Hand gebracht, so wollen
sich Е. L. voriges unsers gethanen befehlichs darmit halten . .).
Der Witwe des Kanzlers Perrenot sind nach dem Tode ihres Gatten Anträge
gemacht worden, die „Marter der 10000“ zu verkaufen, doch ist wohl der Sohn
des Kanzlers, Kardinal Granvella, als erbberechtigt in den Besitz des Bildes ge-
langt. Ein jüngerer Sohn des Kanzlers Perrenot, der Bruder des Kardinal Gran-
vella, Thomas Perrenot, käme als Erbe des Dürerschen Gemäldes ebenfalls in
Betracht, denn wir finden es in den Händen seines dritten Sohnes Franz Perrenot,
Grafen von Cantecroix. Man kann das daraus schließen, daß der Graf von Cante-
croix sich mit seinem Onkel, dem Kardinal Granvella, eben wegen dieses Ge-
mäldes überworfen hatte und bei Kaiser Rudolf in Ungnade gefallen war. Der
Kaiser wünschte Dürers „Marter der 10000“ zu erwerben, der Graf, damals kaiser-
licher Gesandter, schickte seinem Herrn jedoch statt des Originals eine Kopie, die,
als solche erkannt, sofort samt dem Abberufungsschreiben an den Gesandten
zurtickging. Kein Wunder, daß auch der Kardinal ob der Schmach, die sein Neffe
über die Familie gebracht hatte, den Grafen Franz durch Enterbung strafte und
ihm nur sein Porträt bei seinem am 21. September 1586 in Madrid erfolgten Tode
vermachte, Das kümmerliche Legat des reichen Onkels hing der gräfliche Neffe
im verschwiegensten Kabinett seines Palais in Besancon auf, um, Goetz von Ber-
lichingen variierend, „lui faire tous les jours la grimace.“?) Erst im Jahre 1600
ging der Wunsch des Kaisers in Erfüllung, Dürers „Marter der 10000“ für die
Wiener Kunstkammer erwerben zu können.
Was würde wohl Albrecht Dürer gesagt haben, wenn er geahnt hätte, daß das
für seinen Gönner. Friedrich den Weisen gemalte Martyrium einst dessen Neffen
als captatio benevolentiae beim Reichskanzler dienen sollte, um nach nahezu
ıoojähriger Irrfahrt die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien zu schmücken?
(x) L. fol. 287. C. Nr. 7. 3. Schreiben, Antwort.
(2) Ich vermute, daß auch diese beiden Truhen. mit Kostbarkeiten und Kuriositäten gefüllt, vom Kur-
fürsten in Brüssel verschenkt werden sollten.
(3) Castan: Monographie du palais Granvelle & Besangon. (Paris 1867.)
282
DEUTSCHE GOLDSCHMIEDE IN ROM
Von FRIED. NOACK
3 Handwerker sind schon im Mittelalter zahlreich am Sitz des Papst-
tums tätig gewesen, in einzelnen Gewerben war ihre Zahl dauernd so groß,
daß sie eigene nationale Zunftbruderschaften bilden und Häuser und Kirchen bauen
konnten. Eine deutsche Weberzunft hat das Mittelalter nicht überdauert, dagegen
sind die Bruderschaften der Bäcker und Schuster erst während des 19. Jahrhun-
derts im deutschen Campo Santo aufgegangen. Goldschmiede und Silberarbeiter
haben zwar keine besondere nationale Handwerksge meinschaft gebildet, sind aber
nächst jenen wohl die stärkste deutsche Gewerbegruppe gewesen und haben noch
im 18. Jahrhundert eine ansehnliche Rolle unter den römischen Berufsgenossen
gespielt. Die Hauptstadt der Päpste mit ihren Hunderten von Kirchen und dem
Prunk ihres Gottesdienstes bot ja diesem Gewerbe jederzeit reiche Arbeitsgelegen-
heit und die frommen Pilgerfahrten und regelmäßigen Besuche von Bischöfen,
Prälaten und Ordensleuten aus Deutschland sicherten dem Handel mit Devotio-
nalien aus Edelmetall immer eine landsmännische Kundschaft. Einige von diesen
Goldschmieden aus dem Reich haben es durch ihre Leistungen in Rom zu hohem
Ansehen gebracht, haben Arbeiten für den päpstlichen Hof ausgeführt und trotz
ihrer fremden Herkunft Ehrenämter in der römischen Zunft bekleidet. Im folgen-
den sind nach Jahrhunderten zeitlich geordnet alle deutschen und flämischen Ver-
treter des Fachs zusammengestellt, über deren Dasein und Tätigkeit in Rom ich
urkundliche oder literarische Nachweise gefunden habe.
XV. Jahrhundert.
1460 Adriano di Hamcher de le Magnia (Allemagna) merciario erhielt am 14. März
vom päpstlichen Hof 75 Dukaten für ein goldenes Kreuz mit Diamanten als
Geschenk des Papstes an den Markgraf von Brandenburg. [Müntz, Les arts
а la cour des Papes, I, 314.)
1463 Nicolaus tudesco erhält 17. Dezember 18 Goldgulden für 2000 petiae auri zur
Ausschmückung der Petronilla-Kapelle іп der Peterskirche. [Miintz, I, 290.
1464 Nicolo todesco erhält 5.Mai 8 Gulden für ein migliaro d’oro zur Ausschmückung
der Andreas-Kapelle der Peterskirche, 21. Mai 3 Gulden für 300 petiae auri
zu demselben Zweck. [Miintz, I, 288.]
1470 Albert Bischof de Hamborch alias de Bingen, aurifaber, der in Via dei Pelle-
grini (heute noch Goldschmiedsgasse) ein Haus der Bruderschaft S. Maria
dell’ Anima bewohnt, liefert derselben ein Petschaft mit dem Bild der Mutter-
gottes. [Lohninger, S. Maria dell’ Anima, die deutsche Nationalkirche,
S. XVII, XIX.]
1483 Der Goldschmied Heinrich Wachtel aus Deutschland wird gefangen gesetzt
und auf Befehl des Papstes Sixtus IV. wieder freigelassen. [Müntz, III, 243.)
XVI. Jahrhundert.
1503 Petrus Bochsler auri plagator de Ulma setzte 17. Juni seiner Frau einen
Grabstein auf dem deutschen Friedhof bei St. Peter. [Forcella, Iscrizioni
delle chiese di Roma, III, 354.]
1501—13 Petrus Post, Goldschmied aus Leyden, zahlt Beiträge als Mitglied der
deutschen Bruderschaft von S.Maria del Campo Santo; Petrus Post de Lacie (?)
283
alemanno, Konsul der Goldschmiedezunft, wird 25. Juni 1508 beim Ankauf
des Grundstücks für den Bau der Zunftkirche erwähnt: bewohnte ein Haus
der Anima-Bruderschaft, wofür er 3. Juni 1513 20 Dukaten Pacht bezahlte.
[Hoogewerff, Bescheiden in Italie, S. 237. — Bertolotti, Artisti lombardi in
Roma, II, 313. — К. Hnr. Schäfer, Johannes Sander von Northusen, S. 50.
1510 Nikolaus Silber, auricussor, aus Ulm, führt die Vergoldungen in den beiden
Seitenkapellen des Chors der Animakirche im Mai d.J. aus [Lohninger, S. 68];
bewohnte ein Haus der Anima-Bruderschaft in Via Tor Millina, wofür er
5. April 1513 die Pacht von 12 Dukaten zahlte. [K. Hnr. Schäfer, Johannes
Sander von Northusen, S. 48—50.]
1527 Am 6. Mai werden die von dem auricussor Nikolaus Silber und dem Gold-
schmied Peter Post bewohnten Häuser der Anima-Bruderschaft von den
Landsknechten geplündert, auch die von Silber in die Sakristei der Anima-
kirche geflüchtete Truhe mit Pretiosen wird ausgeraubt. [K. Hnr. Schäfer,
S. 61, 62 f.]
1543 Der Goldschmied maestro Teodoro todescho zahlt an die Zunft 2 Scudi per
la banca, d. h. für Eröffnung seines Ladens; wahrscheinlich dieselbe Person
wie Todosio todesco, Todericho todesco, Todero fiamengo, die 1544, 1546,
1550, 1552 Zahlungen von 30 bzw. ro Bajocchi an die Zunft geleistet haben-
[Archiv der Universita degli Orefici.]
1546 Der lavorante Jachomo todesco zahlt an die Zunft то Bajocchi. [Univ. Oref.]
1546 Cornelius Leysen erhält 30 Dukaten für die Vergoldung des hölzernen Taber-
nakels auf dem Hochaltar der Animakirche. [Lohninger, S. 78.) Derselbe
wird auch als Maler bezeichnet, war 1559—67 Kämmerer der deutschen
Bruderschaft vom Campo Santo, stammte aus Antwerpen und starb 3. Okto-
ber 1570, begraben auf dem deutschen Campo Santo. [Hoogeweiff, S. 306 f.]
1548 Maestro Jovanni todesco zahlte 30 Bajocchi an die Zunft. [Univ. Oref.]
Zahlung von 162 Scudi 86 Bajocchi am 12. Mai für Silberarbeiten für den
Papst, gezahlt an Giovanni todesco für Giovanni Pietro Crivelli. Demnach
war Giovanni Gehilfe oder Geschäftsteilhaber des Crivelli. [Depositaria Gene-
rale der päpstlichen Kammer.] Vielleicht dieselbe Person wie der weiter
unten genannte Giovanni de Prato.
1550 Zahlungen von je ro Bajocchi an die Zunft von Golfe tudescho, Francesco
tudescho, Arrigo (Heinrich) fiamengo, Davite fiamengo und Pietro fiamengo.
Sie kommen mit denselben Zahlungen auch 1552 vor und waren lavoranti,
Gehilfen. [Univ. Oref.]
1552 Der mastro Ivanj d’ Prato fiamingo zahlt 30 Bajocchi an die Zunft; 1553 die-
selbe Zahlung von maestro Giovanni todesco und am 11. Oktober 1553 von
maestro Giovanni todesco per conto de la banca ducati tre d’oro. Er hat
also jetzt ein eigenes Geschäft eröflnet. Dieser Johann de Prat (Prata, Prato,
Pratus, Prate) ist der älteste einer flämischen Sippschaft von Goldschmieden,
die noch im 17. Jahrhundert in Rom ansissig war; er bekleidete 1565— 66,
1568—69, 1570, 1573—74 das Amt des Konsuls und Kimmerers der Zunft
und lebte noch 1577, da er 6. Juni d. J. Taufpate eines Sohnes des Gold-
schmieds Torresano war. [Univ. Oref.]
1553 Der Goldschmied Gregorio Hofer, Sohn des Bickers Thomas H., stirbt,
25 Jahre alt, am r5. November und wird auf dem deutschen Campo Santo
begraben. [Forcella, III, 373.]
1554 Adriano de Prato aus Antwerpen wird am 2. Januar zusammen mit Johann P.
284
1556
1562
als Inhaber eines Depots von бо Scudi genannt; vermutlich Sohn von Johann
P., bei dem er 1566 als lavorante stand, erhielt 16. Juni 1569 den Meister-
brief und zahlte 24 giulii für die bancha, prüfte 29. Juli 1575, 17. Juli 1578,
28. Juli 1591 und 21. Juli 1592 als sindico die Rechnungen der Zunft, deren
Konsul und Kämmerer er 1584—85 war. In den Büchern des deutschen
Campo Santo kommt er im Juni 1580 mit einem Beitrag von то Bajocchi
vor; erhielt 31. August 1522 von der Anima-Bruderschaft 15 Scudi 15 Bajocchi
für Vergoldung kirchlicher Gefäße, 18. Mai 1523 von derselben ro Scudi für
Ausbesserung eines silbernen Weihrauchkessels, 23. Mai 1526 von derselben
23'/, Scudi für einen silbernen, vergoldeten Kelch. [Bertolotti, Artisti Bolo-
gnesi, S. 103. — Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 312, 617 f.]
Michael Balla erklärt 26. August, von dem flämischen Goldschmied Giacomo
Olmano 4 Scudi an Hausmiete erhalten zu haben. [Bertolotti, Artisti Sub-
alpini, S. 118.]
Der flämische Goldschmied Menardo, der beim Meister Bolgaro arbeitet, er-
hält am ı. Januar 6 Scudi Belohnung für seine Arbeit an einem silbernen,
vergoldeten Futteral für den stocco papale. 1566 arbeitete Menardo fiamengo
bei dem Meister Bartolomeo aus Como, 1568 bei Bolgaro in der Via del Pelle-
grino. Im Mai 1579 zahlte Menardo Averech todesco 4 Scudi für den Meister-
brief. Er ist ohne Zweifel identisch mit dem obigen, die Bezeichnungen
fiamingo und todesco werden in jener Zeit oft vertauscht. 24. Februar 1588
starb Menardus aurifaber Paterbonensis und wurde in S. Maria dell’ Anima,
der deutschen Nationalkirche, begraben. An demselben Tag machte Menardo
Aurich aus Paderborn, orefice ai banchi, sein Testament in seiner Wohnung
in Via dei Banchi nächst der Kirche S. Celso e Giuliano. Er hatte für Signora
Violante Enriquez verschiedene Schmelzarbeiten, Ohrgehänge, Ringe usw.
gemacht. Bei der Inventarisierung des Nachlasses am 26. Februar 1588
wurden u. a. viele geschnittene Edelsteine, Bildnisse des Kaisers Maximilian,
des Andrea Doria in Silber usw. festgestellt. [Bertolotti, Artisti lombardi, I,
303f., Artisti belgi, S. 258, Artisti siciliani, S. 15. — Univ. Oref. — Totenbuch
der Anima.]
1563 Der deutsche Goldschmied Hermette (Hermes) hatte a1. Juli einen ProzeB
mit einem französischen Goldschmied. Der fabro orefice Hermes aus Köln
bescheinigte 1567 die Zurückerstattung gestohlener Sachen. 1578 sagte Cate-
rina, moglie di un armajolo tedesco, aus, daß sie den Hermes einen Monat
und 28 Tage lang bis zu seinem Tod in ihrem Haus verpflegt hat. [Berto-
lotti, Artisti francesi, S. 55, Artisti subalpini, S. 123, Artisti belgi ed olandesi,
S. 256.]
1566 Maestro Alberto fiamengo zahlt 30 Bajocchi an die Zunft, er hält zwei Arbeiter
und zahlt 60 Bajocchi für die Erlaubnis zur Eröffnung eines Ladens: 12. Fe-
bruar d. J. war er in einer Sitzung der Zunft anwesend. In der Sitzung am
29. Juni 1567 wurde bestimmt, daß Alberto Cesari (Keyser) fiamengo als Erbe
der Susanna Ferrarese deren Legat an die Zunft von roo Scudi in zwei
Raten zahlen soll. Ein Eintrag im Zunftbuch vom 23. August 1567 erwähnt,
daß Antonia, Frau des magistri Alberti Cesaris Flandri aurificis im Campo
Marzio, für ein Haus mit Garten 8 Scudi zu zahlen hat. Albertus Keyser
alias Cesaris de Gruninghen aurifaber trat 31. Mai 1569 der deutschen Bruder-
schaft vom Campo Santo bei und zahlte 1580 an dieselbe 5 Bajocchi Beitrag.
[Univ. Oref. — Hoogewerff, 5. 241, 311.]
285
1566 Stefano todescho arbeitete bei dem Meister Battista Tebaldi. 4. Juni 1589
1569
1577
1579
1581
1583
zahlte Stefano fiamengo 30 Bajocchi Strafe für Messeversäumnis an die Zunft.
31. März 1590 sammelte Meister Stefano Musart Almosen für arme Kollegen.
Unter dem Namen Musardo, Musardi, Musartus kommt er bis 1623 öfter in
den Zunftbüchern vor, in einem Protokoll vom 8. Oktober 1614 als Stephanus
quondam Leonardi Musarti (filius) Augustanae diocesis, aurifex in urbe. Im
November 1607 zahlte die Zunft ein Almosen von 40 Bajocchi an Stefano
todescho, che stava prigione. Der 24. Februar 1588 verstorbene Goldschmied
Menardo Aurich setzte ihn zum Erben ein. In den Akten des deutschen
Campo Santo wird Stefano Muskart orefice am 14. Juni 1576 als Mitglied er-
wähnt, im Dezember 1579 zahlte er ro Bajocchi an den Campo Santo; am
8. Februar 1590 erhielt er 35 Bajocchi für Herrichtung von zwei Kelchen
für die Kirche S. Maria del Campo Santo. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 258.
— Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 275, 308, 470f.]
In einem Aktenstück der Goldschmiedezunft wird maestro Guasco fiamingo
giojelliere al pelegrino genannt. [Univ. Oref.]
Lionardo Saerl aus Augsburg arbeitet bei dem Meister Bolgaro. [Bertolotti,
Artisti lombardi, I, 304.]
Giovanni Pradete (?) tedesco battiloro wird in die Congregation der Virtuosi
al Panteon aufgenommen, stirbt 1589. [Archiv der Congreg. Virtuosi.]
Flaminio Prata, ein Sohn von Adriano, Maler und Goldschmied, tritt in die
Akademie S. Luca ein; erhielt 8. Juli 1622 von der Campo Santo-Bruderschaft
1½ Scudo für Vergoldung von Kirchengefäßen; war 1627 Konsul der Gold-
schmiedezunft. [Archiv S. Luca. — Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 26, 38,
281, 617.]
10. Juni zahlt Meister Jacomo de Prato 3 Scudi 10 Bajocchi an die Zunft, in
deren Büchern er häufig vorkommt, 1594 und 1601 als sindico, 1598, 1604—05,
1609—10, 1616 und 1620—2r als Konsul und Kämmerer; trat 28. September
1589 in die flämische Bruderschaft von S. Giuliano ein, deren Provisor er 1595,
1610, 1616 und 1621 war; zahlte 17. August 1609 an den deutschen Campo
Santo einen Scudo für das Leichenbegängnis seines Bruders Pietro; vermählt
mit Fulvia Maringa, die 22. Juni 1606 in der Animakirche begraben wurde;
war 1619 Kämmerer der deutschen Bruderschaft vom Campo Santo; starb
15. Juni 1623 und wurde in der Animakirche begraben, als deren Goldschmied
(aurif aber ecclesiae nostrae) er 1600 bezeichnet wird. Seine Werkstatt in
Via del Pellegrino. Er gehörte zu den Goldprüfern der päpstlichen Kammer
1608 und bezog ein Monatsgehalt von 2 Scudi 40 Bajocchi, arbeitete auch
für den päpstlichen Hof. [Bertolotti, Artisti bolognesi, S. 215 f., Artisti fran-
cesi, S. 57. — Totenbuch der S. Maria dell’ Anima. — Depositeria Generale
im röm. Staatsarchiv. — Univ. Oref. — Hoogewerff, 5. 138, ert, 268, 270,
281, 591, 593, 597.]
1585 Am 9. November zahlte Pietro de Prato 4 Scudi an die Zunft für die Er-
286
öffnung seines Ladens (per la banca); er kommt von da an häufig mit Zah-
lungen an die Zunft in deren Büchern vor, u, a. 4. Februar 1604 mit 2 Scudi
für den Bau der Kuppel der Goldschmiedskirche S. Eligio, war 1609 Konsul
der Zunft und starb 14. August 1609, wurde in der deutschen Nationalkirche
S. Maria dell' Anima begraben, deren Totenbuch ihn als aurifaber Sanctis-
simi Pontificis bezeichnet. Von der Anima-Bruderschaft erhielt er 21. August
1586 200 Scudi für zwei silberne Reliquienschreine. [Univ. Oref. — Toten-
buch der S. Maria dell’ Anima. — Hoogewerff, S. 593, 618.]
1589 29. Oktober zahlte die Zunft auf Verlangen des Meisters Stefano Musart
50 Bajocchi an den Giorgio Diener todesco da Trier, povero, als Reisegeld
zur Heimkehr.
1590 Im September wurde in der Animakirche begraben Michael Walt von Vesel
aurifaber insignis, qui multas regiones perlustraverat. [Totenbuch der S. Maria
dell Anima.]
1591 Am 5. September wurde Daniel Rosauan Baden borgensis aurifaber in der
Animakirche begraben. [Totenbuch der S. Maria dell’ Anima.]
1591 Am 22. März zahlte Federico todescho 20 Bajocchi Strafe an die Zunft, weil
er sich weigerte, Almosen einzusammeln; am 14. September d.J. zahlte Fede-
rico todesco 4 Scudi 60 Bajocchi per la sua bancha (für die Geschifts-
eröffnung), mit anderen Zahlungen kommt er bis 1597 in den Zunftbüchern
vor. In einer Untersuchung wegen eines Mordes im Dezember 1596 wurde
der deutsche Goldschmied Federico Schuler, wohnhaft all’ Armata (am Tiber
hinter den Carceri Nuove) als Zeuge vernommen. [Univ. Oref. — Bertolotti,
Artisti belgi, S. 26r.]
1591 Am 22. Dezember heiratete Hieremia Mesmer battiloro in Via Cappellari die
Tochter Susanna des Lautenmachers Peter Albert und wohnte dort noch 1605.
In einer Schuldverschreibung vom ro. April 1600 bestätigen einige Maler, daß
sie dem deutschen battiloro Geremia Mesmer 150 Scudi für oro battuto
schulden. Im April 1600 lieferte Geremia Mesmer battiloro tedesco dem
Annibale Corradini Gold. Seine Witwe Susanna heiratete 26. November 1614
den Uhrmacher Salzhuber; seine Söhne Geronimo und Pietro Mesmer, eben-
falls battilori, kommen noch 1619 bzw. 1625 in der Via dei Cappellari und
dem benachbarten Salone del Crocifisso vor. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 300,
Artisti subalpini, S. 232, Artisti bolognesi, S. 150. Pfarrbücher von S. Lorenzo
in Damaso.]
1591 Im Juli verzeichnen die Bücher der Zunft, daß von Andrea todesco 4 Scudi
60 Bajocchi per la banca (für die Geschäftseröffnung) zu zahlen sind; Andrea
Paier todeschino zahlte die Summe in Raten ı8. Februar, 28. April, 30. Mai
und 27. September 1592 und 21. Juni 1593. Mit anderen Zahlungen kommt
er bis 14. April 1599 in den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.]
1595 Am 13. April machte Guglielmus Testabove (Ossenkop?) aurifex sein Testa-
ment und vermachte der Zunft 400 Scudi; die Witwe Maddalena des Gug-
lielmi Testaboua flandri aurificis in urbe zahlte die Summe 30. April 1596 an
die Zunft aus. [Univ. Oref.]
1597 Michele de Prato zahlte 11. August ail, Scudo und 6. Mai 1598 2 Scudi
ıo Bajocchi für seine Geschäftseröffnung; kommt noch 1615 als Mitglied der
Zunft vor. [Univ. Oref.]
ХУП. Jahrhundert.
1601 Gesualdo (Oswald) Hess, battiloro todesco, wohnte, 30 Jahre alt, in Via dei
Cappellari; Mitglied der Universitas pulsatorum auri et argenti, an deren
Satzungsberatung er 20. Januar 1623 teilnahm; 1614 und 1626 war er Käm-
merer der deutschen Erzbruderschaft vom Campo Santo, in deren Akten er
noch 1648 als lebend genannt wird. 20. Juni 1621 war Gesualdo Ess de Spruc
(Innsbruck) Pate bei der Tochter eines Osterreichers. Am 1. Mai 1610 er-
287
hielt Gesualdo Hes battiloro von der Campo Santo-Bruderschaft 13 Scudi für
Gold, weiches er für eine neue Kirchenfahne geliefert hatte. 1636 und 1648
wurde er von der deutschen Anima-Bruderschaft für Vergoldungen in der
neuen Sakristei ihrer Kirche bezahlt. Die deutsche Bruderschaft zu Neapel
ernannte ihn am 4. Mai 1622 zu ihrem Vertreter bei der Campo Santo-Bruder-
schaft. [Bertolotti, Artisti Bolognesi, S. 213. — Hoogewerff, S. 268, 320, 323,
399, 489, 490, 493. — Lohninger, S. 120. — Toll, Die Nationalkirche S. Maria
dell’ Anima in Neapel, S. 72f. — Archiv des Campo Santo. — Pfarrbiicher
von S. Pietro und S. Lorenzo in Damaso zu Rom.]
1604 20. Dezember verklagte ein dänischer Maler den Giacomo Janze alias Coppe
orefice all’ insegna del Pavone an der Piazza della Padella wegen Verleum-
dung, begangen in der Unterhaltung mit mehreren flämischen Malern in einer
Schenke am Piazza S. Apostoli. In seinem Verhör am 22. Dezember erklärte
er, daß er vor etwa 30 Jahren im Haus des Guglielmo della Porta aufgezogen
worden sei und nach dessen Tod bei den Söbnen gewohnt habe. Er starb
um 1610. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 67—69, 209, 210 f.]
1605 Der lavorante Giovanni Ulrich zahlte 30 Bajocchi Strafgeld für Messeversäum -
nis an die Goldschmiedezunft. [Univ. Oref.]
1609 Am 31. März wurde Johann Knopf, teutonicus, aurifex in Via Giulia, als Zeuge
in einem Prozeß verhört; er sagte, er habe bei dem Goldschmied Martino
Vizzardo gearbeitet. In dieser Untersuchung werden noch andere deutsche
Goldschmiede genannt: Giovanni Potof, Bartolomeo, der beim Meister Curzio
Vanni arbeitete, und Gabriel Ordes, der 1607 mit Bartolomeo zusammen -
wohnte und zu Anfang 1609 nach Neapel abreiste. [Bertolotti, Artisti lom-
bardi, II, 150.]
1610 Cristoforo Vischer di Gaspare, orefice tedesco al Pellegrino, wurde auf der
Reise nach Neapel in Velletri bestohlen. Am 6. April 1617 zahlte Cristoforo
Vescir todesco ro Scudi an die Zunft per la banca (Geschäftseröffnung) ;
kommt noch bis 1626 mit Zahlungen in den Zunftbüchern vor. Am 8. April
1623 erhielt Cristoforo Pescatore todesco orefice 185 Scudi für eine goldene
Kette, die der Papst dem Kurier des Kurfürsten von Bayern schenkte,
26. April 1623 6 Scudi für einen goldenen Kardinalsring, den der Kardinal
von Spanien erhielt. Im Jahre 1627 beerbte ihn sein ebenfalls in der Via
del Pellegrino wohnender Bruder Giorgio, Kaufmann aus Audenarde; die
Erbschaft bestand aus gioie ed argentarie. Bertolotti, Artisti belgi, S. 273,
286, 288. — Univ. Oref. — Depositaria Generale.]
1612 Henricus Hartmann aurifaber argentinensis starb 26. Dezember und wurde in
der Animakirche begraben. [Totenbuch der Anima.]
1617 Nicolao tedesco orefice hat einen Laden in der Via dei Cartari. [Bertolotti,
Artisti subalpini, S. 213.]
1608 2. Februar zahlten die Arbeiter Guglielmo Seis, Girardo fiamengo, Carlo fia-
mengo, Guan Zacharia fiamengo, Gabriello Cordes fiamengo und Francesco
Panitan todesco den Beitrag von 30 Bajocchi an die Zunft. Ranieri Bruc
zahlte ro Bajocchi für das 40tägige Gebet. [Univ. Oref.]
1609 Am 2. Juni zahlte Filiberto Wetto todesco intagliatore di sigilli e di pietre
4 Scudi 60 Bajocchi per la banca (Geschäftseröffnung). — Die Arbeiter Ugo
todesco, Simone todesco, Girardo fiamengo, Paolo todesco, Giovanni fiamengo
und Giovanni todesco zahlten 30 Bajocchi Beitrag an die Zunft. [Univ. Oref.]
1609 Am 16. Mai und 13. Juni zahlte Ranieri todesco 4 Scudi 60 Bajocchi für die
288
banca (Geschäftseröffnung). Rainier Bruc todesco hatte schon im Sommer
1604 die Arbeitertaxe von 30 Bajocchi an die Zunft gezahlt. Er kommt in
den Zunftbüchern bis 1655 vor unter den Namen Brucchi, Spruch, Brucca,
de Bruch, Ispruch, Espruch, Sprux; 27. Oktober 1655 zahlte die Zunft 2 Scudi
27, Bajocchi für seine Leichenfeier. 1613 am 1. Januar wurde Renier van
den Brouck von der deutschen Campo Santo-Bruderschaft zum guardiano ge-
wählt; 6. August 1655 erhielt er ein Almosen von der Bruderschaft. 1605
kommt Reinero Bruch orefice alla cloaca di S. Lucia (Via dei Banchi Vecchi)
in einem Prozeß vor, 1616 hatte Bruch orefice alla cloaca di S. Lucia eine
Schlägerei mit einem Diener des Herzogs von Bracciano, 22. März 1623 hatte
Bruch, wohnhaft im Palazzo des Monsg. Virile nel fine del Pellegrino, einen
Streit mit einem Römer wegen einer Schuld für Uhren. ı8. November 1613
wurde ein Sohn des Rainerii Bruc aurificis und seiner Frau Hortensia getauft,
Pate war der deutsche Kupferstecher Matthäus Greuter. Seit 1613 kommen
Zahlungen der päpstlichen Kammer an Bruc vor für Kreuze mit Edelsteinen,
Reliquienschreine aus Ebenholz, Rahmen aus Ebenholz mit Silber, Tinten-
fässer und Rahmen aus Silber, Metallvasen mit Schmelz, vergoldete Bronze-
gefässe mit dem Papstwappen, eine Modellzeichnung für das Tabernakel in
der Peterskirche usw. Am 29. Februar und 8. April 1628 erhielt er 425 Scudi
85 Bajocchi für eine silberne Kassette, die er dem Papst geliefert hat, ro. Juni
1628 bis 2. August 1629 insgesamt 1200 Scudi für eine Tiara, 10. März 1629
тоо Scudi für ein Reliquiarium aus Silber und Lapis Lazuli als Behälter der
Splitter vom hl. Kreuz, 25. September und 17. Oktober 1629 für verschiedene
Silberarbeiten 600 Scudi, am 13. November 1629 für eine Rose, ein silbernes
Kreuz usw. 100 Scudi, 16. April 1630 für zwei Rosenkränze für den Papst
75 Scudi, 16. Oktober 1630 bis ro. Mai 1631 für ein silbernes Reliquiarium
400 Scudi, 2. Januar 1632 für Arbeiten an den Tiaren 25 Scudi, 26. Novem-
ber 1632 für zwei Reliquiarien aus Silber und Kristall 75 Scudi. ([Bertolotti,
Artisti belgi, S. 273 ff. — Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 269, 271, 281, 294,
332, 360, 362, 381. — Depositaria Generale. — Pfarrbuch S. Apostoli.]
1610—12 zahlen die Arbeiter Giovanni Achar, Bartolomeo todesco, Francesco Pet-
tinaro todesco, Giovanni Decossello todesco, Armano todesco, Abramo todesco
Beiträge an die Zunft. [Univ. Oref.]
ı612 Am 3. Juli wird in einem Sitzungsbericht der Zunft Filiberto Joeck als an-
wesend erwähnt, in späteren Sitzungsberichten bis 1620 unter den Namen
Filiberto Goet, Joti, Jouet, Joth, Joet, vermutlich derselbe wie der 1609 schon
genannte Filiberto Wetto todesco. [Univ. Oref.]
1613 Am 4. Juli wird in einem Sitzungsbericht der Zunft Domenico Gottardo er-
wähnt, dem Namen nach wohl auch ein Deutscher; er kommt noch öfter bis
6. November 1630 vor. [Univ. Oref.]
1614 Die Arbeiter Ghirardo todesco, Nicolo Uildoli fiamingo und Nicolo Clovio to-
desco zahlen Beiträge an die Zunft. [Univ. Oref.]
1614 Am 12. Mai zahlte Nicolo Colombo (Taube?) todesco 1 Scudo für die Ge-
schäftseröffnung, den Rest am 23. Juni 1617. [Univ. Oref.]
1615—16 Giovanni da Monaco zahlt den Arbeiterbeitrag von 15 Bajocchi an die
Zunft. Am 15. Juni 1619 heiratete Joannes Ameranus aurifaber die Tochter
des Medaillenstechers Corradini. 1620 wohnte Giovanni Hamerano todesco
огебсе in Via del Pellegrino; er erhielt 4. Mai 1621 bis 9. August 1622
257 Scudi für ein Kristallgefäß mit Goldeinfassung für den Papst. [Univ. Oref. —
Bertolotti, Artisti subalpini, 5.215. — Pfarrbücher von S. Lorenzo іп Damaso.
— Depositaria Generale.]
1617 Am 5. Juni zahlte Giovanni Cheler todesco ro Scudi per la banca. Giovanni
Cheller fiamengo aus Nürnberg arbeitete seit 1619 für den Papst, 1619 einen
mit Steinen verzierten Metallrahmen, 1621 drei ähnliche Rahmen, 1622 ein
kupfernes Kreuz mit silbernen Figuren. Am rr. Mai 1623 erhielt er für zwei
Rahmen, die der Papst dem Gouverneur von Mailand schenkte, 430 Scudi,
am 24. Dezember 1623 für einen vergoldeten Silberrahmen mit Edelsteinen
und dem Bild der Himmelfahrt Mariä 160 Scudi, am 28. März 1624 für einen
vergoldeten Rahmen mit Silber und Edelsteinen verziert 160 Scudi, am 29. April
1624 für fünf Rahmen 300 Scudi, am 3. Juni 1624 für zwei Rahmen 95 Scudi,
am 23. Juli 1624 für fünf Rahmen 420 Scudi, am 28. August 1624 für einen
Rahmen von vergoldetem Metall 58 Scudi, am 19. Oktober 1624 für einen
Rahmen von vergoldetem Kupfer 140 Scudi. Der 1621 verstorbene Kunst-
sticker Oswald Schröter aus Nürnberg setzte seinen Landsmann Giovanni
Cheller zum Erben ein. 1642 und 1645 machte Cheller sein Testament; er
wohnte 1644 am Corso unweit der Piazza del Popolo und starb um 1650.
[Bertolotti, Artisti belgi, S. 273, 281. — Depositaria Generale. — Univ. Oref.
— Pfarrbuch S. Maria del Popolo.]
1618 Am 7. Juni starb Vincislaus Jamnizer Norimberghiensis aurifex Illustrissimi
1621
et Reverendissimi Domini Cardinalis Farnesii in Parocchia S. Catarinae della
Rota, begraben an demselben Tag in der Animakirche. Wenzel Jamnitzer,
Sohn von Hans J., geboren um 1569, sagte 20. April 1611 sein Nürnberger
Bürgerrecht auf, scheint also damals ausgewandert zu sein. [Frankenburger,
Beiträge zur Geschichte Wenzel Jamnitzers und seiner Familie, S. 44f. —
Totenbuch der S. Maria dell’ Anima.]
Jacobus Musart, Sohn von Stefan M., wird 7. Juli in einem Sitzungsbericht
der Zunft als anwesend genannt; kommt bis 1644 noch öfter vor mit dem
Namen Musardus, Musarti, Musardo; 1623—24 zahlte Jacomo Musart figlio
di Stefano М. 50 Scudi für ein Gemälde; 15. Januar 1649 wird Mad. Felice
Musarti als Erbin ihres Bruders Jacomo genannt. 1614—15 hatte Jacomo
Musari den Beitrag der Arbeiter an die Zunft bezahlt. Am 28. Dezember
1633 erhielt Giacomo Musart 112 Scudi für eine Kassette aus Silber und
Kristall sowie für ein Kreuz aus Kristall, die er dem Papst Urban VIII. ge-
liefert hatte. [Bertolotti, Artisti bolognesi, S. 217. — Univ. Oref.]
1625 Johann Michael aus Brüssel arbeitet bei dem Goldschmied Christoph Vischer
in Via del Pellegrino. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 285.]
1626 Am 4. März stirbt Bartholomäus Anshelm argentarius und wird in der Anima-
1625
290
kirche begraben. [Totenbuch der S. Maria dell’ Anima.]
Giovanni Estrau zahlt то Scudi per la banca. Er wird von da an häufig in
den Zunftbtichern erwähnt mit den Namen Strau, Strauch, Straub, Estraub;
1659—€o war Giovanni Straub console der Zunft; seit 1675 wurden von der
Zunft einigemal Almosen an seine Witwe bezahlt. Giovanni Straub argen-
tiere da Monaco di Baviera all’ insegna del Mondo Turchino wurde 1666 in
einem Prozeß gegen seinen Schwiegersohn Federico Ruster als Zeuge verhört.
Er wohnte in Via del Pellegrino und ist teils als orefice, teils als argentiere
bezeichnet. 9. Mai 1672 starb Giovanni Straub, bavarus argentarius, etwa
70 Jahre alt, an der Piazza dei Cappellari und wurde auf seinen Wunsch in
der Kirche S. Francesco delle Stimmate begraben. Seine Tochter Maria
Angela war seit 7. April 1661 mit Federico Rust aus Hamburg vermählt.
[Bertolotti, Artisti belgi, S. 291. — Univ. Orefici. — Pfarrbücher von S. Lo-
renzo in Damaso.]
1626 13. Juli erteilte die Zunft dem Hercules della Corte flander die Erlaubnis zur
Eröffnung eines Goldschmiedgeschäfts. [Univ. Oref.]
1636 Am 8. Mai starb Gerardus Hendrix aurifaber und argentarius aus Herzogen-
busch im Hospital der Benefratelli und wurde in der Animakirche begraben.
[Totenbuch der S. Maria dell’ Anima. — Forcella Ш, 482. — Hoogewerff,
S. 521, 601.
1638 Am 23.“ Mai wurde Christiano Elche in die Zunft aufgenommen; er kommt
bis 1664 in den Zunftbüchern vor unter den Namen Alcher, Alter, Algher,
Eicher, Alchier. Am 16. Mai 1659 erhielt er бо Scudi für eine silberne
Kassette, die er dem Papst geliefert hatte. [Depositaria Generale. — Archivio
della Società Romana per la Storia Patria ХХХІ, 68. — Univ. Oref.]
1640 Marco Crondaler orefice wohnte bis 1644 in Via del Pellegrino, später in der
Pfarrei S. Simone e Giuda; er ist als germanus de Augusta bezeichnet.
1643—44 zahlte die Zunft бо Bajocchi Almosen an den kranken Marco Glonder.
Sein am 15. April 1647 geborener Sohn Giacomo Grondaler wird bis ı701
in den Büchern der Zunft unter den bancherotti, rigattieri und coronari auf-
geführt. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — Univ. Oref.]
1640 Am 20. Juni wurde Georgius Relinger alemannus Drimberg. dioc. aurifex in
urbe in die Zunft aufgenommen; er kommt bis 1667 in den Zunftbiichern vor
mit den Namen Ringler, Ringher, Englilir, Ingheler und Rimbelier; 1666—67
wurden von der Zunft 2 Scudi an den kranken Giorgio Relingler gezahlt.
[Univ. Oref.]
1642 Am 12. April erhielt Balduinus Moesius quondam Joannis (filius) Leodiensis
argentarius von der Zunft die Erlaubnis zur Eröffnung eines Geschäfts. Bal-
duino Moes aus Lüttich hatte 19. Februar 1639 die Francesca Necchi ge-
heiratet und wohnte darauf in Via dei Pellegrini, später in Via dei Cappellari.
In den Zunftbüchern kommt er bis zu seinem Tod 1677 vor, 1656—57 als
Konsul und Kämmerer, desgleichen 1669—70. Der Name lautet Maes, Mois,
Moise, Moesse, Moses, Moes. Sein Sohn Carlo Moes zahlte 1677—78 an die
Zunft einen Scudo für die Erneuerung des Patents seines Vaters. [Univ. Oref.
— Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — Depositaria Generale.]
1643 Um diese Zeit arbeitete der 1623 in Augsburg geborene Goldschmied Johann
Kilian mit seinem Bruder Philipp in Florenz und Rom. [Heinecken, Nach-
richten von Künstlern und Kunstsachen І, оо.] `
1648 Am 17. März fand eine Versammlung der Arbeiter im Zunfthaus statt, woran
folgende Deutsche teilnahmen: Emilius Brucchus, Bernardus Vidman, Vergi-
lius Rebr. [Univ. Oref.]
1649 Am 2’. April starb durch Selbstmord im Gefängnis der Goldschmied und
Medailleur Joannes Jacobus Cormanus (Kornmann) ex Augusta, sculptor famo-
sissimus. [Bertolotti, Artisti lombardi П, 197—199. — Vaticana Lat. 7880,
fol. 118. — Sandrart, Teutsche Akademie, S. 322.]
1656 Am то. Januar erhielt der Goldschmied Zacharias Ofen aus Sachsen von der
Zunft 30 Bajocchi Almosen. [Univ. Oref.]
1656—58 kommt der Meister Martino Thaiphel, auch Daifel und Taifer in den
Zunftbiichern mit Zahlungen vor. [Univ. Oref.]
1657 Am 24. Juli 1657 verlangte Matteo Pilchel todesco zur Meisterprobe zugelassen
291
zu werden und zahlte 1662 für das Patent тї giulii; bis 1667 kommt er
einigemal in den Zunftbüchern vor als Pilcher, Pilter, Pichter. Am 7. Juli 1667
zahlte die Zunft 2 Scudi 32 Bajocchi für seine Leichenfeier. [Univ. Oref.]
1660-61 Giovanni Lelio Schinder zahlte її giulii an die Zunft für das Meister-
1661
1661
1661
patent; er kommt dann bis 1699 in den Zunftbüchern vor mit dem Namen
Schinderi, Scineri, Scindel und Schincher, 1690—91 als Konsul. Sein Sohn
Tomaso Schinder bat 26. April 1699 um Erneuerung des Patents des Vaters
und wurde zur Probe zugelassen; 1700—01 zahlte er per la conferma della
patente spedita l’anno 1699. Er kommt noch 1702 in den Zunftbüchern vor.
[Univ. Oref.]
Am 29. August heiratete Fridericus Rostus aus Hamburg die Tochter Maria
Angela des Meisters Straub und wohnte dann in Via del Pellegrino, zuerst
zusammen mit dem Schwiegervater bis 1664, dann erlangte er das Meister-
patent, wofür er 1664—65 an die Zunft 11 giulii zahlte, und ließ sich selb-
ständig als argentiere mit der insegna del Mondo d'Oro in derselben Straße
nieder. Der Name lautet Rust, Ruster, Rustir, auch Rossi. Im Juni 1666
wurde ein Prozeß wegen Betrugs gegen Federigo Ruster aus Hamburg er-
öffnet. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 291, Artisti subalpini, S. 228, Artisti fran-
cesi, S. 190. — Univ. Oref. — Pfarrblicher von S. Lorenzo in Damaso.]
Am 8. September erhielt Giovanni Richter orefice da Brefelde in Germania
die Erlaubnis zur Eröffnung eines Geschäfts in seinem Haus alli Bresciani in
Via del Pellegrino; 17. September 1661 wurde Joannes Richier quondam Gas-
paris (filius) de Bresel in Germania in die Zunft aufgenommen und zahlte
1664—65 11 giulii für das Patent. Anfangs 1668 zahlte die Zunft ein Almosen
von 2 Scudi 40 Bajocchi an seine Witwe. [Univ. Oref.]
Am 26. Januar erhielt Balthasar Chrigher Alemannus die Erlaubnis zur Eröff-
nung eines Geschäfts, 1660—6ı zahlte Balthasar Chieger an die Zunftır giulii
für das Patent. Dann kommt er bis 1699 häufig in den Zunftbüchern vor mit dem
Namen Chriegl, Chieger, Gricle, Ghrigel, Chreichel, Kriegl, Chriel, 1684 —85
und 1687—88 als Konsul und Kämmerer; die Zunft erkannte seine gute Ver-
waltung an. In einem Verzeichnis der Goldschmiede, die 1680 außerhalb der
Via del Pellegrino wohnten, kommt Baldassare Grichel vor; 1663 war Bal-
dassare Crighel aus der Pfarrei S. Biagio Taufpate bei einem Sohn des Schmieds
Rustemeyer. Balthasar Krieg] Graecensis (aus Graz) germanus aurificum arte
perinsignis gemmarum peritia nulli secundus starb 26. Januar 1699 und wurde
im deutschen Campo Santo begraben, wo ihm seine Frau Margarete Gasser
einen Grabstein setzte. [De Waal, Roma Sacra, S. 572. — Bertolotti, Artisti
belgi, S. 297 f. — Forcella III, 410. — Univ. Oref. — Pfarrbiicher von S. Lo-
renzo in Damaso.]
1668—69 Arnoldo Lemm zahlte 30 Bajocchi an die Zunft. 1673 wohnte Arnoldo
Lemm aus Liittich, 38 Jahre alt, in Via del Pellegrino bis 1693, mit der In-
segna di Ercole, er ist als argentiere bezeichnet. In den Zunftbiichern wird
er bis 1690 genannt, 168r als Konsul. Ein Francesco Lemm, wahrscheinlich
der Sohn, kommt von 1693 bis 1715 in den Zunftbiichern vor. [Univ. Oref.
Pfarrbücher von S. Lorenzo Damaso.]
1672 Am 2. September zahlte Gisberto Monten todesco 11 giulii für das Patent;
292
kommt noch bis 1680 mit Zahlungen an die Zunft vor, wird bald Monten,
bald Montes und Monte genannt, wohnte am Corso. [Univ. Oref.].
1673 Cristoforo Giudice (Richter), germano, orefice, 39 Jahre alt, wohnte bis 1681
in Via del Pellegrino, all’ insegna dell’ Imperatore, später bis 1690 in Via
dei Cimatori; wahrscheinlich ein Sohn von Giovanni Richter. [Pfarrbücher
von S. Lorenzo in Damaso.]
1673— 74 zahlte Ludovico Lanscruder an die Zunft den Jahresbeitrag von einem
Scudo; kommt 1688 zum letztenmal in den Zunftbüchern vor. Der Name
tritt in sehr wechselnden Formen auf, er lautete richtig Landskron, der Käm-
merer Krieg] mit seiner klaren Handschrift schrieb Lanzcron. [Univ. Oref.]
1675—76 zahlte der Arbeiter Giorgio Bocca todesco an die Zunft einen Beitrag
von 50 Bajocchi; er kommt bis 170 in den Zunftbüchern vor mit dem Namen
Giovanni Giorgio Bocchi, Bocco, Bocher, Bucca, Buccus, filius quondam Joannis
Martini de Argentina (Straßburg) aurifex in urbe; 1690—91 war er Konsul
der Zunft. [Univ. Oref.]
1677 wohnte Giovanni Sciumann tedesco, 27 Jahre alt, als lavorante beim orefice
Martelli am Spanischen Platz. [Pfarrbücher von S. Andrea delle Fratte ]
ı680 Um 1680 kam ein um 1660 in St.Marie bei Antwerpen geborener Goldschmied
Giovanni de Martin nach Rom, wo er die Tochter eines argentiere heiratete
und sich niederließ. 1766 wurde von Deutschland aus nach ihm geforscht,
da ihm eine Erbschaft zugefallen war. [Chracas, Diario ordinario di Roma,
1766, Nr. 7719.]
1680 arbeitete Giovanni Francesco Filigher, 19 Jahre alt, bei Arnold Lemm. [Pfarr-
bücher von S. Lorenzo in Damaso.]
1680 Giovanni Paolo Bendel tedesco argentiere wohnte im Cortile Ortolani, seit
1684 mit seinem eigenen Geschäft al Calice, von 1690 an in Via del Pelle-
grino bis 1710. Am 26. Mai 1680 heiratete Giovanni Paolo Bendel aus Beil-
heim (Augsburg) die Alessandra Giusti. Der Name wird auch Pendel, Ben-
den, Bennel, Pennel geschrieben. Am ro. April 1685 wurde Giovanni Paolo
Penel von der Zunft zur Meisterprobe zugelassen, legte 16. Juni 1685 eine
tazza d’argento als Probestiick vor und erhielt darauf das Patent, wofiir er
11 giulii zahlte; darauf kommt er in den Zunftbüchern bis 1710 vor, beklei-
dete auch verschiedene Ämter in der Zunft. Um 1695 arbeitete er an der
Ausschmückung der Ignazkapelle in der Kirche Gesu mit. [Univ. Oref. —
Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — Bertolotti, Artisti Subalpini, S. 209f.]
1683 Am 23. Mai heiratete Jacobus Neinmaier aus Handelstar (?), Diöcese Freising,
die Giovanna Giusti. Er wohnte in Via del Pellegrino, Cortile Savelli, und
hatte als orefice und argentiere das Ladenschild al Licorno (Einhorn), dort
kommt er noch 1733 im Alter von 78 Jahren vor. Der Name lautet Neimair,
Naimar, Nainmaer, Naimer, auch Laiman. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in
Damaso.] |
1683 Am 2. Mai heiratete Cristiano Silichmiller aus Dresden die Maria Magdalena
Conti und wohnte zuerst als Arbeiter bei einem Goldschmied in Via del
Pellegrino, seit 1687 in seiner eigenen Bottega d’orefice al Melone bis zu
seinem Tod 29. November 1708. Die Zunft ließ ihn 31. August 1687 zur
Meisterprobe zu, hieß 27. November d. J. sein Probestück, einen Ring mit
sieben Diamanten, gut und verlieh ihm das Patent, wofür er 1688 11 giulii
zahlte. In den Zunftbiichern kommt er bis 1708 häufig vor, 1698—99 als
Konsul; der Name lautet Silichmiler, Selichimiler, Selichmiler, Silimiler, Selli-
miller. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
1684—85 Paolo Pieri todesco zahlte an die Zunft 11 giulii für das Patent. Paolo
293
1687
1687
1688
1688
Pieri da Corintho (Kärnthen) wohnte 1669, 11 Jahre alt, bei seinem Schwager
dem Lautenmacher Martin Hartz. Die Goldschmiedezunft ließ ihn 10. Februar
1685 zur Probe zu, erklärte ro. April d. J. sein Probestück, einen Ring mit
Diamantenrosette, für genügend und verlieh ihm das Meisterpatent. Hierauf
führte er als orefice und argentiere mit seinem Schwiegervater Bassi das
Geschäft al Corallo in Via del Pellegrini bis 1718. In den Zunftbüchern
kommt Paulus Pierius quondam Pandulfi (filius) de Filach in Germania häufig
vor, 1694—95 und 1715—16 als Konsul und Kämmerer. [Univ. Oref. —
Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
Am 27. November wurde Gioacchino Pront todesco von der Zunft zur Probe
zugelassen und zahlte 1687—88 für das Meisterpatent 11 giulii. Bis 1690
kommt er in den Zunftbüchern vor mit dem Namen Brandus, Brandi, Brandt.
[Univ. Oref.]
Francesco Reif orefice wohnte, 29 Jahre alt, im Vicolo Savelli bis 1692.
[Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
Giovanni Lorenzo Dich aus Hamburg wohnte in Via del Pellegrino und be-
trieb eine Argenteria all’ insegna di S. Michele; 1696—97 wird er in den
Zunftbüchern unter den giovani aufgeführt. Bei zweien seiner Kinder war
Paolo Pieri Pate. Er starb 1698. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.
— Univ. Oref.]
Federico Purchart leistet Zahlungen an die Zunft. Giovanni Federico Pulchardo
tedesco orefice arbeitete schon 1684 in dem Laden alla Speranza in Via del
Pellegrino. 1696—97 erhielt Federico Burcard von der Zunft ein neues Patent,
nachdem sein Probestück, ein Ring mit sieben Diamanten, am 13. November
1696 gut befunden worden war, und betrieb seitdem in Via del Pellegrino
ein Geschäft mit dem Schild des Spirito Santo bis 1708. In den Zunftbüchern
kommt er bis 1714 vor mit dem Namen Burchard, Burcardt, Purcar, Pulcher,
1709 als Kämmerer, desgl. 1711 als Kämmerer und Konsul. 1699 wurde dem
Giovanni Federico Burcard aus Nirbergh ein Sohn geboren, dessen Pate Paolo
Pieri aus Kärnthen war. 1720—21 wohnte er, 60 Jahre alt, beim Palazzo
Bonelli an Piazza S. Apostoli. Univ. Oref. — Pfarrbiicher von S. Lorenzo
in Damaso und S. Apostoli.]
1689 — 90 zahlte Michele Charlier di Fiandra 11 giulii für das Meisterpatent und
1690
294
betrieb in Via del Pellegrino als orefice und argentiere ein Geschäft mit dem
Schild des hl. Michael bis 1737. In den Zunftbüchern wird er auch Carlier
und Carli& genannt und 1736 als Konsul aufgeführt. Am 25. Juni 1704 heira-
tete Michele Carlier aus Ati, dioc. Cambray (Ath im Hennegau), die Maria
Dionifia Pozzi aus Poggio Mirteto. Michele Carlier, argentiere fiamengo, wurde
20. August 1729 vom kaiserlichen Gesandten in Rom der Wiener Regierung
empfohlen, um zum Hoflieferanten ernannt zu werden; der Gesandte erwähnt
in dem Schreiben, daß Carlier für den Papst, den Fürsten Colonna und an-
dere fürstliche Häuser arbeitet. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo
in Damaso und S. Susanna. — Hof- und Staatsarchiv Wien, Röm. Gesandtsch.-
Akten Nr. 107, 126.]
Am 12. Juni wurde Monsié Gottfredo Burchardt von der Zunft zur Prüfung
zugelassen; 1689—90 zahlte Gottifredo Burchart Liegese (aus Lüttich) 11 giulii
für sein Patent und schenkte 9 Scudi für Anschaffung von zwei silbernen
Kirchengefäßen. Er wohnte dann als argentiere mit der insegna Francia in
Via del Pellegrino, im Jahre 1696, 38 Jahre alt, war 1695 bei den Arbeiten zur
Ausschmückung der Ignaz-Kapelle in der Kirche Gesu beschäftigt und 1703
bis 1704 sowie 1709—10 Konsul und Kämmerer der Zunft, in deren Büchern
ег bis 1711 vorkommt mit dem Namen Burchardo, Bourhardt, Burchard,
Boccardi, Boardo. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. —
Bertolotti, Artisti subalpini, S. 209 f.]
1694 arbeitete Giuseppe Liep tedesco bei dem argentiere Bendel. [Pfarrbiicher
von S. Lorenzo in Damaso.]
1694—95 Gioseppe Luigi Pilgram zahlte an die Zunft 11 giulii fiir sein Patent, das
ihm 6.Juni 1695 verliehen wurde; er wird als Milanese bezeichnet und kommt
bis 1700 in den Zunftbiichern vor, auch als Inhaber verschiedener Amter.
[Univ. Oref.]
1695 Um diese Zeit war Adolfo Gaap aus Augsburg bei der Ausschmiickung der
Ignazkapelle in der Kirche Gesu beschäftigt, wo ein Relief mit der Befreiung
eines Besessenen sein Werk ist; er wird als argentiere bezeichnet und mit
seinem Bruder Giovanni Lorenzo Саар 1700—or unter den giovani der Gold-
schmiedezunft aufgeführt. [Titte, Nuovo Studio di pittura, scoltura ed archi-
tettura nelle chiese di Roma, S. 15 des Nachtrags. — Bertolotti, Artisti sub-
alpini, S. 209f. — Univ. Oref.]
1696— 97 zahlte Giovanni Benedetto Creil an die Zunft ıı giulii für das Meister-
patent; sein Name kommt dann bis 170% öfter in den Zunftbüchern vor. Der
Name lautet wohl richtig Grail; eine solche Familie aus der Diözese Augs-
burg war im 17. Jahrhundert in Rom ansässig, zwei Mitglieder derselben
waren Lautenmacher. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
1698—99 Antonio Axer aus Köln erhielt von der Zunft das Meisterpatent; er kommt
noch 1701 in den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.]
1698 Am 14. September heiratete Joannes Jacobus Smiz aus Antwerpen die Helena
Bellucci aus Zagarolo. 1699 wohnte Giacomo Smizzi fiamengo argentiere,
25 Jahre alt, in Via del Pellegrino bis 1736. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in
Damaso.]
XVII. Jahrhundert.
1700 Um 1700 arbeitete der Goldschmied Peter Boy aus Frankfurt a. M. in Rom
und wurde Mitglied der Schilderbent. [Gwinner, Kunst und Künstler in Frank-
furt, S. 245.]
1703 Henrico Sepenfel argentiere aus Köln wohnte in Via Capo le Case gegenüber
der Kirche S. Giuseppe. Am 27. Februar 1692 hatte Henricus Sepinfeld aus
Köln die Anna Maria Delfini geheiratet; Trauzeuge war der Goldschmied
Givacchino Brand germanus. 1722 wohnte Enrigo Seppenflet orefice aus Köln,
60 Jahre alt, in Via dei Cappellari. Sein 1693 geborener Sohn Cristiano Setten-
felder, auch Septemfelt und Pexenfelder, wurde 26. März 1730 von der Zunft
zur Meisterprobe zugelassen und zahlte für das am 28. Mai d. J. verliehene
Patent die Taxe 1730—33. [Univ. Oref. — Pfarrbücher S. Lorenzo in Da-
maso, S. Andrea delle Fratte und S. Susanna.]
1704 Am 24. Mai erhielt Francesco Metler svizzero den ersten Preis der Akademie
S. Luca in der II. Skulpturklasse. 1708 wohnte Francesco Metteler svizzero
argentiere lavorante, 30 Jahre alt, in Via dei Cappellari bis 1720. [Archiv
S. Luca. — Pfarrbiicher von S. Lorenzo in Domaso.]
1719 Am 21. Dezember erhielt der ı8jährige Valentin Vithmann, Sohn des Gold-
schmieds Bartholomäus Vithmann in Via del Pellegrino von der kaiserlichen
295
Gesandtschaft einen Paß zur Reise nach Neapel. [Paßregister im österreich.
Historischen Institut zu Rom.]
1720 Am 29. September erhielt Giovanni Burkard, Sohn von Gottfried B., das
Meisterpatent. [Univ. Oref.]
1720 wohnte Giovanni Giuseppe Smitz di Suezia (soll wohl Schwaben heißen),
orefice, 56 Jahre alt, im Salone del Crocifisso bei Via del Pellegrino, nachher
in Via dei Leutari und 1726 in Via dei Cappellari. [Pfarrbücher von S. Lo-
renzo in Damaso.]
1722 Floriano Giovanni Fürstweger aus Wien kommt nach Rom und arbeitet bei
verschiedenen Goldschmieden. Am 21. März 1728 legte er der Zunft seine
Papiere vor, sowie einen doppelarmigen Leuchter als Probestück und erhielt
darauf am 30. Mai d. J. das Meisterpatent. [Univ. Oref.]
1725 Am 15. Juli wurde Giovanni Similier quondam Cristiani (filius) von der Zunft
zur Probe zugelassen und erhielt 22. Juli d. J. das Meisterpatent; er kommt
dann in den Zunftbüchern bis 1764 öfter vor (Selichemilier, Sigmilier, Seli-
miler), verpflichtete sich 10. September 1761 mit den übrigen Meistern,
ıo Jahre lang keine fattori anzunehmen und keine allievi zu machen. Am
26. November 1735 heiratete Joannes Silimilier die Francesca Falciani. [Univ.
Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
1725 Am 18. März wurde Filippo Pieri, Sohn von Paolo Pieri, zur Meisterprobe
zugelassen, legte als Probestück einen Ring vor und erhielt am 27. Mai d. J.
von der Zunft das Patent. Ein Nachkomme Vincenzo Pieri, Sohn von Carlo
Antonio P., orefice, wohnte, 49 Jahre alt, 1790 in Via del Pellegrino und starb
9. September 1802. Univ. Oref. — Pfarrbiicher von S. Lorenzo in Damaso]
1726 Am їз. Juni erhielten die Goldschmiede Johann Reiss und Johann Eigner von
der kaiserlichen Gesandtschaft Pässe nach Wien. [Paßregister im österreich.
Historischen Institut zu Rom.]
1729 Am 4. September erhielt Franz Wiricus, Goldschmied aus Lüttich, von der
kaiserlichen Gesandtschaft Paß nach Deutschland. [Paßregister im österreich.
Historischen Institut zu Rom.]
1734 wohnte Giovanni Paolo Caiser im Vicolo Savelli bei Via del Pellegrino; er
war Inhaber eines Geschäfts in Via dei Coronari, war bei den Metallarbeiten
für die Fontana di Trevi und 1747 an der Ausschmückung einer für Portugal
bestimmten Kapelle beteiligt. [Luzi, La Fontana di Trevi, S. 27. — Chracas,
Diario ordinario, 1747, Nr. 4647. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
1735 21. Dezember wurde Francesco Paisla da Svevishal in Germania (aus Schwä-
bisch Hall) von der Zunft zur Meisterprobe zugelassen, seine Probearbeit am
29. Januar 1736 für genügend erkannt und ihm das Patent erteilt. Am 29. Mai
1752 wurde Francesco Baislach zum dritten Konsul der Zunft gewählt, 10. Sep-
tember 1761 verpflichtete er sich mit den übrigen Meistern, keine fattori an-
zunehmen und keine allievi heranzuziehen. Er wohnte schon 1729 in der
Pfarrei S. Celso, später in der Pfarrei S. Tommaso in Parione. [Univ. Oref.
— Pfarrbücher von S. Pietro und S. Lorenzo in Damaso.]
1735 21. Dezember wurde Ernesto Volner da Vienna von der Zunft zur Meister-
probe zugelassen, 25. März 1736 sein Probestück als genügend erkannt und
ihm das Patent erteilt. Bis 1756 kommt Ernesto Volners oder Volmer in
den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.]
1737 Am 25. April erhielt Antonio Carlier, Sohn von Michele C., die Erlaubnis,
einen Goldschmiedladen zu eröffnen. [Bertolotti, Artisti francesi, S. 194.]
296
1736 Am 30. September wurde Simone Custerman aus Wien zur Meisterprobe
zugelassen, sein Probestück am 25. November 1736 als genügend erkannt und
ihm das Patent erteilt; am 8. Oktober 1736 zahlte er dafür 2 Scudi 10 Ba-
jocchi. Er kommt bis 1779 in den Zunftbüchern vor mit den Namen Cosman,
Coisman, Costrerman und Gusterman, 1750 und 1769 als Konsul. 1767 war
er Kimmerer der deutschen Campo Santo-Bruderschaft. Sein Sohn Lorenzo
Custerman wurde 30. Januar 1791 zur Meisterprobe zugelassen, sein Probe-
stück am 27. März d. J. gutgeheißen und ihm das Patent erteilt. Von 1797
bis 1804 war er Konsul und Kämmerer der Zunft. Im Februar 1808 wurde
Lorenzo Kustermann in den Verwaltungsrat der deutschen Anima-Bruderschaft
gewählt. Als im Sommer 1815 ein päpstlicher Kommissar seinen Laden be-
sichtigen wollte, verwahrte er sich dagegen unter Berufung auf sein Amt
als Provisor der Anima, wodurch er an der Exemtion der Wiener Hofbeamten
teilnehme. [Univ. Oref. — Römische Gesandtschaftsakten im Wiener Archiv,
Nr. 445. — Schmidlin, Geschichte der deutschen Nationalkirche in Rom,
S. 683, 696.]
1741 Am 26. März wurde Gaetano Smiz, Sohn von Jakob S., von der Zunft zur
Meisterprobe zugelassen; am 30. April wurde das Probestück des argentiere
Gaetano Smiz für gut befunden und ihm das Patent erteilt; er kommt bis
1755 in den Zunftbüchern vor. Seit 1747 hatte er in Via del Pellegrino ein
Geschäft mit dem Schild Arme di Portogallo. [Univ. Oref. — Pfarrbücher
von S. Lorenzo in Damaso.]
1745 wohnte Giovanni Miller aus Köln, argentiere, am Campo di Fiore, später in
Via del Pellegrino bis 1763. Sein Sohn Giuseppe Miller, argentiere, wurde
25. März 1764 von der Zunft zur Probe zugelassen, am 29. April d. J. das
Probestück gutgeheißen und ihm das Patent erteilt; bis 1779 kommt er in den
Zunftbüchern vor. Seit 1764 hatte er seinen Laden mit dem Schild al Del-
fino in Via del Pellegrino Nr. 149 bis 1806. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von
S. Lorenzo in Damaso.]
1746 wohnte in Via del Pellegrino der Goldschmied Stefano Praun aus Wien mit
der Insegna della Lupa. Sein Sohn Antonio Praun, argentiere und gioielliere,
wohnte 1769 bis 1775 nahe der Piazza del Pasquino. Antonio Praun wurde
27. Oktober 1776 von der Zunft zur Probe zugelassen, sein Probestiick am
24. November d. J. gutgeheiBen und ihm das Patent erteilt. [Univ. Oref. —
Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.]
1746 Am 27. März wurde das Probestück des Giuseppe Antonio Sepp für genügend
befunden und ihm von der Zunft das Meisterpatent erteilt; 20. März 1746
zahlte Giuseppe Sepp bavarese 3 Scudi für das Patent. Sein Name kommt
bis 1763 in den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.]
1747 Der Goldschmied Johann Becker aus Sachsen stahl im Haus des Kardinals
Albani eine goldene Uhr und dem Baron Venzroth sechs silberne Löffel und
wurde in Bologna verhaftet. [Römische Gesandtsch.-Akten in Wien, Nr. 282, 313.]
1747 Am 25. November zahlte Giuseppe Vagner an die Zunft 3 Scudi für sein
Patent; am 28. Januar 1748 wurde das Probestück des Francesco Giuseppe
Wagner für gut befunden und ihm das Patent erteilt; er kommt bis 1774 in
den Büchern der Zunft vor. [Univ. Oref.]
1747 Am 30. Mai 1747 wurde das Probestück des Francesco Veder von der Zunft
gutgeheißen und ihm das Patent erteilt, wofür er 31. Mai тт giulii zahlte.
Sein Name kommt als Veder und Weder bis 1779 in den Zunftbüchern vor,
Monatshefte für Kunstwissenschuft. 1922. 10-- 13. 20 297
t751 als Konsul. Francesco Weder, orefice aus Orvieto, wohnte seit 1747,
37 Jahre alt, in Via del Pellegrino mit dem Ladenschild „Europa“. Sein Sohn
Giovanni Baptista Weder war ein tüchtiger Gemmenschneider, sein 1748 ge-
borener Sohn Giuseppe Weder argentiere; sie wohnten noch am Anfang des
19. Jahrhunderts an Piazza Navona 97. [Univ. Oref. — Pfarrbiicher von
S. Lorenzo in Damaso und S. Eustachio.]
1760 Um 1760 kam der Goldschmied Peter Ramoser aus Bozen nach Rom, wo er
bei Luigi Valadier arbeitete und mit Bartholomäus Heger die Nachbildung
der Trajanssäule anfertigte. 1784 wohnte Pietro Raimuser sigillatore im Orto
di Napoli. [Atz, Kunstgeschichte von Tirol, S. 952. — Pfarrbuch von S. Lo-
renzo in Lucina.]
1766 Am 6. Februar heiratete Giovanni Rocco Vanlint, Sohn des Malers Hendrik
1774
van Lint, argentiere in Via del Babuino, die Rosa Fiorelli. Giovanni Vanlint
argentiere starb in Via Margutta 29. Oktober 1780, 45 Jahre alt. [Pfarrbücher
von S. Lorenzo in Lucina und S. Maria del Popolo.]
Bartholomäus Heger vollendet in der Werkstatt Valadiers die Nachbildung
der Trajanssäule (jetzt in der Münchener Schatzkammer). 21. Mai 1778 wurde
Bartolomeo Hecher von der Zunft zur Probe zugelassen, sein Probestück am
28. Juni gutgeheißen und ihm das Patent erteilt, wofür Bartolomeo Icher 30. August
d. J. 3 Scudi zahlte. Sein Name kommt bis 1792 in den Zunftbüchern vor.
1778 wohnte Bartolomeo Hecher, argentiere aus Salzburg, mit Frau Ales-
sandra Zuccarelli am Corso 18—20 (Goethehaus), darauf gegenüber im Palazzo
Rondanini 1786—88, zuletzt in Via del Babuino. Bei seinem 1779 geborenen
Sohn Franz Xaver stand der Wiener Medailleur Franz Xaver Würtb Pate.
Die von Heger und Ramoser ausgeführte Nachbildung der Trajanssäule in ge-
triebenem Silber wurde am 26. Juni 1783 von dem Kurfürst Karl Theodor
von Bayern angekauft. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Maria del Popolo.
— Karl Theodors Reisetagebuch 1783 in der Hof- und Staatsbibliothek München.]
1785 Francesco Stais, orefice, wohnte im Vicolo dell’ Aquila bis 1788, darauf an
298
Piazza S. Lorenzo in Damaso bis zu seinem Tod 3. November 1792. [Pfarr-
bücher von S. Lorenzo in Damaso.]
MISZELLEN
DAS FASS DER „RUHE AUF DER FLUCHT“ INDÜRERS MARIEN-
LEBEN
Von GEORG STUHLFAUTH
meinen „Kleinen Beiträgen zu Dürer“ —
Monatshefte für Kunstwissenschaft 15, 1922,
S. 57 ff. — schloß ich den über das Faß in Dürers
„Ruhe auf der Flucht“ (В. go) mit dem Bemerken,
daß es mir nicht gelungen sei, eine zweite Dar-
stellung des „Packfasses“, als welches es dort auf-
zufassen und von Dürer gemeint sei, ausfindig
zu machen. Ein glücklicher Zufall führte mir
mittlerweile die gesuchte Parallele zu, und ich
mache von ihr um so lieber Mitteilung, weil sie
nicht nur leicht zugänglich, sondern auch für
unsere Frage um ihrer unzweideutigen Form willen
doppelt wertvoll ist. Sie ist enthalten in einer
gestochenen Ansicht der Stadt Danzig, die im
(5.) Bande „Geschichte der Neuzeit“ der von
J. v. Pflugk-Harttung bei Ullstein & Co., Berlin,
herausgegebenen Weltgeschichte, 8. 33, ab-
gebildet ist. Hier ist ihr die Angabe untergesetzt:
„Stich in ,Politica Politica‘, ‚Nürnberg 1700 bei
Rudolf Johann Helmer‘.“ Dieser bibliographisch
schlechthin unzulänglichen Angabe liegt die Tat-
sache zugrunde, daß der Stich aus einem Buche
stammt, das in erster Auflage 1623 unter dem
Titel „Daniel Meisner, Thesaurus Philo- Poli-
ticus. Das ist Politisches Schatzkästlein guter
Herren und bestendiger Freund“, 8 Teile, quer 4°,
Frankfurt a. M., und dann in einer der vielen
späteren Ausgaben auch unter dem Titel „Politica
Politica“ erschienen Ier"), In den mir vorliegen-
den beiden ersten Auflagen — die zweite er-
schien 1624—1626 — enthält der orste Teil als
den fünfundvierzigsten unseren Stich, Der Stecher
ist der als Verleger genannte Eberhard Kies er,
der 1612—1630 in Frankfurt а. M. tätig war‘),
Der Stich umfaßt 70 mm in der Höhe, 144 mm
in der Breite, ist also in dem Ulistein-Bande etwas
vergrößert (= 71><146). Über ihm steht in Ma-
(1) Ich danke die Aufklärung der freundlichen Auskunft des
Herrn Archivdirektors Dr. Kaufmann in Danzig.
(2) 9. Nagiers Künstier-Lexikon s. v,
juskein die Einzeile: Nemo dicitur Dominus, nisi
antea servus fuerit; unter ihm die andere;
Nemo potest Dominus fieri laudabilis, ante
Ni fuerit Servus, teste Platone loquor ;
darunter in zwei Spalten die Doppelverse:
Plato spricht, der hochweise Mann,
Niemand zum Herren werden kann:
Es sey dann, dass Er, in seinem Wesn,
Zuvor ein Diener sey gowesn.
Die „kurtze Erklärung und Bedeutung der Em-
blematischen Figuren“, die den Tafeln voransteht,
lautet für unseren Stich: |
Nemo dicitur Dominus, nisi antea servus fuerit. ||
Dantzig’). || Der Kauffmans Diener | welcher ein joch
holtz auff dem Hals ligen hat | bedeutet | dass ег
wegen seines herren im anvertrawten Guts grosse
sorg auffm hals liegen habe. Der andere | so auff
einem stul sitzet | vnd das joch holtz von sich
geworffen hat | hinder welchem auch ein Han auff
einem fuß stehet | zeigetan | daß er wegen seines
stetté*) fleißes vnd grossen sorg | so er tag уп?)
nacht gehabt | endlich zum herren sey worden,
Das Bild zeigt im Hintergrunde die Stadt, im
Vordergrunde die beiden Männer nebst allerlei
Gepäckstücken, bestehend in mehreren festum-
schnürten Koffern und mehreren Fässern, Zwei
der letzteren fallen besonders ins Auge: sie liegen,
mit den Kopfseiten dem Beschauer zugekehrt,
gerade іп der Mitte dicht aneinander gerollt, vor
dem größten der Koffer, der ihnen als Folie dient,
und überdeckt von einer gemeinsamen Matte genau
derselben Art, wie sie über dem Faß des Dürer-
Blattes liegt. Kein Zweifel: die Fässer sind Pack-
fasser und die über sie gebreitete Matte ist eine
Schutsdecke gegen Regengüsse. Damit ist das
Rätsel, welches in dem Faß der Dürerschen „Ruhe
auf der Flucht“ gegeben sein mochte, von dem
rund 120 Jahre später entstandenen Stich Eber-
hard Kiesers aus endgültig und restlos gelöst.
(1) Die 3, Aufl. fügt die Zahl 45 hinzu.
(2) 2. Aufl.: stetten. (3) 2. Aufl.: vnnd.
299
ROBERT WEST, Entwicklungs-
geschichte desStils. Hyperion-Verlag,
München 1922.
Die Nachkriegszeit hat uns kunstfreundliche
Jahre gebracht. Überraschend stark und an Orten,
wo man es kaum vermutet hätte, trat das Inter-
esse für Kunst hervor, Leute, die keine eigent-
liche Vorbildung, dafür aber unbefangene Beobach-
tungsgabe an die Kunst herantragen, suchen sich
über künstlerische Vorgänge zu unterrichten, und
wenn dieses Streben auch vorläufig mehr dem
Luxusbedürfnise als ernster Wißbegier entspringt,
ist es doch die Pflicht der Kunstschriftsteller, den
ziellosen Interessen eines breiteren Publikums
Form und Sinn zu geben. Diese Notwendigkeit
hat den Hyperion-Verlag veranlaßt, eine Entwick-
lungsgeschichte des Stils in acht handlichen Klein-
follobänden herauszugeben, die den Zeitraum von
der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts
umfassen wird. Angesichts der schwierigen Auf-
gabe war es ein besonders glücklicher Umstand,
daß Robert West für die Bearbeitung der Stil-
geschichte gewonnen werden konnte, der in den
vier bisher erschienenen Bänden mit staunens-
werter Energie und sicherem Gefühl für das
Wesentliche die auf streng wissenschaftlichem
Wege kaum zu lösende Aufgabe bewältigt hat.
Für die Beschränkung des Stoffes gibt es ja
mancherlei Mittel. Zunächst natürlich die Sich-
tung des Materials, das nur soweit herangezogen
werden könnte, als es die von West vorgestellte
Entwicklung illustriert. Ferner die Beschränkung
auf das Problematische in der Kunstgeschichte,
das zur eigentlichen Triebfeder dieser welthisto-
rischen Skizze geworden und in kluger Zurück-
haltung vor dem Eingriff in wissenschaftliche
Streitfragen nach seiner jeweiligen Eigenart dar-
gestellt ist. Und um ein solches Geistesexerpt
erträglich zu machen, bedurfte es drittens einer
gewissen künstlerischen Gestaltung, durch die
wir die Vorgänge der Kunstgeschichte nicht un-
mittelbar, sondern im Spiegel einer originellen
Persönlichkeit zu sehen vermeinen, Es wäre klein-
lich zu erörtern. ob dieses oder jenes noch hätte
gebracht werden müssen, zu tadeln, daß ganze
Kulturen kaum erwähnt werden und manches
allzu greifbar, anderes wieder flacher ausgefallen
sei. Denn gerade das macht ja das Buch für den
Laien faßlich und für den Fachmann ungewöhn-
lich interessant, daß dae ganze Bild in eine an-
dere Perspektive gerückt ist, als wir es sonst zu
300
sehen bekommen, in eine persönlich-künstlerische
Perspektive. Und das Mittel, wodurch der Autor
uns in der freien Sphäre dieser kunstgeschicht-
lichenVogelschau zu halten weiß, ist seine Sprache,
die von dem abgegriffenen Wortschatz der zünf-
tigen Kunsthistoriker weit entfernt ist und je nach
dem Stoff bald fröhlich, bunt, elegant wirkt, zu-
weilen aber auch zu einer wuchtigen, ich möchte
sagen, dramatischen Schönheit emporsteigt.
Im ersten Band ist der Titel: „Die klassische
Kunst der Antike“ enger gefaßt als es dem In-
halt entspricht,” Er beginnt mit der Insel-Kultur
der Kreter, die ja freilich nur ein Abglanz ist von
den riesenhaften Kulturen des alten Orients, die
aber hier geschickt und in drastischer Charakte-
risierung als Vorstufe zur griechischen Kultur
verstanden ist. Die griechische Kunst ist als die
Frucht eines Rassenkampfes aufgefaßt, als eine
Vermählung dorischer und jonischer Elemente,
resp. als ein Kampf dieser Elemente, der sich im
Lande selbst zwischen der peloponnesischen und
der attischen Kultur abspielt, Die Biütezeit der
attiscben Kunst, also die Klassik im engsten Sinne,
wird kühn, aber in höherem Sinne doch zutreffend
als spezifisch religiöse Periode der griechischen
Kunst bezeichnet, auf die im 4. Jahrhundert der
profane, sinnlichere Stil eines Praxiteles gefolgt
sei, um mit Skopas und Lysipp in die Universal-
kunst des alexandrinischen Zeitalters einzumünden.
Die Ausbreitung der hellenistischen Kultur und
die Verschiebung des kulturellen Schwerpunktes
von Athen nach Rom wird in zwei Kapiteln ge-
schildert, von denen das erstere das Problem
„Asianismus und Hellenismus“, das zweite die
imperialistische Kunst der Römer behandelt, bis
in die Zeit des Titus, dessen Triumphbogen mit
den Darstellungen der Zerstörung Jerusalems un-
gemein künstlerisch als Vollendung der alten und
als Vorahnung der neuen Zeit in die frühchrist-
liche Epoche überleitet. Der zweite Band beginnt
mit der Zersetzung der Antike durch das Ein-
dringen jüdisch - christlicher Elemente, Höchst
eindrucksvoll ist die Kunst unter Trajan und Ha-
drian nicht als Erfüllung uralter Römerwünsche,
nicht als das sonnige Land eifrig erarbeiteter
Herrlichkeit geschildert, sondern was da geschaffen
worden ist, hebt sich bereits gespenstisch ab vom
dunklen Himmel der Völkerwanderungszeit. Wäh-
rend das Christentum sich in den Katakomben
einnistet, erleben wir in den Kaiserbauten der
diokletianischen und konstantinischen Epoche das
gewaltige Wachsen der Dimension und die zu-
nehmende Vergröberung der Formen, die allen
Spätstilen eigen ist.
Die Darstellung der nachkonstantinischen Zeit
brachte erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Denn
wenn eine Entwicklung populär sein will, muß
sie vor allem kontinuierlich sein. Der Laie setzt
voraus, daß unser Wissen um die Dinge gleich-
mäßig sei und mit der zeitlichen Nachbarschaft
wachse, In Wirklichkeit gibt es Zeiten, in denen
das Geschehen sich verwirrt, die Quellen ver-
siechen, die Denkmäler zerfallen. Man spürt in
Wests Schilderung die gediegene Schulung der
Rankeschen Geschichtsdarstellung und in bezug
auf die Kunstgeschichte speziell die Bekanntschaft
mit den Werken Strzygowskis, dessen Ideen nicht
kritiklos übernommen, sondern als orientalischer
Unterton in das Ganze verflochten werden, Jeden-
falls gehört die Darstellung vom Todeskampfe
des Römerreiches im 5. und 6. Jahrhundert, die
Charakteristik der eindringenden Germanenstämme
und des mitten im Fieber der Geschehnisse wach-
senden kirchlichen Prunk- und Kostbarkeitsdranges
zum Schönsten, was von kunstbistorischer Seite
über die frühchristliche Epoche gesagt worden
ist. Mit der Aufrichtung des Frankenreiches er-
öffnet West den dritten Band und entwirft ein
lebensvolies Bild von der welthistorischen Be-
deutung Karls des Großen und seiner Hofkunst,
in der er teilseinen Kanon für das abendländische
Bauen aufzustellen, teils eine Verschmelzung der
germanischen und lateinischen Rassenkultur vor-
zunehmen bemüht ist. Wir erleben den Verfall
der Karolingerkunst und die Aufrichtung einer
spezifisch deutschen Kunstschule im Zeitalter der
Ottonen, die das Vermächtnis des römischen Kaiser-
reiches mit derihnen eigenen sächsischen Energie
verwalten. Das schwierige Problem der Entstehung
der romanischen Formgattungen wird soweit
skizziert, daß der Leser sich zuverlässig orientiert,
ohne auf bestimmte Thesen festgelegt zu werden.
Es folgt eine hochoriginelle Betrachtung des ro-
manischen Kunstgewerbes, in dem trotz aller
byzantinischen Entlehnungen bereits der Sieg der
germanischen Weltanschauung zum Ausdruck
kommt. Als Gegenspieler des deutschen Kaiser-
tums tritt Cluny auf, dessen kunsthistorische Be-
deutung geschickt abgegrenzt wird, nicht nur in
Deutschland selbst, sondern auch in Italien, wo
man den Appenin als die ungefähre Grenzscheide
der feindlichen Einfiußsphären annehmen darf.
Eine kurze Entwicklungsgeschichte der Plastik,
insbesondere der Bauplastik, in der dem Deutsch-
tam eine führende Rolle zuerkannt wird, behan-
deit die Veredelung des Geschmacks von dämo-
nisch-pbantastischen Urgebilden zu jener inter-
nationalen Kultur der Kreuszugsperiode, in der
sich eine Verschmelzung der orientalischen, latei-
nischen und germanischen Stilelemente vollzogen
hat, und am Schluß der romanischen Periode
sind es zwei völlig verschiedenartige Problem-
reihen, in die wir die Geschichte einmünden sehen:
auf der einen Seite das Wölbproblem als dem
Symbol einer neuen Vergeistigung, auf der an-
deren die Verweltlichung der Kunst unter den
Hohenstaufen mit ihrem verfrühten Individualis-
mus, als dessen trotziges Wahrzeichen der Braun-
schweiger Löwe zugleich die hohen Fähigkeiten
und die inneren Gefahren der Stauferherrschaft
repräsentiert. In dem vierten und vorläufig letzten
Band werden Gotik und Frührenaissance vereinigt,
nicht nur buchtechniseh, sondern auch geistes-
geschichtlich. West stellt sich damit abseits von
der üblichen kunsthistorischen Periodenteilung,
teils zum Vorteil, teils zum Nachteil der Darstel-
lung. Das Reizvolle dieser Betrachtung liegt darin,
daß französische, deutsche und italienische Kunst
als zusammengehöriger Komplex behandelt wer-
den können, Giotto und die Pisani zusammen
mit den Meistern von Reims und Naumburg, und
daß in der italienischen Frührenaissance gerade
derjenigen Werke mit besonderer Liebe gedacht
wird, die man als latinisierte Spätgotik bezeichnen
könnte. Andererseits scheint mir aber der Begriff
des Individualismus allzuweit gefaßt zu sein, so
daß die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit
sich verwischt. Zunächst ist in der Gotik eine
Scheidung vorgenommen worden zwischen dem
konstruktiven und dem dekorativ-ausdrucksmäßigen
Inhalt des Stils, wobei sorgsam der Anteil ab-
gewogen wird, den die verschiedenen Länder und
Völker an der Ausbildung der Gotik genommen
haben, Die Hochgotik wird als ein Stil der Strenge
charakterisiert, als eine abstrakte Verbindung des
Technisch-Zweckmäßigen mit einer künstlerischen
Idee, und im Profanbau, der auf dem Wege zum
15. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt, sieht West
umgekehrt eine Verbrämung des Zweckmäßigen
durch kirchliche Dekorationsmotive. Den Höhe-
punkt erreicht die Darstellung Wests in der Aus-
scheidung des spätgotischen Bildeindrucks aus
der abstrakten Architektur. Maßwerk, Glasgemälde,
Ornament und Figurenauffassung drängen auf die
bildliche Wiedergabe hin, im Norden und etwas mo-
difiziert auch im Süden, und als das logischeResultat
alles Vorhergehenden ergeben sich die Malkunst der
frühen Niederländer und der zierlich-befangene Rea-
lismus des toskanischen Quattrocento, die beide erst
im 16. Jahrhundert ihre historische Erfüllung finden.
301
Leichte Lektüre sind die Westschen Bücher
nicht, und ob sie ihren populären Zweck er-
füllen, möchte ich bezweifeln. Denn es gehört
viel Wissen dazu, um die Originalität heraus-
zulesen, die West hineingelegt hat. Man müßte
da vor allem imstande sein, die Auffassung Wests
mit der herrschenden Schuldoktrin zu vergleichen.
Es sind insofern keine Lehrbücher, sondern eine
Feinschmeckerei für die Kunstverständigen selbst.
Aber gerade dafür wollen wir dem Autor dankbar
sein, daß er uns keine abgedroschene Handbuch-
weisheit, sondern Bücher voll sinnvoller Zusammen-
hänge und im Rahmen der Aufgabe etwas Geniales
zu bieten hat. Über Einzelheiten wird man daher
nicht mitihm rechten und mit Spannung erwarten,
wie sich West in den vier nächsten Bänden mit
der uferlosen Verbreiterung des Stoffes, mit der
zunehmenden psychischen Differenzierung der
Kunst und mit der Unübersehbarkeit der Literatur
abfinden wird, Hans Rose.
JOSEPH POPP, Die figurale Wand-
malerei, ihre Gesetze und Arten.
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1921.
Das „Dekorative“, einer der wichtigsten und
schwierigsten Grundbegriffe der Kunstwissenschaft,
ist das Problem dieses Buches; nur hat Popp in
einer vorsichtigen Bescheidenheit das Problem auf
das Dekorative innerhalb der flguralen Wandmalerei
eingeengt, der figuralen im Gegensatz zu jeder
nur ornamentalen, genauer Ornamentmalerei. So-
mit gehört das Wort figural eigentlich in die
Klammer. Popp befaßt sich im ganzen Buch mit
der „Figur“ im Sinne von menschlicher Figur nur
ganz beiläufig, eben weil nicht die figurale Wand-
malerei allseitig sur Diskussion gestellt wird, son-
dern nur in ihren dekorativen Beziehungen, und
für diese eine Seite der Wirkung spielen andere
Faktoren eine größere Rolle als die Figur, vor
allem das Format, die Größe des Bildes, die Technik,
die Raumdarstellung. Hätte Popp das Dekorative
in jeder Erscheinungsmöglichkeit, also s B, auch
in der Plastik aufgesucht, so wäre er vermutlich
auf das Figurale mehr und spezieller eingegangen;
ebenso: hätte er die figurale Wandmalerei erschöp-
fend bebandeln wollen. Trotzdem ließe sich das
Wort figural schwer aus dem Titel streichen, und
man kann höchstens sagen die Umkehrung: „Ge-
setze und Arten der (figuralen) Wandmalerei“ wäre
treffender gewesen, denn diese Gesetze und Arten
sind allseitig behandelt, und die figurale Wand-
malerei eben nicht alleeitig, sie ist nur das engere
Feld, um nach dem Dekorativen zu graben.
зо?
Die Untersuchung beginnt mit der Erörterung
des Schmuckes, er ist stets eine Beziehung von
Schmuckspender zu Schmuckträger und um-
gekehrt; dabei bleibt der Träger die stoffliche und
geistige Grundlage, der Spender muß ästhetisch
sein und zum Träger passen. Das „Passen“
zueinander ist das aufzudeckende Geheimnis.
Der Sprachgebrauch unterscheidet innerhalb des
Schmuckes Ornament und Dekoration; Popp meint,
man wählt diese Bezeichnungen je nachdem der
Träger allein oder sowohl Träger als Spender
selbständige Existenzen sind. Ist der Schmuck-
spender unselbstindig, so redet man von Orna-
ment (ornare — ausstatten), ist der Spender selb-
ständig, d. h. ein Werk der Malerei, Plastik, des
Kunstgewerbes, der Architektur, z.B. ein Brunnen
auf dem Markt, ein Schloß im Park, so redet man
von Dekoration (decorare — würdigmachen). Beim
Ornament kann der Träger selbst ästhetisch wert-
voll sein, er muß es aber nicht sein, dagegen bei
der Dekoration sind immer beide Teile, Träger
und Spender, ästhetisch wertvoll, es sind „Künste“,
die sich untereinander verbinden, indes beim Or-
nament möglich ist, daß sich ein künstlerisches
Muster mit einem nicht künstlerischen, sogar nicht-
ästhetischen Objekt verbindet. So lese ich zwi-
schen den Zeilen die Definition: Dekoration ist die
künstlerische Verbindung von Künsten,
Das Geheimnis, worin das Dekorieren, das „Zu-
sammenpassen“ und aus diesem Passen Neue-Reize-
Erschaffen bestehe, läßt sich, wie Popp in sehr
gesunder Weise erkennt, nur induktiv aufdecken.
Er beschränkt sich von hier ab auf die Wand-
malerei und findet aus der Vielgestaltigkeit der
Korrespondenz von Wandbild und seiner Um-
gebung die Richtlinien seiner Untersuchung, näm-
lich: daß die Wand selbst durch die Farben, die
sie physikalisch-chemisch gestattet, durch ihre
Flächigkeit, durch ihre Funktion als Raumabschluß
dem Bilde die Anpassungsmöglichkeiten an diese
ihre Sondereigenschaften biete. Das Bild hat zwar
bestimmte Rechte, s. B. es muß genügend sicht-
bar sein, übersehbar usw., was für Wand- und
Deckengemälde allerhand zum Teil selbstverständ-
liche, aber durchaus nicht immer befolgte Regeln
ergibt. Das Bild hat aber auch bestimmte Pflichten,
es muß auf die gegebene Form des Raumes Rück-
sicht üben, die realen Raumachsen, die dem Be-
schauer die Stellung zum Bilde aufnötigen, sind
auch die Orientierungsfaktoren für den inneren
Aufbau des Bildes. — Ich will nicht im einzelnen
referieren, wie Popp alle Spezialfälle der Forde-
rungen der Architektur, durchführt; die eine Gattung
solcher Forderungen ergibt sich aus der Tendenz,
Wand und Decke in ihrer Abschlußfunktion zu
unterstreichen, die andere aus der Tendenz, sich
der Richtung oder Richtungslosigkeit, der Ge-
schlossenheit oder Geöffnetheit des Raumes an-
zupassen. Hier polemisiert Popp gegen Sempers
Feindseligkeit gegen die wanddurchbrechende
Malerei; er steht als Kunsthistoriker weitherziger,
gerechter den Möglichkeiten gegenüber und ver-
teidigt das Illusions- oder richtiger „Raumbild“ als
das zum „malerischen“ Raum allein passende.
Es folgt das Kap. IV über die Technik der Wand-
malerei mit vielen Aufschlüssen über die Folge-
rungen, die sich für das „Zusammenfassen“ aus
Farbmaterial und Maltechnik ergeben, aber es
zerreißt, an dieser Stelle eingereiht, den Gedanken-
gang; ich weiß nicht, warum es nicht vor Kap. Ш
eingeschoben wurde, dann hätte sich auch Kap. V
an die Erörterung über die Zusammenhänge von
Bild und Raum angeschlossen. Popp unter-
scheidet hier drei Gattungen des Wandbildes:
Flachbild; Bühnenbild, Raumbild; dies Kapitel ist
für den Kunsthistoriker das interessanteste und
fruchtbarste, die erdrückend große Masse von
Werken ist auf wenigen Seiten klar und sicher
behandelt, man merkt, daß der Verfasser jahre-
lang in diesen Dingen gelebt hat. Ob seine Zu-
rückweisung des heutigen Geschmacks, einer ein-
seitigen Schwärmerei für das Flachbild als dem
einzig dekorativen und ob seine Verteidigung von
Bühnen- und Raumbild bei den Malern Früchte
trägt, ist ungewiß, Asthetiker und Kunstwissen-
schaftier werden das meiste, was Popp hier sagt,
anerkennen müssen. — Es folgt das Schlußkapitel,
in welchem der Verfasser wieder zu allgemeinen
Fragen zurückkehrt; zwar bleibt er hier auch mög-
lichst bei der Wandmalerei, aber das Problem,
was Monumentalität sei — auf dasihn das Problem
der monumentalen Wandmalerei führt — ist ein
allgemeineres. Wie weit er über die bisher ver-
tretenen Ansichten hinauskommt, zeigt seine Po-
lemik gegen Hamann und Vischer. Ich habe be-
sonders aus diesem Kapitel viel neue Erkenntnis
gewonnen, es ist mir das liebste der ganzen Arbeit
und es sei gestattet, daß ich nach dem referie-
renden Teil an dies Schlußkapitel und das syste-
matisch damit zusammengehörige erste einige
Bemerkungen anknüpfe,
Unselbständig ist das Ornament fraglos іп dem
Sinne, wie es Popp darstellt (8.7 und 8); an sich
dringt es stets nach Fortsetzung und findet nur
im Träger sein Maß und seine Grenzen. Aber
jedes Vorlagebuch für Ornamentik beweist, daß
man wenigstens theoretisch jedes Ornament vom
Träger ablösen kann. So abscheulich solche Muster-
bücher von Mustern aussehen, sie geben einen
Überblick über die Formengattungen des Ornaments,
seine Grundelemente, ihre Variations- und Kom-
binationsfähigkeit, ohne Rücksicht auf den Träger.
Das Gefährliche dieser Vorlagemappen, daß sie
den Benutzer verleiten, statt aus dem Träger des
Passende selbst abzuleiten, ihm etwas Nicht-
passendes aufzunötigen, berührt uns hier nicht.
Was aber so als eigentliches Ornament, abgelöst
vom Träger, übrigbleibt, hat schon seinen eigenen
ästhetischen Wort und alle Kategorien der Stil-
kritik sind darauf anwendbar. Abgesehen vom
Träger ist das Muster schon schwer oder leicht,
gedrängt oder weitmaschig, d. h. es wendet sich
an die Kategorie der Einfühlung, und ebenso gibt
es rational gebindigte und irrational verstreute
Musterung usw. Nichts hindert mich (obwohl es
nicht allgemein geläufig ist), diese losgelöste Or-
namentik als eine selbständige Gattung der künst-
lerischen Phantasietätigkeit, als eine Kunst neben
die anderen Künste: Architektur, Plastik, Malerei
Musik, Poesie, Tanz, Mimik zu stellen. Dann ist
jede „passende“ Verbindung des Ornaments, d.h.
des für sich eigentlich nicht existenzfihigen Ge-
bildes mit einem Träger schon Dekoration zu
nennen, wenn man die oben gegebene Definition:
Dekoration ist die „künstlerische“ Verbindung
von „Künsten“, festhält, die ich auch aus Popps
Buch herauszulesen glaubte. Das bat aber un-
übersehbare Konsequenzen; denn dann unterscheide
ich im Ornament das Ornamentale und Dekorative.
Ein Beispiel: während ich dies schreibe, stehen
vor mir mit dem Bücherrücken mir zugewandt
die Bände von Dehios Geschichte der Deutschen
Kunst. jeder, der diese Besprechung liest, kennt
diese Bände mindestens von außen und kann
an ihnen erwägen, wie sehr diese Schrift Ornament
ist, sobald man davon absieht, was diese Schrift
besagt — so wie Einer, der nicht arabisch lesen
kann, nicht hebräisch, nicht griechisch, alle diese
Schriften ganz generell ale verschiedene Orna-
mente auffassen kann. Doch sind offenbar ver-
schiedene arabische, persische, türkische Manu-
skripte wieder innerhalb der Gesamtmöglichkeit
dieser Schriftart verschieden stark ornamentiert.
So ist auch die Aufschrift des Buches von Dehio
sehr ornamental, besonders das große K und das
kleine s in den Worten Deutsche und Kunst
(während das в in Geschichte ohne Schwinzchen
gelassen ist). Dieses Buchstabenornament ist aber
außerdem dekorativ: in seiner Goldfarbe auf Blau,
seiner Verteilung auf dem Bücherrücken, es paßt
sich ihm an (obwohl nicht ganz, da die Text-
und. Tafelbinde verschieden dick sind, also die
303
Rücken verschieden breit sind, während die ge-
drängte Schrift des Textbandes klischeemäßig
auf den breiteren übertragen wurde). Ist also
beim Ornament selbst sowohl das ornare wie das
decorare formwirksam, so sind diese beiden Ten-
denzen des „nur“ Ausstattens und des „oben-
drein“ Würdigmachens eine engere und eine
weitere Tendenz des Künstlerischen überhaupt.
Die engere aber, die ornamentale Absicht, macht
das Ornament zum Ornament, und zwar abgesehen
von seinem Träger, abgesehen 3. B. von der
Funktion, die ein Strich, eine Musterung am Träger
heraushebt, Überträgt man jene Bücherrücken-
schrift genau auf ein Blatt Papier, so wird man
zwar sich fragen, warum die Worte so japanisch
untereinander stehen, aber das spezifisch Orna-
mentale bleibt unangetastet. Die Schriftzüge haben
ihre eigene Gestaltqualität und diese Gestaltetheit
erweist sich als eine, vielleicht als die Grund-
form aller bildenden Kunst. Ich kann jedes Bild,
jede Plastik als „Muster“ sehen, jede Architektur,
wenn man die Flächenaufteilung der Decken,
Wände, Fassaden auf ihr bloßes Linien- und
_ Fleckennebeneinander und -zueinander betrachtet,
ja ich kann sogar von räumlichem Muster sprechen.
Wer keine speziellen biologischen usw. Kennt-
nisse hat, sieht mikroskopische Schnitte als phan-
tastische Ornamente; malt man Tier- und Pflan-
senformen, die der normale Sterbliche nicht kennt,
und die den ihm bekannten nicht ähneln, groß
auf eine Leinwand, so sieht er diese Formen als
Ornament, ohne zu wissen, daß es Tiere und
Pflanzen sein sollen bzw. wirklich sind. Genau
so kann man sich durch einige Schulung im Ab-
strahieren zwingen, jedes Bild, die „dekorative“
Schule von Athen, aber auch jedes völlig selb-
ständige Bild, 3. B. ein Selbstporträt von Rem-
brandt, genau so als bloßes Ornament zu sehen,
oder jeden Faltenwurf einer Plastik, gleichgültig
welcher Zeit, genau so wie die meisten Menschen
einerseits ein Gemälde von Feininger, andererseits
eine Tafel eines medizinischen Atlas, der Komma-
bazillen in ihrer fröhlichen Verteilung zeigt, nur
als Ornament zu sehen imstande sind. Dekorativ
aber wäre dies Ornamentale im Ornament selbst,
wie in Malerei, Plastik und Architektur jeweils
dann, wenn es mit dem Ornamentalen der Nach-
barschaft und weiteren Umgebung zusammenpaßt,
wenn der an einer Stelle angeschlagene orna-
mentale Stil über alles vereinheitlichend hinweg-
schlägt; wenn das Ornamentale des Ornaments
mit dem Ornamentalen der Malerei — des Bild-
musters —, dem Ornamentalen der Plastik usw.
eins ist. 80 deute ich mir auch Wölfflins Unter-
304
scheidung von imitativer und dekorativer Schön-
heit, Imitative Schönheit wirkt auf mich (falls
sie da ist), wenn ich einen Faltenwurf als Fälte-
lung eines Gewandstoffes auffasse und die natür-
lichen Bedingungen für das Entstehen solcher
Bildungen in mir wach werden, dekorative Schön-
heit (falls sie da ist), wenn ich von dieser imita-
tiven Seite absehe und das Muster des Auf und
Ab, Vor und Zurück, Hell und Dunkel, Seicht und
Steil usw. dieser Formen in ihrem Zusammen-
hang erfasse. Diese dekorative Schönheit bezieht
sich aber dann auch auf die Einzelfalten inner-
baib desselben Faltenwurfs, bzw. auf die verschie-
denen Teile desselben Bildes, es ist der zusam-
menhaltende durchwegs eingebaltene Stil der
Musterung, der über das einzelne Kunstwerk bin-
zieht; das Dekorative vereinheitlicht die einzelnen
Teile ein und desselben „Ornaments“, und so sage
ich einfach: mag das Ornament, das Wort im all-
gemeinsten Sinne genommen, eine imitative Seite
baben, wie Malerei und Plastik und manches
Ornament im engern Sinne, mag es keine imi-
tative Seite haben, wie manches Ornament im
engern Sinne und die Architektur, es hat eine
dekorative Schönheit dann, wenn das scheinbare
Vielerlei seiner Bestandteile durch ein einigendes
formales Prinzip zu einem inneren Zusammen-
hang verwachsen muß. Treten Werke verschie-
dener Künste zusammen, so hat ihre Vereinigung
dann einen neuen Reiz, wenn die dekorative Schön-
heit des einen ungehindert sein Echo findet in der
konformen dekorativen Schönheit des anderen.
Von hier aus ist aber Popps Trennung von
Monumentalem und Dekorativem zu beurteilen.
Ich teile seine Auffassung vollkommen, stütze
sie aber von der eben skizzierten Überlegung her
anders. Das Monumentale oder Großzügige be-
schreibt Popp 8. 126 zusammenfassend so: „ез
ist der Gesamteindruck einer überragenden ein-
fachen und einheitlichen Form von bedeutendem
Volumen und Kraftgebalt; in den Hauptteilen ge-
klärt, wesentlich in Ruhe bleibend oder von ge-
haltener Lebensäußerung ... an dem notwendigen
Aufwand unserer gesamten seelischen Leistungs-
fähigkeit als machtvoller Eindruck und Gehalt er.
lebt.“ Man kann diese Definition im einzelnen
bestreiten und ergänzen, jedenfalls würde ich das
Monumentale nicht auf die Ruhe allein einschrän-
ken wollen, sicher aber kommt Popp dem Wesen
der Sache näher als seine Vorgänger, die sich
mit dem gleichen Problem abmühten. Nur scheint
mir eins übersehen, was nicht ins einzelne geht,
sondern das Ganze betrifft, ich meine, was Popp
als Monumentalität definiert, das Großzügige iat
ein Faktor dessen, was wir mit Qualität bezeichnen,
Das Sehen im Großen ist abhängig vom Niveau,
d. h. der Qualität des Künstlers als totaler Per-
sönlichkeit, nur wer eine adäquate Qualität rezeptiv
mitbringt, ist ihr gewachsen und sieht sie. Diese
Seite des Kunstwerks ist aber selbstverständlich
eine andere als das Zusammenfassen von Schmuck-
träger und Schmuckspender. Es kann vorkommen,
daß auch dieses Zusammenpassen Qualität hat
und in dem hier gemeinten Sinn das eine Merk-
mal der Qualität: die Großzügigkeit — aber es
ist nicht immer der Fall, daher gibt es monus
mentale Dekoration und nichtmonumentale Die
Künstleraussprüche, die von jedem Bild — Wand-
oder Tafelbild — das Dekorative verlangen, meinen
meistens das Großzügige, d. h. diese eine Seite
der Qualität. Es ist Popps Verdienst, in diese
sehr komplizierte Lagerung der Begriffe hinein-
geleuchtet zu haben. Monumental und dekorativ
sind zwei sich schneidende Kreise.
Eine Rezension ist nicht der Ort, diese Ge-
danken zu Ende zu führen, genug wenn an-
gedeutet wird, wie viel sich aus der Lektüre ge-
winnen läßt. Nicht alle Kunsthistoriker werden
das Buch verstehen, nicht alle werden merken,
wie sehr sie diese Fragen der Ästhetik angehen;
auch nicht alle Künstler. Die letzteren aber wer-
den, wenn sie das Buch verstehen, nebst vielen
Einzelwinken für die Praxis auch theoretisch darin
mehr finden, als sonst in Büchern, die ihnen sagen
wollen, wie man es eigentlich machen sollte. Denn
so sehr man bei flüchtigem Lesen den Eindruck
haben kann, Popp gebe aus reinem individuellen
Geschmack heraus parteilich Vorschriften, bei
genauerem Lesen findet man, daß er nur die selbst-
verständlichsten Dinge verlangt und ausspricht,
was oft das schwerste ist zu erfüllen, aber auch
nur zu formulieren. Paul Frankl.
ALLGEMEINES LEXIKON DER BIL-
DENDEN KUNSTLER: Begriindet von
Ulrich Thieme und Felix Becker. Hrsg.
von Ulrich Thieme und Fred C. Willis.
XIV.Bd. Giddeus — Gress. Leipzig, See-
mann, 1921. (M.198.—.)
Das Titelblatt des neuen Bandes weist nun wie-
derum Abweichungen auf, die in obiger gedrängter
Angabe angedeutet sind. Im Vorwort wird betont,
daß ein Teil der Verantwortung von jetzt ab auf
die vom Verein bestellten fünf Kuratoren fällt.
Nicht weniger als 126 Stifter privater Mittel wer-
den nembaft gemacht, die auf mehrere Jahre
hinaus das Fortbesteben des Unternebmens er-
möglicht haben. Die hauptsächliche redaktionelle
Neuerung besteht darin, daß man sich nun noch-
mals „zu einer wesentlich gedrängteren Fassung
entschlossen“ bat. Dies merkt man deutlich,
wenn man sieht, wie die Schriftleitung sich durch
das fast unübersehbare Gestrüpp der „Giovanni“
innerhalb 48 Seiten (mit 359 Titeln) gefunden hat.
Immerhin kommen noch Entgleisungen vor, wie
bei van Gogh, der mit 7½½ Spalten wenigstens
mir, Joseph Grassi, der mit 7°/, Spalten wohl
jedermann als zu reichlich bedacht erscheint. Die
Einordnung der Künstler, die im vorigen Band
in richtige Wege eingefahren zu sein schien,
ist in diesem allerdings wieder ganz kraus, Man
mag ihn unter Romano, wohl auch unter Pippi
suchen, der eigentlich, wie auf S. 215, selbst an-
gedeutet wird, unter de’ Gianuzzi eingereiht sein
müßte, aber ihn unter Giulio einzustellen, wie
hier geschehen, will mir doch als ein äußerstes
Kunststückchen vorkommen. Jan Gossaert, gen.
Mabuse, ist ganz richtig unter G. zu finden: warum
da der Wiener Joseph Reznicek, gen. Gisela, unter
G. stebt, kann man nicht verstehen. Überhaupt
die Einstellungen bieten das Äußerste an mangeln-
der Konsequenz dar. Beim Durchstreifen fand
ich unter Heinrich Goeding, daß dieser sich „gegen
Ende seines Lebens mit Vorliebe dem Kupfer-
stich“ zuwendete. Der Satz wird erst dadurch
schlimm, daß darauf folgt „den er technisch gut
beherrschte“. Wer wissen will, daß Goeding den
Stich gut beherrschte, möchte zuvor erfahren
haben, ob Goeding überhaupt je gestochen und
nicht nur radiert habe! Nicht im Text und nicht
einmal in der Bibliographie wird der Artikel im
Repertorium XV, p. 353—6 erwähnt, wo immerhin
zu den 137 graphischen Blättern des Meisters, die
Andresen kannte, weitere 157 nachgewiesen worden
sind. — Wenn auch das Bestreben nach kürzester
Fassung auf das Lebhafteste zu begrüßen ist `
(denn immer noch sind wir erst zur Mitte des
fünften von Naglers 22 Bänden gediehen), so ist
doch zu hoffen, daß die Schriftleitung keine Aus-
wahl unter den Namen trifft, also keine Namen
streicht. Mag Raffaello Santi auf eine Spalte und
die Literaturangaben beschränkt werden; es würde
dem Lexikon damit kein Schaden zugefügt. Aber
die große Karte, daß hier eben jeder Künstler,
über den sich überhaupt Mitteilungen machen
lassen, zu finden ist, wird die Schriftleitung hoffent-
lich nach wie vor in der Hand behalten.
Hans W. Singer.
305
ALLGEMEINES LEXIKON usw. Fünf-
zehnter Band: Gresse — Hanselmann.
Gr. 8°. Seemann, Leipzig 1922. Hibled.
M. 4000.—.
Wie anders kann man ein Referat über den
15. Band beginnen, als mit dem Hinweis auf das
Ableben des eigentlichen Urhebers des gewaltigen
Werkes. Während der Arbeit an diesem Bande
ist Prof. Ulrich Thieme von seinem langen Leiden
erlöst worden. Schon für das, was bislang ge-
leistet worden ist, wird ihm die Kunstwissenschaft
ewigen Dank wissen; noch mehr, wenn endlich
der große Plan, den er angeregt hat, und dem
er sein Leben weihte, zum Abschluß gediehen
sein wird, — Aber während derselben Zeitspanne
hat das Lexikon noch andere Verluste zu beklagen.
Ebenfalls gestorben ist Kurzwelly, einer der älte-
sten und eifrigsten Redaktionsmitarbeiter, Dr. F,
Willis, der seit dem ı3. Band die Hauptstütze
Thiemes als erster Redakteur gewesen war, ist
aus dieser Tätigkeit geschieden und hat sein Amt
in die Hände Ог, Vollmers gelegt, der seit 1906
im Bureau der Schriftleitung sitzt und neben
dem Begründer wobl mehr als irgendein anderer
für das Lexikon geleistet hat. Das zeigt sich
auch wieder, wenn man den neuen Band durch-
sieht. Endlich aber kennzeichnet dieser Band
einen bedeutsamen Abschnitt in der Erscheinungs-
form. Schon seit dem 5. Bande übernahm, wie
das Titelblatt besagt, die bekannte Firma Е, A. See-
mann den Verlag. Erst von jetzt ab aber ist das
Lexikon recht eigentlich ein Artikel des Hauses,
der sich ganz selbst tragen soll und buchhändle-
risch auf eigenen Füßen steht, Das spricht sich in
einer zunächst weniger angenehmen Weise aus,
— in der Preisnormierung. Aber gerade darin
muß man ein erfreuliches und nicht ein bedauer-
liches Zeichen erblicken. Es beweist, daß der
vorsichtige Verlag das Vertrauen hat, mit der
Einführung des Werkes beim Abnehmerkreis so
weit gediehen zu sein, daß er es wagt, die Weiter-
führungsmöglichkeit von dem glatten Verkauf ohne
Stiftermittel zu erwarten, Also scheint nun der
Abschluß endgültig gesichert.
Was den ı5. Band selbst anbelangt, so ist er in
Ausstattung, Umfang und Inbaltswert den letzten
beiden völlig ebenbürtig. Er birgt wiederum her-
vorragende Beiträge über ganz bedeutsame Titel
wie Grünewald, Guardi, Barbieri-Guercino und die
Familie Hals. Der Durchschnitt der „Kleinware“
ist vortrefflich, Natürlich könnte man eine Reihe
kleinerer Versehen und Mängel nachweisen, —
die selbstverständlich bei einem Werk dieser Art
306
nie ausbleiben können. Ich verzichte darauf, auch
nur eins anzuführen, da das Sinn nur mit Rück-
sicht auf einen etwaigen Nachtragsband hätte.
Ich bin aber überzeugt, daß ein solcher nicht er-
scheinen wird; wird man doch einst froh genug
sein, mit dem Werk überhaupt zum Abschluß
gelangt zu sein.
Leider ist es der Schriftleitung immer noch
nicht gelungen, ihr Versprechen, zwei Bände im
Jahr herauszubringen, in Wirklichkeit umzusetzen,
Jedenfalls würde straffste Fassung hierzu dienlich
sein. Gerade der neueste Band läßt sie gelegent-
lich vermissen. Beiträge wie Guibal, J. P. Hackert,
K. Hagemeister, J. В. Hagenauer, J. C. Handke
u. a. m. erscheinen mir viel zu lang. Wenn
Schmid es fertig brachte, einen so problemreichen
und überaus wichtigen Künstler wie Mathias Grüne-
wald in 3°/, Seiten zu bewältigen, so hätten nicht
fast ebensoviel, sondern höchstens ein Drittel da-
von für den drittrangigen G. Grupello genügen
müssen. Н. W. Singer.
CHR. VOIGT, Schiffs-Ästhetik. Die
Schönheit des Schiffes in alter und neuer
Zeit. 125 S. mit 102 Abb. Verlag der
Zeitschrift „Schiffbau“ (Reinhold Strauß,
Komm.-Ges.), Berlin 1922.
Verfasser begibt sich hier auf ein Gebiet, das
Kunstgelehrten und Künstlern im allgemeinen
nicht gerade vertraut zu sein pflegt. Das Schiff
— in erster Linie das Seeschiff — in seiner Schön-
heit wird uns vorgeführt, wie es sich im Laufe
der Jabrtausende den Fortschritten der Technik,
aber auch wirtschaftlichen Forderungen ent-
sprechend, wandelt. Zahlreiche Typen aller Größen
liegen zwischen dem primitiven Fahrzeug des Ur-
menschen und unseren modernen Ozeanriesen,
und fiberall sehen wir, wie der dem Menschen
innewohnende Schönheitstrieb sich geltend macht,
und wie er sein Schiff sowohl in den „Linien“
als auch im schmückenden Beiwerk unbewußt den
Gesetzen der Ästhetik anpaßt, wie auch hier dem
Auge wohlgefällt, was dem Zwecke am besten
entspricht. Alles das zeigt uns Verfasser an Hand
zahlreicher, zum Teil vorzüglicher Abbildungen
in anregender Darstellung: Die Schönheit des
Seeschiffes; das schöne Schiff der Barockzeit;
das schöne Schiff unserer Zeit; nautische Ästhetik,
das Schiffemotiv in der Baukunst; das weibliche
Element in Schiff und Meer; das Schiffemodell.
Die einzelnen Kapitel stehen zwar nicht alle auf
derselben Höhe — das „weibliche Element“ würde
ich fortgelassen .und dafür ein Kapitel über die
Klipper aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts
eingeschoben haben — aber die verborgenen
Schönheiten von Schiff und Meer dem Leser vor
Augen zu stellen und ins rechte Licht zu rücken,
ist dem Verfasser nicht übel gelungen.
A. Köster,
A. GERKE und ED. NORDEN, Ein-
leitung in die Altertumswissen-
schaft. II. Dritte Auflage. УШ u. 494 8.
B. G. Teubner, Leipzig 1922.
Für den modernen Kunsthistoriker, der immer
wieder auf die Antike hingewiesen wird, und bei
Behandlung so zahlreicher Probleme genötigt ist,
einen Blick ins Altertum zu werfen, ist es von
größter Bedeutung, für das Grenzgebiet seiner
Wissenschaft und darüber hinaus einen sicheren
Führer zu haben. Früher pflegte sich der Kunsthisto-
riker bei Baumeister: „Denkmäler“ Rat zu holen.
An Stelle dieses, zu seiner Zeit vorzüglichen, doch
längst überholten Werkes ist, obwohl ganz anders
geartet, die „Einleitung“ von Gerke und Norden
getreten, deren zweiter Band bereits in dritter
Auflage vorliegt. Er enthält zunächst eine Ab-
handlung über das griechischeundrömischePrivat-
leben von E. Pernice. Das antike Haus wird
geschildert,” die Tracht sowie die mannigfachen
Gebräuche der Alten, von denen sich manches
bis in spätere Zeiten hinübergerettet hat, Eine
Darstellung der Münzkunde von К. Regling ist
besonders zu begrüßen, da es gerade auf diesem
Gebiete an kurzgefaßten, schnell orientierenden,
die Resultate der neuesten Forschung berück-
sichtigenden Darstellungen fehlt. Was F. Winter
über die griechische Kunst sagt, ist zwar auch
anderweitig zugänglich, aber es ist doch angenehm,
es auch bier zu besitzen. Vorzüglich ist die
lebendig geschriebene Schilderung der griechischen
und römischen Religion von Sam Wide, wie
auch die Abhandlung über die Wissenschaften
von J. L. Heiberg und die Geschichte der Philo-
sophie von A. Gerke. Ein systematisches In-
haltsverzeichnis sowie ein ausführliches Register
machen das Werk besonders brauchbar fiir den,
der sich über eine Frage schnell orientieren will,
und für den Kunsthistoriker außerordentlich wert-
voll sind die sorgfältigen und reichen Angaben
der neuesten Literatur, so daß dem Benutzer
mancher Umweg erspart bleibt. A. Köster.
FRIEDRICH SARRE, Die Kunst des
alten Persien. Mit 150. Tafeln und
19 Textabbildungen. X u. 69 S. Bruno
Cassirer Verlag, Berlin 1922.
Als Band V der von W. Cobn herausgegebenen
Serie „Die Kunst des Ostens“ folgt das Buch der
Aufgabe, die künstlerischen Schätze des Orients
in handlicher Form in guten Abbildungen einem
weiteren Kreise zugänglich zu machen, Dies war
bier um so mehr geboten, da die meist aus großen
Tafelwerken bestehende Fachliteratur schwer zu-
gänglich oder vergriffen ist. Bei dem vorliegen-
den Stoffe, für dessen Erforschung ja der Ver-
fasser selbst den größten Teil seiner Lebens-
arbeit aufwandte, handelte es sich also mehr um
eine übersichtliche Zusammenfassung des be-
reits Erarbeiteten, als um die Vorführung neuer
Ergebnisse, Der Text gibt eine sachliche Be-
schreibung und Erläuterung zu den chronolo-
gisch angeordneten Bildtafeln und vermeidet
ablenkende Problemstellungen, wie sie sich bei
dem zum Teil noch wenig erforschten Material
für den Fachmann ergeben. Der erste Abschnitt
(Taf. 1—52) umfaßt die Denkmäler der Achäme-
nidenzeit, also Pasargadae, Bisutun, Persepolis
und Susa, meist nach den Aufnahmen des Ver-
fassers und den älteren von F. Stolze. Als inter-
essante Vergleichsobjekte kommen hinzu das
Relief aus Erghili in Konstantinopel (30), das
Goldblech mit der Darstellung eines Persers aus
dem Oxusschatz (42) und die Berliner Silber-
statuette (43), die beiden letzteren freilich schwer-
lich als achämenidische Erzeugnisse. Der fol-
gende Abschnitt über die Kunst der Seleukiden-
und Partherzeit (Taf. 53—66) konnte im Hinblick
auf die geringe Erforschung dieser Perlode nur
von geringem Umfang sein. Das Grabmal auf
dem Nimrud Dag und Hatra sind neben dem
künstlerisch wenig bedeutenden Assurstelen, den
stark zerstörten (deehalb hier nicht aufgenomme-
nen) Reliefs von Bisutun und den Münzen, die
einzigen festen Anhaltspunkte, zu denen einige
Kleinfunde ergänzend hinzutreten. Um so reich-
baltiger ist der Denkmälerschatz der sasanidischen
Periode. Die Baukunst und die Reliefs haben
längst die Aufmerksamkeit auf sich gezogen,
gleichwohl ist auch da vieles noch nicht gelöst.
Ich möchte nur auf die großen Stilunterschiede
an der Hauptgrotte des Taq i bustan verweisen,
deren einzelne Reliefs allgemein und so auch bier
der Zeit Khusraus II. zugeschrieben werden. Dies
kann allenfalls für die Reliefs der Rückwand gelten,
während die beiden Jagdreliefe und der Schmuck
der Stirnwände in ihrer Auffassung schwerlich
bloß durch die Anteilnahme verschiedener Hände
307
erklärt werden können. Bei den folgenden Gruppen
der Seidenstoffe und vor allem der Silbergefäße
ist die typische Auswahl der zum großen Teil
in dem nicht leicht erreichbaren russischen Tafel-
werke von Smirnoff veröffentlichten und einiger
noch unbekannter Stücke besonders zu danken.
Gerade hier lassen aber die sehr vorsichtig ab-
gefaßten Datierungen und Zuschreibungen er-
kennen, wie sehr wir noch im Dunkel tappen,
um so mehr mag aber der hier übersichtlich zu-
sammengestelite reichhaltige Formenschatz auch
den Fachmann anregen, diesen Dingen von for-
maler Seite an den Leib zu rücken; denn die
wenigen ikonographischen Anhaltspunkte, wie die
Formen des Kronschmuckes, erweisen sich bei
der anzunehmenden oftmaligen Wiederholung der
Typen in verschiedenen Zeiten und Lokalen ge-
rade hier von sehr bedingtem Wert. — Bei dem
Zweck dieser Serie wäre wohl überhaupt ein stär-
keres Eingehen des Textes auf die rein künstle-
rischen Eigenwerte des vorgeführten Materials
für viele wünschenswert und für solche, denen
die Fremdartigkeit dieser Kunsterzeugnisse das
künstlerische Einfühlen erschwert, notwendig ge-
wesen. Gleichwohl mußte die rein sachliche Art
der Vorführung und die Beschränkung auf die
bisherigen feststellenden Ergebnisse in diesem
Falle von Vorteil sein, da ja zur Erreichung eines
Überblickes auch manches künstlerisch weniger
hervorragendes Werk von Bedeutung sein mußte.
H. Glück.
ERNST KÜHNEL, Miniaturmalerei
im islamischen Orient. Mit 154 Ta-
feln und 5 Textabbild. Bruno Cassirer
Verlag, Berlin 1922.
In diesem 7. Bande der Serie „Die Kunst des
Ostens“ kommt ein in seiner künstlerischen Stel-
lung sowie in seiner historischen Bedeutung als
Mittelglied zwischen ostasiatischer und europäi-
scher Kunst noch viel zu wenig gewürdigtes Ge-
biet zur Behandlung. Eben darum ist auch bei
diesem, wie bei den vorhergehenden Bänden dieser
Folge die übersichtliche Zusammenstellung des.
Stoffes als eine Anregung für weitere Kreise und
als eine handliche Übersicht für den Fachmann
zu begrüßen. Die wichtigste Literatur ist bereits
im Vorworte angeführt. Ihr, vor allem den großen
Sammelwerken von Martin, Marteau und Véver,
Coomaraswamy, Schulz und dem Münchner Aus-
stellungswerke, sind auch die meisten Abbildungen
entnommen, da die Absicht, möglichst viel un-
veröffentlichtes Material zu bringen, fernlag. Bei
308
dieser Gelegenheit mag darauf verwiesen werden,
daß eine Veröffentlichung des reichen Materials
an etwa 250 indischen Miniaturen, die auf 60 Ta-
feln der Wandverkleidung des Millionenzimmers
in Schönbrunn vereinigt sind, demnächst durch
das Wiener kunsthistorische Institut erfolgen wird,
und damit die von dem Autor beklagte verhältnis-
mäßige Armut der deutschen Sammlungen an
solchen Originalen von Österreichischer Seite
einigermaßen wettgemacht wird.
Der einleitende Text des vorliegenden Buches
bringt zunächst eine allgemeine Einstellung der
islamischen Miniaturenmalerei, ausgehend von der
Erörterung des Bilderverbotes und von dem Ver-
hältnis der Buchmalerei zu der hier nicht ein-
bezogenen Kalligraphie und Arabeskenverzierung.
Es folgt eine Übersicht über die zumeist illustrier-
ten literarischen Stoffe, über Technik, Bilderhand-
schriften und Einzelblätter, über einige für den
Europäer fremdartige Einzelheiten und über die
das kultarelle Leben der Zeit widerspiegeinden
Darstellungsgegenstände. In einem zweiten Ab-
schnitt ist ein kurzer übersichtlicher Abriß über
„Meister, Schulen und Werke“ gegeben. Erst
mit dem 13. Jahrhundert beginnt das erhaltene
Denkmilermaterial, was die vorhergehende Zeit
anlangt, ist mit Recht auf die Bedeutung der
Manichäer und Nestorianer für die Anfänge der
Miniaturenkunst und auf die Möglichkeit des Ein-
wirkens zoroastrischer Überlieferung hingewiesen.
Es folgt dann die Charakterisierung der einzelnen
Schulen mit ihren Meistern und zwar die persi-
schen und mongolischen Schulen in Bagdad, Sa-
markand, Herat (mit Bebzäd und Aga Mirek und
ihren Nachfolgern), Buchara und die letzte Blüte
unter Schah Abbäs, bei der eine Übersicht über
das Rizä-Problem gegeben wird. Nach einem
kurzen Abschnitt über die türkischen Miniaturen
wird schließlich ausführlicher die Miniaturmalerei
unter den Moghulkaisern in Indien und die der
Radjput-Schulen behandelt. Am Schluß des Textes
geben Erläuterungen zu den Abbildungen die
nötigen sachlichen Anhaltspunkte. — Die vielen
entwicklungsgeschichtlichen Fragen, die sich bei
der Behandlung dieses Stoffes ergeben, zu lösen,
war in diesem Buche nicht die Aufgabe. Die
hobe künstlerische Bedeutung dieser Miniaturen
dem Leser näher zu bringen, wurde einigermaßen
in dem Sinne versucht, daß einige dem Europäer
ungewohnte gegenständliche, gestaltliche und for-
male Elemente erklärt wurden. Ein tleferes Bin-
dringen in die künstlerischen Wesenswerte wire
erwünscht gewesen. Freilich stebt man da vor
der Frage, was angesichts des Hauptzweckes
dieser Bücher vorzuziehen sei: Die künstlerische
Auswahl der Bilder für sich sprechen zu lassen
und den Text nur aufdie rein sachlichen Angaben
zu beschränken, oder dem Leser das Einfühlen
in die Fremdartigkeit dieser Werke durch die
textliche Herausarbeitung ihres künstlerischen
Wesens zu erleichtern. H. Glück.
OTTO HOVER, Kultbauten desIslam.
gr. 8°. 16 Seiten Text, 62 ganzseitige Abb.
Wilhelm Goldmann Verlag, Leipzig 1922.
Eines der heute beliebten Abbildungsbücher
die im wesentlichen auf Anschauungsmaterial ein-
gestellt sind und textlich in kurzem Abriß eine
größere Allgemeinheit informieren sollen. Was
zunächst das letztere anlangt, so darf die bei der
Fülle des Stoffes nicht leicht zu lösende Aufgabe
nach dem heutigen Stande als gelungen gelten.
Das persönliche, erlebnismäßige Erfassen des Ma-
terials geht mit der Sachlichkeit der Vorführung
und einer möglichst objektiven künstlerischen
Wertung glücklich Hand in Hand und vermeidet
das bei solchen Büchern vielfach unterlaufende
Verfallen in das eine oder andere Extrem. Nach
einer stimmungsmäßigen Einführung wird ein
Bild der sozialen, politischen und ethnischen Welt
des Islam entrollt, wobei mit gutem Recht von
der geläufigen Art abgegangen wird, den einen
oder anderen Volksstrom als den entscheidenden
in den Vordergrund zu stellen oder die voran-
gegangenen Kulturen womöglich allein für die
islamische Entwicklung verantwortlich zu machen.
Vielmehr wird das von Arabern und Turko-Mon-
golen getragene Nomaden- und Eroberertum bei
voller Einschätzung hellenistischer und iranischer
Kulturüberlieferung als für die ganze islamische
Welt entscheidend erkannt. Dies kommt auch in
dem Abschnitte „Bautypen und Baugeist“ zum
Ausdruck, wobei immer wieder weitere Ausblicke,
die auch Außerisiamisches teils als geistig Ver-
wandtes, teils als charakterisierendes Vergleichs-
moment heranziehen, das Bild nicht nur für sich,
sondern auch in seiner Stellung zum großen
Ganzen des Kunstgeschehens vorteilhaft zu er-
fassen suchen. Für die im Islam verwendeten
baulichen Hauptglieder wie Kuppel und Tonne
wurde freilich — den bisherigen wissenschaft-
lichen Ableitungen entsprechend — den verein-
zeiten iranisch-byzantinischen Großleistungen der
vorislamischen Zeit eine größere vorbildliche Be-
deutung zugeschrieben, als dies bei stärkerer
Berücksichtigung der einleitend vom Autor selbst
erkannten großen Bedeutung des Volkstümlichen
hätte der Fall sein müssen. Nährten sich doch
bereits diese vorislamischen Prunkbauten aus der-
selben volkstümlichen Quelle, aus der später auch
der Islam, ohne jener Großleistungen sonderlich
zu bedürfen, seine Typen monumentalisiert hat,
und versagt doch eine derartige Ableitung aus
spätantiker Großkunst auch bei dem dritten her-
vorgebobenen Wesensmotiv, dem Hufeisenbogen.
Ähnlich mußte sich der Verfasser später begnügen
bei Besprechung des Minarets objektiv auf die
bisher geläufigen Ableitungen von antiken Vor-
bildern hinzuweisen, obwohl auch hier volkstüm-
lich Iranisches zugrunde zu liegen scheint. In
einem Büchlein wie dem vorliegenden ist freilich
nicht der Ort, Forschungen zu geben, sondern
Forschungsergebnisse auszuwerten; und so ist
diesbezüglich auch dem Autor kein Vorwurf zu
machen, da hier die Wissenschaft erst begonnen
hat, das Terrain abzustecken (Strzygowski). Besser
konnte sich der Verfasser mit der Zuteilung spät-
antiker Vorbildlichkeit und volklich begründeten
Eigenwesens zurechtfinden, wo er bei Besprechung
der Säulen- und Pfeilermoschee nicht in der Über-
nahme der antikisierenden Glieder, sondern in
der besonderen Art der Raumgestaltung und An-
ordnung das Wesentliche sieht. Hier zeigt ge-
rade das negative Verhalten der früheren islami-
schen Bauten zur Durchbildung eines Innen-
raumes, wie gerade der Anfang der spätsntiken
Wesenheit fernstand. Um so deutlicher hebt der
Verfasser andere Wesenheiten (Steigerung der
Zahl, reihende Ordnung, Innenhof, konstruktives
und ornamentales Denken) als positive Leistungen
des volkstümlichen Geistes hervor, die ihn wieder
zu Arabern und Persern als den Trägern zurück-
führen, um schließlich auch den Türken. (Sel-
schuken und Osmanen) vor allem in ihrer raum-
künstlerischen Begabung ihren Anteil gleichsam
als Vollender einer in sich bestimmten Entwick-
lung zu gewähren. Als Generalnenner des morgen-
ländischen Bauens überhaupt spricht der Verfasser
schließlich im wesentlichen das Streben nach Ent-
körperlichung an, wo Kunstschöpferisches und
Religiöses auf einer höchsten Ebene zur Einheit
gebracht sind.
Im Abbildungsteil scheint das Hauptaugenmerk
bei der Auswahl auf die kubisch wirkenden Bauten
gewendet worden zu sein, so daß das Türkische,
Turko- Persische und Indische im Vordergrund
steht. Mag dies auch einem einheitlichen Ein-
druck entgegenkommen, so daß man 3. B. das
überladen Zierliche der Alhambra nicht vermißt,
so hätte doch das Monumentale des freiräumigen
Hofes, wie es in der Ibn Tulun Moschee in Kairo
309
und in persischen Medresenanlagen zum Ausdruck
kommt, zur Anschauung gebracht werden können
Kairo scheint überhaupt stiefmütterlich behandelt,
abgesehen von der irrtümlichen Beschriftung von
Tafel 29 (Mamelukenbauten, nicht Gijuschi !) und
Tatel 35 (die Grabmoschee Barkuk ist hier nicht
sichtbar). Für das Fehlen anderer islamischer
Städte mit bedeutenden Bauten, die sehr gut in
diesen Rahmen gepaßt hätten (ich denke vor allem
an Aleppo), ist dem Verfasser schwerlich ein Vor-
wurf zu machen, sind doch davon wenig Abbil-
dungen zur Hand und ist doch die islamische
Kunstforschung gerade in den näher erreichbaren,
vormals hellenistischen Gebieten vor der klassi-
schen und christlichen Archäologie immer zurück-
gestanden. H. Glück.
ALFRED SALMONY, Europa -— Ost-
asien, religiöse Skulpturen. Mit 44
Abbildungen, 82 S. Gustav Kiepenheuer
Verlag, Potsdam 1922.
Ein Versuch in vergleichender Kunstwissenschaft.
Die künstlerische Entwicklung der romanischen
Plastik des 11. und 12. Jahrhunderts wird in Par-
allele gestellt zu der der ostasiatischen Plastik
von der Hanzeit bis zum Ende des 7. Jahrhunderts,
Der Vergleich ist in feinsinniger Weise durch-
geführt und sucht die gleichlautende Gesetzlich-
keit des künstlerischen Geschehens unter voller
Bewußtheit der Verschiedenheit der beiden Wesen-
heiten West und Ost zu erfassen. Das Ergebnis
ist die Aufstellung zweier Linien, die in den beiden
verschiedenen Zeiträumen und Lokalen gleicher-
weise den Weg „von einer rein jenseitigen Kon-
zeption der Gottesvorstellung zu einer mensch-
lich zugänglichen Darstellung“ aufzeigen. Aus
der religiösen, in linearem Fiachstil sich äußern-
den Gebundenheit der Form wird zu einer peor-
sönlicheren plastischen Gelöstheit übergegangen.
So wird der Folge: Hanreliefs, Yün kang, Long
men und Votivstelen mit dem Höhepunkte der
Toribusshi-Trinitit eine Folge wie: Relief von
St. Genis in Fontaines (1020), Grabmal des Abtes
Durand in Moiseac (1106), Tympanon von St. Aven-
tin mit dem Kulminationspunkt des Christus von
St. Sternin zu Toulouse gegenübergestellt. Dieser
vorbereitenden Entwicklung folgt dann die „Reife“
einerseits in den Meisterwerken der Sui-Zeit
(590—618), andererseits in den Portal- Skulpturen
von Moissae mit ihren Auswirkungen. Ein „Aus-
breitung“ betiteltes Kapitel bringt dann die Gegen-
überstellung des Ausklingens der beiden Ent-
wicklungen, in dem die große formale Spannung
310
der Reife susammenbricht: in China der spite
Suistil (Yakushiji-Trinität), im Westen vor allem
St. Giles und St. Trophine zu Arles, die damit
nicht — wie bisher — als ein Anfang, sondern
als ein Abklang elner Entwicklung erscheinen.
Chartres nimmt dann im Norden eine neue Linie
auf. Als die verschiedenen Wesenheiten dieser
beiden Entwicklungslinien erscheinen hinter den
verwandten Zügen einerseits Anspannung und
Ringen um Gott im Westen, andererseits Ruhe
und Einklang mit allem Dasein im Osten.
Das Ergebnis dieser Betrachtung ist also die
Aufstellung einer entwicklungsgeschichtlichen Par-
allele zwischen Ostasien und Europa, wie sie
seinerzeit auch an der altchinesischen Ornamentik
im Vergleich mit der europäischen Völkerwande-
rungsornamentik durch Hörschelmann aufzuzeigen
versucht wurde. Trotz der Übereinstimmungen
betont der Verfasser hier freilich mit Recht, daß
die Vergleichung des Kunstinhaltes nur zur Er-
kenntnis völliger Andersartigkeit führen kann,
daß das Verstehen eines Kulturerdteils aus den
Voraussetzungen des anderen unmöglich sei, denn
jedem wobne ein eigenes Lebens- und Wachs-
tumsgesetz inne. Wenn nun hier aber doch in-
haltlich und formal eine gleichartige Gesetzlich-
keit in West und Ost festgestellt wurde und diese
Gleichartigkeit den Gegenstand des Buches bildet,
so frägt der Leser doch am Ende: wozu diese
Paralleistellung? Daß hier noch Antworten aus-
ständig sind, das scheint ja der Verfasser selbst
gefühlt zu haben, wenn er am Schlusse gleich-
sam geltend macht, daß der Vergleich das Ver-
ständnis des Fremden, aber auch des Eigenen,
bisher wenig Geschätzten, erleichtert. Sicherlich!
Aber sicherlich ist sich der Verfasser auch be-
wußt, daß wir nicht erst Ostasien brauchten, um
das Romanische zu erleben, und nicht das Roma-
nische, um Ostasien zu erleben. Was nun in
wissenschafilichem Sinne an dem Buche nicht
befriedigt, ist: daß hier ein Problem sehr fein-
sinnig aufgerollt, aber in keiner Weise zu lösen
versucht wird. Bei Hörschelmann standen seiner-
zeit als Zweck der Gegenüberstellung die Lam-
prechtschen Entwicklungstbeorien im Hintergrund.
Mit solchem Zweck, wie überbaupt mit der Ur-
frage aller Wissenschaft: „Warum?“ will aber
ein Großteil der modernen Kunstgeschichtsschrei-
bung nichts zu tun haben. Die Kunstwissen-
schaftler werden immer mehr erlebende Künstler
als erkennende Wissenschaftler. Und doch sollten
sie beides sein, wie in keiner anderen Wissen-
schaft! Den einen Teil hat hier auch Salmony
besorgt, der zweite kann durch die wissenschaft-
lichen Verweise allein nicht ersetzt werden. Wie
wertvoll trotzdem solche Zusammenstellungen und
auch die Vorliegende ist, wird man erst erkennen,
wenn man nicht nur іп der dadurch ermöglichten
objektiveren Feststellung der Wesenswerte das
Ziel kunstwissenschaftlicher Betätigung sucht, son-
dern diese erst als Vorarbeit der eigentlichen
Entwicklungsfragen nimmt. Hier müßte also die
Frage nach dem Warum der Gleichartigkeit der
vorgeführten Erscheinungen untersucht werden,
um so überhaupt erst su den Gesetzen der Ent-
wicklung vorzudringen. Dann mag freilich das
Bild eines scheinbar so klaren „Entwicklungs-
ablaufes“, wie er in den behandelten zwei Linien
vorzuliegen scheint, ein anderes Ansehen be-
kommen und Schwierigkeiten, wie sie bei der
Paralleiführung besonders des Frühromanischen
und der Han-Tang-Entwicklung dem Verfasser
offenbar bewußt worden sind — trotzdem die flüs-
sige Schreibweise darüber hinweggleitet — er-
balten vielleicht ihre Lösung. Nebenbei sei noch
auf eine dritte, wenn auch noch nicht mit gleicher
Voliständigkeit faßbare Entwicklungslinie in Arme-
nien und dessen russischem Wirkungsbereiche
hingewiesen, auf deren größte Verwandtschaft
mit der romanischen Entwicklung bereits Strzy-
gowski (Armenien, S. 811 ff.) aufmerksam gemacht
hat, und die in dem Petrus und Paulus des
Stephansklosters bei Garni eine höchst auffaliende,
auch zeitlich nahestehende Parallele zu den gleichen
Toraposteln in Moissac hat. Auch mit dem wel-
teren Osten ergeben sich da seltsame Verwandt-
schaften, Gerade diese dritte, wie ich glaube,
in gerader Linie bis in die parthische Zeit Irans —
also in die der Hanzeit zeitlich parallele Epoche
Vorderasiens — zurückverfolgbare Entwicklung
mag wohl aucb die Wege weisen, nach denen
die von Salmony vorgeführten Übereinstimmungen
nicht blof mit dem seheinbaren Zufall eines gleich-
gerichteten religiösen Empfindens, sondern mit
dem tatsächlichen Bestande großer welthistori-
scher Zusammenhänge ihre Erklärungen finden.
H. Glück.
W. GROTE-HASENBALG, Der Orient-
teppich. Seine Geschichte und seine
Kultur. Berlin, Scarabäus-Verlag 1922.
Unter Verweisung auf meine Anzeige des Buches,
die in einem Heft des Cicerone 1923 erscheint,
sollen hier einige Bemerkungen fachwissenschaft-
licher, meist methodologischer Art folgen.
Der Verfasser meint ein populär - wissenschaft-
liches Buch geschrieben zu haben. Ohne in einen
überflüssigen Streit um Worte oder Begriſſe eintreten
zu wollen, weise ich darauf hin, daß es sutreffen-
der heißen müßte, verfaßt von einem wissen-
schaftlichen Dilettanten. Das scheint mir der Kern-
punkt zu sein, daß hier jemand an die Arbeit
gegangen ist, ohne irgendeine Schwierigkeit zu
scheuen, durchaus im vollen Bewußtsein der
Schwere der zu lösenden Fragen, aber mit dem
Gefühl, Wertvolles sagen zu können, ohne das
Handwerkszeug ganz beherrschen gelernt zu haben.
Ich finde, das kann die Achtung vor der Leistung
des Verfassers nur steigern und andererseits
kann sie durch die Feststellung nicht gemindert
werden, daß tatsächlich seine Kräfte zur Bewäl-
tigung der Aufgabe nicht, oder ich hoffe sagen
zu dürfen: noch nicht ausgereicht haben. Daß
Grote manchesmal den Flug sehr hoch nimmt,
з. В. etwa Kulturpsychologie Chinas geben will,
ohne natürlich in der Lage zu sein, aus den
Quellen heraus zu arbeiten, mag übergangen
werden. Die „großen Synthesen“ sind ja jetzt
modern. Was ich speziell im Auge habe, ist,
daß Grote sich noch nicht genügend ausgebildet
hat, Ornamente zu lesen, zu charakterisieren und
zu vergleichen. Seine Art der Betrachtung ist da
leicht noch etwas „ungefähr“, auch vom Her-
gebrachten noch etwas bedingt, so daß seine
frische Kraft nicht voll zur Auswirkung kommen
kann. Als Beleg notiere ich etwa, ohne irgend-
wie erschöpfend sein zu wollen: das Muster der
Borte von Abb. 41 hat mit kufischen Buchstaben
(S. 74) nichts zu tun, sondern ist ein klares
Bandmuster mit geometrischen Formen. Zum
Vergleich der Tafeln 21/22 mit 81/82: Die „Rosen“
sind einmal Gebilde, die wohl gerahmt sind, deren
Rahmen aber zum mindesten nicht mehr Gewicht
hat als das Innenfeld, im anderen Falle betonte
Rahmen mit einem Füllungsmotiv — ästbetisch
also zwei ganz verschiedene Absichten und Wir-
kungen. Was ist (S. 93 zu Taf. 24) eine ,sara-
zenisch (?) behandelte Palmette“ und worin be-
steht die Ähnlichkeit mit Abb. 20a? Worin liegt
die Gleichheit der Form der Wellenranke von
Taf. 115 mit der auf Abb. 130 und die der Rose
von Taf. 116 mit der Rosette des frühchinesischen
Stoffes Abb. 127? SovielanEinzelheiten. Schwerer
wiegt, daß Grote meines Erachtens zu keiner
systematischen Klarheit gekommen ist, was ein
geometrisches Muster ist und was ein vegetabiles
in stilisierten, d. h. geometrisierten Formen (z. B.
in der Auseinandersetzung über die Teppiche aus
dem westlichen Kaukasus 8. 98: „die Muster sind
.. . streng geometrisch. . ., fünf Zeilen weiter
auf S. 99: „Daß der Zeichnung dieser Teppiche
311
` häufig vegetabile... Motive zugrunde liegen. . . ).
Ebenso vermisse ich die systematische Klarheit
bezüglich des Ansprechens von Motiven verschie-
denster Art als Palmetten . . . Ich räume ohne
weiteres ein, daß der Verfasser in all diesen orna-
mentgeschichtlichen Fragen sich fast ausschließ-
lich selbst den Weg bahnen mußte und daß ein
riesiger Unterbau rein ornamentgeschichtlichen
Charakters nötig gewesen wäre, sollte wirklich
Überzeugendes erreicht werden. Es ist aber nichts
schlimmer, als wenn der Eindruck erweckt wird,
daß alle diese Fragen geklärt wären — wo wir
doch in Wirklichkeit fast nur ein Fragezeichen
an das andere reihen dürfen. Die Einstellung
nur auf die Ornamentik der Teppiche ist auch
prinzipiell zu eng. Nicht nur, weil es zu den
Charakteristiken des orientalischen Kunstgewerbes
gehört, daß seine Ornamentik vielfach keinen
Unterschied kennt, in welcher Technik auch das
zu Dekorierende entstehen mag, sondern es läßt sich
schon grundsätzlich nicht eher ein Gebiet heraus-
schälen, als bis man weiß, daß es wirklich eine
eigene Art besitzt. Die Foigerungen übersehen
sonst eine mögliche ergiebige Fehlerquelle. Grote
neigt dazu, bei Gleichheit der von verschiedenen
Stämmen verwendeten Ornamentmotive ethno-
logische Schlüsse zu ziehen (z. B. 8.92, 96). Daß
damit eine sehr wichtige Frage gestellt wird, ist
unbestreitbar, nur, glaube ich, müßte sie behut-
samer angefaßt und viel vorsichtiger beantwortet
werden. Mit Recht hat man (M. Haberlandt)
von einem „einheitlichen Schmuckgobiet“ ge-
sprochen, das etwa die Länder von Zentralasien
und Indien bis zum Balkan umfaßt, da sich die
gleichen Formen und Verzierungen des Schmuckes
innerhalb dieser unendlichen Länderstrecken finden.
Wie erklärt sich das? Ich kenne keine über-
zeugende Antwort darauf. Aber man sieht, wie
viel komplizierter die Lage innerhalb des Gebietes
der vorderasiatischen Volkskunst ist, als sie sich
darstellt, wenn man ausschließlich die Teppiche
berücksichtigt. (Daß sie noch komplizierter wird,
wenn man Erscheinungen im Auge behält, wie
die, daß sich etwa ein Ohrring, der prinzipiell
dem gleichen Kreise angehört, in Sardinien findet
(Ch. Holme, Peasant Art in Italy, Abb. 238), muß
wenigstens erwähnt werden, um zu zeigen, welch
Maß von Vorsicht bei der Bewertung der Er-
scheinungen erforderlich wäre.) Sicher hat Grote
recht, daß er wiederholt betont, welch präzise,
Örtliche Ursprungsbestimmung Material, Farbe und
Technik manchmal gestatten, aber meine Über-
zeugung, daß die tiefsten Aufschlüsse aus der
Ornamentik zu holen wären, wird erst zunichte
312
werden, wenn nicht „die Muster“ zu schweigen
scheinen, sondern die stilistisch begriffenen Orna-
mente tatsächlich schweigen.
Mit Ausnahme der doch wohl nicht so voll-
kommen zu übergehenden russischen Literatur
über die Kaukasusteppiche ist die wesentliche
Teppichliteratur berücksichtigt, für die Vorge-
schichte die Wichtigkeit der Funde aus Ostturke-
stan erkannt. Literatur ist merkwürdigerweise für
diese wichtige Erweiterung unserer Kenntnisse
nicht angegeben (S. 67). Zu nennen wäre doch
wohl Strzygowski, Altai-Iran gewesen, da dem
Verfasser, obwohl das Vorwort vom Februar 1922
datiert ist, die im Sommer 1921 erschienenen Auf-
sitze von mir (Kunst und Kunsthandwerk XXIV,
S. 16 ff. nach einem von mir im Winter 1919 vor
der Münchener Anthropologischen Gesellschaft ge-
haltenen Vortrage) und von Sarre (Berliner Museen
XLII, S. 110 ff.) unbekannt geblieben sind. Somit
erübrigt sich ein weiteres Eingeben auf Kapitel XI:
Zur Vorgeschichte des Knüpfteppichs. Wie sich
mir die Dinge darstellen, habe ich im genannten
Aufsatze und ergänzend oben in der Besprechung des
Bode-Kühnelschen Buches angedeutet. Durchaus
neu zu schreiben ist meines Erachtens dann das,
was über die Frühgeschichte des chinesischen
Teppichs gesagt wird (S. 190, 197 f.). Ich glaube,
daß die wichtigste Frage, die die Funde in Tur-
kestan für unser Gebiet stellen, die nach ihrem
Verhältnis zu China und überhaupt Ostasien ist.
Über frühe Teppiche von dort und ihre Technik
weiß man bis heute, soweit ich sehen kann, nichts.
Dabei sind vier Exemplare im Shosoin-Tompel
erhalten (Toyei Shuko II, Taf. 103—106. Reis-
müller wies in der meinem Vortrage folgenden
Diskussion auf sie hin). Ich babe trotz jahrelanger
Bemühungen bisher über ihre Technik nichts er-
fahren können und vermag daher nicht zu sagen,
ob sie geknüpft sind oder nicht. jedenfalls bat
man nach den Turfanfunden kein Recht mehr
zu der beweisiosen Behauptung, daß die Knüpf-
technik erst unter der Mongolenbherrschaft nach
China kam. Man muß heute vielmebr umgekehrt
sagen, es ist noch durch nichts bewiesen, daß
sie keine alte einheimische Technik ist. Eine Vor-
stellung der sehr reichen chinesischen oder ost-
asistischen Teppichproduktion können wir ge-
winnen, wenn man die Bilder befragt!). Ich habe
die Hefte der Kokka durchgesehen, soweit sio
mir zugänglich waren und glaube danach, daß
es unumgänglich ist, das ostasiatische Material
in weitestem Umfange durchzuarbeiten und heran-
zuziehen, Ich will und kann dieser Abeit hier
(1) Ich bin Herrn A. Bachhofer für Hilfe su Dank verpflichtet.
nicht leisten. Erwähnen will ich nur, daß sich
sehr bald der Eindruck ergibt, daß im 13. und
14. Jahrhundert die Produktion ornamental be-
sonders reich war und daß sich unschwer die
Vorbilder für die kleinasiatischen Tierteppiche
vorstellen lassen (Heft 78, Tafel I, то I). Zwei
Bilder des 14. Jahrhunderts will ich nennen,
weil sie für das Verständnis der Frübgeschichte
des Teppichs wichtig sind: 49I zeigt auf vier
Teppichen die inneren Eckfüllungen, wie sie sich
auf einem Teppiche eines Wandbildes, eines
Tempels in Bäzäklik (Le Coq, Chotscho, Taf. 27)
finden, und die der Erklärung bisher so viele
Schwierigkeiten machten; es handelt sich einfach
um eine besondere Eckbetonung jeweils in gleicher
Ausgestaltung wie die Einfassung (damit fällt
auch die kuriose Sarresche Interpretation einer
Applikationsnaht von selbst); auf 1611 ist ein
Teppich mit Lappenranke wiedergegeben, wie
wir ihn von den Turfanfunden her kennen, nur
bereichert durch große Blüten. —
Ich hoffe, daß man mir keinen Vorwurf daraus
ableitet, daß ich an das Buch einen sehr hohen
Maßstab angelegt habe, denn ich halte dafür, daß
man dem Streben des Verfassers diese Ehre
schuldig ist. Das Buch verdient es, daß man es
ernst nimmt. Ich glaube aber andererseits nicht,
daß man dem Verfasser einen Gefallen erweist,
wenn man ihm nicht sagt, wo und was zu bessern
ist; ich wollte jedenfalls meinerseits ihm den Weg
dazu zeigen, auf dem eine neue Auflage dem Ziel
niherkommen kann, dem der Verfasser mit soviel
Eifer nachgestrebt hat — das Erreichen steht ja
niemals in Menschenhand.
Eine Einzelheit möchte ich zum Schluß noch
berichtigen, weil sie hie und da in der Teppich-
literatur auftaucht: der große Wiener Jagdteppich
ist nicht „tadellos erhalten“, sondern die schwarzen
Seidenfäden sind ausgefallen; die Originalwirkung
muß wesentlich fleckiger gewesen sein als sie
heute erscheint. К. Berliner.
W. v.BODE und E. KÜHNEL, Vorder-
asiatische Knüpfteppiche aus älte-
rer Zeit. (Monographien des Kunst.
gewerbes.) Dritte verb. u. verm. Auflage.
Klinkhardt & Biermann, Leipzig.
Dieses Buch, das unter die Meisterleistungen
der deutschen Kunstwissenschaft zu rechnen ist,
hat seinen Charakter mit Zähigkeit bewahrt. Das
bedeutet, daß es, entstanden einst als Zusammen-
fassung der Ergebnisse eines ebenso kühnen wie
klugen und vorsichtigen Vorstoßes in unerforsch-
Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 10 13. 21
tes Gebiet, nicht weiter der Schrittmacber der
Forschung geblieben ist, sondern zum Gradmesser
dessen, was eigene und die mit kritischer Über-
legenheit betrachtete fremde Weiterarbeit als
einigermaßen sichere Ergebnisse erarbeitet haben.
Das hat den großen Vorteil, daß alles Gewagte,
jeder voreilige Schluß vermieden scheint, hat den
Nachteil, daß der Leser wohl durch die öfter
wiederholte Skepsis und Betonung unseres Nicht-
wissens zu hören bekommt, wie wenig wir eigent-
lich bestimmt wissen, daß ihm aber nicht gesagt
wird, welches die Probleme nun eigentlich sind,
die wir gegenwärig als besonders brennend
empfinden. Das Festhalten am einmaligen Wesen
des Buches drückt sich auch in der Verachtung
jener Erkenntnisquellen aus, die schon ursprüng-
lich vernachlässigt waren (ich denke vor allem
an die islamischen Miniaturen) und deren Er-
giebigkeit meines Erachtens nur zum eigenen
Nachteil ungenützt bleiben kann. So charakte-
ristisch für Bode die aus seinem Wissensschatze
wie mühelos zusammengestellten Listen mit Nach-
weisungen des Vorkommens bestimmter Arten
Teppichen auf europäischen Gemälden sind, sie
machen das Ubersehen der islamischen nur um
so fühlbarer. Sachlich hat es meines Erachtens
das Ergebnis, daß unter den Tisch fällt, was wir
ihnen über die persischen Teppiche des 14. und
15. Jahrhunderts entnehmen können, die im herr-
schenden Typ durchaus das Festbalten an den
Mustern der antiken Fußbodendekoration zeigen.
Die in den beiden ersten Abschnitten behandelten
Teppiche verraten einen scharfen Bruch mit dieser
Tradition. Bei dem konservativen Beharren aller
Textilproduktionen am Hergebrachten bedarf er
der Erklärung. Sie scheint durch die chinesischen
Motive, die gleichzeitig auftreten, nahezuliegen.
Bode-Kühnel ssgen nicht, auf welchem Wege
sie sich bei der Teppichproduktion den Einfluß
Chinas wirksam werdend denken. Ich will die
Frage hier einmal formulieren: Haben wir mit
Zeichnern zu rechnen, die in China oder an Chine-
sischem geschult waren oder lagen unmittelbare
chinesische Vorbilder vor?
Für Bode-Kühnel stellt sich der Bruch der Tra-
dition allerdings in keiner Schärfe dar, denn sie
unterbauen die „eigentlich persische Fabrikation“
des 16. Jahrhunderts, wie schon erwähnt, nicht
mit der der vorangehenden Jahrhunderte, sondern
mit der der „nordwestlichen armenischen und
kaukasischen Grenzgebiete“ des 15. Jahrhunderte,
also durch die „sogenannten armenischen“ Tep-
piche. Ich halte diesen Abschnitt für den wenigst
geglückten des ganzen Buches, Eigentlich ist
313
gar nicht „Armenien“ gemeint, sondern das „nord-
westpersische Grenzland“ (S. 34); aber doch wie-
der das Armenien, das ,nicht nur kulturell, son-
dern auch politisch wiederholt eng mit Persien
verbunden war“ (S. 32). Durch so etwas verrit
sich- schon, daß die Verfasser sich unsicher auf
ihrem Boden fühlen. Zwei Fragen wären meines
Erachtens zu klären, ehe man sich dieser Form
der armenischen Hypothese bediente: warum
zeigen diese Teppiche in gleichem Grade den
chinesischen Einfluß, wie die persischen Kunst-
teppiche, wo doch nach allem, was wir bisher
von ihr wissen, die armenische Kunst bar jeden
ostasiatischen Einflusses ist? Und wieso fallen diese
Teppiche in den Bereich der islamischen Kunst,
wo doch die übrigen armenischen Erzeugnisse in
den der byzantinischen gehören? Ich glaube,
hier hilft kein Mundspitzen, es muß gepfiffen
werden: entweder armenisch, dann byzantinisch
— oder islamisch, dann nicht armenisch. Ich
halte auch die Datierung der frühen Stücke vor
die der entsprechenden persischen für zu frühe.
Die Tierteppiche zeigen ein so kompliziertes Spitz-
ovalschema, daß ich nicht weiß, was man aus
irgendeinem Gebiete als gleich frühe Analoga an-
führen könnte, Der Vasenteppich des ottomani-
schen Museums in Konstantinopel mit seinem
schlichten Schema spricht meines Erachtens nicht
für Bode- Kühnel. Der Hinweis auf ihn bestätigt
aber meine Überzeugung von der Gefahr des Aus-
gehens der Betrachtung vom Inhalt des Orna-
mentes, man tut dann zu leicht den Möglichkeiten
der Ornamententwicklung Gewalt an; wie ich auch
überzeugt bin, daß eine wirklich vom Detail des Or-
namentes ausgehende Bearbeitung der Teppiche
manche uns heute unlösbar scheinende Rätsel lösen
wird.
Die nächst frühere Entwicklungsstufe des Knüpf-
teppichs sehen Bode-Kühnel in den mit einiger
Sicherheit nach Kleinasien lokalisierten Teppichen
mit Tieren, Dieser ging voran eine durch die
bekannten, in Konia erhaltenen Beispiele belegte:
die „Vertreter des ältesten Dekorationsprinzipes
der ganzen Knüpftechnik“ (scil. wenn man von
Turkestan absieht). Leider ist die Geradlinigkeit
der Entwicklung auf einem Irrtum aufgebaut: Marco
Polo spricht ausdrücklich von Griechen und Ar-
meniern als den Herstellern der berühmten Tep-
piche. Und darin liegt das Hauptproblem: wieweit
entwickelt sich der Knüpfteppich Kleinasiens stili-
stisch aus einer vortürkischen heimischen, also
byzantinischen Produktion, die nur die Technik
wechselte? Heute glaube ich, daß diese Frage
nicht nur gestellt, sondern auch positiv beant-
314
wortet werden kann und muß. Beweis: die Muste-
rung des Innenfeldes von zweien der Teppiche
aus der Moschee Ala ed-din zu Konia (Abb. 60, бт).
Ihre falsche Deutung durch Sarre (Kunst und
Kunsthandwerk X, S. sogf., Seldschukische Klein-
kunst, Leipzig 1909, 8. 51£.) scheint der richtigen
Erkenntnis im Wege gestanden zu haben. Betont
wird seitdem ihr geometrisches Ornament, als ob —
selbst wenn es vorhanden wäre — damit das
Wesentliche gesagt wäre; die Hauptfrage muß
doch die sein, ist das Ornament islamisch? Für
beide verneine ich die Frage. Das Muster von
Abb. 61 ist eine aus der Technik leicht zu er-
klärende Vereinfachung eines bekannten Füllungs-
motives so kleiner Kompartimente auf byzantini-
schen Stoffen: kleine Palmetten reziprok verbunden
mit dem (älteren) Herzmotiv (O. v. Falke, Seiden-
weberei 1. Abb. 249; Lessing: Gewebesammlung,
Taf, 55d). Islamisches wüßte ich dem nichts an-
zureihen, während das Motiv auch der byzanti-
nischen Handschriftenillustration geläufig ist. Für
den, der byzantinische Ornamente kennt, ist auch
das Motiv der Abb. 60 schlagend byzantinisch:
Rauten mit gestielten Palmettenzweigen; die Be-
rührungspunkte der Rauten durchsetzt mit einem
Herzornament. Diese letztere Einzelheit kann ich
bisher anderweitig nicht belegen, sie fügt sich
aber der sonst nachzuweisenden Belebung des
Rautenmusters seit dem 11. Jahrhundert ein, an-
dererseits entspricht ihre Verwendung abgekürzt
den kleinen herzmustergefüllten Kreisen an den
Berührungspunkten der großmotivigen Stoffe. Ur-
byzantinisch, meines Wissens im Islamischen
nicht nachzuweisen, ist der gestielte Palmetten-
zweig. Auf die byzantinische Grundlage des
Rahmenornamentes brauche ich jetzt nicht ein-
zugehen (vorhanden ist sie meines Erachtens), denn
der erfolgte Anschluß an Islamisches ist einleuch-
tend. Im ganzen ergibt sich mir also das Bild
einer Produktion für fremde Bedürfnisse, wie wir
sie uns nach Marco Polos Bericht vorstellen
müssen; in den Koniateppichen sind meines Er-
achtens Reste verschiedener Stadien des Über-
gangs vom Alten ins Neue erhalten. Ich sehe
ornamental keinen Grund, der zwingen würde,
selbst das тз. Jahrhundert als Entstehungszeit der
beiden besprochenen Beispiele auszuschließen.
Aber die Frage ihrer Datierung ist nicht die wich-
tigste; sondern, wenn meine Analyse richtig ist
und sie noch stärker byzantinisch als islamisch
sind, muß man dann nicht wirklich annehmen,
daß zwei verschiedene Stämme zum heutigen vor-
derasiatischen Knüpfteppich zusammengewachsen
sind, eben ein byzantinischer und ein islamischer?
Den Wert des Buches können diese Einwen-
dungen nicht herabsetzen. Es hätte, wie eingangs
erwähnt, seinen ganzen Charakter verändern, es
hätte großenteils neu ausgearbeitet werden müssen,
wollte man von den von mir erörterten Gesichts-
punkten aus über die Frage schreiben. So etwas
kann kein billig Denkender von der Bearbeitung
einer neuen Auflage eines Handbuches fordern.
Dessen Zweck: übersichtliche Orientierung über
den Bestand und vorsichtig zurückhaltende Dar-
legung der für die Verfasser im Augenblick ein-
leuchtendsten Bearbeitungstheorien ist voll erfüllt.
Auch wo man nicht ganz zustimmt, wird man
sich nicht dem Eindruck entziehen können, den
so ruhig-sicher, dabei immer etwas akeptisch
vorgetragene Meinungen solch sachverständiger
Männer erzeugen müssen. R. Berliner.
(Nachschrift:) Nach der Drucklegung verwies mich
E. Gratzl auf den Aufsatz über armenische Teppiche von
A. З. in Revue des études arméniennes І. (1920), S. 121 ff.
Er scheint mir nichts wesentliches Neues zu enthalten,
wohl aber den Beweis für die Richtigkeit meiner These
über die vorisiamische Teppichproduktion im Bereiche der
byzantinischen Kultur wenigstens für den Osten ihrer geo-
graphischen Basis, eben Armenien. Bei seiner Verbindung
mit Persien ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihm die
Rolle des Vermittlers bei der Wanderung der Teppich-
produktion nach Westen sufiel.
KARL ANTON NEUGEBAUER, Antike
Bronzestatuetten. Mit 8 Text- und
67 Tafelbildern. Bd. I der Serie „Kunst
und Kultur“. Berlin, Schoetz & Parrhy-
sius 1921.
Eine zusammenfassende Behandlung der antiken
Kleinplastik hat bisher gefehlt. Um so verdienst-
licher ist der Versuch, diese Lücke auszufüllen,
besonders da unter den Statuetten genügend Ar-
beiten von einer Qualität erhalten sind, die der
Kunst des Altertums auch unter Fernerstehenden
neue Bewunderer und Freunde werben können.
Eine kurze und doch erschöpfende Übersicht in
Bild und Wort zu bieten, ist keine leichte Auf-
gabe, und man muß dem Verlage dankbar sein,
nicht nur für die gute Ausstattung bei verhältnis
mäßig billigem Preise, sondern vor allem dafür
daß er sich einen sachkundigen und gewissen-
haften Bearbeiter gesichert hat. Denn das ist
heutzutage bekanntlich alles andere als selbst-
verständlich, besonders bei Kunstbüchern, die sich
an ein größeres Publikum wenden. jeder Leser
wird den Eindruck erhalten, daß der Verfasser
bei der Auswahl der Bilder wie bei der Durch-
arbeitung des begleitenden Textes mit überlegte-
ster Gründlichkeit und Sorgfalt verfahren ist, und
wo man im einzelnen als Beschauer oder Leser
anderer Meinung ist, wird man immer gern an-
erkennen, daß dem Verfasser die Lösung seiner
schwierigen Aufgabe als Ganzes aufs erfreulichste
gelungen ist. Allerdings geht seine Gewissen-
haftigkeit bei der Gestaltung des Textes gelegent-
lich etwas zu weit. Denn gerade dem vorurteils-
losen, archäologisch nicht geschulten Leser wäre
oft mit kurzen, übersichtlich geordneten Angaben
mehr gedient, die ihm als Vorbereitung für die
Bilder dienen könnten, als mit ausführlichen Be-
gründungen der kunstgeschichtlichen Einordnung.
Im Interesse des Laien wäre es übrigens er-
wünscht gewesen, daß die Tafeln Datierungs-
vermerke trügen, die ein fortwährendes Zurück-
blättern in den Text erübrigt haben würden.
Als Einführung hat der Verfasser einen Über-
blick über das plastische Schaffen der Steinzeit
gegeben, eine Bereicherung des Stoffgebiets, über
deren Berechtigung sich streiten läßt, zumal da
sie eine der 36 Bildtafeln beansprucht. Die Kunst
der vorgriechischen Kultur im ägäischen Gebiet
ist ebenfalls breit behandelt. Es fragt sich, ob
dem großen Publikum hier nicht zuviel Gleich-
artiges geboten wird. Neben der Betenden des
Berliner Antiquarium als Repräsentantin der kre-
tischen Frauenstatuette (T. 6) hätte die schlechter
erbaltene Replik aus Haghia Triadha (T. 7) weg-
bleiben können. Ebenso werden an der Bei-
gabe der zwei kretischen Jünglinge (T. 10— 11)
nur Archäologen Freude haben, die von diesen
Stücken sonst keine Abbildung zur Hand haben.
Vielleicht kann in einer späteren Auflage ein
künstlerisch bedeutenderes Werk an ihre Stelle
treten, etwa der Leidener Betende aus Phaestos
(Jahrb. Archäol, Inst. 1915, Taf. I), oder ein ähn-
liches Stück des British Museum, wenn nicht gar
der prachtvolle Bronzestier mit dem Turner an
den Hörnern. (Diese beiden Denkmäler sind erst
nach Neugebauers Buch durch das Journal of
Hellenic Studies 1921 bekannt geworden.)
Die griechische Frübzeit, in der eine monu-
mentale Plastik noch nicht existierte, während der
große Bedarf an kleinen Weihgeschenken eine
mannigfaltige Kieinplastik gerade auch in Bronze
ins Leben rief, wird von Neugebauer mit geschickt
gewählten Abbildungen illustriert und gut cha-
rakterisiert, wie auch die Blütezeit der Bronze-
kleinkunst, die Periode des reifen Archaismus,
An Stelle eines der drei arkadischen Bäuerlein
(T. 22—24) würde man allerdings gern ein Stück
gesehen haben, das für einen anderen Kunststil
charakteristisch ist, wie — um nur ein Beispiel
zu nennen, den schönen Speerwerfer des Louvre
(Jahrb. 1892, Taf. 4). Hier hätte der Verfasser
auch die gleichzeitigen italischen Arbeiten ein-
315
fügen sollen, die er aus geographischen Rück-
sichten von den reingriechischen Werken getrennt
hat (Т. 52—54). Gerade in einem Buche für
Fernerstebende kann nicht genug unterstrichen
werden, daß es eine italische oder etruskische
Kunst nur als Ableger der griechischen gibt. Auf
dem Gebiet der Bronsekleinplastik können ita-
lische Arbeiten ja am ehesten den Vergleich mit
griechischen aushalten und bei anschließender Be-
handlung würde der Leser zugleich durch die
Anschauung erfahren, wie das Zusammentrefien
der verschiedenen Einflüsse vom griechischen
Kulturgebiet her die stilistischen Abweichungen von
eigentlich griechischen Schöpfungenbedingt haben.
Die Periode des großen Aufschwunges der Mo-
numentalplastik wird durch einige schöne Stücke,
wie den Zeus von Dodona (T. 28), den Athener
Sieger (T. 29), die Spinnerin in Berlin (T. 36) bis
zu dem Mädchen von Beroia (T. 42) gut vertreten.
Persönlich hätte ich gern den New Yorker Diskus-
werfer (Catalogue Nr. 78) in der Reihe geschen.
Die folgenden Jahrhunderte, besonders die der
hellenistischen Kunst, sind nicht mit derselben
Ausführlichkeit behandelt, und gerade hier konnte
die Mannigfaltigkeit der Bewegungsmotive und
die Menge der Ausdrucksmittel, über die die
griechische Kunst seit dem 4. Jahrhundert ver-
fügt, zu größerer Breite einladen. Es ist aber
nicht zu verkennen, daß dann ein eigenes Buch
dem Hellenistischen und Römischen in der Bronze-
kleinplastik gewidmet werden müßte. Daher seien
zum Schluß nur einige — unverbindliche — De-
siderata für diesen Teil angefügt, wobei ich das
Hauptgewicht darauf legen möchte, daß Arbeiten
von hoher künstlerischer Qualität vor bloßen Ku-
riositäten bevorzugt werden müßten: Als Beispiel
einer immerhin konventionell gefaßten Wieder-
gabe eines berühmten hellenistischen Kultbildes
der Tyche von Antiochia (z. B. Coll. De Clercq,
Ш. pl. 51), dagegen, um eine freie Schöpfung in
Anlehnung an ein großes Werk zu zeigen, eine
Aphrodite, wie die Umbildung der praxitelischen
Knidierin in New York (Cat. Nr. 321) Ob es
nötig oder angängig ist, für die spätere Periode
wenigstens, die Beschränkung auf die mensch-
liche Gestalt aufzugeben, ist natürlich eine Frage.
Ich möchte sie bejahen, und würde gern eine der
prachtvollen Tierdarstellungen der hellenistischen
Kunst, 3. B. die Münchner Pantherin (Münchner
Jahrbuch f. bild. Kunst 10912, T. x) und einen der
römischen Porträtköpfe, etwa das Porträtemblem
von Wels (Jahreshefte d. Österr. Arch. Inst. 1911,
T. 3) eingefügt gesehen haben. Vielleicht läßt
sich dieser oder jener Wunsch in einer späteren
316
Auflage berücksichtigen, sei es durch Vergröße-
rung des Bildermaterials, sei es durch Austausch
gegen entbehrlichere Stücke, Hans Nachod.
HERM. KEES, Studien zur ägypti-
schen Provinzialkunst. 32 S., 9 Taf.
Verlag J. C. Hinrichsche Buchhandlung.
Leipzig 1921.
An Hand der vorzüglichen Abbildungen weist
Verf. nach, daß bereits zur Zeit des Alten Reiches
sich in Ägypten eine Provinzialkunst herausbildet.
Die Großen des Landes legen nicht mehr ein so
großes Gewicht darauf, in der Nähe der Residenz
nahe dem Grabe des Pharao beigesetzt zu werden,
sondern von manchem wird vorgezogen, abseits
der Residenz auf eigenem Grund und Boden be-
graben zu liegen. Der Provinzialkunst erwachsen
dadurch neue Aufgaben, die allerdings unabhängig
von der Kunst, wie sie am Hofe zu Memphis
blühte, nicht gelöst werden konnten. Eigenes,
Neues zu schaffen, ist nicht das Streben des
Provinz-Kinstlers. Was er in der Residenz ge-
lernt hat, das sucht er in der Heimat wieder-
zugeben. Für selbständige Weiterentwicklung
fehlen in der Provinz zunächst noch alle Voraus-
setzungen. A. Köster.
A. v. SALIS, Die Kunst der Griechen.
Zweite Auflage. X und 303 S. mit 68
Abbild. Verlag S. Hirzel, Leipzig, 1922.
Es ist keine Kunstgeschichte, die v. S. uns
bietet, keine Darstellung und Schilderung der
Kunstwerke in historischer Anordnung. Vielmehr
versucht Verfasser die griechische Kunstentwick-
lung in ihrer Eigenart vor Augen zu stellen, die
er an einzeinen Beispielen erläutert, indem er die
Gesamtheit des antiken Kunstschaffens seinem
Urteil zugrunde legt. Kunstgeschichte ist dem-
nach aus dem Buch nicht zu lernen, wohl aber
ist es geeignet, uns das Wesen griechischer Kunst
za erschließen und die Eigenart griechischen
Kunstschaffens dem Verständnis näherzubringen.
Daß bereits nach drei Jahren eine neue Auflage
des Werkes erforderlich wurde, zeigt, wie er-
wünscht eine solche Darstellung der Kunstentwick-
lung in weitesten Kreisen ist, trotzdem sie eine
allgemeine Kenntnis der antiken Kunstgeschichte
voraussetzt. Z.T. liegt diese günstige Aufnahme,
die das Buch gefunden hat, an der fesselnden
Darstellungsart und der prägnanten Weise, wie
Verf. die einzelnen Epochen der Entwicklung
schildert, und das Charakteristische dieser Epochen
in seinem Ursprung und Wesen zu ergründen
versucht, dabei aber stets vermeidet, sich in Er-
örterungen über wissenschaftliche Spezialfragen, die
in erster Linie nur den Fachmann interessieren,
zu verlieren. Das Buch bietet dem Archäologen wie
dem Kunsthistoriker, sowie jedem, dem die Kunst
der Alten überhaupt etwas gilt, reichen Genuß so-
wie reiche Belehrung und Anregung. A.Köster.
AUGUST DIEHL, Die Reiterschöp-
fungen der phidiasischen Kunst,
131 S., 17 Taf. und ein Titelbild. Ver-
einigung wissenschaftl. Verleger, Berlin
und Leipzig 1921.
Der Verfasser, bis Kriegsende aktiver Offizier
einer berittenen Truppe, hat sich dem Studium der
Archäologie sugewendet und gibt uns als erste
Frucht seiner neuen Tätigkeit ein Buch über
Antike Reitkunst. — So etwa würde ich den Titel
gewäblt haben, denn der Inhalt bietet unendlich
viel mehr, als der Titel verspricht. Vom Stand-
punkt des Reiters und Pferdekenners bespricht Verf.
die Pferdedarstellungen der ägyptischen und assy-
rischen sowie der frühgriechischen Kunst, um
dann schließlich zu den bedeutendsten Meister-
schöpfungen der Antike, die uns der Parthenon-
fries vorführt, zu gelangen. Es ist erstaunlich,
was Verfasser aus dem Material herausholt, wie
er die Situation klärt und neue Seiten der Dar-
stellungen beleuchtet. Dabei ist er weit entfernt
von der Überhebung, die uns so oft begegnet,
wenn Nichtfachleute über archäologische oder
kunsthistorische Dinge schreiben, die sie infolge
ihrer, auf einem ganz anderen Gebiete liegenden
Ausbildung in allem besser zu verstehen meinen,
und dabei in der Regel arg vorbeischießen, um
mich gelinde auszudrücken. Verfasser steht durch-
aus auf dem Boden archäologischer Forschungs-
methode, er kennt und berücksichtigt die ein-
schlägige Literatur, so daß es eine Freude ist,
dem Verfasser zu sagen, daß er auf dem besten
Wege ist, einer der unsrigen zu werden. Das Buch
hat bleibenden Wert. Wer sichmit antiken Pferde-
darstellungen beschäftigt, kann nicht daran vorbei-
gehen, und auch der moderne Kunsthistoriker, dem
das Pferd in der Kunst so oft entgegentritt, wird un-
endlich viel aus dem Buche lernen und sollte sich
mit seinem Inhalte vertraut machen. A. Röster.
HANS LAMER, Römische Kultur im
Bilde. 64 Seiten und 96 Tafeln. Vierte
Autlage. 28. bis 38. Tausend. (Wissen-
schaft und Bildung, Bd. 81.) Verlag von
Quelle & Meyer in Leipzig. 1921.
Als Ergänzung kunstgeschichtlicher Handbücher
usw. ist die Darstellung der Römischen Kultur
finden.“
von L. sehr nützlich. Sie schildert auf Grund
des literarischen und bildlichen Quellenmaterial
das antike Leben, wie es sich abspielte, und zeigt
uns dabei zugleich, was der Römer an Kultur-
gütern besaß, und wie er sich derselben bediente.
A. Köster.
HANS BERSTL, Das Raumproblem
in der altchristlichen Malerei. 4.Bd.
der Forschungen zur Formgeschichte der
Kunst aller Zeiten und Völker. Verlag
Kurt Schroeder, Bonn u. Leipzig 1920.
Der Verfasser sagt in seiner Einleitung: „Der
Gesichtspunkt vorliegender Arbeit ist ein rein
künstlerischer: Die Frage nach den Raumlösungen
in der altchristlichen Malerei. Es wird versucht,
alles aus dem Kunstwerk selbst, was von dem in
Frage stehenden Problem in ihm enthalten ist, zu
In der Folge wird dann das Problem be-
schränkt auf die Darstellung dreidimensionaler
(also räumlicher oder körperlicher) Gebilde in der
zweidimensionalen Fläche der Malerei. B. unter-
scheidet dann westliche und östliche Augen; er
vergißt, daß auf der Netzhaut beider Augen das
Bild des Geschauten in zentralperspektivischer
Projektion erscheint und nennt die im Westen
durchgeführte Annäherung des gemalten oder ge-
zeichneten Bildes an das Bild auf der Netzhaut
des Auges eine „einseitig konsequent dirigierte
Erziehung des Sehens“. Richtig definiert käme
es darauf hinaus, daß das Abendland sein Bild
von einem festen Standpunkt aus festhält, während
der Orient den Standpunkt wechselt, jeweilen die
sprechendsten Ansichten registriert und diese
Einzelbilder nach dekorativen oder den Inhalt
verdeutlichenden Gesichtspunkten zu einem Ge-
samtmosaik zusammenfügt. Daß also bei der von
Bersti „östlich“ genannten Gesamtprojektion je-
weilen die Einzelheiten „westlich“ gesehen sind,
führt diese Art der Nomenklatur ohne weiteres
ad absurdum. B, stellt weiter die Hypothese auf:
In der altchristlichen Malerei kreuzen und be-
kämpfen sich westliche und Östliche Raumdarstel-
lung; erstere nennt er das Ineinandergreifen von
Luftraum und Körperraum, letztere die Fläche
ohne Ende. Wenn ich B. recht verstehe (was
angesichts seiner verstiegenen und oft schiefen
Ausdrucksweise nicht leicht ist), meint er damit
etwa: Im Westen spielt sich der dargestellte Vor-
gang scheinbar hinter der Bildfläche ab und wird
auf diese projiziert. Im Osten ist der entsprechende
Vorgang in die Bildfläche selbst verlegt, kulissen-
artig in flachem Relief ohne Raumtiefe aufgebaut.
317
Bersti untersucht gewissenhaft eine Reihe typi-
scher Denkmäler in bezug auf ihre Raumgestal-
tung und legt die Resultate im Sinne seiner Hypo-
these aus. Schließlich zieht er die Raumtheorien
überhaupt in den Bereich seiner Betrachtung
merkwürdigerweise zitiert er als Vertreter der
Definition des dreidimensionalen Raumes als Pro-
jektion oder Oberfläche eines vierdimensionalen
Gebildee die späteren Arbeiten von Hinton von
1886 und 1900, nicht die grundlegenden Abhand-
lungen des Leipziger Astrophysikers Zöllner: „Über
Wirkungen in die Ferne“ und „Zur Metaphysik
des Raumes“ 1878. R. Bernoulli.
WILLIAM ANDERSON, Den äldere
kyrkliga Konsten i Blekinge. Zweites
Beilageheft zu N. M. Mandelgrens Atlas
über Schwedens Geschichte der Alter-
tümer. 45 Seiten, gr. 4°. 53 Abbildungen.
Lund 1922.
Als erstes Ergänzungsheft zu Mandelgrens Atlas
batte Ewert Wrangel zu Lund, der Herausgeber
und Leiter der ganzen Veröffentlichung, eine Ab-
handlung über die mittelalterlichen Malereien in
der Kirche zu Dädesjö gegeben. In dem Vor-
liegenden folgt eine übersichtliche und sehr voll-
ständige Behandiung der kirchlichen Kunst von
Blekingen, das nebst Halland und Schonen den
südlichen Teil des heutigen Schwedens ausmacht.
Während mit der Kunst Schonens sich viele be-
schäftigt und uns mit dem Bestande dieses für
die Kunstgeschichte allerwichtigsten Teiles des
ganzen Nordens schon ausgiebig bekannt gemacht
haben, hatte das kleine Gebiet Blekingens noch
keine ordentliche Behandlung erfabren. Dies Heft
bietet eine solche zusammenfassend und gründlich.
Die Architektur ist ganz von der Schonens ab-
hängig, wie denn Blekingen sowohl kirchlich als
staatlich dazu gehörte. Wichtige Bauwerke sind
nicht zu verzeichnen. Das beste ist vergangen,
so daß die Bearbeitung in überaus umfassender
Weise sich auf Überlieferung, ja auch auf einige
Vermutungen stützen muß und Vergangenes reich-
lich berücksichtigt. Das Christentum war aus
Deutschland in das Land gekommen, aber der
deutsche Einfluß wich dann ganz dem englischen.
Am Ende des Mittelalters batte man in der Land-
schaft 27 Kirchen. Im wesentlichen gehen die
vorhandenen ins frühe Mittelalter zurück. Leiten-
der Zug ist Armut der Gebäude in Anlage und
Durchführung, und fast alle sind schnöde verkalkt.
Der Stoff ist spröder Granit mit ganz weniger
Behauung. Die Bildhauerkunst hat so gut wie
318
keinen Anteil an den Bauten. Selbst Taufsteino
feblen fast ganz; ein guter romanischer aus Sand-
stein ist schonisch, und ein paar aus Kalkstein
sind gotlindisch. Der bescheidene Bestand an
anderen Ausstattungsstücken zeigt kein anderes
Bild, als wir im Norden zu finden gewöhnt sind;
romanisch ein Kruzifix und eine Bischofsfigur,
beide verstümmelt, gotisch eine größere Anzahl
Stücke, vielfach zerbrochen. Erwähnenswert ist
davon ein Altarschrein von Twine aus dem Ende
des Mittelalters, dem Lübecker Benedikt Dreyer
zugeschrieben: Mitten Dreieinigkeit, in den Flügeln
Passionsszenen. Im späteren Mittelalter gehörte
diese Landschaft ebenso wie die übrigen Länder
des Nordens ganz zu dem Gebiete der lübischen
Kunst. Schön und bedeutsam sind die hergestell-
ten Malereien in der Kirche zu Solvesborg, dem
einzigen ansehnlichen Gebäude der Landschaft.
Sie ist ein Backsteinbau mit Westturm, langem
rechteckigen Chor, im Schiff und Chor mit fünf
Sterngewölben überdeckt. Wir müssen uns leider
auf diese kurze Darlegung beschränken; geht sie
doch schon an sich etwas hinaus über die all-
gemeine Bedeutung der Landschaft für die Kunst-
geschichte. Es zeigt sich bei ihr, daß es auch
im Norden, der uns ja so nahe steht und doch
so schwer erreichbar ist, bei den traurigen Zeit-
verhältnissen sowohl für persönliche Anschauung
als auch selbst für Bekanntschaft in der Literatur,
Landstriche gibt, deren treue und gewissenhafte
Durchforschung zwar durchaus notwendig und
auch lohnend genug ist, deren Ausbeute aber für
die Aufmerkssmkeit nichts besonders Hervor-
stechendes bietet. R, Haupt.
RAIMOND van MARLE, La peinture
romaine au moyen-äge, son déve-
loppement du бёте siécle jusqu’à la
fin du 13°™¢ siècle. (Etudes de lart
de tous les pays et de tous les &poques,
Vol. 3.) Straßburg, Heitz 1921. Fr. 100.—.
Raimond van Marle hat sich durch seine Stu-
dien über Simone Martini und seine Untersuchungen
tiber die Ikonographie von Giotto und Duccio vor
zwei Jahren aufs beste in der Kunstforschung be-
kannt gemacht.
Der spröde Stoff, dem sein neuestes Buch ge-
widmet ist, stellte aber an die wissenschaftliche
Schulung und das kritische Urteilsvermögen des
Verfassers noch weit größere Anforderungen. Es
soll im folgenden versucht werden, über den
reichen Inhalt dieses Buches Bericht zu erstatten,
das für die Geschichte der römischen Malerei
in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends als
grundlegend bezeichnet werden darf.
In neun Kapitel ist das Werk gegliedert. Die
Einleitung beschäftigt sich mit den ältesten noch
spätantiken Malereien und Mosaiken Roms. Die
Mosaiken von 8. Costanza, des Langhauses und
des Triumphbogens von 8. Maria Maggiore wer-
den besprochen, die Geschichte Roms in der
zweiten Flälfte des 4. Jahrhunderts wird kurz dar-
gestellt. Auch gleichzeitige Handschriften wie
der Vergil des Vatikans werden zum Vergleich
herangezogen.
Alle diese Werke werden als durchaus spät-
antik mit dem naturalistisch -impressionistischen
Charakter der spätantiken Kunst gekennzeichnet.
Dagegen kommt, wie im zweiten Kapitel (Deve-
loppement de l’influence byzantine pendant le Ge
et 7¢ siecles) gezeigt wird, eine neue, von Byzanz
beeinflußte Kunst auf, als deren erstes großes
Monument das Apsismosaik von Ss. Cosma e
Damiano besprochen wird. (Unter Felix IV. 526/30
ausgeführt.) Damit wird dieDisposition des ganzen
Buches festgelegt: die Unterscheidung eines spe-
zifiech römischen, auch als pompejanisch-impres-
sionistisch bezeichneten Stils und der byzantinischen
Richtung. Das Eindringen des byzantinischen
Stils im 6. Jahrhundert wird auch in den Kata-
kombenmalereien festgestellt: sie zeigen ebenfalls
das Schwinden der alten Tradition, ein Vorgang
der sich auch in Ravenna beobachten läßt.
Diese Entwicklung setzt sich im 7. Jahrhundert
fort, wie an dem Beispiel von 8, Agnese und
dem Oratorium von 8. Venanzio erläutert wird.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der römi-
schen Malerei während der Epoche des Bilder-
streits. Es enthält nach einer umfangreichen
Einleitung, die die geschichtlichen Ereignisse der
genannten Epoche schildert, eine Darstellung der
reichen Bautätigkeit der Päpste dieser Epoche.
Am eingehendsten werden die Fresken von 8, Maria
Antiqua besprochen, deren Hauptkapelle bekannt-
lich unter Johann VII, ausgeschmückt wurde. Ein
- stärkerer Einfluß der Antike, eine Rückkehr zu dem
sogenannten pompejanisch-impressionistischen Stil
wird hier festgestellt. Neben diesem einzigen
Werk größeren Umfanges der Zeit werden noch
Reste in 8. Saba und in der Unterkirche von
S. Giovanni e Paolo besprochen.
Die Schilderung der Kunst der karolingischen
Epoche, der das folgende Kapitel (Kap. V) ge-
widmet ist, wird mit den Mosaiken des Trikli-
niums Leoninum eingeleitet. In diesem Zu-
sammenhang folgen die Mosaiken von SS. Nereo
ed Achilleo, 8. Maria in Domnica, 8. Cecilia in
Trastevere, S. Prassede und S.Marco. Die Fresken
der Seitenschiffe von 8, Maria Antiqua werden
dem Pontifikat Nikolaus I. zugewiesen (858/67).
Als besonderes Merkmal der karolingischen Kunst
in Rom nimmt Marle starke Einflüsse des Ostens
an, die er durch Handelsbeziehungen erklärt. Da-
neben macht sich ein Übergreifen der karolingi-
schen Kunst des Nordens auf Italien geltend.
Hierdurch wurde die Kunst vor dem Verfall be-
wahrt, der erst mit der Lockerung der Beziehungen
zum Norden beginnt.
Die Entartung der römischen Malerei (Kap. У.
La peinture speciiquement romaine dans la se-
conde moitié du [Xe et du Xe siècle) setzt erst
unter Karl dem Dicken und Karl dem Kahlen ein
Als Hauptdenkmal gelten die Fresken der rechten
Seitenwand des rechten Seitenschiffs von S. Cle-
mente, deren künstlerischer Wert äußerst gering
anzuschlagen ist. Der Zeit Nikolaus I. werden
die Fresken des Triumphbogens von S. Maria
in Cosmedin und der Zeit Nikolaus II. (844/7) die
Malereien der Unterkirche von S. Martino ai Monti
sowie die der Nischen des rechten Seitenschiffe
von 8. Maria Antiqua wohl mit Recht zugewiesen.
Von den in Rom aus der Zeit erhaltenen Tafel-
bildern wird die Madonna von Araceli der Epoche
eingeordnet,
Dem 11. Jahrhundert (Kap. VI. La peinture du
тте siecle et l'influence de l'école othonlenne)
werden die Fresken von 8. Sebastianello und als
Hauptwerk die Fresken von 8. Urbano alla Caffa-
tella sugeschrieben. Als das beste Denkmal der
Epoche (unter dem Pontifikat Gregors des Großen
entstanden) nennt der Verfasser die zweite Serie
der Fresken in 8. Clemente, denen als ähnliche
Monumente die Zyklen von Magliano Pescareggio
und der Unterkirche von 8. Pietro in Toscanella
bei Viterbo angegliedert werden. Die Anregungen
für diese mehr realistische Kunst sind nach An-
sicht van Marles durch den Einfluß der ottoni-
schen Schule zu erklären. Besonders zeigt die
Ikonographie der Fresken von S. Sebastianello
starko Analogien zu den ottonischen Codices.
Dem 12. Jahrhundert werden die (Kap. VII) Mo-
saiken von Grattaferrata, die oberen Mosaiken der
Apsis von 8, Maria in Trastevere (gegen 1145), von
S. Maria Nuova und die heute nicht mehr existie-
rende Apsis von SS. Quattro Coronati zugeschrieben.
Die umfangreichsten Freskenzyklen dieser Zeit
befinden sich in 8. Pietro a Ferentillo bei Terni,
in 8, Giovanni a Porta Latina und in der Unter-
kirche der Abtei Farfa. Die Prüfung derselben
führt zur Unterscheidung zweier Strömungen:
1. einer byzantinischen, der z. В. die. Fresken
319
der Kathedrale von Anagni zugeschrieben werden
und 3. der eigentlich römischen, der die Male-
reien in S. Giovanni a Porta Latina entstammen.
Die beiden letzten Kapitel (УП. u. УШ.) schil-
dern die Malerei des 13. Jahrhunderts. Der erste
Teil von Kapitel VII beschäftigt sich mit der
byzantinischen Strömung. Als Hauptdenkmal
wird das Fassadenmosaik von S. Maria in Traste-
vere angeführt, weiterhin das untere Stück der
Apsismosaik von San Paolo fuori und als wich-
tigstes Monument der Freskenzyklus der Silvester-
kapelle von SS. Quattro Coronati, Hier beobach-
ten wir das Eindringen römischer Elemente, das
sich in lebhafteren Gebärden und Bewegungen
äußert. An Denkmälern außerhalb Roms werden
die Malereien in S. Maria Nuova zu Viterbo und
8. Maria Maggiore in Toscanella herangezogen.
Die Werke des toskanisch - byzantinischen Stils
fehlen in Rom völlig. Von den Tafelbildern wer-
den die Madonnen von 8. Maria Maggiore, S. Maria
del Popolo, 8. Francesca Romana, 8. Maria in
Cosmedin und die Porträts von 8. Peter und Paul
in S. Peter dem 12. Jahrhundert zugeschrieben.
Die weitere Entwicklung dieser Richtung wird
vor allem an den Fresken des Bacro Speco in
Subiaco und an den Malereien der linken Wand
in 8. Saba in Rom erläutert. Daneben wird als
Produkt der eigentlich römischen Richtung der
sehr übermalte Freskenzyklus im Portikus von
8, Lorenzo fuori angesprochen. Eine ähnliche
Entwicklung außerhalb Roms läßt sich an den
Malereien in 8. Maria in Vescovio bei Stimigliano
in der Sabina und als letzte Stufe in den von
Conxolus im Sacro Speco gemalten Fresken ver-
folgen (П. Н. Saec. XIII.)
Der Schluß des Buches ist der letzten Entwick-
lung der römischen Schule unter Meistern wie
Cimabue, Torriti und Cavallini gewidmet. Die
Teilung der römischen Malerei in zwei Strömungen,
die das ganze Buch durchzieht, zeigt sich auch
bier aufs neue. Cimabue wird als letzter Reprä-
sentant der byzantinischen Schule und Cavallini
als das Haupt der eigentlich römischen Richtung
erklärt. Die Darstellung greift hier über die ihr
eigentlich gesetzten Grenzen hinaus, indem von
Cimabue in erster Linie die Fresken der Ober-
kirche von Assisi besprochen werden, bei denen
ein von Umberto Gnoli gefundenes Datum 1296
zum erstenmal in der Literatur bekanntgemacht
wird, Die Fresken selbst werden an vier ver-
schiedene Schüler Cimabues, die Marle im ein-
zelnen unterscheiden zu können glaubt, verteilt,
Außerdem werden der Schule Cimabues in Rom
ale einziges noch vorhandenes Beispiel seiner
820
Kunst sechs Medaillons in S. Maria Maggiore
zugeschrieben.
Von Cimabue leitet sich die Kunst Torritis ab,
der die Tribunen des Laterans (1291) und von
8. Maria Maggiore (1296) ausgeführt hat. Auch
hier verläßt der Autor wieder den engeren Kreis
der Betrachtung und wendet sich der Schilderung
der Malereien in Assisi zu, die eingehend und nicht
ohne neue Forschungsresultate erörtert werden.
Als weiterer Schüler Cimabues wird Rossuti
gewürdigt, der den Fassadenschmuck von 8. Maria
Maggiore, bei dem wahrscheinlich Gaddo Gaddi
mitgewirkt hat, ausgeführt hat. Als Arbeiten
Cosmas II. erscheinen die Mosaiken von Sancta
Sanctorum, die Marie in das Pontifikat Nikolaus III.
(1277/80) setzt. Seinem Sohn Giovanni werden
die Mosaiken des Grabmals des Kardinals Con-
salvi in S. Marla Maggiore zugewiesen. In die-
selbe Richtung gehören schließlich auch noch die
Mosaiken der Kapelle der heiligen Rosa in Araceli.
Diese bysantinische Gruppe hat hauptsächlich
Mosaiken ausgeführt, als letzte Vertreter dieser
Kunst. Von Tafelbildern dieser Richtung nennt
der Verfasser die Bilder aus den Sammlungen
Hamilton und Kahn in New-York.
Das Verdienst Cavallinis diesen Meistern gegen-
über besteht darin, sich von den überlieferten
byzantinischen Formen freigemacht zu haben,
Er hat auf die alte Tradition der römischen Schule
zurückgegriffen. Im einzelnen wird hier die ältere
Forschung zusammengefaßt, deren gesamte Lite-
ratur einschließlich des jüngst in den „Memoirs
of the american academy“, Vol. II erschienenen
Aufsatz von Lohtrop aufgezählt wird, Auch hier
werden neben den römischen Werken vor allem
die Fresken in Assisi eingehend gewürdigt.
Übersichtliche Literaturangaben bilden einen
Hauptvorzug des ausgezeichneten Buches, Dankens-
wert ist ferner das Abbildungsmaterial, das eine
Reihe wertvoller Ergänzungen zu dem großen
Material Wilperts bildet, Ludwig Schudt.
VICTOR CURT HABICHT, Nieder-
sichsische Kunst. I. Der Roland zu
Bremen. II. Die Goldene Tafel der Sankt
Michaeliskirche zu Lüneburg. III/IV. Des
hl. Bernward Kunstwerke. Angelsachsen-
verlag, Bremen 1922.
Die Sammlung, die von Habicht und Roselius
gemeinsam herausgegeben wird und deren erste
Bände Habicht selbst verfaßt hat, ist berufen,
eine fühlbare Lücke. auszufüllen. Norddeutschland
wurde von der älteren Kunstforschung stark ver-
v
nachlässigt. Die großen Inventare stellen das
Vorhandene fest, ohne es in die Kunstentwicklung
einzuordnen. Überdies sind sie nur wenigen zu-
gänglich. Daß nun In guten, sachlich gehaltenen
Handbüchern die wichtigsten Werke mit reich-
lichen Abbildungen veröffentlicht werden, verdient
Anerkennung. Der unermüdliche Herausgeber und
Verfasser der ersten Bände hat hier gediegene
Arbeit geleistet. Geschichte, Beschreibung und
Einordnung in den Zusammenhang sind knapp,
sachlich, zuverlässig. — In dem Rolandbüchlein
ist das rechts- und schauspielgeschichtliche Schrift-
tum zu Rate gezogen, die formale Entwicklung
des Rolands aus der gleichzeitigen Grabmalkunst
überzeugend nachgewiesen. — Besonders ver-
dienstlish ist die Veröffentlichung der Goldenen
Tafel im Hannoverischen Provinzialmuseum, von
der bis vor kurzem nicht einmal brauchbare Photo-
graphien erhältlich waren. So ehrt der Deutsche
die Hauptwerke seiner Kunst! Habicht hält den
Schrein für eine Schöpfung der Zeit zwischen der
Hochaltarweihe von St. Michaelis, 1390, und der
Stiftung des Göttinger Jakobialtares, 1402, und
lehnt Konrad von Soest als Schöpfer der Gemälde
ab. Dieser Ablehnung möchte der Berichterstatter
zustimmen; hingegen scheint ihm der Versuch,
die Bildwerke mit der Kunst des Claus Sluter in
Verbindung zu bringen, auf Irrwege zu führen,
Die Goldene Tafel dürfte, in den gemalten und in
den geschnitzten Teilen, ohne niederländische
Einwirkung entstanden sein. So dankenswert die
Beigabe der Abbildungen ist, so möchte man іп
einer Neuauflage doch noch mehr Einzelaufnahmen
der Gemälde wünschen, — Der jüngste Doppel-
band schildert das Werk des hi. Bernward in Hil-
desheim; St. Michael, die Türen, die Säulen, das
Grab, die Goldschmiedearbeiten und Evangeliare,
In großen Zügen wird ein anschauliches Bild
der Bedeutung des kunstfreundlichen Bischofs für
die Hildesheimer Kunst der Jahrtausendwende ge-
geben. Den Büchlein ist weite Verbreitung und
gleichwertige Nachfolge zu wünschen. Baum,
OSWALD SIREN, Toskanische Maler
im 13. Jahrhundert. Verlegt bei Paul
Cassirer in Berlin, 1922.
Wer die Fülle der Probleme kennt, die uns
heute noch von einer exakten Kenntnis der italie-
nischen Malerei des 13. Jahrhunderts trennen, wird
Siréns Buch mit der größten Spannung zur Hand
nehmen.
Der Titel macht stutzig. Nicht „Malerei“, son-
dern „Maler“, also Betonung von Persönlichkeiten
für eine Zeit, in der wir so wenig greifbare Per-
sönlichkeiten haben. Neues Aktenmaterial wird
nicht beigebracht, das schon bisher bekannte dient
als Grundlage. Der Verfasser betont, daß ihm
das Herausarbeiten der Künstlerpersönlichkeiten
Ziel sei, er anonyme Werke nur soweit erwähnt
habe, als dieselben direkt oder indirekt mit Künstler-
persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden
können. Wenn man erwägt, welch ganz geringer
Bruchteil der einstigen künstlerischen Produktion
heute nur mehr übrig ist, wie wenig signierte
Werke darunter sind, wie spärlichen Sandkörnern
aus einem uns unbekannten Lande vergleichbar,
ein paar Dokumente und mehrere Namen ohne
bestimmte Relation zueinander und zu bestimmten
Werken bekannt sind, so wird man Siréns Verfahren
als mindestens sehr gewagt bezeichnen müssen
Der zweite Punkt, der bedenklich macht, ist die
Beschränkung auf die Schulen von Lucca, Pisa und
Florenz, Siena bleibt weg, weil es ohnedem
besser bekannt sei, Arezzo wegen seiner geringen
Bedeutung, wie denn der viel genannte Marga-
ritone einmal wohl allzuhart als „der unfähigste
aller toskanischen Dugentomaler“ bezeichnet wird.
Siren ist in seinen Betrachtungen von einem
intensiven Interesse für die Künstlerpersönlich-
keiten des Dugento geleitet worden. Er hat es
verstanden, sich in die Formensprache des Einzel-
werkes mit feinfühligem Verständnis einzuleben
die Wärme und Begeisterung seiner Beschrei-
bungen und Bildanalysen sind aufrichtig zu be-
grüßen. Wenn er selbst die tiefe Verwandtschaft
der frühesten Monumente italienischer Malerei mit
der alten religiösen Kunst Ostasiens, wie ander-
seits mit der modernen europäischen Kunst her-
vorhebt, so begrüße ich dabel besonders die Be-
tonung unserer noch so vielem Mißverstehen aus-
gesetzten Moderne. Wer Siréns Darlegungen auf-
merksam verfolgt, wird auch an dem Expressio-
nismus (wenn wir uns schon mit Schlagworten
behelfen müssen), unserer Tage nicht interesselos
vorübergehen können. Es wäre möglich gewesen,
die Art des Expressionismus des Dugento mit der
des heutigen zu vergleichen, es wäre auf diesem
Wege wohl erst möglich, den tieferen Stilproble-
men des Dugento auf die Spur zu kommen, die
Begriffe von Primitivität und Fortschritt aus-
zuschalten u. a. m. — aber Sirén hat diese wei-
teren Zusammenhänge nicht berührt. Die Ein-
stellung auf die bestimmten und unter bestimmten
Gesichtspunkten ausgewählten Objekte ergibt eine
zwar vom Verfasser gewollte, aber sachlich nicht
gerechtfertigte und jedes Erfassen der tieferen
Probleme ausschließende Beschränkung.
321
Der erste Hauptabschnitt ist der Kunst von
Lucca gewidmet. Von früheren zusammenfassen-
den Forschern hatte nur Thode (Repertorium 1890)
dieser Schule besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Sirén glaubt, die Familie Berlingbieri sei vom
Ende des 12. bis Ende des 13. Jahrhunderts Trä-
gerin der lucchesischen Malerei gewesen, „Das
wichtigste Element dieses Lokalstils bildet die
Linie.“ Sehen wir uns die Sache genauer an,
so haben wir von dem alten, wahrscheinlich aus
Mailand eingewanderten, 1228 und 1235 als lobend
erwähnten Berlinghieri ein signiertes Kruzifix in
Lucca, kennen von drei Söhnen die Namen Barone
(genannt 1228, 1243, 1256 und 1282, kein be-
glaubigtes Werk), Bonaventura (genannt 1228, 1244,
1250, 1266 und 1274 bez. und dat. 1235 Franzis-
kusbild in S. Francesco zu Pescia) und Marco
(Miniaturmaler, nichts näber bekannt). In den spär-
lichen lucchesischen Künstlerdokumenten kommen
auch noch andere Malernamen vor, die führende
Stellung der Familie Berlinghieri ist also unbe-
weisbare Behauptung. Der alte Berlinghieri ist
zum Sammelnamen für Kruzifixe und Madonnen,
die nur zeitlich mit dem signierten Bilde zusam-
menhingen, geworden, Etwas tragfähiger ist die
Basis, auf der sich ein Oeuvre des Bonaventura
aufrichten ließ. Mit dem bezeichneten Bilde in
Pescia stimmen tatsächlich die drei Täfelchen der
Jarves Collection, das Diptychon der florentinischen
Akademie (schon nach älterer Tradition Bonaven-
tura zugeschrieben), und das Kruzifix im Chiostro
delle Oblate leidlich überein. Anschließend daran
stellt Sirén eine Gruppe florentinischer Bilder zu-
sammen, deren markanteste Stücke das Kruzifix
der florentinischen Akademie, der hl. Franz mit
20 Legendenszenen in S. Croce, eine Madonna
der Sammlung Hamiiton in NewYork und der
(allerdings ganz übermalte) aus dem Dom zu
Florenz stammende hl. Zenobius in Parma sind,
und benennt sie „Barone Berlinghieri“. Von dem
Künstler hat sich kein einziges beglaubigtes Werk
erhalten, drei Malereien in Lucca und Umgebung,
die nicht mehr nachzuweisen sind, werden in Do-
kumenten genannt, die von Sirén zusammen-
gestellte Gruppe greift heute nach Lucca gar
nicht über — es sprechen also keinerlei äußere
Umstände zugunsten der Hypothese. Die von
Sirén zusammengestellten Werke sind m. E. das
Oeuvre einer wichtigen florentinischen Werkstatt,
deren Zusammenhang mit Lucca nur ein loser ist,
Denn die Bedeutung des linearen Elementes, der
zuliebe offenbar diese ganze Gruppe für lucche-
sisch erklärt wird, ist doch nicht lokale Eigen-
timlichkeit, wie Sirén angibt, sondern Ausdrucks-
322
element einer bestimmten Zeit, dessen Bedeutung
an verschiedenen Orten gleich stark hervortreten
kann.
Den Abschluß der lucchesischen Malerei macht
Sirén mit dem recht unbedeutenden Deodato Or-
landi, dessen Existenz von dem 13288 datierten
Krusifix in Lucca, über den 1301 datierten Altar
in Pisa und eine 1308 datierte Madonna in Rom
in spärlichen Dokumenten bis 1327 verfolgt wer-
den kann. Einer sehr vagen, wenn auch von
Venturi glatt übernommenen Zuschreibung an
Deodato Orlandi wegen!) hat Sirén an dieser Stelle
die Fresken von 8. Pietro a Grado bei Pisa er-
wähnt. Damit offenbart sich recht die Schwäche
seines Systems. Diese allerdings nach d’Achiar-
dis Nachweis in den Kompositionen der einzelnen
Bildfelder von den nur in Nachzeichnungen des
17. Jahrhunderts erkennbaren Malereien im Por-
tikus der alten Peterskirche zu Rom abhängigen
Wandgemälde hätten doch bei einer Charakteri-
sierung der pisanischen Malerei als einziger er-
haltener größerer Wandbildzyklus eine wichtige
Rolle spielen müssen. Weil man aber über die
Persönlichkeit des Autors bisher nichts weiß, tut
Siren sie in kurzer Anmerkung bei dem Lucchesen
Deodato Orlandi ab, dem sie, und noch dazu ganz
sicher mit Unrecht, einmal zugeschrieben worden
sind.
Der zweite Hauptabschnitt ist den Malern von
Pisa gewidmet. Natürlich macht Giunta di Giu-
detto da Colle, der nach Ciampi schon 1202 in
einem Dokument vorkommt, 1258 noch als lebend,
1267 als bereits verstorben bezeichnet wird, den
Anfang. Nach Verlust des 1236 von Frater Elias
in Assisi gestifteten Kruzifixes sind heute noch
zwei signierte Kruzifixe des Giunto vorhanden in
8. Ranierino zu Pisa und in der S, Maria degli
Angeli bei Assisi. Weitere Attributionen auf
dieser Basis erklärt auch Sirén für schwierig.
immerhin werden als wahrscheinlich eine kleine
Kreusigung der Sammlung Harris in London
(gewiß von anderer Hand und vermutlich später)
und das Franziskusbild mit vier Legendenszenen
in Assisi hinzugefügt. Bezüglich des Kruzifizes
des Rainerio d’Ugolino wäre zu ergänzen, daß
derselbe unter richtigem Autornamen schon bei
Venturi (Storia V, Abb. 20) reproduziert ist. Die
Inschrift hatte Cl. Lupi richtig gelesen. Dem von
Giunta nach byzantinischem Vorgang dargestellten
leidenden Christus stehen dann mehrere in Pisa
und Florenz nachweisbare Kruzifixe des trium-
(1) P. D’Achiardi, in Atti del Congresso internasionale delle
scienze storiche, Roma 1903 und Venturi, Storia dell’ arte
Italiana V, 395 ff.
phierenden Typus mit kleinen Passionsszenen am
verbreiterten Kreuzesstamm gegenüber. Diesen
älteren Gruppen tritt eine kleine Zahl von Kruzi-
fixen an die Seite, in denen statt des triumphie-
renden der leidende, aber nicht von Schmerz
durchbebte, sondern nur in tiefer Schwermut er-
schlaffte Christus erscheint. Für ein sehr schlecht
erhaltenes Exemplar dieser letzteren Gruppe wird
überliefert, daß es ehemals die Inschrift „Enricus
quondam Tedice me pinxit“ trug. Es ist eine
völlig unerlaubte Betätigung der Sucht nach Künstler-
persönlichkeiten, wenn Sirén nun die ältere Gruppe
unter dem allerdings unter Anführungsze ichen ver-
bleibenden Namen „Maestro Tedice“ zusammen-
faßt. Wir wissen nicht, ob der Vater des 1254
in einem Dokument erwähnten Enrico überhaupt
Maler war, geschweige denn, daß irgendeine Ver-
bindung dieses Mannes zu einem der erhaltenen
Werke bestünde. Solche willkürliche Kombina-
tionen müssen aus wissenschaftlicher Betrachtung
ausgeschaltet bleiben. Nicht viel besser steht es
um einen dritten „Tedice“, den Ugolino di Tedice,
dessen Name als Zeuge in einem Gerichtsakt von
1273, der „in sali sancti Petri ad Vincula“ stipu-
tiert wurde, vorkommt. Der Entdecker des Aktes,
Peleo Bacci » hat auf ein heute in S. Pierino in
Pisa erhaltenes Kruzifix hingewiesen, das un-
gefähr aus dieser Zeit stammen kann (aber wohl
etwas älter ist) und die Möglichkeit ausgesprochen,
es sei von Ugolino, den er ohne jeden Beweis
für einen Bruder des Enrico halten möchte. Da-
mit hat Siren eine ganze Familie, eine ältere und
jüngere „Tedicerichtung“, von denen allen bei
ernster Prüfung nichts mehr als eine noch dazu
heute verschwundene Künstlersignatur übrigfleibt.
Sehen wir von den Künstlernamen ab, so sind
die stilkritischen Gruppierungen Siréns gewiß be-
achtenswert. Mit dem Kruzifix von S, Pierino
hängt in der Tat das Franziskusbild mit sechs
Legendenszenen in 8. Francesco zu Pisa zusammen,
und in der Stilanalyse dieser Bilder sowie des in
die Nähe der Gruppe gestellten herrlichen Campo-
santokreuzes bewährt sich die Wärme und Fein-
fühligkeit des Verfassers.
Zusammenfassend sagt Sirén über die Pisaner,
sie seien zwar nicht Bahnbrecher, wohl aber aus-
gezeichnete Illustratoren mit hochentwickelter
Farbenempfindung und Kompositionsgabe gewesen.
Die beiden Künstlerpersönlichkeiten, deren Werke
Siren in dem gleichen Kapitel noch beschreibt,
sind schwerlich Pisaner gewesen. Für den ersten
derselben, den von Thode konstatierten „Franzis-
kusmeister“, hält auch’ Siren die von Thode zuerst
geltend gemachte Zugehörigkeit zur umbrischen
Schule für wahrscheinlich. Das von Thode (Franz
von Assisi und die Anfänge der Kunst der Re-
naissance in Italien 1885) und R. van Marle
(Rassegna d’Arte 1919) zusammengestellte Oeuvre
hat Sirén noch durch einige Sticke bereichern
können und den „Botticelli des Dugento“, wie er
unseren Anonymus nennt, in feinsinniger Weise
besprochen, Die Fresken der Unterkirche von
Assisi,sowohl Franzlegende wie Geschichte Christi,
werden im wesentlichen dem , Franziskusmeister“
zugeteilt und die von Thode vorgeschlagene Da-
tierung um 1270 (das Kruzifix des gleichen Malers
in Perugia trägt das Datum 1272) angenommen.
Zwei Kruziixe in Gualdo Tadino und in der
Sammlung Fornari in Rom werden als Werke
eines umbrischen Vorgängers des „Franziskus-
meisters“ wahrscheinlich gemacht, sodann noch
ein Meister der „Franziskanerkruzifixe“ konstatiert,
dem ausgehend von dem oft besprochenen Kreuze
der Sakristei von S.Francesco zu Assisi mehrere
Stücke in S. Francesco zu Bologna und in schwe-
dischem Privatbesitz zugeteilt werden.
Der dritte Abschnitt von Siréns Buch führt uns
nach Fiorenz. Der Verfasser weist darauf hin,
daß Malernamen hier schon seit der Mitte des
ra, Jahrhunderts nachgewiesen worden sind, aus
dem 13. Jahrhundert etwa 30 Namen in Doku-
menten vorkommen. Dennoch werden die er-
haltenen Werke unter ganz wenigen Persönlich-
keiten zusammengefaßt. Coppo di Marcovaldo
macht den Anfang. Die zu Anfang des 14. Jahr-
hunderts in Hauptpartien übermalte Madonna in
der Kirche der Servi zu Siena, deren Signatur
und Datum 1261 zwar nicht erhalten, aber in
glaubwürdiger Weise überliefert wird, führt zu
der schon von L. Douglas vermuteten Attribution
der halbplastischen Madonnentafel in S. Maria
Maggiore zu Florenz an Coppo. Die weiteren
Attributionen einer großen, sehr bedeutenden Ma-
donna in der Kirche der Servi zu Orvieto (zuerst
von Perali ausgesprochen) und eines Crucifixus
in 8. Domenico zu Arezzo entbehren voller Über-
zeugungskraft. Das Riesenkrusifix in 8. Fran-
cesco zu Arezzo und ein Kreuz in Castiglione
Fiorentino werden einem unter Coppos Einfluß
stehenden Anonymus zugeschrieben. Dafür könnte
das ziemlich unbedeutende und im Typus ab-
weichende Kruzifix im Dom zu Pistoja, wenn es
wirklich, wie P. Bacci wollte, mit dem laut Doku-
ment 1274 dem Coppo in Auftrag gegebenen
identisch sein sollte, keinen Pinselstrich von Coppo
enthalten und müßte dem in der gleichen Ur-
kunde genannten Sohne des Malers, Salerno di
Coppo, auf Rechnung gesetzt werden. Für wahr-
323
scheinlicher halte ich, daß das erhaltene Stück
eben gar nicht mit dem urkundlich genannten
identisch ist.
Eine glückliche Kombination ist die Aufstellung
des von Sirén nach dem Hauptwerke der floren-
tinischen Akademie benannten „Magdalenen-
meisters“, wenn es auch sich dabei nicht um
eine Person, sondern um eine Gruppe handeln
dürfte: drei Madonnen in Berlin, Poppi (Casentino)
und Rovezzano werden überzeugend angereiht.
Bezüglich der letzteren erwähnt Sirén, ich hätte
sie früher (Monatshefte für Kunstwissenschaft II,
1909, 8. 66 mit Abb.) dem Coppo di Marcovaldo
zugeteilt. Das ist ein Irrtum: ich habe sie als
Zwischenstufe zwischen Coppos und Cimabues
Kompositionsart von der Hand eines toskanischen
Malers um 1265 bezeichnet. Das trifft auch heute
noch zu. Bei Besprechung der ebenfalls dem
„Magdalenenmeister“ zugeteilten Altartafel der
Jarves Collection in New Haven, Conn. (S. 273)
verwechselt Sirén die Heiligen Leonhard und Lau-
rentius, wenn er es als ikonographische Willkür
des Malers bezeichnet, daß der hl. Leonhard ohne
Rost dargestellt sei.
Der letzte Abschnitt des florentinischen Kapitels
ist Cenni di Pepo, genannt Cimabue, gewidmet.
Über Wesen und Bedeutung keiner anderen Künstler-
persönlichkeit ist seit Jahrhunderten mit solchem
Aufwand von Scharfsinn und so widersprechenden
Ergebnissen diskutiert worden. Besitzen wir doch
sogar ein interessantes Buch über „das literarische
Porträt’des Giovanni Cimabue“ (von Ernst Benkard,
München 1917). Gerade weil die dokumentarischen
Grundlagen äußerst gering sind, eine Erwähnung
als Zeuge inRom 1272 und die Arbeit am Apsis-
mosaik des Doms von Pisa 1301 und 1302, war
der Diskussion nach der positiven wie nach der
negativen Seite hin freie Bahn gegeben, Siren
reiht in der Zeit rückschreitend an den einzig be-
glaubigten Johannes des Pisaner Mosaiks die Ma-
donna aus 8. Trinita in den Uffizien, die Madonna
aus Pisa im Louvre, die Freskomadonna in Assisi
und diejenige der Servi zu Bologna an, in welchem
Ergebnis er sowohl mit Thode (Repertorium 1890)
als den von mir geäußerten Annahmen (Jahrbuch
der preuß. Kunstsammlungen 1905) übereinstimmt.
Auch bezüglich des Kruzifixes des Museo dell’
opera di 8. Croce befinden wir uns völlig in Über-
einstimmung. Drei Halbfiguren der Sammlung
Hamilton in Amerika figt Sirén auf Grund von
Photographien hingu. Vortrefflich und in Einzel-
heiten auch nach Thode und Aubert (Die male-
rische Dekoration der San Francescokirche in Assisi,
ein Beitrag zur Lösung der Cimabue-F rage, Leipzig
324
1907) noch aufschlußgebend sind Siréns Betrach-
tungen über die Fresken in Chor und Querschiff
der Oberkirche von San Francesco, welche Sirén
mit Thode um 1280 datiert, und in denen er Cima-
bues Anteil auf Chorapsis (mit dem Marienleben)
und südliches Querhaus (Apokalypse und Kreuzi-
gung) beschränkt, während die Malereien des nörd-
lichen Querschiffarms (Szenen aus dem Leben
Petri und zweite Kreuzigung) einem vielleicht
römischen Mitarbeiter Cimabues zugeschrieben
werden. Die Zuschreibung der Fresken im nörd-
lichen Querschiffarm an einen Nachfolger Cima-
bues (statt Cimabue selbst) hatten früher schon
Zimmermann und Frey vertreten,
In die geschlossene, in ihrem formalen Cha-
rakter sehr einheitliche Reihe der Werke Cima-
bues paßt nun aber die vielgenannte Madonna
Ruccellai absolut nicht hinein. Es ist bekannt,
daß viele Forscher sie mit einem 1285 bestellten
Werke des Sienesen Duccio identifizieren, sowie
daß ich vor Jahren (Jahrb. d. preuß. Kunstsammi,
1905) einen eigenen, vorläufig anonymen „Meister
der Ruccellaimadonna“ aufgestellt habe. Die
Duccio-Hypothese hilft mir Sirén aufs neue ent-
kräften. Wenn er aber dann sich nicht anders
helfen kann als durch die Annahme, ein von
Duccio entworfenes Bild sei von Cimabue voll-
endet worden, so verkennt er doch m. Е. völlig
die ausgeprägte Eigenart des Bildes. Alles, was
Sirén darüber sagt, hat mich im Verein mit der
vor wenigen Monaten erneuten Untersuchung des
Originals in meiner früheren Überzeugung nur
bestärkt. Die Madonna Ruccellai ist weder ein
sienesisch angelegter Cimabue noch ein unter
der Merbheit Cimabues verkappter Duccio, son-
dern das Flauptwerk einer Gruppe, die ich 1905
schon zusammengestellt habe, und die nicht näher
untersucht zu haben ich Sirén zum Vorwurfe
‚machen muß. Sirén hätte doch bedenklich wer-
den müssen, wenn jetzt auch Rintelen meine
Hypothese annimmt, ferner wie ich höre, Berenson
und Loeser gleicher Ansicht sind. Wenn ein so
feiner Kenner wie Mario Salmi mir bezüglich der
Kruzifixe in S. Stefano zu Paterno und in S.Maria
del Carmine zu Florenz zustimmt, Ist es eine
unerlaubte Flüchtigkeit Siréns, meine Aufstellung,
die ibm nicht in den Kram paßt, in einer kurzen
Anmerkung beiseite zu schieben. Die Uberein-
stimmung der Madonna aus Crevole in Siena,
die Sirén ganz verschweigt, ist unbezweifelbar —
auch Weigelt, der gewissenhafteste Duccioforscher,
stimmt mir bei — und durch Bekanntmachung
der Madonna der Sammlung Verzocchi in Mai-
land hat Sirén héchstwabrecheinlich das Oeuvre
meines großen Anonymus um ein wichtiges Stück
bereichert. Sirén möchte es Cimabue zuschreiben,
dann fühlt er doch wieder den Gegensatz zu
dessen Werken, kurz, er bleibt zweifelbaft. Da
ich bisher nur eine, allerdings sehr gute, große
Photographie kenne, äußere ich meine Vermutung
mit aller Vorsicht. Man versichert mich, auch
die Farbengebung stimme mit der großen Tafel
von 8. Maria Novella überein.
Als Beitrag sur Dugentoforschung wird man
Siréns Buch nicht jeden Nutzen absprechen können.
Statt systematischer Durchforschung des reichen
Schatzes hat Sirén aber nur eine lokal beschränkte
und teilweise durch willkürliche Zusammen-
pressung auf Künstlernamen in ihrer Verwend-
barkeit verminderte Materialsammlung gegeben.
Bezüglich des Stiles der Dugentomalereien bleibt
Sirén an teilweise feinsinnigen Beschreibungen
äußerlicher Eigentümlichkeiten haften; das Wesen
derselben wird weder im historischen, noch im
ästhetischen Sinne erschlossen, da weder die
nationalen und die byzantinischen Grundlagen
klar präzisiert erscheinen, noch von dem Ver-
hältnis zu (beziehungsweise Bedingtheit von) der
gleichzeitigen Architektur und Skulptur überhaupt
die Rede ist. Volles Lob verdient die Ausstattung
des Buches und dessen reiche und gute Illustrie-
rung, die viel neues und sonst unerreichbares
Abbildungsmaterial enthält.
Wilhelm Suida,
GEORG WEISE, Die gotische Holz-
plastik um Rottenburg, Horb und
Hechingen. Erster Teil: Die Bildwerke
bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. (For-
schungen zur Kunstgeschichte Schwabens
und des Oberrheins, 1. Heft.) 208 Seiten
8° mit 6r Abbild. und Karte. Alexander
Fischer, Tübingen 1921.
Es ist besonders zu begrüßen, daß dies ein-
fache Thema von maßgebender Seite bearbeitet
worden ist. Man weiß, auch aus der süddeutschen
Plastik, worin äbnlich bescheidenen und scheinbar
undankbaren Stoffen so sehr geschadet werden
kann: aus der Bemühung um greifbarere Resul-
tate entstehen und erklären sich leicht zu weit-
gehende Zuschreibungen mehrerer Werke an die
gleiche Person oder Werkstatt. Die Zurückhal-
tung in dieser Hinsicht, vom Verfasser in seiner
Einleitung beredt nnd nachdrücklich empfohlen,
ist ein besonderes Verdienst der Veröffentlichung,
der — auch außerhalb der mit ihr begonnenen
und hoffentlich schnell weiterschreitenden Reihe —
dringend Nachfolge gewünscht sei. Nur so kann
angesichts der stiefmütterlichen Behandlung der
Plastik durch die älteren Inventare eine zuverläs-
sige Unterlage für zusammenfassende Stilunter-
suchungen gewonnen werden.
Das besprochene Gebiet enthält als katholische
Enklave ein ziemlich reiches, übrigens fast aus-
schließlich altarloses plastisches Erbe; die ältesten
erhaltenen Figuren entstammen der Mitte des
14. Jahrhunderts, die Entwicklung wird verfolgt
bis über das Einsetzen des eckigen Faltenstils
binaus. Die Unabhängigkeit von der Kunstübung
der weiteren Umgebung wird für die Hauptmenge
mit Recht betont, und „es entsteht das Bild des
gleichzeitigen Wirkens einer ganzen Reihe 6rt-
licher Schulen und einzelner Künstler, deren Zu-
sammenbang untereinander kein allzu reger ge-
wesen sein kann“. So steht z. В. jede der Figu-
ren aus dem 14. Jahrhundert für sich allein. Unter
ihnen ist von Interesse die verhältnismäßig sehr frühe
Anna (ursprünglich selbdritt) in Haigerloch, deren
Datierung um 1375 und Deutung überzeugen; auch
der mit Vorbehalt gegebenen Datierung des be-
merkenswerten Kruzifixes in Taberwasen um 1390
möchte ich zustimmen, wenn auch dieser Fall noch
der — hoffentlich erfolgenden — näheren Prüfung
bedarf (bei der das schöne Hechinger Kruzifix
vielleicht zugunsten des Taberwaseners ein Stück
herabrücken wird). Erst für das ı5. Jahrhundert
gelingt ein mehrfaches Aufweisen näherer Zu-
sammenhänge. Zunächst für drei Figuren im
Spital zu Rottenburg (um 1400), dann für sechs
in Poltringen, denen sich weitere in Rexingen,
Weildorf, Horb, Weggental und Owingen an-
schließen und deren Gemeinsamkeiten sorgfältig
analysiert werden; hier wird auch die glaubhafte
Aufstellung eines „Meisters der Weggentalgruppe“
bzw. seiner Werkstatt erreicht, dessen Kunst schon
über die Jahrhundertmitte hinausgreift.
Innerbalb der genannten größeren Gruppe inter-
essiert die Madonna der Altertümersammlung in
Horb ebenso durch ihre Schönheit wie als Beweis
der Entstehung eines ganz originell erscheinenden
Werkes unter überraschend genauer Wahrung
eines formalen „Rezepta“ (Madonna in Weildorf).
Unter den mehr alleinstehenden Stücken fällt vor
allem der schöne Vesperbildtorso in Bildechingen
auf, der allerdings kein einheimisches Werk ist,
sondern offenbar — wie ich dem Text 8.18 gegen-
über betonen möchte, ausnahmsweise (vg!.Demmler
in „Berliner Museen“ 1921) — regelrecht impor-
tiert ist, und zwar, nach der starken Ähnlichkeit
mit dem Badener Stück in Berlin zu urteilen, aus
Österreich. Mit Recht wird auf den Zusammen-
325
bang der bekannten Madonna der Sammlung
Rieffel (aus Wessingen) mit Meister Hartmann
hingewiesen und ihnen in der späteren Madonna
der Friedhofskapelle in Bisingen (um 1440) eine
reizvolle entfernte Verwandte beigesellt, die den
Stil jener aus dem linien- und flächenhaft Zarten
ins kugelig Derbe übersetzt.
Ein Versehen ist auf 8.41 f. der vergleichende
Hinwels auf den Poltringer Laurentius Abb. 24
statt den Stefanus Abb. 25.
Papier und Druck des Bändchens sind vortreff-
lich, das Abbildungsmaterial dank einer hoch-
herzigen und gerade für solche Publikationen nach-
ahmenswerten Stiftung fast vollständig und sehr gut.
Wolfgang Stechow.
BURGER-SCHMITZ-BETH, Die deut-
sche Malerei vom ausgehenden
Mittelalter bis zum Ende der Re-
naissance. Drei Bände mit 719 Seiten,
812 Textabbildungen und 49 ein- oder
mehrfarbigen Tafeln. Akademische Ver-
lagsgesellschaft Athenaion, Neubabelsberg
bei Berlin.
Seitdem Janitschek seine groß angelegte Ge-
schichte der deutschen Malerei schrieb, hat eine
ganze Generation von Kunstgelehrten nicht ge-
wagt, diesen Versuch zu wiederholen. Wohl be-
sitzen wir seit einigen Jahren die sehr brauch-
bare, zusammenfassende Darstellung der deutschen
Tafelmalerei zwischen 1350 und ı550 von Curt
Glaser, aber dieses Buch ist infolge seiner Knapp-
heit, ganz abgesehen von der Beschränkung auf
die Tafelmalerei, nicht geeignet, in den Geist der
Epoche einzuführen. Gerade das aber war ein
Hauptziel Burgers, in dessen Persönlichkeit ja
sich der Gelehrte mit dem Künstler stritt, ein
Ziel, das er in jedem Bande des von ihm be-
gründeten Handbuchs durchgeführt wissen wollte:
„Der Leser soll nicht erst sich durch den ganzen
Gang der Ereignisse hindurchwinden, und von
einer Persönlichkeit zur andern wandern müssen,
um langsam Interesse und Liebe auf diesem
Dornenweg für die Sache zu gewinnen, sondern
er soll mit beiden Füßen zugleich in diese hier
zu behandelnde Welt treten, mit ihr denken, hassen
und lieben lernen, ihre Wesenheit als Ganzes
schauen, bevor er den ganzen Reichtum ihrer in
der geschichtlichen Folge sich darbietenden Einzel-
züge kennenlernt.“ Aus diesem Grundsatz ergibt
sich der Aufbau des ersten Bandes. Der eigent-
lichen historischen Darstellung sind drei umfang-
326
reiche Kapitel vorangestellt: Über Wert und
Wesen der deutschen Kunst der Renaissance —
Vom Mittelalter zur Renaissance — Kunst und
Künstler. Es ist hier der ganz hervorragende
Versuch gemacht, sich in die kulturellen, ästheti-
schen und technischen Eigentümlichkeiten der
deutschen Renaissancemalerei einzufühlen und
ihren Eigenwert herauszuheben, den man über
der intensiven Beschäftigung mit der italienischen
Malerei nicht hat sehen können. Burger hat da-
bei dieselbe Absicht, die auch Janitschek in seinem
Werke verfolgte, nämlich für alle die zu schreiben,
die ein inneres Verhältnis zur Kunst besitzen,
nicht nur für den engen Kreis der Fachgsnossen,
um damit auch zugleich zu höherer Schätzung
der deutschen Malerei beitragen zu können. Auf
den allgemeinen Teil folgt dann die historische
Darstellung der böhmischen und daran anschließend
der bayerisch - österreichischen Malerei. Burger
hat eine Reihe von Problemen (z. B. die der Per-
spektive) in die Darstellung hineingenommen,
deren Behandlung in einem Handbuch der Kunst-
geschichte man bisher nicht gewöhnt war. Aber
da es sich hierbei zum Teil um Dinge handelt
die von der Forschung noch längst nicht genügend
durchgearbeitet sind, so begab sich Burger in
eine Schwierigkeit, deren er nicht immer Herr
geworden ist; denn auf der anderen Seite stand
die Forderung eines Handbuches nach klarer Über-
schaubarkeit des Stoffes und Sicherheit der Aus-
wabl, Diese Forderung konnte nicht immer er-
füllt werden; dennoch aber bleibt die Behandlung
jener Probleme ein großes Verdienst, denn sie
gehören unbedingt dazu, einen Begriff vom Wesen
der deutschen Malerei zu geben. Neben dem
Interesse am rein Formalen tritt bei Burger, der
ја ein durchaus philosophischer Kopf war, das
Bestreben stark hervor, den Wandel der Welt-
anschauung an dem Wandel von Stil und Inhalt
der Bilder zu studieren. Das macht sein Werk
für den Kulturhistoriker besonders interessant, der
einen Ausschnitt deutscher Kultur- und Geistes-
geschichte hier einmal von der Seite der bilden-
den Kunst her beleuchtet sieht. Die Feinheit der
formalen Analyse und die Tiefe der psychologi-
schen Interpretation der Bilder bereiten vielfach
hohen Genuß. Einer der wichtigsten Gesichts-
punkte, von dem aus Burger Formanalyse gibt,
ist das künstlerische Gestaltungsprinzip, der Wie-
derholung eines bestimmten, charakteristischen
Formmotivs, um die Eindringlichkeit des Bild-
gedankens, dessen Träger jenes Formmotiv ist,
zu steigern. Burger ist Meister in der Ausdeutung
der Pbysiognomie einer Linie oder eines Linien-
komplexes, oder im Auffinden geheimer Be-
ziehungen zwischen scheinbar heterogenen Bild.
teilen. Zwar meldet sich dabei hin und wieder
der leise Zweifel, ob die gleiche Methode, die
Burger in so fruchtbarer Weise bei der Inter-
pretation moderner Kunstwerke (siehe sein Buch
Cézanne und Hodler) angewendet hat, auch auf
eine Jahrhunderte zurückliegende Kunst in der-
selben Weise angewendet werden darf; aber man
vergißt diesen Zweifel oft über der Bereicherung,
die man durch die Burgerschen Analysen erfährt.
Den an andere Handbücher gewöhnten Leser wird
die große Menge sehr eingehender Analysen über-
raschen, die den Zug der Darstellung aufhalten
und den roten Faden der historischen Entwicklung
oft nicht genügend hervortreten lassen. Hier muß
ein prinzipieller Punkt berührt werden. Wir sind
heute dabei, neben der Kategorie der Entwicklung,
die uns als vorzüglichstes Mittel zum Begreifen
der Vergangenheit dienen mußte, auch einer an-
deren Kategorie ihr Recht zu geben: Der Be-
trachtung der Dinge auf ihre Zuständlichkeit, auf
ihren eigentümlichen Charakter bin; kurz, der
Betrachtung des Seins neben der des Werdens.
Selbst in der Biologie, der Entwicklungswissen-
schaft хат’ &foyjv hat man diese Forderung er-
hoben, und für die Geschichtswissenschaft genügt
es, auf Spengler hinzuweisen. Auch Burger ge-
hört in seiner innersten Position dieser Richtung
an, und das ist es vor allem, was seine Art, Kunst-
geschichte zu schreiben, von der anderer unter-
scheidet.
Die erste Hälfte des zweiten Bandes fährt fort
mit der Geschichte der Österreichisch -bayrischen
Malerei und geht dann über auf Schwaben, den
Oberrhein und die Schweiz bis 1420. Zum weit-
aus größten Teil hat Burger das selbst noch
schreiben können; anderes wurde auf Grund seiner
hinterlassenen Aufzeichnungen von Beth und
Brinckmann bearbeitet, den Rest leistete Beth
allein. Von der zweiten Hälfte des zweiten Bandes
an (Niederdeutschland) hat Hermann Schmitz das
Ganze allein zu Ende geführt, bis auf die Ein-
leitung zum dritten Bande, die noch von Beth her-
rührt. Dieser dritte Band ist Oberdeutschland
gewidmet mit der Gestalt Dürers im Mittelpunkt.
Dem Umfange nach ist der Anteil von Schmitz
etwa ebenso groß wie der Burgers.
Burger hat das große Verdienst, auch die Glas-
malerei, die ja im allgemeinen immer noch für
die Kunsthistoriker zu einer terra incognita ge-
hört, sehr ausführlich in den Kreis der Betrach-
tung einbezogen zu haben, und diese Seite der
Sache fortzusetzen, war wohl keiner geeigneter
als Schmitz, einer der besten Kenner der Glas-
malerei. In manchen anderen Punkten zeigen
sich dagegen erhebliche Unterschiede gegenüber
der Burgerschen Behandlungsweise.
Man merkt bei Burger oft geradezu das Be-
streben, von den gewohnten Bahnen abzuweichen.
Schmitz ist konservativer. Burger sieht auf Schritt
und Tritt Probleme, die ihn nicht immer zu einer
klaren, einheitlichen Erfassung kommen lassen.
Schmitz gibt einen ruhigeren Fluß der Darstellung;:
er liest sich leichter, da man nicht so oft durch
ausgedehnte Analysen aufgehalten wird. Alles
erscheint klarer, einfacher. Schmitz analysiert
anders. Er ist im Gegensatz zu Burger nicht im
geringsten beeinflußt von der Methode der reinen
Formanalyse, die wir bei den Erzeugnissen der
modernsten Malerei zu üben pflegen. Auf der
einen Seite ist damit sicherlich manches ge-
wonnen, auf der anderen Seite aber auch manches
verloren. Bei Burger hebt sich die Geschichte
der Malerei ab von dem tiefen und weiten Hinter-
grunde der Weltanschauung; auf ihren Wandel
ist immer und immer wieder der Wandel des
Kunstwollens bezogen. Bei Schmitz dagegen ist
der Blick näher eingestellt auf den kulturgeschicht-
lichen Untergrund, auf dem die Kunst rubt und
wächst, wobei selbstverstindlich gesagt werden
muß, daß der Unterschied in praxi nicht immer
so streng ist, wie er in der Formulierung erscheint.
Burger hatte das Werk von vornherein zu um-
fangreich angelegt. Hätte er in der Art fortfahren
wollen, wie er die böhmische Schule behandelt
bat (die übrigens noch in keiner zusammenfassen-
den Darstellung so eingehend und tiefdringend be-
handelt worden ist wie hier!), dann hätte das vor-
iegende Werk sechs Bände haben müssen. Schmitz
hat diese breite Anlage auf ein knapperes Maß
zurückgeführt.
Gewiß wird der Spezialforscher an dieser Ge-
schichte der deutschen Malerei im einzelnen viel
auszusetzen haben. Aber wenn man bedenkt,
welche großen Schwierigkeiten gerade dieser Stoff
einer handbuchmäßigen Verarbeitung bereitete,
so muß man den Verfassern überaus dankbar sein,
daß sie uns dieses Werk geschenkt haben. Eine
Menge fruchtbarer Anregungen sind darin ent-
halten. Denn gerade das muß gegenüber anderen
Handbüchern betont werden, daß in diesem Werke
nicht nur zusammengefaßt und gegliedert wird,
sondern daß an vielen Stellen neue Forschungs-
arbeit geleistet ist. Sicherlich läßt das Ganze, be-
sonders in seinem ersten Teil, an Klarheit manches
zu wünschen übrig. Aber das liegt nicht zum
wenigsten an der Gesamtsituation unserer Kenntnis
327
dieser Dinge. Wir fühlen nicht nur, daß unsere
Übersicht des Materials lückenhaft ist, sondern
wir sind uns auch noch nicht über die Methode
seiner Verarbeitung im klaren. Soviele anregende
Gesichtspunkte haben wir in letzter Zeit aus der
Philosophie, der Psychologie, der Kulturgeschichte,
der Sprachforschung, ja der Biologie und nicht
zuletzt aus der modernsten Kunst gewonnen, daß
wir noch gar nicht wissen, was von all dem
vielen brauchbar ist und was nicht, um die Kunst
der Vergangenheit zu begreifen.
Zum Schluß verdient noch die glänzende Aus-
stattung des Werkes hervorgeboben zu werden;
besonders der erste Band, der noch nicht unter
den Bedrängnissen der Kriegszeit zu leiden hatte,
zeichnet sich durch eine außerordentliche Reich-
haltigkeit und Qualität des Abbildungsmateriales
aus. Jahn.
A. SCHMARSOW, Kompositions-
gesetze in der Kunst des Mittel-
alters. IL (Forschungen zur Form-
geschichte der Kunst, herausgegeben von
Eugen Lüthgen, Bd. 3). Verlag von
K. Schroeder, Bonn — Leipzig, 1920.
DERSELBE, Gotik in der Renais-
sance. Verlag F. Enke, Stuttgart 1921.
In Schmarsows Gelehrtenlaufbahn ist von An-
fang an, und dann in immer zunehmendem Maße
neben der analytischen Einzelforschung das Be-
mühen um Synthese, um die Klarlegung innerer
Gesetzlichkeiten für die Genesis, wie für die.
ästhetische Wirkung des Kunstwerkes hervor-
getreten; der Kunsthistoriker der „Masaccio-
Studien“, des „Melozzo“, der „Oberrheinischen
Malerei“ hat sich immer mehr in den Kunst-
wissenschafts-Forscher gewandelt, wie er
z. B, in „Barock und Rokoko“, in den „Kunst-
geschichtlichen Grundbegriffen“, und dann na-
mentlich in verschiedenen kompositionsgesetz-
lichen Schriften sich zu erkennen gab: über Ghiberti,
über die mittelalterliche Glasmalerei, die Franz-
legende in Assisi, zuletzt in dem zusammenfassen-
den Abschlußwerk der „Kompositionsgesetze“,
dessen erster Halbband (schon 1915 erschienen)
die Grundlegung und den romanischen Kirchen-
bau enthält.
Der nunmehr vorliegende zweite Band bringt
die Besprechung des gotischen Kirchenbaus in
seinen Einzelformen wie in der Gesamtanlage des
Innenraums, dazu den Außenbau unter Ein-
328
beziehung der hierfür noch ausstehenden roma-
nischen Periode,
In der Spitzbogenform der Arkaden, Wölbungs-
profile und Fenster erkennt Sch. — mehr als das
populäre äußerliche Kennzeichen — ein grund-
legendes Element der neuen gotischen Gestal-
tungsweise: statt der glatt ablaufenden Rundbogen-
Reihung, die Gruppierung des Bauganzen aus in
sich paarig geschlossenen, vertikal konzentrierten
Einheiten; dazu der „mimische“ Ausdruckswert
dieser Form, der als „Grundmotiv des gotischen
Wesens selber“ nicht nur ein optisch erfaßtes,
sondern für den darunter Einherschreitenden ein
allgemein physisch-seelisches Erlebnis wird. Im
Hinweis aber auf solche Reagenz der allgemeinen
Körpergefühle den architektonischen Gebilden
gegenüber — die selbst gleichsam verkörperte
Ausstrahlungen sind der architektonischen Raum-
und Körpervorstellung des Baumeisters und als
solche auch nur von der ganzen organischen
Wesenheit des aufnehmenden Subjekts erfaßt und
erlebt werden können — in diesem fundamentalen
Hinweis liegt der Kern von Schmarsows Kunst-
lehre beschlossen,
Wie Sch. diese Grundauffassung nun an den
einzelnen Denkmälern und Denkmalgruppen durch-
führt, durch die ganze Früh- und Hochgotik Frank-
reichs und Deutschlands hin, und wie sich da-
bei von Schritt zu Schritt immer neue Einblicke
in den geheimnisvollen Organismus des Stils und
seine gesetzmäßigen inneren Zusammenhänge er-
öffnen, das kann im einzelnen nicht erörtert wer-
den. Alle die vielen in Sch.s Darlegung ent-
wickelten Ergebnisse wird nur der Leser des
Buches selbst durch persönliche Nachprüfung sich
auf seine Weise — bedingt oder unbedingt —
zu eigen machen können. Ref, muß bekennen,
daß ihm aus Schmarsows Buch eine außerordent-
lich wertvolle Bereicherung und vielfache Ver-
tiefung des eigenen Verhältnisses zur Architektur
des Mittelalters zuteil geworden ist, Auch in
bezug auf architekturgeschichtliche Methodik und
in der feingeschliffenen sprachlichen Form der
analytischen wie der synthetischen Partien (die
nur bisweilen in eine fast allzu gezierte und ge-
drechselte Periodenbildung sich verfängt), hat das
Buch einen vielseitig wirksamen und bedeutungs-
vollen Anregungswert.
Schmarsow hat nun auch schon selbst in der
leinen Schrift „Gotik in der Renaissance“
eine weiterführende Auswertung seiner in den
Kompositionsgesetzen niedergelegten Erkenntnisse
gegeben und aufgezeigt, wie viel gotischer Tra-
dition noch durch die ganze italienische Früh-
renaissance hindurch lebendig bleibt. In einer
speziell in die Periodentrennung von Burckhardts
Cicerone einhakenden Kritik wird dargelegt, wie
=. В. bei Ghibertis erster Bronzetür die gotischen
Kompositionsprinzipien sogar noch entschiedener
sich auswirken als selbst bei seinem Vorgänger
Andrea Pisano, wie ganz aus mittelalterlich welt-
abgewandter Kontemplation die Kunst Fra Ange-
licos sich entfaltet, wie aber auch noch Filippo
Lippi in seinen Prateser Fresken an der ,konti-
nuierlichen Erzählungsweise“ des Trecento fest-
hält, und endlich Botticelli und mit ihm manche
andere Genossen des ausgehenden Quattrocento
geradezu auf die Proportionierung und auf ge-
wisse Bewegungs- und Kompositionsmotive der
Gotik zurückgreifen. Wenn nun auch manche
Einzelanalysen im Verlauf von Sch.s Unter-
suchung zum mindesten diskutabel bleiben, so
wird man sich dem Gesamtergebnis nicht leicht
entziehen können, daß die Reallstik der Früh-
renaissance noch keine fundamentale Umwand-
lung des ganzen Stils gebracht hat, und daß also
um 1500 erst, nicht um 1400, der eingreifendste
Periodenabschnitt liegt. Wackernagel.
DIE DENKWURDIGKEITEN des floren-
tinischen Bildhauers Lorenzo Ghiberti.
Zum erstenmal ins Deutsche übertragen
von Julius Schlosser. Berlin, Julius
Bard 1920.
Der großen Gesamtausgabe von Ghibertis schrift-
lichem Nachlaß (1912 erschienen), die das ver-
diente Interesse in fachwissenschaftlichen Kreisen
nicht gefunden hat, läßt Schlosser einen kleinen
Auswahlband, der „Commentarii“ des florentiner
Bildhauers folgen. Ein einleitender Aufsatz über
Ghiberti als Schriftsteller und die an den Schluß
gesetzten Erläuterungen nehmen den Hauptteil
des Bändchens eln.
Die Urschrift von Ghibertis Denkwürdigkeiten
ist verloren gegangen; erhalten ist nur eine nicht
immer gewissenhafte Abschrift (auf der Staatz-
bibliothek zu Florenz), die auch Vasari benutzt hat.
Der alternde Ghiberti, der seine Denkwürdig-
keiten aus den Erfahrungen seines reichen Lebens
aufzeichnet, hat darin, ein echter Sohn seiner Zeit,
Eigenes und Fremdes nicht immer streng aus-
einandergehalten. Dem spätgriechischen Kriegs-
baumeister Athenäus entnimmt er so gut wie
Vitruv und Plinius Wendungen, Tatsachen, Schil-
derungen und schreibt doch ein durchaus persön-
liches, auf eigener Anschauung beruhendes, zu-
Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1932, 10--12.
verläasiges Buch. Dies gilt namentlich für den
allerdings nur kursen zweiten Teil. Der dritte
Teil, eine ungeheure Masse ungeordneten Stoffes,
ist Fregment geblieben.
Ghiberti mußte sich seine Kunstsprache zum
größten Teil selbst schaffen, vorausgegangen war
seinen Aufzeichnungen nur Albertis Buch über
Malerei. Der Gelehrte geht naturgemäß anders
an die Dinge heran als der Mann des Handwerks,
der aus unmittelbarer Anschauung redet.
Interessant ist Schlossers Hinweis, daß das
Wort „bello“ und „bellezza“ in Ghibertis Kunst-
sprache fehlt. Erst reichlich anderthalb Jahr-
hunderte später, zur Zeit des italienischen Klassi-
zismus, erhalten Begriff und Ausdruck ihre zen-
trale Bedeutung. Wenn Ghiberti Schönheit an-
deuten will, so gebraucht er gelegentlich den
Ausdruck „Dolcezze“. Er ist Künstler genug, um,
trotz genauester Inhaltsangaben, die Form seines
Kunstwerks als wesentlicher denn den Inhalt zu
empfinden.
Schlosser ist der Überzeugung, daß die Wen-
dung zur „Ausdruckskunst des Mittelalters“, in
deren Zeichen wir stehen, dazu beitragen wird,
das etwas verblaßte Interesse für den Künstler
Ghiberti zu beleben. Ob diese Annahme stimmt,
bleibe dahingestellt. Von der Ausdruckskraft
mittelalterlicher Liniensprache ist in Ghibertis
Kunst, die an der Wende zweier Weltanschauungen
steht, wenig zu spüren. Rosa Schapire.
JOSEPH BERNHART, Holbein der
Jüngere. O. C. Recht Verlag, München 1922.
Der Verfasser begreift Holbein als Repräsen-
tanten nordisch-germanischen Geistes gegenüber
südlich-lateinischer Wesensart. Er gibt in popu-
lärer Weise eine knappe Erzählung des Lebens-
laufes, eine Aufzählung der wichtigen Werke,
eine Schilderung des mitformenden Milieus (Augs-
burg, Basel, London) und der Zeitverhältnisse.
VorzüglicheLichtdruckreproduktionen nachRötel-
zeichnungen erhöhen die Worte des Textes. Mit
guter Einfühlungsfähigkeit charakterisiert Bernhart
die Arbeiten nach der ersten Londoner Periode:
neben intensiver, künstlerischer Wahrhaftigkeit den
Hauch von Konvention, der sich einstellt.
Suarés hat freilich in einem einzigen Kapitel in
„Die Fahrten des Condottiere“ die Persönlichkeit
des weisen und kühlen Menschendarstellers Hol-
bein intuitiver erfaßt und mit swingenderer Ein-
dringlichkeit vor uns hingestellt.
Sascha Schwabacher.
22 329
WILHELM v. BODE, Studien über
Leonardo da Vinci. Mit 73 Abbildgn.
G. Grotesche Verlagsbuchhdig., Berlin.
Diese aus einer Reihe von größeren und kleine-
ren Aufsätzen (die Bode seit seinem ersten Auf-
enthalt in Italien vor 50 Jahren veröffentlichte)
herausgewachsene Arbeit legt den heutigen Stand-
punkt des Verfassers bis in Einzelheiten fest. Wie
bekannt sind wichtige Zuschreibungen wie das
Porträt der Ginevra de’ Benci in der Galerie Liech-
tenstein und ,Die Auferstehung Christi“ in Berlin
durch Bode erfolgt, die ein Verdienst bleiben wer-
den. Anders die vielumstrittene Fiorabüste.
Bode glaubt auch mit Sicherheit die drei Relief-
tafein der „Zwietracht“ (London, Victoria- und
Albertmuseum), „Stäupung Christi“ (Perugia, Uni-
versität) und „Beweinung Christi“ (Venedig, Chiesa
del Carmine) Leonardo zuschreiben zu müssen.
Die Stilverschiedenheit unter diesen Werken selbst
und die Ungezigeltheit des Temperamentes, die
sich in ihnen ausspricht, im Gegensatz zu der
Gelassenheit Leonardos, schiebt Bode als unwesent-
lich zur Seite.
Auch vielen anderen, zweifelhaften Werken
gegenüber, wie z. B. „Der jungen Dame mit dem
Hermelin“ (Krakau, Museum Czartoryski) gelingt
Bode der Beweis für die Urheberschaft Leonardos
nicht ganz schlüssig, wenn auch die von W. von
Seidlitz vorgeschlagene Benennung auf Preda noch
weniger stichbaltig ist.
Für die Hypothese Bodes spricht, wie er auch
immer betont, eines: das große Können. Es ist
schwer anzunehmen, daß es in der Renaissance
unbekannt gebliebene Künstler von so freier Bild-
anschauung, wie sie die Porträts und die „Auf-
erstehung Christi“ zeigen, gegeben hat, die die
Urheber dieser Werke sein können.
Sascha Schwabacher.
MAXJ.FRIEDLANDER,PieterBruegel.
Berlin, Propyläen-Verlag. (1922.)
Dem weiteren Publikum, dem Friedländer seine
beiden Dürer-Bücher zugedacht hatte, bietet er
nun auch die endgültige Formulierung seiner An-
schauungen über einen anderen Großen, der ihn
jahrzehntelang beschäftigte, über Pieter Bruegel
den Älteren. Der Stoff kommt des Autors Eigen-
art schon insofern entgegen, als die Dürfiigkeit
des Datenmaterials ihn darauf beschränkt, das
Bild des Künstlers allein aus dessen Werken zu
entwickeln. Sieben Kapitel setzt der Autor an
diese Aufgabe, Erörterungen über die Zelch-
nungen, die Gemälde, die Entwicklung des Mei-
330
stera, die Landschaft, das Genre, die religiöse
Kunst und die Bewegung als einen Wesenszug
Bruegelscher Darstellung bilden ihren Inhalt. Den
Brauch der kulturgeschichtlichen Einleitung ver-
altet zu nennen, wird dem Autor vermerkt werden;
aber die Quelle, der er folgt, Schillers Abfall der
Niederlande, ist es sicher. Doch reicht sie aus,
ja sie charakterisiert mit ihren schroffen Kontra-
stierungen die Person des Künstlers besser, als
eine gleichmäßiger steigende es vormöchte. Für
die Kennzeichnung seiner Kunst, die nicht so
sehr aus der Zeit als aus dem Blute Bruegels zu
versteben ist, war von keiner viel zu erwarten.
Man hat gelegentlich die Frage nach Bruegels
Herkunft als müßig ablehnen zu müssen geglaubt.
Dieser Ansicht ist Friedländer keineswegs. Ob
Bruegel selber noch die Gänse gehütet, oder ob
dies sein Großvater oder Vater als letzter in der
Familie getan, ist allerdings nahezu gleichgültig.
Aber die politische und religiöse Indifferenz seiner
Darstellungen, das schlaue Sich-Herumdrücken
um die Probleme der Zeit, wo es gefährlich wird,
mit ihnen sich zu befassen, das Fehlen jeder ge-
mütlichen Anteilnahme, sie wäre denn darin ge-
legen, zu lachen über die Toren, die sich auf-
lehnen gegen die Tatsache, daß die großen Fische
die kleinen fressen, die unbeirrbare Bejahung des
Daseins als einer Selbstverständlichkeit — das
alles entspricht so wichtigen Zügen der bäuer-
lichen Seele, daß man von einem Bauernmaler
Bruegel sprechen könnte, auch wenn dieser nie
einen Bauern auf die Leinwand gebracht hätte.
So oder doch ähnlich faßt auch Friedländer den
Mann. Als der Autor dann im vorletzten Kapitel,
Bruegels Persönlichkeit analysierend, dessenKupfer-
stichbildnis von 1572 in die Betrachtung sieht,
sagt er: „Der Meister sieht keineswegs robust
oder bäuerisch aus, vielmehr vergeistigt, gütig
und mild. . . wie ein stiller Denker unter Werk-
tätigen. . Das Glück gesunder Lebenskraft
konnte nur aus Krankheitserfabrung so geliebt
und verherrlicht werden.“ Wire Friedländer
auch ohne das Blatt zu diesen Schlüssen ge-
kommen? Sicher ein gutes Bild, ist es auch ein
gutes Porträt? Die Ansicht, nach der die un-
bezweifelt echte Zeichnung der Albertina „Der
aufblickende Maler mit dem Bauern“, ein mit-
telst zweier Spiegel gezeichnetes Selbstporträt des
Meisters ist, hat jedenfalls für sich, dessen äußere
und innere Züge in Einklang zu finden, und dem
Klugen und Nüchternen die Rolle des Weisen
und Empfindsamen zu ersparen. Sein Künstler-
tum wird dadurch nicht berührt. — Friedländers
Bruegel verlangt einen aufmerksamen Leser und
auch der wird diesen oder jenen Passus, um ihn
auszukosten, zweimal lesen müssen. Die Stellen
des Buches, wo es, die Grenzen einer landläufigen
Monographie hinter sich lassend, die Absichten,
Möglichkeiten, Beschränkungen malerischer Dar-
stellungsweise untersucht, gehören zu den besten.
So die Bemerkungen über den Geist der Demo-
kratie in der Vielzahl der Gestalten an Stelle des
eınen Helden (19), über das Zeichnen nach der
Natur (58), über die Gegensätzlichkeit des Zeich-
ners zum Maler (117), über Breit- und Hochformat
(152) und viele andere. Mit spitzen Fingern, zu-
weilen etwas pretiös im Anfassen, legt Friedländer
demonstrierend Falte um Falte in der Seele des
Künstlers frei, wie Professor Tulp die Nerven-
bündel am Kadaver in der Anatomie. Des Autors
Absicht geht, wie er selber sagt, dahin, „mit vielen -
Schlägen die Art des Meisters einzuprägen.“ Und
indem er in immer neuen Wendungen Unklares
ins Licht zu stellen, in immer neuen Bildern Be-
griffliches anschaulich zu machen versucht, kommt
etwas Aphoristisches und Retardierendes in die
Darstellung, erbält die Betrachtung, wie Fried-
länder von Bruegels Betrachtung der Dinge rühmt,
etwas Verweilendes, Zerlegendes, Bobrendes, Ab-
suchendes. Auch sonst erinnert Friedländers
Weise in seiner Neigung zum Musivischen und
Abneigung gegen Überschneidungen an das von
Bruegel zuweilen geübte Verfahren — beiderseits
„ein Beieinander vieler gleichwertiger Formteile.
Nur der folgerecht konstruierte Schauplatz macht
aus dem Bilderbogen ein Bild.“ Auf solche Dinge
binzuweisen, erfordert bei einem Buche, dessen
Wirkung so sehr aufs Formale gestellt ist, die
Achtung vor der Höhe der daran gewendeten Stil-
kunst, — Die Abbildungen des reich und instruktiv
ijjustrierten Bandes sind — man möchte sagen:
zu gut. Wer vor ihnen seine Vorstellungen von
den Vorlagen nach Maßgabe der Spannung bildet,
die sonst Klischeedrucke von alten Tiefdrucken
trennt, kann sich. vor den Originalen leicht ent-
täuscht fühlen. Die Steigerung des Genusses,
den diese gewähren, liegt in einer anderen Rich-
tung, als die ist, nach der die Atlasdrucke vor-
täuschenden Zinkdrucke weisen. H.Röttinger.
RUDOLF OLDENBOURG f, Peter
Paul Rubens. Herausgegeben von W.
v. Bode. Mit 131 Abbildungen. Verlag
R. Oldenbourg, München 1922.
Wer jemals die alte Ausgabe des Rubens in den
„Klassikern der Kunst“ für seinen Privatgebrauch
umzugestalten und vor allen Dingen umzudatieren
versucht hat, der weiß, was neben Namen wie
Bode, Glück, Haberdital und Burchard in der
neueren kritischen Rubensforschung R. Oldenbourg
bedeutet. Die neue Ausgabe des Rubens-Bandes
war das Resultat dieser Forschungen des so früh
Verstorbenen und so allgemein Beklagten. Nun
erscheinen diese Forschungen selbst gesam-
melt und von W. von Bode herausgegeben, der
Oldenbourg durch Familienbeziehungen, aber mehr
noch geistig in vielem verwandt, der Berufene war,
das Vorwort zu dem Lebenswerk des so viel Jün-
geren zu schreiben.
Bequem zusammengestellt, in mäßig großem
handlichen Format finden sich hier alle Aufsätze
zusammen, die man sonst mühsam aus dem
schwerhandlichen Volumen des „Allerhöchsten
Jahrbuchs“, aus dem „Jahrbuch der preuß, Kunst-
sammlungen“, der „Zeitschrift für bildende Kunst“
u. a. zusammensuchen mußte (wenn man nicht
das Glück hatte, Separatabzüge zu besitzen). Hier
finden sich nebeneinander die beiden grundlegen-
den Aufsätze über die Beziehungen von Rubens
zu Italien von (1916 und ı8), von denen der zweite
umfangreichere die schwierige Frage der Nach-
wirkung Italiens auf Rubens zum Thema hat.
Daneben werden Einzelfragen erörtert, wie in
dem frühen Aufsatze über die Imperatorenbilder
(1915) in Berlin, über „Venus und Adonis“ u. a.
Noch nicht gedruckt ist der kleine Aufsatz über
„Repliken von Rubensschen Gemälden“, in der
in außerordentlich scharfsinniger Weise viel-
umstrittene Fragen, wie die über die beiden Ver-
sionen der „Krönung des Tugendhelden“ in Dres-
den und München, entschieden werden — wesent-
lich auf Grund stilistischer Kriterien (in diesem
Fall zugunsten des hochformatigen Münchener
Bildes).
Wiewenig unter diesen Einzelbeobachtungen und
Studien bei einem so feinen Geiste wie Olden-
bourg das Wesentliche, die Zusammenfassung des
künstlerischen Wesens von Rubens verloren ging,
zeigt die kleine Skizze, die er in seiner überaus
verdienstlichen „Flämischen Malerei“ (dem kleinen
Handbuch der kgl. Museen in Berlin) von dem
Entwicklungsgang und dem Charakter der Kunst
des Meisters gab. Ebenso das Vorwort, das Olden-
bourg für ein größeres Rubenswerk plante. In
ein paar Worten ist bier vielleicht das Feinste
und Persönlichste gesagt, was über das Verhältnis
des Betrachters zur Kunst überhaupt gesagt wer-
den kann: daß im Grunde nur dem gegeben
werden kann, der schon hat. Daß es über der
intellektuellen historisierende Kunsterkenntnis, die
nur Durchgangsstadium, ein höheres determinier-
331
tes Kunsterfassen gibt, das mit Religion verwandt
ist — ohne jede mystische Schwärmerei. Nur
eine Persönlichkeit, die selbst so durch den Kri-
tisiamus schärfster Observanz durchgegangen war,
wie Oldenbourg, hat das Recht, solche Werte zu
prägen. Wie er in diesem hohen Sinn Rubens,
diesen erdennahen Idealisten, den Menschen unse-
rer Zeit dargestellt hätte, kann man nur ahnen.
Nur schwer dürfte sich ein Ersatz dafür finden.
Denn zu dieser großen Aufgabe gehört ein Mann,
der die Gabe eines sicheren kritischen Gefühls in
den Dienst einer höheren Aufgabe zu stellen weiß:
einer Verinnerlichung des Einzelnen im Verhältnis
zur Kunst — so wie Oldenbourg es gerade in seinen
letzten Zeiten versuchte,
Zu bedauern ist es, daß der schöne Aufsatz von
Oldenbourg über Jan Lys im Jahrbuch XXXIV
(vgl. auch den kleinen Artikel: an unidentified
picture by JanLys in ,Art in America“) nicht als
Anhang aufgenommen ist,
W. Friedlaender-Freiburg.
JOACHIM v. DERSCHAU f, Sebastiano
Ricci. Ein Beitrag zu den Anfängen
der venezianischen Rokokomalerei. (Hei-
delberger kunstgeschichtliche Abhand-
lungen 6.) Winters Universitätsbuch-
handlung 1922.
Die Herausgeber der „Abhandlungen“ haben
sich ein Verdienst um die Wissenschaft erworben,
indem sie aus dem Nachlaß des 1918 verstorbe-
nen Verfassers sein Werk über Ricci heraus-
brachten. Für ein Erstlingswerk ist diese Arbeit
erstaunlich, sowohl nach der Sammeltätigkeit hin
als auch dem geistigen Gebalt nach — auch wenn
man bedenkt, daß Joachim v. Derschau schon in
reiferem Alter stand, als er 1914/15 die Hand-
schrift abschloB.
Die Arbeit an der Erkenntnis und der wissen-
schaftlichen Aufhellung des italienischen Dix-
huitieme ist noch sehr in den Anfängen. Die
glänzendere französische Rokokomalerei hat dem
im Wege gestanden. Nur Tiepolo galt als Aus-
nahme und auch über ihn sind trotz des Buches
von Sack die Akten längst nicht geschlossen,
Seb. Ricci gehört freilich noch an die Grenze des
Jahrhunderts, seine Frühwerke entstammen schon
den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts, und
so ist er auch, wie D, nachweist, in seinem Be-
ginn noch recht bolognesisch und die Beziehungen
zu den Carracci liegen klar zutage. Auch ist er
damals viel in Mittel- und Ober-Italien, Bologna,
332
Parma usw. tätig gewesen. Erst in den neunziger
Jahren kommt er zur Entwicklung seines hellen,
typisch spätvenezianischen Stiles. D, grenzt diese
Etappen ab und geht über die reine Akribie des
Ocuvre-Abgrenzens, das freilich das Bestimmende
und Wichtige bleibt, in erfreulicher Weise in
tiefere kunsthistorische Fragen über Komposition,
Raumproblem und äbnliches ein. Gerade für einen
Künstler, der als Vorläufer so wichtig ist und so
an der Grenze zweier Zeitalter steht, ist eine
solche Analyse von besonderem Reiz. So ver-
einigen sich genaue Kenntnis des Materials (das
freilich noch Ergänzungen vertragen kann — auch
durch Kutschera-Woborsky sowie durch Voss er-
fahren hat) mit einem geschmackvollen Eindringen.
Monographien in dieser Art (besonders mit dem
reichlichen Illustrationsmaterial) . wären für die
ganze Barockmalerei ein dringendes Desiderat.
W. Friedlaender- Freiburg.
WILH. LORENZEN, Gammel dansk
Bygningskultur. Landgaarde og Lyst-
steder i Barok, Rococco og Empire II.
Kop. 1920.
Die Liebe zur Natur und die Pflege der Be-
ziehungen der lieblichen Landschaft zu den Woh-
nungen der Menschen ist vielleicht nirgends so
allgemein und durchgreifend zu beobachten, wie
gerade in Dänemark. Der dänische Verein für
die Erhaltung alter Bauwerke hat durch seinen
sehr tätigen Leiter Wilhelm Lorenzen unter dem
Titel „Alte dänische Baukultur“ bereits eine Reihe
von schönen Heften erscheinen lassen. Einzelne
betrafen die bürgerliche Baukunst von Helsingör,
von Nästwed und von Christianshafen; die zwei
neuesten geben nun in systematischer Behandlung
eine Übersicht über den anziehendsten Teil der
Leistungen neuerer bürgerlicher Baukunst.
Es ist in diesem Werke behandelt, was Däne-
mark an namhaften Landsitzen und Luftorten,
Garten- und Landschaftsanlagen in der Barock-,
Rokoko- und Empirezeit geschaffen hat. Es
wird uns in angenehmer Darstellungsweise vor-
geführt, wobei der Sinn für die geschichtliche
Entwicklung leitend ist. Dem ersten schon 1916
erschienenen Teil ist jetzt der zweite nachgefolgt,
er bietet auf 87 Seiten Oktav 93 gute Bilder und
Risse. Der Anhang enthält als Ergänzung lite-
rarische Nachrichten und das unentbehrliche Re-
gister zum Ganzen. Haupt.
MAX HAUTTMANN, Geschichte der
kirchlichen Baukunst in Bayern,
Schwaben und Franken von 1550
bis 1780. München, Verlag für prak-
tische Kunstwissenschaft, 1921. Mit 105
Tafelbildern und 90 Textabbildungen.
Das Buch Hauttmanns gehört, um das Urteil
vorwegzunehmen, zu den wertvollsten Arbeiten,
die in letzter Zeit zur Geschichte der deutschen
Barockarchitektur erschienen sind. Die Vorzüge
liegen in der umfassenden Kenntnis der Denk-
wäler, der einschlägigen älteren und neueren Lite-
ratur, in der Vollständigkeit des Materials (ich
vermisse selbst von den Kirchen von geringerer
Bedeutung nur wenige), sie liegen in der Reife
und Klarheit des Urteils und der Übersichtlichkeit
der Anordnung. Das Buch ist eine durchaus zu-
verlässige Arbeit vonbleibendem Wert, die eine
wesentliche Förderung der Forschung bringt.
Der Inhalt ist im Titel angegeben. Das wich-
tigste Thema der barocken Architektur im süd-
lichen Deutschland von der Zeit der Spitrenais-
sance bis zum Ausklang des Barocks ist hier
behandelt. Auf die systematischen Kapitel: Bau-
aufgaben und Baugesinnung, Baumeister und Bau-
herren, Baulehre, Bauzier folgt als Hauptteil eine
Übersicht über die Raumarten der Frühstufe von
1580—1650, der Hochstufe von 1650—1720 und
der Spätstufe von 1720—1780, denen sich dann
als abschließende Kapitel: die Mantelformen und
der Ausdruck anschließen. Die systematischen
Kapitel des ersten Teiles sind wohl die besten
des Buches; sie bringen nicht nur viel neues
Materials (die älteren Perioden sind mit Erfolg
systematisch neu durchforscht, für die Spätzeit
beschränkt sich der Verfasser mehr auf eine
Zusammenfassung und Ergänzung der schon vor-
liegenden Forschung), sie bringen durch die
Problemstellung und Lösung einen besonders
wichtigen und anregenden Beitrag zur Erkenntnis
der deutschen Architektur. Über die Disposition
der geschichtlichen Entwicklung ließe sich streiten,
so richtig die zeitliche Einteilung an sich ist.
Der Höhepunkt liegt in der „Spätstufe“, die die
wertvollsten Leistungen geseitigt hat. Was hier
Hochstufe betitelt ist, ist in allen Problemen nur
Vorbereitung, also auch Frühstufe, wenn wir die
Ausdrücke wieder in ihrer ursprünglichen Be-
deutung nehmen. Die ganze ,Hochstufe“ Hautt-
manns scheint mir ohne innere Berechtigung ge-
waltsam herausgeschnitten. Daß die vorbereitende
Stufe von der humanistisch-theologischen Zeit
bis zur Ära des Absolutismus sich erstreckt, hängt
mit der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung
zusammen, in die der Dreißigjährige Krieg doch
eine viel deutlichere Zäsur schneidet, als Hautt-
mann gelten lassen will. Was mit diesen Aus-
führungen gesagt werden soll, ist eines, daß die
Kurve der Entwicklung wohl anders gelegt und
gegliedert werden muß, wenn Mißverständnisse
vermieden werden sollen. Damit könnten auch
die althergebrachten Stilbezeichnungen Spätrenais-
sance, Barock, Rokoko in Einklang gebracht
werden, die ja doch bleiben werden.
Mit Hauttmanns Buch ist ein gewisser Abschluß
der Forschung erreicht. Für die zersplitterte und
detaillierte Einzelforschung ist eine Basis ge-
schaffen, auf der weitergearbeitet werden kann.
Wo sich Ergänzungen ergeben werden, ist viel-
leicht in folgenden Punkten. Über die Persön-
lichkeit der großen Architekten ist die Forschung
noch im Fluß. Bei Fischer ist man über die
Sichtung des Bestandes noch nicht hinausgekom-
men; sein Verhältnis zu den Asam, zu Cuvilliés
und zu den anderen Architekten seiner Umgebung
bedarf noch der Klärung. Das Problem Balthasar
Neumann ist erst angegriffen. Bis zu seiner
Lösung wird noch viele Detailforschung gebracht
werden müssen, wenn vielleicht auch das engere
Thema, der Kirchenbau, kaum wesentliche Ände-
rungen erfahren wird. Schärfer zu wumreißen
sind auch die Meister zweiten Ranges, Archi-
tekten wie Küchel, Geigel, Greising, die Gunets-
rhainer, die bisher nur von den Sternen ersten
Ranges ihr Licht erhielten; ihre selbständigen
Beiträge zur Gesamtentwicklung müssen erst her-
ausgeschält werden. Gewisse Lücken wird ja
die lokale Abgrenzung immer laasen; in der rhein-
fränkischen und schwäbischen Architektur sind
die Fäden zu schroff abgeschnitten. Eine ein-
gehendere Berücksichtigung derHauptwerkeschwä-
bischer und rheinfränkischer Meister auf nicht süd-
deutschem Boden (in der Schweiz, in den Rhein-
landen) könnte wohl in den biographischen Umriß
eingeschoben werden. Auch ausländische Meister,
die auf deutschem Boden arbeiten, wie d’Ixnard,
dürften breiter behandelt werden. Endlich ist viel-
leicht noch eine Frage zu berücksichtigen, zu der
Hauttmann Beiträge gegeben hat. Die lokale Auf-
teilung in Schwaben, Bayern, Franken ist im ganzen
Buch streng durchgeführt, die Entwicklung der
Raumarten in den verschiedenen Stammesgebieten
ist klar gezeichnet. Die weitere Frage, warum dieses
oder jenes Thema auf diesem Boden aufgegriffen
wurde, wie weit sich auch im Kirchenbau der
Stammescharakter zeigt, ist lockend, vielleicht
allzu problematisch, aber doch nicht aussichtslos.
333
Ansätze zu einer Lösung sind bei Hauttmann gc-
macht, sind aber nicht ausgebaut, Das Heraus-
schälen der deutschen Leistung gegenüber den
anderen Lindern, in denen Anregungen entlehnt
wurden, das Verfolgen deutscher Eigenart bis in
die Stammeseigentümlichkeiten ist eine Aufgabe,
an der die Wissenschaft nicht mehr vorbeigehen
kann,
Die Ausstattung des Buches ist sehr gut. Auf
die ausreichende Illustrierung in Tafeln und Text-
abbildungen ist möglichste Sorgfalt verwendet.
Adolf Feulner.
BRUNO GRIMSCHITZ, Joh. Lukas von
Hildebrandts künstlerische Ent-
wicklung bis zum Jahre 1725 (Kunst-
geschichtl. Einzeldarstellungen, heraus-
gegeben vom kunsthistor. Institut des
Bundesdenkmalamtes, Schriftleitung Da-
gobert Frey, Folge der Originaldrucke,
Ва. I). 4°. 94 S., 79 Abb. auf Tafeln.
Österreich. Verlagsgesellschaft Ed. Hölzel
& Co., Wien 1922.
So erstaunlich es klingt, über J. L. Hildebrandt
den nach Fischer gewiß bekanntesten Wiener
Spätbarock-Architekten, gab es bisher außer einem
Aufsatz M. Dregers keine zusammenfassende, groß
angelegte und würdige Publikation. Die vor-
liegende Arbeit löst also eine Ebrenschuld der
österreichischen Kunstliteratur ein. Die Anregung
empfing der Verfasser, wie er bekennt, durch
H. Tietze, dem wir, von wertvollen Studien M.
Dvořáks, D. Freys und R. Gubys abgesehen, nicht
nur eine Reihe aufschlußreicher Einzelarbeiten,
sondern auch die seit den überholten Ausführungen
A. Des einzige allgemeine Darstellung der Wiener
Barockentwicklung in seinem Buche über Wien
verdanken. Hoffentlich folgen weitere Mono-
graphien über dieses stolzeste Kapitel österreichi-
scher Kunst, so daß wir endlich zu einer um-
fassenden Kenntnis des Schaffens der großen Bau-
meister, Bildhauer und Maler dieser Zeit gelangen,
eine Forderung, die man billig erheben muß, weil
die Tätigkeit vieler dieser Künstler weit über den
örtlichen Rahmen hinaus von allgemeiner Bedeu-
tung ist und weil sie heute, da ihre Werke zum
Teil noch nicht einmal publiziert sind, höchst un-
gebührlich unbekannt sind.
Ist also die vorliegende Arbeit an sich zu be-
grüßen, weil sie es unternimmt, einen der bedeu-
tendsten nordischen Barock-Baumeister eingehend
zu bebandeln, so bedauert man, daß es der Ver-
334
fasser bei einem Fragment bewenden ließ. Frag-
ment nicht nur, weil Gr. bloß die Zeit bis 1725
beranzieht — er rechtfertigt dies damit, daß H.
in den weiteren zwanzig Jahren seines Lebens
keinen größeren Bauauftrag mehr durchführte —
auch innerhalb dieser zeitlichen Beschränkung
bleibt uns der Verfasser leider manches schuldig.
Das darf festgestellt werden, weil das Buch durch-
weg von hoher Qualität ist und das, was fehlt,
gering ist gegenüber dem, was geboten wird.
Gr. gliedert seine Arbeit in vier Abschnitte, Im
ersten führt er die Quellen vor und verwertet sie
mit delikater Gewissenhaftigkeit zur Baugeschichte
von acht einzelnen Werken H.s. Für das Bel-
vedere wäre noch der Wiener Plan Anguissolas
und Marinonis von 1706 heranzuzieben gewesen
(M. Eisler, Hist. Atlas des Wiener Stadtbildes XIV),
an dem H. mitgearbeitet hat und der den Grund-
riß des unteren Belvederes schon eingezeichnet
zeigt. Dann untersucht er in zwei weiteren, inner-
lich zusammengehörigen Kapiteln die formalen
Werte dieser acht Bauten nach räumlichen und
plastischen Gesichtspunkten. (Seltsam überschreibt
er das Kapitel, das die „Gestaltungen der tekto-
nischen Schale der Raumfarm“ verfolgt, mit „Das
Formproblem“. Ist ihm das „Raumproblem“ kein
Formproblem? Warum überhaupt den abgenutzten
Ausdruck „Problem“?) Die zwei Kapitel bilden den
Höbepunkt der Arbeit. Die stilkritische Analyse der
acht Werke ist meisterhaft gelungen. Mit sub-
tiler Feinheit spürt Gr. den formalen Werten nach
und bringt sie in glänzender Diktion zur Dar-
stellung. Nirgends ist da eine tote Stelle, nirgends
ein verlegenes Abschwenken ins Pbrasenbaft-
Konstruierte. Auf den Quellenbelegen fußend-
erweitert Gr. durch Formvergleiche überzeugend
das Gesamtwerk H.s durch Einführung zweier für
den Grafen Friedrich Karl von Schönborn er-
richteten Bauten: eines Gartenpalais zu Wien
(Laudongasse) und eines Schlosses bei Göllers-
dorf, die er beide als die frühesten bisher nach-
weisbaren Werke anspricht (1706, 1710). Ferner
schält er klar den wichtigen Anteil H.s an Schloß
Pommersfelden heraus und stellt damit den um-
strittenen,nur von Pinder schon richtig geahnten Tat-
bestand endlich klar. Damit wird H.s künstlerischer
Einfluß über Wien und Österreich (Salzburg) hin-
aus bis in den fränkischen Kunstkreis bezeugt.
Leider spricht sich Gr. über H.s Beteiligung am
Würzburger Schloßbau nicht näher aus. Warum
diese karge Beschränkung auf acht einzelne Bau-
werke? Gr. hat doch selbst erst kürzlich auf
mehrere weitere Schöpfungen H.s in Wien ver-
wiesen (N. Fr. Presse, Abendbl. v. 30./VI. тоза), dar-
unter solche, die H. noch vor 1725 konzipierte,
Sicherlich werden weitere Werke in Österreich,
Ungarn und Böhmen auftauchen, abgesehen von
jenen, die schon Пе und Dreger für H. in An-
spruch nahmen. Denn H. war еіп ausgesproche-
ner Vielbauer. Im vorliegenden Buche empfängt
der uneingeweihte Leser eine viel zu geringe
Vorstellung von dieser umfassenden Bautätigkeit.
Ebenso bedauerlich ist, daß Gr. mit keinem Wort
auf das rein Menschliche Hs. eingeht. H. bleibt
ein Schatten, wir gewinnen kein Bild von ihm.
Gewiß, es war dem Verf. um die „künstlerische
Entwicklung“ zu tun. Aber erwächst diese nicht
in unlöslicher Verbindung aus dem Menschlichen?
Wer wird uns nun den Menschen H. so rund und an-
schaulich nahebringen wie Wölßlin uns Dürer, Justi,
Michelangelo binstellte? Niemand verfügt derzeit
über diese umfassende Kenntnis der vielen Briefe
und übrigen Quellen wie Gr., nur er wäre im-
stande, das Bild zu gestalten. Warum lockte ihn
diese Aufgabe nicht? Warum diese einseitige Be-
schränkung auf die optischen Sensationen und
der Verzicht auf das Wesentlichere, die Heraus-
arbeitung der geistigen Zusammenhänge?
Im letzten Abschnitt gibt Gr. den Versuch
einer Charakteristik der stilistischen Zusammen-
hinge, Er wendet sich gegen Dreger, der an H.
zu stark das Französische betont hatte, und er-
klärt als bestimmender die italienischen Einflüsse.
H. ist tatsächlich, wenn auch als Sohn eines
deutschen Hauptmanns, in Genua geboren (1668)
und in seiner Jugend als Ingenieur der kaiserl.
Armee in ganz Italien herumgekommen. Er war
in Rom Schüler Fontanas und trat gewiß auch
mit Pozzo in Berührung. Aber den Schulzusam-
menhang mit Fontana schränkt Grimschitz selbst
als locker und nebensächlich ein, und was er über
die Verbindung mit Palladio ausführt, überzeugt
wenig, weil die optische Einstellung auf das Ganze
wohl für H., nicht aber, zumal nicht in diesem
Grade, für Palladio charakteristisch ist. Palladio
bleibt durchweg viel stärker plastisch orientiert.
Die Geburt in Genua ist etwas Zufälliges. Es
kommt auf das Blut an. Und H. war deutsch,
war es so durchaus, daß man sich wundert, wie
Gr. dieser wichtigsten entwicklungsgeschichtlichen
Tatsache ausweichen konnte. Wie ausgezeichnet
hatte er die Banten analysiert! Wie richtig den
französischen Einfluß als einen rein gesellschaft-
lich-äußerlichen zurückgewiesen! Wie konnte er
den italienischen derart überschätzen? Das Süd-
liche spielt in der nordischen Kunst um 1700
allerdings eine große Rolle (vgl. meinen Aufsatz
„Nordkunst-Südkunst im Abendland“ in J. Strzy-
gowskis „Kunde, Wesen, Entwicklung“, Wien 1922).
Man kann geradezu von einem Klassizismus um 1700
sprechen. Aber eben H, leitet in seinen Werken
aus dieser südlichen in die nordische Richtung
über, die im Rokoko, besonders im deutschen, die
Blüte erreicht. Gerade er ist bereits stärker als
Fischer nordisch gerichtet, weshalb er ihm auch
bei Hof unterliegt. Das Untektonische, die Ein-
stellung auf optische Totalität, der Verzicht auf
klare Raumbegrenzung, die betonte Verbindung
vielmehr des Bauganzen mit dem Unendlichen
des Weltraumes, das Überspinnen aller Flächen
mit reichen Ornamenten und darin das Über-
wiegen des abstrakt-ungegenständlichen Charakters
— Gr, hat alle diese künstlerischen Tatsachen bei
H. ausgezeichnet beobachtet. Wie konnte er sie
aber anders auswerten, als daß es typisch nor-
dische Eigenschaften sind? Gegenüber der An-
sicht Pinders z. B., der in H.s Treppengeländern
(Kinsky, Mirabell) „typisch deutsches Steinband-
werk“ erblickt hatte, verweist Gr. auf Pozzos Altar-
schranken im Gesù (nicht vom Hauptaltar, wie Abb. 17
beschriftet ist, sondern vom Ignatiusaltar), wo die-
selben pflanzendurchsetzten Bandformen schon
früher aufträten, H. bringe das Steinbandwerk
erst nach dem Norden. Genau umgekehrt: Poszos,
des Tridentiners, Bandwerk ist auf römischem
Boden eine Ausnahme — der Altar stammt aus
den letzten Jabren des 17. Jahrhunderts, Pozzo
selbst gibt das Jahr 1700 an (Augsburger Aus-
gabe der „Perspectiv“, 2. Teil, 1711, 60. Figur) —
wogegen im Norden an Hunderten von Beispielen
die Entwicklung vom Knorpelwerk seit Beginn
des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts zum
Bänderwerk und dessen Durchsetzung mit vege-
tabilischen Formen gegen Ausgang des Jahrhun-
derts, zur Verdrängung der abstrakten Bänder
durch das rein Pflanzliche um 1700 und zum
schrittweisen Einschleichen wieder des Bandwerks
in den Rankenschmuck seit 1700 sich prächtig
belegen läßt. Auch die Auflösung des „geschlos-
senen Baublocks in den mit den Fligelbauten
den Hof umschließenden zentralen Schloßbau und
abgesprengte, symmetrisch zur Hauptachse an-
geordnete Flügel- und Hofbauten“ kann man
nicht aus Frankreich, Mitte 17. Jahrhundert, ber-
leiten, weil die vollendete Durchbildung dieser
gelockerten Anlage schon 1613—15 in Hellbrunn
(Österr. Kunsttopographie XI, 166 und Abb. 153)
sich findet. Weitere Beispiele zur Genüge überall
im Norden.
Alle Einwände laufen alao darauf hinaus, daß
Gr. in der entwicklungsgeschichtlichen Einstellung
Н.в zu wenig den eigenen Kräften des Nordens
335
Rechnung trug. Er wird hoffentlich auch nach
anderer Seite seine Arbeit erweitern und uns
dann mit einer wirklich umfassenden, monumen-
talen Hildebrandt-Monographie beschenken. Vor-
läufig haben wir ihm für die hervorragende stili-
stische Analyse zu danken, die er uns in der
vorliegenden Studie geboten hat, sowie für die
grundlegende Klarstellung des Verhältnisses Hs.
zu Pommersfelden.
Das Buch ist gut ausgestattet und macht dem
Verlag Ehre. Nur die klobigen Lettern passen
nicht recht zur spriihenden Zartheit des spät-
barocken Meisters, den es schildert. Auch ist
der Spiegel zu groß für die Seite, der Druck kann
nicht gut atmen, es fehlt ihm an Luft. Bedauer-
lich ist die falsch eingeklebte Lichtdrucktafel, die
eine das Plastisch-Voluminöse des oberen Belve-
dere unwirklich steigernde Aufnahme bringt und
so zu den feinsinnigen Ausführungen des Verfassers
wie die Faust aufs Auge paßt. Karl Ginhart.
KARL LOHMEYER, Die Briefe Bal-
thasar Neumanns an Friedrich Karl
von Schoenborn. Gebr. Hofer, Verlags-
anstalt, Saarbrücken — Berlin, 1921.
Als ersten Band einer Folge von Arbeiten über.
das rheinisch -fränkische Barock gibt Lohmeyer,
der als der gründlichste Kenner dieser Epoche
dazu berufen scheint, die Briefe B. Neumanns
heraus. Das sind Kulturdokumente allerersten
Ranges. jeder, der das Jahrhundert kennt, weiß»
daß in jener Zeit zu Archivalien und Chroniken
die Korrespondenzen der Fürsten, Geistlichen und
Künstler untereinander dazukommen. Es war ја
eine Zeit des geistigen Austausches wie kaum
je. Das lehrt nun das Studium dieses Buches in
glinzendater Weise. Wir werden bier in das
ganze Getriebe der Zeit, die geistige Beweglich-
keit, das lebendige Fluidum, das alie Geister da-
mals miteinander verband und die Ideen und Ge-
danken befruchtend weiter trug, eingeführt. Das
Buch ist nicht nur kunsthistorisch, sondern auch
kulturhistorisch von allerhöchstem Interesse. Wir
gewinnen einen tiefgehenden Einblick in die Be-
deutung der fürstlichen Herren, in diesem Falle
der verschiedenen Grafen von Schoenborn auf
geistlichen Thronen. Sie haben das ganze künst-
lerische Geben der Zeit bestimmt und spannen
die Fäden zwischen Wien—Mainz—-Paris.
Zu den Briefen an Friedrich Karl von Schoen-
born kommen an Walter Boll ergänzte Dokumente
aus den ersten Baujahren der Würzburger Resi-
denz. Es steht zu hoffen, daß auch die hoch-
interessanten Briefe der Grafen von Schoenborn
336
Lothar Franz, Joh. Philipp, Franz und Friedrich
Karl bald einmal veröffentlicht werden.
Wie ihrer geistigen Leitung, ihrem starken
Willen und künstlerischen Takt Würzburg, Bam-
berg, Mainz, Speyer, Trier u.a. viel Bedeutsames
danken, wird aus diesen Briefen offenbar. Aber
wir erkennen auch die gewaltige Bedeutung der
hohen Gewalt jener künstlerischen Kultur, aus der
heraus alles einzelne, auch die Künstlerindividua-
tät, als ein aus dem Ganzen Gewordenes und
Gewachsenes erscheint.
Bringt der erste Teil die Briefe des Balthasar
Neumann an Friedrich Karl von Schoenborn seit
1729—1745,die uns die außerordentliche Schaffens-
kraft des Meisters offenbaren, so werden im zweiten
Teil wichtige Dokumente aus den ersten Bau-
jahren der Würzburger Residenz gebracht, die
die Zahl der um Rat gefragten Architekten noch
vermehrt. Neben den bekannten Namen Welsch,
Hildebrandt, Boffrand werden Loyson und Job.
Dientzenhofer, die damals in Pommersfelden arbei-
teten, Freiherr von Erthal und der Freiherr
Ans. Franz Anton Ritter von Grünsteyn genannt,
Der Forschung werden so Handhaben gegeben,
um die geistige Tat B. Neumanns weiter zu er-
gründen. Ob es aber je gelingen wird, seine
Arbeitsleistung am Bau ganz klar festzulegen, ist
fraglich, Es gilt da, vorsichtig zu sein, besondera
in betreff der Negation seiner Bedeutung. Schließ-
lich war er es doch, der den Bau von Anfang
bis 1746 in den Händen hatte. In ihm vereinten
sich alle Fäden. Er hat besonders die bau-
technischen Leistungen, die kühne Konstruktion
der Gewölbe u. a. vollbracht.
Auch für die Wertschätzung unserer eigenen
Kultur und des bis vor nicht zu langer Zeit so miß-
achteten Rokokos hat derartige Publikation her-
vorragenden Wert. Auch die geistigen Zusammen-
hinge innerhalb Deutschlands, die zwischen
Franken und dem Rheinlande wie dem Saar-
gebiet werden offenbar. Wenn irgendwie, so
wurde durch die verwandtschaftlichen Beziehungen
der Fürsten von Bamberg, Würzburg, Mainz,
Speyer, Trier und Koeln und durch die Taten
eines führenden Künstlers, des B. Neumann, der
von Gössweinstein und Vierzehnheiligen bis Trier
und Saarbrücken seine Werke schuf und Ein-
fluß hatte, der kulturelle Zusammenhang inner-
halb Deutschlands geschaffen. So ist die Publi-
kation als historisches Dokument ersten Ranges
anzusehen, und danken wir dem Verfasser die
Müben der archivalischen Arbeit, die durch treff-
liche Anmerkungen erläutert und wertvoll gemacht
wird. F. Knapp.
PAUL SCHUBRING, Die italienische
Plastik des Quattrocento. Handbuch
der Kunstwissenschaft, herausgegeben von
Burger-Bruckmann,AkademischeVerlags-
gesellschaft, Berlin- Neubabelsberg.
In der Folge der monographischen Abhand-
lungen über die verschiedenen Stoffgebiete ist
dieser Band Schubrings einer von denen, bei
denen man das sichere Gefühl, die klare Ansicht
gewinnt, daß der Verfasser mit dem Material bis
ins einzelne vertrautist. Wir wissen, daß das heute
bei der üblichen Art der Schnellarbeit nicht immer
der Fall ist. Aber Schubring kennt Italien von
Grund aus und seine vielfältigen Forschungen
gerade auf dem Gebiete der Frührenaissance be-
fähigten ihn von vornherein dazu eine gründliche,
zusammenfassende Behandlung der bunten Materie
zu geben. Besonders wertvoll für den Gelehrten
sind die sehr ausführlichen Literaturangaben, bei
denen die Zeitschriftenliteratur, und zwar auch
die ausländische in weitestem Maße herangezogen
ist. So bildet das Buch für den Forscher eine
ausgezeichnete Grundlage zum Studium der Zeit.
In der Gesamtanlage hält sich Schubring an die
ältere, bescheidenere, aber auch klarere Fassung
derartiger Handbücher und läßt sich nicht ver-
leiten, nach Burgers Vorbild mit nicht immer
glücklichen Allgemeinbetrachtungen undästhetisch-
theoretischen Gemeinplätzen das erste Kapitel zu
füllen, was ja doch nur verwirrend wirkt. Er
bleibt reiner Historiker von Anfang bis zum Schluß.
Er ordnet den Stoff nach lokalen Gruppen, was
zwar die inneren Zusammenhänge nicht so klar
werden läßt, aber doch das Angenehme der Über-
sichtlichkeit hat. Den sehr ausführlichen Kapiteln
über die Florentiner Plastik und die Sienas, mit
der Sch. besonders vertraut ist, folgen die übrigen
Provinzschulen: Bologna und Ferrara, Padua und
Verona, Lombardei, Venedig, Rom und Neapel,
Ein ausfübrliches Inhaltsverzeichnis schließt den
Band. Eigenartig ist, daß auch für diese Inhalts-
verzeichnisse keine einheitliche Form in dem
Handbuch gefunden wurde.
Sehr bedauern möchte ich aber, daß der Ver-
fasser nicht auch das Trecento und das Cinque-
cento hineinbezogen hat. Dieses Zorreißen des
Materials, der gesamten Kunstgeschichte in allzu-
viele, kleine Partikel macht vielleicht den Haupt-
mangel des Handbuches aus, zumal da die Art
der Behandlung der Materie bei den verschiedenen
Autoren ganz verschieden ist; die großen geisti-
gen Zusammenhänge, das gewaltige Wachstum
in der künstlerischen Kultur wird leider so nicht
offenbar. Geradezu als eine Art Verbrechen am
Geiste derRenaissance muß man es bezeichnen, daß
es eine Hochrenalssanceplastik hier nicht gibt und
Michelangelo, der größte Renaissanceplastiker, in
die Barockskulptur eingeordnet ist. Eigentlich ist
es eine üble Zumutung, über die Renaissance-
plastik schreiben zu sollen und den hervorragend-
sten Meister nicht beprecben zu dürfen. Schade,
daß Schubring nicht auch dies Kapitel behandelt
hat. F. Knapp.
MARIANNE ZWEIG, Wiener Bürger-
möbel aus theresianischer und jo-
sephinischer Zeit 1740—1790. Zweite
vermehrte Aufl. Mit roo Tafeln. Wien,
Anton Schroll & Co., 1922.
Auf 100 Tafeln werden einzelne ausgewählte
typische Möbelbeispiele des Wiener Spätbarock,
Rokoko und Louis XVI. vorgeführt, an ihnen die
für ihre Entstehungszeit charakteristischen Merk-
male hervorgehoben: Von vornherein weist die
Verfasserin den Anspruch, eine erschöpfende
Darstellung der Wiener bürgerlichen Möbel der
theresianischen und josephinischen Zeit geben zu
sollen, zurück, sie will zunächst die Anschauung
vermitteln helfen. Der Nachdruck liegt auf dem
Einzelmöbel, da sich bürgerliche Innenräume der
Zeit mit ihrer alten Möbelausstattung in Wien
nicht erbalten haben. Die Tatsache aber, daß sich
vor 1780 zeitgenössische Darstellungen bürger-
licher Wohnräume in Österreich nicht finden, er-
schwert die Forschung auf diesem Gebiete in
fühlbarer Weise.
Die Verfasserin gebt in dem einleitenden Text
von den geschichtlichen und kulturellen Be-
dingungen für die Entwicklung des Wiener Bürger-
möbels im 18. Jahrhundert aus. Das Wien des
Barock war eine Stadt des glanzvolisten Hofes,
Kirche und Adel bestimmten ihren Habitus, Italien
ihr künstlerisches Gepräge. Das Bürgertum hat
nichts zu sagen. Erst mit der Thronbesteigung
Maria Theresias ändern sich die sozialen Ver-
hältnisse zugunsten des Volkes, und kann sich
das Bürgertum frei regen.
Die Möbel der folgenden Zeit zeigen ein dop-
peites Gesicht — das für die höflschen Kreise be-
stimmte Mobiliar ist französisch, und so durch-
aus französich gestimmt, daß stilkritisch mitunter
österreichische und französische Arbeit kaum zu
unterscheiden ist. Das bürgerliche Möbel Wiens
ist wohl auch französisch beeinflußt, allein es
verleugnet niemals seine Herkunft und paßt sich
selbständig den Bedürfnissen des Alltags an. Der
337
wesentliche Charakterzug des theresianischen
Möbels ist das Maßhalten mit dem ornamentalen
Formenspiel: die Konstruktion bleibt im Gegen-
satz zum italienischen und deutschen Rokoko-
möbel stets gewahrt.
Das Staatsmöbel im deutschen Bürgerhause —
in Ober-, in Niederdeutschland, in Österreich —
war der Schrank, der die Ausstattung barg. In
einer unendlichen Fülle von Gestalten ist er uns
erhalten; und jedes Stück hat aein eigenes Ge
sicht und fordert Bewunderung für das sichere
handwerkliche Können und die Phantasie des
Tischiers.. Neben dem Kastenmöbel — Schreib-
schrank. Glaskasten, Kommode inbegriffen — fällt
die Dürftigkeit des österreichischen Sitzmdbels ins
Auge. An Zahl und Bedeutung tritt es hinter
jenem zurück, und das ist um so bemerkens-
werter, da der Bedarf an Sitzgelegenheiten weit
größer war als an jenen. Im Charakter ist der
Wiener Rokokostuhl bieder und bandfest, er ist
seiner Aufgabe gewachsen, bei den josephinischen
wird dies bisweilen zu einer gewissen Schwer-
fälligkeit, ja Plumpheit (s. Tafel). Man vergleiche
auch die einzige abgebildete Sitzbank (Tafel 98),
mit gleicherweise englisch beeinflußten nieder-
deutschen Stühlen und Bänken.
Sehr langsam nur erobert sich die klassizistische
Form das Herz des Wiener Möbeltischlers. Das
Durchblättern der zeitlich geordneten Tafeln ist
in diesem Sinne lebrreich — die Anerkennung
des Neuen hatte sich erst im 9. Jahrzehnt mit
Entschiedenheit durchgesetzt. Die Mischung von
Altem und Neuem gibt den einzelnen Möbeln ein
unmittelbares warmes Leben.
Wesentlich für den Eindruck des josephini-
schen Möbels ist die Verwendung der „blonden“
Hölzer, wie Kirsch- und Birnholz, eine Vorliebe,
die das Bürgermöbel der Biedermeierzeit weiter-
pflegte. Das gibt den Räumen eine einladende
Heiterkeit. Dagegen tritt im Bürgerhaus im
Gegensatz zum Schloßmobiliar das weiß- und
bellackierte Möbel zurück. Das im Norden be-
vorzugte Mahagoni findet sich bei keinem der
abgebildeten Stücke; am beliebtesten ist das kost-
bare Nußholz — einheimisches, italienisches, rhei-
nisches — das in theresianischer Zeit dunkler, in
josephinischer Zeit heller gehalten wurde, obne
daß sich indessen eine allgemein gültige Regel
aufstellen ließe. In josephinischer Zeit kommt
die Schnitzerei mehr zur Geltung, aber sie ist
immer zurückhaltend und manchmal als Ersatz
für die teure, in Frankreich- modische Bronze
vergoldet. Charakteristisch für das den täglichen
Bedürfnissen angepaßte bürgerliche Möbel ist das
338
Feblen dieses kostbaren Schmuckes. Die Be-
schläge sind bescheiden und nicht ins Auge fallend.
Zum Schluß gibt die Verfasserin noch inter-
essante Hinweise auf die bürgerliche Stellung von
Tischlermeister und Gesellen, und die strenge
Regelung zwischen Vorstadt- und Stadtmeister.
Bezeichnend für die Bedeutung des Tischler-
handwerks war die Verordnung, daß der Geselle
ein Zeugnis der К. К. Bauakademie für die Zu-
lassung zur Verfertigung des Meisterstückes bei-
bringen mußte. Der „Riß“, den er außer dem
Meisterstück aufzuzeichnen hatte, wurde der k.k.
Bauakademie überwiesen. Aus diesem Brauch
sollte man auf eine Fülle von Wiener Tischler-
zeichnungen schließen — nichts aber ist irriger.
Denn trotz Suchens ist unbegreiflicherweise bis-
ber auch nicht eine derartige Meisterzeichnung
zum Vorschein gekommen. Zweifellos ist dies
einer der Gründe, warum das Wiener Bürger-
möbel des ı8. Jahrhunderts bisher ein vor der
Wissenschaft verborgenes Dasein geführt hat.
Der Verfasserin ist es zu danken, daß sie es zu
neuem Leben erweckt und uns die Möglichkeit
geschenkt hat, es mit den gleichzeitigen Arbeiten
der anderen Kulturländer zu vergleichen.
Einen Mangel in der Ausstattung des Buches
bedeuten die Tafeln, und os wäre zu wunschen,
daß bei einer Neuauflage ihrem Druck eine größere
Sorgfalt zugewandt würde. M. Schuette.
WILHELM HAUSENSTEIN, Barbaren
und Klassiker. München 1921. Verlag
Piper & Co.
Auf 177 Tafeln wird die vielgestaltige Welt der
exotischen Plastik von den Barbaren der Südsee
bis zu den Klassikern der alten Kulturen in Mexiko,
Indien und China vorgeführt. Die Anschauung
füllt sich mit Vorstellungen und man geht mit
Spannung an den Text, der dem Bilderteil nach-
gesetzt ist, Hausenstein ist darin ein beredter
Anwalt der exotischen Kunst, wie er sie versteht,
indem er nämlich diesen Begriff nicht geograpbisch,
sondern sachlich aufgefaßt wissen will. „Exotik
bezeichnet einen Zustand der Menschheit und der
Kunst, einen Grad des Daseins. Es gibt euro-
päische Exotik. In exotischen Ländern gibt es
die Umzüchtung des Exotischen ins Europäische“
(S. 40). Oder: „Europa und Exotisches werden
keinen Gegensatz mehr darstellen: das Roma-
nische, das archaisch Antike und andere Gegen-
pole des Klassischen werden unvermittelt neben
den ursprünglichen Bekundungen außereuropäi-
scher Kräfte steben“ (8. 46). Die von Worringer
aufgestellte Polarität von Gotik und Klassik wird
hier zu überbieten gesucht durch den Bogen
größerer Spannweite Exotik und Klassik. Aber
es war Hausenstein nicht um eine systematische
Darlegung zu tun, vielmehr ist der Text geist-
reich zugespitzt, in tausend Facetten ausgeschliffen.
Hin und wieder schlägt Hausenstein einen gei-
stigen Purzelbaum, wie etwa diesen: „Der Ex-
pressionismus ist der Naturalismus einer Gene-
ration, deren Natur darin besteht, keine Natur
mehr zu haben.“ Durch die Fülle paradoxer
Wendungen gelingt es Hausenstein manchmal,
auch ganz hiibsch die unmittelbare Kinschrift
geradezu wegzuspiegeln. Aber man muß doch
sagen, Hausenstein hat diese Kunst erlebt und
bringt sie durch Worte zu lebendiger Empfindung.
Nur wo er sich kunstphilosophisch drapiert, sieht
man nur Flitter. Ganz schief beißt es z.B. S.75:
„Kunst ist Kompensation des menschlichen Un-
vermögens, den Sinn des Lebens zu deuten, Sie
ist Resignation zur Nachforschung des Geschöpften“.
Nichts ist Hausenstein verhaßter als historische
Betrachtung derKunst. Die Behauptung: „Es ist
ein falsches Sehen, das auf den sogenannten Stil
geht,“ erklärt sich daraus, daß Hausenstein den
Begriff Stil zu eng faßt, weil er darunter
nicht das Wesen der Erscheinung, sondern nur
eine Funktion sieht. Ich gebe ein Beispiel. Mit
einprägsamen Worten schildert Hausenstein, wie
die javanische Kunst von der ursprünglichen Ani-
malität ins Menschliche, Lyrische übergeführt
wird. Warum ist die ursprüngliche Wildheit dem
Klassischen gewichen? Hausenstein gibt keine
Antwort. Der Historiker konstatiert, daß der Ein-
fluß indischer Kunst herüberdrang und die Stil-
wandlung hervorrief.
Mit sprachlicher Kraft hat Hausenstein die Be-
sonderheiten der exotischen Kunst rund um die
Erde anschaulich vergegenwärtigt Ihre bedeuten”
den künstlerischen Werte sind vorurteilslos als
gleichberechtigt mit den höchsten künstlerischen
Werken erkannt. Manchmal formt Hausenstein
Sätze, die weite Perspektiven öffnen. Das ganze
System seiner Anschauung liegt etwa in diesen
Sätzen verdichtet: „In den Bildwerken der Bar-
baren stehen das Irdische und das Metaphysische
einander unvermittelt gegenüber. Der metsphy-
sische Strahl fällt ohne Interregnum auf die Brunft
der Erde. Die Alternativen prallen zusammen.
Sie liegen in unmittelbarer Berührung übereinander
geschichtet. Dies ist die Verfassung der Barbaren.
Im Klassischen ist der Mensch zwischen die Grenze
getreten.“
Kurt Gerstenberg.
GESSNER, Der Meister der Idylle.
Ausgewählt und eingeleitet von Paul F.
Schmidt. Mit 34 Abbildgn. München,
Delphin-Verlag.
Gessner galt seinerzeit nur als Dichter. Er selbst
bat sicherlich auf seine Idylien sehr viel mehr
Wort geiegt als auf seine Bilder, die erst ent-
standen sind, als seine dichterische Schöpferkraft
versiegt war. Die Folgezeit hat anders geurteilt.
Der Dichter ist für uns tot, in seinen kleinen Ge-
mälden und Radierungen spüren wir den Protest
gegen die Konvention des Barock und Rückkehr
zur Natur. — Gottfried Keller hat Gessners Wesen
in seiner köstlichen Novelle von Salomon Landolt
umrissen, Wölfflin hat sich als erster „mit diesem
kleinen Mann in der Kunstgeschichte“ auseinander-
gesetzt. Im knappen Rahmen der Delphin-Kunst-
bücher versucht Paul F. Schmidt, Wert und Be-
deutung von Gessners Kunst darzustellen.
Rosa Schapire.
WILHELM R. VALENTINER, Georg
Kolbe. Plastik u. Zeichnung. Mit 64 Ab-
bildungen. K. Wolff Verlag, München
1922 (geb. М. 1500.—).
Es ist nicht das erste Buch, das dem aus-
gezeichneten Bildhauer gewidmet ist; aber es
zeichnet sich durch eine besondere Vornehmbeit
und Delikatesse der Erscheinung, Ausstattung, des
ganzen Tones aus. Kein Prunkwerk, aber voll
gepflegter Schönheit des Buches; nobelster Antiqua-
druck mit breiten Rändern und herrlichen Abbil-
dungen nach sehr gelungenen Aufnahmen (wohl
des Künstlers selbst); auch die berühmten (und
mit Recht berühmten) Aktzeichnungen Kolbes
feblen nicht. Man hat in Abbildungen sein wesent-
lichstes Werk beisammen und gewinnt einen voll-
kommenen Eindruck von dem Reichtum seiner
Entwicklung, bei aller Abgegrenztheit seiner Form.
Valentiners Text gibt in der reinen, klingenden
und präzisen Sprache, die wir an ihm kennen
und lieben, eine sehr schöne Analyse von Kolbes
Stil, eine glänzende Übersicht über seine Ent-
wicklung von Rodin her zu tektonisch gestraffter
Form, und über die Notwendigkeit solchen Weiter-
schreitens (die mancher, der mit der Zeit nicht
Schritt hält, nicht einsehen mag). Wir erfabren
nichts vom äußeren Leben des Mannes (was wobl
auf seinen eigenen Wunsch nach Anonymität
zurückgehen mag), aber wir erleben hell und
lebendig das Wesen seiner Kunst, deren stillen
Iyrischen Zauber, deren innige Abgeklärtheit und
Durchseelung uns Valentiners Wort aufs zarteste
пась еп läft. Paul Е. Schmidt.
339
CURT GLASER, Die Graphik der
Neuzeit. Vom Anfang des 19. Jahrh.
bis zur Gegenwart. Berlin, BrunoCassirer,
1922.
Glasers umfassende Darstellung der Graphik
des 19. Jabrhunderts läßt an Umfang und Bo-
deutung alle bisher erschienenen Bücher über
neuere Graphik weit hinter sich. Vergleichen
läßt sie sich allein mit Kristellers „Kupferstich
und Holzschnitt in vier Jahrhunderten“, wobei
Glasers Aufgabe sicherlich den kühneren Blick,
die selbständigere Auffassung voraussetzt.
Maßgebend für Glaser war nicht technische
Meisterschaft, sondern allein die künstlerische
Leistung; es ist folgerichtig auch nur von Ori-
ginalgraphik die Rede. Führende Persönlichkeiten
herauszuarbeiten erschien ihm wesentlicher als
eine Aufzäblung vieler Namen. Der Verfasser
geht von den einzelnen Techniken aus. Er stellt
ein kurzes Kapitel über Goya voran und verfolgt
die Entwicklung von Radierung, Lithographie und
Holzschnitt in Deutschland, Frankreich und Eng-
land. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wurden auch Holland, Belgien und Skandinavien
herangezogen. Selbstverstindlich wird das Werk
eines Künstlers, der sich der drei verschiedenen
Techniken bedient hat, nicht in drei Abschnitte
auseinandergerissen. Die Charakteristiken der
einzelnen Künstler sind kurz und treffend, wenn
auch eine eingehendere Behandlung der Hoch-
blüte der Graphik im beginnenden 20. Jahrhundert
erwünscht gewesen wäre. Jedenfalls macht Glaser
vom „Rechte subjektiver Kritik . . ausgiebigen
Gebrauch.“ Seine Ausführungen sind auch dort,
wo man sich ihnen in der Wertung jüngster Kunst
picht immer anschließt, von Sachkenntnis ge-
tragen und dem Verlangen, das Wesentliche einer
Persönlichkeit zu erfassen.
Ein sorgfältiges Register, Literaturverzeichnis
und ein sehr reiches Abbildungsmaterial erhöhen
den Wert des Buches, Rosa Schapire.
FRIEDRICH H. HOFMANN, Johann
Peter Melchior 1742—ı825. Mit 46
Bildtafeln. München, Verlag für prak-
tische Kunstwissenschaft, 1921.
Der Bildhauer und Porzellanmodelleur Johann
Peter Melchior ist eine der liebenswürdigsten und
feinsten Künstlerpersönlichkeiten des späten deut-
schen 18. Jahrhunderts. Für Höchst, Franken-
thal und Nymphenburg hat er die meisten und
besten Modelle geliefert; auch seine übrigen de-
korativen Skulpturen bebaupten in der Geschichte
340
der deutschen Plastik ihren Rang. Daß Melchior
auch Kunsttheoretiker war, ein selbständiger Denker,
der mit größeren Abbandlungen in das ästhetische
Räsonnement des frühen Klassizismus eingriff,
wird durch Hofmanns schönes Buch wieder zum
Bewußtsein gebracht. Das gut ausgestattete, ge-
schmackvoll arrangierte Werk enthält neben den
wichtigsten Urkunden zur Biographie des Künst-
lers die literarischen Leistungen vollständig und
bringt dazu als Abschluß ein Lebensbild des
Künstlers, zu dem als Ergänzung die Bildtafeln
mit Abbildungen der Hauptwerke und unbekann-
ten Handzeichnungen treten. Die Vorzüge Hof-
mannscher Arbeiten zeichnen auch diese Bio-
graphie Melchiors aus: die absolute Sachlichkeit
und Zuverlässigkeit, die ungewöhnliche Sorg-
falt der Forschung bis zur Erschöpfung des
Stoffes, die allen Anregungen nachgeht, in alle
versteckten Winkel hineinleuchtet, so daß Werke
wie dieses Buch über Melchior oder die große
Geschichte des Nymphenburger Porzellans zu den
Quellenschriften der Kunst der Zeit gerechnet
werden müssen. Was die Biographie Melchiors
noch besonders auszeichnet, ist die Wärme der
Diktion, die nur aus langjähriger Vertrautheit mit
dem Stoffe erwächst; die von Anfang an fesselt,
weil man überall das Bemühen spürt, liebgewor-
dene Schätze des Wissens vor dem Leser aus-
zubreiten. Adolf Feulner.
WALTER FRIEDLAENDER, Claude
Lorrain. Berlin, Paul Cassirer, 1921.
Seinem Poussinbuch von 1914 läßt Friedlaender
eine Studie folgen über den „lyrischen Gegen-
spieler“, den von Goethe wie Nietzsche in seiner
kristallenen Klarheit und Heiterkeit bewunderten
Claude Lorrain. Die Quellen für Lorrains Leben,
Sandrart und Baldinucci, werden eingehend be-
nutzt, ebenso das vom beschaulichen Künstler
angelegte Skizzenbuch „Liber veritatis“. Auch
wird zum erstenmal der Versuch einer Chrono-
logie der Radierungen gemacht. Claudes Land-
schaft erwächst aus dem klassischen Stil und der
idealen Auffassung der Landschaft der Carracci,
dazu gesellt sich ein nordisches Element. Als
Neues bringt er die Befreiung und den Eigenwert
des Lichtes. In einem Schlußkapitel grenzt Fried-
laender Lorrains Wesen und Bedeutung scharf
und knapp gegen Poussin ab und zieht das Fazit
dieses in gewissem Sinne einförmigen, dem fran-
zösischen Rationalismus in vielem entgegengesetzten
Schaffens. Etwa 130 teilweise zum erstenmal ver-
öffentlichte Abbildungen, darunter wundervoll
lebendige und eindringliche Zeichnungen aus dem
British Museum erhöhen den Wert des Buches.
Rosa Schapire.
EIN FESTTAG am Hofe des Minos
50 Steinzeichnungen von Fritz Krischen.
Verlag Schoetz u. Parrhysius. Berlin 1921.
Solange wir die altkretischen Inschriften, ge-
schrieben mit rätselhaft unbekannten Schrift-
zeichen, in einer gleichfalls unbekannten, weder
semitischen noch indogermaniscben Sprache, noch
nicht entziffern können, ist uns die politische Ge-
schichte Kretas in vorgriechischer Zeit unbekannt.
Nur das Kulturleben, wie es sich im zweiten Jahr-
tausend im Bereiche des Aegäischen Meeres ab-
spielte, können wir uns rekonstruieren. Aus-
gehend von den reichen Ergebnissen der Aus-
grabungen auf Kreta, und an die dem Erdboden
entstiegenen Originale sich anschließend, hat Verf.
versucht, in fünfzig Steinzeichnungen ein Bild
des kretischen Kulturlebens zu zeichnen, wie es
in seiner eleganten, verfeinerten Art die präch-
tigen Hallen und Säle des Palastes zu Knossos
durchflutete. Anknüpfend an einen — zwar nicht
historischen Vorgang, der Hochzeit einer kreti-
schen Prinzessin mit dem Fürsten von Tiryns,
bietet sich dem Künstler Gelegenheit, die ver-
schiedensten Vorgänge am Königshofe zur Dar-
stellung zu bringen, und es ist ihm gelungen,
auch dem Nicht-Archäologen einen Begriff von
der eminent hochstehenden Kultur des zweiten
Jahrtausends v. Chr. zu vermitteln. In seiner vor-
nehmen Ausstattung dürfte das Werk selbst den
höchsten Ansprüchen eines geläutertenGeschmackes
genügen. A. Köster.
KURT HIELSCHER, Das unbekannte
Spanien. Baukunst, Landschaft, Volks-
leben. Berlin, Ernst Wasmuth, A.-G.
Während seines fünfjährigen unfreiwilligen Auf-
enthaltes in Spanien hat Hielscher das Land mit
seiner Ica-Zeiß- Kamera von den Pyrenäen bis zum
Strand von Tarifa, vom Palmenwald von Eiche
bis zu den Höhlenfelsenstätten von Almeria und
Guadix durchquert.
Mit Recht nennt er sein Buch „Das unbekannte
Spanien“, trotzdem Granada, Cordoba, Sevilla,
Toledo oder Aranjuez naturgemäß nicht fehlen.
Aber was wissen wir von der Schönheit der in
die Landschaft geschmiegten Dörfer in Südestrema-
dura, was von den Albuferahütten bei Valencia,
von den Opuntien umstandenen Huertahütten, was
von den phantastischen Höblenfelsenstädten von
Guadix und Almeria? Die kuppelbekrönte Kalva-
rienbergkirche in Javea ist so wenig bekannt wie
der Steinkistenfriedhof bei Elorio, die Kastelle zu
Penafiel, Mombeltran, Coca, die Bergstadt Daroca,
das distere Jativa, das Kloster Batuecas in schwer-
mütiger Zypressenlandschaft, ein herrlicher früh-
romanischer Grabstein aus Vizcaya, der strenge
Pfosten der Kapelle St. Miquel de Lino bei Oviedo
aus dem g. Jahrhundert und vieles, vieles andere.
Das Buch enthält über 300 ganzseitige Abbil-
dungen in Kupfertiefdrack. Jeder gelehrte Ap-
parat in Form von Anmerkungen, Erklärungen,
Daten, fehlt; der kurze, einleitende Text hat nur
Feuilletonrang, aber es ist als Bilderbuch für den
Wissenschaftler ebenso unentbehrlich, wie für den
Kunstfreund, der sich für Spanien interessiert.
Vor unseren Augen entsteht ein Land, unbe-
rührter, unausgeschöpfter als Italien, voll Wild-
heit, voli höchster, aus den verschiedensten Quellen
stammender Kulten. Rosa Schapire,
EDWIN SWIFT BALCH und EUGENIA
MACFARLANE BALCH, Kunst und
Mensch. Vergleichende Kunststudien.
Deutsche Ausgabe von E. Volckmann.
Verlag Gebr. Memminger, Wiirzburg 1921.
EDWIN SWIFT BALCH und EUGENIA
MACFARLANE BALCH, Die bilden-
den Kiinste der Erde. Deutsche Aus-
gabe von E. Volckmann. Verlag Gebr.
Memminger, Würzburg 1921.
Zwei merkwürdige Bücher, wie sie nur in Ame-
rika denkbar aind. Die Verfasser haben nach
ihrer eigenen Aussage seit Jahren das Studium
der Kunst betrieben in Museen wie an Licht-
bildern und Abbildungen in Büchern. Alles, was
je über Kunstwissenschaft geschrieben ist, die
Ergebnisse der gesamten Kunstforschung sind
ihnen fremd. Daß man das, was sie „vergleichende
Kunst“ nennen, die Kunstäußerungen verschie-
dener Völker miteinander zu vergleichen, und
wenn möglich, miteinander in Beziehung zu
bringen, in ausgedehntestem Maße in der Kunst-
wissenschaft anwendet, ist ihnen daher gänzlich
entgangen, und sie glauben, der aufborchenden
Welt etwas ganz Neues zu bieten, wenn sie Kunst-
gegenstände aller Welt miteinander vergleichen,
Und wenn das noch geschäbe auf Grund ein-
gehender Kenntnis dieser Kunstwerke, aber ohne
Gefühl für Stil und Qualität, obne auch von der
Entwicklung der Kunst eines Landes eine Ahnung
zu haben, ohne geschichtliche Kenntnis, ohne
341
Übersicht über das vorhandene Material wird zu
Werke gegangen. Es ist — um mich euphe-
mistisch auszudrücken — eine bodenlose Un-
wissenbeit auf kunstwissenschaftlichem Gebiet,
die aus diesen Büchern apricht. In Amerika mag
eine solche Arbeitsweise Anklang finden, wie man
einem deutschen Publikum so etwas vorzusetzen
wagt, ist mir unerfindlich. A. Köster.
G. RODENWALDT, Der Fries des
Megarons von Mykenai. Mit einer
Farbentefel, vier Beilagen und 30 Text-
abbildungen. Verlag von Max Niemeyer.
Halle a/S., 1921.
Der Titel läßt eine Spezialabhandlung vermuten,
die nur den Fachgelehrten interessiert. Tatsäch-
lich entbält die Schrift R.s weit mehr, u. a. eine
ausfübrliche, zusammenfassende Darstellung der
kretischen Malerei, die in ihrer Art das beste dar-
stellt, was bisher über dieses Thema geschrieben
worden ist, Verfasser macht vor allen Dingen
darauf aufmerksam, daß die kretische Kunst ihrem
innersten Wesen nach so ganz anders geartet,
als die Kunst der Ägypter, Babylonier und Griechen,
von Anfang an eine durchaus malerische ist, die
dem malerischen Sinn ihrer Urheber entsprungen,
die Malerei zum Ausgangspunkt der gesamten
Kunstbetätigung macht und sich dementsprechend
entwickelt. Daraus erklären sich die großen Vor-
züge der kretischen Kunst, aber auch ihre Mängel,
die namentlich in die Erscheinung treten, sobald
es sich um monumentale Darstellungen handelt,
Hier vermißt man leicht anatomische Richtigkeit
und Glaubhaftigkeit in den Bewegungsmotiven,
worin die griechische Kunst gerade das Höchste
leistet, allerdings erst nach jahrhundertelangem
Ringen mit plastischen Problemen, die dem Kreter
fern lagen. Nach der Beschreibung des neuen,
in Mykenai entdeckten, allerdings sehr fragmen-
tierten Frieses behandelt Verf. den Unterschied
der kretischen und der mykenischen Wandmale-
reien, die, derselben Kultur angehörend, zunächst
von denselben, nämlich kretischen Künstlern aus-
geführt, in ihren Motiven, dann auch in der Dar-
stellungsart voneinander abweichen, — weil die
Burgherren von Mikenä griechischen Stammes
waren, mit einem künstlerischen Keim, der anders
geartet war, und — trotzdem zunächst alle und
jede Kunst von Kreta kam, doch von Anfang an
andere Wege weist.
Für Archäologen wie Kunstgeschichtler gleich
lesenswert, wird keiner ohne Bereicherung an Ge-
danken und Anregungen das Buch aus der Hand
legen. A. Koster.
342
FRIEDRICH FIMMEN: Die kretisch-
mykenische Kultur. B. G. Teubner,
Leipzig 1921. 226 Seiten und 203 Abb.
M. 24.— und Teuerungszuschlag.
Neuerdings sind nicht weniger als drei Bücher
herausgekommen, die dasselbe Thema, die kretisch-
mykenische Kultur behandeln. Das Buch von
Bossert, Alt-Kreta (Berlin 1921), besitzt keinerlei
wissenschaftlichen Wert — selbst die Abbildungen
entbehren der Zuverlässigkeit —, und das Werk
von Seunig wird unten besprochen. Das Buch
von Fimmen ist das einzige in der Reihe, das
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen kann,
mit dem sich der Forscher gern beschäftigt, das
einen wirklichen Gewinn für Geschichte, Archäo-
logie und Ägyptologie ausmacht. Seine Bedeutung
liegt vor allen Dingen in der Fülle des Materials,
das zwar nicht alles von Grund aus verarbeitet
werden konnte — das hätte ein mehrbändiges
Werk ergeben —, aber für den Forscher jetzt
übersichtlich geordnet vorliegt. Es lag in der
Eigenart der Funde begründet, daß die Keramik,
in vielen Gegenden das einzige, was aus jener
Epoche auf uns gekommen ist, in den Vorder-
grund gerückt erscheint; sie ist m. E. aber etwas
zu sebr betont. Namentlich im Vergleiche zur
Architektur, zum Festungsbau usw., wo manche
Fragen von ausschlaggebender Bedeutung kaum
angeschnitten werden. Auch die im wesentlichen
auf die Verschiedenartigkeit der Keramik aufgebaute
Einteilung in verschiedene Kulturkreise würde
durch eine weitgehende Verwertung anderer Kultur-
erscheinungen an Wahrscheinlichkeit gewonnen
haben. Ausgezeichnet sind die Darlegungen der
Beziehungen zwischen Kreta und Ägypten, wie
auch die Untersuchungen über kretische und
ägyptische Chronologie. Das Kapitel über den
Handel ist das Beste, was je über diesen Gegen-
stand geschrieben worden ist. Überbaupt lernt
man überall und hat stets die Empfindung, auf
sicherem Grund zu stehen. Und deshalb kann
auch den Lesern dieser Zeitschrtft, den neueren
Kunsthistorikern, das Buch von Fimmen so un-
bedenklich empfohlen werden. Natürlich veralten
gerade in der kretischen Forschung die Ergebnisse
schnell, manches ist bereits heute überholt, aber
davon abgesehen, kann der Historiker wie der
Kunstgelehrte sich stets schnell und zuverlässig
orientieren, sobald eine Frage der kretisch-myke-
nischen Kultur ihn interessiert.
Aug. Köster.
PAUL HEIDELBACH: „Kassel“. Mit
40 Tafeln (Stätten der Kultur, Band 31).
Klinkhardt&BiermannVerlag,Leipzig1920.
Als 31. Veröffentlichung der, im Verlag von
Klinkhardt & Biermann erscheinenden „Stätten
der Kultur“ liegt nunmehr der Band Kassel von
Paul Heidelbach vor. Dies ist die umfangreichste
Städtemonographie dieser, von Professor G. Bier-
mann herausgegebenen Reihe und auch inhaltlich
wie formell eine hervorragende Leistung.
Paul Heidelbach hat es verstanden, seinem
Auftrage in jeder Weise gerecht zu werden. Er
entwirft auf dem Untergrund der klar entwickelten
Geschichte der Stadt und des Landes kultur-
geschichtliche Bilder der bedeutendsten Epochen
und wird dabei auch der kunstgeschichtlichen
Seite seiner Aufgabe völlig gerecht. Leicht les-
bar, übersichtlich geordnet und mit gutgewählten
Aufnabmen illustriert.
Ein Werk, das für das 18. Jahrhundert von
ähnlicher Bedeutung war wie es Heidelbachs Buch
für uns ist, besitzen wir in der, Landgraf Fried-
rich IL gewidmeten „genauen und umständlichen
Beschreibung der hochfürstlich hessischen Resi
denzstadt Cassel nebst den nahegelegenen Lust-
schlössern, Gärten und anderen sehenswürdigen
Sachen“ von Schminke,
Die Geschichte der Stadt Cassel, Piderit 1844,
die Hofmeister 1882 neu herausgegeben hat, ist
heute veraltet und außerdem selbst in der Neu-
auflage völlig unzuverlässig.
Die, anläßlich der Tausendjahrfeier Cassels ver-
faßte Stadtgeschichte von Brunner, ist eine ge-
wissenhafte, aus allen Quellen schöpfende Arbeit,
die aber namentlich die politische Geschichte
Flessens berücksichtigt. Der gleichzeitig, als vierter
Band der „Monographien deutscher Städte“ er-
schienene Band „Cassel“ von Stein, bringt haupt-
sächlich das für die kommunale Verwaltung Inter-
essante.
Die vorbildlichen Werke Holtmeyers „Alt-
Савве!“ und „Wilhelmshöhe“ sind Spezialarbeiten,
die ihrem Zweck entsprechend nur die Bau-
geschichte berücksichtigen.
So füllt auch dieser Band, wie alle bisher er-
schienenen Bände der „Stätten der Kultur“ eine
allezeit schmerzlich empfundene Lücke aus und
ist diesem so geschmackvoll ausgestatteten, hand-
lichen und nicht zuletzt billigem Werke dieselbe
Verbreitung zu prophezeien, die alle von Pro-
fessor Biermann herausgegebenen Bände so rasch
gefunden haben.
Man könnte dem Autor den Vorwurf machen,
daß er die Geschichte der Wilhelmshöhe, die doch
unlösbar mit Cassele Geschichte verwachsen ist,
zu kurz behandelt hat. Ich möchte daher auch
an dieser Stelle nochmals auf das in demselben
Verlag veröffentlichte, erschöpfende Werk des-
selben Verfassers „Die Wilhelmsböhe“ hinweisen,
das, obgleich in anderer Ausgabe erschienen doch
im gleichen Charakter verfaßt, die erwünschte
Ergänzung zu dem vorliegenden Bande darstellt.
J. W. Berrer.
WILHELM WAETZOLDT, Deutsche
Kunsthistoriker von Sandrart bis
Rumohr. E. A. Seemann, Leipzig 1921.
Das Buch hält mebr als sein schlichter Titel
verspricht, der zunächst nur auf eine lose Samm-
lung biographischer Essais schliessen lassen möchte.
Denn es stellt nicht weniger dar als eine auf die
prägnanteste Formel gebrachte Geschichte der deut-
schen Kunstgeschichtsschreibung und zwar die Ge-
schichte ihrer Methode, wie sie aich von ihren
ersten primitiven Anfängen entwickelte bis zum
Beginn der eigentlichen Fachwissenschaft, der
durch den erst ganz neuerdings wieder zu verdien-
ten Ehren erhobenen Rumohr gekennzeichnet wird.
Von hoher philosophischer Warte aus und mit
einer erstaunlichen Belesenheit beleuchtet der
Verf. diesen vielfach verschlungenen Weg durch
die „ästhetische“ Epoche der Kunstgeschichte hin-
durch bis zu den Anfängen ihrer „historischen“
Epoche; von der auf der Subjektivität ästhetischer
Einfühlung begründeten Kunstbetrachtung zu der
auf philologischer Quellenkritik und geschärfter
vergleichender Stilkritik fußenden objektiven mo-
dernen Methode, die allein das Prädikat wahrer
Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen
darf; von der in der improvisierten Form der
Reiseberichte, Gemäldegespräche, Galeriebriefe und
des Künstlerromans sich in der Hauptsache er-
schöpfenden Kunstliteratur des 18. Jahrhunderte,
fiir das die Kunstgeschichte nur ,Nebenzweig an
dem grossen Baume der Dichtung“ war, bis zu
der strengen Tektonik der modernen Literaturform,
wie sie die Meisterhand Rumohrs geprägt hat.
Unter dem Gesichtspunkt, ein ganz klares Bild
dieser Entwicklung der kunstgeschichlichen Er-
kenntnis zu geben, hat W. alles rein Biographische
ausgeschieden und auch nur die Namen hervor-
gehoben, die wirklich als Marktsteine an diesem
Wege stehen. Dadurch bat seine Darstellung an
Prägnanz entschieden gewonnen, doch verfibrte
das auch vielleicht zu mancher sachlich nicht ganz
gerechtfertigten Unterstreichung auf der einen, zu
343
mancher Unterdrückung auf der anderen Seite.
So scheint mir W. die Leistung Christ’s, den
schon Heinecken (in der Vorrede zum 2. Teile
seiner Nachrichten von Künstlern 1769) einen
„schlechten Zeichendeuter“ nennt, und über den
Nagler (in der Vorrede zu den Monogrammisten)
fast spöttisch aburteilt, entschieden zu überschät-
zen, wie er umgekehrt die Bedeutung Lessings
für die Geschichte der Kunstwissenschaft zu gering
anschlägt; jedenfalls wird der Verfasser des Lao-
koon, der doch nächst Winckelmann und Goethe
den wichtigsten Platz unter den deutschen Kunst-
theoretikern des 18. Jahrhunderts einnimmt, selt-
samer Weise immer nur ganz beiläufig von W.
zitiert. In einer oft prachtvoll pointierten Formulie-
rung wird sonst daa wesentliche der Leistung überall
hervorgehoben; umgekehrt sind die individuellen
Grenzen der Erkenntnis mit feinem Spürsinn er-
kannt, wenn es von Heinse, den W. treffend als den
„ersten deutschen Kunstfeuilletonisten“ bezeichnet,
etwa heißt: „Seelische Bewegtheit und Spannung
sieht er kaum“ oder von Winckelmann: „ihm
fehlte der Sinn für Helldunkel, Handlung, Kom-
position, Charakteriaches, Ausdruck“. Die Betrach-
tung schließt mit dem Namen Rumohrs ab. Das ist
kein willkürlicher Abschluss: gehört doch Rumohr
als der Bringer einer eine Epoche abschliessenden
Kunsttheorie auch dem geistesgeschichtlichen
Zusammenhang nach auf diesen Platz. Freilich
ist dieser „Antipode von Mengs und Winckel-
mann“, wie ihn Fr. Winkler kürzlich bezeichnete,
auch zugleich Ubergangemensch, „vorausweisend
in das 19. Jahrhundert“ und in diesem Sinne ver-
langt denn auch Waetzoldt's schönes gehaltvolles
Buch nach einer Fortzetzung, die der Verf. in der
Darstellung eines „zweiten Lebensabschnittes der
Kunstgeschichte: Von Schnaase bis Justi“ uns in
Aussicht stellt. Hans Vollmer.
Schlußbemerkung des Herausgebers. Mit diesem 4. Bande des Jahrgangs 1922 be-
schließen die Monatshefte für Kunstwissenschaft nach fünfzehnjährigem Bestehen ihr Erscheinen
als periodische Zeitschrift. Sie finden in neuer und den gegenwärtigen Verhältnissen an-
gepaßter Form eine Fortsetzung in dem Jahrbuch für Kunstwissenschaft, das unter derLeitung
von Dr. Ernst Gall-Berlin in Verbindnng mit Heinrich Wölfflin, Max J. Friedlaender,
Wilhelm Pinder, Fr. Sarre, Adolf Feulner a. a. erstmalig im Herbst 1923 bei Klinkhardt
& Biermann in Leipzig erscheinen wird.
1922, IO—I2.
Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/Tegernsee, Post Rottach.
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissenschaft KLINKHARDT
344
& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467.
(Fortsetzung von з. Umschlagseite.)
RAIMOND van MARLE, La peinture romaine
au moyen - àge, son développement du 6ème
siecle jusqu’à la fin du aime siècle. (Etudes
de l'art de tous les pays et de tous les épo-
ques, Vol. 3.) Strasbourg, Heitz 1921.
(Ludwig Schudt) .......... . . 8.318
VICTOR CURT HABICHT, Niedersächsische
Kunst. I. Der Roland zu Bremen. II. Die
Goldene Tafel der Sankt Michaeliskirche zu
Lüneburg. Ш/ГУ. Des Ы. Bernward Kunst-
werke. VF Bremen 1922
aum . 8. 320
OSWALD SIREN, Toskanische Maler un 13. Jahr-
hundert. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin,
1922 (Wilhelm Suida)..... e. eo. 8. 321
GEORG WEISE, Die gotische Holsplastik um
Rottenburg, Horb und Hechingen. 1. Teil:
Die Bildwerke bis zur Mitte des 15. Jabrh.
(Forschungen zur Kunstgeschichte Schwabens
und des Oberrheina, 1. Heft.) 208 8., 8°,
mit 6: Abb. und Karte. Alexander Fischer,
Tübingen 192r (Wolfgang Stechow) . 8. 325
BURGER-SCHMITZ-BETH, Diedeutsche Malerei
vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der
Renaissance. 3 Bände mit 719 8., 812 Text-
abbildungen und 49 ein- oder mehrfarbigen
Tafeln. Akademische Verlagsgesellschaft Athe-
naion, Neubabelsberg b. Berlin. (Jahn), 8. 326
. SCHMARSOW, Kompositionsgesetze in der
Kunst des Mittelalters. П. (Forschungen zur
Formgeschichte der Kunst, herausgegeben von
Eugen Liithgen, Bd.3). Verlag von K. Schroeder
Bonn- Leipzig 1920 (Wackernagel) . . 8. 328
DERSELBE, Gotik in der Renaissance. Verlag
F. Enke, Stuttgart 1921 (Wackernagel) S, 328
DIE DENKWÜRDIGKEITEN des fiorentinischen
Bildhauers Lorenzo Ghiberti. Zum erstenmal
ins Deutsche übertragen von Julius Schlosser.
Berlin, Julius Bard 1920 (Rosa Schapire) 8. 329
JOSEPH BERNHART, Holbein der Jüngere.
O. C. Recht Veriag, Miinchen roas (Sascha
Schwabacher . . . 8.330
WILHELM v. BODE, Studien über Lessatds da
Vinci. Mit 73 Abb. G. Grote’sche Verlagsbuch-
hdig., Berlin (Sascha Schwabacher) . . 8. 330
MAX J. FRIEDLANDER, Pieter Bruegel, Berlin,
Propylien;Verlag, 1922 (Н. Röttinger) 8. 330
RUDOLF OLDENBOURG +, Peter Paul Rubens.
Herausgegeben von W. v. Bode. Mit 131 Ab-
bildg. Verlag R. Oldenbourg, München 1922.
(W. Friedlaender-Freiburg) .... . . . . 8.331
JOACHIM v. DERSCHAU +, Sebastiano Ricci.
Ein Beitrag zu den Anfängen dervenetianischen
Rokokomalerei. (Heidelberger kunstgeschicht-
liche Abhandlungen 6.) Winters Universitäts-
buchhandlung 1933. (W. Friedlaender-Frei-
burg). . 8. 332
WILH, LORENZEN, Gammel dansk Bygnings-
kultur. Landgaarde = Lyststeder i Barok,
Rococco se ре Kopenhagen 1920.
(Haupt) . EE . 8. 332
MAX HAUTTMANN, Geschichte der kirchlichen
Baukunst in Bayern, Schwaben und Franken
von 1550—1780. München, Verlag für prak-
tische Kunstwissenschaft, 1921. Mit 205 Tafel-
bildern u. 90 Textabb. (Adolf Feulner) 8. 333
BRUNO GRIMSCHITZ, Job. Lukas von Hilde-
brandts künstlerische Entwicklung bis zum
Jahre 1725 (Kunstgeschichtl. Einzeldarstellung.,
herausgeg. v. kunsthistor. Institut des Bundes-
denkmalamtes. Schriftleitung Dagobert Frey,
Folge der Originaldrucke, Bd. 1). 4°. 94 8.,
79 Abb. auf Tafeln, Österreich. Verlagsgesell-
schaft Ed. Hölzel & Co., Wien 1922 (Kari Gin-
hart) . e o . 8,334
KARL LOHMEYER, Die Briefe Balthasar Neu-
manns an Friedrich Karl von Schoenborn.
Gebr. Hofer, Verlagsanstalt, Saarbrücken-Ber-
lin, 1921 (F. Knapp). 8. 336
PAUL SCHUBRING, Prof. Dr., Die italienische
Plastik des Quattrocento. Handbuch der Kunst-
wissenschaft, herausgegeb. von Burger-Bruck-
mann, Akadem., Verlagsgesellschaft, Berlin-
Neubabelsberg (F. Knapp) 8.337
MARIANNE ZWEIG, Wiener Bürgermöbel aus
theresianischeru.josephinischer Zeit 1740 90
Zweite vermehrte Aufl. Mit 100 Tafeln. Wien,
Anton Schroll & Co., 1932 (M. Schuette) 8. 337
WILHELM HAUSENSTEIN, Barbaren und
Klassiker. München 1921. Verlag Piper & Co.
(Kurt Gerstenberg) 8. 338
GESSNER, Der Meister der Idylle. Ausgewählt
und eingeleitet von Paul F. Schmidt. Mit
34 Abbild. München, Deiphin-Verlag (Rosa
Schapire) 8.339
WILHELM R. VALENTINER, Georg Kolbe.
Plastik und Zeichnung. Mit 64 Abbildungen.
K. Wolff Verlag, München 1922 (P. F. Schmidt)
Seite 339
CURT GLASER, Die Graphik der Neuzeit, Vom
Anfang des 19. Jabrhund. bis zur Gegenwart.
Berlin, Bruno Cassirer, 1922 (Rosa Schapire).
Seite ‚ . . 340
FRIEDRICH H. HOFMANN, Johann Peter
Melchior 1743 — 1825, Mit 46 Bildtafeln.
München, Verlag für praktische Kunstwissen-
schaft, 1921 (Adolf Feulnor) . . 8. 340
WALTER FRIEDLAENEER, Claude Lorrain.
Berlin, Paul Cassirer, 1921 (Rosa Schapire).
Seite e 341
EIN FESTTAG am Hofe des Minos. so Stein-
zeichnungen von Fritz Krischen. Verlag
Schoetz u. Parrhysius. Berlin 1921 (A. Köster).
Seite „+. .341
KURT HIELSCHER, Das unbekannte Spanien,
Baukunst, Landschaft, Volksleben. Berlin,
Ernst Wasmutb, A.-G. (Rosa Schapire) 8. 341
EDWIN SWIFT BALCH und EUGENIA
MACFARLANE BALCH, Kunst und Mensch,
Vergleichende Kunststudien. Deutsche Ausgabe
von E. Volckmann. Verlag Gebr. Memminger,
Würzburg 1031 (A. Köster) . . . . . 8. 341
DERSELBE, Die bildenden Künste der Erde,
Deutsche Ausgabe von E. Volckmann, Verlag
Gebr. Memminger, Würzburg 1921 (A. Köster)
Seite ....... . . 341
G. RoDRNWALDO T, Der Fries des Megarons von
Mykenai. Mit 1 Farbentafel, 4 Beilagen und
30 Textabbildungen. Verlag von Maz Niemeyer.
Halle a. 8., 1921 (A. Köster) . . . 8.342
FRIEDRICH FIMMEN, Die kretisch-mykenische
Kultur, B.G.Teubner, Leipzig 1921. 236 Seiten
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u. 203 Abb. (Aug. Késter)........ 8. 342
PAUL HEIDELBACH, „Kassel“. Mit до Tafeln
(Stätten der Kultur, Bd. 31). Klinkhardt & Bier-
mann Verlag, Leipzig 1920 (J. W. Berrer) 8, 343
WILHELM WAETZOLDT, Deutsche Kunst-
historiker von Sandrart bis Rumobr. E A. See-
mann, Leipzig 1931 (Hans Vollmer) . . 8. 343
Kunstwissenschaftliche Literatur
aus dem Verlage von
KLINKHARDT & BIERMANN / LEIPZIG
Adama von Scheltema, Ober die Entwicklung der | Mundt, Die Erztaufen Norddeutschlands von der
Abendmahlsdarstellung von der byzantinischen Mosaik-
kunst bis zur niederlandischen Malerei des 17. Jahrh.
МУШ and 184 S. mit 26 Abb. auf 21 Tafeln in
Lichtdruck. 4°. Geh. М. 15.—
Badt, Andrea Solario, Sein Leben und seine Werke. Ein
Beitrag zur Kunstgeschichte der Lombardei. VIII u.
224 S. mit 42 Abb. auf 21 Taf. in Lichtdruck. 4°.
Geh. M. 20.—
Bruhns, Die Grabplastik des ehemaligen Bistums Würz-
burg während der Jahre 1480 bis 1540. Ein Beitrag
zur Geschichte der deutschen Reraissance. IN u.92S.
mit 39 Abb. auf 13 Tafeln. 4°. Goh. M. 10.—
Burger, Die Villen des Andrea Palladio. Ein Beitrag
zur Entwicklungsgeschichte d. Renaissance-Architektur.
VIl und 152 S. Mit Titelbild und 112 teils farbigen
Abbildungen auf 48 Tafeln. 40. Geh. М. 12.—
Burger's Kunstkritik. Deutsche Bearbeitung von A.
Schmarsow und B. Klemm. Band 1: Neue Bestre-
bungen der Kunstlandschaftsmalerei. Band Il: Cha-
rakter der französischen Kunst, Hauptmeister. der
Historienmalerei, Genre und Portrait, Plastik. Band
Ш: Die großen Meister: Millet, Courbet, Manet, Puvis
de Chavannes, Die Auslander.
Alle drei Bande geb. M. 15.—
Flechsig, Sachsische Bildnerei und Malerei vom { 4. Jahr-
hundert bis zur Reformation. I. Lieferung: Leipzig;
II. Lieferung: Freiberg i. S.: Ш. Lieferung: Chemnitz
und Zwickau. Mit je 40 Tafeln in Lichtdruck.
Je Lieferung M. 30.—
Freise, Pieter Lastmann, Sein Leben und seine Kunst.
Ein Beitrag zur Geschichte der holländischen Malerei im
17. Jahrhundert. (Kunstwissenschaftl. Studien, Bd.V).
УШ u. 2805. Mit 44 Abb. auf 12 Tafeln. 4°.
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Goldschmidt, Pontormo, Rosso undBronzino, Ein Ver-
such zur Geschichte der Raumdarstellung. УШ u.
56 5. mit 25 Abb. auf 11 Taf. in Lichtdruck. 4°.
Geh. М. 7.—
Hübner, Le Statue di Roma. Grundlagen für eine
Geschichte der antiken Monumente in der Renaissance.
Quellen und Sammlungen. VIII und 125 Seiten.
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Kroeber, Die Einzelportraits des Sandro Botticelli. VIII
u. 42 S. Mit 30 Abb. auf 12 Tafeln inLichtdruck. 4°.
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A.L. Mayer, Geschichte der spanischen Malerei.
УШ und 536 Seiten mit 374 Abbildungen.
Ganzleinen М. 40.—, Halbleder M. 60.—
A. L. Mayer, Die Sevillaner Malerschule. Beitrage
zu ihrer Geschichte. XII und 226 Seiten. Mit
70 Abbildungen auf 60 Tafeln. 4°. Geh. М. 20. --
Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahr-
hunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Erz-
gusses. (Kunstwissenschaftl. Stud. Bd. Ш.) VIllu.90S.
Mit 69 Abb. auf 37 Tafeln 8°. Geh. M. 9.—
von der Mülbe, Die Darstellung des jüngsten Gerichts an
den romanischen und gotischen Kirchenportalen Frank-
reichs. (Kunstwissenschaftliche Studien Bd. VI). X
u. 84 S. Mit 30 Abb. auf 15 Taf. in Lichtdrack. 8°.
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Nasse, Jacques Callot (Meister der Graphik, Bd. l.)
УШ u. 80 Seiten Text mit I Titelbild u. 104 ДЬ.
bildungen auf 50 Tafeln. Halbleinen und Halbleder.
Oldenbourg, Thomas de Kaysers Tätigkeit als
Maler. Ein Beitrag zur Geschichte der hollan-
dischen Portraits. 1Kunstwissenschaftliche Studien
Bd. VII.) 100 S. Mit 29 Abb. auf 25 Fan 8°.
eh. М. 5.—
Patzak, Die Renaissance und Barockvilla in Italien,
Bd. П. Palast und Villa in Toskana. Zweites Buch.
Geh. M. 40.—
— Ва. Ш, Die Villa Imperiale in Pesaro.
Geheftet M. 32.—, Ganzpergament M. 50.—
Preibisz, Martin van Heemskerck. Ein Beitrag zur
Geschichte des Romanismus in der niederlandischen
Malerei des 16. Jahrhunderts. VIII u. 112 S. Mit
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Simon, Gottlieb Schick. Ein Beitrag zur Geschichte
der deutschen Malerei um 1800. УШ und 256 S.
Mit 67 Abb. auf 19 Tafeln in Lichtdruck. 4°.
Geh. M. 20.—
Sirén, Giottino und seine Stellung in der gleich-
zeitigen florentinischen Malerei. VII und 108 S.
Mit 35 Abb. auf 26 Tafeln. 4°, Geh. M. 9. —
Stübel, Christian Ludwig von Hagedorn, Ein Diplo-
mat und Sammler des 18. Jahrhunderts, IV u. 252 S.
Mit Titelbild. 8°. Geh. М. 6.—
Vogel, Bramante und Raffael. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der Renaissance. VI und 114 S. Mit
8 Abb. auf 6 Tafeln. 4°. Geh. M. 5.—
Zimmermann, Niederländische Bilder des XVII.
Jahrhunderts in der Sammlung Hölscher - Stumpf.
(Kunstwissenschaftliche Stadien Bd. П.) 64 S. Mit
30 Abb. auf 27 Tafeln. 8°. Geh. M. 14.—
Zucker, Raumdarstellung und Bildarchitekturen im
Florentiner Quattrocento. ГУ und 170 S. Mit 41 Abb.
auf 12 Tafeln in Lichtdrack. 4°. Geh. М. 14.—
Zwanziger, Dosso Dossi. Mit besonderer Berücksich-
tigung seines künstlerischen Verhaltnisses zu seinem
Bruder Battista. УШ und 122 Seiten. Mit 20 Abb.
auf 20 Tafeln in Lichtdruck. 4°. Geh. M. 12.—
Die angegebenen Preise sind Grundpreise, die mit der in jeder Buchhandlung zu erfragenden Schlüsselzahl
zu multiplizieren sind.
Buchdruckerei von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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4 та
Digitized y Google
Digitized by Google
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