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Full text of "Monatshefte für Kunstwissenschaft 14.1921-15.1922"

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MONATSHEFTE 


FÜR 


KUNSTWISSENSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN VON 
PROF. DR. G. BIERMANN 


1921 


VERLAG KLINKHARDT & BIERMANN + LEIPZIG 


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Alle Rechte vorbehalten. 


Buchdruckerei Jullus Klinlchardt, Leipzig. 


ABHANDLUNGEN sense 


Band I: Seite 
Gall, Ernst, Die Apostelreliefs im Mailänder Dom ee > 1— 13 
Brinek mann, A. E., Die geschichtliche Anlage der Beete Städte oe e 14— 28 
v. Manteuffel, К. Zoege, Bilder lämischer Meister in der Galerie der Uffizien su Florenz 29— 49 
West, Robert, Konrad Asper . be, op ee Er бул ЖА SS eG eG eS 50— 55 
Simon, Karl, Johannes Vest v. Creussen in Frankfurt a M.. . , §6— 69 
Göbel, H., Heinrich von der Hohenmuel, Hugo vom Thale und ee Bombeck, Wirker 

im Dienste Johann Friedrichs des Großmütigen Su . Jo 96 
Tarrach, Antonie, Studien über die Bedeutung Carl Friedrich von Beete für Ge- 

schichte und Methode der Kunstwissenschaft ........... 97—138 

Вапа П: 

Glück-Wien, Heinrich, Das kunstgeographische Bild Europas am Ende des Mittelalters 

und die Grundlagen der Renaissance . . . . . . . 161—178 
Poglayen-Neuwall, Stephan, Ein heidnisches Elfenbeinrelief des Triestiner Museo 

di Storia et Arte im Spiegel der spätantiken Kunst Agypten 174—180 
Höhn, Heinrich, Graphische Blätter des 15. Jahrhunderts aus der Stadtbibliothek su 

Windsheim in Franken А 4 . . 181—187 
Panofsky,Erwin, Die Entwicklung дё. Droponionalähre als Abbild der Stilentwicklung 188—3219 
Weil, Ernst, Eine frühe Porträtzeichnung Dürers . . . Р ; . . 280—3222 
Feulner, Adolf, Johann Michael Fischer, ein bürgerlicher EE ae attert 

(1691—1766) . . . .. . ees Jay. AR š er er u wë ды SN 223— 231 
Nasse, Hermann, Johann Mathias Kager, der DEE von Караа (geb. 1575, 

gest. 1634), als Zeichner e o e o o o o > o > > 232—238 
v. Sydow, Eckart, Karl Friedrich Schinkel als 13 e.. o o > > > 230—258 
Junius, Wilh., Die erzgebirgische Künstlerfamilie Krodel . ll : 253—261 


Вапа І: Seite 
Gümbel, Alb., Das Todesjahr der Dorothea Vischerin . . . ......-.+ 139 
Band II: 
Habicht, V. C., Zur deutschen Malerei um 1500 . è e ©. . > 268 
Simon, Karl, Die erste Besprechung der Cornelius- Zeichnungen zum Faust С 5 266 


Cornell, Henrik, Sigtuna och Gamla Uppsala- 
Ein Beitrag zur Kenntnis der englisch. 
schwedischen Beziehungen im 1x. Jahrh 


Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. 
Herausg. von Ulrich Thieme. ХШ. Band. 
Gaab—Gibus (Hans W. Singer), S. 149. 


Baum, Julius, Baukunst und dekorative Plastik 
der Frührenaissance in Italien (Paul Zucker), 
8. 277. 

Behrendt, Walter Curt, Der Kampf um den 
Stil im Kunstgewerbe und in der Archi- 
tektur (J. Strzygowski), S. 286. 

Bibliotheca d’arte, diretta da Armando Ferri 
e Mario Recchi (Ludwig Schudt), S. 291. 

Burger, Fritz, Weltanschauungsprobleme und 
Lebenssysteme in der Kunst der Vergangen- 
beit (Sascha Schwabacher), 8, 283. 


(J. Strzygowski), S. 269. 

Diez, Ernst — Heinrich Glück, Alt-Konstan- 
tinopel, 111 photogr. Aufnahmen der Stadt 
und ihrer Bau- und Kunstdenkmäler (Karl 
Ginhart), 8, 143. 

Eberlein, Kurt K., Deutsche Maler der Romantik 
(Paul F. Schmidt), S. 282. 

Fischer, Otto, Chinesische Landschaftsmalerei 
(H. Kunike), S. 287. 

Flury, S., Islamische Schriftbänder (E. Kühnel), 
8. 270. 


Glick, Heinrich, Das Hebdomon und seine 
Reste in Makriköi. Untersuchungen zur 
Baukunst und Plastik von Konstantinopel, 
Wien, Österreich (Josef Strzygowski), S. 141. 


Graber, Hans, Piero della Francesca. Achtzig 
Tafeln mit einführendem Text (G. Bier- 
mann), 8. 288. 


Grautoff, Otto, Französische Malerei seit 1914 
(Paul F. Schmidt), 8. 290. 


Groner, A., Die Geheimnisse des Isenheimer 
Altars in Colmar (M. Escherich), 8. 150. 


Hausenstein, Wilhelm, Vom Geist des Barock 
(Paul F. Schmidt), 8. 147. 


Hildebrandt, Hans, Wandmalerei. Ihr Wesen 
und ihre Gesetze (Paul F. Schmidt), S. 279. 


Kahn, Rosy, Die Graphik des Lukas van Leyden. 
Studien sur Entwicklungsgeschichte der 
hollindischen Kunst im 16. Jahrh. (Sascha 
Schwabacher), 8. 150. 


Kippers, Paul Erich, Der Kubismus (Alfred 
Kuhn), S. 289. 

Lorenzen, Wilhelm, De Danske Dominikaner- 
klostres Bygninghistorie (R. Haupt), 8. 269. 

Marc, Franz, Briefe, Aufzeichnungen und Apho- 
rismen (S. Schwabacher), S. 292. 


Neuburger, Albert, Die Technik des Altertums 
(Aug. Köster), S. 291. 

Orbaan, J. A. F., Documenti sul barocco in Roma 
(Ludwig Schudt), 8. 283. 


Pagenstecher,R., Nekropolis. Untersuchungen 
über Gestalt und Entwicklung der alexan- 
drinischen Grabanlagen und ihrer Malereien 
(Edmund Weigand), 8. 151). 

Pelka, Otto, Elfenbein. (Bibliothek für Kunst- 
und Antiquitätensammler. Bd. 17) (R. Berliner), 
8.154. 

Reichhold, Karl, Skizzenbuch griechischer 
Meister. Ein Einblick in das griechische 
Kunststudium auf Grund der Vasenbilder 
(Aug. Köster), S. 144. 


Rembrandts sämtliche Radierungen in getreuen 
Nachbildungen (Hans Friedeberger), S. 276. 


Röthlisberger, Bianca, Die Architektur d. Gral- 
tempels im jüngeren Fiturel (P. Wolf), 8.148. 


Rydbeck, Otto, Den äldsta kristna Konsten i 
Skone Lund och Dalby. Lund 1920. (Zweite 
Veröffentlichung des Vereins Alt- Lund) 
(Rich. Haupt), S. 153. 

v. Schlosser, Julius, Materialien zur Quellen- 
kunde der Kunstgeschichte (E. Steinmann), 
8. 273. 


Schramm, A., Der Bilderschmuck der Frühdrucke 
(Ernst Weil), 8. 271. 


v. Seidlitz, Woldemar, Die Kunst in Dresden 
vom Mittelalter bis sur Neuzeit (W. Junius), 
S. 280. 


Seliger, M., Kunstbetrachtung und Naturgenuß 
(Sascha Schwabacher). 8. 282. 


Seunig, Vinzenz, Die kretisch - mykenische 
Kultur (Aug. Köster), S. 290, 


Stoehr, August, Deutsche Fayencen und deut- 
sches Steingut (Georg Biermann), 8. 151. 


Sveriges Kyrkor, Konsthistorikt Inventarium 
utg. av Sig. Curman och Johnny Rooeval. 
Dalarne I, 2: Falce Domsagas Norra Tingal, 
bearbet av Gerda Boethius (Rich. Haupt), 
S. 142. 


v. Sybel, L., Frühchristliche Kunst. Leitfaden 
ihrer Entwicklung (Edmund Weigand), 8.145. 


Tagebuch des Herrn von Chantelou über die 
Reise des Cavaliere Bernini nach Frank- 
reich. Deutsche Bearbeitung von Hans Rose 
(Rosa Schapire), S. 147. 


Thordeman, Bengt, „Alsnö Hus“. Ein schwe- 
discher Palast des Mittelalters in seinem 
kunst-histor. Zusammenhang (Strsygowski), 
8. 286. 

Valentiner, Wilhelm R., Zeiten der Kunst 
und der Religion (Willi Wolfradt), 8. 146. 


With, Karl, Java, brahmanische, buddhistische 
und eigenlebige Architektur und Plastik 
auf Java (H. Glück), 8. 274. 


Neue Bücher 8.157, 294. 


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MONATSHEFTE 
FÜR 


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| XIV. JAHRGANG - BAND І. APRIL 1921 
| VERLAG KLINKHARDT&BIERMANN-LEIPZIG 


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Monatshefte fur Kunstwissenschaft 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN 
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG 
Preis des Bandes Mark 100.— 


INHALTSVERZEICHNIS BAND I 


ABHANDLUNGEN 


ERNST GALL, Die Apostelreliefs im 
Mailänder Dom. Ein Beitrag zur Ge- 
schichte der oberitalienischen und 
provenzalischen Plastik im XII, Jahr- 
hundert. Mit ro Abbild. auf 4 Tafeln 
in Lichtdruck S. ı 


A. E. BRINCKMANN, Die geschichtliche 
Anlage der deutschen Städte S. 14 


K. ZOEGE v. MANTEUFFEL, Bilder 
flämischer Meister in der Galerie der 
Uffizien zu Florenz. Mit 14 Abbild. 
auf 5 Tafeln in Lichtdruck.. S. 29 


ROBERT WEST, Konrad Asper. Mit 
4 Abbild. auf 2 Tafeln . 8. 50 


KARL SIMON, Johannes Vestv.Creussen 
in Frankfurt a. M. Mit4 Tafeln. S. 56 


H. GÖBEL, Heinrich von der Hohen- 
muel, Hugo vom Thale und Seger 
Bombeck, Wirker im Dienste Johann 
Friedrichs des Großmütigen. Ein Bei- 
trag zur Geschichte der Bildteppich- 
manufakturen Torgau und Weimar. 
Mit 4 Abbild. auf 2 Tafeln in Licht- 
druck S. 70 


ANTONIE TARRACH, Studien über 
die Bedeutung Carl Friedrich v. Ru- 
mohrs für Geschichte und Methode 
der Kunstwissenschaft. Mit 4 Abbild. 
auf x Tafel in Lichtdruck... S. 97 


MISZELLEN 


ALB. GUMBEL, Das Todesjahr der 
Dorothea Vischerin S. 139 


REZENSIONEN 


Heinrich Glück, Das Hebdomon und seine 
Reste in Makriköi. Untersuchungen zur Bau- 
kunst und Plastik von „ Wien, 
Österreich (Josef Strsygowski) .... 8. 141 


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Sveriges Kyrkor, Konsthistoriskt Inventarium 
. Curman och Johany Rooeval. 
: Domsagas Norra Tingel. 
bearbet av Gerda Boethius (Rich. Haupt) 8. 142 
Ernst Diez-Heinrich Glick, Alt-Konstanti- 
nopel. Ш photographische Aufnahmen der Stadt 
und ihrer Bau- und 


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Karl Reichhold, Skizsenbuch griechischer 
Meister, Ein Einblick in das ische 
Kunststudium auf Grund der Vasenbilder (Aug. 
Köster) S. 144 


L. v. Sybel, Frühchristliche Kunst. Leitfaden 
ihrer Entwicklung (Edmund Weigand) 8. 145 


Wilhelm R. Valentiner, Zeiten der Kunst 
und der Religion (Willi Wolfradt) . 8. 146 


Wilhelm Hausenstein, Vom Geist des Ba- 
rock (Paul F. Schmidt) 8. 147 


Tagebuch des Herrn von Chantelou über die 
Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich, 
Deutsche Bearbeitung von Hans Rose (Rosa 
Schapire r.. 8. 147 


Bianca Röthlisberger. Die Architektur d. Gral - 
tempels im Jüngeren Titurel (P. Wolf) 8. 148 


Allgemeines Lexikon d. bildenden Künst- 
ler. Herausgeg. von Ulrich Thieme. XIII. 
Band: Gaab—Gibus (Hans W. Singer) 8. 149 


A. Groner, Die Geheimnisse des Isenheimer Alta- 
res in Colmar (М. Escherisch) .... 8. 150 


Rosy Kahn. Die Graphik des Lucas van Ley- 
den. Studien zur Entwicklungsgeschichte der 
holländischen Kunst im 16. Jahrhundert (Sascha 
Schwabacher 8. 130 


Ам чон Stoehr, Deutsche Fayencen und deut- 
sches Steingut (Georg Biermann) . 8.15 


R. Pagenstecher, Nekropolis. Untersuchungen 
über Gestalt und Entwicklung der alexandri- 
nischen Grabanlagen und ihrer Malereien 
(Edmund Weigand) . 8. 15:1 


Otto Rydbeck, Den äldsta kristna Konsten i 
Skone, Lund och Dalby. Lund 1920 Ia Ver- 
Sffentlichung des Vereins Alt-Lund] (Rich, 
Haupt) S. 153 

Otto Pelka, Elfenbein. [Bibliothek für Kunst- u, 
Antiquititensammler, Bd. 17 (R. Berliner) 8. 154 


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DIE APOSTELRELIEFS м MAILANDER DOM 


EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER OBERITALIENISCHEN 
UND PROVENZALISCHEN PLASTIK IM XII. JAHRHUNDERT 


Mit sehn Abbildungen auf vier Tafeln (I—IV) in Lichtdruck Von ERNST GALL 


m nördlichen Seitenschiff des Domes zu Mailand befinden sich in paarweiser An- 

ordnung die hier abgebildeten vier Reliefs aus rotem Veroneser Marmor mit 
je zwei Aposteln (Abb. 1 u. 2)'). Sie sind bisher kunstgeschichtlich kaum einer 
ernsthaften Beachtung gewürdigt worden, obwohl sie unter den nur spärlich er- 
haltenen Resten der Mailänder Plastik aus frühmittelalterlicher Zeit die bedeut- 
samsten Stücke sind’). An dem Platze, den sie jetzt einnehmen, wurden sie erst 
im Jahre 1852 paarweise eingemauert, nachdem sie, wie Mailänder Historiker be- 
richten®), bei der Zerstörung eines alten Hauses auf dem Terrain des ehemaligen 
Campo santo der Kathedrale aufgefunden worden waren. Zwei weitere Platten 
mit den übrigen vier Aposteln sind höchstwahrscheinlich verlorengegangen. 

Solange andere Zeugnisse nicht vorhanden sind, müssen wir zunächst annehmen, 
daß diese Reliefs aus dem alten Dome stammen, der nach der Zerstörung Mai- 
lands durch Friedrich Barbarossa in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts 
wiederhergestellt wurde‘) und 1386 dem jetzigen Gebäude weichen mußte. Wir 
dürfen auch vermuten, daß Reliefs dieser Größe und aus diesem wertvollen Ma- 
terial unter den Ausstattungsstücken der alten Kirche einen hervorragenden Platz 


(1) Die Reliefs befinden sich an der Außenmauer im zweiten Joch. jedes Relief mißt etwa 1,39 m 
in der Breite und 1,84 m in der Höhe. Von den Aposteln ist Petrus (Nr. 8) auf dem vierten Relief 
(Abb. 2) obne weiteres an den Schlüsseln erkenntlich, Jacobus Maior (Nr. 1) ist durch seine Pilgerschuhe 
charakterisiert. Auf dem dritten Relief (Abb. 2) sind Judas Thaddaeus (Nr. 5) und Jacobus Minor 
(Nr. 6) durch Inschriften beseichnet. Die Inschriften sind rein theologischen Inhalts und ohne kunst- 
geschichtliches Interesse. Auf der ersten Tafel steht unten: HOS DEUS ELEGIT : PER QUOS 
MUNDANA SUREGIT. Auf der dritten Tafel steht oben über Judas Thaddaeus in zwei Zeilen: 
CORDIS ID EST CULTOR - ES || CORCULUS АТО TADEUS. Ebenso über Jacobus Minor: ALPHEI 
IACOBUS EST SUPLAI|| TATOR ALUMNUS, Unter ihnen steht: TO FRATRES FIDEI COMPAGE 
SODALES. — Da die Beleuchtung im Mailänder Dom gerade an dieser Stelle eine sehr ungünstige 
ist, mußten die Aufnahmen unter Anwendung von Blitzlicht gemacht werden, wodurch schwere 
Schlagschatten leider unvermeidlich waren. Die Anfertigung übernahm in meinem Auftrage Cav. Gigi 
Bassani, Milano, Via Passarella 20. (Januar 1914.) 

(2) Von den zahlreichen Arbeiten über den Mailänder Dom beschäftigt sich mit unseren Reliefs aus- 
führlicher, wenn auch völlig kritiklos, nur die Publikation des Camillo Boito, Il Duomo di Milano, 
Milano 1889. (Abbildung des dritten und vierten Reliefs auf Taf. 38.) Siehe ferner Carlo Romussi, 
Milano ne’ suoi monumenti, Milano 1875. Abbildungen auch bei Woese, Die Bamberger Dom- 
skulpturen. a. Auflage. Straßburg 1914, Tafel 27. Auffällig ist das Fehlen eines Hinweises auf 
unsere Reliefs bei A, Venturi, Storia dell' arte italiana und bei Vöge, Der provenzalische Einfluß in 
Italien und das Datum des Arler Porticus im Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. XXV, 1903, 
Seite 409 ff. Dagegen kurze Erwähnung bei J. Burckhardt, Der Cicerone, 9. Auflage, Leipzig 1904, 
Teil П, 2, Seite 376, mit der nicht quellenmäßig nachweisbaren und auch als fraglich bezeichneten 
Datierung auf 1173. Unverständlich ist die Behauptung bei M. G. Zimmermann, Oberitalische Plastik, 
Leipzig 1897, Seite 197; womit die Reliefs „aus dem Ende des 13. oder gar erst dem Anfang des 
14. Jahrhunderts“ stammen sollen. 

(3) C. Romussi, D Duomo di Milano. Mailand 1908, Seite 104 (auch kleine Abbildung). 

(4) Galvaneus Fiamma, Chronicon Maius ed. Ant. Ceruti, Miscellanea di storia italiana edita per cura 
della regia deputazione di storia patria. VII, 1869, Seite 715. 


Monatshefte fiir Kunstwissenschaft, Bd. I. 1921. 1 I 


einnahmen. Es erscheint danach gerechtfertigt, sie mit einer Notiz in Verbindung 
zu bringen, die sich in der Mailänder Chronik des Galvaneus Flamma findet. Dieser, 
aus einer alten Mailänder Familie gebürtig, Predigermönch von St. Eustorgio und 
Professor der Theologie an der Universität von Pavia, kommt in seinem im An- 
fang des 14. Jahrhunderts abgefaßten „Chronicon extravagans de antiquitatibus 
Mediolani“ nach einer kurzen Erwähnung der Domkirche, deren prachtvollen Turm- 
bau er rühmend hervorhebt, sofort auf die „mirabiles ymagines ex marmore rubeo 
XII apostolorum“ zu sprechen und gibt an, sie seien eine Stiftung des Papstes 
Urban III., der aus der vornehmen Mailänder Familie der Crivelli stammte und 
kurze Zeit (1185—87) Erzbischof von Mailand war, bevor er auf den päpstlichen 
Stuhl berufen wurde (gest. 1187) 1). Die genannte kurze Beschreibung würde auf 
unsere Reliefs sehr gut passen, wir dürfen sie daher wohl unbedenklich mit denen 
identifizieren, die Galvaneus Flamma um 1300 im alten Mailänder Dom sah, zumal 
sie offensichtlich Arbeiten des späteren 12. Jahrhunderts sind. 

Wo haben sie sich aber ursprünglich befunden? Derselbe Chronist gibt uns in 
seinem ,,Chronicon Maius“ nähere Auskunft, er sagt, sie seien „in circuitu chori“ 
zu sehen gewesen"). Das ist zunächst wenig befriedigend, denn dieser Ausdruck, 
der für den Schreiber sicher durchaus eindeutig war, ist für uns reichlich un- 
bestimmt, da wir von der Baulichkeit des alten Chores und seiner liturgischen Ein- 
richtung nichts wissen. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die mittelalterlichen 
Schriftsteller stets „chorus“ und „absis“ unterscheiden“). Der , Chorus“ ist der für 
die Geistlichkeit der Kathedrale bestimmte und vom Laienschiff abgeschlossene 
Raum, Hier haben sich also auch unsere Reliefs befunden. Aber was heißt „in 
circuitu“? Dieses Wort hat eine ganz allgemeine Bedeutung, man darf dabei zu- 
nächst weder an eine bestimmte Form, noch an einen bestimmten Platz denken. 
Der moderne Leser wird vielleicht geneigt sein, sich einen „Chorumgang“ vor- 
zustellen. Hieran darf bestimmt nicht gedacht werden, die Mailänder Architektur 
des 12. Jahrhunderts kannte die französische Form des Chorumgangs noch nicht. 
Auch verbinden die mittelalterlichen Quellen diesen Sinn nur ausnahmsweise mit 
jenem Ausdruck und dann nur, sofern sie eine nähere Beschreibung hinzuftigen. 
So sagt Gervasius von Canterbury, wenn er die auf kreisföürmigem Grundriß an- 
geordneten Säulen der Apsis in der Kathedrale von Canterbury beschreiben will, 
nicht etwa „in circuitu erant positi“, sondern „in circuitu erant ad circinum positi“, 
da „in circuitu“ ganz unbestimmte Vorstellungen erwecken würde“). Den eigent- 
lichen Chorumgang aber bezeichnet Gervasius mit „via quae extra chorum est“, 
wobei man wieder beachten wolle, daß eben „chorus“ stets nur der für die Geist- 
lichkeit bestimmte Raum ist, in diesem Falle also das Hauptschiff des Chores nach 
unserem Sprachgebrauch. Weit allgemeiner ist schon der Ausdruck „in circuitu 
extra chorum“, wobei sich erst aus dem Zusammenhang ergibt, daß der Chor- 
umgang gemeint ist’). Wie schon bemerkt ist diese Stelle bei Gervasius eine 
Ausnahme, in der Regel heißt „in circuitu“ etwa soviel wie „an der äußeren 


(1) Galvaneus Fiamma, Chronicon extravagans. ed. Ant, Ceruti, a. a. O., Seite 483. 

(2) ed. Ant. Ceruti, a. a. O., Seite 729. 

(3) Dieser Unterschied wird in den „Gesta abbatum Trudonensium“ ausdrücklich erläutert. cf. J. von 
Schlosser, Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters. Wien 1896, Seite 243. 
Mir sind Verwechslungen bei mittelalterlichen Schriftstellern nicht begegnet. С. Boito, а. а. О., dachte 
sich die Reliefs an den Wänden der Apsis. 

(4) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 258. 

(5) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 264. 


2 


Barnit 
l-23 -S1 
1102. . 
Grenze“, „am Rande“, Im Liber pontificalis?) wird z. В. eine seidene Albe be- 
schrieben, die „in circuitu“ mit purpurnen Borten geschmückt ist oder ein Altar 
hat Vorhänge „in circuitu“. Auf dem Monte Cassino*) wird das Kloster „in cir- 
cuitu“ mit Mauern und Türmen versehen. Es ließen sich unzählige Stellen dieser 
Art anführen. Wir können also aus der Notiz des Galvaneus Flamma zunächst 
nur schließen, daß die Apostelreliefs zur Ausstattung des Chores der alten Kathe- 
drale gehörten. Es liegt nun nahe, an das Vorhandensein von Chorschranken zu 
denken, zu deren Schmuck die Apostelreliefs dienten. In diesem Sinne wäre der 
Gebrauch der Worte „in circuitu chori mit Sicherheit auch sonst zu belegen. In 
dem Chronicon monasterii Casinensis) heißt es von Lettner und Chorschranken: 
„Frontem quoque chori, quem in medio basilicae statuit, IV magnis marmoreis 
tabulis sepsit; de quibus porfiretica una, viridis altera, reliquae II ac ceterae omnes 
in chori circuitu candidae.“ Wir dürfen also vermuten, daß uns in den Mailänder 
Apostelreliefs Reste der Dekoration eines größeren Lettnereinbaus erhalten ge- 
blieben sind. Zur Bestätigung dieser Ansicht läßt sich noch eine andere Quelle 
anführen. Im „Manipulus forum“ wird uns nämlich von Galvaneus Flamma er- 
zählt, daß Hubert von Crivelli, der nachmalige Papst Urban III. „pulpitum eccle- 
siae Majoris ex rubeo marmore construxit, ipsamque ecclesiam marmoreis imagi- 
nibus Leonculis et Griphonibus multum ornavit‘). Also hier wird zunächst direkt 
von dem „pulpitum“ aus rotem Marmor gesprochen. „Pulpitum“ heißt ursprünglich 
nichts anderes als Gerüst oder Bühne. Die mittelalterlichen Schriftsteller ver- 
stehen darunter sowohl eine Kanzel wie einen Lettner. In unserem Falle dürfte 
eine isolierte Kanzel im eigentlichen Sinne nicht in Frage kommen, denn eine 
solche würde wohl im Mittelschiff gestanden haben; es ist vielmehr an einen mit 
Ambonen versehenen Lettner zu denken. Daß „pulpitum“ tatsächlich den Sinn 
von Lettner hat, mag durch folgende Stelle aus dem Traktat des Gervasius über 
die Kathedrale von Canterbury belegt werden, wo jeder Zweifel ausgeschlossen 
ist’): „Pulpitum vero turrem praedictam a navi quodammodo separabat, et ex parte 
navis in medio sui altare sanctae crucis habebat. Supra pulpitum trabes erat, per 
transversum ecclesiae posita, quae crucem grandem et duo cherubin et imagines 
sanctae Mariae et sancti Johannis apostoli sustentabat.“ Unter den oben genannten 
marmoreis imaginibus“ brauchen unsere Apostelreliefs an sich nicht verstanden 
zu werden, wir können aber annehmen, daß der Lettner auf Säulen ruhte, wie 
etwa der — allerdings stark veränderte — im Dom zu Modena, und daß die Säulen 
auf „Leonculis et Griphonibus“ standen, wie wir das in Modena heute noch sehen 
können‘). Dieses Beispiel von Modena erwähne ich absichtlich, denn hier sind 
uns noch zahlreiche Reliefs erhalten, die ganz offenbar zur Ausstattung des Lett- 
ners und seiner Kanzeln gehörten. Man mag auch an die Lettner in S. Zeno zu 
Verona und in der Kathedrale von Piacenza denken, die freilich heute ebenfalls 
nicht mehr im alten Zustand erhalten sind. Immerhin läßt sich hier noch gut die 


(1) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 86, 96. Der Liber pontificalis ist eine Quelle, in der man in vor- 
züglicher Weise den mannigfaltigen Sinn des Wortes „circuitus“ studieren kann, 

(я) Siebe Schlosser, а. a, O., Seite 197. 

(3) Siehe Schlosser, a. a. O., Seite 205/206. 

(4) ed. Muratori, Rerum Italicarum scriptores. Bd. XI, Seite 655. 

(5) Siehe Schlosser, a. a, O., Seite 256. 

(6) Über den Lettner im Dome zu Modena vergleiche Ad. Venturi, Museo civico di Modena. Un 
capitello Romanico, іп Le Gallerie Nazionali Italiane, notizie et documenti. Bd. Ш, Seite 371—379. 


3 


Grundform der oberitalienischen Lettner erkennen, die sich bühnenartig über einem 
Säulenaufbau oberhalb der Krypta erhoben und mit einer oder mehreren Kanzeln 
versehen waren. Wir vermögen also wenigstens in groben Zügen zu ermitteln, 
in welcher Art unsere Reliefs „їп circuitu chori“ angebracht waren. Mit diesem 
allgemeinen Hinweis müssen wir uns auch begnügen; weder die erhaltenen Reste, 
noch die schriftliche Überlieferung erlauben es, den alten Zustand in Einzelheiten 
zu rekonstruieren, obwohl sich die vier Platten paarweise gruppieren lassen, wenn 
man auf die Bildung der die Apostel trennenden Säulen und ihre Kapitelle achtet. 
Vielleicht ist es jedoch erlaubt, aus dem Fehlen der Inschriften auf einem Teil 
der Tafeln den Schluß zu ziehen, daß die Arbeiten vor der endgültigen Vollendung 
unterbrochen wurden; da die oben genannten Quellen aber offensichtlich von 
einem Lettner sprechen, der in allem wesentlichen fertig dagestanden hat, so 
müßte man annehmen, daß die einzeinen Tafeln erst nach einer Unterbrechung der 
Arbeiten zusammengestellt wurden. Diese Vermutung scheint, wie wir gleich 
sehen werden, durch bestimmte Quellennachrichten bestätigt zu werden. 

Die bereits genannten Quellen erwähnen, daß die Anlage des „pulpitum“ dem 
Erzbischof Hubert von Crivelli, dem späteren Papst Urban IIL zu danken sei. Von 
diesem heißt es bei Galvaneus Flamma!): „Hic factus archiepiscopus statem fecit 
in marmoribus sculpiri imagines omnium apostolorum, qui sunt in circuitu chori“; 
danach fiele die Entstehung unserer Reliefs in die Jahre 1185—87, wenn wir 
an unserer, nach den bisherigen Ausführungen doch mindestens sehr wahrschein- 
lichen Annahme festhalten, daß sie die nämlichen seien, die Galvaneus Flamma 
erwähnt. Aus stilistischen Gründen ergibt sich keine Veranlassung, hierzu Zweifel 
zu äußern: doch wird erst später näher darauf zurückzukommen sein. Vorderhand 
muß ich noch erwähnen, daß die schriftliche Überlieferung mehrdeutig sein könnte. 
Ambrogio Bosso, der am Ende des 14. Jahrhunderts — also später als Galvaneus 
Flamma — eine Chronik verfaßte, berichtet nämlich zum Jahre 1220"), daß Opran- 
dus de Busnate „praeses vegionum?) ecclesiae Mediolani“ ein pulpitum gemacht 
habe. Man braucht diese Angabe nicht für falsch zu halten, sie läßt sich meines 
Erachtens durchaus mit der von Galvaneus Flamma gegebenen Nachricht ver- 
einigen, selbst wenn es sich um das gleiche pulpitum handelt. Es ist nicht nur 
denkbar, sondern wie wir bereits beobachten konnten, sogar wahrscheinlich, daß 
Hubert während seines nur sehr kurzen Episcopates — er starb als Papst schon 
im Oktober 1187 — nicht die Vollendung des von ihm in Auftrag gegebenen 
Werkes erlebte und daß es nach seinem Tode unter Leitung des Oprandus de 
Busnate vollendet wurde. Das braucht nicht etwa im Jahre 1220 geschehen zu 
sein, denn die Notiz macht ganz den Eindruck, als sei sie einem Nekrologium der 
Kathedrale entnommen, so daß ı220 das Todesdatum des Oprandus de Busnate 
gewesen ist. Jedenfalls liegt keine Ursache vor, die mehrfachen und durchaus 
vertrauenswürdigen Angaben des Galvaneus Flamma auf Grund dieser vereinzelten 
Nachricht zu bezweifeln: sofern wir bei der stilistischen Untersuchung nicht auf 


(z) ed. Ceruti, a. a. O., Seite 729. 

(2) Siehe: ӨН antichi vescovi d'Italia dalle origini al 1300 descritti per regioni. La Lombardia, parte I. 
Milano per cura di Fedele Savio. Firenze 1913, Seite 543, und G. Giulini, Memorie della citta e 
campagna di Milano. Milano 1855, IV, Seite 30. 

(3) Über die Bedeutung dieses Ausdrucks, der scheinbar nur in Mailänder Quellen vorkommt, ver- 
gleiche man Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, VIII, Seite 26r unter „Veglones“, 
„Vegliones“. Im modernen Italienisch vecchioni. 


4 


schwerwiegende Widersprüche stoßen, müssen wir die Reliefs der Apostel als gut 
dokumentierte Arbeiten aus der Zeit des Erzbischofs Crivelli ansehen. 

Wie schon angedeutet wurde, weist der Stil der Apostelreliefs gerade auf die 
genannte Zeit hin. Die oberitalienische Plastik bietet genug vergleichbare Arbeiten 
dar, die eine Entstehung um 1220 als völlig ausgeschlossen erscheinen lassen. Ehe 
wir hierauf eingehen, wollen wir uns aber in Mailand selbst umsehen und zunächst 
diejenigen Werke zusammenstellen, die den Mailänder Lokalstil im dritten Viertel 
des 12. Jahrhunderts repräsentieren, unsern Apostelreliefs also vorangehen. 

Als sicherer Ausgangspunkt bietet sich uns die plastische Dekoration der Porta 
Romana dar, deren Reste heute im archäologischen Museum des Mailänder Kastells 
vereint sind. Nach der erhaltenen Inschrift!) wurde das Tor im Jahre 1171 er- 
richtet, die Bildhauerarbeiten führte ein gewisser Anselmus aus, der sich ruhm- 
redig Dädalus vergleicht. Dargestellt ist der Einzug der Mailänder und ihrer Ver- 
bündeten in die wiederaufgebaute Stadt. Ein besonders charakteristisches Stück 
sei hier abgebildet (Abb. 3) ). Stilistisch auf gleicher Stufe stehen die beiden 
Reliefs an S. Maria Beltrade (Abb. 4), ein kleines Tabernakel mit dem Bildnis des 
sitzenden Ambrosius im Archäologischen Museum, der Türsturz am Portal von 
S. Celso mit Szenen aus dem Leben der Heiligen Nazarus und Celsus*) und end- 
lich als Hauptstücke die Kanzelreliefs in S. Ambrogio (Abb. 5). 

Diese Arbeiten stammen nicht aus einer Werkstatt, stehen auch qualitativ nicht 
auf der gleichen Stufe, sie sind aber offenbar in einem nicht allzu eng zu be- 
messenden Zeitraum, etwa von 1150 bis 1175, entstanden. Sie zeigen uns im all- 
gemeinen den Mailänder Stil auf einer Stufe höchst unvollkommener Ausbildung. 
Die Proportionen der Körper sind ganz unrichtig wiedergegeben, die Beine sind 
meist zu kurz, die Arme zu lang, die Köpfe und Hände zu groß. Die Haltung der 
Gliedmaßen kommt über die einfachsten Grundstellungen beim Schreiten, Sitzen 
und Zufassen nicht hinaus, so daß dieselben Bewegungen immer wiederkehren. 
An die Darstellung von Verkürzungen wird nicht herangegangen. Die Einordnung 
der Figuren in den gegebenen Rahmen erfolgt nach Maßgabe des verfügbaren 
Platzes ohne erkennbare künstlerische Rücksichten. Wird einmal etwas Beson- 
deres unternommen wie bei der Tragefigur an der Ecke der Kanzel in S. Am- 
brogio (Abb. 5), der besten Arbeit der ganzen Gruppe, so geschieht dies ohne 
Kenntnis der Gelenkfunktionen und ohne Beachtung der natürlichen Bewegungs- 
möglichkeiten: Arme und Beine sind reliefmäßig aufgefaßt und in den dekorativen 
Rahmen so eingeordnet, daß eine möglichst gleichmäßige Füllung der Fläche er- 
folgt, während der Oberkörper und namentlich der Kopf ohne richtigen organischen 
Zusammenhang damit für die Ansicht“) über Eck berechnet sind. Bei allen ana- 


(х) V. Forcella, Iscrizioni delle chiese e degli altri edifici di Milano. Milano 1889—1893, Bd. X, no. 10. 
(2) Ein anderes Stück abgebildet bei Venturi, Storia dell’ arte italiana Ш, Milano 1904, Seite 209. 
Die ganzen Reliefs bei Romussi, Milano ne’ suoi monumenti. 2 ed. Bd. I. Milano 1893, Taf. 55. 
(3) Brauchbare Abbildungen bei Romussi, а. a. O., Taf. 15 und Fig. 114 auf Seite 160. 

(4) Abb. von vorne bei Venturi, a. a. O., Ш, Seite 202. Die Inschrift auf der Kanzel (,Guiielmus de 
Pomo superites hujus ecclesie hoc opus multaque alia fieri fecit“) steht mit der genannten Datierung 
scheinbar im Widerspruch, denn Wilhelm von Pomo ist 1204—1212 nachweisbar, siehe Biscaro, a, а. O., 
Bd, XXXII, Serie IV, 3, 1905, Seite 56. Aus mehreren Urkunden, die Biscaro eingehend bespricht, 
geht aber hervor, daß es nur eine Restauration war, die Wilhelm von Pomo vornahm, nachdem die 
Kanzel beim Kuppeleinsturz um 1196 beschädigt war; die noch brauchbaren Reste waren damals nach 
S. Satiro gebracht worden. Es ist auch äußerlich leicht zu sehen, daß es sich um eine Wieder- 
verwendung älterer Stücke handelte, zumal ein engerer ikonographischer Zusammenhang zwischen 
den einzelnen Darstellungen fehlt. | 


5 


tomischen Fehlern ebt in dieser Figur ein starkes Gefühl für plastische Wirkung, 
wie der Kopf vor den Schultern sitzt, ist falsch, aber voll drastischer Wucht. Nur 
bei diesem tragenden Mann ist auch der Versuch gemacht, Gewand und Körper- 
haltung in einen gewissen Zusammenhang zu bringen, die Faltenzüge am Unter- 
körper folgen dem Einsinken der Kniee und kontrastieren mit den horizontalen 
Gewandlinien des Oberkörpers; bei den tibrigen Werken aber bilden Gewand und 
Körper eine reichlich unförmliche Masse, bei der keine eingehendere Modellierung 
versucht wird: die Falten sind meist nur eingeritzt in dekorativer Absicht, ohne 
Bedacht auf das Fallen der Stoffe. Hier wird auch die Abhängigkeit von ver- 
schiedenen Vorbildern innerhalb der ganzen Gruppe deutlich: der Steinmetz, der 
die ungeschlachten Apostel des Abendmahles an der Kanzel schuf, füllt mit seinen 
doppelstegigen und stark gerundeten parallelen Faltenzügen aus der Gewöhnung 
seiner Kollegen heraus, die in einem weniger gebundenen Stile draufloshauen. 
Man hat hierin ein älteres Werk erblicken wollen, sicherlich mit Unrecht, denn 
man braucht nur die Köpfe zu betrachten, um sofort zu sehen, daß ihnen der 
völlig gleiche Typus zugrunde liegt wie allen übrigen Arbeiten, die wir hier auf- 
gezählt haben. Gerade diese Kopfbildung ist tiberaus charakteristisch und zeigt 
den engen Stilzusammenhang; immer dieselbe schmale Form mit dem festen 
runden Kinn, den starken Backenknochen und der niedrigen Stirn, auf die die 
Haare als gerade, gleichmäßige und nur flach eingeritzte Strähnen bis fast zu den 
Brauen hinabhängen. Unter einer dachförmigen, klobigen Nase wölbt sich die 
Oberlippe kräftig wie ein Wulst hervor und ähnlich fleischig ist auch die Unter- 
lippe gebildet. Rechts und links des Mundes ziehen sich sehr charakteristische 
Falten zur Nase empor. Die Augenlider beschreiben ein regelmäßiges, spitzes 
Oval, aus dem der rundliche Augapfel ausdruckslos hervorglotzt. Da die Männer 
mit besonderer Vorliebe meist ohne Bart dargestellt sind, so würe es infolge des 
völligen Mangels genauerer Charakterisierung nicht einmal möglich, Männer- und 
Frauenköpfe zu unterscheiden, böte die Tracht nicht ein Kennzeichen. 

Die verhältnismäßige Roheit der genannten Arbeiten ist um diese Zeit eigentlich 
erstaunlich, man möchte sie mit den politischen Wirren erklären, aber das würde 
doch das Wesentliche nicht treffen, da die gleichzeitige Architektur recht bedeut- 
same Leistungen in Mailand und seiner nächsten Umgebung aufzuweisen hat. Es 
ist eben als Tatsache hinzunehmen, daß das plastische Können in der ganzen Mai- 
länder Gegend nur unbedeutend war oder sich im rein Dekorativen erschöpfte. 
Verwandte gleichartige Werke sind in Como das Ostportal von S. Fedele!) und 
in Pavia die wenige Jahrzehnte älteren Arbeiten an zahlreichen Kirchen; man mag 
z. В. die Figuren im Giebelfeld des Portals von 8. Pietro in ciel d’oro (Abb. 6) 
vergleichen, es ist die gleiche Art der Behandlung, worauf wieder besonders die 
Kopfformen hinweisen. Es scheint, als habe die Plastik in Mailand und seiner 
Umgebung während langer Jahrzehnte keine besonderen Fortschritte gemacht. 

Aus dieser Schule können die Apostelreliefs unmöglich hervorgegangen sein. Ob 
ihr Meister überhaupt Mailänder war? Um das entscheiden zu können, müßten 
wir spätere Arbeiten in Mailand kennen. Es gibt deren aber nur zwei: die Stuck- 
reliefs am Ciborium von S. Ambrogio und die große Reiterfigur des Oldradus de 
Trexeno an dem Palazzo della Ragione (Piazza Mercanti). 

Die vier bekannten Stuckreliefs am Ciborium von S. Ambrogio lassen sich ohne 
besondere Schwierigkeiten ausreichend sicher datieren. Zunächst ist zu beachten, 


(1) Kleine Abbildung bei Venturi, а. а. O., Ш, Seite 39. 
6 


daß die Wölbung des Ciboriums Rippen mit einfachem, rechteckigem Profil auf- 
weist. Die gleichen Rippen zeigen die Gewölbe der Kirche. Letztere ist frühestens 
im dritten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts zu bauen begonnen: hieran sollte heute 
kein Zweifel mehr herrschen'). Da der Altaraufbau die gleichen Konstruktions- 
formen aufweist wie die Kirche, müßte er mindestens zum Neubau gehören, er 
könnte also sicher nicht vor 1140—1150 entstanden sein. Daß dies indes nicht 
möglich ist, zeigen die Dekorationsformen, namentlich die aus den großen Henkel- 
vasen aufsteigenden Ranken der äußeren Umrahmung, denn die Ornamentik der 
aus dieser Periode stammenden Vorhalle und die Dekorationen der vorhin be- 
sprochenen Kanzel beweisen, daß um die Mitte des Jahrhunderts und noch weit 
dariiber hinaus eine völlig anders geartete, weit weniger naturalistische Auffassung 
herrschte. Wir gelangen damit bereits in die Nähe der Jahrhundertwende. Nun 
wissen wir mit Sicherheit, daß zwischen 1194 und 1196 das letzte Gewölbe des 
Langhauses, und zwar gerade das, unter dem der Altar steht, einstürzte”), es liegt 
daher nicht nur nahe, sondern es ist im Zusammenhange mit den erörterten stili- 
stischen Kennzeichen nicht anders denkbar, als daß unser Ciborium erst nach 
diesem Unglücksfall errichtet wurde, also etwa um 1200, da man sich natürlich 
beeilt haben wird, den Schaden zu reparieren). 

Der Stil der figürlichen Reliefs ist bereits ein völlig anderer als in den früher 
genannten Werken. Es ist der Versuch gemacht, die Figuren innerhalb des 
Rahmens der Giebelfelder klar und anschaulich unterzubringen, sowie die großen 
Flächen in harmonischer Weise zu füllen. Überall ordnen sich die Begrenzungs- 
linien der Körper den architektonischen Gliederungen unter, so daß in sich ge- 
schlossene Gruppen entstehen, bei denen die in Vorderansicht gegebene Mittelfigur 
von zwei im Profil dargestellten Figuren symmetrisch eingefaßt wird. Selbst die 
schwierige Aufgabe, fünf Personen auf einem Felde zu vereinen, wird nicht un- 
geschickt gelöst, indem die assistierenden Heiligen die adorierenden Stifter in einer 
ikonographisch ungewöhnlichen Weise mit einem Arm umfassen, so daß die Kon- 
turierung der Körper nicht durch scharfe Knicke in dem gefügigen Zusammen- 
gehen mit den aufsteigenden Giebelseiten gestört wird. Derartige Bemühungen 
haben im Mittelalter schon etwas zu bedeuten, wie weit sie durch Vorbilder an- 
geregt sind, mag dahingestellt sein, jedenfalls sind mir ähnliche Gruppenbildungen 
aus früherer Zeit nicht bekannt. Nichtsdestoweniger sind wir von einem klaren 
Reliefstil weit entfernt, die Körper sind vor die Fläche gesetzt, nicht aus dieser 
heraus entwickelt, auch hat die Stellung einiger Köpfe und durchgehends die der 
Hände eine Unentschiedenheit der Haltung, die der klaren Führung der Umriß- 


(1) Siehe neben О. Stiehl, Der Backsteinbau romanischer Zeit, besonders in Oberitalien und Nord- 
deutschland, Leipsig 1898, Seite 4, ganz besonders Biscaro, Note e documenti Santambrosiani im 
Archivio storico lombardo, Bd. XXXI, Serie ІУ, а, 1904, Seite 302 ff. Die Rippen des Ciboriums er- 
wähnt nach Cattaneo auch Venturi, a. a. O., Bd. II, 1902, 8. 544, sagt aber noch unbegreiflicher- 
weise: „secondo la forma invalsa nelle chiese romaniche dopo il Mille“. Nachdem Cattaneo, L’archi- 
tecture en Italie du Vie au XIe sitcle, Venedig 1890, Seite 223 ff. triftige Gründe gegen die Datie- 
rung ins neunte Jahrhundert beigebracht hatte, hält Bertaux bei Michel, Histoire de l'art I, 1, Paris 1905, 
Seite 392, doch daran fest, ihm folgt auch leider G. Graf Vitathum, Die Malerei und Plastik des Mittel- 
alters in Burgere Handbuch der Kunstwissenschaft, Seite 68 f. 

(2) G. Giulini, Memorie della citta e campagna di Milano. Mailand 1855, Bd. IV, Seite 89 ff. und 
Biscaro, a. a. O., Bd. XXXI, Seite 330. 

(3) М. О. Zimmermann, Oberitalische Plastik, Leipzig 1897, Seite 172 ff. datiert bereits richtig. Venturi, 
a a. O., scheint sich ihm anzuschließen. 


7 


linien ausweicht. Das Streben nach guter kompositioneller Einordnung in den 
architektonischen Rahmen hat zu ganz unrichtigen Körperproportionen geführt, 
namentlich zu einer viel zu starken Streckung des Unterkörpers in den Beinen. 
Ganz unsicher ist auch das Stehen der Figuren gegeben und gänzlich mißlungen 
sind die Versuche, die von vorn gesehenen Füße verkürzt wiederzugeben. Zu be- 
achten sind gegenüber den älteren Werken aber doch auch im einzelnen mehrere 
recht bedeutsame Fortschritte. Auffallend sind die Bemühungen, die Körper unter 
den Gewändern zu fassen, wie das namentlich auf der rechten Seite bei den an- 
betenden Mailänder Patriziern zu bemerken ist, aber auch sonst sind die Stoffe 
den Körpern eng angelegt, besonders tritt dies auf der Vorderseite bei dem thro- 
nenden Christus an den Unterschenkeln, bei Petrus und Paulus an den Beinen 
hervor. Hier läßt sich auch die bis dahin in Mailand unbekannte Art der Gewand- 
behandlung am besten studieren. Sie ist zwar flach und ohne plastische Kraft 
in wenig vertiefter Einritzung gegeben, aber es treten doch eine Reihe von Formen 
auf, die auf ein sorgsames Studium älterer Vorbilder schließen lassen. Sehr be- 
zeichnend sind namentlich die feinen und reich bewegten Fältelungen der Gewand- 
säume, ferner die großen dachförmigen Falten der herabhängenden Mantelenden 
mit den symmetrisch angeordneten Zickzacklinien. Die Gewänder sind schichten- 
weise deutlich übereinandergelegt, die Faltenzüge überschneiden sich und es ent- 
stehen reicher bewegte Linien als es bisher üblich war. Der weiteren Belebung 
dient ein Motiv wie das Einstecken des über den Oberarm gelegten Mantels in 
die Gürtung bei dem thronenden Christus. Hier ist zwar nichts eigene Erfindung, 
alles geht auf einen älteren Typenvorrat zurück. Manches ist dann auch unver- 
standen geblieben, was besonders bei den Gestalten des Petrus und Paulus auf- 
fällig ist. Es bleibt z. B. völlig unklar, wie die Mantelenden, mit denen sie 
Schlüssel und Buch empfangen, mit dem um den Körper geschlungenen Gewand 
verbunden zu denken sind; die parallelen Horizontalfalten unter den ausgestreckten 
Armen stoßen in ganz widernatürlicher Weise gegen die vertikal herabfallenden 
Kanten der Mantelenden. Die Entlehnung der Faltenanordnung ließe sich Zug für 
Zug aus gleichartigen älteren, aber mißdeuteten Motiven ableiten. Daß aber 
solche Vorbilder einer weiter zurückliegenden Kunstübung jetzt wieder der Nach- 
eiferung zugänglich werden, beweist ein neues Ringen nach feinerer Durcharbeitung 
und größerer Beweglichkeit. Das ist dann namentlich auch den Köpfen zugute ge- 
kommen. Am sorgfältigsten ist bei dem hl. Ambrosius auf der rechten Seite und 
bei den adorierenden Mönchen auf der Rückseite verfahren, vor allem ist eine 
eingehende Modellierung des Mundes, des Nasenansatzes und des Kinns angestrebt, 
die Augenlider sind nicht mehr in schematischer Rundung geführt, die Pupille ist 
vertieft wiedergegeben. Hier ist auch eine neue beachtenswerte Fähigkeit der 
Charakterisierung anzutreffen: die Tonsur der Mönche ist richtig gesehen, der fette 
Hals, der Ansatz des Doppelkinns, die fleischigen Backen sind gut beobachtet. In 
solchen Dingen wird die Anregung durch ältere Vorbilder geringer einzuschätzen 
sein als in der Gewandbehandlung, die eigene Leistung also höher zu bewerten. 
Mit diesem Werke haben unsere Apostel keinen näheren Zusammenhang, sie 
repräsentieren aber die gleiche zeitliche Stilstufe, das ist ebenfalls deutlich. Trotz- 
dem werden wir auf Grund des Ciboriums keine nähere Einordnung versuchen 
können. Ganz ungeeignet hierzu ist auch die Reiterfigur des Oldrandus de Trexeno, 
die durch eine Inschrift auf das Jahr 1233 datiert ist. Sie könnte höchstens zeigen, 
daß die Apostelreliefs nicht erst 1220 entstanden sind, denn die freiplastische An- 
ordnung des Reiters verrät ein viel weitergehendes Können und einen erheblich 


Tafel 


Abb. 1. Mailand, Dom, nördliches Seitenschiff 


— 


Abb. 2. Apostelreliefs. Fragmente des Lettners aus dem alten Dom 


Zu: ERNST GALL, DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM 


M. f. K., Bd. 1. 1921 


Tafel : 


Abb. 4. Mailand, S. Maria Beltrade 


Abb. a Mailand, Archäol. Mus. Relief von der Porta romana 


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Abb. 5. Mailand, S. Ambrogio. Eckfigur 
an der Kanzel 


Abb. 6, Pavia, 5. Pietro in ciel d' oro. Reliefs im Giebel- 
feld des Westportals 


Zu: ERNST GALL, DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM 


M. f. K., Bd. I, 1921 


Teau & Schwab. Graohieche Kunst anstalt Drasdan 


Tafel 3 


Abb. 8. 


Reliefs vom ehemaligen Lettner 


Dom. 


Abb. 7. Modena, 


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DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM 


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Abb. 10. 


Abb. g. 


Westportal 


Arles, St. Trophime. 


Zu: ERNST GALL, DIE APOSTELRELIEFS IM MAILÄNDER DOM 


M. f. K., Bd. I. 1921 


entwickelteren Stil als ihn unsere Apostel zeigen, die noch eng und gepreßt 
zwischen den Säulen stehen. 

Wir werden also außerhalb Mailands Umschau halten müssen, denn es darf nach 
den vorangehenden Ausführungen wohl als völlig sicher gelten, daß unsere Apostel 
nicht auf dem Boden der Mailänder Kunstübung erwachsen sind. Zunächst wollen 
wir aber den Stil der Mailänder Apostel näher charakterisieren. 

Die etwa lebensgroßen Gestalten der Apostel stehen zwischen den Säulen wie 
in Nischen, die auch bei vieren von ihnen (Nr. 3, 4, 7 und 8) über den Schultern 
wirklich angedeutet sind, außerdem ist bei allen der Grund der Fläche hinter den 
Füßen vertieft worden, offenbar, um keine Verkürzungen geben zu müssen; es ist 
also ganz deutlich an freiplastische Figuren gedacht. Der zur Verfügung stehende, 
verhältnismäßig schmale Raum wird von den Aposteln vollkommen ausgefüllt, die 
gewölbten großen Nimben überschneiden sogar das Profil des oberen Abschlusses. 
Mit Ausnahme der beiden ersten am linken Flügel (Nr. ı und 2), bei denen die 
Köpfe seitwärts gewandt sind, stehen sie in einer streng frontalen Anordnung da, 
die Füße parallel nebeneinandergesetzt, die Hände vor dem Körper, den Kopf starr 
geradeaus gerichtet. Die meisten sind mit Tunika und Paenula bekleidet, nur drei 
von ihnen (Nr.3, 5 und 6) tragen über dem Untergewand einen togaartigen Mantel. 
Durchgehends ist die Раепша auf der rechten Seite hochgenommen und über die 
Schulter gelegt: man sieht aber deutlich, daß der Künstler keine rechte Vorstellung 
damit verknüpfte, denn auf den Schultern müßten die sich stauenden Stoffmassen 
viel dichter und reichlicher gebildet sein als es tatsächlich bei den meisten der 
Fall ist, eine Ausnahme bildet höchstens der vierte Apostel. Überhaupt bemerkt 
man sehr bald, daß die ganze Drapierung unserer Figuren derart angelegt ist, daß 
wenige Motive schablonenmäßig wiederholt werden. Fast Zug um Zug ist die 
Anordnung der Gewänder bei den beiden ersten Aposteln die gleiche und bei drei 
weiteren der Reihe (Nr. 4, 7 und 8) finden wir dieselben Faltenlagen mit nur un- 
bedeutenden Variationen wieder. Aufs genaueste entsprechen sich auch Judas 
Thaddeus und Jakobus Minor (Nr. 5 und 6), denen sich wieder der dritte Jünger 
eng anschließt. Dieses fortgesetzte Kopieren der gleichen Formen läßt sich in 
ähnlicher Weise bei der Bildung der Hände und Füße verfolgen. Eine größere 
Abwechslung scheint nur in den Köpfen zu herrschen, doch wird man auch hier 
bei genauerem Zusehen rasch erkennen, daß der Typenvorrat ein recht beschränkter 
ist. Die Grundform ist überall die gleiche: stark eckig und am Oberkopf leicht 
gerundet, mit vortretenden Backenknochen, langgezogenen, fleischlosen Wangen, 
niedriger Stirn und ziemlich hohem Scheitel, was allerdings in den Abbildungen 
infolge etwas zu tiefen Standpunkts nicht ganz wahrheitsgetreu herauskommen kann. 
Petrus hat die bekannten gedrehten Locken, die übrigen tragen das Haar ge- 
scheitelt in großen, breiten Strähnen, die zum Teil in rundlichen Wulsten enden 
und ganz symmetrisch verteilt sind; eine feinere Modellierung ist nur hier und da 
mit dünnen, parallelen Strichlagen versucht. Ähnlich ist mit den Bärten verfahren. 
Gleichmäßig schematisch ist auch der Mund behandelt, eine gerade Spalte zwischen 
kräftigen Lippen, von denen häufig die untere etwas stärker hervortritt. Indivi- 
duelle Merkmale fehlen nicht minder den geraden Nasen mit den flach eingebohrten, 
etwas zu kleinen Löchern, den wenig lebendigen Augen mit den leicht gerundeten 
Brauen und den vertieft gegebenen Pupillen, den Stirnen mit ihren horizontalen, 
aber leicht gewellten Runzeln und den knochigen, ziemlich rundlichen Kinnbildungen. 

Sind das die „mirabiles imagines“? Gewiß, wenn wir den richtigen Maßstab an- 
legen! Gegenüber den älteren Werken an der Porta Romana und der Kanzel von 


9 


S. Ambrogio ist der Fortschritt ein sehr bedeutsamer. Man wird hier weniger 
Nachdruck darauf legen dürfen, daß im einzelnen die Naturbeobachtung deutliche 
Fortschritte gemacht hat, wie das etwa in der Modellierung der Köpfe und be- 
sonders der Halspartien beobachtet werden kann, die viel wichtigere Tatsache ist 
das Erwachen eines neuen plastischen Gefühls und eines bis dahin unbekannten 
Sinnes für die monumentale Form. Hier ist doch endlich der Versuch gemacht, 
die Glieder eines Körpers wieder rund zu bilden, so daß man ihnen Leben und 
Festigkeit zutraut. Wie da eine Hand um ein Buch greift, zeigt, daß die Empfin- 
dung für die Tiefendimension sich deutlich zu regen beginnt. So bleibt auch ein 
kräftiges Spiel von Licht und Schatten nicht aus. Man geht wieder auf die einfache 
Grundstellung des frontal aufgebauten Körpers zurück, der fest und klar auf seinen 
Beinen ruht. War bei den Reliefs am Ciborium von S. Ambrogio in vieler Hin- 
sicht eine größere Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit der Erscheinung erstrebt, 
so geht die Absicht hier auf die Herausarbeitung der elementarsten Funktionen 
des menschlichen Körpers; in diesem Sinne ist die gleichgerichtete Stellung der 
Füße, das einfache Fassen der Hände, das klare Aufgerichtetsein der Köpfe zu ver- 
stehen. Die Genugtuung mit diesen neuen und in der gesamten älteren ober- 
italienischen Kunst bis dahin nicht gesehenen Errungenschaften war so groß, daß 
man unbedenklich das einmal Gefundene wiederholte, verbindet sich doch immer 
das Zurückgreifen auf die Urelemente plastischen Schaffens mit einer Kompositions- 
art, die einfache rhythmische Wiederholungen und Reihungen deutlich bevorzugt 
und gerade in ihnen eine Gewähr für die Gestaltung monumentaler Ausdrucks- 
formen erblickt. Das Ciborium in S. Ambrogio steht ganz ohne Zweifel auf der 
gleichen zeitlichen Stilstufe, doch repräsentiert es eine andere Richtung, die in 
viel höherem Maße retrospektiv gerichtet, aber auch mit weicherem Gefühl aus- 
gestattet ist. In den Aposteln lebt eine robustere Kraft und wir wissen, daß dieser 
zunächst die Zukunft gehörte. Aber sind hier nicht auch andere Vorbilder maß- 
gebend gewesen? Das werden wir noch zu untersuchen haben, zunächst das 
Verhältnis zu anderen gleichalterigen Werken der oberitalienischen Kunst! 

Ich mußte bereits oben, um die ursprüngliche Aufstellung unserer Tafeln zu er- 
läutern, auf die großen Reliefs im Dom zu Modena verweisen, die ebenfalls den 
Schmuck einer Lettneranlage bildeten. Diese Arbeiten hat Venturi eingehend be- 
sprochen'), ich darf hier also für die Einzelheiten auf seine Darstellung verweisen 
und kann sogleich dazu übergehen, die unverkennbaren stilistischen Zusammen- 
hänge näher zu beleuchten, die zwischen diesen Tafeln in Modena und denen in 
Mailand bestehen. Wir können uns dabei in Modena im wesentlichen auf das 
Abendmahl (Abb. 7) beschränken, außerdem sei noch die Gefangennahme Christi 
und die Pilatusszene hier wiedergegeben (Abb. 8) ). 

Besonders auffallen muß da sofort die verwandte Anordnung der Figuren inner- 
halb des verfügbaren Raumes. Die Apostel in Mailand und auf dem Abendmahl 
nehmen den ganzen Platz zwischen den oberen und unteren Begrenzungslinien ein, 
die großen, tellerfirmigen Nimben ragen noch darüber hinaus und sind in ihren 
oberen Teilen in gleicher Weise umgebogen. Den Gestalten ist keine Bewegungs- 


(1) A. Venturi, Museo civico di Modena. Un capitello Romanico. Le Gallerie Nazionali Italiane, 
notizie e documenti, Bd. Ш, Seite 271—279. Ferner Abb. bei G. Nascimbeni, П Duomo di Modena, 
Mailand 1913 („L'Italia Monumentale“) und Bertoni, Atlante storico paleographico del Duomo di 
Modena. Modena 1909. 

(2) Die Reliefs vom Lettner in Modena gehören einer Werkstatt an, man kann aber mehrere Hände 
unterscheiden; wir beschränken uns hier auf Werke des Hauptmeisters. 


Io 


freiheit gelassen, es ist eine eng gedrängte Versammlung auf dem Abendmahl und 
ebenso gepreßt stehen die Apostel in Mailand zwischen den sie trennenden Säulen, 
wenn sie auch nicht ganz so unfrei wirken wie die sitzenden Jünger in Modena, 
die noch eine ältere, befangenere Entwicklungsstufe vermuten lassen. Bei näherer 
Musterung wird dann die Verwandtschaft zwischen den Kopftypen sofort bemerk- 
bar werden. Zu dem Vergleich eignen sich von den Mailänder Aposteln namentlich 
Jakobus Maier (Nr. т) und Jakobus Minor (Nr. 6), denen man in Modena den Jako- 
bus (der zweite von links) und den Andreas (der zweite rechts neben Christus 
vom Beschauer aus) gegentiberstellen mag. Proportionierung und Modellierung 
der Köpfe verraten in allen Einzelheiten dieselbe Schulung, vor allem wären die 
niedrigen Stirnen, die hervortretenden Backenknochen, die großen Nasen mit den 
kleinen, eingebohrten Löchern, die hervorquellenden Lippen zu vergleichen. Eine 
weitere Prüfung der Köpfe zeigt die volle Übereinstimmung in der Haar- und 
Barttracht, endlich verdient die Bildung der Hülse als eine sehr beachtenswerte 
Parallele ins Auge gefaßt zu werden: die Halsgrube sowie die einzelnen Sehnen 
sind deutlich wie gekerbt herausmodelliert, was man bei anderen Arbeiten der 
Zeit nicht finden wird. Als eng zusammengehörig wird auch die Gewandbehand- 
lung empfunden werden, obwohl die Mailänder Apostel bei ihrem Verzicht auf 
kleinliche Motive und der mehr großflächigen Behandlung im Sinne eines neuen 
Gefühls für monumentale Gestaltung als weiterentwickelt angesprochen werden 
müssen. Namentlich in den Teilen unterhalb der Kniee ist das gleiche Schema der 
Drapierung leicht zu erkennen. Die Kniee sind durchgedrtickt. Am. Gelenk liegt 
der Stoff der Tunika fest auf, dann geht eine breite und flach ausgehöhlte Falte 
gerade herunter, die am Saum dachförmig mit sehr scharfen Ecken endet. Der- 
artige Faltenzüge sind gewöhnlich zu dreien angeordnet, einer über jedem Schien- 
bein, ein dritter zwischen den Beinen; so entstehen bestimmte Saummotive, die 
fortdauernd wiederholt werden. Der Mantel ist über die Tunika mit einem leichten 
Umschlag seines Randes gelegt, durchgehends in Modena, in Mailand findet man 
es noch genau so beim Jakobus Minor (Nr. 6). 

Schließlich wird auch die Art, wie die Inschriften an den Rändern angebracht 
sind und der Schriftcharakter die Zusammenhänge deutlich machen. Jedenfalls 
sind die verbindenden Fäden stark genug, um, wenn auch nicht auf den gleichen 
Meister, so doch zum mindesten auf die gleiche Werkstatt zu schließen. Die ältere 
Arbeit ist offenbar die in Modena. Es darf ja auch als sehr wahrscheinlich gelten, 
daß Urban III. seinen Auftrag an ein Atelier vergab, das bereits eine gleichartige 
Aufgabe in tüchtiger Weise gelöst und dabei seine Überlegenheit über die Mai- 
länder Kunst der Zeit dokumentiert hatte. 

Die besondere Qualität des Lettners in Modena hat bereits Vöge!) Veranlassung 
gegeben, nach bestimmten Vorbildern Umschau zu halten. Es ist ihm gelungen, 
nachzuweisen, daß diese Werkstatt unverkennbare Einfitisse aus der Provence er- 
fahren hat. Unsere Apostel in Mailand legen erneut Zeugnis davon ab und zwar 
in einer sehr deutlichen Weise. Hätte Vöge sie gekannt, so hätte er sich dieses 
Beweisstlick seiner These sicherlich nicht entgehen lassen. 

Man braucht nur die bekannten Apostel des Arler Portikus (Abb. 9 u. то) neben 
unsere Mailänder zu legen, um sofort die Zusammenhänge zu erkennen. Die ganze 
Anordnung ist sehr nahe verwandt: trotz mancher Veränderungen im einzelnen 


(z) W. Vöge, Der provenzalische Einfluß in Italien und das Datum des Arler Portikus. Repertorium 
für Kunstwissenschaft, Bd. XXV, 1902, 8. 409 ff. 


ІІ 


doch das gleiche ruhige Stehen, dieselbe enge Rahmung, sogar die Säulen und 
Kapitelle sind Vereinfachungen derer in Arles. Hinter den Aposteln in Arles sehen 
wir die halbrund geschlossenen Nischen, die wir als verblaßte Erinnerung in Mai- 
land nur noch hinter vieren der Apostel kärglich angedeutet fanden. Die Nimben 
sind in Arles genau so geformt wie in Mailand, aber man erkennt auch an der 
Fassade von St. Trophime die ursprüngliche Erfindung. In Arles tragen die Apostel 
über einer langen Tunika eine gegürtete kürzere, dartiber die Paenula, andere 
zeigen außerdem noch querlibergelegt ein Stoffstück, das schwer erklärbar ist, aber 
wohl einer mißverstandenen antiken Toga entlehnt ist. Diese komplizierte An- 
ordnung behagte dem Mailänder Künstler nicht, er vereinfachte, übernahm aber 
die Paenula, was sehr zu beachten ist, da diese an Figuren der Zeit sonst nicht 
nachweisbar ist, während sie in spätantiken Darstellungen, z. B. der Wiener Ge- 
nesis, häufig anzutreffen ist. Der Arler hat offenbar noch gute Modelle gehabt, 
denn das Hochraffen des Stofles über der rechten Schulter ist richtig wieder- 
gegeben, während der Mailänder sich hier mit einigen unwahrscheinlich mageren 
Faltenlagen begnügte und im übrigen die Paenula viel zu lang herabfallen ließ. 
Übernommen ist die hosenartige, feingefältete Beinbekleidung, die gerade noch 
unter der Tunika hervorschaut, ferner die Fältelung des Halsausschnittes am Unter- 
gewand. Die Faltenbehandlung im einzelnen zeigt, um wieviel näher die Arler 
Apostel ihren antiken Vorbildern noch stehen, es ist alles reicher und bewegter 
gegeben, während der Mailänder die vielfältig artikulierten Laute einer alten Kultur- 
sprache nur mühsam in sein noch ungelenkes Idiom übersetzte und dabei an jeder 
Vokabel stockte. Das eigene Gefühl, das er mitbrachte, ging auf eine einfachere, 
großzügigere Wirkung aus und verrät eine Sehnsucht nach einer monumentalen Ge- 
staltung, die bei der greisenhaft erstarrten Kunst der Arler wohl noch in die Lehre 
ging, aber einen eigenen Willen kannte und ohne viel Besinnen alte Formen ab- 
stieß oder vereinfachte; dabei war das Schaffen noch nicht frei genug, um nicht 
sogleich wieder in ein neues Schema zu verfallen. Charakteristisch ist dafür vor 
allem die Behandlung der unteren Gewandpartien. Die dreifachen Faltenztige mit 
den dachförmigen Säumen, von denen wir oben sprachen, lassen sich in Arles 
deutlich genug belegen, an Stelle der kraftlosen und akzentarmen Vielheit setzt 
der Mailänder eine steifere, aber auch energischere Formgebung, die als Keim 
eines neuen Stilempfindens zu deuten ist. Dafür spricht auch vornehmlich die 
Gegenüberstellung der Köpfe und Hände, bei denen die Anlehnung an das Arler 
Vorbild unverkennbar ist, wo man aber auch ein festeres Zupacken und ein kräf- 
tigeres Aufgerichtetsein spürt. Für Einzelheiten wäre noch auf die Haar- und 
Barttracht, auf die Augen- und Nasenbildung, ferner auf die durchgedriickten Kniee 
zu verweisen. 

Die Mailänder Apostel bilden also ein sehr wichtiges Glied in der Kette der 
künstlerischen Beziehungen, die Oberitalien mit der Provence verbinden; daß letz- 
tere der gebende Teil war, lehrt gerade unser Beispiel in recht anschaulicher Weise. 
Wir können auch die Frage beantworten, wann diese Einflüsse eingesetzt haben. 
Da unsere Apostel zwischen 1185 und 1187 entstanden sind, so wird als sicher 
hingestellt werden können, daß die Arbeiten in Modena 1184 bei der Weihe des 
Doms durch Lucius Ш. fertig waren. Sie können einige Jahre älter sein, aber 
groß ist die Zeitspanne kaum. Venturi hat bereits darauf hingewiesen, daß die 
frühen Arbeiten Antelamis deutlich erkennbare Zusammenhänge mit der Modeneser 
Werkstatt verraten, sie fallen in das Ende der siebziger Jahre. Die Werkstatt in 
Modena, aus der der Meister der Mailänder Apostel und sein größerer Zeitgenosse 


12 


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Antelami hervorgingen, war demnach offenbar der Träger des provencalischen Ein- 
flusses, der gegen das Ende der siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts nachweisbar 
wird. Damit gewinnen wir für die Arbeiten in der Provence ebenfalls eine aus- 
reichend sichere Datierung. Das Arler Atelier muß in der Zeit von 1175—1185 
in besonderer Blüte gestanden haben, damals ist jedenfalls der Bau der Fassade 
im Gange gewesen, denn die oberitalienischen Künstler werden nicht nur als Zu- 
schauer, sondern als Mitarbeiter dort gewesen sein. 

Robert de Lasteyrie erklärte, die Arler Fassade sei ein Werk aus der Zeit von 
1180—1190:). Diese Angabe bedarf also nur einer geringfügigen Korrektur, die 
nicht erheblich gegen die Beweisführung de Lasteyries ins Gewicht fällt, zumal 
diese auf anderer Grundlage erfolgte. Die verhältnismäßig gute Übereinstimmung 
der Resultate bleibt jedenfalls recht beachtenswert, sie ist ein Beweis dafür, daß 
die Forschung hier auf sicheren Grund gestoßen ist. 


(1) Robert de Lasteyrie, Etudes sur la sculpture francaise au moyen-äge. Fondation Eug, Piot, Mo- 
numents et Mémoires VIII, 1902, 8. 78. 


DIE GESCHICHTLICHE ANLAGE DER 
DEUTSCHEN STÄDTE vo л. E. BRINCKMANN-Rostock 


I. Die mittelalterliche Stadt. 


ie großen Völkerverschiebungen, die gegen Ausgang des vierten Jahrhunderts 
christlicher Zeitrechnung einsetzten, führten zur Zerstörung der römischen 
städtischen Zivilisation, die im Westen und Süden die germanischen Länder ein- 
schloß. Nach den Sueven, Alanen, Vandalen brachen als schlimmste Verwiister 
die Hunnen in die alten Römerstädte ein und verließen sie entvölkert, nieder- 
gebrannt und dem gänzlichen Verfall preisgegeben. Trier, das unter römischer 
Herrschaft gegen 50000 Bewohner in seinen Mauern vereint hatte, verlor bereits 
unter den Franken beträchtlich, die Zerstörung durch die Hunnen 451 machte es 
zu einem Trümmerhaufen, der eigentlich nur durch das brachliegende Baumaterial 
und durch seine kirchlichen Traditionen zur Ansiedlung wieder verlocken konnte, 
Ebenso war es Köln ergangen, das durch die Ansiedlung der verbündeten Ubier 
außerhalb, aber doch dicht um das römische Lager, eine bedeutende Stadt ge- 
wesen war. 

Angesichts solcher Zerstörungen der Städte in rascher Folge und der Vernich- 
tung einer städtischen Zivilisation erübrigt sich fast die Frage, ob das klar ent- 
wickelte, auf der Castrum-Anlage sich aufbauende System der Römerstadt von Ein- 
fluB auf die nächste Folgezeit gewesen ist. Die Frage sollte sogar eher so ge- 
stellt werden: läßt sich ein Zusammenhang zwischen fränkisch-merovingischer oder 
karolingischer und römischer Stadtsiedlung nachweisen und gelit dieser Zusammen- 
hang über örtliche Beziehungen hinaus? Neben den schon genannten Verlockungen 
zu erneuter Besiedlung mußten die von den Römern verständnisvoll gewählten 
örtlichen Verhältnisse, dann das auf diese Städte zugeschnittene Wegesystem und 
die vorhandenen Flächen von Kulturland für die Franken wertvoll bleiben. So 
finden wir auch, nach Grabungsfunden zu schließen, sehr rasch nach den ver- 
schiedenen Zerstörungen von Grund auf in dem alten Stadtgebiet oder doch in 
seiner Nähe wieder Bewohner, jedoch an Zahl weit geringer und mit anderen 
Bedürfnissen. Für sie wird der römische Stadtplan bedeutungslos, nur die Um- 
wallung behält ihren Wert. Manchmal schimmern durch diese Neubesiedlung noch 
das römische Straßenkreuz Cardo und Decumanus, vielleicht auch eine Parallel- 
straße durch, häufig wie in Trier sind auch diese verschwunden und die Straßen 
der fränkischen Siediung innerhalb der römischen Umwallung bahnen sich nach 
anderen Gesichtspunkten, etwa einer direkten Verbindung zwischen Bischofsitz und 
alter Brücke, ihren Zug. Schimmert der römische Grundriß durch, so sind hier- 
für maßgebend nur äußerliche Gründe, etwa ein besonders festes Straßenpflaster. 
Von einem wirklichen Verständnis dieser formal abgeklärten Anlage kann nicht 
mehr gesprochen werden — und damit ist die bewußt gestaltende Kunst 
des römischen Stadtbaus versunken. Auch die rechteckige Wall- und Mauer- 
befestigung der Römer entspricht nicht völlig den Forderungen der neuen Ein- 
dringlinge, sie schleift sich ab und nimmt gerundeten Umriß an. 

Nur die wenigsten der west- und süddeutschen Städte können ihren Stamm- 
baum in die Antike zurückverfolgen, die Bildung der ersten Anfänge geht für die 
meisten nicht über das achte Jahrhundert hinaus. Um diese Zeit bereitet sich ein 


14 


neuer Aufschwung der städtischen Zivilisation vor, die im Verlauf eines halben 
Jahrtausends ganz Deutschland überdecken soll. Die Keimzellen ftir diese neu- 
erstehenden Städte schaffen weltliche und geistliche Macht im befestigten Kloster 
und in der Burg. Beide gebrauchen die Hilfeleistung von Menschen, die nicht in 
direktem Verband zu ihnen stehen, beide verschaffen solchen Menschen wirt- 
schaftliche Möglichkeiten und vor allem einen gewissen Schutz. Beide haben 
Interesse, Menschen herbeizuziehen und das preußische Königswort „Menschen 
halte vor den größten Reichtum“ wird das Leitmotiv für die Anlage von Ministe- 
rialansiediungen neben den Klostermauern oder von Suburbien zu Füßen der Urbs, 
der Burg. Diese Parasitgebilde bleiben unbefestigt und zunächst auch noch ohne 
besondere rechtliche Stellung gegenüber Kloster oder Burg, es sei denn, daß man 
einem säumigen Zuzug durch besondere Versprechungen nachhalf. Man muß sich 
auch hüten, Abt und Burggraf Ideen zu unterschieben, die Ähnlichkeit mit spä- 
teren, auf echte Stadtgründungen abzielenden Absichten haben. Der Gewinn, der 
aus einer solchen Verbindung entsprang, schlug sich ziemlich einseitig an, das 
immer stärker werdende Gefühl aber, daß der Einzelmensch hilflos sei, dieses 
Gefühl, das zu geistlichen und weltlichen Verbänden führte und dem die Kirche 
ihre Haupterfolge dankte, führte dem Kern immer weitere Ansiedier zu. Noch 
zur Zeit der Ottonischen Burggriindungen wie Goßlar, Merseburg, Meißen ist die 
spätere Stadt zunächst nur ein Agglomerat, wirtschaftlich und in seinem Schutz 
ganz auf die Burg angewiesen. Die organische aber nicht planmäßige Grund- 
rißbildung der frühmittelalterlichen Stadt bringt dies auch zum Aus- 
druck, die Hauptwege wenden sich allesamt dem Kern zu, und da dieser Kern 
gewöhnlich nur einige Berührungspunkte mit der Außenwelt hatte, die Toranlagen, 
so strahlt die Siedlung fächerartig von diesen Punkten aus, 

Um die Wende des Jahrtausends beginnen diese Parasitgebilde sich 
von der engen Verbindung zu lösen. Gleichzeitig treten selbständige 
Stadtbildungen auf. Zwei Momente wirken hier bestimmend: der Markt und 
die Mauer, beide zurückzuführen auf Privilegien, die durch die Herrschaft erteilt 
wurden. Noch lange Zeit behielten auch die städtischen Märkte ihren Marktherrn, 
der bestimmte Abgaben erhob und für den geregelten Marktverkehr die Auf- 
sicht übernahm. Erst nach und nach wird der Markt für die Siedlung der Kern, 
wie wir ihn heute zu sehen gewohnt sind. Die ersten privilegierten Markt- 
plätze liegen außerhalb der Siedlung, die sich zu schwach fühlt, in ihren ein- 
fachen Verhau oder Palisadenzaun eine solche Blöße hineinzunehmen. Diese not- 
dürftige Befestigung wird in der Folgezeit durch eine feste Mauer ersetzt, die 
entweder das Parasitgebilde fest an Burg und Kloster anschließt oder es als selb- 
ständigen Organismus hinstellt. Beidemal werden zur Abrundung und in Voraus- 
sicht kiinftigen Wachstums, dann auch aus wirtschaftlichen Erwägungen — Gemiise- 
länder, Viehkoppeln bei unsicheren Zeiten — nicht unbedeutende Freiflächen in 
den Mauerring aufgenommen, wenn diese auch an einem richtigen Verhältnis 
zwischen Bewohnerzahl und Mauerlänge ihre Grenzen finden. Von der Vorstel- 
lung, daß die mittelalterliche Stadt stets eine gedrängte Fülle von Baulichkeiten 
aufweise, müssen wir uns jedenfalls freimachen. Der Marktplatz wird bei einer 
solchen Mauerbefestigung häufig schon miteingeschlossen. Regel ist dies jedoch 
nicht, wie der erste, mit der Zeil zum Teil gleichlaufende Befestigungsring von 
Frankfurt a. M. zeigt. 

Wird der Grundriß der Parasitstadt sich in den meisten Fällen deutlich ab- 
zeichnen und leicht erklären, so stoßen wir bei den selbständig aufwachsenden 


15 


Städten des 11. und 12. Jahrhunderts auf mehr Schwierigkeiten. Abgesehen von 
den örtlichen Bedingungen wird sich der Nachweis, warum eine Stadt die und 
nicht andere: Grundform zeigt, nur annähernd erbringen lassen. Immerhin lassen 
sich verschiedene Grundtypen festlegen, die einen Überblick erleichtern, wobei 
man jedoch daran festzuhalten hat, daß es sich nicht um bewußt angewandte Form- 
prinzipien handelt, sondern um gleichsam botanische Typen, im Einzelnen von ver- 
ständig denkenden Menschen ausgestaltet. 

Die wirtschaftliche und soziale Urzelle, aus der sich eine jede Siedlung, ob para- 
sitär oder selbständig bildet, ist das Haus mit seinen Nebengebäuden, bei größerer 
Ausdehnung der Hof. Hier ergibt sich eine Übereinstimmung mit dem Dorf, so- 
lange die spätere Stadt sich eben entwickelt und nicht ganz oder teilweise als 
städtisches Gemeinwesen gegründet wird, ein Fall, der später zu untersuchen 
ist. Bildungsgesetze der dörflichen Anlage treffen auch für die frühe 
Stadt zu. Das Dorf entwickelt sich aus Einzelhöfen, die mit ähnlichen Einzel- 
abständen zu einer Gruppe, also zu einem Haufen zusammengestellt sein können, 
die einen Platz, der gemeinsam ist (Anger), umschließen oder die an einer Straße 
aufgereiht sein können. Die beiden ersten Möglichkeiten, Haufen- und Anger- 
dorf, lassen leicht eine abgerundete Gesamtgestaltung herausbringen, die außen- 
stehenden Häuser können sich zu einem festen Ring zusammenschließen und dem 
Dorf nach außen Schutz verleihen. Wege können nach allen Richtungen aus- 
laufen, eine erweiterte Bebauung wird sich in die Landzwickel zwischen sie 
einfügen. Marktrecht, Mauerbau, Beleihung mit städtischem Recht: vor uns steht 
die Stadt mit radialem Grundriß, Hauptstraßen strahlen von der Mitte aus, 
ohne daß dieser Mittelpunkt ein architektonisches Schwergewicht besessen hätte, 
wie es bei der Parasitstadt der Fall ist. Manchmal ist allerdings später die Frei- 
fläche für die Errichtung eines Kirchenbaus, seltener für ein Rathaus ausgenutzt 
worden. Beispiele für solche Anlage bieten Soest und Nördlingen. 

Die erste Stadt entwickelte sich aus den sieben um den Sod gelegenen Bauern- 
höfen, immer mehr fügten sich an, bis die Stadt durch den 1184 angelegten Be- 
festigungsring zusammengeschlossen wurde. Auch diese Städte zeigen zunächst 
noch Scheu, den Verkehr ohne weiteres in sich hineinzulassen, die großen Haupt- 
straßen führen an ihnen vorbei. Dagegen bietet zur Aufnahme des Marktverkehrs 
der Anger die beste Gelegenheit, zumal in den meisten Fällen genügend breite 
Straßen gegen ihn einmünden. Neben den trichterartigen Marktplatz, der ur- 
sprünglich außerhalb der Umwallung in Fortsetzung und Erweiterung eines Sied- 
lungsweges sich entwickelte, tritt der Platz, der die vielerlei Gestalt des alten 
Dorfangers übernimmt. Baut sich auf ihm ein öffentliches Gebäude an und füllt 
sich die eine durch dasselbe abgetrennte Hälfte mit Häusern, so entsteht die 
typische Form des zwickelförmigen Platzes mitten in der Altstadt, wo das in der- 
selben Richtung auslaufende Straßenpaar sich nach einigem Verlauf vereint. 

Sehr viel seltener sind die Beispiele und wohl auch aus jüngerer Zeit, wo die 
Grundform, die wir heut bei Dörfern so häufig finden, als Grundstock einer Stadt 
gedient hat: die Aufreihung der Gehöfte an einem wichtigen Verkehrszug entlang. 
Der Fall tritt meist dann ein, wenn die örtlichen Verhältnisse keinen anderen Aus- 
weg lassen, wie in Heidelberg oder Miltenberg. Der Markt liegt dann gewöhnlich 
zu seiten der Straße, die ungewöhnliche und unvorteilhafte Länge der Mauern wie 
in Miltenberg kann nur ausgehalten werden, da der Fluß auf einer Seite die Ver- 
teidigung erleichtert. Aus der ursprünglichen Lage der Grundstücke zum Straßen- 

geht hervor, daß die Querwege, als Grundstückgrenzen geführt, annähernd 


16 


rechtwinklig auf die Hauptstraße stoßen. Aus der Wörthenanlage, der hinter 
den Häusern sich entlangziehenden Gartenzone, entwickeln sich in natürlicher 
Weise rückliegende Parallelstraßen, so daß annähernd das Schema recht- 
winkliger Straßenanlagen sich bildet, ohne daß dieses als Ziel vorgeschwebt 
hätte. Um es noch einmal zu wiederholen: die Grundrißvarianten der ältesten 
Städte stellen botanische, nicht bedachte Stadtbautypen dar. Erst die 
Folgezeit, in der Handel und Verkehr größere wirtschaftliche Bedeutung gewinnen, 
bringt die StraBensiedlung mehr in Aufnahme, Märkte an den Hauptstraßen werfen 
selbst bei Neuanlage nach einiger Zeit größeren Gewinn ab wie die in alten 
aber abgelegeneren Städten, eine Siedlung hier wuchs sich rasch zur Stadt aus — 
und wir müssen im Auge behalten, daß für den Grundherrn das Stadtgründen 
immer ein vortreffliches Geschäft gewesen ist, wenn die Gründung sich lebens- 
fühig erwies. Kreuzungen wichtiger Handelsstraßen gewinnen besonderes Interesse, 
das Straßenkreuz wird zum Gerüst der Stadt, dem sich dann mehr oder weniger 
regelmäßig die übrigen Straßen hinzuordnen. Während die Hofgruppe der dör- 
fischen Siedlung einen unregelmäßigen Umriß zeichnet, strebt das Stadthaus, be- 
sonders seit Aufkommen des Steinbaus, nach der rechteckig zugeschnittenen Par- 
zelle und fördert damit die schon durch den natürlichen Werdevorgang vorbereitete 
Klärung des Stadtgrundrisses. Aus der Fülle der Beispiele für diese Entwicklung 
seien Landshut und Neumarkt i. B., Isny und Rottweil herausgehoben. 

Seit dem 12. Jahrhundert beginnen infolge Erwerbung kommunaler Freiheiten, 
durch Anwachsen von gewerblicher Tätigkeit und Handel die Städte emporzublühen. 
Ähnlich wie vorher Kloster und Burg den Agglomerationskern bildeten, wirkt jetzt 
die geschlossene Einheit der Stadt: Vorstädte siedeln sich an oder werden von 
der ausdehnungsbedürftigen Stadt angelegt, sofort oder nach einiger Zeit in einen 
erweiterten Mauerring eingefangen. Damit aber bestimmt sich die verschiedene 
Art der Grundrißgestaltung. Es tritt auch hier von dem älteren Stadttor aus- 
gehend das Strahlen- oder Radialsystem auf, daneben die Aufreihung an 
der Hauptstraße mit allmähligem Aufschluß des Hinterlandes, indem Sack- 
gassen, dann weitergeführte Wege annähernd rechtwinklig von dieser Haupt- 
straße abzweigen. Kriegerische oder friedliche Stimmungen auch nur weniger 
Jahre finden hier ihren sichtbaren Niederschlag, die Stadt ist das empfindlichste 
Instrument für die politischen Verhältnisse. Andererseits wird durch die Stadt ein 
neu ummauertes, noch unbebautes Gebiet nach den Erfordernissen des Hausbaus 
aufgeteilt, und da vom Haus ausgehend der rechte Winkel sich am günstigsten 
erwies, so sucht man die Straßen möglichst rechtwinklig gegeneinander zu führen. 
Die Bebauung des Geländes vor der Stadt wurde vom Rat meist begtinstigt. Die 
neuen Ansiedler, die den Schutz der Stadt genossen, hatten zu den gewöhnlichen 
städtischen Lasten beizutragen, waren sogar vielfach zu Erbzinsleistungen und 
anderen Diensten verpflichtet. Da zudem verschiedene Gerechtigkeiten den Alt- 
städtern vorbehalten waren, bedeuteten die Vorstädter für diese eine wirtschaft- 
liche Stärkung. Dasselbe Prinzip macht sich hier geltend, das heut in riesig er- 
weitertem Maßstab nach Schaffung von Kolonien drängt. 

Duderstadt zerfiel in die eigentliche Stadt und in drei Vorstädte, die vor dem 
Steintor, Obertor und Westertor gelegen schon ziemlich früh bestanden haben, 
aber nicht in den Mauerring aufgenommen wurden. Selbständiger erscheint die 
Benebenstadt, um das spätere Neutor herum gelegen, die darum auch den ersten 
Anspruch erheben konnte auf volles Bürgerrecht und mit Erlaubnis des Erzbischofs 
Dietrich von Mainz 1436 zum großen Teil in einen erweiterten Mauerring auf- 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. 1. 1931. з 17 


genommen wurde, wobei eine Korrektion der Straßenführung anzunehmen ist. Die 
Kaiserpfalz Aachen nahm das Gebiet zwischen Münster und heutigem Rathaus ein. 
Parasitire Siedlungen im Strahlsystem hatten sich auf dem ebneren Gelände nach 
Osten und Süden hin angesiedelt, deutlich auf dem heutigen Stadtplan ausgezeichnet. 
Als nun dieser locus regalis unter Friedrich Barbarossa gegen 1175 mit einer 
Mauer umzogen wurde, umfaßte diese kreisférmig auch das stark abschiissige Ge- 
lände im Nordwesten, zumal die Wassergräben in der Tiefe mitbenutzt werden 
konnten. Dies Gelände wurde nun durch Straßen in rechtwinklige Parzellen zerlegt, 
die nicht gegen die alte Pfalz zusammenliefen. Im 14.Jahrhundert erhielt dann die 
Stadt einen erweiterten Mauerring, der so riesig bemessen war, daß er noch an- 
fangs des 19. Jahrhunderts große Stücke freien Landes einschloß. Die bischöfliche 
Burg von Bremen und ihre bürgerlichen Ansiedlungen erhielten schon gegen 1030 
eine gemeinsame Mauer, 1229 und 1305 erweitert sich dieser Mauerring und wieder 
werden die neu aufgenommenen Freiflächen oder doch nur ländlichen Ansied- 
lungen bei ihrem Übergang zum Stadthausbau nach bestem Können regelmäßig 
aufgeteilt. Die drei Beispiele gentigen, um zu zeigen, wie man bei neuer Er- 
weiterung aus praktischen Rücksichten zu planvoller Bebauung kommt, 
falls die Widerstände des besiedelten Geländes nicht zu starke sind. 

In diese Zeit fallen nun auch die ersten Stadtgründungen, die das natürlich ent- 
wickelte System der rechtwinkligen Straßenführungen konsequenter durch- 
führen. Eine Siedlung wird nicht mehr durch Marktgerechtigkeit und Stadt- 
recht zur Stadt erhoben, wobei dieser Prozeß sich über einen längeren Zeitraum 
ausdehnen kann, sondern alle diese Privilegbewilligungen fallen zeitlich zusammen 
und die erste, gleichzeitig erbaute Mauer schließt ganz überwiegend unbesiedeltes 
Gelände ein. Das Grundrißprinzip der annähernd rechtwinkligen Straßenführungen, 
die Führung der Hauptstraße durch den Ort oder gar die Einbeziehung einer wich- 
tigen Straßenkreuzung in seine Mauern, die das Gerüst abgaben, war schon vor- 
bereitet worden, hier gelangt es im großen zur Verwendung. Die Stadtgründungen 
der Zähringer in Baden, Freiburg 1120, Villingen zu gleicher Zeit, sind dafür erste 
Beispiele. Freistadt i. B. und Rinteln befolgen ein Jahrhundert später die gleichen 
Grundrißprinzipien. Von einer strengen Regelmäßigkeit kann immer noch nicht 
gesprochen werden, wenn auch zum größeren Teil unbebaut, war es doch meist 
Kulturland, um das es sich handelte, und dieses stelit Bedingungen, die den Stadt- 
plan geschmeidig machen müssen. Entscheidend bleibt das Verlangen nach recht- 
winkligen Baugrundstücken, denen sich das Straßennetz anpaßt. 

Dieses Straßennetz verdeutlicht nun seine Erscheinung in der Weise, daß die 
unendliche Mannigfaltigkeit der Straßenbreiten, wie sie die gewachsene Stadt zeigt, 
gleichzeitig mit dem verwirrenden Reichtum von Straßenrichtungen zurtickgeht. 
Wo die Wege sich aus verschiedensten Bedürfnissen des einstigen Hofbauern 
entwickelt hatten, so mußten sie sich begntigen mit der Fläche, die zwischen den 
einzelnen Gebäuden übrig blieb, weiteten sich platzartig, zogen sich zu schmalen 
Gängen zusammen. Hauptwege, untergeordnete Fahrwege, Abstellplätze, Wirt- 
schaftswege, Fußsteige wurden von dem späteren Stadtgrundriß übernommen. 
Gleichzeitig war für den Bauernhof mit seinem Verlangen nach rückliegendem Hof- 
und Gartenland die beste Gruppierungsform die Reihung nebeneinander an den 
Fahrstraßenzügen, so daß der Baublock in der Regel nur an zwei gegenüber- 
liegenden Seiten angebaut ist und eine langgestreckte Form erhält. Die Quer- 
straßen konnten darum schmal bleiben. Das häufige Vorkommen paralleler Straßen- 
führungen zur Hauptstraße erklärt sich zwanglos. In der geschlossenen Stadt aber, 


18 


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die nicht endlos aneinanderreihen kann und in der möglichst jeder aus den Vor- 
teilen der Straße Nutzen ziehen will, ändert sich zunächst die Bebauung des Blocks. 
Statt einer parallelen Reihenbebauung tritt die allseitige Randbebauung des Blocks 
auf und diese zwingt wieder, die allzu schmalen Quergassen zu verbreitern. Bei 
einer solchen Randbebauung tritt gegenüber der früheren Art Gleichwertigkeit der 
Seiten ein und diese hat wiederum Gleichwertigkeit der Straßenbreiten zur Folge. 
Wohl zeichnen sich stets einige Hauptverkehrsstraßen, mögen sie neu angelegt 
sein oder übernommen, durch besondere Breite aus, die Wohnstraßen nähern sich 
aber in ihren Abmessungen einem Normalmaß, das allerdings mit den verschie- 
denen Städten und Landschaften wechselt, abhängig von der besonderen Art des 
Hausbaus, 

Der Marktplatz, wie der Kirchplatz jetzt mitten in die Stadt hineingelegt, macht 
eine gleiche Entwicklung durch. Früher fast stets gestreckt, wenn nicht spätere 
Bebauung von ihm Abstriche machte, bildet er jetzt die Seitenabmessungen gleich- 
wertig aus und nähert sich über das Rechteck hinweg dem Quadrat. An ihm 
wird man zuerst den Wandel der Anschauung nachweisen können, die nicht mehr 
die Baumassen als einzig fordernde anerkennt, sondern auch Straße und Platz als 
besondere räumliche Existenzen ihre Anforderungen stellen läßt. 

Das 13. Jahrhundert ist die große Zeit der Stadtgründungen. Nicht 
allein in den schon besiedelten und unter fester Herrschaft stehenden Ländern 
tauchen sie auf, sondern gerade in die bis dahin der städtischen Besiedlung ab- 
geneigten Länder, gegen den Nordosten über die Elbe hinaus, dringen sie vor. 
Von Holstein nach Süden über die Mark bis nach Böhmen zieht sich der Streif, 
auf dem sich die verschiedensten Typen durcheinandermischen, bis sich aus ihnen 
das Siedlungsschema herausgebildet hat, das dann später fast einzig für das nord- 
östliche Viertel Deutschlands Verwendung findet, von Berlin bis nach Danzig und 
Breslau, das aber nicht nur auf diese östlichen Länder beschränkt ist, sondern 
allenthalben gleichzeitig auftaucht, eben weil dieses Schema nicht erdacht worden 
ist, weil es sich vielmehr natürlich entwickelte und die Grundforderungen nach 
bequem zu bebauenden Grundstücken erfüllte. 

Für die Lage einer Stadt kommen jetzt in erster Linie günstige Verkehrsverhält- 
nisse in Frage und zwar Landstraßen wie Wasserläufe. Der deutsche Stadtbau 
hatte nie in dem Maß wie etwa der italienische oder französische feste Berg- 
gipfel aufgesucht, jetzt wird flache Lage eine wichtige Voraussetzung. Denn nur 
sie verbürgt gute Verwendung des Schemas. Wichtig für seine Verwenduug ist 
weiter, daß bestehende Grundstückverhältnisse, ältere Siedlungen keine Bedingungen 
stellen. Sie können unbeachtet bleiben, wenn es sich wie in Nordostdeutschland 
um koloniale Stadtgründungen handelt, die sich gegen die slawischen Bewohner 
des Landes richten, selbst wenn sie nicht als kriegerisches Bollwerk angelegt 
wurden, sondern der heimische Fürst ihre Gründung begtinstigte. 

Das Element der Stadtgründung und Stadterweiterung nach vorbedachtem Plan 
ist der annähernd quadratische Baublock, wobei nicht an geschlossene Be- 
bauung gedacht werden darf. Diese Blöcke stellen sich rasterartig zusammen, 
in ihrer Mitte den Markt einschließend, der durch Offenlassung eines, zweier 
oder vier Baublöcke gebildet wird. Ebenso wird für den Kirchenbau ein Quadrat 
freigehalten. Hauptstraßenzüge machen sich kenntlich durch besondere Breite, 
im übrigen gleichen sich die Straßen in ihrem Profil. Noch aber fällt die 
Straßengrenze nicht mit der Fluchtlinie zusammen, wenn auch Überbauungen 
dieses Gemeinbesitzes nicht geduldet werden. Da zudem die abgesteckten Linien 


19 


nicht sofort mit Häusern bestellt werden, können im Verlauf leicht Ungenauig- 
keiten und Kriimmungen sich einschleichen, wenn ein besonderes Ziel den Verkehr 
ablenken läßt. Der Stadtplan bleibt also längere Zeit hindurch beweglich. Die 
Befestigung verlangt ferner, daß nach ihr als einer wesentlichen Anlage für das 
Gedeihen der Stadt diese sich in ihrem Grundriß nach der Form des Mauerrings 
und seinen Toren richtet. Da der Ring fast stets dem Kreise als ideale Verteidi- 
gungsform zustrebt, wenn er sich auch den örtlichen Verhältnissen anzupassen hat, 
so müssen sich die äußeren Blöcke eine Abschleifung gefallen lassen. Ebenso 
haben sich die Hauptstraßen nach den Toranlagen zu richten, die meist nicht 
gegenüberliegend, sondern in leichter Verschiebung der gegenseitigen Achsen an- 
gelegt werden. In solchen Fällen übernimmt dann häufig der Markt die Aufgabe, 
die Straßenversetzung durchzuführen. Endlich bleibt auch das besondere Gelände 
bestimmend für das Normalschema, das sich mit der dem gotischen Grundriß 
eigenen Beweglichkeit ihm anzupassen versteht. So machen alle diese Städte 
den Eindruck wie die Glieder einer großen Familie, ein jedes mit unterschied- 
licher Ausprägung und besonderen Begabungen. 

Bei Erweiterungen treten die uns schon bekannten Fälle ein. Entweder werden 
parasitartige Ansiedlungen vor den Mauern in einen erweiterten Mauerring auf- 
genommen, wie es Breslau tat, oder neuummauerte Freiflächen werden regelmäßig 
für die Ansiedler aufgeteilt. Der weitere Fall tritt ein, daß die neue Stadt so 
rasch emporblüht, um eine zweite Gründung neben ihr gewinnbringend zu machen. 
Dann stehen zwei Schwesterstädte, Mauer an Mauer, jede mit eigenem wirtschaft- 
lichen und kirchlichem Mittelpunkt, um erst nach längerer Zeit zu einem Gemein- 
wesen zu verschmelzen, ein Vorgang, auf den wir angesichts von Problemen wie 
Großberlin sehnsiichtig zurückblicken. Thorn, Königsberg sind aus zwei Sonder- 
städten entstanden, Rostock gar aus dreien. 

Der Marktplatz, früher vor die Umfriedigung der kleinen Siedlung geschoben, 
wird verwaltungstechnisch und wirtschaftlich der Schwerpunkt der Stadt, selbst 
die wertvollste Verkehrsstraße des Mittelalters, der Fluß, tritt hinter ihn zurück. 
Oft ist er wie in dem deutschen Pilsen von einer Größe, die Rückschlüsse auf die 
Zuversichtlichkeit machen läßt, mit der man an die Gründung ging. Zu berück- 
sichtigen ist dabei, daß er das rechtzeitig reservierte Baugelände für öffentliche 
Bauten war, das unsere Städte allzuoft in ihren Bebauungsplänen vorzusehen 
vergaßen. Fast immer erhebt sich hier gegen eine Seite verschoben das Rathaus, 
seltener eine Kirche, die für ihren Friedhof einen besonderen Platz beanspruchte. 
An den Markträndern sammeln sich nach und nach die wichtigen Gebäude der 
Stadt: Kornhaus, Zeughaus, Festsaal, Gildenhäuser und Börse. Und hier am Markt 
läßt sich auch die erste künstlerische Gestaltung, die aus dem Vielen eine Ein- 
heit schaffen möchte, nachweisen in der Einführung von zusammenhängenden 
Laubengängen um den Markt. Diese bieten gleichzeitig die Möglichkeit, die wert- 
vollen Grundstücke auszunutzen, indem man mit der Bebauung für die oberen 
Hausgeschosse in den Markt hineingreifen konnte, ohne dessen Fläche zu ver- 
kleinern. Fielen dann, wie es für Allenburg in Ostpreußen urkundlich nach- 
gewiesen ist, diese Lauben bei einem Hausneubau fort, so verengerten die nun 
auch mit dem Erdgeschoß in den Markt hineintretenden Häuser den Zugang zum 
Markt und schufen Schwierigkeiten für den einfahrenden Verkehr, die wie etwa 
in Posen für unsere Zeit sehr hinderlich werden können. Man ist mit pseudo- 
ästhetischem Entdeckerwillen auch an diese Verengungen herangetreten und hat 
aus ihnen die Absicht, den Markt räumlich geschlossen zu halten, heraussehen 


wollen. Davon kann keine Rede sein. Man hat sich sogar die ursprüngliche Be- 
bauung so niedrig und auch lückenhaft vorzustellen, daß eine Raumwirkung im 
architektonischen Sinn kaum zustande kam. 

Über die künstlerisch formalen Absichten, die in solchem Stadtplan liegen mögen, 
soll man nicht zu hoch urteilen. Er ist die ruhige und klare Form des auf das 
Praktische bedachten, aber kein Kunstwerk schaffen wollenden Menschen und 
selbst das regelmäßigste Schema, wie es in Neubrandenburg, Friedeberg oder Rügen- 
walde vorliegt, darf nur als ein sehr primitives, formales Ideals angesprochen 
werden. Und diese einfache und natürliche Form, die uns auf den ersten Blick 
gegen alles zu gehen scheint, was wir von der Gotik gelernt haben (wo doch 
dieses unregelmäßige Gruppieren meist nur die Unfähigkeit darstellt, den archi- 
tektonischen Gedanken klar zu gestalten, statt ihn unter der Fülle des Beiwerks 
ertrinken zu lassen), taucht um diese Zeit unabhängig in den verschiedensten 
Ländern auf. Frankreich, England, Spanien stellen Beispiele, die nur in einem 
voneinander abweichen, an dem auch wir das Einsetzen stadtbaulicher Formungs- 
kunst erkannt haben: der Marktanlage. 

Die gesamte Entwicklung bis hierher findet ihfe Parallele im griechischen Stadt- 
bau. Ohne darauf näher einzugehen, soll doch vermerkt werden, daß bei gleicher 
Abklärung gegen Ende des fünften Jahrhunderts weit über diese hinaus eine klinst- 
lerische Gestaltungslust einsetzte, die in Stadtanlagen wie Piräus und Priene das 
Schema ausformte und aus ihm Wirkungsmöglichkeiten herausholte, die der deutsche 
Stadtbau erst unter italienischem Einfluß erreichen sollte. 

Noch bliebe die Frage zu beantworten, wie weit schon damals Baubestimmungen 
für die äußere Erscheinung der Stadt ausschlaggebend geworden sind und über 
rein rechtliche, hygienische und polizeiliche Verordnungen hinaus ästhetische For- 
derungen stellen. Statt auf viele kleinere sei hier wenigstens auf ein größeres 
Beispiel Bezug genommen, auf das Stadtrechtbuch von 1347, das den bayrischen 
Städten von Kaiser Ludwig gegeben wurde. Neben Vorschriften über Baumaterial, 
die wohl die Erscheinung einer Stadt bestimmen, hier aber doch nur praktischer 
Überlegung entspringen, finden sich Ansätze zu einem Fluchtlinienparagraphen in 
Artikel 484: „Swer in der innern oder in der auzzern stat ainen turn inne hat, 
oder ainen gemach, oder ain hofstat auf der gemein in der strazz (d. h. dem Ge- 
meingut der Straße, ebenso wie Weiden, die Allmende), der soll den turn oder diu 
hofstat haben neur die zeit und weil, unz er den purgern an dem Rat wol gewelt 
und nicht lenger, daz ist der stat recht.“ Ergänzungen dazu geben dann gegen 
Ausgang der Gotik „Der Stat München pausätz und ordnung de a. 1489“. Artikel 17 
bestimmt: „Es sollen auch in gantzer stat alle burger und burgerin in iren krämen 
und läden inwendig fail haben, und auswendig nicht. Und solen alle ir läden in- 
wendig aushengen oder auswendig, das die an der maur flach ligen, sollen auch 
kainen pau weder mit prettern noch mit stainen für die hauszmauer pauen noch 
machen. Wellicher laden oder cram anders gepauen oder gemacht wär oder 
wurde, den oder die will man abthun; puess sechtzig pfening, als oft das von 
ainem überfarn wiert“ Uber Vorkragungen wird bestimmt in Artikel43: „ . . das 
füro kain aussladung allhie niederer dann aines gadens hoch von dem pflaster soll 
gemacht werden, und soll aines gaden höhe zwelf werchschuech haben in der 
ausseren stadt gleichwie in der inneren. Holzgalerien werden der Feuergefähr- 
lichkeit und der Einbruchsgefahr wegen an den Fassaden beschränkt, immer mehr 
also schleift sich die Straßenwandung ab und der Straßenraum arbeitet sich her- 
aus. Artikel бї verordnet, daß die Handwerker „niemandt kain althänen alhie on 


21 


sonder vorwissen aines ersamen raths weder hofgsindt, burgern noch andern nit 
machen und zurichten sollen. — Dann ain ersamer rath ist gentzlich entschlossen 
in erwegung oberzellter ursachen kain althänen mer zu vergunnen ze pauen, es 
bewilligten dann alle anstössende nachbarn darein, oder das der von aim yeden 
nachbarn die acht werchschuech herdan weich, und entzwischen desselben haus 
und seiner althan liegen liess.“ Wir werden sehen, daß diese Absicht auf Sauber- 
machen des Straßenprofils ganz konsequent in späterer Zeit durchgeführt wird. 


I. Die Renaissancestadt. 


Das rechteckige Baublocksystem der Gotik erwies sich so zweckmäßig, daß es 
für die Folgezeit ohne wesentliche Änderungen beibehalten wird. Größere oder 
kleinere Stadterweiterungen wenden es an. Als eine der bedeutendsten Stadt- 
erweiterungen schon gegen den Ausgang der Epoche sei die Turnierackervorstadt 
im Norden Stuttgarts angeführt, die unter Graf Eberhard im Barte angelegt wird. 
Das Gelände ist im Rechteckschema ohne Platzanlage „der Schnur nach“ 
aufgeteilt in 12 Schritt breite und 500 Schritt lange Gassen und schon gegen den 
Ausgang des 16. Jahrhunderts findet man, daß dieser Stadtteil die lustigsten Straßen, 
schönsten Häuser und reichsten Leute aufweist. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts 
wird neben Alt-Hanau Neu-Hanau angelegt mit einem Marktplatz in der Mitte, an 
dessen einer Längsseite eingebaut das Neustädter Rathaus steht, während sich 
die gegenüberliegende Seite in einer Straße öffnet, die mitten auf die Kirche führt, 
für die wiederum ein gleich großer Platz ausgespart ist. Die Blöcke sind an- 
nähernd quadratisch, die Straßen gleich breit. Da die Umwallung nicht mehr 
einen Ring, sondern ein Polygon bildet, sind die Blöcke neben ihr in spitzen oder 
stumpfen Winkeln verschnitten, zum Teil zu kleinen Zwickeln zusammengeschrumpft. 
Die gotische Beweglichkeit fängt an zu erstarren. Aus dem Anfang des 17. Jahr- 
hunderts stammt Mannheim. Etwas später wird um den Brückenkopf, die so- 
genannte Braut von Bremen, eine neue Stadterweiterung angelegt, die in ihrem 
Umfang annähernd der auf dem rechten Ufer der Weser liegenden Altstadt ent- 
spricht, gleichfalls unter Verwendung des rechteckigen Baublocksystems. Die 
vorher langgestreckte Stadt rundet sich damit zu einem Oval ab, das der Fluß 
mitten durchschneidet: nicht nur den Verkehr der Heerstraße hat man in den 
Mauerring hereingeführt, auch die weit schwerer zu beherrschende und schärfer 
trennende Wasserstraße ist ein Stück der Stadt geworden. Stadtkorrektionen, zu 
denen ein Niederbrand der Stadt Gelegenheit gibt, suchen gleichfalls ihre krummen 
Straßen nach diesem System gerade zu recken und legen Parallelstraßen an, um 


gleichmäßigere Blockgrößen zu erzielen. Unter diesen Gesichtspunkten entsteht 


für das 1631 niedergebrannte Magdeburg der Plan von Guericke, der parällel zur 
Elbe drei Hauptstraßen führt, die von zwei anderen zum Strome führenden an- 
nähernd rechtwinklig gekreuzt werden. Der Plan kam nicht zur Ausführung, unter 
den Kaiserlichen wird die alte Stadt aufgebaut. 

Bemühungen um eine ideale Stadtanlage, wie sie uns in der italienischen Re- 
naissance entgegentreten, finden wir in Deutschland kaum. Selbst die Stadtgrund- 
risse, wie sie zahlreiche Festungsbaubticher des 17. Jahrhunderts zeigen, wieder- 
holen nur das Schema, ohne zu versuchen, ihm durch Verschiebung der Straßen 
oder Monumentalbauten besondere architektonische Wirkungen zu entlocken. Nur 
einmal hat es den Anschein, als ob sich eine künstlerisch berechnete Stadtplanung 
in Wirklichkeit umsetzen will, doch ist sie bei der Errichtung auf halbem Wege 
stehengeblieben. Die Planung von Freudenstadt im Schwarzwald 1599 geht auf 


22 


— — — —— – a — 


den italienisch gebildeten Architekten Schickhardt zurück. Zwei verschiedene Ent- 
würfe von seiner Hand befinden sich im Archiv zu Stuttgart. Die Unterschiede 
beider sind bezeichnend. Der erste wiederholt das bekannte Schema, stellt die 
rechteckige Kirche mitten auf einen besonderen Platz und bringt den Schloßbau, 
der von Herzog Friedrich I. gewtinscht wird, in ziemlich lockeren Zusammenhang 
auf einer Ecke der Stadt an. Dieses Nebeneinander von Stadt und Schloß ver- 
schmilzt der zweite Plan zu beziehungsreicher Einheit. Auf einem großen quadra- 
tischen Mittelplatz ist das Schloß als regelmäßiges Quadrat, mit viereckigen Eck- 
türmen außen und vier Treppentürmen im Hofe so aufgestellt, daß seine Achsen 
diagonal zu den Platzachsen stehen. Von den Platzseitenmitten laufen senkrecht 
Straßen aus, weitere Straßen laufen parallel zu den Platzseiten, Grundstückstreifen 
von der Tiefe eines Hauses zurechtschneidend. Über den rechten Winkel in den 
Platzecken sollen als zweiflügelige Bauten errichtet werden Kaufhaus, Spital, Rat- 
haus und Kirche. Sämtliche Bauten am Platzrand öffnen sich mit Laubengängen 
im Erdgeschoß gegen den Platz. Da der Schloßbau nicht zur Ausführung kam, 
fällt des riesengroßen Platzes wegen die Anlage heut auseinander, die sonst sicher 
das erste Meisterstück bewußt gestaltender deutscher Stadtbaukunst geworden wäre. 

Hatte die Ummauerung schon der gotischen Stadt ihre Bedingungen gestellt, so 
wird die Herrschaft der Befestigung, zunehmend mit ihrer Größe und Kompliziert- 
heit, über die Stadt immer strenger von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab. Die 
neue Feuertechnik verlangt Übersicht über die Stadt — darin kam ihr das Schema 
entgegen — nun werden die Straßen nach und nach breiter, so daß das Profil vom 
stehenden sich zum liegenden Rechteck verschiebt. Starke Truppenansammlungen 
verlangen den großen Übungs- oder Paradeplatz in der Mitte der Stadt, auch ihn 
bot das Schema, auch er wird erweitert. Gleichzeitig aber wird die Ausdehnungs- 
fähigkeit und die Flüssigkeit des Stadtgebildes behindert, da sich solche Ver- 
teidigungswerke schwerer überspringen und ausdehnen lassen. Neue Stadt- 
erweiterungen entstehen neben solchen Festungsstädten wie Neubreisach oder 
Mannheim kaum oder doch nur auf einem Gelände, das innerhalb der Umwallung 
gelegen ist und vorher vielleicht von einer besonderen Zitadelle eingenommen war. 

Für die Erscheinung der Stadt wird ausschlaggebend, daß man jetzt immer 
weiter in der gleichmäßigen Formierung der Straßen- und Platzwan- 
dungen geht und der Wunsch nach regelmäßiger Bauart bestimmte Bautypen 
aufstellen läßt. Für Mannheim werden schon im Jahre 1650 beim Wiederaufbau 
der durch Tilly zerstörten Stadt vier Normalmodelle vorgeschrieben, die vom 
palastartigen Wohnhaus, das für den Platz vor dem kurfürstlichen Schloß bestimmt 
ist, bis zum Kleinwohnungshaus hinabgehen. Noch im folgenden Jahrhundert, 
nachdem die Stadt wiederum von Vauban zerstört worden war, richtet man sich 
nach diesen Modellen. 

Schon in gotischer Zeit hat die Stadt als Bauherrin für die Erstellung von Klein- 
wohnungshäusern gesorgt: Nürnberg. Das bekannte Beispiel aus dieser Zeit sind 
die Reihenhäuser, die die Stadt Ulm kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 
für ihre Stadtsoldaten errichtete und die noch heute ihren Zweck erfüllen. Die 
Art der Gruppierung dieser Reihenhäuser zu offenen Höfen hat dem Kleinhausbau 
unserer Zeit manche wertvolle Anregung gegeben. 


Ш. Die Barockstadt. 


Nach dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges kommen die architektonischen 
Anregungen für Deutschland aus Italien und Frankreich. Und neben den Einzel- 


23 


formen in Grundriß und Aufbau zieht gleichzeitig die neue Gesinnung ein, die 
einen Hausbau in einem strengeren Verhältnis zu Straße und Platz sieht, die 
Monumentalbauten in ihren Wirkungen weit in das Gefüge einer Stadt hinein- 
greifen lassen möchte, und die endlich auch für das Verhältnis von Baumassen 
und Räumen einer ganzen Stadt neue Schönheiten entwickeln möchte, Rom steht 
an der Spitze dieser Bewegung, Frankreich klärt sie ab, Deutschland entsendet 
seine Architekten, sehnsüchtig danach, an den Quellen zu schöpfen. 


Es kann hier nicht auf die Leistungen der römischen und französischen Stadt- 
baukunst eingegangen werden, der Verfasser hat die Tragweite dieser Leistungen 
in seiner: „Baukunst des 17. und 18. Jahrhunderts“ beleuchtet. Insonderheit ist es 
Versailles, die Gesinnung seiner Schöpfung, sein Schloßbau, seine Gärten und seine 
Stadt, die sich nach dem Vorbild der von Piazza del Popolo in Rom auslaufenden 
Straßen um drei vom Schloß strahlig auslaufenden Avenuen ordnen, das es den 
deutschen Fürsten antat. Und hier sei gleich bemerkt: der Stadtbau verliert 
sich als Aufgabe selbständiger Städte und wird zur vornehmsten Kunst- 
betätigung souveräner Fürsten. Die Summen, die von diesen Fürsten nicht 
nur in Bauten für ihre eigene Person hineingesteckt sind, sondern auch in Kirchen- 
bauten, in Privathäuser, sind riesig und unsere Zeit darf mit ihnen nicht einmal 
das Kapital vergleichen, das Großindustrielle für private Arbeitersiedlungen auf- 
wenden. Die selbständigen Stadtverwaltungen, die später das Erbe antraten, ver- 
sagten nach dieser Richtung fast völlig. 


Die landesfürstliche Baukunst ist bis jetzt stets als eine einheitliche Erscheinung 
betrachtet worden, und doch müssen wir von vornherein eine entscheidende Tren- 
nung machen: die eine Gruppe umfaßt die Anlagen, die einzig fürstlicher Schöpfer- 
laune ihre Entstehung verdanken, ihr Vorbild war Versailles, ihr Aufwachsen be- 
durfte künstlicher Pflege. Die andere Gruppe umfaßt alle die Anlagen, die einer 
mit wirtschaftlichem Nutzen rechnenden Bevölkerungspolitik entsprangen. Die 
Grenze zwischen beiden Gruppen ist selbstverstiindlich fließend und nur die histo- 
rische Forschung vermag eine Neuanlage der einen oder der anderen Gruppe zu- 
zuweisen. Die erste Gruppe umfaßt die Gründungen neuer Residenzstädte in 
nächster Nachbarschaft der alten. Ihre bekanntesten Beispiele sind Ludwigsburg 
bei Stuttgart 1709 und Karlsruhe bei Durlach 1715, doch ist sie nicht etwa auf 
das Frankreich nahe Süddeutschland beschränkt. Andere Gründungen sind Neu- 
strelitz 1726, Carlsruhe in Schlesien 1743, Ludwigslust seit 1756 angebaut. Mann- 
heim gehört mit seiner Gründung 1607 in das vorige Jahrhundert und wurde aus 
fortifikatorischen Absichten nahe Heidelberg errichtet, sein neuer Aufbau nach der 
Verwtistung durch Vauban, den wir in Frankreich im Gegensatz dazu als großen 
Gründer kennen lernen, reiht es in seiner äußeren Erscheinung den übrigen 
Städten jedoch an. Im Mittelpunkt der anderen Gruppe, die schon in früherer 
Zeit mit Freudenstadt 1599 ein Vorbild hat, steht die stadtbauliche Tätigkeit der 
brandenburgischen Kurfürsten und ihrer Verwandtschaft, voran die selbständigen, 
erst später zusammengemeindeten Erweiterungen Berlins, die Neuaufbauten oder 
Erweiterungen von Erlangen 1686 und 1706, Rastatt nach 1689, St. Georgen 
am See bei Bayreuth 1702, Crossen 1708, Magdeburg 1731, von Ansbach und der 
Bayreuther Friedrichstraße in dem gleichen Jahr, Rheinsberg 1740, Neuruppin 
1787 usw. Dem Ausbau Potsdams unter Friedrich dem Großen möchte man der 
anderen Gruppe zuzählen. Es reihen sich an: Cassel nach 1685, Carlshafen 1699, 
Dresden unter August dem Starken, Crefeld in verschiedenen Erweiterungen, Düssel- 


24 


dorf 1798 und kleinere Anlagen wie Saarbrücken, Bonn (am Schloß), Coblenz, 
Tübingen, Weikersheim, Ehrenbreitenstein, Trier, Oberdischingen, Oehringen usw. 

Die Planform wählt meist das Rechteckschema, dem man jedoch eine Fülle 
architektonischer Wirkungen entlockt. So durchdringt das gesamte Stadtgebilde 
von Erlangen Rhythmus in Quer- und Längsachsen. Schloß und Schloßgarten 
bilden den Kern der Anlage, das Rückgrat der Stadt ist die parallel zur Schloß- 
flucht laufende Hauptstraße. Mit geringen Mitteln wird eine bewundernswerte 
künstlerische Ökonomie getrieben, ein neues, stolzes Körpergefühl, eine besonnene 
Heiterkeit des Geistes spricht sich in diesen Straßen und Plätzen aus. Man lese 
darüber in den Memoiren der Markgräfin von Bayreuth, der Schwester Friedrichs 
des Großen, nach. 

Im Gegensatz zu diesem System ist Rastatt eine kleine, unbeholfene Kopie von 
Versailles, Berlin kommt 1721 bei der Erweiterung der 1688 gegründeten Friedrich- 
stadt auf das System von Rom und Versailles hinaus, das Rondell des Hallischen 
Tores als Basis nehmend. Als achtstrahliger Stern, jener seit den Renaissance- 
theoretikern beliebten Stadtbauform, sind Neustrelitz und Carlsruhe in Schlesien 
angelegt, das badische Karlsruhe paßte sich auf einige Strahlen des zweiunddreißig- 
strahligen Wegesterns mit dem Schloßturm als Mittelpunkt ein. 

Die Straße wird jetzt als räumliches Gebilde, gleichend etwa den langen 
Korridoren des gleichzeitigen Schloßbaus, genossen und in ihren Wandungen 
und Perspektiven darauf abgestimmt. Gerade gezogen soll sie einen Ein- 
druck von der Sauberkeit und Bedeutung der neuen Stadt geben und die be- 
geisterten Schilderungen der Zeitgenossen sind wohl zu verstehen im Gegensatz 
zu den winkligen und schmutzigen Straßen der alten Stadt. Ihre Breite übertrifft 
meist die Höhe ihrer Wandungen um etwas, Normalmaße werden festgesetzt, 
jedoch nicht schematisch einheitlich für die gesamte Stadt. Die verschiedenen 
schon von der mittelalterlichen Stadt entwickelten Straßentypen — Hauptverkehrs- 
straßen, Verkehrsstraßen, Wohnstraßen und untergeordnete Verbindungsgänge — 
werden auch jetzt noch verwandt. Erlangen zeigt beträchtliche Differenzierungen 
der Straßenbreiten, und selbst Mannheim, das am schematischsten erscheint, hat 
nicht völlig gleiche Straßen. Die moderne Stadtbaukunst hat diese unterschied- 
lichen Straßentypen wieder aufgegriffen und ist für ihre Wohnstraßen in den 
Breitenausmessungen sehr zurückgegangen. Hier handelt es sich weniger um ein 
Zurtickgehen, wie um ein Herausheben der Hauptstraßen, die mit den Verkehrs- 
zügen zusammenfallen. In Berlin zeigen die Linden, in Karlsruhe die Karl Friedrich- 
straße das Herausheben von wichtigen Verkehrslinien durch besondere Breite. 
Durch Einfügen von Plätzen und beherrschenden Monumentalbauten, in einfacheren 
Fällen durch Obelisken oder andere architektonische Monumente werden sie zu 
wirkungsvollen Achsen des Stadtkörpers ausgebildet. 

Gleichzeitig drängt man auf Zusammenschluß der Häuser zu einheitlichen 
Straßenwandungen, die die räumliche Wirkung der Straße unterstützen. 
Dieser Zusammenschluß der einzeinen Häuser wird als etwas besonders Schönes 
empfunden. In der Oratio Panegyrica über Carlshafen a. W. von Stefan Winter- 
berg 1722 heißt es: „Den Häusern unserer Stadt gereicht es zu nicht geringem 
Schmucke, daß dieselben nicht nach jener gewöhnlichen Bauart, wo ein jedes mit 
einem kleinen Zwischenraum für sich dasteht, sondern nach jener neuen belgischen 
Erfindung (dies ist allerdings ein baugeschichtlicher Irrtum) errichtet sind. Es 
steht nämlich ein Haus so eng am anderen, daß man, wenn nicht die verschie- 
denen Eingänge wären, beinahe glauben könnte, die ganze Stadt wäre nur ein 


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einziges Haus.“ Die Königsstraße in Dresden zeigt dreigeschossige Häuser von 
gleicher Höhe und gleicher Bauart mit durchlaufendem Dachsims. Nur das Mittel- 
fenster eines jeden Hauses durfte durch eine besondere Verdachung herausgehoben 
werden und trägt Wappen des Besitzers oder ein besonderes Haussignet. Gern 
setzt man an diese gleichmäßig gewandete Straße zu Anfang oder als Schlußziel 
belebende Akzente, pylonenartige Richthäuser zu beiden Seiten des Straßeneingangs, 
ein Triumphtor oder sonst ein architektonisches Schauziel: Erlangen, Karlsruhe. 

Die Raumwirkung der Plätze wird durch besondere architektonische Be- 
handlung gewonnen. Der rechteckige Ludwigsburger Marktplatz wählt für seine 
Häuser Laubengiinge und stellt in die Mitten der Langseiten zwei Kirchenbauten 
sich gegenüber. Der Karlsruher Marktplatz bekommt sein architektonisches Ge- 
wicht durch Rathaus und Stadtkirche, die wiederum wie in Ludwigsburg außer- 
ordentlich günstig zu den Privatbauten kontrastiert sind. Bemerkenswert ist, wenn 
man die Stadt als großen künstlerischen Gesamtorganismus betrachtet, die Art, 
wie Plätze in das Straßengefüge hineingesetzt sind. Drei Grundregeln lassen sich 
dafür aufstellen. Die eine ist: den Platz als Endigung großer Straßenachsen zu 
behandeln. Die andere ist: Straßen offen oder doch nur mit einem Aussicht geben- 
den Triumphbogen gegen den Platz einmünden zu lassen, um sowohl ihm den 
Reiz perspektivischer Raumerweiterung zu geben, alg auch möglichst tief in die 
Stadt seine Wirkung hineinzuziehen. Die dritte und wohl wertvoliste Regel ist: 
die Größe des Platzes in ein gutes Verhältnis zur einmündenden Straße zu bringen 
und, wenn man mehrere Plätze auf eine Straße aufreiht, damit Rhythmik 
von Straßenräumen und Platzräumen herauszubringen. Der Sternplatz, vor 
wenigen Jahren in modernen Bebauungsplänen noch gehaßt, heute wieder seiner 
künstlerischen Ausbildungsfähigkeit wegen in verkehrstechnisch einwandfreier Weise 
angewandt, stellt sich ein. Mit einem Durchmesser von etwa ı85 m und sechs 
auslaufenden Straßen erscheint er bei der Oberneustadt von Cassel in kreisrunder 
Form, einst gleichmäßig umbaut. Rhythmisch geordnete Platzgruppen bedingen 
eine ausgedehnte Anlage und, um einheitlich ausgeführt zu werden, ein rasches 
Wachsen der Stadt, vor allem aber eine große Konsequenz des architektonischen 
Denkens. Die ersten Gründe erklären ihre Seltenheit in jener Zeit, der letzte 
Grund ihre Seltenheit in unserer Zeit. An erster Stelle ist Erlangen zu nennen 
mit Reihung eines quergelagerten Rechteckplatzes und eines quadratischen Platzes 
auf der Hauptstraße, so daß diese die Plätze in zwei Teile zerlegt, die so in ihrer 
einen Hälfte als Vorplätze für die Monumentalbauten von Kirche oder Schloß, in 
ihrer anderen Hälfte dem Marktverkehr dienen. Weinbrenner hat dann, noch aus 
Barocktradition heraus, in Karlsruhe zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Karl 
Friedrichstraße eine rhythmisch gegliederte Achse geschaffen, deren Wert selbst für 
eine stark gewachsene Stadt man hier am besten beurteilen kann und die groß 
gesonnenen Unternehmungen moderner Stadtbaukunst, an denen es auf Planungen 
ja nicht fehlt, denen zu folgen aber die Wirklichkeit nie Mut genug zeigt, ein er- 
munterndes Wort zurufen kann. 

Monumentalbauten bilden das Schauziel von Straßen und den Ab- 
schluß von Plätzen. Diese Regel des römischen Barocks gilt jetzt durchweg 
und der Stadtplaner sucht sie in den verschiedensten Stadtgrundrissen zu erfüllen. 
Schwierig erscheint dies immerhin in dem Straßengefüge regelmäßig im Recht- 
eck angelegter Städte wie etwa Mannheim. Und doch wird man finden, daß 
eine Stellung wie die der 1735 begonnenen Jesuitenkirche vorzüglich ist. Sie liegt 
auf der Ecke eines Blocks, doch tritt sie um etwas in die an ihrer Langseite 


vorbeiführenden Gasse ein, gleichzeitig schneidet sich aus der Blockecke gegentiber 
der Fassade ein rechteckiger Kirchenvorplatz heraus. Diese Fassade erhält eine 
dunkelschattende Vorhalle, recht wirksam auf die Entfernung. Durch die per- 
spektivische Verschiebung werden so Front mit Türmen und Vorhalle, dann die 
Kuppel Schauziel für die Straße. Die beste Folie für den Monumentalbau gibt der 
ruhige Eindruck der Privathäuser ab, mag dieser Bau nun im Block drin stecken 
oder frei stehen. Die feinsten Beziehungen der optischen Maßstabgebung walten 
hier, immer ist man bemüht, nicht allein die Privatbauten unterzuordnen, sondern 
sie so zu detaillieren, daß sie die Größenwirkung des Monumentalbaus steigern, 
sehr zum Unterschied gegen unsere Zeit. (Vgl. Kap. XII meiner ,,Stadtbaukunst“.) 

Die Bauordnungen bringen jetzt stets Paragraphen, die mit mildem Zwang auf 
diese künstlerischen Forderungen hinzuwirken suchen. Fast immer behielt aber 
der einzelne genügende Freiheiten und man überließ es der Wohlanständigkeit 
seiner architektonischen Kultur, mit dem eigenen Bau die Wirkung des gesamten 
Straßenbildes auszufeilen. 

Wie waren diese großzügigen Planungen möglich? Nur unter einer Bedingung: 
der Fürst mußte Verfügungsrecht über unbebautes Gelände haben, das 
ihm nicht gehörte. Dies bestand darin, daß er jedes für die Planung in Frage 
kommende Gelände selbst zwangsweise zu kaufen vermochte und zwar zu Acker- 
preisen. War die Stadt in ihren Straßenführungen dann angelegt, so wurde das 
Terrain zum Ankaufspreis unter Zurechnung der Straßenkosten oder überhaupt 
unentgeltlich abgegeben an Bauwillige, denn der Fürst war ja sicher, durch die 
Ausdehnung der Stadt rentables Menschenmaterial zu gewinnen. Eine private 
Bodenspekulation war damit zu mindest ausgeglichen. Oder die Straße wurde 
unter Aufkauf des nur für sie nötigen Geländes durch Ackergrundstticke hindurch- 
gelegt und sämtliche Grundstücke zu Bauplätzen erklärt. Eine Taxe wurde durch 
die Obrigkeit festgesetzt, gegen die die Eigentümer das Land an Bauwillige ab- 
zugeben hatten, falls sie es bis zu einer bestimmten Zeit nicht selbst bebauten. 
Die Parzellierung übernahm in den meisten Fällen die Stadt durch ihre Bau- 
beamten, doch unterziehen sich auch die fürstlichen Baumeister dieser Aufgabe. 
Wiederum wird damit der privaten Bodenspekulation, die Gelände vom Verkauf 
zurückhält, der dem Gemeinwesen feindlichen Nutzen entzogen. 

Zum Bauen ermunterte der Fürst durch zahlreiche Privilegien. Sogar 
Baugelder wurden als Geschenk gegeben, es sollte einem jeden leicht gemacht 
werden, sein eigenes Haus zu bauen. Diese Lockungen hatten allerdings ihre 
höchst gefährlichen Schattenseiten, denn sie verführten Leute ohne Kapital zum 
Bauen, wie es heute die gewissenlose Bauspekulation absichtlich tut. Hielt dann 
der Baulustige sein Unternehmen nicht durch, so konnte ein Kapitalkräftigerer um 
den Preis der Mühen und des bißchen Geldes seines Vorgängers billiger das halb- 
fertige Haus übernehmen. Aber nicht nur das: die Zuschüsse, die ein jeder bei 
einiger Gewitztheit erlangen konnte, verringerten den Wert des Hauses um ihren 
Betrag, und nicht nur dieses Hauses, sondern auch aller bestehenden Häuser, die 
ohne solchen Zuschuß erbaut worden waren. Damit trat eine Entwertung des 
Hausbesitzes ein, die für denjenigen, der verkaufen wollte oder mußte, verhiingnis- 
voll werden konnte. Einen Baukrach macht Berlin um 1740 durch. 

Trotz alledem wird man unbedingt anerkennen, daß die Wohnungsverhältnisse 
jedenfalls für den Mieter keine schlechten waren. Die Sorge für ein gutes Woh- 
nungswesen kam mindestens der fürstlichen Sehnsucht gleich, die die neuen An- 
lagen weit ausgebaut zu sehen wünschte. 


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Angesichts der hohen künstlerischen Qualität muß doch zugestanden werden, 
daß die hygienischen Verhältnisse noch viel zu wtinschen übrig ließen, trotzdem 
auch diese Zeit die ersten Schritte zu entscheidenden Verbesserungen tat. Aus 
einem Privatbrief eines Herrn F. v. Cölln aus dem Jahre 1808 sei als Schluß- 
schnörkel diese Stelle über Berlin angeführt, in der allerdings der Schreiber Berlin 
stark aus der Nachtperspektive angesehen hat: „Das Pflaster und die Straßen von 
Berlin sind der Gipfelpunkt aller Schrecknisse, und es ist schändlich, wie wenig 
in Berlin in diesem Punkte von der Polizei geschieht. Die Rinnsteine sind nicht 
verdeckt, sie sind stinkend und unrein, denn man leert die Nachtstühle und allen 
Unrat der Küche in sie aus und wirft krepierte Haustiere in sie hinein. In Berlin 
watet man mit Ausnahme von Unter den Linden und dem Lustgarten überall 
entweder im Kot oder im Staube. Die Laternen, welche mit Leinöl oder Schweine- 
fett gefüllt sind, sind so sparsam aufgehängt, daß man sie mit der Laterne suchen 
muß. Im Mondesviertel und wäre die Nacht noch so finster und stürzte der Regen 
vom Himmel herab, wird in ganz Berlin überhaupt keine Laterne angezündet, und 
es ist mir selbst passiert, daß ich an der Ecke der Kronen- und Friedrichstraße in 
eine tiefe Dunggrube fiel und darin beinahe elendiglich ersoffen wäre. Kurz ge- 
sagt: Du kannst in Berlin Deine Nase unaufhörlich im Schnupftuche tragen, be- 
sonders aber, wenn es geregnet hat, denn dann schwimmen die Kothaufen in den 
Straßen herum und setzen sich bald hier und bald dort fest. Wehe, wenn Du im 
Finstern hineingerätst, — Du wirst Deine Pantalons nicht wieder anziehen können —.“ 

Diese Kritik läßt nun zwar darauf schließen, daß es zu gleicher Zeit in anderen 
Städten besser aussah, Die gewaltigen Fortschritte, die im 19. Jahrhundert die 
Stadtbauhygiene gemacht hat und die Leistungen unserer Ingenieure im Gegensatz 
zu unseren Architekten wird man aber dankbar anerkennen. 

Neben diesem Fortschritt in hygienisch-technischer Beziehung ist allerdings der 
Rückschritt im Künstlerischen erschreckend. Es folgt gegen Ausgang des Jahr- 
hunderts die Reaktion, die wie in der Baukunst an historische Vorbilder anknüpft. 
Nach äußerlichen Versuchen beginnt man auch in der Stadtbaukunst sich um die 
künstlerischen Gestaltungsgesetze zu bemühen, Ein Aufschwung beginnt — da 
vernichten der Krieg und seine Folgen die notwendigen finanziellen Voraussetzungen. 
Jetzt wissen wir, daß ganz etwas anderes gestaltet werden muß — wir warten 
auf den schöpferischen Architekten. 


LITERATUR. 


W. С. Behrendt, Die einheitliche Blockfront. Berlin 1913. — A. E. Brinckmann, Deutsche 
Stadtbaukunst in der Vergangenheit. Frankfurt a. M., 1911 (2. A. 1920). — Ders., Plats und Monu- 
ment. Berlin, 2. Aufl. 1913. — Ders., Stadtbaukunst, Handbuch der Kunstwissenschaft. Berlin 1920. — 
Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens. Jena, э. Aufl. 1910. — Bodo Ebhardt, Der Einfluß 
des mittelalterlichen Wehrbaus auf den Städtebau. Berlin тото, — Felix Genzmer, Stadtgrundrisse. 
Berlin 1911. — Chr. Klaiber, Die Grundrißbildung der deutschen Stadt im Mittelalter. Berlin 1912. — 
P. J. Meier, Die Grundrißbildungen der deutschen Städte des Mittelalters. Mannheim 1907. — 
R. Mielke, Die Entwicklung der dörflichen Siedlungen. Berlin 1913. — Р. A. Rappaport, Die 
Entwicklung des deutschen Marktplatzes. Berlin 1014. — J. Stübben, Der Städtebau. Stuttgart, 
з. Aufl. 1907. — R. Unwin, Grundlagen des Städtebaus. Berlin sgıo. — Paul Wolf, Städtebau. 
Das Formproblem der Stadt In Vergangenheit und Zukunft. Leipzig 1919, bei Klinkhardt 
& Biermann. 


BILDER FLÄMISCHER MEISTER IN DER 
GALERIE DER UFFIZIEN ZU FLORENZ 


Mit viersehn Abbildungen auf fünf Tafeln in Lichtdruck Von K. ZOEGE v. MANTEUFFEL 


ie Gemälde der großen flämischen Maler in der Sammlung der Uffizien zu 

Florenz sind allgemein bekannt; befinden sich doch einige der bedeutendsten 
Werke von Rubens und van Dyck und das schöne, jugendliche Selbstbildnis des 
Jordaens dort, Kunde davon gebend, welche Werte die Malerei der katholischen 
Niederlande dem Barockzeitaltar zu geben hatte. Wenig bekannt aber hängen 
neben ihnen viele Bilder geringerer Meister jener Zeit und Schule. Florenz liegt 
so weit ab von den Reisewegen, die der Erforscher niederländischer Kunst ein- 
zuschlagen pflegt, daß sie fast ganz übersehen wurden. Manches ist noch nicht 
richtig bestimmt, nur weniges in Abbildungen erreichbar. Über diese Bilder soll 
hier einiges mitgeteilt werden. Mehrfach wird sich dabei Gelegenheit ergeben, 
im Anschluß an die Florentiner Werke an anderen Orten aufbewahrte richtig zu 
bestimmen oder zu würdigen?). 

Die Mehrzahl der flämischen Bilder gehört zum alten Besitz der Uffizien und 
befand sich schon bei der Neuordnung im Jahre 1782 in der Sammlung. Von den 
späteren Erwerbungen sind wegen ihrer Herkunft und Beglaubigung besonders jene 
beachtenswert, die vom Großherzog Ferdinand zwischen 1793 und 1821 gegen Ab- 
gabe von Bildern seiner eigenen aus der Sammlung seines Bruders, des Kaisers 
Franz П. im Belvedere zu Wien eingetauscht wurden’). Bei ihnen ist es in einigen 
Fällen möglich, sie in Inventaren und Katalogen bis in die Zeit ihrer Entstehung 
zurückzuverfolgen. Die älteste Quelle, auf die wir dabei stoßen werden, ist das 
Inventar der Sammlung Erzherzog Leopold Wilhelms Es sei daher kurz 
daran erinnert, daß Leopold Wilhelm von 1647—1656 Statthalter der österreichi- 
schen Niederlande war und diese Zeit dazu benützte, sich eine sehr gewählte 
Kunstsammlung anzulegen. Als er nach Wien zurückgekehrt war, ließ er ein aus- 
führliches Verzeichnis seiner Schätze anfertigen. Den Erforschern der Wiener Ge- 
mäldegalerie hat dieses sorgfältig gearbeitete Schriftstück, das neben ausgezeich- 
neten Bildbeschreibungen Maße und Künstlernamen enthält, unschätzbare Dienste 
geleistet. Es wird auch über mehrere Stücke der Florentiner Sammlung wertvolle 
Auskunft geben. Diese wird um so zuverlässiger sein als es sich hier um Bilder 
handelt, die von Zeitgenossen des Erzherzogs gemalt sind; die Angaben des In- 
ventars haben für sie fast urkundlichen Wert. 

Eines der Tauschbilder ist die „Heilige Familie“ vonJasperdeCrayer?) (Abb. 1). 
Es kam etwas verspätet, 1821, aus Wien als eines jener Stücke, die zum Ersatz 
abgelehnter und wieder zurückgegebener nach Florenz gesandt wurden. In Wiener 
Katalogen läßt es sich bis auf das erwähnte Inventar des Erzherzogs Leopold 
Wilhelm zurückverfolgen. Dort ist es genau beschrieben und als „Original von 


(1) Für die freundliche Unterstützung meiner Arbeiten in der Uffiziengalerie im Winter 1914/15 bin 
ich den Herren Direktor Dr. Poggi und Konservator Grafen Gamba zu Dank verpflichtet. 

(a) Vgl. Aurelio Gotti: Le Galerie di Firenze (1872), 8. 173, 351 ff.; Venturi im Repert. f. Kunst- 
wissenschaft VII, 8. at: Е. v. Engerth: Beschreibendes Verzeichnis [der Wiener Galerie], I (1883), 
S. LXVff.; Th. Frimmel: Kleine Galeriestudien, 3. Folge, II (1898), S. 256 f.; О. Glück im Jahrbuch 
der Kunstsammlungen des Kaiserhauses, XXIV, 8. x ff. 

(3) Florenz, Uffisien Nr. 131. Auf Leinwand, 1,52 X 1,20. 


29 


Caspar de Crayer“ bezeichnet). Die Bezeichnung, die es noch heute im Katalog 
der Uffizien trägt, wird also bestätigt. Das ist darum nicht unwichtig, weil das 
Bild zu einer Gruppe von Werken Crayers gehört, deren Zuschreibung bezweifelt 
worden ist. Am nächsten steht ihm die Madonna als Beschlitzerin der Armbrust- 
schützengilde, im Brüsseler Museum ). Für den Madonnenkopf mit seinem kräf- 
tigen, vollen Oval hat offenbar dasselbe Modell beiden Bildern gedient. Ferner 
zeigt die Gewandbehandlung übereinstimmend sehr reiche, stark vertiefend geord- 
nete und zugleich malerisch locker behandelte Faltenzüge, die unverkennbar die 
gleiche Hand verraten. Im farbigen Aufbau entbehrt das Florentiner Bild nicht 
einer gewissen Kraft. Neben dem gelblichrosa Gewand der Madonna, das weiße 
Lichter beleben, stehen das grelle Blau des Mantels und das reine Weiß des 
Linnens, auf dem das Kind sitzt. Gebrochene Töne von Grau und Braun treten 
bei den Nebengestalten auf. Das Inkarnat ist bei Mutter und Kind ein kräftiges 
Rosa, bei Joseph und dem kleinen Johannes ein nicht allzukräftiges Braun. Das 
Bild hält etwa die Mitte zwischen den noch in den starken Farben des Rubens 
gemalten und in entschiedenen Lichtgegensätzen komponierten Frühwerken Crayers 
und den gänzlich blonden, in einem gleichmäßigen Licht und einem hellen, gelb- 
lichen Ton gemalten der Spätzeit. Es rückt damit in die Nähe von Bildern wie 
das Rosenkranzbild von 1641 im Museum zu Valenciennes und das Thesenbild 
von 1646 in der Münchener Pinakothek. Doch wird man es, ebenso wie die 
Schützengilden-Madonna in Brüssel, noch etwas später als das Münchener Thesen- 
bild datieren müssen. Dafür sprechen die Gesichtsbildung, die Kopfbewegung und 
der etwas leere Blick der Madonna und die bereits lockere Malweise. Wahr- 
scheinlich hat der Erzherzog, der ja 1647 nach Brüssel kam, das Bild bald nach 
seiner Ankunft vom Künstler erworben. 

Ebenfalls eines der Tauschbilder ist die Darstellung der Unbefleckten Empfängnis, 
die in Florenz als eine Arbeit des Gerard Seghers gilt®) (Abb. 2). Das Bild 
findet sich zum erstenmal im französischen Katalog von 1804 als Arbeit van 
Dycks angeführt. Die Angaben dieses Katalogs gehen offenbar auf das Erwer- 
bungsbuch von 1784 bis 1825 zurtick, wo als Maler ebenfalls „van Dick“ verzeichnet 
ist; auch Gotti führt es unter diesem Namen auf‘). Dann begegnet uns das Bild 
wieder in dem Wiener Katalog von Mechel als „Ein geistlich emblematisch 
Stück, die unbefleckte Empfängnis oder der Triumph Christi über die 
Erbsünde darstellend“ auch dort als „van Dyck“ ). Bei Stampart und Prenner 
im Prodromus fehlt das Bild aber ebenso wie im Inventar Erzherzog Leopold 
Wilhelms. Auf welchem Wege es in die Wiener Galerie gelangte, konnte ich 
nicht feststellen. Wir sind also hier auf die stilkritische Feststellung des Malers 
angewiesen, Daß van Dyck nicht in Betracht kommt, bedarf wohl nicht der Dis- 
kussion. Durchaus annehmbar erscheint die Zuschreibung an Seghers. Bei Seghers 
muß man bekanntlich zwei zeitlich aufeinander folgende Kunstweisen unterscheiden, 
die italienisch-caravaggeske der Frühzeit und die unter dem Einfluß des Rubens 
stehende der Reife und Spätzeit. Auf diese schon von Sandrart mitgeteilte Tat- 


(1) Fol.227’, Nr. 381. Jahrbuch der Kunstsamml. des Kaiserhauses I, II. Teil, 8. CXXXV. 
(a) Brüssel, Kgl. Museum Nr. 138 (243). Phot. von Braun, Clément & Co. und von Deloeul in Brüssel. 
(3) Florens, Uffisien Nr. 217. Auf Leinwand, 2,50 >< 1,93. 

(4) Gotti, a. a. O., 8. 353. 

(5) Chr. v. Mechel: Verzeichnis der Gemälde der К. К. Bilder-Gallerie in Wien, 1783, 8.108, Ill. Zimmer, 
Nr. 18, 


30 


sache hat zuerst wieder Gustav Glück mit Entschiedenheit aufmerksam gemacht, 
indem er sich besonders auf die Stiche nach Frühwerken des Künstlers berief!). 
Er zog eine Reihe von Darstellungen bei künstlichem Licht, Genrebilder caravag- 
gesker Art und mehrere religiöse Halbfigurenbilder, heran und nahm sie für die 
Zeit der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts in Anspruch. Diese Datierungen 
scheinen mir durch folgende Erwägungen noch stärker gesichert als durch Glücks 
Beweisführung. Es läßt sich an der Hand mit Jahreszahlen versehener Stiche nach 
Seghers einwandfrei feststellen, daß schon 1630 der Einfluß des Rubens sich bei 
ihm durchgesetzt hatte. Sowohl die „Rückkehr aus Agypten“ von 1631 9) wie die 
„Erscheinung der Madonna beim hl. Ignatius“) aus demselben Jahr, beide von 
Schelte a Bolswert, zeigen im Typus der Madonna, in der Bildung der Hände mit 
schwellenden weichen Formen, in der bauschigen, weichen Gewandbehandlung den 
neuen Stil. Durchaus analog ist die „Vermählung Mariae“ in der Antwerpener 
Galerie. Als Rest der alten Typenbildung erscheint hier noch der Kopf der in 
Vorderansicht gesehenen Frau unter den Begleiterinnen der Jungfrau: er zeigt noch 
die größte Verwandtschaft mit dem der Madonna auf dem Traum Josephs in der 
Genter Galerie, die man, entgegen Glücks Ansicht, doch wohl noch zu den Früh- 
werken rechnen muß. Die Datierung der „Vermählung“ kurz nach 1630, die Rudolf 
Oldenbourg vorschlägt‘), dürfte demnach das Richtige treffen. Und vollends die 
„Anbetung“ in der Frauenkirche zu Brügge, zeigt Seghers in der fast restlosen 
Beherrschung der Rubensschen Kunstweise. Das hatte zur Folge, daß die Ent- 
lehnung dieser Arbeit um 1630 immer Zweifeln begegnete). Zu Unrecht; denn 
die Datierung dieses Bildes ist, was bisher übersehen wurde, durch einen Stich 
von Paulus Pontius aus dem Jahre 1631 gesichert). 

Mit dem Madonnentypus dieser Werke hat nun die apokalyptische Madonna in 
Florenz wenig gemein. Dagegen springt die Verwandtschaft mit Seghers Werken 
der zwanziger Jahre — wie besonders der (durch die Angaben des Inventars Erz- 
herzog Leopold Wilhelms gesicherten) Madonna mit Engeln in Halbfiguren in der 
Wiener Galerie und der (nur in einem Stich des Nikolaus Lauwers erhaltenen) 
hl. Cäcilie mit Engeln — sofort in die Augen’). Besonders die Wiener Madonna 
steht der Florentiner Maria sehr nahe in der Gesichtsform, in der Bildung des 
kleinen, feingezeichneten Mundes, der geraden Nase, der großen Augen mit den 
etwas schweren oberen Augenlidern. In dem Haaransatz, dem Übergang des 
Haarscheitels in die Stirne, dem Aufliegen des Kopftuches zeigt sich ebenso eine 


(z) Ө. Glück: Aus Rubens Zeit und Schule, in: Jahrbuch der Kunstsammlungen des Kaiserhauses, 
XXIV (1903), 8. 3 f. 

(з) Mit Widmung an Diego Philippo de Gusman von Gerardus Segherius MDCXXXI, Februarii УШ. 
Unten: Gerardus Seghers inven. — 8. a Bolswert sculp. — Vgl. А. v. Wursbach, Niederl. Künstler- 
lexikon unter den Stichen nach G. Seghers Nr. 13. 

(3) Mit Widmung an Georgio della Faille von Gerardus Segerius 1631. Unten: Gerardus Segers 
inven. — 8. a Bolswert sculp. — Vgl. A. v. Wurzbach, Niederl. Künstlerlexz. unter 8. a Bolswert 
Nr. 93. 

(4) R. Oldenbourg: Die Bämische Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 1918, 8.96. Eine Abbildung in 
J. de Brauwere: Anvers, Musée royal illustre, 1894. 

(5) Ө. Glück, а. a. O., S. 4f. Auch R. Oldenbourg, а. а. O., 8. 95 betont noch, daß das Bild „tra- 
ditionell“ 1630 datiert werde. 

(6) Mit Widmung an Alvaro Basan. — MDCXXXI von Gerardus Segherius. Unten: Gerardus Seghers 
inventor, — Paulus Pontius sculpsit. 

(7) Beide abgebildet bei Glück, a. a, O. 


31 


Stilgleichheit wie in den knochigen, wenig gepolsterten Händen mit den langen 
Fingern. Auch die Gewandbehandlung in knappen, noch brüchigen Formen ohne 
starke Bauschungen läßt beide Werke nahe verwandt erscheinen. Die Zuschreibung 
des Florentiner Bildes an Seghers scheint durch all dieses gesichert. Was sich 
an Abweichungen findet, läßt darauf schließen, daß es noch früher entstanden ist 
als die Wiener Madonna. Vor allen Dingen spricht dafür die Gewandbehandlung, 
die noch keine Spur von der Rubensschen, dem Knorpelwerk in der Dekoration 
des Barockstils analog entwickelten Neigung zum Ausbauchen der Faltenrücken, 
zur Schwingung der Faltenzüge, zum Aufrollen und Umschlagen der Gewandsäume 
zeigt, die sich in der Wiener Madonna schon anzuklindigen beginnt. Endlich Licht 
und Farbe. Das Bild ist in starken Lichtgegensätzen komponiert; neben hellen 
Flecken erscheinen dunkle, tief verschattete Teile. Die Farbe spielt eine geringe 
Rolle; die einzige große Farbmasse ist die nicht bunte, sondern ganz weiße 
Gestalt der Maria. Die Dämonengestalten unten zeigen eine tiefbraune bis rötliche 
Hautfarbe, die viel mehr an italienische als an flämische Barockmalerei erinnert. 
Ganz italienisch wirken auch die kleinen Figuren der Vertreibung aus dem Para- 
diese, die in grauen und rosagrauen Tönen gemalt sich von einem grellblauen 
Himmel abheben. Nach diesen Anzeichen wird man das Bild vor die Wiener 
Madonna und in eine Zeit setzen können, da Gerard Seghers, noch dem Stil seiner 
italienischen Lehrzeit treu, eigene Wege ging und die Errungenschaften des Führers 
der flämischen Barockmalerei ablehnte. 

Der viel mißbrauchte Name van Dycks haftet noch immer an einer apokalyp- 
tischen Madonna in Grisaillemalerei!) (Abb. 3), die ebensowenig von ihm sein kann 
wie die eben besprochene. Dieses Bild ist als ein Vorhang gedacht, den Kinder- 
engel auf einem architektonischen Hintergrunde befestigen; die Kartusche am unteren 
Rande könnte für eine Inschrift bestimmt sein. Die Vermutung liegt nahe, daß 
wir es mit der Vorlage für das Titelblatt eines Buches zu tun haben; jedoch 
konnte ich keinen zugehörigen Stich finden. Die Bestimmung auf van Dyck beruht 
auf der Überlieferung der Uffizienkataloge. Den richtigen Namen werden wir hier 
wieder durch Nachprüfung der Herkunft des Bildes finden. Es kam 1793 unter 
dem heutigen Namen aus Wien?). Im Mechelschen Katalog gilt es merkwürdiger- 
weise als Arbeit des Philipp Fruytiers*). Dann findet es sich wieder im Inventar 
Erzherzog Leopold Wilhelms, wo es genau beschrieben ist als: Ein Stuckh von 
Öhlfarb auf Leinwaet graw in graw, warin Gott Vatter in der Höche, 
darunder vnser liebe Fraw zwischen zweyen Englen stehent auff einem 
Drachen hatt auf dem rechten Armb das Jesuskindl in der linckhen Handt 
ein weisse Lilien vnd in der Brust ein Schwerdt — Original von Diepen- 
beckh“*), Zur stilkritischen Nachprüfung dieser Zuschreibung ist das einzige be- 
kannte Gemälde Abraham van Diepenbeecks, das eine Bezeichnung trägt, heran- 
zuziehen. Es ist eine Darstellung der Tugenden und Laster, die 1912 in das 
Museum zu Straßburg gelangte’). Man findet bei beiden Bildern die gleichen 
Frauen und Kindertypen, dieselbe Art der Gewandbehandlung in bauschigen, leb- 
haft bewegten Stoffen mit sich aufrollenden Rändern. Auch die Art der Malerei 


(1) Florenz, Uffizien Nr. 783. Auf Leinwand, 0,72 X 0,53. Photographiert von Brogi. 

(2) Journal der Uffizien 1784—1825. Engerth, a. a. О. I, 8. LXIX. 

(3) Mechel, а. a. O., 8. 141. 

(4) Fol. 284, Nr. 785. Jahrbuch der Kunstsammi. des Kaiserhauses I, П. Teil, 8. CLU. 

(5) Versteigert r912 bei Lepke in Berlin aus der Sammlung Weber und 1892 bei Heberle in Köln 
aus der Sammlung Habich. Im Versteigerungskatalog Habich unter Nr. 37 eine Abbildung. 


32 


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Abb. 6. L. Vorsterman nach Jan van den Hoecke: >? 
Erzberzog Leopold Wilhelm vor der Madonna 


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Abb. 3. Abraham van Diepenbeeck: Apokalyptische 
Madonna Florenz, Uffisien 


Abb. 5. D. Seghers und Jan van den Hoecke: Abb. 4. Abrabam van Diepenbeeck: Zeichnung zur 
Blumenkranz im Bildnis Florenz Uffisien | apokalyptischen Madonna Braunschweig, Mus. 


Zu: ZORGE v. MANTEUFFEL, BILDER FLAMISCHER MEISTER IN DER GALERIE DER UFFIZIEN 
ZU FLORENZ 


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stimmt genau überein ). Das Straßburger Bild ist nun auf Grund des darauf an- 
gebrachten Wappens annähernd zu datieren. Es ist das des Papstes Innocenz X. 
aus der Famile Pamfili, der 1644—1655 die Tiara trug. Wahrscheinlich in diesem 
Jahrzehnt, jedenfalls aber nicht vor 1644 ist die Arbeit also entstanden. Für das 
Florentiner Stück erhalten wir, wie bei der Stilgleichheit nicht anders zu erwarten 
war, etwa die gleiche Zeit, d. h. die des Aufenthalts Erzherzog Leopold Wilhelms 
in den Niederlanden zwischen 1647 und 1656 als Frist, in der die Entstehung zu 
vermuten ist, und jedenfalls als letztes Datum 1656. Die beiden Stücke repräsen- 
tieren also den Stil Diepenbeecks um die Mitte des Jahrhunderts. 

Zu dem Florentiner Bilde gibt es einen Entwurf, den ich in dem Kupferstich- 
kabinet der Braunschweiger Galerie entdeckte (Abb. 4). Die Nebeneinanderstellung 
der Abbildungen wird zum Beweis der Zusammengehirigkeit dieser Arbeiten ge- 
nügen. Aufschlußreich ist ein Vergleich der Abweichungen zwischen Entwurf und 
Ausführung. Offenbar schien dem Künstler die Komposition auf seiner Zeichnung 
nicht das gewünschte Gleichgewicht zu haben, weil die Massen rechts zu schwer 
und zu dicht waren. Er drehte also die Madonna in den Gegensinn um, rlickte 
den Engel rechts weiter ab, veränderte seine Stellung und entblößte seinen Ober- 
körper. Dann rückte er das Spruchband tiefer, um unter der Hauptgestalt etwas 
leeren Raum zu gewinnen und schob die Kinderengel, die es halten, etwas hinauf, 
um den kompositionellen Zusammenhang wiederherzustellen. Man sieht also, daß 
die Komposition nicht ohne eingehende künstlerische Erwägungen entstanden ist. 
Das Durchverfolgen einzelner Motive wie etwa der rechten Hand des Engels links, 
der Kopfbedeckung Marias, der Haltung des Christkindes wird des weiteren über 
die Absichten des Künstlers Aufschluß geben. 

* * 


+ 

Der „Blumenkranz“ von Daniel Seghers in den Uffzien?) hat alle Eigen- 
schaften, die des Jesuitenpaters Bilder auszeichnen: die reiche und lebendige Kom- 
position, die kraftvolle Zeichnung, die ktihle und lebhafte Farbe (Abb. 5). Seghers 
hat eine neue Art des Blumenstiicks geschaffen; er pflegt seine Blumen nicht als 
geschlossenen Kranz zu ordnen, sondern verteilt sie stets in drei oder vier Büscheln 
oder kurzen Girlanden auf einer Kartusche. Die Verbindung zwischen den ein- 
zelnen Büscheln bilden leichte Ranken. Aber auch die einzelnen Büschel sind 
nicht in kompakten Massen zusammengestellt. Eine Fülle einzelner Blumenstengel 
schießt stets weit heraus, und zwischen die Blüten schieben sich immer Stellen, 
bei denen man hindurchblickt. So entsteht keine geschlossene Masse wie bei 
Brueghel oder bei Snyders, sondern eine ganz malerisch aufgelöste. Im Gesamt- 
eindruck ergibt sich, daß Seghers Blumenkriinze nie als Rahmen, stets als Teile 
des Bildes wirken. 

Die Blumen auf dem Florentiner Seghersbilde umgeben eine männliche Porträt- 
büste. In graubrauner Farbe ist in scharfem Profil der Kopf eines Fürsten oder 
Feldherrn mit dem Spitzbart und dem langen Haar des 17. Jahrhunderts dargestellt; 
ein römischer Soldatenmantel bedeckt Brust und Schulter; um die Stirn ist ein 
Lorbeerkranz gelegt. Das Gesicht hat energische Züge, eine gebogene, schmal- 
rückige Nase, ein stark vorgeschobenes Kinn. Es ist sicher ein Bildnis; für einen 
Idealkopf sind die Züge viel zu individuell. 


(1). Vgl. Sitzungsberichte der kunsthistorischen Gesellschaft in Berlin, Bd. VI (1913), 8. 171, 180 
(Vortrag von L. Burchard) und meinen Artikel über Diepenbeeck in Thieme-Becker: Allgemeines 
Lexikon der bildenden Künstler, Bd. IX (1913). 

(з) Florenz, Uffizien Nr. 830. Auf Kupfer 1,18 ><0,98. Photographiert von Brogi. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1921. 3 33 


Die unzweifelhafte Zuschreibung des Blumenkranzes an Daniel Seghers wird 
durch die bekannte Signatur: D. Seghers Soch Jesu bestätigt. Für den Kopf 
aber müssen wir uns den Maler suchen. Man gelangt, den Schicksalen des Bildes 
nachgehend, auch hier wieder über die Uffizienkataloge, das mehrerwähnte Er- 
werbungs-Journal, die Verzeichnisse von Engerth und Gotti, den Katalog Mechels?) 
zum Inventar des Erzherzogs Leopold Wilhelm, wo das Bild genau beschrieben 
ist: „Ein Stuckh von Öhlfarb auf Khupffer, warin ihro hochfürstlichen 
Durchleücht Ertzherzoghen Leopoldi Wilhelmi etc. Contrafait im Profil 
gemacht, welches mit drey Festonen von vnderschiedtlichen Blumen 
gezierth. — in einer schwartz eben Ramen hoch 7 Span 3 Finger vnndt 
6 Span 2 Finger braidt. — Die Blumen Original von Daniel Segers vnnd 
das Contrafait von Johann von Hoeckh )“. Diese Beschreibung ist so klar 
in der Hervorhebung der auffallendsten Eigentümlichkeiten des Bildes, daß ein 
Zweifel über die Identität nicht entstehen kann. Und auch die Maße stimmen 
überein, wenn man in Betracht zieht, daß der (nicht mehr vorhandene) alte Rahmen 
mit gemessen ist. Eine stilkritische Nachprüfung bestätigt die Angaben des 
Inventars vollständig. Die Malweise mit der etwas breiten und wenig energischen 
Pinselführung entspricht durchaus der Art, die wir aus anderen Bildern Hoeckes 
kennen. Und für die Identifizierung des Dargestellten fehlt es ebenfalls nicht an 
Vergleichsmaterial. Am nächsten stehen dem Porträt in Florenz jene von Hoecke 
selbst gemalten, die L. Vorsterman?) und Petrus de Jode‘) stachen; besonders der 
Stich Vorstermans, der den Erzherzog vor der Madonna kniend darstellt (Abb. 6), 
ist heranzuziehen. Zu vergleichen ist auch das Bildnis in der Porträtsammilung 
Erzherzog Ferdinands von Tirol, dem offenbar eine Vorlage Jan van den Hoeckes 
zugrunde liegt’). Die Identität der auf all diesen Bildnissen dargestellten Persön- 
lichkeit mit der des Bildes in Florenz leuchtet ohne weiteres ein. Damit wären 
die beiden Fragen, die vor dem Gemälde in Florenz auftauchten, die nach dem 
Maler des Bildnisses und die nach dem Dargestellten, zweifelsfrei gelöst. Wir 
haben aber auch die Möglichkeit, die Entstehungszeit des Bildes wenigstens an- 
nähernd festzulegen. Jan van den Hoecke war Hofmaler Erzherzog Leopold Wil- 
helms und begleitete ihn, als er 1647 als Statthalter in die Niederlande ging. Dort 
ist er schon 1651 gestorben“). Das Florentiner Bild muß also zwischen 1647 und 
1651 in den Niederlanden entstanden sein, da Seghers seit einer Italienreise in 
seiner Jugend seine Heimat nicht verlassen hat und Hoecke nur dort mit ihm zu- 
sammen im Auftrag des Erzherzogs gearbeitet haben kann. 

Keinerlei Rätsel gibt uns ein zweites Bild auf, das in ganz ähnlicher Weise drei 
Blumensträuße auf einer Barockkartusche darstellt”). Hier ist statt des Bildnisses 
eine bemalte Madonnenfigur in den Mittelpunkt der Komposition gestellt (Abb. 7). 
Beide Maler, der der Blumen und der der Madonna, haben das Bild signiert. 
Unten steht: J. P. Van Thielen Rigouldts A™ 1645, weiter oben unter der Ma- 


(x) Katalog von 1807 (franz.), S. 144. Engertb, a. a. O., 8. LXIX. Gotti, a. a. O., 8. 353. Hier ist 
als Maler der Büste Teniers angegeben. Mechel, a. a. O., S. 193, Nr. 24. 

(2) Fol. 187, Nr. 141. Jahrbuch der Kunstsammlungen des Kaiserhauses I, II. Teil, 8. CXXII. 

(3) Н. Hymans: Lucas Vorsterman, Brüssel 1893, Nr. 177, 178, 179. 

(4) A. v. Wurzbach: Niederl, Künstlerlexikon I, 8. 693, Nr. 3. 

(5) Vgl. Fr. Kenner: Die Portritsammlung des Erzherzogs Ferdinand von Tirol in Jahrb. der Kunst- 
sammi. des Kaiserhauses XIV (1893), Nr. 215, 216 und Abb, auf Tafel XL 

(6) Vgl. v. d. Branden: Gesch. d. Antwerpsche Schilderschool (1883), 8. 796 f. 

(7) Florenz, Uffizien Nr. 863. Auf Hols, 0,80 X 0,60. 


34 


donna: E. Quellinus!). Van Thielen gilt als der Nachfolger des Seghers, der 
ihm am nächsten kommt. Doch wird auch vor den beiden Uffizienbildern klar, 
welcher Abstand beide Künstler voneinander trennt. Im Schema der Anordnung 
sind sie fast gleich. Die Pracht und Fülle und die Sicherheit seines Vorbildes 
erreicht aber Thielen nicht. Seine Blumensträuße sind gar zu kompakt und schwer, 
die einzelnen Blüten lösen sich nicht recht voneinander, die hervorschießenden 
Zweige wirken recht ärmlich. Im einzelnen fehlt die Leichtigkeit und Grazie. Die 
Kraft der Zeichnung bleibt hinter der seines Lehrers zurück. Etwas trocken und 
unlebendig bleibt bei aller Ähnlichkeit ein herabhängender Zweig gegenüber der 
Spannung und Vollsaftigkeit solcher Dinge bei Seghers; etwas verschwommen und 
flau sind seine Blüten, wenn man die klare, den Bau jedes Kelches erfassende 
Art bei jenem denkt. Und die Farbe erreicht bei Thielen nie die Entschiedenheit 
und den kühlen, reinen Glanz des Seghers; sie bleibt immer etwas monoton und 
trübe. Sind das auch nur Nuancen, so müssen sie doch genügen, beider Künstler 
Werke zu trennen. 

Endlich finden wir noch ein drittes Blumensttick, das deswegen interessant ist, 
weil es von einem seltenen und dabei nicht unbedeutenden Meister herrührt. Es 
stellt eine Blumenguirlande dar, die rechts und links an Ringen befestigt über einen 
Tür- oder Nischenbogen herabhingt*) (Abb. 8). Die vielfach verschnörkelte Be- 
zeichnung Hieronymus Galle f. 1665 ist unten rechts und links auf der Wand 
verteilt. Das Bild verleugnet seine flämische Herkunft nicht; es hat die ganze 
Liebe zur schönen Erscheinung in Form und Farbe, die die Antwerpener Blumen- 
maler auszeichnet. Sicher ist Seghers das Vorbild des Malers gewesen, doch ist 
seine Manier freier und fortgeschrittener als die des Jesuiten; die Blumen sind 
lockerer, nicht so fest und glasartig wie bei jenem. 

Hieronymus Galle ist so gut wie unbekannt. In den Handbiichern findet man 
die Daten: Geburt 1625, Lehrling des Abraham Hack, Meister 1646, 1679 noch am 
Leben“). Wurzbach erwähnt nur zwei Blumenstiicke von ihm, eines im Schloß 
zu Dessau und eines in der ehemaligen Sammlung Raspail zu Paris, das ,,Hiero- 
nimo Galle 1663“ bezeichnet war, van den Branden nur das letztere‘). Die Nach- 
richt von dem Bilde in Dessau fand Wurzbach wohl bei Parthey, wo es kurz er- 
wähnt ist“). Dort ist noch ein zweites, von Wurzbach nicht angeführtes Blumen- 
stück als im Schloß zu Berlin befindlich verzeichnet“). Dieses Bild, das seitdem 
in das „Rote Haus“ im Neuen Garten zu Potsdam gelangt ist, trägt die Bezeich- 
nung Giero Galle ft Anno 1667; es stellt einen Blumenstrauß in einer Messingvase 
dar’), Alle drei Arbeiten sind in ganz ähnlicher verschnörkelter Schrift wie das 
Bild in Florenz bezeichnet; beim Dessauer und beim Potsdamer Stück weicht nur 
die Schreibweise des Vornamens „Gieronimo“ ab. Trotzdem sind sie ohne Zweifel 


(1) In älteren Katalogen sind merkwürdigerweise die beiden Namen vertauscht und Quellinus als der 
Maler der Blumen, Thielen als der der Madonna angegeben. 

(a) Florenz. Uffisien Nr. 946. Auf Holz, 0,44 X 0,66. Die Jahreszahl durch den Rahmen verdeckt. 
(3) Chr. Kramm: De Levens en Werken etc, Amsterdam 1857 ff., Aanbangsel. — J. v. d. Branden: 
Geschiedenis d. Antwerpsche Schilderschool, 1883, 8. 1136. — А. v. Wurzbach: Niederl. Künstler- 
lexikon I (1904). — Rombouts und Lerius: De Liggere II, 8. 167, 172. 

(4) Beide geben offenbar auf eine Mitteilung im Journal des Beaux Arts УШ (1866), S. 157 zuräck. 
Dort die Signatur des Gemäldes abgebildet. 

(5) Parthey: Deutscher Bildersaal I (1863), 8. 471. 

(6) Ebenda, S. 470. 

(7) Auf Leinwand, 0,68 >< 0,458. General-Kat. Nr. 2222. 


35 


von demselben Meister. Diese Liste läßt sich nun sehr vermehren. Zwei weitere 
Blumenstticke Galles befinden sich in der Loge zum Ölzweig in Bremen. Sie sind 
darum aufschlußreich, weil sie ganz in der Art des Seghers je drei Blumensträuße 
um Büsten zeigen, die bei dem einen als „M. Marcellus“, bei dem anderen als 
„Nero“ bezeichnet sind. Beide Bilder sind durch die volle Signatur „Hyronimo 
Galle fec.“ für den Künstler gesichert!). Ferner befindet sich ein ähnliches, 
ebenfalls bezeichnetes Stück, das in der Mitte das Brustbild eines Mönches zeigt, 
im Museum zu Bordeaux”) und ein weiteres im Museum zu Boulogne-sur-mer?). 
Endlich enthielt einen „Blumenkranz“ die 1869 versteigerte Sammlung Kriinner- 
Müller in Regensburg‘); dieses Hieronimo Galle f. Ao. 1658 bezeichnete Bild scheint 
identisch zu sein mit dem laut Katalog von 1899 in der Sammlung Chanenko in 
Kiew befindlichen. Außer diesen Blumenstücken tragen noch mehrere andere 
Stilleben die Signatur Galles. Es sind das eines im Museum zu Orléans, auf dem 
eine Ente, ein Hase, kleine bunte Vögel und ein Kohlkopf zu sehen sind?) und 
zwei in der ehemaligen Sammlung A. von Herrenburger in Dresden, die Obst und 
Pilze darstellen). Das erstgenannte ist G. Galle, die beiden anderen Gironimo 
Galle bezeichnet. Die bei allen dreien von den Signaturen der meisten Blumen- 
stlicke abweichende Form des Vornamens im Verein mit der Verschiedenheit der 
Gegenstände könnte stutzig machen und Veranlassung geben an den gleichnamigen 
Neffen unseres Malers zu denken, der 1674 Lehrling des Jan Erasmus Quellinus 
wurde. Wir sahen aber, daß die Blumenstiicke in Dessau und Potsdam, die un- 
zweifelhaft zu der zusammengestellten Gruppe gehören, ebenfalls die Schreibweise 
des Vornamens mit einem G aufweisen. Zudem ist es mindestens zweifelhaft, ob 
der jüngere Hieronymus Galle überhaupt Maler wurde, da er bereits 1678 seinem 
Vater im Amt eines Stadtboten Brüssels in Antwerpen folgte und seitdem in den 
Liggeren der Lukasgilde, die ihn überhaupt nicht als Meister führen, nicht mehr 
vorkommt. Und jedenfalls wissen wir auch gar nicht, welcher Art die Bilder 
gewesen sein könnten, die er gemalt hätte’). Bis auf weiteres darf man also an- 
nehmen, daß auch die Wild- und Fruchtstilleben vom älteren Hieronymus Galle 
sind. Er hätte sich demnach nicht auf das Malen von Blumenstticken in der Art 
des D. Seghers beschränkt, sondern, wie seine Zeitgenossen Jan van der Hecke 
und Jan Anton von der Baren, auch Stilleben anderer Art gemalt. Wie deren 
Wild- und Fruchtstilleben zeigen auch die seinigen den Einfluß Jan Fyts, gehen 
aber stilhistorisch über diesen hinaus und stehen etwa auf der Stufe des Pieter 
Boel. 


(x) Vgl. Katalog der „Ausstellung historischer Gemälde aus bremischem Kunstbesitz“ 1904. Das eret- 
genannte Bild mißt 0,82 >< 0,66, das andere 0,84 >< 0,68. 

(a) Bordeaux, Museum Nr. 226. Auf Leinwand, 0,55 X 0,40. 

(3) Boulogne s/M., Musée municipal. Gal, E, Nr. 32. 

(4) Val. Wilhelm Schmidt, in der Zeitschrift f. bild. Kunst, Bd. IV (1869), S. 192. 

(5) Vgl. Inventaire des Richesses d'Art de la France; Province, Monuments civils, Bd. I, 8. rag. 
Auf Leinwand, 1,05 X 1,36. 

(6) Versteigerungskatalog Lepke Nr. 1531 vom 1.12.1908, Nr. 27, 28. Beide Stücke, die 1,00 >< 1,22 
messen, dort abgebildet. 

(7) Zum jüngeren Hieronymus Galle vgl. v. d. Branden, a. a. O., 5. 1137 und Rombouts und Lerius: 
Liggere II, S. 430, 432, 686 Anm. Die Angabe seines Namens auf S. 686 unter dem der Künstler, 
für die 1712/13 das Totengeld an die Gilde bezahlt wurde, ist ein Zusatz der Herausgeber der Liggeren. 
Tatsächlich ist er nur zweimal im Jahre 1673/74 als Lehrling des J. E. Quellinus erwähnt und später 
nicht mehr. Über die beiden Galle vgl. auch des Verfassers Artikel in dem XIII. Band des Künstler- 
lexikon von U. Thieme. 


36 


Die beiden flämischen Tierstticke der Uffizien gehören wieder zu den Bildern, 
die aus Wien kamen; es sind das eine Eberjagd von Franz Snyders und ein Hüher- 
hof mit einem Raubvogel, der als ein Werk des Fyt gilt. Beide Bilder befanden 
sich laut dem Katalog Mechels 1783 in der Belvederegalerie!). Weiter zurück sind 
sie nicht zu finden, wenn das Bild von Snyders nicht etwa jenes ist, das sich 
1737 in Prag befand und über Preßburg 1781 nach Wien kam ). Gewöhnlich wird 
dieses Stück mit dem von Hunden gestellten Eber im Wiener Hofmuseum identi- 
fiziert, der 1783 ebenfalls im Belvedere hing. Anhaltspunkte ftir eine Entscheidung 
dieser, übrigens keinerlei kunsthistorische Aufschlüsse versprechenden Frage, ent- 
hält das Inventar von 1737 nicht. Auf dem Florentiner Bild ist ein nach links 
laufender Eber dargestellt, den ein Hund am linken Ohr gefaßt hat, während ein 
zweiter ihn von hinten angreift; drei weitere verwundete Hunde wälzen sich vorn 
am Boden; ein sechster eilt von rechts herbei). Am linken Bildrande erscheinen 
zwei barhäuptige Jäger in Zeittracht mit Spießen, die den Eber abfangen (Photo- 
graphie Alinari 1007). Die Komposition stimmt in mehreren Teilen genau mit 
der Eberjagd im Dresdener Museum überein. Der Eber ist bei beiden Arbeiten 
gleich und ebenso fünf von den sechs Hunden. Entscheidend für die Verschieden- 
heit im Eindruck des Ganzen ist, daß die menschlichen Figuren ganz anders an- 
geordnet sind und der Hund, der den Eber am Ohr fassend, bei der Florentiner 
Fassung, die Bildmitte füllt, in Dresden ganz fehlt. Dieses und die Feststellung 
mehrerer kleiner Verschiedenheiten bei sonst identischen Teilen führt zu dem 
Schluß, daß beide Arbeiten originale Schöpfungen sind. Auch gegen die Qualität 
keines der Bilder ist Entscheidendes einzuwenden. Die Übernahme einzelner Teile 
aus einem Bilde in das andere scheint eine oft geübte Gewohnheit des Snyders 
zu sein. Wir erinnern nur an die Hündin mit den Jungen, die nicht weniger als 
dreimal auf seinen Küchenstilleben vorkommt‘). Daß Snyders, wie sein Meister 
Rubens, sich bei der Vorbereitung und Untermalung großer Stticke der Hilfe seiner 
Schüler bedient hat, dürfte kaum zweifelhaft sein; die endgültige Ausführung scheint 
er aber nie fremden Händen überlassen zu haben. 

Das angeblich von Fyt gemalte Gefitigelbild zeigt zwei Hähne, die ihren Streit 
unterbrochen haben, weil ein gemeinsamer, mächtiger Feind sie in Gestalt eines 
Habichts bedroht; zwei Hennen und mehrere Keuchel scheinen die Gefahr noch 
nicht zu ahnen (Abb. 9)°). Das Bild galt schon in Wien als Fyt. Demgegentiber 
wäre zu bemerken, daß der auf einem Zweige sitzende Habicht in genau der 
gleichen Stellung auf einem Stich des Pieter Boel vorkommt). Für die Zu- 
schreibung an diesen Meister statt an seinen Lehrer Fyt würde das allein aber 
schon deswegen nicht entscheidend sein, weil in derselben Stichfolge auch sonst 
Teile aus Bildern Fyts verwendet sind, wie z. B. einer der Falken und der fal- 
lende Reiher aus dem Bilde in Schleißheim, das die volle Namensbezeichnung Fyts 
trügt ). Diese Beobachtung führt aber doch auf die richtige Spur. Trotz mancher 
Verwandtschaft mit der Kunstweise Fyts weicht das Bild in mehreren Punkten 


(1) Mechel, а. a. O., 8. 194, Nr. so und 8. 194 Nr. 34. Vgi. auch Engerth, a, a. O. I, 8. LXVIII, LXIX. 
(2) Jahrb. der Kunstsammi. des Kaiserhauses VII, U. Teil, S.CLXIV, Nr. 569. Vgl. Engerth, a. a. O., 
Nr. 1253. | 

(3) Florenz, Uffiaien Nr. 220. Auf Leinwand, 2,17 X 3,07. 

(4) Dresden, Galerie Nr. 1192, 1105 und ohne die Jungen Paris, Louvre 2149. 

(5) Florens, Uffizien Nr. 107. Auf Leinwand 0,91 >< 1,32. 

(6) Bartsch Nr. 6. 

(7) Abgebildet bei Bassermann-Jordan, Unveröffentlichte Gemälde alter Meister, Band Ш, Tafel 49. 


37 


deutlich von seinen beglaubigten Werken ab. Es hat weniger die sachliche Wieder- 
gabe der Dinge als ihre lebendige Bewegung zum Gegenstande, es ist mehr in 
Raum und Licht komponiert als es Fyt pflegte, endlich zeigt es in der Farbe ein 
Überwiegen von Schwarz, neben dem nur Braun und Gelb in geringer Ausdeh- 
nung eine Rolle spielen. Die Verwandtschaft mit Arbeiten des Pieter Boel, wie 
z. B. den drei Adlern im Städelschen Institut zu Frankfurt a. M.!) ist in all diesen 
Punkten so eng, daß wir das Bild für diesen Meister in Anspruch nehmen möchten. 
* * 
* 

Vom älteren Jan Brueghel besitzt die Uffiziengalerie mehrere bemerkenswerte 
Tafeln, die zum alten Besitz der Sammlung gehören. Darunter befindet sich ein 
Hillenbild*), das der Katalog Peter Brueghel d. A. zuschreibt. Es ist jedoch eine 
jener frühen Arbeiten Jans, wie sie auch in der Ambrosiana zu Mailand (bez., dat. 
1595), in den Galerien zu Cassel (bez., dat. 1597) und im Haag (bez., dat. 1597) 
und in anderen Sammlungen zu finden sind. Das Bild in Florenz zeigt links den 
Thron Plutos, vor dem Orpheus mit der Leier steht, um die Befreiung Euridikens 
zu erwirken. Weiter rechts blickt man in eine Höllenlandschaft mit Bergen und 
Gebäuden, ads denen Flammen emporschießen; sie ist von den Leibern der Ver- 
dammten und allerhand Höllenfiguren belebt. Alles ist in jene grünliche Farbe 
getaucht, die solchen Friihbildern Jans ihren eigenen Reiz verleiht. Besonders nahe 
steht dem Bilde eine Juno in der Unterwelt im Besitz der Dresdner Galerie, die 
1596 (die letzte Zahl undeutlich) datiert und voll bezeichnet ist. Sowohl das Ko- 
lorit, die feine, klare Zeichnung und der schöne, emailleartige Farbauftrag, wie 
auch die Anordnung der Bildteile sind gleichartig. Insbesondere kehrt bei beiden 
Werken ein ganz reines Blau an einigen Gewändern wieder, das mit dem Grün 
der Umgebung sehr eigenartig zusammenklingt. Die Bilder sind offenbar gleich- 
zeitig entstanden. Ја, sie dürften überhaupt Gegenstlicke sein, da sich die Kom- 
position entspricht, Maße und Material übereinstimmen). Ein frühes Werk Jan 
Brueghels muß auch die Landschaft mit Christus und den Aposteln (Photographie 
Alinari Nr. 442) sein‘). Sie zeigt den Blick von einem bewaldeten Bergriicken 
auf eine unten im Tal liegende Stadt mit einem großen Zentralbau. Offenbar 
ist Jerusalem mit dem Tempel gemeint. Auf diesen Tempel und die Stadt 
weist ein Mann, der im Mittelgrunde auf der Höhe steht, seine Genossen hin. Das 
bisher noch nicht gedeutete Bild stellt das Gespräch dar, in dem Christus die Frage 
der Apostel nach dem Schicksale Jerusalems beantwortet (Ev. Marci XIII, 3ff.). 
Zu dieser Deutung auf eine Szene, die der Passion unmittelbar vorangeht, paßt 
auch die frühere Verwendung des Bildes. Auf seine Rückseite war die (im fol- 
genden zu besprechende) Golgatha-Grisaille Dürers geklebt und das Ganze bildete 
den Flügel zum Golgatha-Bilde Brueghels. Das Bild dürfte übrigens etwas früher 
entstanden sein als dieses (von 1604); es zeigt noch starke Verwandtschaft mit 
den Arbeiten, die bald nach der Rückkehr aus Italien entstanden, wie z. B. der 
„Anbetung der Könige“ von 1598 im Wiener Hofmuseum. Das Golgathabild, das 
die farbige Kopie der erwähnten Grisaille von Dürer (Photogr. Alinari 6641) ist, 


(1) Frankfurt, Städelsches Institut, Nr. 163. Phot. von Bruckmann. 

(2) Florens, Uffizien Nr. 974. Auf Kupfer, o, as >< 0,34. Das Bild befand sich schon 1788 in der 
Uffiziengalerie als Werk „des Bruders des Jan Brueghel“. Vgl. Lanzi: La Reale Galleria di Firenze, 
Florenz 1782, 8. 141 und Zacchiroli: Description de la Galerie royale de France, Florenz 1783, П, 
8. 74, Nr. LV. 

(3) Das Bild in Dresden (Nr. 877) ist auf Kupfer gemalt und mißt 0,255 X 0,355. 

(4) Florenz, Uffizsien Nr. 761. Auf Holz, 0,59 X 0,42. 


38 


trägt eine ausführliche Inschrift!), die besagt, die Erfindung sei von Dürer, die Aus- 
führung aber von Jan Brueghel, und das Datum 1604. (Photographie Alinari 443.) 
Lehrreich ist der Vergleich der beiden Arbeiten. Am strengsten hält sich Brueghe 
in den Figuren des Vordergrundes an sein Vorbild; hier kopiert er genau und fügt 
nur die Farbe hinzu. Die Figuren des Mittelgrundes werden zwar genau über- 
nommen, aber die Härten der Zeichnung sind gemildert. Ferner treten hier die 
echt Brueghelschen hellgrünen Laubmassen und seine feingestrichelten Boden- 
flächen deutlich hervor. In der Ferne endlich ist die Komposition willkürlich ver- 
ändert. Schroffe Bergrücken sind ausgeglichen, ein Höhenzug am linken Bildrande 
ist seines steilen Abfalls beraubt und von Vorbergen umgeben. So hat sich 
Brueghel auch nicht versagen können, gelegentlich perspektivische Härten aus- 
zugleichen. Bei Dürer scheint der Boden, in starker Aufsicht wiedergegeben, an- 
zusteigen; das ist bei Brueghel durch kleine Verschiebungen und die Einfügung 
von Erdwellen gemildert. Dieses Verhältnis des Spätrenaissancekünstlers zu seiner 
hundert Jahre älteren Vorlage lehrt, daß diese Zeit die Kraft und die Ausdrucks- 
fähigkeit der Spätgotik bei Figtirlichem zu schätzen wußte, in der Perspektive und 
im Landschaftlichen aber ihre eigenen Errungenschaften sehr bewußt betonte. 
Endlich besitzen die Uffizien auch ein Bild aus der mittleren Zeit des Jan Brueghel. 
Es stellt eine Straße dar, die von links vorne nach rechts hinten einem Walddorf 
zuführt; vorne trifft sie auf einen Bach, dessen Furt Wagen, Vieh und Reiter 
durchqueren; links im Hintergrund erblickt man eine tiefe Waldlichtung). Das 
Bild ist eine — allerdings stark veränderte — Wiederholung der „Furt“ in der 
Münchener Pinakothek (dat. 1605); auch einige der Figuren, wie z. B. der Reiter 
rechts vorne, sind wieder verwendet. Bei dem Datum der voll signierten Arbeit 
fehlt aber die letzte der vier Zahlen, so daß nur 161 . zu lesen ist. Nach dem 
malerischen Charakter, der noch nicht die Breite und Lockerheit der Arbeiten von 
1612 und der Folgezeit aufweist, wird man es nicht viel später als 1610 oder 1611 
ansetzen können. 


Ein Blumenstück von Brueghel besitzt die Uffiziengalerie nicht. Ihm zu- 
geschrieben werden zwei Landschaften mit Blumen und Stilleben im Vorder- 
grunde; es sind Darstellungen der vier Elemente, personifiziert in vier Frauen- 
gestalten mit den üblichen Attributen“). Die Figuren sind, wie fast immer bei 
derartigen Bildern, von anderer Hand und zwar hier von der des Hendrik de 
Clerck, der häufig solche Staffagen malte (Photographie Anderson 6754 u. Abb. 10). 


(1) Uffisien Nr. 761 bis bez. А INVENTOR · 1505 BRVEGHEL . РЕС. 1604. Auf Hols, 0,59 X 0,42. — 
Das Bild befand sich schon 1782 zusammen mit dem vorerwähnten und der Dürerzeichnung in den 
Ufäzien. Vgl. Lanzi (1782), a. a. O., 8. 32, 137; Zacchiroli (1783), a. а. O., П, 8. zogf. 

(2) Uffizien Nr. 858, bez. BRVEGHEL 1:61. · Auf Kupfer, 0,24 >< 0,37. Auch dieses Bild schon 1782 
bei Lanzi, a. a. O., S. 144 und 1783 bei Zacchiroli, а. а. О. U, 8. 69. Eine hübsche aquarellierte 
Vorzeichnung su ihm befindet sich in der Kupferstichsammlung König Friedrich August II. in Dresden 
(249 >< 385 mm, phot. Braun Nr. 69086), eine Kopie in Federzeichnung im Kupferstichkabinett zu 
Berlin (Inv. Nr. 764, 255 X 390 mm). 

(3) Uffisien Nr. 884, 903. Auf Kupfer, je o, 36 >< 0,94. Bei Lanzi (1782) beschrieben auf 8. 137; er 
fügt hinzu, es seien wohl Wiederholungen aus des Meisters Schule, da sich ähnliche Darstellungen 
in der Ambrosiana su Mailand befänden. Letztere Angabe hat zu dem immer wiederholten Irrtum 
geführt, es handle sich bei den Florentiner Stücken um Kopien; die Mailänder Bilder, die allein ge- 
meint sein können — zwei Bilder mit Darstellungen von Wasser und Feuer — sind aber ganz ver- 
schieden von ihnen. Vgl. auch Zacchiroli, а. a. О. П, S. 103 und 108. 


39 


Für die anderen Teile der Bilder fehlt es zwar nicht an Berlihrungspunkten mit 
den sicheren Arbeiten Brueghels, ihre Qualität steht aber doch so weit unter der 
des Meisters, daß man sie einem Nachahmer zuschreiben muß, und zwar dem 
Abraham Govaerts. Von diesem Antwerpener Maler, der 1607 Meister der 
Lukasgilde wurde und 1626 starb, gibt es eine Reihe datierter und bezeichneter 
Werke, die ihn als einen Nachfolger Jan Brueghels zeigen. Besonders in seiner 
späteren Zeit verlegte er sich darauf, dessen Landschaften mit Blumen und alle- 
gorischen Figuren nachzuahmen. Bei dieser Übernahme büßte Brueghels Kunst- 
weise den größten Teil ihrer Kraft und ihres Reichtums ein. Die Bäume be- 
kommen bei Govaerts etwas Trockenes und Schematisches. Die Spitzen der Äste, 
die bei seinem Vorbild fein und klar in die Luft ragen, hängen schwer und plump 
gegliedert herab. Zweige mit Früchten, die sich in Büscheln locker aneinander- 
reihten, werden in der Fläche ausgebreitet, als wären sie plattgedrückt. Die Durch- 
blicke in das Waldinnere verlieren ihre räumliche Wirkung, ferne landschaftliche 
Teile verschwimmen in unklaren Formen. Bei den Blumen, den Frtichten, den 
Tieren des Vordergrundes machen sich besonders starke Unterschiede bemerkbar. 
Statt daß eine Blume als offener Kelch wirkt, erscheint sie als ausgezackte Sil- 
houette. Die Stengel und Blätter geben nicht die Illusion des Aus-der-Erde- 
wachsens und der organischen, gewundenen oder gebogenen Form, sondern sehen 
aus als wären sie aus Blech und Draht und steckten im Boden wie abgeschnittene 
Blumen in einem Gefäß mit Sand. Kärglich sind die Stilleben am Boden aus- 
gebreitet, und ohne alles Leben sind die Tiere. Man muß neben ein Stück wie 
Govaerts „Wasser und Erde“ in der Braunschweiger Galerie das Bild gleichen 
Gegenstandes von Brueghel in Wien oder den „Geruch“ im Pradomuseum an- 
sehen, um den Unterschied zwischen der Fülle und Pracht dieser verschwende- 
risch über den Boden ausgebreiteten Dinge beim Vorbild und der Ärmlichkeit und 
Ängstlichkeit beim Nachahmer zu erkennen. Die Eigenschaften des letzteren 
zeigen deutlich die beiden Bilder in Florenz. Für das Bild mit den Figuren von 
Feuer und Luft können wir ferner auf ein direktes Vorbild bei Brueghel hin- 
weisen; es ist eine Darstellung der Schmiede des Vulkan mit Venus, die mehrfach 
vorkommt!). Das Gewölbe auf unserem Bilde ist von einem Exemplar in der 
Galerie Doria in Rom genau entlehnt, ebenso mehrere Figuren des Mittelgrundes 
und der größte Teil der Waffen und Geschmeide. Aber auch hier gilt, daß alles 
trockener, Armlicher, unklarer ist. So ist ein reizvoller Durchblick links mit dem 
Feuerschein und den großen Rädern und Hämmern durch eine langweilige Wand 
mit Rüstungen ersetzt, der obere Durchblick in der Mitte in seinen Konturen ver- 
einfacht und allen malerischen Reizes entkleidet. Überall ist die Feinheit der 
Lichtführung verloren gegangen. Und nun sind auch noch diejenigen Teile, die 
hinzugefügt wurden, in der Erfindung unsicherer als die aus dem Bilde der Galerie 
Doria übernommenen, so daß die Arbeit des Nachahmers mit ihren typischen Merk- 
malen deutlich wird. 

Govaerts ist nicht der einzige Brueghelnachahmer, der die Darstellung von 
allerlei Getier und Blumen in kleinem Maßstabe von dem Meister übernahm. Es 
bildete sich vielmehr eine ganze Schule solcher Kleinmeister. Einer der frucht- 
barsten der Art ist Jan van Kessel d. A., von dem die Uffiziengalerie drei kleine, 
miniaturartige Landschaften mit Fischen, Früchten und Blumen, Fischottern und 


(x) In der Galerie Doria in Rom, im Kaiser Friedrich-Museum in Berlin, in der Galerie in Dresden, 
in der Schleißheimer Sammlung, in der Sammlung Cremer in Dortmund. 


40 


Abb. 7. J. P. van Thielen und Erasmus Quellinus: 


Abb. 8. Hieronymus Galle: Blumengirlande Madonna im Blumenkranz Florenz, Uffizien 


Florenz, Uffizien 


Abb. 9. Pieter Boel: Geflügelstück Florenz, Uffizien 


Zu: ZOEGE v. MANTEUFFEL, BILDER FLÄMISCHER MEISTER IN DER GALERIE DER UFFIZIEN 
ZU FLORENZ 


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Tafel 


Abraham Govaerts | Abb. 10. Feuer und Luft 


Pieter Neeffs d. ]. Abb. 11. Kircheninneres 


Zu: K. ZOEGE VON MANTEUFFEL, BILDER FLAMISCHER MEISTER 
IN DER GALERIE DER UFFIZIEN ZU FLORENZ. 


M. f. K. Bd. I, 1921 


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anderen Wassertieren und Insekten und ein „Kuriositätenkabinett“ mit Affen und 
Amoretten besitzt!) Sehr erfreulich sind diese Bilder nicht. Die Landschaft ist 
in einem kühlen, graugrünen bis graubraunen Ton gemalt und in der Ferne flau 
und verschwommen; der Vordergrund hat eine nicht sehr angenehme Hirte. Die 
Seetiere, Fische, Kuriositäten, auf die es dem Künstler offenbar in erster Linie 
ankam, sind sorgfältig und mit viel Liebe in hübschen, blassen Farben gemalt. So 
kann man sich bei einer Betrachtung aus nächster Nähe an der sorgfältigen Aus- 
führung dieser Dinge erfreuen; aus einer gewissen Entfernung verlieren die Bilder 
aber alle Wirkung. Bilder Jan van Kessels sind nicht selten; sie erfreuten sich 
seinerzeit einer nicht geringen Schätzung. Uns erscheint aber das Lob, das Weyer- 
man!) Werken, wie den „Vier Weltteilen“ in der Schleißheimer Galerie erteilte, 
unverständlich. Diese aus von Rubens, Snyders und anderen entlehnten Elementen 
kompilierten, in einem kleinlichen Stil gemalten Arbeiten können nur der Freude 
an der Fülle und Vielseitigkeit der dargestellten Gegenstände ihren Ruf verdankt 
haben. 

In ganz anderer Weise ist ein fünftes, viel größeres Bild der Uffiziengalerie ge- 
malt, das, ohne bezeichnet zu sein, als Arbeit desselben Künstlers gilt“). Es ist 
ein Stilleben aus einer Delfter Kumpe, einem Weinglas mit einer Zitrone, Hummer, 
Äpfeln, Trauben und Pflaumen auf einer braunen Tischplatte, die teilweise von 
einem grünen Teppich bedeckt ist. Die Erinnerung an Brueghel wird vor diesem 
Bilde durch die an Snyders und Jan Davidsz de Heem verdrängt. Nun läßt sich 
die Zuschreibung dieses Stückes an einen Jan van Kessel durch den Vergleich 
mit bezeichneten und datierten Arbeiten gleicher Art in anderen Galerien einwand- 
frei rechtfertigen. Ein solches Stilleben von 1653 bewahrt das Museum in Bor- 
deaux, eines von 1654 die Dresdener Galerie, ein sehr ähnliches Wildstilleben von 
1655 die Galerie in Braunschweig. Sicher von derselben Hand ist ferner eine 
Reihe J. van Kessel bezeichneter Blumenstücke in der Sammlung Guimbal (von 
x649)*) in der Augsburger Galerie (von 1653) und in der Galerie zu Hermann- 
stadt (von 1654); dazu kommen noch undatierte, aber voll bezeichnete Blumen- 
stücke in den Galerien von Bordeaux, Hermannstadt, Madrid, Schleißheim, Straß- 
burg und andere unbezeichnete. Die Frage ist nun die, ob der Maler jener klein- 
figurigen Tierbilder mit dem dieser großfigurigen Stilleben identisch ist. Auf den 
ersten Blick scheint es, daß die Frage zu verneinen sei. Sieht man sich die Signa- 
turen und Daten an, so ergibt sich folgendes: die Stilleben und Blumenstticke sind 
in Kursivschrift mit großen Anfangsbuchstaben bezeichnet und tragen Daten 
zwischen 1649 und 1655. Die kleinfigurigen Bilder tragen Daten zwischen 1660 
und 1666 und sind mit Antiquabuchstaben bezeichnet. Nichts liegt näher als der 
Schluß zuf einen älteren 1649—1655 und einen jüngeren, 1660-1666 tätigen 
Künstler. Doch wird schon durch zwei Bilder in der Eremitage zu Petersburg 
dieser Schluß sehr brüchig. Das eine stellt der Venus Besuch in der Schmiede 
des Vulkans dar und zeigt die Art Jan Brueghels, ist aber mit Kursivbuchstaben und 
der Jahreszahl 1662 bezeichnet. Das andere ist eine Umrahmung, wie sie die 


(х) Florena, Uffisien Nr. 745, bez. LVKESSEL FECIT ANNO 1661, auf Kupfer, 0,18 X 0,28; Nr. 908, 
auf Kupfer, 0,35 X 0,29; Nr. 881, auf Kupfer, 0,17 X 0,24; Nr. 896 bes. IVKESSEL FECIT ANNO 1660, 
auf Kupfer 0,18 >< 0,24. 

(2) J. C. Weyerman, De Levens-Beschryvingen II (1729), 8. 208 fl. 

(з) Florens, Uffizien Nr. 798; auf Leinwand, 0,30 X 0,41. 

(4) Versteigert von Fr. Muller in Amsterdam 14. 11. 1905, Nr. oa. Zu den anderen Stilleben vgl. die 
Kataloge der genannten Sammlungen. 


47 


Blumenstiicke zum Teil auch sind, aber aus Waffen, Vögeln, Wild, Jagdgeräten, 
Blumen, Fischen und Insekten; es bildet also gleichsam ein Mittelglied zwischen 
den beiden Bildarten. Bezeichnet ist es in der Art der kleinfigurigen Stücke in 
Antiqua und mit dem Datum 1664. Ез mißt 28,4 zu 28,0 cm, während die Schmiede 
des Vulkan 59,9 zu 83,2 cm groß ist. Offenbar ist also die Verschiedenheit der 
Bezeichnungen von der Bildgröße abhängig, wie es denn auch einleuchtet, daß 
bei kleinem Format und entsprechend kleinen Buchstaben die Antiquaschrift besser 
zu lesen ist als die kursive. Man hat früher versucht, die großfigurigen Stilleben 
dem Hieronymus Kessel zuzuschreiben, besonders auf Grund des Dresdener Stückes, 
dessen Datum fälschlich 1634 gelesen wurde. Hieronymus (oder Jeroom) Kessel 
war aber sicher nur Bildnismaler und bezeichnete seine Bilder mit H. A KESSEL. 
Zudem ist es sehr zweifelhaft, ob dieser 1594 bereits als Schüler des Frans Floris 
bezeichnete Maler 1655 noch am Leben war. Eine Aufteilung der Stilleben 
zwischen unserem Jan van Kessel (1626—1679) und dem jtingeren Künstler gleichen 
Namens (1654—1708) ist ebenfalls unmöglich, da letzterer Bildnismaler und zudem 
1660 erst sechs Jahre alt war. Einen weiteren in Betracht kommenden Künstler 
kennen wir nicht. Wir müssen also daran festhalten, daß es sich bei allen ge- 
nannten Bildern um Jan van Kessel d. A. handelt!). Stilkritische Bedenken da- 
gegen werden durch die Erwägung hinfällig, daß es sich um Bilder von ganz ver- 
schiedener Größe handelt und daß beide Arten in enger Anlehnung an fremde 
Vorbilder entstanden sind. Bestätigt wird dieses Resultat durch alles, was die 
älteren Quellenschriften über Jan van Kessel zu berichten wissen. So nennt ihn 
Cornelis de Bie schon in seinem 1661 (also vor der Entstehung der uns bekannten 
kleinfigurigen Bilder) abgeschlossenen Gulden Cabinet als Maler von Blumen und 
Früchten einerseits und kleinen Tieren andererseits; besonders habe er „on- 
gepluymde dieren, ghevogelt cleyn en groot . . . geschelpte zu ghedroch dat onder 
t'water glyd en t’voeteloos ghecruyp dat t' drooghe sandt doorsnydt“ gemalt). 
Und Weyerman erwähnt ausdrücklich Werke von ihm, die in der Art Brueghels 
gemalt sind, neben solchen in der Art Heems ). Gegenüber diesen Zeugnissen 
wird man also mit einer Aufteilung zwischen Jan van Kessel d. A. und einem 
zweiten rein hypothetischen Künstler gleichen Namens, wie sie Rudolf Oldenbourg 
neuerdings vorgeschlagen hat‘), besser warten, 

Erfreulicher als die Arbeiten der beiden besprochenen Brueghel-Schüler ist ein 
sehr hübsches Bild von Adriaen Stalbemt“). Es stellt eines der charakteristischen 
„Wasserschlösser“ Belgiens dar und ist mit drei Pilgern und einem kleinen Segel- 
boot staffiert (Photographie von Brogi Nr. 14771). In der Anwendung von Kulissen 
und Versatzstücken im Vordergrunde noch unfrei, zeigt es im Mittel- und Hinter- 
grunde schon fortgeschrittene Züge; eine feine Tonigkeit und eine klare, zarte Licht- 


(x) Auffallend ist, daß in den Einnahmebüchern der Liggeren von 1644/45 einmal ein Jan van Kessel 
bloemschilder, Wynmeester mit 6 fl. und dann nochmals ein Jan van Kessel, schilder unter den „volle 
meesters“ mit 20 fl. als neuaufgenommener Meister verzeichnet wird. Da in dem Aufnahmeverzeichnis 
aber nur ein Jan van Kessel vorkommt und auch sonst nirgends Anhaltspunkte dafür auftauchen, 
daß es zwei etwa gleichaltrige Künstler des Namens gegeben hat, müssen wir annehmen, daß die 
doppelte Eintragung auf einem Versehen beruht. Vgi. Rombouts und Lerius Liggeren, Bd. II, 8. 155, 162. 
(2) Corn. de Bie, Het Guiden Cabinet, 1662, 8. 409. 

(з) J. С. Weyerman, a. a. О. II (1729), 8. 208. 

(4) R. Oldenbourg, a. a, O., 8. 148. 

(5) Florenz, Uffizien Nr. 710. Auf Holz, 0,49 0,79. Schon im Katalog von 1783 als Arbeit Stalbemts 
beschrieben. 


42 


führung bei ruhiger, abendlicher Beleuchtung verleihen ihm den Reiz einer zarten 
und ausgeprägten Stimmung. Es dürfte zu den späteren Werken des seltenen 
Meisters gehören und später entstanden sein als das 1620 datierte Bild im Ant- 
werpener Museum. 

Eine andere Richtung der flämischen Landschaftsmalerei, die stärker in der ita- 
lienischen Atmosphäre mit ihrer Befruchtung durch italienische und internationale 
Kunst und das Leben in Rom aufging als es Jan Brueghel und seine Nachahmer 
taten, ist in den Uffizien ebenfalls gut vertreten. Die Galerie besitzt nicht weniger 
als zehn Bilder von Paul Bril, worunter sich eines der frühesten datierten Stücke 
von 1591 und andere datierte von 1600 und 1614 befinden. Aus der letzten und 
besten Zeit nach 1620 ist allerdings keine Arbeit vorhanden’). — Von Brils Nach- 
folger, Marten Ryckaert, finden wir eines seiner sehr seltenen Werke, eine An- 
sicht des Wasserfalles von Tivoli, die mit dem Monogramm MR und der Jahres- 
zahl 1616 versehen ist*). Sie steht dem Bilde von 1624 im Provinzialmuseum 
zu Hannover sehr nahe und ist wie dieses ganz in der Art des Bril in seiner mitt- 
leren Zeit gemalt. Von einem Einfluß Joos de Mompers, den die ältere Literatur 
bei Marten Ryckaert bemerkt haben will, ist bei beiden Bildern nichts zu spüren. 

Endlich seien noch einige späte Ausläufer der von Jan Brueghel geschaffenen 
Art des Landschaftsbildes mit reicher Staffage in kleinen Abmessungen erwähnt. 
Von Karel Breydel, der besonders durch seine Reitergefechte in der Art Frans 
van der Meulens bekannt ist, hängen in den Uffizien zwei kleine Landschaften 
mit Staffage von Bauernfiguren®). In der Malerei sehr spitzpinselig, zeigen sie 
deutlich abgesetzte Pläne von brauner, graugrüner, graublauer Färbung, aus denen 
die lebhaft gefärbten Figuren grell herausleuchten. Es dürfte sich um frühe Ar- 
beiten des Künstlers handeln, der bis 1733 tätig war. — Etwas breiter und male- 
rischer ist die Landschaft von Boudewyns, die eine Wallfahrtskirche in lombar- 
disch-gotischem Stil am Ufer eines Flusses darstellt und mit zahlreichen Figuren 
von Wallfahrern staffiert ist‘). Sie zeigt den üblichen warmbraunen Ton der 
späteren flämischen Landschaften mit den lebhaft farbigen Flecken der Staffage- 
figürchen. — Ähnlich in der Gesamthaltung ist auch die voll bezeichnete Ansicht 
eines Dorfes von Matthys Schoevaerts, einem Schüler des Boudewyns. Doch 
ist das Bild in breiten Pinselstrichen roher und weniger sorgfältig gemalt als es 
sonst die Arbeiten Schoevaerts zu sein pflegen“). 

% % 
z 

In der Uffiziengalerie hängen heute nur noch zwei Bilder des älteren Pieter 

Neeffs*). Beide stellen die von ihm bevorzugten Kircheninterieurs gotischen Stils 


(1) 1915 waren nur folgende Stücke ausgestellt: Nr. 104 (Zuschreibung zweifelhaft), 807 (Hasenjagd, 1600), 
817 (Hirschjagd, 1591), 816 (Hafenbild), 871 (Landschaft mit Schloß, Zuschreibung zweifelhaft). Sie 
lassen sich alle bis in den Anfang des 19, Jahrhunderts in den Katalogen nachweisen, mehrere auch 
bis 1790. VSI. auch A. Mayer: Das Leben und die Werke der Brüder Matthäus und Paul Bril, Leipzig, 
ı910, passim. 

(з) Florens, Uffizien Nr. 833. Auf Kupfer, 0,48 >< 0,66. Zum erstenmal erwähnt im Katalog von 1783, 
U, 8. 66, Nr. XIII. 

(3) Florens, Uffisien Nr. 804, auf Hols, o, a3 >< 0,27 und Nr. 814, auf Hols, o, a1 X< 0,37. Beide zum 
erstenmal im französischen Katalog von 1807. Bei 814 Reste einer Signatur C.. br. y. e. 

(4) Florens, Uffizien Nr. 907. Auf Leinwand, 0,33 X 0,48. Zwei weitere Arbeiten von Boudewyns 
(Nr. 824, 832) waren 1915 nicht auagestellt. 

(5) Florens, Uffisien Nr. 790. Auf Hols, 0,19% 0,26. Bez. М SCHOEVARTS. 

(6) In älteren Katalogen findet sich noch em Gewälbe mit dem тда des Seneca (Nr. 767), das PEETER 


43 


bei künstlicher Beleuchtung dar und sind mit Figuren in der Tracht des 17. Jahr- 
hunderts staffiert. Das eine ist einwandfrei mit „Nefs 1636“ bezeichnet!) Das 
andere ist unbezeichnet und galt früher als ein Werk des älteren Hendrik van 
Steenwyk"*). (Photographiert von Вгорі, Nr. 776.) Jantzen aber ist in seinem 
Buch über „Das niederländische Architekturbild“ mit Recht für die Autorschaft 
des älteren Pieter Neeffs eingetreten“). Mit dieser Bestimmung erhält die tradi- 
tionelle Angabe eines Frans Francken als Maler der Staffagefiguren des Bildes, 
die in den neueren Katalogen fehlt, eine erneute Stütze. Sie sind sicher von Frans 
Francken II (158r1—1642), und zwar in jener weichen, warmen Farbe gemalt, die 
er in seiner mittleren Zeit anwendet. Figuren wie der junge Kavalier in elegantem, 
rotem Mantel über einem blauen Wams, mit dem blonden Haar und dem schön 
gestutzten, blonden Spitzbart kehren auf allen seinen Bildern dieser Zeit wieder. 
Wir müssen die Staffage etwa um 1630 ansetzen‘), Das beweist allerdings noch 
nicht, daß auch die Architektur damals gemalt sei. Nichts widerspricht dem aber; 
denn in der künstlerischen Entwicklung des älteren Pieter Neefis paßt sie durch- 
aus in diese Zeit. Und da es wohl zu den Ausnahmen gehört, daß solche Bilder 
erst Jahre nach ihrer Entstehung mit Figuren versehen wurden, können wir die 
Datierung der Figuren auch für die Architektur gelten lassen. — Das datierte 
und bezeichnete Bild von 1636 zeigt gegenüber dem besprochenen nur geringe 
Veränderungen der Malweise. Die Glanzlichter sind etwas stärker betont; sonst 
aber herrscht der gleiche warmbraune Ton und die gleiche Art der Zeichnung. 
Die Staffage ist der des ersten ähnlich; wieder die eleganten Kavaliere, der Priester 
im Chorrock, dazu einige Frauen in dunklen Kleidern. Bei näherem Zusehen aber 
ergibt sich, daß die Malerei um ein ganzes Stück roher ist. Bei den Köpfen fehlt 
jenes weiche Vertreiben, und die Gewandung ist ohne feinere Nuancen plump hin- 
gestrichen. Diese Vereinigung der Typen des Frans Francken mit einer minder- 
wertigen Ausführung läßt darauf schließen, daß das Bild in seiner Werkstatt staf- 
fiert wurde. Es dürfte dort von seinem Sohn, Frans Francken III, der 1636 
36 Jahre alt war und noch bei seinem Vater arbeitete, die Figuren erhalten haben. 
Ein Vergleich mit bezeichneten Arbeiten von ihm wie den Staffagefiguren auf dem 
Bilde des jüngeren P. Neeffs in der Galerie Corsini in Rom (von 1640) oder dem 
des Lodewyck Neeffs in der Dresdener Galerie (von 1648) bestätigt diese Ver- 
mutung vollstandig *). 

Von den drei Bildern des jüngeren Pieter Neeffs sind zwei Gegenstücke 
und tragen in gleicher Weise die bekannte Signatur PEETER NEES in Antiqua- 
Majuskeln mit kursivem Doppel-F. Auf dem einen ist eine dreischiffige gotische 


NEEFFS bezeichnet war. Ferner verzeichnen ältere Kataloge eine Tempelvorhalle mit der Enthauptung 
Johannis von Steenwyck und Frans Francken, 


(x) Florens, Uffisien Nr. 717. Auf Hols, 0,50 x 0,81. Auf einem Epitaph ist die Jahreszahl wieder- 
holt; dort steht SVPPELTVRE VAN HEER ANTHONIVS LAVFERE (?) EIVS PASTOIR VAN 
ANNO 1636. 

(я) Florens, Uffisien Nr. 776; auf Holz, 0,37 >< 0,52. Es ist übrigens nicht ausgeschlossen, 026 іп 
den neueren Katalogen eine Verwechslung dieses Bildes mit dem weiter unten zu besprechenden von 
Р. Neeffs d. J. (Nr. 1526) vorliegt. Die Zuschreibung an Steenwyck im Katalog von 1792 (Giudici), 
S. 217. 

(3) Jantzen, 8. 166, Nr. 304. 

(4) VeL U. Thiemes Allg. Lexikon der bildenden Künstler, Bd. ХИ, S. 34af. 

(5) Vgl. Thiemes Künstlerlezikon, Bd. XII, 8. 3431. 


44 


Kirche mit Kapellen bei künstlicher Beleuchtung dargestellt!); das andere zeigt 
eine fünfschiffige gotische Kirche bei Tageslicht“). Beide Bilder galten in Florenz 
als Werke des älteren Pieter Neeffs; aber schon Jantzen hat sie mit Recht fiir 
den jüngeren in Anspruch genommen“). Auch diese Stücke sind mit Figuren ver- 
sehen worden und, wie sich hier ganz deutlich erkennen läßt, erst nach der Voll- 
endung von einer anderen Hand. Bei fast allen Figuren sieht man die Architektur- 
teile deutlich unter der dünnen Farbe durchschimmern. Schon dieser Umstand 
spricht dagegen, daß hier der jüngere Frans Francken — der ältere kommt aus 
zeitlichen Gründen kaum in Betracht — mitgearbeitet hat. Seine Staffagen sind 
stets mit dicker, undurchsichtiger Farbe gemalt, die die Architekturteile zudeckt. 
Und auch die Art der Zeichnung ist eine ganz andere. Er übernahm von seinem 
Vater die Neigung zur gebrochenen, eckigen Kontur, und seine Kavaliere und Damen 
sind immer etwas steif in Haltung und Bewegung. Bei diesen Figuren aber sind 
flüssige Konturen und lebhafte Bewegungen bevorzugt; sie erinnern an Gonzales 
Coques‘). Die Farbe ist sehr hell mit Bevorzugung von graublauen, graurosa und 
hellgelben Tönen. Das alles führt auf Hieronymus Janssens, bei dem sich all 
diese Eigentümlichkeiten deutlich wiederfinden. Bei dieser Gelegenheit wäre zu 
bemerken, daß dieses nicht der einzige Fall ist, in dem er untergeordnete Figuren 
in fremde Architekturen malte. Ganz deutlich ist seine Hand auf dem großen 
Architekturbilde W. Schubert v. Ehrenbergs in der Brüsseler Galerie zu erkennen. 
Und auch Th. van Lerius besaß ein Bild Ehrenbergs, in das Janssens die Figuren 
gemalt hatte. — Das dritte Bild des jüngeren Pieter Neeffs gilt in Florenz 
ebenfalls als eine Arbeit des älteren. Es ist ein Kircheninneres bei künstlichem 
Licht’). Vorne nimmt die Mitte der Bildfläche ein dunkler Pfeiler auf einem Unter- 
bau mit Treppenstufen ein; seine Funktion ist schwer erklärlich, vielleicht soll er 
eine Orgelempore tragen. Weiter blickt man in einen komplizierten, dreischiffigen 
Bau mit Rundpfeilern (Abb. 11). In der Zeichnung macht sich eine starke Neigung 
zum Anbringen kleiner Unregelmäßigkeiten bemerkbar; überall im Mauerwerk sind 
Unebenheiten und Sprünge verteilt, eine Stelle links oben zeigt das nackte Ziegel- 
werk. Reichlich sind wirkungsvolle, grelle Glanzlichter aufgesetzt; es ist viel 
Schwarz angewendet. Der Farbenauftrag ist sehr fett; mehrfach finden sich Lagen 
von dichtgedrängten kleinen Strichelchen. Das sind Ejigenttimlichkeiten, die dem 
älteren Pieter Neeffs ganz fremd sind. Einige von ihnen erinnern an den jüngeren 
Steenwyk. Die Urheberschaft des jiingeren Neeffs ist aber durch die Signatur: 
peeter neeffs, in kursiven Minuskeln und die Jahreszahl 1659 gesichert. Jantzen 
noch hat das Bild zwar diesem zugeschrieben, aber doch einige Zweifel gehegt, 
offenbar weil ihm die Bezeichnung entgangen ist; dann wohl auch, weil ihm die 
Arbeit zu originell schien. Tatsächlich gehört es zu des jüngeren Neeffs besseren 
Arbeiten und ist auch darum interessant, weil es beweist, daß er nicht bei der 
Kunstweise seines Vaters stehen blieb, sondern sich in der Richtung des jüngeren 
Steenwyk weiterentwickelte. Auf diesem Bilde begegnen wir wieder Frans 


т) Florens, Uffisien Nr. јоз. Auf Holz, 0,30 X 0,44. 

(з) Florenz, Uffizien Nr. 707. Auf Holz, 0,30 X 0,44. Beide Bilder schon von Lanzi іп La Reale 
Galleria di Firenze 1782, 8. 138 erwähnt, 

(3) Jantzen, a. a. O., 8. 167, Nr. 252, 253. Das Nachtstück kehrt allerdings im Werk des älteren 
P. Neeffs unter Nr. 269 wieder. Wir möchten aber glauben, daß es dort nur versehentlich hingeraten ist. 
(4) Vgl. Rooses, Gesch. der Antwerpsche Schilderschool (1879), S. 586. 

(5) Floremz, Uffizien Nr. 1526. Auf Hols, 0,39 >< 0,53. 


45 


Francken Ш als Maler der Figuren; über der Bezeichnung des Neeffs befindet 
sich die seine in der Form f franck”. Die Figuren sind etwas steif und leblos, 
aber nicht ohne Zierlichkeit; in der Farbe stehen neben schwarzen Lokalfarben 
einzelne blasse gelbliche und bläuliche und ein fahles, graues Inkarnat. Diese 
Farbenzusammenstellung ist für die Gesamtwirkung nicht ohne Reiz, sie ordnet 
sich dem Ton des Bildes besser ein als es lebhafte, warme Farben tun würden. 

Frans Francken II ist auch mit einigen selbständigen Arbeiten vertreten. Ein 
„Triumph des Neptun und der Seleucia“!) (Photographie von Alinari 622) und 
„Die neun Musen und tanzende Putten in einer Küstenlandschaft“) (Photographie 
von Alinari 623), sind beide bezeichnet und gehören der Frühzeit an, in der er 
sich zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Vater als „der junge Frans 
Francken“ zu unterzeichnen pflegte. Und zwar wird man die „Musen“ noch früher 
ansetzen können als den „Triumph“. Bei jenen sind die Gewänder noch in dunklen 
lebhaften Farben wie Dunkelblau, Grün, Rot, Dunkelrot, Veilchenblau, Gelbbraun 
gehalten und mit scharfen Glanzlichtern verseben; die Hautfarbe erscheint noch 
grau; der Farbauftrag ist vertreibend und glatt, die Gesamtwirkung dunkel und 
kühl: Alles Eigenschaften, die stark an die Kunstweise des Vaters und vermut- 
lichen Lehrers erinnern und eine Datierung um 1610 wahrscheinlich machen. 
Beim „Triumph“ ist die Malerei schon freier und pastoser, das Fleisch weicher 
und farbiger, die Farbe lichter und wärmer; er dürfte einige Jahre später ent- 
standen sein als die „Musen“. Eine dritte Arbeit des Künstlers ist unbezeichnet; 
jedoch wird die Bestimmung kaum Widerspruch erregen (Abb. 12). Es ist eine 
Flucht nach Ägypten, die wesentlich später als die besprochenen Bilder entstanden 
sein muß’). Bei dem hl. Joseph tritt schon der sentimentale Gesichtsausdruck 
auf, den die reifen Werke Frans Franckens häufig aufweisen. Der Gewandstil, die 
Zeichnung in runden Formen, die warme Farbe deuten auf die mittlere Zeit des 
Künstlers zwischen 1616 und 1628. Eine Wiederholung der Komposition in einem 
bezeichneten Bilde der Dresdener Galerie ist sicher später, ohne Frage aber noch 
vor 1628 entstanden (Abb. 13)‘). Die Figuren sind bis auf geringe Abweichungen 
dem Florentiner Stück entnommen und weniger frisch als auf jenem. In der 
Landschaft haben die Bilder nichts Gemeinsames; beim Dresdener Bild’) ist sie 
sicher von anderer Hand, bei dem Florentiner läßt sich infolge des schlechten Er- 
haltungszustandes ein sicheres Urteil nicht gewinnen. Die Wiederholung einzelner 
Figuren oder ganzer Figurengruppen ist übrigens bei Frans Francken eine vielgeübte 
Gewohnheit. Auch der „Triumph Neptuns“ in Florenz ist für eine spätere be- 
zeichnete Darstellung gleichen Gegenstandes in der Braunschweiger Galerie be- 
nutzt worden). 

Nicht auf Darstellungen dieser Art beruht die entwicklungsgeschichtliche Be- 
deutung des Frans Francken; wichtig ist er nur als Vermittler zwischen den 


(х) Florens, Uffisien Nr. 747. Auf Holz, 0,51 >< 0,70. Bes. D. j. f franck” NV“. ET ft. 

(a) Florenz, Uffizien Nr. 737. Auf Holz, 0,51 >< 0,69. Bes. D. j. f franck” INN", f. 

(3) Florenz, Uffizien Nr. 859. Auf Kupfer, 0,38% 0,34. 

(4) Nachträglich fand ich noch, daß dieselben Figuren auch auf einem Bilde vorkommen, das in der 
angeblich von W. von der Haecht gemalten Galerie des Cornelis van de Geest (in der Sammlung 
Lord Huntingfields in Heveningham Hall) hängt. Das Datum dieser „Galerie“, 1528, ist also sicher 
der terminus ante quem für die Erfindung der Figurengruppe. Eine Abbildung der „Galerie“ bei 
Weale: Hubert and John van Eyck, 1908, vor Seite 174. 

(5) Dresden, Galerie Nr. 943. Photogr. von Bruckmann. 

(6) Braunschweig, Galerie Nr. 100. Photographiert von Bruckmann. 


46 


älteren Malern genremäßiger oder historischer Gesellschaftsbilder in kleinem Maß- 
stabe und den Vertretern dieses Faches im 17. Jahrhundert. Flämische Gesell- 
schaftsbilder des 17. Jahrhunderts besitzt die Galerie aber gar nicht. Dagegen ist 
eine andere Art des Sittenbildes, das bäuerliche, gut vertreten; eine geschlossene 
Reihe ermöglicht es, die Entwicklung durch das ganze 17. und bis ins 18. Jahr- 
hundert zu folgen. 

Zwar von Adrian Brouwer, dem größten Vertreter des Faches im 17. Jahr- 
hundert, ist kein Original vorhanden. Das eine der Bilder, die unter seinem Namen 
gehen, ein Schankkeller mit trinkenden Bauern, dürfte überhaupt nicht flämisch 
sein!); es steht den Werken des Holländers Jan Miensze Molenaer aus seiner 
mittleren Zeit sehr nahe. Das andere Bild?) ist eine Wiederholung der frühen 
Bauernkneipe Brouwers in der Casseler Galerie; die Stücke stimmen genau 
überein, auch in den Maßen, die nur in der Breite um 2 cm differieren. Ganz ab- 
gesehen von der Signatur, die das Casseler Bild beglaubigt und beim Florentiner 
fehlt, fällt ein Vergleich durchaus zugunsten der ersteren aus, das viel entschie- 
dener, klarer und sicherer ist. Man kann genau durchverfolgen, wie Einzelheiten 
an Haaren, Gewandfalten, Möbelkanten beim Florentiner Stück vernachlässigt sind, 
wie Glanzlichter fehlen, wie die Flamme eines Kienspans weggelassen ist. Endlich 
ist zu bemerken, daß die charaktervolle Häßlichkeit der Köpfe mehrfach gemildert 
wurde. Es handelt sich um eine alte Kopie, bestenfalls um eine Werkstattwieder- 
holung des Originals in Cassel. — Brouwer sehr nahe steht ferner ein Bild, das 
unter der gänzlich unverständlichen Bezeichnung Jan van Son geht (Photographie 
von Вгорі 11125)*). Es stellt zwei Spieler dar, die in Streit geraten sind und über 
dem umstürzenden Tisch sich an den Haaren reißen, während eine alte Frau hinten 
in der Tür erscheint und zu schelten beginnt, Wir möchten die Bestimmung auf 
Pieter de Bloot, einen in Rotterdam tätigen flämischen Brouwernachfolger vor- 
schlagen. Für sie spricht die sehr geschmackvolle Zusammenstellung von kühlen 
grünen, blauen und graubraunen Farben, die Typen der beiden Streiter mit den 
breiten, tierischen Nasen und Mündern, die Behandlung der dichten wolligen, un- 
geordnet vom Kopf abstehenden Haare. 

David Teniers ist mit mehreren Genrebildern gut vertreten. Ein karessieren- 
des Paar in einer Bauernschenke ist noch stark von Brouwer abhängig (Photo- 
graphie von Alinari 1024)*) und dürfte gegen Ende der dreißiger Jahre des 17. Jahr- 
hunderts entstanden sein. — Der „Dorfarzt“ (Photographie von Alinari 1022)°) 
zeigt in der tibertriebenen Anwendung weißer Lichter, in der stumpferen Malerei, 
in der blasseren Farbe bereits die Merkmale seiner späteren Zeit’). Neben diesen 
Bildern hängt eine jener Kopien, die Teniers als Direktor der Gemäldegalerie Erz- 
herzog Leopold Wilhelms in Brüssel in großer Zahl anfertigte), in erster Linie 


(1) Florenz, Uffisien Nr. 955. Auf Holz, 0,67 X 1,14. Schon 1783 in der Galerie. Eine Abbildung 
in „Reale Galeria di Firenze illustrata“, 2. Serie, Bd. I (1824), 8. 99. 

(а) Florenz, Uffizien Nr. 959. Auf Holz, o, as >< 0,35. Hofstede de Groot Nr. 53. Der Zusammen- 
hang dieses Bildes mit dem Casseler scheint Hofstede de Groot entgangen zu sein, der das Floren 
tiner Bild offenbar nicht gesehen hat; alle näheren Angaben fehlen noch bei ihm. 

(3) Florenz, Uffizien Nr. 701. Auf Holz, 0,25 o, ig. 

(4) Florenz, Uffizien Nr. 700. Auf Hols, o, as X o, ai. 

(5) Florenz, Uffizien Nr. 705. Auf Holz, 0,26 >< 0,18, 

(6) In älteren Katalogen sind noch ein Alcbymist und zwei Landschaften mit Figuren von Teniers 
erwähnt. 

(7) Florenz, Uffizien Nr. 706. Auf Hols, 0,22 >< 0,16. 


47 


wohl, um sie für sein großes Galeriewerk, das „Theatrum pictorium“ zu verwenden 
(Photographie von Brogi 11094). Sie ist eine Wiedergabe eines weinenden Petrus 
von Ribera. Das Original befand sich denn auch wirklich in der Sammlung des 
Erzherzogs), ist im erwähnten Werk?) sowie auf einem Galeriebilde des Teniers 
in Madrid’) und auch in Stamperts Prodromus‘) abgebildet und hängt heute in der 
Wiener Galerie. Die Kopie ist aber selbstverständlich nicht aus Wien nach Florenz 
gelangt, wie ja auch von vornherein anzunehmen ist, daß diese kleinen Nach- 
bildungen nicht in den Besitz des Erzherzogs gelangten, sondern beim Künstler 
verblieben, der sie für sein erst 1660 vollendetes Werk verwenden wollte. Die 
Entstehungszeit ist durch die Daten der Ernennung des Teniers zum Kammer- 
diener des Erzherzogs und seiner Ubersiedlung nach Brüssel im Jahre 1651 und 
des Wegzugs des Erzherzogs im Jahre 1656 festgelegt. 

Von den geringeren Brouwernachfolgern ist David Ryckaert d. J. mit zwei 
Bildern vertreten, die in seinem Werk ganz vereinzelt dastehen. Beide stellen 
die „Versuchung des hl. Antonius“ dar, das eine Mal mit einer jungen Frau, und 
Spukgestalten®), das andere Mal mit solchen allein (Abb. 14)°). Bekanntlich hat 
David Teniers dieses alte flämische Thema aufgenommen und häufig behandelt. 
Und von ihm mag auch Ryckaert zu solchen Bildern angeregt worden sein. Doch 
wird man bemerken, daß er wesentlich andere Fassungen findet als jener. Teniers 
Spukgestalten verhalten sich immer merkwürdig passiv, sitzen da oder kriechen 
stil herum. Bei Ryckaert sind sie lebhaft bewegt, tanzen und springen und 
drängen sich heran. In den Formen zeigen sie ein Fortschreiten über die des 
Teniers hinaus. Bei diesem ist noch der Zusammenhang mit Hieronymus Bosch 
erkennbar; die Bildungen haben noch etwas Unorganisches, die Mischung von tieri- 
schen und menschlichen Körperteilen wirkt nicht sehr überzeugend und die Ver- 
bindung zwischen leblosen Dingen und lebendigen Teilen bleibt recht unsicher. 
Bei Ryckaert ist Alles sehr lebendig zusammengewachsen, so daß überall der Ein- 
druck möglicher Bildungen entsteht. Außer den beiden Florentiner Bildern scheint 
nur noch ein drittes ähnliches von Ryckaert erhalten zu sein. Es ist das eine 
Hexe, die, einen Schatz bergend, sich mit dem Besen gegen allerhand Spuk- 
gestalten wehrt. Dieses in der Wiener Galerie bewahrte Stück, das ebensowenig 
wie die beiden anderen bezeichnet ist, zeigt genau wie jene in der Gestalt des 
Heiligen in der der Hexe die Art Ryckaerts in seiner reifen Zeit. In diese weist 
auch der sehr feine Farbengeschmack bei den in gelblichen und rosa Tönen ge- 
malten Spukgestalten. Die Bilder dürften im Anfang der fünfziger Jahre ent- 
standen sein. 

Nicht ohne Zusammenhang mit der flämischen Bauernmalerei des Brouwerkreises 
ist ein Bild des Anton Goubau, das eine italienische Landschaft mit Häusern und 
einer Staffage von Bauern darstellt und in einem braunen bis gelblichgrauen Ton 
gehalten ist, aus dem die Lokalfarben der Gewänder mit einiger Lebhaftigkeit her- 
vorleuchten”) (Abb. 15). Doch macht sich bei diesem Stück schon der Einfluß der 


(х) Inventar fol. 19’, Nr. 10. Jahrbuch der Kunstsamml. d. Kaiserhauses I, IL Teil, 8. LXXXVIf. 

(а) Davidis Teniers Theatrum pictorium, Tafel 142. Der Stich mißt 230 >< 162 mm, ist also annähernd 
von der gleichen Größe wie die Florentiner Kopie. 

(3) Madrid Prado 1813. Photogr. von Anderson, Nr. 16329. 

(4) Stampert und Prenner: Prodromus seu praeambulare lumen. Wien 1735, Tafel 9. 

(5) Florens, Uffizien Nr. 770. Auf Holz, 0,57 X 0,81. 

(б) Florenz, Uffizien Nr. 819. Auf Holz, 0,40 >< 0,53. Beide alter Besitz der Uffizien. 

(7) Florenz, Uffisien Nr. 721. Auf Holz, 0,50><0,64. Bezeichnet A gebau F. Alter Besits. 


48 


Tafel 9 


Abb. 12. Fr. Francken Il: Flucht nach Ägypten Abb. 13. Fr. Francken Il: Fiucht nach Ägypten 
Florens, Uffisien Dresden, Gemäldegalerie 


Abb. 14. David Ryckaert d. J.: Versuchung des hl. Antonius Florenz, Uffizien 


Zu: ZOEGE v. MANTEUFFEL: BILDER FLÄMISCHER MEISTER IN DER GALERIE DER UFFIZIEN 
ZU FLORENZ 


M. f. K., Bd. I, 1921 


Lichte 
rock von Trau & Schwab. Oranhierha Kunst логал Reaedan 10 


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römischen internationalen Künstlergesellschaft bemerkbar; stärker als die Be- 
ziehungen zur heimischen Kunst sind die zu den italianisierenden Holländern aus 
der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Man denkt an Dujardin, der auch tatsäch- 
lich etwa zu gleicher Zeit mit Goubau in Rom war und nur wenig jünger war 
als ert). 

In das achtzehnte Jahrhundert und in eine Zeit, da die niederländische Malerei 
ihre Selbständigkeit schon einbüßte und nicht mehr ihre Geltung bewahren konnte, 
führen uns endlich die zahlreichen Arbeiten der beiden älteren Horemans und zwei 
hübsche Bilder des Jan Baptist Lambrechts. Sie vertreten die letzten Ausläufer 
der Bewegung, die mit Brouwer einsetzte und bilden durchaus den Abschluß der 
Entwicklung, die mit dessen kraftvollen Bauerntypen einsetzt, um immer mehr 
ins Geschmackvolle und Bürgerlich-Gemütliche abzuschwenken. 


(1) Auch Oldenbourg, а. а. O., 8. 170 nimmt eine Beeinflussung Goubaus durch Dujardin und Berchem an. 


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Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1921. 4 49 


KONRAD ASPER ` wu vier Abbitdungen ` von ROBERT WEST 


Motto: „Die neuen Artisten sind von dieser 


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Abnlichkeit, welche Schlaf und Tod miteinander 


„Tor Yavatgy uovo &vIownwy na- haben, gänzlich abgegangen, und der Gebrauch 
сорта“ Philostrat. ist allgemein worden, den Tod als ein Skelett, 
höchstens als ein mit Haut bekleidetes Skelett 

vorzustellen.“ Lessing, Laokoon. 


n der Grabmalskulptur des Salzburger Barock tritt die stark betonte Darstellung 
des Totenkopfes und des Skeletts als besonderes Charakteristikum hervor. 
Welche psychologischen oder kulturgeschichtlichen Gründe vorwiegend zu der 
Hervorhebung dieses Momentes führten, ist mir unbekannt. Es müssen aber solche 
Momente wirksam gewesen sein, damit ein im 17. Jahrhundert aus der Schweiz 
eindringender kunsthistorischer Einfluß den vorbereiteten Boden fand, auf weichem 
die künstlerische Verarbeitung des Totenkopf- und Totenbeinmotivs zur höchst- 
möglichen dekorativen Vollendung gebracht wurde. Die Barockskulptur liebt die 
Darstellung der grausigen Elemente im Tod. Die religiöse Erregung der jesuiti- 
schen Reaktion mag unter anderem hierfür verantwortlich sein. Nirgends tritt 
jedoch so wie hier, im Salzkammergut, das Totengebein als spielerisch verwertetes 
Ornament auf. Immer wieder findet sich ein Zug, durch welchen das Schauer- 
liche unterstrichen wird, immer wieder eine Kombination, durch welche das Ge- 
bein, seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt, nur noch als Ornamentmotiv ver- 
wertet erscheint. Das Nervenerregende des Kontrastes zwischen dem blühenden 
Kinderkörper eines dicken Puttos und dem schlangenumringelten Entsetzen eines 
Totenkopfes wurde gern zu malerischen Wirkungen verwendet. Knochen, von 
Bändern umschlungen, wie Trophäen aufgehängt, Fledermausfitigel hinter grinsenden 
Schädeln neben geflügelten Engelsköpfchen sind Motive, die sich in der Grabmal- 
skulptur immer wieder finden. Sie entsprachen also zu gleichen Teilen einem 
seelischen wie einem künstlerischen Bedürfnis der Zeit und des Volkes. Ich habe 
in dieser merkwürdigen Erscheinung immer die letzte Konsequenz jenes Willens 
zur Wandlung gesehen, welcher mit der christlichen Religion in das Kulturgebaren 
der abendländischen Völker eindringt. Auch hier zeigt sich jener Versuch, den 
Sieg des Geistes, der Idee, in der gänzlichen Aufhebung der Materie leuchten zu 
lassen. Je geringwertiger das Gefäß, desto erhabener die Macht der in ihm wir- 
kenden Gottesidee. Was in der langsamen Entwicklung der christlichen Malerei und 
Plastik zur Lösung des schwierigen Problems beitrug, Krtippel, Irre, Kranke, Arme 
und Häßliche aller Art künstlerisch so darzustellen, daß ein neues, den Dingen 
selbst inhärentes Schönheitsgesetz gefunden werden mußte, das führt im 17. Jahr- 
hundert zu dem kecken Versuch, auch die letzte Auflösung der Materie selbst 
künstlerisch zu behandeln. An dieser Stelle aber scheitern Kunst und Christen- 
glaube. Knochen, Schädel und Skelett blieben was sie waren, als Symbol be- 
trachtet ein „memento mori“, als künstlerisches Motiv angesehen durch den ihnen 
anhaftenden Ekel immer nur Grotesken. Über das Groteske kam auch Holbein 
nicht hinaus, trotzdem er in seinen Holzschnitten noch das Wärmste und Tiefste 
gab, was auf diesem Gebiet zu sagen war. Der Holzschnitt in seiner nahen Ver- 
wandtschaft mit dem Buchdruck wirkt häufig ebenso sehr als Wort wie als Bild. 
Die Grenzen der bildenden Kunst verwischen sich in ihm. Anders, wenn wir 
zur Skulptur gelangen, was im Stein dasteht, ist nicht mehr der Gedanke, sondern 
nur noch die konkrete Form, das Material des Gedankens. Was Jahrhunderte vor 


so 


uns die Antike erkannt hatte, mußte die christliche Kulturwelt erst in einer klinst- 
lerischen Phase erproben: daß es keine Gemiitsstimmung, keine Glaubensinbrunst, 
keine Höhe der künstlerischen Kraft gibt, welche den Tod aufheben und das natür- 
liche Grauen des Individuums vor der Vernichtung in ktihles Genießen der Schön- 
heit ihrer Darstellung wandeln kann. Es wurde offenbar, daß hier kein inhärentes 
Schönheitsmoment ist. Das absolut Häßliche war erreicht, dargestellt und erkannt. 
Wir besitzen keinen Michelangelo des Skeletts, es war wohl nicht möglich, daß 
sich ein Künstler von Gottes Gnaden an diesem Motiv jemals versuchte. Das 
künstlerische Experiment ist nicht Sache des Genies, denn dieses wählt und meidet 
instinktiv und sicher das ihm Gemäße oder seiner Kunst Heterogene. Gerade die 
Barockperiode brachte aber eine Fülle sehr begabter, mit großer handwerksmäßiger 
Sicherheit arbeitender, leicht schaffender Künstler hervor. Diese lieben den Ver- 
such, die neue Wirkungsmiglichkeit. Ein solcher Künstler kam in Konrad Asper 
1614 nach Salzburg. 

Er war ein Sohn oder Enkel!) des Malers Hans Asper in Zürich und ein Bruder 
des Malers Hans Asper des Jüngeren, der gleichfalls in Zürich wohnte. Konrad 
Asper scheint, bevor er nach Salzburg ging, in Konstanz das Bürgerrecht erworben 
zu haben. 1614 erhielt er von dort Urlaub, um sich nach Salzburg zu begeben. 
Erzbischof Markus Sittikus hatte sich ihn verschrieben. Es scheint, daß er hier 
als Angestellter des erzbischöflichen Hofbauamtes arbeitete und wohl zu selb- 
ständigen Arbeiten seiten Gelegenheit fand. Im Jahre 1618 begab er sich mit Er- 
laubnis des Erzbischofs nach Maria-Einsiedeln, um dort die heilige Gnadenkapelle 
mit schwarzem Marmor zu verkleiden. Er war dann noch fünf Jahre in Salzburg, 
wo er also im ganzen von 1614 bis 1625 wirkte. Er muß sich dort einen guten 
Namen gemacht haben, denn als der Graf von Hohenems im Jahre 1628 die 
Gnadenkapelle von Maria-Einsiedeln auf seine Kosten ausschmücken lassen wollte, 
berief man den inzwischen wieder nach Konstanz verzogenen „Unterbaumeister“ 
Hans Konrad Asper zurück. Er kam mit Frau und Kindern auf acht Jahre nach 
Maria-Einsiedeln und erhielt für seine Arbeit an der Gnadenkapelle 5000 fl. Des 
weiteren wurde er beauftragt, das Marmor-Epitaphium für den Grafen selbst an- 
zufertigen. Wir finden ihn dann später wieder in Konstanz als Baumeister und 
Bildhauer tätig. Er scheint besonders mit dem Fortifikationswesen vertraut ge- 
wesen zu sein. 1645 kam er nach München an den Hof des Kurfürsten Maxi- 
milian von Bayern, wo er als Baumeister vor allem Fortifikationsarbeiten unter- 
nahm. In München war er an dem Bau des Karmeliterklosters und der Kirche 
beteiligt, ebenso machte er einen „Ölberg bei St. Peter“ (1653). 1654 schied er 
aus dem bayerischen Dienst und begab sich wieder nach Konstanz, wo er ver- 
mutlich 1666 gestorben ist. 

Auf dieses lange Künstlerleben kommen für Salzburg nicht mehr als zwei be- 
glaubigte Werke der Bildhauerei: das Grabmal des Andrä Weiß und seiner Haus- 
frau Maria Kendlingerin in einer Arkade des Friedhofs zu St. Sebastian (Abb. 1) 
und das Grabmal des Valentin Helbmegg, jetzt im Hof des Salzburger Museums 
(Abb. 2). Diese Werke sind aber auf den ersten Blick so bedeutend, daß wir einen 
nachhaltigen Einfluß des Meisters auf die Salzburger Grabmalskulptur annehmen 
müssen. Beide Grabdenkmäler sind durchaus originelle Werke und vielleicht der 
stärkste Versuch zur künstlerischen Gestaltung des Knochen-Motivs in der Bild- 
hauerei. Ihre künstlerische Vortrefflichkeit ist so groß, daß sie der künstlerischen 
Lösung des Problems so nahe kommen wie dies überhaupt möglich ist. 

(1) Pirckmayer: Hans Konrad Asper, Bildhauer und Baumeister. Salzburger Landeskunde, Bd. XLIII. 


51 


Sie wurden beide für den Sebastiansfriedhof geschaffen. Das erste für Valentin 
Helbmegg, Ratsbürger und Handelsmann, muß 1625 schon fertig gewesen sein und 
ist 1630 aufgestellt worden. In späterer Zeit wurde es vom Friedhof entfernt, 
vielleicht weil der Realismus der Darstellung über die Grenzen dessen ging, was 
spätere Jahrhunderte in der Grabmalskunst vertragen konnten. Im Jahr 1892 fand 
man es unter dem Altmaterial eines Steinmetzen. Damals war aber keine Kunde 
mehr von dem Grabmal vorhanden, dessen eingemeißelter Name Н. С. Asper zu- 
nächst zu Nachforschungen über diesen Bildhauer führten. Nachdem es kurze 
Zeit in Privatbesitz geblieben, erwarb es der Museumsdirektor Dr. Alexander Petter 
für das Museum, in dessen Hof es heute aufgestellt ist. Den Bemühungen Fried- 
rich Pirckmayers, k. und k. Archiv-Direktor d. R., gelang es, die auf Konrad Asper 
bezüglichen Daten aufzufinden und zusammenzustellen. Die Identifikation des jetzt 
im Museum befindlichen Grabdenkmals mit dem für Valentin Helbmegg angefer- 
tigten verdanken wir den Archivforschungen des Herrn Dr. Franz Martin. 

Es handelt sich um ein Werk der Voliplastik, von etwa 2 Meter Linge. Auf 
dem Deckel des Sarkophags ist ein liegendes Skelett dargestellt, der umgelegte 
Priestermantel dient nicht zur Verhüllung, sondern lediglich zur Drapierung. Das 
Skelett ist mit genauster Sorgfalt gearbeitet, der gewölbte Rippenkorb baucht gich 
mächtig empor, die etwas hochgezogenen Knie ermöglichen die scharfe Betonung 
der Gelenke. Die Arbeit verrät eine hohe bildhauerische Sicherheit, unbeirrbare 
Ehrlichkeit in der Wiedergabe des Gesehenen, Sinn für das Wesentliche der Form 
und bewußtes Hervorheben der dekorativen Wirkung des Grausigen. Dieses Mo- 
ment der realistischen Darstellung bei gleichzeitiger Verneinung der Materie er- 
innert lebhaft an die Dekoration der Grabgewölbe bei den Kapuzinern in Rom, 
wo Wände und Decken mit aus Knochen und Schädeln gebildeten Mustern über- 
zogen sind. Es kann nicht geleugnet werden, daß das Grabmal eine gewisse 
malerische Schönheit besitzt und eine starke Wirkung ausübt. Es ist eine ebenso typische 
Arbeit der deutschen Schule, wie es etwa Dürers apokalyptische Reiter und der 
ihm geistig nahestehende Totentanz Holbeins sind. 

Das zweite Grabdenkmal befindet sich noch heute an dem Platz in den Arkaden 
des Sebastiansfriedhofes, für welchen es zirka 1622 ausgeführt wurde. Andrä Weiß, 
Bürger und Handelsmann, ließ es für sich und seine Frau anfertigen. Die letztere 
verheiratete sich nach dem Tode des Andrä Weiß zum zweitenmal mit Herrn 
Hans Kurz von und zu Goldenstein, Hochfürstlicher Rat, welcher erst 1670 starb 
und dann ebenfalls unter dem Grabstein des Andrä Weiß begraben wurde. Die 
Grabstätte verblieb den Goldensteinern. Daher kam Pirckmayr auf den Gedanken, 
das Denkmal 1664/65 zu datieren, während es tatsächlich schon 1628 beim Tod 
des Andrä Weiß an Ort und Stelle gestanden haben muß. Beide Grabdenkmäler 
gehören also den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts an. Bei diesem Denkmal 
interessiert auch der Aufbau. Die Gesamtanlage zeigt noch jenes etwas herbe aber 
straffe und markige Barock, das Wolf Dietrich von Raitenau in Salzburg eingeführt 
hatte. Die knappen, aber bestimmt ausladenden Formen des Aufsatzes, die Klar- 
heit der Gliederung bei aller Keckheit der ornamentalen Ausgestaltung, zeigt noch 
die gute italienische Renaissanceschulung, die durch den Raitenauer Erzbischof der 
Salzburger Kunst zuteil geworden war. Gewisse spielerisch-barocke Freiheiten 
erlaubte sich der Künstler nur im Aufsatz. Unterbau und Hauptfeld sind ganz 
ruhig und rahmenmäßig gehalten. Konrad Asper empfand hier ganz als Bildhauer, 
dem es auf die Betonung seiner figuralen Plastik vor allem ankam, darum hielt er 
die beiden seitlich vom Hauptfeld das Gebälk tragenden Säulen so kurz, daß der 


52 


Abb. 1. Konrad Asper: Grabmal des Andrä Weiß (resp. der Familie 
Goldenstein) auf dem Friedhof zu St. Sebastian zu Salzburg. Etwa 1622 


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Tafel 


Abb. 2. Konrad Asper: Grabmal des Valentin Helbmegg. Etwa 1625. 


Zu: ROBERT WEST, KONRAD ASPER 


M. f. K., Bd. I. 1921 


Salzburger Museum 


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Sensenmann in der Mitte sie um Haupteslinge überragt. Dem Grabmal selbst 
bleibt ein gewisser kunstgewerblicher, an Tischlerarbeit mahnender Charakter be- 
bewahrt, gegen den sich die starke steinerne Plastik des Reliefs im Mittelfeld 
wuchtig abhebt. Der hohe Wert dieses Denkmals wurde zu allen Zeiten aner- 
kannt. Hübner führte es 1792 in seiner Stadtbeschreibung unter den „16 vorzüg- 
lichen Epitaphien“ des Sebastiansfriedhofes auf, aber ohne Nennung des Künstler- 
namens. Dagegen schrieb im Jahre 1820 der Weltpriester und Gymnasialprofessor 
Kaspar Johann Stephan im „К. К. österreichischen Amts- und Intelligenzblatt für 
Salzburg“ einen Aufsatz über „Hans Konrad Asper, Bildhauer von Konstanz“, in 
welchem er auf dieses Grabmal als auf ein „vollendetes Meisterstück‘ hinweist, 
und auf den Zusammenhang zwischen Konrad Asper und Hans Holbein aufmerk- 
sam macht. Äußerlich läßt sich dieser Zusammenhang freilich nicht nachweisen, 
denn daß der Züricher Maler Johannes Asper „in der Manier Hans Holbeins, seines 
Zeitgenossen“, malte, ist noch kein Beweis, daß Konrad Asper von dessen Toten- 
tanzphantasien beeinflußt war. Immerhin liegt aber die Vermutung nahe, daß 
Konrad Asper von daher die erste Anregung zu seinen Darstellungen empfing, und 
daß der mit den Reformationsideen eingedrungene Geist, welcher sich in Hans 
Holbeins Holzschnittfolge ausdrückte, nachhaltig die Sinnesweise einer ganzen 
Familie beeinflußt hat. 

In dem Grabmal des Andrä Weiß ist nicht wie bei der vollplastischen Darstel- 
lung der Helbmeggschen Tumba das eigentliche Skelett wiedergegeben, sondern 
ein Stadium der Mummifizierung gewährt, welches dem Übergang zum Skelett 
vorangeht. Auch dieses Moment gemahnt wieder an jene Mumien verstorbener 
Mönche, deren Haut zu Pergament eingetrocknet, das Knochengeriist durchschimmern 
läßt. Es wäre denkbar, daß eine Reise nach Rom, von der wir jedoch keine Kunde 
haben, dem Bildhauer in der Gruft der Kapuziner einen derartigen starken Eindruck 
vermittelt hätte, der um so fruchtbarer gewesen wäre, als er einen, durch Hans 
Holbein vorbereiteten Geist getroffen hätte. Ein Unterschied findet sich auch in der 
Darstellung beider Grabdenkmäler. Auf dem Sarkophag Helbmeggs im Museum 
liegt ein Toter, das Skelett eines beliebigen Toten, hier über dem Grab des Andrä 
Weiß steht hochaufgerichtet der Tod selbst. Handelt es sich dort um die Schauer 
der Verwesung, ein zynisches Hinweisen auf das Ende und die Wirklichkeit aller 
Dinge: „memento mori quia pulvis es et in pulverem reverteris“, so handelt es 
sich hier um ein Betonen der unerbittlichen Gewalt des Todes. jenes Skelett trug 
den Bischofsmantel als Symbol, daß die Verwesung nicht Halt macht vor den 
höchsten Würden dieser Welt. Dieser Tod mit Sense und Stundenglas, dessen 
Lenden nur ein flatternder Schurz umkleidet, tritt Krone und Helm, Kardinalshut 
und Mitra mit Füßen. Hier kommt der Tod nicht als Freund, wie auf Rethels 
wunderbarem letzten Blatt, hier steht er als der unerschütterliche Mahner, Gleich- 
macher, Vernichter. Die verschiedene Auffassung, welche sich in beiden Grab- 
mälern kundgibt, beweist, daß Konrad Asper mit deutschem Grüblersinn den Todes- 
gedanken in allen Formen abzuwandeln und durchzudenken geneigt war. Er war 
vielleicht, wie dies bei dem Deutschen leicht vorkommt, mehr Denker als Künstler. 
Sein hohes technisches Können stellte er völig in den Dienst seiner Idee, und 
aus dem Stein holte er in der Form zunächst den Geist heraus, den er ihm ein- 
zublasen gewillt war. Am Sockel sind zwei Wappenschilder angebracht. Das 
war Wille des Auftraggebers, aber beinahe heimlich stellte Konrad Asper auf die 
Seitenvoluten, über den Wappen, Totenköpfe hin. Hier unten ist Golgatha, der 
Triumph des Todes. Über dem starken Gebälk, welches dieses Mittelfeld krönt 


53 


und abschließt, in dem zackigen, geschweiften, fast munter zu nennenden Aufbau 
ist Leben und Auferstehung. Im Rundmedaillon Gott Vater, im Fries des krönenden 
Gebälks ein geflügeltes Engelsköpfchen, auf den tragenden Pfeilern Engelskipfchen 
und Fruchtschniire. Das ist mehr gedacht als gesehen und insofern wieder ganz 
deutsch. Auf italienische Schulung zugleich mit deutscher Werkstatttradition weist 
aber die Fähigkeit zur dekorativen Verwertung des Motivs hin. Die Art, wie der 
Sensenmann in das leere Feld gestellt ist, wie Stundenglas, Sense und der Stock 
der Sense den Senkrechten und Wagerechten des Rahmens folgen, das ist fein 
komponiert, wie dagegen die leise Wendung des Körpers und die schräge Bein- 
stellung den sonst leer wirkenden Raum belebt, ist beinahe graphisch empfunden. 
Überhaupt mahnt dieses Relief nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch an den 
Holzschnitt der Reformationszeit. Es ist weit weniger plastisch wie zeichnerisch 
empfunden, was bei einem Werke der Barockskulptur immerhin auffallend erscheint. 
Ein Meisterwerk an seelischer Durchdringung und an sorgfältiger Beobachtung ist 
der Kopf, der sich gegen die Sensenschneide abhebt und von den, starke Schlag- 
schatten werfenden Schulterknochen auf dünnem Halse emporwächst. 

In diesen beiden Grabdenkmälern durfte Konrad Asper selbständig schaffen, 
strengere Vorschriften wurden ihm wohl gemacht, wenn er im Dienste des Erz- 
bischofs arbeitete. Ist das Grabdenkmal des Markus Sittikus im Dom wirklich von 
ihm, so bietet es uns ein treffliches Beispiel dessen, was der Meister zu leisten 
fähig war, wenn er seiner psychischen Individualität die strengste Zurückhaltung 
auferlegen mußte, um ein den Wünschen des Bestellers entsprechendes dekoratives 
Wandgrab zu schaffen. Der Entwurf zu dem ersten Grabmal sollte maßgebend 
für die Reihe der folgenden bleiben, so daß wir im Dom sechs Grabdenkmiler des 
gleichen Typus wie das des Markus Sittikus besitzen. Sie sind jedoch nicht gleich- 
zeitig ausgeführt, sondern immer erst nach dem Tode, resp. auch noch zu Leb- 
zeiten des jeweiligen Erzbischofs errichtet worden. Zweifellos entsprach also der 
gelieferte Entwurf in hohem Maße dem Geschmack und den Anschauungen des 
fürsterzbischöflichen Hofes. Das Grabmal, dessen Typus zuerst für Markus Sittikus 
geschaffen wurde, ist gedacht als Gehäuse für das ovale Porträt des Verstorbenen 
(Abb. 3). Es zeigt die übliche Dreiteilung, breiter hoher Sockel mit Inschrifttafel, 
im Mittelfeld die ovale Bildnistafel von Pfeilern und Nischen flankiert, der Aufsatz- 
giebel mit stark vorspringendem Gebälk und gesprengtem Segmentgiebel, mit reich 
skulpiertem Wappenschild. Die malerische dekorative Wirkung beruht zum Teil 
auf der geschickten Zusammensetzung verschiedenfarbiger Marmorsorten. Ganz im 
Charakter desKonrad Asper ist die aus Knochen gebildete hängende Zier an denseitlichen 
Pilastern; auf seine Hand weisen auch die Totenköpfe mit Fledermausflügeln und 
Spaten und Hacke des Totengräbers am Sockel unterhalb der kleinen Seitennischen, 
in weichen zwei dicke rosige Knäbchen stehen. Das Motiv der nackten Kinder- 
körper in Verbindung mit der Knochendekoration ist dann von den späteren Bild- 
hauern zu intensiverer Wirkung ausgenutzt worden. Für die Kinderkörper wurde 
ein fleischfarbener Marmor verwendet, für die Knochen eine fahl-weiße Sorte, so 
daß der Kontrast des blühenden Fleisches und der abgestorbenen Materie vollste 
Ausdruckskraft schon durch das verwendete Material erhält. 

Damit ist die Zahl der unmittelbar auf Konrad Asper zurlickzuführenden Grab- 
denkmäler vorläufig abgeschlossen. Es ist aber fast selbstverständlich, daß Werke 
von solcher Bedeutung und so eigenartigem Sondersein auf die zeitgenössische 
Grabmalskunst einen gewissen Einfluß ausüben mußten. So finden wir in der 
achten Laube des St. Petersfriedhofes ein Grabdenkmal, welches ungefähr aus 


54 


der Mitte des 17. Jahrhunderts zu datieren ist und welches im Entwurf deutlich an 
Konrad Asper gemahnt (Abb. 4). Die Gestalt des Totengerippes weist in der 
ganzen Art der Darstellung auf Aspers Grabmal des Valentin Helbmegg hin, während 
die ornamentale Verwendung von Putten mit Todesemblemen ihr Vorbild in den 
Bischofsgräbern des Domes hat. 

Es ist lehrreich, diese von Konrad Asper stammenden oder von ihm beeinflußten 
Arbeiten zu vergleichen mit solchen, die vor ihm, Anfang des 16. Jahrhunderts, 
ähnlichen Todesgedanken Ausdruck verliehen, um zu erkennen, wie weit Asper 
sein Sujet künstlerisch gehoben hat. Der Grabstein des Johannes Serlinger, aus 
dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts auf dem Salzburger St. Petersfriedhof - 
und die Grabplatte des Propstes Oswald Ferg (+ 1515) in St. Zeno bei Reichenhall 
gehen von derselben Vorstellung der Vergänglichkeit alles Irdischen aus. Aber mit 
krassem Realismus suchen sie die Wiedergabe durch ekelerregende, schaurige 
Momente zu nervenaufregender Wirkung zu steigern. Das Skelett auf der Grab- 
platte des Johann Serlinger wird von Würmern zerfressen, es ist kein Versuch 
gemacht, irgendeine Schönheit der malerischen Darstellung zu erzielen. Eckig, 
häßlich, eine höhnische Karikatur steht die Verwesung vor uns wie eine krank- 
hafte Phantasie sie mit sensationeller Wollust ausmalt. Das Grabmal des Propstes 
steht künstlerisch sehr viel höher. Es ist nicht zu leugnen, daß ein tiefer bittrer 
Ernst, eine namenlose Traurigkeit dem Gedanken dieses Werkes zugrunde liegt. 
Wenn die Serlinger Grabplatte sich vielleicht in das Gebiet der volkstümlichen 
Freude am Grausigen verweisen läßt, so gilt von dem St. Zeno Grabmal etwas 
ganz anderes: die aus Leid und Verzweiflung geborene Erkenntnis des höchst Ge- 
bildeten kommt hier zu Wort. Die Darstellung der Kröte im Brustkorb ist ktinst- 
lerisch meisterhaft. In diesem Grabmal ist ein Höhepunkt der realistischen Dar- 
stellung erreicht, der den Künstler berechtigt, für sein Werk eine, vom konventio- 
nellen Schönbeitsbegriff unabhängige Bewertung zu fordern, wie sie den Werken 
der deutschen Schulen überhaupt zukommt. Trotz dieses Zugeständnisses bleibt 
aber die Tatsache, daß es dem Künstler nicht gelungen ist — sofern er dies über- 
haupt erstrebte —, das Grausen seines Gegenstandes zu absoluter Kunsthöhe zu 
verklären. Es bleibt unterhalb des Niveaus rein plastischer Schönheit. Konrad 
Asper machte den Versuch dieses Niveau zu erreichen. Auch ihm mißlang er, 
aber er hat das Mögliche geschaffen — eine dekorativ befriedigende Lösung des 
Häßlichkeitsproblems durch die bildende Kunst’). 


(1) Im Wiener Staatsarchiv befindet sich ein von Paris Lodron im Jahre 1652 bezüglich des durch 
den Dreißigjährigen Krieg unterbrochenen Baues der Salzburger Domkirche erlassenes Stiftungsdekret. 
Diesem Dekret liegen zwei Zeichnungen bei, von denen eine wahrscheinlich auf Konrad Asper surfick- 
zuführen ist. Sie gibt den Entwurf zu den Seitenaltären des Doms. Die entschiedene Übereinstim- 
mung des Aufbaus und des Ornaments mit den Erzbischof-Grabmälern im Dom und dem Grabmal 
des Andrä Weiß zwingt zu dem Schluß, daß Konrad Asper auch der Urheber der später von Antonio 
Dario ausgeführten Kapellenaltäre war. 


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JOHANNES VEST v. CREUSSEN IN FRANK- 
FURT AM MAIN Mit vier Tafeln Von KARL SIMON 


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n der Creussener Töpferkunst spielt gegen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahr- 

hunderts eine bestimmende Rolle die Familie der Vest!). Sie stammt ursprüng- 
lich aus Österreich, wo 1479 ein Caspar Vest in Wiener Neustadt nachzuweisen 
ist. Um 1500 wirken mehrere Mitglieder der Familie als Bossierer in Österreich, 
besonders in Linz und Wien, wo sie Fahne und Wappen vom Kaiser Ferdinand 
erhalten. 1512 siedeln dann mehrere Mitglieder der Familie nach Creussen über 
und arbeiten dort als Bossierer und Häfner. 

Dann sind zwei Brüder, Thomas und Caspar, beide um 1550 geboren, dort 
als Häfner tätig. Caspar hat vor allem die Reliefbelege der Krüge der ersten 
Periode gefertigt. Von ihm rühren die rahmenartig gruppierten Kartuschen und 
die dickbäckigen Puttengestalten her; auch die Figuren von Frauen in Prunkhaube 
hat er nach Vorlagen des Straßburger Künstlers Heinrich Vogtherr (um 1535) ge- 
schaffen. 

Der Sohn von Thomas Vest war der bekannte Georg Vest (L) (1574 bis ca. 1620), 
Häfner und Bossierer zu Creussen (nicht aber in Nürnberg, wie die mir freund- 
lichst schon jetzt zur Verfügung gestellten neuesten Forschungen von Richard 
Stettiner ergeben haben). 

Caspar Vest hatte drei Söhne, die das Handwerk des Vaters fortgesetzt haben: 
Johannes Vest, geboren 3. Februar 1575, Caspar, geboren Oktober 1583 und Georg, 
geboren März 1586. Von diesem jüngeren Caspar rühren besonders die Planeten- 
und Apostelkriige her; außerdem lieferte er Männerköpfe und Mascarons, aber seine 
Formen waren auch anderen Meistern zugänglich, so daß wir sie also auch an 
Öfen, Krügen usw. finden, die nicht aus Creussen selbst stammen. 

Von dem jüngsten Bruder Georg wußten wir bisher gar nichts Näheres; doch 
war gerade er (nach Stettiner) in Nürnberg tätig, und rühren von ihm, nicht von 
dem oben genannten gleichnamigen Vetter, die berühmten Ofenkacheln her. Auch 
über die künstlerische Tätigkeit des Johannes Vest als Bossierer wußte man 
einiges, die früher als die seines um ein Jahr älteren Vetters Georg Vest begonnen 
hat (nach dem bisher bekannten signierten Material), und dem „eine höhere Stufe 
bildnerischen Könnens zugesprochen werden muß“ (Walcher). 

Das bisher über ihn Bekannte ist folgendes: voll signiert ist das Mittelstück einer 
Kachel auf der Rückseite: „Johannes Vest von Creussen 1599“. Dargestellt ist die 
Figur einer leicht schreitenden Fides, in der Rechten den Kelch, in der Linken 
das Kreuz tragend. Seitwärts steht am Fuße eines basaltartig aufgebauten Felsens 
R Fu Haus mit vorgelagerter Baumgruppe (ehemals Sammlung Walcher ). 
Abb. т. 

Das Werk ist als einzig bezeichnetes wichtig genug, um ausführlicher besprochen 
zu werden, Aus weißem gebrannten Ton bestehend, 46 cm hoch, 27 cm breit, 


(z) Vgl. Rud. Albrecht: Die Töpferkunst in Creussen. Rothenburg о. T. (1909). Walcher v. Molt- 
heim: Die Familie der Kunsthafner Vest und ihre Werke in Alt-Österreich und in Oberfranken. 
Kunst und Kunsthandwerk XVI. (1913), S. 81 f. — Hane Eber: Creussener Töpferkunst. München 1913, 8. 461. 
(2) Kürzlich in den Besitz des Frankfurter Kunstgewerbemuseums übergegangen. — Eine Ausformung 
befindet sich nach frdi, Mitteilung von Rob. Schmidt im Berliner Kunstgewerbemuseum. 


56 


Tafel 


3. Athena. 8 d Justitia. 
M. f. K. Bd. 1, 1021 Aufbewahrungsort, wenn nicht anders angegeben, Frankfurt aM Städt. Hist. Museum 
EE Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUGEN IN FRANKFURT A M. 


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Tafel 13 


7. Die Mäßigung. 


8. Das Wasser. (Arion). 


Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUGEN IN FRANKFURT A. M.. 
M. f. K. Bd. I, 1921 ne 


bringt es die Figur in sehr hohem, bis fast zu 5 cm gehenden Relief. Das hohe, 
trotzdem nicht schmale Gesicht neigt sich ein wenig nach links und zeigt kräftige, 
man möchte fast sagen saftige Formen. Die schweren Augendeckel fallen weit 
über die Augen herüber; unter der kräftig entwickelten Nase wölben sich wulstige, 
leicht geöffnete Lippen. Das Haar ist sorgfältig gelegt und am Hinterkopf, um 
den sich Zöpfe wickeln, hochgenommen. Über der Stirn erscheint ein vierpaß- 
förmiges Schmuckstück, von dem eine längliche Perle herabhängt. Ein leichtes 
Doppelkinn leitet zum Halse über, der wie eine Säule tiber den breiten Schultern 
sitzt. Die gleichfalls sehr kräftigen Arme und Hände sind im Gelenk abgebogen, 
die Finger selbst wieder an den Händen bei dem Fassen und Halten in verschie- 
denem Grade abgespreizt. 

Ein fast leidenschaftlich zu nennendes plastisches Empfinden spricht sich in dem 
allen aus, eine Begeisterung für den Körper, die sich in allen Einzelheiten kund- 
gib. Markig ist die Modellierung im Nackten durchgeführt und auch unter dem 
Gewand deutlich zu spüren; treten doch unter diesem der Nabel und selbst die 
Brustwarzen sichtbar hervor, ebenso wie die Knie mit ihren Vertiefungen unter 
dem energisch nach der Seite flatternden Mantel. Kräftig sind die Zehen model- 
liert, von denen die große durch die Sandale noch besonders abgespreizt wird. 
Eine gewisse Großheit lebt in der Figur sowohl, wie in der Gewandung, die über 
dem Leib durch eine mächtige Schleife zusammengehalten wird. Und die gleiche 
Energie spricht sich aus in dem Beiwerk, dem Häuschen und den buschigen 
Bäumen links, den Felsen hinten, dem Strauch rechts. Es ist eine eminent pla- 
stische Kunst, die sich hier zeigt, und mit den Mitteln der reinen Körperdarstellung 
werden stärkste Wirkungen erzielt. 

Von der Signatur war schon die Rede; nicht erwähnt ist aber von Walcher, daß 
vor der Signatur eine Ligatur steht, WL, die nicht anders als W І, aufzulösen ist, und 
an die sich die Bezeichnung Vests in ununterbrochenem Zuge anschließt. Nun 
gibt es in Nürnberg die bekannte Hafnerfamilie Leupoldt (oder Leypoldt); zu- 
sammen mit Georg Leupoldt arbeitet, wie wir wissen, Georg Vest. Es gibt aber 
auch einen Wolfgang Leupoldt, der nach 1598 gestorben ist. Gewiß haben wir 
bei unserer Figur sozusagen seine Fabrikmarke vor uns, an die Joh. Vest dann 
seine Künstlerbezeichnung angefügt hat. 

Der Typus der Fides hier stimmt überein mit jenem der Figur der Abundantia 
auf einem Creussener Krug, die, den rechten Fuß hochgesetzt, mit den Armen ein 
Füllhorn umfüngt ). Damit war für Walcher auch diese als eine Arbeit des Johannes 
Vest gesichert; doch sind die Abundantia-Krüge (worauf R. Stettiner hinweist) 
sämtlich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts nachzuweisen. 

Sehr ähnlich in der Haltung und Auffassung ist die prächtige glasierte farbige 
Tonfigur einer Venus Marina), ehemals im Besitz des Grafen Moritz v. Palffy, 
jetzt in der Städtischen Galerie zu Frankfurt a.M., so daß man versucht ist, auch 
diese dem Joh. Vest zuzuschreiben’). 

Bezeichnend ist für diese das Höherstellen des einen Fußes und die sehr kräftig 
entwickelten Unterarme, sowie das Abbiegen der Arme und Hände in den Gelenken. 

Außerdem halten Walcher bzw. Eber für Arbeiten von ihm das Mittelstlick aus 
einer Folge der personifizierten Kardinaltugenden, von dem nur der Kopf erhalten 
ist; weiter vollständige Kacheln an mehreren Öfen auf der Burg zu Nürnberg und 


(z) Walcher у. Moltheim, a. a. O., Abb. 41. 
(2) Abb. bei Eber, a. a. O., 8. 57. 
(3) Ebd. 8. 56. 


57 


im Germanischen Museum; darunter eine Allegorie der Nacht und des Tages!), 
und den Rahmen einer Kachelserie mit den vier Elementen (darunter der Terra), 
deren Sockel den Namen VEST trägt. Endlich befinde sich auf Schloß Otten- 
stein in Niederösterreich ein dunkelgrün glasierter, „vermutlich der einzige in dieser 
Vollständigkeit erhaltene“ Ofen des Johannes Vest mit den auserwählten Juden in 
Nischen: Abraham, Moses, Joseph, David und endlich Johannes dem Täufer — 
letzterer wohl als Patron des Künstlers gewählt (das Modell zu dieser Kachel im 
Besitz Walchers); ebenso ein buntglasiertes Mittelstück mit der Figur des Josua 
oder Gedeon, 1628 datiert. Die Modelle der Mittelstücke zu Kacheln der vier 
Evangelisten fand Eber noch in Creussen, der sie ebenfalls Joh. Vest zuschreibt. 
Ein anderes Modell mit dem hl. Jakobus (im Besitze Ebers) zeigt „auffallend reiche 
Umrahmung und dürfte der Terra-Periode angehören“?), 

Zu diesen mehr oder weniger gesicherten Werken Joh. Vests kommt nun noch 
ein bisher gänzlich unbeachtet gebliebenes Werk, freilich nur ein Bruchsttick, das 
aber neben der Kachel der „Fides“ das einzige vollsignierte Werk des Künstlers 
ist. Es ist ein nur zur Hälfte erhaltenes und in mehrere Stücke zerbrochenes, 
durch Brand beschidigtes Relief aus gelblichem gebrannten Ton von ursprüng- 
lich ovaler Form (Abb. 2). Der größte Durchmesser des Erhaltenen beträgt 26 cm; 
die Höhe hat etwa 28,5 cm, die Breite 24,3 cm betragen. Die durchgehende Stärke 
der Platte ist etwa 0,7 cm. Auf der Rückseite findet sich nun folgende Inschrift 
eingekratzt: Johannes Veſt / Possirer / und Hafner zu Franckfurt a. Mayn / 
anno... den 24. Janua . 

Die Mitte des flach profilierten Randes nimmt auf der Vorderseite eine kleine 
Rollwerkkartusche ein, unter der sich zwei kleine Löcher, wohl zum Anhängen 
des Ganzen, befinden. Erhalten ist ein in Dreiviertelansicht nach rechts gegebener, 
sich etwa 3 cm über den Grund erhebender Kopf eines Mannes in mittlerem Alter 
mit Spitzbart. Vom Haupthaar ist nur eine schlichte Lockenpartie über dem 
rechten Ohr zu sehen; von Kleidung nur die kleine Halskrause auf dem Stück 
Brokatmantel mit eingeritzter Musterung. Rechts ist das vom Kurfürstenhut mit 
Kreuz überragte Wappen des Mainzer Erzbischofs Johann Schweikard von Cronberg 
in Relief angebracht, links die Jahreszahl 1609. Damit waltet über die Person 
des Dargestellten kein Zweifel, zumal da zeitgenössische Bildnisse diese noch be- 
kräftigen. In dem Kupferstichwerk über das Schloß in Aschaffenburg?) erscheint 
der Kurfürst in einer sehr ähnlichen Medaillondarstellung, nur etwas weniger in 
Profilstellung gerückt. Und um diesen 1553 geborenen Erbauer des neuen Schlosses 
in Aschaffenburg (errichtet 1606—1614) handelt es sich, der von 1604—1626 den 
Mainzer Erzbischofstuhl innegehabt hat. Das Relief ist in Aschaffenburg im Schutt 
über den Kellergewölben des durch Brand zerstörten Kapuzinerklosters gefunden 
worden, hat also wohl, vielleicht in Verbindung mit ähnlichen Reliefs, möglicher- 
weise anderer Fürsten, zum Schmuck der Wände gedient Gern würde man eine 
Tätigkeit Vests auch für das Schloß annehmen, ohne daß man bei der weitgehen- 
den Zerstörung der inneren Einrichtung etwas feststellen könnte. Eine Tätigkeit 
käme besonders für Kachelöfen in Betracht: wir wissen zwar nur von einer Aus- 
stattung mit Kaminen‘), doch ist das Vorhandensein auch von Öfen wohl sicher 


(1) Abb. bei Eber, S. 70 und 68. (2) a. a. O., 8. 71. 

(3) Georg Ridinger: Architectur des Maintzischen Churfürstlichen neuen Schlossbawes ... zu Aschaffen- 
burg. Maintz 1616. 

(4) Schulze-Colbitz: Das Schloß zu Aschaffenburg. Straßburg 1905 (Studien z. deutschen Kunetgesch., 
Н. 65), 8. 105. 


58 


anzunehmen. Weiter könnte man bei der reichen Stuckarbeit besonders in dem 
oberen großen Saal mit den Darstellungen aus der Kaisergeschichte an Vest 
denken, wenn diese nicht wahrscheinlich erst aus einer späteren Zeit stammten — 
als Vest nicht mehr lebte. Insbesondere gilt dies von der Darstellung der Krönung 
des Kaisers Matthias, bei der Schweikard eine wichtige Rolle spielte. Eher wäre 
bei den Stuckaturen im Westfitigel des Erdgeschosses (erbaut 1607—1608) an Vest 
zu denken, wo die jetzt zu kleinen Kammern umgebildete Tafelstube für die Be- 
‚amten noch ruinierte Stuckgewölbe zeigt*). 

Jedenfalls ist das Medaillon als das zweite bisher bekannte bezeichnete Werk 
des Künstlers besonders interessant; die Bezeichnung ähnelt in ihrer Ausführlich- 
keit durchaus derjenigen, die auch andere Mitglieder der Familie auf ihren Werken 
anzubringen lieben. So der Nürnberger Bruder Georg auf seinen Kacheln, so Caspar 
Vest auf jenen kleinen Plaketten mit Mars und Venus?), die wie die Fides aus 
weißem, gebranntem Ton hergestellt sind und eine bisher noch nicht mit Sicher- 
heit gedeutete Bezeichnung tragen. 

Dem Gegenstand nach gehört das Rundmedaillon des Georg Vest mit dem 
Wappen der Gugel, gleichfalls aus weißem Ton und im Germanischen Museum, 
hierher (Dm. 8,5 em) )). 

Durch die Augabe „von Frankfurt“ auf unserem Stück werden wir nun auch 
bezüglich der Lebensverhältnisse des Joh. Vest weitergeführt. War man über 
diese doch völlig im unklaren; man wußte nicht, ob er in Nürnberg, in Creussen 
oder sonstwo tätig gewesen. Nach der Inschrift auf der „Fides“ können wir ja 
nun jetzt mit Bestimmtheit sagen, daß er 1599 in Nürnberg bei W. Leupold ge- 
arbeitet hat. Aber auch über die spätere Zeit und die Dauer seines Lebens, über 
die man völlig im Dunkeln tappte, können wir jetzt Entscheidendes beibringen. 

Im Bürgerbuch der Stadt Frankfurt (Stadtarchiv), Bd. VII, S. 295, findet sich 
nämlich der folgende Eintrag: 

„Johann Vest von Creussen Haffner und Possirer ist frembdt zum Burger an- 
genommen worden, juravit den 8. January, A“ 1605, dt ooo. 

Und demnach ermelter Johann Vest ein kunstreicher Possirer (wie Bein uber- 
gebene Probstückh außgewiesen) Als haben bede Herrn Burgermeister ime das 
Burgerrecht allerdings ex gratia nachgelassen.“ 

Also Johannes Vest von Creussen ist ganz zu Anfang des Jahres 1605 Frank- 
furter Bürger geworden und offenbar mit Auszeichnung hier aufgenommen; das 
geht daraus hervor, daß ihm das Bürgerrecht ohne die übliche Gebühr gewährt 
worden ist. 

Nicht genug damit. Wir besitzen auch die Supplikation, in der Vest an der 
Hand längerer Darlegungen um die Gewährung des Bürgerrechts vorstellig wird. 

„Neben erpietunge meyner ganz willigen und bereyten Dienste fuege E. E. und 
P. W. ich unterthänigst zue vernehmen, dass Innhalts hierbey gefügter Uhrkunde 
Ich nicht allein das Haffner Handwerkh, sondern auch dass Possiren unnd darzu 
dienstliche Formschneiden erlernnet und inn solche Uebung gepracht, dass damit 
(ohne Ruhm zu melden) vielen Leuthen, hohen und niederen Standes nicht wenigers 
auch den Meystern des Hafner Handwerkhs allhier zu ihrem Nutz und wohlgefallen 
gedienet werden, Dieweill dann mit meiner wohlgetibten Kunst und nuzlichen 
Arbeyt Ich nuhn biss inn dass zehende Jaar alhie bekant unnd vermittelst der- 


(х) Schulze-Colbitz, a. a. O., 8. 100. 
(a) Josephi, Katalog der Werke plastischer Kunst (im German. Nationalmuseum) 1010, Nr. 117-- 118. 
(3) Ebd. Nr. 116. 


59 


selben und göttlicher Hilfe mich inn Ehren zu ernehren weiss und in dieser löb- 
lichen und weythberümbten des Heyligen Römischen Reichs Statt Frankfurth unter 
E. E. und P. W. Schutz und Schirmb hausslichen niderzulassen ein besondere Be- 
gierde trage, alss gelangt an E. E. unndt P. W. mein unterthänig dienstlich unnd 
seer vleissige Pitte, Sie wöllen zu ihrem Burger mich grossgünstig auff unndt 
annehmen, will ich Ein Hundertt Gülden mit meyner Vaust verdients bars geldts 
alhier anwenden, die schuldige gebürn zu unterthänigem Dank entrichten, auch mit 
der Zeyt an eine solche Persohn durch Gotes gnade unnd ehrlicher Leuthe Be- 
förderunge verheyrathen 

Johannes Vest, vonn Kreussen Brandenburgischen 

fürstenthumbs Häffner und Possirer“. 

Er hebt also besonders hervor, daß er nicht nur das Häfnerhandwerk, sondern 
auch das Bossieren und Formschneiden gelernt hat, mithin selbst entwerfender 
und modellierender Künstler ist. 

Weiter ergibt sich, daß er seit wenigstens 1596, also seit seinem 21. Jahre, in 
Frankfurt „bekannt“ ist. Er muß also mehrfach, besonders vielleicht in Meßzeiten, 
hier anwesend gewesen sein und mit Frankurtern in geschäftlichen Beziehungen 
gestanden haben!). Gewiß war damals hier kein Überfluß an eigentlich schöpferischen 
Kräften in der Keramik; dafür spricht einmal der Umstand, daß er besonders her- 
vorhebt, auch den Meistern des Häfnerhandwerkes in Frankfurt werde es vorteil- 
haft sein, wenn er sich seßhaft mache, und dann die gebührenfreie Erteilung des 
Bürgerrechts durch den Rat der Stadt. Das Anerbieten, sich dessen Erwerbung 
hundert Gulden kosten zu lassen, wurde nicht angenommen. 

Auch die Absicht, sich in Frankfurt zu verheiraten, hat er verwirklicht; vor- 
läufig kennen wir allerdings nur den Vornamen der Frau: Margarete, und zwar 
erfahren wir ihn aus einem vom 17. Juli 1612 datierten Aktenstück. Dort wird 
nämlich erwähnt „Margretha, weiland Johann Festen S. Wittib itzo Philips Hart- 
lins Haußfraw“ ). An diesem Termin war also Johann Vest bereits verstorben, 
— allerdings noch nicht lange Zeit vorher. Denn es ist ein vom Jahre 1612 
stammendes Testament oder ein Inventar seines Besitzes im Stadtarchiv vor- 
handen gewesen. Leider fehlen die Testamente selbst aus einer ganzen Reihe von 
Jahren, unter denen sich auch das Jahr 1612 befindet. Nur in einem Index sind 
die Namen der Erblasser, darunter auch des Johannes Vest, erhalten. Es ergibt 
sich schon danach, daß dieser von Januar 1605 bis etwa zum Anfang des Jahres 
1612 in Frankfurt Bürger gewesen ist und hier gewohnt hat. Und im Totenbuch 
des Frankfurter Standesamts ist endlich unter Sonntag, 6. Oktober 1611 „Johann 
Vest, Bossirer und Hafner B.“ als verstorben erwähnt’). 

(1) Ein Dr. Johann Vest, Kammergerichtsprokurator-Fiskal, wird von Kaiser Rudolf IL am a3. März 
1579 mit der „Inquisition der Drucker und Buchläden der bevorstehenden Messe“ in Frankfurt be- 
auftragt: sein Name begegnet noch 1596 in der gleichen Angelegenheit (Stadtarchiv, Zensurakten Nr. 27), 
und erst 1606, endgültig 1608, wird ein anderer Bücherkommissarius, Dr. Valentin Leucht, ernannt. 
Ob hier, wenn vielleicht auch weiter zurückliegende verwandtschaftliche Beziehungen zu der Töpfer- 
familie vorliegen, die ja, wie erwähnt, aus Österreich stammte und in späteren Mitgliedern wieder 
dortbin auswanderte, wissen wir nicht, 

(a) Insatsbuch Stadtarchiv, Tom. XVI, 8. 236. Dieser Hartlin ist nicht etwa auch Hafner gewesen. 
Er wird in dem Register des Bürgerbuches als „Kramer“ bezeichnet; er war in Worms Bürger ge- 
wesen, aber in Frankfurt geboren, und erlangte hier am 28. April 16123 als „Filius Civis“ das Bürgerrecht. 
(3) Als Kinder Vests werden im Geburtsregister des Standesamts Anna Catharina (geb. 5. Juli 1607), 
Catharina (geb. 25. Juli 1608) und Johann Philipp (geb. 13. Dez. 1610) namhaft gemacht. Letzterer 
ist ale Frankfurter Bürger später nicht nachzuweisen. 


60 


Daß Vest in gewissem Sinne eine Ausnahmestellung eingenommen haben muß, 
geht noch aus etwas anderem hervor. Am 14. Dezember 1615 wurde nämlich 
Christian Steffan aus Langla „frembd zum Burger angenommen“, und in der gleich- 
falls noch erhaltenen Supplikation nennt er sich den einzigen Bossierer in Frank- 
furt. Es ist derselbe Mann, dem mit großer Wahrscheinlichkeit die Stuckdecke im 
„Fürsteneckzimmer“ (jetzt im Frankfurter Kunstgewerbemuseum) zugeschrieben 
ist!). Die Lücke, die der Tod des Johann Vest gelassen hatte, scheint also erst 
durch die Niederlassung von Steffan einigermaßen ausgefüllt worden zu sein. 

Daß Vest auch sein Handwerk hierselbst betrieben, nicht etwa nur als Kaufmann 
mit fertiger Ware gehandelt hat, ergibt sich mit voller Deutlichkeit daraus, daß 
seine Witwe in dem vorhin erwähnten Aktenstück von „zwo ererbten Brennhütt“ 
in Sachsenhausen spricht. In Sachsenhausen waren die sämtlichen Häfner an- 
sässig, die in dem ersten erhaltenen Aktenstück zur Geschichte der Frankfurter 
Häfnerzunft (1602) erwähnt sind”). Sie wohnten dort in dem nach ihnen ge- 
nannten „Töpfergäßchen“, das früher „Zu den Brennöfen“ hieß. Es ergibt sich 
daraus, daß die Töpfer dort ihre Öfen hatten“), und aus dem erwähnten Akten- 
stück geht hervor, daß die Vestschen Brennhütten „am Schaumaintor“, auf der 
einen Seite Hans Eichorn, gleichfalls Häfner, und auf der anderen Seite Georg 
Schöffler von Zellingen (Bürger seit 7. Juli 1607 durch Heirat mit der Witwe des 
Hafners Caspar Schmidt) zu Nachbarn hatten‘). 

Und es scheint fast, als ob wir diesen Brennhütten selbst noch auf die Spur 
kommen könnten. In dem noch heute erhaltenen letzten Rest der alten Befesti- 
gung von Sachsenhausen, dem sog. Ulrichstein, wurde nämlich vor einigen Jahr- 
zehnten (1876) das Vorhandensein eines Töpferbrennofens festgestellt. Im Ulrich- 
stein selbst war ein Fachwerkhaus eingebaut, und die Riegelwände seines oberen 
Stockwerkes waren ausgemauert mit Kacheln und Formen zu Kacheln, die beim 
Abbruch zum Vorschein kamen und dem Historischen Museum der Stadt über- 
geben wurden. Darunter befinden sich eine Reihe von Stücken, die, wie wir noch 
sehen werden, zu Joh. Vest in nächster Beziehung stehen. Der Schluß ist gewiß 
nicht zu ktihn, daß wir hier oder in nächster Nähe die Werkstatt Vests zu suchen 
haben werden. 

II. 


Die Feststellung, daß Johannes Vest in Frankfurt gelebt und gearbeitet hat, ist 
wichtig auch deswegen, weil damit eine Reihe von Schwierigkeiten sich löst, die 
der Forschung bisher zu schaffen gemacht haben. Schon längst war aufgefallen, 
daß sich in und um Frankfurt in ziemlich großer Anzahl Ofenkacheln und ganze 
Kachelöfen finden, die auf Beziehungen zu Nürnberg hinzuweisen schienen“). Be- 
sonders kommen hier in Betracht zwei jetzt im Goethehaus befindliche große 
Kachelöfen. 

Im Erdgeschoß des Goethehauses ), in der sogenannten „blauen Stube“ befindet 


(1) Wolff, Jung und Hülsen: Die Baudenkmäler in Frankfurt a. M., Lief. 5, S. 37. Rob. Schmidt: 
Das Fürsteneckzimmer. Frankfurt a. M., 1919. (Sonderheft des Kunstgewerbe-Museums). 

(a) О. Lauffer: Der Kachelofen in Frankfurt. In Festschrift s. Feier des 2sjähr. Bestehens d. Städt. 
Hist. Museums zu Frankfurt a. М. 1903, 8. 127. 

(3) О. Cornill in den Mitteilungen d. Vereins f. Gesch. und Altertumskunde V (1879), 468 f. 

(4) Eichorn und Schmidt schon 1602 erwähnt; Lauffer, a. a. O., S. 115. 

(5) Lauffer, а. a. O., S. 130f. 

(6) Daß im Goethehaus zwei solche Öfen vorhanden sind, muß besonders betont werden, weil in der 
Literatur nur von einem die Rede ist. Zuerst hat C, v. Drach einen solchen erwähnt (Kunstgewerbe- 


61 


sich ein aus dem Senckenbergschen Stiftungshause stammender Kachelofen mit 
einem Feuerkasten aus Eisenplatten, während der Aufsatz aus schwarzen, ungla- 
sierten Tonkacheln besteht. Es sind fünf vollständige Kacheln, während eine 
sechste bereits halb in der Wand steckt. Die Rahmen sind überall gleich und 
enthalten oben, getrennt durch ein von zwei Löwen flankiertes Maskeron, die Ge- 
stalten der Gerechtigkeit und der Klugheit, unten der Mäßigung und der Stärke; 
an den Seiten je einen Gewappneten. Die Mittelbilder sind zum Teil der bereits 
genannten Serie der vier Elemente entnommen, von denen „Аёг“ und „Aqua“ ver- 
treten sind, letztere einmal, erstere zweimal (nur zum Teil erhalten). Nicht zuge- 
hörig ist eine dreimal wiederholte schreitende Gestalt der Justitia, in der Linken 
die Wage, in der Rechten das aufgerichtete Schwert. (Der Einfachheit werden 
wir diesen als Goethehaus-Ofen I bezeichnen.) 

Goethehaus-Ofen Nr. П im ersten Stock, dem sogenanten „Musikzimmer“, ent- 
hält gleichfalls über einem eisernen Feuerkasten fünf Kacheln, die der Serie der 
Elemente entnommen sind. Und zwar sind es hier Aér, Ignis und zweimal Terra, 
zu denen an der Schmalseite noch die Figur einer Athena, also wohl der Weis- 
heit, kommt, die in der Linken eine Lanze, in der Rechten einen maskenverzierten 
Schild trägt. Der Rahmen enthält oben ein jiingstes Gericht, zu den Seiten in 
einem von vier Säulen getragenen Gehäuse die Figuren des Petrus und des Judas. 
In einer von Seepferden begleiteten Kartusche des Sockeis steht jedesmal der 
Name VEST. 

Dieser Sockel des Aufsatzes enthält viermal die gleiche Darstellung: in der Mitte 
eine sitzende Justitia, links eine stehende Frau mit langem Kreuz in der Rechten, 
einem Buch und hängenden Schlüsseln in der Linken; rechts eine Frau mit Füll- 
horn in der Linken und einem Schwert in der Rechten. 

So ist also in den zwei Öfen zusammen die Serie der Elemente vollständig vertreten. 

Die Eckkacheln der Öfen sind beidemal gleich und zeigen eine Herme mit pracht- 
vollem Widderkopf. 

Beide Öfen sind offenbar eng mit Frankfurt verbunden; denn von der Figur der 
Justitia des Ofens I wie von der Athena des Ofens II befinden sich die Modelle; 
im Historischen Museum (Abb. 3, 4, Sachsenhäuser Kachelfund). 

Auch die Kachein der Elemente selbst sind in unserer Gegend mehrfach ver- 
treten: die vollständige Reihe, die aus einem Bauernhaus in der Nähe von Gießen 
stammt, findet sich in den Sammlungen des hessischen Geschichtsvereins zu Mar- 
burg’), die Terra allein in den Sammlungen des Altertumsvereins zu Mainz und 
im Besitz von Sanitätsrat Dr. Großmann-Frankfurt. 

Außerdem aber treffen wir mehrfach die Formen von Bild und Rahmen in ge- 
trennter Benutzung; der Rahmen der Justitia des Goethehausofens I begegnet im 
Darmstädter Museum mit einer prachtvoll bewegten Judith als Füllung, aus Roß- 
dorf bei Darmstadt stammend. Die Figur des Ignis ist in Steinbach bei Michel- 
stadt zutage gekommen, die Terra findet sich in einem reichen Rahmen mit vielen 
Figuren: Caritas, Veritas, Justitia, Temperantia, Fortitudo u.a.m. im Darmstädter 
Landesmuseum. Dieser Rahmen selbst ist dort noch einmal vorhanden mit 
einem anderen Mittelstück (Vase und Lilie). 


blatt Ш (1887), S. 131 mit Abb., danach hat ihn Lauffer, a. а. O., S. 119 und 134 besprochen und 
Drachs Angaben zum Teil verbessert, aber nur den zweiten Ofen (im Erdgeschoß) gesehen. Die 
verschiedenen Angaben der beiden Forscher beziehen sich also auf zwei verschiedene Öfen; die 
Polemik des einen gegen den anderen ist daher gegenstandslos. | 

(тї) Abbildung bei Drach, а. а. О. 


62 


OO em — — — . — 


Die Figur der Terra selbst begegnet auch auf einem Kachelbruchstück des 
Frankfurter Historischen Museums, dem unten angefügt ist das Medaillonporträt 
eines Mannes, dessen Umschrift wohl zu lesen ist: Hans Burck von Guntzenhausen 
Aetat ... Dieselbe Kachel begegnet in den Sammlungen des Mainzer Alter- 
tumsvereins und hier ist auch die Umrahmung erhalten; zu den Seiten je eine 
Karyatide, im Gebälk zwei Frauen; die links mit Bogen und Totenkopf, die rechts 
mit Palme und Schwert. 


Diese Figur der „Terra“ ist nun nahe verwandt mit der „Venus Marina“, die 
Athena und Justitia andererseits verwandt mit der Fides, die von Joh. Vest mit 
1599 inschriftlich bezeichnet war. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß 
die ganze Folge des Goethehaus-Ofens auf Joh. Vest zurückgeht. Damit ist dann 
wohl auch die von С. v. Drach mit Zähigkeit gegen Nordhoff verfochtene Autor- 
schaft Anton Eisenhoits für die Serie der Elemente endgültig erledigt. Die Figur 
des Aör ist bei einem im Dresdener Kunstgewerbemuseum befindlichen Exemplar, 
das damals als einziges bekannt war, eingefügt in einen Rahmen, der deutlich 
die Bezeichnung VEST trägt. Schon daraufhin vermutete Lauffer die Auorschaft 
eines Vest für die ganze Serie; auch die Figur des Aér und Ignis am Goethehaus- 
Ofen П trägt die Bezeichnung Vest’). 


So dürfen wir weitergehend vermuten, daß diese Serie nicht von Nürnberg aus 
importiert, sondern in Frankfurt und von Joh. Vest selbst angefertigt worden ist. 
Daraus würde sich in ungezwungenster Weise die verhältnismäßig große Häufigkeit 
hres Vorkommens gerade in der Frankfurter Gegend erklären. 


Es wurde erwähnt, daß Nürnberger Kacheln mit der Allegorie des Tages und 
der Nacht bereits für Joh. Vest in Anspruch genommen worden sind. Der Rahmen 
vom „Tag“ enthält nun in dem von vier Karyatiden gestützten Gebälk die Ge- 
stalten der fünf Sinne, die teils stehend, teils lagernd erscheinen). Dieser Rahmen 
begegnet auch in den Sammlungen des Historischen Museums mit der Figur einer 
klugen Jungfrau als Mittelbild (Abb. 14); dieses Mittelbild seinerseits kehrt in zwei 
anderen Kacheln derselben Sammlung wieder, bei denen aber der Rahmen einfacher 
gestaltet ist (Lauffer, Abb. 14); hier sind die fünf Sinne auf dem Gebälk, zu den 
Seiten als Karyatiden und auf dem Sockel verteilt. Diese selbe Umrahmung findet 
sich noch einmal bei einer aus Gelnhausen stammenden Kachel mit einer figuren- 
reichen Salbung Davids als Mittelbild (Abb. 15); dieselbe Kachel befindet sich im 
Frankfurter Kunstgewerbemuseum. Dem ganzen Charakter der Arbeit nach dürfen 
wir auch diesen Rahmen samt den Mittelbildern für Joh. Vest in Anspruch nehmen; 
nur bezüglich der Salbung Davids kann man zweifelhaft sein. 


Der „Tag“ findet sich mit einer anderen Umrahmung auch auf einem Ofen der 
Burg zu Nürnberg: im Gebälk sitzen die zwei Figuren von Frühling und Sommer, 


(х) Auf die Frage der Autorschaft der vier Stiche von 1586 (Bartsch ПІ, 8. 100, rox), die deutlich die 
Vorlage für die Kacheln gebildet haben, und die Nordhoff für H. Goltzius in Anspruch nahm (Bonner 
Jahrb., Н. LXXXIV, 1887, 8. 169), während v. Drach sie Goltzius absprach und die Blätter mit Acr 
und Terra für Eisenhoitsche Arbeiten hielt (Kunstgewerbeblatt, a. a. O.), können wir hier nicht näher 
eingehen. Dadurch wird aber natürlich die Frage nach der Originalität der Erfindung des Joh. Vest, 
ebenso die nach der Abgrenzung der Werke der verschiedenen Mitglieder der Familie Vest stark be- 
rührt. Daß Goltzsche Stiche ausgiebige Verwendung im Kunstgewerbe, besonders von seiten der 
Delfter Fayence-Manufaktur, hauptsächlich für Ofenkacheln (Signifer, Römerbelden) gefunden haben, 
ist bekannt. Vgl. О. Hirschmann, Meister der Graphik VII, 8. 145. 

(з) Abb. bel Eber, S. 68. Lauffer, Abb. 15. 


63 


an den Seiten erscheinen vor den Pilastern die Gestalten von Herbst und Winter’). 
Ebenso begegnet dieser Rahmen mit den Jahreszeiten bei der Kachel der „Nacht“ 
in der Sammlung Walcher*) und im Germanischen Museum, und weiter bei den 
Kacheln der Terra (Abb. 18) und Aqua im Germanischen Museum, dem Ignis auf 
der Nürnberger Burg?) und einer großen Kachel mit dem Autumnus ebendort 
(der Autumnus kehrt noch einmal wieder im Bayrischen Gewerbemuseum ebendort). 
Besonders der Frühling und Sommer (oben über dem Bogen) zeigt wieder die 
energische plastische Behandlung, das Abbiegen der Gelenke, wie wir es bei der 
Fides-Figur fanden. 

In den Kreis dieser Arbeiten gehören nun auch eine Anzahl einzelner Kacheln 
hauptsächlich des Frankfurter Historischen Museums, deren Verwendung an Öfen 
gewiß gelegentlich noch nachgewiesen werden kann. In sehr enger Verbindung 
zu der Justitia und der Athena steht eine Kachelform mit der Figur der „Sterc“, 
die, stehend, mit der Linken einen oben abbrechenden Säulenstamm umfaßt, die 
Rechte dagegen in ein auf kanneliertem Rundsockel brennendes Feuer hält (Abb. 6‘). 
Auch hier erscheinen sehr kräftig Nase und Lippen, die tief ausgebohrten Augen, 
deren oberes Lid pathetisch ausgebaucht ist, und deren Jochbein unmittelbar an 
die Nase ansetzt. Das Haar liegt oben enger an; wo es sich von dem nach links 
geneigten und dadurch betont empfindungsvoll wirkenden Kopfe löst, flutet es in 
langen Wellen herab. Die rechte Hand ist in rechtem Winkel abgespreizt, die 
Knöchel der Linken sind durch Lochvertiefungen bezeichnet. Der Körper ist fast 
vollrund aufgesetzt; das linke Bein ist bis über das Knie nackt; weit flattert das 
Gewand nach hinten’). Selbst in dem aufsteigenden Rauch spricht sich ein plastisch 
eigenwilliges Empfinden aus. Fast in allen Einzelheiten stimmt die Figur mit der 
Justitia und der Athena tiberein, und ähnliches gilt auch von einer Kachel mit der 
prachtvollen sitzenden Figur der Temperantia als Mittelbild (Abb. 7) mit ihrem 
kräftigen Gesichtstypus, ihrer energischen Modellierung etwa besonders des Knies, 
mit der Betonung der Gelenke, des Ansatzes der Arme, der flatternden durchsich- 
tigen Gewandung usw. Das Haar wird von einer Perlenkette durchzogen und die 
Mitte durch ein Schmucksttick bezeichnet. 

Zu dem Sachsenhäuser Kachelfund gehören auch zwei Hohlformen mit halbkreis- 
förmigem Abschluß, durchschnittlich 16 X 25 cm, messend, von denen die eine 
Arion mit der Leier darstellt (Abb. 8). Auch er hat, wie etwa die Terra und 
andere Vestsche Figuren den einen Fuß hochgestellt, wie er auf und tber aller- 
hand vielseitig und charakteristisch dargestelltem Meergetier seine Leier schlagend 
hoch aufgerichtet steht. Der Zusammenhang mit der Venus Marina ist deutlich. 
Die Inschrift „Das Waser. Das zweit.“ zeigt, daß das Stück wohl zu einer Serie 
der vier Elemente gehört hat; ebenso wie die zweite Hohlform: auf einer ge- 
fitigelten Kugel tiber stark bewegten Wellen steht eine fast nackte Frauenfigur, die 


(z) Röper-Bösch: Sammlung von Öfen in allen Stilarten vom 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts. 
ı895, Tafel 27. 

(2) Walcher, a. a. O., Abb. 42. 

(3) Röper-Bösch, a. a. O. 

(4) Sachsenhäuser Kachelfund, 

(5) Die Vorliebe für flatternde Gewänder und für Entblößung des einen Beins bis über das Knie 
hinauf findet sich in ganz ähnlicher Weise schon an österreichischen Kacheln um 1550, die mit dem 
von Walcher frageweise als „Hans Vest“ aufgelösten Monogramm H V bezeichnet sind (Walcher, 
a. a. O., 8. тоз, Abb. 38—39. Vgl. dieselbe Zeitschr. 12, 8. 356). Diese Deutung würde von der 
stilistischen Seite her eine Bekräftigung erfahren, wenn man annehmen könnte, daß diese Stileigen- 
tümlichkeiten von jüngeren Mitgliedern der Familie aufgenommen und weiterverwendet wurden. 


64 


Tafel 14 


11. Caritas. Holz. 


12. Joseph. Kunstgewerbemuseum. 
Josep 3 13. Martyrium der hl. Agnes. 


Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. СКЕОВЕМ IN FRANKFURT A. M. 


M. f. K. Bd. I, 1921 Digitized by Na OO 8 IK 


Tafel 1: 


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14. Kluge Jungfrau. 


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16. Der verlorene Sohn. 17. Monat Juli. 


Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUGEN IN FRANKFURT A. М. 


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M. f. K. Bd. I, 1921 


Tafel 16 


18. Terra. German. Museum. 19. Monat Mai. German. Museum. 


21. Tobias, den bösen Geist vertreibend. 


Zu: KARL SIMON, JOHANNES VEST V. CREUBEN IN FRANKFURT A M. 


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mit den Händen die Enden eines gebauschten Segeis faßt — also wohl eine Per- 
sonifikation der Luft (Abb. 9). Die Stellung der Beine entspricht genau der bei 
der Athena: das eine straff durchgedrlickt, das andere in leichterer Stellung dicht 
daneben vorgestreckt. Vielleicht gelingt es danach, auch die noch fehlenden zwei 
Elemente aufzufinden. 

Einem ganz anderen Zusammenhange angehörend, durch gleiche Form und Maße 
aber den beiden vorigen Hohlformen nahe verbunden ist eine weitere Model aus 
dem Sachsenhäuser Kachelfund, die die lebendig bewegte Szene des Verkaufs 
Josephs darstellt. 

Hält es hier schwerer, in den lahmeren Bewegungen und der flaueren Modellie- 
rung spezifisch Vestsche Züge mit Bestimmtheit festzustellen, so treten diese in 
einem Martyrium der hl. Agnes (Kachel, halbrund geschlossen) sehr deutlich 
wieder hervor: in den weit ausgreifenden und differenzierten Bewegungen, den 
Gesichtstypen, in der Gewand- und Körperbehandlung (Abb. 13?)). Unverkennbar 
tritt diese Beziehung hervor auch in einem leider nur als Bruchstück erhaltenen 
Rahmen, wo in der linken oberen Ecke ein jugendlicher Mandolinenspieler er- 
scheint, rechts unten ein Cello spielender Engel; im Sockel zu den Seiten eines 
kräftig bewegten Ornaments mit einem Maskaron als Mittelstück zwei musizierende 
Putten. Die Höhe muß etwa 65 cm betragen haben, die Breite 38 cm. Auch das 
Bruchsttick des Mittelstücks einer Kachel gehört in diesen Zusammenhang, wo 
ein musizierender Putto neben einer den rechten Fuß weit zur Seite setzenden 
Frauenfigur erscheint. 

In Zusammenhang mit ihr steht wohl die Form für eine Kachel, wo ebenfalls 
ein Putto neben einer in verlornem Profil gegebenen flötespielenden Frau zu sehen 
ist. Die Modellierung läßt allerdings die Straffheit Joh. Vests vermissen. 

Vestschen Charakter trägt auch ein zweimal vorkommender Rahmen, der zu 
den Seiten zwischen zwei Halbsäulen je eine Figur, oben im Gebälk stehende, 
sitzende und liegende Musizierende zeigt. Die Geigerin rechts trägt mitten im 
Haar ein Schmuckstück, wie wir es bei Vest öfters fanden. Im Ornament tritt ein 
barocker Zug stärker hervor, etwa wie ein gehörnter Teufel aus dem sehr plastisch 
gegebenen Rollwerk hervorkommt. In zartem Relief erscheinen unten zwischen 
Blattornament Hirsch und Reh gegeneinander gestellt. Die mittlere Darstellung ent- 
hält einmal den verlorenen Sohn (Abb. 16), die Säue hütend, das andere Mal 
— hier ist der Abschluß des Rundbogens nicht offen, sondern mit einer Putten- 
darstellung gefüllt — David und Goliath?). Nur in der letzteren kann man un- 
mittelbar Vestsche Stilelemente feststellen, doch verlangt ja eine in landschaftlicher 
Szenerie sich abspielende Darstellung in kleineren Dimensionen eine andere Be- 
handlungsart als isolierte Figuren, so daß man vielleicht auch beide Mittelbilder dem 
Vestschen Oeuvre zuweisen kann. 

Ähnlichen Charakter trägt auch eine große Kachel mit figürlicher Darstellung: 
hinter einem sitzenden Feldherrn eine Frau mit zwei Garben, über ihrem 
Haupte eine Sichel schwingend. Über ihnen das Sternzeichen des Löwen, rechts 
des Schützen, also eine Darstellung des Monats Juli (Abb. 17). Es existieren da- 
von zwei Exemplare, das eine unglasiert und graphitiert, die andere, sehr viel 
schärfer in der Form, mit grüner dünnflüssiger Glasur. 

Derselbe Rahmen (im Gebälk ein Engelsköpfchen zwischen zwei sitzenden Engeln; 
zu den Seiten je eine Satyrherme) begegnet mit einem anderen Mittelstück, dem 
ausgezeichneten Medaillonportrit von Kaiser Rudolph П. in Dreiviertelansicht?). 


(z) Sachsenhäuser Kachelfund. (2) Lauffer, а. а. О., Abb. 12. (3) Abbildung bei Eber, 8.53. 
Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. L 1921. 5 j 65 


Ein ganz ähnliches kommt an dem Kaiserofen auf der Burg zu Nürnberg vor, so daß auch 
hier wieder eine Beziehung zu der Werkstatt der Vest auch äußerlich hervortritt. 

Andrerseits begegnet der gleiche Rahmen wieder an einer Kachel in Nürnberg, 
Germanisches Museum, mit einer figtirlichen Darstellung des Monats Mai im Mittel- 
felde (Abb. 19): auf einem Thron sitzt eine Frau, die in der hoch erhobenen Linken 
ein größeres Blumenbiischel, in der auf dem linken Oberschenkel ruhenden Rechten 
einen kleineren Blumenstrauß hält; in dem Haar mit langen herabhängenden Zöpfen 
Vergißmeinnicht. Zu ihrer Rechten sitzt mit entblößtem Oberkörper ein Mann, der, 
die Rechte hoch erhebend, sich zu ihr wendet. Darüber und zu den Seiten die 
Sternbilder der Wage, des Wassermanns und der Zwillinge, also des Monats Mai; 
auf letzteren bezieht sich jedenfalls die Darstellung. 

Behandlungsart und Typen scheinen mir allerdings nicht speziell auf Johannes 
Vest zu deuten. 

Bei verschiedenen Kacheln wurde ein Rahmen erwähnt, wo im Gebälk, an den 
Seiten und im Sockel eine Darstellung der fünf Sinne begegnet; an letzterer Stelle 
der Geruch: eine lehnende Frau an einer Blume riechend, zu ihren Füßen ein 
springender Hund!) (Abb. 5). Diese Darstellung kehrt nun in den Sammlungen des 
Histor. Museums zweimal wieder als Form für eine Leistenkachel (16,8 >< 39 cm) 
mit einer außerordentlich geschmackvollen Umrahmung: zu beiden Seiten ein Jüng- 
ling, dessen Unterleib in elegant geschwungenes Blattwerk übergeht. Gesichtstypus 
und Haarbehandlung weisen Vestsche Züge auf und ebenso die vielseitig differen- 
zierte Bewegung von Arm und Hand. Sehr ähnlich ist nun in den Grundztigen 
die Umrahmung von drei Leistenkacheln, von denen leider nur zwei vollständig 
erhalten sind. Die Umrahmung ist stark bereichert durch Engelsköpfchen und eine 
Art Eierstab, von dem Blumen- und Fruchtgirlanden nach der Seite gehen; und 
die Jünglingsfiguren sind in ein umfangreiches plastisches Ornament hineingesetzt, 
in das sie mit dem Arm hinein- und durchgreifen, ähnlich wie an der Goliath- 
kachel der Satyr erscheint. Die querovalen Mittelbilder enthalten Darstellungen aus 
der Geschichte des Tobias. Die erste (Abb. 20) zeigt den kleinen Tobias, wie er 
seinen herankommenden Vater auf die Leiche eines erschlagenen Glaubensgenossen 
aufmerksam macht; im Hintergrunde die Ansicht der Stadt Ninive. Die ganze weitere 
Geschichte, wie Tobias die Erschlagenen begräbt usw., fehlt — vielleicht sind die 
Darstellungen anderwärts erhalten —, ein nur bruchstückweise 1841 in einem 
Frankfurter Hause („zum Kumpen“) in einer Mauerspalte zum Vorschein gekom- 
menes Kachelstiick scheint die Szene zu zeigen, wie der junge Tobias mit dem 
Engel Raffael sich verabschiedet; die Mutter Hanna ist allein zu sehen, vom Vater, 
der offenbar liegt, nur ein Stück Bein und der vor ihm ausgestreckte Hund. 
Die letzte Darstellung endlich, für die die Hohlform in zwei Exemplaren vorhanden, 
zeigt das Brautgemach in Rages; im Bett liegt Sara, die Hände faltend; davor 
steht Tobias, die Fischleber auf die glühenden Kohlen legend. Durch die Tür- 
öffnung in einiger Entfernung sieht man den Engel und den bösen Geist Asmodi 
in Unterhandlung (Abb. 23). 

An dem von Walcher für Joh. Vest in Anspruch genommenen Ofen in Schloß 
Ottenstein sind in Nischen, wie erwähnt, dargestellt die auserwählten Juden: Abra- 
ham, Moses, Joseph, David und Johannes der Täufer. Das Modell zum Joseph 
ist in seinem Besitz und zeigt den Helden in reicher Gewandung nach links 
gewendet, die Linke eingestemmt; in der Rechten eine siebenfache Kornähre 


(1) Sachsenhäuser Kachelfund. 
(a) Walcher, Abb. 45. 


haltend; auf der Erde neben seinem rechten Fuß ein ägyptischer Götzenkopf!). 
Ein ganz ähnliches Modell, nur im Gegensinne und mit geringfügigen Änderungen 
(z. B. befindet sich rechts am Boden eine Garbe), besitzt aber das Frankfurter 
Historische Museum (auf der Rückseite freilich bezeichnet: Andreas Diederich) 
(Abb. то), während die dem Walcherschen Modell genau entsprechende Kachel das 
Frankfurter Kunstgewerbemuseum (als Geschenk des Grafen Oriola und in seiner 
sonstigen Herkunft nicht festgestellt) bewahrt (Abb. 12). Als Gegenstück ist eben- 
dort und mit der gleichen prächtigen grünen dünnen Glasur versehen, ein „Konig 
Davied“ vorhanden, mit wehendem Mantel nach links schreitend und die Harfe 
spielend. Zu seinen Füßen links ein Tamburin, rechts ein Krug. Die prachtvolle 
Umrahmung der beiden Kacheln ist identisch mit der der Kacheln aus der Passions- 
folge des Georg Vest von 1608). 

Der jugendliche David hingegen mit dem gewaltigen Schwert des Goliath in 
der Rechten, dessen Kopf in der gesenkten Linken, findet sich an einem eisernen 
Ofen mit hessischer Ursprungsbezeichnung („Nassau-Usingen“) im Dresdener Kunst- 
gewerbemuseum in fünfmaliger Ausformung), und dieselbe Kachel begegnet іп den 
Sammlungen des Mainzer Altertumsvereins. Stellung und Behandlung der Figur 
im einzelnen zeigen nahe Verwandtschaft mit der Terra und anderen Werken des 
Joh. Vest, so daß wir auch diesen David ihm wohl zuschreiben können. 

Der für ihn charakteristische Frauentypus kehrt nun auch wieder auf einem 
Holzmodell des Historischen Museums, das die in eine Nische geschlossene 
Figur einer von großem Faltengewoge umgebenen Caritas, von vorn gesehen, mit zwei 
Kindern, zeigt (0,44 X 0,29 m): ein überaus kräftiger Unterarm, große Hände und 
Füße; bei letzteren die große Zehe stark abgesetzt, die Knie eng aneinander ge- 
drückt, aber das Spielbein scharf abgesetzt (Abb. 11). Auch dies Modell, das 
Lauffer dem Ende des 17. Jahrhunderts zuschreibt, entstammt dem Sachsenhäuser 
Kachelfund. Etwas befremdend scheint in der Tat auf den ersten Blick z. B. der 
in der Nische als Hintergrundsdekoration verwendete große geraffte Vorhang, in- 
dessen seine Anordnung ist doch noch recht streng. Dasselbe Motiv, wenn auch 
im einzelnen anders, begegnet mehrfach bei der von Georg Vest, also aus der- 
selben Zeit herrtihrenden Folge der fünf Sinne (Walcher, Abb. 56—57. Auditus, 
Tactus). 

Schließlich scheint sich auch noch eine Brücke schlagen zu lassen zu scheinbar 
gänzlich anders gearteten Werken, nämlich zu einigen Stuckdecken in Frankfurt, 
auf die wenigstens kurz hingewiesen sei. Die prächtige Decke in dem Renaissance- 
hause zur goldenen Waage ist unter ihnen die bekannteste‘). Sie enthält in der 
Mitte zwei größere Szenen, die der Geschichte Abrahams entnommen sind, mit 
Rücksicht — worauf bisher noch nicht hingewiesen worden ist — auf den Namen 
des Erbauers des Hauses, Abraham Hammer. In den Ecken der Decke liegt je 
ein hochovales Feld mit Darstellungen aus der Geschichte des Tobias. Eine un- 
mittelbar schlagende Übereinstimmung mit zweifellos Vestschen Werken läßt sich 
freilich kaum feststellen, doch findet sich auch hier die Betonung der Gelenke, die 
kurzen Unterarme mit den sehr kräftigen Händen, die Entblößung der Schenkel, 
die vorzügliche Durchbildung im einzelnen. Der bärtige Abraham erinnert an den 
Samuel der Salbung (Abb. 15) und der alte Tobias an die gleiche Figur auf der 
schönen Leistenkachel (Abb. 20); der Engel Raffael mit seiner langen Nase an 
(1) Sachsenhäuser Kachelfund. Rückseite bezeichnet: Heinrich Ludwig Schäffer 1719, 

(а) Walcher, Abb. 49—51. (3) Kunstgewerbeblatt III, 1888, S. 4 (K. Berling). 
(4) Vgl. Wolff und Jung, а. а. О. 


67 


denselben auf der gleichen Kachel. Die Erzählung ist ausgezeichnet verdeutlicht 
und psychologisch tief gefaßt. Vorzüglich sinc die jeder Szene beigegebenen und 
im Mittel- und Hintergrunde erscheinenden Nebenszenen, die das Vor- oder Nach- 
her schildern. Scharf und deutlich heben sich die in kleinen Figuren gegebenen 
Geschehnisse von dem Grunde ab, ähnlich wie auf der Leistenkachel Raffael und 
der Geist Asmodi (Abb. 21); nur die Silhouette, der Körper als mimischer Apparat 
spricht. Meisterhaft die Raumausnutzung und die Handhabung der Gebäudekulissen?!). 
Sehr ausgeprägt der ornamentale Teil; ein ganzes Gittersystem von Rollwerk, 
durchgesteckt und aufgenagelt, ist da ausgespannt, in das Früchte, Musikinstrumente, 
Vögel und Tiere aller Art, Engelsköpfchen und Putten mit hineinverwebt sind, wie 
sie in gleichzeitigen Buchillustrationen (z. B. den Deorum dearumque capita des 
Franciscus Sweertius, Antwerpen 1602) sich finden. Auch auf unseren Kacheln 
kommt das Rollwerk in ähnlicher Weise vor (vgl. etwa Abb. 18). Eine urkundlich 
genaue Datierung des Hauses ist bisher leider nicht möglich gewesen, so daß da- 
nach nicht einmal die Frage beantwortet werden kann, ob Joh. Vest die Fertig- 
stellung des Hauses noch erlebt hat. Sehr viel eher zeigen zwei weitere Stuck- 
decken den Zusammenhang mit Vestschem Stile oder wenigstens seinen Nach- 
klang; einmal die im Hause Kilbergasse 4, das 1898 abgebrochen worden ist. 
Photographien danach zeigen allegorische Frauenfiguren lehnend und sitzend, die 
Beine übereinander geschlagen, an einer Frucht riechend, eine Mandoline stimmend, 
mit einem Spiegel; Putten mit einem Hahn auf der Hand usw. Das Figürliche 
erinnert unmittelbar an Joh. Vest, weniger das Ornamentale, Die zweite Stuckdecke 
befand sich in dem 1879 abgebrochenen Hause Schäfergasse 15. Erhaltene Photo- 
graphien danach zeigen figtirliche Szenen (u. a. Esther vor Ahasver) mit weit aus- 
greifenden Bewegungen vor Straßenprospekten mit großer Architektur. Ganz die 
gleiche Art wird auf einer sehr großen Kachel mit Darstellung des „Tempus“ im 
Germanischen Museum deutlich, die gewiß auf ein Mitglied der Familie Vest 
zurückgeht. Allgemein Vestscher Charakter scheint mir hier unmittelbar sich aus- 
zusprechen. 

Sonst zeigt sich auf der Stuckdecke eine prachtvolle Herme, die in geschwungenes 
Blattwerk übergeht; Vögel und Putten tummeln sich im Ornament. 

In ornamentalem Zusammenhang mit solchen Stuckarbeiten mögen auch etwa 
einzelne Modeln verschiedener Form stehen; u. a. friesartige mit einem weiblichen 
Kopf als Mittelstiick, der deutlich Vestsche Prägung trägt, und ein in stark ge- 
driicktem Korbbogen schließendes Stück mit einem ähnlichen weiblichen Kopf und 
zwei Putten. 

Ja, solche ornamentalen Teile aus gebranntem Ton scheinen unmittelbar bei Stuck- 
decken verwendet worden zu sein. 

Der genannte Nachfolger Vests, Chr. Steffan“), zeigt in den von ihm signierten 
Wappen des Fürsteneckzimmers (s. oben S. 61) ähnliche Elemente, während die 
Decke doch abweicht. 


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In Vorstehendem ist der Versuch gemacht, das Werk des Joh. Vest zu er- 
weitern; das Fundament, auf dem sich die Untersuchung aufzubauen hatte, ist 


(z) Wie ich erfahre, werden nächstens von anderer Seite zu einigen der Darstellungen Stiche als Vor- 
lagen nachgewiesen werden. 

(2) Mit der rätselhaften Inschrift auf den Tonplättchen des Caspar Vest im German. Museum (Josephi, 
а. а. O., 8. 117— 18) wird man ihn kaum in Beziehung bringen können. 


nicht breit, und mehrere aus einer Wurzel hervorgehende Momente bedrohen die 
Sicherheit eines darauf aufgeführten Baues: das ist der handwerksmäßige Betrieb 
dieser Kunst, der einmal die Möglichkeit bietet, Mittelstücke und Rahmen von ver- 
schiedenem Charakter, von verschiedenen Künstlern, aus verschiedenen Zeiten 
zusammenzukoppeln zu einer äußeren Einheit. Dazu kommt in unserem Falle das 
gleichzeitige Wirken mehrerer Künstler nebeneinander, die schon durch eine ältere 
Familientradition in gleichen Bahnen ihre Ausbildung und Entwicklung vollzogen 
haben. Endlich ist zu berücksichtigen ein sehr gleichförmiger Zeitstil, in dem eine 
Individualität sich vorerst selten schnell feststellen läßt, und das unmittelbare Be- 
nutzen von Vorlagen für Komposition und Ornamentik, die sämtliche Elemente 
schon enthalten können; in Buchschmuck, Stich und Ornamentstich liegt damals 
schon ein ungeheurer Vorrat von weit verbreiteten Vorlagen bereit, der dann nur 
für die Kachelsprache in Relief übertragen zu werden braucht. Freilich kann dies 
in verschiedener Weise geschehen, und schon dabei kann ein größeres oder ge- 
ringeres künstlerisches Vermögen sich zeigen. Immerhin wird ein endgültiges 
Urteil über die künstlerische Leistung, zu der doch auch die Erfindung gehört, 
erst möglich sein, wenn der Grad der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Vor- 
lagen einwandfrei ermittelt sein wird. Dazu bedarf es längerer Untersuchungen, 
die bei dem vielfachen Mangel an Vorarbeiten nicht leicht anzustellen sind. Und 
ebenso müßte bezüglich des ersten Punktes das gesamte Kachel- und Ofenmaterial 
dieser Zeit gründlich durchgearbeitet werden. Dann würde sich der Anteil der 
Familie Vest an der Gesamtproduktion des Kunstgewerbes der Spätrenaissance bzw. 
des Frühbarock feststellen und beurteilen lassen, und weiter die Frage noch näher 
beantwortet werden können, welche Rolle jedem einzelnen Mitglied in diesem 
Kreise zukommt. Insbesondere wird es nötig sein, die Arbeiten der beiden Brüder 
Johannes und Georg näher voneinander zu sondern. Daß der Einfluß des um elf 
Jahre älteren Bruders auf den jüngeren nicht gering gewesen sein wird, darf man 
wohl ohne weiteres voraussetzen. 


HEINRICH VON DER HOHENMUEL, HUGO 
VOM THALE UND SEGER BOMBECK, WIR- 
KER IM DIENSTE JOHANN FRIEDRICHS DES 


GROSSMÜTIGEN / EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE 
DER BILDTEPPICHMANUFAKTUREN TORGAU UND WEIMAR 


Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck Von H. GÖBEL 


ur wenige deutsche Fürstenhäuser weisen im 16. Jahrhundert einen so außer- 
N ordentlichen Reichtum an gewirkten Teppichen auf wie Kursachsen. Den 
ersten Grundstock zu dem prunkvollen Bestand an Textilien legt Friedrich IIL, der 
Weise. So führt bereits das Inventarverzeichnis von 1496 nachstehende „Tape- 
zereien“ an: 
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т. ı guiden debich dorynnen der kayserlich maiestat mit dem kunig und frawen- 

zimmer steht; 

2. desgl.: heilige geist oben auf die Dreyfaltigkeit mit Bileam und auf beyden 

seiten mit vier profeten; 

3. desgl.: historia von Canticis des Königs vnd Königin mit ihren Dienern vnd 

frawen Zimmer. Tota pulchra es am andern ort: Faciens Tua; (?) 

4. desgl.: ein lustgarten mit mannen vnd frawen vnd sächsischer v. Churf. Wappen 

rings umbher; 

5. desgl.: ein mit eim turnier; 

6. desgL: mit dem König Salomo m. funf feldern Jungfrawen mit der musica; 

7. desgl.: die Krönung des Keysers vom Babst mit ihre Dienern. Goldfarb- 

teppich wullen goldfarb darinnen der Kayser in seiner Kron, darnach ein 
riesen vnd kunig streit; 

8. desgl.: Olberg mit pfengniss Christi vnd Creutztragung mit der Veronica; 

9. desgl.: Keyser auf seine stuel vnd zwo frawen chur Im mit vielen jungfrawen; 

то. desgl.: Konigin; 

тї. desgl.: als Imago Misael mit dem Kunig Nabuchadonosor; 

12. desgl.: Kindbett einer Konigin. 

Es handelt sich hierbei durchgängig um flämische Erzeugnisse. Der Kurfürst 
erwirbt sie zumeist durch seinen rührigen Agenten Peter Bestolz; auch Johann 
Munthein kauft in Antwerpen für seinen Fürsten und Herrn die prächtigsten gold- 
durchwirkten Wandbehänge!). | 

Insgesamt bezieht der Kurfürst in den Jahren von 1493—1500 für etwa 1000 Gulden 
„Tapistrey“; hiervon entfallen allein 800 Gulden auf die Ankäufe der Jahre 1499 
und 1500). 

Die nächsten Jahrzehnte bringen kaum einen Zuwachs des kurfürstlichen Besitzes 
an Textilien. Johann der Beständige, der 1525 seinem weltklugen Bruder folgt, 
hat wenig Sinn für diesen prunkvollsten Zweig des Kunstgewerbes. Dagegen zeigt 
sein Sohn und Nachfolger Johann Friedrich der Großmütige einen außerordentlich 


(z) Cornelius Gurlitt, Die Kunst unter Kurfürst Friedrich dem Weisen. Archivalische Forschungen, 
Heft U, Dresden 1897. 
(э) Dr. R. Bruck, Friedrich der Weise als Förderer der Kunst. 1903. 


70 


starken Hang für Wirkereien in reichster und üppigster Ausführung. Es ist schwer 
klarzustellen, wer die Liebe für diese farbenfrohe Kunst in das Gemüt des jungen 
Fürsten pflanzte, eine Liebe, die sich in seinen späteren Lebensjahren fast zur 
Leidenschaft auswächst. Selbst in den trübsten Tagen seines Lebens, noch wäh- 
rend der Brüsseler Gefangenschaft, vergißt Johann Friedrich nie seine Tapetzereien. 
Es berlihrt ganz eigen, mit welcher Hingebung der in allen Lebenshoffnungen ent- 
täuschte Fürst sich fast um jeden einzelnen Bildteppich sorgt. Er achtet darauf, 
daß sie ordnungsmäßig gereinigt, aufgehängt und ausgebessert werden; er sucht 
bis zuletzt seine flämischen Tapetenwirker, selbst unter schweren geldlichen 
Opfern an sich zu fesseln — allerdings umsonst. 

Wahrscheinlich fand Johann Friedrich der Großmütige die ersten Anregungen, 
in größerem Maßstabe den Wirkereibetrieb auf heimischem Boden aufzunehmen, 
durch den kunstsinnigen Grafen Wilhelm von Neuenahr, einem jülischen Vasallen, 
der in seinem Dienste stand. Zweifellos ist daneben der Einfluß des Hauses Jülich- 
Cleve, das von jeher eine stark ausgeprägte Vorliebe für reiche Textilien besaß, 
von wesentlicher Bedeutung gewesen. 

. Bereits Anfang 1535 gelingt es dem Grafen in Flandern einen tüchtigen Meister 
anzuwerben, der bereit ist, sich dauernd in Sachsen niederzulassen. Zunächst 
schießt Wilhelm von Neuenahr die nötigen Geldmittel vor, um die Kosten für die 
Wirkereistühle — getzeug genannt — und das Wollenmaterial, das Meister Hein- 
rich nach Weimar mitbringt, zu begleichen. Außer diesem Betrag, der sich auf 
54 Goldgulden beläuft, und 1535 dem Grafen zurlickvergütet wird’), erhält Meister 
Heinrich eine Entschädigung für seine Zureisekosten. Trinitatis 1535 läßt der Kur- 
fürst erstmalig ro Gulden Sold an „Heinrich tapistreimeister“ zur Auszahlung ge- 
langen. Zunächst wird unser Meister dazu verwandt, die von Johann Friedrich 
durch seinen Antwerpener Faktor Jakob Herrebrot in Flandern bereits 1531 in 
Auftrag gegebenen reichen Wirkereien, nunmehr — 1536 — sicher über Eisenach 
nach Torgau zu überführen. Es handelt sich um kostbare Teppiche, wenigstens 
läßt die von dem Kurfürsten an Herrebrot angewiesene Summe von 619 Gulden 
15 gr. darauf schließen. Der Wirker erhält hiervon den Betrag von 500 Gulden; 
er wird in der Urkunde als Hans freydmer Gerspratz bezeichnet. Ein ähnlich 
klingender Name ist in dieser Zeitspanne weder unter Brüsseler noch Antwerpener 
Tapissiers zu finden. Man ist versucht, nicht an einen Wirker, sondern vielmehr 
an einen Tapisseriemakler der Antwerpener Pant — unter denen sich auch Deutsche 
befanden — zu denken, wenn nicht ein weiterer Beleg ausdrücklich von dem 
„tapissereimeister vermoge desselben bekenntnus zu Antorff spricht. 

Der Kurfürst läßt es nicht an eingehenden Anweisungen, die den Transport 
seiner geliebten Tapezereien betreffen, fehlen. Unter dem 13. Januar 1536 schreibt 
er dem Schultheißen zu Eisenach: „Wir haben unserm tapistreimeister Hainrichen 
von der Hohenmuel, schreiben lassen mit bevel, uns etzlich verfertigten tapiste- 
reien ane verziehen durch eigene fur hierauff zu bestellen und zuzeschikken und 
dieselben fürder dir zu überantworten“?). 

Der Beleg nennt uns zum ersten Male den vollen Namen des seit 1535 tätigen 
Meisters Heinrich. Zweifellos ist Hohenmuel, Hohenmuhl, Haumuel — die Schreib- 
weise wechselt in den Urkunden ständig — eine der üblichen Verstümmelungen 
eines flämischen Namens. Wirkerfamilien, wie die Homela, van der Hameyde, 


(1) Weimar, Gesamtarchiv, Bd. 4395. 
(2) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. Aa 2979, Bi. 2. 


71 


van der Mylen begegnen uns häufig in Brüssel, Oudenarde und den sonstigen 
Wirkerzentren Flanderns. 

Merkwiirdigerweise wird der endgültige Anstellungsvertrag Meister Heinrichs 
erst am 19. Januar 1539 ausgestellt ). 

Kurfürst Johann Friedrich und Herzog Johann Ernst verpflichten sich, nachdem 
Heinrich von der Hohenmuel „ain zeitlang vor ainen tapistereimaister und silber- 
knecht gedienet“, ihn in dieser Eigenschaft nun lebenslänglich anzustellen. Er ist 
verpflichtet, den bisherigen Bestand an Wirkereien ordnungsmäßig zu verwalten, 
außerdem auch auf Wunsch neue Teppiche „nach seinem besten verstand und ver- 
mugen und zu dem getreulichsten und vleissigsten zu laisten“. Natürlich wird 
jedes neu gefertigte Stück nach Aufmaß und besonderen Sätzen vergütet. Sofern 
die Einstellung von Gesellen, d. h. weiterer flämischer Wirker, nötig ist, geschieht 
dies auf fürstliche Kosten. Als Gehalt bezieht Meister Heinrich jährlich 40 Gulden, 
ferner erhält er zwei Hofkleider und die üblichen Zuweisungen an Wein und Bier. 
Dafür hat er außer auf die Tapetzereien auch auf das Silbergeschirr zu achten. 
Das weitgehendste Entgegenkommen der fürstlichen Vertragsschließer liegt vor 
allem darin, daß „Hainrichen von der Hohen Mulh das haus an der Elben (in 
Torgau) gelegen, welchs er itzo gebraucht und innehat“ dergestalt verschrieben 
wird, daß er Zeit seines Lebens die freie Verfügung hierüber besitzt. Nach seinem 
Ableben steht es dem Kurfürsten frei, der Ehefrau das Haus zu überlassen, oder 
diese mit 200 Gulden zu entschädigen. Meister Heinrichs Tätigkeit in Weimar 
scheint sich nur auf einige Monate beschränkt zu haben, er siedelt dann nach 
Torgau über, wo er in erster Linie an den reichen Teppichen für den Ausbau 
des Schlosses Hartenfels tätig ist. 

Ehe eine eingehendere Würdigung seiner Arbeiten stattfindet, dürfte ein kurzer 
Hinweis auf die von ihm verwandten Rohmaterialien erforderlich sein. Die Rech- 
nungsbelege des Weimarer Gesamtarchives geben einen fast lückenlosen AufschluB. 
Zunächst versucht Meister Heinrich das nötige Gold-, Wollen- und Seidenmaterial 
an Ort und Stelle, d. h. in Torgau, zu erwerben. Die Ware befriedigt ihn an- 
scheinend nicht, es finden größere Ankäufe von Gold und Silber in Leipzig statt. 
Es handelt sich um die üblichen dünnen, silbervergoldeten bzw. silbernen flachen 
Drähte, mit denen der Seidenfaden umsponnen ist. Die Preise werden genau an- 
geführt. 

So zahlt unser Wirker 1537 auf dem Leipziger Michelsmarkt: 

13 Gulden für ı Pfd. Silberfaden, 


16 2 „ I „ dehemisch goldt, 
13 РА „ I „ tuchgolodt, 
21а 0 „ I „ untzengoldt, 

2 »xort, I „ Seide. 


1539 stellen sich die Preise auf: 


11½ Gulden für 1 Pfd. gemein silber, 
13 Е „ X „ Сеіп silber, 
11!/, „ » І, gemein golt, 
13 5 „ 1 „ tuchel golt, 
16 = „ I „ super fein golt 
5 i » I „ blau fenedische (venetianische) seiden. 


(1) Kopialbuch F. 17 des Gesamtarchives Weimar, Bi. 252 ff. 
72 


Tafel 1 


"N3DILAWIJOND SAC ночазіч- NNVHOL 315м31а WI YIHYIM 
O, ỹ,HͤZ 43935 амо ITVHL WON оопн ‘TANWNAHOH чза мол HIISNI3H "13409 H :NZ 


гчәшеу Sypamjdney ҷиәшеѕәј SIY : [орогу HOM zuawey əpuyidney ҷиәшејѕәј SƏINƏN :[әро:у JOM 


12611 pa ya у м 


ı Gulden für 4 Bund erffürdischen (erfurtischen) tzwirn (Zwirn). Als Lieferant 
tritt der Leipziger Händler Ambrosius Igler auf. Machte der Ankauf der Gold- 
und Silberfäden in Sachsen keine erheblichen Schwierigkeiten, so haperte es doch 
bedenklich mit dem Erwerb des nötigen Seiden- und Wollenmaterials. Es bleibt 
Heinrich von der Hohenmuel nichts übrig, als des öfteren seine alte Heimat auf- 
zusuchen, um von dort die nötigen Rohstoffe mitzubringen. Er benutzte diese 
Reisen — die erste fällt in die Zeit von Mitte August bis Ende Oktober 1538 — 
zugleich, um neue Hilfskräfte anzuwerben und für seinen kurfürstlichen Herrn 
flimische Wirkteppiche einzukaufen. Ende 1539 bricht Heinrich zum zweiten 
Male nach Antwerpen auf. Diesmal belaufen sich die Ausgaben für „garn, seiden 
golt und anders zu notturft der ќарізігеі“ einschließlich der Reisekosten auf nicht 
weniger als 342 Gulden ı2 Groschen. 

Wie schon erwähnt, ist der Aufenthalt Heinrichs von der Hohenmuel in Weimar 
nur von kurzer Dauer. Er siedelt nach Torgau über und richtet dort anscheinend 
zunächst seine Werkstatt in einem Raume des Schlosses Hartenfels ein. Sein 
Gehalt wird in den ersten Jahren auf 20 Gulden mit den üblichen Nebenbezügen 
festgesetzt. Nach Fertigstellung des auf Veranlassung des Kurfürsten für seinen 
Betrieb erbauten Hauses an der Elbe bezieht Meister Heinrich seine endgültige 
Arbeitsstelle. 1539 erfolgt die schon erwähnte Anstellung auf Lebenszeit. 

Sind die Kammerrechnungen bei den Angaben über die Materialankäufe klar 
und ausführlich, so läßt sich dies bei der Aufzählung der von Heinrich von der 
Hohenmuel neu gefertigten Bildteppiche nicht immer behaupten. Wir finden zwar 
die Ausgaben für die von ihm beschäftigten „knechte“ angeführt, dagegen leider 
nur in seltenen Fällen eine genauere Benennung der betreffenden in Arbeit be- 
findlichen Wirkereien. 

Am 18. Oktober 1537 bezieht Meister Heinrich die erste Entlohnung in Höhe 
von 52 Gulden 8 Groschen für „zwene cleine guidene tebicht“. Ein Jahr vergeht, 
ehe eine weitere Anweisung erfolgt. Diesmal handelt es sich um zwei Tisch- 
teppiche, die am то. Januar 1539 mit 32 Gulden 3 Groschen vergütet werden. 
Der Grund liegt darin, daß Meister Heinrich mit der Fertigstellung einer größeren 
Folge beschäftigt ist. Es handelt sich um die „Historie vom Propheten Jona“, die 
aus drei Bildteppichen besteht. Die Vergütung beläuft sich auf 200 Gulden. Der 
Kurfürst ist mit Hohenmuels Leistung besonders zufrieden und legt ihm то Gulden 
„aus gnaden zu einer verehrung“ bei. Gold- und Silberfäden sind nicht verwandt. 
Wir finden die Folge in dem Inventar von 1566 bei den Teppichen, die Herzog 
Johann Wilhelm in der Teilung auf dem Grimmenstein zufallen, unter Nr. 26 der 
Rubrik II, d. h. unter den Wirkereien ohne Metallfäden, aufgeführt. Auch über 
den Entwerfer der Patronen erhalten wir genügenden Aufschluß. Der Rechnungs- 
beleg Bb 4429 aus dem Jahre 1537/38 führt einen Betrag von 5 gr. an für „einen 
bothen, der zu Wittenberg die visirunge geholt“. Eine entsprechende Durchsicht 
der Cranachschen Arbeiten bringt einen etwa der gleichen Zeit angehörigen, aller- 
dings undatierten Beleg: „3o fl. vor zehen fisirungen den tewichtmacher, der sein 
neun gewest, so hat mein genedigster her das zehent in seiner genaden stuben 
auf lasen schlagen“!). Darnach würde es sich bei der Jonasfolge um Bildteppiche 
handeln, von denen jeder etwa drei verschiedene Szenen bringt, eine Anordnung 
die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei flämischen Wirkereien durchaus 
nicht selten ist. Gewöhnlich geschieht die Trennung der verschiedenen Darstel- 


(x) Weimar, Gesamtarchiv Aa 2975. 
73 


lungen durch ornamentierte Säulen, die in reichem Farbenspiel das Gefüge des 
Marmors wiedergeben. 

Im gleichen Jahre erfolgt die Fertigstellung eines dritten Tischteppichs. Die 
weiteren Belege der Kammerrechnungen bringen zwar ständig Ausgabeposten für 
neue Arbeiten Heinrichs von der Hohenmuel, die einen recht beträchtlichen Um- 
fang haben mußten, ohne jedoch nähere Benennungen zu geben. Erst die Durch- 
sicht des Briefwechsels des Kurfürsten schafft Klarheit in die Materie. Johann 
Friedrich der Großmiütige befindet sich nach der Niederlage bei Mühlberg und der 
darauf folgenden Wittenberger Kapitulation als Gefangener in Brüssel. Auch dort 
vergißt er nicht seine geliebten Tapetzereien und Meister Heinrich von der Hohen- 
muel. Am 9. Juli 1545!) richtet der Fürst ein umfangreiches Schreiben an seinen 
Sohn Johann Friedrich den Mittleren, in dem er ihn auffordert, dafür Sorge zu 
tragen, daß Meister Heinrich die ordnungsmäßige Verschreibung des Hauses zu 
Torgau erhalte, das ihm erblich zugesagt sei „zu der Zeit, wie er uns die tucher 
der wilden menner gemacht“. Die Folge muß also zu Beginn des Jahres 1539 
in Angriff genommen worden sein. Einen weiteren Aufschluß über die Art dieser 
Wirkereien gibt uns das zweite Inventar von 1566, das die Teppiche anführt, die 
bei der Grimmensteiner Teilung an Herzog Johann Friedrich den Mittleren fallen ). 
Es heißt unter dem Titel Ш: „Brustdebich mit golde gewirkt“, Nr. 21 „9 debich 
mit wilden mennern, seint mit schwarzer leinwat gefuttert“. Die Patronen 
werden in Wittenberg gefertigt. Die Rechnungsbelege von 1540 weisen unter 
anderem wieder den Botenlohn von 5 gr. auf, „die visir zu Wittenberg zu holen“. 
Erst 1545 ist die gesamte Folge fertiggestellt. Meister Heinrich erhält die Rest- 
zahlung in Höhe von 80 Gulden, nachdem ihm bereits 1544 verschiedene Beträge 
mit insgesamt 171 Gulden 9 gr. angewiesen waren. Die Schlußquittung Hohen- 
muels ist von besonderem Interesse, als sie uns unzweideutig den Ort, für den 
die Folge bestimmt war, wie auch den Patronenmaler nennt: „80 gulden ап 
70 Gulden groschen zu 24 gr. Heinrichen von der Hohenmule tebichmacher zu 
endlicher und volliger bezalunge der tebicht, so er dem churfürsten zu Sachsen etc. 
und burggrafen zu Magdeburgk meinem gnedigsten herrn in das neue gewelbte 
gemach des großen torms (d. h. des Flaschenturmes des Schlosses Hartenfels in 
Torgau) in aler massen und gestalt, wie ime der patron durch meister Lucasen 
 Ktranach zur visirung abgemallt und gemacht it. . . ). 

Es handelt sich also unzweideutig um neun reich mit Gold und Silber durch- 
wirkte Rückenlaken nach Lukas Cranachs Meisterhand. Ein Schüler kommt nicht 
in Frage, da dies zweifellos in den Rechnungsbelegen vermerkt worden wäre, wie 
es z. B. später bei Peter Roddelstedt aus Gotland geschieht. Möglicherweise ist 
der gelegentlich der Herstellung der Jonasfolge angezogene Rechnungsbeleg der 
Kranachschen Visierungen auf die vorliegenden Wilde-Männer-Wirkereien zu be- 
ziehen. Die Kammerrechnungen der Jahre 1540 bis Ende 1549 bringen im übrigen 
nur die üblichen Ausgaben für den Ankauf von Gold, Silber, Seide und Wolle, die 
nunmehr stets aus Leipzig bezogen werden, die Anweisungen der Wirkerlöhne und 
dergleichen mehr. Insgesamt beschäftigt Heinrich von der Hohenmuel im Jahre 1540 
sieben Gesellen, von denen jeder außer den üblichen Zuweisungen jährlich etwa 
12½ Gulden bezieht. 1741 ist die Gesellenzahl — nach dem ausgezahlten Lohn 


(s) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. L, Fol. 269. 
(2) Weimar. Gesamtarchiv, Reg. D 174b, ВІ. 29—32. 
(3) Weimar, Gesamtarchiv, Bb 4591 (Ostermarkt 1545). 


74 


zu urteilen — fast verdoppelt. Eine wesentliche Rolle spielt in den Rechnungen 
das „sanfte bier“, das recht häufig mit größeren Posten wiederkehrt. 

Besonders bemerkenswert ist eine Zahlungsbestätigung Meister Hein- 
richs vom 1. Mai 1546, insofern, als das in Papier aufgedruckte Siegel oben 
die Buchstaben H V H, darunter in einem Schild seine Haus- und Wirker- 
marke bringt. 

Der Niederbruch Johann Friedrichs des Großmütigen legt Hohenmuel den Ge- 
danken nahe, sich mit dem glücklicheren Moritz, dem nunmehrigen Kurfürsten, 
baldmöglichst ins Einvernehmen zu setzen. Er wendet sich als weltkluger Mann 
aber zunächst an den gefangenen Exkurfürsten mit der Bitte, ihm das Torgauer 
Haus bedingungslos zu überschreiben. Johann Friedrich, in der Hoffnung, sich 
seinen Tapezereimeister erhalten zu können, willigt ein und fertigt am 8. Juli 1549 
eine neue lebenslängliche Bestallung aus. Zugleich übereignet er ihm „craft dis 
brives“ das „uff unsern Costen“ zu Torgau erbaute Haus „zu seinem und der 
seinen nutz und besten zu gebrauchen und domit als seinem erbeigen gut nach 
seinem willen zugebaren und es auch zu verkaufen, von uns und meniglich dorin 
ungehindert. . .). 

Schon am nächsten Tage sendet er im gleichen Sinne das schon erwähnte 
Schreiben an seinen Sohn Johann Friedrich den Mittleren. Die Hoffnung des ge- 
fangenen Fürsten sollte sich nicht erfüllen. Wohl veräußert Heinrich von der 
Hohenmuel das Haus, jedoch nicht zur Übersiedlung nach Weimar, sondern um 
in die Dienste des Kurfürsten Moritz tiberzutreten. Ende 1549 oder Anfang 1550 
arbeitet Meister Heinrich bereits für seinen neuen Herrn. Schwierigkeiten macht 
vor allem die Platzfrage. Kurfürst Moritz befiehlt kurzerhand dem Dresdener Rat, 
das alte Rathaus seinem „teppichtmacher Heinrich von der Hohenmoel“ als Woh- 
nung und Werkstatt zur Verfügung zu stellen. Es setzen längere Verhandlungen 
ein; schließlich gelingt es dem Rat, den Kurfürsten zur Rücknahme seines Befehles 
zu bewegen, da das alte Rathaus unbedingt zur Abhaltung der Altendresdener 
Gerichte und für andere dringende Zwecke gebraucht würde. Heinrich von der 
Hohenmuel bleibt zunächst noch in Torgau; sein Übersiedeln nach Dresden scheint 
erst zu Ende des Jahres 1551 erfolgt zu sein. Die weiteren Geschicke unseres 
Meisters als Diener des Kurfürsten Moritz sind durch die Veröffentlichungen Für- 
stenaus, Richters u. a. gentigend bekannt). 

Die Hauptarbeit Hohenmuels ist die um 1550 in Auftrag gegebene, ursprünglich 
in neun Bildteppichen vorgesehene Folge der „Teutzschen Schlachtordnung kegen 
den Türcken“ 1553 sind bereits zwei Stück fertiggestellt; Meister Heinrich erhält 
600 Gulden Vorschuß. Das Inventar von 1565 führt die fertige Folge mit ins- 
gesamt 13 Teppichen an. Es handelt sich hierbei um die Verherrlichung der 
Kriegstaten des Kurfürsten Moritz, die Kämpfe gegen die Türken in den Jahren 
1542 und 1552. Seine alten Torgauer Gehilfen scheint Meister Heinrich mit nach 
Dresden genommen zu haben. Einige von ihnen, so Hans Stichelmann aus Brußlaw 
(Brüssel), Hans Schlotzs, gleichfalls aus Brüssel und Samson Faber von Enge 
(Enghien) machen sich 1553 durch eine ausgiebige Prügelei wenig angenehm be- 
merkbar und geraten mit dem Dresdener Stadtgericht in unliebsame Berührung. 
Das Todesjahr Meister Heinrichs ist nicht einwandfrei festzustellen, es muß jedoch 
(1) Weimar, Gesamtarchiv, Rr 757, Bi. 2, L. Fol. 269. 

(з) Sachsengrün 1861, S. 199 fl.: Fürstenau, Zur Geschichte der Tapetenwirkerei am Hofe zu Dresden. 
Dresdener Geschichtsblätter 1893: Über die altniederländischen Bildteppiche in der kel, Gemäldegalerie 
von Dr. O. Richter. 


75 


vor 1563 liegen, da in den Ratsakten (A. IX. 18 c., Bl. 98 und 1136) nur noch seine 
Witwe erwähnt wird. Sie scheint die Manufaktur nicht weitergeführt zu haben. 
Jedenfalls findet sich 1569 kein Teppichwirker mehr in der Liste der Handwerks- 
meister. 

Heinrich von der Hohenmuel war in seiner Technik ein Basselissier, d. h. er 
wirkte am flachstehenden Stuhl, im Gegensatz zum Hautelissier, dessen Arbeitsfeld 
das hochstehende oder hochlitzige Gezeug ist. Den klaren Beweis hierfür gibt 
uns der Schriftwechsel der Kurfürstin Anna mit ihrer Mutter Dorothea, der Königin 
von Dänemark, die viel von der berühmten Folge des Türkenzuges gehört hat und 
nun gern von den Patronen, die noch in Dresden vorhanden sind, eine Wieder- 
holung wünscht. Die Briefe beginnen November 1563. Kurfürstin Anna bemüht 
sich, die noch vorhandenen Kartons wieder zusammenstellen zu lassen. Das Er- 
gebnis ist unbefriedigend. Die Patronen sind durch das streifenartige Zerschneiden, 
das die Basselissetechnik bedingt und die wenig sorgsame Behandlung auf den 
Stühlen so mitgenommen, daß etwa der dritte Teil der ganzen Folge fehlt. Ein 
Zusammensetzen, bzw. stellenweise völlig neues Ausmalen verursacht hohe Kosten. 
Kurfürstin Anna schließt unter dem 8. März 1564: „Nun will sich nicht wohl 
schicken, wenn man den mangel gleich ersetzen wollte, da an einem stück etz- 
lichen rollen new gemelde die andern alt seien solten, do man auch darnach 
würcken solte, wurde es einen grossen mißstand vnd vngleichheit der Farben 
geben. Sollte ich dann die Teppiche von newen Contrafacten lassen So muste 
ich mit 200 thalern nicht auszurichten vnd muste demnach zuuorn berichtet sein 
ob E. G. das gemelde auff Leinwant oder Pappier wolten gemahlet haben, dann 
do E. G. einen Patron dauon nehmen vnd andere teppiche danach wirken lassen 
wolten mußte es auff papier rollen weise und links gemachet werden, damit es 
die Teppichmacher Irer arth nach stückweise vnter das gezeu legen kennen 
Kurfürstin Anna besitzt recht gründliche Erfahrungen in der edien Kunst der Wir- 
kerei. Sie kennt das Basselisseverfahren, das durch seine Technik Patronen be- 
dingt, die als Spiegelbild („links gemachet“) gemalt sein müssen, um im Wirk- 
teppich im richtigen Sinne zu erscheinen. Sie weiß, daß die Kartons, in lange, 
schmale Streifen zerschnitten, unter den Kettfäden des tiefstehenden Stuhles, den 
die fürstliche Dame „ Gezeu“ nennt, angebracht werden. Die Angaben in ihrem 
Schlußschreiben sind so treffend, daß über das Wirkverfahren Meister Heinrichs 
kein Zweifel sein kann. 

Nach Hohenmuels Ausscheiden knüpft Johann Friedrich der Großmütige sofort 
eifrig Verhandlungen zwecks Einstellung eines neuen Tapezereimeisters an. Es 
handelt sich diesmal um einen seines Glaubens halber aus den Niederlanden aus- 
gewanderten Flämen, Hugo von dem Thale. Unter dem 15. September schreibt 
der Exkurfürst aus Augsburg an Johann Friedrich den Mittleren i): „Veterliche 
liebe und treue alzeit zuvorn, hochgeborner Furst, freundlicher lieber Son, Wir 
wissen D. L. freundlicher meinung nicht zu bergen, das wir zu Brussel in Braband 
und alhir zu Augsburg zum andern malh von einem Tapezereimeister Hugo von 
dem Thale undertheniglich angelangt und gebeten worden, weil er bey unser Re- 
gierung uns an unser Tapezerey zu Torgau gearbeit und sonderlichen underthenigen 
willen und lust hette under uns, D. L. und ire bruder sich wesentlich nider zu 
thun .... Das Schreiben wird ergänzt durch einen Brief vom 25. Oktober 1550, 
in dem der ehemalige Kurfürst nochmals eingehend auf die in Aussicht genom- 


(1) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. L, Fol. 367. 
76 


menen Anstellungsbedingungen seines neuen Tapistreimeisters eingeht, der ja 
bereits genaue Kenntnis davon habe, „das eine große und stattliche tapezerey vor- 
handen, den er ist zu der Zeit ein ganzes oder halbes Jar als unser meister Hein- 
rich die neue Tapezerey gemacht, zu Torgau gewest und im helfen arbeiten und 
die alten Tapezereyen ausklopfen“. Johann Friedrich bietet ihm nach längeren, 
nicht uninteressanten Verhandlungen außer einer jährlichen Besoldung von fünf- 
zehn Gulden, noch 7 Groschen wöchentliches Kostgeld, jährlich also weitere 
17 Gulden 7 Groschen, so daß sich seine Gesamtbesoldung auf 32 Gulden 7 Groschen 
beläuft. Außerdem soll er einen Malter Korn und die für seinen Beruf nötigen 
Werkzeuge, wie Wirkstühle und dergleichen erhalten. „Hugo von dem talhe“ 
Spricht in einem längeren, undatierten Schreiben an Johann Friedrich den Älteren 
seinen Dank aus, aus dem jedoch leise eine gewisse Unzufriedenheit mit der vor- 
gesehenen Besoldung spricht, die nicht die seines Vorgängers erreicht. Er erklärt 
in Weimar demnächst seine Tätigkeit aufnehmen zu wollen, zuvor müsse er aber 
Weib und Kind aus der alten Heimat nachkommen lassen, für deren Herreise er 
wohl noch ein Beträchtliches werde zuzahlen müssen. „Über das stehet mein 
fürnehmen weiter dahin, das ich, wo es die landart geben und leiden wolt, die 
Kunst mit der Tapezerey in diesen Landen vor die Handt zu nehmen, anzurichten 
und zu pflanzen, welchs Deutzschland uf den valh nit allein ein ruhm und ehr 
sunder auch ein nutz und herlichkeit sein wurde, ...... “ schreibt unser neuer 
Meister. Er schlägt hier seinem fürstlichen Herrn einen Weg vor, der in Italien 
und Frankreich im 16. Jahrhundert recht häufig beschritten wurde und vielfach 
den Grundstock zu größeren Manufakturen legte. Tatsächlich kommt es Meister 
Hugo aber weniger auf ideale Zwecke an, er will „sein auskommen umb und an 
haben und nit noth leiden“. 

Am Sonnabend nach Galli 1550 schreibt Johann Friedrich der Mittlere seinem 
Vater, daß der Tapezereimeister vor etlichen Tagen angekommen sei. Man habe 
ihn in sein Amt einführen wollen, er habe sich aber geweigert, da seine Frau 
noch nicht aus Flandern eingetroffen, und er keine entsprechende Wohnung und 
Werkstatt finden könne, Immerhin habe er die „große und statliche tapezerey“ 
des Herzogs schon auf den Zustand ihrer Erhaltung hin geprüft. Endlich langt 
die Familie Meister Hugos an und bringt neue Schwierigkeiten mit sich. Man 
habe in Flandern die Mitgabe des aus den Verkäufen (Haus usw.) erlösten Geldes 
verweigert, von dem Thale solle sich bei Verlust aller Habe mit seiner Person!) 
in der Heimat stellen. Am 27. Oktober 1550 antwortet Johann Friedrich d. Ältere 
auf diese wenig erfreulichen Mitteilungen. Er hält die Rückkehr Meister Hugos 
nach Brabant, trotz der Nachricht, die auch ihm aus Antwerpen hinsichtlich Ein- 
stellung der Inquisition geworden ist, für recht gewagt. „Weil man dan ime das 
zuvorn der Religon halber im Niederland, wie er selbst bekent, in verdacht gehabt, 
so wil ime wol zu bedencken sein, wissen auch nicht, ob es ime zu thun und zu 
raten sey, das er sich uf solche plosse anzeige, danidden stelle. Sintemal man 
geschwinde mit den Leuten, die ime bekennen, handelt.“ 

Weitere Nachrichten über Hugo vom Thale liegen nicht vor; aller Wahrschein- 
lichkeit nach schlug er den Rat des Kurfürsten in den Wind und kehrte, um sein 
Hab und Gut zu retten, nach Brabant zurück. Der ganze Briefwechsel Meister 
Hugos zeigt deutlich, wie sehr es ihm darum zu tun ist, wieder in seine Heimat 
zu gelangen. Ihn, den „fremden und armen gesellen“, wie er sich selbst nennt, 


(1) Weimar, Gesamtarchiv L, Fol. 367. 
77 


hielt nichts in Deutschland. Von Interesse ist die Mitteilung aus Antwerpen in- 
sofern, als sie darauf schließen läßt, daß von dem Thale aus dieser Stadt gebtirtig, 
zum mindesten dort ansässig war. Es handelt sich hier um eine besondere Ver- 
fügung des Bürgermeisters von Antwerpen, der das am 35. September 1550 von 
Kaiser Karl V. erlassene Plakat über die Ausübung der Inquisition — es befreit 
die ausländischen Kaufleute von dem Nachweis ihrer Rechtgläubigkeit und spricht 
nicht mehr von Ketzerrichtern, sondern von geistlichen Richtern — lediglich unter 
dem Vorbehalt der städtischen Privilegien, Freiheiten, Satzungen und Gewohnheits- 
rechte anerkennt'). Keine andere flämische Stadt tritt in dieser scharfen Weise 
dem Edikt entgegen. Hugo von dem Thale scheint sich auf die Erhaltung der 
Antwerpener Freiheit verlassen zu haben. Der Erfolg gab ihm für kurze Zeit tat- 
sächlich recht. Der bald darauf ausbrechende Krieg mit Frankreich hinderte Karl V. 
längere Zeit an der strengen Durchführung seines Erlasses. Die Wirkerfamilie 
van Dale ist in Antwerpen mehrere Generationen hindurch ansässig"). 

Bis Ende 1552 sind die Verhandlungen Johann Friedrichs des Großmütigen, einen 
neuen Wirker zu gewinnen, von geringem Erfolg begleitet. Erst am 20. November 
des gleichen Jahres bewirbt sich Seger Bombeck um die noch freie Stelle. Die 
Lebensschicksale unseres Wirkers sind, soweit sie seine Tätigkeit in Leipzig be- 
treffen, durch die Aufsätze von Wustmann, Gurlitt, Kurzwelly u. a. gentigend bekannt. 

Seger Bombeck ist Flime; die Annahme Kurzwellys, er sei Niederdeutscher, 
trifft nach der ganzen Art seiner Technik nicht zu. Bombeck gehört anscheinend 
bereits zu Beginn der vierziger Jahre der Torgauer Wirkerkolonie an. Am 25. Mai 
1543 läßt ihm — „Seger Bombach“ — Johann Friedrich der Großmütige 20 Gulden 
18 Guldengroschen „für ein conterfei des herzogen von Gulichs etc. mit golt und 
silber gewirket“ anweisen*). Auch die Quittung über den empfangenen Betrag ist 
noch vorhanden‘). jedenfalls war Bombeck damals in Torgau anwesend. Wann 
und weshalb Meister Seger nach Leipzig tibersiedelt, ist zunächst noch unbekannt. 
Am 12. September 1545 gewährt ihm der Leipziger Rat ein Darlehn von 200 Gul- 
den, 1546 erhält er vorschußweise einen weiteren Betrag von 4 Schock 48 Groschen 
Seine Abzahlungen sind langsam und unregelmäßig. Er sucht sich zu helfen, in- 
dem er dem hohen Rate seine Erzeugnisse anbietet, bzw. seine Teppiche zu Fest- 
lichkeiten ausleiht und aufhängt; ein Geschäftsgebahren, das wir z. B. auch bei 
dem Frankenthaler Wirker Moritz de Carmes u. a. finden’). September 1547 
begeht Dr. Badehorn feierlich seine Hochzeit im Rathaussaal. Bombeck hängt bei 
dieser Gelegenheit den Teppich mit dem Brustbilde Kaiser Karls auf und erhält 
hierfür 48 Groschen. 1551 liefert er dem Rate eine gewirkte Tischdecke „dorinne 
des churfürsten zu Sachsen grosswappen und des rats wappen in vier ecken ge- 
wirket“; ferner eine nicht näher benannte Wirkerei. Kurze Zeit hiernach über- 
reicht Meister Seger dem Rate den bekannten Teppich, „dorinne die figur Christi 
und zwei meherwunder umb 13 schock 20 gr;“ er arbeitet außerdem ein Wappen 
für 36 Groschen. Immerhin beläuft sich 1551 Bombecks Schuld noch auf 50 Gulden. 


(х) Piot, Chroniques de Brabant et de Flandre, р. 129. Henri Pirenne, Geschichte Belgiens, Bd. Ш, 
Seite 447. 

(2) Notariateakte Van den Bosch 1587. Fernand Donnet, Documents pour servir à l'histoire des 
ateliers de tapisserie etc. Bruxelles 1898, p. 69. 

(3) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. Bb 4541. 

(4) Weimar, Gesamtarchiv, Aa 2978, ВІ. 11. 

(s) H. Göbel: Jakob und Moritz de Carmes, Frankenthaler Wirker im Dienste des Herzogs Christoph 
von Württemberg in Monatshefte für Kunstwissenschaft 1919. 


78 


Sie wird schließlich durch eine nicht näher benannte Wirkerei, für die er 20 Schock 
erhält, auf 34 Schock 59 Groschen 6 Pfennig herabgemindert. Meister Seger 
scheint in Leipzig, trotz allem Entgegenkommen der Behörden, auf keinen grünen 
Zweig gekommen zu sein. Oktober 1552 verläßt er die Stadt und gibt das ihm 
vom Rate zur Verfügung gestellte Haus auf dem Grundstücke des ehemaligen 
Barfüßerklosters wieder auf. 

Meister Seger bietet in Weimar zunächst dem ehemaligen Kurfürsten zwei 
Wirkteppiche im Werte von 130 Talern zum Kaufe an. Die Verhandlungen sind 
endlos. Bombeck schreibt nach langem Warten beweglich „Nun steht solchs 
alles in stillschweigen und wirt des handels weiter nicht gedacht, und bin gleich- 
wol ich armer man alhie vier wochen gelegen und kan kein endlichen bescheide 
erlangen, und ist mir armen man schwer so lange Zeit alhie zu liegen, zu ver- 
zehren und nichts ausrichten“!). Zugleich sucht Seger mit Johann Friedrich dem 
Großmtitigen hinsichtlich der freien Tapezereimeisterstelle zu einem Abkommen 
zu gelangen. Als Forderung stellt er die Gewährung einer jährlichen Besoldung 
von 50 Gulden, sowie die Hergabe zweier Hofkleider. Die Verhandlungen führen 
wenigstens hinsichtlich seiner Anstellung zum Abschluß. Am 23. November 1552 
wird „Sigmund Benedich (i) tapezereimacher“, die Urkunde seiner Einstellung zu- 
nächst auf zwei Jahre; beginnend ab т. Januar 1553 ausgehändigt. Er erhält 
42 Gulden Jahresgehalt sowie ein Sommerkleid. Die Beschaffung von Wohn- 
und Werkräumen ist Sache des Meisters. Er hat die herzogliche Tapetzerei zu 
beaufsichtigen, auszuklopfen, bei Bedarf aufzuhängen und etwaige Schäden aus- 
zubessern. Alles hierzu nötige Material liefert ihm sein fürstlicher Brotherr, der 
ihm für derartige Arbeiten auch jedesmal einen geeigneten Raum im Schlosse zur 
Verfügung stellt. Der Vertrag ist beiderseits vierteljährlich vor Ablauf des End- 
termins kündbar. Der Schlußsatz besagt, daß Bombeck seine Familie zunächst 
noch nicht kommen lassen darf, „dieweil es dieser zeit der sterbensseuch halben 
zu Leipzig etwas gefehrlich“. 

Das Ableben Johann Friedrich des Großmütigen ändert nichts an dem abgeschlos- 
senen Vertragsverhiltnis, Unter dem 25. November 1554?) verlängert Johann 
Friedrich der Mittlere den von seinem Vater abgeschlossenen Vertrag um weitere 
zwei Jahre, also bis zum 31. Dezember 1556. Die alten Abmachungen bleiben be- 
stehen; der neue Herzog gewährt als Zulage noch ein „Weimarisch malder Korn“. 
Inzwischen hören Meister Segers Beziehungen zu Leipzig durchaus nicht auf. Bei 
seinem Fortzug aus der alten Pleißestadt hat sich Bombeck verpflichtet, seine noch 
rückständige Schuld ratenweise zu tilgen und zwar zu Michaelis 1553 mit ro Gul- 
den, zu Neujahr 1554 geichfalls mit 10 Gulden; der Rest von 80 Gulden 6 Pfg. 
ist zu Pfingsten 1554 fällig. Bombeck beeilt sich nicht gerade mit der Erledigung 
seiner geldlichen Verpflichtungen; noch 1554 zeigt sich der Gesamtbetrag in der 
Leipziger Stadtrechnung. Erst am 26. August 1557 finden wir eine Ausgabe- 
anweisung an Meister Seger über 200 Taler (228 Gulden 12 gr.) für einen Teppich, 
wahrscheinlich das bekannte Salomonisurteil. Die alte Schuld muß also inzwischen 
getilgt sein. Zunächst erstrecken sich die Arbeiten Meister Segers in Weimar auf 
Reparaturen; 1556 beginnt er mit der Herstellung verschiedener Wappenteppiche. 
Die erforderlichen Gold- und Seidenfäden kauft er bei dem Leipziger Händler 
Trautmann. Im gleichen Jahre schießt der Herzog ihm 5o Gulden „zu erkeufung 


(1) Weimar, Gesamtarchiv, Rr 108. 
(2) Weimar, Gesamtarchiv, Rr 148. 


79 


eines hauses vor. 1557 beginnt Meister Bombeck mit der Herstellung einer 
reichen Wirkerei, „Darein er meinen gnedigen fursten und hern hern Johans 
Friedrich den mitlern und seiner fürstlichen gnaden gemaln conterfei gewirkt hat“. 
Er erhält für die Arbeit den hohen Betrag von 200 Gulden. Auch der Patronen- 
maler dieses Teppichs ist genannt. In der zugehörigen Ausgabeanweisung vom 
Jahre 1558/59 (Bb 4839) werden 11 Gulden 9 gr. erwähnt, die „meister Peter der 
maler für die visierung, darnach dieser debich (das Konterfei des fürstlichen Paares) 
gemacht“ zustehen. Der Betrag wird an Seger Bombeck vergütet, der ihn wiederum 
an Meister Peter abführt. Über die Person des Malers herrscht keine Unklarheit. 
Es ist der Kranachschüler Peter Roddelstedt aus Gotland, dessen Tätigkeit in 
Weimar als Hofmaler und Kupferstecher von etwa 1548—1572 festzustellen ist. 
Sein Anstellungsvertrag ist unter dem 25.6.1553 ausgefertigt. Hierin wird ein 
Jahresgehalt von 20 Gulden, daneben ein wöchentliches Kostgeld von ıo Groschen 
sowie die Gewährung eines Sommerkleides festgesetzt. Es finden sich verschie- 
dene Rechnungsbelege, aus denen hervorgeht, daß Peter Gottlandt in erster Linie 
„contrafacte“ malte, daneben auch häufig Fahnen ausstaffierte — 1547 allein 
21 Stück —, Wappenentwiirfe zeichnet und dergleichen mehr. Zweifellos ent- 
wickelte Meister Peter als Patronenmaler eine umfangreiche Tätigkeit, wenigstens 
ist er der einzige Kranachschüler, bei dem derartige Arbeiten einwandfrei nach- 
zuweisen sind. 


Die Versuche, den Fürstenmaler Hans Krell mit den Entwürfen zu den Hohen- 
muelschen oder Bombeckschen Teppichen in unmittelbare Verbindung zu bringen, 
haben wenigstens bisher keine archivalische Bestätigung gefunden. Auch ein Beleg 
vom 30. Januar 1538, nach dem „Hans Krell maler von Leiptzig“ für „2 gemalte 
tücher“ 20 Gulden erhält, läßt sich nicht in diesem Sinne deuten. Das Gleiche 
gilt von dem Weimarer Hofmaler Veit Thieme. 


Die letztmalige Auszahlung des Seger Bombeck zustehenden Dienstgeldes erfolgt 
am Lucientag, also Ende 1559. Ob der Meister verzogen oder verstorben, läßt 
sich nicht feststellen. Mit Seger Bombeck schließt die Reihe der Bildteppich- 
wirker im Dienste Johann Friedrich des Großmütigen und seines Sohnes. Den 
Ausgangspunkt bildet die Torgauer Manufaktur, deren Werkstättenbetrieb bei 
weitem den des Seger Bombeck übertrifft. Meister Heinrich von der Hohenmuel 
arbeitet nicht nur für seinen fürstlichen Herrn, sondern auch für auswärtige Höfe, 
was sich z. B. aus den pommerschen Inventaren ohne weiteres feststellen läßt. 
Hugo vom Thale, Seger Bombeck und aller Wahrscheinlichkeit nach auch der 
Leipziger Wirker Egidius Wagner sowie der Stettiner Peter Heymann entstammen 
dieser Manufaktur. 


Um eine einigermaßen einwandfreie Klarstellung der Arbeiten der Torgauer und 
Weimarer Meister zu erreichen, ist die Gegenüberstellung der einschlägigen Inventar- 
verzeichnisse unbedingt erforderlich. 


Von Bedeutung ist zunächst das allerdings nicht vollständige Verzeichnis von 
1547"), dessen Titel IV, У und VI die gewirkten Teppiche bringen. Um einen 
klaren Vergleich zu ermöglichen, sei das Inventar von 1547 als II bezeichnet. 

* ж 
* 


(1) Weimar, Gesamtarchiv, D 162, Bi. 4—7. 
80 


Tafel 18 


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II. 
III. Tischdebich. 


15. 1 gulden tischdebich schwarz gemostiert. 
16. 1 gewirkten Debich mit gulden blumen, an den seiten mit rotem samt gefaßt. 
2 * 
Ф 


У. Gewirkte guldene debich. 


31. ї gulden tuch, darinnen ein lustgarte mit man und frauenbildern. 

32. 4 guldene Wittembergische tucher, darinnen der ganze passion. 

33. x gulden Wittembergisch tuch, darinnen stehet Maria, die wermet das Kindlen. 

34. ı gulden tuch mit dem abentmal Christi. 

35. 1 guiden tuch, darinnen ein cramerei und schon bilwergk. 

36. x gulden tuch, darinnen stehet der engelische grus und auf den seiten vier 
propheten. 

37. ı gulden tuch mit den heiligen drei konigen. 

38. 1 gulden tuch mit dem Konig Salomon in funf felden. 

39. 1 gulden tuch, darinnen steet die historien Excanticis; tota pulchra est. 

40. ı gulden tuch, darinnen die kaiserliche majestet. 

41. 1 gulden tuch, darinnen cront der babst den keiser. 


* * 
** 


VI. Gewirkte debich one golt. 


goltfarben debich, darinnen steet „Abdonago misael“. 
debich, darinnen steet „Sonat regis somnum Daniel“. 
debich, in der mitte reit ein kurisser und leigt der keiser im bethe. 
debich mit dem ohlberge und gefenknus Christi. 
debich, darinnen steet Maria mit irem kindlen. 
debich, darinnen ein kaiser mit einer liligen. 
debich mit einem Konige und riessen streit. 
debich, darinnen ein thiergarte. 
debich mit dem leiden cristi, Maria und Johannes. 
debich mit dem Keiser, sitzen fur in zwei weiber. 
debich, darinnen die gottin Ceres etc. 
hieruber: 
53. zwulf alte gewirkte debich von mancherlei farben und figurn. 
54. sechzehen gewirkte banktucher von allerlei farben, bose und guet. 
Von den Teppichen des Inventars I von 1496 entsprechen: 
Ir —IIgo; 12—036; I3—1139; 
14—131; I5— fehlt; 16—П 38; 
17—141; 18— I 4s; 19—151; 
110-52; Irr—I142; 112 — fehlt. 

Die übrigen in dem Inventare ange führten Wirkereien stammen mit Ausnahme 
der alten unter Nr. 53—55 erwähnten Teppiche und der Nr. 16 aus den Ankäufen 
der Bestolz, Munthein und Herrebrot. Ferner kommen die Erwerbungen von dem 
Brüsseler Wirker Johann de Luy und anscheinend auch Teile der sogenannten 
„tapistrei des Schlüsselseiders“ hinzu, die Johann Friedrich der Großmütige 1538 
mit dem Landgrafen Philipp zu Hessen verrechnet. Von den Torgauer Arbeiten 
finden wir nur einen Tischteppich erwähnt. Die übrigen Arbeiten, wie die Ge- 
schichte des Jonas und andere, fehlen aus dem einfachen Grunde, weil sie sich zur 


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Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1931. 6 81 


Zeit nicht in Weimar, sondern im Schloß Hartenfels befinden. Ein etwas klareres 
Bild gibt uns das als III bezeichnete Inventar vom 22. März 1549. Auch hier 
seien nur die gewirkten Teppiche aus dem eigentlichen Besitz des Kurfürsten an- 
geführt, trotzdem die reichen Stickereien und Wirkereien der „magdeburgischen 
Tapezerei“ den meisten Raum — Abteilung I — beanspruchen. Die Art der Über- 
nahme des reichen Textilienschatzes aus dem Besitze des Kardinals Albrecht von 
Brandenburg durch den sächsischen Kurfürsten ist nicht ohne Interesse. Die magde- 
burgischen Wirkereien und Stickereien sind Johann Friedrich dem Großmütigen 
als Pfand und Sicherheit gegen Herleihung von 10000 Gulden überwiesen worden. 
Der Kirchenfürst ist säumig mit der Zurückerstattung. Johann Friedrich läßt die 
Textilien nach den Schlössern Wartburg und Leuchtenburg bringen und dort kurzer- 
hand die Wappen des bisherigen Besitzers herausschneiden. Es entsteht ein 
längerer Prozeß; Kurfürst Friedrich beauftragt 1550 den gelehrten Dr. Gregorius 
Brück mit gepfefferten Gutachten gegen die „Pfaffen“ ). Der Schriftwechsel be- 
leuchtet scharf, den ganzen etwas seltsamen Handel. Eine eingehende Würdigung 
dürfte in dem Rahmen des vorliegenden Aufsatzes jedoch zu weit führen. Es sei 
nur kurz erwähnt, daß die Wirkereien der magdeburgischen Tapezerei sämtlich 
flämischer, zumeist Brüsseler Herkunft sind. Sie wurden von Kardinal Albrechts 
Günstling Hans Schenitz in den Jahren 1528 und später eingekauft. Dem Makler 
bringt der Handel kein Glück. Es erfolgt gegen Schenitz die Anklage, seinen 
Herrn bei dem Tapisseriekauf betrogen zu haben. Kardinal Albrecht läßt seinen 
ehemaligen Günstling einkerkern und heimlich richten; ein Vorgehen, das ihm die 
bekannte scharfe Fehde Luthers zuzieht. 

Das Endergebnis des Prozesses zwischen Johann Friedrich und Magdeburg ist 
ziemlich verwickelter Natur. Die meisten Stickereien und ein kleiner Teil der 
Wirkteppiche gehen an das Erzbistum zurück. 

An Bildteppichen aus dem eigentlichen Besitze Johann Friedrichs, also unter 
Ausschaltung der magdeburgischen Tapezerei, verzeichnet das Inventar vom 22. März 
1549 nachstehende Stücke: 

DL 


П. Inventarium über die tapecerei. 


1. 4 tepicht, dorunter golt, mit der passion, und ist ein itzlicher mit gruner leimet 
gefuttert. 
2. 1 gewirkter tepicht, dorunter auch golt mit einem ganzen tornir. 
3 ı gewirkter tepicht, dorunter golt, mit der historia „Ecce, virgo concipiet“. 
4. І gewirkter tepicht, hat auch golt, dorinne stehet der keiser. 
5. I tepicht, dorunter golt, mit dem konig Salomon in funf feldern. 
6. x tepicht, dorunter golt, und darinne der babst und keiser. 
7. ı tepicht, dorunter golt gewirket, mit einem lustgarten. 
8. 1 tepicht mit golde, darinnen stehet die historia ex canticis der Konig und 
Konigin mit iren diener und fraunziemer. 
9. х tepicht, hat auch golt, mit den heiligen drei Konigen. 
10. x tepicht, dorinnen golt, mit der historia „tota pulchra es amica mea". 
її. 1 tepicht, dorinnen golt, mit dem abentmal Christi. 
ta. 1 tepicht, hat auch golt, dorinnen stehet mein gnedigster Her und doctor Bruck. 
13. ı tepicht mit golde, dorinne stehet mein gnedigster her und die Konigin in 
Engeland. 


(1) Weimar, Reg. K, pag. 436 VV. Nr. 19,1. 
82 


14. 
15. 
16. 
17. 
18. 


19. 
20. 
21. 
22. 
23. 
24. 
25. 


27. 
28. 


52. 


е 
ba 


D 
м pa ba pa bd 64 м м 04 


т tepicht mit golde, darinnen die historia „lasset zu mir kommen die Kindelein“. 
т tepicht mit golde, darinnen steht „nu freuet euch lieben christen gemein“. 
ї tepicht mit golde, darinnen stehet S. Christoff. 
т tepicht mit golde, darinnen stehet die historia Johannis in der wusten. 
ı tepicht mit golde, darinnen Joseph von Armetei mit dem hern Christo, do er 
in wolte ins grab legen. 
ı tepicht mit golde, dorinnen stehen zwu sirenen mit flugel. 
I klein tepicht mit golde, dorinnen der Herzog von Gulich. 
13 kleine brustteppicht mit golde und gruner leimet gefuttert. 
9 brusttepicht mit golde und schwarzer leimet gefuttert. 
18 brusttepicht mit golde, die leisten oben mit weiser leimet gefuttert. 
3 gewirkte uberzuge uber pulster mit golde und roten parchem gefuttert. 
ı gewirkter tepicht mit gulden und seidenen leisten. 
Summa der tepicht, so golt haben, seind 67. 
8 gewirkte brusttepicht. 
т gewirkter himel mit gruner leimet gefuttert. 
ı großer gewirkter tepicht, darinnen der Daniel mit seinen gesellen, die ab- 
goter anbeten. 


. I tepicht, dorinnen der Daniel dem Konig den draum ausleget. 
. I tepicht mit der gottin Ceres. 


ı alter tepicht, darinnen der Konig mit dem draum vom baum, der ab- 
gehauen war. 
alter tepicht mit einer jagt. 

tepicht, darinnen einer in einem Kuris reit. 

tepicht, darinnen etzliche uffm wasser stechen. 

tepicht, darinnen ein Konig mit einem grauen bart. 

tepicht mit dem olberge. 

tepicht, darinnen die historia vom Konig, der seinem sohne hochzeit machte. 
tepicht mit einem risenkampf. 

kleiner tepicht mit einem crucifix. 

goltfarber tepicht, darinnen ein Konig mit seinem hofgesinde. 

tepicht, darinnen die Maria mit dem Kindelein. | 


. т alter tepicht, darinnen der konig unsinnig hin und wider uffm felde leufet. 
. 5 cleine grobe tepicht, darinnen allerlei angesichter. 


9 grune tepicht mit einem tiergarten. 
т geler tepicht, darinnen der Konig einem weibe das zepter ufs heupt leget. 


. т alter grober teppicht mit bildern. 
. 13 alte gemeine grobe tepicht. 


т tischtebicht, darinnen meins gnedigsten hern wapen mit golde. 
19 neue gewirkte tischtepicht. 

2 weise tebicht mit dolbn golt blumen. 

13 grobe gemeine banktepicht von allerlei farben. 

39 grune brustteppicht. 


53. 6 grune bankdebichte. 


54. 
55- 
56. 
57- 
58. 


3 lange Rodiser tepicht, darunter gar ein neuer. 

4 kleine Rodiser tepicht. 

ı langer neuer tischtebicht, mit weiser leimet gefuttert. 
ız rote schlechte gewirkte tischdebicht. 

11 gewirkte fuestepicht, dorunter drei lange. 


83 


59. 4 alte bose Rodischer debicht. 

бо. 12 alte betdecken. : 

61. 2 tepicht mit der historia Jone. 

62. ı weiser schwebisch, darinnen der fursten von Sachsen wappen. 
Summa der tepicht, so kein golt haben, se nd: 183. 
Nota: 

„Zwene tebicht vermuge des alten registers mangeln, nemblich der eine mit der 
kremerei und der ander mit der historia Jone.“ 

Wir finden unter 2 den іп Іс erwähnten „debich mit ein turnier“ wieder, der 
aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem bekannten Turnierteppich zu Valenciennes 
identisch ist. Er bildete zweifellos eine Folge mit 14 (II31), dem Lustgarten, der 
gleichfalls von den sächsischen Wappenschildern umgeben ist. 

Nr. 20 erwähnt den 1543 von Bombeck erworbenen Teppich mit dem Bilde des 
Herzogs von Jülich. Der Torgauer Schule sind ferner zuzuschreiben Nr. 12 mit 
der Darstellung des Kurfürsten und Dr. Bruck, Nr. 13 Johann Friedrich mit der 
Königin von England (im Inventar von 1566: Konigk in Engelant) sowie Nr. 19 
ein Teppich „darinnen stehen zwu sirenen mit flugel“ (ein starker Anklang an den 
noch erhaltenen Bombeckschen Teppich mit dem wahren Bilde Christi). Die für 
Meister Seger so charakteristische Art der Porträtwirkerei geht zweifelsohne auf 
die Torgauer Manufaktur und Heinrich von der Hohenmuel zurück. Ob Nr. 14 mit 
der „historia lasset zu mir komen die Kindelein“ und Nr.ı5 „nu freuet euch lieben 
christen gemein“ gleichfalls Torgau zuzuschreiben sind, ist nicht ohne weiteres zu 
entscheiden. Die unter Nr. 45 angeführte „gele“, d. h. in gelben und bräunlichen 
Tönen ausgeführte Tapisserie mit der Szene aus der Geschichte Esters, gehört 
wahrscheinlich einer norddeutschen Manufaktur an. Unter Nr. 61 erscheint die be- 
kannte Torgauer Jonas-Folge. Die Nrn. 48, 49 und 50: 22 gewirkte Tischteppiche 
sind gleichfalls Heinrich von der Hohenmuel zuzuschreiben. 

Nach dem Ableben Johann Friedrichs des Großmütigen bleibt zunächst der 
Textilienschatz in Weimar. Eine Teilung findet erst nach dem Tode Johann 
Friedrichs III., der 1565 kinderlos stirbt, unter den beiden noch überlebenden Söhnen 
des Exfürsten am Dienstag nach Estomihi des Jahres 1566 auf dem Grimmen- 
stein statt. 

ГУ ist das Verzeichnis der Teppiche, die Johann Friedrich dem Mittleren zufallen?), 
unter V sind die Wirkereien angeführt, die Herzog Johann Wilhelm zuerkannt 

* 


* 


werden. a 
| IV. 
I. Vorzeichnus der debich, so mit golde gewirkt seint, und der debich 
one golt. 


т. 1 debich, darinnen der her Christus vom creutz genomen und ins grab gelegt 


wirt, mit gruner leinwat gefuttert. 
2. x debich, darinnen die auferstehung und himelfart Christi, mit gruner leinwat 


gefuttert. 
3. 1 debich, darinnen der her Christus das volk mit funf gerstenbrot speisset. 


Johannis am VL 
4. ı debich, darinnen die aposteln in die welt gesendet werden. 


(1) Weimar, Gesamtarchiv, Reg. D 174b. Es stimmt im übrigen mit der zweiten Ausfertigung, die 
sich im Besitze der Heidelberger Universitätsbibliothek befindet, bis auf Kleinigkeiten überein. 


84 


5. 


10. 


11. 


28. 


29. 
30. 
31. 
3a. 


х debich mit dem engelischen grus, auf den seiten vier propheten mit dem 
spruch: „Ecce, virgo concipiet“. 


. І debich, darinnen ein Konigk mit seiner Konigin, iren dienern und frauziemern; 


oben steet: „Tota pulchra est“. 
ı debich mit einem thornier, umbher mit der hern von Sachsen wappen. 


. x debich mit dem Kindertanz, darinnen stehet: „Nu freuet euch lieben christen 


gemein“. 


. I debich mit dem Konigk in Engelant und mit meinem gnedigen alten hern 


dem churfürsten zu Sachsen hochloblicher und seliger gedechtnus, 
ı debich, darinnen sitzt ein mansperson, der gibt einer junkfrauen ein gulden 
tuch, auf einer seiten stehet ein alter man mit einem grabeschiet. 
2 kleinere debich mit meins gnedigen alten hern des churfürsten zu Sachsen 
hochloblicher und seliger gedechtrfus conterfei; ist eins cleiner dan das ander. 


П. Hellisch!). 
ı debich mit der creutztragung Christi, ist mit schwarzer Leinwat gefuttert. 


. I debich mit Maria und dem Kindlen Christi und Anna, ist nicht gefuttert. 

. 3 debich mit dem seheman (Luce am VIII), ist mit schwarzer leinwat gefuttert. 
. I debich mit der sendung des heiligen geistes, mit schwarzer leinwat gefuttert. 
. I debich mit sant Euchstachius, wie ег dem hirsch nachrennt, mit schwarzer 


leinwat gefuttert. 

т debich, darinnen sitzt ein Konigk auf einem stuel, umb ihn her vil biliporcks, 
und eine frau mit einem eingebunden Kindlen. 

ı debich mit einer gotin mit einem rossencranz, die hat einen zubogen in der 
hant, ist mit schwarzer leinwat gefuttert. 

ı debich, darinnen steht: „Justicia homo“. 

ı debich, darinnen bullerei, ist mit schwarzer leinwat кейшнен: 


IL Brustdebich mit golde gewirkt. 


9 debich mit wilden mennern, seint mit schwarzer leinwat gefuttert. 
6 debich mit dem sechsischen und gulischen wappen, mit gruner leinwat ge- 
futtert. 

IV. Gewirkte debich one golt. 


т debich mit Maria und dem Kindlen Christi, dem beut Joseph ein apfel. 

ı debich mit der creutztragung des hern Christi. 

т debich mit dem vorlorne sone | А è 

2 debich, do der son seinen vatter ersicht | е нениєв. 

ı debich, darinnen sitzt die Копіріп Hester auf einem stuel, fur іг kniet Haman 
und bit um sein leben. 

4 debich, wie Daniel in den gluenden offen wirt BESSE und der Konigk 
Nebukatnesor. 

2 grune debich mit einem tiergarten. 

ı debich mit einem Crucifix. 

т debich, darinnen ein Konigk mit einem zcepter. 

ı debich, darinnen ein konigk mit einem schwarzen bart. 


(1) Hellisch, d. h. aus Halle, scheint darauf hinzuweisen, daß es sich um die Teppiche aus dem 
Besitze des Erzbistums Magdeburg handelt. Die Bezeichnung ist jedoch ungenau. 


85 


V. Brustdebich one golt. 


32. 6 debich mit der hern von Sachsen wappen. 

34. 2 debich auf die vorbencke solche arbeit. 

35. 2 debich mit nacketen Kindern mit allerlei vogeln. 

36. 1 debich mit „Verbum Domini“. 

37. 14 grune debich auf damaschken art mit den sechsischen wappen, langk und kurz. 
38. т grunen debich mit dem gulischen wappen. 


VI. Banktucher one golt. 


39. 2 lange grune banktucher mit den sechsischen wappen. 
40. 3 banktucher mit allerlei farben und blumen. 


VIL Gewirkte tischdebich one golt. 


41. 1 taffeldebich mit dem wappen der chur zu Sachsen, ist mit weisser leinwat 
gefuttert. | 
42. ı tischdebich mit dem wappen chur und Sachsen. 
43. ı tischdebich, darinnen „Verbum Domini“. 
44. 2 grune tischdebich. 
45. 3 rothe tischdebich. 
46. ı Rodiesser tischdebich. 
Eine Ergänzung führt noch hinzu: 
ı stuck doctors Marthini Luthers conterfeit, 
т stuck des herzogs zu julichs conterfeit. 


Von den Wirkereien entstammen die Nummern 1, 16, 18, 25 und 26 dem Texti- 
lienbestand Albrechts von Brandenburg. Außer den schon durch das Inventar von 
1549 bekannten Teppichen der Torgauer Manufaktur finden wir hier den Teppich 
„Nu freuet euch lieben christen gemein“ als Kindertanz erldutert'). Nr. 11 erwähnt 
zwei Wirkereien mit der Gestalt Johann Friedrichs des Großmütigen, zweifellos 
Torgauer Arbeiten. Das gleiche gilt von dem im Nachtrag angeführten und noch 
erhaltenen „Conterfei“ Luthers, Der Teppich mit dem Bilde des Herzogs von 
Julich ist bereits als Arbeit Meister Segers erwähnt. Besonders interessant ist 
Nr. 17; der darin beschriebene Teppich scheint mit ziemlicher Bestimmtheit auf 
die bekannte Bombecksche Wirkerei mit dem Urteil Salomonis hinzuweisen. Aller 
Wahrscheinlichkeit nach ist der noch erhaltene Bildteppich eine Wiederholung 
des für den alten Kurfürsten gefertigten Stückes. Das Verfahren ist bei den 
Teppichwirkern allgemein üblich, ja sogar durch die Technik bedingt. Nur in den 
seltensten Fällen wird der an und für sich recht teure Karton einmal benutzt. 
Einer Vorzugsausführung unter Verwendung von Gold und Silber folgen in der 
Regel eine oder mehrere Wiederholungen in einfacher Weise, in denen bei den 
Lichtern der Metallfaden durch entsprechend getönte Seiden ersetzt wird. 

Auch der Turnierteppich „umbher mit der hern von Sachsen wappen“ erscheint 
in dem Verzeichnis. | 

Neu ist die Folge vom Sähemann, ohne daß es möglich ist, dieselbe einem be- 
stimmten Atelier zuzuschreiben. Nr. 9 deckt sich mit III (13). Unter den „Brust- 
debich mit golde gewirckt“ finden wir die bekannte Hohenmuelsche Folge der 
wilden Männer; auch die sechs Wirkereien mit dem sächsischen und jülichschen 


(1) Vergleiche Bruck: Friedrich der Weise als Förderer der Kunst, Tafel 32. 
85 


Wappen sind Torgau zuzuweisen. Die unter „V Brustdebich one golt“ angeführten 
Rückenlaken mit der „hern von Sachsen wappen“ und „2 debich auf die vorbencke“ 
mit entsprechender Darstellung fallen in die letzte Weimarer Zeit Meister Segers. 
Das gleiche gilt aller Wahrscheinlichkeit nach von den Nummern 37, 38, 39 und 40. 
Verschiedene andere Wirkereien des Inventars lassen sich erst durch näheren 
Vergleich mit den pommerschen Nachlaßverzeichnissen identifizieren. 

Das nachstehende Inventar V mit dem Anteil der Wirkereien, die Herzog Johann 
Wilhelm zufallen, bringt die Vervollständigung des reichen Textilienschatzes Johann 
Friedrichs des Großmütigen i). 


3 x 
* 


у. 
L Diese stuck seind von seiden, gold und silber. 
т. Drei debicht mit gold, seiden und silber gewirkt, gehoren zusammen: ein histo- 
rien von der cupidine. 
a. Zwei stuck debicht gehoren zusammen, seind von gold, seiden und silber, eins 
von der heiligen drei Konige, das andere von Simeon. 
3. Ein stuck von gold, silber und seiden von sant Hieronimo. 
4. Ein klein stuck von Apoclypside von gold, seiden und silber. 
5. Zwei alte stuck von der passion von gold, silber und seiden. 
6. Ein klein stuck von der geburt Christi von gold, seiden und silber. 
7. Ein lang schmal stuck von einer jhagt. 
8. Zwei stuck gehoren zusammen, eins von Maria, das ander von der Justilien) ?)- 
g. Ein stuck von der heiligen dreifaltigkeit. 
то. Ein stuck das abendmahl. 
11. Ein stuck von der belehnung, die der babst dem Kaiser tut. 
12. Ein stuck, wie ein Kaiser seinen sohn belehnet. 
13. Ein groß stuck, da unser lieber gott die Kindlein heist zu ihm kommen. 
14. Ein stuck von der historien Bersobea. 
15. Ein stuck von sanct Christoff. 
16. Ein stuck von einer heidnischen historien. 
17. Ein stuck vom konige Salomon groß. 
28. Ein groB stuck von der geburt Christi. 
19. Ein klein stuck von sanct Christoff. 
20. Ein stuck, wie Christus vom creutz genommen. 
ax. Ein stuck, wie Maria Magdalena zu unserm hergot in garten kompt. 
a2. Sechs stuck von chursechsischen und julischen wappen. 
23. Eilf stuck von der hirß-, seu- und berenjagt. 
24. Ein tischtebich und drei bankphuel. 


IL Diese nachvolgende stuck seind nicht von seiden 
(gemeint ist: ohne Metallfäden). 
as. Ein groß stuck von einem lustgarten. 
26. Drei stuck vom propheten Jhona. 
27. Zwei stuck vom Kindertanz. 
28. Funf stuck aus der stamstuben. | 
29. Ein stuck von D. Waltherns und Lucas, Whalen‘). 


(:) Weimar, Gesamtarchiv. D 174b, ВІ. 60a--6ıb. 
(з) Die Personen des D. Waltherus und Lucas des Wälschen sind mit Sicherheit vorerst nicht fest- 
sustellen. 


87 


30. Drei stuck von Verbum domini. 

31. Ein groß stuck: ligt einer im beth und ubergibt seinem sohn das regiment. 

32. Ein stuck von einem alten Kaiser uff einen richstuel sitzet. 

33. Zwei grosse stuck, eins von der jagt, das ander, do sie auf dem wasser stechen. 

34. Ein groß stuck von einer zeuberer(in), die einem konig alle ding, so er angriff, 
zu gold machte. 

35. Zwanzig grune brusttebicht. 

36. Funf schlecht banktebicht. 

37. Funf debicht von allerlei vogel und andern thieren. 


Aus dem ehemaligen Besitze des Kardinals Albrecht entstammen die unter 1, 2, 
4, 6, 8, 9, 15, 16 angeführten Wirkereien, die sämtlich dem ersten Drittel des 
16. Jahrhunderts angehören und wohl zu den prächtigsten Erzeugnissen der Brüs- 
seler Manufakturen zählten. Von Torgauer Bildteppichen finden wir unter Nr. 26 
die Jonasfolge, ferner zwei Stück mit dem Kindertanz), eine Wirkerei mit „D. Wal- 
therus und Lucas Whalen", zweifellos eine der üblichen Torgauer oder Weimarer 
Porträtteppiche, sowie sechs Stück mit dem chursächsischen und jülichschen Wappen. 

Wie schon erwähnt, bringen die Inventare des Greifengeschlechtes weitere Auf- 
schlüsse. ; 

1536 wird in Torgau die Hochzeit Marias, der Schwester Johann Friedrichs des 
Großmütigen mit dem pommerschen Herzog Philipp I. in feierlicher Weise durch 
Martin Luther selbst eingesegnet. Die Beziehungen der beiden Fürstenhäuser sind 
die denkbar engsten. Noch jetzt zeigt der bekannte Croyteppich in Greifswald die 
Fürsten und Fürstinnen Sachsens und Pommerns vereint als Schützer und Hüter 
des evangelischen Glaubens. Wahrscheinlich gehörte der Verfertiger der Wirkerei, 
Meister Peter Heymann, der Torgauer Manufaktur als Geselle an. Auf jeden Fall 
bezieht auch weiterhin Herzogin Maria die farbenprächtigen Erzeugnisse der hei- 
mischen Wirkerkolonie. Die Durchsicht des Nachlaßinventars des Herzogs Philipp I. 
vom 26. Februar 1560°), dessen Kenntnis ich der Liebenswiirdigkeit des Herrn 
Prof. Dr. Wehrmann zu Greifenberg verdanke, schafft völlige Klarheit. Wir finden 
unter Nr. 34 „Ein langes, schmales Torgower Stück darauf die Hirsch-Jagt“. Die 
Nummern 5 und 6 bringen die Bären- und Auerochsenjagd. Das Anteil-Inventar V 
des Herzogs Johann Wilhelm führt unter 7 an „Ein lang schmal stück von einer 
jhagt“, unter 23 „Eilf stück von der hirß-, seu- und berenjagt“. Besteht ein 
Zweifel, daß es sich um Arbeiten der Torgauer Manufaktur handelt? Zum min- 
desten sind die schmalen Rückenlaken mit der Hirschjagd Meister Heinrich zu- 
zuweisen. Nr. 17 aus Herzog Philipps L Nachlaßinventar bringt „Ein Teppich 
oder Tischtuch, in der Mitte der Name Jesus“, Nr. 33 „Ein Tapt darin Verbum 
domini über einen Tisch“. Wir finden die gleichen Tischteppiche in den Grimmen- 
steiner Verzeichnissen unter IV 36, 43 und V 30. Die Stettiner Urkunde spricht 
von „Zwei Calcunische Hühner, darauf zwei Kinderle mit Bungen oder Bauchen 
(Pauken) sitzen mit Blumen“. Herzog Johann Friedrich der Mittlere erhält auf 
seinen Anteil Nr. 35 „2 debich mit nacketen kindern mit allerlei vogeln“. Auch 
ein Judicium Salomonis bringt das pommersche Inventar. Der Ausdruck ist aller- 
dings zu allgemein gehalten, um einen Vergleich zu ermöglichen. Die angeführten 
Beispiele, die sich noch durch einige Wappenteppiche vermehren lassen, zeigen 


(1) Vgl. Inv. IV, 8. . \ 
(з) Stettin, Staatsarchiv, P. I, Tit. 49, Nr. 17, Fol. 15—316 und ad. 17. Vgl. auch Balt. Studien XXVIII, 
Seite зз fl.; Seite 37 fl. 


mit genügender Klarheit, welchen beträchtlichen Umfang die Torgauer Manufaktur 
besessen haben muß. Zweifelsohne arbeitete Meister Heinrich von der Hohenmuel 
außer für seinen Fürsten und Herrn auch zahlreiche Teppiche für sonstige deutsche 
Fürstenhäuser. Entsprechend verhält es sich mit der Weimarer Manufaktur Seger 
Bombecks. So weist z. B. das Heidelberger Schloß nach dem Inventar von 1584 
(München, Hausarchiv, Akt. 2408, fol. 339—87) „ein clein geviert stück neu dape- 
zerei, darinnen hertzog Hans Friederich (des Mittleren) zu Sachsen contrafet“ auf. 

Als Schluß des archivalischen Teils der Untersuchung sei unter VI des Dres- 
dener „Inuenttarrim der Tappecerey“ vom 28. Februar 1589!) angeführt. 

x * 


10 


1 


+ 
VI. 
Grosse Tappecerey: 
Grosse Stuckenn vonn der Alttenn Passionn, Gar reich, vonn Goltt, sielber 
vnnd Seidenn gewiercktt vnd sehr kunstreich gemachtt, 10 Grosse Stuckenn, 
vonn der Neuen Passionn, vonn goltt Sielber vnnd seidenn gewircktt, 
Stuck vonn dem Ohlberge. Auch vonn der Neuenn Passionn, 


3 Grosse Stucken, mit goltt Sielber vnnd Seidenn gewiercktt, vonn Loth, 


— 


23 


große stucken von konningk Dauitt, vnnd Golliath, 
„ Stuckenn vonn Konnigk Saaull, 


77 75 „ Mose, 

39 ээ 38 Noha, 

nm 57 75 Hercula, 
55 „ Gedeonn, 


Eege stuckenn, vonn Behrrenn, wieltt vnnd Schwein Jagttenn, Darrunder 
seindt 9 Stuck, mitt goltt vnnd Sielber gewircktt, Die Anndernn 3 seindt 
schlechtt, Diese werdenn Auff die Reichstage geprauchtt. 


Grosse Tappecerey. 

Grosse Stuckenn, vonn den Riesen vnd Zwerge, so die berge zusammen tragenn, 
grosse stuckenn, von den wielden Mennernn, mohrrenn vnd Zwergenn, 
grosse Stuckenn vonn konnigk Sallomonn, 
kleinerre „ e 
Anderre Stuckenn Ettwaß. kleiner, vami konnig Sallomon, 
grosse, mittell, vnd kleine stucken, von der Teuczsch. schlachtt ordenung, 
vnd Zugk, gegen deß Turckenn Zugk vnd Schlachttordnung, 
groß Stuck darrauff eine schwein Jagtt ist, 

Ge 5 F die Refier, von Piehrnn vnnd Meißenn Ab Contrafect ist, 
grosse Stuckenn, von Laubwergk, vnd Seullen von Allerley farben, 
Schmalle stuckenn, von Laubwergk, vnd lanndtschafftenn, Auch mitt Frannssenn, 
Stuckenn Ettwaß kleinerre, alB die Anderrn grossenn, mitt grünen Laubwergk, 
Darrienen vogell seindt. 

Große Tappecerey. 

Grosse Stuckenn, vonn grünen Laubwergk, vnd vogelnn, Seindt Ettwaß Altt 
Stuckenn Ettwaß kleinner, mit dem Sächssieschenn wappenn, vnnd mit Goltt 
vnnd Sielber, vonn allerley farbenn Laupwergk, Inn Brust gedeffel gemachtt 
vnnd gewircktt. 
Stuckenn Ettwaß breitterre, mitt dem Siichssieschenn wappenn, von Allerley 
farbenn Laubwergk gemachtt, Solche werdenn vff die Reichstage gebraucht, 


(з) Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden. Loc. 8687. 


89 


viereckichtter Debichtt, mit goltt, vnnd Sielberr gewiercktt, mit schwarczenn 
Sammadt Eingefast, Inn welchenn, Doctor Marttinuß Lutterß Conntrafect ist, 
Stuck geuiertt Debichtt, dariennen Ist kayser Carli gewircktt, vnnd daß Öster- 
reichiesche wappen, 
ı groß Stuck, darrienen Ist, daß Sächssiesche wappen, 
6 grosse Stuckenn, von Barrieß, vnnd Helena, Solche werdenn vff die Reichs- 
tage geprauchtt, 
4 grosse Stuckenn, von denen kleinen Kienderlein, welche mitt einander Fechtenn, 
Solche werdenn Auch mitt vff die Reichstage, Geprauchtt vnnd genommenn, 
3 gar Altte Abgenucztte viereckichtte Gewurcktte wiiellenne Dieschdebichtte, 
7 grosse altte stucken, von Becerey (Reiherbeize) vnd Jagtten so Icziegerczeidt 
zu Fußdebichttenn gebrauchtt werdenn. 
ı gar Altt klein Stucklein Tappecerey, 
r viereckichtt Stuck, darrauff die Hiestoria, wie Eine Arme Stinderienn, So ehe- 
bruchs Halben beschuldigtt gewest, fur denn Herrnn Christo gefuhrtt wierdt, 
6 Grosse Stuckenn vonn ThobiaB, 
16 75 . „ Abraham vnd Sallomonn, 
6 „ grünen Laupwergk, 
vnd den Sächssieschenn wappenn, welche die Herczogk Eherichienn zu Braun- 
schweigk, Hatt machenn Lassenn, Obwoll derrer zuuorhienn nur 5 stucken 
gewest sein, so ist doch Einneß vonn der annaburgk darczu komenn, 
14 Stuck gar Altte Tappecerey, so mann zu fußdebichttenn pflegett zugebrauchenn. 


„4 


ье 


Grosse Тарресегеу. 

Groß Stuck vonn Paulluß bekehrunge, vnd 

Groß stlick, mit Einen Lebenn (Löwen), vnd greiffenn Seindt beide zu Koppenn- 

hagenn gemachtt, vnnd Iczo vffenn neuenn Stall. Inn S. Churf. Geh. gemach 

befundenn wierdt. 

7 Grosse Stuckenn vonn Hercule Inn Rundelenn mit grünnenn Laupwergk, 

8 grosse Stiickenn vonn wieldenn thierrenn so einander zu reissenn, mit grunnem 
Laupwergk. 

16 Stuckenn Ettwaß kleiner, von Allerley wieldenn Thierrenn So einander zu 
reissenn vnd mitt grunnen Laupwergk. 

9 Grosse Stuckenn, vonn Allerley grunen Laupwergk, vnd kleinen vogeln, 

7 Grosse Stuckenn Tappecerey, vonn dem Abgott Behell, vnnd dem Danniell, 

2 Grosse Stuckenn, vonn Inndiannieschenn Hunnernn, vnnd mitt Allerley farbenn, 
grunnenn Laupwergk. 


м 04 


Grosse Тарресегеу. 

5 Stuckenn gewurcktte, уппа gemoltte Debichte, mit seullenn, vnnd Rottenn 
Feldernn, Halttenn 41!/, DreBniesche Elen, So Inn der Churfurstienn. p. ge- 
mach, Ann denn wenndenn Rumb Anngemachtt sein, 

3 Stuckenn, derrergleichenn Debichtte, die halttenn ann Dreßnieschenn Elen sr, 

53, 55. Inn Summa 159 elen, Diese seindt nichtt Auffgemachtt, Sein zum 

Theill böese, vund mottenn fressigtt, 

geuiertter Bloer vnnd gelber gewurcktter Dieschdebichtt, 

gar Altter gewurcktter Dieschdebichtt, vonn Allerley farbenn, midt dem Sächs- 

sieschenn wappenn. 


Das Inventar bringt eine ganze Reihe von Arbeiten Meister Heinrichs. Wir 
finden unter dem Titel „Grosse Tappecerey“ zunächst „g grosse Stückenn vonn 


90 


ba 04 


den Riesen und Zwerge, so die berge zusammen tragenn“. In der Torgauer Aus- 
gabeanweisung von 1540 wird angeführt „4 gulden gr. vor visirunge (Kartons) als 
leisten (Bordüren), die man zum bergkwerge gebraucht“ !). In den Weimarer In- 
ventaren kommt ein Teppich, in dessen Bordüren Motive mit Bergwerksdarstel- 
lungen benutzt werden, nicht vor. Sollte die Wirkerei im Auftrage des Herzogs 
Moritz entstanden sein? 

Die nächste Folge von 8 (nicht neun) Stück ist die der wilden Männer, zweifels- 
ohne eine Wiederholung der bekannten Torgauer Teppiche. Sie genießt noch in 
den folgenden Jahrhunderten ein besonderes Ansehen. Als Philipp Heinhofer am 
16. Oktober 1617 das Dresdener Schloß besichtigt, erregen die „Tapezereyn von 
wilden Leutten in der Cammer an Card. Clesels Ziimmer sein Interesse. Noch 
mehr nehmen ihn allerdings die Wirkereien des steinernen Saals in Anspruch. Es 
ist die bekannte „Historia wie Churfürst Mauritz wider den Türcken in Ungarn 
gezogen A. 1553 fein alles den nationen nach, die er bey sich gehabt, in hubsche 
Feldordnung außgethailet“. Die Folge ging mit so vielen anderen Bildteppichen 
durch den Schloßbrand vom Jahre 1701 zugrunde. Der Verlust des Türkenzuges 
läßt sich vielleicht noch am ehesten verschmerzen. Es handelt sich nach Hain- 
hofers Schilderung um eine Verherrlichung des Kurfürsten Moritz, dem die Bild- 
teppiche mit Kaiser Karls Taten“), den Kriegszügen Herzog Albas’), den Kämpfen 
des Erzherzogs Albert‘) und ähnliche Reihen wohl als Vorbild vorschwebten. In 
der Mehrzahl entsprechen diese Wirkereien, mit kämpfenden Gruppen oder den 
in endloser Folge aufziehenden Kriegskolonnen ausgefüllt, wenig den Anforderungen 
eines Bildteppichs, ganz abgesehen davon, daß Kurfürst Moritz kein Jan Vermeyen 
als Patronenmaler zur Verfügung stand. Auch das ,,Contrafect Doctor Marttinuß 
LutterB“ sowie die bekannte Arbeit Meister Segers, die Darstellung Kaiser Karls, 
finden wir wieder. Zweifelhaft erscheint es, inwiefern die verschiedenen Wappen- 
teppiche Hohenmuel oder Bombeck zuzuschreiben sind. Am Schlusse des Inven- 
tars werden die Torgauer Bildteppiche mit den Indianischen (Calcunischen) Hühnern 
erwähnt. 

Von dem ganzen reichen Schatz an Wirkereien, den Meister Heinrich mit seinen 
Gesellen schuf, ist heute kaum ein Stück bekannt, das mit unzweifelhafter Sicher- 
heit der Manufaktur Torgau zugeteilt werden kann. Starke Wahrscheinlichkeit 
spricht für den Jonasteppich im kgl Schloß zu Berlin, der durch die Gobelin- 
manufaktur Ziesch & Co. vor einigen Jahren einer Instandsetzung unterzogen wurde. 
Wir finden links die Szene „Jona, ins Meer geworfen. Jone, I“. Das Schiff treibt 
auf den erregten Wellen. Die Besatzung — in der typischen Tracht um 1545 — 
schleudert Jonas über Bord, unmittelbar in den mit fürchterlichen Zähnen be- 
setzten Rachen des Walfisches. Das rechte Schriftband in der oberen Bordüre 
lautet: „Jonas ist zornig, Jone 3“. Der Prophet entsteigt dem Schlunde des Wales. 
Im Hintergrunde ist Ninive dargestellt, die typische und vorzügliche Wiedergabe 
einer wehrhaften deutschen Stadt des 16. Jahrhunderts mit zahlreichen Türmen 
und Kirchen. In der rechten oberen Ecke sitzt der zornige Jonas unter einer 
riesigen Kürbisstaude und erfleht die Vernichtung der sündigen Einwohner, Die 


(1) Weimar, Gesamtarchiv, Bb 4482. 

(3) Die Folge der Eroberung von Tunis befindet sich in der kgl. spanischen таре: Sammlung 
zu Madrid. Auch die Teppiche, die Schlacht von Pavia darstellend, sind noch erhalten und befinden 
sich gegenwärtig im Museum von Neapel. 

(3) Von dem Herzog von Berwick-Alba 1877 zum Verkauf gestellt. 

(4) Kgl. Spanische Tapisserie-Sammlung 


9% 


Sonne (als menschliches Gesicht dargestellt) sendet glühende Strahlen auf das 
Haupt des Propheten. Stil und Charakter sprechen in vielen Punkten für die 
Cranachschule. Die geschickt durchgeführte Technik ist ganz die eines flimischen 
Meisters, der nach deutschen Patronen arbeitet. Die nur teilweise erhaltene Bor- 
düre gibt ein Blumenmotiv in reichlich steifer Auffassung. Es handelt sich bei 
der Wirkerei (1,19 m hoch, die untere Bordüre fehlt; 1,79 m lang) um eine Arbeit, 
die mit starker Wahrscheinlichkeit Torgau zugeschrieben werden kann. Mit der 
in den Weimarer Inventaren erwähnten Folge ist sie jedoch nicht identisch, aus 
dem einfachen Grunde, weil sich in dem einen Teppich bereits die ganze Ge- 
schichte des Propheten Jonas abrollt. 

Als weitere Arbeit kommt für Torgau das Bildnis Martin Luthers aus dem Be- 
sitze des Freiherrn Dr. v. Friesen auf Schloß Schleinitz in Frage. Der Grund für 
seine Zuschreibung an die erste sächsische Manufaktur liegt in der Art der Lösung 
der Einzelheiten. Die Auffassung des Hintergrundes, der Waldbestand mit der 
Schloßanlage, wie auch die sonstige Behandlung des Brustbildes des Reformators 
ist verschieden von der bekannten Bombeckschen Wirkerei Kaiser Karls. Die Bor- 
düre ahmt in völliger Verkennung des Teppichcharakters einen regelrechten und 
reichlich langweiligen Holzrahmen nach. Als Vorbild diente ein Cranachscher 
Stich. Die Größe der Wirkerei, die in den Lichtern reich mit Gold und Silber 
gehöht ist, beträgt 1,28 >< 1,00 m. Luther ist mit braunem Talar, mit schwarzer 
Mütze dargestellt; in den Händen hält er ein Buch. Naturgemäß können die Unter- 
schiede in der Technik Hohenmuels und Bombecks nur gering sein, ganz ab- 
gesehen davon, daß die weniger wichtigen Einzelheiten von keinem der beiden 
Meister, sondern von untergeordneten Gehilfen ausgeführt wurden. Dem Meister 
bleiben in der Regel nur Kopf, Hände, Fleischteile sowie die reicheren Details 
der betreffenden Wirkerei vorbehalten. Es ist die übliche Arbeitsteilung, die sich 
bereits seit dem 15. Jahrhundert in fast allen flämischen Manufakturen feststellen läßt. 

Zweifellos besteht die Gewißheit, daß noch eine Reihe von Teppichen auftauchen, 
die Meister Heinrich unbedenklich zuzusprechen sind. Die Zahl der in Torgau ge- 
fertigten Wirkereien ist eben zu groß, um spurlos zu verschwinden. Bei einer 
weiteren Anzahl von Bildteppichen besteht schon jetzt die starke Wahrscheinlich- 
keit, daß sie Torgau angehören. Zunächst sei jedoch von einer vielleicht voreiligen 
Zuweisung abgesehen. Der gleiche Zweifel gilt den Passionsteppichen der Gemälde- 
galerie zu Dresden. Richter fußt in seinem Aufsatze „Über die altniederländischen 
Bilderteppiche“ ) darauf, daß im Dresdener Inventar von 1565 die „Neun Patronen 
auf Tücher gemalt, darnach die Passio gewirkt“ angeführt werden. Auch Daniel 
Wintzenbergers gereimter „Lobspruch der Stadt Dresden“, in dem er 1591 das 
kurfürstliche Schloß besingt, ist in der allgemeinen Fassung nicht überzeugender. 
Ein Blick auf die Teppiche selbst zeigt unzweideutig, daß Richters Annahmen un- 
richtig sein müssen. Die älteste der sechs Wirkereien mit der Darstellung des 
Gekreuzigten ist eine Wiederholung des häufig veröffentlichten Stückes der königl. 
spanischen Tapisseriesammlung. Es ist eine typische Brüsseler Arbeit um 1515. 
Die drei dann zusammengehörigen Bildteppiche mit der Anbetung der Hirten, 
Kreuztragung, Himmelfahrt sind sämtlich spätestens um 1530 entstanden. Die 
beiden letzten Passionsteppiche, das Abendmahl und eine zweite Himmelfahrt, 
könnten eine Torgauer oder Dresdener Wiederholung nach einem flämischen Karton 
sein. Ausgerechnet diese Wirkereien tragen die Brüsseler Marke, kommen also 


(3) Dresdner Geschichtsblätter 1893. 
93 


gleichfalls nicht in Betracht. Die Deutung der im Inventar von 1565 angeführten, 
damals in Dresden vorhandenen „Patronen“ ist wesentlich einfacher. Um Kartons 
für Teppiche im Basselisseverfahren, das sowohl von Hohenmuel wie von Bom- 
beck nachweislich geübt wurde, kann es sich nicht handeln, da dieselben dann 
in die durch die Technik bedingten üblichen schmalen Streifen zerschnitten worden 
wären, also unter den „Tafeln und Tüchern“ des Inventars keinen Platz gefunden 
hätten. Dagegen ist es im 16. und 17. Jahrhundert ein recht häufig getibter 
Brauch, die kostbaren, reich mit Gold und Silber gewirkten Teppiche, die einen 
außerordentlichen Wert darstellten, nur an den höchsten Feiertagen aufzuhängen, 
während der übrigen Zeit aber durch Patronen, d. h. durch Kopien zu ersetzen. 
Bei Hautelisseteppichen, die ein Zerschneiden der Patronen nicht erforderten, 
wurden naturgemäß die ursprünglichen Vorlagen als Ersatz benutzt. Zweifellos 
stammen sowohl die Passionsteppiche wie auch die jetzt verschwundenen Kartons 
aus Flandern und haben nichts mit unseren sächsischen Manufakturen zu schaffen. 

Kurzwelly führt bereits die heute bekannten Arbeiten Meister Bombecks an. 
Außer dem schon mehrfach veröffentlichten Hüftbild Kaiser Karls erwähnt er das 
lebensgroße Bildnis des Herzogs und nachmaligen Kurfürsten August von Sachsen, 
einst im Besitze des Herrn Desache in Paris. Es trägt die Signierung S.B. und 
stellt den Fürsten zwischen zwei reliefierten Renaissancesäulen dar. Ich habe 
leider vergeblich versucht, den jetzigen Besitzer der Wirkerei ausfindig zu machen. 
Der Beschreibung nach paßt sie sich stark der Auffassung der in Neuburg noch 
erhaltenen Porträtteppiche mit den Gestalten Ottheinrichs, seiner Gemahlin und 
seines Bruders Philipp an. Die Erfindung und der Gebrauch der Porträtteppiche 
ist überhaupt keine Eigentümlichkeit einer deutschen Manufaktur. Die Sitte, fürst- 
liche Personen in kostbaren Wandbehängen zu verewigen, bürgert sich in Deutsch- 
land in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein, namentlich seit Bernhard van 
Orley’s Meisterhand die Kartons zu der berühmten Folge der Fürsten und Für- 
stinnen aus dem Hause Nassau durchfiihrte. Noch Carel van Mander spricht mit 
Bewunderung von den reichen Teppichen des Grafen Moritz. 

Die von Seger Bombeck gewirkte Wappen — Tischdecke im Leipziger Kunst- 
gewerbemuseum, die zwei Wappen der Stadt Leipzig sowie das Judicium Salo- 
monis, dem leider die früher vorhandene Bordüre mit der Spruchinschrift fehlt ), 
sind in den Veröffentlichungen Kurzwellys und Wustmanns hinreichend besprochen. 
Von besonderem Interesse dagegen ist der allegorische Wandbehang aus Schloß 
Eisenberg. Keine der Arbeiten Bombecks gibt uns einen so erschöpfenden Ein- 
blick in des Meisters Werkstattbetrieb wie gerade dieser große, friesartige Teppich 
(5,80 >< 1,65 m). Die Bilddarstellungen beginnen rechts. Drei Kleriker mit Tier- 
füßen und Krallen gehen auf einen knienden Geistlichen los, in dem unschwer 
Martin Luther zu erkennen ist. Das Motiv mutet auf den ersten Blick recht selt- 
sam an. Tatsächlich ist es nichts weiter wie die in der Cranachschule so un- 
endlich oft verwandte Allegorie des Alten Testaments. Tod und Teufel bedräuen 
den Menschen, es ist ihm kein Heil gegeben, rettungslos eilt er der Verdammnis 
zu. Wir finden die Darstellung unter anderem auf dem .1543 von Cranach ge- 
malten Titelbild der bekannten Luftschen Bibel in der Universitätsbibliothek Jena. 
Tod und Teufel erscheinen in ihrer charakteristischen Gestalt; Papst, Kardinal und 
Mönch werden in dem Flammenmeer der Verdammnis, auf das der unerlöste 
Mensch zueilt, dargestellt. Fast unverändert — die Gestalten in dem Fegefeuer 


(1) Stepner, Inscriptiones Nr. 1658. 
93 


fallen fort — zeigt sich das gleiche Motiv in dem Gothaer Sündenfallbild. Beson- 
ders typisch erscheinen mir die zwei Votivbilder „Altes und Neues Testament“ 
in der Hauptkirche zu Kamenz. Rechts stehen die Repräsentanten des alten 
Bundes, links entflieht der Mensch; der Tod führt die nämliche Saufeder, die in 
dem Bombeckschen Teppich der mittlere Kleriker schwingt. An Stelle des Teufels 
erscheint der „grimme Leu“ (Papst Leo X.) mit einer Fahne mit den Schlüsseln 
Petri. Die Darstellung wird durch einen dritten Gegner Luthers ergänzt, der mit 
Steinen, d. h. mit unwahren Angriffen, auf ihn wirft. Luther tritt jedoch nicht in 
der Rolle des unerlösten Menschen auf, er deutet vielmehr auf die Gruppe, als 
wollte er sagen: Seht, dies sind die Vertreter von Tod und Teufel, die falschen 
Propheten, die euch verderben wollen. Die Mittelszene ist die teilweise Wieder- 
gabe der entsprechenden Darstellung des Neuen Testamentes. Der Auferstandene 
schwingt die Siegesfahne, zu Füßen Tod und Teufel. Das Motiv ist bei Cranach 
und seiner Schule vielfach noch häufiger wie das des Alten Testamentes. Es sei 
nur an das prächtige Mittelbild des Altarwerkes in der Stadtkirche zu Weimar 
erinnert. Auch die Kamenzer Tafel zeigt die gleiche Auffassung. Ein Blick auf 
die Wiedergabe genügt, um klar erkennen zu lassen, wie wenig neue Gedanken 
der Patronenmaler des Bombeckschen Teppichs gefunden hat. Er setzt seinem 
Teufel die Tiara auf, fügt noch einige Mönche hinzu und die Vorlage ist fertig. 
Die Darstellung des Auferstandenen ist in der Haltung im übrigen ein ziemlich 
genaues Spiegelbild der Kamenzer Tafel. Auch der Boden vor der Tumba zeigt 
die herumliegenden Steinbrocken. Der Maler der beiden 1542 entstandenen Ka- 
menzer Bilder ist der Cranachschüler Wolf Krodel. Aller Wahrscheinlichkeit nach 
ist der Teppich weder für Herzog Johann Friedrich, noch für Kurfürst Moritz ge- 
fertigt worden; jedenfalls fehlt bisher jeder urkundliche Beleg. Die Einfügung der 
von einem Cranachschüler gelieferten Patronen — es sind deren fünf: die drei 
Kleriker; Luther; der Auferstandene mit Grab, Tod und Teufel; der Krieger rechts 
vom Grab und der Bewaffnete links — ist ziemlich wilikürlich und nichts weniger 
als geschickt. 

Meister Seger arbeitet nach einem alten Rezept, das sich bei der Mehrzahl der 
flämischen Bildteppiche des 16. Jahrhunderts feststellen läßt. Jeder Wirker hat 
eine Anzahl Patronen für Vordergrund — Pflanzenwerk und dergleichen — und 
der Hintergrund — Landschaften und ähnliches — und vor allem eine reichliche 
Auswahl an Bordürenmotiven zur Verfügung; der Kartonist entwirft nur in sel- 
tenen Fällen die ganze Bilddarstellung fix und fertig. Es widerspricht dies durch- 
aus der Tradition, ganz abgesehen davon, daß der betreffende Figurenmaler kein 
guter Tier- oder Pflanzenmaler zu sein braucht. Außerdem würden die Kosten 
für die betreffenden Patronen viel zu hoch, die Möglichkeit, die Bildfläche je nach 
den Wünschen des Bestellers zu vergrößern oder zu verkleinern, wäre außer- 
ordentlich erschwert. Wir finden die Methode geradezu charakteristisch in Meister 
Segers Teppich angewandt. Es ist unverkennbar, wie die Kartons etwas gewalt- 
sam der Bildfläche eingepaßt und nun wohl oder übel durch das Pflanzenwerk, 
die große Schrifttafel und dergleichen mehr, in Zusammenhang gebracht werden. 
Nur so ist es erklärlich, wie z. B. der eine schlafende Krieger in etwa dop- 
pelter Lebensgröße unmittelbar neben dem knienden Luther dargestelit wird. 
Die Flora in der oberen Hälfte des Teppichs ist rein flämisch; es sind die üblichen 
blühenden Sträucher, die auf den großen Brüsseler Teppichen die Zwischenräume 
zu Füßen der verschiedenen handelnden Personen ausfüllen. Der Inhalt der rechten 
Bildhälfte wäre, nochmals kurz zusammengefaßt, ungefähr der folgende: 


94 


Das Wirken des Reformators (der auf die drei Kleriker weisende Luther) deckt 
trotz aller Ankämpfungen die päpstliche Irrlehre auf. Der siegreiche Christus be- 
reitet durch das reine Evangelium den Feinden des geläuterten Glaubens vollends 
ein Ende. Schwieriger gestaltet sich die Deutung der linken Bildseite. Der An- 
sicht Kurzwellys, daß es sich um eine allegorische Wiedergabe des bekannten 
Liedes „Die wittenbergische Nachtigall“ von Hans Sachs handelt, ist nicht ohne 
weiteres beizupfichten. Schon die Annahme, daß der bei Hans Sachs fehlende 
Uhu sich aus der Tiersymbolik der Reformationszeit erklärt, ist falsch. Der Uhu, 
der den Vogel schlägt, ist eines der üblichen Bordürenmotive, nichts weiter. Die 
Darstellung findet sich fast wörtlich — der Uhu dreht den Kopf etwas mehr nach 
rechts, der gefangene Vogel zieht den einen Flügel ein — in der oberen Bordüre 
eines zeitgenössischen großen flämischen Teppichs mit der Darstellung der Be- 
gegnung Jakobs und Esaus im Besitze des Verfassers. Ebensowenig Beweiskraft 
für Hans Sachsens Lied besitzen die verschiedenen Singvögel und der am Bach- 
rand liegende Hase — gleichfalls ein beliebtes Bordürenmotiv. Die linke Bild- 
seite erweckt vielmehr den Eindruck, als ob ursprünglich eine weitere figürliche 
Szene vorgesehen war, die aus irgendwelchen Gründen auf Wunsch des Bestellers 
des Teppichs wegfiel, oder, was noch wahrscheinlicher sein dürfte, der für die 
Wirkerei vorgesehene Platz war unverhältnismäßig groß; Meister Seger half sich, 
indem er eine rein landschaftliche Szene mit den entsprechenden Mitteln wie an 
der oberen rechten Hälfte zufügte. 

Die Lösung der Bordüre — um einen Palmstrunk schlingen sich Früchte und 
blühende Pflanzen — ist rein flimisch. Das Motiv wird vornehmlich іп den Brüs- 
seler Teppichen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts immer und immer wieder- 
holt. Die Patronen hat Meister Seger zweifelsohne aus seiner alten Heimat mit- 
gebracht. Die etwas reichere Lösung ist Bombeck genau bekannt, es sind die 
gleichen um den Palmstamm gewundenen Blumen- und Fruchtbüschel, in den 
Zwischenräumen durch eingefügte Tiere belebt. Wir finden Papageien; den Uhu, 
der den Vogel würgt, Hasen, Fasanen, Eisvögel, Elstern und dergleichen; kurz, 
die Tierwelt, die sich teilweise in der linken Bildhälfte des Teppichs tummelt. 
Die untere Bordüre, die der Wirkerei erst das richtige Verhältnis gibt, fehlt bereits 
seit der Einfügung in das geheime Betstübchen, das sich Herzog Christian von 
Eisenberg um das Jahr 1700 in einem an die Schloßkirche anstoßenden Erdgeschoß- 
gewölbe einbauen ließ. Der prächtige Teppich wurde hierbei in vier Stücke zer- 
schnitten, um ihn so besser den vorhandenen Wandflächen anpassen zu können. 
1905 erfolgte die Zusammensetzung und, soweit erforderlich, auch eine Ergänzung 
in dem Atelier Carlotta Brinckmanns. Das Gefüge der Textur ist ziemlich eng, 
auf 1 cm kommen 6—7 Kettfäden. Außer Wolle und Seide sind Metallfäden ver- 
wendet; die Farbengebung sucht sich dem Schema der Brüsseler Wirkereien an- 
zupassen. Die Tiefe und Feinheit der Töne läßt vielfach zu wünschen übrig, der 
Grund liegt in den Schwierigkeiten, die bei der Herstellung mit der Beschaffung 
richtig eingefärbter Wollen und Seiden verbunden waren. 

Der zweite aus der Betstube des Eisenberger Schlosses stammende Teppich 
(4.44 X 1,38 m) mit dem wahren Bilde Christi, das von zwei geflügelten Fabel- 
wesen gehalten wird, zeigt völlig flämischen Einfluß. Triton und Nereide ent- 
stammen irgendeiner Brüsseler Patrone; das üppige Rankenwerk ist von einem 
Cranachschüler, wahrscheinlich unter Benutzung von Stichvorlagen, ausgearbeitet. 
Die Fruchtbüschel, die sich dem Eichenkranz einpassen — der übrigens analog 
dem sonst beliebten Palmstamm behandelt wird — sind die bekannten Bordüren- 


motive. Die Gesamtkomposition des Bombeckschen Teppichs finden wir wieder 
in der prächtigen Delitzscher Tischdecke des Egidius Wagner. Die Bilddarstellung 
zeigt das kursächsische Wappen in reicher Umrahmung. Die Bordüren dagegen 
weisen an den vier Seiten in den Mitten Wappenschilder auf, die ganz entsprechend 
wie bei unserem Bombeckteppich von je einem Tritonen und einer Nereide, deren 
Leiber ebenfalls in Laubwerk auslaufen, gehalten werden. Das Motiv zeigt völlig 
klar, daß beide Meister der gleichen Schule entstammen, und in vielen Fällen nach 
denselben Patronen arbeiten. Zugleich deuten die Bordüren des Wagnerschen 
Teppichs mit starker Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß es sich bei dem Entwurf 
der Bombeckschen Wirkerei im Grunde um nichts anderes als eine starke ver- 
größerte Bordüre handelt. | 

Das Gefüge des 1551 entstandenen und S.B. signierten Bildteppichs entspricht 
der zuvor behandelten allegorischen Wirkerei. Auch hier ist außer Wolle und 
Seide der Goldfaden verwendet. Die Farben sind vorwiegend braun, grün und 
weiß, verhältnismäßig vorsichtig sind blaue und rote Töne eingesetzt. 

Seger Bombeck ist Basselissier. Schon der Gang seiner Ausbildung spricht da- 
für; ein Blick auf seine Arbeiten gibt ohne weiteres die Gewißheit. Die Kartons 
für Basselissearbeiten werden, wie schon erwähnt, als Spiegelbild gefertigt. In der 
Regel unterlaufen den Patronenmalern hierbei Versehen, namentlich wenn es sich 
um eine Schriftwiedergabe handelt. Typisch sind gewöhnlich die Schnitzer bei 
den römischen Buchstaben S und N. In dem Schriftband des Teppichs mit dem 
wahren Bilde Christi ist von elf N auch nicht ein einziges richtig. 

Meister Seger bleibt in seinen sämtlichen Arbeiten der flämische Wirker. Wohl 
benutzt er in der Regel die Kartons der Cranachschule, ohne daß diese ihn jedoch 
wesentlich in seinem künstlerischen Gepräge beeinflussen. Sobald der Rahmen 
der betreffenden Patrone aufhört, setzen die flämischen Motive ein. Geradezu 
charakteristisch ist der Eisenberger allegorische Teppich. Auch die Wirkerei mit 
dem Hüftbilde Karls V. könnte ohne weiteres als Brüsseler Arbeit gelten. Der 
Technik nach ist Bombeck den flämischen Meistern seiner Zeit durchaus gleich- 
wertig. Die Behandlung von Gesicht und Händen, die Durchbildung des Hinter- 
grundes, die Wiedergabe der Gewänder und sonstiger Einzelheiten ist in der Regel 
mustergtiltig, Es kommen manchmal mehr oder weniger starke Nachlässigkeiten 
vor. Der gleiche Vorwurf trifft jedoch auch die Wirker Briissels. Er wird nicht 
durch die Art des betreffenden Meisters, sondern durch das Schema der Arbeits- 
teilung erklärt, die weniger wichtige Teile des Teppichs der Ausführung untergeordneter 
Hilfskräfte überläßt. Die Manufakturen Torgau und Weimar schließen sich würdig 
den etwa gleichzeitigen Wirkerateliers zu Frankenthal und Stuttgart an. Es ist 
erstaunlich, welche Fülle an kleineren Manafakturen das Deutschland des 16. Jahr- 
hunderts aufweisen kann, noch seltsamer allerdings, wie wenig diese Kunststätten 
bisher erkannt und gewürdigt worden sind’). | 


(1) Die Kenntnis der Weimarer Archivalien verdanke ich zum größten Teil der Liebenswürdigkeit 
und Bereitwilligkeit des Herrn Archivdirektore Dr. Tille; auch Herr Dr. Spielberg unterrichtete mich 
durch verschiedene Belege. Die pommerschen Inventare wurden mir in entgegenkommender Weise 
von Herrn Prof. Dr. Wehrmann-Greifenberg і. Pomm. zur Verfügung gestellt. Es bereitet mir eine 
besondere Freude, auch an dieser Stelle den Herren meinen aufrichtigen Dank aussprechen zu dürfen. 


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STUDIEN ÜBER DIE BEDEUTUNG CARL 
FRIEDR. у. RUMOHRS FÜR GESCHICHTE 
UND METHODE DER KUNSTWISSEN- 
SCHAFT ` Mit vier Abbildungen auf Von ANTONIE TARRACH 


DIE KUNSTGESCHICHTSSCHREIBUNG VON VASARI BIS ZU RUMOHR 


as Vorbild für alle Kunstgeschichte Italiens, Frankreichs, der Niederlande und 

Deutschlands bis ins r8., ja bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, über Winckel- 
manns epochemachendes Werk, über Séroux „d’Agincourt“ hinweg bis zu Rumohr, 
bleiben die Vite Vasaris!). Wie sie, sind alle großen Werke der Kunstgeschichts- 
schreibung Künstlergeschichte, verquickt mit Kunstlehre in pragmatischer Anordnung. 
Bei Vasari*) wird Standesstolz, zu Lokalpatriotismus gesellt, die Triebkraft zu einer 
kühnen und weittragenden Leistung)). Der Persönlichkeitskult, welcher der Re- 
naissance eigen ist, verleiht dem Spiegel ihrer Kultur, den Vasari darzubieten 
wtinscht, seine Gestalt und seinen bestechenden Glanz. Der Künstler als Träger 
der Kunst wird ihre jeweilige Erscheinungsform in sich kristallisieren und jeder 
hervorragende notwendig den Verlauf ihrer Entwicklung kennzeichnen, deren Höhe 
Vasari in Michelangelo sieht. Die Führerschaft des großen Künstlers ruft eine 
Schule hervor. So ergibt sich für die geschichtliche Darstellung eine Aneinander- 
reihung von Künstlerbiographien in einer Gruppierung nach Schulen und dem Ge- 
danken der Entwicklung. Der Maßstab für den Fortschritt der Kunst ist Natur- 
wahrheit und Naturlebendigkeit. In diesem Sinne verwertet Vasari auch alle ihm 
zu Gebot stehenden Mittel, um eine Persönlichkeit greifbar lebendig darzustellen; 
schaltet künstlerisch willkürlich mit seinen Quellen; fügt der Selbständigkeit seines 
Urteils mit erborgtem Prunk und der Überzeugungskraft seiner Autopsie eine sieg- 
hafte Autorität zu. Die Lehrhaftigkeit des Kunstschriftstellers — denn er schreibt 
ja für Künstler — nimmt einen großen, liebenswürdigen Stil an, ja, wird vielmehr 
zu begeisterndem Anfeuern. Hinter dem historischen Interesse tritt das Theoreti- 
sieren zurück, Seine ästhetischen und allgemein theoretischen Anschauungen flicht 
Vasari als gelegentliche Bemerkungen in die biographischen Abschnitte oder schickt 
sie diesen, in Abhandlungen gesammelt, voraus. 

Die Hegemonie der Stadt, des Staates innerhalb Italiens — und die der Renais- 
sancekultur im westlichen Europa unterstützten den Einfluß des Vasarischen Werkes 
auf die Kunstgeschichtsschreibung. 

Eben in der unbedingten Anerkennung einer Überlegenheit der Renaissance- 
kultur liegt der Grund dafür, daß іп den folgenden beiden Jahrhunderten die Kunst- 
geschichtsschreibung hinter ihrer Zeit zurtickbleibt‘). Zwar erhält der Stoff, den 


(1) Vgl. E. Heidrich: Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstwissenschaft. Basel 1917. Kap. 1. 
(а) Vgl. Birch-Hirechfeld: Die Lehre von der Malerei im Cinquecento. Rom 1912, 8. 13—14. Daselbst 
Literaturangaben für Vasari. W. Kallab: Vasaristudien; hrsg. von Schlosser. Wien u. Leipzig 1908. 
Julius v. Schlosser: Vasari. 5. Heft der Materialien sur Quellenkunde der Kunstgeschichte. 

(3) Giorgio Vasari: Le vite de piu eccelenti pittori, scultori, ed architetti: Con nuove annotasione e 
commenti di Gaetano Milanesi. Firenze 1878 fl. 

(4) Über ital. Kunstgeschichtsschreiber nach Vasari vergleiche: A. Philippi: Der Begriff der Renais- 
sance. Leipzig 1912, УШ. A. Riegl: Die Entstehung der Barockkunst іп Rom. Wien 1908, S. ı7fl. 


Monatshefte für Kunstwissenschalt, Bd. I. 1983. 7 97 


Vasari, umrissen, eine Vervollkommnung und eine — ungeheure — Erweiterung 
nach Vergangenheit und Gegenwart hin, doch genau in derselben Einstellung, 
die Vasari ihm gegeben, wenngleich die kleinen Differenzierungen lokalpatrio- 
tischer Tendenzen im allgemeinen verschwinden. Aber es geht darüber der leben- 
dige und enge Zusammenhang mit der Kunst und dem Künstler der Gegenwart 
verloren. Der Kiinstlerimpuls verleiht der Gefühlseigenart und Geistesrichtung 
einer Zeit den intensivsten Ausdruck. Dem Künstler muß die Vergangenheit auf 
irgendeine Weise in die Gegenwart einmünden, wenn sie seinen Zwecken dienen 
soll. Die Kunstgeschichtsschreibung als ein Mitteilungsorgan der Künstlerschaft an 
das kunstgebildete Volk erhält eine Umstellung, zumal seit andere als vornehmlich 
Künstler sich zu ihr berufen fühlen. Sie schiebt sıch als Interpretation zwischen 
Künstler und Kunst der Vergangenheit und zwischen Künstler und Volk. _ 

Als eine wesentliche Eigenschaft des Kunsthistorikers wird Kennerschaft und 
Kritik erforderlich, die sich zu vielseitigen Kenntnissen gesellen soll. Denn die 
steigende Volksbildung zieht ein Verlangen nach Polyhistorie nach sich — eine 
Erscheinung des Barock, der im Ungestüm seiner gestaltenden Kräfte möglichst 
den gesamten Reichtum des Lebens begehrt. 

Im Besitz der Kraft aber strebt man nach Maß und Harmonie, inneren Gesetzen 
zufolge. So verwandelt sich auch das Ideal vollkommener Kiinstlerschaft: Man 
sieht nicht mehr in Michelangelo, sondern in Raffael den Gipfelpunkt künstlerischen 
Schaffens. | | 

Der Fortschritt, den das Italien des 17. Jahrhunderts in der allgemeinen Ge- 
schichtsforschung macht, bleibt nicht ohne Einfluß auf die Kunsthistorie. Ein 
Streben nach wissenschaftlicher Genauigkeit macht sich geltend — was zum eifrigen 
Erschließen neuer Quellen führt — und nach Straffheit im klargliedernden Aufbau. 
Die Masse des Stoffes wächst bei ausgedehnter Quellenforschung. Die vielfältigen, 
vorgefundenen Urteile über Kunstwerke der vergangenen Jahrhunderte rufen eigene 
Stellungnahme hervor und damit die Neigung zu lebhafter Polemik. Aber kein 
genialer Kopf bringt eine Synthese hinein. 

Erst am Ende des 18. Jahrhunderts tritt ein Mann hervor, dessen wissen- 
schaftliche Objektivität den schier unübersehbaren Stoff der italienischen Kunst- 
geschichte bis zu seiner Zeit zu einem geordneten Ganzen zusammenfaßt, zu 
einem „Pantheon italienischer Maler“): Luigi Lanzi. Wie erlösend diese an sich 
bedeutende Tat seinen Landsleuten erschienen sein muß, geht daraus hervor, daß 
sie ihn über Winckelmann stellten. Die deutsche zeitgenössische Kunstwelt wertete 
kaum mehr als die übersichtliche Anordnung des Stoffes und seine Art der Quellen- 
benutzung. In einem neu aufsteigenden Zeitalter, welches das gesamte Menschen- 
geschlecht als einen geistigen Organismus in seinem lebendigen Werden betrach- 
tete und demzufolge alle historischen Ereignisse unter großen Gesichtspunkten 
innerer Entwicklung in die Gegenwart hineinbezog, mußte man — in Herderschem 
Geist — beklagen, daß „die Geschichte der Malerei zu einer Nekrologie der Maler. 
und Schulenanatomie geworden, welchen Leben und Bewegung fehlt, so daß das 
Gesetz derselben, die Systole und Diastole, die Yarastelung und Vergliederung der 


E. Heidrich: а. а. O., Nr. 22—25. J. Schlosser: Vorrede zur Neuausgabe von C. F. v, Rumohrs 
„It. Forchg.“ (geht bis auf Alberti zurück). 1920. 

(х) а. v. Quandt in seinem Vorwort zu Ad. Wagners Ausgabe des Lanzi: Geschichte der Malerei in 
Italien. Leipzig 1830. Ital. 1. Ausgabe: L. Lanzi: Storia della Pittorica della Italia. T. I. .1792, 
T. U, 2796. Vgl. auch: Ugo Segrè: Luigi Lanzi е le sue opere. Assisi Tipografie Metastasio. 
1904 X. Dazu Kallab in den Kunstgesch. Anzzig. 1905. 


х 


Organe und Systeme nicht anerkannt wird!). Die Ungeduld der Forderungen kenn- 
zeichnet in diesen die eigenen neuen Ziele. Eines Eklektikers verstandesklare 
Gliederung des Stoffes und Neutralisierung des Urteils erschien untergeordnet 
gegenüber dem freiwaltenden, umschaffenden Durchdringen des kritisch gesichteten 
Materials. Schon in Lanzis Stil vermißte man die Originalität einer primären Pro- 
duktion ). Seiner Kennerschaft wurde die Tiefe abgesprochen, die Sicherheit 
innerer Wahrheit, weil er selten die Einfühlung besäße, um in das eigentümliche 
Leben des Kunstwerkes einzudringen. 

Damals wurde man den Verdiensten Lanzis nicht gerecht: Den Errungen- 
schaften der vorangehenden Epoche in der Kunstgeschichtsschreibung einen Ab- 
schluß geboten zu haben und zugleich eine feste Stufe für weiteren Fortschritt. 
W. Kallabs und E. Heidrichs Augen sehen ruhiger und schärfer ). 

Mit Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kunstgeschichtsschreibung mag an 
uns vorüberziehen, was Lanzi mit der Epoche vereinte, die unter dem Zeichen 
Vasaris stand und was er Neues mit sich führte. | 

War sein Ausgangspunkt gleich dem Vasaris ein lokalpatriotisches Interesse, so 
konnte dies doch in Anbetracht des ausgedehnten Gebietes, das er sich vorgesetzt 
hatte, für die Darstellung nicht richtunggebend bleiben. Wie Vasari glaubte er 
das Gesamtbild in der Summierung von Einzelbildern am anschaulichsten schildern 
zu können, im Herausarbeiten einer künstlerischen Persönlichkeit, die Meister und 
Schüler zugleich in sich begreift. Er wählt also die alte örtliche Einteilung nach 
Schulen, gegliedert in Ober- und Unteritalien. 

Vasari wendet sich derart an den Künstler, daß dieser sich selbst sein Ideal 
aus der glorreichen Vergangenheit heraushole. Lanzi strebt im Sinne seines Vor- 
bildes Mengs danach, den Idealkünstler oder die Vollkommenheit einer Entwick- 
lungsstufe darzustellen. Die Gewissenhaftigkeit und der unermüdliche Fleiß dieses 
Gelehrten bringt die Methode Vasaris zur Vollendung‘), Die Quellenforschung 
dehnt sich über das enge Gebiet der Kunstgeschichte hinaus in das der politischen, 
der Kirchen- und Literaturgeschichte; die Quellen werden einer Kritik unterworfen. 
Lanzi legt Zeugnis darüber ab durch Angabe der Quellen, durch zitierte Belege. 
„Lanzis historische Methode erscheint heute noch einwandfrei“, sagt Kallab von 
ihr®). Kein Kunstschriftsteller vor ihm hat in gleichem Maße seine Denkmiler- 
kunde durch Autopsie ergänzt. Lanzi strebt nach maßgebender Kennerschaft und 
sucht auch hier subjektive Elemente auszuschalten, um für eine Erziehung zur 
Stilkritik tauglich zu werden. Mit den modernen Werkzeugen seines Jahrhunderts 
arbeitet er nach altem Vorbild. Auch seine Stilkunde bezieht sich auf die Schöp- 
fungen eines Individuums und seiner Schule. Die Kunst letzten Endes als ein Pro- 
dukt völkischen Geistes anzusehen und die Stilkunde zu einem Erkenntnismittel 
der großen überindividuellen Züge ihrer Entwicklung zu gestalten, liegt Lanzi fern. 
Winckelmann hat er noch nicht verstanden. 


$ 


(1) A. Wagners Ausgabe a. a. O., Vorwort 8. XIV. 

(а) Dagegen Kallabs Urteil über La klaren, pointierten Stil! 

(3) W. Kallab in der angeführten Besprechung des Buches von Segrè. Noch Segre wertet wio die 
Männer zu Beginn des 19. Jahrh., und E. Heidrich, a. a. O., 8. 325 - 27. 

(4) Kallab: a. a. O., 9. 30: „Die Stärke des Buches liegt in der Darstellung. Wir werten heute viel- 
fach anders; die Malerei des 13., 14. und 15. Jahrhunderts wüßten wir besser zu schildern. Für die 
folgenden Jahrhunderte ist Lanzi unerreicht und ich wüßte kein Werk, das ihn zu ersetzen vermöchte.“ 
(5) Kallab, a. a. O., 8. 29. 


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Het Lanzi sich schon zu deutschen Einflüssen bekannt (Mengs zumal ist sein 
„ästhetisches Orakel“), so ist ftir die italienische Kunstgeschichtsschreibung im 
neuen Jahrhundert die französische und deutsche eine Voraussetzung. Des Grafen 
Cicognara!) sorgfältige „Storia della Scultura“ weist methodisch nichts eigenartig 
Neues auf. Die Gelehrtenwelt Deutschlands ist es, die einen Fortschritt in der 
Entwicklung der Kunstwissenschaft herbeiführt. 

Bei dem Erscheinen von Winckelmanns „Kunst des Altertums“ (1764) waren kaum 
go Jahre verflossen, seit Deutschland sein erstes großes Lehrgebäude ftir die Kunst 
in Sandrarts „Teutscher Akademie“ (1675—79) erhalten hatte?), diesem „Vasari“ 
in barocker Perücke. 

Sandrarts Methode und Ziele sind die Vasaris; auch er schreibt für Künstler 
und Kenner, und sein Maßstab ist: Virtuosität des Könnens. Dem panegyrischen 
Ton des Italieners hält hier ein stark didaktischer die Wage, und seine Arbeits- 
methode führt zur Begründung der Akademie. Sandrart vertritt sein Deutschtum 
bewußt mit der Abfassung seines Werkes in deutscher Sprache, der Widmung an 
einen deutschen Fürsten, dem Wunsche, daß auch dem deutschen Künstler ein 
würdiger sozialer Rang angewiesen werde — und unbewußt in dem starken deut- 
schen Zug (ein altgermanisches Erbe) über die Alpen nach Süden, den die Barock- 
kultur begtinstigt: Italien und die Antike sind die ihn bestimmende Sphäre. Den 
eitlen Prunk entlehnten antiken Wissens trägt er als Modegewand seiner Zeit. 

Wie Sandrart das Material für sein Lehrgebiiude*) wählt, hat es unmittelbares 
Interesse nur für den Künstlerstand und die ihm nahestehenden Kreise: er bietet 
eine Standeswissenschaft. Erst Winckelmann verleiht dieser das Gepräge eines 
Spezialfaches. Er verschmilzt das historische und das theoretische Element zu 
einer Einheit von Lehrgebäude, so daß es in der Geisteswelt aller Gebildeten 
seine Stelle behauptet. Er stellt die Kunstgeschichte auf eine ganz neue, breite 
Basis, die bisher ungeahnte Möglichkeiten der Entwicklung verheißt, ordnet sie 
der Universalgeschichte ein und macht sie zu einer Wissenschaft durch Anwendung 
der Methode historischer Forschung‘). 

Der Stoff, dem Winckelmann sich zuwendet, verlangt für eindringende Betrach- 
tung eine von kunsthistorischer Konvention abweichende Einstellung des Geistes. 
Das Gebiet ist ein zeitlich abgegrenztes, die antike Kunstgeschichte. Auch sonst 


(1) Vgl. A. Philippi: a. a. O., 8. 67/68. Cicognara: Storia della Scultura dal suo risorgimento in 
Italia fina а! весоіо di Napoleone per servire di continuazione alle opere di Winckelmann et de 
d' Agincourt. 1813—1818. 

(2) J. v. Sandrart: Teutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Malerkünste etc. Nürnberg 1675. 
Vgl, Anm 8, 8. 

(3) Rumohr charakterisiert Sandrart in einem Vorwort zu seinen Auszügen aus der Akademie im 
Kunstblatt 1826, Nr. 6 folgendermaßen: „Joachim von Sandrart, ein Mann von billigem Sinn und ge- 
sundem, deutschem Verstande, doch, wie seine Gemälde fürchten lassen, mehr mit Empfänglichkeit 
für die Leistungen anderer als mit eigenem, ausgezeichnetem Kunsttalente ausgerüstet, schrieb um 
die Mitte des 17. Jahrhunderts ein weitläufges Werk, welches teils Auszüge und Übersetzungen aus 
italienischen und niederländischen Kunstschriften enthält, deren Wert gering ist, teils aber auch seine 
eigenen Lebenserfahrungen und Reflexionen, welche, historisch und künstlerisch betrachtet, unschätz- 
bar sind. — Wenige werden sich überwinden können, in dem Schwulste und den Weitschweifigkeiten 
des starken Folianten auf die Ahrenlese ausgugehen. “ Vgl. auch Sponsel: Sandrarts Teutsche Aka- 
demie, kritisch gesichtet. Dresden 1896. | 

(4) Vgl. Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 1898. Е. Heidrich: a. a. O., 
8. 28—52. C. Gurlitt: Geschichte der Kunst (Deutsche Kunst des 19. Jahrh.) 1899, 8. op, J. von 
Schlosser: Einleitung zur Neuausgabe der „Ital. Forschg.“ von Rumobr, 8. XI—XII. 


scheint kein Zusammenhang mit der Gegenwart zu bestehen: Es liegt die Kultur 
und Kunst eines fremdgearteten Volkes längst vergangener Zeiten vor. Nur die 
geniale Intuition eines liebenden Geistes kann ihr Vorbild in seiner Wesenheit 
wahr und rein erfassen. Voraussetzung für die Erkenntnis wird Objektivierung 
des denkenden Geistes angesichts des historischen Tatsachenbestandes, und die 
Maßstäbe der Bewertung sind lediglich aus dessen Eigengesetzlichkeit abzuleiten. 
Ein subjektives Kennerurteil, herangebildet an den Errungenschaften der weiteren 
Gegenwart, erweist sich als unzulänglich, ja unbrauchbar. Der Geist kann die 
abgeschlossene Kulturepoche als ein Ganzes umfassen. Die Einzelerscheinungen 
im künstlerischen Schaffen des Volkes fügt der Systembegriff nach den Gesetzen 
von Grund und Folge in eine Gesamtheit ein. Der innere große Zusammenhang 
hinter aller Vielfältigkeit der Akzidenzien tritt als „Stil“ hervor, dessen Ursprung 
und Entwicklungsphasen denen der organischen Natur zu gleichen scheinen, in 
Wachstum, Blüte, Verfall, verwurzelt im heimischen Boden. 

Der tieferen Einsicht offenbart die Kunst in diesem Sinne die Geistesbeschaffen- 
heit einer Rasse, eines Volkes innerhalb einer bestimmten Epoche. Alles Indivi- 
duelle der schöpferischen Person, ihres Standes, ihrer Nation tritt zurtick. Ein 
neues Menschheitsideal ersteht. An Stelle des Geistesaristokraten der Renaissance 
beherrscht von nun an der Mensch schlechthin die Geschichte der Kunst. Für 
Winckelmann ist der griechische Mensch, 6 xaldg х’ dyadös, Repräsentant des Hu- 
manitätsideals, und seine Kunst hat kanonischen Wert. Hier liegt der Ausgangs- 
punkt für den Klassizismus. Nach dem antiken Stil werden alle Kunstformen ge- 
messen, nicht mehr nach der Natur. Nachahmung der gemeinen Natur ist ein 
Merkmal für den Verfall einer Kunstperiode. 

Wie die zeitgebundenen Werte vor der Historie zu Staub zerfallen, so heißt 
fortan Kunstgeschichte schreiben: das innerste Wesen der Kunst deuten, aus dem 
Wandel der Kunstformen — geschichtlich, wissenschaftlich festgestellten Indizien, 
lebendig gemacht durch Denkmileranschauung. 

Winckelmann vollzieht es an einem Ausschnitt: von allen Völkern und Rassen, 
von aller geschichtlich bekannten Zeit ist es die klassische Antike der Mittelmeer- 
völker in gegebener Zeitspanne. In geradliniger Folge, unter Verzicht auf das 
gleichzeitige Wechselspiel der Einflüsse mannigfaltiger Kunstäußerungen aufeinander, 
wird die Entwicklung dargestellt. Der Inhalt wird in künstlerische Form gebracht 
— hinreißend ist die prophetisch-erhabene Sprache. Begnadet, das Wesen der 
Schönheit zu erschauen, öffnet Winckelmann seiner Mitwelt das innere Auge zum 
Verständnis der Kunst vor seinem Idealbild. 

Diese Kunstgeschichtsschreibung ist der geniale Schöpfungsakt eines Gelehrten. 
Das Rationale herrscht. Der Wesenskern der sinnlichen Einzelerscheinungen wird 
begrifflich klargelegt. Aber das begriffliche Denken bestimmt auch die Sinnes- 
eindrücke bei Winckelmann. Folgerichtig nach seiner Geistesbeschaffenheit hat 
sein Auge die Ursprünglichkeit im Auffassen der Dinge verloren — nur die Ab- 
straktion der Körperwelt, die Linie und die plastische Form, bei der das Sehen 
Medium des Tastsinnes wird, sprechen sein Gefühl an. Die Farbe ist in ihrer un- 
mittelbar sinnlichen Wirkung für seine Wahrnehmung belanglos ). Es ist wichtig, 
diese Abhängigkeit des Gefühls vom Verstandesleben für die folgenden Betrach- 
tungen des Kunstlebens in Erinnerung zu behalten. 


(т) Vgl. dazu Kant, der alles, was Reiz oder Rührung bedeutet, aus dem Ästhetischen verwirft. So 
ist ihm Farbe eine Beeinträchtigung des rein Asthetischen. 


Winckelmann hat in Mengs!) seinen großen Verbündeten. Die gemeinsamen 
Erkenntnisse, daß Stil das Wesentliche der Kunstformen, daß Schönheit ihr Inhalt 
sei und beides im absoluten Charakter über jegliches Individuelle hinausgehe, 
werden ihm zu Richtlinien für die Verwirklichung im Kunstschaffen. 

Über die Unvollkommenheit des einzelnen kann nur ein Eklektizismus sieghaft 
hinweghelfen; und Systematik allein wird die Realisierung der Vollkommenheit 
ermöglichen. So bringt Mengs die Theorie der Kunstgeschichte in ein System“; 
auch die Bildkritik, indem er dem Urteil eine Abschätzung der Qualitäten in einem 
Kunstwerk durch Vergleich mit den tibrigen Schöpfungen des Künstlers selbst und 
mit solchen anderer Ktinstler zugrunde legt; desgleichen die praktische Kunstlehre 
in der Neubelebung der Akademien. 

Bis in das 19. Jahrhundert hinein beherrschen die Mengs - Winckelmannschen 
Kunstanschauungen, denen Lessing sich ergänzend anschließt, die Kunstwelt. Kunst 
ohne Theorie ist für den „höheren“ Künstler undenkbar. Seine Originalität muß 
er den Gesetzen der Schönheit — es gibt nur eine Schönheit nach Maßgabe der 
Antike — unterordnen, denn eigenwillig subjektives Schaffen führt zum Verfall der 
Kunst; es gibt nur einen guten Geschmack, der den reinen Stil erkennen lehrt. 

Aber der Systemzwang des Klassizismus hält dem Leben nicht stand. In der 
Kunstliteratur®), bis um die Wende des 19. Jahrhunderts, bricht es überall durch, 
nicht in geschlossenem Strom, sondern ruckweise, oft nur in Ansätzen, aber als 
Ganzes genommen eine Macht, die jene Erstarrung löst, welche der Klassizismus 
heraufbeschworen. Die Persönlichkeit verlangt ihr Recht. Etwas Irrationales ist 
sie, im Weltall einzig Dastehendes, und irrational ist ihre Kunstschöpfung. Die 
Urkraft der gestaltenden Natur wird auch im Künstler primär wirksam und duldet 
keine formale Einschränkung. Die Überlegung mag einmal Geschaffenes zusammen- 
fassen, aber der Schlüssel zum Verständnis der Kunst ist das Empfindungsleben “). 
Die Sinne sind die Tore der Seele. Das sinnliche Element der Kunst offenbart 
die Seele, stark, tief im Eigenleben und wendet sich unmittelbar an das Gefühl des 
Beschauers, nicht an seinen Verstand — weder durch Form noch durch Inhalt. 
So stürmt und drängt es in der Kunstliteratur. 

Hamann macht Schule mit seiner Ablehnung der Systemwut des Klassizismus, 
Herder legt die Mängel der Winckelmannschen Kunstgeschichte bloß, — ein Philo- 
soph unter Einfluß von Künstlern und Kennern tauge nicht zur Kunstgeschichts- 
schreibung. — Er verlangt streng historische Grundlagen und prägt in vollem Ver- 
ständnis für den Geist Winckelmanns, dessen Erkenntnis, daß die Kunst ein Pro- 
dukt sei aus Volk, Klima und Landesbeschaffenheit, für die Gegenwart wie für alle 
Zeiten und Völker um, in der Lehre vom organischen Wachstum der Erschei- 
nungen. Im Gegensatz zur herben Sinnesaskese Winckelmanns steht Heinses 


(х) Des Ritters Anton Raphael Menge. . . hinterlassene Werke, hrsg. von F Prange. Halle 1786. 
U. Christoffel: Der schriftliche Nachlaß des Anton Raphael Mengs. Diss. Basel 1918. W. Waetzold: 
Mengs als Kunsthistoriker. Ztschr. f. bild. Kunst, Heft VI, 1919. 

(2) Mengs ist Schüler vieler kunsthistorischer Grundbegriffe. Auch Rumohr ist bemüht, solche fest- 
zulegen. 

(3) Vgl. Eberlein: Die deutsche Literärgeschichte der Kunst im 18. Jabrh. Diss. Karlerube 1916. 
Er konstatiert die Entwicklung der Kunstgeschichtsschreibung in historischer Folge der Persönlich 
keiten d. Verfasser. 
(4) Wackenroder-Tieck: Flerzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. 1797. [Neuausgabe 
von Jessen, Leipzig 1914.) W. Heinse: Ardinghello oder die glückseligen Inseln. 1787. (Neuausg. 
Inselverlag 1902.) Vgl Cicerone, Febr. 1919. Wilbelm Waetzold, Kunstkritik aus Sturm und Drang. 
J. J. W. Heinses Briefe aus der Düsseldorfer Gemildegalerie. 


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Rubens-verwandte Sinnlichkeit. Heinse legt auch die Notwendigkeit einer natu- 
ralıstischen Kunst dar und fordert nach der neuen Gesinnung seiner Zeit eine 
nationale Kunst. Winckelmann hat mit seiner Wiederentdeckung des alten Griechen- 
lands das Blickfeld nach der Kunst des Orients hin geweitet. Bald dehnt es sich 
nach Ägypten, Arabien, Persien und Indien aus durch den Vorstoß westeuropäi- 
scher Interessen nach Ost. Das Kennenlernen fremder Nationalitäten bringt die 
Eigenart der vaterländischen zu lebhafterem Bewußtsein, erregt die Begier nach 
dem Studium heimischer Vorgeschichte und vertieft die Anteilnahme an den Nach- 
barvölkern, zu deren Kultur die der eigenen Nation je in Verbindung gestanden: 
sie stellt den Beschauer auf eine höhere Warte der Lebensschau, von der aus 
die altgewohnten Denkformen zum Erfassen des Weltbildes nicht mehr gentigen, 
sofern sie den Blick auf Einzelformen haften lassen. Andererseits kann nur wissen- 
schaftliche Akribie bei der Forschung das Neue dem Verständnis erschließen. Man 
findet einen neuen Inhalt im eigenen, farbenbunten Leben gegenüber dem, was der 
Klassizismus biete. Man bemüht sich, das Denken den Vorgängen der Wirklich- 
keit konform zu gestalten, groß, einheitlich und tief zu schauen. 

Aber noch beschäftigen Einzelprobleme zu stark Herz und Sinn, und über dem 
sich hingebenden Gefühl kommt kein Bedürfnis nach einem Gesamtbild der Kunst- 
Außerungen auf. Noch treten auch die wissenschaftlich historischen Interessen 
zurück hinter dem Bemühen, den Ausdruckswerten der Kunstwerke nachzugehen’). 
Die Landschaftsmalerei gewinnt an Bedeutung, wie das Malerische überhaupt. 
Hagedorns wundervolle Farbenempfindung in seinen Bildbeschreibungen, seinen 
Beiträgen zur kritischen Geschichte der Farbgebung scheint den Symbolismus der 
Romantik wie die wissenschaftliche Betrachtung eines Goethe — in seiner Farben- 
lehre — vorwegzunehmen. Der junge Goethe spürt die Ausdruckskraft primitiver 
Völker und früher Zeiten in der Negerkunst, in der Gotik. 

Ein neues Weltgefühl in den Romantikern) schafft eine neue Kunst. Man 
sucht den Kosmos, dem man angehört, als Einheit zu . begreifen. Der Blick 
‚ist auf das Ewige, Unendliche gerichtet und zugleich auf die Natur, die jenes 
offenbart. Die Philosophie führt den romantischen Geist vor das Bewußtsein der 
göttlich-ewigen Erhabenheit des Weltganzen, und die Seele neigt sich in tief reli- 
giösem Gefühl. Den Dingen dieser Welt kommt eine vertiefte Bedeutung für die 
Erkenntnis der Wahrheit zu, denn sie sind Symbole für einen in ihnen beschlos- 
senen Ewigkeitswert. Das Höchste ist unaussprechlich, es kann nur allegorisch 
ausgedrückt werden: „Alle Schönheit ist Allegorie“. Eine verfeinerte, wache Sinn- 
lichkeit erfaßt die Erscheinungen, die ein Gefühl von mystischer Tiefe in einer be- 
seelten Kunst zu durchleuchten und über die Vergänglichkeit zu erheben sucht. 

Das neue Verhältnis der Romantiker zur Natur führt auch für die Theorie der 
Kunst eine Umstellung herbei. Der Streit über die Nachahmung der Natur hat 
seit Batteux durch Karl Philipp Moritz?) mit der Umwertung des Wortes auf „Nach- 
eiferung“ eine ruhigere Wendung bekommen. Den Romantikern löst sich diese 


(1) L. v. Hagedorn: Betrachtungen über die Malerei 1762. Über Hagedorn: Justi, Winckelmann und 
seine Zeit. — W. a. Briefe an L. v. Hagedorn, hrsg. von Torkel-Baden. Leipzig 1897. Kunst- 
chronik 1919, Nr. 37. 

(2) R. Haym: Die Schule der Romantik. Berlin 1870. Stefan Waetzold: Goethes Verhältnis sur 
Romantik. Leipzig 1903. H. Stöcker: Zur Kunstenschauung des 18. Jahrhunderts. 1904 Palaestra 26. 
М. Joachimi-Dege: Die Weltanschauung der Romantik. Leipzig 1916. Ricarda Huch: Biütezeit der 
Romantik. Leipsig 1916. F. Walsel: Deutsche Romantik. Leipzig 1918. 

(3) Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig 1788. 


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Frage leicht. Denn sie vereinigen den Gedanken Hamanns, mit „Natur“ nicht nur 
das natürlich Gewordene, sondern auch die verborgene Schöpferkraft, die ea,ge- 
staltete, zu verstehen, mit der Geschichtsauffassung Herders, nach der alles Men- 
schenwesen- und Erleben dem Organismus der gesamten Natur eingeordnet und 
ihm analog aufgefaßt wird. Man soll schaffen, wie die Natur. Hiermit führen sie 
zugleich die Genielehre des Sturms und Drangs zu einer Klärung und Reife. Genie 
sein heißt, den üppigen Reichtum, die absolute Kraft des Schöpfertums derart be- 
sitzen und beherrschen, daß sie nach der Eigengesetzlichkeit des genialen Menschen 
— dieses Mikrokosmos, dieses höchstentwickelten Spiegels des Alls — in feste 
Formen gebändigt werde. So wird ein rationales Element dem Irrationalismus 
des Sturms und Drangs beigefügt; andererseits wird der Künstlerindividualität wie 
zur Zeit der Renaissance eine Souveränität zugesprochen. In der Kunstliteratur 
ist das Interesse für das Einzige, Einzelndastehende wieder bemerkbar. Man greift 
auf Vasari und Sandrart zurück. Wenn — trotz Mengs! — Merck wieder eine 
pragmatische Geschichte der Kunst will, Hagedorn es sich zur Aufgabe macht, 
Sandrart in bezug auf die Künstler des 18. Jahrhunderts zu ergänzen, wenn die 
einzige große, zusammenfassende Kunstgeschichte der Zeit, die Fiorillos!), eben- 
falls der pragmatischen Methode Vasaris folgt, hat es wohl eben diesen tieferen 
Grund. Bis zu Fiorillo findet man in Teilarbeiten sein Gentige, in prachtvollen 
Gemildebeschreibungen (die als Interpretation des künstlerischen Gefühls, wie 
es der Maler darbot, im Wort der Ausdrucksfähigkeit des Pinsels gleichzukommen 
wünschen?) in wissenschaftlich eingestellten Abhandlungen über technische und 
theoretische Fragen, Biographien von Künstlern. Von der Seite der Literaten aber, 
aus den vorwiegend ästhetisierenden Gedankenkreisen kommt eine Gefahr: „Die 
Träume und Phantasien poetischer Rhapsoden“ ). Man scheint den Boden unter 
den Füßen zu verlieren. 

Die Romantiker sind der Lösung des großen klassizistischen Problems nahe- 
gekommen, wie die Normen, die Winckelmann mit der griechischen Kunst auf- 
gestellt hat, auf jedes Volk auch unter anderem Himmelsstrich zu übertragen seien. 
Von dem Herderschen Standpunkt, die Kunst verschiedener Völker nach den Ge- 
setzen ihres historischen Werdegangs einzuschätzen, haben sie das Land der Ver- 
heißung erschaut. Ein Friedrich Schlegel, ein Schelling erstreben eine Darstellung 
der inneren Entwicklung moderner Kunst. Aber es fehlt ihnen an umfassender 
Denkmälerkenntnis; zu einer Synthese gelangen sie nie. Es ist bemerkenswert, 
daß es der „romantische Philosoph xar’ &Soyijy“, Schelling war, der als erster die 
Ästhetik als integrierenden Bestandteil in das System der Philosophie aufnahm‘). 

Auch Goethes Genius findet nicht die Lösung. Aus dem Anhänger Herders 
ist ein strenger Vertreter des Klassizismus geworden, der aus Sehnsucht nach 
absoluter Harmonie, wie sie in der griechischen Kunst sichtbar wird, seine 


(2) J. D. Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten 
Zeiten. Göttingen 1801 u. a, in Deutschland und den vereinigten Niederlanden 1813, Hannover. 

(2) Vgl. Asterius: од dé yap gavddteo: ndvtws збу (юуоброу ol uovoðv naldes Eyousy gdoucxe, Gleiche 
Bestrebungen sind іп der französischen Kunstliteratur im 18. Jahrbundert zu verfolgen. 

(3) Rumohr in Raczynskis Kunstgeschichte Kap. XII. Rumohr war Gegner der „Idealisten“, der mo- 
dernen Gefühlsschwärmerei und Stimmungskunst. A. Hagen berichtet u. a. von seinem Angriff auf 
Caspar David Friedrich. 

(4) Rumohrs enger Zusammenhang mit der Weltanschauung der Romantiker, trotz seines Positivis- 
mus, zeigt sich in der nahen Berührung mit Schelling hier: auch er will die Kunst allen Geistes- 
wissenschaften vorangesetst sehen. 


304 


Tafel 19 


Groeger pinx. Vogel von Vogelstein 


Semmler (nach einem Gemälde von Scheider) Marstrand pinx. 


Zu: ANTONIE TARRACH, STUDIEN UBER DIE BEDEUTUNG CARL FRIEDR. V. RUMOHRS 
FÜR GESCHICHTE UND METHODE DER KUNSTWISSENSCHAFRT.- 


M. f. K. Bd. 1,1921 маф Lictbildern im Besitz des Kupferstich-Kabinetts der Universität Halle-Wittenberg. 


EEE 2 —— 2 


nordische Natur griechischem Geschmack und griechischen Regeln anzupassen 
trachtet. Man hat dies ein retardierendes Moment für die Zeitströmung der Kunst 
genannt. Gundolf hat in dem Gleichgewicht der Goetheschen Natur die psycho- 
logische Rechtfertigung gefunden!). Zeitgenössisches Urteil, auch aus dem Gegen- 
lager, lautet einsichtig: Goethe und seine Weimarischen Kunstfreunde „haben den 
neueren Kunstbestrebungen günstig vorgearbeitet, indem sie die Kunst an sich 
selbst der Aufmerksamkeit aller gebildeten und höhergestellten Personen sehr 
lebhaft empfehlen“). Um „in das wahre, innere Wesen der Kunst“ einzudringen, 
hatte Winckelmann die Forderung aufgestellt, daß ein Bild ihrer Geschichte in 
erster Linie auf Anschauung begründet werden müsse; denn Urteil und Empfin- 
dung solle unmittelbar vor den noch vorhandenen Kunstwerken der Alten statt- 
haben. Goethe spitzt diese Forderung noch schärfer zu, indem er ein anschau- 
liches Denken dem begrifflichen entgegensetzt, also künstlerisches Denken dem 
philosophischen. Das ist ein künstlerisches Moment. Künstlerische Fragestellungen 
treten damit auf — über Farbe, Komposition, Physiognomik, über Landschafts- 
und Blumenmalerei — und werden auf eine neue, wissenschaftliche Weise be- 
handelt. Kritische Untersuchungen sollen der Entwicklung der Kunst nachgehen 
Gesammeltes soll kritisch gesichtet, also von Zufälligkeit der Betrachtung befreit 
werden. Dilettantisches Umherschweifen macht ernster, wissenschaftlicher Ab- 
sicht Platz. Der Künstler Goethe schafft sich mit seiner Fähigkeit, lebensbunt zu 
schauen, den harmonischen Ausgleich zu Winckelmanns farbloser Welt griechi- 
scher Formen und Linien. Der Wissenschaftler Goethe erfaßt die Methodik Winckel- 
manns recht für eigene Wege kunsthistorischer Forschung. Seine Arbeiten auf 
diesem Gebiet sind Ansätze, deren Ausbau der späteren Kunstwissenschaft vor- 
behalten blieb. Aber die Reife seiner Einsicht offenbart sich ganz in dem Plan 
einer großen Geschichte der italienischen Kunst, in der geographische, klimatische, 
kulturhistorische Faktoren berlicksichtigt werden sollten. Er faßte ihn gemeinsam mit 

Heinrich Meyer, seiner Autorität für kunsthistorisches Wissen®). Meyer war 
der Verwirklichung der Goetheschen Entwürfe nicht gewachsen. Er besaß weder 
Intuition, die ihn aus einer Begrenzung durch tibernommene Ansichten (Vasaris 
Theorie, Winckelmann -Mengssche Orientierung) herausgehoben hätte, noch den 
wissenschaftlichen Sinn historischer Kritik. 

Die von Goethe hierbei erstrebte Nachfolge Winckelmanns war schon, in 
anderer Weise, von dem großen französischen Kunsthistoriker Séroux d’Agincourt 
angetreten worden. In seiner „Histoire de l'art par les monuments depuis sa dé- 
cadence jusqu'au XVlieme siécle“) wandte er zum erstenmal auch für die neuere 
Geschichte der Kunst Gesichtspunkte der Periodisierung an, die, auf historischer 
Basis, einheitliche Züge der Entwicklung aufdecken konnten. Er begann, wo 
Winckelmann aufgehört hatte und berücksichtigte als erster die Entwicklung der 
altchristlichen Kunst. Vor ihm hatte sich noch niemand daran gewagt, ein so 
ungeheures Gebiet als Gesamtheit zu behandeln. Der Reichtum des wissen- 


(х) Gundolf: Goethe. Berlin 1918, 8. 384. Siehe Deutsche Rundschau 1919, Oktober. 

(э) Rumohr in Raczynskis Kunstgeschichte, Kap. XII. Daselbet der Vorwurf R.s, Goethe, dieser 
große Genius, versetze die Kunst aus dem Gebiet der realen Beziehungen in das der ästhetischen 
Annehmlichkelt. 

(3) Eberlein, a. а. O., Kap. Ш, 8. эз. 

(4) Paris 1811—1823. Vgl. Philippi, Begriff der Renaissance. Leipzig 1913. Kap. X u. Н. Tietze: 
Methode der Kunstgeschichte, 8. 70. 


105 


schaftlich geordneten Materials und dessen Darstellung in kausalem Zusammen- 
hang lassen das Werk als ein prachtvolles Eingangstor der Kunstwissenschaft 
erscheinen. 

Rumohr benutzte es — schritt hindurch und fand, ohne den Anspruch, ein ähn- 
lich monumentales Werk zu schaften, den Weg, den Goethe von ferne erschaut 
hatte. 


BEURTEILUNG RUMOHRS BIS ZUR GEGENWART 


Carl Friedrich von Rumohr wurde ein Menschenalter lang übersehen, dann ge- 
legentlich in seiner Bedeutung gleichsam in großen Umrissen wieder erkannt. 

Schulz. Als im Jahre 1844 Heinrich Wilhelm Schulz!), noch unter dem Ein- 
druck der Persönlichkeit Rumohrs, der 1842, siebenundfünfzigjährig, gestorben war, 
ihm in dem kleinen, doch umfassenden Buch über den Verlauf seines Lebens und 
über seine Schriften ein Denkmal gesetzt hatte (dem C. G. Carus, der Arzt, ein 
Nachwort über die physische Konstitution und Schädelbildung, sowie über die 
letzte Krankheit Rumohrs beifügte), gab sich die Nachwelt mit diesem knapp und 
sachlich klar umrissenen Bilde zufrieden. Sein Gedächtnis als Kunsthistoriker blieb 
nur wenig länger als ein Jahrzehnt nach seinem Tode in Erinnerungen, Betrach- 
tungen über seine Beziehungen zu Zeitgenossen, einer Abhandlung über seine 
hinterlassene Kunstsammlung lebendig. Auch G.Poel berichtet in der „Allgemeinen 
deutschen Biographie“, Bd. 29, 657 nichts, was über Schulz hinausginge. 

Lotze. Rumohrs Kunsttheorie, die den seit Batteux ausgiebig erörterten Fragen 
über die Nachahmung der Natur, Ideal, Stil, Manier auf den Grund zu gehen und 
sie klar zu beantworten sucht, beschäftigt noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts Hermann Lotze. Im 5. Kapitel des 3. Buches seiner „Geschichte der 
Ästhetik in Deutschland“ (München 1868) unterwirft er sie einer Kritik. Feinfühlig 
wägt der Philosoph Rumohrs polemischen Erörterungen gegenüber Lessing und 
wird beiden gerecht. Rumohrs Ästhetik gilt Lotze als eine wichtige Stufe in der 
Entwicklung der Kunsttheorie, und bei der Klärung ihrer Probleme ist nicht nur 
Lotzes hochgestimmte Persönlichkeit, sondern sind auch die fortgeschrittenen Kunst- 
anschauungen seiner Zeit zu spüren, wie sie auf Rumohr auf bauen ). 

Vischer. Robert Vischer in seinen „Studien zur Kunstgeschichte“ (Stuttgart 1886) 
ist, meines Wissens, bisher der einzige, der sich durch Rumohr auf einem beson- 
deren kunsthistorischen Gebiet zu genauen und ernstlichen Auseinandersetzungen 
hat anregen lassen“). Er vertieft sich in das Studium Giottos, findet jedoch bei 
Rumohr nicht den Widerhall seiner eigenen Wertschätzung, nicht Gerechtigkeit 
für die Beurteilung und Anerkennung von Giottos Genie; so bricht er eine Lanze 
für den urkräftigen, natur voll reichen Meister früher Kunst in der Studie „Rumohr 
und Giotto“ ). Vischer blickt mit überraschender Selbstverständlichkeit zu Rumohr 
auf als dem „gründlichen Forscher, dem feinen Kenner und eindringlichen Kritiker, 
den wir als überlegenen Führer und Lehrmeister zu betrachten gewöhnt sind“. 


(1) Das Buch erschien in Leipzig. 

(2) Lotse beginnt die Charakteristik Rumohrs mit feinem Scherz: „Auf sehr anschauliche Weise 
führen uns in den Streit der Ansichten die Eingangskapitel zu C. F. v. Rumohrs italienischen For- 
schungen (Berlin 1827). so anschaulich, daß selbst auf die Darstellung des geistreichen Kunstkenners 
etwas von der Undeutlichkeit seines Objekts übergeht.“ (8. 597.) 

(3) Rumohr und Giotto, 

(4) Vgl. Rıntelen: Giotto und die Giotto-Apokryphen. München 1912. 


106 


Stillschweigend, in scheinbarem Dunkel der Vergessenheit, hat sich Rumohrs Auto- 
rität wirksam gemacht, seiner Art getreu, von der schon Bettina Brentano!) zu er- 
zählen weiß: — „macht übrigens wenig Lärm“. 

Kraus. Fr. Xaver Kraus gibt zu Anfang seiner „Geschichte der christlichen 
Kunst“ (Freiburg 1896, Bd. I) einen Überblick über die Entwicklung der Kunst- 
geschichtsschreibung und würdigt (8. 14—16) Karl Friedrich von Rumohr endlich 
wieder als den Begründer einer Kunstgeschichte der mittleren und neueren, also 
auch christlichen Zeit. Er verweist darauf, daß Rumohr der Kunstgeschichte nicht 
allein durch gewissenhafte archivale Forschungen eine historisch gesicherte Grund- 
lage geschaffen, sondern auch mit seiner Kunsttheorie bisherige Unklarheit über 
Begriffe wie Natur, Idee, Typus u. a. aufgedeckt und richtig zu stellen gesucht 
habe. „Damit war der einzige Standpunkt gewonnen, von welchem aus die Exi- 
stenzberechtigung einer christlichen Kunst und endlich deren Ebenbtirtigkeit mit 
der antıken erkannt und festgehalten werden konnte.“ Damit, daß Rumohr an 
dem Beispiel der Griechen auf die „innere, notwendige, gegebene Bedeutsamkeit“, 
die „über alle Gebilde der Natur verbreitet ist“, alle bildende Kunst gestellt wissen 
will, „war der Punkt gewonnen, von welchem aus die innere Bedeutung der Re- 
naissance in ihrem Verhältnis zu der ihr vorausgehenden des frühen Mittelalters 
und des Altertums zu würdigen war“. 

Wie Kraus die Vorbedingungen zu charakterisieren gewußt, die Rumohr den 
Boden bereitet hatten, so erkennt er die reifen „Früchte für die allgemeine Kunst- 
geschichte“ darin, daß „kaum zehn Jahre nach dem Abschluß — der Italienischen 
Forschungen — man schon die ersten Versuche zusammenhängender Darstellung 
des weit auseinanderliegenden Stoffes wagen konnte“. Die „der Winckelmann- 
schen Auffassung noch anhaftenden Mängel“ waren durch die Ausbildung des 
historischen Sinnes in Rumohr, als Kind seines Jahrhunderts, beseitigt. 

Gurlitt. Cornelius Gurlitt beleuchtet in seinem 1899 (Berlin) erschienenen 
zweiten Bande zum Neunzehnten Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung: „Die 
Deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Ziele und Taten“, S. 147 ff. 
den entschiedenen Einfluß Rumohrs auf die zeitgenössische junge Künstlerwelt. 
Er hebt den Hinweis Rumohrs auf die Einfachheit in der Natur, auf die in ihr 
beschlossene, vielfältige Schönheit, auch im Naheliegenden, auf die Unmittelbarkeit 
im Studium hervor; schildert seine praktischen Ausbildungsversuche an den beiden 
jungen Malern Horny und zumal Nerlich, doch mit einem melancholischen Blick 
auf das Fehlschlagen seiner „gewiß guten und verständigen Absicht“. Sind die 
jüngeren Maler der Folgezeit mehr nach Rumohrs Wunsch, so scheint das — 
nach Gurlitts Zeilen — zufällig zu sein, blieben doch seine praktischen Ratschläge 
und seine Kritik an dem Unterrichtssystem der Akademien unbeachtet (S. 194). 
Aber die fortschrittlichen Ideen des „vornehmen Kunstkenners“ tauchen in Gurlitts 
Buch oft auf, als ein Ferment betrachtet für die Neugestaltung der Kunst und 
Kunstwissenschaft. Es sind „die Anschauungen eines vertieften, weil rein künst- 
lerischen Realismus“, die Rumohr vertritt, dem es zwar „an philosophischer Schu- 
lung fehle, — der aber zu den wenigen Gelehrten der Zeit gehört, die ein un- 
mittelbares Verhältnis zur Kunst hatten“ (S. 155). Den „Drey Reisen nach Italien“ 
widmet Gurlitt eine ausführliche Besprechung (S. 156 ff.), denn moderner Geist 
liege in dem Buch durch die allgemeine Absage an die romantische Ästhetik, ja, 
jede Art von Theoretisieren, Gesetzemachen, Beschränken durch Regeln und durch 


(1) Vgl. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Bd. II, бо. 
107 


den feinen Blick für das Künstlerische" (S. 156f.), der Rumohrs Kennertum be- 
zeichnete; und dies war vielseitig, weil kunstgeschichtlich nicht nur ästhetisch vor- 
gebildet. Gurlitt geht des weiteren auf Rumohrs Kunstanschauungen ein. Den 
Wert seiner kunstwissenschaftlichen Arbeiten erkennt er in dem fördernden und 
anregenden Prinzip und der festen, geschichtlich begrlindeten Basis. „Die Kunst- 
wissenschaft hat Rumohr zu danken, daß er ihr durch seine Italienischen For- 
schungen ein neues Verhältnis zur italienischen Kunst gab, auf dem dann Jakob 
Burckhardt und andere weiterbauten“ (S. 321). 

Fr. Meyer. In einer biographisch-kunsthistorischen Studie über Friedrich Nerly, 
im 28. Heft der Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde 
von Erfurt 1907, entrollt Franz Meyer ein frisches, lebendiges Bild von Rumohrs 
Werk als Künstlererzieher, das allerdings der anekdotischen Momente nicht ent- 
behrt. Im Gegensatz zu Gurlitt hält Meyer dafür, daß aus dem vortrefflichen 
Material der künstlerischen Begabung Nerlys unter der sorgsamen und weisen 
Pflege des edelherzigen Freiherrn eine köstliche, wenngleich nicht vollkommene 
Frucht hervorging. In seinem Schützling sucht Rumohr zu erreichen, was an 
eigenem „Können hinter dem Wollen“ auf dem Gebiet der bildenden Kunst zurück- 
blieb und sicht seine Erwartungen übertroffen. Friedrich Nerlich seinerseits hätte 
keinen besseren Lehrmeister finden können: er wird unmittelbar an den reinen 
Queli alles Lebens und aller Kunst, die Natur, geführt von diesem Mann, dessen 
„bewundernswertes Gefühl für alles Rechte in der Kunst und deren Entstehung“, 
dessen tiefgründiges Sachverständnis, das aus seiner Kunstsammlung hervorgeht, 
und dem „bei der wunderbar reifen Objektivität seines Urteils niemals die innige, 
nachschaffende Liebe verloren ging, ohne die es weder Genuß noch wahre Inter- 
pretation eines Kunstwerkes geben kann“, den vertrauenswürdigsten Einfluß verbürgte. 

Würmer ist Rumohr als Erzieher noch nie dargestellt worden — auch nicht in 
seinem Selbstporträt, dem Edelmann in den „Deutschen Denkwürdigkeiten aus 
alten Papieren“ (Berlin 1832). 

Gaedertz. Mehr von der Persönlichkeit Rumohrs angezogen als mit einem 
objektiven Interesse an der Bedeutsamkeit seiner wissenschaftlichen Forscherarbeit 
schildert Karl Theodor Gaedertz in den „Gedenkblättern zu seinem sechzigsten 
Geburtstage“ ) Rumohrs kunsthistorische Laufbahn. Briefe an Friedrich Schlegel 
und Barthold Georg Niebuhr aus den Jahren 1814 bis 1821 bilden die Grundlage 
und den vornehmlichen Bestandteil der interessanten Darstellung seiner Bestre- 
bungen, „überall mit feinstem Sptirsinn der Kunst in ihren verschiedenen Phasen 
und Erscheinungen nachgehend“, als Bahnbrecher neue Wege weisend, zum För- 
derer des guten Kunstgeschmacks bei Volk und Fürst zu werden, als Miizen von 
autoritativer Kennerschaft zeitgenössischen Talenten Geltung zu verschaffen, und 
eine Pflege der heimatlichen Altertümer in größtem Umfange anzuregen. Doch 
über Rumohrs kunstwissenschaftliche Verdienste wirft Gaedertz nur ein Streif- 
licht, indem er sein Urteil über die „Italienischen Forschungen“, das „grundlegende 
Werk“, in den Ratschlag Wilhelm von Humboldts an den jungen Rauch faßt, „er 
solle dies Buch ja mit nach Italien nehmen, es scheine ihm das erste, was über 
Kunstgeschichte in echt historischem und echt ktinstlerischem Geiste geschrieben sei“. 

Philippi. In diesem letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts findet Rumohr die 
angemessene Schätzung als Kunsthistoriker bei Philippi (Begriff der Renaissance, 
XVI, 122—123. Leipzig 1912). Zwar steht er zu stark unter dem Eindruck von 


(z) In K. Th. Gaedertz: Was ich am Wege fand. Blätter und Bilder aus Literatur, Kunet und 
Leben. Leipzig 1905. 


108 


Rumohrs künstlerischer Begabung, um ihn als Mann der Wissenschaft anerkennen 
zu wollen; aber er spricht ihm durchaus nicht den Erfolg ab, mit dem seine auf 
anschaulichem Denken basierende Künstlernatur sich bestrebt, den Ausdrucksformen 
im Kunstleben bis auf die Anfänge nachzugehen, sie auf begrifflich wissenschaft- 
liche Weise zu bestimmen und festzulegen. Philippi sieht in ihm einen Bahn- 
brecher, wie einst Kraus; er stellt Rumohrs „Italienische Forschungen“ Schnaases 
„Niederländischen Briefen“ an die Seite in dem Verdienst, zum erstenmal für die 
neuere Kunstgeschichte getan zu haben, was Winckelmann für die Antike zuerst 
durchgeführt hatte. 

Auch im einzelnen erscheint ihm Rumohr wegweisend. In dem Entwurf einer 
Geschichte der umbrisch-toskanischen Kunstschulen für das 15. Jahrhundert findet 
er die kritisch gesicherten Grundlagen für die florentinische Frührenaissance; für 
die Baptisteriumspforten habe erst Rumohr uns die Augen geöffnet; seine Be- 
obachtungen über Leonardo als Neuerer, über das Eindringen der Renaissance- 
formen in die Gotik seien beachtenswert, wie oft seine treffenden Bemerkungen 
über das Allgemeine der Erscheinungen. 

Damit umreißt Philippi in großen Zügen die Bedeutung Rumohrs für die Kunst- 
geschichtsschreibung als epochemachend. 

Tietze. Hans Tietze in seinen Untersuchungen über „die Methode der Kunst- 
geschichte“ (Leipzig 1913) erkennt eine Neufundierung der Kunstgeschichte nicht 
Rumohr, sondern Kugler zu (S. 70ff.). Eine Gliederung kompilierten Stoffes durch 
eingehende und durchdachte Periodisierung war schon der Fortschritt Séroux 
d’Agincourts’) gegenüber Fiorillo?) gewesen. Den deduktivspekulativen Konstruk- 
tionen der nächsten Jahrzehnte, die unter dem Einfluß Herderscher Erkenntnisse 
vom organischen Wachstum und Zusammenhang der Erscheinungen standen, fehlte 
die historische Grundlegung. Der vertieften Synthese eines Hegel und Friedrich 
Schlegel fehlte das Gegengewicht einer Detailkenntnis. „Zu einer außerordent- 
lichen Leistung verbinden sich spekulative Kunstbetrachtung und Denkmals- 
forschung in Rumohrs Arbeiten.“ „Die Umwandlung der Künstlergeschichte in 
die Kunstgeschichte führt zu einer neuen Durcharbeitung des nationalen Denkmal- 
besitzes, deren großartigster erster Erfolg in Italien die geniale Synthese von 
Rumohrs „Italienischen Forschungen“ war (S. 74). Zwar ist Rumohr für alle 
späteren Untersuchungen maßgebend, wo er auf der gesicherten Basis eigener 
Denkmälerkenntnis ruht, aber nicht, wo er sich auf noch dürftige universslgeschicht- 
liche Vorarbeiten stützt, wie in den „Fragmenten einer Geschichte der Baukunst 
im Mittelalter“ und in der Abhandlung „Über den Ursprung der gotischen Bau- 
kunst“ — „bei aller Genialität der Synthese und trotz des tiefsten Einblickes in 
die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Entwicklung.“ Die rein historische 
Erforschung des künstlerischen Tatbestandes innerhalb des allgemeinen geschicht- 
lichen Verlaufs und auf Grund historischer Arbeitsweise, mit Einbeziehung der 
antiken Kunst, habe erst Kugler?) geleistet. 

Stock. Das sind bis auf die jüngste Gegenwart die letzten methodologischen 
Erwägungen, zu denen Rumohr Veranlassung gegeben. Seine Persönlichkeit, wie 
sie aus dem unmittelbaren Eindruck eines Briefwechsels lebendig wird, hat 


(1) Séroux d’Agincourt: Histoire de l'Art par des Monuments. Paris 1811—1823. 

(2) J. D. Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den Vereinigten Nieder- 
landen з) und in Italien etc. von 1798. Göttingen und Hannover 1815. 

(3) F. Kugler: Kunstgeschichte 1842. Stuttgart. 


109 


Friedrich Stock zu eingehenden Studien angezogen. Im Oktoberheft von „Nord 
und Süd“ 1912 hat er einen Brief Rumohrs an Christian Carl Josias von Bunsen 
veröffentlicht und würdigt in seiner Vorrede den „hervorragenden Kenner und Be- 
gründer einer wissenschaftlich-organischen Behandlung der italienischen Kunst- 
geschichte“, den „dritten Gesetzgeber der Künste“. 

Die „Mitteilungen aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Carl Friedrich 
von Rumohr“ im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen 1914 (Bd. XXXV) weisen 
das reiche Leben dieses Forschers und „Liebhabers der Wissenschaften und Künste“ 
in den Jahren, über denen der Zauber seiner Freundschaft mit dem feinsinnigen 
und liebenswürdigen Fürsten liegt. 

In den frühen Jahren der Entwicklung (1811 — 20), da noch Rumohr als Künstler 
nach Entfaltung seiner bildnerischen Kraft strebt und er zugleich kritisch die Ge- 
setze zu ergründen strebt, nach denen „das Ewig-Künstlerische und Schöne“ ward, 
geben die „Briefe Rumohrs an Robert von Langer“ (1919) Einblick. 

In seinen „Mitteilungen“ legt Stock das Gewicht seines Urteils auf den Kritiker 
Rumohr, der, erdensicher und erdenfroh, als „erster, reiner und großer Vertreter 
des neuen Jahrhunderts Befreier wird auf dem Gebiet der Ästhetik der bildenden 
Künste, ein Schönheitsiehrer wird, wie Lessing, der Stifter einer neuen Wissen- 
schaft, wie Winckelmann“. In der Vorrede zu den Briefen an Langer setzt Stock 
vor allem der reformatorischen Wirksamkeit gegenüber der Kunsttheorie und 
-wertung seiner Zeit und Vorzeit ein Denkmal. Als erster weist er nach, daß die 
kleine, frühe Schrift „Über die antike Gruppe Castor und Pollux...“ die Reforma- 
tionsthesen der Kunsttheorie enthalte, die leitenden Grundgedanken, die in den 
„Italienischen Forschungen“ zu reifer Darstellung gelangen. Rumohr, der „Anti- 
Winckelmann“, geht unbeirrt in selbständig kritischem Denken den großen Pro- 
blemen klassizistischer Kunsttheorie nach. „Das Problem der Originalität entschied 
er völlig und beschloß die Kritik der Idealbegriffe und die nachfühlende Zer- 
legung des künstlerischen Schaffens.“ Das Idealische bestimmt Rumohr als die 
Wahrheit künstlerischer Wirkung. Entgegen dem Klassizismus gibt er dem Blick 
für das Wesen der Kunst eine neue Einstellung: „Über den Wert eines Kunst- 
werkes entscheidet nicht der Stil der Zeit, sondern der Stil der Persönlichkeit, die 
Originalität“, die er im Grunde des Geistes findet, der mit unablässigem Eifer in 
die Heiligkeit der Natur eindringt. „Unendlich höher als die Kunst anderer steht 
dem Künstler die Natur, in deren Studium Winckelmann nur Zeitvergeudung sieht 
und die Nachahmung klassischer Kunstwerke anempfiehit. Rumohr stellt sich als 
ein Überwinder dar: „Er dringt überall auf das Letzte, in der Kunst auf Schöpfer- 
tum und Naturanschauung, in der Wissenschaft auf deutliche Begriffe und kritische 
Erforschung der Quellen und zieht aus allem die große, einfache Summe.“ 

Stock ist mit Wärme und Intensität Rumohr nachgegangen und ebnet durch 
seine genauen und wertvollen Anmerkungen und Literaturangaben zu den Ver- 
öffentlichungen der Briefe die Wege zu neuen Einblicken in das Leben und Wirken 
Rumohrs. l | | 

Schlosser. Erst im Oktober 1920!) erschien die willkommene Neuausgabe der 
„Ital. Forschung“ mit der,,Beygabe zum ersten Bande der Italienischen Forschungen“ 
und einem Bildnis. (Frankfurter Verlagsanstalt.) Julius v. Schlosser läßt damit 


(1) Mehr als ein halbes Jabr nach Abfassung dieser Dissertation erschien die Arbeit J. v. Schlossers 
über Rumohr, über die ich einige Worte nachtrage. Stocks Briefe an Langer waren kurze Zeit vor 
Schlossers Buch in meine Hände gelangt. 


110 


unserem Zeitalter das Urbild des einst epochemachenden Werkes wiedererstehen, 
indem er pietätvoll die Unantastbarkeit des Originals durchhin gelten läßt. Seine 
einleitenden Betrachtungen über „Carl Friedrich von Rumohr als Begründer der 
neueren Kunstforschung“ sind — bei aller Konzentration auf seine Verdienste um 
die Kunstwissenschaft — die umfassendste und weitzügigste Darstellung Rumohrs, 
die bisher erschienen ist. Ein Blick über den Entwicklungsgang der Kunst- 
geschichte und Kunstlehre, von ihren Anfängen bis in das 10. Jahrhundert, erhellt 
und vertieft das Verständnis für die Bedeutung seiner Erkenntnisse und deren um- 
schaffenden Wert. Wiederum wird auch der Weg bezeichnet, der von diesem 
„Ahnherrn der kunstgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts bis zur, Wiener 
Schule‘ und zur großen norddeutschen Kunsthistorikerschule der Gegenwart führt.“ 
Denn „jung und unvergänglich geblieben ist der Geist, die Methode“, mit. der 
Rumohr das Wesen der Kunst und ihre Entwicklung zu erforschen gesucht, das 
Wahre und Echte, Gesunde und Lebenskräftige des alten Bodens zu reichster 
Fruchtbarkeit zu steigern gewußt hat. ,,Rumohr hat als erster die Kunstgeschichte 
aus ihrer literarisch-ästhetischen Vergangenheit zu einer historischen Fachwissen- 
schaft erhoben, er hat ihre Grundlagen festgestellt.“ Er hat „recht eigentlich 
die Philologie der neueren Kunstgeschichte begründet“ und mit dem „historischen 
Sinn seines Jahrhunderts“ die Geschichte der Kunst als ein organisches Ganzes 
behandelt, ihr „geschichtliche Echtheit und Würde“ verliehen. Über die rein ent- 
wicklungsgeschichtliche Darstellung hinaus weist er neue Wege in die Zukunft, 
wenn er als Stilkritiker die Kunst als Schöpfung betrachtet, weil er fähig ist, 
„das Kunstwerk als solches aus dessen innerstem Wesen, als Schöpfung zu be- 
greifen: als so und nicht anders, einmalig und einzig vorhanden; es gewinnt in 
diesem Zusammenhang tiefere Bedeutung, daß er das Wesen der Originalität als 
erstes Merkmal des Kunstwerks so stark unterstreicht“. Hierin sieht er auch den 
Angelpunkt seines Kennertums. 

Sah man lange in Rumohr nur den sonderlichen Menschen, der mit seiner außer- 
gewöhnlichen Kunstkenntnis, geistvollen Kritik, seinen geselligen Talenten im Verein 
mit einem großzügigen Mäzenatentum auf seine Mitwelt eine entschiedene Wir- 
kung ausgeübt hatte, so richtet sich der Blick der Jetztzeit vornehmlich auf 
den Begründer der Kunstwissenschaft, dessen Geisteseinstellung und Forschungs 
methode auf die Nachwelt den fruchtbarsten Einfluß gewonnen hat. 

Auch im folgenden ist Rumohr in seiner Bedeutung für die wissenschaftliche 
Behandlung der Kunstgeschichte ins Auge gefaßt worden. 


RUMOHR ALS KUNSTHISTORIKER 
Forschungen 


Rumohr ist sich früh bewußt geworden, daß er den Weg der kritisch-histori- 
schen Tatsachenforschung einzuschlagen babe, um den gesetzmäßigen Zusammen- 
hang der Erscheinungen auf dem Gebiete der Kunst festzustellen, um spekulativen 
Betrachtungen eine unumstößliche Fundierung zu geben. Schon 1807 schreibt er 
an Ludwig Tieck h), daß er sich historischen Studien widme, sich „eine Übersicht 
der weitläufigen und verworrenen Quellen und Quellen-Sammlungen verschaffe, 
die z. B. bloß die Geschichte der germanischen Völker, ihrer inneren und äußeren 
Verhältnisse betreffen und: „daß ich die Kunst überall ansehe und bestimmt weiß 


(1) Briefe an Ludwig Tieck; hrsg. von Holtei, Bd. Ш. Breslau 1864. Brief (26. Sept. 1857) Rumohrs, 
der damals 23 Jahre alt war. 


111 


und bald bestimmter wissen werde, wie sie historisch eins ist, und eigentlich 
das wichtigste Dokument sowohl der meisten bedeutenden Tatsachen, als vor- 
züglich der Bedeutung der Völker in dem (nach meiner Überzeugung) ganz orga- 
nischen Leben des Menschengeschlechtes: wird mir eine Bahn brechen, 
auf der ich nach dem Willen Gottes und meinem besten Vermögen wandeln werde.“ 

Um aus den ersten Quellen zu schöpfen, machte Rumohr wiederholt ausgedehnte 
Reisen, zumeist in Deutschland und Italien. Sein Wissen erhielt durch eine un- 
gewöhnlich reiche Denkmäleranschauung eine Vertiefung, die es über das Laien- 
hafte hinausführte. Wie sich seine Kunstanschauung gestaltete, hören wir von ihm 
selbst im Cottaschen Kunstblatt 1821, Nr. 7: „Es gibt nur eine Kunst; unter 
den verschiedensten Umstinden unterliegt sie immer denselben Ge- 
setzen der Produktion und Erscheinung. Die Veränderung in den Ideen, 
welche sie ausdrückt, in den Naturgegenständen, welche auf die Bilder des Vor- 
stellungsvermögens einwirken, begründet, in Vereinigung mit den Eigenheiten des 
Künstlers selbst, jene wechselseitige Abweichung der besonderen Zeitgenossen- 
schaften, Schulen und Meister, die wir überall wahrnehmen und unterscheiden, 
ohne deshalb den allgemeinen Maßstab für jegliches Schöne aufzugeben, der dem 
Urteil, wie dem Genusse gleich unentbehrlich ist. Aus dieser durchgängigen Über- 
einkömmlichkeit aller Kunst erklärt sich, daß die Vorzeit auch dann noch belehrt, 
wenn alle Ideen, gleichwie alle äußeren Anlässe, sich verändert haben; daß ein 
nordisches Land oft auf ein südliches wirkt, und so auch im umgekehrten Falle.“*) 

Und weiter: „Man blieb lange geneigt, die neue Kunst als ein gänzlich ab- 
gerissenes Ereignis der Geschichte anzusehen, und andererseits gewöhnten sich 
die Geschichtsforscher, auch das christliche Altertum als ein abgesondertes Ding, 
bald als die äußerste Verwilderung des klassischen Altertums, bald als eine ehr- 
würdige Reliquie zu betrachten.“ Das Verdienst und das Stoffgebiet“) Rumohrs 
werden hiermit beleuchtet. Er versuchte, die Lücken zu füllen und die Einheit 
im Verlaufe der Kunstgeschichte herzustellen, indem er die frühen Zeiten des 
christlichen Altertums und Mittelalters für seine Forschung bevorzugte mit dem 
Ziel, die inneren Zusammenhänge aufzudecken. Der Wert der Ergebnisse seiner 
Untersuchungen für den Materialienbestand der Wissenschaft hat mit deren Fort- 
schritt Veränderungen erfahren; aber die grundlegende Bedeutung für die Ge- 
schichte des deutschen und italienischen Mittelalters wird von allen Kunstschrift- 
stellern, die ihn je erwähnen, anerkannt. 

Mit den wesentlichen Fragen über die Antike — vorzüglich theoretischer Art — 
hat Rumohr sich bald auseinandergesetzt*). Er verläßt den Boden des Klassizis- 
mus und wendet sich, der romantischen Bewegung folgend, zur germanischen und 
schließlich zur italienischen Kultur. Aus der deutschen Kunst fesseln ihn die Alter- 
tümer seiner heimatlichen Gegend, die mittelalterliche Baukunst und endlich das 
Formschnittwesen. Innerhalb der italienischen Kunst war es die verworrene Dunkel- 
beit der früheren Kunstepochen, von den späteren des 14. und 15. und der ersten 
Hälfte des 16. Jahrhunderts namentlich die Schulen von Toskana und Umbrien, 
in die er „ein Licht hineintrug“ ). 


(1) Rumohr: Uber die Entwicklung der ältesten italienischen Malerei, S. 25. 

(2) Ergänzung für die Darstellung des Stoffgebietes Rumohrs ist die Bibliographie 8.I—VII Anhang. 
(3) Vgl. seine Schriften von 1810, 1811 und Italien. Forschg. I, Kap. 1. Vgl. Friedr. Stock: Rumohrs 
Briefe an Robert von Langer 1919, u. 2. 

(4) Waagen: Der Herr Hofrat Hirt als Forscher über die Geschichte der neueren Malerei. Berlin, 
Stettin 1832, 5 11. 


112 


Neben seinen kunstgeschichtlichen Beobachtungen macht er kulturhistorische 
und literarische, die er teils in geschichtlich gehaltenen Abhandlungen, teils in 
der umgeschaffenen Form eigener literarischer Produktion niederlegt. Wie weit- 
gehend er sich in Einzelheiten eines Kulturzustandes zu vertiefen vermag, beweist 
die Abfassung eines wahrhaft wissenschaftlich durchdachten Kochbuches (das 
einzige seiner Bücher, das mehrere Auflagen gehabt hat!) und einer „Schule der 
Höflichkeit für Alt und Jung“. 


Die „Italienischen Forschungen“. 


Rumohr hatte nie beabsichtigt, ein neues System der Kunstgeschichte zu er- 
richten. Die Entstehungsgeschichte seines Hauptwerkes, der „Italienischen For- 
schungen“, erklärt zugleich dessen Form wie Absicht. Lange hatte der Gedanke 
Rumohr beschäftigt, dem deutschen Volk die italienische Kunstgeschichte nahe- 
zubringen. Zu der anfänglich geplanten Übersetzung Vasaris?) fehlte es ihm an 
nachschaffendem, anhaltendem Interesse. Auch führten ihn seine Quellenstudien 
in Italien zu so selbständigen Resultaten, daß sich einerseits schöpferische Regungen 
geltend machten, andererseits sich ihm die Perspektive einer Zusammenarbeit 
deutscher Gelehrter zum Zwecke umfassender Quellenforschung und Quellenkritik 
in italienischen Archiven lockend öffnete. Ein reicher Schatz war da für die Kunst- 
wissenschaft zu heben, aber er sah sich allein einer so gewaltigen Aufgabe gegen- 
über nicht gewachsen“). Das Erscheinen seiner Aufsätze und längeren Abhand- 
lungen über italienische Kunst in Schorns „Kunst-Blatt“ (seit 1820)) hatte sein 
Interesse an einer Vervollständigung des ihm vorliegenden Stoffes zu einheitlicher 
Darstellung gestärkt. Der Zweck war „die Aufklärung einzelner Dunkelheiten der 
Kunsthistorie“. Erheben die „Italienischen Forschungen“, die seine Studien zu 
einem Ganzen vereinigen, auch keinen Anspruch auf literarische Vollständigkeit, 
so will doch die gewissenhafte historische Grundlage, die Zuverlässigkeit bei der- 
artigen Einzeltatsachen, die zu Stützpunkten weiterer Forschung dienen könnten, 
richtig eingeschätzt werden. Urkundliche Begrtindung, wozu umfangreiche, kritische, 
in jeder Beziehung treue Lokalforschung unumgänglich nötig, hatte allen italieni- 
schen Kunstschriftstellern vor ihm gefehlt, zumal Vasari’). Die Autorität flüchtiger, 
oder gar lügenhafter Kunsthistoriker müsse gebrochen werden durch strenge, aber 
gerechte Kritik. Nur historische Gewißheit könnte der Phantasie einen gefähr- 
lichen Spielraum entziehen. Rumohrs Werk, das zuerst aus Liebhaberei, absichts- 
losem Sammeln dessen entstand, was sich in schriftlichen Urkunden bei der Kritik 
kompilatorischer Kunstschriften gefunden hatte, sollte als Beispiel erschöpfender 
Forschung Veranlassung werden, „endlich die Kunstgeschichte nicht länger als 
ein Aggregat von Zufälligkeiten und abgerissenen Tatsachen, sondern als ein zu- 
sammenhängendes, gleichsam organisches Ganze aufzufassen“ ). Erschöpfendes im 


(z) Erst 1920 erscheint die Neuauflage der Italien. Forschg., bearbeitet von J. v. Schlosser. Frank- 
farter Verlag. 

(з) Zu Ludwig Schorns Vasari-Übersetzung (Stuttgart und Tübingen 1833) lieferte Rumohr Beicht, 
gungen und Nachweise zu Anmerkungen. 

(3) Vgl. Kunst-Blatt 1820, Nr. 39, S. 153: „Bebandlung italien. Kunstgeschichte". 

(4) Vgl. die Vorreden zu den Italien. Forschg. I und II. 

(5) Vgl. die Vorreden zu den Italien. Forschen. I und II, auch für die weiteren Zitats. 

(6) Vgl. H. Tietse, Methode der Kunstgeschichte, 8. 70. Leipzig 1913. „Eine Darstellung der ge- 
samten Kunstentwicklung ist eigentlich als das letste Ziel der kunstgeschichtlichen Arbeiten an- 
zusehen.“ 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1991. 8 113 


Stofflichen konnte er nicht bieten; aber er wünschte doch mit seiner Methode 
intensiver und verläßlicher Forschung zur Nacheiferung anzuspornen. 

Für seine Arbeits- und Darstellungsweise ist der zweite Teil besonders charak- 
teristisch. Ein Teil aus ihm soll daher als Basis für weitere methodologische 
Untersuchungen dienen. Rumohr weist in der Vorrede darauf hin, daß er gegen 
den Gebrauch Auszüge und Abschriften von Urkunden als Belege in den Text auf- 
genommen habe, denn „nicht selten setzen die Urkunden ein geschichtliches Ver- 
hältnis ungleich besser ins Licht als die gelungenste Entwicklung“ und „nächst 
den besonderen ihre Anführung veranlassenden, auch allgemeinen Verhältnisse, ... 
wie jenes der Künstler zu ihren Genossen und Gönnern, wie die Geschäftsführung 
bey öffentlichen Kunstunternehmungen, die Technik einzelner Kunstarten, die An- 
sicht, von welcher die Künstler verschiedener Zeiten ausgegangen sind“. 

‘Nicht überall lagen Rumohr genügende historische Grundlagen vor. Für das 
15. Jahrhundert hatte er sie sich erst schaffen müssen. Daß seine Ausführungen 
über Gotik keinen Bestand vor der kunsthistorischen Forschung der Folgezeit 
hatten, ist hauptsächlich der ungentigenden historischen Vorarbeit zuzuschreiben; 
Rumohr klagt über den Mangel an Vergleichsmöglichkeit betreffs der Geschichte. 
Das rein kunsthistorische Interesse an Altertümern des Mittelalters lasse in Eng. 
land und Italien noch alles, in Deutschland und Frankreich noch vieles zu wün- 
schen übrig. Selbst an dem Boisseréeschen Werk vermißt er die historische Er- 
lduterung’). 

Rumohrs Quellenforschungen in Italien wurden vielfach erschwert, zuweilen un- 
möglich gemacht; oft genug erwiesen sich Archive und Bibliotheken als von Un- 
wissenheit und argwöhnischer Mißgunst wohlbehiitete Schatzgruben. In Erkenntnis 
der Mängel strebt Rumohr in der Hauptsache danach, Anregung zu gründlicherem 
Ausbau der Kunstwissenschaft zu geben. 

Die „Italienischen Forschungen“ wurden mit den beiden ersten Teilen 1827 dem 
Druck übergeben. (Berlin und Stettin, Nicolai.) Der zusammenfassende Titel 
„Zur Geschichte und Theorie neuerer Kunstbestrebungen“ ist der Rahmen für 
entwicklungsgeschichtliche Darstellungen der italienischen Kunst von ihren An- 
fängen bis ins 16. Jahrhundert. Die ersten Kapitel legen den theoretischen Stand- 
punkt dar, von dem aus Rumohr seine wesentlich geschichtlichen Erörterungen 
über Kunst aufgefaßt wissen will. Die eingehendere Besprechung seiner Ästhetik 
soll erweisen, wie er über die noch immer regelgebenden Kunstanschauungen 
Winckelmanns, Mengs’ und Lessings (noch für Goethe maßgebend!) hinaus- 
gewachsen ist. | | 

Am 16. Juni 1830 schrieb Rumohr an Schinkel’): „Seit einigen Tagen beschäf- 
tigt mich die erste Seite des dritten Bandes der it. Forschungen. Wenn der 
Nagel festgeschlagen ist, wird wohl auch das Übrige hinzukommen. Die Ge- 
schichte der Baukunst im Mittelalter habe ich neulich wieder aufgefunden, doch 
noch nicht wieder gelesen. Ich denke Raphael als den einzigen ganz objek- 
tiven Künstler den großen Virtuosen in irgendeiner einseitigen, ganz subjektiven 
Richtung gegenüberzustellen und manches früher angenommen durch Beispiele zu 
belegen“). dl 


(1) Italien. Forschg. Ш, Vorrede S. VIII—IX. 

(2) Ms. Dresden, App. 12. Aus Rothenhaus geschrieben. 

(3) Rumohrs Biographie des Raphael wurde bald überholt durch J. D. Passavant: Rafael von Urbino 
und sein Vater Giovanni Santi, T.I—IIL Leipzig 1839—58. Das Vorwort entbält auf S. XVI—XIX 


114 


Dieser dritte Teil erschien dann 1832. Er war aus dem Wunsch Rumohrs ent- 
standen, „durch Einiges über die Epoche der höchsten Entwicklung der neueren 
Kunst, besonders über Raphael gleichsam den Schlußstein zu geben“. Anregung 
hatte wieder die Freude an der Ergänzung und Richtigstellung vorhandener Werke 
über Raffael und an dem Aufsuchen wenig oder gar nicht betretener Pfade der 
Urkundenforschung geboten. 

Die Abhandlung über die Baukunst ist als Beschluß des dritten Teils, ohne 
inneren Zusammenhang, der Raffaelbiographie angefügt. 


Die genauere Betrachtung des IX. Kapitels mag die Arbeitsweise Rumohrs ver- 
anschaulichen. 


Methodologische Einzelbetrachtungen. 


Die Untersuchungen Rumohrs über Giotto (Kap. IX der Ital. Forschg.) sind in 
ihren Ergebnissen bis auf die heutige Zeit heftig angefochten und widerlegt worden’). 
An dieser Stelle soll weder im Sinne Ernst Foersters”) die Haltung Rumohrs 
Giotto gegenüber beleuchtet, noch — wie es Robert Vischer“) eingehend und mit 
Wärme tut, eine Apologie Giottos gegeben, sondern der Fortschritt in der Arbeits- 
methode, die unbeirrte Selbständigkeit des Urteils, die Rumohr vor früheren Kunst- 
geschichtsschreibern auszeichnet, dargelegt werden. Das Wertvolle und Maß- 
gebende seiner Methode bleibt bestehen, auch wo Rumohr fehlgreift in einem zu 
scharfen Vorgehen, um die historische Wahrheit hinter entstellender Überlieferung 
zu erkennen. Schon Ernst Foerster, einer der ersten, denen Rumohr „zuerst den 
Weg besonderer Forschung gezeigt“), gelangt in enger Anlehnung an diese Methode 
zu ganz anderen Resultaten. 

Rumohrs Ausgangspunkt für die Forschung. In diesem IX. Kapitel der 
„Italienischen Forschungen“ zeigt Rumohr deutlich eben die gegen Uberliefertes 
rücksichtslose Kraft eines Neuerers, die er an Giotto zu bemerken glaubt. Er will 
den von Vasari „mißverstandenen Wahrheiten“ ) auf den Grund gehen, vorurteils- 
los der Persönlichkeit des Giotto und den ihm zugeschriebenen Werken gegenüber- 
stehen. Wohl schätzt er Vasari als einen „wahren Kenner“, dessen Künstler- 
geschichte „eine größere Summe kunsthistorischer Wahrheit enthält, als die gesamte 
übrige Literatur desselben Gegenstandes, namentlich als seine Kommentatoren, die 
ihn oft so ungestim zurechtweisen. — Demungeachtet reihet er, Vasari, sich — 
und dies ist gerade seine anziehende Seite — den Novellisten an, dieser eigen- 
thümlichen Zierde toskanischer Literatur, die das Geschichtliche so innig mit der 
Dichtung vermählen“®). 


eine abfällige Beurteilung der nicht erschöpfenden Biographie aus Rumohrs Feder. Hr. W. Schulz 
(a. а, O., 8. 77) berichtet, daß Rumohr in der letsten Zeit seines Lebens darunter litt, eich von 
Jüngeren Kunsthistorikern wie Passavant und Gaye überflügelt und nicht gebührend gewürdiet zu sehen. 
(1) Literaturangabe darüber in der Vasari- Ausgabe von Gottschewski und Gronau, Straßburg 1916, 
З. 157, Anm. 1 und in Friedr. Rintelen: Giotto und die Giotto-Apokryphen, München 1912, Anm. 1, 
worin auch ein sehr scharfes Urteil über Rumohr. 

(2) E. Foerster; Beiträge sur neueren Kunstgeschichte: Giotto di Bondone und Symon di Martino. 
Leipzig 1835, und Geschichte der Italien. Kunst П, 8. 211 fl., Leipzig 1870. 

(3) Robert Vischer: Rumohr und Giotto in s. Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart 1886. 

(4) Foerster: Beiträge. Vorwort XIV. 

(5) Vgl. Rumohbrs Urteil über Vasari, Italien. Forschg. VII, 283. Ё 

(6) Kunst-Blatt 1830, Nr. 39, 8. 153. Auch sonst hat Rumohr wiederholt hervorgehoben, daß in den 
toskanischen Novellen historische Wahrheit stecke. Vgl. Bibliographie, Anhang, 8. Ш u. V. 


115 


Kritische Untersuchungen. Hier gilt es, Vasari auf seinen Quellenwert zu 
untersuchen; seine Abhängigkeit von den benutzten Quellen und deren Glaub- 
würdigkeit zu prüfen; selbst „vor den höchsten Heiligtiimern der Vergangenheit 
nicht Halt zu machen“, um durch eine Methode der „Vergleichung“!) zu der Wahr- 
heit einstigen Geschehens durchzudringen, die allein die Erkenntnis der großen 
Kausalzusammenhänge gewährleistet. 

Vasari entwirft ein prächtiges Bild von Giotto, dem Wiedererwecker fast er- 
storbener Kunst, auf dem goldenen Hintergrund seines Nachruhms. Er leitet die 
Vita des Giotto durch ein überschwängliches Lob ein und beschließt sie mit der 
preisenden Inschrift auf dem Denkmal im Florentiner Dom‘). 

Die Überlieferung des Ruhmes. Rumohr erscheint diese Grundstimmung 
ungeeignet für eine objektive Beurteilung des Meisters. Die Inschrift”) — sie wird 
Ausgangspunkt in Rumohrs Abhandlung — erweist sich „als das offizielle Manifest 
einer stehenden Meinung, welche zu Florenz schon seit der Mitte des vierzehnten 
Jahrhunderts Fuß gefaßt hatte“: 

Ше ego sum, per quem pictura extincta revixit ... 
.. . Denique sum Jottus. Quid opus fuit Ша referre. 
Hoc nomen longi carminis instar erit. 
Obiit an. MCCC XXXVI cives pos. 
b. m. MCCCCLXXXX. 

Vasari läßt sich von der Verehrung seiner Zeit und Vorzeit für Giotto mitreißen! 
Schon der Glanz des Nachruhms ist skeptisch zu betrachten. 

Die Überschätzung eines Neuerers und Pfadfinders gegenüber den Verdiensten 
eines Mannes, der auf schon betretener Bahn Außergewöhnliches leistet, ist üblich 
und psychologisch erklirlich. Bei den Nachfolgern Giottos wird sie noch dadurch 
begünstigt, daß sie in der Blüteperiode der italienischen Literatur den schönsten 
Ausdruck findet. In dem Maße, wie die Zeit die Leistungen Giottos der Prüfung 
entrückt, gewinnt die Phantasie an Spielraum und steigert die ohnehin allgemein 
gehaltenen Lobsprüche der Dichter. Wie gestaltet sich aber das Bild des Künst- 
lers, wenn es gelingt, aus dem Allgemeinen historischer Überlieferung gesicherte 
und bestimmte Einzelzüge herauszuheben? 

Unter diesem Gesichtspunkt ist auf die Erwähnungen des Dante und Petrarca t) 
zu verzichten. Wie wird Giottos „historische Stellung, seine Geistesart und Rich- 
tung, wie endlich auch die Beschaffenheit seiner künstlerischen Leistungen zu be- 
gründen sein“? 

Die Quellen. Mit solchen Fragen wendet sich Rumohr kritisch den frühsten 
Schriftstellern zu, die über den Einfluß Giottos auf die Kunst und über seine Person 
Auskunft geben können. Es sind auch die Quellen Vasaris; er nimmt ihre Aus- 
sagen unbefangen hin, im Sinne der Überlieferung, für seine künstlerisch-anmutige 
Darstellung. 

Rumohr prüft: ein fachmännisches Urteil über den Künstler Giotto geben Cennino 
di Drea Cennino und Lorenzo Ghiberti’) ab. Urteilsfähigkeit kann ihnen zugestanden 


(х) W. Dilthey: Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt. Deutsche Rundschau, Heft zı. Berlin. 
(2) Die Inschrift befindet sich unter der Büste Giottos (dem Benedetto da Majano zugeschrieben) und 
ist angeblich von Angelus Politianus. 

(3) Vgl. Italien. Forschg. II, Kap. IX, зо. 

(4) Vasaris Zitate werden von Lanzi, Fiorillo u. a. modernen Kunstgeschichtsschreibern wiederholt. 
(5) Rumohr nützt als erster Ghiberti kunstgeschichtlich und kritisch. Vgl. Schlosser in der Neuausg. 
der Italien. Forschg. 1920, S. УШ und XXIX. 


116 


SS ot „—„ 


werden: jener hatte den Schüler Giottos Agnolo Gaddi zum Lehrer, und dieser 
wurde kaum 50 Jahre nach Giottos Tode geboren, als die Überlieferung noch nicht 
viel des wahren Sachverhaltes entstellt haben konnte. 

Bei Vasari?) nimmt die dem Ghiberti nacherzählte Jugendgeschichte von Giotto 
di Bondone, Schtiler des Cimabue, einen breiten Raum ein. Rumohr übergeht sie, 
denn Cennino steigt bis zu Giotto hinauf, ohne seines Lehrmeisters zu erwähnen, 
und der Name Giottos als Sohn eines Bondone unterliegt nach anderen Quellen 
einer Verwechslung (Archiv della gen. Bicchera di Siena B. T. 103, Fol. 107 
anno 1310) ). 

Rumohr holt den Kern aus Ghibertis Bericht kurz und klar heraus. Die wich- 
tigsten Sätze zitiert er im Urtext nochmals, als Anmerkungen. Da ergibt sich als 
Grundlage: 

„Giotto bildete sich in der Malerkunst zu einem großen Meister; er führte die 
neue Kunst herbey und verließ die rohe Manier der Griechen. Viele 
seiner Schüler waren kunstgerecht gleich den alten Griechen. Giotto sah in der 
Kunst, was anderen unerreichbar geblieben. Er führte die Natürlichkeit und 
Anmuth herbey, ohne über das Maß hinauszugehen®).“ Dazu meldet Cennino 
Übereinstimmendes: — — „daß Giotto von den Griechen abgewiesen sey und die 
Kunstübung der Italiener durchaus erneut habe“. Bei den Folgerungen geht Rumohr 
davon aus, daß Cennino sein Wort mit Hinblick auf das Technische gesprochen 
haben wird, wie es im Charakter seiner Abhandlung lag, Ghiberti dagegen dem 
Geistigen und eigentlich Künstlerischen Rechnung zu tragen pflegte. Die erste 
Untersuchung gilt der Frage, „worin Giotto von den Byzantinern abgewichen, in 
wie fern er als Stifter zu betrachten sey?“ Denn Vasari hebt hervor‘), daß Giotto 
„die ungefüge Art der alten griechischen Malerei gänzlich aus dem Felde schlug 
und die moderne gute Malkunst wieder erweckte“. 

Folgerung bez. der Reform. Rumohr sieht eine Riickkehr zu heimischen Ge- 
wohnheiten und der Manier der älteren italienischen Maler: zu der Technik des 
Malens mit hellen und flüssigen Bindemitteln, die den Farben ein helleres, rosiges 
Aussehen verleihen, als die zähen und verdunkeinden der Byzantiner, wie eine 
Vergleichung zuverlässiger Denkmäler bestätigt, aber keine eigentliche Neuerung. 

Diese lag vielmehr in der Wahl und Behandlung künstlerischer Aufgaben, wie 
Ghiberti sie ausdrücklich hervorhebt. Obschon Cimabue und Duccio die Erstarrung 
byzantinischer Formen zu beleben suchten, bewahrten sie doch als Ausdruck „ächt 
christlichen und ächt künstlerischen Geistes“ ), den typisierenden, von Würde und 
Erhabenheit getragenen Charakter der älteren Byzantiner in ihren Gemälden. Giotto 
durchbricht die letzten Schranken. Der charakteristische Zug von Objektivität in 
seiner Kunst, die Naturwahrheit seiner Darstellungen entsprechen seinem Hinaus- 
treten aus dem heiligen in das profane Gebiet. Rumohr erkennt den Einfluß des 
Zeitgeistes, der sich von der alterttimlich christlichen Richtung abwendet unter der 
Obmacht des Mönchstums und dem lebhaften Interesse an dem Leben der Hei- 
ligen, deren Andenken damals noch frisch war. Die Reform in der Kunst faßt er 


(2) Vasari: 4. Ausg. in Florens bei A. Solani (benutzt; deutsche Ausg. von Gottschewski u. Gronau: 
Leben des Giotto). 

(2) Vgl. Wackernagels Anm. 3, 8. 158 in Gottschewskis Ausgabe des Vasari. 

(3) Rumohr, a. a. O., 8. 41/42. Ghiberti im commentario secondo, Cennino in в. libro dell’ arte о 
trattato della pittura. 

(4) Ausg. Gottschewski, S. 159. 

(5) Kap. IX, 8. 44. 


117 


darin zusammen, daß „Giotto — abgesehen von einigen technischen Änderungen — 
die Richtung seiner Vorgänger auf edie Ausbildung heiliger und göttlicher Charak- 
tere, wenn auch nicht ganz aufgegeben, doch hintenangesetzt, hingegen die italie- 
nische Malerey zur Darstellung von Handlungen und Affekten hinübergelenkt hat, 
in denen, nach dem Wesen des Mönchsthums, das Burleske neben dem Pathetischen 
Raum fand‘“!). 

Psycholog. Erwägungen. Auch die hohe Einschätzung der Natürlichkeit in 
Giottos künstlerischen Darstellungen — die Rumohr nicht im Physiognomischen, 
sondern lediglich in der Lebendigkeit von Bewegung und Handlung erblickt — 
führt auf psychologische Ursachen zurück, auf die Selbsttäuschung der Zeitgenossen 
vor Giottos Bildern bei ihrer sehr jugendlichen Phantasie und dem Mangel an 
Gegenständen des Vergleichs. 

Zu eingehenderen psychologischen Erwägungen sieht sich Rumohr vor der In- 
dividualität Giottos selbst veranlaßt. Bei der Bedeutsamkeit ihrer Erscheinung 
wird durch Erkenntnis ihrer Wesensart ein Aufschluß über ihre künstlerische Welt- 
anschauung zu erwarten sein. Die Meinungen der Zeitgenossen und der Nachwelt 
über sie stehen durchaus im Widerspruch. Vasari folgt der Tradition und legt 
Giotto „religiöse Strenge des Eingehens in die vorwaltenden Kunstaufgaben seiner 
Zeit“?) bei. Aber Giotto ist ein Neuerer, und Rumohr geht von der Vorstellung 
aus, daß ein Neuerer immer durch Kraft und im Durchschnitt mit „unheiliger und 
frevelhafter“ Gesinnung neue Bahnen bricht. Er sucht das wahre Bild des Meisters 
— aber zugleich die Unterstützung seiner Anschauung in der zeitgenössischen 
Literatur) als dem Spiegel der um Giotto bestehenden Verhältnisse. 

Literar. Forschung. Aussprüche des Villani, Novellen des Boccaccio und 
Sacchetti, derart wie sie Vasari als Schmuck und Unterhaltung in die Lebens- 
beschreibung des Giotto einfügt und mit solchen schließt‘), um den Künstler, dem 
die Welt Ehre erweist, uns menschlich nahezubringen, benutzt Rumohr mit 
wissenschaftlichem Sinn; denn anscheinend unbedeutende Tatsachen kinnen Wesent- 
liches offenbaren. Seinen charakterisierenden Intentionen gemäß führt er die Giotto 
betreffenden Novellen vollständig an mit Hinzufügung seiner eignen kritischen Über- 
legungen. Er ist glücklich, daß er als bestätigendes Zeugnis eine Canzone des 
Giotto aus Cod. 47 der Biblioth. Gaddiana, im Urtext, der Öffentlichkeit übergeben 
kann’ 

EN Giottos. Aus allem geht hervor, das Giotto als ein Mann von 
ungewöhnlichem Geist und starkem Talent zu betrachten sei, der sich auf dieser 
Erde wohl zurechtzufinden weiß. Sein heller, ntichterner Verstand, sein Mut, seine 
Geistesgegehwart und Gewandtheit, sein Mutterwitz und seine praktische Klugheit 
verschaffen ihm Achtung bei seinen Mitmenschen und wirtschaftliches Gedeihen. 
Die Gegenwart liegt klar vor seinem prüfenden Scharfblick; von Frivolität ist er 
nicht frei. Rumohr schließt daraus: „Kälte des Verstandes, Deutlichkeit des Be- 
wußtseyns widerstrebt indeß jener enthusiastischen und rückhaltlosen Hingebung, 
ohne welche es, wenigstens dem dichterischen Künstler, nicht zu glücken scheint, 


(1) Kap. IX, 8. 56. 

(2) Kap. IX, S. 44 (Italien. Forschg.). 

(3) Vgl. A. Springer: Kunstkenner und Kunsthistoriker, in der Ztschr, „Im Neuen Reich“, Leipzig 1881, 
8. 756f., über die Bedeutung literarischer Kenntnisse für den Kunstforscber. 

(4) Vasari-Ausg. von Gottschewski (8.171 fl. u. 195 fl.). Sacchettis 61. Nov. Vgl. Arm. бо u. 61 daselbet. 
(5) Kap. IX, 51—54 (Italien. Forschg.). 


118 


das Hohe und Würdige zu schauen“). Der Ursprung der Umwälzung und der 
neue Charakter ktinstlerischer Auffassung, im Gegensatz zu der überlieferten Kunst, 
erscheinen ihm erklärt. Er geht zur Untersuchung der Giottoschen Werke über. 

Historische Kritik. Dabei schaltet er als Historiker Vasari und die neueren 
Kunstgeschichtsschreiber als unzuverlässig für die altchristliche Zeit gänzlich aus 
und betrachtet, unter Vorbehalt, nur Ghiberti mit seinen Angaben als Stützpunkt. 

Rumohr hält sich an das einzige durch Inschrift beglaubigte Gemälde Giottos, 
das er kennt. Es ist die fünfteilige Krönung der Madonna in der Kapelle Baroncelli 
von Sta Croce zu Florenz ). Kritisch prüft er den Zustand des Bildes, das trotz 
der Neurahmung (etwa aus dem 15. Jahrhundert bestimmt er) und stellenweiser 
Übermalung und Abblätterung genügend Sicherheit für eine Bestimmung der Manier 
Giottos zu gewähren scheint. Auch die Echtheit der Aufschrift sei nicht zu be- 
zweifeln, weil sie nach Schriftzügen und Einfassung sicher älter ist als die Neuerungen). 
Vasari stellt, ohne Kritik an der Echtheit, dieses Bild folgendermaBen in seine Reihe 
Giottoscher Werke: „In der Baroncelli-Kapelle derselben Kirche (S. Croce) findet 
sich ein Tafelbild von Giottos Hand, worauf mit vieler Sorgfalt die Krönung der 
Mutter Gottes dargestellt ist, zusammen mit einer sehr großen Anzahl kleiner 
Figuren sowie einem Chor von Engeln und Heiligen in sehr sorgsamer Ausarbeitung. 
Und da auf diesem Werk in Goldschrift sein Name und die Jahreszahl beigefügt 
sind, werden alle Künstler, die beachten, zu welcher Zeit Giotto, ohne nur eine 
Andeutung der rechten künstlerischen Manier zu besitzen, den Grund legte zu 
einer guten Methode des Zeichnens und Malens, sich getrieben finden, ihn aufs 
höchste zu verehren“ ). 

Ruhmohr sieht 80: 

nln dem Mittelstück sitzen Maria und Christus auf einem, beiden gemeinschaft- 
lichen Thronstuhle von gotischer Anlage. Christus drückt der Jungfrau die Krone 
mit beiden Händen auf, eine Vorstellung, welche in der Folge von Italienern und 
Deutschen oftmals wiederholt worden ist. Wie diese Vorstellung an sich selbst, 
so gehört auch besonders der Charakter und die Bekleidung des Heilands schon 
ganz der neueren Zeit und wahrscheinlich der Erfindung des Giotto. Der antike, 
oder christlich-römische Typus, den wir noch in den Werken des Duccio und 
Cimabue angetroffen, ist hier durchaus verwischt. Besonders auffallend sind die 
kurzen geränderten Oberärmel des Heilands, das älteste mir bekannte Beispiel 
seiner Lust an seltsamen Bekleidungen und mutwilligen Schneider- und Sticker- 
stückchen, an denen manche Maler des r4. und 15. Jahrhunderts in der Folge so- 
viel Behagen gefunden; welche in den neuesten Zeiten einigen ungelehrten, übrigens 
wohlmeinenden Künstlern nicht selten für typisch gegolten, da sie doch in der That 
nur vorübergehende Malerlaunen sind.“ 

Bestimmung der Kriterien. Es kommt Rumohr auf Kriterien für Giottos 
Malweise an“). Unter diesem Gesichtspunkt muß bei seiner Bildbetrachtung das 
rein künstlerische Interesse vor der Hand hinter der Genauigkeit historischer Be- 


(1) Vgl. Wölfflins übereinstimmendes Urteil fiber Giotto, Klassische Kunst, Kap. I, 8.7 (München 1902). 
(2) Vgl. Rintelen: а, a. O., 8. 2§7ff., dessen kritische Untersuchungen dieses Werk nicht als Original, 
sondern als Gehilfenarbeit erkennen lassen. 

(3) Gerade die Aufschrift bestätigte diese Annahme, da Giotto sich nie „Magister“ genannt habe. 

(4) Vasari-Ausgabe von Gottschewski, 8, 162. 

(5) Kap. IX, 60: „Beschränken wir uns dsher bey der Untersuchung dieses einzig bewährten Probe- 
stückes seiner Manier und technischen Eigenthümlichkeit, eben nur diese im Auge zu behalten und 
versuchen wir, deren Charakter so scharf als möglich zu begrenzen.“ 


119 


stimmung zurückstehen. Der neue Typus wird erfaßt in der Darstellung und dem 
Charakter Christi, weiche die spätere Kunst von Giotto übernahm, und in der 
Gewandbehandlung. Hierin aber bemerkt Rumohr „wenig Ehrfurcht vor dem Her- 
kommen“, einen Rückschritt gegenüber der Würde in der Kleidung, wie sie die 
alte Kunst hatte und wie sie sich in der Sieneser und umbrischen Schule bis auf 
Raffael erhielt. 

In der Technik beobachtet Rumohr die Anwendung eines flüssigeren und minder 
zähen Bindemittels als bei Cimabue und Duccio und auch noch den späteren 
Sieneser Malern, — was den Farben ein lichteres Aussehen und der Pinselführung 
mehr Leichtigkeit verliehen hat. Hingegen erscheinen ihm die Formen, besonders 
die Köpfe, unvollkommener und gröber als bei jenen älteren Malern und zu arm 
an Differenzierungen: Die Augen lang und schmal ohne Verkürzung, nahe an die 
Nasenwurzel gertickt, die Nasen zwar normal lang, aber im Profil abgestumpft und 
wenig ausladend; die Kinnlade schmal und kantig, das Kinn vorstehend. Zusammen 
mit der eigentümlichen, von der alten Gewohnheit abweichenden Behandlung des 
Faltenwurfs, der nach dem Licht hin verwischt und unbestimmt gegeben wird 
(aus Unbeholfenheit in der Naturnachahmung), erscheinen diese Merkmale als aus- 
reichendes Zeugnis für die Echtheit der Bilder, die Ghiberti und andere ältere 
Schriftsteller dem Giotto zuschreiben. 

Aber die „gute Methode des Zeichnens und Malens“, die Vasari an diesem Bilde 
lobt, leugnet Rumohr entschieden!). 

Anwendung der Kriterien. Verständlicher wird ihm die Bewunderung für 
Giotto vor anderen Bildern, denen er auf Grund der gewonnenen Kriterien Ori- 
ginalität zubilligt, den kleinen Bildern, die sich ehemals in der Sakristei der Minoriten- 
kirche zu Florenz befanden, denn sie sind „geistreich, bewegt und abwechselnd“; 
vor den Wandgemälden in der Kirche der Madonna Incoranata zu Neapel, die ihm 
Aufschluß darüber geben, worin die Naturähnlichkeit bestand, deren Wirkung so 
stark gewesen war in der Lebendigkeit der Bewegung und Gebärde, in den Be- 
ziehungen der Gestalten zueinander. Jene Zeit forderte weder physiognomische 
noch illusorische Naturwahrheit. 

Stilkritik. Die neuere Forschung”) hat mit ihren Ergebnissen in bezug auf die 
Gemälde in der Oberkirche zu Assisi bezeugt, wie scharfsinnig Rumohrs Quellen- 
und Stilkritik war. 

Wenn Vasari erzählt, Giotto malte „in der oberen Kirche (zu Assisi) unterhalb 
des Laufganges, der an den Fenstern entlang führte, an beiden (Lang) Winden der 
Kirche zweiunddreißig Geschichten in Freskomanier aus dem Leben und den Taten 
des heiligen Franziskus, je sechzehn auf jeder Wand, in so vorteilhafter Weise, daß 
er sehr großen Ruhm davon hatte)“, so ist er flüchtig und gänzlich unzuverlässig. 
Rumohr hat nur achtundzwanzig Bilder gefunden; keine Nachricht über den Maler 
existiert vor Vasari; Ghiberti macht eine — unhaltbare — Mitteilung nur über Ge- 
mälde von Giotto in der Unterkirche. Keine Stileigentümlichkeit Giottos, wie sie 
beobachtet worden, ist in diesen Bildern zu entdecken, am wenigsten die vortreff- 
liche Proportion, die Ghiberti rühmt. Spuren der Sitten, des Geschmackes und der 
Malweise aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind vielfach zu bemerken; 


(1) 8. 59/60: Das Werk gewähre weder im ganzen noch im einzelnen die Befriedigung, die man von 
dem gepriesenen Meister erwarten dürfe. Man müsse annehmen, daß Giotto Besseres geleistet habe 
in einer ihm mehr entsprechenden Aufgabe. Vgl. Rintelen. 

(з) Vgl. 8. 164 der Vasari-Ausgabe von Gottschewski, Anm. 

(3) Ebenda, S. 164. 


130 


die Architektur auf einem der Bilder zeigt etwas von dem aufkommenden Stil des 
Brunelleschi. Auch stammen wohl einige der Legenden aus nach-giottesker Zeit. 
Rumohr schreibt diese Gemälde Spinello von Arezzo und Parri di Spinello zu’). 

In den Gemälden des Kreuzgewölbes über dem Grabe des Heiligen schätzt er, 
trotz der mönchisch-kindlichen Allegorie, die auf den Besteller zurückzuführen sei, 
ein gutes Werk Giottos. Er enthält sich des Urteils über die Originalität von 
Bildern, wo der Zustand der Malereien es nicht mehr gestattet, aus eigener An- 
schauung die Berichte Ghibertis, della Valles u. a. nachzuprüfen?). 

Da schon die älteren Chronisten einstimmig den Bau des Campanile in Florenz 
dem Giotto beimessen, hat Rumohr kein Bedenken, in dieser Beziehung Vasari 
Glauben zu schenken; ob er Giotto den Entwurf als eigne Schöpfung zuerkennen 
soll, läßt er dahingestellt, weil er sich von der Wahrheit dieses Berichts nicht in 
den Archiven des Doms und der Riformagioni überzeugen konnte. Der Meinung, 
Giotto habe selbst gemeißelt und sich nach der pisanischen Schule gebildet, schließt 
er sich ebenfalls wegen mangelnder Beweise nicht an, obschon er die Vielseitig- 
keit des Künstlers nicht bezweifelt. Er schätzt Giottos bildhauerische Begabung 
für stärker ein als seine malerische und sieht sie selbst in den Kompositionen der 
Gemälde offenbar werden. 

Rumohr enthält sich jeden weiteren Schrittes in seiner Forschung, wo er nicht 
gesicherten Boden unter den Füßen hat. 


Ergebnis. Zum Schluß faßt Rumohr die Ergebnisse seiner Untersuchung zu- 
sammen. Da tritt uns Giotto entgegen, wie auch Wölfflin ihn sieht — nicht „nach 
Art eines christlichen Romantikers“ —. „Er war kein Schwärmer, sondern ein 
Mann der Wirklichkeit; kein Lyriker, sondern ein Beobachter; ein Künstler, der 
sich nie zu hinreichendem Ausdruck erhitzt, der aber immer ausdrucksvoll und 
klar spricht“®). Ein großer Meister, — doch kein „gewaltiger Riesengeist“, der die 
Folgezeit tiberragte, — schätzenswert in den Eigenschaften und Fähigkeiten, die 
er in Wahrheit besaß, wird im „Fiebertraum“ der Schwärmerei (die Rumohr von 
Grund aus zuwider war) ins Ungeheure verzerrt. Diese Vergötterung habe den 
Fortschritt der nachfolgenden Kunstepoche lange aufgehalten. Schließlich goß Lanzi 
das Lob der Alten in neue, glänzendere Formen und die Gegenwart habe es auf 
die Höhe geführt! — 

Die oft getadelte „Herabsetzung Giottos“ (unter sein Verdienst) durch Rumohr 
verdient eingehendere, gerechtere Prüfung‘). Man hat Rumohrs Absichten miß- 
verstanden bei der Heftigkeit, mit der er übermäßige und gleichsam in der Luft 
schwebende Verherrlichung auf irdischen Boden zurückzuführen und festumrissene 
Tatsachen für eine richtige Einschätzung des Künstlers hinzustellen suchte. Zog 
er seine Kreise gar zu eng, so blieb ihm doch die Einsicht in das Wesentliche an 
dieser Künstlergestalt und ihrer Bedeutung. 

Wie anregend wirkt er auf die Forschung und wie schwächlich und unfruchtbar 
erscheint daneben der Versuch seines einstigen Lehrers Fiorillo’), die allgemeine 


(1) Äbnliche Stilkritik wendet Rumohr für das Abendmahl, das Ruscheweyh gestochen, an und das 
er übergeht (nur die Gründe in der Anm. gibt), weil er es keineswegs dem Giotto zusprechen kann. 
(з) Vgl. Rintelen: a. a. O., Anm. 2, der іп der mißtrauischen Vorsicht Rumehrs einen Fehler sieht. 
(3) Wölfflin, Klass. Kunst, 8, 7. 

(4) Vgl. Waagens und Wölfflins Standpunkt zu Giotto. 

(s) J. D Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste, Bd. I, 266. Göttingen 1789. Zu bequemerer 
Vergleichung füge ich den vollständigen Auszug dieses Abschnitts fiber Giotto bei. ` 


121 


Überschätzung Giottos in seinem Einfluß auf die Kunst einzudämmen!)! Und worin 
sieht Fiorillo die neuen Werte bei Giotto für die Entwicklung der Kunst? In der 
Natürlichkeit des Faltenwurfs, im Ausdruck (doch welchem?), der Weichheit und 
Grazie in seinen Bildern; „hauptsächlich weil er sich zuerst an Verkürzungen ge- 
wagt“. Nicht mehr und nicht weniger erfahren wir über das Wesen der Giottoschen 
Kunst. Fiorillo begntigt sich damit, das Spiegelbild des hochbertihmten Künstlers 
wiederzugeben, wie es die Überlieferung zeigt. Weder Autopsie noch Tatsachen- 
forschung an der Hand der ihm verfügbaren Quellen haben ihm die Eigenart des 
Künstlers und seiner Produktion erschlossen. Es liegt ihm fern, nach neuen Ge- 
sichtspunkten zu ordnen, was er vorfindet. „Seine freylich brauchbare, doch nicht 
ohne fremde Hülfe gefertigte Kompilation der it. Kunstgeschichte ist, wie jeder 
wahrnehmen kann, äußerst dürftig an eignen Bemerkungen?),“ urteilt Rumohr. Bei 
der Lebendigkeit Vasarischer Darstellung erscheint die Chronologie als ein natürlich 
gegebenes Band der Abfolge von Ereignissen in einem Künstlerleben. Bei Fiorillo 
spannt sie sich wie ein zufälliger Rahmen tiber das abgeblaßte Bild, dem es an 
der inneren Wahrheit fehlt, die uns an Vasaris Schilderungen einnimmt. Fiorillos 
Absicht, in seiner Kunstgeschichte den Künstler zu zeigen, „sein Talent und seinen 
Styl zu charakterisieren; vorzüglich die künstlerische Geschlechtsfolge und Ver- 
kettung der Manieren übersehen zu lassen“)“, ist in (dieser) seiner Abhandlung 
über Giotto nicht erreicht; er deutet an, aber er charakterisiert nicht. Er ist nur 
auf „Blicke ins Blaue eingerichtet“, wie Rumohr von ihm sagt‘). Weil die Über- 
lieferung sich durch Jahrhunderte erhielt, mißt er ihr autoritative Geltung und aus- 
reichende Beweiskraft zu. Die Fähigkeit, sich in die Verhältnisse ferner Zeiten 
und Menschen einzuleben, geht ihm ab, denn sie erfordert mehr als nur ein leb- 
haftes Gefühl, das er allerdings aufweist. Sie basiert auf einem prüfenden Zublicken, 
auf der historischen Erkenntnis der großen Zusammenhänge von Einzeltatsachen 
und Ereignissen. Hierin erkennt Rumohr die Grundlage für die Erschließung des 
künstlerischen Gehalts in den Denkmilern, wie des Wesens der Kunst überhaupt. 
In diesem Sinn sucht er vor allem nach möglichst exakten Kriterien. Er hat ver- 
standen, daß der Stil von Kunstwerken abzuleiten sei aus dem sich gleichbleibenden 
Organismus ihres Schöpfers, wie ihn seine inneren Kräfte und die von außen ein- 
wirkenden Umstände gemeinsam gestalteten. Nun verbindet er zwei anscheinend 
heterogene Dinge, um der starken Wirkung des Künstlers durch seine Schöpfungen 
bis auf die Ursachen nachzugehen: einerseits die Feststellung der Individualität 
von Künstler und Kunstwerk, andrerseits die Entäußerung des Individuellen durch 
den Nachweis der Eingliederung in die stilistische Entwicklung der Vorzeit und 
Nachzeit und, für den Künstler insbesondere, seiner Bedingtheit in Wollen und 
Können durch den kulturellen Zustand seiner Epoche und den Ort seiner Existenz. 
Eine Verknüpfung von Tatsachenforschung mit geisteswissenschaftlichen Analysen 
ergibt sich dabei von selbst. Die Kunstwerke verlieren den Charakter losgelöster 
Einzelerscheinungen, die in zufälliger Zeitfolge aus dem Leben der Künstler- 
individualität herauswachsen und fügen sich in den einheitlich genetischen Zu- 
sammenhang der Kunstentwicklung. 


(1) Wölfflin, Klass. Kunst, 8. 7. 

(2) Kunst-Blatt 1821, Nr. 51—53, 8. 202 Rumobrs Rezension über den IV. Band der Fiorilloschen 
Kunstgeschichte. 

(3) Fiorillo: а. a. O., Vorrede, 5. XI. 

(4) Kunst-Blatt 1821, Nr. 35, 8, 201. 


122 


So ist es die historische Methode!), wie Rumohr sie den besonderen Anfor- 
derungen des künstlerischen Gegenstandes anpaßt, die den absoluten Wert und die 
unbegrenzte Tragweite für einen Fortschritt ausmacht, unabhängig von dem gerade 
vorliegenden Stoffgebiet. Die Intensität seiner Forschung beruht auf Kritik — 
einmal der überlieferten Quellen und der historischen Faktoren, die zur Entstehung 
eines Kunstwerks beitrugen, sodann des Denkmals selbst in bezug auf seine Ori- 
ginalität und Geltung, vermittels stilgeschichtlichen Vergleichs. 

Rumohr brachte jene wissenschaftliche Synthese, die „vor allem in einer tieferen 
Auffassung der wissenschaftlichen Grundprobleme bestehen muß und sich deshalb 
nicht jenseits oder neben den methodischen Errungenschaften der vorangehenden 
Perioden entwickeln kann, sondern sie zu einer neuen Norm des wissenschaftlichen 
Denkens verdichten muß, die jeder Frage, mag sie gering oder weltumfassend sein, 
eine neue allgemeine Resonanz gibt“. 


Kennerschaft. 

Vergegenwärtigen wir uns nochmals Lanzis kunsthistorische Wirksamkeit. Seine 
umfassende Denkmilerkenntnis, seine vorbildlich gewissenhafte Forschungsarbeit 
bei historischer Kritik allein befähigten ihn noch nicht zum Kunstforscher. Es 
fehlte ihm an wahrer Kennerschaft. Andrerseits sei an Waagen erinnert, der eine 
Zeit lang als Kunstkenner eine europäische Autorität war und doch seine Befähi- 
gung in dieser Hinsicht für die Wissenschaft nicht ergiebig nutzbar machen konnte, 
weil er bei historischer Beweisführung versagte*). Gerade Waagen mußte für die 
Begabung und die Verdienste Rumohrs als Kunstforscher Verständnis und die 
rechte Bewertung haben. Sein Urteil wird uns um so wichtiger sein, als es die 
einstimmige Ansicht der damaligen Kunstwelt, wie es sich in zahlreichen literari- 
schen Zeugnissen findet, zusammenfaßt‘). 

„Unter allen deutschen Künstlern und Kunstfreunden, welche von der Kunst- 
geschichte Notiz genommen haben, ist es eine längst ausgemachte Sache, daß an 
Gründlichkeit der Forschung, an Feinheit der Beobachtungsgabe es nicht leicht ein 
anderer dem Herrn von Rumohr gleichtun möchte, so daß in seinen Schriften sich 
recht eigentlich die auf die Geschichte der neueren Malerei gerichteten wissenschaft- 
lichen Bestrebungen in ihrem ausgezeichnetsten Erfolge darstellen.“ 

Auch in Lanzi mtissen wir Feinheit der Beobachtungsgabe als Begleiterscheinung 
gründlicher Forschung voraussetzen. Aber zu sehr Gelehrter, verwirkte er durch 
das Streben nach möglichst objektiver Kritik — was eine verstandesbestimmende 
Betrachtung der Kunstwerke nach sich zog — den Vorzug eines „natürlichen 
Auges“ (De Piles) und unbefangen starken Empfindens. Kennerschaft aber beruht 


(1) Vgl. Waagen, Der Herr Hofrat Hirt als Forscher . . Berlin 1838, 8 2: Geist der Kritik in der 
kunstgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und 8 11. Vgl. H. Tietze: Die Methode der 
Kunstgeschichte, Leipzig 1913, 8. 70/71. 

(2) M. Dvořák: Über die dringendsten methodischen Erfordernisse der Erziehung zur kunstgeschicht- 
lichen Forschung in den „Geisteswissenschaften“, Nr. 34/35, 8. 933. Vgl. auch O. Wulff: Grund- 
linien und kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der bildenden Kunst. Stuttgart 1917. Vgl. 
Strzygowsky: Bahnen der Forschung über bildende Kunst i. d. Österreich. Rundschau, Januar 1920. 
(3) A. Springer: Kunstkenner und Kunsthistoriker, S. 750. Im Neuen Reich. Leipzig 1881. 

(4) Dr. Waagen, Direktor der Gemäldegalerio des Museums su Berlin: Der Herr Hofrat Hirt als 
Forscher über die Geschichte der neueren Malerei in Erwiderung seiner Rezension des 3. Teiles der 
Italien. Forschg. des Herrn С. F. v. Rumohr, Berlin und Stettin 1832 е тї: „Die Stelle, weiche der 
Herr v. Rumohr unter den Kunstkennern einnimmt.“ 


123 


auf dem „sich Hingeben an sinnliche Dinge“ i), das auch für künstlerisches Schaffen 
Voraussetzung ist. Rumohr besaß es in hohem Maße; er hatte, „die Gabe, mit 
Schärfe und richtig zu sehen und das Gesehene stark zu empfinden, lange Zeit es 
im Gedächtnis festzuhalten“). Ein Künstler dringt damit in das Wesen der Er- 
scheinungen und Rumohr, in dem künstlerische Anlagen sind’), zugleich in das 
eigenttimliche Wesen von Kunstwerken und Kunst und das ihres Schipfers. 

Das Kunstschaffen nimmt seinen Anfang im Unbewußten: Gefühl weckt und trägt 
die Schöpferkraft, bis das geistige Urbild seine Gestaltung in der Materie gefunden 
hat. Der Verstand wird nur den Schöpfungsakt und das „Bild“-Werk begreifen 
können. Das Gefühl allein wird die Freude des Künstlers an seiner genialischen 
Intuition und Schaffenskraft nacherleben und die Seele des Kunstwerks in ihrem 
inneren Dasein verstehen. Hier ist der Boden, auf dem Künstler und Kenner 
nebeneinanderstehen. 

Rumohr „liebt die Kunst über alles“, und aus seiner Liebe für künstlerische 
Dinge erklärt sich sein scharfer Blick für die kleinsten charakteristischen Merk- 
male, die oft über die Eigenart eines Künstlers oder Kunstwerkes Aufschluß geben, 
wo historische Untersuchungen Lücken gelassen haben. „Den Charakter und den 
Habitus der Kunstwerke“) zu ersptiren, stellt Rumohr als Forschungsmittel neben 
die historisch philologischen. Feine, psychologische Analysen werden dafür er- 
forderlich. Wir haben für Rumohrs Meisterschaft darin ein beredtes Zeugnis in 
seinen kleinen, aber methodisch bedeutsamen und für seine Zeit wirkungsvollen 
Schriften über Formschneidekunst, mit denen er sich an der „großen Streit- 
frage des то. Jahrhunderts“ (Kugler) nach der Originalität Holbeinscher Schnitte 
beteiligt). Eine intime Stellungnahme des Betrachters ergibt sich der graphischen 
Kunst gegenüber, in der sich die Empfindung am freiesten offenbart. Die Hand 
zeigt in der Linie die zartesten Regungen des Gemüts, den leisesten Zug des 
Willens. „Einsicht, Feuer, Gefühl des Künstlers zeigt sich in den äußeren Be- 
grenzungen des Linienzuges: also hieß es selbst Hand anlegen, wo man den Geist 
aufs feinste und edelste aussprechen wollte®).“ Es ist, als lausche Rumohr auf 
den Herzschlag des Künstlers, um ihn dann unter Tausenden herauszuerkennen. 
„Die technischen Entwicklungen gehen ausnahmslos von einem Drange des Geistes 
aus“, also gehe die Frage, „ob es eigenhändige Formschnitte gäbe, die Kunst- 
historie im ganzen an“. 

Man lasse das Gefühl bei Entscheidungen über Kunstwerke walten! — ist dem- 
nach die Forderung Rumohrs, wie sie seit Du Bos bis zu unserer Gegenwart immer 
wieder erhoben wurde. Rumohrs Gefühl beruht auf einem ungewöhnlich großen 
Reichtum an Vorstellungen, die seine scharfe Beobachtungsgabe aus seiner viel- 
seitigen Erfahrung angehäuft hat. Nach seiner Gewohnheit, starke Wirkungen auf 
ihren objektiven Wert und ihre Ursache zu prüfen, präzisiert er verstandesgemäß 
wissenschaftlich jedes seiner Kennerurteile durch historisch gewonnene Beglau- 


(1) Rumohr. (э) Rumohr: Drey Reisen nach Italien, 8. 3. 

(3) Ebenda, 8. 3. Rumohr zeichnete und radierte. Der Wert solcher Kunstübung für seinen kriti- 
schen Blick ist offenbar. Zeichnungen von seiner Hand scheinen zahlreich im Privatbesitz zu sein. 
Ich sah im Kupferstichkabinett zu Dresden (Zwinger) etliche, datiert 1838, 1832, 1836; desgleichen 
einige seiner seltenen Radierungen aus den Jahren 1811 und 1812. 

(4) Unter den methodischen Hinweisen in seiner Geschichte der Formscbneidekunst 1837. 

(5) Vgl. Bibliographie, 8. VI, Man folzte sehr rasch seinen Anregungen und seiner Forschungs- 
methode. Umbreit, Buch über die Holbeinfrage erscheint wie ein Spiegelbild des Rumohrschen Buches. 
(6) Zur Geschichte und Theorie der Formschneidekunst. 1837, 8. 16 u. folg. 


124 


bigungen. Für Echt und Unecht, für Gut und Schlecht gab ihm seine Kunst- 
forschung von den Denkmälern selbst den sicheren Blick, aber nicht minder seine 
Liebhaberei, für eigene und fremde Kunstsammlungen Erwerbungen zu machen. 
Wie die gelehrten Antiquare des 18. Jahrhunderts, die Mariette, Goncourts, Fro- 
mentin, gelangt er dazu, daß sein Urteil mit scheinbar instinktmäßiger Sicherheit 
das Richtige trifft, auch von Werken, die nach Zeit, Ort oder Meister, durch 
Quellen nicht zu bestimmen sind. Die Schärfe der Kritik und die Umsicht Ru- 
mohrs erscheinen den Zeitgenossen Garanten für die Echtheit und Qualität alter 
Kunstwerke. „Seine Autorität als Kunstkenner verbürgt das Anerkenntnis seines 
Urtheils von anderen Kunstkennern“ ), schreibt Altensen an den Kabinettsrat Al- 
brecht, als es sich darum handelt, Rumohr als letzte Instanz bei Neuerwerbungen 
heranzuziehen, die in Italien für das Berliner Museum gemacht werden sollen’). 

Den unschätzbaren Wert einer kennermäßigen Kritik für Forschungsarbeiten 
sieht — wie auch Waagen — Hotho?) wenn er einen Rumohr als Leuchte für die 
Dunkelheit kunstgeschichtlicher Epochen herbeisehnt: 

„Vom 13. und 14. Jahrhundert ab fast in der ganzen Geschichte der Malerei ist 
keine Epoche, in welcher sich wie bei den älteren Niederländern so viele Künstler- 
namen ohne beglaubigte Werke finden und so viele Werke ohne historische Ge- 
wißheit über deren wirklichen Meister. In der oberdeutschen Malerei ebenso, mehr 
erst in der kölnischen Schule. Hier würde eine historische Kritik wie sie z. B. 
Rumohr in Rücksicht auf einige Epochen des älteren Italiens bis auf Raphael mit 
Scharfsinn, vielseitig gewiegter Gelehrsamkeit und vor allem mit Geist unter- 
nommen hat, höchst förderlich und dankenswert sein.“ 

Damit werden die Ergebnisse einer auf Kennerschaft beruhenden kunstpsycho- 
logischen Forschung‘) als grundlegend für die historisch - philologische gekenn- 
zeichnet. Erst beide Methoden vereint können wahrhaft fruchtbringend sein. 


Kunstförderung. 


Fast drei Jahrhunderte hatte die Autorität der Akademien das westeuropäische 
Kunstleben beherrscht — und gelähmt. Erst im 19. Jahrhundert wurde ihre Macht 
gebrochen. Die anti-akademischen Bestrebungen zu Ende des ı8. Jahrhunderts 
blieben noch ohne bedeutenden Erfolg’). Wenn in Frankreich Diderot gegen die 
einengenden Konventionen im akademischen Unterricht Sturm lief, weil sie eine 
selbständige, freie Entfaltung des Künstlertums hinderte, blieb er doch in den 
wesentlichen Grundsätzen des Akademismus befangen. Er konnte sich weder von 
der Theorie des Eklektizismus, noch der Vermischung von Literatur und bildender 


(1) Am 12. Februar 1829. 

(2) Brief aus den Akten des kgl. Zivilkabinetts im Geh, Staatsarchiv su Berlin. Eine Anzahl Briefe 
(1826—30) von Bunsen, W. v. Humboldt, Altensen, Rumobr u. а. an Albrecht, bzw. den König gə- 
richtet, handeln von Bildankäufen durch Rumohr für die Berliner Sammlung. Aller Опей über R. 
lautet übereinstimmend. Rumohrs Mitarbeit an der Verwaltung des Berliner und des Kopenhagener 
Museums war bedeutend, 

(3) H. а. Hotho: Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei. Berlin 1843, S. 43. 

(4) Мах Deri: Kunstpeychologische Untersuchungen in der Ztechr. für Ästhetik, hreg. von Dessoir. 
Bd. Ш, Heft 1 und з. Stuttgart 1913. 

(5) Vgl. Dresdner: Die Kunstkritik. München 1915, S. 252ff., 287. W. Hermens: Die Anfänge der 
klassizistischen Zeichnung in Deutschland. Diss. Berlin 1908. Anbang su Kap. Ц, woselbst Literatur- 
angabe über die Entwicklung der Akademien. Vgl. C. Gurlitt: Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts. 
Berlin 1899, S. 193f. 


125 


‘Kunst lösen. Auch ihm war für den Wert eines Kunstwerks die Idee maßgebend, 
nicht das rein malerische oder skulpturelle Element’). Dem allgemeinen Strom 
seiner Zeit eine neue Wendung zu geben, vermochte er nicht; aber er öffnete den 
Ausblick auf eine freie Bahn. 

Der Ruhm eines Vorkämpfers für die Neugestaltung der Akademien gebührt 
erst Rumohr. Ihn leiteten ähnliche Erkenntnisse wie einst Diderot. Doch so 
ernsthaft und unbefangen wie er, hatte noch niemand vor ihm bis zu den Schäden 
und Übelständen im akademischen Lehrbetrieb zu dringen, noch eine Umwälzung 
anzubahnen gesucht’). Rumohr war im Prinzip kein Gegner der Akademien. 
Man bedürfe ihrer vor der Hand zur Ausbildung junger Künstler; aber deren tat- 
sächliche Leistungen ständen in keinem Verhältnis zu dem ungeheuren Kosten- 
aufwand, den die Anstalten jährlich beanspruchen. Die Schuld daran maß Rumohr 
dem Stoffplan in seiner Anordnung und Unzweckmäßigkeit und der Methode des 
Unterrichts zu: beides bedürfe einer Reform von Grund aus. Er stellte seine For- 
derungen nach den Gesetzen einer naturgemäßen Entwicklung auf. 

Die Akademie als höhere Bildungsanstalt verlange eine technische Vorbildung 
für die Aufnahme der Schüler. Im Unterricht passe man sich der Fassungskraft 
des Schülers an: in seinen jungen Jahren mache man ihn mit dem praktischen 
und mechanisch erlernbaren Stoff vertraut und weihe ihn erst nach dem Grade 
seiner geistigen Reife in die Theorie ein. Massenunterricht komme nur für wissen- 
schaftliche Fächer in Frage; Malen und Modellieren könne nur individuell unter 
den Augen des Meisters eingetibt werden. Auch sei für den Künstler eine all- 
seitige Ausbildung der Persönlichkeit als unerläßlich zu betrachten. Der Lebens- 
keim des jungen Talentes werde gestärkt durch Studien vor der Natur selbst! 
Das Zeichnen in den Antikensälen, das Kopieren alter Meister, wie es vorwiegend 
in den Akademien geübt wurde, verwirft Rumohr durchaus. Immer wieder be- 
tont er, daß das ursprüngliche Gefühl für das echt Malerische und die ursprüng- 
liche Schöpferfreudigkeit nur vor der Natur zu ihrem Recht kommen. Allein durch 
eine weise Heranbildung der Künstler könne die Kunst gesunden. 

Vor dem Akademikertum, das sich auf begrifflich-theoretisch gewonnene Ästhetik 
und die Nachahmung alter Meister stützte, verhallten Rumohrs Reformvorschläge 
kaum gehört. Fruchtbaren Boden fanden seine Anregungen und Lehren nur in 
Kreise der Hamburger und Lübecker jungen Künstler, die seine Kunstsammlungen®) 
oft nach seinem Gute Rothenhausen zog. Die Speckter, Milde, Oldach, Asher, 
Morgenstern, Vollmer‘) — wie auch der junge Dresdner Kreis — folgten in ihren 
Studien seinem Hinweis auf das unmittelbare Vorbild der Natur, auf die Wahrung 
eigner und deutscher, oder weitgefaßt, germanischer Originalität. Sie müsse durch 
vertiefte Betrachtung heimatlicher Kunstschätze gefestigt werden, bevor der junge 


(1) Schiller an Goethe am 7. Aug. 1797 aus Jena über Diderot: „Mir kommt vor, daß es Diderot geht 
wie vielen anderen, die das Wahre mit ihrer Empfindung treffen, aber es durch das Raisonnement 
wieder verlieren. Er sieht mir bei ästhetischen Werken noch viel zu sehr auf fremde und moralische 
Zwecke, er sucht diese nicht genug in dem Gegenstande und in seiner Darstellung. Immer muß ihm 
das schöne Kunstwerk zu etwas dienen. Und da das wahrhaftig Schöne und Vollkommene in der 
Kunst den Menschen notwendig bessert, so sucht er diesen Effekt der Kunst in ihrem Inhalt und in 
einem bestimmten Resultat für den Verstand oder für die moralische Wirkung.“ | 

(2) Drey Reisen nach Italien, 3. R., Kap. L | 

(3) J. A. Frenzel: Die Kunstsammlung des Frhrn. С. L. F. v. Rumohr. Lübeck. Beschreibend dar- 
gestellt. 1846, 

(4) Alfred Lichtwark: Hermann Kaufmann u. die Kunst in Hamburg um 1800 --ı850. Hamburg 1893. 


126 


Künstler seine Eigenart schadlos den verführerischen Einflüssen Italiens aussetzen 
dürfe). Im Gegensatz zu der Ansicht der Zeit und trotz seiner eignen Liebe für 
Italien wiederholte Rumohr oft, daß man ein großer Künstler werden könne, ohne 
je Italien gesehen zu haben. Mit der Wärme seines romantischen Empfindens 
brachte er seinen jungen Freunden die Kunst des Mittelalters nahe?) und baute 
dabei mit feiner psychologischer Einsicht auf ein neues und eigenvölkisches Kunst- 
gefühl, das sich den klassizistischen Tendenzen der Akademien widersetze. 

Rumohr wiinschte die akademische Welt von dem Wert seiner Ideen duroh ein 
lebendiges Beispiel zu überzeugen. Sein Versuch, mit der Durchbildung eines ihm 
ganz gefügigen jungen Künstlers scheiterte an Horny, den ihm schon eine akade- 
mische Schulung verdorben hatte. Um so größer war seine Freude an dem jungen 
Nehrlich, den er noch urwüchsig und von blasser Theorie der Kunst unberührt 
fand’). Das war das Holz, das er brauchte. Nach seiner Methode, die er für er- 
folgreich hielt, stellie er der Welt sein Muster auf. Zu den allgemeinen Gesichts- 
punkten, die er vertreten hatte, fügte er die Sorgfalt seiner persönlichen Erziehung. 
Nichts ließ er unbeachtet: auf die Pflege der Hände’ und des Auges, auf „die 
Bildung des sittlichen Charakters und des Verstandes“, sowie auf die geselligen 
Tugenden wurde Wert gelegt. Sein Zögling sollte „in sich aufnehmen, was jemals 
gefühlt und gedacht worden, zugleioh die Natur fest im Auge behalten, welche 
unserem Zeitalter näher gerückt ist als jemals einem früheren“ ). 

Im Knabenalter kam das Technische in der Kunst zur Übung; wie der seelische 
Gehalt dem Verständnis erwuchs, entwickelte sich die Theorie aus der Folge 
lebendiger Anschauung und das alles vor der Natur, dem Quell der Schönheit. 
Von der Nachahmung alter Schulen und Meister wurde vollkommen abgesehen, 
damit eigne Schaffenskraft nicht erlahme. 

Rumohr erntete eine schönere Frucht als er je erhofft hatte. Von Nerly konnte 
er sagen: „Er hat meine klihnsten Erwartungen übertroffen.“ 

Der letzte Zweck ging über das persönliche Interesse hinaus und war die Um- 
bildung des Unterrichtssystems jener Zeit. Rumohr sprach es aus: „Gewiß würde 
ich erst dann mein Ziel für gänzlich erreicht halten, wenn ich erleben sollte, daß 
Nerlys Beispiel zur Nachahmung seines Bildungsweges anreizt°). 

Das sind Grundsätze und eine Methode, die durchaus modern anmuten. Es hat 
beschämend lange gedauert, bis sie sich allgemein durchgesetzt hatten; an den 
Pflanzstätten der Kunst — erst auf der Wende unseres Jahrhunderts! 


RUMOHR ALS THEORETIKER 
Der Begriff der Kunst 


Rumohr grenzt die historische Forschung nachdrücklich von der Ästhetik ab. 
»Die geistige Titigkeit aber, aus welcher die Kunst hervorgeht,“ wie das ganze 


(1) Erwin Speckter: Briefe eines deutschen Künstlers aus Italien, Leipzig 1846, Einleitung, 8. XVI. 
(з) Ebenda, Einleitung S. XXIX und S. 121 ist charakteristisch für die Anforderungen, die ein an 
nordischer Gotik herangebildetes Auge und Raumgefühl an eine Architektur wie hier der Markus- 
kirche in Venedig stellt, auch trots des überwältigenden Eindrucke. 

(3) Cornelius Gurlitt nennt Rumohr (a. а. O., 8. 150) „einen getreuen Pfleger und Leiter für alle 
junge Kunst, wichtig als fast einziger Streiter gegen die Übergriffe der gesetsesgläubigen Ästhetiker.“ 
(4) Drey Reisen nach Italien, 8. бо. 

(5) Ebenda, 8. 257. Diese Wertschätzung Nerlys (so nannte Nehrlich sich in Italien) ist relativ auf- 
zunehmen. 


127 


Gebiet der Ästhetik will er philosophischer Betrachtung!) überlassen wissen. Das 
Wesen der Kunst zu ergründen, versucht auch er: Nicht wie ein Künstler in der 
Wissenschaft, der, was er ahnend vom geheimsten Wesen begreift, in seiner 
Schöpfung zur Gewißheit werden läßt und in der Totalität einer Offenbarung der 
Welt schenkt, sondern als der Betrachter, der Nachsinnende, als den er sich in 
dem Wort Senecas bekennt, das er vor die „Italienischen Forschungen“ setzt — 
das Buch, das die reife Ernte aller seiner Kunstanschauungen und ureigner For- 
schungen enthält —: In studiis puto, mehercule, melius esse, res ipsas intueri et 
harum causa loqui. Auch ist immer eine feine, aber eindringliche pädagogische 
Note in der Art, wie er seine Erkenntnisse ausspricht. Seine Zeitgenossen klagen 
zuweilen über die Dunkelheit seiner Rede bei theoretischen Erörterungen. Sie hat 
das in der Tat; und er ist immer ein wenig umständlich, denn die Sprache ist 
nicht sein eigentliches Mitteilungsorgan. Wie klar, wie melodisch und leicht im 
Fluß seiner Rede weiß Schelling*), sein Geistesfreund, dieselben Grundgedanken 
über die bildende Kunst auszudriicken! Vielleicht lag der Sieg von Winckelmanns 
Theorien zwei Jahrhunderte hindurch ebenso sehr an der leicht faßlichen Dar- 
stellung und dem wundervollen Schwung der klaren Sprache, wie die Vergessen- 
heit, in die Rumohr bald sank, zum Teil in der Weitschweifigkeit der seinen?). 
Wenn Justi‘) von der Theorie Winckelmanns über das Wesen der Schönheit 
sagt: „Zwei Generationen von Archäologen und Kennern aller Zungen schworen 
nicht höher; Philosophen haben diese Sätze in ihr System verschmolzen, und Poeten 
in Versen ausgemalt; Künstler haben nach diesen Sprüchen ihre Gebilde gemodelt 
und allen, die von der Kunst geistig und leiblich lebten, vom Gelehrten bis zum 
Ciceronen, galt sie als Richtschnur“ — so ist das nicht ganz zutreffend: Rumohr 
schwor nicht mit. In der Charakteristik dieser Gefolgschaft liegt zugleich die einer 
Sonderstellung Rumohrs in dem allgemeinen Strom. Seine früheren Schriften‘) 
setzen sich mit der antiken Kunst und den wesentlichen zeitgemäßen Theorien 
über sie auseinander, wo sein Denken eigne Wege geht. Bald verläßt er die Ge- 
biete klassischer Antike um der modernen Kunst des westlichen Europas willen 
und sieht vor deren schillernden Vielgestaltigkeit die Theorien über das Wesen 
der Kunst, über Schönheit und Stil, soweit er sie von seiner Vorwelt und Mitwelt 
übernommen hat, als unzureichend sich wandeln. Bei der Überzeugung erkannter 
Wahrheit hat er kein Bedenken, die Autorität eines Winckelmann, eines Lessing, 
eines Goethe anzugreifen, ja, die Autorität der beiden Letzteren gilt ihm höchst 
bedingt, da Lessing durchaus Unkunde auf dem Gebiet der bildenden Kunst be- 
wiesen und Goethe nie eine feste Stellung ihr gegenüber gewonnen habe. Seine 
Anschauungen über Kunst, in diesem Sinne, sammeln sich wie in einem Brenn- 
punkt in den ersten Kapiteln seiner „Italienischen Forschungen“, betitelt I. „Haus- 
halt der Kunst“ und II. „Verhältnis der Kunst zur Schönheit“, deren Gedankengang 


(1) Italien. Forschg., S. 121; u. a. O. 

(2) Vgl. Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. 1807. (Ges. Werke. 
Stuttgart 1860 ) 

(3) Doch strebt Rumohr nach klarer, sprachlicher Fassung der Begriffe. 

(4) Сап Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 1898, Bd. Ш, 149. 

(5) 1. Erläuterungen einiger artistischer Bemerkungen über die Rede des Herrn Hofrat Jacobs über 
den Reichtum der Griechen an plastischen Kunstwerken. 1810. 3. Über die antike Gruppe Castor 
und Polluz oder von dem Begriffe der Idealität in Kunstwerken. Hamburg 1813. Vgl. Friedrich 
Stock: Rumohrs Briefe an Robert v. Langer 1919; zumal die Vorrede, in der auf die reformatorischen 
Ideen der Schrift „Castor und Pollux“ hingewiesen wird. 


daher diesen Betrachtungen über die Grundzüge seiner Kunstlehre die Unterlagen 
bietet, 

Wesen der bildenden Kunst. Rumohr ist Realist und vertritt mit aller Ent- 
schiedenheit seinen Standpunkt gegenüber seinem Zeitalter. Die moderne Bildung 
neige durchhin zu einer Abtötung des äußeren Sinnes, Er aber sieht in diesem 
das Organ, mit dem der Mensch sich in der Welt, in die er hineingeboren wird, 
nicht allein orientiert, sondern ihm das vermittelt, worauf sein psychisches Leben 
sich aufbaut: alles Geistesleben ist bedingt durch das Sinnenleben. Er schließt 
sich den englischen Empirikern an!). Seine Zeitgenossen sucht er aufzurütteln aus 
ihrem mißverstandenen Platonismus, den sie durch den Autoritätenglauben der 
Jahrhunderte vor ihnen entstellt ohne tiefgründige Prüfung übernommen haben. 
„Wozu die Sinnen, wozu die Erfahrungen, welche sie uns zuführen, wenn unser 
geistiges Dasein schon in sich vollendet in die Welt einträte, der Entwicklung und 
Zeitigung durch äußere Umstände nicht bediirfte? Sind die Erfahrungen etwa ein 
bloßer Pleonasmus der Natur?)?! „Ist es denn so unerfreulich, dem großen Ganzen 
durchaus anzugehören, in und mit ihm zu leben, aus ihm sich täglich zu verjiingen? 
— Ich dächte nicht.“ 

Die bildende Kunst beruht auf der Anschaulichkeit, nach Ursprung und Zweck, 
und sie ist das wesentliche und charakteristische Merkmal gegenüber den Rede- 
künsten; das anschauliche Denken ist ihm die künstlerische Geistesart“). „Die 
bildende Kunst ist eine dem Begriffe oder dem Denken in Begriffen entgegen- 
gesetzte, durchhin anschauliche, sowohl Auffassung als Darstellung von Dingen, 
welche entweder unter gegebenen oder auch unter allen Umständen die mensch- 
liche Seele bewegen und bis zum Bedürfnis der Mitteilung erfüllen.“ 

Die bildende Kunst übertrifft den Verstand, denn dieser vermag die Dinge und 
Ereignisse nur in Teilen und in ihrer Abfolge wiederzuspiegeln, und auch dem ab- 
strakten Denken, wo es Gehalt und Tiefe besitzt, liegt das Anschauliche zugrunde; 
das anschauliche Denken aber ist ein Spiegel des gesamten Geisteslebens, vielleicht 
gar das Ursprüngliche selbst. Die bildende Kunst gibt das anschaulich Erfaßte 
unmittelbar der Anschauung wieder, gibt das Ganze der Erscheinungen in ihrer 
Gleichzeitigkeit und erweitert so das Gebiet des Geistes, befriedigt Wünsche und 
Bedürfnisse der Seele, die der Begriff unerfüllt läßt. Deshalb versetzt Rumohr die 
bildende Kunst weit entschiedener als es jemals vorher geschehen, in das innerste 
Heiligtum alles geistigen Wirkens und Lebens. 

Kunstbetrachtung. Auch für die Kunstbetrachtung fordert Rumohr einen 
neuen Standpunkt, ein Sich-Hingeben an das Kunstwerk und ein Absehen von jeg- 
lichem Hineintragen begrifflicher Momente — eine Forderung, die bis heute ihre 
Gültigkeit bewahrt hat. Das Wesen der Kunst rein aufzufassen ist nur fähig, wer 
sich einer reinen Kunstbetrachtung befleißigt. Dazu gehöre sowohl die Unabhängig- 
keit von jeder Vorliebe für bestimmte Richtungen, Schulen oder Förmlichkeiten 
der Kunst, als auch vom Zweckgedanken, der nie Erschöpfendes geben könne, er 
möge in dem Charakter — der Deutlichkeit — des Dargestellten gesucht werden, 
in der bloß sinnlichen Wahrscheinlichkeit — der Illusion — dem Malerischen oder 


(1) Vgl. das Verzeichnis einer Sammlung von Büchern des verstorbenen Kammerherrn С. F. L. Е. 
von Rumohr 1846, woraus hervorgeht, daß R. die englischen Philosophen wohl eingehend gelesen 
haben mag. 

(з) Drey Reisen nach Italien, 8. 35 — 37. 

(3) Italien. Forschg. I, 8f. 


Monatsheite für Kunstwissenschaft Bd. I, 1931. 9 129 


dem Spiel der Laune, des Witzes, der Phantasie. Sogar unabhängig von den 
Reizen und der Schönheit der Kunst werde ein an sich selbst Ergötzliches in ihr 
gesucht, eine Vorstellung vom Lebensfrischen und sittlich Edlen. Die Eklektiker 
gar sehen den Zweck der Kunst in der Vereinigung aller Leistungen, die ihnen 
je in einzelnen Kunstwerken vorgekommen sind — und dabei legt Rumohr Kritik 
an Winckelmann und Lessing; — für deren Verdienste er ein gerechtes Auge 
hat — auch sie, die Stifter der höheren Richtung des deutschen Kunstsinnes, 
hielten sich von einer solchen Mischung des Besonderen und Allgemeinen nicht 
frei. Beide gehen aus von dem Eindruck einzelner Kunstgebilde des Altertums, 
keineswegs aber von dem Begriff der Kunst, der ursprünglich und scharf ab- 
gesondert sei. Das könne nie zu allgemeinen Kunstansichten führen, weder für 
die antike, noch die neuere Kunst. Die bildenden Künste gehorchen einem durch- 
waltenden Gesetz und enthalten etwas Allgemeines und Unveränderlichee. 

Kunstschaffen. Rumohr glaubt, jedes allgemeine Gesetz der Kunst mit Sicher- 
heit aus den beiden Tätigkeiten der Auffassung und Darstellung ableiten zu können. 
Gestalten, so den Gegenstand künstlerischer Darstellungen zu jener Klarheit der 
inneren Anschauung erhebt, welche die Möglichkeit genügender Darstellung durch- 
aus bedingt“). 

„Darstellung dagegen ist uns der Inbegriff aller Tätigkeiten, durch welche ein 
solches Selbstangeschaute auch anderen möglichst klar und erfaßlich mitgeteilt 
wird.“ 

Die Auffassung, das „künstlerische Wollen“ ist das Wichtigste, die Darstellung 
ist von ihr abhängig und wird den Stempel ihrer Beschaffenheit an sich tragen, 
nach Weisheit, Richtigkeit, Kraft. Hierin liegt der Ausgangspunkt für alle Wertung 
von Kunstwerken bei Rumohr, und hierdurch bricht er mit seiner Zeit, die Winckel- 
mann, Mengs und Lessing folgend in der Schönheit den höchsten Endzweck und 
den Mittelpunkt der Kunst erkennen will. Das Schöne wird lediglich durch Auf- 
fassung und Darstellung bedingt, der Gegenstand selbst ist das Unwichtigste bei 
der künstlerischen Hervorbringung des Schönen. „Denn in jedem Kunstwerke von 
einigem Belang zeigt sich neben dem Gegenstande auch die Seele des Künstlers, 
und zwar mit solcher Gewalt und Eindringlichkeit, daß die Bildwerke und Ge- 
mälde großer Meister wenigstens іп eben dem Maße Abdrücke ihrer eigentlim- 
lichen Geistesart sind, als Darstellungen ihres Gegenstandes. Also können Kunst- 
werke schön sein, deren Gegenstand an sich selbst unschön ist“ 3). 

Rumohr hat eine Umwertung von großer Tragweite vorgenommen, von „höchster 
Wichtigkeit für das Gesamtergebnis der Kunst?), sogar vom Standpunkt einseitiger 
Würdigung der Kunst aus betrachtet. Da besondere Tiefe und Erhabenheit der 
inneren Anschauung vorauszusetzen, wo die Fähigkeit der Darstellung kaum hin- 
reichte, eine milde und gütige Gemütsart, eine schöne Unbefangenheit der Sitte 
auszudrücken.“ Es ist der Geist der Romantiker, der hier wirksam wird. Der 
Schlüssel zum Verständnis einer jeden Kunst war gefunden und einer neuen aller 
Kunst einbeschlossenen Ästhetik das Tor geöffnet. 

Die Wirkung eines Kunstwerkes steht in engster Beziehung zum Charakter des 


(x) Italien. Forschg. I, 14f. 

(2) Beygabe zum ersten Band der Italienischen Forschungen. Hamburg 1827, S. 14. Vgl. Kunst- 
Blatt 1820, Nr. 54, 213—216. 

(3) Italien. Forschg. I, ı5. 


130 


Künstlers; flir Rumohr gibt es keine Trennung des Menschentums vom Künstler- 
tum im Schaffenden. Überzeugend wirkt der Künstler nur, wenn er in das Wesen 
seines Gegenstandes, seiner Aufgabe, so tief einzudringen bemüht ist, als es seiner 
Individualität irgend möglich ist. Auch wird die Kraft der Auffassung immer eine 
Harmonie des Wollens und Könnens herbeiführen, denn der Geist zwingt die 
Hand zu seinem Ziel. Macht sich in einem Kunstwerk ein höheres Wollen be- 
merkbar, als in der Darstellung anschaulich gemacht worden ist, so liegt die Ur- 
sache in der Schwäche des Künstlercharakters, in einem Mangel an männlicher 
Straffheit und Ausdauer. Rumohr kann nicht zugeben, daß ein edier Geist, der 
mit der Fühigkeit, hohe Dinge aufzufassen begabt ist, nicht auch die Kraft auf- 
weisen solite, seine Darstellung der Auffassung würdig durchzuführen. „Der Ein- 
druck eines edien, unter dem Druck äußerer Umstände verkommenden Geistes 
ist notwendig niederschlagend; hingegen kann die leere Fertigkeit der Hand, hinter 
der die geistige Auffassung zurlickbleibt, nur vorübergehend sinngetällig sein.“ 

Das Verhältnis der Kunst zur Natur. In diesem Sinne wird ihm der Mensch 
das Maß aller Dinge: nach seiner Fähigkeit, aus der Natur das latente Gut zu 
lösen, ihren Reichtum zu ergründen und nachzuerschaffen in seiner Kunst. Die 
Natur ist vollkommen, und übertrefflich nur in den Augen der Toren; es ist ein 
Wahn, daß der Künstler sie steigern könne, eine Verirrung, wenn er glaubt, seine 
eigne Welt erschaffen zu können oder zu müssen, in selbst erbildeten Formen. 
Die Verschmelzung unvereinbarer Vorstellungen sei nur in Arabesken, Karika- 
turen u. dergl. m. erträglich. Alle Formen der Darstellung, die sinnlichsten wie 
die geistigsten, sind ohne Ausnahme in der Natur gegeben, die sich dem auf- 
merksamen Geist und dem lebhaften Empfinden bald entfernt andeutend, bald un- 
tibertrefflich in ihren Gestalten ausdrückend, in allem offenbart, was die Kunst 
irgend anstrebt. Die Kunst der Griechen ist so vollkommen und allgemein wie 
unmittelbar verständlich, weil sie die innere, gegebene Bedeutsamkeit der Natur 
erkannt haben und ihr in der Darstellung gefolgt sind. Vermöge dieser Bedeut- 
samkeit der Naturformen ist vieles Große, selbst das Höchste, künstlerisch zu er- 
fassen und darzustellen. 

Hier bildet Rumohr eine Brücke von dem Zeitalter Winckelmanns zu der neuen 
Kunstepoche, die er anbahnt. | 

Den modernen Kunstströmungen, die den Boden der einheitlichen Auffassung 
einer durchgeistigten Natur verlassen, steht Rumohr schroff ablehnend gegenüber. 
Das Festkleben der Naturalisten an der zufälligen Erscheinung ist beschränkt und 
stumpfsinnig; die Idealisten, verführt durch den falschen Begriff des Ideals als 
einer anomalischen, der natürlichen entgegengesetzten Form, erschaffen leere Zerr- 
bilder mit dem willkürlichen Ersinnen ihrer Darstellungsformen. Diese Manieristen 
sind die schlechteste Gattung moderner Maler und die Bewunderung seiner Zeit 
für sie ihm unerklärlich, zumal in Anbetracht der wahren und richtigen Kunst- 
anschauungen, die Winckelmann und Lessing allgemein verbreitet hätten. Der 
verhängnisvolle Einfluss Oesers, „dieses grauenhaftesten, leichenähnlichsten aller 
Manieristen“, habe des öfteren den kühnen Flug Winckelmannschen Geistes lahm- 
gelegt, selbst auf der Höhe seines Schaffens. Noch immer könne man sich „jenes 
unseligen Mitteldinges zwischen Irrtum und Wahrheit“, das Winckelmann ihm 
zufolge erzeugte, nicht entledigen. 

Alle „zu Begriffs-Zeichen gestempelten Bilder“ gehören nicht zum Gebiet eigent- 


(z) Italien. Forschg. I, 84. 
131 


licher Kunst. Auch den Typus als Nachwirkung einer Bezeichnungsart von Be- 
griffen und Gedanken: „Die Gleichfirmigkeit in der Darstellung gleicher, oder 
doch verwandter Kunstaufgaben“ will er von der reinen Kunstbetrachtung aus 
schließen und der historischen Archäologie zugewiesen wissen, denn allein in der 
griechischen Kunst „ist die Eigenschaft mit bewundernswürdiger Feinheit dem 
eigentlich Künstlerischen angelegt“. 

SOL In der Frage, was Stil sei!), nimmt Rumohr eine Sonderstellung ein und 
begrenzt sie gegenüber Winckelmann und anderen Kunstschriftstellern. Seine 
Überlegungen gehen von dem Stoff künstlerischer Darstellung aus, den er in einem 
edien — die Summe organischer und natürlicher Formen — und einen groben — 
das Ausdrucksmaterial des Künstlers — scheidet, Da diese beiden Hauptmassen 
des Kunstmaterials wesentlich voneinander verschieden sind, wird das Verhalten 
des Künstlers zu jedem ein anderes sein. Stil ist die Art, wie der Künstler nach 
seinen Ansichten, Gewohnheit, Gefühl, den derben Stoff, der in höherem Maße als 
der edlere seiner Willkür unterliegt, auf eine leicht erfaßliche, sinngefällige Weise 
verteilt und anordnet, also: „...ein zur Gewohnheit gediehenes Sich-Fügen in 
die inneren Forderungen des Stoffes, in weichem der Bildner seine Gestalten 
wirklich bildet, der Maler sie erscheinen macht*). Der Stil kann einmal alle 
Kunstarten gemeinschaftlich und zweitens einzelne für sich betreffen.“ 

Die darstellenden Künste stimmen nur in ihrer Erscheinung im Raum überein; 
so fordert das allgemeinste, umfassendste Stilgesetz die Übereinstimmung räum- 
licher Verhältnisse. Dieser allgemeine Stil scheint sich auf frühesten Kunststufen 
auszubilden, weil „die Einfachheit des Wollens und diesem entsprechender Formen 
der Darstellung die Aufmerksamkeit ungetheilt auf die inneren Forderungen des 
derben Kunststoffes lenken“ ); auch hat die Herrschaft der Baukunst über die 
bildenden Künste in diesen früheren Perioden ihren Anteil daran. jede Kunstart 
muß sich an ihren besonderen Stil gebunden betrachten; jede Stilvermischung, 
also Übertragung des Stils einer Kunstart auf die andere, ist geschmacklos. Das 
Zeichnen in den Antikensälen rufe dergleichen hervor! 

In den Fragen über Stilgesetze schließt er sich im wesentlichen an Winckel- 
mann und Lessing an. In seinen Ausführungen über den Stil wünscht er nicht 
nur dessen Begriff gegenüber dem hergebrachten zu klären und umzuformen, son- 
dern ihn auch für die Kunstsprache festzulegen. Er bestrebt sich immer, diese 
durch verstandesscharfe Bestimmungen zu läutern und über die nicht immer zu- 
treffende Künstlersprache zu erheben. 


Schönheitslehre. 


Probleme der Schönheit. „Wer kann sagen, daß Winckelmann die höchste 
Schönheit nicht erkennt? Aber sie erschien bei ihm nur in ihren getrennten Ele- 
menten, auf der einen Seite als Schönheit, die im Begriff ist und aus der Seele 
fließt, auf der anderen Seite als die Schönheit der Formen. Welches tätig wirk- 
same Band bindet nun aber beide zusammen, oder durch welche Kraft wird die 
Seele samt dem Leib zumal und wie mit einem Hauche geschaffen? Liegt dieses 


(т) Vgl. Kunst-Blatt 1820, Nr. 54, 214; 1825, Nr. 1 Schorn; Nr. 75 Rumohr; Nr. 76 Schorn über den 
Stil; und Italien. Forschg. I, 85 ff. und Goethe: Werke (vollst. Ausg. letzter Hand), 1830, S. 180 fl. 
und Weisse: Kl. Schriften zur Ästhetik 1867. 

(2) Italien. Forschg. I, 87. 

(3) Italien. Forschg. I, 87. 


132 


nicht im Vermögen der Kunst, wie der Natur, so vermag sie überhaupt nichts zu 
schaften. Dieses lebendige Mittelglied bestimmte Winckelmann nicht; er lehrte 
nicht, wie die Formen von dem Begriff aus erzeugt werden können. So ging die 
Kunst zu jener Methode über, die wir die rückschreitende nennen möchten, weil 
sie von der Form zum Wesen strebt“ ). So gibt Schelling dem Problem Aus- 
druck, das seine Zeit an der Stelle aufnahm, wo Winckelmann es hingeführt und 
von wo er weiter in das Geheimnis der Schönheit zu dringen begehrte, indem er 
ıseine Betrachtungen von der Kunst auf die Natur lenken wollte, um „die höchste 
Schönheit, die er in Gott fand, auch in der Harmonie des Weltalls zu erblicken“ ). 

Mit der Leidenschaft und Beharrlichkeit einer großen Überzeugung hatte Rumohr 
nie aufgehört, der Künstlerwelt eine fortschreitende Methode, im Sinne Schellings, 
zu weisen — aus der Harmonie des Weltalls das Schöne zu schöpfen, es kraft 
der Schönheit und Tiefe ihres künstlerischen Geistes zu binden, zu lösen und in 
ihrem Geschöpf, dem Kunstwerk, als ein nach Naturgesetzen in sich vollendetes 
Schönes darzustellen. Er nahm den Weg, den Winckelmann einschlagen wollte 
und sah die Kraft, durch welche „die Seele samt dem Leib zumal wie mit Einem 
Hauche geschaffen wird“. Nun mußte sich ihm auch die Schönheit im Gegenstand 
einer künstlerischen Darstellung als unwichtig erweisen; der Grund fiel fort, 
„welcher die sogenannte Schönheitstheorie bestimmt, die Wahl des Gegenstandes 
mit so großer Angstlichkeit zu bewachen“ ). Er lehrte, „wie die Formen von 
dem Begriff aus erzeugt werden“. 

Wie ist nun das Schöne zu erfassen? fragt Rumohr und findet die Antwort: 
„Von der Empfindung selbst, welche uns bestimmt, sichtbare Dinge schön zu 
nennen“ ). So könnte man nur zu einem allgemeinen Begriff der Schönheit ge- 
langen — mit dem sich die Griechen begntigten, die ihre Kunst mit Sonderbegriffen 
vom Schönen unterordneten. Winckelmann und Lessing genügten dem Bedürfnis 
ihrer Zeit, die einzelnen Merkmale der Schönheit zu erkennen, aber sie gingen 
auch vom einzelnen aus, wo es sich darum handelte, den allgemeinen Begriff zu 
finden, was auf diese Weise zu keinem befriedigenden Ergebnis führen konnte. — 
Der Mensch selbst bleibt stets der Mittelpunkt und Ausgangspunkt für seinen Ge- 
sichtskreis und bestimmt dessen Kern in seiner Empfindung — „nur die Empfin- 
dungen eines gesunden Gesichtes, und die Gefühle und Urteile von sittlich edlen 
und geistig fähigen Menschen können bey Untersuchung der Schönheit uns zur 
Richtschnur dienen“ ). Eine Untersuchung der Beweggründe des Wohlgefallens 
am Schauen muß sich an die allgemeine Eigenschaft, weiche wir Schönheit nennen, 
wenden. Die Anregungen des Schönheitsgefühls erscheinen Rumohr in drei ver- 
schiedenen Gattungen; eine Art von Schönheit beruht auf dem sinnlichen Wohl- 
gefallen am Schauen, entbehrt des geistigen und seelischen Gehalts, aber findet 
sich nicht selten in der Kunst und hängt in hohem Maße von der individuellen 
Beschaffenheit der Sinneswerkzeuge ab. 

„Die zweyte Art der Schönheit beruht auf bestimmten Verhältnissen und Fü- 
gungen von Formen und Linien, welche auf eine unerklärte und dunkle Weise, 


(1) F. W. J. v. Schellinga sämtliche Werke. Stuttgart und Augsburg 1860, 8. 296: „Über das Ver- 
bältnis der bildenden Kunst zu der Natur.“ 1807. 

(2) Ebenda, 8. 298. 

(3) Italien. Forschg. I, 133. 

(4) Ebenda, 8. ı36 „Verhältnis der Kunst zur Schönheit“. 

(5) Ebenda, 8. 136. 


133 


doch der Wirkung nach ganz sicher und ausgemacht, nicht etwa bloß das Gesicht 
angenehm anregen, vielmehr die gesamte Lebenstätigkeit ergreifen und die Seele 
notwendig in die glücklichste Stimmung versetzen. Diese Art Schönheit scheint, 
gleich der musikalischen Harmonie, in der allgemeinen Weltordnung ihr Gegenteil 
zu haben').“ Das Gesetz zu erkennen, nach dem sie entsteht und wirkt, ist un- 
möglich, und diese Schönheit ist unwandelbar gültig für alle Menschen. Da sie 
auf die Harmonie von Verhältnissen zurückzuführen sei, will sie Rumohr als „Schön- 
heit des Maßes“ bezeichnen. 

„Die dritte, und für sittliche und erkennende Wesen unläugbar die wichtigste 
Schönheit beruht auf jener gegebenen, in der Natur, nicht in menschlicher Willkür, 
gegründeten Symbolik der Formen ).“ Unabhängig vom sinnlich Wohlgefälligen 
und von der Schönheit des Maßes liegt hier die Erfreulichkeit teils in den an- 
geregten Vorstellungen, teils in der Erkenntnisfreude. 

Also begreift die Schönheit alle Dinge in sich, die „den Gesichtssinn befriedigend 
anregen, oder durch ihn die Seele stimmen und den Geist erfreuen“ und deren 
Eigenschaften „nur auf das sinnliche Auge, nur... auf den Sinn für räumliche 
Verhältnisse und nur... auf den Verstand und dann erst durch die Erkenntnis 
auch auf das Gefühl)“ wirken. In sichtbaren Dingen herrscht bald die eine, bald 
die andere Schönheit vor; „ein fruchtloses Sehnen, alle vereint zu finden, wird gewiß 
um gegenwärtige Freude bringen: kein einzelnes Schöne kann jemals die Allgemein- 
heit des Schönheitsbegriffes selbst gleichsam verkörpern“. 

Eine Untersuchung über das Verhältnis dieser Gattungen der Schönheit zur 
Kunst soll zu der Entscheidung führen, „inwiefern Schönheit des Gegenstandes 
die Schönheit von Kunstwerken bedingt“. 


Schönheit der Kunst. Dies ist die Erkenntnis, zu der Rumohr führt: Das 
sinnliche Wohlgefallen am Schauen beruht auf gewissen Wirkungen des Licht- und 
Farbenwechsels. Nicht jeder an sich schöne Gegenstand wirkt gleich gefällig im 
Kunstwerk. Es kommt also nicht auf die selbständige Schönheit der Dinge, sondern 
auf ihre Darstellbarkeit an, und darin waltet die Geschicklichkeit und der Ge- 
schmack des Künstlers. 

Die zweite Art der Schönheit, „die harmonische Wirkung des in den Gestalten 
und überhaupt in den sichtbaren Erscheinungen dem Maße Unterliegenden“ ist in 
der Kunst von dem Stil des Künstlers abhängig. 

Nach den Gesetzen der natürlichen Symbolik der Form spiegelt sich in jedem 
Kunstwerke neben dem eigentlichen Gegenstand der Sinn und Geist des Künstlers: 
Der Gegenstand wird Träger der Schönheit seines Geistes. 

Also ist‘) „nicht Schönheit der Aufgabe, sondern die geistige Fähigkeit, die sitt- 
liche und technische Entwicklung des Künstlers die wahrhaft allgemeine, unter 
allen Umständen unerläßliche Bedingung der Schönheit von Kunstwerken“. 

Und da — nach Rumohrs Worten — das Kunstwerk das lebendige Produkt aus 
Gegenstand und Künstler ist, so wird durch die Begeisterung „wie mit einem 
Hauche“, die Schönheit der Formen aus der Schönheit, die im Begriffe ist, erzeugt. 

Mit solchen Augen erschaute Rumohr die Kunst und ihren Inhalt, suchte ihr 
Wesen zu ergründen und ein Wertmaß für sie zu finden. Seine erste Aufgabe 


(1) Italien. Forschg. I, 140—141. 

(2) Ebenda, 8. 144. 

(3) Ital. Forschg. I, S. 146. 

(4) Beygabe sum ersten Band der Italienischen Forschung, 8. 14. 


134 


wurde, die Einheitlichkeit zwischen Mensch und Kunst — Natur und Kunst und 
das Gemeinsame ihrer Gesetzlichkeit zur Weltanschauung zu machen. Es kommt 
ihm auf den festgegrtindeten Boden, auf den sicheren inneren Aufbau an, bevor 
er die Fragen des ,,Geisteslebens der Kunst“ — wie ich es nennen möchte — in 
den Mittelpunkt gestellt sehen möchte. Daß Rumohr den historisch-psychologischen 
Gang der Kunstgeschichte als eine Notwendigkeit ftir seine Zeit betrachtet und für 
den zweckmäßigsten hält, geht deutlich aus seiner Stellungnahme den Weimaranern 
gegenüber hervor in seinem Aufsatz!) „Über den Einfluß der Literatur auf die 
neueren Kunstbestrebungen der Deutschen“. Wohl erkennt er an, daß sie die Auf- 
merksamkeit der Welt auf „die Kunst an sich“ lenken. Jedoch ihre harte Ab- 
lehnung der Ansicht, „daß alle bildende Kunst in dem gesamten Geistesleben der 
Zeiten, Völker und Individuen einen festen Grund haben müsse“, bezeugt, daß sie 
die Kunst beharrlich als eine Anhäufung von Teilen nach gewissen Geschmacks- 
regeln, demnach als ein ganz äußerliches Wesen betrachtet haben. 

Noch bei Lebzeiten hatte er die Befriedigung, die wahrste Anerkennung seiner 
Verdienste in der Nachfolge von seiten der Kunstforscher zu genießen. Der blei- 
bende Ausdruck für den Dank seiner Zeitgenossen sind die Worte auf seinem 
Grabdenkmal zu Dresden: 

„Dem geistreichen, kundigen Schriftsteller über Staats- und Lebens- 
verhältnisse der Vor- und Mitwelt, / dem Begründer eines tiefen Stu- 
diums der Kunstgeschichte des Mittelalters, / dem vielseitigen Kenner 
früherer, dem edlen Förderer neuerer Kunst / errichtete dieses Denkmal 

Christian VIII, König von Dänemark.“ 


BIBLIOGRAPHIE 


Schriften des Carl Friedrich Freiherrn von Rumohr 
(und Gegenschriften.) 


(1810. F. Jacobs: Ueber den Reichtum der Griechen an plastischen Kunstwerken. 
München.) 
1810. Erläuterungen einiger artistischen Bemerkungen in der Rede des Herrn Hofrath Jacobs: Über 
den Reichthum der Griechen an plastischen Kunstwerken. München. 4°. 
1812.*) Ueber die antike Gruppe Castor und Pollux oder von dem Inbegriff der Idealität in Kunst- 
werken, Hamburg. Perthes. 4°. 
(1813. Friedrich Tieck: Antiquarische Anfrage. Im Deutschen Museum berg. von 
Fr d. Schlegel. 8. a58f.). 
(1812—13. Für Kritiken über Rumohrs „Castor und Pollux“ vergl. Friedrich Stock: 
Rumohrs Briefe an Robert von Langer, Anm. 31. Charlottenburg 1919.) 
1813. In Friedrich Schlegels Deutschem Museum. Wien. 8°. 
Bd. Ш, 8. 224ff.: Fragmente einer Geschichte der Baukunst im Mittelalter. 
8. 361ff. und 8. 465—502: Über den Ursprung der gothischen Baukunst. 
Ва. IV, S. 479—516: Einige Nachrichten von den Alterthimern des transalbingischen 
Sachsens. 
1815. Denkwürdigkeiten der Kunstausstellung des Jahres 1814, München. 8°. 
1816. Sammlung für Kunst und Historie. Bd. I. Hamburg. Perthes. 8°. 
Ueber das Verhältnis der seit lange gewöhnlichen Vorstellung von einer prachtvollen 
Wineta zu unserer positiven Kenntnis der Kultur und Kunst der deutschen Ostseealawen. 


(1) Racsyneki: Die neuere deutsche Kunst 1841, Bd. Ш, Kap. XII, 374—3785. 
a) Fr. Winkler: Frühe Schriften Rumohrs. Ze. f. bild. Kunst 1921, Febr. 


135 


1820. 


(1822. 
1623. 


1823. 


1824. 


(1825. 


336 


In Ludwig Schorne Kunstblatt des Morgenblattes für gebildete Stände, Beilage. Stuttgart und 
Tübingen. Cotta. 
Nr. 39: Mitteilungen über Kunstgegenstinde. Auszüge aus Briefen von Carl Friedrich 
Freyh. von Rumohr an Dr. Schorn, Florens. 
Nr. 39: 1. Behandlung italienischer Kunstgeschichte. 
з. Altes Bildwerk in Schleswig von Hanns Bügmann. 
. Relief von Peter Vischer in Regensburg. 
. Handschrift mit Miniaturen in München. 
. Gemälde von Raffael in München und Florenz. 
Nr. 52: 6. Altflorentinische Baukunst (Fortsetzung in Nr. 53). 
Nr. 53: 7. Altflorentinische Malerey. 
Nr. 54: 8. Prinzip des Schönen. 
Nr. 55: 9. Tendenz der nachraflaelitischen Kunst. 
Kunst-Blatt Nr. 7—9, Nr. 11—13: Ueber die Entwicklung der ältesten italienischen Malerey. 
Nr. 32: Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganzen derselben in 
Toscana; zur Bestimmung des Gesichtspunktes, aus welchem die neudeutsche 
Malerschule zu betrachten ist. Von einem deutschen Künstler in Rom. 1820. 8°. 
Heidelberg und Speyer in Aug. Oswalds Buchhandlung. 
Nr. 45: Di Cennino di Drea Cennini, trattato della Pittura, messo in luce la prima volta 
con annotazioni dal cavaliere Gius. Tambroni. Roma тёп. 8°. 
Nr. 51—53: Blicke auf den gegenwärtigen Zustand der Malerey, besonders bey den 
Deutschen in: Fiorillos F. D., Geschichte der zeichnenden Künste in Deutech- 
land etc., Bd. IV, 1820. 8°. von Seite 79 bis 116. 
Nr. 63: Antonio Benci, über: Tambronis Ausgabe des Traktats von Cennino Cennini etc. 
in der Antologia Nr. VI, Gingino 1821. Firenze da G. P. Vieusseux, S. 367—394. 


Nr. 71; Nr. 73-74: Einige Merkwürdigkeiten der florentinischen Kunsthandlungen. 
(Beschluß fehlt. T.) 


Kunst-Blatt Nr. 3: Francois Brulliot etc., Dictionnaire des Monogrammes, Chiffres, Lettres 
initiales et Marques figurées, sous lesquelles les plus celébres Peintres, Dessinsteurs, et Gra- 
veurs ont désigné leurs noms, tirés de tous les ouvrages parus depuis quelques sitcles en 
Allemagne etc. et augmentés de quantité de marques ignorées jusqu'à ce jour. Munich 1817, 
1818. Fr. Brulliot, table générale des Monogrammes etc. pour servir de suite et de com- 
plément au dictionnaire des monogrammes, qui a paru en 18617. Munich 1820 etc. 
Nr. 10—12: Bauwerke Pius IL su Pienza und Siena. — Bernhard Rossellini und Fran- 
cesco de Giorgio. 
Nr. 95: Aus einem Schreiben des Herausgebers des Kunstblattes (Kunstwerke in Mann- 
heim, Darmstadt, Frankfurt, Kassel, Hannover, Lübeck). 
Geist der Kochkunst von Joseph König. Überarbeitet und herausgegeben von С. F. v. Rumobr. 
Stuttgart und Tübingen. 8°. 
Dasselbe. 3. Aufl. Ebd. 1832. 8°. 
Dasselbe unter dem Titel „Joseph Königs Geist der Kochkunst“, überarbeitet von K. F. v, Rumohr ... 
neu hrsg. von Robert Habs. Leipzig 1885. 8°. 
Rezension in den Ergänzungsblättern zur „Hallischen AllgemeinenLitteratur- 
seitung“.) | 
Sammlung für Kunst und Historie, Bd. 11: Italienische Novellen von historischem Interesse, 
übersetzt und erläutert von К. F. von Rumobr. Hamburg. 


Kunst-Blatt Nr. 31—34: Xylographie: Hanns Holbein. Formschneider oder Zeichner für Buch- 
druckerstöcke. 


Nr. 48: Nachtrag zu dem Aufsatz „Hanns Holbein etc. etc.“ im Kunst-Blatt 1823, Nr. 31 u.ff. 


Nr. 80: Zweyter Nachtrag zu dem Aufsatze Hans Holbein etc. im Kunst-Blatt 1823, 
Nr. art, und 48. 


Kunst-Blatt Nr. 7: Florenz: Aus einem Briefe an den Herausgeber. 
Kunst-Blatt Nr. 1: L. Schorn, Ueber Styl und Motive in der bildenden Kunst. 


An Herrn Baron С. F. v. Rumohr. Nr. 76: L, Schorn: Antwort an Herrn Baron 
von Rumobr.) 


л dp Ge 


— — — ee —— 


1625. 


1826. 
1827. 
(1827. 


1827. 


(1837. 
1628, 


1630. 
1631. 
(1631. 


(1831. 
1631. 
1631. 
(1831. 


1831. 
2632. 
1832. 
1632. 


(1832. 


(1632. 
1833. 
1834. 


1634. 


3834. 
1835. 
1835. 
1835. 
1835. 


1835. 


(1836. 
(1836. 
1836. 
(1836. 
1836. 


Kunst- Blatt Nr. 75: Ueber den Stil in der bildenden Kunst. (Antwort auf Schorn in Nr. 1, 
dessen Antwort in Nr. 76.) 

Nr. 87—88: Alterthimer und Schätze der Kunst zu Copenhagen und in Seeland überhaupt. 
Kunst- Blatt Nr. 6—7: Auszüge aus Joachim von Sandrarts deutscher Akademie. 
Italienische Forschungen, Theil I und Il. Berlin und Stettin, Nicolai. 
A. Hirt: in den Jabrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Rec. des 1. u. a. TDeile 
der Italien. Forschg. Cotta, Oct. р. 1537; Dec, p. 1810.) 
Beygabe zum ersten Bande der Italienischen Forschungen. Berlin 1827. 8°. Hamburg, Perthes 
und Besser. 
von Quandt: in der Hallischen Allgem. Litteratur-Zeitung. Juli, Nr. 166—169.) 
Kunst-Blatt Nr. 38: Nur gelegentlich einer neulich erhobenen Streitfrage über die jüngste Re- 
stauration und den gegenwärtigen Zustand der raphaelitischen Madonna zu Dresden. 

Nr. 67: An den Herausgeber: (Kurse Worte mit Einsendung einer Ankündigung des 

Stiches nach der Pietà von Fra Bartolomeo de St. Marco.) 

Ursprung der Besitslosigkeit des Colonen im neueren Toscana. 8%. Hamburg, Perthes. 
Italienische Forschungen, Theil Ш, Berlin und Stettin, Nicolai. 
A. Hirt: in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Dec., Nr. LXXI, 
8. 891 f., Rec. des 3. Tbeiles.) i 
Fr. Thiersch: Archäologische Briefe im Kunst-Biatt Nr. 45—46.) 
Kunst- Blatt Nr. 79: Herrn Hofrath Thiersch, in Bezug auf Kunst-Blatt 1831, Nr. 45, 46. 
Ueber Raphael und sein Verhältnis zu den Zeitgenossen. Berlin, Stettin, 8°. 
а. im Kunst-Blett Nr. 71—72: Recension über Elogio Storico di Raffaelo Santi 
da Urbino, Fascilo I, Urbino 1829.) 
Ueber den gemeinschaftlichen Ursprung der Bauschulen des Mittelalters. Berlin und Stettin. 8°. 
Drey Reisen nach Italien. Leipzig, Brockbaus. 8°. 
Deutsche Denkwürdigkeiten. Aus alten Papieren. Theill—-IV. Berlin 8°. 
Ueber den Vorbegriff der Idealisierung von Bildnissen in der alten und neuen Kunst. (Auf- 
sats vom 15. Dec. 1832 an den Archäologen Dr. Sillig. Nach dem Ms. abgedruckt in Hr. 
W. Schulz: Karl Friedrich von Rumohr, sein Leben und seine Schriften. Leipzig 1844.) 
Dr. Waagen: DerHerrHofrath Hirt als Forscher über die Geschichte der neueren 
Malerei in Erwiederung seiner Recension des dritten Theile der Italienischen 
Forschungen des Herrn С. F. von Rumobr. Berlin und Stettin, Nicolai. 8°.) 
A. Hirt: Herr Dr. WaagenundHerrvon RumohralsKunstkenner. Berlin, Nauck. 8°.) 
Ein Band Novellen. Müncben, Frans. 
Ueberblick der Kunsthistorie des transalbingischen Sachsens (im a. Bd. des Schleswig-Holstein- 
Lauenburgischen Archivs). · 
Der letzte Savello. Novelle. Im Taschenbuch „Urania“ auf das jahr 1834, 8. 1—73, Leipzig. 8°. 
Dasselbe. Leipzig 1875. 8%. Reclams Univ.-Bibl. 398. 
Schule der Höflichkeit. Für Alt und Jung. 
Stuttgart und Tübingen, Cotta. 80. Th. I und П, 
Ein zweyter Band Novellen. München. Franz. 8°. 
Novellen Bd. I und Il. München 1833—1835. 8°. 
Kynalopekomachia. Der Hunde Fuchsenstreit. Hrsg. von C. F. v. Rumohr. Mit sechs Bildern 
von Otto Speckter. Lübeck, von Rhoden. 
Geschichte der Köngl. Kupfersticheammiung zu Copenhagen. Ein Beitrag zur Geschichte der 
Kunst und Ergänzung der Werke von Bartsch und Brulliot. Hrsg. von С. F. v. Rumohr und 
]. М. Thiele. Leipzig, Weigel. 8°. | 
Frenzel: Rec. im Kunst-Blatt, Nr. 40—41.) 
Sotsmann: im Kunst-Blatt, Nr. 30—33.) 
Hans Holbein, der jüngere, in seinem Verhältnis aum deutschenFormschnittwesen. Leipzig, Weigel. 8°. 
Sotzmann: im Kunst-Blatt, Nr. 63) 
Auf Veranlassung und in Erwiederung von Einwürfen eines Sachkundigen gegen die Schrift 
Hans Holbein der jüngere in seinem Verhältnis zum deutschen Formechnittwesen. Leipzig. 
Weigel. 8°. Lübeck, von Rhoden. 


1:7 


1897. Zur Geschichte und Theorie des Formschneidekunst. Leipzig. 8°. 

1837.1) Allessandro Bonvicino, genannt Moretto und sein künstlerisches Verbältnis su Giovanni An- 
tonio Licinio, genannt Pordenone, in einem Aufsatz dargestellt in der Zs. L’Eco, Milano. 2°. 

1838. Reise durch die östlichen Bundesstaaten in die Lomberdey und zurück, über die Schweiz und 
den oberen Rhein, in besonderer Beziehung auf Völkerkunde, Landbau und Staatswirtschaft. 
Lübeck. 8°. 

1838. Historische Belege zur Reise durch die östlichen Bundesstaaten in die Lombardey und zurück 
über die Schweiz und den oberen Rhein, in besonderer Besiehung auf Völkerkunde, Landbau 
und Staatswirtschaft. 

1638. Schönheit ein Traum. Novelle. Jg. I, 8. 1, 34. 

1840. Lehr- und Wanderjahre des Raphael Santi von Urbino, Malernovelle. Jg. I, 8. 41, бо. 

In „Italia“. Mit Beiträgen von A. Hagen etc., hreg. von Alfred Reumont. 

1641. Untersuchung der Gründe für die Annahme: dass Maso di Finiguerra Erfinder des Handgriffes 
sei, gestochene Metaliplatten auf genetztes Papier abzudrucken. Leipzig, Weigel. 80. 

1841. Ueber den Einfluß der Litteratur auf die neueren Kunstbestrebungen der Deutschen; in der 
„Geschichte der neueren deutschen Kunst” von Athanasius Graf Racsynski. Aus dem Franzö- 
sischen übersetzt von Heinrich von der Hagen. Berlin, Bd. Ш, Kap. XII, 8. 371—3832. 
Daselbst S. 233—335: Mitteilungen von Rumohr über Maler Hamburgs, vom 4. Nov. 1838. 

1642. Vorwort zu der Uebersetzung J. B. A. Meyers von Jean Jacques Altneyer: „Der Kampf demo- 
kratischer und aristokratischer Prinzipien zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Dargestellt 
in drei Monographien. Aus dem Französischen. Lübeck. 8°. 


Briefe С. Р. von Rumohrs 


In „Briefe an Tieck“, hrsg. von Holtel. Bd. III. Breslau 1864. 

Im Geheimen Staatsarchiv, Berlin С. 3: Briefe des Kronprinsen Friedrich Wilhelm an Rumohr und 
Korrespondenz über Anschsffungen für die preußische Kunstsammlung, 

Im Hausarchiv zu Charlottenburg: Briefe Rumohrs an Friedrich Wilhelm IV. 

In der Sächsischen Landesbibliothek, Dresden N. 6. 

In der Bayerischen Staatsbiblioihek zu München. Briefe Rumohrs an v. Langer. 

С. F. von Rumohr und K. Griineisen: Deutsche Kunst, Artikel im Brockhausischen Konversations- 
lezikon. 


Vollständige Literatur über Rumohr vergl. in der gleichbetitelten Dissertation 
der Verfasserin. Halle 1920. 


(х) Vergi. den Nachdruck F. Winkler in Ze, f. bild. Kunst, Febr. 1921: С. Fr. v. R.: „Die deutschen 
Kleinmeister“. L'Eco Milano 1837. | 


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f 
DAS TODESJAHR DER DOROTHEA VISCHERIN 


0000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000. 


Г der Besprechung von Georg Seegers „Peter 
Vischer der jüngere. Ein Beitrag zur Geschichte 
der Erzgießerfamilie Vischer“, Leiprig 1897. hat 
m. W. Kreisarchivar Bauch!) erstmals das Todes- 
jahr der zweiten Ehefrau Peter Vischers des Älteren, 
Dorothea, nämlich 1495 statt 1493, vermutlich auf 
Grund des abschriftlich im Kreisarchiv Nürnberg 
befindlichen Großtotengeläutbuches von St. Sebald 
1439—1517 richtiggestellt. Dort wird unter den 
von Kreuzerhöhung (14. September) bis Lucie 
(13. Dezember) Verstorbenen an fünfter Stelle auf- 
geführt: Dorothe(a) Peter Vischerin. 

Mit Hilfe der genaueren Todesdaten des mit 
dem Sebalder Geläutbuch gieichgehenden Groß- 
totengeläutbuchs von St. Lorenz 1454—1516 können 
wir, was Bauch unterlassen hat, noch enger fest- 
stellen, daß ihr Begräbnis zwischen dem 19. und 
23. September 1495 stattgefunden hat; sie muß 
also zwischen dem ı8. und 22. September ver- 
storben sein. Das Lorenser Geläutbuch führt zwar 
Dorothea Vischerin selbst nicht auf, wohl aber, 
ganz übereinstimmend mit der Sebalder Namens- 
liste, eine ihr im Tode unmittelbar vorausgehende 
„Prigita Hans Linkin“ (begraben am Samstag 
nach Kreus Erhöhung — 19. September) und einen 
nachfolgenden „Kuncz Rudolff“ (begraben am Mitt- 
woch vor Michaelis — 23. September). 

Für die Behsuptung, daß Dorothea Vischerin 
im Jahre 1495 noch gelebt hat, können wir nun 
auch einen urkundlichen Beweis erbringen’). 


(3) Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürn- 
berg, Heft 13, 1899, 8. 290—3296. 

(3) Eigentlich wäre schon eine andere, in der Vischer- 
literatur ebenfalls, wie es scheint, noch nicht bekanntge- 
wordene urkundliche Notiz geeignet. diesen Beweis zu er- 
bringen, wenn bier das Haus am Band genannt und da- 
durch jeder Zweifel behoben wäre. Es ist dies ein Proto- 
kolt in den sog. Libri Conservatorium des Nürnberger 
Stadtarchive Bd. 3a, Fol. 233a. Dort findet sich ein Bin- 
trag vom 17. August 1405, wonach sich Dorothea, Peter 
Vischers Ehefrau, für sich und ihren zur Zeit krank (,,pet- 
пей“) darniederliegenden Ehemann verpflichtet, bis Aller- 
heiligen 1496 an den Einnehmer (,,drifler) des Deutsch- 
ordenshauses zu Nürnberg 48 fi. Rheiniech in fünf Fristen 
su bezahlen. Am Schluß ist anbangsweise vermerkt, daß 
jene Summe am Dienstag, den 33. November 1496, in der 
Tat vollständig entrichtet war. Dieser Eintrag lautet wört- 
lich folgendermaßen: Secunda post assumpcionis Marie 95. 
Dorothea Peter Vischers eliche hausfrau für sich 
und den itsbenanten iren hauswirt, der dieser zeit petriß 
Hgt, confitetur hern Michaeln Spies, drieBler im teutschen 
hans, 43 guidein Reinisch, 10 auf Martini, то zu mit- 
vastes, 10 su pfingsten, 10 auf s. Jacobs tag und die letzer 


Von ALB. GÜMBEL-Nürnberg 


Im Jahre 1495, am 11. August, stellt Elisabeth, 
Witwe des Nikolaus von München, dem Peter 
Vischer und Dorothea, dessen „ehelichen Wirtin“, 
einen Gegenbrief dahin aus, daß sie jederseit das 
Recht haben sollen, eine Ewiggilt von 3 fi. Rhei- 
nisch Jährlich, die ihr das Vischersche Ehepaar 
aus zweien zu Erbrecht (,erbechaft") besessenen 
Häusern su Nürnberg „am egk vor dem schieß- 
graben vber“, die einerseits an die Pegnits, ande- 
rerseits an Hans Vischers Haus grenzen, um den 
Betrag von бо Я. Rh. wieder abzulösen. Die Ur- 
kunde!) haf folgenden Wortlaut: Ich Elsbeth, 
Niclaus von Münichen seligen eliche wittibin, 
burgerin su Nuremberg, vergich offenlich fur mich 
und all mein erben und thu künt allermenigklich: 
nachdem mir Peter Vischer und Dorothea, 
sein eliche wirtin, drei guldin reinisch jerlichs 
gattersins und gelts an und außer irer erbechaft 
der zweier heuser mit aller irer gerechtigkait, sü- 
und eingehörung, allhie sü Nürmberg am egk 
vor dem schießgraben uber, anrainem ort an der 
Pegnitz und an dem andern ort an Hansen Vischers 
haus anainander gelegen, recht und redlich ver- 
kauft haben, wie dann sollichs mein kaufbrief, 
mit der hernachbenanten sigiern ditz briefs an- 
hangenden insigeln versigelt, von inen ausgangen, 
in lengern worten innhelt ; also bekenn ich, vor- 
genannte Elsbeth von Münichen, das ich dem ob- 
genanten Peter Vischer, Dorothea, seiner wirtin, 
iren erben und allen iren nachkomen, inhabern 
vorgemeiter erbschaft der zweier heuser, die lieb 
und freuntschaft getan hab und thu jetso wissent- 
lich in kraft ditz briefs also, das sie, ire erben 
oder innhaber jets gemelter erbschaft die vor- 
gemelten drei güldin von mir oder meinen erben 
mit sechzig güldin reinisch landswerung und 
mit апте! versessens und verfallens gattersins 
und gelts auch scheden, ob wir dern darunder 
icht redlich und ungeverlich erlitten hetten, wol 
widerum abkaufen mögen, wann, wellichs jars 


frist, 8 guldein, auf aller heiligen tag, alles allerschirist 
nacheinander volgende, als erclagt, erfolgt und unverneut 
su besalen. testes rogati her Niclaus Groß und Endres 
Stromer. act. ut supra. 

her Michel Spies obgenant, drißler, in craft seines ampts 
dixit tot. solut. testes rogati her Linhart Gruntherr und 
Peter im Hof. tercia post presentacionis Marie 96. 
(з) Allgem. Reichsarchiv in München, Ansbachische Lehens- 
urk., Pfintsingsche Dokumente Nr. 59. | 


139 


oder um wellich zeit im jare uber kurz oder lang 
sie wollen und ine am allerbesten füget. und wan 
sie sollichen widerkauf also, wie vorlaut, getan 
haben, alsdann soll inen mein vorgemelter kauf- 
brief und mir oder dem oder den, davon sollicher 
widerkauf getan wirdet, diser reversbrief widerum 
ein- und uberantwurt werden on all irrung und 
einträg allermennigklichs furbas ewigklich; und 
des alles zu warem urkund so hab ich obgenante 
Elsbeth von München mit vieiß erbeten die erbern 
und weisen Michel Bamgartner und Virich Füterer, 
baid burger und genanten des großern rats zu 
Nurmberg, das sie ire aigne insigel zu geseugnus 
obgeschribner sachen offenlich gehangen haben 
an disen brief, des wir jetz genanten Michel Bam- 
garıner und Virich Fütrer also gescheen sein be- 
kennen, doch uns und unsern erben on schaden, 
der geben ist am dinstag nach s, Laurentzen tag 
nach Cristi unsers lieben herren geburt vierseben 
hundert und in dem fünfundneunzigsten jar. 

Der Einwand, daß es sich möglicherweise um 
eine Gilt gehandelt habe, welche die Witwe des 
Nikolaus von München schon längere Zeit vor 
1495 von Poter Vischer und Dorothea, dessen 
Ehefrau, gekauft hatte, wird dadurch bintällig, daß 
nach dem Nürnberger Brauch Hauptbrief und 
Revers das gleiche Datum tragen mußten. Wir 
besitsen leider den im Reversbrief erwähnten, 
durch die gleichen Siegler bekräftigten Hauptbrief 
nicht mehr; wäre dies der Fall, so würde sich 
die Übereinstimmung der Daten beider Briefe so- 
gleich ergeben. 

Auffällig erscheint, daß 1495 von zwei Häusern 
am Sand die Rede ist, die sich im Besitse des 
Vischerschen Ehepaars befinden, während in eini- 
gen uns bekannten Urkunden aus dem Jahre 1493 
stets nur eines Hauses am Sand „beim Schieß- 
graben“ oder „gegenüber dem Schießgraben“ als 
Wohneits Peter Vischers gedacht wird. So ver- 
weist der Meister am Eritag nach St. Lorenzen 
(= 13. August) 1493 seiner Ehefrau Dorothea ihr 
eingebrachtes Heiratsgut und seine eigene Wider- 
lage (contrados) im Gesamtbetrag von 130 fi, 
Rheinisch auf sein Haus und Hofrait „am sannde 
bey dem schießgraben, darinn er see“ ). Auch 


(з) Der von Lochner in seiner Ausgabe von Joh. Neudörfers 
Nachrichten von Künstlern und Werkleuten in Nürnberg, 
8. 24, nur in kursem Auszug und ohne Quellenangabe ver- 
merkte Verweisungsbrief lautet nach dem abschriftiichen 
Eintrag in den sog. Libri literarum des Niirnber,er Stadt- 
archives, Bd. X, Fol. 66a, wörtlich folgendermaßen: [Wir. 
schultheiß und die schöpfen des stadtgerichts su Nürnberg 
bekennen], das fur uns kam in gerichte Dorothea, Peter 
Vischers eeliche wirt[in], burgerin au Nurm- 
berg, und pracht (= bewies) mit unsers gerichts buch, 
das die erbern herr Peter Nutzei und Enndres Geuder der 


140 


bei der nicht lange vorher (am ı. Juni) vor- 
genommenen Abfindung seines Bruders Wilhelm, 
dem die Hälfte dieses Hauses zustand, durch 
Hinauszahlung von 160 fl. Rheinisch {wird nur 
ein „haus am eck gegen dem schießgraben über“ 
genannt*), Und noch früher, am Montag vor 
Walburgis (29. April) hatte er an den Goldschmied 
Jakob Singer 7 fi. Ewiggelds aus der Erbschaft 
seiner Behausung „gegen dem schießgraben auch 
dem stege uber“ *) verkauft‘). Hier ist also überall 


Junger vor gericht auf ir ald gesagt hetten, des sie 005 
geladen seugen weren, das der genant Peter Vischer am 
eritag nach s. Lorentsen tag nlichstvergangen vor ine fur 
sich und all sein erben verjehen und bekannt hett, das er in 
kraft der he:ratsberednüß zwischen sein und ir, der ge 
nannten Dorothea, seiner eelicr. en wirtin. durch herru Ni- 
clausen Grolannd beschehen, dieselben Dorothea, sein 
eeliche hausfrauen, beder irer heiratschets. nemlich 120 gui- 
din reinisch landswerung, recht und redlich auch endlich 
und unwiderruflich in dem allerpesten form und rechten, 
als er das fur allermenigklich widertailn und abeprechen 
immer tun solt. kunt und mocht, versichert und verweiset 
haben wolt suf der erbschaft seiner behausung und hof- 
raiten mit aller und legklicher ir gerechtigkalt, su- und ein- 
gehorung am sande bei dem schießgıaben, darinn er sefe 
und daran die aigenschaft mitsambt . , . . (Lücke; es ist 
noch die Höhe des Eigensinses einzusetze) Wilhalm Hallern 
wer, und ob ir daran abgeen wurdt, auf alle und jegk ich an- 
der sein habe und güter, nichtzit ausgenomen noch hind- 
angesatz , also und іп der gestait und maßen, das sie soli- 
cher ir beder susehets vor allermenigk'ich darauf versichert, 
verweiset und wartend und habend sein und beleiben solt, 
als ob sie die mit endlichem rechten darauf erciagt, ervolgt 
und erstanden bett, doch alles dem vorgenanten Wilhaim 
Haller und seinen erben als sigenherrp vorbemeiter be- 
hausung ап irer aigenschaft, sinsen und rechten апе scha- 
den, ale das derselb Wilhalm Haller auch also verwilligt 
und angesagt hat. detur litera. testes ... (Nicht ausgefälit.) 
(з) Gümbel, Neue archivalische Beiträge sur Nürnberger 
Kunstgeschichte. Nürnberg 1919. 8. 30. 

(3) Gemeint ist der heute sogenannte „Fischersteg“, der 
den Plats „Am Sand“ mit der Insel „Kleinschütt“ ver 
bindet. Nach Älteren Abbildungen (s. B. auf dem Konspekt 
der Stadt Nürnberg des Hier. Braun vom J. 1608) war er 
früher mit einem hölsernen Dach überdeckt Auf Grund 
der vorliegenden Angabe könnten die heut gen Nrn. тэ 
oder 34 des Platzes „Am Sand“ in Betracht kommen, von 
welchen die Nr. 1з einen sehr schlecht in die Umgebung 
passenden Neubau darstellt, während die Nr. 14 heute noch 
so siemlich die alte Gestalt mit hölzernen Bäulengalerien 
auf die Pegnitz heraus zeigt. Ich glaube, daß wir in letzterem 
Hause Peter Vischers älteste Werkstätte vor uns haben. 
(4) Libri literarum in Stadtaıchiv Nürnberg, Bd. X, Fol. 13b 
[Wir .. . schultheiß und die schöpfen der stat Nurmberg 
bekennen], daß fur uns kom in gerichte Jacob Singer, der 
goldschmied burger su Nurmberg, und bracht mit unsers 
gerichts buch, das de erbern Wilhbalm Hegnein und Lien- 
hard von Plawben vor gericht auf ir aid gesagt hetten, das 
sie des geladen zeugen wern, das Petter Vischer, auch 
burger zu Nurmberg, vor ine fur eich und all sein 
erbei verjehen und bekannt, das er von und außer der 
erbschaft seiner behausung und hofraiten mit aller and 
jeglicher irer gerechtigkait su- und eingehörung, alhie zu 
Nurmberg gegen dem schießgraben auch dem stege uber 
und sunechst an Hannscn Vischers haus gelegen, siben 
guidin reinisch landswerung jerlichs gattersins und -geitz 
recht und redlich verkauft und zu kaufen gegeben hett, ime 
demselben Jacob Singer und seinen erben zu haben und 
zu niessen, auch jerlich su raichen und su geben, halb auf 
s. Waltpurglen] tag und halb auf s. Michelsteg. furbas 
ewigklich und mit besalung des ersten halben sinses auf 
den nachstkommenden s. Michelstag ansufahen; und gelobt 


— 


OO ee eign ee — ee 


nur von einem Hause die Rede. Es ist wahr- 
scheinlich, daß Dorothea jenes andere Haus in 
die Ehe einbrachte und notwendigerweise bei Be- 
lastung des Hauses mit einer Ewiggilt in der 
Urkunde genannt werden mußte. Da Peter Vischer 


sie дей zu wern fur gattergelt als gattergelts und deer 
stat recht wer uad auch nemlich also, das er, derselb Jacob 
Singer, mit sein sinshand damit tun und laben mocht, wie 
und was er will, ungebinde t von menigklich, wann er im 
ain nemlich summa hundert und viersig guldin reinisch 
landswerung su dank раг darfur ausgericht und besalt, 
darumb er ın und scin erben fur sich und sein erben gar 


im April 1493 (also vor seiner Verbeiratung mit 
dieser Dorothea) in dem Haus am Sand „zunächst 
an Hannsen Vischer Haus“ wehnte, muß das ein- 
gebrachte Haus der Dorothea jenes gewesen sein 
das nach unserer Us kunde an die Pegnitz grenste. 


und geaslich quit, ledig und los gesagt hett; und das alles 
were auch geschehen mit willen und wort Wilhelm Hallers, 
des die aigenschaft mitsamt 5 guldin statwerung an der 
vorbenanten behausung were, doch im an seiner aigen- 
schaft, sinsen und rechten on schaden. det(ur) Litera. testes 
herr Hanns Rumel und herr Вером Schurstad. за post 
Waltpurgis 124092 


HEINRICH GLÜCK, Das Hebdomon 
und seine Reste in Makriköi. Unter- 
suchungen zur Baukunst und Plastik von 
Konstantinopel. Wien, Österreich. Staats- 
druckerei 1920. 84 S. 8°. Mit 39 Abb, 
auf 11 Tafeln. (Beiträge z. vergleichen- 
den Kunstforschung, herausg. vom kunst- 
historische. Institute der Universität Wien 
[Lehrkanzel Strzygowski, Heft Il.) 

Der Assistent des genannten kunsthistor, Insti- 
tuts war 1916/17 nach Konstantinopel entsandt 
und benutste u. a. dort die Gelegenheit, um auch auf 
dem Gebiete der altchristlichen Kunst zu arbeiten. 
Er war neuerdings auf die Baureste aufmerksam 
geworden, die in einer der Vorstädte Konstanti- 
nopels, іп Makrikéi, zutage liegen. Ausgrabungen 
durften natürlich nicht vorgenommen werden, aber 
sum Nachweise, wie wertvoll solche sein würden, 
teichten die Denkmäler und die Quellen, die sich 
damit vereinigen ließen, doch. 

Das Buch ist in erster Linie eine Anregung, 
der Problematik der frühchristlichen Kunst auf 
dem Boden von Byzanz nachzugeben, vor allem 
mit dem Spaten in der Hand. Das Fruchtbare 
der Arbeit G.s ist neben der Anregung zu Aus- 
grabungen auf dem Boden Makriköis u. a. für 
die früheste Zeit die Annahme, daß der sog. doo- 
uixds vads ein tonnengewölbter Saalbau gewesen 
sei. Hier wird die Forschung einzusetzen haben, 
indem sie die mesopotamischen Voraussetzungen 
und die Einführung dieses Typus durch Apollo- 
doros von Damaskus auf den Boden von Rom 
(Tempel der Venus und Roma) vergleichend prüft, 
Es wird sich dann herausstellen, daß die Aus- 
stattung der Bauten, die G. in den bekannten 
Stichen Menestriers auf das Hebdomon besieht, 
dem des römischen Doppeltempels entspricht, so- 
weit wir heute noch nach den Innenspuren 


schließen können. Es ist die Ausstattung der 
Wände mit Nischen und Statuen, wie sie von 
den Bauten Baalbeks so gut bekannt ist. Insofern 
also begegnen sich die Zusammenhänge mit den 
Annahmen, die Glück den Menestrierschen Stichen 
entnimmt, deren Ursprung er der Kürze halber 
nicht nachgegangen ist. Auch wird man erwarten 
dürfen, daß er die Deutung des in diesen Stichen 
dargestellten Triumpbzuges und seine Annahme 
der Zugehörigkeit zu einer Spiralsäule, über die 
vorläufig nichts weiter bekannt ist, näher begründet. 

Glück macht einmal Ernst mit der Identifisie- 
rung des Ortes Makriköi, mit dem Lieblingspalaste 
der byzantinischen Kaiser, dem Hebdomon. Er 
beschreibt zuerst die Reste, gibt dann die histo- 
rischen Daten über den Palast und sucht nun 
beide Reiben miteinander zu verbinden. Die Me- 
nestrierschen Stiche nach einer Triumphalsäule 
geben für die Frühzeit Anlaß dazu. Glück sieht 
in ihnen einen Festaug des Valens, der beim Heb- 
domon beginnt, Der Vergleich mit dem Diokle- 
tianspalaste und dem des Theoderich in dem 
Mosaik von 8. Apollinare nuovo gibt ibm dafür 
stilistische Anhaltspunkte. Dargestellt seien das 
Tribunal und die Kirche Johannea des Evange- 
listen, von der noch entsprechende Reste in einem 
Umbaue des Basileios Makedo erhalten sind. Es 
handelt sich angeblich um einen außen reich mit 
Nischen und Statuen geschmückten „vads doouuxds". 
Theodosios errichtete dann im Hebdomon die 
erste Kuppelkirche, eine solche mit Konchen und 
eingestellten Säulen. Die Besprechung der Kirche 
des Propheten Samuel, die 407 von Arkadius er- 
richtet wurde, fübrt Glück auf die bekannte Trierer 
Eifenbeintafel, die er ihrem künstlerischen Wesen 
nach dem 5. Jahrhundert suschreibt. Er sieht 
darauf die Einweihung dieser Kirche dargestellt. 
Der Bau des Arkadius leitet über auf die Ein- 
führung des östlichen Raumbaues in Konstanti- 


141 


nopel. Es wird die Möglichkeit der Einwölbung 
des einschiflgen Provinsialtypus erörtert und dann 
auf die Bauten des Justinian und der späteren 
Kaiser eingegangen. Das Buch bringt so einen 
wertvollen Überblick über die allmähliche Heraus- 
bildung jener Bauformen, die, vom Osten nach 
dem Westen wandernd, am Hofe von Byzanz 
herrechend geworden sind. JosefStrzygowski. 


SVERIGES KYRKOR, Konsthistoriskt 
Inventarium utg. av Sig. Curman och 
Johnny Roosval. Dalarne 1, 2: Falu 
Domsagas Norra Tingsl. bearbet av 
Gerda Boethius. Stockholm, Norstedt 
1920. 12 Kr. 


So dankbar man die fleißige Betriebsamkeit an- 
erkennen mag, mit der Gerda Boethius gleich- 
getreu Körner und Spreu susammengefegt hat, so 
bätte doch die Höflichkeit der Herren Heraus- 
gober nicht in die Verlegenheit gesetzt werden 
müssen, diesem Eifer Schranken zu setzen. Ihn 
einzuschränken haben sie sich nicht entschließen 
wollen oder dürfen. Kurs gesagt, das kunst- 
historische Inventarium enthält einiges, wovon 
wenigstens der Berichterstatter nicht einsehen kann, 
daß die Mitteilung davon zur Sache gehört und 
von der Vollständigkeit erfordert wird. Vielleicht 
ist das Urteil einseitig? Man fange doch an zu 
lesen: 

„Der Kirchhof, der durch die Erweiterung von 
1879 eine namhafte Ausdehnung gegen Westen 
bin erhalten hat, ist von einer Mauer aus rohen 
Feldsteinen im Süden und Westen eingefaßt, sein 
östlicher Teil von einem gegossenen Eisengitter 
und der hinzugesogene Bereich im Westen von 
einer Hecke. Das eiserne Gitter ist 1879 auf dem 
großen Hofe zu Kniva gegossen. Im Süden 
und im Norden sind Eingänge mit geschmiedeten 
eisernen Türen, zwischen viereckigen weiß an- 
gestrichenen Ziegelpfeilern, mit schwarzen Platten 
gedeckt.“ Der Lageplan im Maßstabe von 1: 2000 
tut noch das übrige, uns vollständig in die Lage 
su sotzen, daß wir uns diesen merkwürdigen Kirch- 
hof vergegenwärtigen. Irgendwie erklärbar und 
insofern berechtigt mag ja diese Ausführlichkeit 
sein; Gerda ist augenscheinlich mit dem Orte ganz 
verwachsen und daher mit ganz besonderer unter- 
schiedaloser Liebe ihrer Aufgabe ergeben. 

Der Hauptgegenstand dieses Heftes ist die Be- 
schreibung einer Kirche su Vika. Diese kennen 
zu lernen ist in der Tat von besonderem Wert, 
und ihre Behandlung gibt diesem Hefte eigene 
Bedeutung. Übrigens hat der Baurat Sigurd Cur- 


142 


man, der Mitherausgeber der ganzen Sammlung, 
persönlich hier gewaltet; er bat die Kirche 1917 — 18 
in Stand gesetst. Ihm und seinen Helfern ver- 
dankt man daber die wertvollsten unter den vielen 
(76) bildlichen Darstellungen, die beigegeben sind. 
Die Kirche liegt, wie die übrigen in dem Hefte 
besprochenen, im Bereiche von Falun mit seinen 
Kupfergruben, also in einem berühmten Bergwerks- 
bezirk und ihre Geschichte sowie der ungewöhn- 
liche Reichtum der Ausstattung wird durch dies 
Verhältnis beleuchtet. 

Der Bau ist teils aus Ziegeln, teils aus Granit 
errichtet. Die ältesten Einzelheiten deuten auf die 
Zeit des Übergangsstils. Die Baugeschichte ist 
verwickelt genug, liegt aber recht klar vor Augen. 
In der ersten Zeit wird eine hölzerne Kirche an 
der Stelle gestanden haben, Grundlagen, die auf 
eine solche deuten, sind im Boden gefunden, Die 
jetzt stehende Kirche stellt sich wesentlich im 
rechteckigen Grundriß vor; sie enthält einen ein- 
‘schifigen Saal, überdeckt von ungemein reichem 
spätgotischem Gewölbe, das im dritten Viertel des 
15. Jahrhunderts übergespannt worden ist, Im 
Süden stößt ein Vorhaus an, lustig gewölbt (um 
1500), im Norden ein kurzer Kapellenflügel und 
eine Sakristei. Dae Äußere ist schlicht und un- 
scheinbar, weiß angestrichen, kein Turmbau. Die 
Kirche hat schöne Glasmalerei des 15. Jahrhunderts. 
Herrlich ist die jetst wieder hergestellte Aus- 
malung, die uns wieder einmal vor Augen führt, 
wie sich der Kunstsinn dieser nordischen Ger- 
manen in Schmückung und Ausstattung der Gottes- 
bäuser gar nicht genug tun konnte. Der Charakter 
der Malereien ist durch die spätgotische Kunst 
wesentlich bestimmt; sie sind augenscheinlich Aus- 
Büsse der hanseatischen Richtung, die rings an 
den Küsten der Ostsee geherrscht hatte. Aber alle 
Strenge der stilistischen Auffassung ist erweicht 
und serfossen. Es ist eine protestantische Aus- 
malung, auf ısso—6o datiert, und ihr reich er- 
sählender Inhalt ist dasu bestimmt, die heilige 
Schrift des neuen Testaments kapitelweise zu er- 
läutern. So dienen nicht weniger als fünf Dar- 
stellungen, allemal mit dem Engel des Matthäus 
als Hauptfigur, der Erklärung des Evangeliume 
Matthäi, und ebenso folgen die andern Evange- 
listen; weiter schließt sich noch eine Fülle einzelner 
Szenen der heiligen Geschichte an. Dies ist alles 
an den Wänden ausgeführt sowie im Chor auf den 
Kappen des reichen Netsgewölbes. Das des Schiffes 
ist ohne Figürliches, aber mit Ornamenten aufs 
berrlichste überzogen. Auf dem Hochaltar steht 


der schöne und große spätgotische geschnitzte 
Schrein, 1918 hergestellt; das 18. Jahrhundert hatte 


ihn als unbrauchbar abseits getan. Künstlerisch 
ist er nicht von hervorragender Bedeutung. Er 
seigt die Kreuzigung im Schrein und zwölf stehende 
Heilige in den Flügeln. Von anderem Schnitz- 
werk, dessen Ursprungsseiten bis ins 13. Jahr- 
hundert zurückgehen, zumeist aber dem 15. Jabr- 
hundert angehören, ist ein großer Vorrat vorban- 
den. Dabei eine Papetfigur von herrlicher Aus- 
führung, die wohl dem Berndt Notke aus Lübeck 
zuzuschreiben ist, dessen Werkstatt auch ein hei- 
liger Martin entstammen wird. Auch eine große 
Georgsgrappe fehit nicht. 

Der vorliegende Band enthält noch die durch 
13:1 weitere Abbildungen erläuterte Beschreibung 
von vier weiteren Kirchen und zwei Kapellen. 
Unter diesen ist wesentlich die reich gewölbte 
Kirche su Svärdsjö zu beachten, die aus einem 
kurzen Rechteck, das dem 13. Jahrhundert an- 
gehören wird, allmählich zu der jetzigen Kreuz- 
form erwachsen ist; der Taufstein ist von got- 
ländischer Herkunft, schön keichförmig mit Rund- 
bogen an der halbrunden Kuppe. Genau die gleiche 
Form, der Übergangszeit oder der letsten romani- 
schen angehörig, tritt vielfach und weithin an 
den Küsten der Ostsee auf. In den meisten dieser 
Kirchen fehlt es auch nicht an weiteren trefflichen 
Ausstattungsstücken. Namentlich fallen darunter 
einige kleinere als beachtenswert auf, Denktafeln 
und eine Nummerntafel. 

Mit Nummerntafeln sind ja unsere heutigen 
Kirchen unsagbar kläglich oder unverschämt aus- 
gestattet, und so wire es billig, doch wieder ein- 
mal am Alten zu lernen. 

Hinter der Behandlung jeder Kirche folgt nach 
dem Plane dieser musterhaft angelegten Inven- 
tarisation eine kurse Zusammenstellung in schwe- 
discher, und eine längere in deutscher Sprache. 
Wir wollen hier eine aus diesem Bande wörtlich 
folgen lassen, um den Lesern ein recht deutliches 
Bild von dem zu geben, was zie bei gebührender 
Beachtung dieser Veröffentlichungen zu erwarten 
haben, auch wenn sie des Schwedischen nicht 
mächtig sind: 

„Die jetzige Kirche in Aspeboda ist in den 
Jahren 1669—8: aufgeführt, Sie ist aus Holz in 
Biockhauskonstruktion gebaut, mit Schindeln be- 
deckt und rot angestrichen. Daa schindelbekleidete, 
mit Teer bestrichene Dach trägt einen Dachreiter 
und vier kleine Ecktürme, Die zahlreichen hölsernen 
Dachspitsen sind für das 17, Jahrhundert charak- 
teristisch (vgl. die frühere Kirche in Sundborn, 8.283). 
Im Inneren der Kirche sind die nackten Stämme 
erst im 19. Jahrhundert gerüncht worden. An der 
Nordwand des Chores war eine erst neuerdings 


abgerissene Orgelempore angebracht, die in mittel. 
alterlicher Weise sich des Dachbodens der Sakri- 
stei bediente (vgl. 8. 163). Wir finden also auch 
hier diese für die Kirchen der Provinz Dalarne 
charakteristische Anordnung einer Nordempore, 
deren ausdrucksvoller Name in der Volkssprache 
(wörtlich ,Gaffenboden’) auf ihre ursprüngliche Be- 
stimmung als Platz der Kirchensänger hindeutet. — 
Die Kansel, eine Arbeit aus dem 17, Jahrhundert, 
ist 1751 vonder südlichen Wand nach ihrem jetzigen 
Platze verlegt worden. 

„Die Kirche besitzt u, a. einen Schnitzaltar, wel- 
cher sich dem Revaler Altar von Berndt Моше 
nähert, Er wurde 1680 mit einem neuen Rahmen 
versehen und weiß und blau Gbermalt. — Unter 
den Inventaren sind ferner zu bemerken: das Tauf- 
decken aus der früheren Hälfte des 17. Jahrhun-; 
derts und eine messingene Taufschale, wahrachein- 
lich in Nürnberg im 16. Jahrhundert gearbeitet. 

„Der Überlieferung nach befand sich schon im 
Mittelalter an anderem Ort der Gegend eine Ka- 
pelle, die 1609 durch einen hölsernen Bau un- 
bekannten Aussehens auf dem Platze der jetzigeo 
Kirche ersetzt wurde. 

„Neben der Kirche steht ein hölzerner, im Jahre 
1688 vollendeter Glockenturm.“ 

Dazu 27 Abbildungen mit schwedischer und 
deutscher Unterschrift. Rich. Haupt. 


ERNST DIEZ - HEINRICH GLÜCK, Alt- 
Konstantinopel. 111 photographische 
Aufnahmen der Stadt und ihrer Bau- u. 
Kunstdenkmäler. Roland- Verlag München- 
Pasing 1920. Kart. M.8.—, geb. M. 12.—. 


Dieses Buch, in erster Linie vom Verlag wohl 
als Erinnerung gedacht für die vielen deutschen 
und österreichischen Soldaten, die im Krieg län- 
gere oder kürzere Zeit in Konstantinopel sich 
aufgehalten hatten, verdient auch alles rege Inter- 
esse der Kunsthistoriker. Denn es bringt in gutem 
Kupfertiefdruck eine Fülle großer und brauchbarer 
Aufnahmen der byzantinischen und türkischen 
Kunstdenkmäler und vermittelt namentlich solchen, 
die diesem Kreis bisher fern standen, eine zu- 
nächst hinreichende Kenntnis davon. Das große 
Werk Gurlits über die Baukunst Konstantinopels 
steht nicht leicht zur Hand und das kleine Büch- 
lein desselben Verfassers, das seinerzeit in der 
Sammlung „Die Kultur“ erschienen ist, bringt nur 
einige kleine Bilder und ist überdies längst ver- 
griffen. Mit dem stets stärker erwachenden Inter- 
өзге, das heute auch die Allgemeinheit der Kultur 
und Kunst des Orients entgegenbringt, sind uns 


143 


aber auch die Prachtbauten Ak- Konstantinopels 
wieder näher gerückt und namentlich die mit 
großem Unrecht in der Wertschätsung des Abend- 
landes ganz vermachlässigten türkischen Bau- 
schöpfungen,, die mit sum Großartigsten und sgu- 
gleich Feinsten gehören, was die gesamte Welt- 
kunst hervorgebracht hat, finden jetst wieder die 
erneute Bewunderung der einsichtsvolleren Euro- 
pier. Mit welchem Nachdruck verlangt s. В. 
К. E. Osthaus in seinen Grundzügen der Stil- 
entwicklung (Hagen 1918) eine kosmopolitischere 
Einstellung der abendländischen Kunstgeschichte — 
eine Forderung, die Josef Strsygowski freilich seit 
äreißig Jahren schon erhebt — und wie rühmt er 
im besonderen die Leistungen des großen Sinan, 
„den wir als den Bramante des Ostens verehren 
dürfen“. Das vorliegende Buch gibt mit seinen 
Tafeln eine eindrucksvolle Vorstellung der türki- 
schen Bau- und Innenkunst, indem es nicht nur 
die großen Moscheen, sondern auch die Paläste, 
Basare, Hane, Brunnen usw. vorführt. Und es 
seigt uns auch die geschichtlichen Voraussetzungen 
dieser Kunst, soweit sie in Byzanz selbst liegen. 
Alle alt- und die wichtigsten mittelbyzentinischen 
Bauten und Denkmäler werden uns gleichfalls in 
guten großen Bildern zur Anschauung gebracht. 
Schon an der Auswahl erkennt man die kundige 
Hand. Kaum wäre hierzu auch jemand berufener 
gewesen als die beiden Wiener Privatdozenten, 
die Kunsthistoriker Dr. Diez und Dr. Glück, die, 
aus dem aufdie Erforschung der Kunst der ganzen 
Erde eingestellten Wiener Institut Sırazygowskis 
hervorgegangen, selbst jahrelang in Konstantinopel 
und im Orient sich aufgebalten haben und durch 
ihre Arbeiten auf dem Gebiet der altchristlichen, 
fräbmittelalterlicben und islamischen Kunstge- 
schichte bekannt sind. Einleitend gibt Ernst Dies 
einen bistorischen Überblick über die wechsel- 
vollen Geschicke der stadt und behandelt Heinrich 
Glück das Stadt- und Kulturbild Konstantinopels. 
Von besonderem Wert sind dann seine kunst- 
geschichtlichen Erläuterungen zu den Bildtafeln, 
die in gedrängter Kürze das Wissenswerte mit- 
teilen, Eine schematische Karte von Konstanti- 
nopel im Mittelalter und einige alte Stadtansich- 
ten vervollständigen die Anschaulichkeit und es 
bleibt nur der eine Wunsch, daß bei einer Neu- 
auflage die paar leeren Stellen im Textteil dazu 
benutzt werden, um auch die Grundrisse der wich- 
tigsten byzantinischen und türkischen Bauwerke 
vorzuführen. 

Karl Ginbart. 


144 


KARL REICHHOLD, Skizzenbuch 
griechischer Meister. Ein Einblick 
in das griechische Kunststudium auf Grund 
der Vasenbilder. Gr. 80. 176 Seiten mit 
300 Abbild, geb. М. 18.—. F. Bruck- 
mann, München. 


Ob der Titel gerade glücklich gewählt ist? Der 
Archäologe, der Reichhold kennt, wird sich bei 
dem Titel allerdinge wohl das Richtige denken, 
aber die vielen anderen Leser werden sagen: 
„Skizzen griechischer Meister? So etwas gibts 
ja gar nicht“, werden infolgedessen an dem Buch 
vorbeigehen und damit etwas versäumen, denn — 
um das Gesamturteil gleich vorweg zu nehmen — 
das Buch ist durchaus geeignet, auch vom rein 
künstlerischen Standpunkt aus, einem empfäng- 
lichen Gemüt wirklich etwae zu geben, vielleicht 
auch die griechische Vasenmalerei ihm näherzu- 
bringen und ihm die künstlerische Qualität, die 
in diesen Bildern und Zeichnungen liegt, zu er- 
schließen. Reichhold hat sich jabrzehntelang mit 
der Wiedergabe griechischer Vasenbilder beschäf- 
tigt und hat sich wie kein anderer in den Stil 
und die Eigenart dieser Kunstwerke hineingeseben. 
Nie sind Vasenbilder auch nur annähernd in so 
vollkommener Weise reproduziert wie in dem 
großen Vasenwerk von Furtwängler und Reich- 
hold (Verlag F. Bruckmann, München). Daß 
Reichhold dabei dem antiken Künstler manches 
abgesehen, ihm in seine Werkstatt hineingeschaut 
und ihn in seinem Schaffen beobachte: hat, wie 
könnt es anders sein? Seine Erfahrungen und 
Beobachtungen legt nun R. in dem vorliegenden 
Buche dar, an Hand von zahlreichen Abbildungen, 
die dem groben Werke entnommen sind, keine 
Vollbilder zeigen, sondern. nur Ausschnitte und 
Einzelfiguren. Die Komposition der Vollbilder 
sieht R. kaum in den Rahmen seiner Betrachtung, 
weil für die Komposition der Bilder nicht der 
Vasenmaler die Verantwortung trägt. Als Klein- 
kunst, die sich Jahrhunderte hindurch fast aus- 
schließlich der Darstellung des Menschen zu- 
wendet, ist die Vasenmalerei stets abhängig von 
der Monumentalmalerei geblieben. Von der großen 
Kunst, der Wandmalerei, empfängt sie Anregung 
und Belebung, von ibr empfängt sie die Motive, 
übernimmt — im Ausschnitt — die fertig kompo- 
nierten Bilder, sowohl die einzelnen Figuren, wie 
auch ihre Anordnung und Verteilung im Raum. 
Die Rechtecke, Kreise, wie die ornamentalen Friese 
mit Götterdarstellungen, Kampfszenen und Bilder 
des häuslichen Lebens sind in ihrer unübertreff- 
lichen Komposition auf der großen Weandfläche 


— eo 


entstanden , für monumentale Bilder, die für uns 
allerdings selbst in der Vorstellung fast unwieder- 
bringlich verloren sind. Standen die Vasenmaler 
so der großen Kunst nahe, so waren sie doch 
innerhalb ihres Wirkungskreises selbständige, 
echaffende und empfindende, wenn auch nach- 
empfindende Künstler, keine Kopisten und Ab- 
schreiber. Das bedingte schon die gans anders 
geartete Technik mit ihren Hemmungen, die es 
nicht leicht macht, die malerische Wirkung auch 
nur einigermaßen wiederzugeben. Ganz andere 
Mittel mußten zur Anwendung kommen, als in 
der Wandmalerei, der die Farbe zur Verfügung 
etand. Dazu kam noch, daß die gebogene, sich 
nach unten stark verjüngende Fläche der Gefäße 
eine veränderte Raumverteilung erforderte, die 
wohl erwogen und berechnet sein wollte. Aber 
das macht der Vasenmalerei ebensowenig Schwie- 
rigkeiten, wie die seichnerische Umbildung. Zeich- 
nen konnten sie, so ohne Mühe, daß sie nicht 
nötig hatten, sich zu wiederholen oder gar sich 
selbst abzuschreiben. Unter tausenden von Vasen- 
bildern können wir keine zwei Figuren nach- 
weisen, die sich genau decken, und wo die Be- 
wegungsmotive gleich sind, ist ihre Ausgestaltung 
im einzelnen immer verschieden. Von Andokides 
sind uns z. B. zehn Athenafiguren in derselben 
Stellung bekannt, und alle diese Figuren sind bis 
zu den kleinsten Einzelheiten herunter differenziert 
Und diese Maler fühlten sich als Künstler, sie 
signieren ihre Werke, ja Euthymides signiert 
nicht allein, er fügt noch hinzu, daß sein Kollege 
Euphronios so schön noch nie gemalt babe. Das 
seugt davon, daß diese Künstler mit Stolz und 
Liebe arbeiteten, im Wetteifer miteinander, so 
daß oft der Erfolg sie mehr freute als der Lohn, 
Wie nun die Maler fortschreiten — die Gesamt- 
beit im Laufe der Entwicklung, der einselne im 
Verlaufe seiner Lehrjahre — zeigt uns R. ап 
vielen Beispielen. Ob das vom archäologischen 
Standpunkt alles richtig ist? Nun, der Gelehrte 
hat gelernt sich zu bescheiden, er kommt oft an 
den Punkt, wo eine Entscheidung nicht möglich 
ist, weil sich dem Material das Letzte nicht ab- 
ringen läßt. Diese Schwierigkeit der Entscheidung 
hat R. in ihrer gansen Schärfe wohl nicht immer 
erkannt, er ist geneigt, bestimmt zu sagen: So ist 
es gewesen, s. B, in der Technik, in der Art der 
Verwendung antiker Vasen, in der Weise des 
Zeichenunterrichts usw. Der Archäologe würde 
oft sagen: es könnte so gewesen sein, os ist wahr- 
scheinlich so gewesen, weil er eben weiter nicht 
zu gchen pflegt, wenn der strikte Beweis nicht 
zu erbringen ist. Aber die bestimmte Art des 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. I. 1931. 10 


Verf. ist vielleicht ein Vorzug des Buches, die 
Geschlossenheit des Ganzen bleibt gewahrt, und 
klar sehen wir, wie die griechischen Vasenmaler 
ihr Ziel, die Beherrschung von Linie und Form, 
erreichten, mit Arbeit und Mühe, von Stufe zu 
Stufe, in gewaltigem Ringen. „Möchten sich 
unsere Künstler“, schließt Reichhold, „daran ein 
Beispiel nehmen und bei der Lösung neuer Kunst- 
probleme ebenso folgerichtig vorgehen und jedem 
übereilten, unsteten Arbeiten entsagen, denn diesem 
folgt, so sicher wie die Nacht dem Tage, der 
Niedergang der Zeichnung, der Zusammenbruch 
der Kunst.“ Aug. Köster. 


L. v. SYBEL, Frühchristliche Kunst. 
Leitfaden ihrer Entwicklung. Mit einem 
Titelbild. IV, 55 S. München, O. Beck, 1920, 


Dieses dünne Heft in Kisinoktav bezeichnet 
einen Markstein in der Geschichte der Forschung 
über die altchristliche Kunst, denn L. v. Sybei 
zieht in ihm die Summe seiner Lebensarbeit, so- 
weit sie der christlichen Archäologie gegolten hat. 
Es ist eine grundlegende Idee, um die er die 
Forschung bereichert hat, aber es ist die frucht- 
barste, die überhaupt in sie hineingetragen wer- 
den konnte, der Gedanke, der den Theologen das 
Vorrecht nimmt, sie ex officio für sich zu bean- 
spruchen und dafür den klassischen Archäologen 
und Philologen den Schlüssel in die Hand drückt. 
Auf die kürzeste Formel gebracht lautet sie: „Die 
altchristliche Kunst erstand nicht in einem künst- 
lerischen Gegensatz zur vorchristlichen Antike, 
sie zehrte auch nicht von Entichnungen aus ihr, 
sondern es war immer dieselbe Antike, gerade 
auch in den Neuschöpfungen“. Dieser Grund- 
sats ist im vorliegenden Laitfaden konsequent 
durchgeführt. Damit wird zum erstenmal einheit- 
lich und gleichmäßig eine wirkliche Geschichte 
der Formenentwicklung gezeichnet, die der Grund. 
riß der christlichen Archäologie von V. Schultze 
(München, Beck 1919) programmgemäß nicht 
geben konnte, während H, Achelis, der zuletzt 
einen „Entwicklungsgang der altchristi, Kunst“ 
(Leipzig 1919) zu geben unternahm, an der Auf- 
gabe kläglich gescheitert ist; wie sehr, wird sinem 
doppelt klar, wenn man die kristallb elle Klarheit 
und wohttuende Sicherheit, mit der hier der Auf- 
bau vollzogen ist, auf sich wirken läßt. 8. grup- 
piert den Stoff nicht künstlich, um su einer be- 
stimmten Auffassung zu überreden, ihm sind auch 
die blendendsten Hypothesen nur Arbeitsbehelfe, 
die ihren Wert nicht durch ihre Verfechter, son- 
dern durch ihre Brauchbarkeit für die Aufbellung 


145 


des Problems erhalten. In der nüchternen sach- 
lichen Klarheit, die auf dem Fundament eines aus- 
gebreiteten Wissens und einer unbefangenen Ge- 
samtanschauung der damaligen Geisteskultur ruht 
und sich in Sätzen von äußerster Konsentriertheit 
ausprägt, liegt ein Hauptreis des Büchleins. So ist 
auf engstem Raum ein übersichtliches Bild nicht 
nur der frühchristlichen Kunst, sondern auch der 
Forschung über sie zusammengedringt. Von dem 
Reichtum des Inhalts läßt sich kaum in wenigen 
Worten eine Andeutung geben. Nur auf die neu- 
artige Epocheneinteilung soll hingewiesen wer- 
den: die 1. Epoche rechnet er bis Hadrian, die 
з. bis Valerian, die 3. von Gallien bis Konstantin, 
die 4. von Konstantin bis Theodosius; weiter 
hinaus sind die Wege durch Ausblicke angedeutet. 
Mit alledem ist nicht gesagt, daß man mit dem 
Verfasser durchaus übereins gehen müßte. Zum 
Beispiel vermag ich die Ausdehnung des Begriffes 
„Hellenismus auf die gesamte Kunst der Kaiser- 
seit nicht zu teilen, glaube vielmehr, daß die 
Entwicklung in dieser Zelt so stark und eigenartig 
ist, daß für den Westen der Begriff des Roma- 
nismus Platz greifen muß, daß aber eslbst im 
Osten der von anderer Seite für die Gesamtepoche 
geschaffene Begriff der Arabismus nur für das 
eigentlich hellenistische Kolonialgebiet: Ägypten, 
Syrien und deren Hinterländer eine mit der Zeit 
wachsende Geltung hat, während allein in Byzanz 
und seinen Kernländern, insbesondere im vor- 
deren Kleinasien der Hellenismus durch Arabis- 
mus und Romsnismus beeinflußt, aber nicht wesens- 
verwandelt weiteriebt (Byzantinismus). Aber das 
sind Dinge, deren Begrindung die Zukunft erst 
bringen muß. Über das, was wir heute als festen 
Besitz unserer Wissenschaft anseben dürfen und 
über die ansehnliche Mehrung, die dieser Besitz 
seit dem Erscheinen der „Christlichen Antike“ 
und durch ihre Wirkung erfahren hat, gibt das 
Büchlein den zuverlässigsten Aufschluß. 

| Edmund Weigand. 


WILHELM R. VALENTINER: „Zeiten 
der Kunstund der Religion“. (G.Grote, 
Berlin.) | 


Die Kunstwissenschaft wird aus den Essays, 
deren sechs der Verfasser hier vereinigt hat, kaum 
neue Tatsächlichkeiten entnebmen können, und 
auch in der schriftstellerischen Anlage oder Me- 
thode bieten sie nichts, was in Erstaunen ver- 
setzen könnte. Aber mag sich der Autor auch 
dem Pian wie der Einzeldarstellung nach auf 


146 


bekannten Pfaden bewegen, so darf man ihm doch 
testieren, daß jeder dieser Aufsätze von einer gə- 
wissen Volikommenheit und harmonischen Steig- 
keit ist, die sich stets über das Philologische 
erhebt, aber andrereeite surfickhakend und be- 
herrecht ist, und gerade zu einer Zeit befriedigen 
muß, die wie die unsere halb noch im Wissens- 
krampf befangen ist, halb einem oft krampfhaften 
Herauespringen aus der Gewifheit in Theorie- 
bildung suneigt. Valentiner rückt in einigen Ka- 
pitein der Weltgeschichte die Gansheit ihres Ab- 
laufs vor Augen. Amenophis IV., Phidias, Wolf- 
ram von Eschenbach, Michelangelo, Tisian und 
Ruysdael verkörpern sechs entscheidende Stationen 
geistesgeschichtlicher Entwicklung, und so welt 
einige Namen überhaupt den Schritt der Jahr- 
tausende anzudeuten vermögen, mag es den hier 
ohne viel Prätention in dieser Hinsicht aus- 
gewählten gelingen, Trotzdem ermangeln die 
Kapitel etwas der Beziehung zueinander und 
lenken das Interesse mehr auf ihre Einzeldarstel- 
lung, die sich nicht immer, vor allem im Abschnitt 
über Michelangelo, ihrem Gegenstand gewachsen 
zeigt, die keinen neuartigen oder gar genialen 
Griff aufweiet, aber doch den Kontur der jeweils 
skizzierten Persönlichkeit repräsentativ auf dem 
politisch - geschichtlichen und weltanschauungs- 
geschichtlichen Hintergrunde festhit, Wir wer- 
den die schöpferische Leistung des Autors gering 
um so höher seine Fähigkeit bewerten müssen, 
in ruhig fließendem Vortrage von verschiedensten 
Forschern Beigebrachtes gesammelt und zur Ein- 
beit ausgereift lebendig werden zu lassen. Dabei 
wird man den historischen Hintergrund am ge- 
tungensten, die religiöse Situation mitunter etwas 
dürftig behandelt finden; dann aber wieder über 
einige Sätze zur rein künstlerischen Erscheinung 
freudig überrascht sein, die in schlichter Weise 
dem Gehalt und der spezifischen Schönheit der 
Form gerecht werden, den Stimmungewert fein 
und gelassen umschreiben. Über Einzelheiten des 
Urteils und der Kinstierpsychologie hier in eine 
Erörterung einzutreten, verbietet der Raummangel; 
sie sind auch von untergeordneter Bedeutung. Im 
gansen ist Valentiners Buch von der Art, die 
heute noch immer seiten ist, und durchaus ein 
Gewinn für den Leser, der ein tieferes, aber sach- 
liches, ein innigeres, aber nicht ausschwärmendes 
Verbälnis zu den großen Symbolen geistiger 
Epochen gewinnen will, ein kulti viertes Lesebuch 
für den im besten Sinne des Wortes bildungs- 
bedürftigen Nichtfachmann. 

Willi Wolfradt. 


WILHELM HAUSENSTEIN, vom Geist 
des Barock. Mit 73 Tafeln. München 
1920. R. Piper & Co. Geb. М. 18.—. 


Ein geistvolies und ein erfreuliches Buch im 
gansen, erfrischend, weil es seine Perspektive: 
aus unserer heutigen Anschauung heraus, nicht 
verleugnet und doch dem ungeheuren Elementar- 
ereignis der Kunst, das wir unter dem Sammel- 
namen Barock begreifen, als solchem gerecht 
wird aus eigenen Gesichtswinkeln. Man konnte 
natürlich von vornherein von Hausenstein nichts 
anderes erwarten als eine flackernde und essayi- 
stische Streife durch die unermeßlichen Gefilde 
dieses Kunstlandes, keine kunsthistorische Ent- 
wicklung oder ästhetische Analysis. Davon ist 
er weit entfernt; und seit Wölfflins Barock buch 
haben wir uns auch an einen gans anderen Zu- 
schnitt der Kunstbetrachtung gewöbnt. Es ist 
immerhin beträchtlich, was Hausenstein an innerer 
Einfühlung in den Geist des 17. Jahrhunderts auf- 
bringt; psychologisch, versteht sich: das ist heute 
unsere Stärke und, weil Hausenstein in ungewöhn- 
lichem Maße, auch quantitativ, repräsentativ ist 
für unser Verhältnis zur Kunst und seinen schrift- 
lichen Ausdruck, vor allem auch die Stärke dieses 
ausgezeichneten Schriftstellers, den nicht nur das 
Sprühend-Dialektische und das essayistische Tanzen 
über die weitesten Beziehungen in Parallele zu 
Meier-Graefe stellt, 


So teilt sich dieses anregende und sehr gegen- 
wartsnahe Buch in 20 Kapitel ein, deren jedes 
eine besondere Seite des schillernden Phänomens, 
seine unglaublichen Widersprüche und Span- 
nungen psychologisch beleuchtet. Wobei die 
Werke und Künstler nur paradigmatisch, als Be- 
weisstücke des Neutrums und Lehrsatzes „Barock“ 
auftreten. (Hausenstein sagt konstant „das Barock“, 
andern und auch mir scheint das männliche Ge- 
schiecht maßgeblicher: man sollte einmal diktato- 
risch diesen Zwist entscheiden; aber wer hat dazu 
Autorität?) Wie fruchtbringend, wie tief solche 
Betrachtungsweise ist, können einige der glän- 
sendsten unter diesen ganz geschlossenen Essays 
schon mit ihren Überschrifien andeuten: Das 
Organische, Mimica, Naturalismus, Gesellschaft, 
Vom doppelten Sinn (das Skeptisch-Zweideutige, 
Gespannte in den künstlerischen Mitteln), Super- 
lativ, Barock und wir: es ist stets dieselbe Er- 
scheinung, aber in anderen Facetten gespiegelt 
und deshalb erschreckend anders und von einer 
fast unmeßbaren Fülle des Ausdrucks und ge- 
formten Lebens. Man müßte abermals ein Buch 
schreiben, wenn man anfangen wollte, über Hau- 


sensteins Behandlung des Stoffes su berichten; 
зо gedrängt ist sie von Gedanken und Geist. Es 
gibt daher auch keine gerade Linie, kein Ab- 
wickeln, kein eigentliches schriftstellerisches Drama 
in dem Buch: alles ist auf gleiche Plattform ge 
stellt, es überschüttet uns mit glitsernden Fouer- 
werken peychologischer Spiele. Und der bleibende 
Eindruck? „Barock“: das Unfaßbare, ewig Be- 
wegte, Organisch - Gestaltlose dieses Stils strömt 
auch aus dem Charakter des Werkes. Vielleicht 
der erste gelungene Versuch, das Ganse des 
Barock in eine weitgespannte Parabel zu fassen; 
ibn nicht als bloße Form zu analysieren, sondern 
воеНвсЬ zu begreifen und die Form aus dem Geist 
der Epoche zu entwickeln. 

Der Pipersche Verlag hat das Buch mit einer 
Anzahl trefflich illustrierender Abbildungen ver- 
sehen und auch sonst sehr anständig und lesbar 
ausgestattet. Paul F, Schmidt. 


TAGEBUCH des Herrn von Chante- 
lou tiber die Reise des Cavaliere 
Bernini nach Frankreich. Deutsche 
Bearbeitung von Hans Rose. F. Bruck- 
mann A.-G., München 1919. 


Dieses vergessene Stück Literatur ist eines der 
interessantesten Dokumente aus der Barockseit. 
Herr von Chantelou, Poussins Mäzen , wird Ber- 
nini während seines Pariser Aufenthaltes im Jahre 
1665 von Ludwig XIV. als Attaché und Dolmetscher 
beigeordnet. Als solcher ist er täglich um den 
Künstler, beobachtet ihn bei der Arbeit, nimmt 
an den Sitzungen der Baukommission teil, so gut 
wie an jenen, die der König dem Bildhauer für 
soine Büste gewährt, seigt dem Italiener, den er 
restlos bewundert, alles was ihm in Paris sehene- 
wert erscheint, bilft ihm die vielen fürstlichen 
Besucher und Besucherinnen empfangen. Alle 
diese Geschehnisse hat er mit der nieversagenden 
Treue des Chronisten in seinem Tagebuch fest- 
gehalten. 

Bei dem ungeheuren Selbstbewußtsein, das Fran- 
sosen so gut wie Italienern eignet, kommt es, trots 
Chantelous vermitteinder Art, su mancherlei schar- 
fen Zusammenstößen. Für Bernini ist es ein un- 
erschütterliches Axiom, daß Rom, wo die Kunst 
am besten „gedeiht“, die hohe Schule für den 
Künstlerist, er bält es für einen Fehler, die jungen 
Leute zuerst vor die Natur zu führen, die „fast 
immer matt und kleinlich“ ist, die Antike allein 
vermittelt „die Idee des Schönen“, die ihnen 
Richtschnur fürs ganze Leben bleiben kann. Wir 
belauschan Urteile über Michelangelo, der sich 


147 


„eo eng wie ein Chirurg“ an die Anatomie ge- 
halten habe, über Leonardo, der als „spekulativer 
Кор:“ abgetan wird, über Tizian, Correggio, Vero- 
nose, Annibale Carracci, Poussin, die Antike, über 
Architektur, Bildniskunst, über wirtschaftliche Fra- 
gen, Theater und Politik und nehmen teil an 
Ateliergesprächen voll sinnlicher Erfahrungen, von 
denen im Gegensatz zu den Regeln der Kunst, 
die auf Akademien gelehrt werden, so selten die 
Rede ist. Wen Berninis Arbeitsweise und Cha- 
rakter interessieren, diese merkwürdige Mischung 
von Selbstbewußtsein und Religiosität, wird trotz 
Baldinucci von Chantelou mebr und Wertvolleres 
erfahren. 

Von Berninis kühnen Plänen, die seine Berufung 
nach Paris bewirkt haben, hat sich nur wenig 
verwirklicht. Ludwige XIV. Marmorbüste ist ent- 
standen, aber die Baupläne für den Louvre wur- 
den nicht ausgeführt, ja das Scheitern dieses groß- 
zügigen Unternehmens bedeutet nichts anderes als 
den Todeskampf zwischen Individualität und höf- 
scher Gebundenbeit. In dem festgefügten franzö- 
schen Pyramidenstaat ist fir das Gottesgnaden- 
tum des Künstlers kein Platz mehr. 

Im Tuilerienbrand vnn 1871 sind Berninis Ori- 
ginalpläne untergegangen, übrig geblieben sind 
allein fünf Stiche von Jean Marot und Chantelous Auf- 
seichnungen. Das Tagebuch, das lange verschollen 
war, wurde in der Gazette des Beaux-Arts (1875 bis 
1884) abgedruckt, Roses vorzügliche Bearbeitung 
bringt ep zum erstenmal in Buchform und in 
deutscher Sprache. Rosa Schapire. 


DIE ARCHITEKTUR des Graltempels 
im jüngeren Titurel. VonBiancaRöth- 
lisberger. Heft 18, Jahrgang 1917 von 
„Sprache und Dichtung“. Verlag von 
A. Francke, Bern. 

Bereits im vorigen Jahrhundert haben Boisserée, 
Droysen, Zarncke, Otte das auf den Namen des 
jüngeren Titurel getaufte und Albrecht v. Scharffen- 
berg zugewiesene mittelhochdeutsche Gedicht hin- 
sichtlich des darin besungenen sagenhaften Gral- 
tempels einer Analyse unterzogen. Das Gedicht 
ist wohl die längste und kühnste architektonische 
Schilderung, die aus dem Mittelalter überliefert 
ist. Der Tempel des heiligen Gral erhebt sich 
auf der Plattform eines Hiigels von Onyx in der 
Grundform einer Rotunde mit 3 Eingängen, einem 
Hauptchor und einem Kranz von 73 Chören oder 
Kapellen. Im Mittelpunkt des Tempels ist in einer 
kleinen Sakristei in Gestalt eines Tempels der 
Gral aufbewahrt. Eherne Säulen tragen die Ge- 
wölbe der Tempelhalle. Während Boisserée an- 


148 


nahm, daß von dem gesamten Rundtempel nur 
die in Kreusform gestalteten Mittelschiffe hoch- 
geführt gedacht sind, nimmt die Verfasserin und 
zwar m. E. mit größerer Wahrscheinlichkeit an, 
daß hinter dem Kapellenkrans der Bau in einer 
einzigen ungeteilten Fläche emporwächst, in deren 
oberen Teil die Fenster eingelassen sind. Diese 
ernste Masse wird durch 36 Chortürmchen belebt. 
Vom Lichtgaden zu dem üher der Führung sich 
erbebenden Mittelturm nimmt die Verfasserin ein 
schräges Pultdach an, dessen goldene Fläche weit 
ins Land binaus leuchtet. Dia Türme haben 
6, Stockwerke und werden durch ein goldenes 
Helmdach mit Nielloversierung bekrönt. Große 
Turmknöpfe aus Rubinen tragen Kreuse aus Kri- 
stall. Auf jedes Krouz ist ein goldener Adler ge- 
lötet, der von der Ferne gesehen frei schwebend 
über den Türmen verharrt. Am Hauptturm bildet 
ein großer Karfunkel den Turmknopf und trägt 
Kreuz und Adler. In dunkler Nacht weist das 
Leuchten des Karfunkals verirrten Templern den 
Weg. Reicher Goldschmuck und viele tausend, 
in allen Farben strahlende Steine überziehen den 
Turm, Der Tempel besitzt zwei höchst kostbare 
Glocken, für deren Kiöppel Gold dient. Die 
Glocken selber sind aus arzibiere geformt. 

Die drei Portale llogen im Norden, Süden und 
Westen des Tempels und sind dem Giauben, der 
Liebe und der Hoffnung geweiht. Im Gegensatz 
zu Droysen, der das in dem mhd. Gedicht be- 
sungene „Jüngste Gericht“ ins Bogenfeld des 
Westportals verweist, verlegt die Verfasserin diese 
Anlage ins Innere der Kirche und bringt sie in 
Verbindung mit der Gestaltung der Orgel. Phan- 
tastisch beschreibt der Dichter den Fußboden des 
Tempels, auf welchem durch rotierende Bewe- 
gung plastisch geformter Fische und Moerwunder 
der Eindruck sich bewegender Meertiere hervor- 
gerufen wurde. Röthlisberger denkt sich diesen 
Fußboden in der Form eines durch einen Hohl- 
raum geteilten Doppelfußbodens, dessen unterer 
Teil durch in den Hohlraum eintretende Luft zur 
Bewegung gebracht wird, wodurch von oben ge- 
soben bei den daran befindlichen plastischen 
Meertieren die Illusion der Bewegung hervorge- 
rufen wird. Ein wundersames Uhrwerk läßt Sonne 
und Mond im Tempel ihre Bahnen ziehen. Das 
Allerheiligste aber ist der kleine Tempel in des 
Mitte der Halle, in dem der Gral aufbewahrt ist. 
Wenn die Verfasserin aber meint, os sei eine 
geschraubte Ausdrucksweise des Dichters, die den 
ganzen Raum einem kleinen Gegenstand vollstän- 
dig unterordnet und nicht umgekehrt den Gegen- 
stand dem Raum, so können wir ihr hierin nicht 


folgen. Darin liegt doch gerade der tiefe Ge- 
danke, daß das kleine aber wunderwirkende Gral- 
gefäß den Mittelpunkt des Riesentempels bildet 
und so die symbolische Bedeutung seiner Wun- 
derkraft in ähnlicher Weise zum Ausdruck kommt, 
wie die hohe Halle des mittelalterlichen Doms die 
kleine, äußerlich unbedeutende Hostie als Symbol 
des Leibes Christi birgt. P. Wolf. 


ALLGEMEINES LEXIKON DER BIL- 
DENDEN KUNSTLER. Herausgegeben 
von Ulrich Thieme. Dreizehnter 
Band: Gaab—Gibus. Leipzig, Е. A. See- 
mann. Lex.-8° 1920. 

Nach vierjähriger Pause ist endlich der Band 
mit der verbängnisvollen laufenden Nummer er- 
schienen. Das äußere Gewand ist leider ein an- 
deres geworden, glücklicherweise jedoch kein 
weniger vornehmes. Diese vier Jahre, die schwer- 
sten, die Deutschland je durchgemacht hat, sind, 
wie es zum Glück erscheint, auch wohl als die 
vier schwersten im Leben des Lexikons zu be- 
seichnen. Auf eine namhafte Spanne Zeit ist 
der Fortgang des Unternehmens nun in der alten, 
vorkrieglichen Weise durch das Eingreifen ver- 
schiedener Freunde gesichert. Es steht zu hoffen, 
daß es sich dann, nach Ablauf dieser Jahre, in- 
folge des allgemeinen Eintritte wieder gebesserter 
Verbältnisse, auf dem gewöhnlichen buchhändle- 
rischen Wege von selbst tragen wird. Auch 
dieser Band beweist, wie sein Vorgänger, daß 
wir auf die Mitarbeiter im Ausland nicht an- 
gewiesen sind. Der Leitung ist zu trauen, daß 
sie uns Übelgesinnten nicht nachlaufen wird. Sie 
spricht sich nicht über den Punkt aus; erfreulich 
wäre es aber, wenn sie sich entschlösse, das Lexi- 
kon so gutwie ganz auf deutsche Füße zu stellen. 
Damit geben wiruns das Selbstbewußtsein wieder; 
und nur mit diesem Stolz wirken wir auf das 
Ausland, das auch in der Wissenschaft so all- 
mählich vergessen hat, was es uns alles verdankt. 
Es gibt einige wenige Erscheinungen, die nur 
der Stammverwandte völlig begreifen kann: z. B. 
die großen englischen Karikaturisten, oder Blake, 
oder William Holman Hunt. Da selbst bei Lexi- 
konartikeln der Biograph immer ein Enthusiast 
sein sollte, und der Enthusiasmus nur aus dem 
ureigensten Verständnis geboren wird, so möchte 
für solche Ausnabmen womöglich die Kraft eines 
Volksgenossen oder eines Verfassers, der den be- 
treffenden Volksgeist zum mindesten von Grund 
aus kennt, gewonnen werden. Für alles andere, 
für alles, wae vom Söller der reinen Kunstwissen- 


schaft betrachtet werden kann, haben wir die 
weitaus besten Kräfte im Hause: — und was 
vor rund hundert Jahren ein einzeiner Mann, 
unser großes Vorbild Nagler fertig gebracht hat, 
müßte doch die gesamte deutsche Fachwelt heute 
spielend bezwingen. 

Dafür, daß an den deutschen Universitäten ita- 
lienische Kunstgeschichte als Hauptsache gepflegt 
wird, gibt auch dieser Band ein Zeugnie ab. 
Solche Leistungen wie die Titel Gaggini, Galli, 
Garofalo, Gatti, Gentile, Gentileschi, Ghezzi, Ghi- 
berti, Ghirlandajo sind gewiß anderwärts nicht 
erreicht worden. Aber auch die anderen Aus- 
länder sind hervorragend bebandelt worden: 80 
s.B. die Familie Gautier-D’Agoty von L. Burchard, 
der, da ihm weitere Quellen zur Verfügung stan- 
den, meine umfangreichen Untersuchungen über 
diese Farbstecherfamilie nicht nur ergänzen, son- 
dern in einigem auch berichtigen konnte. Mit 
geheimer Schadenfreude erblicke ich Claude Geilée 
bier an seiner richtigen Stelle eingeordnet — 
wofür ich so beweglich plädiert habe —, und 
nicht, wie es nach dem sonst im Lexikon ob- 
waltenden Grundsatz hätte geschehen müssen, 
nach seinen Spitznamen unter Lorrain (fransö- 
sischer) oder Claude (englischer Gebrauch). Mit 
jedem Band kommt das Weik dem Ideal näher, 
demzufolge die berühmten Künstler im Verbältnis 
zu den zahllosen unberühmten zurückgedrängt 
werden. Solche Titel wie Gavarni (er hieß Che- 
vallier und nicht Chevalier, wie zwar schon ein- 
mal aus dem Text, 8. 296, 2. Spalte, Zeile 1 
hervorgeht, aber nicht richtig zu Anfang deg 
Titels angegeben wird), und Géricault s. B. bätten 
noch vor acht Jahren den dreifachen Umfang ge- 
habt von dem, womit sie im 13. Band ganz richtig 
auekommen. Um so mehr möchte ich einen kleinen 
Einwand nicht unterdrücken. Wenn die Schrift- 
leitung sich überzeugen läßt, kann sie ihm ja, 
su Nuts und Frommen des Lexikons, der Mit- 
arbeiterschaft zur Beachtung übermitteln. Viel- 
leicht die Hauptleitung des Lexikons besteht in 
den bibliographischen Angaben am Schiuß jedes 
Titels. Es sollte m. E. mit äußerster Strenge 
darauf gesehen werden, daß hier aber nur solche 
Hinweise geboten werden, die den Benutzer, der 
sich der Mühe unterzieht, sie aufzuschlagen, wirk- 
lich etwas bieten. Das ist aber namentlich bei 
den neueren Künstlern durchaus nicht der Fall. 
Man wird noch allzuoft auf Stellen im „Studio“ 
und anderen Zeitschriften verwiesen, wo der 
Künstler einfach mit Namen, obne jedwedes Bei- 
wort, angeführt wird. Ich balte es auch nur ganz 
ausnahmsweise, bei einem modernen Künstler ge- 


149 


nügend, wenn der Hinweis nur auf eine einzige 
Abbildung erfolgt: völlig su unterlassen wären 
Hinweise auf Ausstellungskataloge, die womöglich 
nur den Titel eines einzigen Bildes bringen. Auf 
solche Werke wie Mireur hinzuweisen ist zweck- 
lose Zeitverschwendung, und ist als lediglicbes 
Füllsel unter der Würde dieses Unternehmens. 
Auf во etwas weiß jeder Benutzer in den ent- 
sprechenden Fällen auch ohne das Lexikon zurück- 
zukommen, Wenn ich s. B. aus dem Titel er- 
fahren habe, daß Johann Schmidt Rokoko-Genre- 
bilder gemalt hat, und in welcher Weise er das 
getan, so ärgert es mich nur an, sagen wir fünf 
in der Bibliographie erwähnten Stellen nichts 
weiter zu finden, als daß ein Bild 1888 im Münche- 
ner Giaspalast ausgestellt war, ein anderes „Am 
Herd“, ein drittee „Verliebt“, ein viertes „Im 
Frübling“ getauft wurde, und daß das fünfte von 
einem beliebigen Berichterstatter an der ver- 
wiesenen Stelle für schön erklärt worden ist. 
Namentlich bei neueren Künstlern dürfte in der 
Bibliographie lediglich auf monographische Artikel 
verwiesen werden und auf solche Stellen, wo man 
etwas wirklich Wissenswertes findet, das aus 
Raummangel im Lezikontitel nicht hat genügend 
verarbeitet werden können. 

Prof. Dr. Hans W. Binger-Drosden- Wschwitz. 


A. GRONER, Die Geheimnisse des 
Isenheimer Altares in Colmar. Stu- 
dien zur deutschen Kunstgeschichte. Heitz, 
Straßburg 1920. 42 S. 


Der Verfasser unterlag der Zwangsvorstellung, 
etwas Neues entdecken zu müssen. So entstanden 
die merkwürdigen Ergebnisse: Magdalena ver- 
körpert auf der Isenheimer Kreusigung die Eccle- 
sia, Jobannes d. T. die Synagoge, der allegorische 
Charakter der Magdalena wird lediglich begründet 
durch die kleinere Proportion dieser Gestalt. Bei 
Jobannes, wo dieses Argument wegfällt, wird auf 
das Wort: „Er muß wachsen, ich aber muß ab- 
nehmen“ hingewiesen. Das zweite Hauptbild 
des Altares, für das schwer ein Titei zu finden 
ist, muß sich die Bezeichnung — Pfingstbild 
gefallen lassen, Der Verfasser glaubt, parallel 
dem auf das Jesuskind fallenden Lichtstrahl ginge 
von Gottvater ein zweiter Strahl hinter dem Tem- 
pelvorhang spazieren; „er kommt wieder zum 
Vorschein im Hintergrund des Tempels, von wo 
der heil. Geist kam (?), gefolgt von den Scharen 
der jubilierenden und musizierenden Engel“. Mit 
Hilfe dieses leider schwer verfolgbaren Strables 
konstruiert der Verfasser ein Dreicinigkeitedreieck 


150 


und kombiniert sein Pfingstbild energisch weiter: 
„Konnte die Muttergottes auch fehlen, so hätte 
eine Darstellung mit elf Aposteln noch immer 
das Ebenmaß der Gemälde gestört. Daher verel 
der Künstler auf eine geistreiche Neuerung; er 
ließ den heil. Geist einfach auf die junge Kirche 
herabkommen. Sie trägt auf dem Haupte eine 
ganz wunderbare Krone, einen Kranz von elf 
Feuerzungen, welche der Zahl der Apostel ent- 
sprechen. Diese Feuerkrone setzt die Jungfrau 
in Verzückung.“ Abgesehen davon, daß die Krone 
nur sebn Zinken hat, dürfte die angeführte Stelle 
auch sonst genugsam beweisen, daß diese Studie 
mehr ein Ergebnis der Phantasie als der For- 
schung geworden ist. М. Escherich. 


ROSY KAHN, Die Graphik des Lucas 
van Leyden. Studien zur Entwicklungs- 
geschichte der holländischen Kunst im 
16. Jahrhundert. Straßburg, J. H. Ed. Heitz 
(Heitz und Mündel). 


Wenn auch die Verfasserin weiß, daß „bei der 
Scheidung von Perioden in den Werken eines 
Künstlers die Grensen immer etwas Wilikirliches 
bebalten“,so hat sie mit gutem Erfolg in dieser Pro- 
motionsschrift die Entwicklungsphasen des Lucas 
van Leyden aufgezeigt und das Charakteristische 
seiner wechselnden Kunstauffassung hervorzuheben 
verstanden. Mit großer Gründlichkeit schreitet sie 
von Etappe zu Etappe. Sie weist mit Evidenz 
die Abhängigkeit des Lucas von Engebrechtes in 
besug auf die Übergröße und Überschlankheit der 
Figuren mit schmalen Gliedern und straff ge- 
spannten Muskeln nach. Auf den Einfluß des 
Geertgen tot Sint Jans führt sie die intimen, spe- 
sifiech niederländischen Ansichten des weiten, 
flachen Geländes, das Atmosphärische der Land- 
schaft und einzelne Gewandmotive zurück. Un- 
ergiebiger sind die Untersuchungen über die Ver- 
bindungen zwischen Lucas, den niederländischen 
Kupferstechern des 15. Jahrhunderts und den 
holländischen Holzschnittzeichnern. Hingegen er- 
geben die Kapitel „Lucas und Dürer“ und „Dürer- 
sche Kupferstiche und Holzschnitte* fruchtbarste 
Resultate für die Kunstwissenschaft. 

Auch die formalästhetischen Analysen beweisen 
eine große Einfühlungsfähigkeit in die vorliegende 


Materie, wenn auch manche Bildbeschreibung . 


Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks noch ver- 
missen läßt. 

jedenfalls zeigt diese Arbeit große Kenntnisse 
der weitverzweigten Zusammenbänge der gra- 
phischen Künste jener Zeit. 


Es ist anzuerkennen, daß weniger bekannte 
Holsschnitte und Kupferstiche in Abbildungen bei- 
gegeben wurden, die das Studium des Buches er- 
leichtern. Sascha Schwabacher. 


AUGUST STOER, DeutscheFayencen 
und deutsches Steingut. Mit 265 Ab- 
bildungen (Bibliothek für Kunst- und Anti- 
quitätensammler, Bd. 20). Verlag Richard 
Carl Schmidt & Co., Berlin W. 62. 


Der Verf., der am 3. Juni 1920 einem schweren 
Leiden erlegen ist, hat das Erscheinen dieses 
Buches nicht mehr erlebt. Daß er einer der 
besten Kenner seines Spesialgebietes war und 
vieles von dem, was in diesem Buch sum ersten 
Male systematisch susammengestellt und in einen 
großen Rahmen eingespannt ist, eretmalig im 
„Cicerone“ als Ergebnis seiner Forschungen mit- 
getellt hat, ist den Lesern dieser Zeitschrift be- 
kannt. Stoehr gehörte seinem gansen Wesen 
nach zu jenen stillen, aber unsagbar fruchtbaren 
Forschern, die innere Neigung sum Beruf ge- 
trieben. Er war der eigentliche Schöpfer des 
fränkischen Luitpoldmuseums in Würzburg, das 
als eine der besten deutschen Provinzialsamm- 
kungen nach Aufbau und Inhalt die eigentliche 
Schöpfung dieses Mannes ist, dem Beschel- 
denheit bel Lebzeiten verwehrte, ausgreifend in 
die Breite zu wirken, der aber auf seinem enge- 
ren heimatlichen Gebiet ein vorbildlicher Orga- 
nisator gewesen ist. So darf man einem gütigen 
Schicksal danken, daß er wenigstens dies Ver- 
mächtnis auf dem spesiellen Gebiet seiner For- 
echungen und Neigungen als Sammler noch der 
Nachwelt hinterlassen konnte. Das Buch selbst 
wird in der Tat einem seit langem vorhandenen 
Bedürfnis nach einem zuverlässigen Führer durch 
das fast unerschöpfliche Gebiet der deutschen 
Fayencen und des deutschen Steinguts erstmalig 
gerecht. Andere Forscher werden mit der Zeit 
vielleicht noch weiter vorstoßen, denn der Prozeß 
der Funde und Entdeckungen ist immer noch im 
Fluß. Aber die Art, wie Stoehr sein Material 
gesammelt, disponiert und ausgewertet bat, bleibt 
trotsdem vorbildlich und das Handbuch als solches 
. wird deshalb immer seine überragende Bedeutung 
für die Wissenschaft behalten. Außer den deut- 
schen Manufakturen, die nach der geographischen 
Lage in eine süddeutsche, eine mitteldeutsche und 
eine norddeutsche Gruppe aufgeteilt sind, werden 
die Schweiz mit der Fayencefabrik zu Zürich, und 
Deutsch- Österreich (Salzburg und Gmunden) in 
besonderen Kapiteln des Jetsten Teiles wenigstens 


іа großen Zügen behandelt. Ein Schlußkapitel, 
das sich spesiell an den Sammler wendet, faßt 
die praktischen Erfahrungen des Facbmannes zu- 
sammen und handelt vom Ausbessern und von 
„billigen“ Fayencen, d. h. Jener bösen, susammen- 
geleimten Trödlerware, deren Wert dem der Fal- 
sifikate in nichts nachsteht. Was aber auf diesen 
nabezu sechshundert Seiten an Wissen und Er- 
gebnissen im einzelnen ausgebreitet wird, das zu 
ermessen, lehrt erst die praktische Handhabe 
dieses Buches. Auch die zahlreichen Hinweise 
auf die literarischen Quellen sind dankbar zu be- 
grüßen. Dagegen wird man das Fehlen von 
Markentafein als das einzige schmeizliche Manko 
dieses Werkes ansprechen, das sonst der wich- 
tigste Eckpfeiler an einem Gebäude ist, das dank 
der unermüdlichen Forschung aller Beteiligten 
heute schon bis zum Dachgesims gediehen sein 
dürfte. Georg Biermann. 


R. PAGENSTECHER, Nekropolis. 
Untersuchungen über Gestalt und Ent- 
wicklung der alexandrinischenGrabanlagen 
und ihrer Malereien. Veröffentl. im Auf- 
trage von Ernst v. Sieglin. Leipzig, Gie- 
secke & Devrient 1919. 4°, X, 216, 
broschiert M. 45.—. 


Alexandria bietet ein besonders sprechendes Bọi- 
spiel für die Pendelbewegung der kunstgeschicht- 
lichen Forschung, das Hin und Her zwischen 
Unterschätzung und Überschätzung, bis mit der 
wiederkehrenden Rube allmäblich die rechte Mittel- 
linie gefunden wird. Lange Zeit fast unerwähnt, 
blieb es auch nach der Entdeckung der hellenistischen 
Kunst in Pergamon noch im Schatten, bis dann 
durch ein fast instinktiv wirkendes Gesetz der 
Reaktion auch die alte Rivalin von Pergamon 
ihre Wiedererstehung in der Forschung feierte — 
Ende der achtziger Jahre — und in Theodor 
ıSchreiber ihren beredtesten Verteidiger fand. In 
frischer Entdeckerfreude sonderte Schreiber aus 
dem Kunstgut, das bis dahin meist für römisch 
. gegolten hatte, bestimmte Gruppen für die alezan- 
drinische Kunst aus und übereignete ihr alimäh- 
lich soviel, daß die römische Kunst zuletzt mehr 
ein Anhängsel der alexandrinischen schien, neben 
deren Einfluß der griechische oder kicinasiatische 
nur unbetrichtlich sein konnte. Der Nimbus 


‚ Alexandriens wuchs noch durch die Arbeiten sei- 


ner Nachfolger und als die Bewegung auf die 
christliche Archäologie übergriff und hier zeitweise 
fast den Charakter des Panalexandrinismus gewann. 
Allein schon die von anderen erkannte Notwen- 


151 


digkeit auch Syrien und Antiochia eine Einfluß- 
ephäre auf die römische Kunst zu sichern, begann 
da Abbruch zu tun. Dazu brachten die unter 
Schreibers Leitung von der Sieglin-Expedition un- 
ternommenen Ausgrabungen eine große Ernüch- 
terung. Zwar Schreiber selbst war zu sehr mit 
seinen Anschauungen verwachsen, als daß er noch 
tiefergehende Korrekturen bitte vornehmen können, 
aber sein Nachfolger in der Bearbeitung der Er- 
gebnisse der Sieglin-Expedition, R. Pagenstecher, 
sieht sachlich und leidenschaftslos die Folgerungen, 
die sich aus ihrer unvoreingenommenen Betrach- 
tung in Zusammenhalt mit den Ergebnissen aller 
bisher erfolgten Grabungen aufdrängen. Zunächst 
geschieht das für das Teilgebiet der Bestattungs- 
anlagen, aber aus der antiken Anschauung heraus, 
daß die Ruhestätte des Toten, seine ewige Woh- 
nung, so weit als möglich das Abbild der Woh- 
nung des Lebenden darstellen soll, fällt vielseitig 
klärendes Licht auf wichtigste Fragen der helle- 
nistischen und römischen Kunstgeschichte. 

P. betrachtet zunächst die Form der Grabdenk- 
mäler und findet, daß die helladischen Formen 
weitaus überwiegen; wenig belangreich ist der 
Beitrag Kleinasiens und Byrophönisiens, während 
sich der Einfluß des einheimischen Ägypten in 
der Verwendung des Zinkenaltars, des Obelisken, 
der Pyramide und des ägyptisierenden Naiskos 
äußert. Die Pyramide ist durchaus nicht biufig, 
im Westen tritt sie ebenso wie der Obelisk erst 
seit der frühen Kaiserzeit auf, woraus P. schließt, 
daß erst die römische Provinz Ägypten stärker 
auf den Westen wirkt — direkt wenigstens, denn 
der indirekte Einfluß, vermittelt durch Phönizien, 
dauert schon lange, beschränkt sich aber auf das 
phönizisch-punische Gebiet und hat bier ein stär- 
ker äpytisierendes Gepräge als im ägyptischen 
Hellenismus selbst. Auf dem Gebiete der Kera- 
mik, also der kunstgewerblichen Industrie bietet 
sich ein etwas anderes Bild: Zunächst überwiegt 
— wie in der Plastik — der attische Einfluß» 
dann macht sich Unteritalien stark geltend und 
erst nachdem die Industrie der Großstadt erstarkt 
ist, übt sie ihre Rückwirkung auf Unteritalien aus. 

Die eigenartigste und häufigste Gruppe der 
Denkmäler bilden die bemalten Grabstelen, die 
größtenteils als Grabverschlüsse dienen und eher 
für unterirdische Verwendung als für freie Auf- 
stellung berechnet scheinen, weil die Farben unter 
der ägyptischen Sonne bald ausbleichen müssen. 
Sie sind aber keine alexandrinische Besonderheit, 
sondern die Bemalung tritt überallauf, wo schlechtes» 
löcheriges Steinmaterial eine Veredelung durch 
Stuck und Malerei erforderlich macht. Bin guter 


152 


Teil dieser Stelen ist für Söldner oder deren An- 
gehörige geschaffen und es könnte wohl sein, wie 
Р. vermutet, daß der Typus der Grabespose des 
Soldaten in Alezandria geschaffen worden ist. 
Wichtiger ist eine Beobachtung, die er im glei- 
chen Zusammenhang mecht, daß nämlich die Fi- 
guren auf pompejanischen Wandgemälden mit 
den auffallend hageren und schlanken Proportio- 
nen, die Rodenwaldt früher einmal für typisch 
römisch ansah — er hat diese Ansicht inzwischen 
aufgegeben — wahrscheinlich auf Alezandria zu- 
rückgeführt werden müssen. Daraus würden sich 
wichtige Konsequenzen ergeben, Die Stellen, die 
swischen 333 und зоо zu datieren sind und eher 
eine absteigende Entwicklung verraten, zeigen 
einen auffallend bohen leeren Sockelstreifen, offen- 
dar deshalb, damit bei einer hoben Aufstellung 
die auf der vertieften Naiskosrückwand ange- 
brachten Figuren nicht sum Teil verdeckt werden. 
Perspektivische Vertiefung des Raumes findet sich 
nur bei der Helixostele, über die Р. schon in den 
Alezandrinischen Studien, Heidelberger Sitsungsbb. 
1917, gehandelt hat: sie spiegelt wohl den Ein- 
Auß des alezandrinischen Malers Antiphilos wieder, 
der nach antiker Überlieferung die Darstellung 
des Innenraumes mit Erfolg versucht hat. Eine 
andere Form des Grabverschlusses bildet die 
Scheintür, welche möglicherweise von Makedonien 
(oder Kleinasien) aus eingebürgert wurde. Daß 
das vorkommende Schuppenmuster in den zwei 
oberen Türfeldern durchbrochene Gitterung wie- 
dergeben soll, steht für mich außer Zweifel; denn 
die aufeinander gesetzten Halbbogen finden sich 
als Motiv s. B. für durchbrochene Steinschranken 
von der Kaiserzeit bis tief in die byzantinische 
Zeit. 

Der zweite und unter manchen Gesichtspunkten 
noch wichtigere Teil der Untersuchungen befaßt 
sich mit den hellenischen und römischen Grab- 
anlagen Alexandriens, die Wandmalerelen auf- 
weisen: er will die relative und absolute Chrono- 
logie der Grabanlagen und ihrer Dekoration auf- 
stellen und daraus die Folgerungen ziehen für 
die Bemalung der Häuser der Lebenden in den 
entsprechenden Zeiträumen, Da sind nun zwei 
wichtige Grundtypen zu unterscheiden: das olxor- 
oderKammer-Grab, das aus Makedonien nach Ägyp- 
tenkommt und stets ausgemalt ist, und das Peristyl- 
Grab, das dem Typus des ägyptisch- orientalischen 
Privathauses folgen soll und nie ausgemalt ist; 
beide treten von Anfang an in Alexandria auf. 
Das aristokratische makedonische Kammergrab be- 
schränkt sich auf die ersten Jahrzehnte, nachher 
geht es unter oder wird bis sur Unkenntlichkeit 


entstellt. Das Muster für das Peristyl-Grab bil- 
det die Katakombe von Мех. Ibre Bebandlung 
führt zu einer Untersuchung über das alexandri- 
nische Wohnhaus jener Zeit. Seine Bestandteile 
sind: eicodos, napadpouis, Querhalle, сї90‹оу, olxos 
und Nebenräume. Wenn P. dabei eine Identifi- 
sierung von аї90гоу und atrium durchaus ablebnt, 
so hat er wohl recht für die ältere Zeit; eine 
solche Gleichsetzung ist aber spätestens im Laufe 
des II. Jahrhunderts п. Chr. erfolgt und dre 
ist damals sogar als Lebnwort in den griechischen 
Osten gekommen und vertritt didg:ov; denn nicht 
anders ist es zu deuten, wenn eine Inschrift von 
Lagina (Bull. corr. béll, XI, 165) rd drosior тод 
dyw yvuvaciov nennt. Das Grab von Schatby 
stellt eine offenbare Mischung aus den beiden 
Grundtypen dar; in seinen ältesten Teilen auf die 
Zeit um 330 zurückgehend, erfährt es um 280 
und 230 Erweiterungen. Es reihen sich zeitlich 
an die Gräber von Sidi Gaber und Suk el War- 
dian, dann die verschiedenen Stufen der Anfuschi- 
bucht. Die Katakombe von Mex, mit die groß- 
artigste Anlage, stammt etwa aus dem letzten 
vorchristlichen Jahrhundert und bildet den Über- 
gang zu den Katakombenanlsgen der Kaiserzeit, 
von denen Kom-esch-schukafa aus dem т. u. 3, 
Jahrhundert п. Chr. das meiste Interesse bean- 
eprucht. 

In seinem IV. Kapitel behandelt P. die alexan- 
drinische Wandmalerei. Für die noch vorhelleni- 
stische Zonendekoration bietet Sidi Gaber ein Bei- 
spiel. Dann tritt in Suk el Wardian gleichzeitig 
mit südrussischen Gräbern und dem Dromos von 
Pydna um ago der erste Stil in Erscheinung: die 
Imitation der Quaderwand in Stuck und Malerei, 
wohl auch hier veranlaßt durch die schlechte Be- 
schaffenheit der Hypogäenwand, tritt wabrschein- 
lich zuerst in Alexandria auf, wiewohl auch Delos, 
Priene, Pergamon Beispiele aufweisen können, die 
bis ins 3. Jahrhundert binaufreichen. Auf den ersten 
oder Inkrustationsstil folgen ägyptisierende Male- 
reien, dann figürliche Malereien griechischen Stils. 
Fragmente von Wandmalereien, die im sogen. 
Isium gefunden und Abbildung 113—117 zuerst 
veröffentlicht sind, bilden die einzigen Beweis- 
sticke für das Vorkommen des 2.— 4. Stiles, die 
sich überhaupt im Osten finden. Diese Malereien, 
die wohl ins II. Jahrhundert n. Chr. gehören, er- 
wecken durchaus nicht den Eindruck der Boden- 
ständigkeit, sondern den Eindruck der Übertra- 
gung von außen; deshalb erscheinen die „pompe- 
janischen“ Stile hier mit- und nebeneinander іп 
einer späten Zeit, während sie sich im Westen 
nach angemessenen Zeiträumen ablösen. Daraus 


ergibt sich für P. der Schluß, daß der 2.— 4. Stil 
nicht in Alexandria und überhaupt nicht im Osten 
entstanden sind, sondern im Westen in konse- 
quenter Fortbildung aus dem ersten Stil entwickelt 
wurden. Die einleuchtende Begründung hierfür 
hat er in den schon erwähnten alexandrinischen 
Studien ausführlich gegeben. Der Osten erlebt 
nur eine neue Auflage des ersten Inkrustations- 
stiles, lehnt dagegen die perspektivische Auflé- 
sung der Wand im allgemeinen ab. Die Wand- 
malereien des Isiums bilden daher einen der zahl- 
reichen Fälle der Rückwirkung römischer Kunst 
auf den Osten. 

Die große Bedeutung des Buches, das eine 
würdige Widmung des Verf. und Ernst von Sieg- 
lins zum soojährigen Jubiläum der Universität 
Rostock darstellt, liegt einerseits darin, daß es die 
Einflüsse, welche für das Werden der alexandri- 
nischen Kunst von Bedeutung waren, klarer stellt, 
andererseits ihre Weiterwirkung schärfer umgrenzt 
und die über Gebühr geschätzte Einwirkung auf 
die römische Kunst wenigstens zu einem Teile auf 
das richtige Maß zurückführt. Wer künftig die 
„pompejanischen“ Stile auf Alexandria zurück- 
führen will, wird sich zumindest nach neuen 
und besseren Gründen umsehen müssen, 

Edmund Weigand. 


OTTORYDBECK, Den äldsta kristna 
Konsten i Skone. Lund och Dalby. 
Lund 1920 (2. Veröffentlichung des Ver- 
eins Alt-Lund). 34 S. 4°. mit 22 Abb. 


Dr. Otto Rydbeck, Professor für Vorgeschichte 
und mittelalterliche Archäologie an der Hochschule 
su Lund, hat sich seit langer Zeit um die Er- 
forschung der Schonischen Altertümer besonders 
verdient gemacht. Es ist eine Freude, zu sehen, 
wie ein Kreis von trefflichen Forschern, um den 
Ort der Hochschule Südschwedens geschart, über 
den in kunstwissenschaftlicher Hinsicht bedeut- 
samsten Bezirk Skandinaviens Licht zu gewinnen 
und zu verbreiten geschäftig ist. Von Rybecks 
Werke über den Lunder Dom haben wir in den 
Monatsheften 1916 8.384 gehandelt. In der vor- 
liegenden Schrift beschäftigt er sich mit den dor- 
tigen Anfängen der christlichen Kunst und gibt 
über die Dome zu Lund und Dalby neue Kunde, 
Das Christentum bat hier im 10 Jahrhundert Aus- 
breitung gefunden. Adam von Bremen, etwa 1070, 
konnte mitteilen, daß es hier 300 Kirchen gab. 
Schonen wsr um diese Zeit (1060) vom Bistum 
Rotschild (Seeland), zu dem es zuerst gebört hatte, 
getrennt worden, und in dem weiten Besirk walteten 


353 


zugleich zwei Bischöfe, zu Lund und Dalby. Dalby 
Hegt nur eine Meile von Lund und ging als Bi- 
schofssitz sehr schnell wieder ein. 

Die Kunde von der großen und starken Ver- 
breitung des Christentums in der frühen Zeit be- 
ruhte zunächst nur auf jener der Anzweiflung aus- 
gesetzten Nachricht des bremischen Priesters. Aber 
wir gewinnen bestätigende und ergänzende Kunde 
aus einer großen Anzahl von Runensteinen, ihren 
Zeichen und Inschriften christlicher Bedeutung. Es 
gibt deren in Schonen ein halb Hundert, und zum 
Teil sind sie von recht kunstvoller Ausführung. 
Die ersten Bauwerke selbst sind längst vergangen- 
Es besteht genügender Grund für die Annahme, 
daß man zuerst nur oder fast nur Holzbauten auf- 
geführt babe. Von einem solchen Bau, der sich 
in der Technik mit aufrechtstebenden Eichenplanken 
an die Art der berühmten englischen Kirche zu 
Grcenstead anschließt, hat man zu Lund tief unten 
im Boden genügende Reste gefunden. Die ersten 
Kirchenbauten unterschieden sich, wie man an- 
nimmt, von den profanen heidnischen Bauwerken 
nicht wesentlich; doch hat diese Holzkirche zu 
Lund den für westländische Kirchen maßgeben- 
den Grundriß befolgt. Sie hatte einen fast qua- 
dratischen Chor, lang 7, breit 8m und ein recht- 
eckiges Schiff von 9 m Breite, Dieses Schiff scheint 
sehr schmale Seitenschiffe gehabt zu haben. Darin 
liegt ein Zuwachs zu einer Reihe anderer Beob- 
achtungen, aus denen man die Überzeugung ge- 
winnt, daß die Einschiffigkeit, welche vom 13. Jabr- 
hundert an das Wesen der dänischen kirchlichen 
Baukunst geradezu bestimmt bat, anfänglich nicht 
Regel war. Über jene Reste des Holsbaues ist zu 
Lund später eine steinerne Kirche, die Marien- 
kirche, erbaut worden, die man dem Anfang des 
12. Jahrhunderts zuzuschreiben bat, und von der 
ebenfalls nur Grundmauern ermittelt sind. Man 
scheint іп dem holzreichen Lande erst im 13. Jahr- 
hundert allgemein zur Einführung des Steinbaues 
für die Kirchen übergegangen zu sein, 

Im zweiten Teil beschäftigt sich die Abhandlung 
mit den Domen zu Dalby und Lund und kann 
uns die wichtigen Ergebnisse neuer eingehender 
Untersuchungen mitteilen. Von dem ersten Bau 
su Dalby, 1060 angelegt, ist in der jetzigen jämmer- 
lich verstümmelten Kirche ein nicht unerbeblicher 
Teil erhalten. Es war eine flachgedeckte drei- 
schiffge Basilika ohne Querhaus, der Chor stumpf 
geschlossen. Die Pfeiler waren stark, von qua- 
dratischem Querschnitt. Im Anfang des 13, Jahr- 
bunderts ist ein Westbau angefügt worden, nicht 
ohne Beeinträchtigung des westlichen Endes. Dieser 
Westbau hat aus zwei Türmen bestanden, da- 


154 


zwischen einem starken und großen, weit vor- 
tretenden Zwischenbause. Das Zwischenhaus ist 
heute allein erbalten und hat sonst für den älte- 
sten Teil des Ganzen gegolten. Der quadratische 
Raum, den man als Krypta zu bezeichnen sich 
gewöhnt hat, ist gewölbt über vier Stützen. Nach 
Beobachtung namentlich der Steinmetzzeichen be- 
gründet sich die Annahme, daß die Arbeiter von 
bier nach Lund gegangen sind und dort beim 
Dombau weiter geholfen haben. Auch dieser war 
1060 begonnen, ist aber im wesentlichen zunächst 
ale ein Werk des Könige Knute des Heiligen 
(1080--86) anzuerkennen, und davon steht ein 
nicht unerheblicher Teil nech. Damit ist die alte 
Überlieferung wieder zu Ehren gebracht, die in 
ihm den Gründer des Domes verehrt. Bei den 
Bemühungen, das Erzbistum des Nordens für Lund 
zu gewinnen, ist sogleich nach dem Jahre 1100 
der Ostteil für einen erzbischöflichen Dom allzu 
bescheiden erschienen; er ward abgerissen und 
der beutige Chor erbaut. Bei der Einweihung im 
Jahre 1145 war der Dom, dessen Schiff inzwischen 
ebenfalls vollendet worden war, im wesentlichen 
fertig, mit Ausnahme des Turmteiles. 

Der Schluß der Abbandlung gibt noch dankens- 
werte Zusammenstellungen von Nachrichten über 
andere Bauwerke und künstlerische Leistungen 
des 13. Jahrhunderts und über die Künstler, deren 
Namen sich haben ermitteln lassen. Rich. Haupt. 


OTTO PELKA, Elfenbein. (Bibliothek 
für Kunst- u. Antiquitätensammiler, Bd. 17.) 
Mit Abb. im Texte. Verlag von Richard 
Carl Schmidt & Co., Berlin 1920. 


Das Buch ist fir den Kreis der Öffentlichen oder 
privaten Sammler und der Kunsthändler bestimmt. 
Es kann verlangen danach beurteilt zu werden, 
ob es berechtigte Ansprüche, die dementsprechend 
an ein Vademecum durch ein Kunstgebiet gestellt 
werden können, zu befriedigen geeignet ist oder 
nicht. Es kann auch fordern, daß das Urteil sich 
nicht durch die Robeit einer Kunstauffassung be- 
einflussen läßt, der die Skizzierung einer Ent- 
wicklung für möglich erscheint, wo doch nur das 
materielle Subatrat das gleiche bleibt, die anderer- 
seits alles unberücksichtigt läßt, was diesem natur- 
geschichtlich nicht identisch ist, mag das Artefakt 
auch noch so sehr in den gleichen Zusammenhang 
gebören. Denn es kommt nur darauf an, wessen 
benötigen die, deren Interessen das B.ch gewid- 
met ist. Mir scheint zweierlei, wenn ihnen er- 
möglicht werden soll eine ihnen unterbreitete 
Elfenbeinplastik auf Echtheit, Zeit, Kunstkreis und 


— ee Oe — 


Künstler zu bestimmen (dies ist es doch, was sie 
wollen und müssen): es muß ihnen vorgeführt 
werden, was nur irgend an charakteristischen 
Stücken aller Perioden und Länder bekannt ist, 
und sie müssen sich über die Namen oder Signa- 
turen aller durch Werke oder (bisher nur) durch 
literarische Erwähnungen bezeugten Künstler unter- 
richten können. Daß beides in wissenschaftlich 
einwandfreier Art unterstützt durch gute Abbil- 
dungen geschieht, setze ich als selbstverständlich 
voraus, | 

Die erste Enttäuschung: die Abbildungen sind 
zum esheblichen Teil so schlecht ausgeführt, daß 
wenig Rühmens von ihnen zu machen ist. Kriegs- 
verhältnisse sollten keine Entschuldigung mehr 
bieten können oder nur noch in einem Binne: 
denn besser als schlechte Abbildungen, die nie- 
manden etwas lehren können und nur dem Käufer 
etwas vortäuschen und den Preis erhöben, ist es 
keine zu geben. Muß denn das Charakteristikum 
„teuer und schlecht“ unbedingt auch das geistiger 
Erzeugnisse werden? 

Eigenartig ist aber auch die Auswahl der Ab- 
bildungen. Gleich das dem Altertum gewidmete 
Kapitel s. B. bringt nicht eine Abbildung, wäh- 
rend Vorder- und Riickendeckel des Etschmiadzin- 
Evangeliars geseigt werden. Es ist nicht ein 
byzantinisches Elfenbein des Stiles aufgenommen, 
den beispielsweise der „Einkug in Jerusalem“ im 
Berliner Kaiser Friedrich-Museum gut vertritt und 
ohne dessen Kenntnis ein Verständnis der so- 
genannten fränkischen des 11. Jahrhunderts nicht 
möglich ist, während die durchaus hypotbetische 
„Reichenauer“ Gruppe mit vier Beispielen vor- 
geführt wird, won denen sogar zwei der Ante- 
pendiumfolge entnommen sind. Im Abschnitt der 
romanischen Elfenbeine drei Krummen von Bischofs- 
stäben, sber kein Kamm oder ein spanisches Er- 
seugnis. Nimmt man noch etwa hinzu, daß das 
16 Jahrhundert durch ganze zwei Werke (der 
sitzenden Madonna des Louvre um 1500 und dem 
Messer der Diana von Poitiers!) vertreten ist, 
Elhafen aber durch sieben, von denen Scherer 
auch swei brachte, dann wird wohl deutlich wer- 
den, was ich meine, 

Im gleichen unproportionierten Verbältnis wer- 
den aber auch im Text die einzelnen Perioden 
bebandelt: 46 der karolingischen Zeit gewidmeten 
Seiten steben keine ЗО für die ottonischen und 
romanischen Erzeugnisse gegenüber, nochmals 
46 für die Sranzösisch-gotischen 3 für die deutsch- 
gotischen, 8 für die Kunstdrechslerei 6 für die 
Renaissance, 

Der Grund liegt in ungenügender Kenntnis des 


Materials und der Literatur, soweit sie nicht leicht 
zugänglich gemacht sind, Pelka hätte gerade da- 
nach trachten sollen, die Lücken im allgemeinen 
Wissen auszufüllen, die bisher besteben. Aller- 
dings hätte er dazu selber Stilkritik üben müssen, 
um beispielsweise im Elfenbeinkabinett des Münch- 
ner Nationalmuseums die Plastiken berauszufinden, 
die etwa im 16. Jahrhundert entstanden sind, er 
müßte den Bestand der Museen und des Handels 
besser überblicken als er es tut — und er hätte 
mehr Literatur beranziehen und sie besser be- 
nutzen müssen als er getan. Sollte es wirklich 
zuviel verlangt sein zu fordern, daß men etwa die 
Mitteilungen des Altertumsvereines zu Wien oder 
die Monatsschrift des Historischen Vereins von 
Oberbayern durchsieht, so sollten im Literatur- 
verzeichnis doch nicht die Kataloge der Elfenbein- 
sammlungen des Vatikanischen und des Brüsseler 
Museums fehlen. 

Ich kann und will bier nicht alle Ergänzungen 
und Berichtigungen geben, die mir nötig erschie- 
nen, damit das Buch die gegenwärtig möglichen 
Kenntnisse vermittelte: es erschiene mir das bei 
seiner m. E. völlig verfehlten Anlage ein über- 
flüssiges Unterfangen. Was ich anführe, soll nur 
mein ablebnendes Urteil begründen. Wenn Pelka 
den Kopf zu Vienne oder den Schauspieler der 
Sammlung Le Roy kannte, warum hat er keinen 
von beiden abgebildet und den Text nicht anders 
gefaßt, wenn er schcn einmal archaische Kunst- 
werke nicht berücksichtigen wollte? (Das „Alter 
tum“ überschriebene Kapitel ist auch systematisch 
dadurch noch besonders ärgerlich, daß die früh- 
christlichen Elfenbeine in ihm nicht bebandelt 
werden.) Über Balthasar Stockamer etwa bätte er 
in der Arte XVI, 8. 451, über P. 8. Jaillot in der 
Revue de l'art ancien et moderne XV, 8. 131 
etwas finden können, was ihn sicher interessiert 
hätte. Eine Durchsicht des Connoisseur wäre 
der Einschätzung von Dieppe wohl zugute ge- 
kommen usw. usw. 

Die leicht zugängliche Literatur bat der Ver- 
fasser herangezogen. Für die im Vorwort auch 
in Anspruch genommene „eigene Beurteilung“ 
spricht es nicht gerade, wenn Pelka bei dem von 
ihm selbst ala hypothetisch empfundenen Rekon- 
struktionsversuche des Werkes von M. Rauch- 
miller durch Scherer (warum das unpersönliche 
„man“? Gebührte Scherer in diesem Buche nicht 
ein Ehrenplatz?) sich dessen Beweismaterial so 
wenig ansieht, daß auch ihm entgeht, daß der 
„Raub der Dejanira" in München I. A. signiert ist. 

Lobnt jetzt noch der Versuch zu ergründen, 
warum Peika wohl keine Zeile und kein Bild den 


155 


doch wohl nicht ganz unwichtigen Eifenbeinen 
des islamitischen Kunstkreises widmet? Ich würde 
mich nicht wundern, wenn er sie bloß vergessen 
hätte, Aber erwähnen will ich noch, daß er ein 
Künstier- oder Signaturenverszeichnis ich möchte 
sagen: natürlich nicht bringt, ihm ersebien es 
nötiger, auch die Kenntnis in großen Zügen zu 
vermitteln, was unter der Durchschnittslinie liegt; 
nach den angeführten Proben der angewandten 
Arbeitsweise kann ich aber nicht behaupten, daß 
wir etwas dadurch verloren haben. 

Das Positive soll auch zu Worte kommen. Es 
wird vielen willkommen sein, überhaupt einmal 
einen populären deutschen Führer durch das Ge- 


156 


biet der Elfenbeinschnitzkunst vor der Renaissance 
zu finden. Wer die Forschungen der altchrist- 
lichen Kunstgeschichte, Goldschmidts und Koech- 
lins nicht kennt, wird manche Überraschung er- 
leben; ibm sei aber auch gesagt, daß nicht alles 
so fest gegründet ist, wie es sich ausgibt. Für 
die spätere Zeit ist Scherers „Elfenbeinplastik“ 
trots gelegentlicher Ergänzungen durchaus nicht 
erreicht, geschweige denn überholt. Pelka hat 
sie nicht einmal inhaltlich so ausgeschöpft, wie 
es erforderlich gewesen wäre. Und dieses Oben- 
hinarbeiten ist es eben gerade, was das Buch zu 
soich betrüblichem Machwerke stempelt. 

R. Berliner 


NEUE BÜCHER ннн 


THEODOR HETZER: Die frühen Ge- 
mälde des Tizian. Eine stilkritische 
Untersuchung. Mit 30 Tafeln. (Verlag Benno 
Schwalbe & Co., Basel 19320.) 


Prof. Dr. WILH. MOLSDOREF: Führer 
durch den symbolischen und typo- 
logischen Bilderkreis der christlichen 
Kunst des Mittelalters. Mit neun Tafeln. 
(Verlag von Kerl W. Hiersemann, Leipzig 1920.) 


HERMAN NOHL: Stil und Welt- 
anschauung.(Verl,EugenDiederichs,Jenar920.) 


ERNST BERGMANN: Das Leben und 
die Wunder Johann Winkelmanns. 
(C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck, 
München 1930.) 


F. H. EHMCKE: Otto Speckter. Eine 
Auswahl der schönsten Illustrationen des 
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PAUL FERDINAND SCHMIDT: Joseph 
von Führichs religiöse Kunst. Mit 
20 Bildtafeln. (Furche-Verlag, Berlin.) 


Prof. LEOPOLD OELENHEINZ-Coburg: 
Der Wünschelring (Differenzpendel, 
siderischer Pendel), insbesondere seine 
Anwendung auf die Meisterbestimmung 
bei Gemälden usw. (Verlag Max Altmann, 
Leipzig 1930.) 


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Abhandlungen zurLandeskunde der 
Provinz Westpreußen, hrsg. von der 
Provinzial- Kommission zur Verwaltung 
des westpreußischen Provinzial-Museums. 

Heft 13: Ostdeutsche Tafelmalerei in der letzten 
Hälfte des 14. und dem ersten Drittel des 13. Jahr- 
hunderts. (Verlag des Provinzial-Verbandes von 
Westpreußen, Kommissions- Verlag von A. W. Kafe- 
mann, G. m. b. H., Danzig.) 


FRITZ LUGT: Rembrandt in Amster- 
dam. Die Darstellungen Rembrandts vom 
Amsterdamer Stadtbilde und von der un- 
mittelbaren landschaftlichen Umgebung 
mit einem Zusatz über einige in Utrecht- 
Gelderland entstand. Zeichnungen. Deutsch 


von Erich Hancke. (Verlag Bruno Cassirer, 
Berlin 1920.) 


Prof. MAX DVORAK: Jahrbuch des 
kunsthistor. Institutes (Deutsch-öster- 
reichisches Staatsdenkmalamt), Bd. XIL 


1918. Mit 1 Tafel und 124 Abbildungen. 

(Kunstverlag Anton Schroll & Co., G. m. b. H., 

Wien 1918.) 

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relief des Spalatiner Vorgebdirges. 

E. Tietze-Conrat: Beiträge zur Geschichte der ita- 
lienischen Spätrenaissance und Barockakulptur. 

Rudolf Guby: Die Stiftskirchen zu Wilhering und 
Engelssell. 

Beiblatt: 

Josef Garber: Ein „Restaurierungsplan“ aus dem 
Jahre 1532. 

F. Wilhelm: Materialien zur Kunstbeförderung 
durch Fürst Gundacker von Liechtenstein, 

Richard Kurt Donin: Neu aufgedeckte romanische 
Baureste an der ehemaligen Dominikanerkirche 
in Krems. 

Arno Eilenstein: Der Kupferstecher P. Koloman 
Feiner. 


FRIEDR. MARKUS HUEBNER: Euro- 
pas neue Kunst und Dichtung. (Ernst 
Rowohlt Verlag, Berlin 1920.) 


EMIL ENGELHARDT: Rabindranath 
Tagore als Mensch, Dichter u. Phi- 
losoph. (Furche-Verlag, Berlin 1931.) 


AUG. STOEHR: Deutsche Fayenzen 
und deutsches Steingut. Ein Hand- 
buch für Sammler und Liebhaber. Mit 


265 Abbild. (Verlag Rich. Carl Schmidt & Co., 
Berlin.) 


OTTOMARWART:Jacob Burckhardt. 
Persönlichkeit u. Jugendjahre. (Verlag Benno 
Schwabe & Co., Basel 1920.) 


HANS GRABER: Piero ‘della Fran- 


cesca. Achtzig Tafeln mit einführ. Text 
(Verlag Benno Schwabe &Co., Basel 1920.) Geb. 
M. 400.—. 


LOVIS CORINTH: Gesammelte 
Schriften. Malerbiicher Band L (Frits 
Gurlitt-Verlag, Berlin 1920.) 


OTTO HIRSCHMANN: Verzeichnis 
des graphischen Werks von Hen- 
drick Goltzius (1558—1617). Geheftet 


M. 70.—, gebunden M. 76.—. (Veriag von 
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1920.) 


157 


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(Verlag von Klinkhardt & Biermann, Leipzig.) 


J. MEIER GRAEFE, Ganymed. Blätter 
der Магёез- Gesellschaft. II. Band. 1920. 
(Verlag R. Piper & Co., München.) 


LUDWIG JUSTI, Deutsche Malkunst 
im 19. Jahrhundert. Ein Führer durch 


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(Verlag Julius Bard, Berlin 1921.) 


PETER JESSEN, Der Ornamentstich. 
Geschichte der Vorlagen des Kunsthand- 


werks seit dem Mittelalter. (Verlag für 
Kunstwissenschaft, О. m. b. H., Berlin 1920.) 


OTTO GRAUTOFF, Die französische 


Malerei seit 1914. (Mauritius - Verlag, 
Berlin 1931.) 


JAMES ROUSSEAU, Die Portierfrau. 


Illustrationen von Daumier. (Mauritius-Verlag, 
Berlin 1921.) 


JAMES ROUSSEAU, Robert Macaire. 
Der unsterliche Betrüger. Illustr. 
von Daumier. (Mauritius-Verlag, Berlin 1921.) 


GUSTAV GLÜCK, Rubens Ildefonse- 
Altar. (Meisterwerke in Wien.) Mit sieben 
Abbildungen. (Verlag Julius Bard, Wien 1921.) 


JULIUS SCHLOSSER, DasSalzfaß des 
Benvenuto Cellini. (Meisterwerke in 
Wien.) Mit vier Abbildgn. (Verlag Julius 
Bard, Wien 1921.) 


LUDWIG BALDASS, Holbeins Bild- 
nisseim KunsthistorischenMuseum, 


(Meisterwerke in Wien.) Mit acht Abb. 
(Verlag Julius Bard, Wien 1921.) 


HERM. LISMANN, Wege der Kunst. 


Betrachtungen eines Mannes. (Verlag fir 
praktische Kunstwissenschaft, F. Schmidt, Kom- 
manditgesellschaft München, Berlin, Leipzig 1921.) 


MAX J. FRIEDANDER, Die Radierung. 
Mit 18 Abb. (Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1921.) 


158 


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an Böcklin. (Nachgedruckte und un- 
gedruckte Aufzeichnungen von Angels 
und Carlo Böcklin, Gottfried Keller, Albert 


Welti, Adolf Frey, Hans Thoma u. a. 
(Im Rbein-Verlag, Basel 1 921.) 


W.WAETZOLD, GedankenzurKunst- 
schulreform.(Verl.Quelle&Meyer,Leipsig 1921) 


STURMBILDERBUCHER IV. Kurt 
Schwitters. (Verlag „Der Sturm“, Berlin.) 


MAX DERI Die neue Malerei. Sechs 
Vorträge. Mit 95 Abb, (Verlag von Е. A. Ses- 


mann, Leipzig 1921.) 


WILLIAM COHN, Indische Plastik. 
Mit 161 Tafeln u. drei Textabbildungen. 
Die Kunst des Ostens, Bd. II. Heraus- 


gegeben von William Cohn.) (Verlag Bruno 
Cassirer, Berlin 1921.) 


HEDWIG FECHHEIMER,Kleinplastik 
der Agypter. Mit 158 Abbild. (Kunst 
des Ostens, Bd. Ш. Hrsg. von William 
Cohn.) (Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1931.) 


GREGOR KRAUSE, Bali. Erster Teil: 
Land und Volk. Zweiter Teil: Tänze, 
Tempel, Feste. (Schriftenreihe Geist, Kunst 
und Leben Asiens. Hrsg. von Karl With. 


Bd. II u. III Insel Bali.) (Folkwang-Verlag 
G. m. b. H., Hagen i. Westf. 1920.) 


WERNER WEISBACH, Der Barock 


als Kunst der Gegenreformation. 
(Verlag Paul Cassirer, Berlin 1921.) 


HUGO ZEHDER, Wassily Kandinsky. 
Unter autorisierter Benutzung der russi- 
schen Selbstbiographie. Mit einem Farben- 
druck. 8°, Netzätzungen und vier Strich- 
ätzungen. (Künstler der Gegenwart, L Bd. 


Hrsg. von Dr. Paul Ferdinand Schmidt.) 
(Verlag Rudolf Kaemmerer, Dresden 1920.) 


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Kunstgewerbe, Band Ш.) (Deiphin-Verlag, 
München 1921.) 


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Bd. 20.) (Verlag Ed, Hölzel, Wien.) 


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Mit 28 Tafeln, 421 Abbildungen im Text. 


Band XVI der österr. Kunsttopographie. 
(Kunstverlag Anton Schroll а Co., а. m. b. H., 
Wien 1919.) 


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um Rembrandt. Geschichtliche Erzäh- 
lungen aus dem großen Jahrhundert der 


Niederlande. (Verlag von Quelle & Meyer in 
Leipzig. 1920.) 


JULIUS MEIER - GRAEFE: Courbet. 
Mit acht Lichtdrucktafeln und 106 Netz- 
ätzungen. (Verlag R. Piper & Co., München 1931.) 


JOHANNES GUTHMANN: Scherz und 
Laune. Max Slevogt und seine Gelegen- 
heitsarbeiten. (Verlag Paul Cassirer, Berlin.) 


HANS CORNELIUS: Kunstpädagogik. 
Leitsätze für die Organisation u. künst- 
lerische Erziehung. Mit 56 Zeichnungen 


und 55 Abb. (Eugen Rentsch, Erlenbach-Zürich 
und München 1920.) 


MAX v. BOEHN: Moreau und Freu- 
denberg, Trois Suites D’estampes. Pour 
servir аА l’histoire des modes et du co- 
stume des francais dans le dix-huitième 
siècle. (Askanischer Verlag, Berlin 1920.) 


МАХ v.BOEHN: England im 18.Jahr- 
hundert. (Askanischer Verlag, Berlin 1922.) 


PAUL FECHTER: Der Expressionis- 
mus. Mit 50 Abbildungen. 5.—g. Tausd. 
Verlag R. Piper & Co., München.) 


PAUL GAUGUIN: Briefe an Georges- 
Daniel de Monfreid. Mit einer Ein- 
leitung von Viktor Segalen und 16 Abb- 
(Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1920.) 


LEO BALET: Dietz Edzard. Mit 31 Taf. 
(Ernst Rowohlt-Verlag, Berlin 1920.) 


HANS v. MAREES Briefe. Mit vier 
Lichtdrucken nach Zeichnungen. (Verlag 
R. Piper & Co., München 1920.) 


FRANZ MARC: Briefe, Aufzeichnun- 
gen und Aphorismen in zwei Bänden. 
1920. (Verlegt bei Paul Cassirer, Berlin.) 


OSKAR HAGEN: Deutsche Zeichner 
von der Gotik bis zum Rokoko. Mit 
110 Abb. (Verlag R. Piper & Co., München 191.) 


KURT PFISTER: Herkules Segers. 
Mit einer Auswahl seines Werkes in 23 


zum Teil mehrfarb. Lichtdrucken. (Verlag 
R. Piper & Co., München 1821.) 


ORBIS-PICTUS-W eltkunst-Bticherei. 
Herausgegeben von Paul Westheim. 


Band a Dr. W. Tannina-Halle: Altrussische Kunst. 

Band з. Waldemar Graf Uxkull-Gyllenband: Archai- 
sche Plastik der Griechen. 

Band 4. Alfred Salmony: Die chinesische Land- 
schaftsmalerel, 

(Sämtlich verlegt bei Ernst Wasmuth, A.-G., Berlin.) 


HEINRICH ZILLE: Zwanglose Ge- 
schichten und Bilder. Lithographien 
von Н. Zille. Die neuen Bilderbücher. 
2. Folge. (Fritz Gurlitt Verlag, Berlin.) 


WILH. v. BODE: Die italienischen 
Hausmöbel der Renaissance. Mit 


134 Abbild., 2. Auflage. (Verlag Klinkhardt u. 
Biermann, Leipzig 1920.) 


JAHRBUCH DER JUNGEN KUNST 1920. 
Herausg. von Prof. Dr. Georg Biermann. 
Mit 8 Originalgraphiken: ı Brieffaksimile 
und 285 Abbild. Einband nach Entwurf 
von Max Pechstein. M. 80.—, numerierte 
Vorzugsausgabe in 100 Exemplaren in 
Halbleder mit sign. Orig.-Radierung von 


L. Meidner. M. 300.—. (Verlag Klinkhardt 
& Biermann, Leipzig.) 


PAUL ERICH KÜPPERS: Der Kubis- 
mus. Ein künstlerisches Formproblem 


unserer Zeit. (Verlag von Klinkhardt A Bier- 
mann, Leipzig.) 


RICHARD GRAUL: Rembrandt, Bd. 1. 
Die Radierungen, mit 292 Abbildungen 
auf 129 Taf. Geh. M. 80, —, geb. M. 120.—. 
(Verlag von Klinkhardt & Biermann, Leipzig.) 


159 


Dr. ERICH STREHMER, Michael 
Pachers Altar in St. Wolfgang am 
Abersee. (Österreichische Kunstbücher, 
Band 14.) (Verlag Ed. Hölzel, Wien.) 


MARIE LAURENCIN, „Sommer“. Vier 
Lithographien zu Gedichten von Adolf 
v. Hatzfeld. Mit einem Vorwort von Rene 
Schickele und einer Einführung in der 
Laurencin-Werk von André Salmen. 
(VI. Mappe der Ausgabe der Galerie Flechtheim, 
Düsseldorf 1930.) 


Bd I, 1921. 


JULIUS SCHLOSSER, Denkwiirdig- 
keiten des florentinischen Bild- 


hauers Lorenzo Ghiberti. (Verlag 
Julius Bard, Wien 1920.) 


Dr. OSW. KUTSCHERA-WOBORSRY, 
Die Wiener Hofburg. (Osterreichische 
Kunstbticher, Bd. 5.) (Verlag Ed. Hölsel, Wien.) 


Dr. LUDWIG BALDASS, Die Wiener 
Gobelinsam mlung. (Osterreich. Kunst- 
bücher, Bd. 8—9.) (Verlag Ed. Hölsel, Wien.) 


— 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Hannover, Große Aegidienstraße 4. 
Telefon Nord 429. — Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissen- 
schaft KLINKHARDT & BIERMANN, Leipzig, Liebigstr.2, Telefon 13467. 


160 


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XV. JAHRGANG -BANDII- NOVEMBER 1921/22 . 
VERLAG KLINKHARDT&SBIERMANN:LEIPZIG. 


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Monatshefte für Kunstwissenschaft 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN 
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG 
Preis des Bandes Mark 100.— 


INHALTSVERZEICHNIS BAND II 


ABHANDLUNGEN 

HEINRICH GLÜCK-Wien, Das kunst- 
geographische Bild Europas am Ende 
des Mittelalters und die Grundlagen der 
Renaissance. Mit 8 Abbild. auf 3 Tafeln 
in Lichtdruck und einer Karte. S. 161 

STEPHAN POGLAYEN-NEUWALL, 
Ein heidnisches Elfenbeinrelief des 


REZENSIONEN 

Henrik Cornell, Sigtuna och Gamla Uppsala. 
Ein Beitrag zur Kenntnis der engl.-schwedisch. 
Beziehungen im m. Jahrh. (J. Strsygowski) 8. 269 

Wilh. Lorensen, De Danske Dominikaner- 
klostres Bygninghistorie (R. Haupt) . 8. 269 

8. Flury, Islamische Schriftbänder (E. Kühnel) 


S. 270 
A.Schramm, DerBilderschmuck der Frühdrucke. 
(Ernst УУей)............... 8. 271 


Triestiner Museo Civico di Storia ed Julius v. Schlosser, Materialien zur Quellen- 


Arte im Spiegel der spätantiken Kunst 
Ägyptens. Mit 7Abb.auf 4 Tafeln S. 174 
HEINRICH HÖHN, Graphische Blätter 
des 15. Jahrh. aus der Stadtbibliothek 
zu Windsheim in Franken. Mit 7 Abbild. 
auf 3 Tafeln in Lichtdruck .. S. 181 
ERWIN PANOFSKY, Die Entwicklung 
der Proportionslehre als Abbild der 
Stilentwicklung. Mit то Abbildungen 
auf 2 Lichtdrucktafeln und то Ab- 
bildungen im Text. S. 188 
ERNST WEIL, Eine frühe Porträtzeich- 
nung Dürers. Mit 2 mu auf 
einer Lichtdrucktafel. ..... S. 220 
ADOLF FEULNER, Johann Michael 
Fischer, Ein bürgerlicher Baumeister 
der Rokokozeit (1691—1766) . S. 223 
HERMANN NASSE, Johann Mathias 
Kager, der Stadtmaler von Augsburg 
(geb. 1575, gest. 1634), als Zeichner. Mit 
14 Abbild. auf 4 Taf.inLichtdruck S. 232 
ECKART v. SYDOW, Karl Friedrich 
Schinkel als Landschaftsmaler. Mit 8 
Abbild. auf 3 Tafeln in Lichtdr. S. 239 
WILH. JUNIUS. Die erzgebirgische 
Künstlerfamilie Krodel. (Ein Beitrag 
zur Geschichte der Cranachschule.) 
Mit ro Abb. auf 5 Tafeln in Lichtdr. S.253 


MISZELLEN 

V. CURT HABICHT, Zur deutschen 
Malerei um 1500. Mit einer Tafel in 
Lichtdruck.........:..S. 262 

KARL SIMON, Die erste Besprechung der 
Cornelius-Zeichnungen z. Faust S. 266 


kunde d. Kunstgeschichte (E. Steinmann) 8. 273 
Karl With, Java, brahmanische, buddhistische 
und eigeniebige Architektur und Plastik auf 
Java (Н. Glück) )) 8. 274 
Rembrandts sämtliche Radierungen in getreuen 
Nachbildungen (Hans Friedeberger) . . 8. 276 
Julius Baum, Baukunst u. dekorative Plastik der 
Frührennaissance in Italien (Paul Zucker) S. 277 
Hans Hildebrandt: Wandmalerei. Ihr Wesen 
und ihre Gesetze (Paul F. Schmidt) . 8. 279 
Woldemar v. Seidlitz: Die Kunst in Dresden 
v. Mittelalter bis zur Neuzeit (W. Junius) S. 280 
Kurt K.Eberlein, Deutsche Maler derRomantik. 


(Paul F. Schmidt) EK 8. 282 
M. Seliger, Kunstbetrachtung und Naturgenuß. 
(Sascha Schwabacher) . 8. 283 


Fritz Burger, 5 und 
Lebenssysteme in der Kunst der Vergangen- 


heit (Sascha Schwabacher) 8. 283 
J. A. F. Orbaan, Documenti aul barocco in Roma. 
(Ludwig Schudt) ............. 8. 283 


Walter Curt Behrendt, Der Kampf um den 
Stil im Kunstgewerbe und in der Architektur. 
(J. Strzygowaki)............-4- S. 286 

Bengt Thordeman, „Alsnö Hus“. Ein schwe- 
discher Palast des Mittelalters in seinem kunst- 
historisch. Zusammenhang (Strsygowaski) 8.286 

Otto Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei 
(H. Kuni ke 8. 287 

Hans Graber, Piero della Francesca. Achtzig 
Tafeln mit einführend. Text (O. Biermann) 5. 288 

Paul Erich Küppers, Der Kubismus (Alfred 


Kubn) )))) 8. 289 
Vinzenz Seunig: Die kretisch-mykenische Kul- 
tur (Aug. Köster S. 290 
Otto Grautoff: Französische Malerei seit 1914 
(Paul F.Schmidt)...........-. 8. 290 
Albert Neuburger: Die Technik des Altertums 
(Aug. Кбаег)............... 8. 291 
Bibliotheca d’arte, diretta da Armando Ferri 
e Mario Recchi (Ludwig Schudt) . . . 8. 291 
Franz Marc: Briefe, Aufzeichnungen und Apho- 
rismen (S. Schwabacher 8. 292 
NEUE BÜCHER em. S. 294 


DAS KUNSTGEOGRAPHISCHE 

BILD EUROPAS AM ENDE DES MITTEL- 
ALTERS UND DIE GRUNDLAGEN DER 
RENAISSANCE Von HEINRICH GLÜCK-Wien 


Mit acht Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck und einer Karte. 


n meinem Buche „Der Breit- und Langhausbau in Syrien, auf kulturgeographi- 

scher Grundlage bearbeitet“ !) habe ich einen ersten praktischen Versuch unter- 
nommen, aus geographischen Gegebenheiten entwicklungsgeschichtliche Schlüsse 
zu ziehen, wobei damals die Frage nach der Bedeutung der Materialgegebenheiten 
für die Ausbildung lokaler Architekturstile im Vordergrunde stand?). Neben dieser 
Bedeutung geographischer Betrachtung, die etwa als eine entwicklungsgeschicht- 
liche Einstellung Semperscher Ideen genommen werden kann, lag es mir schon 
in dem genannten Buche?) auch daran, jenen Gesetzmäßigkeiten nachzugehen, in 
denen die Kunst als ein Produkt eines gesellschaftlichen Trägers über die rein 
materiellen Gegebenheiten hinaus auch in formaler und inhaltlicher Beziehung 
an die äußeren Bedingungen der Erdoberfläche gebunden ist. 

Ohne daß ich aber schon diesmal auf das Methodische dieser Betrachtungs- 
weise eingehe‘), sei nur soviel vorweggenommen, daß es sich in einer Richtung 
darum handelt, das X aufzulösen, das seit Riegl als „Kunstwollen“ bequem alles 
„Warum“ der Entwicklungsgeschichte beiseite schiebt und sich nur mit der Fest- 
stellung des „Wie“ begnügt. Dies freilich nicht in der Art des öfter versuchten 
Auswegs, der andere Kulturerscheinungen, wie Religion, Philosophie, Literatur usw., 
die doch im Gesamtbegriffe der Kultur nur koordinierte Teilbegriffe zur bildenden 
Kunst darstellen, als Grund und Erklärung der Wandlungen in der bildenden Kunst 
geltend machen will und damit ein für den Einzelnen kaum mögliches Eingehen 
in Grenzwissenschaften fordert. Vielmehr soll es sich darum handeln, die bil- 
dende Kunst selbst als Wesenheit sprechen zu lassen, diese Sprache aber auch 
ebenso für die Frage nach den Zusammenhängen der Gesamtkultur fruchtbar 
werden zu lassen, wie etwa dem Philologen die Sprache nicht nur als Werkzeug, 
sondern auch als Gefäß des Geistes Entwicklungserkenntnisse gewährt. Das geo- 
graphische Moment spielt dabei nur die Rolle eines methodischen Hilfsmittels, in- 


(1) Beiheft 14 der Zeitschrift f. Gesch. d. Arch., C. Winter, Heidelberg 1916. 

(2) In diesem Sinne wurde die methodische Bedeutung des geographischen Momentes für die Kunst- 
wissenschaft von J. Strzygowski in einem Aufsatze über „Vergleichende Kunstforschung auf geo- 
graphischer Grundlage“ (Mitt. d. Geogr. Gesellsch. In Wien, LXI, 1918, Nr. 1/2) nachdrücklichst betont, 
und fand von naturwissenschaftlicher Seite durch Josef Ponten, „Anregungen zu kunstgeograpbischen 
Studien“ (Peterm., Mitt. 1920, 8. 89 f.) prinzipielle Unterstützung mit dem Hinweis auf die Frucht- 
barkeit derartiger Untersuchungen für den Einzelfall und den allgemeinen stilgeschichtlichen Zu- 
sammenhang. 

(3) Vgl. auch meinen in den Mitt. d. geograph. Gesellsch. in Wien, 1918, S. 467ff. im Auszuge wieder- 
gegebenen Vortrag über „Natur und Kultur Konstantinopels“, in dem die einzelne Stadt als Beispiel 
berangezogen wird, und mein Kapitel über „Die Natur des Landes als Voraussetzung seiner künst- 
lerischen Entwicklung“ in Strsygowskis „Die Baukunst der Armenier und Europas“, 8. 606 fl. 

(4) Einiges Prinzipielle ist bereits in der Einleitung (Methodisches) zu meinem eingangs zitierten 
Buche vorgebracht. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 31 161 


sofern die kartographische Feststellung der Denkmäler die Grundlage der Unter- 
suchungen ist. 

Der auf Seite 163 vorliegende Versuch der Darstellung des kunstgeographischen 
Bildes Europas am Ausgange des Mittelalters (um 1400) macht bei dem Mangel 
an entsprechender topographischer Literatur, der nur durch Reisen bzw. abgeschlos- 
sene Kunsttopographien wettgemacht werden könnte, auf Vollständigkeit und Ge- 
nauigkeit der Grenzen im einzelnen keinen Anspruch und hat nur den Zweck, den 
prinzipiellen methodischen und entwicklungsgeschichtlichen Wert einer solchen 
Darstellung anschaulich zu machen. Die Karte gibt einen zeitlichen Querschnitt 
um das Jahr 1400 n.Chr. und verzeichnet in den verschiedenen Strichlagen die Aus- 
breitung der damals lebendigen Kunstströme'). 

L In dicker senkrechter Schraffierung erscheint das Ausbreitungsgebiet des west- 
europäischen nördlichen Kunststromes, der „Gotik“ ). In voller Schraffierung er- 
scheinen diejenigen Gebiete, in denen die Gotik bereits „Schichte“ geworden ist, 
d. h. nicht nur durch vereinzelte Monumentaldenkmäler vertreten ist, sondern sich 
geradezu volkstiimlich bis zu Kleinleistungen herab durchgesetzt hat. In diesem Sinne 
umfaßt die Gotik Nord- (und Mittel)frankreich, Deutschland und England. Eine Diffe- 
renzierung innerhalb dieser Gebiete nach engeren Gruppen (wie etwa die siidliche 
Stein- und die nördliche Ziegelgotik in der Architektur) ist für die vorliegenden 
Zwecke nicht nötig; ebensowenig eine Abgrenzung der einzelnen Ausbreitungs- 
phasen nach bestimmten Zeiträumen (zeitlicher Längsschnitt). Doch ist das letz- 
tere für unsere Zeitstellung insofern von Bedeutung, weil das hier dargestellte 
letzte Ausbreitungsstadium der Gotik zeigt, wie der Verdichtungsprozeß zu einer 
einheitlichen Schichte in gewissen Gebieten nicht durchgedrungen ist, d. h. die 
Möglichkeiten der Schichtbildung an bestimmte Grenzen gebunden scheinen. Diese 
Möglichkeiten sind in den verschiedenen, den Schichtkern umgebenden Gebieten 
verschieden. So zeigen die skandinavischen Länder etwa ein Stadium beginnender 
Schichtbildung insofern, als von den Küstengebieten aus, deren gotische Denkmäler 
(Stavanger, Bergen, Drontheim usw.) ja als Ableger des deutschen und englischen 
Kerngebietes erscheinen, ein Eindringen in das Innere des Landes festzustellen ist. 
Insbesondere scheinen es die Gebiete an der Südspitze der Halbinsel (Lund), um 
und nördlich von Christiania (Hamar, Gran, Ringsaker), ferner der Seenplatte öst- 
lich von Stockholm (Upsala, Sigtuna, Linköping, Skara usw.) und die Insel Got- 
land zu sein, in denen sich Ansätze zu stärkerer Verdichtung finden, so daß un- 
gefähr eine Linie von der Geflebucht bis zum Foldenfjord jenen südlichen Teil 
Skandinaviens abtrennt, in dem derartige Ansätze zu einer Schichtbildung fest- 
zustellen sind, Außerhalb dieses Gebietes handelt es sich nur um inselhafte Einzel- 
vertreter wie Tromsö und Hammerfest. Jene Anfänge einer Schichtbildung er- 
scheinen also in Skandinavien als ein kaum verwurzeltes, von außen ein- 


(x) Nur im Einzelfalle, wie in der іп schräger Strichelung eingetragenen osmanischen Ausbreitung über 
den Balkan ist einigermaßen über den engeren Zeitpunkt hinausgegangen, um den schon In der 
nächsten Folgezeit erreichten weitesten Ausdehnungsbezirk derselben anzuzeigen. 

(2) Die Belege für die folgenden Ausführungen über die Verbreitung der Gotik sind bei Dehio und 
Bezold „Die kirchliche Baukunst des Abendlandes“ nach dem Register leicht zu finden. Ich kann 
mich an dieses Werk um so mehr als Grundlage anschließen, als es, abgesehen von seinem weit- 
gehenden Überblick über den gesamten architektonischen Denkmälerbestand, auch in der Auffassung 
und Darstellung den hier angestrebten methodischen Richtlinien am besten und geradezu einzigartig 
entspricht. Zu den hier nur als stimmende Paradigmen eingefügten Abbildungen auf Tafel I und U 
vgl. die Bemerkungen am Schlusse des Aufsatzes. 


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geführtes Element gegenüber der einheimischen bodenständigen Schichte, die in 
der Architektur durch die Holz-(Stab-)Kirchen, im übrigen durch eine ausgeprägte 
volkstümliche Kunstweise charakterisiert ist (dünn senkrecht schraffiert). 

Wenden wir uns nun nach dem Osten, so erscheinen zunächst auch hier die 
Küstengebiete der Ostsee als Einfallstore der vom Westen über das Meer vor- 
dringenden Gotik (Abo, Wiborg, Dorpat). Hier kann aber schwerlich auch nur 
von Anfängen einer Schichtbildung die Rede sein; die Denkmäler erscheinen 
als vereinzelte eingestreute „Inseln“ inmitten einer völlig fremdartigen Schichte 
(Abb. 1, über diese s. unten III). Und diese Inselhaftigkeit ist auch in der Fort- 
setzung der Ostseeküste östlich von einer Linie zu konstatieren, die ungefähr in 
der Richtung von Danzig nach Triest führt und nur im Böhmischen Becken einiger- 
maßen in den Westen eingreift. Während von Danzig bis zu den Sudeten die 
Grenze der gotischen Kernschichte weniger scharf ist, und einem letzten Stadium 
auf dem Wege entspricht, auf dem die Gotik, vom Westen als sich verdichtende 
Schichte vordringend, die Elbe-, Oder- und Weichselgrenze erreichte, ist sie bei 
Wien, wo der Dom von Preßburg schon eher als eine erste östliche Insel, denn 
als zur westlichen Kernschichte gehörig, bezeichnet werden könnte, und von da 
längs der Grenze des Gebirges und des ungarischen Tieflandes mit größerer 
Schärfe ausprigt. Schon vielleicht Prag, ferner Krakau, Warschau, Kaschau, 
Klausenburg, Karlsburg, Hermannstadt — um nur die wichtigsten zu nennen — 
sind Inseln inmitten eines fremden Kunstbodens, auf dem die Gotik nie als Schichte 
Fuß gefaßt hat und von einer stilistischen Anpassung an das Heimische nur schwer- 
lich die Rede sein kann. Vereinzelt, wie in der Bukowina (Abb. 2) finden sich 
gotische Elemente (wie Maßwerkfenster u. dergl. an Bauten) an Werken völlig 
anderen Kunstcharakters, wie fremdartige Einsprenglinge, so daß sich oft auch am 
Einzeldenkmal die inselhafte Ausnahmestellung der Gotik inmitten des Fremd- 
artigen widerspiegelt. 

Im Süden erscheint ebenfalls zunächst die Grenze der Alpen und des lombar- 
dischen Tieflandes als Grenze der gotischen Kernschichte. Vereinzelte Denk- 
miler, wie der Dom zu Mailand, könnten in gewissem Sinne, ähnlich, wie wir es 
im Osten gesehen haben, als inselhafte Ausläufer der Kernschichte nach Süden an- 
gesprochen werden. Doch finden wir gotische Elemente am Beginn der Renais- 
sance, wenn auch nicht so ausgesprochen rein wie in dem von Nordländern er- 
bauten Mailänder Dom, überall in Norditalien, bis weit hinein gegen Mittelitalien 
(Toskana) und bis zu den Toren Roms (senkrecht schraffiert). Aber dies sind 
eben nur Elemente, die sich mit einem Andersartigen mischen, sich ihm anpassen, 
in ihm aufgehen. Man denke z.B. an den Florentiner Dom, wo das der Gotik fremde 
Element der Kuppel von einer gotischen Rippenkonstruktion durchsetzt ist, wo an 
der Fassade freiräumig gedachte gotische Zierglieder und das struktive Gerlist von 
Streben und Lisenen in farbige Flächenhaftigkeit gebannt sind (Abb. 3), man denke 
an die gotischen Formen von Donatellos Steindavid, die dekorative Gotik Venedigs 
in Architektur und Malerei u. v. a, und man wird sich des Unterschiedes bewußt 
werden, den diese „Durchsetzung“ des Südens (Nord- und Mittelitaliens) mit goti- 
schen Elementen gegenüber der Inselhaftigkeit der Gotik im Osten bedeutet, eine 
Durchsetzung, die im Ausgleich mit dem Fremdartigen Neues schafft. 

Damit ist aber das Bild der Gotik auf italienischem Boden nicht erschöpft. 
Denn wenden wir uns nach Süditalien, so treffen wir dort eine Reihe gotischer 
Inseln als künstliche „Übertragungen“ auf diesen Boden, die aber weder als Schichte, 
noch im Sinne einer Durchsetzung wie in Nord- und Mittelitalien von Bedeutung 


164 


wurden. Zunächst waren es die Zisterzienser, die vor allem in den Volsker- und 
Sabinerbergen (Fossanova, Ceccano, Casamari, Arbona, Piperno, Ferentino, Sezze, 
Anagni) eine inselhafte Denkmälergruppe errichteten, von der aus durch Über- 
führung der Arbeiter weitere inselhafte Ableger, so nach Sizilien (Girgenti), ab- 
gingen. Ähnlich blieben die im Gefolge der Kreuzzüge (Venosa, Acerrenza, Aversa, 
Monte Gargano usw.) und durch die Anjou (Realvalle, Benevent, Scurzola u. a.) 
errichteten Denkmiilerinseln entwicklungsgeschichtlich ohne Belang, und spielten 
ebenso die Rolle von Fremdkörpern, wie etwa die gotischen Kathedralen in der 
Levante (Famagusta, Tortosa, Jerusalem). Ja, wir finden hier die gänzlich un- 
verwurzelte Inselhaftigkeit in einigen Denkmälern darin ausgedrückt, daß in ihnen 
eine Rückwanderung der gotischen Ableger des lateinischen Orients festzustellen 
ist (Golete, Rapolla, Monte Sant Angelo, Schlösser in Apulien und Sizilien), indem 
Bauleute von dort hierher berufen wurden. 


Verfolgen wir nun die Grenze der gotischen Kernschichte weiter, so begegnet 
die in mancher Hinsicht merkwürdige Tatsache, daß Südfrankreich aus der ein- 
heitlichen Kernschichte ausgeschlossen ist“). Wohl enthält dieses einige bedeutende 
rein gotische Denkmäler, die aber als direkte Ableger oder (im Detail) Nach- 
ahmungen nordfranzösischer Vorbilder ohne Nachfolge geblieben sind (Carcassonne, 
Chöre von Toulouse, Narbonne und Bordeaux u. a.). Die Stellung solcher Einzel- 
fälle entspricht etwa der des Mailänder Domes in Italien (s. o.), sie sind im 
wesentlichen Inseln der nördlichen Schichte, die sich auch bis tief nach Spanien 
hinein fortsetzen (Burgos, Toledo usw.). — Im übrigen aber bedeutet, was sich in 
Südfrankreich an Gotik findet, weniger eine Durchsetzung, wie in Nord- und Mittel- 
italien, als ein Aufgehen in der anders gefärbten Grundlage. Denn während sich 
dort das auflösend Konstruktiv-Gotische mit einem Farbig-Flächenhaften auseinander- 
setzt, ist es hier ein Plastisch-Kubisches, das dem Gotischen von der hier noch 
nachwirkenden Romanik her noch weit fremdartiger gegeniibersteht. Die Kathe- 
drale von Alby (Abb. 5) mit ihrer durch die enge Stellung der zylindrischen Strebe- 
türme belebten kubischen Massigkeit und den seltsam passiv eingedämmten schmalen 
Maßwerkfenstern, oder die Fassadenkrönung der Notre-Dame du Taur in Toulouse °) 
sind bezeichnende Beispiele dafür, wie das lebendige Wachstum der Gotik in eine 
abstrakte, in sich ruhende Massigkeit gezwungen wird. 

Überschreiten wir nun die Pyrenäen nach dem Süden, so tritt uns ähnlich wie 
in Süditalien eine Inselhaftigkeit entgegen, die ihren Ausgang teils in der Schichte 
Nordfrankreichs (Burgos, Leon, Toledo), teils in der südfranzösischen Mischsphäre 
hat (Barcelona, Gerona, Palma). Dabei kann im besonderen das an das südöstliche 
Frankreich anstoßende Gebiet von Katalonien als mit der Languedoc in engerem 
Zusammenhange stehend aufgefaßt werden, insofern in beiden Fällen die Insel- 
haftigkeit eine größere Dichtigkeit aufweist. Für die übrige Halbinsel gilt freilich 
ein Bild, das sich von den bisher vorgefundenen Arten der Verbreitung einiger- 
maßen unterscheidet: 

Durch die geradezu nur oasenhafte Besiedelungsmöglichkeit des Landes bedingt, 
ist die Ausbildung einer Schichte in unserem Sinne von vornherein nicht möglich, 
das kunstgeographische Bild im wesentlichen durch wenige Zentren bestimmt. 
Hier ergibt sich nun, wenn wir zugleich auf den zweiten großen, am Ende des 


(1) Nur in der Gascogne und Guyenne kann einigermaßen von „Gotik“ im Sinne einer größeren 
Schichte die Rede sein (senkr. dünn schraff. Felder). 
(2) Siehe Dehio, а. a. O., Abb, Seite 431. 


165 


Mittelalters lebendigen Kunstkreis übergehen (Islam — Schrägschraffierung), der, wie 
vom Norden her die Gotik, auf diesem Boden vom Süden aus wirksam wird, jenes 
ganz eigentümliche Phänomen, das unter dem Namen des Mudejarstiles bekannt 
ist (Abb.6). Im Sinne des geographischen Bildes bedeutet es weder Inselhaftigkeit 
innerhalb einer geschlossenen Schichte, noch Durchsetzung zweier oder mehrerer 
Schichten, sondern das Ineinandergreifen zweier inselhafter Sphären, deren keine 
auf diesem Boden entstanden ist. Die Oasenhaftigkeit dieser Inseln mochte es 
aber mit sich gebracht haben, daß die von außen verpflanzten Elemente wie in 
einzelnen Treibhäusern zu einer besonders reichen Blüte sich entfalteten und als 
solche sich zu einem Neuen vereinten. So erscheint das Wesen spanischer Kunst 
und Kultur überhaupt weniger als ein Bodengewachsenes, in einer heimischen 
Schichte Wurzelndes, sondern mehr als die oasenhafte Steigerung des nördlichen 
Naturalismus zum blutrünstigen Realismus und der südlichen Abstraktion zu farben- 
freudiger Phantastik. 

II. Für den in der Karte schräg schraffierten islamischen Kunstkreis ist von vorn- 
herein festzuhalten, daß dessen voller Umfang noch weit nach dem Osten hinein 
ergänzt zu denken ist; reicht doch dessen Wirksamkeit bis nach Indien und Ost- 
asien. Es ist also hier ein verhältnismäßig nur kleiner Teil der großen Schichte 
gegeben. Zugleich muß aber vorausgeschickt werden, daß hier „Schichte“ in einem 
maßgeblich anderen Sinne zu nehmen ist, als bisher im europäisch gotischen Um- 
kreise. „Schichte“ erscheint hier als die Summe oft weit voneinander getrennter 
oasenhafter Zentren auf Grund jener natürlichen Besiedelungsverhältnisse, als deren 
Ausläufer wir bereits Spanien genannt haben. Insofern aber die Kunst dieser 
Zentren sich zum größten Teile als eine monumentale Verdichtung der volksttim- 
lichen oder ländlichen Nomaden- oder Halbnomadenkunst darstellt ), wurde in der 
graphischen Darstellung auf der Karte eine durchgehende Schraffierung für das Ge- 
samtgebiet gewählt, aus dem die die Monumentalkunst tragenden Zentren als Halb- 
monde hervortreten. Auch hier wurde von einer für unsere Zwecke nicht nötigen 
Differenzierung der einzeinen Stilgebiete und von einer Angabe des allmählichen 
Wachstums der Schichte abgesehen. Für unsere Zwecke handelt es sich darum, 
wie weit das Ausbreitungssystem des Islam in Europa wirksam geworden ist. 

Von Spanien war bereits kurz die Rede. Hier zeigt naturgemäß der Süden das 
dichtere Bild der Inselhaftigkeit (Cordoba, Granada, Sevilla), ja erscheint — den 
allgemein historischen Verhältnissen entsprechend — geradezu noch als Fortsetzung 
der nordafrikanischen Kernschichte. Im übrigen beschränkt sich die Ausbreitung 
im wesentlichen und in ähnlichem Sinne auf die Zentren, die auch für die Gotik 
in Betracht kamen (Toledo, Valladolid, Salamanca usw.). Wie die Gotik in insel- 
haften Monumentaldenkmälern über die Pyrenäengrenze herabdrang, so gilt das- 
selbe vom Süden her für den Islam. Auch da ist es das Gebiet von Katalonien, 
das zusammen mit den anstoßenden südfranzösischen Teilen eine Brücke bildet in 
dem Sinne, daß einzelne Elemente sich nach dem Norden hin durchsetzen. Solche 
Elemente sind nicht nur in der Architektur, wie in den bereits erwähnten Bei- 
spielen von Alby und Toulouse festzustellen, sondern sind, abgesehen vom Orna- 
ment, vor allem für die Malerei um 1400 von größter Bedeutung geworden (Fresken 
in Avignon, Miniaturen usw.) ). 


(1) Siehe Strzygowski, Altai-Iran und Völkerwanderung, Abt. IV und v. 
(2) Diese vor allem in der Provence und in Burgund vorzüglich im Wege von Rittertum und Minne- 
dienst für die große Stilwandlung dieser Zeit von ausschlaggebender Bedeutung gewordenen islami- 


166 


Klarer, obwohl kunsthistorisch ebenfalls kaum noch eingehender erfaßt, ist die 
islamische Durchsetzung in Sizilien, die zusammen mit dem Byzantinischen (s. u.) 
das Gotische fast verschlingt (Palermo, Monreale, Cefalù). Diese Durchsetzung 
griff auch nach Süditalien über, wo sie besonders von der Westküste aus (Amalfi, 
Salerno) teils bereits als Mischstil, teils in einzelnen Elementen fruchtbar wurde 
und bis ins toskanische Gebiet hinein wirkte (Abb. 4). Wie weit islamische Elemente 
in der Architektur der Frührenaissance wirksam wurden, dafür habe ich in einem 
Aufsatze „Östlicher Kuppelbau, Renaissance und St. Peter“!) einige gewichtige 
Anhaltspunkte zu geben versucht und gezeigt, wie gerade die architektonischen 
Erstlingstaten der Renaissance, wie die Florentiner Domkuppel und die Pazzi- 
kapelle ohne Beiziehung des islamischen Stromes entwicklungsgeschichtliche Rätsel 
bleiben müßten. Greifbarer sind solche Elemente in technischer und formaler 
Beziehung im Kunstgewerbe, dessen einzelne Zweige, sei es Metall- oder Textil- 
kunst, Keramik, Steinmosaik usw.), ja zum guten Teil ihr Aufblühen dem orienta- 
lischen Kunsthandwerk verdanken. Und selbst in der Malerei, sei es in Fresken 
oder Miniaturen, als deren Vorbilder nur zu oft arabische Handschriftenillustrationen 
namhaft gemacht werden können?), bis zu Pisanello und Gentile Bellini spielt das 
islamische Element (neben Nordischem und Byzantinischem) eine bedeutende Rolle, 
Ja, wer es vermag, die Gesamtheit der asiatisch-europäischen Entwicklung in 
einem zu überblicken, wird vielleicht erkennen, daß jener Umschwung von mittel- 
alterlicher Symbolik und Raumlosigkeit zu der flächig-kulissenhaften Raumbildung 
des 15. Jahrhunderts zum guten Teil den Ausläufern eines großen Stromes zu ver- 
danken ist, der von dem während des früheren Mittelalters geradezu als einzigem 
Gebiete an dem natürlichen Erscheinungsbilde (in seiner Art) festhaltenden Ost- 
asien aus, über die große Blüte der persischen Miniaturenkunst (vom 13. Jahr- 
hundert an) nach dem Westen vordrang?). — Doch ist im Auge zu behalten, daß 
neben jener vom Süden (über Sizilien und Süditalien) bis in die Toskana vor- 
dringenden Durchsetzung mit einer vielleicht weniger extensiven als intensiven 
und fast inselhaft zu nennenden direkten Beeinflussung Norditaliens zu rechnen 
ist, deren Einfallstore in erster Linie Venedig, einigermaßen aber wohl auch die 
an die Provence anschließenden Gebiete und Genua sind. 

Was den Balkan anlangt, so ist, auch wenn wir zunächst die Ausbreitung des 
islamischen Stromes im Gefolge der osmanischen Eroberung außer acht lassen, 
eine deutliche Durchsetzung mit islamischen Elementen schon in byzantinischer 
Zeit festzustellen, Strzygowski hat dafür vor allem im Gebiete der Ausstattung 
Belege beigebracht‘). Daraufhin konnte diese Einflußnahme wenigstens für die 
Umgegend von Athen, auf der Karte einigermaßen angedeutet werden. Eine nähere 
Untersuchung, wie weit das Byzantinische vor allem im Ornament (arabeske Züge) 
und in der Architektur in breiterer Schichte bereits vor der Eroberung eine Durch- 
setzung mit islamischen Elementen aufweist, steht noch aus. 


schen Einflüsse sind, was die bildende Kunst anlangt, freilich kaum noch entsprechend gewürdigt 
worden. Für den Stand der Frage in der Literaturwissenschaft vgl. K. Burdach, „Über den Ursprung 
des mittelalterlichen Minnesanges, Liebesromans und Frauendienstes (Sitzungsber. der preuß. Akad. 
der Wissenschaften 1918, S. 994 fl.). 

(x) Monatshefte für Kunstwissenschaft 1919, S. 153 ff. 

(2) Vgl. Schlosser, Ein veronesisches Bilderbuch usw., Jahrb. d. Sammi. d. ah. Kaiserhauses, Bd. XVI. 
(3) Darüber werde ich an anderer Stelle zu handeln haben. 

(4) Amida, S. 365 ff.; siehe auch Strzygowski, Die nachklassische Kunst auf dem Balkan, im „Jahr- 
buch des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt a. М. 1910, S. 40. 


167 


Was nun den von Osten über Kleinasien vordringenden osmanischen Strom an- 
langt, so drängt er, in Fortsetzung der seldschukischen Ausbreitung (Konia), die 
früher vorhandene christliche (, byzantinische“) Schichte (wagrechte Schraffierung) 
zunächst ganz an die Küsten und auf die griechische Inselwelt zurück, ohne mit 
dieser — abgesehen von Spolienbenützung — eine Mischung einzugehen. Erst mit 
der Überschreitung der Dardanellen und der Eroberung Konstantinopels durch die 
Türken tritt das Byzantinische als ein das Osmanische anregender Faktor auf (osma- 
nische Moschee und Sophienkirche), doch bedeutet diese Anregung keineswegs die 
Übernahme und Fortführung der damals lebendigen byzantinischen Tradition, sondern 
die Auslösung der in der 'seldschukisch-osmanischen Überlieferung selbst vorbereiteten 
Voraussetzungen'), d. h. also keineswegs eine Mischung (Durchsetzung) des Isla- 
mischen mit dem Byzantinischen. Vielmehr findet das Byzantinische innerhalb 
des islamisierten Gebietes ein selbständiges, aber als lebendige Fortentwicklung 
nicht mehr in Betracht kommendes Ausleben. Die islamische Schichte hält dabei 
im allgemeinen ihren Charakter der Oasenhaftigkeit bei, und findet mit der Ver- 
breitung islamischer Kultur — sei es auch nur in kleinen, künstlerisch gering- 
wertigen Denkmälern — ibre Grenzen. So kann etwa als die nördlichste der 
dieser Schichte angehörenden Moscheen, die von Bosnisch-Brod gelten, während 
z. B. die heute noch erhaltenen türkischen Bäder von Budapest?) bereits als insel- 
hafte Erscheinungen gewertet werden müssen. In diesen Gebieten haben wir es 
also im wesentlichen mit dem Bilde einer „Überlagerung“ zu tun, bei der die ur- 
sprünglich vorhandene Schichte so viel wie ganz ausstirbt. 

Von dieser Überlagerung blieben außer den noch zu behandelnden Gebieten 
des Balkan im weiteren Osten das armenische Hochland und zum Teil Georgien 
als christliche Gebiete befreit. Hier tritt an die Stelle der Überlagerung die Durch- 
setzung, ähnlich, wie sie beim Eindringen der Gotik in Nord- und Mittelitalien 
festzustellen war. Wie dort (Mailand), so fehlt es auch hier nicht an inselhaften 
Zentren des Islam, wie sie etwa durch die Moscheen und Paläste von Ani und 
Erzerum gegeben sind. Im übrigen wird aber die christlich armenische Kunst, 
sei es Baukunst*) oder (Miniaturen-)Malereit) und selbst die figürliche (und Grab- 
stein-)Plastik®), vor allem, was die ornamentalen Details anlangt, schon vom Beginn 
des ersten Jahrtausends an bis zu der Blüte im 13. und 14. Jahrhundert in hohem 
Maße von den islamisch-türkischen Elementen durchsetzt (Abb. 8); das Auftreten 
von Stalaktitenschmuck, farbiger Plattenverkleidung in der Art von Fliesen, Nischen- 
gliederungen, von Arabesken in der Ornamentik u. dgl. mehr, sind Züge, die mit 
dem Vorhandenen aufs engste verschmelzen. Am stärksten ist diese Durchsetzung 
in dem zwischen Araxes und Kur südöstlich in das Gebiet der islamischen Schichte 
vorspringenden Teile des Hochlandes®), während etwa an der Stelle, wo der 
Araxes das armenische Hochland verläßt, die Grenze der beiden Schichten in den 
benachbarten Kunstzentralen Etschmiadzin (Kloster) und Erivan (Moscheen, Paläste) 


(1) Siehe meinen Aufsatz „Östlicher Kuppelbau, Renaissance und St. Peter“ in Monatshefte f. Kunst- 
wissenschaft, 1919, S. 16af.; vgl. auch meine „Türkische Dekorationskunst“ in Kunst und Kunsthand- 
werk 1920, 8. 26ff. 

(2) Vgl. Fischer von Erlach, Entwurf einer historischen Architektur, Taf. L 

(3) Vgl. z. B. Strzygowski, Baukunst der Armenier, Abb. 776 u. a. 

(4) Ebendort, S. 538 f. und die dort angegebene Literatur. 

(5) Ebendort, Abb. 674 u. a. Vgl. auch H. Glück, Die beiden , зазапійівсћеп“ Drachenreliefs (Publ. 
d. kaiserl. osman. Museen IV, Konstantinopel 1917), S. 27 u. 38 ff. 

(6) Siehe Н. Glück bei Strzygowski, Die Baukunst der Armenier, 8. 609 ff. 


168 


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Abb. 1. Mylije, Holzkirche. 


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7 Abb. 2. Humora, Klosterkirche, 
Choransidt. 


Abb. 3. Florenz, Domfassade, Detail. 


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Abb. 4. Amalfie, Kathedrale, Fassade. 


Zu: H. Glück, Das Kunstgeographishe Bild des Mittelalters und die Grundlagen der Renaissance 


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aufs schärfste erkennbar wird. — In Georgien dringen die islamischen Elemente 
vor allem im Wege des Ziegelbaues längs des Kurtales vom Osten her vor, wobei 
dieses Vordringen nur einen kleinen Ableger jener noch weit ausstrahlenden Be- 
wegung. bedeutet, mit der der Islam Südrußland bis zu der allgemeinen Linie Kiew- 
Jaroslaw durchsetzt. 

III. In Rußland selbst erscheint als bodenständige Kernschicht eine durch die 
eigentümliche Holzarchitektur (Abb. 1) und das volkstümliche Kunstgewerbe charak- 
terisierte Kunst (dünne, senkrechte Schraffierung), deren inselhafte Durchsetzung 
vom byzantinischen Süden her zu der auch heute noch nicht tiberwundenen An- 
sicht führen konnte, die russische Kunst sei nichts anderes als eine barbarisierte 
byzantinische. Was sowohl die volkskünstlerischen Elemente sowie auch die Holz- 
baukunst anlangt, so schließen sich, abgesehen von den entsprechenden Differen- 
zierungen, an das eigentlich russische Kerngebiet der schon behandelte skandina- 
vische Westen (wobei im besonderen Stabwerkbau und Blockbau zu trennen wäre), 
sowie die polnischen, ungarischen und zum Teil die tschechischen und süd- 
slawischen Gebiete an, wobei freilich der Bestand an Denkmälern in den ein- 
zelnen Gebieten noch sehr mangelhaft zu belegen, bzw. nur im Rückschlusse fest- 
zustellen ist. | 

IV. Schließlich bleibt noch die durch wagrechte Schraffierung eingetragene Schichte 
zu besprechen, die vielleicht kurz mit dem sehr allgemeinen Schlagworte „byzanti- 
nisch“ bezeichnet werden kann, treffender aber als Rest der im Christentum orien- 
talisierten Mittelmeerkultur aufzufassen ist. Demgemäß stellen diese Gebiete einen 
durch Durchsetzung und Überlagerung im Verschwinden begriffenen Schichtenrest 
dar, dessen fortschreitende Aufzehrung im Kartenbilde folgendermaßen deutlich wird. 
Während für den südlichen Mittelmeerkreis (einschließlich Syrien und Spanien) 
für unseren Zeitpunkt ein selbständiges Fortleben der christlichen Schichte infolge 
der frühzeitigen islamischen Überschwemmung schon längst nicht mehr in Betracht 
kommt, blieb während des Mittelalters die christliche Überlieferung in Kleinasien 
immerhin einigermaßen aufrecht, um in unserem Zeitpunkte bereits fast völlig über- 
lagert zu sein (wagrechte Umrandung); nur im armenischen Hochlande, wo schon 
die natürliche Abgeschlossenheit dem Islam eine durchgreifende Besitznahme ver- 
wehrte, blieb ein größerer Rest dieser Schichte bestehen, wenn auch — gerade 
zu dieser Zeit — stark von dem islamischen Strome durchsetzt. In Griechenland 
und auf den Inseln fand das „Byzantinische“ ziemlich ungehindertes, wenn auch 
von Osten nicht ganz unberiihrtes') Fortleben, von den Verhältnissen in den nörd- 
lichen Gebieten der Balkanhalbinsel nach der Einnahme von Konstantinopel war 
bereits oben die Rede. Aber auch in den Gebieten nördlich des Balkan (Bulgarien, 
Rumänien, Bukowina) blieb abgesehen von einigem Eingreifen islamischer Elemente 
die mit der osteuropäischen Nordkunst vermischte byzantinische Tradition in lokalen 
Differenzierungen aufrecht und hatte, wie bereits erwähnt, auch entscheidend in 
russisches Gebiet eingegriffen, so daß die durch den Islam gleichsam in ihrem 
Kern ausgehöhlte byzantinische Schichte zu beiden Seiten des Keiles fortvegetierte. 

Diese bisher umschriebene westasiatisch-osteuropäische Schichte bildet einen öst- 
lichen Teil des gesamten, die alte christliche Mittelmeerüberlieferung fortführenden 
Kreises und ist von dem westlichen Teil vor allem dadurch unterschieden, daß in 


(1) Über die Durchsetzung der spätbyzantinischen Kunst mit islamischen, bzw. durch den Islam ver- 
mittelten östlichen Elementen stehen mit Ausnahme der erwähnten Hinweise Strzygowskis nähere 
Studien noch aus, wenngleich davon eine große Ergiebigkeit zu erwarten ist. 


169 


ihr die vom Iran über Armenien vordringende Orientalisierung!) sich in stärkerem 
Maße durchgesetzt hat, was besonders in der Architektur durch das Vorherrschen 
des zentralen Kuppelbaues und seiner Elemente zum Ausdruck kommt (Abb. 7). 
Der westliche Teil dagegen, der (in der Karte in dünnerer Schraffierung ein- 
getragen) vor allem Nord- und Mittelitalien und die östliche Adriaktiste (Istrien, 
Dalmatien) umfaßt und nach Gallien übergreift, wird in der Baukunst durch das 
Vorherrschen des Langhauses und auch sonst durch das stärkere Nachwirken des 
antiken Geistes charakterisiert ). Von der nordischen Durchsetzung dieser Schichte 
in Mittel- und Norditalien, sowie von Südfrankreich war bereits die Rede. Am 
wenigsten berührt, sowohl von der nördlichen (gotischen) als auch von der süd- 
lichen (islamischen) Durchsetzung blieb in Italien der mittlere östliche Teil, wo 
auch das geringste kunsthistorisch bedeutsame Leben entfaltet wird. Neben diesen 
beiden Schichten hat aber auch der östliche Teil der Mittelmeerschichte nach dem 
Westen hinübergespielt; weit vor unserer Zeitstellung zeigt sich dies in ganz her- 
vorragendem Maße in der Verbreitung jener Kirchen, die nach dem Muster ira- 
nischer Bauten und der Apostelkirche) mehrere Kuppeln, sei es in einer oder іп 
Kreuzachsen, anordnen: So in Italien San Marco in Venedig, S. Sabino zu Canosa, 
S. Antonio zu Padua, in Molfetta und Trani; in Frankreich bilden die aquitanischen 
Kuppelkirchen mit St. Front in Perigueux an der Spitze den eigentümlichen Fall 
einer inselhaften Schichte. Auch in Deutschland ist noch im früheren Mittelalter 
teils inselhaftes Eingreifen (Paderborn, Bartholomäuskapelle), teils ein Durchdringen 
der byzantinischen Ostschichte festzustellen (Malerei). Während aber in Deutsch- 
land und Nordfrankreich diese „byzantinischen“ Elemente für unsere Zeitstellung 
kaum mehr in Betracht kommen, d. h. bereits aufgezehrt sind, wurden im Stiden 
jene Bauten und die damit zusammenhängenden, auch sonst verbreiteten Elemente 
beim Wiedererwachen der Kuppelidee in der Renaissance von Bedeutung, und im 
gleichen Sinne ist die inselhafte Verbreitung byzantinischer Malerschulen in Italien 
im Auge zu behalten, die in die Renaissance hinein wirkten. In Sizilien und Unter- 
italien“) aber wirkt die alte byzantinische Grundlage noch durch die islamische 
und normannische Überlagerung nach (Abb. 4). 

Überblicken wir nun nochmals das beschriebene kunstgeographische Bild in seiner 
Gesamtheit, mit besonderer Beachtung des im zweiten Teil des Titels dieses Auf- 
satzes gestellten Problems, so ergibt sich folgendes: 

Als die ihrem Ursprung nach älteste der dargestellten Schichten (wagrecht) erscheint 
die kurzweg als „byzantinische“ bezeichnete’). Sie erscheint in einem Stadium der 
Zersetzung, als Rest der ursprünglich den ganzen Mittelmeerkreis umfassenden und 
vom Osten und Norden schon während des frühen Mittelalters durchsetzten antiken 
Schichte. Ihr Schicksal wird bestimmt durch die Umklammerung zweier großer 
lebendiger Ströme, die in unserem Zeitpunkte eben auf der Höhe ihrer Expansions- 


(x) Siehe Strzygowski, a, a. O., S. 709 ff. 

(2) Wie weit dieser Teil bereits vor unserem Zeitpunkte von nordischen (gotischen, langobardischen, 
fränkischen) Elementen durchsetzt wurde, kommt hier nicht mehr in Betracht, die Schichte erscheint 
für unseren Zeitpunkt als eine aus diesen Mischungen bereits vergorene Gegebenheit. 

(3) Siehe Strzygowski, a. a. O., 8. 753 f. 

(4) Auch in Sardinien, wo aber zu unserem Zeitpunkte das „Byzantinische“ als lebendige Schichte 
nicht mehr in Betracht kommt. 

(5) Man beachte, daß die in der älteren kunsthistorischen Literatur übliche Bszeichnung des „Roma- 
nischen“ als „Byzantinisch“ den hier aus einer universelleren Einstellung sich ergebenden Verhält- 
nissen näher kam, als die gegenwärtig aus der bloßen Einstellung auf den Westen übliche. 


170 


kraft stehen, des islamischen im Osten und des gotischen im Norden. Und zwar 
ergibt sich eine Gesetzmäßigkeit darin, daß alle Gebiete der aussterbenden Mittel- 
meerkultur, die sich in einem Stadium der Durchsetzung durch einen der beiden 
lebendigen Ströme befinden, einen kräftigen künstlerischen Aufschwung erfahren, 
indem durch die eintretende Mischung Neues entsteht, oder mit andern Worten, das 
alte Heimische, durch das eindringende Fremde befruchtet wird, eine „Renaissance“ 
erlebt. So hatten die vom Islam überströmten Gebiete des südlichen Mittelmeeres 
solche aus einer Durchsetzung entspringende Blüteperioden bereits am Beginne 
des Mittelalters erfahren — man denke z. B. an Cordoba, Kairuan, das tulunidische 
Kairo, an den Felsendom in Jerusalem oder die große Moschee von Damaskus —, 
später bedeutete die seldschukische Periode in Kleinasien das Ubergreifen des 
islamischen Stromes auf die nördlichen Mittelmeerländer. In dem Zeitpunkte, den 
unsere Karte darstellt, ist diese Durchsetzung des südlichen Mittelmeerkreises 
bereits einer Überlagerung gewichen, d. h. die alten Elemente der Mittelmeerkultur 
haben in diesen Gebieten kaum mehr entwicklungsgeschichtliche, neuschöpferische 
Geltung, der neue, vor allem an die Türken (Mameluken, Seldschuken) gebundene 
Vorstoß vom Osten, bringt statt der früheren lokal differenzierten Durchsetzungs- 
produkte überall die gleichen neuen Formen zur Herrschaft (Medrese, Grab- 
kuppel usw.)!). — Ähnlich hatte auch — vom frühen Mittelalter an — die Durch- 
setzung der antiken Mittelmeerschichte durch den Norden zwischen Loire und 
Rhein die neuen Ansätze gezeitigt, aus denen dann die Gotik hervorwuchs, deren 
Schichte und Abgrenzung sie als die allmählich nach dem Osten vordringende 
Auseinandersetzung des Nordens mit den Auswirkungen der südlichen Mittelmeer- 
kultur erscheinen läßt. 

Das auf der Karte wiedergegebene Bild zeigt nun die Lage, in der die beiden 
verselbständigten Ströme, der von den Türken getragene islamische und der vom 
germanischen Norden getragene gotische sich mit den letzten Resten der mittel- 
ländisch-byzantinischen Schicht auseinandersetzen. In den Durchsetzungsgebieten ` 
entsteht jeweils das Neue, die Renaissance der alten Kulturschichte. Und wie wir 
diese alte Schichte in eine westliche und eine östliche differenziert haben, und 
Z. B. für die letztere den zentralen Kuppelbau, für die erstere das Langhaus mit 
starken inselhaften Einschlägen des östlichen Kuppelbaues als charakteristisch er- 
kannt haben, so gestaltet sich die Renaissance in beiden Gebieten als eine Neu- 
belebung eben dieser Züge, indem im Osten eben der Zentralbau (osmanische 
Moschee), im Westen der Kampf zwischen Zentral- und Längsidee und ihr Aus- 
gleich (Gesütypus) bestimmend wird). Während aber die Durchdringung im Osten 
eine verhältnismäßig einfache ist, indem Orientalisches auf bereits stark Orientali- 
siertes stößt, und deshalb geringere Widerstände zu einer freien Entfaltung höchster 
Monumentalität führen, stauen sich in Italien die verschiedensten Kräfte, und er- 
geben das tragische Ringen, das die ganze Entwicklung durchzieht. Das Bild, 
das Italien auf der Karte als ein zwischen den beiden einheitlichen lebendigen 
Strömen zerrissener Boden aufweist, läßt aber um so mehr die Gesetzmäßigkeit 
erkennen, nach der das Neue in den Gebieten kultureller Durchdringung entsteht. 
Wie im Osten Konstantinopel, so werden die Kunstzentralen Venedig und Mailand 
als Einfallstore verständlich). Florenz und Rom bilden zwei Brennpunkte, in denen 
(х) Siehe meine „Türkische Dekorationskunst“ in „Kunst und Kunsthandwerk“, 1920. 

(2) Ähnlich ersteht eine Renaissance in Armenien. 


(3) Ähnlich erklärt sich im Norden die örtlich und zeitlich inselhafte Kunstblüte in Prag am Ausgang 
des Mittelalters. 


171 


sich die vom Süden und Norden durchsetzenden Strahlen in höchster Intensität 
sammeln, während das östliche Mittelitalien, von diesen befruchtenden Strahlen 
kaum berührt, für die Entwicklung geradezu ausscheidet. 

Mannigfache Fragen werden durch eine derartige Betrachtung ausgelöst, auf die 
in diesem rohen Gerüste nur kurz andeutend hingewiesen werden konnte, ja in 
vieler Hinsicht müßte erst nach den obigen Feststellungen die eigentliche Problem- 
stellung einsetzen. Man bedenke etwa im Zusammenhang mit unserer Darstellung 
Fragen wie folgende: Wie weit ist die Entstehung und Ausbreitung einer Kunst- 
schichte an volkliche, religiöse, soziale, politische Faktoren gebunden? Welche Rolle 
spielen natürliche Schranken? Worin liegt der Grund der verschiedenartigen Aus- 
breitungsart einer Schichte in verschiedene Gebiete (siehe oben Gotik)? und wo- 
durch sind die Grenzen der Ausbreitung bedingt? Sind diese Grenzen, diese Ver- 
schiedenartigkeit von Inselhaftigkeit, Durchsetzung und Überlagerung wirklich bloß 
Zufall der Geschichte, oder steht nicht deren zeitlichem Wechsel eine Konstanz 
gegenüber, die dem „Ich“ eines Lebewesens gleichkommt, das bei allem Wechsel 
seiner Entwicklung dasselbe bleibt, sein Wesen ausmacht? — Diese Konstanz zu 
erkennen, die Gebundenheit der Kultur an die relativ gleichbleibenden Voraus- 
setzungen der Erde, wäre das Ziel einer solchen auf Entwicklung eingestellten 
geographischen Betrachtung im Gegensatze zu der geläufigen historischen, die 
nur den Wandel der Erscheinungen im Auge hat und darliber das Bleibende, das 
„Ich“, vergit. Um dies nur einigermaßen anzudeuten, sei folgendes vor Augen 
gehalten: Sind nicht Grenzen, wie sie sich in unserer Darstellung scheinbar als 
historische Zufälligkeit der bestimmten Zeitstellung ergaben, von einer dauernden 
Geltung, ungeachtet äußerlicher politischer Verschiebungen? Um ein Beispiel zu 
geben: Das Durchsetzungsbereich, das sich in unserer Karte für das Eindringen 
des gotischen Nordstromes auf italienischem Boden ergab, deckt sich im wesent- 
lichen mit dem des langobardischen Nordstromes, die vom Süden eindringende 
. islamische Sphäre entspricht in ihrem Wirkungskreise einem bis jetzt kunsthistorisch 
nicht beachteten Eindringen punisch-karthagischer Elemente, die für die Bildung 
der stadtrömischen Kunst entscheidend wurden’), und dieses Wirkungsgebiet in 
Süditalien ergibt zusammen mit Nordafrika, Spanien und den westmittelländischen 
Inseln bereits in prähistorischer Zeit eine zusammenhängende Schichte, die in ihrer 
Ausdehnung dem entspricht, was innerhalb der islamischen Kunst mit maghribinisch 
bezeichnet wird. Zugleich ergibt das erwähnte Eindringen punischer Kultur in 
Süditalien dasselbe Bild der Durchsetzung einer bereits vorher vom Osten vor- 
gedrungenen Schichte, nämlich der griechischen Kolonialkunst in Sizilien und Unter- 
italien, wie es sich im Mittelalter (s. die Karte) durch das Eingreifen des Islamischen 
in die byzantinische Grundlage ergibt. 

Die Existenz solcher Grenzen scheint danach freilich nur in Zeiten eines inten- 
siveren historischen Lebens deutlich greifbar zu werden, doch bestehen sie auch 
aufrecht, wenn sie auch die historische Konstellation gerade nicht aktiv werden 
läßt. Um sich dessen bewußt zu werden, denke man an den dauernden Unter- 
schied zwischen Nord- und Süditaliener, Nord- und Südfranzosen oder man stelle 
dem kunstgeographischen Bilde Europas das Bild etwa des ost- oder südasiatischen 
Kunstkreises gegenüber. Daß dabei, welche Zeit immer man auch in Betracht ziehen 
(x) Historisch wurde auf diese Beziehungen neuerdings von Hesselmeyer, Das vorrömische Karthago 
in seiner Bedeutung für den spätrömischen Kolonat (Korrespondenzbl. f. d. höh. Schulen Württem- 


bergs, 23. Jahrg. 1916, S. 393 ff.) hingewiesen; kunsthistorisch habe ich das Material in einem druck- 
fertigen Werke über die „Bäder Konstantinopels“ auseinandergelegt. 


172 


mag, eine bestimmte Struktur als charakteristisch hervortritt, die für die entwick- 
lungsgeschichtliche Wertung von größter Bedeutung sein kann, das zeigte ja schon 
im kleinen die Gegenüberstellung der gotischen und der islamischen Schichte oder 
das Bild Spaniens im besonderen, mag auch die graphische Unterscheidung ihrer 
Struktur als für die gegenwärtigen Zwecke genügend noch so verallgemeinernd 
gehalten sein. 


Bemerkungen zu den Abbildungen (Taf. 20—21) 


1. Mylije, Holskirche als Beispiel nordosteuropäischer Schichte. 


3. 


. Klosterkirche Humora (Bukowina) als Beispiel „byzantinischer“ (ostmittelländischer) Durch- 


setzung der nordosteuropäischen Schichte mit inselhaftem gotischen Einschlag. Ziegelbau, Tri- 
konchos, Nischengliederung und Gemäldeschmuck sind ostmittelländische Elemente; das aus- 
ladende spitze Holzdach und Höhendrang bezeichnen das Nordische; die gotische Umrahmung 
des Aspisfensters erscheint als inselhafter Fremdkörper innerhalb der flächigen Gliederung. 
Florenz, Domfassade, Detail als Beispiel gotischer Durchsetzung mittelländischer Grundlage 
mit islamischem Einschlag. Gotische Schmuckformen wie Krabben, Fialen, Rundstäbe usw. 
werden farbig-dekorativ umgewertet und verlieren ihre struktive Funktion (Portal), oder werden 
in flächenfüllender, untektonischer Reihung benützt (Wandfüllungen); byzantinische Typen (Ma- 
jestas im oberen Giebelfeld) werden linear und plastisch bewegt und individualisiert; die schrägen 
Wandungen des Fensters und dessen unterste Leiste, die in unendlichem Rapport gegebenen 
Arabesken, Palmettenrosetten und die Reziprokmuster des Islam. 

Amalfi, Kathedrale als Beispiel des sizilianisch-süditalischen Mischstiles. Die mittelländische 
Grundlage ist einerseits durch die antikisierende Giebelform, andererseits den byzantinischen 
Mosaikschmuck und durch die untektonische Flächenhaftigkeit gegeben; das Islamische durch 
die kunstgewerbliche Kleinarbeit und Farbigkeit und durch motivische Details (Schichtwechsel, 
Verkleidungsprinsip, Stern- und Rautenschilde, heraldische Löwen); die Gotik ist entmaterialisiert 
und in ornamentale Flächenhaftigkeit gebannt (Maßwerkfenster der Vorhalle), ihre Motive (Spitz- 
bogenreihen) in phantastischer Durchsetzung unendlich gereiht. 

Alby, Kathedrale als Beispiel südfranzösischer „Gotik“: Die gotischen Elemente (s. Portal- 
bau links) erscheinen als direkte Nachahmungen von Denkmälern der gotischen Kernschichte 
oder sind als solche (Fenster) in das ihnen fremdartige System kubischer Massen ein- 
gefügt, in denen sich das nachlebende Westmittellindische („romanische“ Formelhaftigkeit) mit 
der abstrakten Phantastik der über Spanien vorgedrungenen islamischen Einschläge mischt. Für 
das letztere vgl. etwa die kubische Flächenhaftigkeit des Unterbaues und die zylindrischen Strebe- 
türme mit der gleichartigen Motivverwertung am schiefen Turm von Saragossa (Abb. siehe bei 
М. Dieulafoy, Gesch. d. Kunst in Spanien und Portugal, [Ars una], S.169), oder auch bei Abb. 6. 


. Belem, Kloster Dos Jeronymos, Obergeschoß des Kreuzganges als spätes Beispiel der 


Durchsetzung nachwirkender islamischer (Ornament) und gotischer (Arkadenbogen) Inselbaftigkeit 
(Mudejarstil). Die bereits durchdringenden Renaissancemotive sind noch den übertriebenen 
Prinzipien der beiden Hauptfaktoren angepaßt. 

Gracanica (Serbien), Kirche als Beispiel ostmittelländischer Schichte. 

Amagu (Armenien), Portallünette als Beispiel ostmittelländisch -isiamischer Durchsetzung: 
„byzantinischer“ Madonnentypus in teilweise islamischer Formgebung (Teppich in unverkürzter 
Aufsicht, Sitzmotiv, Kopfschmuck), Die in arabeskes Rankenwerk eingegliederten Heiligen- 
gestalten des Hintergrundes lassen durch motivische und formale Übereinstimmungen die innere 
Zusammengehörigkeit des christlichen Ostens mit dem äußersten mittelländischen Westen („Ro- 
manik“) erkennen. 


173 


EIN HEIDNISCHES ELFENBEINRELIEF DES 
TRIESTINER MUSEO CIVICO DI STORIA ED 
ARTE IM SPIEGEL DER SPÄTANTIKEN 
KUNST AGYPTENS 


Mit sieben Abbildungen auf vier Tafeln Von STEPHAN POGLAYEN-NEUWALL 


Was heißt eigentlich orientalische Kunst? Versteht man 
darunter die im Orient entstandenen Bildwerke, oder solche, 
die im Geist und Sinn der orientalischen Schöpfungen im 
Nicht-Orient gearbeitet sind? Es muß einmal ausgesprochen 
werden, nicht der Ort der Aufbewahrung eines Kunstobjektes, 
auch nicht immer der Ort seiner Entstehung sind entscheidend... 
Die Frage des Ortes darf nicht mit der geistigen Provenienz 
verwechselt werden. (H. Kehrer, Die hl. drei Könige II, 8.18.) 


ls Pervanoglu!) die im Triestiner städtischen Museum für Geschichte und Kunst 
befindliche Elfenbeintafel (Tafel I, Abb. т) veröffentlichte, hat er sich betreffs 
der Herkunftsfrage darauf beschränkt, unter Bezugnahme auf den Aufbewahrungs- 
ort der Platte — ihr Fundort ist unbekannt geblieben — auf die Möglichkeit ihrer 
Entstehung auf istrischem Boden zu verweisen. Venturi nennt unser Relief in 
seiner storia del arte italiana I, р. 502, 531 (Milano тоот) unter den spätantiken 
Elfenbeinschnitzereien Italiens. G. Caprin?), der in seiner Beschreibung Triests 
eine photographische Nachbildung desselben bringt, knüpft unter Außerachtlassung 
von Strzygowskis®) Hinweis auf den Zusammenhang der Tafel mit der spätantiken 
Kunst Ägyptens, mit ihrer Bezeichnung als istrische Arbeit an Pervanoglu an. — 
Im Folgenden soll den von Strzygowski angedeuteten Beziehungen, deren Erörte- 
rung Manches zur Erweiterung der Kenntnis der spätantiken Elfenbeinschnitzerei 
beitragen dürfte, in ausführlicher Weise nachgegangen werden. 


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ж 


Unser Relief wurde im Jahre 1876 durch das oben genannte Museum aus dem 
Nachlaß des Konservators Dr. Kandler erworben. Die Höhe der Tafel beträgt 
20,28 cm; die Breite 13,4 cm; die Dicke б—6!/„ mm. 

Das von einem durch Putten belebten Rankenrahmen eingefaßte, durch einen 
Quersteg zweigeteilte Mittelfeld weist im- oberen Feld die Begegnung der Dios- 
kuren, im unteren Europa‘) mit dem Stier. In der oberen Szene zwei aufeinander 
zueilende, einander umarmende Knaben: in kurze, ärmellose Tuniken gekleidet, sind 
sie mit einer an phrygische Mützen erinnernden Kopfbedeckung versehen; an den 
Füßen tragen sie Sandalen. Dahinter — zu beiden Seiten — übereinander an- 
geordnet, je zwei die Speere des Brüderpaares haltende Flügelputten (der untere 
rechter Hand am Boden kniend). Im unteren Feld in ärmellosem Chiton, um 


(х) Pervanoglu, Ein Dyptichon des städt. Museums zu Triest, Arch. Ztg. 1876, S. 131, Taf. 12. 

(2) G. Caprin, Trieste (Bergamo 1906), S. 103. 

(3) J. Strzygowski, Die Porphyrgruppen von San Marco in Venedig (Beiträge zur alten Geschichte, 
Ва. П, 8, 105 — 125. 

(4) Strzygowskis Annahme, es könnte auch Pasipha gemeint sein, widersprechen die uns über- 
kommenen Darstellungen der beiden Mythen (A. Baumeister, Denkmäler der kl. Altertumskunde, 
München und Leipzig 1885, 1887; I, 8. 517—519; II, 8. 1188—1190). 


174 


die Schultern ein Tuch, Europa, den Stier liebkosend; auf seinem Rücken ein 
nacktes Knäblein, das ihn mit der Rechten beim Horn packt; ein anderes will ihn 
am Schwanz nach rlickwärts ziehen; zwischen seinen Beinen ein dritter, ge- 
flügelter Putto, der am Boden knieend den Stier an den Hinterfüßen gefaßt hat. 
In dem Raum zwischen den beiden ersteren Knäblein in einem Rund ein bärtiges 
Antlitz. Pervanoglu glaubte in demselben den Besteller des Reliefs erblicken zu 
dürfen; mich däucht es wahrscheinlicher, daß wir es hier mit einer abgekürzten 
Wiedergabe von Zeus zu tun haben, die zur Verdeutlichung der Szene dienen sollte. 
Je zwei von außen zum Schein durch Pilaster gestützte (von denen rechter Hand 
sind allerdings nur die Auf lager vorhanden), füchermuschelartige Bekrönungen, Rudi- 
mente einer Nischenarchitektur, schließen die beiden Darstellungen in Dreiviertel- 
höhe ab. In den Zwickeln, zwischen den Muscheln, wiederholt sich in palmetten- 
artig auseinander gefalteten Lappen deren Grundmotiv. Zwischen siebenteiligen 
Blättern, die diagonal gerichtet die Ecken des Rahmens betonen — die beiden 
oberen berühren mit ihrer Spitze den äußeren, die beiden unteren den inneren 
Rand, dessen Dicke dem das Mittelfeld quer teilenden Steg entspricht — schlingt 
sich in Rahmenbreite eine Weinranke hin, in ihren Windungen Trauben lesende 
und mit Vögeln spielende Flügelputten bergend. 

Stier, Gewänder, Blattwerk und darin befindliche Putten weisen Spuren rötlich- 
brauner Farbe auf. Am Nischenabschluß wechseln Karmin und Blau; dazwischen 
glänzt es von eingestreutem Gold. Auch an der Kleidung und Beschuhung der 
Dioskuren sind Reste von Gold wahrzunehmen. Das Bildnisrund ist gleichfalls 
goldgefärbt. Das neben dem noch stark vergoldeten linken Vorderbein des Stieres 
sichtbare Braun läßt darauf schließen, daß er erst nach vollzogener Grundierung in 
brauner Farbe vergoldet worden war. Der Hintergrund des Mittelfeldes ist blau gefärbt, 
während der Grund des Rahmens rot mit blau mengt. So ist fast das ganze Relief 
in Farbe getaucht; anscheinend wurden nur die entblößten Stellen an den Trägern 
der szenischen Darstellungen unbemalt gelassen. 

Das Relief ist stark unterschnitten. Die Extremitäten einzelner Figuren sind 
völlig vom Grund gelöst, so daß dadurch der Eindruck erweckt wird, als spielte 
sich die Szene im freien Raum ab. Die Reliefhöhe entspricht der Höhe der 
Rahmeneinfassung. 

Die oberen Ecken der Tafel sind abgeschnitten, ebenso der äußere Steg der 
Rahmenschmalseiten. Aus dem mittleren Drittel der rechten Rahmenlangseite 
ist ein schmaler Streif herausgebrochen. Aus der rechten Hälfte des unteren 
Rahmenteiles und aus dem unteren Teil der anstoßenden Längsseite fehlt ein 
breiter Streif. Zwei mächtige Sprünge furchen, die Tafel dreiteilend, dieselbe 
ihrer ganzen Höhe nach. In der Darstellung der Dioskurenbegegnung ist der 
untere Teil des Speerschaftes der Putten abgebrochen, ferner die linke Hand des 
rechten Speerträgers; das linke Vorderbein des Stiers fehlt gleichfalls; durch Be- 
schädigung des Rahmens sind auch die sich in den Windungen der Weinranken 
tummelnden Putten in Mitleidenschaft gezogen worden. Auf der unteren Schmal- 
seite des Rahmens sind in seiner Dichte zwei Löcher wahrzunehmen; desgleichen 
im oberen und unteren Viertel der linken Längsseite. Sie dienten offenbar der 
Befestigung der Tafel auf einer Unterlage, worauf auch das Beschneiden des 
Randes hindeutet. Die Rückwand der Elfenbeintafel wurde in jüngster Zeit zur 
Verstärkung mit einem Messingblech verkleidet. 

Von der irrigen Annahme ausgehend, das Relief wäre erst später vergoldet 
worden, schloß Pervanoglu, es hätte einst als Evangeliendeckel gedient. Aller 


175 


Wahrscheinlichkeit nach gehörte unsere Tafel ursprünglich als Deckel zu einem 
jener Kästchen, wie sie die vornehmen Damen der Spätantike zur Aufbewahrung 
ihres Schmuckes zu verwenden pflegten. Daher wohl auch die Wahl erotischer 
Motive. 


* * 
* 


In den der klassischen Kunst angehörenden Verbildlichungen Europas mit dem 
Stier wird durchwegs ihre Entführung geschildert, so daß wir sie stets auf dem 
Rücken des Tieres sitzend!) erblicken. Die Annäherung des Stieres an Europa wird 
erst in der hellenistischen Kunst, — zumal in der apulischen Vasenmalerei — zum 
Gegenstand der Darstellung gemacht. Auf einem jener Bilder sitzt Europa auf einem 
Rasenhtigel, den Stier betrachtend, der ihr unterwürfig naht?); auf anderen eilt sie 
hurtigen Fußes auf ihn zu und streichelt ihn*); auf zweien der letzteren wird Zeus‘), 
in Anlehnung an die auch auf unserer Schnitzerei veranschaulichte Variante des 
Mythos, der zufolge der Gott seine Erwählte durch einen von ihm gesandten 
Stier entführen ließ, in voller Gestalt oberhalb der Szene sichtbar; dann 
wiederum, auf einem spätantiken Mosaik aus Halikarnass, steht Europa in träume- 
rischer Haltung neben dem Stier, seinen Hals umschlingend ). Solche Schilderungen 
sind es, auf die letzten Endes unser Relief zurückgeht. Auf einem die Empfängnis 
Danaés veranschaulichenden Graffito eines spätantiken Wandbelages im Kaiser- 
Friedrich-Museum®) — Wulff zufolge die Kopie eines alexandrinischen Vorbildes — 
erscheint Zeus in der gleichen verkürzten Darstellung. 

Die orientalischer Sitte entsprechende Begrüßung der Dioskuren — ähnlich wird 
auch „die Begegnung Mariä mit Elisabeth, wie man sie zuerst auf syrischen Denk- 
mälern findet ),“ verbildlicht — regt, wo es sich hier um Männer handelt, vor allem 
anderen zu einem Vergleich mit den einander umarmenden Kriegern an der Südfassade 
von S. Marco — angeblich die Söhne Kaiser Konstantins — und der Wiederholung 
jener Szene in der Bibliothek des Museo Vaticano’) an: Werke zweifellos ägyp- 
tischer Herkunft, in deren namentlich bei den vatikanischen Skulpturen merkbarer 
Formenhärte, starrem Ausdruck, mißlungenen Proportionen (besonders auffällig die 
übergroßen Köpfe) sich unverkennbar koptische Einflüsse äußern. Wie der linke 
der Tyndariden dem anderen den rechten Arm um die Schultern legt, wie sie 
den Blick aus der Bildebene heraus halb gegen den Beschauer wenden, entspricht 
durchaus den obigen Gruppen, mit denen sie auch deren formale Eigentümlichkeiten 
teilen. Die von Hintergrundsarchitektur sich lösenden, freiräumlich empfundenen 
Dioskuren erinnnern — auch in ihrer Ungeschlachtheit — an die aus einer Muschel- 
nische hervortretende, untersetzte Figur des in orientalische Tracht gekleideten 
Daniel, wie sie uns eine koptische Holzskulptur des Kaiser-Friedrich-Museums?) 
überliefert (Abb. 5). Ihre Bekleidung — in der älteren Kunst auf einen Über- 
wurf und eine eiförmige Kappe beschränkt — läßt sich aus dem Bestreben 
erklären, ihre Darstellung unter Anlehnung an den Geschmack der damaligen 
Zeit umzugestalten. [Siehe auch die zeitgemäß gewandeten Musen des dem aus- 


(1—4) J. Overbeck, Atlas der griechischen Kunstmythologie, Leipzig 1872, Taf. VI, 7—11, 14, 16, 18 
bis 32; Taf. XII, 5, 6, 20, aa, 23; 2) Taf. VI, 12; 3) Taf. VI, 13, 15, 17; 4) Taf. VI, 13, 17; (5) Taf. VII, 4. 
(6) O. Wulff, Neuerwerbungen, S. 31, Fig. 13. (Amtl. Berichte der kgl. Kunstsammlungen, 1913.) 
(7) Beispiele bei J. Strzygowski, a. a. O., S. 111 und bei О. Wulff, Altchr. u. mittelalterl. Bildw., 
Berlin 1909, I, S. 202, Nr. 967, 968, Taf. LVIII. 

(8) J. Strzygowski, a. a. O., Fig. 1—3. 

(9) О. Wulff, a. a. O., S. 73, Nr. 242. 


176 


Abb. 1. Elfenbeinrelief mit den Dioskuren und Europa im Triestiner 
Museo Civico di storia ed arte. (Phot. Alinari) 


Zu: POGLAYEN-NEUWALL, 


EIN HEIDN. ELFENBEINRELIEF DES TRIESTINER MUSEO CIVICO. 


M. f. K. Bd. II, 1921 


Tafel 22 


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Tafel 23 


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Abb. 4. Mit mythologischen Gestalten verzierte Elfenbeintafe!chen (Pariser National- 
bibliothek) спо Giraudon) 


Zu: POGLAYEN-NEUWALL, 
EIN HEIDN. ELFENBEINRELIEF DES TRIESTINER MUSEO СІМІСО. 


M. f. K. Bd. Il, 1921 


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Abb. 5. Daniel in der Löwengrube. Abb. 6. Genius mit der Fackel. 


(Konsolbalken aus Bavit im Berliner Kaiser Knodtenschnitzerei im Berliner Kaiser Friedrich- 
Friedrih-Museum) (Phot. Stödtner) e Museum) (Phot. Stödtner) 


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Abb. 7. Elfenbeinbildwerk, (Bacchos darstellend) 
von der Munsterkanzel zu Aachen. 
(Phot. Stödtner) 


Zu: POGLAYEN-NEUWALL, 
EIN HEIDN. ELFENBEINRELIEF DES TRIESTINER MUSEO CIVICO. 


M. f. K. Bd. Il, 1921 


gehenden 4. Jahrhundert angehörenden, überkuppelten Salbenbehälters aus dem 
Silberschatz vom Esquilin!) und deren Schwestern auf den von einer Kassette 
herrührenden, spätantiken Elfenbeinplättchen aus St. Etienne zu Bourges’) 
(Abb. 4). — Das Übereinander der hinter den Dioskuren befindlichen Eroten 
gemahnt an die übereinander gestaffelten Figtirchen, die an der Aachener Kanzel 
umgeben. 

In die gleiche Richtung deutet die Rolle, die den Putten in der Darstellung 
Europas mit dem Stier, sowie auch im Rahmen angewiesen wird. Ich erinnere 
an die Gemäldeschilderungen des Philostratos, welche gleich mit dem hellenisti- 
schen Alexandrien verkntipften Arbeiten die ungemeine Beliebtheit des Erotengenre 
in der alexandrinischen Kunst belegen. Als Beispiele seien genannt: der Krater 
aus dem Hildesheimer Schatz‘), ein Fragment einer Marmorvase aus der letzten 
Ptolemäerzeit im Museo civico zu Bologna°), eine in Alexandrien erworbene, von 
Wulff ins 3.—4. Jahrh. angesetzte Holzschnitzerei mit Artemis (im Kaiser-Friedrich- 
Museum’), ein Salbfläschchen aus dem esquilinischen Fund’), der Porphyrsarkophag 
der Constantina®). Solcherart erklärt sich bei den ihre Motive von den Griechen 
Alexandriens übernehmenden Kopten jene Vorliebe für Eroten, wie sie auch in 
den Kanzelreliefs zu Aachen Ausdruck findet. 

Die dem Dekor des Constantina-Sarkophages verwandte Rahmung der beiden 
Szenen durch eine wellenfirmige Weinranke, in der sich Knäblein tummeln, — 
rundliche Lockenköpfe mit Glotzaugen, auf schwammig molluskenhaften Leibern, 
von denen die Schenkel breit herausquellen, — berührt sich enge mit den Aachener 
Bacchosreliefs?) (Fig. 7), die einen ähnlichen, von gleichgestalteten Eroten bevöl- 
kerten Rahmen weisen. Daneben möchte ich als tertium comparationis die oben 
erwähnte Schnitzerei des Kaiser-Friedrich-Museums nennen, die auf der Rückseite 
zwei im Geäst eines Baumes übereinander angeordnete, spielende Eroten zeigt. 
Die von Wulff hervorgehobene Übereinstimmung in den Typen der Putten und in 
der Reliefbehandlung mit den koptischen Kanzelbildwerken läßt sich in gleichem 
Maß mit Bezugnahme auf die Triestiner Tafel feststellen. 

Unser Relief steht in seiner Farbenpracht unter den antiken Schnitzereien in 
Elfenbein und Knochen — von den farbgefüllten hellenistischen Beinritzungen alexan- 
drinischer Herkunft!?) sehe ich hier ab — vereinzelt da, indem die Mehrzahl der- 
selben gar keine oder nur sehr geringe Farbspuren aufweist. 

Die Vorliebe für Unterstreichung des Erotischen, wie sie sich in der Gegenüber- 
stellung der Dioskurenszene und des Europamythos kundgibt — man möchte an 
eine Gegenüberstellung von Knabenliebe und weiblicher Verirrung unter dem 
Deckmantel der Göttersage denken — siehe auch die Art der Liebkosung des Stieres 


(s) O. Dalton, Catalogue of early christian antiquities, London 1901, Taf. XIX. 

(a) A. Venturi, a. a. O., S. 400, Fig. 364. 

(3) J. Strzygowski, Hellen. u. kopt. Kunst in Alexandrien, Wien 19032, Fig. 32, 33. 

(4) Pernice-Winter, Der Hildesheimer Silberfund, Berlin 1901, Taf. XXXII, XXXIIL. 

(5) Th, Schreiber, Alexandrinische Toreutik, Leipzig 1894, Fig. r23. 

(б) O. Wulff, Altchr. u. mittelalt. Bildw., Nr. 244, Taf. УШ. -— Altchr. u. Ьуз. Kunst, 9. 142. 

(7) ©. Dalton, a. a. O., 8. 67, Nr. 306. 

(8) O. Wulff, Altchr. u. byz. Kunst, S. 140, Fig. 123. 

(9) J. Strzygowski, a. a. O., Fig. 45, 46, 48, 49. 

(то) J. Strzygowski, Kopt. Kunst, Wien 1904, S. 171—179, Nr. 7060—7.69. — Hellen. u. kopt. 
Kunst in Alexandria, S. 12—16, Fig. 5—12. — O. Wulff, Altchr. u. mittelalterl. Bildw. I, S. 103—106, 
Nr. 341—355, Taf. XV. 


Monatshcfte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 12 177 


seitens der Königstochter, ist für die koptische Kunst überaus bezeichnend. Die 
Liebschaften des Zeus in Tiergestalt boten der perversen Phantasie des dekadenten 
Ägypten weitesten Spielraum. Die zahlreichen Darstellungen Ledas mit dem Schwan 
und die verschiedenen Nereidenreliefs!) die sich in Agypten erhalten haben, sind 
hinreichende Zeugnisse für das Schwelgen des Kopten im Obszönen. 
* А + 

Inhaltliche Berührungspunkte ebenso wie solche formaler Natur rücken die 
Triestiner Tafel in die Nähe eines im Museo di antichità zu Ravenna befindlichen, 
Apollo und Daphne verbildlichenden Elfenbeinreliefs?) (Abb. 3). Auch hier liegt 
der Darstellung ein erotisches Thema zugrunde. Beiderseits lösen sich flüchtig 
ausgeführte, von handwerklicher Verrohung zeugende, glotzäugige Gestalten scharf 
umrissen vom Hintergrund; die jeder Andeutung von Muskulatur ermangelnden, 
schwammig ausdruckslosen Leiber der Putten des Triestiner Elfenbeinreliefs finden 
in dem ebenso gestalteten Liebesgott zu Apollos Häupten (man greife vergleichs- 
weise das in ähnlicher Haltung gegebene mittlere Knäblein des oberen Rahmen- 
teiles heraus) ihr Gegenstück. 


Schließlich möchte ich hier noch die von Graeven als Ariadne (Jahresh. des 
österr. arch. Inst. IV, S. 129), von Venturi als Mänade bezeichnete Elfenbein- 
skulptur des Musée Cluny?) (Abb. 3), heranziehen, indem des letzteren zufällige 
Nebeneinanderstellung derselben und des Ravennatischen Reliefs die Herkunft 
beider Schnitzereien aus dem gleichen Kunstkreis augenscheinlich macht, wodurch 
wiederum Beziehungen zu der Triestiner Tafel gegeben scheinen. Neben der 
Starrheit des Ausdruckes, den sie auch mit den Gestalten der letzteren gemein 
haben, sind der kleine Mund mit wulstiger Unterlippe, die pretiöse Haltung Eigen- 
tümlichkeiten, die beide Arbeiten miteinander teilen. Der kümmerliche Baum, іп 
welchen sich die von Apoll verfolgte Nymphe wandelt, entspricht den am Wipfel 
Blätter treibenden Stauden zu Seiten der sog. Ariadne; zu ihren Häupten mit den 
Knäblein der beiden Tafeln übereinstimmend gestaltete Eroten. 


Solcherart mit der Schnitzerei des Musée Cluny, deren ägyptische Herkunft von 
Strzygowski in Zusammenhang mit den Aachener Kanzelskulpturen nachgewiesen 
wurde, aufs engste verknüpft, läßt sich anderseits das zu Ravenna befindliche Relief 
zu letzteren in unmittelbare Beziehung bringen. Apollo mag man den fettschen- 
keligen, glotzäugigen Bacchos gegenüberstellen, der Nymphe die das Weichlich- 
Lüsterne derselben ins Maßlose tibertreibende Nereide‘). Perückenartiger Frisur, 
starrem Blick, gezierter, kurvenartiger Schwingung muskellosen Körpers, dem Her 
ausheben der Scham — Merkmale, die, teilweise schon an der „Ariadne“ zutage 
tretend (man betrachte ihre Züge, ihre Haltung), den Sieg koptischer Formenroheit 
über griechischen Schönheitssinn offenbaren — gesellt sich bei den Frauen der Aktäon- 
pyxis aus der Sammlung Carrand®) an Daphne erinnernde Gebirde. Augenfällig 
zumal die Ähnlichkeit zwischen ihr und der zu Seiten Artemis’ stehenden Nymphe. 


(1) Strsygowski, Kopt, Kunst, S. 22, Nr. 7279, Fig. 26. — Hellen. u. kopt. Kunst, S. 45, Fig. 28—31; 
S. 43, Fig. 26, 27. — Wulff, a. a, O., S. 23, Nr. 7280, Fig. 26; S. 34, Nr. 7289, Fig. 40. 

(2) A. Venturi, a. a. O., I, S. 399. Fig. 363, S. 532. 

(3) A. Venturi, a. a. O., I, S. 398, Fig. 362, 9. 530. 

(4) J. Strzygowski, Hellenistische und koptische Kunst, Fig. 26, 27. 

(5) H. Graeven, Antike Schnitzereien, Hannover 1903, Taf. XX. 


178 


Mit der Einordnung des Daphnereliefs in den Kreis der den Kanzelfiguren nahe- 
stehenden Arbeiten wird uns die Richtigkeit des gleichen Vorganges für die zu 
Triest befindliche Elfenbeinplatte bestätigt. 


* * 
* 


Abschließend möchte ich auf die bereits erwähnten Elfenbeinreliefs der Pariser 
Nationalbibliothek näher eingehen), da sie infolge der für die meisten Gestalten 
nachweisbaren Übereinstimmung mit Lieblingstypen des hellenistischen Alexandrien 
Wesentliches zum Verständnis der spätantiken Kunst Ägyptens beizusteuern vermögen. 

Unter den Musen erblicken wir Artemis, Apoll. Im unteren Streifen neben einer 
in Haltung und Gebärde an Artemis erinnernden Gestalt, angeblich Bacchos (Graeven, 
Jahresh., S. 137 und Venturi, a. a. O.), ein Satyr, der auf seiner Doppelflöte einer 
tanzenden Mänade aufspielt; rechts davon — gleichsam als Zuschauer — ein Masken- 
träger mit einem Kind am Arm (nach Venturis Deutung Telephos mit dem kleinen 
Orest) und Silen. Die Epaulien bringenden Mädchen des mit farbgefüllten Bein- 
ritzungen verkleideten Kairiner Brautkastens*) haben allerdings nur allgemeine Merk- 
male — die gezierte Haltung, Tracht, die Einordnung der Frauen unter eine Rund- 
bogenarchitektur, — mit den Musen der Elfenbeinreliefs gemein, die zufolge ihrer 
Typenverwandtschaft mit den Musen der zeitlich nahestehenden Kuppelpyxis aus 
dem Silberfund vom Esquilin (vgl. die Gestalten Euterpens, Melpomenens, Klios) *) 
weit enger mit den letzteren zusammengehen. Artemis entspricht bis aufunbedeutende 
Details der auf Seite 177 angeführten Holzschnitzerei des Kaiser-Friedrich-Museums. 
Gleichenorts befinden sich vier Wiederholungen (drei Beinschnitzereien und eine 
Beinritzung)*) (Abb. 6) des in der obersten Reihe rechter Hand an einem Pfeiler 
lehnenden, als Apoll gekennzeichneten nackten Jünglings. Dieser in allen größeren 
Sammlungen alexandrinischer Knochenschnitzereien zahlreich vertretene Typus ist 
auch für den Bacchos der Aachener Kanzel vorbildlich gewesen. Ebenso haben 
sich für den Silen mehrfache Repliken alexandrinischer Herkunft erhalten, darunter 
eine Beinschnitzerei des Museums zu Alexandrien“), zwei Beinschnitzereien des 
Kaiser-Friedrich-Museums®), eine in rëm, Privatbesitz”): jedesmal derselbe glatz- 
köpfige, langbärtige Dickwanst, dessen Brüste, Säcken gleich, auf den Bauch herab- 
hängen, dessen Umfang noch durch das darunter gegtirtete Gewand hervorgehoben 
wird. Den Flötenbläser könnte man mit alexandrinischen Satyrdarstellungen zu- 
sammenbringen?). 

* * 
* 

Die Begegnung der orientalisierten Dioskuren, welche die Kenntnis eines Vor- 
bildes in der Art der Kriegergruppen vor San Marco verrät (deren Material, Por- 
phyr, in der Nähe von Alexandrien gebrochen und wohl auch daselbst verarbeitet 
wurde), ihre Berührungspunkte mit der Holzskulptur des Daniel im Kaiser-Friedrich- 


(x) A. Venturi, a. a. O., I, 8. 400, Fig. 364, S. 531. 
(2) J. Straygowski, Kopt. Kunst, Wien 1904, S. 17a, Nr. 7060—7064, Taf. XI—XII. 
(3) A. Dalton, a. a, O., 8.65. 
(4) ©. Wulff, Altchr, u. mittelalt, Bildw., Bd. I, Taf. XVII, Nr. 390—392, Taf. XIV, Nr. 349. 
(5) J. Strsygowski, Hellen. u. kopt, Kunst, Taf. I/II, Nr. 2021. 
(6) О. Wulff, a. a. O., Taf. ХУШ, Nr. 403'4. 
(7) H. Graeven, a. a. O., Taf. 64 С. 
(8) О. Wulff, a. a. O., Taf. ХУШ, Nr. 394, 395. — Strzygowski, а. a. O., Taf. I/II, Nr. зоба — 
Straygowski, Kopt. Kunst, S. 178, Nr. 7068, Fig. 235. 


179 


Museum, das Unterstreichen des Erotischen in Wahl und Ausführung des Stoffes 
(wobei die Rolle der Amoretten nicht übersehen werden darf, deren Einführung in 
szenische Darstellungen sich in Alexandrien gleicher Beliebtheit erfreute wie ihre 
Einordnung in Weinranken), schließlich die Beziehungen unserer Tafel zu dem Kreis 
der größtenteils alexandrinischen Typen nachgebildeten Kanzelbildwerke dürften 
zur Genüge den engen Zusammenhang des Triestiner Reliefs mit der Mischkunst des 
spätantiken Ägypten belegen. 

Unter annähernd genau datierbaren Werken käme für die Feststellung der Ent- 
stehungszeit unserer Schnitzerei infolge der vorhandenen Vergleichsmerkmale vor 
allem der in die Nähe ihres Todesjahres anzusetzende Sarkophag der Constantina 
(t 354) in Betracht. Ist auch sein für das ausgehende Altertum eigenttimlicher 
Dekor — in eine wellenfirmige, von Trauben durchsetzte Ranke eingeordnete Eroten —, 
auf dessen Verwandtschaft mit dem Rahmen des Triestiner Reliefs ich bereits hin- 
gewiesen, ungleich sorgfältiger ausgeführt (was unsere Tafel unter besonderer Be- 
rücksichtigung ihrer weit oberflächlicheren Behandlung des Anatomischen als jünger 
anzusehen gestattete), so ist andererseits auf die in wesentlichen Eigenheiten — 
den unverhältnismäßig großen Köpfen, den einer genaueren Artikulation der Glieder 
entbehrenden, aufgedunsenen, scharf konturierten Leibern — mit den Putten unserer 
Elfenbeinplatte übereinstimmende Wiedergabe des Kinderkörpers, ferner auf die ver- 
wandte Raumauffassung zu verweisen. 


180 


GRAPHISCHE BLÄTTER DES 15. JAHRHUN- 
DERTS AUS DER STADTBIBLIOTHEK ZU 
WINDSHEIM IN FRANKEN Von HEINRICH HÖHN 


Mit sioben Abbildungen auf drei Tafeln in Lichtdruck 


ie Originale der Blätter, die dieser Arbeit in Reproduktionen beigegeben sind, 

befinden sich in Handschriften der Stadtbibliothek Windsheim in Franken. 
Der Magistrat hat die Handschriften dem Germanischen Nationalmuseum zur Auf- 
bewahrung überwiesen, 

Die genannte Bibliothek ist in ihrem Grundstock eine Klosterbibliothek und war 
zunächst im Windsheimer Augustinerkloster und dann in der lateinischen Schule 
der Stadt untergebracht. Nach Abbruch der Klosterkirche (1592) verlegte man die 
Bücherei in den stehengebliebenen Chor der Kirche. Dort wird sie in ihrem Haupt- 
bestand noch heute aufbewahrt. 

Die den an das Germanische Museum zur Aufbewahrung abgegebenen Bänden 
eingeklebten Holzschnitte und Teigdrucke und ein ebenfalls eingeklebter Kupfer- 
stich gehören dem fränkischen oder dem schwäbischen Gebiet an und sind bei 
Schreiber (in seinem „Manuel de l'amateur de la gravure sur bois et sur metal... .“) 
nicht verzeichnet. Sie entstammen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Es 
sind folgende Blätter: 


1. Anbetung der Könige. Holzschnitt. Südwestdeutsch? Um 1450. 45>< 113 mm. 
(Abb. 4.) 

Auf die Innenseite des hinteren Buchdeckels eines Sammelbandes mit Hand- 
schriften erbaulichen Inhalts in lateinischer Sprache vom Jahre 1471 geklebt. Die 
hölzernen Deckel und der Rücken des Einbandes sind mit braunem Leder überzogen. 
Auf der Vorderseite des Lederüberzuges in schöner Einpreßarbeit die Gestalt der 
heiligen Dorothea, umgeben von geometrischen und Pflanzenornamenten. Rückseite 
ebenfalls geometrisch ornamentiert. Hier in den stehenden oder auf die Spitze 
gestellten Rechtecken Drache, doppeiköpfiger Adler, Lilie und musizierender Affe. 
Wir geben eine Abbildung der Vorderseite des klar und kräftig ornamentierten 
Einbandes bei (Abb. r). 

Der Holzschnitt zeigt die mit der Krone gezierte Maria auf einem Thron ohne 
Rückenlehne vor dem Stallgebäude sitzend. Ihr zur Rechten steht, mit Hose und 
Rock bekleidet und fest in seinen Mantel gehüllt, als wolle er sich gegen Winter- 
kälte schützen — auch das um den Kopf gezogene und die Ohren verdeckende 
Tuch scheint darauf zu deuten —, der auf seinen Stock sich stützende bärtige Joseph. 
Das Kind auf dem Schoß Marias greift mit beiden Händen begierig in das goldene 
Kästchen, das der kniende König, der seine Krone abgelegt hat, ihr darbringt, 
Hinter dem knienden König der zweite. Er trägt in der linken Hand ein horn- 
ähnlich geformtes Gefäß und weist mit der Rechten zum Stern am Himmel empor. 
Der neben ihm stehende bartiose Mohrenkönig hält in den Händen ein birnen- 
förmiges Gefäß mit Deckel und ist mit einem langen schleppenden Uberkleid mit 
geschlitzten und gezaddelten Ärmeln bekleidet. 

Kolorierung: Der Grund über der Horizontlinie ist im weißen Papierton stehen 
gelassen. Mantel der Maria und Gewand des Mohrenkönigs dunkelkarminrot. Rock 
des Joseph, Kleid des ersten und des zweiten Königs hellkarminrot. Kleid der 


1781 


Maria, Mantel des Joseph und Mantel des ersten Königs jetzt blaßviolett, ursprüng- 
lich jedenfalls blau. Haar der Maria, des Kindes und des dritten Königs, Nimben, 
Kronen, Stern, Thron der Maria, Geschenke der Könige, Mantelband und Gürtel 
des dritten Königs, die Architektur des Stallgebäudes und der mit einem grauen 
Rand eingefaßte, die Darstellung rahmende Streifen gelb. Fußboden, Mantel des 
zweiten Königs und ein Teil der Zaddeln am Mantel des dritten Königs hellgrün. 

Der klar in die Fläche komponierten, noch ganz von mittelalterlichem Idealismus 
erfüllten, dichterisch wirkenden und volkstümlich-einfachen Darstellung lag offenbar 
eine weit bessere Zeichnung zugrunde, als die vergröbernde und im Schnitt stellen- 
weise versagende Hand des Holzschneiders — vgl. namentlich den mißratenen Kopf 
des knienden Königs — jetzt erkennen läßt. 

Eine in mancher Beziehung unserem Blatt verwandte Parallele bietet die An- 
betung der Könige, die in der Biblia pauperum enthalten ist, welche in der Uni- 
versitätsbibliothek zu Heidelberg aufbewahrt wird (Cod. Pal. germ. 438). Kristeller 
hat diese Biblia pauperum als IL Veröffentlichung der Graphischen Gesellschaft, 
Berlin, 1906 herausgegeben. Die genannte Anbetung ist einmal farblos, auf Tafel 3, 
und einmal farbig, auf Tafel 35, reproduziert. Ähnlich sind auf dieser Schilderung 
und der unseren namentlich die Könige: der Typ der Gesichter, die Haltung, die 
Formen der Kronen und der Gefäße, die Bekleidung und die Führung der Falten- 
züge haben eine keineswegs nur zufällige oder durch den Stil der Zeit überhaupt 
bestimmte Ähnlichkeit miteinander. Ähnliches gilt von der Krone und dem Thron 
der Maria und dem Formcharakter des Stallgebäudes. Auch in der Kolorierung 
stehen die beiden Blätter einander nahe: das Gelb des Stallgebäudes, die Mantel- 
farben des knienden und des stehenden Königs jn der Mitte und das Grün an den 
Zaddeln des Ärmels des Mohrenkönigs scheinen aus demselben Farbentopf her- 
zurühren, aus dem die Holzschnitte der Armenbibel illuminiert wurden. Daß unsere 
Darstellung im Gegensinn gezeichnet ist, spricht eher für, als gegen eine Beziehung 
zu dem Bilde der Heidelberger Handschrift, und auch die Tatsache, daß hier die 
Darstellung zugunsten des Hochformates enger zusammengedrängt ist und daß 
Joseph weggelassen wurde, kann an der Verwandtschaft der beiden Holzschnitte 
nichts ändern. Vielleicht gehen sie auf ein gemeinsames Vorbild zurück. Kristeller 
setzt die Biblia pauperum um 1440/50 an. Und nicht viel später, jedenfalls nicht 
nach 1460, wird das hier beschriebene Blatt anzusetzen sein!). 

Heranzuziehen wäre hier übrigens noch der Holzschnitt des Münchener Kupfer- 
stichkabinetts, den Schreiber in Band I seiner Veröffentlichung von Holzschnitten 
des 15. Jahrhunderts aus der graphischen Sammlung in München unter Nr. 43 ver- 
öffentlicht hat*). Dieser Formschnitt ist zwar wesentlich reicher als der unsere: 
Ochs und Esel sind mit dargestellt und hinter den Figuren dehnt sich eine bergige 
Landschaft mit Laub- und Nadelbiumen und turmbewehrten Gebäuden aus, allein 
Anordnung und Haltung der Gestalten und besonders die dicht eingehüllte, auf den 
Stock sich stützende Figur des gebückt dastehenden Joseph zeigen manchen ver- 
wandten Zug. Schreiber bezeichnet das Blatt als oberrheinisch und datiert es 
um 1450/60. 


(z) Е. Baumeister hat den vorliegenden Holzschnitt im 51. Band der von Р, Heitz herausgegebenen 
Kinblattdrucke des 15. Jahrhunderts (unter Nr. 3), wie ich nachträglich sehe, veröffentlicht, setzt ihn 
aber etwas früher an. 

(2) In der Folge der von Paul Heitz herausgegebenen Einblattdrucke des ı5. Jahrhunderts, Straß- 
burg 1912. 


182 


2. Christuskind mit den Leidenswerkzeugen. Holzschnitt. Oberdeutsch. 
Um 1450/60. 128><188 mm. (Abb. 2.) 

Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels des oben erwähnten Sammel- 
bandes von 1471 geklebt. 

Das Christuskind sitzt, nach rechts gewendet, auf einem mit Ranken gemusterten 
und an den Ecken mit Knöpfen geschmückten Kissen und hält in der Rechten das 
auf der rechten Schulter aufliegende aus unbearbeitetem Holz gefügte und mit den 
drei Nägeln und dem Spruchband versehene Kreuz, in der Linken die senkrecht 
aufgestellte Lanze. Auf dem Spruchband des Kreuzes: JNRJ, auf einem zweiten 
um die Lanze gebogenen Spruchband: Ecce homo dolorem. Hinter dem Rücken 
des Kindes Geißel und Martersäule, zu seinen Füßen die Rute. 

Die Kolorierung ist ausgezeichnet erhalten und erglänzt in voller Frische. Grund, 
Spruchbänder und die Stränge der Geißel hat der Illuminist im weißen Papierton 
stehenlassen. Das Haupthaar des Jesuskindes, das Kreuz, der Schaft der Geißel 
und der Lanze, der Griff der Rute, die drei sichtbaren Eckknöpfe des Kissens und 
das innere Rund des Heiligenscheines sind gelb. Karminrot das Kreuz und der 
äußere Rand des Nimbus und das Kissen. Mund des Kindes und die Blutflecken 
an der Lanzenspitze ziegelrot. Martersäule und Leib des Heilandkindes rosarot. 
Innerer Rand des Nimbus und Erdboden hellgriin. 

Das großzügig und meisterlich klar gezeichnete, höchst eindringlich sprechende 
Blatt ist eine Variante zu dem Holzschnitt Schreiber Nr. 810 (München, graphische 
Sammlung; veröffentlicht von Schreiber in seinen Holzschnitten des 15. Jahrhunderts 
in der graphischen Sammlung zu München, Straßburg, 1912, Taf. 46). In den großen 
Umrissen stimmt unser Exemplar mit dem Münchener ziemlich genau überein, es 
weicht aber in einigen Einzelheiten, besonders in der Innenzeichnung, von ihm ab. 
Es ist einfacher als das Münchener: so hat der Kissenüberzug auf unserem Blatte 
keine Verschnürung, durch die das Kissen selbst hindurchsieht, und es fehlen die 
Andeutung des Knöchels am rechten Fuß, die modellierenden Striche an der Marter- 
säule und die perlenartigen Kränze um den runden Kern der Kissenknöpfe. Am 
Kinn des Kindes treten nur zwei Halsfalten auf, nicht deren drei wie auf dem 
Münchener Formschnitt, und am Gelenk der linken Hand gehen die Falten nicht 
so weit in die Innenfläche des Armes hinein, wie wir das auf dem Blatt der 
Münchener Sammlung sehen. Schreiber nimmt an, daß die Darstellung nach einem 
Gemälde kopiert sei, was dann direkt oder indirekt auch für unsere Variante zu- 
treffen würde. Überzeugende Gründe für diese Vermutung habe ich aber nicht 
finden können. 

3. Christus in der Kelter. Holzschnitt. Wohl fränkisch. Um 1460. Holz- 
schnitt selbst: 70x134 mm. Mit Einfassung: 127><193 mm. (Abb. 6.) 

Auf die Innenseite des hinteren Deckels des hölzernen, mit Schweinsleder über- 
zogenen Einbandes einer auf dem Rücken: „Sermones discipuli in totum annum“ 
betitelten Handschrift geklebt, die auf der letzten Seite die Bezeichnung: „In Kauben- 
heim Anno d. CCCCLVI“ trägt!). 

Christus steht, mit einem Lendentuch bekleidet, in der Kelter und faßt, die Rechte 
auf den rechten Oberschenkel stützend, mit der Linken den Querbaum der Kelter. 
Aus dem Trog läuft das Blut in einen Kelch, aus dem das im Gras stehende Lamm 
trinkt. Oben in der Mitte in Wolken Engel und rechts daneben, als Halbfigur, 
Gottvater. | 


(1) Kaubenheim: ein Dorf bei Windsheim. 
183 


Die Darstellung ist von einem breiten Schmuckstreifen mit Efeuzweigen, von 
denen Blätter und Ranken symetrisch sich abzweigen, umschlossen. In den vier 
Ecken und in der Mitte der Längs- und Schmalseiten dieses Zierbandes je eine 
Rosette. Der Schmuckstreifen gehörte ursprünglich jedenfalls nicht zu unserem 
Holzschnitt, da er für ihn zu weit ist. Er gleicht dem um Holzschnitt Schreiber 
Nr. 961 —, ein Blatt, das den Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes darstellt 
und einem Manuskript von 1441 aus den Frauenklöstern von Untersdorf und Inzig- 
kofen eingeklebt ist!), stammt aber nicht vom gleichen Holzstock ). Übrigens ist 
auch das Zierband um den eben erwähnten Kruzifixus nicht zugehörig. 

Kolorierung: Grund und Lendentuch im weißen Papierton. Kelter gelb und 
ziegelrot. Leib Christi rosa und mit ziegelroten, das rinnende Blut andeutenden 
Flecken. Blut im Trog des Kelter karminrot. Grasboden hellgrün. Lamm mit 
weißem und gelbem Fell. Himmel oben hellblau und ziegelrot. Engel weiß, 
karminrot, hellgrün und gelb. Gottvater rosa, mit grauem Bart und Gewand. 
Nimben und Kelch golden. — Der Randstreifen um die Darstellung selbst zinnober- 
rot. Der zwischen diesem Streifen und dem äußeren, ornamentierten Band frei- 
gebliebene Streifen gelb. Desgleichen der äußere Rand des ornamentierten Bandes, 
der Stamm des Efeus, die Querleisten und die runden Kerne der Rosetten. Die 
Efeublätter karminrot und hellgrün. Die Rosetten weiß, karminrot und hellgrau. 

Das ornamentierte Band hat eine ruhig-schine, geschlossene, an Glasmalerei 
gemahnende Gesamtwirkung, die der des etwas mager geratenen Bildes selbst 
überlegen ist. 

4. Christus am Olberg. Holzschnitt. Wohl fränkisch. Um 1460. Darstellung 
selbst: 69><130 mm. Mit dem rahmenden Zierstreifen: 124><186 mm. (Abb. 7.)*) 

Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels derselben Handschrift von 1456 
eingeklebt, in der der unter Nr. 3 beschriebene Formschnitt mit Christus in der 
Kelter sich befindet. 

Christus kniet, im Profil gesehen, nach links, mit erhobenen, gegeneinander- 
gelegten Händen. Auf einem Felsen vor ihm der Kelch mit der Hostie. Links 
vorn ruhen drei schlafende Jünger. Im Hintergrund Felsen und drei Bäume. — 
Um die Darstellung, die ein Beispiel dafür ist, daß in jener Zeit selbst unbeholfen 
und handwerklich gearbeitete Blätter des Ausdrucks nicht entbehren, eine offenbar 
nicht für dieses Bild bestimmte, interessante Einfassung mit acht Drachen (je zwei 
auf jeder Seite) und sechs Fratzen (je eine in den vier Ecken und je eine in der 
Mitte jeder Längsseite) zwischen Blattwerk. Auf den Längsseiten stecken die 
Schweif-Enden der Drachen im Maule der Fratzen‘). 

Die Kolorierung ist derb und beeinträchtigt die klare Wirkung der einzelnen 


(z) Abgebildet bei Stengel, Holzschnitte aus dem Kupferstichkabinett des German, Museums, 1913, 
Nr. XI. 

(2) Eine andere Wiederholung dieser ornamentalen Einfassung hat der Holzschnitt mit der Verkün- 
digung in der Wiener Hofbibllothek. Haberditzl, Die Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts in der 
Kupferstichsammiung der Hof bibliothek Wien (Wien 1920), Nr. 38. 

(3) E. Baumeister hat das Exemplar der Sammlungen des Fürstl. Hauses Ottingen-Wallerstein (Mai- 
hingen) im 52.Bd. der von P. Heitz herausgegebenen Formschnitte des 15. Jahrhunderts (unter Nr. 20) 
veröffentlicht, es ist aber unvollständig. 

(4) Vergl. die Einfassung des den heil. Michael darstellenden Holzschnittes, Schreiber 1627, abgeb. in: 
Haberditzl, Die Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts in der Kupferstichsammlung der Hofbibliothek 
Wien (Wien 1920), Nr. 143. Die Einfassung unseres Holzschnittes ist eine freie Kopie nach der in 
Wien befindlichen. 


184 


Tafel 26 


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Tafel 28 


(Holzschnitt). 


Abb. 7. Christus am Olberg. 


WINDSHEIM IN FRANKEN. 


(Holzschnitt ) 
Zu: H. HOHN, GRAPHISCHE BLATTER DES 15. JAHRHUNDERTS AUS DER STADTBIBLIOTHEK ZU 


Abb. 6. Christus in der Kelter. 


‚ Bd. Il, 1921 


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Formen. Christus in hellgrauem, mit Schwarz modelliertem Gewand. Hände und 
Gesicht rosa. Nimbus, wie der der Jünger und wie der Kelch, golden mit schwarzer 
Zeichnung. Gesichter der Jünger rosa, Haar gelb und dunkelbraun, Gewänder gelb, 
hellblau und zinnoberrot. Rasen und Bäume hellgrün. Felsen karminrot, grau und 
schwarz. Himmel in hellem, nach oben an Tiefe zunehmendem Blau. — Rand- 
einfassung der Darstellung selbst zinnoberrot, wie auch die äußere Einfassung des 
rahmenden Zierbandes. Die Drachen im Zierband haben hellgelbe, die Fratzen 
weinrote und das Laubwerk hellgrüne Farbe. 

5. Crucifixus zwischen Maria und Johannes. Teigdruck. Fränkisch Um 
1450. 132><179 mm. (Abb. 3.) 

. Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels eines lateinisch geschriebenen 
„Compendiums theologiae Sti Thomae de Aquino“ geklebt. 

Maria in Kopftuch und weitem Mantel, die linke Hand das Kopftuch fassend, 
wie um sich Tränen abzuwischen oder zu verhüllen, mit der rechten den Mantel 
haltend. Johannes erhebt, dem Heiland zugewendet, den Kopf und die gegen- 
einandergelegten Hände. Im Nimbus von Maria und Johannes jedesmal der Name. 
Der Nimbus Christi ist ornamentiert. Am Fuß des Kreuzes auf dem Rasen ein 
liegendes Tier (als Sinnbild des überwundenen Bösen?) Am Kreuze selbst ist die 
Holzmaserung gegeben. Hinter der Darstellung ein rautenförmig gemusterter Grund. 

Kolorierung: Grund, Kreuzstamm, Nimben, Kopftuch und Mantel Mariae, Haare 
und Kleid des Johannes und Fußboden braun. Leib Christi, Gesicht und Hände 
der Maria und des Johannes, dessen Füße und das Tier rosa. Lendentuch Christi 
und Mantel des Johannes weiß. Das Kreuz im Nimbus Christi und das Kleid der 
Maria hellblau. Die Darstellung ist von zwei Streifen umschlossen, von denen der 
innere hellgrüne, der äußere zinnoberrote Farbe hat. 

An vielen Stellen, namentlich links oben, rechts und unten längs des Randes 
stark abgeblättert. 

Ein Holzschnitt in der Staatsbibliothek in München klingt in einigen Zügen an 
unseren Teigdruck an. Wir meinen den auf Tafel 5 im ro., von Georg Leidinger 
herausgegebenen Band der Heitzschen Einblattdrucke. 

Leidinger bemerkt (auf Seite ro des Textes) zu dem Münchener Blatt, daß das 
gerippte Papier darauf hinzudeuten scheine, daß man hier dem Eindruck des Zeug- 
druckes sich habe nähern wollen. Die braune Farbe der Kolorierung aber rufe 
Ähnlichkeit mit dem Teigdruck hervor. „Es besteht demnach ein merkwiirdiger 
Zusammenhang dieses Holzschnittes mit anderen Techniken aus der Inkunabelzeit 
der graphischen Künste.“ Leidinger setzt das Münchener Blatt um 1460 an und 
vermutet Nürnberg als Entstehungsort. 

Die Haltung Christi, die Anordnung seines Lendentuches und die Innenzeichmung 
der Formen des Oberkörpers sind auf beiden Darstellungen im großen und ganzen 
ähnlich. Auch die Gesichtstypen und die Haltung von Maria und Johannes, nament- 
lich die Art und Weise, in der Johannes Kopf, Arme und Hände hebt und in der 
sein Mantel angeordnet ist, gleichen auf beiden Stücken einander. Daß neben 
alledem auch sehr merkliche Unterschiede vorhanden sind, soll gewiß nicht über- 
sehen werden, allein als Grundton klingt doch immer wieder eine gewisse, nicht 
nur im Zeitstil begründete Verwandtschaft hindurch. Sie zeigt sich selbst in der 
auf erdfarbenes Braun und auf Weiß gestimmten Kolorierung, die den beiden Blättern 
einen Charakter verleiht, der an das Braun von Mönchskutten gemahnt und ihnen 
die herbe Stimmung von Enthaltsamkeit und ernster Arbeit im Dienste klöster- 
lichen Daseins verleiht. Der Münchener Formschnitt, der übrigens ganz wesentlich 


185 


größer als unser Teigdruck ist, zeigt im Grunde große üppige Blumen, zwischen 
denen kleine weiße Blütchen aufleuchten, und auch der Wolkenfries, aus dem 
Strahlen hervorbrechen, und die Gesichter von Sonne und Mond tragen wesentlich 
zu einer Belebung des Ganzen bei. Zeichnerisch ist die Münchener Crucifixus- 
darstellung weit gewandter und flüssiger, und die Figuren sind freier bewegt und 
mit feinem Gefühl für dekorative Wirkung der reich und locker ornamentierten 
Fläche eingegliedert. Der Urheber des Teigdruckes war viel unbeholfener: die 
Gestalt des Johannes stört durch den zu groß geratenen Kopf und die zu großen 
Hände das Gleichgewicht der Komposition, und auch in der Zeichnung der Gesichter 
des Heilands und des Apostels war eine ungeschickte derbe Hand und gewiß kein 
beweglicher und bedeutender Erfindergeist am Werk. Aber durch all’ diese Un- 
beholfenheit und den einfach-derben Sinn leuchtet doch eine große Innerlichkeit 
hindurch; man gewahrt deutlich, daß der Urheber des Blattes mit dem, was er an 
seelischem Ausdruck geben wollte, es redlich ernst nahm. Und die herbe spröde 
Zeichnung und Formengebung verleiht dem Ganzen, das, eben weil sein Schöpfer 
regelrecht sich abmühen mußte, um es zuwegezubringen, wärmer und persönlicher 
wirkt, doch auch seinen besonderen Reiz. 

6. Christus als Schmerzensmann. Teigdruck. Fränkisch-Schwäbisch. Um 
1450. 144><220 mm. 

Auf die Innenseite des vorderen Einbanddeckels einer ,,Postilla. Augustinus de 
igne purgatorio“ bezeichneten lateinischen Handschrift geklebt. 

Halbfigur Christi, nackt bis zu den Hüften, vor dem T-férmigen Kreuz, an dessen 
Armen Rute und Geißel hängen. Er hat den mit der Dornenkrone umwundenen 
Kopf leicht gegen seine linke Schulter geneigt und zeigt, mit der Rechten auf die 
rechte Seite seines Oberkörpers deutend und die Linke erhoben und mit der Innen- 
fläche dem Beschauer zukehrend, seine Wundmale. Um das Hüfttuch Wolken- 
streif, aus dem Strahlenbiindel kommen. Der Grund ist mit bliihenden Arabesken 
gemustert. 

Farbe: Braun auf purpurnem Grund. Sehr schönes, großzügig aufgefaßtes Blatt 
von teppichähnlicher Schmuckwirkung. Leider ist es, namentlich an mehreren 
Stellen des Kopfes, des Rumpfes, der erhobenen linken Hand und der Wolken, 
stark abgeblittert. 

7. Crucifixus zwischen Maria und Johannes. Kupferstich. Kopie nach dem 
Stich des Meisters von 1462, Lehrs Nr. 3 (Geschichte und kritischer Katalog., 
Bd. І, S. 233 f.). 91><148 mm. Plattengröße rr1><156 mm. (Abb. 5.) 

Auf die Innenseite des hölzernen mit Leder überzogenen vorderen Einbanddeckels 
eines geschriebenen Missale, dem ein Kalendarium vorangeht, geklebt. Papier mit 
Ochsenkopf als Wasserzeichen, ähnlich dem Wasserzeichen des von Lehrs unter 
Nr. 21 abgebildeten großen Liebesgartens vom Meister der Liebesgärten. 

Kolorierung: Das Blut am Leibe Christi, Außenseiten der Flügel des Engels unter 
dem linken Arm Christi und das Gewand des Johannes zinnoberrot. Gewänder der 
Engel und der Maria karminrot. Mantel der Maria blau, mit gelber Innenseite. 
Im gleichen Gelb Innenseite des Mantels des Johannes, das Kruzifix, die Haare der 
Engel und des Johannes und die am Kreuz eingerammten Pflöcke. Haar Christi, 
Innenseiten der Engelflügel, Gewand des Johannes und Erdboden unmittelbar unter 
dem Kreuz braun. Grasboden hellgriin. Himmel mit braunen Querstrichen belebt. 

Vom Original unterscheidet sich unsere Kopie zunächst durch kleine Unterschiede 
in den Abmessungen: so namentlich in der Entfernung des Punktes, an dem die 
Rückenlinie der Marienfigur die Bodenlinie schneidet, vom gleichen Punkt in der 


186 


Rückenlinie der Johannisgestalt. Auf dem Originalabdruck beträgt dieser Abstand 
72½ mm, auf dem vorliegenden Blatt dagegen 74 mm. — Unter den zeichnerischen 
Einzelheiten fallen besonders folgende Unterschiede auf: die Hand des Johannes ist 
auf der Nachbildung größer; in der Gewandbehandlung hat der Kopist einiges 
verändert, z. B. bildete er die zwei kleinen Mantelbäusche über der rechten Hand 
der Maria zu einem um, und zwar gab er diesem eine schmale Mittelfalte, die nicht 
nach oben sich verbreitert wie auf dem Original; weiter zeichnete er den Nasen- 
rücken Christi nicht nach außen gebogen, wie der ursprüngliche Stich ihn zeigt, 
sondern ziemlich gerade, gab das den Händen entströmende Blut, das auf seinem 
Vorbild dargestellt ist, nicht an, formte die die Hände durchbohrenden Nägel 
schmaler, bildete die schwarzen Dreiecke im Heiligenschein Christi größer, ver- 
wendete aber weit weniger Sorgfalt auf die Charakteristik der Maserung des Kreuz- 
stammes und der Formen des Erdhügels unter dem Kreuz und bog endlich die 
untere Randlinie der Darstellung nicht nach innen, wie wir das auf dem originalen 
Blatt sehen, sondern nach außen. 

Vor allem ist der Geist, aus dem heraus die Kopie entstand, ein wesentlich an- 
derer als der des Originals. Kopistenarbeit wird, wenn sie möglichst genau sein 
will, gewöhnlich an einer gewissen Ängstlichkeit und Trockenheit kenntlich. Und 
das ist auch hier der Fall. Die Zeichnung bewegt sich in dünnen, zaghaften, be- 
fangen geführten Linien, und ihr Urheber hat — aus Ängstlichkeit oder Bequemlich- 
keit — jegliche entschiedene Schattenangabe vermieden. Jeder Umriß und jede 
plastische Form wurde unter seiner Hand flauer und ins Zahme, Weichliche hinein- 
gerundet. Das Original dagegen hat warmes Leben in jedem Strich, — insbesondere 
die Umrisse des Christuskörpers reden eine sehr gefühlte und lebendige Sprache. 
Ein kräftiges Temperament, das von eigenem Erleben genährt war, äußert sich 
hier in klarer Ausprägung. Vor dem Stich, der unserer Kopie zugrunde liegt, be- 
stätigt sich wieder die für jeden wirklichen Künstler geltende Wahrheit, die Goethe 
im Götz aussprach: daß das, was den Dichter macht, ein volles, ganz von einer 
Empfindung volles Herz ist. 


187 


DIE ENTWICKLUNG DER PROPORTIONS- 
LEHRE ALS ABBILD DER STILENTWICK- 


Mit zehn Abbildungen auf zwei Lichtdrucktafeln 
LUNG und zehn Abbildungen im Text Von ERWIN PANOFSKY 


р ел über Proportionsfragen werden meist mit Skepsis, mindestens 
aber ohne besonderes Interesse aufgenommen. Beides ist nicht verwunder- 
lich. Das Mißtrauen gründet sich auf die Beobachtung, daß gerade die Proportions- 
forschung allzu häufig der Versuchung unterliegt, aus den Dingen etwas heraus- 
zulesen, was sie selbst in sie hineingelegt hat; die Gleichgültigkeit erklärt sich aus 
der neuzeitlich - subjektivistischen Anschauung, daß eine ktinstlerischen Leistung 
etwas schlechterdings Irrationales sei. Ein moderner Betrachter empfindet es 
bei seiner immer noch wesentlichromantischen Kunstauffassung geradezu als pein- 
ich, mindestens aber als uninteressant, wenn der Historiker ihm sagt, daß dieser 
oder jener Darstellung ein rationales Proportionsgesetz oder gar ein bestimmtes 
geometrisches Schema zugrunde liege. 

Gleichwohl ist es für die wissenschaftliche Kunstforschung (vorausgesetzt, daß 
sie sich ganz auf die gesicherten Tatsachen beschränkt und lieber mit dürftigem als 
mit zweifelhaftem Material zu arbeiten bereit ist) keineswegs unlohnend, sich mit 
der Geschichte der Proportionsstudien zu befassen. Nicht nur, daß es durchaus 
nicht gleichgültig ist, ob bestimmte Künstler oder Kunstepochen überhaupt Pro- 
portionslehre getrieben haben oder nicht: auch das Wie ihrer Handhabung ist von 
entscheidender Wichtigkeit. Denn es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß Propor- 
tionslehre und Proportionslehre stets ein und dasselbe sei: es besteht ein essen- 
tieller Unterschied zwischen der Methode der Ägypter und der Methode Polyklets, 
zwischen dem Verfahren Lionardos und dem Verfahren des Mittelalters — ein 
ebenso großer und vor allem ein ebenso gearteter Unterschied, wie er auch 
zwischen der Kunst der Ägypter und der der klassischen Antike, zwischen der 
Kunst Lionardos und der des Mittelalters festzustellen ist. Wenn wir die unter- 
schiedlichen Proportionssysteme, von denen wir Kenntnis haben, nicht der Er- 
scheinung, sondern dem Sinne nach zu erkennen suchen, d. h. nicht sowohl die 
in ihnen gegebene Lösung, als vielmehr die in ihnen enthaltene Fragestellung be- 
trachten, so werden sie sich uns als Ausdruck ebendesselben „Kunstwollens“ offen- 
baren müssen, das sich in den Bauten, Bildwerken und Gemälden der gleichen 
Zeit oder des gleichen Meisters verwirklicht hat: die Geschichte der Propor- 
tionslehre ist das Abbild der Stilgeschichte, und bei der Unzweideutigkeit, 
mit der wir uns auf mathematischem Gebiet miteinander verständigen können, darf 
sie sogar als ein Abbild gelten, das sein Urbild an Deutlichkeit oft übertrifft. 
Man könnte behaupten, daß die Proportionslehre das häufig nicht ganz leicht in 
Begriffe zu fassende „Kunstwollen“ in klarerer oder mindestens in bestimmbarerer 
Form zum Ausdruck bringt, als die Kunstwerke selbst. 


L 


Unter Proportionslehre verstehen wir, wenn wir mit einer Definition beginnen 
wollen, die Lehre von den Größenverhältnissen der lebendigen Naturwesen, in- 
sonderheit des Menschen, insoweit diese Wesen Gegenstand einer bildktinstlerischen 
Darstellung werden sollen. Schon diese Definition läßt voraussehen, auf wie ver- 


188 


schiedenen Bahnen die Proportionsstudien sich bewegen konnten. Jene Größen- 
verhältnisse ließen sich ebensowohl durch Zerlegung eines Ganzen, als durch Ver- 
vielfältigung einer Einheit ausdrücken; bei ihrer Ermittlung konnte ebensowohl das 
Streben nach Verwirklichung des Schönen maßgebend sein, als das Interesse am 
Charakteristischen, als endlich das Bedürfnis nach einer Festlegung des Traditionellen; 
und vor allem konnten die Proportionen ebensowohl für den Gegenstand der 
Darstellung, als für die Darstellung des Gegenstandes Geltung besitzen: 
es ist ja etwas vollkommen anderes, ob ich frage, „wie verhält sich normaler- 
weise bei einem ruhig vor mir stehenden Menschen die Länge des Oberarms zur 
ganzen Körperlänge?“, oder ob ich frage, „wie soll ich hier auf meiner Bildtafel 
oder auf der Oberfliche meines Marmorblocks die Länge des Oberarms im Ver- 
hiltnis zur Gesamtlänge bemessen?“ Jenes ist eine Frage nach den objektiven 
Proportionen, deren Beantwortung der künstlerischen Gestaltung vorangeht — 
dieses ist eine Frage nach den fakturalen Proportionen, deren Beantwortung 
erst in dem künstlerischen Vorgang selber liegt, und die nur da gestellt und 
gelöst werden kann, wo die Proportionslehre zugleich (oder sogar in erster Linie) 
Konstruktionslehre ist. 

So mußten sich drei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten ergeben, 
die „Lehre von der Maß“ zu betreiben: die Proportionslehre kann entweder auf die 
Festsetzung der „objektiven“ Proportionen ausgehen, ohne sich um deren Verhältnis 
zu den „fakturalen“ zu bekiimmern — oder sie kann auf die Festsetzung der fak- 
turalen Proportionen ausgehen, ohne sich um deren Verhältnis zu den objektiven 
zu bekiimmern — oder sie kann sich endlich dieser ganzen Alternative überhoben 
sehen, dann nämlich, wenn fakturale und objektive Proportionen miteinander zu- 
sammenfallen. 

Diese zuletzt genannte Möglichkeit hat sich nur ein einziges Mal ganz rein ver- 
wirklichen können: in der Kunst der Ägypter’). 

Drei Umstände sind es nämlich, die das Zusammenfallen der fakturalen Maße 
mit den objektiven verhindern, und alle drei hat die ägyptische Kunst — soweit 
nicht besondere Bedingungen seltene Ausnahmen begründeten — grundsätzlich 
unwirksam gemacht, oder besser völlig ignoriert. Erstens die Tatsache, daß 
innerhalb eines organischen Körpers jede Bewegung die Maße sowohl des be- 
wegten Gliedes, als auch der übrigen Teile verändert; zweitens die Tatsache, 
daß der darstellende Künstler infolge der natürlichen Bedingungen des Sehvorganges 
den Gegenstand in bestimmten Verkürzungen wahrnimmt; — drittens die Tat- 
sache, daß ein etwaiger Beschauer das fertige Werk ebenfalls in einer Verkürzung 
erblickt, die dann, wenn sie erheblich ist (z. B. bei hoch aufgestellten Skulpturen), 
durch eine Abwandlung der objektiv richtigen Proportionen ausgeglichen werden 
muß. 

Von allen diesem kann bei den Ägyptern keine Rede sein: die den Eindruck 
des Beschauers korrigierenden Ausgleichsmittel (die „temperaturae“, auf denen 
nach Vitruv die’ „eurhythmische“ Wirkung des Kunstwerks beruht), werden grund- 
sätzlich verschmäht; die Bewegungen der Figuren sind nicht organisch, sondern 
mechanisch, d. h. sie bestehen in reinen Lageveränderungen bestimmter Glieder, 
die weder auf die Form, noch auf die Maße des übrigen Körpers zurückwirken; 
und selbst auf die Verkürzung (sowie auf die Modellierung, die ja mit malerischen 


(z) Und bie zu einem gewissen Grade in der ihr stilverwandten Kunst der asiatischen Völker und des 
griechischen Archaismus. 


189 


Mitteln dasselbe leistet, was die Verkürzung mit zeichnerischen), hat diese Kunst 
bekanntlich verzichtet: die Malerei und Relietbildnerei — im Ägyptischen ist daher 
das eine vom anderen stilistisch nicht unterschieden — verzichtet auf die schein- 
bare Vertiefung der Ebene im Sinn der omaypayla, und die Skulptur verzichtet 
auf die scheinbare Einebnung der Tiefe im Sinne der von Hildebrand geforderten 
Reliefhaftigkeit. Hier wie dort wird der Gegenstand vielmehr in einer Ansicht 
dargestellt, die eigentlich gar keine An-Sicht ist, sondern ein geometrischer Riß: 
die Teile der menschlichen Gestalt insbesondere werden so disponiert, daß sie 
sich sämtlich entweder in reiner Frontalprojektion, oder aber in reiner Orthogonal- 
projektion zur Geltung bringen!), und zwar sowohl in der Skulptur, als in der 
Flächenkunst — nur mit dem einen Unterschied, daß die Skulptur wegen der Viel- 
flächigkeit ihrer Blöcke in der Lage ist, uns sämtliche Projektionen vollständig, 
aber getrennt vor Augen zu führen, daß dagegen die Flächenkunst sie unvoll- 
ständig, aber vereint zur Darstellung bringt, indem sie Kopf und Beine in reinem 
Profil, Brust und Arme aber in reiner Frontansicht zeigt. 

Die skulpturalen Werke tragen (wegen der Abrundung der Formen) in vollende- 
tem Zustand diesen geometrisch-baurißmäßigen Charakter nicht so deutlich zur 
Schau, wie die Malereien und Reliefs — aber wir vermögen an vielen unvoll- 
endeten Stücken zu erkennen, daß sie doch stets von den auf die Biockflächen 
aufgetragenen Rissen ihren Ausgang nehmen: man sieht ganz deutlich, wie der 
Künstler auf den Vertikalebenen des Blockes die vier Aufrisse (und gegebenenfalls 
auf der oberen Deckfläche desselben einen Grundriß)?) verzeichnete, wie er dann 
diese Risse durch Wegschlagen der überschüssigen Steinmasse herausarbeitete, so 
daß die Form durch ein System von rechtwinklig zusammenstoßenden Ebenen 
und verbindenden Schrägflächen begrenzt wurde, und wie er endlich die dadurch 
entstehenden scharfen Schnittkanten beseitigte (Taf.29, Abb. 1). Überdies ist vor 
einigen Jahren eine Bildhauer - Werkzeichnung zutage gekommen, die das völlig 
baumeisterliche Verfahren dieser Skulptoren aufs anschaulichste illustriert: als ob 
es sich um einen Hausbau handele, hat der Bildhauer seinen Sphinx in Vorder- 
aufriß, Grundriß und Profilriß aufgenommen (letzterer nur zum kleinsten Teil er- 
halten), so daß man noch heute die Figur danach ausführen könnte (Taf. 29, Abb. a)“). 

Unter diesen Umständen mußte der ägyptischen Proportionslehre von vornherein 
die Entscheidung erspart bleiben, ob sie die objektiven oder die fakturalen Maß- 
verhältnisse feststellen, ob sie Anthropometrie oder Konstruktionsiehre sein solle: 


(1) Eine Ausnahme bildet in der Flächenkunst bekanntlich nur die Stelle oberhalb der Hüfte; allein 
auch bier handelt es sich nicht um eine wirkliche Verkürzung, а. h. um die Wiedergabe eines ob- 
jektiv schräg gestellten Körperstücks, sondern um eine rein zeichnerische Überleitung zwischen dem 
Face-Aufriß der Brustpartie und dem Profil-Aufri6 der Beine — um eine Form, die sich von selbst ergab, 
wenn jener mit diesem durch zwei Konturlinien verbunden werden sollte. Erst der griechischen 
Kunst blieb es vorbebalten, diese rein graphische Konfiguration im Sinne einer wirklichen Drehung 
auszudeuten: besonders deutlich bei Liegefiguren, vgl. ж, В, den ägyptischen Erdgott Keb mit den 
niedergestürzten Gestalten der griechischen Kunst, wie dem Giganten vom Giebel des „jüngeren 
Athenatempels“. 

(2) Dies letztere war da geboten, wo es sich um Kompositionen von bedeutender Horizontalerstreckung 
handelte, also bei der Darstellung von Tieren, Sphingen, liegenden Menschen, oder bei der Her- 
stellung einer aus mehreren Einzelgestalten sich zusammensetzenden Gruppe. 

(3) Amtl, Ber. aus der kgl. Kunstsammlung XXXIX, col. 105 ff. (Borchardt.) Unser Lichtdruck ist 
nach einer Originalphotographie hergestellt, für deren Überlassung Herrn Geheimrat Borchardt hier 
nochmals herzlich gedankt sel. 


190 


sie war notwendigerweise beides in einem. Denn die „objektiven“ Propor- 
tionen eines Gegenstandes zu bestimmen, d. h. seine Höhen-, Breiten- und Tiefen- 
werte maßstäblich zu fixieren, bedeutet ja nichts anderes, als eben die Maße seines 
Aufrisses, seines Grundrisses und seines Profilrisses zu ermitteln Und so gewiß 
die Darstellung des Ägypters sich nur in diesen drei Rissen bewegte (nur, daß er 
sie als Plastiker nebeneinandersetzte, als Flächenkünstler aber miteinander kombi- 
nierte): so gewiß mußten innerhalb einer solchen Darstellung die fakturalen Pro- 
portionen mit den objektiven identisch sein — mußten die relativen Abmessungen 
des Gegenstandes, wie sie in jenen Breiten-, Höhen- und Tiefenwerten enthalten 
sind, zusammenfallen mit den relativen Abmessungen der Darstellung, wie sie auf 
dem Malgrund oder den Blockflichen in die Erscheinung treten. Wenn der ägyp- 
tische Künstler sich die objektive Gesamtlänge der Menschengestalt in 18 oder 
22 Teile eingeteilt dachte und überdies wußte, daß die Fußlänge 3 oder 3'/,, 
die Länge der Unterschenkel 5 solcher Einheiten betrug‘), so wußte er ohne 
weiteres, welche Werte er auf seinen Malgrund oder auf den Oberflächen seines 
Steinblocks zu verzeichnen hatte. 

Wir wissen aus vielen erhaltenen Beispielen*), daß die Ägypter sich bei dieser 
Einteilung der Block- oder Wandflächen eines engmaschigen Quadratnetzes be- 
dienten, das sogar bei den in ihrer Kunst so stark hervortretenden Tierdarstellungen 
zur Anwendung gelangte’). Den Sinn dieses Netzes wird man am besten dann 
erkennen, wenn man es mit derjenigen Quadrierung vergleicht, deren sich der 
neuzeitliche Künstler zur Übertragung seiner Komposition auf eine größere Fläche 
bedient (mise au carreau). Während nämlich dieses Verfahren eine Vorzeichnung 
voraussetzt, die — an und für sich an keine Quadratur gebunden — an willkür- 
lich gewählten Stellen mit senkrechten und wagrechten Linien überzeichnet wird, 
läßt der Ägypter die Form allererst aus dem Quadratnetz entstehen: da die Ver- 
tikalen und Horizontalen ein für allemal auf ganz bestimmte Stellen der Figur 
festgelegt sind, muß umgekehrt das Quadratnetz dem Maler und Bildhauer ohne 
weiteres den Aufbau der Figur indizieren — er wird von vornherein wissen, daß 
er den Fußknöchel auf die erste, das Knie auf die sechste, die Schultern auf die 
sechzehnte Horizontallinie zu legen hat usw. (Abb. r.) 

Das Quadratnetz der Ägypter hat also nicht transportative, sondern konstruktive 
Bedeutung. Und man brauchte sich nicht einmal mit der Festlegung der Maße 
zu begnügen: denn da sich bei den ägyptischen Figuren die Tatsache des Aus- 
schreitens oder des Zuschlagens nur in stereotypen Veränderungen der Lage 
und nicht in wechselnden anatomischen Verschiebungen der Form zur Geltung 
brachte, so konnte auch die Bewegung durch bloß quantitative Angaben ausreichend 
bestimmt werden, indem man etwa dahin übereinkam, daß die Schrittlänge einer 
in Ausfallstellung begriffenen Gestalt (von Fußspitze zu Fußspitze gemessen) 
10'/, Einheiten betragen, solle, während man bei der ruhig stehenden Figur diese 


(х) Die Einteilung in 18 Teile entspricht dem älteren, die іп за Teile dem jüngeren Kanon; doch 
bleibt beidemal das obere Stück des Schädels (dort vom Stirnknochen, hier vom Haaransatz ab ge- 
rechnet) außer Betracht, da die Mannigfaltigkeit der Frisur und des Kopfschmuckes in dieser Be- 
ziehung einen gewissen Spielraum erforderte. Literatur bei Schäfer. Von ag. Kunst, 1919, U, 8. 236, 
Anm. 105. Das Aufklärendste ist Edgars Aufsatz in Travaux relatifs à la philologie . . . égypt. XXVII, 
S. 137 fl., und seine Einleitung zum 25. Band des Kairener Generalkatalogs. 

(2) Besonders zahlreich im Museum zu Kairo. Sehr instruktiv ist auch der im Hildesheimer Pelizaeus- 
Museum befindliche Wandbilderzyklus Ptolemius’ I, 

(3) Edgar, Katalog S. 53. Vgl. auch Erman in Amtl. Ber. XXX, S. 197 ff. 


191 


Entfernung auf Ai, oder 5'/, Einheiten festsetzte'). Man könnte ohne allzugroße 
Übertreibung behaupten, daß dem mit dem Proportionssystem vertrauten ägypti- 
schen Künstler, wenn man ihm die Aufgabe stellte, eine stehende, sitzende oder 
schreitende Figur darzustellen, die Gestalt bereits durch die Festsetzung ihrer 
absoluten Größe gegeben war’). 

Damit kennzeichnet sich die Art, wie die Ägypter die Proportionslehre hand- 
habten, als klarer Ausdruck ihres Kunstwollens, das nicht auf das Variable, son- 
dern auf das Konstante, nicht auf die Erfassung der lebensvollen Gegenwart, son- 
dern auf die Symbolisierung einer zeitlosen Ewigkeit gerichtet war: wenn ein 


griechischer Künstler eine Menschen- 
|i | | tt ft | LANJ | | | | gestalt hervorbrachte, so sollte ihr ein 
| [AF] | | i И TAL ING TI) nur scheinbares, aber aktuelles Leben ver- 
wl | liehen werden, indem sie die Funktionali- 
tät des menschlichen Organismus wie- 
derspiegelte — wenn ein Ägypter eine 
Menschengestalt hervorbrachte, so sollte 
sie eines realen, aber nur potentiellen 
Lebens teilhaftig sein, indem sie die Daseins- 
form der menschlichen Körpergestalt in 
dauerhafterer Materie neuerstehen ließ. Wir 
wissen ja, daß die ägyptische Grabstatue 
nicht geschaffen wurde, um eigenes Leben 


NENNEN AN 


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Abb. 1. Der „jüngere“ Kanon der altägyptischen 
Kunst (aus: Travaux relatife à la philol. et 
archéol. égypt. XXVII, 1905, S. 144). 


langen, weil der Sphinx sich eben aus 


vorzutäuschen, sondern um einem fremden 
Leben (dem Leben des Seelenwesens Ka) 
als materieller Träger zu dienen; während 
dasplastische Abbild bei den Griechen einen 
Menschen bedeutet, der da lebt, ist 
es bei den Ägyptern ein Körper, der da 
leben soll: dort existiert das Kunstwerk 
in einer Sphäre der ästhetischen Idealität 
— hier in einer Sphäre magischer Wirk- 
lichkeit, dort ist das Ziel des Künstlers 
eine ulunoıs, hier eine Rekonstruktion. 


Es sei erlaubt, noch einmal an jene 
Werkzeichnung für einen Sphinx zu er- 
innern: nicht weniger als drei verschie- 
dene Proportionsnetze sind zur Anwendung 
gelangt, und mußten zur Anwendung ge- 
drei heterogenen Teilen zusammensetzt, 


von denen jeder sein eigenes Konstruktionssystem verlangt: der Löwenleib, dessen 
Proportionierung nach dem entsprechenden Tierkanon erfolgt, der Menschenkopf, 
der nach dem Schema der — allein zu Kairo in mehr als 40 Exemplaren erhal- 
tenen — „Royal Heads“ eingeteilt ist, und die kleine Göttinnengestalt, der der üb- 


(x) Vgl. z. B. Mackay, Journal of Eg. Arch. IV, РІ. XVII. Mackays Aufsatz (S. 82 ff.) scheint übrigens 
die Zuverlässigkeit der Edgarschen Arbeiten nicht zu erreichen. 

(2) Die absolute Größe ihrerseits ist natürlich schon durch ein einziges Teilquadrat des Proportions- 
gesetzes bestimmt: den Ägyptologen ist es daher möglich, aus dem Bruchstück eines Proportionsnetzes 
die ganze Gestalt zu rekonstruieren. 


192 


liche 2ateilige Kanon für Ganzfiguren zugrundeliegt i). Rein rekonstruktiv wird 
also das darzustellende Lebewesen aus drei Teilorganismen zusammengesetzt, 
von denen jedes genau so aufgefaßt und proportioniert ist, als ob es allein stünde. 
Selbst hier, wo es so verschiedengeartete Einzelteile zu vereinigen galt, hat die 
ägyptische Kunst nicht das Bedürfnis empfunden, die Starrheit der Proportions- 
systeme zugunsten einer organischen Einheit abzumildern, wie sie uns innerhalb 
der griechischen Kunst noch in der Gestalt einer Chimaira entgegentritt. 


IL 


Es läßt sich nach dem Vorigen voraussehen, daß die klassische Kunst der 
Griechen sich vom Proportionierungssystem der Ägypter vollständig lossagen 
mußte: wenn die Prinzipien der archaischen Kunst denen der ägyptischen noch 
ähnlich waren, so bestand ja der Fortschritt der Klassik über den Archaismus 
hinaus gerade darin, daß sie all jene Umstände, von denen die Ägypter abstrahiert 
hatten, als positive künstlerische Faktoren in Rechnung stellte: sie rechnete mit 
der Maßverschiebung infolge der organischen Bewegungen nicht weniger, als mit 
der Verkürzung infolge des Sehvorganges und mit der Notwendigkeit, in gewissen 
Fällen den Eindruck des Beschauers durch „eurhythmische“ Ausgleichsmittel zu 
rektifizieren*). Die Griechen konnten daher nichts beginnen mit einem Proportions- 
system, das mit der Bestimmung der objektiven Maßverhältnisse auch die fakturalen 
unabänderlich festlegte: sie konnten eine Proportionslehre nur insoweit gelten lassen, 
als sie dem Künstler Freiheit ließ, die ihm an die Hand gegebenen Maßverhältnisse 
von Fall zu Fall nach freiem Ermessen zu variieren — als sie sich, mit einem 
Worte, mit der Rolle einer reinen Anthropometrie begniigte. 

Wir sind infolgedessen über die griechische Proportionslehre klassischer Zeit 
viel weniger genau unterrichtet, als über die ägyptische; man kann eben, nach- 
dem einmal die Identität zwischen fakturalen und objektiven Maßen aufgehoben 
war, das System oder die Systeme nicht mehr unmittelbar in den Kunstwerken 
vorfinden®); dafür erfahren wir manches aus der literarischen Überlieferung, die viel- 
fach an den Namen Polyklets anknüpft — des Vaters oder mindestens des Gesetz- 
gebers der klassisch-griechischen Anthropometrie ‘). 


(x) Gerade auf dieser „von anderen quadrierten Zeichnungen abweichenden Eigentümlichkeit“ des 
Berliner Sphinxpapyrus beruht seine besondere Wichtigkeit: die Tatsache der drei Proportionssysteme — 
mit Leichtigkeit erklärbar aus dem Umstand, daß es sich hier nicht um einen einheitlichen, sondern 
um einen zusammengesetzten Organismus handelt, — diese Tatsache beweist zur Evidenz, daß das 
ägyptische Quadratnets nicht Übertragungsmittel, sondern Kanon war: zum Zweck der bloßen „mise 
au carreau“ hätte man natürlich ein einheitliches Netz gewählt, 

(8) Vgl. die oft zitierte Geschichte von der Phidiasischen Athene, die mit ihrem objektiv zu kurzen 
Unterkörper dennoch an hoher Stelle „richtig“ wirkte (Overbeck, Schriftquellen, Nr. 772). Sehr inter- 
essant ist auch die weniger beachtete Stelle in Platos Sophistes, 235 E/ 236 А: Ovxouy бао. ув tür 
ueydiow nod te nAdrrovor ёоуюу 1 yodpovam. si ye dnodedoĩs thy thy xe dindivnv avuusıplar, 
ої09° Ste opcxedteoa иё» 100 dorto 10 dy, uellw dè тд xdtw фаіуол йу did 10 tà иб» Négewdsy, tà 
F e yyuoe - Sp’ duër podar’ ap’ ойу od ale td adndés ёасаутєс̧ of dnuiovpyoi уйу od tas ойда 
ovuustolas, alla rode dofovcas slvai ads той; elde ёуалғрус (октос; 

(3) Das bekannte metrologische Relief in Oxford (J. H. 8. IV, 8. 335 ff.) hat mit der künstlerischen 
Proportionslehre nichts zu tun, sondern dient lediglich der Normierung der Gebrauchsmaße: 1 Klafter 
(deyvid) = 7 Fuß (nddes) = 2,07 m = 7 , 96 m. Es wird daher auch gar nicht der Versuch ge- 
macht, die diese Maße veranschaulichende Menschengestalt irgendwie proportional einsuteilen. 

(4) Von den bei Vitruv erwähnten Proportionstheoretikern Melanthius, Pollis, Demophilus, Leonidas, 
Euphranor usw. wissen wir nichts ale die Namen; doch hat Kalkmann (a. a. O., 8. 43 fl.) den Ver- 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 13 193 


So heißt es z. В. in Galens Placita Hippocratis et Platonis!): „XoVamros.... 
то dë udddog ovx Ev ti thy Groryelwy, dii ёр Ti, Tür uoplwr Ovuuergla Ovplorasdaı 
Soe, der vãdov х0д$ ddxrviov druiopdr хой соџлаіътотр adrür яодс TÒ peraxdo mor 
xa хаолбу, xai TOÚTWV NQÒS AijyoS, xai nýyeos ode Boaxlova, хаї prop яофс 
ndvra, xaddneg év тоў ПоАохАутоо xdvæwvi yéyeaxra.“ Dieser Passus bestätigt 
zunächst das, was von vornherein zu vermuten war: daß der Polykletische „Kanon“ 
eine rein anthropometrische Bedeutung besaß, d. h. daß seine Aufgabe sich 
nicht auf die kompositorische Bewältigung von Steinblöcken oder Wandflächen, 
sondern ausschließlich auf die Ermittelung der objektiven menschlichen Maße be- 
zog, und die fakturalen Abmessungen in keiner Weise vorausbestimmte. Der Künst- 
ler, der sich an sie hielt, brauchte weder auf die Berticksichtigung der mimisch- 
anatomischen Veränderungen, noch auf die Wiedergabe der Verkürzung, noch auch, 
wenn es not tat, auf die Korrektur des dem Beschauer zugedachten Anblicks zu 
verzichten. 

Weiterhin wird nun aber das Prinzip der Polykletischen Proportionslehre als ein 
organisches charakterisiert. 

Der ägyptische Künstler ging, wie wir wissen, in der Weise vor, daß er zunächst 
ein aus absoluten Teileinheiten bestehendes Quadratnetz zusammenfiigte*), und dann 
in dieses die Umrisse der Gestalt eintrug — unbekiimmert darum, ob jede Linie 
dieses Netzes mit einer der organisch bedeutsamen Teilungsstellen des Körpers 
zusammenfalle (wir können z.B. feststellen, daß innerhalb des jüngeren Kanons die 
Horizontalen 2, 3, 7, 8, 9, 15 durch völlig gleichgültige Punkte laufen); gerade um- 
gekehrt der Grieche: er geht nicht aus von einem mechanisch konstruierten Quadrat- 
netz, um dann zu fragen, in welcher Weise die menschliche Gestalt in diesem 
Netz unterzubringen sei, sondern er geht aus von der organisch in Rumpf, Glieder 
und Teilglieder differenzierten Gestalt, um dann zu fragen, wie diese Teile sich 
zueinander und zum Ganzen der Größe nach verhalten möchten. Wenn nach Galen 
bei Polyklet beschrieben war, wie sich der Finger zum Finger, der Finger zur 
Hand, die Hand zum Unterarm, der Unterarm zum Oberarm und endlich jedes 
einzelne Glied zum ganzen Körper verhalten sollte, so bedeutet das nichts anderes, 
als daß die griechische Proportionslehre nicht mehr darauf ausging, die Gestalt unter 
Zugrundelegung eines absoluten Einheitsmaßes gleichsam aus lauter kleinen gleichen 
Mauersteinen aufzubauen, sondern daß sie die Relationen zwischen den von der 
Natur unterschiedenen und gegeneinander abgegrenzten Gliedern und dem Körper- 
ganzen festzustellen strebte. Also nicht das Prinzip mechanischer Gleichheit, 
sondern das Prinzip organischer Differenzierung liegt dem Poiykletischen 
Kanon zugrunde. Es wäre schlechterdings unmöglich gewesen, seine Bestimmungen 
in einem Quadratnetz unterzubringen: nicht das Proportionssystem der Ägypter kann 
vom Wesen der verlorenen Theorie der Griechen einen Begriff geben, sondern das 


such gemacht, die Vitruvianischen Maßangaben auf den zuletzt genannten Euphranor zurückzuführen. 
— Ein neuerer Aufsatz von Foat (J. H. S. XXXV, 8. 225 ff.) hat unsere Kenntnis der antiken Pro- 
portionslehre nicht wesentlich fördern können. 

(1) V, 3. 

(2) Die Einheit ihrerseits scheint durch die Höhe des Fußes (von der Sohle bis zum Knöchel) be- 
stimmt gewesen zu sein, und zwar sowohl im älteren wie im jüngeren Kanon. Die Beziehung dieser 
Einheit zu den Maßen der einzelnen Körperglieder, ja selbst zur Fuß-Länge, schwankt dagegen, ja 
es ist zweifelhaft, ob eine solche Beziehung überhaupt firiert werden sollte: im älteren Kanon ist die 
Fußlänge meist gleich 3 Einheiten (vgl. aber auch Edgar, Travaux, p. 145) — im jüngeren etwa 
gleich 3'/, Einheiten usw. 


194 


System, nach welchem die Figuren im ersten Buch der Dürerischen Proportions- 
lehre gemessen sind (Abb. 8). Der gegebene Ausdruck für solche Relationen ist der 
Bruch — im Grunde das einzige wirklich legitime Symbol für die „Verhältnis- 
mäßigkeit der Längen.“ Und in der Tat geht ja aus der Galenstelle mit aller 
Deutlichkeit hervor, daß bei Polyklet jeweils das kleinere Stück als der aliquote 
Bruchteil eines größeren und letzten Endes der Gesamtlänge bezeichnet wurde, 
und daß nicht etwa alle Größen als das Vielfache eines in allen enthaltenen „Mo- 
dulus“ ausgedrückt erschienen. Gerade dadurch, daß die zu vergleichenden Größen 
direkt aufeinander bezogen und durcheinander ausgedrückt erscheinen, statt un- 


abhängig voneinander auf eine neutrale Einheit zurückgeführt zu werden c=}, nicht 


x = a, y = 4a) kommt jene unmittelbar evidente „Vergleichlichkeit Eins gegen 
dem Andern“ zustande, die für die klassische Proportionslehre charakteristisch ist. 
Es ist kein Zufall, wenn Vitruv, der einzige antike Schriftsteller, der uns zahlen- 
mäßige Angaben über die menschliche Proportion überliefert hat, und dabei nach- 
weislich aus griechischen Quellen schöpfen konnte, diese Zahlenangaben ausschließlich 
als aliquote Bruchteile der Körperlänge formuliert!); auch hat man festgestellt, daß 
gerade beim Doryphoros des Polyklet, vielfach sogar inziffernmäßiger Überein- 
stimmung mit den vitruvianischen Angaben, die Maße der wichtigeren Körperstücke 
durchweg als Bruchteile der Körperlänge ausdrückbar sind)). Und hiermit hängt 
nun eine dritte Eigentümlichkeit der klassisch-antiken Proportionslehre zusammen, 
ihr ausgesprochen normativ-ästhetischer Charakter. Während das ägyptische 
System nichts anderes bezweckt, als das Üblich-Gewordene auf eine feste Formel zu 
bringen, will der Polykletische Kanon die Schönheit ergreifen: Galen zitiert ihn aus- 
drücklich als eine Zusammenstellung desjenigen, worin „тд xd2Jog Ovvloraraı“ (wie 
auch Vitruv seine Angaben als die Maße eines „homo bene figuratus“ einführt); und 
der einzige mit Sicherheit auf Polyklet selbst zurückführbare Ausspruch lautet 
folgendermaßen: „тд удо ed лаод шход> did лодАф> 4ою‹9цф> yiyveodar“°). Der 


(x) Diese Tatsache ist bereits von Kalkmann mit Recht hervorgehoben worden (d. Proportionen des 
Gesichts in der griech. Kunst, 1893, S. 9 ff.), als Gegenargument gegen diejenigen, die, wie Guillaume 
und Collignon, aus dem im Text zit. Galenpassus die Beschreibung eines Modulusverfahrens herauslesen 
wollen — scheinbar durch die Erwähnung des daxtulos verleitet, der hier doch gar nicht ale messende 
Einheit, sondern nur als kleinstes zu messendes Körperstück angeführt wird. 

Der Bequemlichkeit wegen folge hier eine Zusammenstellung der vitruvianischen Maßangaben: 

a) Gesicht (vom Haaransatz bis zum Kinn) = 1/,,. 

b) Hand (von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers) = Aa, 

с) Kopf (vom Scheitel bis zum Kinn) — 'J,. 

d) Halsgrabe bis Haaransatz — ½. 

e) Halegrube bis Scheitel — 3. 

(Die beiden letztgenannten Bestimmungen sind bekanntlich kontrovers mit der ersten und dritten, 
nach welchen für den Oberteil des Schädels / ä statt !/,, verbleiben würde. Da nur die Angabe '/,, 

ichtig sein kann, muß die Textkorruption bei den Bestimmungen 4 oder 5 liegen, Die Renaissance- 
theorie hat daher hier mit verschiedenen Korrekturen eingesetzt). 

f) Fuß = . 

g) Ellbogen = }J,. 

h) Brustbreite — 2. 

Ferner wird angegeben, daß das Gesicht in drei gleiche Teile zerfalle (Stirn, Nase, Untergesicht), 
und daß der ganze Mensch bei klafternden Armen in ein Quadrat, bei ausgespreisten Extremitäten in 
einen um den Nabel beschriebenen Kreis hineinpasse. 

Kalkmann, a. a. O., S. 36/37. 

(з) Diels in Archäol. Anz. 1899, Nr. 10. 


195 


— 


Polykletische Kanon sollte also, zum erstenmal, ein ästhetisches Gesetz verwirk- 
lichen, und es ist für die antike Denkweise durchaus bezeichnend, daß man sich 
den Ausdruck dieses Gesetzes eben nur in der Gestalt von Relationen (mathe- 
matisch gesprochen in der Form von Brüchen) vorzustellen vermochte: mit Aus- 
nahme des einzigen Plotin hat ja die ganze antike Ästhetik, wie die ihr folgende 
der Renaissance, das Gesetz der Schönheit in nichts anderem gesucht, als in der 
Verhältnismäßigkeit der Teile zueinander und zum Ganzen!). 

So tritt die Proportionsiehre der Griechen der mathematisch-starren, statisch- 
mechanischen und handwerklich-konventionellen der Ägypter als eine elastische, 
dynamisch-organische und ästhetisch-normative gegenüber. Und es mag uns zur 
Genugtuung dienen, daß dieser Gegensatz schon dem Altertum selbst bewußt ge- 
worden ist. Diodor von Sizilien erzählt nämlich im 98. Kapitel seines L Buches 
folgende Geschichte: die beiden Bildhauer Telekles und Theodoros hätten in alten 
Zeiten ein Kultbild in zwei getrennten Hälften angefertigt, indem der eine sein 
Stück in Samos, der andre das seine in Ephesos gearbeitet habe; und beim Zu- 
sammensetzen habe sich gezeigt, daß die beiden Hälften genau aufeinander paßten. 
Diese Arbeitsweise aber, so fährt die Erzählung fort, sei nicht bei den Griechen im 
Gebrauch gewesen, sondern bei den Ägyptern. Denn bei diesen werde die Pro- 
portion der Statuen nicht wie bei den Griechen nach der Gesichtsvorstellung be- 


(1) Es sei erlaubt, hier auf die drei einschlägigen Begriffe der vitruvianischen Ästhetik Bezug zu 
nehmen: Proportio, Symmetria und Eurhythmia. Hiervon macht der Begriff der Eurhythmia am 
wenigsten Schwierigkeiten: sie beruht, wie wir mehrfach erwähnten (vgl. auch Kalkmann, a. a. O., 
8. 9, Anm. sowie S. 38, Anm.), auf der sinngemäßen Anwendung jener optischen Ausgleichsmittel, 
die durch Mehrung oder Minderung der objektiv richtigen Maße die subjektiven Entstellungen des 
Kunstwerks paralysioren (daher ist sie nach I, 2, eine „venusta species commodusque aspectus“); da- 
hin gehört also für den Architekturtheoretiker я, B. die Verdickung der sonst durch , Uberstrahlung“ 
verschmälerten Ecksäulen bei Peripteraltempeln. Zweifelhaft dagegen bleibt der Unterschied zwischen 
„Proportio“ und „Symmetria“. Uns scheint es, daß Symmetria sich zu Proportio verhält, wie 
Normsetzung zu Normverwirklichung. Symmetria ist sls ,ex membris conveniens consensus 
und „ех partibus separatis...responsus“ (1,2) das eigentlich ästhetische Prinzip, das passende 
Verhältnis der Glieder untereinander und der Einklang zwischen den Teilen und dem Ganzen — 
Proportio dagegen ist (III, 1) als „ratae partis membrorum in omni opere totiusque commodulatio“ 
die bloße praktische Methode, vermittels welcher die als schön qualifizierten Maßverhältnisse 
Dürerisch zu reden „ins Werk gezogen werden“, indem der Architekt einen Modulus (rata pars, éu- 
Adtns) annimmt, durch dessen Vervielfältigung er die praktisch verwendbaren Werkmaße gewinnt 
(IV, 3). Proportio (= commodulatio) ist also etwas, was die Schönheit nicht bestimmt, sondern 
lediglich dazu beiträgt, sie zu realisieren (daher Vitruv die Proportio als dasjenige bezeichnet, wo- 
durch die Symmetria „efficitur“, und ausdrücklich fordert, daß sie ihrerseits „ad symmetriam“ ab- 
gestimmt sein müsse) — d. h. ein Verfahren der baumeisterlichen Technik, das vom Standpunkt der 
Klassik aus für den bildenden Künstler gar nicht in Frage kommt. Es ist daher ganz logisch, wenn 
Vitruv die Maßverhältnisse des Menschen nicht zur Veranschaulichung des Begriffs „Proportio“, son- 
dern des Begriffs „Symmetria“ heranzieht, und wenn er sie, wie schon bemerkt, nicht als das Viel- 
fache eines Modulus, sondern als aliquote Körperbruchteile ausdrückt: das Modulus-Verfahren kam eben 
für die antike Ästhetik nur als ein Verfahren der praktischen Maß-Verwirklichung in Betracht, während 
man sich die Maß-Normierung, die jener „Commodulatio“ vorangehen mußte, nur in der Form bruch- 
mäßig ausdrückbarer Relationen vorstellen konnte, die von der organischen Gliederung des Körpers 
(oder des Bauwerks) in differenzierte Einzelglieder ihren Ausgang nehmen. — Vgl. übrigens auch 
Kalkmann, а. а. О., S. 9, Anm. 2, „die proportio betrifft nur die Konstruktion mit Hilfe des modulus, 
der rata pars. Als zweites tritt hinzu die Symmetrie: die Glieder untereinander sollen sich schön und 


passend verhalten, eine Forderung, welche die proportio noch nicht stellt.“ Ferner Jollee, Vitruve 
Ästhetik (Dise., Freib. 1906), S. aa ff. 


196 


stimmt (470 тїз xara тїр doe gavradiag droxpivacdaı), sondern sobald man 
die Steine gebrochen, zerlegt und zugerichtet habe, setze man sogleich (тд typexadra) 
die Maße vom größten bis zum kleinsten Stücke fest!). Man habe nämlich in 
Ägypten den ganzen Bau des Körpers?) in 21b/, gleiche Teile geteilt), und des- 
wegen seien die Künstler, wenn sie sich einmal über die Größe der zu schaffenden 
Figur geeinigt hätten, imstande gewesen, sich auch bei räumlicher Trennung in die 
Arbeit zu teilen und dennoch ein genaues Zusammenpassen der Stücke zu erzielen. 

Ob der anekdotische Inhalt dieser unterhaltenden Erzählung richtig ist oder nicht: 
sie zeugt jedenfalls von einem sehr feinen Gefühl für den Unterschied sowohl 
zwischen ägyptischer und klassischer Kunst, als zwischen ägyptischer und klassischer 
Proportionslehre. 

Denn es ist kein Zweifel, daß der Sinn dieser Geschichte nicht sowohl darin 
besteht, daß die Existenz eines ägyptischen Proportionssystems beglaubigt wird, 
als vielmehr darin, daß seine ganz einzigartige Bedeutung für die Entstehung des 
Kunstwerks hervortritt: auch der durchgebildetste Kanon würde ja zwei Künstler 
nicht zu dem befähigen, was hier von Telekles und Theodoros berichtet wird, 
solange die Möglichkeit bestünde, daß die fakturalen Proportionen des Kunstwerks 
von den objektiven Angaben dieses Kanons abweichen könnten. Zwei griechische 
Bildhauer des 5. oder gar des 4. Jahrhunderts hätten auch bei genauester Ver- 
abredung über das zu befolgende Proportionssystem und über das Gesamtmaß der 
Figur nicht unabhängig voneinander je ein Teilstiick arbeiten können, weil eben 
ein griechischer Künstler, bei aller Beobachtung bestimmter Maßvorschriften, dennoch 
hinsichtlich der formalen Gestaltung ganz frei gewesen wire‘). Der Gegensatz, 
den Diodor hier herausbringen will, kann daher schwerlich darin bestehen, daß die 
Griechen zum Unterschied von den Ägyptern überhaupt keinen Kanon besessen, . 
sondern ihre Figuren „nach dem Augenmaß“ proportioniert hätten“), — ganz ab- 


(1) Merkwürdig ist die Übereinstimmung zwischen dieser Schilderung und dem Jesaias-Vers 44, 13, 
in welchem die Tätigkeit der (assyrisch-babylonischen) „Götzenmacher“ folgendermaßen beschrieben 
wird: „Er simmert Holz und misset es mit der Schnur, und zeichnet es mit Rötelstein, und be- 
hauet es und zirkelt es ab und macht es wie ein Mannsbild.“ 

(2) Es ist in unserem Sinne recht bemerkenswert, daß er bei den Griechen von ovuuereia, bei den 
Agyptern aber von xataoxevý redet, 

(3) Dies ist ein Irrtum, insofern es 22 Teile sind. Immerhin ist das Prinzip ganz richtig erfaßt, ins- 
besondere auch die Tatsache, daß für den Schädel ein kleines Stück ('/,) außerhalb des eigentlichen 
Netzes übrigbleibt. Beachtenswert ist auch die kunsthistorische Einsicht, mit der hier die Stil- 
verwandtschaft zwischen ägyptischer Kunst und frühgriechischem Archaismus erkannt wird, so daß 
beide der „modernen“ Klassik beinahe als eine Einheit gegenübertreten. Vgl. dazu auch das vorher- 
gehende Kapitel, wo es von dem mythischen Stammvater der griechischen Skulptur heißt: 1d te 
dvSu0y тё» eyalwy хат’ Aiyuntoy avdgedytwy tov adtdy elvat Tols nd Aardalov xaraoxevacdtlcı naga 
тоф "Eno. 

(4) Es ist daher durchaus abzulehnen, wenn Jolles (a. a. O., S. 91 ff.) unsere Stelle auf einen inner- 
halb der griechischen Klassik bestehenden Gegensatz bezieht, den er als den Gegensatz zwischen 
„aymmetrischer“ und „eurhythmischer“ Kunstauffassung kennzeichnet. Abgesehen davon, daß nichts 
uns dazu berechtigt, das bei Diodor ausdrücklich nur von den Ägyptern und einigen ägyptisierenden 
Archaikern Ausgesagte auf griechische Künstler klassischor Zeit zu übertragen: der Begriff der Sym- 
metrie hat mit dem, was Diodor hier von Telekles und Theodoros mitteilt, nicht das mindeste zu 
tun, denn sie ist auch da vorhanden, wo von der mechanischen Vorausbestimmung der Körperform 
im Sinn der Ägypter gar keine Rede ist — wie wir ja auch den Autor den Ausdruck ovuuerola 
gerade mit Bezug auf diejenige Kunstauffassung gebrauchen sehen, die nach Jolles die nicht-symme- 
trische, sondern nur eurythmische sein müßte. 

(5) So Wahrmund in seiner Diodorübersetzung von 1869, wogegen schon Kalkmann (a. a. O., 8. 38, 


197 


gesehen davon, daß Diodor von den Bemtihungen Polyklets zum mindesten durch 
die Überlieferung Kenntnis gehabt haben muß. Vielmehr besteht der Gegensatz darin, 
daß der Kanon bei den Ägyptern für sich allein bereits hinreichte, um die 
Darstellung bis in alle Einzelheiten vorauszubestimmen (und daher, sobald die Steine 
zugerichtet waren, sogleich an Ort und Stelle zur Anwendung kommen konnte), — 
daß dagegen bei den Griechen, ganz abgesehen davon, ob sie nun auch einen Kanon 
hatten oder nicht, doch jedenfalls außer ihm noch etwas ganz anderes nötig war, 
um ein Kunstwerk hervorzubringen: die Anschauung. Diodor will darauf hinaus, 
daß der ägyptische Skulptor, gleich einem Steinmetzen, zur Anfertigung seiner 
Werke weiter nichts als die Maßangaben nötig habe und, allein auf sie gestützt, 
die Figuren an beliebigem Ort und in beliebig vielen Teilen dar- oder besser her- 
zustellen vermöge, daß dagegen der Grieche den Kanon nicht ohne weiteres auf 
seine Blöcke applizieren könne, sondern sich von Fall zu Fall bei der xara тїр 
боасір yarradia Rats erholen müsse, d. h. bei einer „Gesichtsvorstellung“, die die 
organische Beweglichkeit des darzustellenden Körpers, die Mannigfaltigkeit der dem 
Künstlerauge sich darbietenden Verkürzungen und vielleicht auch die besonderen 
Umstände, unter denen das fertige Werk gesehen werden soll, in Rechnung setzt, 
und danach das kanonische Maßsystem (wenn sie es auch vielleicht nicht geradezu 
überflüssig macht), doch mindestens in unerschipflicher Weise verändert!). Der 
Gegensatz, den Diodors Erzählung deutlich machen soll, und den sie tatsächlich 
mit besonderer Bildhaftigkeit deutlich macht, ist der Gegensatz zwischen Rekon- 
struktion und Мијо, zwischen einer in jeder Beziehung gebundenen mechanisch- 
mathematischen Kunstauffassung und einer elastisch-dynamischen, innerhalb deren 
bei aller Gesetzmäßigkeit doch für das Irrationale der künstlerischen Freiheit 
Raum bleibt ). 


III. 


Man pflegt den Stil der mittelalterlichen Kunst (von den Werken der gotischen 
Hochblüte abgesehen) dem Stil der klassischen Antike als einen flächenhaften 
gegenüberzustellen; im Vergleich mit der Kunst der Agypter dürfte man ihn nur 
als einen verflächigten bezeichnen. Denn das eben ist der Unterschied zwischen 
ägyptischer und mittelalterlicher Flächenhaftigkeit, daß dort die Tiefenmotive tat- 
schlich ausgeschaltet, hier aber nur entwertet werden: die ägyptische Kunst stellt 
fächenhaft dar, weil sie nur das wiedergibt, was de facto in der Ebene vorgestellt 
werden kann — die mittelalterliche Kunst stellt flächenhaft dar, obgleich sie auch 
das wiedergibt, was de facto nicht in der Ebene vorgestellt werden kann; d. h. 
während bei den Ägyptern Dreiviertelprofile und Schrägbewegungen des Rumpfes 
oder der Glieder tatsächlich ausgeschlossen sind, gibt es im mittelalterlichen Stil, 


Anm.) mit Recht geltend macht, daß dieser Auslegung der ovuuszpia-Begriff als solcher ent- 
gegenstehe, als welcher ja gerade das besagt, daß das Kunstwerk nicht nach dem bloßen Augenmaß 
gestaltet wird, sondern auf bestimmten Maß-Normen beruht. 

(x) Hier mit Kalkmann ausschließlich an die eurhythmischen „temperaturae“ zu denken, erscheint uns 
als eine zu enge Auslegung. 

(a) Daher hat z. B. Alberti, der merkwürdigerweise auch einmal von der Möglichkeit spricht, eine 
Statue in zwei Stücken und an zwei verschiedenen Orten herzustellen (Quellenschriften zur Kunst: 
geschichte XI, S. 199) diesen Fall nur insofern ins Auge gefaßt, als es sich um die mechanische 
Kopie eines anderen plastischen Kunstwerks handele — er konstruiert ihn nicht, um ein produktiv- 
künstleriiches Verfahren zu erläutern, sondern um die Genauigkeit einer von ihm erfundenen Über- 
tsagungemethode anzupreisen. 


198 


der überall die Freibeweglichkeit der Antike voraussetzt, sowohl das eine wie das 
andere (ja das Dreiviertelprofil ist sogar die Regel gegenüber der reinen Front- oder 
Seitenansicht) — nur daß man diese Motive nicht mehr im Sinn eines eigentlichen 
Tiefeneindrucks auswertet, sondern sie, meist unter völligem Verzicht auf die 
plastisch wirksamen Mittel der Modellierung und des Schlagschattens, rein zeich- 
nerisch in der Führung der Außen- und Innenkonturen’) sich aussprechen läßt. So 
gibt es alle möglichen verkürzten Formen, die — da der Eindruck durch keinerlei 
plastische Mittel unterstützt wird — dennoch nicht eigentlich als „Verkürzung“ wirken, 
z. B. die schräggestellten Füße, die meist mehr den Eindruck des Nach-Unten- 
Hängens, als den des Nach-Vorn-Gerichtetseins erwecken (vgl. Abb. 3), die im Drei- 
viertelprofil gegebenen Schulterpartien, die in ihrer Reduktion auf einen planimetri- 
schen Ausdruck beinahe dem Höcker eines Verwachsenen gleichen, usw. 

Unter diesen Umständen mußte sich auch die Proportionslehre nach neuen Zielen 
orientieren: auf der einen Seite bedingte die Verflächigung der Körperformen eine 
Abwendung von der antiken Anthropometrie, die ja die Emanzipation der Figur 
von der Ebene voraussetzte — auf der anderen Seite machte es die nun einmal 
nicht mehr zu beseitigende Freibeweglichkeit der Gestalten unmöglich, ein System 
zu finden, das, gleich dem ägyptischen, fakturale und objektive Maße zugleich be- 
stimmt hätte. So stand die mittelalterliche Proportionslehre vor demselben Ent- 
weder-Oder, wie die antike, nur daß sie sich begreiflicherweise in entgegengesetztem 
Sinne entscheiden mußte: hatte die ägyptische Proportionslehre, bei der Identität 
zwischen fakturalen und objektiven Maßen, die Eigenschaften der Anthropometrie 
mit denen eines Konstruktionssystems in sich vereinigen können, und hatte sich 
die griechische, nach Aufhebung jener Identität, zu dem Verzicht auf die Bestimmung 
der fakturalen Maße entschlossen, so entschloß sich nunmehr die mittelalterliche zu 
dem Verzicht auf die Bestimmung der objektiven Maße und beschränkte sich auf eine 
Anweisung zur Organisation der flächenhaften Bilderscheinung. Neben das kon- 
struktive Proportionssystem der Ägypter und das anthropometrische der 
klassischen Antike tritt also das des Mittelalters als ein flächenhaft schemati- 
sierendes. 

Innerhalb der mittelalterlichen Proportionslehre scheinen nun aber zwei ver- 
schiedene Richtungen hervorzutreten, die zwar insofern tibereinstimmen, als hier 
wie dort eine planimetrische Schematisierung der Gestalt das Ziel des Unternehmens 
bildet, die aber insofern voneinander abweichen, als dieses Ziel auf ganz verschiedenen 
Wegen erreicht wird: die byzantinische und die gotische. 


1 * 
* 


Die „byzantinische“ Proportionslehre, die aber, dem großen Einfluß- 
bereich der byzantinischen Kunst entsprechend, auch für das Abendland von außer- 
ordentlicher Bedeutung war — verrät insofern noch die Nachwirkungen der antiken 
Tradition, als sie bei der Ausarbeitung ihres Schemas von der organischen Gliederung 
des menschlichen Körpers ihren Ausgang nahm, d.h. der künstlerischen Erscheinung 
durch maßstäbliche Bestimmung der von Natur gegeneinander abgesetzten Körper- 
stücke beizukommen suchte. Allein sie ist insofern gänzlich unantik, als diese 
maßstäbliche Bestimmung nicht mehr nach dem System der aliquoten Bruchteile, 
sondern nach dem System eines etwas gröblichen Modulusverfahrens erfolgte: die 
in der Fläche anschaulichen Körpermaße — was außerhalb der Fläche lag, schaltete 


(x) Im hoben Mittelalter erstarren ja selbst die Schattenformen zu bloß linearen Gebilden. 
199 


naturgemäß von vornherein aus — wurden in Kopf- oder genauer in Gesichtslängen 
ausgedrückt (italienisch: viso oder faccia, vielfach allerdings auch testa) i), wobei 
sich für die ganze Länge in der Regel die Gesamtsumme 9 ergab. So entfällt 
nach dem „Malerbuch vom Berge Athos“ ı Einheit aufs Gesicht, 3 auf den Rumpf, 
je 2 auf Ober- und Unterschenkel, !/„ (= eine Nasenlänge) auf die Schädelkalotte, 
½ auf die Fußhöhe und !/, auf die Kehle), wänrend die halbe Brustbreite (ein- 
schließlich der Schulterrundung) auf 1!/,, und die innere Länge des Unter- und 
Oberarmes sowie der Hand auf je ı Einheit angegeben wird; und ganz ähnlich 
sind die Angaben, die uns bei Cennino Cennini begegnen — dem Theoretiker des 
letzten Eades doch noch fest im Byzantinismus wurzelnden Trecento: es sind bis 
ins Detail dieselben Maße wie im Athoskanon, nur daß für die 3 Gesichtslängen 
des Rumpfes bestimmte Teilpunkte angegeben werden (Magengrube und Nabel), 
und daß die Höhe der Schädelkalotte nicht ausdrücklich auf !/, bestimmt wird, so 
daß sich — ohne sie — nur eine Gesamtlänge von 8% „visi“ ergibt. Von hier 


(x) Schon dies ist für die Zeitgesinnung charakteristisch; während früher das Maß des Fußes, der 
Elle, der Hand, der Finger die Grundlage der metrologischen Systeme gebildet hatte, wird nunmehr 
das Gesicht, der Sitz des geistigen Ausdrucks, als Einheit angenommen: „wegen seiner Wichtigkeit, 
Schönheit und Teilbarkeit“ heißt es späterhin bei Averlino Filarete (Quellenschriften zur Kunstgesch. 
N.F. II, 8. 54). 

(2) Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos, ed. Godehard Schäfer, 1855, 8. 82. Wenn sich in 
Schlossers meisterhaftem Ghibertikommentar (1912, Bd. II, 8. 35) die von ihm selbst mit einem Frage- 
zeichen versehene Angabe befindet, daß der Athoskanon die Fußhöhe auf eine ganze Einheit fest- 
setze, so beruht diese kleine Ungenauigkeit auf einer Verwechslung mit der Fußlänge „vom Knöchel 
bis zu den Nägeln“, die, ganz wie bei Cennini, auf eine Einheit angegeben wird; die Fußhöhe 
wird, ebenfalls im Einklang mit Cennini, ausdrücklich auf eine Nasenlänge — '/, Einheit festgesetzt 
und ergibt dann, mit den ebenso großen Stücken Hals und Schädelkalotte zusammengenommen, die 
neunte Gesichtslänge. — Der quellenmäßige Wert der im Malerbuch vom Berge Athos enthaltenen 
Angaben wird neuerdings u. E. erheblich unterschätzt: wenn auch durch Leidinger (Kunstwanderer 
II, 1920, S. 45 ff.) der Nachweis erbracht ist, daß die auf uns gekommene Redaktion erst dem 18. Jahr- 
hundert angehört, und wenn sie auch (wie ja schon der Terminus „rd vatovodie zeigt), bereits den 
Einfluß der italienischen Kunstlehre verrät, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß der materielle 
Inhalt der Überlieferung zum größten Teil auf die Praxis des hohen Mittelalters zurückgeht. Daß dies 
gerade bei dem Kapitel über die Proportionen der Fall ist, geht daraus hervor, daß die im Athoskanon 
festgesetzten Maße sich in der byzantinischen und byzantinisierenden Kunst des 12. und 13. Jahr- 
hunderts, ja noch früher, tatsächlich nachweisen lassen (vgl. unten), und zwar gilt das auch von 
solchen Bestimmungen, die nicht auf die antike Tradition zurückgehen: so z. B. von der Einteilung 
des Körpers in 9 Gesichtslängen (nach Vitruv: 10), von der Ansetzung der Schädelkalotte auf eine Nasen- 
länge — !/,, der Körperlänge (nach Vitruv = ¼ ) nnd von der Bemessung der Fußlänge auf '/, der 
Körperlänge (nach Vitruv — 1/,). Wenn daher Cenninis Angaben in allen diesen Punkten mit denen 
des Athoskanons sich decken, so darf aus dieser Übereinstimmung nicht gefolgert werden, daß der 
Athoskanon von der itallenischen Proportionslehre abhinge, sondern vielmehr umgekehrt, daß bei 
Cennini eine byzantinische Tradition ihren Niederschlag finde. — Wie in der jetzigen Fassung 
des Malerbuchs uralte Tradition mit modernen Bestandteilen verbunden ist, mag die merkwürdige 
Tatsache bezeugen, daß die im Malerbuch gegebene Anweisung zur Illustration des XII. Kapitels der 
Apokalypse (ed. Schäfer, S. 251) augenscheinlich durch den betreffenden Holsschnitt Dürers in- 
spiriert ist: das Motiv des von zwei Engeln in einem Tuch emporgetragenen Kindes ist — von den 
übrigen Übereinstimmungen abgesehen — unseres Wissens eine Dürerische Erfindung. Die Vermittiung 
könnte — wenn man die Wanderung des Dürerschen Originalholzschnitts für unwahrscheinlich hält — 
durch die bekannte Kopien-Serie erfolgt sein, die 1315/16 bei Alezandro Paganini in Venedig er- 
schienen ist, d. b. in einer Stadt, die mit dem griechischen Osten in besonders regem Kultur- 
Austausch stand, 


200 


aus ist dieser byzantinische 9-Gesichtslingen-Kanon in die Kunstlehre der Folge- 
zeit eingedrungen, in der er, teils völlig unverändert, wie bei Pomponius Gauricus, 
teils mit geringfügigen Modifikationen, wie bei Ghiberti und Filarete, bis ins 17. 
und 18. Jahrhundert hinein eine bedeutende Rolle spielt!). 

Es erscheint uns nicht zweifelhaft, daß der Ursprung dieses Proportionssystems, 
bei dem das Maß auf dem Umweg über die Zahl gewonnen wird, im Osten zu 
suchen sei. Eine höchst fragwürdige Überlieferung der Spätrenaissance (Philander) 
schreibt zwar die Aufstellung eines Kanons, der — die gesamte Körperlänge in 
9:/, teste einteilend — den bisher besprochenen Systemen sehr nahe zu kommen 
scheint, dem Römer Varro?) zu. Allein abgesehen davon, daß die antike Kunst- 
literatur von einem solchen Kanon nicht das mindeste weiß), und daß die Auf- 
stellungen Polyklets und Vitruvs auf einem durchaus entgegengesetzten System 
beruhen — abgesehen auch davon, daß wir die Anfänge der Überlieferung im 
byzantinisch-trecentistischen Milieu zu finden glaubten: die Spuren führen weiter 
bis Arabien. Denn in den Schriften der „lauteren Brüder“, eines im 9. bis ro. Jahr- 
hundert blühenden arabischen Gelehrtenordens, begegnet uns ein Proportionssystem, 
das mit dem in Frage stehenden bereits die Eigenschaft gemeinsam hat, die Körper- 
maße durch Reduktion auf einen Modulus auszudrücken“). Und wenn es vielleicht 
auch möglich ist, die Angaben der „lauteren Brüder“ aus noch älteren Quellen 
abzuleiten °), so dürfte uns doch diese aller Voraussicht nach nicht weiter hinauf- 
führen, als bis in den Späthellenismus — d. h. in diejenige Periode, in der das 
gesamte Weltbild, nicht ohne orientalischen Einfluß, nach zahlenmystischen Gesichts- 
punkten umgeformt wurde, und in der, mit einer ganz allgemeinen Wendung vom 
Konkreten zum Abstrakten, auch die antike Mathematik ihre in Diophant zum Höhe- 
punkt und Abschluß gelangte Arithmetisierung erfuhr). 

Die Proportionsangaben der „lauteren Brüder“ haben nun zwar als solche noch 
nichts mit der künstlerischen Praxis zu tun; sie bilden das Teilstück einer har- 


(x) Die in Frage kommenden Aufstellungen der Frührenalssance sind auszugsweise zitiert bei Schlosser, 
a. a. O. Hinzuzufügen wären etwa noch die weniger beachteten Angaben bei Francesco di Giorgio 
Martini (Il trattato di architettura civile e militare, ed. C. Saluzzo, 1841, I, р. 229 ff.), die vor allem 
wegen der noch stark hervortretenden Tendenz zur planimetrischen Schematisierung Interessant sind. 
Für die spätere Zeit kommen u. a. Mario Equicola, Vasari, R. Borghini und Daniel Barbaro (La 
pratica della prospettiua, 1569, p. 179 fl.), in Frage, der — neben dem vitruvianischen — einen 
Kanon eigener Erfindung mitteilt, welcher aber fast ganz auf den wohlbekannten g-teste-Typus hinaus- 
läuft, nur daß der dritte Teil einer testa (d. Ь. die Nasenlänge) als „Daumen“ sum Modulus erhoben 
wird. Dann ist die Schädelkalotte — 1 Daumen, die Fußhöhe und der Hals je — 1½ Daumen, so 
daß im ganzen 9½ teste resultieren, die im übrigen ganz in der üblichen Weise verteilt werden. 

(a) Schlosser, a. a. O., 8.35, Anm. Das überschießende Drittel ist für die Kniee bestimmt, wodurch 
dieser pseudovarronische Kanon der Aufstellung Ghibertis einigermaßen verwandt erscheint: Ghiberti 
setzt die Länge der Oberschenkel einschließlich der Kniee auf 2½, ausschließlich derselben auf ai, 
Einheiten an, so daß auch bei ihm für die Kniee selbst !/, verbleibt. 

(3) Kalkmann, a. а. O., S. 11. 

(4) Dieterici, Propädeutik der Araber, 1865, 8. 135 ff. Die Einheit ist hier jedoch nicht die Gesichts- 
länge, sondern die „Spanne“, die der Gesichtslänge beträgt. 

(5) Nach Géi, Mitteilung von Herrn Prof. Ritter-Hamburg sind andere Angaben über die Proportio- 
nierung des Menschen in den arabischen Quellen bisher nicht aufgefunden worden, wohl aber An- 
gaben über die Proportionierung der Buchstaben; und es ist für uns wichtig, daß auch diesen 
nicht das Prinzip der aliquoten Bruchteile, sondern das Modulus-System zugrunde legt. 

(6) K. Simon, Geschichte der Mathematik im Altertum im Zusammenhang mit der Kulturgeschichte, 
1909, 8. 348, 357. 


зот 


monistischen Kosmologie, d. h. sie sollen nicht eine Anweisung zur bildlichen 
Wiedergabe der Menschengestalt darstellen, sondern die Einsicht in einen ungeheuren 
Zusammenhang zwischen allen Teilen des Weltganzen vermitteln, daher sich auch 
die hier überlieferten Maßangaben nicht auf den Erwachsenen, sondern auf das 
neugeborene Kind beziehen — also auf ein Wesen, das für die bildende Kunst nur 
von sekundärer Bedeutung ist, in den Gedankengängen der Kosmologie und Astro- 
logie aber eine um so größere Rolle spielte!). Allein wenn die byzantinische Atelier- 
praxis dieses unter so völlig anderen Gesichtspunkten ausgebildete Einteilungs- 
system des Körpers so bereitwillig aufgriff und dabei den kosmologischen Ursprung 
desselben schließlich vollkommen vergaß, so hat das doch seinen guten Grund. Denn, 
so paradox es klingt, gerade die algebraische Maßnormierung, die der Bemessung 
aller Körperlängen einen einzigen Modulus zugrunde legt, mußte — vorausgesetzt, 
daß dieser Modulus nicht allzu klein war — der mittelalterlichen Schematisierungs- 
tendenz in besonderem Maße entgegenkommen. Das antike System der aliquoten 
Körperbruchteile vermochte ja nur die objektive Anschauung der Körpermaße zu 
vermitteln, nicht aber ohne weiteres ihre zeichnerische Verwirklichung zu regulieren: 
indem statt wirklicher Längen nur Relationen bestimmt wurden, erhielt der Künstler 
einen Anhalt für eine lebendige Simultanvorstellung vom Aufbau des Organismus 
— nicht aber ein Mittel zur sukzessiven Konstruktion des flächenhaften Abbildes. 
Ganz anders das algebraische System, das den Verlust an Elastizität und Lebendig- 
keit durch die unmittelbare Konstruierbarkeit ersetzte: indem der Künstler eine 
bestimmte Größe überliefert erhielt, deren Vervielfältigung ihm jede Körperdimension 
ergab, vermochte er durch sukzessives Abgreifen der nötigen „moduli“ jede Figur 
auf der Bildfläche gleichsam zusammenzusetzen — „mit unverrucktem Zirkel“, ver- 
hältnismäßig rasch und ziemlich unabhängig von der Gliederstellung*). In der 
byzantinischen Kunst hat sich diese Methode einer graphisch-schematisierenden 
Flächenbewältigung bis in die neueste Zeit erhalten: der erste Herausgeber des 
Malerbuchs vom Berge Athos, Didron, hat noch die griechischen Klostermaler des 
19. Jahrhunderts in der Weise arbeiten sehen, daß sie die Einzelmaße mit dem 
Zirkel abgriffen und ohne weiteres auf die Mauer tibertrugen. 

Infolgedessen hat die byzantinische Kunstlehre es sich angelegen sein lassen, 
auch die Detailabmessungen des Kopfes nach einem Modulusverfahren zu bestimmen, 
als dessen Einheit sich die Nasenlänge (== '/, der Gesichtslänge) darbot: die Nasen- 
länge gibt (nach dem Malerbuch vom Berge Athos) nicht nur die Höhe der Stirn 
und des Untergesichts an, sondern auch die Höhe des Oberkopfs und die Entfernung 
von der Nasenspitze bis zum Ende des Auges, sowie die Länge der Kehle bis zur 
Halsgrube. Diese Reduktion der vertikalen und horizontalen Kopfmaße auf eine 
einzige Einheit ermöglichte nun ein Verfahren, in dem sich das mittelalterliche 
Bedürfnis nach einer planimetrischen Schematisierung der Körperformen besonders 
unzweideutig ausspricht: ein Verfahren, vermittels dessen nicht nur die Maße, sondern 


(x) Das neugeborene Kind ist ja dasjenige Wesen, in welchem die Macht der das Universum be- 
herrschenden Kräfte, insbesondere der Einfluß der Gestirne, viel reiner und unmittelbarer wirksam 
wird als in dem durch viele anderweitige Umstände determinierten Erwachsenen. 

(2) Man ist daher zum Schluß dahin gelsngt, den einmal festgesetsten Kanon auch für sitzende 
Gestalten zur Anwendung zu bringen (Taf. 10, Abb. 3), — wobei die „Gesichtslänge‘“ allerdings 
in unserem Falle nicht bis zur Haargrenze, sondern nur bis zum Rande des Kopftuchs rechnet 
(es ist eben für diese ganz unnaturalistisch empfindende Kunst nicht die anatomische Wahrheit, son- 
dern die graphische Erscheinung maßgebend). Die Handlänge paßt sich natürlich, dem Kanon ent- 
sprechend, dieser Bemessung der Gesichtslänge vollkommen an. 


202 


auch die Formen geometrico more festgelegt werden konnten. Denn indem die 
Abmessungen des Kopfes in wagerechter wie in senkrechter Richtung auf eine kon- 
stante Maßeinheit beziehungsweise auf ihr Vielfaches abgezogen wurden, ergab sich 
die Möglichkeit, die ganze Konfiguration durch drei konzentrische Kreise zu be- 
stimmen, die ihren gemeinsamen Mittelpunkt in der Nasenwurzel hatten: der innerste — 
mit einer Nasenlänge als Radius — umrahmt die Stirn und die Wangen, der zweite — 
mit zwei Nasenlängen — gibt das Außenmaß des Schädels an und begrenzt das Gesicht 
nach unten hin, der dritte — mit drei Nasenlängen — geht durch die Halsgrube 
oder den Kehlkopf und bildet in der Regel auch den 

Heiligenschein!) (Abb. 2). Klar, daß auf diese Weise 

jene eigentümliche Überhöhung und Erbreiterung des 
Oberkopfes entstehen mußte, die bei Gestalten dieses 
Stils so oft den Eindruck einer Aufnahme in Niedersicht 
erweckt, die aber in Wahrheit auf die Anwendung des 
vorbeschriebenen Drei-Kreiseschemas zurückzuführen 
ist und dafür zeugt, wie wenig die mittelalterliche 
Proportionslehre — nur auf die möglichst handliche 
Fixierung der fakturalen Maß verhältnisse bedacht — 
an der „objektiven“ Unrichtigkeit derselben Anstoß 
nahm: das Proportionssystem erscheint hier nicht nur 
als Symptom des Kunstwollens, sondern beinahe als 
Träger einer eigenen stilbildenden Kraft?). 

Dieses Drei-Kreiseschema — wir bilden zur Er- 
läuterung ein Blatt derselben Hamburger Handschrift 
ab, der wir bereits die kanonisch proportionierte Ma- Abb. a. Das „Dreikreissschema" der 
donnenfigur entnahmen, und die verhältnismäßig viele >y*#ntinischen undbyzantinisieren- 
konstruierte Köpfe enthält (Taf. 29, Abb. 4) — läßt sich беш каша 
innerhalb des byzantinischen und byzantinisierenden 
Kunstbereichs sehr häufig feststellen: in Deutschland?) wie in Österreich‘), in 
Frankreich®) wie in Italien‘), in der Monumentalmalerei”) wie in der Kleinkunst ), 
vor allem aber in zahllosen Handschriftenillustrationen?); und auch da, wo — vor 
allem bei kleinen Formaten — eine exakte Konstruktion mit Zirkel und Richt- 


(1) Außerdem liegen die Pupillen bei geradeaus gerichtetem Blick gewöhnlich auf der Mitte zwischen 
der Nasenwurzel und dem ersten Kreis, der Mund teilt die Strecke zwischen erstem und zweiten Kreis 
entweder im Verhältnis 1: 1, oder (Athoskanon) im Verhältnis 1: 2. 

(2) Auch diese Gepflogenheit, die Köpfe der Figuren durchweg mit Zirkelschlägen zu umreißen, hat 
sich übrigens in der byzantinischen Malerei bis in die Neuzeit erhalten. Vgl. Didrons Beobachtungen 
(Malerbuch vom Athos, a. a. O., 8. 83, Anm.). 

(3) Zahlreiche Beispiele z. B. bei Clemen, die romanischen Wandmalereien der Rheinlande, 1916. 

(4) Vgl. z. B. Buberi in Jahrb. d. Centr.-Comm., 1909, S. 25 ff., Figur бх und 63. 

(5) Vgl. e, B. Album de Villard de Honnecourt, offizielle Ausgabe der Bibliothèque Nationale, Taf. XXXII, 
(Auch im Stil stark byzantinisierend.) 

(6) Vgl. х. В. Cavallinis Köpfe in St. Cecilia in Trastevere, Abb. bei Hermanin, le Galerie naz. 
d’Italia, 1902, V, besonders Tafel IL 

(7) Auch Glasgemälde kommen in Frage, z. B. neben vielen anderen die Apostelfenster des Naum- 
burger Westchors. 

(8) Vgl. z. B. das bei Wulff, Altchr. und byz. Kunst II, 8. 602 abgebildete Email, sowie zahlreiche 
Elfenbeine. 

(9) Vgl. besonders A. Haseloff, Eine thüring.-sächs. Malerschule des 13. Jahrh., 1897, namentlich 
Abb. 18, 44, 66, und (besonders deutlich) 93, 94. 


203 


scheit nicht vorliegt, erweist der Formcharakter oft genug die Abstammung von 
jenem Einheitsschema (Abb. 3)!). 

Ja, die Tendenz, zur planimetrischen Schematisierung geht noch weiter: nicht 
nur das frontal gerichtete Antlitz wird in der aufgezeigten Weise konstruiert, 
sondern auch das ins Dreiviertel- 
profil gewendete: der mittelalterliche 
Geist nimmt keinen Anstoß daran, auch 
den „verkürzten“ Kopf vermittels eines 
Flächenschemas zu konstruieren, das — 
ganz wie es bei der Konstruktion des 
Enfacekopfes der Fall war— mit gleichen 
Strecken arbeitet, und nur dadurch in 
einfacher, wenn auch natürlich höchst 
inkorrekter Weise den Eindruck der Ver- 
kürzung erzeugt, daß diese graphisch 
gleichen Strecken objektiv Verschiedenes 
„bedeuten“. 

Das Grundprinzip dieses Schemas, das 
gewissermaßen eine Ergänzung zu dem 
für den Enfacekopf geltenden Drei-Kreise- 
system darstellt, und gleich dieseminner- 
halb des byzantinischen Kunstkreises ent- 
wickelt wurde’), ist das folgende; es 
wird zunächst darauf verzichtet, den 

IN| Kopf nach vorn zu neigen, vielmehr be- 
gnügt man sich mit einer Drehung, und 


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er rn einer Neigung nach rechts oder links). 
Abb. 3. Gottvater, die Gestirne schaffend. Infolgedessen bleiben die Vertikalmaße 
Bayr. Handschr. aus dem 3. Viertel des 12. Jahrh. eränd daß die Aufeab ich 
(phot. Rehn & Tietze, München, Nr. 2444). шу ert, 30 | = каре а 
darauf beschränkt, die Verkürzung der 
horizontalen Abmessungen zu schematisieren, und zwar mit der Maßgabe, daß 
erstens auch hierfür die übliche Einheit (eine Nasenlänge) verbindlich sei, und 
daß es zweitens trotz der Längenverschiebung möglich bleibe, den Koptkontur 
durch einen Kreis mit zwei Nasenlängen als Radius und gegebenenfalls den Nimbus 
durch einen konzentrischen Kreis mit drei Nasenlängen als Radius zu bestimmen. 
Nur wird jedoch das Zentrum dieses Kreises oder dieser Kreise wegen der 


(т) Das Schema (das auch in abgekürzter Form vorkommt, indem man sich mit der sirkel- 
mäßigen Bestimmung des Kopfkonturs begnügt, ohne auch den Umriß des Gesichts zu frieren) 
begegnet übrigens manchmal mit einer Abänderung, die die „unnatürliche“ Überhöhung der Schädel- 
kalotte bis zu einem gewissen Grade auskorrigiert: die Radien der drei Kreise verhalten sich zu- 
einander nicht wie 1: 2: 3, sondern wie 1: 1½: 2½, wobei naturgemäß die Mundspalte nicht in das 
Feld zwischen dem 1. und 2. Kreis hineinfällt, sondern auf dem 2. Kreise selber liegt. So bei dem 
von Buberi publizierten Nonnberger Wandgemälde (vgl. Taf. 11, Abb. 5), und öfter, 3. В. — hier 
wegen der Abnutzung der Farbe besonders deutlich — bei den spätromanischen Apostelbildern an der 
südlichen Chorschranke des Bamberger Peterschors. Buber! hat unseres Wissens als erster auf das 
Vorhandensein eines Konstruktionsschemas in romanischer Zeit hingewiesen. 

(а) Z. B. trifft es auf den Kopf der Rucellaimadonna іп S. Maria Novella zu, nicht aber auf den der 
Akademiemadonna von Giotto. 

(3) Madonnen zeigen stets eine Rechtsneigung (vom Beschauer aus). 


204 


Seitendrehung nicht mehr auf die Nasenwurzel fallen können, sondern es wird 
innerhalb der uns zugewendeten Gesichtshälfte liegen müssen: man verlegt es, um 
überhaupt einen charakteristischen Punkt dafür zu haben, meist in den äußeren 
Augen- oder Augenbrauenwinkel oder auch in die Pupille. Wird nun um diesen 
Punkt, den wir Punkt A nennen wollen, der Kreis mit zwei Nasenlängen als Radius 
geschlagen, so begrenzt dieser Kreis die Schädelrundung und bestimmt (bei C) die 
Breite der uns abgewendeten Kopfhälfte!); d. h. (und eben dadurch kommt der Ein- 
druck der „Verkürzung“ zustande) die nur zwei Nasenlängen betragende Strecke AC, 
die in der genauen Frontansicht nur eine halbe Kopfbreite „bedeutet“ hatte, „be- 
deutet“ innerhalb des Dreiviertelprofils mehr als das, nämlich um so viel mehr, als 
der Punkt A von der Mittellinie des Gesichts entfernt ist. Echt mittelalterlich- 
schematisch wird dann die weitere Unterteilung der Breitendimensionen durch 
einfache Halbierung und Vierteilung der Strecke AC erreicht, wobei aber natürlich 
die dadurch entstehenden Teilpunkte J, D und K dann, wenn das Kreiszentrum im 
Augenwinkel liegt, andere Stellen bezeichnen, als dann, wenn es in der Pupille 
angenommen wird“). (Taf. 30, Abb. 6, 7.) 

Die Vertikalmaße bleiben, wie bemerkt, unverändert: Nase, Untergesicht und Hals 
erhalten je eine Nasenlänge. Nur Stirn und Oberkopf müssen sich mit einem 
geringeren Maß begnügen: denn der Punkt B, von dem aus die Vertikalmaße be- 
stimmt werden (die Nasenwurzel), liegt ja nicht mehr, wie beim Enfacekopf, auf 
einer Höhe mit dem Zentrum des Kreises, durch den der Schädelkontur bezeichnet 
wird, sondern dieses letztere muß, da es in den Augenwinkel bzw. die Pupille fällt, 
notwendig etwas tiefer liegen. Ist sonach die Strecke AE = zwei Nasenlängen, 
so muß die Strecke BL ein wenig kleiner als zwei Nasenlängen sein. — 


* * 
* 


Die byzantinische Proportionslehre hat, wie wir sahen, bei aller Neigung zum 
Schematisieren doch bis zu einem gewissen Grade von der organischen Gliederung 
des Körpers ihren Ausgang genommen; und der Tendenz zur geometrischen Form- 
bestimmung hielt immer noch das Interesse für die Maße das Gleichgewicht. Das 
‚gotische“ System nun — von der Antike noch einen weiteren Schritt sich ent- 
fernend — dient fast ausschließlich der Bestimmung des Konturs und der Be- 
wegungsrichtungen. Was der französische Architekt Villard de Honnecourt als 
„art de pourtraicture“ seinen Zunftgenossen vermitteln will — das ist eine „methode 
expéditive du dessin“, die mit eigentlicher Proportionsmessung so gut wie gar nichts 
mehr zu tun hat und das natürliche Gefüge des Organismus von vornherein un- 
berücksichtigt läßt. Hier wird der Körper überhaupt nicht mehr „gemessen“, auch 
nicht einmal nach Kopf- oder Gesichtslängen, sondern das Schema hat sich gleich- 
sam vom Objekte gänzlich losgesagt: das Liniensystem — vielfach nach rein 
ornamentalen Gesichtspunkten erfunden und manchmal geradezu den Figuren des 
gotischen Maßwerks vergleichbar — hat keinen Zusammenhang mit der Körper- 


(z) In etwas rudimentärer Form läßt sich dies Schema an einem romanischen Kopf in 8. М. im 
Kapitol konstatieren (Clemen, a. a.O., T. XVII): Man sieht deutlich die den Kopfkontur begrenzende 
Zirkellinie, an die sich jedoch der Künstler bei der Ausführung nicht ganz genau gehalten hat. 

(2) D (der Halbierungspunkt von AC) bezeichnet im ersteren Fall den Innenwinkel, im andern Fall 
die Pupille des linken Auges, I (der Halbierungspunkt von AD) bezeichnet im ersteren Fall die Pupille, 
im anderen Fall den Innenwinkel des rechten Auges. In beiden Fällen also kommt ein Eindruck von 
Verkürzung dadurch zustande, daß faktural gleiche Stücke auf der uns abgewandten Seite einen größeren 
objektiven Wert repräsentieren, als auf der uns zugewandten Seite, 


205 


struktur, sondern es ist, wie ein selbständiges Drahtgestell, über die Form 
hertibergelegt. Die Linien, weit entfernt, sich mit den nattirlichen Körpermaßen zu 
identifizieren, bestimmen die Erscheinung nur insofern, als ihre Lage ganz allgemein 
die Bewegungsrichtung der Extremitäten andeutet, und als ihre Schnittpunkte mit 
einzelnen markanten Stellen der Figur zusammenfallen. So wird (vgl. Abb. 4a) 
die aufrechtstehende männliche Figur aus einem Gebilde gewonnen, das zu dem 
organischen Aufbau des Körpers schlechterdings gar keine Beziehung hat: aus einem 
verzogenen Pentagramm, dessen oberster Strahl verkiimmert ist, und dessen wage- 
recht verlaufende Seite AB in den Langseiten AH und BG etwa dreimal aufgeht !). 
Dann fallen A und B mit den Schulter- 
gelenken, G und H mit den Fersen 
zusammen, der Mittelpunkt der Strecke 
AB, J, gibt den Ort der Halsgrube an, 
und die die Langseiten drittelnden 
Punkte C und D bzw. E und F be- 
stimmen die Stelle der Hüft- und Knie- 
gelenke). 

Auch die Köpfe werden (bei Men- 
schen wie bei Tieren) nicht nur aus 
dem Viereck oder aus dem Kreis, son- 
dern auch aus dem Dreieck, ja wie- 
derum aus dem so ganz naturfremden 
Pentagramm konstruiert). Die Tier- 
figuren werden — wenn überhaupt 
etwas wie eine Gliederung versucht 
wird — in völlig unorganischer Weise 
aus Dreiecken, Vierecken und Kreis- 
segmenten zusammengesetzt (Abb. 5)‘). 
Und selbst da, wo auf den ersten Blick 


Abb.4. Frontfigur und Figur im Dreiviertelprofil Я Е р 
(Zeichnung nach Villard de Honnecourt, Tafel XXXV ein starkes Proportionsinteresse vor- 
und XXXVII der offiziellen Ausgabe der Bibl. Nat) zuwalten scheint, bei dem großen Kopf 


auf Seite XXXVIII der offiziellen Aus- 
gabe des Albums, der in ein reguläres Quadratnetz eingezogen ist (und übrigens in 
seinen Abmessungen mit dem Athoskanon übereinstimmt) ), trägt ein aus Diagonal- 


(x) Es erweckt daher durchaus falsche Vorstellungen, wenn B. Haendcke (Mon. f. Kunstw., 1912, S. 188) 
mit Bezug auf diese Figuren Villards von einer „Proportion des ganzen achtköpfigen Körpers“ redet. 
(a) Die magische Bedeutung des Pentagramms spielt in der „pourtraicture‘‘ Villards natürlich ebenso- 
wenig mehr eine Rolle, wie die mystische bzw. kosmologische Bedeutung der Maßzahlen in der Pro- 
portionsichre der Byzantiner. 

(з) Solche Rezepte sind übrigens in der Atelierpraxis bis in die Neuzeit festgehalten worden: Siehe 
з. В. Meder, Die Handzeichnung 1919, 8.254, wo die Tendenz dieser Praktiken mit Recht als mittel- 
alterlich bezeichnet wird. Sogar in der Umgebung Michelangelos kann man sie noch beobachten: 
vgl. das Blatt Fr. 290. (Siehe den Nachtrag auf Seite arg.) 

(4) Auch die menschlichen Gestalten werden, falls es sich um sitzende oder in anderen ungewöhn- 
lichen Stellungen befindliche Figuren handelt, gelegentlich durch Kombination von Dreiecken usw. ge- 
wonnen. Vgl. 3. B. Tafel XLII. 

(5) Besonders auffällig ist die Überhöhung der Schädelkalotte, die hier ebenfalls — 1 Nasenlänge ist. 
— Daß unter den 26 Typen Dürers auch einmal eine Frau begegnet, bei der der Oberkopf = 1 Nasen- 
länge ist, darf keinesfalls (mit V. Mortet, Mélanges d'E. Chatelain, 1910) als Beweis eines tatsäch- 
lichen Zusammenhanges aufgefaßt werden. 


206 


linien gebildetes, übereckgestelltes Viereck sogleich еіп planimetrisch-schematisie- 
rendes, mehr form- als proportionsbestimmendes Prinzip hinein (Taf. 30, Abb. 9). 
Gerade dieser Kopf läßt übrigens erkennen, daß alle diese Dinge nicht etwa reine 
Spielerei bedeuten (so nahe sie manchmal daran zu streifen scheinen); denn der 
Kopf aus einem gleichzeitigen Reimser Glasfenster (Taf. 11, Abb. 8) stimmt nicht 
nur hinsichtlich der Dimensionen mit Villards Darstellung aufs genaueste überein ), 
sondern ist auch in der Formgebung mit aller Deutlichkeit durch jene Vorstellung 
des übereckgestellten Vierecks bestimmt. 

Auch Villard de Honnecourt hat, 
wie erwähnt zu werden verdient, 
eineninteressantenVersuchgemacht, 
das für die frontal ausgerichtete Figur 
erfundene Schema auch da zur An- 
wendung zu bringen, wo der Körper 
eine Dreivierteldrehung auszu- 
führen scheinen soll; und er ist dabei 
nach einem ähnlichen Prinzip verfah- 
ren, wie wir esin der byzantinischen 
Konstruktion des Dreiviertelkopfes 
kennen lernten — nur daß er auch 
hier weit undifferenzierter und rück- 
sichtsloser zu Werke geht: das oben 
beschriebene Pentagramm - Schema 
wird ohne jede Veränderung auch 
für die ins Dreiviertelprofil gedrehte 
Figur benutzt, nur daß er das früher 
auf den Punkt B fallende Schulter- 
gelenk in den Punkt X, d. h. um 
den vierten Teil der Strecke AB „ 
weiter nach links, verlegt; der Ein- 
druck der Verkürzung wird also auch 
hier — ganz wie bei der „byzanti- 
nischen“ Konstruktion des Drei- 
viertelprofils — dadurch erzielt, daß 
ein und dasselbe Längenmaß (J X) auf der uns abgekehrten Seite die Hälfte, auf der 
uns zugekehrten aber nur ein Viertel der Schulterbreite „bedeutet“ (Abb.4b). Hier tritt 
mit besonderer Klarheit der Charakter einer Proportionslehre hervor, die — „pour 
legierement ouvrier“ — ausschließlich auf die Schematisierung der fakturalen Maß- 
verhältnisse ausging, während die antike Theorie sich gerade umgekehrt auf eine 
anthropometrische Bestimmung der objektiven beschränkt hatte. 


Abb. 5. Konstruktionszeichnungen des Villard de Honnecourt 
(nach der offiziellen Ausgabe der Bibl. Nat., Tafel XXXVII). 


IV. 
Die praktische Bedeutung des soeben gekennzeichneten Verfahrens war natürlich 
da am größten, wo das künstlerische Individuum am meisten durch Tradition und 
Zeitstil gebunden war: im Byzantinismus und in der Romanik). Schon in der 


(1) Eine Abweichung besteht nur in der relativen Vergrößerung der Augäpfel. 

(з) Selbst hier darf übrigens diese Bedeutung nicht überschätzt werden. Nicht nur, daß die wirklich 
genau konstruierten Figuren doch wohl im ganzen in der Minderzahl sind gegenüber den mehr oder 
minder freihändig gezeichneten: auch da, wo der Künstler das Schema mit einer gewissen Sorgfalt 


207 


Hochgotik kommt ihre Anwendung in Mißkredit, und von der Kunst des 14. bis 
15. Jahrhunderts darf man sagen, daß sie außerhalb Italiens — entsprechend dem 
immer michtigeren Anschwellen der subjektivistischen Tendenz — von allen kon- 
struktiven Hilfsmitteln abgesehen hat!). 

Die italienische Renaissance dagegen hat der Proportionslehre eine un- 
begrenzte Wertschätzung entgegengebracht, nur aber — im vollen Gegensatz zum 
Mittelalter — nicht mehr als einer handwerksmäßigen Erleichterung der Arbeit 
sondern gerade umgekehrt als der Verwirklichung eines metaphysischenPostulats 

Auch demMittelalter war die metaphysische Ausdeutung des menschlichen Körper- 
baus (im Sinne der Kosmologie) nicht fremd gewesen: wir sahen ein Beispiel dieser 
Betrachtungsweise bei den Arabern des ro. Jahrhunderts, und auch in den Schriften 
der heiligen Hildegard von Bingen hat man eine längere Darlegung nachgewiesen, 
in der die Proportionen des Mikrokosmos Mensch aus dem harmonischen Plan des 
Universums erklärt werden?). Allein insoweit die mittelalterliche Proportionslehre 
kosmologisch-harmonistisch war, stand sie außerhalb jeder Beziehung zur Kunst — 
und insoweit sie in Beziehung zur Kunst stand, hatte sie jeden Anschluß an die 
Kosmologie verloren?), und war zum bloßen Atelierbehelf herabgesunken‘). Erst in 
der italienischen Renaissance laufen die Strömungen wieder zusammen. In einer 
Zeit, in der die bildende Kunst sich die Stellung einer „ars liberalis“ zu erringen 
begann, und in der sich die ausübenden Künstler die gesamte wissenschaftliche 
Bildung ihrer Epoche angeeignet hatten, während umgekehrt die Gelehrten und 
Literaten das Kunstwerk als eine Offenbarung höchster und allgemeinster Gesetz- 
lichkeiten zu begreifen suchten: in einer solchen Zeit konnte es nicht ausbleiben, 
daß auch der praktisch angewandten Proportionslehre wieder ein tiefer metaphysi- 
scher Sinn unterlegt wurde. Man verstand sie jetzt wieder als den Ausdruck einer 
prästabilierten Harmonie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos — man ver- 
stand sie aber auch weiterhin als die rationale Grundlage der Schönheit. 
Denn dieses Zeitalter begnügte sich nicht damit, die kosmologische Auffassung 
der Proportionslehre wieder herzustellen, wie sie dem Hellenismus und dem Mittel- 
alter geläufig gewesen war, sondern es erneuerte außerdem den klassisch-antiken 
Gedanken, daß die Symmetria das Grundprinzip der ästhetischen Vollkommenheit 
sei)°: wie sich jetzt überall der Mystizismus mit der ratio, der neoplatonische Geist 


angelegt hat, ist er bei der Ausführung doch vielfach wieder von den Hilfslinien abgewichen (vgl. 
з. B. Taf. зо, Abb. 5, oder die oben zitierte Figur in St. Marien im Kapitol). 

(1) Die Angabe eines den Figuren gleichsam Halt gebenden Mittellotes, wie es in vielen Hand- 
zeichnungen begegnet, kann natürlich weder als Konstruktion, noch gar als proportionsbestimmendes 
Hilfsmittel angesprochen werden. 

(2) Pater Ildefons Herweghen in Rep. XXXII, S. 445 ff. Es ist kaum zu bezweifeln, daß eine genauere 
Durchforschung der Quellen auch im Abendland noch mehr derartiges ans Licht bringen würde. 

(3) Daß ein solcher Anschluß ursprünglich einmal bestand, ist aus historischen Gründen (vgl. oben 
8. 201 f.) wahrscheinlich. Auch die Aufgabe des 10-Facies-Typus zugunsten des 9-Facies-Typus könnte 
in zahlenmystischen oder kosmologischen Gedankengingen (Sphärenlehre ?) begründet sein. 

(4) Es darf hier nochmals an Villards Wort von der „maniere pour legierement ouvrier“ erinnert 
werden. Auch ist es für den Geist der mittelalterlichen Proportionslehre recht bezeichnend, daß das 
Malerbuch vom Athos genaue Angaben darüber macht, um wieviel die Breite des bekleideten Körpers 
diejenige des nackten übertreffen solle, 

(5) Julius von Schlosser hat nachgewiesen, daß einer der ersten Vertreter dieses Gedankens, nämlich 
Ghiberti, ihn aus einer arabischen Quelle, der Optica des Alhazen, geschöpft habe. Vielleicht 
noch interessanter ist aber die Tatsache, daß die Proportionalität bei Alhazen keineswegs das Grund- 
prinzip der Schönheit darstellt, vielmehr innerhalb seiner ästhetischen Kategorien wie ein recht iso- 


208 


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1) Unvollendete ägyptische Kniefigur, nach C. E. Edgar, 3) Thronende Madonna aus einer sachsisch-thiiringischen 
Catalogue général ... du musée du Caire .... XXV Handschrift (1. Drittel des XIII. Jahrh ) in der Hamburger 
(Sculptors studies and unfinished works), 1906, Tafel IV. Stadtbibliothek; das aufgetragene Proportionssystem ent- 

spriht den Angaben im Malerbuch vom Berge Athos. 


4) Christuskopf 
aus der gleichen Handschrift. 


2) Agyptisher Papyrus mit Bildhauer-Werkzeichnung. Berlin. 
a=vorderer Aufriß, b=seitliher Aufriß, b=Grundriß. 


Zu: Erwin Panofsky, Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung. 


mit dem aristotelischen verbunden findet, so vereinigt sich auch in der Bewertung 
der Proportionslehre die harmonistisch-kosmologische Auffassung mit der normativ- 
ästhetischen, die Phantastik des Hellenismus mit der Regelstrenge der polykleti- 
schen Klassik. Und vielleicht ist die Proportionslehre dem Denken der Renaissance 
gerade deshalb so unendlich wertvoll erschienen, weil nur sie — zugleich mathe- 
matisch und spekulativ — den disparaten geistigen Bedürfnissen der Zeit genügen 
konnte. 

In solcher Weise doppelt und dreifach geweiht (als weiteres Wertmoment trat 
ja noch das historische Interesse hinzu, das diese Erben des Altertums den spär- 
lichen Andeutungen der antiken Schriftsteller schon deshalb entgegenbringen mußten, 
weil es eben die Andeutungen antiker Schriftsteller waren) ), hat die Proportions- 
lehre in der Renaissance eine bisher unerhörte Bedeutung gewonnen: man preist 
die Proportionen als die anschauliche Verwirklichung der musikalischen Harmonie), 


liertes Einsprengsel wirkt: Alhazen hat in seinem höchst merkwürdigen Exkurs über den Schénheits- 
begriff nicht weniger als 2: Prinzipien oder Voraussetzungen der Schönheit aufgezählt (in dem näm- 
lich sämtliche Kategorien der optischen Wahrnehmung, als Licht, Farbe, Größe, Lage, Kontinuität usw. 
Kriterien der Schönheit werden können), und dieser Aufzählung fügt sich, recht unorganisch mit ihr 
verbunden, das Loblied auf die „Verhältnismäßigkeit der Teile“ an. Es ist ganz ungewöhnlich auf- 
schlußreich, wie Ghiberti alle jene anderen Kategorien unbeachtet läßt und — mit bewunderns- 
wert feiner Witterung für das Klassisch-Antike — mit seinem Exzerpt erst gerade an dem Punkt 
einsetzt, an dem das Stichwort „Proportionalitas“ fällt. — Die Ästhetik Alhasens ist übrigens nicht 
nur wegen der kategorialen Einteilung der Schönheitskriterien merkwürdig, sondern vor allem auch 
wegen ihres eigentümlichen Relativismus: so kann die Entfernung schön machen, indem sie die 
Flecken oder Unebenheiten zurücktreten läßt — aber auch die Nähe, indem sie die Feinheiten der 
Zeichnung der Gliederung in Wirkung setzt usw. (vgl. dagegen etwa Actius, in Stoicorum vet. Fragmenta, 
ей. J. ab Armin, II, 1903, 8. 299 ff.: die schönste Farbe ist das dunkle Blau, die schönste Form die 
Kugelgestalt usw.). Überhaupt dürfte der betr. Passus der Optica (der von Vitellio fast wörtlich über- 
nommen wird), die Beachtung der Orientalisten schon um deswillen verdienen, weil dem arabischen 
Denken im allgemeinen eine so rein ästhetische Betrachtung der Schönheit fernzuliegen scheint: 
vgl. stwa Ibn Chaldün (Khaldoun), Prolegomona (Frans. Übers. in Notices et Extraits de la Bibl. 
Imp. Paris 1862—65, XIX — XXI), Bd. II, S. 413: „ .. et c'est 1А ce qu'on entend par le terme beau 
et bon“ (nämlich die rechte Proportion, die hier in ganz weitem Sinne gefaßt wird). 

(x) Insbesondere wird jetzt Vitruv mit ungemeinem Eifer ausgedeutet: auch dem Mittelalter war er 
zwar nicht ganz fremd gewesen (vgl. Schlosser, a. a. O., 8. 33) und sogar den „lauteren Brüdern“ 
ist, wenn nicht direkt, so mittelbar, die Kreis- und Klafterbestimmung bekannt geworden — allein 
die mittelalterlichen Schriftsteller lassen durchweg gerade die eigentlichen Proportionsangaben aus 
dem Spiel. Sie bringen in der Regel außer der Angabe über die Dreiteilung des Gesichts nur die 
bekannte Nlaſter- und Kreisbestimmung, und niemals hat man den antiken Autor ernsthaft nach- 
geprüft. Jetzt aber versucht man, ihn sachlich zu berichtigen (Lionardo verbessert die kontroversen 
Bestimmungen über die Höhe der Schädelkalotte, Ghikerti will den die Gestalt umschreibenden Kreis 
nicht um den Nabel, sondern um die Körpermitte schlagen), textmäßig zu emendieren, und überhaupt 
aus seinen Angaben so viel als möglich herauszuholen, (Vgl. s. B. die Figuren auf Folio XLIXr 
und Lr der Ausgabe des C. Cesariano von 1521: auf Grund der von Vitruv angegebenen Drittelung 
der Gesichtslänge, die ihrerseits '/,, der Körperlänge beträgt, ist ein die ganze Gestalt umschließendes 
Gradnetz mit der Einheit '/,, geschaffen worden). 

(2) Vgl. s. B. Pomponius Ganricus, de sculptura (ed. H. Brockhaus, 1886, S. 130 fl.). Am weitesten 
geht in dieser Beziehung ein 1525 bei Bernardino Vitali erschienenes Werk „Francisci Georgii 
Veneti de Harmonia mundi totius cantica tria“. Nicht nur, daß der Verfasser (der Fra 
Francesco Giorgi, der das bekannte Gutachten über S. Francesco della Vigna in Venedig abgegeben 
hat) auf Folio C ı ff. aus der Möglichkeit, die Gestalt in einen Kreis einzuschreiben — den Mittelpunkt 
desselben verlegt er übrigens mit Ghiberti in die Körpermitte — eine Entsprechung zwischen dem 
menschlichen Körper und der Rundform des Weltalls folgert, und das Verhältnis zwischen Höhe, Breite 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 14 209 


man unterlegt ihr arithmetische oder geometrische Gesetzlichkeiten, wie insbesondere 
die in dieser Zeit der Plato-Verehrung begeistert aufgegriffene Regel des „goldenen 
Schnittes“ ); man führt sie als die Maße der antiken Götter ein, so daß sie zugleich 
einer antiquarisch-historischen und mythologisch-astrologischen Bedeutung teilhaftig 
erscheinen?); und man versucht auch wohl — im Anschluß an eine Bemerkung 
Vitruvs — die menschlichen Proportionen mit denen der Gebäude und Gebäude- 
teile zu identifizieren, um zugleich die architektonische Gesetzlichkeit des Menschen- 
leibes und den Anthropomorphismus der Architektur zu erweisen’). 

Allein mit dieser hohen Bewertung der Proportionslehre hielt die Vervollkomm- 
nung ihrer Methode keineswegs Schritt. Je mehr sich die Renaissanceautoren 
für die metaphysische Bedeutsamkeit der menschlichen Maße begeistern, um so 
weniger zeigen sie sich in der Regel zur empirischen Prüfung und Durcharbeitung 
derselben geneigt; und was sie nach all’ jenen großen Worten tatsächlich bei- 
zubringen wissen, beschränkt sich in der Regel auf die Wiederholung der (allenfalls 
emendierten) Vitruv- Bestimmungen, oder noch öfter auf die Reproduktion der 
schon bei Cennini überlieferten Neunerteilung — höchstens, daß man die Ab- 
messungen des Kopfes in einer neuen Art und Weise detaillierte‘), oder die tra- 
ditionellen Frontalmaße, der künstlerischen Eroberung der dritten Dimension ent- 
sprechend, durch einige Angaben tiber die Tiefenwerte zu ergänzen suchte). Nur 
darin kann man den Anbruch einer neuen Zeit zu spüren glauben, daß die Theo- 
retiker die vitruvianischen Angaben durch Vermessung antiker Statuen nachzuprüfen 
begannen — wobei sie die Angaben des Autors zunächst natürlich in vollem Umfange 
bestätigt fanden“), späterhin aber auch zu abweichenden Ergebnissen gelangten) 


und Tiefe mit den Dimensionen der Arche Noah in Verbindung bringt (300: 50: 30): er macht wirklich 
Ernst mit der Gleichsetzung zwischen bestimmten Körperproportionen und den antiken Musikinter- 
vallen. Z.B. setzt er 

Gesamtlänge: Körper mit Ausschluß des Kopfes = 9:8 (tonus), 

Rumpflänge: Länge der Beine — 4:3 (diatessaron), 

Brust (von der Haisgrube bis zum Nabel): Unterleib — 2:1 (diapason) usw. 

Die Bekanntschaft mit diesem augenscheinlich seltenen Buch, das — in der kunstgeschichtlichen 
Literatur kaum herangezogen — dennoch wegen seiner vermutlichen Beziehung zu Dürers Proportions- 
lehre (vgl. unten S. 216, Anm. 1) nicht unwichtig Ist, verdankt der Verfasser der Bibliothek Warburg 
in Hamburg. 

(x) Уа. z. B. Luca Pacioli, La divina proportione (Quellenschriften, N. F. II), S. 130 fl. Weiterhin 
Mario Equicola, della natura d'amore, 1531, Folio 78 rjv. 

(2) G. P. Lomazzo, Trattato dell’ arte della pittura, 1584 (Neudruck 1844), Buch VI, cap. 3; Buch I, cap. 31. 
(3) So з. B. Filarete, а. a. O.; ferner Alberti, de re aedificatoria, VII, cap 13; nach ihm Giannozzo 
Manetti (ed. Muratori, 98. rer. Ital, Ш, Teil II, S. 937); Lomazzo, a. a. O., Buch I, cap. 30, usw.; be- 
sonders bemerkenswert sind solche Gleichsetzungen da, wo man sie bildlich su illustrieren suchte, 
wie beispielsweise in einem Ms. der Budapester Stadtbibl. (Taf. 11, Abb. 10), oder bei Francesco di 
Giorgio, a. a. O., Tafelband, Т. I. Die Budapester Hs. ist identisch mit dem von E. Henszimann 
(Jahns Jahrb. II, 1869, S. 128 fl.) beschriebenen Codex des Angelo da Cortina, der seinerzeit dem 
Grafen Zichy gehörte. 

(4) Vgl. Ghiberti, der übrigens neben seinem achon erwähnten Kanon von 9½ Gesichtslängen auch 
die Vitruvbestimmungen mitteilt, sowie Luca Pacioli, a. a. O. 

(5) So — wohl sicher unter dem auch sonat bei ihm spürbaren Einfluß Lionardo da Vincis — Pom- 
ponius Gauricus, der überhaupt verhältnismäßig noch am weitesten ins Einzelne gebt. 

(6) Luca Pacioli, a. a. O., p. 135/136. 

(7) Cesare Cesarianos Vitruvkommentar, a. a. O., Folio XLVII r, zitiert bei E. Panofsky, Dürers Kunst- 
theorie 1015. S. 137. 


210 


und daß man, oft unter Berufung auf die antike Götterlehre, hie und da eine gewisse 
Differenzierung des Idealkanons anzustreben scheint: schon das Nebeneinander- 
bestehen der vitruvianischen und pseudovarronischen Überlieferung bedeutete das 
Vorhandensein zweier Typen, von denen der eine etwa neun, der andere zehn Ge- 
sichtslängen enthielt; und wenn man diese Typen noch durch einen untersetzteren 
ergänzte, so gelangte man leicht zu einer Dreiheit, die man je nach Geschmack 
auf bestimmte Gottheiten'), auf die drei antiken Baustile, oder auf die Kategorien 
des Erhabenen, Schönen und Anmutigen?) beziehen konnte). Aber es ist bezeich- 
nend, daß unsere Erwartung, nun alle diese Typen auch maßstäblich detailliert zu 
sehen, fast regelmäßig enttäuscht wird: wo es auf exakte Einzelangaben ankommt, 
verstummen die Autoren entweder ganz, oder aber sie greifen aus der Mehrzahl 
ihrer Typen einen einzigen heraus, der sich dann als der altbekannte Vitruv- oder 
Cenninimann entpuppt‘). Und wenn Lomazzos Erstes Buch durch eine große Fülle 
von Typen und eine genaue Detaillierung der Maße überrascht, so hat das seinen 
Grund in der sehr einfachen Tatsache, daß er seine Vorgänger, vor allem Dürer, 
in der ausgiebigsten Weise geplündert hat: der Mann von 9 Kopflängen (cap. 9) 
ist identisch mit Dürers Typus О, der von 8 Kopflängen (cap. то) mit Dürers 
Typus B, der von 7 Kopflängen (cap. 11) mit Dürers Typus A, der überschlanke 
Mann (cap. 8) mit Dürers Typus E usw. 

Im Grunde haben nur zwei Künstler-Theoretiker der italienischen Renaissance 
entscheidende Schritte getan, um die Proportionslehre auch in sachlich-methodischer 
Hinsicht über den mittelalterlichen Standpunkt hinauszuheben und sie auf ein der 
künstlerischen Praxis der Epoche entsprechendes Niveau zu bringen: Alberti, der 
Prophet des neuen großen Stils, und Lionardo, sein Inaugurator’). 

Beide kommen darin überein, daß sie die Proportionslehre auf die Stufe einer 
empirischen Wissenschaft zu bringen versuchen: unbefriedigt durch die dürftigen 
Überlieferungen Vitruvs und ihrer eigenen italienischen Vorläufer, haben sie die 
Tradition durch die auf eine genaue Beobachtung des Lebens gestützte Erfahrung 
ersetzt. Italiener, die sie waren, sind sie zwar nicht dazu gelangt, an Stelle des 
Idealtypus eine Vielheit charakteristisch differenzierter Bildungen zu setzen, aber 
sie haben aufgehört, den Idealtypus auf Grund einer metaphysischen Harmonistik 
oder nach den Angaben ehrwiirdiger Autoritäten zu bestimmen: sie haben den Griff 
in die Natur gewagt und nahten sich mit Zirkel und Maßstab dem lebenden Körper 
(nur daß sie aus der Menge der Bildungen diejenigen auswählten, die nach ihrem 
eignen Urteil und nach der Meinung kundiger Berater als die Schönsten gelten 
durften). Die Idealfigur sollte gefunden werden, indem man die Normalfigur 


(1) Siehe Lomazzo, а. а, О. IV, 3. Merkwürdig die schon bei Dürer begegnende Identifikation dieser 
Gottheiten mit christlichen Personen. 

(2) So Fed. Zuccari (vgl. Schlosser, Materlallen, VI, S. 122). 

(з) Filarete, a. a. O., vgl. auch Francesco di Giorgio, a. а O., І, р. 229 ff, wo ein Typus von g teste 
und ein solcher von 7 teste unterschieden wird. 

(4) Mit diesem letzteren ist z. В. der „dorische“ Mensch Filaretes identisch, der seltsamerweise der 
schlankste von den dreien ist. 

(5) Über die literarisch beglaubigten Proportionsstudien Bramantes, über die bisher nichte Näheres 
bekannt ist, bringt hoffentlich die angekündigte Arbeit А. Weixlgärtners Aufklärung, die im Rahmen 
der von Egger herausgegebenen Bramante-Studien erscheinen soll. 

(6) Vgl. Alberti, a. a. O., S. 201. Lionardo (Trattato della pittura, Quellenschriften XV ff., Artikel 109 
und 137) läßt sogar ganz empiristisch das Urteil der allgemeinen Öffentlichen Meinung gelten, wozu 
eine interessante Parallelstelle bei Plato, Polit. боз b. 


211 


zu ermitteln suchte. Und statt die Maße nur im Groben und nur insoweit sie in 
der Fläche anschaulich wurden, zu bestimmen, suchten Alberti und Lionardo im 
Sinne einer völlig wissenschaftlichen Anthropometrie die menschlichen Proportionen 
nach Länge, Breite und Tiefe mit der größten Genauigkeit und 
unter bewußter Anlehnung an den natürlich-organischen Körper- 
aufbau zu erforschen. 

So haben denn die beiden großen Theoretiker der aus dem 
mittelalterlichen Flächenzwang zu antikischer Plastizität befreiten 
künstlerischen Praxis eine Proportionslehre zur Seite gestellt, die 
mehr leistete, als dem Künstler ein planimetrisches Zeichenschema 
zu überliefern, — eine Proportionslehre, die, empirisch fundiert, 
die normale Menschengestalt in ihrer organischen Gliederung und 
in voller Dreidimensionalität zu bestimmen vermochte. Nur darin 
unterscheiden sich die beiden großen Neuerer, daß der Eine sich 
dem gemeinsamen Ziel mehr durch Vervollkommnung der Me- 
thode, der andere mehr durch Vermehrung des Materials 
zu nähern suchte. Alberti hat sich mit der ganzen Unbefangen- 
heit, die ihn selbst der Antike gegenüber auszeichnet!), methodisch 


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einem Sechstel der Körperlänge sein soll — ein neues sinnreiches 
System erdacht, das er „Exempeda“ nennt, und durch welches 
die gesamte Körperlänge in 6 „pedes“, бо „ unceolae“ und боо 
„minuta“ eingeteilt wird?) — mit dem Erfolg, daß er verhältnis- 
mäßig leicht und doch genau am lebenden Modell zu messen 
vermochte (Abb. 6). Denn die alte Einteilung nach „teste“ oder 
| , „visi“ mußte, als viel zu grobschlächtig, der Natur gegentiber von 
1...2 222 vornherein versagen’); ein Messen nach aliquoten Körperbruch- 
55 Sieg teilen aber war unpraktisch, da die Feststellung, wie oft eine un- 
nardo schule, basie- bekannte Strecke in einer bekannten enthalten sei, stets ein zeit- 
rend auf der „Exem- raubendes Herumprobieren voraussetzt; und die Anwendung des 
nn erden üblichen Gebrauchsmaßes, also etwa der Ellen, Palmi und Zolle, 
(Phot. Giraudon, konnte nichts fruchten bei einem Unternehmen, das nicht die 
We > 28 8 absoluten, sondern die relativen Maßverhältnisse der Objekte er- 
Abach nitts vom Ver. Mitteln will: der Künstler sollte ja die Figur in jedem beliebigen 
fasser eingetragen) Maßstab darstellen können. Freilich: das mit dieser raffinierten 

Methode erzielte Ergebnis ist etwas dürftig; es besteht in einer 
einzigen Maßtabelle, die Alberti allerdings durch Untersuchung unterschiedlicher 


Personen ermittelt haben will‘). Umgekehrt liegt den Aufstellungen Lionardos, 


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(x) Vgl. auch 3. B. Dagobert Frey, Bramantestudien I, 1915, S. 84. 

(a) Alberti, a. a. O., S. 178 ff. Der Name „Exempeda“ soll von dem Verbum éfsunsdaw hergeleitet 
sein, nach anderen soll er in allerdinge verderbtem Griechisch „Sechsfußsystem“ bedeuten, 

(3) Umgekehrt war das Albertische Verfahren für die Praxis vielfach zu diffizil, so daß man sich — 
wie wir es auch bei Cesariano angedeutet fanden — in praxi oft mit der Einheit einer halbierten oder 
dreigeteilten Testa behalf, so z. B. Michelangelo in der prachtvollen Zeichnung Thode 532 (photogr. 
Braun 116, abgeb. bei J. A. Symonds, Life of М. A. B., 1893, I, 8. 264). Gerade Michelangelos 
Interessen waren ja, nach seiner eigenen Aussage, viel weniger auf das Zusammentragen von Maß- 
zahlen, als auf die Erkenntnis der ,,atti e gesti“ gerichtet. 

(4) Alberti, а. а. O., S. 198 fl. 


212 


wie gesagt, kein so kunstreich durchgebildetes Messungsverfahren zugrunde: er 
hat — übrigens scheinbar als Einziger unter den italienischen Theoretikern und 
vermutlich im Anschluß an Vitruv!) — in der Hauptsache mit dem Verfahren 
der aliquoten Bruchteile sich beholfen und ist auch von dem Gedanken einer 
Körpereinteilung in neun bzw. zehn Gesichtslängen nicht losgekommen ). Dafür 


Abb. 7. Proportionsßgur von Albrecht Dürer 
(spätestens 1500) 
aus dem Dresdner Skizzenbuch (Ausgabe von 


Abb. 8. Proportionsfigur von Albrecht Dürer 
(gegen 1523) aus dem ersten Buch der 1528 
R. Bruck, 1905, Tafel 74). erschienenen Proportionslehre 


hat er aber mit dieser relativ einfachen Methode ein ungeheures Ansehauungsmaterial 
verarbeitet (zu dessen Zusammenfassung er leider nie gekommen ist), und zwar 
unter einem durchaus originellen Gesichtspunkt: das Schöne mit dem Natürlichen 
identifizierend, suchte er sich der ästhetischen Vortrefflichkeit seiner Normalfigur 
dadurch zu vergewissern, daß er sich ihrer organischen Einheitlichkeit vergewisserte; 
und das Kriterium der letzteren bestand für ihn, dessen wissenschaftliches Denken 
fast ausschließlich auf der immerwährenden Feststellung von Analogien be- 


(1) Den er bekanntlich exzerpiert und emendiert hat (Richter, The litt. works of L. de У, 1883, Nr. 307, 
Tafel XI). Die Tatsache, daß Lomazzo das Verfahren der allquoten Bruchteile anwendet, hat ihren 
Grund in seiner unmittelbaren Abhängigkeit von Dürer (vgl. 8. 211). 

(а) Diese beiden Typen — der eine den Vitruvproportionen, der andere dem Cennini-Gauricus-Kanon 
entsprechend — gehen bei ihm ununterschieden nebeneinander her, so daß es oft schwierig oder un- 
möglich ist, eine bestimmte Proportionsangabe mit Sicherheit auf diesen oder jenen zu beziehen. 


213 


ruhte!), in dem Obwalten von Gleichheitsbeziehungen zwischen möglichst vielen, 
oft völlig disparaten Körperstlüicken?). So kleiden sich die meisten seiner Maß- 
angaben in die Form; „da xayé simile a lo spatio, che è infra vez“. — Vor allem 
aber hat Lionardo die eigentliche Anthropometrie nach einer völlig neuen Seite hin 
ergänzt: durch seine systematischen Untersuchungen derjenigen anatomischen und 
mimischen Vorgänge, durch die die objektiven Maße des ruhig aufgerichteten 
menschlichen Körpers von Fall zu Fall verändert werden. Er hat sich unablässig 
bemtiht, seinen Angaben über die Abmessungen des ruhenden Körpers solche 
über die Maßverschiebungen infolge der Bewegung zur Seite zu stellen, d. h. die 
Verdickung der Gelenke beim Biegen zu bestimmen, oder die Ausdehnung und 
Zusammenziehung, die das Beugen und Strecken der Kniee oder des Ellenbogens 
im Gefolge hat’). 

Und damit tritt nun das hervor, worin sich — von jenem Erwachen des wissen- 
schaftlichen Forschergeistes abgesehen — die Renaissance von allen früheren Kunst- 
perioden vielleicht am grundsätzlichsten unterscheidet. Wir sahen wiederholentlich, 
daß es dreierlei Umstände waren, die den Künstler nötigen konnten, die fakturalen 
Proportionen von den objektiven zu unterscheiden: der Einfluß der organischen Be- 
wegung, der Einfluß der perspektivischen Verkürzung und die Rücksicht auf den 
visuellen Eindruck des Beschauers. Allen diesen Umständen nun ist das gemein- 
sam, daß sie als wesentlich subjektive Momente zu gelten haben. Mit der 
organischen Bewegung, insofern sie eben eine „organische“ ist, d. h. aus dem 
Wollen oder Empfinden eines lebendigen Wesens hervorgeht, ist die Subjektivität 
des Dargesteliten als wirksamer künstlerischer Faktor eingeführt — mit der Ver- 
kürzung die Subjektivität des Künstlers — und mit jenen „eurhythmischen“ Aus- 
gleichsmitteln die Subjektivität eines präsumptiven Beschauers. Und nun ist es das 
ganz Charakteristische und Neuartige, daß die Renaissance all’ diese subjektiven 
Momente zum erstenmal formell legitimiert. Innerhalb der ägyptischen Kunst 
hatte nur das Objektive etwas bedeutet, da die dargestellten Lebewesen sich nicht 
aus eignem Wollen und Empfinden zu bewegen, sondern kraft mechanischer Gesetze 
von Ewigkeit und für die Ewigkeit in dieser oder jener Lage festgehalten zu werden 
schienen, da Verkürzungen nicht stattfanden, und da eine Rücksichtnahme auf den 
Beschauer noch viel weniger in Betracht kam‘). Im Mittelalter hatte die Kunst 
gewissermaßen gegen das Subjekt wie gegen das Objekt zugunsten der Fläche 
Partei ergriffen und jenen Stil hervorgebracht, in dem die Menschen sich zwar 


(x) Vgl. L. Olschki, Gesch. der neusprachl. Wiss., Litt. I, 1919, 8. 369 ff. Wir können jedoch nicht ver- 
schweigen, daß wir der von O. vertretenen Auffassung Lionardos keineswegs in allen Punkten zu- 
zustimmen vermögen, 

(з) Vgl. Panofsky, а. а. O., 8. 105 ff, Die Methode der „Analogiebestimmungen“ ist aufgenommen 
von Pomponius Gauricus und u. a. von Affricano Colombo, der seinem Planetenbüchlein (Natura et 
inclinatione delle sette Pianeti) eine im übrigen ganz auf Vitruv basierte Proportionslehre für Maler 
und Bildhauer angehängt hat. Schon diese Zusammenstellung astrologischer und proportions- 
theoretischer Lehren ist bezeichnend für seine Auffassung, die das rein naturalistische Prinzip Lionardos 
wieder ins Mystisch-Kosmologische wendet. 

(3) Trattato della pittura, а. a. O., Art. 267 ff. Schon Alberti (а. a. O., 8, 203) hatte beobachtet, daß 
die Breiten und die Dicken des Armes je nach der Bewegung sich verändern. Freilich hat er noch 
nichts unternommen, um den Umfang dieser Veränderungen zahlenmäßig festzustellen. 

(4) Ganz abgesehen von den eigentlichen Stilgründen waren ja die ägyptischen Kunstwerke zum 
größten Teil überhaupt nicht zum Gesehenwerden geschaffen, sondern befanden sich an unzugäng- 
lichen und dunklen, jedem Einblick entzogenen Orten. 


214 


bewegen, aber gleichsam nicht aus eigner Kraft und eignem Entschluß, sondern 
unter dem Einfluß einer höheren Macht, und in dem es zwar recht mannigfache 
Wendungen der Körper, aber dennoch keinen Tiefeneindruck gibt. Einzig in der 
Antike waren jene subjektiven Momente bereits zur Anerkennung gelangt, aber — 
und das ist das Entscheidende — diese Anerkennung war eine sozusagen inoffizielle 
gewesen: der polykletischen Anthropometrie stand weder eine Bewegungslehre noch 
eine Perspektivlehre zur Seite (wie ja auch die in der antiken Kunst begegnenden 


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Abb. 9. Stereometrisch schematisierte Bewegungsfigur von Albrecht Dürer 
(um 1520) aus dem Dresdener Skiszenbuch, Tafel 136. 


Verkürzungen keine im strengen Sinne perspektivischen, d.h. keine zentralprojektiven, 
sind), und auch die Ausgleichsmittel, die den Eindruck des Betrachters berichtigen 
sollten, wurden nur „von ohngefähr“ zur Anwendung gebracht. Daher bedeutet es 
in der Tat etwas grundsätzlich Neues, wenn die Renaissance jetzt der Anthropometrie 
die Doktrinen der physiologischen (und psychologischen) Bewegungslehre und 
der exakten Zentralperspektive gegentiberstellt, d. h. wenn sie die subjektiven 
Veränderungen der objektiven Proportionen nunmehr ausdrücklich anerkennt und 
auf wissenschaftlich begründete Regeln bringt!). 


(х) Auch die „eurhythmischen‘‘ Veränderungen, denen die Abmessungen in großer Höhe oder etwa 
auf gewölbter Fläche unterworfen werden müssen, werden jetzt auf exakt-perspektivischem Wege er- 
mittelt: vgl. Lionardos Konstruktionsanweisung für Darstellungen auf gewölbter Wand (Richter, 
a. a, O., Tafel XXXI, 3; Trattato, Art. 130), sowie Dürers Konstruktionsanweisung für die Herstellung 
von Wandaufschriften, die, in verschiedener Höhe angebracht, dennoch gleich groß erscheinen sollen 
(Underweysung der Messung ..., 1525, Folio K 10). Dürers Verfahren, nur statt auf Wandaufschriften 
auf große Gemälde übertragen, ist wiederholt bei Barbaro, a. a. O., S. a3. 


215 


Wer es für erlaubt hält, die historischen Tatsachen symbolisch zu deuten, mag 
darin den Geist einer spezifisch neuzeitlichen Weltanschauung erkennen, die das 
Subjekt dem Objekt als etwas Selbstiindiges und Gleichberechtigtes gegenübertreten 
läßt, während die klassische Antike diesen Gegensatz noch nicht zu deutlicher Aus- 
prägung gelangen ließ, und während das Mittelalter sowohl das 
Subjekt als das Objekt in einer höheren Einheit aufgehoben dachte. 

Die Entwicklung vom Mittelalter zur Renaissance (und über sie 
hinaus) spiegelt sich am klarstengim theoretischen Werke Albrecht 
Dürers: beginnend mit einem planimetrischen, im Anfang nicht 
einmal an die vitruvianischen Bestimmungen anknüpfenden Flächen- 
schema, das — neben den Proportionen — im Sinne der mittel- 
alterlichen „pourtraicture“ Gestalt, Bewegung und Kontur bestimmen 
sollte (Abb. 7) ), geht er unter dem Einfluß Lionardos und Albertis 
zur reinen objektiven Maßnormierung über — zu einer mit beispiel- 
loser Gründlichkeit und Ausdauer betriebenen Anthropometrie, die 
nicht mehr zur Ausbildung einer praktisch verwendbaren Konstruk- 
tion, sondern zur Aufstellung pädagogisch wertvoller Paradigmata 
führen sollte („Dann die Bilder döchten so gestrackt, wie sie vorn 
Abb. ro. Schemati- beschrieben sind, nichts zu brauchen“)*). Er hat sich bei dieser 
sierte Bewegungs- disziplinierten und entsagungsvollen Tätigkeit bekanntlich sowohl 

16. Jahrhundert, des antik-lionardesken Bruchteilverfahrens (Abb. 8), als der Alberti- 

(Erhard Schén?). schen Exempeda bedient, deren kleinste Einheit, 1/,,,, er übrigens 

Stadtbiblioth.Nürn- noch in drei Unterteile spaltet“). Allein er hat die beiden großen 
rn ee м Italiener nicht nur durch den Umfang und die Genauigkeit seiner 
(nach einer d. Verf. Messungen, sondern auch durch eine wahrhaft kritische Selbst- 
beschränkung übertroffen: er hat sich zum völligen Verzicht auf 
übermitteltenPause). die Entdeckung eines idealen oder auch nur normalen Schönheits- 
kanofis entschlossen, und sich der unendlich mühsameren Aufgabe 

unterzogen, charakteristisch unterschiedene Typen aufzustellen, dienur — jeder 
in seiner Art — die „grobe Ungestalt vermeiden“ sollten. Nicht weniger als 26 Pro- 


(х) Hierin, nicht in der von Mortet aufgegriffenen Zufallsübereinstimmung zweier Kopfproportionen, 
liegt die innere Verwandtschaft Dürers mit dem Mittelalter, insbesondere mit Villard de Honnecourt. 
Es kann daher Wölfflin schwerlich zugegeben werden, daß Mortet (der über die Feststellung jener 
singulären Entsprechung nicht hinausgeht), die Beziehung zwischen Dürers früherem Proportions- 
schema und der gotischen Überlieferung bereits richtig erkannt habe (Mon. f. Kunstw. 1915, 8. 254). — 
Es darf hier erwähnt werden, daß es Herrn Dr. Schilling (Frankfurt) gelungen ist, auf der vom Ver- 
fasser den konstrulerten Blättern zugerechneten Sebastianzeichnung L. 190 nunmehr auch die Spuren 
der betr. Zirkelschlige aufzufinden, 

(a) Vgl. hierzu und zum Folgenden Panofsky, а. a. O., 8. 81 ff., besonders 89 ff. und іт ff. 

(3) Es ist bisher nicht aufgeklärt, auf welchem Wege Dürer sich die Kenntnis der Albertischen Ex- 
empeda verschaffen konnte, da das Buch „De Status“, in dem sie überliefert ist, erst viele Jahre nach 
seinem Tode gedruckt wurde. Wir glauben nun Dürers Quelle in der oben zitierten „Harmonia 
Mundi totius“ des Francesco Giorgi vermuten zu dürfen. Denn sie enthält (Folio C ır) eine genaue 
Charakteristik des Albertischen Verfahrens, die als eine ausdrückliche, wenn auch etwas verderbte 
Zitation desselben aufzufassen ist: „Attendendum est ad mensuras, quibus nonnulli mi- 
crocosmographi metiuntur ipsum humanum corpus. Dividunt enim id per sex pe- 
des... et mensuram unius ex iis pedibus hexipedam () vocant. Et hanc partiuntur 
in gradus decem,unde ex sex hexipedis gradus sexaginta resultant, gradum veroquem- 
libet in decem. . . minuta (Ur, (Der Autor selber will jedoch einer Einteilung in 300 statt боо 
„minuta“ den Vorzug geben, um die (oben S. 209, Anm. 2) erwähnte Maßentsprechung zwischen 


216 


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portionen hat er auf diese Weise zusammengebracht, dazu ein Beispiel für den Kinder- 
körper und die Einzelmaße des Kopfes, des Fußes und der Hand’). Ja, selbst damit 
noch nicht zufrieden, hat er Mittel und Wege angezeigt, diese vielen Variationen 
noch weiter zu vermannigfaltigen*). Auch Dürer hat diese rein maßstäblichen Auf- 
stellungen durch eine Bewegungslehre ergänzt, die allerdings bei seinem Mangel an 
anatomischen und physiologischen Kenntnissen ein wenig unbehilflich-mechanistisch 
ausgefallen ist“), und eine Perspektivlehre entworfen‘), die er — gleich dem großen 
italienischen Malertheoretiker Piero della Francesca — sogar auf menschliche Ge- 
stalten angewendet wissen wollte. Von besonderem Interesse ist uns jedoch der 
Versuch, dieser perspektivischen Konstruktion des menschlichen Körpers zuliebe 
die irrationalen Formen desselben auf eine mathematisch faßbare Gestalt zurtick- 
zuführen’); denn es ist ungewöhnlich aufschlußreich, diese Schemata des späten 
Dürer mit denen des frühen zu vergleichen: nicht nur, daß es sich nunmehr um 
ein Verfahren handelt, das in die Darstellung nicht mehr eingreift, sondern sie nur 
vorbereitet, — ап die Stelle der planimetrischen Schematisierung ist jetzt die 
stereometrische getreten, die den Körper und seine Gliedmaßen auf einen zwar 
vereinfachten, aber plastisch-dreidimensionalen Ausdruck bringt (Abb. 9). °) 


V. 


Dürers „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ bezeichnen einen vorher und 
nachher nicht wieder erreichten Höhepunkt der Proportionslehre; sie bezeichnen 
aber auch bereits den Beginn ihres Niedergangs. Schon für Dürer selbst war die 
Proportionsforschung in bedenklichem Grade Selbstzweck geworden: sie hatte bei 
ihrer Akribie und Kompliziertheit die Grenze künstlerischer Anwendbarkeit immer 
weiter überschritten, und schließlich den Zusammenhang mit der Praxis so gut 
wie völlig verloren. Man weiß, daß die Ergebnisse dieser hochentwickelten, ja 
überentwickelten anthropometrischen Technik für Dürers eigenes Schaffen viel 
weniger Bedeutung gehabt haben, als die unvollkommenen Resultate seiner ersten 
Bemühungen; und es genügt, daran zu denken, daß die kleinste Einheit seines Maß- 
systems, das sogenannte „Trümlein“, weniger als einen Millimeter betrug, um die 
Kluft zwischen Theorie und Praxis offen zu sehen. 


dem Menschen und der Arche Noah zu retten.) Das Erscheinungsdatum 1525 würde zu unserer An- 
nahme vortrefflich stimmen; denn es läßt sich nachweisen (vgl. Panofsky, a. a. O., S. 119), daß die 
Exempeda Dürern erst in der Zeit zwischen 1523 und 1528 bekannt geworden ist. 

(1) Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, I und II. 

(2) Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, III. 

(3) Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, IV. 

(4) Underweysung . . . Folio P ı vfl. 

(5) Vier Bücher... Buch IV und zahlreiche Zeichnungen. Es handelt sich um das berühmte „Kuben- 
system“, das, nach Lomazzo auf Foppa zurückgehend, späterhin von Holbein, Altdorfer, Luca Cam- 
biaso, Erhard Schön u, a. aufgegriffen und weitergebildet wurde (vgl. Meder, a. a. O., S. 624, Abb. 
8. 319, 619, 623). Hierher gehören auch Dürers polygonal zerlegte Köpfe aus dem Dresdener Skizzen- 
buch (Abb. Meder, 8. 622), die der Verfasser schon früher (Kunstchronik, N.F.XXV, col. 514) auf 
italienische Anregungen zurückzuführen suchte, und zu denen jetzt Meder (Abb. 564) noch schlüssigere 
Analoga beigebracht hat, als sie uns damals zu Gebote standen. 

(6) In anderer, aber ebenfalls nicht mehr planimetrischer Weise wird der bewegte Körper in den 
dem Erhard Schön zugeschriebenen Zeichnungen schematisiert, von denen wir in Abb. то eine Probe 
geben. Nachbildungen auch bei Fr. W. Ghillany, Index rarissimorum aliquot librorum, quoe habet 
bibliotheca publica Noribergensis, 1846, 8. 15. Zu der in diesen Zeichnungen befolgten Methode vgl. 
die Skizziervorschrift Lionardos in Trattato, Art. 173. 


217 


Was der Dürerischen Proportionsiehre nachfolgt, ist daher entweder dürftiges 
Werkstattprodukt, wie die (sämtlich von Dürer mehr oder weniger abhängigen) 
Büchlein der Lautensack!), Beham’), Schön’), v. d. Heyden‘) oder Bergmüller’) — 
oder aber starre, lebensfremde Theorie, wie die neueren Werke eines Schadow®) 
oder Zeising’). Und heutzutage dürften, von einigen sonderbaren Schwärmern 
abgesehen, wohl nur noch Anthropologen und Kriminalisten etwas wie Proportions- 
lehre betreiben. 

Allein auch dieser Abstieg entspricht der allgemeinen Kunstentwicklung. Die 
Proportionslehre, nach dem sie einmal auf die Bahn der reinen Anthropometrie 
zurückgelenkt war, war eine Lehre von den Maßen der körperlich begrenzten 
Objekte, und ihre Schätzung und Bedeutung mußte daher davon abhängen, ob 
man die Darstellung solcher Objekte als das wesentliche Ziel der Kunsttätigkeit an- 
erkannte oder nicht; sie mußte sinken in dem Maße, als der ktinstlerische Genius 
das Gesetz der Gestaltung statt in den Dingen in einer subjektiven Vorstellung 
der Dinge zu suchen begann. Bedeutete die Proportionslehre in der Ägyptischen 
Kunst fast alles, weil hier das Subjekt fast nichts bedeutete, so mußte sie in dem 
Augenblick zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, da der Sieg des subjektivistischen 
Prinzips entschieden war — der Sieg, den, wie wir wissen, schon das 15. Jahr- 
hundert vorbereitet hatte, indem es den subjektiven Bewegungswillen des Dar- 
gestellten und den subjektiven Gesichtseindruck des Künstlers wie des Beschauers 
bejahte. Sobald daher die Kunst begann, diese ersten Konzessionen an den Sub- 
jektivismus mit wirklicher Entschiedenheit auszunutzen, war die künstlerische Rolle 
der Proportionslehre de facto ausgespielt. Der Stil, den man den malerisch-sub- 
jektivistischen nennen könnte, der Stil der atmosphärischen und luminaren Wir- 
kungen, wie er am reinsten in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts 
und im modernen Impressionismus sich auswirkt, konnte mit der Proportionslehre 
nichts beginnen, weil ihm die Gestaltung der Körper überhaupt nichts mehr bedeu- 
tete gegenüber der Veranschaulichung des licht- und lufterfüllten Freiraums?); 
und der Stil, den man den unmalerisch-subjektivistischen nennen könnte, der Stil 
des frühbarocken Manierismus und des modernen „Expressionismus“, konnte mit 
der Proportionslehre nichts beginnen, weil ihm die Gestaltung der Körper nur noch 
insofern etwas bedeutete, als sie sich, einem subjektiven „Ausdrucksbedürfnis“ 
entsprechend, willktirlich verkürzen und verlängern, verbiegen und endlich zer- 
reißen ließen). 


(т) Des Cirkels und Richtscheits, auch der Perspectiva und Proportion der Menschen und Rosse kurtze 
doch gründliche Underweisung, 1564. | 

(2) Dieses Büchlein zeiget ап... ein Май... des Ros, 1528. Derselbe: Kunst und Lehrbichlein... 
1546 und öfter. 

(3) Underweysung d. Prop. und Stellung der Bossen, 1543. 

4) Reißbüchlein . . . 1634. 

(5) Anthroprometria, 1723. 

(6) Polyklet oder von den Maßen der Menschen, r834. 

(7) Neue Lehre v. d. Proportionen des Körpers 1854. Ästhetische Forschungen, 1855. 

(8) Das gilt bis zu einem gewissen Grade von der nordischen Kunst überhaupt, auch schon im 15. 
und 16. Jahrhundert, soweit nicht eben in einzelnen Generationen oder bei einzeinen Persönlichkeiten 
(wie Dürer) die klassizistische Tendenz die Vorherrschaft gewann. 

(9) Vgl. bereits die oben zitierte Äußerung Michelangelos, wonach es nicht so sehr auf die Maße, 
als auf die „atti“ und „gesti“ ankomme. Selbst innerhalb der theoretischen Kunst-Literatur 
die doch als solche notwendig zum objektivistischen ‚Klassizismus‘ gravitiert, macht sich in vielen 


218 


So ist die Proportionslehre seit der Renaissance eigentlich nur noch da gepflegt 
worden, wo eine der lebendigen Entwicklung (denn diese tendiert seit jener Zeit 
zum Subjektivismus) sich entgegenstemmende Gesinnung herrschte: in den Kreisen 
des akademischen Klassizismus. Und es ist kein Zufall, daß niemand anders 
als der zur klassizistischen Kunstauffassung herangereifte Goethe ihr ein warmes 
und tätiges Interesse entgegen gebracht hat: „Auf einen Kanon männlicher und 
weiblicher Proportion loszuarbeiten,“ so schreibt er an J. H. Meyer, „die Ab- 
weichungen zu suchen, wodurch Charaktere entstehen, das anatomische Gebäude 
näher zu studieren und die schönen Formen, weiche die äußere Vollendung sind, 
zu suchen — zu so schweren Untersuchungen wünschte ich, daß Sie das Ihrige 
beitrügen, wie ich von meiner Seite manches vorgearbeitet habe“ ). 


Fällen ein zeitlich oder örtlich bedingtes Abflauen der eigentlichen Proportionsinteressen geltend: 
der Michelangelo-epigone Vincenzo Danti plante ein (nur zum kleinsten Teile erschienenes) Werk, 
das trotz seines Titels „Delle perfette proportioni‘‘ durchaus nicht mathematisch, sondern anatomisch, 
mimisch und pathognomisch vorgeht (vgl. Schlosser, Materialien VI, S. 48 fl.), und der Niederländer 
Vermander hat das Problem der Proportionen mit einer ganz auffallenden Gleichgültigkeit be- 
handelt (vgl. Schlosser, ebendort, S. 12). Um so überraschender ist es, daß Rembrandt, der im 
allgemeinen wahrlich kein Interesse für Proportionslehre hatte, doch einmal einen (bisher scheinbar 
nicht als solchen erkannten) Vitruvmann im Quadrat gezeichnet hat, freilich in einer sehr 
eigentümlichen Auffassung: es ist ein nach dem Modell skizzierter Orientale in Turban und langem 
Mantel, ganz swanglos stehend und den Kopf ein wenig zur Seite gewendet. Wäre nicht das 
Quadrat und die den Rumpf teilenden Querstriche, so würde man die schöne Zeichnung (H. d. G. 631, 
repr. Kleinmann, Ser. VI, ВІ. 3) als eine Modell- und Kostümstudie auffassen und das Ausbreiten 
der Arme im Sinne einer suggestiven Ausdrucksbewegung deuten. 

(x) Brief vom 13.3.1791. Weimarer Ausgabe IV, 9, 8. 248. 


Nachtrag zur Anmerkung 3, Seite 206. 

Noch klarer zeigt sich das Nachleben der bei Villard de Honnecourt hervortretenden Tendenzen in 
einem zur Zeit im Handel befindlichen, bezeichnenderweise französischen Manuskript des 
16. Jahrhunderts, das dem Jean Goujon zugeschrieben wird (ein Blatt, abgeb. im Lagerkatalog der 
Firma Joseph Baer, Nr. 670, Tafel I), und in dem Tiere und Menschen noch ganz in der Weise der 
alten „pourtraicture“ schematisiert erscheinen — nur daß sich, der historischen Entwicklungsstufe 
entsprechend, das planimetrisierende Verfahren des Villard hier und da mit dem stereometrisierenden 
Verfahren der Renaissancetheoretiker (vgl. unten) verbunden findet. 


EINE FRÜHE PORTRÄTZEICHNUNG 
DÜRERS . Von ERNST WEIL 


m Berliner Kupferstichkabinett befindet sich in der Mappe der unbekannten Zeich- 
nungen des ı5. Jahrhunderts eine Silberstiftzeichnung: „Das Brustbild eines 
Knaben mit hoher Mütze“ (Abb. 1), bezeichnet als Oberdeutsche Schule um 1490). 
Der Erhaltungszustand ist im allgemeinen gut. Die Konturen der rechten Seite 
sind mit Bleistift nachgefahren, besonders die schattenden Stellen sind übergangen 
(auch in den Augen und der Mütze), außer einer Verweichung im ganzen jedoch 
keine entscheidende Entstellung verursachend. Die Zeichnung war wohl etwas 
gleichmäßiger und dadurch härter. Besonders gut ist die Haarzeichnung erhalten, 
ebenso die skizzierende Andeutung des Körpers, auf diese Strichstärke muß der 
Gesamtduktus reduziert werden. 

Die Qualität dieser Zeichnung veranlaßte Woltmann®), sie Holbein dem Älteren 
zuzuschreiben, in der späteren Ausgabe der ,,Silberstiftzeichnungen Hans Holbeins 
des A. im k. Museum in Berlin“ (Leipzig, o. J.) zieht er diese Behauptung zurück 
und schreibt sie der flandrischen Schule zu, wozu ihn wohl am meisten die so- 
genannte niederländische Kappe verführte®). 

Die Zeichnung ist jedoch zweifellos deutscher Herkunft‘). 

Seither blieb die Zeichnung in der Literatur unbeachtet“). 


(1) Inv. Nr. 2576. Silberstift auf weiß grundiertem Papier: 134 X 105 mm. Das Blatt ist aufgesogen 
und es können keine Angaben über das Papier oder event. doppelseitige Grundierung gemacht werden. 
(2) Woltmann, Holbein und seine Zeit, 2. Auflage, IL Band (Leipzig 1876). Verzeichnis der Werke 
Seite 78, Nr. 176. 
(3) Diese Mützenform ist jedoch ein Allgemeingut jener Zeit. Seidlitz (Dürers frühe Zeichnungen 
Jahrbuch der preuß. Kunsts. 1907, 8. 3) schreibt anläßlich einer gleichen Kappe auf einer von Fried- 
länder Dürer zugeschriebenen Porträtzeichnung von Dürers Vater (vgl. unten), daß sie Dürers Vater 
aus Ungarn mitgebracht haben mag. Sie kommt auch in Franken vielfach vor, z. B. im Frühwerk 
Riemenschneiders bei seinen Aposteln Lukas und Markus (Vöge, Beschreibung der Bildwerke der 
christi. Epochen IV, S. 99, Nr. 203 und 204). 
(4) Die Holbein-Zeichnungen der Berliner Sammlung und allem Anschein nach unsere Zeichnung 
stammen aus der Sammlung des Generalpostmeisters von Nagler, an den sie (nach Woltmann, Hol- 
bein und seine Zeit, 1. Auflage, Leipzig 1866, 8. 118) aus der bekannten Imhofschen Kunstsammlung 
in Nürnberg übergegangen sei. In der zweiten Ausgabe von 1876 (S.78) schreibt Woltmann „früher 
angeblich“ in der Imhofschen Sammlung. (Unter Nr. 44 des Verzeichnisses, das W. Imhofs Erben 
1588 an Kaiser Rudolf II. schickten [Eye, Albrecht Dürer, Nördlingen 1860, S. 485 und Übersichts- 
tafel] steht: Ein Contrafait mit einem silbern Griffel. Die folgende Nr. 45 ist das bekannte Silberstift 
bildnis des Andreas Dürer (L 533) der Albertina. [Heller, Das Leben und die Werke Albrecht Dürers, 
Leipzig 1831, S. 82 und тоо] Doch rechtfertigt eine solch vage Charakterisierung keine Weiter- 
verfolgung.) 
(5) Herr Geheimrat Friedlander legte mir, als ich die Vermutung Diirer aussprach, den in Vorbereitung 
befindlichen Katalog vor, den ich hier zitiere: ,Die Zeichnung galt friher als ein Bestandteil der be- 
rühmten Porträtfolge des älteren Holbein, von der das Kupferstichkabinett eine große Anzahl besitzt. 
Woltmann bezweifelte ihre Zugehörigkeit mit Recht; die. hervorragende Zeichnung rührt aber von 
einem deutschen Künstler her. Trotz ihrer malerischen Weichheit erinnert sie in mehreren Be- 
ziehungen an Dürers Selbstbildnis von 1484 in der Albertina.“ 

Es ist in Betracht zu ziehen, daß die Zeichnung vor dem Nachfahren der Konturen und Verstärken 
der Schatten härter wirkte und dadurch der Albertina-Zeichnung näher kommt. 


220 


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Mit den Holbein-Zeichnungen läßt sie sich nicht zusammenbringen, diese sind 
viel derber im Strich, grober und stachliger, sie sind nach einem Schema angefertigt, 
in das sich unsere Zeichnung nicht einreihen läßt. Sie verraten eine fertige, aus- 
geschriebene Hand; Holbein hat eine Formel gefunden für die Haltung des Ge- 
zeichneten, für die Raumausnutzung, für den ganzen Aufbau seiner Bildnisse durch- 
gehend bis zur Strichellage seiner Schattengebung. Diesen typischen Reihen- 
charakter wie die Holbeinzeichnungen, diese sichere und gelenke, wenn auch 
schwere Hand zeigt unsere Zeichnung nicht. Eher ist der Gedanke der Beigesel- 
lung unserer Zeichnung zum Kreis des Hausbuchmeisters nicht ohne weiteres von 
der Hand zu weisen’). Die durch die Retouche erzeugte malerische Erweichung 
lenkt auf diese Fährte. Übersetzt man sich die Zeichnung in den ursprünglichen 
Zustand der gleichmäßigen Strichstärke zurück — was vor dem Original nicht 
schwer fällt — so wird die Kalligraphie Dürers, die sich schon in dem Selbst- 
bildnis von 1484 so entscheidend ausspricht, auch aus unserem Blatt durch- 
scheinen. Denn neben jenes Blatt (L 484) sei unsere Zeichnung als eine Arbeit 
des jungen Dürers gestellt, Auch hier ist noch alles Versuch der nicht aus- 
geschriebenen Hand eines jungen Menschen, der Anlage und spätere Formgestaltung 
des großen Künstlers verrät. 

Neben das Selbstbildnis der Albertina gehalten, zeigt die Führung des Stiftes 
eine größere Sicherheit, man sieht, wie viel leichter der Stift gehalten ist und 
über die Zeichenfläche fährt. Der Kontur ist nun auf den ersten Strich da, aber 
noch kann von der sicher umrissenen Linie Dürers nicht gesprochen werden. Es 
ist noch viel Tasten da, besonders in der Schattengebung. Haar- und Augen- 
zeichnung ist fast nicht über den Zustand von 1484 gelangt und doch sind dies 
entscheidende Kriterien einer Zuschreibung an Dürer, zusammen mit jener schon 
vorgeschrittenen skizzierenden Andeutung der Körperzeichnung, einem Element, 
das weit über Zeitgenössisches hinausgeht, das beim Hausbuchmeister schlechthin 
unfindbar ist und seine Parallele nur in jener Erlanger Selbstbildniszeichnung (L 429) 
aus der Zeit der Wanderschaft findet. Zwischen diese beiden Selbstbildnisse sei 
das Berliner Blatt vorerst gestellt, zwischen 1484 und 1492/93. Daß es näher an 
dem Albertinablatt liegt, zeigt schon der erste Blick; ist doch das Erlanger Bildnis 
der Ausdruck der schon zum Durchbruch gelangten Künstlerschaft Dürers. Dem 
Rahmen der bekannten und unbestrittenen Zeichnungen sei das Blatt nach der 
Frau mit dem Falken (L 208) eingeordnet, das vor den Eintritt in die Wohlgemut- 
Werkstatt fällt. Ende 1486 erfolgt dieser. Hier ist im bekannten Werk Dürers- 
eine Lücke von drei Jahren — es folgen 1489 die verschiedenen Landsknecht- 
zeichnungen (L 2, L roo und eine kürzlich in England wieder aufgefundene). 

Gegenüber dem befangenen Albertina-Selbstbildnis zeigt die Berliner Porträt- 
zeichnung eine unbedingt größere Fertigkeit, das ist eine Hand, die über die ersten 
kindlichen Versuche weg ist und sich schon geübt hat. Ich möchte die Zeichnung 


(1) Der Einfluß des Hausbuchmeisters auf den jugendlichen Dürer ist des Öfteren festgestellt, schon 
in Beziehung auf die Madonnenzeichnung von 1485 (L ı), im besonderen allerdings auf die Zeich- 
nungen um die Zeit der Wanderschaft. (Vgl. R. Vischer, Studien zur Kunstgeschichte, Stuttgart 1886, 
8. 175, Anm. 1 und 8. 414 fl.; Lehrs, Rep. f. Kunstw. 1892, S. 118 u. 8. 124; Lehrs, Der Meister des 
Amsterdamer Kabinetts, Berlin 1895, S. 2; Hachmeister, Der Meister des Amsterdamer Kabinetts und 
sein Verhältnis zu Albrecht Dürer, Berlin 1897, S. 38 ff. und Friedländers Rezension , Ztschr. f. bild. 
Kunst 1898, 8. 246/7, die treffend die Spärlichkeit des Einflusses betont; Meder, Neue Beiträge zur 
Dürerforschung, Jahrbuch des Kaiserhauses, Wien 1911, 8. 194; dort auch Zusammenstellung der 
Literatur, die die Hypothese persönlicher Fühlung zwischen Dürer und Hausbuchmeister vertritt.) 


221 


in die Zeit der Lehre bei Wohlgemut setzen. Um 1487. Der Dargestellte, ein 
Knabe von 15—16 Jahren, mag ein Werkstattgenosse oder ein jüngerer Bruder 
Dürers sein. In die Familie Dürers deutet besonders die Kurvung der fleischigen 
Lippen — möglich, daß es der Bruder Sebald (geboren Januar 1472) war. 

Hier muß nun Stellung genommen werden zu der von Friedländer Dürer als 
Porträt seines Vaters zugeschriebenen Silberstiftzeichnung: das Bildnis eines Gold- 
schmieds in der Albertina (Abb. 2)!). Friedländers Zuschreibung fand mehr Ab- 
lehnung als Zustimmung. Neben einer Stützung auf eine alte Kopie mit dem Dürer- 
monogramm gründet Friedlinder die Zuschreibung auf einen stilistischen Vergleich 
mit dem Selbstbildnis von 84 und legt sein Blatt zeitlich um 1486, also in die- 
selbe Zeit etwa, in die die behandelte Zeichnung eingereiht werden soll. 

Den Ausschlag der Zuschreibung unseres Berliner Blattes gab das in der Zeich- 
nung so voll zum Ausdruck kommende neue Raumgefühl. Es ist eine tiefgreifende 
Änderung im Sehen eingetreten, eine Bresche ist in das feste System der bis- 
herigen Raumgefügtheit geschlagen, hier ist der Boden sichtbar, aus dem die theo- 
retischen Schriften zur Perspektive und Proportion erwachsen konnten). So ist 
es auch verständlich, daß die Zeichnung den Holbein-Zeichnungen, die alle nach 
der Jahrhundertwende, die meisten um 1508—ı2 liegen, beigesellt wurde. Denn 
dies schon ist die junge Generation, die sich schwach in dem Selbstbildnis von 84, 
und das erstemal entschieden in dieser Berliner Zeichnung kundtut. Der ganze 
Geist jener Wendezeit ist in der Art wie die Figur in die vier Seiten gestellt, wie 
ein Raum geschaffen ist, zum Ausdruck gebracht. Und das ist eben die alte Gene- 
ration, die die Stütze, einen Sockel gewissermaßen braucht, um aufzubauen, die 
ein Brett herliberzieht zum Aufstützen des Armes, die ohne diesen Halt nicht 
formen kann. Sei es nur eine Basis, die die Arme abgeben, wie es auch noch das 
Kind Dürer — und doch schon in einer seltsam freien Weise (die unterlegte Stütze 
ist unsichtbar) — anwendet, diesen Halt kann der Zeichner des Bildnisses eines 
Goldschmiedes nicht entbehren. Hier steht er in seiner Zeit, dies ist der Zeit- 
genosse Schongauers (B 87, dazu die Bemerkung Wendlands, Martin Schongauer, 
Berlin 1907, S. 107), der Zeitgenosse des Hausbuchmeisters (Gothaer Liebespaar), 
der Zeitgenosse eines Syrlin, der mächtig nach Verräumlichung strebt und ohne 
den Grund, den er seinen Chorgestühlfiguren im Ulmer Münster durch die ge- 
kreuzten Arme gibt, doch nicht auskommen kann’). 

Die ganze Freiheit, den Raum zu gestalten, die Unabhängigkeit von einer Grund- 
fläche zum Aufbau, zeigt das Erlanger Selbstbildnis und die Vorstufe dazu, die nur 
mehr zager Andeutungen einer Armhaltung als Stütze bedarf — so zag, daß sie 
nur dem aufmerksam Betrachtenden zu erraten sind — ist diese Berliner Zeichnung. 
Sie reiht sich in die Lücke zwischen 1486 und 1489 und vermittelt uns von der 
Entwicklung des jugendlichen Dürers ein festeres Bild. 


(1) Friedländer, Dürers Bildnisse seines Vaters, Rep. f. Kunstw. 1896, S. 12 ff.; ders. in Thieme-Becker, 
Allgem. Künstlerlexikon, Bd. X, 1914, 8. 64 und zuletzt derselbe: Albrecht Dürer, der Kupferstecher 
und Holzschnittzeichner, Berlin 1919, S. 1489. 

(2) Vgl. Schuritz, Die Perspektive in der Kunst Albr. Dürers, Frankfurt 1919, S.25. Sch. betont, daß 
in der ersten auf Perspektive untersuchbaren Zeichnung Dürers, der frühen Drahtziehmühle (L 4) auf- 
fallend sei, wie gut (noch bei Gefiihlsperspektive) im Gegensatz zu zeitgenössischer Malerei die Ver- 
kürzung der vertikalen Strecken beobachtet sei. 

(3) Die Punkte, die in der Technik der Zeichnung eines Goldschmieds gegen Dürer sprechen, sind 
bei Ochenkowski, Das Bildnis eines Goldschmiede, Repert. f. Kunstw. 1911, S. 1 ff. angeführt. O. sieht 
іп der Zeichnung ein Selbstbildnis Dürers Vaters und setzt es als Vorlage zu Dürers Selbstbildnis 
von 84 vor dieses Jahr. 


222 


JOHANN MICHAEL FISCHER / EIN BÜRGER- 
LICHER BAUMEISTER DER ROKOKOZEIT (1691—1766) 
Von ADOLF FEULNER 


n der südlichen Außenseite der Münchner Frauenkirche fällt unter den vielen 
Grabsteinen, die hier über dem Sockel eingelassen sind, einer auf durch seine 
gute Form, durch die Größe und die überlegte Anordnung der gotischen Lettern. 
Er ist ebenso merkwürdig durch den Inhalt der Grabschrift. Sie lautet: Hier 
Ruhet / Ein Kunsterfahrn Arbeitsam Redlich und Aufrichtigen Mann (Job. 1, V. 1) 
Johann Michael Fischer / Dreyer Durchlauchtigsten Fürsten / Bewährter Bau- 
Meister / Dan Burgerlicher Maurer Meister in Miinchen / Welcher Niemahlen Ge- 
ruhet / indem Er / durch sein Kunsterfahrne und Unermüdte Hand / 32 Gottshäuser 
23 Clöster / nebst sehr vielen anderen Palästen / Gemiither aber viele hundert / 
durch sein alt Teutsche und Redliche Aufrichtigkeit / Erbauete / bis Er endlich / 
den 6 May An. 1766 in den 75. Jahr seines alters / zum lezten Gebäu das Haus 
der Ewigkeit (Ecc. 12. V.5.) als einen Grundstein geleget / den jenen welcher ist / 
der Veste und Eckstein der Kirche (Ephes. 2. V. 20). 

Wer war nun dieser Baumeister Johann Michael Fischer), der so viele Kirchen 
und Klöster gebaut hat, und welches sind seine Schöpfungen? Man möchte glauben, 
daß sein Name in das Volk dringen mußte, auch wenn seine Werke nicht die 
künstlerische Bedeutung gehabt hätten, die ihnen in Wirklichkeit zukommt. Nun 
stehen wir aber vor der merkwürdigen Tatsache, daß der Grabstein durch andert- 
halb Jahrhunderte die einzige Form der Überlieferung blieb, daß der Name eines 
Baumeisters verscholl, dessen Schöpfungen immer den Schmuck und Stolz der alt- 
bayrischen Lande bildeten, daß ein Künstler ganz vergessen wurde, der zu den 
größten seiner Zeit gehört hat. Von den deutschen Architekten der Rokokozeit 
kann ihm nur Balthasar Neumann zur Seite gestellt werden, der ihn an Fülle der 
Ideen noch ftiberragte. Oder vielleicht erscheint das uns so, weil wir nur aus 
den erhaltenen Bauten einseitige Rückschlüsse ziehen können. Neumann wurde 
als fürstbischöflicher Hofarchitekt zu allen möglichen Aufgaben herangezogen, 
während Fischer nur ein Gebiet offen stand, der Kirchenbau; er verfügte über 
ungleich mehr Mittel und konnte deshalb seine hochfliegenden Pläne viel leichter 
durchsetzen als der bürgerliche Baumeister, dessen große Ideen an der Sparsamkeit 
seiner Bauherren oft zerschellen mußten. In seinen Klosterbauten war Fischer 
durch die Anspruchslosigkeit seiner Auftraggeber gebunden und für die Adels- 
paläste in der Stadt kam er kaum in Betracht. Vielleicht hätte der Name einen 
besseren Klang behalten, wenn nicht Fischer unter dem Zwange eines strengen 
Pflichtgefühls seinen Beruf nur als bürgerliches Handwerk aufgefaßt hätte, für das 
die Summe höchsten Könnens und intensivsten Fleißes eine selbstverständliche 
Voraussetzung war, wenn er es nicht verschmäht hätte, auch für sich etwas 
Reklame zu machen, wie andere Künstler seiner Zeit. Der ältere und jüngere 


(1) Literarische und archivalische Nachweise: Feulner, Joh. Mich, Fischers Risse für die Klosterkirche 
in Ottobeuren. Münchner Jahrb. der bild. Kunst, 1913 und Unbekannte Bauten Johann Michael Fischers. 
Münchner Jahrb. d. bild. Kunst, 1914. Weitere Angaben bei Thieme-Becker, Künstlerlexikon, von Vollmer. 
Die viel zu summarische und unvollständige Übersicht bei Thieme-Becker veranlaßt mich, diesen 
populären Vortrag zu publizieren. Alle Hauptwerke in Abbildungen wird das von Demmler bearbeitete 
abschließende Werk des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft bringen. 


223 


Cuvilliés in München haben ihre eigenen und fremde Inventionen in einem mo- 
numentalen Stichwerk einem breiten Publikum zugänglich gemacht, in dem neben- 
bei auch Risse von Fischer vorkommen. Die Namen der Künstler am kurfürstlichen 
Hof und an den bischöflichen Residenzen durften die Hofhistoriographen nicht 
übersehen. Wer kümmerte sich um den bescheidenen, bürgerlichen Baumeister, 
den der Hof nur für untergeordnete Nebenarbeiten heranzog. Nicht einmal die 
obligatorischen Hoftitel sind für ihn als Almosen abgefallen. 

Nur ein kleiner Kreis wußte Fischers Können richtig einzuschätzen, das waren 
Herren im Münchner geistlichen Rat und die Prälaten, die Äbte der altbayrischen 
Lande. In den vergessenen Archivalien über die Kirchenbauten wird der Bau- 
meister immer mit besonderer Auszeichnung, als der „hochberuehmte Fischer“ er- 
wähnt. Jedesmal, wenn der entstehende Bau nicht den monumentalen Plänen 
eines großdenkenden Kirchenfürsten entsprach, wenn großsprecherische Stukkatoren- 
architekten oder kleinbürgerliche Meister von bescheidenem Können in ein unent- 
wirrbares Netz von verstrickten Problemen geraten waren, wenn niemand mehr 
einen Ausweg aus den Schwierigkeiten wußte, dann wurde Fischer geholt, der bei 
der Klarheit seines Denkens und der Fülle praktischen Könnens die Fäden bald 
entwirrte und selbst aus verpfuschten Anfängen einen Bau hinzusetzen wußte, 
der den verwöhntesten Ansprüchen genügte. Der Mann muß mit einer ungemeinen 
Klarheit der Ideen und einer ungewöhnlichen Sicherheit des künstlerischen Emp- 
findens begabt gewesen sein, da er immer die richtige Lösung zu finden wußte, 
die uns deshalb als selbstverstiindlich vorkommt, weil sie mit logischer Konsequenz 
aus der Situation geboren ist. Sie befähigte ihn, mit den einfachsten Mitteln das 
Größte zu erreichen. Die Klarheit seines Wesens und die lautere Bescheidenheit 
haben ihn wohl auch von den Kreisen zurückgehalten, die das’ große Wort führten. 
So ging die Spur seines Schaffens verloren. 

Über sein Leben wissen wir wenig. Daß er um 1691 in Burglengenfeld als 
Sohn des Stadtmaurermeisters Hans Michael Fischer geboren wurde, daß er als 
Maurerpolier 1723 in München der verwittibten Maurermeisterin Anna Maria Geigerin 
das Handwerk um 130 fl. abkaufte, und dann 1724 das Münchner Bürger- und 
Meisterrecht erhielt, daß er 1725 die ehrsame Stadtmaurermeisterstochter Maria 
Regina Mayrin heiratete, die ihm in den Jahren 1725—45 nicht weniger als sech- 
zehn Kinder schenkte, acht Knaben und acht Mädchen, melden uns die Pfarrbücher 
und die Ratsprotokolle. Das ist alles. Daß er ein guter Bürger war, wie die 
Grabschrift sagt, ist selbstverständlich. Wichtiger für uns, die wir einen Über- 
blick über die Summe seiner künstlerischen Leistungen gewinnen wollen, wäre es, 
wenn Nachrichten erhalten wären über seine Lehr- und Wanderjahre, über seine 
Lehrmeister und Vorbilder, über die künstlerische Umgebung, aus der er die An- 
regungen zu seinem eigenen Wirken gewonnen hat. Wir sind da ganz auf Ver- 
mutungen angewiesen. Sicher ist nur, daß er ganz in der Zunft aufgewachsen ist, 
daß auch seine Angehörigen zur Zunft gehörten. Vielleicht ist der Lehrgang 80 
gewesen. Zuerst der praktische Dienst und der theoretische Unterricht in den 
mathematischen Wissenschaften und im Zeichnen bei seinem Vater. Nach den 
Gesellenjahren und der Ernennung zum Maurerpolier Reisen in das südliche Bayer, 
in das Donautal bis nach Österreich hinein. Allem, was Fischer geschatien hat, 
haftet eine gewisse Erdenschwere, das Bodenständige an, alle seine Ideen lassen 
sich schließlich auf Gedanken zurückführen, die er in seiner Heimat eingesogen hat. 
Eine Fahrt nach Italien auf die hohe Schule oder gar schon nach Paris, gehörte 
bei einem Hofarchitekten als feinere Politur zum notwendigen Rüstzeug, bei einem 


224 


bürgerlichen Baumeister war sie entbehrlich. Das was er brauchte, konnte ihm 
schon damals das südliche Deutschland geben. Moderne kirchliche Bauten von 
einer bedeutenden Größe des Wollens, von gewaltiger Wirkung, in denen die An- 
regungen italienischer Architektur nach deutschem Empfinden verarbeitet waren, 
standen damals schon allenthalben. In Salzburg die Kirchen des genialen Fischer 
von Erlach, in Passau der Dom, die Donau entlang bis nach Wien hinein die 
monumentalen Klöster, die Kirchen von Prandauer, dann in München und in der 
Umgebung der Stadt die Bauten von Zuccali und Viscardi. Was die Zeit als letzte 
Neuheit ansah, die feinere Eleganz im Anschluß an die französische Architektur, 
das boten die eben in Bayerns Hauptstadt entstehenden Bauten, in denen Efiner, 
der erst (1715) Hofbaumeister geworden war, die leichte, zierliche Manier des fran- 
zösischen Rokoko einführte. Fischers früheste Bauten, der Chor der Klosterkirche 
in Niederaltaich (1724), die Pfarrkirchen in Schärding amInn (1725), in Rinchnach (1727), 
der Turm der Erlöserkirche in Deppendorf (1727), in Murnau (um 1724 ff.) setzen 
die Kenntnis der schweren, bayrisch-österreichischen Barockarchitektur voraus. 
Schon die nächsten Werke, die prächtige Klosterkirche in Osterhofen (1726) und 
die feine Pfarrkirche St. Anna am Lehel in München (1727) zeigen den leichten 
Rhythmus und den zierlichen Fluß der Bewegung, den der neue Zeitstil forderte, 
zugleich eine Selbständigkeit der Erfindung, die die Reife des Meisters als Vor- 
bedingung hat. Vorbilder können nicht genannt werden. An Effner ist nicht zu 
denken. Cuvilliés war jünger als Fischer und ist erst 1725 von Paris zurückgekehrt; 
sein erster Bau, das Adelspalais Piosasque de Non ist erst um 1727 begonnen worden. 
Warum soll auch das Nächstliegende, die künstlerische Selbständigkeit, die geniale 
Veranlagung des Baumeisters nicht das Wahrscheinlichere sein? 

Seit 1723 war Fischer als Bürger und Maurermeister in München ansässig. Seit 
den frühen zwanziger Jahren trat er, gestützt auf eine einflußreiche Verwandt- 
schaft vom Fache, als Bauunternehmer in großem Stile auf und damit beginnt 
die riesige Reihe von größeren und kleineren Kirchenbauten, von Klöstern und ein- 
fachen Privatbauten, die ihn bald zum gesuchten Kirchenbaumeister südlich der 
Donau machte. In Altbayern und in Schwaben, im heutigen Württemberg stehen 
seine Werke, prunkvoll und einfach, je nach den Mitteln, die ihm zu Gebote 
standen, die feinsten Blüten im reichen Kranz der damals sich entfaltenden kirch- 
lichen Rokokokunst und bescheidene Anlagen, die nur durch die Solidität der Arbeit 
erfreuen. Noch ist die Zahl von 32 Gotteshäusern und 23 Klöstern nicht ganz be- 
kannt geworden, aber die sicheren Werke, worunter sich bestimmt seine besten 
befinden, genügen, um uns mit Achtung zu erfüllen, vor der ungeheuren Arbeits- 
kraft, mit Staunen vor der genialen Gesamtleistung. Es ist selbstverständlich, daß 
bei dem Umfange des Geschaffenen nicht alles gleich gut, gleich bedeutend sein 
kann. Fischer war in erster Linie praktischer Baumeister, der mit rascher Hand 
eine klare Lösung fand, die ihren Zweck erfüllte. Für große Bauten war das 
Beste und das Modernste gut genug; für kleine Kirchen wurde ein Grundriß oft 
schematisch — man darf den Ausdruck ruhig gebrauchen — wiederholt, mit ge- 
ringen Veränderungen in den Proportionen, mit wenigen Abweichungen in der Bil- 
dung der Fassade, der Stellung des Turmes, aber immer so, daß der Bau aus der 
Umgebung natürlich herauswächst, daß er liebenswürdig und heiter wirkt, besonders 
dann, wenn auch die Meister, die die Ausstattung schufen, stilistisch auf der Höhe 
standen. So sind auch viele der kleinen Landkirchen Kunstwerke geworden, kleine 
Schmuckkästchen, vorbildlich in der Stimmung, in der Anpassung an die Land- 
schaft. | 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. Il. 1923. 15 225 


Der riesige Umfang der Arbeit mag auch die Ursache gewesen sein, daß nicht 
alle Bauten in der Vollkommenheit der ersten Idee zur Ausführung gelangten. Der 
technische Betrieb war im 18. Jahrhundert nicht viel anders wie jetzt, nur schwer- 
fälliger. Wenn ein Neubau in Frage kam, dann wurde Fischer geholt, der sich 
an Ort und Stelle die Situation besah, die Maße nahm, sich überlegte, was er vom 
alten Bau stehen lassen konnte. Die möglichste Schonung des alten Bestandes, 
der Respekt vor dem Geschaffenen, das er für seine Zwecke auszunutzen verstand, 
paßt so recht zu seinem Charakterbild. Zu Hause zeichnete er dann die genauen 
Risse. Es sind einige erhalten, für Ottobeuren, die in der exakten Technik, der 
präzisen Durchführung schon als Zeichnungen Kunstwerke genannt werden müssen. 
Die Ausführung selbst aber tiberließ er seinen Polieren, erprobten einheimischen 
Leuten oder Münchner Meistern, die er als zuverlässig kannte. Schwieriger war 
es, wenn ihm eigenmächtige Unterbaumeister aufgezwungen wurden, Nicht immer 
ist so der erste Entwurf eingehalten worden. Als Unternehmer im großen Stile 
konnte Fischer nur auf seinen Inspektionsreisen während der Sommermonate die 
Arbeit überwachen. Dafür bekam er dann bei größeren Bauten ein jährliches Ge- 
halt, durchschnittlich 100 Gulden, oder ein Gesellengeld, für jeden Mann zwei 
Kreuzer. Ein fürstliches Einkommen verdiente er sich damit wirklich nicht. Die 
Maler, Stukkateure, Bildhauer wurden meist vom Baumeister empfohlen. So kommt 
es, daß wir in Bauten Fischers immer wieder auf die gleichen Künstler, meist 
Münchner, stoßen, die Asam, Johann Baptist Zimmermann, Matthäus Günther, die 
Bildhauer Straub und Ignaz Günther, die Augsburger Stukkateure Rauch und 
Fruchtmaier. Es sind die besten Namen, die uns da begegnen. Nur in kleineren 
oder entlegeneren Kirchen mußten lokale Größen berücksichtigt werden. 

Fischers künstlerische Bedeutung liegt auf dem Gebiet der kirchlichen Archi- 
tektur. Von seinen Klosterbauten — bisher können ihm von den 23, die die Grab- 
inschrift nennt, vier mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit zugewiesen werden, 
nämlich Niederviehbach (1731—33), das Franziskanerkloster in Ingolstadt um 1739, 
Neuhaus bei Schärding (1752), und ein Teil der Anlage in Ochsenhausen — ragt 
keiner über das Niveau eines tüchtigen Nutzbaues empor. Einfache Räume in 
einer schlichten Architektur von angenehmem Umriß und guten Verhältnissen. 
Der Außenbau hebt sich höchstens durch eine bescheidene, verständnisvoll ab- 
gewogene Putzgliederung vom trivialen Bürgerhaus ab. Es fehlen die problem- 
reichen Grundrißlösungen, es fehlen die monumentalen Treppenhäuser, die großen 
Prunksäle, die reich dekorierten Bibliotheksräume, die andere Klosterbauten des 
18. Jahrhunderts zu fürstlichen Palästen machen. Noch einfacher ist das einzige 
Privathaus, das in München Fischer zugeschrieben werden darf, das Booshaus 
in der Hackengasse. Außer der Putzgliederung als einziger Schmuck eine zier- 
liche Madonnenbliste von Straub. Wenn man an die feinen Prunkfassaden der 
Münchner Adelpalais von Cuvilliés, Е пег oder Gunatsrheiner sich erinnert, dann 
begreift man leicht, daß diese bescheidene Architektur auch früher nicht gesehen 
wurde. 

Die kirchlichen Bauten erlauben einen ganz anderen Maßstab der Beurteilung. 
Alle, auch die kleinen Landkirchen, verraten die Schaffensfreude eines hochbegabten 
Künstlers, der sich mit den ästhetischen Forderungen seiner Zeit in selbständiger 
Weise auseinander gesetzt hat, der die Gefäße ererbter Ideen mit neuen, originellen 
Gedanken zu füllen verstand. Wenn wir uns eine Übersicht über seine Leistungen 
verschaffen wollen, so gliedern wir die Bauten am besten nach den wichtigsten 
Typen, in Langhausbauten und Zentralbauten, weil dadurch der Einblick in die 


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bestehenden Probleme erleichtert und das Neue der Lösungen Fischers am ein- 
fachsten klargelegt werden kann. 

Für den Langhausbau hatte sich im südlichen Deutschland seit den Zeiten der 
Spätgotik ein bestimmtes Schema eingebürgert, das wir kurz als Langhaus mit 
Kapellenreihen benennen wollen. Ein Schiff, begleitet von einer Reihe von Kapellen 
zwischen den eingezogenen Streben, endigend mit einem eingezogenen Chor. In 
der Spätgotik war dieses Grundrißschema nur für kleinere Kirchen brauchbar; für 
die großen Dome war die Aufteilung des Innenraums in drei oder fünf Schiffe ein 
Gebot konstruktiver Notwendigkeit. Die überragende Höhenentwicklung war der 
ästhetisch bestimmende Faktor. 

Die Renaissance hat daraus in der St. Michaelskirche in München unter dem 
Eindruck der italienischen Architektur das mächtige, mit einer Tonne gewölbte, 
saalartige Schiff gemacht, neben dem die Kapellen unselbständige Anbauten 
bleiben. Nachdem dann Bareli in seiner Münchner Theatinerkirche das Schema 
der römischen Jesuitenkirche auf deutschen Boden verpflanzt hatte, kam dazu ein 
weiteres Problem, die Verbindung des Langhausbaues mit dem Zentralbau. Durch 
die Einfügung eines Querschiffes entsteht eine Vierung, die, von einer mächtigen 
Kuppel bekrönt, als der helle Mittelpunkt des Raumes zuerst den Blick gefangen 
nimmt. Die Vierung mit der Kuppel wird dadurch der überragende Hauptraum; 
die Versöhnung von Langhausbau und Zentralbau war nicht erreicht, wenigstens 
nicht für den Geschmack einer späteren Epoche. Denn jede Zeit hat ihr eigenes 
Kunstempfinden, ihr eigenes Kunstwollen und damit auch ihre eigenen Begriffe von 
Schönheit des Raumes. Die Begriffe Mächtigkeit und Schönheit waren jetzt nicht 
mehr identisch. Man liebte nicht mehr die kontrastvolle Gegenüberstellung der 
kleinen, dunkeln Seitenkapellen und des riesigen Mittelschiffes, des wenig belichteten 
Chors und der taghellen Kuppel, nicht mehr die stark betonte Längsentwicklung, 
die den Blick fortreißt, oder die übermächtige Herausstellung eines Hauptraumes; 
man wollte nicht mehr die vollplastische, mächtige, dem Blick sich aufdrängende 
Wandarchitektur, die pompöse berauschende Dekoration. Das Ideal der Rokokozeit 
war der lichte, freie Einheitsraum, der sich in gleichmäßiger Abgewogenheit aus- 
breitet; jetzt suchte man den leichteren Rhythmus in der Abfolge der einzelnen, 
durch den Kult oder die Tradition allein gebotenen Räume, die unlösbare Ver- 
schmelzung aller Nebenräume mit dem Hauptraum, die gleichmäßige Verknüpfung 
von Langhaus, Querschiff und Chor, die unmerkliche optische Bindung für das 
Auge durch die Verschleifung der Übergänge, man suchte dem Raum die gleiche 
helle Abtönung zu geben, die ein zartes Rokokogemälde trägt. Fischer hat den 
Langhausbau nicht geliebt. Wo er ihn übernommen hat, in Dießen (1733), in Fürsten- 
zell (1740), in Zwiefalten (1741) und Ottobeuren (1744f.), da war er, mit Ausnahme 
vielleicht von Dietramszell (1729—37), einem einfachen, nicht ganz gesicherten Früh- 
werk, das Zusammenhänge mit Schärding und mit altbayrischen Bauten zeigt, durch 
die Beibehaltung älterer Fundamente zu bestimmten Lösungen gezwungen. Seine 
Aufgabe war dann die Angleichung des Bestehenden an das Neue und die gleich- 
mäßige Entwicklung des Gesamtraumes. Meist hat er die Zahl der Seitenkapellen 
verringert, die Maße vergrößert, und dadurch, durch gemeinsame Maßbeziehungen, 
die Kapellen an das Schiff angeglichen: er hat den Raumrhythmus herausgearbeitet. 
Die hohe Kuppel mit der Eigenbeleuchtung war für ihn nicht mehr brauchbar. 
nicht aus technischen Gründen hat er sie weggelassen, sondern weil das von oben 
scharf einfallende Licht zu sehr isolierte. Dafür baute er die Flachkuppel, die der 
Vereinheitlichung viel mehr entgegenkam, deren Deckengemälde sich inhaltlich und 


227 


optisch mit den Gemälden in den anderen Jochen banden. Auch das ausladende 
Querschiff war seinen klaren Vorstellungen von Raumgröße fremd. In Zwiefalten 
geht es kaum über die Flucht der Seitenkapellen hinaus, die Ecken der breiten 
Flügel sind abgeschrägt und die architektonische Gliederung mit den dekorativen 
Säulen sowie die kribbelnd ausgreifende Form der Altäre und der Dekoration 
stellen die optische Bindung wieder her. Nur in Ottobeuren tritt es voll zur Er- 
scheinung. Auch hier standen bereits die Fundamente und so mußte die barocke 
Zusammenstellung von gewaltigen Räumen beibehalten werden. Durch die starke 
Abschrägung der Ecken an der Vierung hat er dann die Übergänge verschliffen; 
die Zwickel der flachen Kuppel sind so verbreitert, daß die Überleitung des Blickes 
unmerklich vor sich geht. Damit ist noch kein Wort gesagt tiber die Bedeutung 
oder über die Schönheit der Kirchenräume selbst. Die feine, klare Eleganz in 
Dießen, die malerisch reiche Großartigkeit von Zwiefalten, die imponierende Mäch- 
tigkeit von Ottobeuren können nur gefühlt und erlebt werden. Wenn ein Kenner 
wie Dehio behauptet hat, daß eine Kirche wie Ottobeuren nicht nur eine der ersten 
Leistungen des Barocks, sondern überhaupt einer der vornehmsten Kirchenbauten 
aller Zeiten in Deutschland ist, so ist damit ein Werturteil ausgesprochen, das im 
Hinblick auf die Leistungen der früheren Epochen etwas sagen will. Wenn auch 
an allen diesen Kirchen gegebene Anfänge weitergeführt werden mußten, die be- 
stimmende Wirkung ist das Werk Fischers. Alle seine Räume atmen den Geist 
der Klarheit, der Ruhe; sie haben nicht die überwältigende, genialische Wucht der 
besten Bauten Neumanns, sondern die geschlossene Abgeklärtheit, die gesättigte 
Schönheit, die den feinen, beruhigten aber nicht minder bedeutenden Geist ihres 
Urhebers verrät. 

In allen Bauten Fischers waltet ein sicheres Gefühl für ruhige Tektonik. Die 
Dekoration bekommt niemals die Eigenbedeutung wie in Bauten der Asam 
oder von Dominikus Zimmermann, sie ist immer gebannt in die großen Linien 
einer organisch sich entwickelnden Architektur. Die gleichmäßig hellen Räume 
von Schiff, Kapellen, Chor und Querhaus sind in diesen Kirchen ineinander ver- 
schmolzen durch die Vereinfachung des Grundrisses, durch die durchgeführte Pro- 
portionalität, durch Ausgleichung der Übergänge. Die andere Möglichkeit einer 
Bindung der Räume durch Einbeziehung in die gemeinsame rhythmische Bewe- 
gung kommt nur in Frühwerken vor. Ein Beispiel ist Osterhofen (1726). Das 
Langhausschema mit Kapellenreihen ist auch hier wiederholt. Die Seitenkapellen 
sind als Ovale gebildet. Die Form dieses Ovals ist gleichsam das Motiv, das be- 
ständig wiederkehrt, in den konkav vortretenden Seitenemporen und im Gegensinn 
in den Einziehungen des Gebälks, in den Ausnischungen der Ecken des Langhauses. 
Der Grundriß an sich ist ein Liniengefüge von abstrakter Schönheit. Die scharf- 
geschliffene Form dieser Kurvatur nimmt das Auge gefangen und führt den Blick 
in einer wohlig gleitenden Bewegung in die Tiefe, in der Richtung der Hauptachse 
zum Chor, der als Blickziel im hellsten Licht, in der Fülle farbigen Schmuckes 
prangt. Der Chor ist nicht ein eigener, für sich bestehender Raum, ein Annex an 
das Langhaus wie in älteren Bauten, er ist vielmehr auf das innigste mit dem Lang- 
haus verknüpft, gleichsam die Bekrönung des ganzen Innenraumes. Diese Verknüpfung 
ist durch die einfachsten und zugleich raffiniertesten, perspektivischen Mittel her 
gestellt. Die Nischen am Chorbogen sind mit den formenreichen Altären gefüllt, 
und das Gewölbe ist am Schluß des Langhauses muldenférmig herabgezogen, so 
daß auch dadurch der Blick ungehemmt weitergleitet. Selbst im Langhaus ist das 
Streben nach Vereinheitlichung zum Ausdruck gebracht. Die Altäre der mittleren 


228 


Kapellen sind nach der Querachse gerichtet und dadurch kommt die Idee eines 
Zentralbaues als bezwingendes Motiv zum Durchbruch. Deutlicher noch kommt 
diese Absicht in Schäftlarn zum Ausdruck, wo Fischer einen angefangenen Bau 
weitergeführt hat. So gering die Veränderungen erscheinen, es sind geniale Ge- 
danken, die einmal gefunden werden mußten, die den ganzen Raumeindruck ent- 
scheidend bestimmen. Das alte Schema ist mit einer künstlerischen Überlegenheit 
neu erdacht und die neue Lösung ist so typisch deutsch, daß sie selbst einem 
Italiener der Richtung Guarinis als untektonisch, manieriert erschienen wäre, während 
wir darin die Folgerung längst vorhandener Prämissen sehen. 

Nicht mehr als Langhausbauten im hergebrachten Sinn können Kirchen wie 
St. Anna am Lehel in München angesprochen werden, wenn auch die Längsrich- 
tung vorherrscht. Der Raum breitet sich wohlig aus, nicht in einem Zug, in einer 
bestimmten geometrischen Form, sondern differenziert, gleichsam in Parzellen, die 
eine gegebene Größe rhythmisch wiederholen, buchtet er in kleine Kapellen aus, 
die beim Blick vom Eingang her schon übersichtlich in Erscheinung treten. Das 
Ganze überdeckt eine muldenförmige Kuppel in einer sanften Rundung, die nur 
durch die illusionistische Kraft des Deckengemäldes in weite Ferne greift. Der 
Grundriß nähert sich der Form des Ovals; aber die nackte, geometrische Form 
des Ovales, aus der Dominikus Zimmermann seine schönsten Grundrisse in Stein- 
hausen und Wies entwickelt hat, hat Fischer verschmäht, selbst in kleinen Bauten, 
wie der Anastasiakapelle in Benediktbeuren (1750) ist sie modifiziert. Er hat sie 
gleichsam verdeckt, weil ihm die Modellierung des Raumes wie aus Ton unarchi- 
tektonisch, unklinstlerisch erschienen wire. 

Fischers Liebe gehört dem Zentralbau. Die Idee einer neuen Lösung hat ihn 
sein ganzes Leben lang beherrscht. Wie eine bestimmte Melodie kehrt sie in allen 
Schöpfungen wieder, in neuen Variationen, vereinfacht und erweitert. Es ist die 
Raumgruppe, die Gruppierung von Räumen in der Längsachse, um einen betonten 
Mittelraum, das Ideal der Renaissance, aber in der subtilen, verfeinerten Auffassung 
des Rokoko. Fischer setzt auch hier eine begonnene Entwicklung fort und bringt 
sie zur vollendeten Lösung. Vollendet im Sinne seiner Zeit; denn schon die 
nächsten Jahrzehnte haben ihre veränderte Anschauung und wie eine Kritik an 
Fischers Bauten erscheint als neu Lösung des frühen Klassizismus die Kloster- 
kirche von Wiblingen. Die unmittelbaren Vorbilder Fischers liegen auch für den 
Zentralbau auf bayrischem Boden. Es sind Bauten, wie die Kirche in Schönbrunn, 
die dem Münchner Kunstkreise angehört, und in weiterer Linie die Zentralbauten 
Virscardis, die Dreifaltigkeitskirche in München und die Wallfahrtskirche in Frey- 
stadt. Wollte man die Linie noch weiter zurtickverfolgen, so müßte man italie- 
nische Bauten nennen. Bei Fischer kann man deutlich eine Entwicklung verfolgen, 
die auf geradem Wege emporführt, bis sie ihre klassische Form in der Kloster- 
kirche in Rott am Inn findet. Sein Frühwerk, die Pfarrkirche in Murnau (ca. 1720 
bis 1727) steht der barocken Raumanschauung noch am nächsten. Der zentrale 
Kuppelraum ist noch zu sehr betont, die Diagonalkapellen sind noch nicht in die 
Zentralidee einbezogen, da Altäre nach der Längsachse gerichtet sind. Die selt- 
same, kleeblattförmige Form des Chores ist nur dem erklärbar, der weiß, daß der 
alte gotische Turm stehenbleiben mußte. Der Chor wird dadurch zu sehr zurück- 
gedrängt und der Innenraum leidet unter den barocken Kontrasten. Der endgültigen 
Lösung nahe steht die Klosterkiche in Aufhausen (1736), wo nur die Höhenentwicklung 
zu sehr vorherrscht und die schlechte Beleuchtung durch die nachträgliche Ver- 
kleinerung der Seitenfenster im Langhaus die klare Entwicklung des Raumes stört. 


229 


Eine vollkommene, wenn auch vereinfachte Lösung ist bereits die Kirche in Berg am 
Laim (1737), in der die Diagonalkapellen auf Nischen reduziert sind. Die starke Be- 
tonung der Längsachse durch den Mönchschor, mit dem sich anschließenden Altar- 
haus kommt beim Blick vom Eingang bei der mit Rücksicht auf die perspektivische 
Wirkung glänzend durchkomponierten Wandarchitektur, deren gliedernde Säulen wie 
Kulissen vor das Blickfeld geschoben sind, gar nicht zur Geltung. Der Innenraum mit 
dem elegantenStuckdekor und den freudigen Deckenbildern Zimmermanns, den schönen 
Altären Straubs in der aufs feinste proportionierten, überlegenen Architektur gehört 
zu den erfreulichsten Eindrücken auf dem Gebiete barocker Baukunst. Mehr differen- 
ziert und noch eleganter in der Grundrißlösung ist die Franziskanerkirche in Ingolstadt 
(1736 fl.), die aber unter der rückständigen Altararchitektur leidet. Die vollendete 
Harmonie von Innenraum und Ausstattung bietet dann die Klosterkirche in Rott 
am Inn (1759), ein Gesamtkunstwerk von ganz hohem Range; die Verbindung der 
besten Meister in ihrem Fache, des Malers Matthäus Günther, des Bildhauers 
Ignaz Günther, der Stukkateure Feuchtmayer und Rauch, hat hier ein Hauptwerk 
kirchlicher Baukunst in Bayern geschaffen. Der Bau hat ebenso allgemeine kunst- 
geschichtliche Bedeutung. Er ist der Endpunkt einer langen Kette von Versuchen, 
die auf Versöhnung von Langhausbau und Zentralbau zielen, die ideale Lösung 
des Problems im Geiste der Rokokokunst. Der Zentralraum mit der Flachkuppel 
auf acht Pfeilern, die im Grundriß ein Quadrat mit abgeschrägten Ecken um- 
schreiben, ist auch hier der beherrschende Raum, die Dominante; er läßt aber die 
symmetrisch der Längsachse nach sich entwickelnden Nebenräume erster Ordnung, 
Chor und Vorraum, voll zur Wirkung kommen. Auch diese Nebenräume haben 
Flachkuppeln mit Deckengemälden; sie wiederholen in Form und Proportionen 
annähernd die beherrschende Zentralform und sind schon durch diese Analogie 
miteinander verbunden. Als vermittelnde Größen sind zwischen diese Räume und 
die flachen, nischenartigen Erweiterungen des Hauptraumes nach der Querachse 
vier kleinere Diagonalkapellen eingeschoben, die durch die Zweigeschossigkeit dem 
Zentralraum proportional angeglichen sind. Um den Vorraum selbst sind wieder 
kleinere Nebenräume gelegt, die Vorhalle mit Kapellen, in ausgeglichenen Abmaßen. 
Sie zwingen uns zuerst den Blick auf einfache Raumverhältnisse einzustellen, so daß 
das Raumerlebnis beim Betreten des Hauptschiffes von überraschender Großartig- 
keit wird. Das Ganze eine Raumgruppe, die komponiert ist nach dem Vorbild 
eines Kristalles; die kleinen Kristalle wiederholen die Form des Mutterkristalls, 
alle Teile aber sind miteinander verschmolzen und nur in der Verbindung lebens- 
fähig. Der ganze Innenraum wird nicht in seiner primitiven Mächtigkeit dem Blick 
angeboten, sondern gegliedert, in Abstufungen, die hell, feierlich und doch zurück- 
haltend, diskret abgetönt sind. Das Prinzip der Komposition, der feingliederigen 
Verteilung ist das gleiche wie auf einem feinen Rokokobild. Eine Steigerung dieser 
Lösung war nicht mehr möglich. Fischers nächster Bau, die Klosterkirche in 
Altomiinster (1763 ff.) schließt sich ganz an die Grundrißdisposition der Kirche in 
Rott an. 

Um die festen Markierungspunkte dieser größeren Kirchen schlingt sich ein Kranz 
von kleinen Landkirchen, die ae das Schema dieser Zentralanlage vereinfacht 
wiederholen, mit großer Frische im Ausdruck oder schematisch. Am reizvollsten 
erscheinen die Frühwerke, wie Unnering bei Seefeld (1731) und Sandizell (1735), 
die auch eine gute Ausstattung besitzen. Bescheidener sind Reinstetten (1740), 
Gossenzugen (1749), beide in Württemberg, sowie Romenthal bei Dießen (1757), 
schlecht erhalten ist Bergkirchen bei Dachau (um 1737). Wirksam sind alle, auch 


230 


die späten Bauten wie Bichl bei Benediktbeuren (1752), und Sigmertshausen bei 
Dachau (1755), weil auch in den kleineren Bauten das sichere Stilgefühl eines 
überragenden Meisters zum Ausdruck kommt. 

Ein Bau muß zum Schlusse noch besonders erwähnt werden, die Klosterkirche 
in Andechs. Es ist eine gotische Hallenkirche mit typisch bayrischem Grundriß, 
die im 18. Jahrhundert (1754 ff.) modernisiert wurde. Den Umbau leitete — wenn 
uns die stilistischen Anhaltspunkte, die an den Emporen, im Chor und an den 
Nebenräumen mit besonderer Deutlichkeit zutage treten, nicht triigen — Johann 
Michael Fischer. Wie ein Maler eine alte, eingeschlagene Skizze durch einige 
Lichter und Retuschen zu neuer Frische bringt, so hat auch Fischer den gotischen 
Bau mit wenigen, aber äußerst geistreichen Mitteln dem Stilempfinden der Rokoko- 
zeit angeglichen. Er hat die Schlußpfeiler entfernt, dadurch den Blick in den Chor 
freigegeben und den Raum erweitert, er hat dann um den ganzen Raum eine 
Empore geschlungen, die die Seitenschiffe eng mit dem Mittelschiff verknüpft, und 
große Fenster da eingesetzt, wo die energische Beleuchtung den malerischen Ein- 
druck steigern muß. Der festlich freudige, heitere Eindruck ist so sehr sein Werk, 
daß man den gotischen Kern ganz vergißt. Die Vollendung des Eindrucks besorgt 
die graziöse Dekoration Zimmermanns. 

Ein Umstand überrascht bei allen Bauten Fischers: die Schlichtheit der Außen- 
architektur. Er überrascht, weil niemand in der schmucklosen, einfachen Schale 
die festliche Pracht des Innenraumes vermuten möchte. Eine falsche Einstellung 
aber wäre es, wenn man daraus Schlüsse ziehen würde auf die Qualität des Archi- 
tekten. Die plastische Durchfühlung der Außenarchitektur hat dem süddeutschen 
Baumeister von jeher fern gelegen, in der Gotik wie im 18. Jahrhundert, schon 
deshalb, weil ihn das Material, der Backstein, zur Vereinfachung zwang. Dazu 
kommen noch andere Gründe. Ein gewisses Gefühl für künstlerische Ehrlichkeit, 
das vor inhaltlosen Scheinarchitekturen zurückschreckte. Schließlich die Rücksicht 
auf die Umgebung. Meist sind die Kirchen vom Trakt der Klosterbauten so eng 
umschlossen, daß der Außenbau wenig sichtbar wird oder bei der Nähe des Be- 
schauers nicht zur Geltung kommt. In diesem Falle wird nur die große Silhouette 
mit den Türmen dem Landschaftsbild eingegliedert. Wenn die Außenseite frei- 
liegt und die umgebende Architektur eine Steigerung verlangt, ist oft mit wenigen 
Mitteln Wertvolles erreicht. Die Fassaden der Kirchen von Zwiefalten und Fürsten- 
zell, der ganze Außenbau von Ottobeuren dürfen als bedeutende Leistungen schlecht- 
hin bezeichnet werden. 

Fischer gehört nicht zu den wenigen, genialen Schöpfern, die der Kunst ihrer 
Zeit mit brutaler Kraft den Stempel ihres Geistes aufdrückten, nicht zu den großen 
Bahnbrechern, die den Strom der Entwicklung in ein neues Bett drängten. Er ge- 
hört zu den feinen, abgeklärten Naturen, deren Schaffen die Blüte schon lange 
sprossender Keime bedeutet. Er hat sich der alten Formeln bedient, weil er auch 
in ihnen seinen Gehalt entfalten konnte; er hat sie mit neuem Inhalt gefüllt und 
sie zu neuem Wert gebracht; er hat die Forderungen seiner Zeit lebendig in sich 
gefühlt und ihnen mit ererbten Mitteln erschöpfenden Ausdruck gegeben. Als Voll- 
ender wird er seinen Platz unter den großen Künstlern Deutschlands behalten. 


231 


JOHANN MATHIAS KAGER, DER STADTMALER 
VON AUGSBURG (GEB. 1575, GEST. 1634), ALS ZEICHNER’) 


Mit vierzehn Abbildungen auf vier Tafeln in Lichtdruck Von HERMANN NASSE 


ären von Kager nur Zeichnungen bekannt, so würden sie allein genügen, 

sein Andenken der Nachwelt zu erhalten; mehr: als Zeichner nimmt Kager 
einen Platz als Meister ein. Sein Talent für Graphik ist ein so hervorstechendes, 
daß man oft versucht ist, sich zu fragen, ob das derselbe Künstler ist, wie der 
Maler von Fresken und Altarbildern. In den besten zeichnerischen Arbeiten offen- 
bart sich eine Großzügigkeit des handschriftlichen Duktus, eine Fähigkeit, in knappen, 
ja flüchtigen Umrissen das Wesentliche zu sagen, die überrascht, die uns zu der 
freudigen Feststellung führt, daß in einer Zeit anscheinenden Verfalles der gra- 
phischen Künste, anscheinenden öden Manierismus, noch ein erfinderischer Geist 
am Werke ist, der an Allerbestes aus der Vergangenheit anknüpft und auf Bedeu- 
tendes in der Zukunft, in der Zukunft sogar des 19. Jahrhunderts hinweist. Wir 
räumen ohne weiteres ein, daß Kagers eigentlichste Begabung auf diesem Gebiet 
liegt, das uns ja am ursprünglichsten die jeweiligen künstlerischen Absichten offen- 
bart, das am tiefsten in die Geheimnisse des künstlerischen Werdegangs hinein- 
leuchtet. Selbstverstiindlich haben wir es aber auch hier mit einer langsamen 
Entwicklung zu tun, die bei den frühen Arbeiten noch eine gewisse Abhängigkeit 
von fremden, hauptsächlich italienischen Vorbildern verrät, die dann tastend nach 
eigenen Wegen sucht. Wir stellen einen gewissen Manierismus, eine Übertreibung 
des bühnenartigen Aufbaus der Komposition, eine Übertreibung des Affekts und der 
Gesten fest. Aber sehr bald folgt die Klärung und die Beruhigung, sehr bald 
gewinnt Kager, von Rubens herkommend, eine großartige Steigerung des drama- 
tischen Ausdrucks und eine sichere Prägnanz der Darstellung. Zum Studium dieses 
Entwicklungsganges stehen uns Originalzeichnungen in genügender Anzahl zur Ver- 
fügung. Wir greifen zu näherer Besprechung nur einige der besten heraus. 

Früh scheint eine kleine Federzeichnung in Berlin (Kgl. Kupferstichkabinett) 
„Mariens Tempelgang“ zu sein“). Abbildung 1. Vorbild ist unstreitig Tintoretto. 
Schon hier verrät sich Begabung für Architekturen, für geschlossenen und ab- 
schließenden Aufbau der Komposition. Erfreulicher sind die beiden dortigen alle- 
gorischen Zeichnungen „Eintracht und Zwietracht“ und ,,Baukunst“*). Abbildung 2 
und 3. Ackerbau, Architektur und Goldschmiedekunst huldigen der auf erhöhtem 
Thron sitzenden Göttin der Eintracht, während die leere Truhe rechts deutlich 
genug von den Folgen der Uneinigkeit, „ut exemplum docet“, erzählt. Der schöne 
Männerkopf, der das Modell eines Gebäudes in der Hand hält, scheint E. Holl an- 
zugehören. Auf dem anderen Blatt „Archimedes extra linea“ sehen wir die be- 
trüblichen Folgen schlecht angewandter Regeln der Baukunst. Da wir nun die im 
selben Sinn gehaltenen, bis auf geringe, aber wichtige Abweichungen überein- 
stimmenden Gemälde Freybergers im Augsburger Rathaus kennen, müssen wir 
den Berliner Zeichnungen eine ausführliche Besprechung widmen. 


(1) Teil eines schon seit längerem ausgearbeiteten Manuskripts, das als ausführliche Monographie 
über Kagers Tätigkeit vor allem auch als Maler, Innenarchitekt und Stecher berichtet. Archivalische 
Studien liegen ihm zugrunde. 

(2) Voll bez. Das „vixit ibidem“ natürlich später Zusatz. Nach dem Berliner Katalog irrtüml. nur Kopie. 
(3) Die Bezeichnung ,,Kager F.“ auf dem zweiten Blatt ist unecht. 


232 


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Abb. 4. Titelblatt zu Justinian. 
München, Graphishe Sammlungen. 
Federzeichnung. 


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München, Graphishe Sammlungen. Lev. Federzeichnung, weiß erhöht. 


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(rechte Hälfte). Die Königin von Saba bei Salomon 
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Zu: Hermann Nasse, Johann Mathias Kager, der Stadtmaler von Augsburg als Zeichner. 


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Abb. 10. Heimsuchung. Abb. 11. Verkündigung. 


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Abb. 12. Anbetung der Könige. һа 13. Christi Geburt. 


Vier farbige Aquarelle. Privatbesitz München. | 
Zu: Hermann Nasse, Johann Mathias Kager, der Stadtmaler von. Augsburg als) Zeichner. 


— —— — — — . ——— — — — — —— — — — = e ae, 


Gleichzeitig mit Kager lebte und wirkte nämlich in Augsburg unter andern ein 
wenig bekannter Maler, der dort im Jahre 1604 Meister wurde: Johann Freyberger. 

1571 geb., ging er nach Sitte!) 1613—1618 nach Italien, starb 1631 in Augsburg’). 

Er war Historienmaler und Miniaturmaler (auch für Hainhofers berühmtes Stamm- 
buch), schuf die Fresken des 1611 von Holl umgebauten, 1826 abgebrochenen 
Barfüßerturms und muß auch Porträtmaler gewesen sein, da drei Bildnisse, 
darunter das des Geizkoflers von 1604 und des Max Rehlinger von ihm bekannt 
sind. Sitte spricht von vier großen Gemälden im goldenen Saal des Augsburger 
Rathauses. Sie sind noch da, wenn auch in anderen Sälen. Uns interessieren hier 
nur die beiden im großen Sitzungssaale aufgehängten Gemälde der „Concordia“ und 
des sog. „Archimedes“. Denn für beide lieferte Kager die Risse, d. h. die 
Vorzeichnung. Es sind die erwähnten Handzeichnungen im Berliner Kupferstich- 
kabinett. Im Kompositionellen stimmen die Gemälde mit den im selben Sinne 
gehaltenen Zeichnungen äußerlich überein. Sieht man näher zu, so ergeben sich 
aber charakteristische Abweichungen, die Gemälde treten hinter den ganz vortreff- 
lichen Zeichnungen völlig zurtick, so daß man fast von gemalten Kopien zu sprechen 
versucht wäre. Wie so häufig in dieser Zeit, ist der ganze, nicht schwer verständ- 
liche Inhalt der Bilder und entsprechend der der Zeichnungen ein allegorischer, wozu 
noch folgendes zu bemerken wäre. Die „Eintracht“ hat einen Kranz aus Ähren, 
Weintrauben, Gold u. dgl. um ihr Köpfchen gewunden, in der rechten Hand trägt 
sie einen Ölzweig, mit der linken deutet sie auf die ihr gegenübersitzende magere 
Frau. Neben ihr stehen viele Bürger, die allerlei Zölle, Abgaben usw. für Wein, 
Getreide, Konfekt u. dgl. entrichten; ihr zu Füßen bemerken wir eine offene Truhe 
mit Geld: die Eintracht, d. h. der Frieden schützt Handel und Wandel. Die ihr 
gegentibersitzende Figur ist die „Discordia“, auf dem Gemälde gelb und übel ge- 
kleidet; die Truhe zu deren Füßen ist leer. Hunger und Armut, Neid und Kampf 
sind das Gefolge des Unfriedens. Das ist kurz der Inhalt des ersten Bildes (vgl. 
Abbildung 2). 

Ein König, in der Tracht und Haltung eines römischen Kaisers, besichtigt auf 
dem zweiten Bilde (vgl. Abbildung 3) eine Reihe von Bauten im Kreise ernst 
blickender Bürger, die vor einem wohl ausgebauten Turm stehen und auf einen 
zweiten blicken, der einstürzt. Archimedes steht mit einem gelehrten Buche unter 
dem Arm vor ibnen und demonstriert, daß jener Turm als „krumm und außer der 
Linie des Richtscheits“ notgedrungen einstürzen mußte. Rechts vom König stehen 
drei Werkmeister mit ihrem Werkzeug; am Fuße des einsttirzenden Turms sieht 
man noch Leute arbeiten. Lateinische Inschriften suchen auch auf den Gemälden 
den etwas schwerfälligen allegorischen Sinn zu erklären. Die Gesamtfärbung der 
Gemälde ist süßlich und Нап, Die einzelnen Farben sind hart und ohne Kraft. 
Die Typen der handelnden Personen sind weichlich und flach und völlig ver- 
schieden von denen der Zeichnungen. Wo in der Zeichnung genau charakterisiert 
war, wo in der Zeichnung überall Klarheit und strengstes Bemtihen um anschau- 
liche und wahrheitsgetreue Schilderung herrscht, wird in den Gemälden alles ver- 
unklärt. Es ist, als ob der Maler, der hier eigentlich nur Kopist ist, in Eile alles 
hingewischt und sich die Aufgabe durch Weglassen, Verkürzen usw. zu vereinfachen 
gesucht habe. So wird in den Gemälden alles charakterlos, was so fest und scharf 


(1) Kunsthistorische Regesten aus den Haushaltungsbüchern der Geiskofler usw. Straßburg 1908. 
(2) Vgl. in Thieme und Beckers Künstlerlexikon die dort angeführte Literatur. R. А. Peltzer im Wiener 
Jahrbuch, Bd. XXXIII, 1916, 8. 343, Anm. 3. 


233 


umrissen in den Zeichnungen vor uns steht. So gibt sich der Maler mit Einzel- 
heiten, wie z. B. dem Hintergrund, gar nicht ab, sondern deckt hier einfach zu, 
um den Schwierigkeiten einer wirklichen Tiefe, einer Formangabe zu entgehen. 
Auf der Zeichnung der „Eintracht und Zwietracht“ z. B. ist im Hintergrunde eine 
schöne, sanft ansteigende Landschaft sichtbar, die auf dem Gemälde fortfällt, auf 
der des „Archimedes“ eine durch hohe Torbogen gegliederte Architektur, die auf 
dem Gemälde wie eine glatte Mauer aussieht. Der lebhafte Kopf des bärtigen 
Mannes, der ein Hausmodell trägt und den ich hier für Kager selbst ansprechen 
möchte, ist auf dem Gemälde zu einem faden, bartlosen Jünglingskopf geworden. 
Die Zeichnungen dagegen sind die Arbeit einer genialen und starken Ktinstlernatur. 
Nicht nur ihre Qualität, auch ihr Stil spricht für Kager. Ein Zweifel scheint mir 
ausgeschlossen; auch wenn Bedenken gegen die etwas zaghafte Signatur, die wohl 
erst später daraufgesetzt ist, vorliegen. Auch kommt es oft genug vor, daß nicht 
der ausführende Maler, sondern ein anderer die Zeichnungen für Wanddekorationen, 
Gemälde usw. liefern muß. Ferner: Kagers zeichnerische Stileigentümlichkeiten 
sind unverkennbar, wenn man die beiden Berliner Zeichnungen mit anderen 
von seiner Hand vergleicht. Die Abbildung 4 bringt eine gesicherte, echt bezeich- 
nete, hübsche Zeichnung zu einem Buchtitelblatt aus der Graphischen Samm- 
lung zu München. Die Ähnlichkeit mit den Berliner Zeichnungen springt in 
die Augen. Hier wie dort bildet der Zeichner kurze, gedrungene Füße mit wie 
abgeschnitten aussehenden Schuhspitzen. Kleine Häkchen und Bogenstriche mo- 
dellieren die nackten Teile. Die Linienführung ist in den Umrissen fest und 
energisch, flüchtig und sprunghaft in den Details. Die Gewandteile, die Falten usw. 
weisen eine flüchtige und flache Modellierung auf. Auch die Extremitäten sind 
flüchtig behandelt, die Finger setzen gespreizt unmittelbar an der Handfläche ab. 
Die Augen sitzen flackernd und höhlenartig. Energische Punkte geben die Höhlungen, 
die Grübchen, den Nabel usw. Die Gestalten des Kriegers links auf der Münchener 
Zeichnung und des „Königs“ auf der „Archimedes“-Zeichnung sind beinahe Zwillinge. 
Ganz ähnlich ist die posierende Haltung, die Drehung des Beines, das Aufsetzen 
der Füße auf den Boden, das fast rechtwinklige Absetzen des Unterarms vom 
Körper, wobei der Oberarm mehr oder weniger verschwindet. Auf allen drei 
Zeichnungen bemerken wir ein erstaunlich plastisches Herausarbeiten der Körper- 
formen und eine eminente Charakterisierungsgabe. Die ruhige und absolut sichere 
Wiedergabe der Architekturen, die mit aller ornamentalen Beigabe weit weniger 
flüchtig gezeichnet sind als etwa die Extremitäten, verraten den geübten Archi- 
tekten. Allen drei Zeichnungen ist aber auch ein gewisser manieristischer Zug 
eigentümlich, das übermäßige Betonen der Gesten, Verdrehen der Körper in ihren 
Achsen, das Zurschaustellen etwa der Beine, der Füße, das Herausheben der 
Hauptfiguren mittels künstlicher Erhöhung, das Herausblicken zum Beschauer, die 
übertriebene Unruhe, die Beweglichkeit im ganzen Bilde; wie überhaupt zur Ver- 
deutlichung der Vorgänge ein etwas zu pompöser Apparat aufgeboten wird. 

Diese hier mit den beiden Berliner Blättern verglichene grau lavierte flotte 
Federzeichnung bringt die Vorzeichnung zu einem von К. Custos 1625 gestochenen 
Titelblatt eines Buches über Kriegstechnisches 1). Weisheit und Stärke krönen mit 
Palmen die Büste Justinians. Seine beiden Feldherren Narses und Belisar halten 
Wacht, Gefangene schmachten im Kerker. Die geflügelten Genien sind typische, 
langaufgeschossene Engeljungens. Die hervorragende Begabung für Architektur, 


(1) Zween Kriegsdiskurse etc., deutsch, bei Joh. УУ. Neumayr und Кешіп, Frankfurt 1620. 
234 


eine etwas naive Freude, in Geste und Ausdruck zu übertreiben, wenn man die 
rollenden Augen und die sprechenden Hände mit den gespreizten, gebogenen Fingern 
betrachtet, springen ins Auge, aber auch anatomische Unkorrektheiten, wie z. B. 
der linke Arm des Feldherrn links. Muskulaturen, durch kleine Grübchen angedeutet, 
und Gelenke sind stark betont, die Bildung der Extremitäten ist flüchtig, die Richtungs- 
gegensätze sind übertrieben. Die Strichführung ist ruhig und energisch. 

Ausführlicher und von weit ruhigerer Haltung sind die beiden Vorzeichnungen 
der Münchener Graphischen Sammlung zur hl. Elisabeth von Andex und zur 
hl. Kunigunde, die R. Sadeler in getreuer Anpassung gestochen hat!). Auch hier 
wird mittels zerstreut hingeworfener kleiner Häkchen modelliert, auch hier findet 
sich die gleich lebhafte Mimik. Kunigunde öffnet in der Extase den Mund! 

Im Stil stimmt mit diesen beiden Zeichnungen gut überein eine ebenda unter 
den Unbekannten des 16. Jahrhunderts liegende, streng komponierte Federzeichnung 
des Heilandes, der die Kindlein zu sich kommen läßt. Er steht mit ausgebreiteten 
Armen in einem Rundtempel. Unter den assistierenden Männern und Jünglingen 
erinnert ein langbärtiger Alter an den Greis auf dem Blatt der hl. Kunigunde, der 
sich nachdenklich in den Bart greift. Die Kinder sehen wie Geschwister der 
Engel und Putten auf K.s Gemälden aus. Manches erinnert an Sustris. 

Das in der Literatur schon erwähnte Blatt der großen Vorzeichnung zu Colligrons 
Stich des Besuches der Königin von Saba bei Salomon, ebenfalls in der Graphischen 
Sammlung München, zeigt völlige stilistische Übereinstimmung mit dem erwähnten 
Justinian-Titelblatt*). Abbildung 5. Die Figuren sowohl wie die Architekturen 
sind genau so behandelt. Die Zeichnung z. B. der Augen, die der Hände und Füße 
ist die gleiche. Wie dort Narses, so stemmt hier genau so jener junge Hellebarden- 
träger den Arm hoch. Das gilt von der ähnlichen Fußstellung, dem etwas plumpen, 
ganz geraden Abschneiden des Schuhs über dem stark herausgedrehten Fuß. Ähn- 
lich ist das Abspreizen der Hände von der Handfläche weg, das übertriebene 
Gestikulieren, die unruhige und doch bestimmte Führung der Umrisse. Und so wie 
jene weiblichen Hermen das Zelt hinter Salomon geöffnet haben, genau so halten 
und greifen die beiden Engel mit den Palmen über der Justinans-Büste. Die Sklaven 
im Gefängnis stimmen völlig überein mit jenen gefangenen Kriegern des „Justinian- 
Titelblattes“. Auch hier wird die Modellierung der nackten Teile mit den gleichen 
flüchtigen Strichelchen und Häkchen erzielt, genau so flüchtig und doch übertrieben 
im Ausdruck werden die Augen, auch der Mund hingetupft, die so viel Grimas- 
sierendes in die Gesichtszüge hineinbringen. — Eine bizarre, allegorische Darstellung: 
„Minerva im Kreise der Torheiten und freien Künste“ findet sich auf einer echt 
bezeichneten Zeichnung der Wiener Albertina’). Abbildung 6. Im Vordergrund 
ist der faule Student über seinem Buche, das der Esel auffrißt, eingeschlafen, rechts 
nahen Männer der Kunst und Wissenschaft mit Alexander d. Gr., der den gordischen 
Knoten durchhaut, links werden allerlei Torheiten vorgeführt, wie das Trinken aus 
einem zerbrochenen Glas, Stiefelziehen über zwei Füße, Aufzäumen eines Pferdes 
von hinten, Midas zwischen den Heubündeln. 

Das Blatt wirkt in seiner sorgfältigen Ausführung wie ein Aquarell. Stilistisch 
ist nichts Neues zu vermerken. Es sind die gleichen Vorzüge der knapp prägnanten 


(1) Ziemlich genaue Gemäldekopien von Stephan Kessler, der 1622—1700 in Brixen lebte, im Ferdinan- 
deum zu Innsbruck! 

(2) In der Literatur oft irrtümlich Esther vor Ahasver genannt. Es ist aber der Vorgang des ersten 
Buches der Könige, Kap. 10. 

(3) Bez. „M. Kager von Augsburg inv. filioque suo dedicavit“. 


335 


Charakteristik, der Klarmachung des Vorgangs mit den gleichen Fehlern, aber die 
Einzelheiten wie Augen, Nasen, Extremitäten sind weniger flüchtig ausgeführt. 

Zu dem Besten aus dem graphischen Gesamtwerk gehören 13 brillante Zeich- 
nungen, die das Kupferstichkabinett des Museums in Stuttgart aufbewahrt. Diese 
zum größten Teil leicht kolorierten, sehr flotten und sicheren Zeichnungen stellen 
in großen rapiden Umrissen das Leben Josephs dar. Sie sind von späterer Hand 
numeriert und haben danach folgenden Inhalt: 

1. Joseph erzählt den Brüdern seine Träume. 

2. Er wird in den Brunnen geworfen. 

3. Er wird an die Midianiter verkauft. 

4. Die Brüder bringen Jakob den bunten Rock. 

5. Joseph und Potiphar. 

6. Joseph deutet dem Bäcker und Mundschenk ihre Träume. 

71. Pharao läßt die Wahrsager und Weisen vor seinen Thron führen. 

8. Joseph deutet Pharaos Traum ). 

9. Pharao läßt Joseph im Triumphwagen fahren und vor ihm ausrufen: „Dieser 
ist des Landes Vater.“ 

10. Die Brüder bringen Geschenke und werden reich bewirtet. 

її. Die Brüder fallen vor Joseph nieder. 

ı2. Joseph fällt seinem Bruder Benjamin um den Hals. 

13. Joseph mit seinen Söhnen Manasse und Ephraim und seinen Brüdern am 
Sterbebett Jakobs’). 

Blatt 1 zieht zwei Vorgänge zusammen. Links träumt Joseph im Bett. Garben, 
Stern und Mond erscheinen wie Bilder einer magischen Laterne an der Wand. 
Rechts im Rahmen der Halle erzählt Joseph den Brüdern den Traum. Ein schlafender 
Hund vorne. Violett-bräunlichgelbliche Lavierung. 

Blatt 2, siehe Abbildung 7. Zwei machen sich mit dem bunten Rock zu 
schaffen. Benjamin weist warnend zum Himmel. Bilaßrote, gelbliche, bräunliche 
Lavierung. 

Blatt 3. Joseph sitzt auf einem Kamel. Ein Midianiter kniet, um die 20 Silber- 
linge auf einen Teppich zu schütten. Viel Grün. 

Blatt 4. Jakob steht mit entsetzt erhobenen Händen vor dem Hausportal. Juda 
und zwei andere zeigen ihm den blutigen Rock. Einer hinter ihnen führt heuch- 
lerisch die Hand zu den Augen. Benjamin in Scham. 

Blatt 5. Potiphar, mit entblößter Brust und Beinen auf dem Bett sitzend, sucht 
den enteilenden Joseph am Mantel festzuhalten. Flaschen, Gläser usw. auf einem 
Schenktisch links; rechts Früchte auf einem Tisch. Viel goldene Verzierungen, 
grau und gelb. 

Blatt 6. Links sitzt der Bäcker auf Stroh, rechts der grau gekleidete Mund- 
schenk, dem Joseph (rot) den Traum deutet. Alle haben Ketten um die Füße. 
Die Traumbilder in Ovalen. Wachen treten in die offene Kerkertür. 

Blatt 7 sitzt Pharao im Turban mit Szepter auf seinem Thron. Joseph mit seinem 
Stab steht daneben. Fünf Alte treten von rechts an die Estrade heran. Wachen 
mit Lanzen schließen den Hintergrund. Viel Blau. 

Blatt 8. Pharao, mißmutig im Bett liegend, fragt nach der Bedeutung des Traumes 
von den sieben Kühen. Joseph ist dicht an ihn herangetreten und deutet ihm, an 
den Fingern abzählend, das Traumbild. 


(т) Nur grau und braun laviert. 
236 


Blatt 9, siehe Abbildung 8. In strenger Friesform gehalten, ist es das farben- 
reichste Blatt. Der Zug wird um die Stadtbrücke herumgeführt, im Hintergrund 
wird Pharaos Wagen sichtbar. Unter den vorzüglich gezeichneten gotischen Bauten 
könnte der Turm rechts das alte Kreuztor in Augsburg sein. Das Blatt erinnert 
an Amberger. 

Blatt 10, siehe Abbildung 9. In weiter Renaissancehalle sitzt rechts Joseph allein 
unter einem Baldachin. Benjamin, mit gehäuftem Teller!) ihm gegentiber, erkennt 
ihn. Im mittleren offenen Arkadenbogen sieht man die Brüder vor Josephs Ver- 
walter mit ihren Gaben niederknien. Knochenartiges Knorpelwerk ornamentiert 
den Bogensims. 

Blatt ır. Wie etwa Bassano in einer Anbetung die hl. drei Könige darstellt, 
liegen hier die Brüder platt am Boden. Rechts in der Tür sieht man Kamele. 

Blatt 12. Benjamin steht in Ketten an den Händen innerhalb einer Loggia vor den 
Brüdern, von denen die älteren von Bewaffneten eine Treppe hinaufgeleitet werden. 
In einer zweiten Loggia wird der Bruderkuß und die Verzeihung geschildert. 

Blatt 13. Joseph stützt mit seinem Arm den sterbenden Jakob, während er mit 
der Rechten den Schwur leistet. Neben ihm steht eine Amme mit den beiden 
kleinen Söhnen. Fünf köstliche Gefäße auf langer Lade, dahinter die elf Brüder. 

Wie die Oper „Joseph in Ägypten“ rauscht das Ganze in mächtigen Akkorden, 
knapp und bedeutsam erzählt, an uns vorüber. Man liest wie in einem Buche. 
Die Auffassung ist überraschend groß und edel. Die Kompositionen sind auf 
das geschickteste in die Fläche hineinkonzentriert, als seien die teilweise qua- 
drierten Blätter Vorzeichnungen für Fassadenmalereien. Die weit und geräumig 
empfundenen Renaissanceräume sind Geschwister jener, die einst am Weberhaus 
von Kager ausgeführt waren. Überall begegnen wir dem gleichen sicheren Archi- 
tekturgeftihl, der sicheren Kenntnis der Form, der gleichen Gliederung der Füße. 
Arkadenbogen trennen und zerlegen geschickt in getrennte Räume. Kagers Phan- 
tastik spielt auch hier eine Rolle und liebt auch hier viel anschauliches Detail, er 
erzählt überall und gern in gleich naiver Weise, wie wir es von seinen gemiit- 
vollen Anbetungen her kennen. Er vereinigt auch hier italienisches Formgefühl, 
das er als Architekt bewundert und kennt, mit deutscher gemütvoller Erfindung. 
Daß Kager der Zeichner ist, erhellt aus einem Vergleich mit seinen bekannten 
Zeichnungen, z. В. des Blattes Nr. 9 mit der Zeichnung der Begegnung Salomons 
und der Saba. Wir entdecken dieselben Typen, die gleichen alten, bärtigen Männer, 
die gleichen, oft zu lebhaften Gesten und Gebärden. Die Ornamente des Potiphar- 
blatts sind die gleichen weichen, teigartigen Knorpel, die auf Salomons Thron- 
himmel angebracht sind. Die Architekturen, ihre Gliederung, ihre Motivierung ist 
genau so empfunden. Auch sind die Figuren selbst ebenso genialisch hingestrichelt, 
nervös, fast hastig, nur in eiligen flüchtigen Strichen gegeben und doch groß und 
außerordentlich eindrucksvoll aufgefaßt. Wir bewundern auch hier jenes Geschick 
Kagers, Massen zu gliedern und zusammenzuhalten, in rapsodischen Linien das 
Wesentliche der Begebenheit zu bringen. Oft ist man vor diesen Blättern ver- 
sucht, an weit jüngere Zeichner, an die Nazarener, die in der casa Bartholdi ja 
diese Szenen dargestellt haben, an Richters, an Schwinds Romantik zu denken’). 


(1) Er erhielt fünfmal mehr als die anderen. 

(2) Josephs Geschichte wurde gern behandelt. Schon L. von Leyden hatte sie in Tempera gebracht 
(Beets: L. von Leyden, 8. 104). Meyers Künstler-Lexikon erwähnt, daß Amberger 12 große Leinwand- 
bilder lebenswahr und plastisch in Tempera gemalthabe; Sandrardt beschreibt sie. Diese Beschreibung 
trifft nirgends auf unseren Zyklus zu. Siehe auch Hassler, Der Maler Chr. Amberger, Königsberg 1894. 


237 


Im Vergleich mit diesen Stuttgarter Zeichnungen wirken vier im Besitze S.D. des 
Fürsten Fugger-Glött befindliche Miniaturen, deren Abbildungen hier sämtlich ge- 
geben werden (Abb. 10—13), in ihrer gleichmäßig sorgsamen und durchgebildeten 
Ausführung wie Gemälde. Sie hängen gerade auch im Kolorit so eng mit Kagers 
frühen Bildern der Augsburger Zeit zusammen, daß, wären nicht zwei von ihnen 
ausdrücklich signiert, schon diese stilistische Übereinstimmung zwingend auf Kager 
hinweisen würde. Das helle, etwas harte, aber nicht bunte Kolorit, die flotte und 
charaktervolle Zeichnung, die anmutige Liebenswürdigkeit der Erfindung und Er- 
zählung, die gegenständlich getreue Schilderung und auch die Freude an mehr 
nebensächlichen Einzelheiten bestechen und fesseln. Anklänge an fremde Vor- 
bilder fehlen auch hier nicht ganz. So wird man bei der im übrigen echt deutsch 
empfundenen Heimsuchung!) (s. Abb. 10) auf A, del Sarto hingewiesen, wobei 
aber die durch Stufen erhöhte Bühne, die Figur der kauernden Dienerin, die flüch- 
tigen sicheren Architekturen typisches Requisit der Ubergangszeit sind. In der be- 
wegten Verkündigung?) (Abbildung 11) lassen sich römische und florentinische Vor- 
bilder denken, die Jahreszahl hier (1609) dürfte für alle vier Bilder zutreffen. Denn 
die Anbetungs-Bilder in Augsburg vom gleichen Jahr gehören derselben Stilstufe 
an. An gute Quattrocentisten, aber auch an aus der gleichen Quelle schöpfende 
spätere deutsche Illustratoren wie L. Richter, erinnern die beiden Miniaturen der 
Anbetung der Könige (s. Abb. 12) und der Geburt Christi (s. Abb. 13). Gerade in 
ersterer finden wir wieder jene Vorliebe für lebhafte Gesten, erregtes Augenspiel 
und dergl., die uns Zeugnis sind von Kagers Bemühungen um Ausdruck und gei- 
stige Vertiefung, die ihm schon oft nachgerühmt werden konnte. Das Wappen auf 
der Anbetung sagt uns, daß diese entzückenden Miniaturen in die Zeit Gregors XIII. 
fallen. Sie waren wohl sicher für Marx Fugger bestimmt, der ja auch ein Porträt- 
blatt von sich für Hainhofers Stammbuch bei Kager malen ließ, Sollten nicht 
auch auf unserer Miniatur die beiden über das Säulenpostament gelehnten Männer 
mit ihren individuellen Köpfen Porträts sein? — Die Farben sind überall dünn, 
hell und zart in diesen liebenswürdigen Aquarellen?). 


Nach Schulze entwarf Bronzino mit Raf. del Colle Tapeten für den Palazzo Vecchio, die teilweise noch 
dort sein sollen, mit gleichem Inhalt. Hat Kager sie gesehen? 8. Abb. Bollettino d’arte Ш, 1909. 
Die Gestalten Bronzinos gleichen unbekleideten Heroen. 

(1) Bes, M. K. F. mit undeutlicher Jahreszahl 16. . 

(a) Bes. M. K. F. MDCIX. 

(3) Vier prachtvolle Miniatures der Münchner Residenz behalte ich einer späteren Veröffentlichung vor. 


KARL FRIEDRICH SCHINKEL ALS LAND- 
SCHAFTSMALER =! scht Abbildungen auf Von ECKART v. SYDOW 


.o.u.u..090900090.000000000000000090000000009000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000P0000000000 0000000000986 


er traditionelle Ruhm dieses großen Menschen wird nicht von einer umfang- 
D reichen Literatur kunsthistorischer oder rein ästhetischer Art getragen oder 
auch nur bestärkt. Das, was seit dem Verlöschen der eigentlichen Schülerschaft 
immer wieder zu seinem Gedächtnis zurückführte, war die Not der jeweiligen 
Gegenwart, die zu architektonischen Leistungen gezwungen wurde, ohne doch zu- 
gleich mit jenem baukünstlerischen Talente begabt zu sein, das die Voraussetzung 
wahrhafter Vollbringung ihrer Aufgaben gewesen wäre. Wegweisung und Hilfe 
suchte sie nun bei dem, der allerdings noch seinen Bauten gleichsam melodischen 
Fluß einzugießen vermochte, — als Zeitgenossen des Philosophen Schelling, der 
die Architektur als erstarrte Musik definierte. Ward auf solche Weise weniger die 
Gleichheit des praktischen Bediirfnisses, als vielmehr das Bewußtsein eigener 
Hilflosigkeit in einem ausschließlich malerhaft und musikalisch begabten und inter- 
essierten Geschlechte der Anstoß zum Studium Schinkelscher architekturaler Pla- 
nungen, so entsprang aus der gleichen Situation die entgegengesetzte Einstellung 
hinsichtlich seiner malerischen Leistungen. So ist denn zwar nicht allzulange 
nach Schinkels Tod ein kurzer Aufsatz über seine Malerei erschienen!), aber seit 
jener Zeit hat sich kein Kunsthistoriker oder Ästhetiker die Mühe genommen, die 
malerische Hinterlassenschaft des so oft an den Tagen des Schinkelfestes Gefeierten 
einmal näher zu betrachten und ihre Entwicklung präziser zu untersuchen. 

Die folgenden Ausführungen beschränken sich zunächst darauf, den Entwick- 
lungsgang der Malkunst Schinkels auf ihrem wichtigsten Gebiete mit möglichster 
Genauigkeit zu beschreiben. Der Zusammenhang mit anderen Künstlern, 
sowie die Analyse der übrigen Sonderbezirke der Schinkelschen Malerei (Figuren-, 
Panoramen-Malerei) und dann seiner Zeichenkunst, soll besonderen Untersuchungen 
vorbehalten bleiben. 

Die frühesten Arbeiten Schinkels sind kleine Gouache-Bildchen, deren Mehr- 
zahl (11 Stück) sich im Besitze der Familie von Quast in Radensleben (Kr. Neu- 
Ruppin, Prov. Brandenburg) befindet ). 


(1) Woltmann: „Schinkel als Maler“, Zeitschrift für bildende Kunst, III. Band. — Neben Woltmann 
kommen in Betracht: Theodor Fontane: „Wanderungen durch die Mark“. — Franz Kugler: 
„R. Fr. Schinkel“, Berlin 1842. — Hans Mackowaky: „Brüderstraße 29‘, in Kunst und Künstler 
1919, Septemberheft, bes. S. soo ff. — Gustav Pauli: „Schinkel“, in Kunst und Künstler VII, S. 299 fl. 
— Paul Mahlberg: „Schinkels Theaterdekorationen‘‘, Greifswalder Diss. 1916. — Gustav Friedrich 
Waagen: „K. Fr. Schinkel als Mensch und als Künstler“, in s. Kleinen Schriften, Stuttgart 1875, — 
Alfred у. Wolzogen: „Schinkel als Architekt, Maler und Kunstphilosoph‘“, Berlin 1864. — Мах 
Georg Zimmermann: „Schinkels Reisen nach Italien und die Entwicklung der künstlerischen Italien- 
darstellung“, Sonderdruck aus den Mitteilungen des kunsthistorischen Instituts in Florenz. Leipzig, 
Verl. R. W. Hiersemann, 1917. — Nach Abschluß des Aufsatzes kommen mir die kurzen Ausführungen 
von W. Kurth zu Gesicht über: „Schinkel als Landschaftamaler“, in Kunst für Alle, 1920, Oktober- 
Novemberheft (wichtig durch gute Abbildungen). 

Abkürzungen bedeuten: А. v. W. == Alfred v. Wolzogen: „Aus Schinkels Nachlaß“, 4 Bde., 
1863 ff., Berlin. — B.-S.-M. = Beuth-Schinkel-Museum in der Berliner Technischen Hochschule in 
Charlottenburg. — М. = Mappe der Sammlung dieses Museums. — Ziller = Hermann Ziller: 
„Schinkel“, in den Knackfuß-Monographien im Verlage von Velhagen & Klasing, 1897. 

(2) Ehemals der Familie von Rathenow in Plänitz (Provinz Brandenburg) gehörend, sind sie von dem 
Konservator der Provinz Brandenburg, v. Quast, um 1869 erworben worden. Vgl. Zeitschr. f. Bau- 
wesen, 20. Bd, (1870.) 


239 


In öffentlicher Sammlung scheint sich nur ein einziges, nicht tadelloses Blättchen 
dieser Art zu finden: im Beuth-Schinkel-Museum der Berliner Technischen Hoch- 
schule. Die anderen Arbeiten erscheinen zwar infolge ihrer besseren Erhaltung 
auf den ersten Blick als wesentlicher, — tatsächlich ist das Berliner Blatt das 
beste dieser Gattung, die den Jahren 1797 bis 1799, also dem 16. bis 18. Lebens- 
jahre Schinkels, entstammt. 

Die Durchschnittsgröße dieser Arbeiten ist etwa 12:16 cm. Sie sind eingefaßt 
von breitem dunklen Rahmen, der in einigen Fällen dunkelfarbig marmoriert ist 
und durch verschiedenfarbige Innenleisten den Eindruck der Plastik mehrfach vor- 
zutäuschen sucht. Ihre Farbigkeit ist im allgemeinen hell und leuchtend, — da 
es sich um Gouache handelt, freilich auch undurchsichtig, sozusagen innerlich 
stumpf, trotz ihrem Glanze. So fehlt ihnen durchweg das atmosphärisch Fließende 
des Lichtes, wie auch die stärkere Intensität innerer Beseeltheit. Ebenso wie das 
Licht zum Effekt geworden ist, der dekorativ verwertet und verwendet wird, so 
ist auch die Naturstimmung durch die dekorative Tendenz geschwächt. Immerhin 
lebt in einigen dieser zarten und farbreichen Blättchen innerlich ein noch stärkeres 
Gefühl für die reale Natur, als in den späteren, umfänglicheren Ölgemälden der- 
selben, gereifteren Hand. Mit pünktlicher Sorgsamkeit sind auch so früh schon 
die Dinge dargestellt und im einzelnen ausgeführt. — Ganz kurz beschreibe ich 
nun diese Blätter. 

т. Landschaft (10,3:16 cm; bez., dat. 1797). Im Vordergrund fließt graugrünes 
Wasser, in welchem ein rotgekleideter Mann Kahn fährt, — den Mittelgrund nimmt 
ein gelbgrauviolettes Haus, links von bräunlichviolettem Fels, rechts von gelbgrau- 
violettem Quai vor blaugriin bewachsener Felshöhe flankiert ein, — im äußersten 
Hintergrunde zeigt sich rechts ein violetter Berg; der Himmel ist blau mit grau- 
violetten Wolken. Das neutrale Licht kommt von links. Es fließt gleichsam über 
das Bild hinaus, denn auch die Umrahmung beweist seinen Einfluß, da die Innen- 
leisten rechts und oben gelblich, unten und links aber schwarz gefärbt sind. Der 
breite „Rahmen“ ist dunkelgrau, und seinerseits wiederum durch vier gleichmäßig 
schwarze Außenleisten umrahmt. 

a. Landschaft (8,2 : 10,7 cm; bez., dat. 1797). Im Vordergrund steigen dunkel- 
braune Hügel zu beiden Seiten an, zwischen ihnen beginnt vorn ein heller, gelb- 
licher Weg, der weiterhin zwischen blaugrünen Wiesen verläuft, aus welchen 
braune und weiße Rinder, weißliche Weidenstämme sich hervorheben, — links 
davon ein heller Wasserstreif, der hinten von bläulichgrünem Inselufer begrenzt 
wird, — im Mittelgrunde dann ein rötlich bedachtes Haus, — im Hintergrunde in 
weiter Ferne violette Berge und darüber ein blauer Himmel mit rötlichen Wolken, 
die von links her beleuchtet sind; wie denn auch über der violetten Höhe links 
eine größere Helligkeit schwebt. So ist auch der grauviolette Marmorrand innen 
mit schmalen Leisten versehen, die links und oben dunkelgrau, rechts aber und 
unten hellgelb gefärbt sind. 

3. Der Meerbusen von Neapel mit dem Ätna (12,7:17,2 cm; bez., dat. 1798). 
Im Vordergrund zieht sich eine bläulichgrüne Wiese hin, auf der weiße Lämmer 
weiden, dann weiterhin links blaugrünes Gebüsch in tieferer Lage, wie auch auf 
einer Anhöhe auf der linken Seite, — im Mittelgrunde liegt das rötlich besonnte 
Neapel unten am Meer und zieht sich auch nach oben hin zum Berge, in weiterer 
Ferne dehnt sich wiederum blaues Meer und dahinter erhebt sich rötlichviolett 
der rauchende Ätna, aus dessen Öffnung oben eine kleine graue Wolke aufsteigt 
in den Himmel, dessen Bläue von rosig schimmernden Wolken gefleckt wird. 


240 


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Abb. 1. K. Fr. Schinkel: Antikes Opferfest. 1805—1807 (?) 


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Abb. 2. K. Fr. Schinkel. Landschaft. 1798. 


Zu: Eckart von Sydow, Karl Friedrich Schinkel als Landschaftsmaler. 


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(2) 6081—1081 (2) 6081—1081 `чәбпу јпе зәшшеҳиәддпіс̧ ‘p саду 
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Digitized by Google 


4. „Potsdam beim Sonnenaufgang, von den Babelsbergen nach der 
Seite von Novavess gezeichnet von Schinkel 98“ (so von Schinkel selbst 
unterschrieben; 11,5:16,5 cm). Im blaugrünen Gebiisch des Vordergrundes stehen 
zwei blaugekleidete Gestalten, dann folgt der Blick über eine hellgrüne Wiesen- 
fläche hingehend einem Gebüschstreifen, der, schräg in die Wiese hineinstoßend, 
seinen Ausgang bei einer Mühle auf der rechten Seite hat, — in weiterer Ferne 
fließt ein blauer Strom, hinter dem eine vor violetter Anhöhe gelegene rötliche 
Stadt auftaucht. Darüber ein blauer Himmel mit rötlichen Wolken. Überall ist 
die Luft dieses Bildchens durchsonnt; rotes Licht hängt überall: im Laub der 
Birke, im Grün des vorderen und des entfernteren Gebtisches, an der Mühle usw. 
Auch der Rahmen nimmt an dieser Beleuchtung teil: rechts und oben sind die 
Innenleisten rot, links und unten schwarz gefärbt. 

5. Landschaft (10: 15,5 cm; bez, dat. 1798). Im Vordergrund steht eine helle, 
bräunlichgrüne Trauerweide, dahinter dunkleres, grünes Gebüsch, im Mittelgrunde 
eine hell bräunlichviolette Turmruine und Brücke, die auf der einen Seite leicht 
ins Rötliche übergeht, vor graugrünem Gebüsch. Über die Brücke treibt ein röt- 
lich gekleideter Hirt graue, braune und weiße Rinder. Diese Laudschaftlichkeit 
liegt vor grauweißrötlichem Wolkenhimmel, ist aber an sich ohne rötliche Betontheit. 

6. Landschaft (Abb. 2), — im Beuth-Schinkel-Museum (23:27 cm; bez., dat. 1798). 
Unter einem großen Baume des Vordergrundes lagern und weiden weiße Rinder 
gehütet von rotgekleidetem Hirt, — im Mittelgrunde fließt ein breiter, heller Fluß 
zwischen hohen Ufern hin, — im Hintergrunde erheben sich weichverschwimmende 
violette Berge vor einem glatten, unten rötlichen, oben ins Bläuliche sich ver- 
färbenden Himmel. 

7. Landschaft (12:18,3 cm; bez., dat. 1799). Im Vordergrunde liegen graue 
Ruinentrümmer, den Mittelgrund nimmt eine hellschimmernde, grünliche Wiese, mit 
braunen Rindern staffiert, ein — den Hintergrund violettes Gebirge. Der Himmel 
ist unten rötlich und wird nach oben hin blau und ganz oben wolkig-grau. 

8. Landschaft (14,2:19 cm; bez., dat. 1799). Im Vordergrunde läuft ein 
brauner Weg (auf dem ein rotgekleideter Bauer geht) zwischen blaugrüner Wiese 
in der Richtung auf graue Wände eines Gehöftes hin, hinter welchem wieder blau- 
grüne Bäume, — dann im Mittelgrunde eine hellgriine Wiese mit rot und blau 
gekleideter Gesellschaft von vier Personen, — im Hintergrunde eine rötlich be- 
leuchtete Ebene folgen, an deren Rande große Kirchengebäude liegen vor violett- 
rötlichem Himmel. | 

9. Landschaft (oval, 7,5:10,5 cm; bez., dat. 1799, Dezember). Auf grünlich- 
braunes Gebüsch des Vordergrundes und die ebenso gefärbte Ebene durchfließen- 
den weißlichen Bach folgt im Mittelgrunde ein rötlichvioletter Turm mit flachem 
Schutzdach vor hellgriinlichem hohen Gebüsch und (weit hinten) hellvioletten 
Bergen. 

то. Landschaft (15:19 cm; Reste der Bezeichnung und des Datums 1799 noch 
erkennbar). Im Vordergrunde liegen blaugrtine Hügel, im Mittelgrund eine hell- 
belichtete, graugrüne Hütte, dahinter eine violettblaue Turm-Ruine, rechts davon 
fällt der Blick auf weißlichen Strom mit graugrünen Inseln, — im Hintergrunde 
erheben sich grau und violett verschwimmende Berge. Der Himmel darüber ist 
hellfarbig mit scharf sich abhebenden weißen Wolken. 

11. Landschaft (9,5:13,5 cm; unbez., undat). Im Vordergrunde vor dumpf- 
getönter, graugriiner Wiese, die von grauem Weg durchschnitten wird, stehen links 
zwei rot und blau gekleidete Gestalten, in größerer Höhe ein roter Reiter, dann 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. IL 1921. 16 241 


mehr rechts zwei Baumgruppen (zwischen denen der Weg ins Helle des bliulich- 
rötlichen Himmels mündet), an die sich dann rechts ein dunkler Wald anschließt. 

12. Landschaft (9,5: 14,5 cm; unbez., undat.) Im Vordergrunde lagern graue 
Trümmer, erheben sich hellblaugriine Trauerweiden, die ihr weißes Laub in den 
blauschwarzen Fluß herabhängen lassen, der das Bild durchquert; weiter zurück 
liegt eine rotviolette kleine Felswand, mit blaugrünen Pflanzen bewachsen, vor 
grünlichbraunen Bäumen. Der Himmel ist einfach blau. Das Bild ist vorn staf- 
fiert mit zwei blauen und weißen Figuren. 

Bei diesen frühen Gouachearbeiten herrscht manchmal noch eine intensive Natur- 
stimmung, so auf der Neapeler Ansicht; zumeist aber ist doch die Dekorativität 
ausschlaggebend. Die Stimmung ist durchweg idyllisch; das Dramatische fehlt 
ganz. Zumeist tragen die Landschaften stidländischen Charakter, nur bei zwei 
Darstellungen möchte von romantisch -intimem und niederländischem Typus die 
Rede sein, der durch die Verminderung der roten Belichtung und die Staffierung 
mit Ruinen in nördlicher Landschaftlichkeit gekennzeichnet ist. So beginnt also 
die Landschaftskunst Schinkels mit zwei Richtungen seiner Sinneseinstellung: auf 
das Nördliche und das Südliche, wobei die letzte Tendenz sich als die stärkere er- 
weist; beide Richtungen aber werden nicht auf das Natur-Studium gerichtet, sondern 
gewinnen ihre Bedeutung (für Schinkel) sogleich durch das Siegel des Dekora- 
tivismus. Allerdings einer Dekorativität, die zugleich das ganze Weltleben in sich 
einbeziehen möchte und immer den Sinn für das Komische, wenn auch tiberwiegend 
auf das Irdische eingestellt, offen hält. Denn immer wieder wölbt sich der Himmel 
hoch und groß über der Landschaft, — freilich mit einer Höhe und Größe, die 
sozusagen dekorativ irgendwie zu „bloßem Schein“ geworden ist. 

Die Organisation des Bildaufbaues ist noch nicht so konsequent und klar wie 
später. Man spürt noch eine Unbestimmtheit innerlicher Art, die dann ins Spiele- 
rische hintiberleitet, zum mindesten in der Farbgebung, weniger deutlich im Linien- 
aufbau. Ein gewisser Schematismus ist in der Belichtung unverkennbar. Nicht 
nur, daß es sich regelmäßig um sonnighelle Landschaften handelt, in die das Licht 
aus unsichtbarer Quelle von links hereinflutet, — auch die Art und Weise der 
Lichteffekte ist prinzipiell festgelegt: Dämmerungsbeleuchtung erfüllt die Welt mit 
dem rosigen Schimmer ihres auf- oder untergehenden Gestirns. So sind denn die 
Schatten lang und scharf gezogen, und die Dinge haben jenen eigentümlichen 
Schmelz an sich, den ihnen in der Tat das Dämmerhafte verleiht. Doch ist es 
nicht so, als habe die Naturstimmung als solche diesen Maler zu seinen farbigen 
Köstlichkeiten hingeführt, sondern den Ausgang muß seine Farbphantasie vom 
juwelenhaften Leuchten genommen haben, — das Stimmungsvolle ist eher die 
logische Folge der Suche nach einem Darstellungsgegenstand. 


a * 
* 


In dem gleichen Besitze, wie die Mehrzahl der besprochenen Gouache, befinden 
sich zwei größere Gemälde aus etwas späterer Zeit, mit denen eine neue Epoche 
Schinkelscher Kunst eingeleitet wird. Es handelt sich zunächst um ein Bild eines 
wohl als Museum gedachten „Gebäudes in freier Landschaft“ (38:51 cm). 
Die Farbe ist freilich so gut wie aufgezehrt. Erkennbar bleiben aber der Bau 
rechts mit einem Reiterstandbild auf hohem, mit Relieffries umschlungenem Sockel, 
links davon eine Baumgruppe, durch deren Stämme hindurch der Blick auf das 
Meer fällt. Die Staffage dieser architektonischen Phantasie bilden mittelalterlich 
Gekleidete. —- Besser erhalten ist ein anderes Bild, das auf der Inschrifttafel unter- 


342 


halb des eigentlichen Bildes halbverwischt die Aufschrift trägt: „Entwurf zu 
einem Museum“. Dies Gemälde (43:59 cm) ist bezeichnet und mit 1800 datiert. 
Im Vordergrund dehnt sich grünbräunliches Gebüsch auf einer ebenso gefärbten 
Terrasse aus, — den Mittelgrund nimmt grünliches Wasser und das hellere Ge- 
bäude ein, das sich vom Hintergrunde blauer Berge abhebt. Der Himmel ist gelb- 
lich, ohne bestimmte Sonnigkeit. Der Aufbau dieses Bildes vollzieht sich so, daß 
über dem breiten, grauen, mit graublauer Inschrifttafel versehenen Sockel dunkle, 
warme Töne des Vordergrundes lagern, von welchen sich einige menschliche Ge- 
stalten (hell rötlich und bläulich und gelblich gewandet) präzis abheben mit ge- 
wisser dekorativer Festlichkeit ihrer Erscheinung, während dartiber die Masse der 
Gebäudes hell und kühl emporsteigt. Es ist hier bezeichnend für die fortgeschrit- 
tene Systematisierung der Malkunst Schinkels, daß die Farbe der vornstehenden 
Bäume und ihres fächerhaft ausgebreiteten Baumschlags braun, die der dahinter- 
stehenden grün ist, — so entwickelt sich die Farbperspektive oder vielmehr deren 


schematisierender Ersatz. 


* * 
* 


Nun unterbricht eine jahrelange Pause die Produktion Schinkels, — wenigstens 
sind aus den Folgejahren Gemälde nicht bekannt, und auch die beiden soeben auf- 
geführten Arbeiten fallen ja eigentlich eher ins architekturale als ins malerische 
Gebiet. Erst die Italienreise (1803—1805) belebt seine malerische Tätigkeit von 
neuem. Viele Reiseskizzen, deren Charakter M. G. Zimmermann in seiner Ab- 
handlung „Schinkels Reisen nach Italien und die Entwicklung der künstlerischen 
Italiendarstellung“ besprochen hat, bleiben als Zeugen seiner Fahrt. Malerische 
Arbeiten geben z.B. die „Böhmische Gebirgskette in der Abenddämmerung 
in der Nähe von Geiersberg“ in Gouache (24: 39,5 cm; B.-S.- M., M. II, 2) wieder. 
In symmetrischem Aufbau ist der gelbbräunliche Vordergrund flach nach oben 
gewölbt, flankiert auf beiden Seiten durch bräunlich dunkle Tannenwaldhöhen, — 
im tieferen Mittelgrunde liegt grünlichbläulich die Ebene, aus der dann weiter 
zurück blaue Berge emporsteigen in den Himmel, der sich in der Mitte gelb öffnet, 
sonst aber von grauen Wolken bedeckt ist. — Weit farbiger ist eine „Ansicht von 
Triest“, ein Aquarell (26:41,5 cm; B.-S.-M., M. Ib, 27, Abb. in Ziller, 8.6). Auch 
hier handelt es sich um Spätabend-Beleuchtung, die den Himmel mit graubläulichen, 
orangenen und violetten Wolkenflächen überdeckt; durch die Aste von zarten, weit- 
gebreiteten Baumkronen scheint er hindurch, während sich unter ihm bläuliches 
Meer und Gebirge und braunrötliches Stadtbild ausdehnt; im Vordergrund läuft 
schräg ins Bild hinein ein brauner Weg, auf dem ein Paar rotgekleideter Mädchen 
wandern. Dieses Aquarell ist eine der besten Leistungen Schinkels, lebendiger 
als das vorhergenannte aufgefaßt und wirklich in seinem Stimmungsgehalt intensiv 
erlebt, — während jenes andere zu ausschließlich den dekorativen Reiz der Farbe 
betont. 

Nach der Rückkehr Schinkels aus Italien entstehen dann — wohl von 1805 
bis 1807 — unter dem Eindruck der Gemälde A. Kochs, den Schinkel in Rom 
kennen lernte, zwei wirklich’ bildhaft große Werke: „Antike Stadt an einem 
Berge mitOpferszene“ (Gouache; 63:97 cm; B.-S.-M.; Abb. 1) und als Erinne- 
rungsbild aus persönlichem Erlebnis heraus!), eine „Ansicht von Taormina 
nebst Ätna und Meer“ (Öl; 120:186 cm; B.-S.-M.). Beide Werke sind ganz 


(1) А. v. W. I. 110. 
243 


erheblich nachgedunkelt. Der Gesamtton des ersten Werkes ist freskohaft, weich 
und kühl. Die Gebäude heben sich aus seinem Blaugrünbraun als hellbräunlich 
heraus. Einzelne Stellen sind von Wert, so etwa die zurückgelegene Landschaft 
links vom Tempel mit ihrer schönen Idyllik des Waldsees. Die Ansicht von 
Taormina läßt sich freilich infolge ihrer ungemein starken Nachdunkelung kaum 
beurteilen. Doch ist interessant die Wärme ihres Tons und die goldgelbliche 
Abendbeleuchtung (durch die vom Baumwipfel verdeckte Sonne), aus der sich der 
Vorder- und Mittelgrund grünbräunlich, der Hintergrund mit seinen Gebirgigkeiten 
grünbläulich abheben. 


* * 
* 


Ganz anders aber, als auf diesen beiden heroischen Landschaften, gibt sich 
Schinkel auf ein paar kleineren, aber viel wichtigeren Bildern. Diese Arbeiten 
dürften zwischen 1807 und 1809 entstanden sein, — gleichzeitig mit seinen großen 
Panoramen und Dioramen, die er für die Ausstellungen von W. Gropius malte. 
Da ist zunächst ein größeres Ölgemälde „Aussicht auf das adriatische Meer 
von den Triester Gebirgen“ (Abb 3; — oval, auf dunklem, viereckigem Grund; 
52:98 cm; unbez., undat.; B.-S.-M.). Diese Ansicht ist nun wesentlich anders, als das 
obengenannte, ähnlich betitelte Aquarell. Alles Stimmungshafte ist verschwunden. 
Kühl und hell liegt das Gebirge vorn und weiter hinten das Meer panoramahaft 
vor uns und einer kleinen Menschenschar, die lebhaft gestikulierend nach Triest 
hinweist, das in weiter Ferne erkennbar ist. Felsen und Vegetation, die zum 
tieferen Tal hinunterführen, sind graugrün, wärmere Töne beleben Meer und Stadt, 
um in den Wolken, welche links oben die Sonnenstrahlen undurchdringlich ab- 
blenden, wieder kälter und grau zu werden. 

Wie dies Bild einen starken Eindruck der Reise!) festhält, so geschieht dies 
auch auf einem der interessantesten Gemälde Schinkels, einer „Aussicht vom 
Aschenkegel des Vesuv auf den Golf von Neapel“ (Abb. 5; — 36:64 cm; 
unbez., undat.; B.-S.-M.) ). Es ist die Bildfläche diesmal in große, zumeist hori- 
zontal laufende Streifen derart aufgeteilt, daß vorn graues Gelände links hin zum 
braunen Krater hinaufführt, dann braunes, gleichmäßig hohes, welliges Gelände 
sich erstreckt, das dann als gelblichgrauer Strand zum blauen Meere hin abfällt; 
den hellblassen Himmel färben graue Wolkenmassen, die aus dem Vulkan auf- 
steigen. Die Einzelheiten dieses Bildes sind nicht genauer ausgeführt. Die Pinsel- 
striche scheinen verhältnismäßig breit und lang geführt zu sein. Doch macht die 
Landschaft bei längerer Betrachtung einen irgendwie unfesten Eindruck, der sich 
wohl aus der dekorativen Absicht des Malers ergibt. 

Gleichzeitig muß auch „Stubbenkammer auf Rügen“ (Abb. 4; — 45:66 cm; 
unbez., undat.; B.-S.-M.) entstanden sein, dessen graugrünlicher, kalter Gesamtton 
und allgemeine Helligkeit, die verwaschen wirkt, dieses Bild der Triester Ansicht 
beiordnen. 

Da man bei der vorderhand immer noch ungenügenden Übersichtlichkeit der 
Malerei vom Anfang des vorigen Jahrhunderts nur mit Vorbehalt Urteile ver- 
gleichender Bewertung fällen darf, so kann die gegenwärtig mögliche und not- 
wendige Einschätzung dieser frühen Schinkelbilder nur vorläufige Geltung be- 
anspruchen. Mit dieser Einschränkung muß man diese Arbeiten nicht bloß als 


(1) A. v. W. I. 6f. und ant, 
(2) Vergl. Brief in A. v. W. I, 66. 


244 


geringe Nebenläufer der Leistungen C. D. Friedrichs, sondern weit höher als 
selbständige Werke von Rang betrachten. Etwas Neues und Eigenes scheint 
Schinkel in dieser Vereinigung von Realistik mit großem Stil aus sich heraus ge- 
schaffen zu haben, das ihn ehrenvoll in die vordere Reihe der damaligen deutschen 
Landschafter stellt. 

Der Glanz der Gouachefarbigkeit ist in ihnen zurlickgetreten. Sachliche Härte 
und Nüchternheit prägt ihnen das Kennzeichen auf. Was ihnen an differenziertem 
Farbenreiz abgeht, sucht eine stark glänzende Firnisschicht zu ersetzen; — eine 
Gepflogenheit, der Schinkel übrigens auch späterhin treu blieb. 

Am Ende wohl dieses Jahrzehntes entsteht die stark nachgedunkelte „Wald- 
landschaft mit badenden Kindern“ (33:37 cm; unbez., undat., В.-8.-М.). Dar- 
auf deutet der noch altertümlich feste Baumschlag, die idyllisch ruhige Stimmung, 
sowie die verhältnismäßige Primitivität der Ausführung hin, — ich möchte es 
kurz vor den „Gotischen Dom hinter Bäumen“ (Federzeichnung im B.-S.-M.; abgeb. 
in Ziller, S. 14) setzen. 

Die großen Panoramen und Dioramen selbst sind anscheinend verloren ge- 
gangen, — außer einigen Skizzen im Beuth-Schinkel-Museum. Nur ein einziges 
dieser großen Arbeiten, „Die Küste von Genua“ mit frei dazu komponierten 
gotischen Klosterruinen und Grabmonumenten unter Buchen rechts im Vorder- 
grunde“ von 1809, ist im Depot der Berliner Nationalgalerie aufbewahrt, aber seit 
langem verborgen unter anderen darüber gerollten Riesenkartons'). Es handelte 
sich bei diesen Werken hauptsächlich um die getreue Darstellung von Städten der 
antiken Welt und des Auslandes. Man berichtet von künstlicher, durchscheinender 
Beleuchtung und unsichtbarer Vokalmusik; es ergab sich mithin eine Art Gesamt- 
kunstwerk, in welchem freilich die Architektur den Ausschlag gab. Die Zeit dieser 
perspektivisch-optischen Arbeiten dauerte im wesentlichen von 1807 bis 1815). 

Eine Vermittlerrolle zwischen diesen umfänglichen Werken und den späteren 
Staffeleibildern spielen die neuerdings von Н. Mackowsky*) veröffentlichten großen 
sechs Wandbilder, die Schinkel 1813 und 1814 für ein Berliner Haus gemalt 
hat und die in der Berliner Nationalgalerie aufgestellt sind. Es ist interessant, zu 
sehen, daß die qualitätvollsten Stücke gerade Bilder der Dämmerung sind: „Morgen“, 
„Abenddämmerung“; die „Nacht“ hat doch einen etwas zu dumpfen Ton. Im 
„Morgen“ ist der Vordergrund in sattem Grün und Braun, der Mittelgrund als 
bläulicher und rötlicher Seespiegel, der Hintergrund mit grünlich- und rötlich- 
violettem Gebirge und Himmel gegeben. 


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Daneben geht in den letzten Jahren die eigentlich malerische Arbeitsamkeit 
Schinkels einher, in welcher nun diejenigen Werke entstehen oder sich vorbereiten, 
die mit Recht als wahrhaft schinkelhaft gelten und zu gelten haben. 

Ein „Gebirgssee mit Fischerbooten“, aus denen Netze ausgeworfen werden, 
(76:102 cm; bez., dat. 1812; im Besitz von Herrn von Treskow, Friedrichsfelde 
bei Berlin)“) läßt das Bild, besonders stark im Vordergrunde, von bläulichgrünem 


(1) A. v. W. Ш, 400, IV, 338, Nr. 4. 

(2) A. v. W. II, 344 ff., Ш, 409 und Fr. Kugler: „К. F. Schinkel“, S, 137—151; ich werde das er- 
haltene Material an Zeichnungen und auch die diesbezüglichen Zeitungsberichte über diese Panoramen 
und Dioramen in einem besonderen Aufsatz behandeln, 

(3) in „Kunst und Künstler“, 1919. 

(4) Kopie in Berlin, Nat.-Gal.; eine Zeichnung im B.-S..M., abgeb. in „Kunst u. Künstler“ 1919, S. 497. 


245 


Gesamtton beherrschen, dann aus dem See und seinem bewaldeten Ufer ein helles 
grünliches Gebirge links aufsteigen und im Hintergrunde grauviolett werden, wäh- 
rend die rechte Partie sich von gelblichrötlichem Hintergrunde des Himmels ab- 
hebt, der nach links hin in dunkleres Blau übergeht; hinter violettem Gebirge der 
rechten Seite verborgen steht die Morgensonne. — Dies Gemälde bezeichnet ebenso 
einen Übergang, wie ein weiteres im gleichen Besitz befindliches, weniger hoch 
zu bewertendes Bild „Italienisches Schloß auf einer Gebirgsinsel“ inmitten 
eines Sees (76:102 cm; bez., dat. 1813)!). Hier ist es Abendstimmung. die lebendig 
werden — soll: das Schneegebirge des Hintergrundes ist leicht rosig getönt und 
die Schatten sind lang und dunkel. Doch ist der Himmel strahlend dunkelblau 
und ungetrübt. Der Wille zur gleichsam epischen Monumentalisierung der Natur 
drückt sich in beiden Gemälden aus und beherrscht von nun an fast jede Arbeit, — 
ein Wille, der auch das kleine Bild „Landschaft im Charakter des Mont- 
blanc“ durchdringt (37:41,5 cm; bez., dat. 1813; B.-S.-M.) ). Von diesem Jahre 
an findet die Sonne ihren Platz im Bilde selbst. Freilich nicht als direkter Faktor 
der Wirkung und der Anschauung, sondern abgeblendet und verdeckt, — aber 
doch nicht mehr so außerhalb der Bildumfassung bleibend und von weitem wirk- 
sam wie bisher. So bei der „Mittelalterlichen Stadt am Wasser“, in deren 
Mitte sich ein gotischer Dom auf hoher Terrasse erhebt (76:102 em; bez., dat. 
1813; B.-S.-M.) ). Auch der „Heilige See bei Potsdam“ (36, 5: 40,5 cm; bez., 
dat. 1813; B.-S.-M.) “) operiert, freilich weit stimmungsinniger, lyrischer mit dem 
Licht der untergehenden Sonne; zum bräunlichen Vordergrund des Ufers mit 
einem Kahn zweier Ruderer und eines Musikanten im bläulichen Wasser fließt das 
rötliche Licht von der Sonne her, die hinter einer mit Pappeln bestandenen Land- 
zunge versinkt, während quer über der Stadt der Abendhimmel orangefarben mit 
roten, wagerechten Wolkenstreifen steht. Dann eine „Ideallandschaft“ (76: roa cm; 
Nat.-Gal., Berlin; unbez., undat.) ): Blick von einem mit breitwipfeligen Bäumen be- 
standenem Hügel mit einzelnen mittelalterlich gekleideten Fußgängern und Reitern 
auf weites Meer, an dem eine italienische Stadt liegt; Sonnenglanz blendet vom 
Meere her, aber die Sonne selbst steht hinter den dichten Baumkronen. — Dann 
eine sehr schöne „Landschaft mit Sonnenuntergang“, als Gegenstück zum 
vorhergehenden Gemälde wohl auch um 1813 entstanden (76: roa cm; Berlin, 
Nat.-Gal.; unbez., undat.) ): eine großartige, felsige Landschaft, hinter deren tief- 
gelegenem, waldigen Vordergrund im Mittelgrunde sich ein Felskegel erhebt, hinter 
dem die Sonne untergeht und dessen ganz dunkle Silhouette von kleinen Tannen 
sozusagen verziert und ausgefranst ist. Dieser dunkle Kegel steigt aus einem 
breiten Strom auf, dessen Arme in eine zwischen Felskegel und Vordergrund ge- 
legene Schlucht hinabstürzen. Farbsatte Lyrik wirkt sich in den orange und 
violett streifigen, dann violett und rosa flaumigen Wolken aus, die unterhalb dunkel- 
blauen Himmels stehen. Sodaß die Farbigkeit von dem Grünbraun des Vorder- 
grundes durch graugrünliche Felspartien hindurch in das buntleuchtende Feuer- 


(т) Auf der Rückseite bez. und dat: А. v. W. II, 339, Nr. 29 gibt an: 4. März 1814; Kopie in 
Berlin, Nat.-Gal. 

(2) A. v. W. IV, 336, Nr. І. 

(3) Abb. in Ziller, S. 17; Replik und Kopie von Ahlborn in Berlin, Nat.-Gal. 

(4) Abb. im Katalog der Deutschen Jahrhundertausstellung 1906, II, 481. Ähnlich ein gleichbetiteltes 
Bild im B.-S.-M., bez, und dat. 1817 (35:43 cm). 

(5) Abb. in „Kunst und Künstler“ X, 69 und „Kunst für Alle“, 1920. 

(6) „Kunst für Alle“, 1920. 


246 


meer der Wolken und das beruhigende Dunkelblau des Himmels darüber in die 
Höhe steigt. 

In die erste Hälfte des zweiten Jahrzehnts möchte ich das (mir unbekannt ge- 
bliebene) Original der Ahlbornschen Kopie einer ausgezeichneten „Landschaft 
mit Schloßpark“ (76:104 cm; Berlin, Nat.-Gal.)!) ansetzen. Dieser Blick über 
Waldschlucht, Schloßanlage, Meeresbuchten, von einer Sonne bestrahlt, die von 
rotumrandeten, violetten Wolken verdeckt wird, — er gehört mit zum Ergreifend- 
sten der Schinkelschen Kunst! Der Glanz dieses Lichtes, das den Himmel rötlich- 
violett um graue Wolkenbänke herum färbt, auf den Gebirgigkeiten und auf der 
Ebene des Hintergrundes, auf der Schloßkuppel und im Garten schwebt, verleiht 
auch noch den Bäumen des Vordergrundes dunkleren roten Schimmer. 

Diese Neuerungen: Monumentalisierung des Inhaltes und Mitwirkung der Sonne 
als Lichtquelle im Bilde, erfahren ihre Ausbildung und Erweiterung von der Mitte 
dieses zweiten Jahrzehntes ab*). Das Bild soll, so geht die bewußte Absicht, das 
ganze Weltleben widerspiegeln und umfassen. So greift der Sinn in das Kos- 
mische hinaus, — und wie könnte er vermeiden, das größeste der Gestirne mit 
hereinzuziehen, — muß es nicht zum Mittelpunkt der Darstellung werden, da es 
doch Mittelpunkt des Erdiebens ist? und sein schöpferischer Puls? Allerdings, 
gerade solche Mächtigkeit und Fülle schloß damals noch die ungezwungene und 
uneingeschränkte Sonnenhaftigkeit aus, — Turners Kunst liegt noch in weiter 
Ferne. Vom Gewölk des Himmels bedeckt oder von Baumwipfeln abgeblendet, so 
nimmt die Sonne am Leben des irdischen Planeten teil, — wie ein Herrscher in 
der Tarnkappe dem Treiben seiner Untertanen zuschaut. Unter den belebenden 
Strahlen der Sonne entfaltet sich nicht bloß die tippigste Vegetation an breiten 
Flüssen und großen Seen vor hohen Bergen und Gebirgen, — auch die ganze 
Kultur strebt nach ihrer knappsten, aber umfassenden Darstellung: Architekturen 
stidlicher oder deutsch-mittelalterlicher Städte sind vom regsamen Treiben ihrer 
Bewohner erfüllt. So drängt sich zur „Mittelalterlichen Stadt“ (92:137 cm; 
bez., dat. 1815; B.-S.-M.) ), zu ihrem hohen, gotischen Dome, ein fürstlicher Zug 
mit viel Volksgetiimmel, — von einem Regenbogen überspannt und von dunkel- 
grauem Gewittergewölk überlagert. So gibt das Gegenstück „Griechische Land; 
schaft mit Theater und Aufgang zur Akropolis“ (92:137 cm; bez., dat. 1815; 
B.-S.-M.) ) einen Überblick und Einblick in griechisches Volksleben, wie es jene 
Zeit sich ausmalte; aus bräunlichgrünem Vordergrunde ragen gelbliche Baulich- 
keiten des Mittelgrundes vor duftigem, hellgrünlichen und bläulichen Hintergrund 
von Fluß und Gebirge auf, — hellbldulicher Himmel steht darüber. Zu dieser 
Kategorie des Kulturgemäldes gehört noch aus dieser Zeit eine „Landschaft in 
südlichem Charakter“ (68:92 cm; unbez., undat.; nach А. v. W.: 1815; B.-S.-M.)®), 
— ein Bild, dessen Mittelpunkt eine Terrasse bildet, die zwei große Weiden um- 
rundet und auf der sich ein mittelalterlicher Fürst mit Gefolge aufhält; von dem 


(х) Abb. in „Kunst ſ. Alle“, 1920. 

(a) Wohl läßt sich nicht leugnen, daß die abgeblendete Sonne einem abgeblendeten vumpenlichte 
ähnelt und daß die Bildstruktur des landschaftlichen Aufbaus kulissenmäßig wirkt, aber der Vergleich 
der Gemälde mit den farbigen Bühnenentwürfen zeigt zumeist zu beträchtliche Unterschiede, als 
daß hier von einem Umschwung der malerischen Formgebung gesprochen werden könnte, der durch 
das Theatralische vermittelt worden wäre. Das Entwerfen von Theaterdekorationen für das Berliner 
kel Schauspielhaus beginnt Schinkel 1815 und er endet es 1828. 

(3) Abb. in Ziller, S. 23. (4) Abb. in Ziller, S. 22. 

(5) Abb. im Katalog der Deutschen Jahrhundertausstellung 1906, 1, 112 und in „Kunst für Alle“, 1920. 


247 


braungriinen Vordergrund der Terrasse aus blickt man über einen See und eine 
Stadt auf weites Gebirge hinüber, das merkwürdig rosig und unwirklich schimmert. 
Dazu dann wiederum eine „Gotische Kirche auf einem Felsen im Meer bei 
Sonnenuntergang“ (72:98 cm; unbez., undat., der Katalog gibt 1815 an; Berlin, 
Nat.-Gal.): der Weg im Vordergrund ist braungrünlich, im Mittelgrund der Fels 
und die Kirche sind grünlichbräunlich, das Meer selbst bläulich mit roten Reflexen, 
— verdeckt von der Kirche bestrahlt die Sonne den Himmel gelblich, und rosig 
die entfernteren Wolken. 

Allgemeinere Gegenständlichkeit formuliert, — immer unter Innehaltung der 
gleichen räumlichen Schematik der Vertiefung: braunem Vordergrund, grünem 
Mittelgrund und bliulichem, noch lieber violettem Hintergrund, — das „Felsen- 
tor“ i) und die „Italienische Landschaft“ (Gegenstücke, je 74:48 cm; das 
zweite Bild bez., dat. 1817; Berlin, Nat.-Gal.), ein „Seestück“ (34:45 cm; unbez, 
undat.; B.-S.-M.), dessen graugrünes Meer von rosigbläulichem Himmel überdacht 
wird, in welchem die Sonne von grauen Wolken abgeblendet schwebt, — eine 
kleine „Italienische Landschaft“ (18:32,5 cm; unbez., undat.; B.-S.-M.), — wohl 
auch das (mir unbekannt gebliebene) Original der Bonteschen Kopie eines „Ernte- 
festes“ in der Berliner National-Galerie: in fruchtbarem Tal bewegt sich ein 
Erntezug sehr farbig-phantastisch gekleideter Bauern in abendlicher Beleuchtung. 

Im dritten Jahrzehnt klingt diese ganze Epoche mit einem starken Schlußeffekt 
aus. Am Anfang steht noch eine kompliziert, aber irgendwie schwächer durch- 
gefühlte „Ideallandschaft“ (70:94 cm; bez., dat. 1820; Berlin, Nat.-Gal.) ), die, 
eine Erzählung CL Brentanos illustrierend, gleichzeitig mit ihr 1815 entworfen, erst 
fünf Jahre später gemalt war. Es setzt sich die Entwicklung nun wohl fort in 
zwei Gemälden, die im Besitze von Herrn von Treskow, Friedrichsfelde, sich be- 
finden und der Familientradition nach als Bilder der „Gegend von Owinsk“ 
gelten (je 50:75 cm; unbez., undat.). Das eine (Abb. 7) zeigt im Vordergrunde 
zwei rötliche Rinder im blaugrünen Bach, der zwischen dunklem Gebüsch hin- 
fließt, dann einen heller grünen Mittelstreifen der Wiese, dessen Ausmaß von 
hohen Bäumen angegeben wird, dann im Hintergrunde rötliche Häusergruppen. 
Es handelt sich bei diesem mit schwacher Sonnigkeit in der Luft getonten Bilde 
wohl um Morgendämmerung, — während das andere Bild eher Abendstimmung zeigt: 
seinen Vordergrund nimmt dunkles Gebüsch ein, auf das dann im Mittelgrunde 
plötzlich und scharf abgetrennt ein helles Getreidefeld und hellbeleuchtete Bäume 
gelblichgrün folgen, daran stoßen dann weiter zurück gelblichgriinlich violette Ge- 
büsche um eine rötliche Schloßbaugruppe am See und weiter in die rötlichviolette 
Ferne verliert sich der Blick im Hiigelgeliinde. Die Luft dieses Bildes ist voll 
Sonnigkeit: gelbliche und zartviolette Wolkenbänke sind wagerecht im Himmel 
eingelagert, oben aber wird der Himmel tiefer blau. Ein paar Gestalten, gelagert, 
schreitend, zu Pferde, staffieren das Bild. 

In der Mitte dieses Jahrzehnts aber folgt, vermittelt durch eine „Griechische 
Landschaft“ (Abb. 8; — 30:48 cm; bez., dat. 1823; B.-S.-M.), eines der seiner- 
zeit berühmtesten Gemälde Schinkels „Die Blüte Griechenlands“ von 1835 
(Beckmannsche Kopie, 92:226 cm, in Charlottenhof bei Potsdam)*). Hier ver- 


(т) nach Waagen „Ki. Schriften“, S. 333 aus 1818. Abb. іп „Kunst für Alle“ 1920. 

(2) Abb. der angetuschten Federzeichnungsvorlage in Ziller, 8. 42. 

(3) Das Original wurde von der Stadt Berlin zur Vermählung der Prinzessin Luise von Preußen mit 
dem Prinzen Friedrich der Niederlande als Geschenk dargebracht, A. v. W. II, 341; Abb. in Ziller. 


248 


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einigte Schinkel alles bisher Erdachte zur einheitlichsten Leistung: im Vorder- 
grund sind Griechen am Bau eines Tempels beschäftigt, im weiteren Hintergrunde 
dehnt sich eine antike Stadt, reiches Volksleben steht zur Schau, und im breiten 
Hintergrunde wölbt sich ein Hügel, heben und senken sich Berge und Täler; 
Morgendämmerung liegt über der weiten Ideallandschaft, — noch steht die Sonne 
verborgen hinter einer Baumgruppe. 

Mit diesem Gemälde erschien wohl alles gesagt, was Schinkel auf diesem Wege 
je sagen konnte. So wendet er sich späterhin der Figurenmalerei fast ausschließlich 
zu. Ein Bild, das den Übergang monumental bezeichnet, ist „Knabe und Mädchen“ 
(181,5:132 cm; bez., dat. 1827; B.-S.-M.). Überraschende Plastik liegt in dem 
Gebüsch, aus welchem die beiden Gestalten auftauchen, vor allem in den Ranken, 
dem Moos und den Früchten. Hier fehlt das Atmosphärische der früheren Ar- 
beiten. Vom nächsten Jahre ab beschäftigt sich Schinkel mit den Fresken für die 
Vorhalle des Museums! 

Neben den Ideallandschaften gehen freilich vereinzelte, aber bedeutende Ge- 
mälde realistischen Charakters einher, die wie eine Erinnerung an seine Panoramen- 
malerei erscheinen könnten. So das schöne Bild „Rugard auf Rügen“ (50: 130 cm; 
bez., dat. 1821; B.-S.-M.) und „Stettin, von Frauendorf aus gesehen“ (Gegen- 
stück, unbez., undat.; B.-S.-M.). Das erste Bild!) (Abb. 6), gibt einen weiten Uber- 
blick über Gehöfte, Wälder, Felder, Landzungen, das Meer. Farbig schön ist das 
satte Grün der Felder im Mittelgrund. Das andere Gemälde hat die nordische 
Nüchternheit abgelegt: die Sonne, deren Strahlen am Himmel sich durch gelbe 
Tinten andeuten, färbt die Felder (ein wenig süßlich werdend) ins Rotviolette. — 
In diese Zeit um 1822 gehört wohl auch eine „Aussicht auf das Haff“) (22:130 cm; 
unbez,, undat.; B.-S.-M.): im Vordergrunde weiden bräunliche Rinder auf niedrigem 
Heidehügel, rechts davon liegt ein Gehöft in grünen Bäumen versteckt, — den 
Mittelgrund nehmen die tiefgelegenen Waldungen und Baumgruppen mit ihrem 
Grün ein, — zum Hintergrund hin zieht sich ein Fluß mit Segelschiffen, daran 
schließt sich fernhin eine Ebene, im rosigen Himmel verschwimmend. 

Späterhin entstehen nur ganz wenige kleine Arbeiten noch, die als reine Land- 
schaften gelten können. Nicht bloß die bekannten Aquarelle „Einsicht“ und „Aus- 
sicht“ von 1831 °), welche landschaftliche Elemente enthalten. Auch eine schwarze 
Tuschzeichnung mit Gouache auf gelblichem Papier (27:41 cm; bez., dat. 1832; 
Berlin, ehem, kaiserl. Schloß, Hausbibliothek, Album K 53 Mb. 7) gibt als „Land- 
schaftliche Komposition“ einen ruhigen See inmitten waldreicher Ufer, hinter 
ihm eine schloßartige Anlage, in der Hintergrundsferne einen See, auf dem Mond- 
schein liegt, und als Abschluß Hügelreihen, — darüber zwischen weißen Wölkchen 
steht der Vollmond. Doch ist es für diese Zeit Schinkels charakteristisch, daß er 
den Mondschein nur auf ein paar Blättern der Vordergrundsgebüsche flecken läßt, — 
sonst herrscht eigentlich Tagesstimmung, alles romantisch Innerliche fehlt. — 
Ebenso stimmungslos ist die am selben Platze befindliche schwarze, mit Gouache 
gehöhte Tuschzeichnung des „Verfolgten Wolfes“ (27:42 cm; bez. dat. 1832) 
auf blauem Papier und das Aquarell der „Promenade bei Marienbad“ von 1832 
(B.-S.-M., M. Ib, 18), nur wenig belangvoller die „Ansicht bei Gastein, vom 
Hofgarten nach dem Wildbade zu“ (36:44 cm; dat. 1836; B.-S.-M., M. VIII, 44). 


(х) Abb. im Katalog der Deutschen Jahrhundertausstellung. 
(2) Abb. ebenda II, 481. 


(3) Kopien im B.-S.-M., M. XVb, Nr. 120 und гага; die frischer wirkenden Originale in der Haus- 
bibliothek des Berliner ehem, kaiser]. Schlosses. 


249 


Nur eine kleine reizende Gouachemalerei, eine Komposition zuGoethes Versen 
„Wenn auch ein Tag uns froh vernünftig lacht, Im Traumgespinst umwickelt uns 
die Nacht“ (33,5: 33,5 cm; bez., dat. 1834; B.-S.-M.) läßt noch einmal den Reiz der 
frühesten Bilder aufglänzen. Ein tief dunkler, fast schwarzer Hintergrund, aus 
dem sich in einem Rund die Szenerie leuchtend abhebt —: unten eine Stadt (Neapel) 
mit abendrötlichen Silhouettenrändern vor dunkelblauem, ruhigen Meer und Vor- 
gebirge, darüber mit leuchtend blauem Mantelschleier die hellfleischrötliche Gestalt 
der Nacht, die in ihrem Mantel die mattrötlichen Gestalten von Menschen, Tieren usw. 
birgt. 

Aber im großen und ganzen betrachtet, endet doch die Landschaftsmalerei 
Schinkels in bedauerlichem Abstieg. Freilich nur, wenn man sie so isoliert be- 
trachtet! Bedenkt man aber, daß Schinkel zur gleichen Zeit mit den Wirklichkeiten 
wirklichen Gesteins, wirklicher Bäume, wirklicher Wasserläufe arbeiten konnte, da 
er Glienicke, Charlottenhof und andere Bauten errichtete, so stellt sich die Lage 
doch anders dar im Gesamtbilde seiner Kunstbetätigungen. Denn er schuf nun 
Ideallandschaften zur Realität um, — den malerischen Ausdruck seines Willens, 
seiner Vision konnte er nun entbehren! 


x * 
* 


Kurz sei nun zum Abschluß die Entwicklung der Landschaftsmalerei 
Schinkels angegeben. Sie beginnt mit zarten, kleinformatigen, doch innerlich 
großgedachten Gouache-Bildern (1797 99), wendet sich dann der Ölmalerei größten 
Formates zu (1807—1815) und geht dann fast ausschließlich zum Staffeleibilde 
über (1812—1825). Gemeinsam ist allen Perioden der Wille zur Großheit der 
Darstellung und zugleich zur harmonischen Ausgeglichenheit des Ideals im Sinne 
jener Zeitstimmung, die an der Antike sich orientierte, wie die deutschen Klassiker 
sie sich vorstellten. Das Abbild kräftigen Weltlebens und seiner „bleibenden Ver- 
hältnisse“ soll die ganze Fülle der Erscheinungen in sich bergen und doch in 
makelloser Erhabenheit glänzen. Die Problematik dieses kühnen Willens über- 
steigt oft genug Schinkels Kraft, — manchmal aber gelang es ihm doch, das gleich- 
große Weltgefühl zum Ausdruck zu bringen, das in Goethes Gesinnung lebt, oder 
wenigstens es lebhaft ahnen zu lassen. 

Der Inhalt, an welchem sich dieser Gehalt äußert, ist vorwiegend die Ideal- 
Landschaft. Freilich das Bild einer Idealität, die doch mehr іп das Südländische 
jenseits der Alpen verwies, als in ein wirklich rein der gespannten Vorstellung 
entsprungenes Bild der Phantasie. Von früh an tut sich diese Neigung zum Süden 
hin kund. Der Sinn für die Antike insbesondere überwog doch gegenüber der 
Tendenz zur Einfühlung in die historistisch in die mittelalterliche Vergangenheit 
zurückverlegte Welt des eigenen Volkstums. — Daneben zweigt sich der Wille 
der Realistik, verkiimmert, ab: geschaute, vorgefundene Wirklichkeit stellt sich nur 
selten dar! Freilich gelingen auch dieser schwächeren Nebenströmung Schinkel- 
schen Wirkens bedeutende Leistungen. 

Die Entfaltung der formalen und technischen Mittel Schinkels vollzieht sich 
im wesentlichen so. Seine Farbigkeit behält dauernd etwas Undurchsichtiges. Der 
Beginn mit Gouache-Bildern ist dafür kennzeichnend. Doch verhält es sich nicht 
so damit, als sei hier lediglich ablehnender Tadel am Platze. Man sollte vielmehr 
einsehen, daß hier das bewuBte Prinzip der Idealisierung der Wirklichkeit wirksam 
wurde, die doch auf die Realität nicht verzichten mochte. Diese anfangs juwelen- 
haft schimmernde Farbigkeit durchdringt sich allmählich mit warmer Sonnigkeit, 


250 


um späterhin kälter und nüchterner zu werden. — Die Linienführung hat von 
früh an den Willen zur Monumentalität, sucht einen beherrschenden Mittelpunkt 
immer klarer hervortreten zu lassen, behält dauernd den Willen zur Einheit des 
großen Zusammenhanges, folgt aber in den Einzelelementen der Komposition (bei 
den Silhouetten der Baumwipfel ist es sehr deutlich) der Tendenz zur Auflösung 
und zu vielfältiger Gliederung !). 

Die Ausführung strebt im einzelnen nach pünktlichster Präzision der Blätter, 
Bäume usw. Aber sie ist zugleich so sehr schematisierend, daß der Betrachter 
alle diese ihre Einzelzüge doch als Gesamtheit empfindet, — freilich nicht als 
Ausdruck eines gewaltigen, in allen Verschiedenheiten doch irgendwie gleich- 
gewaltigen Urquells des Lebens, sondern eher als gleichförmige und einfirmige 
Vertreter derselben Gattung. Und so kommt ein gewissermaßen begriffliches Ele- 
ment in die lebendige Natur! Dem abstrakten Idealismus Fichtes, den er sehr 
schätzte, zollt Schinkel so seine malerische Anerkennung; die Wahrheit, meint er, 
tritt im Gattungartigen in höherem, wertvollerem Sinne hervor, als im Individuellen). 

Das Problematische der Schinkelschen Kunstgebilde liegt wohl in der mangeln- 
den Schwere der Plastizität. Die Dinge wirken bei ihm allesamt nicht eigentlich 
vollgewichtig, sondern schweben in visionärer Leichtigkeit ohne Ballast ihres 
Daseins. So sind sie gleichsam ein schöner Phantasietraum ohne Blut, oder doch 
von einem so seltsam entfärbten Blute durchströmt, daß sie auf eine ganz und gar 
realistisch gesinnte Generation nur gespenstisch wirken konnten, wirken mußten. 
Das in sich befriedigte Gefühl des Daseins spricht aus ihnen, das seine theoretische 
Formulierung in der Philosophie Hegels fand, der das Idealreich der Norm im da- 
maligen Preußenstaat fast verwirklicht sah“). Ein preußisches Aristokratentum 
findet in ihnen sein bildmäßiges Echo: diese Welt ist nicht von romantischen Sehn- 
sichten dem Endlosen verbunden (wie іп K. D. Friedrichs Werk), sondern sie 
kreist in sich und erlaubt nur gleichsam einen Einblick in ihr Getriebe, greift aber 
nicht über sich hinaus, läßt niemand Anteil nehmen an ihrer Abgeschlossenheit. 


* * 
* 

Nichts Wesenfremdes wird damit Schinkel als — im wesentlichen gelungene — 
Absicht zugesagt. Er hat seine Asthetik‘) ja scharf genug formuliert. Das kunst- 
wissenschaftliche Denken Schinkels kreist um diese drei Hauptpunkte: Schönheit, 
Sittlichkeit, Göttlichkeit: „Das Schöne ist immer erzeugt durch das Behagen an 
eigner Tätigkeit in harmonisch-sittlichem Gefühl der Weltanschauung und in dem 
Gefühl des Göttlichen in der Welt“. Daraus entspringen nun alle Folgerungen, 
deren werktätige Dokumente Schinkels Gemälde nicht weniger wie seine Bauwerke 
sind. Wer das Kunstwerk tief erlebt, wird und sollte zugleich seine sittlichen Im- 
pulse gekräftigt fühlen, da er seine Lebenskräfte auf die höchsten, großartigsten 
und auf die leiblich angenehmsten Gegenstände richtet. Eine nähere Hinweisung 
Schinkels betont aber das Idyllische, Fabulöse, Mythologische als kunstgemäßer, 
als das Historische oder Moderne, — die Energie der realen Welt wird so als 


(т) Dieselbe Tendenz ist auch sonst wahrnehmbar; vergl. über das Kunstgewerbe Schinkels meinen 
diesbezüglichen Aufsatz in „Kunst und Künstler“, 1010. 

(2) A. у. W. Ш, 352. 

(3) Vgl. mein Buch „Der Gedanke des Ideal-Reiche . . . von Kant bis Hegel“. Leipzig 1914. 

(4) Eine Materialzusammenstellung bei Hans Reichel: „Die Kunstphilosophie K. F. Schinkels und 
Fr. у. Baaders“ in der „Zeitschr. f. Ästhetik u, allgem. Kunstwiss.“ VI (1911). 


251 


Inspirationsquell der schöpferischen Kraft abgelehnt! Und das gleichsam in der 
Luft Schwebende der fabulierenden Phantasie wird als das Höchste gefeiert, so- 
bald sie die ruhevolle Harmonie gestaltet: ohne Leidenschaftlichkeit, ohne Dunkel- 
heit, ohne Verwirrung: lebensvolle Idealitit. Da nun solche Idealität eine wahr- 
haft menschliche Angelegenheit ist, so sollte auch das bildmäßige Kunstwerk sich 
mit menschlichen Beziehungen bereichern, sich durch ihre Beschreibung sozusagen 
rechtfertigen. Reine Landschaften gelten Schinkel nicht als völlig wertvoll: sie 
lassen Sehnsucht und Unbefriedigtheit in der Seele zurück, — die Stimmung der 
Natur soll sich ins Menschliche wandeln; „der Reiz der Landschaft wird erhöht, 
indem man die Spuren des Menschlichen recht entschieden hervortreten läßt“. In- 
dem so die „Landschaft“ zum Kultursymbol geformt wird, folgt Schinkel der Ge- 
sinnung Fichtes, der kein selbständiges Naturgefühl besaß und die Natur nur als 
Schauplatz und Grundlage menschlicher Zivilisation bewerten konnte. 

So rundet sich der Kreis der Tatkraft Schinkels zur sicheren Harmonie: die 
Theorie erläutert das Werk und das Werk bestätigt die Weltanschauung und 
Wertsetzung. 


252 


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DIE ERZGEBIRGISCHE KUNSTLERFAMILIE 


KRODEL (EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER CRANACH- 
SCHULE) Mit zehn Abb. auf fünf Tafeln in Lichtdruck Von WILH.JUNIUS-Dresden 


eben einer umfangreichen Gruppe einheimischer sächsischer Meister des 16. Jahr- 

hunderts, die wie Paul von Leubnitz, Jörg Mahler von Dippoldiswalde, Hans 
Coler von Köln u. a. unter fränkischem Einfluß stehen, findet sich eine zweite, die 
stilistisch und thematisch von der Wittenberger Cranach-Werkstatt abhängig ist, 
und zu deren hervorragendsten Vertretern zwei Mitglieder der Schneeberger Künstler- 
familie Krodel!) und der Kamenzer Andreas Dreßler (etwa 1540—1604) gehören. 
Ob diese stilistische Abhängigkeit durch ein unmittelbares Schülerverhältnis zu 
Cranach, wie bei Franz Tymmermann-Hamburg oder Heinrich Königswieser-Königs- 
berg, zu erklären ist, oder ob wie bei Johannes Kemmer-Lübeck, dem Münchner 
Monogrammisten A. H., dem Leipziger „Fürstenmaler“ Hans Krell, dem Kölner 
Monogrammisten H. S. P. und anderen nur mittelbare Fortsetzung der Cranach- 
Tradition in Frage kommt, ist urkundlich noch nicht zu belegen, da die Nachrichten 
über das Leben der weniger bedeutenden Maler jener Zeit nur sehr spärlich auf- 
treten. 

Das älteste Mitglied der Familie Krodel ist der von 1528—1560 in Schneeberg 
nachweisbare Wolfgang d. A. Von ihm besitzt die Staatliche Gemäldegalerie 
zu Wien zwei kleine Bilder, welche die Jahreszahl 1528 tragen, bzw. mit W. K. 
signiert sind (Taf. 40, Abb. a u. b). Die Darstellungen: „David und Bathseba“ und „Loth 
mit seinen Töchtern“ erinnern in dem Figurentypus, im Gesamtton und technischen 
Eigentümlichkeiten so stark an Lukas Cranach d. A. Manier, daß sie Mechel in 
seinem Verzeichnis der Gemälde der k. k. Galerie im Belvedere dem Vater Lukas 
Cranach 4. А, dem mystischen „Wilhelm Kranach“ zuschrieb. Es handelt sich 
jedoch um zwei Jugendwerke des Wolfgang Krodel, der damals noch in den Bahnen 
des Wittenberger Meisters mit jener Ängstlichkeit und Gewissenhaftigkeit des eben 
entlassenen Schülers wandelte. 

Aus dem gleichen Jahre stammt ein mit W. K. und der Jahreszahl 1528 bezeich- 
netes „Jüngstes Gericht“, das ehemals über der Tür der Schneeberger Ratsstube 
hing, schon von dem Schneeberger Chronisten von 1716, Chr. Meltzer, erwähnt 
wird und sich zu Schuchardts Zeit (1851) im Besitz des herzoglichen Schloß- 
kastellans Höhn in Dessau befand’). 

Chr. Schuchart beschreibt das Bild: „In einer Glorie in Wolken sitzt Christus 
als Weltenrichter, zur Linken ist eine Gruppe von Seligen, rechts von Verdammten, 
unten Auferstehende aus den Gräbern, in der Mitte ein Papst, welchen ein Teufel 
bei der Nase faßt, ein anderer Teufel hält ihm einen Ablaßzettel vor. Das Dessauer 
Bild hat in Farbe, Farbenauftrag, in den Umrissen und sonst alle Zeichen der 


(1) Martin Krodel, 1539—1540 nachweisbar. Wolfgang Krodel d. A. (Bruder des Martin). 
8 1528—60 tätig 
Mathias Krodel d. A., 1550 — 6. IV. 1605 


1) TER Krodel d. J., ?—1601, 2) Wolfgang Krodel d. J., 4. IX. 1575—1624. 
Vgl. H. A. Müller und H. W. Singer: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. II, S. 396 (Frankfurt a. M., 1896). 
(2) Über den derzeitigen Aufbewahrungsort konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Eine diesbezügliche 
Anfrage bei der Dessauer Museumsverwaltung blieb unbeantwortet. 


253 


Cranachschen Schule. Dagegen zeigen die Formen eine Nachahmung von Michel- 
angelo. Die stürzenden Verdammten und die aus den Gräbern Auferstehenden 
sind in dieser Beziehung gut, viele von großem Ernst und Charakter. Der Ein- 
druck des Ganzen ist wegen zweier großen Spruchzettel über den Gruppen der 
Seligen und der Verdammten, und weil die Färbung schwach ist, nicht besonders 
angenehm.“ 

Daß Wolfgang Krodel auch die späteren rationalistischen und scholastischen 
Spitzfindigkeiten der eigentlich „reformatorischen“ Arbeiten seines Lehrers nicht 
fremd waren, beweisen zwei Votivbilder in der Hauptkirche zu Kamenz (Taf. 41. 
Abb. a und b), die in kontinuierender Darstellungsweise, ohne jegliche Komposition 
und bildliche Geschlossenheit das theologisch-dogmatische Thema: „Der alte Bund“ 
und „Der neue Bund“ kläubelnd interpretieren. Auf der ersteren Tafel ist im 
Vordergrunde der „sündige Mensch“ dargestellt, weicher von Tod und Teufel der 
Hölle zugejagt wird. Rechts stehen vier Männer: der gehörnte Moses mit den 
Gesetzestafeln, ein Hoherpriester in Bischofstracht und zwei Propheten. Diese 
Gestalten des Vordergrundes werden von den Figuren Adams und Evas unter 
dem Baum der Erkenntnis, und der Anbetung der ehernen Schlange im Wüsten- 
zeltlager der Israeliten durch ein lichtes Buschwerk im Mittelgrunde getrennt. 
Über dem Ganzen schwebt auf einer gläsernen Weltkugel in einem Wolkenkranz 
Christus mit den Nägelmalen. Drei Schriftfelder unterhalb der Gesamtdarstellung 
und eins in der linken oberen Ecke, der Epistel Pauli an die Römer entnommen, 
geben die Erklärung des gedanklichen Inhalts dieser Votivtafel: Alle Menschen 
ohne Unterschied sind Sünder und werden ohne Verdienst gerecht durch den 
Glauben. 

Das Gegenbild (Taf. 41, Abb. b) zeigt im Mittelgrund links auf einem Berge Maria 
mit der Vision des kreuztragenden Christusknaben. Zu ihren Füßen liegt im Hinter- 
grunde das himmlische Jerusalem. Im Vordergrunde wird der „sündige Mensch“ 
von Christus (!) auf Christi Kreuzigung hingewiesen, während ganz vorn das Lamm 
Gottes mit der Kreuzesfahne steht. Rechts seitlich hinter dem Kreuz das Grab 
des Auferstandenen, vor dem dieser als Überwinder von Tod und Teufel mit der 
Kreuzesfahne steht. In der rechten oberen Ecke wird die Himmelfahrt Christi an- 
gedeutet durch die von einer Wolke getragenen Füße des Heilands. Vier In- 
schrifttafeln geben die Erklärung zu diesem religiösen Anschauungs-Unterrichts- 
bilde, das an der linken Ecke des Grabes, links vom Fuße des Kreuzes die Jahres- 
zahl 1542 und das Monogramm Wolfgang Krodels trägt !). 

Die Kamenzer Hauptkirche bewahrt noch ein drittes Bild, das, obwohl nicht 
signiert und datiert, auf den älteren Wolfgang Krodel zurückgeht und zwischen 
1530—40 entstanden sein mag. Die Darstellung des Gekreuzigten, jener in der 
Dresdner Gemäldegalerie, angeblich von Dürer gemalten, in Einzelheiten (das 
Lendentuch!) ähnlich, ist als Votivbild durch ein mit dem Sterbehemdchen be- 
kleidetes, am Kreuze kniendes Kind und durch die Wappen derer von Löser, 
Oelsnitz, Mistelbach und Schlieben gekennzeichnet. 

Starke Abhängigkeit von Lukas Cranach d. Ä. beweist auch die „Darstellung des 
ersten Menschenpaares“ aus dem Breslauer Museum, datiert von 1543 und signiert 
mit den aneinandergestellten Initialen W und K, die Max J. Friediänder anläßlich 


(1) Unter zahllosen ähnlichen religiös-dogmatischen Kompositionen, die in Einzelssenen eine zu- 
sammenhängende Bilderpredigt, vorgetragen durch eine Folge von illustrierten Bibelsprüchen dar- 
stellen, ist ein Ölgemälde der Cranach-Werkstatt im Königsberger Stadtmuseum besonders beachtlich. 


254 


der Erfurter kunstgeschichtlichen Ausstellung 1903 in Wolfgang Krodel auflöste. 
In seiner etwas schwächlichen Figurenbildung und der nicht sehr leuchtkräftigen 
Farbengebung erscheint das Bild wie eine kümmerliche und matte, nur wenig 
variierte Wiederholung des Adam-und-Eva-Bildes seines Meisters im Magdeburger 
Museum. 

Wolfgang Krodels Tätigkeit läßt sich dann im Jahre 1555 verfolgen, in welchem 
ein in der Gemäldegalerie des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt befind- 
liches Gemälde der „Geschichte der Judith und des Holofernes“ entstanden ist 
(Taf. 42). Rechts im Vordergrunde das Lager des Holofernes mit dem Zelte des 
Feldherrn. In einem zweiten Zelte dahinter links seine Enthauptung. Über dem 
Hauptzelte in grünem Kranze ein Wappen: ein Mohr mit Fahne und Schild in 
rotem Felde nebst dem Monogramm W. K. und der Jahreszahl 1555. Am Meere 
links dehnt sich das belagerte Bethulia aus, mit dem siegreichen Ausfall der 
Israeliten, den letzten Akt dieser nach Luthers Worten „guten, ernsten, tapferen 
Tragödie“ darstellend. 

Beim Justizkommissar Wilke in Halle sah Chr. Schuchardt um 1865 zwei un- 
datierte Porträts des Hilarius und der Margarethe von Repurch, mit W.K. be- 
zeichnet und einem „Wilhelm Krodel“!) mißverständlich zugeschrieben. Andere 
haben sie und ähnliche das Malerzeichen W. K. tragende Werke einem „Wilhelm 
Kranach“ zugewiesen und dabei sogar an den Vater des Lukas Cranach d. А. 
gedacht. Soviel sich Schuchardt 1871 noch seiner eigenen Wahrnehmungen zu 
erinnern vermochte, glichen die beiden Hallenser Bildnisse, tiber deren jetzigen 
Aufenthalt wir nichts in Erfahrung bringen konnten, dem äußeren Eindruck nach 
und auch hinsichtlich des Kolorits, der Malweise des älteren Cranach, in der Be- 
handlung aber mehr dem Darmstädter Bilde der „Geschichte der Judith“ und dem 
Bildnis des Schneeberger Ratsherrn Franz Brehm von 1591 Mathias Krodel des 
Älteren (Dresden, Gemildegalerie, Nr. 1958), (Taf.44, Abb. b). 

An das Ende der Schaffenszeit Wolfgang Krodels d. A. sind ein in der Tauf- 
kapelle der Zwickauer Marienkirche befindliches Epitaph mit der Darstellung des 
auferstandenen, Tod und Teufel durchbohrenden Christus (Tafel 1V, Abb. a) und 
ein gleiches in der Schneeberger St. Wolfgangskirche mit der Darstellung der 
Taufe Christi im Jordan zu stellen. 

Das erstere Gemälde ist eine der besten und sorgfältigst ausgeführten Kompo- 
sitionen, die das bei Cranach und seinen Schiilern (Franz Tymmermann-Hamburg) 
so häufig interpretierte Thema von der Auferstehung des Fleisches (I. Korinther, 15) 
behandelt. Gestiftet wurde es zum Gedächtnis des 1556 in Zwickau verstorbenen 
Ratsherrn Johann Leupold von dessen Ehefrau Katharina geb. Kanzler und ihren 
acht Kindern. Von Franz Stoedner*) wird das Werk irrtümlich als von Mathias 
Krodel d. А, (}1605) herrührend bezeichnet, Oberlehrer G. Sommerfeldt!) schreibt 
es dem jungen Schneeberger Maler Wolff Cürschner, „von dem verstendige Leuth 
urtheilen, daß er den allerberühmbtesten in dißer Kunst Meistern hette können 
gleich werden, wo nicht fürgehen, so er nicht in seinen besten Jharen were ab- 
gefordert worden“) zu. 


(1) Vgl. Ludwig v. Winckelmann: Neues Mablerlexikon (Augsburg 1796), 8. 274. 

(2) Deutsche Kunst in Lichtbildern (Berlin 1908), 8. 129. 

(3) Mitteilungen des Zwickauer Altertumsvereins (Heft 12, 1919, S. 102--103). 

(4) Petrus Albinus: Collectaneenchronik Schneebergs (Manuskript in der Sächs. Landesbibliothek). 
Christian Meltzer: Schneeberger Chronik von 1716, S. 639. 


255 


Die inschriftliche Bezeichnung W. K. 1559 deutet auf Wolfgang Krodel d. Ä.: 
sein Großneffe gleichen Namens, geboren am 4. September 1575 als zweiter Sohn 
aus erster Ehe des Mathias Krodel war nach R. Steche im sächsischen Inventari- 
sationswerk 1559 „zu jung, um ein derartiges Werk schaffen zu können“, was 
allerdings 16 Jahre vor seiner Geburt eine unmögliche Zumutung gewesen wire. 
Bezieht sich Steches Bemerkung aber auf Wolfgang Krodel d. A., der etwa um 
1505—ı0 geboren ist, da sein erstes datiertes Werk aus dem Jahre 1528 stammt, 
so ist sie für den etwa 54jährigen Meister in gleicher Weise unsinnig. „Wolfgang 
Cürschner, Mahler“ dürfte wohl seine Werke, von denen keines erhalten ist, W.C. 
signiert haben; urkundlich erwähnt wird er 1543 von dem 1551 verstorbenen Chro- 
nisten Johann Hübsch in einem Schneeberger Hausbesitzerverzeichnis'). An an- 
derer Stelle wird er als „in seinen besten Jahren gestorben“ bezeichnet, so daß 
keine Veranlassung vorliegt, ihn 16 Jahre nach seiner ersten und einzigen Erwäh- 
nung als „gar berühmt gewesenen Maler Schneebergs“ noch in Zwickau tätig zu 
denken. | 

Das Epitaph der Schneeberger Wolfgangskirche “) stellt die Taufe Jesu nach Ev. 
Matthäi III, 16 dar. Gottvater als deus rex potentissimus sendet den heiligen Geist 
auf Christus herab, dessen Gewand von einem Engel gehalten wird. In der Ferne 
nehmen zwei Manner in stiller Andacht an der heiligen Handlung teil. Im Vorder- 
grunde kniet der Stifter mit seiner Familie, über deren Namen die drei Wappen, 
vermutlich Schneeberger Bürger, Aufschluß geben. Auch dieses Werk, das Ge- 
prige der Schule Lukas Cranach d. J., zumal hinsichtlich der Stifterbildnisse tragend, 
ist signiert W. К. 1561. 

Die Tätigkeit Wolfgang Krodel d. A. läßt sich über das Jahr 1561 hinaus nicht 
weiter verfolgen, da mit W. К. signierte Werke aus dem Cranach-Kreise mir nicht 
bekannt geworden sind). Während seiner 33 Jahre nachweisbaren Tätigkeit hat 
er die Tradition der Cranachs gepflegt und innerhalb des zunehmenden Verfalls 
künstlerischen Schaffens in den erzgebirgischen Städten ältestes mit Treue bewahrt. 

Sein Bruder Martin wird als 1539 tätiger, 1550 das Bürgerrecht Schneebergs 
besitzender und 1590 an den Emporen-Malereien der Schneeberger St, Wolfgangs- 
kirche tätiger Meister in den erwähnten Chroniken genannt. Nach einer vor Jahren in 
den sächsischen Tageszeitungen von ungenannter Seite‘) verbreiteten Mitteilung 
„fehlt es in Steches sächsischem Inventarisationswerk an Beschreibung eines in der 
Sakristei der Marienkirche zu Neustädtel bei Schneeberg anzutreffenden, in kleinen 
Ausmessungen gehaltenen Gemäldes mit der Darstellung einer biblischen Szene aus 
Ev. Lukas XXIII (Christus vor Pilatus), (Taf. 43, Abb. b). Es wäre zu vermuten, 
daß Martin Krodel, der aus Ungarn nach Schneeberg gekommene Maler, dem eine 
größere Anzahl von Kunstschöpfungen in der Gegend der Nordketten des Erz- 
gebirges verdankt wird, es verfertigt haben kann, der alsSchüler des Lukas Cranach 
bezeichnet wird. Doch stehen die näheren Ausweise aus. Nur ein Anhaltspunkt 
unmittelbarer Zeitbestimmung ist gegeben: Der obere Teil des Rahmens über den 
Gestalten der Häscher, die den Angeklagten vor den in voller Amtstracht auf 
einer Tribüne sitzenden Richter zerren, ist überschrieben: Andreas Schilbach. 


(1) Handschrift d 48, Blatt 147 der sächsischen Landesbibliothek. Dresden. 

(a) A. Dost: Die St. Wolfgangskirche zu Schneeberg, 8. 17. (Schneeberg 1899.) R. Steche, a. a. O., 
Heft VIII, S. 51. 

(3) Für diesbezügliche freundliche Hinweise bin ich jederzeit zu großem Dank verpflichtet. 

(4) Wahrscheinlich E. A. Seemann, Kunstchronik. 


256 


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(b) Wolfgang Krodel d. Al. „Der neue Bund“ (1542) 
Kamenz, Hauptkirche 


(c) Mathias Krodel d. Al. Altar aus Alt-Mügeln bei Oschatz (1582) Dresden, Altertumsmuseum 


Zu: Wilh. Junius, Die erzgebirgische Künstlerfamilie Krodel 


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Dieser, einer alten Neustädteler Fundgrübnerfamilie angehörig, wird der Inhaber 
des Kirchenstandes gewesen sein, dem im 16. Jahrhundert das Bild als Hinter- 
grund diente. Kein Zweifel, daß Schilbach und seine Verwandten auch die Kosten 
für das Verfertigen des Gemiildes getragen haben, und es der Kirche zur Erinne- 
rung an jene Zeit der Blüte des Erzbergbaues im Erzgebirge gestiftet haben.“ 

Durch rohe Übermalung und unsachgemäße „Restaurierung“ ist das Neustädteler 
Bild zur Karikatur entstellt worden, so daß nicht mehr der geringste Anhalts- 
punkt für seine Herkunft aus der Krodelwerkstatt in Schneeberg vorliegt. 
Auch die Angaben Chr. Schuchardts!), auf Meltzers Schneeberger Chronik bzw. 
auf die um ı580 von Petrus Albinus geschriebene Kollektaneenchronik der Stadt 
Schneeberg zurückgehend, sind bezüglich Martin Krodels durch einen Lesefehler 
Meltzers teilweise entstellt. Es heißt da: „Über dem großen Altarbilde in der 
Schneeberger St. Wolfgangskirche (Marienkirche) “) befindet sich eine deutsche In- 
schrift desselben Inhalts wie die darunter befindliche lateinische, und darüber das 
kurfürstliche Wappen von Martin Krodel gemalt, welcher allhier Bürger und sonst 
Lukas Cranachs Discipulus gewesen.“ 

Nach Meltzer habe „Martin auch etwa um 1568 bis 1570 die Apostel an den 
Pfeilern der Empore gemalt“, worüber wir weiter unten uns äußern werden, und 
endlich gedenkt er eines anderen Bildes Martins in der Schneeberger Hospital- 
kirche). (Christus mit der kristallenen Weltkugel.) 

Die dem Martin Krodel irrtümlich zugeschriebenen Gemälde sind zwar qualitativ 
nicht gleichwertige, aber stilistisch zusammengehörige Werke seines Sohnes Mathias 
Krodel d. Ä. An der inneren Chorwand der Schneeberger Hospitalskirche ist ein 
Gemälde angebracht, das in den Maßen denen der Emporengemälde der Wolf- 
gangskirche gleicht und auch durch seine stilistische Verwandtschaft seine Zu- 
gehörigkeit zu jenen bekundet. Christus, stehend, hält eine kristallene Weltkugel 
im Arm, also eine ähnliche Darstellung wie jene am zweiten südlichen Pfeiler der 
Wolfgangskirche. 

Im Jahre 1568 schmückte nach Petrus Albinus (1580) Matz Krötel‘) nach Meltzers 
Stadt- und Bergchronik von Schneeberg, 1719: „Lucae Cranachs discipul.“) im Auf- 
trage der Stadt und unter der Leitung des Pastors Andreas Praetorius die Vorder- 
seite der die Emporbögen tragenden Pfeiler der St. Wolfgangskirche mit ro Fresko- 
gemälden Christi und der Apostel, ein weiteres wurde erst 1583 zum Gedenken 
an den während der Jahre 1568—1575 an der Kirche tätigen Geistlichen Praetorius 
von dessen Sohn gestiftet. In der bereits mehrfach erwähnten Kollektaneenchronik 
der Stadt Schneeberg’), von Peter Weise (Petrus Albinus) dem bekannten 1598 im 
Alter von 64 Jahren gestorbenen Dresdner Geschichtsforscher geschrieben, heißt es: 
„Im Jhar 1568 ist das Gemelde der Apostell an den Pfeilern unter der Borkirchen 
yn der großen Kirchen angehangen worden durch Andream Praetorium, Pfarhern 
dazumal, Matz Krötel (Mathias Krodel d. A.) von Schneebergk, Maaler.“ Da die 
Gemälde zu Beginn des 17. Jahrhunderts von dem Schneeberger Maler Paul Gott- 


(х) Christian Schuchardt: Lukas Cranach d. A., Leben u. Werke. (Leipzig 1851, Bd. I, 8. 245). 

(2) Vgl. К. Steche, a. a. O., Heft УШ, 8. 40. | 

(3) Vgl. R. Steche, a. а. O., Heft VII, 8. 35 und 54. G. F. Waagen, Kunstwerke und Künstler in 
Deutschland. Teil I, 8. 59. (Leipzig 1843.) 

(4) Solche Willkür in der Schreibweise von Namen begegnet uns in jener Zeit bäufig. So heißt es 
z. В. in дег Zimmerschen Chronik von 1548: „Schad’ umb die große Kunst des Meisters Laux 
Kronen (Lukas Cranach). 

(5) Manuskript der Sächsischen Landesbibliothek, d 51, Blatt 163b. . 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 17 257 


hard Blumberg teilweise rticksichtslos restauriert wurden, ist eine eingehende 
Stilkritik unmöglich gemacht. Signiert ist nur das Bild des Apostel Petrus, und 
zwar in folgender Form: Mi. Die Figurenfolge beginnt am zweiten südlichen 
Pfeiler mit der Darstellung Christi als Salvator Mundi, Kreuz und kristallene Welt- 
kugel tragend, zu seiner Rechten das Lamm. 

Es folgen die Apostel Andreas, Jakobus d. Ä. und Johannes Ev. 

An der Nordseite sind die Figuren von Westen nach Osten fortschreitend in 
folgender Reihenfolge angebracht: „Philippus, Thomas, Jakobus minor, Simon und 
Judas Thaddaeus als Bruderpaar auf einem Bilde, und Mathias. 

Die zehn Gemälde sind sämtlich auf sehr dünnem Stuck, ursprünglich wahr- 
scheinlich al fresco gemalt, und werden ergänzt durch drei auf Holz in Öl ge- 
malte Gemälde in gleicher Größe, die früher frei an den Pfeilern aufgehängt waren, 
jetzt aber sich im Chorraum befinden. Sie stellen Johannes Baptista und die 
Apostel Paulus und Bartholomäus dar. Johannes, in einer Halle vor einem Kruzifix 
stehend, trägt die hl. Schrift, auf welcher das Lamm Gottes ruht. Das 1583 da- 
tierte Bild ist, wie oben erwähnt, eine Stiftung des Sohnes, Pastors Martin Prae- 
torius, dessen Gesichtszüge Johannes d. T. tragen soll. Nach Meltzer!) trug das 
Gemälde folgende begleitende Verse: 


Hae pia dilecto posui monumenta parenti, 
Cujus in hac faciem conspicis effigie: 
Praesentem digito Christum Baptista Johannes 
Monstravit; meus at voce docente pater; 

Ille parare viam jussus; Sic fata volebant 
Heic Domini lectas pascere jussus Oves. 


Trotz der riicksichtslosen Übermalung und ihrer dadurch entstandenen kiinstle- 
rischen Ungleichwertigkeit nähern sich die Gemälde, wenn man von der der 
Cranach-Schule eigenen Verzeichnung von Händen und Füßen absieht, zum Teil 
der edien Auffassung und Größe der Dürerschen Apostel. Insbesondere gilt dies 
von der Figur Christi, Johannes des Evangelisten und denen der Apostelfürsten 
Petrus und Paulus. Auf dem Tafelgemälde des Apostel Paulus trägt er als Parallele 
zu den zwei Schlüsseln Petri zwei Schwerter, außerdem befinden sich unten zwei 
kleine Wappenschilder und der Name (wohl des Stifters?) Wolff Schroder, so daß 
also dieses Bild nicht zur ursprünglichen „Praetorius-Folge“ gehört. 

Vermutlich hat Matthias Krodel auch die biblischen Darstellungen in den Briistungs- 
feldern der Emporen zwischen 1568 und 1583 gemalt, die aber bereits im 17.Jahr- 
hundert zerstört wurden. 

In gleicher Weise signiert wie das Schneeberger Petrusbild und die Jahreszahl 
1570 tragend (am Rande links) ist ein prachtvoll gezeichnetes und sorgfältigst 
durchgeführtes Bildnis eines bärtigen Mannes mit Pelzmtitze in der Braunschweiger 
Gemäldegalerie (Taf. 43, Abb. a). Dem langstieligen Hämmerchen nach, das das Mono- 
gramm G. P. trägt, handelt es sich vielleicht um einen hohen Bergwerksbeamten 
des Schneeberger Hütten- und Grubenbezirkes, nach Karl Scheffler?) um einen 
Goldschmied. Der Hintergrund mit einer in lebendigem Barock dargestellten Be- 
kehrung Pauli, einem darauf bezüglichen Bibeltext und einem großen Wappen 
lenkt durch sein Vielerlei etwas von dem ausgezeichneten Porträt ab, das zu den 


(1) Chr. Meltzer: Stadt- und Bergchronik von Schneeberg 1719, S. 307. 
(2) K. Scheffler: Bildnisse aus drei Jahrhunderten. (Langewiesches „Blaue Bücher“). 


258 


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besten des ausgehenden 16. Jahrhunderts gehört. Es wire interessant, durch 
Wappen und Monogramm die Persönlichkeit dieses Mannes festzustellen, wie es 
G. Sommerfeld für das Zwickauer Epitaph und das Porträt des Schneeberger Rats- 
herrn in der Dresdner Galerie gelang. 

In dem Katalog des Dresdner Altertumsmuseums wird ein gemalter Fitigel- 
altar, aus Mügeln bei Oschatz stammend, beschrieben, dessen Malerei von einem 
Schüler oder Genossen des jüngeren Cranach herrühre, und dessen Eigenttimlich- 
keiten in übertreibender Weise, ein Haschen nach Effekt in gewaltsamen, un- 
schönen Wendungen, geschraubtem, oft ins Burleske fallenden Ausdruck, ver- 
bunden mit oberflächlicher Behandlung des Ganzen zeige. Auch Christian Schuchardt 
beschreibt im ersten Bande seines Cranachwerkes (S. 246) den Alt-Miigelner Altar, 
dessen Gesamteindruck mehr auf Lukas Cranach d. J. Schule hinweise, wihrend 
die manirierte Zeichnung und die Behandlung im Ganzen das Verdienst der Schule 
habe. Nach den Rechnungen in den dortigen Kirchenbiichern solle es ein Werk 
des Mathias Krodel sein. 

Schuchardts Angabe wird bestätigt durch eine genaue Beschreibung des Werkes), 
aus der hervorgeht, daß man im Jahre 1800 anläßlich einer Renovierung der Mtigelner 
Stadtpfarrkirche St. Johannes das Altargemälde von Mathias Krodel als „unnützen 
Gegenstand“ beseitigte, „ein schönes Kunstwerk, das nach 4 Jahrzehnten, freilich 
nicht ganz ohne Verstümmelung, wieder aufgefunden und, Dank sei dem Siichs. 
Altertumsverein, in dessen Museo jetzt als ein Schatz aufbewahrt wird.“ Aus der 
Beschreibung des Mügelner Pfarrers Sinz geht hervor, daß die Dresdner Gemälde 
zu einer ursprünglich viel stattlicheren Altaranlage gehörten, denn er schreibt: 
„Der jetzige Altar stehet 4 Stufen hoch, zu beiden Seiten ist ein Geländer, der 
Tisch ist steinern, die Altarwand aber von Holz sehr kunstreich geschnitzt und 
ganz vorzüglich gemalt. In dem untersten Fache zeigt sich, unmittelbar über dem 
Altartische, die Einsetzung des hl. Abendmahls gemalt. Darüber und in dem 
mittleren Teile der Altarwand sind Doppelflügel und Türen, inwendig und aus- 
wendig geschmackvoll gemalt, so daß man den Altar zweimal verändern, auf- und 
zumachen kann und die Ansicht dieser Gemälde wechselt. Auf dem äußersten 
Teile dieser Flügel sieht man 4 Felder, und zwar auf der Mitternachtseite die 
Verkündigung Mariä, auf der ersten Türe die Geburt Christi, auf der andern Jesus 
im Tempel sitzend unter den Lehrern, und auf der Mittagsseite die Taufe Christi 
im Jordan von Johannes vollbracht, meisterhaft dargestellt. Bei Eröffnung beider 
Türen oder Flügel erblickt man wieder 3 gemalte Felder, nämlich in der Mitte 
die Kreuzigung Christi, ein Prachtstück voll Leben und Ausdruck, rechter Hand 
den Kampf des Herrn im Garten Gethsemane, linker Hand seine Auferstehung 
(Taf. 40, Abb.c). Oben darüber in der dritten Abteilung des Altars steht rechter 
Hand und auf der Mitternachtseite das Wappen Johannis IX. von Haugwitz mit 
4 Feldern, worin statt des vormaligen bischöflichen Lammes sich wechselsweise 
ein Büffelkopf, als das Haugwitzsche Geschlechtswappen, und ein Adler zeigen. 
Es hatte nämlich, als dieser Altar erbauet wurde, Johannes von Haugwitz auf das 
Bistum Meißen schon verzichtet, lebte aber als Domprobst zu Naumburg auf dem 
Schlosse Ruhethal. Gegenüber linker Hand auf der Mittagsseite befindet sich das 
Miigelische Ratssiegel. Darüber ist in der vierten und kleinsten Abteilung das 
Jüngste Gericht gemalt und oben darüber ragt ein kleines Crucifix hervor. Dieser 


(1) Johann Gottlob Sinz: Geschichte der Stadt Mügeln und Umgegend. (Mügeln 1846), S. 148—150, 
171—172. Joh. Fiedler und M. О. Zießler: Chronik von Mügeln (1754), 8. 129. 


259 


Altar ist 1582 ganz neu erbauet und von Mathias Krodell, Bürger und 
Maler zu Schneeberg, gemalt worden und kostet 70 8. zu verfertigen, 
wozu der Bischof Johann von Haugwitz, der Rat, Bürgerschaft und die ganze 
Kirchfahrt das ihrige freiwillig beigesteuert haben. Dieser Mathias Krodell war 
ein sehr berühmter Künstler seiner Zeit, welcher zu Kurfürst Christians Zeiten 
in Dresden im Schlosse einige Wand- und Deckengemälde malen mußte und 1605 
starb. Martin Krodell, welcher vermutlich sein Vater war, war ein Schüler Lukas 
Cranachs, daher auch wohl unser Altargemälde als ein Werk aus der Cranachschen 
Schule leicht erkannt wird; und seine Söhne, Matthias jun. und Wolfigang waren 
ebenfalls in der Malerkunst sehr berühmt, wie Meltzer’) bezeugt.“ 


Von den Fresken, die Mathias Krodel zur Zeit Kurfürst Christian I. (1568— 1591) 
im Schloß und im Stallhof (jetzt National-Hygienemuseum) zu Dresden „ufn Tünch“, 
wie es in der Meltzerschen Chronik S. 639 heißt, gemalt hat, ist nichts mehr er- 
halten. Wir wissen nur noch von schwarzen Sgraffitomalereien: einzelne Krieger, 
Reiterzüge, Schlachtenszenen usw., mit denen alle Wandflächen des Stallgebäudes, 
jener Stätte für ritterliche Kampfspiele, die bald in ganz Europa berühmt waren 
geschmückt wurden?). 


Hingegen besitzt die Dresdner Gemäldegalerie ein Porträt, das, deutlich auf die 
Cranach-Tradition weisend, fast wie ein sehr gutes Werkstattbild der Cranach- 
Schule wirkt. Seiner Bezeichnung: 1591 aetatis suae 49. MK (zusammengezogen) 
entsprechend, wird es jetzt mit Recht Mathias Krodel d. Ä. zugeschrieben, obwohl 
die Form des Monogramms nicht mit der Signatur des Schneeberger Apostel 
Petrus in der Wolfgangskirche übereinstimmt (Taf. 43, Abb. b). Daß es sich aber 
um einen vornehmen Schneeberger Bürger handelt?), geht aus dem Wappen seines 
Siegelringes hervor, welches mit jenem in der rechten oberen Bildecke tiberein- 
stimmend, nach Christian Meltzer‘) das des Schneeberger Ratsherrn und Stadt- 
richters Franz Brehm ist. G. Sommerfeldt’) hat nachgewiesen, daß das Bildnis 
zwei Jahre nach dem Tode Franz Brehms, der auch wohlhabender Hammerherr 
in Unter-Plauenthal war, im Auftrage seiner Witwe Magdalena (}1596) von Mathias 
Krodel d. A. gemalt worden ist. Auch Schuchardt kannte das Bild durch Autopsie, 
und äußert sich im dritten Bande seines Cranachwerkes tiber es wie folgt: „Wenn 
man bei dem männlichen Bildnis eines alten Mannes mit weißem Barte, in der 
linken Hand ein Buch haltend, an die Bilder denkt, die ich in meinem Werke: 
Lukas Cranach d. A., Leben und Werke (Bd. I, S. 245 ff.) als Werke der Künstler- 
familie Krodel angeführt habe, so kann man bei dem Dresdner Porträt, signiert 
M. K. 1591, weder an einen der Krodel, noch an die Cranachsche Schule denken.“ 


Zweifellos hat Mathias Krodels Stil nach 1582 eine Veränderung erfahren, die, 
wie auch die neue Signatur des Monogramms, vorläufig noch ungeklärt ist, und 
Schuchardts Skepsis durchaus berechtigt. 


(1) Schneeberger Chronik, 8. 87, 407, 639. 

(2) Diese und die malerische Ausschmückung der Stallgalerie dürfte auf den namhaftesten Dresdner 
Maler jener Zeit, den Braunschweiger Heinrich Göding (1531—1606), seit 1570 Hofmaler des Kur- 
fürsten August, zurückgehen. Auch Cyriacus Röder, Zacharias Wehme und Michael Treutting wirken 
zu jener Zeit am kursächsischen Hofe, während Mathias Krodel in den Urkunden nie genannt wird, 
(3) Nicht um einen dem Kreise der Wittenberger Reformatoren nahestehenden Mann, wie Karl 
Schefller vermutet. | 

(4) а. а. O., 8. 1088. 

(5) In dieser Zeitschrift, Bd. XI (1918), S. 202. 


260 


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G. Sommerfeldt!) schreibt, auf einer brieflichen Mitteilung E. Flechsigs fußend, 
Mathias Krodel d. A. auch ein in Öl gemaltes Marienbild im Städtischen Museum 
zu Nordhausen zu. Das Bild stammt aus dem Nachlaß des Nordhausener Stadt- 
physikus, des bekannten Botanikers Magister Johann Thal, der im Jahre 1583 töd- 
lich verunglückte. Seine Erben konnten sich bei der Erbschaftsteilung nicht über 
den Besitz dieses Gemäldes einigen und stifteten es deshalb dem Rathause, wo es 
in der sogenannten „Regimentsstube“ über dem „Kammerkasten“ seinen Platz fand?). 
Nach der genauen Beschreibung des wertvollen Bildes, die Julius Schmidt im elften 
Bande des Inventarisationswerkes der Provinz Sachsen gibt, trägt es die Jahreszahl 
1564 und das Künstlerzeichen М = M. K., welches nach einer Inschrift auf der 
Rückseite des Bildes den Maler Marcus Kräger bezeichnen soll. Am oberen 
Bildrande ist in späteren Schriftzügen aufgemalt: „imago virginis Mariae“. 

Es liegt trotz der Ähnlichkeit der Künstlerzeichen keine Veranlassung vor, den 
Namen des Malers Marcus Kräger durch jenen des Mathias Krodel zu ersetzen, 
da auch das Ergebnis der stilkritischen Vergleichung des Nordhausener Gemildes 
mit Krodelschen Werken nicht unbedingt für die Identität des Nordhausener und 
Schneeberger Künstlers spricht). 

Auch erwähnt Meltzer‘) einen Mathes Krodel, Maler, der um 1620 unter den 
Schneeberger Ratspersonen war. Vermutlich ist er der älteste Sohn des am 
6. April 1605 verstorbenen Mathias Krodel d. А. Nach anderer Lesart soll Mathias d. J. 
vier Jahre vor seinem Vater, also 1601 gestorben sein. Gemälde seiner Hand haben 
sich weder von ihm noch von seinem jüngeren Bruder Wolfgang (geb. am 4. Sep- 
tember 1575, gest. etwa 1627) nachweisen lassen, so daß das „Werk“ der Krodel 
auf den Schultern des älteren Wolfgang und seines Neffen Mathias ruhend, fast ein 
Jahrhundert der erzgebirgischen Malkunst ein eigenartiges und hochwertiges Ge- 
präge verliehen hat, das Schneebergs wirtschaftlich bedeutsame Stellung in den 
kursächsischen Landen auch auf künstlerischem Gebiete als gleichwertig erweist. 


(х) Neues Archiv für Sächsische Geschichte, Bd. 41 (1920), 8. 131. 

(2) F. Chr. Lesser: Historische Nachrichten von der Kayseri. u. d. hi. röm. Reichs Geier Stadt 
Nordhausen (1740). Joh. Heinr.’Kindervater: Nordhusa illustris (1715). 

(3) Zei, dagegen Max J. Friedländer in Doering u. Voß: „Meisterwerke der Kunst in Sachsen und 
Thüringen“ 8. 17 (Magdeburg 1905): „Rein stilkritisch läßt sich an das Braunschweiger Porträt des 
Goldschmieds von 1570 und die Madonna in Halbfigur im Museum zu Nordhausen (Katalog der 
Erfurter kunstgeschichichtlichen Ausstellung von 1903 Nr. 118) eine unsignierte Madonna anschließen, 
die der Fürst von Rudolstadt nach Erfurt geliehen hatte (Kat. Nr. 130).“ 

(4) a. a. O., 8. 429. 


261 


MISZELLEN. 


ZUR DEUTSCHEN MALEREI UM 1500 


Mit einer Tafel in Lichtdruck 


р" Bild, das ich mit den folgenden Zeilen in 
die Literatur einführen will, bekannt zu machen, 
sur Diskussion zu stellen, ist der Hauptzweck 
dieser Arbeit. Die eigne Meinung, die ich nament- 
lich bes. des Autors habe, vorzutragen, ist selbst- 
verständliche Pflicht. Mich eines Besseren be- 
lehren zu lassen, bin ich — wie stets — gern 
bereit. Was ich im Vorwort zu meinem Buche 
über die niedersächsische Malerei des Mittelalters 
bekannt habe: „Auch in der Wissenschaft ist das 
Odem spendende Gesetz der Entwicklung alles 
Fleißes und aller Mühen schönster Lohn, und eitie 
Rechthaberei bleibt auch hier der Todfeind aller 
Erkenntnis“ ist mein Glaube, und Gerede nicht. 
Einen Dürer zu entdecken, scheint mir gering 
und eitel gegen Erlebnis und Überzeugung. Ich 
habe nichts vor, als der Wahrheit und unserer 
schönen Wissenschaft zu dienen, wenn ich meine 
Ansicht Berufeneren unterbreite. Und mehr soll 
nicht geschehen. 

Zunächst das Äußerliche: Das Bild, von dem 
mir der Besitzer, Herr C. Hausmann in Pyrmont, 
freundlicherweise eine Photographie zur Veröffent- 
lichung überlassen hat, ist ohne Rahmen 55,9 cm 
hoch, 39 cm breit und auf Lindenholz (mit Wurm- 
fraßspuren auf der Rückseite) gemalt. Durch die 
Mitte der Tafel geht ein (in der Photographie 
sichtbarer) Sprung, dicht am Kinn der Maria links 
vorbeilaufend. Die Rückseite wurde in der Mitte 
des vorigen Jabrbunderts im Germanischen Mu- 
seum in Nürnberg parkettiert. Bei dieser Gelegen- 
heit scheinen die alten Verletzungen der Malerei 
in und neben der Sprunglinie restauriert worden 
zu sein. Der Vorbesitzer hat das Bild um 1848 
von einem Grafen Wedel auf Schloß Evenburg 
bei Leer erworben. Mehr konnte ich über die 
Provenienz leider nicht erfahren. 

Das Gegebene: Maria mit dem Kinde in der 
Landschaft ist aus der Abbildung zu ersehen. 

Der erste Eindruck ist wohl der, einer unaus- 
geglichenen, zwiespältigen Auffassung und Formen- 
sprache gegenüberzustehen. Ein rätselhafter Kampf 
gegensätzlicher Weltanschauungen und künst- 
jerischer Ziele scheint die Ursache zu sein. Wir 
haben einen Meister des Überganges vom Mittel- 
alter zur Renaissance vor uns. Zunächst das Eine: 
zwei Edelsteine des Bildes: der Kopf der Maria 


262 


Von V. CURT HABICHT 


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und die Landschaft sind ganz Mittelalter, Zeugen 
des hohen Aufstiegs der Sondergotik, Reife und 
Jugend zugleich. Der eigentümliche und neue 
Weg der späten mittelalterlichen Kunst (nichts 
anderes und namenlos, denn auch Sondergotik 
sagt das Richtige nicht), der bald verschüttete und 
hier schon durchkreuste, geht einem eigenen Ziele 
nach. Das Wesentliche liegt in der Ankündigung 
eines neuen Wollens, das naturgesättigter nach 
Ausdrucksformen strebt, für die die empfindsame 
Verfeinerung eines Schongauer, der unmittelbare 
und lebensnahe Esprit eines Hausbuchmeisters 
und die Auseinandereetsung mit dem erdrückenden 
Vorbild der Niederländer nicht mehr genügen. An 
Stelle der weltumspannenden Symbolik und der 
ekstatischen Spiritualität des frühen Mittelalters 
geht diese expressive Welle auf individuelle, 
menschliche Töne aus. Der Naturalismus dieser 
Sondergotik ist nur eine und keine für sich be- 
stehende Seite dieser Kunst. Die Gesamtanlage 
des Bildes verkündet laut ein neues Sehen mit 
geputsten Augen. Voll von Duft und Flimmern, 
erlebt, ist das kleine Stück Welt der Landschaft. 
Das Sehen ist geklärt oder vielmehr seiner Auf- 
nahmefähigkeit bewußt geworden. Erstaunlich 
„beeindruckt“ von der Natur erscheinen Dar- 
stellungen wie die des Flusses mit seinem Glanz, 
den Lichtern und den Spiegelungen der Ufer, oder 
die der Birke links. Anderes, wie der Himmel — 
unten glasig graublau, oben etwas dunkler — ist 
ungesehen, Schablone, Vorbildern verpflichtet. 
Hart, eckig und unverbunden davor die Gestalt 
der Maria, expressiv erlebt und gestaltet. Aber 
dieses Ausdrucksverlangen erwächst nicht mehr 
aus reiner, abstrakter Geistigkeit. Eine sehr scharfe 
Individualbeobachtung wird zur Klärung des ein- 
maligen, seelischen Zustandes herangezogen. Diese 
mit einem dunkelgrünen Untergewand, blauem 
Mantel und weißem Kopftuch schlicht gekleidete 
Frau ist Trägerin des Ahnens mehr als des Gottes- 
sohnes, ist heimlicher Schmerzen und stiller Weh- 
mut voll. Armeleuteahnen und Kümmernis, Scheu, 
Weltschmerz, Verbindlichkeit und Unnahbarkeit 
sind in seltsamer Weise vereint. Eine einfache, 
derbbürgerliche Frau, die zugleich Gottesmutter 
ist — wie wahr, wie tief erfaßt ist das Mysterium. 
Die gezierte Haltung des Kopfes, besonders die pre- 


siöse, unnatürliche Art des Zugreifens, und der 
Ausdruck sind die Mittel der Verdeutlichung der 
maiestas. Gewiß steckt hier auch Unvermögen 
des Künstlers, Suchen und Tasten, eigene Scheu, 
die diesen Eindruck erzielen, aber im Grundeist er 
so gemeint — und gewollt. 

Die Darstellung der Landschaft und der Maria 
gehen nicht zusammen, sie eint lediglich die 
gleiche Stärke des inneren Erlebens. Frisch wird 
die Wirklichkeit ergriffen, es zu künden. Ra- 
tionalistische Überlegungen schweigen, nichts von 
Komposition, Klarheit, vorgefaßtem Ziele. 

Aber dann kommt plötzlich ein befremdender, 
unreiner Ton in die Gestaltung. Er gebt aus von 
dem italienisierenden Jesusputto, er macht den 
Spielverderber, zerstört die Einheit, welscht eine 
fremde Sprache. Wie gelähmt, mit eigentümlichem 
Versagen, beginnt das Bild links. Eine tote, wein- 
rote, leere Fliche (von der Brust des Vogels ab- 
wärts) scheint wie ein Brett. Men hat das Gefühl, 
els ob der Zwang, den Eindringling in dem Bilde, 
den Störenfried und Verursacher der Dissonanz 
darzustellen, alle Unmittelbarkeit und Unbefangen- 
heit verscheucht hätte. Verstand, Erinnerung und 
Wissen — anstatt Gefühl und unmittelbarem Er- 
leben — diktieren schon die Haltung. Etwas 
ähnliches hatte schon Schongauer im Motiv (В. 29 
I u. II) gegeben. Aber dessen Stich kann Vor- 
bild hier nicht sein. Alle Formen sprechen für 
einen Italiener der Richtung Perigunos oder Lorenzo 
di Credis, wenn es auch nicht möglich ist, das 
unmittelbare Vorbild zu nennen. Dieschwammigen, 
weichen Formen des Körpers, die den Putti ent- 
nommene Typisierung des Gesichtes mit den 
Pausbacken, die Lagerung der in der Ruhe noch 
bewegten Beine sagen darüber genug. Weniger, 
aber doch genügend, sind auch die Farben von 
dort bestimmt, besonders das weißrötliche Inkarnat 
(Haare rötlichbraun mit hellweißgelben Lichtern, 
Augen graublau mit schwarzer Iris). Sehr auf- 
dringlich und des Aufwandes nicht wert die Deute- 
gebärde. Wirklich beobachtet, frisch dagegen der 
am Schnuller pickende Vogel. Auch in den Farben 
reizvoll: Brust weiß, olivgrüne Hals- und Rücken- 
federn, schwarz-weiße Schwansfedern. Diese Emp- 
fänglichkeit für gesehene zarte Farbtöne viel stärker 
und geschlossener noch in der Landschaft — und 
jedes in auffallendem Kontrast auch zu der zarten, 
konventionellen Beschränkung bei der Maria. Die 
breiten Lokalfarben verschwinden. Das Spiel der 
vielfältigen Erscheinung, die Eindrücke, besonders 
überraschend in der farbigen. Wiedergabe des 
Flusses fsstgehalten, in dem das Blau des Himmels, 
das Weiß der Wolken, das Grün der Uferbüsche 


und das Weinrotviolett des Hauses spiegeln und 
mit der graublauen Färbung des Wassers selbst 
überraschend zusammengehen. Auch die feinen 
Oberflichenreize der Birke mit ihrem schwarz- 
grünen Stamme und weißen Flecken, der fast auf- 
gelösten Blattkrone in hellgriingelben Tönen auf 
dunkleren grünen sind scharf aufgenommen und 
malerisch gepackt. Breit, pastos als grüne Flecken 
mit helleren, häkchenartigsn Tupfen die Ufer- 
büsche. Ähnlich das Stückchen Hügelland rechts. 
Sehr zart der hellgelbe Weg. Braunere und dunk- 
lere Töne im übrigen in den Büschen der rechten 
Seite. 

Trotz Zwiespältigkeit und Unausgeglichenheit 
im ganzen besitzt das Bild in den starken Stellen: 
Landschaft und Madonna so viel Qualität, daß es 
wohl der Mühe wert ist, den Fragen einer näheren 
Bestimmung nachzugehen, 

Zunächst die zeitliche Ansetzung. Die Gesamt- 
einstellung, die künstlerische Grundabsicht lassen 
keinen Zweifel, daß das Bild aus spätmittelalter- 
licher Gesinnung erwachsen ist, allerdings nun 
aber bei einem Künstler, in dem sich eine offen- 
bar erstmalige, oder wenigstens sicher noch nicht 
oft bewältigte Auseinandersetzung mit der Formen- 
welt der italienischen Renaissancemalerei voll- 
zogen hat. 

Die naive und hart aneinanderstoßende Ver- 
koppelung zweier Formwelten spricht ferner dafür. 
Wie sich die Behandlung des gleichen Themas 
nach einer gewissen Sättigung mit den Renaissance- 
begriffen — und Formen vollzieht, sind wir leicht 
in der Lage, an einem Bilde des Germanischen 
Museums zu prüfen, das E. Braun!) Hans Baldung 
zuschreibt und in die Zeit um 1520 verlegt. 
Zweierlei ist von vornherein für das ungeübteste 
Auge mühelos festzustellen: Einmal nämlich, daß 
das Nürnberger Bild später entstanden sein muß als 
das unsere und ferner, daß Beziehungen zwischen 
beiden Bildern bestehen. Soviel schwächer, inner- 
lich ärmer vor allem das Baldung zugeschriebene 
Bild ist, hat es doch „Vorzüge“, die aus einer 
klareren Anschauung der Renaissanceabsichten 
stammen. Wir sehen den Dürerschüler Mängel der 
Zwiespältigkeit und Unausgeglichenheit sorgfältig 
vermeiden, Er verbindet Figur und Landschaft, 
schließt die Gruppe: Mutter und Kind als Masse 
dicht zusammen, einbezieht das im Motiv bei- 
behaltene Kind in eine angestrebte Dreiecks- 
komposition, nähert den Typ und die Gestalt der 
Maria an den italienischen des Jesusputto. 


(з) Vgl. E. Braun: Studien aus der Gemälde-Gal. des Germ. 
Mus. в. Mitteil. aus dem German. National-Museum 1895, 
Tafel V. 


263 


Die Meerkatse in dem Bilde gibt einen Finger- 
zeig. Wir haben das Verhältnis unseres Bildes 
zu dem Stich Dürers festzustellen. Auch hier 
sprechen die Formen kräftig genug, um eine 
spätere Ansetzung des Stiches (B. 42):) vornehmen 
su können. Die geschlossenere Einheit des Ganzen 
die gelocktere, weit stirker it alienisierende Madonna, 
der veränderte Typ des Schönheitsideals, die vielen 
formalen Gefälligkeiten und einschmeicheinden 
Töne genügen für diese Aussage. Welcher Zeit- 
punkt damit für die Entstehung unseres Bildes 
gewonnen ist, bleibt deshalb unklar, weil der Stich 
bald um 1506, bald um 1499 datiert wird. Ich 
lasse diese Frage unentschieden, stimme aber der 
früheren Ansetzung zu. Wirhaben überdies weitere 
Möglichkeiten, die zeitliche Eingrenzung vorzu- 
nehmen. Dürers Madonna von 1506?) im Berliner 
Kaiser-Friedrich-Museum zunächst. Das von man- 
chen hochgepriesene, rein aus Vernunft, aus be- 
wußter Formenrivalität geschaffene, dem Mittel- 
alter gänzlich abgeschworene Bild verrät seine 
spätere Entstehung in jedem Zuge, ja es mutet 
wie eine „gereinigte“ Fassung unseres Bildes an. 

Wir gehen weiter — und stoßen plötzlich auf 
einen sehr engen Zusammenhang unseres Bildes 
wieder mit einer Arbeit Dürers, und zwar mit der 
Madonna und dem Kinde in der Anbetung der 
bl. 3 Könige des Marienlebens*). Die Gesamt- 
haltung der Maria, Körperwendung und besonders 
die eigentümliche Kopfhaltung decken sich fast 
genau. Auch bei dem Christusknaben stimmen 
die Lagerung des Körpers, Kopfhaltung, Arm- 
bewegung im wesentlichen mit denen unseres 
Bildes überein. Ferner erscheinen hier wie dort 
die von einem Tuch knollig verdeckten rechten 
Hände der Maria, Gewanddarstellung, Kopftuch, 
die unter demselben hervorringelnden, auf die 
Schultern fallenden, Locken der Maria. Es kann 
kein Zweifel sein, daß, wenn überhaupt irgendwo, 
so hier, engste Verbindungsfäden laufen. Aber 
welche? Ist unser Bild Kopie — oder später ent- 
standen, oder ist das Verhältnis umgekehrt? Dies 
sind die brennendsten Fragen. Bei näherem Zu- 
sehen wird es deutlich, daß der Holzschnitt eine Reihe 
von Änderungen aufweist, die man durchaus als 
Verbesserungen oder zum mindestenalsÄußerungen 
einer fortgeschritteneren Entwicklung anzusprechen 
hat. Statt der stracken, unnatürlichen, parallelen 
Beinhaltung (der offenbar ängstlich übernommenen) 
unseres Bildes ist die des Holsschnittes gesehener, 


(1) vgl. v. Scherer: Dürer. Stuttgar und Leipzig 1906, 
8. 118. | 

(2) v. Scherer: 8. 31. 

(3) vgl. Scherer: а. a. O., 8. 212. 


264 


„richtiger“. Hier sieht der Knabe das rechte Bein 
etwas gekrümmt an und hat das linke freier und 
der Drehbewegung nach links entsprechender 
legen. Die ungeschickte Deutegebärde der linken 
Hand ist aufgegeben. Die unmöglichen, wurst- 
artigen Einschnürungen des rechten Armes des 
Bildes haben einer Klärung trotz der beschwer- 
licheren Mittel Platz gemacht. Die scharf eckige 
Haltung des Kopfes der Maria, Härten, wie das vor- 
springende Kinn im Bilde, sind im Holzschnitt 
leicht, aber zum Vorteil eines sanfteren, ausge- 
glicheneren Schönheitsideals, geändert. 

Der Holzschnitt stellt eine weitere Fassung des 
gleichen Motivs und Gedankens dar, und, da er 
vor 1498 entstanden ist, gehört unser Bild in eine 
Zeit kurz vorher. 

Dürer, kurz nach der ersten italienischen Reise! 
— dies ist in der Tat mein Urteil beim ersten 
Zusammentreffen mit dem Bilde auch gewesen. 
Ich habe diese — für mich feststehende, aber 
manchem vielleicht zu kühn erscheinende — An- 
sicht noch zu vertreten. 

Die zeitliche Ansetzung um 1497 dürfte un- 
widersprochen bleiben. Ein Dürerschüler schaltet 
somit aus. Die Beziehungen zu dem Holzschnitt 
des Marienlebens sind nicht zu leugnen. Ein 
Dürerschüler verarbeitet später das doch wohl von 
Dürer stammende Motiv: Baldung im Nürnberger 
Bild. Ein Vorläufer Diirers? Es müßte dann 
schon ein Doppelgänger sein. Solche Schemen 
sind beschworen. Allein — Qleichstrebende hat 
es wohl sicher gegeben, namentlich dem tastenden, 
noch unsicheren, jungen Künstler nahe kommende 
Verbindungen 'mit gesicherten Werken Dürers 
sind deshalb aufzuweisen. Ich nehme zunächst 
noch einen Holzschnitt: Die hi. Familie mit den 
3 Hasen (B. 192)1), da diese Arbeit gleichfalls 
um 1497 gesetzt wird. 

Im wichtigsten, in der künstlerischen Grund- 
einstellung, überwiegt durchaus die mittelalterliche 
Auffassung, verbunden zugleich mit einem leiden- 
schaftlichen Suchen nach neuen Ausdrucksmöglich- 
keiten (Sondergotik). Angeklammert an Schon- 
gauer Schöpfungen, ängstlich und rührend unfrei, 
wird doch im ganzen von einem Welt-und-Lebens- 
gefühl und einem Formenwille Kunde gegeben, 
die dem verehrten Vorbild fremd sind, Wie bei 
unserem Bilde vermag der neue Geschmack nicht 
mehr als eine Episode abzutrotzen — und wieder 
ist es der Jesusknabe, der in allen Formen und 
mit seinem Malochio-Kettchen die Übernahme 
italienischer Vorbilder nur zu deutlich verrät. Im 


(x) vgl. Scherer: a. а. O., 8. 171. 


— — — — — . SEEN — — . — — — — , — „и. AR — — — eee ae ee 2 ee eee 


— 


——— — A —— — 


TAFEL 44 


Deutscher Meister um 1500 (Dürer?): Maria mit Kind. 
Pyrmont, Privatbesitz. 


Zu: V. C. Habicht, Zur Deutschen Malerei um 1500. 


einzelnen weisen die beiden Marien engste Ver- 
wandtschaft auf. Der Frauentyp, Kopfhaltung, 
Kopftach, Falten, die unter dem Kopftuch hervor- 
kommenden Locken sind überraschend gleich- 
förmig gestaltet. 

Unter den Gemälden steht der um 1497 ent- 
standene Studienkopf einer Frau (Paris, National- 
bibliothek) i) unserer Madonna am nächsten. Das 
Pariser Bild ist offenbar eine Bildnisstudie. Des- 
und der en-face-Haltung wegen sind charakteristische 
Eigentimlichkeiten des Pyrmonter Bildes, so die 
herbe Eckigkeit der Haltung und des Kopfes, nicht 
zu erwarten. Trotz der verschiedenen Aufgaben 
und Lösungen lassen sich aber leicht Überein- 
stimmungen bei den wohl zeitlich nahestehenden 
Arbeiten feststellen. Man vergleiche die seltsamen 
chamäleonartigen Augen mit ihren schweren halb- 
kugeligen Oberlidern, ferner die scharf abgesetzten, 
kapselförmigen Unterlider. Hier machen sich 
neben der Identität des Schénheitsideales überhaupt 
auch ganz überzeugend für die gleiche Künstler- 
individualität die berühmten oder berüchtigten 
Marotten der Handschrift bemerkbar. 

Für die Landschaftsdarstellung lassen sich ebenso 
weitgehende Übereinstimmungen in dem Pyrmonter 
Bilde mit gesicherten Werken Dürers aufweisen — 
und zwar auf den Weimarer Bildnissen®), dem 
Kasseler’) und dem Krell-Porträt‘), 

Die allgemeinen Ubereinstimmungen lasse ich 
beiseite. Dagegen sind es bestimmte Eigenarten, 
unauffällige, nicht leicht nachahmbare, die voliste 
Beachtung verlangen. Ich meine die typischen, 
duftigen Buschbehandlungen mit den, auch in der 
Farbe übereinstimmenden, häkchenartigen, helleren 
Farblinien, die impressionistisch die gebogenen 
Umrisse festhalten. Ferner stimmen Farbe der 
Wege, der braungrünliche Ton der Erde, besonders 
aber die hohen schlanken Birkenbäume mit ihren 
schleierartigen Kronen (Kreil-Porträt) und die grün- 
blauen Himmeledarstellungen völlig überein, 

Ich kann mich nach allem nicht dazu ent- 
schließen, an einen Doppelgänger Dürers (ein 
Schüler scheidet völlig aus) als den Urheber des 
Bildes zu glauben — und sehe aus zwingenden 


(1) vgl. Scherer: а. а. O., 3. 9 (rechte). 
(з) vgl. Scherer: a. а, O., 8. 11. 

(3) ebenda 8. 1з (rechts). 

(4) ebenda 8. 13 (links). 


Gründen nur die Möglichkeit, Dürers Hand anzu- 
erkennen. Es ist ein Werk aus der Sturm- und 
Drangzeit, der suchenden und tastenden Jahre des 
Werdenden — und wie alle solche Arbeiten — 
naturnotwendig — ohne weiteres mit dem offiziellen 
Dürer schwer zu vereinen. 

Allein — das muß das Schicksal aller Zeug- 
nisse des jugendlichen Genius bleiben — und die 
Forschung bat es zur Genüge bewiesen, daß dem 
so ist. 

Das Bild, als Dürer anerkannt, würde eine will- 
kommene Bereicherung unserer Vorstellung von 
der Schaffensweise des jungen Meisters bedeuten. 
Zunächst der wunderbaren Vergieichsmdglichkeit 
mit dem motivisch ähnlichen Bilde von 1506 in 
Berlin wegen, denn hier könnten die Freunde des 
expressiven, der mittelalterlichen Kunst noch treu 
verbundenen, Dürer eine Stütze erhalten, seine 
Auseinandersetzung mit der artfremden, rationa- 
listischen Formensprache zu bedauern, zumal die 
Ansätze zu einer neuen, eigenen Ausdruckskunst 
entscheidend und deutlich erkennbar werden. 
Ferner wird die an sich nicht große Zahl der 
Jugendwerke mit einer religiösen Malerei be- 
reichert, die wir für diese Zeit seither überhaupt 
noch nicht besaßen. Denn der später entstandene 
Dresdner’) und der Münchner“) Paumgärtner-Altar 
sind doch bereits — wie die jüngsten Unter- 
sucbungen von Hagen und Secker erwiesen 
haben — reichlich mit dem neuen Öle gesalbt. 
Es bleibt eigentlich nur die Wiener Madonna 
mit dem Kinde vom Jahre 1503°). Zweifellos 
aber auch schon ein geschlosseneres, reiferes und 
einheitlicheres Werk. Aber — trotz dieser „Fort- 
schritte“ durchaus nicht mehr das, was obne den 
Verführer des neuen Stiles hätte werden können. 
Der Vorzug des Pyrmonter Bildes beruht in seiner 
schlichteren Ursprünglichkeit, in der größeren 
Stärke der Erlebnistiefe. Diese aber, Herzschlag 
und überverstandesmäßiges Empfinden suchen wir 
jetzt wieder mehr in der Kunst als Form, Formen- 
reife und -glätte — und so wird unsere Tafel 
sicher berufen sein, nicht der Wissenschaft allein 
zu dienen. Und das scheint mir wertvoller — 
wie Entdeckung, Beweise und Zustimmung. 


(z) ebenda 8. 19. 
(з) ebenda 8. soft. 
(3) vgl. Scherer: a. a. O., 8. 25 (rechts). 


265 


DIE ERSTE BESPRECHUNG DER CORNELIUSSCHEN ZEICH- 


NUNGEN ZUM FAUST 


000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000 000000000 0 0000000000600 ТҮҮ Т ҮҮТ ЛҮ ТТ 


Cometius’ Zeichnungen sum Faust erschienen 

im Stich 1817 bei Wenner in Frankfurt, Die 
Mehrzahl der Blätter war während eines Aufent- 
haltee in Frankfurt a. M. 1809— 11 entstanden, 
und schon damals haben sie, was bisher unbe- 
kannt war, eine öffentliche Besprechung erfahren. 
Verfaßt ist diese von Helmine von Chézy geb. 
von Klenk, einer Enkelin der Karschin und selbst 
Dichterin — von ihr rührt s. B. der Text su 
Webers Euryanthe her — einer Frau, die in ihrem 
Lebenslauf, ihren Schicksalen und der Unaus- 
geglichenheit ihres Wesens eine echte Vertreterin 
der Romantik war. Sie hielt sich eine Zeitlang 
am Hofe des Fürsten Primas Kari von Dalberg in 
Aschaffenburg auf, und dort wurde sie mit dem 
katholischen Philosophen Professor Windischmann 
bekannt, der ihr eines Tages die Originale der 
Cornelius’schen Faust-Zeichnungen zeigte. Gewiß 
sollte auch Dalberg für sie interessiert werden, 
Sie schrieb denn über die Zeichnungen eine Be- 
sprechung, die sie in ihren Lebenserinnerungen 
selbst erwähnt, ohne noch angeben zu können, 
wo sie erschienen sei. Der Aufsatz konnte in- 
dessen wieder aufgefunden werden und zwar in 
der Zschokke’schen Zeitschrift: Miszellen für 
die neueste Weltkunde, У. Jahrg., Aarau 1811, 
Nr. 80 (5. Oktober), S. 317. Die Besprechung ist 
einmal deswegen interessant, weil sie endlich den 
Streit darüber zu Ende bringt, welche Blätter be- 
reits damals in Frankfurt entstanden waren und 
welche nicht’). Es sind dies: Auerbach’s Keller, 
erste Begegnung, Marthe’s Garten, Fahrt zum 
Brocken, Gretchen in der Kirche, Rabenstein, 
Skizze zur Mater Dolorosa. Zweitens aber ist die 
Besprechung nicht uninteressant für den Eindruck, 
den die Zeichnungen auf ein dichterisch veran- 
lagtes und geistig fein gebildetes Gemüt der da- 
maligen Zeit gemacht haben. Neben manchen 
weiblichen Uberschwenglichkeiten findet sich manch 
durchaus klares Urteil. Nach den Beurteilungen 
der wenigen Cornelius’schen Zeichnungen für die 
Weimarer Preisausschreiben durch die W. K. F. 
ist es die erste Besprechung einer Cornelius’schen 
Schöpfung, und zwar nicht aus dem klassizistischen 
Lager, sondern aus dem Kreis der Romantik, eine 
Probe literarischer Kunstkritik aus den Anfängen 
der deutschen Kunstkritik überhaupt, gewidmet 


(1) Vgl. meinen Aufsatz: Aus Peter von Cornelius’ Frank- 
furter Tagen. Zeitschr. f. bild. Kunst XXIX (1917), H, 8. 
8. 184. 


266 


Von KARL SIMON 


einem Werke der neuen revolutionären Kunst, das 
wie eine Fanfare wirken sollte. So wird sich die 
Wiedergabe an dieser Stelle rechtfertigen. 

Die Schlußverheißung darf auch heute noch 
und heute wieder als erfüllt gelten, wo der Verlag 
D. Reimer, bei dem später die Cornelius’schen 
Zeichnungen zum Nibelungenlied erschienen, eine 
sehr würdige und mit Dank zu begrüßende Neu- 
ausgabe des Faust mit Originalzeichnungen des 
Cornelius veranstaltet hat, die auf diese Weise 
zum ersten Mai in den Dienst der eigentlichen 
Illustration gestellt werden i). 


Über Kornelius’ Zeichnungen zum Faust. 
(Bruchstück aus einem Briefe.) 


Frankfurt, im August 1811. 

Noch ganz ergriffen von einer selten-schönen 
Anschauung eile ich, sie in der Erinnerung noch 
einmal mit Dir zu genießen. Wenn ein so reich 
begabter und in den Jünglingejahren schon zur 
Virtuosität gediehener Künstler, wie Cornelius, 
den Weg, den jetst mancher Künstler aus Über- 
zeugung wählt, auch einschlägt, und zwar auf 
eine eigentümliche Weise, so läßt sich von neuem 
viel für die Kunst hoffen. 

Dieser Weg ist der, den Albrecht Dürer, und 
auch herrliche alte Niederländer, gegangen sind: 
Darstellungen im religiösen symbolischen Geiste 
und im Kostüm des Mittelalters. Hier allein noch 
herrscht ächt karakteristischer Styl; dies ist die 
einzige Form, in welcher noch die ganze Lebendig- 
keit einer schönen inneren Erzeugung in voller 
Kraft ausgehaucht werden kann. Der Malerei ist 
sie die günstigste, unseren Ideen noch immer die 
am mindesten entfremdete; sie ist die einzige, 
welche weder die Kälte der griechisch sein sollen- 
den Darstellungen in sich abspiegelt, noch die in 
Form und Stoff merkbare Erschlaffung der jetzigen 
Zeit; sondern sie trägt noch Funken in sich, des 
ächten Geistes einer kräftigen Vorzeit, einer Vor- 
zeit, deren Bewußtsein noch jede wahrhaft deutsche 
Brust als ein stolzer Schmerz füll and bewegt. 

In wie fern Kornelius diesen Styl und Geist 
ganz rein in sich aufgenommen und so, daß er 
nirgend in Manier ausartet, steht mir zu beur- 
theilen nicht zu. Ein Reiz, wie der, welcher in 
diesen Zeichnungen waltet, besticht gar leicht das 


(1) Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil mit Ze ch- 
nungen von Peter Cornellus. Eingel. von Alfr. Kuhn, Berlin. 
Dietrich Reimer 1920. Pr. Mk. 60.—, Luxusausg. Mk. 300.— 


Auge, indem er das Herz rührt, weil er aus einer 
reinen Quelle des Schönheitssinnes entfließt. Wie 
in einem köstlichen Brillianten, der von allen 
Seiten Licht und Farbe schöner und reicher wieder- 
strahlt, weil er alles in sich konzentriert: so ist 
auch in diesen Kompositionen die Lebensansicht 
auf das gehaltvoliste und wärmste aufgefaßt. In 
manchen dieser Gestalten entfaltet sich der Reich- 
tum und die Blithe des Lebens. Es sind solche, 
die nur einmal gesehen werden dürfen, um stets 
in uns lebendig zu sein; bei denen auf einmal 
hell zum Bewußtsein hervortritt, was dunkel im 
Innersten schlief; die bloß abspiegeln, was eine 
reine Seele in sich selbst als dng köstlichste trägt. 

Das erste Blatt zieht mich weniger an, so witzig 
und lebendig auch alles dasteht. Es ist die Szene 
im Gewölbe. Die zwei Gesellen halten thre Mit- 
brüder an den Nasen, Die Angegriffenen wehren 
sich mit Leib und Seele. Der „Schmeerbauch 
mit der kahlen Platte“ ist mit Shakespeare’schem 
Witze dargestellt. Die drei anderen sind recht 
durch das Wasser gesogene Naturen. Hier ist 
nicht die Hogarthische Karrikatursucht, sondern 
ächter Humor. Mephistopheles und Faust ent- 
schweben; des Ersteren Blick und Lachen spricht 
deutlich aus: „und merkt euch, wie der Teufel 
spaße!“ — Faust sieht sich noch im Verschwinden 
mit tiefer unwilliger Wehmut um, Das luftige Em- 
porschweben ist sehr meisterhaft; Zeichnung und 
Kostüm sind Dinge, die mit dem Geist dieser 
Sachen in Harmonie stehen, und bei Kornelius 
garnicht mehr des Lobes bedürfen, da er sich 
genugsam als Meister darin bewiesen. 

2. Straße; Gebäude, eine leicht und schlank auf- 
strebende gothische Kirche; Gretchen ein in Schön- 
beit blühendes Mädchen. Rasch und trotzig, mit 
festem Schritt wendet sie sich von Faust: „bin 
weder Fräulein, weder schön, kann unbegleitet 
nach Hause gehn!“ So recht das ungebrochene 
jungfräuliche Wesen. Sie ist doch auch froh, 
daß sie schön genannt worden ist, aber Scham 
und Trotz bemänteln die Freude. Faust steht da 
recht abgeführt mit dargebotenem Arm und ent- 
zückten Liebesblicken. Die Scene ist so lebendig, 
daß man sie von selbst versteht, 

Im Hintergrunde lauscht der Verworfene, Er 
freut sich auf das Abentheuer. 

3. Die zwei Paare spazieren im Garten. Gret- 
chen hat die Blume gezupft: Er liebt mich! Faust 
hat seinen Arm um sie geschlungen und gesagt: 
Weist du such, was das heißt: Er liebt Dich? — 
Sie neigt das blühende, liebeverklärte Angesicht 
gegen die Hand, mit welcher er ihre Rechte an 
das Herz drückt und läßt die zarten Fingerspitzen 


der Linken in des Geliebten umschlingende Hand 
gleiten. Es ist die siSeste, unschuldsvoliste Hin- 
gebung der Liebe. Die Gruppe ist mit der szar- 
testen Innigkeit gedacht und von unendlicher 
Schönheit. 

Einfacher und freundlicher als die sierliche 
Kleidung Gretchens läßt sich nichts denken, und 
nun dieser jungfräuliche knappe Schmuck um die 
reizvollste Bildung, um den schlanken Bau der 
blühenden Gestalt. Nur keine Falte, die nicht mit 
rephaelischem Anmutssinn gewählt wäre! — Man 
freut sich mit Erstaunen über eine sinnreiche, 
blühende Eleganz, die ganz eigenthümlich und 
mit als das Schönste dasteht, was sich erreichen 
läßt, — Um die Liebenden her sprießen Blumen. 
Auf dem Dachgiebel des Hauses sitzt ein ein- 
samos Täubchen. 

Das gegenseitige Paar, Mephistopheles und Frau 
Marthe, ist im vollsten Gegensatz gedacht; zu 
witzig und lebendig um beschrieben zu werden. 
Lies im Faust, so wirst da sie vor dir sehen. 
Mephistopheles sagt: er ist thr gewogen, und 
Marthe: und sie ihm auch, das ist der Lauf der 
Welt! Ihr frohlockender Blick nach Gretchen hin 
zeugt von der Schadenfreude, daß Gretchen nun 
auch werde, wie threr Eine. 

Mephistopheles trigt die Hahnenfeder. die Kappe 
sorgfältig über die Ohren gezogen; in jeder Zeich- 
nung verräth sein ganzer Anzug den verkappten 
Satan. Selbst seine Gesichtszüge sind nur wie 
eine schlechte Kappe über die Verworfenheit und 
den Ingrimm seines Wesens gezogen, die überall 
durchschauen. Meisterhaft hat der Künstler seine 
Beine verdreht, und der ganzen Stellung eine sa- 
tanische Gelenkigkeit verliehen. Die aufgehobene 
Hand mit den Krallen, die man für lange Nägel 
ansehen könnte, ist nicht minder karakteristisch. 

4. Mephistopheles und Faust auf der Fahrt zum 
Brocken. Das Irrlicht zieht vor ihnen her, sehr 
fantastisch und glücklich dargestellt. Mephisto- 
pheles packt „des Felsens alte Rippen“, weil sich 
der Windstoß erhoben hat. Faust schreitet ein- 
her in seiner ganzen Zerquetschung. In tiefes 
Nachdenken versunken hauset er unter den Trüm- 
mern seiner verfallenen Welt. Das Heer der 
Ratten, Eidexen und Molche trabt dem Mephisto- 
pheles nach. Giftschwämme bezeichnen seine 
Spur. Meerkatze, Schuhu, Fiedermaus, das ganze 
Reich der nächtlich feindlichen Tierarten zeigt sich 
bier. „Seht die alten Felsennasen, wie sie schnar- 
chen, wie sie blasen!“, auch dies Bild ist glück- 
lich versinnlicht. Im luftig duftigen Hintergrunde, 
wo die Hexen schweben, lieset man wahrlich den 
Faust Vere um Vers, 


267 


g. Eine herrliche Kirche. Gretchen sinkt um, 
der böse Geist hinter ihr, flästernd: Luft Dir, 
Licht Dir, weh! — Gretchen erreicht mit matter 
Hand die betende Frau vor ihr: Nachbarin euer 
Fläschchen! — Um sie her eine vortreffliche 
Gruppierung betender Gestalten. Das gänzliche 
Alleinsein der Verlassenen, an deren Schmerz nie- 
mand Antheil nimmt, ist hier schauderhaft. So 
wie, wenn in einsamer Nacht das zerrissene Herz 
den Verlust des liebsten Gutes beweint, und doch 
die ewigen Lichter des Himmels in freundlicher 
Klarheit einherwandeln, die Düfte erquickend 
wehen, die Nachtigallen singen und alles Schöne 
und Liebliche nur mit schärferen Pfeilen an das 
Herz dringt, eben weil es so herrlich und unge- 
trübt dasteht: eben so ist auch hier die Innigkeit 
heiterer Andacht, die Majestät und Schönheit der hei- 
lichen Stätte, su dem schmerzgefolterten verrathenen 
Herzen des armen Mädchens — und noch schmerz- 
hafter ist der Gegensatz einer frommen glücklichen 
Mutter, weiche betet, ihr eines Kind auf dem 
Arm, dem ein anderes ihr zu Füßen einen Appfel 
reicht; Eine Gruppe von Rafaelischer Schönheit! 
— Du Arme, die Mutter werden soll, die, was 
Leben und Liebe glühend erschaffen, auf das Ge- 
heiß der finsteren Gewalten seibst zerstören wird: 
kannst du es ertragen, wenn du eine glückliche 
Mutter siehst, der ihr Kind zulächelt? — 

6. Die kurze Scene: 

Faust: Was weben die dort um den Rabenstein? 

Meph.: Weiß nicht, was sie kochen und schaffen, 

Faust: Schweben auf, schweben ab, neigen sich, 
beugen sich. 

Meph.: Eine Hexenzuntft. 

Faust: Sie streuen und weiben. 

Meph.: Vorbei! 

Hier steht diese Scene. Vorn im Fluge Mephi- 
stopheles und Faust einhersausend auf Höllen- 
pferden. Faust schaut um sich nach dem gräß- 
lichen Rabenstein. Auf daz Rad sind Körper 
geflochten. Gräßlich schwebt obenauf ein Kopf 
mit Haaren. Beil und Block, davor Gretchen als 
Büßende geführt; über sie der Mutter Geist, hinten 
ein Zug satanischer Gestalten mit Mordgewehren. 
In den Lüften schweben Geister. Hinter dem 


Rabenstein liegen, wie in Staub und Reue hinge- 
worlen zwei verhüllte Männer, das ganze ist trans- 
parent, von dünnem Nebel umwoben, geisterhaft 
und in Hintergrund gestellt. Die Gruppe der 
Reiter ist undenkbar schön, von gewaltiger Kraft 
und feuriger Darstellung. Der Mephisto ist hier 
frappanter als irgendwo! Ein kluger Teufel: die 
alten Meister pflegten ibn mehr viehisch darzu- 
stellen, die neuere Zeit belehrt uns anders. In 
diesen Zügen liegt der Typus der weltverwüsten- 
den Grausamkeit, die so rasch als bedächtig zu 
Werke geht. Wo der Teufel erscheint, hat er 
gewiß kein anderes Gesicht. 

Der schöne Gedanke, die Marter des geret- 
teten Gretchens als Vision darzustellen und dieser 
Scene anzuschließen hat mich besonders gerührt. 


7. Eine Skizze, Gretchen vor dem Bilde der 
Mater Dolorosa. Ein Klosterswinger. In einer 
Nische von Blumen umgeben, das Bild der schmerz- 
haften Mutter, das Schwert im Herzen, wie sie 
auch auf den ältesten Abbildungen des Christen- 
tums steht. Nach der Skisse zu urteilen, wird 
sie unnennbar schön sein: 


Das Schwert im Herzen 

Mit tausend Schmerzen 

Stehst du bei deines Sohnes Tod: 

Zum Himmel blickst du 

Und Seufser echicket du 

Zum Herrn für dein und seine Noth! 

O neige 

Du Schmersensreiche, dein Antlitz gnädig 
meiner Noth! 


Gretchen knieend, die Biumen opfernd, mit 
Thränen’ netzend, im Schmerz unendlich schön. 
Die ganze Anlage der Dichtung brachte es so 
mit sich, daß sie das Schönste sein muß, die am 
innigsten an das Herz geht. Hier erscheint der 
Schmerz mit Jugend und Schönheit vereinigt in 
seiner rührendsten Gestalt. 


So lebendig reich und kraftvoll als diese Scenen 
selbst in der Dichtung stehen werden sie auch 
in diesen Versinnlichungen leben, und fortdauernd 
anregen, freuen und beleben. 


Helmine von Chézy, geb. v. Klenk. 


m... 


HENRIK CORNELL, Sigtuna och 
Gamla Uppsala. Ein Beitrag z. Kennt- 
nis der engl.-schwedischen Beziehungen 
im 11. Jahrh. (schwedisch). Stockholm 
1820. 109 S. 4° mit 72 Abbildungen u. 
5 Tafeln. 


Die ältesten Kultstätten Schwedens, das zwi- 
schen Stockhoim und Upsala gelegene Sigtuna 
und Alt-Upeala bilden von erhaltenen Kirchen- 
bauten den Gegenstand dieser schlichten Unter- 
suchung über den Ursprung der Bauweise des in 
die Landschaft Uppland eindringenden Christen- 
tums. In Sigtuna stehen zwei in ihrer derben 
Einfachheit ungemein wirkungevolle Kirchen in 
Trümmern: S. Per, ein quadratischer Turm mit 
drei in den Achsen anschließenden Nischenkapelien 
und einem zweischifügen Langhaus im Westen, 
das mit einem zweiten Turm abschließt; 8. Olof 
mit einem rechteckigen Mittelturm über einem 
dreischiffigen Pfeilerlanghaus, wobei das Turm- 
joch seitlich in ein kurzes Querschiff ausladet. 
Beide Kirchen sind vor 1134, wahrscheinlich nahe 
nach 1080 anzusetzen. Dagegen ist die noch im 
Gebrauch befindliche Kirche von Alt-Upsala nach 
1130 entstanden. Der Turm beherrscht hier völlig, 
was im Laufe der Jahrhunderte um ihn herum 
entstand; einst bildete er die Vierung, jetzt den 
Westteil des verkleinerten Kirchenbaues. Cornell 
vergleicht mit dieser Kirchengruppe eine Anzahl 
Landkirchen, um zu zeigen, daß sich der alte 
Typus weitergebildet habe, aber vereinfacht wurde. 
Für den Ursprung verweist er auf verwandte 
Turmkirchen in England und bringt damit in 
Zusammenhang die geschichtlichen Nachrichten 
über die englische Mission in Schweden. 

Ich weiß nicht, ob dieser Ableitung auf die 
Dauer zuzustimmen sein wird. Die angelsächsi- 
schen Kirchen Englands, deren Besichtigung im 
Sommer 1920 ich der Güte des bekannten Ox- 
forder Theologen Dr. Headlam (dem Entdecker 
vom Kodscha Kalessi) verdanke, lassen doch eine 
andere Lösung möglich erscheinen. Cornell bildet 
selbst einen dieser Turmbauten, den Turm von 
Earis Barton sb. Nun ist dieser aber eine 
so überzeugende Nachbildung eines Holsturmes 
in Stein und Gußmauerwerk, daß man ruhig 
sagen kann, die Folzform sei hier in geradezu 
lächerlicher Ängstlichkeit in das andere Bau- 
material übertragen. Andere Denkmäler sprechen 
eine ähnlich deutliche Sprache, vor allem sind 
die in Stein nachgebildeten, holsgedrechselten 


Säulen (Fensterteilungen), von denen auch Cornell 
einige abbildet, bezeichnend. Auf der Autofahrt 
mit Headlam konnte ich auch den Sits Bedas in 
Yarrow besuchen. Dort haben Ausgrabungen 
ganze Reiben solcher sonst vereinzelt an Kirchen 
noch an Ort und Stelle erhaltenen Fenstersäulen 
zutage gefördert. Es scheint mir nun sehr wohl 
möglich, daß ohne nähere Kunstbesiehungen 
zwischen England und Schweden an beiden Orten 
in gleicher Weise Baugewohnbeiten des alten 
Holsbaues in den Steinbau übernommen wurden. 
Das Buch Cornelis bietet für die Behandlung 
solcher Fragen eine ausgezeichnete Unterlage. 
Es ist sehr dankenswert, daß die Lokalforschung 
einmal zusammengefaßt und auf entwicklungs- 
geschichtliche Ziele hingelenkt wird. Das dürfte 
der Denkmalkunde auch in Schweden wichtige 
neue Beobachtungsanregungen geben. 

Einer eigenen Untersuchung wird die Anwen- 
dung von Gewölben in der Kirchengruppe von 
Sigtuna und Gamia Upsala bedürfen. Hat sie 
der nordische Steinbau selbständig entwickelt, sind 
sie im Anschluß an den Holzbau geworden oder 
handelt es sich um Übertragung aus dem Süden? 
Die Kreusrippen im Turmjoch von 8. Per er- 
wecken im Zusammenhange mit den Tatsachen 
in Gotland (Roosval) Beachtung. Die Tonne im 
Unken Seitenschiff des Chors von 8. Olof ist 
doch alt? Josef Strzygoweaki, 


WILH. LORENZEN, De Danske Domi- 
nikanerklostres Bygningshistorie. 
Kopenhagen 1920. In Comm. bei Gad. 


Wenn unter den ländlichen Kirchen Dänemarks 
93 vom Hundert dem romanischen Stil angehören 
und davon 688 Beispiele des jütischen Granit- 
hausteinbaus, vielleicht der schönsten Leistung 
des wurselecht germanischen Baugeistes sind, so 
kann es nicht wundern, daß die Aufmerksamkeit 
der Forscher stets von den Werken jener Peri- 
ode gefesselt wird. Zwar gibt es Übersichten über 
das gesamte Gebiet der Baukunst bis herab auf 
die Erzeugnisse der neuesten Zeit, aber alles, was 
nach der des früheren Mittelalters geschaffen ist, 
entbehrt jener Anziehungskraft, die sich bei den 
früheren bewährt. Mackeprang in seinem ausge- 
zeichneten Buch: „Unsere Dorfkirchen“, Kopen- 
hagen 1920, kann für das Romanische auf der 
Fülle der Forschungen fußen. Aber schon für 
die Zeiten des 13. J. werden die Unterlagen mangel- 
und lückenhaft, Hier ist nun Wilhelm Lorenzen 


269 


mit großem Fleiß und Verständnis beschäftigt, 
eine der Lücken suszufüllen. Er hat die Kloster- 
bauten gewählt. Die Erforschung dieses Gebiets 
bietet den Vorteil, sich in besonderem Maße auf 
dem Grunde gesicherter geschichtlicher Überliefe- 
rungen bewegen zu können. So gibt der Ver- 
fasser sein Werk unter dem Titel: „Die Bau- 
geschichte der dänischen Klöster“ heraus, doch 
mit Beschränkung auf die Zeiten nach der Periode 
des romanischen Stile, Der erste Band (1913) be- 
handelt die Kiöster der Heiligen-Geist-Stiftungen 
(vgl. Zeitschrift für die Geschichte der Architek- 
tur 1913, S. 224), der zweite von 1914 beschäftigt 
sich mit den Grauen oder Franziskanerklöstern 
(e, Kunstchronik 1914/15, 8. 97 ff), und der dritte 
jetzt erschienene macht uns mit den Dominikaner- 
klöstern bekannt, so an der Zahl, darunter zwei 
für Nonnen. So wichtig der Inhalt im Zusammen- 
hang mit der Geschichte der dänischen Kultur 
und Baukunst ist, so dürfen wir das Werk doch 
nur kurs anzeigen: in dem unerläßlichen Streben, 
den Stoff zu erschöpfen, wird uns vieles vorge- 
führt, was fürs Allgemeine nicht von größerer 
Bedeutung ist. Der Band in Quartformat hat 
hundert Seiten Text. 33 Abbildungen und 7 Tafein. 
Bedeutende Leistungen des Ordens sind wenige 
vorzuführen. Ein wesentliches Ergebnis ist, daß 
der Bautrieb der Prediger nicht heftig gewesen 
ist und hinter dem der Franziskaner, die in 29 
Klöstern tätig waren, nicht unerheblich zurückge- 
standen hat. Der Orden erfuhr die erste und 
kräftigste Ausbreitung gleich in seiner Anfangs- 
zeit; die erste Gründung geschah zu Lund 1222, 
und es folgten rasch sieben weitere, sämtlich 
ebenfalls an den Sitzen der Bischöfe Bis 
1375 geschahen noch sieben Gründungen, im 
ganzen späteren Zeitraum aber nur noch fünf, 
davon die jüngste zu Helsingör 1441. Meistens 
wohl brauchten sich die Prediger, die namentlich 
von der Gunst der Bischöfe getragen waren, bei 
dem Bau von Kirchen zunächst nicht aufzuhalten, 
denn sie konnten vorhandene in vollendetem oder 
unvollendetem Zustande überwiesen erhalten und 
hatten dann nur für ihre persönliche Unterkunft 
zu sorgen, wenn nicht auch für diese gesorgt 
ward. So brauchten sie keine Gebäude von be- 
sonderer Art und bestimmter Stilrichtung zu 
schaffen, und ihre Werke entbehren des einheit- 
lichen Zugs. Für den Forscher ist es aber an- 
ziehend, zu bemerken, wie sich dann im Laufe 
der Zeit an den älteren Bau das Neuere anschloß, 
früher oder später. Dies wird namentlich an der 
Kirche des Klosters zu Aarhus gezeigt, gilt dann 
aber auch für die Kirche zu Wiborg, die jetzt 


270 


Pfarrkirche ist, und schließlich für das Riper 
Kloster mit seiner großen und stattlichen Katha- 
rinenkirche. Die Behandlung dieses Klosters bildet 
eigentlich den Hauptgegenstand der Darlegungen; 
sie umfaßt fast ein Drittel des Textes und sämt- 
liche Tafeln. Die Perioden sind hier erstens eine 
„romanische“ Kirche, etwa vom Anfang des 
13. Jahrh.. in welchen Bauabschnitt auch Teile 
eines Nebenbaus gehören, zweitens eine frühgo- 
tische aus etwas epäterer Zeit desselben Jahr- 
hunderts, drittens folgt ein großer Durch- und 
Ausbau vom fünfzehnten Jahrhundert. Lorenzens 
Darlegungen bieten hier viel Neues, Unerwartetes 
und Wichtiges. Jeder, der Ripen kennt. kennt ja 
auch diese Katharinenkirche, den zweitbedeutendsten 
Bau der einst an Kirchen so reichen Bischof- 
stadt. Wir mußten seither in ihr eine etwas 
kahle und trockene, aber entschiedene und bewußte 
Nachahmung des Domes selbst erkennen. Sie ist 
eine dreischiffige Bachgedeckte Basilika, die rund- 
bogigen Arkaden suf schlichten vierkantigen Pfei- 
lern; eigenartig die emporenartige dreiteilige Glie- 
derung in den Sargwänden über dem Arkadensims 
des Hochschiffe. Nun wird uns plötzlich klar ge- 
macht, daß diese Gestaltung so zu sagen nur 
Ergebnis eines Zufalles ist; der Bau, erst aus spät- 
gotischer Zeit, war gewölbt oder sollte es werden, 
und wenn wir uns die gotischen Gewölbe hinein- 
denken, so erhalten wir ein ganz anderes Bild, 
nämlich in jedem Joche unter sechsteiligem Zelt- 
gewölbe eine Blendengliederung der Hochwinde, 
wie sich solche in sehr vielen getischen Kirchen 
findet. Der gegenwärtige überwältigende roma- 
nische Charakter verschwindet damit fast ganz. 
Indes bleibt die Kirche ein merkwürdiges Beispiel 
des Archaismus sowohl in der Hauptform als auch 
in vielen Gliedern, wodurch manche Rätsel auf- 
gegeben werden. R. Haupt. 


S. FLURY: Islamische Schriftbänder. 
Amida -Diarbekr, 11. Jahrh. Anhang: 
Kairuan, Mayäfärigin, Tirmidh. с̧а S. mit 
20 Taf. und 16 Textabb. Paris, Paul 
Guthner. Basel, Frobenius A.-G. 1920. 

Vor acht Jahren erschien von demselben Verf. 
eine Abhandlung über die Ornamente der Hakim- 
und Asharmoschee (Heidelberg 1912), und seitdem 
hat er in einer Reihe von Aufsätzen (besonders 
im „Islam“) weitere belangreiche Beiträge zur 
Kenntnis der islamischen Epigraphik und Orna- 
mentik geliefert. Er hat dabei einen interessanten 
Versuch gemacht, der islamischen Kunstforschung 
neue und eigene Wege zu eröffnen, und die vor- 


liegende Arbeit legt Zeugnis davon ab, wie weit 
er mit seiner Methode der paläographischen Ana- 
lyse bereits gelangt ist. 

An der Hand des Amidawerkes von Strsygowski 
und van Berchem wird das Material an spät- 
kufischen Bauinschriften aus dem n. und 1a. Jahr- 
hundert eingehend untersucht und aus jedem der 
dabei herangezogenen epigraphischen Denkmäler 
eine Alphabettafel zusammengestellt, die alle ver- 
wendeten Buchstabenvariationen berücksichtigt und 
so eine zuverlässige Grundlage für stilistische 
Untersuchungen und Vergleiche bietet. Auf diese 
Weiss kann selbst derjenige, dem die arabische 
Schrift nicht geläufig ist, sie zu ornamentgeschicht- 
lichen Studien ohne Schwierigkeit heranziehen 
und wird sich ohne merkliche Anstrengung in die 
charakteristischen Merkmale der einzelnen Laut- 
zeichen bald hineinsehen. In dieser Anregung 
liegt ein Hauptverdienst des von Flury ein- 
geführten Systems, dessen Anwendung auf alle 
erhaltenen und künstlerisch bemerkenswerten 
Schriftdenkmäler um so mehr zu wünschen ist, 
weil nur auf diesem Wege das Material zu einem 
vollständigen Atlas der islamischen epigraphischen 
Ornamentik gewonnen werden kann. 

Außer denjenigen von Amida hat der Vert noch 
einige andere stilverwandte und etwa gleichzeitige 
Schriftfriese herangezogen und dabei vor allem 
die Abwandlungen des Fiechtband-Kufi im Auge 
gehabt. Bei dem Versuch, aus der chronologischen 
Ordnung der Monumente die Herkunft dieses 
Motivs nachzuweisen, kommt er zu dem Ergebnis, 
daß es erst durch die Seldschuken von Osten her 
mach Mesopotamien getragen wurde, und die 
Doppelinschrift am Turme von Radkan verleitet 
ihn zu der Hypothese, daß vielleicht im persischen 
Pehlewi die Vorstufen für solche Zierformen des 
kufischen Duktus zu finden sein möchten. In 
Wirklichkeit finden aber alle hier in Frage kom- 
menden dekorativen Abwandlungen ihre volle Er- 
klärung in der organischen Entwicklung der ara- 
bischen Lapidarschrift aus einem ornamentalen 
Stilgefühl heraus, das schon damals der islamischen 
Kunst aller Linder eine sehr bestimmteRichtung gab. 
Das verknotete Kufi kann sehr wohl etwa gleich- 
zeitig In den verschiedensten Gegenden der moham- 
medanischen Welt ohne gegenseitige Beeinflussung 
aufgetreten sein, und einzig magische Vorstellungen 
— an die auch der Verf. auf 8. зо mit Recht er- 
innert — dürften dabei außer rein ästhetischen 
Forderungen mitgewirkt haben. Aber abgesehen 
von diesem prinzipiellen Gesichtspunkt wird man 
betonen müssen, daß das herangezogene bzw. das 
bisher erreichbare Material nicht ausreichend ist, 


um bindende Schlüsse über die Wanderung von 
ornamentalen Schriftformen von Land .zu Land 
zu gestatten. 

Erst wenn aus dem vorhandenen Bestand alle 
fraglichen Denkmäler nach der von Flury be- 
folgten mühsamen, aber zuverlässigen Methode 
analysiert und klaffende Lücken ausgefüllt sein 
werden, können wir darauf rechnen, aus örtlichen 
und zeitlichen kalligraphischen Variationen die- 
jenigen Merkmale zu gewinnen, die zur Begrün- 
dung einer ornamentalen Paläographie innerhalb 
der islamischen Kunstforschung geeignet sind. 

Die philosophische Fakultät der Basler Uni- 
versität hat sich selbst geehrt, indem sie kürzlich 
den verdienstvollen und unermüdlichen Verf. zu 
ihrem Ehrendoktor ernannte, und es ist in hohem 
Maße zu wünschen, daß sich in Zukunft deutsche 
Verleger für die Drucklegung seiner so wichtigen 
und aufschlußreichen Arbeiten bereit finden werden. 

E. Kühnel. 


A. SCHRAMM, Der Bilderschmuck 
der Frühdrucke. 2. Heft. Die Drucke 
von Günther Zainer in Augsburg. Deut- 
sches Museum für Buch und Schrift. 
Leipzig 1920. 

Der Herausgeber dieses groß angelegten Unter- 
nehmens Prof, Alb. Schramm, Direktor des oben 
bensnnten Museums, schickt dem Erscheinen der 
ersten Hefte in der Zeitschrift seines Instituts 
(Zeitschr. des deutschen Vereins für Buchwesen 
u. Schrifttum, 1920, Heft 5/6, S. 78) einige ein- 
leitende Worte voraus. Es soll die Illustration 
der Frühdrucke (eine Grenze ist nicht gesetzt, os 
handelt sich wohl um die Inkunabelillustration und 
den bildlichen Schmuck der Einblattdrucke des 
15. Jahrhunderts) vollständig reproduziert werden. 
Den Abbildungen soll eine knappe Zusammen- 
fassung der typographischen Forschungsergebnisse 
und eine kurze Beschreibung der einzelnen Ab- 
bildung vorausgehen. Für jede Druckwerkstätte 
ist ein Heft in größtem Format gedacht. Vorliegt 
als erstes das über 700 Abbildungen aufweisende 
Heft, das die Offizin Günther Zainers in Augs- 
burg behandelt. Folgen sollen in Kürze weitere 
Hefte Augsburger und Ulmer Druckwerkstätten. 
Es wird also der Buchholzschnitt des letzten 
Drittels des 15. Jahrhunderts erfaßt, dasselbe, was 
der beschreibende Katalog Schreibers in weit über 
sooo Einzelnummern von Holzschnittwerken re- 
gistriert. Vom kunstgeschichtlichen Standpunkt 
aus kann, nachdem sich In den letzten zehn Jahren 
die Forschung den Grundlagen des Holzschnitte 


271 


Dürers und seiner Zeit mit besonderem Interesse 
in zahlreichen Arbeiten widmete, ein solches Unter- 
nehmen nicht genug als glückliche Förderung 
betrachtet werden. Um so mehr als die Zer- 
streuung der Originale in den Bibliotheken Eu- 
ropas, wobei es sich um viele, oft recht abgelegen 
aufbewahrte Unica handelt, die wissenschaftliche 
Arbeit auf diesem Gebiet sehr erschwerte. So 
wird diese Sammlung, die schon im Anwachsen 
der ersten Hefte eine Menge neuen, wichtigen 
Materials eröffnen wird, einst neben dem in Vor- 
bereitung befindlichen Gesamtkatalog der Wiegen- 
drucke, neben Schreibers und Lehrs ausgezeich- 
neten Verzeichnissen gleichwertig und sie er- 
gänzend bestehen. 

Die Sammlung der Holzschnitte aus den Drucken 
des Augsburger Zainer ist an Hand der neuesten 
Katalogisierung angelegt. G. Zainers Druckwerke 
sind im „Probedruck des Gesamtkatalogz der 
Wiegendrucke, Halle 1914“ zusammengestellt; 
Schramms Publikation gibt einen Auszug der 
illustrierten Drucke. Der Text beschränkt sich 
auf eine knappe Charakterisierung Günther Zainers 
und seiner Offizin unter Benützung der letzten 
Zusammenstellung der typographischen Forschung 
(Voullieme, Die deutschen Drucker des 15. Jahr- 
hunderts, Berlin 1916), hiernach sind die Holz- 
schnitte chronologisch jeweils nach einer kurzen 
Zusammenfassung der das Druckwerk betreffenden 
Daten einzeln inhaltlich kurz beschrieben. Es ist 
nicht der Versuch gemacht, das stilistische Ver- 
hältnis der einzelnen Holzschnitte zueinander auf- 
zudecken oder Stellung zu der Literatur darüber 
zu nehmen. Dieses Bescheiden, nur das Material 
in seiner ganzen Breite vorzulegen, ist sicher ein 
Vorzug. Eine vollständige Zitierung der neueren 
Literatur (es ist nur die „notwendig erscheinende“ 
zitiert) und zum mindesten die jeweilige Benennung 
Schreibers bei den einzelnen Werken würde den 
Wert der Publikation erhöhen. Denn schließlich 
wird dieses Unternehmen, wenn dieser Grad der 
Vollständigkeit erreicht ist, gewissermaßen den 
Tafelband zu Schreibers beschreibendem Verzeich- 
nis (Band V, т und 3) abgeben. 

Schreiber gegenüber ist die Sammlung um einige 
Holzschnitte auf Einblattdrucken, die inzwischen 
durch die Kommission für den Gesamtkatalog der 
Wiegendrucke aufgebracht wurden, vermehrt. 
(Pestregiment in Versen, Katalog der Einblatt- 
drucke 1181, Schramm Abb. 296; „Ich kam auf 
ein Gewilde weit“, Kat. d, E. 709, Schramm 
Abb. 528; „Zwölf Früchte des Holzes des Lebens“, 
Kat. 4. E. 638, Schramm Abb. 698; Die fünf Holz- 
schnitte des Mysterium Eucharistiae, Proctor 1588, 


272 


sind von Schreiber unter Blaubirers Offizin Nr. 4818 
aufgeführt.) Schreiber gegenüber fehlen seltsamer- 
weise die bald hundert Flolzschnitte umfassende 
Historie von Troja des Guido de Columna (Hain 
5519 und 3313, Schreiber 4132 und 4133), die 
der Probedruck der Wiegendrucke aufführt. Aller- 
dinge mit dem Datum (1473), das nicht stimmen 
kann, denn bei der Beziehung eines Stockes zum 
Äsop muß es nach 1476 datiert werden. Schramm 
verweist ganz richtig die Schnitte zum Äsop als 
Ulmer Arbeiten in das Heft Johannes Zainer, Ulm, 
das in Vorbereitung ist; unverständlich ist es, daß 
der Probedruck der Wiegendrucke den Augsburger 
Neudruck des Äsop mit den Ulmer Stöcken suf 
(1473), im Druck des Textes sogar „um 1471“ 
ansetst (solche verschiedene Zeitangabe im Rahmen 
desselben Werkes ist auffallend), während längs 
die Holzstöcke zum Äsop auf 1476 oder Beginn 
1477 festgelegt sind (vgl. E. Rosenthal, Zu den 
Anfängen der Holsschnittillustration in Ulm, Mo- 
natshefte f. Kunstw. 1913, 8. 185 ff.). Holsschnitte 
dieses fortgeschrittenen Stiles, dessen Entwicklung 
sus den Schnitten des Ulmer Boccaccio und des 
Rodericus Zamorensis, Spiegel menschl. Lebens 
(trotzdem dies unwidersprochen Ulmer Arbeiten 
sind, hat Schramms Abbildung im Heft des Auge- 
burger Zainers, da sie dort das erstemal zum Ab- 
druck kamen, seine gute Berechtigung) offen liegt, 
sind am Anfang der Augsburger Buchillustration 
undenkbar. 

Ferner fehlt Schreiber gegenüber leider die nicht 
unwichtige Initiale figtirlichen Inhalts zu dem 
deutschen Kalender von 1472 (Hain-Cop. 2172. 
Schreiber 3148, abgeb. bei Haebler / Heita, Hundert 
Kalender Incunabeln, Tafel V). Der Kalender von 
1476 (nur bekannt in dem Exemplar der Krakauer 
Universitätsbibliothek, Schreiber 3150), der dieselbe 
Initiale D wie der Kalender von 1477 (Schramm 
Abb. Taf. 80) zeigt, ist nicht erwähnt. 

Zur besseren Übersicht würde ich vorschlagen, 
entweder eine kurse Zusammenstellung der Ab- 
bildungen nach Nummer und Tafel am Anfang 
der Abbildungen einzufügen oder jeweils über den 
Abbildungsseiten oder bei Einblatt-Holzechnitten 
unter diesen den Titel anzugeben, da ein je- 
weiliges Nachschlagen in dem Text ziemlich um- 
ständlich ist, 

Die Strichätzungen eind nicht gleichwertig aus- 
gefallen, neben recht klaren Abdrücken stehen 
solche, die tintig und verkleckst aussehen. (So 
könnte beispielsweise aus den Abbildungen 680 
und 68: der Schlußvignetten der Bibel von 1477 
geschlossen werden, daß es sich um zwei ver- 
schiedene Stöcke jenes wappenhaltenden wilden 


Mannes, der mit Unrecht dem Hausbuchmeister 
zugeschrieben wurde, handelt — vergleiche den 
verschiedenen Mund —; das ist nicht der Fall, es 
ist nur ein Stock; Abb. 680 ist die richtige.) 
Sicher geht dies bis auf die Vorlage zurück, abar 
dort im Original sieht man gleich den Grund, das 
etwas körnigere Papier oder irgendwelchen tech- 
nischen Mißstand, der den Druck mißraten ließ- 
Im Original kann immer noch der Linie des 
nicht vollgültigen Abdruckes gefolgt werden, 
während die Reproduktion leicht zu falschen 
Schlüssen über den Holzschneider usw. führen 
kann. Die gewissenhafte Forschung wird ihre 
Untersuchungen nur vor dem Original anstellen 
und eine neue Wegbahnung zu diesem ist diese 
sorgfältige und ausführliche Materialsammlung, 
die sicher — ähnlich wie Schreibers beschreibende 
Katalogisierung — die Holzschnittiorschung von 
neuem anregen und vorwärts stoßen wird. 
Anmerkung: Herr Professor Schramm teilt 
mir mit, daß er Guido de Columna, Historie von 
Troia mit dem Nachtrag des Berliner Incunabel- 
kataloges als einen Druck des Ambrosius Keller, 
der von 1479 an in den Typen H. Zainers druckt, 
ansehn und die Holzschnitte deshalb nicht an 
dieser Stelle zur Reproduktion gebracht habe. Der 
Nachtrag des Berliner Kataloges (Beiheft 45 des 
Zentralblatts für Bibliothekswesen) erschien gleich- 
zeitig (1914) mit dem Probedruck des Gesamt- 
kataloges der Wiegendrucke, der für die vor- 
liegenden Zeilen als typographischer Ausgangs- 
punkt gewählt wurde. Ernst Weil. 


JULIUSv.SCHLOSSER,Materialienzur 

Quellenkunde der Kunstgeschichte. 
Heft I—X. Sitzungsber. der Akademie 
der Wissenschaften in Wien, Bd. 177/96. 
Wien, Alfred Hölder, 1914 — 1920. 

Die Materialien zur Quellenkunde der Kunst- 
geschichte, die Julius von Schlosser i. J. 1914 in 
den Sitzungsberichten der Akademie der Wissen- 
schaften herauszugeben begann, sind im vergan- 
genen Jahre zu einem glücklichen Abschluß 
gelangt. 

Einstweilen liegt das Werk in zehn Heften m it 
besonderer Seitenzählung vor, die nur durch ein 
ausführliches und zuverlässiges Register zu einer 
Einheit verbunden sind. Es ist aber mit Sicher- 
heit anzunehmen, daß diese Einzelhefte früher 
oder später ein einziges Buch mit durchgehender 
Seitenzahl bilden werden. 

Wenn uns heute etwas den Glauben an uns 
selber stärken kann, so sind es solche Leistungen 
auf geistigem Gebiet. Ludwig von Pastor hat 
seit 1914 drei neue Bände seiner Papstgeschichte 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 


erscheinen lassen und bereitet eben den Druck 
der nächsten beiden Bände vor. Wilpert — um 
bei solchen Beispielen in Rom zu bleiben 
arbeitet an einem neuen Monumentalwerk über 
die altchristlichen Sarkophage. P. Ehrie darf 
hoffen, in nicht allzukurzer Zeit sein großes Werk 
über die Baugeschichte des vatikanischen Palastes 
abzuschließen. 

Was Schlosser in den letzten Jahren seinem 
Genius abgerungen hat, haben die Fachgenossen 
mit steigendem Erstaunen gesehen. Alle seine 
Arbeiten zeichnet die feine Kritik, die Gründlich- 
keit des Wissens und ein gewisser vornehmer 
Anstand aus, der sich mit einer ebenso schlichten 
wie fesseinden Sprache verbindet. Aber keins 
seiner Werke bedeutet einen solchen Fortschritt 
in der kunstwissenschaftlichen Literatur wie diese 
Quellenkunde der Kunstgeschichte. Dies Buch 
wird sehr bald das unenthehrliche Handbuch aller 

_ kunstgeschichtlichen Institute sein, Keine Biblio- 
thek, keine Universität, in denen man Kunst- 
geschichte lehren und lernen will, wird das Buch 
entbehren können, Es wird in wenigen Jahr- 
zehnten als unzerstörbares Dokument deutschen 
Forschergeistes über ganz Europa verbreitet sein 
und, in fremde Sprachen übersetzt, seinen Weg 
über weite Meere nehmen. 

Das Mittelalter, die Renaissance, das Quattro- 
und Cinquecento, die Kunstliteratur des Manieris- 
mus, die Geschichtschreibung des Barock und 
des Klassizismus, die Kunstiehre des 17. und 
18, Jahrhunderts werden hier überall mit derselben 
Gründlichkeit und mit einer geradezu vollendeten 
Klarheit und Ruhe behandelt, wie sie nur ein 
Mann mit so universellem Wissen wie Schlosser 
erreichen konnte. Daneben sind Vasari und die 
italienische Ortsliteratur besonders behandelt. 

Besonders in seinen Forschungen über Vasari 
und seine wissenschaftliche Behandlung durch die 
Fachleute von einst und jetzt, bietet Schlosser ein 
Material, wie es noch nie geboten worden ist. 
Dabei ist er sich wohl bewußt, etwas völlig Ab- 
schließendes nicht schreiben zu können, ehe der 
Carteggio Vasariano des Grafen Rasponi veröffent- 
licht sein wird, an dessen Herausgabe Frey mit 
heroischer Selbstverleugnung seine letzte und 
allerletzte Kraft gewandt hat, ohne doch dis өг- 
sehnte Ziel zu erreichen, 

Jeder wird aus diesem unerschöpflichen Quell 
sich zu eigen machen, was seinem Können, Wissen 
und Wollen gemäß ist. Niemand wird dieses 
einzigartige Buch ohne Förderung aus der Hand 
legen. Daß eine solche Arbeit dauernd einer 
reicheren Ausgestaltung im einzelnen unterworfen 


273 


18 


sein muß, hat Schlosser schon selbst bestätigt 
durch die „Nachträge“ und „Schlußnachträge“, die 
er fast ohne Ausnahme sämtlichen Heften an- 
gefügt hat, Es darf also unternommen werden, 
bier für ein eng umrissenes Gebiet einige wenn 
auch unbedeutende Anregungen zu geben. 

Condivis Leben Michelangelos vom Jahre 1553 
— eins der seltensten Bücher, die es gibt — scheint 
Schiosser in Wien nicht gefunden zu haben. Er 
hätte uns sonst über die in mehr als einem Sinne 
merkwürdige Originalausgabe sicherlich mancherlei 
zu sagen gewußt. Unter den deutschen Über- 
setzungen Condivis ist die cines Ungenannten 
nachzutragen, die im Jahre 1888 in Florenz ver- 
faßt wurde und 1889 in Stuttgart erschien. Auch 
ins Russische ist Condivis Michelangelo-Leben 
übertragen worden und zwar bereits i. J. 1865 
durch Michael Gelesnow. Vor allem aber hätte 
die Ubertragung ine Englieche durch Herbert 
Horne Erwähnung verdient. Dieses kleine Meister- 
werk moderner Buchdruckerkunst wurde in be- 
schränkter Auflage i. J. 1904 in Boston gedruckt, 
Die Absicht, in Format, Papier und Typen die 
köstliche Erstausgabe von 1553 möglichst genau 
zu wiederholen, wurde hier erfolgreich durchgeführt. 

Da auch die Dichtungen zum Tode Buonarodis, 
die Domenico Legati i. J. 1564 gesammelt hat, 
seit langem unauffindbar sind, so mag bemerkt 
werden, daß Magherini i. J. 1875 im Anhang 
seiner Biograpbie von Michelangelo die ganze 
Sammlung neu gedruckt hat. 

Das Leben Michelangelos von Vasari ist — 
wie Schlosser vermutet — tatsächlich von Vasari 
selbst mit einer besonderen Vorrede herausgegeben 
worden, die an Alessandro de’ Medici gerichtet 
ist und das Datum vom 6. Februar 1567 trägt. 
Die falsche Paginierung (717 für 715) allerdings 
ist einfach aus der Gesamtausgabe der Giunti her- 
übergenommen worden. 

Die Bibliografia Vasariana von Sidney Churchill, 
die Schlosser nicht zugänglich war, ist tatsächlich 
1. J. 1912 ohne Druckort erschienen, Die Vorrede 
ist aus Neapel datiert. Diese Schrift von 45 Seiten 
ist durchaus die Leistung eines klugen und ge- 
bildeten Dilettanten. Die Angaben über die Zeich- 
nungen Vasaris — andere Werke werden nicht 
angeführt — sind unzulänglich und beschränken 
sich auf Florenz und London. Auch die Biblio- 
graphie ist weder alphabetisch noch chronologisch 
geordnet, aber sie enthält 196 Schriften von und 
über Vasari und ist mit den Churchill zur Ver- 
fügung stehenden Mitteln sehr fleißig und zu- 
verlässig zusammengestellt. Auch die weniger 
umfangreiche Bibliographie über Cellini von dem- 


274 


selben Verfasser scheint Schlosser entgangen zu 
sein. Sie ist in der Bibliofilia von Olschki er- 
schienen (Vol. IX, 1908, S. 173 und 372). Die 
Selbstbiographie des Raffaello da Montelupo ist 
auch von d’Ancona in seiner Sammlung von Auto- 
biographien herausgegeben, die i. J. 1863 bei 
Barbera erschien. 

In solchem Sinne wird sich dieses Buch in 
seinem Laufe, den es durch die Jahrhunderte 
nehmen wird, dauernd erweitern und verbessern 
lassen. Als ein festgefügter, mit größter Sorg- 
falt ausgearbeiteter Organismus wird es mehr noch 
als Burckhardts Cicerone in allen Neuauflagen 
bleiben was os ist: Das unveräußerliche Eigentum 
eines genialen Forschers, der diese Arbeit in den 
vergangenen Jahren unter Sorgen und Bedräng- 
nissen geschaffen haben muß, von denen sich 
wohl nur wenige eine Vorstellung machen können. 

Eine seiner letzten Schriften hat Schlosser „der 
deutschen Heimat“ als Dokument seiner Treue 
mit beweglichen Worten dargebracht, Wenn der 
deutschen Heimat ferner Männer vom Schlage 
dieses Mannes reifen, dann dürfen wir in dunkler 
Gegenwart einer helleren Zukunft getrost ent- 
gegensehen. E. Steinmann. 


KARL WITH, Java, brahmanische, 
buddhistische und eigenlebige Architektur 
und Plastik auf Java (Geist, Kunst und 
Leben Asiens, Bd. I). Folkwang Verlag, 
Hagen i/W. Mit 165 Abbild., 13 Grund- 
rissen und 167 Textseiten. 


Wie in seiner , Buddhistischen Plastik in Japan“ 
führt uns With neuerdings ein Kapitel asiatischer 
Kunst in dem geschlossenen Zusammenhange eines 
von 160 Bildtafeln begleiteten, in seiner ktinstle- 
rischen Einfühlung und wissenschaftlichen Basie- 
rung gleich wertvollen Textes vor. Die Kenntnis 
der Kunst Javas war uns bisher durch eine ziem- 
lich reiche holländische und englische, im wesent- 
lichen monographische Literatur (Brandes, Grone- 
man, Kinsbergen, Leemans, Pleyte, Rapp, v. Saher 
u. and.) vermittelt, Fergusson und Tissandier gaben 
ältere Zusammenfassungen, aber erst die neueren 
Werke über indische Kunst von Havell und V. A. 
Smith riefen ein regeres und verbreitetes Inter- 
esse wach. Die deutsche Wissenschaft hat neben 
älteren (A. B. Meyer, Joh. Müller) erst in neuerer 
Zeit (Grünwedel, W. Cobn) Ansätze zu einer in- 
tensiveren Beschäftigung mit diesen Denkmälern 
zu verzeichnen, With selbst hat sich die Grund- 
lagen in der indischen Abteilung des kunsthisto- 
rischen Instituts Strzygowskis erworben. So be- 


deutet dss Buch die erste deutsche und überhaupt 
die erste moderne zusammenfassende Bearbeitung 
der javanischen Kunst. 

Auch hier folgt W. dem schon einmal ein- 
geschlagenen und bereits in einem weiteren 
Bande über „Bali“ fortgesetzten Weg, die aslati- 
schen Denkmäler in ihren wichtigsten Stilgruppen 
zusammenfassend zu veröffentlichen und sie ihrem 
Wesen nach vorzuführen. Die entwicklungs- 
geschichtlichen Zusammenhänge, soweit sie nicht 
innerhalb der Gruppen selbst zu lokalen und zeit- 
lichen Differenzierungen führen, sind dabei in den 
Hintergrund gerückt oder nur angedeutet. Damit 
sind diese von vielen ja noch immer als „Exotica“ 
angesehenen Werke dem modernen Empfinden 
als Erzeugnisse hoher Kunst nahegebracht und 
eigentlich erst die systematische Basis gelegt, auf 
der die größeren noch so dunklen Entwicklungs- 
zusammenhänge aufgebaut werden können. Aus 
den kulturgeographischen und philosophischen 
Grundlagen entwickelt W. die eigentlich künst- 
lerischen Probleme. Der monumentalen Einheit 
indischen Lebens steht die Vielheit des tropischen 
Übermaßes entgegen. Wie Java kulturell mit dem 
indischen Mutterlande verknüpft ist, so bildet auch 
künstlerisch Indien für Java die durchgehende 
Grundlage. Kann die mitteljavanische Periode 
(8.—10. Jahrh.) mit ihrem gewaltigen buddhisti- 
schen Hauptdenkmal, dem Borobodur, geradezu 
als eine Wiedergeburt der reifen indischen Kultur 
gelten, so fehlt diese (hier mehr hinterindische) 
Grundlage auch in dem mehr brahmanischen Ost- 
java (etwa rx.—15. Jahrh.) nicht, wenngleich dort 
die insulare Lage vor allem durch die Wirksam- 
keit des malaiischen Elementes stärker in Er- 
scheinung tritt. So wird denn auch diese Kunst 
zunächst als ein Ausdruck indischen Geisteslebens 
geschildert, in dem als die beiden durchaus nicht 
einander ausschließenden, sondern im Aufbau 
eines einheitlichen Systems einander ergänzenden 
Pole das metaphysisch Spekulative und die ero- 
tische Triebkraft ineinander gehen und die Tota- 
lität des Weitbildes schaffen. So ist jene raum- 
lose, die Masse nur als eine Materialisierung des 
unstofflichen Gesamtraumes, nicht ale ein kon- 
struktiv Lebendiges erfassende Architektur im 
höchsten Sinne „zwecklose Verkörperung weltlich- 
göttlicher Verherrlichung“, die Plastik, ob sie 
sich nun im Ornament, im Relief, in den bau- 
plastischen Gliedern, oder in der Einzelplastik 
auslebt, wieder nichts anderes als ein Ausdruck 
des Unendlichkeitsprinzipes, gegeben mit den 
Mitteln der Fläche, der umlaufenden Reihenfolge, 
des unillusionistischen Bildraumes, der Frontalität 


und des Blockes, in dem das Göttliche seine Ver- 
körperung findet. Aus der geistigen Totalität, aus 
der Architektur wie Piastik geboren werden, er- 
klärt sich auch das innige Verhältnis, das zwischen 
beiden besteht und höchst gesetzmäßige Relationen 
schafft: Die Fernwirkung des gestaffelten archi- 
tektonischen Aufbaues wird durch die plastischen 
Elemente zur bildhaften Nahwirkung, die ab- 
strakte Geradlinigkeit der Terrassen und kubischen 
Baublöcke wird durch plastische Kurvaturen und 
Überleitungen gestaltlich faßbar, und umgekehrt 
wird die unendliche Flächenhaftigkeit der orna- 
mentalen und figürlichen Paneele in ihrer Gesamt- 
heit zur kubischen Baumasse usw. — Vom Boro- 
bodur, als dem diese Prinzipien am reinsten aus- 
prägenden Hauptdenkmal ausgebend, schildert 
dann W. die Wandlung der architektonischen und 
plastischen Prinzipien in den späteren mittel- 
јауапізсћеп Denkmälern (Prambanankrels) und in 
Ostjava. Bei den ersteren in der Architektur mit 
der Einführung eines zellaartigen Innenraumes eine 
Auflockerung der Masse, stärkerer Höhendrang, 
Abweichen von der reinen Zentralisation, in der 
Plastik entsprechend ein Zurückdrängen des die 
Figuren klar absetzenden Relief hintergrundes bis 
zum Tiefendunkel, statt der strengeren formalen 
Bindung der Figuren eine mehr gegenständliche 
Verknüpfung, Dramatik statt Epik usw., im ganzen 
aber doch nur eine Differenzierung, nicht eine 
völlige Umbildung der indischen Prinzipien. In 
Ostjava schließlich erfahren die in der späteren 
mitteljavanischen Periode angeschlagenen Ten- 
denzen ihre volle Ausgestaltung in der Über- 
steigerung der Höhendimension, einer Verviel- 
fältigung der Terrassenschichtung und einer fili- 
granartigen Oberflächenbildung; damit geht in 
der Plastik als Ausdruck des bodenständigen ma- 
laiischen Elementes ein unkörperlicher zeichne- 
rischer Silhouettenstil und eine ornamentale Auf- 
lösung des Figürlichen Hand in Hand. Daneben 
machen sich aber auch neue südindische Ein- 
flüsse, vor allem in einer plastisch-naturalistischen 
Behundiung der Bildfiguren, geltend, Dies in 
Kürze der Inhalt des vorgeführten Tatsachen- 
materials, dem in einem eigenen Anhangsteil die 
geschichtlichen und kulturellen Tatsachen und ein 
detaillierter, mit den Angaben der Spezialliteratur 
versehener beschreibender Katalog der Kunst- 
werke beigefügt ist. Durch diese Trennung des 
Tatsachenstoffes ist es dem Verfasser möglich, 
sich im Text ganz auf die rein künstlerischen 
Probleme einstellen zu können. Und hierin, in 
der lebendigen Interpretation der Werke auf Grund 
eines subtilen Einfühlungsvermögens, in einer 


275 


meisterhaften Sprache, in der der Ausdruck nie 
zur literarischen Phrase wird, weil die künstleri- 
schen Probleme immer im Zusammenhange mit 
dem gesamten Kulturgeist gesehen werden, liegt 
die Hauptstärke des Verfassers. Gerade was das 
letztere anlangt, so handelt es sich hier nicht um 
ein heute bei diesen fremden Kunstkreisen so be- 
Hebtes oberflächliches Hineingeheimnissen sym- 
bolischer Züge, mit dem man dle Erscheinungen 
erklärt zu haben glaubt, das Buch verlangt die 
volle Vertiefung in die fremde Geistigkeit, als 
deren Manifestation, nicht als deren zweckliche 
Folge die Kunst erscheint. H. Glück. 


REMBRANDTS sämtliche Radie- 
rungen in getreuen Nachbildungen, 
herausgegeben mit einer Einleitung von 
Hans W. Singer. Holbein-Verlag München. 
Drei Mappen Folio, mit 312 Blättern in 
Tiefdruck, 66 Autotypien und 8 Seiten 
Text. 


Diese soeben vollständig gewordene Nachbildung 
der sämtlichen Rembrandtischen Radlerungen in 
Tiefdruck, die nach dem Verbrauch der früher 
erschienenen Tiefdruckausgaben eine empfindliche 
Lücke ausfüllt, ist von Jaro Springer begonnen 
worden. Als er vor Nowogeorgiewsk fiel, lag 
nur die zweite Mappe, die 117 Blatt von 1634 bis 
1643 enthaltend, fertig vor und wurde als erstes 
Stück des Werkes ausgegeben. Nach dem Tode 
Springere hat dann Hans W. Singer die weitere 
Ausgestaltung der Ausgabe übernommen und so- 
eben mit der Herausgabe des ersten und dritten 
Bandes, die die 110 Blätter vor 1634 und die 93 
Blätter von x645—6ı enthalten, zum Abschluß 
gebracht. 

Singer hat über die Grundsätze seiner Arbeit 
in der kurzen Einleitung knappe Rechenschaft 
gegeben. Das Genauere darüber kann man in 
seiner Ausgabe der Rembrandtischen Radierungen 
in dem Bande der Klassiker der Kunat in Gesamt- 
ausgaben nachlesen. In seiner grundsätzlichen 
Stellung zu den Fragen der Echtheit und Eigen- 
händigkeit bat er nämlich seinen Standpunkt 
nicht wesentlich gegenüber jenem früheren ge- 
ändert, weun er auch zwei früher beanstandete 
Blätter, nämlich B 200 (nackte Badende) und 
B 205 (liegende Negerin) heute gelten läßt. Man 
wird zu seiner Auswahl der echten Blätter, wie 
er sie auch hier wieder wenigstens inForm einer 
tabellarischen Zusammenstellung am Schluß der 
Einleitung gibt, verschieden stehen können. Jeder 
wird ein oder das andere Blatt haben, dem er 


сл 


27 


über diese Zusammenstellung hinaus die minde- 
stens teilweise Eigenhändigkeit nicht absprechen 
möchte. Für den Besitzer dieser Ausgabe kom- 
men derartige kleine Streitigkeiten schon deshalb 
nicht entscheidend in Frage, weil er in der 
glücklichen Lage ist, wenn er überhaupt Ver- 
anlagung und Kenntnisse für derartige Unter- 
suchungen mitbringt, in den schwebenden Prozeß 
einzugreifen. Denn da der Springersche Band 
die eigenhindigen und nicht eigenhändigen Blätter 
chronologisch durcheinandergereiht gab, so hat 
sich auch notgedrungen der Fortsetzer an diese 
Art der Anordnung halten müssen, die nun in 
den Blättern der ersten und dritten Mappe ein- 
fach der Seidlitzschen Zusammenstellung folgt. 
Für eine derartige Teilnahme des Beschauers an 
der kritischen Untersuchung gibt Singer in der 
kurzen Einleitung einige Fingerzeige. Soweit 
sie sich auf die allgemeine Wertung und auf das 
Verständnis des Künstlers Rembrandt überhaupt 
beziehen, bringen sie nicht eben viel bei. Wert- 
voller sind schon die Hinweise auf die Bedeutung 
der technischen Mittel für die künstlerische Wir- 
kung und sehr instruktiv die knappen Ausfüh- 
rungen über die Geschichte der Rembrandtischen 
Radierungen, ihrer Erforschung und ihrer Wieder- 
gaben. Fände man im Text noch etwa einen 
Hinweis darauf, daß von einigen Blättern wie 
dem Abraham Franken und dem Arnold Tholinz 
nur die späteren, nachrembrandtischen Zustände 
gegeben worden sind, und warum man hier wie 
bei den drei Kreuzen und dem Ecce homo nur 
gerade die abgebildeten Zustände gegeben hat, so 
wäre dem Bedürfnis des rein künstlerisch inter- 
essierten Beschauers durchaus Genüge geschehen. 

-Denn an diesen wendet sich das Werk vor 
allem, und so entscheidet sich denn seine Be- 
deutung mit der Frage nach dem Werte der 
Wiedergaben. Und da muß gesagt werden, daß 
die Leistung, als Durchschnitt genommen, über- 
aus hoch ist, so daß die meisten Blätter dem Be- 
schauer wirklich einen Eindruck der künstlerischen 
Werte und Wirkungen von Rembrandts Radie- 
rungen vermitteln können. Das gilt besonders 
von dem zweiten Bande ziemlich uneingeschränkt, 
in den beiden äußeren ist die Leistung bei 
einigen Blättern durch die Schwierigkeiten der 
Herstellung etwas beeinträchtigt worden. Man 
braucht nicht an die verbliiffenden 19 Blätter der 
Reichsdruckerei zu denken, um zu empfinden, 
daß s. B. bei der Darstellung der drei Kreuze 
oder des 100 Guiden-Biattes die kräftigen Töne 
zu бач, die gedeckten Partien zu undurchsichtig 
in der Faktur, und das Ganze in dem grauen 


Ton der Wiedergabe zu farblos ist, Indessen 
sind das Ausnahmen. Die Durchschnittsleistung 
ist, wie gesagt, außerordentlich hoch, und der 
deutsche Kunstfreund hat seit langem kein Werk 
erhalten, das die Werke eines großen Meisters 
so unmittelbar dem künstlerischen Genuß zugäng- 
lich macht. Da auch der Preis, nicht nur an 
heutigen Verhältnissen gemessen, im Verhältnis 
zur Leistung außerordentlich niedrig ist, so kann 
man nicht zweifeln, daß ihm der wohlverdiente 
Erfolg im weitesten Umfang zuteil werden wird. 
Aber warum eröffnet eigentlich in Mappe ı und 3 
die englische Unterschrift den Reigen der Bezeich- 
nungen und steht die deutsche erst an dritter Stelle? 


Hans Friedeberger. 


JULIUS BAUM, Baukunst und deko- 
rative Plastik der Frührenaissance 
in Italien. Stuttgart, Verlag Julius Hoff- 
mann. 


Wie die Biographien Goethes in ihrer zeit- 
lichen Folge mehr aussagen über die psycho- 
logische Situation des Betrachtenden und seiner 
Epoche, als über das Objekt selbst, so auch alle 
zusammenfassenden Darstellungen größerer Stil- 
epochen in der Kunstgeschichte. Es können 
weniger positive Fortschritte der Erkenntnis in 
solchen fiziert, als das in vielen einzelnen Quellen- 
forschungen zerstreute Material vom jeweilig ak- 
tuellen Standpunkt neu gegliedert, neu dargestellt 
und vor allem neu ausgewählt werden. Diese 
Wahl und Akzentsetzung ist schon Wertung, ohne 
daß diese erst literarisch formuliert zu werden 
braucht. 

In diesem Sinne ist die Baumsche Veröffent- 
lichung überaus wesentlich, die Wahl der glänzend 
gelungenen Abbildungen und das Vorwort kenn- 
zeichnen markant die Einstellung unserer Zeit zur 
Renaissance. Eine verschämte Neigung spricht 
sich fast entschuldigend im Vorwort aus und ver- 
sucht zu motivieren, warum — trotz allem — 
Werke über die Renaissance auch heute noch für 
Architekten und einen weiteren Kreis von Wesent- 
lichkeit seien. Diese Bescheidenheit scheint mir 
fast ein wenig zu weit zu gehen. „Die schweren 
Erschütterungen, die unsere Beziehungen zur Re- 
naissance erfabren haben“, wie der Verfasser meint, 
gehen vielleicht nicht allzu tief. Die durch tausend 
mißverstehende und mißverstandene Feuilletons 
verbreitete angeblich vorhandene enge Beziehung 
unserer Zeit zur Gotik ist letzten Endes doch nur 
eine fiktive, mehr aus dem Wollen als dem tat- 
sächlichen psychischen Erleben entspringende. 


Denn jene im Anschluß an Scheffler und Worringer 
rekonstruierte Gotik, die zur Legitimierung unserer 
Zeit und unseres Kunstschaffens immer wieder 
berhalten muß, ist eine Rekonstruktion, deren 
wesentliches negstive Momente sind. Ja, — sie 
lebt im wesentlichen von Antithesen zu den 
ästhetischen Werten der Antike und Renaissance. 
Hier ist es Dvofäks Abhandlung über „Idealismus 
und Naturalismus in der Gotik“, die sum ersten- 
mal wissenschaftlich ezakt den ganzen Abstraktions- 
nebel aller mystisch ezpressionistischen Wort- 
gebilde in nichts zerflattern läßt und nachweist, 
daß das „Entweder — Oder“ heutiger Kunstliteraten 
nur denkökonomische Schablone, nicht aber wirk- 
lich zu einer in Wahrheit antithetischen Definition 
der Stilbegriffe geeignet ist. 

Die Einleitung Baums verzichtet zunächst auf 
eine allgemeine Begriffabestimmung oder generelle 
Untersuchung des Gesamtphänomens der Renais- 
sance und beschränkt sich auf die Diskussion eines 
der grundlegenden Probleme, nämlich ihrer Stellung 
zur Antike. In der Tat scheint gerade die Unter- 
suchung dieser Frage das entscheidende Moment 
für unsere Stellung zur Renaissance zu sein. Ist 
nämlich das Mittelalter so vollkommen antike- 
fremd, so „unlateinisch“, wie Worringer und seine 
Nachtreter annehmen, зо besteht die von ihm 
postulierte Antithese zu Recht. Vermögen wir 
aber auch im Mittelalter ein Fortleben der Antike 
festzustellen, gleich einem mehr oder weniger 
unterirdisch verlaufenden Strom, so kommen wir 
zu der bescheideneren Erkenntnis, daß nun ein- 
mal unsere ganze westeuropäische Kultur ein Kind 
der Antike ist und sich dieser grundlegende Ein- 
fluß nur in verschiedenen Intensitätsgraden zu 
verschiedenen Zeiten bemerkbar gemacht hat. 

Mit Recht hebt Baum hervor, daß die sogen. 
„Protorenaissance“ eine im Mittelalter keineswegs 
vereinzeite Erscheinung ist. Schon lange vor 
derjenigen Epoche, die für uns durch 8. Miniato 
al Monte gekennzeichnet ist, gibt es verschiedene 
antike Flutwellen in der mittelalterlichen Kunst. 
Die Anschauung vom völlig unantikischen Wesen 
des mittelalterlichen Schaffens ist immer noch ein 
Nachklang der literarischen Feststellungen Fila- 
retes und Vasaris, die natürlich vom Standpunkt 
ihrer Zeit aus Gegensätzlichkeiten stärker emp- 
finden, Gemeinsamkeiten weniger nachfühlen 
konnten. Stillschweigend, ja ohne besondere Be- 
tonung bleibt der antike Formenkreis doch immer 
dae Ausdrucksmittel, die Formel auch für diese 
speziell mittelalterlichen Gefühlsinhalte. Allerdings 
nur Formel und Ausdrucksmittel, die Gesinnung, 
die hinter den Dingen steht, ist nun einmal 


277 


während des Mittelalters eine rein transzenden- 
tale, nicht antropomorphe. Im einzelnen weist 
Baum auch noch an einigen glücklichen Beispielen 
antike Anregung, nicht formaler, sondern inhalt- 
licher Art für das Schaffen des Mittelalters nach, 
die darauf vorbereiten, daß sich auch im Mittel- 
alter viel vom antiken Lebensgefühl erhalten hat 
und daß es nicht wunderbar ist, wenn sogar zahl- 
reiche Typen mittelalterlicher Bauten in Italien 
die antike Überlieferung mehr oder weniger ver- 
steckt fortführen. Die Analyse dieser einzelnen 
mittelalterlichen Bauten, ihre Verbindung mit 
solchen der Früh- und Hochrenaissance und die 
Heranziehung der einzelnen Beispiele, insbeson- 
dere 8. Andreas in Empoli, scheinen mir der 
wesentlichste Abschnitt der Einleitung zu sein, 
vor allen Dingen eine willkommene exakte archi- 
tekturgeschichtliche Ergänzung zu den mehr all- 
gemein geistes geschichtlichen Formulierungen 
Dvofaks. 

Für den parallelen Nachweis in der Plastik 
stützt sich Baum vor allem auf die Arbeiten Voeges 
und weist auf die Zusammenhänge der Schule 
von Arles und oberitalienischer Plastik bin. Mit 
Recht betont Baum gegenüber Weese, der in 
Bamberg einen „letzten“ Nachhall der Antike 
sehen will, daß diese Behauptung nicht einmal 
für das nordische, aber noch viel weniger für das 
südliche Mittelalter gilt, Der Nachweis der for- 
malen Tradition an Vorbildern verschiedener 
mittelalterlicher Plastiken stützt sich im wesent- 
lichen auf bereits vorhandene Literatur. Ergebnis 
st eine Formulierung, die in ihrer Prägnanz über- 
aus glücklich erscheint, ,,Der Unterschied zwi- 
schen Mittelalter und späterer Nachbildung (der 
Antike) ist zunächst nur quantitativ, was früher 
vereinzelt geschah, wird im ı5. Jahrhundert ali- 
gemein. Weit wichtiger aber als der Quantitäts- 
unterschied ist der Intensitätsgegensatz.“ 

Ein weiterer Abschnitt des Buches, das hier 
nicht nachgeschrieben werden soll, beschäftigt 
sich mit der Beziehung des Mittelalters zu einer 
allgemeinen Verhältnislehre. Auch auf diesem 
Gebiet wirkt, die Tendenz zum schematisierenden 
Dogma. Man weiß, wenn schon die mittelalterlichen 
Theoretiker in der Fixierung ästhetischer Zahlen- 
gesetze willkürlich vorgegangen sind, wie subjektiv 
und gewaltsam die Forschung neuerer Historiker 
gerade in diesem Gebiet Theorien aufstellt und mit 
welcher „Großzügigkeit“, um einer vorgefaßten 
Idee willen, alle nicht in das Schema passende 
Architektur weggelassen oder vergewaltigt wird!). 


(т) Typisches Beispiel bierfür etwa neuerdings die Theorien 
vom gotischen Vierbiatt in Hermann Eicken: „Der Baustil", 


278 


Nachdem so immer wieder der notwendige Nach- 
weis der Verbindung zwischen Antike und Mittel- 
alter geführt ist, kommt Baum zu dem Versuch, 
positive Kennzeichen der Renaissance aufzustellen. 
Es sind dies, wie sich aus dem vorhergehenden er- 
gibt, weder schlechthin die Wiederaufnahme an- 
tiker Formen, noch die imitativ illusionistische 
Absicht. „Die Kennzeichen eines Stils ergeben 
sich nicht aus der Feststellung seines Verhält- 
nisses zur Wirklichkeit. Ein beträchtlicher Teil 
der Kunst, die Architektur, ist mit der Wirklich- 
keit gar nicht vergleichbar; nur aus der An- 
schauung der Baukunst sind daher feste Gesichts- 
punkte für die Anschauung auch der übrigen 
Künste zu gewinnen.“ Diese Kennzeichen sieht 
Baum nun in der „antropozentrischen Sensualität“, 
d. h. in der Übertragung der sichtbaren und me8- 
baren Gesetzlichkeit menschlicher Maße und Ge- 
wichtsverteilungen. „An die Stelle einer über- 
wältigenden, oft unfaßbaren Dynamik tritt eine 
ausgeglichene, berechnete Statik, an die Stelle 
gefühlsmäßiger treten ablesbar meßbare Verhält- 
nisse“. Diese Tendenz wird nun an zahlreichen 
einzelnen Beispielen im Gebiet der Plastik und 
Malerei derFrührenaissance durchgeführt. Auch für 
die Beziehung zur Architektur ist eben nicht die un- 
mittelbare Nachahmung antiker Formen, sondern 
das Wiederinkrafttreten antiker Gesetzlichkeit ent- 
scheidend. Immer wieder können wir den Ver- 
such zum bewußten Klarlegen der Ansichten fest- 
stellen. Bei der sonst überaus fruchtbaren Ana- 
lyse der einzeinen Früh-Renaissancebauten läßt 
sich Baum vielleicht allzusehr von den Theorien 
Thierschs beeinflussen, der, zwecks Aufstellung 
einer antropozentrischen Rensissance-Proportions- 
lehre, doch auch etwas zu gewaltsam die vorhan- 
denen Architekturen durch seine eingezeichneten 
Liniensysteme dogmatisiert. 

Alles in allem ein überaus wichtiges und ge- 
radezu entscheidendes Werk. Denn es ist Baum 
gelungen, nicht tausendmal Gesagtes und hundert- 
mal Erforschtes in populärer Form zusammen- 
zustellen, sondern durchaus Eigenes zu formen. 
Dieses Eigene wird vielleicht am besten durch 
die Feststellung umschrieben, daß sowohl in der 
kritischen Einleitung, wie in Wahl, Folge und 
Aufstellung eines inneren Zusammenhanges der 
wiedergegebenen Abbildungen, sich eine völlig 
neue Anschauung der Renaissance manifestiert, 
eine Anschauung, die gleichweit entfernt ist vom 
Renaissancismus der Generation Burckhardts, wie 
von der einseitigen pseudo-expressionistischen und 
unhistorischen Einstellung Worringers. Daß Lite- 
raturnachweis und Zusammenstellung der not- 


wendigen Daten für die einzelnen abgebildeten 
Bauten auf der Höhe der heutigen Forschung 
stehen, braucht nicht besonders betont zu werden. 


Paul Zucker. 


HANS HILDEBRANDT: Wandmalerei. 
Ihr Wesen und ihre Gesetze. Groß-8°. 
X und 351 Seiten. 462 Abb. Stuttgart 
und Berlin, Deutsche Verlagsanstalt 1920 
(M. 100,—). 

Mit der Gründlichkeit deutscher Forscher ist 


Hildebrandt, man möchte sagen, an die Aufgabe. 


seines Lebens gegangen. Denn da der vorliegende 
überaus gewichtige, inhaltreiche Band nur die 
theoretischen Grundlagen der Wandmalerei gibt 
und weitere, sicher nicht geringere ihm folgen 
sollen, so sehen wir hier allerdings ein Werk 
entstehen, das ein Leben fast ausfüllen könnte. 
Die Stuttgarter Atmosphäre, in der Hölzel lehrt 
und eine Reihe von selbständigen und bedeutenden 
Schülern herangezogen hat, war dem Gedanken 
der Monumentaldarstellung besonders günstig und 
bat zweifellos dem Unternehmen Anstoß und För- 
derung verliehen, wie denn Hildebrandt sich ja 
auch auf praktische Beispiele, die von Stuttgart 
ausgingen, berufen kann (wie auf Brühlmanns und 
Pellegrinis Fresken), wenn er hoffnungsvoll das 
Thema der Wandmalerei als ein höchst aktuelles 
bezeichnet. Wir wollen mit ihm hoffen, daß unsre 
Zeit nicht nur imstande ist, monumentale Auf- 
gaben in neuem Sinne zu lösen, sondern daß sie 
auch die Mittel dazu finden wird. Vorläufig sieht 
es nicht danach aus, daß auch nur die notwendigen 
Bauten errichtet, geschweige denn, daß sie mit 
Wandgemälden geschmückt werden könnten. Aber 
man muß sein Ziel hoch stecken und alles daran 
setzen, die Epoche daran glauben zu machen; 
und aus dieser großen Gesinnung heraus, die dem 
mächtigen Buche ihren Geist lieb, muß man es 
betrachten und dazu bedenken, daß es völlig in 
der Vorkriegszeit wurzelt, wo man freilich mehr 
Recht hatte, an eine Ausbreitung monumentaler 
Bedürfnisse zu denken, 

Der umfänglichen Solidität und Gründlichkeit 
des Bandes (den man nicht in den Händen halten 
kann!) entspricht aber auch eine klare und flüssige 
Sprache; der eingehenden Systematik und Lücken- 
losigkeit eine große Einfachheit und Übersichtlich- 
keit in der Gliederung. Man sieht sofort, worum 
es sich handelt, und wird von einer weitausholenden 
Begrifisgründung von Kunst im allgemeinen — 
deren Gleichnischarakter der Religion zur Seite 
gesetzt wird — zu dem Wesen des Wandbildes 


und seiner Unterscheidung vom Tafelbilde geführt, 
Dessen Doppelstellung führt dann zunächst zur 
Zerlegung der Untersuchung in die Aufbauelemente 
des Bildes und in die der Wand, die gesondert 
nacheinander behandelt werden, als analytische 
Basis jener Einheit , Wandgemilde“, deren Sinn 
in der Durchdringung und Unlösbarkeit der zwei 
Elemente besteht, und deren Untersuchung der 
größere, zwei Drittel des Buches umfassende Teil 
gewidmet ist. Den Kernpunkt und Hauptteil der 
gesamten Untersuchungen bildet der Abschnitt 
über die Angliederung des Wandgemäldes, in 
dreifacher Hinsicht: nach geistiger, formaler und 
Raumwerte schaffender Einordnung desBildgefüges, 
Die Unterschiede von monumental und dekorativ, 
die Stofffrage, die Probleme von Raumdarstellung, 
Perspektive, Flachmalerei, Illusionismus werden 
nach allen Richtungen und mit Befragung aller 
Zeit- und Rassenstile geprüft und ihre Gesetze mit 
einer wohltuenden Objektivität untersucht, auch 
da, wo die Resultate unserm heutigen Stilempfinden 
su widersprechen scheinen. Daran schließen sich 
die wichtigen Spesialkapitel über Decken- und Ge- 
wölbemalerei, Fassadenmalerei, Techniken, Er- 
gänzungskünste wie Glasgemälde, Wandteppich, 
Intarsia, FuBbodenmosaik, so daß es schlechthin 
wohl kein Gebiet der Wandmalerei gibt, das 
Hildebrandt hier nicht erschöpfend dargestellt 
hätte. Mehr als flüchtigste Inhaltsübersicht zu 
geben, ist unmöglich, weil hier wirklich eine 
teppichartige Gleichmäßigkeit und Schönheit der 
Behandlung sich über alle Probleme breitet und 
sie klug, durchdacht, mit objektiver Klarheit dar- 
stellt. Zwar keine Anweisung zum Freskenmalen, 
wohl aber Anregungen fruchtbarster Art sind die 
Folge; nicht bloß, sich in das unermeßliche Ge- 
biet des Monumentalen forschend und genießend 
zu vertiefen, sondern auch bei künstlerischer Be- 
tätigung sich vor Mißgriffen zu hüten, unumstöß. 
liche Gesetze nicht zu verletzen. Von einem 
Schulmeisterton ist dabei nirgends die Rede, viel- 
mehr alles in frische Anschaulichkeit gekleidet. 

Ein unschätzbares Hilfsmittel bietet der illustra- 
tive Teil in Gestalt von 460 Abbildungen, worunter 
sich 266 Hilfskonstruktionen des Verfassers finden. 
Man mag sagen, daß solche gewissermaßen nur 
für den Anfänger berechnet seien; so wird sich 
doch niemand ihrer raschen Uberzeugungskraft 
entziehen können. Das Material der Wandbilder 
ist in reicher Fülle den schönsten Werken aller 
Zeiten und Völker entnommen, und man lernt 
allein schon aus ihrer Betrachtung die Ewigkeit 
und Schlichtheit der Monumentalgesetze begreifen 
und die Verwandtschaft aller innerlich großen 


379 


Kunst. Ihr Format ist zum größten Teil genügend, 
oft sehr stattlich, wo die Reproduktion ganzseitig 
ist. Wie denn überhaupt die Ausstattung des 
Buches nichts zu wünschen übrig läßt in Güte 
von Papier, Druck (eine prachtvolle große Antiqua), 
Einband und in Klarheit der Abbildungen. 

Ein umfänglicher Apparat von nicht weniger 
als drei Registern und einem großen und voll- 
zähligen Literaturverzeichnis erhöht den wissen- 
schaftlichen Wert des Buches bedeutend. Man ist 
dem Verfasser für diese Mühe lebhaften Dank 
schuldig und weiß demgegenüber dieZurückhaltung 
durchaus zu würdigen, die er sich in Anmerkungen 
auferlegt hat; so daß wirklich der ganze ungeheure 
Stoff restlos in den fließenden Text verarbeitet ist. 

Paul F. Schmidt. 


WOLDEMAR v. SEIDLITZ: Die Kunst 
in Dresden vom Mittelalter bis zur 
Neuzeit. І Buch. 1464—1541. Mit 
20 Tafeln und 10 Textabbildungen. 136 S. 
gr. Al, Dresden 1920. Im Kommissions- 
verlag der Buchdruckerei der Wilhelm 
und Bertha v. Baensch - Stiftung. Preis 
30 M. 


Nach Abschluß des sächsischen Inventarisations- 
werkes durch Cornelius Gurlitt legte im Juli 1920 
der Generaldirektor der ehemaligen Königlichen 
Sammlungen in Dresden das erste Buch der als 
zwei stattliche Bände geplanten Geschichte des 
albertinischen Sachsens mit besonderer Berück- 
sichtigung der Entwicklung der Kunst vor. Be- 
ginnend mit der Regierungszeit Herzog Albrechts 
soll das Werk mit August III. abschließen und 
die sächsische Kunst in einer Form und auch 
binsichtlich des Umfanges so behandeln, wie die 
Entwicklung der Kunst der Landeshauptstadt und 
das Verständnis der einzigartigen Sammlungen 
Dresdens es erfordern. 

Auf breitester kulturgeschichtlicher, politischer 
und kirchenbistorischer Grundlage entwickelt v. 8. 
die Vorgeschichte bis 1464, deren Kunstblüte 
nicht zuletzt auf die reichen Silberfunde und die 
Entfaltung des erzgebirgischen Bergbaues in Frei- 
berg, Annaberg, Chemnitz und Zwickau zurückzu- 
führen ist. Ermisch, Knebel, Flechsig u. a. haben 
dafür reiche urkundliche Belege und kunstgelehrte 
Untersuchungsergebnisse schon früher beigebracht, 
die v. 8., noch durch reiche geologische-minera- 
logische Kenntnisse vertieft. Goldschmiedearbeiten 
und kostbare Erzeugnisse der Toreutik aus dem 
14. Jahrhundert im „Grünen Gewölbe“ und dem 
Historischen Museum zu Dresden belegen die viel- 


280 


seitige, künstlerisch vollendete Edelmetall- und 
Halbedelstein-Verarbeitung durch die Goldschmiede, 
die hervorragende Technik der Piattner und 
Schwertfeger in dieser Zeit. Ein bochentwickeltes 
Münzwesen und somit ein wohlorganisierter Handel 
haben die Grundlage des sächsischen Reichtums, 
Macht und Ansehen, Wohlstand und Kunstpfiege 
jener frühen Epoche begründet und gefestigt. 

Nach der Teilung von 1485 und unter Albrecht 
dem Beherzten treten Freiberg, Meißen und 
Dresden mehr und mehr in den Vordergrund 
dieses weiten mitteldeutschen Gebietes. Als wich- 
tigstes baugeschichtliches Ereignis dieser Zeit ist 
die Erbauung der Albrechtsburg in Meißen anzu- 
sehen, worüber insbesondere Gurlitt 1920 im 
$9. Bande des Inventarisationswerkes grundlegende 
Forschungen veröffentlicht bat. Auch in dieser 
Epoche zeigen die im „Grünen Gewölbe“ zu 
Dresden erhaltenen köstlichen Erzeugnisse der 
Kleinkunst gediegenste, mustergültige Materialver- 
wertung und feinfühligen Formenreichtum. Das 
von v. S. pg. 50 erwähnte gestickte Antependium 
der Pirnaer Kirche im Sächsischen Altertums- 
museum (Kat. Nr. 70) wird von ihm als eine 
niederländische Arbeit der gotischen Blütezeit be- 
seichnet. Ref. hält dagegen ein Werk des böh- 
mischen „Meisters des Hohenfurter Heilscyklus“ 
um 1360 für das Vorbild des vielleicht im Nonnen- 
kloster zu Riesa oder Seußlitz gestickten Altar- 
vorhangs. Als Donator kommt ein Mitglied der 
böhmischen Familie v. Volckrab in Frage. 1382 
wurde er vom Bischof Nikolaus von Meißen dem 
Pirnaer Dominikanerkloster gestiftet. Unter der 
langjährigen Regierung Herzog Georg des Bärtigen 
wird dann Dresden zum Schauplatz des Kampfes 
gegen die Reformation, deren Entwicklung v. S, 
in breit angelegter kulturgeschichtlicher Betrach- 
tungsweise in ihrem Einfluß auf die Renaissance 
in Sachsen schildert, S. ist hier nicht der Gefahr 
entgangen, von seinem eigentlichen Thema in die 
Ferne abzuschweifen und nicht von der Kunst in 
Dresden sondern um die Kunst herum zu sprechen. 
Auf 28 Seiten wird die Landesverwaltung, Ent- 
faltung des erzgebirgischen Bergbaues, die weitere 
Entwicklung des Münzwesens, diekirchenpolitische 
Stellung Sachsens u. a. geschildert, während der 
kunstgeschichtliche Teil knapp 15 Seiten umfaßt. 
Angesichts der wertvollen, wenn auch spär- 
lichen Bau- und Kunstdenkmale aus dieser Zeit 
wäre eine weniger eklektische, kunstgeschichtlich 
und stilpsychologisch intensivere Würdigung 
derselben auf Kosten der zu extensiven kulturge- 
schichtlichen und politischen Behandlung des 
Stoffes vorzuziehen gewesen. 


Das baugeschichtlich wichtige Eindringen der 
Renaissanceformen, das beispielsweise am Georgen- 
tor des Dresdner Schlosses die Übergangs- 
periode von der Spätgotik sur Renaissance do- 
kumentiert, ist auch in den Stidten am Nord- 
abhang des Erzgebirges, wie Annaberg, festzu- 
stellen, nachdem eine plastische Fabulierlust son- 
dergleichen die spätgotischen Stilelemente schließ- 
lich verwildern ließ. Hier vermißt man bei v. S. be- 
sonders ein näheres Eingehen auf stilistisch be- 
merkenswerte Werke, oder doch wenigstens reich- 
lichere Literaturnachweise, die in einem zusammen- 
fassenden, die geschichtliche Entwicklung ein- 
heitlich darstellenden Werke am Platze sind. 80 
wäre über die pg. 71 erwähnte „Schöne Thür“ in 
Annaberg Oswald Schmidt: Die St. Annenkirche 
zu Annaberg (Leipzig 1908) zu befragen gewesen, 
für die „Tulpenkansel“ des Freiberger Domes 
Wolfgang Roch (Neues Archiv f. sächs. Gesch. 
Bd. 39 pg. 139), für die Grabplatten im Meißner 
Dome Hubert Stierlings u. a. Vischer - Studien in 
den Monatsheften für Kunstwissenschaft. Auf- 
schlußreich ist auch Leo Bénhoffs Aufsatz im 
Neuen Sächs. Kirchenblatt (XXIV 1917) über den 
Ehrenfriedersdorfer Altar in der Dresdner Gemälde- 
galerie. Die von v. 8. pg. 73 erwähnten angeb- 
lich Lindenthaler Schnitzfiguren stammen, wie 
Eduard Flechsig nach J. F. zu Backnitz: Skizze 
einer Geschichte der Künste in Sachsen (Dresden 
1811) pg. 14 einwandfrei nachgewiesen hat, aus 
Zeitz, und sind von dem „namhaften und ehr- 
baren“ Pankratius Grueber in Großenhain 1520/21 
gefertigt worden, der Seifersdorfer Altar (pg. 73) 
und stilistisch erwandte Werke sind von Jörg 
Maier zu Dippoldiswalde (1508—1534 urkundlich 
nachweisbar) geschaffen worden, wie Konrad Knebel 
glaubhaft gemacht hat. 

In der Auslese aus der nach meiner Cranach- 
Bibliographie 128 Nummern umfassenden Cr.- 
Literatur vermißt man bei v. 8. Friedländers 
Aufsatz in Thieme-Beckers Künstlerlexikon und 
in Doering und Voß: Meisterwerke der Kunst aus 
Sachsen und Thüringen (Magdeburg 1904, pg. Gfl.), 
sowie die ausgezeichnete Cranach - Monographie 
Wilhelm Worringers oder diejenige auf reicher 
Literaturkenntnis berubende Curt Glasers. Cranachs 
Familienname ist weder Sonder (Joannes Sonder 
Cronacensis = Hans Cranach?) noch Moller oder 
Miller gewesen, sondern Lucas Moler von Kro- 
nach war die übliche Schreibweise für alle 
Maler jener Zeit: Rufname, Beruf, Geburtsort, 
Aus der Zeit Georg des Bärtigen hat sich übrigens 
noch gsnug erhalten, um an Stelle einer Ver- 
mehrung der schon genügend umfangreichen 


Reformations-Literatur eine Schilderung des Ers- 
gusses, der Teppichweberei, des Harnischwesens, 
der umgebildeten Schmuckformen und eine ein- 
gehendere Behandlung des Kirchen- und Profan- 
baues, der Tafelmalerei und Bildnerei geben zu 
können, und die bedeutsame Stellung der Dresdner 
Kunst im Rahmen der sächsischen zu kenn- 
zeichnen. 

Mit der Behandlung der nur dreijährigen Re- 
gierungezeit Heinrich des Frommen und einer 
Beschreibung der wichtigsten Kunsterzeugnisse 
von 1539—1541 schließt das erste Heft der groß- 
angelegten Publikation. In dieser Stilphase ist 
die Synthese von gotischem Formempfinden und 
renaissancistischem Kunstwollen auch für die 
Kunst in den albertinischen Landen eine innigere 
geworden, bis mit dem Praeponderieren der Re- 
naissance sich eine selbständige Е -rmengebung 
und eine bis sum Uberschwang gesteigerte Leben- 
digkeit durchzusetzen vermag. 

Was aus den kurzen kunstgeschichtlichen 
Abschnitten weniger klar bervorgeht, tritt in der 
gebaltvollen und flüssigen Darstellung der poli- 
tischen und kulturellen Entwicklungsgeschichte 
Sachsens in dem Seidlitzschen Buche um so leben- 
diger in die Erscheinung. Mit Herzog Heinrich 
nimmt die einheitliche Entwicklung Sachsens, die 
zwei Menschenalter früher in der Hochgotik zu 
kraftvollstem Ausdruck gelangt war, ihr Ende. 
Reformation und Renaissance kulturell und künst- 
lerisch einheitlich zu verarbeiten, war auch für 
Sachsen eine unlösbare Aufgabe. „Unter den 
deutschen Dynastengeschlechtern, die sich gegen- 
über der Geistlichkeit und dem Adel eine Vor. 
machtstellung errungen hatten, stand Sachsen 
vermöge seines Reichtums in vorderster Reibe; 
es hätte Österreich die Führung streitig machen 
können, wenn es die Verbindung mit dem ihm 
zugefallenen Thüringen aufrechterhalten hätte.“ 

Auf so gegebener Grundlage wird die weitere 
voligiltige und selbständige Kunstentwicklung 
Dresdens unter den Kurfüsten Moritz und August, 
Christian I. und IL, den vier Johann Georgen, 
August dem Starken und August ШІ, in den fol- 
genden 5 Büchern dargestellt und somit ein kunst- 
wissenschaftliches Monumentalwerk geschaffen 
werden, für dessen in richtiger Erkenntnis des 
historisch Bedeutsamen weitsichtige Förderung 
dem Sächsischen Kultusm inisterium größter Dank 
gebührt. Die gute typographische und illustrative 
Ausstattung verdient in jetziger Zeit minder- 
wertiger Druckerzeugnisse besondere Anerkennung. 
Die Abbildungen bringen Waffen aus dem histo- 
rischen Museum und Kostbarkeiten aus dem 


281 


„Grünen Gewölbe“, sodaß auch in dieser Hinsicht 
das „Beschreibende Verzeichnis älterer Bau- und 
Kunstdenkmäler Sachsens“ wesentlich ergänzt 
wird. Wilbelm Junius. 


KURT K. EBERLEIN, Deutsche Maler 
der Romantik. Jena, E. Diederichs, 1920. 
Brosch. M. 18.—. 

Der Wert des Büchleins, daß aus dem Abdruck 
von 7 Vorlesungen an der Karlsruher Volikshoch- 
schule besteht, steckt einzig in dem letzten Ab- 
schnitt „Kunst und Religion“, In diesem, wollen 
wir hoffen, ist das üble Prinzip verlassen, das 
aus einer Rede eine Schreibe und aus der vorge- 
lesenen Schreibe ein überzähliges Buch gemacht 
hat: denn hier werden schriftgemäß, wenn auch 
nicht immer geklärt, Gedanken dargestellt, deren 
Güte unmöglich in dieser Gestalt Volkshoch- 
schülern einleuchten konnte. Genug: es bandelt 
sich da um eine sehr erfreuliche Begriffsdeutung 
von Nazarenertum und Romantik, die meines 
Wissens zum ersten Mal klar und eindeutige 
Trennungslinien schafft und dem s. g. Klassizis- 
mus gerecht wird. Die Nazarener deutet Eberlein 
als letzten Versuch einer Gemeinschaftskunst; 
ihnen galt es, die alten religiösen und mytholo- 
gischen Symbole neu zu beleben und in Fresken 
darzustellen: Schicksal und Zerfall bedeutet ihnen 
der akademische und der malerische Historismus. 
Diesem Kreise der Cornelius und Overbeck gegen- 
über ist die romantische Schule die Erhebung 
der subjektivistischen Kunst, die neue Symbole 
schaffen wollte, im Kampfe gegen die akademisch 
entartete Gemeinschaftskunst, und ausschließlich 
auf die norddeutschen Romantikerkreise beschränkt 
(warum, sagt Eberlein leider nicht, wie er über- 
baupt auf das psychologische Wesen der Roman- 
tik sich nicht versteht). Sehr gut ist dann vor 
allem die Erfassung der „Klassizisten“ Carstens 
als ersten „Frühromantikers“ und die Notwendig- 
keit der klassizistischen Grundform bei der Ent- 
stehung der Romantik (Runge), worauf überhaupt 
noch kaum hingewiesen worden ist. Es freut 
mich dies feststellen zu können, da ich in kurzem 
darüber (in einer Runge-Monographie) mich aus- 
fübrlich verbreiten werde. 

Von dem ganzen Rest des Buches aber ist zu 
sagen, daß er besser unterblieben wäre. Mag 
sein, daß den Hörern der Karlsruher Volkshoch- 
schule ein wesentlicher Begriff von den fünf ro- 
mantischen Malern durch Eberlein übermittelt 
worden ist. Einen Vortragscyklus dieser popu- 
lären Art aber als Buch herauszugeben, verlangte 


eine ganz wesentlich gesteigerte Einstellung. 


282 


Was man da zu lesen bekommt, sind die aller- 
bequemsten Trivialitäten über Runge, Friedrich, 
Kersting, Richter und Schwind, die in keiner 
Weise Neues oder Beziehungsreiches bringen, 
und das in einer geradezu erschreckend unge- 
pflegten Sprache, wie man sie etwa in Haacks 
fürchterlicher „Kunst des 19. Jahrhunderts“ vor- 
gesetzt bekommen hatte. Anbiederungen mit den 
Hörern, das Anpreisen von Büchern wie Rich- 
ters oder Stillings Lebensgeschichten , als ob sie 
Eberlein eben erst habe entdecken und den The- 
banern vor ihm nicht warm genug empfehlen 
müssen, kurz die ganze selbstgefällige „harmo- 
nische Plattheit“, wie Friedrich Schlegel das 
nennen würde, sind schwer erträglich. Zum 
Glück besteht beinahe die Hälfte des Textes aus 
Zitaten in Prosa und Poesie, sodaß man doch 
immer wieder erkennen kann, daß die deutsche 
Sprache wirklich eine Sprache von Dichtern und 
Denkern ist. Paul F. Schmidt. 


M. SELIGER, Kunstbetrachtung und 
Naturgenuß. Verlag von H. Haessel, 
Leipzig 1920. 

Der reich belesene Autor zitiert in der vor- 
liegenden Broschüre vielfach die Bibel, Goethe, 
Emerson. Aber wir fürchten: die Eingeweihten 
in die Kunst brauchen seinen Wegweiser durch 
Natur und Kunst nicht, und die Unwissenden 
werden die teuere Broschüre (10 M.) nicht kaufen 
und daher nicht lesen. Und doch enthalten die 
111 Seiten neben viel Selbstverstindlichem, reich- 
lich vielen Abschweifungen vom eigentlichen 
Thema und manchem Trugschlu8 die gesunde 
Grundforderung nach mehr Anschaulichkeit im 
Schulunterricht im Gegensatz zu der heutigen 
Methode des Lernballastes. 

Auch an der Betonung des rein Gegenständ- 
lichen in der Betrachtung der in den Schulen 
aufgehängten Bildwerken von seiten der Lehrer 
wird mit Recht vom Verfasser Kritik geübt. „Die 
Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Farben, 
die koloristischen Reise, den Wechsel und die 
Verhältnisse der Formen, die perspektivischen 
Erscheinungen, die Kraft der Wahrheit — die 
ganze Kunst der Malerei — sieht der Schüler 
nicht, und er wird nicht zur Auffindung dieser 
Welt der Schönheit geführt.“ 

Da von allen Seiten in Wort und Schrift für 
die Ausbildung der Anschauung in unseren Schu- 
len zur Zeit eingetreten wird, so bleibt zu hoffen, 
daß diese Wünsche sich, bald in die Tat umsetzen 
mögen. Sascha Schwabacher. 


FRITZ BURGER, Weltanschauungs- 
probleme und Lebenssysteme in 
der Kunst der Vergangenheit. Del- 
phinverlag, München. 


Begabungen wie die Burgersche sind nicht un- 
gefährlich für die Kunstbetrachtung. Wie sie be- 
fruchten, verwirren sie. Es werden allerorten die 
Gesetze der spez. Disziplin, die auch für die Kritik 
ihre Geltung haben, durchbrochen, um dem dich- 
terischen Temperament des Verfassers Freiheit 
zu geben. Die Intensität des Intellekts, die pri- 
märes Werkzeug der kritischen Kunstbetrachtung 
ist, steht bei Burger nicht im Verhältnis zur Ex- 
pansionsiust der schweifenden Phantasie. Die 
nicht außergewöhnliche, geistige Struktur des 
Buches wird überschüttet und begraben unter 
funkelnden und sich kreuzenden Gedankenströmen. 

Burgers Buch ist ein Lobgesang auf das mystisch- 
metaphysische Erlebnis der Kunst im Gegensatz 
zu der rationalistisch gewordenen Kunstbetrachtung 
des letzten Jahrzehntes. Postulat ist ihm wie 
unserer heutigen Kunstästhetik, daß der Begriff 
der Kunst nicht mit dem Begriff des Könnens 
identisch zu setzen sei. Burger wendet sich da- 
mit zugleich gegen die nun vergangene Periode 
der naturwissenschaftlichen Philosophie, gegen die 
„supranaturalistische Spekulation“. Man spürt die 
Beeinflussung durch das Studium der Kabala, die 
von Burger, wie von vielen ihrer neueren Jünger 
aus einer Geheimwissenschaft mit fetischistischem 
Einschlag in mystisch-metaphysische Idealität er- 
hoben wird. Das Gefühl, daß Kunst und Kunst- 
betrachtung über die Welt der von Interessen be- 
herrschten Trieben hinauszugreifen habe, ist bei 
Burger immer lebendig, aber aus diesem gefühls- 
mäßig Erfaßten erwächst ihm keine Gestaltung, 
keine schöpferische Synthese, wie sie etwa Wor- 
ringer gelungen ist. Widersprüche in den Fun- 
damenten des Aufbaues, 3. B. daß auf S. 12 der 
„Anthropologismus (sic) im Denken“ verneint und 
auf Seite ıs eine anthropomorphe Einstellung des 
Geistes „nach dem Titanensturz der Naturwissen- 
schaft“ gefordert wird oder daß auf der einen Seite 
über die rationalistische Vereinfachung der Lebens- 
vorstellung gespottet und auf der andern Seite 
ein ebenso kahier, einseitiger geistig - seelischer 
Monismus gepredigt wird, müssen sich natürlich 
auch in der Entbreitung des Materials rächen. 

Der lapidare Aufbau des Buches (es wird eine 
entwicklungsgeschichtliche Darstellung der Psycho- 
logie der bedeutsamsten, künstlerischen Kulturen 
versucht) macht die größten Ansprüche an die 
monumentale Endgültigkeit der Ergebnisse, aber 


Burgers Temperament, die Anhäufung ganz all- 
gemein gehaltener metaphysischer, oft unklarer 
Metaphern (wie z.B. „der Pendel der Weltgeschichte 
schwingt, begleitet vom ehernen Tritt des Welt- 
krieges, zurück“), zerstören dem Leser immer 
wieder das kaum gewonnene Anschauungsbild, 
Im einzeinen kommen schön gegliederte und 
begeistert empfundene Formulierungen vor, wie 
in den Kapitein über die Griechen und über das 
Christentum, aber seine Idee in dem entfesselten, 
barocken Hellenismus der Griechen die Anfänge 
des christlichen Dualismus zu suchen, ist wiederum 
ein Griff ins Ungewisse und Unbeweisbare. 
Allerdings teilt die Gattin des im Feld gefalle- 
nen Gelehrten mit, daß sie das Buch in seiner 
ersten, noch unkorrigierten Form veröffentlicht 
babe. Aber das Gerüst des geistigen Gebäudes 
müßte im ersten Wurf noch fühlbarer sein. Es 
spricht nichts dafür, daß dieses Werk Geformteres 
zu geben gehabt bätte als die früher erschienenen 
Bücher Burgers, die alle an Überschwang von 
Gefühl und Rhetorik kranken. Man muß heute 
in der Kunst wie in der Kunstkritik fürchten, daß 
die letzten Steigerungen des Pathos abgegriffen 
und verbraucht werden, wenn sie oft „zum ver- 
geblichen“ ausgesprochen werden. Die Tore der 
Erkenntnis lassen sich nicht durch den überhitzten 
Willen der Emphatiker, nicht mit Schlagworten 
von „Kosmos“, „jenseits“ und „Imanenz“ öffnen, 
die höchste Intuition muß vom Zügel des kriti- 
schen Verstandes gelenkt und geleitet sein. 
Sascha Schwabacher. 


J. A. F. ORBAAN, Documenti sul ba- 
rocco in Roma. (Miscellanea della R. 
società die storia patria, Vol VL) Roma, 
nella sede della societa alla biblioteca 
Vallicelliana, 1920. CLXVI u. 659 S. 8°. 
Dazu 6 Tafeln in 2°. L. 65—. 


Als eine wichtige und sehr erwünschte Er- 
gänzung zu den Quellenforschungen Bertolottis, 
die der Kunsthistoriker immer wieder mit Erfolg 
benutzt, darf die lange erwartete nunmehr vor- 
liegende Arbeit Orbaans angesehen werden. 

Der Titel „Documenti sul barocco“ verspricht 
vielleicht mehr, als das Buch wirklich gibt, denn 
abgesehen von einigen Anhängen sind nur Ur- 
kunden, die sich auf das Pontifikat Pauls V. be- 
ziehen, veröffentlicht. Während nun Bertolotti 
sein Material nach Künstlergruppen geordnet hat, 
in dem Bestreben, die Einzelpersönlichkeiten durch 
urkundlich gesicherte Daten uns deutlicher vor 
Augen treten zu lassen, so daß sein ganzes Werk 


283 


das Aussehen einer Regestensammlung erhält, 
haben wir hier bei Orbaan den Versuch, ein ge- 
schlossenes Kulturbild eines Zeitraums lediglich 
in der Sprache der durch das ganze Pontifikat 
fortlaufenden päpstlichen Avvisi zu geben. Das 
Ganze will als Materialsammlung für einen künf- 
tigen Geschichtsschreiber dieser Epoche angesehen 
werden. 

Die Darlegung dieser bei der Herausgabe be- 
folgten Gesichtspunkte bildet den Beginn der 
umfangreichen Einleitung. Nach einer kurzen 
Charakterisierung der Pontifikate Gregors XIII., 
Sixtus V. und Clemens VIII., die nichts wesent- 
lich Neues bringt, geht er zu der Besprechung 
der von ihm verwandten Quellen über, die sich, 
wie schon bemerkt, lediglich auf päpstliche Ur- 
kunden beschränken, Es sind dies der ,Diario 
del Cerimoniere“ und die sog. „Avvisi“, Nach 
einer kurzen Auseinandersetzung über die Ver- 
fasser beider Werke werden die für die Sichtung 
und Auswahl des Materials befolgten Grundsätze 
kurs dargestellt. Damit schließt der erste Teil 
der Einleitung. Der zweite, über den am Schlusse 
dieses Referats gesprochen werden soll, beschäftigt 
sich mit den dem Buch beigegebenen Tafeln. 

Die eigentliche Sammlung der Urkunden zer- 
fällt in zwei große Teile und einen Appendix. 
Davon beschäftigt sich der erste und wichtigste 
ausschließlich mit dem Pontifikat Pauls V. Er 
hat wieder entsprechend dem Quellenmaterial vier 
Unterabteilungen. Den Beginn macht der , Diario 
del Cerimoniere“ für die Jahre 1605—1621 (Arch. 
Vat. Miscell. arm, XII, Tom. 43/4), Diese Samm- 
lung soll hier auf die für den Kunsthistoriker 
wichtigen Daten durchgesehen werden. Der Diario 
ergibt verhältnismäßig wenig, er ist für den Kultur- 
historiker durch die Schilderung verschiedener 
Festlichkeiten interessant, auch der Tod verschie- 
dener wichtiger Persönlichkeiten, z. B. des Kar- 
dinals Agucchia, wird erwähnt. Daneben hören 
wir sehr in zweiter Linie von der Grundstein- 
legung zu der Fassade von S. Peter und von der 
Aufstellung der Madonnenstatue auf der Säule vor 
S. Maria Maggiore. Auch Künstlernamen treten 
uns nicht greifbar entgegen. 

Die beiden nächsten Kapitel, von denen das 
erste auch den Titel „Avvisi“ trägt, während das 
zweite „Notizie sulla vita artistica ed intellettuale“ 
diese Quelle nach einer bestimmten Richtung bin 
ausbeutet, beschäftigen sich mit den päpstlichen 
Avvisi (Cod. Urbin, lat. 1073/9). Sie bieten für 
den Kunsthistoriker in der Tat eine überraschende 
Fülle von Material. In diesen Eintragungen sind 
ziemlich alie Arbeiten, denen eine größere Be- 


284 


deutung beigelegt wurde, verzeichnet worden, und 
zwar so genau, daß sich an der Hand dieser No- 
tizen die Baugeschichte einzelner Monumente fast 
Schritt für Schritt verfolgen läßt. Wir sehen, um 
etwas länger bei den Avvisi des Jahres 1605 zu 
verweilen, die einzelnen Stadien der Erbauung der 
Borghesekapelle an S. Maria maggiore, die Grund- 
ateinlegung, wiederholte Besuche des Papstes da- 
selbst, den Bau der Fundamente, verschiedene 
Geldanweisungen usw. Die Avvisi werden noch 
ergänzt durch Urkunden aus der Depositeria 
generale des Staatsarchivs, die in Anmerkungen 
beigegeben sind, wie es denn überhaupt das Cha- 
rakteristikum des ganzen Buchs ist, daß die Noten 
den Text stellenweise völlig überwuchern. Hier 
sei 3. B. auf die ausgedehnte sehr wichtige An- 
merkung zu p. 50 ss. hingewiesen, die auch für 
eine Reihe von Künstlerpersönlichkeiten wie Ma- 
derna, della Porta, di Alberti, um die wichtigsten 
berauszuheben, eine ganze Reihe von Daten bietet, 

Das Jahr 1606 läßt das rasche Fortschreiten der 
Arbeiten an 8. Peter in einer Reihe von Ein- 
tragungen verfolgen. Auch der Streit Caravaggios 
mit Ranuccio Tommassini und die darauffolgende 
Flucht des Meisters hat sogar hier seine Auf- 
zeichnung gefunden. 

Die Notizen der Jahre 1607/11 sind geeignet, 
die bisber wenig bekannte Persönlichkeit des 
Pompeo Targone, dem Baglione, der Historiograph 
dieser ganzen Epoche, bezeichnenderweise eine 
ziemlich eingehende Biographie gewidmet hat 
(Vite 1733, p. 216/8), uns klarer vor Augen treten 
zu lassen. Wir sehen, wie er als Ingenieur und 
Baumeister des Papstes eine sehr bedeutende Rolle 
gespielt und fast bei allen größeren Unternehmungen 
sein Gutachten abgegeben hat. Jede einzelne Reise 
ist notiert, so daß sich ein förmliches Itinerar fest- 
stellen läßt, 

Im Jahr 1608 wird die Grundsteinlegung der 
Fassade der Peterskirche ausdrücklich erwähnt. 
wir erfahren mehreres über den Fortgang des 
Baues und über die zweite große Unternehmung 
des Papstes, den Bau der Acqua Paola, der sich 
bis zum Jahr 1610 verfolgen läßt. 

Besonders ergiebig ist das Jahr 1609, das No- 
tizen über den Tod Annibale Carraccis — dessen 
Leichenbegängnis besondere Erwähnung findet — 
und Caravaggios bringt. Wir hören daneben, 
daß Lavinia Fontana den damals anwesenden 
persischen Gesandten porträtiert hat, wodurch 
Mancinis ausführliche Erzählung (Cod. barb. lat. 
4315, f£ 104 r.) bestätigt wird. Ein weiteres 
kunstgeschichtlich wichtiges Datum ergibt sich 
ferner, wenn wir erfahren, daß Cherubino Alberti 


am 35. Nov. іп Rom ankommt, um die Malereien 
in der Aldobrandinikapelle in S. Maria sopra 
Minerva fertigzustellen. Hier erschien der Papst 
am g. März 1611, als auch Baroccios berübmtes 
Altarbild vollendet ward. 

Außer der Nachricht von der Vollendung der 
Fassaden von St. Peter und der Acqua Paola be- 
richten die Avvisi des Jahres 1912 recht eingehend 
über die Arbeiten in 8. Maria maggiore, besonders 
über die Fertigstellung der Statuen, wobei der Tod 
Cordieris erwähnt wird. Ebenso hören wir von 
dem Tod Flaminio Ponzios und von der Ernennung 
Vansanzios zum Nachfolger (1613). 

Die Nachrichten für die letztea Jahre des Fonti- 
fikats Pauls V. fließen nicht mehr so reichlich, 
aber auch hier ergeben sich noch wichtige An- 
haltspunkte, z. B. für die Biographie d’Arpinos, 
sowie für die Baugeschichte des Quirinals, die 
auch wieder in einer langen Anmerkung durch 
Urkunden aus der Depositeria ergänzt wird 
(р. 152 n. 1). 

Von den vielen in den Avvisi enthaltenen Nach- 
richten ist hier nur das Allerwichtigste heraus- 
gehoben worden, um eine Vorstellung von dem 
Reichtum dieser Quelle zu geben. Natirlich wird 
sich dem Forscher beim Studium des Buches durch 
die genauen Tagesdaten, die der Chronist immer 
gibt, eine Fille weiterer Anhaltspunkte ergeben. 

Der folgende Abschnitt ,Notisie sulla vita ar- 
tistica ed intellettuale“ basiert ebenfalls auf den 
Avvisi (Cod. urb. lat. 1078/85). Er erweitert den 
Inhalt des vorigen Kapitels nach der literarischen 
Seite hin und enthält u. a. einige Notizen über 
die Ankunft Galileis in Rom, Für den Kunst- 
historiker findet sich nichts Interessantes. 

Die Akten der Depositeria generale (Staats- 
archiv), die der vierte Abschnitt bringt, ergänzen 
die Mitteilungen der Avvisi in der wünschens- 
wertesten Weise. Nur die Künstler, für die sich 
wesentliche Daten ergeben, seien, da ein Eingehen 
auf Einzelheiten zu Wiederholungen führen würde, 
aufgezählt. Es werden Zahlungen verzeichnet an 
Silla Lungo für die Statue Clemens VIII. in S. Maria 
maggiore, an Flaminio Ponzio, an Targone, An- 
weisungen an den Goldschmied Paolo Sanquirico, 
Zablungen an G. B, Milanese und Niccolo Po- 
marancio, an den Cavaliere d’Arpino, an Lanfranco 
und schlieBlich an Domenichino. 

Damit ist der wertvollste Teil des Buches ab- 
geschlossen. Der zweite Hauptteil, der nun folgt, 
führt den Titel „Viaggi dei pontefici“ und bringt 
drei Reisebeschreibungen aus verschiedenen Ponti- 
fikaten; I. den „Viaggio di Gregorio ХШ. alla 
Madonna della Quercia“, П. einen „Viaggio di 


Sisto V. a Civitavecchia e alla Tolfa“ und Ш. den 
„Viaggio di Clemente УШ. nel Viterbese“ (Ottob. 
lat. 2694). 

Der Viaggio di Clement УШ. ist bereits von 
Orbaan veröffentlicht worden (Archivio della so- 
cietà Romana, Vol. XXXVI. 1913) und somit all- 
gemein zugänglich. Von den beiden anderen 
fesseit besonders die Reise Gregors ХШ. durch 
eine Beschreibung des Schlosses von Caprarola, 
die den Zustand des Baues und seiner Dekoration 
im Jahre 1579 wiedergibt und daher, wie auch 
der Verfasser hervorhebt, für die Kenntnis der 
Baugeschichte von großer Wichtigkeit ist (Cod. 
Urb. lat. 818). 

Als Appendix sind die Inventare dreier römischer 
Kunstsammlungen beigegeben: zunächst die Samm - 
lung Alessandrino Bonello (Cod. Vat. lat. 6063, 
das Inventar vom Jahre 1598), dann die Sammlung 
Barberini (Cod. Barb. lat. 5635 von 1631) und 
schließlich die Sammlung Massimi (Cod. Capp. 
lat. 260 vom Okt. 1677). Der Wert dieser Inventare 
für die Forschung — auf Einzelheiten einzugehen, 
würde zu weit führen — liegt auf der Hand. 

Diese Ausführungen wollen lediglich als Referat 
angesehen werden, das den reichen Inhalt dieser, 
wie man rubig sagen darf, wichtigsten Queilen- 
publikation über die Kunst des Seicentio der letzten 
Jahre, andeuten mögen. Der Band liest sich außer- 
ordentlich flüssig und interessant, alles Unwesent- 
liche scheint aus den riesigen Bänden der Avvisi 
getilgt worden zu sein, hoffentlich nicht zu viel; 
aber darüber wird nur der Urkundenforscher, der 
das Material wirklich vollständig beherrscht, ein 
Urteil abgeben können, Sieht man das Buch 
schließlich an mit seinem ungeheuren Apparat an 
Anmerkungen, die, wie schon mehrfach betont, 
den Text an sehr vielen Stellen überwuchern, so 
kann die Besorgnis aufkommen, daB es schwierig 
sein möchte, sich in dem Ganzen zurechtzufinden, 
Aber es ist durch ein wahrhaft ausgezeichnetes, 
über тоо Seiten starkes Register, das in einen „In- 
dice dei nomi delle persone“. einen „Indice delle 
materie“ und einen „Indice topografico“ zerfällt, 
für eine leichte Orientierung gesorgt. 

Es ist dem Verfasser zweifellos gelungen, ein 
anschauliches Bild von dem künstlerischen und 
kulturellen Leben des Pontifikates Pauls V. zu 
geben. Dies erfährt noch eine Ergänzung durch 
die illustrativen Beigaben. Orbaan reproduziert, 
um einen Begriff von der Entwicklung des Stadt- 
bilds von Sixtus V. bis auf Paul V. zu geben, 
eine Vedute und zwei Stadtpläne. 

Das Rom Sixtus V. wird durch das Fresko der 
vatikanischen Bibliothek, das den Stadtplan mit 


285 


den Hauptschöpfungen des Papstes darstellt, re- 
präsentiert (Taja, p. 446). Die ausgezeichnete 
Interpretation desselben durch den Autor (in dem 
zweiten Abschnitt der Einleitung, p. LXVII ss.) 
zeigt aufs neue, wie sehr ein eingehendes Studium 
und eine Neuausgabe der topographischen Fresken 
des Vatikans lohnen würde, die ja übrigens fast 
alle schon in photographischen Aufnahmen vor- 
liegen. 

Der Plan Tempestas (Hülsen Nr. 84) zeigt das 
Stadthild unter Clemens УШ, Allerdings wird er 
nicht nach dem Stockholmer Original, sondern 
nach einem Nachdruck bei Merian (Itinerarium 
Italiae, Frankfurt 1648) in zwei sehr scharfen und 
deutlichen Lichtdrucktafeln reproduziert, 

In vier, allerdings nicht sehr klaren Tafeln wird 
der Pian des М. Greuter, der den Zustand der 
Stadt unter dem Borghesepapst verdeutlichen soll, 
wiedergegeben (Hülsen Nr. 162). Er wird von 
dem Verfasser wie auch der vorhergehende ein- 
gebend kommentiert. 

Diese Beigaben — die beiden Pläne waren noch 
nicht von P. Ehrle veröffentlicht — sind ebenfalls 
besonders dankenswert und bereichern unsere 
Kenntnis dieser Zeit, da sie das Studium der 
schwer erreichbaren Originale erst möglich machen. 

Wie man auch in Gegenwart und Zukunft die 
Leistung Orbaans beurteilen mag, so viel steht 
fest, daB das Buch eine der Grundlagen für das 
Studium der Kunst des Seicento darstellt. Man 
wird die „Documenti sul barocco“ ebensowenig 
entbehren können wie die Forschungen Bertolottis. 


Ludwig Schudt. 


WALTER CURT BEHRENDT, Der 
Kampf um denStilimKunstgewerbe 
und in der Architektur. Deutsche Ver- 
lagsanstalt 1920. Mit 29 Abb. 

Ein Buch, vorzüglich in die bildende Kunst der 
Gegenwart einführend, soweit die angewandte Kunst 
in Betracht kommt. Daß diese eigentlich auch 
die Führung in den darstellenden Künsten haben 
sollte, wird öfter betont. Man möchte nur wün- 
schen, es wäre mit der führenden Macht der Gegen- 
wart, der Großstadt begonnen worden, statt das 
Kunstgewerbe an die Spitze und die „Architektur“ 
— wozu haben wir das gute Wort „Baukunst“? — 
in zweite Linie zu stellen mit dem Stadtbau als 
Schluß der ganzen Vorführung. Das Buch des 
Referenten, „Die bildende Kunst der Gegenwart“, 
erschien 1907, im gleichen Jahre also, in dem 
der deutsche Werkbund gegründet und vollbewußt 
jene Bewegung durchgesetzt wurde, die 1914 zur 


286 


höchsten Blüte gediehen war. Das Großstadt- 
problem und alles, was damit bis herunter zum 
letsten Bedürfnis der Kleinkunst zusammenhängt, 
trat, die ganze Entwicklung beherrschend, in den 
Vordergrund. Behrendt ergänzt also, was 1907 vor- 
wiegend für die darstellende Kunst ausgesprochen 
war, nach der inzwischen bahnbrechend hervor- 
tretenden Richtung, der angewandten Kunst hin, 
Der hervorstechendste Zug des Werkes ist sein 
Aufbau auf geselischaftskundlicher Grundlage. 
Gleich die Einleitung betont diese Einstellung. 
Der erste Teil behandelt das Kunstgewerbe und 
sucht einführend die verschiedenen Richtungen, 
die sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
geltend gemacht haben, heraussuarbeiten. Dann 
wird die neue Form und der kaufmännische Be- 
trieb besprochen. Schon in diesen Abschnitten 
würde Referent wünschen, den maßgebenden Ent- 
wicklungsgedanken mehr betont zu sehen: Weg 
mit aller naturnachabmenden und die ältere Kunst 
nachbildenden Gestalt; bestimmend sollen allein 
die Werte der Form: Maße, Raum, Licht und 
Farbe sein. Der zweite Teil über Baukunst be- 
handelt wieder zuerst die Voraussetzungen des 
19. Jahrhunderts, den Gegensatz von Akademie 
und Ingenieurwesen und geht dann die einzelnen 
Schaffensgebiete: Bürgerliche und öffentliche Bau- 
kunst, die Bauten des Welthandels und Weltver- 
kehrs, endlich die Stadt als Bauaufgabe durch. 
Der Leser wird durch die Fülle von Beobachtungen 
in Atem gehalten. Das Buch ist kein Reden über 
die Dinge, sondern ein Vorführen der Denkmäler 
selbst als Zeugen für das blübende und viel- 
versprechende Leben vor 1915. Es kann jedem 

Suchenden wärmstens empfohlen werden. 
J. Strzygoweski, 


BENGT THORDEMAN, „Alsnö Hus“, 
Ein schwedischer Palast des Mittelalters 
in seinem kunsthistorischen Zusammen- 
hang. Stockholm, P. A. Norstedt & Söners 
Förlag, 1920 (schwedisch). 


Diese Doktordissertation der Universitit Upsala 
überragt weit den Rahmen der gewöhnlichen Ar- 
beiten dieser Art. Sie geht aus von Ausgrabungen, 
die seit 1916 an der Stätte von Aland (jetzt Hov- 
garden) auf der Insel Björkö im Mälarsee aus- 
geführt wurden. Man fand die Grundmauern 
eines Saalbaues, zwei durch einen Gang verbundene 
Nebenräume u.a. Bauart, Formziegel und Zierat 
sind die gleichen wie an der Domkirche von 
Strängnäs und anderen Bauten des 13.Jabrh. Das 
stimmt mit den geschichtlichen Nachrichten. 


Der wertvollere Teil des Buches ist die ver- 
gleichende Verarbeitung dieses Tatsachenstoffes, 
Thordeman stellt zunächst den Typus der nordisch- 
englischen Halle fest, der ein dreischifflger ein- 
geschossiger Längsbau war und halt ihn zusammen 
mit dem zweischifflgen Breittypus des Kontinents, 
wie er aus Goslar, Dankwarderode, der Wartburg 
und Gelnhausen bekannt ist. In der Ursprungs- 
frage geht er aus von den karolingischen Palast- 
spuren in Aachen, Nymwegen und Ingelheim und 
findet in Mschatta, Kasr-Ibn-Wardan und anderen 
syrischen Palästen den Trikonchos, das heißt den 
Saalbau mit drei Absiden vorgebildet. Als Ver- 
mittler zwischen Ost und West sucht er den 
Theodorichspalast in Ravenna hinzustellen, der 
wahrscheinlich wie Aachen eine Vermischung des 
hellenistischen Perystilbaues mit dem syrischen 
Blockbau war. Ein eingeschobenes Kapitel be- 
schäftigt sich mit der Palastkapelle, 

Die geschichtliche Entwicklung wird nun so 
geschildert, daß in Aachen zum Orientalisch- 
hellenistischen in der Querorientierung germani- 
scher Einschlag kommt. Der ottonische Palast 
setzt die Entwicklung des karolingischen fort, 
doch ist mit Nebeneinflüssen zu rechnen, z. В. mit 
dem Typus der Lorch-Halle. Die Lauben, die man 
gerne als etwas Bodenständiges ansieht, hält der 
Verfasser dagegen für eine volkstümliche Ent- 
wicklung der cancellorum solari karolingischer Pfal- 
zen und sucht dies am skandinavischen Speicher- 
bau besonders nachzuweisen. Mit Liebe verweilt 
der Verfasser bei Benno von Osnabrück, dem er 
auf Grund der Ulrichskapelle in Goslar Einflüsse 
auf die kölnischen Kirchen zusprechen möchte. 

Im Schlußkapitel wird Alsnöhus als Vertreter 
des kontinentalen Palastes in Verbindung mit 
anderen skandinavischen Baudenkmälern gewürdigt. 

Die Beschaffenheit des Stoffes bringt es mit sich, 
daß der Verfasser viel mit Hypothesen arbeiten 
muß, die nicht ohne Widerspruch bleiben werden. 
Doch wird jeder diesen mit viel Sachkenntnis ge- 
machten Versuch einer Zusammenfassung dankbar 
anerkennen. ]. Strzygowski. 


OTTO FISCHER, Chinesische Land- 
schaftsmalerei. 174 S. und 5ı Taf. 
Verlag Kurt Wolff, München. Preis geb. 
M. 80.—. 

Der erste Hauptabschnitt des Werkes gibt die 
historische Entwicklung der chinesischen Land- 
schaftsmalerei im Umriß, während die beiden an- 
deren Abschnitte die Formen und die Bedeutung 
landschaftlicher Darstellung behandeln. 


Aus der geschichtlichen Betrachtung ergibt sich, 
daß die Entdeckung der Landschaft in künst- 
lerischer Hinsicht bei den Chinesen erheblich 
früher gescbah als in Europa, wenn wir uns dieser 
Tatsache auch erst neuerdings bewußt geworden 
sind. Besonders hervorzuheben ist, wie Sinn und 
Auffassung der Landschaft, ihre Seele, wie der 
Chinese sagt, aus einer uralten, in der Volks- 
psyche festwurzeinden Naturreligion, einer Art 
Pantheismus, ferner aus der frih entwickelten 
Philosophie und endlich aus der feinen lyrischen 
Poesie der alten Chinesen hervorwächst, Die 
historische Entwicklung der Landschaftsmalerei 
wird dann im einzelnen von den ersten Anfängen 
an verfolgt, Ein wesentliches Element für ibre 
Entstehung bedeutet die Landkarte, worauf bereits 
früher von anderer Seite aufmerksam gemacht 
worden ist. Bildrollen, die Makimono der Japaner, 
weiche Landschaften darstellen, dienten wohl ur- 
sprünglich topographischen Zwecken und wurden 
erst später unter der Hand wirklicher Künstler zu 
Gemälden im eigentlichen Sinne. 

Die erste Blüte der gesamten, wie auch der 
landschaftlichen Malerei in China, finden wir im 
8. Jahrhundert, zurzeit der T’ang-Dynastie. Hier 
ist besonders Wu tao tse zu nennen (um 700—750), 
dessen großangelegte Wandmalereien legendarisch 
gerühmt werden, daneben Wang wei, der um die- 
selbe Zeit lebte und als der Begründer der sog. 
südlichen Schule gilt, der eine weichere, romantische 
Malweise eigen ist, im Gegensatz zu der klassischen, 
härteren Schule des Nordens. Sehr wichtig sind 
ferner für das Verständnis der Malerei dieser 
Periode die im Schatzhaus zu Nara in Japan im 
8. Jahrh. deponierten Kunstschätze, die neuerdings 
veröffentlicht worden sind. 

Der Höhepunkt chinesischer Landschaftsmalerei 
fällt in die Zeit der Sung-Dynastie, um das 12. big 
13. Jahrh., die darauf folgende Periode, das 14. bis 
16. Jahrh. etwa, stellt nur einen Nachklang dieser 
großen Zeit dar, während dann ein stetig abwärts- 
führender Verfall der Kunst einsetzt, bis zum kläg- 
lichen Ende in der Gegenwart. — Als die be- 
deutendsten Landschafter der Sung-Periode sind 
wohl Hsia-Kuei, Liti, Li Ch’éng, Chao’ta-nien, 
Kaiser Hui tsung (1101—25), Liang K’al, Ma yüan, 
Mu chi und Chi jan anzusehen, deren Werke z. T. 
eingehender analysiert und in guten Abbildungen 
vorgeführt werden. Vergeistigung ist der Haupt- 
charakterzug dieser Periode, dementsprechend wird 
die Monochromie, die Schwarzweiß-Malerei das 
Ideal, ferner die Konzentration auf das Wesent- 
liche, daher eine skizzenhafte Behandlung der 
Sujets, die unserem Empfinden oft fernliegen mag, 


287 


demjenigen jedoch, der sich näher mit dieser Art 
beschäftigt, unendlich reizvoll zu werden vermag. 
„Die vollkommenste Einheit von Anschauung und 
Vergeistigung ist das Kennzeichen dieser reinen 
und höchsten Blüte der Malerei.“ 

Unter der Mongolenherrschaft erlebt die Land- 
schaftsmalerei, wie gesagt, noch eine Nachblüte, 
bald aber beginnt der Manierismus, ein bewußtes 
Betonen des Symbolischen gegenüber dem un- 
bewußt-großen Schauen der Sung-Meister, ein 
Virtuosentum entsteht, das in der Ming-Epoche 
fortgesetzt den Verfall in der Neuzeit einleitet. 
Aus dieser Zeit sind als besonders bekannte Meister 
hervorzuheben Kao jan-hui, (Kao K’o-Kung 7), T’ang 
yin, Ch’ou ying, Hsien Chin, Chang Lu u. а. m. 
Das dekorative Element tritt in der Mingzeit er- 
heblich in den Vordergrund, mit ihm erwacht aufs 
neue die Farbenfreudigkeit, die der Verinnerlichung 
den Rest gibt, indessen noch manches liebliche 
Genrebild hervorbringt. 

Der zweite Abschnitt behandelt die Probleme 
der künstlerischen Formbildung in der chinesischen 
Landschaftsmalerei. „Berg und Wasser,“ shan- 
shui, ist der Ausdruck für Landschaft, Felsen und 
Bäume sind ein Hauptelement derselben; die Dar- 
stellung von Bergen, Gewässern, Raum und Luft, 
sowie die Gesamtkomposition werden hier ein- 
gehend und sachkundig erörtert. Besonders inter- 
essiert uns die Frage der Perspektive. Plastik 
und Tiefenwirkung werden vom chinesischen 
Künstler nicht erstrebt, es gibt keinen einheit- 
lichen Augenpunkt des Bildes, auch keinen Horizont, 
ebensowenig wie es hier Spiegelungen und Schlag- 
schatten gibt. Die Linearperspektive ist eine 
andere als bei uns, denn die chinesische Malerei 
„kennt den Raum in unserem Sinne überhaupt 
nicht,“ sie wirkt flichenhaft und will in und mit 
der Fläche wirken, Das Problem ist vielmehr die 
Wiedergabe atmosphärischer Erscheinungen, die 
den chinesischen Meistern oft erstaunlich gelingt, 
eine Perspektive der Luft. Fern in der Atmo- 
sphäre schwimmen und wogen gewissermaßen die 
Teile der landschaftlichen Szenerie, die mehr mit 
der Seele als mit dem berechnenden Auge zu 
schauen ist. Ein bestimmter Rhythmus, ein eigen- 
artiges Helldunkel, suggestive Linienführung, eine 
gewisse Polarität der Bildteile ist für diese Schöp- 
fungen charakteristisch und verleibt ihnen Leben 
und Bewegung. 

Der dritte Abschnitt behandelt den Zusammen- 
hang von Bild und Schrift, erörtert das Wesen 
der Inspiration beim Kunstschaffen und sucht der 
Seele der Landschaft, also der Bedeutung der 
Landschaftsmalerei überbaupt näher zu kommen. 


288 


In der Hingabe an das Kunstwerk liegt der Weg 
zu seinem Verständnis. 

Zum Schluß sei noch bemerkt, daß das vor- 
liegende Werk einen wertvollen Beitrag zum Ver- 
ständnis ostasiatischer Kunst darstellt und auch 
gut geschrieben ist, so daß dem Leser der an 
sich nicht ganz leichte Stoff in anregender Form 
dargeboten wird, daß ferner auch der Kenner 
ostasiatischer Kunst völlig auf seine Rechnung 
kommt und daß endlich der Druck, wie auch die 
sonstige Ausstattung des Werkes, namentlich die 
Tafeln, ausgezeichnet genannt werden können. 

Dr. H. Kunike. 


HANS GRABER, Piero della Fran- 
cesca. Achtzig Tafein mit einführendem 
Text. Basel 1920. Benno Schwabe & Co., 
Verlag. (Preis geb. M. 400.—.) 

In seinem Vorwort erklärt der Verfasser zwar, 
daß sich sein Buch nicht an Kunstgelehrte, son- 
dern an Künstler und unzünftige Kunstfreunde 
wende. Wer sich aber trotz dieser Einwendung 
auch als Kunsthistoriker mit dieser in jeder Be- 
siehung gleich vorbildlichen Veröffentlichung aus- 
einandergesetzt hat, muß Graber danken für diese 
grade wissenschaftlich sehr solide Arbeit über 
einen der Größten aus der Zeit der Frührenals- 
sance, dessen überragende Bedeutung dieses Buch 
überhaupt erst offenbar gemacht hat. Seltsam 
genug, daß dieses Werk erst jetzt an die öffent- 
lichkeit getreten ist, nachdem selbst die soviel 
Kleineren aus der Geschichte der italienischen 
Malerei längst die ihnen gebührende Würdigung 
— und zwar oft über die Maßen laut und an- 
spruchsvoll — gefunden haben. Die Gründe für 
diese Tatsache glaubt auch Graber nicht zu ver- 
kennen. Piero della Francesca ist vielleicht ers! 
jetzt — im Zeitalter des Expressionismus — 
richtig und seinem wirklichen Format nach zu 
begreifen. Denn keiner von den Künstlern der 
italienischen Frühkunst (außer Giotto, Masaccio, 
Pisanello und einigen Sienesen) steht im rein 
Künstlerischen der Gegenwart gleich nahe wie 
dieser Meister aus Borgo San Sepolcro, der des 
Glück hatte, den modischen Strömungen nach 
Naturnähe nicht zu erliegen, sondern als Maler 
der Provinz bie zum Abschluß seines Werkes in 
der ursprünglichen Strenge und Herbheit zu ver- 
harren, die seinen Kompositionen jene statuariscbe 
Einfachheit verleiht, die das Ergebnis eines ganz 
nach innen gewendeten Künstlergeistes ist. Das 
Kapitel seines Buches, in dem Graber in dem 
eben angedeuteten Sinne den „Stil“ seines Meisters 
erklärt, gehört zu dem Besten und Tiefgründigsten, 


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was uns die neuere Literatur an künstlerischer 
Analyse beschert hat. Frei von jeder Maniriert- 
beit, sind die Elemente dieses Pieroschen Stils 
ausschließlich auf Monumentalität gestimmt. Im 
Rahmen einer architektonisch begrenzten Raum- 
gestaltung werden die Figuren selbst zu Trägern 
und Gliedern der Komposition, getragen und in 
ihrer Erscheinung bedeutsam betont von den Fak- 
toren des Lichtes, dss bei Piero ebenfalls ein 
wichtiges Moment der Bildeinheit ist. In diesem 
Sichdurchdringen der einzelnen Elemente steilt 
die Gebärde der Menschen, gebändigt in Ver- 
haltenheit und Strenge, zu jener letzten Wucht 
und Eindringlichkeit empor, die keine spätere Zeit 
je wieder ähnlich erreicht hat. 

Doch so sehr man auch versucht wäre, gestützt 
auf die hier angezeigte Publikation, der Künstler- 
schaft eines Piero della Francesca weiter nach- 
zugehen und diese ähnlich wie es Graber tut, vom 
Standpunkt des modernen Menschen aus rein 
künstlerisch zu durchleuchten, so wenig wollen 
wir verkennen, daß gegenüber dem, was Graber 
selbst seinem Werk als einführenden Text bei- 
gegeben, der Versuch Stückwerk bleiben würde, 
weil alles Wesentliche von ihm erkannt und in 
feinster Ausprägung bereits gesagt worden ist. 


Dieser Text, der sich aus einem knapp gefaßten 


biographischen Abriß, einem Kapitel „Die Werke“ 
und jenem bereits hervorgehobenen Abschnitt 
„Der Stil“ zusammensetzt, vermeidet absichtlich 
jede Erörterung von Fragen, die lediglich das 
Gebiet der engeren kunstwissenschaftlichen For- 
schung berühren. Graber nahm die überlieferten 
Tatsachen hin, ohne sie frelich kritischer Prüfung 
zu entziehen. Aber es kam ihm nicht darauf an, 
philologische Detailfragen anzuschneiden als viel- 
mehr das Werk dieses Großen als Erlebnis in 
seiner Totalitit zu erfassen und zu verdeut- 
lichen. Dabei enthalten gerade die Abschnitte, 
die der Betrachtung der einzelnen Werke ge- 
widmet sind, so viel an Neuem, daß sie auch 
ohne die hier dokumentierte vorbildliche künst- 
lerische Beobachtungsgabe, immer als eine sehr 
wesentliche Bereicherung der reinen Wissenschaft 
angesprochen werden müssen. Auf den wunder- 
vollen ganzseitigen Tafeln dieses großformatigen 
Buches aber, deren schönste die zahlreichen 
Wiedergaben wichtiger Einzelheiten sind, steht 
die Kunst jenes Piero aus Borgo San Bepolcro» 
dessen Werk leider nur zum Teil auf uns ge- 
kommen ist und die knappe Spanne einiger dreißig 
Jahre umschließt, so bezwingend und wahrhaft 
groß grade über dem Werden unserer Kunst vor 
Augen, daß man dem Verfasser dieses kostbaren 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. II. 1921. 


Buches nicht genug für seinen wohlgelungenen 
Versuch danken kann, endlich einen der wirklich 
bahnbrechenden Meister dem Bewußtsein der 
Gegenwart zurückgewonnen zu haben. 

Will der Verlag den deutschen Künstlern, die 
wahrscheinlich der hohe Preis der monumentalen 
Ausgsbe stark behindert, das Werk kennenzu- 
lernen, ein Gutes tun, dann läßt er hoffentlich 
dieser ersten Auflago bald eine Volksausgabe 
folgen, die auch in kleinerem Format und bei 
einem stärker reduzierten Bildanhang Tausende 
willkommen heißen werden, Georg Biermann. 


PAUL ERICH KÜPPERS, Der Kubis- 
mus. Klinkhardt & Biermann, Leipzig. 
Der um die Pflege der neueren Kunst in Han- 
nover hochverdiente Paul Erich Küppers hat ein 
Bändchen über Kubismus erscheinen lassen, das 
in meisterhafter Weise zeigt, wie klar, sachlich, 
exakt man Uber moderne Kunst schreiben kann, 
ohne expressionistisches Deutsch, und daß man 
trotz allem sein Thema dabei ausschöpfen und 
den Leser mitreißen kann. Es ist ein wirkliches 
Glück, daß ab und zu solche Bücher heraus- 
kommen, welche die arg in Mißkredit gekommene 
Kunstschreiberei rehahilitieren. Denn der Mutheris- 
mus ist wieder ds, in einem neuen Mantel. 
Küppers findet die Verankerung des Kubismus 
im Geist der Mystiker, der, tief in die eigene 
Brust greifend, hier das ewige über Werden und 
Vergehen triumphierende Sein empfindet. In jenem 
gesteigerten Ichgefühl, das nur sich selbst erleben 
kann, in jenem Zustand der Seele, in der Ich 
und Welt, Ich und Gott zu völligem Einklang 
kommen, sieht der Verfasser den Erzeugungs- 
augenblick sowohl der Mystik als auch der neue- 
sten Kunst, Die Elemente des Künstierischen 
haben aufgehört, das Kleid der Dinge zu geben, 
sie wollen nicht mehr Erscheinungstatsachen fest- 
legen, sie sind nur noch Empfindungsträger seeli- 
scher Erregungen. Als guter Kenner der Haupt- 
mystiker führt Küppers diese These durch, in 
einer Sprache, die an Eckehart entwickelt, Bilder 
von strömender Kraft sich baut. In den geome- 
trischen Produkten der Kubisten, deren Ahnen- 
reihe der Verfasser in zwangloser Folge auf Cé- 
zanne zurückführt, findet er die Ruhe nach den 
auf ihn eindringenden, ständig wechselnden Er- 
scheinungsn des Alltags. Hier sieht er eine Welt 
ohne Willkür, ohne Zufall, geläutert und einfach. 
Für ihn ist die Basis immer wieder eine reli- 
giöse, selbst wo es sich um die Sphäre reiner 
Zahlen handelt, in der die neueste geometrische 
Spekulation die Welt zu begreifen versucht. Diese 


19 289 


ganze Konstruktion hat etwas Zwingendes, dem 
sich der Leser kaum zu entziehen vermag. 

Trotzdem hier zum Schluß noch einige Be- 
denken. Ist die Mystik, wie sie Küppers schildert, 
nicht etwas einseitig gesehen? Könnte man nicht 
gerade das liebevolle Eingehen auf die Erschei- 
nungswelt in ihr finden, die Umarmung alles 
schlechthin Seienden, wie sie sich in der goti- 
schen Kunst zeigt, und worauf Dvořák in seinem 
„Idealiamus und Naturalismus“ hingewiesen bat? 
Und weiter: stellt sich im Kubismus nicht viel- 
leicht gerade die Negation alles Religiösen dar, 
nämlich die charaktervolle Selbstbejahung der 
ratio? Es will mich manchmal bedünken, als sei 
die Flucht aus der Erscheinungswelt hier doch 
nicht in dem von Küppers aufgezeigten Maß 
religiös orientiert, sondern eher eine Absage an 
alles Gefühl, dss als Schwindel verworfen wird, 
wie dies beim Suprematismus konsequent durch- 
geführt ist. So gesehen, erscheinen die Kubisten 
als eminent modern. Aus der mystischen Ver- 
kleidung, in die der Westeuropäer sich ein paar 
Jahre eingehüllt hatte, kommt er dann wieder als 
derjenige hervor, der er nun einmal ist und sein 
muß, ob er sich’s auch wegdisputieren möchte, 
der Rationalist. 

Dies nur der leichte Zweifel am Ende der Lek- 
türe eines ausgezeichneten Buches. 

Alfred Kuhn. 


VINZENZ SEUNIG: Die kretisch- 
mykenische Kultur. Universitätsbuch- 
handlung Leuschner & Lubensky, Graz 
1921. 130 S. und 25 Abb. M. 17.—. 


Verfasser will nichts Eigenes, Neues zu dem 
verwickelten Problem der kretisch-mykenischen 
Kultur beisteuern, sondern die Ergebnisse der 
wissenschaftlichen Forschung zusammenfassen, 
Das ist ihm in keiner Weise gelungen. Es fehlt 
dem Verfasser durchaus an den nötigen Kennt- 
nissen, er ist nicht einmal tief genug in den Stoff 
eingedrungen, um sich selbst ein auch nur einiger- 
maßen klares Bild von den Kulturzuständen des 
östlichen Mittelmeergebietes im zweiten vorchrist- 
lichen Jahrtausend zu machen. Es fehlt ihm auch 
die Fähigkeit, die Resultate der wissenschaftlichen 
Forschung zu verarbeiten und miteinander in 
Übereinstimmung zu bringen. Deshalb finden sich 
Widersprüche, sogar wo es sich um Fundamental- 
fragen handelt. — Die Urkreter sind Indogermanen, 
das wird immer wieder betont, p. 53 heißt es dann 
plötzlich: Die altkretischen Bauanlagen sind nicht 
griechisch, sondern wahrscheinlich karisch-lyki- 
schen Ursprungs, jedenfalls sind sie nicht mit 


290 


Indogermanischen Bauten zusammenzustellen. — 
Verf, geht zudem die Fähigkeit ab, Theorien und 
Ansichten anderer aufihren Wert und ihre Wissen- 
schaftlichkeit hin zu prüfen und zu beurteilen — 
so folgt er з. B. vielfach v. Lichtenbergs Phan- 
tastereien — auch ist ihm nicht überall die neueste 
Literatur bekannt — Ed. Meyer, Geschichte des 
Altertums II kennt er nur in der т. Auflage 1893, 
Schuchhards Akademieabhandlungen, auch Alt- 
europa, überhaupt nicht, Aber man soll nicht 
kleinlich sein; wenn das Buch imstande wire, 
dem Leser ein klares, lebendiges Bild der kretisch- 
mykenischen Kultur zu vermitteln, ich würd’s 
dennoch empfehlen, und wenn es noch auf dem 
Standpunkt stände, den die Fachgelehrten vor zehn 
Jahren eingenommen. Aber auch das vermag das 
Buch m. E. nicht zu leisten. Die Darstellungsart 
ist wenig geschickt, der Stil nicht gerade flüssig, 
das Deutsch miserabel. — 

Die Abbildungen stehen in keinem Zusammen- 
hange mit dem Texte; was in einem Buche über 
kretisch-mykenische Kultur eine Abbildung des 
Hafens von Korfu oder einer Straße von Athen 
oder vom Erechtheion soll, ist mir unerfindlich. 

Es ist zu bedauern, daß in unserer Zeit, in der 
selbst die besten Bücher nur mit großen Schwierig- 
keiten herauszubringen sind, ein solches Buch er- 
scheinen konnte. Keinem ist damit gedient, aber 
einem guten Buche wird der Lebensweg eingeengt, 
wenn nicht gar gesperrt. Ich halte es daher grund- 
sätzlich für durchaus nötig, daß solche Bücher in 
schärfster Form abgelehnt werden, im Interesse 
des Käufers, wie im Interesse des Verlegers, der 
seine Arbeitskraft dann nur wirklich guten Büchern 
zuwenden wird. Und damit wäre viel gewonnen, 

Aug. Köster. 


OTTO GRAUTOFF: Französische 
Malerei seit 1914. Berlin, Mauritius- 
verlag 1921. 


Grautoffs Reise nach Paris im Sommer 1920 
wird fruchtbar in vielen Zeitschriftenartikeln und 
Büchlein, Wenn diese nur auch gut orientierten 
über das, was in Frankreich bei den Künstlern 
geschieht! Man hört aber doch einigermaßen 
deutlich den Widerhall der Audienz heraus, die 
Matisse dem Deutschen gewährt hat, und kann 
mit Bedauern feststellen, daß Grautoffs Ansichten 
nichts hinzugelernt haben seit 1912 und 14, Ma- 
tisse und Derain: nun gut, wir wissen, daß sie 
führende und wirklich große Künstler sind; wußten 
es etwa ebensolange wie Grautoff. Aber wie stehts 
mit Picasso? Ist das genug, was wir durch ver- 
mittelndes Organ seines intimen Feindes Matisse 


über ihn bören? Mich dünkt, hier klafft eine Lücke, 
Und vollends die Kubisten: da muß immer noch 
die leidige Phrase von ihrer Theoretik herhalten; 
kein Wort von der unendlichen Wandlung Légers, 
Gleises, Archipenkos; kein Gedanke daran, daß 
hier eine europäische Entwicklung sein könnte, 
daß es Namen wie de Chirico, Groß, Schlemmer, 
Baumeister, Zrzavy gäbe, die eine Linie mit jenen 
verbinden könnte. Sollte man zu dem Resultate 
gelangen, daß dieses mit guten Abbildungen ver- 
sehene hübsche Bichelchen eine Parteischrift und 
Wiederbolung dessen sei, was Grautoff — keines- 
wegs unwidersprochen — in deutschen Zeitschriften 
bereits niedergelegt habe? Aber es ist vielleicht 
zuviel verlangt, daß die erste Friedenstaube von 
diesseits des Rheines auch gleich bis zu den letzten 
Verästelungen, bis zur Gegenwart der Kunst vor- 
dringe, wo es so angenehm zu nisten ist bei 
Matisse und seinem Kreise! Paul Е. Schmidt. 


ALBERT NEUBURGER: Die Technik 
des Altertums. 2. Aufl. 570 S. mit 
676 Abb. R. Voigtländers Verlag, Leipzig 
1921. Geb. М. 65.—. 


Daß nach zwei Jahren bereits eine neue Auflage 
des Buches nötig wurde, beweist, wie notwendig 
eine Zusammenfassung alles dessen war, was wir 
über die antike Technik wissen, hat aber zugleich 
den Ubelstand im Gefolge, das dem Verfasser 
nicht genügend Zeit blieb, die zweite nun auch 
wirklich als verbesserte Auflage herauszugeben. 
In seiner Besprechung der ersten Auflage rügt 
Feldhaus (Geschichtsblätter für Technik und In- 
dustrie Bd. 6, p. 120) eine ganze Reihe von Un- 
richtigkeiten, die sich noch beträchtlich vermehren 
ließen, die aber alle darauf zurückzuführen sind, 
daß Verf. trotz heißen Bemühens der Altertums- 
wissenschaft fern steht, und daß er verschmäht 
hat, einen Archäologen zur Mitarbeit oder zur 
Korrektur heranzusiehen. Die archäologische 
Literatur, z. T. gerade die grundlegenden Arbeiten 
sind Verf. in vielen Fällen unbekannt geblieben. 
So kennt er z. В. nicht die Untersuchungen über 
die antike Bronzetechnik von Pernice (Öster- 
reichische Jahreshefte), oder über die antike Mal- 
technik von Reichhold (in Furtwängler Reichhold, 
Vasenmalerei und Reichholds Skizzenbuch grie- 
chischer Meister). Das sind Werke, die jeder 
Student im zweiten Semester kennt, und obne 
deren Berücksichtigung eine Darstellung der be- 
treffenden Technik nicht denkbar ist. Und was 
sonst an archäologischen Untersuchungen und 
Darstellungen übersehen ist, geht ins MaBlose. 


Der Techniker kann eben nicht zugleich Archäo- 
loge sein und dessen z. T. entlegene Fachliteratur 
eingehend beherrschen. Die Folge ist nun natür- 
lich eine Reihe von Fehlern und Mängeln, wie 
sie Feldhaus rügt, dessen Ausführungen übrigens 
manchmal für den Kenner komisch wirken. 8. 131 
sagt ег z. B.: „Im Abschnitt über die Zahnräder, 
der trotz der Wichtigkeit für den Maschinenbau 
recht dürftig ist, kennt N. weder meine Studie 
von 1911, noch den Fund römischer Zahnräder 
der Saalburg.“ Dazu ist zu bemerken, daß die 
angepriesene Studie von 1911 ebenso mangelhaft 
ist, denn den im Jahre 1900 bei der Insel Anti- 
kythera aufgefundenen antiken Mechanismus mit 
Räderwerk, das bedeutendste dieser Art, was uns 
aus dem Altertum erhalten ist ( Een, dey. 1910) 
kennt weder N. noch sein Rezensent Feldhaus, 
der N.’s Unwissenheit rügt. — 

Die Unrichtigkeiten und Fehler setzen den Wert 
von N.s Buch erheblich herab, aber es wird da- 
durch doch nicht wertlos. Es hat unzweifelhaft 
seine Vorzüge, ist zu rascher Orientierung ge- 
eignet, verweist auf die einschlägige Literatur und 
erspart viel Zeit und Arbeit. 

Wo ein wissenschaftliches Problem absolute Zu- 
verlässigkeit, dem neuesten Stande der Wissen- 
schaft entsprechend, erfordert, ist allerdings Vor- 
sicht geboten, aber in solchem Falle wird man in 
der Regel ohnehin lieber aus der Quelle schöpfen, 
als aus einem Kompendium, wie es die Arbeit N.s 
ist und sein will. Sollte N. sich entschließen 
können, die nächste Auflage von einem Archäologen 
bearbeiten oder durcharbeiten zu lassen, so würde 
das Werk als hervorragend gepriesen werden 
können. Aug. Köster. 


BIBLIOTHECA D'ARTE, diretta da 
Armando Ferri e Mario Recchi. 
Anno I. Fasc. I—IV. 


I. Borromini, A cura di Antonio Munoz. 
13 S. 29 Taf. 
П. Domenico Feti. A cura di R. Oldenbourg. 
15 S. 25 Taf. 
Ш. Bernardo Cavallino. А cura di A. de Ri- 
naldis. 19 8. 26 Taf. 
IV. Caravaggio. А cura di Lionello Venturi. 
16 8. 32 Taf. 


Einzelheft L. 7.50. Abonnement auf 


ı2 Hefte L. 75.—. 


Die vier ersten Bändchen der Sammlung von 
Künstlern des Sei- und Settecento, die Armando 
Ferri und Mario Recchi herausgeben, liegen jetzt 
vor. Sie sind nach einem einheitlichen Plan ge- 


arbeitet: ein kurzer Text, der über die kunst- 


291 


geschichtliche Stellung des jeweilig behandelten 
Künstlers Aufschluß gibt, ein Oeuvrekatalog und 
eine kurze Bibliographie bilden den textlichen 
Teil, meist 15—-20 Seiten stark. Ein Abbildungs- 
material von 25—30 Tafeln ist jedem Bande bei- 
gegeben. 

Das Programm der ersten Serie des groß an- 
gelegten Unternehmens geht dahin, die italienischen 
Meister des Sei- und Settecento uns wieder näher 
zu bringen, also eine vollständige Terra incognita 
die hier zum erstenmal planmäßig von Forschern 
bearbeitet werden soll, die mit der Zeit und ihren 
Künstlern vertraut sind. Außer den hier angezeig- 
ten Bänden werden im Laufe dieses Jahres noch 
Arbeiten über Pietro da Cortona, Sacchi, Strozzi, 
Plazetta usw. erscheinen. Eine zweite Serie über 
die Meister des nordischen Barocks soll später 
folgen. 

Betrachten wir die einzelnen Hefte näher, so 
zeigt die Arbeit von Munoz über Borromini alle 
Vorzüge des Autors. Der Text ist klar und flüssig 
geschrieben. Ein sorgfältig gearbeiteter Katalog 
der Werke ist beigefügt. Die Klischees sind durch- 
weg vorzüglich gelungen, besonders ist die Wieder- 
gabe schwer zugänglicher und bisher wenig be- 
kannter Monumente zu rühmen. 

Oldenbourgs „Domenico Feti* vermittelt einem 
größeren Publikum zum allererstenmal die Be- 
kanntschaft dieses eigenartigen Künstlers. Der 
Katalog der Werke beruht auf Endres-Soltmanns 
besonders tüchtiger Dissertation. Die Abbildungen 
sind gerade hier von besonderer Wichtigkeit, weil 
wir noch nie Gelegenheit gehabt haben, irgendwo 
das Lebenswerk Fetis beieinander zu sehen. 

Rinaldie geht in seiner Studie über Bernardo 
Cavallini völllg eigene Wege. Der ausgezeichnete 
Katalog, der um so verdienstvollerist, ale sich die 
meisten Werke in schwer zugänglichem Privat- 
besitz befinden, stellt das recht verstreute Material 
zu einer klaren Übersicht zusammen, die Ab- 
bildungen, deren Beschaffung zum großen Teil 
sehr schwierig gewesen sein muß, unterstützen 
den Text in wirkungsvollster Weise. 

Am wichtigsten, schon wegen der Bedeutung 
des Künstlers, ist Lionello Venturis „Caravaggio“. 
Auch bier müssen die Abbildungen besonders her- 
vorgehoben werden. Endlich einmal haben wir 
ziemlich den ganzen Caravaggio in einer leicht 
und allgemein zugänglichen Publikation vor uns 
und finden auch Werke wieder, die sonst fast 
immer fehlten. Von dem Text ist vor allem der 
Katalog der Gemälde hervorzuheben, der den ersten 
Versuch einer kritischen Sichtung der Werke dar- 
stelit. Dabei mag hervorgehoben werden, daß 


292 


Venturi seine früher (in Arte Bd. ХШ) gemachten 
Zuschreibungen nicht mehr aufrecht erhält. Von 
den Berliner Bildern werden nur noch der Amor 
als Sieger (Kat. von Posse, Nr. 369), der Matthäus 
(Nr. 365) und das Frauenporträt (Nr. 356) als 
Werke Caravaggios anerkannt. Von den Bildern 
in Sizilien bleiben die Geburt Christi im Museum 
zu Messina, die Geburt Christi im Oratorio der 
Compagnia di 8. Lorenzo in Palermo und der 
Tod der beiligen Lucia in Syracus als authentisch 
übrig. 

Diese kurzen Ausführungen mögen ein Bild von 
dem reichen Inhalt geben, den die Sammlung 
bieten wird,, Zur Mitarbeit haben sich Gelehrte 
der verschiedensten Nationen bereit erklärt. Druck. 
Schriftsatz sowie die äußere Ausstattung der Bänd- 
chen zeugen von ausgezeichnetem Geschmack, 
auch ist das verwandte Papier recht gut und in- 
folgedessen die Tafeln, wenigstens zum großen 
Teil vorzüglich gelungen, Diese Leistung ist bei 
den heutigen Schwierigkeiten in der Buchherstellung 
boch zu bewerten. 

So wird man dem Unternehmen, das endlich 
einmal über die Kunst des Cinquecento hinausgeht 
und unsere dürftigen Kenntnisse des Sei- und 
Settecento zu bereichern strebt, wohl einen durch- 
schlagenden Erfolg prophezeihen dürfen. Völlig 
neue Gebiete der Kunstwissenschaft sollen hier 
endlich den weiteren Kreisen erschlossen werden. 

Ludwig Schudt. 


FRANZ MARC: Briefe, Aufzeich- 
nungen und Aphorismen. Berlin, 
Paul Cassirer 1920. 


Man fühlt in der vorliegenden Publikation (ein 
Text- und ein Abbildungsband) beglückt und er- 
schüttert die vollkommene Einheitlichkeit des 
Menschen und Künstlers. Einer ist hier vor seiner 
Zeit von der sinn- und wahllosen Kriegsmaschine 
hingerafft worden, der Zeugnis ablegte für die 
Wahrhaftigkeit und Notwendigkeit der Strömung, 
die wir „Expressionismus“ nennen, deren lebendiger 
Inhalt heute schon wieder von Sensation, von 
nervöser Gefall- und Modesucht verschüttet ist. 
Des Expressionismus tiefster Anspruch, die Ent- 
materialisierung und Gestaltung der Erscheinungen 
in einer neuen Welt der verdichteten, künstlerischen 
Form, entspricht Marcs menschlichem Sein, das 
glücklich, rein und schlicht im Irdischen stand 
und sich dem Geistigen entgegenhob. 

In manchen Briefen sucht der Künstler mit der 
Besessenheit, die allen Wegbereitern eigen ist, 
den Sinn seiner künstlerischen Arbeit: „Was hat 


—  « — ——— 


— — afferen Aug, 1 LL * 


der schöne runde Apfel mit der Fensterbank ge- 
mein? Wenn man das Problem auf ‚Kugel und 
Fläche‘ stellt, so fällt der Begriff Apfel im Ernste 
weg; wenn wir aber den Apfel, den schönen Apfel 
malen wollen? oder das Reh im Walde? oder die 
Eiche?“ Die Naturalisten gaben das Objekt, andere 
gaben ihre innerliche Welt, das Subjekt. Wenn 
man den Band der Zeichnungen betrachtet, die 
fabelhafte Melodik, in der hier Seele, Sinne und 
Form eins geworden sind, erkennt man, was Marc 
malen wollte: das Blühen der Rose, das Fühlen 
des Pferdes, „das Prädikat“. „Wer vermag das 
Sein eines Hundes zu malen wie Picasso das Sein 
einer kubistischen Form malt?“ Man kann kritisch 
wissen, daß niemals unsere erdgeborenen Augen 
erfahren werden, wie die Natur sich sieht, wie das 
Tier, wie die Blume, wie die Dinge dasKreißen ihres 
Seins erleben, Aber man kann verstehen, daß 
Marc, der die kleinen Rehe seines Gartens und die 
trächtige Mutter mit zärtlichem Vatergefühl um- 
schloß, die uns ewig unbekannte Wesensluft dieser 
geliebten Tiere zu erahnen glaubte, „das Reh reht“. 

Die kalte Spekulation, mit der die radikalen Aus- 
läufer des Kubismus das Naturerlebnis verleugnen, 
steht in schroffem Widerspruch zu Marcs instinkt- 
haftem und bewußtem, künstlerischem Werk, „Der 
(Gegenstand) steckt immer drin, ganz klar und 
eindeutig, nur braucht er nicht immer äußerlich 
da und augenfällig zu sein. Ich denke viel über 
diese Dinge nach; sie sind im Grunde so einfach.“ 

Dieser Mensch, der den Sinn seines Daseins 
immer „ins Geistige hinüberspielt“, lehnt in der 
ruhigen Vitalität seines Wesens die Askese Tol- 
stojs ab, die bei jenem als eine Reaktion auf das 
Übermaß von irdischem Verlangen zu deuten ist. 


„Am Ende traut er sich auch einmal nicht mehr 
durch einen Blumengarten zu gehen. Der erotische 
Witz sowohl wie die erotische Erregbarkeit und 
Leidenschaft sind Grundelemente des menschlichen 
Fühlens, die man nicht durch christliche Liebe 
zudecken oder abschnüren kann und darf und soll,“ 
Und er sagt von Emanuel Quint, dem Werke, in 
welchem Hauptmanns reine Seele sich fast über 
alle Kunst hinweg ausspricht, als ob er von sich 
selbst spräche „Durch Quints Leben geht jene 
abstrakt reine Linie des Denkens, nach der ich 
immer gesucht habe und die ich auch immer im 
Geiste durch die Dinge hindurch gezogen habe; 
es gelang mir freilich fast nie, sie mit dem Leben 
zu verknoten, — wenigstens nie mit dem Menschen- 
leben. Quint bat wohl seine reine Idee manchmal 
mit dem Leben verknotet; daß er dabei doch rein 
geblieben ist, darin liegt seine göttliche Größe.“ 

In einem großartigen Brief an seine Mutter 
schließlich (einen Monat vor seinem Tode ge- 
schrieben) schwingt sich das glückliche Gleich- 
gewicht dieser reichen, schöpferischen Seele in 
buddhahafter Ergebenheit aus. „In meinen ge- 
malten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille. 
Sonst aber hat der Tod nichts Schreckhaftes; er 
ist doch das allen Gemeinsame und führt uns 
zurück in das normale ‚Sein‘. Die Strecke zwischen 
Geburt und Tod ist der Ausnahmezustand, іп dem 
os viel zu fürchten und zu leiden gibt — der 
einzige wirkliche, konstante, philosophische Trost 
ist das Bewußtsein, daß dieser Ausnahmezustand 
vorübergeht, und daß das immer unruhige, immer 
pikierte, im Ernste ganz unzulängliche „Ich-Be- 
wußtsein“ wieder in seine wundervolle Ruhe vor 
der Geburt zurücksinkt.“ 8. Schwabacher. 


293 


CURT GLASER: Lukas Cranach. Mit 
117 Abbild. Deutsche Meister, heraus- 
gegeben von Karl Scheffler und Curt 
Glaser. (Insel-Verlag, Leipzig 1921.) 


OTTO FISCHER: Chinesische Land- 
schaftsmalerei. Mit 63 Bildwieder- 
gaben. (Kurt Wolff. Verlag, München 1921.) 


MAURICE RAYNAL: Picasso. Aus 
dem französischen Manuskript übersetzt. 
Mit 8 Kupferdrucken und 95 Abbildungs- 
tafelnnachRadierungen,Handzeichnungen, 
Skulpturen und Gemälden. (Deiphin-Verlag, 
München 1921.) 


K. ZOEGE von MANTEUFFEL: Hans 
Holbein, der Zeichner für Holzschnitt 
und Kunstgewerbe. Mit 71 Abbildungen. 
DERSELBE: Hans Holbein, der Maler. 


Mit 60 Abbild. (Beide Verlag Hugo Schmidt, 
München.) 


HANS TIMOTHEUS KROEBER: Sil- 
houetten aus Lichtenbergs Nachlaß 
von DanielChodowiecki. (Verlag Heinr, 
Staadt, Wiesbaden 1920.) 


MAX OSBORN: Geschichte der Kunst. 
(Verlag Ullstein & Co., Berlin.) 


JOS. AUG. BERINGER: Trübner, des 
Meisters Gemälde. Mit 450 Abbildgn. 
(Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin.) 


EMIL WALDMANN: Sammler und 
ihresgleichen. Mit 52 Abbildungen. 
(Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1920.) 


PAUL HEIDELBACH: Stätten der 


Kultur: Kassel. (Verlag Klinkhardt & Bier- 
mann, Leipzig.) 


ATTILIO SCHIAPARELLI: Leonardo 
Ritrattista. Mit 40 Abbild. (Verlag Fra- 
telli Treves, Milano 1921.) 


OTTO HIRSCHMANN: Verzeichnis 
des graphischen Werkes von Hen- 
drick Goltzius 1558—1617. Mit Be- 
nutzung der durch E. W. Moes + hinter- 
lassenen Notizen zusammengestellt. (Verlag 
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1921.) 


294 


J. J. ROUSSEAU: Die neue Heloise. 
Mit 24 Kupfern von Chodowiecki u. Gra- 
velot in 2 Bänden. 


VOLTAIRE: Die Jungfrau. Mit 21 
Kupfern von Moreau le Jeune. (Beide im 
Pantheon-Verlag, Berlin.) В 


OTTO GRAUTOFF: Die neue Kunst. 
(Verlag Karl Sigismund, Berlin 1921.) 


FÜHRER DER HAMBURGER KUNST- 
HALLE: 


Nr. ı. Die Kunsthalle. Ihr Bau und ihre Ein- 
richtung. 

a. Alfred Lichtwark. 

3. Meister Bertram und der Hauptaltar von 
St. Petri (Grabower Altar.) 

4. Die Muttergottes von Castellaun. 

5. Joseph Anton Koch, 

6. Rembrandt, Simeon im Tempel. 

8. Moritz v. Schwind: Nizen, einen Hirsch 
trankend. 

„ 9. Gottfried Schadow: Doppelstatue der Kron- 
prinzessin Luise u. der Prinzessin Ludwig. 

10. Caspar David Friedrich. 

11. Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeckschen 
Kinder, 

12. Ferd. v. Rayski: Das Bildnis des Herrn 
Benecke von Gröditzberg. 


(Sämtlich gedruckt im Auftrag des Vereins von 
Kunstfreunden von 1870.) 


AUGUST SCHMARSOW: Gotik in der 
Renaissance. Mit 16 Abbild. (Verlag von 
Ferdinand Enke, Stuttgart 1921.) 


LEO BAER: Erkard Schön. Unter- 
weisung der Proportion und Stellung der 
Posen 1542. In getreuer Nachbildung 
herausgegeben. (Verlag Joseph Baer & Co., 
Frankfurt a. M. 1920.) 


Dr. HALD: Auf den TrümmernStobis. 
Beiträge zur Geschichte und Geographie 
Altmazedoniens. Mit 62 Abbildungen u. 
Kartenskizzen. (Verlag Strecker & Schröder, 
Stuttgart.) 

HANS EHRENBERG: Tragödie und 
Kreuz. L Band: Die Tragödie unter dem 
Olymp. II. Band: Die Tragödie unter dem 
Kreuz. (Patmos-Verlag, Würzburg.) 


W.WORRINGER: KünstlerischeZeit- 
fragen. (Verlag Hugo Bruckmann, Münchenıga1 .) 


HANS MUCH: Islamik. Westlicher Teil 
bis zur persischen Grenze. Mit Abbild. 
(Verlag L. Friederichsen & Co., Hamburg 1921.) 


— — — 


HEINRICH SCHENCK: Martin Schon- 
gauers Drachenbaum. Sonderabdruck 
aus der naturwissenschaftlichen Wochen- 
schrift. Neue Folge. 19. Band, unter Zu- 
gabe zweier weiterer Abbild. Mit drei 
Tafeln. (Verlag von Gustav Fischer, Jena 1920.) 
Dr. JOSEPH BERNHART: Die Sym- 
bolik im Menschwerdungsbild des 
Isenheimer Altars. Mit vier Abbild. 
(Patmos-Verlag, München 1921.) 


HEINRICH WÖLFFLIN: Die Bam- 
berger Apokalypse. Eine Reichenauer 
Bilderhandschrift vom Jahre ооо. Zweite 
vermehrte Auflage. Mit 63 Lichtdrucken 
und 2 farbigen Tafeln. (Kurt Wolff-Verlag, 
München 1921.) 


DENKMÄLERdesPelizaeus-Museums 
zu Hildesheim. Unter Mitwirkung von 
Albert Ippel bearb. von Günther Roeder. 
Mit 78 Abbild. und 16 Tafeln. (Verlag Karl 
Curtius, Berlin 1921.) 


—— —— 


STADEL-JAHRBUCH. Herausgegeben 

von Georg Swarzenski u. Alfred Wolters. 

Mit 260 Abbildungen. Inhalt des ersten 

Jahrgangs: 

Karl With: Chinesische Plastik in der Frankfurter 
Städtischen Galerie. 

Hans Schrader: Die Aussendung des Triptolemos. 

Rosy Kahn: Hochromanische Handschriften aus 
Kloster Weingarten in Schwaben. 

Rudolf Kautsch: Der Dom zu Speier. 

Otto Schmitt: Ein Bamberger Engel. 

Edmund Schilling: Beitrag zu Dürers Handzeich- 
nungen. 

Heinrich Weizsäcker: Ein neuer Elsheimer im 
Städelschen Institut. 

Alfred Wolters: Die Wäscherinnen von Civitella 
von August Lucas im Städelschen Institut. 

Georg Swarzenski: Deutsche Alabasterplastik des 
15. Jahrhunderts. 

(Frankfurter Verlagsanstalt A.-G., Frankfurt a.M.) 


GENIUS. Halbjahresschrift für werdende 
und alte Kunst. r.u.2.Buch 1920. Her- 
ausgeber Dr. Carl Georg Heise u. Dr. Hans 
Mardersteig. (Verlag Kurt Wolff, München.) 


JULIUS SCHLOSSER: C. Fr. v. Rumohr. 
Italienische Forschungen mit der „Bey- 
gabe zum ersten Bande der italienischen 
Forschungen“ und einem Bildnis. (Frank- 
furter Verlagsanstalt A.-G., Frankfurt a. M., 1920.) 


RUDOLF BLÜMNER: Der Geist des 
Kubismus und die Künste. (Verlag „Der 
Sturm“, G. m. b. H., Berlin 1921.) 


WILHELM HAUSENSTEIN: Kairuan 
oder eine Geschichte vom Maler 
Klee und von der Kunst dieses Zeit- 


alters. Mit 43 Abbild. (Verlag Kurt Wolff, 
München 1920.) 


HERMANN SCHMITZ: Die Gotik im 
deutschen Kunst und Geistesleben, 
(Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1921.) 


HERMANN SCHMITZ: Bildteppiche. 
Geschichte der Gobelinwirkerei. Heraus- 
gegeben im Auftrag des staatlichen Kunst- 
gewerbemuseums Berlin m. Unterstützung 
der Orlopstiftung. Mit 158 Abbildungen. 
Zweite Auflage. (Verlag für Kunstwissenschaft, 
Berlin 1921.) 


MAURICE RAYNAL: Braque. Mit 32 Ab- 
bildungen. (Verlag Valori Plastici, Rom 1921.) 


WILH. R. VALENTINER: Rembrandt. 
Wiedergefundene Gemälde (1910—1920) 
in 120 Abbildungen. Klassiker der Kunst, 
Bd. 27. (DeutscheVerlagsanstalt Stuttgart 1921.) 


E.TIETZE-CONRAT: Österreichische 
Barockplastik. Mit 97 Abbildungen, 

LILI FRÖHLICH-BUM: Parmigianino 
und der Manierismus. Mit 195 Ab- 
bild. im Text und 24 Taf. in Lichtdruck. 


(Beide Kunstverlag Anton Schroll & Co., G. m. b. H., 
Wien.) 


HUGO KEHRER: Anton van Dyck. 
Mit 60 Abbildungen, Briefen, Rechnungen 
und dem Testament des Künstlers. (Hugo 
Schmidt-Verlag, München.) 


FRITZ v. OSTINI: Fritz Erler. Mit 
140 Abbildungen nach Gemälden u. Zeich- 
nungen, darunter 25 farb. Kunstbeilagen 
und Textbilder. (Künstler- Monographien 
Nr. 111.) (Verlag Velhagen & Klasing, Bielefeld 
und Leipzig 1921.) 


295 


EMIL SCHAEFFER: Sandro Botti- 
celli. Ein Profil. Mit 80 Tafeln nach 
Gemälden Botticellis in Schnellpressen- 
kupferdruck und 8 Tafeln nach seinen 
Handzeichnungen zu Dantes göttlicher 
Komödie in Lichtdruck. (Verlag Julius Bard, 
Berlin 1921.) 


OTTO KÜMMEL: Die Kunst Ost- 
asiens. Mit 168 Tafeln und 5 Text- 
abbildungen. Die Kunst des Ostens, 
herausgegeben von William Cohn, Bd. IV. 
(Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1921.) 


E. W. BREDT: Rembrandt-Bibel. 
Vier Bände mit 270 Abbildungen. Bd. І 
und II: Altes Testament. Bilderschatz 
zur Weltliteratur 4.u.5.Bd. (Hugo Schmidt, 
Verlag München.) 


PAUL COLIN: JamesEnsor. Mit 74 Ab- 
bildungen. Autorisierte Ubertragung von 
Hans Jacob. (Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots- 
dam 1921.) 


WILHELM BODE: Florentiner Bild- 
hauer der Renaissance. 4. Auflage. 
(Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1921.) 


A. EFROSS u. J. TUGENDHOLD: Die 
Kunst Marc Chagalls. Mit 63 Ab- 
bildungen. Autorisierte Übersetzung aus 
dem Russischen von Frida Ichak-Rubiner. 
(Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1921.) 


MAX J. FRIEDLÄNDER: Albrecht 
Dürer. Mit 115 Tafeln. (Insel-Verlag, 
Leipzig 1921.) 

PAUL FECHTER: Das graphische 
Werk Max Pechsteins. (Fritz Gurlitt- 
Verlag 1921.) | 


HANS CHRIST: Ludwigsburger Por- 
zellanfiguren. Mit 162 Abbildungen in 
Kupfertiefdruck nach Aufnahmen von Otto 
Lossen. —- Biicher der Kunstsammlungen 
des Wiirttembergischen Staates, Bd. I. 
(Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart u. Berlin 1921.) 


Bd. II, 192r. 


E. und J. de GONCOURT: Die Kunst 
des 18. Jahrhunderts. I u. IL Band. 
Mit 42 ganzseitigen Abbildungen. (Hyperion- 
Verlag, München 1921.) 


ALFRED KUHN: Die neuere Plastik 
von 1800 bis zur Gegenwart. Mit 68 
Netzätzungenu. 14Strichätzungen. (Delphin- 
Verlag, München 1921.) 


ADOLF FEULNER: Die Zick. Deutsche 
Maler des 18. Jahrhunderts. Mit 38 Abb. 


(Hübschmannsche Buchdruckerei H. Schröder, 
München 1920.) 


KARL WITH: Asiatische Monumen- 
tal-Plastik. — Orbis Pictus, Band 5. 
(Verlag Ernst Wasmuth, A.-G., Berlin.) 


ECKART v. SYDOW: Die Kultur der 
Dekadenz. (Im Sibylien-Verlag, Dresden, 1921.) 


FRIEDR. KURT BENNDORF: Robert 
Spies. Gedenkbuch. (Verlag Emil Richter, 
Dresden 1920.) 


HERM. UHDE-BERNAYS: Münchner 
Landschafter im то. Jahrhundert. 
Mit 84 Abbildgn. (Deiphin-Verlag, München.) 


О. KAROW: Die Architektur als 
Baukunst. Mit 76 Textabbildungen. 
(Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1921.) 


ARTHUR KRONTHAL: Werke der 
Posener bildenden Kunst. Mit 13 Ab- 
bildungen und einem Anhang. (Vereinigung 
wissenschaftlicher Verleger, Walter de Gruyter 
& Co., Berlin und Leipzig 1921.) 


GUIDO HARTMANN: Ludwig Hart- 
mann. Ein Künstlerleben. Mit то Ab- 
bildungen. (Max Kellerere Verlag, München 1921.) 


ADOLF HACKMACK: Der chinesische 
Teppich. Mit 26 Tafeln, einer Landkarte 
und 5 Abbildungen im Text. (Verlag L. 
Friederichsen & Co., Hamburg 1921.) 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Hannover, Große Aegidienstraße 4. 
Telefon Nord 429. — Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissen- 
schaft KLINKHARDT & BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467. 


296 


MONATSHEFTE 


KUNSTWISSENSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN VON 
PROF. DR. G. BIERMANN 


1922 


LEIPZIG 


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ABHANDLUN GEN ————— 


Seite 

Bange, E. F., Eine frihromanische Evangelienbandschrift mit Malereien des Hildesheimer 

Kunstkreises . . . . . 5 : 1— 15 
Höver, Otto, Vierzehnheiligen ind: Nerscheim. Zur Würdigung ie REN 

des Balthasar Neumann... А 16— 22 
Stierling, Hubert, Kleine Beiträge zu Peter Vischer. x. Neue Vischerwerke in Baden. 

Baden de, ot Be Эё. ae, Жой ж Gt Жоо: ш. о ш ож tee I 36 
v. Sydow, Eckart, Carl Gustav Carus und das Naturbewußtsein der romantischen 

deutschen Malerei 2 А 31— 39 
Habicht, V. C., Jugendwerke des М. Grünewald 40— 56 
Stublfauth, Georg, Kleine Beiträge zu Dürer . nn 57— 64 
Luz, W. A., Hubert Gerhards Tätigkeit in Augsburg сва München ee .. 81— 95 


Dresdner, Albert, Johann Tobias Sergel . ; З e 
v. Grolman, W., Zur Kenntnis Riemenschneiders. Dër Насаа СМИТ К. als 


оса 203-216 


Steinbildhauer. Der Christusknabe am Lorenz-von Bibra-Denkmal . . 116—121 
Dr. Mitterwieser, Archivrat, München. Die Baurechnungen der Renaissance - Stadt- 
Residenz in Landshut (1536—1543). . . . EE e А 122—136 
Junius-Dresden, Wilhelm, Der Meister Н. W., Ein e Plastiker am ege 
gang des Mittelalters . . . . . | 137—147 
Berliner, Rudolf, Die große Moschee von n Diyärbakr ; A 161—172 
Rohde, Alfred, Das geistliche Schauspiel des Mittelalters und das ode Bud bei 
Meister Bertram von Minden .. . . 173—179 
Spaeth, Emil, Quellenurkundliche Beiträge z zur Досенга Plastik um 1500 . 180— 192 
Gerstenberg, Kurt, Gaspard Dughet genannt Poussin, 1613—1675 . 193— 202 
Tschubinaschwili, Georg, Die christliche Kunst im Kaukasus und ihr Verhältnis 
zur allgemeinen Kunstgeschichte. (Eine kritische Würdigung Josef Strzygowskis 
„Die Baukunst der Armenier und Europa“ . . ae Go 1417230 
Bocckler: Albert, Zur Heimat der Berliner Eneit-Handachrift ; nn. 240—257 
v.Kieszkowski, Georg, Kieine Beiträge zu Peter Vischer. XI. 1. Eine neue Vischer- 
Platte in der Kathedrale zu Krakau. . . rn з 258—260 
2. Ein untergegangenes Vischergitter im Dom : zu Krakau. А ИГО 26x 
Panofsky, Erwin, Die Treppe der Libreria di 8. Lorenzo. Bemerkungen zu einer 
. wunverdffentlichten Skizze Michelangelos . s 262 — 274 
Junius-Dresden, Wilhelm, Dürers „Marter der 10000 Ritter“ 275—282 
Noack, Friedr., Deutsche Goldschmiede in Rom . 283—298 


Simon, Karl, Nicolaus Bergner in Frankfurt a. M. р 
Simon, Karl, Ein Grünewaldkopf von Ph. Uffenbach? . 
Haupt, Richard, Ältere kirchliche Kunst in Schonen be de en ЧИ мб ой 
Stuhlfauth, Georg, Das Faß der „Ruhe auf der Flucht“ in Dürers Marienleben 


Seite 
65 
148 
237 
299 


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Struck), S. 152. 

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moyen-age, son développement du 6ème 
siècle jusqu'à la fin du 13łme siècle (Lud- 
wig Schudt), S. 318, 

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sidenz (G. Biermann), S. 151. 

Neugebauer, Karl Anton, Antike 
statuetten (Hans Nachod), 8. 315. 

Neue Literatur über die Baukunst des Klassi- 
zismus (A. Grisebach), S. 240. 

Oelenheinz,Leopold,DerWünschelring, insbes, 
seine Anwendung auf die Meisterbestimmung 
bei Gemälden usw. (Voll), S. 158. 

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(brsg. von W. v. Bode), (W. Friedlaender), 
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Bronze- 


III 


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v.Salis, A., Die Kunst der Griechen (A. Köster), 
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Salmony, Alfred, Europa—Ostasien, religiöse 
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Kunst des Mittelalters. II, dto. Gotik in 
der Renaissance (Wackernagel), S. 328. 

Schmidt, Paul F., Deutsche Landschaftsmalerei 
von 1750—1830 (Willi Wolfradt), 8. 75. 

Schubring, Paul, Die italienische Plastik des 
Quattrocento (F. Knapp), S. 337. 

Sirén, Oswald, Toskanische Maler im 13. Jahr- 
hundert (Wilh. Suida), S. 321. 

Valentiner, Wilhelm R., Georg Kolbe, Plastik 
und Zeichnung (P. F. Schmidt), S. 339. 


Voigt, Chr., Schiffs-Ästhetik. Die Schönheit 
des Schiffes in alter u. neuer Zeit (A. Köster), 
8. 306. | | 


Waetsoldt, Wilhelm, Deutsche Kunsthistoriker 
Von Sandrart bis Rumohr (Hans Vollmer) 

8. 343. 

Weise, Georg, Die gotische Holzplastik um 
Rottenburg, Horb und Hechingen (Wolf- 
gang Stechow), S. 325. 

W est, Robert, Entwicklungsgeschichte des Stils 
(Hans Rose), S. 300. 

Westheim, Paul, Das Holzschnittbuch (Sascha 
Schwabacher), 8. 75. 

Zweig, Marianne, Wiener Bürgermöbel aus 


theresianischer und josephinischer Zeit 1740 
bis go (M. Schuette), S. 337. 


Neue Bücher 8. 77. 160. 248. 


Buchdruckerei Julius Klinkhardt, Leipsig. 


IV 


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MAI 1922 


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XV. JAHRGANG · HEFT 1—3. 
VERL AG KLINKHARDTE BIERMAN 


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Monatshefte 
für Kunstwissenschaft 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN 
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG 


Preis des Heftes Mark 75.— 


INHALTSVERZEICHNIS HEFT LI 


ABHANDLUNGEN 


E. F. BANGE, Eine frühromanische 
Evangelienhandschrift mit Malereien 
des Hildesheimer Kunstkreises. Mit 
12 Abb. auf 4 Taf. in Lichtdruck. S. ı 


OTTO HÖVER, Vierzehnheiligen und 
Neresheim. Zur Würdigung der Raum- 
phantasie des Balthasar Neumann. Mit 
7 Abb. auf з Taf. in Lichtdruck. S. 16 


HUBERT STIERLING, Kleine Beiträge 
zu Peter. Vischer. X. Neue Vischer- 
werke in Baden-Baden. Mit ro Abb. 
auf 4 Tafeln in Lichtdruck . . S. 23 


ECKART v. SYDOW, Carl Gustav 
Carus und das Naturbewußtsein der 
romantischen deutschen Malerei. Mit 
4 Abb. auf 2 Taf. in Lichtdruck. S. 3r 


У. С. HABICHT, Jugendwerke des 
M. Grünewald. Mit 8 Abb. auf 4 Taf. 


in Lichtdruck ........ . . . S. 40 
GEORG STUHLFAUTH, Kleine 
Beiträge zu Dürer S. 57 
MISZELLEN 
KARL SIMON, Nicolaus Bergner in 
Frankfurt а. Main S. 65 


REZENSIONEN 


A.E.BRINCKMANN, Die Baukunst des 17. 
und 18. Jahrhund, in den romanischen Ländern. 
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 
Berlin. (Handbuch der Kunstwissenschaft.) 
(Paul Zucker) S. 67 


CURT GLASER, Lucas Cranach. Mit 117 Abb. 
Leipzig, Inselverlag 1921 (P. F. Schmidt) S. 68 


GEORG DEHIO, Geschichte der deutschen 
Kunst. Zweiter Band. Textband u. Tafelband. 

‚ Berlin u. Leipzig 1921. Vereinigung wissen- 
schaftlicher Verleger (Kurt Gerstenberg) S. 69 


KURT PFISTER, Deutsche Graphiker der 
Gegenwart. Mit 23 Künstler-Originalbeiträgen 
und 8 Reproduktionen. Leipzig, Klinkhardt 
& Biermann 1920 (M. 160) P. F. Schmidt) 8. 72 


BRIEFE JAKOB BURCKHARDTS an Gott- 
fried (und Johanna) Kinkel, Herausgegeben 
von Rudolf Meyer-Kraemer. Verlag Benno 
Schwabe & Co., Basel 1921 (Kurt Gersten- 
berg) . 73 


FRANZ ROH, Holländische Malerei. 
E. Diederichs Verlag, Jena (Willi Wolfradt) 
| 8. 74 


PAUL WESTHEIM, Das Holzschnittbuch. 
Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1921. 
(Sascha Schwabacher) 8. 75 


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PAUL F. SCHMIDT, Deutsche Landschafts- 
malereivon 1750—1830 (Willi Wolfradt) 8. 75 


NEUE BUCHER............ S. 77 


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Abb. 2. Bild des Evangelisten Lukas. 
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. 1. 


Abb. 1. Bild des Evangelisten Markus. 
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. I. 


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Abb. 3. Bild des Evangelisten Johannes. | Abb. 4. Kreuzigung Christi. 
Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. 1. Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. I. 


Zu: Е. F. Bange, Eine frühromanishe Evangelienhandschrift mit Malereien des Hildesheimer Kunstkreises. 


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EINE FRÜHROMANISCHE EVANGELIEN- 
HANDSCHRIFT MIT MALEREIEN DES 
HILDESHEIMER KUNSTKREISES 


Mit zwölf Abbildungen auf vier Tafeln in Lichtdruck i) Von E. F. BANGE 
m Besitz des Berliner Kupferstichkabinetts befindet sich eine friihromanische Evan- 
gelienhandschrift (Cod. 78, A.I), sicher deutschen Ursprungs, deren künstlerische 
Ausstattung in mehrfacher Beziehung Beachtung verdient. In der Literatur findet sich 
der Codex zweimal erwähnt. Bei Beissel in der Geschichte der Evangelienbücher 
(Freiburg 1906) S. 292, Anm. 2, der eine nicht mehr nachzuprüfende Provenienz- 
angabe, die Handschrift sei in Bremen gekauft worden, abdruckt und bei Swarzenski: 
Die Regensburger Buchmalerei (Leipzig 1901), S. 17, Anm. 13, der den Codex mit 
einer in München verwahrten, auf Bremen zu lokalisierenden Handschrift Clm. 9475 
zusammenbringt und ebenfalls für Bremen in Anspruch nimmt. Ein eingehender 
Vergleich ergibt aber, daß sich die Verwandtschaft des bildlichen Schmuckes beider 
Handschriften lediglich auf den gemeinsamen norddeutschen Charakter beschränkt 
und daß Zusammenhänge bestimmter Art, die eine Annahme enger Schulgemein- 
schaft rechtfertigen könnten, nicht vorhanden sind. Der Zettelkatalog der Berliner 
Sammlung verzeichnet vermutungsweise Trier als Entstehungsort und setzt die 
Handschrift in die Mitte des 11. Jahrhunderts. 

Es soll versucht werden, alle mit dem Codex zusammenhängenden Fragen, na- 
mentlich die kunstgeschichtliche Stellung seines Schmuckes, nach Möglichkeit zu 
klären oder die Probleme anzudeuten, wo diese selbst noch nicht gelöst werden 
können. 

Über die Geschichte der Handschrift kann bis auf eine Schenkung des Codex an 
ein nicht näher zu ermittelndes Kloster im 16. Jahrhundert nichts ausgesagt werden. 
Bestimmte Angaben im Text, Besitzvermerke, Urkunden oder liturgische Besonder- 
heiten, mit deren Hilfe der Ursprungsort festgelegt werden könnte, sind nicht vor- 
handen. Ein einziger handschriftlicher Eintrag auf Blatt ıa, ein Dedikationstitulus, 
ist unvollständig und ganz allgemein in seinen Aussagen. Er stammt von einer 
Hand des 16. Jahrhunderts und lautet: 


Archediaconus ordinis Brigidae dedit hunc 

librum et sep..... 
anno dm. MCCCCCC 
Der Codex ist demnach während des 16. Jahrhunderts von einem Archediakonus 
eines Brigiden- oder Birgittenordens, wie er in Deutschland in dieser Zeit ohne 
Unterscheidung ebenfalls genannt wird, irgendeiner Bibliothek geschenkt worden. 
Die ausdrückliche Hervorhebung „ordinis Brigidae“ im ‚Gegensatz zu sonstigen De- 
dikationsinschriften, die sich mit „huius monasterii“ oder mit der Nennung des 
Klosters begnügen, läßt den Schluß zu, daß ein Kloster außerhalb des Brigiden- 
ordens der Empfänger gewesen ist. Darüber hinaus läßt der Titulus Vermutungen 
bestimmterer Natur nicht zu. Für die uns in erster Linie interessierende Ent- 
stehungsgeschichte des Evangeliars würde auch dann nichts gewonnen werden, 


(1) Anm. Aus drucktechnischen Gründen war eine Änderung in der ursprünglich vorgesehenen 
Reihenfolge einzelner Abbildungen (7 u. її) notwendig. Das von den übrigen Abbildungen ab- 


weichende Format der Abb. Taf. П u, Ш ist versehentlich von der Reproduktionsanstalt veranlaßt 
worden. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1923, 2. 1 | ї 


wenn irgendeine der hier möglichen Kombinationen von anderer Seite eine Be- 
stätigung in dieser oder jener Form erfahren würde. Der Stilkritik ist es vor- 
behalten, die nähere Heimat der Handschrift zu umschreiben. 

Der Codex enthält die vier Evangelien und die Vorreden. Als Abschluß dürfte 
ursprünglich ein Perikopenverzeichnis vorhanden gewesen sein, da das Fehlen 
mehrerer Lagen zwischen dem jetzt letzten Blatt und dem Rückendeckel deutlich 
erkennbar ist. Den künstlerischen Schmuck bilden eine Reihe kleiner Initialen an 
den Anfängen der Evangelien und wichtiger Kapitel, die Kanonbögen, eine Orna- 
mentseite, Evangelistenbilder und einige mit diesen zusammengehende ganzseitige 
Darstellungen. Der Inhalt der ganzen Handschrift verteilt sich wie folgt: 

Blatt: та Hdschrftl. Notiz aus dem 16. Jahrh. 
» Ib Plures fuisse...... 
» 2b Novum opus...... 
„ 4a Sciendum etiam 
» ба 
| Kanonbigen 
„ 2b 
„ 13a, b leer 
„ 14a 
Vorrede und Breviarium 
„ 16a 
„ zwischen 16 u. 17 fehlen zwei Blätter (Bild des Matthäus) 
„ Ia Initial L zu Matthäus 
„ 46b das Evangelium bricht hier ab, die beiden Schlußseiten sind 
herausgeschnitten 
» 470 
Vorrede und Breviarium 
» 48b 
» 49a, b leer 
» 50b Bild des Evangelisten Markus (Abb. 1) 
„ 5ra Initial I zu Markus 
„ 71а Schluß des Evgls. 
„ 72b 
Vorrede und Breviarium 
» 76a 
» 77a Kreuzigung (Abb. 4) 
» 77b Bild des Evangelisten Lukas (Abb. 2) 
» 78a Initial zu Lukas 
„тода Schluß des Evgls. 
„1106 
Vorrede und Breviarium 
„Iııa 
„ıı3b Das Wort bei Gott (Abb. 11) 
„ 1144 Ornamentseite 
„115b Bild des Evangelisten Johannes (Abb. 3) 
„116 a Initial zu Johannes 

Der Einband ist unansehnlich. Er besteht aus zwei Holzdeckeln mit einfachen, 
längs und diagonal gestreiftem Schweinslederbezug. Einbände dieser Art sind im 
15. und 16. Jahrhundert in den Bibliotheken norddeutscher wie süddeutscher Klöster 


2 


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fast allgemein beliebt gewesen. Man darf entweder annehmen, daß eine Beschä- 
digung des ursprünglichen Einbandes eine Neubindung nötig gemacht hatte, oder 
daß der Blatt ra genannte Donator den Codex für den besonderen Geschenkzweck 
neu hat binden lassen. Die Maße der Handschrift sind 12,5><16 cm für den Ein- 
band und 12><15,5 cm für die Seite. Das zur Verwendung gekommene Pergament 
ist gut bearbeitet, sorgfältig geglättet und schmiegsam. Eine Ausnahme bilden die 
verschiedenen mit Bildern zu den Evangelien, nicht aber die Blätter mit den Kanon- 
bögen, versehenen Pergamentseiten, die hart und dick sind; eine Erscheinung, die 
mit anderen, noch zu erörternden Beobachtungen von Bedeutung ist. Der Codex 
enthält 17 Lagen mit zusammen 137 Blatt. Mit Ausnahme der ersten Lage, die 
zwei Bogen oder vier Blatt, und der sechsten, die fünf Bogen zählt, sind alle 
Lagen ihrem ursprünglichen Bestande nach Quaternionen. Eine genaue Unter- 
suchung ergibt, daß jedesmal die mit ktinstlerischem Schmuck versehenen Lagen 
in ihrer Zusammensetzung Besonderheiten aufweisen, die zu bestimmten Schlüssen 
Anlaß geben. Die Kanonbögen bilden eine Lage für sich, die dritte Lage, in der 
das jetzt nicht mehr vorhandene Matthäusbild seinen Platz haben müßte, ist ein 
Bild des Evangelisten Markus Kreuzigung, Bild des Evangelisten Lukas 


— — 


Wort bei Gott, Ornamentseite, Bild des Evangelisten Johannes 


— 


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Quaternio und unverändert. Für die fünfte Lage mit dem Bild des Evangelisten 
Markus vgl. Skizze I, für die zehnte Lage, mit der auf Blatt 77 (a u. b) befind- 
lichen Darstellungen zum Lukasevangelium Skizze II und für Lage 15 mit den drei 
Bildblättern zum Johannesevangelium, von denen Blatt 114 und 115 zusammen- 
geklebt waren, Skizze III. 

Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß in jedem Falle ein Quaternio zugrunde 
liegt, und daß nur die mit Darstellungen versehenen Pergamentblätter den ursprüng- 
lichen Bestand verändern. Es kommt hinzu, daß diese im Gegensatz zur übrigen 
Handschrift ein bedeutend gröberes, sehr viel weniger schmiegsames Pergament 
verwenden. Es liegt der Schluß nahe, daß hier eine nicht ursprünglich vor- 
gesehene Gestaltung der Handschrift angenommen werden muß. In der Tat ist 
der künstlerische Charakter der in dem Codex enthaltenen Malereien ein zwie- 
spältiger. Während die Kanonbögen und die im Text verstreuten Initialen zu- 
sammengehören, die künstlerisch nur untergeordnete Bedeutung besitzen, bilden 
die Darstellungen zu den verschiedenen Evangelien eine künstlerisch geschlossene 
Gruppe, die wesentlich jünger ist und einem in seinen Grenzen bedeutenden 
Künstler zugeschrieben werden muß. Es darf demnach als sicher gelten, daß 
der Codex ursprünglich lediglich die vier Evangelien, einschließlich der Vorreden, 


3 


Kanonbögen und des jetzt nicht mehr vorhandenen Perikopenverzeichnisses (?) ent- 
halten hat. Dem entspricht ferner, daß Text und Initialen in ihrem Nebeneinander 
durchaus einheitlich empfunden sind, und daß der paläographische Charakter der 
Schrift), der an Westdeutschland, an Köln, denken läßt, dem Anfang des 11. Jahr- 
hunderts entspricht, einer Zeit, die auch für die künstlerische Erscheinung der 
Kanonbögen und Initialornamentik in Frage kommt. Erst nach Jahren hat man 
den Codex durch Einheften von Bildern aus irgendwelchen Gründen zu einer be- 
sonderen Kostbarkeit umgestaltet. 

Die Handschrift in ihrer ursprünglichen Gestalt interessiert in erster Linie durch 
die Auswahl und die Reihenfolge der eröffnenden, gewöhnlich als Vorreden be- 
zeichneten Briefe. Beissel hat im Anhang seiner Geschichte der Evangelienbücher 
eine sehr dankenswerte Zusammenstellung dieser Briefe und ihrer verschiedenen 
Ordnungen gegeben. Die im vorliegenden Codex ausgewählten Briefe Novum 
Opus ... I, Sciendum etiam ... —II— und Plures fuisse ... —OII— unter Aus- 
lassung des mit Ammonius beginnenden Briefes des Eusebius an Carpian und ihre 
Aufeinanderfolge III — I — П entspricht der von Beissel mit IIIb bezeichneten, 
nur ganz ausnahmsweise vorkommenden Reihe. Beissel muß die Eigentümlichkeit 
unserer Handschrift entgangen sein. Er kennt lediglich ein karolingisches Evangeliar 
(B. II, 11) in Basel, so daß unser Codex als zweites Beispiel diesem anzureihen ist. 
Andere ebenfalls hier anzuschließende Handschriften sind mir nicht bekannt geworden. 
Die Fassung der verschiedenen Evangelientexte sowie der jedesmal vorangestellten 
Vorreden und Breviarien ist die allgemein übliche und daher ohne besonderes Interesse. 

Daß der Codex auf Grund seines Schriftcharakters in der Kölner Gegend, jeden- 
falls am Rhein, entstanden zu sein scheint, widerspricht der im folgenden beabsich- 
tigten Einordnung der später eingefügten Malereien in den Hildesheimer Kreis 
keineswegs. Die Handschrift kann gelegentlich der Stiftung St. Michaels, dessen 
erster Abt ein Kölner war, nach Hildesheim gekommen sein. Der künstlerische 
Charakter der Initialornamentik und Kanonbögen, die einer ganz untergeordneten 
Hand angehören, ist so allgemeiner Natur, daß eine bestimmte lokale Begrenzung 
nicht möglich ist. Die Initialen sind einfache, ungeschickt gezeichnete Ranken- 
gebilde, die meist rot konturiert sind und den Pergamentton als Füllung verwenden. 
Die einzelne Ranke endigt mit Vorliebe in knollenartigen, verschiedentlich grlin- 
getupften Blattgebilden. In zwei Fällen finden sich bescheidene Ansätze, figtir- 
liche Motive einzuflechten. Die Kanonbögen sind unter sich gleich und ent- 
sprechen mit ihrem dünnen, lasurartigen Farbauftrag unter starker Benutzung hell- 
gelber, roter und grüner Töne sowie des sich hiermit verbindenden Gelb des 
Pergaments durchaus der Zeit kurz nach dem Jahre 1000, zumal ein vollständig 
unselbständiger Künstler in Frage kommt, der noch ganz in der vorangegangenen 
Entwicklung steht und namentlich auch, besonders seiner farbigen Erscheinung 
nach, karolingische Elemente verarbeitet. 

Unser eigentliches Interesse gehört den nachträglich hinzugekommenen Malereien. 
Sie sind künstlerisch wertvoll und durch ihre weiter unten noch ausführlich zu 
behandelnden Stellung zum Bernwardsevangeliar im Hildesheimer Domschatz (Nr. 18) 
kunsthistorisch bedeutsam. | 

Die Bilder stehen, abgesehen von wörtlichen Entlehnungen, die schon allein das 
Abhängigkeitsverhältnis sicherstellen, derart innerhalb des Gedankenkreises dieses 
Codex, daß sie nur im Zusammenhang mit ihm verstanden werden können. 


(x) Für die Beurteilung des paläographischen Charakters verdanke ich Herrn Prof. Degering-Berlin 
wertvolle Hinweise. 


4 


Die Evangelistenbilder sind in der Anlage untereinander gleich. Alle rahmt eine 
einfache Goldleiste, die außen und innen rot konturiert und am Rande mit weißen 
Punkten verziert ist. Die Evangelisten sitzen vor ornamentierten Hintergründen, 
auf steinernen Thronbauten, die außer bei Markus auf der unteren Rahmenleiste 
aufstehen. Ein Sitzkissen wird nur bei Lukas sichtbar. Die Fußbänke sind recht- 
eckig und selbständig vorgelagert. Rechts bzw. links vom Evangelisten steht ein 
einfacher Pultständer mit schmaler Platte, in die ein Tintenhorn eingelassen ist. 
Markus, Lukas und Johannes sitzen unterschiedslos in Vorderansicht mit unter 
sich vollkommen gleichmäßig behandelten Unterkörpern. Den verschiedenen Be- 
wegungsmotiven entsprechend ist die Haltung der Oberkörper verändert. MARKUS 
blickt zu dem aus der oberen rechten Ecke herunterfahrenden Symbol auf, das 
ein Buch hält, nimbiert und geflügelt ist. Die Hautfarbe ist graugrün, seine 
Flügel sind weißlich blau und der Nimbus ist rot. Der Oberkörper des Evan- 
gelisten hat durch die starke Drehung des Kopfes eineganz geringe Wendung 
nach rechts erhalten, ohne jedoch den Eindruck der reinen Vorderansicht zu 
stören. Die Arme sind seitlich erhoben. In der rechten Hand hält er auf- 
fallend ungeschickt eine Feder, die er einzutauchen beabsichtigt, mit der linken 
hält er ein geschlossenes Buch, das auf dem linken Knie aufsteht. LUKAS ist 
im Augenblick damit beschäftigt, das schon fertiggestellte Buch aufzuschlagen. 
Er hat den Oberkörper ein wenig zur Seite geneigt und durch die Bewegung 
des rechten Armes kaum merklich nach rechts vorwärts gedreht. Auch hier 
wird das Symbol mit einem geschlossenen Buch, geflügelt und mit einem Nimbus 
geschmückt, in der oberen rechten Ecke sichtbar. Es hat eine graublaue Haut- 
farbe, grünblaue Flügel und einen roten Nimbus. Auf eine engere Verbindung 
zwischen Evangelist und Symbol in irgendeiner Weise ist hier und auch im folgen- 
den Bilde verzichtet worden. JOHANNES ist in strenger Vorderansicht mit seit- 
lich erhobenen Armen dargestellt. Mit der Feder іп der rechten und dem Buch 
in der flachgeöffneten linken Hand verkörpert er den jederzeit beliebt gewesenen 
repräsentativen Typus des Evangelistenbildes. Das Symbol erscheint ohne Buch. 
Es hat braungelbes Gefieder und grünblaue Flügel. Der Nimbus ist rot. Die 
Evangelisten tragen wie üblich ein Unterkleid und darüber ein weites, mantel- 
artiges Tuch, das auf mannigfachste Weise um den Körper gelegt werden kann. 
Nur Markus hat noch ein drittes Gewandstück, ein besonderes Schultertuch an- 
gelegt, das rechts und links auf die Brust herabfällt, während in der Regel wie 
bei Lukas und Johannes der Mantel allein die Schulter bedeckt und über dem 
rechten Arm endigt. Ungewöhnlich ist das straff, fast panzerartig um den Ober- 
körper gezogene Oberkleid bei Markus, wofür mir eine Parallele nicht bekannt ge- 
worden ist. Am ehesten möchte man an geschnitzte Vorlagen denken, etwa in 
der Art zahlreicher karolingischer Majestasdarstellungen, die den bekleideten Ober- 
körper in Vorderansicht ähnlich stark betonen. Borten an den Kleidern wie bei 
Johannes sind schon immer üblich gewesen. Die Gewandfarben sind Grünblau, 
Graugrün und Purpur. Die Faltenlinien sind entweder schwarz oder der Farbe des 
Kleides entsprechend hell oder dunkel eingetragen. Die Gewandsäume sind teil- 
weise leuchtend weiß. Die Füße sind überall nackt. Johannes ist als bärtiger 
Greis dargestellt, Markus und Lukas sind jugendlich, sie tragen kurzes, dunkel- 
braunes Haar und sind bartlos. Ihre Nimben verwenden abwechselnd Gold und 
Purpurrot, sind rot konturiert und mit einem weißen Punktrand verziert. Besondere 
Bedeutung gewinnt der Hintergrund, der von Bild zu Bild anders gemustert ist. 

Da eine erschöpfende Untersuchung über die Ikonographie des Evangelisten- 


5 


bildes bisher immer noch fehlt, wird jede versuchte Einordnung von Evangelisten- 
bildern in ihrem allseitigen Zusammenhang vorerst noch einen mehr oder weniger 
fragmentarischen Charakter behalten. 

Die Evangelisten sind nicht bei der Niederschrift selbst oder einer anderen für 
sie üblichen Tätigkeit dargestellt, sondern immer im Augenblick vor der eigent- 
lichen Handlung. Lukas öffnet soeben das Buch, um darin zu lesen und Johannes 
ebenso wie Markus befindet sich unmittelbar vor der Ausführung seines Vorhabens 
in einem Zustand geistiger Spannung, die der Künstler der individuellen Veranlagung 
der Dargestellten entsprechend verschieden stark auszudrücken bestrebt ist. 

Die eigentliche Handlung nur anzudeuten und durch ein Vorstadium, das oft- 
mals von einem Zwischenstadium nur sehr schwer unterschieden werden kann, 
um so eindringlicher zu gestalten, ist eine auf karolingische Anregungen zurück- 
zutiihrende Art, die im 11. Jahrhundert, vor allem in Bayern, speziell in Salzburg, 
eine bewußte Ausbildung gefunden hat. Die in Frage kommende Gruppe von zu- 
nächst drei Handschriften, den Evangelienbüchern von St. Peter, Michelbeuren (das 
die verwandteste Erscheinung bietet) und Kloster Nonnberg, aus dem Anfang des 
Jahrhunderts hat Swarzenski (Die Salzburger Malerei, S. 24ff.) eingehend behandelt. 
In Norddeutschland ist es das Bernwardsevangeliar, das diesen Typus vertritt und 
der Hildesheimer Malerei, dem Evangelienbuch Nr. 33 und namentlich dem Evan- 
geliar des Hozilo vermittelt hat. Es sind gewissermaßen nur Dialektunterschiede 
wie hier und dort, in Hildesheim und Bayern, der Augenblick vor der eigentlichen 
Handlung zum Ausdruck gebracht wird. Das Vorweisen der Feder und der damit 
verbundene Hinweis auf die kommende Tätigkeit ist im Bernwardscodex ganz be- 
sonders stark, am ausgeprägtesten im Johannesbilde, in den Vordergrund gerückt 
worden. Ob bei den mannigfachen Beziehungen Hildesheims und besonders des 
Bernwardscodex zu Bayern eine Beeinflussung durch den Süden angenommen wer- 
den darf, oder ob es als wahrscheinlicher zu gelten hat, daß die mehr oder weniger 
unmittelbaren Nachwirkungen karolingischer Schöpfungen hier und dort zu so über- 
raschend verwandten Resultaten geführt hat, mag unentschieden bleiben. Es ist 
zudem im vorliegenden Falle von nur sekundärer Bedeutung, als sich die Evange- 
listen unserer Handschrift aus der Verschmelzung der in Hildesheim im Bernwards- 
codex und der Handschrift Nr. 33 vertretenen Typen unmittelbar herleiten. Ein- 
wirkungen des Hezilo-Evangeliars kommen nicht in Frage, da dieses, wie noch 
wahrscheinlich gemacht werden soll, später als unsere Blätter entstanden ist. 

Der jugendliche Typus für Markus und Lukas, der dem g. Jahrhundert geläufig 
gewesen ist, der im ro. Jahrhundert nur noch ausnahmsweise belegt werden kann, 
bedeutet im 11., 12. und 13. Jahrhundert ein Sonderfall. In der Regel wird ledig- 
lich einer von beiden, bald Markus, dann wieder Lukas, jugendlich, mit kurzen 
Haaren und langem Bart dargestellt. Andere, weniger oft vorkommende Fälle 
daß beide Evangelisten mit dunklem Haar und Bart erscheinen, können namentlich 
in Tegernseeer und Salzburger Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts nach- 
gewiesen werden. Daß Johannes als Greis charakterisiert ist, entspricht einer seit 
dem ır. Jahrhundert aufkommenden, bald allgemeiner verbreiteten Sitte, die jedoch 
die bis dahin üblichen Darstellungsweisen, ihn jugendlich wiederzugeben wie vor- 
nehmlich im 9. Jahrhundert oder auch dunkelhaarig und bärtig, wie es im ro. Jahr- 
hundert mehrfach beobachtet werden kann, nicht gänzlich hat verdrängen können. 
Es darf festgestellt werden, daß die Entwicklung im Abendland einen feststehen- 
den Kanon für die Charakterisierung der verschiedenen Evangelisten, von einzelnen 
Typenreihen abgesehen, die auf lokalbegrenzte Bezirke oder auf eine engere Tra- 


6 


dition innerhalb bestimmter Schulen beschränkt geblieben sind, nicht hervor- 
gebracht hat. 

Die Symbole sind, wie fast allgemein üblich, nimbiert und mit Flügeln dar- 
gestellt. Das von ihnen gehaltene Buch kann wie hier geschlossen oder geöffnet 
sein, es kann durch eine Schriftrolle ersetzt werden oder wie beim Johannessymbol 
überhaupt fortfallen, ohne daß für die eine oder andere Art der Darstellung eine 
unbedingt feststehende ikonographische Reihe aufgestellt werden könnte. Am 
häufigsten findet sich noch der Adler ohne Buch oder Band, wie es im Godeskalk 
Evangeliar zum ersten Male belegt werden kann und auch später im 11. Jahr- 
hundert in Handschriften der Reichenau, St. Gallens und Salzburgs nachweisbar 
ist. Bestimmter kann die Anbringung der Symbole in der oberen rechten Ecke 
gefaßt werden, die innerhalb der Entwicklung des Evangelistenbildes eine an- 
nähernd genau zu umgrenzende Bedeutung gewinnt. Die früheste mir bisher be- 
kannt gewordene Ausprägung dieser Art findet sich іп dem kurz nach dem Jahre 1000 
entstandenen Evangelienbuch aus dem Kloster Nonnberg in München (Staatsbibl.: 
Сип. 15904).Sie findet sich ferner in der frühen, weiter oben schon genannten nord- 
deutschen Handschrift Clm. 9475 (ebenfalls in München) und außer in unserem Codex 
nur noch in der Weingartner Handschrift A.a.21 der Fuldaer Landesbibliothek, in 
dem nach St. Gallen gehörenden Evangelienbuch Clm. rrorg (München) und dem 
in Regensburg um 1080 entstandenen Evangeliar Heinrichs IV. im Krakauer Dom- 
kapitel (Cod. 208). Seine eigentliche Ausgestaltung hat dieser Typus erst im 
12. Jahrhundert, ausschließlich in Süddeutschland, speziell in Bayern, erfahren, wo 
er die Mehrzahl der Handschriften beherrscht und von den Künstlern des 13. Jahr- 
hunderts aufgenommen worden ist. Diese Entwicklung ist bedeutsam. Ein Krite- 
rium bestimmter Art für unsere Handschrift, die an ihr teilnimmt, liefert sie jedoch 
nicht, da sich die genannte Art der Symboleinordnung im 11. Jahrhundert, dem 
unsere Handschrift angehört, in Norddeutschland ebenso wie in Süddeutschland 
findet und erst später eine mehr geographisch begrenzte Ausprägung erhalten hat. 

Besondere Beachtung verdienen die ornamentierten Hintergründe, die nichts 
anderes als Nachahmungen gewebter Stoffe sein wollen. Hintergründe dieser Art 
sind in der Buchmalerei seit der Zeit des ausgehenden ro. Jahrhunderts beliebt 
geworden. Sie sind in erster Linie in Handschriften der von Vöge behandelten 
südwestdeutschen Gruppe sowie in Echternacher Arbeiten zur Ausbildung ge- 
kommen. In Süddeutschland können sie ferner in Handschriften St. Gallens und 
des Regensburger Kunstkreises, im Regelbuch von Niedermünster und im Uta- 
Codex nachgewiesen werden. In Norddeutschland finden sie sich im Hildesheimer 
Bernwardscodex, im Sakramentar Nr. 19 (Domschatz), in dem späteren, zwischen 
1054 und 1079 entstandenen Hezilo-Evangeliar und schließlich auch in den viel- 
leicht von Hildesheimer Arbeiten abhängenden Evangelienbüchern im Trierer Dom 
aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts (Cod. 137, 138, 139). 

Die vielfache Verwendung von kostbaren Stoffen, Teppichen und Geweben aller 
Art, zumeist orientalischer Herkunft, in den Kirchen beim Gottesdienst mußte es 
nahelegen, die hier gebotene Pracht auch der Malerei nutzbar zu machen. Am 
deutlichsten zeigt das Markusbild diese Zusammenhänge. In mattroten Kreis- 
scheiben auf purpurfarbigem Grund stehen gleichfalls purpurrot Ornamente, Tiere, 
vielleicht Löwen, mit erhobener rechter oder linker Vordertatze, und Vögel in ver- 
schiedenenStellungen. Zwischen den einzelnen Kreisen, sowie an ihren Berührungs- 
punkten sind rote, kreisrunde Tupfen eingefügt, die wesentlich dazu beitragen, den 
Eindruck schematischer Aneinanderreihung zu vermeiden und den Hintergrund als 


7 


geschlossene Einheit empfinden zu lassen. Der interessante Wechsel in den Fül- 
lungen, die Vermeidung jeder Schematisierung trotz der sich gleichbleibenden 
Grundbewegung der Löwen, ferner die eigenartige Verschiedenheit der beiden 
Vögel läßt vermuten, daß der Künstler ein ihm bekannt gewesenes Gewebe mit 
all den kleinen hierfür eigentümlichen Einfällen und Launen hat wiedergeben 
wollen, während umgekehrt, sofern man hierin eine reine Gedächtnisschöpfung 
erkennen will, ein schematischer Aufbau das nattirlichere sein müßte, der alle 
Einzelheiten pedantisch gegeneinander abwägt und von allen Zufälligkeiten in den 
Bewegungsmotiven, wie sie hier vorkommen, sicherlich hätte freibleiben müssen. 
Parallelerscheinungen in Handschriften, die ebenfalls gewebte Stoffe mit figür- 
lichen Motiven nachahmen, bieten vor allem der Eptermacensis in Gotha, mit ganz 
verwandten Arabeskenmotiven, der Uta-Codex (München, Cim. 13601) mit dem 
Erhartbild und eine Evangelienhandschrift des späten 11. Jahrhunderts in der Fuldaer 
- Landesbibliothek (А.а. 21), vielleicht kölnischen Ursprungs, die eine Schmuckseite 
in viereckige Felder teilt und je zwei einander entsprechende Löwen nebeneinander 
stell. Von erhaltenen Geweben kommt ein spätantiker Seidenstoff in Sens aus 
dem 5. Jahrhundert n. Chr., den Falke im ersten Bande seiner Kunstgeschichte 
der Seidenweberei (Abb. 55) abbildet, dem Hintergrunde unseres Bildes am nächsten. 
Besonders verwandt ist das Ornament. Tiere mit erhobener Vorderpfote und 
Vögel wechseln miteinander ab. Es ist ein Stück, das sich im Stil den Arbeiten 
von Antinoe des 6. Jahrhunderts nähert, die namentlich auch eine Aufteilung der 
Fläche in Kreise bevorzugen. Namentlich das von Falke, a. a. O., S. 22 ab- 
gebildete Stück im Lyoner Textilmuseum wird in diesen Zusammenhang gestellt 
werden müssen. In solchen Arbeiten werden die ersten Ansätze zu Geweben zu 
suchen sein, die möglicherweise in byzantinischer Umgestaltung unserem Künstler 
vorgeschwebt haben, da gerade auch an byzantinischen Stoffen, namentlich des 
ro. Jahrhunderts, eine besondere Vorliebe für eine Aufteilung der Fläche in Kreise 
beobachtet werden kann. Wesentlich einfacher ist der Hintergrund des Lukas- 
bildes. In senkrecht verlaufenden, durch schmale Streifen abgetrennte Bänder 
sind abwechselnd übereck gestellte Rechtecke und Kreise aneinandergereiht und 
mit roten Punkten verziert. Die Musterung steht hellgrün auf dunkelgrünem Grund. 
Ornamentierungen dieser Art sind nicht gerade häufig und in genau entsprechen- 
der Weise nicht ein zweites Mal zu belegen. Am verwandtesten sind die Hinter- 
gründe der schon mehrfach genannten Evangelienhandschrift Nr. 18 im Hildes- 
heimer Domschatz, in der breitgestreifte Hintergründe eine besondere Ausbildung 
erfahren haben. Die Hintergrundfläche des Johannesbildes wird durch recht- 
winklig sich kreuzende Doppelbänder in Felder aufgeteilt, in die jedesmal eine 
vom Rahmen überschnittene, für sich wieder gerahmte Rosette gestellt ist. Der 
allgemeineren Verwandtschaft des Hintergrundes im Lukasbilde mit dem Bernwards- 
codex stellt sich mit diesem Bilde ein enges Abhängigkeitsverhältnis von dem 
Johannesbild (Abb. 5) und einer der reich ausgestatteten Zierseiten, die das gleiche 
Rosettenmotiv verwendet, desselben Codex an die Seite. Rosetten und Rahmenbänder 
stehen hellrot auf Purpur mit vereinzelt vorkommenden schwarzen Konturen. Die 
Zierkreise auf den Leisten sind rot. Selbständig gegenüber dem Bernwardscodex 
ist die Rahmung jeder einzelnen Rosette, wodurch die Fläche zur abschließenden, 
festgefügten Wand wird, wogegen das Wandbehangartige der Vorlage nur noch 
geahnt werden kann. Das Rosettenmuster als solches ist alt und in der Bildnerei 
ebenso wie in der Malerei allgemein gebräuchlich. In der abendländischen Malerei 
kann es seit den Anfängen in der merowingischen Zeit, besonders in der Schule 


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von Luxeuil, immer wieder beobachtet werden. Als Musterung von Hintergründen 
im engsten Nebeneinander wie hier hat dieses Motiv bisher nur im Bernwards- 
codex nachgewiesen werden können, unter dessen Eindruck der Künstler unserer 
Blätter gestanden haben muß. 

Außer den Evangelistenbildern enthält die Handschrift noch zwei durch den In- 
halt der Texte, des Lukas- und des Johannesevangeliums, bestimmte Darstellungen. 

Zunächst eine Kreuzigung mit Maria, Johannes und den Personifikationen des 
Mondes und der Sonne vor purpurfarbigem Grunde, die sich mit dem Lukasbilde 
auf der Rectoseite desselben Blattes befindet und mit diesem das Evangelium er- 
öffnet. Maria trägt schwarze Schuhe, ein langes, den Körper schlauchartig um- 
schließendes grünes Kleid, das mit einer senkrecht verlaufenden goldenen Borte 
und roten Ärmelaufschlägen verziert ist, sowie ein weißes Kopftuch, das die Haare 
verdeckt. Ihr Haupt schmückt ein goldener Nimbus, der mit einem weißen Punkt- 
rand versehen ist. Ihre linke Hand stützt die Wange, die rechte weist mit aus- 
gestrecktem Zeigefinger auf Christus. Johannes in einem grünen Gewand mit 
purpurrotem Umhang vertritt ebenso wie Maria den an dieser Stelle üblichen 
Typus. Er ist bartlos, hat kurzes, wolliges Haar und ist wie Maria nimbiert. 
Während die linke Hand ein Buch hält und für den Ausdruck der Figur nicht 
mitspricht, bedeutet die flachgeöffnete rechte Hand Entsetzen und schmerzliches 
Trauern. Christus trägt einen purpurroten, mit goldenen Umschlägen und weißen 
Säumen verzierten Schurz. Er steht mit den Füßen fest auf dem Suppedaneum 
auf und hat mit wagerecht ausgestreckten Armen mehr die Haltung eines Stehen- 
den, als eines Hängenden. Aus vier Nagelwunden tropft Blut. Die Brustwunde 
fehlt. Christus ist bartlos dargestellt und trägt langes, in Strähnen auf die Schul- 
tern herabfallendes Haar. Auch hier ist der Nimbus vergoldet und mit weißen 
Randpunkten verziert. Oberhalb des Kopfes ist eine leere Inschrifttafel angebracht. 
In den Ecken rechts und links erscheinen die Personifikationen von Sol und Luna 
in glorienartiger Einfassung. Sie sind grün gekleidet, haben die rechte Hand flach- 
geöffnet erhoben und halten in der linken entzündete Fackeln. Am Fußende des 
Kreuzes erscheint der Kopf eines Ochsen. 

Das Kreuzigungsbild hat abendländischen Charakter. Christus ist bartlos, hat 
die Augen weit geöffnet, die Füße stehen auf einer Fußbank (wie es sich ur- 
sprünglich vielleicht von Byzanz herleitet, seit der zweiten Hälfte des ro. Jahr- 
hunderts im Abendland aber ganz allgemein üblich ist), und am oberen Ende des 
Kreuzes die Inschrifttafel. Es ist die einfache Kreuzigungsdarstellung ohne histo- 
risches Beiwerk, das namentlich in Darstellungen des ro. und auch noch des 
II. Jahrhunderts in erster Linie auf Elfenbeinen beliebt gewesen ist, das aber im 
Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts mehr und mehr zurücktritt und im 13. Jahr- 
hundert gänzlich ausscheidet. Die Personifikationen von Sol und Luna tragen am 
Kopfe die sie charakterisierenden Abzeichen, die Strahlen der Sonne und die Mond- 
sichel. Die rechte Hand haben beide im gleichen Gestus wie Johannes erhoben, 
in der linken halten sie Fackeln, die aufrecht wie hier oder gesenkt gehalten 
werden und seit dem 9. Jahrhundert in den verschiedensten Schulen und Gegenden 
des Abendlandes beobachtet werden können. Während die verschiedenen, unser 
Kreuzigungsbild auszeichnenden Elemente in den beiden entsprechenden Darstel- 
lungen des Bernwardscodex zwar ihre Parallelen haben, auf einen unmittelbaren 
Zusammenhang aber nicht zwingend schließen lassen, gibt der Stierkopf am Fuß- 
ende des Kreuzes einen Hinweis ganz bestimmter Art. Im Lukasbilde des Bern- 
wardsevangeliars (Abb. 6) ist das Lukassymbol in unzweideutige Verbindung mit dem 


9 


Kreuzigungsbilde gebracht worden. Der Hinweis H. H. Jostens in seinen Studien 
zum Bernwardsevangeliar S. 31 (Straßburg 1909) auf die Bedeutung des Ochsen 
als Opfertier und seine Erklärung an dieser Stelle auf Grund der hymnologischen 
Dichtung ist sicherlich richtig. Dieser sonst an keiner anderen Stelle zu belegende 
Fall einer Vereinigung von Lukassymbol und Kreuzigung läßt im Verein mit den 
bisher von Bild zu Bild betonten Zusammenhänge mit dem Bernwardsevangeliar, 
die in dem noch zu besprechenden letzten Bild der Handschrift bestimmteste Ge- 
stalt annehmen werden, ein unmittelbares Abhängigkeitsverbältnis unserer Dar- 
stellung von diesem Codex zwanglos erkennen. Wie wichtig dem Künstler das 
Evangelistensymbol an dieser Stelle erschienen sein muß, wird durch die beson- 
dere Rahmenausbuchtung und die damit gewonnene ausdrückliche Betonung noch 
ganz besonders zum Ausdruck gebracht. Die im Hildesheimer Codex auf einer 
Blattseite vereinigten Darstellungen sind in unserer Handschrift, vielleicht als 
Folge des ungleich kleineren Formates, auf zwei Blattseiten (77a und b) verteilt 
worden. Daß auch diese Zusammenstellung, die ebenfalls nicht wieder belegt 
werden kann, nur unter dem Eindruck des Bernwardscodex von unserem Künstler 
gewählt sein kann, wird keiner besonderen Begründung bedürfen. 

Wie dem Bild des Evangelisten Lukas ist auch dem Evangelisten Johannes eine 
aus dem Sinn des Evangeliums heraus zu verstehende Darstellung beigegeben 
worden. Sie bedeutet „das Wort bei Gott“, findet sich ebenso in genau dem 
gleichen Zusammenhang im Bernwardsevangeliar und liefert durch ihre formale 
Übereinstimmung der Hauptfigur mit der Darstellung im Bernwardscodex eine 
letzte, in gewissem Sinne mathematisch faßbare Bestätigung des von uns angenom- 
menen Abhängigkeitsverhältnisses unserer Bilder von den Malereien des Hildes- 
heimer Codex. 

Innerhalb einer rechteckigen Leistenrahmung sitzt Gottvater auf der Weltkugel, 
von einer Glorie umstrahlt, vor purpurfarbigem Hintergrund, aus dem Weltkugel 
und Glorie dunkel- und hellgrün mit grünweißen Rändern hervorleuchten. Ober- 
und Untergewand sind weißgrün und gelbbraun. Er ist bartlos und trägt langes, 
in Strähnen auf die Schultern herabfallendes Haar. Sein Haupt schmiickt ein 
schwarz konturierter, mit weißen Punkten verzierter roter Nimbus mit goldenem 
Kreuz. In der rechten Hand hält er eine goldene Scheibe mit der Darstellung 
eines rot nimbierten, weißen Lammes. In der linken hält er ein Buch. Weltkugel 
und Glorie werden von fünf Engeln gehalten, die grüne Kleider tragen, mit weißen 
Nimben geschmückt sind und abwechselnd grüne und weißgraue Flügel haben. 
Mattrote, aus dem Hintergrund ausgesparte Kreise schweben gleich Gestirnen 
rechts, links und unterhalb der Hauptfigur. In den Ecken in gleichfalls ausgesparten 
Quadraten sind die vier Evangelistensymbole untergebracht. Der Homo ist den 
Engeln entsprechend grün gekleidet. Der Adler hat purpurrotes Gefieder und 
weißgelbe Fänge, Ochse und Löwe, die sich ihrer Stellung nach nicht unter- 
scheiden, sind purpurrot und hellgelb. Alle haben weiße Nimben und grauweiße 
oder rote Flügel. 

Die Abbildungen (7 und rr) beider Darstellungen auf Tafel III und IV, der 
Berliner Handschrift und des Bernwardscodex lassen über die Abhängigkeit der 
Hauptfigur unseres Bildes von der des Hildesheimer Evangeliars keinen Zweifel, 
Die Abänderungen gegentiber der Vorlage sind gering und aus dem Streben nach 
möglichster Selbständigkeit innerhalb bestimmter, vielleicht durch den Auftrag ge- 
zogener Grenzen verständlich. Die Scheibe mit dem der Vorlage gegenüber form- 
sicher gezeichneten Lamm wird weiter unten gehalten, das Buch, dessen Auf- 


10 


schrift nicht wiederholt wird, hat eine perspektivische Korrektur erfahren. Die 
Unterschenkel sind gegenüber dem Vorbild besonders stark betont und durch die 
neu eingeführte Falte zwischen den Knien wird der Unterkörper in die Breite ge- 
zogen. Die Fußstellung, die der des Johannes im zugehörigen Evangelistenbild 
entspricht, verlangt deutlich eine Stütze, entweder eine Bank oder eine Boden- 
erhöhung wie im Bernwardscodex. Das Nimbenkreuz tiberschneidet nicht mehr 
den Kontur und die Krone ist fortgelassen. Die drei Kreisscheiben entsprechen 
den Sternen der Vorlage. Die Engel in der hier vorliegenden Auffassung und die 
Evangelistensymbole fehlen in der Hildesheimer Darstellung. Es sind Anklänge 
an Majestasdarstellungen, die an dieser Stelle verständlich sind. Für die Ikono- 
graphie der Szene kann auf die schon genannte Untersuchung H. H. Jostens zum 
Bernwardsevangeliar verwiesen werden. Unsere Darstellung gewinnt dadurch an 
Bedeutung, daß sie eine Vermischung der beiden von Josten gekennzeichneten 
Typen darstellt, die durch das Bernwardsevangeliar auf der einen und dem Wysch- 
herader Codex der Prager Universitätsbibliothek (Cod. XIV, A. 13) auf der anderen 
Seite vertreten werden. Dem Bernwardscodex mit seinen zahlreichen, die Haupt- 
figur begleitenden, lediglich symbolisch zu verstehenden Darstellungen und dem 
Wyschherader Codex, der sich auf die Hauptfigur mit segnend erhobener rechten 
Hand und mit einem Buch in der linken Hand, die von Engeln gehaltene Man- 
dorla und die Evangelistensymbole beschränkt. Da die Prager Darstellung später 
ist als unsere und diese deutlich zu dem dort vertretenen Typus Beziehungen 
aufweist, ist es wichtig festzustellen, daß die zeitliche Fixierung seines Auftretens 
innerhalb der abendländischen Malerei eine Verschiebung erfährt, die nicht an die 
Datierung unseres Blattes, das diesen Typus als bekannt voraussetzt, gebunden ist. 

Die stilistische Erscheinung bestätigt die bisherigen Untersuchungsergebnisse. 
Sie stellt den Künstler in den Hildesheimer Kunstkreis des 11. Jahrhunderts und 
ermöglicht eine annähernd genaue Datierung der Bilder. Es wird sich ergeben, 
daß sich ihre künstlerische Erscheinung aus dem Zusammenfluß der unter Bern- 
ward tätigen Kräfte, wie sie uns durch das Bernwardsevangeliar (Nr. 18) auf der 
einen und der Guntbaldgruppe, der sogenannten Bernwardsbibel (Nr. 61), dem 
Evangelienbuch Nr. 33 und dem Sakramentar Nr. 19, auf der anderen Seite be- 
kannt sind, erklärt werden muß. 

Die Proportionen der sitzend dargestellten Personen, der Evangelisten also, 
zeigen starke Verwandtschaft mit den Evangelisten des schon genannten Evange- 
lienbuches Nr. 33 und ein Vergleich des Johannesbildes (Abb. 3) mit dem Matthäus 
dieses Codex (Abb. 10) wird die bestehenden Zusammenhänge unschwer erkennen 
lassen. Es ist namentlich das Verhältnis von Ober- und Unterkörper zueinander, 
die Betonung des Kopfes dem Körper gegenüber und ganz besonders auch die 
Beweglichkeit in erster Linie der Arme und Hände, die meist weitausholende 
Gebärde und die Art der Bewegung in den Gelenken. Anders der Bernwards- 
codex, dessen zwar einheitlicher gesehenen Gestalten immer eine kleinliche Ängst- 
lichkeit verraten, der die Akzente anders verteilt und namentlich dem Kopf dem 
Körper gegenüber eine wesentlich andere, unbedeutendere Rolle zuweist. Die im 
Gegensatz zu den Sitzfiguren schlanken und mehr eleganteren Standfiguren stehen 
dagegen in der Nachfolge des Bernwardscodex, wofür sich gerade in Abbildung 6 
mit dem Bild des Evangelisten Lukas und der Kreuzigung eine Reihe der über- 
zeugendsten Parallelen finden. Ferner darf auf eine mögliche Beeinflussung durch 
das einzige Bild der Bibel Nr. 61 (Abb. 9) hingewiesen werden, dessen Gestalten- 
bildung, obwohl im Vergleich mit den entsprechenden Figuren im Bernwardscodex 


II 


und ebenso den unsrigen schwerer, sehr wohl anregend gewirkt haben kann. Dies 
umsomehr, als weiter unten dieser Codex erneut mit den Malereien unserer 
Handschrift in Verbindung gebracht werden muß. Die kurz-breiten Köpfe finden 
sich ebenso in dem Sakramentar Nr. 19 (hier jedoch weniger stark), in der Bibel 
Nr. бї und namentlich wieder im Bernwardscodex. Ohne Beziehung sind hin- 
gegen die Kopfformen der Handschrift Nr. 33, die bedeutend größer, mehr hoch 
als breit und sehr viel plumper sind. Die Augenzeichnung mit dem kaum merk- 
lich geschwungenen roten Oberlid, an dem die schwarze, bald große, bald kleine 
Pupille hängt, mit dem stark ausgebogenen Unterlid, das mit dem Pinsel graugrün 
eingetragen ist, und dem grauweiß angelegten Augenfeld ist allein von dem Codex 
Nr. 33 abhängig, wie es die Abbildungen то, ı und 4 verdeutlichen. Die Aus- 
drucksfähigkeit der Augen ist nur gering und ein Vergleich der beiden Köpfe der 
Evangelisten Abb. ıı und des Gekreuzigten Abb. 4 kann über den hier bestehen- 
den Zusammenhang keine Zweifel lassen. Anders wieder die Nasenzeichnung, die 
verschiedene aus dem Bernwaldscodex, der Bibel Nr. бї und der soeben ge- 
nannten Handschrift herübergenommenen Elemente bestimmen. Die Nasenspitze 
mittels eines kleinen roten Winkels anzudeuten und nur die eine der Rücken- 
linien oberhalb des rechten bzw. linken Häkchens ansetzen zu lassen, sie rot oder 
auch braunschwarz einzuzeichnen, die andere aber fortzulassen, geht deutlich auf 
Vorbilder im Berwardscodex zurück (Abb. 2 u. 6). In Anlehnung an die Hand- 
schrift Nr. 33, Abb. ro erklärt sich die Verbindung des Nasenrückens mit der 
Braue ebenso wie die Art ihrer Schwingung und eine Nebeneinanderstellung der 
Kreuzigung Abb. 4 und des Matthäusbildes Abb. то zeitigt auch hier wieder die 
überraschendsten Analogien. Der hier nicht vorkommende Oberlippenspalt, auf 
den unsere Bilder fast an keiner Stelle verzichten, finden sich in den übrigen ge- 
nannten Handschriften, im Bernwardscodex, im Sakramenter Nr. 19 und am aus- 
geprägtesten in der Bibel Nr. 6r. Die Zeichnung der Nase in Vorderansicht verrät 
eine gewisse Selbständigkeit. Gegenüber ähnlichen Bildungen dieser Art im Bern- 
wardscodex, der allein frontal gestellte Figuren zum Vergleich bietet, bedeutet sie 
aber eine unerfreuliche Vergröberung, wie es vor allem im Johannesbilde zum Aus- 
druck kommt, wogegen Abb. ır den Zusammenhang mit Abb. 9, der Darstellung 
des Bernwardscodex, immerhin noch ahnen läßt. Der Mund wird auf zweifache 
Art gezeichnet. Einmal mit zwei roten, einem kurzen und einem längeren Strich, 
der an den Ecken umgebogen ist (Abb. 2 und 4), wie es ebenso der Homo Abb ro 
des Matthiusbildes der Handschrift Nr. 33 hat, und ferner (am deutlichsten Abb. т) 
mit nur einem, an den Ecken ebenfalls umgebogenem Strich, der das Gesicht stark 
in die Breite zieht, wofür direkte Parallelen weder in den hier in Frage kommen- 
den Hildesheimer Handschriften, noch solchen anderer Kunstkreise vorhanden sind. 
Die Inkarnatbehandlung ist deutlich vom Bernwardscodex abhängig. In beiden 
Handschriften herrscht ein trockenes Weiß ohne nennenswerte Modellierung vor. 
Im Gesicht Gott-Vaters (Abb. 11) hat eine spätere Hand zu retouschieren versucht 
und so eine recht wenig erfreuliche, auch in der Abbildung zu erkennende Weich- 
heit hineingetragen. Im Kreuzigungsbilde ist die Gesichtsfarbe von Johannes und 
Maria und die Personifikationen von Sol und Luna grünlich-gelb und wird Trauer 
— Schrecken — Schmerz bedeuten. Die Haare werden ganz wie im Bernwards- 
codex entweder zu Ballen zusammengenommen oder, wie beispielsweise im Kreu- 
zigungsbild, in einzelne Strähnen aufgelöst. Parallelen für die erstere Art finden 
sich von Bild zu Bild, für gesträhntes Haar bietet Abb. 7 mit den beiden Kindern, 
die Terra im Arme hält, fast wörtliche Übereinstimmungen. Im Bernwardscodex 


I2 


ist es ferner zu belegen, daß die aufrechtstehenden, schlanken, fast zierlichen Ge- 
stalten durch einen entsprechenden Kopftypus ausgezeichnet werden; nicht allein 
als Folge der Größenunterschiede, sondern in deutlich erkennbarer Absicht, die in 
unserer Handschrift im Kreuzigungsbilde (Joh.) bis zur Übertreibung gesteigert ist. 
Doch kann der Zusammenhang mit den in Abb. 6 wiedergegebenen Kopftypen 
nicht zweifelhaft sein, und die Engelköpfe Abb. 11 haben ihre unmittelbaren Vor- 
läufer in der gleichen Darstellung Abb. 7. Andere hier nicht abgebildete Beispiele 
bieten die bei Beissel zu vergleichenden Darstellungen Blatt 174b und 77a; Gleiches 
gilt von der Zeichnung der Hände und Füße. Die Hände mit kleinen Handflächen 
und langen, zittrig bewegten Fingern sind hier wie dort charakteristisch und am 
deutlichsten in den abgebildeten Lukasbildern zu vergleichen. Gelenke und Nägel 
sind an keiner Stelle angegeben. Die Füße zeichnen sich durch längere Zehen 
aus, die ebenso in dem Hildesheimer Evangelienbuch des Bischofs Hezilo, dessen 
Stellung zu unserer Handschrift noch besprochen werden muß, zu beobachten sind 
und in Hildesheim eine Zeitlang beliebt gewesen sein müssen. Wie sehr aber die 
Fußbildung von dem Bernwardscodex abhängig ist, lassen die Füße der Gekreuzig- 
ten Abb. 4 und 6 erkennen. Die charakteristischen Einschnürungen kehren ebenso 
deutlich wieder, wie die hier schwächere Knöchelbetonung, die am ausgeprägtesten 
am Elienbogen hervortritt und in Abb. 7 an der Figur der Terra genau ebenso 
zu beobachten ist. 

Die Art der Gewandzeichnung steht dem Bilde der Bibel Nr. 61, Abb. 9 unter 
allen hier zu nennenden Handschriften am nächsten. Die fest konturierten Ge- 
wandflächen, die beispielsweise am Gewande der nimbierten Heiligen rechts (Abb. 9) 
und Einzelheiten, wie die Überschlagfalte am Arm und der Schulter (in unserer 
Handschrift in Abb, 1, 2 und 4) sowie auch der Zeichnung des Kopftuches über 
der Stirn mit einzelnen vom Rande schräg einwärts geführten Strichen, kommen 
in ganz verwandter Variierung in unserer Handschrift vor. Die charakteristische 
Umschlagfalte, deren schematisch gezeichnete Form nebenstehend wiedergegeben 
ist, findet sich ferner, obwohl weniger ausgeprägt, im Bernwardscodex und — 
gleichfalls auch in den beiden anderen, mit der Bibel eine Gruppe bildenden 11 
Codices. Man wird sie als eine in Hildesheim besonders beliebte Art der Falten- 
zeichnung in Anspruch nehmen dürfen, zumal sie auch in dem späteren Hezilo- 
Evangeliar ganz ähnlich wieder beobachtet werden kann. Die Zeichnung des 
Kopftuches kommt in der genannten Weise nur noch im Sakramentar Nr. 19 vor; 
entsprechende Bildungen im Bernwardscodex sind ausnahmslos ganz anderer Art. 
In mancher anderen Beziehung sind es wieder Zusammenhänge mit dem Bernwards- 
codex, die in den Vordergrund gertickt werden müssen. Die wie geplättet an- 
liegenden Kleider der unter dem Kreuz Stehenden können mit den Gewändern der 
entsprechenden Gestalten Abb. 6 verglichen werden, das bei Sitzfiguren von Bild 
zu Bild gleiche Faltenmotiv unterhalb der Knie steht in der Nachfolge der Bern- 
wardsfiguren (Abb.8 und 7) und das verschiedentliche Umbiegen der Gewandecken 
am Boden wie in Abb. 2 oder ıı kann im Bernwardscodex namentlich in der Er- 
weckung des Lazarus Fol. 174b belegt werden. Ebenso die farbige Behandlung 
der Gewänder, die dieses Vielfache der aus der Hildesheimer Produktion sich her- 
leitenden Einflüsse in noch auffälligerer Form und zwar in Gestalt eines unfrucht- 
baren Dualismus in die Erscheinung treten läßt. Einmal ist es ein Streben nach 
möglichst flächig-dekorativer Wirkung, das im Lukasbilde mit stark betonten Kon- 
turen und eingezeichneten Faltenlagen, neben denen sich schwache Ansätze, mit 
farbigen Mitteln zu modellieren, nicht zu behaupten vermögen, ganz augenfällig ist. 


13 


Ferner ein Drang nach modellierender Gewandbehandlung mit Hilfe der Farbe 
und damit im Zusammenhang der Wunsch, den vom Gewand bedeckten Körper, 
wie beispielsweise im Markusbilde, möglichst zu betonen oder anders in den Abb. 3 
und її, in denen es zu Kompromissen mit den flächig-dekorativen Tendenzen kommt. 
Dieses Hin und Her ist kein Arbeiten mit geläufigen Formeln innerhalb der 
Grenzen bestimmter Gestaltungsabsichten. Das flächig - dekorative Faltensystem, 
das mit Rot und Schwarz rein schematisch auf eine ebenfalls rot, weniger oft 
schwarz konturierte Gewandfläche aufgetragen wird, entspricht ganz und gar dem 
Bernwardscodex, der namentlich in den unter dem Kreuz stehenden Figuren oder 
in Abb. 8 eine ganz entsprechende Behandlung zeigt. Der modellierende Gewand- 
stil, der mit farbigen Mitteln arbeitet und bemüht ist, die faltenzeichnende Linie 
auszuschalten, der die Kleidermassen bläht, in den Falten wühlt, hat seine stärkste 
Ausprägung in südwestdeutschen Werken vom Anfang des Jahrhunderts gefunden. 
In Hildesheim zeigen sich die ersten bescheidenen Ansätze in der Bibel Nr. 61, 
in dem Sakramentar Nr. 19 und in dem zeitlich zwischen Bibel und Sakramentar 
anzusetzenden Evangelienbuch Nr. 33, das rorr datiert ist, Es sind aber lediglich 
noch tastende Versuche, indem nur schrittweise von dem rein flächig linearen 
Stil abgertickt wird und zunächst an Stelle roter oder schwarzer Einzeichnungen 
Faltenlinien und Bäusche zwar im Lokalfarbenton, aber unvermittelt und hart auf- 
getragen werden und von einer langsamen, allmählichen Aufhellung der Farben 
noch keineswegs gesprochen werden kann. Erst in dem zwischen 1054 und 1060 
etwa entstandenen Hezilo-Evangeliar (Domschatz Nr. 34) liegt dieser Stil aus- 
gebildet vor und zwischen diesem und den frühen Hildesheimer Arbeiten steht der 
Künstler unserer Blätter. Er haftet am Alten, versucht das in Hildesheim bisher 
noch unverstandene Neue zu meistern und führt in einigen Bildern bis unmittelbar 
an das Hezilo-Evangeliar heran, dem er den Boden bereiten hilft. Die zeitliche 
Einordnung ist damit annähernd gegeben. Die Blätter dürften um die Mitte des 
Jahrhunderts kurz vorher oder nachher entstanden sein. 

Maltechnisch bieten sie außer dem verschiedentlich bereits Gesagten nichts 
eigentlich Erwähnenswertes. Es handelt sich um Deckmalereien mit Farben bester 
Qualität. Aufgelegtes Gold, das rote Untermalung zeigt, ist verschiedentlich ab- 
geblättert, überall aber von ursprünglicher Leuchtkraft. Die Farben sind dickflüssig 
und erscheinen im Auftrag zäh und spröde. Den farbigen Gesamtcharakter be- 
stimmt ein mit Vorliebe verwendetes kalkiges Weiß, das die Farben mehr oder 
weniger durchsetzt oder auch ungemischt auftritt, sowie eine Bevorzugung heller, 
besonders grüner Farben, während warme, emailleartige Töne nur vereinzelt vor- 
kommen und überstimmt werden. Die bisherigen Ergebnisse, namentlich die zeit- 
liche Einordnung, werden durch die farbige Einstellung nur bestätigt. Sie steht 
ebenso, wenn auch weniger nachhaltig, unter dem Eindruck der warmen, zurück- 
haltenden, auf flächige Wirkung eingestellte Farbengebung des Bernwardscodex, 
wie der lebhaften, von auswärts, mit großer Wahrscheinlichkeit von Süden her 
eindringenden aufgehellten Farbengebung, mit der eine Auseinandersetzung an- 
gebahnt wird, die aber erst im Hezilo-Evangeliar zum Abschluß gelangt. 

Kurz zusammengefaßt sind die Ergebnisse folgende: der Codex selbst stammt 
aus dem Anfang des Jahrhunderts und scheint im Westen, vielleicht in Köln, ent- 
standen zu sein. Wie er nach Hildesheim gelangt sein kann, ist im einzelnen 
erörtert worden. Etwa um 1050 ist er aus irgendeinem Grunde mit Malereien 
ausgestattet worden, deren künstlerische Erscheinung enge Abhängigkeit und frei- 
schaffende Selbständigkeit charakterisiert, und die sich deutlich zwischen die Hil- 


14 


TAFEL 4 


Abb. 9. Phot, Bödecker-Hildecheim ` Abb. 10. | Phot. Bödecker-Hildesheim 
Titelblatt zur Bernwardsbibel. Bild des Evangelisten Mathäus 
Hildesheim, Domschatz, Hdscr. Nr. 61. Hildesheim, Domschatz, Hdschr. Nr. 33 


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Abb. 11. Das Wort bei Gott. Abb. 12. Bild des Evangelisten Markus. 


Berlin, Kupferstichkabinett, Hdschr. 78. A. I. Hildesheim, Domschatz, Hdschr. Nr. 34 
(nach Jostan) 


Zu: E. F. Bange, Eine frühromanische Evangelienhandschrift mit Malereien des Hildesheimer Kunstkreises. 


М. f. K. Ва, И 1921 


desheimer Arbeiten vom Anfang des Jahrhunderts (dem Bernwardscodex und die 
Handschriften der Guntbaltgruppe) und das Hezilo-Evangeliar stellen. Über die 
fernere Geschichte der Handschrift herrscht Unklarheit. Das Fragment eines Dedi- 
kationsverses aus dem 16. Jahrhundert am Anfang der Handschrift ergab keine 
Aufschlüsse bestimmterer Art. 

Für unsere Kenntnis der von Bernward geschaffenen und im weiteren Verlauf 
des 11. Jahrhunderts in Hildesheim blühenden Malstube sind die Blätter der Ber- 
liner Handschrift ein Gewinn von Bedeutung. 


15 


VIERZEHNHEILIGEN UND NERESHEIM. 


ZUR WÜRDIGUNG DER RAUMPHANTASIE DES BALTHASAR 
NEUMANN Mit sieben Abbildungen auf drei Tafeln in Lichtdruack Von OTTO HOVER 


п der Mittelachse von Vierzehnheiligen!) schließen sich drei Langovale aneinander. 

Die mittlere, größte Ellipse umschließt den Gnadenaltar der vierzehn Nothelfer, 
dessen Grundriß eine hufeisenférmige Gestalt hat. Gemäß dem Thema der Wall- 
fahrtskirche ist der Altar in die Mitte des ganzen Gefüges gerückt, beherrschendes 
Zentrum. Das Einzigartige der Neumannschen Leistung besteht darin, die Basilika 
der Idee der zentralen Wallfahrtskirche mit allen Mitteln und Künsten dienstbar 
gemacht zu haben. An sich ist die gesamte Ostpartie nichts anderes als eine 
Dreikonchenanlage (in den Ecken zwischen den Konchen liegen Sakristeiräume). 
Die seitlichen Apsiden sind in drei Seiten des Sechsecks geschlossen, innen ergänzt 
man, angeregt durch die Gurtungen der Decke, volle Kreisräume. Diese zentrali- 
sierte Mehrapsidenanlage hätte bescheidenen und konservativen Ansprüchen völlig 
genügen können sowohl für die Zwecke der Wallfahrtskirche wie für die in einer 
höheren Sphäre liegende Verwirklichung kreisender Bewegtheit. Im Würzburger 
Käppele mußte sich Neumann mit einem zentralen Dreikonchenbau als Wallfahrts- 
stätte begnügen“). Doch seine Phantasie strebte weiter. In Vierzehnheiligen darf 
er seine ganze raumkiinstlerische Kontrapunktik entfalten. Das Langhaus soll das 
Zentrum enthalten, und das Geheimnis der synkopischen Rhythmik der Räume 
von Haupt- und Nebenschiffen besteht wohl darin, daß in dem dreischiffigen 
Langhaus die Haupt- und Nebenovale gegeneinander verschoben sind; wichtiger 
aber ist, daß die große Raumellipse über dem Gnadenaltar nichts anderes zu sein 
scheint als eine in das Langhaus transponierte Vierung. Neumann ist kühn genug, 
an der Stelle der Vierung nur tangierende Gurtbögen zu geben, die gleich wind- 
gebauschten Bändern von einem Kämpferpunkt zum gegentiberliegenden flattern, 
zueinander streben und nach leichter Berührung sich wieder fliehen wie die bunten 
Fähnchen an den Stäben von Schäfer und Schäferin beim zierlichen Tanzspiel. 
Die von der Bewegung der Umräume aufgewühlten zentrifugalen Wellen kommen 
hier gleichsam zur Interferenz. Wo sonst ein Italiener des Hochbarock sich mit 
einer Langhauskirche nach dem Schema des Gesü abzufinden hatte und gleich- 
zeitig die Bedingungen einer Wallfahrtskirche größten Stils erfüllen mußte, da 
blieb ihm immer die Vierung sakrosanct, kultliches wie raumkünstlerisc hes Zentrum 5) 
Als Bernini in dem durch Maderna neuredigierten Langbau von S. Peter sein 
Tabernakel aufstellte, gab er sich zwar alle Mühe, den Sinn des Zentralwerkes 
von Michelangelo wiederherzustellen, machte aber eine Konzession an den Lang- 
bau insofern, als er das Tabernakel nicht lotrecht unter den Kuppelscheitel stellte, 
sondern es nach dem Chor hin etwas verschob. Das war echt italienisch, die 
Längsachse mußte so oder so die Dominante bleiben. 

Neumann nimmt umgekehrt den Gnadenaltar nach vorn in das Langhaus, arbeitet 
sonach fast wörtlich der Longitudinalität entgegen und denkt von diesem Zentrum 
im Langhaus das ganze Raumgefüge: ein köstliches Gehäuse um die heiligste Stätte. 


(1) Bei Lichtenfels am Main, Oberfranken, B.-A. Staffelstein; erbaut von 1743 bis 1772. 
(2) Vgl. auch A. Feulner, Balthasar Neumanns Rotunde in Holzkirchen, konstruierte Risse in der 
Barockarchitektur, Zeitschr. f. Gesch. d. Archit., Bd. VI. 


(3) Das gilt selbst für Guarini; vgl. seinen Kirchenbau 8. Maria della Divina Providenza in Lissabon. 
16 


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| dei, ̃ ug "emt ‘pues 'оюца) (әбәс ug "jem ‘pues 'озоца) 
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„syupsıong“ 
иш шпедәшү чәр pmnp usjsa\ peu Pg :цәбїпәцицә2глә!д 2 sap [a5nypion uap ul pun „бипләд“ 


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Die um dieses Zentrum kreisende Bewegung überträgt dann diktatorisch ihre Kraft 
auf alle umgrenzenden Teile; die Kolonnaden geraten in konkave Schwingungen. 
Das ist sicher nicht zum Vorteil für die Abseiten, aber was tut das. Die unmög- 
lichen Konvexräume der Seitenschiffe werden gar nicht um ihre Existenz gefragt, 
wo die dynamischen Kurven des Hauptraumes allein den Ton angeben. Es kommt 
nicht darauf an, daß die Teilräume als solche in ihrer architektonischen Gegen- 
ständlichkeit zu Vollräumen ergänzt werden — das mochte bei den Italienern 
gelten —,sondern es handelt sich darum, daß die kreisenden Kurven der Bewegung 
gefühlt und im Geiste ergänzt werden. 

Indem nun in der mittleren, hufeisenförmigen Hauptapside noch ein mächtiges 
Altarwerk installiert ist, das mit seinem plastisch-figürlichen und tektonischen 
Apparat ein eigenes Konzert ausführt, haben wir es eigentlich mit zwei kultlichen 
und räumlichen Zentren zu tun. Die von diesen Zentren ausstrahlenden Kräfte 
agieren äußerlich genommen gegeneinander, scheinen sich sogar gegenseitig aus- 
zuschließen, was in dem Kampf der gegeneinander geführten Gurtungen zum Aus- 
druck kommt, dennoch beseitigt die allerfüllende Bewegtheit des Ganzen jeden 
Konflikt. Die Zweiheit der kultlichen Zentren geht in der Einheit der künstle- 
rischen Dynamik auf, wie diese ebenfalls alle Körperformen, alles Dekorative sich 
untertan gemacht hat. Selbst am Außenbau miissen die Strebebögen über den 
Seitenschiffen den inneren Raumellipsen folgen. Je zwei Paar Strebemauern sind 
windschief verdreht. Die Kraft der Bewegung des Hauptraumes um den Gnaden- 
altar reicht dann vollständig aus, um das Choroval in seinen Wirbel hineinzu- 
zwingen. Schließlich gehört der hintere Altarbau mit seinen Umrahmungen un- 
mittelbar zum Gehäuse des Gnadenaltares. Vom Eingang der Zweiturmfront aus 
rollen die Kurven kontinuierlich durch alle Ovalräume und werden vom rück- 
wärtigen Altar hohlspiegelartig reflektiert und auf ihr eigentliches Zentrum im 
Mittelraum hingewiesen. 

Faßt man den Gesamtraum von Vierzehnheiligen nur unter dem Gesichtspunkt 
einer „Vielbildigkeit“ auf!), so überwiegt natürlich der Eindruck der Unruhe. Der 
Raum ist bis zum Übermaß vollgestellt mit tektonischen Körpern. Und doch ist 
diese Unruhe nichts anderes als das ewige Kreisen der Kurven. Die vielfältige 
körperliche Gliederung hindert die Bewegtheit nicht, macht ihr im Gegenteil Platz 
und legt die Mittelpartien, das eigentliche Feld der Kurven, vollkommen frei. Was 
von der Komplizierung des Körperformenapparates aus leicht negativ gedeutet 
wird, gewinnt vom Erlebnis der rhythmischen Pulsationen des Raumes her einen 
eminent positiven Wert. Auch die Vielfenstrigkeit wurde bei Vierzehnheiligen 
gerügt (Dehio). Wir meinen, daß gerade die durch sie gewährleistete Lichtfülle 
jene Unkörperlichkeit des Aufbausystems bewirkt, die das geniale Werk des Neu- 
mann wie aus lauter Wolken gebaut erscheinen lassen. Man muß das etwa an 
einem klaren Frühlings- oder Herbsttage erlebt haben. Ist infolge der Durch- 
lichtung des Ganzen, durch die Überstrahlung den Pfeilern, Säulen sowie den de- 
korativen Einzelheiten ihre Konsistenz genommen, ist die Schwere der Materie 
überwunden, so kann von einer Beunruhigung, von einer Störung des eigentlichen 
Raumerlebnisses nicht mehr die Rede sein. Schließlich sind alle Lichtquellen auf 
das sakrale Zentrum des Gnadenaltares bezogen. Die Tambourkuppel der Italiener 
gab immer eine gesammelte, ruhige Beleuchtung, fast eine Materialisierung, weil 
Kanalisierung des Lichtes. Für Neumann kommt die Kuppel als direkte Licht- 


(х) Vgl. Paul Franki, Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst. Leipzig und Berlin 1914. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1923, 1. з 17 


quelle gar nicht in Betracht. Er verschmäht es, aus einem Tambour ein ge- 
sammeltes Strahlenbündel wie aus einem Scheinwerfer auf das Allerheiligste zu 
werfen. Er taucht lieber das Ganze in eine höchste Lichtflut, die durch viele 
Öffnungen rauschend hereinbricht und sich doch in einem unwägbaren Zentrum 
vereinigt. Für den Standpunkt in diesem Zentrum (etwa im Mitteloval) erscheinen 
die meisten Lichtquellen verdeckt. Auch darf man nicht vergessen, daß die Viel- 
fenstrigkeit dazu dient, die Außenwände nach Möglichkeit zu negieren, also ein 
gotisches Prinzip nach barocker Auffassung umgemodelt ist. 

In der Abteikirche zu Neresheim!) ist der Gesamtraum in еіп Gefüge von sieben 
ellipsoiden Teilräumen aufgelöst. Langhaus und Chor sind als vollkommen gleiche 
Hälften in je zwei querovale Kompartimente zerlegt. Das demgemäß genau in 
der Mitte des Ganzen liegende Längsoval der Vierung ist als beherrschendes 
Zentrum ausgestaltet. Der Raum weitet sich mächtig aus. Die Ovale des Lang- 
hauses sind wie ein allmählich vorbereitendes Crescendo, die des Chores wie ein 
langsam abklingendes Decrescendo für die eine geweitete Raummitte. Die flankie- 
renden kurzen Transseptarme sind dann für sich als kleinbemessene Langovale ge- 
formt. Die Abseiten des ganzen Langraumes sind nur noch schmale Gänge. Ja, 
eigentlich ist die Wandung nur in zwei Schichten zerlegt. Dazwischen bleibt ein 
Laufgang frei, der in schmalen Galerien wiederholt wird. Selbst über dem Kranz- 
gesims sind in den Ansätzen der Gurtbögen über den Pfeilern Durchlässe angebracht 
und lassen eine Kommunikation zu. Die schmale Zone des Umganges ist alles, 
was von dem Abseitenschema der Münchener Michaelskirche“) übriggeblieben. 
Die Analogie mit der Wandzerlegung — Laufgänge zwischen zwei Wandschichten 
— in der Lichtgadenzone bei den Basiliken normannischer Protogotik ist frappant. 

An den Außenwänden zählt man im Langhaus wie im Chor je vier Fenster- 
achsen; dieses vierteilige System der äußeren Schichten der schmalen Abseiten 
muß sich aber der Zweiheit der Querovale des Mittelschiffes unterordnen. Die 
Pfeiler der inneren Wandschicht bilden die Vermittlung. Sie lassen nämlich nur 
drei Öffnungen frei. Je zwei entsprechende Öffnungen dieses inneren Pfeiler- 
systems flankieren alterierend die Mitte der Querovale. Auf die mittlere Öffnung 
trefien jeweils im Langhaus und im Chor tangierende Gurtbögen. Die einfache 
Reihung der unteren Zonen ist oben in eine komplizierte Rhythmik verwandelt. 
Es resultiert eine Art gebundenen Systems, das Besondere liegt aber darin, daß 
eine Ovalkuppel immer nur anderthalb Travéen des Abseitenaufbaues zusammen- 
faßt. Die synkopische Stimmführung ist wieder erreicht. Die Form der inneren 
Pfeiler mitsamt dem Gebälk muß überall der Bewegung der Ovalräume folgen. 
„Das ganz Eigentümliche liegt in der Verbindung einheitlicher Raumbildung mit 
einem grandios bewegten Rhythmus der Wandarchitektur“, sagt Dehio (Hdb. d. 
deutschen Kunstdenkmäler III). 

Vielleicht war beabsichtigt, auch im geweiteten Langoval der Vierung von Neres- 
heim einen großen tabernakelförmigen Altar als sakrales Zentrum aufzustellen — 
das jetzige kümmerliche, schmalrechteckige Altarbild an der Rückwand des Chores 
ist auf jeden Fall nur ein Notbehelf —, daß dies unterblieb, kommt dem rein 


(х) Vgl. Willi P. Fuchs, Balthasar Neumanns Abteikirche zu Neresheim; Dissertation, Stuttgart 1914. 
Neresheim ist ehemaliges Benediktinerkloster. Der Neubau begonnen 1745, vollendet 1792. Es liegt 
in Württemberg (Jugstkreis; an der Bahn Aalen—Dillingen, Härdtfeldbahn), 

(2) Diese Kirche ist trotz scheinbarer Renaissancehaltung der frühe Schöpfungsbau (1597) des deutschen 
Barock! 


18 


künstlerischen Eindruck zugute. Auch ohne ein eigentliches kultliches Zentrum 
setzt die Vierung die Suprematie ihrer Raumkurven bedingungslos durch. Die 
schmalen Umgänge der Abseiten sind um das Mitteloval herum beibehalten, nur 
die Emporen setzen aus. Vier Paare mächtiger gekuppelter Säulen (aus Holz!) 
gehen zur Flachkuppel hoch. Das Schema des Hauptraumes der Wieskirche’) ist 
zum Mittelpunkt einer gestreckten, mehrriumigen Gesamtanlage geworden, in der 
jedoch die gesteigerte Longitudinalität durch die kreisende Dynamik illusorisch 
gemacht ist. 

Mit stuckierter Dekoration ist äußerst sparsam gewirtschaftet. Die eigentlichen 
tektonischen Glieder, vor allem die Gebälke, bleiben vollkommen frei davon. 
Nirgends überwuchern die Rocailles wie „gespritzter Schaum“ die Grenzlinien der 
Architrave und anderer rahmender Teile. Eine neue Gesinnung macht sich schon 
bemerkbar. Neresheim wurde erst 1792 beendet. Trotzdem siegt die Raum- 
phantasie immer noch über einen beginnenden architektonischen Purismus. Dehio 
bekennt, daß, obwohl Neumanns Gedanke gleichsam in Knechtsgestalt in die Wirk- 
lichkeit getreten, doch der Bau noch immer erschütternd großartig wirkt. „Die 
Barockarchitektur nicht nur Deutschlands, sondern Europas hat weniges, was sich 
mit ihm messen kann. Der Vater des Barock, Michelangelo, hat in Neumann 
einen kongenialen Enkel gefunden, ebenso in der Größe der Konzeption wie in 
der Nichtachtung der gewohnten Harmoniegesetze.“ Demgegenüber bedenke man, 
wie weit Frankreich derzeit schon auf der Bahn des Klassizismus vorgeschritten war. 


A Ф 
* 


Neuerdings sind Versuche unternommen, die Bedeutung Balthasar Neumanns in 
etwas herabzumindern. So anerkennens wert, zumal mit Beziehung auf die Würz- 
burger Residenz und ihre Vorbilder, die durchaus sachliche Kritik ist, die von Rich. 
Sedimaier und Rud. Pfister in ihrem Beitrag „Balth. Neumanns Stellung im deut- 
schen Barock“ (Kunstchronik 1921, Nr. 19 und die dort angegebene Literatur) vor- 
gebracht wird, so möchten wir uns an dieser Stelle doch das Recht eigener Mei- 
nung tiber der Fürstbischöfe Schönborn genialen Architekten in jedem Falle wahren. 

Unsere durchaus positive Stellungnahme gründet seit langem in höchst gestei- 
gerten Erlebnissen jener tiberdinglich - geistigen Wesenheiten, die Neumann im 
Raumgefüge der behandelten Sakralbauten zu verwirklichen gewußt hat. Sicherlich 
geht er von mathematischen Erwägungen und Projektionen äußerst komplizierter 
Natur aus. Doch scheint uns gerade dieses Mathematische oder besser Trigono- 
metrische wiederum nur der abstrakte Niederschlag eines unerhört reichen Raum- 
vorstellungsvermögens, vor dessen gewagten, immer aber bewunderungswürdigen 
Expressionen unsere Generation, der Raumempfindlichkeit so ganz abhanden kam, 
fast machtlos dasteht. Nicht die Dientzenhofer — die Kirche von Banz bietet 
rein räumlich nur eine wenig schwungvolle Variation der für das 17. und 18. Jahr- 
hundert obligaten Langhauskirche mit eingezogenen Streben — überwinden die 
absonderlichen Körperformkünsteleien Guarinis, des italienischen Mönchs und Mathe- 
matikers, sondern allein Balthasar Neumann. Das Rechnerische und Nur-Ingenieur- 
hafte des Bauens macht, gehoben durch seine sieghafte Raumphantasie, eine 
läuternde Metamorphose durch und steigt zu letzten Dingen sinnlich-seelischer 


(x) Nur sind die acht Paare gekuppelter Pfeiler der Wieskirche auf vier Paare gekuppelter Säulen 
reduziert, Die Wallfahrtskirche in der Wies bei Steingaden (Oberbayern, Bez.-Amt Schongau) ist 
das Hauptwerk des Baumeisters Dominikus Zimmermann aus Landsberg am Lech. 


19 


Wirkung des Räumlichen überhaupt empor. Die möglichen Kegelschnitte (Ellipse, 
Parabel usw.) sind dem Denker des Dreidimensionalen nur graphisch-abstrakte 
Symbole für die kreisende Dynamik seiner sakralen Interieurs. Von der Vision 
dieser inneren Bewegtheit des Raumes aus beurteilt werden die unmöglichen 
„Resträume“ der Abseiten und Ecken verständlich, wirken die schwingenden 
Gurtungen, die teils eckig gebrochenen, teils kurvig geführten Horizontalgliede- 
rungen als sichtbare Grenzmarken der Raumrotation, in solcher Funktion ebenso 
selbstverständlich wie — in seiner Art — dorisches Gebälk! 

Werden freilich immer nur temperierte Kunstideale italienischer Schulung aus- 
schließlich als Maßstab genommen auch für die Raumwunder deutschen Spät- 
barocks, die doch in gewissem Sinne einen Punkt weitester Entfernung von allem 
Renaissance-Barock südlich der Alpen einnehmen, haftet man ferner unentwegt 
an den Möglichkeiten einer nur tektonisch-plastischen Baugebarung, so muß die 
schwingende Seelenachse des Räumlichen und ihr Geheimnis allerdings dem Blick 
ewig verhüllt bleiben. Deutscher Spätbarock erschließt sich nur, gleichviel ob 
es sich um Vierzehnheiligen, Neresheim, Ottobeuren, ob um die Treppenhäuser 
von Bruchsal und aus der Württembergischen Abtei Schöntal oder um die Dres- 
dener Frauenkirche sowie die große Michaelskirche in Hamburg handelt, wenn von 
vornherein und ganz primär alle ästhetischen Sensorien auf intensivstes Erleben 
des Raumhaften, ja auf letzte, fast schon „metaphysische“ Wesenheiten des 
Architekturalen eingestellt sind. Und vom Spätbarock schwingt dann eine Linie 
bodenständiger Eigenart deutscher Raumgestaltung zurück über die Spätgotik bis 
zur Spätromantik! 

Neumann fand den Weg zu den metaphysischen Möglichkeiten der Baukunst, 
fand ihn von der Mathematik aus und erscheint solchermaßen insgeheim allen 
Meistern französischer Kathedralarchitektur verwandt. Oder verlieren die Gotiker 
etwa deswegen etwas von ihrer schöpferischen Potenz, weil sie von der Mathe- 
matik ihrer konstruktiven Überlegungen aus den Weg zu Gott suchten und fanden, 
indem eine schrankenlose Vertikalität der Bewegung — als Symbol jenseitiger 
Sehnsüchte — in gleichsam mathematisch bestimmte Bahnen (Pfeiler, Rippen, 
äußeres Strebewerk) gelenkt wurde! Nur was in der Gotik in erster Linie noch 
an den Problemkreis plastischen Bauens gebunden ist, kreist bei Neumann einzig 
und allein um den Pol raumhaften Denkens! Gewiß, unser Meister war Artillerie- 
Ingenieur, aber seine Größe liegt eben darin, daß er das Technische und Nur- 
Konstruktive überwand durch Wunderleistungen seiner fabelhaft beschwingten Raum- 
phantasie, die sich dann im Absolut-Künstlerischen erging. Er machte den um- 
gekehrten Weg unserer heutigen Polytechniker, er wurde — trotz allem — aus 
einem Ingenieur zu einem Raumkünstler allerersten Ranges und erfüllte auf diese 
Weise die letzten immanenten Gesetzlichkeiten der Architektur überhaupt. Daß 
so manche seiner ktihnen Ideen nach seinem Tode dann von minder begabten 
Epigonen und vermittelst konstruktiver Surrogate (Holzkuppeln) zu Ende geführt 
wurden, braucht auf Seiten der baumeisterlichen Qualitäten des Neumann keines- 
wegs als ein Minus gebucht zu werden. 

Rationalismus ist der Denkstil des Barock. Alle Mathematik war notwendige 
wissenschaftliche Grundlage dieser philosophischen Einstellung. Und das künstle- 
rische Schaffen hatte sich dieser Kurve so oder so irgendwie einzuschwingen. Von 
diesen Voraussetzungen aus aber schlugen französische und deutsche Geistigkeit 
allerdings ganz verschiedene Bahnen ein. Französische „ratio“ blieb immer mehr 
dem Materialismus verhaftet. Ein dualistischer Rest — etwa extensio und cogitatio 


20 


TAFEL 7 


5. Vierzehnheiligen: Blick durch den Mittelraum auf ein Raumfragment der nördl. Abseite. 


(photo. cand. hist. art. Schlegel) 


12 5,917 Tr O 


6. Neresheim: Aufbausystem an der Nordseite 7. Neresheim: Aufbausystem an der Nordseite 


des Mittelovals. | des Chores. 
(photo. cand. hist. art. Schlegel) (photo. cand. hist art. Schlegel) 


Zu: Otto Höver, Vierzehnheiligen und Neresheim. 
Zur Würdigung der Raumphantasie des Balthasar-Neumann 


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bei Descartes — wird niemals recht überwunden. Innerhalb des Architekturalen 
äußert sich das in der fast ausschließlichen Vorliebe für alle plastisch - tektonischen 
Wesenheiten, für die sozusagen physische Seite des Bauens: Quintessenz des un- 
entwegten Klassizismus orthodoxer Akademiker seit der Renaissance, eines Klassi- 
zismus, dem selbst im späten 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur 
ein schwaches barockes Vorzeichen zuzubilligen ist. 

Deutscher Rationalismus hingegen stand von vornherein ganz entschieden und 
eindeutig auf der Seite eines Spiritualismus, war völlig monistisch orientiert. Phan- 
tasie trug auch hier den Sieg über intellektualistische Kühle davon und strebte 
nach dem Metaphysischen schlechthin. Leibniz unternahm es, das Wesen der 
gesamten Welt aus spirituellen Zentren, Emanationspunkten des Schöpferischen zu 
begreifen, Monaden, und wurde zum Repräsentanten deutsch-barocker Philosophie. 

Nicht anders ist die schaffende Energie bei Balthasar Neumann und seinen 
bauenden Zeitgenossen diesseits des Rheins zu beurteilen. Der geistige Pol des 
Bauens, das Raumhafte, hat den Primat auf der ganzen Linie. Durch das Mathe- 
matische mußte auch Neumann hindurch, bedingungslos, doch gegen die „ratio“, 
die ntichtern-saubere Verstandesmäßigkeit französischer Tektoniker und gelehriger 
Schüler des Vitruv und Palladio von diesseits und jenseits des Kanals setzte er 
seine Phantasie, die alles Mathematische sofort in räumliches Gefüge transponierte 
und sich zur Vergeistigung des Architektonischen emporschwang. Ja, ihm gelang 
es, letzte der Baukunst mögliche Spiritualisierung zu erreichen. Und damit steht 
er eben nicht allein bei uns. 

Der große George Sonnin, Erbauer und Vollender von Groß-St.-Michael in Ham- 
burg, studierte Theologie und Mathematik, konstruierte dann mit bedeutendem 
Scharfsinn allerlei feinmechanische und physikalische Instrumente, bis ihn der Rat 
der Stadt Hamburg zum Werk an der Michaelskirche berief. Da strömte seine 
ganze Genialität aus in die machtvolle Raumdynamik des vornehmsten protestan- 
tischen Kultbaues der norddeutschen Küsten. Die raumbeherrschende Phantasie- 
kraft triumphierte auch hier wieder über alles Kläubeln und Basteln mathematisch- 
abstrakter Gelehrsamkeit sowie über spitzfindige Kleinlichkeiten eines engen Pro- 
gramms für den spezifischen protestantischen Kirchenbau (Predigtkirche). Letztlich 
steht im Süden und Norden diese unerhörte Phantasie jenseits von Protestantismus 
und Katholizität, ist sich der einen hohen Aufgabe bewußt: des Dienstes an einer 
„wahrhaftigen Baukunst“ im Ringen um die beste Erfüllung raumbildnerischer 
Gesetze. 

Rudolf Kassner sagt in einem seiner schönen Bücher, Pietismus sei Mystik ohne 
Phantasie. Dieser Pietismus aber ist eine sonderlich protestantische Angelegenheit, 
Rationalismus mit anderen Mitteln. Protestantismus und klassizistische Baugebarung 
stehen überall in engster Wechselbeziehung — Quäker in England- Amerika und 
„colonial style“. Sonnin überwand kraft seiner wundersamen Raumphantasie, die 
sich plötzlich ungehindert entfalten durfte, Protestantismus und Klassizität, rettete 
in allerletzter Stunde an den Nordgrenzen noch einmal den Barock mit den Mitteln 
differenzierter Raumgestaltung, rettete noch einmal die Mystik im allgemeinen und 
das Mystische, das Metaphysische des Architekturalen im besonderen: die kreisende 
Bewegung deutscher Raumgestalt, bevor die Wellen pastoraler Kultur und anti- 
kischer Bildung sentimentaler Philhellenen darüber zusammenschlugen. Wie Bal- 
thasar Neumann war Sonnin — in Dresden dem Ratszimmermeister Georg Bähr — 
glückhaftes Schicksal beschieden, zu letzten Dingen baumeisterlicher Kultur durch- 
zustoßen. 


21 


Die divergierenden Wege des französischen und deutschen Rationalismus lassen 
sich übrigens schon früher feststellen. Wie Descartes gegen Leibniz, ewiger 
Klassizismus gegen Raumbarock bester Prägung stehen, so heißen im Mittelalter 
die Pole: Scholastik mit ihrer Hochburg Paris — Philosophie der Begrifflichkeiten 
— und deutsche Mystik — Wesensschau des Geistigen, Versenkung in das Wesen 
des Allgeistes. Entsprechend konfrontieren sich: plastische Strukturen am Gerüst- 
werk der Kathedralen nordfranzösischer Früh- und Hochgotik und geheimnisreicher 
„Raumstil“ deutscher Hallenkirchen der Spätgotik. Der Deutschen beste Kunst- 
gedanken haben sich zu allen Zeiten am eindringlichsten in den Spätstilen geäußert. 
Auch die Mystik kam bei uns spät zu sich selber. 

Alles in allem fanden die Zeitalter schöpferischen Bauens recht eigentlich mit 
Balthasar Neumann ihr endgültiges Ziel. Wir stehen nicht an, ihn, seine große 
Gesinnung und seine Werke auf eine Stufe höchster Leistung zu stellen mit jenen 
spätgeborenen kleinasiatischen Griechen, die einst für Justinian die Kirche der 
Heiligen Weisheit errichteten. Im Schöpfungsbau der Anthemios und Isidoros wie 
in Vierzehnheiligen und Neresheim endet jeweils ein Gesamtverlauf bauktinstlerischen 
Schaffens — Antike und Nachantike — unter ähnlichen Symptomen eines hoch- 
differenzierten Raumbarock, ein wichtiger Beleg für die periodische Gesetzmäßigkeit 
alles Kunstgeschehens’). 


(х) Im übrigen vgl. die größere Arbeit des Verfassers, die demnächst als Buch erscheinen wird: 
Deutsche Raumphantasie. Ein Beitrag zur vergleichenden Architekturgeschichte. 


22 


KLEINE BEITRÄGE zu PETER VISCHER. X. 


NEUE VISCHERWERKE IN BADEN-BADEN 
Mit zehn Abbildungen auf vier Tafeln Von HUBERT STIERLING 


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m Jahre 1673 weilte ein französischer Offizier in Philippsburg, dessen heil- 
kräftige Bäder er benutzte. Seine freie Zeit führte ihn mehrfach nach Baden- 

Baden, wo er sich mit dem Abzeichnen der in der dortigen Stadtkirche befindlichen 
Grabdenkmäler vergnügte. Seine Zeichnungen sind sehr unbeholfen, trotzdem sind 
wir ihm dankbar, denn er hat uns die Grabplatten der Markgräfin Catharina geb. 
Herzogin von Österreich (} 1493), der Markgräfin Catharina geb. Herzogin von 
Lothringen (f 1439), der Herzogin Elisabeth geb. Herzogin von Bayern (t 1522) und 
zweier anderer Fürstlichkeiten (Ottilie und Friedrich) überliefert, die im Gegen- 
satz zu den drei erstgenannten noch heute erhalten sind. Leider sind die Zeichnungen 
so mangelhaft, daß man nicht viel mehr als das Schema aus ihnen entnehmen 
kann. Aber auch das ist nicht ganz zu verachten, wie sich nachher ergeben wird. 

Wenige Jahre später — 1689 — sind von den drei zuerst genannten Platten 
zwei bei dem bekannten Verwüstungszuge der Franzosen wahrscheinlich zugrunde 
gegangen. Das Epitaph der Markgräfin Elisabeth war dagegen noch 1754 vorhanden 
und wir besitzen davon eine Federzeichnung jener Zeit, welche an Feinheit weit 
über die Skizze des französischen Kurgastes hinausgeht. Allerdings läßt sie auch 
erkennen, daß im Laufe der Zeit bereits einiges verloren gegangen war, was der 
Franzose noch gesehen hatte ). Dieses Epitaph kam mit anderen zur Ausbesse- 
rung nach Rastatt, blieb dort liegen und ging zugrunde! Im Jahre 1800 waren in 
Rastatt nur noch das Epitaph der Ottilie (Abb. 3) und die Fragmente einiger Um- 
schriften vorhanden. Das andere war 1796/97, wo das Schloß als Lazareth diente, 
entwendet oder zerstört worden. Nun aber setzte die große Restauration ein, von 
der die Baden-Badener Denkmäler vielfach sichtbare Spuren zeigen, indem sie 
Fassungen aufweisen, die einen ausgesprochenen Empire-Charakter tragen. Ein- 
zelne alte Fragmente sind aber in diese Fassung übernommen worden, vgl die 
Abb. der Ottilie bei Daun, S. 50. 

Ich habe bereits gesagt, daß uns die Epitaphien der zwei Catharinen von 1439 
und 1493 nur geringes Interesse abgewinnen können, da die Zeichnung des Fran- 
zosen doch zu mangelhaft ist. Ganz anders aber verhält es sich um die Platte 
der Elisabeth und zwar weniger in der Zeichnung des Franzosen als in der un- 
bekannten von 1754 (Abb. 2). Denn hier lernen wir mit ziemlicher Sicherheit ein 
untergegangenes Vischerwerk, das ungefähr dem Jahre 1522 entstammt, kennen. 
Es gehört dem großen Kreise der weiblichen Standfiguren an, und es ist aufs 
nächste verwandt mit der Nürnberger Madonna und der noch in Baden-Baden 
in der gleichen Kirche erhaltenen Platte der Markgräfin Ottilie. 

Weibliche Standfiguren hat Vischer in großer Reihe geschaffen. Als frühester 
Vorläufer erscheint um 1486 die Grabplatte der Kurfürstin Margarethe in der 
Altenburger Schloßkirche, von der die einzig brauchbare Abbildung bei Reyher, 


1) Pbotographien der drei französischen Zeichnungen und der unbekannten von 1754 befinden sich 

im Badischen General-Landes-Archiv in Karlsruhe. Ich bin Herrn Geheimrat Obser für die Her- 
leibung zu großem Dank verpflichtet. Vgl. auch den Artikel desselben „Aus den Aufzeichnungen 
eines französischen Kurgastes über Baden-Baden vom Jahre 1673“ in der Ztschr. für Geschichte des 
Oberrheins, N.F. XXX, 110 fl. 


23 


Monumenta Landgraviorum ... Gotha 1692 erschienen ist. Um die Jahrhundert- 
wende folgen weibliche Standfiguren plötzlich in dichter Reihe: 1502 die Meißner 
Amalie, 1503 die Torgauer Sophie, 1504 die Wismarer Sophie, 1505 die Stolberger 
Elisabeth (deren Herkunft allerdings nicht sicher ist), 1510 die Meißner Sidonie, 
1517 die Badener Ottilie, 1521 das Regensburger Tucher-Epitaph, 1522 die Badener 


Elisabeth und endlich die undatierte Nürnberger Madonna, deren Zusammenhang - 


mit der Vischerhütte G. v. Bezold klar erkannt hat!). Ich unterlasse es, die Denk- 
mäler im einzelnen zu besprechen, da es ohne Abbildungen nicht anschaulich genug 
geschehen könnte. Aussprechen aber möchte ich, daß durch diese ganze Gruppe 
ein merkwürdig einheitlicher Zug geht. Daher ist es denn im künstlerischen 
Sinne ohne jede Bedeutung, wenn uns von der Torgauer Platte überliefert ist, 
daß Jakob Walch für die Visierung eine Summe Geldes erhielt; seine Mitarbeit 
kann sich nur auf untergeordnete Dinge bezogen haben, denn die Torgauer Sophie 
hält sich durchaus im Rahmen der übrigen, und die Gesamtgruppe bleibt von ab- 
soluter Geschlossenheit! Natürlich begegnen Abwandlungen — sogar von höchst 
reizvoller Art, aber sie weisen immer wieder auf den gleichen, reichen und doch 
strengen Geist der Werkstatt zurück. Der Vischersche Stil war schon in der 
Gotik von einer so merkwürdigen Geschlossenheit, daß die hereinbrechende Re- 
naissance in den Grundprinzipien der Formauffassung keine elementaren Wand- 
lungen hervorzurufen brauchte. In der Vischerschen Spätgotik steckt ohne Frage 
bereits ein Stück latenter Renaissance, so daß der endliche Durchbruch dieses 
neuen Stils für die Nürnberger Hütte eine Art wahlverwandter Bereicherung dar- 
stellte. Wahrlich, ein seltener Fall in jenen Tagen! 

Legt man sich einmal die Abbildungen der Nürnberger Madonna, der Badener 
Elisabeth (T 1522) und der Badener Ottilie (| 1517) nebeneinander, dann ist die 
Zusammengehörigkeit auf den ersten Blick klar. Ottilie scheint voranzugehen, da 
das Standmotiv bei Elisabeth in einer komplizierteren Form gegeben ist. Ich 
rechne dahin nicht nur die leichte Profilstellung, sondern auch die Neigung des 
Hauptes, durch welche der Figur Anmut und Innigkeit gegeben ist. Die Nürn- 
berger Madonna schließlich dürfte der Endpunkt dieser Entwicklung sein. So folge- 


(1) Über die schwierigen Herkunftsfragen der Wismarer Sophie vgl. Kleine Beiträge a, M. f. R. X, 
297 ff. Ich habe dort die Platte für Nürnberg in Anspruch genommen, obwohl der eingravierte 
Gießername (?) nach dem Nordwesten Deutschlands wies und die umlaufende Inschrift niederdeutsch 
war. Mittlerweile ist mir aber die Abbildung einer anderen nordwestdeutschen Platte bekannt ge- 
worden, die im stilistischen Aufbau gleichfalle starke Verwandtschaft mit Vischer zeigt, daneben aber 
auch gewisse Abweichungen, die es unwahrscheinlich machen, daß die Platte in Nürnberg gegossen 
sei. Ich meine das Denkmal des Bischofs Barthold von Landsberg in der Vorhalle des Doms in 
Verden, abgebildet im Hannoverschen Inventar V, ı, Taf. 7. Diese Platte berührt sich im Ornament 
mit der Wismarer auf eine Weise, die zu denken gibt. In Wismar war nämlich um 1850 neben 
den Schultern der Herzogin das Fragment einer scharf gewundenen Säule vorhanden (vgl. die Zeich- 
nung von H. Thormann im Schweriner Museum, dazu M. f. K. X, 300). Ferner durfte man an- 
nehmen, daß über der Figur eine Art Baldachin vorhanden war. Beides findet sich in Verden 
wieder: Die scharf gewundene Säule und der baldachinartige Kielbogen, welcher das Kopfkissen der 
stehenden Figur (auch in Wismar vorhanden) überschneidet. Vielleicht sind diese äußerlichen Ähn- 
lichkeiten nicht belanglos, sondern weisen event. darauf hin, daß auch die Wismarer Platte aus dem 
Westen Norddeutschlands stamme, wohin bereite der Name des Gießers wies. Sie wäre dann aus 
der Liste der Vischerschen Werke zu streichen, aber sie zeigt ebenso wie die Verdener sehr in- 
struktiv, daß der Formenapparat der Nürnberger Hütte so vorbildlich war, daß er geiegentlich auch 
in Norddeutschland angewandt wurde. Vielleicht haben ja auch beide norddeutsche Meister die 
Nürnberger Hütte auf ihrer Wanderschaft kennengelernt. 


24 


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TAFEL 9 


Abb. 4. Epitaph des Markgrafen Christoph f 1527. 
Baden-Baden, Stadtkirche. 


Zu: Hubert Stierling: Kleine Beiträge zu Peter Vischer X. 


richtig hier die neuen Motive im Kontrapost, im zurtickgebogenen Haupte und den 
etwas kokett gefalteten Händen sein mögen, so ist es doch andererseits nicht zu 
verkennen, daß sich hier eine gewisse Leerheit der Eleganz ankündigt, die in der 
Vischerhütte weder Vater noch Söhnen eigen gewesen ist. Es spielt hier offenbar 
eine neue Hand hinein, die sich zwar an Vischerscher Kunst geschult hatte, aber 
glaubte, durch eine (nur scheinbar) stärkere Beseelung über die Strenge, ja Trocken- 
heit Vischerscher Formauffassung hinauskommen zu können. 

Nach mittelalterlicher Weise sind die Vischerschen Erzbildnisse fast immer Ideal- 
gestalten. Schon die drei hier besprochenen Erzplatten zeigen das deutlich, denn 
es wäre doch merkwürdig, wenn diese drei Frauen, in deren Adern kein Tropfen 
verwandten Blutes rollte, einander so ähnlich gewesen wären!). Zieht man nun 
gar die übrigen Frauen dieser Gruppe heran, so begegnet uns immer wieder der- 
selbe milde, etwas indifferente Typus; ja selbst die Weimarer Margarethe ({ 1521), 
die von Vischers Schwager Mülich zu stammen scheint, hat diesen Typus über- 
nommen. In allem übrigen ist sie freilich trotz sklavischer Anlehnung das Gegen- 
beispiel Vischerscher Kunst! 

Für die Vischerforschung ist es als ein Glück zu bezeichnen, daß uns von der 
untergegangenen Platte der Badener Elisabeth wenigstens die Karlsruher Zeich- 
nung erhalten ist, da wir dadurch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die seit- 
liche und obere Umrahmung auch der Ottilie kennen lernen. (Die heutige Ein- 
fassung, die aus der Renovationszeit um 1802 stammt, ist bei Daun, Abb. 39 zu 
sehen. Sie ist also nicht modern, wie der Verfasser S. 49 meint). Man darf nun 
getrost behaupten. daß uns in der Umrahmung ein Stück besonders charakteristi - 
scher Vischerkunst verlorengegangen ist, denn gerade in diesen ornamentalen 
Dingen herrschte in der Vischerhütte nicht nur eine hervorragend glückliche geist- 
volle Erfindungsgabe, sondern derartiges Rankenwerk wurde in ganz Deutschland 
von niemand so schwungvoll gezeichnet wie gerade von den Vischern. Hierin 
blickten sie auf eine glückliche Tradition zurück; die besten heraldisch ornamen- 
talen Formen des Mittelalters lebten in ihnen weiter. Das schönste Beispiel 
saftiger, knorriger deutscher Formauffassung bietet hier vielleicht die Meißener 
Amalie von ı502. — Übrigens ist das Bild, wie es uns die Karlsruher Zeichnung 
des ı8. Jahrhunderts überliefert, gerade im Ornament nicht ganz vollständig. Ver- 
gleicht man es mit der Zeichnung des eingangs genannten Franzosen, so sieht 
man, daß die seitlichen Säulen durch ein zweites größeres, wiederum delphinartig 
geschwungenes Blatt, ferner durch mittlere Ringe und durch obere hängende Perl- 
schnüre bereichert waren. Es sind also wiederum die Formen der oberitalienischen 
Renaissance, die den Vischerschen Stil bestimmen. Die Zeichnung des Franzosen 
ist uns auch insofern wertvoll, als sie uns die volle Inschrift überliefert ). 

Die perspektivische Quadrierung des Fußbodens war Vischer bereits von den 
ältesten Zeiten her gewohnt. Schon die Altenburger Margarethe (f 1486) zeigt 
dieses Motiv. Dagegen hat Vischer sich erst im Laufe der Zeit von der alten 
Sitte emanzipiert, die Wappen in den vier Ecken der Platte anzuordnen. Die eben 
genannte Margarethe zeigt sie noch daselbst. Um 1500 dagegen beginnt er, sie 


(х) Es wird auch niemand auf die Vermutung kommen, daß die noch recht jugendliche Ottilie (Abb. 3) 
Mutter von ı5 Kindern gewesen ist; vgl. Val. Stösser, Grabstätten und Grabschriften der badischen 
Regenten, Heidelberg 1903, 8. 86. 

(2) Deep, Do, Elisabeth. Ex. Ill’. Dvcv. Bavariae. Co’. Pal’. Rhen’. Ac. Pr, Elec’. Stemate. Nata. 
П”. Pro’. Ac. Do. Phil’. Marchois. A. Baden. Сопх. Legitima. Die. Јо. Bap’. Def. Hic. Quiescit. 
M. D. XXIL 


25 


allmählich ins Laubwerk zu versetzen. Übrigens darf es dabei nicht unerwähnt 
bleiben, daß bei einer anderen Badener Platte, die uns in einer Zeichnung des- 
selben Franzosen tiberliefert ist, nämlich derjenigen der Markgräfin Katharina, ge- 
borenen Herzogin von Österreich (+ 1493), bereits dieselbe Anordnung der Wappen 
erscheint: zwei zu Füßen, drei zu Häupten. Leider aber hat der französische 
Offizier den Zeichenstift so schwerfällig geführt, daß wir nicht entscheiden können, 
ob auch diese Platte etwa auf Vischer zurlickgehe, was dem Todesdatum und 
dem Ornament nach durchaus möglich ist! Jedenfalls sieht man deutlich, daß 
Vischer sich in der Badener Ottilie und in der untergegangenen Elisabeth an das 
Schema der 1493 gestorbenen Katharina gehalten hat, und die Katharina ihrerseits 
steht im Schema der älteren Katharina von 1439 durchaus nicht fern. — Man 
bemerkt also, daß in allem eine bewußte Tradition herrscht, wie es dem Sinne 
des Mittelalters entspricht, zumal hier, wo es sich um die Glieder derselben 
Familie handelt. Insofern sind uns die Zeichnungen des französischen Offiziers 
von Wert und es ist zu begrüßen, daß das Karlsruher General-Landesarchiv die 
Bilder der Arraser Handschrift kurz vor Kriegsausbruch hat photographieren lassen, 
denn nun sind sie wohl ein Raub der Flammen geworden. Übrigens entspricht 
die Badener Katharina von 1493 in der Anordnung der unteren Hälfte einiger- 
maßen derjenigen der schon genannten Weimarer Margarethe von 1521 von Vischers 
Schwager Mülich. Das mag also ein weiterer Grund sein, auch vor dieser Katha- 
rina von 1493 die leise Frage zu erheben, ob sie etwa aus der Vischerhiitte hervor- 
gegangen sei. Ich erinnere daran, daß auch der inschriftlich beglaubigte Johannes 
Roth (1495) in Breslau auf einem derartigen Sockel mit seitlichen Wappen steht, 
wie die schon genannte Margarethe von Vischers Schwager in Weimar. Auch die 
Architektur zu Häupten dieser Karlsruher Margarethe könnte recht gut vischerisch 
sein. Bei Kurfürst Ernst in Meißen (f 1486), bei Kardinal Friedrich in Krakau 
(T 1503) und bei Johann Roth in Breslau (gegossen 1496) begegnen Architekturen, 
die man in ihrer Formauffassung als verwandt bezeichnen darf. Freilich weist 
das Schema der Katharina von 1493 eine Bereicherung desjenigen der Katharina 
von 1439 auf, so daß die Frage sich kaum entscheiden läßt, zumal wir ja nicht 
wissen, wann die Platte der 1439 Gestorbenen gegossen ist. In diesen Erz- 
platten herrscht Tradition und noch einmal Tradition und das ist im Hinblick auf 
die Entwicklung eines soliden Handwerks von größtem Segen gewesen. 


ke * 
* 


Im gleichen Jahre (1517) wie die Markgräfin Ottilie verschied auch der Mark- 
graf Friedrich von Baden, der zeitweise Bischof von Utrecht gewesen war. 
Auch sein Denkmal scheint Vischerische Züge zu tragen, und schon Robert Vischer 
hat 1889 im Jahrbuch der K. Pr. Kunstsammlungen geglaubt, die Arbeit für seinen 
berühmten Namensvetter in Anspruch nehmen zu dürfen. Daun ist ihm un- 
abhängig gefolgt; kaum mit Recht, denn der Unterschied in der Durchführung 
dieser Tumba ist so gewaltig gegen das Magdeburger Ernst-Denkmal, daß man 
beide Gräber nicht in einem Atem nennen darf. Das Magdeburger ist ihm in der 
Monumentalität und erzmässigen Geschlossenheit trotz seiner viel früheren Ent- 
stehung so wesentlich überlegen, daß ein Absturz zu dem Badener Denkmal in 
keiner Beziehung glaubhaft ist. Zwar kommen auf dem Mantelsaum einige kleine 
Apostelreliefs vor, die an die Sebalder Apostel erinnern. Aber derartige An- 
lehnungen können ebensogut als Gegenbeweis gewertet werden. Das Denkmal 
ist in seiner Gesamtheit doch kaum mehr als brav, ja das Gesicht des Bischofs 


26 


ist sogar fein und klug, aber das Grab im ganzen ist doch schülermäßig, geistlos 
und auseinander fallend’). 

Anders dürfte es sich um das Epitaph des MarkgrafenChristoph (1453—1527) 
verhalten, welcher der Gatte der oft genannten Ottilie war (Abb. 4)! Schon das 
bringt ein Stückchen äußerer Wahrscheinlichkeit für den Vischerschen Ursprung 
mit sich. 

Die Platte ist als Bruchstück auf uns gekommen. In einer bald nach 1800 ent- 
standenen Handschrift von Herr, Begräbnisse des Hauses Baaden .. . (1391—1739 
(zitiert bei Stösser a. a. O. 86) heißt es: „Ehemals war auch dieser Grabstein bey- 
nahe ganz mit Bronze von herrlicher Arbeit bedeckt, da der noch vorhandene 
große Wappenschild und noch Vier besondere Helme mit vollem Schmuck, nem- 
lich die von Üssenberg, Lahr, Badenweiler und Mahlberg, nebst einer doppelten 
Reihe von Innschrifften ihn schmtickten. Im Jahre 1752 war nur der Wappen- 
schild nebst dem Üssenbergischen und Lahrischen Helm vorhanden, das übrige 
aber bereits verlohren, und durch das Entkommen zu Rastatt [vgl. die einleitende 
Bemerkung] giengen auch diese beyden letzte Stücke noch verlohren nebst dem 
Lamme vom Orden des Goldenen Vliesses“. Danach stellt also Abb. 4 nur ein 
Fragment dar. Aber ich glaube, es reicht hin, den Vischerschen Ursprung er- 
kennen zu lassen. Ein so souveränes Schalten mit den heraldischen Elementen 
war — wenigstens im Erzguß — nur den Vischern möglich. Hier ist jede Einzel- 
heit durchgefühlt; die steigenden Löwen sind von prachtvoller Energie, das schwere 
Laubwerk mit spätgotischer Kraft und Fülle gesättigt. Die Anordnung im ganzen 
ist so mühelos, daß sie fast kunstarm erscheint. Das Erz ist so meisterlich ge- 
flossen und so tief in seinem Glanze, daß es wie bei den meisten guten Vischer- 
werken wie schwarzer Marmor erscheint. Das einzige was stört, ist, daß das 
umschließende Laubwerk nicht genügend Platz zur Entfaltung bekommen hat, so 
daß es ein wenig eingepreßt erscheint. 

Im ganzen darf man sich vielleicht an die wundervolle, wenig ältere Grabplatte 
der Herzogin Helene von Bayern (f 1524) im Schweriner Dom erinnert fühlen, 
Im einzelnen stimmt kaum etwas überein; auch auf die Anordnung des mittleren 
Helms darf man nur im Vorübergehen hinweisen. Aber es ist dieselbe heraldische 
Kraft und dieselbe meisterliche Behandlung der Erzhaut. Vielleicht war auch die 
Stellung der verlorenen Badener Wappen und Inschriften ein wenig verwandt. 


2. Vischermotive bei Flötner und den Beham. 


In dem Buche von Е. F. Leitschuh, Flötner-Studien I, 42 (Straßburg 1904) findet 
sich der merkwürdige Satz, daß Veit Stoss und Peter Vischer sich an Flötner 
innig und willig angeschlossen hätten und daß sein Auftreten für diese mehr be- 
deute als man bisher angenommen habe. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, 
Denn Stoss und Vischer waren wesentlich älter als Flötner, der erst in den goer 
Jahren des 15. Jahrhunderts geboren ist (Lange, Peter Flötner 12), als die beiden 
anderen längst gereifte Meister waren. Es ist auch nicht schwer, stilistisch den 
Gegenbeweis zu führen, denn es gibt Plaketten Flötners, die sich so eng an Pla- 
ketten und Kleinplastiken Vischers anschließen, daß man sich wundern muß, daß 
diese Zusammenhänge von den Flötner- Biographen nicht bereits festgestellt wurden. 
Da sind zunächst aus der Reihe der Flötnerschen Musen die Musica und die Erato 


(1) Vgl. Daun Abb. 38. Zwei wesentlich bessere Abbildungen hält der Photograph Kratt in Karlsruhe 
vorrätig. 


27 


(Abb. 5 u. 6), welche ganz deutlich auf den Orpheus der Berliner Plakette Vischers 
(Abb. 7) zurückgehen. Es braucht dabei wohl nicht bewiesen zu werden, daß 
Vischer — es kommt hier nur Peter Vischer d. J. in Betracht — der zeitlich Voran- 
gehende ist. Vischers Plakette mag etwa um 1515 liegen, Flötners wohl mehr 
als ein Dutzend Jahre später; er wanderte erst 1522 in Nürnberg ein (Lange 9), 
und seine älteste datierte Arbeit, der Mainzer Marktbrunnen, stammt von 1526. 
Der Zusammenhang der drei Kunstwerke untereinander ist angesichts der Abbil- 
dungen 5 bis 7 leicht erkenntlich: Die Beinstellung, die Haltung der Geige und 
des geigenden Armes, die Kopfhaltung usw. entsprechen sich völlig. Die Hinter- 
gründe aber, Flötners Spezialität, hat dieser selbständig hinzugefügt. Dagegen 
weist das merkwürdige Gebilde, auf welches die kleine Erato das Spielbein setzt, 
wieder auf eine andere Arbeit Peter Vischers d. J. hin, mit welcher gleichfalls 
enge Beziehungen bestehen. Ich meine das Tintenfaß in Stanmore (Abb. 8). Es 
gibt nämlich eine andere Plakette Flötners, den Merkur aus der Reihe der Planeten 
(Abb. 9), welcher in seiner Beinstellung und in dem aufwärts weisenden linken 
Arme eine Beziehung zu Peter Vischer dem J. aufweist, die man wohl nicht als 
zufällig anzusehen braucht, nachdem sich auf dem vorigen Beispiele die Tatsache 
eines Zusammenhangs bereits ergeben hat. In gewisser Weise aber noch näher 
als Merkurius steht eine Handzeichnung des Berliner Kupferstich-Kabinetts (Abb. 10). 
Zwar ist das Motiv von Stand- und Spielbein anders behandelt, dafür aber ruht 
dort der linke Arm wie bei Vischer auf einem gleich hohen Gefäße und die rechte 
Hand weist in verwandter Weise gen Himmel. Aber nun kommt der rechte 
Schalk — der Ausdruck ist viel zu gelinde — bei Flötner zum Vorschein: Denn 
während bei Vischer die Hand zur vita aeterna emporweist (entsprechend der 
Tafel zu Füßen der Figur), zeigt die Flötnersche Gestalt auf einen Phallus in den 
Wolken, den sie gleichsam heranzuwinken scheint. — Nebenbei sei auch auf die 
untersetzten Körperverhältnisse hingewiesen, die von beiden Künstlern angewandt 
werden. 

In diesem Falle läßt es sich mit aller wünschenswerten Deutlichkeit beweisen, 
daß Flötner der Nehmende war, denn seine Handzeichnung ist auf 1537 datiert; 
damals aber ruhte Peter Vischer d. J. bereits neun Jahre unter der Erde. Auch 
sein Vater war schon acht Jahre tot. | 

Lange sagt auf der letzten Seite seines Buches, daß Flötner selbst da, wo er 
Vorbilder benutzte, über diese weit an Lebendigkeit hinausgegangen sei. Auf die 
eben besprochenen Beispiele trifft das aber durchaus nicht zul 

Im übrigen möchte ich diesem Zusammenhang nur bescheidenen Wert bei- 
messen. Er interessiert aber vielleicht in dem Sinne, daß die Dürerschen Adam 
und Eva von 1504 in den Flötnerschen Plaketten gleichsam ihre Enkelkinder 
finden, wenn man die Vischersche Darstellung von Orpheus und Eurydice als die 
Mittelstufe der Eltern betrachtet (Monatshefte für Kunstwissenschaft VIII, Tafel 83; 
vgl. auch XI, Tafel 54). Man wird eben immer wieder darauf hingewiesen, welche 
hohe programmatische Bedeutung dem Dürerschen Kupferstiche von 1504 eigen war. 


* + 
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In diesem Zusammenhange möchte ich nicht unterlassen darauf hinzuweisen, 
daß auch ein anderer Künstler der folgenden Generation sich gelegentlich den 
jüngeren Peter Vischer zum Vorbild genommen hat. Ich meine Bartel Beham, 
der zwei Putten vom Sebaldusgrab im Kupferstich nachgebildet hat, vgl. Pauli, 
Bartel Beham, Studien zur deutschen Kunstgeschichte 135 (1911), Taf. VI, Fig. 55 u. 60. 


TAFEL 10. 


Abb. 6. Flötner, 
Plakette der Erato. 


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Abb. 7. P. Vischer d. J., Plakette des Orpheus 
und der Eurydike. Berlin. 


Zu: Hubert Stierling: Kleine Beitrage zu Peter Vischer X. 


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Abb. 10. Flötner, Handzeichnung von 1537. 
Berlin, Kupferstichkabinett. 


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Flötner, 
Merkurius-Plakette. 


Abb. 9. 


Hubert Stierling, Kleine Beiträge zu Peter Vischer X. 


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Auch Bartels Bruder Hans Sebald hat sich gelegentlich an Vischer angelehnt. 
Vergleicht man die mittlere Figur von seinem Holzschnitt „Die drei Schutzpatrone 
Ungarns“, abgebildet z. B. im Cicerone 1920, S. 266 mit Vischers König Theo- 
derich in Innsbruck, so kann es kaum fraglich sein, daß Beham Gelegenheit gehabt 
hat, den Vischerschen Erzguß oder eine Zeichnung nach demselben kennengelernt 
zu haben. Die Beinstellung, die Schild- und Lanzenhaltung, die Form des Schwertes, 
das Zattelwerk auf der Rüstung u. a. entspricht sich mit leichten Variationen. 
Beide Figuren gehen letzten Endes auf den Dürerschen Lucas Baumgartner in 
der Münchner Pinakothek zurück. Es wiederholt sich also hier derselbe Fall wie 
bei den eben besprochenen Flötnerschen Plaketten, wo auch das Motiv seine 
Quelle bei Dürer hatte, aber Flötner erst durch eine Vischersche Mittelstufe an 
die Hand gegeben war. 


3. Die letzte Geldsammlung für das Sebaldusgrab. 


Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich die Errichtung des Sebaldusgrabes über 
тт Jahre erstreckt. Man ist leicht versucht zu glauben, daß der Eifer Vischers 
zur Vollendung seines Auftrages nachgelassen habe, aber man täte dem Meister 
wahrscheinlich erhebliches Unrecht. Der Grund seines Zögerns war vielmehr, daß 
ihm von seinen Auftraggebern nicht die genügenden Geldmittel zur Verfügung ge- 
stellt wurden. So war er gezwungen, viele andere Arbeiten in Angriff zu nehmen, 
um sich und seine große Familie sicherzustellen. Wie wenig Vischer im Gegen- 
teil einen Vorwurf verdient, geht daraus hervor, daß ihm noch in den Jahren 1521 
und 22, d. h. zwei und drei Jahre nach der Vollendung seines Werkes, annähernd 
soo fl. nachgezahlt werden mußten; im Jahre 1519, als das Sebaldusgrab voll- 
endet wurde, fehlten sogar noch 845 fl., d. h. annähernd !/, der benötigten Kosten 
(die sich im ganzen auf 3145 fl. und тб sh. belaufen). Um diesen Restbetrag zu- 
sammenzubringen, berief der Kirchenpfleger Anton Tucher am 17. März 1519 und 
an den beiden folgenden Tagen die angesehensten Bürger der Stadt und bat sie 
mit eindringlichen Worten um ihre Unterstützung. Die Rede Tuchers ist uns von 
Andreas Würffel in seinen historischen, genealogischen und diplomatischen Nach- 
richten zur Erläuterung der Nürnbergischen Stadt- und Adelsgeschichte I, 247 ff. 
(Nürnberg 1766) überliefert worden, So interessant dieser Aufruf nun ist, so hat 
ihn trotzdem in den vergangenen 155 Jahren kein Vischer-Biograph zum Abdruck 
gebracht; nur in dem Bergauschen Aufsatze „Peter Vischer und seine Söhne“, der 
sich in dem Dobmeschen Sammelwerk Kunst und Künstler (Leipzig 1878) findet, 
wird einmal ein kurzes Zitat gegeben, das aber völlig ungenau ist und nicht auf 
die Quelle selber zurückgehen kann. Bei der hohen Bedeutung des Sebaldus- 
grabes ist es daher gewiß berechtigt, hier die Rede Tuchers zu wiederholen, wobei 
freilich die Frage offen bleibt, woher Würffel den Wortlaut genommen habe. 

Vorher aber möchte ich noch dem Einwand Seegers in seinem bekannten Buche 
über Peter Vischer den Jüngeren S. 154 begegnen, daß die herannahende Refor- 
mation idie Opferwilligkeit der Nürnberger Bürger zum Stillstand gebracht habe. 
Lochner sagt in seiner Neudörffer-Ausgabe S. 28 mit Recht, daß Luthers Name 
damals erst im Begriff war, bekannt zu werden, und daß noch niemand an einen 
Bruch mit der alten Kirche dachte. Nicht einmal Luther selber. Aber welches 
nun auch die Ursachen der Geldstockung gewesen sein mögen, für uns Heutigen 
haben sie ungewollt die gute Folge gehabt, daß den Söhnen des Altmeisters ein 
stärkerer Einfluß ermöglicht wurde, so daß aus dem gotisch geplanten Denkmal 
schließlich die erste große Schöpfung der deutschen Frührenaissance geworden ist. 


Andreas Würfel berichtet: 


Die angesehensten Bürger in Nürnberg werden Ао. 1319. d. 17. Martii, in die Sebalde 
Kyrchen zusammen beruffen'), und ermahnet, zu Errichtung des Grabes Sebaldi, einen 
Beytrag zu leisten. 

Lieben hern vnd frevndt. Lasarus Holsschuer kirchenmeister dez geleichen Peter Imhof vnd 
Siegmund Fürer alz verordet vnd verwalter des lieben hrn Sant Sebolt ) ein new grab’) auf zu richten 
auch ich als ein unwürdiger Pfleger‘) dieser kyrch Sant Seboltes, die haben euch pitlich ansuchen 
hieher zu kommen erfordern lassen. Vnd das darumb, ich bin on tsweiffel ir alle oder der Merer 
tayi auß euch, dem sey wisset vnnd noch Ingedenk, wie des vor 10 oder 12 Jaren vngefärlich 
guter Meynung fürgenommen ist, dem lieben Herrn Sant Sebolt, der vnser aller Patron ist, ein new 
grab in seiner Kirchen aufzurichten vnd daselbig nach ewren ratt vnd gut bedüncken zw machen 
firgenommen ist, nit von stain, nit von holtz, Sunder von kupffer, damit es dester lanckwiriger, als 
es on tzweiffel am pesten ist. Vnd so nun derselben tzeit verortnet worden sint, nemlich Peter im 
Hof wnnd Sigmund Fürer, als verwalter SolchB Grab zu uertig machen lassen, wie sy dann der- 
selben tzeit, dasselbig verdingt vnd angedingt haben, nemlich Maister Petern Fischer pel et katherina, 
der iezt alspald auch vor augen ist, vnnd was Ime dafür fir ein Summ gegeben werden sol das get 
sein weg, vnd so nun solch grab zu Ende verfertigt ist, das es, ob Got wil, noch vor Ostern oder 
pald darnach aufgesezt mag werdens) aber jezo erscheinet dieser mangel in der Sach, das man, an 
dem gemelten grab, Ime dem meister Peter daran hintterstellig schuldy sein wirt pey 7 in 8 guiden 
vngefarlich, wie sich das am gewicht vond in rechnung erfinten wird. Auf das haben wir euch er- 
fordern lassen, und wollen euch güttlich vnd freuntlich pitten іг wollet darinnen ratten vnd helffen, 
euer allmußen milttiglich darzu raichen und geben, dargegen wert ir on tzweyfiel nit allain von Gott 
dem allmächtigen, Sunder auch von den lieben hern Sant Sebolt der vnser aller Patron ist, an Sel 
уппа layb reiche belunung entpfahen vnd hoffen, auch, er wird euch in allen ewren handlung vnd 
hantierungen, deßder glücklicher sw Steen, Se wollen wir auch, das für vnser Person, vmb euch Alle 
sämtlich vnnd Sunderlich, mit willen vnnd gern verdienen; was nun ewer jeder nach Seiner Gelegen- 
heit vnnd nach Seiner andacht pey Im entschliessen wirt daran tzu geben, es sey wenig oder vil 
der mag solches in so oder 14 tagen vngefärlich dem Peter im Hof oder Sigmund Fürer anzeigen. 
Solch ir allmussen Ir ainen peyhendig machen vnnd zw stellen, damit das gemelt grab, von Meister 
Peter erhebt vnnd ledig gemacht werde, уппа so ir nun also vernommen habt, warumb ir erfordert 
seyt, darneben vnser pitlich ansuchen gehört habt, So wollen wir euch nit länger aufhalten, mügt 
darauf abgeen, уппа ewch in solchen halten, wie vnnser vertrawen tzu euch Stet, dargegen die Be- 
lunung nehmen, wie vor gemelt ist. 


Erläuterungen:: 1) Diese Convocation geschahe 3. Tag hinter einander, und erschienen von 
denen Herren Kaufleuten nur allein in die 180 Personen. 2) Von dem H Sebaldo ist Nachricht zu 
suchen, in Moller) Dissertatione de S. Sebaldo. Wagenseil in Comment. de Civitat. Norib. р. 37 seq. 
hat die Geschichte des Heil. Patrons und Beichtigers sant Sebalds mitgetheilet. Vertrautes Send- 
schreiben an Herrn J. H. von Falkenstein, darinnen die Ehre des Heil Beichtigers Sebaldi gerettet 
wird. Folio 1735. 3) Neu Grab. Von diesem Grab ist zu lesen, Wagenseil Comm. de Civitate 
Norib. р. 64 ssq. histor. Nachrichten von Nürnberg p. 322 a. 1519. 4) Das war Herr Anthoni Tucher, 
der ist von a, 1505 biß 1523, Kirchenpfleger bey St. Sebald gewesen. 5) Dieses Grab ist besag der 
histor. Nachrichten von Nürnberg р. 322. allererst den 19. Julii aufgesezet worden. 


CARL GUSTAV CARUS UND DAS NATUR- 
BEWUSSTSEIN DER ROMANTISCHEN DEUT- 
SCHEN MALEREI Von ECKART v. SYDOW 


Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck 


EN Umkreis des Lebens und der anregenden Tätigkeit von С. С. Carus er- 
schöpft sich nicht mit dem Hinweis auf die weitverstreuten Resultate seiner 
Malerei und Zeichnung. Man könnte zweifeln, welcher Berufskategorie man ihn 
eingliedern sollte, wenn man die Fülle seiner Veröffentlichungen überblickt, und 
dabei Arbeiten in allen möglichen Wissensgebieten feststellt; allgemein natur- 
wissenschaftliche, philosophische, ärztliche, literarisch - kritische, ästhetische und 
schließlich autobiographische Themata ermunterten ihn unaufhörlich zu seinen oft 
mehrbändigen Werken, die annähernd zwanzig Bücher umfassen. Nimmt man dazu, 
daß er lange Zeit ein vielbeschäftigter Arzt Dresdens war, dann als Leibarzt des 
sächsischen Königs repräsentativen Verpflichtungen unterlag, — erwägt man seine 
ausgesprochene Liebe für das Theater und durchzählt den großen Kreis seiner Be- 
kannten und Freunde, mit denen er einen anscheinend regen mündlichen und schrift- 
lichen Verkehr aufrecht erhielt, so sieht man eine rastlos tätige Lebendigkeit, 
die allüberall sich versuchte und die Spuren ihrer Tätigkeit hinterließ. Und nun 
noch ein großer Reichtum malerischer Produktivität! Das Erstaunen über solche 
fast unglaubliche Tatkraft wird nicht geringer, wenn man bedenkt, daß eine ähn- 
liche Vielseitigkeit unter seinen Zeitgenossen in der ersten Hälfte des ı9. Jahr- 
hunderts nicht ungewöhnlich war: Die ganzen damaligen Generationen waren maß- 
los produktiv! Aber doch eignete weder Immanuel Hermann Fichte, noch den 
Humboldts, weder den Schlegels, noch Ludwig Tieck diese unermüdlich alle Lebens- 
gebiete beobachtende, anregende und ausführlich bearbeitende Kraft der Auffassungs- 
fähigkeit und Darstellungsgewandtheit. In gewissem Sinne möchte man an Goethe 
denken, wenigstens um einen Vergleich für die allseitige Weltanschauung zu finden, 
die Carus eigentümlich war, — diesem eigentümlich war natürlich nur in weit 
geringerem Maße des Wertes. Denn es läßt sich freilich nicht verhehlen, daß die 
Schnelligkeit seines Intellektes die Tiefe oder gar die Originalität seiner instink- 
tiven Spürkraft unvergleichbar übertraf. Läge in der Formulierung nicht eine 
allzu herabsetzende Nüance, so möchte man Carus als den Goethe des Mittel- 
standes bezeichnen. Das unmittelbar Tatsächliche der allseitigen Rezeptivität 
wäre durch diese Wendung richtig bezeichnet. Nicht nur insofern als Carus selbst 
sich als nahen Jünger Goethes gefühlt hat, auch nicht nur insofern, als Goethe 
selbst ihn schätzte, — sondern die vielfältige Identität der Interessen des altern- 
den Meisters mit der Richtung und den Ergebnissen der Studien, die Carus mit 
nie rastender Einzigkeit betrieb, brachte eine große Zahl von Berührungspunkten 
hervor, die Carus in seinen „Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten“ zu be- 
tonen nicht müde wird und die in der Tat auch zugestanden werden muß. 
Der qualitative Unterschied bleibt bei alledem bestehen. Betrachtet man die in 
jenem vortrefflichen autobiographischen Werke ausgebreitete Regsamkeit des 
Lebens, prüft man den inneren Wert dieser Aufzeichnungen, und findet man dann 
einzelne, wirklich wundervolle Briefe Goethes an Carus an passender Stelle aus- 
führlich eingereiht, so hət man den Eindruck, als führen wir bequem- gesellig auf 


31 


einem vielfältig sich durch reiches, weites Land zerteilenden und breitem Flusse 
dahin, aus dessen gewaltigen Uferhöhlungen her ein dumpfes und erhabenes Brausen 
orphisch dunkel widerhallt. Der riesenhafte Schatten des großen Meisters ist der 
wahre Hintergrund des reichhaltigen Daseins von Carus, das sich in der säch- 
sischen Hauptstadt abspielt und das durch den engen Verkehr mit Tieck, C. D. 
Friedrich, Krause, Rietschel usw., dann durch die entferntere, aber wirkungsvolle 
Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt usw. eine erstaunliche Weite gewinnt. 

Was dieser Mann für die damalige Geistigkeit bedeutet hat, ließe sich erst auf 
Grund von eingehenden wissenschafts- und gesellschafts-geschichtlichen Studien 
zeigen. Die folgenden Ausführungen möchten die Wandlung beschreiben, die das 
romantische Naturerlebnis in ihm und in seiner Malerei genommen hat. Sehr zu- 
statten kommt es uns dabei, daß er ausführliche Darstellungen seiner Erlebnisse, 
seiner Theorie hinterlassen hat, so daß sich die Analyse seines malerischen Werkes 
nachprüfen läßt an den Formulierungen seiner eignen Bewußtheit. 


Das Erlebnis. 


Kaum bedarf es nach der jahrzehntelangen Schulung durch die Impressionisten 
der ausdrücklichen Feststellung, daß sich die Wirklichkeit für den Maler als durch 
den Augenschein vermittelt darstelle, — daß also das Erlebnis des Malers wesent- 
lich gründe im Eindruck, den seine Augen entsenden. Für die damalige Zeit galt 
dies freilich nicht. C. D. Friedrich, der Freund Carus’, formulierte den Satz: 
„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst sehest 
dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkel gesehen, daß es zurück wirke 
auf andere von außen nach innen.“ Und Runges Farb-Enthusiasmus entfließt doch 
mehr metaphysizierender Symbolistik, als unmittelbarer, körperhafter Beziehung 
zur Außenwelt. Viel realistischer als dieser beiden Vorgänger und Zeitgenossen 
ist die Natur von Carus gewesen. Möchte man nicht an einen der spätesten neu- 
zeitlichen Impressionisten denken, wenn man seine Naturskizzen liest? — eine der 
lebendigsten möge folgen: „Ich machte einen Gang durch den Großen Garten (in 
Dresden) und auf den Höhen am östlichen Ende, hinter den schönen Kiefergruppen, 
kam mir ein Genuß an wunderbaren Farben und Formen, wie er uns nur an 
glücklichen Tagen zuteil wird. Es hatte vormittags etwas geregnet und gewitter- 
haftes, doch geflocktes und köstlich gefärbtes Gewölk war an dem gedämpften 
Blau des abendlichen Himmels harmonisch verteilt. Der volle segensreiche Duft 
des ersten Juni lagerte sich um die herrlichen Formen, auf denen einzelne Sonnen- 
blicke umherirrten, nur überall glänzte die Natur in zarter Verklärung dem be- 
wegten Auge entgegen. Selbst der Hügel, auf welchem ich stand, war mit dem 
üppigsten Walde eines herrlichen Grases dicht geschmückt und von der dunkel- 
blauen Blüte der hier in ungewohnter Menge wachsenden Salvia pratensis sowie 
von den violetten Biüten des Symphytum, vom herrlichsten Klee, vom Ultramarin- 
blau der Ajuga pyramidalis und anderem reizend geziert. Jeder Gedanke wurde 
ein Gebet und der Hügel zur geheiligten Stätte des Herren!“ (aus 1817). Oder 
ein Jahrfünft später eines der vortrefflichen „Fragmente eines malerischen Tage- 
buchs“: „Januar 1823. Letztes Viertel des Mondes ... Abendspaziergang nach dem 
Großem Garten nach 4 Uhr. — Vor dem Tore schneidend kalt, reiner Himmel; 
im Westen viel rötlich-grauer Dunst, darüber Abendröte. Der bläuliche Dunst 
(erleuchtetes, trübes Vordunkel, deshalb blau) überzog die obere Hälfte der Bäume. 
Schneefläche vor den Bäumen ins Violettgrau, immer dunkler als Himmel, an 
welchem am hellsten rosarötliche Flockenwélkchen erscheinen, welche durch den 


32 


TAFEL 12. 


С. G. Carus: Fingalshöhle (um 1845) 0,91>1,15 m 
bei Pastor Rietschel, Leipzig. 


С. G. Carus: Schloß Warwick in Schottland (um 1845) 0,52><0,71 m 
bei Pastor Rietschel, Leipzig. 


Zu: E. v. Sydow, Carl Gustav Carus und das Naturbewußtsein der romantishen deutschen Malerei. 


oberwärts sich verlierenden Dunst am westlichen Himmel sichtbar wurden. Im 
Walde war eine Durchsicht gegen Osten schön, wo nur der Schnee gegen die 
aufsteigende Nachtdämmerung, welche oberwärts in reines Blau verklang, hell er- 
schien. Die näheren Bäume waren aus Violett ins Orange gehalten, ein vorragen- 
der Ast mit ockergelbem Laube trug wie die anderen horizontalen Zweige zier- 
liche Schneelichter. Weiterhin wurde das Violett duftiger und ein noch weiterhin 
ausgebreiteter vorspringender Baum war in dunstiges Bläulichgrau gehüllt.“ 

Diese reine Empfänglichkeit für das Farbig-Anschauliche der Natur begleitete 
ihn auf seinen Reisen durch Deutschland, Italien und die Schweiz (1828), die Rhein- 
gegend und Paris (1835), und durch England und Schottland (1844). Manchmal 
formt sich der Eindruck zu solchen Notizen, wie diese hier: „GegenPirna zu brach 
ein rosenfarbiges Morgenrot über den Rohrsberg hervor und stand gut zum dunkel- 
bewölkten Himmel, fast wie ein feurig aufblitzendes Liebeslicht zu einer dunkel- 
gestimmten, tiefsinnigen Gemiitsart. In den Tannengebirgen gegen Gießhübel 
dampften dicke Nebel auf, Schneeflächen wurden häufiger sichtbar und die kalt 
durchziehende Luft gab der Gegend noch mehr winterlichen Charakter,“ — so 
beginnt die Reisebeschreibung der Fahrt durch Deutschland, Italien und die Schweiz. 
Oder Carus beschreibt kurz skizzierend eine nächtliche Wanderung durch das 
Kolosseum: „Noch nie habe ich ein Menschenwerk gesehen, welches so sehr als 
Naturwerk mir erschienen wäre, als dieser Riesenbau! — Und dabei nun alles so 
eigentümlich! — Die ruhigste, angenehme, kühle Nacht — von weitem das ein- 
tönige Geräusch des Marmorsägens — Geruch von blühendem Klee an den Wänden 
— Nachtigallen nah und fern — mitunter Eulenruf — dazwischen ein Schuß.“ 

Das Verschwimmende der Atmosphäre, das Zerfallende alter Ruinen, das Ver- 
blaßte der Farben liegt ihm immerdar am nächsten. Das Mondlicht spielt dabei 
eine große Rolle mit seinen gespensterhaften Effekten. Fast immer sind es abend- 
liche und nächtliche, manchmal auch morgendliche Stimmungen, deren Farbigkeit 
Carus beobachtet und fühlt, nur selten kommt auch die Tageszeit zu ihrem Recht. 
Fast ausschließlich ist Carus auf das, was ihm als „romantisch“ gilt, eingestellt, — 
so merkwürdig dies mit seiner selbstsicheren Lebensführung kontrastiert. Er selbst 
erklärt den Widerspruch zwischen seinen Lebenstendenzen auf lehrreiche Art. 
„Leichensteine und Abendröten, eingestürzte Abteien und Mondscheine, die Nebel- 
und Winterbilder, sowie die Waldesdunkel mit sparsam durchbrechendem Himmels- 
blau, sind solche Klagelaute einer unbefriedigten Existenz (der modernen Zeit).“ 
Und in seiner Biographie bekennt er, daß er (den eigentlich immer in der Tiefe 
des Gemütes ein Zug leiser Melancholie überschatte), „das innerste Geheimnis 
der Seele von schwerer Trübung zu reinigen“ unternahm, indem er „dunkle Nebel- 
bilder, in Schnee versunkene Kirchhöfe und Ähnliches in bildlicher Komposition 
entwarf.“ 

Sein Naturerlebnis beschränkt sich freilich nicht auf die Konstatierung von Wahr- 
nehmungen. Mögen sie bei ihm auch noch so feinfühlend sein, — was ihn von 
der Neuzeit unterscheidet, ist der Schellingsche Gedanke der „Welt-Seele“, freilich 
mehr in der Art Goethes in das Idyllische gewendet. Religiöses Pathos klang ja 
in dem ersten der zitierten Stücke an. — Es tritt das romantisch Sentimentale 
der damaligen Zeit hinzu und wendet das Farbige ins Symbolhafte um: Töne und 
Farben drücken Gemiitsstimmungen aus. 

Ein interessanter Zug der inneren Wandlung Carus’ macht sich bald bemerkbar, 
wenn man seine drei Reisebeschreibungen vergleicht. Da zeigt sich eine all- 
mähliche Abschwächung der ursprünglichen Auffassung, ein gemaches Trockner- 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 1. 3 33 


Fülle seiner noch erhaltenen Arbeiten, deren letzte 1867, drei Jahre vor seinem 
Tode, entsteht. Zwischen beiden Jahren, die also den vierundfünfzigjährigen Zeit- 
raum 1812—1867 einfassen, ist fast jedes Jahr durch ein signiertes Bild zu be- 
legen, — nur in den fünfziger und vierziger Jahren sind nur ein paar Jahre ver- 
treten. Zu den ausgeführten Ölbildern kommen noch sehr zahlreiche Bleistift- 
skizzen hinzu und kleinere Ölbildchen, die zwischen dem Staffeleigemälde und der 
kleinen (oft nur postkartengroßen) Zeichnung vermitteln, — ferner noch Kohle- 
zeichnungen, besonders in seinen späteren Jahren. So zeigt sein Werk einen äußer- 
lich imponierenden Reichtum der Dokumente. Doch ist die Qualität kaum ebenso 
hoch zu schätzen. Denn seine Arbeiten gehen nur zu gut mit den Leistungen 
leidlicher Dilettanten zusammen und sie fallen andererseits ab, wenn man sie mit 
wirklichen Kunstwerken vergleicht. Irgendeine Schwäche steckt in ihnen, allem 
offenbaren Fleiße und gutem Willen zum Trotz, — fast flau wirkt ein Carus neben 
einem Friedrich! Seine eigentliche produktive Kraft ist mit den Bildern erschöpft, 
die aus der Erinnerung an Erlebnisse auf seiner englisch-schottischen Reise ent- 
standen, — ungern betrachtet man die Arbeiten von der Mitte der vierziger Jahre 
ab. Das dauernde Anwachsen der Tendenz, die auf Objektivität hindrängte, ist 
seiner Kunst nicht von Vorteil gewesen, — der Wille zur Gefühlsmäßigkeit, die 
seiner melancholischen Ader entquoll, brachte es in seinem letzten Lebensjahrzehnt 
nur noch zu trüben Sentimentalitäten. 

Dennoch hat man so manchen Genuß bei dem Betrachten seiner Arbeiten, so- 
bald man nur die allzu hohen Ansprüche mäßigt, die er durch seine eigenen Worte 
zur drängenden Forderung sich selbst gegenüber antürmte. Seine Zeichnungen 
nach knorrigen Bäumen, verzwickt sich verschlingendem Wurzelgeflecht, grossen, 
niedrigen Blattpflanzen, führen freilich nur um ein weniges über die naturwissen- 
schaftlich richtige Wiedergabe hinaus. Dennoch liegt oft auch in ihnen ein eigener 
Reiz: ganz ruhig durchstrémt das Leben der Natur diese bis ins einzelnste genau 
abkonterfeiten Dinge, die sich so fein verästeln und die in so breite Blätter aus- 
laufen. Gleichwohl: auch die besten Zeichnungen dieser Art bleiben sozusagen 
um ein wenn auch nur unendlich Kleines unterhalb des Niveaus, auf welchem 
erst das Kunsthafte wahrhaft beginnt, die Dinge der Außenwelt in Elemente 
musikhafter Rhythmik zu verwandeln. Seine Waldwinkel, Häuserecken, selbst die 
Wasserspiegelungen und Wolkenstudien haben ein allzu festes Bestehen, als daß 
sie sich in Schein auflösten. Sie sind auch zu irdisch, als daß sie am Leben der 
Welt, des Kosmos teilnähmen. Und so: noch nicht hereingezogen in den eigent- 
lich kunsthaften Bezirk der selbständigen Form, — noch nicht aufgewachsen zu 
planetarischer Landschaftlichkeit wie bei Koch — auch noch nicht so von seeli- 
schem Gefühl erfüllt wie bei C. D. Friedrich — so müssen sie der letzten An- 
ziehungskraft entbehren, die sie uns zu menschlich sehr wesentlichen Gebilden 
machen würde. Und doch entströmt ein rein naturhaftes Entzlicken so manchem 
Frtihlingsbilde und reizendem Laubgewirr. Und was immer wieder das Interesse 
wachruft und ein gewisses Maß von erstaunter Bewunderung, das ist der Wage- 
mut, mit dem Carus an einzelne malerische Probleme herantritt. Seine Feinfühlig- 
keit allen farbigen Schattierungen gegenüber findet die Bestätigung ihrer literari- 
schen Bezeugung in seinen Arbeiten. Es ist da ganz erstaunlich, wie bravourös 
Carus da und dort bunte, leuchtend helle Töne in dunkleren Schatten einfügt, — 
wie er das leuchtende Grün moosbewachsener Stämme charakterisiert, — wie er 
das Fluktuierende der Wolken am offenen Himmel andeutet. In strengem Ge- 
horsam vor der wahrgenommenen Wirklichkeit schreckt er vor keiner Kraßheit 


36 


С. G. Carus: Frühlingslandschaft des Rosenthals (1814) 0,34><0,43 m 
Dresdener Gemäldegalerie. 


С. G. Carus: Baumstudie (Bleistift) 0,20><0,16 m 


TAFEL 


13 


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momentanen Pinselstrichs zurück! In der Treue gegenüber der Natur und in der 
Feinnervigkeit seines Sehorgans ist er ein Impressionist von reiner Prägung. Wohl 
trennt ihn von der späteren Generation das Bewußtsein von der Gottdurchflossen- 
heit der Erde. Aber am einleuchtendsten ist er doch wohl dort, wo dies Wesen 
gleichsam nur Theorie bleibt, wo er annähernd reiner Naturwissenschaftler ist. 
Sucht er nach „höheren Aspekten“, so versagen doch seine Mittel. Er wirkt dann 
leicht sentimentalisch, trotzdem gerade er die sentimentalen Landschaften ablehnte. 
Solche Häuser, deren rote Fensterscheiben aus dunklem Abend aufleuchten, — 
Wanderer in nächtlich drohender Felsenlandschaft, — Schwäne, die bei Mond- 
schein heranrudern, — sie alle haben etwas innerlich Problematisches an sich. 
Die Theorie der Reinigung der Seele von schmerzlichem Erleben, der er instinktiv 
folgte, findet in der Qualität dieser Gemälde und Kohlezeichnungen keinerlei Stütze! 
(Wie leicht wirkt nicht ein Gefühl unwahr, das aus dem Willen geboren ist. Und 
ist solch Reinigungsprozeß nicht etwas Willensmäßiges? !) 


* * 
* 


Carus ist fast ausschließlich Landschaftsmaler, — das Wort „Erdleben- Künstler“ 
muß man ihm trotz seiner Autorschaft wohl vorenthalten. Aus Deutschland, Italien, 
England, Schottland stammen seine Vorwürfe. Romantische Landschaften bleiben 
sie im allgemeinen. Denn die Vorliebe für Mondnächte und Gebirgigkeiten, für 
Vorfrühlingsstimmungen und Herbstlichkeiten heben sie über das Gewöhnliche des 
Alltags, über das Durchschnittliche empor. Und diese romantische Einstellung be- 
herrscht nun einmal die Mehrzahl seiner Arbeiten — mag man auch seine eigent- 
liche Leistung in den Werken erblicken, die das Romantische nur ganz von 
ferne ahnen lassen. Er war eben doch ein Freund von C. D. Friedrich, mit dem 
zusammen er draußen skizzierte und dem er einen oft geübten Kunstgriff verdankte, 
wie am besten die Einheitlichkeit des Blickfeldes zu erzielen sei: anläßlich eines 
„Mondschein-Bildes“, das Friedrich gefiel, bat ег Carus „eine dunkle Lasur auf die 
Palette zu nehmen und außerhalb des Mondes und der nächst erleuchteten Stellen 
alles, und je mehr gegen den Rand des Bildes um so dunkler, damit zu über- 
tuschen ... Ich tat es, und das Bild war mit eins ein anderes geworden; nun 
erst war die Illusion der Mondbeleuchtung deutlich,“ — so berichtet Carus in seinen 
‚Lebenserinnerungen“, die auch sonst mancherlei von Friedrich mitzuteilen wissen. 
Aber trotz solchem Kunstgriffe, den er dann häufig anwandte, bleibt auch seinem 
Gefühl das gleiche Moment der Schwäche immanent, das seine Wirklichkeits- 
wiedergaben größeren Formates zumeist stigmatisiert. Die Probe des Neben- 
einander mit Friedrichs Arbeiten (sehr deutlich in Dresden) wird zu einer „pein- 
lichen Frage“, die Carus nicht besteht. 

Nur ganz selten hat sich Carus an andere Themata gewagt, als an Landschaften 
oder einzelne Pflanzlichkeiten. Von Interesse ist darunter ein großer ,,Wolfhunds- 
kopf“ in der Lahmannschen Sammlung auf dem Weißen Hirsch-Dresden. Aber 
man denke während seiner Betrachtung nicht an Rayski, dessen Tiere von ganz 
anderer Naturkraft zeugen! — Porträte, in denen er manche berühmte Persönlich- 
keiten, wie die Schröder-Devrient, malte, scheinen nicht mehr erhalten zu sein. 

So bleibt das Wesentliche seiner Hinterlassenschaft die Unzahl von Landschafts- 
bildern in Bleistift, Aquarell, Kohle und Öl, in denen er sein nicht sehr tief gehendes 
aber außerordentlich weitherziges Naturgefühl und eine überaus große Empfindlich- 
keit für die differenziertesten farbigen Erscheinungen der Umwelt dokumentierte. 


* * 
* 


37 


JUGENDWERKE DES M. GRÜNEWALD 


Mit acht Abbildungen auf vier Tafeln in Lichtdruck Von V. С. HABICHT 


nsignierte und durch keine urkundlichen Beweise gestützte Werke und nun 
gar Jugendwerke, also Arbeiten, denen das gesicherte Gesicht der erarbeiteten 
Form fehlen muß, das bekannte (allzubekannte) einer gereiften Persönlichkeit 
diese rührenden Zeugnisse jugendwacher Geister bekanntzugeben, ist ein undank- 
bares Geschäft. Eine Anmaßung scheint an ein gefestigtes Gebäude, einen neidisch 
behüteten Schatz greifen zu wollen — und nur zu begreiflich ist der Widerstand, 
der von Treue zeugen kann, aber auch von Enge, Dogma und Erstarrung. Allein 
— wenn etwas der Wissenschaft Sinn und Berechtigung geben kann, so ist es 
nur die Erweiterung des Wissens und sicher nicht allein das Hüten eines wohl- 
verwahrten Schatzes. Das Wahre spricht gewiß für sich selbst und bedarf keiner 
Entschuldigung. Aber so sicher das Wahre von heute ein Paradox von gestern 
ist, um so nötiger ist es, das Paradox zur Geltung zu bringen. Es bedarf, damit 
es überhaupt gehört und eine Wahrheit werde, der Entschuldigung. Jede captatio 
benevolentiae ist eine Tat der Achtung und des Taktes, und es ist ein gutes Recht, 
sie zu fordern, am ehesten in rein wissenschaftlichen Leistungen, denn hier wird 
mehr an Glauben gefordert als in irgendeiner Dichtung. Denn, sie wendet sich 
an den Widerpart des Glaubens, die schwer besiegbare und zu überzeugende ratio, 
die selbst nichts anderes bedeutet als eine aus Erinnerungen aufgebaute Festung. 
Wie lange es dauert, bis sie eine Erkenntnis in den Ring ihrer Gegebenheiten 
aufnimmt und welcher Mühseligkeiten es bedarf, in sie einzudringen, hat der Ver- 
fasser an diesem Falle selbst aufs genaueste erlebt — und meine captatio bene- 
volentiae soll in nichts anderem als in einem Berichte über dieses Faktum bestehen. 
Ich habe von meiner Heimatstadt Darmstadt aus Erbach (UO. und das Schloß 
mit seinen wenig gekannten Kunstschätzen oft besucht. 1915 fielen mir die Kunst- 
werke, die den Gegenstand dieser Abhandlung bilden sollen, zum ersten Male auf. 
„Grünewald!“ mir schien die innere Antwort auf die Frage nach dem Künstler 
trotz ihrer Bestimmtheit und mangelnder Feigheit zum Bekenntnis unerhört, zweck- 
los und lächerlich. Der Gedanke, die Scheiben zu veröffentlichen und den er- 
lauchten Namen mit ihnen in Verbindung zu bringen, kam mir überhaupt nicht. 
Ich habe die Arbeiten inzwischen noch mehrere Male an Ort und Stelle genau 
angesehen, besorgte mir 1919 die, zu den folgenden Abbildungen dienenden, Photos, 
lediglich in der Absicht, sie als ein Beitrag zur Geschichte der Glasmalerei zu ver- 
öffentlichen. Die Autorfrage, den leisesten Gedanken an Griinewald, ließ ich bei- 
seite. Ich habe die Arbeit nicht abgeschlossen und konnte sie nicht abschließen, 
obwohl mich kaum eine andere so intensiv und langandauernd beschäftigt hat, 
so oft vorgenommen und wieder zurückgelegt, umgearbeitet und geändert worden 
ist — wie sie, weil das ihr Abzufragende künstlich unterdrückt war. Ich habe — 
nach einer erneuten Besichtigung — dem verwegenen Ruf der inneren Stimme 
dann schließlich nachgegeben — und ich glaube, daß sie recht haben muß. Einen 
Ehrgeiz habe ich an der Frage nicht, eine Intuition steht außerhalb aller Beweise, 
mein Erlebnis ist mir nicht zu rauben. Den Mut, von ihm zu sprechen, bringe 
ich gerne auf. Was ich biete, ist keine Hypothese. Fest davon überzeugt, daß 
künstlerische Werte nicht mit der ratio ergriffen werden können, und auch davon, 
daß sogenannte stilkritische Beweise einen circulus vitiosus bedeuten und für letzte 


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Abb. 1. Verkündigung. Kabinettscheibe im SchloBe zu Erbach і. O. 


7. Geburt Christi. Kabinettscheibe i im lass: zu Erbach i. О. 


Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald. 


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Vorstellungen nicht reichen — so gut und sehr brauchbar sie für bestimmte, äußere 
(bekannte) Zwecke sind —, geht diese Untersuchung im eigentlichen einen eigenen 
und neuen Weg. Sie geht von der innersten Bewußtseinslage und Erkenntnisart 
des Künstlers der zu behandelnden Kunstwerke aus, sie weiß aus eigenen Erleb- 
nissen schöpferischer Tätigkeit her um die Identität des schöpferischen Ichs, die 
unwandelbare, und um die Bedingtheit und Nebensächlichkeit der faßbaren Form, 
ganz besonders in den tastenden Werken der ersten Emanationen dieses Geist- 
kernes. Die Schöpferqual ist nichts anderes als der grauenhafte Zwang, in die 
Welt der Erscheinungen hinunterzusteigen. Allein — so bedingungslos die Unter- 
werfung des erwachenden schöpferischen Geistes auch erscheinen mag, so furchtbar 
im Grunde die Übermächtigung durch die sinnlich packbaren Formen ist — meist 
in sklavischer Übernahme vorhandener Ausdruckselemente — so bleibt der Genius, 
und das ist der schöpferische Mensch, doch unverkennbar und gefeit, sehr zum 
Unterschied gegen die vielen und oft sehr tüchtigen Künstler, die eben nur Künstler 
und keine Genien sind. Ein Pieter Lastmann kann keinen Rembrandt, auch den 
in rührender (scheinbarer) Ohnmacht beginnenden und sklavisch Anschluß suchen- 
den, überdecken — und mit Grünewald kann es anders nicht sein. Hätten wir 
von Rembrandt als frühestes Werk nur die Nachtwache, es gehörte ein Heiden- 
mut dazu, ihm das wohl früheste Bild, den Prophet Bileam, zuzuschreiben. Jeden- 
falls wäre dann zunächst einmal von dem Begrifisschatz, der festgefiigten Vor- 
stellung der Form abzusehen. Allein — die Aufgabe wäre immerhin noch leichter 
als unsere, denn es würde sich um Kunstwerke gleicher Art handeln, während wir 
Glasmalereien mit Gemälden zu vergleichen haben. Unsere Aufgabe erfordert Wohl- 
wollen und Geduld. Ein rasch vollzogener Vergleich auf Grund der Form hier 
und dort, ein unbedingtes Haften an dem bekannten Vorstellungsbild: „Grünewald“ 
würden die Anforderung, die gestellt ist, unbillig leicht erledigen. Wir wollen 
den Weg erleichtern und versuchen, ganz unbefangen an die Werke und die Auf- 
gabe heranzutreten. 


1. Der Befund. 


Im Rittersaale des gräflichen Schlosses zu Erbach i/O. befinden sich, in moderne 
Fenster eingelassen, acht Rundscheiben, die im Lichten 30 cm mit einem 3½ cm 
breiten Rand messen. Sie stellen dar: 

te Die Verkündigung (Abb. 1). Die Scheibe ist nicht im ursprünglichen Zu- 
stande erhalten. Die linke Gruppe mit dem auf einem Thron sitzenden Gottvater 
und dem den Thron anfassenden Engel gehörte ursprünglich offenbar zu einer 
Marienkrönung. Das Stück ist echt und alt (ungefähr gleiche Zeit wie die Scheiben: 
Ende 15. Jahrhundert), stammt aber aus einem ganz anderen Kunstkreise und hat 
stilistisch mit unseren Arbeiten nichts zu tun. Von dem ehemals links vorhanden 
gewesenen Engel Gabriel ist nur das Szepter und Spruchband übrig geblieben, 
sowie der untere Teil seines Gewandes, das zu dem darüber befindlichen Gott- 
vater nicht paßt. Ob die unklaren Architekturteile über der linken Gruppe zu der 
ursprünglichen Scheibe gehören, oder gleichfalls (dann von einer dritten) eingesetzt 
sind, ist schwer festzustellen. Alt und original zur Scheibe gehörend ist die Land- 
schaft und die Strahlenglorie: Aber auch dieser Teil wird durch ein dunkles, später 
eingesetztes Stück unterbrochen, das bis zu dem Heiligenschein der Maria reicht. 
Hier und weiter rechts mit einem Stück der Taube beginnt der intakte Teil der 
Scheibe, der den ganzen übrigen Raum füllt. Sind auch die Verluste, namentlich 
der Gestalt des Engels Gabriel, zu beklagen, so bleibt doch genug sowohl für die 


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künstlerischen Absichten. Die aber gehen stark und klar auf die Sache, den Kern, 
die Hauptsache. In großer Ruhe steht Christus dem vom Dämon gequälten und 
gezwackten, von zwei in Anstrengung mitbewegten Männern gehaltenen, Besessenen 
gegenüber. Nur scheinbar jedoch ist die Festhaltung des motorischen Geschehens 
das Ziel. Unendlich wichtiger der Drang, das Dahintersteckende zu bannen. Zum 
Verständnis ist auf den Wunderbericht zurückzugreifen, der am ausführlichsten bei 
Markus gegeben ist. Danach bringt einer aus dem Volke seinen Sohn zu Christus, 
schildert sein Besessensein und sagt: ‚ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß 
sie ihn austrieben, und sie können es nicht.“ Als Vorbedingung fordert Christus 
den Glauben wie bei allen seinen Wunderhandlungen, jedoch in einer schwer ver- 
ständlichen Form, denn er antwortet dem Vater auf die oben zitierten Worte un- 
mittelbar: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie 
lange soll ich mit euch leiden? Bringet ihn her zu mir!“ Und er wird gebracht, 
und der Anfall spielt sich vor Christi Augen ab. Und nun erfolgt auf Christi Frage 
„Wie lange ist es, daß ihm dieses widerfahren ist?“ die Antwort: „von Kind auf. 
Und oft hat er ihn in Feuer und Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte!“ Und 
dann die Worte, die Christi Ausruf: „O du ungläubiges Geschlecht...“ völlig auf- 
klären und rechtfertigen, und die lauten: „Kannst du aber was, so erbarme dich 
unser und hilf uns.“ Sie enthalten Zweifel und Unglauben, wie sie Christus vor- 
ausgesehen und ausgesprochen hat. Und Christus spricht: „Wenn du könntest 
glauben, alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Und alsbald schrie des 
Kindes Vater mit Tränen und sprach: „ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Un- 
glauben.“ Darauf vollzieht sich das Wunder. Wenn irgendein Bericht, so trägt 
dieser für den Tieferblickenden den Stempel der Echtheit an der Stirn. Doch diese 
Frage kann uns hier nicht weiter beschäftigen. Unsere Aufgabe ist, nachzuforschen, 
wie ihn der Künstler verstanden hat. Er hat ihn verstanden; er hat den natür- 
lichen Vorgang, die Hilfe, die Christus dem schließlich überzeugt und ehrlich 
bittenden Vater („hilf meinem Unglauben“) angedeihen läßt, als den Kernpunkt 
erfaßt. Gewiß nicht wissend und im Verstande. Als mittelalterlich denkender 
Mensch und im Dienste eines Auftrages (doch wohl eines Geistlichen) durfte er 
das an sich ja auch keineswegs gleichgültige, sinnfällige Geschehen der Wirkung, 
der Heilung von der Besessenheit übergehen. Aber er hat das Tiefere erfaßt, ja, 
es liegt ihm zweifellos daran, es besonders deutlich zu machen. Wir sehen rechts 
den Vater mit Kopftuch und Judenhut stehen. Die Gesichtszüge drücken das 
Schreien, Weinen und die Wandlung aus. Mehr aber noch wird der Kampf, der 
hier von dem „Wunder“ Heischenden selbst zu bestehen war, durch die seltsam 
gekrampfte, deutlich gezeigte Hand ausgedrückt. Auf den Glauben kommt es an. 
Es gibt keine Wunder für den Glauben, alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. 
Aus keiner anderen Erkenntnis ist die — nach den Evangelien unmotivierte — 
_ Frauengestalt zu erklären. Was bei der Darstellung des gescholtenen Ungläubigen 
nicht möglich war, hier ist es, aus einem unglaublich tiefgehenden Bedürfnis heraus 
zur Darstellung zwingend, möglich geworden. Diese Gestalt, wohl ohne Zwang 
als die Mutter des Besessenen zu denken, drückt in vollkommenem Grade den 
Glauben aus, der Berge versetzen kann. 

Christus und das Kananäische Weib. (Abb.4). Christus’ Gewand wie auf 3, 
Frau: blaues Untergewand; schwarzes, gelb durchwirktes Kleid (Brokat); Petrus: 
blaues Untergewand, roter Mantel; Apostel am weitesten links: grünes Unter- 
gewand, manganvioletter Mantel; dritter Apostel von links: ganzes Gewand grau- 
weiß. Weg: dunkelgrau; Himmel: dunkelblau. 


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3. Christus treibt Teufel aus. Kabinettsheibe im Schloß zu Erbach i. О. 


4. Christus und das Kananäishe Weib. Kabinettscheibe im Schloß zu Erbach i. O. 
Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald. 


Die Konzentration auf den geistigen Vorgang ist der vorher behandelten Scheibe 
gegenüber noch weiter fortgeführt, die Zurückdrängung der Akzessorien dement- 
sprechend noch stärker. Durch die Isolierung der Christusgestalt auf der einen 
Seite, die Zusammenfassung der „anderen“ Welt mit den Jüngern („Laß sie doch 
von dir, denn sie schreiet uns nach“) und der Fred („Herr, hilf mir!“) auf der 
gegentiberstehenden, erfolgt eine ungewöhnliche Vertiefung des legendarischen Be- 
richtes. Gewiß schimmert auch hier das äußere Geschehen durch, jedoch nur 
soweit, als es für Herausstellung des geistigen Kernes nötig ist. Die unwilligen 
Jünger sind ebenso bedürftig und hilfeangewiesen wie das jammernde Weib. Nur 
ein sehr großer Erleber und Seelenkenner konnte der Gestalt Christi in dieser 
Hilfe- und Wunderszene die Abwehrgeste und den Frage-Vorwurfsblick gegen die 
Jünger geben. Denn hier liegt der Brennpunkt. Das Wunder tritt zurück. Der 
Frau hat der Glaube bereits geholfen. Die Taterzählung, die jeder andere Künstler 
gegeben hätte, der Bericht des Wunders, kümmern unseren Meister sehr wenig. 
Diese einzigartige Erfassung, die von einer heimlichen Begabung des Künstlers 
und von nichts anderem als einem mystischen Erleben aufs klarste zeugt, ist — 
wie schon hier betont werden muß — keine Alltagsgabe. Ihr ist Christus ein 
lebendiges Gut. Was der Verstand der Verständigen nicht sieht, kein Wissen und 
keine ratio je begreifen können, und kein noch so hohes Anbeten des Gottessohnes, 
ist auf einem anderen Wege, von dem wir noch ausführlich zu sprechen haben 
werden, gefunden. Von aller Form abgesehen, ist es diese singuläre Gabe, die 
das Eigentliche und Wesentliche dieses Künstlers ausmacht. Doch wir wollen 
unserem Ziel nicht vorauseilen und uns zunächst auf die bloße Beschreibung be- 
schränken, 

In einer aufs allernötigste beschränkten Landschaftsdarstellung erscheint Christus 
rechts allein vor einem tief hinter seinem Rücken sich herabsenkenden weißen 
Hintergrund. Die auffallende Isolierung und Betonung der Gestalt entspringen nun 
keineswegs der flachen Absicht, „die zwei Welten“ gegeneinanderzustellen, sie 
zwingen vielmehr vor allem zur Beachtung der eigentümlichen und kühnen Auf- 
fassung und Behandlung der Hauptfigur. Die alles überragende Gewalt des Meisters, 
des „Wundermannes“, der er in diesem Fall eo ipso auch ist, verdeutlicht kein 
äußerliches Mittel, wie Größenmaßstab, Gewand, Attribute, Geste. Ich sehe nichts 
in die Darstellung hinein, ich sehe mich aber auch außerstande, die magische Kraft 
zu beschreiben, einfach deswegen nicht, weil es keine erklärbaren Mittel sind, mit 
denen die Wirkung erreicht wird. Alle Formen sind nur ein Fingerzeig, Pfade 
zur Erkenntnis des Wesentlichen, das nur erlebt werden kann. Aus der kompakten 
Masse der Gegenspieler tritt zunächst die kniende Frau deutlich hervor. Die 
gläubig gebreiteten Hände, der erstaunte Ernst und die Andacht der angespannten 
Züge sprechen voll und deutlich das aus, was nach dem Bericht zuerst von dieser 
Gestalt zu sagen ist. In eigentümlichem, gewolltem Gegensatz zu dieser Inner- 
lichkeit steht die prächtige und phantastische Gewandung; d. h. so ist nicht genau 
gesprochen. Die Gegensätzlichkeit beruht auf der Gegenüberstellung dieser Figur 
überhaupt zu den Aposteln. Damit ist eine fundamentale Erkenntnis aufgewiesen, 
nämlich die, daß Glauben und Erleben des Göttlichen an nichts Äußerliches ge- 
bunden sind, daß kein Privileg dazu verhelfen kann und daß die Gnade stets aufs 
neue erworben werden muß. Von den Aposteln selbst sind drei als Ausdrucks- 
träger vorgeschoben und allein von der seltsam primitiv, zweidimensional dar- 
gestellten Gruppe abgelöst. Der Einwand, die Klage gegen das Weib, der leichte 
Vorwurf gegen Christus werden von dem am weitesten rechts stehenden (Petrus?) 


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Auferstehung (Abb. 8). Die Scheibe ist leider schlecht erhalten, wenigstens 
ist die fehlende Hauptfigur, von der nur der rechte Fuß des heraustretenden Beines 
noch geblieben ist, mit keiner Phantasie zu ersetzen und ihr Verlust sehr zu be- 
klagen. Daran kann auch die Tatsache nichts mildern, daß im großen das alte, 
übliche Motiv des Heraussteigens aus dem Sarkophage gegeben gewesen sein muß. 
Die Farbtöne der erhaltenen Teile lassen allerdings keinen Zweifel, daß doch ein 
gewichtiges, neues — und auch für unsere Autorfrage bedeutsames — Moment 
eingeführt ist: das Licht, das von der magisch verklärten Gestalt des Auferstan- 
denen ausgegangen sein muß. Die in silbergrauen Tönen, mit braunen Schattie- 
rungen gehaltenen Rüstungen spiegeln im Metall ein helles, seltsames Licht, ebenso 
die meist gelb gehaltenen Gewandteile und der braunrosa gegebene Sarkophag. 
Altertümlich dagegen wieder die Benutzung des assistierenden, den Sarkophag- 
deckel hebenden und beiseite schiebenden, Engels. Zwar nicht neu, aber doch 
stark gefühlt und selbst erlebt erscheint die Skala der psychologischen Reflexe 
innerhalb der Wichtergruppe. Dumpfer Schlaf, geblendetes Erwachen, taumelndes 
Getroffensein und blöde Verwunderung wechseln von rechts nach links herum 
Wie primär und geschlossen die Visionen unseres Künstlers sind, wissen wir; wie 
empfindlich die Herausnahme eines Teiles, und gar des Hauptteiles, stört, sehen 
wir hier. Gewiß hat im ganzen die breite Diagonalbasis des Sarkophags nicht 
die Bedeutung gehabt, wie es jetzt erscheint, da dieses nebensächliche Stück um 
Beachtung und Zuerkennung einer Bedeutung trotzt. Auch scheinen mir die Frei- 
heiten in Bewegungsdarstellungen, die Kühnheiten der Überschneidungen, die 
Schärfe der Beobachtung nicht überschätzt werden zu dürfen. Sie sind hier nur 
gegeben, weil das Thema diese schärfere Berücksichtigung sinnfälliger Gegeben- 
heiten, die zugleich die Bannung in die niedere Seinsstufe versinnbildlichen, forderte. 


2. Vorläufige kunsthistorische Einreihung. 


Nach einer gütigen Mitteilung der gräfl. Erbach-Erbach und Wartenberg-Rothischen 
Rentkammer ist über die Herkunft der Scheiben folgendes bekannt. Im handschrift- 
lichen Katalog Nr. 15 ‚Description der Sammlungen des Schlosses zu Erbach“ 
(vom Grafen Eberhard zu Erbach 1876 verfaßt) findet sich S.61 folgender Eintrag: 

„Zwischen diesen uralten mandelförmigen Wimpfener Scheiben wurden zur Com- 
plettierung der Renaissance schon angehörige, feine runde Glasgemälde gefaßt. 
Auch sie vergegenwärtigen Szenen aus der Heilsgeschichte und bilden einen kleinen 
Kreis von Glasgemälden, welche vom Grafen Karl!) in Ulm erworben wurden, und 
der mit dem XV. Jahrhundert angebahnten Vervollkommnung dieser Kunst angehören, 
sie entstammen der Kiinstlerhand Carlettos.“ Außer dieser Erwähnung findet sich 
keine in den übrigen 19 handschriftlichen Katalogen. Da Graf Karl bereits 1832 
starb, sind auch die obigen Provenienzangaben, die erst 1876 vom Grafen Eber- 
hard angegeben werden, nicht absolut sicher und jedenfalls mit Kritik zu benutzen. 
Die weitere Beschreibung und Bestimmung braucht uns nicht zu beschäftigen. 

Wissenschaftliche Behandlung haben die Scheiben bis jetzt nur in anderem Zu- 
sammenhange erfahren. In Verbindung mit dem berühmten Glasmaler Hans Wild 
werden sie ganz kurz bei Frankl in seinem Buche?) und in dem H. Wild gewid- 
meten Aufsatz?) erwähnt, ohne daß sich Frankl zu einer Zuschreibung an H. Wild 


(1) regierte 1823—32. 

(a) vgl. P. Frankl: Die Glasmalereien des 15. Jahrhunderts in Bayern und Schwaben. Straßburg 1912, 
Seite 169. 

(3) id.: Der Ulmer Glasmaler H. Wild. (Jahrb. d. k. preuß. Kunstsammlungen. 33. Bd. Berlin 1912, S. 77. 


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Abb. 5. Speisung der 5000. Kabinettsheibe im Schloße zu Erbach і. О. 


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Abb. 6. Steinigung im Tempel. Kabinettsheibe im Schloß zu Erbach і. О. 
Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald. 


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entschließt, zumal er die Werke nicht aus Autopsie kennt. Eine kritiklose Zu- 
weisung ап Н. Wild nimmt Fischer!) vor. Am eingehendsten und wertvollsten 
sind die Werke bei Schmitz?) behandelt, der sich aber auch mit der Reproduktion 
von zwei Scheiben begnügt, die Zuweisung an H. Wild ablehnt und wichtige Hin- 
weise auf die stilistischen Verbindungen mit der rheinisch-elsässischen Schule gibt. 

Zu dem Gedanken an H. Wild als Autor mag wohl zunächst die erwähnte Pro- 
venienzangabe verführt haben. Auch wenn sie stimmen sollte, ist mit dem Ankauf 
der Scheiben in Ulm natürlich nichts Endgültiges über die wirkliche Herkunft aus- 
gemacht. Überdies lehrt ein kurzer Vergleich, daß unsere Scheiben mit der sehr 
ausgeprägten und von Frankl genügend deutlich gemachten Kunst H. Wilds nicht 
in Verbindung gebracht werden dürfen. Es genügt, auf die in jeder Hinsicht 
andersartige Auffassung und Darstellung gleicher und ähnlicher Szenen zu ver- 
weisen und etwa die Auferstehung der Magdalenenkirche zu Straßburg?) und die mit 
ihr fast genau übereinstimmende des Ratsfensters in Ulm‘) mit der unserer Scheibe 
oder die Szenen der Heilung des Везеззепеп 5) und des kananäischen Weibes“) 
des Ulmer Ratsfensters mit den Erbachern zu vergleichen. 

Wir nehmen die von Schmitz gewiesene Spur auf und werden in der Lage sein, 
engere Beziehungen zu den elsässischen Werken aufzuweisen, allerdings nur solche, 
die die Anlehnung oder das Übernehmen brauchbarer Formen durch unseren 
Künstler verraten. Es handelt sich vor allem um die Scheiben im nördlichen Quer- 
schiff von St, Georg zu Schlettstadt”) und um die der Pfarrkirche zu Zabern’), 
für die wir bei Bruck Bestimmungen vorfinden. Bruck verlegt die Schlettstadter 
Fenster mit der Legende der hl. Agnes in das Ende des 15. Jahrhunderts “), die 
der Marienkapelle zu Zabern in die Zeit um 1465 und nimmt für sie Entwürfe 
des Н. Isenmann ап!) (eine Annahme, die ohne Grund von Fischer übernommen 
wird). Für unsere Zwecke genügt es, festzustellen, daß die beiden Fenstergruppen 
aus der Zeit um 1470 stammen, jedenfalls vor den Erbacher Scheiben entstanden sind, 

Sie können für uns — wie bemerkt — lediglich zur Herleitung des Stiles der 
Erbacher Arbeiten herangezogen werden. 

Ich wähle zunächst ein Beispiel der Schlettstadter Fenster: die Vorführung der 
hl. Agnes vor dem Präfekten. 

Da wir sahen, daß sich das Interesse des Meisters der Erbacher Fenster auf die 
Physiognomik geradezu stürzt, daß hierzu im Formalen mit ein Kernpunkt dieser 
Arbeiten zu suchen ist, versteht es sich, nach Anregungen für diese Erscheinungen 
Umschau zu halten. Der Präfekt und die beiden Schergen der Szene bieten voll- 
kommene Gelegenheit, eine Schärfung der Individualbeobachtung mit einem hart 
an die Karikatur streifenden Zuge festzustellen. Der Henker rechts mit seinen 
Negerlippen, der Knollennase, den gekniffenen Hundsaugen ist ein gutes Beispiel 
dieser Übertreibung, zugleich etwas wie ein Vorläufer des Besessenen unserer 
Teufelaustreibungsszene etwa. Der andere Henker mit seinem geöffneten Munde, 
der hängenden, vorgeschobenen Unterlippe ist etwa mit dem vorderen Henker der 
Teufelaustreibungsszene zu vergleichen. 

Ähnliche oder geradezu karikierende Physiognomien weisen die Fenster in Zabern auf. 


(1) vgl. J. L. Fischer: Handbuch der Glasmalerei. Leipzig 1914, S. 158. 

(2) H. Schmitz: Die Glasgemälde des k. Kunstgewerbemuseums in Berlin. Berlin 1913, 8.101. 

(3) R. Bruck: Die elsässische Glasmalerei. Straßburg 1902, 8. 138 und Taf. 67. (4) Jahrb. d. preuß. 
Kunstslgn. 1912, Abb. о (S.49). (5) Jahrb. d. preuß. Kunstsign. 1913, Abb. 7 (8. 45). (6) Jahrb. d. 
preuß. Kunstslgo. 1912, Abb. 7 (8. 45). (7) vgl. Bruck: a. а. O., Taf. 61. 8) id.: Taf. 53 und 54. 
(9) id.: Seite 127. (10) id.: Seite rogff. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 1. 49 


Es kann auch kein Zweifel sein, daß die neue Bewegung am Ausgang des Mittel- 
alters, die man gemeinhin als Sondergotik zu bezeichnen pflegt, die dem Renais- 
sancegeist und seiner Kunst erliegen mußte und dienur wenige einheitliche Schöpfer- 
persönlichkeiten hervorgebracht hat, von diesen Kräften besonders stark erfüllt 
gewesen ist. Allein — mit dem bloßen Willen ist es nicht getan. Eine Aus- 
erwählung, die Beschenkung mit einer seltenen Gabe müssen dazu kommen, wenn 
diese Einstellung zu mehr als gewöhnlichen Ergebnissen führen soll. Versteht man 
unter Mystik das unmittelbare Ergreifen der geheimen Wirklichkeit — und dies 
ist der Urgrund, von dem aus sich alle weiteren Erkenntnisse des eigenen Ichs usw. 
von selbst ergeben —, so ist es diese Gabe (die durchaus keine Zeiterscheinung 
ist), die uns in höchstem Maße bei dem Schöpfer unserer Scheiben entgegentritt. 
Der Gedanke an eine denkbare Beeinflussung oder an Wünsche des Bestellers ist 
deshalb als unmöglich abzuweisen, weil sich diese Einsichten nicht mitteilen lassen 
oder wenigstens nur dem, der die gleichen Erlebnisse urtiimlich besitzt. 

Wie sehr und ausschließlich dieses Seinserlebnis oder die religiöse Gabe (was 
dasselbe ist), das Zentrum des künstlerischen Schaffens und damit den Schlüssel 
zum Verständnis bilden, ist an der Formsetzung nachzuweisen. 

Im Gegensatz zu den schweifenden Gebilden einer der ratio entstammenden 
Phantasie hat die Schau oder die Vision von vornherein den Charakter des Ge- 
schlossenen, einfach deswegen, weil eine Wahrheit oder Seinserkenntnis eine ein- 
deutige sein muß. Diese aus Einfalt geborene und an Einfalt gemahnende Einfach- 
heit und Unbeirrbarkeit gewähren ein einheitliches Gebilde. Die Werksetzung 
besteht in nichts anderem als der Wiedergabe, sie stellt eine organische Ein- 
heit dar. Bei den sämtlichen Scheiben ist dieser primäre Akt unverkennbar. Kein 
Wissen und Suchen trägt Einzelelemente, die als brauchbar erkannt sind, zusammen; 
wohlverstanden im wesentlichen — in der Schau, der Vision. Diese steht klar 
und unverrückbar fest. Das geistige Geschehen wird als Spannung, als Kontrast 
erlebt, nicht nur, wo dies selbstverständlich ist: bei den Christusszenen, auch bei 
der Darstellung der Verkündigung etwa. Hieraus erklärt sich die Abweisung alles 
Unnötigen, die Vermeidung von Leere und der Anbringung von rein füllenden Bei- 
gaben aus ästhetischen Gründen. Die Spannungspole sind in den Figuren straff 
festgehalten, jede einzelne Gestalt in die eine oder andere Seite einbezogen. 

Zur Verwirklichung dieser Absichten dienen eine Reihe — zweifellos unbewußt 
verwandter — Mittel, die für uns aber zur Erkenntnis der Art der Materialisierung 
— und auch der Künstlerpersönlichkeit von hohem Werte sind. Das Wechselspiel 
der polaren Geistkräfte, das Hin- und Herfluten sinnfällig zu machen, kann kaum 
etwas anderes als die Diagonale besser dienen. Es sei im Voraus aber noch ein- 
mal ausdrücklich betont, daß es sich hierbei um sekundäre Dinge handelt und 
daß das Eigentliche und Wesentliche in der Gesamtschau, der Fixierung der Vision 
bereits gegeben ist. Besonders bei den Wunderszenen (Speisung, Heilung und 
kananäisches Weib) tritt die Diagonale als Hilfsmittel der Verdeutlichung stark 
hervor. Es genügt, auf die Speisungsszene aufmerksam zu machen und darauf hin- 
zuweisen, wie hier von den Händen Christi zu denen des Johannes eine Diagonale 
aufsteigt, die in den vorgestreckten Armen des brotverteilenden Apostels wie in 
zwei Antennen nach abwärts schießt. Zugleich wird hier deutlich, daß die Form 
keinen Selbstzweck hat, daß mit diesen beiden Diagonalen der „Stromleiter“ un- 
zweideutig gemeint ist. Eine natürliche Folge der künstlerischen Gesamtabsicht 
st die gleichzeitige Bevorzugung von Parallelen, schon deswegen verständlich und 
nötig, da es sich öfters darum handelt, die Polarität in mehreren Gestalten an- 


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TAFEL 17. 


Abb. 8. Auferstehung. Kabinettsheibe im Schloße zu Erbach i. O. 


Zu: V. C. Habicht: Jugendwerke des M. Grünewald. 


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zudeuten (z. B. parallele Haltung der Köpfe bei dem Vater des Besessenen und 
der Frau.) 

Gegenüber diesen klaren, bedeutungsvollen Linienelementen finden sich solche, 
die allgemeiner von dem inneren Spannungsverhältnis des Künstlers selbst sprechen. 
Ich meine vor allem die reichen und komplizierten Faltenspiele, die in der Ge- 
wanddarstellung Verwendung finden. Unbestreitbar handelt es sich in der Vor- 
liebe für diese Dinge, wie ebenso stark in der stilistischen Gestaltung, um all- 
gemeine Erscheinungen der Zeit. So merkwürdig es für den ersten Augenblick 
auch klingen mag, so sehen wir doch selbst in der Behandlung der Figur und in 
dem Ausdruck der Köpfe sekundäre Werte, die jedenfalls gegenüber der Stärke 
der geschlossenen Vision bei dem jungen Künstler zurücktreten. Sie sind zum 
Teil, wie wir bereits sahen, Formgut der Zeit. Das Erstaunliche liegt weniger 
im Gegebenen als zu Erahnenden. Denn hinter dem entlehnten Formengut spricht 
doch deutlich die eigenwillige und starke Persönlichkeit und zuweilen gelingt es 
ihr auch, das ihr Vorschwebende neu und mit eigenen Mitteln zu bannen. Ich 
verweise auf den Christus der Brotvermehrungsszene oder auf die Apostel am 
weitesten links auf der Szene mit dem kananäischen Weib. Das gleiche, nämlich 
die Erkenntnis der Bedeutung, das klare Wollen und das nur teilweise Gelingen 
gilt für die Darstellung der Hände. Wundervoll, bedeutungsvoll und in vollendeter 
Realität (womit hier alles andere als die Tagesrealität und Naturalismus der Dar- 
stellung gemeint ist), z. B. die Hand Christi beim Einzug oder die des Vaters bei 
der Heilung des Besessenen. Der Gegenbeispiele sind so viele, daß sie nicht ge- 
nannt zu werden brauchen. 

Eine eigentümliche und wichtige Rolle spielen schließlich noch die Farben. Zu- 
zugeben ist auch hier wieder, daß wir in dem expressiven Wollen der neuen Welle 
der Spätgotik an sich auf ähnliche Züge stoßen, daß auch hier die Abwendung 
von einer sach- und dinggefesselten, objektiv-realistischen Wiedergabe stattfindet. 
Wir dürfen uns auch nicht durch die leuchtende Kraft des Materiales verführen 
lassen. Allein — trotz dieser Einschränkungen und Voraussetzungen dürfen die 
Werte nicht übersehen werden, die bereits in den Entwürfen niedergelegt gewesen 
sein müssen, wie auch keinenfalls vergessen werden darf, daß die Kabinettscheiben- 
malerei durchaus auf veristische Momente drängte. Die symbolische Kraftentfaltung 
der Farbe, namentlich auch mit Heranziehung magischer Lichtwerte (wie in der 
Auferstehungsszene), die durch Reduzierung auf wenige leuchtende Haupttöne er- 
reicht wird, bildet unbedingt einen wesentlichen und besonderen Teil der Entwürfe. 


4. Der Autor. 


Die Scheiben stehen völlig allein. Irgendeine Verbindung mit anderen Werken 
der Glasmalerei, die auf die gleiche oder eine entwickeltere Hand schließen lassen 
könnten, gibt es nicht. Züge erstaunlichster Art sind uns in ihnen entgegen- 
getreten: eine Kraft der Vision, ein Erfassen des Wirklichen, ein expressiver Drang, 
die aufmerken lassen. Gab es so viele religiöse künstlerische Genies am Ausgang 
des Mittelalters? Sollte dieser Große spurlos verschwunden sein? Oder, da es 
sich zweifellos um eine jugendliche Anfängergestalt handelt, sollte er nur gelegent- 
lich auf diesem Gebiete tätig gewesen sein? 

Es ist seltsam, daß ein dunkles Gefühl irgendeine Verbindung Grünewalds mit 
der Glasmalerei als vorhanden, ja als nötige Voraussetzung, empfunden hat. Es 
sind andere Gründe, die mich (abgesehen von dem geschilderten ersten Eindruck) 
schließlich auf den Meister geführt haben. 


53 


Es ist zunächst die Tatsache, daß neben vielen ausdrucksreichen Künstlern der 
Sondergotik eben doch nur ein religiöses Genie als Künstler bestehen bleibt. Diese 
Gabe, wohlverstanden diese, ist bei unserem Künstler unbedingt gleich groß wie 
beim gewaltigen Schöpfer des Isenheimer Altares. Diese Tatsache ist durch noch 
so großen Abstand der stilistischen Mittel nicht zu erschüttern. Nun wäre es ein 
leichtes, die Wege von der Emanation eines jungen religiösen Künstlergenies zu 
den reifen und der Mittel bewußten aufzuweisen. Nur bei Grünewald ist es kaum 
möglich, da uns der Künstler als eine reife und formgewandte Persönlichkeit ent- 
gegentritt. Mayer!) ist durchaus zuzustimmen, wenn er behauptet, „als fertiger 
Künstler steht Grünewald in seinem frühesten uns erhaltenen Werk, der Kreuzigung, 
in der öffentlichen Kunstsammlung zu Basel vor uns,“ auch wenn man die Münchener 
Verspottung noch vor diese legt. 

Es ist also der Mut aufzubringen, die bequeme stilistische Stütze beiseite zu 
lassen und die Identitätsprobe am Eigentlichen vorzunehmen. Ich wähle die Dar- 
stellung der Begegnung des hl. Paulus und hl Antonius des Isenheimer Altares 
und die Scheibe mit dem Brotwunder, lediglich weil hier und dort Wunderdarstel- 
lungen gegeben sind und der Kern des religiösen Erfassens hier vergleichsweise 
am besten zu packen ist. 

Um zu verstehen, was Grünewald mit der Darstellung der Besuchsszene be- 
absichtigt hat, ist es nötig, sich die Unterlagen anzusehen. Sie lautet in der legenda 
aurea: ... Cumque hora prandii adesset, corvus duplicatam panis partem attulit, 
cumque de hoc Antonius miraretur, respondit Paulus, quod Deus sibi omni die 
taliter ministrabat et praebendam propter hospitem duplicaverat. Pia lis oritur, quis 
magis dignus esset panem dividere. Defert Paulus hospiti et Antonius seniori. 
Tandem uterque manum apponunt et in aequas partes panem dividunt .. .“ Das 
Superstitionelle des Wunders und der sinnfällige Bezug auf das Brotbrechen Christi 
bilden den Inhalt des Berichtes. Keines dieser Motive hat Grünewald dargestellt. 
Als echter Mystiker weiß er, worum es sich handelt. Der Träger des geistigen 
Vorgangs, der, in dem er allein Realität besitzt, ist der hl. Paulus. Einzig und allein 
sein ekstatischer Wille schafft das Geschehen, suggeriert es, bannt es in die Er- 
scheinung. Es gibt nur einen einzigen deutschen Künstler, der das Menschlich- 
Übermenschliche mystischer Vorgänge mit dieser Klarheit erfaßt und dargestellt hat. 
Genau die gleiche Gabe tritt uns — trotz aller natürlichen und notwendigen for- 
malen Abweichungen — in der Darstellung des Wunders der Brotvermehrung ent- 
gegen. Auch hier wird nichts Superstitionelles, handgreiflich Wunderbares, ein 
Bluff für einfältige Gemüter, sondern der seelisch-geistige Vorgang in Christus, sein 
Wille und dessen Wirkung auf die in seinem Banne Stehenden geschildert. Von 
hier aus gesehen ist die Frage: „Wer anders als Grünewald?“ berechtigt. Denn 
sie ist, da es sich um Wesentlicheres als materielle Dinge handelt, nur eindeutig 
zu beantworten. 

Nun erst mag es einen Sinn haben, danach zu suchen, ob die tastenden Ema- 
nationen der Werksetzung auch äußerliche Beziehungen zu den späteren aufweisen. 
Der öfters wiederkehrende Feiste und der Negertyp stammen von Anregungen 
Schongauers. In unseren Scheiben können wir die erste selbständige Umbiegung 
dieser Vorbilder und das Verhältnis zu den späteren Ausprägungen deutlich verfolgen. 

Auf drei Scheiben erscheint dieser seltsame negroide Typ: bei der Heilung des 
Besessenen: der Kranke selbst, beim Einzug Christi in Jerusalem der linke untere 


(1) vgl. A. L. Mayer: М. Grünewald. München 1919. (2) vgl. Graeße. S. 95. 
DA 


Zuschauer der rechten Gruppe, bei der Brotverteilung der Trinkende rechts im 
Hintergrunde und die Frau in der Mitte, hinter deren Rücken ein Kind steht. Die 
breiten, wenig vorstehenden, platten Nasen, die wulstigen Lippen und etwas ge- 
schlitzten Augen verursachen den Eindruck der fremden Rasse, an deren Dar- 
stellung natürlich nicht gedacht ist. Der naheliegende Vergleich mit dem hl. Mau- 
ritius des Münchener Bildes hat deshalb zu unterbleiben. Die zweifellos lediglich 
aus dem Drang nach Ausdruck, nach physiognomischen Eigenarten zu erklärenden 
Erscheinungen kommen deshalb Fassungen ähnlicher Art wie der Königstochter auf 
dem Frankfurter Bild des hl Cyriacus oder der Kreidestudie in Paris am nächsten. 
Vergleicht man diesen Kopf näher mit dem Besessenen unserer Scheiben oder 
der Frau des Brotwunders, so ist deutlich, daß die grimassierende Physiognomik 
Widerhall einer Erregung sein soll; dabei fällt dann auch weiter die tibereinstim- 
mende scharfe Anspannung und Belebung der hageren Wangenpartien auf. Es 
bestehen hier jedenfalls sichtbare formale Verbindungen zwischen der Kunst unseres 
Meisters und der Grünewalds. 

Ein ähnlicher Fall liegt bei der Übernahme des Typs des älteren, feisten Mannes 
vor, der gleichfalls von Schongauer in der deutschen Kunst vorbildlich (bekanntlich 
auch für gleiche Gestalten Dürers), eingeführt wurde. Der Vater auf der Heilungs- 
szene des Besessenen ist mit dem höhnenden Pharisäer in Berlin und der Zeich- 
nung in Kopenhagen wohl in Parallele zu setzen. Da wir für die eigentlichen 
Glasmalereien eine zweite Hand annehmen, sind unmittelbare Beziehungen der 
„Schrift“ hier so wenig wie sonstwie festzustellen. Die Vergleichspunkte müssen 
in der Auffassung gesucht werden, und da ist es wohl möglich, hier wie dort eine 
ähnliche tiefe Beseelung des modischen Typus zu erkennen. 

Dagegen scheinen mir in einem weiteren Punkte so auffallende, dem Zeitwollen 
entgegengesetzte, Berührungspunkte vorzuliegen, daß von einem Zufall kaum ge- 
sprochen werden kann. Wir sahen eine ausgesprochene Vorliebe unseres Meisters 
für Raumengen (Verkündigung oder Steinigung etwa) zu eigentümlichen Gestal- 
tungen von Innenräumen gelangen. In Grünewalds Werk (Verkündigung oder 
Tempel auf Geburtszene des Isenheimer Altares) kontrastiert diese Vorliebe in 
auffallender Weise zur Weite der Landschaftsdarstellungen. Jedenfalls zieht er 
bei Innenraumdarstellungen eine scharfe, enge, seitliche Umgrenzung in schmalen 
Räumen in seltsam übereinstimmender Neigung allen anderen Möglichkeiten vor. 

Wir beschließen diesen Überblick, der für uns von vornherein von sekundärer 
Bedeutung ist, weil die Identität von außen her aus den verschiedensten Gründen 
kaum oder nicht zu finden sein kann. 


5. Ergebnis. 


Kein Genie braucht sich wegen der Ungeschicklichkeiten und Gebundenheiten der 
ersten Emanationen seiner Jugendwerke zu schämen. Denn rein und reich wird 
in ihnen auch schon der wahre Schatz der Persönlichkeit gebettet liegen, mag 
auch die Kluft zwischen Werksetzung und Wollen noch so groß sein. Die Frage, 
ob Grünewald ein Dienst damit erwiesen ist, die tastenden Zeugnisse seines 
Geistes bekanntzugeben, ist darum müßig und verfehlt. 

Das Bild des gewaltigen, gereiften, seiner Mittel sicheren Meisters wird durch 
sie nicht verdunkelt — und seiner Größe gewiß kein Abbruch getan. Denn die 
wahrhafte Größe seines Wesens strahlt in diesen bescheidenen und gebundenen 
Werken in der gleichen Einzigartigkeit ihres Wertes wie in allen späteren be- 
wunderten Schöpfungen. Sie aber haftet nicht an Meisterschaft, Technik und 


55 


3. B. 44 der Kleinen Passion (b), 
4. L. 86 (1521) (a), 
5. L. 198 (1521) (a). 

Alle übrigen einschlägigen Darstellungen sind Beweinungen. Ich zähle sie auf 
nach Gemälden, Kupferstichen, Holzschnitten und Handzeichnungen geordnet. 

I. Gemälde: 

т. Nürnberg, Germanisches Museum (um 1498); 
2. München, Alte Pinakothek (1500); 
[3. Dresden, Gemäldegalerie, letztes Bild des Zyklus der sieben Schmerzen 
Mariae (Dürerschule)]. 
IL Kupferstich: 
4. Gestochene Passion, B. 14. 
ПІ. Holzschnitt: 
5. Große Passion, B. 13; 
6. Kleine Passion, B. 43. 
IV. Handzeichnung: 
7. L. 25 (nicht „Entwurf zu einer Kreuzabnahme oder Beweinung“, sondern 
Entwurf zu einer Beweinung); 
8. L. 117 (nicht „Die Kreuzabnahme“) (1513 ?); 
9. L. 129 (1522); 
ro. L. 379 (1521); 
11. L. 489 = letztes Bild der Grünen Passion (nicht „Die Grablegung Christi); 
1a. L. 559 (1519). 

Allen diesen Bildern ist charakteristisch, daß der vom Kreuz ab- 
genommene, am Boden liegende Leichnam Jesu am Oberkörper auf- 
gerichtet wird, um der Maria „gezeigt“ zu werden. Verkehrt ist es dem- 
nach, wenn der Text zu L. 489 (Nr. 11) behauptet, Christi Leichnam werde „auf 
den Boden gelegt“. 

Des Amtes, den Oberkörper Jesu vor Maria aufzurichten, waltet, mit einer ein- 
zigen Ausnahme, ein Mann und zwar entweder der Evangelist Johannes (1, 3, 4, 5) 
oder, in der Mehrheit der Fälle, Joseph von Arimathia (a, 6, 8, 10, тт, 12)*). Die 
einzige Ausnahme bietet Nr. 9 = L. 129, wo Maria selbst das Haupt des Sohnes 
hebt. 

Außer dem nie fehlenden und an seinem jugendlichen Aussehen und seinem 
Lockenkopf nie zu verfehlenden Johannes ist nebst dem schon genannten Joseph 
von Arimathia in der Regel bei der Beweinung, aber auch bei den beiden späten 
Grabtragungen L. 86 und 198 noch ein Mann anwesend, der durch ein großes 
Salbengefäß gekennzeichnet ist. Wer ist dieser? Der Lippmann-Text nennt ihn 
in der Beschreibung von Nr. 8 unserer Reihe = L. 117 Joseph von Arimathia, 
in der Beschreibung von Nr. 379 Nikodemus. Was ist richtig? Unsere Entschei- 
dung ist schon vorweggenommen, indem wir den Mann, der in der Darstellung 
der Beweinung mit Johannes sich in die Rolle, den Oberkörper Jesu aufzurichten, 
teilt, Joseph von Arimathia nannten. Daß aber der Mann mit dem Salbengefäß 
nicht Joseph von Arimathia, sondern Nikodemus ist, ergibt sich unzweifelhaft aus 
dem Johannesevangelium, in welchem wir Kap. 19, 38f. lesen: „Darnach bat den 
Pilatus Joseph von Arimathia, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich aus Furcht 


(х) In der Skizze Nr. 7 = L. 25 ist nur der tote Körper mit der die Füße küssenden Magdalena ge- 
zeichnet. 


58 


vor den Juden, daß er möchte abnehmen den Leichnam Jesu. Und Pilatus erlaubte 
es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu herab. Es kam aber auch Niko- 
demus, der vormals bei der Nacht zu Jesu kommen war, und brachte Myrrhe 
und Aloe untereinander bei hundert Pfunden.“ Diesem und nicht dem 
Joseph kommt also die Salbenbüchse zu. 

Ein vierter Mann, der bei der Kreuzabnahme der Grünen Passion und bei den 
Grablegungen, hier mehrmals neben weiteren, noch gegenwärtig ist, ist als Simon 
von Kyrene zu bestimmen. Er ist aber nicht etwa zu erkennen in einem der 
beiden Männer links im Hintergrunde des letzten Bildes der Grünen Passion (L. 489). 
Vielmehr stellen diese beiden den Hohepriester (links) und einen Pharisäer (rechts, 
mit dem Hammer) dar, welche gekommen sind, nach der Beisetzung des Heilandes 
das Grab zu versiegeln (Matth. 27, 66). 


Wer ist der Dicke in dem Ecce homo-Blatt der Großen Passion (B. 9)? 


Auf dem Ecce homo-Blatt der Großen Passion steht zwischen den beiden Profil- 
gestalten im Vordergrunde ein mehr dem Beschauer zugewendeter barhaupter 
Mann in priesterlich gearteter Tracht, der durch starke Fettleibigkeit auffällt. Wer 
ist dieser? Von den Erklärern faßt nur einer ihn näher ins Auge, und der nennt 
ihn einen Mönch, während ihm der Bärtige in weitem Gewande und mit um- 
hülltem Kopf vor ihm ein Hoherpriester zu sein diinkt*). 

An sich läge es nicht außer dem Bereich des Möglichen, daß Dürer zu den 
moralischen Mördern Jesu einen Mönch gesellt habe. Hat er doch auch in der 
Offenbarung aus seiner Gesinnung gegen Klerus und Mönchtum kein Hehl gemacht. 
Gleichwohl findet sich in der Großen Passion, wie auch in keinem anderen der 
nachapokalyptischen Zyklen oder Werke, von den beiden Münchener Aposteltafeln 
abgesehen, eine solche Spitze gegen die Vertreter der alten Kirche nicht, ins- 
besondere also auch nicht in unserem Holzschnitt. 

Dürer wollte vielmehr in dem Dicken, der unter dem Volke als die Hauptperson 
fungiert, den Hohenpriester, d. h. einen wirklichen Hohenpriester zeichnen, nicht 
einen als Hohenpriester fungierenden Mönch. Der Beweis ist unschwer zu führen. 
Erstens ist die Tracht des Mannes zwar priesterlicher Art, aber keine Mönchs- 
tracht. Zweitens ist die Tracht, die der feiste Mann des Ecce homo-Holzschnittes 
der Großen Passion trägt, im wesentlichen dieselbe, die Joachim trägt im Marien- 
leben, insbesondere auf dem Blatt seiner Begegnung mit Anna am Goldenen Tor 
(B. 79). Drittens aber ergibt sich die Identifizierung des Dicken als des Hohen- 
priesters unzweifelhaft aus den parallelen Darstellungen. Dürer stellt den re- 
gierenden Hohenpriester regelmäßig als widerwärtig feist dar, so in 
der Kleinen Passion B. 29 (Hannas dagegen ist als schlanker Alter wiedergegeben, 
B. 28), desgleichen in der Grünen Passion L. 478, wo er den Judenhut auf dem 
Kopfe hat. Dasselbe Modell erscheint nun in der Grünen Passion noch einmal 
und zwar in der Darstellung des Christus vor Pilatus L. 480, hier mit über- 
gezogener Kapuze. Schließlich bringt es die Kupferstichpassion abermals in den 
beiden Darstellungen des Christus vor Kaiphas (B.6) und des Christus vor Pilatus, 
wobei dem Kaiphas dort eine hohe Mütze auf den Kopf gegeben ist, während ihn 
der „Dicke“ hier wiederum mit der Kapuze bedeckt hat. Daß also der „Dicke“ 
in allen Fällen mit dem Hohenpriester Kaiphas identisch ist, kann hiernach nicht 
mehr fraglich sein. 


(x) K. Tscheuschner, Albrecht Dürers Holzschnittfolgen. Erläuternder Text. Leipzig, o. J., S. 37. 
59 


Sämtliche Evangelien bemerken ausdrücklich, daß mit dem Volke die Hohen- 
priester vor Pilatus erschienen. So wird auch von dem Evangelientexte aus die 
Anwesenheit des Hohenpriesters in dem Ecce homo-Blatt der Großen Passion und 
Parallelen gefordert bzw. bestätigt. Wenn die Evangelien aber in der Pilatus- 
Perikope immer von den Hohenpriestern sprechen, so wird man hieraus nicht den 
Schluß ziehen wollen, daß in unserem Holzschnitte auch der tänzeind vorschrei- 
tende Vordermann des als Hoherpriester Festgestellten Hoherpriester sei. In Wirk- 
lichkeit hat Dürer sich auf den einen Hohenpriester beschränkt, und in dem ganz 
anders gekleideten Bärtigen einen der Obersten oder Ältesten unter den Juden 
wiedergegeben, von denen die Hohenpriester nach Luk. 23, 13 bzw. Matth. 27, 20 
begleitet waren. Ein zweiter Oberster oder Ältester steht überdies im Hinter- 
grunde zwischen dem Hohenpriester und dem Landsknecht, und weitere Juden sind 
als solche durch die Spitzhüte bezeichnet, die weiter zurück aus der Menge ragen. 


Die Alte des Holzschnittes „Christus vor Hannas“ in der 
Kleinen Passion (B. 28). 

In dem Blatte der Kleinen Passion, das Christus vor dem Hohenpriester Hannas 
zeigt, erscheint rechts, vom Bildrande durchschnitten, eine Greisin, die ihre Linke 
auf einen Krückstock stützt und die Rechte dem unter dem Baldachin thronenden 
Hannas auf die Schulter legt. Sie ist eine crux interpretum. 

Wir wissen in den Passionsgeschichten von zwei Frauen, die in das Verhör 
eingreifen. Die eine ist des Pilatus Weib. Sie schickte, so berichtet Matthäus 
(27, 19), da er auf dem Richtstuhl saß, zu ihm und ließ ihm sagen: „Habe du 
nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum 
von seinetwegen. Die andere ist die Veronika genannte Blutflüssige. Von ihr er- 
zählen die apokryphen Gesta Pilati (c. VII), daß sie nebst anderen von Jesus Ge- 
heilten für diesen vor dem Landpfleger Zeugnis ablegte ). Die Vertraulichkeit, mit 
der die Alte dem Hohenpriester im Holzschnitt naht, würde an sich mehr auf die 
Gattin als auf eine ihm fremde Persönlichkeit schließen lassen; andererseits könnte 
der Umstand, daß nach Matthäus des Pilatus Weib nicht selbst erscheint, sondern 
zu ihm schickt (scil. einen Boten), während in den Gesta Pilati Veronika persön- 
lich gegenwärtig ist, im Bilde mehr für diese als für jene sprechen. Allein jede 
derartige Kombination fällt dadurch in sich zusammen, daß es sowohl bei Mat- 
thäus als in den Gesta Pilati Pilatus der Landpfleger ist, zu dem die Frauen 
warnend und zeugend kommen, und nicht Hannas der Hohepriester. In der Peri- 
kope Christus vor Hannas, Joh. 18, 12—24, der einzigen, die uns über das Verhör 
Jesu vor dem alten Hohenpriester erzählt, ist von einem Weibe, das in der Ver- 
handlung eine Rolle spielte, mit keiner Silbe die Rede. 

Einstweilen kann ich mir die Alte im Holzschnitt nur so erklären, daß Dürer 
die Frau aus der Pilatusperikope des Matthäus in seine Hannasszene aus künstle- 
rischen Rücksichten übertragen hat. 


Christus am Kreuz in der Gestochenen Passion (B. 13). 
Wölfflin?) findet in diesem Stich die Betonung einer engen Beziehung zwischen 
Christus und Johannes; die hierdurch betätigte Absicht solle den bestimmten seeli- 
schen Moment veranschaulichen, wo die Mutter dem Jünger empfohlen wird. 
(x) Evangelia apocrypha ed. Tischendorf, 1. А., 8. 335, 2. А., 8.356: Item et mulier quaedam Vero- 
nica nomine a longe clamavit praesidi Fluens sanguine eram ab annis duodecim, et tetigi fimbriam 


vestimenti eius, et statim fluxus sanguinis mei stetit. 
(a) Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers. 2. A., München 1908, 8. 217. 


60 


Richtig ist, daß der aufwärts gerichtete Blick des Evangelisten an sich als ein 
Hinaufhorchen gedeutet werden könnte. Aber notwendig und die nächstliegende 
ist diese Deutung keineswegs, und sie verbietet sich, wie sich sogleich ergeben 
wird, aus dem Bilde selbst. Denn Christi Mund ist geschlossen — wie seine 
Augen —; Christus spricht weder zu Maria noch auch zu Johannes. Sein Mund 
ist geschlossen für immer: Christus ist tot. Bestätigt wird diese Tatsache einmal 
durch den Frieden, der über Jesu Angesicht liegt, sodann rein äußerlich-objektiv 
durch das Wundmal an seiner rechten Seite; der Lanzenstich ist bereits erfolgt. 
Die Nacht ist hereingebrochen, und in stiller Andacht stehen, während drei Hinter- 
grundfiguren samt dem Totenschädel aus vorwiegend künstlerischen Gründen die 
Szene beleben, Maria, auch diese mit geschlossenen Augen, und Johannes unter 
dem Kreuze des Vollendeten. 

Die Situation ist also, was den Gekreuzigten betrifft, dieselbe wie die in den 
Kreuzigungsbildern der Großen Passion (B. 11), wo die Engel das Blut auffangen; 
der Kleinen Passion (В. 40), wo der (türkische) Hauptmann bezeugt: „Wahrlich, 
dieser ist ein frommer Mensch gewesen“; oder in dem herrlichen Meßbilde von 
1516 (В. 56), wo die Augen des Herrn gebrochen sind, aber noch halb geöffnet 
scheinen und doch das Blut ihm aus der Seite rieselt. Dagegen ist in der Grünen 
Passion der Gekreuzigte noch am Leben, wie denn hier auch die Seitenwunde fehlt. 


Der „Raubvogel“ im Holzschnitt der sieben Posaunenengel 
(Offenbarung B. 68). 


Tscheuschner!) kann sich in dem Holzschnitt zu Apokalypse 8 den Raubvogel 
nicht erklären. Er verweist darauf, daß es nach dem Wortlaut der Schrift (v. 13) 
ein Engel sei, der mitten durch den Himmel fliege und das dreimal Wehe rufe. 
„Dürer setzt nun“, meint er, „merkwürdigerweise (vielleicht aus Raummangel) an 
die Stelle des Engels einen großen Raubvogel und läßt aus dessen Munde das 
dreifache Wehe ertönen.“ 

So geht es, wenn man den Dichter will verstehen, ohne in Dichters Lande zu 
gehen. In diesem Falle heißt das, man muß den Bibeltext einsehen, den Dürer 
benutzte. Das war aber, 1495—1498, nicht der Luthertext, sondern die Vulgata. 
Und hier steht Apc. 8, 13: Et vidi, et audivi vocem unius aquilae volantis per 
medium caeli, dicentis voce magna: Vae, vae, vae etc, (Die Vulgata folgt mit 
aquilae der echten ursprünglichen Lesart deroö, während die Lesung dyy&iov, die 
der Lutherübersetzung zugrunde liegt, jüngere Variante ist.) Der „Raubvogel“ ist 
also ein Adler, und dieser ist Dürer gegeben in der von ihm benutzten lateinischen 
Bibel. Daß Dürer den Vulgatatext vor sich hatte, ergibt sich auch aus dem wfale 


v(a)e v(a)e (in der lateinischen Form), das der Adler wie im Texte, so im Holz- 
schnitte ruft. 


Das Faß in der „Ruhe auf der Flucht“ des Marienlebens (B. 90). 


In dem Hofraum, der an der Rückseite von dem hochragenden Wohnhause, vorn 
von dem arbeitenden Joseph und nach rechts von der spinnenden Maria begrenzt 
wird und in dem hinten ein laufender Brunnen plätschert, liegt mitten inne ein 
Faß, über das sich ein Stoffstreifen oder eine Matte schmiegt. Was hat es zu be- 
deuten? 


(x) К. Tscheuschner, Albrecht Dürers Holszschnittfolgen. Krläuternder Text. Leipzig, o. J., S. 17. 
61 


Merkwürdigerweise haben die Erklärer, so viel ich sehe, diesem Faß nie irgend- 
welche Aufmerksamkeit zugewendet. Der einzige, Springer, der es erwähnt!), er- 
wähnt es eben nur; eine Erklärung gibt er nicht; er faßt es offenbar nur als Aus- 
stattungsstück, dem ein besonderer Sinn nicht zukommt. Allein daß es lediglich 
zur Füllung, allgemeinen Bereicherung und Belebung der Hofausstattung diene, 
daß es nur um dieser willen da sei und sein Vorhandensein in diesem Zweck 
sich erschöpfe, ihm also sachlich eine ganz gleichgtiltige Rolle zugewiesen sei, 
wird man schon darum nicht annehmen können, weil es im Gesamtbilde zu stark 
hervortritt und augenscheinlich betont ist. Offenbar verknüpft Dürer mit ihm eine 
besondere Aussage, einen eigenen Gedanken. 

Das wird um so deutlicher, wenn man andererseits die Frage stellt, ob es 
künstlerisch, im Rahmen der Komposition als unbedingt notwendig zu erkennen sei. 
Man wird diese Frage verneinen dürfen; es könnte im Hofe fehlen, ohne daß man 
es vermissen würde. Wenn aber doch der Künstler das Bedürfnis empfunden 
haben sollte, den freien Platz noch zu beleben, würde man erwarten, daß er dazu 
neben Hahn und Huhn gerade das so stark in die Augen springende Faß wählte? 
Wollte man es jedoch mit Josephs Handwerk in Verbindung bringen, so widerlegt 
sich auch diese Kombination in sich selbst; denn der Zimmermann macht keine 
Fässer. 

Wie man es auch ansehen mag, unser Faß zwingt zu der Einsicht, daß der 
Meister, der es zeichnete, ihm einen besonderen Sinn zugewiesen. Welches ist 
dieser ? 

Auf das, wie ich glaube, zutreffende Verständnis führt die Tatsache, daß in 
Dürers Tagen das Faß nicht bloß als Behälter für Flüssigkeiten, sondern auch als 
Packfaß in Gebrauch war. An zwei Stellen seines niederländischen Tagebuches 
nennt Dürer unter der Bezeichnung „Stübig“ selbst ein solches. Im ersten der 
in Betracht kommenden Einträge?) (16. März 1521) bemerkt der Künstler, er habe 
dem Jakob und Endres Heßler sein Bällein nach Nürnberg aufgegeben, daß er es 
Herrn Hans Imhof d. A. zuführe: „mehr“, fährt er fort, „hab ich ihm“, d. i. dem 
Frachtfuhrmann, „auf еіп Stübig eingebunden“. Die zweite Stelle“) vermerkt u. a. 
nur, daß er 7 fl. für ein Stübig bezahlte. Für Wort und Sache finden sich in 
Grimms deutschem Wörterbuch s. v. Packfaß zahlreiche weitere Belege. 

Sollte demnach das Faß in der „Ruhe auf der Flucht“ nicht ein solches Pack- 
faß darstellen? Es ist der einzige Gegenstand im ganzen Blatt, der es bezeugt: 
die heilige Familie, die hier so friedlich zusammen ist, befindet sich nicht daheim, 
sondern weilt in der Fremde. 

Zwar ist mir bisher in keiner anderen Darstellung der „Ruhe auf der Flucht“ 
oder der „Flucht nach Ägypten“ das Faß wiederbegegnet. Wenn Joseph etwas 
bei sich trägt, so ist es eine Flasche‘) oder ein Ballen’), gelegentlich auch ein 
Sack). Man wird aber zu bedenken haben, daß ja das Packfaß nicht von den 
Reisenden selbst mitgeführt zu werden pflegte, sondern wohl regelmäßig dem 
Frachtfuhrmann oder dem Schiff überlassen wurde. Allerdings ist es mir trotz 
mancherlei Suchens bisher auch nicht gelungen, es in anderen Bildwerken fest- 


(т) A. Springer, Albrecht Dürer, 1892, S. 45. 
(2) L.—F. 152, тт. 

(3) L.—F. 173, 20f. 

(4) So Schongauer, Kupferstich B. 7. 

(5) So Virgil Solis, Kupferstich P. 561. 

(6) Israel von Meckenem, P. 30. 


62 


zustellen. Dennoch scheint es mir nicht zweifelhaft, daß das Faß unseres Dürer- 
holzschnittes nicht anders denn als Packfaß verstanden und gedeutet sein will. 
Ob dabei die darüber gebreitete Matte noch ihre besondere Bedeutung hat, mag 
dahingestellt bleiben. 


Ein neuer Dürer-Holzschnitt? 


In diesem letzten der hier vorgelegten kleinen Beiträge zum Dürerwerk möchte 
ich die Dürerforschung auf einen neuen Dürerholzschnitt — um einen solchen 
handelt es sich allem Anschein nach — hinweisen, der bereits seit mehreren Jahren 
an einer ihr sehr abgelegenen Stelle veröffentlicht ist. Liegt seine Bedeutung und 
sein Wert auch nicht so sehr auf künstlerisch-ästhetischem als auf kulturgeschicht- 
lichem und persönlichem Gebiete, so genügt doch beides zusammen, zumal in 
Verbindung mit dem Namen Dürers, ihm ein volles Maß der Beachtung zu sichern. 

Der Holzschnitt ist mitgeteilt von dem Bibliothekar Karl Schottenloher an 
der Staatsbibliothek zu München mit einer Abhandlung „Konrad Heinfogel. Ein 
Nürnberger Mathematiker aus dem Freundeskreise Albrecht Dürers“ in der Reihe 
der „Beiträge zur Geschichte der Renaissance und Reformation, Joseph Schlecht 
am 16. Januar 1917 als Festgabe zum sechzigsten Geburtstag dargebracht“, München 
und Freising 1917, S. 300—310 nebst Tafel 3). Er findet sich abgedruckt in einem 
„Almanach“ Johann Stöff lers vom Jahre 1499, den die Bibliothek zu Bamberg ver- 
wahrt und den sein ursprünglicher Besitzer, Dürers Freund Konrad Heinfogel 
( 13. z. 1517), zu persönlichen Aufzeichnungen benutzte. Der Holzschnitt, 94 h >< 88 br.), 
stellt dar die Muse „Urania“, „die himmlische Beschützerin der Astronomie“ ). Die 
Muse, nackt, mit fliegendem Haar, sitzt vor dunkler, nach oben sich lichtender 
Luft auf der reichgestirnten Himmelskugel im Viertelprofil nach rechts und hält 
in der über die Brust erhobenen Linken einen Sextant, in der gesenkten Rechten 
eine Armillarsphäre. Rechts von ihr, durch einen Wolkensaum von ihr geschieden, 
erscheinen zwischen der Erde (unten) als dem zentralen Weltkörper und dem 
gestirnten Himmel oben die durch Kreisbogen voneinander getrennten sieben 
„Planeten“zeichen: Mond (zunehmend), Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn, 
jedes, außer Mond und Sonne, von einem nach links gesetzten Stern begleitet. 

Über dem Bilde steht zu lesen: Urania Musa celestis; unter ihm, ebenso von 
Heinfogels Hand geschrieben, eine Reihe von zehn Widmungsversen auf den 
gleichfalls zum Freundeskreise Dürers gehörenden kaiserlichen Hofgeschichtsschreiber 
Johann Stabius mit der Überschrift: Uranie sacrum. Die Verse selbst lauten: 


Maxima stellifero resides que Nympha sub arcu 
Et regis ad nutum luctancia sidera motus 
Contra mu[n]danos | certaque lege choreas 
Etheris exerces | spheras diffusa per omnis 

Tu portenta poli’ tu sidera carmine monstras 
Una sacris semp(er) dum summa es gloria rebus 
Dulcibus astrigeros dum mulces cantibus orbes 


(1) Inc. typ. Н. IV, ax (L. Hain Repertorium bibliogr., 1826 fl., Nr. 15085). 

(2) Die Linien über und neben dem Hach. sind mit roter Tinte gezogen. Ich danke diese Angaben 
der Bayer. Staatsbibliothek in München, an die der Stöfflerband der Bamberger Staatsbibliothek zur 
Zeit meiner Anfrage ausgeliehen war. 

(3) Schottenloher, ebda. 8. 310. 


63 


Urania potens penetralia noscere mu(njdi 
Da diua etherias Stabiulm] describere formas 
Da diua archanos fatorulm] pandere cursus. 


Weitere Abdrücke des Holzstockes, von dem Schottenloher mit Recht vermutet, 
daß Heinfogel ihn besessen haben miisse, sind einstweilen nicht bekannt. Um so 
bekannter ist die enge Verbindung, in der Heinfogel mit Dürer und Stabius stand, 
aus den beiden berühmten Sternkarten vom Jahre 1515 (Hsch. В. 151, 152), die 
Dürer im Auftrage des Stabius nach den Angaben Heinfogels zeichnete und die 
sie zusammen dem Kardinal Erzbischof Matthäus Lang von Salzburg widmeten. 


— чи ши ͤͤ ü 


MISZELLEN. 


NICOLAUS BERGNER IN FRANKFURT AM MAIN 


Von KARL SIMON 


1 der Geschichte der Reramik ist Frankfurt be- 

kannt — und auch dieses noch nicht sehr 
lange, seit etwa einem Jahrzehnt — durch seine 
Fayencefabrik, die in den Jahren 1666—1772 be- 
standen und eine vielleicht nicht sehr große Zahl 
von Stücken, dafür aber Qualitätsware hervor- 
gebracht hat; in der Abgrenzung gegen die Fabri- 
kate der benachbarten Hanauer Fabrik ist das 
letzte Wort noch nicht gesprochen. — Aus älterer 
Zeit wissen wir über die Keramik in Frankfurt 
dagegen nur verhältnismäßig wenig; seinerzeit 
bat Otto Lauffer festgestellt, was über die Ge- 
schichte des Häfnerhandwerks und speziell übe: 
die Geschichte des Kachelofens in Frankfurt zu 
ermitteln war!). Die eigentlichen Akten beginnen 
danach erst im Jahre 1602, wo vier Sachsenhäuser 
Häfner sich über das „Pfuschen“, besonders von 
Maurern, beklagen. Doch hat es natürlich schon 
friber Hafner hier gegeben?). Aus späterer Zeit 
möge ein Zufallsfund bier folgen; in den Rats- 
protokollen von 1583—84 (Stadtarchiv, fol. go), 
wird von Peter Mangolt von Mülhausen, Nicolaus 
Beschir von Weimar, Veltin Reichardt von Hain- 
statt, alle drei Hafnergesellen, berichtet, daß man 
sie wegen einer nächtlichen Schlägerei „fänglich 
bat einziehen lassen“. 

Aus dieser selben Zelt stammt nun auch ein 
Mann, der ale Keramiker und Bildhauer die For- 
schung bereits mehrfach beschäftigt hat: Nicolaus 
Bergner. Das Werk, das seinen Namen vor allem 
lebendig erhalten hat, ist das gewaltige Alabaster- 
denkmal für den 1595 in der Verbannung ge- 
storbenen Herzog Jobann Friedrich den Mittleren 
in der Moritskirche zu Coburg. Ein 12 m hoher 
Aufbau in fünf Geschossen mit reichem figür- 
lichem Beiwerk, an dem die kluge Anpassung an 
den Raum, das stark entwickelte Gefühl für Mo- 
numentalität, der Reichtum der Phantasie und die 
sichere Charakteristik in den Köpfen, vor allem 


(1) Otto Lauffer: Der Kachelofen in Frankfurt. Festschr. 
2. Feier des asjahr. Bestehens des Städt. Hist. Museums. 
Frankfurt a. M. 1903, S. 103f. 

(2) Urkundlich kommen Häfner im 14. Jahrhundert erst gans 
vereinzelt vor: von 1484 an erscheinen in den Beedebüchern 
(Steuerlisten) ein bis zwei. „Sicher hatte Frankfurt im 
Mittelalter keine entwickelte Geschirrtöpferei“. (Bücher: 
Die Berufe der Stadt Frankfurt im Mittelalter. Leipsig 1914. 
Abh. der Phil.-Hist. Klasse der k. Sächs. Ges, der Wissen- 
schaften. XXX. Bd., Nr. III, s. v. hafner). 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, т. 


in den Köpfen der fiirstlichen Familie, hervor- 
gehoben wird’). In Coburg ist Bergner mindestens 
von 1596 ab bis 1605 tätig gewesen und seine 
Beteiligung auch an dem 1597 begonnenen Re- 
gierungsgebäude ist urkundlich bezeugt. Vorher, 
1587, ist der aus Pößneck in Thüringen gebürtige 
Meister in Rudolstadt nachzuweisen. Noch früher 
dagegen begegnet er in Westdeutschland. Zum 
ersten Male erfahren wir von ihm aus einem 
Briefe (wie die folgenden im Staatsarchiv zu Mar- 
burg) des Landgrafen Wilbelm IV. von Hessen- 
Cassel an seinen Bruder Georg von Hessen-Darm- 
stadt vom 15. Februar 1582. Er habe durch seinen 
Bruder von einem Meister erfahren, der „in Wachs 
abzuconterfeten sehr gutt sein vnnd sich zu Frank- 
furtt halten solte ).“ 

Er wolle nun wissen, ob „er auch gleichfalls in 
Gibs arbeiten vnd die Conterfett so gross als das 
Leben machen könne“; erwünscht sei eine Probe- 
sendung von einem ,,Conterfett oder Bildt, so er 
in Wachs geferttiget“; er wolle ibn dann nämlich 
zu sich kommen lassen und ihm Arbeit geben. 
Die Antwort vom 22. Februar enthält die Angabe, 
daß sich Bergner jetzt in Darmstadt aufhalte; 
augenblicklich mache er auch einige „Köpffe zu 
den Gehörnen“, die der Fürst von seinem Bruder 
zum Geschenk erhalten habe. „Weil den berurtter 
meister nicht allein in wachs abzuConterfeijen 
geubt, sondern auch darneben ein Bildthawer ist 
und auch mit der Steinmetzen arbeit umbzugehen 
weiß, So haben wir ihnenn bestellet, das er itz- 
künfftigen somer uber, neben unserm Baumeister, 
vif unsere Gebew die vffsicht haben . . olle.“ 

Er solle aber versuchen, wunschgemäß etwas 
in Gips anzufertigen. Am 27. Februar bittet Land- 
graf Wilhelm dann, Bergner möge das Conterfet 
seines Bruders „so gross als das Leben, doch 
brustbildtsweiss verferttigen vnd fein mit seinen 
farben wie ers sonst ins wachss zu arbeittenn 
pflegt, außstreichen lassenn . . . Außerdem sei 
Nachricht erwünscht, „wenn wir ihm die Conterfet 
gemahlet zuschicken, ob er sie daraus auch machen 
konnte.“ 

Georg I. erwidert darauf am 9. Mirz, der Bild- 
(т) K. Koetschau in Thieme-Beckers Lexikon II, 8. 412. 


(a) C. v. Drach: Ein deutscher Porträttöpfer des 16. Jahr- 
hunderts. Kunstgewerbeblatt IV, 8. 23. 


65 


hauer habe schon die Büste begonnen und werde 
von ihm gern beurlaubt werden, daß er in Cassel 
für den Landgrafen Wilhelm arbeiten könne. 
Außerdem weist er aber noch auf folgendes hin: 
„Es kan ermelter meister Niclas solche vnd der- 
gleichen Bildtnus aus thon, viel besser, als aus 
Gibs machen упа nehmen die aus thon gemachten 
Bildtnüsse vnd andere dinge, welche er dan brennen 
lest, das sie gantz hartte werden, die farbe viel 
besser an sich als die, so da von Gips gemacht 
sein, vnd ob er auch wol in Gips allerleij possiren 
vnd machen kan, So kan man doch, denselben 
die Farben nicht sowoll geben als denen, so aus 
thon gemacht werden,‘ 

Erhalten hat sich, wie es scheint, von diesen 
Arbeiten fiir den Landgrafen nichts, wenn sie 
überhaupt, was wir nicht wissen, zustande ge- 
kommen sind. Wir wissen nur, daß im Casseler 
Museum lebensgroße Wachsbilder hessischer Für- 
sten sich befanden, die 1825 eingeschmolzen wurden. 
Noch heute sind dagegen Modelle und Kopien 
von Büsten hessischer Landgrafen und Land- 
grifinnen vorhanden, deren Originale 1811 bei 
einem Brande zugrunde gingen. Ein Rückschluß 
auf den Kunstwert der Originale kann aus ihnen 
aber nicht gemacht werden i). 

Dagegen liegt es nahe, in ihm den Verfertiger 
des in der Stadtkirche zu Darmstadt an der Süd- 
seite des Chors angebrachten Denkmals zu sehen 
das Gräfin Anna von Waldeck, die Tante der 
Landgräfin Magdalene, ihrem zu Darmstadt am 
9. November 1579 verstorbenen ältesten Sohn, 
Graf Philipp IV. 1583 errichten ließ 2). Es trägt 
auf einem Schildchen das (ligierte) Meisterzeichen 
NB, das auf Bergner sehr gut passen würde; 
1582 war er ja, wie der Briefwechsel ausweist, in 
Darmstadt anwesend. 

Am 24. März des gleichen Jahres 1582 wird der 
Künstler an den Pfalzgrafen in Heidelberg „ge. 


(1) v. Drach, a. a. O. 
(2) Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, IV, 26. 


66 


lieben“, ohne daß wir erfahren, zu welchem Zwecke. 
Erst 1587 hören wir wieder von ihm, als Land- 
graf Georg das Grabmal seiner Gemahlin Magdalena 
(t 26. Februar 1587) durch Bergner, der sich, wie er- 
wähnt, in Rudolstadt auf hielt, machen lassen wollte. 
Auf die deswegen an ihn ergehende Anfrage 
(37. April 1587) antwortet Bergner am 6. Mai, 
er könne vor einem Monat „nicht darvohn kommen“, 
schickt aber inzwischen, „die weyli wihr denn nuhn 
so gutten stain bey unss haben“, zwei Alabaster- 
proben aus seinem Heimatl ande „Diringen“!), 
Verfertigt ist das Denkmal dann aber schließlich 
nicht von ihm, sondern von Peter Osten aus Mainz, 
Wo er vorher ansässig war, wußte man bisher 
nicht; schon Schenk zu Schweinsberg sprach die 
Vermutung aus, sein Vater habe in der Nähe von 
Darmstadt, vermutlich in Frankfurt, gewohnt, wo 
er selbst nach dem ersten Briefe des Landgrafen 
gesucht werden mußte“). Auch O. Lauffer, der 
der Sache nachgegangen ist’), hat nichts Näheres 
darüber feststellen können. Tatsächlich läßt sich 
aber der urkundliche Beweis dafür erbringen, daß 
zwar nicht Bergners Vater, wohl aber er selbst 
in Frankfurt ansässig und Frankfurter Bürger 
gewesen ist. Im Frankfurter Bürgerbuch (Stadt- 
archiv) findet sich in Bd. VI, fol. 311 die fol- 
gende Eintragung: Niclauss Bergner, Bildthawer, 
von Bissneckh, duxit filiam civis, juravit den 
8. Aprilis 1581 dt. 146. Das ist die früheste ur- 
kundliche Nachricht über ihn, die wir besitzen. 
Sonstige Spuren seiner Tätigkeit in dieser Gegend 
sind bisher nicht nachgewiesen, lassen sich aber 
gewiß mit der Zeit noch finden. Lange schein 
sein Aufenthalt in der Mainstadt freilich nicht 
gedauert zu haben, wenn Wir ihn, wie erwähnt, 
1587 schon in Rudolstadt finden. 
(1) Georg der Fromme, Landgraf su Hessen. Denkechrift ,. 
von dem Histor. Verein f. d. Großhersogtum Hessen. Darm- 
stadt 1896, S. 63. Vgl. Н. Wagner in den Blättern f. Archi- 


tektur u. Kunsthandwerk І, S. 13. Hessische Quartalblätter 
1889, S. 21. 


(2) Kunstgewerbebl., a. а. O., 8. as. 
(3) Lauffer, a. a, O., 8. 133. 


A. E. BRINCKMANN, Die Baukunst 
des 17. und 18. Jahrhunderts in den 
romanischen Ländern. Akademische 
Verlagsgesellschaft Athenaion, Berlin. 
(Handbuch der Kunstwissenschaft.) 


Eine gewissenhafte Besprechung der Arbeit vor- 
nehmen, bebe eigentlich wieder ein Buch, zu- 
mindest einen umfangreichen Aufsatz über das 
gleiche Thema schreiben — so umfassend der 
Stoff, so verwickelt und verschränkt die an- 
geschnittenen Probleme —, so vom besonderen 
ins allgemeine weisend die Art der Betrachtung. 
Trotz Gurlitt und der wesentlich formalistischen 
Arbeiten Wölff lins, Schmarsows und Eschers — 
(Riegis Barockbaukunst in Rom kann in diesem 
Zusammenhang nicht genannt werden) — be- 
saßen wir noch keine zusammenfassende Ge- 
schichte der Barockbaukunst — zudem ist seit 
dem Erscheinen von Qurlitts bahnbrechendem 
Werk gerade auf diesem Gebiet eine Unzahl in 
einen größeren Zusammenhang noch nicht ein- 
geordneter Spezialforschungen entstanden. So war 
das Problem: Darstellung der Zeit im Rahmen 
eines Handbuchs schon rein stofflich ein un- 
geheures, wenn annähernde Orientierung erreicht 
werden sollte. Hinzu tritt entscheidend ein zweites: 
die Aufstellung eigener, neuer ästhetischer Kate- 
gorien, die einerseits erst an den gegebenen histo- 
risch eingegrenzten Beispielen erklärt und geklärt 
werden mußten, andererseits aber gerade zur Er- 
klärung und Deutung des Zusammenhanges, der 
Entwicklung, der Parallelitäten und Divergenzen 
dienen sollten. 

So kann es sich bei einer Besprechung nun 
auch keineswegs darum handeln zu der Analyse 
des einen oder anderen Bauwerkes oder irgend- 
einer Künstlerpersönlichkeit die eigene zastim- 
mende oder abweisende Meinung zu notifizieren, 
— sondern lediglich um prinzipielle Stellung- 
nahme, Denn damit, daß jemand etwa über Michel- 
angelo ale Architekt oder die Erbauungsdaten 
einzeiner Paläste und Kirchen zu anderen Resul- 
taten gekommen ist, wird nichts Wesentliches zum 
Thema ausgesagt. 

Zum Stofflichen sei bemerkt, daß von den bei- 
den vollkommen symmetrisch behandelten Teilen: 
Italien und Frankreich — der Frankreich behan- 
deinde wesentlich mehr gibt — wahrscheinlich 
aus der Überlegung heraus, daß hier für die deutsche 
Kunstgeschichte schon das Heranbringen des Ma- 
terials wissenschaftliches Verdienst bedeutet, wäh- 


rend über die italienischen Bauten schon hin- 
reichendes Material vorliegt. So benützt Brinck- 
mann denn auch die italienischen „Gegebenheiten“ 
um an ihnen seine Auffassung vom Wesen der 
Barockbaukunst überhaupt zu erläutern. Er arbeitet 
weder formalistisch noch psychologisch, sondern 
er geht von der Vorstellungskraft des pro- 
duktiven, schaffenden Architekten aus. Hieraus 
folgern seine Kategorien und ihre Gegenüber- 
stellungen — vor allem des Räumlich-Körper- 
lichen und des Plastisch-Körperlichen. Ge- 
rade wer, wie der Referent, mit Brinckmann in 
der sauberen begrifflichen und vorstellungsmäßigen 
Herausarbeitung dieser beiden Urelemente des 
Architektonischen die einzige Möglichkeit zur 
ästhetischen Durchdringung der Architekturge- 
schichte sieht (vgl. Zucker, Kontinuität und Dis- 
kontinultät, Zeitschrift f. Ästhetik und Kunstwiss., 
Bd. XV, Heft 3), darf ein Bedenken gegenüber 
Brinckmann ehrlich aussprechen. So fruchtbar 
auch für uns, als Betrachtende, diese Anschauungs- 
form ist, — was gibt Brinckmann das Recht, zu 
behaupten, daß auch die produktiven Archi- 
tekten des 17.und 18. Jahrhunderts von ihr aus- 
gingen? Ist nicht auch hier vielleicht ein Psycho- 
logismus latent, wenn auch ein historisch 
orientierter und natürlich nicht von modernen 
psychologischen Voraussetzungen ausgehender? — 
Ist es überhaupt irgendwie denkbar, daß wir — 
auch mit der genialsten Einfühlungsgabe — aus 
dem vollendeten Kunstwerk oder einer Reihe 
solcher rekonstruierend zwei Jahrhunderte später 
irgend etwas über die Vorstellungsform des 
Schaffenden aussagen? Wir können nur die all- 
mähliche Vermehrung, Bereicherung oder Ver- 
änderung des Vorstellungsinhaltes konsta- 
tieren, im Verfolg der historischen Entwicklung 
von Bau zu Bau, Körper zu Körper, Raum zu 
Raum, also nur eine Relation. Ein Absolutes 
über die Vorstellungsweise vergangener Genera- 
tionen oder Individuen zu bebaupten, ist nach 
Ansicht des Referenten nicht möglich — nicht 
einmal die größere oder geringere Wahrschein- 
lichkeit einer Auffassungsform kann festgestellt 
werden. Denn es fehlt ja jeder außerhalb des 
Zeitlichen liegende Vergleichsmaßstab! Immer 
wieder sind wir es, mit unserem Vorstellungs- 
vermögen, die zu urteilen haben. Und die Trak- 
tate und Kiinstlerbriefe, die Brinckmann so oft 
zur Stütze seiner Anschauungen heranzieht, müssen 
— so eindeutig sie auch über die gestalterische 
Absicht in besonderen Fällen zu sprechen schei- 


67 


nen — doch ımmer erst in unsere Sprache (um 
nicht zu sagen Vorstellungsform) übersetzt werden. 

Von diesem einen generellen Einwand, derÜber- 
schätzung der Erkenntnismöglichkeiten des ana- 
lysierenden Historikere abgesehen, kann man 
Brinckmann in fast all seinen formalen Analysen 
des Stilwechsels, der Übergänge und Entwick- 
lungen zustimmen, — auch ohne noch einmal 
besonders zu betonen, daß er auf dem Gebiet der 
französischen Baukunst zum mindesten all seinen 
deutschen Beurteilern wohl schon einfach an Kennt- 
nis und positivem Wissen überlegen sein dürfte. 

Bei der Behandlung des italienischen Barock 
wird mit Recht der Hauptakzent auf das neue 
Verhältnis der einzelnen Räume und Raumgruppen 
zueinander gelegt: Betonung eines Flauptraumes, 
Unterordnung der anderen unter diesen, ähnliche 
Beziehungen in der Behandlung der abschließen- 
den Flächen (Fassaden und Innendekoration). Der 
gesamte Baukörper wird aufgefaßt als eine ein- 
heitliche plastisch-räumliche Erscheinung, doch 
ändern und entwickeln sich die Beziehungen der 
räumlichen und plastischen Einselelemente zu- 
einander. (Die Anweisung zu einer einfühlen- 
den Betrachtung, wie auf S.35, scheint mir pä- 
dagogisch die Probleme eher zu verunklaren. Viel 
besser der an anderen Stellen oft wiederholte Hin- 
weis auf die einzelnen allmählich neu auftreten- 
den Faktoren architektonisch - räumlicher und 
pisstischer Vorstellungskraft) Glänzend die Ana- 
lyse spätbarocker römischer Bauten, die Steige- 
rung der Intensität räumlicher Verknüpfung von 
Boromini an, 

Hier sind die Raumanalysen meisterhaft und 
die Auffassung Brinckmanns von der Durch- 
dringung plastischer und räumlicher Körper klärt 
und erklärt etwa die Bauten Guarinis in durchaus 
„vorstellungsökonomischer“ Weise. Besonders der 
sich so ungebeuer schwer erschließende Innen- 
raum von 8. Lorenzo in Turin ist hier zum ersten- 
mal vollkommen deutlich und einleuchtend ana- 
lysiert — gegenüber der Phrase vom ,,Malerischen 
des Barock“, mit der die meisten mir bekannten 
Beschreibungen diesen nicht einfachen Bau-Pro- 
totyp von größter Klarheit bei bewegtester Vorstel- 
lungskraft umhüllen. Gegenüber diesen vollendeten 
Klarstellungen hochbarocker Formungen wird ita- 
lienischer Klassizismus vielleicht allzusehr ledig- 
lich als Reaktionserscheinung aufgefaßt und die 
ständige unterirdische Parallelströmung, die ja 
schon immer vorhanden, in der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts nur nach außen hin deut- 
licher das Übergewicht gewann, nicht genügend 
stark betont. 


68 


Wundervoll herausgearbeitet dann wieder der 
Unterschied zwischen französischem und italie- 
nischem „Vorstellungs vermögen“ — zumindest für 
die Architekturästhetik eine präzisere Bezeichnung 
ale das zu Tode gehetzte „Kunstwollen“. Mit 
Recht wird auch die Äußerlichkeit der Übernahme 
italienischer Dekorationselemente betont — der 
eigentliche Barock beginnt in Frankreich erst viel 
später und bleibt stets rationalistischer als in Italien. 
Sehr wesentlich die Probleme des Zusammen- 
klanges zwischen Innendekoration und großer 
Architekturform, deren „Stile“ keineswegs parallel 
laufen, — sich erst im Beginn des ı8. Jahrhun- 
derts begegnen, um im Rokoko sich wieder zu 
spalten und erst im Neoklassizismus wieder zu 
vereinigen. Auf die Analyse dieser Entwicklung 
undauchaufdie Kritik der in den verschiedenen zeit- 
genössischen Traktaten theoretisch festgelegten Pro- 
portionslehre, deren Wichtigkeit nicht leicht über- 
schätzt werden kann, einzugehen, ist hier leider 
nicht der Ort. Es würde sich die höchst inter- 
essante Geschichte eines „Klassizismus wider 
Willen“ ergeben, — steter Kampf des Raisonne- 
ments gegen das von Rom her mächtig suggerierte 
Formgefühl. 

Aber, wie schon im Anfang gesagt, alle diese 
Einzelheiten treten vor dem riesenhaften Gesamt- 
gemälde der Zeit zurück, das Brinckmann in der 
Baugeschichte und gleichzeitig in der hier nur 
zu erwihnenden Geschichte der Barockskulptur 
gibt: Abbild der gewaltigen formenden Kräfte 
jener beiden Jahrhunderte, auf denen — nach 
dem unfruchtbaren Eklektizismus des ı9. Jahr- 
hunderts — nun doch einmal zum mindesten in 
der Architektur alles beruht, was heute noch aus 
der Tradition der Vergangenheit heraus weiter- 
baut. Paul Zucker. 


CURT GLASER: Lucas Cranach. 
Mit 117 Abb. Leipzig, Inselverlag 1921. 


Sehr wohltuend ist die Wärme und Gleichmäßig- 
keit des Vortrages und des Interesses, der ruhig 
überzeugende Gang der Darstellung und die Vor- 
sicht, mit der die schwierigen Probleme der For- 
schang in diesem Buche angefaßt werden; mit 
einem Worte, es ist sicher die beste Darstellung, 
die man uns vom Wesen und der Problematik 
der Cranachschen Kunst heute geben kann. Wenn 
eine Kiinstlermonographie sich angenehm und 
flüssig liest und sachlich überzeugt, so ist eigent- 
lich das Beste darüber gesagt, was sich sagen 
läßt, denn alles andere folgt aus diesen Tugenden 
von selbst. 


Der Inselverlag war wohl beraten, als er seine 
Serie „Deutsche Meister“ mit diesem Thema und 
diesem Autor eröffnete. Beide kommen vortrefflich 
zusammen, und so entsteht ein gutes Buch: das 
unbezweifelbare Deutschtum Cranachs ist so um- 
hegt vom Dorngestrüpp stachliger Fragen, daß die 
ganze Besonnenheit und gelassene Erfahrung eines 
Autors wie Curt Glaser dazu gehörte, um diese 
Fragen in die Kunstform der Monographie ein- 
zubeziehen; und gerade so entstand die Möglich- 
keit einer höchst abwechselnden, vielseltigen, ја 
spannenden Schilderung eines Heldenlebens auf 
dem Felde der Malerei. 

Dazu taugt schon der Meister selber in be. 
sonderem Maße. Cranach ist im Laufe der Jahr- 
hunderte von verschiedenen Seiten aus bewertet 
worden, an seiner Popularität und Deutschtümlich- 
keit ist niemals gerüttelt worden. Im gewissen 
Sinne hat sich der Kreis der Bewunderung um 
ihn geschiossen, indem die gegenwärtige Schätzung 
wieder zu der Liebhaberei an seinen Spätwerken 
zurückzukehren scheint; während unsere vorher- 
gehende Generation seine Jugendwerke mit dem 
Eifer der Gesinnungsverwandtschaft entdeckte und 
emporhob: Dinge, deren merkwürdiges Pathos und 
Intensittät deutschen Empfindens uns nie wieder 
verloren gehen können und heute wohl in gleichem 
Maße unsre Liebe verdienen wie das köstliche 
Rokoko seiner späteren Aktfigürchen. 

Glaser hat darum sehr recht gehandelt, wenn 
er dem früheren und dem Wittenberger Cranach 
gleiche Liebe entgegenbringt. Es gelingt ihm 
dabei sogar, soweit das überhaupt möglich ist, 
den tiefen Riß in dieser Entwicklung zwischen 
1504 und 1506 psychologisch und stilkritisch ver- 
ständlich zu machen. Überzeugend ist die Her- 
leitung von Cranachs Frühkunst aus Anregungen 
der Münchner (Pollak, Mäleskircher) und der 
Donauschule, als deren Mitbegründer mehr denn 
Schüler er durch sein frühes und selbständiges 
Auftreten gelten muß. Der Umschwung in Witten- 
berg kann dann sehr wohl auf Rechnung italienischen 
Einflusses gesetzt werden (Dresdner Katharinenaltar 
von 1506); bedeutet doch gerade diese Zeit auch 
für Dürer und andere Deutsche den ersten Höhe- 
punkt der Renaissancewelle: und Cranach, der so 
souverän in seiner Zeit dasteht, gebt auch hier 
als einer der Ersten mit Entschiedenheit vor und 
bricht bewußt mit der bsrocken Raumbewegtheit 
seiner Frühwerke, vielleicht nicht ohne Einfluß der 
sächsischen Humanisten. 

Der größte Teil des Buches gehört naturgemäß 
der Wittenberger Zeit, die mit glücklicher Hand 
in ihrer Entwicklung klargelegt wird. Das an- 


scheinend ganz unlösbare Problem des „Pseudo- 
Grünewald“ wird als solches mit Offenheit zu- 
gestanden und durchsichtig geschildert; die Wahr- 
scheinlichkeit, daß es sich um , Werkstattarbeiten“ 
handelt, ist durchaus einleuchtend, die Flechsigsche 
These von Übernahme der Werkstatt durch den 
älteren Sohn Hans 1522 wird mit Recht abgelehnt 
und die Betätigung des alten Cranach bis zu seinem 
Tode unwiderleglich bewiesen. Kurz, man erhält 
ein Bild dieser vielseitigen und rätselvollen Tätig- 
keit von erfreulicher Klarheit; und wenn spätere 
Forschung Einzelzüge zu berichtigen hätte, so 
würde das der Einheitlichkeit der Glaserschen 
Darstellung keinen Abbruch tun können. 


Paul F. Schmidt. 


GEORG DEHIO, Geschichte der deut- 
schen Kunst. Zweiter Band. Text- 
band und Tafelband. Berlin u. Leipzig 
1921. Vereinigung wissenschaftl. Verleger. 


Der zweite Band von Dehios Geschichte der 
deutschen Kunst umfaßt die Zeit von 1250—1500, 
mit andern Worten also die Zeit des Vordringens 
der Gotik in der zweiten Hälfte des dreizehnten 
Jahrhunderts, ihre Herrschaft in ausgebildeter Form 
im vierzehnten Jahrhundert und ihre Umsetzung 
in einen anderen Stilcharakter im fünfzehnten 
Jahrhundert. Dehio, der nach seinen eigenen 
Worten eine Geschichte des deutschen Volkes 
im Spiegel seiner Kunst schreiben will, kommt 
nun in dem Buch, das sich mit dem vierzehnten 
Jahrhundert beschäftigt, zu Werturteilen, die sich 
zunächst restlos aus der synthetischen Betrach- 
tung mit der politischen Geschichte zu erklären 
scheinen. Denn die Darstellung ist von dem 
Standpunkt aus gegeben, daß notwendig mit dem 
Niedergang des Kaisertums die deutsche Kunst 
auch gesunken sei, „der romanische und früh- 
gotische Stil waren die Stile der deutschen Kaiser- 
zeit gewesen, der hochgotische hatte zum Hinter- 
grund den obsiegenden Partikularismus“. Aber 
bei der Einschätzung des vierzehnten Jahrhunderts 
scheint doch noch ein anderer tieferer Grund mit- 
zusprechen als der, daß hier das Problem der 
deutschen Kunst in seiner Verbindung mit der 
gesamten Geschichtsentwicklung gesehen ist. Die 
Generation von Historikern, die unter dem über- 
ragenden Eindruck Jakob Burkhardts aufwuchs, 
hat die Gotik des vierzehnten Jahrhunderts als 
die blutlose Verknöcherung angesehen, die von 
der Renaissance überwunden werden konnte und 
überwunden werden mußte. Diese Auffassung 
findet sich nun auch bei Dehio noch nicht ganz 


69 


verflüchtigt. Sieht man die großen zusammen- 
fassenden Darstellungen daraufhin durch, so kommt 
einzig in Scbhnaases Geschichte der bildenden 
Künste, Band 6 (1874) eine Anschauung zu Worte, 
die ausdrücklich gegen die Mißachtung des vier- 
zehnten Jahrhunderts Front macht. Nach einer 
Darstellung der Aufnahme und Vereinfachung des 
gotischen Systems in Deutschland, die seine Aus- 
führungen in der Kirchlichen Baukunst des Abend- 
landes kurz und anschaulich zusammenfaßt, gibt 
Dehio eine Übersicht der Baudenkmäler. Aber 
gerade in dieser Übersicht zeigt sich nun, daß 
zwar die Feststellungen und Errungenschaften, 
mit denen Dehio in der Kirchlichen Baukunst des 
Abendlandes die Wissenschaft von der Gotik des 
vierzehnten Jahrhunderts auf eine neue Stufe hob, 
im wesentlichen Geltung behalten haben, daß aber 
der Gesichtswinkel, unter dem er die Kunst dieser 
Zeit betrachtet, sich völlig verschoben hat, daß 
die Auffassung also, mit der doch diese ganze 
Darstellung durchtränkt ist, nicht mehr die unsrige 
sein kann. Für Dehio ist das vierzebnte Jahr- 
hundert nur das der Erstarrung des gotischen 
Stils, eine Zeit, in der die frischen Triebe еіп. 
trocknen, in der die lebendigen Quellen schöpfe- 
rischer Kraft versiechen und daher die künstle- 
rische Leistung mehr errechnet ale erfühlt wird, 
und in zwar reiner, aber akademisch gewordener 
Formgebung in die Erscheinung tritt. Ich ver- 
mag diese Auffassung nicht mehr zu teilen, sehe 
vielmehr in der Gotik des vierzehnten Jahrhun- 
derts erst die völlige Reife des Stils, während 
die Gotik des dreizehnten Jahrhunderts noch immer 
mit Resten romanischer Formanschauung versetzt 
war, so daß ihre „Entwicklung“ eigentlich in der 
Eliminierung dieser stilfremden Elemente bestand, 
Die Reifheit des Stils ist doch nicht gleichzusetzen 
mit Erstarrung und dort, wo Dehio unter dem 
Eindruck einzelner Bauwerke steht, ist sein Urteil 
auch von solcher Auffassung ungetrübt geblieben. 
Dehio hat die Einheit in der Gesamterscheinung 
der Kunst des vierzehnten Jahrhunderts klar ge- 
sehen, aber die gleichartige geistige Prägung bleibt 
ihm etwas unlebendig Starres, die Reinheit in der 
Durchbildung der gotischen Formenwelt mit der 
Vorherrschaft der Architektur scheint ihm mehr 
Fessel als strafies Band. „Hinter der großen 
Form stand nicht mehr ein gleichgroßes Gefühl.“ 
Die Baukunst der Bettelorden, heißt es, komme 
nicht über eine mittlere bürgerliche Stimmung 
hinaus. Aber wie soll eine solche Anschauung, 
die in dieser Zeit nur kleinbürgerliche Trocken- 
heit sieht, etwa einem Denkmal wie der Prediger- 
kirche in Erfurt gegenüber bestehen, die doch, 


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rein durch die Proportionen edelste Gotik, von 
einem Geist der Unsinnlichkeit erfüllt ist, der 
nicht im geringsten ins Weltliche, Behagliche ab- 
weicht? 

Alles, was Dehio über die Glasmalerei in ihrer 
Wechselwirkung mit der Architektur, über die 
Bauplastik zwischen 1250 und 1400 in ihrem dy- 
namischen Zusammenhang mit der Architektur 
schreibt, ist von jener meisterlichen Art, die far- 
bige Fülle mit wenigen Strichen zu geben weiß. 
Gewiß ist nun auch im einzelnen in der Geschichte 
der Plastik genug an neuen Resultaten vorhanden, 
die erwähnenswert wären. Nicht umsonst sah 
Dehio ein balbes Leben lang das Straßburger 
Münster ragen. Er erkannte die Verteilung der 
seitlichen Portale der Westfront an zwei Meister, 
die Weiterwirkung des einen dann in Freiburg, 
womit der gordische Knoten des so wirren Pro- 
blems der Vorhallenplastik durchschlagen wird. 
Von Bedeutsamkeit ist auch der Hinweis auf die 
Zwischenstufe der Mainzer Madonna für das 
Magdeburger Portal der klugen und törichten 
Jungfrauen. Aber es muß doch nun auch das 
Negative erwähnt werden. Die Behandlung der 
Glasmalerei ist kiimmerlich. Außer von Jahr- 
hundertkontrasten ist von Stil nicht die Rede und 
auch nicht von der bedeutenden Einwirkung, die 
Mitteldeutschland damals von Süddeutschland er- 
fuhr (z. В. Nürnberg-Erfurt). Achtet man nun 
gar auf Datierungsfragen, so ist eigentlich alles 
strittig, was Dehio im vierzehnten Jahrhundert 
angibt. Um ein Beispiel zu nennen: den Triangel 
in Erfurt setzt Dehio mit 1350 sicher um zwei 
Jahrzehnte zu spät. Aber das sind schließlich 
Dinge sekundärer Ordnung, da die Forschung sich 
dem vierzehnten Jahrhundert noch nicht im wün- 
schenswerten Maße zugewandt hat, obwohl für 
die Plastik des Jahrhunderts Pinder in seiner 
Würzburger Plastik schon 1911 die Richtungs- 
pfähle eingesetzt hat. Wichtiger ist, daß die 
Anschauung von der Überlegenheit des anthro- 
pozentrischen Idealismus der Renaissance Dehio 
doch noch so im Blute steckt, daß er nun auch 
bei der Betrachtung der Statuen im Kölner Dom- 
chor in folgende Charakteristik ausgleitet: „Als 
Einzelmotive betrachtet sind die stereotypen 
Biegungen dieser binsenschlanken, muskel- und 
knochenlosen Halbmänner unerträglich; einen Sinn 
erhalten sie erst aus dem Zusammenklang mit den 
Schwingungen der Architekturglieder, der Bogen 
und Rippen.“ Solche vom Renaissancestandpunkt 
dixtierte Formulierung ist heute Wissenschaft von 
ehemals, nachdem Dvofak 1918 gezeigt hat, daß 
der Sinn dieser Figuren durchaus nicht nur in 


dem Zusammenhang mit der Architektur besteht, 


sondern aus dem spiritualistischen Idealismus der. 


Zeit seine Erklärung findet. 

Dehio versteht es vorzüglich, Abstand von den 
Dingen zu wahren, und so gelingt ihm die Heraus- 
arbeitung der großen führenden Linien, In der 
Plastik sieht er die Welle von Westen nach Osten, 
der eine andere im Gegensinne von Böhmen her 
antwortet. Befremdlicherweise will Dehio dann 
aber für die Malerei ein Gleiches nicht gelten 
lassen. Meister Bertram sei auch anders zu er- 
klären als aus dem Zusammenhang mit der böh- 
mischen Kunst. Aber hier scheint mir nun gerade 
ein mächtiger Wellenring von Böhmen auszu- 
schwingen: Zu Bertram in Hamburg muß man 
etwa die Tafeln im Brandenburger Dom und das, 
was Ehrenberg fälschlich als Einfluß von Hamburg 
her in der Tafelmalerei Preußens feststellte, zu- 
sammennehmen, um die weiten Ausmaße zu haben, 
in denen diese Stilphase verlief, 

Mit der Darstellung des fünfzehnten Jahrhun- 
derts, das der zweite Teil des vorliegenden Bandes 
behandelt, wendet sich das Blatt. Man sieht, wie 
in der Gesamtanordnung auch aus schriftstelleri- 
schen Gründen Unterschiede gemacht wurden, wie 
im vierzchnten Jahrhundert gedämpft und zurück- 
gehalten wurde, um im fünfzehnten Jahrhundert 
mit kräftigeren Farben zu wirken. So ist Dehios 
Darstellung dieser beiden malerischen Jahrhunderte 
selber wie einer der Fligelaitire, die nun die 
wesentlichste der neu auftretenden Kunstschöp- 
fungen sind: eingangs still und monochrom, um 
erst bei der Wandlung in voller Farbigkeit zu 
leuchten. Dehio erkennt das herrschende Gesetz 
in der Kunst dieser Zeit: „Auch das fünfzehnte 
Jahrhundert füblte es sehr gut, daß alle in ein 
und demselben Architekturraum befindlichen Kunst- 
werke miteinander in Wechselwirkung stehen, 
nur faßte es diese Beziehungen nicht mehr als 
architektonischen, sondern als malerischen Rhyth- 
mus, und zugleich betrachtete es jedes einzelne 
derselben als etwas, das auch für sith Bedeutung 
hat.“ Damit ist in der Tat das Entscheidende ge- 
sagt. Das Schwergewicht verschiebt sich dem- 
nach zu den darstellenden Künsten, die in diesem 
Buch breit und überwiegend nun auch nach Land- 
schaften einzeln behandelt werden. Ein neuer 
Geist der Weltbejahung, eine Durchdringung der 
Natur mit menschlichem Lebensgefühl führt eine 
neue Kulturblüte herauf. Die universelle Einheit 
des gotischen Stils enthält nicht mehr genug 
Ausdruckskraft, um den frischen Antrieben natio- 
nalen Sonderwillens zu genügen. Dehio war einer 
der ersten, der erkannte, daß auch für den Norden 


um 1400 dis Neuzeit beginnt, und er verfocht die 
Anschauung, daß hier nicht von Renaissance im 
Sinne der italienischen Stilwandlung gesprochen 
werden könne. Keine Verbindung mit der Antike 
tritt ein. Das neue Verhältnis zur Natur formt 
sich vielmehr seinen Ausdruck in einer Fortbil- 
dung und Umbildung des gotischen Apparates. 
Vortrefflich ist Dehios Schilderung der Kultur- 
bedingungen, die für die neue Kunst des begin- 
nenden fünfzehnten Jahrhunderts in Deutschland 
bestanden gegenüber den Niederlanden, und der 
Nachdruck, mit dem Dehio auf die Eigenwüchsig- 
keit dieser Kunst hinweist. In der Zeichnung 
dieser spezifisch bürgerlichen Kultur sind Schwarz 
und Weiß wohl abgewogen. In allem, was Dehio 
über die Baukunst des fünfzehnten Jahrhunderts 
ausführt, stimmt er vollkommen mit der Darstel- 
lung in meiner „Deutschen Sondergotik“ überein, 
wobei er mit Recht betont, daß in diesem Stil 
die deutsche Ur- und Grundstimmung durohschlägt. 

Plastik und Malerei des fünfzehnten Jahrhun- 
derts bieten Stoffmassen, die schier uferlos echwellen. 
Dehio hat sie energisch zusammengerissen und 
doch füllt ihre Darstellung fast ein Drittel des 
ganzen Buches, Über die Hauptgliederungen dieser 
reichen Landschaft gibt Dehio knappe, klare Aus- 
kunft, und ab und zu werden in einem stilistischen 
Wetterleuchten sonst verdeckte Zusammenhänge 
jählings erhellt. Es scheint mir unbillig, hier im 
einzelnen zu rechten; dem einen mag dies, dem 
anderen jenes noch fehlen zur Vervollständigung 
des Bildes dieser Zeit. Was ich aber vermisse, 
ist die Aufdeckung der stilistischen Bezüge zwi- 
schen Baukunst und naturnachahmenden Künsten, 
Es fehlen die begriff lichen Formulierungen, die 
erkennen lassen, wie alle Form einer einheit- 
lichen stilistischen Gesamtanschauung entstammte. 
Ja, nicht einmal zeitlich hat Dehio Baukunst und 
darstellende Künste bis zu einem Punkte geführt. 
Ganz notwendig hätte er doch, um ein einheit- 
liches Bild der Gesamtentwicklung zu geben, die 
Barockstimmung des beginnenden sechzehnten 
Jahrhunderts, die urdeutsche Grundstimmung, die 
er bei der Baukunst bis in die Gruppe der ober- 
sächsischen Kirchen verfolgt, auch in den Bild- 
künsten dartun müssen. So geht das Spiel zu 
Ende und Dehio, behält zwei Trümpfe in der 
Hand. Veit Stoß wird erwähnt, aber nichts von 
Backofen, nichts von Grünewald. Nach einem 
matten Kapitel, das Kupferstich und Holzschnitt, 
Glasmalerei und Kunstgewerbe allzu kurz abtut, 
steigt die Darstellung wieder zu einer bewunde- 
rungswürdigen Höhe im 6. Buch, das den Profan- 
bau, die Burg und die Stadt mit ihren bürger- 


71 


lichen Bauten behandelt. Nur auf Grund einer 
Lebensarbeit, die wesentlich der Architektur ge- 
widmet war, konnten diese Abschnitte so reif und 
meisterlich gegeben werden. 


Es sind nicht nur ästhetische Vorzüge, die 
Dehios Geschichte der deutschen Kunst zu einer 
überragenden Erscheinung in der kunstgeschicht- 
lichen Literatur der letsten Jahre machen, sondern 
auch ethische. Auf das Nachdrücklichste wird 
immer wieder der Zusammenhang der deutschen 
Kunst als einer Einheit betont, die aus sich selbst 
lebens- und entwicklungsfähig war. Stil ist für 
Dehio Verkörperung menschlicher Wertungen, und 
alle Stilfragen erbalten für ihn erst Bedeutung, 
weil ein Wechsel des ethischen Ideals dahinter 
sichtbar wird. Es mag in diesem Zusammenhang 
unerörtert bleiben, ob das Wesen eines Stils da- 
mit erschöpfend klargelegt werden kann, zumal 
Dehio in seiner Geschichte der deutschen Kunst 
mehr Geschichte des Kunstträgers ale reine For- 
mengeschichte gibt und geben will. Für den Wert 
des Buches jedenfalls ist das nicht entscheidend. 
Wilhelm von Humboldt bemerkt einmal, daß man 
alle Bücher in lebendige und tote abteilen könne; 
nur jene könnten bilden, diese allein belehren. 
Wer Dehios Geschichte der deutschen Kunst ge- 
lesen hat, wird nicht zweifeln, daß sie solch ein 


lebendiges Buch ist. Kurt Gerstenberg. 


KURT PFISTER: Deutsche Gra- 
phikerder Gegenwart. Mit23Künstler- 
Originalbeiträgen und 8 Reproduktionen. 
Leipzig, Klinkhardt & Biermann 1920 
(M. 320). 


Ein grundsätzlich anderes Unternehmen als das 
komprimierte Bändchen Hartlaubs über neuere 
Graphik (in der Serie „Tribüne der Kunst und 
Zeit"); gewissermaßen die bildliche Ergänzung 
dazu in monumentalem Format, in kostbarster 
Ausstattung. Der Text von Kurt Pfister will gar 
nicht konkurrieren mit einer historisch-sachlichen 
Einführung in Art und Entwicklung deutscher 
Graphik. Er umschreibt ihr Wesen in schönen 
Arabesken und widmet ein paar der besten Künstler 
einige freie Seiten voll geistreicher Analyse ihrer 
Kunst, nicht einzelner Werke; und man darf es 
ihm vielleicht nicht allzu schwer anrechnen, wenn 
er nicht gerecht bleibt bei Verteilung der Akzente, 
da ihm der elegante und wohlberechnete Rhythmus 
seiner Dialektik höher steht als wissenschaftliche 
Akribie. Indessen, gesagt muß es werden, daß 
man nicht Großmann und Seewaid mehrere Seiten 


72 


widmen darf, wenn Nolde, Kollwitz, Schmidt-Rott- 
luff, Kirchner, Marc nur eben einmal erwähnt, 
wenn Segall und Nauen überhaupt nicht genannt 
werden; und daß Schäfler, Teutsch, Tappert „wich- 
tige Dokumente“ in solchem Zusammenhange dar- 
stellen, davon wird uns Pfister nicht überzeugen. 


Aber das Buch als Ganzes ist unvergleichlich, 
und wenn man zu dem Konto der Abbildungen 
kommt, müssen die auch hier möglichen Ein- 
wendungen schweigen vor der Tatsache des Ge- 
botenen. Es ist ein glänzender Gedanke, ein Werk 
über derzeitige Graphik mit Originalen der wesent- 
lichen Künstler auszustatten; daß er es unter- 
nommen, und die Großzügigkeit, wie er es durch- 
geführt hat, muß man dem Verlage Klinkhardt & 
Biermann ehrlich danken. Wo es irgend möglich 
war, sind die Künstler selber aufgerufen; unmög- 
lich war es (wer die intimen Verhältnisse kennt, 
wird das von vornherein wissen!) z.B. von Kirch- 
ner, Marc, Macke Blätter oder auch nur Abbildungen 
zu bekommen; und dewundernswert bleibt, daß von 
3ı Beilagen nur 8 Reproduktionen sind, die aus 
äußeren Gründen eben nicht durch Originale zu 
ersetzen waren. Unter diesen aber, die sich auf 
15 Lithos und 8 Holzschnitte verteilen, und die 
lauter erstmalige und damit erst im Handel er- 
scheinende Originale bedeuten, findet sich eine 
so große Anzahl bedeutender Schöpfungen, daß 
das Buch dadurch auch in der gewöhnlichen Aus- 
gabe schon einen Leckerbissen für Bibliophile 
darstellt. Will man einige als besonders gediegene 
herausbeben, so seien es die Lichos von Käthe 
Koliwitz, Beckmann, Gaul, Klee, G. Groß, die 
Holzschnitte von Campendonk, Heckel, Schmidt- 
Rottluff, Felix Müller und Feininger. Der Vorzugs- 
ausgabe ist eine signierte Radierung von Beckmann 
beigegeben; einige der Werke sind auch als signierte 
Einzelblätter gesondert zu beziehen. Es verdient 
bervorgehoben zu werden, und ist angesichts so 
vieler wahlloser graphischer Mappenpublikationen 
besonders rühmlich, daß die Auswahl der 31 Künst- 
ler — mit wenigen z. T. schon erwähnten Aus- 
nahmen — wirklich die Hervorragendsten und die 
Führer der heutigen Graphik in Deutschland trifft 
und somit ein wahrheitsgetreues Bild unsrer Pro- 
duktion in Originalen darstellt, 


Auch die sonstige Ausstattung des Buches ist 
gut und solide; vielleicht hätte ein Freund schöner 
Graphik nur den Wunsch auszusprechen, es möchte 
nichts auf so starken Karton abgezogen werden, 
wie es bei den meisten Blättern der Fall ist. 


Paul F. Schmidt. 


BRIEFE JAKOB BURCKHARDTS an 
Gottfried (undJohanna)Kinkel. Her- 
ausgegeben von Rudolf Meyer-Kraemer. 
Verlag Benno Schwabe & Co., Basel 1921. 


Als Separatabdruck der Basler Zeitschrift für 
Geschichte und Altertumskunde, Bd. 19, erschien 
bei B. Schwabe in Basel eine neue Reihe Jugend- 
briefe Jakob Burckhardts. Sie waren die Aus- 
wirkung einer Freundschaft, die Burckhardt noch 
als Student in Bonn im Sommer 1841 mit dem 
um drei Jahre älteren Gottfried Kinkel schloß, 
der damals Privatdozent der Theologie war. Die 
feurig belebende Kraft Kinkels hatte Burckhardt 
schnell auftauen lassen, und er kam in den Kreis 
der Auserwählten, die sich zum sogenannten 
Maikäferbund zusammengeschlossen batten, Kinkel 
hatte die geistige Leitung und redigierte das 
wöchentliche Bundesblatt „Der Maikäfer. Eine 
Zeitschrift für Nicht-Philister“. Der Herausgeber 
der Briefe hat in kurzer Einleitung darauf hin- 
gewiesen, wie Burckhardt gerade hier eine poe- 
tische und musikalische Anregung empfing, dio 
erst sein Wesen vollendete. Im Nachwort findet 
sich zusammengestellt, was Burckhardt an poe- 
tischen Beiträgen in der nie gedruckten Zeitschrift 
1841—46 beigesteuert hat: viel Lyrisches, dann 
Bruchstücke von Dramen und einem Roman. Sie 
verteilen sich so, daß man sieht, wie bis 1843 
die Lust am poetischen Schaffen rege bleibt, um 
dann abzuflauen, wofür sich die Gründe in den 
Briefen finden. 


Die Briefe enthalten zunächst die Geschichte 
der Freundschaft mit Kinkel. Der junge Schweizer 
war anfangs entzückt von dem anmutig leichten 
rheinischen Geist Kinkels. Hier wurde seine dich- 
terische Begabung zum Klingen gebracht, was 
ihn zunächst frobgemut machte. Die Freund- 
schaft hielt so lange, bis Burckhardt die auf- 
fiackernde lyrische Flamme bewußt auslöschte, 
Sie zerbrach nicht aus kleinlichem Anlaß, son- 
dern weil Burckhardt klar den Unterschied seiner 
Weltanschauung und .der Kinkels erkannte und 
ein ausgeprägtes Bedürfnis reinlicher Scheidung 
besaß. Man spürt das Wehen vormärzlicher Luft. 
Kinkels revolutionäre Gesinnung brach durch, 
Burckhardt blieb aristokratisch konservativ, ließ 
sich nicht in den Strudel hineinreißen, warnte 
vielmehr vor dem „Liberalismus der Schwünge 
Knoten und Dorfmagnaten“. Burckhardt wird 
dringlicher in seinen Mahnungen an Kinkel, un- 
nötige Opposition sein zu lassen, Es fehlt nicht 
an deutlichen, ja harten Worten, die fast schon wie 
Zurechtweisungen klingen. Ob und wie der Heiß- 


sporn Kinkel darauf geantwortet hat, kann nur 
geahnt werden; Briefe sind nicht erhalten. So 
bricht denn die Brieffolge mit August 1847 jäh 
ab. Anfangs war Burckhardt in dieser Freund- 
schaft der Empfangende, dann aber sinkt seine 
Wagechale gewichtig: er erwies sich dem gäh- 
renden, drängenden, suchenden Kinkel als über- 
legen, weil er früh das innere Gleichgewicht 
gewann. 

Das eigentlich Packende in den Briefen ist nun 
auch, wie Burckhardt sich selber fand, wie sich 
der Historiker in ihm immer vernehmlicher mel- 
dete, wie er empfand, daß das Dichten seinen 
eigentlichen Wesenskern nicht reiner leuchten 
lasse, sondern verhiille. Burckhardt erkannte ев, 
weil er auf die innere Stimme horchte und machte 
es sich klar im Vergleich mit Kinkels rascher 
Produktivität, mehr noch im Vergleich mit Geibels 
sprudelnd genialem dichterischen Schaffen. Und 
nun kommen die Absagen an die Poesie. Immer 
wieder wird zum letzten- und allerletztenmal ab- 
geschworen. Schon früh heißt es, daß ihm die 
Anerkennung seiner Berufung zur Geschichte wert- 
voller sei. Am 26. April 1844 heißt es, daß das 
Talentchen mit leichtem Mut schlafengelegt werde, 
dann aber wieder am 30. Juni deseelbsn Jahres, 
er müsse zugrundegehen ohne das bißchen Poesie; 
schließlich am 23. Dezember 1844 sogar mit einer 
bei Burckhardt ganz ungewohnten Sentimentalität: 
„O Gott, ein Jahr Freiheit, Poesie und dann 
sterben!“ Da Burckhardt mit historischem Sinn 
auch sein eigenes Leben betrachtete, wurden ihm 
die Gedichte schließlich nur wertvoll als Tage- 
buchblätter, als „Zeugnis einer Stimmung“. An- 
fang 1843 schreibt er über seinen Beruf zur Ge- 
schichte: „Ein Gelübde habe ich mir gethan: mein 
Lebenlang einen lesbaren Styl schreiben zu wollen 
und überhaupt mehr auf das Interessante, ale auf 
trockene faktische Vollständigkeit auszugehen.“ 
Zur Darstellung drängt es ihn, „in der Geschichte 
etwas wahrhaft Neues zu leisten“, ist sein Begehr 
(7. Febr. 43). Schließlich im Brief vom 17. April 
1847 neben ergötzlichen Ausfällen gegen Nichtig- 
keitskrämerei bei Geschichtsschreibern die schöne 
Bemerkung, „daß wahre Geschichtsschreibung ein 
Leben in jenem feinen, geistigen Fluidum ver- 
langt, welches aus Monumenten aller andern Art, 
aus Kunst und Poesie ebensogut dem Forscher 
entgegenweht, wie aus den eigentlichen Scriptoren.“ 
Burckhardt hat ein solches Leben gelebt. 

Der Stil dieser Briefe ist jugendlich schwarm- 
selig, romantisch begeistert, dann wieder von 
drastisch humorigen Bildern und skeptischer Ironie 
erfüllt. Hin und wieder spürt man schon die 


73 


Klaue des Löwen. Was der Herausgeber an nütz- 
lichen Zusätzen und Bemerkungen zu machen 
hatte, ist nicht im ganzen vorweggegeben, son- 
dern zwischen die Briefe eingeflochten. Für jene, 
die nur einmal hineinschnuppern wollen, mag das 
gut und bequem sein, wer aber diese Briefe sämt- 
lich und in einem Zug liest, will doch nur die 
eine Stimme hören. Es fördert nicht die ein- 
beitliche Stimmung, wenn ein Conferencier ein 
dutzendmal den Vorhang auseinanderreißt und da- 
zwischenruft, nun komme dies und das, und das 
habe diesen und jenen Zusammenhang. 


Kurt Gerstenberg. 


FRANZ ROH, Holländische Malerei. 
E. Diederichs Verlag, Jena. 


Durch Ernst Heidrichs Kriegstod war das viel- 
leicht gelungenste und bedeutsamste aller moder- 
nen kunstgeschichtlichen Serienunternehmen zu 
leidigem Stillstand gebracht worden: die „Kunst 
in Bildern“ des Verlages Diederichs. Nach acht- 
jäbriger Pause ist nun der VI. Band heraus- 
gekommen, der, im zeitlichen Anschluß an die 
Vorläufer, der holländischen Malerei des 17. Jabr- 
hunderts gewidmet ist. Er ist reproduktions- 
technisch und überhaupt der Anordnung und 
äußeren Erscheinung nach von den früheren Bän- 
den nicht zu unterscheiden, vereinigt also, wie 
diese, mit 200 ausgezeichneten, wohlgewählten, 
tonschön wiedergegebenen Bildern einen größeren 
Textteil und einen kurzgefaßten, über biographische 
Daten, Literatur usw. orientierenden Anhang. Das 
anfangs gefundene Schema der Buchdisposition 
hat sich ale so glücklich erwiesen, es war mit 
diesen sämtlich hervorragend eingeleiteten Büchern 
ein so brauchbarer Typus zwischen populärer Dar- 
stellung und gleichwohl wissenschaftlich frucht- 
barer Zusammenfassung geschaffen worden, daß 
die Beibehaltung des Apparates selbstverständlich 
war. Wir hoffen, daß der Verlag sein Unter- 
nehmen nunmehr planmäßig durchführen und auch 
für die Folge so bemerkenswerte Bearbeiter finden 
mag, wie bisher, — wie auch im vorliegenden Fall, 

Für den Verfasser, der sich mit diesem Werk 
in die Kunstwissenschaft einführt, lag die Auf- 
gabe insofern erschwert, ale er sich nicht nur 
einer vorgezeichneten Disposition, sondern auch 
einem bereits, und zwar noch von E. Heidrich, 
ausgesuchten Abbildungsmaterial anzupassen hatte» 
und eben doch eine ganz selbständige, keineswegs 
nur kommentierende, sondern großzügig sichtende 
und die Ganzheit eines Verlaufs fassende Inter- 
pretation zu geben hatte, unvermeidlicherweise im 


74 


Vergleich mit der ganz ungewöhnlich lebendigen, 
feinfühligen, weitblickenden Leistung seines Vor- 
gingers. Und da ist zu sagen, daß Roh diesen 
Vergleich nicht zu scheuen hat, ohne daß wir ihn 
hier durchführen wollen. Das Buch ist ein bruch- 
loses Ganzes; nur ganz selten und bei genauem 
Zusehen wird man etlicher Stellen gewahr, die 
eine gewisse Inkongruenz zwischen Bilderauswahl 
und der Ansicht des Verfassers über einzelne 
Künstler erkennen lassen. Zum Beispiel darf man 
vermuten, daß Roh Wouvermann etwas anders 
repräsentiert hätte. Trotz der großen Schwierig- 
keit, diese von Werken und Individualitäten 
übervolle Spanne in einer zugemessenen Bilder- 
zahl gerecht und lückenlos zu würdigen, hätte, 
so scheint es, der literarische Interpret kaum auf 
ein Beispiel für Porcellis, auf den „Stieglitz“ 
des C. Fabritius verzichten mögen. Vielleicht 
wird manchem Leser überhaupt Seestück und 
Stilleben etwas zu kurz bebandelt sein. Doch 
wiegen dergleichen Mängel wenig gegenüber 
dem Positiven und Eigenen. Die Epoche hat 
ein Gesicht; die Züge sind stark herausgearbeitet 
und doch mannigfach genug miteinander ver- 
woben, um die physiognomische Totalität nicht 
aufzuheben. Die große Entwicklungskurve zeigt 
sich immer wieder in individueller Brechung am 
thematischen oder persönlichen Einzelablauf. Dem 
Leser wird ein Blick für die Anfangs-, Reife- und 
Abklangsstimmung, ein Organ für noch mittel- 
alterlichen Nachhall und Rokokovorgeschmack ge- 
bildet. Der Verfasser hat ein besonderes Spüren 
für Werte der Substanz, der materialen Beschaffen- 
heit, also für die Differenzen der Textur, Schwere, 
Festigkeit, Feuchte, Elastizität etwa, eine Ein- 
stellung, die allenfalls bei gewissen Schriftstellern 
zur Moderne, kaum bei wissenschaftlicher Betrach- 
tungsweise noch recht begegnet ist, und eine neue 
und charakteristische Note der vorliegenden ab- 
gibt. Daneben sind es die Raumrichtungen, die 
Vor- und Tiefenstöße, die Verhältnisse der Dimen- 
sionen und Gründe, der rahmenden und zentralen 
Werte, der Massierungen und Auflockerungen zu- 
einander, denen das besondere Augenmerk des 
die Wölfflinschule nicht verleugnenden Verfassers 
gehört. Gerade für Holland wünschte man sich 
demgegenüber Soziologisches etwas stärker betont. 
Die Gefahr eines (allerdings höheren) Morellitums 
droht gelegentlich von weitem her, d.h. der Kennt- 
lichmachung eines Stils durch Einzelsymptome, 
Doch fängt ein überformalistischer Wille solche Lö- 
sungen stets ab, indem die Darstellung trotz an- 
gestrebter Präzision oft und oft den dunklen Be- 
reichen der wirklich künstlerischen, unkontrollier- 


baren Impulse, der geheimen Gehalte zustrebt. So 
ist etwa der Tiefsinn der warmen Schattendämmer 
bei Rembrandt (dem fast ein Drittel des Buches ge- 
widmet ist), die Rolle des silberglänzenden Vorder- 
grundmotivs bei Wouverman, J. Ruysdael, Terborch 
u. a., das Gelenkte der Gebärden bei den Frühen auf 
dichterische Weise erspürt und spürbar gemacht. 
Wer die Sterilität und Unberührtheit von allem 
Geheimnis in weitaus der meisten Kunstschrift- 
stellerei der letzten Jahrzehnte und noch der 
Gegenwart kennt, wird in Roh eine verheißende 
Ausnahme begrüßen. Sein Stil haftet ein bißchen 
an einigen mit Vorliebe verwendeten Begriffen, 
wie z. В. „gesteifte Form“, „durchstellen“, 
„schwank“ u. a. Oft nimmt er eine fast galop- 
pierende Kürze an, wobeiHilfsverben, Artikel und 
Interpunktionen zuweilen in Verlust kommen und 
die Worte in etwas atemlose Reihenfolge. (Auf 
Kritik seiner Sprache hat ein Gelehrter Anrecht, 
dessen Schaffen sich durch eine so starke sprach- 
liche Gestaltung, durch so eigenes Idiom, durch 
solche Kühnheit im Verlassen ausgefahrener und 
des künstlerischen Nachbildens unmächtiger Rede- 
weise auszeichnet.) Darin ist, bei allen kleinen 
Härten, hier etwas ganz Bedeutendes geleistet: die 
Dynamik einer Raumdarstellung, einer Schatten- 
intensität oder einer spezifischen Substanzbe- 
schaffenheit von Fleisch oder Draperie, Krume 
oder Fell so bildvoll und unverrückbar mit einem 
Wort getroffen, daß man nicht selten innehält, 
um den sprachlichen Griff voll mitzuerieben. Ohne 
im .schriftstellerischen Glanz sich zu gefallen, ist 
das Ganze somit eine vielleicht nicht immer ganz 
runde und frei ausschwingende, doch überaus 
reiche, erfüllte und kräftige Erörterung, die man 
Jedwedem zur Hand wissen möchze. 

Willi Wolfradt. 


PAUL WESTHEIM: Das Holzschnitt- 
buch. Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots- 
dam 1921. 


Dieses neue Buch von Westheim greift auf 
Vorarbeiten zurück, die der Verfasser in einem 
Sonderheft des „Kunstblatt“ vom Februar 1917 
veröffentlicht hat. Das Werk bringt die Entwick- 
lung des Holzschnitts vom 14. Jahrhundert bis 
zur Gegenwart. Unter Verzicht auf eine streng 
historische Darlegung und eine formal ästhetische 
Betrachtung werden die geistigen und handwerk- 
lichen Schaffenstendenzen der Jahrhunderte, von 
unserm heutigen „werkgerechten“ Standpunkt aus, 
vergleichend nebeneinandergestellt. 

Dementsprechend rückt der primitive, deutsche 
Holzschnitt vom 14. Jahrhundert in den Vorder- 


grund der Analyse, während der Holzschnitt der 
Renaissance, selbst der Schedelschen Weltchronik, 
als nicht mehr einheitlich werkliche Leistung 
(das Holzschnittwerk ging schon durch mehrere 
Hände) betrachtet wird. 

Nach Westheim erscheint der Holzschnitt erst 
wieder in seiner künstlerischen Reinheit, ais sich 
am Ende des 19. Jahrhunderts (die entdeckten, 
japanischen Holzschnitte gaben reinigende und 
belebende Impulse) die moderne Graphik seiner 
ausdrucksvollen Sprache wieder zuwandte. In 
Arbeiten von Gauguin, Munch, Nolde, Kirchner, 
Heckel, Schmitt-Rottluff wird der dem Holz allein 
zugehörige Strukturreiz wieder ausgenützt und die 
Fläche in der tektonischen Gestaltung betont. 

Die durch reiches Abbildungsmaterial gestützte 
Arbeit Westheims trägt das Signum ihres Ver- 
fassers: eine temperamentvolle Einstellung, ein 
persönliches Glaubensbekenntnis. Da aber künst- 
lerische Beglückung uns noch mehr von der schöpfe- 
rischen Potenz des Künstlers und der Zeit als 
von dem technischen Purismus der Arbeit (Gegen- 
beweise: Menzel im Holsstich und Poelzig in der 
Architektur), so bleiben Westheims Theorien nur 
bedingte Wahrheit, Noch mehr: uns dünkt West- 
heims Bevorzugung der frühen, gotischen Holz- 
schnitte und der Moderne — das ist der Vorzug 
und Nachteil — ebenfalls eher einer gefühlsbetonten 
Bejahung dieser Kunstperioden als erkenntnis- 
theoretischer Gerechtigkeit zu entspringen. 


Sascha Schwabacher. 


PAUL F. SCHMIDT: „Deutsche Land- 
schaftsmalerei von 1750 bis 1830“. 
(108 Abb. R Piper & Co., München 1922.) 


Das trotz dem Anstoß durch die Darmstädter 
Jahrhundertausstellung und Georg Biermanns Publi- 
kation noch so gut wie vergessene und unent- 
wirrte 18, Jahrhundert deutscher Malerei wird hier 
hinsichtlich seiner Landschaftsdarstellung geklärt. 
Der Verfasser geht von den barocken Komposi- 
tionen der Thiele, Brand usw. aus und verfolgt 
die Entwicklung des idealistischen Typus über 
die Idylle Geßners und Reinharts und den Klassi- 
zismus Hackerts hin bis zu der heroischen Land- 
schaft des beginnenden 19. Jahrhunderts; zeigt 
andererseits die Entstehung des Realismus aus 
der hollandistischen Manier, wie er sich mit den 
Tendenzen des Rokoko und dem klassizistischen 
Linearismus durchdringt und auf vielen Wegen, 
über die Schweiz, Dresden, München, Hamburg, 
Berlin vor allem, das romantische Naturempfinden 
zum malerisch-naturalistischen Ausklang geleitet. 


75 


Die stärkeren Verselbständigungen: die nazare- 
nische Landschaft und die „Erdiebenkunst“ treten 
schließlich gesondert vor uns. Die vielverkreuzte 
Entwicklung des Wirklichkeitssinnes, ihre Kul- 
mination im pantheistischen Pathos der Früh- 
romantiker, ihr Verflauen im biedermeierlichen 
Landschaftern nach 1830 wird überzeugend aus 
der Fülle der sich hin und wider beeinflussenden 
Individualitäten und Lokalschulen herausgehoben. 
Es stellt einen besonderen Wert dieser Darstellung 
eines Stückes vernachlässigter Geschichte dar, 
daß nirgends das Gefühl aufkommt, diese Arbeit 
geschehe um der schließlich doch unumgäng- 
lichen Komplettierung willen, — daß man viel- 
mehr stets die sucherische Erlebnisfreude eines 
durchaus auf den Wert Eingestellten am Werke 
spürt und auch dem Unansehnlicheren noch eine 
Bedeutsamkeit vom Sinn der gesamten Kurve, 
vom Ziel des Nexus her zuerteilt weiß. Besonders 
eindringlich und umfassend kennzeichnet der Verf. 
denn auch den entscheidenden Gesinnungswandel 
um die Jahrhundertwende jenes Aufkommen einer 
herben Andacht vor der Schöpfung, verbunden 
mit einem nationalen, antiraffaelischen Bekenntnis, 
den Wechsel von letztem Kompositionsschematis- 
mus zu streng linear aufgebauter Raumeinheit und 
zeichnerischer Bestimmtheit. 

Das Buch hatte eine Menge von wenig bekann- 
ten Namen zu verarbeiten und mußte so etwas 
zu sehr das Gepräge einer Künstlergeschichte 
bekommen. Die individuelle Charakteristik, und 
zwar eine sehr feinfühlige und prägnante, nimmt 
einen großen Teil des Textes ein und wird durch 
technisch bestens gelungene Reproduktionen und 
einen sorgfältig abgefaßten Katalog der Maler 
vorteilhaft ergänzt. Die wissenschaftliche Frucht- 
barkeit bestimmte die Anordnung; und es steht 
zu hoffen, daß das Werk die so sehr erwünschte 
Anregung zum Studium dieses dunklen Gebietes 
im einzelnen wird. Gerade durch die glückliche 
Vereinigung von Übersichtlichkeit sowohl der 
Buchgestalt wie der historischen Gruppierung und 
einer ungewöhnlichen Frische in der Würdigung 
des Unbeachteten, gerade durch die Mittellage 


swischen Systematisierungsversuch und künstie- 
rischer Kritik möchte es wohl einen wertvollen 
Anreiz für weitere Untersuchungen hergeben. 
Indem die Zeichnung so besonders herangezogen 
wird, will Schmidt dem bereits durch Hagen auf 
gestellten Grundsatz Nachdruck verleihen, daß die 
neuen Gedanken der deutschen Malerei gerade in 
der Zeichnung zuerst scharf erkennbar werden. 
Der Hinweis auf diese so selten geöffneten Mappen 
der graphischen Sammlungen wird kaum verhallen. 

Ein bequemes Buch ist das vorliegende nicht, 
es will durchgearbeitet sein. Das Wort ist nir- 
gends breit vorgetragen, die Darstellung vielmehr 
bei aller künstlerischen Lebendigkeit sehr kon- 
zentriert. Die Besonderheiten sind äußerst treffend 
erfaßt, aber ganz sparsam und gezügelt dargestellt. 
Die Fülle der Namen zerteilt, zumal ihre Wieder- 
holung in verschiedenem Zusammenhang unver- 
meidlich war, mehr als angenehm den Gesamt- 
überblick. Wilhelm von Kobells Spätstil ist 
vielleicht unterschätzt und in seinem kristallhellen 
Reiz nicht voll erfaßt. Den einzigen wesentlichen 
Einwand hätte ich zu erheben gegen die vor- 
genommene Unterscheidung von Naturalismus und 
Realismus, die ja im Verlaufe des Buches eine 
wichtige Rolle spielt. Und zwar stelit Schmidt 
in diesen beiden viel mißbrauchten und an sich 
wenig glücklichen Begriffen die malerisch - all- 
gemeine Erfassung des Individuellen (Naturalismus) 
der zeichnerischen Bestimmtheit (Realismus) gegen- 
über. Die Durchführung gelingt nicht (vgl. den 
Abschnitt Dahl!) und kann nicht gelingen, weil 
sich diese beiden Begriffe gar nicht antithetisch 
konfrontieren lassen. Der Gegensatz von Natu- 
ralismus wäre Idealismus, der von Realismus etwa 
Phantastik. Man kann einen Baum idealisieren 
und doch als Wirklichkeit darstellen, und zwar 
ebensowohl in malerischer wie linearer Formen- 
sprache. Naturalismus bezieht sich auf die Dar- 
stellungsweise, Realismus auf den künstlerischen 
Gegenstand. Insofern die Begriffe nicht etwa das- 
selbe meinen, unterscheiden sie sich kategorial. 
Am besten wird sie die Kunstwissenschaft ganz 
vermeiden. Willi Wolfradt. 


KUNSTSCHÄTZE der Sammlung Dr.M. 
Strauß in Wien. Herausgegeben vom 
Auktionshaus für Altertiimcr Glückselig 


& Wirndorfer. (Verlegt bei Carl Gerolds Sohn, 
Wien 1921.) 


ALEX. HEILMEYER: Die Plastik seit 
Beginn des 19.Jahrhunderts. (Samm- 
lung Göschen.) Mit 40 Abbild. Zweite 
veränderte Auflage. (Vereinigung wissen- 
schaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co, 
Berlin und Leipzig 1921.) 


OTTOGLEICHMANN: Chimären. Acht 
Steinzeichnungen mit Einführung von Hans 
Koch, Düsseldorf. (Mappe X der Ausgaben 
der Galerie Flechtheim, Düsseldorf 1921.) 


PAUL GUSTAVE van HECKE: Pour 
réparer le Retard et le Malentendu. 
Une explication illustrée de reproductions 
de tableaux anciens et modernes. (Numéro I 
des Tracts „Selection“, Brüssel 1921. 


ANDRE SALMON: La Révolution de 
Seurat. Avec 8 reproductions d’aprés 
les tableaux de Seurat. (Numéro П des 
Tracts „Selection“, Brüssel 1921.) 


LES ECRITS de James Ensor. Avec 
36 reproductions d’aprés les dessins ori- 
ginaux du peintre. (Editions „Selection“, Brüs- 
sel 1921.) 


JULIUS BAUM: Gotische Bildwerke 
Schwabens. (Verlag Dr. Benno Filser, Augs- 
burg-Stuttgart 1921.) 


MAX RAPHAEL: Idee und Gestalt. 
Ein Führer zum Wesen der Kunst. Mit 
24 Abbildgn. (Deiphin-Verlag, München 1921.) 


FRIDA SCHOTTMULLER: Wohnungs- 
kultur und Möbel der italienischen 
Renaissance. Mit 590 Abbildgn. (Bau- 
formenbibliothek Bd. XIII.) (Verlag Julius 
Hoffmann, Stuttgart 1921.) 


BRIEFE JAKOB BURCKHARDTS an 
Gottfried und Johanna Kinkel. Hrsg. 
von Rudolf Meyer-Kraemer. (Verlag Benno 
Schwabe & Co., Basel 1921.) 


LEOPOLD ZAHN: Paul Klee. Leben, 


Werk, Geist. (Gustav Kiepenheuer -Verlag, Pots- 
dam 1920.) 


ALLGEMEINES LEXIKON der bilden- 
den Künstler von der Antike bis zur 
Gegenwart. Herausgegeben von Ulrich 
Thieme und Ferdinand Willis. 14. Band. 
(Verlag E. A. Seemann, Leipzig 1921.) 


DAUDET: Die Abenteuer des Herrn 
Tartarin aus Tarascon. Neu über- 
setzt von Klabund. Mit vielen Vollbildern 
und Vignetten von George Groß. (Erich 
Reiß-Verlag, Berlin 1921.) 


AMBROISE VOLLARD: Auguste Re- 
noir. Avec onze Illustrations, dont huit 
Phototypies. (Artistes d’hier et d’au- 
jourd’hui.) (Les éditions d. Crès et Cie., Paris 1920.) 


ALFRED OVERMANN, Prof. Dr.: Die 
Kunst und wir. (Gebauer-Schwetschke, Drucke - 
rei und Verlag m. b. H., Halle.) 


GEORG LEHNERT, Prof. Dr.: Ge- 
schichte des Kunstgewerbes. 1. Das 
Kunstgewerbe im Altertum. (Sammlung 
Göschen.) (Vereinigung wissenschaftl. Verleger 
Walter de Gruyter & Co., Berlin u. Leipzig 1921.) 


WOLFGANG GOETHE: Die Leiden 
des jungen Werther. Mit ıo Bild- 
beilagen nach den Steinradierungen des 
Tony Johannot. (0. C.Recht-Verlag,München.) 


HELMUT vom HÜGEL: Legenden. 
то Original-Lithos. Mit einem Vorwort 
von Wilhelm Uhde. (Veröffentlicht durch „Die 
Freude“, Burg Lauenstein, Oberfranken.) 


EUGEN LÜTHGEN:RheinischeKunst 
des Mittelalters aus Kölner Privat- 
besitz. Mit 107 Abbildungen auf 104 
Tafeln. — Forschungen z.Kunstgeschichte 
Westeuropas Bd. L (Verlag Kurt Schroeder, 
Bonn und Leipzig 1921.) 


WILHELM v. BODE: Sandro Botti- 
celli. (Propyläen-Verlag, Berlin 1921) 


77 


FRIEDRICH KNAPP: Die künstleri- 
sche Kultur des Abendlandes. Das 
Werden des künstlerischen Sehens und 
Gestaltens seit dem Untergang der alten 
Welt. Band I: Vom architektonischen 
Raum zur plastischen Form. Mittelalter 
und Frührenaissance. Mit 364 Abbildgn. 
(Kurt Schroeder, Verlagsbuchbandlung, Bonn und 
Leipzig 1921.) 


FRANZ ROH: Holländische Malerei. 
200 Nachbildungen mit geschichtlicher 
Einführung u. Erläuterungen. — Die Kunst 
in Bildern. (Eugen Diederichs Verlag, Jena 1921.) 


J. J. de GELDER, Dr.: Bartholomeus 
van der Helst. Mit einer Studie über 
seine Werke, seine Lebensgeschichte, 
einem beschreibenden Katalog, einem 
Register und 41 Abbildungen. (w. L. & J. 
Brusses Uitgeversmaatechappy, Rotterdam 1921.) 


REMBRANDTS Handzeichnungen. 
L Band: Ryksprentenkabinet zu Amster- 
dam. Herausgegeben von Kurt Freise, 
Karl Lilienfeld und Heinrich Wichmann. 
Zweite verbesserte Auflage. (Verlag Her- 
mann Freise, Parchim in M. 19321.) 


L. PLANISCIG: Venetianische Bild- 
hauer der Renaissance. Mit 711 Ab- 
bildungen. (Kunstverlag Anton Schroll, G.m.b.H., 
Wien 1921.) 


P. F. SCHMIDT: Gessner. Der Meister 
der Idylle. Mit 34 Abbildungen. (Deiphin- 
Verlag, München 1921.) 


GEORGE KRAUSE: Insel Bali. П. Bd. 
Tänze, Tempel und Feste. — Schriften- 
serie: Geist, Kunst und Leben Asiens. 
Herausgegeben von Karl With. Bd. U 
und III Insel Bali. (Folkwang - Verlag, O. m. b. H., 
Hagen i. W. 1920.) 


KARL WITH: Java. Brahmanische, 
buddhistische und eigenlebige Architektur 
und Plastik auf Java. Mit 165 Abbildgn. 
u. 13 Grundrissen. — Schriftenserie: Geist, 
Kunst und Leben Asiens. Herausgegeben 
in Verbindung mit dem Institut fiir in- 
dische Forschung in Hagen i. W. von 
Karl With. (Folkwang-Verlag, G. m. b. H., 
Hagen i. W. 1920.) 


78 


WILHELM UHDE: Henry Rousseau. 
Mit 13 Netzätzungen.— Künstler der Gegen- 
wart, herausgegeben von Dr. P. F. Schmidt, 
П. Bd. (Rudolf Kaemmerer-Verlag, Dresden 1921 ) 


WILHELM FRAENGER: Die Radie- 
rungen des Herkules Seghers. Ein 
physiognomischer Versuch. Mit einer far- 
bigen Tafel und 41 schwarzen Abbildgn. 
(Eugen Rentsch - Verlag, Erlenbach - Zürich, München 
und Leipzig 1921.) 


KURT HIELSCHER: Das unbekannte 
Spanien. Baukunst, Landschaft u. Volks- 
leben. (Verlag Ernst Wasmuth A.-G., Berlin 1921.) 


RUDOLF OLDENBOURG: P. P. Rubens. 
Des Meisters Gemälde in 538 Abbildgn. 
Mit einer Einleitung von Adolf Rosenberg. 
Klassiker der Kunst, 5. Bd. Vierte, neu- 


bearbeitete Auflage. (Deutsche Verlagsanstalt, 
Stuttgart 1921.) 


WILHELM WAETZOLD: Deutsche 
Kunsthistoriker. Von Sandrart bis 
Rumohr. (Verlag E. A. Seemann, Leipzig 1921.) 
P. ADALBERT SCHIPPERS: Die Stif- 
terdenkmäler der Abteikirche Maria 
Laach im 13. Jahrhundert. Mit einem 
Vorwort des Herausgebers und 21 Ab- 
bildungen. — Beiträge zur Geschichte des 
alten Mönchtums und des Benediktiner- 
ordens, herausgegeben von Iidefons Her- 
wegen O.S.B., Abt von Maria Laach, Heft8. 
(Aschendorfische Verlagsbuchhandlung, Münster 
i. Westf. 1921.) 


WOLFGANG van der BRIELE: Chri- 
stian Rohlfs. Der Künstler und sein 
Werk. (Verlag von Gebrüder Lensing, Dortmund.) 


WILHELM NIEMEYER: Mathias 
Grünewald. Der Maler des Isenheimer 
Altars. Mit 21 einfarb. Bildern im Text, 
10 mehrfarbigen Bildtafeln und 3 Zeich- 
nungen der urspriinglichen Ubersicht des 
Isenheimer Altars. (Furche-Verlag, Berlin 1921) 


FELIX BECKER: Handzeichnungen 
alter Meister in Privatsamm lungen. 
50 bisher nicht veröffentlichte Original- 
zeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts. 
(Verlag von Bernhard Tauchnitz, Leipzig 1922.) 


DAS MINIATURENKABINETT DER 
MÜNCHENER RESIDENZ. Mit 69 Ab- 
bildungen in ein- und mehrfarb. Licht- 
druck. Vorwort u. kritischer Katalog von 
Hans Buchheit und Rudolf Oldenbourg. 
(Verlag von Franz Hanfstaengl, München 1921.) 


A. Е. BRINCKMANN: PlastikundRaum 
alsGrundformen künstlerischer Ge- 
staltung. Mit ı8 Textabbildungen und 
42 Tafeln. 

PAUL FERDINAND SCHMIDT: Deut- 
sche Landschaftsmalerei von 1750 
bis 1830. Mit 108 Abbildungen — P. F. 
Schmidt: Deutsche Malerei um 1800. 
I. Band: Die Landschaft. 

WILHELM HAUSENSTEIN: Barbaren 
und Klassiker. Ein Buch von der Bild- 
nerei exotischer Völker. Mit 177 Tafeln, 
JULIUS MEIER-GRAEFE: Vincent. 

Band I und U. 
(Sämtlich Verlag R. Piper & Co., München 1922.) 


W. К. VALENTINER: Franz Hals, 
Des Meisters Gemälde in 318 Abbildgn. 
Mit einer Vorrede von Karl Voll (}). — 
Klassiker der Kunst, 28. Band. (Deutsche 
Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1921.) 


LOTHAR BRIEGER: Das Pastell. Seine 
Geschichte und seine Meister. Mit 262 Ab- 
bildungen u. 9 Mehrfarbendrucken. (Verlag 
für Kunstwissenschaft, Berlin 1921.) 


WALTER FRIEDLÄNDER: Claude 
Lorrain. (Verlag Paul Cassirer, Berlin 1921.) 


JAHRBUCH des Vereins für christl. 
Kunst in München. E.V. 5. Bd.: Die 
Vereinsgabe für das Jahr 1921. (Im Verlag 
des Vereins u. im Kommissionsverlag d. Lentner 
schen Hofbuchhandlung IJ. Stahl], München 1921.) 


ALFRED KUHN: Peter Cornelius und 
die geistigenStrémungenseinerZeit. 
Mit 43 Abbildgn. in Lichtdruck. (Verlag 
Dietrich Reimer [Ernst Vohsen], A.-G., Berlin 1921.) 


CHARLES R. MOREY: East christian 
Paintings in the Freer Collection. 
(The Macmillan Company, New-York. Macmillan 
and Company, London 1914.) 


DEUTSCHE KUNST. Bilderhefte, hrsg. 

vom bayer. Nationalmuseum München. 

1. Folge: Heft 1. Philipp Maria Haim: Die 
Madonna mit dem Rosenstrauch im bayer. 
Nationalmuseum, Mit 7 Bildtafeln. 

Heft a. Georg Lill: Das Bamberger Heinrichs- 
grab Til Riemenschneiders. Mit 7 Bildtafeln. 

Heft3. Hans Karlinger: Das Sechstagewerk. 
Regensburger Federzeichnung a. d. 12. Jahr- 
hundert. Mit 8 Bildtafeln. 

Heft 4. Konrad Weiss: Die Giasfenster der ehe- 
maligen Minoritenkirche in Regensburg. 
(Bayer. Nationalmuseum.) Mit 8 Bildtafeln, 

(Sämtlich im Verlag für praktische Kunstwissen- 
schaft, F. Schmidt, München 1921) 


POL de MONT: De Schilderkunst in 
Belgie van 1830 tot 1921. Met 120 
Platen. (s’Gravenhage Martinus Nijhoff, 1921.) 


M. BERNSTEIN: Die Schönheit der 
Farbe in der Kunst und im täg- 
lichen Leben. 
KURT PFISTER: Marées. Der deutsche 
Maler in Rom. Mit 31 Bildern. (Deiphin- 
Kunstbücher.) 
ANITA ORIENTER: Der seelische 
Ausdruck in der altdeutschen Ma- 
lerei Ein entwicklungsgeschichtlicher 
Versuch. Mit 94 Abbildungen. 

(Sämtlich im Delphin-Verlag, München 1921.) 


BIBLIOTHEK der Kunstgeschichte. 

Herausgegeben von Hans Tietze. 

Bd. 1. Heinrich Wölfflin: Das Erklären von 
Kunstwerken. 

a. Heinrich Schäfer: Das Bildnis im alten 
Ägypten. 

3. Max J. Friedländer: Die niederländischen 
Manieristen. 

4. Hans Tietze: Michael Pacher u. sein Kreis. 

5. E. Waldmann: Wilhelm Leibl. 

6. J. Schlosser: Oberitalienische Trecentisten. 

7. E. Praschniker: Kretische Kunst. 

8. E. Panofsky: Die Sixtinische Decke, 

9. Curt Glaser: Vincent van Gogh, 

10. K. With: Japanische Baukunst. 

11. K. Zoege v. Manteuffel: Das flimische 
Sittenbild des 17. Jahrhunderts. 

12. A. Matéjcek: Die béhmische Malerei des 

14. Jahrhunderts, 

. William Cohn: Die altbuddhistische Ma- 

lerei Japans. 

. Wilhelm Waetzold: Bildnisse deutscher 

Kunsthistoriker. 

August Grisebach: Deutsche Baukunst 

im 17. Jahrhundert. 


(Sämtlichim Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1921.) 


n 15- 


79 


EMIL HANNOVER: Keramisk Haand- 
b og. Foerste Bind: Fayence — Maiolika— 
Stentoi. Med et indledende Afsnit om 
oldtidens Terracotta. (Henrik Koppels-Forlag, 
Kobenhavn 1919.) 


CURT GLASER: Die Graphik der Neu- 
zeit. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts 
bis zur Gegenwart. (Verlag Bruno Cassirer, 
Berlin 1922.) 

EUGEN LUTHGEN: Gotische Plastik 
in den Rheinlanden. Mit 80 ganz- 
seitigen Abbildungen. (Verlag Friedr. Cohen, 
Bonn 1921.) 


DAS BILD. Atlanten zur Kunst. Hrsg. 
` von Wilhelm Hausenstein. ı.Bd.: Tafel- 
malerei deutscher Gotik. Auswahl und 
Nachwort von W. Hausenstein. Mit 75 
Tafeln und einem Titelbild. 

2. Bd.: Die Bildnerei der Etrusker. Aus- 
wahl und Nachwort von W. Hausenstein, 
Mit 66 Tafeln und einem Titelbild. (Verlag 
R. Piper & Co., München 1922.) 


W. WARTMANN: Tafelbilder des 
15./16. Jahrhdts. 1430—1530. Schweiz 
und angrenzende Gebiete. — Züricher 
Kunstgesellschaft, Neujahrsblatt 1922. 
Mit 50 Abbildungen. (Verlag der Züricher 
Kunstgesellschaft, Kunsthaus Zürich.) 


HERIBERT,REINERS:KölnerKirchen. 
Mit 130 Abbild. Zweite neubearbeitete 
Auflage. (Verlag J. P. Bachem, Köln 1921.) 


— — 


1922, I. 


ADOLF FREY: Ferdinand Hodler. 
Mit einem Originalholzschnitt und zwei 
Originalzeichnungen von Ernst Würten- 
berger. (H. Haessel-Verlag, Leipzig 1922.) 


GEORG WEISE: Die gotische Holz- 
plastik um Rottenburg, Horb und 
Hechingen. I. Teil: Die Bildwerke bis 
zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Mit 61 
Abbildungen. — Forschungen zur Kunst- 
geschichte Schwabens u. des Oberrheins. 
т. Heft. Hrsg. von Prof. Dr. G. Weise, 
Tübingen. (Verlag von Alexander Fischer, Tù- 
bingen 1921.) 


— —wä½ e— 


CLIVE BELL: Kunst. Herausgegeben 
und eingeleitet von Paul Westheim. (im 
Sibyllen-Verlag Dresden 1922.) 


KARL ANTON NEUGEBAUER: Antike 
Bronzestatuetten. Mit 8 Text- und 


67 Tafelabbildungen. (Schoetz & Parrhysius- 
Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921.) 


DAS GRAPHISCHE JAHR FRITZ 
GURLITT. (Fritz Gurlitt-Verlag, Berlin 1921.) 


O. RIESEBIETER: Die deutschen 
Fayencen des 17. und 18. Jahrhun- 
derts. Mit 442 Abbild. (Klinkhardt & Bier- 
mann, Leipzig.) 


JAHRBUCH DER JUNGEN KUNST 1921. 
Herausgegeben von Prof. G. Biermann. 
(Klinkhardt & Biermann, Leipzig.) 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/Tegernsee, Post Rottach.— 
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissenschaft KLINKHARDT 
& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467. 


80 


> чь "ы ч Чы Чы ы T u CT CC CE Чы ЧЫМ МЫ cc KEINEN — чаа ача мача ааа ла мәә ла 


— — 


. HEFT 4-6 · SEPTEMBER 1922 
VERLAG KLINKHARDT OBIERMANN: LEIPZIG 


ee "TTT 


Monatshefte 
für Kunstwissenschaft 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN 
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG 


Preis des Heftes Mark 200.— 


INHALTSVERZEICHNIS HEFT IV-VI 


ABHANDLUNGEN 


W. A. LUZ, Hubert Gerhards Tätigkeit 
in Augsburg und München. Mit 
15 Abbildungen auf 5 Tafeln in Licht- 
йге ы азый a en 5. 81 


ALBERT DRESDNER, Johann Tobias 
Sergel. Mit 5 Tafeln in Lichtdruck. 
Seite еве een 96 


W.v.GROLMAN, Zur Kenntnis Riemen- 
schneiders. Der Heroldsberger Cruci- 
fixus. R. als Steinbildhauer. Der 
Christusknabe am Lorenz - von- Bibra- 
Denkmal. Mit 7 Abbildungen auf drei 
Tafeln in Lichtdruj ck S. 116 


Dr. MITTERWIES ER, Archivrat, 
München, Die Baurechnungen der 
Renaissance-Stadt-Residenz in Lands- 
hut (1536—1543) ........ S. 122 


WILHELM JUNIUS-Dresden, Der Mei- 
ster H.W., Ein erzgebirgischer Pla- 
stiker am Ausgang des Mittelalters. 
Mit ı2 Abbildungen auf 5 Tafeln in 
Lichtdru el S. 137 


MISZELLEN 

KARL SIMON, Ein Griinewaldkopf von 
Ph. Uffenbach? Mit 3 Abbildungen 
auf einer Tafel in Lichtdruck . S. 148 


REZENSIONEN 


LILI FROHLICH -BUM, Parmigianino und 
der Manicrismus. (Kunstverlag A. Schroll, 
Wien 1921). (H.v.d.Gabelents) .. . S. 149 


OSKAR HAGEN, Deutsche Zeichner von der Gotik 
bis zum Rokoko. Mit ro Abbildungen. München, 
R. Piper & Co., 1921. (P. F. Schmidt) S. 149 


HEINRICH GLÜCK, Probleme des Wölbungs- 
baues, Band I: Die Bäder Konstantinopels. 
Aufnahmen, Beschreibungen und historische 
Erläuterungen mit 117 Abb. 4°. 176 Seiten. 
(Arbeiten des kunsthistorischen Instituts der 
Universität Wien, Lehrkanzel Strzygowski, 
Bd. XII), Wien, Halm & Goldmann, 1921, 
М. оо. (Karl Ginhart)......... 8. 150 


DAS MINIATUREN-KABINETT DER MUN- 
CHENER RESIDENZ. 69 Abbildungen in 
ein- und mehrfarbigem Lichtdruck. Vorwortund 
kritischer Katalog von Hans Buchheit und Rudolf 
Oldenburg. Verlag von Franz Hanfstaengl, 
München 1921. (Georg Biermann) . . S. 151 


F.v. LUSCHAN, Die Altertümer von Benin. Berlin 
ч. Leipzig 1919. Vereinigung wissenschaftl, 
Verleger. 4°. Bd.I. XII u. 522 S., 889 Abb. im 
Text u. Taf. A—Z; Bd. II: Taf. 1 - 50; Bd. DI: 
Taf. 51—129 (= Verdfftich. Mus. Vikerkde. 
Berlin, Bd. VIII X). (Bernh. Struck) S. 152 


ADOLF FEULNER: Die Zick. München 1920. 
(V. C. Habicht S. 157 


OELENHEINZ, LEOPOLD, Der Wünschelring 
(Differenzialpendel, siderischer Pendel), insbes. 
seine Anwendung auf die Meisterbestimmung 
bei Gemälden usw. Mit 52 Abbildung. Leipzig, 
Max Altmann. Geb. 18 M. (Voll)... S. 158 


NEUE BÜCHER ........... S. 160 


HUBERT GERHARDS TATIGKEIT IN AUGS- 
BURG UND MÜNCHEN Von W. A. LUZ 


Mit fünfzehn Abbildungen auf fünf Tafeln in Lichtdruck 


ürnberg lag insofern ungünstig für den Betrieb einer BildgieBerei, als das Erz 

nicht im Frankenlande gewonnen wurde, sondern aus den Bergwerken in 
Ungarn, Kärnten und Tirol bezogen werden mußte). Peter Vischers Arbeit be- 
günstigte jedoch die anfängliche Konzentration des Erzhandels in dieser Stadt, 
Durch Vermittlung der daran beteiligten Handelshäuser war das Erz für den 
Meister leicht zu erreichen. Auch ermöglichte der lebhafte Verkehr Absatz nach 
dem Norden wie nach dem Süden Deutschlands. Hätte allerdings Peter Vischer 
Briefe hinterlassen wie Albrecht Dürer, so hätte man bei ihm dieselben bitteren 
Worte über die Teilnahmlosigkeit der heimischen Bestellerkreise erwarten können. 
Er arbeitete vielfach nicht für Nürnberg. 

Schon im Werke Peter Vischers macht sich eine auswärtige Bestellerfamilie be- 
merkbar, aus der im Laufe des 16. Jahrhunderts Großauftraggeber für Erzplastik 
hervorgehen. Aus Gründen, die man nicht kennt, hatten die Fugger Peter Vischers 
Erzgitter für ihre Grabkapelle in St. Anna zu Augsburg zwar abgelehnt, sie hatten 
es jedoch bei ihm in Auftrag gegeben“). Daß diese Familie den Arbeiten des 
Nürnberger ErzgieBers und Künstlers schon am Anfang des 16. Jahrhunderts Auf- 
merksamkeit schenkte, ist nicht verwunderlich. Sie hatte es verstanden, sich all- 
mählich eine Art Monopol auf die Erzbergwerke und den Erzhandel zu sichern. 
Mit ihrem Namen verknüpft sich später die weitere Entwicklung der süddeutschen 
Erzplastik, wenn sie auch dann nur als Anreger, nicht als dauernder, opferwilliger 
Förderer erscheint. Der Niedergang der Nürnberger Gießhütte, von der sich die 
Fugger nach einem ersten Versuch abwendeten, findet seine Erklärung in dem 
wirtschaftlichen Übergewicht, das Augsburg durch die Konzentrierung des Erz- 
handels in den Händen dieser Familie erhielt. Dies ist einer der Gründe, welcher 
zum Verfall der Nürnberger Hütte führte. 

Für die Begründung einer künstlerisch geleiteten Erzgießhütte lagen Städte wie 
Augsburg und München weit günstiger als Nürnberg. Innsbruck mit seiner Lage 
mitten im Gebiet des Kupferbergbaus, war ja auch ihnen gegenüber immer noch 
im Vorteil. Da die Augsburger Handelshäuser jedoch die Bergwerkgerechtigkeiten 
in Kärnten und Tirol besaßen, schied die erzherzogliche Gießhütte in Innsbruck 
aus dem wirksamen Wettbewerb aus. Durch Augsburg und München wurde je- 
doch das Erz auf seinem Weg nach dem Westen und Norden Europas befördert. 
Hier war es daher leichter zu fassen als in Nürnberg. Daß die einzige Nachricht, 
welche vom Ankauf von Metall für ein monumentales Kunstwerk spricht, einen 
Münchener Gastwirt als Verkäufer nennt, bezeichnet den Zusammenhang zwischen 
der Beförderungsstraße und dem Aufkommen der Erzplastik “). 


(x) Vgl. Dobel, Der Fugger Bergbau und Handel in Ungarn. Ztschr. d. hist. Vereins f. Schwaben 
und Neuburg. Bd. VI, S.33 ff. und Derselbe, Über Bergbau und Handel des Jakob Fugger in Kärnten 
und Tirol. 1495—1560. Ebda Bd. IX. — Strieder, Zur Genesis des modernen Kapitalismus, Leipzig 1904. 
(2) Vgl. über die kürzlich erfolgte Wiederauffindung von Teilen dieses Gitters meinen Aufsatz Frank- 
furter Zeitung, Nr. 621, 1921. 

(3) Westenrieder, Beyträge zur Vaterländischen Historie, Geographie u.s.f, 9 Bde. München 1788 
bis 18:12. Bd. Ш, 8. 101. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1923, 4—6. 6 8т 


Als die Fugger sich gegen Ende des Jahrhunderts entschlossen, auf einem Gebiet, 
das politisch ihrem Einfluß unterstand, eine Erzgießerei für große Bildgüsse zu 
errichten, griffen sie bezeichnenderweise nicht mehr zurück auf die Nürnberger 
Überlieferung. Die Nachfahren Peter Vischers konnten Besteller nicht mehr be- 
friedigen, welche die italienische Kunst vielfach aus eigener Anschauung kannten. 
In künstlerischen Fragen äußerst fortschrittlich gesinnt, beriefen diese empor- 
gekommenen Bürgerlichen einen Künstler aus der Werkstatt Giovanni da Bolognas 
in Florenz. Es war ein Holländer von Geburt: Hubert Gerhart. Grundsätzlich 
unterscheiden sie sich in dieser Wahl von dem aristokratischen, im alten Geiste 
wirkenden Besteller, dem die Sorge für das Innsbrucker Maximiliansgrab oblag. 
Er berief gleichzeitig noch immer deutsche Erzplastiker. 

Die bisher bekannten Lebensdaten Hubert Gerhards sind von Peltzer tibersicht- 
lich zusammengestellt und verarbeitet worden i). Ihnen ist vorläufig nur wenig 
nachzutragen. Eine gründliche Prüfung seiner Zuschreibungen erweist sich jedoch 
notwendig. 1581 taucht der Künstler in Deutschland auf und zwar ist er be- 
schäftigt, einen Auferstehungsaltar für Christof Fugger herzustellen“). Er war für 
die Dominikanerkirche bestimmt und ist heute verloren. Die Geschichte dieses 
Altars bezeichnet den Willen der Fugger zu deutlich, trotz aller Widerstände und 
Unglücksfälle die Bildgießerei in Süddeutschland heimisch zu machen. Der Altar 
sollte in weißem und rotem Marmor gefertigt und mit einer Auferstehungsgruppe 
in Messing sowie vier Propheten aus dem gleichen Stoff geschmückt werden. 
Bekannt ist, daß der Bildhauer Paul Mair aus Augsburg zehn Visierungen auf 
Tafeln dazu anfertigte. Als man zum Guß schritt, wurde die Berufung eines Ita- 
lieners namens Carlo Ballas (Pallago) nach Innsbruck für notwendig erachtet. Was 
er jedoch leistete, scheint nur Hilfsarbeit gewesen zu sein. Für die Bildstoffe, 
welche zum Gießen notwendig sind, und für eigene geringfügige Modellierungs- 
arbeit erhält er etwas mehr als ıo fl. Ferner fertigt er die Negative zum Abguß 
der Modelle für 50 fi. an. Das sind so geringe Summen, daß man nur annehmen 
kann, daß Pallago die Modelle fertig übernahm. Der Bildhauer Paul Mair hatte 
für den Altar insgesamt 770 fl. und für den zugehörigen Grabstein mit Messing- 
tafel und Wappen noch weitere Go fi. erhalten. Ist bei solchen Summen der 
Schluß nicht gerechtfertigt, daß Mair neben den Plänen und der Steinarbeit auch 
Modelle, vielleicht sogar Holzmodelle ausgeführt hätte? — Beim Guß hatte der 
Augsburger Rotschmied Jeremias Reisinger jedoch wenig Glück. Die Auferstehungs- 
gruppe schlug völlig fehl. Ein Moses, Elias und ein nicht näher bezeichneter 
Prophet sowie zwei große Engel scheinen leidlich geglückt zu sein. Die dafür 
verrechneten Verschneidungsarbeiten von 124 fl. bleiben unter dem regelmäßigen 
Maß. Im gleichen Jahr wurden die Auferstehungsgruppe und andere nicht ge- 
lungene Stücke noch einmal gegossen. Für deren Modelle wird nun zum ersten 
Male der Name des „Bildmachers“ „Robert Gerard“ genannt. Als Retter aus der 
Not ruft man ihn aus Florenz herbei, denn das Vertrauen zu Mair, zu Pallago und 
zu Reisinger scheint man gleicherweise verloren zu haben. Gerhard ist jedoch zu- 
nächst nicht glücklicher. Die große Himmelfahrt Christi gelang auch diesmal nicht, 
aber einer der beiden großen Engel wie auch die vier Propheten und zwei Engelchen 


(1) Vgl. Artikel Hubert Gerhard in Thieme-Beckers Künstlerlexikon und Peltzer in „Kunst und Kunst- 
handwerk“ 1918. 21. Jahrgang. | 

(2) Wiedenmann, Die Dominikanerkirche in Augsburg. Ztschr. 4. Histor. Vereins f. Schwaben und 
Neuburg 1917. 43. Bd. * 


82 


glückten. Die fehlgegossenen Stücke wurden sogleich wiederholt. Gerhard hatte 
die Genugtuung, daß sie ihm beim zweiten Male gelangen. Für alle seine Arbeiten 
wurde er allerdings nur mit 160 fl. entlohnt, ein Betrag, der jedoch um ein Mehr- 
faches die Summe übersteigt, welche Pallago erhalten hatte. Für die Verschnei- 
dung und Reinigungsarbeiten an den beiden letzten Stücken wurden im Jahr 1583/4 
102 fi. bezahlt. Sie wurden vergoldet. Im Jahre 1583 stellte Hubert Gerhard 
noch „Colona, gibgen, auch ettliche köpff, arm und fuess zum grossen stückh“ her, 
welche später gegossen und verschnitten wurden. Diese Nachricht ist deshalb 
wichtig, weil aus ihr zu entnehmen ist, daß die Auferstehung als Relief ausgeführt 
wurde. Es entspricht dem Gebrauch der Bolognawerkstatt, daß Arme und Köpfe 
freiplastisch aus dem Reliefgrund herausgehoben werden. Sie mußten für sich ge- 
gossen werden, weil das flüssige Erz nicht durch die dünnen Hohlräume der Hälse 
und Handgelenke drang. Bei der Besprechung der Münchener Arbeiten wäre auf 
ähnlich behandelte Reliefs der Gerhardwerkstatt hinzuweisen wie die Meermann- 
Grabplatte in der Frauenkirche und die vier Erzreliefs in der Michaelskirche. Unter 
diesen findet sich auch eine Auferstehung, welche Christus über dem Grabe in 
einem Wolkentrichter stehend zeigt. Da diese eigentümliche Trichterbildung auch 
sonst im München-Augsburger Kunstkreis vorkommt, ist man versucht, als Aus- 
gangspunkt für diese Darstellungen Gerhards verlorenen Auferstehungsaltar an- 
zunehmen. Damit war Hubert Gerhards erstes Werk auf deutschem Boden voll- 
bracht. Nach drei kostspieligen Güssen sahen seine Auftraggeber ihren Versuch 
geglückt, das Kupfererz ihrer sich erschöpfenden Bergwerke als künstlerischen 
Bildstoff verwenden zu lassen. Wie sich in der Folge zeigte, empfahl es sich bald 
anderen Auftraggebern. 

Schon plante jedoch Hans Fugger Größeres. Für das neu errichtete Fugger- 
schloß Kirchheim in Schwaben sollte Hubert Gerhard einen Riesenbrunnen schaffen. 
Als Aufstellungsplatz war der Schloßhof vorgesehen. Ein weltliches Thema wurde 
daher in Aussicht genommen, ein Thema, das monumental ausgeführt an sich 
schon eine ungeheure Tat bedeutete. Mars, Venus und Amor als Mittelgruppe, 
umgeben von einer Schar von Fluß- und Wassergittern! Diese Entfaltung eines 
freien, zeugungsfreudigen Lebensgefühls mußte selbst auf manchen deutschen Huma- 
nisten herausfordernd wirken. Was Hubert Gerhard hier an erotischer Leiden- 
schaft zu geben wagte, überstieg die Leistung der Kleinmeister. Da sich nur die 
Hauptgruppe im Garten des Bayr. Nationalmuseums erhalten hat, muß die Er- 
gänzung des Brunnens aus Rechnungseinträgen vorgenommen werden. Nach Lill 
lagen am Rande des untersten Beckens auf vorspringenden Muscheln acht Figuren. 
Ferner gehörten zum Brunnen acht wasserspeiende Köpfe, abwechselnd Satyrn 
und Löwen, acht Delphine und zwei große Fuggerwappen!). Aber der Guß der 
viele Zentner schweren, tiberlebensgroBen Hauptgruppe stellte Künstler und Auf- 
traggeber vor eine Riesenaufgabe. Zweimal, wenn nicht gar dreimal mußte der 
Guß wieder zerschlagen und eine neue Form hergestellt werden. Vom Jahre 1583 
bis zum Jahre 1594 währen die Arbeiten an dem Werke. Der Torso des Brunnens, 
wie er heute vorliegt, zeigt Mars und Venus auf einer niedrigen Sockelbank in 
engster Umschlingung. Der kleine Amor hockt vor dem Paar, in der Rechten 
eine Traube. Er wendet sich um und greift lachend nach dem Granatapfel hinauf, 
welchen ihm Venus herunterreicht. Das Gesims des Sockels stützen vier geflügelte 
Hermen, abwechselnd männlich und weiblich gebildet (Abb. то). Wahrscheinlich 


(z) Lill, Hans Fugger und die Kunst. Leipzig 1908, S. 171. 
83 


sind sie über dem gleichen Modell abgeformt, wobei jedoch einzelne oberflächliche 
Veränderungen vorgenommen wurden. Der Merkwiirdigkeit halber sei bemerkt, 
daß Hubert Gerhard das Werk mit seinem Namen nicht bezeichnet hat, wohl aber 
hat einer der Verschneider am linken Oberschenkel der Venus vorwitzig sein 
Zeichen angebracht. Es gleicht einem A und könnte daher das Zeichen des Aug» 
burger Goldschmiedes Anthony sein, der urkundlich beim Verschneiden betei- 
ligt ist!). 

Die Vorbereitungen für den Riesenguß im Augsburger Gießhaus waren offenbar 
so umständlich, daß Hubert Gerhard Zeit fand, auch noch andere Arbeiten im 
Dienst der Fugger auszuführen. Wenn man bedenkt, daß nicht alle Jahreszeiten 
sich gleichmäßig zum Guß eigneten, und daß möglicherweise Umbauten oder Neu- 
bauten der Öfen und Gebäude stattfanden, so wird man sich darüber nicht wundern. 
Zusammen mit Carlo Pallago arbeitet er in den Jahren 1582—85 die Kirchheimer 
Saalfiguren aus. Sie sind tiberlebensgroB aus gebranntem Ton geformt und trotz 
dieses weder edien noch zu solchen Ausmaßen besonders haltbaren Bildstoffs aus- 
gezeichnet erhalten. Das Thema ist im Sinne der Zeit ein heroisches*). Berühmte 
Männer und Frauen der antiken und der deutschen Geschichte stehen einander 
gegenüber. Cyrus, Alexander, Cäsar, Augustus, Karl der Große und Karl V. (Abb. 8). 
Judith, Lukretia, Helena und Adelheid, die Gemahlin Karls V. bilden ihre weib- 
lichen Gegenstücke. Auch am Kamin hat Hubert Gerhard im Jahre 1587 den 
plastischen Schmuck ausgeführt. Mars und Venus erscheinen hier im ersten 
Stadium der Verliebtheit. Über das Mittelstiick des Kamins hinweg werden erst 
Blicke und Worte ausgetauscht. Über ihnen schmiedet jedoch schon Vulcan das 
Netz, in welchem er das Paar fangen wird. Wieder ist man durch Lills Forschung 
über diese Werke genau unterrichtet. Alle sind sie rasch und flüchtig hergestellt. 
Gerhards Hand wird vor allem kenntlich an den sorgfältiger ausgeführten Figuren 
des Kamins, wogegen der Gehilfe Pallago vielfach zu den Nischenfiguren heran- 
gezogen wurde. Von ihm allein rühren wahrscheinlich die Stützhermen dieser 
Figuren her. 

Als Gerhards Arbeit ist schließlich noch ein Grabstein zu nennen. Hans Fugger 
denkt frühzeitig an sein Grabmal: schon 1584 stellt Hubert Gerhard das Wachs- 
modell fertig, nach welchem Alexander Colin in Innsbruck den Marmorblock wählt 
und zuhaut. Nach dem Eintreffen des Steins im Jahre 1587 führt Gerhard selbst 
den Kopf bildnismäßig in Marmor aus. Das Grabdenkmal hatte ursprünglich in 
der Kirchheimer Schloßkapelle gestanden, wo es Bianconi bewunderte ). Jetzt ist 
es in der Augsburger Ulrichskirche. 

Noch eine Arbeit hat Hubert Gerhard 1587—94 in Augsburg vollendet: den 
Augustusbrunnen. Für einen so umfangreichen und kostspieligen Auftrag wurde 
der Rat zweifellos durch Gerhards Leistung im Dienst der Fugger gewonnen. 
Durch Buffs und Rogges Forschungen ist man über die Entstehungsgeschichte 
dieses Brunnens sehr gut unterrichtet). Er wiederholt offenbar die Anlage des 
Mars-Venus-Amor-Brunnens, ohne daß Muscheln vorgesehen waren. Ein mittlerer 
Pfeiler trägt die Gestalt des großen Namenspatrons. Zu seinen Füßen liegen auf 


(x) Lill, a. a. O., 8. 119. 

(2) Vgl. Weisbach, Die Kunst der Gegenreformation. Berlin 1921. 

(3) Vgl. Bianconi, Lettere al Marchese Filippo Hercolani...sopra alcune particolarista della Baviera. 
Lucca 1763. — Lill, a, a. O., 121 ff. 

(4) Buff, Augsburg in der Renaissancezeit, Bamberg 1893, und Rogge, Die Augsburger Brunnen, Ztschr. 
f. bild. Kunst, 17. Bd., 1882. 


84 


ww. vn vr. 


TAFEL 18. 


Abb. 1. Büste Wilhelms V, Modellierzement, Abb. 2. Kaiserkopf, Erz, lebensgroß, 
lebensgroß. Bayr. Nat.-Mus. Erzgießerei von Miller. 


Ky Ned 
FLAN" 
Abb. 3. Kopf des Ritters auf der NO Ecke des Abb. 4. Kopf des Ritters auf der S.-W. Ecke des 
Ludwigsgrabmals, Erz, lebensgroß. Ludwigsgrabmals, Erz, lebensgroß. 
München, Frauenkirche. Munchen, Frauenkirche. 


Zu: W. A. Luz: Hubert Gerhards Tätigkeit in Augsburg und Münden. 


dem Brunnenrande vier Flußgötter, während auf den Eckvoluten des Sockels vier 
Bübchen und in der Seitenmitte vier Sirenenhermen angebracht sind. Aus den 
Urkunden über den Augustusbrunnen wird auch ersichtlich, daß Hubert Gerhard 
Holländer war und aus Hertogenbosch stammte. Die Lösung, welche Ammanati 
mit seinem Neptunbrunnen gebracht hatte, Beckenrandfiguren zu Füßen der Sockel- 
figur, übernimmt auch Hubert Gerhard. 

Inzwischen war Hubert Gerhard auch schon für den Münchener Hof beschäftigt. 
Herzog Wilhelm V. betraut ihn im Jahre 1584 mit einer Arbeit für die Münchener 
Franziskanerprozession, einem Christus und zwei Schächern am Kreuz. Wahr- 
scheinlich ist, daß sie aus vergänglichem Stoff hergestellt waren. Sonst hätte man 
vermuten dürfen, es wären die Stücke, weiche Hainhofer in Wilhelms V. Ein- 
siedelei Schleißheim in Erz gegossen sieht). Bedeutungsvoll ist aber die Nach- 
richt deshalb, weil sie beweist, daß Hubert Gerhard im Dienste der Fugger nicht volle 
Beschäftigung fand. An Werken gehört dieser Zeit die Holzbüste Wilhelms V. an, 
welche an unzugänglichem Platze in einem Durchgang zur Sakristei der Michaels- 
kirche steht. Nach dem Lebensalter des Dargestellten gehört diese Büste in den 
Anfang der 80er Jahre. Sie ist das erste erhaltene Werk Gerhards, das bisher іп 
München nachzuweisen ist. Da das Holz mit Bronze überstrichen ist, wird man 
in der Vermutung bestärkt, daß es sich um ein Holzmodell für einen Erzguß han- 
delte, der nicht zur Ausführung kam. In der Folgezeit taucht Gerhards Name 
immer wieder in den Urkunden auf. Beschäftigt teils mit Sonderaufträgen, teils 
mit laufender Arbeit, kommt er sowohl in den Hofzahlamtsrechnungen als in dem 
Materialienbuch und den Jesuitenakten vor, 1589 wird er mit einem Gehalt von 
100 fl. fest angestellt“. 

Die Werke, welche er in München schuf, lassen sich nach ihren Aufstellungs- 
orten in zwei Gruppen einteilen. Hubert Gerhard stattet die Höfe und Gärten der 
Residenz mit Erzbrunnen aus, und er liefert den plastischen Schmuck der Michaels- 
hofkirche, die Nischenfiguren aus Gips und Erz und die Erzbildwerke zum ge- 
planten Wilhelmsgrabmal. Abseits von diesen umfangreichen plastischen Gesamt- 
kunstwerken liegen der Ferdinandsbrunnen auf dem Rindermarkt, die Muttergottes 
auf der Mariensäule und das Grabmal des Kardinals Philipp im Regensburger Dom. 
Auch in München währte es wohl mehrere Jahre, bis die Einrichtung der Gieß- 
hütte soweit gediehen war, daß auch große Stücke ausgeführt werden konnten. 
Nach der Menge der überlieferten und literarisch bekannten Werke ist jedoch an- 
zunehmen, daß der Betrieb von einem Zeitpunkt nach der Mitte der 80er Jahre 
frühestens bis zur Abdankung des Herzogs Wilhelm im Jahre 1596, ja vielleicht 
noch ein paar Jahre später nicht mehr ruhte. Hubert Gerhard, der Künstler, und 
Herzog Wilhelm V., der Auftraggeber, scheinen sich gegenseitig angespornt zu 
haben. Immer größer, immer ausgreifender werden ihre Pläne. Hubert Gerhard 
sieht sich schließlich außerstande, sie allein zu bewältigen. Vielfach muß er sogar 
die Wachsmodelle Gehilfen anvertrauen. Wenn schließlich sich die Landstände 
ins Mittel legen und den Rücktritt Wilhelms V. erzwingen, um den Staatsbankrott 
zu vermeiden, der infolge der riesigen Kunstunternehmungen drohte, so hat daran 
der kostspielige Betrieb der Gießhütte nicht die geringste Schuld. 

Eine der ersten Arbeiten, welche Hubert Gerhard für die Residenz ausführte, 


(1) Haeutle, Die Reisen. . Hainhofer u.s.f., a, a, О. Ztschr. d. Hist. Vereins f. Schwaben und 
Neuburg. 8. Jahrg., Augsburg 1881, 8. 123. 
(2) Westenrieder, a. a. O., Ш., 8. тоз. 


85 


war wohl der Perseusbrunnen des Grottenhofs. Auf ihn bezieht sich wahrschein- 
lich ein Eintrag im Malerbuche, auf welchen schon Rée aufmerksam machte). 
Bassermann-Jordan, der eine erhaltene Zeichnung zu diesem Brunnen Friedrich 
Sustris zuschreibt, könnte ich nicht zustimmen, wenn er dem Hofmaler Wilhelms V. 
den ganzen Erzbrunnen geben wollte). Wohl zeigt der Perseus, verglichen mit 
einem gesicherten Werke Gerhards, wie dem Kaiser Augustus vom Augustus- 
brunnen, sehr viel schlankere Körperverhältnisse und zierlichere Bewegungen. Aber 
die Einzeldurchbildung des Lederpanzers wie des Schurzes ergibt andererseits auf- 
fallende Übereinstimmungen. Auch die Form der Ohrmuschel läßt sich aus an- 
deren gesicherten Werken Gerhards belegen, und die tänzelnde Bewegung läßt 
sich auch im Alexander des Kirchheimer Saals erkennen. Den Ausschlag gibt für 
mich nicht die spätere Unterschrift der Zeichnung, von welcher Bassermann-Jordan 


ausgeht. Aber man darf ihrem zweiten Teil doch nicht überhaupt keine Beachtung . 


schenken, wenn auch hier die Tinte verblaßt ist. Er lautet: „.. . E aeris stat: 
f. Hub. Gerardi.“ 

Beim Wittelsbacher Brunnen hat man sich immer wieder durch die geringere 
Güte des Gusses und durch die Leichtigkeit, mit der die vier Götter monumental 
eingebunden sind, von der Zuschreibung des gesamten Werks an Gerhard abhalten 
lassen (Abb. 5 u. 7). Haeutles Versuch, den Brunnen bis in die 70er Jahre zurück- 
zuführen, ist jedoch stilistisch ganz unhaltbar“). Das Werk stammt bis auf die 
Wappendekoration des Pfeilersockels, welche der maximilianischen Zeit angehört, 
aus der Hand Hubert Gerhards, wenn es auch nicht sicher ist, daß er schon die 
vier Götter vorgesehen hatte. Ihre Steinsockel mußten ja rlickwärts abgeschrägt 
werden, da sie für den schmalen Schalenrand viel zu breit sind. Es könnte sein, 
daß diese vier Götter aus den Wilhelminischen Gärten stammen und anläßlich der 
Maximilianischen Neubauten umgestellt wurden. Die früheste Wiedergabe des 
Brunnens aus dem Jahre 1613 zeigt schon die gegenwärtige Aufstellung‘). 

Die Anlage des Wittelsbacherbrunnens entspricht völlig der des Augustusbrunnens, 
Auf einem mittleren Pfeiler erhebt sich das Standbild des Grafen Otto von Wittels- 
bach, des Begründers der bayrischen Dynastie. Auf den Schalen lagern vier FluB- 
götter. Sie kommen diesmal auf die Kreisbigen des vierpaßförmigen Grundrisses 
zu liegen, wo sie beim Augustusbrunnen auf dessen Ecken ihren Platz gefunden 
hatten. Die schon erwähnte Abweichung liegt vor, daß vier Götter kleineren Maß- 
stabs auf den Ecken des Vierpasses Aufstellung gefunden haben. Zug um Zug 
sind die einzelnen Figuren auf gesicherte Werke Gerhards zurückzuführen, so 
etwa die Mantelbehandlung rückwärts und vorwärts auf dem Kaiser Augustus in 
Augsburg und die Kaiserreihe in Kirchheim oder Juno und Vulkan auf Venus und 
Vulkan am Kirchheimer Kamin. Die Tritonenbübchen, welche in den Ecken 
der Schale auf Seetieren reiten, sind so lebhaft bewegt wie die vier Bübchen des 


(1) Ree, Peter Candid. Leipzig 1885, S. 88 f. 

(2) Bassermann-Jordan, Der Perseus des Cellini und der Perseusbrunnen in München, Münchener 
Jabrb. f. bild. Kunst 1906. 

(3) Haeutle, Residenz, 5. 28. (Text zu Böttger, Die Innenräume der kel, Alten Residenz... München 1805. 
Vgl. auch Buff, Jahrb. f. Münch. Geschichte. 4. Jahrg. Bamberg 1890, S. ı fl. 

(4) Zimmermann, Wilh. Pet., Beschreibung...der... Hochzeit... Wolfgang Wilhelm Pfaltzgraff bey 
Rhein... mit der... Magdalena... Hertzogin in Ober und Nidern Bayrn zu München.. , Augsburg 1614. 
Aus Fröschels Bericht aus dem Jahre 1596 erfährt man leider nur, daß ein schöner Röhrkasten im 
Belvedere der Residenz steht. Es könnte ebensogut der Perseus- wie der Wittelsbacher Brunnen 
gemeint sein. Roth, Ztschr. d. Hist, Vereins für Schwaben und Neuburg 1912, 8. 57 ff., Anm. 3. 


86 


Augustusbrunnens und tragen teilweise entsprechenden Lockenaufbau Nur die 
vier Tierkämpfe, welche mit ihnen abwechseln, lassen sich noch nicht auf Be- 
kanntes zurückführen. Vergleicht man aber die Löwenköpfe mit den Köpfen der 
Löwen vor den Residenztoren (Abb. 14, 15), welche sogleich als für Hubert 
Gerhard gesichert nachgewiesen werden, so wird man Übereinstimmungen sowohl 
im Ausdruck des Affekts wie in der Behandlung der glatten und der behaarten 
Oberflächen finden. In diesen phantastischen Tiergruppen steckt vielleicht etwas 
von der heimatlichen Kunstweise des Meisters. Hubert Gerhard wuchs ja auf im 
Kunstkreise des Hieronymus Bosch. Am leichtesten überzeugt man sich jedoch von 
der Autorschaft Gerhards an diesem Werk, wenn man ein Figürchen wie die Ceres 
mit der Badenden Nymphe des Giovanni da Bologna aus den Boboligärten ver- 
gleicht!). Es stellt sich heraus, daß sie eine wortwörtliche Kopie ist. Sie anzu- 
fertigen konnte doch nur ein unmittelbarer Schüler des Florentiner Bildhauers 
unternehmen. 

Haben sich diese beiden Brunnenanlagen erhalten, so ist eine Anzahl weiterer 
Erzbrunnen und Gartenfiguren zerstört (Abb. 13). Bruchstücke einer figurenreichen 
Gruppe, welche Hainhofer beschreibt, finden sich heute im Königsbauhof?). Der 
Neptun stand ursprünglich vor einer Nische inmitten eines kleinen Teiches. Haeutle . 
will ihn zwar erst in der Zeit Max Emanuels entstanden wissen“), Hainhofer hat 
ihn jedoch schon bemerkt und verschiedentlich erscheint er auf Stichen der Resi- 
denz im südlichen Residenzgarten vor einer nischenförmigen Grotte aufgebaut. Die 
Satyrn und Flußgötter erwähnt Hainhofer schon in diesem Zusammenhang, nicht 
mehr festgestellt werden kann jedoch das Weib oder die Wassergöttin, welche 
neben dem Neptun stand. Es unterligt keinem Zweifel, daß die vorhandenen 
Stücke aus der Hand oder aus der Werkstatt Hubert Gerhards hervorgegangen 
sind. Für eigenhändig halte ich den Neptun. Obwohl der Körper mager und 
sehnig ist, läßt er sich in der ausgreifenden Bewegung mit dem Neptun des 
Wittelsbacher Brunnens vergleichen. Die Bartbehandlung führe ich über die FluB- 
götter des Wittelsbacher Brunnens auf den Lech und den Brunnenlech des 
Augustusbrunnens zurück. Später wird es vielleicht auch einmal möglich sein, 
die Gehilfen, welche bei den Satyrn und den Flußgöttern geholfen haben, nament- 
lich festzulegen. Die Hand des Meisters verrät sich stärker bei den Satyrn. Da- 
gegen wird die Persönlichkeit des Gehilfen, der die Flußgötter schuf, auch in 
einigen anderen Werken deutlich, so in den vier Erzreliefs der Michaelskirche 
und der Meermann-Grabplatte der Frauenkirche. Es dürfte jedoch kaum gelingen, 
die Urheber der drei Göttinnen zu bestimmen, welche im gleichen Hof Aufstellung 
gefunden haben. Die Venus mit dem Spiegel ist ein anmutig bewegtes Figtirchen. 
Da es nachweisbar ist, daß der Hofmaler Friedrich Sustris Zeichnungen für Bild- 
werke lieferte und selbst als Plastiker auftrat, könnte sich vielleicht in ihr sein 
Einfluß geltend machen‘). 

Die Bübchen des Grottenhofs sind Bruchstücke aus einer Brunnenanlage, von 


(1) Abbildung bei Desjardins, Vie et oeuvre de Jean, Boulogne 1883. 

(2) Haeutle-Hainhofer, а. а. O., 8. 74 ff. 

(3) Haeutie-Böttger, а. а. O., 8. 94. 

(4) Zottmann, Über die Gemälde der Michaelshofkirche. Münchener Jahrb. d. bild. Kunst 1910, 8.71 ff.— 
„1580, 9. Juni, Fried. 8. Bildlin zu poss. u.s.f. u. Gmelin, Die St. Michaelshofkirche in München und 
ihr Kirchenschatz. Bamberg 1890, S. 53. Auszug aus Jesuitenakt 1777 b. Fol.: „mangle allein an 
deme, dass die Tafeln so aus Metall zu giessen, und Friedrich Suchtris die visier darzue fertigen soll, 
noch nit vorhanden.“ 


87 


welcher Hainhofer nichts berichtet. Waren Wasserzuleitung und Wasserauslauf 
so angebracht, wie man sie heute nach den Löchern im Rücken und im Leib der 
Bübchen ergänzen muß, so müßten wir von diesen Brunnenfigürchen in einer zu 
auffälligen Verrichtung begriffen gewesen sein, als daß sie ein Besucher der Resi- 
denz nicht bemerkt hätte. Vier andere von den Bübchen sind beschäftigt, schwanen- 
halsige Ungeheuer zurückzuhalten, während die schon genannten vier ersten Del- 
phine fassen. Es sind sämtlich Werkstattarbeiten. Die leichte, mit der Schwie- 
rigkeit spielende Behandlung der Drachenköpfe läßt hier jedoch die Hand des 
Meisters vermuten. Auch das Köpfchen des völlig nackten Jungen mit dem Delphin 
zeigt eine geschickte Wiedergabe der Haut und des Lockengekräusels, welcher die 
des übrigen Körpers in keiner Weise entspricht. An diesen Stellen würde ich die 
bessernde Hand Hubert Gerhards vermuten. Der Grottenhof birgt in noch ur- 
sprünglicher Aufstellung einen Merkur auf dem Windstoß, der in der Muschelgrotte 
auf ein Hiigelchen von Kristallen, Gesteinen, Sintern und Muschelschalen aufgesetzt 
ist. Seine Patina ist außerordentlich schön. Unter der grünen Haut schimmert 
das vergoldete Erz hindurch. Die vielfach körnige Oberfläche fällt auf. Ich glaubte 
eine Zeitlang in diesem Werk die „opera anticha“ erkennen zu sollen, welche der 
Großherzog von Toskana im Jahre 1596 an den Herzog Wilhelm von Bayern 
sandte). Darin folgte ich Schlosser). Das Stück ist zu gering, um als Original 
aus Giovanni da Bolognas Hand gelten zu können: Brinckmann dürfte darüber wohl 
seine Entdeckungen veröffentlichen. Ebensowenig kommt Hubert Gerhard in Be- 
tracht für die badende Nymphe, welche früher hinter der Schatzkammer stand und 
während des Krieges nach Berchtesgaden gebracht wurde. Ein Vergleich mit 
dem Herkulesbrunnen in Augsburg läßt die Zuschreibung an Adriaen de Vries als 
sicher erscheinen. Der Schmiegsamkeit weiblicher Körperumrisse weicht Gerhard 
immer aus, 

Schon Maximilian hat Erzfiguren aus dem südlichen Residenzgarten nach dem 
Hofgarten gebracht, den er an der Stelle des heutigen außerhalb der Mauer an- 
legen ließ. Auf das Tempelchen, welches er in seiner Mitte errichten ließ, stellte 
er wahrscheinlich die Bavaria. Im Jahre 1611 hatte sie Hainhofer noch im süd- 
lichen Residenzgarten gesehen und beschrieben?). 

Man bemerkt eine Anzahl von kleinen Veränderungen. So trägt die Figur heute 
kein Eichenlaub mehr auf dem Kopf und auch von Salzscheibe und Salzpfanne 
sieht man heute nichts mehr. Obwohl Hainhofer das Hauptstück, den Reichsapfel 
inder Rechten, nicht nennt, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß mit Hain- 
hofers Beschreibung die Bavaria auf dem Hofgartentempelchen gemeint ist. Heute 


(z) Baldinucci, II, 572. 

(2) Schlosser, Werke der Kleinplastik in der Figurensammlung des a.h. Kaiserhauses, Wien тото, 
1, 8. то. 

(3) Haeutle-Hainhofer, а. а. O., S. 75: „.. . ein grosser felsenberg oder grotta, darauf stehet ein 
gross Metallin Weibsbild lebensgrösse, die hat auf ihrem huet ein Aichen laub, welches das gehültz 
inn Bayern bedeüttet, umb den rechten arm hangt aine hirschbaut mit ainem gossenen hirschkopf 
und gewicht daran, dass bedeutt das gewild inn Bayerland; inn der linckhen Hand hats einen eher, 
der bedeüttet dass getrayd, bey den füessen ligt ein weinfisslin, dass bedeuttet den Weinwachs inn 
Under Bayrn, darneben aine Saltzscheüben, die bedeüttet das Saltz und Saltzpfannen. Umb den Berg 
hero fische, schneckhen, muschlen, die bedeüttet das Saltz und Saltzpfannen. Umb den Berg hero 
fisch, schneckhen, muschlen, die bedeutten das wasser und die fisch. Vor dem Bild stehet ein 
grosser hund und bär, die den hauffen wasser ausspeyen, welches auch, dass dise thier so gross imm 
Bayrland fallen und gefunden werden, bedeüttet.“ 


88 


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umgeben die Bavaria vier Bübchen mit je einem Eichenzweig, einem Kurfürsten- 
hütchen, einer Kapelle und einem Füllhorn. Während aber die Bavaria die Stil- 
merkmale Gerhards aufweist, weichen die Bübchen merklich davon ab. Die Bavaria 
hat die langen schlanken Beine, die schmalen Brüste und den hohen Hals der 
Flußgöttinnen am Augustusbrünnen, bei den Bübchen vermißt man jedoch die 
Beweglichkeit Gerhards. Sie stammen von Gerhards Schüler und Nachfolger Hans 
Krumper und sind Arbeiten, welche offenbar anläßlich der Umstellung der Figur 
ausgeführt wurden. Von der Tiergruppe aus Hainhofers Bericht haben sich offen- 
bar die Hunde erhalten, der Bär ist dagegen verloren. jene stehen augenblicklich 
im Bayrischen Nationalmuseum. Es ist ein glatthaariger und ein langhaariger Hund, 
welche beide mit einem Wasserauslauf durchs Maul versehen sind. Ihr späterer 
Aufstellungsort war der Teich, welcher, ehemals zum Hofgarten gehörig, in der 
Niederung vor dem Armeemuseum angelegt war. Auf den Stichen (Wening) glaubt 
man sie zusammen mit dem Bären dort auf einer Insel zu erkennen!). Daß sie 
vor 1593 entstanden sind, beweist ihre Nachahmung auf einem Grabstein in der 
St. Annakirche zu Augsburg mit der Auferweckung des Lazarus, Er gehörte zum 
Hopferschen Grabdenkmal, das so zu datieren ist”. Daß diese Hunde innerhalb 
des Schulzusammenhangs der Gerhardwerkstatt entstanden, beweist die Über- 
schneidung der Iris durch das obere Augenlid, was ein Stilmerkmal Hubert Ger- 
hards ist. Der Meister scheint aber hier dem Gehilfen nicht einmal mit einer Vor- 
zeichnung an die Hand gegangen zu sein. 

Das bayrische Nationalmuseum bewahrt noch weitere Werke auf, welche Hubert 
Gerhard und seine Gehilfen für die ehemaligen Gärten der Residenz schufen. So 
gingen aus der Werkstatt des Meisters die vier Jahreszeiten hervor (Abb.9). Hain- 
hofer nennt mehrfach vier Jahreszeiten, so im Grottenhof und auf dem Rundtempel 
des südlichen Residenzgartens. Leider versäumt er, eine nähere Beschreibung zu 
geben. Die vier Jahreszeiten des Bayrischen Nationalmuseums sind sehr sorgfältig 
ausgearbeitete Stücke. Der Frühling und der Sommer stellen die Verbindung zu 
Gerhards Werk am leichtesten her. Sie bringen Haltungstypen und Gesichtstypen, 
welche der Lukretia vom Kirchheimer Saal und den Flußgöttinnen vom Augustus- 
brunnen entsprechen. Zugegeben muß jedoch werden, daß Hubert Gerhard weder 
ein so studiertes Faltenrelief, noch papierdünne Blumenblätter zu bringen gewohnt 
ist. Zugegeben muß auch werden, daß die tiberschlanken Körperverhältnisse Ger- 
hards hier ausgeglichen sind. Verbirgt sich hinter diesen Werken nicht ein selb- 
ständiger, sehr geschickter Gehilfe Gerhards, so gehören sie zum mindesten der 
letzten Zeit in München an. Noch immer glaube ich auch hier ein Durcheinander- 
arbeiten von Lehrer und Schüler annehmen zu sollen. Um so wahrscheinlicher 
ist mir dies, als Hans Krumper für den Winter durch Stilvergleich aus seinem 
eigenen Werke als Urheber festgestellt werden kann. Für den Frühling, den 
Sommer und den Herbst ist meines Erachtens eine Beteiligung Hubert Gerhards 
nicht auszuschließen. Ähnliche Verhältnisse liegen bei der Virtus und der Nymphe 
mit dem Herzen des Bayrischen Nationalmuseums vor. Hat sich jedoch die Arbeit 
Gerhards bei jener Figur bestenfalls auf den Kopf beschränkt, so hat er diese 
offenbar überhaupt nicht berührt. Nach der Anregung seiner Werke scheint sie 
ein stiimpernder Gehilfe selbständig zusammengesetzt zu haben. Ein Werkchen, 
das man wohl als Original aus der Hand Gerhards ansprechen muß, liegt aber in 
den beiden Feuerhunden des Bayerischeu Nationalmuseums vor. 


(x) Trautmann, Die Wartburg. München 1874, 8. 71 und 1881, 8. 54. 
(2) Abbildung bei Kempf, Alt-Augsburg 1898. 


Aus den Residenzgärten stammt auch eine Anzahl von Figuren, welche im Lauf 
des vorigen Jahrhunderts zum Einschmelzen in die Erzgießerei von Miller gebracht 
wurden (Abb. 2). Eines prachtvollen Kaiserkopfes erbarmte man sich. Er wurde 
ausgeschnitten und blieb so glücklicherweise erhalten. Marc Aurel nachempfunden 
blickt er lorbeerbekränzt aus großen schwärmerischen Augen seitwärts. Es ist 
gewählte feine Arbeit, so fein, daß man einen Augenblick daran zweifeln mag, ob 
so etwas aus der Hand Gerhards hervorgehen konnte. Ich glaube, die Frage nach 
dem Vergleich der Bart- und Augenbehandlung sowie der Panzerornamentik be- 
jahen zu können. Den Gegensatz zum übrigen Werk erkläre ich daraus, daß 
Hubert Gerhard sich für die Ausführung dieses Kopfes Zeit günnte, wogegen er 
sonst oft unter dem Zwang der Großaufträge flüchtig arbeiten mußte. Einmal ist 
er diesem Gesichts- und Haartypus schon nahe gekommen, im Brunnenlech des 
Augustusbrunnens. Der Kaiserkopf scheint mir jedoch wie die Jahreszeiten in den 
ausgeglichenen Verhältnissen von Länge und Breite in den letzten Jahren der 
Münchener Tätigkeit entstanden zu sein. 

Ein Werk aus den Residenzgärten, das völlig verloren ging, muß noch genannt 
werden. Auf dem erwähnten Rundtempelchen des südlichen Residenzgartens war 
ein fliegendes Pferd aus Erz angebracht. An der Hand der kleinen Stichnachbil- 
dungen bleibt es durchweg ungewiß, ob dieses Werk gegossen oder getrieben war. 
Auch die Berichte erwähnen nur den wunderbaren Gegenstand, nicht den Bildstoff!). 

Andererseits kann auf einige Nachrichten von einem ähnlichen Werke hingewiesen 
werden, das man mit einer gewissen Sicherheit Hubert Gerhard zuschreiben kann, 
wiewohl es verloren ist. Auf dem Rindermarkt vor dem Hause des Herzogs Fer- 
dinand stand ein Brunnen, in dessen Mitte ein Ritter auf einem springenden Pferd 
aufgestellt war. Zu seinen Füßen, offenbar auf der Brunnenschale, sitzen Wasser- 
götter). Der Brunnen scheint also das Schema der Gerhardischen Anlage wieder- 
holt zu haben, wie man sie vom Wittelsbacher und vom Augustusbrunnen her 
kennt. Neuerdings ist auch von Feulner eine Zeichnung gefunden worden, welche 
diesen Brunnen wiedergibt. Ein Ritter mit wehendem Federbusch galoppiert auf 
einem Pferd, dessen Vorderleib durch einen Baumstamm abgestützt wird. Aller- 
dings fehlen auf diesem Blatt die vier Wassergitter oder Elemente. Da man 
jedoch vermuten muß, daß es eine Zeichnung für die Schale und ihre Profile ist, 
wäre es nicht verwunderlich, wenn die Figuren weggeblieben wären, um die Deut- 
lichkeit nicht zu beeinträchtigen. Mit auffälliger Sorgfalt ist die Schale nach- 
gezogen, wogegen der Ritter flüchtig mit der Feder hingestrichen ist. 

Das zweite Feld seiner Tätigkeit findet Hubert Gerhard in der Michaelskirche. 
Wie in der Residenz scheint ihm auch hier das gesamte plastische Programm unter- 
stellt gewesen zu sein. Unter seiner Leitung entstehen die Scharen der Engel mit 
den Leidenswerkzeugen im Hauptschiff und die Apostel und Ordensgründer im 
Chor, alles Werke, welche noch in Gips hergestellt wurden und eine größere Zahl 
Gehilfen voraussetzen. Der Meister allein arbeitet jedoch an dem mächtigen Erz- 
bildwerk, das die Schauseite schmücken soll. Die Gruppe des Erzengels Michael 
ist für Gerhard urkundlich gesichert®). Hier sei nur gestattet, auf die Erfindung 
des Teufels hinzuweisen, welche eine eigentümlich krause Einbildungskraft verrät. 


(1) Haeutle-Hainhofer, a. a. O., 8.76. 

(2) Braun und Hohenberg, Contrafaktur und Beschreibung von den vornehmbsten Stätten der Welt. 
4 Bde, Cölln 1590, und Greill von Seinfeldt, Ein schöner Lobspruch von der fürstlichen Hauptstadt 
München, München 16:11. 

(3) Westenrieder, a. a. O., 8. 109. 


90 


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TAFEL 21. 


1. 


— — ET г 
Abb. 10. Sirenenherme vom Sockel Abb. 11. Kardinal Philipp, Erz, lebensgroB. 
des Mars-Venus-Amor-Brunnens, Erz, Regensburg, Dom. 

lebensgroß. B. N. M. (Phot. Sternetseder). 


D 


` 


Abb. 12. Weihbrunnengel, Erz, lebensgroß. | Abb. 13. Neptun und Satyr. Erz, lebensgroß. 
München, Micdhaelshofkirce. München, Residenz. 


Zu: W. A. Luz: Hubert Gerhards Tätigkeit in Augsburg und Münden. 


— — иканен "2  ЧЕИ—М————————}—ҹачалИНЫ —ТӘР–ИРРИНИНИНЕЦРГ 8 rr ˙ A en S E 


Wie bei den Tierkämpfen des Wittelsbacher Brunnens (Abb. 7) glaube ich in der 
grotesken Art, mit welcher an ihm die Züge der Häßlichkeit gehäuft sind, die 
heimatlichen Elemente in der Kunst Hubert Gerhards feststellen zu können. Der 
Hieronymus Bosch-Einschlag tritt hier wieder in Erscheinung. Größere Schwierig- 
keiten bietet jedoch die Zuweisung des Wappens unter dem Erzengel Michael. 
Auf dieses Wappen hat man einen Eintrag bezogen, welchen Gmelin aus den 
Jesuitenakten mitteilt i). Dieses Wappen zeigt Engelchen, welche das Kurfürsten- 
hütchen und die Kette des Goldenen Vließes halten. Sie stehen keck auf Kar- 
tuschenbögen. Den Abschluß nach unten bildet ein Löwenkopf, der zwei seitwärts 
herabhängende Bänder im Maule hält. Diese vielteilige lockere Form hebt sich 
ab von einem Tuch, das im Hintergrund gespannt ist. Meiner Ansicht nach ist es 
trotzdem nicht möglich, dieses Wappen Hubert Gerhard abzusprechen. Aus der 
Häufung der unplastischen Schmuckmotive kann man nur schließen, daß vielleicht 
ein Maler für die Entwurfsskizze verantwortlich zu machen wäre. Die Möglichkeit 
bleibt aber immer noch offen, daß die Tafel, welche aus Metall zu gießen war, 
eine einfache Inschriftentafel ist, deren Maße vom Architekten bestimmt werden 
mußten. Die Urheberfrage der Michaelskirche würde dann einen neuen Stoß (durch 
diese winzige Notiz) bekommen. Es kann jedoch nicht die Absicht sein, jüngste 
wohlbegründete Zuschreibungen des ehrwürdigen Gebäudes damit zu erschüttern. 
Festgestellt sei aber schließlich, daß das Wappen der Michaelshofkirche Hubert 
Gerhard nur mit gewissen Vorbehalten zuerteilt werden kann, welche der persön- 
lichen künstlerischen Form weite Spielräume sichern. 

Wie der Erzengel Michael sind auch eine Anzahl Werke für Hubert Gerhard 
gesichert, welche für das Wilhelmgrabdenkmal in der Michaelskirche bestimmt 
waren, einem Riesenplan, der die Kraft des Auftraggebers überstieg. Peltzer hat 
die sehr wichtige Nachricht in die Fachliteratur eingeführt. Da bei der Deutung 
Abweichungen von Peltzer notwendig werden, sei nochmals der volle Wortlaut 
hierher gesetzt). Im Jahre 1596 standen offenbar die gesamten Figuren fertig 
da. Gerhard zeigt diese Teile eines gewaltigen Werks stolz der Augsburger Ge- 
sandtschaft, deren Mitglieder er sicher aus der Zeit seiner Arbeiten für die Fugger 
und den Rat persönlich kannte. Zweifellos sind der Engel (Abb. 12) in Fröschels 
Bericht identisch mit dem Weihbrunnengel der Michaelskirche, die vier Helden 
mit den vier Rittern vom Ludwigsdenkmal (Abb. 3, 4) und die vier Löwen mit 
den Löwen, welche heute vor der Residenz stehen (Abb. 14, 15). Die beiden 
großen Frauenfiguren sind jedoch offenbar verloren, denn es geht nicht an, sie mit 


(x) Gmelin, die St. Michaelshofkirche in München und ihr Kirchenschatz. Bamberg 1890, 8.53 und 
oben Anm. 3, S. 87. 

(2) Roth, Der Augsburger Jurist Hieronymus Fröschel und seine Hauschronik von 1528—1600. Ztschr, 
d. Hist. Vereins f. Schwaben und Neuburg 1912, S. 57 ff.: „Am 24 April hat m. Ruprecht Gerhardi, 
statuarius, ein Niederländer, mit uns gen mittag gessen, welcher hie auf dem Perlach den götzen- 
rörkasten formirt und gossen und jetzt zu München in die neue Jesuitenkirchen ein gantzen haufen 
götzen, desgleichen h. Wilhelmen begrebnus gar kunstlich mit gegossenen bildern zugericht. 

Am 25. April hat uns obengenannter m. Ruprecht vormittags in der Jesuiter noch unausgebaute 
Kirchen gefuert, davon in einem Gemach beisammen gesehen 25 grosse heilgen bilder, so in ge- 
dachte kirchen kommen sollen, grösser als menschengrösse, er fiert uns auch in sein werckstatt; dar- 
nach abends an andre ort, alda wir gesehen etliche schöne stuck capitel und gesimps von schwartzem 
marmelstein. Item ein grosses crucifix, mannsgröss, von metall gossen, so der treflich künstler Joann 
de Bologna, jetziger Zeit zu Florentz, soll gemacht haben. Item ein grossen engel, 2 grosse weibs- 
bilder, 4 helden oder ritter, vier lewen, alle zu dem fürstlichen epitaphio gebörig, gar künstlich von 
ime, m, Ruprechten, gemacht.“ 


denen gleichzusetzen, welche heute am Ludwigsgrabdenkmal angebracht sind. An 
anderer Stelle werde ich beweisen, daß diese der Zeit der Errichtung des 
Ludwigsgrabdenkmals angehören und von Hans Krumper geschaffen sind. Der 
Gekreuzigte Giovanni da Bolognas hat sich gleichfalls in der Michaelskirche er- 
halten. Zu ihm hatte Hans Reuchlen die Maria Magdalena im Jahre 1595 her- 
gestellt, von welcher Fröschel nicht spricht, da Gerhard den Augsburgern nur 
seine eigenen Werke vorführen wollte'). Zweifel sind dariiber aufgetaucht, ob alle 
vier Ritter und alle vier Löwen Gerhards Werk seien. Ich verkenne die Unter- 
schiede innerhalb der Gruppen nicht. Die Ritter, welche heute auf der Ostseite 
des Ludwigsgrabdenkmals stehen (Abb. 3), erscheinen in der Oberflächenbehandlung 
der Rüstung, der Haut und des Bartes trockener. Nach Ausweis der alten Zeich- 
nungen, welche die Graphische Sammlung aufbewahrt, befanden sie sich ursprüng- 
lich auf der Nordseite des Grabmals. Erst bei dessen Versetzung aus dem Chor 
hat man sie ausgetauscht. Zu der weniger sorgfältigen Ausarbeitung dieser beiden 
Ritter mochte sich Hubert Gerhard im Hinblick auf den dunklen Aufstellungsort 
im Schatten des Grabüberbaus berechtigt halten. Einzelnes mochte selbst in der 
Eile der Arbeit Gehilfen überlassen geblieben sein. Durch die Vergleichung der 
Augenbehandlung gewinne ich jedoch die Überzeugung, daß Gerhard das Wesent- 
liche auch an diesen Figuren selbst schuf. Auch die Löwen vor den Residenz- 
toren sind paarweise verschieden. Während das Paar vor dem Kaiserhoftor be- 
haglich schnauft (Abb. 14), knurrt das vor dem Kapellentor drohend (Abb. 15). Die 
Behandlung des Felles und der Mähne rechtfertigen nicht, daß man für den an- 
deren Affekt einen anderen Künstler verantwortlich macht. Lediglich die Schilde 
sind entsprechend dem neuen Schmuckprogramm der Residenzschauseite mit anderen 
Füllungen versehen worden. Nur diese sind nicht Gerhards Werk. 

Fröschel berichtet über einige Stücke nicht, welche gleichfalls zum Grabmal 
Wilhelms V. gehörten und sich bis heute erhalten haben. Die vier Erzleuchter, 
welche auf den Schranken des Haupt- und zweier Seitenaltäre stehen, sind zweifel- 
los auch von Hubert Gerhard geschaffen worden. Zwar sind mir keine Vorbilder 
aus der Bolognawerkstatt bekannt geworden, auf welche sie sich unmittelbar zurtick- 
führen ließen. Auch scheinen die zierlichen Blumengewinde und die sorgfältige 
Kleindurchbildung dem Geiste des Gerhardischen Werkes zu widersprechen. Als 
Grund gegen die Zuschreibung an Gerhard kann neuerdings auch geltend gemacht 
werden, daß sich unter einem Packen Zeichnungen aus dem Nachlaß Hans Krumpers 
die Werkzeichnung zu den Leuchtern fand). Für die Zuschreibung an Gerhard 
kann jedoch gerade die Meinung des Herausgebers dieser Zeichnungen angeführt 
werden. Feulner glaubt, dieses Blatt, welches einen Leuchter in natürlicher Größe 
wiedergibt, seiner schwungvollen Strichführung wegen aus der Menge der übrigen 
Zeichnungen absondern und einem anderen Urheber zuteilen zu müssen. Sein Stil 
ist frischer und die Erfindung reicher als man sie von Krumper zu sehen ge- 
wohnt ist. 

Auch die vier Erzreliefs der Michaelskirche, welche Fröschel gleichfalls nicht 
nennt, gehören unzweifelhaft zum Grabdenkmal Wilhelms V. Schon die Wahl 
der Themen (Auferstehung des Fleisches, Auferstehung Christi, Auferweckung des 
Lazarus und Auferweckung von Jairis Töchterlein) bringen den Hinweis auf ein 
Grabschmuckprogramm. Aus diesem Grunde kennzeichnet sich ihre ungewöhnliche 


(1) Vgl. Heigel, a. a. О, 8. 351. — Vgl. auch Luz, Hans Reuchlens Michaelsgruppe . . . Zeitschrift 
für Bild. Kunst 1922. 
(2) Feulner, Münchener Jahrbuch 1921 mit Abbildungen, und Luz, Kunstchronik rgaz, Nr. 49. 


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Rahmung und Aufhängung an der Wand als eine spätere Maßnahme. Daß diese 
Platten mit dem Grabmalsplan Wilhelms V. in Verbindung gebracht werden müssen, 
beweist auch die Anbringung einer Bildnisfigur Albrecht V., in dessen Testament 
angeordnet war, daß sein Nachfolger ihm ein Grabmal mit seinem Bildnis setzen 
sollte 1). Ein schüchterner Versuch dazu war es, wenn sein Bildniskopf dem rechts 
stehenden Jünger auf der Auferweckung des Töchterleins aufgesetzt wurde. Der 
Vergleich mit dem Albrecht V., den später Hans Krumper für das Ludwigsgrab- 
denkmal schuf, überzeugt von der Ähnlichkeit des Fiirstenbildnisses. Offen muß 
jedoch die Frage bleiben, ob auch für das Relief Hans Krumper, damals der Lehre 
Gerhards kaum entwachsen, in Betracht kommt. Nur soviel sei gesagt, daß diese 
vier Reliefs offenbar nach Gerhards Angaben und unter seiner Oberleitung an- 
gefertigt wurden. Eigenhändig ist auch nicht die Meermann-Grabplatte mit der 
Auferstehung des Lazarus in der Frauenkirche. Auch hier dürfte der gleiche Ge- 
hilfe, der Reliefmeister, gewirkt haben. Da diese vier Erzreliefs Werkstattarbeiten 
waren, hatte Hubert Gerhard keinen Grund, sie der Augsburgischen Gesandtschaft 
ausdrücklich zu zeigen. Fröschel erwähnt sie deshalb nicht. 

Noch ein Grabmal hat Hubert Gerhard in dieser Zeit unternommen. Der Sohn 
Wilhelms V., der Kardinal Philipp von Regensburg, war in der Blüte der Jugend 
einem Brustleiden erlegen. Ihm wünschte der Vater ein prachtvolles Erzgrabmal 
zu setzen (Abb. 11). Hubert Gerhard modellierte die Figur des Toten. Ein Kreuz- 
altar scheint vorgesehen gewesen zu sein. Man entnimmt es dem erhobenen Blick 
und den betend vor der Brust gefalteten Händen. Die Aufstellung, welche andert- 
halb Jahrzehnte später im Dom von Regensburg erfolgte, scheint demnach dem 
ursprünglichen Plan zu folgen. Wie für die Aufstellung des Ludwigsdenkmals und 
die Ausführung einzelner größerer Teile ist Krumper hier für die Anordnung des 
Ganzen und für das große Wappenschild verantwortlich. Die Figur des Kardinals 
halte ich jedoch für ein Werk Gerhards. Seine Hand verrät sich in der nach- 
lässigen Behandlung der Gewandfalten. Deren pfeilförmige Motive kommen auch 
am Mantel Ottos von Wittelsbach und an dem des Kaisers Augustus vor. Hubert 
Gerhards Stil macht sich vor allem auch bemerklich in der Behandlung der flei- 
schigen Haut, des Haares und des Bartes. Gegen Krumper läßt sich Gerhards 
Werk stets am leichtesten durch den Vergleich der Irisbehandlung abgrenzen. 
Beim Kardinal Philipp ist der Lichteindruck der Iris wiedergegeben, das heißt, 
deren Farbe ist plastisch verarbeitet. Krumper legt meist, sich der äußeren Ober- 
fläche des Auges anpassend, ein flaches Plättchen auf den Augapfel auf, in dessen 
Mitte er zur Bezeichnung der Pupille eine Grube anbringt. 

Mitten in der Ausführung der größten Pläne begriffen, sollte Gerhard jedoch un- 
vermittelt abbrechen müssen. Auf das Drängen der Landstände hin mußte der 
Herzog Wilhelm V. abdanken. Er tat es, nachdem er sein Lieblingswerk, die 
Michaelskirche, vollendet und den Jesuiten übergeben hatte. Sein Nachfolger, 
Maximilian L hatte die zerrütteten Finanzen in Ordnung zu bringen. Sparsamkeit 
war der Leitgedanke seiner ersten Regierungsmaßnahmen. Die kostspielige Erz- 
gießerei traf in erster Linie die Stillegung. Einige Zeit zwar scheint sich Hubert 
Gerhard noch in der Nähe seines Gönners aufgehalten zu haben und aus der Privat- 
schatulle besoldet worden zu sein. Nach den Hofzahlamtsrechnungen empfing er 
seit 1595 von dieser von den Landständen kontrollierten Stelle keine Besoldung 
mehr. Aus dieser letzten Münchener Zeit mag eine Büste aus Modellierzement 
stammen, offenbar ein Modell für einen Erzguß (Abb. ı). Sie zeigt den Herzog 


(1) Heigel, a, a. O., 8. 365. 
93 


als einen Mann im Anfang der Vierziger, muß daher Ende der neunziger Jahre 
dieses Jahrhunderts angesetzt werden. Daß Gerhard diesen Kopf modellierte, ver- 
raten nicht allein die Zierraten der Rüstung, sondern läßt auch die Haar- und 
Augenbehandlung vermuten. An den Augen ist vor allem auf die Überschneidung 
der Iris durch das obere Augenlid hinzuweisen. 

Hubert Gerhard verließ München, weil es hier für ihn nichts mehr zu tun gab. 
Er wanderte nach Süden und von den Bergen mag er noch einmal mit Ingrimm 
und Bitterkeit nach dem Lande seiner getäuschten Hoffnungen zurückgeblickt haben. 
Bayern war zu klein, seine Herzöge zu arm, um dauernd eine Erzgießhütte be- 
schäftigen zu können. Aber wo in Deutschland hätte ein Künstler wie Gerhard 
sonst die opferfähige Begeisterung finden können? Zwei Jahrzehnte hatte man ihn 
beinahe arbeiten lassen. 

Einem neuen Ziele wandte er sich jetzt zu. 1602 trifft er in Innsbruck ein und 
ist dort bis 1613 im Dienste des Erzherzogs Maximilian’). 1620 soll er gestorben 
sein?). 

Da er seine Familie in München zurückgelassen hatte, reist er zum Besuch öfters 
herüber. Während eines solchen Münchener Aufenthalts könnte ein Grabdenkmal 
geschaffen worden sein, das nach dem Wortlaut seiner Inschrift nach 1603 ent- 
standen sein muß. Die Grabplatte des Gießers Martin Frey ist heute in der Frauen- 
kirche unter dem Südturm eingemauert. Nicht für die Zuschreibung an Gerhard 
scheint allerdings die übergroße Schlankheit und Leichtigkeit der Figuren zu sprechen. 
Auch ist es bedenklich, daß die Bildnismedaillons der Grabplatte sich auf eine 
andere Hand, auf die Hans Krumpers zurückführen lassen. Um das Werk ganz 
Hans Krumper zu geben und die Stilverschiedenheit aus der Nachahmung eines 
Stichs zu erklären, scheint mir das Werk jedoch zu viel Qualität im Gerhardischen 
Sinn zu enthalten. Sonst kommt Gerhard für kein Münchener Erzbildwerk mehr 
in Frage. 

Zur Erleichterung der Übersicht über die Augsburg-Münchener Tätigkeit Hubert 
Gerhards schließe ich eine Zeittafel an. 


+ * 


Zeitliche Folge der überlieferten Werke Gerhards. 


1582—85. Kirchheimer Nischenfiguren. (Abb. 8.) Rechnungseintrag Lill, S. 119. 

Anfang 80er Jahre. Holzbüste Wilhelms V. Nach dem Lebensalter geschätzt. 

1584. Beginn der Güsse für den Mars-Venus-Amorbrunnen. (Abb. то.) „Alter Bericht“ Lill, S. 116 
Anmerkung. 

1584. Wachsmodell Grabstein Hans Fugger, Lill, 8. 122. 

1584—86. Pietä, durch Sadelers Stich erhalten. Peltzer-Gerhard, 8. 129. Dort auch Abbildung. 

1587. Kirchheimer Kamin vollendet. Besichtigung Lill, S. 116. 

1587. Pläne zum Augustusbrunnen. Buff, 8. 136. 

Nach 1587. Kopf des Hans Fugger. Grabstein. 1587 Eintreffen des Grabsteins, Lill, S. 123. 

1588. Köpfchen zum Perseusbrunnen? Wachs im Malerbuch, Rée, S. 88f. 

1588, Erzengel Michael, gegossen. Gießerrechnung bezahlt. Westenrieder, S. 109. 

1589/90. Wittelsbacher Brunnen (oder Ferdinandbrunnen ?) (Abb. 5—7.) Besichtigung durch den Augs- 
burger Stadtwerkmeister, Rée, S. 14. Vgl. auch Buff, Wittelsbacherbrunnen, 8. 10, 

1590. Engel der Michaelskirche? fertig? Höhe der Zahlungen in Jesuitenrechnungen. Gmelin, S. 67£. 


(1) Peltzer, a. a. O., 8. 134. 
(2) Stöcklein, Archiv f. Medaillen- und Plakettenkunde. Bd. 1, 1913/14, 8. 45, Anmerkung 1. 


94 


1590. Mars-Venus- Amorbrunnen, Hauptgruppe, fertig. Überführung nach Kirchheim, Lill, 8. 116f. 
(Abb. 10.) 

Nach 1590. Wappen unter dem Erzengel Michael, fertig. Visier angefordert, Gmelin, 8. 53. 

1592. Erzengel Michael. Formieren und Verschneiden bezahlt. Westenrieder, S. 109. 

1592. Weitere Wachsmodelle für die Figuren der Brunnenschale am Kirchheimer Brunnen, 
fertig. Lill, 8. 118. 

1594. Augustusbrunnen aufgerichtet. Urkundlich Rogge, 8. g fl. 

1594. Mars-Venus-Amorbrunnen aufgerichtet. Lill, S. 117. 

Um 1394. MuttergottesMariensäule.StilistischeVerwandtschaft mit dem Augustusbrunnen(Bübchen). 

Um 1596. Bavaria. Stilistische Verwandtschaft mit den Rittern. 

Mitte goer Jahre. Erzreliefs der Michaelskirche; Meermanngrabplatte, zwei Flußgötter. 
Siehe oben 8. Bot stilistischer Zusammenhang mit den Grabmalplänen. 

96. Vier Löwen, vier Ritter, Weihbrunnengel, 25 Apostel und Heilige, fertig. (Abb. 14, 15; 3, 4: 1a). 
Fröschels Bericht; Roth, 8. 57. 

Mitte goer Jahre. Neptun mit Satyrn. (Abb. 13.) Hilfe vom Reliefmeister. 

Nach 1595. Doppelwappen. Vermählung Maximilians 1595. 

Nach 1598. Kardinal Philipp. Todesdatum 98. (Abb. 11.) 

Um 1598 Lorbeerbekränzte Büste. (Abb. з.) Stilistische Verwandtschaft mit dem Kardinalskopf. 

Vor 1602. Büste des Herzogs Wilhelm. (Abb. 1.) Vor dem Eintreffen Gerhards in Innsbruck ge- 
schätzt nach dem Lebensalter. 

Vor 1602. Vier Jahreszeiten. (Abb. 9.) Krumper Mitarbeiter. Vielleicht abgebrochene Arbeit Gerhards. 

Nach 1603. Freygrabplatte. Todesdatum 1603. Krumper Mitarbeiter. 


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JOHANN TOBIAS SERGEL 


Mit drei Tafeln in Lichtdruck Von ALBERT DRESDNER 


L 

ährend der Bildhauer Johann Tobias Sergel in seinem Heimatlande Schweden 

als einer der bedeutendsten Meister der nationalen Kunst anerkannt und 
verehrt wird, ist er in Deutschland nur wenig bekannt. Eine selbständige Behand- 
lung ist diesem Künst er in der deutschen Kunstliteratur meines Wissens noch 
nicht zuteil geworden; die Handbücher der Kunstgeschichte finden ihn, sofern sie 
ihn überhaupt erwähnen, mit ein paar dürftigen Bemerkungen ab und nur der 
hundertäugige Wörmann hat auf seine europäische Bedeutung Acht gehabt’). 
Nicht immer ist es so gewesen. Sergels Name hatte zu seinen Lebzeiten, man 
darf wohl sagen, europäischen Ruf. Er war Mitglied der Akademieen in Berlin und 
Kopenhagen und agréé der Pariser Akademie, seine Werke waren zum Teil in 
englischem und französischem Besitze, und in England, Deutschland, Österreich, 
Frankreich lebten alte Kameraden aus seiner römischen Zeit, die den schwedischen 
Künstler und sein Schaffen in Ehren hielten; es seien von ihnen hier nur Füßli in 
London, Mannlich in München, Weinlig in Dresden, Zauner, Füger und Hubert 
Maurer in Wien genannt. Der Berliner Schadow hat Sergel auf seiner großen 
nordischen Reise im Jahre 1791 in seiner Heimat kennengelernt und hat in auto- 
biographischen Aufzeichnungen wie in Briefen seiner großen Bewunderung für ihn 
Ausdruck gegeben?). Heinrich Meyer, Goethes Kunst-Minister, hat Sergel, dessen 
‚Faun“ ihm in Rom bekannt geworden war, in seine Übersicht der Kunstgeschichte 
des ı8. Jahrhunderts eingereiht, und auch Goethen selbst ist Sergels Name nicht 
fremd gewesen!). Noch Rauch soll ihn nach einer freilich unsicher beglaubigten 
Überlieferung über Canova und Thorwaldsen gestellt haben‘). 

Aber im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts ist Sergels Gedächtnis in Deutsch- 
land mehr und mehr verblaßt. Der unwiderstehlich sich ausbreitende Ruhm Thor- 
waldsens löschte den seinigen aus, und wenn ein deutscher Kunstschriftsteller sich 
noch Sergels erinnerte, so sah er ihn nur im Lichte eines würdigen Vorgängers 
Thorwaldsens®). Dies ist um so begreiflicher, als man bei uns mit Thorwaldsens 


(x) Geschichte der Kunst Ш! 533. Außerdem wäre etwa noch auf С. Gurlitts Sätze über Sergel 
in seiner Geschichte der Kunst 11 648 hinzuweisen, 

(2) Kunst-Werke und Kunst-Ansichten, 1849, 8. 19. Aufsätze und Briefe, herausg. von Jul. Fried- 
länder, 2. Aufl., 1890, 8. 6, 19, 97. — Hagens Angabe (Die deutsche Kunst in unserm Jahrhundert I, 
1857, S. 38), daß Schadow in Rom mit Sergel in ein freundschaftliches Verhältnis getreten sei, ist 
schon chronologisch unmöglich: als Schadow 1785 nach Rom kam, war Sergel bereits für immer 
nach Schweden zurückgekehrt. 

(3) Heinr. Meyer in: Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert, 1805, 8. 352. — Goethe er- 
wähnt in Hackerts Leben (Werke, Jubil.-Ausg. 34, 210), daß Sergel mit den Brüdern Hackert zu- 
sammen in der Gallerie Farnese kopiert, sowie mit ihnen eine Campagnafahrt unternommen habe. 
(4) Das will der schwedische Gesandte in London, Baron von Hochschild, Enkel von Sergels Lehrer 
und Gönner J. E. Rehn, in Berlin „oft“ von Rauch selbst gehört haben, wie er in einem Briefe an 
Chennevières in Rev. Univ. des Arts III, 1856, S. 99 angibt. Recht lehrreich ist, daß Cicognara 
bereits 1818 nur noch eine verschwommene Vorstellung von Sergel hat: „Lo svedese Sergiel (sic!) in 
quel tempo passava per uno de’ migliori, avendo scolpito un Diomede, che piacque non poco, e un 
Amore e Psiche che gli valse il titolo di accademico di Francia (diese Annahme ist Irrig). Storia 
della Scultura 3, 234. 

(5) So Hagen i, J. 1857: a. a. O. 1, 38. 58. Hagens Quelle für seine Angaben über Sergel bildete 
übrigens wohl der Artikel bei Nagler 16, 280.. 


96 


Schaffen aus Originalen und aus allgemein zugänglichen Reproduktionswerken sehr 
wohl vertraut war, während man von Sergel nichts sah und kannte; seine Arbeiten 
waren nach und nach fast sämtlich in Schweden vereinigt worden, und nur ab 
und an wußte etwa ein kunstsinniger Besucher des Norden zu berichten!). Aber 
auch in Frankreich ist Sergel während der ersten Häfte des 19. Jahrhunderts schnell 
in Vergessenheit geraten, obgleich er sich zweimal in Paris aufgehalten hatte, unter 
den dortigen Künstlern zahlreiche Freunde besaß und einige seiner Werke ziem- 
lich lange im Luxembourg aufgestellt waren“). Als Ph. de Chennevières es 1856 
unternahm, ein Bild Sergels zu zeichnen, vermochte er seine schon halb ver- 
schollene Gestalt nur mühsam und nur bruchstückweise zu rekonstruieren“). 

In Schweden selbst lebte Sergel als eine der repräsentativen Gestalten des 
glänzenden gustavianischen Zeitalters fort, allein, nachdem die Generation derer, 
die noch den Zauber seiner Persönlichkeit erfahren hatten, dahingegangen war, 
wurde doch auch hier durch die allgemeine kulturelle und künstlerische Reaktion 
gegen Geist und Geschmack des 18. Jahrhunderts das Interesse für ihn in den 
Hintergrund gedrängt. Da war es die seit den sechziger und siebziger Jahren sich 
allmählich konsolidierende kunstgeschichtliche Forschung, die, Karl Gustav Est- 
lander und C. R. Nyblom an der Spitze, sich des Meisters anzunehmen begann‘). 
Bahnbrechend wurde jedoch das Werk eines dänischen Gelehrten: Julius Langes. 
Er hat in seinem 1885 veröffentlichten Buche „Sergel og Thorwaldsen“ Sergel, 
man darf sagen, der europäischen Kunstgeschichte zugeführt, indem er mit der 
ihm eigenen feinen und anmutigen Plastik das Bild seiner künstlerischen Persön- 
lichkeit formte und seine Stellung in der allgemeinen Stilentwicklung umsichtig 
bestimmte®). Auf der so geschaffenen Grundlage hat dann die schwedische For- 
schung mit rastloser Emsigkeit und glücklichem Erfolge fortgearbeitet. Im Mittel- 
punkte steht die verdienstvolle Tätigkeit Georg Göthes, der in Einzeluntersuchungen 
eine Reihe von Sergelfragen geklärt und dem Künstler schließlich in seiner zu- 
sammenfassenden Monographie 1898 das biographische Denkmal gesetzt hat, das 
noch heut das Hauptwerk über den Künstler bildet“). 


(1) 8. Göthe, Sergel, 8. 10. 

(а) „J'ai fait à Rome quantité de groupes en terre cuite, qui sont en France“, gab Sergel i. J. 1797 
an, und noch 1813 will Per Tham seinen „Zentauren“ im Luxembourg gesehen haben: Göthe, Ser- 
gelska bref, S. 30, 4. Das heute in Helsingfors befindliche Marmorezemplar des „Fauns“ ist erst 
nach dem Sturze des Ersten Kaiserreichs aus dem Luxembourg verschwunden: Göthe, Sergel, 8. 63. 
(3) Rev. Univ. des Arts a. а. O., 97 fl. Von neueren französischen Forschern ist Hautecoeur zu 
nennen, der Sergel in seiner Darstellung der Entstehung des Klassizismus angemessen eingeordnet 
hat, ohne jedoch des Näheren auf seine Persönlichkeit und sein Schaffen einzugehen: Rome et la 
Renaissance de l’Antiquite, Paris 1912, S. 180. 

(4) Das Nähere über die ältere schwedische Sergel-Literatur in den bald zu nennenden Werken Göthes 
8. 10 ff. und Jul. Langes, 8. 3 und 8. 25, Anm. 1. 

(5) Langes Buch ist 1886 zu Kopenhagen erschienen, In der u. d. Titel „Thorwaldsens Darstellung 
des Menschen“ zu Berlin 1894 veröffentlichten deutschen Ausgabe hat leider die Studie über Sergel 
(und ebenso übrigens der geistvolle Abriß „Germanisch und Klassisch“) keine Aufnahme gefunden. 
(6) Johan Tobias Sergel. Hans Lefnad och Verksambet. Af Georg Göthe, Stockholm (1898) — 
hier in der Regel nur als „Göthe“ angeführt. Von seinen Einzeluntersuchungen werden die wichti- 
geren im Laufe der Darstellung genannt werden, Flinzuweisen ist auch auf Göthes Beitrag „Skulp- 
turen under 1700 == dalet“ in Romdablis und Roosvals „Svensk Konsthistoria‘ (Stockh. 1913), 
S. 426 ff. Wertvolle neue Veröffentlichungen zur Sergelliteratur hat die hundertste Wiederkehr seines 
Todestages 1914 gebracht, Harald Brising hat in seinem tüchtigen Buche ,Sergels Konst“ das 
Verständnis der stilgeschichtlichen Probleme vielfach gefördert, während in dem Werke des um die 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1922, 4-6. 7 97 


Sergels Lebens- und Schaffensgang ist nun soweit erforscht und bekannt, daß 
wesentliche Ergänzungen oder Veränderungen kaum zu erwarten sein werden. 
Der urkundliche und literarische Stoff ist gesammelt und sorgsam durchgeprüft; 
die Einflüsse aus alter und neuer Kunst, die auf Sergel gewirkt haben, sind nach 
allen Seiten hin verfolgt worden. Wenn dennoch bei der Behandlung des Meisters 
— glücklicherweise! — ein problematisches Element zurückbleibt, so liegt dies in 
seiner künstlerischen Persönlichkeit und in deren Stellung in der stilgeschichtlichen 
Entwicklung begründet, die nicht ganz leicht eindeutig zu bestimmen sind. Sergel 
ist in der europäischen Bildnerei wohl der erste Künstler gewesen, der mit den 
klassizistischen Forderungen Ernst gemacht hat, aber die Überlieferung des Rokokos 
und die klassizistischen Formgedanken begegnen sich in seinem Schaffen und liegen 
darin unausgesetzt im Streite, und je nachdem man ihn von dieser oder von jener 
Seite ansieht, erscheint seine Gestalt in anderem Lichte. So wird er zum typi- 
schen Vertreter der Übergangszeit in jener Stilwende, und gerade als solcher er- 
regt er ein Interesse, das über den engeren Kreis der nordischen Kunstgeschichte 
hinausreicht. 

П. 


Johann Tobias Sergel!), geboren am 20. August 1740 zu Stockholm, war deut- 
schen Gebliites. Der Vater, Christophen Sergel, stammte aus Jena, die Mutter aus 
Neustadt in Thüringen; wahrscheinlich im Jahre 1739°) ist das Ehepaar in Stock- 
holm eingewandert, wo Vater Sergel sich als geschickter und gutbeschäftigter Gold- 
und Silbersticker eine Existenz begründete und es bis zum „Hofbrodeur“ brachte. 
Johann Tobias erhielt seine Ausbildung an der Deutschen Schule zu Stockholm, 


schwedische Kunstgeschichte verdienten Sekretärs der Kunstakademie Ludvig Looström „Johan 
Tobias Sergel. En gustaviansk tidsbild“ Sergels Persönlichkeit im Rahmen seiner Zeit in Wort und 
Bild zur Darstellung gebracht ist. — Axel L. Romdahl hat in einem Aufsatse ,Sergels Konst- 
närlynne“ in „Kunst og Kultur VI (Bergen 1916/17), S. 82 ff., des Künstlers Gestalt mit klaren und 
geistreichen Strichen umrissen. Johnny Roosvals 1909 in „Svenska Dagbladet“ veröffentlichte 
Sergelstudie ist mir unbekannt geblieben, 

(1) Unter den Quellen zu Sergels Leben stehen in erster Reibe zwei von ihm gelieferte autobiogra- 
phische Aufzeichnungen. Die eine stammt aus dem Jahre 1785 und ist zuerst 1877 von F. Sander 
in schwedischer Sprache mitgeteilt, dann aber in der französischen Originalfassung von Göthe in 
seinem Sergelbuche abgedruckt worden. Die andere bildet der Brief, den Sergel zur Benutzung bei 
Abfassung seiner Biographie im Jabre 1797 an den Bibliothekar Gjörwell geschrieben bat; vollständig 
veröffentlicht bei Göthe, Sergelska Bref, Stockholm 1900, 8 27 fl. Beide Aufzeichnungen sind aber 
in ihren Einzelangaben nicht immer zuverlässig; besonders hat Sergel manche chronologische Irr- 
tümer begangen. Über seine Reisetagebücher aus Italien und Frankreich und seine Briefe s. Göthe, 
S. 9, 10, Wertvolle Einblicke in Sergels menschliche Persönlichkeit eröffnen seine Briefe an seinen 
dänischen Freund, den Maler A. bi Wgaard, aus den Jahren 1797 bis 1806, herausgegeben von Göthe, 
Sergelska Bref. S. 33 fl. Für das Verständnis seiner künstlerischen Überzeugungen und Bestrebungen 
sind die Briefe von besonderer Wichtigkeit, die er in seinen letzten Lebensjahren (1811—1813) an 
seinsn Lieblingsschüler Byström nach Rom berichtet hat; veröffentlicht 1877 von С. R. Nyblom in 
Upsala Universitets Arsskrift, Festskrifter till Ups. Univ. 400. Jubelfest, S. 59 ff. — Die zeitgenössische 
schwedische Literatur, Denkwürdigkeiten, Briefwechsel usw. sind von den schwedischen Forschern 
gründlich für Sergels Biographie ausgebeutet worden; eine von ibnen übersehene Quelle sind die Er- 
innerungen seines römischen Kameraden und Freundes, des Malers J. C. Mannlich („Ein deutscher 
Maler und Hofmann.“ Berlin 1910); darüber s. meinen Aufsatz „Ur Sergels romerska Vänskapskrito“ 
in Tidsskrift för Konstvetenskap VI (1921), S. 25 ff. 

(2) Dieser Zeitpunkt ist wahrscheinlich gemacht durch Ludv. Looströms Untersuchung „Joh. Tob. 
Sergels föräldrehem“ іп Samfundet Skt. Eriko Arsbok, 1918, 8. 8g ff. 


98 


und vergessen hat er wohl die Sprache seiner Eltern sein Lebtag nicht!). Aber 
weiter erstreckt sich unser Anspruch auf Sergel nicht. Nirgends wird erkennbar, 
daß er für das Land und Volk, dem seine Familie entstammte, ein besonderes 
Interesse gehabt hätte. In seinen Briefen, selbst in solchen vertraulicher Natur, 
bediente er sich mit Vorliebe der französischen Sprache, deren Rechtschreibung 
er mit souveräner Freiheit be- und mißhandelte; übrigens aber ist er schlecht und 
recht Schwede gewesen, ja er will uns in seinem stolzen Selbstgefühle, in seiner 
noblen Denkweise, seiner breiten Lebensführung und seiner Neigung zu kräftigem 
und selbst ungezügelten Lebensgenusse um so mehr als ein echt schwedischer 
Typus erscheinen, als alle diese Eigenschaften vor dem dunklen Hintergrunde einre 
stets leicht erregbaren Melancholie stehen, wie sie so oft dem schwedischen Volks- 
charakter beigemischt ist). Mit Recht durfte sich daher Julius Lange auf Sergel 
als ein klassisches Beispiel der Erscheinung berufen, wie schnell und vollkommen 
Abstämmlinge eines germanischen Volkes in ein germanisches Schwestervolk ein- 
schmelzen können. 

Sergels künstlerische Ausbildung war handwerklich und akademisch zugleich. 
Im Mittelpunkte des Stockholmer Kunstlebens stand damals die Innenausstattung 
des imposanten, nach den Plänen des jüngeren Tessin erst kürzlich von Härleman 
vollendeten Königsschlosses, die viele Hände beschäftigte. Um junge Kräfte für 
den Schloßbau heranzuziehen. war 1735 die Kunstakademie begründet worden, 
deren Lehrer zugleich bei den Schloßarbeiten Verwendung fanden. Die künstle- 
rische Führung war ganz in französischen Händen, seitdem im Jahre 1732 neun 
Pariser Künstler nach Stockholm berufen worden waren, denen im Laufe der 
nächsten Jahrzehnte noch weitere folgten®). Aus Frankreich stammte auch der 
Ornamentbildhauer Mascelicz, bei dem Sergel, nachdem er schon während seiner 
Schulzeit viel auf eigene Hand gezeichnet und modelliert hatte, in die Lehre ging. 
1756 trat er bei ihm ein, 1763 wurde ihm der Meistertitel zugesprochen; die ge- 
diegene Handwerkslehre hat sich bei ihm nie verleugnet: all sein Lebtag ist er 
ein Meister und zugleich ein großer Liebhaber des „metier de la sculpture“ ge- 
wesen‘). Seit 1757 aber studierte er auch an der Akademie, und hier war sein 
Lehrer der französische Bildhauer Pierre Hubert Larchevéque (1721--1778), ein 
Schüler Edme Bouchardons, der dessen 1753 verstorbenem Bruder Jacques Philippe 
Bouchardon in seiner Stellung an der Stockholmer Akademie gefolgt war. Zehn 
Jahre ist Sergel in Larchevéques Klasse und Werkstatt verblieben, erst als sein 
Schüler, späterhin als Mitarbeiter an seinen künstlerischen Unternehmungen. 

Larchevéque wußte bald, daß der junge Sergel das beste Pferd in seinem Stalle 
war und er ließ seinem Lieblingsschüler jede Förderung angedeihen. Bereits 1758 
erhielt Sergel die kleine Medaille der Akademie, und im selben Jahre nahm ihn 
sein Meister auf einer Reise nach Paris mit, wo er vom Frühling bis zum Herbste 


(1) Noch eine Zeichnung aus dem Jahre 1811 (bei Looström, Sergel, 8. 118), trägt die deutsche 
Beischrift: „Wils Godt nach Porla“. 

(2) Manchen verwandten Charakterzug und vor allem eine ähnliche Mischung von bakchantischem 
Lebensdurste und tief melancholischer Grundstimmung bemerkt man an Sergels Freund und häufigem 
Gefährten seiner Freuden dem genialen Sänger С. М. Bellman. 

(3) Zur Baugeschichte des Stockholmer Schlosses: G. Upmark, Svensk Byggnadskonst 1530—1760, 
Stockh. (1904), 8. 193 fl. Über die Begründung der Akademie und die Berufungen französischer 
Künstler: L. Looström, Den svenska Konstakademieen 1735--1835, Stockh. (1887), besonders S. 33 fl., 
57, 87. А 

(4) Vgl. seine Außerung ап Byström bei Nyblom, а. a. О., 8, бо 


99 


verweilte und studierte und wo er wieder eine Medaille errang. Überhaupt konnte 
sich sein Talent im Sonnenscheine allgemeinen Wohlwollens entfalten. Es war 
eben die Zeit, wo die Kunst in Schweden, die bis dahin noch immer großenteils 
von Ausländern ausgeübt und getragen worden war, sich zu nationalisieren begann 
und mehr und mehr in die Hand einheimischer Künstler tiberging'). Schon war 
eine nationale Malerschule in frischem Aufblühen, aber über einen schwedischen 
Bildhauer von Rang, dessen Talent auch monumentalen Aufgaben gewachsen ge- 
wesen wäre, verfügte man noch nicht, und mit besonderer Genugtuung begrüßte 
daher der Oberintendant Adelcrantz in Sergel den ersten Schweden, „der es in der 
Denkmalsbildnerei zu einer gewissen Vollendung brachte“. 1760 wurde ihm die 
große goldene Medaille der Akademie zugesprochen, und bereits im selben Jahre 
erhielt er eine feste Anstellung am Schloßbau, wo er an der plastischen Aus- 
schmückung des Reichssaales beteiligt wurde; mancherlei Privataufträge fielen ihm 
zu, und in der Werkstatt seines Lehrers fand er Gelegenheit, sich an monumen- 
talen Aufgaben zu versuchen, besonders, indem er an den Entwürfen zu den Denk- 
mälern Gustav Wasas und Gustav Adolphs mitarbeiten konnte, die Larchevéque 
übertragen worden waren. 

Es war also durchaus die Atmosphäre französischer Kunstüberlieferung, in der 
Sergel aufwuchs. Die schwedische Kunst, die noch bis ins 18. Jahrhundert hinein 
vornehmlich nach Süden, nach Italien, den Niederlanden, Deutschland, orientiert 
war, hatte nun ihr Gesicht westwärts gewandt. Paris wurde das Ziel der schwe- 
dischen Maler, das bis dahin Rom gewesen war; Gustav Lundberg war der erste, 
der den neuen Weg nahm, und seit er 1745 nach Stockholm zurückgekehrt war 
und durch den pikanten Schmelz seiner Pastellbildnisse nach Rosalba Carrieras 
Art Hof und Gesellschaft bezauberte, war der Sieg des Rokokostiles in der schwe- 
dischen Malerei, dem der 1732 an die Akademie berufene Guillaume Thomas Taraval 
den Boden bereitet hatte, entschieden. In der Bildnerei war jahrzehntelang der 
aus Deutschland stammende Burchard Precht die führende Persönlichkeit gewesen, 
und er hatte in der schwedischen Plastik sein kräftig-reiches deutsch-italienisches, 
von bernineskem Einflusse gesättigtes Barock zur Herrschaft gebracht”). Aber als 
er 1738 die Augen schloß, hatte er sich bereits überlebt. Auch in der Skulptur 
drang die leichtere und verfeinerte Eleganz des französischen Stiles durch und an, 
der Akademie vertraten J. Ph. Bouchardon und sein Nachfolger Larchevéque das 
Rokoko. Larchevéques großes Altarrelief in der Schloßkirche, an dem übrigens 
Sergel mitgearbeitet hat, ist ein auf illusionistische Wirkung inszeniertes plastisches 
Gemälde, in dem durch allgemeine Verwendung von Gegensatzmotiven eine heftige 
äußere Bewegung erreicht ist und eine derbe Theatralik sich mit der Süßigkeit 
der vom Zeitgeschmacke so dringend geforderten Grazie in Formengebung und 
Linienführung begegnet; sein temperamentvolles erstes, von Sergel mit Recht ge- 
schätztes, doch von den schwedischen Ständen verworfenes Modell zum Denkmale 
Gustav Adolfs zeigt in echt barocker Komposition, vielleicht in Anlehnung an einen 
frühen Entwurf Edme Bouchardons zum Reiterstandbilde Ludwigs XV., den König 
in antiker Tracht auf stiirmisch ansprengendem Rosse, in gestrecktem Galopp von 
einer Siegesgöttin gefolgt. Larchevéque war kein Künstler von starker eigener 
Prägung?), allein sein Einfluß auf Sergel fällt schwer in die Wagschale, und Sergel 


(1) Hiezu mein Aufsatz „Deutsche Meister in schwedischer Kunst“ im 3. Bande des „Nordischen Jahrbuchs 
(2) Über G. Lundberg: Oscar Leverdin, Stockholm 1902. Über Precht: Roosval in Romdahls und 
Roosvals Sv. Konsthist., S. 302 ff. und eigene Monographie, Stockholm 1905. 

(3) A. Roserol, Edme Bouchardon, Paris 1910, sagt (S 151) von ihm: „Sa manière était générale- 


100 


selbst hat oft darüber geklagt, wie schwer es ihm gefallen sei, sich davon zu be- 
freien’), Larchevéque hat die Überlieferung des französischen Barocks tief in 
seinen Schüler eingepflanzt, er hat seine plastische Phantasie und seine Hand an 
diesen Stil gewöhnt, der so verführerisch war, weil er sich allen Möglichkeiten 
gewachsen zeigte und für alle Aufgaben wohldurchgearbeitete Formeln bot. Sergels 
halbjähriger Aufenthalt in Paris, wo er Edme Bouchardon, Pigalle, Falconet in 
ihrer Blüte sah, konnte diese Einwirkungen nur noch verstärken, Daß die antiken 
Bildwerke, die er in Stockholm und besonders in Paris in Abgüssen kennen zu 
lernen Gelegenheit hatte, auf sein Schaffen in der vorrömischen Zeit Einfluß aus- 
geübt hätten, ist nicht erkennbar. Immerhin tut man gut, im Auge zu behalten, 
daß die Wurzeln seiner Kunst in der französischen Bildnerei liegen, die allezeit 
an der Verbindlichkeit der Antike festgehalten und den Anschluß an sie nie auf- 
gegeben hat, und daß er im besonderen durch seinen Lehrer Larchevéque ein 
Enkelschüler Edme Bouchardons war, der ein Freund des Grafen Caylus, ein 
leidenschaftlicher Bewunderer der Antike und innerhalb seiner Generation der 
Vertreter des „strengen“, an der Antike geläuterten Stiles war?). So zeigt denn 
Sergels Jugendproduktion, so viel von ihr bekannt ist?), im allgemeinen das Ge- 
präge des Rokokostiles, zugleich aber doch auch ein Bestreben, eine gewisse äußere 
antikisierende Haltung und Würde zu geben. Wenigstens gilt dies für die deko- 
rative Figur der „Wahrheit“ im Reichssaale des Schlosses, die ihm mit aller Wahr- 
scheinlichkeit zugeschrieben wird. Er mag sich bei ihr an Bouchardons den 
Grenelle-Brunnen krönenden Gestalt der Stadt Paris inspiriert haben, bei der ihrer- 
seits wieder der Typus antiker Stadtgöttinnen zu Pate gestanden hat. Aber die 
höchst charakteristische und lebhafte Gegensatzbewegung, auf die Bouchardon die 
Komposition gestellt hat, dämpfte Sergel in allen Teilen ab; ihren energisch ge- 
gliederten, nach allen Seiten hin reich ausströmenden Rhythmus bemüht er sich 
durch Zentralisierung der Motive innerhalb eines geschlossenen Umrisses zu er- 
setzen, auch das kiihne System des Bouchardonschen Faltenwurfes zu vereinfachen, 
wobei sich freilich die Unsicherheit des Anfängers verrät“). Die stärksten Talent- 
proben seiner Frühzeit aber sind einige Bildnisbüsten. Sie sind in Hermenform 
gebaut und erinnern an den Stil antiker römischer Bildnisse, aber das Porträt 


ment lourde; son principal mérite est d’avoir formé Sergell“. Über Bouchardons Modell zum Denk- 
male Ludwigs XV. ebendas, S. 101. Sergel über Larchevéque besonders im Gjörwell-Briefe: Sergelska 
Bref, 8. 31. Abbildungen der erwähnten Werke Larchevéques (201, unzulänglich) bei Brising, 8. 15 
und 8. 4. Brising weist darauf hin, daß auch Larchevéques Vorgänger J. Ph. Bouchardon bei einem 
Entwurfe zu einem Denkmale für Karl XII. einen ähnlichen Kompositionsgedanken verwandt hat wie 
Larchevéque beim Gustav Adolf-Modelle. Vgl. über das Problem des Reiterdenkmals im Barock 
Brinckmann, Barockskulptur 238 ff. 

(1) Sergeiska Bref, 8. 28. Göthe, 8. 320. Nyblom, S. 66. 

(2) Der Graf Caylus hat ihm 1762 in der Akademie einen Eloge historique gehalten, der in André 
Fontaines Ausgabe von Caylus’ Vies d’Artistes, Paris 1910, 8. 76 ff. abgedruckt ist. Übrigens über 
Bouchardon das angeführte Werk von Roserol und Brinckmanns Bemerkungen a. a. O., 392. 
Zum Verhältnisse der französischen Bildnerei zur Antike sei gleichfalls auf Brinckmanns Dar- 
stellung und auf meine Entstehung der Kunstkritik, S. 215, verwiesen. 

(3) Am eingehendsten dargestellt von Brising, a. a. O. 

(4) Brising, 8. 9, will Sergels „Wahrheit“ mit Coysevox’ Gestalten am Grabdenkmale Mazarins in 
Verbindung setzen, aber der reiche und belebte Bronzestil dieser Arbeiten weicht doch von der 
Formengebung in Sergels Werke zu weit ab, als daß man in ihnen sein Vorbild sehen könnte. 
Bouchardons Figur stand ihm zeitlich, menschlich und künstlerisch erheblich näber. 


seines Vaters ist in seiner gedrungenen plastischen Form und seiner lebensvollen 
Charakteristik das Werk einer frischen, gesunden, männlichen Kraft. 

Im Jahre 1767 bewilligten die Stände Sergel das große Reisestipendium. Es würde 
nach seinem Entwicklungsgange nicht überraschen, wenn er sich nun wiederum 
nach Paris gewandt hätte. 1750 hatte noch Hans Wiedewelt, der als der erste 
einheimische Großplastiker in der dänischen Kunstgeschichte einen ähnlichen Platz 
einnimmt, wie Sergel in der schwedischen, seinen Weg dahin genommen, um erst 
vier Jahre später in Rom zu landen und an Winckelmann Anschluß zu finden, 
dessen künstlerisches Glaubensbekenntnis er seit seiner Rückkehr nach Kopenhagen 
im Jahre 1758 im Norden mit Eifer vertrat und verbreitete’). War seine Botschaft 
vielleicht auch zu Sergel gedrungen?) Jedenfalls begann die Magnetnadel der 
nordischen Kunst bereits wieder nach Süden zu weisen, die Welle des Klassizis- 
mus war im Ansteigen, und Sergel entschied sich für Rom. Dieser Entschluß hat 
über seine ganze Zukunft entschieden. 


ш. 
So zog Sergel im August des Jahres 1767 durch die Porta del Popolo ein, um 


volle elf Jahre, bis 1778, in Rom zu verweilen’). 


Es war das Rom Mengsens und Winckelmanns, das er betrat. Mengs traf er 
freilich nicht mehr an, er war bereits nach Spanien tibergesiedelt, und Sergels 
persönliche Bekanntschaft mit ihm kann daher frühestens von dessen Besuch in 
Rom 1771/72 datieren‘), Aber Winckelmann war noch in der Ewigen Stadt an- 
sässig, wo er sich eben zu der Reise nach Norden rüstete, auf der ihn im nächsten 
Jahre der Mörderstahl treffen sollte. Ob Sergel noch selbst zu Winckelmann in 
persönliche Beziehung getreten ist, ist bisher unbekannt gewesen, allein aus Mann- 
lichs Aufzeichnungen geht hervor, daß er ihm zusammen mit Mannlich und mit 
dem sächsischen Architekten Weinlig im Herbste 1767 einen Besuch abgestattet 
hat, wobei die Empfehlungen an den Gelehrten, die Weinlig aus Dresden mit- 
brachte, als Einführung gedient haben werden’). Ein unmittelbarer persönlicher 
oder literarischer Einfluß Winckelmanns auf Sergel kann aus dieser flüchtigen Be- 
rührung natürlich nicht gefolgert werden, allein ein aufgeweckter junger Künstler, 
der anno 1767 nach Rom kam, brauchte nicht in Winckelmanns persönlichen Bann- 
kreis zu treten, um sich mit den Ideen des Klassizismus zu erfüllen. Rom war 
bereits voll von ihnen, und sie werden damals sicherlich ebenso sehr das Tages- 
gespräch in den Künstlerwerkstätten gebildet haben, wie heut etwa die Lehren 
des Expressionismus. Für seine Person war Sergel übrigens durchaus Mann des 
Metiers und wenig zu theoretischen Spekulationen geneigt; mit der Lesung kunst- 
theoretischer Schriften wird er sich wenig beschwert haben, und nichts deutet 


(1) Über Wiedewelt s. den vortrefflichen Abschnitt bei Justi, Winckelmann II®, 75ff. und Opper- 
mann, Kunsten i Danmark under Fredrik V. og Christian VII. Kjbbvn 1906, S. 79 ff. 

(2) Wiedewelt hatte 1762 eine Schrift über den Geschmack in den Künsten (Tankerne om magen udi 
Konstarne i Atmindetighed“), teilweis unter wörtlicher Anlehnung an Winckelmann, herausgegeben. 
(3) Sergels römische Zeit ist von G. Göthe in einem eigenen Aufsatze behandelt worden: „Sergel 1 
Rom“ in Festskrift utg. af Kungl. Akademin för de fria Konsterna, Stholm 1897, 8. 77 fg. 

(4) Daß er Mengs persönlich gekannt hat, geht daraus hervor, daß er ihn in der Liste der bedeuten- 
den Künstler aufführt, zu denen er in Beziehung getreten ist: bei Göthe, 8. 322. 

(5) Hierüber s. meinen früher genannten Aufsatz in Tidsskrift för Konstvetenskap“, Bd. V. Mannlich, 
a. а, O. Uber denselben Besuch und über seine Beziehungen zu Winckelmann berichtet Weinlig 
in seinen „Briefen über Rom“, Dresden 1782, 114. 


darauf hin, daß ihm Winckelmanns Werke selbst bekannt gewesen seien. Erst in 
vorgerücktem Lebensalter zeigte er eine gewisse Neigung zu theoretischer Aus- 
sprache; seine eigene Schaffenskraft war damals bereits unverkennbar geschwächt, 
und die Kunsttheorie war ihm inzwischen wohl durch verschiedene Freunde per- 
sönlich näher gebracht worden: durch Abildgaard, der in Kopenhagen das klassi- 
zistische Bekenntnis stramm vertrat, durch den Grafen Ehrensvärd, der es in 
Schweden zuerst literarisch formulierte, durch den Maler Masrelicz, der es an der 
Stockholmer Akademie vortrug'). Was er da an künstlerischen Lehrmeinungen 
ausgesprochen hat, das geht tiber den Rahmen der bekannten, zu seiner Zeit so 
vielgebrauchten Formel „Natur und Antike“ nicht hinaus.“ L’Antique est le choix 
de la plus perfaite Nature, qui porte le nom de Style“, erklärte er 1797, und seinem 
Schüler Byström schärfte er später ein: „La nature pour le mouvement vrai, et 
antique pour corricher les parties qui demandent а être nourries ou annoblies 
selon le caractaire“?). Eines aber ist doch bemerkenswert. Während im Hoch- 
klassizismus Thorwaldsens die Natur von der Antike sehr in den Hintergrund ge- 
drängt ist, legt Sergel auch in seinen theoretischen Sätzen auf die Natur und ihr 
Studium einen merklichen Nachdruck. Er rät Byström: „Soijez l’exacte examina- 
teur de la nature simple dans ses mouvements, prenez la sur le faite, et vous est 
sure de ne pas vous tromper ... Prenez uniquement conseille de la nature avec 
les yeux d’un artiste grec,“ und als sein einziges Verdienst bezeichnet er „d’avoir 
été le premier jeune statuair qui a osé uniquement suivre la nature dans le prin- 
сіре des anciens‘“?), 

Es war ein fruchtbarer Zeitpunkt, zu dem Sergel in Rom erschien. Eine neue 
Formanschauung war im Werden begriffen und auf dem ganzen Gebiete ktinstle- 
rischen Schaffens im Vordringen, ohne daß es ihr doch bisher gelungen gewesen 
wäre, solche Werke hervorzubringen, in denen ihr Wille vollständig und eindeutig 
künstlerische Sichtbarbeit geworden wäre. InRom hatte Mengs mit seinem „Parnaß“ 
einen großen Schritt getan, indem er, bis auf Raffael zurückgreifend, die raum- 
erweiternde Funktion der Deckenmalerei preisgab, die Bildfläche von der Mittel- 


(1) Durch Masrelicz und Ehrensvärd ist die Kunsttheorie und zwar in der Form der reinen klassi- 
sistischen Lehre, zuerst in Schweden eingeführt worden. Der Maler Adrien Louis Masrelicz weilte 
spätestens von 1775 bis 1783 — also noch mehrere Jahre zusammen mit Sergel — in Rom; nach 
Stockbolm heimgekehrt. entwickelte er sein künstlerisches Programm in seiner Antrittswoche in der 
Akademie der Wissenschaften; es ist auszugsweise mitgeteilt von Azel Gauffin in Romdahls und 
Roosvals Sv. Konsthist., S. 413. Graf Karl August Ehrensvärd, Seeheld, Philosopb, Kunstdilettant 
und Kunstliebhaber, unter allen Freunden Sergels wohl der, der seinem Herzen am nächsten gestanden 
hat, hielt sich von 1780 bis 1782 in Rom auf und hat dort Masrelicz’ Anleitung genossen. Er ver- 
Sffentlichte 1782 die in einer etwas wunderlichen Frage- und Antwortform abgefaßte Schrift „De fria 
Konsters philosophie“, deutsche Ausgabe u. d. Titel „Die Philosophie der freien Künste“, 1805 (ohne 
Ortsangabe). Vgl. über ihn die Monographie von Warburg, Göteborg 1893. — Über Abildgaard ist 
außer dem früher bereits genannten Werke von Oppermann die Darstellung von Jul. Lange, Udv. 
Skrifter I (Kbhvn 1909, S. 88 ff.) anzuführen. 

(2) Wichtige Stellen zu Sergels kunsttheoretischen Überzeugungen im Briefe an Gjörwell (Göthe, 
Sergelska bref, 8. 28, 29) und in seinen Briefen an Byström bei Nyblom, a. a. O., besonders 8. бо. 
бз, 66, 68. Vgl. auch Brising 160 fl., und über das Programm „Natur und Antike“ allgemein meine 
„Entstehung der Kunstkritik“, München 1915, S. 218 ff. 

(3) Nyblom, 8. 66. Man vgl. die nah verwandte Auffassung des Grafen Caylus: aus dem Mskr. der 
Vorlesung „Sur la manière et les moyens de l'éviter“ mitgeteilt bei Fontaire, Doctr. d'art en France, 
P. 1909, S. 222. Ganz im Sinne Sergels verlangt auch Cicognara, Storia della Scultura IV (18:8), 
so „Esame sulla natura e studio sull’ antico. 


103 


achse aus klar und rational gliederte, den Bildraum der Bildfläche parallel aufbaute, 
die Figuren reliefartig anordnete und eine rhythmische Auswiegung der Bildhälften 
anstrebte. Obgleich es ihm nicht gelungen war, seine Absichten restlos zu ver- 
wirklichen und obgleich er in seinem Geschmacke stark vom Rokoko gefärbt war, 
war seine Schöpfung dennoch wegen der darin sich bekundenden entschlossenen 
Abwendung von den Barockprinzipien als bahnbrechende Leistung der neuen Ge- 
sinnung mit großer Bewunderung aufgenommen worden. Eine ähnliche Leistung 
war der Bildnerei bis dahin noch nicht gelungen. Hans Wiedewelt, der dänische 
Freund und älteste Jünger Winckelmanns, war schon lange vom römischen Schau- 
platze verschwunden und hatte es übrigens daheim in seinem flauen Formen- 
gefühle über eine äußere Angleichung seiner Bildwerke an die Antike nicht weit 
hinausgebracht. Die Parole „Nachahmung der Antike“ deckte in Wirklichkeit nicht 
das eigentlich Neue, was in der Bildung war. Die Vorbildlichkeit der Antike war, 
was die Bildnerei anlangt, theoretisch nie geleugnet, nur zeitweis eingeschränkt 
worden, und speziell die französische Plastik hatte von der Zeit Ludwigs XIV. bis 
auf Edme Bouchardon auf ihre Art immer wieder Anschluß an die Antike gesucht 
und gefunden. Aber wenn Winckelmann bei der Deutung der antiken Skulpturen 
auf Einheitlichkeit und Einfachheit ihrer Formgebung, auf Maßhaltigkeit in der 
Komposition, auf Vorsicht in der Abstimmung der Formen, auf Adel und Geschlossen- 
heit der Linienführung hinwies'), so zeigte er damit den Künstlern die Antike von 
einer Seite, die bisher im Schatten gelegen hatte und die nun dem in einer Wand- 
lung begriffenen, aber sich selbst erst noch suchenden Formwillen neue Möglich- 
keiten eröffnete, um sich daran seiner selbst bewußt zu werden und sich zu kon- 
solidieren. In diesem Sinne gewann allerdings das Studium der Antike für die 
Künstler eine neue und wesentliche Bedeutung, während deren Nachahmung eine 
Schwäche der neuen Schule bildete, die sich um so empfindlicher fühlbar machen 
solite, je weiter ihre Entwicklung fortschritt. Bedenkt man aber, welche Festig- 
keit und Leistungsfähigkeit die barocke Tradition im Laufe von etwa zwei Jahr- 
hunderten erlangt hatte, erinnert man sich, daß die Rokoko-Plastik eben zu der 
Zeit, da Sergel in Rom weilte, noch zahlreiche Werke vorzüglichsten Wertes zu 
schaffen die Kraft hatte, so versteht man, daß die Aufgabe, sich von der Barock- 
form abzulösen, an einen jungen Bildhauer außerordentliche Anforderungen stellte 
und ihm eine völlige Neuorientierung seiner Formanschauung zumutete. Dieser 
Gesichtspunkt darf bei der entwicklungsgeschichtlichen Beurteilung Sergels nicht 
außer Acht gelassen werden. 


IV. 


In Schweden hatte es Sergel bereits in jungen Jahren zu einem gewissen An- 
sehen gebracht. Er war dort eine Klasse für sich gewesen, seine Mitschüler bis 
Larchev&que konnten ihm nicht das Wasser reichen, dieser selbst hatte große 
Stücke auf ihn gehalten, und alle Welt kam ihm mit Achtung und Vertrauen ent- 
gegen. Jetzt sah er sich in die Weltstadt der Kunst versetzt, wo man mit den 
bedeutendsten Bildwerken vertraut war und wo die stärksten Talente aus aller 
Herren Länder zusammenströmten. Houdon war eben in Rom, Clodion war da, 
an der französischen Akademie studierten begabte Bildhauer, wie Boizot; die rö- 
mische Werkstattüberlieferung wurde von Künstlern wie Pietro Bracci und Agostino 
Penna ehrenvoll vertreten. In dieser Umgebung galt der Ankömmling aus dem 


(1) Vgl. ж. B. Gesch. der Kunst im Altertum IV, 2, 22 und V, 3, af, sowie Gedanken über die Nach- 
abmung der griech. Werke § 57, 83. 


104 


TAFEL 23. 


Joh. Tob. Sergel: Faun. Marmor. 


Joh. Tob. Sergel: Schwerer Traum - Federzeichnung. 


Zu: Albert Dresdner, Johann Tobias Sergel. 


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hohen Norden nur als ein unbekannter und bescheidener Anfänger, und diese Er- 
fahrung war für den empfindlichen und selbstbewußten Sergel so schmerzlich, daß 
sie ihn in eine Monate währende schwere seelische Krisis stürzte 1). Was diese 
Krise verschärfte, war die Erkenntnis, daß sein bisheriger Studiengang verfehlt 
gewesen sei. Wie sein Unterricht in Stockholm beschaffen gewesen war, davon 
kann man kein klares Bild gewinnen. Er erwähnt ,,plusieurs cours d’anatomie“ 
bei dem Prosektor Hedin, an denen er teilgenommen habe; er spricht von „Etudes 
d’apres Nature“ in Larcheveques Werkstatt, und daß dieser ihn „fit étudier d’aprés 
ses deseins“. Vom Studium nach der Antike erwähnt er nichts, und selbst wenn 
er (was hiernach doch nicht recht wahrscheinlich ist) ein solches betrieben haben 
sollte, so kann es bei der Spärlichkeit der antiken Abgüsse und deren mangelhafter 
Unterbringung in Stockholm nicht erheblich gewesen sein?). Darf man nach dem 
allgemein üblichen Zuschnitte des akademischen Lehrverfahrens zu seiner Zeit 
schließen, so möchte man vermuten, daß Larcheveque ihn viel habe nach seinen 
Arbeiten zeichnen lassen — worauf auch Sergels angeführte Worte hindeuten — 
vielleicht auch nach solchen ihm nahestehender französischer Meister; denn das 
damalige Lehrverfahren drängte allgemein zur Nachahmung gangbarer Muster und 
besonders zu der des Meisters). Die Erkenntnis, die Sergel unter den neuen Ver- 
hältnissen aufging und die ihn so tief erschütterte, muß denn wohl die gewesen 
sein, daß er Gefahr lief, sich in Manier zu verlieren. Jedenfalis faßte er, als er 
sich wieder in seiner Gewalt hatte, den Entschluß, von neuem zu beginnen; bei 
aller Verehrung gegen seinen alten Lehrer hat er es diesem nie vergeben, daß er 
in dessen Werkstatt seine Jugendjahre verspielt zu haben glaubte. 

Mit angespanntem Willen machte er sich ans Werk, Er arbeitete Tag und 
Nacht. Seinen Studienplan baute er allein auf Natur und Antike auf. Tagsüber 
zeichnete er in Roms Palästen und Sammlungen nach den Werken der Antike, 
von denen er auch einige kopierte“). Das Modellstudium betrieb er, wie das da- 


(1) Die Angaben über dies Erlebnis in den beiden Selbstbiographien. Im Gjdrwell-Briefe (Sergelska 
Bref 28) bringt Sergel die Neapeler Reise mit der Krisis in Zusammenhang und stellt sie als deren 
Abschluß und als Vollendung des Genesungsprozesses dar. Das ist aber ein chronologischer Irrtum, 
denn die Reise nach Neapel unternahm 8. erst ein volles Jahr später. Die richtige Angabe ist sicher- 
lich die in der Selbstbiographie von 1785 (Göthe 321), daß die Krise „dura quatre mois“. 

(2) Die von Nicodemus Tessin d.J. in Paris eingekaufte Sammlung von Gipsabgiissen nach antiken Bild- 
werken war jedenfalls in den ersten Jahren der Stockholmer Akademie in Kellern magaziniert; Sergel 
soll in Stockholm nur den Laokoon, den Apollo von Belvedere und die mediceische Venus kennen- 
gelernt haben. S. Looström, Den svenska Konstakademien, S. 45; Nyblom, а.а. O., 13; Brising 20. 
(3) Uber die Organisation des akademischen Unterrichts im allgemeinen Hautecoeur, Rome et la 
Renaiss, de l’Antiquite, S. 42 ff., über die Stockholmer Akademie speziell Looström, а. a O., 43f. 
Wie das akademische Lehrverfahren die Schüler überall aufs Kopieren hindrängte, schildert 3. B. 
Angelo Borzelli in „Napoli Nobilissima“ IX, 72. Für den Norden ist die Organisation des Zeichen- 
unterrichts an der Kriegsschule in Christiania lehrreich (Schnitter, Malerkunsten i Norge i det 
attende aarhundre 5. rox f.), wo z. B. (1778) Boucher kopiert wurde, und Boucher bekam auch der 
junge Schadow bei seiner Mme. Tassaert zu kopieren (Friedländer, a. a. O., S. 3). 

(4) Sergel kopierte den bis 1775 in der Villa Medici befindlichen Apollino, den er zwischen 1772 und 
1776 in Marmor ausgeführt hat: Göthe, Sergel 58, 59. Ferner fertigte er eine Reliefkopie in ge- 
branntem Ton nach dem Herkules Farnese an. Aber auch seine um 1780 zu Stockholm in Marmor 
ausgeführte Venus Kallipygos ist trotz leichter stilistischer Umstellungen (über diese Brising, S. 131) 
doch nur als Kopie anzusprechen. Auf Befehl Gustavs III, hat er dem Bildwerke den Bildniskopf 
der schönen Hofdame Ulla von Höpken aufgesetzt. Über diese Arbeit und ihre Geschichte s. Göthe 
142; Brising 129. Sergels Werke befinden sich fast sämtlich im Stockholmer Nationalmuseum; nur 
wo das nicht der Fall ist, ist eine besondere Angabe über den Aut bewahrungsort gemacht. 


105 


mals in Rom allgemein war, in den Abendstunden, und zwar in der französischen 
Akademie, sowie in einer privaten Akademie, zu der er sich mit anderen jungen 
Künstlern vereinigte ). 

Es war die Académie de France, wo Sergel in seinen ersten römischen Jahren 
vornehmlich Anschluß suchte und fand. Sie hatte damals ihr Heim im Palazzo 
Mancini am Corso und stand unter Natoires Leitung. Außer Franzosen studierten 
dort auch Deutsche, Dänen, Russen. In diesem Kreise fand Sergel seine Freunde, 
zumeist Franzosen, von Deutschen hauptsächlich J. C. Mannlich, den Schützling 
des Herzogs von Pfalz- Zweibrücken, den Sachsen Chr. T. Weinlig, der Architektur 
studierte, und die Gebrüder Hackert*)- Mit Mannlich, Weinlig, dem Sachsen Reh- 
schuh und den französischen Pensionären Charles Vanloo und Lefebore unternahm 
Sergel im Herbste 1768 eine mehrwöchige Reise nach Neapel, die ihm reiche An- 
regungen vermittelte und ihn auch körperlich erfrischte, und bei den lustigen 
Sonntagsausflügen, die die Pensionäre und Studierenden der Akademie nach der 
Villa Madama zu unternehmen pflegten, fehlte der lebenslustige Schwede nicht ). 
Immer hat Sergel seiner römischen Freunde und der künstlerischen Förderung, 
die ihm aus ihren aufrichtigen Urteilen und Ratschlägen erwuchs, treu und dankbar 
gedacht. 


Welche Einflüsse hat Sergel in der reichen römischen Kunstatmosphäre ein 
gesogen? 

Berninis Name findet sich in seinen römischen Tagebuchaufzeichnungen häufig 
erwähnt, doch hat der Großmeister der barocken Plastik, dessen Werken Sergel 
in Rom auf Schritt und Tritt begegnete, in seinem eigenen Schaffen kaum eine 
Spur hinterlassen. Für die Verdienste der Barockbildnerei ist Sergel indes so 
wenig blind gewesen, daß er noch auf der Heimreise aus Italien Pugets Schöp- 
fungen eine besondere Bewunderung widmete, aber ihren Geschmack lehnte er ab‘). 
In Michelangelo, nach dessen Gemälden in der sixtinischen Kapelle er gezeichnet 
hat, hat er kein Verhältnis gewinnen können’). Anders war seine Stellung zu 


(1) „Accademia“ hieß nach italienischem Sprachgebrauche jede Vereinigung von Künstlern zu ge- 
meinsamem Studium nach dem lebenden Modelle (vgl. meine Bemerkungen in Monatsh. f. Kunstw. 
XI, 1918, S. 276). Solche Akademien hat es in Rom schon seit dem 17. Jahrhundert in beträcht- 
licher Zahl gegeben, während an der Lukasakademie erst unter Benedikt XIV. (1740—58) eine Modell- 
klasse ins Leben gerufen worden war. 

(2) Mannlich, 8. ros. 

(3) Über die Reise nach Neapel liegen drei Berichte vor: Sergels Tagebuchaufzeichnungen (Göthe, 
S. 45 f.), die Darstellung Mannlichs in seinen Erinnerungen, 131 ff. und die Weinligs in seinen 
„Briefen über Rom“, Ш, 4 ff. — Über die Sonntagsausflüge Mannlich 105 und Brief Sergels bei 
Göthe so. 

(4) Vgl. Göthe, 8, 43, 46, 54, 111. Die Fiußgötter auf dem frührömischen Studienblatte bei Kruse, 
Sergels Handteckningar, Blatt No. VI4, könnten wohl von Bernini inspiriert sein. 

(5) Göthe teilt S. 77 mit, daß Sergel einige der Sibyllen der sixtinischen Kapelle „in einem etwas 
antikisierenden Stile“ gezeichnet habe. Michelangelos Ruhm befand sich gerade in einem Wellen- 
tale; weder das Rokoko noch der Klassizismus hatten Verständnis für ihn, und selbst Goethe hat 
sich ja noch sozusagen an ihm vorbeigedriickt. Aber gerade in Sergels engstem Freundeskreise 
schlug eine neue, im Widerspruch zum Zeitgeschmacke stehende Michelangelo-Bewunderung Wurzel, 
deren Träger Abildgaard und J. H. Füßli waren. Abildgaards reifstes Werk aus seiner römischen 
Zeit, der „Philoktet“ (Kunstmuseum, Kopenhagen) bezeugt Michelangelos Einfluß; lehrreich ist in 
dieser Hinsicht auch sein aus dem Besitze Sergels stammender männlicher Akt bei Brising, 9. 29. 
Von Abildgaard führt dann die Linie zu Carstens, der ja jedenfalls in Kopenbagen Anregungen von 
ihm erfahren hat. Vgl. bierzu Hautecoeur, 8. 92, 114, 190 und passim: meine Entstehung der 


106 


Raffael, Annibale Carracci, Domenichino, also jenen Meistern, die auch die Theo- 
retiker des Klassizismus anerkannten, weil sie in ihren Werken den Geist der 
Antike zu erkennen glaubten. Nach ihnen hat er mehrere Monate kopiert“), und 
aus dieser Quelle sind ihm reiche Anregungen zugeflossen. Die heitere Götterwelt 
des Amor- und Psyche-Zyklus in der farnesinischen Villa und die der Gemälde 
Carraccis im Palazzo Farnese hat auf ihn einen so tiefen Eindruck gemacht, daß 
er ihr die Motive zu einer Anzahl von Kompositionen seiner römischen Frühzeit 
entlehnte, ja noch in seinen späten und spätesten Lebensjahren kehren die Typen 
dieses Bilderkreises in seinen Zeichnungen wieder?). Ihrer Bewunderung ist er 
immer treu geblieben, allein er hat sich nicht zu lange damit aufgehalten, nach 
ihren Werken zu zeichnen, und bemerkenswert ist die Begründung, die er dafür 
gibt: er habe erkannt, daß diese Meister aus derselben und einzigen Quelle, der 
Antike und der Natur, geschöpft hätten, und so zog er es vor, sich auch seiner- 
seits selbst an diese Quellen zu halten?). 

Ganz unzweifelhaft ist es die Antike gewesen, um die sich Sergels Interesse in 
Rom von Anfang an gesammelt und die den stärksten Eindruck auf ihn hervor- 
gebracht hat. Seine Skizzenbücher legen davon reichlich Zeugnis ab. Doch voll- 
zog sich seine Entwicklung nun nicht etwa in der Weise, daß er sich alsbald mit 
Haut und Haaren der Antike verschrieben hätte. Aufschlußreich ist in dieser Hin- 
sicht eine Gruppe von kleinen Arbeiten in Terrakotta, im ganzen etwa ein Dutzend, 
Einzelfiguren, Figurengruppen und Reliefs, die sich teils im Stockholmer Museum, 
teils in schwedischem Privatbesitze oder in dem der Universität Upsala befinden, 
und die am vollständigsten von Brising zusammengestellt und abgebildet worden 
sind‘). Die Motive sind überwiegend dem unbekiimmerten Genuß- und Liebesleben 
der Götter und Halbgötter entnommen: bei „Jupiter und Juno“ hat er aus dem 
Vorrate der Gallerie Farnese, bei „Merkur und Psyche“ aus dem der farnesinischen 
Villa geschöpft — ein Verfahren, bei dem er sich der französischen und der älteren 
Barocküberlieferung anschloß°); — in den Reliefs stellte er die Spiele, Tänze und 
Scherze der Satyre, Faune und Nymphen dar. Die Formengebung dieser Arbeiten 
macht es wahrscheinlich, daß sie nicht als Kompositionsmodelle für spätere Aus- 
führung im großen anzusehen sind, sondern daß sie als selbständige Kleinwerke 
angelegt und vollendet worden sind. Derartige Kleinplastiken lagen ja im Ge- 
schmacke des Rokokos, und eben während Sergels erster Jahre in Rom hatte 
Clodion dort mit Schöpfungen dieser Gattung lebhaften Erfolg. Es ist denn nicht 
unwahrscheinlich, daß Sergel mit ihm hat wetteifern wollen, und diese Annahme 


Kunstkritik, 8. 312 und 335, Anm. 60; Harnack, Deutsches Kunstleben in Rom im Zeitalter der 
Klassik, 8. 21; P. F. Schmidt in den Monatsheften f. Kunstwissensch. IX (1916), besonders 8. arr. 
(1) In der Selbstbiograpbie von 1785 heißt es: „en 1770 je desinais d’apres Raphael et Hanibal 
Carache“. In bezug auf seine Studien nach Carracci scheint diese Angabe irrig zu sein. Wir wissen 
aus Goethes Hackert (Werke, Jubil. Ausg. 34, 210), daß dieser und Sergel in der Gallerie des Pal. 
Farnese zeichnen durften, während der dort wohnende Kardinal Orsini nach dem Tode Clemens XIII. 
(t 2. Febr 1769) dem Konklave beiwobnte. Der neue Papst, Clemens XIV., wurde am 9 Mai er- 
wäblt — danach läßt sich also Sergels Tätigkeit in der Carracci. Gallerie zuverlässig datieren. Gleich 
nach dieser scheint er sich an den Amor- und Psyche-Zyklus gemacht zu haben, wie aus seinem 
Briefe an den Grafen С. Bonde vom 26. Aug. 1769 (Sergelska Bref 3, Anm ) zu schließen ist. 

(2) S. Looström, Sergel, 8. 108, 109 und die Zeichnung No. VI6 in Kruses Ausgabe. 

(3) Sergelska Bref ag. 

(4) 8. 44 f., got 

(5) Vgl. Brinek mann, a. a. O., 8. 390. 


107 


wird durch den Stilcharakter seiner Terrakotten bestätigt. Nach Stil und Geschmack 
gehören sie der Genrekleinplastik des Rokoko zu; die meisten der Figuren und 
Gruppen könnten ganz wohl als Modelle für Sevres gelten. Das entscheidende 
formale Element bildet die geschmeidig ausdrucksvolle Linie, das Geistige, das Ge- 
fällige, Reizend-Sinnliche. Die glücklichste unter diesen Arbeiten ist die Gruppe 
„Venus und Anchises“, in der ein beträchtlicher Aufwand an plastischen Motiven 
klar und geschmackvoll geordnet und in ein Liniensystem von schmelzendem Flusse 
eingebunden ist; individuell am interessantesten ist die Figur eines verzweifelt am 
Meeresstrande hingeworfenen Achilleus, dessen leidenschaftlich ausgestreckte Arme 
den Raumbereich des Bildwerks durchstoßen und seinen Umriß sprengen. Doch 
bleibt im Pathos dieser barock empfundenen Gestalt etwas Theatralisches fühlbar, 
da der Ausdruck der Empfindung nicht mit gleicher Stärke durch alle Formen 
hindurchgeführt ist. 

Leider fehlen zur chronologischen Sicherstellung und Ordnung dieser Gruppe von 
Sergels Arbeiten die hinlänglichen Grundlagen. Sergel selbst gibt nur an: „Jai 
fait А Rome quantité de groupes en terre cuite.“ Gewöhnlich weist man sie der 
Zeit vor der Vollendung des „Faun“ (1770) zu; das wird für die Mehrzahl zu- 
treffen, ich zweifle, ob für alle. Denn es steht so — und das soll weiter noch im 
einzelnen nachgewiesen werden —, daß das diese Werke bestimmende Stilgefühl 
in Sergels Schaffen auch nach seiner entschiedenen Hinwendung zur Antike nicht 
erloschen, sondern immer darin wirksam geblieben ist; und so lassen sich denn 
auch deutliche Beziehungen zwischen Sergels römischen Kleinarbeiten und den 
Schöpfungen seiner reifen Zeit erkennen, Der „Verzweifelte Achilles“ z. B. ist in 
Problemstellung und Komposition sowohl dem „Faun“ wie auch dem 1778 in Paris 
modellierten „Othryades“ verwandt; und was die Gruppe „Achilleus und Chiron“ 
angeht, so würde sie stilkritisch sehr wohl ihren Platz unter Sergels späteren 
römischen Werken finden, da die Gestalt des speerschwingenden Achilleus in An- 
lehnung an eine der Dioskurenfiguren auf dem Monte Cavallo entstanden sein 
dürfte. Wie dem aber auch sei, so beruht die Bedeutung dieser Terrakotten für 
das Verständnis Sergels jedenfalls darauf, daß sie sprechend bekunden, wie kräftig 
das Rokoko-Grundgefühl in ihm auch in Rom, auch während seines eifrigen Studiums 
der Antike, lebendig geblieben ist. 

In ein inneres und klares Verhältnis zu dieser tritt er erst mit dem 1770 voll- 
endeten Faun (vgl. Abb.). Dies ist Sergels erste selbständige Arbeit von Be- 
deutung; sie bezeichnet den Wendepunkt in seinem künstlerischen Entwicklungs- 
gange. 

Der bakchische Stoffkreis war in der Bildnerei der Zeit beliebt. Clodion be- 
diente sich seiner gern, Bouchardon hatte eine meisterliche Kopie vom barberini- 
schen Faun angefertigt. Mit der Wahl des Motivs ging also Sergel über die 
Grenzen des Zeitgeschmacks nicht hinaus, aber in der Art der Behandlung bot er 
allerdings Neues. Die Frage, welches Werk des Altertums ihm als Vorbild bei 
seinem Faun gedient habe, ist seit Nyblom viel erörtert und ein reiches Material 
ist dafür beigebracht worden ). Mir will indes scheinen, daß die Fragestellung in 
dieser Form zuletzt doch nicht entscheidend ist. Denn es läßt sich Sergels Ver- 
hältnis zu seinen antiken Vorbildern allgemein dahin bezeichnen, daß er in der 
Regel wohl ein bestimmtes, im Altertum ausgebildetes Motiv oder auch ein ein- 
zelnes Werk zum Ausgangspunkte wählt, bei der weiteren plastischen Entwicklung 


(1) Vgl. Nyblom, 21; Brising, 66; Kruse, Sergels Teckningar. Del I, Einleitung. 
108 


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und Durcharbeitung des Entwurfes aber auch noch allerlei andere antike Motive und 
Formgedanken heranzieht und sie in die Konzeption einschmilzt. Entscheidend 
bleibt, daß diese Einschmelzung meist so vollzogen wird, daß die an der Ent- 
stehung der Komposition beteiligten Elemente nur noch als allgemeiner Form- 
charakter oder als Anklang erkennbar werden, und daß Sergels Hauptschöpfungen 
zuletzt doch alle aus einer selbständigen und organischen plastischen Vorstellung 
erwachsen sind. Auf den Faun angewandt bedeutet dies, daß man darin wohl 
formale und Charakterzüge verschiedener antiker Faunstypen, teils deutlicher, teils 
verdeckter, finden kann, daß er aber schließlich und hauptsächlich eben Sergels 
Faun ist und bleibt. 

Es gibt zu diesem Bildwerke Vorstudien in Gestalt von zwei Rötelzeichnungen!), 
die von dem ausgeführten Modelle in bemerkenswerter Weise abweichen. Auf 
dem einen Blatte schwebt das linke Bein des Fauns, auf irgend etwas gestützt, 
frei in der Luft; auf dem andern hat Sergel daran gedacht, ihn den linken Arm 
weit nach rückwärts ausstrecken zu lassen — eine Gebärde, die an die des „Ver- 
zweifelten Achilleus“ erinnert. Beide Bewegungsmotive würden den idealen Raum- 
bereich des Bildwerks durchstoßen, und in seinen Rhythmus starke exzentrische Akzente 
eingelegthaben. Das vollendete Werk zeigt eine andere Redaktion. In Sergels Faun 
ist die „ideale Reliefwand“ gewahrt. Alle Formen sind in klaren Relationen in der 
Vorderansicht ausgebreitet. Die Gliederung der plastischen Masse erfolgt nicht 
durch starke Aushöhlungen, sondern durch feine, einander aufnehmende und deu- 
tende Verschiebungen. Licht und Schatten finden nicht Gelegenheit, einwühlend 
einzudringen, sondern sie spielen in zarten, gleitenden Nüancen über den ganzen 
Körper hin. Die Gestalt wird nicht in den Raum hineingedrängt, sondern als ge- 
schlossene plastische Erscheinung von ihm abgesondert. Der rhythmische Aufbau 
der Figur beruht nicht auf der Verwendung gegensätzlicher Bewegungsmotive, 
sondern er ist in einem einheitlichen Rhythmus durchgeführt, der in gleichmäßigem 
Flusse vom erhobenen Oberkörper bis zu den Fußspitzen niederströmt und sich in 
einem in sich geschlossenen Umrisse rundet. Vergleicht man das vollendete Werk 
mit den Vorstudien, so kann man wohl verstehen, was Sergel meinte, wenn er 
„die wahre Bewegung“ in der Natur suchte, in der Antike aber „die Regel in 
den Künsten“ sah?): er ging aus von einem lebhaften Bewegungsmotive, das er 
dann an antikem Vorbilde plastisch disziplinierte; seine künstlerische Phantasie 
wurzelte im Rokoko, seine künstlerische Intelligenz hielt sich an die Antike. Der 
Vorgang ist, wie sich noch zeigen wird, für Sergel typisch. Eben durch dies Ver- 
fahren behauptet sein Faun auch den antiken Vorbildern gegenüber seine Selb- 
ständigkeit. Kein Werk des Altertums steht ihm so nahe, wie der im Vatikan 
aufbewahrte, zum Teil ergänzte Torso eines trunkenen Fauns aus grünem Basalt’). 
Aber durch die Abweichungen, die Sergels Werk aufweist (der herabhängende Arm, 
der hintenüber gebogene Kopf, die malerische Behandlung der Unterlage usw.) ist 
die Masse gelockert, der Umriß freier bewegt; und der formalen Umredigierung 
des Motivs entspricht die Umstellung in der Auffassung des Charakters. Denn 
während der vatikanische Faun, überwältigt vom Weine und vom Schwärmen durch 
Wald und Feld, erschöpft und schwer dem Schlafe anheimgefallen ist, schwebt 


(x) Veröffentlicht bei Kruse, а. а. O., Blatt VIz und VIa. 

(2) Siehe oben und Sergelska Bref, S. 29. 

(3) Reinach, Repertoire de la Statuaire grecque et romaine I, 405. Vgl. Helbig, Führer I, 303 und 
Braun, Die Ruinen und Museen Roms, 8. 478. 


109 


der Sergels zwischen Schlaf und Wachen. Seine Züge besonnt ein glückliches 
Lächeln, der Abglanz genossener oder die Vorfreude künftiger Seligkeiten. Er mag 
sich vielleicht eben zum Schlummer hinstrecken oder er mag auch nach bereits 
genossener Ruhe zu neuen Freuden erwachen: jedenfalls ist seine Gestalt elastisch, 
zu augenblicklichem Aufschnellen bereit, ein Bild unverbrauchter Genußkraft; die 
Glieder sind leicht gelöst, doch nicht dem Willen entzogen; und eben aus diesem 
Wechselspiele von Anspannung und Entspannung entspringt der feine Lebensstrom, 
der die ganze Gestalt durchkreist. Das antike Vorbild ist mit einem eigenen und 
frischen Naturgefühle erneuert, das Funktionelle des Körpers ist sicher und über- 
zeugend ausgesprochen, die Formen sind geschmeidig und fein, mit einem un- 
verkennbaren Wohlgefiihle an Reiz und Leben der Einzelform durchgearbeitet, ihre 
Zierlichkeit und Delikatesse erinnert an den Rokokogeschmack, dem das Bildwerk 
auch durch sein Format nahe steht — der Faun ist nur etwa halblebensgroß. 
Aber vom Rokoko scheidet sich Sergels Schöpfung durch ihren kräftigen und ge- 
sunden Charakter, durch die zielbewußte Isolierung der plastischen Formen in der 
Vorderansicht und den Verzicht auf Tiefenillusion, durch die Einfachheit und Maß- 
haltigkeit der Bewegung; mit dem späteren reinen Klassizismus verglichen erfreut 
sie durch ihr liebenswiirdig-frisches Naturgefiihl'). Sie ist entstanden in einem 
jener glücklichen Zeitpunkte, da eine noch lebenskräftige Überlieferung sich mit 
einem neuen, verjüngenden Formwillen begegnet. Sergel war nicht der einzige 
Bildhauer, der den Zeitpunkt verstand und nutzte. Er fand einen Nebenbuhler 
іп dem Franzosen Pierre Julion, der gleichzeitig mit ihm, von 1768 bis 1773, in 
Rom studierte und als Frucht seiner Studien 1779 den „Sterbenden Gladiator“ 
vollendete?). Das Verhältnis dieses Werkes zur Antike ist annähernd dasselbe wie 
das des Fauns, und beide Arbeiten teilen sich in den Anspruch, die Vorposten der 
klassizistischen Bewegung in der Bildnerei zu sein. Allein Juliens „Gladiator‘ steht 
doch dem Formgefühle des Rokokos noch beträchtlich näher, und während er bei 
aller Tüchtigkeit der Arbeit schließlich eine typisch-akademische „piece de réception“ 
bleibt, hat Sergels Faun den Vorzug warmer persönlicher Beseelung. Er ist er- 
füllt von einem ungebrochenen und unbeschwerten Gefühle der Lust am Leben 
und am Genusse und erscheint so als ein Abbild der glückhaften Existenz des 
Künstlers zu jener Zeit, da er die freie Herrschaft über sein Talent gewann, mit 
sich und seiner Aufgabe einig wurde und mit tiefem Behagen sein römisches 
Künstlerleben genoß. 


V. 


Durch seinen „Faun“ wurde Sergel mit einem Schlage berühmt. Das Modell 
erregte in Rom sogleich Aufsehen, und er erhielt zwei Aufträge auf die Ausführung 
in Marmor: einen von Gustav III. und einen zweiten vom französischen Gesandten 
in Neapel, Baron de Breteuil?). Sergel war glücklich; die Anerkennung, die er sich 
nun errungen hatte, gab ihm sein inneres Gleichgewicht wieder. Es ist wohl nicht 
zufällig, daß er um diese Zeit — vermutlich 1771 oder 1772 — sein Verhältnis 
zur französischen Akademie gelockert und von der weiteren Beteiligung an ihrer 


(1) Vgl. Lange, 35. 

(а) Uber Julien und seinen „Gladiator“; Pascal, Pierre Julien, Paris 1904, 8. 26 ff. (und Gaz. des 
B.-Arts 3me per. 29, 8. 332) und Hautecoeur, a. a. O., 188. 

(3) Das Exemplar Gustavs Ш. befindet sich heut im Stockbolmer Nationalmuseum, das de Breteuils 
ist über das Luxembourg schließlich im Athenäum zu Helsingfors gelandet. 8. über die Geschichte 
der Modelle und Ausführungen des Fauns Göthe 62; Brising 64. 


110 


Modellklasse Abstand genommen hat. Er hatte seine römischen Lehrjahre hinter 
sich und durfte sich als ein Meister von eigenen Gnaden fühlen; überdies war von 
den alten Akademiekameraden der ersten Jahre einer nach dem andern, zuletzt 
noch 1771 Mannlich, heimgereist. Ein neuer Kreis begann sich nun um ihn zu 
bilden. 1770!) kam der phantasievolle J. Н. Füßli, 1772 der dänische Maler Nicolai 
Abraham Abildgaard nach Rom, denen beiden Sergel besonders nahe getreten ist; 
er stand ferner mit der Gruppe junger österreichischer Künstler um Füger und 
Zauner in Umgang, und mit den nordischen Künstlern, die nach Rom kamen, hielt 
er wohl sämtlich landsmannschaftliche Fühlung. Die Künstler dieses Kreises einte 
insofern eine gemeinsame Überzeugung, als sie sich alle zu den klassizistischen 
Grundsätzen bekannten; sie bilden die Zwischengeneration, die die Mengs-Winckel- 
mannsche Zeit mit der großen Gruppe klassizistischer Maler und Bildhauer ger- 
manischer und romanischer Herkunft verbindet, die gegen und nach 1780 die 
Führung im römischen Kunstleben übernahm. Sergel konnte ungewöhnlich lange 
in Rom verweilen und rückte allmählich in Stellung und Autorität eines „alten 
Römers“ ein; er war ein bereits anerkannter Meister und in Arbeit und Genuß ein 
unverwüstliches Temperament: so wurde er der natürliche Mittelpunkt und die 
führende Persönlichkeit in diesem Kreise, dessen Menschen und Treiben er in einer 
Reihe prächtiger, lebens- und humorvoller Zeichnungen geschildert hat?). 

Alles deutet darauf hin, daß der Zeitraum von 1770 etwa bis 1774 die Höhe in 
Sergels Schaffen bildet. Seine Hauptwerke scheinen in ihrer Entstehung sämtlich 
auf diese Jahre zurückzugehen. Dem Faun folgte unmittelbar der Diomedes, der 
seinen Ruf bestätigte und weiter ausbreitete; es schlossen sich die beiden Gruppen 
„Amor und Psyche“ und „Mars und Venus“, sowie die Figur der aus dem Bade 
steigenden Venus an. Der „Diomedes“ ist im Modelle wahrscheinlich schon 1772, 
in der Marmorausführung spätestens 1774 vollendet worden?); die letztere erfolgte 


(1) So nach Thieme-Becker 12, 566; Göthe (S. 66) gibt 1772 an. Füßli blieb in Rom bis 1778, 
Abildgaard bis 1776. Was die im folgenden genannten Künstler angebt, so kam Füger 1775, Zauner 
1776 nach Rom. Einer von diesen Österreichern, Hubert Maurer, hat 1776 das im Besitze der Kunst- 
akademie zu Stockholm befindliche Bildnis Sergels gemalt; Abbildung bei Göthe 93; Looström, 
Tafel 7. Unter Sergels nordischen Freunden ist vor allem Jens Juel zu nennen (in Rom 1772 bis 1776), 
sowie der bereits früher erwähnte schwedische Maler Masrelicz, der gleichfalls während der siebziger 
Jahre in Rom eintraf. 

(2) Hans Tietze weist im Repert. für Kunstwiss. 40,94 auf die Existens eines bodenständigen römi- 
schen Frühklassizismus um 1775 hin und beruft sich dabei besonders auf Pacettis Reliefs in der Villa 
Borghese. Da ich diese seit Jabren nicht gesehen habe, muß ich mich eines Urteils darüber enthalten. 
Wenn aber Tietze die Frage nach den Einflüssen aufwirft, die an der Entstehung dieses römischen 
Frühklassizismus beteiligt gewesen sein mögen, und Lierbei vermutungsweise auf Trippel hindeutet, 
so wird doch, wie mir scheint, zu erwägen sein, ob hier nicht Sergel als Gliei in die Entwicklungs- 
reihe einzusetzen ist. Nachzuweisen ist sein Einfluß allerdings nicht. Aber er bat seit der Vollendung 
des „Fauns“ (1770) unzweifelhaft in Rom die Stellung eines führenden Bildhauers eingenommen; er 
ist der erste gewesen, der dort anerkannte und bewunderte klassizistische Bildwerke geschaffen und 
gezeigt bat; daß er auf den ibm befreundeten, jüngeren und beträchtlich später (1776) in Rom ein- 
getroffenen Zauner Einfluß ausgeübt hat, ist doch als natürlich und wahrscheinlich anzunehmen, und 
man wird daher kaum umhin können, Sergels Anteil an der Entstehung des Frühklassizismus in An- 
schlag zu bringen. Daß er bisber allgemein unbeachtet geblieben ist, gehört zu Sergels geschicht- 
lichem Schicksale. 

(3) Anfang 1772 sah der schwedische Reisende J. J. Björnstätt in Rom den Diomedes in Sergels 
Werkstatt in Arbeit; vgl. seine „Resa till Frankrike, Italien etc.“ I, Stockh. 1780, 8. 320, Deutsche 
Ausg., Leipzig und Rostock 1780, П 6. Die Angabe Langes, 8. 37, daß Sergel den Diomedes in 


ІІІ 


auf Bestellung eines Lords Talbot; da aber der Marmor in England verschollen 
ist, so beruht die Würdigung des Werkes auf den vorbereitenden Originalmodellen 
im Stockholmer Nationalmuseum und auf dem Exemplar in Gips im Besitze der 
dortigen Kunstakademie, der mit der Jahreszahl 1774 bezeichnet ist. Dargestellt 
ist der griechische Held, wie er das erbeutete Palladium im linken Arme davon- 
trägt, und zwar in einem Augenblicke, wo er sich verfolgt glaubt und angespannt 
zum Widerstande bereit ist. Ursprünglich (s. Abb.) gibt Sergel ihn in eiligem 
Laufe stockend, der rechte Arm und das rechte Bein holen kräftig aus, die Masse 
ist daher lebhaft gelockert, das Haupt ist mit einem Ausdrucke kühner Ent- 
schlossenheit nach aufwärts gewandt. Im Fortgange der Arbeit aber wird die 
Gestalt durch Heranziehung von Bein und Arm zusammengenommen, der Umriß 
daher verdichtet, und die Figur in einen geschlossenen Raumblock eingesetzt, das 
Tempo des Schreitens wird verlangsamt, das Ganze der plastischen Erscheinung 
wird entschiedener frontal orientiert, der Kopf wird stark zur Seite gedreht, gleich 
als ob Diomedes sich nach seinen Verfolgern umsähe, und der Bewegung auf 
diese Weise ein retardierendes Gegenmotiv gegeben. Als Vorbild mag Sergel, wie 
Brising wahrscheinlich gemacht hat, den damals in der Villa Albani, jetzt in der 
Münchener Glyptothek (Nr. 304) aufbewahrten Diomedes benutzt haben, aber wäh- 
rend er das Motiv zu Anfang etwa im Sinne der Dioskuren vom Monte Cavallo 
auffaßte, hat er es weiterhin dem Typus des belvederischen Apolis angenähert, 
dessen Formideal in dem Gipsabgusse unzweifelhaft fühlbar ist. Die Entwürfe 
sind frischer, temperamentvoller, dramatischer, doch nicht ohne einen leichten 
Hauch von theatralischem Pathos; die Schlußfassung ist gelassener, geschlossener, 
sorgsam ausgewogen und offenbar bestrebt, das Genrehafte zu vermeiden. Auch 
in der Behandiung der Körperformen wird ein Wandel erkennbar, der dann in 
Sergels weiteren Schöpfungen sich immer stärker geltend macht, indem er, an 
antiken Vorbildern geschult, danach strebt, das Typische im Formcharakter zu be- 
tonen, die Flächen breiter und größer aneinanderfügt und so das belebte Spiel der 
Oberfläche monumental zu stilisieren sucht. Man wird wiederum darauf geführt, 
daß Sergel eine ursprünglich dem Barockempfinden eng verwandte Konzeption be- 
wußt nach der Antike umredigiert hat. Dabei ist es ihm gelungen, einen für seine 
Zeit neuen Typus heldenhafter Männlichkeit zu schaffen, indem das Übersteigert- 
Pathetische und das Sinnlich-Weichliche der Barock- und Rokokohelden ausgetilgt 
erscheint. Von diesem Diomedes führt eine Linie zum Perseus Canovas, eine 
andere zum Jason Thorwaldsens. 

Vor neue Probleme sah Sergel sich gestellt, als er zum ersten Male eine große 
Gruppenkomposition in Auftrag erhielt. Der Auftrag stammte von Ludwig XV., 
der für die Dubarry eine Gruppe „Amor und Psyche“ bestellte, aber durch den 
Tod des Königs (1774) wurde die Bestellung hinfällig. Danach ist es wahrschein- 
lich, daß Sergel vor 1774 mit der Arbeit begonnen und jedenfalls das erste Modell 
fertiggestellt hat; eine spätere Äußerung des Künstlers, sowie eine römische Zeich- 
nung Füßlis, die ihn bei der Arbeit an der Gruppe zeigt, lassen vermuten, daß er 
noch in Rom, vielleicht um 1776—77, mit der Marmorausführung begonnen hat’), 
aber erst ein gutes Jahrzehnt später hat Sergel, nachdem Gustav III. von Schweden 
die Bestellung übernommen hatte, das Werk in Stockholm vollendet: 1787 war es 


Bronze ausgeführt habe, geht auf eine wohl als Schreibfehler anzusehende Angabe in Sergels Auto- 
biographie zurück und findet jedenfalls sonst durch nichts Bestätigung. Vgl. hierzu Göthe, 8. 64. 
(1) S. Göthe, S. 70; Brising, 104. Füßlis Zeichnung bei Götbe, 67. 


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fertig, an letzten Einzelheiten hat Sergel sogar noch bis 1789 gearbeitet. Gustav III 
wollte die Gruppe in einem Tempelchen im Parke seines Schlosses Haga auf- 
stellen, zu dem er Desprez einen Entwurf machen ließ!), indes ist dieser Plan nie 
zur Ausführung gekommen, und noch bei Sergels Tode hat die Arbeit in seiner 
Werkstatt gestanden, um von da ins Nationalmuseum überzusiedeln. Doch schon 
von der Werkstatt aus hat sich ihr Ruf verbreitet; „Amor und Psyche“ wurde 
das berühmteste Werk des Meisters, er mußte mehrere Wiederholungen in klei- 
nerem Formate davon anfertigen, und noch heut genießt es eine Bewunderung und 
Beliebtheit wie keine andere seiner Schöpfungen. 

Mochte das Thema von Paris aus gestellt oder von Sergel selbst vorgeschlagen 
sein, jedenfalls gehörte es schon von altersher zum gangbaren Motivenvorrate der 
Bildnerei. Allein es ist für Sergels aufs Dramatische und Energische gerichtete 
Temperament bezeichnend, daß er nicht das bekannte Motiv der zärtlich-idyllischen 
Vereinigung Amors und Psyches, sondern einen tragisch bewegten Vorgang aus 
der Handlung des alten Märchens, nämlich den Augenblick wählte, wo Amor nach 
der nächtlichen Entdeckung der neugierigen Psyche im Begriffe steht, sie zu ver- 
lassen?). Für die Psyche benutzte er von vornherein das Vorbild der sogenannten 
kauernden Venus, die er in eine knieende Gestalt verwandelte. Wäre von seiner 
Arbeit an dieser Gruppe zufällig nichts übrig geblieben, als das erste, in gebrannter 
Erde ausgeführte Modell des Stockholmer Nationalmuseums, so würde man kaum 
Bedenken tragen, dies Sergels früher besprochenen römischen Klein-Terrakotten 
zuzuweisen. Ein Überschuß von Affekt ist hier genreartig verarbeitet. Psyche 
klammert sich schreiend an Amor an, dessen Gesichtsausdruck man am ehesten 
als den eines trotzigen Schmollens bezeichnen dürfte. Ihr reifentwickelter Körper 
steht in merkwürdigem Gegensatze zu der jungenhaften Erscheinung des Gottes. 
Ein weiter Weg führt von diesem ersten Entwurfe zu der endgültigen Gestaltung 
des Werkes. In dieser ist Amor im Anschlusse an den Eros von Contocelle ge- 
bildet und hat damit ein wesentlich reiferes und göttlicheres Gepräge gewonnen. 
Ein Zug echter Tragik ist in die Komposition eingegangen: Psyche in stummer 
Verzweiflung, Amor voll trauriger, doch unerschütterlicher Entschlossenheit; die 
Ehestandsaffäre des ersten Modelles ist in einen Vorgang von schicksalhaftem 
Ernste umgesetzt, und man wird in dieser ethischen Neueinstellung, in dieser Über- 
tragung des Motivs aus dem genrehaft Spielenden ins Bedeutende, ja Heroische 
einen Einsatz der neuen Gesinnung sehen dürfen. Formal ist „Amor und Psyche“ 
dasjenige unter Sergels Großwerken, in dem die Kreuzung der sein Schaffen be- 
herrschenden Stilelemente am augenfälligsten sich vollzieht. Die warme Anmut 
der Gruppe, die sich in Psychens Gestalt bis zu blühender Sinnlichkeit raffiniert, 
der in weichen Windungen sich aufschraubende weibliche Körper, die geistreiche 
Asymmetrie der Komposition, die rationale Ordnung und Abstimmung einer reichen 
Fülle gegensätzlicher Bewegungsmotive: alle diese Eigentümlichkeiten der Arbeit 
weisen sie dem Rokoko zu, und es gibt unter Sergels Hauptwerken keines, in dem 
er sich diesem Stile so weit hingegeben hätte, wie in Amor und Psyche. Und 
doch ist der Formcharakter auch dieser Gruppe zu einem guten Teile von klassi- 
zistischen Anschauungen durchsetzt. Um dies zu erkennen, muß man sich aller- 
dings daruber klar werden, daß die Gruppe nicht als Frei- und Rundbildwerk im 


(х) Abgebildet bei Brising, S. 105. 


(2) Nach einer aus der Sammlung Borghese stammenden Gruppe des Louvres (Nr. 536; s. Reinach, 
Répert. des Statuaire 1, 134) zu urteilen, scheint dies Motiv dem Altertume nicht fremd gewesen zu sein. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 4—6. 8 113 


Sinne des Barocks in die Raumtiefe hinein gebaut, sondern daß auch sie frontal 
znsammengeschlossen ist. In dieser Hinsicht ist die Auffassung der schwedischen 
Forschung meines Erachtens zum Teil fehlgegangen; doch weist schon die ur- 
sprünglich in Aussicht genommene, sicherlich unter Sergels Beteiligung oder doch 
wenigstens Zustimmung festgesetzte Art der Aufstellung des Bildwerks in Desprez’ 
rechteckigem (oder quadratischem) Tempelchen darauf hin, daß der Meister es 
dem Beschauer in der .achsialen Vordersicht gezeigt zu sehen wiinschte’). In 
dieser sind die Formen so geordnet und verteilt, daß alle funktionellen Werte der 
Komposition sich restlos aussprechen und deuten; sie vereinigen sich zu geschlos- 
sener Darstellung in einer Fläche, deren Rückwand durch das mächtige Flügel- 
paar Amors nachdrücklich betont ist (man vergleiche etwa, in wie völlig anderem 
Sinne Bouchardon in dem Amor mit der Keule des Herkules im Louvre dies Motiv 
ausgenutzt hat). Eine Nötigung des Auges, die Gruppe zu umwandern und sie 
sich nacheinander in ihrer räumlichen Anordnung und Ausdehnung zu eigen zu 
machen, ist nicht gegeben. Sorgfältig hat Sergel die Formen eng aneinander ge- 
bunden und es vermieden, sie durch Raumeinfüllung zu lockern. Der ideale Raum- 
block ist fest gewahrt; nirgends drängt die Form über seine Grenzen hinaus; die 
Asymmetrie der Gruppenhälften ist mit vorsichtiger und feiner Berechnung aus- 
gewogen. So kann man gerade an dieser Schöpfung in lehrreicher Weise be- 
obachten, wie streng Sergel seine Formanschauung in antikisch-klassizistische Zucht 
zu nehmen bestrebt war. 

Die zweite Großgruppe der römischen Zeit, Mars und Venus, zeigt ihn in dieser 
Anschauung wesentlich gefestigt. Über ihre Entstehungsgeschichte weiß man nur 
so viel, daß Sergel auf Bestellung eines „Chevalier Neikt“, vermutlich eines Eng- 
länders, das Modell noch in Rom vollendet hat. Der Besteller starb, die Arbeit 
blieb liegen, und erst viel später, 1812, wenige Jahre vor seinem Tode, stellte der 
Künstler ein Marmorexemplar für den schwedischen Grafen de Geer fertig, das 
aus dessen Familie unlängst in den Besitz des Stockholmer Nationalmuseums über- 
gegangen ist. In bezug auf Energie und Frische der Formbehandlung wird der 
Marmor jedoch bei weitem übertroffen von dem gleichfalls im Nationalmuseum 
befindlichen Modelle (s. Abb.), das mit Sergels ganzem Feuer durchgeführt ist und 
an Kraft, Freiheit und Schwung der Formensprache wohl überhaupt die erste 
Stelle unter seinen Schöpfungen verdient. Das Motiv ist Mars, der im Begriffe 
steht, die ohnmächtig gewordene Venus aus dem Kampfgetümmel zu entführen. 
Von antiken Vorbildern ist auf die bekannte Gruppe des Galliers mit seinem Weibe 
hingewiesen worden; in erster Linie hat sich Sergel jedoch offenbar an der Pasquino- 
Gruppe inspiriert. Was er aus ihr entwickelt hat, ist als eine durchaus selbstän- 
dige Schöpfung anzusprechen. Er hat die schlanke pyramidale Komposition des 
antiken Bildwerks in ein kraftvolles Rechteck umgebaut, die dort räumlich durch- 
setzte plastische Masse in einen festen Block eingespannt, der Gruppe Volumen 
gegeben, den Formenaufbau aus der mächtigen Fläche des männlichen Körpers 
entwickelt. Gegen die das ganze Bildwerk stützende und beherrschende Wucht 
dieser Fläche ist die flüssig und elegant geführte Diagonale der weiblichen Gestalt 
ausgespielt, deren Kopf den sonst streng geführten Umriß in schwingende Be- 


(?) Wiedergegeben bei Göthe, 69, Brising, 99. 

(1) Es ist wohl als eine Folge der irrigen Auffassung der Gruppe durch die schwedischen Forscher 
anzusehen, daß die gebräuchlichste Aufnahme der Gruppe sie in seitlicher Ansicht zeigt. Auch die 
beigegebene Abbildung ist nach dieser Aufnahme hergestellt und daber leider irreführend. Die rich- 
tigere Aufnahme bei Looström, Tafel 4. 


114 


wegung versetzt. Der umgreifende linke Arm, das vorgesetzte rechte Bein des 
Mars wirken als nachdrückliche plastische Werte; der girlandenartig sich schlin- 
gende Faltenbausch des Gewandes der Venus bringt ein feines Moment der Irra- 
tionalität in die mit vollkommener Beherrschung durchgeführte Ordnung der Formen, 
deren kluge Berechnung durch die an keinem Punkte stockende, das ganze Werk 
durchströmende Energie der Empfindung mit persönlichem künstlerischen Leben 
erfüllt wird. Den Gegensatz zwischen männlichen und weiblichen Formen, der 
gewissermaßen potenziert ist durch die Kontrastierung von entschlossener Tatkraft 
und hilfloser Ohnmacht, hat Sergel im ganzen wie in allen Einzelheiten sehr lebens- 
voll und mit starker plastischer Spannung durchgefühlt und durchgeführt: wuchtig 
stemmt sich Mars auf, indes der Körper der Venus willenlos in den Gelenken hängt; 
seine nervigen Hände greifen fest zu, während ihr schöner, weicher Arm schlaff 
herabfällt; ihr Kopf sinkt gleich einer geknickten Blume zur Seite, das energie- 
geladene, behelmte Haupt des Gottes krönt die Gruppe mit wuchtigem Akzente. 
In der Darstellung athletisch-heroisch gesteigerter Männlichkeit hat Sergel nichts 
Vollendeteres und Überzeugenderes geschaffen als den Mars, und er hat so seinen 
Anteil an der Ausbildung eines Typs, den die klassizistische Plastik mit besonderer 
Vorliebe entwickelt und verwertet hat. Dagegen bekunden Typus und Form- 
behandlung der Venus, ebenso wie die der Psyche, daß Sergel sich in der Dar- 
stellung der Frau nie ganz vom Rokokogeschmacke hat ablösen können. Immer 
gibt er ihr die gefälligen Formen, die schmelzende Grazie, die süße und kokette 
Sinnlichkeit, das blühende Fleisch. Er sah das Weib nicht heroisch, sondern ero- 
tisch, und für die strengeren Frauentypen, die ihm der antike Vorbildervorrat bot, 
scheint er kein Interesse gehabt zu haben. Auch die im Entwurfe auf die römische 
Zeit zurückgehende, in Marmor aber erst gegen 1785 ausgeführte Figur der aus 
dem Bade steigenden Venus hält sich in derselben Sphäre; sie erinnert in ihrer 
kokett bewegten Haltung und ihrem erotischen Reize noch mehr an Clodion als an 
das Vorbild der mediceischen Venus. (Schluß folgt.) 


115 


ZUR KENNTNIS RIEMENSCHNEIDERS 
DER HEROLDSBERGER CRUCIFIXUS — R. ALS STEINBILD- 
HAUER — DER CHRISTUSKNABE AM LORENZ-VON-BIBRA- 
DENKMAL Mit sieben Abbild. auf drei Tafeln in Lichtdruck Von W. v. GROLMAN 


m Jahrgang 1910 der Monatsh. f. Kunstw. hat Vöge den Crucifixus zu Herolds- 

berg bei Nürnberg kurz besprochen (S. 242) und sich mit Recht gegen Hampe 
gewandt, der in seiner Kritik der Daunschen Knackfuß-Monographie (Monatsh. d. 
Kunstw. Lit. П, 66) dem Autor einen Vorwurf daraus machte, daß er diesen „ viel- 
leicht bedeutendsten Crucifixus, den Veit Stoß geschaffen hat, ein ergreifendes 
Werk voll starker und tiefer Empfindung unbeachtet gelassen“ habe. Demgegen- 
über erklärt Vöge, daß dieses Werk „nach Empfindung und Stil in der Art des 
Riemenschneider und vielleicht von dessen Hand ist“, es sei eine edle Schöpfung 
und dem Crucifixus im Kaiser-Friedrich-Museum in der Modellierung des Nackten 
überlegen. Ich hoffe im Folgenden beweisen zu können, daß das Werk tatsächlich 
von niemand anders als von Riemenschneider sein kann und auch eine eigen- 
händige Arbeit darstellt, obwohl es unbegreiflicherweise von den beiden Biographen 
Riemenschneiders Tönnies und Weber nicht einmal erwähnt wird. Im übrigen 
sollte man es kaum für möglich halten, daß jemandem, dem auch nur entfernt eine 
Idee von der Kunst der Stoß und Riemenschneider aufgegangen ist, eine Ver- 
wechslung ihrer Autorschaft unterlaufen könnte; ja, wer nur einen einzigen Kruzi- 
fixus von Stoß gesehen hat, sollte dagegen gefeit sein, den in allen Einzelheiten 
typischen Riemenschneider zu Heroldsberg dem Stoß zuschreiben zu wollen. 
Größere Gegensätze sind gar nicht denkbar. Stoß ist stets kraftvoll und 
dramatisch bewegt, entsprechend dem Feuergeist, der in dieser ebenso unruhigen 
wie vielseitigen Natur wohnte und dem ein stilles, gottergebenes Leiden und 
Dulden, wie es für die meisten Spätgotiker und für keinen mehr als Riemen- 
schneider typisch ist, völlig fremd war. 

In den Frühwerken sehen wir ihn den Spuren tiefster seelischer und körper- 
licher Qual mit einer fast grausamen Akribie nachgehen, so in dem erschiitternden, 
jetzt mit einer Dornenkrone aus der Barockzeit versehenen Kruzifix der Krakauer 
Marienkirche und dem diesem nahestehenden, darum auch zeitlich — wie Loß- 
nitzer schon betonte — in seine Nähe zu rückenden Crucifixus der Lorenzkirche, 
oder dem aus der Spitalkirche in das Germanische Museum gekommenen, den man 
freilich nicht in der nach der süßlichen modernen Bemalung gemachten Auf- 
nahme, sondern in der noch am alten Ort von Daun (Knackfuß- Monogr., Abb. 88) 
genommenen, bzw. in der Detailaufnahme des Kopfes, wie ihn die Wiesbadener 
Sammlung enthält, studieren muß. Etwas gemildert ist diese Auffassung in dem 
schönen, kürzlich von Franz Heege im Tiroler Schlosse Matzen entdeckten Ge- 
kreuzigten!). Nicht weniger erregt dagegen als die Stimmung der Frühwerke ist 
trotz aller Gegensätzlichkeit die des großartigen Christus der Sebalduskirche, wo 
das sieghaft erhobene stolze Haupt die beginnende Renaissance anzeigt (vgl. LoB- 
nitzer). Stoß ist überhaupt ein Künstler, der, obwohl er formal nie recht aus der 
Gotik herauskam, doch durch seine selbstbewußte Männlichkeit im Gegensatz zu 
den meisten seiner Zeitgenossen im Seelischen der Renaissance innerlich merk- 


(1) Abb. in The Sphere, Heft vom 3, April 1920. 


116. 


würdig nahe stand. In meiner Arbeit „Zur Würdigung des Veit Stoß“ (Monats- 
hefte für Kunstwissensch. 1919, 12, 1920,1) habe ich gelegentlich der Analyse des 
Himmelfahrtreliefs vom Krakauer Altar und des von fremder Hand herrührenden 
Pfingstwunders ebenda hierauf schon ausführlicher hingewiesen; es sei auch noch 
der dort abgebildete Christus aus der Kreuzabnahme herangezogen, der ebenfalls 
schon in der ganzen Stimmung etwas Renaissancemäßiges besitzt. 

Nun gar die Aktbehandlung: Bei Veit Stoß schärfstes, durchaus naturalistisches, 
Studium der Anatomie, das wir von dem zwar überaus mageren, trotzdem aber 
vorzüglich proportionierten und in den kleinsten Einzelheiten anatomisch und 
physiologisch verstandenen Krakauer Akte bis zu dem vornehmen, bei allem 
Reichtum an Details bereits ganz einheitlich gesehenen Körper des Sebalder 
Werkes verfolgen können; in Heroldsberg dagegen ein Akt von schlechten 
Verhältnissen mit dem überlangen gotischen, in der Taille eingezogenen Ober- 
körper, dem anatomisch verbildeten Brustkorb usw., alles im schärfsten Gegensatz 
zu den breitbrüstigen, schön gebildeten, von gotischer Einschnürung und Propor- 
tion völlig freien Oberkörpern der Stoßschen Akte. Auch das funktionelle Ver- 
ständnis für die Muskulatur der Extremitäten, besonders der Arme, steht hinter 
dem der Stoß-Akte zurück. Bleibt noch das Lendentuch: Hier ist in der Tat 
eine Verwandtschaft mit Stoßschen Formen vorhanden, aber die große Unruhe 
und die Stoßschen „Ohren“, an die man erinnert hat, finden sich genau so auf 
vielen der bekanntesten Werke des Riemenschneider, der eben hier unter dem Ein- 
fluß des großen Niirnbergers steht. 

Was mich jedoch heute in erster Linie zu diesen Mitteilungen anregt, das ist 
die Beobachtung, daß wir in einem der bekanntesten Gekreuzigten des Riemen- 
schneider, nämlich in dem des Detwanger Altars, geradezu eine wortgetreue Wieder- 
holung des Heroldsberger besitzen. Die Gegenüberstellung der beiden Abbildungen 
überhebt mich fast eines eingehenden Beweises. Man findet hier genau den 
gleichen Kopf mit der unverkennbaren langen Schnupfennase, der niederen Stirn 
und der eigenartigen Bildung des Rumpfes, der nur in der Taille schon weniger 
eingezogen ist und etwas bessere Längenverhältnisse besitzt, aber in der Art 
seiner Formgebung, besonders der Modellierung der Rippen ganz mit dem Herolds- 
berger übereinstimmt. Dann beachte man die Hand- und Fingerstellungen, sie 
wiederholen sich auf beiden Werken bis ins einzelne; ebenso übereinstimmend ist 
die Modellierung der unteren Extremitäten mit der sogleich in die Augen fallenden 
scharfen Furche, die nach innen und oben die rechte Kniescheibe begrenzt. 
Weiterhin wiederholt das Lendentuch des Detwanger Werkes alle einzelnen Motive 
des Heroldsberger, wobei nur zu beachten ist, daß der am linken Oberschenkel 
herauskommende Zipfel in Detwang kurz abgebrochen ist. Dagegen findet man 
den an der linken Hüfte über den querliegenden Teil herauskommenden Bausch 
des Heroldsberger in noch etwas stärkerer Ausbildung auch in Detwang. Endlich 
ist die Art, wie das Lendentuch mit der schräg von rechts oben nach links unten 
ziehenden Kante um die Hüfte gewickelt ist, in beiden Fällen die gleiche. 

Durch diesen Nachweis der völligen Übereinstimmung des Detwanger und Herolds- 
berger Christus ist nun zugleich eine Datierung für letzteren gefunden; er gehört 
jedenfalls in die nächste Nähe des um 1500 entstandenen Detwanger Werkes, und 
zwar muß er diesem vorausgegangen sein, wie namentlich die oben genauer ge- 
schilderte, noch viel gotischere Formgebung des Brustkorbes beweist. Unter- 
suchen wir daraufhin die übrigen Gekreuzigten Riemenschneiders, so können wir 
uns leicht überzeugen, wie der Brustkorb in den späteren Werken allmählich 


117 


immer breiter wird, während zugleich auch die Muskulatur des Bauches und der 
Rippen mit tieferem Verständnis erfaßt ist. Belege bilden der treffliche kleine 
Darmstädter Crucifixus im dortigen Museum, den Tönnies um 1505 ansetzte, und 
der vielleicht bedeutendste, den der Künstler geschaffen hat, in der Pfarrkirche zu 
Gerolzkofen (nach Tönnies 1505—10, u. E. wahrscheinlich dem letzteren Datum 
näher stehend als den ersteren), endlich der Crucifixus des Würzburger Bürger- 
spitals, der bei geringerer Modellierung in der Formgebung dem vorigen sehr nahe 
steht, aber im Seelischen auch nicht entfernt an ihn heranreicht (nach Tönnies 
etwa 1510—15). 

Trotz der großen Befangenheit in der Körperbildung des Heroldsberger wird 
man diesem aber vor dem Detwanger den Vorzug geben müssen. Wenn Bode 
von letzterem in seiner Geschichte der deutschen Plastik sagte, er sei „durch den 
edien Ausdruck des hehren Hauptes, die glücklichen Verhältnisse und die weiche 
Behandlung des Körpers, die Anordnung des in große Falten gelegten Schurzes 
eine der edelsten Darstellungen des Gekreuzigten in der deutschen Kunst“, so muß 
ich gestehen, daß mir dieses Urteil des verehrten Mannes unverständlich ist, und 
ich glaube, daß die große Detailaufnahme der Wiesbadener Sammlung nicht dazu 
beitragen wird, es zu befestigen; auch haben wir seit dem Erscheinen des Bode- 
schen Werkes in den Gekreuzigten des Nikolaus von Leiden und Hans Seyfer 
tiefere, in denen des Stoß weitaus mächtigere Darstellungen dieses Gegenstandes 
kennengelernt bzw. erkannt. Das Prädikat „hehr“ dürfte überhaupt zur Charakte- 
risierung Riemenschneiderscher Geschöpfe äußerst selten in Frage kommen; der 
Detwanger Crucifixus aber scheint mir von allen Christusgestalten des Meisters 
ihm am fernsten zu stehen. Auf mich machten sowohl das Original wie die ver- 
schiedenen Aufnahmen, ich möchte sagen, immer einen etwas kleinlichen, ver- 
stimmten Eindruck, jedenfalls fehlt dem Detwanger das durchaus tief Ergreifende, 
Feine, freilich auch nichts weniger wie Hehre des Heroldsberger Christus. Der 
vielleicht durch Großzügigkeit der Formen am ehesten diesem Begriffe sich 
nähernde Christus Riemenschneiders ist der ganz auf die Frontansicht berechnete 
— wie schon die prachtvolle symmetrische Anordnung der Mantelfalten zeigt —, 
leider aber oft in halber Seitenansicht aufgenommene Heiland mit der Weltkugel 
von der Marienkapelle, der jetzt im Würzburger Dom aufgestellt ist; er hat in der 
Tat etwas in hohem Grad Feierlich- Erhabenes. Ihm nähert sich in der Auf- 
fassung der Christus des spätesten Werkes, des Maidbronner Reliefs, von welchem 
ich hier die Photographie eines Gipsabgusses wiedergebe, den ich im Germa- 
nischen Museum zwischen zwei weiteren Abgüssen aus dem gleichen Werk fand, 
ohne daß man dort wußte, was sie darstellten. Selbst auf der trefflichen Stoedtner- 
schen Aufnahme des Originals kommt der Christuskopf lange nicht so zur Wirkung, 
er hat auf dieser wieder etwas von dem Allzuschmächtigen der Riemenschneider- 
schen Gestalten an sich. Merkwiirdigerweise zeigt auch die Körpermodellierung 
dieses Spätwerkes wieder die gotische Schmächtigkeit der frühesten Arbeiten, 
freilich ohne die gotische Einschnürung der Taillengegend, die vielmehr ganz 
normal gesehen ist. Auch die Wiedergabe der Johannesmaske dürfte von Inter- 
esse sein, zumal auf den Photographien des Reliefs man den Kopf nicht wie hier 
in der Vorderansicht zu sehen bekommt. 

Das Maidbronner Relief, das trotz seiner fatalen Kompositionsschwächen allein 
wegen der groß gesehenen prachtvollen Hauptgruppe zu den bedeutendsten 
Schöpfungen Riemenschneiders zählt, ist in Stein gearbeitet. Die Popularität 
und der Ruhm des Meisters ruhen jedoch anscheinend auch heute noch vor 


118 


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allem auf den Schöpfungen des Bildschnitzers. Bode hat seinerzeit bekanntlich 
sogar die Taubergrundwerke einem besonderen Meister zuschreiben zu müssen 
geglaubt, da sie für Riemenschneider zu gut seien, die Steinwerke des Meisters 
aber waren auch schon damals als Arbeiten seiner Hand erkannt. Demgegen- 
über muß ich auf Grund vieljährigen Umgangs mit den über roo großen Auf- 
nahmen der Wiesbadener Sammlung und genauer Kenntnis der meisten der Ori- 
ginalwerke bekennen, daß ich den unbedingten Eindruck der Superiorität des Stein- 
werkes gewonnen habe, das auch, wenn man nicht nur die Stücke zählt, sondern 
zugleich die Größe der einzelnen Figuren und den Reichtum an Details beachtet, 
keineswegs an Umfang allzusehr hinter dem Werk des Holzschnitzers zurücksteht. 
Greifen wir nur die wichtigsten Arbeiten heraus, so zählen wir in chronologischer 
Folge: Die Adam-und-Eva-Gruppe von der Marienkapelle, den Scherenberg des 
Würzburger Doms, den Ritter von Schaumberg in der Marienkapelle, Christus und 
die Apostel, jetzt im Dom, das Kaiser Heinrich-Grab — zwei lebensgroße Figuren 
und fünf Reliefs enthaltend — die Dorothea von Rieneck, die Frankfurter Madonna, 
den Trithemius in der Neumünster Kirche und das große Maidbronner Relief mit 
der Grablegung. Sie alle sind mit ganz vereinzelten Ausnahmen — eigentlich ge- 
hört hierher nur der Nikodemus des letztgenannten Werkes — frei von der oft so 
unangenehmen Beschränktheit und engherzigen Spießigkeit, die viele männliche 
Figuren des Künstlers entstellt, wie von der schwächlichen Geziertheit nicht 
weniger seiner weiblichen Gestalten. Auch wird man niemals bei den Steinwerken 
die schematische Bildung des viel zu kleinen, ausdrucksiosen oder süßsäuer- 
lichen Mündchens finden, das namentlich bei den weiblichen Holzfiguren oft so 
unangenehm auffällt, aber auch bei Männern nicht selten getroffen wird. Es genügt 
in dieser Beziehung eine im übrigen so starke Arbeit wie den Evangelisten Matthäus 
in Berlin zu nennen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Ursache für die 
weit sorgfältigere und abwechslungsreichere Mundbildung bei den Steinwerken, 
der sich auch eine individuellere Kopfbildung gesellt, vor allem in der Verschieden- 
heit des Materials erblickt. Der überaus viel beschäftigte Meister ergeht sich 
namentlich bei den späteren Arbeiten in dem weichen Holz mit der Flüchtigkeit 
des Routiniers: man sieht ordentlich, wie er mit kühnem Griff, sozusagen in einem 
Zug, das Mündchen mit dem Messer herauszuheben pflegt und Näschen wie Stirn, 
namentlich bei den Frauen, nach bewährtem Rezept virtuosenhaft vollendet. Der 
Stein aber setzt durch seine natürliche Härte von vornherein solch flüchtiger und 
eiliger Arbeit überlegenen Widerstand entgegen und zwingt zu sorgfältiger, mit 
größerer Ruhe und Überlegung gepaarten Arbeit; man muß sich dabei vergegen- 
wärtigen, daß Riemenschneider — im Gegensatz zu dem leidenschaftlichen Stoß — wie 
ja auch die meisten seiner Zunftgenossen, eben als Handwerker fühlte und handelte. 
Aus den gleichen Gründen wird man bei den Steinwerken überhaupt den nach 
fabrikmäßigem Betrieb schmeckenden Manierismus vermissen. 

Der freien Großheit des Christus von der Marienkapelle, die nahezu einzig da- 
steht in ihrer Zeit, habe ich schon gedacht, aber schon das erste große Werk, die 
Adam-und-Eva-Gruppe, stellt eine Emanation typisch spätgotischen Geistes dar, 
wie er unter dem Einfluß der Mystiker und ihrer Nachfolger sich herausgebildet 
hatte, durch die Riemenschneider ein für allemal in die vorderste Reihe unserer 
nationalen Künstler tritt; hier ist eine Zartheit und Tiefe seelischen Emp- 
findens, die nie und nirgend außerhalb Deutschlands erreicht wurde, 
in unserem Vaterlande aber, wie an anderer Stelle gezeigt werden soll, eine fast 
unübersehbare Reihe herrlichster Blüten von ganz originalem und spezifisch deutsch- 


119 


nationalem Charakter getrieben hat!) Zum Lobe der Scherenberggestalt (Abb. 6), 
dieser Verkörperung abgeklärtester Altersweisheit hier ein Wort zu verlieren, hieße 
Eulen nach Athen tragen, dagegen gebührt dem Konrad von Schaumburg eine 
Rehabilitation; nennt ihn doch Bode „eine handwerksmäßige Arbeit ohne indivi- 
duelle Durchbildung“. Ich gebe den Kopf in der Vergrößerung der Stödtnerschen 
Originalaufnahme wieder, die sich in der Wiesbadener Sammlung befindet?). Sie 
zeigt m. E. ein hageres, schmerzbewegtes Antlitz von höchst individueller Charak- 
teristik — in allen Einzelheiten wie auch in der reichen Lockenfülle mit größter 
Sorgfalt und Liebe technisch meisterhaft durchgebildet —, dessen ergreifender 
Gesamtwirkung sich niemand wird entziehen können. Das Gipfelwerk der Riemen- 
schneiderschen Kunst aber glaube ich trotz des Creglinger Marienaltars im Kaiser- 
Heinrich-Grab erblicken zu sollen. Der hoheitsvollen Erscheinung des Kaiser- 
paares, das man freilich nicht in der durch grelles, vom Fußende kommendes 
Rampenlicht entstellten Originalaufnahme des fleckigen Marmors, sondern in der 
Streitschen Wiedergabe des Gipsabgusses studieren muß, gesellt sich in den Reliefs 
eine immer auf das Neue durch die Vielseitigkeit der Charaktere und die Freiheit 
von kleinbürgerlicher Enge überraschende Schar lebensvollster Gestalten. Man 
vergleiche daraufhin den Kopf des jungen Verleumders der Kaiserin oder die jugend- 
frische Erscheinung des Jünglings mit dem Römerkopf am Fußende des Todes- 
bettes Kaiser Heinrichs und daneben das wunderbar beseelte Leidensantlitz des 
Arztes aus der Steinoperation (s. Abb. 5 u. 7). 

Die in den erstgenannten Köpfen angeschlagenen Töne wird man in dem ganzen 
übrigen Werk des Meisters kaum finden. Dem kostbaren Porträt des Trithemius, 
dieser wahrhaft überlegenen, von einem leisen ironischen Unterton belebten Schil- 
derung eines bedeutenden Menschen, wußten weder Tönnies noch Weber gerecht 
zu werden. Ersterer sagt: „es stellt einen älteren, nicht gerade freundlich drein- 
schauenden, aber aufmerksam beobachtenden Mann mit herb geschlossenem Mund 
und Doppelkinn dar“, letzterer meint dagegen: „es scheint Wohlwollen aus den 
Zügen zu sprechen, wenn auch die hochgeschobenen Brauen dem aufmerksamen 
Beobachter und fleißigen Sammler (!) gehören“. Man fühlt die Verlegenheit aus 
den Worten der beiden Autoren heraus, die sie gegenüber diesem geistreichsten 
Bildnis des Meisters empfanden. Der Schottenabt ist anscheinend in herkömm- 
licher Weise mit Mitra, Pedum und Buch auf dem Grabstein wiedergegeben. Sieht 
man aber genauer zu, so enthüllt sich das Bildnis als eine höchst pointierte 
Momentaufnahme. Der hervorragende Mann ist in einem Augenblick festgehalten, 
wo er unbewußt persönlichste Seiten seines Inneren enthüllt; man könnte glauben, 
der Abt blicke, gestört durch eine Ungehörigkeit beim Gottesdienst, höchst 
verstimmt oder, besser gesagt, sehr ungnädig nach der Gemeinde, um den Misso- 
täter ausfindig zu machen, oder er fixiere in lebhaftem Gespräch seinen Gegner. 
Wie köstlich wirkt allein die in der Erregung hochgezogene rechte Augenbraue. 

Über das letzte große Porträtwerk, den Lorenz von Bibra, gehen die Meinungen 
etwas auseinander, es ist eine mehr objektiv-ruhige Porträtschilderung und fesselt 


(т) Beste Abbildung, die allein den Ausdruck des Kopfes restlos wiedergibt, in Langewiesches Mittel- 
alterlicher Plastik (Blaue Bücher). 

(2) Anm. während der Korrektur, Leider mußte der Lichtdruck durch Vergrößerung eines Positiv- 
abzugs gemacht werden, da die Wiesbadener Photographie zur Zeit der Drucklegung in Cöin aus- 
gestellt war; die Modellierung des Kopfes erscheint dadurch unscharf und flau, während sie in Wirk- 
lichkeit durchaus scharf im Detail ist; auch mußte aus dem gleichen Grund auf die Wiedergabe des 
Trithemius verzichtet werden. 


120 


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TAFEL 27. | 


Riemenschneider: Köpfe aus dem Maidbronner Relief. 
nach Gipsen i. Germ. Mus. 


Photo. F. Schmidt Nachf., Nürnberg, Burggrafenstr. 2. 


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Riemenschneider: Kaiser Heinrich Grab, 
Kopf des jugendlichen Verleumders der Kaiserin. 
Photogr. Dr. Stoedtner. 


Е Riemenschneider: Kaiser Heinrich Grab, 
Kopf des Arztes aus der Steinoperation. 
Photogr. Dr. Stoedtner. 


Zu: W. v. Grolmann, Zur Kenntnis Riemenschneiders. 


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allerdings nicht in dem Maße wie der Scherenberg und Trithemius, aber schon 
Dehio hebt rühmend das ausgezeichnete Verhältnis hervor, in dem die Figur zu 
der Gesamtmasse des Denkmals steht. Das Ganze stellt sich trotz der spielerisch 
unorganischen Frührenaissancearchitektur als ein dekoratives Prachtstück dar. Zu 
den edelsten Früchten Riemenschneiders aber zählen die beiden kleinen Heiligen- 
figiirchen oben auf den Kapitälen der Säulen, und bei den Putten erweist sich 
unser Meister wieder als einer der wenigen Spätgotiker, die wirkliches Verständnis 
für die Natur des Kindes haben. In wie verschiedenartiger Weise wissen die sechs 
als Wappenhalter angestellten kleinen Kerle ihres Amtes zu walten! Ob die mun- 
teren Engelknaben oben im Rundbogen auch dem Meister selbst gehören, oder 
einem vielleicht in Italien vorgebildeten Gesellen, bleibe dahingestellt. Merkwürdiger- 
weise scheint man bisher ganz übersehen zu haben — wenigstens die beiden 
Riemenschneider-Biographen Tönnies und Weber wissen nichts davon —, daß diese 
dem in der Mitte thronenden, die Weltkugel in der Hand haltenden Christusknaben 
huldigen; es wirkt daher einigermaßen erheiternd, wenn der sittenstrenge Regens- 
burger Geistliche, der auch schon wegen des mit der Zehe spielenden Kindes der 
Neumiinsterer Madonna eine ergötzliche Fehde mit Tönnies hatte, vor unserem 
Werk emphatisch ausruft, daß für das Grabmal eines Bischofs diese Amoretten- 
gesellschaft ein wenig passender Vorwurf sei. 


DIE BAURECHNUNGEN DER RENAISSANCE- 
STADT-RESIDENZ IN LANDSHUT. (1536—1543) 


Von Dr. MITTERWIESER, Archivrat, München 


n der breiten Altstadt der Dreihelmenstadt, fast gegenüber dem Rathaus und 
unweit vom St. Martinsdome liegt ein Renaissancepalast, heute noch der Neubau 

genannt, der in der Kunstgeschichte!) immer schon ob seiner rein italienischen 
Bauart und der Ausstattung seiner Prunkräume erhebliche Beachtung gefunden hat. 
Mit diesem Interesse hat die Verwertung der schriftlichen Quellen nicht gleichen 
Schritt gehalten. Diese Lücke möchte ich nun, nachdem im Kreisarchiv auf der 
nahen Trausnitz sämtliche Rechnungen der acht Baujahre (1536 mit 1543) liegen, 
gründlich ausfüllen. 

Die erste der Rechnungen gibt anfangs über die wichtigsten Baudaten AufschluB. 
Am 2. März 1536 wurde mit dem Abbruch der vordern alten Häuser begonnen. 
Am 6. Mai ist sodann „ain gehauen stuck, darin herzog Ludwig mit namen ge- 
hauen und die jarzal 1536, gelegt worden“. Am 19. März des nächsten Jahres „ist 
an den mitern heusern ze prechen angefangen worden“; am vorletzten Mai darauf: 
„ist der erst stain des mittern haus gelegt worden“. Am ro. Mai 1540 ist „an 
den hindern heusern ze prechen angefangen worden“; zum Schluß steht noch die 
Bemerkung: „Anno x40 ist an dem hindern haus und ställen der erst stain gelegt 
worden“. 

Ein Zollhaus wollte nach der Aufschrift auf allen diesen Rechnungen, die des- 
wegen lange verkannt wurden, der Herzog eigentlich bauen“). Wie schon bisher 
bekannt war, wurde der Straßenflügel zuerst aufgeführt und zwar von deutschen 
Bauleuten unter deutschen Baumeistern. Der erste Baumeister war Niclas Über- 
reiter; nur er spricht mit „ich“ in allen vom Bauschreiber Hans Traut geführten 
Rechnungen. Seine Bezüge sind in den Baurechnungen nicht angegeben, da er in 
Diensten des Herzogs fest angestellt war. Nach der Kammermeisterrechnung von 
1540 bezog er damals einen Jahressold von 80 Gid. Die Hofkastenrechnung vom 
selben Jahre verrechnet für ihn daneben keine Getreidebeztige. Der zweite Bau- 
leiter, anscheinend der Palier über die Maurer, zu denen auch die Steinmetzen ge- 
hörten, war Steinmetzmeister Bernhard Zwietzl aus Augsburg, der Weib und 
Kind nach Landshut nachkommen ließ). Er hatte einen Wochengulden und außer- 


(1) Vgl. Dehio, Gg., Handbuch, Bd. Ш, Süddeutschland, Bassermann-Jordan, Die dekorative 
Malerei der Renaissance am bayr. Hofe u. Lübke, Gesch. d. deutschen Renaissance, Sighart im 
Eisenbahnbüchlein, Kalcher, Führer durch die Stadt Landshut und die übrige Ortsliteratur, wie 
Staudenraus, Wiesental, 

(2) Schon im ersten Baujahr hat ein Steinmetz „des Bayrlandts wappen, das ob der zollthür im neuen 
pau ist, gehauen“. Von dem „zolstubl“, der „zolstuben“ ist in den Rechnungen von 1538 und 1539 
die Rede. Es hat nämlich der Zinngießer ins „zolstübl ain cästl mit zin gemacht sambt dem hand- 
und giesfas“. Vielleicht darf man auch unten bei den Schreinerarbeiten die Ausführungen über die 
Kantzlei auf die Amtskanzlei des Mautners beziehen. Nach den beiden ältesten Stadtsteuerbüchern 
von 1493 und 1549 im Stadtarchiv stand vorne an der Altstadt an Stelle der Residenz das herzogliche 
Zollhaus und wurde dieser neue Flügel wieder als solches benutzt. Denn das Register von 1549 sagt: 
„Neupau unsers gnädigen herrn; ibidem Hans Gätikover, schreiner“, sein Vater und sein Bruder, dann 
„Cristoff Hertzog, zollner“. 

(3) Nach einem Briefwechsel des Herzogs aus dem ersten Baujahre am Hauptstaatsarchiv zu München 
(Landshut, Ger.-Lit. 78) hatte er auf Lichtmeß schon eintreffen sollen. Aber am 10. Februar ent- 


122 


dem zehn Gulden Quatembergeld. Einen Wochengulden hatte auch der Steinmetz 
Leonhard Dürr, der in der Osterwoche antritt. Auf Pfingsten kamen noch zwei 
Steinmetzen dazu, dann zwei Gesellen und ein Junge. Mitte August tauchen auch 
3—4 „hiesige“ Steinmetzen auf. Erst im November tritt als weiterer Steinmetz 
„Leonhard von München“ dazu. Die Zahl der Zimmerleute, Maurer und Taglöhner 
schwillt im Frühjahr langsam an und sinkt im Spätherbst wieder herab. In der 
Kar- und Osterwoche z.B. waren je vier Tage in der Woche beschäftigt: 4 Zimmer- 
leute, ıo Maurer, 38 Taglöhner bzw. 2 Zimmerleute, 7 Maurer, 35 Taglöhner. 
Im Juli waren bei nur 3 Zimmerleuten und ro Maurern durchweg 120—130 Tag- 
werker beschäftigt; in der Weihnachtswoche arbeiten noch 3 Zimmerleute, 3 Maurer, 
14 Taglöhner und, den Meister Zwietzl dazu gerechnet, 8 Steinmetzen. Mehrere 
Tausend „gespündt und gefast stein“ haben die Maurer neben Zehntausenden von 
Maurersteinen, 22 großen und 38 kleinen geschnittenen Gesimssteinen verarbeitet. 
Die Taglöhner mußten ihnen wohl zutragen, den Abbruchschutt entfernen und die 
zwei großen und zwei kleinen Keller ausheben’). 

Das Hausteinmaterial war von Kelheim und Kapfelberg. Es ist von „Stuck“, 
von „Gredier“- und Tuftsteinen die Rede. Die Fracht der von Hallein?) stammen- 
den zwölf Marmorsäulen der Vorhalle kostete „von Hällel bis hieher“ über 
138 Gulden. 

Um die Jahreswende wurde nur etwa 10— 14 Tage mit der Arbeit ausgesetzt. 
Mit Dreikönig begann sie wieder. Maurer stelle ich anfangs nur drei fest, Zimmer- 
leute 6—ı0, Taglöhner 12—14. Als Höchstzahlen das übrige Jahr sind (meist nur 
vorübergehend) bei diesen Zimmerleuten, Maurern und Taglöhnern 49, 17 und 79 
zu lesen. An Steinmetzen zähle ich im August 8—ıo, neben den vier hiesigen 
und Bernhard Zwietzl. Nun kommt als Steinmetzmeister ein Hans Schnitzer auch 
mit je einem Gulden auf vier Wochen dazu, der dann erst anfangs Dezember 
wiederkehrt, aber dann bis zum Schluß aller Rechnungen Beschäftigung gefunden hat. 

Der deutsche Flügel muß im Rohbau 1537 fertig geworden sein; denn da wird 
mit тоо Glid. „Maister Bernhard Zwietzi vom vordern bau“ abgefertigt“). Aber 
schon am Jahresanfang hatte man eine ganz andere Bauweise im Sinne. 


schuldigt er sich, daß sein Weib ihrer Stunde entgegensähe und daß ihm ein Kind erkrankt sei. In 
den beiden Schreiben in dieser Sache an den Stadtrat sagt der Herzog, daß er „ainen treffenlichen 
pau“, „ein ansechlichen рач“ fürhabe und daß er деп Zwietzl „als paufuerer und obristen werchman“ 
bestellt habe, auch hab derselbe tüchtige Steinmetzen mitzubringen in Aussicht gestellt. Wegen 
solcher „stainmetzen (so kunstreich sind) drei oder vier“), wandte sich dann anfangs März der Herzog 
in gleichlautenden Schreiben auch an die Städte München, Regensburg und Ingolstadt. München 
nennt dann vier Namen, darunter einen „Leonhardt Khari“, der im Text oben als später eingetroffen 
gleich genannt wird. 

(х) Nach der Kellermeisterrechnung von 1537 wurden noch im Spätherbst 8—10 „Pfund“ Brot die 
Woche dem „paumaister“ geliefert, Da auf ein Schaff Korn (das Landshuter Schaff hatte 20 Metzen) 
31 Schilling, also 930 Brote gerechnet werden, kann es sich nur um Roggenlaibl handeln. Zehn 
„Pfund“ Brot sind also 2400 Stück, was für alle Bauarbeiter wohl leicht reichte, nicht bloß für des 
Baumeisters Person. Wer „Pfund“ zu der Zeit als Gewicht, nicht als Zahleinheit (240 Stück) auf- 
faßt, macht weittragende Fehler. Geldiohn und reichlich Roggenbrot erhielten also die Bauarbeiter. 
(2) Wegen dieser Marmorsäulen wandte sich der Herzog schon im Januar 1536 an den Kardinal von 
Salzburg und den Pfleger seines Bruders in Traunstein. Bis Georgi wollte er sie schon haben (Haupt- 
staatsarchiv München, Ger.-Lit. Landshut 78). 

(3) Er kehrt aber trotzdem im nächsten Jahre als Steinmetz wieder und bezieht bis in den Spätherbst 
hinein seinen Wochengulden. Er hat z. В. die marmorsteinernen „Scheibl“ in die Kamine gefertigt. 
Übrigens heißt es erst 1538, daß die Zimmerleute „das vordere zimmer aufgezogen“, also den Dach- 


123 


Ein welscher Baumeister trifft schon Mitte Januar 1537 ein. Er heißt immer 
nur Meister Sigmund, Baumeister, und erhält mit seinem Diener Antoni, der 
einmal sein Geselle genannt wird, nun sieben Jahre lang einen Jahresgehalt von 
280 Gulden, entstanden aus 20 Goldgulden Monatsgehalt. Beide werden heuer 
und die kommenden Jahre beim Gastwirt Asem Maler einlogiert; es erhalten „die 
2 Walhen von Mantua“!), wie sie manchmal genannt werden, fürs erste auf 
14 Wochen (und dann ständig die langen Jahre) auch ihren Verzehr mit 45 Gld. 
5 Schill. bei diesem Wirte bezahlt, so das ganze Jahr 1539 etwas über 210 Gulden. 
Dieser Meister Sigmund Walch, Baumeister, erhält auch in diesem ersten Jahre, 
als er wieder nach Welschland geschickt wurde, „das er in Italia die bevestigung 
besichtigt und abconterfeten lassen“ zur Zehrung 66 Gulden. Ein auch schon 
frühe herausgekommener Bernhard Walch aber bekam ı5 Gid., als er zum ersten- 
mal um die welschen Maurer zog, also solche anwerben mußte. Durch die 
Wochenliste?) wissen wir genau, daß er in der Woche Christi Himmelfahrt samt 
zwölf ,,welschen Maurern“ zum erstenmal entlohnt wird. Anfangs November (in 
der Leonhardiwoche) verschwanden genau wie vor dem letzten Kriege ihre Nach- 
kommen diese Zugvögel wieder in die Heimat. Die kommenden Jahre tauchen 
sie (immer mit ein paar Jungen) stets Mitte der Fastenzeit erstmals auf und be- 
geben sich, immer mit ein paar Gulden Zehrung bedacht, Ende November den 
FluBlauf entlang in die Heimat, nicht ohne einen oder ein paar Genossen den 
Winter über zurückzulassen. Gegen heute ist nur der Unterschied, daß sie, nicht 
die deutschen Maurer, die höheren Wochenlöhne (т Gid. 80 Pfen.) bezogen. Im 
Jahre 1538 waren, Meister Bernhard eingerechnet, 16 welsche Maurer da, im 
‚nächsten Jahre sind es ebensoviele, 1540 wechselt die Anzahl zwischen ı8 und 20, 
1541 sind es 20 bis 25 (immer mit diesem Meister Bernhard, doch diesmal ohne 
die zwei welschen Maurer, so „in die Gewölbe drucken“); im nächsten Jahre zähle 
ich 18 (ohne die „Drucker“ Thomas und Philipp), im letzten Jahre aber nur mehr 
sechs). Die deutschen Maurer wurden von ihnen nach Fertigstellung des deut- 


stuhl auf den Vorderbau aufgesetzt haben. Im Jahre 1538 lese ich auch: „Item alls Pauls pillthauer 
von hie aus widerumb haim geen Augspurg zogen, ime zur zerung geben 4 gulden“. 

(1) „Maister Sigmund und Anthoni, baid Walhen von Manntua® (1538), „Maister Sigmunden sambt 
Anthonien, paumaister das jar sein besoldung 280 fl. (1540), Maister Sigmundten welschen paumaister 
sambt seim mitgesellen“ (1542). Nach der einzeln erhaltenen Stadtkammerrechnung (Stadtarchiv) von 
1540 wurden von der Stadt 7 Kronen verehrt, „maister Sigmundt dem wälschen maister im neuen 
paue ... darumb das er im vordern schieß am radthaus hilflich und radsam gwest“. Der Renais- 
sanceerker des gotischen Rathauses scheint mir aber etwas zu früh und zu deutsch zu sein, um von 
diesem Welechen zu stammen. 

(2) Schon im ersten Baujahre werden 5 Schill. 15 Pfen. bezahlt, „von 500 zaichen ze stemben“, dar- 
auf „das wegkl“ neben des Bauherrn Namen, „so man den arbaitern alle tage geben hat“; боо solcher 
Zeichen werden später wieder verrechnet und im Jahre 1538 gar 900. 

(3) Meister Bernhard hatte 1539 sogar 27 welsche Maurer herausgebracht, die zum Teil auch in 
Erding arbeiten sollten. Weil zu Erding (Pfiegschloß?) nicht gebaut wurde, wurden sie mit 83 Gid. 
3 Schill. Abfertigung wieder (in die Heimat?) entlassen. Daß in den Baurechnungen, auch wenn die 
Höchstzahl der Italiener schon erreicht ist, oft wochenlang diese weniger, dann wieder mehr sind, 
daran waren wohl weniger zahlreiche Erkrankungen als vielleicht ein gewisser Wechsel mit Ingol- 
stadt oder den beiden Neuburg schuld. Es wurde übrigens in den Jahren 15341 und 1542 auch ein 
„neuer keller im schloß“ oder ein „neuer keller zu hof“, was wohl nur der sog. tiefe Keller auf 
der Trausnitz sein kann, mit 3392 014. Kosten gebaut, wobei immer 5—13 welsche Maurer, also 
in der Zahl auch wechselnd, beschäftigt waren. Nebenbei bemerkt wurden nach der Hofbaurechnung 
von 1558 damals auch „welsche maurer“ auf der Trausnitz verwendet. Dieses Auftreten welscher 
Bauhandwerker in Südbayern gäbe einmal eine schöne. volkswirtschaftliche Arbeit. 


124 


schen Flügels fast ganz verdrängt; denn von 1540 ab sind nur ab und zu ein bis 
zwei vereinzelte deutsche Maurer (z.B. im August 1542) einige Wochen beschäftigt. 
Meister Sigmund war also der technische Meister des italienischen Baues. Aber 
Meister Niclas Überreiter brauchte deswegen nicht abzutreten. Ich halte ihn so- 
gar für den wirklichen Bauleiter, da er auch diese Rechnungen führen läßt. Am 
Bau gab es ja ausschließlich deutsche Zimmerleute, dann fast nur landgeborne 
Handwerker und das große Heer der einheimischen Taglöhner. Schon aus sprach- 
lichen Gründen mußte der Baumeisterposten doppelt besetzt sein. Überreiter hatte 
jedenfalls für die Herbeischaffung des vielen Baumaterials zu sorgen. Damit er 
und sein bald abtretender Mitmeister Zwietzl und der Zimmerpolier Hans eine 
Ahnung bekämen, wie ein neumodischer südländischer Bau aussehe, wurden sie 
alle drei 1537 mit 5 Gid. 40 Pfen. Zehrungsgeld zum Grafen Nikolaus II. von 
Salm i), dessen gleichnamiger Vater der Türkensieger von Wien und Bezwinger 
des Franzosenkönigs in Italien war, und der in der Burg Neuburg a. J. oberhalb 
Passau die heute wieder erneuerten, hervorragend mit Terrakotta geschmückten 
Renaissancesäle gebaut hatte, wohl zur Besichtigung dieser Neuheit geschickt. Im 
selben Jahre wurde Meister Sigmund mit dem herzoglichen Rentschreiber Adrian 
nach Ingolstadt gesandt; letzterer hat „das maß von der stadt genomen“ ). 
Meister Sigmund war im gleichen Jahr noch ein zweitesmal dort und zwar mit 
einem Christoph Götschl. Baumeister Überreiter®) aber war mit Jakob Maurer in 
Regensburg, wo sie „aus dem Kloster‘ — welches, ist nicht gesagt — ein steinernes 
Gewölbe herausbringen und mit 42 „Geschirren“, d. i. Fuhrwerken nach Landshut 
bringen ließen, wo dieses Klostergewölbe anscheinend im Neubau verwendet wurde. 
Die Herkunft des Baumaterials geben die Rechnungen gewissenhaft an, Für 
die Walchen wurden gleich anfangs 12 Steinmodel in den Ziegelstadel gemacht. 
Zur Anleitung für die deutschen Ziegler anscheinend sind „die zwen walhen ziegler 
von Neuburg am Yn alher ervordert worden“, die 5 Gld. Heimzehr erhielten und 
in Landshut selbst halb soviel Zeche machten, also kaum über zwei Wochen da 
waren. In den Rechnungen werden daher 1538 9730 „Walchensteine“ (dazu 1760 
„große lange“) bzw. i. J. 1541 16250 solcher verrechnet; i. J. 1539 aber heißt es 
genauer: „29000 walhenstain mit fasn, stäben, kellen und collaun, auch mit fillungen, 
klein lang und groß“. Die Hunderttausende der gewöhnlichen oder Landmauer- 
steine, die für den Bau in den acht Jahren verbraucht wurden, aufzuzählen, wäre 


(1) Er stand mit der hohen Jahressumme von боо Gid. Dienstgeld nach der Kammermeisterrechnung 
1540 im Solde des Herzogs. Nach dieser Quelle wurde er, wie auch sein Bruder, Graf Wolfgang 
v. Salm, der spätere Passauer Bischof, als Gäste des Herzogs beim Rohrer „ausgelöst“. Die Brüder 
haben sich also des Herzogs Neubau persönlich beschaut. 

(2) Adrian, mit dem Zunamen Littich, war im nächsten Jahre zweimal wieder in Ingolstadt, einmal 
mit 14 Walchen. Diese Reisen nach Ingolstadt hängen mit dem dort 1537 begonnenen Ausbau der 
Festungswerke zusammen, bei dem auch viele Welsche nach den auch im Kreisarchiv Landshut 
liegenden, noch unveröffentlichten Baurechnungen beschäftigt waren; vgl. „Kunstdenkmale Bayerns“ 
I, 8. 17 und 61. Mit den Ingolstädter Befestigungsarbeiten, nicht mit dem Landshuter Schloßbau, 
hängt auch die obenerwähnte Heimsendung des Meisters Sigmund nach Italien zusammen. 

(з) Schon 1536 war er mit Hans Zimmermann in Tölz, jedenfalls um Holz, Beide waren 1540 wieder 
in Reisbach um Eichenholz. Im gleichen Jahre war Überreiter mit Baumeister Sigmund in Tölz im 
Steinbruch und dreimal mit diesem Zimmermeister zu Hausen um Kalk. Im nächsten Jabre war er 
mit dem Maurermeister Jakob zu Hausen und Kelheim um Steine und Kalk. Im Jahre 1539 reiste 
er mit Meister Sigmund wieder nach München und von da mit zwei anderen nach Tölz in den Stein- 
bruch. Im Jahre 1541 war Sigmund wieder in Ingolstadt und dann wieder in München, um Bims- 
steine zum Polieren des Marmors einzukaufen. 


125 


wirklich eine Geduldsprobe für Schreiber wie Leser, weil ich dazu auch die eigens 
hergestellten Pflastersteine und Dachplatten!) nehmen müßte. In den beiden Jahren 
1538 und 1541 zähle ich 511750 bzw. 459900 gewöhnlicher Ziegel. Es war nicht 
bloß der Stadtziegler von Landshut reichlich beschäftigt, sondern auch die Ziege- 
leien zu Moosburg, Isareck, Wartenberg, Weihmichl, Achdorf, Geisenhausen, Eggl- 
kofen, Frauenhofen, Vilsbiburg und Neumarkt, Eherding (Erding?), so daß anschei- 
nend alle damals in der Umgegend bestehenden Ziegeleien für den Bau zu tun 
hatten. Im Isarecker Ziegelofen des Moosburger Kollegiatstifts durfte 1539 „das 
glasiert dach geprent“ werden, nachdem Meister Bernhart Walk es beschaut hatte. 
Die Zahl der Kalkfässer, die anscheinend aus der Tölzer Gegend auf Flößen ge- 
kommen waren und die der Sandkarren, die nur vom Landshuter Gries waren, Jahr 
für Jahr aufzuzählen, wäre gleichfalls langweilig. Im ersten Baujahre sind 3986 
Kalkfässer „angesetzt“ und 4227 Karren Sandes angefahren worden; im übernächsten 
Jahre sind die entsprechenden Zahlen 5295 und 4850. Ja, „wenn Könige bauen, 
haben die Kärrner zu tun“! 

Die Hausteine lieferte auch in diesem zweiten Baujahre wieder Kelheim, näm- 
lich 160 Stuck von 1309 Werkschuhen und Tölz, nämlich 57 „werung“ Gredier- 
steine). Von Burghausen aber kamen wieder Marmorsäulen auf fünf Fuhren 
u. a. Marmorblöcke auf 53 Fuhren herüber. Sie waren sicher auf der Salzach von 
Hallein herabgeschwommen, da im nächsten Jahre unser Rentschreiber Adrian 
wegen Marmor nach Hallein geschickt wurde, worauf wieder zehn Marmorfuhren 
von Burghausen herüberkamen. In Kelheim aber wurden dieses Jahr wieder 474 
Stück von insgesamt 1704 Werkschuhen, dann von dem diesem benachbarten Saal 
578 weiße Pflastersteine angekauft. Auch 1539 kamen wieder 146 Steinfuhren von 
Kelheim und Saal und neun Marmorfuhren von Burghausen herüber. Im Jahre 1540 
aber heißt diese Abschnittsüberschrift „Bruchstein und Mörbelstein von Burg- 
hausen“. Es kommen aber darunter auch die fünf Wagen weißer breiter Platten- 
steine auf die Fenster „des welschen Haus“ aus Saal vor und etliche Stuck Stein 
von 324 Werkschuh aus Kelheim; vielleicht sind dies die „Bruchsteine“, welche 
auf 57 Fuhren von Saal und Kelheim heuer ankamen. Der Hauptmann von Burg- 
hausen aber sandte ein Stuck Marmorstein und „ein marbelstaines brunkar“ ) her- 
über. Von dorther kamen außerdem 29 Fuhren mit Marmor, worunter auf 21 Fuhren 
das Pflaster für die Keller war. Aber auch von Neustadt und Regensburg wurden 
Steine herübergebracht, so vermutlich von Neuburg oder Eichstätt her bis dahin 
auf dem Wasser gekommen waren. Als dann im nächsten Jahre (1541) über der 
Länd drüben auch die Stallung gebaut wurde, kamen die heute noch dort zu sehen- 
den 16 Säulen aus Sandstein — heute sind es 19 Stück — auf neun „Pfaffen“ 


(х) Im Jahre 1540 werden welsche Gesimssteine vom Ziegler bezogen, das Tausend zu 3 Gld., von 
Achdorf aber 16000 „groß welsch dach“. Von den 3500 welschen Pflastersteinen, die 1543 bezahlt 
werden, ist wohl noch ein Rest im Kapellengang und im zweiten Saal der Modellsammlung (ich 
meine die lappentérmigen oder weinblattartigen) zu sehen. Mit dem Dach scheint man kein Glück 
gehabt zu haben, Denn schon 1551 werden nach der Hofbaurechnung 13000 Taschendach in den 
Neubau gefahren. 

(2) Über den Begriff der Währung im Verkehr mit Hausteinen vgl. Schmeller-Frohmann mit meinen 
Ausführungen über den Freisinger Dom (1480) im 11. „Sbl. d. histor. Ver. Freising“, S. 17. Über 
Gradierstein finde ich bei Schmeller keine Worterklärung. Man darf es wohl mit gradus in Zusammen- 
hang setzen. — Als Fuhriohn für eine Fuhr Steine von Kelheim finde ich 28—42 Pfen., von Burghausen 
her aber kostete eine Fuhr Marmor gewöhnlich 5 Old. 

(3) Schon 1537 war von München ein großer langer Steingrand gekommen. 


126 


geschirren“, d.i. Fuhrwerken von Ökonomiepfarrern von Kelheim herliber, die ohne 
den Fuhrlohn etwas über 57 Glid. kosteten. Da es Sandstein ist, stammen sie ver- 
mutlich aus einem andern Bruch donauaufwärts. Von Kelheim kamen aber auch 
582 Werkschuh Bruchsteine und außerdem auf die Fenster 16 große Stuck, dann 
von Saal 3521 weiße Pflastersteine. Von Burghausen konnten dieses Jahr nur 
ı3 Fuhren geholt werden. Im Jahre 1542 aber mußten 8 Stuck Steine von Ingol- 
stadt und Eichstätt!) hergefahren werden. Zweifellos wieder von Saal kamen 
die 1806 weißen Pflastersteine, während von Burghausen wieder 27 Fuhren „die 
roten märblstain-pflasterstain“ brachten und fast die doppelte Anzahl Fuhren von 
Kelheim und Saal Bruchsteine holte. Von letzterem Steinbruch stammen im 
letzten Baujahre nur mehr 28 Stuck weiße Plattensteine auf die Fenster. 

Auch mit den anderen Baumaterialien und den Bauhandwerkern will ich mich 
kurz beschäftigen. Die gut 7½ Zentner Blei, welche die deutschen und welschen 
Steinmetzen zum Vergießen der Hacken brauchten, sind vielleicht in Landshut ein- 
gekauft worden; von Burghausen herüber aber kamen 1539 drei Fuhren dieses 
Metalls zu Brunnröhren. Ob die 16 Zentner Blei, welche nächstes Jahr von Salz- 
burg beigefahren werden, dem gleichen Zwecke dienten, vermag ich nicht zu sagen. 
Im selben Jahre wurden für 64 Zentner Kupfer, die auf der Achse von Wasser- 
burg her, bis dahin wohl aus einem Tiroler Bergwerk, auf dem Inn gekommen 
waren, 544 Gld. ausgegeben; zwei Faß Kupfer folgten ihnen von dorther nach zwei 
Jahren wieder nach. An Nägeln werden in den Jahren 1539 und 1542 29500 bzw. 
13450 Bretter-, 6500 bzw. 26200 Halbnägel verrechnet, wozu im letzteren Jahre 
noch 1000 „pinnagl“ (Bühnnägel?) kommen, die aber noch nicht den ganzen Ver- 
brauch darstellen. Das Eisen wurde in der damals gewöhnlichen Stab- und Buschen- 
form zu „schleidern und häften“ u. a. Bauzwecken in Diessen am Ammersee und 
von einem Pühelmaier von Pfarrkirchen, der es aus Steiermark („loymisch eisen“) 
bezog, eingekauft. Im Jahre 1538 zähle ich 155 Ztr. 33 Pfd. Eisen. Im nächsten 
Jahre wurden um 278 Gld. rund 85% Ztr. erworben. Das meiste diente wohl zu 
den ausladenden starken Fenstergittern?), die der Bau zu ebener Erde an der Süd- 
und Westseite, auch oben am Isarturm und vor verschiedenen anderen Fenstern 
besitzt. Die Schlosser?) haben daher in den beiden letzten Baujahren nicht 
weniger als 2200 Gld. verdient. Auch von mancher Zinngießerarbeit ist die Rede. 
Es waren meist, wie gelegentlich schon erwähnt wurde, die damals in den Wohn- 
räumen zum Händewaschen gebräuchlichen „Gießfässer“. Die Glaser‘) hatten 
natürlich auch nicht wenig Arbeit. Sowohl das Glasblei wie die runden Scheiben 
kamen von Salzburg; 1540 nicht weniger als 22 Truhen Glasscheiben (deren eine 
2500 kleine und 1200 große Scheiben enthielt), das Jahr darauf zwei Truhen Glas- 
blei. Der Hofglaser Kreutzberger verdiente trotzdem 533 Gid. im Jahre 1542. 

Die Prunkräume haben die der Renaissance eigentümlichen Kamine’). Sie haben 


(1) Schon 1538 und 1539 war der Steinmetzmeister Hans Schnitzer erst in Ingolstadt, dann in Neu- 
burg a. D. und Eichstätt in den Steinbrüchen. Noch 1543 kamen von Eichstätt 8 Stuck Steine. 

(2) Zu den mächtigen, eigens überdachten beiden Gittern, die allein in den 1541/42 gebauten tiefen 
Keller auf der Trausnitz Licht einlassen, wurden von Sedlmaier in Diessen 50'/, Ztr. Eisen in Stangen- 
form um 217 Old. bezogen. 

(3) Über den Uhrmacher habe ich nur die eine Notiz, daß einer namens Christoph 33 Old. im Jahre 
1542 verdiente, während Schlosser Leonhard damals 1200 Gid. (wohl für die vielen Gitter) einstrich. 
(4) Wenn 1540 Marx Jud mit 18 Gid. Zehrung nach Venedig „umb das glaswerg gezogen“, so sind 
damit vielleicht die fünf Kronleuchter aus Venezianer Glas im italienischen Saal und den beiden 
Zimmern vorher gemeint. 

(5) Im Jahre 1539 ist Meister Hans Ässlinger, Bildhauer, ,umb ettlich stuck zu den comin gen Neu- 


127 


fast durchwegs Verkleidung in Rotmarmor. Der schönste ist der im italienischen 
Saale. Er hat nicht nur in Gips wie an der Decke des Apollozimmers die vier 
Jahreszeiten durch Götter dargestellt, sondern auch in Kelheimerstein, der schönen 
Elfenbeinton aufweist, das Wappen des Bauherrn, umgeben von sieben zierlichen 
Reliefs. Er erinnert an den schon 1535 auf der Trausnitz ganz in Kalkstein aus- 
geführten Kamin über der Kapelle. 

Öfen waren deswegen im stolzen Bau nicht verpönt. Von Lucas Lochner in 
Nürnberg wurde, vermutlich für den Vorderfitigel, in die untere große Stube ein 
Ofen bezogen und im Jahr darauf einer ins Gewürzstübl Ein Hafner von Braunau, 
vermutlich der von Dehio beim Schloß Neuburg a. D. um diese Zeit genannte Kolb 
hat 1540 um 60 Gid. einen Ofen geliefert, zu dem er im Jahr vorher das Maß 
genommen. Um denselben Preis lieferte ein Deggendorfer Meister zwei Öfen, 
während Hofhafner Gabriel Törringer sonst am Bau, vielseitig, sogar mit dem 
Dache, beschäftigt war. 

Auch mit Schreinerarbeit hat man nicht ausschließlich einheimische Meister be- 
auftragt. Ob der Schreiner Leonhard Prenner, der von 1538 bis zum Bauabschluß 
ständig auf Wochenlohn (т Gld.) beschäftigt war, ein Landshuter war, kann ich 
nicht sagen. Im Jahre 1538 hat ein Schreiner von Tölz zu zwei Böden, die dann 
ein Flößer herunterbrachte, 291 sechs- und dreieckige „geforniert tafl“ gemacht 
und dafür 135 Gld. bekommen. Im nächsten Jahre hat man von dorther, an- 
scheinend wieder auf einem Floße, Tische und Bänke hergebracht. Damals er- 
hielten auch zwei Münchener Schreiner heimwärts Zehrung. Ein Straubinger 
Schreiner lieferte im folgenden Jahre ein Türgericht. Ein Meister von Wasser- 
burg hat in einen Turm einen Boden gemacht, der auf drei Fuhren beigefahren 
wurde, ihn aufgeschlagen und со Gid. dafür erhalten. Der Schreiner Andre Fuegl!) 
hat 1543 ohne nähere Angabe 80 Glid. verdient; ebenso einer namens Achaz Fuegl 
ı6 Gid. Meister Nikolaus Lendorfer aber machte für den vorderen Bau einen 
Schenktisch. Nach zwei Jahren aber wurden in die Kanzlei eine lange Tafel mit 
sechs Schubladen, drei Schreibtischl und zehn Stühle, auch zwei große Kästen 
mit 56 Schubladen hergestellt. Der alte Marbeck aber fertigte in den vorderen 
Turm vier Kästen und auf den Gang über die Gasse zwei Gitter, während er in 
den „Yserthurn“?) vor ein Fenster einen „korb“ tischlerte. An Fenstern aber 


burg geschickt worden, hat er dieselbn bis zur Neustat pracht“. Die heute in den Prunkräumen 
vorhandenen wenigen Eisenöfen stammen aus Karl Theodors Zeit. 

(1) Ob er an der schönen Decke des Saales im Vorderbau mit ihren 40 in Farbhölzern ein- 
gelegten Kassetten gearbeitet hat? In der Rechnung von 1541 steht der zu beachtende Bericht: 
„Anndre Fuegl, schreiner, hat in meines gnädigen Fürsten und Herrn stuben ain obern und fueB- 
poden, auch ain wanndt und dreu thürgericht, auch ain ober poden in dem ganng gegen des Zerntzen 
wirdts haus gemacht; für alls 400 gid.“ Die ungewöhnlich hohe Summe spricht sehr dafür, daß 
dieser erstere „obere poden“ unsere Saaldecke ist. Dann hat der Herzog für gewöhnlich doch nicht 
die Prunkräume, sondern die getäfelten Räume gegen den Markt zu bewohnt. Daß wir дев Wirte 
Zenz Haus nicht feststellen können, macht sich auch hier unangenehm bemerkbar. Die „zwei 
Schnitzer von Regensburg“, die 1539 schon heimkehren, und der obgenannte Prenner könnten auch 
daran ihr Können gezeigt haben. Merkwürdig ist nur, daß für diese schöne, langwierige Gedulds- 
arbeit nicht auch Material greifbar verrechnet wird. Sie könnte also auch erst nach Abschluß der 
Baurechnungen entstanden sein. Es hat ja auch die Balkendecke des Isarganges die Jahrzahl 1556 
Daß des Herzogs Stube gegen die Altstadt heraus war, ergibt sich aus Neubauinventuren von 1596 
und 1603. In mehreren der Prunkzimmer standen damals Himmelbetten und waren wenige Ölbilder 
aufgehängt. 

(2) Über dem Haupteingang an der Altstadt erhob sich noch nach Wenings Stich ein vierseitiger 


128 


waren schon 1537 47 Kreuz- und „sechslichtige“ Fenster, 1541 aber auf die Gänge 
19 Fenster fertig. Wohl für solche waren von Mittenwald 1538 zwei Lärchen- 
flöße herabgeschwommen. Zum Getäfel aber sind schon 1536 210 Eschenbiutne 
verrechriet worden. In eine Schneckenstiege aber kam 1539 „ain sichen schneckhen“. 
Zum Hereinfahren des langen Zitfimerholzes aus einer benachbarten Waldung 
brauchte nran 1538 in 17 Geschirren 64 Rosse, die 12—13 Nächte in städtischen 
Stallungen standen. Wenn erst 1342 verrechnet wird, daß der Sagmüller 135 Schnitt 
„zu latten auf das vorderhaus“ gemacht Hat, so wurde auf diesem Flügel entweder 
die Dachung Bald gewechselt oder der Sagritifier wurde erst damals für seine 
vielleicht fünf Jahre vorher getane Arbeit bezahlt. 

Vom Dezember 1537 an sind die welschen Steinmetzen am Bau (getrennt 
von den deutschen, die noch auf Wochenlohn arbeiten, während die welschen 
. Monatsgagen erhalten) in den Rechnungen beliandelt. Meister Samaria erhält 
monatlich ro Gld., die andern alle aber 8 Old. Sie heißen — sichtlich alle nur 
mit dem Vornamen benannt —: Zenin, Niclas oder Nicolai, der kleine Victor, Bar- 
tolmei „im rotn part“ und zwei namens Bernardin. Einer der beiden letzteren hat 
vom nächsten Jahre an ebenfalls ro Gld. Monatszahlung. Der kleine Hartsi, zwei 
Jakob und ein Jakob Philippo, ein Caesar, éin Tomaso und ein Thomesa, ein Andrea, 
ein weiterer Nicola, ein Fraricisei und ein Benedikt treten zu diesen noch in den 
nächsten Jahren bzw. lösen einige davon ab, durchweg mit 8 Gld. Moratslohn. 
Letzterer aber erhält vom т. September 1539 an sogar ı2 „Crona“ (= 18 614.) 
im Monat. Er ist 1541 auch unter den Stuckatoren zu finden. Neben dem Meister 
Sigmund und seinem Schatten Anton, die ich auch für Steinmetzen halte, sind in 
diesem Jahre noch sechs welsche Steinmetzen tätig. Im nächsten Jahre (1542) 
sind bis in den April Thomas, Bartholme, Viktor, Francesco, Nicola und Andree 
mit Monatsgage (8 Gid.) bezahlt, hernach lese ich unter det Wochenlöhnen fast 
immer: „Sechs welischen stainmetzén rr gld., 42 den., Bernnharden sambt aim 
jungen 3 gid.“ Während im Oktober und November es sogar acht sind, finde ich 
die ersten 16 Wochen des letzten Baujahres ständig: „Item 6 stainmetzen 11 #14. 
42 den.: mer aim stainmetzen 1 gid.“ Noch vor Sonnenwend treten die letzten 
3—4 ab; alle Wochenlöhne aber hören Ende August 1543 ganz auf. Seit Beginn 
des welschen Baues aber sind unter diesen stets auch 3—4 deutsche Steinmetzen 
aufgeführt, die mit Namen Hans Schnitzer, Wentzl, dann Mang und Anton Schreiner, 
vermutlich Brüder, heißen ). Dieser großen, zwiesprachigen Steinmetzgilde mußte 
der Windenmacher ständig die Werkzeuge schleifen und spitzen. Im Jahre 1538 
verrechnet er 10975 und im nächsten Jahre 10350 Spitzen; 1540 hat er in vier 
Wochen den fleißigen Klopfern 2049 Spitzen gemacht. Dazu lieferte er ihnen 
1538 auch 144 Steineisen, und dann hat er ihnen ‘auch HOCHEDREIDER, spitz- und 


flachhemer, feiln und zirgkl gemacht und ain grossen schlegl.“ 
Das Fortschreiten des Baues setzte auch die feineren Handwerker und 


Künstler in Tätigkeit. Die Gewölbe, die, entgegen der damaligen deutschen Bau- 


niedriger Turm; der Isarturm auf der Stadtmauer war auch nicht hoch und steht heute noch. Die 


schönste Ansicht von unserer Residenz, jeder bildlichen vorzuziehen, gibt das dreißig Jahre nach dem 


Bau entstandene Sandnersche Holzmodell der Stadt Landshut im Nationalmuseum zu München. 
(1) Im Jahre 1540 wurde von Rattenberg her ein Steinmetz „der marbistain halbn“ geholt. Von 
diesem und dem vorhergehenden Jahre aber sind zwei Stellen, daß sowohl vom Propst von Ellwangen 
als von "Schwaz ein Steinmetz wegen der Keller kam, dunkel. Hans Schnitzer erhielt nach der Hof- 
kostenrechnung von 1540 ein Schaff Getreide, war also ein einheimischer Meister oder hatte seine 

Familie hier. i 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. тоза, 4—6. 9 129 


~ 


art mit Ausnahme des Kapellenganges auch im ganzen ersten Stockwerk an- 
gewendet wurden, sind in diesem Renaissancebau bekanntlich fast alle stuckiert *). 
Der Ausdruck Stuckatoren kommt aber nie vor, sondern die welschen Stein- 
metzen, welche diese Kunst verstanden, werden einfach „Drucker“ genannt. Im 
Jahre 1540 hat ein Schreiner ein Muster gefertigt, „wie die Welschen an die ge- 
welb machen“; dazu gehörte vermutlich das Birnbaumholz „den Welschen zu 
mödL“ Schon im Jahre vorher war von dem unter den Steinmetzen stehenden 
Benedikt, „so von Neuburg herkommen ist und der die gewölb ausbrait hat“, um 
3 Gld. 15 solcher Мба! gekauft worden. Von den zwei, später drei Walchen, so 
1542 „die druck in die gewelb machen“, hießen zwei Thomas und Philipp. Es 
erhielten zwei solche 123 Gid. vom ı. Januar bis 22. August 1540. Im Jahr 1541 
bekam obiger Benedikt, „so in den gewölben druckt“, oder Benedikt „drucker“ vom 
26. Mai bis 26. August бо Glid. ausbezahlt. 

Auf ‘die Stuckatoren folgen die Vergolder?), auch „Zubereiter“ genannt. An- 
fangs Mai 1541 ist Christoph ,,zuebereiter“ oder „bereiter, so den druck in den 
gewelben vergult“, auf Fronleichnam ein „deutscher zubereiter“ genannt. Im Hinter- 
hause hatten zwei Vergolder ein Gewölbe vergoldet, wofür sie 20 Gld. erhielten 
und außerdem 2 Gid. Zehrung zur Heimkehr. Von Ende Juni des nächsten Jahres 
an sind wieder zwei Vergolder wochenlang beschäftigt, später nur mehr einer. 
Nach Ostern des letzten Baujahres fangen zwei Vergolder an; von Fronleichnam 
an sind es vier Vergolder bis zum Aufhören der Wochenlöhne um Bartholomii, 
also Ende August. | 

Nun kommen wir noch zu den Malern“). Deren Tätigkeit, sogar die Nationa- 
lität, war bisher vielumstritten. Ich glaube, die Frage auf Grund der Rechnungen 
einigermaßen befriedigend lösen zu können. Über die drei meistgenannten Maler 
Herman Posthumus, Hans Bocksberger d. Ä. aus Salzburg und Ludwig 
Reffinger aus München hat schon Bassermann-Jordan in seinem fleißigen Werke 
„Die dekorative Malerei der Renaissance am bayerischen Hofe“ (S. 39—42) ver- 
dienstvoll geschrieben, Ich will vor allem die drei längeren Stellen, die in den 


(x) Der hierzu nötige Gips („ypa“) war vermutlich aus der Tölser Gegend, da er 1538 auf drei und 
im nächsten Jahre auf zwei Flößen die Isar herabkam. Es wurden auch 1539 vom Kupferschmied 
„2 groß weitt pfannen zu dem yppsprennen“ gekauft, 

(2) Außer anderm besonders in der Kapelle 1540 verbrauchtem Gold ist 1541 angegeben, daß 20 Buch 
Feingold für die Gewölbe von Ulm um 70 Gid., im Jahr darauf ebensoviel Buch bezogen wurden. 
Die Stuckaturen sind natürlich nicht durchweg vergoldet. Die Färbung der des italienischen Saales 
in Gold-Weiß-Blau ist wohl noch die ursprüngliche, ebenso die des zweiten Zimmers der Modell- 
sammlung, während diese Stuckaturen an anderen Gewölben vielfach verändert, namentlich überweißt 
worden zu sein scheinen. 

(3) Im Jahre 1540 wird für die Maler Bleiweiß, Kienschwarz, Rotbraun und Obergelb für 5 Gld. 3 Schill. 
28 Pfen. eingekauft, 1541 für sie 3 Pfund blaue und vorher 18 Pfund blaue und grüne Farbe er- 
worben; außerdem heißt es im letzteren Jahre, daß für die welschen Steinmetzen, Maler und den 
Estrichmacher 25 Gid. 54 Dien. ausgegeben wurden „umb kreiden, pleiweiß, polermennig, gelb, rer, 
schwamen, gelb weiß und rott wax, saffran, grien varb, pappier, mastix, pämwol und englisch peittl- 
tuch“. Der Mening gehörte für den Estrichmacher, für den 16 Pfund davon 1540 angeschafft wur- 
den, worauf er für acht Estriche 40 Gid. bekam, Die Notiz für den Bedarf der welschen Steinmetzen, 
einschließlich des Baumeisters Sigmund, heißt 1538: rotes und weißes Wachs, Bims, Mastix, Kessel- 
braun, Bleiweiß, Schwefl und Schwämme; im nächsten Jahre wird wieder zum Kitt der Steinmetzen 
aus der Apotheke Terpentin, Mastix, BleiweiS und weißes Wachs genommen. Im Jahre 1542 werden 
Bimssteine und Schwämme von Venedig bezogen, auch eine Korduanhaut zum Polieren des Marmors 
eingekauft. 


130 


Rechnungen von 1542 und 1543 über die beiden letzteren Maler stehen und die 
bisher nur bruchstücksweise!) bekannt waren, hieher setzen. Erstere sagt: 
„item als maister Hanns Pockhsperger, maller von Salltzpurg, zwen sil, zwai 
chomingewelb, den ganng bei der cappeln ), sechs materi aussn am walhnhaus, 
auch im hindern thurn und zwai grosse thuech gemaldt, ime geben 142 guldn. 
So hat ime mein gnädiger herr herzog Ludwig geben 40 gulden und als ine sein 
gnad abgefertigt, geben 170 gulden, thuet als . . . . . . =. . 352 guiden.“ 
Die Rechnung von 1543 schreibt unter eigener Rubrik „Maller betreffennt“: 
„Item maister Hannsen Pockhsperger, maller von Saltzpurg, als er den unndern 
ganng im hof gegen dem Zennzen wirdt, auch in dem obern sall ain kindl driumpf 
gemalt, hat ime mein gnädiger fürst und herr geben - . 40 gulden.“ 
Item Ludwigen Reffinger, maller von Miinchen, hat ain gewelb gemacht mit des 
himls lauff, auch mit dem Wachus und herniden dreu gewelb gemalt, auch den 
ganng, so über die gassen geet, sambt 24 vissierungen zu den geschmelzten scheiben; 
ime geben %%% 
Item Pauls maller umb arbait zalt e ea Ж e 37 gulden.“ 
Uber Bocksberger ist sonst keine Notiz mehr zu KEE dagegen beziehe ich 
die 1542 unter Handwerker stehende Notiz „Ludwig maller 186 fl“ auf unsern 
Ludwig Reffinger, zumal schon die Hofkostenrechnung von 1540 sagt, daß auf des 
Herzogs Befehl dem Ludwig, Maler von München, ı Schaff Korn verabreicht wurde. 
Manche, aber kaum eine längere Rechnungsnotiz haben wir in denen von 1540 bis 
1542 über den Maler Hermann, der nie mit seinem Zunamen genannt wird. Die 
von 1541, daß sein Bruder, „als dieser in eine gefihlte ramb х gemaltes tuch ge- 
malt hat, laubwerch in den ramen geschniten“ und dafür 4 Glid. erhielt, möchte 
man auf das auch von Bassermann-Jordan (S.42) erwähnte Altarbild der Residenz- 
kapelle, das nun auf der Trausnitz trauert und uns seinen. Zunamen überliefert hat, 
beziehen. Die Anbetung des Kindes durch die Hirten und Könige ist aber beide- 
male auf Holz gemalt. Sonst ist in diesen drei Jahrgängen mitten unter den 
italienischen Steinmetzen immer angegeben, wie lange „maister Herman, 
maler“ gearbeitet und wieviel er Lohn bekommen habe. Er muß sich als Wel- 
scher gefühlt haben und war auch anscheinend ein solcher, da er wie die „Drucker“ 
sich in „Crona“ zahlen ließ, nämlich deren 12 im Monat, gleich r8 Gulden in 
Münze bezog. Im Jahre 1540 war er nur drei Monate beschäftigt, nämlich vom 
24. April bis 24. Juli; da er das ganze nächste Jahr im welschen Bau malte, be- 
kam er 216 Gulden. Zu Anfang 1542 war er nur mehr vier Monate beschäftigt, 
kommt aber auch anschließend zwischen Ostern und Himmelfahrt noch mit vier 
Wochenlöhnen (je zu 4 Gld. 3 Schill. 15 Pfen.) vor, so daß er rund 350 Gulden davon- 
trug, also zwischen Reffinger und Bocksberger mit seinem Verdienst steht. 
Ich will nun auf Grund dieser unanfechtbaren Quellen zeigen, welche von den 
heute noch erhaltenen Deckenmalereien?) den einzelnen dieser drei meistbeschäf- 


(1) Sitzungs-Ber. d. Münch. Akad. d. Wiss. 18021, S. 148 u. Bassermann-Jordan, a. a. O., S. 39, beide 
fußend auf Meidingers Lokalgeschichte und Mitteilung von Dr. K. Trautmann. 

(а) Von der Kapelle ist selten die Rede. Die zwei großen Leuchter, die 1542 um 8 Gid. 70 Pfen. 
gekauft werden, gehörten wohl dahin. Sicher ist das von den „messigen seuln, so in der capelin 
sein“, und die 1542 ein Fuhrmann brachte. Von der Einweihung derselben lese ich erst in der Haus- 
kämmereirechnung von 1571, als der fromme Wilhelm als Kronprinz auf der Trausnitz reeidierte. 
Damals wurde die Stadtresidenz herabgeputst. 

(3) Der italienische Saal hat neuere Marmorverkleidung an den Wänden, die übrigen Prachträume 
dort graue Malereien von 1780; nur vom Kapellengang waren die Wände ursprünglich bemalt, Zur 


131 


tigten Meister zuzuweisen sind. Da hat denn Hans Bocksberger sicher gemalt: 
den Kapellengang und den Putten- oder Kinderfries im italienischen Saal. Dem 
Ludwig Reffimger ist von dem Erhaltenen sicher suzuteilen: Die Decken des Planeten- 
und des Götterzimmers; denn ersteres ist das ,Gewelb mit des himls lauff“; 
„Wachus“ gleich Bacchus ist nur im Götterzinmmer abgebildet, dort zwar nicht 
die wichtigste, aber durch ihre Weinseligkeit auffallende Figur. Die Notizen über 
diese beiden Maler geben uns aber auch Hinweise auf Malereien, die heute ver- 
schwunden sind. Von Bocksberger sind sicher nicht mehr vorhanden die „sechs 
materi aussen am Walhnhaus“, worunter vermutlich die Stallungen!) zu verstehen 
sind, dann die Malerei „im hindern thurn“, zwei Leinwandbilder, die vielleicht 
noch in einer Galerie zu suchen sind, endlich die Malereien im „undern gang im 
hof gegen dem Zennzen wirdt“, worunter vermutlich die Säulenhalle des westlichen 
Verbindungsbaues unter dem Kapellengang zu verstehen ist. Von Reffinger ist 
nicht mehr erhalten: Die Malerei im „gang, so über die gassen geet“, d.h. in dem 
auf zwei Bögen über die Ländgasse führenden Gange. Die „24 vissierungen zu den 
geschmelzten scheiben“ sind uns indirekt zur Hälfte im Nationalmuseum erhalten, 
Der Katalog Glasgemälde desselben zählt nämlich unter 155—166 bei Jörg Breu d. А. 
zwölf Glasbilder aus der Landshuter Residenz auf, welche die Geschichte des 
Agyptischen Joseph behandeln. Da nur von Visierungen, also Entwürfen die Rede 
ist, braucht die Ausführung durch Jörg Breu) nicht zu überraschen. 

Wir haben nun auf Hans Bocksberger und Ludwig Reffinger auch die mehr- 
deutigen Stellen in unseren Quellen richtig zu verteilen, was nach den 1780 ff. 
unter Kari Theodor und schon früher vorgenommenen Ubermalungen*) und den 


Wobhalichkeit von Renaissanceräumen trug immer reichliche Verwendung von Gobelins bei, die nur 
aufgemacht wurden, wenn das Schloß von den Hoerrschaften bewohnt war. Die Hauskämmerei- 
rechnungen gäben manche Notiz dafür. So erhielten 1561 die Wächter, welche für die Ankunft 
Albrechts V. die Teppiche aufmachen mußten, Bier und Brot. Nach sechs Jahren war er wiederholt 
gelegentlich des Regensburger Reichstags und der Hirschfaist da. Schon auf Georgi waren im 
,welschen pau die hackn zu den eisnen stenngin, daran die töbich hanngen, eingemacht“ worden. 
(х) Nur die Stallungen haben außen an ihrer glatten Front noch Platz für Malerei; in Mantua waren 
ja auch die Lieblingspferde des Herzogs Frederigo Gonzaga (vgl. Denkmalpflege VII (1905), 8. 111). 
an die Wand gemalt. Die Hauptfront an der Lind mit ihrer Rustika hätte höchstens in den fünf 
Blindfenstern neben dem großen Wappen solchen Raum geboten. 

(2) Da nach dem erwähnten Katalog (Nr. 173) Barthel Beham mit Reffinger in der Werkstatt des 
Wolfgang Mielich zusammen gearbeitet hat, kann auch Jörg Breu dort gelernt haben. Ein Teil dieser 
runden Glasbilder war im Kapellengang. Denn Bocksberger hat die Spiegelbilder dieser Gangfenster 
auf der fensterlosen Wand gegenüber aufgemalt und dabei jedem Flügel oben ein blaugefaßtes Rund- 
fensterchen eingesetzt. 

(3) Auch über die Instandsetzung der Residenz für den jungvermählten Pfalzgrafen Wilhelm von 
Birkenfeld ist von 1780 eine Rechnung da. Der Voranschlag lautete auf 9367 Gid. Die Maurer, 
Zimmerleute, Taglöhner und Steinmetzen bezogen aber allein schon 8803 Gid. an Löhnen. Die wirk- 
lichen Kosten waren schließlich 29008 Gid. Zweimal wurden je 127 Fässer Gips bezogen; FloSmeister 
von München und Tölz lieferten auch sonstiges Baumaterial. Der Münchener Bildhauer Anton 
Zechenberger bekam für „її Trumeau-Spiegel-Ramen und 9 Consol-Tische“ 462 Gid.; der kurfürsti. 
Maler Augustin Joseph Domel für deren Fassung 224 und für seine sonstigen Arbeiten, also obige 
Über- und Wandbemalung 745 014. Die Landshuter bürgerlichen Maler Frs. Schmid, Zacharias Lehr- 
huber und Joh. Kaufmann erhielten die Anstreicharbeiten. Der Landshuter Bildhauer Christian Jorhan 
verdiente nur 83 Gid. Von München kamen auch acht Stuck Marmor für einen welschen Kamin. 
Zum Schluß schwamm auch auf drei Flösen des Pfalsgrafen „Bagage“ von München her. Der Hof- 
Oberbaudifektor Lespilliez war zum Nachschauen einmal vier Tage von München fort. — Schon 
bald nach dem Ableben des Schloßerbauers fanden in der Kirche und in etlichen Sälen Übermalungen 


132 


Übertünchungen nicht leicht ist, wie schon Bassermann-Jordan, der auch sehr dar- 
unter zu leiden hatte und deshalb mangels der Quellen fehlgreifen mußte, an vielen 
Stellen hervorhob. Da werden unbestimmt dem Meister aus Salzburg noch „zwen 
sil, zwai chomingeweib“, also zwei Sue und zwei Kamingewölbe zugeschrieben, 
dem Meister aus München aber „herniden dreu gewelb“. Wenn die feste Zuteilung 
dieser sieben Räume gelänge, wäre die Frage sicher gelöst, da der Rest dann für 
Hermann Postumus verbliebe, nachdem wir als ziemlich sicher annehmen dürfen, 
daß die hernach noch zu behandelnden Maler keine ganzen Innenräume auszu- 
malen hatten. Daß unter dem einen der beiden Süle, die Bocksberger auszumelen 
hatte, der italienische Saal zu verstehen ist, ist naheliegend. Es ist sogar sicher, 
wenn wir aus dem verbürgt ihm zugeschriebenen Kapeliengang die Bärte und 
Rüstungen mit den Brustbildern antiker Helden und Heoerftthrer in den acht- 
eckigen Gemälden dieses Saales vergleichen. Sollte der zweite Saal der ungewölbte 
deutsche Saal des Vorderbaues sein, über dessen schöner Kassettendecke in Farb- 
holz nichts Greifbares in den Baurechnungen steht, die aber nicht viel später sein 
kann? Es könnte sich bei diesem unstuckierten Saale übrigens nur um Wand- 
malerei handeln. Bei den beiden „Kamingewölben“ haben wir, da im Apello- 
zimmer die düstere Farbengebung sowohl wie die Steifheit des Apollo und das 
Durchziehen von Figuren durch mehrere Stuckfelder (vgl. Planetenzimmer) ganz 
für Reffinger spricht, die Wahl zwischen dem anstoßenden, tbertünchten fünf- 
eckigen Zimmer und dem folgenden Venuszimmer im oberen Stock und der sog. 
Konditorei und Kaffeeküche zu ebener Erde. Dem Ке прег sind hier auch, weil 
es „hernieden“ heißt, drei Gewölbe zuzuteilen. Seinen dunklen Farben entspricht 
am ehesten das Eckzimmer der Modellsammiung mit seinen 25 Kassetten. Also 
wird er auch den anschließenden, heute übertünchten Saal der Sammlung und das 
gleich daneben liegende Einfahrtsgewölbe bemalt haben. Für Posthumus bleibt 
dann an noch erhaltenen ganzen Räumen das schöne Dianazimmer, vielleicht auch 
die Konditorei und Kaffeektiche, endlich der Bibelzyklus der Vorhalle. Sollte da 
nicht er der sein, der die ganz italienisch anmutenden Grotesken und Lorbeerzweige 
im Planetenzimmer, auch im Kappellengang, endlich die in Rosa fast ganz über- 
tünchten Grotesken des Götterzimmers gemalt hat? Denn anzunehmen, daß jedem 
Maler immer nur ganze Gewölbe zum Ausmalen zugeteilt wurden, wäre doch zu 
schablonenhaft. | 
Vielleicht darf ich hier noch über den von Bocksberger rings um den italienischen 
Saal gemalten Puttenfries, in der Rechnung „Kindleintriumph“ genannt, den ich gar 
hoch schätze, von dem ich aber leider nur ein ungentigendes Bild bringen kann, 
ein paar Worte verlieren. Es ist in goldenen Unzialbuchstaben der für die da- 
maligen Wittelsbracher Brüder wegen des jungen Erbfolgegesetzes so wichtige 
Spruch dargestellt: 
„CONCORDIA PARVAE RES CRESCUNT, 
DISCORDIA MAXIMAE DILABUNTUR.* 


statt. Die Landshuter Hofbaurechnung von 1553 sagt, daß dort acht Zimmerleute „dem maister 
Hanns Zentzn, malier von Munichen gerust aufgemacht, damit er die verdorbenen gemäll widerumb 
hat ausgepessert“. Schon im nächsten Jahre hat ein Maler Wolfgang am vordern Schief das geo- 
malte Gesims, das vom Wetter beschädigt worden und nach dem folgenden auch erst 15 Jahre alt 
war, vom Korb aus neu gemalt. Übertüncht sind nicht nur mehrere geschlossene Räume in beiden 
Stockwerken, sondern auch die beiden anderen offenen Hallen des Hofes, bei denen bei starker Luft- 
feuchtigkeit die alten Bilder noch durchschlagen. 


133 


Die beiden Worte Concordia und Discordia nehmen je eine Schmalseite des 

Saales ein. Zwischen und mit den Unzialen spielen nackte Putten, zu Hunderten 
darf man sagen, da auf ersteres Wort allein 60, auf letzteres so treffen. Bewun- 
dernswert ist die Abwechslung, die der Künstler in das lange Band hineinbrachte. 
Eine Gruppe trägt einen Kameraden auf den Schultern, eine andere einen an Armen 
und Beinen; andere Gruppen spielen mit selten angebrachten Tieren (Hund, Ziege 
und Schwan) oder mit Musikinstrumenten oder Windrädchen. Nach Kinderart 
sind auch die Buchstaben ihr Spielzeug zum Durchkriechen und Versteckensspiel. 
Das O suchen sie zu rollen, ein C als Schaukel zu benützen. Gleich mit dem 
zweiten Teil des Spruches beginnt der Streit der großen Gesellschaft, was zeigt, 
daß der Maler den Spruch miterlebte. Die Knirpse werfen und zerren einander, 
ziehen entgegengesetzt, verbläuen einander alle möglichen Körperteile, raufen 
um ein Fähnlein, kurzum, führen miteinander Krieg, sogar mit Pfeil und Bogen 
und Wurfspeer. Fürwahr ein Meisterwerk dieses bis jetzt leider so wenig be- 
kannten älteren Bocksberger! 
Sonst ist nur ein Landshuter Maler Paulus genauer faßbar ). Es wurde nämlich 
nach der Kastenrechnung von 1540 an „Paulsen maler hie“ auf herzoglichen Be- 
fehl ein Schaff Korn verabreicht; 1543 verdiente er am Bau 37 Gulden; fast das 
Doppelte davon, nämlich 70 Gulden, bekam er vier Jahre vorher „von dem vordern 
schieß ze malin.“ Ein Einheimischer war also der erste am Bau beschäftigte 
Maler. Seinen Laokoon und drei andere Heroengestalten, die er nach dem Ge- 
sagten am deutschen Flügel neben die zwei Fensterpaare über dem Haupteingang 
malte, zeigt noch Wenings Kupferstich der Residenz. 

Ein Christoph, Maler von München, ist im Oktober 1540 mit Wochenlohn am 
Bau beschäftigt und gleich darauf „2 maler von München.“ Vor Schluß aller Bau- 
arbeiten, nämlich von der Fronleichnamswoche 1543 bis in den Juli hinein ist mit 
einem Wochenlohn von т Gld. 3 Schill. 15 Pfen. „maister Michel, maler von 
München“ beschäftigt. Über die Tätigkeit dieser letzten Münchener Maler ist sonst 
nichts Näheres angegeben. Sie werden bei ihrer kurzen Tätigkeit kaum selb- 
ständige Aufgaben zu erledigen gehabt haben, sondern nur gehilfenmäßig tätig ge- 
wesen sein. 

Es ist in den Rechnungen keine Spur vorhanden, daß außer Meister Herman 
auch nur ein ausgesprochen weicher Maler am Baue tätig war. Insbesondere ist 
keine Andeutung gemacht, daß Baumeister Sigismund oder sein Diener Anton auch 
als Maler gearbeitet haben. Sie scheinen nur Steinmetzen gewesen zu sein. Ein 
Maler oder Baumeister Antonelli, der in der Literatur über diesen Bau immer 
spukt, ist geradezu als Erfindung zu bezeichnen. 

Die Hauptdaten über die Inangriffnahme der einzelnen Baugruppen wurden schon 
eingangs gegeben. Auch über das Fortschreiten des Baues sind wir außer 
durch Inschriften?), die mit Vorliebe an Türstöcken angebracht sind, durch ge- 
legentliche Notizen einigermaßen unterrichtet. Maurer, Taglöhner und Zimmer- 


(x) Den Landshuter Maler „Steffan Sibenwürger“, der nach der Kastenrechnung 1540 ein Schaff Korn 
vom Herzog erhält, finde ich am Bau nicht beschäftigt. 

(a) Aus Bassermann-Jordan sind sie zu ersehen. Das Jahr 1540 steht an einem der Herkules-Reliofs 
im großen Saal (S. 32), 1541 am dort befindlichen Herzogswappen (S. 30) und den Grotesken des 
Venuszimmers (8. 35), 1542 auf dem Türsturz der Modelisammlung (8. 18), im Götterzimmer (8. зо) 
auch eingelegt in einer Saaltüre (S. 35) und am Türsturz an der Isar (S. 35), 1543 endlich zeigt 
die Umschrift der italienischen Vorhalle. 


134 


leute erhielten 1537 vier Gulden zu „Beschlußwein“!), als erstere die vier Keller- 
gewölbe „gar gewölbt“ hatten. Im Jahre 1538, vermutlich im Herbst, bekamen 
diese Maurer wieder Beschlußwein, als sie „das untere gewölbe ganz geschlossen 
haben“; im nächsten Jahre wurde „den welschen, als si das groß, hoch, lanng ge- 
welb geschlossen“, vermutlich also die Tonne des sog. italienischen Saales im 
ersten Stocke des wappengeschmückten Flügels an der Länd fertig hatten, 2 Gulden 
verabreicht. In diesem Jahre wurde im Ziegelofen des Moosburger Chorstifts zu 
Isarek „das glasiert dach gesprent“, das Meister Bernhard Walch vorher be- 
schaut und wozu der Hafner Alban ein Muster gemacht hatte. Im Jahre 1540 
wurde der Keller mit Marmor gepflastert, andererseits vom Vergolder Strasser 
die 17 Buchstaben?) am großen Steinwappen der Ländfront, die Gießer Bern- 
hard?) gegossen hatte, dann die 14 Buchstaben der heute noch zu sehenden In- 
schrift „Domus orationis“ ober des Kapelleneingangs vergoldet, auch von diesem 
oder einem andern „zuebereitter“, der kurze Zeit beim Wirt Aham Maler ver- 
köstigt wurde, in der Kapelle Vergoldung angebracht. Im nächsten Jahre wurden 
die beiden Höfe gepflastert und für den ,,welschen Stall“ ein Brunnkar beigebracht, 
In diesen „Walchenstall“ kamen 1542 vier Betti für die Knechte anscheinend und 
in des welchen Stallmeisters‘) Zimmer 3 Gießfaß (zum Händewaschen) und ein 
„Reisbettl“. Man hat damals auch zum hintern Tor „56 зїп nagl schleifen“ und 
dann polieren lassen. 

Rechnerisch und wirtschaftlich veranlagte Leser werden auch nach den Bau- 
kosten fragen. Ich habe die acht Baujahre 1536 bis 1543 fast auf den Pfennig 
55100 Gulden errechnet, mit den Jahren 1538 und 1541 als Höhepunkten. Das 
ist aber noch nicht die ganze Summe, wenn man bedenkt, daß vom Holz aus 
eigenen Waldungen nur die Fuhrlöhne verrechnet sind, die Gehälter für den Bau- 
schreiber und den deutschen Baumeister Überreiter in diesen Rechnungen überhaupt 
nicht erscheinen, ebensowenig die Getreidebezüge, die solche Bauleute und Künstler 
sicher nicht bloß in dem erhaltenen Jahrgang 1540 der Hofkastenrechnungen er- 
hielten. Die aus dem gleichen Jahre auch vereinzelt erhaltene Kammermeister- 
rechnung des Herzogs läßt stark vermuten, daß die Mittel durch Anlehen auf- 
gebracht wurden. Die Münchener Wittelsbacher des 16. Jahrhunderts waren ja 
bekannt dafür, daß sie weit über ihre Einkünfte Ausgaben machten. 


x * 
* 


Die Landshuter Residenz steht durch ihre rein italienische Art nach der Anlage 


und Ausfiihrung fast vereinsamt in der bayerischen, ja deutschen Kunstgeschichte 
da. Darob dürfen wir aber die zeitlichen und sachlichen Zusammenhänge nicht 


(х) Diese drei Arten eigentlicher Bauarbeiter erhielten auch jeden Aschermittwoch „nach altem ge- 
prauch zu verdrinken“ ein paar Gulden, Bei den Zimmerleuten waren außerdem jede andere Woche 
2 Pfen. „Badegeid“ auf den Mann üblich. 

(2) Ich kann aus der Inschrift „Lud. utr. Bav, dux“ nur 12 herausbringen. Wenn fünf fehlen sollten, 
waren sie über dem Wappen angebracht. Der Künstler dieses italienisch empfundenen Wappens ist 
aus den Rechnungen nicht ersichtlich, Die Rechnung 1538 sagt: „Item umb die vier stugk stain 
daraus man das wappen gemacht“, samt Fuhrlon 73 Gid. a1 Pfen. | 
(3) Dieser Bernhard „giesser“ war anscheinend für Geschützwesen in ständigen Diensten des Herzogs. 
Nach der Kammermeister- und Hofkastenrechnung von 1340 bezog er 50 Glid. Sold und außerdem 
auf herzoglichen Befehl 1/, Schaff Weizen und 2 Schaff Korn. 

(4) Nach der Kammermeisterrechnung von 1540 war damals schon „Piero Walh“ mit 210 Gid. im 
Stall weitaus der bestbezahlte, 


135 


aus dem Auge lassen. Auf die nach Neuburg a. L, Ingolstadt und Neuburg a,D. 
führenden Fäden wurde eben achan hingewienen. Die Beteiligung Welscher an 
jenen Bauwerken war bis jetzt nicht bakanat, bw. prägte den Ingolstädter 
Festyngswerken und Erdwällen keinen Charekter auf. Von 1530 an haben aim- . 
lich die Pfalzgrafen Ottheinrich und Philipp, von denen ersterer bekanntlich der 
Schöpfer des berühmten Fitigels am Heidelberger Schloß wurde, in Neubrzg a, D. 
und im benachbarten Griinay’) sich ein Stadt- bzw. Jagdschloß im neuen Sti) bauen 
lassen. Am altmadischeten war noch der Burgumbau, den Herzog Wilhelm IV. 
in Wasserburg а. І. in den Jahren 1596—1543 aufführte. Der früheste Bau, 
auch nach nicht frei von der Gotik, ist der des Onkels der genannten vier Wittels- 
bacher, des Bischofs Philipp von Freising im Hofe seiner Residenz. Mit einer 
Ausnahme sind die Bauherren lauter Wittelsbacher. Es stehen von dea damals 
regierenden Wittelsbachern nur Herzog Erost in Passau und Pfalzgraf Johann in 
Regensburg aus. An den die Verbindung mit Italien herstellenden Wasserwegen 
der Isar, des Inne und der Donau liegen bezeichnenderweise alle diese Orte. Bis 
auf Freising gehörten sie beachtenswerterweise alle dem zerschlagenen Gebiete 
der ehemaligen reichen Herzöge von Landshut an. Von deren Hauptstädten fehlt 
nur Burghausen. Ein schon aus dem Mittelalter überkommener Handelsverkehr 
mit Italien und eine gleichfalls alte Wohlhabenheit des Gebietes bedingten das 
frühe Eindringen der neuen Bauweise in Altbayern. 


(1) Das in die Münchener Residenz überführte Renaissanceportal aus Neuburg a. D. ist aus unserer 
Bauzeit. Die im dortigen Nationalmuseum befindliche Inschrifttafel mit der Jagdszene aus Grünsu ist 
auch zu beachten. Meister Veit Guldin hieß hier der Baumeister. Welsche Maurer unter einem 
Meister Bernhart wurden dort zu den Keller- und Kapellengewölben verwendet. (Einige Monats- 
rechnungen von 1539—1541 sind im Kreisarchiv Landshut); Dr. Ph. M. Halm im Jahrg. 1005 (S. 1096.) 
der „Denkmalpflege“ kannte diese italienischen Beziehungen nicht. 


136 


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Abb. 1. Freiberg, Dom. Schalldeckel der Tulpenkanzel Abb. 2. Freiberg, Dom. Kelch der Tulpenkanzel nach Westen. 


ә Abb. 3. Freiberg, Dom Abb. 4. Freiberg, Dom. Mittelteil der Tulpenkanzel. 
Angebl. Selbstbildnis des Meisters der Tulpenkanzel. 


Zu: W. Junius, Der Meister H. W. 


DER MEISTER H. W., EINERZGEBIRGISCHER 
PLASTIKER AM AUSGANG DES MITTEL- 


ALTERS Mr "wit Abbiläungen suf faf Von WILHELM JUNIUS-Dresden 


000000000000 000000000000 000000000000000000000000 SHOT HPSSHSHSS HHS HPSHHSHPPOSS SHH SHHSCHHS SOSSHHH OADS HOSS о ооовоооооосооофовоооооооео 


is Bode in seiner 1887 erschienenen „Geschichte der deutschen Plastik“ die 
spätgotische obersächsische Bildnerei in den Städten am Nordabhang des 
Erzgebirges beschrieb, war ihm aus der Masse der unerfreulichen Durchschnitts- 
arbeiten eine Gruppe von stilistisch eigenartigen und künstlerisch wertvollen Werken 
entgegengetreten, deren Formbehandlung ihn an Adam Krafft und Tilman Riemen- 
schneider erinnerte. Seither hat sich eine Anzahl von Einzeluntersuchungen und 
gelegentlichen Hinweisen mit dieser erzgebirgischen Bildnerei beschäftigt, ohne 
indessen den Schleier, der über der Meisterpersönlichkeit und ihren Schöpfungen 
legt, heben zu können. 

Es handelt sich zunächst um die tonsteinerne’) „Tulpenkanzel“ im Freiberger 
Dom (Abb. 1—4). Wolfgang Roch, der im Kriege gefallene Bautzener Museums- 
direktor, hat ihr einen Aufsatz gewidmet, den ich aus seinen nachgelassenen 
Schriften im 39. Bande des Neuen Archivs für sächsische Geschichte veröffentlicht 
habe, und der die in Betracht kommende Literatur aufführt. Unkontrollierbare 
Überlieferungen schreiben sie einem Hans von Köln zu, der sie zwischen 
1480—90 errichtet habe). Bode hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Figur 
des älteren ernsten Mannes am Fuße der Kanzeltreppe (Abb.3) und der die Treppe 
stützende junge Bursche in ähnlicher Weise zu dem Werke in Beziehung ge- 
bracht seien, wie dies Adam Krafft an seinem 1493—96 geschaffenen Sakrament- 
haus in der Nürnberger Lorenzkirche getan habe, und wie die Freiberger Kanzel, 
so zeigt auch Kraffts Tabernakel den gleichen Überschwang technischen Könnens 
und kühnster Phantastik. ` 

R. Bruck hat 1916 im VIL Jahrgang der „Mitteilungen aus den sächsischen Kunst- 
sammiungen“ die Existenz des traditionellen Meisters Hans von Kiln abgelehnt, 
insbesondere stilistische Beziehungen der ,,Tulpenkanzel“ zu einigen erzgebirgischen 
Plastiken der gleichen Epoche, Bildwerken, in die in gleicher Weise der aus der 
Anonymität nur zögernd heraustretende Meister mancherlei spielerischen Kleinkram, 
allegorisch-symbolische Gestalten u. a. hineingeheimnist hat, bestritten. Es kommen 
im wesentlichen in Frage die Annaberger „Schöne Tür“, die Chemnitzer Geiße- 
lungsgruppe und die Ebersdorfer Pulthalterfiguren, sowie der Bornaer, Gilösaer, 
Mittelbaeher Altar und eine Marienfigur im Chemnitzer Museum, deren stilistische 
Zusammengehörigkeit wir hier erneut betonen möchten )). 

Auf dem in Holz geschnitzten Schalldeckel der ,,Tulpenkanzel“ (Abb. 1) sind 


H Das Material, Wiesaer oder Fléhaer Tonstein, bei Chemnitz gebrochen. 

(2) 1484, am Montag nach corporis Christi, ging fast die ganze Stadt Freiberg in Flammen auf, wo- 
bei auch die romanische Domkirche ausbrannte. Auf Anordnung Herzog Albrechts von Sachsen be- 
gann man dann, die wenigen Reste der Brandmauern völlig abzutragen und von Grund auf den Dom 
neu zu bauen. Noch 1491 mußte der stockende Kirchenbau durch einen vom Papst Innocenz ПІ. 
erteilten Indulgenzbrief gefördert werden, und erst 1512 ist der Neubau des Domes in spätgotischem 
Stil beendet worden, wohl unter der Leitung von Johann Falkenwalt, Die Aufstellung der Tulpen- 
kanzel kann also vor 1512 nicht erfolgt, und ihre Entstehung dürfte zwischen 1512 — 20 anzusetzen sein. 
(3) Vgl. auch Neves Archiv f. sächs. Geschichte, Bd, 38, S. 201. 


137 


die Attribute der vier Evangelisten dargestellt, und über ihnen wächst gleichsam 
aus einem Blütenkelch hervor Maria mit dem Kinde i). Diese Madonna erinnerte 
mich an diejenige über dem Hauptportal der Chemnitzer Schloßkirche 
(ehemalige Klosterkirche der Benediktiner), das laut Inschrift im Jahre 1525 durch 
Abt Hilarius errichtet wurde (Abb. 5 und 6). Schon Steche wies im 7. Bande 
der „Bau- und Kunstdenkmäler Sachsens“ darauf hin, daß der Schöpfer des 
Chemnitzer Portals zwar namentlich unbekannt sei, aber der Schule des Frei- 
berger Kanzelmeisters entstamme, wenn nicht gar mit ihm identisch sei. Dieses 
Zögern in einer unbedingten Zuweisung wird erklärlich, wenn wir berücksichtigen, 
daß die Verschiedenheit des Materials (in Freiberg weicher Tonstein bzw. Holz 
und Stuck, in Chemnitz spröder Porphyrtufistein) auch stilistische Abweichungen 
und eine andere Schnittformel bedingt: die Faltenzüge der Chemnitzer Portalfiguren 
sind schwülstiger und plumper, die Haltung unbeholfener und unfreier. Nehmen 
wir noch einen Unterschied von etwa ro Jahren zwischen der Entstehungszeit 
der Kanzel und der des Portals an (legt man die m. E. unrichtige Stechesche 
Datierung 1480 zugrunde, so beträgt der zeitliche Abstand sogar 45 Jahre), dann 
wird man Steche und Gurlitt?) durchaus beipflichten müssen und den Gedanken 
des Umschaffens der Architekturformen in Naturgebilde („sächs. Baumstil“), den 
Entwurf dem Meister der Freiberger Tulpenkanzel, die Ausführung aber einem 
jener zahlreichen zugereisten Steinmetzen zuschreiben, die in den erzgebirgischen 
Bauhütten um 1255 tätig waren. 

Die gleiche Phantastik des Entwurfs und Konsequenz der realistischen Dar- 
stellung zeigt auch die im Innern der Chemnitzer Schloßkirche aufgestellte, über 
3½ cm hohe, aus einem Lindenstamm geschnitzte Geißelungsgruppe. Auch 
hier jenes kunstreich verschlungene Astwerk wie bei dem Portal, dessen „Baum- 
stil“ wiederum so untrügliche Verwandtschaft mit der „Tulpenkanzel“ zeigt, die 
gleich naturwahr durchgebildeten Gestalten: zwei rohe Henker, die Christus 
geißeln, ein dritter, der den zusammenbrechenden Heiland mittels eines unter 
den Armen durchgezogenen Seiles von hinten am Stamme hochzerrt, und ein 
kauernder jüngerer Mann, mit dem Binden einer Dornenkrone beschäftigt (Abb. ro). 
Hinsichtlich ihrer Naturalistik haben die fünf Figuren der Geißelungsgruppe in 
der sächsischen spätgotischen Plastik Parallelen nur noch in den Gestalten der 
Tulpenkanzel (Meister, Geselle, die vier Kirchenväter) und jenen der Annaberger 
„Schönen Tür“. In Einzelheiten sei auf die Haarbehandlung bei dem Christus- 
kinde und den tanzenden Engeln der Kanzel, verglichen mit derjenigen der Chem- 
nitzer Gruppe, hingewiesen: ein Auflockern der Haare in einzelne Biischel. Die 
feine Artikulation der Hände ist ebenfalls in dieser Vollendung bei keinem ober- 
sächsischen Plastiker dieser Zeit zu finden. jenes unvergeßliche schmerzvolle 
Gesicht des eine Dornenkrone mit einem Strick zusammenbindenden Jünglings 
zu Füßen des Heilands erinnert an den die Kanzeltreppe tragenden Gesellen in 
Freiberg, vor allem aber an die Ebersdorfer Pulthalter, die Engel im Tympanon 
der Annaberger „Schönen Tür“ von 1512 und im Mittelschrein des Bornaer Altars 
von 1511. 

Der plastische Gedanke, der dem Ebersdorfer Pulthalter zugrunde liegt, 
war uns bereits früher einmal in der Gestalt eines Subdiakons als Pultträger im 


(1) Vgl. die ausführliche Beschreibung im 3. Bande des sächs. Inventarisationswerkes; ferner C. Gurlitt: 
„Kunst und Künstler am Vorabend der Reformation“, S. 133 (Halle 1890). 
(2) a. a. O., S. 138. 


138 


Naumburger Dom vermittelt worden!), und der Chemnitzer Meister muß diese 
Figur, die er in freier und durch Wegfall der Pultstütze ungezwungener Weise in 
den beiden Ebersdorfer Schnitzfiguren ,,kopierte“, gekannt haben. Ob der Meister 
diese Ambonen-Bildwerke wirklich für das kleine Ebersdorfer Kirchlein geschnitzt 
hat? Ich glaube, — nein, — und komme immer mehr dazu, bei jedem ober- 
sächsischen Werke aus vorreformatorischer Zeit in den Dorfkirchen aber auch den 
größeren Stadtkirchen die Frage zu stellen: ist es für diese geschaffen worden oder 
woher stammt es? Seit 1540 setzt ein Umzug von Altären und kirchlichen Kunst- 
werken ein, der sehr erheblich gewesen sein muß, und Dörfer werden schwer- 
lich sich die Kosten haben machen können, die solche Werke wie die Ebers- 
dorfer Pulthalter verursacht haben. So ist die Annahme nicht ungerechtfertigt, 
daß auch sie ursprünglich für die Chemnitzer Benediktiner bestimmt waren. 

Auch die Annaberger Franziskanermönche haben 1512 für ihre Klosterkirche, 
die jetzige Annenkirche, den für Freiberg und in Chemnitz tätigen Künstler ge- 
wonnen. Von ihm stammt die polychromierte und reich vergoldete „Schöne Tür“, 
die in der Literatur schon oft gewürdigt wurde?). Die geflügelten Engelsgestalten 
des sandsteinernen Portals sind die gleichen wie der pulttragende Engel und der 
jugendliche Diakon in Ebersdorf; die Übereinstimmung ist selbst für ein un- 
geschultes Auge so stark, daß auf eine eingehende stilkritische Vergleichung ver- 
zichtet werden darf. Wichtig ist der Umstand, daß an diesem Werke der bisher 
unbekannte Künstler erstmalig sich bezeichnet hat: Anno domini 1512 H. W. 
(an der Unterseite des Türsturzes). Als Stifter sind den von Engeln getragenen 
Wappenschildern oberhalb der Eingangstüre nach Georg der Bärtige und seine 
polnische Gemahlin Barbara anzusehen. 

Schmidt?) behauptet, daß dieses Monogramm in Hans Warnitz aufzulösen sei, 
und bezieht sich dabei auf Meyer‘): „Die kunstmäßige Ausarbeitung dieses herr- 
lichen Tores fällt jedermann sogleich in die Augen, zumal nachdem dasselbige 1690, 
wie es die Aufschrift ausweist, von neuem gemahlet und schön vergoldet worden 
ist. Die Unkosten dazu (nämlich zur Restaurierung!) gab ein damaliger Kaufmann 
allhier, Christian Beyer, und die Arbeit dazu verrichtete ein gewisser Künstler, 
Warnitz genannt, зо daß diesem Thor mit Recht der Nahme des Schönen beygeleget 
werden kann.“ Gurlitt“) hatte schon 1890 das Werk ausführlich besprochen, es 


(1) Vgl. А. Schmarsow und E. у. Flotwell: Meisterwerke der deutschen Bildnerei I. Naumburger Dom. 
(Magdeburg 1892.) 

(a) Petrus Albinus: Annabergische Annales von 1492—1539 (Makr. der Sächs. Landesbibliothek in 
Dresden). Chr. Emmerling: Herrlichkeit des ber. Annaberger Tempels (Schneeberg 1713). Johann 
Christian Meier: Die Herrlichkeit des Annabergischen Tempels (Chemnitz 1776). Georg Arnold: 
Chronik von Annaberg (Annaberg 1812). Joh. Friedr. Hübschmann: Denkwürdigkeiten Annabergs (1819). 
Spieß: Rückblicke auf Annabergs Vorzeit. Heft V (Annaberg 1858). R. Steche: a. a. O., Bd. IV, 
8.17. C. Gurlitt, a. а. O., S. 135—138. Oswald Schmidt: Die St. Annenkirche zu Annaberg (Leipzig 1908). 
Kurt Gerstenberg: Deutsche Sondergotik, 8. 83 und 169. Wilhelm Junius: Spätgotische sächsische 
Schnitzaltäre (Dresden 1914), S. 73. 

(3) a. а. O., S. 112. 

(4) a. a. O., S. 27. 

(5) a. а, O., 8. 135—138. 1913 veröffentlichte Kurt Gerstenberg seine geistreiche stilpsychologische 
Arbeit: „Deutsche Sondergotik“, in der es 8. 169 als Anmerkung su S. 83 heißt: „Die schöne Pforte 
in Annaberg ist erst seit rs97 vom Franziskanerkloster in die Annenkirche versetzt. Dem gleichen 
Meister H. W. sind von Fiechsig die Ebersdorfer Pulthalter u.a. zugeschrieben worden. Vgl. Flechsig: 
Die Sammlung des Sächs. Altertumsvereins zu Dresden, 1900.“ Gerstenberg irrt hier insofern, als 


139 


als dem Freiberger „Meister der zwölf Apostel“ (Dresden, Altertums-Museum) sowie 
dem Meister der Tulpenkanzel nahestehend bezeichnet und insbesondere auf die 
stilistische Verwandtschaft mit den Ebersdorfer Pulthaltern bzw. der Chemnitzer 
Geißelungsgruppe hingewiesen. Des Meisters Н. W. eigenartig gesogene, einem 
länglichen Viereck sich nähernden ausdrucksvollen Gesichter, der merkwürdige 
Schwung der Linien und die derbe Unbefangenheit der Form, die porträtertige 
Bildung der etwas schwerfälligen Köpfe, erinnerten ihn an Dürersche Männerengel 
und en die Richtung des Michael Pacher von Prawnegk, wobei er sogar cine 
„mittelbare Beziehung zwischen Tirol und Annaberg für nicht ausgeschlossen“ hält, 
„waren doch unter den Gesellen in Annaberg ein Hans von Bozen und Thomas 
von Lienz“. Andererseits ist der Zusammenhang mit Würzburg evident, doch hat 
Meister H. W. eine gesteigerte Lebenskraft, die Riemenschneiders Vitalität oft 
übertrifft. Als stilistisches Bindeglied zwischen den Chemnitz-Ebersdorfer Werken 
und dem Annaberger Portal dienten uns die Engelsgestalten bzw. der Dornen- 
kronenflechter der Geifelungagruppe. Wem sich die Gesichtsbildung und Haar- 
behandlung (Bei den minnlichen Gestalten, auch bei den Putten der Tulpenkanzel, 
ein Auflösen in einzelne Büschel, die in spitze Zotteln auslaufen; bei den weib- 
lichen Figuren niemals festgeflochtene, sondern lockere, in großen Zügen etwas 
„liederliche“ Zöpfe mit kurzen, heraushängenden, nicht „ mitgenommenen“ Haar- 
enden. Wihrend das Haar bei den männlichen Figuren und großen Engeln stets 
gleichmäßig gebildet wird, ist bei den weiblichen Gestalten die Haarbehandlung 
kein untrügliches Kriterium der Stilanalyse von Werken des Meisters H.W.), die 
schlanken, ausdrucksvollen Hände und die energische, großzügige, auf alles gotische 
Gewandfaltenpathos verzichtende Schnittformel des Meisters H. W. eingeprigt hat, 
wird die gleichen Merkmale (etwas von der schwärmerischen Askese Riemen- 
schneiderscher Gestalten ist seinen Figuren eigen) an einigen obersächsischen 
Altären und Altarresten, die Gurlitt und Voß!) nicht erwähnen, Flechsig*) aber 
1912 nennt, wiederfinden, nämlich an dem Bornaer, Glösaer, Mittelbacher Altar, 
an einer trauernden Madonna, zu einer Kreuzigungsgruppe gehörig, aus der Chem- 
nitzer Jakobikirche stammend, und entfernter an einigen Schnitzfiguren des Ehren- 
friedersdorfer Altares. 

Der Bornaer Altar (Abb. 12), erstmalig 1914 von mir publiziert“), zeigt ebenfalls 
das Monogramm H.W.Z. und die Jahreszahl 1511, welche sich auf die geschnitzten 
Teile bezieht. Die Bedeutung des dritten Buchstabens Z vermag ich noch nicht zu 
erklären. Im Mittelschrein, der in ziemlich flach geschnitzten Figuren die Begegnung 
Marias und der Elisabeth darstellt, begegnen wir den Annaberger und Ebersdorfer 


Flechsig 1900 zwar den Meister der Ebersdorfer Pulthalter mit dem Meister der schönen Pforte iden- 
tiisierte und ihn Hans von Köln nannte, jedoch auf den Meister H. W. des Bornaer Altares an dieser 
Stelle noch nicht hinwies. 

(1) Georg Voß: Thüringische Holzschnitzerei des Mittelalters und der Renaissance (in Doering und 
Voß: Meisterwerke der Kunst aus Sachsen und Thüringen.) Magdeburg 1904. Katalog der kunst- 
geschichtl. Ausstellung zu Erfurt (Magdeburg 1903). 

(2) Eduard Flechsig: Sächs. Bildnerei und Malerei vom 14. Jahrh. bis zur Reformation. 3. Lieferung. 
(Leipzig 1912.) 

(3) а. а. O., 8. 66 fl. A. Schmarsow bestätigte mir brieflich die seinerzeit von Roch gemachte An- 
gabe, daß er bereits 1904 im Leipziger kunsthistorischen Universitätsinstitut anläßlich der Rochschen 
Untersuchung der Freiberger Tulpenkanzel auf den Bornaer Altar des Meisters H. W. von 1517 auf- 
merksam gemacht habe, und daß dieser Altar gleichsam den Schlüssel zur Kenntnis des Meisters der 
Kanzel bilde. Schmarsow fällt also das Prioritätsrecht der Entdeckung des Meisters H. W. zu. 


140 


TAFEL 30. 


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Chemnitz (SchloBkirche), Nordportal 


Gewändefiguren der linken Seite. 


Chemnitz (SchloBkirche), Nordportal. 


Abb. 6. 


Abb. 5. 


Gewändefiguren der rechten Seite. 


W. Junius, Der Meister H. W. 


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Abb. 7. Ehrenfriedersdorfer Altar. Abb. 8. Chemnitz (Museum). 
St. Katharina. Marienfigur vom Hochaltar der 


Chemnitzer Jakobikirche. 


Zu: W. Junius, Der Meister H. W. 


TAFEL 31. 


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Engeln wieder; die flächige Schnitztechnik, die dem Reliefcharakter hier angemessen 
ist und nur durch eine gewisse Unbeholfenheit in Einzelheiten auffällt, beweist, 
daß der Steinstil unwillkürlich auch den Holzstil des Meisters beeinflußt hat, sowie 
umgekehrt an der Annaberger „Schönen Tür“ mancherlei an den Bildschnitzer er- 
innert, der sich im Steinwerk versucht. Das in großen Ausmaßen gehaltene sechs- 
flügelige Werk ist gleich der „Schönen Tür“, der Geißelungsgruppe und der 
Tulpenkanzel durch das sächsische Wappen als fürstliche Stiftung gekennzeichnet. 

Der Glésaer Altar (Abb. 9):) steht qualitativ dem Bornaer Altar nach, läßt 
aber trotzdem die charakteristische Schnitzweise des Meisters erkennen, um unter 
Verzicht auf ins einzelne gehende Stilkritik auf die diesem Aufsatz beigegebenen 
Lichtdrucktafeln verweisen zu können. Die in Anordnung, Figurentypus und Technik 
auffällige stilistische Verschiedenheit zwischen der Gldsaer und der Bornaer Predella 
beweist mir, daß in der Werkstatt des Meisters H. W. ein Geselle tätig war, der 
zwar hinsichtlich der Manier dem großen Künstler manches „glücklich abgeguckt“, 
aber von dem Geist und der Seele dieses Romantikers nichts verspürt hatte. 

Und das gilt auch von dem Mittelbacher Altar (Abb. 11), dessen rohe, ungeftige 
Art im Rahmen der bisher genannten Werke wie plumpe Werkstatt-Massen- 
lieferung wirkt, wo des Meisters eigene Handschrift durch Gehilfennachahmung 
ersetzt ist. Vergleicht man die Predella (Tod der Maria) mit der gleichen Dar- 
stellung im ersten inneren rechten Flügel des Bornaer Altars, so findet man allein 
schon hier in Komposition und Technik bis ins Einzelne gehende Übereinstim- 
mung. Das Eindringen renaissancistischer Ornamente in noch gotische Schmuck- 
formen zeigt, daß der Glösaer Altar später als die bisher genannten Werke des 
Meisters Н. W. entstanden ist (gleichzeitig mit dem Chemnitzer Schloßkirchen-Portal?) 
während der Mittelbacher Altar als ältere Arbeit durch das Fischblasenmaßwerk 
gekennzeichnet wird, das den Fußstreifen unterhalb der einfachen Figurensockel 
der Flügel ausfüllt, und ursprünglich auch den Schrein oberhalb der Figuren ab- 
geteilt hat. Der jetzige Abschluß mit Rankengeschling und Blüten ist eine Er- 
gänzung aus dem Jahre 1912 anläßlich der Wiederherstellung des Altars). 

Auch die geschnitzten Teile des Ehrenfriedersdorfer Altars (Abb. 7) 
lassen sich in manchen Teilen in Parallele setzen zu dem Figurenwerk der bis- 
her erwähnten Werke des Meisters H. W. Vergleicht man dann aber die heilige 
Katharina im Ehrenfriedersdorfer Schrein mit jener im linken Flügel des Glösaer 
Altars (Abb. 9)?), so wird der stilistische Abstand zwischen Borna, Glösa, 
Mittelbach, Freiberg, Chemnitz, Annaberg und Ehrenfriedersdorf offenbar: die 
sorgfältigere Behandlung, die reicher ausgeführte Gewandung mit ihrem lebhaf- 
teren Faltenwurf, modische Wandlungen in der Haartracht (Barbara im linken 
Flügel des Ehrenfriedersdorfer Altars), die differenziertere Handhaltung der hl. Ka- 
tharina des Ehrenfriedersdorfer Altars verglichen mit jener des Glösaer, machen 
es schwer, den künstlerischen Duktus des Meisters H. W. auch in dem Ehren- 
friedersdorfer Werk zu spüren. Die Abgrenzung der Mitarbeit des Meisters H.W. 
an den plastischen Teilen des Ehrenfriedersdorfer Altars ist schon wegen ihrer 
Ungleichwertigkeit im einzelnen kaum möglich. Die kleinen Gruppen in der Be- 
krönung: „Darstellung X., X. vor Pilatus, und Maria und Jobannes zu Seiten des 


(1) Im Chemnitzer Museum, 


(а) Auch der Вогпаег Altar wurde 1867 einer gründlichen Restaurierung unterzogen, wie eine latei- 
nische Inschrift an der Schreinumrahmung besagt. 
(3) Irrtümlich in dem für St. Brigitte bestimmten Flügel aufgestellt. 


141 


Gekreuzigten“ sind in Anbetracht der Höhe ihres Anbringungsortes roher geschnitzt 
als die Auferstehung in der Predella, und die Fitigel- und Schreinfiguren zeigen 
wiederum erhebliche Abweichungen stilistischer Art. Ist es übrigens bloß ein 
Zufall, daß die hl. Katharina sowohl auf dem Brustsaum des Untergewandes ein 
eingesticktes W zeigt und außerdem noch an einer geflochtenen Goldschnur ein 
Medaillon mit dem Buchstaben W trägt?’ Die Schreinfigur des hl. Nikolaus ist 
bestimmt nicht vom Meister H. W., erinnert vielmehr an Döbelner, Rochlitzer 
und Freiberger Bildschnitzer. Die nach außen schielenden Augen sind typisch 
für die Freiberger Schule. (Vgl. Doering und Voß, a. a. O., S. 64). Robert Bruck!) 
setzt den Ursprung des Altars in die Zeit um 1506 und bezeichnet im Gegensatz 
zu Fiechsig*) als Meister der Flügelgemälde einen unbekannten Künstler süd- 
deutscher Herkunft aus dem Kunstkreise, der in Hans Holbein d. Ä. seinen Haupt- 
vertreter hatte und dem auch Mathias Grünewald entstammte). Hans Coler von 
Köln kommt nach Bruck nicht in Frage‘). Als Schöpfer der Schnitzwerke lehnt 
er den Meister H. W. nebst den Zuschreibungen anderer Werke auf Grund ver- 
gleichender Stilkritik durch Flechsig und Junius in Bausch und Bogen ab, ohne 
indes einstweilen einen bestimmten anderen Meister nennen zu können, oder seine 
Ablehnung stichhaltig zu begründen. In der Tat sind neben aller stilkritischen 
Attribution, der beliebtesten aber auch unsichersten kunsthistorischen Methode, 
archivalische und chronikalische Bestätigungen trotz dem boshaften Vergleiche, den 
einst der Meister der Stilkritik, Giovanni Morelli, den Archivforschern anhängte, 
nicht zu verachten; denn sie geben noch immer die sicherste Grundlage auch für 
kunstgeschichtliche Forschungen. Die bisherige ablehnende Kritik aber vermag 
sich auf solche Funde nicht zu stützen, und stellt nur wieder ihre Einfühlungs- 
gabe, Bilderinnerungsvermögen und Formengedächtnis der gleichsam mathematischen 
Wahrscheinlichkeitsrechnung eines anderen Fachgenossen gegenüber“). Eine 
Personengleichheit zwischen Meister Hans von Köln (Hans Koler, Coler oder Köler 
von Köln) und dem Meister H.W. besteht natürlich nicht; ersterer ist ausschließ- 
lich als Maler tätig gewesen und hat vorübergehend gemeinsam mit dem Bildhauer 
in Chemnitz gearbeitet. 

Als letztes Werk möchte ich an dieser Stelle die zu einer Kreuzigungsgruppe 
gehörige Marienfigur aus der Chemnitzer Jakobikirche im dortigen Museum 
besprechen (Abb. 8), die mir ausgeprägter den Stil des Meisters zu tragen scheint 
als die von Flechsig a. a. O. erwähnte Waldkirchener Madonna. Man kann diese 
trauernde Mutter Gottes keiner anderen gleichzeitigen erzgebirgischen an die Seite 


(т) Vgl. 1. Mitteilungen aus den sächs. Kunstsammlungen (Jahrg. VII, 1916, S. 11). a. Neues Archiv 
für sächs. Geschichte, Bd. 38 (1917), 8. зог. 3. Neues Sächs. Kirchenblatt XXIV, 1917, S. 19—24. 
4. Sächs. Heimat. 5. Jahrg. 1921, Heft 5 u. 6, 8. 94. 5. Schreiber- Weigand: Der Meister des Ehren- 
friedersdorfer Altars. (Chemnitzer Volkshochschule, 2. Jahrg. Nr. 6). 

(2) Sächs. Bildnerei und Malerei (III. Lieferung.) Leipzig 1912. 

(3) Auch in dieser Hinsicht stimme ich Flechsig zu, der auf niederländische Einflüsse hinweist. 
Endlich sind auch kölnische Meister m. E. in Betracht zu ziehen. 

(4) Vgl. dagegen Leo Bönhoff im N. Sächs. Kirchenblatt XXIV, 19ff. 

(5) Daß der Meister H. W., wie wohl alle Künstler seiner Zeit, je nach Laune und Neigung, oder 
dem ausbedungenen Lohn und der Persönlichkeit des Auftraggebers entsprechend seinen Werken 
mehr oder weniger technische Sorgfalt und künstlerische Durchbildung zuteil werden ließ, lehrt z. B. 
ein Vergleich der Predellen des Bornaer und Giösaer Altares, beide mit den geschnitzten Gruppen 
der hl. Sippe. Auch hier können einem Zweifel an der Identität der Verfertiger aufkeimen, wenn uns 
nicht die Schreinfiguren darüber belehrten: es ist der Meister H. W. 


142 


stellen: ihre tiefe Verinnerlichung übertrifft an Eindruckstiefe und Ausdruckskraft 
alle, und es steckt etwas von dem Geist des Meisters der berühmten aufblickenden 
„Nürnberger Madonna“ (Holzmodell für ein Gußwerk der Vischer-Hütte?) in diesem 
Werke. Aus der Gesichtsbildung und den Händen sprechen der Stil der Ebers- 
dorfer Pulthalter und wie bei diesen sind die Faltenziige nicht von jener knittrigen, 
scharfbrüchigen und stellenweise unruhig ausbrechenden Art, sondern weicher 
fließend und einhiillend. 

Gurlitt!) und ihm folgend Georg Voß?) haben des Meisters H. W. Tätigkeit auch 
in Saalfeld von 1510—1517 nachweisen zu können geglaubt, und insbesondere 
auf den Altar von Dienstädt bei Orlamünde (Sachsen - Altenburg) als wichtiges 
Bindeglied zwischen den erzgebirgischen Werken des Meisters H.W. und einigen 
thüringischen Schnitzaltären der Saalfelder, nach Fiechsig*®) Altenburger, Schule 
aufmerksam gemacht. Voß führt 11 Werke als Arbeiten des Meisters H. W. (alias 
Hans von Köln) auf: 

т. den Dienstädter Altar (zwei Lichtdrucke in den „Bau- und Kunstdenkmälern 
Thüringens“, 2. Bd., S. 74—75); 

a. den Altar von Geiben bei Gera. Die Schreinfigur des hl. Erasmus ist ab- 
gebildet im Katalog der kunstgeschichtlichen Ausstellung zu Erfurt, Sept. 1903; 

3. den Altar von Zwätzen bei Jena (datiert 1517), abgeb. in Heft ХШ der 
Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, S. 238; 

4. den Altar von Kalbsrieth bei Allstedt (Sachsen-Weimar). Lichtdruck in 
Heft XIII der Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, S. 282; 

5. den Altar von Breitenhain bei Neustadt a. d. Orla (Sachsen-Altenburg); 

6. die Ebersdorfer Pulthalter (Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.); 

7. eine Marienstatue aus Waldkirchen bei Zschopau im Dresdener Altertums- 
museum (Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.); 

8. die „Schöne Tür“ vom Annaberger Franziskanerkloster, 1597 in die Annen- 
kirche übertragen); 

g. die Statue St. Wolfgangs aus dem Freiberger Dom im Dresdener Altertums- 
museum (Lichtdruck bei Flechsig a. a. O.); 

то. den Altar aus Helbigsdorf bei Wilsdruff (Amtshptm. Meißen) im Dresdener 
Altertumsmuseum (Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.); 

1x. einige Figuren aus St. Egidien bei Glauchau im Dresdener Altertumsmuseum 
(Lichtdruck bei Flechsig, a. a. O.). 

Wer die Gepflogenheit des Meisters Н. W. kennt, das Haupt- und Barthaar in 
einzelnen Büscheln zu schnitzen und meißeln (auch an den Tierfiguren der Tulpen- 
kanzel in charakteristischer Weise ausgebildet), die in der obersächsischen Kunst 
besonders auffällige Bildung des Kopfes mit den feingebogenen Nasen und der stark 
entwickelten protuberantia mentalis, die zumeist sehr zartgliedrig und beweglich 
gebildeten langen schmalen Hände seiner Figuren kennt und weiß, wie der Meister 
seine asketisch schlanken Gestalten in enge, sich den Gliedern gleichsam wie naß 
anlegende Gewänder hüllt, überaus sparsam in der Faltenbildung große Flächen 


(x) a. a. O., S. 135. 

(2) in: „Meisterwerke der Kunst aus Sachsen und Thüringen“, herausgegeben von Doering und Voß. 
(Magdeburg 1904.) 

(3) Wanckel und Flechsig: Die Sammlung des Sächs. Altertumsvereins zu Dresden in ihren Haupt- 
werken. (Dresden 1900), S. 33a. 


(4) Lichtdrucke bei Steche und Osw. Schmidt. Detailaufnahmen durch Dr. Franz Stoedtner, 
Berlin NW. 7. 


143 


nur durch die leichte Wellung einer oft scharf gebrochenen, nervös in spitzem 
Winkel ausfahrenden einzigen Röhrenfalte umsäumt!), wer beobachtet hat, wie 
der Meister H. W. niemals in rauschender Faltenorchestrierung seine Gestalten 
von Gewandmassen umbranden läßt, sondern sich der denkbar knappsten Schnitt- 
formel bedient, wird allenfalls bei dem Dienstädter Alter ganz flüchtig an unseren 
erzgebirgischen Meister erinnert werden. Man wird aber eine solche Fülle auf- 
fallendster stilistischer Abweichungen feststellen, daß ihre Aufzählung den Rahmen 
dieser Veröffentlichung weit überschreiten würde?). Ich kann nur sagen: die von 
Voß dem Meister H.W. zugeschriebenen Werke, die dieser nach seifier angeb- 
lichen Ubersiedelung von Chemnitz nach Saalfeld geschaffen haben soll, ebenso 
die als seine Arbeiten bezeichneten Altäre und Figuren des Dresdener Altertums“ 
museums beweisen in allen Einzelheiten, wie der Meister H. W. niemals ge- 
schnitzt hat. 

Auf der Suche nach weiteren Spuren der Tätigkeit des Meisters Н. W. wurde 
ich auf die Figur der Kreuzfinderin Helena an der Nordwestecke des Rathauses 
zu Halle a/S., die das Meisterzeichen (?) H.W. und das Künstlerzunftwappen trägt, 
aufmerksam, mußte jedoch feststellen, daß es das Monogramm eines Restaurators 
aus dem 17. oder 18. Jahrhundert sei. Irgendweiche Beziehungen Zwischen dem 
Hallenser Backoffenschtiler*) und dem Meister H. W., wie Marie Schütte an- 
zunehmen scheint, bestehen ebenfalls nicht. 

Im Erfurter Stadtmuseum, an einem Epitaph des Georg Utensperger von 1511, 
einem Relief tiber dem südlichen Eingang der Erfurter Predigerkirche und einem 
Epitaph für Berit Starke an der Erfurter Lorenzkirche begegnen wir ferner einem 
Steinmetzen aus der Schule Adam Kraffts, namens Johann oder Hans Wydemann, 
auf den das Monogramm H. W. passen würde. Auch Maler und Graphiker, die 
H.W. oder h. W. signieren, sind mehrere bekannt. Wir erinnern hier nur an den 
Schongauer-Nachfolger H. W. und dessen Garten-Madonna von 1504 (Bartsch VI, 
S. 4151; Passavant ПІ, S. 288), an den Kupferstecher mit dem Zeichen h. W. (Passa- 
vant II, S. 155’), an den fränkischen Tafelmaler der Dürer- Schule, und dessen 
1511 datierte und H. W. signierte Beweinung Christi in der Nürnberger Burg. Bei 
allen diesen Werken kann an eine Beziehung zu unserem erzgebirgischen Meister 
H. W. nicht gedacht werden: es fehlt in der Behandlung des Faltenwurfs seine 80 
ausgeprägte Eigenart (die viel schwerer dialektisch zu charakterisieren als mit 
dem nachprüfenden Blick zu erfassen und einzuprägen ist), es fehlen die um- 
geschlagenen Säume der scharfknittrigen Gewänder mit ihren tellerartigen oder 
in Schaufelspitzen auslaufenden Flächen, in die einzelne kleine, tiefe und scharf- 
kantige Falten eingeknickt sind, es fehlen die in Vertiefungen von dreieckiger 
Form verlaufenden Faltenztige und andere individuelle Merkmale seines Stils. 


(1) Man könnte an einen in Metallarbeiten geübten Meister denken, der dünnes Blech in großen 
Flächen treibt und punzt, die Lötnähte dann durch aufgelegte bleirutenähnliche Konturen nochmals 
nachzieht. Es entstehen auch Faltengebilde, die wie dünne, geknickte, zinnerne Orgelpfeifen aus- 
sehen, und endlich beachte man das pflugscharähnliche Auslaufen der Gewandecken und Stoffsäume 
u, a, an der Tuipenkanzel am Sudorium des Bischofsstabes des hl. Augustin und am Bornaer Altar 
im Flügelrelief mit dem hi. Joachim bzw. am Gewandsipfel Marias bei der Anbetung des Kindes. 
(2) Man beachte z. B. die greisenhafte Mundbildung der Kalbsriether Figuren, die grundverschiedene 
Form- und Haarbehandlung beim Zwätzener und Dienstädter Altar; auch unter sich sind die einzelnen 
Werke nicht einmal verwandt, geschweige denn mit dem Bornaer Meister H.W. in Verbindung zu bringen. 
(3) Vgl. R. Kautzsch: Der Mainzer Bildhauer Hans Backoffen und seine Schule, (Leipzig, Klink- 
hardt & Biermann, 1911.) 


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Altar während der Restaurierung. 


Mittelbach b. Chemnitz. 


Abb. 11. 


Abb. 12. Borna. 6-Flügel-Altar von 1511. 


zu: W. Junius, Der Meister H. W. 


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Was den friiher irrtümlich mit der Tulpenkanzel in Verbindung gebrachten Hans 
von Köln (alias Hens Koler von Köln oder Kolin) anbelangt, so verweise ich auf 
Leo Bönhoff und Oswald Schmidt, a. а. О. Unter anderen Meistern gleichen oder 
ähnlichen Namens wäre zu erwähnen ein Johann von Collen, der Meister des 
Antoniusaltars von 1522 aus der Lübecker Burgkirche im Lübecker Museum). 
Für die Salzwedeler Marienkirche fertigte in dem gleichen Jabre der nürnbergische 
Erzgießer Hans von Cöln den Taufbeckenständer und das dazugehörige Gitter, und 
endlich begegnet uns der Name Hans Koler (also die gleiche Namensform wie in 
der Annaberger Urkunde) unter den Nürnberger Stadtbaumeistern °). 

Meine bisherigen Untersuchungsergebnisse, die nicht den Anspruch monographi- 
scher Abgeschlossenheit erheben, sandern nur anregend auf diegen bisher zu wenig 
gewtürdigten Meister hinweisen wollen, lassen sich dahin verdichten, daß der Meister 
H. W. der einheimischen sächsischen Schule nicht angehört, sondern nur vorüber- 
gehend in Chemnitz, Annaberg und Freiberg tätig gewesen ist“). Er hat einen 
Mitarbeiter und „Doppelgänger“ zeitweilig zur Seite gehabt, worauf u.a. stilistische 
Abweichungen am Ehrenfriedersdorfer Altar (Aufsatzgruppen und Schrein- bzw 
Flügelfiguren sind nicht von der gleichen Hand geschnitzt)‘), schließen lassen. 
Dieser „Geselle“ des Meisters H.W. hat sich selbständig z.B. am Mildenauer Altar 
(Amtsh. Annaberg) betätigt, den man fast für eine Werkstattarbeit des Meisters 
H. W. halten könnte. Auch der Mittelbacher Altar dürfte als Werkstattarbeit und 
nicht als eigenhändige Schöpfung des Meisters H.W. anzuseben sein. 

2. Die von Voß angenommene Übersiedelung von Chemnitz nach Saalfeld halte 
ich auf Grund eines eingehenden Vergleiches der aufgeftihrten thiiringischen Altäre 
mit den erzgebirgischen Arbeiten des Meisters H. W. für eine Fiktion, die z. T. 
auf der irrtümlichen Identifizierung des Hans von Köln mit Meister H. W. beruhen 
dürfte. 

3. Daß der Meister aus Norddeutschland oder außerdeutschen nördlichen Kunst- 
zentren stammt, erscheint mir unwahrscheinlich, und ich schließe mich da, soweit 
Schweden in Frage kommt, J. Roosval an. Schwäbische Plastiker der gleichen 
Zeit zeigen ebenfalls keine Beziehungen zu des Meisters H. W. Stilformen“). In 
den Sammlungen Schnütgen (Köln, Kunstgewerbemuseum), dem Suermondt-Museum- 
Aachen®), dem Germanischen Museum-Nürnberg, dem Bayerischen Nationalmuseum- 
München und der ehemaligen Sammlung Dr. Oertel-München, in denen die Kunst 


(x) Vgl. A. Goldschmidt: Lübecker Malerei und Plastik bis 1530 (Lübeck 18до). 

(2) Von einem Nürnberger Stadtbaumeister Lutz Steinlinger, der 1452 Nachfolger des Stephan Schuler 
wurde, rührt die erste der drei großen Aufzeichnungen her, die über Verwaltung und Betrieb des 
Nürnberger Bauamts am Ende des Mittelalters erschöpfende Kunde geben. Sein Nachfolger im Amte 
ist der Stadtbaumeister Hans Koler, der 1452—1461 amtierte, und von Endres Tucher abgelöst 
wurde (Bibliothek des Literarisechen Vereins Stuttgart, 1864). 

(3) Wir erinnern an Jakob Helbwig von Schweinfurt, Theophilus Ebrenfried, Frans von Magdeburg, 
Hans von Calbe u.a., die auch zugewanderte Meister waren, Zwischen dem Selbstbildnis des Theo- 
philus Ehrenfried von 1499 an der Emporenbrüstung der Annaberger Kirche und dem Selbatbildnis (?) 
des Tulpenkansel- Meisters in Freiberg vermeine ich auch eine Ähnlichkeit zu finden, die vielleicht 
nur eine zufällige ist. 

(4) Zahlreiche Einzelaufnahmen im Bäche. Landesamt für Denkmalpfiege in Dresden, die mir der 
Landeskonservator Dr. Bachmann in dankenawerter Weise sur Vesfügung stellte, 

(5) VgL Marie Schustte: Der schwäbische Schnitssiter (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 91). 
Straßburg 1907. 

(6) Vgl. Hermann Schweitzer: Die Skulpturensammlung des städtischen Suermondt-Museums su Aachen. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1982, 4—6. 10 145 


Westdeutschlands, der Niederlande sowie Bayerns in hervorragenden Stücken ver- 
treten ist, fand ich kein Werk, das deutlich Analogien zu der Formengebung, Aus- 
drucksbewegung und Gestaltungskraft des Meisters H. W. zeigte. Auf ein Werk 
aber möchte ich hinweisen, das mir einen wichtigen Fingerzeig zu geben scheint. 
In der Dezember 1912 in Köln versteigerten Sammlung Carl Roettgen-Bonn befand 
sich ein kleiner, durch zwei Flügel geschlossener Altarschrein mit einer den Schrein 
ausfüllenden, fast vollrund geschnitzten Gruppe: Christus beim Pharisäer Simon. 
Roettgen hatte den Altar in Wesel erworben, doch ist er nach Heribert Reiners 
hessische oder sächsische Arbeit’). Die Gewandfaltenbehandlung an der Figur 
des seitlich links am Tisch auf einer Truhe sitzenden Christus ähnelt sehr der in 
der Werkstatt des Meisters H. W. beliebten Schnitzweise, die m. E. für einen noch 
näher zu bestimmenden mittelrheinischen (Mainz ?) Kunstkreis typisch sein dürfte. 

4. Auf die Möglichkeit einer Beziehung zu Krafft und auf die Wahrscheinlichkeit, 
daß der Meister H.W. der Schule Riemenschneiders entstammt, wurde mehrfach 
hingewiesen. Doch fehlt der seinerzeit von mir im Sächs. Altertumsverein?) ge- 
äußerten Vermutung, er habe sich in den Jahren 1472—1495 unter der stattlichen 
Anzahl Würzburger Kunstgesellen befunden, die wie T. Riemenschneider, Ulrich 
Hagenfurter und sein Schüler Hans Wagenknecht an der Marienkapelle beschäf- 
tigt waren, die urkundliche Bestätigung 5). 

5. Schwierig ist eine auch nur annähernd richtige Anordnung der Werke des 
Meisters H. W. hinsichtlich ihrer Entstehungszeit. Als früheste Arbeit ist seine 
Mittätigkeit am Ehrenfriedersdorfer Altar zu bezeichnen. 1507—10; 

Bornaer Altar 1511 datiert; 
Annaberger „Schöne Tür“ - Altar 1512 datiert; 
Ebersdorfer Pulthalter 


Chemnitzer Madonna zwischen 1510— 20 in Chemnitz 
Geißelungsgruppe entstanden; 
Gl&saer Altar 


Freiberger Tulpenkanzel um 1512 wohl auch in Chemnitz ent- 
standen und im Freiberger Dom aufgestellt; 

Mittelbacher Altar, vielleicht nur Werkstattarbeit und nicht eigen- 
händig um 1511 wie Borna; 

Chemnitzer Schloßkirchenportal, 1525 beendet. Entwurf vielleicht 
vom Meister Н. W. 


Des Meisters H.W. Stil unterscheidet sich so auffallend in seiner spröden, scharf- 
brüchigen und knittrigen Gewandanordnung, herben Figurenhaltung und Gesichts- 
bildung (metaphorisch ausgedriickt: einer Orchestrierung in Dur vergleichbar) von 
der weichgeschwungenen Mollkantilene lieblicher und anmutiger Gestalten, und 
den wogenden, sich bauschenden Gewändern der zeitgenössischen fränkisch- 
sächsischen Schule, daß seine Sonderstellung unter den Plastikern des ausgehenden 


1) Vgl. Paul Clemen-Bonn: Kunstdenkmäler der Rheinprovinz V, 3, 8.215, Nr. g. 

(2) VI. Jahresbericht des Sächs. Altertumsvereins 1915, 8. 7. 

(3) Vgl. „Liber ad causas de anno 1434 biss 1488“ (Msc. des Würsburger Stadtarchivs), wonach in 
den 23 Jahren von 1472—1495 nicht weniger als 130 Maler und Bildschnitzer aus Franken, Bayern, 
Thüringen, vom Rhein, aus Böhmen, Schlesien, Pommern und Lübeck, sogar aus Ungarn und der 
Schweis in die Zunft eingetragen sind. jedenfalls erklärt uns die Freizügigkeit und Wanderlust der 
Jünger der edlen Schnitskunst leicht ähnliche stilistische und technische Gewohnheiten an örtlich 
weit getrennten Plätzen. 


146 


Mittelalters überall klar in die Erscheinung tritt, und seine Werke, wo auch immer 
sie auftreten mögen, unschwer kenntlich sind. Aus der bestimmenden und be- 
drückenden Enge mittelmäßiger Durchschnittsarbeiten aus sächsischen Altarwerk- 
stätten führen seine Werke hinüber in die großen westlichen Kunstzentren?), in 
das Gebiet freier und wahrhaft bedeutender Meister. 


(1) Lassen sich folgende Rechnungsvermerke in Steffan Stroels Ausgabenbuch (Ernest. Gesamtarchiv, 
Weimar B.b. 4188) auf Hans von Köln und die Gemälde des Ehrenfriedersdorfer Altares beziehen? 
„1505, XXI fl. ІХ gl an XX goldgulden an müntz Einem maler zcu Kolnn sol m. g. h. (Kur. 
fürst Friedrich der Weise) ein taffel machen gen Witt.(enberg) auf Erbaydt, hat Im pfeff. (inger) geben.* 
Ferner ebenda B.b. 4198 Limbachs Rechnung Bartholome, bis Galli 1507: „11 guiden furion mit 
zweien Tafeln von Collen komen gein Wittenberg und mit denselben wein ana lachs.“ 


147 


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EIN GRÜNEWALDKOPF VON PH. UFFENBACH ? 


Mit zwei Abbildungen auf einer Tafel in Lichtdruck 


rünewalds Schüler Grimmer war wieder der 

“Л Lehrer des Frankfurter Malers Uffenbach. 
Außer dem großen Altarwerk mit der Himmel- 
fahrt Christi und der Auferweckung der Gebeine 
in der ehemaligen Dominikanerkirche (jetzt im 
Historischen Museum) hat dieser eine größere 
Frauen, deren vertrocknete Gebeine sich wieder 
zu Leibern zusammenbauen (Abb. 1). 

Unter all den Köpfen, die hier gezeigt werden, 
fällt einer durch individuelles Gepräge auf; er ge- 
hört einem Manne zu, der rechts vom Propheten 
auf der Erde kniet und sich mit beiden Händen 
aufstützt, während der Mund sich halb öffnet, und 
die großen Augen sich dem Propheten zuwenden. 
Eine Ähnlichkeit mit dem Kopf des h. Sebastian 
auf dem Isenheimer Altar scheint mir nicht zu 
verkennen zu sein: in der Form der Nase mit 
der breiten Wurzel, der leichten’Einsattelung und 
dem etwas klobig verdickten Ende, den starken 
Nasenflügeln in den großen ausdrucksvolien, barock- 
mäßig noch etwas weiter geöffneten Augen mit 
ihrer Umgebung, der Einsenkung zwischen Backen- 
knochen und Unterkiefer, in der Gestaltung des 
Mundes mit den schräg abwärts gehenden Falten 
und der fleischigen Unterlippe, während die Ober- 
lippe flüchtiger behandelt ist (Abb. 2). 

Das bei dem Sebastian schon kräftige, breite 
Untergesicht ist bei Uffenbach fast übertrieben 
breit und eckig, zeichnerisch in den Proportionen 
nicht ganz bewältigt, und bei beiden sind die 
Halsknochen stark betont, die sehr weit nach 
unten geführt sind. Auch das weiche lange Haar, 
das weit in den Nacken hinunterfällt, würde, wenn 
auch nicht so sorgfältig gelegt und behandelt, 
seine Analogie bei dem Sebastian finden und tritt 
ja auch bei den Frankfurter Tafeln des Cyriacus 
und Laurentius auf, Bei den anderen Männern 
des Uffenbachschen Bildes bleibt der Nacken frei. 

Daß hier etwas Besonderes mit diesem Kopf 
beabsichtigt ist, scheint mir zweifellos; der Ge- 


Von KARL SIMON 


Tafel mit der Vision Ezechiels (Kap. 37) geschaffen 
(ebenfalls im Hist. Museum). In der Mitte vorn 
der niederkniende und nach oben blickende Prophet, 
hinter ihm das Totenfeld mit der Menge der Auf- 
erstehenden in kleinen Figürchen, neben ihm in 
größeren Dimensionen Gruppen von Männern und 
chtstypus sonst ist völlig abweichend und ha 
mit seinen hohen Stirnen und scharfen Nasen 
bei den Männern etwas Konstruiert-Akademisches, 
während die Frauen mehr nach dem Puppenhaften 
zu abgewandelt sind. Selbst der Ezechiel hat 
nichts eigentlich Individuelles, sondern Typisch- 
Patriarchenhaftes. Unser Kopf allein hat auch 
etwas von dem Ausdruck eines innerlich irgend- 
wie gehemmten Lebens, ein Ausdruck, der sich 
auch bei dem Sebastian, wenn auch weniger stark 
und hier unmittelbar begründet, findet. So be- 
kommt die unsweifelhafte Verwandtschaft mit dem 
Sebastianskopf ihre besondere Bedeutung; jenem 
Kopf, in dem Rieffel und Schmid ein wirkliches 
Selbstbildnis Grünewalds zu sehen geneigt sind 
(Schmid, S. 60, 147), eine Vermutung, die jetzt 
vielleicht durch diese Beziehung — wenn ihre 
Berechtigung anerkannt wird — noch an Wahr- 
scheinlichkeit gewinnt. 

Ob Uffenbach jemals in Isenheim war, wissen 
wir nicht; vielleicht aber befand sich ein Blatt 
mit einem solchen Kopf in dem Handseichnungs- 
bande, den Uffenbach von Grimmer überkommen 
hatte. Wußte Uffenbach wohl, daß dieser Kopf 
ein Bildnis Griinewalds war, und wollte er dem 
großen Meister ein besonderes Denkmal setzen? 
ihn für die, die ihn kennen, mit Namen bezeich- 
nen in dem Limbus der Namenlosen, ihm eine 
besondere Stelle anweisen in dem „großen Hoer“ 
derer, in „die Odem kommt, und die wieder leben- 
dig werden und sich auf ihre Füße richten?“ 
Und ist Grünewald nicht schon jetzt in einem 
ganz spezifischen Sinne wieder lebendig ge- 
worden? 


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TAFEL 3 


IZAN ; 


Abb. 1. Philipp Offenbach; Die Auferstehung der Gebeine. 
Frankfurt a. M., Historisches Museum. 


| = \ REIT УУ | 

Abb. 2. Ausschnitt aus Abb. 1 Abb. 3. Grünewald: Kopf des h. Sebastian. 
Colmar, Isenheimer. Altar. 

Nach H. A. Schmid: Grünewald. Straßburg 1911—13. 


"Jinan Wanani Cre ЕЕ Rm Еч У 1.11. _£ Dr т^ hk. kk. o S 


REZENSIONEN 


LILI FRÖHLICH-BUM, Parmigianino 
und der Manierismus. (Kunstverlag 
A. Schroll, Wien 1921). 


Die Verfasserin knüpft an die Persönlichkeit 
Parmigianinos eine ebenso weitausgreifende wie 
leinsinnige Betrachtungen über den maniéristischen 
Stil, der von seinen Anfängen im malerischen, 
seichnerischen und graphischen Werk des Malers 
von Parma bis zu seinen letsten Auswirkungen 
in Malerei, Plastik und Kunstgewerbe verfolgt wird. 

Wurde die Aufgabe einmal so umfassend ge- 
staltet, das Ziel so weit gesteckt, dann war Be- 
schränkung auf den engeren Schulkreis oder auch 
nur auf die Malerzunft ausgeschlossen. Neben 
Schülern im eigentlichen Sinn und Künstlern wie 
Vasari, Salviati, Bronzino, Rosso, Niccolo dell’ 
Abbate, Pontormo, in deren Werken Parmigianinos 
Formauffassung nachklingt, werden auch die Schule 
von Fontainebleau, die Bildhauer J. Goujon, Pilon, 
Benvenuto Cellini, Alessandro Vittoria, Giambo- 
logna, Adriaen de Vries gewürdigt. Den Künstler- 
kreis, der sich am Hofe Rudolphs IL um den be- 
raéhmten Kunstsammler und Mäcen geschart hatte, 
die Hofmaler Bartholomäus Spranger, Hane von 
Aachen, Josef Heinz behandelt Verfasserin im Zu- 
sammenhang mit Parmigianinos Kunst. 

Bis nach Nürnberg, München, Wien werden 
die Spuren des manieristischen Stils verfolgt. 
Hans Vischer, Wenzel Jamnitzer, Peter Candid, 
Hubert Gerhardt, Georg Raphael Donner — ich 
greife nur die klangvolisten Namen heraus — 


finden eingehende Beachtung. Mit wachem Spär- ` 


sinn deckt Verfasserin an ihren Werken Kenn- 
seichen des Manierismus auf. 

Fraglos erhält die auf breitester Grundlage auf- 
gebaute Arbeit besonderen Wert durch die nach 
verschiedensten Kunstrichtungen hinweisenden 
Verknüpfungen, wenn man auch vielleicht nicht 
in allen angeführten Künstlern und ihren Werken 
unmittelbar oder mittelbar Parmigianinos Einfiuß 
wird finden wollen. 

Neben den Großen seiner Zeit, Michelangelo, 
Raphael, Correggio geht Parmigianino seinen 
eigenen Weg, verfolgt eigene Ziele. Ein neues 
Schénheitsideal stellt er auf, das, aus dem uner- 
meßlich reichen Born antiker Menschenbildung 
schöpfend, beredten Ausdruck findet in schlanken, 
überschlanken, feingegliederten Gestalten, knappen, 
gestrafften Körperformen, ausdrucksvollen Händen, 
auf biegsamem Halse stolz und elegant getragenen 
Frauenköpfen, „griechischen“ Profillinien, durch- 


geistigten, lebendigen Gesichtszügen (ver allem 
in den männlichen Bildnissen). In Parmigianines 
Frauengestalten verkörpert sich zum erstenmal 
der moderne Begriff der „Dame“ mit allen ihren 
feinsten inneren und äußeren Abschattierungen. 
Der „Dame“ steht die kühle, vornehme Zurück- 
haltung wohl an, die fast allen weiblichen Figuren 
Parmigianinos, ja überhaupt dem manieristischen 
Stil eignet. Welch Gegensatz zu Michelangelos 
Ausbrüchen vulkanischer Leidenschaft oder Correg- 
gios himmelanstürmendem Überschwang und 
süßer Trunkenheit! Raphaels Figuren römischer 
Zeit wirken wie gesunde Naturmenschen gegen- 
über Parmigianinos anmutigen, zierlich bewegten 
Frauen und Mädchen, die einer leichten Koketterie 
nicht entbehren. 

Mit Recht betont Verfasserin den tief einschnei- 
denden Unterschied zwischen Barock und Manie- 
rismus. Dort Ausdruck einer leidenschaftlich be- 
wegten Seele, Natureindruck, hier eine durch 
strenge Schönheitsgesetze gebändigte Form, Stil, 

An den Gewändern, die wie feucht anklebend 
die Körperformen mehr hervorheben als verhüllen, 
der Gesichtsbildung, der bisweilen reliefartig wir- 
kenden Zusammenstellung der Figuren, nimmt 
man neue, starke Anregungen wahr von seiten 
des klassischen Altertums auf die neuzeitliche 
Kunst. | 

Rein malerisch betrachtet eröffnen die Bilder 
Parmigianinos neue Ausblicke auf unbetretene 
Bahnen — ich denke besonders an die schöne 
Madonna mit Johannes dem Täufer und Stephanus 
der Dresdner Gelerie — die weiter zu verfolgen 
sich wohl verlohnen würde, 

Die vortreffliche Arbeit wird durch ein überaus 
reiches Abbildungsmaterial unterstützt, für das 
wir der Verfasserin wie dem Verlag gleich Dank 
wissen, Н. v. d Gabelentz. 


OSKAR HAGEN: Deutsche Zeichner 
von der Gotik bis zum Rokoko. Mit 
110 Abb. München, R. Pieper & Co. 1921. 


Was der Titel verspricht, hält das Buch mit 
nichten; es sind im wesentlichen die Erscheinunged 
Schongauers, Dürers, Altdorfers, Wolf Hubers und 
Rembrandts, deren zeichnerischer Stil von Hagen 
in glänzender Weise analysiert und in Verhältnis 
zueinander und zur deutschen Sehform schlechthin 
gesetzt wird. Aber es bringt weit mehr, als der 
Titel verspricht; und wenn man Hagen kennt, so 
weiß man auch, worauf es hinaus will. Zunlichst 
sind da über 100 ausgezeichnet gewählte AbBil- 


149 


dungen, die das Buch zu einem unschitsbaren 
Behälter von Anschauungsmaterial machen, die 
aus vielen Kupferstichkaßinetten mit Sorgfalt und 
Geschmack zusammengesucht und vorzüglich re- 
produsiert sind (in das Verdienst dieser muster- 
haften Publikation teilen sich der Pipersche Ver- 
iag und die Druckerei A. Wohlfeld). Erst auf 
solcher Basis kann die eingehende Analyse Hagens 
fußen, die das Wesenhafte deutscher Zeichnung 
im 16. und 17. Jahrhundert auseinandersetzt; erst 
auf Grund solcher Anschauung kann uns der Be- 
weis deutscher Formanschauung bezwingen. Das 
Uberseugende an der These Hagens, der er nun 
schon das zweite Werk, und mit wachsender Ein- 
dringlichkeit, widmet, ist ihre Einfachheit; das 
Besondere im vorliegenden Falle die geistvolle 
und treffsichere Abwandlung durch wechselnde 
Epochen des Formgefühls, indem z. B. Dürers 
durchdringende Naturerkenntnis der systematisch 
stiischöpferischen und wegebereitenden Arbeit 
Schongauers gegenübergestellt wird; indem Wolf 
Huber als die freiere und naturunmittelbarere Aus- 
deutung des großen Entdeckers Altdorfer in sehr 
Hebevoller Weise und wahrhaft kongenial durch- 
gezeichnet wird. Was auch dieses Buch aber, 
und ganz besonders dieses, so wertvoll macht, ist 
die Eindrücklichkeit des Eriebnisses, aus dem 
heraus es geschaffen ist. Darin ist Hagen wie 
ein Künstler anzusehen, daß seine Bücher aus def 
Notwendigkeit und aus dem Herzen stammen, 
daß sie ihm Tatsachen inneren Erlebens darstellen 
und darum ganz unmittelbar und überwältigend 
wirken. Es wird ohne Zweifel Kunsthistoriker 
geben, welche diese Methode und ihre Resultate 
gründlich mißbilligen, denen die Wissenschaftlich- 
keit Hagens nicht ernsthaft genug dünkt. Darum 
sei hier prinzipiell festgelegt, daß es eine objektive 
Wissenschaftlichkeit im Sinne der Naturwissen- 
schaften bei den Geistes- und vor allem Kunst- 
wissenschaften nicht gibt, und daß die eigentliche 
Arbeit des Kunstwissenschaftlers erst jenseits aller 
gelehrten Feststellungen beginnt, Das Objektive 
in der Kunstgeschichte ist im Grunde die Kärrner- 
arbeit, und eine schöpferische Tätigkeit kann erst 
bei der synthetischen Brauchbarmachung des Stoffes 
einsetzen. Eine solche aber ist niemals Sache der 
philologischen Gründlichkeit, sondern einer In- 
tuition, die weit näher beim Künstler als beim 
„strengen“ Wissenschaftler steht. Selbstverständ- 
lich ist die Akribie und kritische Zuverlässigkeit 
des Quellenforschers und Denkmäleraufzeichners, 
des historischen Griblers und des Methodikers 
durchaus vonnöten; war, den materialistischen 
Verdiensten des 19. Jahrhunderts entsprechend, 


150 


die wesentliche und grundlegende Arbeit der voran- 
gehenden Generationen, Aber nur Stoff zusammen- 
zuhäufen und die Haufen systematisch nach Jahr- 
hunderten und Namen zu schichten, ist nicht die 
letzte Perspektive der Kunstwissenschaft. Mit dem 
Eroberten zu schalten und ein Gebäude zu er- 
richten, in dem der Geist wohnen kann und der 
Kunst selber der Hochaltar errichtet wird: das ist 
nun die Aufgabe, die vor uns steht. Das un- 
schätzbar große und weitwirkende Verdienst Hein- 
ich Wölfflins ist es, den Weg zur Synthese 
gezeigt nnd beschritten zu haben. Wenn sich 
Hagen nun — wie vor ihm schon Worringer u. а. — 
gegen ihn stellt, so bedeutet das nicht eine Gegner- 
schaft des Prinzips, sondern eine Antinomie der 
Anschauung. Aus dem lebendigen Miterleben der 
gegenwärtigen Kunst heraus hat unsere Generation 
ein anderes, ein umfassenderes Ideal der Kunst 
gewonnen und versucht, alteingerostete Anschau- 
ungen auch über alte und älteste Kunst zu ver- 
rüngen und durch fruchtbarere Systematik oder 
deren Gegenteil zu ersetzen. Uns ist Dürer nicht 
mehr der Dürer Thausings und nicht einmal der 
von Wölfflin. Unsere Führer entdecken neue 
Herrlichkeiten unter dem Allbekannten, das uns 
ein Schulmeistertum von Winckelmanns Gnaden 
längst zum Ekel gemacht hatte; und unsere Pio- 
niere entdecken kostbares Neuland von den Felsen- 
tempeln Dekkans bis zu den mexikanischen Götzen 
und den Bronzen von Benin. 

Bücher aber, die neues Material bringen und 
zugleich aus ihm die künstlerische Folge ziehen, 
die ein Erlebnis daraus projizieren wie die, Deut- 
schen Zeichner“ von Hagen, scheinen mir darum 
die wertvollsten zu sein. Deutsche Zeichnung ist, 
bis auf Dürer, Holbein und allenfalls Chodowiecki, 
das Unbekannteste und dennoch Wertvollste in 
unserer Kunst. Mit diesem Buch hat sich Hagen 
ein noch größeres Verdienst erworben als mit 
seinem Grünewald und ein Recht bekommen, unter 
unseren Kunstschriftstellern mit an erster Stelle 
genannt zu werden: wegen der Echtheit und Größe 
seiner künstlerisch-wissenschaftlichen Vision; trotz 
allen Einwänden, die man dagegen erheben könnte, 
und die nicht das Wesentliche treffen. 

Paul F. Schmidt. 


HEINRICH GLUCK, Probleme des 
Wölbungsbaues, Bd.I: Die Bäder 
Konstantinopels. Aufnahmen, Be- 
schreibungen und historische Erläute- 
rungen mit 117 Abb. 4°. 176 S. (Arbeiten 
des kunsthistorischen Instituts der Uni- 


versität Wien, Lehrkanzel Strzygowski, 
Bd. XII), Wien, Halm & Goldmann, 1921. 
М. 100.—. 


Der Verfasser nimmt die türkischen Thermen- 
bäder Konstantinopels zum Anlaß, um, von ihnen 
ausgehend, eine „der brennendsten Fragen der 
Kunstgeschichte“ (8. 7), nämlich Ursprung und 
Entwicklung des Wölbungsbaues in Ost und West, 
zu untersuchen. Er verspricht, im Sinne der 
universal gerichteten Einstellung, wie sie das 
Wiener Institut Josef Strzygowskis auszeichnet, 
den prähistorischen, antiken, christlichen und 
islamischen Wölbungsbau zu behandeln. Diese 
typengeschichtliche Untersuchung soll der zweite 
Band bringen. Man darf darauf gespannt sein, 
denn in H, Glück ist im Laufe der Jahre, wie 
seine Arbeiten über syrische, armenische, sassa- 
nidische, byzantinische und islamische Kunst be- 
zeugen, einer der tüchtigsten Kenner östlicher 
Kunst herangereift. 

Der vorliegende erste Band führt 26 eingehend 
aufgenommene Bäder Konstantinopels vor und 
gewährt damit hinreichende Übersicht über die 
Haupttypen dieser kulturell und künstlerisch außer- 
ordentlich wichtigen Gruppe von Zweckbauten. 
Man konnte sich bisher nach den paar vereinzel- 
ten Aufnahmen bei Texier und Gurlitt keine ihrer 
Wertstellung entsprechende Vorstellung machen. 
Glücks Buch bereichert also wesentlich unsere 
Kenntnistürkischer Monumentalarchitektur, — denn 
dazu gehören die Bäder, deren großzügige Anlage, 
veranlaßt durch die kultlich-religiöse Bedeutung, 
die der Islam mit dem Gebrauch des Bades ver- 
bindet, weit über das bloß Zweckliche hinausragt. 

Die prachtvollen Raumanordnungen — es han- 
delt sich stets um die Folge: Auskleide-, Halb- 
warm- und Warmraum (Djamken, Soukluk, Ha- 
rara) — und Raumbildungen in den sauber ge- 
zeichneten Grundrissen und Schnitten auf sich 
wirken zu lassen, bietet hohen künstlerischen 
Genuß. Vielfach erinnern die einzeinen Zentral- 
anlagen gestaltlich an abendländische Barock- 
schöpfungen und verstärken die schon anderwärts 
durch Strzygowski (Baukunst der Armenier, S. 863 f., 
Leonardo - Bramante - Vignola im Rahmen vergl. 
Kunstforschung, Mitt. d. Kunsthist. Inst. in Florenz 
Ш, 8. 1, Berlin 1919) und H. Glück (Östlicher 
Kuppelbau, Renaissance und St. Peter, Monatsh. 
f. Kunstwiss. 1919, 8. 162, Kunst und Künstler 
an den Höfen des ı6.—ı8. Jahrh. und die Be- 
deutung der Osmanen für die europäische Kunst, 
Histor. Blätter I, 192r, S. 303) ermittelten ent- 
wicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge zwi- 


schen westlicher und östlicher Nordkunst. Wer 
daraufhin Fischer von Erlachs „Entwurf einer 
historischen Architektur“ durchsieht, wird weitere 
Belege dafür finden, von manchen gestaltlichen 
Dekorationselementen, zumal im Spätbarock, ganz 
abgesehen, deren wörtliche Übernahme aus dem 
Formenschatz der viel zu wenig geschätzten und 
in den Vorstellungsbesitz des abendländischen 
Kunstforschers kaum noch eingedrungenen türki- 
schen Großbaukunst außer Zweifel steht. 

Zum Aufbau des Buches ist zu bemerken, daß 
es methodisch nicht angeht, die Wesensunter- 
suchung dem Denkmälerkatalog und der litera- 
rischen und historischen Kunde voranzustellen. 
Es wird dadurch im ersten Teil (Wesensunter- 
suchung) ein ständiges Bezugnehmen auf den 
zweiten nötig, ohne daß der Leser die Denkmäler, 
deren Wesen untersucht wird, schon kennt. Ferner 
nimmt der Verfasser den Wesensbegriff „Gestalt“ 
zu eng, wenn er darunter nur die „architektoni- 
schen Einzelformen“ (S. 22) begreift. Es wirkt 
auch, zumal für jemanden, der in Strzygowskis 
planmäßige Wesensuntersuchung nicht eingearbei- 
tet ist, verwirrend, im Gestaltabschnitt von Formen 
zu sprechen, da Strsygowski scharf zwischen Ge- 
stalt und Form unterscheidet. Allein durch alle 
diese Umstände erfährt der Wert des Buches, das 
im einzelnen sehr gewissenhaft und gediegen ge- 
arbeitet ist und uns ein schönes Stück östlicher 
Kunst neu erschließt, keine wesentliche Beein- 
trächtigung. Hoffentlich erscheint bald der zweite 
Band mit der entwicklungsgeschichtlichen Ein- 
stellung der türkischen Thermenbäder in den all- 
gemeinen Wölbungsbau und hoffentlich — das 
ist eine Forderung! — bewilligt dann der Verlag 
für die Autotypien geeigneteres Papier. Von den 
57 Autotypieabbildungen gelangen aufdem rauhen 
Textpapier kaum ein Drittel zu genügender Wir- 
kung. Das ist sehr bedauerlich und schädigt als 
einziges den Wert der wichtigen Publikation. Der 
Verlag muß Sorge tragen, daß der Übelstand in 
einer Neuauflage und vor allem im zweiten Band 
verschwindet, Karl Ginhart. 


DAS MINIATUREN-KABINETT DER 
MÜNCHENER RESIDENZ. 69 Abbil- 
dungen in ein- und mehrfarbigem Licht- 
druck. Vorwort und kritischer Katalog 
von Hans Buchheit u. Rudolf Olden- 
burg. Verlag von Franz Hanfstaengl, 
München 1921. 

Mag auch die rein kunstwissenschaftliche Aus- 
beute, die die technisch vorbildliche Veröffent- 


151 


die geschnitzten Zähne dem гу. Jahrhundert, die 
Holseschnitsereien dem späten 18. und dem 19. Jabrt 
hundert an. 

Statt aller Einzelheiten der Technik, für deren 
Zusammenstellung ich auf das Original und auf 
meine gleichzeitig in der Ztschr. f. Ethnol, er- 
scheinende Besprechung verweise, muß wenigstens 
die vollendete Beherrschung des cire perdue-Ver- 
fahrens hervorgehoben werden, die mit stark 
wechselnden Legierungen (s. Kap. 66) jedenfalls 
die Höhe des überhaupt Erreichbaren darstelk 
und in der Dünne des Gusses, der Kühnbeit der 
Unterschneidungen und der nachweislich schon 
in der Wachsform vorhandenen Detaillierung der 
gleichzeitigen Technik in West- und Mitteleuropa 
eher überlegen ist. Platten mit susgedehnteren 
Gußfehlern wurden zerbrochen (8. 51) und ein- 
geschmolzen, kleinere Gußfehler mit Kupferplomben 
so geschickt ausgebessert, daß sie nur bei zufällig 
an solchen Stellen beschädigten oder von der late- 
ritischen Patina gewaltsam gereinigten Stücken 
zum Vorschein gekommen sind, Mit Bronze um- 
fangene Eisenkerne längerer Geräte und andere 
umgossene Einlagen zeigen, daß den Beninkünst- 
lern die relativen Schmelstemperaturen der Metalle 
vertraut waren. Alle Gußwerke besserer Zeit 
lassen eine wochenlange Überarbeituug erkennen, 
zu der auch eine bewundernswert feine Punzie- 
rung vieler Einzelheiten der Tracht und Tito- 
wierung sowie bei den Platten des ganzen Unter- 
grundes gehört. Entsprechend neigt auch der 
Stil der Elfenbeinschnitzereien dazu, glatte Flächen 
durch Kerben zu beleben (8. 465); die Holz- 
schnitzerei zeigt eine regelmäßige Mischung von, 
trotz des sonstigen Verfalls, gut beherrschter Kerb- 
und Keiltechnik (S. 489). Repoussierte Arbeiten 
sind wenig zahlreich, spät und vergleichsweise 
ganz roh (Kap. 41), dagegen sind als besonders 
kostbar die nach chinesischer Art doppeltgeschach- 
teiten Elfenbeinarmbänder hervorzuheben (8. 400), 
die wir einzig und allein aus Benin kennen und, 
schon im 16. und 17. Jahrhundert in fürstliche 
Kunstkammern gelangt, erst jetzt sicher unter- 
gebracht werden konnten. 

Im Gegensatz zu den letztgenannten, sozusagen 
allgemeinen Techniken, war die Bronzekunst eine 
durchaus höfische. Nicht nur, daß der Bronze- 
gießer zum engeren Hofstaat dea jeweiligen Königs 
gehörte und seine Werkstatt sich in dem Bezirk 
der weitausgedehnten Fiöfe selbst befand, sondern 
der Künstler scheint auch, wie noch in den 80ег 
Jahren in einem Negerkleinstaat des benachbarten 
Dahomevorlandes, nur für den König gearbeitet 
zu haben, und bis zu dem großen Bürgerkrieg 


154 


1691 — 1701 dürfte der Besits von Bronzewerken. 
überhaupt der königlichen Familie vorbehalten ge- 
wesen sein (vgl. 8. 153). Speziell die Platten 
dienten ausschließlich dem Schmuck der Trage- 
pfeiler in den Galerien des Palastes, und so ist 
es nicht verwunderlich, daß auf ihnen wie auch 
in den meisten Rundgüssen Personen und Gruppen 
des Hoflebens, des offisiellen Kultes des wels- 
beinigen Meergottes und europäischer Gäste vor- 
herrschen und selbst die Kleinkunst sich über- 
wiegend seremonialen oder sakralen Gegenständen 
widmet, 

Muß auch die Frage nach der Herkunft der 
Gußtechnik noch offen bleiben (frühe transsaha- 
rische Entlehnung ist allerdings immer wahr- 
scheinlicher geworden), und geht das Rohmaterial 
wenigstens teilweise sicher auf portugiesische, in 
Form von hufeisenförmigen Geldringen eingeführte 
Handelsware zurück, so ist doch „der Stil der 
Erzarbeiten aus Benin rein afrikanisch, durchaus 
und ausschließlich ganz allein afrikanisch“ (8. 15). 
v.Luschan führt aus der großen Reihe von mo- 
dernen afrikanischen Köpfen und Figuren in Taf.ı27 
und 128 zwei ausgesucht schöne Stücke vor, deren 
Herkunft (Nordwestkamerun, inneres Kongobecken) 
europäischen oder orientalischen Einfluß schlech- 
terdings ausschließt, die aber in Holz genau die- 
selben stilistischen Eigentümlichkeiten zeigen wie 
die Bronzegüsse aus Benin, und Woermann 
bat ja bekanntlich die gleiche Auffassung ver- 
treten (Geschichte der Kunst usw., з Aufl., Bd. a, 
S. 63—65). In alter Zeit aus Europa eingeführte 
Gegenstände, die uns mehrfach erhalten sind 
(Kap. 64), verraten dagegen gänzlich andere Tra- 
dition. In der Beninkunst ist, während die ein- 
heimische Tracht und Bewaffnung stets mit einer oft 
übertrieben minutiösen Treue dargestellt werden, 
nicht nur die der Europäer jedesmal in einem 
oder mehreren Punkten völlig mißverstanden (vgl. 
bes. 8. 27), sondern auch diese selbst sind hin- 
sichtlich des langen schlichten Haares und der 
schmalen hohen Nasen so übertrieben dargestellt, 
daß es sich eben nur um Künstler handeln kann, 
denen der Europäer als solcher fremdartig war. 
Vielleicht ist ao auch die merkwürdige „knie- 
weiche“ Haltung der meisten Europäerfiguren zu 
verstehen. Wenn also „auf allen bisher bekannten 
Kunstwerken aus Benin der Neger stets so dar- 
gestellt wird, wie er ist, der Europäer aber stets 
so, wie er scheint“ (S. 23), so kann v.Luschan 
mit Recht daran erinnern, daß ja auch bei den 
ganz großen Japanern die Europäer kaum mehr 
als Karikaturen sind. Mit dem Negerstil über- 
haupt teilt so Benin einerseits das Betonen der 


Einzelheiten (typisches Beispiel S. 138 unten) der 
Kleidung, Bewaffnung und Tätowierung, anderer- 
seits die flüchtige, rohe Behandlung der Füße 
und Hände, die völlig schematische Darstellung 
der Gesichtszüge (vgl. auch über Iris und Pupille 
8. 420, Anm.), und die Verkürzung der unteren 
Extremität gegenüber Rumpf und Kopf. Nur ein- 
mal erscheinen auf den Gruppen Taf. 79/80 u. 81 
die Königsbegleiter überschlank und sind somit, 
wie auch sonstige Einzelbeiten bezeugen, als in 
den Proportionen „verfehlt“ zu denken (S. 311); 
wo man der oberen Körperhälfte als der Trägerin 
alles die soziale Stellung beseichnenden Schmuckes 
willkürlich stärksten Nachdruck gibt, kann die 
anatomische Richtigkeit keine Rolle spielen, und 
daß hier von der Wirklichkeit sozusagen absicht- 
lich abgewichen wird, zeigen die sozial minderen 
Nebenpersonen, die vielfach auf ein „richtigeres“ 
Proportionsbild abgestellt sind. Im übrigen be- 
herrschen Frontalität und Symmetrie die ganze 
Beninkunst. Ausnahmslos im Profil erscheinen 
nur die auf nicht wenigen Platten den dargestellten 
Personengruppen im oberen Feld beigesetzten 
Europäerbrustbilder, was jedenfalls für eine Tren- 
nung vom übrigen Kunstschatz, d. h. für Ent- 
lehnung spricht, so daß sie v. Luschan wohl 
mit Recht zu den antiken „busti“ gestellt hat. 
Die Mehrzahl der Platten zeigt in der Mitte die 
Hauptperson, zu beiden Seiten symmetrisch ge- 
bildete Begleiter, und dieses Schema streng auch 
da durchgeführt, wo weitere Begleiter, kleiner dar- 
gestellt und im Hintergrund zu denken, hinzu- 
kommen (vgl. bes. S. 249, 251). Die Symmetrie 
geht so weit, daß, wenn die zwei Begleiter Schild 
und Speer tragen, der eine den Speer regelmäßig 
mit der Linken und den Schild mit der Rechten 
fassen muß (S. 129, 156). Taf. 19B, wo die vom 
Beschauer ganz links sichtbare Figur als Haupt- 
person aufzufassen ist, bildet eine seltene Aus- 
nahme (S. 109); Abb. 353 als weitere solche gelten 
zu lassen, muß schon fraglicher erscheinen (8. 237). 
Von einigen wenigen überaus figurenreichen Platten 
abgesehen, ist Asymmetrie auch im kleinen зо 
selten, daß v. Luschan solche Fille besonders 
bemerkt hat (s. S. 129 die stets links getragene 
„Prinzenlocke“, 8. 193 die parallel, also nicht 
symmetrisch gehaltenen Biashörner der beiden 
Begleiter); die Asymmetrie der Platten mit vier 
Eingeborenen istausdersymmetrischen 3- Personen- 
darstellung nach bestimmtem Schema entwickelt 
(8. 248, vgl. auch 8. 215), für das auf die Origi- 
nale verwiesen sei. Auch ganze Platten scheinen 
ale symmetrische Gegenstücke angefertigt worden 
zu sein (S. 156), ebenso wie den in sich stets 


symmetrisch aufgebauten Sockelgruppen (vgl. bes. 
Taf. 84 und S. 315) größere einzeln gegossene 
Rundfiguren in paarweisem Vorkommen ent- 
sprechen, wie die des rätselhaften Mannes mit 
Schnurrhaaren (8. 289) und die herrlichen, ge- 
radezu an fatimidische Kunst erinnernden Panther 
(8. 335). Das gleiche Gesetz ist auch auf den 
geschnitzten Zähnen zu erkennen, wenn man da- 
von ausgeht, daß die Mitte der konvexen Vorder- 
fläche die Symmetrieachse bildet (S. 465). Im 
ganzen gleich selten sind Ausnahmen von der 
Frontalitit. In für die Einzelheiten der Tracht 
lehrreicher Weise zeigt z. B. Taf. 34B zwei im 
Dreiviertelprofil einander gegenüberkniende Leute, 
der eine eine Schale haltend, in die der andere 
aus einem Flaschenkürbis etwas eingießt (S. 99) 
und ähnlich sind mehrfach die Seitenpersonen 
der „dämonischen Trias“ (8. 87, 285), schießende 
Europäer (S. 33 ff.), ein eingeborener Jäger (S. 81) 
sowie einige Figuren der interessanten „Platten 
mit Kampfszenen“ dargestellt S. 257). Letztere 
sind zugleich aber nicht nur die einzigen Dar- 
stellungen historischer Vorgänge (S. 79 u. Kap.5E), 
sondern auch die wichtigsten Ansätze zum Auf- 
geben der sonstigen, mit der Frontalität verbun- 
denen Bewegungsarmut. Beachtung verdient hierzu 
noch die hervorragende Platte, die einen Jäger 
unter einem Baume nach einem darauf sitzenden 
Vogel zielend zeigt (Taf. 29 u. 8. 260f.), und das 
übrigens viel spätere Eifenbeinkästchen, auf dessen 
Deckel zwei durch nebenstehende Branntwein- 
flaschen als betrunken gekennzeichnete Europäer 
sich an den Haaren reißen und mit Stöcken be- 
drohen (8. 483, Abb. 832). Ob der auf zwei 
Platten „vorstürmende Krieger“ (8. 156, 203) wirk- 
lich in so lebhafter Bewegung beabsichtigt ist, 
bleibe dahingestellt, ebenso ob die unsymmetrische 
Darstellung eines dreizackigen Spießes auf der 
Europäerplatte Taf. 4B als Versuch einer sonst 
ganz ungewöhnlichen perspektivischen Behand- 
lung aufzufassen ist (S. 37). Die Würde, Steif- 
heit und Feierlichkeit der meisten Darstellungen 
entspricht dem höflschen Charakter dieser Kunst; 
wenn aber für manchen Beschauer, namentlich der 
sich in engen Variationsgrenzen haltenden vielen 
Hunderten von Platten der Eindruck bald sogar der 
der Langeweile zu werden droht, so ist das ein 
sicher ungerechtes Urteil: fast alle die dargestellten 
Personen, Würden und Zeremonien können uns 
ja nichts mehr sagen und, außer etwa bei ge- 
wissen Platten mit mehreren Personen (vgl. z.B. 
die Wachablésung S. 248), sind wir eben nur 
durch umständliche Vergleichung der Attribute 
imstande, zu mehr oder weniger sicheren Deu- 


155 


wächst. 1759 entsteht das Weattsaukabinett im 
Bruchsaler Schloß. Er kommt dann in kurtrieri- 
sche Dienste, macht sich in Ehrenbreitstein seß- 
haft, wo er am 14. November 1797 stirbt. 

Der Verfasser behandelt darnach zunächst die 
Werke des Johannes Zick, soviel ich nach meinen ei- 
genen Forschungen über den Künstlersehe,vollzählig 
und erschöpfend. Um 1730 entstehen die noch 
bäuerlichen Fresken in Kreusberg. 1738 folgen 
die Fresken in Raitenhaslach. „Zick ist ein volks- 
tümlicher Erzähler“, mit diesen Worten kenn- 
zeichnet Feulner diesen ersten größeren Auftrag, 
zunächst einmal im allgemeinen. „Die unruhige 
Beweglichkeit, die sprunghafte Farbigkeit wirkt 
lebendig, reich, wie das Ornament der Ausstat- 
tung und läßt das Auge nicht zur Ruhe kommen. 
Im einzelnen haben die Fresken viel Handwerk- 
liches, Bäuerliches an sich.“ Zu den Fresken in 
Schussenried: „Wieder freut man sich über die 
naive Fabulierlust des Malers, über seine Kunst 
mit sachlichen, verständigen Worten zum Volke 
zu sprechen. Das ist eine angeborene Gabe, 
die sich verliert, je mehr die formalen Probleme 
seine Interessen absorbieren.“ In einem entzük- 
kenden Sommer (1912) auf den Spuren Zicks 
haben mich die Arbeiten in Raitenbarlach, Schus- 
senried, Biberach stark gefesselt, die frische Ur- 
sprünglichkeit einer natürlichen Kunst steht noch 
deutlich vor mir., GewiB der Weg zu den Bruch- 
saler Fresken ist weit und die Anschmiegung an 
die große Form des perspektivischen, kühnen 
Dlusionismus eines Trapolo klar. Eine erschöp- 
fende Kennzeichnung der Haupt- und Spit- 
werke beschließt diesen Abschnitt. Die Behand. 
lung der Tafelbilder gibt Feulner Gelegenheit, 
näher auf die außerordentlich starken niederlin- 
dischen Einflüsse, das Erwachen eines bürger- 
lichen Naturalismus und seine Folgen einzugehen. 
Dieses aufschlußreiche Kapitel gehört mit zu den 
besten des Buches. 

Die Betrachtung der Tafelbilder des Januarius 
Zick gibt notwendige Gelegenheit, diese Gedanken 
fortzusetzen, denn die Jugendwerke des jüngeren 
Zick hollandisieren ebenso wie die seines Vaters 
und seiner Zeitgenossen. Diese Züge, dazu klas- 
sizistische Einschläge, rokokobafte Spitzpinselig- 
keit und malerische Feinheiten bestimmen die 
Kunst des Januarius Zick, Diese Eigenarten hebt Feul- 
ner an den Einzelwerken, besonders liebevoll auch an 
den bekannten Bildnisdarstellungen, ohne Wieder- 
holungen und mit feinem Verständnis, heraus 
Bei der Behandiung der Fresken des Januarius 
geht Feulner von dem früheren Klassizismus und 
seiner eigentümlichen Bedeutung für den Künst- 


158 


ler aus. Der jüngere Zick hatte Sinn für male- 
rische Qualitäten, die Pariser Schule hat ihn ge- 
schärft und verfeinert und so bleibt er vor der 
Kälte des späteren Klassizismus bewahrt. Dabei 
erkennt er die Ziele des neuen großen Stiles und 
weiß „die Regeln klassizistischer Ökonomie" für 
die Bildanlagen geschickt zu verwerten. Feulner 
geht der chronologischen Reihe nach an die 
Einzeiwerke heran, zeigt für die Wiblinger 
Tätigkeit die Vielseitigkeit und den Geschmack 
Zicks an seiner bedeutendsten Leistung mit ge- 
bührender Breite und Sorgtalt und versteht es 
auch den späteren Werken das Wesentliche und 
den Sinn der künstlerischen Ziele abzugewinnen. 
Ein Anhang gibt einen annähernd vollständigen 
Katalog der Werke der beiden Zick und eine Reihe 
von Abbildungen erleichtert die ungefähre Vor- 
stellung vom Schaffen. 

Das Buch füllt unbezweifelbar eine Lücke, und 
zwar sehr repräsentabel, zuverlässig und vielseitig 
bereichernd. V. C Habicht. 


OELENHEINZ, LEOPOLD, Der Wün- 
schelring.(Differenzialpendel,siderischer 
Pendel), insbes. seine Anwendung auf die 
Meisterbestimmung bei Gemälden usw. 
Mit 52 Abbildungen. Leipzig, Max Alt- 
mann. Geb. ı8 M. 


Das mit einem ausführlichen Namen und Sach- 
weiser ausgestattete neueste Werk des Verfassers 
behandelt zunächst die Grundlagen der neuen, 
bzw. erneuten Wissenschaft vom siderischen Pen- 
del, Wesen, Namen, die Ausübung des Pendeins, 
die Pendelseichen, ihre Beeinflussung durch Be- 
rührung, Stoß, Schlag auf die Unterlagen, die 
Polarisierung und Verladung und geht auch auf 
die Einwände der Gegner ausführlich ein, um 
dann auf die Anwendung der in der Hand der 
Sensitiven äußerst feinfühligen Vorrichtung auf 
die Meisterbestimmung bei Gemälden, Handzeich- 
nungen, Handschriften einzugehen. Es verbreitet 
sich auch auf die Wirkung des Pendels über Photo- 
graphien, die wesensidentisch mit dem Urbild 
wirken, was die Grundlage für das neue Verfahren 
der Meisterbestimmung bildet. Den Schluß macht 
eine ausführliche Geschichte des Wünschelrings 
bei den alten Völkern bis in die Neuzeit zu Goethe, 
Schelling, Hegel, v. Baader und die Physiker 
Stefan Gray, Joh. Reichenbach, Joh. Kari Bähr, 
Wilh. Ritter u. a. m., insbesondere wird das 
Problem des Goetheschen Faust won der Seite 
der Wünschelrute aus betrachtet, die in ihrer Form 


nur einen einfacheren Pendel (Ebenenpendel) dar- 
stellt. Der Nibelungenring und die Ringe derWalkü- 
ren werden als solche Wünschelringe nachgewiesen. 

Die seit Reichenbachs Tagen vergessene Vor- 
richtung habe ich zuerst wieder ıgıo in meinem 
Büchlein „Wünschelrute und siderischer Pendel“ 
aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, worin ich 
nachwies, daß jeder Mensch seine besondere 
Schwingung durch den Pendel zeige. Kallenberg 
kam dann dadurch angeregt zu der weittragenden 
Entdeckung, daß diese eigende Pendelbahn auch 
auf sein Lichtbild und auf alles übergehe, was mit 
ihm in Berührung komme. Leider gingen Kallen- 
berg und seine Anhänger viel zu sehr ins Trans- 
sendentale über. Oelenheinz ging aber der Sache 
wissenschaftlich nach und verwendete sein Haupt- 
studium auf die Erforschung der Wirkung der 
Gemälde und ihrer Photographien usw. auf den 
Pendel im Verhältnis zum Urheber, dem Meister. 
Die Frage, ob die Menschen verschiedene Schwin- 
gungen im Pendel, einem einfachen metallischen 
Schwerkörper an einem dünnen Faden, auslösen, 
ist am sinnfälligsten zu beantworten, d. b. durch 
Versuch zu klären bei dem Gegensatz der Ge- 
schlechter. Es muß auch bejaht werden, daß bei 
Berührung mit der Hand etwas auf den berührten 
Körper auf eine Zeitlang übergehe. Kein Mensch 
wird sich wundern, wenn ein Polizeihund die 
Spuren eines Verbrechers weithin verfolgt. Man 
muß also als sicher annehmen, daß unsichtbare 
wesensidentische Spuren durch die Berührung 
zurückbleiben. Der Hund unterscheidet sie von 
anderen dadurch, daß er erst durch „Witterung“ 
an Anhaltspunkten sich ein „Differenzgefühl“ 
sichern konnte. Irgendeine Ausdinstung oder 
„Strablung“ des Menschen muß die Spuren im- 
prägniert haben. Hier bei den Füßen. So muß 
es auch bei den Händen sein. Dieses bis jetzt 
unbekannte Etwas kann auch mit dem Pendel 
nachgewiesen werden, aber — und das ist die 
Hauptzache — nur von besonders begabten und 
darauf eingeschulten Menschen. Wodurch der 
Pendel empfindlich wird, oder wie der Mensch 
durch ihn so empfindlich wird, kann man heute 
noch nicht genau angeben. Sicher scheint zur Zeit, 
daß der Mensch eine Art elektrisch betriebene 
Präzisionsmaschine ersten Ranges ist, wobei der 
Salzgehalt des Blutes eine große Rolle spielt, wie 
Tierversuche ergaben. 

Zuzugeben ist also, daß sich die Spuren von 
der Hand des Meisters auf dem Gemälde erhalten. 


Oelenheinz will sogar nach Vorgang Kallenbergs 
auf Lichtbildern und Autotypien die Hand des 
Meisters erkennen. Es werden im Lichtbild die 
gesamten Strahlen, die ein Mensch aussendet, 
wie durch ein Brennglas auf der Platte gesammelt 
und dort festgehalten. Es ist durchaus möglich, 
daß diese Strahlen — noch unbekannter Natur — 
auch beim Abdruck wieder aufs Bild kommen. 
Man kann sich auch das Licht als Träger denken. 
Unter der Voraussetzung, daß die Platte die Strahlen 
wieder aufs Papier überträgt, welche weder kühn 
noch gezwungen erscheint, muß auch der Pendel 
über dem Abklatsch schwingen wie über dem 
Menschen selbst. So ist es klar, daß begabte 
Menschen auf einem Lichtbild die Spur des 
Meisters von der der Gebilfen oder Restauratoren 
unterscheiden können. Oelenheinz zeigt das ein- 
gehend z.B. an einem Schäferstück vonP.P. Rubens. 
Wie genau der Pendel seine Angaben macht, 
zeigt sich auf diesem Bild an dem Schäferstab 
des Schäfers, als welcher Jakob dargestellt ist. 
In dessen oberer Hälfte läßt sich eine Überraschung 
feststellen. Weiteres lese man S. 143/44 nach. 
Interessant ist auch die Feststellung eines Bild- 
nisses von Leonardo da Vinci als von Fra Bar- 
tolomeo gemalt, die Übermalung eines Burgk- 
mairbildes im Germanischen Museum in Nürnberg 
in der oberen Hälfte, die mit anderen Oelenheins 
nach Aufgabe dort festgestellt hat, und die den Tat- 
sachen entspricht. Es werden, Dürer, Rembrandt, 
Vandyck, Brueghel u.a. Meister behandelt an der 
Hand von vorzüglichen Abbildungen. In dem Heft 8 
des Cicerone ist im 12. Jahrg. das Problem Vandyck 
in den Liechtensteinbildern und von Leonardo auf 
Grund der Pendeluntersuchungen dargetan worden. 

Gerade in unserer Zeit des wirtschaftlichen 
Niedergangs und der Umwertung aller Werte sollte 
dem neuen Verfahren der Meisterbestimmung ein 
besonderes Interesse dargebracht werden; wird 
es doch mit dazu beitragen, die Tüchtigkeit Deutsch- 
lands im Ausland, das solchen Dingen mit viel 
weniger ungerechtfertigter Skepsis gegenübersteht, 
in seiner Weise mit zu neuer Geltung zu bringen. 
Das Oelenheinzsche Buch, vielleicht für gewisse 
Kreise ein Wagnis in Deutschland, trägt ein gut 
Teil zur Aufklärung bei und wird für die Kunst- 
wissenschaft mindestens eine Erscheinung sein, 
an der sie, mag sie auch heute dem Neuen noch 
fremd gegenüberstehen, nicht vorübergehen kann. 


Dr. med. Voll. 


159 


NEUE BÜCHER на 


ALFRED BAEUMLER: Hegels 
Ästhetik. Unter einheitlichem Gesichts- 
punkt ausgewählt und mit verbindendem 
Text versehen. (C. H. Becksehe Verlagsbuch- 
handlung, Oskar Beck, München 1922.) 


KURT GASSEN: Der absoluteWert 
in der Kunst. Entwurf einer grund- 
wissenschaftlichen Klärung des Kunst- 


urteils. (Verlag L Bamberg, Ratsbuchhandlung, 
Greifswald 1921.) 


ADOLF FEULNER: Münchener Ba- 
rockskulptur. Mit 106 Abbildungen. 
Sammelbände zur Geschichte der Kunst 
und des Kunstgewerbes, Bd. L (Buch- u. 
Kunstverlag Riehn & Reusch, München 1982.) 


KARL GRÖBER: Schwäbische Skulp- 
tur der Spätgotik. Sammelbinde zur 
Geschichte der Kunst und des Kunst- 
gewerbes. Bd. П. (Buch- u. Kunstverlag Riehn 
& Reusch, München 1922.) 


JULIUS MEIER-GRAEFE: Ganymed. 
Jahrbuch für Kunst, III. Bd. Geleitet von 
Wilhelm Hausenstein. (R. Piper & Co., Verlag 
der Marées-Gesellschaft, München 1981.) 


CURT GLASER: Die Graphik der 


Neuzeit. Vom Anfang des то. Jahrh. 
bis zur Gegenwart. (Verlag Bruno Cassirer, 
Berlin 1922.) 


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MAX SAUERLANDT: Emil Nolde. Mit 
тоо Tafeln. (Kurt Wolf- Verlag. München 1931.) 


HANS KAUFFMANN: Rembrandts 
Bildgestaltung. Ein Beitrag zur Ana- 
lyse seines Stils. Mit einem Titelbild. 
(Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.) 


LUDWIG COELLEN: Der Stil in der 
bildenden Kunst. Allgem. Stiltheorien 


u, geschichtl. Studien dazu. (Arkaden-Verlag, 
Traisa-Darmstadt 1922.) 


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1922, 4—6. 


MAX J. FRIEDLAENDER: Pieter 
Brueghel. (Propyläen-Verlag, Bertin 1921.) 


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PAUL FECHTER: Die Tragödie der 


Architektur. (Verlag von Erich Lichtenstein, 
Jena 1991.) 


BRIEFE Daniel Chodowieckis an 
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Steinbruker. (Vereinigung wissenschaßlicher 


Verleger Walter de Gruyter & Co, Leipsig und 
Berlin 1921.) 


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Baudenkmäler. Kunstdenkmiäler der 
Rheinprovinz, Bd. L) Mit 160 Abbildgn. 
(В. Kühlens Kunstverlag, München-Gladbach.) 


CARL JUSTI: Briefe aus Italien. (Verlag 
Friedrich Cohen, Bonn 1922.) 


ALFRED SALMONY: Europa — Ost- 


asien. Religiöse Skulpturen. (Verlag ven 
Gustav Kiepenbeuer, Potsdam 1982.) 


ROBERT WEST: Entwicklungsge- 
schichte des Stils. Band 1—4. 
Bd. x. Die klassische Kunst der Antike. 
a. Frühchristl. Antike u. Vélkerwanderungs- 
„ 3. Die romanische Periode. [kunst. 
„ 4. Gotik und Frührenaissance. 


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ERNST GROSSE: Die ostasiativche 
Tuschmalerei. Mit 160 Tafeln. (Die 
Kunst des Ostens, Bd. VL) 

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im islamischen Orient. Mit 154 Taf. 


und 5 Textabbild. (Die Kunst des Ostens, 
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(Sämtlich im Verlag von Bruno Cassirer, Berlin 1922.) 


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Baukunst. (Georg Müller-Verlag,München одла). 


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Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN 
Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG 


Preis des Heftes Mark 3000.— 


INHALTSVERZEICHNIS HEFT VI IS 


ABHANDLUNGEN 


RUDOLF BERLINER, Die große 
Moschee von Diyarbakr. Mit 6 Ab- 
bildungen auf 3 Tafeln S. 161 


ALFRED ROHDE-Hamburg, Das geist- 
liche Schauspiel des Mittelalters und 
das gemalte Bild bei Meister Bertram 
von Minden. Mit ı2 Abbildungen auf 
2 Tafeln in Lichtdruck ... . S. 173 


EMIL SPAETH, Quellenkundliche Bei- 
träge zur Augsburger Plastik um 1500. 
Mit 2 Abbildungen im Text . S. 180 


KURT GERSTENBERG, Gaspard 
Dughet genannt Poussin, 1613—1675. 
Mit 4 Tafeln in Lichtdruck . . S. 193 


ALBERT DRESDNER, Johann Tobias 
Sergel (Schluß). Mit ı Tafel in Licht- 


druck 2 22 2er S. 203 


GEORG TSCHUBINASCHWILI, Die 
christliche Kunst im Kaukasus und ihr 
Verhältnis zur allgemeinen Kunst- 
geschichte. (Eine kritische Würdigung 
Josef Strzygowskis „Die Baukunst der 
Armenier und Europa“.) . . . S. 217 


MISZELLEN 


RICHARD HAUPT, Altere kirchliche 
Kunst in Schonen........ S. 237 


REZENSIONEN 
NEUE LITERATUR über die Baukunst des 
Klassizismus. (A.Grisebach) ..... 8. 240 


HANS ROSE, Spätbarock. Studien zur Geschichte 
des Profanbaus in den Jahren 1660 — 1760. 
Verlag Hugo Bruckmann, München 1922. 

(A. E. Brinckmann- ))) 8. 241 


SANDRO BOTTICELLI, Zeichnungen zu,, Dantes 
Göttlicher Komödie“. Herausgegeben von 
F. Lippmann. 2. Aufl. G. Grotesche Verlags- 
buchhdlg., Berlin 1921. (Hans v. d. Gabelentz) 
Seite EH S. 244 


ERWIN HINTZE, Nürnberger Zinn. Mit 84 Taf. 
u. 2 Textabbildungen. Klinkhardt & Biermann, 
Leipzig 1921. (Max Sauerlandt) . . . S.245 


J. BAUM, Gotische Bildwerke Schwabens. 
Dr. Benno Filser -Verlag, Augsburg - Stuttgart 
1921. (У. C. Habicht).......... 5. 246 


ANITA ORIENTER, Der seelische Ausdruck in 
der altdeutschen Malerei. Mit 94 Abbildungen’: 
München, Delphin- Verlag 19a 1. [Rosa Schapire) 
Seite 


DIE GROSSE MOSCHEE VON DIYARBAKR 
Mit sechs Abbildungen auf drei Tafeln Von RUDOLF BERLINER 


MA o es S. Guyer in seiner ausgezeichneten Arbeit!) über Amida m. E. nicht 
gelungen ist, die Probleme der Westfassade des Moscheehofes zu Diyärbakr 
(Abb. ı) trotz seiner vortrefflichen Methode und unerreichten Materialkenntnis voll- 
kommen zu lösen, so liegt die Schuld an zweierlei: er verfügte nicht über ge- 
nügende Aufnahmen des Bauwerkes, und er widerstand nicht der Versuchung, 
den — nicht vollständig erkannten — Befund mit den ebenso zahlreichen wie viel- 
deutigen Schriftquellen*) in Übereinstimmung zu bringen. Leider kann auch ich 
noch nichts vorlegen, was den Anspruch erheben kann, endgültig zu sein, aber 
ich hoffe doch, daß schon das Stückwerk uns wird etwas weiter führen können?). 


Ich halte Guyers Beweise für geglückt, soweit sie sich auf das Entstehungsdatum 
der im Ilaldibau verbauten älteren Bauglieder: „nach 600% beziehen‘), Wie weit 
ich ihm sonst folge, das wird sich aus dem Nachstehenden ergeben. 


Die Gebälke. Für die Beurteilung der Herkunft der Spolien war fiir Guyer 
von entscheidender Bedeutung, ob die jetzige Zusammenstiicklung der Gebilke 
wohl den urspriinglichen Zustand reproduziert oder nicht. Ist ersteres der Fall, 
dann stiirzt der eine Eckpfeiler fiir den hypothetischen Teil seiner Arbeit ein. 


Es ist unumgänglich, daß ich, um die Erkenntnis zu ermöglichen, die eingehende 
Betrachtung der horizontalen Zusammensetzung der Gebälke nachhole, die Guyer 
nicht angestellt hat. Sie ist nicht an Ort und Stelle vorgenommen, sondern an 
Hand der Aufnahmen; einige Unklarheiten werden also der Nachprüfung bedürfen, 
das Wesentliche glaube ich aber bringen zu können. 


Ich numeriere die Säulen (S) und Verkröpfungen (V) von Süden nach Norden, 
also für den Beschauer von links nach rechts mit I—X; zwischen ihnen in der 
gleichen Reihenfolge die Traveen (T) I—IX; E bedeutet Erd-, O Obergeschoß. 


In vertikaler Richtung ist die Schichtung durchgängig so, daß der Fries zu- 
sammen mit dem verkümmerten Architrav (Fr) und das Kranzgesims (Kr) aus је 
einem Block gearbeitet sind. In der horizontalen Richtung ist die Zusammen- 
setzung jeder Schicht komplizierter und muß daher einzeln verfolgt werden. Ich 
untersuche zunächst die Lage des Fugenverbandes zwischen den Verkröpfungen 
und den Traveen; von Bedeutung ist, ob er in die Traveenzone verschoben ist 
oder nicht. 


(1) Repertorium für Kunstwissenschaft XXXVIU (1915), S. 193 ff. 


(2) Sie wurden wie die monumentalen Quellen zuerst im Zusammenhange veröffentlicht und behan- 
delt in M. van Berchem und J. Strzygowski, Amida (Heidelberg 1910). Ich zitiere es als Amida- 
werk (AW.). 

(3) Meiner Studie liegen die Aufnahmen zugrunde, die ich im Sommer 1913, in Gemeinschaft mit 
Major W. Bever in Hamburg, dem vor allem die Lichtbilder zu danken sind, erstellt habe, 

(4) Darin haben mich auch die Ausführungen Strzygowskis und Н. Glücks (Repertorium XLI, 1919, 
S. 125 ff.) nicht wankend machen können. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1923, 7—9. 11 161 


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2 daneben? ja ja(?)) | | {Ja} | 
| | | | | | | | RA Ы | | 
1) Die Kante ist krumm. )) Anscheinend. ) Oben im Winkel, unten krumm. ) In Wirklichkeit 
oft krumm. °) Da den Nachbargebäuden zugokehrt, nicht voll ausladend. 


u 
| 


ante von Кг 


rechte 


Die ER der einzelnen Traveen ist die Sen : 


Zahl der Einzel-] Fr 2 2 
stücke bei Kr 2 2 


Davon Einschübel Fr 
des 12, Jahrh. beif Kr 


Mit Ausnahme von T IO besteht Fr einer jeden Travee aus einem großen und 
einem bzw. mehreren kleineren Stücken. Das große Stück zeigt jeweils rechts und 
inks von einer Vase!) die Wellen einer Weinlaubranke. Die kleineren Stücke nehmen 
im Rankenverlauf keinen Bezug auf die Nachbarstücke; nur in T IO bilden zwei 
genau aneinander passende Stücke das große Stück der übrigen Traveen. Das 
Verhältnis der Zahl der Wellen zu seiten des Mittelmotivs ist kein BIEICHDIEIDERASR: 


links 3+!) 3 
rechts (ail, 


s+|3 


313 | з |22/, 28|, 
gt 


22, ap, 
Sih 3| з | з | 2°/,| 2¼ 


3 3 3 
Wellenzahl | 1% 1½% 2% % al 33 3 


1) Das Zeichen + bedeutet eine geringe Vergrößerung. 


Für Kr ist kein so absolutes Maß wie die Wellenzahl zu finden. Zwanzig nach- 
prüfbare große Stücke ergeben aber als ihr Normalmaß das von fünf Konsolen 
mit vier Intervallen: es findet sich bei 14; zwei zeigen fünf Konsolintervalle ), 
vier zeigen drei. 

Ich fasse die Hauptergebnisse der Zusammenstellungen zusammen; sie 8 
für die 20 Verkröpfungen: in der Frieszone fallen die Fugen mindestens bei sieben 
nicht in den Winkel, und zwar bei mindestens einer auf beiden Seiten, bei zwei 
anderen ist die Fuge krumm, teils im Winkel, teils daneben; für die Kranzgesims- 


(x) In T ПО ist es keine Henkelvase, sondern ein Pokal. 
(2) In T ШО mit 4, in T VIO mit 5 Konsolen. Die Breite entspricht also in T ШО der üblichen. 


162 


TAFEL 3 


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Abb. 1. Diyarbakr. Große Moschee. Hofansicht nach Westen. 


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Er HF, 
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"e х - e E * 5; 
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Abb. 5. Diyarbakr. Große Moschee. Hofansicht nach Südwesten. 


Zu: R. Berliner, Die große Moschee von Diyarbakr.“ 


Digitized by Google 


zone sind die entsprechenden Zahlen: mindestens fünf, aber wahrscheinlich sechs, 
davon bei einer auf beiden Seiten; 

für die 18 Traveen: von den großen Friesstücken haben beidseits vom Mittel- 
motiv die gleiche Zahl Wellen 141), und zwar 9 je drei und 4 je zweidreiviertel; 
es sind unsymmetrisch 4, und zwar 2 mehr (3: 1½) und 2 weniger; 

die kleinen Friesstticke sind nur mit Rankenmotiven dekoriert, es findet sich 
keine Spur eines Mittelmotivs (es sind also keine zersägten großen Stücke, sondern 
wahrscheinlich ad hoc gearbeitet); 

die Einheiten des Kranzgesimses sind schmäler als die großen Friesstiicke; 

für die späteren Einschübe im Obergeschoß: die Zahl der Traveen, innerhalb 
deren sie verwendet werden, ist für Fries und Kranzgesims stark verschieden: 
8 und 3, dementsprechend ist also die Gesamtbreite der neu angefertigten Fries- 
teile bedeutend höher als die der Kranzgesimsteile (von denen demnach weniger 
ergänzt werden mußte). 

Eine Erklärung dieser Tatbestände bietet nur die Annahme, daß die Arbeit von 
vornherein nicht sehr exakt war, und daß auch ursprünglich nicht jede Travee 
bloß aus einem Block bestand, wie Guyer annimmt, sondern stets aus mehreren. 
Wie schon erwähnt, ist an einer Stelle auch das große Friesstück in zwei Teilen 
gearbeitet, die vollkommen aneinanderpassen. Ob sonst ursprünglich im all- 
gemeinen die Einschubstücke das Muster fortlaufen ließen oder nicht, ist nicht 
ersichtlich; wahrscheinlicher dünkt mich aber das letztere, da Willkürlichkeiten, 
wie das Übergreifen der Verkripfungsblicke in die Traveenzone dafür sprechen, 
daß man sich von den Zufälligkeiten des Steinmateriales leiten ließ, ohne gerade 
Genauigkeit der Arbeit oder der Masse zum Ziel zu nehmen. Ob die ursprüng- 
liche Breite der Traveen der jetzigen genau entsprach, läßt sich nicht mit Sicher- 
heit beurteilen. Aber für wahrscheinlich halte ich auch das; denn es ist unerfind- 
lich, warum man sonst dazu übergegangen wäre, im Fries der Traveen des Ober- 
geschosses mehrere Einschubstücke anzubringen gegen eines im Untergeschoß, 
und es ist einleuchtender, daß mehr von solchen kleinen Teilen verlorenging, als 
es von größeren der Fall wäre, 

Guyers hypothetische Berechnung der ursprünglichen Traveenbreite ruht also 
auf ungenügenden Grundlagen; der Befund und die Wahrscheinlichkeit sprechen 
im Gegenteil durchaus dafür, daß der ursprüngliche Zustand wiederholt ist. Auch 
stilistisch erscheint mir die lastende Proportionierung des Obergeschosses die einzig 
zeitgemäße zu sein. Es ist leicht, durch Entfernung des Schriftfrieses für den Ober- 
stock den alten Eindruck zu erwecken. 

Die Schriftquellen. Der Legende der Teilungen von Kirchen zwischen Mos- 
lem und Christen ist nun endlich durch Schriftquellen ein Ende gemacht?), nachdem 
die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit solchen Vorganges rein aus den kultur- 
und baugeschichtlichen Möglichkeiten heraus nicht schlagend zu beweisen war. 
Damit ist die auf einer Behauptung des Pseudo-Wäqgidi ruhende Gleichsetzung der 
Thomaskirche mit der großen Moschee hinfällig geworden. Wodurch wird aber 
jetzt noch die Gleichung Heraklioskirche — Moschee gestützt? Nach Dionysios 
von Tell-Mahré*) wurde die Kathedrale von Amida zur Zeit des Bischofs Thomas 
(т) Einschließlich Т 10, 

(2) 8. E. Hersfeld, der dem Prinzen Caetani und C. H. Becker folgt, im Guyerschen Aufsatze, a. a, O., 


8. 230 f. 
(3) J. В. Chabot, Chronique de Denys de Tell-Mahré (Bibl. de l'école des hautes études. Fasc. 112). 


Paris 1895, 8. 3, 7, 96 der Übersetzung. 
163 


im Jahre 628/9 durch Kaiser Heraklios erbaut oder erneuert und im Jahre 770 
restauriert. Bei allen übrigen Nachrichten ist es nicht sicher, welches Gebäude 
gerade der Schreiber unter der „großen“ Kirche verstand, um so wichtiger ist es 
daher, daß Dionysios es sichert, daß die Heraklioskirche den Christen verblieb, daß 
er also als einzige eindeutige Schriftquelle die Gleichung verneint. Wer anders 
zu schließen geneigt ist, wie van Berchem (AW. 51) oder Herzfeld-Guyer (а. а. О. 
231 f.) kann sich nur auf Vermutungen oder Konjekturen stützen. Herzfeld hat 
mit seiner Ersetzung der „Restauration“ der Heraklioskirche im Jahre 770 durch 
„Neubau“ allerdings die Schwierigkeiten, die für ihn entstehen mußten, beseitigt), 
aber der Wortlaut der Quelle schließt einen Neubau aus. Die große Moschee ent- 
stand demnach nicht auf dem Gelände der „Thomaskirche“ und verdrängte auch 
nicht die „Heraklioskirche“. 

Mit diesen beiden Absätzen glaube ich die Hauptschwierigkeiten, die einer rich- 
tigen Einordnung der Spolien noch im Wege standen, beseitigt zu haben. Jetzt 
können und müssen die Steine wieder für sich selber zeugen. Ehe ich aber er- 
Srtere, was sie mir zu sagen scheinen, will ich an Hand bisher unpublizierter 
Aufnahmen einige Lücken in der allgemeinen Kenntnis des Baukomplexes aus- 
zufüllen versuchen. 


Der Grundriß. Ich errechne für die Hoffassade des eigentlichen Moschee- 
gebäudes bei einer inneren Breite von 73,54 m eine Länge von 66 m; die Länge 
der Westfassade haben wir mit 30,10 m gemessen, die der Nordseite mit 62,61 m 
(die Angabe von Miß Bell?) 59,84 ist irrig). Für den Ostbau gibt Miß Bell eine 
Fassadenlänge von 29,63 m, Texier?) von 30,25 m: das Mittel wäre also 29,94 m. 
Die Ecke der Westfassade und der Moschee bildet demnach nicht den spitzen 
Winkel, den der Grundriß Miß Bells zeigt. Diese stark schräge Stellung der West- 
fassade hätte auch nicht unbemerkt bleiben können, was aber tatsächlich der Fall 
ist, wenn man Miß Bell ausnimmt‘). Mit meinen Zahlen kann man den Grundriß 
in Trapezform konstruieren, in dem West- und Ostfassade auf die Südseite mit 
Winkeln stoßen, die zwar auch spitzer als R sind, die aber keinen so unregel- 
mäßigen Eindruck macht wie der Bellsche Plan, der der Wirklichkeit — auch ab- 
gesehen von dem Maßfehler — nicht entsprechen kann. 

In Abbildung 2 bringe ich eine Aufnahme der Rückseite der Westfassade (nach 
N zu gesehen). Wie die den Gang nach außen abschließende Mauer in ihrem 
südlichen Teil von innen aussieht, zeigt Abbildung 3. Sie erweist, daß im Ober- 
geschoß ursprünglich Mauerpfeiler mit bis auf den Fußboden reichenden über- 
wölbten Öffnungen abwechselten, die aber mit den Fensteröffnungen der Fassade 
nicht korrespondieren, also Bezug hatten auf etwas, was hinter dieser Mauer lag. 
Ich schließe daher auf Zugänge, die aus einem hinter diesem Gange sich er- 
streckenden Bau zu der Fassadenhalle führten. Wir haben auch vom Dache der 
nördlichen Madrasa aus im Häuserkomplex gleich im Westen der Moschee einen 
Pfeiler aufragen sehen, der sich durch sein Steinmaterial und seine Isoliertheit aus 
der Umgebung heraushebt und sich sofort als zum Ilaldibau gehörig erweist — die 


(1) Anders noch in der Orientalischen Literaturzeitung (OL), 1911, Sp. 409. Mit beiden Möglichkeiten 
scheint er dann neuerdings im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen XLU (192:), 8.127 su rechnen, 
(2) Palace and mosque at Ukhaidir (Oxford 1913), Pl. go. 

(3) AW. 8. 298. 

(4) X. Hommaire de Hell, Voyage en Turquie etc. I, 2 2 (Paris 1835) sagt S.455 von den Fassadon nur: 
elles ne sont pas complétement paralléles, 


164 


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feindselige Haltung der Bevölkerung machte aber weitere Nachforschungen oder 
Aufnahmen unmöglich. Jedenfalls halte ich soviel für gesichert, daß der Ilaldibau 
als vorgelagerte Portikushalle für ein dahinterliegendes umfangreicheres Gebäude 
entstanden ist. Es lag also nahe an van Berchems ingeniöse Vermutung (AW. 64) 
zu denken und damit die Verbindung der Westfassade mit einem Palast für er- 
wiesen zu halten. Sicheres können erst Untersuchungen im genannten Häuser- 
viertel ergeben; heute spreche ich aber diesen Lösungsvorschlag um so lieber aus, 
nachdem K. M. Swoboda in seinem klugen, grundlegenden Buche über spätrömische 
und romanische Paläste!), obwohl sonst natürlich ganz auf Guyer fußend, rein aus 
seiner stilistischen Beurteilung der Fassade heraus ihr eine Stelle in der Entwick- 
lung des mittelalterlichen Palast- und Villenbaues angewiesen hat. 

Zur Lösung der Frage, was sich früher im Süden und Norden an die Ilaldi- 
fassade anschloß, ist bisher noch nicht viel bekannt. Aus Abbildung 4 wird er- 
sichtlich, daß im Süden die Fassade mindestens im Oberstock durch einen schmalen, 
glatt behandelten Mauerstreifen abschloß, der immer nur als Außenwand gedient 
haben kann: der Bau endigte also dort, und die Mauer bog nach Westen um. Wie 
die Verbindung mit dem Moscheegebäude war, ergibt sich nicht: organisch kann 
sie aber, wenigstens im Obergeschoß, nicht gewesen sein. Im Norden war es 
anders. Da stieß im Zuge der heutigen Madrasa ein Bau an die Fassade, von 
dem auf Abbildung 5 deutlich der Ansatz und auch der Rest eines Profiles in Höhe 
des Fußes des zweiten Säulenstumpfes von Säule XE zu sehen ist. Der Bau war 
zweistöckig; die fehlende Bearbeitung von Kapitell, Säulenschaft und Kranzgesims 
(V XO, Abbildung 6) beweist, daß sie einer Mauer zugekehrt waren; auch der 
Steineverband der Mauer scheint diesen Schluß zu erheischen. 

Der Rest des alten Baues in der Nordwestecke zeigt auch auf der Abbildung das 
Ansetzen einer Archivolte. Daraus kann man schließen, daß dort, wie heute noch 
am Nordostende, ein Eckpfeiler stand, mit dem eine Arkadenreihe begann. Die Höhe 
des Profilansatzes steht an beiden Stellen im gleichen Verhältnis zu den Säulen- 
schäften der angrenzenden Fassaden. Daß ursprünglich die ganze Nordseite im 
Erdgeschoß durch eine Arkadenreihe begrenzt wurde, zeigt auch ein Bogen, der 
aus der Madrasa kommend in das Haus stößt, das in der westlichsten Arkade 
der noch stehenden Reihe sich eingenistet hat, und der also die Eingangsgasse 
überquert. | 

Problematisch ist, daß die an sich wahrscheinlich schon kurzen Säulenschäfte der 
Nordarkade offenbar um Kapitellhöhe im Boden stecken, während die Scheitel- 
höhe der Archivolten sich mit der an den Fassaden deckt. Eine gegenseitige 
Rücksichtnahme ist also jetzt vorhanden, und es entsteht die Frage, wie sich die 
alte Westfassade in dieser Hinsicht verhalten haben mag, und ob die alte West- 
und die Nordseite einheitlich konzipiert gewesen sein mögen. 

Das führt zu dem alten Pfeilerunterbau der Westfassade, den Strzygowski über- 
sehen hatte, und auf den dann Herzfeld aufmerksam machte (OL. 399). Heute 
sind die Pfeiler mit neuem, sehr dickem Verputz beworfen, doch sind die dem 
Hofe zugekehrten Ecken in ihrem unteren Teil deutlich abgerundet, während die 
rückwärtigen abgeschrägt sind. Der Verputz hat auch vielfach den Absatz ver- 
schwinden lassen, der dort entstand, wo die kantigen Quadern auf dem Eck- 
säulchen aufsitzen. Wir haben für die dem Hofe zugewendeten Ecken folgende 
Höhen des Absatzes über dem Erdboden gemessen: VI links 2,15 m, rechts 2,41 m; 


(1) Wien 1919, S. 185 fl. 
165 


haben als die Gleichsetzung des Areals der Moschee mit dem einer Kirche. Denn 
was die Spolien über ihre ursprüngliche Verwendung selbst aussagen, hat Guyer 
(a. a. O. 233) richtig, wenn auch nicht ganz vollständig formuliert: die Säulen- 
stellung mit ihren Gebälken gehörte dem Äußeren eines Gebäudes an und sie stand 
vor einer geraden Wand. Die Konstatierung de Hells (a. a. O. 442), daß sich kein 
christliches Symbol in der Ornamentik finde, hat er sich so wenig zu eigen ge- 
macht wie Strzygowski (AW.151). Ich kann aber die Richtigkeit der Beobachtung 
des Hell nur bestätigen, soweit der Erhaltungszustand heute ein Urteil noch erlaubt. 
Strzygowski hat unter Vorbehalt zusammengestellt, was er auf den Verkröpfungen 
zu sehen glaubte. Ich weiche in folgendem von ihm ab; ich sehe: IE symme- 
trisch, ПО einen vegetabilisch gefüllten Dreifuß als Mittelmotiv, VIE Blattwerk, 
УП О unsymmetrisches Blattwerk, VIII O eine Blattpalmette als Mittelmotiv, VIIIE 
die Eckblätter sind ohne Mittelmotiv umgeschlagen und füllen die Fläche, IX O 
vegetabilisch gefüllte Vase zwischen Eckblättern, IXE ein Tier (?) zwischen Eck- 
blättern, XO außer den Eckblättern ist vielleicht noch der Hals einer Vase zu er- 
kennen, XE zwischen den Eckblättern hochfüßige Vase oder langstielige Blüte. 
Also nichts, was christlich betont wäre. Strzygowskis zweimalige Erklärung des 
vegetabilischen Mittelmotivs als Lebensbaum erscheint mir auch zu zugespitzt. 
Denn VIIE zeigt in der Mitte eine unten ansetzende, sich nach rechts und links 
gabelnde und in die Eckblätter einmündende Ranke, in deren — nicht gleichmäßigen 
— Wellen die Tiere stehen; ШО ist das gleiche Motiv deutlich in geometrische 
Stilisierung übersetzt und zeigt, wo der Ton liegen soll: die Rankenwellen sind 
ersetzt durch Blattdreiecke; das Zentralmotiv tritt daneben zurück. Wenn man 
auch nicht mehr aus dem Fehlen christlicher Symbole folgern will, so wird man 
doch zugeben müssen, daß die Fassade nicht notwendigerweise ein Teil einer 
christlichen Anlage gewesen sein muß. Hält man aber hinzu, daß Guyer — mit 
Recht — betont, daß nur eine Apsisrückfront in Frage kommen kann, wenn man 
die ursprüngliche Verwendung an einem Kirchenbau sucht, und daß Swoboda 
(а. а. О. 168 ff., 188) — mit gleichem Recht — auf die Herkunft dieser Rückfront- 
lösung von der Fassadenbehandlung hinweist, so daß also dem Architekten des 
Ilaldibaues die große Tat der Zurückgabe des verloren gegangenen ursprünglichen 
Sinnes an die Spolien schöpferisch gelungen sein müßte, ganz abgesehen davon, 
daß eine derartig gestaltete gerade Apsisrückwand nicht bekannt ist, — hält man das 
alles mit dem zusammen, was ich sonst oben über Guyers Rekonstruktion ausführte, 
so glaube ich auf Zustimmung für meine These rechnen zu dürfen: die Spolien 
stammen von keiner Kirche, sie stammen von einem Fassadenbau ähnlich dem 
jetzigen. Und zwar muß er einen Affektionswert gehabt haben, der — außer der 
Geeignetheit für den zu erfüllenden praktischen Zweck: zugleich Abschlußkolonnade 
für den Moscheehof und Vorhalle des Palastes zu sein — erst die Möglichkeit 
schaffen konnte, diesen Bau rund um ı120 als einen islamischen aufzuführen. 
Swoboda scheint mir die Brücke geschlagen zu haben, die zur Verknüpfung der 
verschiedenen Gesichtspunkte tauglich ist, indem er die Westkolonnade als Glied 
der Entwicklungsreihe des Portikushauses erwiesen hat. Und so halte ich die 
Vermutung für die wahrscheinlichste, daß die Fassade einem Palastbau entstammt 
und in ihren wesentlichen Teilen für einen gleichen Zweck übertragen wurde. Es 
ist das — ich wiederhole es — natürlich nur eine Vermutung, aber sie allein 
scheint mir geeignet, allen von mir im Laufe der Untersuchung auseinandergesetzten 
Problemen zu begegnen. 
Die wichtigste Folgerung, die die Annahme dieser Vermutung mit sich bringt, 


168 


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Abb. 4. 


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Diyarbakr. Große Moschee. Nördlicher Teil der Westfaßade. 


Abb. 6. Diyarbakr. Große Moschee. Südende der Westfaßade im 


Zu: R. Berliner, Die große Moschee von Diyarbakr. 


Oberstock. 


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— — — 


ist die, daß die Spolien dann auch einem islamischen Bau entstammen können. 
Herzfelds Ausführungen in der Orientalistischen Literaturzeitung (Sp. 401 f. 430) 
und im Islam (I. 1910, S. 144) rechnen, wenn ich sie nicht sehr mißverstehe, 
durchaus mit omayadischer Entstehung der Spolien. Auch er ist wohl erst unter 
dem Zwange der angeblichen Gleichung Heraklioskirche=großer Moschee dazu ge- 
kommen, den Zeitansatz „Kaiser Heraklios“ als den richtigen zu betrachten. Bei 
Guyer liegt dieser Sachverhalt ganz klar: „Zweierlei dürfte also nach dieser analy- 
tischen Untersuchung feststehen: erstens der enge Zusammenhang und die Zu- 
gehörigkeit der Gebälke von Diyärbakr mit der nordmesopotamischen Schule vom 
Ende des 6. Jahrhunderts und zweitens die Tatsache, daß sie wohl erst einige 
Zeit nach dem Jahre 600 entstanden sein können. Dadurch kann es sich nur noch 
darum handeln zu untersuchen, in welchem Jahrzehnt der Zeit nach 600 am ehe- 
sten die Bedingungen zu ihrer Entstehung gegeben sind. Da jedoch die Beant- 
wortung dieser Fragen weniger ein stilkritisches als vielmehr ein historisches 
Problem ist, verweise ich auf die historische Untersuchung usw.“ (S. 218). Stil- 
kritisch findet er sonst an Datierungen: für die Kapitelle nicht vor um 600 mit 
ziemlich großem Spielraum nach der späteren Zeit (S. 222), für die Säulenschäfte 
keinesfalls vor 600, möglicherweise aber bald später (S. 226), für die Säulenbasen 
spätes 6.—8. Jahrhundert (S. 227). Also ein wirklich ausschlaggebender Grund, 
daß der Bau nur in wenigen bestimmten Jahrzehnten der ersten Hälfte des 7. Jahr- 
hunderts entstanden sein kann, war nicht zu ermitteln. Aus der stilistischen Ana- 
lyse wird er auch kaum so bald zu gewinnen sein; sie wird vorläufig nur ergeben 
können, daß wir es mit einer Schöpfung zu tun haben, die in der Übergangszeit 
zwischen dem noch antikischen und dem schon islamischen Stil entstanden ist. 
Man kann höchstens den erreichten Grad des Überganges andeuten, daraus aber 
keinen festen Zeitansatz gewinnen, zumal für jede Gegend besondere Verhältnisse 
in Frage kommen können Es fehlen noch die tauglichen und einleuchtenden 
Maßstäbe. 

Wir verdanken Guyer den überzeugenden Nachweis, daß die Gebälke an den 
Schluß der einschlägigen christlichen Architektur gehören; er hat verabsäumt, es 
vielleicht verabsäumen miissen, den Blick nach vorwärts, auf die islamische Fort- 
entwicklung zu richten. Zwei Monumente sind es, die vorläufig nur in Frage 
kommen: der Mihrab der Djami al-Khasaki in Bagdad!) und Mschatta?). Die Be- 
ziehungen zwischen Diyärbakr und Mschatta hat Herzfeld betont und klargelegt *) 
die zum Mihrab lassen sich nur in Relation zu etwas drittem andeuten, und ich 
wähle dazu den Fries der nördlichen Seitenkapelle des Martyrions von Rusäfah‘), 
da sich auch dort die aus einer Vase entspringende Weinranke findet. Faßt man 
die Vasen schärfer ins Auge, so ergibt sich, daß die Gefäßform unvermengt mit 
dem Vegetabilischen klar in ihrer eigentümlichen Bildung wiedergegeben ist. Der 
Bildner des Mihrab kannte solch Interesse nicht: Vegetabilisches und Anorgani- 
sches geht ineinander über und vermischt sich; der Klarlegung der Formen des 
künstlerischen Gebildes ist keine Aufmerksamkeit geschenkt. In Diyärbakr ist diese 
Stufe prinzipiell schon erreicht. Zwar ist die Form der Gefäße im großen noch 
deutlich, aber die Durchsetzung mit Vegetabilischem, die Einbeziehung in den 
Rankenlauf hat schon begonnen, so daß nicht mehr überall die Scheidung der 


(т) Hersfeld im Islam I, 1910, 8.33 ff. Taf. If. Reisewerk II, S. 139 fl.; Ш, Taf. XLV f. 
(2) Jahrbuch der k. preuß. Kunstsammlungen, XXV, 1904. 
(3) Der Islam I, rgro, S. 116, 139 f. (4) Reisewerk II, S. 34, Abb. 150, III, Taf. LXII. 


169 


beiden Elemente restlos gelingt (z. В. Tr. ШЕ). Solche Analyse sagt natürlich 
nur etwas aus über den Gang der Entwicklung, aber nicht über deren Zusammen- 
fall mit dem Ablauf der Jahrzehnte. 

Wenn ich trotzdem für islamische Entstehung der Spolien eintrete, so liegt der 
Grund in meiner Überzeugung, daß der Stil der Spolien vollkommen charakterisiert 
ist durch die Merkmale, die Herzfeld grundlegend als die der frühislamischen De- 
koration wesentlichen bezeichnet hat!). In diesen Zusammenhang gehört auch die 
von Guyer erwiesene Verwendung ägyptischer Dekorationsprinzipien. Ich weiche 
auch hierin von ihm ab, wenn ich annehme, daß die Säulen des Obergeschosses 
auf ägyptische Steinmetzen zurückgehen. Meiner Ansicht nach sind die Gebilke 
in der Zeichnung wie in der Flächenbesetzung spitzer und unruhiger empfunden 
als die gleichmäßigeren Säulenmusterungen. Wie dem aber auch sei, lassen sich 
ägyptische Einflüsse im einzelnen auch an anderen mesopotamischen Bauten der 
Zeit aufweisen, so findet sich doch nur hier die für den Gesamteindruck entschei- 
pende Vermischung der Details verschiedener Stilkreise. 

Es befremdet freilich zunächst, daß das Schema der Architektur vollkommen 
innerhalb der hellenistischen Tradition bleibt, ohne daß von dem Eindringen spe- 
zifisch islamischer Formen etwas zu merken ist. Aber die Erinnerung an die 
Fresken von Kusejr (Атга?) genügt, um deutlich zu machen, daß hier in Diyärbakr 
kein Einzelfall für das Schaffen aus der klassizistisch-hellenistischen Tradition her- 
aus vorliegt. Die beiden Stätten sind in ihrer Bedeutung vielleicht sogar erst 
ganz zu verstehen, wenn sie in Beziehung zueinander gebracht werden, weil sie 
dann aus ihrer bisherigen Isolierung heraustreten und sich als Früchte eines Stammes 
erweisen. Versucht man die Stellung der Fresken des arabischen Wüstenschlosses 
innerhalb der Geschichte der Malerei auf die kürzeste Formel zu bringen, so ist 
es die, daß sie aus einer Tradition heraus geschaffen sind, für die der Körper, der 
nackte menschliche Körper in seiner Struktur im besonderen, das Zentralproblem 
bedeutete). Und die gleiche struktive Tendenz ist es gerade, die an dem Appa- 
rate der Säulen und Gebälke in Diyärbakr von jedem als das Erstaunlichste emp- 
funden werden muß. Nachdem Kusejr Amra bekannt geworden, kann also die An- 
knüpfung an diese klassizistisch-hellenistische Tradition an sich als Grundlage für 
einen Einwand gegen islamische Entstehung nicht benutzt werden. 

Es ist Guyers großes Verdienst, daß er auf „eine Art Renaissance, ein bewußtes 
Zurückgreifen auf antike Baugedanken“, die in Syrien und Mesopotamien im Laufe 
des 6. Jahrhunderts einsetzte‘), hingewiesen hat. Die Hauptbedeutung dieser Kon- 
statierung sehe ich über den Einzelfall hinaus in ihrer prinzipiellen Seite: sie 
bringt an Stelle der Theorie des mechanistischen unentrinnbaren Ablaufes eines 
theoretisch gesetzten Prozesses der immer mehr fortschreitenden Orientalisierung, 
die ungleich lebendigere des Schicksals endlich wieder zur Geltung, dem die Kunst 
wie jedes Menschen- oder Naturwerk unterliegt. Es würde zu weit führen, wollte 
ich die Prinzipien der Architekturentwicklung im Osten des Mittelmeeres in 
den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung erörtern’). Einige Andeutungen 


(1) In seinem Aufsatz im Islam I. 

(а) Kusejr Amra, herausg. von der Kais. Akademie der Wissenschaften. Wien 1907. 

(3) Was E. Herzfeld im Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen XLII, S. 133 als persisch in den 
esken anspricht, betrifft im wesentlichen nur Ikonographisches, 

(4) 8. 227. S. 236: „während des 5. und 6. Jahrhunderts“. 

(s) Viel weniger noch steht mir der Raum zu einem Überblick über die gleichzeitige gesamte Kunst- 

entwicklung jener Gebiete zur Verfügung. 


170 


müssen hier leider genügen. Die Hauptthese wäre die, daß es sich nicht um eine 
einheitliche, überall gleich ablaufende Entwicklung handelt, sondern um einzelne 
Kunstkreise, die sich schneiden oder berühren mögen, die aber hinsichtlich der 
Datierung gegenseitig keine Verbindlichkeiten begründen können. Es würde als 
zweite die These folgen müssen, daß als Wurzeln und als Stämme für die weitere 
Entwicklung drei zu berticksichtigen sind: das alt-einheimische Orientalische, das 
Hellenistische, endlich das Weitreich-Römische, an dessen Stelle zu einem ge- 
wissen Zeitpunkte das Weltreich-Rhomäische!) tritt. Die dritte, in gewissem 
Sinne eine Trivialität, wäre die, daß Architektur damals auch von Architekten für 
Bauherren gebaut wurde, d. h. daß alle Möglichkeiten und Zufälligkeiten, die den 
Stil eines Bauwerks vom Erbauer oder Besteller aus bestimmen können, in der 
Wagschale liegen. 

Kehren wir zu den Bauwerken selbst zuriick, so ergibt schon eine oberflächliche 
Betrachtung, daß die Apsis der Kirche von Qal‘at-Simän?), die man dabei so gern 
mit der Fassade von Diyärbakr in Parallele stellt, eine ganz andere Stilstufe ver- 
tritt als diese: hier das Bestimmende Säulen und Gebälke als struktive Elemente, 
dort das festgefügte Mauerwerk, dem Säulen und Gebälk nur zur Rahmung dienen 
Qal’at-Simän vertritt also hierin einen von der Antike abgewandteren und dem, 
was wir im Westen Romanisch nennen würden, zugewandteren Stil. Zieht man 
als Gegenbeispiel das Mausoleum des Diokletianspalastes in Spalato), das rund 
1½ Jahrhunderte älter als Qal‘at-Simän ist, heran, so wird noch klarer, wo 
Diyäbakr stilistisch einzuordnen ist. Da haben wir auch den Säulenaufbau mit 
lastendem Gebälk, das im oberen Stockwerk durch den Fries noch verstärkt wird, 
und wo die Mauer nur als Füllung ohne struktive Bedeutung erscheint, ihr ästhe- 
tischer Wert nur in der Raumbegrenzung liegt. (Da sie das Hauptcharakteristikum 
beibehält, kann man diese Stufe die hellenistische nennen, während die Stufe Qal‘at- 
Simin ebenso schlagwortartig der reichsrhomäischen einzugliedern ist.) Es er- 
weist sich also ein Bau, der wie Qal'at-Simun älter ist als die Spolien in Diyärbakr, 
als der stilistisch fortgeschrittenere, als der wirklich modernere als diese. Und 
doch wire es falsch, die alten Teile der Westfassade nun auch zeitlich mit dem 
Diokletiansbau in Verbindung bringen zu wollen, da die Entwicklung in Mesopo- 
tamien eine ganz andere gewesen ist, wie jetzt durch das feststehende frühe Datum 
— 359 — für die Taufkirche von Nisibis‘) für jeden, der sehen will, erst recht 
klar geworden sein muß. Denn bei einem Vergleich zwischen ihr, im speziellen 
etwa ihrer Tür’), und dem mindestens rund zwei Jahrhunderte jüngeren Torbau 
von Rusäfah®) lehrt der einfache Augenschein, um wieviel entfernter von den 
struktiven Tendenzen der Antike Nisibis ist als Rusäfah, das man doch zuerst naiv 
viel eher geneigt wäre, etwa mit Spalato zeitlich in Verbindung zu bringen, als 
Nisibis. Freilich reiht sich die Formenbehandlung im einzelnen, z. B. der Schnitt 
des Ornamentes in Nisibis, unmittelbar seinem Jahrhundert ein, während eine Detail- 
aufnahme von Rusäfah sofort zeigt, daß die Formengabe sich von der antiken 
streng unterscheidet; ich verweise nur auf den Ersatz des Zahnschnitts durch 
ein Mäanderband. Ја, wo man sich bemüht, antike Gedanken auszusprechen, wie 


(1) Ich vermeide das Wort „byzantinisch“, das man als Oberbegriff zu verwenden gewohnt ist. 

(2) M. de Vogüé, La Syrie centrale (Paris 1865 ff.). (3) ж. B. AW. 8. 148, Abb. бо. 

(4) Reisewerk II, 337 ff. 

(5) ebenda IV, Taf. CXXXIX. C. Preußer, Nordmesop. Baudenkmäler (17. Wiss. Verdffu. der D.-Orient. 
Ges. Leipzig 1911), Taf. 30. Herzfelds Rekonstruktion: Reisewerk U, 8. 342. 

(6) Reisework Ш, Taf. LIVE, 


171 


etwa in den Vasen des Apsisfrieses des Martyrions, da wird so recht deutlich, 
wie unantik die Formensprache im einzelnen ist. 

Ich griff diese beiden Beispiele aus der großen Zahl ihrer Gefährten heraus, weil 
nur sie unanfechtbar datiert sind, Rusäfah wenigstens in Bezug auf den in unserem 
Zusammenhange allein wichtigen terminus a quo. Denn sie ergeben den unumstöß- 
lichen Beleg, daß man in Mesopotamien nach 500 im engeren Anschluß an die 
hellenistische Antike baute als im 4. Jahrhundert, daß man also im 4. Jahrhundert 
fortschrittlicher, moderner gesonnen war als später, wo eine — wie wir heute 
sagen würden — klassizistische Tendenz herrschte. Aus dieser mesopotamischen 
Entwicklung, und nur aus ihr, ist die Möglichkeit des Urbaues von Diyärbakr zu 
verstehen. Zu verstehen auch, warum die Fassade mit dem Korrespondieren der 
tragenden Glieder in beiden Stockwerken — worauf Swoboda hinweist — alter- 
tümlich ist; zu verstehen auch, wieso dieser Bau als einer der neuen islamischen 
Herrscherkaste entstehen konnte, die sich der Kunstkräfte, die ihnen die unter- 
worfenen Völker stellten, bedienen mußten, wollten sie mit Einheimischen etwas 
schaffen. Und von der Stärke dieses genius loci ist es ein später aber eindrucks- 
voller Beweis, daß die Reproduktion im ı2. Jahrhundert möglich war, und zwar 
mit einem Erfolge, den man voll begreift, wenn man zum Vergleich heranzieht, 
was etwa im Westen in diesen Jahrhunderten als bewußte Nachahmung antiker 
Baukunst aufgeführt wurde. 


172 


DAS GEISTLICHE SCHAUSPIEL DES 
MITTELALTERS UND DAS GEMALTE BILD 
BEI MEISTER BERTRAM VON MINDEN 


Mit zwölf Abbildungen auf zwei Tafeln in Lichtdruck Von ALFRED ROHDE-Hamburg 


er Kunsthistoriker fühlt sich leicht in seiner Beschäftigung vor Fragen gestellt 

die geeignet sind, ihn in Verlegenheit zu setzen. Es ist kein Vergnügen für 
ihn, das sichere Gebiet der Wissenschaft zu verlassen und ohne die Hand eines 
geeigneten Führers mit tiefgründiger Sachkenntnis als Dilettant in einem für ihn 
fremden Lande zu wandeln. Aber er hat die Hoffnung, daß man ihn darum um 
so weniger vor ein scharfes Fachgericht von der anderen Seite her fordern wird, 
als ihm ja gar nicht daran liegt, in diesem fremden Lande auf Neuentdeckungen 
auszugehen, sondern lediglich dort erzielte Resultate an seiner eigentlichen Wissen- 
schaft zu orientieren. Wird man unbilligerweise nicht vom Kunsthistoriker ver 
langen, daß er Germanist oder Literarhistoriker ist, so wird man ihm doch das 
Recht zubilligen, daß er diese Zweige für seine Zwecke als Hilfswissenschaft aus- 
beutet, wenn er auch — und das wird man ruhig betonen dürfen — sich hier nur 
als interessierter Dilettant gebärden kann. 

Die Frage des kirchlichen Schauspiels“) in seinem Einfluß auf die bildende Kunst 
ist sicherlich nicht neu. Für eine frühe Zeit des Mittelalters ist sie sogar recht 
erschöpfend behandelt durch die Untersuchung von Weber über die Kirche und 
Synagoge. Deutlicher tritt sie wieder im Dürerkreis hervor. Aber fast völlig 
brach liegt die Zeit primitiver Malerei des 14. und ı5. Jahrhunderts, die im Norden 
durch die Entwicklung von Bertram bis Franke belegt ist. М 

Man ist leicht geneigt, die illustrative Anlage eines Werkes wie des Petrialtares 
von Meister Bertram auf die Heilige Schrift zurückzuführen, ohne zu bedenken, 
daß wir ja im 14. Jahrhundert, also dem ausgehenden Mittelalter, in einer Zeit 
leben, wo selbst dem Klerus die Bibel kaum zugänglich war. Aber gerade, weil 
die Bilder so illustrativ, stellenweise fast anekdotenhaft lebendig sich präsentieren, 
wird man auch eine lebendige Quelle suchen, eine Quelle, die lebendiger sein 
mußte, als die Heilige Schrift selbst. So darf man schon von vornherein auf die 
Mysterienbühne hindeuten, in der die Heilslegende dem Volke vor Augen geführt 
wurde. 

Ursprünglich engstens mit der Kirche verbunden, hatte sie eine belehrende Ten- 
denz. An bestimmten Festtagen bildeten sich aus den kirchlichen Gesängen be- 
stimmte Tropen, die zu szenischer Darstellung lockten. So die Grabesszene am 
Ostermorgen, ftir welche kirchliche Gesänge und Gewohnheiten den Anlaß gaben, 
ein Kern, an den sich dann neue Elemente ankristallisierten (Sequenz Victimae 
Paschalis, Maria Magdalena, Wettlauf der Apostel Petrus und Johannes u, a.). 
Neben diesem kirchlichen Osterspiel steht das Höllenfahrtsspiel, das Emmausspiel, 
das Weihnachtsspiel, das Spiel des Kindermordes, das Dreikönigsspiel usw. Bei 
der Gruppe der Spiele um Weihnachten beobachten wir zum erstenmal die Tendenz 


(1) Vergleiche außer Mone, Milchsack u. a. älteren Schriftstellern vor allen Dingen Creizenach, Ge- 
schichte des neueren Dramas, 2. Aufl., Halle 1911. Für den Einfluß auf die Kunst siehe Creizenach, 
а. а. O., 8. 214 ff., Male, L’Art religieux, Paris 1908, Tscheuchner, Repertorium, Bd, 27 und 28 für 
das 15. und 16б. Jahrhundert, 


173 


der Vereinheitlichung zu einer geschlossenen Gruppe, die mit der Geburt Christi 
anfängt und dann abschließt mit der Flucht nach Ägypten, wobei Herodes sich 
mit der Zeit — besonders in der späteren volkstümlichen Periode — als Haupt- 
person herausbildet: der Charakter des tibertilpelten Tyrannen! 

Die Mysterienbühne des ausgehenden Mittelalters hat diese über ein Jahr ver- 
teilten Szenen und Gruppen zu einer großen gewaltigen Schaustellung vereinigt, 
die anfängt mit der Erschaffung der Welt und endet mit dem Jüngsten Gericht. 

Der deutsche Maler des Mittelalters, der in seiner handwerklich-zunftmäßigen 
Gebundenheit entgegen dem gleichzeitigen italienischen Künstler eigentlich nur 
Kunsthandwerker im besten Sinne des Wortes ist, den wir innerhalb seiner Zunft 
an diesen Aufführungen mitwirken sehen, der selbst oft Regisseur und Leiter solcher 
Schaustellungen war!), fand hier recht eigentlich eine Vorbildkammer für sein Metier. 

Die überraschende thematische Verwandtschaft mancher Bilder des 14. Jahr- 
hunderts, die örtlich in getrennten Gegenden entstanden sind, lassen sich auf 
solche Biihnenbilder als Urvorbilder deuten. Können wir stellenweise direkt Belege 
anführen, so müssen wir uns oft jedoch auf Mutmaßungen beschränken, die sich 
durch die novellistisch-anekdotenhafte Behandlung des Themas von selbst be- 
kräftigen. 

Der erste Schöpfungstag der Bibel schildert die Schaffung des Lichtes und die 
Scheidung von Licht und Finsternis. Bertram schildert etwas ganz anderes (Abb. 1): 
aus einem krausen, runden Gebilde mit dem Christuskopf in der Mitte — den 
Himmel darstellend — stürzen schwarze und graue affenartige Teufelchen teils 
mit Hörnern auf dem Kopf, teils mit Schwimmbhäuten an den Füßen auf einen 
grünen Ball, der die Erde vorstellen soll, hier bohren sie sich in die Oberfläche 
ein, um in das Erdinnere zu gelangen, wo sich der Meister die Hölle dachte. 
Unter diesen Äffchen befindet sich einer, der sich besonders schrecklich und un- 
Вано gebärdet; er spreizt die Beine mit den großen Schwimmhäuten und dorn- 
artigen Krallen, er hat ein wildes Gesicht mit einer Rüsselnase. Auf dem Kopf 
mit langen Ohren hat er eine Krone und in der rechten Hand hält er ein Schrift- 
band mit den Worten: Ascendendo super altitudinem nubium similis ero altissimo. 
(Wenn ich über die Wolken emporsteige, werde ich dem Höchsten ähnlich sein). 
Er strotzt also vor Hochmut und möchte sich dem Schöpfer gleichsetzen. 

In der königlichen Bibliothek im Haag befindet sich eine Handschrift eines Spieles 
aus Mastricht”), das mittelfränkische Mundart zeigt und wohl noch dem 14. Jahr- 
hundert angehört. Beim ersten Schöpfungstag tritt hier Luzifer auf und spricht 


Ich sien in minen claren schin 
dat is mich dunke werdlich sin 
dat ich minen stul in oisten 
sezze ende gelich dem hoisten. 
nu pruuet geselle alle 

wie uch dit beualle. 


Darauf spricht ein Engel Satan für die anderen: 
Uns dunckit gut de selue wain, 
dar umbe wir dich gestain. 

Jetzt wird Luzifer verstoßen, indem der Herr spricht: 
Luzifer, din ouvermuet 
hait die benomen al dat guet, 


(1) Creizenach, a. a, O., 8. 219. Male, а. a. O., S. 20. 
(2) Zeitschrift für deutsches Altertum II, S.303. Creizenach, a. a. O., 8, 117. 


174 


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Abb. 1. Schöpfungstag. 


Abb. 3. Verwarnung. 


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Abb. 4. Sündenfall. 


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Abb. 5. Entdeckung. Abb. 6. Austreibung. 


Abb. 7. Bau der Arche. 


Abb. 1—7. Hamburger Petrialtar, Hamburg, Kunsthalle. 
: Alfred Rohde. Das geistliche Schauspiel des Mittelalters und das gemalte Bild bei Meister Bertram von Manden. 


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inde dat der himel beueit, 

dat der zu vrouden was gereit 
ende alle dinen gesellen. 

nu vart zu der hellen 

da ir quelit inne 

van disen aneginne 

immer sunder ende 

in iemerlich meswende. 

Und auch die affenartigen Gestalten Bertrams kehren wieder, denn jetzt werden 
die Engel in eine „arge vorme“ verwandelt, sie werden „arme Affen“! Wie ver- 
wandt erscheint der Gipfel des Hochmutes bei Luzifer, der sich bei Bertram in 
die Worte ausdrückt: „Wenn ich über die Wolken steige, werde ich dem Höchsten 
gleich sein“, im Spiel in die Worte: „dat ich minen stul in oisten sezze ende 
gelich dem hoisten“. Damit ist nicht gesagt, daß nun Bertram von diesem be- 
stimmten, zufällig erhaltenen Spiel ausgegangen ist. Die Spiele wurden von Ort 
zu Ort getragen. Regie- und Rollenheftchen sind mehrfach erhalten, ebenso wan- 
derten die Bühnenanweisungen, in Kleinigkeiten voneinander abweichend, aber man 
ersieht leicht, daß dieser anekdotenreiche Schöpfungstag seine Quelle in der leben- 
sprudelnden Form der Mysterienbiihne hat. 

Die Geburt der Eva (Abb. 2) zeigt, mit welchem Wirklichkeitssinn die Bühne 
arbeitete. Dieser Wirklichkeitssinn ging so weit, daß bei der Kreuzigung der 
Christus unter seinem Trikot eine Schweinsblase mit Blut zu tragen pflegte, in die 
Longinus hineinstach. Bei unserem Bilde liegt Adam auf einem Felsen, der an- 
steigt und hinter ihm steil abfällt; damit ist für Eva eine Versenkung gegeben, 
aus der sie erscheinen konnte, um den Vorgang dem Publikum so wirklichkeits- 
getreu wie nur irgend möglich zu machen, und das Büschlein, das unter der Rippe 
hervorsprießt, trägt nur dazu bei, die Illusion zu erhöhen. Der Gott-Vater Bertrams 
steht mit beiden Füßen auf festem Boden, er ist von dieser Welt: So trat er auf 
der Passionsbühne auf; so tiberschritt er schöpfend und gestaltend, ordnend und 
teilend die Bühne. Er ist zugleich für den Künstler das wandelnde Motiv, das in 
ewig neuer Gestaltung über die Einerleiheit der Schöpfungstage hinweghilft. Die 
Abgrenzung des Paradieses (Abb. 3) durch eine Mauer findet ihre Parallele in dem 
Szenenvermerk eines französischen Adamspieles, wo vorgeschrieben wird, daß das 
Paradies mit seidenen Vorhängen, bis zur Schulterhöhe abgegrenzt sein soll. Die 
Schlange, die sich am Baum des Lebens (Abb. 4) emporschlängelt, ist eigentlich 
kein lebensfähiges Wesen ihrer Gattung; sie ist mehr ein papierener, aufgeblasener 
Wurm, eine „künstliche Schlange“, wie es in demselben Adamspiel ausdrücklich 
heißt („tunc serpens artificiose compositus ascendit iuxta stipitem arboris vetite“). 

Die Entdeckung des Sündenfalles (Abb. 5) ist lebenswahr auf der Bühne er- 
schaut, wie der Herr droht, Adam auf Eva, Eva auf die Schlange weist. 


Adam: Dat wyf, dat du mir geues, here, 
die dede is, ende hor lere 
dat ich mig han uirgessen 
inde van den appel gessen. 
Eva: Here in dait is selue niet! 
dis slange hi steit mir dat riet. 


Gerade die Bezeichnung „dat wyf“ und „dis slange“ illustrieren schon die hin- 
weisende Gebärde, wie sie uns der Maler überliefert hat. 

Die Vertreibung aus dem Paradiese (Abb. 6) weicht wieder sachlich von dem 
Text der Bibel ab. Hier heißt es: „Da ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten 
Eden, daß er das Feld bauete, davon er genommen. Und trieb Adam aus“, erst 


175 


jetzt kommt die Erwähnung des Engels mit dem Schwerte: „Und er lagerte vor 
dem Garten Eden, den Cherub mit einem bloßen Schwerte zu bewahren, den Weg 
zu dem Baum des Lebens“. Der Engel tritt also nicht als Agens auf. Dagegen 
ist er bei Bertram handelnde Persönlichkeit, er packt Eva an der Schulter und stößt 
sie zur Tür hinaus, während in der rechten Hand das gezückte Schwert nichts 
Gutes verheißt. Adam und Eva eilen davon wie geknickte und zerknirschte Böse- 
wichter. In der rechtwinkligen Brechung von Kopf, Leib, Ober- und Unterschenkel 
gegeneinander drückt sich formal — man möchte sagen erlebt — die seelische 
Zerrüttung der Ausgewiesenen und des Ausgewiesenseins aus. Ähnlich schildert 
das Spiel: 

„Hie driuet Cherubim, dir Engele, Adame ende Yuen usser dem paradyse mit 
einem swerde“, 

Und nicht genug mit dieser Bühnenanweisung, er weist sie noch zurecht, belebt 
noch durch Worte seine Handlung, um ihr den nötigen Nachdruck zu verleihen: 
„Adam ende Yue, ir hait versumt 

vg. dit paradis nu rumt 
inde ilet her vore; 
ich muz huden dise dore.“ 

Die weitere Auswahl der Bilder des Petrialtares (Abb. 7) zeigt das Prinzip der 
Gegenüberstellung, wie sie die damalige Bühne liebte. Nicht so restlos klar er- 
scheinen die Szenen aus dem Leben der Patriarchen. Immerhin hat es den An- 
schein, als ob der Schöpfung ein Bild der Zerstörung gegenübergestellt werden 
sollte (Kain und Abel, Abrahams Opfer, die Sintflut, Jakobs Betrug!). Deutlicher 
fügt sich die Geschichte der Maria (Verkündigung bis Flucht nach Ägypten) als 
Gegenstück an den Stindenfall an, der eigentlich hier eine Geschichte der Eva ist. 
Das reizende Wortspiel von Eva und Ave (Ave Maria!) lag dem mittelalterlichen 
Geiste nur zu sehr am Herzen, und der Maria wird gern der Sündenfall entgegen- 
gehalten, um ihre Reinheit, trotzdem sie ja auch nur eine Evastochter ist, ans 
Licht zu rücken. So erscheint hier die Geschichte des ersten Paares als eine 
Präfiguration. Diese Deutung — immer im Hinblick auf die Mysterienbühne — 
erklärt zugleich die Teilung des ganzen Bildfeldes in vier Gruppen zu je sechs in 
sich geschlossenen Bildzyklen, von denen nur die Gruppe der Patriarchen etwas 
stark lückenbtißend erscheint. Die Zusammenziehung dieser scheinbar so hetero- 
genen Themen zu einem Altar, die meines Wissens vergebens ihr Analogon sucht, 
findet so ihre natürliche Erklärung. Daß die Auswahl nicht willkürlich war, scheint 
mir durch die klare Teilung des Altares in vier Bildgruppen hinreichend bewiesen 
zu Sein. 

Einen deutlichen Zusammenhang mit der Wirklichkeit zeigt das Bild der Sint- 
fiut (Abb. 8). Nicht die fertige Arche, nicht der Kampf des Fahrzeuges mit der 
Flut, nicht die endgültige Rettung, Landung und das Dankesopfer Noahs wird hier 
gewählt: Bertram gibt einen Ausschnitt werktätiger Arbeit. Noah erhält im Hinter- 
grund den Befehl des Herrn: Fac tibi arcam de lignis linegatis (Bau dir eine 
Arche aus glattem Holz), während im Vordergrunde kräftig an dem Schifflein ge- 
hämmert und gebaut wird. Dabei ist die Arbeit der Zimmerleute gut beobachtet, 
wie die Bohlen aneinandergefügt sind, die Sitzbank durch die Schiffswandung durch- 
greift, die eisernen Beschläge befestigt sind, die Werkzeuge gebraucht werden. 

Neben der eigentlichen Mysterienbühne ist die Prozession des Fronleichnams- 
festes von einschneidender Bedeutung, besonders durch ihren Zusammenhang mit 
den Zünften. Ähnlich der Triomfi der italienischen Renaissance war diese Pro- 


176 


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Abb. 9. Kindermord d. Petrialtares. 


Abb. 10. Kindermord d. Buxtehuder Altares. 


Abb. 12. Kindermord 
im German. Museum Nürnberg. 


I: 


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Abb. 13. Besuch d. Engel vom Buxtehuder Altar. 


Zu: Alfred Rohde, Das geistliche Schauspiel des Mittelalters und das gemalte Bild bei Meister Bertram von Manden. 


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zession ein wahrer Triumphzug der Religion, der sich in England ausgebildet hatte 
und im Laufe des 14. Jahrhunderts nach Deutschland übergriff. Jede Zunft stellte 
am Fronleichnamstag auf einem Wagen eine Szene aus der Bibel dar. Die Wagen 
fuhren in bestimmten Abständen, und an bestimmten Punkten spielte jede Gruppe 
ihre kurze Szene. Spielte also die erste Gruppe bei der dritten Haltestelle die 
Erschaffung der Welt, so spielte gleichzeitig die zweite Gruppe bei der zweiten 
Haltestelle den Siindenfall, während die dritte Gruppe bei der ersten Haltestelle 
Kain und Abel aufführte und so fort. Dieselben Personen, die in den einzelnen 
Gruppen aufzutreten hatten, waren natürlich bei dieser Art der Aufführung jeweils 
durch andere Personen dargestellt, so daß also eine solche Prozession im Gegen- 
satz zum Passionsspiel über eine ganze Anzahl von Christusdarstellern verfügte. 
Die Zuteilung der Gruppen an die Zünfte war meist nicht willkürlich, sondern man 
ließ das Charakteristikum der einzelnen Zünfte zur Geltung kommen. So wurden 
die Heil. drei Könige oft durch die Schneider (modische Trachten auf den Bildern!) 
oder durch die Goldschmiede (Darstellung von silbernen und goldenen Prunk- 
gefäßen!) dargestellt. Bei diesen Festlichkeiten stellten nun oft die Zimmerleute 
die Arche Noah und an eine solche Gruppe mag unser Meister Bertram bei seinem 
Bilde gedacht haben’). 

Noch ein Wort über den Kindermord (Abb. 9—12). Er tritt in der Bibel wenig 
hervor, ist in der Kunst aber bis in die Spätzeit der Niederländer hinein ein be- 
liebtes Thema geworden. Der Bertramsche Kindermord ist voll von Handlung 
und Bewegung. An sich hat der Mord selbst nichts mit dem thronenden Herodes 
zu tun, auf den ein Ritter einspricht. Es sind zwei örtlich und zeitlich getrennte 
Handlungen, die sich hier abspielen. Das Nebeneinander der Handlung war aber 
für die Bühne etwas Selbstverstindliches. Hier fand der Zuschauer die einzelnen 
Gruppen nebeneinander aufgestellt, ehe die Handlung begann. Das oben erwähnte 
Spiel dehnt den Kindermord sehr aus. Nicht gibt Herodes ohne weiteres den 
Befehl zum Mord. Ein Ritter rät ihm: 

„Here, du dine riddere senden 
widen in allen enden, 
inde du alle die kindolin 


die bennen zwen iaren syn 

so wo si se venden doit slaen?“ 
Herodes antwortet: 

„Du hais mich wale geraden 

vp riddere enpe boden! 

Duet doden alle di kindolin 

di bennen zwen laren sin.“ 


Dieser Dialog scheint sich auch bei Bertram abzuspielen. Als Sprecher tritt 
während des Mordgeschäftes im Spiel ein Ritter auf. Dieser eine Ritter handelt 
auch in unserem Kindermord; er tritt auf dem Buxtehuder Altar auf, während auf 
dem sonst zu dieser Gruppe gehörenden Bild im Nürnberger Museum und beim 
Kindermord von Schotten am Mittelrhein zwei Ritter sich in der Arbeit teilen. 
Der allgemeine Eindruck ist aber auf allen vier Bildern identisch. Identische Bild- 
motive erscheinen auch bei der Gruppe der Frauen. Eine kauert am Boden, und 
kost ihr totes Kind, eine andere faltet inbrünstig die Hände zum Gebet und schaut 
verzweifelt zum Himmel auf, während die Dritte entsetzt von dem Anblick des 
Ritters ist, ihn anpackt und von seinem Vorhaben abbringen möchte. Im Spiel 


(1) Creizenach, a. a. O., S. 169 ff. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1922, 7—9. 12 177 


ist die Handlung auf eine Persönlichkeit „Rachel“ те die anfangs ent- 
setzt ist und schließlich in stilles Gebet versinkt: 
„wat sulen ire gerothte swert 
inde ire vresliche gebere?“ 
Der Ritter reißt ihr das Kind fort: 


„Gef her din kent, baude wyf, 
wilt du behalden dinen lyf.“ 


Darauf faltet Rachel die Hände zum Gebet: 


„Here got van hiemelriche, 
nu musse dis iemerliche 
doit vor dinen ougen sin 
van deme linen kende min.“ 


Und sie wünscht nur, daß Jesus gerettet werden möchte, 
„van deme der kuninc Salomon 
lange ze uoren hait gesait.“ 

So geht auch diese Szene auf das Erlebnis der Bühne zurück. Zwar läßt das 
Mastrichter Spiel die Flucht nach Ägypten dem Kindermord vorangehen, aber das 
Benediktbeurener Weihnachtsspiel bringt die Darstellung in derselben Reihenfolge 
wie unser Maler. 

Man würde kein abgeschlossenes Bild für diese Betrachtungen des Zusammen 
hanges beim Meister Bertram geben, wenn man nicht ein Bild aus der Bertram- 
schule als letztes beweisendstes heranziehen wollte: den Besuch der Engel vom 
Buxtehuder Altar (Abb. 13). Diese Gruppe ist im 14. Jahrhundert so überraschend, 
daß schon Lichtwark hier einen Einfluß der Dichtung annahm: „Die Dichtung, 
aus der der Stoff stammen dürfte, kann ich noch nicht nachweisen,“ heißt es in 
der bewußten Lichtwark-Sprache. Die bürgerlich versonnen dasitzende Maria, die 
ihr Jäckchen fleißig strickt und gerade ihre Maschen zu zählen scheint, der kleine 
Jesus, der durch ein jugendlich wildes Kreiselspiel — Kreisel und Peitsche liegen 
noch neben ihm — etwas aus seiner Erlöserrolle zu fallen glaubte und infolge- 
dessen aus einer Erbauungsschrift sein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen 
scheint, diese banale Auffassung der heiligen Personen, zu der die Heiligenscheine 
und der gotisierende Thronbaldachin in scharfem Gegensatz stehen, muß ebenso 
überraschend bei den Zeitgenossen gewirkt haben, wie etwa der Arme-Leute-Geruch, 
der von den religiösen Bildern Uhdes ausgeht oder die religiöse Malerei Noldes, 
die man wegen ihrer sogenannten Banalität als Blasphemie ablehnen möchte. Zu 
dieser beschaulichen Szene bürgerlichen Erdendaseins treten zwei Engel, der eine 
mit Spieß und Dornenkrone, der andere mit Kreuz und Nägel. Was bedeutet diese 
Szene? Das geistliche Drama empfand die gewaltige Liicke zwischen dem Christus- 
kind im Tempel und der Hochzeit zu Kanaa sehr empfindlich und war bestrebt, 
diese Lücke auszufüllen; die Kirche, die sich in ihrem historischen Verlauf so oft 
den von außen an sie herantretenden Fällen sehr wohl und leicht anzupassen 
verstand, sah hier die Gefahr der fabulierenden Phantasie, nahm daher die Aus 
füllung dieser Lücke selbst in die Hand, erfand einen dogmatischen Dialog zwischen 
dem jungen Christus und seiner Mutter, worin Christus seiner Mutter voraus- 
schauend die späteren Ereignisse seines Lebens, besonders seiner Passion, erzählt, 
und die Notwendigkeit seines Erlöserwerkes und seines freiwilligen Opfers — zu- 
gleich belehrend für das Publikum — darlegt. So tritt uns diese Szene schon im 
Marienleben Walthers von Rheinau!) entgegen: „Hie vahet an dü wehselrede des 


(x) Mone, Schauspiel des Mittelalters, Bd. I. S. 181—195. 
178 


heinlichen gespreches, das dii magt Maria unde ir sun Jhesus sament beten, und 
dann erstreckt sich dieses liebliche Gespräch voll lyrischer Schönheit über 380 Verse. 
Eine solche Szene der Bühne hat uns der Maler des Buxtehuder Altares in seinem 
Bilde vor Augen führen wollen; in der Reihenfolge seines Bilderzyklus steht sie 
daher zwischen dem Christuskind im Tempel und der Hochzeit zu Kanaa. Den 
dogmatischen Inhalt des Gespräches illustriert er durch die beiden Engel mit den 
Marterwerkzeugen, vielleicht aber kannte auch die Bühne selbst an dieser Stelle 
das Auftreten der Engel. 

So sehen wir an einem Meister, an einer Schule verfolgt, wie eng die bildende 
Kunst mit der Bühne verknüpft war. Neben einer Typenwanderung durch fahrende 
Malergesellen spielt in der Malerei des 14. Jahrhunderts eine Wanderung und Über- 
lieferung der aufzuführenden Spiele eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie haben 
manchen Bildern, in so verschiedenen Gegenden sie auch entstanden sein mögen, 
den Stempel der Verwandtschaft aufgedrückt. Wie die Mysterienbühne die Stätte 
religiöser Erbauung für das Volk war, so war sie auch die Stätte, wo der Künstler 
seine Inspirationen erhielt. 


179 


QUELLENKUNDLICHE BEITRÄGE ZUR 
AUGSBURGER PLASTIK UM 1500 


Mit zwei Abbildungen im Text Von EMIL SPAETH 


L 
ZU GREGOR UND MICHEL ERHART!'). 


Zu Gregor Erhart. 


as Werk Gregor Erharts, in welchem wir mit großer Wahrscheinlichkeit einen 

der bedeutendsten deutschen Plastiker um ı500 erblicken dürfen, bleibt nach 
wie vor in Dunkel gehiillt. Die Zeitgenossen sprechen von ihfn in Ausdrücken un- 
gewöhnlichen Lobes?), was mehr bedeutet, die mit seinem Namen verbundenen 
Werke zählen zu den wichtigsten der Epoche. Die von Vischer in verdienstvoller 
Weise angezogenen Notizen?) des Augsburger Archivs geben die äußeren Daten 
seines Lebens, soweit es in Augsburg verflieBt. Wir wiederholen kurz: 


1494 kommt der Meister in die Lechstadt. Er wohnt in der Kawtschengasse, 
heiratet 96, wohnt 1497 bei Ursel Schneider, seit 1501 am Kitzenmarkt, 10 Jahre 
lang. Nach dem Tode seiner Frau gibt er das Haus auf, zieht nach Salta zum 
Schlechtenbad und wohnt noch anderwärts, genug, er gibt seine Gerechtigkeit 1531 
an seinen Sohn Pauls Maier; 1540 wird sein Tod gemeldet. 


Von seiner Tätigkeit erfahren wir: 
1498 Kruzifix für Ulrich und Afra. 
1502—07 Moritzkirche. 
Arbeiten für Sakramentshaus und Frlihmeßaltar. 
1502 Kaishaimer Altar. 
1509—ı0 Statue Maximilians. 

Fassen wir kurz einmal zusammen, was unsere neugefundenen Quellen an bisher 
unbekannten Tatsachen über Gregor Erhart vermitteln: 

Das Wichtigste aus dem Eintrag von 1510: 

Gregor Erhart ist der Sohn des Michel Erhart von Ulm. Er steht mit diesem 
seinem Vater noch in Augsburg in enger Verbindung, indem er ihm z.B. eine 
Zahlung für eine von Michel für Ulrich und Afra abgelieferte Bestellung über- 
mittelt. 

Wir brauchen nicht mehr anzunehmen, daß die Tätigkeit Michel Erharts für 
Augsburg gerade in dem Augenblick aufhört, in welchem Gregors Arbeit daselbst 
einsetzt und daraus auf ein absichtliches Verzichten des Älteren zugunsten des 


(x) Die nachfolgenden Studien fiber die beiden Erhart und Adolf Daucher wurden ermöglicht durch 
die Neuauffindung eines alten Zechpflegebuches von Ulrich und Afra im Augsburger Stadtarchiv. 
Für die Mitteilung von dieser Neuauffindung bin ich Herrn Archivar Dr, Wiedenmann zu besonderem 
Dank verpflichtet. — In seiner „Ulmer Plastik um 1500“, Stuttgart 1911, sowie in dem Artikel Ztschr, 
f. bild, Kunst, 1916, Heft 11: „Schaffner und Mauch“ hat Baum einige der hauptsächlichen Lücken 
aufgezeigt, die in unserer Erkenntnis des Überganges der Ulmer in die Augsburger Plastik bzw. der 
Entwicklung der Augsburger Frührenaissance auf dem Gebiete der Plastik noch offen stehen. Die 
folgenden Untersuchungen wollen zur Klärung dieser Probleme ein geringes beitragen. 

(2) Clemens Sender, Chronik. 

(3) Studien zur Kunstgesch., Stuttgart 1886. 


180 


Jüngeren zu schließen!), vielmehr sehen wir ein einträchtiges Nebeneinanderarbeiten 
von Vater und Sohn für die reichen Auftraggeber. 

Die Bestellung selbst, welche Michel Erhart für Ulrich und Afra ausführt, wird 
uns wohl nur teilweise durch unsere Quelle bekanntgegeben, welche von „Engeln“, 
wohl größeren plastischen Arbeiten, wahrscheinlich in Stein, möglicherweise in 
Holz berichtet. Sie mögen Teile eines geschnitzten Altarwerkes gewesen sein?). 

Nebenbei mag noch bemerkenswert erscheinen: der Meister, welcher 1498 für 
Ulrich und Afra den Kruzifix, 1509 den Maximilian fertigt, steht auch in der 
Zwischenzeit mit dem Kloster in Verbindung. 

Schließlich, der Vollständigkeit wegen, sei noch ein kleines Parergon seiner 
Hand aus der Moritzkirche erwähnt, von 1506 „ein klain altar oder pettstainlen‘?) 
aus jener Zeit, in welcher der Meister umfangreiche Arbeiten für diese Kirche an- 
fertigte. 

Für die bedeutsamste Nachricht halten wir die, daß Gregor Erhart der Sohn des 
Michel von Ulm ist. Die von Ulm nach Augsburg verlaufende Entwicklung ge- 
winnt durch die uns nun bekannt gewordene Tatsache an Klarheit‘), 


Beziehung Gregor Erharts zum Altar von Blaubeuren. 


Die vielleicht interessanteste Frage betrifft aber die Zuweisung der Skulpturen 
des Blaubeurer Altars an Gregor Erhart. Es mag daran erinnert sein, daß Baum 
den von Vöge?°) stilistisch aufgestellten Werkstatt-Zusammenhang der Madonna des 
Kaiser-Friedrich-Museums, angeblich aus Kaisheim, mit der von Blaubeuren an- 
erkennend die Einreihung dieser Gruppe in das Werk Gregor Erharts als höchst- 
wahrscheinlich dargestellt hat ). 

Aus der Tatsache, daß Michel Erhart schon 1474 einen großen Auftrag erhält 
(vielleicht schon 1469 erwähnt wird), und noch 1516 seiner Werkstätte vorsteht, 
ergibt sich, daß er, vermutlich zwischen 1440 und 1445 geboren, als Greis noch 
seine künstlerische Tätigkeit nicht niedergelegt hat. 

Für Gregor Erhart nun, seinen Sohn, ersehen wir, daß er, wenn anders wir in 
ihm wirklich den Schöpfer des Blaubeurer Altars zu erblicken haben, in jungen 
Jahren wie sein Vater einer großen Aufgabe gewürdigt worden sein muß. 

Allerdings stehen die Daten für den Blaubeurer Altar (für die Vergebung des 
Auftrages insbesondere) nicht genügend fest: doch müssen wir 94 als spätesten 
Zeitpunkt des Beginnes im Auge behalten“). Ein weniger als Fünfundzwanzig- 
jähriger aber. könnte den bedeutenden Auftrag wohl nicht erhalten haben: so müßte 
Gregor Erhart spätestens um 1468 geboren sein, wenn wir annehmen dürften, er 


(x) Baum: „Ulmer Plastik“, S. 91. 

(2) Zur Aufstellung oder Aufbängung der Engel scheinen ungewöhnliche Zurüstungen notwendig ge- 
wesen zu sein. Es legt dies die Annahme schwerer steinerner Engel oder eines schwer zu erreichen- 
den Aufstellungsortes nahe, 

(3) Zechpflegbuch von St. Moritz (Stadtarchiv Augsburg) 1506, 15. Juni. (Die Stelle ist bei Vischer 
übergangen.) 

(4) Wie unsicher über diesen Punkt die bisherigen Überlieferungen waren, geht aus einer Bemerkung 
Felix Maders in seinem Aufsatz über Gregor Erhart hervor (Die christliche Kunst III, 1907, Heft 7, 
S. 164); er hält es für ausgeschlossen, daß wir in Gregor Erhart Michel Erharts Sohn zu erblicken 
haben. 

(5) Vöge, Monatshefte für Kunstwissenschaft 1909, 8. 11. 

(6) Ulmer Plastik, a. a. O. | 

(7) Baum, а. a. О., 8. 81 glaubt offenbar, der Altar sei 1493/94 geschaffen worden, 


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habe das Werk im eigenen Auftrag ausgeführt. Nehmen wir das manchmal an- 
gegebene Jahr or für den Beginn der Arbeiten an: so mag die Geburt des Meisters 
spätestens um 65 gesetzt werden, während sein Vater um 45 geboren sein wird, 
als Siebziger also noch seiner Werkstätte vorstand. Wir wollen schließlich auch 
eine Art Grenzfall nicht außer acht lassen: vielleicht war Michel Erhart imstande, 
noch achtzigjährig seine Werkstatt zu versehen. Wir dürfen dann, was uns für 
den Meister des Werkes von Blaubeuren bequemer erscheinen muß, mit dem 
Geburtsjahr Gregors bis auf etwa 55 zurückgehen. Im hohen Alter von 85 Jahren 
wäre Gregor dann gestorben. Es scheint mir dies unwahrscheinlich. 

Wir sehen so, die Angaben, welche uns zur Verfügung stehen, würden es als 
solche gestatten, Gregor Erhart als Meister des Blaubeurer Altars zu betrachten. 
Doch müßte er wohl in verhältnismäßig jungen Jahren den bedeutenden Auftrag 
erhalten haben. Jedoch wird aus anderen Gründen!) die Zuschreibung des Blau- 
beurer Altars an Gregor Erhart noch nicht als gesichert betrachtet werden dürfen. 

Im übrigen gewinnen wir aus unserer Überlegung wenigstens die wahrschein- 
lichen Geburtsdaten für Michel und Gregor Erhart, wobei ich für Michel Erhart 
etwa an 1440—45, für Gregor Erhart etwa an 1463—68 denken möchte; müssen 
wir doch annehmen, daß Gregor bei seiner 1494 erfolgten Ubersiedlung nach Augs- 
burg mindestens im Alter von 25 Jahren gestanden habe, während auf der andern 
Seite die 1531 erfolgte Übergabe seiner Meistergerechtigkeit an den Sohn einen 
gewissen Anhaltspunkt gewährt. Über die Autorschaft am Blaubeurer-Altar wird 
durch diese Ansetzung nichts ausgesagt. Zur Not könnte nach ihr Gregor Erhart 
als Blaubeurer Meister betrachtet werden. 


Gregor Erhart in der Werkstätte Michel Erharts? 


Das stilistisch Plausible’) in Vöges Zusammenstellung der drei Madonnen ver- 
anlaßt uns verschiedene Möglichkeiten zu erwägen: hat Gregor Erhart, wenn anders 
wirklich Meister des Blaubeurer Altars, diesen in Ulm bereits in eigener Werk- 
stätte oder vielmehr in der seines Vaters Michel Erhart — daß er hier gelernt 
hat, wird nicht mehr zu bezweifeln sein — ausgeführt? 

Holen wir kurz die bekannten Daten der Werke aus Michel Erharts Werk- 
stätte nach: 

Michel erhält 1474 von den Münsterpflegern den Auftrag für die Tafel, die kurz 
vorher bei Syrlin bestellt ist: „etlich bild“ zu fertigen. 1503 ist dieses Werk 
vollendet. 

1485 fertigt er eine Tafel für die Fugger in Ulrich und Afra in Augsburg. 
1493 liefert er einen Altar für das Kloster Weingarten. 

1494—95 Kruzifixe für Ulrich und Afra. | 

1394 Haller Kruzifix. | 

1516 die Apostel am Ulmer Ölberg. 

Der Meister hat im Jahre 1510, wie wir aus unserer neuen Quelle hören, für 
Ulrich und Afra „Engel“ geliefert. Eine bestimmte Vorstellung von deren Art 
können wir uns nicht machen, lediglich aus ihrer Aufstellung schließen, daß es 
sich um ziemlich umfangreiche Stücke dieser Gattung gehandelt hat. Auch darf 
soviel angenommen werden, daß sie noch nicht renaissancemäßig empfunden waren. 
Sind doch selbst die letzten Arbeiten, die uns aus Michels Werkstätte bekannt sind 


(х) Vöge selbst а. a. O. hält die Herkunft der Berliner Madonna aus Kaisheim nicht für gesichert. 
(2) wenn auch nicht über jeden Zweifel Erhabene. 


182 


— ihre Verfertigung dürfte sein Sohn Bernhard geleitet oder selbst bewerkstelligt 
haben — echte Kinder der Ulmer Gotik. 

Die Annahme nun, Michel Erharts Werkstätte habe die Aufträge für die Plastiken 
des Blaubeurer Schreins erhalten, scheint eine Stütze zu finden in der Tatsache, 
daß Michel Erhart schon 20 Jahre früher mit der Syrlin-Werkstätte zusammen- 
gearbeitet hat. Diese selbe Syrlin-Werkstätte ist es, wenngleich nun durch den 
Sohn des älteren Syrlin vertreten, welche Chorgestühl und Dreisitz im Chor der 
Blaubeurer Klosterkirche geschaffen hat und welcher auf Grund einer früher viel 
erörterten Inschrift!) auch das Schreinwerk des Altars zuzuschreiben wäre. Hat 
Michel Erhart seinem Sohn Gregor in diesem Falle den bedeutenden Auftrag über- 
geben? Oder wäre Michel Erhart selbst der Blaubeurer Meister? 

Zum Stil des Blaubeurer Altars stimmt nicht der des Haller Kruzifixes vom 
selben Jahr 1494 und so wird die Autorschaft Michel Erharts fraglich. Im übrigen 
sind uns ja aus seiner Werkstätte lediglich die Propheten vom Ulmer Ölberg er- 
halten. 

Aus der Signatur des Weingartner Altars von 1491 geht ein Doppeltes hervor: 
daß Michel Erhart eine weithin bekannte Werkstätte unterhielt, ferner, daß er 
bereits mit dem älteren Holbein zusammenarbeitete. Wenn wir annehmen, daß 
er es war, der den Auftrag für Blaubeuren erhielt, so wäre der Mangel seiner 
Signatur in Blaubeuren nicht besonders schwer zu nehmen; in jener Zeit kommen 
häufige Abweichungen vor. 

Ebenso wie seinen Sohn Bernhard dürfte Michel Erhart seinen Sohn Gregor 
in der eigenen, weit bekannten Werkstätte in Ulm beschäftigt haben. Es hätte 
keine Schwierigkeit, anzunehmen, daß Michel Erhart, von anderen Arbeiten tiber- 
btirdet, selbst einen so bedeutenden Auftrag wie den Altar von Blaubeuren seinem 
Sohn, wenigstens zur Ausführung des hauptsächlichen plastischen Schmuckes, über- 
tragen hätte. Andererseits wäre die Annahme, ein so bedeutender Auftrag sei an 
die altbekannte Werkstätte Michel Erharts vergeben worden, derjenigen vorzuziehen, 
sie sei dem sicher noch jungen Gregor Erhart zuteil geworden. Für jeden Fall 
dürfte diese Hilfshypothese m. Е. ernster Beachtung wert sein. (Zuweisung an 
Gregor Erhart in Werkstatt Michel Erharts.) Immerhin: sie kann nur heran- 
gezogen werden, wenn die Vögesche Hypothese zutrifft, insbesondere, wenn die 
Berliner Madonna mit der des ehemaligen Kaisheimer Hochaltars identisch ist. 
Die Tatsache, daß noch 1516 die Steinplastiken des Ulmer Ölbergs nicht renais- 
sancemäßig erscheinen, könnte durch das 1494 erfolgte Ausscheiden Gregors aus 
der Ulmer Werkstätte wohl erklärt werden. Michel Erharts Werkstätte hätte 
noch weiterhin gotisch gearbeitet, während Gregor in Augsburg möglicherweise 
renaissancemäßige Elemente aufgenommen haben könnte; wir wollen dieser Frage 
nun etwas näher treten. 


Die Fragen nach Gregor Erharts Entwicklung. 


Der wichtige Artikel Baums in der Zeitschr. f. bild. K. 1916, S. 290: „Schaffner 
und Mauch“ hat bereits gezeigt, wie notwendig es im Rahmen der Untersuchung 
der Ulm- Augsburger Plastik um 1500 wäre, auch nur etwas Genaueres über 
Gregors Entwicklung zur Renaissance zu wissen. Wir sind heute kaum in der 
Lage, mehr als Frühere darüber auszusagen. Sehen wir zunächst von der Vöge- 
schen Hypothese ab (Gregor Erhart als Meister des Blaubeurer Altars), so können 


(1) Vgl. Bach-Baur: „Hochaltar von Blaubeuren“. Blaubeuren 1894. 


183 


wir lediglich das aussagen, daß der Meister im Jahre 1509 im entschiedenen Re- 
naissancestil gearbeitet haben muß; hätte es doch sonst keinen Sinn gehabt, einen 
Entwurf wie den Burgmaierischen Gregor Erhart in Auftrag zu geben. Im übrigen 
jedoch hätten wir keine Möglichkeit, näheres über die Entwicklung Gregors zu 
erfahren. 

Anders, wenn wir Gregor Erhart als Blaubeurer Meister akzeptieren. Hier 
dürfte dann zu den eingehenden Ausführungen Baums jene eigenartige Entwick- 
lung Gregors in die Renaissance eingefügt werden, welche sich bei dem Blau- 
beurer Meister mit der Kaisheimer Madonna zeigt; entschiedene Gegensetzung 
von Vertikale und Horizontale, Kontrapost des Kindes u. a. Ein Jahr vor ihm 
hätte Daniel Mauch, dessen Verhältnis zu Gregor Erhart nach wie vor unklar 
bleibt, im Bieselbacher Altar den entscheidenden Schritt, welchen der Blaubeurer 
Meister in Kaisheim für die plastische Ejinzelfigur unternommen hatte, für die 
Gesamtkomposition getan, wie Baum gezeigt hat. Wenn wir nun dazunehmen 
könnten, daß dem nämlichen Gregor Erhart die Ausführung eines Entwurfes wie 
des Burgmaierschen zugemutet werden durfte, so könnten wir den Weg, welchen 
Gregor Erhart zurückgelegt hat, wenigstens ahnen. Sehen wir uns nach den 
Augsburger Weggenossen zu einer renaissancemäßigen Gestaltung auf dem Gebiete 
der Plastik im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts um, so mag insbesondere auf 
die Entwicklung Hans Beierleins hingewiesen sein’), dessen Stil so viele Elemente 
der neuen Kunst in sich trug. 


Das Maximilians-Denkmal bei Ulrich und Afra. 


Die Statue Maximilians nimmt in der zeitgenössischen Literatur einen Ehrenplatz 
ein. Nachdem es nun Baldass und Habich geglückt ist, die Visierung Burgmaiers 
dazu aufzufinden?), können wir behaupten, es wäre in dem ausgeführten Denkmal 
wohl das stolzeste Reiterbild der frühen deutschen Renaissance entstanden. 

Im Jahre 1509 (noch 1510 liefert Michel Erhart Arbeiten für Ulrich und Afra!) 
entstand der Anfang des stolzen Werkes. — Es mag nicht ohne Interesse sein, 
hier anzumerken, daß um eben diese Zeit in Augsburg an einem anderen stolzen 
Renaissance-Denkmal für Maximilian gearbeitet wurde: 1510 unterhielt Lorenz 
Sartor eine Gießerei für das Innsbrucker Grabmal?). 

Baldass‘) setzt die Burgmaier-Visierung „um 1510“ — mit schwerwiegenden 
Gründen. Wenn wir nun wirklich diesen neu gefundenen Entwurf als den ent- 
scheidenden ansehen, so müssen wir, glaube ich, um so mehr annehmen, daß die 
Visierung bereits 1509 fertig gewesen sei, als der Block fertig gehauen „gerau- 
werkt“ aus den Steinbrüchen von Rottenbuch gekommen war, daß man also den 
Entwurf nicht später als 1509 ansetzen dürfte. (Womit übrigens nur eine ganz 
unwesentliche Abweichung von Baldass festgestellt sein soll.) 

Betrachten wir die Entstehung zeitgenössischer Reitermonumente, z. B. Leonar- 
dos oder auch des Innsbrucker Kaisergrabmales, so sehen wir, daß nicht nur ein 
Entwurf geschaffen wurde, vielmehr die Visierungen häufig verbessert wurden, 


(1) Ph. М. Halm: Hans Beierlein, Münchener Jahrb. d bild. Kunst 1911, S. 27. 

(a) L. v. Baldass: „Burgkmaiers Entwurf zu Jörg Erharts Reiterdenkmal“, Jahrbuch 1913, S. 359. 
Georg Habich: „Das Reiterdenkmal Kaiser Maximilians in Augsburg”. Münchener Jabrbuch d. bild. 
Kunst 1913, S. 255. 

(3) D. v. Schönherr, Jahrb. XI, S. 149. 

(4) Baldass, a. a. O. 


184 


bis ein endgültiger, zur Ausführung bestimmter, vorlag. In diesem Sinne würden 
wir den Burgmaier-Entwurf vielleicht lieber als „einen“ Entwurf zum Kaiser- 
denkmal, anstatt als „den Entwurf“ ansprechen. Es soll damit nicht die Mög- 
lichkeit bestritten werden, daß dieser Entwurf der zur Ausführung bestimmte war, 
jedoch die Existenz konkurrierender Entwürfe als wahrscheinlich bezeichnet werden. 


Weitere Zuschreibungen an Gregor Erhart. 


Von den bis jetzt zu den Namen Gregor Erharts in Beziehung gesetzten Werken 
stehen die von Mader!) bedeutend vermehrten Herbergerschen Zuschreibungen 
bis jetzt ohne sichere Verbindung mit ihm da. Hier sei jedoch besonders noch 
einmal auf den Simpertustumbendeckel?) hingewiesen. Der Meister dieses Werkes 
wäre wohl imstande gewesen, ein stolzes Reiterdenkmal auszuführen. Jedenfalls 
gehört die meisterhafte Puttendarstellung (vor 1495!) zum Besten der frühen 
deutschen Renaissance-Plastik. Gerade diese Darstellung von Wolf und Kind läßt 
einen bequemen Vergleich mit dem Mörlin-Denkmal in Augsburg zu. Sie muß 
m. E. unbedingt zum Vorteil des Münchener Stückes ausfallen. — Wiewohl Gregor 
Erhart zu den wenigen Plastikern zu zählen sein dürfte, welche damals in Ulrich 
und Afra mit ähnlichen Aufträgen betraut worden sein dürften, so genügen doch 
offenbar heute die Anhaltspunkte zu einer Zuschreibung dieser Werke an ihn 
noch nicht. 


Das Fechtbuch des „Gregory Erhartt von Augspurg“. 


In der Fürstlich Wallersteinschen Bibliothek in Maihingen befindet sich neben 
anderen aus dem Besitz des Augsburger Stadtschreibers Paul Hector Mair stam- 
menden Fechtbüchern ein unter dem Namen des Gregory Erhartt von Augspurg 
bekanntes). Fr. Roth hat im letzten Bande seiner Augsburger Chroniken auf 
dieses Manuskript u. a. hingewiesen“). In einem hübschen Gedicht, welches die 
erste Seite des Fechtbuchs füllt, nennt sich der Autor selbst und zwar in der. 
SchluBwendung: „... (der) . . und kunst nit glernett hatt / das klag ich mich gregory 
erhartt von augspurg frw unnd spatt / im 1533 jar.“ / (s. Abbildung). Diese zunächst 
so persönlich klingende Wendung (man denkt fast an Dinge wie Konrad Witz: „Schrie 
kunst und klag dich sehr“ usw.) ist jedoch eine in den Fechtbiichern häufig wieder- 
kehrende; das ganze Gedicht mit geringen Veränderungen findet sich z. B. schon 
im Fechtbuch des Talhofer von 14595). Wassmannsdorf*) zitiert unseren Kodex 
als W. E. Mit der von Dörnhöffer veröffentlichten“) Fechthandschrift Dürers hat 
die unsrige ebensowenig zu tun wie mit dem gedruckten Fechtbuch des Hans 
Weiditz, vielmehr scheint ihr die Fechtkunst des „Juden Ott“ zugrunde zu liegen, 
von welcher eine Reihe von Varianten vorkommen. Insbesondere sei hier noch 
als zeitlich und örtlich naheliegend an die von Wassmannsdorf nicht erwähnte 
Fechthandschrift des Jörg Wilhelm Huter von Augsburg aus dem Jahre 1523 hin- 
gewiesen (Cgm. 3711). 

(1) a. a, О. 

(2) Saal 15 des Münchener Nationalmuseums. Es muß hier hingewiesen werden auf die Darstellung 
des Hagiologiums (Schmidbauer, a. а. О.), weiche (wirklichkeitsgetreu ?) eine romanische Säulenbogen- 
architektur an den Seiten der verlorenen Tumba zeigt. 

(3) In Quart. Signatur: I, 6, Nr. 4. 

(4) Fr. Roth: Chroniken deutscher Städte 32, Augsburg VII, S. LVII. 

(5) Hgg. Gust. Hergsell. Prag 1889. 

(6) Karl Wassmannsdorf: „Die Ringkunst des deutschen Mittelalters usw.“ Leipzig 1870. 

(7) Dörnhöffer: „Albrecht Dürers Fechtbuch“. Jahrb. des Kaiserhauses, Wien 1909, S. I ff. 


185 


Warum wir von dieser doch zunächst abliegenden Fechthandschrift von 1533 
sprechen? Es ist natürlich der Name Gregor Erharts, welcher uns hier inter- 
essiert. Ein Fechtmeister dieses Namens aus Augsburg ist in dieser Zeit nicht 
bekannt, ja, die Augsburger Steuerbücher zeigen überhaupt keinen Bürger gleichen 
Namens zu jener Zeit an, — als eben unseren Bildhauer Gregor Erhart. Selbst- 
verständlich haben wir hier die Frage zu diskutieren: Kann unser Gregor Erhart, 
der Bildhauer, der Verfasser des vorliegenden Fechtbuches sein? Nach aller Wahr- 
scheinlichkeit müßten wir auf Grund der Inschrift unseres Fechtbuches annehmen, 
daß Gregor Erhart selbst Fechtmeister gewesen wäre. Ein Ratsentschluß, welcher 
ihm die Erlaubnis erteilen würde dieses Handwerk auszuüben, ist uns nicht er- 
halten, doch würde dies nicht allzuschwer in die Wagschale fallen!). Auch daran, 
daß der hochgeschätzte Bildhauer ein so völlig anderes Handwerk nebenbei aus- 
geübt haben sollte, brauchten wir uns um so weniger zu stoßen, als der Beruf 
des Fechtmeisters in Augsburg meist von irgendwelchen Handwerkern außer ihrem 
eigentlichen Handwerk ausgeübt wird. Das anatomische und künstlerische Interesse 
des Plastikers könnte außerdem in hohem Maße interessiert gewesen sein (wie ja 
auch wohl bei Dürer ähnliche Motive den Ausschlag zur Verfertigung seiner Hand- 
schrift gegeben haben dürften). Eine ernstliche Schwierigkeit jedoch bereitet uns 
ein anderer Punkt: der nämlich, daß die in dem Fechtbuch vorkommenden Feder- 
zeichnungen keineswegs diejenige Höhe künstlerischer Ausführung erreichen, welche 
wir von dem künstlerischen Rufe eines Gregor Erhart zu erwarten berechtigt sind 
(s. Abbild. 2). Es sind diese Fechterpaare nicht schlecht ausgeführt, jedoch fehlt 
ihnen diejenige Sicherheit der Anatomie und diejenige formbezeichnende Kraft der 
Linie, wie sie doch einen künstlerisch hervorragenden Zeitgenossen Dürers und 
Burgmaiers ausgezeichnet haben dürfte. 

Immerhin: wir kennen ja keinen Strich von der Hand Gregor Erharts und können 
so nur behaupten, daß die Qualität der Zeichnungen einer Meinung widerspricht, 
welche wir uns auf Grund von erhaltenen Nachrichten über ihn gebildet haben. 
Außerdem besteht ja noch die Möglichkeit, daß einer seiner Gehilfen die Zeich- 
nungen ausgeführt hätte. i 

Ziehen wir aus dem Ausgeführten die Summe: wir sind der Meinung, die Frage 
des Zusammenhanges des Fechtbuches von 1533 mit unserem Bildhauer Gregor 
Erhart müsse jedenfalls in ernstlichste Erwägung gezogen werden. 


П. 


DIE FIGUREN ADOLF DAUCHERS FÜR DEN FRÜHMESS-ALTAR 
IN ULRICH UND AFRA. 


Durch das im Augsburger Stadtarchiv wieder aufgefundene Zechpflegebuch sind 
die von Placidus Braun benutzten Einträge über die ursprünglichen Zahlungen an 
Adolf Daucher (,,Kastner“, s. Exkurs) wiedergewonnen worden. Wir werden nicht 
fehlgehen, wenn wir in dem nicht mehr erhaltenen Werk eine wichtige Etappe 
der deutschen Friihrenaissance vermuten. Es handelt sich offenbar um den von 
Braun?) erwähnten „Pfarraltar“, welcher Pfingsten 1499 geweiht wurde. Von 


(z) Vor 2540 ist nicht der hundertste Teil der Ratsentschlüsse enthalten (gütige Mitteilung von Pro- 
fessor Roth). 

(a) Placidus Braun: „Geschichte der Kirche und des Stiftes der Heiligen Ulrich und Afra“, Augs- 
burg 1817, 8. 22, Wiegand, a. a. O., 8. 20ff. Die ebendort 8. 29 gezogenen Folgerungen aus einer 
Notiz des Malerbuches von 1504, als hätte Daucher gerade die Figuren des Frühmeßaltares bemalt, 


187 


den Zahlungen händigt dem Meister im Jahre 1498 Bürgermeister Hoser die erste 
Rate mit 150 Я, ein, ferner erhält Adolf Daucher durch den Zechpfleger 180 fl., 
die restlichen 20 fl. werden 1499 erledigt: „Darmit ist er gar bezahlt.“ 

Von den Malern, welche an diesem Altar gearbeitet haben — seit 1484 werden 
der Reihe nach Thoman Burgmaier, Ulrich Abt und Lienhardt Beck genannt — 
können wir keinem die Altarfitigel zuschreiben, da sie nur mit nebensächlichen 
Arbeiten beschäftigt sind. 

Erfreulicherweise ist uns auch der Name des Schmiedes überliefert, welcher das 
Gitter zum FriihmeBaltar angefertigt hat: Marx Kaiser !). Aus der Tatsache, daß 
Adolf Daucher gelegentlich in der Moritzkirche die Visierung zu einem Gitter stellt, 
wie aus erhaltenen Resten und Nachrichten geht zur Gentige hervor, daß auch 
unter diesen Gittern häufig beachtenswerte Kunstwerke zu finden waren. 


Anlage. 


ZUM KAISHEIMER ALTAR. 


Die im Reichsarchiv München aufbewahrte handschriftliche Kaisheimer Chronik 
des Cölestin Angelsprugger schreibt neben der von Hüttner herausgegebenen, 
regelmäßig zitierten deutschen Chronik eine alte lateinische Kaisheimer Chronik 
ab). Dort nun finden wir eine wesentlich ausführlichere Stelle über den Kais- 
heimer Altar als in der Knebelschen Chronik. Sie möge hier Platz finden. 

S. 681 Anno 1502: 

Domus Villa nova funditus per incendium demolita est. non tamen impediebat, 
quod abbas in sua basilica altare summum magnis expensis tabula perquam magni- 
ficia (?) tribus a principibus artificibus Augustanis, qui pro illa aetate nominis cele- 
britate prae caeteris floruere confici et erigui (?) fecerit. Videlicet primo fabro 
lignario Adolpho Kastnero, Caesariensium aedium Augustae praefecto, alteri sculptori 
gregorio, tertio pictori Joanni Holpain nomen fuit. Cuius ultimi nomen in altaris 
inferiori tabula, ubi Magdalenam cum sua pixide intueris, pixidi inscriptum invenies. 
Sed miror, quod de Alberto Dürero tunc temporis inter pictores vere principe nulla 
fiat mentio, cum tamen ex posteriori parte altaris, prout semper consueverat, suum 
nomen assignare, idipsum pateat sub hisce literis. — 

G.h. 106: A.D.D. (?) 1502: 

„hoc excellentissimum altare propter vetustatem et defectus, quos ex parte supe- 
riori рег vermium corrossiones patiebatur a R™° D. Benedicto abbates (!) ut infra 
patebit, fuit amotum et novum insigne erectum. Sed ex tabulis quadratis tribus, 
quae ex parte inferiori stabant, et referebant (?), primum quidem Dominum cruci- 
fixum, secunda depositionem de cruce, tertia sepulturam. Duae primae ad instan- 
tiam Ducissae Serenissimae Neoburgi fuere donatae et ab eadem serenissimo suo 
coniugi ad diem natalis qui singulari erga easdem figuras ferebatur devotione, 
a, 1671, 1672 tertia tabula, haud dubius (?), serviet quoque ad duas priores, ut sic 
quasi funiculo triplici rapiantur, (ut etc.) principes ad amorem erga monasterium.“ 


scheint mir nicht beweiskräftig zu sein, nachdem die Arbeit zu diesem Altar schon 1499 beendigt 
sein dürfte. Inzwischen war 1502 eine Arbeit wie die für Kaisheim fertiggestellt worden. 

(x) In dem vorliegenden Zechpflegebuch wird dieser Marx Kaiser mehrmals erwäbnt, doch handelt es 
sich nicht um bemerkenswerte Dinge, Der 1516 mit Aufträgen für Maximilian genannte Marx Schlosser 
ist offenbar ein Sohn von Marx Kaiser. 

(2) Kaisheim, Kl. Lit, Nr. 139. Im ganzen ist allerdings die deutsche lateinische Chronik vorzuziehen; 
insbesondere zeigt der Text ohne weiteres die verständnisiose Wiedergabe des Originals. 


Kein Zweifel dürfte darüber herrschen, daß hier die drei Gemälde in der Augs- 
burger Galerie gemeint sind, welche eine gut unterrichtete Inventarnotiz bereits 
als von Kaisheim herrührend bezeichnet’), Wir dürfen dieser Inventarnotiz wohl 
trauen, auch in der Nachricht, daß die Gemälde von 1502 seit 1715, in prächtige 
Rahmen gefaßt, am Kircheneingang aufgestellt waren, Sie ist jedoch auf Grund 
der soeben zitierten Abschrift einer lateinischen Chronik dahin richtig zu stellen, 
daß gerade die drei in Augsburg befindlichen Gemälde 1671—72 der Herzogin in 
Neuburg und von dieser ihrem Gemahl zum Geschenk gemacht wurden?) und so 
von den übrigen Tafeln getrennt waren. Ch. v. Mannlich?) schreibt von 17 Ge- 
mälden, welche er in Kaisheim gefunden habe, während nun in der Pinakothek 
nur 16 aufbewahrt werden, jedoch kann keines der heute in Augsburg befindlichen 
hierher bezogen werden. Ein weiteres Eingehen auf die Gemälde dürfte hier 
nicht am Platze sein, vielmehr muß uns nur daran liegen, den von Baum auf- 
gezeigten Widerspruch in der Überlieferung über das Schicksal der Tafeln des 
Kaisheimer Altars aufzuklären. Vielleicht lassen sich später noch weitere Punkte 
erhellen. 

Die angezogene Stelle der bei Angelsprugger abgeschriebenen lateinischen Chronik 
dürfte auch geeignet sein, uns über einen weiteren Punkt aufzuklären. — Man stand 
seit langem vor der nicht leicht zu lösenden Frage, ob der in der Knebelschen 
Kaisheimer Chronik“) als Mitarbeiter Gregor Erharts genannte Wolf oder Adolf 
Kastner mit Adolf Daucher gleichgesetzt werden dürfe. Wiegand“) glaubt die 
Lösung gefunden zu haben durch die Gleichsetzung von Kastner und Kasten- 
macher, sowie durch den Hinweis darauf, daß im Kaisheimer Hof zu Augsburg 
sich kein anderer Bildhauer Adolf nach Ausweis der Augsburger Steuerbücher ge- 
funden habe. Demgegenüber möchten wir erwähnen, daß uns der Ausdruck Kastner 
für Bildhauer weder bei Adolf Daucher noch sonst in archivalischen Quellen bei 
einem gleichzeitigen Meister begegnet ist“). Wohl aber bedeutet „Kastner“: „Be- 
wahrer des Getreidespeichers“, Vorsteher der Wirtschaft; Kastneramt usw. waren 
in der älteren Zeit gebräuchliche Ausdrücke). Von dieser Seite her scheint die 
Bemerkung der Kaisheimer Chronik Knebels über die Autorschaft Adolf Dauchers 
erst gesichert werden zu müssen. — In der oben zitierten Chronik nun wird 
Adolf Kastner als „Praefectus Caesariensium aedium Augustae“ bezeichnet. — 
Halten wir dazu die aus den im Reichsarchiv erhaltenen Akten des Klosters Kais- 
heim®) festzustellende Tatsache, daß dort zu jener Zeit das Kastneramt bestand, 
so werden wir die Bezeichnung Adolf Kastner als „Pfleger und Kastner“ zwanglos 
deuten können. 

Es bleibt noch ein Bedenken: konnte ein so vielbeschäftigter Künstler wie Adolf 


(x) Katalog der Filial-Gemäldegalerie zu Augsburg. 3. Aufl. 1912, S. 32. 

(a) Die von Baum „Ulmer Plastik“, 8. 89 benutzte Schaidlersche Chronik bringt einen schlechten 
Auszug aus den bei Angelsprugger wiedergegebenen Kaisheimer Chroniken. 

(3) Ch. von Mannlich, Kgl. bayer. Gemäldesaal zu München und Schleißheim. München 1817, Nr. 11. 
(4) Herausgegeben von Hüttner, Bibl. des lit. Vereins, Stuttgart, Tübingen 1902. 

(5) a. a. O., S. 26. 

(6) Eine Zusammenstellung anonymer Bezeichnungen Wittwers, S. 434 „a cistifice vel a cisternario 
vel ymaginario vulgariter pildschneyder vel kystier Adam nomine.“ 

(7) Schmeller, Bayer. Wörterbuch. 

(8) Kaisheimer Registratura originalium litt. Fasc. 36, Nr. 187, 8, 20 D anno 1522, Nr, 188, 8. 34. 
Augsburg A, ı522: „Nikolaus Hirschmann als Pfleger und Kastner des Hofs allda mit Bewilligung 
jährlich 4 fl.“ 


189 


Daucher noch im Nebenamt sich als „Kastner“ betätigen? Würde für die Wahr- 
scheinlichkeit der Tatsache nicht bereits der Ausdruck „Caesariensium aedium 
Augustae praefectus“ genügen, so könnte noch eine Stelle der Knebelschen Chronik 
angeführt werden: „1499 läßt Abt Georg einen Altar in Ulm schnitzen bei „unserm 
Hauswiirdt michel Amann“. Es scheint also die Zeit an dieser Doppelstellung 
des Künstlers keinen Anstoß genommen zu haben. (Der Tatsache, daß der Name 
Kastner in der fraglichen Zeit als Familienname vorkommt, ja, daß der Kaisheimer 
Abt diesen Namen führte, kommt nach dem Ausgeführten wohl keine Beachtung 
zu. Auch daß der Verfasser der lateinischen Chronik auf Grund der Ausdrucks- 
weise der früheren deutschen Chronik sein „Caes. aed. Aug. praef.“ aus „Kastner“ 
geprägt habe, scheint mir nicht wahrscheinlich.) 


ARCHIVALISCHE BELEGE. 
Zechpflegebuch von Ulrich und Afra’). 


Blatt 87b, Eintrag 7: 1510. 
Jtem ich hab aussgeben am sontag nach sant Endry tag dem mayster Geor- 
gory 10 fl die er seinem vatter mayster Michel gen Vim geanttwurt hat 20 
denen fi die VIJ der Harder geben hat auff die eegeding weiss machen sol. 
Blatt gob Eintrag 5: 1510. 
Jtem ich hab aussgeben am aftermäntag in pfingst feren dem maister Künratt 
ı!/, В dass er den zug daran die engel hangend über die rechtten lecher ge- 
henckt hat und roo eyssny negel dartzü gebraucht hat 1!/„ fi 
Eintrag 6: 
Jtem dem maisster Michel von Ulm die (!) die engel gebracht hat in der wuche 
vor pfingsten die send von im gedingt worden umb бой dann hat er sich bart 
klagt er hab der arbaid grossen schaden miessen nemen also seinen wir mit 
im abkomen durch den purgermaister Hosser und maister Burckart und maister 
Jörg Seld goldschmid Hanss Harder und Petter Wolfistrygel und zunftmaister 
Engelberg und Hanss Winder Petter Ketzer und ist im me 20 denen бо fi 
gesprochen wordenn durch die erber leid 30 fl dit in ainer sum go fi daran 
hat er eingenomen nach inhalt dess büchss so fl der Harder hat im me 3 fl 
geben damit hat er empfangen 53 fl dar auf hab im zahlt an der mittwuchen 
in pfingstfeyren 37 fl ich gab dem Harder die 3fl dem maister Michel gem hat. 
Blatt gra Eintrag 1: 1510. 
Jtem der Harder hat im me geben 3 Я daruv hat er empfangen 53 Я dar auf 
hab ich im zalt 37 fi. 
Jtem ich hab zalt dem Harder die 3 fl die er dem maister Michel geben hat 
dar mit hab ich aussgeben an den mitwuchen р. pfingsten go 8. 
. Jtem hab me auss geben umb die bretter dar in man die engel gefirt hett 
15 kreytzer. 
Jtem ich hab aussgeben an dem messmer und dem Werlin trinck gelt 6 kreytzer. 
Jtem me dem von Utzen dass er der enge(l) hiet hat 1 kreytzer. 
Jtem ich gab me dem ballier trinck 6 kreytzer. 
Jtem ich gab me den stainmetzeln 7 kreytzer die die enngel habend hellffen 
auf ziechen. 


(1) Das Buch, schmalfolio, trägt eine alte Signatur (18. Jahrh.) „Partit. II, Fasc.: Lit. C, Nr. 17“ etc. 
Die Einträge sind ausnehmend flüchtig, was sich sowohl in der Formulierung der Sätze, wie in der 


Schrift bemerkbar macht, 


190 


Blatt оза Eintrag 1: 1510. 
Jtem ich hab auss geben dem sayler umb 2 sayl darann die engel hangend 
wieged 46 Pfund ı Pfund und 3 kreytzer. 
Eintrag 2: 
Jtem ich hab auss gebenn dem Apt maller dass er die 3 say!) die zu denn 
engelen geherend rot angestrichen hat т fl. 


Blatt 92a Eintrag 6: 1510. 
Jtem ich hab aussgeben amm sampstag nach sant Affrenn tag dem mayster ` 
Künratt 2½ Я fir den... oder haspel den er gemacht hat zu den engeln 
ich gab denn knechten 3 kreytzer trinckgelt 2½ fl 3 kreytzer. 

Eintrag 7: 
Jtem ich hab me aussgeben auf denselben tag dem pallier und dem stain- 
metzel fir ir arbaid die sy mitt den engeln gehept habend 46 kreytzer. 
Eintrag 12. 
Jtem ich hab me aussgebenn dem Marx schlosser 10 gl. umb zu dem stein- 
haspel. 

Blatt 92b. 

Jtem ich hab auss geben dem sayller umb die 2 sayl dar ann dass gewerck 
hanget zu denn englen habend gewegen 23 Pfund ı Pfund umb 3 kreitzer. 
Her ab und an dem ander blad 20 Я 39 kreytzer 2 pf. 


FRÜHMESSALTAR ULRICH UND AFRA. 
Zechpflegbuch Ulrich und Afra. 


Blatt 38 Eintrag 2: 1498. 
Jtem ich hab auss gebenn am samsstag nach sant nicklauss tag im 98 jar dem 
maister Adolf Daucher zu den 1!/„ hundert guldſen] die er von den alltten 
zechmaister eingenommen hat 180 fi. 
Eintrag 3. 
Jtem me auf denn selben tag gab ich im 3 fi die sol er seiner hawssfraw und 
denn knechten und wem ess zü gehert zu ainem trinkgelt geben allso hat er 
auff die taffel 350 fl und beleipt noch hinderstellig 20 fi die selben 20 fi söllen 
wir im oder seinen erbenn bezallen zwischen hie und sant Jörgen tag im 
99 jar wen er der selben 20 fi bezalt ist, so ist man im darnach nichtzt mer 
schuldig. 
Blatt 40 Eintrag 1: 1498. 
Jtem ich hab aussgeben am afftermänntag in kreytzwuchen dem maister Adolf 
Dacher 20 fl. Darmit ist er gar bezalt. 
Blatt 41b Eintrag 7: 1498. 
Item ich aussgeben am dornderstag nach pfingsten dem maister Adolf umb 
die 5 kreytz 20 kreytzer. 
Eintrag 8: 
Jtem ich hab aussgeben dess maister Adolff knechtten zü trinkgelt dass sy die 
5 kreytz in den feyentag messen machen 4 kreytzer. 


(1) Seile? Säulen? 
191 


Dazu gehört als der Reihe nach früheste eine spätere Eintragung: 
Blatt 51 Eintrag 1: 1498. 
Sannt Uolrich. 
Jtem der maister Adolf hat empfangen von der der dafel die gehert zi dem 
friemesaltar von dem bürgermaister Hoser hündert und finftzt [ig] guld [en] 
nach laut seiner hant geschrift die er dem burger maister Hoser geben hat 
die hand geschrift han ich empfang [en] am after montag nach sant partel- 
mestag von dem bürger Hoser im 98 jar 
zedel 
Jtem und die alten al ab!). 


Die folgenden Ausgaben zum Frühmeßaltar sollen, da für uns nicht besonders 
wichtig, nur als Stichproben aus ähnlichen Notizen angeführt sein. 
Blatt 8 Eintrag 9: 1484. 
jtem dem Purgmair maller ain guldin für ain daffel ze mallen von zwey fligel 
und daffel pessern und von getterlachen rot ze machen zu friemas alter. 


Blatt ı3a Eintrag 4: 1486. 
Jtem ich han geben dem Apt maller von der daffel vor dem friemessaltar 
20 groschen und 2 krizer dem knaben drinkgelt. 


Blatt 23b Eintrag 1491. 
Jtem 3 gid. zalt ich pro dem Apt maler adi 24. setembris von dem getter 
anzustreichen, das umb den friemessaltar ist. 


In einem folgenden Zechpflegbuch fiir Ulrich und Afra, welches ebenfalls im 
Augsburger Stadtarchiv aufbewahrt wird, findet sich zum Jahre 1538 (auf S. 326) 
eine Eintragung, welche über Malerarbeiten des „Lienhard Beck“ am Frühmeß- 
altar berichtet. — 


Über das Gitter. 

Blatt 23 Eintrag 4: 1491. 
Jtem тб gid. gab ich pro Marxen Kaysser dem schlosser adi 13. setembris 
auf rechnung auf das getter, das er fier den friemessaltar zü sant Ulrichs hat 
gemacht. 

Blatt 23 Eintrag 1: 
Jtem 12 gid. zalt ich pro mayster Marx Kaysser schlosser, adi 12. setembris 
auf rechnung auf das getter, das er fier den friemessaltar zü st. Ulrich hat 
gemacht. 

Eintrag 2: 

Jtem 5 gid. 14 sh. ı h zalt ich pro mayster Marx Kaysser, schlosser adi 
28. oktober rest am getter, das er umb den friemessaltar hat gemacht. 


(x) Bei dieser Eintragung handelt es sich offenbar um eine Abschrift. 


192 


GASPARD DUGHET cenannt POUSSIN, шз 


BIS 1675 Mit vier Tafeln in Lichtdruck Von KURT GERSTENBERG 


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eben Nicolas Poussin steht Dughet als der hervorragendste Vertreter der he- 

roischen Landschaft, wenn man diesen Begriff in einem strengeren Sinne 
faßt!). Aber der Schatten des großen Poussin lastet auf ihm und verhindert, daß 
er seiner Bedeutung nach richtig eingeschätzt wird. Die Meinung tut unrecht, die 
besagt, daß Dughet, der den Schwager so verehrte, daß er seinen Namen wie 
einen Schmuck begehrte und erwarb, die Landschaft nur im gleichen Geiste und 
mit gleichen Augen wie Poussin gesehen und gestaltet habe und nichts Besseres 
sei als dessen arbeitsfrohester und werkreichster Nachfolger. Frühere Genera- 
tionen haben Dughet höhere Anerkennung gezolit, am gehaltvolisten hat Jakob 
Burkhardt im Cicerone geurteilt: „Bei ihm redet die Natur die gewaltige Sprache, 
welche noch jetzt aus den Gebirgen, Eichwäldern und Ruinen der Umgegend Roms 
hervortönt; oft erhöht sich dieser Ton durch Sturmwind und Gewitter, welche 
dann das ganze Bild durchbeben; in den Formen herrscht durchaus das Hoch- 
bedeutende, namentlich sind die Mittelgründe mit einem Ernst behandelt wie bei 
keinem andern.“ Je höher Nicolas Poussins Landschaftskunst in den letzten Jahr- 
zehnten eingeschätzt wurde, desto niedriger galt Dughet. Wortführer waren die 
Franzosen. Emile Michel faßt sein Urteil so zusammen: „I y a loin de la a 
Funité puissante, aux belles proportions, а la force expressive de Poussin et celle 
surcharge d’ornements inutiles et incohérents montre plus de paresse d’esprit que 
de richesse d’imagination. (Les Maitres du Paysage. Paris s. a. S. 120.) In der 
Histoire du Paysage en France, die Henry Marcel mit anderen Mitarbeitern heraus- 
gab, ist von Dughet überhaupt nicht die Rede, so leer schien seine Wagschale zu 
schwanken“). Soweit diese Beurteilung nur die ästhetische Einschätzung der 
Werke Dughets betrifft, könnte man sie auf sich beruhen lassen, bis einmal eine 
Geschichte des Geschmackswandels geschrieben wird;. da sie aber mit dem An- 
schein der historischen Gerechtigkeit auftritt, müßte sie auch jederzeit einer kriti- 
schen Prüfung standhalten. Sie tut es nicht. Vielmehr zeigt sich, daß Dughets 
heroischer Landschaftsstil schon herangereift war und seinen eigenen Charakter 
besaß, bevor Poussin die ersten reinen Landschaften malte (1648), die dann aller- 
dings mit der Kraft eines neuen Gesetzes auf Dughet wirkten, bis dann zuletzt 
seine ursprüngliche Natur wieder durchbrach und eine Vereinigung der neuerwor- 
benen Erkenntnisse über den Bau des Landschaftsbildes mit dem Stil seiner Jugend 
herbeiführte. 


* * 
* 


Über Dughets Leben sind wir durch zwei zeitgenössische Quellen unterrichtet, 
durch die Viten Baldinuccis®) und Pascolis‘). Pascoli erzählt, wie Poussin die Be- 


(x) Vgl. darüber meine Habilitationsschrift: „Claude Lorrain und die Typen der idealen Landschafts- 
malerei“. Halle 1919. 

(2) Es liegt nicht daran, daß der Begriff „Landschaftsmalerei in Frankreich“ rein geographisch ge- 
faßt wäre und die Kunst außerhalb des Landes unberücksichtigt geblieben, denn Poussin und Claude, 
die neben Dughet in Rom lebten, erhielten ihre ausgedehnten Kapitel. 

(3) edis. F. Ranalli, Tom. V, goof. Firenze 1897. 

(4) Lione Pascoli, Vite de’ Pittori, Scultori, ed architetti moderni etc. Roma 1730. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1923, 7—9. 13 193 


gabung des Knaben erkannte und ihn in seiner Neigung zum Landschaftszeichnen 
bestärkte. Baldinucci nennt Poussin nicht ausdrücklich den Lehrer Dughets, be- 
tont nur, wie dieser den jungen Schwager durch Ratschläge unterstützte, wie: er 
solle nicht ablassen vom Figurenzeichnen, um selber seine Landschaften damit 
schmücken zu können. Die besonders unter den Niederländern verbreitete Gewohn- 
heit der Arbeitsteilung zwischen Landschafter und Staffagemaler muß Poussin, dem 
Meister einheitlicher und reingestimmter Bildgestaltung, freilich an die Nieren 
gegangen sein. Dughet war ein eigenwilliger Charakter und liebte die ungebundene 
Selbständigkeit. Gleichzeitig hatte er vier Häuser zur Miete, zwei an den höchst- 
gelegenen Punkten Roms, je eins in Tivoli und Frascati, um von dort aus das 
weithin gelagerte Land zu malen. Als leidenschaftlicher Jäger durchstreifte er die 
Campagna und stärkte das Auge im Weitblick. Er malte und zeichnete ununter- 
brochen nach der Natur vedute amene e deliziose (Baldinucci). Schon im 17. Jahr- 
hundert waren Dughets Landschaften über ganz Europa verbreitet. Es ist bisher 
niemals der Versuch unternommen worden, die Masse der vorhandenen, sämtlich 
undatierten Gemälde zu ordnen. Und doch läßt sich das Werk Dughets in drei 
Stilperioden gliedern. Deutlich faßbar ist die Zeit jugendlich ungestümer Kraft in 
ihrem von Poussin völlig unabhängigen Stil, die etwa von 1630—45 währt, dann 
die Stilperiode unter dem beherrschenden Einfluß Nicolas Poussins bis ungefähr 
1655 und schließlich die Zeit des reifen Stils bis zu Dughets Tode 1675. 

In den Sammlungen Roms haben sich Werke aus der Frühzeit Dughets zahlreich 
erhalten und lassen erkennen, was auf das frühreife Talent den größten Eindruck 
gemacht hat. Das Werk, das zwischen dem dritten und vierten Jahrzehnt des 
17. Jahrhunderts die anerkannt größte malerische Leistung darstellte, waren die 
Fresken mit biblischen Geschichten am Gemälde von S. Andrea della valle, die 
Domenichino 1624—28 gemalte hatte!). Aus dieser Quelle trank der junge Dughet. 
(Taf.I). Als ein wichtiges Frühwerk kann die Landschaft mit Maria Magdalena in der 
Galerie Colonna angesprochen werden. Sie ist chaotisch durchwiihlt und voller 
Unwahrscheinlichkeit; ödes Bergland jagt auf in erstarrten Wellen und dicht am 
Ufer, wo das Meer mit ruhigem Spiegel liegt, rauschen abgrundtiefe Wasser hinab. 
Hier sind nun die Bezüge zu Domenichino mit Händen zu greifen. Domenichinos 
Fresken zeigen Geschichten des Neuen Testaments in großartiger heroischer Szenerie. 
Bergige Wüsteneien von wuchtiger Formation, oasenhaft eine Gruppe von Busch 
und Baum. Wenige große Figuren bewegen sich im Vordergrund. Die Figuren 
sind nicht auf der Fläche gegeneinander abgewogen, sondern ihre Gruppe erhält 
in der Raumschräge durch eine Baumgruppe das Gleichgewicht. Mit einem Ruck 
schließt der Mittelgrund an, Kulisse nur bleibt die Baumgruppe. Das Verhältnis 
per Figur zur Landschaft, den Kontrast der unfruchtbaren Bergwelt in ihrer rauhen 
Erhabenheit mit dem saftigen Baumwuchs vorn sind die Faktoren, die auch Dughet 
in die Bildrechnung stellt. Aber selbst in der Art, wie bergig ansteigendes Ge- 
lände vom Meer umspült wird, und wie dicht am Ufer ein rundes Kastell mit aus- 
ladendem Wehrgang sich aufbaut wie auf der Darstellung, wo Jesus Petrus und 
Paulus zu sich ruft, wird Vorbild für Dughet. Der Wert der Landschaften Dome- 
nichinos besteht in ihrer kraftvollen dekorativen Haltung, der allerdings eine klare 
Raumentwicklung mangelt. Die reifere Raumgestaltung konnte Dughet in den 
Werken des Annibale Carraccis finden, der in der Landschaft mit Maria Magdalena 
in der Galerie Doria der Figur auch eine vorherrschendere Stellung eingeräumt 


(1) Über ihre Bedeutung innerhalb der Barockmalerei überhaupt vgl. Herm. Voß in Thieme-Becker, Lex. 
d. bild. Künstler, Bd. о. 


194 


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Andrea della Valle. 


Rom, 5 


Domenichino. 


Rom, Galleria Doria. 


Dughet gen. Poussin. 


Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt Poussin. 


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hatte als sonst in seinen Landschaften. Von der tektonischen Landschaftsgestal- 
tung Carraccis, die die Randlinien stärkt und die Mitte betont, hat Dughet gelernt, 
sucht sie jedoch unauffälliger zu halten. Die Stärkung der seitlichen Abschlüsse 
durch Bäume spricht auf Dughets Bild noch kräftig, aber die Betonung der Mitte 
durch Berg, Wasserfall und Figurengruppe im Mittelgrund erfolgt schon fast un- 
merklich. Die wachen Sinne Dughets haben ihn auch mit der anderen Großmacht 
der Landschaftskunst, mit der Auffassung der Niederländer ein Bündnis schließen 
lassen. Im Vordergrund dieser Frühlandschaft mit Maria Magdalena waltet ein 
stillebenartiger Sinn und belebt das Bild mit allerhand Getier und großblütigen 
Malven, Königskerzen und Winden, fast wie wenn der Sammet-Breughel dabei 
die Hand im Spiel gehabt hätte. Den Gegensatz der festlaubigen Steineiche und 
der feinen Laubsilhouette einer jungen Pappel hat Dughet zeitlebens geliebt. Nie- 
mals aber mit einer solchen Aufdringlichkeit vorgerückt wie hier. Der Mittelgrund 
mit der kleinfigurigen Szene der letzten Kommunion der Heiligen schließt un- 
mittelbar an wie bei Domenichino. Das Bestreben, reich zu erscheinen, führt noch 
zu heterogenen Bildelementen. Das steinige, unfruchtbare Gebirge ist mit weichen 
Tönen gemalt, die überzeugender Plastik entbehren; ihre breite Malerei steht im 
Gegensatz zu der spitzpinseligen Sorgfalt in der Laubdarstellung. Paradiesische 
Lieblichkeit vorn, unfruchtbare Wildnis in der Tiefe; man spürt die Mühe und 
Ernsthaftigkeit, ein großempfundenes Ganzes zu geben, aber es bleiben Bildteile. 
Raumsinn mangelt nicht, wirkt aber noch sprunghaft. Alles das sind Beweise 
genug für die frühe Entstehung des Bildes. Niederländerisierende Neigungen 
kommen nicht auf. Dughet streift sie ab, denn seine großdekorative Anschauung 
in der Landschaft zog ihn einzig zu Domenichino. 

In schwungvoll dekorativer Behandlung ordnet Dughet seine Landschaftsbilder. 
Mächtige Kulissen werden zusammengeschoben wie bei Domenichino, nur daß 
Dughet diese starre Welt mit seinem heißen Temperament anglühte und in Wal- 
lung brachte. Dughets reiche Phantasie erfand spielend ganze Folgen von Land- 
schaften, und so hat er zuerst in vielgliedrigen Landschaftszyklen gearbeitet, 
Landschaften, bei denen die Figuren, inhaltlich bedeutungslos, oft nur ein vegeta- 
tives Leben führen, ja auf manchen überhaupt nicht aufgenommen sind. Die großen 
Motive der gebirgigen Campagna, immer neu zusammengeordnet, sind darin zu 
Trägern einer großen Gesinnung geworden. Sie gehen zurück auf unermüdliche 
Studien vor der Natur, die Dughet mit rastlosem Fleiß häuftee Man wird in den 
graphischen Kabinetten meist vergeblich nach diesen Studien fahnden, wenn man 
sie unter Dughets Namen sucht. Sie sind vergraben unter den Zeichnungen 
Poussins und Claudes, die noch der kritischen Sichtung harren. In Rom sind drei 
große Landschaftszyklen erhalten geblieben. Je 13 Landschaften, umfangreiche 
Wandbilder in Wasserfarben hängen im Palazzo Doria und im Palazzo Colonna. 
Baldinucci berichtet, wie mit wachsendem Ruhm Dughets der Principe Colonna 
(es war Filippo Colonna, der 1620 mit dem Neubau des Palazzos begonnen hatte) 
in seinem Hause einige Zimmer mit Friesen und Sopraporten ausmalen ließ, wie 
dann Aufträge des Principe Borghese und auch des Lorenzo Bernini folgten. 
Letzteres war in Baldinuccis Augen die höchste Anerkennung?), die einem Maler 
in Rom überhaupt zuteil werden konnte. Als erste Auftraggeber werden die Kar- 
meliter von S. Martino ai Monti genannt. Aber diese Landschaften mit Ge- 
schichten aus dem Leben des heiligen Elias in den Seitenschiffen der Kirche, die 


(х) Noch ausführlicher spricht Pascoli von jetzt untergegangenen Wandmaiereien Dughets, 
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dritte erhaltene Folge, sind keine Friihwerke, sie zeigen aber, daß die Großartig- 
keit der Formengebung Dughets, der hohe Schwung seiner Auffassung schließlich 
mit innerem Recht die Maße des Mauerbildes beanspruchen durfte. 

In den Zyklen im Palazzo Colonna (die neun Landschaften in der Galerie Colonna 
sind stilistisch später) und im Palazzo Doria zeigt sein Stil die volle Reife, ein 
Stil, dessen heroische Haltung mit brausendem Pathos und einer gallischen Rhe- 
torik vorgetragen wird und nichts zu schaffen hat mit der inhaltreichen Knappheit 
und geläuterten Formenreinheit Poussins. Die Landschaft mit den beiden jungen 
Pappeln aus dem Colonnazyklus schiebt noch raumlose Kulissen hintereinander (Taf. II). 
Hinter dunklem repoussoir bleibt das Gelände unübersichtlich und ohne klare Ent- 
wicklung; hinter dem Bergvorsprung mit dem Kastell hört die Welt auf. Die 
räumliche Vorstellung versagt. Das Bild ist rein dekorativ in der Flächeneinteilung, 
und in spitzen Keilen sind Hell und Dunkel ineinander verzahnt. Das Licht durch- 
stößt das Bild mit gellender Heftigkeit. In diesen beiden Landschaftsfolgen für 
Colonna und Doria hat Dughet schon durch die farbige und formale Haltung zum 
Ausdruck gebracht, daß es sich um dekorative Wandbilder handelt. Auf Leinwand 
gemalt und in Rahmen gespannt sollen sie unzweifelhaft Ersatz bilden für Wand- 
teppiche, ebenso wie die von Domenichino und Viola 1608 für den Palazzo Belvedere 
in Frascati entworfenen Landschaftsfresken!). Die großformige Behandlung gleitet 
hin und wieder zum Grobformigen ab. Die farbige Haltung aber erweckt die Er- 
innerung an Gobelins, sie ist reserviert, fast monoton in Laub und Land, graugrün 
in stumpfen Tönen und wie eingestäubt. In derber, handfester Malweise, die den 
Schmiß des Pinselstriches erkennen läßt, sind die Bilder rasch entstanden. Bal- 
dinucci erwähnt rühmend, Dughet habe eine solche Pinselfertigkeit erlangt, daß er 
an einem einzigen Tage eine Leinwand von fünf Spannen im Geviert mit ver- 
schiedenen Figuren darauf vollendete. 

In den 13 Bildern der Doriafolge, die um 1640 entstanden zu denken ist, hat 
Dughet den Raum gewonnen, und man erkennt auch, wer ihm dazu verhalf. Eine 
kraftvoll modellierte Plastik besitzen alle Formen, die in unruhigen Silhouetten ge- 
randet sind. Das Gelände wirft sich in mächtigen Brechungen, und in plötzlichem 
Abfall klaffen Schluchten, aber der Raum wird dabei doch kontinuierlich entwickelt. 
Immer noch erfüllt die Bilder ein kontrastreiches Allzuviel, niemals wird ein 
großes Motiv von Hebung und Senkung rein durchgeführt. Eine romantische Ge- 
sinnung dokumentiert sich in diesen Werken. Zu der wogenden Wucht der Formen 
auf der Erde gesellen sich am Himmel die Wolken, geballt und getürmt zu ge- 
wittriger Stimmung, und unter solch unheildrohendem Himmel liegen wieder still- 
spiegelnde Wasserläufe, belebt von wenigen Segelbooten und am Rande begleitet 
von einzelnen Wachttürmen und zerfallenen Burgen. Den gleichen Stimmungston 
trägt die Staffage, die nicht antikisierend gehalten ist, sondern zeitgenössische 
Volkstypen, Reiter und Hirten, Maultiertreiber, Fischer und Schiffer, verwendet. 
Auf der Landschaft mit den beiden Reitern (Taf. II) dient das Licht nicht allein 
der Form, es ist vielmehr auch Ausdruck des jähen Temperaments. Hinter einer 
dunklen Baumkulisse rechts prallt seine Weiße heftig herein. Blinkhelle Baum- 
wipfel schäumen auf im Licht, die gleiche drängende Gewalt in den Formen. 
Randnah stoßen die Bäume hoch in elastischen Kurven, benachbarte Stämme 
kreuzen sich, wobei dies alte Kontrastmotiv Tizians ins Barocke gesteigert wird. 


(1) Jetzt in der Sammlung des Grafen Lauckorowski in Wien. Vgl. die Abbildungen im Archiv für 
Kunstgesch, 1913, Tafel 69 ff. 


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Poussin. Rom, Palazzo Colonna. 


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Dughet gen. Poussin. Rom, Galleria Doria. 


Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt) Poussin. 


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Das Laub, unverhältnismäßig groß im einzelnen Blatt, ist doch auch im Begriff, 
die Einzelform der Gesamtbewegung dem Eindruck von Laubmassen zu opfern. 
Die mächtige Masse schwillt schwer am oberen Bildrand hin, wird oft von ihm 
überschnitten. Deutlich werden zwei Baumarten bevorzugt, die großblättrige Ka- 
stanie, die die Belaubung einzelner Äste und Zweige gesondert trägt, und die 
Steineiche mit kleinerem Blattwerk, das aber zu dichteren, dunkler grünen Massen 
zusammenschlägt. Die flotte Arbeitsweise höht bei dieser über flockig grünem 
Grund den Glanz einzelner Blätter in spritzigem Weiß, läßt bei jener Zweig um 
Zweig entstehen, nichtachtend der einheitlichen Erscheinung, so daß die Blätter 
wie windzerwühlt auseinanderfahren. Unerschöpflich rauscht die pathetische 
Rhetorik. Der Erfindungsreichtum ist erstaunlich. Dughet ermüdet nicht durch 
Wiederholung, auch nicht durch die Eintönigkeit des Kolorits, wohl aber durch 
das Fortissimo des Vortrags. Die Fläche ist durchwühlt von jähzuckenden, 
stoßenden Linien, aber der Raum ist im Gegensatz dazu, wenn auch im Vorder- 
grund oft grellere Kontraste sind, durchflutet von einem weichen, magischen, manch- 
mal feierlichen Licht. Auf der Sorgfalt dieser Lichtorganisation beruht überhaupt 
erst der neue Raumeindruck. Man spürt aus ihr die Nähe des großen Claude, und 
Baldinucci bemerkt denn auch ausdrücklich, daß Dughet, als er von Reisen nach 
Neapel, Perugia und Florenz zurückgekehrt war, viele Studien unter der Anleitung 
Claude Gellées gemacht habe. 

Als die stärkste künstlerische Potenz in der Landschaftsmalerei, ehe Nicolas 
Poussin mit seinen Landschaften auftrat, darf Claude in Rom gelten, er, der das 
Erbe der niederländischen atmosphärischen Landschaftsmalerei der Elsheimer und 
Brill angetreten hatte, aber doch auch mit seinem Pfund, der tektonischen Grund- 
auffassung der Natur, wucherte. Unter den Landschaften Dughets gibt es einige, 
die in allen Elementen und selbst ihrer Anordnung weitgehend mit Bildern Claudes 
übereinstimmen und doch bei der Verschiedenheit der Charaktere und der Aus- 
schließlichkeit der Temperamente der beiden Maler sich nicht auf eine Linie bringen 
lassen. Die Hafenansicht Claudes in Windsor!) zeigt seine Kunst in der wölbigen 
Kraft der Bäume, deren Kronen wie eine Wolke im Luftraum schweben (Taf. Ш). 
Ein Hafen öffnet sich nach der Ferne, und das Weben des Lichtes umfängt ihn 
mit seinem goldigen Zauber. Auch Dughet hat in dem Bilde einer Flußmündung 
links eine Baumgruppe angeordnet, doch ist sie ohne die räumliche Funktion ge- 
dacht wie bei Claude. Sie bleibt dicht am vorderen Bildrand und entbehrt der 
wohligen Sattheit der Form, und die sublime Zartheit der Lichtschleier Claudes 
fehlt auch, und doch ist der Einfluß dieses Meisters auf die Lichtführung mit dem 
milden Hinschwinden am Horizonte unverkennbar. Gemeinsam ist auch die sub- 
jektive, die romantische Auffassung der Natur, die sich bei Dughet so lange hält, 
bis er in die gebieterische Machtsphäre Nicolas Poussins gerät. Am nächsten 
stand Dughet dem Stil und der Auffassung Claudes bei der Wiener Landschaft 
mit dem Grabmal der Cäcilia Metella. Tief in den Raum geriickt haben die beiden 
Pinien die einheitliche Krone wie eine Kuppel. Es gibt kein weiteres Bild Dughets, 
das solch prächtiges Zentralmotiv im Sinne Claudes verwendete und damit eine 
stille poetische Stimmung entfachte, die mit der Naturstimmung, die Schwüle und 
Feuchte einer regengereinigten Landschaft atmet, zusammenklingt. 


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* 


(1) Um 1640 entstanden. Nicht im Liber Veritatis. Pattison, Claude Lorrain, Paris 1884, Catal. 
Windsor Nr. а. 


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Die Annahme, Dughet sei als Schüler Nicolas Poussins aufgewachsen, geht auf 
Baldinucci zurück, der erzählt, das Schicksal habe den Entschluß des jungen 
Dughet, Maler zu werden, begtinstigt, indem es fügte, daß Nicolas Poussin sein 
‚Schwager wurde. Die Hochzeit Poussins fand 1630 statt. Gaspard Poussin war 
damals 17 Jahre alt, lebte aber im nächsten Jahre bereits selbständig und nicht 
mehr in Rom. Da nun Poussin in diesen Jahren völlig unter venezianischem 
Einfluß stand, wie Grautoff') dargelegt hat, so müßte sich doch diese charakte- 
ristische Stilperiode Poussins auch irgendwie in den Arbeiten Dughets spiegeln. 
Aber nichts von alledem; die stilkritische Untersuchung zeigt vielmehr, daß Dughet 
unter dem bestimmenden Eindruck Domenichinos begann, dann aber seinen eigenen 
Stil zur Reife brachte, wobei er wesentliche Einwirkung von Claude Lorrain er- 
fuhr. Die Behauptung, die Dughet einfach den Schüler Poussins nennt, unterschlägt 
die Entwicklung Dughets bis zur Jahrhundertmitte, vernachlässigt die eine Hälfte 
seines malerischen Werkes. 

Um 1650 nämlich vollzieht sich eine Wandlung in Dughets Stil, die aus dem 
Saulus einen Paulus macht. Dughet gerät eine Zeitlang völlig in den Bann 
Poussins. Von diesen Landschaften Dughets mag das Wort Félibiens*), sie seien 
die Reste der Gastmähler Poussins, wie man einst gesagt habe, die Tragödien des 
Euripides seien die Reste der Gastmähler Homers, mit dem gleichen Recht und 
Unrecht wie für den antiken Dichter gelten. Dughet war auf den Grundlagen der 
römischen Landschaftsmalerei der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts zu einem 
tektonischen Stil gelangt. Durch unablässiges Zeichnen nach der Natur hatte er 
seine Anschauung bereichert, aber vor der Fülle kam er nicht zur Klarheit und 
wußte nicht, daß man mit weniger Motiven reicher und bedeutender wirken konnte. 
Auf Studienausflügen, die Poussin nach Sandrarts Erzählung unternahm, mag 
Dughet des öfteren mit seinem Schwager zusammengewesen sein. Aber was 
Poussin unter einer Landschaft verstand, wie er alle Naturformen zu größter 
Schaubarkeit gebracht wissen wollte und in der Klarheit der Erscheinung auch 
ihre Würde sah, das erkannte Dughet doch erst, als Poussin selber reine Land- 
schaften malte, wovon zuerst 1648 die Rede ist. Dughet war schon 35 Jahre alt, 
aber es muß ihm wie Schuppen von den Augen gefallen sein. Zu der gleichen 
sicheren Bildorganisation zu gelangen, wurde nun sein Streben, und er ruhte nicht, 
bis er Ähnliches erreichte und mit Recht, aus einer inneren Verwandtschaft her- 
aus, den Namen Poussin trug, den er bisher um der äußeren Verwandtschaft 
willen (Baldinucci) angenommen hatte. Wenn Poussin ein Gebäude zeichnete, 
vermied er die malerisch verschobene Aufnahme übereck, brachte es vielmehr auf 
eine baumeisterliche Ansicht, die in fast geometrischer Strenge Plan und Aufbau 
offenbarte, etwa bei der Ansicht von S. Maria in Cosmedin (Zeichnung in Oxford). 
Mit solcher Auffassung hat Dughet die Ostfassade von S. Giovanni in Laterano 

emalt ). 

т Ез * eine durchaus logische Entwicklung, die der Stil Dughets durchmacht, 
wenn diese Entwicklung auch scheinbar unüberbrückbare Gegensätze enthält, die 
etwa denen im Stil des jungen Cranach um 1500 und des älteren Cranach nach 
1520 ähneln. Schritt um Schritt erweitert sich Dughets Raumanschauung. Von 
den plastisch stark empfundenen Bergkulissen im Sinne Domenichinos führt ihn 


(x) О. Grautoff, Nicolas Poussin I, 8. 97 fl. 
(a) Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres, 1725, T. IV, p. 164. 
(3) Hermann Egger, Rémische Veduten I, Taf. 86. 


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Claude Lorrain. Windsor, Galerie. 


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Dughet gen. Poussin. Rom, Galleria Doria. 


Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt Poussin. 


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sein Weg zu den lichtverschleierten Raumlandschaften Claudes, die seiner un- 
gestiimen Robustheit innerlich wesensfremd blieben. Um so mehr hatte ihm das 
durchdachte Bildgefüge Poussins zu sagen, das den Raum bis in die tiefsten Tiefen 
deutlich erhielt, als sich ihm darin weniger eine seelenvolle Harmonie denn eine 
beherrschte Leidenschaft offenbarte. Poussins Landschaft mit den beiden Nymphen 
in Chantilly (Grautoff Nr. 154) mit ihrer kristallenen Durchsichtigkeit der Gründe 
und der baumeisterlichen Klarheit im Gegeneinander von Senkrecht und Wagerecht, 
im Hintereinander von dunklen und hellen Schichten, zeigt deutlich, wie die Vor- 
bilder für Dughets FluBlandschaft mit der büßenden Maria Magdalena in Madrid be- 
schaffen waren (Taf. IV). Die jähe Ungebundenheit früherer Bilder ist einer maß- 
vollen Haltung gewichen. Zügel sind angelegt und Zug um Zug wird die Tiefe ge- 
wonnen. Statt zerklüfteter Berge, deren Fuß nicht sichtbar ist, jetzt die sorgfältige 
Planbreitung der Erde, von der sich alles verfolgbar erhebt. In Gelände und Baum- 
schlag ist eine neue Intensität der Naturbeobachtung, die auch die kleinteilig 
zackigen Laubsilhouetten in aller Klarheit vor Augen stehen läßt, was einer prä- 
zisen scharfen Formzeichnung an Stelle der breiten Pinseltechnik von früher ver- 
dankt wird. Die Baumsilhouetten bleiben aber immer um einen Grad bewegter als 
bei Poussin und im Rhythmus von Hell und Dunkel flackert noch die Leidenschaft, 
Das Bild wird um 1650 entstanden sein. Dughet hatte sich nun in der Hand, und 
die ungebärdige Wildheit der Landschaft in der Galerie Doria, die doch auch eine 
Maria Magdalena in ihrer Buße umgab, liegt weit hinter ihm. An Bildklarheit hat 
er gewonnen, an unmittelbarer Überzeugungskraft verloren: Die fast apokalyptische 
Großartigkeit der Einöde hat sich in eine friedlich-freundliche FluBlandschaft ver- 
wandelt. 

In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens hat Dughet seinen reifen Stil 
gefunden, der ihm schon zu Baldinuccis Zeiten europäischen Ruhm einbrachte. 
Die letzte höchste Vollendung der Landschaftskunst, in der Harmoniegefühl und 
anschauliche Erkenntnis sich decken, ist ihm versagt geblieben. Dughet hat die 
darstellerischen Prinzipien der Landschaftsmalerei Poussins rein bewahrt, aber 
nicht selbständig zu entwickeln vermocht. Die heroische Gewalt seiner Früh- 
kunst brach wieder durch. Der gehaltenen Gebärde Poussins konnte er sich nicht 
anbequemen, er streifte sie, als seiner Natur entgegen, wieder ab. Dughets Aus- 
drucksstil schwingt von stürmischer Bewegung aus zu einer noch bebenden Ruhe, 
das leidenschaftliche Pathos wird gezügelt zu einer Gehaltenheit, die das Gewalt- 
same dieses Temperaments noch erkennen läßt. Dughets Darstellungsstil gelangt 
von zügig kraftvoller Anordnung von Formen, die die Bildfläche einfach mächtig 
teilen, aber ohne Raumtiefe sind, bis zu einem raumbeherrschenden Aufbau, der 
die Gründe im Wechsel von Hell und Dunkel klärt. Das Gute in diesen Spät- 
bildern ist die Energie, mit welcher der Raum gestaltet wird, wobei der Wechsel 
von Hell und Dunkel manchmal wie in Böen die Bildfläche rhythmisiert. An 
künstlerischer Einsicht erheben sich die Spätbilder über die Frühwerke, an urtüm- 
licher Kraft bleiben sie nicht hinter ihnen zurück. Ein charakteristisches Bild 
seiner reifen Zeit ist die römische Gebirgslandschaft in Berlin die rund 20 Jahre 
später entstand als die Landschaft mit den beiden Reitern im Doria-Zyklus, mit 
der man sie vergleichen kann. Die Schönheit langfließender Linien durchtönt 
das Bild. Die Naturhaftigkeit dieser gewaltigen Campagna überzeugt mit hin- 
reißendem Schwung. Kein Baumnetz fängt vorn noch den Blick, das Auge strömt 
in die Tiefe, stürzt den Fall der stürzenden Wasser, taucht auf aus schattiger 
Feuchte und durchsteigt den nachdrücklichen Ernst der Mittelgründe, um in der 


sonnigen Ferne zu vergleiten. Nichts hindert vorn den Blick. Die Baumgruppen 
stehen tief raumeinwärts. In schichtiger Klarheit dehnt sich das helle Land, über 
das Poussin und Claude die segnende Hand halten. 

Das eigentümlich Drängende der Linien, der wuchtige Rhythmus heller und 
dunkler Massen erfüllt die Bilder Dughets mit mehr barockem Zeitcharakter, als in 
den Landschaften Poussins zu spüren ist. In der Natur um Rom sah Claude die 
lichtreiche Feierlichkeit, Poussin die weltgeschichtliche Größe und Dughet den 
ans Drohende streifenden Ernst. Der große Zug dieser Natur hat Dughet immer 
wieder ergriffen; um ihre Wirkung rein schwingen zu lassen, greift er auch zu 
ungewöhnlichen Bildformaten, Spätwerke wie die breite Landschaft in der Lon- 
doner National-Gallery halten nicht mehr einen Raumausschnitt beidseitig tekto- 
nisch festgelegt, sondern lassen auf einer Seite den Raum für die Phantasie weiter- 
strömen, der Vordergrund ist breit zusammengestrichen, ohne Kraut noch Busch- 
werk, der Schatten des baumbestandenen Hangs läuft in schmaler Zunge dartiber 
aus. Das Auge muß notwendig den weiten Raum bis auf den Grund trinken, wo 
in wunderbar räumlicher Klarheit das Stadtbild erscheint. Wie eng und raumlos wirkt 
gegen die Weite solcher Raumwelt die Landschaft mit den beiden jungen Pappeln 
aus dem Colonna-Zyklus! (Taf. II). Die Energie der Berglinie hat Dughet im 
Frühbild selbst geschädigt durch die beiden Bäumchen, die sie überschneiden. 
Hier ist ein ganzer Wald vorhanden, bleibt aber untergeordnet: so hoch ist der 
Augenpunkt, so weit der Abstand genommen, Das Kastell im Frühbild war Sil- 
houette, war pittoreske Gruppe. Die Stadt auf dem Londoner Bild ist die kristal- 
linisch feste Fassung rechteckiger Haus- und Turmblöcke. Diese plastisch klaren 
Gebilde sind eingebettet in die Senke der großformigen Geländemodellierung, so 
daß die himmelstürmende Wucht der Berglinien durch keine Unterbrechung ge- 
hemmt wird. 

a * 
* 

Die Stellung Dughets innerhalb der einheitlichen Entwicklung der Landschafts- 
malerei im 16. und 17. Jahrhundert wird durch nichts besser gekennzeichnet als 
durch seine Gewitterlandschaften. Das 16. Jahrhundert hatte theoretisch die For- 
derung einer Wiedergabe der Elemente im Aufruhr gestellt. Dughet hat diese 
Forderung erfüllt. Das Versprechen, das die Renaissance gegeben hatte, konnte 
erst die Darstellungsstufe des Barock, der auch die atmosphärischen Erschei- 
nungen nicht verschlossen waren, einlösen. Dughet hat das Thema mehrfach be- 
handelt. Die Wiener Gewitterlandschaft Dughets entstammt der Zeit des geklärten 
Raumstils. Windgepeitscht stiebt das Laub, biegt das Gezweig. Wolkensiicke 
schleifen am Berggipfel. Ein Blitz zuckt und zündet ein Haus am fernen Fels- 
hang. Wanderer kämpfen gegen die Gewalt des Sturms an. Nach Baldinucoi 
stellte auch Dughets letztes und bestes Bild ein Unwetter auf der Erde dar. Das 
Bild kam an einen Grafen Berk, der es mit nach Deutschland nahm. Die Be- 
schreibung Baldinuccis paßt auch auf die Wiener Landschaft). „Lebendig waren 
auf dieser Leinwand die heftigen Wirkungen eines Gewittersturms dargestellt, 
Bäume vom Winde gebogen, dunkle Wolken, ein zuckender Blitz, aufwirbelnder 
Staub, dahingeführt von der gewaltigen Luftbewegung und anderen ähnlichen 
Erscheinungen in wunderbarer Nachahmung“ (Baldinucci, a. a. O., 304). Das ist 
die tatsächliche Bewältigung dessen, was Lionardo anderthalb Jahrhunderte 


(1) Dae Bild wurde 1786 vom Grafen Nostitz in Prag erworben. Weiteres ist über die Proveniens 
nicht bekannt. (Gef. Mitteilung von Prof. Tietze.) 


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Madrid, 


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Dughet gen. Poussin. 


Zu: Kurt Gerstenberg, Gaspar Dughet genannt Poussin. 


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früher vorgeschwebt hatte, als er die Darstellung eines Unwetters mit ähnlichen 
Worten beschrieb!). 

Die Fassung in Wien ist zu äußerlich. Die Landschaft bleibt offen mit heiterer 
Ferne, die freie Weite läßt nicht den Gedanken an eine vernichtende Gewalt des 
Unwetters aufkommen und das räumlich befangenere, aber von der Gewalt des 
sttirmischen Temperaments des jungen Dughet durchbebte Gewitterbild in Madrid 
(Taf. IV) vermag die Stimmung dramatisch packender zu gestalten. Es ist wahr- 
haft die zermalmende Wucht des Unwetters darin. Bedrückend eng wirkt der 
Aufbau durch den Berghang, der fast das ganze Bild füllt und nur ein winziges 
Stück hellen Horizontes sichtbar werden läßt. Der Rand dieses Berges läuft 
wellig wie ein tosendes Meer und ist übergischtet vom hellblinkenden Laub sturm- 
gebeugter Bäume. Der Eindruck der Linienführung ist so, als ob ein unentrinn- 
bares Verhängnis sich aufzutürmen scheint. Wasser stürzen, Felsen wanken. Jah 
überjagen Hell und Dunkel die Fläche. Das konnte nur ein Maler schaffen, der, 
im ständigen Verkehr mit der Natur wie der Jäger Dughet, die elementare Heftig- 
keit solcher Unwetter erlebt hatte. 

Dughet hat so wenig wie ein anderer Zeitgenosse die Studien vor der Natur 
schon als Bild gelten lassen. Was er aber in der Werkstatt bei der Komposition 
in seine Bilder hinüberrettete, ist die sinnliche Frische, mit der sein Farbenauge 
sah. In ungetrübter Schärfe hat er, was vorzüglich Bildern kleineren Formates 
zugute kam, die wenigen Farben seiner Landschaften zu größtem Reichtum aus- 
einandergelegt, die Ockertöne des lehmschweren fetten Bodens und vor allem die 
Grüns von feuchter Saftigkeit bis zu einer silbrighellen Trockenheit. 


* * 
ж 


Was die historische wie die ästhetische Betrachtung der französischen Malerei 
so genußvoll macht, ist der Umstand, daß sie sich in specie zu unerschöpflicher 
Vielartigkeit entfaltet, in genere aber eine edle strenge Festigkeit und Unveränder- 
lichkeit wahrt. Diese einheitliche Struktur der französischen Malerei von Poussin 
bis Cézanne hat es vermocht, daß scheinbar so entgegengesetzte Mächte wie Dela- 
croix und Ingres sich in Poussin wiederfanden. Eine noch heute unerschöpfte Kraft, 
hat Poussin immer wieder im Geist der großen Maler Frankreichs seinen Wohn- 
sitz aufgeschlagen. Claude Lorrain ist in Vernet, am reinsten aber in Corot wieder 
aufgeklungen. Und Dughet ist, was vielleicht überraschend anmutet, der Hiiter 
jenes Schatzes gewesen, den Courbet wieder besaß und auf den der Normanne 
als ihm und nur ihm gehörend so laut pochte. Selbst das, was das eigentlich Neue 
an Courbet schien, das Aufsuchen der einfachsten Naturansichten, die scheinbare 
Motivlosigkeit gibt es schon bei Dughet. Ein simpler Hang mit Wiesengrün und 
Gebtisch, darüber ein Stück Himmel, das genügt ihm als Bildinhalt (eine solche 
Landschaft Herbst 1921 im Berliner Kunsthandel). Aber wie dieses einfache Stück 
Natur nun seiner stofflichen Beschaffenheit nach erfaßt ist und malerisches Leben 
gewonnen hat, wie hier mit Feinfühligkeit Oberflächenreize erkannt worden sind, 
die dem gewöhnlichen Auge entgehen, das zeigt die innere Verwandtschaft mit 
Courbet. In dieser Augenempfindlichkeit ging er über seine Zeitgenossen weit 
hinaus und es ist zu verstehen, daß die klassizistische Kunstanschauung Baldi- 


(1) Das Buch von der Malerei. Hrsg. Ludwig. 1888, Nr. 47 und auch 504. 


nuccis gerade dies getadelt hat. Baldinucci warf Dughet vor, er habe sich beim 
Schattieren zu sehr an eine Farbe, an das Grün gehalten). 

Das ist derselbe Vorwurf, der sich im 129. Jahrhundert erst gegen Constable, 
dann auch gegen Courbet richtete. Aber gerade diese so einfach scheinende Er- 
kenntnis, daß die Natur grün ist, diese Darstellung des Wiesengeländes und 
Laubes ohne schwärzliches Braun und rötliches Gelb, einzig durch die stufenreiche 
Abwandlung des einen grünen Farbtons ist es, was manchen Bildern Dughets 
einen so hohen Reiz verleiht. 


(1) a. a. O., 304. Ebbe Gaspero Poussin una maniera di far paesi, che fu assai gradita, non per la 
macchia, nella quale troppo зі tenne a un sol colore, cioè al verde — .. . 


JOHANN TOBIAS SERGEL (вна) 


Mit drei Tafeln in Lichtdruck Von ALBERT DRESDNER 


VI. 


m Jahre 1771 hatte Gustav III. den schwedischen Thron bestiegen. Jung, ehr- 

geizig, lebens- und repräsentationslustig wolite er gern seinen Hof mit hervor- 
ragenden Persönlichkeiten geziert sehen, und es war natürlich, daß sich seine Auf- 
merksamkeit auf „unsern schwedischen Phidias“ richtete, der es in Rom zu so 
schönem Erfolg gebracht hatte. Als Larchevéque krankheitshalber seine Professur 
nicht mehr versehen konnte und nach Frankreich beurlaubt wurde, erschien Sergel 
als sein gegebener Nachfolger. So wurde er 1778 nach Stockholm zurückberufen. 

Es fiel Sergel ungemein schwer, von Rom zu scheiden. Rom — es war und 
blieb ja doch sein großes Erlebnis. Hier hatte er in einer stets bewegten Kunst- 
atmosphäre die unerschöpfliche Anregung eines unvergleichlichen Denkmilerschatzes 
und den anspornenden Umgang mit Künstlern aus aller Herren Länder genossen; 
hier hatte er den Erfolg gefunden, der von diesem Mittelpunkte aus nach allen 
Richtungen ausstrahlte; hier hatte er im vollen Sonnenscheine eines freien, sich 
selbst genügenden Künstlerdaseins leben können. Alle diese Vorteile mit einer 
Hof- und Professorenstellung im fernen, kunstarmen Norden zu vertauschen, kam 
ihm hart an, aber seine Bemühungen, den König umzustimmen, blieben erfolglos. 
Im Juni 1778 verließ er Rom — er ließ seine Jugend und seine Sehnsucht zurück. 
Immer blieb Rom für ihn „die einzige und wahre Stätte der Künste, wo der 
Künstler geboren werden, leben und sterben muß“; wenn er späterhin auf Rom zu 
sprechen kam, wurde er warm und weich, und noch in vorgertickten Jahren hat 
er sich mit Reiseplänen nach der Stadt seiner Liebe getragen). 

Den Heimweg nahm er über Paris, auch machte er einen Abstecher nach London. 
In Paris, wo er gerade vor zwanzig Jahren als Anfänger studiert hatte, wurde er 
nun als Meister empfangen und geehrt. Der damalige Direktor der Kunstakademie, 
Pierre, legte ihm nahe, sich um die Aufnahme in die Akademie zu bewerben. 
Sergel modellierte einen „sterbenden Othryades“ und wurde daraufhin „agreiert“. 
Gegen die Mitte des Jahres 1779 traf er in Stockholm ein. 

Er trat da in einen merkwürdigen und bewegten Kreis. Auf der „gustaviani- 
schen Epoche“ ruht der volle Abendglanz des ancien régime. Man genoß das 
Leben und man verstand es zu genießen. Man war nicht mit Skrupeln belastet 
und nahm alles mit, das Feine wie das Derbe. Man war geistreich und zynisch, 
ästhetisch und materiell, man schwärmte und war ausschweifend. Man huldigte 
den Frauen und den Künsten — Gott Bacchum nicht zu vergessen. Niemand 
konnte trefflicher in dies Leben passen als Sergel. Unverwiistlich, lebensprühend, 
zum Gesellschaftsmenschen geboren, wurde er bald eine Vordergrundgestalt unter 
den „Gustavianern“, Alles sah ihn gern, lud ihn ein, schätzte seine Einladungen. 
Er wurde eine der Zelebritäten der Stadt: „Hier in ganz Stockholm kennt diesen 
Künster der lumpigste Kerl,“ konnte Schadow 1791 seiner Frau berichten?). Sein 
Umgangskreis umfaßte so ziemlich alle Gesellschaftsklassen: die Grandseigneurs 
des Reiches wie die Damen und Herren vom Theater, die Hofleute, die Handels- 


(1) 8. seinen Brief an Boström vom Jahre 1811 bei Nyblom, 59, und seine Briefe an Abildgaard 
aus dem Jahre 1806 bei Göthe, Sergelska Bref, 8. 73, 67. 
(2) Aufsätze und Briefe, 8, 19. 


303 


magnaten und die Dichter — und, versteht sich, die ganze Ktinstlerschaft von 
Stockholm. Mit allen war er gut Freund; an den wenigen aber, die er als echte 
Freunde schätzte, hing er mit fast leidenschaftlicher Innigkeit. Er hat sich selbst 
als einen ,,Entousiaste en amitié“ bezeichnet, und daß er hierin nicht tibertrieb, 
bezeugt sein schönes Verhältnis zum Grafen K. A. Ehrensvärd und zu seinem 
alten Romkameraden Abildgaard, den er zweimal, 1794 und 1796, in Kopenhagen 
besucht hat!). Ihren vorzeitigen Hingang hat er nie verschmerzt. Den Fesseln 
der Ehe hat er die freie Liebe vorgezogen; seine liebenswürdige Freundin Anna 
Rella schenkte ihm zwei Kinder, denen er ein sorgsamer und zärtlicher Vater ge- 
wesen ist. 

Er wurde mit der Zeit ein großer Herr: Akademieprofessor, Hofbildhauer, Ritter 
von allerlei hohen Orden; schließlich ward er 1808 sogar in den Adelsstand er- 
hoben und damit auch Mitglied des schwedischen Reichstages. Nichts kann seine 
noble, aufrechte und selbständige Persönlichkeit in helleres Licht stellen als die 
Art, wie er sich zu dieser Ehrung verhielt. Er lehnte es ab, seinen Platz im 
Ritterhause einzunehmen und schrieb darüber (1812) seinem Freunde Per Tham: 
„Der König kann adeln, aber er kann nicht die Kenntnisse verleihen, deren es be- 
darf, um einen Platz als Reichstagsmann richtig auszufüllen. Und ich mische 
mich nie in Dinge, von denen ich nicht voll überzeugt bin, daß ich mich auf sie 
verstehe. Kein Mensch in der Welt ist empfindlicher für eine solche Mystifikation 
als ich. . . Ich habe mein ganzes Leben die Denkweise eines Edelmanns be- 
sessen, ob ich gleich nicht Adliger war, ein Titel, den ich ausschließlich um meines 
Sohnes willen angenommen habe.. Für mich ist dieser Titel überflüssig oder, 
um gerade heraus zu reden, wertlos“ ). 

In der schwedischen Kunstgeschichte lebt die gustavianische Epoche in glanz- 
voller Erinnerung. Zum ersten Male konnte sich auf schwedischem Boden ein 
reges Kunstleben entfalten, das allein von Einheimischen bestritten wurde. Pilo, 
aus Kopenhagen verdrängt, war an die Spitze der Akademie getreten und schuf 
in der „Krönung Gustavs IIL“ sein vorzüglichstes Werk. Lundberg, obgleich schon 
hochbetagt und in seiner Leistungsfähigkeit geschwächt, malte doch noch seine 
beliebten Pastellbildnisse. Der ältere Krafft, der jüngere Pasch waren tüchtige 
Porträtmaler, Elias Martin begründete die Landschaftsmalerei, Per Hilleström das 
bürgerliche Genre im Sinne Chardins. Aber in diesem Kreise nicht gemeiner Ta- 
lente war Sergel doch die stärkste und originellste Persönlichkeit; er wurde sein 
natürlicher Mittelpunkt; er genoß die Autorität eines „Römers“ und brachte den 
frischen Luftzug neuer Ideen und Anregungen mit sich. Als er 1778 nach Stock- 
holm heimkehrte, herrschte dort noch die französische Überlieferung, die Mehrzahl 
der Künstler hatte in Paris die Schule durchgemacht und Rokoko war Trumpf. 
Mit Sergel kam die neue Botschaft des Klassizismus, und er hatte die Genug- 
tuung, bereits binnen kurzem den Sieg seiner Ideen zu erleben. Im Jahre 1783 
trat Gustav III. eine Reise nach Italien an, auf die er Sergel, dessen künstlerische 
Einsicht und dessen Urteil er besonders schätzte, als seinen Cicerone mitnahm. 
Das Jahr darauf kehrte der König als begeisterter Bewunderer der Antike und 
überzeugter Anhänger der auf sie sich stützenden Kunstrichtung zurück, die er 


(x) Über Sergels Umgang und Freundschaften findet man das Nähere in den Biographien von Göthe 
und Looström. Sergels Briefe an Abildgaard sind veröffentlicht von Göthe in „Sergelska Bref“. 
Über Ehrensvärd und seine Beziehungen zu Sergel vgl. Warburg, Karl Aug. Ehrensvärd, Stock- 
holm (1893). 

(2) Göthe, S. 282. 


304 


alsbald in Schweden ein- und durchzuführen unternahm. In dem Maler A. C. Masreleiz 
und dem Dekorateur und Architekten Desprez brachte er sich die geeigneten 
Künstler mit, und so ist von Gustavs Italienfahrt die Periode des Klassizismus in 
Schweden zu datieren’). 

Auf diese Weise fand Sergel Gelegenheit, nach mehr als fünfjähriger Abwesen- 
heit sein geliebtes Rom wiederzusehen und noch einmal aus der Quelle rimischen 
Kunstlebens zu trinken. Er konnte sich davon überzeugen, daß die Entwicklung, 
deren Zeuge er bereits in seinen späteren Romjahren, besonders etwa seit 1775, 
gewesen war, inzwischen starke Fortschritte gemacht hatte. Die Stunde des 
Triumphes hatte für den Klassizismus in Rom geschlagen. Unter Viens Leitung 
war die Acad&mie de France in sein Lager übergegangen, Trippels Schule war zu 
einer Hochburg der reinen Lehre geworden, die liebenswürdige Angelika bildete 
den Mittelpunkt eines klassizistischen Musenhofes. David wurde in Rom erwartet, 
wo er seine „Horazier“ auszuführen und damit die klassizistische Sache endlich 
auch in der Malerei zum Siege zu führen gedachte. Der junge Canova hatte sich 
ihr gleichfalls angeschlossen und eben den ,, Theseus“ vollendet, mit dem er seinen 
ersten großen Erfolg auf römischem Boden erringen sollte). Sergel, der mit Ge- 
nugtuung feststellen konnte, daß sein Name in Rom noch nicht in Vergessenheit 
geraten war“), kannte Vien und vielleicht auch Trippel schon von früher her; 
Canovas Werk sah er in dessen Atelier. So mußte, was er jetzt in Rom erlebte, 
ihn in seinen künstlerischen Überzeugungen bestärken. Aber die Note des römischen 
Klassizismus hatte sich doch während des Jahrftinfts, das Sergel in Stockholm ver- 
lebt hatte, bereits geändert. Er war „reiner“, strenger, orthodoxer, die Ablehnung 
der französischen Schule war allgemeiner und schärfer geworden. Diese Erfahrung 
ist auf Sergel nicht ohne Einfluß geblieben. Man spürt ihn in der Fassung, die 
er späterhin seinen theoretischen Bekenntnissen gab, in dem Nachdrucke, mit dem 
er die Vorbildlichkeit der Antike predigte und die Verwerflichkeit der „abscheu- 
lichen französischen Manier“ einschirfte‘). Man spürt ihn in der glatteren und 
kühleren Formbehandlung der in seiner späteren Stockholmer Zeit vollendeten 
Marmorausführungen von Mars und Venus und Amor und Psyche. Die schon vor 
der römischen Reise fertiggestellten Entwürfe zum Altarrelief der Auferstehung 
Christi und zur Sockelgruppe des Gustav Adolfdenkmals wurden nach der Heim- 
kehr im Sinne der neuen strengeren Anschauungen umstilisiert“). Hatte Sergel 
seinem ersten römischen Aufenthalte die Entfaltung seiner Kraft zur höchsten 
Leistungsfähigkeit zu verdanken gehabt, so ist die Wirkung, die sein zweiter Be- 
such in seinem Schaffen hinterließ, nicht günstig gewesen. jene gewisse frische 
Naivetät, mit der er in den Werken seiner besten Zeit Formelemente der franzö- 
sischen Überlieferung mit solchen der klassizistischen Anschauung organisch zu 
verschmelzen verstanden hatte, wurde dadurch gestört, daß der nun doch schon 
an Jahren vorgerückte Meister sich in Rom vor neue Forderungen gestellt sah, 
mit denen er nicht mehr hat voll ins reine kommen können. Er hat sie wohl 
akzeptiert, aber in den innersten schöpferischen Kern seiner Persönlichkeit sind 
sie nie ganz eingegangen. Die eingeborene, durch seinen Bildungsgang bekräftigte 


(1) Über Gustave Ш. italienische Reise berichtet О. G. Adlerbeth in „Gustafs Ш. Resa i Italien.“ 
Utg. af H.Schück (Svenska Memoarer och Bref, Bd. 5, 6). Stockholm (1903.) 

(а) Vgl. Mala mani, Canova, 8. 25. A. G. Meyer. Canova, 8. 14. Vgl. Nyblom, 8. 70. 

(3) 8. Adlerbeth, 8. 155. 

(4) Vgl. oben und Brief an Byström bei Nyblom, 8. 66. 

(5) Vgl. Göthe, 147, 156. Brising, 132. S 


205 


Sinnesart und der künstlerische Intellekt wollen nun nicht immer Hand in Hand 
arbeiten, und so kommt in sein späteres Schaffen ein Zug von Unsicherheit, ein 
Schwanken zwischen verschiedenen Polen. 

Fraglich bleibt allerdings, ob nicht Sergel bereits 1778, als er von Rom scheiden 
mußte, seine künstlerische Akme überschritten hatte; jedenfalls sticht der in Paris 
modellierte Othryades durch seine theatralische Haltung von Sergels reifen römi- 
schen Werken unvorteilhaft ab; er ist gesuchter und trotz eines gewissen Auf- 
wandes an Pathos kühler als jene. Nun muß man vielleicht bei dieser Arbeit 
in Betracht ziehen, daß sie mit einiger Eile ausgeführt wurde, und Sergel zählte 
zu den Künstlern, die die volle Leistung nur erreichen, wenn sie ihre plastischen 
Ideen bedachtsam durcharbeiten und ausgestalten können: „il faut fair et refair, 
si un artiste veut attaindre son butte,“ lautet sein Bekenntnis'). Allein auch 
während der drei Jahrzehnte, die er dann noch in Stockholm gelebt und gewirkt 
hat, ist ihm — mit einer Ausnahme — kein Werk mehr gelungen, das ein ent- 
scheidendes Schwergewicht in die Wagschale seiner Leistung wiirfe. Daß der 
frische Strom seines Schaffens in der zweiten Hälfte seines Lebens ins Stocken 
geraten sei, davon hat er selbst ein Gefühl gehabt. „je n’ai été que dans le chemin 
sans atteindre le bute“: mit diesen resignierten Worten hat er in hohem Alter die 
Bilanz seines Lebenswerkes gezogen*), und die Schuld hieran schob er vor allem 
auf seine verfehlte künstlerische Ausbildung durch Larchevéque, die ihn die ganze 
Jugendzeit gekostet habe, daneben aber auch auf seine Versetzung nach dem Norden. 
Stand er doch hier mit seiner Kunst völlig allein; er wurde nicht durch den Wett- 
eifer mit andern angeregt und verjüngt, er vermißte den Rat und die Kritik sach- 
verständiger Kameraden, er vermißte das Kunstklima überhaupt: im Norden friert 
seine Seele und seine Phantasie). Diese Stimmung beherrschte ihn besonders 
unter den Nachfolgern Gustavs IIL, die für ihn und für die Kunst wenig übrig 
hatten — „Kunst und Künstler sind in Schweden begraben,“ erklärte et kurz und 
bündig im Jahre 1797‘). Der Trubel des bunten Genuß- und Gesellschaftslebens, 
in dem er sich bewegte, konnte in ihm nicht das schwermütige Gefühl betäuben, 
daß er aufs Trockene gesetzt sei; es ist ergreifend, wenn er sich in einem seiner 
letzten Lebensjahre mit Canova vergleicht, dem Glücklichen, der in Rom lebt und 
große Werke schaffen kann — er kann seine Entwürfe nicht ausführen, kann sein 
Talent nicht in seinem ganzen Umfange bekannt machen: „je suis а plaindre“®). 

Gustav III. hat unzweifelhaft große Stücke auf Sergel gehalten, aber ein tieferes 
Verständnis für ihn, ein inneres Verhältnis zu seinem Schaffen hat er wohl kaum 
gehabt, und im ganzen hat er in der Kunst doch wohl vor allem ein vornehmes 
Repräsentationsmittel gesehen. Womit er seinen Hofbildhauer hauptsächlich be- 
schäftigte, das waren Bildnisaufträge, und da bei Sergel auch aus andern Kreisen 
Porträtbestellungen in nicht geringer Zahl eingingen, so hat er auf dieseni Gebiete 
eine recht umfängliche Tätigkeit entfaltet. Im ganzen werden ihm über vierzig 
Porträtbüsten, dazu noch mehr als hundertundachtzig Medaillonbildnisse zu- 


(х) Nyblom, 8. 76. 

(2) Ebdas. 61,66. Gelegentliche Ausbrüche völliger Verzweiflung an seinem Talente sind wohl starken 
seelischen Depressionen zuzuschreiben, wie z.B. der in einem Briefe an Abildgaard vom 26. Aug. 1799: 
„Je suis degouté de mon talant, je deteste tout ce que j’al fais et encore moin envie ou faculté de 
fair quelque chose“ (Serg. Bref 35). 

(3) An Abildgaard: Serg. Bref, 8. 34, 75. 

(4) In der Selbstbiographie für Gjörwell: Serg. Bref, 8. 31. 

(5) Nyblom, 70. 


206 


geschrieben'). Es sind durchweg achtbare und tüchtige Arbeiten, aber sie gehen 
über den Stil und den guten Durchschnitt der Porträtplastik des 18. Jahrhun- 
derts nicht hinaus. In erster Linie für den Repräsentations- und Gesellschafts- 
bedarf bestimmt, halten sie sich ans Typische und Weltmännische; die Männer 
sind vornehm und elegant, die Frauen liebenswürdig und anmutig, aber nur in der 
Büste der Gräfin Fersen in Witwentracht ist eine individuellere Charakteristik 
und eine lebendigere Menschlichkeit erreicht. Sergel ist auch mit dem Herzen 
kaum bei diesen Arbeiten gewesen; mit der ganzen Ästhetik des 18. Jahrhunderts 
sah er im Porträt eine untergeordnete Gattung, und unwirsch klagte er seinem 
Schüler Byström, in Rom spreche man von Statuen, in Stockholm denke man nur 
an Büsten und Medaillons). 

Mit Monumentalaufträgen aber war es freilich — schon aus Mangel an Geld- 
mitteln — knapp bestellt, und was es etwa an solchen gab, das blieb im Gips 
stecken oder mußte sich mit der Ausführung in unedlem Matnriale begnügen. 
Sergels früheste Stockholmer Arbeiten monumentalen Charakters sind zwei Werke 
in der Adolf Friedrichskirche. Das eine ist ein bereits 178r vollendetes, in Blei 
gegossenes Grabdenkmal für den in Stockholm verstorbenen Philosophen Descartes, 
das andere ein Gipsrelief der Auferstehung Christi, das 1785 über dem Altare der 
Kirche aufgestellt wurde. Dort zieht ein auf massiven Wolken schwebender Genius 
mit großem Griffe eine Decke von der Erdkugel weg, indem er auf diese Weise 
die Aufklärung der Welt durch den Philosophen symbolisch zum Ausdrucke bringt; 
hier steigt Christus mit weitgeöffneten Armen, von leichter Gewandung umflattert, 
steil empor, während das Bahrtuch in schwerem, breitem Flusse von ihm nieder- 
sinkt. Das Motiv des Grabmals trägt Berninisches Gepräge, und auch das Auf- 
erstehungsrelief, das nichts anderes als ein in plastische Formen übertragenes Ge- 
mälde ist, gehört seiner ganzen Auffassung und Bebandlung nach dem barocken 
Stilkreise zu. Aber der Christus auf diesem Relief ist ein antiker Heros und die 
Engel sind gleichfalls mit antiken Typen gegeben: die Stilelemente klaffen eigen- 
tümlich auseinander, ohne daß Sergel sie organisch zu verschmelzen oder aus- 
zugleichen vermocht hätte ). Glücklicher ist die Mischung in zwei reizvollen, 
gleichfalls den achtziger Jahren entstammenden dekorativen Bildwerken gelungen, 
einer eine Schale tragenden Karyatide und einer die Proserpina suchenden, in 
jeder Hand eine Fackel hoch emporhebenden Ceres, in denen die in Anlehnung 
an die Antike aufgebauten Figuren von einem breiten, schwellenden Leben der 
Formen erfüllt und mit sicherer Hand auf festlich-dekorative Wirkung stilisiert sind. 

Gipsmodell blieb auch die 1789 vollendete Sockelgruppe für das von seinem 
Lehrer Larchevéque stammende Denkmal Gustav Adolfs. Dies Denkmal fand seine 
Stelle auf einem Platze, der als eine Art monumentalen Vor- und Ehrenhofs zum 
Königsschlosse angelegt war, und zwar wurde es achsial zu diesem aufgestellt. 
Dem trug Sergel Rechnung, indem er seine Gruppe der Vorderfront des Denkmals 
breit vorlegte und diese dadurch wuchtig akzentuierte. Die Gruppe stellt Gustav 


(x) Hierüber s. Göthes Abhandlung über Sergels Porträtbüsten in der Festschrift „Statens Konst- | 
samlingar 1794—1894“. 

(2) Nyblom, 76. Vgl. seine Äußerung über die Bildnismaler, sie seien plus fabricante qu’artists 
(an Abildgaard: Serg. Bref, 8. 48). А 

(3) Man vergleiche zu dieser Stilmischung die wunderliche Zeichnung der Auferweckung des Lazarus 
von Sergels Freunde, dem Grafen Ehrensvärd, bei Warburg, Ehrensvärd, 8. 96, wo der Vorgang 
etwa in der Art einer antiken Opferszene behandelt ist und ein von einer Glorie umstrahlter Apollo 
den Mittejpunkt bildet. 


207 


Adolf Kanzler Oxenstierna dar, wie er der Muse der Geschichte seines Königs 
Taten diktiert. Auf kräftig aus dem Denkmalssockel herausgeschobener Stufe steht 
Oxenstierna und weist diktierend auf die Schriftrolle in der Hand der zu seinen 
Füßen sitzenden, lauschend zu ihm aufblickenden Muse. Dies ist das Werk, in dem 
Sergel am konsequentesten versucht hat, die Erfahrungen seines neuerlichen römi- 
schen Besuches in die Tat umzusetzen und im klassizistischen Stile der strengeren 
Observanz zu schaffen. Die Gruppe ist grundsätzlich auf „edle Einfalt“, auf sta- 
tuarische Gelassenheit eingestellt). Sie ist in parallelen Flächenschichten auf- 
gebaut; die infolge der Höhen verschiedenheit der beiden Figuren einige Schwierig- 
keit bietende Verbindung zwischen ihnen ist mit dem möglichen Mindestaufwande 
an Bewegung und Verschiebung hergestellt. Es liegt nahe, die Gruppe sich aus 
der Sockelwand heraus entwickelt zu denken; allein dadurch, daß Oxenstiernas 
Gestalt über den Sockel hinauswächst und die Basis des Reiterstandbildes selbst 
überschneidet, wird dieser Eindruck verunklärt. So ist wenigstens das Verhältnis 
in der jetzigen Aufstellung, die erst 1906 erfolgt ist, nachdem nach Sergels Modell 
ein Bronzeguß hergestellt worden war; es muß dahingestellt bleiben, ob der 
Künstler, hätte er selbst die Gruppe ausführen und aufstellen können, die Kom- 
position in dieser Form belassen hätte. Die Wirkung ist jedenfalls, daß sie so eine 
Selbständigkeit gewinnt, die mit ihrer Aufgabe als Sockelschmuck nicht zusammen- 
geht; sie hat sich zu einem Denkmal am Denkmale ausgewachsen, welches, nur 
äußerlich dem Denkmalskirper vorgesetzt, ohne funktionelle Verbindung mit ihm 
bleibt, daher die plastische Einheitswirkung des Monumentes zerreißt und die be- 
herrschende Bedeutung der Reiterfigur gefährdet. Hiervon abgesehen ist die Kom- 
position auf das Sorgfältigste durchgerechnet, von vollkommener Klarheit und Ein- 
deutigkeit — aber ein Hauch kühlen Akademismus geht von ihr aus; Sergels sonst 
nie sich verleugnendes blutvolles Temperament hat hier vor der klassizistischen 
Forderung kapituliert. Bemerkenswert ist, daß die Gestalt Oxenstiernas ohne jeden 
Versuch antiker Bemäntelung in der Zeittracht dargestellt ist, und man versteht, 
daß dem Berliner Schadow dies „schöne Frontispice“ in seiner planen Verständ- 
lichkeit und streng rationalen Formsprache in hohem Grade zusagte*). Wenn 
Schadow Sergels Verfahren, die Sockeldekoration ganz auf die Vorderseite des 
Denkmals zu beschränken, als etwas Neues anmerkt, so ist dies insofern zutreffend, 
als die Dekoration der Barockbildnerei den Sockel von Freidenkmälern rundum 
zu umfassen, ihn als einheitlich geschlossene Masse nach allen Seiten hin gleich- 
mäßig zu entfalten und zu betonen liebte, während durch Sergels Anordnung das 
Monument gewissermaßen auf die Fläche projiziert wurde °). 


(х) Welchen Wert der strenge Klassizismus auf diese Eigenschaften legte, ist aus den 1818 ver- 
öffentlichten programmatischen Darlegungen Cicognaras im 3. Bande seiner Storia della Scultura, 
8. 451. zu ersehen. 

(2) Aufsätze und Briefe, 8. 33, 37. 

(3) Es mag an Beispielen für die barocke Denkmalsdekoration aus Sergels Jahrhundert auf die Denk- 
mäler Lemoines und Bouchardons für Ludwig XV. von 1743 und 1768 hingewiesen sein: jenes bei 
Patte, Monum. érigés . . à la gloire de Louis XV., Р. 1767, Tafel 14; dieses bei Marcette, Descr. 
des Travaux qui ont précedé . . la fonte. . de la Statue de Louis XV., Р. 1768, 8. 161. Auch Gui- 
bals Standbild für Ludwig XV. in Nancy (1755) bei Patte ist lehrreich, Trotz seiner Bewunderung 
für die von Sergel gewählte Anordnung ist Schadow ihr nicht gefolgt, sondern hat in seiner Zeich- 
nung sum Friedrichdenkmal (Abbildung im Kataloge der Schadow-Ausstellung der Berliner Akademie 
1909) wieder allegorische Gestalten an den vier Ecken des Sockels vorgesehen, und auch Rauch hat 
ja dann am Denkmale Friedrichs des Großen die Sockeldarstellungen bekanntlich unter nachdrück- 
licher Betonung der Ecken rund herum geführt. 


208 


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Erst an seinem späten Lebensabend erhielt Sergel in Stockholm einen bedeuten- 
den Monumentalauftrag. Es war das Denkmal für Gustav III. 

Sergel hatte für diesen fürstlichen Charmeur eine bis zur Anbetung gehende 
Liebe gefaßt. „Hier findet sich Vollkommenheit!“ schrieb er schwärmerisch auf 
ein Blatt mit feinen Bildnisstudien des Königs). Der Pistolenschuß, der dessen 
Leben ein vorzeitiges Ende setzte, hat auch dem Herzen seines Hofbildhauers eine 
nie verheilende Wunde zugefügt. Mit allen „alten Gustavianern“ hielt Sergel das 
Andenken an den Monarchen als ein heiliges Vermächtnis in Ehren. Anläßlich 
der Enthüllung seines Denkmals fand sich eine Anzahl von ihnen zu einem Fest- 
mahle zusammen, bei dem es gustavianisch scharf herging. Einige der Teilnehmer 
lagen schon unter dem Tische und Sergel selbst mußte gestützt werden, als er 
sich zum Trinkspruche auf den königlichen Patron erhob. Er rief: „Tausend Teufel 
sollen mich holen, war nicht Gustav III. ein Strahl vom ewigen Lichte!“ In vino 
veritas: in diesen drastischen Worten Sergels spiegelte sich das Bild, das ihm von 
dem Dahingegangenen vorschwebte. In der Büste, die er für seine Aufbahrung 
schuf und später in Marmor ausführte, gab er Gustavs Züge, in einen Apollotypus 
einbeschrieben, in sehr summarischer Formgebung, und mehr als Apotheose denn 
als Bildnis — aber ein heiteres inneres Leuchten strahlt von diesem freien und 
schönen Haupte aus: es ist Gustav, wie er in Sergels Seele lebte. Und als er 
sein Denkmal zu modellieren hatte, da wußte er, um sein Wesen in Sichtbarkeit 
umzusetzen, keine geeignetere Form als das höchste Bild vergöttlichten Menschen- 
adels, das er kannte: den Apollo von Belvedere. Der belvederische Apollo hat 
seiner Gustav-Gestalt Haltung, Bewegung und Proportionen geliehen; und als Sergel 
dies tadelnd vorgehalten wurde, bemerkte er ironisch, er werde für das kritisiert, 
wofür man ihn loben müßte). Und hierin hatte er insofern recht, als er sich nicht 
in eine Nachahmung des antiken Vorbildes verloren, sondern ihm neues, eigenes 
künstlerisches Leben abgewonnen hat. Der schwedische Offizier, als den Sergel 
den König mit nur leichter Idealisierung der Tracht dargestellt hat, hat die ihm 
verabreichte Dosis Antike trefflich vertragen und verarbeitet (s. Abb.): leicht und 
frei, elegant und anmutig tritt Gustav an der Stelle, wo er nach dem finnischen 
Feldzuge zum ersten Male wieder den schwedischen Boden bestieg, vor sein Volk, 
den Kranz des Siegers und den Ölzweig des Friedens in den Händen tragend, be- 
zaubernd und seinen Zauber genießend, ein Festkönig — ein Theaterkönig, wenn 
man will, aber in Erscheinung und Charakter jedenfalls eine überzeugende Ver- 
körperung jenes schwedischen ancien régime, wo der Absolutismus sich volksnah 
und volkstümlich zeigte und zu zeigen liebte, und wo sich die Welt noch einmal 
mit schönem Scheine zu schmücken verstand. 

Das Denkmal, das in der Skizze bereits 1790, im großen Gipsmodelle 1793 fertig 
war, wurde erst im Jahre 1808 im Bronzegusse vollendet und aufgestellt. Seine 
Enthüllung war eine der letzten großen Freuden, die dem alten Künstler beschieden 
war. Eine trübe Zeit des Niederganges war über Schweden hereingebrochen, ` 
im Kunstleben herrschte Öde, die besten unter den Freunden waren dahin, und 
Sergel selbst wurde mehr und mehr von Krankheit gebeugt. Sein alter Erb- 
feind, die Gicht, setzte ihm hart zu, schließlich konnte er sich kaum noch ohne 
fremde Hilfe bewegen und periodenweise verdüsterte eine schwere Hypochondrie 
seinen Geist. Aber immer wieder riß ihn sein urkräftiges Temperament empor, 


(z) „Se! Häpna! Se och vet. Dir fins fullkomlighed“: Bileistiftstudie, Florens 1783, bei Kruse, 
Blatt П, 1. 
(2) Nyblom, 65. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 7- 9. 14 209 


immer wieder griff er nach dem vollen Becher des Lebens, und immer noch ver- 
breitete der unverwüstliche Greis, wo er erschien, Leben, Wärme und Heiterkeit. 
Noch einmal, im Jahre 1813, konnte er einen heftigen Anfall überstehen, allein er 
blieb nun doch in kümmerlicher Verfassung zurück, und im nächsten Jahre, am 
26. Februar, schied er dahin. Auf dem Kirchhofe der Adolf Friedrichskirche, seinen 
Werken nahe, ward er zur letzten Ruhe bestattet. 


A + 
Ф 


Versuchen wir hiernach, уоп Sergels ktinstlerischer Persönlichkeit ein zusammen- 
fassendes Bild zu gewinnen, so zeigt es sich, daß den Umkreis seiner kräftigen 
und bedeutenden Begabung vorzüglich das Lebensvoll-Sinnliche bildete. Seine Ge- 
stalten sind an Leib und Seele gesund, wohlgeschaffen, von Künstlichkeit frei, 
lebensfähig und lebensfroh; seine Formensprache ist klar, gerade, natürlich, allem 
Übertriebenen, Verschrobenen und Morbiden abgeneigt und fern. Merkwiirdig ist, 
daß die Melancholie, mit der er so oft schwer zu ringen gehabt hat, in sein Werk 
keinen Schatten geworfen hat; da herrscht Heiterkeit, Kraft und selbst Festlichkeit, 
und auch in den wenigen Fällen, wo er religiöse Motive zu behandeln hatte, hat 
er nicht Gelegenheit zum Bekenntnisse von Seelenängsten und Seelennöten ge- 
nommen. Er war wohl im Punkte der Religion ein Mann des Aufklärungszeitalters, 
überhaupt aber kein Grübler oder Mystiker, sondern ein Kind der Welt. Er war 
ein männlicher Charakter mit einer starken dramatischen Ader, hielt sich gleicher- 
maßen von Roheit wie von Süßlichkeit fern und bewahrte stets einen gepflegten, 
unaufdringlichen Geschmack. So war er, wie als Mensch, so auch als Künstler 
durchaus ein Sohn des 18. Jahrhunderts. Sein großes ktinstlerisches Erlebnis bildete 
die Begegnung mit der Antike, in der er eine höhere und vollkommnere Form des 
plastischen Gesetzes und Ideales erblickte, als der Rokokostil zu geben vermochte. 
Vom Zeitpunkte dieser Begegnung an bildet den Inhalt seines Schaffens die Aus- 
einandersetzung mit dem neuen Ideale, dem sein angeborenes Temperament und 
seine künstlerische Erziehung ernste Widerstände entgegensetzten. Jede Aufgabe 
wurde ihm so zu einem neuen Probleme, und sein Schaffen erhält dadurch eine 
innere Spannung, durch die es dem Thorwaldsens überlegen ist, das, nachdem er 
einmal seine Form gefunden hat, Jahrzehnte hindurch fast unproblematisch fortläuft, 
Seine plastischen Vorstellungen setzten sich nicht, wie die Thorwaldsens und 
anderer Vertreter des Hochklassizismus, gleichsam automatisch in antike Formen 
und Typen um, sondern konnten von ihm erst in bedachtsamer Arbeit und nicht 
ohne Mühe in Einklang mit dem antiken Ideale gesetzt werden, und sie haben 
dadurch einen frischeren und individuelleren Charakter bewahrt. Als einer der 
ersten europäischen Bildner hat er eine Anzahl der grundlegenden Formgedanken 
des Klassizismus erfaßt und verwirklicht, aber die Schwierigkeit, die diese Aufgabe 
ihm bereitete und späterhin seine Isolierung im Norden, fern vom lebendigen Um- 
triebe der allgemeinen Kunstentwicklung, haben es mit sich gebracht, daß sein 
Werk sich auf einen verhältnismäßig bescheidenen Umfang beschränkt und daß er 
nur in einer kleinen Anzahl von Schöpfungen zur vollen Flöhe seiner Kraft auf- 
zusteigen vermochte. Seine künstlerische Persönlichkeit ist reicher und breiter als 
seine plastischen Arbeiten sie ausweisen. Man gewinnt den vollen und freien 
Ausblick auf sie erst durch das Studium seiner Zeichnungen. 


210 


VIL 


Sergel war ein leidenschaftlicher Zeichner. Man schätzt die Zahl seiner Zeich- 
nungen auf etwa 2000; ihrer 700 etwa besitzt das Stockholmer Nationalmuseum!). 

Ein Teil davon hängt unmittelbar mit Sergels künstlerischem Werden und 
Schaffen zusammen. Es sind Studien nach Bildwerken der Antike, gelegentlich 
auch wohl nach solchen des Barocks, und nach den Gemälden der Großmeister 
der Hoch- und Spätrenaissance. Es sind weiter Entwürfe zu eigenen Kompositionen. 
Diese Entwürfe zeigen eine leicht fließende, schwungvolle, oft geistreiche Erfindungs- 
gabe. Es sind vorzügliche Blätter darunter; beispielsweise sei die der römischen 
Zeit entstammende Federzeichnung eines trauernden Achilleus mit der knieenden 
Briseis hervorgehoben (Kruse VI, 5), ein Blatt von großartigem Duktus, wo jeder 
Strich seine Ausdruckskraft und seine Funktion hat und mit bescheidenem Auf- 
wande an Mitteln eine reiche, lebensvoll rhythmisierte Formanschauung erzielt 
wird. 

Aber woran das Interesse sich doch vor allem heftet, das ist Sergels Selbstbio- 
graphie in Zeichnungen, zu der die Kunstgeschichte wohl kaum ein Seitenstück bietet. 
Hunderte von Improvisationen bilden schließlich zusammen eine ganze Lebens- 
chronik, durch deren Blätter, stattlich und beherrschend, Johann Tobias Sergel als 
Held dahinwandelt. Wir lernen ihn genau kennen: einen großen, wohlbeleibten 
Herrn von gemessener Haltung, mit kräftig ausgebildeter Nase und ernstem Blicke, 
zeitig schon auf den Gebrauch des Stockes oder der Krücken angewiesen. Wir 
begleiten ihn von Rom nach London und Stockholm, folgen ihm in seine Wohnung, 
ins Wirtshaus, zu den Landsitzen seiner Freunde, in den Badeort. Wir sehen ihn 
schreibend, schlafend, reisend, kneipend und tanzend, Ochsenzungen einpökelnd 
und gelähmt von der Gicht, unfähig, sich allein fortzubewegen. Sein ganzer Um- 
gang passiert in einer Reihe höchst lebendiger Gestalten vor uns Revue: Abild- 
gaards schlotterichte Figur, der unruhig-bewegliche Füßli, seine knochige, römische 
Haushilterin Lucia; König Gustav im Staatsaufzuge und bei vertraulichem Besuche; 
Diplomatie und Gesellschaft von Stockholm; Bellman, der Sänger, der gefräßige 
Maler Elias Martin, Ehrensvärd, der Seeheld mit dem Gelehrtengesichte, und dann 
die holde Weiblichkeit: Anna Rella, die Freundin seines Herzens, seine reizbare 
Haushälterin Fredrika Löf und die üppige „Nymphe Maja“, an der sein Altersfreund 
Per Tham Interesse nimmt, und noch so manche andere. Am ganzen Tages- und 
Jahresleben des Sergelschen Kreises nehmen wir teil: an Gelagen, Ausflügen, Be- 
suchen, Liebeleien, Hausstandsszenen, Unfällen, Abenteuern, Späßen, und wir werden 
selbst Zeugen des Schlaganfalls, von dem Sergel 1812 im Bade Porla getroffen 
wurde. 

Diese Zeichnungen waren nicht auf künstlerische Vollendung berechnet und nicht 
zur Kenntnisnahme der Welt bestimmt. Es sind Intima. Das Zeichnen war für 
Sergel eine Unterhaltung, die er daheim wie auf Reisen betrieb“); er beobachtete 


(x) Sergels Zeichnungen im Nationalmuseum hat im Auftrage von Foreningen för Grafisk Konst 
J. Kruse zu veröffentlichen begonnen; leider ist die schöne Ausgabe durch den Tod des Verfassers 
vorzeitig unterbrochen worden. Unter den Sergel- Biographien vardient die Looströms wegen ihres 
reichen und vortrefflich ausgewählten Abbildungsstoffes an Zeichnungen besondere Beachtung. Es 
gehört zu Georg Göthes Verdiensten, auf die Bedeutung Sergels als Zeichner zuerst hingewiesen zu 
haben; s. seine Sergel- Biographie 223 f. 

(2) „Je m’amuse & crocailier comme chez toi,“ schreibt er am 28. Mai 1800 an Abildgaard (Serg. 
Bref 44), und von seinem Besuche bei Ehrensvärd auf Dömestorp im Jahre 1796 berichtet er seinem 
Freunde, dem Landschaftsmaler Elias Martin: „Wir zeichneten Wette“ (Kruse, Einleitung su Teil II, S. 11). 


211 


immer, sich wie andere, und er zeichnete, was er sah, Mönche, Badegäste, Tänzer, 
Landschaften, oder er phantasierte sich auch was zusammen. Gelegentlich liebte 
er sogar seine Briefe, z. B. an Ehrensvärd und Tham, zu illustrieren, und es ver- 
steht sich, daß sich unter den Hunderten von Zeichnungen dieser Art viele be- 
finden, die nur Gelegenheitsscherze sind und die Freunde einen Augenblick amü- 
sieren sollten. Im ganzen aber tibt diese gezeichnete Biographie eine geradezu 
unwiderstebliche Anziehung aus. Man sieht eine hohe zeichnerische Kraft, die 
ohne alle Hemmungen, unbekümmert um Regeln oder Vorbilder, frei ihren Impulsen 
folgt; der federnde Strich verrät das Behagen des seiner selbst sicheren Impro- 
visators; restlos, mit überlegener Leichtigkeit, wird die Konzeption in Form um- 
gesetzt. Zuweilen drängen wenige, wuchtig hingesetzte Striche der Fläche ein 
konzentriertes Leben ab — wie z. B. in dem Bildnisse des Malers Vincent —: dann 
erkennt man in der plastischen Modellierung der Form die Hand des Bildhauers. 
Aber in zahlreichen anderen Zeichnungen entwickelt er eine überraschende male- 
rische Begabung, füllt er das Blatt mit dem lebendigen Spiele von Licht und 
Schatten, löst die Formen in zarten Übergängen auf, schildert die sonnige Luft 
oder das Weben des Mondscheins im Innenraume oder den großen Zug der Wolken 
über einer weiten Landschaft. Wieder in anderen Zeichnungen deutet der ans 
Ornamentale streifende Zug seiner Feder auf eine geheime Lust an der Arabeske. 
Aber welchen Verfahrens er sich auch bedienen mag, immer ist die Form fest 
gepackt, das Hauptsächliche kräftig herausgeholt, die Fläche glücklich gegliedert 
und gefüllt. Immer sind die Zeichnungen in allen Teilen mit Leben geladen, und 
manche davon funkeln geradezu von Geist. 

Den meisten seiner Zeichnungen ist ein Element der Karikatur beigemischt. 
Sergel hatte ein scharfes Auge für das Charakteristische, Individuelle; es gibt von 
ihm physiognomische Studien, die an ähnliche Versuche Lionardos erinnern. Gern 
hebt er das Charakteristische durch karikierende Unterstreichung hervor; er sieht 
das bunte Spiel des Lebens im Lichte der Satire, und er tut sich keinen Zwang 
an — er wird derb, vulgär, zynisch. Treffend hat Carl G. Laurin auf die Ver- 
wandtschaft seiner Zeichnungen mit den Arbeiten der englischen Karikaturisten 
und Sittenschilderer wie Rowlandson und Gillray hingewiesen'). Aber das Vor- 
züglichste erreicht er doch in solchen Blättern, wo Karikatur und Satire nur noch 
in feinster Verdünnung mitspielen, wie z. B. in der berühmten Zeichnung, in der 
er sich selbst Ochsenzungen einpökelnd dargestellt und in der er das urkräftige 
Behagen seiner römischen Existenz hinreißend zum Ausdrucke gebracht hat (Kruse, 
I, 2), oder in der Zeichnung des polnischen Grafen Sierakowski (Kruse, III, 3), in 
der das Individuelle wie das eigenttimlich Nationale mit prachtvollem Griffe fest- 
gehalten ist. Dann erreicht seine Charakteristik zuweilen eine überraschende Tiefe. 
Niemand hat das Zwiespältige im Wesen des Dichters Bellman mit so sicherer 
Intuition verstanden und aufgezeigt, wie Sergel, der hinter den Zügen des bakchan- 
tischen Sängers und Lebensgenießers das Gespannte, Müde, Hypochondrische er- 
kennen läßt (з. Abb.); wenn er ihn bei seinem Morgenschnaps und Frühstück „müd 
und mürrisch“ zeichnet, so streift er ans Tragische (Kruse, П, 5). In den Zeich- 
nungen, die den Grafen Ehrensvärd auf einem Spaziergange und in Begleitung 
eines Bauern auf einem Ritt über Land darstellen, erinnert er in der Ausdrucks- 
kraft des Umrisses und der dramatischen Abstimmung von Helligkeiten und Dunkel- 
heiten an Daumier, während in der düster bewegten Schilderung seines Schlag- 


(х) Nach Kruse, Einleit. zu Teil I, S. 2. Vgl, Gdthe, 134. 


212 


anfalls, wo der aus dem Dunkel ausgestreckte Arm eines Zuschauers wie ein Mene 
Tekel auf ihn hinweist, eine visionäre Stimmung erreicht ist, die an Goya anklingt. 
Und im „Albdruck“ (s. Abb.) vermag die visionäre Kraft seiner Phantasie das Un- 
wirkliche, Unfaßbare in leidenschaftlich aufgewühlten Linien und Flächen, in denen 
die tiefe Erregung des seelischen Erlebnisses zittert, zu schreckhafter Wirklichkeit 
zu bannen. 

Nicht immer hat Sergel seine Zeichenfeder ins Ätzwasser der Satire getaucht. 
Wenn er von seiner Anna Rella erzählt, entfaltet seine Zeichnung Zartheit, und 
dann vertauscht er gern die kecke Feder mit dem behutsameren Bleistift, mit dem 
er ihre Gestalt auf einem duftigen Blatte umreißt. Ein andermal gibt er ihren 
Kopf mit Watteauscher Anmut, oder er belauscht sie, ein Bild saftiger Gesundheit, 
beim Schlafe. Wenn er sie aber mit seinem Söhnchen Gustav zeichnet, dann 
spürt man, selbst wenn er das Familienidyll mit leichter Ironie behandelt, sein 
Wohlgefühl in der beschwingten Grazie seiner Strichführung. 

SchlieBlich ist noch der Landschaftszeichnungen Sergels zu gedenken, die eine 
bemerkenswerte Unbefangenheit des Naturgefiihls bezeugen. Wir wissen aus 
manchen seiner Äußerungen, daß er die Natur liebte und genoß, und das wird 
durch seine Landschaftszeichnungen bestätigt. Sie sind nicht nach einem der zu 
seiner Zeit beliebten Kompositionsschemata gebaut und gehen nicht darauf aus, die 
Natur zu idealisieren oder zu stilisieren. Es sind frische Abdrücke eines Natur 
erlebens, in denen der Charakter und die großen Formen der Landschaft breit und 
sicher festgehalten sind; in der „Aussicht von Dömestorp in Halland“ (Kruse, УШ,2) 
ist ihm durch die кеске Behandlung des Himmels auch eine glückliche atmosphä- 
rische Belebung des Naturbildes gelungen. Gar wohl stimmt es zu diesen Zeug- 
nissen seines Naturgefühls, daß er tiber die Landschaftsmalerei sehr vorurteilslos 
dachte: hier gelte es nur „schöne Natur“; sie gewissenhaft wiederzugeben, sei viel 
besser als Kompositionen herzustellen, die der Wirklichkeit immer unterlegen seien 
und das Auge des Naturbeobachters nie ansprichen’). 

Erst wenn man Sergel den Bildner und Sergel den Zeichner zusammenhält, ge- 
winnt man ein Rundbild seiner künstlerischen Persönlichkeit. In seiner Bildnerei 
liegen angeborenes Temperament und erworbenes Kunstideal oft in einem Streite, 
den er nicht immer reinlich zu schlichten vermag; er zeigt sich vorsichtig in der 
Arbeit, nimmt sich in strenge Zucht, stellt sich entschlossen auf eine Stilform ein. 
In den Zeichnungen hingegen ein strömendes, nach allen Seiten frei spielendes 
Temperament, Explosion eines Kriftetiberschusses, ein herzhafter Wirklichkeits- 
sinn, eine bewegliche, bis ins Helldunkel des Romantischen schweifende Phantasie. 
Erst in ihnen wird man des germanischen Grundelementes in Sergels Persönlich- 
keit habhaft, einer ungezügelten, das Leben mit allen Poren einsaugenden und es 
in barocken Reflexen widerspiegelnden Naturkraft, die sich in der Bildnerei durch 
die Festigkeit und Klarheit romanischen Formdenkens gebändigt zeigt. 


VUL 
Der Norden und der Klassizismus, 


Die Stellung der nordischen Völker zum Klassizismus ist sehr verschieden. 

Dasjenige Land, wo er die tiefsten Wurzeln geschlagen und die reichsten Früchte 
getragen hat, ist Dänemark. Hier kam der Klassizismus jenem Zuge des Volks- 
charakters entgegen, den die Dänen selbst als ihre „jevnhed“ bezeichnen: der 


(1) Göthe, 226, 
213 


Neigung zum Ebenmäßigen, Ausgeglichenen, Feinabgestimmten, nach keiner Seite 
das Maß und die Harmonie Uberschreitenden. Keines unter Europas Kulturvilkern 
steht dem Barock innerlich so fern, wie die Dänen; erst im Zeichen des Klassi- 
zismus wurde die dänische Kunst selbständig, gewann sie nationales Charakter- 
gepräge, und alsbald entfaltete sie so frische Triebkraft, daß sie über Dänemarks 
Grenzen hinaus zu wirken vermochte. So ist es wohl mehr als nur ein Zufall, 
daß der Düne Hans Wiedewelt einer der ersten Jünger der klassizistischen Lehre 
wurde; der Ruf seiner künstlerischen und Lehrtätigkeit war doch groß genug, um 
den Schweizer Trippel zur Pilgerfahrt nach Kopenhagen zu veranlassen; bald er- 
hielt der Klassizismus an der dortigen Akademie durch Abildgaards Rückkehr aus 
Rom eine wesentliche Verstärkung, und in dieser von der Verehrung der Antike 
erfüllten Kopenhagener Kunstatmosphäre war es, wo Carstens entscheidende Ein- 
drücke empfing. Durch Trippel und Carstens strahlten von der nordischen Haupt- 
stadt Einflüsse aus, die zu einem bedeutenden Einschlag in der Entwicklung des 
Klassizismus auf römischem Boden wurden; von Wiedewelt, Abildgaard und Car- 
stens aber führt die Linie dann weiter zu Thorwaldsen: Wiedewelt und Abildgaard 
waren seine Lehrer, Carstens’ Zeichnungen aber kopierte er und verehrte er hoch. 
Wenn Thorwaldsen zur Mittelgestalt des germanischen Klassizismus werden konnte, 
so muß man zur Würdigung seiner Wirkung die Geistigkeit berücksichtigen, die 
in seinem Schaffen lebendig ist. Der deutsche Humanismus, der Humanismus 
Goethischer Observanz, war in Dänemark mit offenen Armen aufgenommen worden 
und hat das nationale Leben des Landes auf Jahrzehnte hinaus infiltriert!); und 
während der französische Klassizismus die politische und aktivistische Note an- 
schlug, verkörperte sich in Thorwaldsens Kunst die germanische, rein ästhetisch- 
ethische Spielart, die einen neuen Olymp voller Anmut und Würde schuf, wo 
heidnische und christliche Gestalten sich in heiterer Idealität begegneten. 

Die Baukunst blieb nicht zurück. Hier war es der ausgezeichnete Kaspar Fried- 
rich Harsdorff, der den Klassizismus nach Dänemark tiberpflanzte. Die geschmack- 
volle Maßhaltigkeit seiner Formengebung, seine Vorsicht in der Wahrung der 
architektonischen Fläche, die zart rhythmisierte Feinheit seiner Verhältnisse sagten 
dem dänischen Kunst- und Kulturgefühle auf das Glücklichste zu; er konnte, als 
Kopenhagen nach einem Brande neu erstand, der baulichen Physiognomie der 
Stadt bestimmende Züge aufdrlicken, und hierin fand er einen Nachfolger in seinem 
Schüler С. F. Hansen, der die hellenisierende Sprache des nordischen Schinkels 
in die massivere Mundart des Empires übersetzte. So wurde der Klassizismus 
auch in der Baukunst zum nationalen Stile Dänemarks, und wiederum entsandte 
er seine Ströme südwärts: der Harsdorffschüler Lillie erbaute das feine Behnsche 
Haus in Lübeck, C. F. Hansen aber entfaltete in Altona und Hamburg eine reiche 
architektonische Wirksamkeit, und in einer späteren Generation trugen die Brüder 
Christian und Theophil Hansen die dänische Baukultur bis nach Athen und Wien. 

Allein auch die dänische Malerei, die doch durch Eckersberg einer vorurteils- 
losen, geschmackvoll-gesunden, wennschon etwas eng bürgerlichen Wirklichkeits- 
und Heimatskunst zugeführt wurde, hat im Herzen das klassizistische Ideal bewahrt. 
Eckersberg selbst war durch Davids Schule gegangen, hatte sich dann in Rom 
verehrend an Thorwaldsen angeschlossen und bemühte sich stets, wo er „höhere“ 
Vorwürfe behandelte, seinen Bildern und Gestalten klassizistischen Wurf und Hal- 
tung zu geben. Sein Schüler Constantin Hansen aber arbeitete eine klassizistische 


(a) Vgl. meinen Aufsatz „Zur dänischen Geistesgeschichte“, Deutsche Rundschau, Januar 1983. 
214 


Stilkunst heraus, deren hervorragendstes Denkmal seine Universitätsgemälde in 
Kopenhagen bilden. Und lange noch schwebt über der dänischen Bürgerkunst ein 
feiner humanistisch-klassizistischer Hauch; die ganze dänische Bürgerkultur trägt 
klassizistisches Stilgepräge. 

So ist Dänemark als ein Brennpunkt in der Geschichte des europäischen Klassi- 
zismus anzusehen. Seinen Gegenpol im Norden bildet Norwegen. 

Seit dem 14. Jahrhundert aus dem Kreise der aktiven Kulturvölker Europas aus- 
geschieden, haben die Norweger die Erlebnisse und Ergebnisse der europäischen 
Kultur seitdem wesentlich als fertige Einfuhr überkommen, und an keiner der 
großen Auseinandersetzungen mit der Antike, vom Humanismus und der Renais- 
sance an, haben sie sich aus eigenem Antriebe und Bedürfnisse, mit eigenem Ein- 
satze und eigenen Zielen beteiligt. War die nationale Kunstgesinnung und das 
Kunstschaffen bis zum Eindringen des Christentums hartnäckig anti-antik, durchaus 
nordisch-barbarisch gewesen, so standen die Norweger nun auch wieder beim Neu- 
erwachen ihrer nationalen Selbständigkeit und ihrer künstlerischen Schöpferkraft 
um und nach 1800 der Antike so fern, waren sie ihr innerlich so fremd wie kein 
zweites unter Europas Kulturvölkern!), und die Schößlinge des Klassizismus trafen 
daher hier auf steinigen Boden. Grosch aus Lübeck führte den Stil in Kristiania 
ein, wo er die alte Bank (Reichsarchiv), die Börse, das Reichshospital und mit 
Schinkels Unterstützung die Universität in klassizistischen Formen erbaute; am 
alten Polizeihause in Bergen waren wohl C. F. Hansensche Einflüsse wirksam, und 
‚auch sonst nahm die Baukunst im Lande hier und dort klassizistische Formen und 
Abzeichen an, allein eine Tradition haben diese Leistungen und Versuche nicht 
zu bilden vermocht. Der Klassizismus blieb in der Baukunst Episode, eine Bild- 
nerei gab es in Norwegen nicht, und was die Malerei angeht, so war zwar J. C. 
Dahls Lehrer Johann Georg Müller in Bergen an der Kopenhagener Akademie in 
dem Stile ausgebildet worden, aber Dahl hat gerade dies Stilelement schnell und 
gründlich ausgeschieden und die norwegische Malerei ganz anderen Bahnen zu- 
geführt. Auch die Empirehaltung der Bildnisse Jakob Munchs war nicht mehr als 
eine Zeitmode, wie sie auch das Kunsthandwerk mitmachte — für die innere Ent- 
wicklung der norwegischen Kunst aber kann man sagen, daß der Klassizismus ins 
Wasser geschrieben war. 

Was schließlich Schweden anlangt, so war es ja mit der Person und dem Werke 
Sergels frühzeitig und bedeutungsvoll in die klassizistische Bewegung im Norden 
eingetreten, und nach Gustavs Ш. italienischer Reise konnte sich, wie bemerkt, 
der klassizistische Stil auch die Baukunst erobern. Aber trotz königlicher Protek- 
tion und vielfacher Verwendung ist er in Schweden nie recht zu gedeihlicher Blüte 
gelangt. Er hat keine originellen Lösungen gefunden und keine selbständigen Züge 
entwickelt; den klassizistischen Bauten Schwedens pflegt etwas Formelhaftes an- 
zuhaften; das Institutionsgebäude im Botanischen Garten zu Upsala, dem die kräftige 
Plastik des Baukörpers eine eigene monumentale Haltung gibt, ist die Schöpfung 
des eingewanderten Franzosen L. J. Desprez. In der Malerei ist der Klassizismus 
ohne Gewicht geblieben: Masreliez’ Werke waren eine recht unvollkommene Unter- 
stützung seiner Lehre, und Wertmüller, dessen Klassizismus noch von Vien her- 
stammte, gab in seiner Heimat nur Gastspiele. So war und blieb Sergel in der 
Stockholmer Kunstatmosphire isoliert, und nun war es auch ihm nicht vergönnt, 


(z) Hierzu s. meinen Aufsatz „Edvard Munchs Aulabilder und ihre Stellung in der norwegischen Kunst“ 
im Kunstwanderer, Juli 1931. 


215 


eine lebenskräftige Schule zu bilden. E. G. Göthe war ein gefälliges, dem An- 
mutigen und Genrehaften zugeneigtes Talent; Sergels Lieblingsschüler A.N. Byström 
aber, von dem sein Meister das Höchste erwartete, wurde eine Enttäuschung, in- 
dem der Klassizismus in seinen Arbeiten zu einem frostigen, bei äußerer Prätension 
innerlich ärmlichen Akademismus erstarrte. Für das Schicksal des schwedischen 
Klassizismus ist es wohl entscheidend gewesen, daß er aus der nationalen Kultur 
nie hat recht Nahrung ziehen können; die große humanistische Kulturwelle, die in 
Dänemark auch die Kunst trieb, blieb hier aus — Schweden ist von der Aufklärung 
des 18. mit ziemlich schnellen Schritten zur Romantik des 19. Jahrhunderts über- 
gegangen, und so konnte die klassizistische Kunst nicht in den Kulturkörper ein- 
wachsen und in seinen Blutumlauf eingehen. Der schwedische Genius, der der 
. bürgerlich-humanistischen Kultur kühl und verlegen gegenüberstand, begann erst im 
Zeichen der Romantik seine Schwingen wieder freier zu regen. 

Und in diesem Lichte wird auch Sergels Schicksal und dessen Tragik verständ- 
licher. Er war ein ungewöhnliches Talent und eine reiche künstlerische Persön- 
lichkeit. Aber die Geschichte hat ihn auf einen verlorenen Posten gestellt. Sie hat 
ihn aus dem lebendigen Strome der europäischen Kunstbewegung herausgerissen 
und ihn in ein Land versetzt, wo seine Kunst im Grunde doch wurzellos war. 
Auch das bedeutendste Talent kann nicht zur vollen Entfaltung gelangen, wenn 
ihm nicht der Volks- und Zeitgeist fördernd entgegenkommen und es tragen. So 
hat Sergel kein europäischer und auch wieder nicht ein in seiner engeren Heimat 
eigentlich volkstiimlicher Künstler werden können. Sein Gegenbild ist Thorwaldsen, 
dem europäischer Ruhm und Einfluß und die allgemeine Verehrung seiner Nation 
gleicherweise mühelos als Geschenk der Götter in den Schoß fielen. Auf seine 
Persönlichkeit stößt der, der die neuere Kunstgeschichte durchwandert, immer 
wieder und selbst öfter als erwtinscht ist; die Spuren von Sergels Wirksamkeit 
. aber sind verwischt. Will man indessen von der Entstehung des Klassizismus ein 
rechtes Bild gewinnen, so ist es erforderlich, sich zu vergegenwärtigen, wie die 
neue Kunstgesinnung neben- und nacheinander in Persönlichkeiten verschiedenster 
nationaler und künstlerischer Herkunft sich bildete und mit welchen Schwierigkeiten 
sie in ihren Anfängen zu kämpfen hatte. Man trifft dann in der Geschichte der 
Bildnerei auf eine Übergangsgeneration, die kein beherrschendes Talent hervor- 
gebracht, aber im ganzen doch erst die Bedingungen für den endgültigen Stil- 
umschwung geschaffen hat. In diesem Zusammenhange nimmt auch Sergel und 
sein Werk eine Stellung in der europäischen Kunstgeschichte ein. 


Zu dem in Heft 4—6 veröffentlichten ersten Teil seines Beitrages über Sergel gibt Dr. A. Dresdner 
folgende Berichtigung bzw. Ergänzung: Im ersten Teile dieser Arbeit ist leider eine größere Anzahl 
von Druckfehlern stehen geblieben, durch die u. a. ein Teil der Eigennamen entstellt ist. So heißt 
der mehrfach erwähnte schwedische Maler Masreliez, und aufS.98, Anm. ı soll der grausam miß- 
handelte Name des dänischen Freundes Sergels Abildgaard lauten. 8.97, 2. 4 ist zu lesen: „wußte 
etwa ein kunstsinniger Besucher des Nordens davon zu berichten“. 8. 108, 2.4: „das 
geistige das Gefällige“. 

Nachgetragen sei bei dieser Gelegenheit, daß Trippel während seines ersten römischen Aufenthaltes 
(1776—78) Sergels Bekanntschaft gemacht hat (Neujahrsbl. des Kunstvereins Schaffhausen 1893, S. 18). 
Den Litteraturangaben ist Axel L. Romdahls Büchlein über Sergel (Band 3—4 der „Nordischen 
Kunstbücher“; Wien, о. J.) hinzuzufügen. 


DIE CHRISTLICHE KUNST IM KAUKASUS 


UND IHR VERHÄLTNIS ZUR ALLGEMEINEN KUNST- 
GESCHICHTE (EINE KRITISCHEWÜRDIGUNG VON JOSEF 


STRZYGOWSKIS „DIE BAUKUNST DER ARMENIER UND EUROPA“) 


Von GEORG TSCHUBINASCHW ILI, 
Professor der Kunstgeschichte an der Universität Tiflis i) 


oo......“oeu.0.00000000000000000060000000000060000900080000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000 900 90 0 0 00 


Da Baukunst Georgiens und Armeniens blieb bis zur letzten Zeit ein völlig ungehobenes Gebiet, 
das auch keine bestimmte Stelle in der allgemeinen Kunstgeschichte zu behaupten wußte. Sie 
wurde im allgemeinen als ein Teilgebiet der byzantinischen Kunst betrachtet, obwohl ein augensicht- 
licher Unterschied beider nicht zu verschweigen war. Diese Sachlage hat zunächst ganz allgemeine, 
der gesamten Kunstgeschichte und ihrer wissenschaftlichen Entwicklung eigene Ursachen. Alsdann 
müssen auch ganz eigenartige, allein diesem Kunstzweig eigene hervorgehoben werden. Die ein- 
zelnen Denkmäler der christlich -kaukasischen Baukunst selbst blieben unbekannt, da sie im besten 
Falle nur durch ganz allgemein gehaltene Maß- und photographische Aufnahmen zugänglich waren. 
Einen den gegenwärtigen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Untersuchung einzeiner 
Baudenkmäler vermissen wir bis zur allerletzten Zeit noch. Erst während des Weltkrieges or- 
schienen einige wenige Einzelveröffentlichungen über die armenische Kunst, herausgegeben von 
dem Altertumsmuseum von Ani in St, Petersburg, wie dessen Monuments de l’architecture 
arménienne (Heft I), Monuments de l’épigraphie arménienne (Hefte I, II), Les antiquités 
d’Ani (Hefte I, П, Ш) und andere, Was aber eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Einzel- 
tatsachen unter allgemeinen Gesichtspunkten enbelangt, so verfügten wir bis vor kurzem nur über 
den kurzen und — auch nach dem Urteil des Verfassers selbet — veralteten Aufsatz von Kondakoff 
über die alte Baukunst Georgiens (russisch, 1876) und einen noch älteren, ganz kurzen Aufsatz 
von Carl Schnaase in dessen Geschichte der bildenden Künste (Bd. Ш, 1855, 1869). 
am Schluß des Jahres 1918 erschien endlich in Wien die hervorragende zweibändige Untersuchung 
des bekannten Fachmannes auf dem Gebiete der Kunstgeschichte überhaupt und insbesondere der des 
christlichen Orients, Professor Josef Strzygowskis. Das Werk ist der armenischen Baukunst bis 
etwa um 1100 gewidmet, Es ist — offengestanden — die erste eingehende, systematisch angelegte 
Untersuchung über die Anfänge der Entwicklung christlicher Baukunst im Kaukasus im Rahmen 
einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte der christlichen Капа). 

Strzygowskis Untersuchung hat eine lange Vorgeschichte, nicht so sehr im eigentlichen Sinne 
des Wortes wie im übertragenen, als Resultat der Zusammenfassung allgemeiner Gesichtspunkte des 
Verfassers über die Entwicklungsprobleme der christlichen Kunst überhaupt. Seine erste Forschungs- 
reise in den Kaukasus vom Jahre 1889 kuminierte in der Überzeugung, daß „die armenische Kunst 


(1) Dieser Aufsatz war für den II. Band des Bulletin de l'Université de Tiflis bestimmt. Da 
aber dessen Drucklegung seit Abfassung des Aufsatzes immer noch nicht in Angriff genommen 
werden konnte, die hier gestreiften Fragen aber von ausschlaggebender Bedeutung sind, sehe ich mich 
genötigt, den Aufsatz nicht länger zurückzuhalten und ihn somit anderorts zu veröffentlichen. [Daß 
die Korrektur des Aufsatzes von Prof. F. Sarre gelesen worden ist und dem Verfasser nicht vorgelegt 
werden konnte, sei auf besonderen Wunsch des letzteren bemerkt.] 

(2) Strzygowski zitiert außerdem noch häufig zwei andere, ebenfalls vor kurzem herausgegebene 
Werke, die das kaukasische Material benutzen. Es ist die Dissertation von Th. Kluge, Versuch 
einer systematischen Darstellung der altgeorgischen Kirchenbauten und Millet, 
L’&cole grecque dans l’architecture byzantine. Soweit ich aus Strzygowski schließen 
kann, benutzen beide Verfasser nur allgemein zugängliches Material von älteren Publikationen 
und photographische Aufnahmen Jermakoffs (Tiflis). Mit andern Worten: beide Werke sind 
‚gebunden in ihren Schlußfolgerungen durch eine zufällige Stoffauswahl und ebenso eine zufällige 
Bearbeitung desselben. Daher konnten sie kaum mehr als bloß Parallelen zu Erscheinungen anderer 
Gebiete beibringen, da ihnen eine Kenntnis des inneren Entwicklungsganges der Kunst im Kaukasua 
abgeht. Im Gegensatz dazu arbeitete Strzygowski zusammen mit einem das Material eingehend 
kennenden Architekten, der auch eine Auswahl der Denkmäler nach der chronologischen Seite hin 
bis 1100 traf. Somit verfügt Strzygowski über ein bestimmt gewähltes Material, das dazu noch 
sorgfältig und möglichst von neuen Gesichtspunkten der Chronologie aus betrachtet im einzelnen 
durchgearbeitet wurde. | 


217 


sich nur als Ableger der byzantinischen verstehen lasse“ (8, 745). Aber bereits nach 10—15 Jahren 
machte diese Erkenntnis einer diametral entgegengesetsten Platz: er versucht, gewisse Erscheinungen 
der armenischen Baukunst als eine total eigenartige, urwüchsige Tat zu verstehen (vgl. sein „Der 
Dom zu Aachen, Kleinasien"). Immerhin waren es bloß Gelegenheitsäußerungen; eine ein- 
gehende Erforschung der armenischen Baukunst aber beginnt er erst 1011; 1913 hält er dann Seminar- 
übungen über die armenische Baukunst auf Grund von Materialien ab, die dem kunsthistorischen 
Institute der Wiener Universitit vom Architekten Thoros Thoramanian bereitwilligst überlassen 
worden waren (8. VI). Diese Übungen überzeugten Strzygowski endgültig von der Notwendigkeit, 
eine spezielle Forschungsreise vorsunehmen. Er unternimmt dieselbe im Herbst d.J. auf einen Monat, 
wobei derselbe Thoramanian die Wahl der zu besichtigenden Denkmäler bestimmt. Das während 
der Reise gesammelte Material sowie die Zeichnungen Thoramanians und die verschiedentlich zu- 
sammengebrachten photographischen Aufnahmen bilden den in der oben genannten, 1918 erschienenen 
Untersuchung bearbeiteten Stoff. 
I 


Das Werk „Die Baukunst der Armenier und Europa“ unterscheidet sich ganz wesentlich von früheren 
Arbeiten Strsygowskis. Hier ist wohl zum erstenmal in seinen Architekturuntersuchungen eine 
systematisch gegliederte und einheitlich durchgeführte Monographie dem Leser vorgelegt, und seine 
Ausführungen laufen ohne plötzliche Sprünge fort, ohne den Leser im Stoff hin- und herzuwerfen. 
Die Darstellung ist hier einheitlich gegliedert, planmäßig eingeteilt und ohne Weitschweifigkeiten ge- 
staltet; der gesamte Stoff wird den seit mehr als ro Jahren von ihm angewendeten allgemeinen 
Gesichtspunkten, eigentümlichen kunstwissenschaftlichen Methoden, gemäß bearbeitet. Zwar sind 
auch in diesem Werke noch viele Unebenbeiten, auch hier gelingt es nur am Schluß einer 20. 
sammenstellung einzelner Stellen des Werkes, oder vielleicht ganz zufällig, die eigentlich vom Ver- 
fasser gesuchte Behauptung klarzulegen und herauszuschälen; aber das ist mit seiner allgemeinen 
Schreibweise nun einmal wurselecht verbunden. Sein Schema, demgemäß der bei weitem größere 
Teil der Arbeit gestaltet ist, nämlich die kunstwissenschaftliche Untersuchung über „das Wesen“ 
(Buch II), ist — wie man sich leicht gerade nach dieser seiner Darstellung überzeugen kann — sehr 
schwerfällig, aber zweifelsohne hat sie in Schulzwecken einer allseitigen Behandlung kunstwissen- 
schaftlicher Fragen volle Berechtigung. Vielleicht ist es gerade dem Wunsche, dies Schema streng 
in einer hervorragenden Untersuchung durchgeführt zu sehen, zu danken, daß sie eine für Strsy- 
gowski so außerordentlich klargegliederte und systematich gehaltene Darstellung aufweist‘). 

Der Stoff der ganzen Arbeit ist in vier Büchern behandelt, Dieser eigentlichen Darstellung ist noch 
eine umfangreiche Einleitung vorangeschickt, die über den Aufbau der ganzen Arbeit belehrt und 
in einer besonderen Besprechung der Chronologie der ältesten Denkmäler Armeniens eine allgemein- 
historische Grundlage schafft. Hier, in den Datierungsfragen einzelner Denkmäler nach ihren In- 
schriften, Ist vieles bei weitem nicht in Ordnung. Selbstverstindlich muß man diese Mängel eher 
Strzygowskis Mitarbeitern als ihm selber zuschreiben. Die Datierung von Baudenkmälern auf 
Grund ihrer Inschriften ist eine der besten und sichersten Methoden, aber nur, wenn sie mit allen Kau- 
telen gehandhabt wird. Die armenische Epigraphik ist heutzutage durch die Arbeiten Prof. N. Marrs 
und Josef Orbelis in einer ganz besonders glücklichen Lage — wir verfügen tatsächlich über aus- 
gezeichnete, mustergültig edierte und bis ins einzelne allseitig untersuchte Texte. Strzygowski 
nennt zwar diese grundlegenden, gerade die Kirchen der ältesten Zeit behandelnden Arbeiten; aber er 
macht sich leider deren Feststellungen lange nicht zu eigen, obwohl die ihm von Lissitzian über- 
gebene Darstellung im großen und ganzen nur eine Wiedergabe von Orbelis Arbeiten ist. 

Was die erste lange Inschrift der Kirche von Bagaran vom J. 631 anbetrifft, so „spricht“ — nach 
Orbelis Worten — „eine Reihe gewichtiger Überlegungen für eine weitaus spätere Entstehung der 
Inschrift in ihrer jetzigen Ansicht, als für das 7. Jahrhundert“ ). Diese Feststellung wird gar nicht er- 
wähnt. Orbeli hebt dann eine zweite Inschrift hervor, die allem Anschein nach original ist und in 
der Kirche selbst auf dessen süd-östlichem Pfeiler noch vor Abschluß des Baues angebracht wurde ). 


(1) Strzygowaki selbst betont, daß dieser Plan „eine Lebensarbeit für sich bedeutet“, und gibt der 
Hoffnung Ausdruck, daß Fachmänner denselben würdigen werden (8. 60). 

(2) 8. seinen Aufsatz in „Der christliche Orient“, eine von der Akademie der Wissenschaften in 
St. Petersburg (russisch) herausgegebene Serie, Bd. II, 8. 130. | 

(3) Daselbst, Bd. Ш, 76—77. 


was übrigens auch nicht erwähnt wird. Immerfort wiederholt sich im Buche die Angabe, daß die 
Palastkirche von Ani 632 erbaut worden sei Diese Datierung auf Grund einer Inschrift wurde mehrmals 
bezweifelt, bis es Orbeli endgültig zu beweisen gelang, daß die in Frage stehende Inschrift nicht zu 
Ende geschrieben ist, kein Datum aufweist und einen späten, aus dem 10.— 11. Jahrhundert stammen- 
den Text darstellt!). Auch die große Inschrift von Tekor könnte, nach Marrs Meinung, eine un- 
beendigte Inschrift des Wiederherstellers der Kirche nach 1014 sein); Marr hat gerade gezeigt, daß 
diese Inschrift von der letzten Zeile nach oben zu lesen ist, was auch Strzygowski bemerkte (S. 39). 
Einer besonderen Beachtung aber ist die Inschrift der Kirche von Talisch würdig. Strzygowski 
ist der Meinung, sie sei eine originale Inschrift aus dem 7. Jahrhundert (S. 38 u. a.), die das Datum 
668 am 23. März tragen solle (8. 49). Dagegen ist Orbeli?) ganz kategorisch der Ansicht, daß sie 
eine Kopie des verschollenen Originals sei (II, 142) und mehr als das: er beweist überzeugend, 
daß man „sie gens bestimmt ins 11. Jahrhundert verweisen kann“ (111, 91). Nach einer solchen Fest- 
stellung bekommt die Aufnahme (Abb. 40, Б. 46) ein neues Interesse, wo von Strzygowski beson- 
ders die „Einfügung der gerahmten Platte in die umgebenden Verblendungsplatten hervorgehoben 
wird“ (S. 47); diese Aufnshme spricht gans deutlich von einer Veränderung der Kirche. Zu dieser 
Frage werden wir noch unten (§ VI) zurückkommen, da sie von einer außerordentlichen Bedeutung iat. 

Immerhin ist es von höchster Bedeutung, daß sich Strzygowski die allgemein-historischen Mit- 
teilungen und insbesondere die der Inschriften zu Nutzen macht und sich so seine kunstwissen- 
schaftlichen Feststellungen zu begründen und zu bekriftigen bemüht. 

Nach der Einleitung gibt Strzygowski im ersten Buche die Beschreibung der Denkmäler, welche 
typologisch geordnet ist. Er behandelt drei, zugleich zeitlich aufeinanderfolgende Gruppen — strahlen- 
förmige Kuppelbauten, längsgerichtete Tonnenbauten, längsgerichtete Kuppelbauten. Das zweite Buch, 
welches die Hälfte der ganzen Arbeit umfaßt, behandelt das kunstwissenschaftliche „Wesen“ der 
Denkmäler, das in folgenden Abschnitten besprochen wird: Baustoff und -technik; dis Wechsel- 
besiehungen der Formen und der Bestimmung der Bauten; die von auswärts übernommenen oder 
überlieferten künstlerischen Elemente („die Gestalt“); endlich die Ausarbeitung des ursprünglich Na- 
tionalen, Bodenechten in der armenischen Baukunst („die Form“). Im dritten Buche ist der Ver- 
fasser bemüht, einen Abriß der armenischen Geschichte auf Grund von kunstgeschichtlichen Tat- 
sachen, die mit allgemein historischen zusammengestellt werden, zu geben. Endlich faßt er im 
vierten Buche die Bedeutung seiner Forschungsergebnisse für die Verbreitung der in Armenien ge- 
formten Kunstmotive zusammen und beweist dadurch den Zusammenhang zwischen der Baukunst der 
Armenier und Europas. 

x40 Seiten, die der Beschreibung der Denkmäler gewidmet sind, vermitteln bloß eine allgemeine 
Vorstellung; „ein liebevolles Eingehen auf das Einzelne“ (877) vermissen wir auch hier trotz der 
Worte des Verfassers. Man kann natürlich der Arbeit auch in dieser Hinsicht einen bedeutenden 
Unterschied zu seinen anderen Werken nicht absprechen, aber eine vollständige Beschreibung ein- 
zeiner Denkmäler gewährt auch diese Publikation nicht. Dies ist aber auch schwer zu erwarten, 
in Rücksicht auf die eilige Arbeitsweise während der Reise, wo es nicht nur zu beschreiben, sondern 
auch noch zu photograpbieren und zu messen gibt. Daher werden fast sämtliche Denkmäler als ein- 
malig entstanden und keinen späteren Änderungen, Restaurationen u. dergl. unterzogen, aufgefaßt. 
Man ist aber imstande, solche auf Grund der von Strsygowski selbst gelieferten Abbildungen leicht 
festzustellen. Und wenn wir dazu noch die Feststellungen der jahrelangen Forschungen auf dem 
Trümmerfelde von Ani und deren Umgegend hinzunehmen, so wird dies zur vollen Gewißheit; denn 
es ist dort klar und endgültig festgestellt worden, daß sich in Armenien stets eine unausrottbare Sucht 
und Gier nach einer den jeweiligen Forderungen der Mode sich anpassenden Abänderungen der Ge- 
bäude betätigte. 

Aber auch abgesehen von dieser Schwierigkeit der Erforschung selbst sind im beschreibenden Teile 
lange nicht alle Mitteilungen über dieses oder jenes Denkmal vereinigt; nicht selten werden in 
folgenden Teilen die Beschreibungen vervollständigt und sogar ganz neue Mitteilungen gemacht. Seine 
Beschreibungen nebmen sich vor, zunächst und vor allem eine Charakteristik des Denkmals als Gattungs- 
vertreter zu liefern, nicht so sehr aber eine Beschreibung des einzelnen Denkmals. Strzygowski 
(з Daselbet, Bd. Ш, 8: fl. 

2) Daselbst, Bd. Ш, 56—71. 
(3) Daselbst, Bd. II, 138— 141 und Bd. Ш, 80—91. 


bemerkt auch mehrmals, daß es Thoramanians Sache sein solle, „jene große Veröffentlichung in 
Angriff zu nehmen, die jedes einzelne Denkmal mit allen Hilfsmitteln und der nötigen Muße vorzu- 
führen“ hat (60,30—ı1, 26); er selber setze sich nur das zum Ziel, „über Zeitstellung und Grundformen 
klaren Aufschluß zu geben“ sowie „den Ursprungsfragen“ nachzugehen (26), dabei sei „die Herbei- 
schaffung und Veröffentlichung neuer Denkmäler“ lediglich „Nebensache“ (63) *). 

Der Gang der Darstellung der übrigen Bücher des Werkes wird zum eigentlichen Inhalt unserer 
weiteren Besprechung, wobei ich nur die allgemeinen Leitgrundsätze, die wie ein roter Faden die 
ganze Arbeit durchziehen, besprechen kann. Wie bereits gesagt, schreitet Strzygowski hier in der 
Darstellung nur langsam Schritt für Schritt vorwärts, obgleich von Anfang an (bereits im ersten be- 
schreibenden Buche) seine Darstellung so gehalten ist, als ob diese Grundsätze ein längst bewiesener 
Gemeinbesitz wären. Dabei ist der Inhalt überaus reich an verschiedenen Einzelbetrachtungen, Be- 
sprechungen von Grensfragen, endlich an allerlei Beobachtungen und Annahmen über einzelne Denk- 
mäler u. dgl. mehr. 

Es ist beseichnend, daß Strzygowski diese seine Untersuchung als eine seine ganze Forscher- 
arbeit abschließende bezeichnet. In der Tat stellt er denn im vierten Buche eine allgemeine Über- 
sicht der Abhängigkeitsäußerungen Westeuropas vom Oriente in der Kunst her. „Wer meinen Lebens- 
weg überblickt, dürfte erkennen, daß ich von Rom ausgehend nach den Wurzeln der Entwicklung 
der christlichen Kunst gesucht und überall zunächst Durchgangsgebiete gefunden habe. In Armenien 
zum erstenmal fühlte ich festen Boden unter den Füßen ... Es scheint, daß damit meine Tätigkeit 
im Orient, die mich suchend seit 1889 festgebalten hat, im wesentlichen zu Ende sein wird“ (8.877, 
cf. 8. 59). Es ist also begreiflich, daß er auch der ganzen Darstellungsart mehr Aufmerksamkeit ge- 
widmet hat und eine allgemeine Abgeschlossenheit sowohl der Darstellung überhaupt als auch der 
übersichtlichen Zusammenfassung allgemeiner Erkenntnisse angestrebt hat, 


u 


Als Ganzes setzt Strzygowskis Untersuchung eine bestimmte Theorie oder gar Hypothese von 
der Entwicklung armenischer Baukunst voraus, auf der und im Hinblick auf die sich die ganze Dar- 
stellung aufbaut. Und diese Hypothese schimmert bereits im ersten beschreibenden Buche durch 
— sein Typenkatalog ruht auf einer dem Leser noch nicht ausdrücklich genannten Hypothese, die er 
aber merklich fühlt. Somit ist man von vornherein gezwungen, immer eine Scheidung vornehmen 
zu müssen zwischen dem, was rein Tatsächliches vorliegt, und was mit all seinen Folgerungen als 
erster Strzygowski ausgesprochen hat, und zwischen dem rein bypothetischen Aufbau, der auf 
Grund des rein Tatsächlichen und den Vergleichen mit der frühchristlichen Kunstentwicklung außer- 
balb Armeniens postuliert oder konstruiert wird. Dieser Aufbau scheint mir völlig entbehrlich für die 
Beweisführung der für den Verfasser wichtigsten grundiegenden Behauptungen, die auch abgesehen 
davon m. E. gegenwärtig als unumgänglich annehmbar und feststehend angesehen werden müssen ). 

Diese grundlegenden Behauptungen, denen Strzygowski bereits seit 35 Jahren nachgeht, laufen 
dahin aus, daß die christliche Kunst orientalischen, asiatisch-orientalischen Ursprunges sei. Langsam 
seinen wissenschaftlichen Forschungsgang von Rom und der hellenistischen Kunst aus beginnend, 
gelangt er nach Byzanz, von Byzanz nach Kleinasien, Syrien, Mesopotamien, endlich nach Armenien und 
Iran. Erst in den letzten Gebieten glaubt Strzygowski die Grundlage der gestaltenden Elemente 
der christlichen Kunst gefunden zu haben. Er zeigte, daß die hellenistische holsgedeckte Basilika 
keine progressive Erscheinung bedeute, sondern ein Überbleibsel. Daß die neuen schöpferischen 
Momente mit derselben nichts Gemeinsames haben, daß sie vollkommen andere Grundlagen voraus- 
setzen, die eben einzig und allein im Oriente zu finden sind (713). Seine Werke machen es voll- 
kommen offenkundig, daß im Konstruktiven das Tonnengewölbe und die Kuppel diese neuen Momente, 
von denen das erste in Mesopotamien und das zweite im Kaukasus allgemein verbreitet ist, be- 


(2) Jedenfalls finden wir auch in diesem Werke einige neue Abbildungen, die teilweise nirgends im 
uch Verwendung gefunden haben, so z. B. die Kuppelkirche in Aschtarak nach der Aufnahme von 
J. I. Smirnow (Abb. 10, 8.11) oder Oghuslu (Abb. 253, S. 216), Tailar (Abb. 245, 8. 209) u. a. 
(2) Meines Erachtens bemerkt Strzygowski vollkommen mit Recht (480—481), daß seine Gegner 
„doch endlich einmal ihren Widerstand, der sie in einer verlorenen Sache zu immer neuen Aus- 
flüchten führt, aufgeben und die wissenschaftliche Forschung nicht länger beunruhigen und in falscher 
Richtung aufhalten“ sollten. 


220 


deuten. Auch die weitere These, daß nämlich die ganze christliche Welt erst allmählich und langsam, 
aber ohne Unterbreitung von diesen beiden Gundelementen der christlichen, d. h. neuen Kunst er- 
obert wurde, steht außer Zweifel, obwohl in beiden Fragen noch keineswegs endgültige Klarheit 
und Bestimmtheit im einzelnen herrschen. Wie immer überläßt Strzygowski auch in diesem 
Werke Sonderformulierungen das Hauptgewicht, wodurch die Beweiskraft seiner Auseinanderlegungen 
stark zu leiden hat. 

Im Armenienwerke rückt Strzygowski ebenfalls eine Sonderbehauptung in den Vordergrund, die 
jene allgemeine These bestätigen soll. Er führt sie ganz schroff durch alle Teile seines Werkes 
hindurch, wie auch eine Anzahl anderer allgemeiner Ansichten über die Kunst im Kaukasus, insbeson- 
dere Armeniens. Ich kann nicht umhin, diese Behauptungen einfach als Hypothesen und sogar als 
Postulate zu bezeichnen. Mit der Besprechung des Hauptpostulates müssen wir uns nun zunächst im 
einzelnen näher befassen, 

Strzygowski nimmt eine Blüteperiode des armenischen Kuppelbaues im 4. bis 6. Jahrhundert!) 
und sogar noch früher, in heidnischer Zeit, im 3. Jahrhundert beginnend, an*). Diese letzte Modifizierung 
wird nur beildufig im Hinwels auf eine mögliche Abhängigkeit der christlich-kirchlichen Baukunst 
von dem heidnischen Palastbau erwähnt (8. 546, 635, аба), Es ist nur eine Hypothese, denn 
Kuppelbauten Armeniens, die einer früheren Zeit ale dem 7. Jahrhundert angehören, konnte er nicht 
ausfindig machen). Ältere Bauten sind in Armenien nur in Basilikaform mit scharf ausgeprägten 
Zügen fremden Einflusses (Syrien, Mesopotamien) bekannt. Im 7. Jahrhundert findet er dann plötz- 
lich einen ungemein großen Formenschatz von Kuppelbauten, die meistenteils dazu auch noch keine 
Wiederholungen aufzuweisen haben. Es drängt sich von selbst die Frage auf: „Wie ist das zu be- 
greifen?“ (682). Die Antwort lautet für ihn wie selbstverständlich: diese Erscheinung ist einzig und 
allein als das Ergebnis einer vorhergehenden Entwicklung zu begreifen, wo auf eine Bauform eine 
andere folgte und dann ihrerseits eine folgende bedingte. Im 7. Jahrhundert aber seien alle diese 
Formen gleichzeitig vertreten. 

Tatsächlich erlaubt das armenische Material kaum, Beobachtungen über Entwicklungs- oder Ab- 
hängigkeitssusammenhänge einzelner Bauformen anzustellen, zumal ja Strzygowaki alle (so—ı2) 
verschiedenen Typen von Kuppelkirchen, die ег für Armenien festgestellt hat, ale dem 7. Jahrhundert 
angehörige vorführt. Hätte er ebenso eingehende Studien über die georgische Architektur angestellt 
wie er es über die armenische getan hat, so könnte er über ein genügendes Material zum Aufdecken 
von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Bautypen verfügen. Während sämtliche Beispiele 
ältester armenischer Kuppelkirchen dem 7. Jahrhundert angehören, gelang es, in den in letzter Zeit 
angestellten Untersuchungen über die georgische Baukunst, namentlich über die Kirchen des hl. Kreuzes 
von Mzchetha und über die Domkirche von Nino-tzminda, als deren Bauzeit die zweite Hälfte des 
6. Jahrhunderts festzustellen‘). Fernerhin erhalten wir auch noch volle Möglichkeit, die Richtung der 
Entwicklung selbst zu bestimmen und deren Stufen durch Beispiele zu belegen. Diese Stufenfolge 
umfaßt aber — was die zunächst in Frage kommende älteste Periode anbetrifft — lange nicht alle 
ıo—ı2.Typen. Im 7. Jahrhundert, wie ich unten beweisen zu können hoffe, haben wir es nur mit 
einem Teil dieser Anzahl zu tun; diese Typen sind innerlich verbunden und ermöglichen die Fest- 
stellung einer Entwicklung bereits in dieser ältesten Periode. Daraufhin folgte dann viel später, etwa 
im 9.—10. Jahrhundert, die Entwicklung der Kuppelhalle u. dgl. (vgl. unten). 

Wir haben demnach ein klares Bild der künstlerischen Entwicklung von Bauformen einer eng zu- 
sammenhängenden Gruppe im 6.—7. Jahrhundert vor uns, auf die Jahrhunderte später eine weitere 
Entwicklung einer anderen, wiederum eng zusammenhängenden Gruppe von Bauformen folgt. Wir 
haben mit anderen Worten die Möglichkeit, die Entwicklung in der Zeitabfolge annähernd in allen 
ihren Phasen zu untersuchen. Nach alledem muß man Strzygowskis Hypothese, sein Postulat von 


z. B. 8S. 489, 576, 746. 

Jene vereinzeiten Versuche, Bauten ins 6. Jahrhundert zu datieren, die Strzygowski ein paarma 
unternimmt, können einer strengen Kritik nicht Widerstand leisten (vgl. unten). 
(4) Diese Untessuchungen werden in meinen „Untersuchungen zur Geschichte der georgischen Bau- 
kunst“ (deutsch, in Heft II des ersten Bandes und im zweiten Bande) erscheinen. — Zur Datierung 
der großen Kirche des hi, Kreuzes von Mzchetha s. jetst schon daselbst, Bd. I, Heft 1, Tiflis 1921, 


Kap. Ш. 


ы Vgl. z. В. 88. 58, 329, 437—438, 470, 490, 504—505, 512, 538, 569, 576, 725, 746, 747, 757. 
2 
3 


221 


der früheren Biüteperiode des armenischen Kuppelbaues und von der angeblichen Wiederholung der 
berühmten Kathedralen des 4.—5. Jahrhunderts in den Kirchen des 6.—7. Jahrhunderts (8. 470), fallen 
lassen: wir stellen ja kein Kopieren, kein Wiederholen früherer Bautypen, also kein schöpferischer 
Betätigung bares, sie entbehrendes Bauen fest!), sondern individuell, zum Teil äußerst scharf umrissene 
Kunstschöpfungen, wo die Entwicklung von einem Bau zum anderen klar und bestimmt festgelegt 
werden kann, — Aber auch abgesehen von diesen konkreten Fällen sind uns ja nirgends in 
den christlichen Landen Kuppelkirchen von hervorragenden Abmessungen vor dem 6. Jahrhundert 
bekannt. Erst im 6. Jahrhundert, und zwar wie plötzlich an verschiedenen Weltenden — in Syrien 
und Mesopotamien, in Kleinasien und Konstantinopel sowie im Kaukasus — entstehen ansehnliche 
Zentralbauten mit Kuppeln. Dabei ist es äußerst bezeichnend, daß die Formen dieser zentralen Kuppel- 
bauten allerorts verschieden eind. Meines Erachtens ist es ein Zeichen davon, daß zu jener Zeit 
endlich das Christentum all jenes, zum Teil widerspenstige geistige Gut — übernommenes und 
selber geschaffenes — verarbeitet und geformt hat. Und es entstand dadurch endlich jene Schaffens- 
freiheit der Kunst im christlichen Orient, deren Ausdruck wir an verschiedenen Orten fast gleich- 
zeitig, aber in verschiedenen Formen kennenlernen. Und eben auf diese Art kann man einzig und 
allein, glaube ich, die geniale Schöpfung der hi. Sophia von Konstantinopel, nämlich als Ergebnis 
einer rasch entfalteten, in kürzester Frist vollendeten Entwicklung verstehen “). 

Daß diese ebenso mächtige wie plötzliche Architekturentfaltung des Kuppelbaues im Kaukasus kaum 
früher als im 6. Jahrhundert sich vollzogen haben könnte, ergibt sich, glaube ich, aus der Tatsache, 
daß der Mittelraum der kleinen Kirche des hl. Kreuzes von Mschetha, die um die Mitte des 6. Jahr- 
hunderts erbaut worden ist, nicht durch eine Kuppel überdeckt war, sondern ein Kreuzgewölbe aufweist. 
Dabei ist dieser Bau seiber durch dae Aufblühen des Staates und seine frische, neue Schöpferkraft 
zum Leben gelangt; mit andern Worten: es war um die Mitte des 6. Jahrhunderts die Kuppel noch 
nicht als ein allgemein anerkanntes baubildendes Element der Architektur im Kaukasus verbreitet 
worden), obwohl damals, wie es scheint, einige erste Versuche von Kuppelbauten nachgewiesen 
werden können. Im Sinne Strsygowskis könnte dieser meiner Beweisführung entgegnet werden, 
daß das vielleicht für Georgien stimmen könne, nicht aber für Armenien, dessen Ableger in der 
Kunst jenes sein solle. Darüber gleich unten. Hier ist aber jedenfalls eins im Auge zu behalten, 
daß Strsygowski sich weder mit der georgischen Baukunst noch deren Chronologie näher befaßt 
hat (vgl. 8. 725, 7, 36 f.), sondern lediglich, und zwar kritiklos, alles Unmögliche, auch einfach 
widersinnige Datierungen angenommen hat; denn er bekennt: „mir kam es ja gerade darauf an, 
dem bisher gern in den Vordergrund gestellten Georgischen gegenüber Armenien zur Geltung zu 
bringen“ (725). 

Meiner Meinung nach ist also Strzygowskis Behauptung von einer Blüteperiode der armenischen 
Baukunst im 4. (resp. sogar 3.!) bis 6. Jahrhundert eines von den garnicht begründeten und absolut 
unnötigen, entbehrlichen Postulaten, welche seinen gesamten Aufbau der Entwicklung christlicher 
Kunst äußerst schwankend und strittig machen und die ganze Fragestellung, speziell in betreff Arme- 
niens, komplisieren und verwirren. Trotzdem aber zeigt die Tatsache, daß wir im 6.—7. Jahr- 
hundert im Kaukasus eine aufblihende Architektur feststellen können, deren zahlreiche Denkmäler 
eine überaus reiche Skala an Typen der Kuppelbauten aufweisen, eine Schaßfenskıaft von einer un- 
gewöhnlichen Stärke und Individualität, die auf eine bodenständige nationale Kultur hinweisen. 


ш 


Ein zweites, nicht minder verhängnisvolles Postulat, das Strzygowski, wenngleich nicht seinem 
gedruckten Werke, so doch der Auswahl der betrachteten Denkmäler im Herbst 1913 zugrunde gelegt 
hat, betrifft das Verhältnis der georgischen und der armenischen Kunst. Strzygowski hält für fest- 
stehend, wie es vor ihm bereits Dubois und einige andere getan haben, daß die georgische Bau- 


(:) Wir können auch ein Beispiel dieser Art angeben, wo die Kopie aber höchstens ein paar Jahr- 
zebnte später hergestellt worden war. Es ist dies die Zionskirche von Ateni, welche eine absolute 
Wiederholung der großen Kirche des Ы, Kreuzes von Mschetha ist. Hier sind selbst topographisch 
bedingte Einzelheiten sklavisch wiederholt trotz diametral entgegengesetzter Lage, u. dgl. mehr. 

(2) Woher könnte man sonst von „Notlösung“ reden, wie es selbst Strzygowski tut (S. 561), der 
die Hagia Sophia (S. 745) ein „Rätsel“, ein „Wunder“ der Kunst nennt. 

(3) Vgl. meine bereits erwähnte Untersuchung. 


kunst als ein Ableger der armenischen zu betrachten sei. Sie habe kein Recht, auf ein selbständiges 
Interesse Anspruch zu erheben, und könne nichts zur Lösung von allgemeinen Fragen beitragen. 
Daher widmet er den Georgiern nur im 4. Buche einen besonderen Abschnitt über die Verbreitung 
der „armenischen Tat“ nach dem Westen hin (8. 725—726). Diese ganze Behauptung entbehrt, wie 
bereits angedeutet, jeder Begründung — sie ist eben nichts als ein angenommenes, aber keinerlei 
Prüfung unterzogenes Postulat. Und gerade Strsygowski sollte mehr Vorsicht dieser Meinung 
gegenüber zeigen, da sie ja vice verso auch in betreff der armenischen Kunst und fernerhin auch 
in betreff der georgischen und der armenischen Kunst zusammen gegenüber der byzantinischen 
angenommen wird, was alles den Vorwand zu einer heftigen Polemik für Strsygowski selber ge- 
liefert hat (S. V). 

Durch das eingehende Studium der georgischen Denkmäler des Kuppelbaues ist es festgestellt 
worden, daß die georgischen Vertreter eines bestimmten Typus zum Teil älter sind als solche Arme- 
niens, und дай sie eine Feststellung von Entwicklungsphasen des Typus selbst erlauben. Zugleich 
wird auch die Frage des Ursprungalandes der einzelnen Bauelemente, die sowohl in Georgien wie in 
Armenien vorkommen, gegenüber Strzygowskis Behauptungen zu berichtigen sein, 

Strsygowski bemerkt bereits im Anfange seiner Untersuchung, daß „eigentlich eine völlig rein- 
liche Scheidung zwischen armenischer und georgischer Kunst notwendig wäre, obwohl beide auf das 
engste verwandt und oft kaum zu trennen sind“ (8.7). Gegen Schluß modifiziert er ein wenig diese 
Aussage: „Im Gebiete der bildenden Kunst [bat] zwischen Armenien und Georgien eine derart leb- 
hafte Wechselwirkung bestanden, daß man zwar gut tut, das ... Zusammenwerfen von Armenischem 
und Georgischem aufzugeben, doch aber im einzelnen Falle stets beide Ströme nebeneinander im 
Auge zu behalten“ (8. 725). Welter charakterisiert er auch sein Verhalten der georgischen Baukunst 
gegenüber im allgemeinen folgendermaßen: „Ich gestehe, daß meinem Gefühl nach die georgischen 
Denkmäler im vorliegenden Werke zu wenig für sich durchgearbeitet wurden“, „mir kam es ja 
gerade darauf an, dem bisher gern in den Vordergrund gestellten Georgischen gegenüber Armenien 
zur Geltung zu bringen“ (8. 735). Strsygowski hat also ganz bewußt sich der Bearbeitung des 
georgischen Materials enthoben; der Hinweis, er habe sich, was die Bearbeitung der georgischen 
Kirchen anlangt, „auf Kluge“ (725) verlassen, ist bloß eine Ausrede und kann nicht im Ernst gemeint 
sein. Er sagt denn auch tatsächlich selber (726), daß trots des reichen Tatsachenmaterials in Publi- 
kationen der georgischen Kunst ,Kluges Versuch einer systematischen Darstellung des altgeorgischen 
Kirchenbaues freilich enttäuscht“ (726). Trotz der sngeführten Bekenntnisse über eine ungenügende 
Erforschung des georgischen Materials und über die Forderung einer gesonderten Bearbeitung beider 
Kunstzweige begnügt sich Stray gowski zwar allein damit, die armenischen Denkmäler zu untersuchen 
und das Georgische vollkommen außer acht zu lassen, soweit er grundsätzlich beschlossen hatte, 
die georgischen Denkmäler heranzuziehen, „dann nämlich, wenn es außer Zweifel steht, daß Arme- 
nien der gebende Teil war“ (7). Wie kann aber in jedem Einzelfall eine solche Entscheidung gefällt 
werden, wenn eine gründliche, ebenso ins Einzelne gehende Untersuchung beider zusammengestellter 
Gruppen fehlt? Strsygowski zählt denn auch zu solchen „außer Zweifel“ stehenden Beispielen 
Bauten, wie die große Kirche des Ы. Kreuzes von Mschetha, die Zionskirche von Ateni, den Kutaiser 
Dom des Königs Bagrat Ш. (gegen тооз), die Kirche von Bana und viele andere (cf. 8. 725), was 
ein schreiendes Mißverständnis bedeutet, Strzygowski hat, wie er selber bezeugt, ganz bewußt 
eine Bearbeitung des georgischen Materials abgelehnt. Methodologisch ist eine derartige Beschrin- 
kung berechtigt, wenn nur keine Übertretung derselben stattfindet. Strsygowski läßt nun aber 
nicht nur in Einzelfällen sich volle Freiheit, über die Denkmäler der georgischen Baukunst Urteile 
zu fällen, sondern er zögert auch nicht, allgemeine Werturteile über georgische Kunst zu fällen 
und ihr Verbältnis zur armenischen, das heißt zwischen einem von ihm unbearbeiteten und einem 
bearbeiteten Gebiet, zu bestimmen. Er formuliert seine Urteile kategorisch und schroff, gleich einer 
selbstverständlichen Sache —, Armenien sei „der gebende Teil“ gegenüber Georgien, Georgien stünde 
unter stetigem Einflusse Armeniens, dem es vollkommen unterstellt sei, ferner verfalle Georgien 
überhaupt leicht allerhand Einflüssen von außen (was gerade nicht behauptet werden kann), schließ- 
lich seien die Bauformen Armeniens in Georgien spielerisch behandelt worden, im allgemeinen aber 
„haben die Georgier . . armenische Formen angenommen und verbreitet“ (725). ` 

Dieses allgemeine Verhalten dem Georgischen gegenüber hat — soweit man gelegentlichen Aus- 
sprüchen Strzygowskis selbst und seines Mitarbeiters Dr. Glück entnehmen kann — eine einzige 


223 


auf Tatsachen beruhende Begründung. Strzsygowski akseptiert ohne weiteres die vollkommen 
sagenhafte Erzählung von der Erfindung des georgischen Alphabets durch den armenischen Kirchen- 
vater Meerop'), was ihn zum Hervorheben, zur Folgerung einer kulturellen Abhängigkeit Georgiens 
von Armenien befähigt (725, 7 u. в). Dieselbe Tatsache erlaubt ihm die Schlußfolgerung einer 
späteren „Nationalisierung Georgiens“ (791) und verbunden damit einer späteren Verarbeitungsmöglich- 
keit fremder Elemente zu ziehen. 

Trotsdem aber verhehlen sich seinem scharfen Forscherauge manche charakteristische Erscheinungen 
einer gänzlichen Selbständigkeit der georgischen Kunst nicht (cf. auch 8. 7). Er hebt beispielsweise 
den Einfluß hervor, den die georgische Baukunst sur Zeit der Errichtung der georgischen Kiöster 
in Jerusalem, auf dem Berge Sinai und insbesondere auf dem Berge Athos ausgeübt hat (725, 726, 
769—770). Oder er bespricht die Verbreitung des Knaufes und des Bandgefiechtes in Armenien im 
7. Jahrhundert vom Norden her, aus Georgien (437, 441)*). Er ist daher manchmal gezwungen, seine 
strenge Formel der Unterwerfung Georgiens zu beschränken; so z. B. wenn er schreibt: „Man wird 
also in der Frage des Verhältnisses von Armenien und Georgien auch mit der Vermittiung eines 
dritten Kreises, eben des iranischen, rechnen müssen“ (764). In solchen Einschränkungen gelangt 
der stetige Mangel seiner Untersuchungen zum Ausdruck: eine ungemein starke Unabgeschlossen- 
heit, eine ungenügende Durcharbeitung und eine flüchtige Darstellungsart: die wichtigsten Fragen 
und Behauptungen der Untersuchungen werden einfach hingeworfen in einer unbearbeiteten Form, 
das Stoffgebiet wird ungemein erweitert, aber ohne eigentliche Bearbeitung, obendrein wird alles von 
schiliernden Gedanken und grellen Vergleichen überstreut, usw... Nicht zu verwundern, daß eine solche 
Darstellung notgedrungen an inneren Widersprüchen zu leiden hat. So auch in betreff der letzt- 
genannten Behauptung einer gemeinsamen Quelle der Entwicklung christlicher Baukunst in Georgien 
und Armenien; hier fügt er weiter hinzu: „Nur freilich in der Frage des Konchenquadrates ist, glaube 
leh, diese Erklärung nicht zulässig, weil die Anschiebung von Strebenischen erst in Armenien, nicht 
schon in Iran erfolgte, zusammen mit der Freistellung der quadratischen Kuppel und dem Anwachsen 
ihrer Größe“ (764). Er hat aber nirgends im ganzen Werke diese seine Sätze bowiesen, ja sogar 
nichts dazu beigetragen, diese Annahme auch nur plausibel zu machen: er legt einfach das bunte 
Material der armenischen und der georgischen Kirchen des 7. Jahrhunderts mit all den genannten 
Bauelementen vor, d.h, er zeigt nur das fertige Resultat, nicht den Vorgang selbst. Es bleibt also die 
These unbewiesen, und man hat volle Freiheit, das Werden jener schöpferischen Phasen anderwärts 
zu suchen. 

Bezeichnend und typisch für diese seine Stellung zur georgischen Baukunst ist unter anderem die 
Art und Weise, wie er jene komplizierte, strittige Frage behandelt, die die Entwicklung des Vierpaß- 
typus mit Umgang, wie er in Ischchan, Suartnots, Bana vertreten ist, zum Inhalt hat. Strsygowski 
ignoriert vollkommen (oder blieb ihm diese Tatsache unbekannt?), daß Nerses Ш, der Erbauer der 
Katholikos Armeniens, ein Anhänger der orthodoxen Kirche, zunächst Bischof von Ischchan, seinem 
Mutterorte in der Provinz Tao war, die ja zum georgischen (nicht armenischen) Patriarchate gehörte 
und von dem Katholikos Georgiens in Mschetha hierarchisch abhängig war. Zur ganzen Frage macht 
Strzygowski bloß diese Bemerkung: „Aber die im Tschorochgebiet liegenden Städte Ardwin und 
Ardanusch [die letste — Sitz des georgischen Könige Aschot im 8.—9. Jahrhundert!] sind armenisch, 
und das gesamte Gebiet Taik... muß nach den in der Wiener Mechitaristen-Kongregation zahlreich 
aus diesen Gegenden stammenden Armeniern auch heute noch eine dichte armenische Bevölkerung 
aufweisen“ (726). Somit ist die schwierige und minutiöse Arbeit Prof. Marre zur Klarstellung der 
Abwechslung armenischer und georgischer Bevölkerung in diesen südwestlichen Provinzen von Tao- 
Klardshethien vollkommen belanglos geblieben; Strzygowski beurteilt einfach alles nach dem Be- 
stand der gegenwärtigen Wiener Mechitaristen- Kongregation )). 


(1) Er glaubt, daß auch das armenische Alphabet vor Mesrop überhaupt nicht vorhanden war; Mesrop 
hätte es im Jahre 409 oder gar 407 erfunden (S. 29 u.s.). 

(2) Weshalb er aber S. 764 beim Erwähnen einer leichteren Akkomodation der georgischen Kunst 
an fremde Einflüsse gerade diese Stellen seines Werkes zitiert, bleibt mir vollkommen ein Rätsel, 
(3) Man ist gezwungen, ganz allgemein hier zu bemerken, daß Strsygowski im gansen Marrs 
Arbeiten im Gebiet der armenischen Altertumsforschung verschweigt. Er sagt kein Wort darüber, 
daß die ganze Thoramaniansche Fragestellung erst möglich geworden ist, nachdem dieser in Ani 
mit Marr gearbeitet hat. 


224 


Strsygowski ist so von der absoluten Natur seines Postulates überzeugt, daß er sogar das Pro- 
gramm einer künftigen Bearbeitung der Geschichte georgischer Baukunst entwirft: „Es wäre wichtig, 
wenn jemand, wie ich es für Armenien getan habe, die altchristliche Kunst Georgiens im besonderen 
bearbeiten und zeigen wollte, auf welchen Grundlagen sich dessen überaus zahlreiche Denkmäler 
des 10.— 12. Jahrhunderts aufbauen“ (726, vgl. 7). Eine selbständige Fragestellung scheint ihm an- 
scheinend ausgeschlossen zu sein. 

Strzygoweki verfügte also über keine inneren, durch den Stoff selber gebotenen Gründe für die 
Aufstellung jener Behauptungen, die er über das Verhältnis der georgischen und der armenischen 
Kunst gemacht hat; und er konnte auch über keine verfügen, da er sich ja einer Bearbeitung des 
georgischen Tatsachenmaterials von vornherein entzog. Wenn Strzygowski Armenien den Vorzug 
gibt vor Georgien, so sind dazu augensichtlich Motive ganz anderer Ordnung im Spiele. Seine 
während des Weltkrieges erschienenen Schriften, wie die hier besprochene Baukunst derArmenier, 
so besonders Altai-Iran und Völkerwanderung (1917) befremden den Leser durch die zur 
vollen Blüte gelangte rassentheoretische Unterlage aller künstlerischen Entwicklung, die bereits früher 
(vgl. sein Kleinasien, 1903), sehr zaghaft aber, mitgesprochen hat. In den letstgenannten Schriften 
aber ist das Rassenproblem zum Leitmotiv der Darstellung gemacht; der Verfasser hantiert immer- 
fort mit einer Gegenüberstellung der arischen und der semitischen Rassenpsychologie, wobei er der 
nordischen (arischen) die südliche (semitische) gegenüberstellt. Dabei rechnet er zwar die Türkvölker 
ihrer Psychologie nach zu den Агіегп, desgleichen auch die Araber. Als Träger des reinen arischen 
Kunstschaffens erscheinen im Gefolge seiner Theorie der arischen Rassenpsychologie — die Parther 
und die Armenier. Daß die Georgier keineswegs ale Arier zu behandeln sind — das ist für ihn 
klar; daß die Armenier aber kein Volk reiner Rasse sind, sondern ein ausgesprochenes Mischvolk dar 
stellen, das ignoriert er einfach. „Die Armenier sind von Haus aus Arier“ — schreibt Strzygowski- 
„es scheint, daß die beobachtete Entwicklung ihrer christlichen Baukunst damit zusammenhängt . .. 
Da den beiden verhältnismäßig selbständigen Einheiten, der griechischen und nordischen, von nun ab 
als dritte die armenische zuzurechnen sein wird, gewinnen wir welteren wichtigen Vergleichsstoff für 
die Bestimmung arischer Eigenart, und es entsteht die Frage, inwieweit die Rasse bei der Entstehung 
dieser Stile und der armenischen Baukunst im besonderen mitbetelligt war“ (575, 519 et passim). 
Diese verhängnisvolle und wissenschaftlich absolut unhaltbare Hypothese einer einheitlichen Rassen- 
psychologie hat ihn zu Schlüssen geführt, die auch selber unhaltbar sind und von vornherein auch 
dieser Rassentheorie spotten, anstatt rein wissenschaftlich entwicklungs- oder völkerpsychologische 
Gesichtspunkte den Fragen über Entwicklung der künstlerischen Erscheinungen zugrunde zu legen. 


IV 


Ich habe zunächst jene beiden Leitmotive der Darstellung im Werke Strzygowskis besprochen 
Leitmotive, die als irrige Annahmen, irrige Postulate, die Untersuchung beherrachen. Selbstverständ- 
lich ist hier weder der Ort noch die Zeit, sie als irrig auf Grund von Darlegung und Behandlung 
des Materials selbst zu erweisen, noch auch die Möglichkeit; denn es erfordert zusammenhängender 
Untersuchungen zur Architektur Georgiens und Armeniens. Hier bandelte es sich lediglich darum, 
die Postulate scharf zu formulieren und ihre methodologische Berechtigung zu prüfen; einen positiven 
Aufbau aber können allein Einzeluntersuchungen fördern, wie sie von mir zum Teil vorbereitet und 
seit 1916 der Drucklegung harren, zum Teil aber, wie die besenders in diesen Fragen ausgiebige 
über die Baukunst Kachethiens, in nächster Zeit fertiggestellt werden’). 

Nachdem wir also die Postulate besprochen haben, können wir zu den konkreten Aufstellungen 
übergehen, die Strzygowskis Schrift in Menge aufweist. Es kann sich daher wiederum bloß um 
eine Besprechung der ausschlaggebenden Punkte handeln, denn das ganze Werk ist so reichhaltig, 
daß es nicht anders möglich ist. Wir beginnen mit der Kardinalfrage vom Ursprung der Kuppel. 

In den Kuppelbauten der altchristlichen Periode sind zwei typische Arten zu unterscheiden. Wenn 
die Kuppel — es sei denn eine Trommelkuppel oder nicht — einen runden Raum überdeckt, wie 
wir es im hellenistisch-römischen Kreise (in Syrien, Kleinasien, in Italien) wiederfinden, dann besteht 
in dessen Aufbau keine bauliche Schwierigkeit; er birgt in sich kein konstruktives Problem, Ganz 
anders verhält es sich, wenn der Übergang von einem quadratischen Grundrisse zum Rund der 


(1) Sie werden alle in der von mir bereits begonnenen Serie erscheinen. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1938, 7—9. 15 225 


Kuppel gefunden werden soll. Hier knüpft ein konstruktives Problem ans andere an. Es darf dabei 
nicht übersehen werden, daß die runden Kuppelbauten (oder die oktogonalen) nur kurze Zeit zur Aus- 
führung gelangten, sie wurden bereits sehr früh schon durch den quadratischen Grundriß in der 
christlichen Baukunst verdrängt. Wenn bereits allein die Verbindung des Kuppelrundes mit dem 
quadratischen Grundrisse eine architektonische Leistung bedeutet, so ist es um so mehr, wenn die 
Halbkugel der Kuppel noch eine Fenstertrommel erhält. In diesem Fall kommt noch das Verstrebungs- 
problem hinzu, Alle diese Momente sind von Strzygowski mit einer besonderen Aufmerksamkeit be- 
achtet worden und erfreuen sich besonderer wissenschaftlichen Konstruktionen in seiner Untersuchung. 

Strzygowski gebt ganz methodisch vor bei Behandlung dieses Entstehungsproblems der Kuppel. 
Er begnügt sich nicbt mit einer Feststellung der Entwicklungsphasen in der kirchlichen Kunst allein, 
sondern sucht nach ihren Quellen im volkstümlichen Bau selbst, d. h. er sucht nach den psycholo- 
gischen Grundlagen der Entstehung des monumentalen Kuppelbaues in jahrtausendelangen traditio- 
nellen Gegebenheiten, indem er lediglich auf diese Weise einen festen Boden zum Verständnis des 
ganzen Vorganges zu finden hofft. Aber in diesen seinen Bemühungen nach einer möglichst breiten 
Grundlage übersieht er einige bedeutende Tatsachengruppen. Und gerade von seiner Expedition 
sollte man das nicht erwarten, denn sie schloß als Teilnehmer „den Ethnologen Dr. Edmund 
Küttler“ (S. 14) ein. Und dennoch, wie gesagt, blieb für Strzygowski die geläufige Form von 
hölzernen Bauernhäusern Georgiens und der anliegenden Teile Armeniens vollkommen unbekannt, 
die zum großen, ja teilweise größeren Teile in der Erde sitzend, einen zentralen, fast quadra- 
tischen Raum bilden, der stufenweise sich zum Zentrum, wo die Öffnung für Rauchausgang an- 
gebracht ist, erhebend überdeckt wird i). Statt dessen wendet Strzygowaki seine ganze Auf- 
merksamkeit der Dorfarchitektur in Chorasan (nordöstliches Iran), im nördlichen Syrien und nörd- 
lichen Mesopotamien sowie im Chotan, Seistan (Afghanistan) und Turfan zu, wo in breiter Schicht 
Häuser mit Kuppeln über dem Quadrat vorgefunden sind, die aus Rohsiegeln gebaut wurden. Die 
Kuppeln bilden sich in solchen Häusern ganz von selbst ale Ergebnis des Übereckgewölbes (365—366). 
In diesem Übereckgewölbe eben sieht Strzygowski den Keim der Kuppelform über dem Quadrat, 
die auf Trompen errichtet wird. Es ist nicht der Mühe wert, besonders beweisen zu wollen, daß all 
solche ethnographische Tatsachen und Besonderheiten als Ausdruck einer uralten Tradition zu behandeln 
sind, und daß folglich auch in unserem Fall solche Häuser schon lange vor Christi Geburt erschienen 
sein müssen. Wenn wir nun in allen diesen Gegenden sowie unabhängig davon auch in den Holz- 
häusern des Kaukasus analoge Formen antreffen, so spricht das keineswegs für ein bestimmtes Zentrum 
der Entstehung solcher Form und noch weniger für eine Entstehung gerade in Iran. Dazu ist über- 
haupt bisher kein Beweis beigebracht. Es bleibt also eins von beiden übrig: entweder muß man sich 
der hypothetischen Aufstellungen entbalten oder Beweise für diese beibringen. Für meinen Teil 
schließe ich mich gern der ersten Möglichkeit an, obwohl gerade heutzutage die Frage nach der ur- 
sprünglichen Bevölkerung aller genannten Gegenden durch Prof, N. Marrs Untersuchungen der 
letzten Jahre in Fluß gebracht ist, da er in den Sprachen ausgesprochen „japhetische“ Elemente 
aufgedeckt hat, 

In den christlichen Bauten des Kaukasus sind alle Kuppelbauten der ältesten Zeit auf einen quadra- 
tischen Mittelraum gegründet, und die Überleitung vom Quadrat zum Rund der Kuppel geschieht 
mittelst Trompen. Dasselbe System, aber mit der Überleitung mittels Pendentifs, erlangt allgemeine 
Herrschaft in der gesamten christlichen Welt. Der Rundbau und das Oktogon, die „ursprünglich 
herrschend“ waren im Mittelmeergebiete, werden bald „durch den quadratischen und Vierpfeilerbau 
verdrängt“ (746), wie Strzygowski ganz richtig hervorhebt. Was die Verstrebung durch Nischen 
anbetrifft, so meint Strzygowski, daß, wo wir immer in römischen Kuppelbauten Nischen im Mauer- 
rund auffinden, diese eine total andere Bestimmung haben als in den kaukasischen Bauten, nament- 
lich sind in ihnen die Nischen nur „zur Erzielung von Ersparungen im Baustoffe eingetieft“. „Die 
Kuppel ruht dann auf dem Mauerzylinder wie im Pantheon und das scheinbar vorliegende Konchen- 
quadrat im Grundriß kann nie über die fehlende Nischenverstrebung hinwegtäuschen“ (466). Was 
aber einen Bau wie Minerva medica anlangt, so ist dieser „Bädersaal der Villa des Licinius Gallienus 
(260—268) in Rom der Gruppe der armenischen Strebenischenbauten anzuschließen“ (737); des- 


(x) Und doch erwähnt Strzygowski die Aussage Leonhardts über solche unterirdische Häuser 
(368 — 369)! 


226 


gleichen auch S. Lorenzo in Mailand (738) und sogar die Fenstertrommel der S. Constanza (371). In 
dieser Hinsicht, wie wir sehen, legt sich Strzygowski keine Schranken für seine Behauptungen auf. 

Bei dieser seiner Beweisführung des orientalischen Ursprunges der Kuppel in armenischen und 
georgischen Kirchen ist Strzygowski also einerseits bemüht, denselben im nördlichen Iran auf- 
zusuchen, und andererseits gezwungen, älteste römische Beispiele abzulehnen. Nachdem er das Auf- 
finden der Kuppel als solches für eine Tat, die in Iran stattgefunden hat, erklärt und als dessen un- 
mittelbare Belege die Paläste von Sarvistan und Firuzabad nennt, behauptet er, daß erst für christlich- 
kirchliche Zwecke die Kuppel durch eine Fenstertrommel erhöht wurde und so seine besondere, 
dominierende Stelle erhalten hat. Die Erhöhung der Kuppel durch die dazwischengeschobene Fenster- 
trommel erfordert eine bestimmte Berechnung von Druck und Schub, welche zum Hervorziehen 
einzelner Teile des Mauerquadrats in Form von Apsiden führte. Gerade dies bezeichnet Strzy gowski 
als „die schöpferische Tat“, ala „den neuen Baugedanken der Armenier“ (460). Diesen Schritt von 
einfachen Mauerquadraten mit der direkt über Ecktrompen gesetzten Kuppelsphäre erklärt er für eine 
„Tat“ der armenischen Architektur, da Armenien das Grenzgebiet Irans bildet. 

Mir scheint es aber, daß solche kategorischen und allzu einfach geradlinigen Konstruktionen jeder 
psychologisch tiefergehenden Analyse versagen. Wenn wir in den ältesten Bauten Roms, wie der 
genannten Minerva medica, oder in S. Constanza, oder dem Oktogon Konstantins in Antiochien 
Fenstertrommeln aufweisen, so bedeutet das zunächst nur das Auftreten solcher bereits in hellenisti- 
schen Rundbauten, wie sie vielleicht sogar selbst bis in den Kaukasus hinein vorkamen!). Keines- 
wegs aber ist man berechtigt, schlechtweg alle solche Bauten als „armenische“ zu qualifizieren und 
sie sogar direkt als von Armeniern erbaute zu erklären (493,495). Daher wäre jedenfalls die Beweis- 
möglichkeit näher, für den Kaukasus einzig den Versuch einer Verbindung vom Kuppelbau über 
einem quadratischen Grundrisse mit der Fenstertrommel in Anspruch zu nehmen. Dies kann hier 
kaum eher als im 6. Jahrhundert stattgefunden haben. Mit andern Worten konnte meines Erachtens 
die Fenstertrommel unabhängig auch in anderen, namentlich in Rundbauten auftreten, nach einer flüchtig 
von Strzygowski hingeworfenen Bemerkung, als eine Nachahmung des Lichtgadens in basilikalen 
Kirchen (463, 464). 

Auch in diesem Punkt wiederum ist man also gezwungen, Strzygowskis „Historismus“ gegenüber 
eine komplizierte Entwicklungserforschung zu erstreben und zu fordern, wobei der Bedeutungs- und 
Motivwandel der Formen in verschiedenen Kombinationen ebensowenig wie die Möglichkeit zusammen- 
treffender, gleichförmiger Endergebnisse aus ganz verschiedenen Entwicklungsreihen vernachlässigt 
werden darf. 

Wie erwähnt, besteht der folgende Schritt im Schaffen des Architekten darin, daß das einfache 
Kuppelquadrat zur Verstrebung die hervortretenden Apsisnischen erhielt. Das ist die zweite Tat des 
armenischen Architekten. Diese Strebenischen, „die, vom Boden ап im Grundriß halbrund, gestelzt 
oder hufeisenförmig, ansteigen“, d. h. „eine außen sichtbare Verstrebung, also grundsätzlich von der 
Art der ‚Gotik‘“ besitzen, haben — „es könnte sein“! — „mit der persisch-mesopotamischen [Art] keine 
unmittelbare Verbindung“ (462). „Die iranische Baukunst war nicht hinausgekommen über die Ver- 
wendung der Kuppel auf dem geschlossenen Mauerquadrat. Dieses war und blieb dort die übliche 
Wohnzelle“ (465). Erst der christliche Kirchenbau erforderte eine Abgrenzung des Raumgebildes 
und eine Erweiterung seiner Fläche. „Die Freistellung der Kuppel und die Steigerung ihrer Größe 
ging Hand in Hand mit dem Zwange, sie zu verstreben. So mußte die Aufhebung des wachsenden 
Kuppeldruckes bei Anbabnung von Erweiterungsmöglichkeiten für das bis dahin geschlossene Grund- 
quadrat mitsprechen. Eine Öffnung der Wände war möglich in der Hinausschiebung der Umfassungs- 
mauern, einmal nach den Achsen, dann nach den Diagonalen“ (465). So werden verschiedene Typen 
von Bauten möglich, aber ihre Grundform ist allen gemeinsam, und sie ist, nach Strzygowskis 
Meinung, zuerst gerade im Kaukasus geschaffen worden, der „von der Grundform des Quadrates als 
betonter Mitte ausgehend, die Kuppel zwar nach iranischer Art auf vier Mauern ruhen, aus diesen 
Mauern aber auf allen vier Seiten in den Achsen halbrunde Ausbuchtungen vortreten ließ. Der Raum, 
der auf diese Weise mit der Kuppel überdeckt werden konnte, ist ziemlich groß“ (466). Das bier 


(1) Vgl. die Erwähnung eines georgischen Fürstenpalastes aus dem ersten Viertel des 5. Jahrhunderts 
in der Lebensbeschreibung von Peter dem Iberer, geschrieben um 500, wo ein Saal mit Kolonnen 
und acht Konchen erwähnt wird (Petrus der Iberer, hrsg. von P. Peters, 1895). 


227 


gekennzeichnete Prinzip ist zweifellos richtig charakterisiert, aber es ist nicht allein das Ergebnis 
der konstruktiven Überlegungen, sondern ist in seiner Entstehung weit komplisierterer Natur, da ja 
auch einfach eine Tradition der früheren Grundrißschemata hier weiterlebt. 

Die bis jetzt genannten Entwicklungsphasen sind zeitlich dicht aneinander gebunden, wie es Strsy- 
gowski meint. Demgegenüber ist ein anderes Konstruktionsmoment eher ein Ergebnis, das nach 
einem gewissen Zeitablaufe auftritt. Es ist der Ersatz der Nischenverstrebung durch Verstrebung 
durch Tonnen und die der Pfeiler (481, 482, 502, 504—505). „Bisher hatten sowohl im Kuppel- wie 
im Tonnenbau die Umfassungsmauern ausgesprochen tragende Bedeutung. Ohne sie war die Ein- 
wölbung der Bauten undenkbar. Das wird nun anders. Sobald Tonne und Kuppel zusammenwirken, 
man die ursprüngliche Konchenverstrebung aufgibt und dazu übergeht, innerhalb der Umfassungs- 
mauern Verstrebungen der Gewölbe untereinander aufzuführen, die an die Umfassungsmauern als 
tragende Teile selbst keine Ansprüche stellen . . werden diese Mauern überflüssig. Die Gewölbe 
erscheinen . . von Strebepfeilern getragen“ (504—505). 

Es ist bedeutsam, daß als Stützen hier allerorts Pfeiler, nicht Säulen angewendet werden, Sie 
konnten tatsächlich konstruktiv eine wichtige Rolle spielen (217, 308—309). 

Die eben besprochenen Hauptmomente in der Konstruktion von Kirchenbauten im Kaukasus liegen 
jenen konkreten Lösungen, d. h. Kirchentypen zugrunde, deren Aufeinanderfolge von Strzygowski 
besonders eingehend behandelt wird, und deren Besprechung wir demnächst aufnehmen müssen, 

Diese drei konsequenten und radikalen architektonischen Schöpfungsmomente, die vom christlich- 
kaukssischen Architekten entdeckt und vollbracht worden sind, sind von Strzygowski scharf- 
sinnig umrissen, obwohl — wie bereits des öfteren hervorgehoben — zu einfach, als das Er- 
gebnis allein konstruktiver, logischer Überlegungen. Strzygowski will denn auch die Zeit dieser 
schöpferischen Taten ins 3. bis 4. Jahrhundert verlegt wissen, waa nun keineswegs zu beweisen ist. 
Im Gegenteil dazu ist dieser Prozeß im 6. — Anfang 7. Jahrhunderts — geschehen, und dies beweist, 
wie ungemein stark, aktiv und schöpferisch jene geistige Kraft war, die in rascher Folge eine ganze 
Skala von Entwicklungsstufen durchgemacht hat, hier im Kaukasus, wie anderorts im christlichen 
Orient. 

у 

Die im vorangehenden Abschnitt besprochenen Elemente zeigen, welch hohe Bedeutung und Selb- 
ständigkeit die christlich-kaukasische Baukunst zu behaupten imstande ist. Sie zeigen zugleich, daß 
dieselbe eine hervorragende Bedeutung für die Entwicklung der gesamten christlichen Architektur 
hat, Wenn diese neue Erkenntnis in Fragen einer grundlegenden Bedeutung festgestellt worden ist, 
so muß sie auch eine Anwendung in betreff verschiedener sekundären Erscheinungen haben. Dies 
ist denn auch tatsächlich der Fall, Strzsygowski streift an einzelnen Stellen seiner Untersuchung 
solche Neuergebnisse sekundärer Art. Deren Zahl ist so groß, daß eine kritische Betrachtung der- 
selben geradezu unendlich zu werden droht, zumal ja vieles auf Widerspruch stößt. Und es ist nicht 
möglich, in einem kritischen Aufsatz abweichende Ansichten zu beweisen; alles das hoffe ich — wie 
erwähnt — in nächster Zeit in positiver Form von Einzeluntersuchungen darlegen zu können, Hier 
will ich nur noch einige wichtigste Sonderfragen der kaukasischen Baukunst behandeln. 

Es ist notwendig, zunächst in diesem Zusammenhange die Frage zu streifen, ob die christlich- 
ksukasische Architektur tatsächlich eine Gußmauerwerk- und Verkleidungsarchitektur sei, wie sie uns 
Strzygowski vorstellt. Er beginnt seine ganze Schrift mit einem bezeichnenden Paragraphen über 
„die Bedeutung der armenischen Denkmäler für die Baukunst der Gegenwart“, in dem er gerade die 
Behauptung aufstellt, daß die armenische Architektur eine Gußmauerwerk- und Verkleidungsarchitektur 
sei und somit die nächste Parallelerscheinung zum modernen Eisenbetonbau darstelle. Strzygowski 
behauptet entschieden, daß „sämtliche Bauten, die im vorliegenden Werke vorgeführt werden (4), Quß- 
mauerwerk mit Plattenverkleidung darstellen“. Er kommt dann im folgenden zweimal zu dieser Frage 
zurück (207 ff. und 349 ff.) und erklärt dabei, daß „das armenische Gußmauerwerk nicht nach römi- 
schem Muster gehandhabt wird. Vielmehr steht es der vorderasiatischen Art darin nahe, daß es ohne 
Ziegelrippen als Füllung zwischen Steinschichten gegossen wird. Und doch besteht . . noch ein 
sehr wesentlicher Unterschied.. . Dort überall ist der Stein die Hauptsache, die Füllung verhältnis- 
mäßig dünn. In Armenien aber ist das Füllmauerwerk so dick und dafür der Plattenbelag verhältnis- 
mäßig so dünn, daß die Hauptsache eben das Gußmauerwerk ist“ (355). Dabei fügt Strzygoweki 
ausdrücklich hinzu, daß dieses Bausystem keine Erfindung der armenischen Architekten sei, sondern 


228 


„vom Osten her“ übernommen (355, 353). „In vorchristlicher Zeit scheint Armenien nur den reinen 
Steinbau gekannt zu haben“ (353), bemerkt Strzygowski ganz richtig. Es findet hier also eine 
radikale Änderung statt; erst in christlicher Zeit taucht jenes Gußmauerwerk auf. Dabei muß man 
aber beachten, daß diese Änderung keineswegs plötzlich auftritt, sondern im Gegenteil einen all- 
mählichen Übergang aufweist. In den ältesten Bauten ist der Gußkern sehr dünn, die Hauptsache 
macht die Quaderfügung aus, und in einigen Bauten ist der Gußkern so gut wie gar nicht vorhanden, 
so z. В. in der kleinen Kirche des Ы. Kreuzes von Mzchetha, in einzelnen Kirchen Klardshethiens und 
Schawschethiens u, a. Erst in Bauten des 10, und 11, Jahrhunderts wird der Gußkern auf Kosten 
der Quaderfügung immer stärker und stärker, 80 dap diese endlich einfach zur Verkleidung wird. 
Dieser Prozeß läßt sich desgleichen auch in Armenien nachweisen; so ist die Basilika von Jererujk 
eben eine derartige Kirche aus Quadersteinen gefügt mit einer ganz dünnen inneren Qußkernschicht; 
und in den Bauten am Trümmerfelde von Ani kann man ganz gut auch den allmählichen Übergang 
beobachten und seine zeitliche Einordnung feststellen. Auch sind die kolossalen Dimensionen von 
Quadersteinen, wie sie Strzygoweski für die Kirche im Kloster von Gelathi erwähnt, gar nicht eine 
Ausnahme, wie er es behauptet (213, 353). 

Der Nachdruck also, den Strzygowski auf dieses Element kaukasischer Baukunst legt, ist un- 
begründet, denn wir können keineswegs das Kennzeichen armenischer Baukunst darin sehen, daß sie 
eine Verkleidungsarchitektur sei im Unterschiede von der Darstellungsarchitektur der Griechen, die 
es nach dem semitischen Vorbilde machten, Wir haben es hier mit einem Handgriff zu tun, der all- 
müblich entstand. An und für sich bildete er zunächst gar nicht irgendeine lose Verkleidung, son- 
dern eine Einheit, er war nur aus ökonomischen Gesichtspunkten angewandt worden. Und diesen 
inneren Zusammenhang hat selbst Strzykowski bemerkt. Er rühmt die „gesunde Einheitlichkeit 
des Baugedankens“, da in den kaukasischen Bauten der Mauerkern und die Verkleidung untrennbar 
sind, so, daß die „Steinhülle zugleich das Gerüst war, das den Guß ermöglichte“ (354). Das Prinzip der 
Verkleidung, der Verblendung eines für sich bestehenden Bauganzen ist also durch dies Geständnis 
annulliert. Vielleicht läßt es sich so ausgleichen, daß in Wahrheit Strzygowski zwei Tatsachen- 
reihen kennengelernt hat, sie aber nicht weiter miteinander in Beziehung, Verbindung u. dgl. gesetzt 
bat und also zweierlei Meinungen auszusprechen gleichsam gezwungen wurde, Er charakterisiert 
bereits einleitenderweise die eine Art — wo „der Verguß trotzdem unberührt stehenbleiben“ konnte, 
daß „die Platten im Laufe der Jahrhunderte sich loslösten, aus dem Gefüge gerieten und abflelen“ 
(S. 3 und Abb. 1) und eine andere — wo der „Bau ohne Platten nicht stehenbleiben“ könnte (8. 4 
und Abb. 4). 

Gleichzeitig mit dieser konstruktiven Besonderheit, die er geradezu als ein Charakteristikum be- 
handelt, hebt Strzygowski hervor, daß „man in Armenien mit ganz anderen Mauerstärken rechnen“ 
muß, nämlich welt größeren, „als im Westen und Süden, und gerade das ist eine Eigentümlichkeit 
der vom Osten her nach Armenien vordringenden Kuppelbauten aus dem sehr einfachen Grunde, 
weil diese dort ursprünglich in Rohziegeln erbaut waren und doch den Druck der Kuppel aushalten 
mußten“ (355). Mit andern Worten: hier gibt Strzygowski bereitwillig zu, daß ein dbernommener 
Handgriff ohne jede weitere Prüfung und Adaptation angewendet wird, und dies neben den außer- 
ordentlichen konstruktiven Errungenschaften, die er den armenischen Architekten zuschreibt, Es 
kommt also in den ganzen theoretischen Aufbau Strzygowskis von einer ungemein großen Meister- 
schaft und Schöpferkraft armenischer Architekten ein nicht zu übersehender Riß hinein ). 

Eine weitere bauliche Eigentümlichkeit der Kirchen im Kaukasus bildet das Tonnengewölbe als 
Überdeckungsart, nebst der Kuppel. Es ist kein einziger Bau mit flacher Decke, auf Hols- 
gerüsten u. dergl. etwa da, Das heißt also, in dieser Hinsicht besteht ein bestimmter Unterschied 
zwischen den hiesigen Bauten und den basilikalen Kirchen vom hellenistischen Typus, wie er in Klein- 
asien, Syrien und auch in Westeuropa bekannt ist, Strzygowski ist bereits jahrzehntelang auf der 
Suche nach dem Ursprungslande des Tonnengewölbes. Erst in diesem Armenienwerke fällt er sein 
positives Ergebnis: der tonnengewölbte Kirchenbau geht von Mesopotamien aus (59), Wenn auch 
sein Schluß so kategorisch klingt, so ist doch die Darstellung im Buche selbst ganz anders, Er über- 
läßt in dem gerade dieser Frage gewidmeten Paragraphen das Wort seinem Assistenten und Mit- 


(1) Es sei hier nebenbei bemerkt, daß die georgischen Kirchen in ама Fällen nur die Dicke der 
Mauern von ı m übertreten; als Regel gilt eben die Mauerdicke von 0,70 bis ı m, 


229 


arbeiter während der Expedition, Dr. Heinrich Glück, der eine im allgemeinen abweichende Dar- 
stellung gibt. Nachdem Glück festgestellt hat, daß das Tonnengewölbe als Grundform der Über- 
deckung in den angrenzenden Ländern Armeniens, im zentralen Kleinasien und im nördlichen Meso- 
potamien verbreitet ist (381), bemerkt er, daß die Herstellung der Tonnengewölbe „offenbar mittelst 
hölzerner Lehrbögen“ geschah. „Gewöhnlich werden, wo nicht (in kleineren Bauten) stehende Gerüste 
verwendet wurden, die Kapitelle der Pfeiler genügende Stützpunkte für ein Schwebegerüst gewährt 
haben“ (381—382, cf. 216). Die Pfeiler sind also als Stützpunkte bei der Gewölbeherstellung not- 
gedrungen gefordert, was beispielsweise in Mesopotamien nicht der Fall war, da dort ohne Lehr- 
gerüste die Gewölbe aufgeführt wurden. H. Glück leitet denn auch die Anwendung von Pilastern 
mit Tragbögen einerseits aus dem arabischen System, das sich im 1.— a. Jahrhundert n. Chr. in Ost- 
syrien, Hauran und Mesopotamien verbreitet hat (383), und andererseits aus der hellenistischen Tra- 
dition (386—387). Glück sieht also die offensichtliche Kompliziertheit des Tatbestandes !) im Gegen- 
teil zu Strzygowskis simplizistischer Goradlinigkeit des Aufbaues*). Diese Zusammenstellung 
Н. Glücks läßt also die Möglichkeit einer unabhängigen und selbständigen Entstehung an verschie- 
denen Orten bestehen, was anscheinend auch er selber anzunehmen geneigt ist, wenn er zugibt, daß 
die Basiliken Kleinasiens, Nordsyriens und Armeniens — Bauten verschiedener Typen seien (391—392). 

Wie dem auch sei, jedenfalls besteht die Unterscheidung zu Rechte, die Strzygowski zu be- 
gründen bemüht ist, zwischen den Basiliken vom orientalischen Typus mit dem Tonnengewölbe und den 
mit Holz flachgedeckten vom hellenistischen Typus. Wie aber die Entstehung des Tonnengewölbes 
vor sich gegangen ist, das bleibt anscheinend noch immer eine offene Frage. 

Endlich noch einige Worte über die dritte konstruktive Eigentümlichkeit christlich-kaukasischer 
Kuppelbauten der ältesten Zeit, nämlich über die Trompenkonstruktion bei der Überleitung vom 
Quadrat zum Rund der Kuppel. Bereits Choisy und Dieulafoy haben die besondere Art dieses 
Überganges іп den sassanidischon Palästen hervorgehoben. Strsygowski hat dann viel Mühe dieser 
Frage gewidmet. Er meint, die Trompen in den Ecken des Quadrates, die die Überleitung zum 
Achteck und dann zum Rund der Kuppel vermitteln, seien iranischen Ursprunges, Er leitet sie vom 
Übereckgewölbe ab, Daneben gewahrt man bei ihm in dem Armenienwerke ein Schwanken, ob nicht 
die Trompen einheimisch im Kaukasus wären, ob sie nicht im Kaukasus ein Produkt selbständiger 
Entwicklung wären (372, 755, cf. 369). Dabei aber versäumt er es natürlich nicht, ihren orientali- 
schen Ursprung und ihre Übernahme in Ravenna und Westeuropa vom Osten her, zu betonen. 

Wie gesagt, kann ich hier andere konstruktive Elomente, wie das Kreuzgewölbe, den Hufeisen- 
bogen und den Spitzbogen, die Pfeilerstützen, die Dreiecknischen an den Fassaden, die Emporen- 
anlagen u. a. m., nicht besprechen, 

VI 

Indem wir zunächst die Postulate kritisch zu besprechen uns bemüht haben, die Strzykowski 
seinem Werke zugrunde legt, dann die hauptsächlichsten und grundlegenden Behauptungen über die 
Eigentümlichkeiten „armenischer“ Baukunst und deren Entwicklungsphasen kennengelernt haben, ist 
es nun an der Reihe, uns mit dem Gesamtschema der Entwicklung der Baukunst im christlichen 
Kaukasus, wie sie von Strzygowski mit Nachdruck und Eifer im Verlaufe der ganzen Untersuchung 
dem Leser aufgepreßt wird, zu befassen, | 

Der Ausgangspunkt der Entwicklung des Kuppelbaues im Kaukasus ist ganz konsequent mit der 
allgemeinen Form der Raumgebilde verbunden, die für die Architekten im Kaukasus typisch sind, 
Strzygowski hebt mit Recht hervor, daß der kaukasische Architekt einen über jeden Zweifel er- 
habenen Drang offenbart, den Raum als momentan, simultan zu erfassenden zu schaffen, einen Raum 
also, der keine aufeinanderfolgende, rhythmisch bewegte Eindrucksreihe voraussetzt, mit anderen 
Worten: er hebt die einheitliche Zentralität des Raumgebildes hervor?), Auch ein zweites gestalten- 


(1) S. 382 erwähnt Glück ferner noch die Tonnenwölbung im Niltale. 

(2) Zwar spricht auch Strzygowski gelegentlich, daß „im einschiffigen Tonnenbau [Armeniens] 
ältere einheimische Überlieferungen am Leben geblieben sein“ könnten (372); oder in der Note zu 
8. 711 über „die Ausnahme in Ostsyrien“, die „vom Arabismus her zu begründen ist“, Aber das 
sind Gelegenheitseinfalle mehr, als strenge Darstellung. 

(3) Um nicht mißverstanden zu werden, sei bemerkt, daß in diesen Ausdrücken natürlich auf keine 
psychologische Analyse ausgegangen ist, sondern lediglich das Unterscheidende gegenüber einer 
rhythmisch gegliederten Reibe in der Raumgestaltung romanischer oder gotischer Kathedralen etwa 
hervorzuheben das Ziel war. 


230 


des Element im Prozesse der Schöpfungsarbeit des Architekten — das Vorherrschen der Kuppel — 
wird von ihm ganz mit Recht betont. Dabei sind die Kuppelbauten immer auf einer quadratischen 
Grundlage errichtet. Diese Einsichten erlauben Strzygowski, wie er meint, an die Spitze aller 
Entwicklung von Kirchenbauten im Kaukasus das Kuppelquadrat mit Strebenischen (den „Mastara- 
typus“) zu setzen (ao et pass.). Erst aus der Mitte des 7. Jahrhunderts sind uns die datierten Ver- 
treter dieses Typus bekannt, wogegen die Vertreter anderer Typen aus einer früheren Zeit stammen. 
Strzygowski kann auf diese Weise natürlich nur mit Hilfe jenes Postulates von einer voran- 
gehenden Blüteperiode seine Behauptung oder vielmehr seine Konstruktion glaubhaft machen: das 
tatsächliche Nebeneinander der Mehrzahl der von ihm angeführten Beispiele (Bauten des 7. Jahr- 
hunderte) ignoriert er vollkommen und teilt diese seinem Entwicklungsschema gemäß auf. Somit is 
von einem realen Anwachsen von Bauformen, von einem lebendigen Entwicklungsprozesse eines 
inneren Wachsens und einer schöpferischen Arbeit nichts zu spüren, 

Für Strzygowski ist diese Entwicklung ein Nacheinander von Formen in einer geraden Linie, 
wo jede neue Form einer anderen wie an einer Schnur folgt. So hebt er zunächst die Entwicklung der 
strahlenförmigen Kuppelbauten hervor, nach deren Abschluß nun das Eindringen einer fremden Bauart 
und Bauform künstlich (aber gerade zur rechten Zeit) dem Lande aufgezwungen wird. Es ist die 
kuppellose Form der Basilika oder eines einschiffigen Tonnenbaues. Eine Zeitlang später nun ent- 
steht der Versuch, die strahlenférmige Kuppelform der Kirche mit der Längsrichtung der Tonne zu 
verbinden. Und wiederum geschieht dies in einer Form, wo ganz präzise eine Abart nach einer 
anderen ihr Dasein erhält. Diese Art Konstruktion ist von Strzygowski ganz konsequent in seinem 
Werke festgehalten und einmal sogar ganz drastisch ausgedrückt. An jener Stelle nämlich, wo er 
behauptet, daß „dem Vierpaß als Ursache das Konchenquadrat vorausgegangen sei“, gibt er seinem 
Verwundern über „die Folgerichtigkeit der Entwicklung“ vollen Ausdruck in diesen Worten: „Bezeich- 
nend ist daran, daß ein folgerichtiger Schritt den nächsten auslöst, also jeder künstlerischen Tat eine 
andere als Ursache vorausgeht, und ebenso eine andere als Wirkung folgt“ (484). Meine Unter- 
suchungen der Tatsachen selbst aber, wie auch die allgemeinen methodologischen Überlegungen lehren 
ganz anderes. Wir haben ein äußerst bewegtes, sich verschlingendes und mehrseitig bedingtes Zu- 
sammenwirken verschiedener Momente und Motive beim Entstehen neuer Bauformen. Zum Teil muß 
man ein gleichzeitiges, paralleles Entstehen annehmen, zum größeren Teil aber lassen sie sich in 
eine zeitlich genau zu bestimmende Abfolge einordnen. — Trotz der methodisch, wie rein tatsächlich 
unzulänglichen Konstruktion der Entwicklung ist es aber lehrreich, Strzygowskis Aufstellungen 
im einzelnen kritisch zu betrachten. 

Strzygowski teilt die Gesamtheit der Kirchenbauten im Kaukasus in drei Hauptgruppen auf: 

ı. Strahlenförmige Kuppelbauten, 
2. Längsgerichtete Tonnenbauten, 
3. Längsgerichtete Kuppelbauten. 

Man sieht schon diesen Bezeichnungen ab, daß es sich hier in der dritten Gruppe sozusagen um 
eine Synthese der beiden ersten handelt, eine Synthese in der Richtung auf den Kuppelbau. Und es 
handelt sich hier, wie im Verlauf der ganzen Untersuchung mehrfach behauptet wird, eben um ein 
zeitliches Aufeinander dieser drei Gruppen. Mit dieser Behauptung steht im Zusammenhang jenes 
erste Postulat: die Entstehungszeit der Basiliken um die Wende des 5. und 6. Jahrhunderts ist ja 
bekannt. 

Jede der obengenannten drei Gruppen wird dann weiter in Untergruppen geteilt. So besteht die 
erste Gruppe der strahlenférmigen Kuppelbauten aus zwei Untergruppen: 1. Kuppelquadrate mit Strebe- 
nischen und 2. Reine Strebenischenbauten. Strzygowski wird wohl selber das Gefühl gehabt 
haben, daß es sich nicht gerade reimt, wenn reine Strebenischenbauten aus irgendeiner Mischform ab- 
geleitet werden (482, 99), denn das von ihm hervorgehobene Motiv der Raumerweiterung hat ja eben 
in den Formen des Kuppelquadrates seine Geltung. Eine richtige Beweisführung dieses Aufbaues 
und dieser Aufeinanderfolge werden wir vergebens in seinem Werke aufzufinden uns bemühen. In der 
Tat handelt es sich hier nur um eine hypothetische Behauptung!). 

Aber auch abgesehen von diesem Verhältnis im großen sucht Strzygowski für beide Unter- 


(1) Meine Ansichten über das Verhältnis dieser Formen sind näher ausgeführt und begründet in 
meinen Unterauchungen, Band I, Heft 2 und Band II (druckfertig). 


+ 


231 


gruppen nach verschiedenen Arten und kann für „reine Strebenischenbauten“ solche kaum auf- 
weisen. Er bilft sich dann auf einem total irreführenden Umwege aus: er glaubt, die quadratische 
Grundlage jedweden konstruktiven Kuppelbaues im Kaukasus verlassen zu dürfen, indem er so fort- 
fährt: „Zunächst mag, könnte man annehmen, die unmittelbare Zusammenstellung der bereits üblichen 
vier Nischen darauf geführt haben, auch mehr solche Konchen um einen Mittelpunkt anzuordnen, 
з. B. im Sechseck“ (482). Das heißt, „man könnte“ hier „den Ansatz zur Entwicklung des reinen 
Rundnischenbaues vermuten“ (482)! Somit vermutet er dies snscheinend nicht. Weshalb sind dann 
aber Sechs- und Achtpässe in sein Schema aufgenommen, wo sie ja keine Anlehnung ans Quadrat 
erlauben? Weshalb werden jene meist in Ani angetroffenen Bauten als späte Vertreter einer frühen, 
im 5.—7. Jahrhundert blühenden Form gekennzeichnet (490, vgl. 494)? Offensichtlich haben wir es auch 
hier wiederum mit jenen leider nicht so seltenen Unausgeglichenheiten, ja direkten Widersprüchen zu 
tun, die der ungenügenden Gesamtbearbeitung und Vertiefung seiner Untersuchungen zuschulden ge- 
macht werden muß — der rastiose Drang, seine Entdeckungen und neue Horizonte allgemein bekannt 
zu machen, kommt keineswegs zugute, ja hemmt geradezu die Gründlichkeit der Durcharbeitung des 
Rohmaterials und fördert keineswegs eine Abgerundetheit der Darstellung. Strsygowski gibt gegen 
seinen Willen, jedenfalls im Widerspruch mit seinen eigenen Feststellungen, den Sechs- und Acht- 
pässen Platz neben den Vierpässen, als deren weiteren Abzweigungen; für die Achtpässe „mag eine 
eigene Anregung schon in den Konchenquadraten mit verstrebten Ecken gelegen Haben“ (483). Er 
sucht sich auch hier durch seine Postulate zu helfen: „Die Auffassung des Quadrates hat sich zuerst 
im Äußeren, dann auch im Inneren vollsogen, dann könnte der Übergang zum Sechs- und Achteck 
erfolgt sein“ (99). 

Wie angedeutet, ist diese Zusammenstellung, diese Verbindung ganz unbegründet und muß fallen 
gelassen werden. Sechspässe treffen wir keineswegs vor dem 10. Jahrhundert an, sowohl in Georgien 
wie in Armenien (bier alles Bauten von Ani aus der ,Renaiseance"-Zeit dieser Stadt). Das ist eben 
jene Zeit, wo im allgemeinen konstruktive Probleme den dekorativen Platz machen, wo man nicht 
weiter sich konstruktiv gebunden fühlte. In Georgien bilden die bekannten Sechspässe denn tatsäch- 
ich eine Reihe eigenartiger dekorativen Bearbeitungen eines baulich-dekorativen Gesamtthemas. Und 
wenn daher Strzygowski über die georgischen Sechspässe diese Bemerkung fällt: „Sehr seltsam 
sind in diesem Zusammenhange die späteren Spielereien in Georgien“ (490, vgl. 131), so kann ich 
nicht umhin, als nur meine Verwunderung auszusprechen. Es handelt sich ja gerade ganz allgemein,” 
wie für Georgien, so für Armenien, um eine Zeit, die lediglich als Übergangsepoche von konstruk 
tiven zu dekorativen Aufgaben charakterisiert werden muß. Gerade diese Übergangsepoche seitigte 
eine Anzahl Sechs- und Achtpässe, sowohl in Armenien, wo sie sehr dürftig in formaler Hinsicht 
sind, ale auch in Georgien, wo das dekorative Moment voll entwickelt und eigentümlich bearbeitet 
erscheint). Diese ganze Reihe von georgischen Kirchen in Gogüba, Kiaghmis, Kumwido, Nikortz- 
minda, Kasch u, s, wird denn auch von Strzygowski anderenorts der Wahrheit näher, als „selt- 
same Baueinfälle“, charakterisiert (781—783, vgl. 131). 

In diesem Zusammenhange muß auch jenes Kirchentypus gedacht werden, der seit Dubois schon 
den Grundstock allen Beweises von der Abhängigkeit der georgischen von der armenischen Baukunst 
bildete, nämlich des Typus der großen Kirche des Ы. Kreuzes von Mzchetha oder, wie ihn Strzy 
gowski nennt, des Kripsimetypus®). Wie diese seine Benennung es anzeigt, meint er, der Typus 
sei eine Schöpfung eines armenischen Architekten. Er gedenkt dabei Prof. N. Marrs Bemerkung 
daß die große Kirche des hi, Kreuzes von Mschetha in Georgien bereits vor jener der hi. Kripsime 
in Armenien erbaut worden ist. „Letztere könne daher nicht Vorbild der ersteren, der georgischen 
Kreuzkirche gewesen sein“ (471). Für Strzygoweski aber bestehen in dieser Hinsicht keine Schwie- 
rigkeiten: „die Bauform an sich ist in Armenien älter“. Und der Beweis folgt anscheinend schlagend: 
„Beweis dafür zunächst die Kirche von Awan bei Erivan (S. 89), die ungefähr gleichaltrig mit der 
Kirche bei Mzchet ist“. Seiner eigenen Anzahl gemäß, die auf Sebeos’ Mitteilung beruht, ist die 


(1) Beiläufig sei bemerkt, daß die Heilandskirche in Ani (Воть Prkitsch) mehrmals und dabei durch- 
greifond umgebaut wurde; die Trommelkuppel ist u. a. nicht aus der Entstehungszeit von 1035—36 
(wie bei Stırzygowaki, S. 593, Note 2), sondern aus dem Jahre 1393. 

(2) Auf eine gegenständliche Besprechung der Frage kann ich hier nicht eingehen; die entsprechende 
Untersuchung ist bereits abgeschlossen und wird als Heft 2 des ersten Bandes meiner Unter- 
suchungen veröffentlicht. 


232 


Kirche von Awan durch Katholikos Johann von Bagaran als seine Ruhestätte gebaut. Johann war 
Katholikos von 591—611 (8. 89 N., 676)*), mit andern Worten: er beweist dadurch rein nichts, 
denn eine Analyse der in Frage stehenden Bauten ist von ihm auch nicht einmal versucht worden. 
Es folgt dann eine zweite Art von Beweisführung: „Der Kripsimetypus muß bereits in Blüte gewesen 
sein im 5. Jahrhundert, als die griechisch-syrische Strömung einsetzte. Es gibt mehrere Anzeichen, 
die darauf hinweisen, so die Einführung des Giebels und der zwischen Quadrat und Konche ein- 
geschobenen Tonnen, die der Längrichtung Bahn brechen“ (471). Ich bin wohl nach diesem Zitat 
von jeder Kritik befreit; man sieht deutlich, Strsy gowski kann, ebenso wie Marr, ihre gemeinsam 
verfochtene Thesis von der Entstehung dieses Bautypus in Armenien keineswegs glaubhaft machen, 
dabei aber bemüht sich Strsygowski, dies zu verhüllen?®). 

Durch seine zeitliche Dreiteilung der Entwicklung der kaukasischen Baukunst und durch seine 
allgemeinen methodologischen Handgriffe sieht sich Strsygowski gezwungen, eine Gruppe von 
Kuppelbauten, die mit dem Namen von Dreipässen (Trikonchos) gedeckt werden können, zeitlich weit 
von den eben besprochenen zu setzen. Er verbindet durch diese aligemeine Bezeichnung zwei 
Untergruppen, aber eigentlich besteht die erste wiederum aus Bauten zweierlei, ziemlich ver- 
schiedener — jedenfalls entwicklungspsychologisch verschieden komplizierter Natur. Es sind dies 
Trikonchen und dann Kirchen mit drei rechteckigen Kreusarmen (von der Art des Grabmales der 
Galla Placidia), die Strsygowski auch geneigt ist für Trikonchos zu erklären (361,834). Die zweite 
Unterart umfaßt dann solche Bauten mit drei Konchen, deren Kuppel auf vier freistehenden Pfeilern 
ruht. Dies ist ein Moment, das von einer ganz entscheidenden Bedeutung ist, wie unten noch aus- 
zuführen sein wird. Strzygowski hält alle die genannten Formen von Kirchenbauten für den 
Ausdruck der Durchsetzung strablenférmiger Kuppelbauten durch die Längsrichtung, welche von den 
tonnengewölbten Längsbauten hergenommen worden ist. Dagegen aber sind uns in Georgien Bauten 
der Form des Grabmals der Galla Placidia aus dem 6.—7. Jahrhunderts bekannt, die zum Teil gleich- 
lange Arme, zum Teil aber auch einen längeren Westarm aufweisen. Wie gesagt, meint Strsy- 
gowski, alle diese Bauten in unmittelbare Abhängigkeit von dem fremden Machteinschlage jener 
tonnengedeckten Längsbauten setzen zu müssen, „Die Kuppel ging ursprünglich ihre eigenen Wege 
ebenso wie die längsgerichtete Tonne. Die Versuche, beide zu vereinigen, scheinen erst auf arme- 
nischem Boden zielbewußt und folgerichtig so durchgeführt worden zu sein, daß damit der Welt 
etwas dauernd Gültiges gegeben wurde“ (495). Das ist, wie auch vieles bereits Besprochene, nur 
Konstruktion: es kann ohne Schwierigkeit an der Hand von Einzelbeispielen gezeigt werden, wie ganz 
allmählich, unbemerkbar dieser Akzent der Längsrichtung auftaucht, durch die eigentlichen Ziele der 
Kirche mit dem Gottesdienste im Altarraume hervorgerufen. Gerade im eben besprochenen „Kripsime- 
typus“ ist dieser Zug bereits erkennbar; dasselbe war durch das Giebeldach such von außen in der 
kleinen Kirche des hi. Kreuzes von Mzchetha angedeutet“). Deshalb ist diese ganze Fragestellung 
beiStrzygowski verfehlt, sie entbehrt leider vollkommen jeglicher psychologischen Gesetzmäßigkeit, 
Zwar fühlte sich der kaukasische Architekt unwillkürlich gezwungen, ein nach den Achsen gleiches, 
symmetrisch gestaltetes Raumgebilde zu schaffen, dies war aber noch bei einer gewissen Längs- 
richtung gut zu erzielen. Daher reicht dieses Merkmal an und für sich noch nicht aus, als ein Mark- 
stein für die zeitliche Aufeinanderfolge betrachtet zu werden; es ist lediglich ein die Beantwortung 
der Frage komplizierendes Moment, und somit ist auch der Dreipaß keine Beantwortung der Aufgabe 
von einer Verbindung des Kuppelquadrates mit Längsbauten, Ein richtiger Trikonchos birgt in seiner 
Entwicklungsgeschichte auch eine ansehnliche Zahl von komplizierenden Momenten. Es waren hier 
im Spiel der Typus des Grabmals der Galla Placidia, Vierpässe, Kuppelquadrate mit Strebenischen 
in den Achsen und Ecken u. a. m. Strzygowski bemerkt selber, wieviel Mühe in der Literatur 
verwendet worden ist, um die Entwicklungsgeschichte dieser Bauform — des Dreipasses, Kieeblattes 
und dergl. — festzustellen (495ff.); er selber fügt noch eine Anzahl von Überlegungen bei; keine der- 
selben auch nur einigermaßen durchgearbeitet. So wirft er den Gedanken hin, daß die DreipaSkirchen 


(1) Strzygowski gibt aber auch irreführende Jahresangaben für ihn an einigen Stellen an (so 8.89 
Text, 8. 470). 

(2) Zwar unausgesprochen ist doch das Verhältnis zur Frage der Zionskirche von Ateni (Georgien), 
die einem Mißverständnis gemäß im 10.—11. Jahrhundert gebaut sein soll, und swar durch einen 
Armenier. Die Rlarlegung dieser Frage findet sich in meiner obengenannten Untersuchung. 

(3) Siehe meine Untersuchungen, Band I, Heft 1. 


233 


vom Palastbau „angeregt sein könnten“ (496); dann, daß dieselben „als eine Durchsetzung des tonnen- 
gewölbten Querbaues, der im mesopotamischen Boden wurzelt“, mit der Kuppel (496); endlich meint 
er, daß der Dreipaß in Armenien aus quadratischen Kuppelkirchen mit Strebenischen sich entwickelt 
habe „mit der Anfügung einer Tonne statt der Nische an der vierten, der Westseite“ (497). So sehen 
wir, wie Strzygowski eine ganze Anzahl von Möglichkeiten in Gang setzt, da er ja die Entwicklung 
von Kunstformen nur als einen formalen Prozeß auffaßt und um die Gesamtheit der psychologischen 
Schaffensprozesse sich nicht kümmert (vgl. 497—498). Hier ist er aber gleichsam vom Material selbst 
gezwungen, selbständige Entwicklungen annehmen zu müssen, die an verschiedenen Orten verschieden 
verlaufen, am Schluß aber zu gleichartigen Resultaten (hier namentlich der Dreipaßform) gelangen. 

Wenn Strzygowaki somit den Hauptnachdruck auf die Strahlenförmigkeit resp. die Längsrichtung 
legt, was ihn sogar zur offensichtlichen Verstiegenheit führt, so legt er einem anderen Element — 
der Pfeilerverstrebung — nur nebenbei Bedeutung bei. Alle die bisher besprochenen Kirchenformen 
verbinden die Kuppel mit den Außenwänden des Baues, die Verstrebung geschah mittels Konchen 
oder Tonnen. Ein neues Verstrebungs- und Bausystem im ganzen taucht mit der Einführung von 
vier Pfeilerstatzen unter der Kuppel auf. Die offensichtlichste Folgeerscheinung, die sofort eintritt, 
ist eine bedeutende Minderung des Kuppeldurchmessers, die Raumgröße bleibt aber dieselbe. 

Die Kuppelkirchen mit Pfeilerstützen unter der Kuppel bilden eine zusammenhängende Gruppe, wie 
andererseits die vorher betrachteten Formen auch. Die einzelnen Entwicklungsphasen, die Bedingungen 
und Umstände, welche zur Einführung dieses Elementes geführt haben, sind noch nicht restlos aus- 
findig gemacht worden. Wenn Strzygowski geneigt ist zu vermuten, daß wir hier mit einem Ein- 
fluß weltlicher Baukunst, des Burgbaues (nach Analogie der schwedischen Beispiele, S. 476—477) zu 
tun haben, so birgt diese Vermutung nichts Überzeugendes in sich. Wie dem aber auch sei, die 
Gruppe solcher Kirchen ist ziemlich groß; einzelne Vertreter stehen zweifellos untereinander, wie auch 
mit verschiedenen anderen Formen im Zusammenhange. 

Die Zeit der Einführung dieses neuen Elementes im Kuppelbau kann bereits ganz bestimmt an- 
gegeben werden. Die neue Baumöglichkeit zeitigte zunächst eine Anzahl noch erhaltener Bauten, die 
in verschiedenen Richtungen bedeutende Unausgeglichenheiten, ein Suchen und Tasten aufweisen, 
Zugleich sind auch die Formen äußerst verschieden und erlauben zum Teil keine weitere Entwick- 
lung, da sie zu individuell sind. So scheint dies gerade in betreff der von Strzygowski überaus 
gepriesenen Kirche von Bagaran der Fall zu sein. Nur in Frankreich, in Germigny-des-Prés ist 
ein zweites Beispiel dieses Typus bekannt. Wenn Strzygowski sie in eine Gruppe mit den Kuppel- 
quadraten mit Strebenischen setzt, sich aber nicht durch die Pfeilerverstrebung geführt fühlt, so muß 
dies entschieden als Mangel betrachtet werden. Er reißt hier Formen, die eher zusammengehören, 
auseinander, wie er es auch durch das Einordnen „einschiffiger Dreipässe“ zu anderen Kirchenbauten 
mit freistehenden Pfeilern unter der Kuppel gemacht hat. 

Strzygowski konnte aber auch gar nicht dieser Tatsache der Pfeilerverstrebung eine entsprechende 
Stellung zuweisen, da er ein anderes Prinzip: Strahlenförmigkeit — Längsrichtung, als formbildend 
bezeichnet und dazu sich an die Einheit der Bedingtheit festklemmt. Wenn wir aber in seinem 
Schema die dreischiffigen Dreipässe mit den einschiffigen vergleichen, welche beide nur Unterarten 
А und B einer Gruppe der lingsgerichteten Kuppelbauten bilden, so sieht man sogleich, daß zwischen 
beiden eine Kluft bestebt, die ganz prinzipiell ist und nicht zu vergleichen mit dem Unterschiede 
zwischen dreischiffigen Dreipässen und verschiedenen anderen dreischiffigen Kuppellängsbauten ohne 
Strebenischen. Dies ist natürlich auch dem scharfen Blicke Strzygowskis nicht entgangen, wenn 
er die Strebenischen in den dreischiffigen Dreipässen nur als ein Rudiment bezeichnet, das keine 
konstruktive Bedeutung mehr hat, die durch die Tonnenverstrebung aufgehoben wird (502—503 
504, 506). Mehr als das noch: eine aufmerksame Sichtung jener photographischen Aufnahmen, die 
Strzygowski in seinem Werke von der Kirche zu Thalin gibt, läßt unwillkürlich Zweifel an der 
von Mesrop Ter-Mowsesian, Th. Thoramanian und J. Strzygowski einstimmig angegebenen 
Entstehungszeit der Kirche um die Mitte oder gegen das Ende des 7. Jahrhunderts (und jedenfalls 
vor 783 (S. 167) 1) entstehen. In diesem Bau ist, wie Strzygowski es richtig kennzeichnet, „die 


(1) Dies Datum ist einer Inschrift entnommen, die aber wie der Sprache, so auch dem Inbalte nach 
so vulgär ist, daß man eigentlich keinen Grund hat, sie nicht für das 14. Jahrhundert etwa in An- 
spruch zu nehmen. 


234 


Kuppel derart von der Apsis abgerückt, daß der künstlerische Zusammenhang der drei Strebe- 
nischen ganz verlorenging“ (so2). Er spricht weiter dann noch darüber: „Nur die armenische Kunst 
reißt diesen einst von ihr im Tetrakonchos geschaffenen Zusammenhang auseinander“ (502) und will 
dies so erklären: „Das oberste Gesetz ist ibr der Grundsatz: Der Kuppel die Mitte“. Dies alles ist 
nur eine schematisch ganz glatt ablaufende Entwicklung; tatsächlich aber scheint es keineswegs dem 
so zu sein. Die vorspringenden Konchen sind ein Zusatz zu dem im übrigen ansehnlichen Bau, 
eine Anzahi Parallelerscheinungen der kaukasischen Architektur mahnt auch zur Vorsicht in diesem 
Punkte. Es scheint vielmehr, daß dieses Motiv nur ein dekoratives Verlangen zu stillen berufen war. 
Und man muß seibst den Ausdruck Trikonchos zu dieser Bauform nur sehr mit Vorbedacht anwenden!). 

Als neue schöpferische Bemühungen sind konstruktiv von Bedeutung im Gegensatz zu den eben 
besprochenen die Kirchen aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts, wie Mren, Odzun in Armenien oder 
Tzromi in Georgien zu bezeichnen. Hier sieht man das Ringen um die Form, da der Architekt tat- 
sächlich der Kuppel die Mitte bewahren will. Diese Form der längsgerichteten Kreuzkuppelkirchen 
enthielt eine ganze Reihe von Änderungsmöglichkeiten, was auch zum Teil tatsächlich im Laufe der 
Zeit seinen Ausdruck fand. Strzygowski sondert eine Unterart, die seiner Meinung nach ent- 
wicklungageschichtlich von Bedeutung zu sein scheint, nämlich die längsgerichtete Kreuzkuppelkirche 
mit zwei freistehenden Pfeilern. Als Beispiele führt er die Kirchen von Akori und Astapat an, die 
er ins 7. Jahrhundert, jedenfalls nicht später als 989, resp. 976, ansetzt. Diese Unterscheidung ist, 
wie es sich leicht versteht, wiederum auf einer hypothetischen Grundlage erwachsen. Der Verfasser 
scheint auch nicht recht an das angegebene Alter dieser Kirchen zu glauben, wie es tatsächlich 
auch der Fall ist, da diese Form erst im 10. Jahrhundert auftaucht und danach sich immer stärker 
und stärker verbreitet. 

Desgleichen ist auch seine Zeitbestimmung der Kuppelhalle ins 7. Jahrhundert ganz verfehlt. 
Strzygowski meint, daß die Kuppelhalle „als Bauform doch schon im 6. Jahrhundert entstanden“ 
sei, da „das erste gesicherte Beispiel, Thalisch, aus dem 7. Jahrhundert stammt (S. 190 f.)“ (588). 
Aber er bemerkt selber, daß: „diese Bauform als Gattung für die Spätzeit der armenischen Kunst ebenso 
bezeichnend ist, wie die Konchenquadrate und die reinen Strebenischenbauten für ihren Anfang... 
Die Kuppelhalle hat sich in der armenischen Kunst, nach dem Jahre 1000 etwa, derart eingebürgert, 
daß sie für die spätere Zeit als die armenische Bauform schlechtweg gelten kann“ (508, 588, 854). 
Und Strzygowski führt dann über 25 Kirchen an, dem Namen nach oder näher beschreibend, die 
— abgesehen von zweien, die am Ende des 9. Jahrhunderts erbaut worden sind — alle aus dem Ende 
des то. Jahrhunderts und später stammen. Dieser ganzen Reihe ist allein die Kirche von Thalisch 
als ein Bau des 7. Jahrhunderts, gegenübergestellt. Diese Behauptung beruht auf der Inschrift aus 
dem Jahre 668 oder 671 (vgl. Abb. 40, 8. 46). Diese Inschrift wird in Strzygo wskis Untersuchung 
als zweifellos original vorgeführt und kein Wort darüber gesagt, daß sie von Orbeli (vgl. oben) als 
eine späte Kopie erwiesen worden ist. Orbeli hat diese Tatsache unwiderlegbar bewiesen (in 
Strzygowskis Besprechung dieser Inschrift von Thalisch wird unmerklich gegen Orbeli polemi- 
siert) und die Zeit ihrer Entstehung im 11. Jahrhundert angesetzt. Somit muß sie bei Besprechung 
der jetzt bestehenden Kirche außer Spiel fallen. In der Tat wird dieses hohe Alter durch die Auf- 
nahmen keineswegs bekräftigt. Und so kommt man auch von dieser Seite her zu dem Schluß, daß 
die Kuppelhalle im Kaukasus etwa im 9. Jahrhundert entsteht. Dies läßt sich auch auf Grund des 
georgischen Materials rechtfertigen, denn trotz Strzygowskis Behauptung (854) finden wir auch in 
Georgien Kuppelhallen, wenn sie hier auch keine so überwältigende Verbreitung gefunden haben. 
Hier hat sich dagegen die Kreuzkirche mit vier und insbesondere zwei Pfeilern verbreitet. 

Ich begnüge mich mit diesen Bemerkungen über das Schema der Formenentwicklung „armenischer“ 
Baukunst, obgleich sie nur einiges besonders Wichtige behandeln. Mit diesen behandelten Punkten 
sind auch weitere Folgebebauptungen verbunden — ich konnte aber hier keineswegs alles besprechen. 
Ich konnte auch vor allem nicht das genügend angeben, was in diesem Schema meiner Meinung 
nach als ein dauernder Gewinn zu bezeichnen ist. Diese äußerst wichtigen Prinzipien und fein be- 
obachteten Charakterzüge werden, wie wir sahen, mit unannehmbaren Aussagen verquickt. Im 


(1) In betreff der Kirche von Alawerdi (Georgien) bemerkt Strzygowski, sie sei in Exedern geteilt 
(167), was er den Maßaufnahmen Grimms entnimmt. In Wirklichkeit aber sind diese Exedern 
durch spätere Vermauerung entstanden. 


235 


ganzen läßt die obige Besprechung der Formenentwicklung uns ein kontinuierliches Werden und 
Entwickeln beobachten, das Jahrhunderte geschichtlichen Lebens umfaßt, Zwar könnte man hoffen 
daß im dritten Buche, der „Geschichte“, Strzygowski eine Begründung seiner Konstruktion liefern 
würde. Dem ist aber nicht so — es ist eine Skizze, die leider nichts beweist, sondern nur Be- 
denken erweckt. 

ҮП 


Zum Schluß unserer Betrachtung ist es noch notwendig des Zusammenhanges zu gedenken, den 
Strzygowski bereits im Titel seiner Untersuchung „Die Baukunst der Armenier und Europa“ 
angibt. Wohi erst im letzten Moment muß seine Untersuchung diese Richtung erhalten haben. 
Sie ist bereits im anderen Werke „Altai-Iran und Völkerwanderung“ sowie in „Die bildende Kunst 
des Ostens“ vertreten. Es handelt sich nämlich nicht allein um das Verhältnis der Kunst im Kaukasus 
zur europäischen, sondern tiefer gehend um ein Rassenproblem, um das Verhältnis der armenischen 
Kunst als eines Zweiges der arischen Kunst überhaupt. Für ihn sind die Armenier — Arier schlecht- 
hin. Und es versteht sich demnach, weshalb er nur nebenbei die Kunst der Georgier behandelt, 
und dieselbe geradezu für eine Ablegerkunst der Armenier erklärt: die nicht-arische Abkunft der 
Georgier unterliegt ja weiter keinem Zweifel, mag sie auch positiv strittig erscheinen. Bei alledem 
ist es aber nicht erlaubt, die Kompliziertheit der Frage so glatt zu verschweigen, wie es leider hier 
geschieht. Strzygowski mußte meines Erachtens die Tatsache wohl erwogen haben, daß die 
Abstammungsfrage der Armenier seit langer Zeit bereits stark debattiert wird und jedenfalls — mag 
man als Nicht-Fachmann vielleicht sich nicht so oder anders entscheiden — sehr verschieden in den 
einzelnen Wissenschaftsrichtungen behandelt wird. 

Trotzdem aber, daß Strzygowski die Kunst der Armenier für eine arische erklärt und behauptet, 
daß von nun an neben die beiden anderen Ausdrucksformen arischer Kunst — die griechische und 
nordisch-gotische — ein dritter, bisher unbeachtete Zweig arischer Kunstbetätigung — der armenische — 
herantritt, welcher gerade der am meisten typische und unbeeinflußte sei — verschließt er sich nicht 
der Erkenntnis, daß die westeuropäische Kunst der christlichen Zeit doch etwas Selbständiges ist und 
nicht eine Abzweigung oder Weiterführung der armenischen. Ab und zu bringt er zwar auch ein- 
zelne dieses bekräftigende Zusammenstellungen, aber sie beziehen sich immer nur auf die Zeit vor 1000. 
Die Kunst des Mittelalters und insbesondere die Baukunst der italienischen Renaissance erklärt er 
prinzipiell für selbständig entstanden, und dies trotz der oftmaligen Übereinstimmung in den Grundriß- 
formen. Man kann natürlich nur sehr bedauern, daß er keine ähnliche Aufmerksamkeit und Vorsicht 
auch in anderen Fragen und Zusammenhängen offenbart hat. 

Die hier eingehend besprochene Untersuchung Strzygowskis bringt somit nicht nur ein ganz 
neues und überaus reichhaltiges Tatsachenmaterial der allgemeinen Kunstgeschichte bei, sondern sie 
gibt zugleich einen Versuch, dieses Material allgemeinen Gesichtspunkten und den bereits in der 
Wissenschaft ausgesprochenen Zusammenhängen einzuordnen. Sie ist somit ungemein wertvoll, da 
hier zum erstenmal wirklich der Versuch gemacht worden ist, die Kunst des christlichen Kaukasus 
in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Kunstgeschichte zu verstehen und zu würdigen. In letzter Hin- 
sicht sind ganze Abschnitte dieses Werkes überaus wichtig, wo die kaukasische Architektur zusammen- 
fassend charakterisiert wird, so 88. 304—329, 544—569. 

Wir haben uns bemüht, die ausschlaggebenden Momente und Behauptungen der hochbedeutenden 
Untersuchung Josef Strzygowskis hervorzuheben und sie zu besprechen. Dieser Untersuchung ist 
auf lange Zeit beschieden, die Hauptquelle beim Behandeln armenischer und zum Teil selbst georgi- 
scher Baukunst zu sein. Daher war eine eingehende kritische Besprechung sehr geboten, und sehr er- 
forderlich. Ich konnte selbstverstindlich aber nur die Grundlagen der ganzen Untersuchung be- 
sprechen, ihren theoretischen Aufbau und die theoretisch wichtigsten Ergebnisse, keineswegs aber 
das überaus reichhaltige Tatsachenmaterial und die nicht minder reichhaltigen Einzelbemerkungen 
des Verfassers im ganzen. Dies wäre eine Aufgabe für sich, die nur in einer eigenen Gesamtunter- 
suchung des Materials selbst, als Parallelbehandlung auszuführen ist!). Aber auch abgesehen davon 
liegt meines Erachtens die Hauptbedeutung dieser bedeutenden Arbeit gerade in den allgemeinen Ge- 


(т) Wenn ich ab und zu einzelne Kleinigkeiten vermerkt habe (keineswegs erschöpfend), so hatte es 
den Zweck, auch darauf aufmerksam zu machen, daß hier manchmal nicht alles ganz korrekt ist 
(so auch in einigen Aufnahmebezeichnungen). 


236 


sichtspunkten, die unserem Verständnis der Baukunst dieses selbständigen Gebietes der christlichen 
Welt im Oriente ein ganz neues Fundament gibt. Und diese allgemeinen Gesichtspunkte, trots 
allerlei Widerspruch, den ich zu erheben mich gezwungen sah, erkläre ich für einen als neue 
Erkenntnis überaus wichtigen Beitrag für die allgemeine Kunstgeschichte. Auch dieses Werk, wie 
andere Werke desselben Verfassers, wirft in die Forscherwelt eine Unmenge von neuen Frage- 
stellungen, neuen Problemen; mögen die Antworten, die der Verfasser gibt oder ahnt, auch nicht 
immer ausreichend begründet oder stichhaltig sein. 


ÄLTERE KIRCHLICHE KUNST IN SCHONEN. Von RICHARD HAUPT 


Ir Jahre 1914 war in Malmö eine große Ausstel- 

lung für die Ostseeländer veranstaltet. Der im 
selben Jahre geschehene Ausbruch des Krieges 
hat bewirkt, daß diese Ausstellung für uns ohne 
die volle Beachtung vorübergegangen ist, die ihr 
gebührte. Das ist auch für die Altertumswissen- 
schaft recht bedauerlich, denn es hatten treffliche 
schwedische Gelehrte in wunderbarer Rührigkeit 
damit eine Schau über den ganzen alten Kunstbe- 
stand in dem wichtigsten Bereich des germanischen 
Nordens, in Schonen, verbunden. Aus 200 Kir- 
chen hatten sie zusammengebracht, was irgend 
dem Zweck dienen konnte und nicht am Platze 
fest war. So ist die Ausstellung in ihren 611 
Stücken, vom Kelch und Rauchfaß bis zum Tauf- 
stein und Altarschrein, ein Ereignis gewesen von 
besonderer Bedeutsamkeit, das nur zu achnell vor- 
übergerauscht ist. Es war auch für die Zusam- 
menstellung trefflich gesorgt, und daß die Veran- 
staltung auf die Dauer ertragreich sei, dafür sorgt 
eine jener schönen Veröffentlichungen, die sich in 
Schweden an die großen archäologischen Ausstel- 
lungen anzuschließen pflegen). Und es ist nicht 
zu leugnen, daß wir bei persönlichem Besuche 
nicht so viel Schönes hätten genießen und uns 
aneignen können, als uns jetzt in der Beschrei- 
bung geboten wird. Sie vergegenwärtigt uns die 
Ausstellung in Wort und Bild, und daran schließt 
sich eine Fülle bester Belehrung, die uns auch 
zeigt, was aus der schonischen Kunst in der Be- 
rührung mit der Kunst anderer Völker und nament- 
lich der Deutschen, geworden ist. Das herrlich 
ausgestattete Werk in groß Oktav hat 280 Seiten 
und 218 Abbildungen, und der Titel lautet zu 
Deutsch: Ältere kirchliche Kunst in Schonen, Stu- 


(1) Rydbeck och Wrangel: Äldere kyrklig Konst 
ißkone. Trykt: Berlingska Boktr. i Lund 1921. 


dien, in Anlaß der Malmöer kirchlichen Ausstel- 
lung von 1914 herausgegeben von Otto Rydbeck 
und Ewert Wrangel, Der Inhalt beschäftigt sich 
nicht ausschließlich mit den suf der Ausstellung 
vertreten gewesenen Gegenständen, sondern es 
wird namentlich auch das, was in der Sammlung 
der Lunder Universität enthalten ist, mit berück- 
sichtigt. 

Da das Buch in Deutschland unter den heutigen 
Verhältnissen nur wenigen zu Gesichte kommen 
kann, und da auch nicht viele davon den vollen 
Ertrag haben könnten, weil es zu den ausgezeich- 
neten Abbildungen keinen deutschen Auszug ent- 
hält, dergleichen uns die Schweden sonst öfters 
so freundlich beigaben, so ist für uns ein gerech- 
ter Anlaß gegeben, den Inhalt etwas eingehender 
vorzuführen. 

An erster Stelle schildert Otto Rydbeck, Dozent 
an der Lunder Hochschule, die Ausstellung selber. 
Im Anschluß daran gibt er uns Rechenschaft über 
die wissenschaftliche Ausbeute derselben. Diese 
Arbeit ist eine kleine Archäologie der schonischen 
kirchlichen Kunst, wie sie sich an beweglichen 
Gegenständen kundgibt. 

Dann folgen Abhandlungen über einzelne The- 
mata. Karl Wilhelm Wohlin behandelt einige 
Stücke der schonischen Kunst in Metallarbeit des 
13. Jahrhunderts, Namentlich gehören hierher 
einige kleinere Kreuze, mit vergoldeten Kupfer- 
platten belegt, und metallene Kronen von hölzer- 
nen Cruxiflxen . 

Hans Wohlin, Mitarbeiter am historischen Mu- 
seum von Lund, gibt eine Abhandlung, betitelt: 
Französischer Stil in den mittelalterlichen Holz- 
(а) Ein solches Metallkreus ist auch del uns su finden in 


der Kirche su Süsel in Wagrien. Es ist durch irgendwelche 
Zusammenhänge in unser nordelbisches Land verschlagen. 


237 


skulpturen Schonens. Er beschäftigt sich beson- 
ders mit Kruzifixen und mehreren Marienbildern 
des 14. Jahrhunderts. Otto Rydbeck faßt alles 
zusammen, was über den Chorbalken und den 
Lettner beizubringen ist. Es fällt bier auf, wie 
wenig hierüber aus Schonen zu gewinnen ist. Ja, 
es besitzt das ganze große Schweden wie auch 
Dänemark keinen Lettner mehr, so kann 
selbst über den Lettner des Domes zu Lund nur 
auf Grund alter Nachrichten geurteilt werden. Er 
stammte aus dem 13. Jahrhundert. Noch weniger 
ist über den zu Dalby zu ermitteln gewesen. Selbst 
an Chorbalken des Mittelalters gibt es merkwür- 
digerweise nur zwei. Aber sehr beachtenswert 
und in spannender Darlegung geschildert ist das, 
was Rydbeck über eine jetzt im Lunder Museum 
ausgestellte mittelalterliche Lettnerbühne aus Holz 
mitteilen kann, die aus der Kirche Skärby stammt, 
ursprünglich aber wahrscheinlich in der Kirche 
zu Balkokra gewesen ist. Von ihr ist nur das 
Gerüst übrig: zweimal vier Pfosten, deren ge- 
schnitzte Arbeit auf früh mittelalterliche Zeit deutet, 
tragen den Oberbau, der eine Bühne gebildet haben 
muß. Auf dem vorderen Rahmholz war die Kreuz- 
gruppe angebracht. Man hatte diese Bühne am 
Ende des 17. Jahrhunderts umgestaltet; jetzt ist 
alles in verständiger Weise im Museum auf- 
gestellt!). 

In der vierten Abhandlung begegnen wir dem 
gelehrten Erforscher der schonischen Taufsteine, 
dem Pastor Lars Tynell. Über die Taufsteine des 
ganzen Bereichs hat er ein besonderes wunder- 
schönes und wohl abschließendes Werk heraus- 
gegeben und kürzlich vollendet. Hier bringt er 
das, was über metallene Taufen zu berichten ist, 


und 


(1) Zu diesem Gegenstande können wir unserseits nicht 
ohne einige Genugtuung aus dem Bereiche Schleswigs 
einige Anmerkungen hinzufügen. Es gibt hier, von An- 
deutungen oder Stücken alter Chorbalken abgesehen, an 
denen es nicht fehlt, nicht bloß eine große Anzahl nach- 
mittelalterlicher, zum Teil zu vollständigen Chorschranken 
gehöriger Triumphkreuze im Chorbogen, sondern auch drei 
echte, ordentlich erhaltene Chorbalken aus der älteren Zeit: 
einen romanischen zu Rieseby aus dem 13. Jahrhundert 
und die spätgotischen zu Kating und zu Warnitz, Der Ka- 
tinger ist im 19. Jahrhundert leider allzusehr verschönert 
worden, aber immer noch ein herrliches Stück, an dem 
sich auch der Humor der alten Zeiten erweist; der von 
Warnitz bedurfte keiner Verschönerung. Dieser hat die 
Form eines Eselrtickens, aus dem ein treffliches romani- 
aches Kruzifix hinaufwächst, So ist er ein bescheidenes 
Gegenstück der herrlichsten aller derartigen Schöpfungen, 
des Triumphkreuzes im Lübecker Dome. Wir glauben auch 
richtig erkannt zu haben, daß wir Bruchstücke von roma- 
nischen Chorschranken besitzen, nämlich zu Bjerning bei 
Hadersleben und die erst neuerdings zutage gekommenen 
geschnitzten Holzplanken zu Humptrup im Kreise Tondern. 
Schließlich ist auch ein Lettner vollständig vorhanden, 
wenn er auch nicht mehr an seinem Orte steht, sondern, 
in zwei Teile gespalten, abseits gestellt ist. Er steht im 
Schleswiger Dome. 


238 


anknüpfend an die spätgotische Bronzefünfe aus 
Asmuntorp, die zu Malmö mit ausgestellt war. 
Es werden uns ferner vorgeführt die Taufe aus 
dem Dom zu Lund von 1596, von Ronneby 1604, 
von Ystadt 1611. Diese ist gegossen von Rein- 
hold Benning zu Lübeck; aber auch die andern 
sind lübisch oder wenigstens von Lübeck ab- 
hängig. Der sehr schöne Kessel von Asmuntorp 
ist undatiert und ohne Inschrift, schließt sich 
aber klärlich an an die Taufen im Dome zu Lübeck 
von Laurenz Grove 1455, zu Mölln von Peter 
Wulf 1509 und zu Eutin von 1511. So haben 
wir wieder einen Zuwachs zum Bestande von 
Kunstwerken, die in Niedersachsen ihre Heimat 
hatten, und die diesem Lande fast eigentümlich 
sind, so daß es auf diesen Reichtum der ganzen 
Welt gegenüber stolz ist?). 

Im fünften Teile hat es Helge Kjellin gewagt, 
einen Gegenstand neu und vollständig zu behan- 
deln, der schon zahlreiche Forscher aufgeregt und 
gequält hat, ja über den in vorigen Zeiten etliche 
ihren Verstand darangegeben haben sollen: die 
messingenen Taufschalen und ihre Inschriften. 
Diese Sache geht wieder ganz wesentlich uns 
Deutsche an, Denn obwohl man sich alle Mühe 
gibt, derlei Arbeiten niederländischen Becken- 
schlägern zu- und dann uns abzusprechen, als ob 
die Niederlande nicht auch deutsche Lande wären, 
so ist doch auch unser engerer Bestand daran so 
ungeheuer groß, daß der tatsächlich recht reiche 
von Schonen dagegen nicht beträchtlich ist. Immer- 
hin ist er mannigfaltig und vollständig und der 
Beachtung durchaus würdig, die ihm Kjellin zuteil 
werden läßt. Er führt uns sechs der schonischen 
Schüsseln vor, dazu in ıı Abbildungen die In- 
schriften. Dazu kommt eine Menge von Stücken 
aus Deutschland, namentlich dem Germanischen 
(2) Vgl. Albert Mundt, Die Erstaufen Norddeutschlands, 
Leipzig, Klinkhardt & Biermann 1908. Niedersachsen ist 
das Gebiet der Ersfünten, am meisten sind sie auf beiden 
Seiten der Niederelbe zu Hause Zur Ergänzung von 
Mundts Verzeichnis lasse ich hier ein neueres folgen aus 
der Handschrift: Geschichte und Art der Baukunst in Hol- 
stein 21, 20: Von den aus alter Zeit im Bereiche der Deut- 
schen noch vorhandenen und nachweisbaren Taufgrapen, 
an der Zahl 175, kommen auf Friesland, Hannover, Nord- 
elbingen, Mecklenburg 110, auf Schleswig einschließlich 
Hollands 7, Pommern 1, Brandenburg 15, die Provinz Sachsen 
und das Harzland 25, Westfalen 4, Schlesien 3, West- 
preußen 2 Süddeutschland 5 und Flandern 3. Hiervon be- 
sitzt Ditmarschen 9, Holstein und Stormarn 14, Wagrien 
und Polaben 17 und Mecklenburg 10. Das sind zusammen so. 
Von diesen kommen ı5 auf das Mündungsgebiet rechts der 
Elbe und von den anderen 60 stehen am linken Ufer der 
Unterelbe zwei Drittel. Wenn wir also von den anderen 
s5 die des Harzlandes, der Provinz Sachsen und Branden- 
burg nebst Nordelbingen, Mecklenburg und Schleswig hin- 
zurechnen, so fallen von den 175 bekannten deutschen 


mittelalterlichen Taufgrapen auf Sachsen, namentlich Nieder- 
sachsen, 157. 


Museum!). Kjellins Bemühung ergibt eine ab- 
schließend erscheinende Lösung der Frage nach 
den Inschriften, soweit diese Lösung überhaupt 
möglich ist. Am meisten natürlich beschäftigt 
ihn die Bedeutung der sich gewöhnlich fünfmal 
wiederholenden Buchstaben Benedi. 

Zum Schluß handelt Ewert Wrangel über die 
schonischen Altarschreine und bewährt wieder 
seine genaue und tiefe Vertrautheit mit der deut- 
schen Wissenschaft und die Bestimmtheit seiner 
Beziehungen zur Lübecker Plastik. Die schoni- 
schen Altarwerke, zum Teil von vorzüglicher Güte, 
gehören fast ohne Ausnahme dem Kreise der 
Cimhrischen Halbinsel, und namentlich der lübi- 
schen Kunst an. Man kann in diesem Schluß- 
abschnitt eine Krönung des ganzen Werkes or- 
kennen. Es ist aber nicht geraten, seinen Inhalt 
bier vorzutragen, wo keine Abbildungen gegeben 
worden können. 

In die Freude am Genusse dieses schönen 
Werkes mischt sich ein gewisses Bedauern, da 
wir fühlen, wie die Verbindung zwischen Deutsch- 
land und unsern nächsten Verwandten im Norden, 
an der uns so viel gelegen ist, sich nur mit großer 
Anstrengung aufrechterhalten läßt. Das Werk 
ist nur in 600 Abzügen gedruckt. In Deutsch- 
land werden sich nur wenige seines Besitzes zu 
erfreuen haben. Aber schon die Betrachtung der 
Abbildungen ist lohnend und genügt, um daraus 
einen erheblichen Gewinn zu ziehen. 

In einer Hinsicht sah sich die Erwartung be- 
richtigt oder man kann auch sagen enttäuscht. 
Man konnte denken und hoffen, daß aus der Aus- 
stellung unsere Kenntnis von der eigentlichen 
germanischen Kunst oder wenigstens von den 
eigenen Zügen, in denen sich das nordisch-ger- 
manische Kunstgefübi in den Leistungen der 
weiter entwickelten Kunst offenbart, neuen Zu- 
strom erhalten werde, Solche Züge treten aber 
in dem Werke nicht hervor, und es hat sich auch 


(1) Wir könnten unserseits aus Holstein und Schleswig für 
eine vollständige Aufführung, wenn es der Mühe wert wäre, 
sie zu geben, eine recht namhafte Anzahl beisteuern: das 
Register unseres Inventars der Baudenkmäler 3. 104 f. führt 
307 auf. 


leider keine Gelegenheit ergeben, zu den abhan- 
delnden Kapiteln noch eines hinzuzufügen, das 
sich mit diesem für uns doch vor allem bedeut- 
samen Gebiete beschäftigte. Es ist wichtig, hier- 
für eine Erklärung zu suchen. Sie liegt zunächst 
darin, daß Schonen von altersher kein Teil Schwe- 
dens, sondern Dänemarks ist. In den dänischen 
Landen hat die Kraft, in der die ausländischen 
Stilrichtungen aufgenommen worden sind, das 
einheimische Kunstgefühl, und zwar ganz beson- 
ders in der kirchlichen Kunst, schnell zurück- 
gedrängt und überwunden. Und es stammten 
von den Gegenständen der Ausstellung auch nur 
ganz wenige aus Zeiten, die vor dem 13. Jahr- 
hundert liegen, also in die Anfangsperiode zurück- 
gehen. Die Scheide zwischen Heiden- und Christen- 
tum ist etwa das Jahr 1000. Ferner aber ist ge- 
rade die Gruppe von Schöpfungen der Kunst, in 
der der germanische Geist am meisten lebendig 
war, und aus deren Betrachtung so viel zu ge- 
winnen ist, nämlich die Taufsteine, bei der Aus- 
stellung nicht wesentlich beteiligt gewesen. 


Die Veranstalter der Ausstellung haben gewiß 
lebhaft bedauert, gewisse Gegenstände nicht mit 
vorführen zu dürfen, aus deren Betrachtung sich 
ergeben mußte, daß im Gesamtbilde der schoni- 
schen Kunst der rein germanische Zug nicht 
fehlen darf und kann. So ist es eine für uns er- 
freuliche und willkommene Ergänzung des hier 
besprochenen Werkes, daß Prof. Ewert Wrangel 
kürzlich in der historischen Zeitschrift für 
Schonen (7, 271—298) ausgiebig und umfassend, 
durch 30 Abbildungen erläuternd, über die Reli- 
quienschreine von Kammin und Bamberg 
gehandelt hat. Hier finden wir erschöpfende Dar- 
legungen über die Ornamentik, über das Herein- 
spielen menschlicher und tierischer Gestalten, über 
die Beschläge und über die Technik. Zum Schluß 
wird gefragt, wie diese Schreine aus Schonen 
nach Deutschland gelangt sind. Das ist in den 
frühen Zeiten des 12. Jahrhunderts geschehen, und 
der Bischof Otto von Bamberg, der Apostel Pom- 
merns, hat daran seinen Anteil. 


239 


REZENSIONEN . 


NEUE LITERATUR über die Bau- 
kunst des Klassizismus, 


Den Architekten, die sich für die Bauten des 
Klassizismus erwärmten und sie für die Gegen- 
wart fruchtbar zu machen hofften, verdankt man 
eine Reihe von Abbildungswerken, deren bestes, 
das von Paul Mebes herausgegebene „Um 1800“, 
in der zweiten Auflage durch Abbildungen und 
eine beredte Einleitung von W. C. Behrendt be- 
reichert ist, Die wissenschaftliche Bearbeitung 
dieses baugeschichtlich ungemein interessanten 
Kapitels steckt noch in den Anfängen. P. Klopfers 
Versuch einer zusammenfassenden Darstellung 
„Von Palladio bis Schinkel“ (1911) war durchaus 
unzureichend. Am Beginn eingehenderer Behand- 
lung eines Teilgebietes steht Hermann Schmitz 
„Berliner Baumeister vom Ausgang des 18. Jahr- 
hunderts“ (1914). Zwar liegt auch hier noch der 
Nachdruck auf den (vorzüglichen) Photographien, 
doch bringt auch der Text wesentliches Material 
nicht nur für den historischen Tatbestand, sondern 
auch zur Charakterisierung dieser über Preußen 
hinaus einflußreichen Schule. Eine zutreffende 
Vorstellung von der Gesamterscheinung des Stils 
wird sich orst gewinnen lassen, wenn weitere 
Einzeluntersuchungen vorliegen. 

Über einen der in Deutschland führenden Männer 
besitzen wir sie seit kursem: dem Karlsruher 
Friedrich Weinbrenner hat Arthur Valde- 
naire eine mit großer Sorgfalt und Liebe aus- 
geführte Arbeit gewidmet (C. F. Müllersche Hof- 
buchhandlung, Karlsruhe 1919, 324 S. mit 254 Ab- 
bildungen). Zum ersten Male wird die Bekannt- 
schaft mit dem umfangreichen, das erste Viertel 
des ı9. Jahrhunderts umfassenden Gesamtwerk 
Weinbrenners vermittelt, die Geschichte der aus- 
geführten Bauten sowie der erhaltenen Entwürfe, 
womöglich auf Grund urkundlicher Nachrichten 
dargestellt. Die Abbildungen bringen eine Fülle 
bisher unveröffentlichten Materials. Die gewissen- 
hafte Darlegung des Tatsächlichen ist das wesent- 
liche Verdienst Valdenaires. Was er über die 
kunstgeschichtliche Stellung W.s äußert, tritt dem- 
gegenüber zurück, Nicht nur die Beziehung Wa 
zur römischen Antike zu verfolgen, ist, wie der 
Verf. anregend meint, eine dankenswerte Auf- 
gabe, sondern vor allem das Eigentümliche der 
Weinbrennerschen Ausdrucksweise gegenüber den 
gleichzeitigen Baumeistern. Bei einem Vergleich 
mit Schinkel ist übrigens zu bedenken, daß W. 
15 Jahre älter gewesen ist und daß er (1826) 


240 


starb, als Schinkel noch anderthalb Jahrzehnt 
Schaffenszeit vor sich hatte. Doch erklärt dies 
den Unterschied gewiß nicht allein. W.s Stil, 
sagt Valdenaire, sei „wärmer, voller, unbefangener“ 
als der Schinkels. Damit umschreibt er den näm- 
lichen Gegensatz, den W. selbst in seinen „Denk- 
würdigkeiten“ als einen allgemeinen zwischen 
Nord- und Süddeutschland empfunden hat: „Wenn 
ich mir gleichwohl gestehen mußte, daß Wien 
und andere mehr südlich gelegene Städte in Hin- 
sicht der Kunst im allgemeinen vieles vor Berlin 
voraus hatten, so fand ich doch an letzterem Ort 
im geselligen Leben mehr Ideen über Kunst ver- 
breitet; man begnügte sich hier nicht mit all- 
gemeinen Urteilen, sondern wußte diese Urteile 
tiefer zu begründen. Den Südländer führt mehr 
ein glücklicher Trieb, während seine nördlichen 
Landsleute das Reich der Begriffe zu erweitern 
streben.“ Für die ideologische Richtung der 
spätern Schinkelschen Entwürfe wire W. nicht 
zu haben gewesen, auch wenn er einer jüngeren 
Generation angehört hätte. 

Nach Seite der Anschauung wird Valdenaires 
Buch mehrfach ergänst durch ein kürzlich bei 
Ernst Wasmuth in Berlin erschienenes Heft 
„Friedrich Weinbrenner“, hreg. von Max 
Koebel (118 8. mit 133 Abb.): neben guten 
Photographien großen Formats bringt der Verf. 
eigne maßstäbliche Aufnahmen der wichtigsten 
Bauten. In der Einleitung wird die Kunst W.s 
mit Verständnis und Empfindung umrissen. 

Schließlich sind Weinbrenners eben erwähnte 


' ,Denkwtrdigkeiten aus seinem Leben von 


ihm selbst geschrieben“ bei Gustav Kiepenheuer, 
Potsdam, in einem sehr hübschen Gewande neu 
erschienen (278 S. mit 9 Abb.). Sie umfassen 
seine Lehr- und Wanderjahre in der Schweiz, 
Wien, Berlin und vor allem Italien bis zum Be- 
ginn seiner Bautätigkeit in badischen Diensten 
(1797). Über künstlerische Dinge äußert er sich 
nicht viel, aber den Menschen Weinbrenner lernt 
man aufs erfreulichste kennen und seine anschau- 
lichen Schilderungen mannigfacher Reiseabenteuer 
und der römischen Zustände machen das Buch 
zu einer recht unterhaltsamen Lektüre. Kurt K. 
Eberlein, dem wir die Neuausgabe verdanken, 
widmet seinem Landsmann ein feinsinnig be- 
schwingtes Nachwort. 

Einen jüngeren Zeitgenossen Weinbrenners, den 
mecklenburgischen Hofbaumeister Joh, Georg Barca 
(1781—1826) lernen wir aus einer kleinen an- 
genehmen, mit guten Abbildungen versehenen 


Schrift von Joh. Paul Dobert „Bauten und 
Baumeister in Ludwigslust“ (Magdeburg, 
Karl Peters Verlag 1920) kennen. Barca, ohne 
starke Besonderheit, aber in bescheidenen Grenzen 
tüchtig und gediegen, zeigt, wie auf der Grund- 
lage damaliger Schulung (in Berlin und Paris) 
ein anständiger Durchschnitt aufwachsen konnte. 
Sein Hauptwerk ist das Rathaus in Wismar. 
Schinkels Kunst wird man erst dann erfassen 
können, wenn die über 3000 Zeichnungen seines 
Nachlasses im Charlottenburger Schinkelmuseum 
neu geordnet und gesichtet sind. Diesen Wunsch 
spricht auch Erich Gloeden aus, der in den 
von C. Gurlitt herausgegebenen bauwiss. Beiträgen 
(Der Zirkel, Arch. Verlag, Berlin 1919, 96 8. mit 
ı5 Abb.) eine Abhandlung „Die Grundlagen 
zum Schaffen С. Fr. Schinkels“ verdffent- 
licht hat. Eine dem Studium günstigere Aufstel- 
lung jenes Materials wäre auch für Gloedens Arbeit 
nützlich gewesen. Denn er stellt nicht nur, was 
vielleicht der Titel vermuten läßt, zusammen, was 
an architektonischer Anschauung bei Sch.s Ein- 
tritt in die Baugeschichte herrschend war, son- 
dern versucht auch eine kritische Würdigung der 
Schinkelschen Tätigkeit in ihren verschiedenen 
Phasen. Das geschieht in etwas aphoristischer 
Weise und bizweilen stößt man auf merkwürdige 
subjektivo Werturteile. So wenn er von Friedrich 
Gillys „sehr trocknen und unfruchtbaren“ Ideen 
spricht, oder wenn er es übel vermerkt, daß Sch. 
in seinen Entwürfen für Berliner Wohnungen 
keine Badezimmer vorgesehen hat, oder wenn er 
sagt, das Gebäude der Bauakademie sei „keines- 
теке Ausdruck seines innersten Wesens“ . Aus 
dieser letzten Bemerkung möchte man annehmen, 
der Verf. verkenne den komplizierten, problema- 
tischen Charakter der Schinkelechen Persönlich- 
keit. An anderen Stellen aber bekundet er eine 
sutreffendere Vorstellung: Er wendet sich s, B. 
gegen die mehrfach geäußerte Ansicht, Sch, habe 
eine „romantische Epoche“ gebabt (bis 1815), viel- 
mehr begleite das verzehrende Ringen um zwei 
entgegengesetzte Pole Schinkels ganzes Leben 
und habe nie einen endgültigen Ausgleich ge- 
funden. Und das Richtige trifft Gloeden m. E. auch 
mit den Sätzen am Schluß seiner Beobachtungen 
(die häufig zum Widerspruch reisen, aber für den, 
der sich bereits mit dem Thema beschäftigt, an- 
regend und fruchtbar sind): „Schinkel hat den 
Entwicklungsgang des 19. Jahrhunderts nicht nur 
eingeleitet, man kann ruhig sagen, er hat ihn 
schon zu Ende geführt! Da ist keine Form, keine 
Technik, keine Idee irgendwelcher Art, die nicht 
in seinen Worten und Werken bereits vernehm- 


Monatshefte für Kunstwissenschaft eng, 7—9. 16 


lich vorklingt. Und noch dazu vieles, was er 
nicht übernahm, sondern völlig aus sich selbst 
heraus esschuf. Mag man das Ergebnis an und 
für sich unvolikommen finden, die innere Kraft- 
leistung an sich ist die eines Genies.“ 

A. Grisebach, 


HANS ROSE, Spätbarock. Studien zur 
Geschichte des Profanbaus in den Jahren 


1660—1760. Verlag Hugo Bruckmann, 
München 1922. 


Rose hat vor einiger Zeit in einer gut lesbaren 
Übersetzung die Memoiren des Mr. de Chantelou 
herausgegeben, die vor vielen Jahren in einer 
ganzen Reihe von Jahrgängen der Gazette des 
Beaux-Arts erstmalig veröffentlicht wurden, infolge- 
dessen von der weiteren Forschung ziemlich un- 
gewertet blieben. Die Beschäftigung mit diesen 
Memoiren des französischen Ehrenherrn, der dem 
Italiener G. L. Bernini Zeit seines Aufenthalts 
in Paris 1665 beigegeben wurde, hat Rose dazu 
geführt, das Problem des Barocks umfassend an- 
zugreifen und jetzt eine Zeitspanne von gut hun- 
dert Jahren, die er als Spätbarock bezeichnet, 
herauszuschälen, innerhalb der er die Entwick- 
lung des Profanbaus in weitestem Sinn für Italien, 
Frankreich und Deutschland behandelt, Nach 
einer allgemeinen Einleitung, in der die Begriffe 
„Dekorativer Stil“, „Transitorisches Moment“ und 
„Der Ausgleich der Werte“ — nach Rose bedingt 
der Drang zum synthetischen Sehen eine Quali- 
tätsverminderung der Einzelobjekte — behandelt 
werden, rollt sich vor uns das gewaltige Schau- 
spiel in seinen Komponenten auf, beginnend mit 
der Landschaft, der Gartenkunst und dem Stadt- 
bau, weiterhin die Gebäudeform und die Raum- 
form darstellend, um schließlich mit der Deko- 
ration zu enden, die bis zur Behandlung des 
Zimmers und der Möbel durchgeführt wird. Das 
Gebiet wird also umgekehrt durchschritten, wie 
sonst allgemein in dem Bestreben, synthetisch 
vom Kleinen zum Größeren voranzuschreiten, 
üblich war, Denn schließlich ist der Wandel der 
Raumform auch das Primäre für die Entwicklung 
der Stadtbaukunst und der Gartenanlagen. Aber 
gern soll zugegeben werden, daß mit der ge- 
wechselten Perspektive neue Anblicke sich auf- 
tun. Eine Fülle sehr beachtenswerter Einzel- 
beobachtungen ergeben sich, zumal Rose erneut 
aus den Quellen geschöpft hat. Im Zentrum der 
gesamten Darstellung steht das Problem des 
Louvrebaus, auf das ja des Tagebuch Chantelous 
nachdrücklich verweist. Merkwürdigerweise be- 


241 


nutste Rose nicht jene vielleicht noch wichtigere 
Quellenschrift, die sich uns in den „Mémoires 
de ma vie“ des Bruders von Claude Perrault, des 
Charles Perrault, bietet, des Vertrauten des all- 
mächtigen Colberts, der der eigentliche Gegen- 
spieler Berninis gewesen ist. So stellt auch Rose 
die erste Entwicklung dieser bedeutsamen Peri- 
pethie italienischer und französischer Baukunst 
nicht richtig dar. Er übersieht, daß die ersten 
Pläne der Franzosen von 1664 in Rom zur Be- 
gutachtung Bernini, Pietro da Cortona und Boro- 
mino vorgelegt wurden und bestreitet, wie mir 
scheint zu Unrecht, daß Bernini daraus An- 
regungen schöpfte: zumindest ist doch die Drei- 
Risalit-Front in dieser ausgesprochenen Form 
französisches, nicht aber italienisches Motiv. 
Schließlich sind diese Details jedoch belanglos, 
ebenso belangios wie die verschiedenen Unrichtig- 
keiten, die bei der Darstellung der historischen 
Tatsachen und bei der Beschreibung ausgeführter 
Bauten Rose unterlaufen — die jüngeren deut- 
schen Kunsthistoriker werden kaum mehr in der 
Lage sein, durchweg aus eigener Anschauung 
zu urteilen. Vorzüglich scheint mir, was Rose 
über die Entwicklung des französischen Hötel- 
baus trotzdem schreibt: er erkennt, geleitet durch 
die französischen Theoretiker, die entscheidenden 
Momente. Einzig bei seiner Darstellung der 
Treppenbildung häufen sich auf wenigen Seiten 
die Einwendungen, die eine ernsthafte, der dis- 
ziplinierten Haltung des Buchs entsprechende 
Kritik nun doch nicht ganz zu unterdrücken ver- 
mag: Die Antike kannte den Stockwerkbau und 
die Treppensysteme. Die ovale Wendeltreppe ist 
keine eigentliche Barockerfindung, denn sie kommt 
in Frankreich schon in Schloß Verneuil vor. Die 
vierfiigelige Wendetreppe mit kupplig gewölbten 
Absätzen erscheint in Rom schon im Pslazzo 
Mattei di Giove, allerdings mit geschlossenem 
Kern; so ist die bekannte Treppe Berninis im 
Palazzo Barberini weniger originale Schöpfung 
als eine Kombination dieser Form mit der Wen- 
deltreppe um geöffneten Kern. Die Ecktreppen- 
türme im SchloBhof sind keineswegs nur deut- 
sches Motiv, das sich in Frankreich nach Rose 
nicht findet, — eine ganse Anzahl französischer 
Schloßbauten lassen sich dafür aufsihien, so daß 
Bernini hier ein französisches Motiv verwendet 
und nicht etwa, wie Rose meint, auf deutsche 
Festungsschiösser zurückzugreifen braucht; ich 
nenne dafür: Gaillon, Blois (Ludwigsbau), Folem- 
bray von Ducerceau, S. Germain. Ancy le Franc 
hatte sogar sehr bedeutsame Treppenturmldsungen 
in plastischer Verklammerung mit dem Haupt- 


242 


körper gefunden, der gegenüber Berninis Lösung 
als archaistische Form wirkt. Das Mittelrisalit 
reserviert für die Treppe bereits Azay le Rideau, 
ferner das Hétel de Ville in Chartres zu Anfang 
des 17. Jahrhunderts, wogegen in Blois am Gaston- 
bau seitsamerweise nicht das dreiachsige Mittel- 
risalit von dem nun räumlich gans neu disponier- 
ten Treppenbau eingenommen wird, sondern nur 
dessen beide linken Achsen, wodurch sich eine 
eigenartige Lösung des Treppenvestibüls ergibt. 
Aber ich betone nochmals: diese Errata sind für 
den Aufbau der gesamten Darstellung eigentlich 
belanglos. Ein vortreffliches Abbildungsmaterial 
begleitet den Text, wenn es auch der üblichen 
Gepflogenheit entsprechen würde, daß der Ver- 
fasser die Abbildungen, die er anderen Büchern 
in reichlicher Weise entnimmt, und die immer- 
hin einen gewissen ideelien und materiellen Wert 
der Verfasser darstellen, als solche Entlehnungen 
bezeichnet. 

So wenig man dem Buch Roses mit einer Kritik 
der einzelnen Tatsachenangaben gerecht würde, 
so entschieden verlangt es eine Aussprache über 
seine allgemeine Einstellung. Rose sagt: „Ich 
unternehme es, die Bezeichnung Spätbarock zum 
Stilbegriff zu erweitern.“ Er will hierbei die 
von Wölfflin formulierten kunstgeschichtlichen 
Grundbegriffe systematisch weiterbilden (was aller- 
dings keineswegs deutlich wird). „Nachdrücklich 
warnen möchte ich vor den Worten Klassik und 
Klassizismus, deren leichtfertige Anwendung die 
ganze Systematik des Barock in Frage stellt“ — 
es stößt ihm dann allerdings zu, daß er selbst 
schreibt: „die Perraultfassade begründet die fran- 
sösische Salonklassik“ (was richtig ist, denn die 
seitgenössischen Theoretiker bezeichnen diese 
Epoche als die klassische, und zur „Klassik“ szu- 
rückzukehren, verlangen die französischen Theo- 
retiker des beginnenden Klassizismus). Rose 
wünscht also, die gesamte Entwicklung in Italien, 
Frankreich und Deutschland auf einen Nenner zu 
bringen, wobei allerdings Holland ohne genügende 
Kenntnis seiner Baukunst um 1700 nur ab und 
zu erwähnt wird, England und Spanien ganz aus- 
fallen. Damit aber wird eine Frage von prinsi- 
pieller Bedeutung angeschnitten, die mir eine 
Klärung zu verlangen scheint. 

Die Entwicklung unserer Kunstwissenschaft 
seigt, wie die allgemeinen Begriffe von Kunst- 
epochen, vornehmlich Gotik und Renaissance, 
zeitlich und völkerindividualistisch differenziert 
worden sind. Noch gegen Ausgang des 18. Jahr- 
hunderts war der Begriff Gotik ein geschlossener, 
der sich zunächst entstehungsgeschichtlich ge- 


spalten hat, um dann zeitlich sich zu gliedern. 
Der geschlossene Begriff wuchs sich zu einem 
vielteiligen Organismus aua, gerade die deutsche 
Kunstwissenschaft hat soiche Differenzierung, die 
sie schließlich zur Spätgotik und Sondergotik zer- 
legte, diese wiederum nach einzelnen Land- 
schaften bestimmend, als eine ihrer Hauptaufgaben 
angesehen. Ebenso ging es mit dem Begriff der 
Renaissance, deren italienische Form Burckhardt 
bestimmte, während die nordischen Formen gleich- 
zeitig von Lübke formuliert, wenn auch keines- 
wegs interpretiert wurden. Es ergab sich das 
wissenschaftlich überaus interessante Schauspiel 
der Durchströmungen, die für Italien-Deutschland, 
Italien-Frankreich untersucht wurden, während die 
Durchströmung Frankreich, Deutschland noch wenig 
beachtet ist, obgleich sie für Büdwestdeutschland 
eine nicht zu verkennende Bedeutung hat, Weiter 
wurde man darauf aufmerksam, daß nicht nur in 
einem Querschnitt ungemeine Differenzierungen 
sich zeigen, sondern daß auch die Längsschnitte 
ganz verschieden verlaufen, daß nicht allein die 
Wellenlänge der Gotik im Norden anders ist als 
im Süden, sondern daß in den verschiedenen 
Ländern die verschiedenen „überwundenen“ Ent- 
wicklungswellen verschieden nachwirken, Gotik, 
in Italien so gut wie spurlos verschwindend, taucht 
mit neuem Schuß Anfang des 17. und gegen 
Mitte des ı8. Jahrhunderts in Deutschland, um 
1700 und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- 
derts in Frankreich wieder auf, um dann su Be- 
ginn des 19. Jahrhunderts im gansen Norden su 
erwachen. So ergab sich ein ungemein kompli- 
ziertes System. Das Gleiche aber gilt für den 
Barock, Mitte des 17. Jahrhunderts vollbringt 
Italien seine größten Leistungen, gegen Ende des 
Jahrhunderts wendet sich die Entwicklung auf 
baulichem Gebiet von Rom nach Piemont; Frank- 
reich erklärt sich rfickgreifend auf die Antike 
programmatisch gegen Italien, in England halten 
Wren und Jones am Palladianismus fest, in Hol- 
land hat um diese Zeit der alte Rembrandt die 
barocke Einstellung des jungen überwunden. Nur 
unhistorischer Vereinfachungswille sucht noch 
nach einer Wurzel, nach einem generellen Ab- 
lauf, er versagt sich doktrinär die Anerkennung 
der kontrastreichen, in sich bis zur Zersplitterung 
differenzierten Mannigfaltigkeit, die nicht auf einen 
Nenner zu bringen ist, wenn dieser nicht unend- 
lich klein genommen wird, Das Bestreben Roses 
nun aber geht gerade darauf hinaus, diesen Nenner 
übergroß zu machen. Er gibt eine Konstruktion, 
die nicht der Erkenntnis dient, sondern die sur 


begrifflichen Schematisierung drängt. Rose lehnt 


für französische Kunst der zweiten Hälfte des 
17. Jahrhunderts den Begriff Klassik ab, den ich 
aus dem französischen Theoretikern heraus und 
aus dem von ihnen mit aller Bewußtheit unter- 
strichenen Gegensatz zum Barock-Rom definierte. 
So tritt ihm schließlich der Zeitbegriff, das Äußer- 
lichste, an Stelle des notwendig zu differenzieren- 
den Formbegriffs. Er schreibt von Schloß Maisons, 
„das die Franzosen als ein klassisches Bauwerk 
verehren“: „seine Entstehungszeit muß, wenn 
man es mit Italien oder Holland vergleicht, doch 
ohne Frage als Hochbarock bezeichnet werden“. 
Ja, diese klassische französische Epoche paßt ihm 
so wenig in die Konstruktion „Spitbarock“, daß 
er meint, „von diesen Vorläufern des Spätbarocks 
(Bauten von ca. 1650—60), würde ich es für mög- 
lich halten, in gerader Linie sum Rokoko über- 
zugehen und die dreißig Jahre zu überspringen, 
die mit dem Aufstieg der Hofkunst angefüllt sind“. 
Das ist allerdings eine Art historischer Verein- 
fachung, die Tatsachenbestände zur Seite schiebt, 
statt in wissenschaftlicher Art Grund und Wahr- 
heit eines Tatsachenbestandes darzustellen. Ein 
anderes Beispiel für die Gefährlichkelt dieser ver- 
einfachenden historischen Systematik. Rose stellt 
den Satz auf: „der weitere Spätbarock ist un- 
originell“. Zu diesem Satz passen allerdings 
nicht die Namen Guarini, Alfieri, Juvara, Vitone, 
die man in dem Buch vergeblich sucht. Weiter- 
hin: „Man erreicht zwar die dekorative Einheit, 
die man anstrebt, aber man erreicht sie auf Kosten 
des Qualitätskunstwerks“. Dutzende von Fragen 
drängen sich hervor. Sind die Gitter Oeggs an 
der Würzburger Residenz keine Qualitätskunst- 
werke?’ Sind es die neuen französischen Möbel- 
formen um 1735 ebensowenig? Was wird der- 
jenige, der die Entwicklung des Farbenproblems 
verfolgt, sagen, wenn er liest: „Tiepolo war eben 
kein Genie, sondern Dekorateur.“ Dekorative 
Arbeiten aber, во heißt es bei Rose kurs vorher, 
wollen nicht mit dem Maßstab vollwertiger Kunst- 
leistungen gemessen werden. Und weil für Rose 
das Flügelmotiv im Schloßbau etwas echt Spit- 
barockes ist, übersieht er, daß diese Disposition 
ja längst von Palladio ausgearbeitet wurde und 
daß sich sehr leicht nachweisen läßt, wie dieses 
Palladiomotiv bis zum „Spätbarock‘“ wanderte, 
Rose gehört zu den ernstesten unserer Jüngeren 
Forscher, und die Behandlung prinzipieller Fragen 
in einer Buchanzeige beweist zumindest, daß in 
seinem Buch der Referent mehr sieht als eine aus- 
gedehnte Zusammentragung von Material. Jedes 
tiefer greifende wissenschaftliche Werk wird ver- 
suchen, über das rein Tatsächliche hinaus vor- 


243 


sadringen, über die Historie eine Systematik zu 
stellen. Die Wendung der neueren Philosophie 
vom Historischen sum Systematischen muß ihren 
Widerball auch in unserer Wissenschaft finden. 
Doch scheint mir eine Systematik der Kunst- 
wissenschaft auf etwas gans anderes hinauszu- 
laufen, nämlich auf eine Systematik der Möglich- 
keiten künstlerischer Gestaltung. Die Einspannung 
historischer Vorgänge in ein System dagegen 
widerspricht der Entwicklung unserer Forschungs- 
methode, die auf stote Differenzierung des All- 
gemeinen hinausgeht. So scheint mir dies Buch 
geradesu ein Riickechritt zu sein, während es 
darauf ankime, den Allgemeinbegriff Spätbarock 
nicht ,,su einem Stilbegriff zu erweitern“, sondern 
die ungemeine Differensiertheit und Komplizierung 
gerade dieser Epoche der Kunst darzutun, den 
Begriff zu spalten. Je weiter wir in unserer Er- 
kenntnis dieser Epoche vordringen, um so er. 
staunlicher erscheint der Reichtum der Barock- 
kunst, für die schließlich nur ein allgemeinster, 
für wiseenschaftliche Erkenntnis fast bedeutungs- 
loser Nenner übrig bleibt: die Zelt. 

А. E. Brinckmann. 


SANDRO BOTTICELLI, Zeichnungen 
zu Dantes Göttlicher Komödie. Her- 
ausgegeben von F. Lippmann. Zweite 


Auflage. G. Grotesche Verlagsbuchhdlg. 
Berlin 1921. 


Man konnte die Erinnerung an Dantes 600 jäh- 
rigen Todestag nicht würdiger, nicht eindrucks- 
voller feiern als durch die Neuausgabe der Zeich- 
nungen Sandro Botticellis zur Göttlichen Kömödie, 
die der Verlag G. Grote in mustergültiger Weise 
besorgte. 

Die berühmten Zeichnungen, die in vorziige 
tichen verkleinerten Nachbildungen nach den Ori- 
ginalen im Berliner Kupferstichkabinett und der 
vatikanischen Bibliothek, gedruckt in der Reichs- 
druckerei, nunmehr in zweiter Auflage weiteren 
Kreisen zugänglich gemacht wurden, erregten, 
ale sie 1882 aus Hamilton Palace nach Berlin 
gebracht wurden, sogleich die höchste Bewunde- 
rung und Anteilnahme aller Kenner und Kunst- 
liebhaber. 

Aufseichnungen eines ungenannten Florentiners 
sus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (ge- 
sammelt im Codice Magliabechiano) erwähnen 
zum erstenmal Zeichnungen auf Pergament, die 
Botticelli für Lorenzo di Piero Francesco de’ Me- 
дісі susführte. Daß diese mit den Berliner bezw. 
römischen Zeichnungen identisch sind, unterliegt 


244 


keinem Zweifel. Die Blätter sind um so beo- 
merkenswerter, als sie zu einer Zeit entstanden, 
da der neuerfundene Buchdruck in Wettbewerb 
trat mit der Handschriften-Malerei. Freilich galt 
auch nach Erfindung des Buchdrucks und im 
Vergleich zu dem in Kupferstich oder Holzschnitt 
ausgeführtem Buchschmuck die Miniaturmalerei 
lange noch als die vornehmere Kunst, deren sich 
die Großen bedienten, wenn sie in der Lage 
waren, die immer teurer well seltener werdenden 
Bücherschreiber und Buchmaler zu bezahlen. 

Wahrscheinlich von einem Deutschen, Johann 
Neumeister, wurde im Jahre 1472 zu Foligno der 
erste Druck der Göttlichen Komödie besorgt. Seit 
1481 erschienen noch vor Ablauf des Jahrhun- 
derts in rascher Aufeinanderfolge mehrere illu- 
strierte Ausgaben von Dantes Hauptwerk. Die erste 
fllustrierte Ausgabe von 148: mit dem Kommentar 
des Cristoforo Landino enthält то Kupferstiche 
eines wenig bedeutenden unbekannten Stechers, 
der sich als durchaus abhängig von Botticeltis 
Zeichnungen erweist. Wahrscheinlich hat Botti- 
celli, als er 1448 nach Rom zur Ausmalung der 
Siztinischen Kapelle reiste, nur zu den 19 ersten 
Gesängen des Inferno die Zeichnungen ausgeführt. 
Der unbekannte Stecher scheint nach Abreise 
seines Vorbilds entweder den Mut oder die Zeit 
nicht gefunden zu haben, su einer weiteren selb- 
ständigen Buchausschmückung. 

Mittelbar wirkte Botticelli auch auf mehrere 
Holsechneider, die die erwähnte Kupferstichaus- 
gabe von 1x48 für ihre Flolsschnitte zur Gött- 
lichen Komödie benutzten. Freilich ist das ur- 
sprüngliche Vorbild in diesen späteren Ausgaben 
kaum noch zu erkennen, so unbeholfen, hand- 
werksmäßig wirken die ärmiichen Holsschnitte 
tm Vergleich zu Botticellis feinnervigen Teich- 
nungen. Diese sind mit Metallstift auf Perga- 
ment leicht angelegt, mit Feder in brauner und 
schwarser Tinte nachgesogen, nur wenige mit 
Deckfarben ausgeführt. Ihre Eigenhändigkeit wird 
durch Inschrift des Namens „Sandro di Mariano“ 
auf einem Täfelchen einer Zeichnung zum 28. 
Gesang des Paradiso bezeugt. Noch nach hun- 
dert Jahren entlehnte Federigo Zucchero Motive 
aus Botticellis Zeichnungen in seinen Entwürfen 
zur Göttlichen Komödie, die, in Rötel, Kreide und 
Feder ausgeführt, in den Uffisien aufbewahrt werden. 

Der Ubersichtsplan sur Hölle (Vatikan), dem 
Querschnitt eines bis in den Mittelpunkt der Erde 
herabreichenden Riesentrichters vergleichbar, er- 
scheint ähnlich wieder in den Aldus-Ausgaben 
und in Manettis Dialog über Dantes Inferno. 
Spätere Ausgaben des 16. Jahrhunderts zeigen 


einen kreisförmigen Horizontalschnitt, so daß man 
gewissermaßen senkrecht von oben bis in den 
Grund der Hölle herabsieht. 

Verglichen mit den illustrieten Drucken ver- 
mitteln Botticellis Entwürfe weit anschaulicher 
Dantes großartige Visionen, soweit diese über- 
haupt im Bilde zu fassen sind. Wahrhaft er- 
staunlich sind der Reichtum an wechselnden 
Stellungen und Bewegungen, die Aus drucksfihig- 
keit im Mienen- und Gebärdenspiel, die der Zeich- 
ner seinen verdammten und büßenden Seelen zu 
geben vorstand. Wie armselig, ja geradezu kin- 
disch wirken dagegen die puppenhaften Figuren 
in den Stichen und Holzschnitten. Nirgends findet 
man auch nur den Versuch, jenen unerhörten 
Vorgängen, von denen der Dichter berichtet, zeich- 
nerich nahe zu kommen. 

In ununterbrochener Erzählungsweise folgt der 
Zeichner Szene für Szene dem Dichter, läßt gleich- 
sam vor unseren Augen Dante und seinen Führer 
immer tiefer in den Hélienschlund herabtauchen, 
indes vor ihren und unseren Blicken die furcht- 
barsten Begebenheiten, die je eines Menschen 
Phantasie erfunden hat, sich abspielen. Die Bilder 
rollen sozusagen kinematographisch an uns vor- 
über, so zwar, daß jedes nachfolgende sich an den 
unteren Rand des vorhergehenden Bildes anfügt. 
Dante und Vergil erscheinen auf demselben Blatt 
oft mehrmals, durch Haltung und Stellung ein 
Immer —tiefer— Herabschreiten zum Ausdruck 
bringend. Der Standpunkt des Zuschauers ist 
stark erhöht gedacht, man sieht die Vorgänge 
meist schräg von oben. Perspektivisch ist das 
schwierige Problem nur unvollkommen gelöst. 
Umgekehrt führt im Purgatorio der Weg aus der 
Tiefe in immer lichtere Höhen empor, was auch 
in den Bildern, die jedem einzelnen Gesang ent- 
sprechen, deutlich zus Anschauung gebracht ist, 
Im Paradiso endlich wird der Zug nach Oben 
immer unwiderstehlicher, Botticelle weiß das über- 
seugend in den beiden Hauptfiguren von Dante 
und Beatrice darzustellen. In den meisten Zeich- 
nungen erscheint der Himmel als einfacher Kreis. 
Ist diese Wiedergabe der himmlischen Sphäre 
auch etwas dürftig, so wirkt sie doch immer noch 
besser als die tapetenartig angsordneten Sterne 
auf den Paradiesbildern der illustrierten Drucke, 
und jedenfalls ist in die Gestalten des Dichters 
und seiner Führerin eine Inbrunst gelegt, die 
man auch in späteren und vollkommeneren Dar- 
stellungen als es die der Frühdrucke des 15. Jahr- 
hunderts waren, vergebens sucht. 

Zum Verständnis für Dantes gewaltige Schöp- 
feng und sur Kenntnis Botticellis tragen die 


Zeichnungen jedenfalls wesentlich bei, darum bo- 
grüßen wir dankbar diese Neuauflage, die zu- 
gleich eine Empfehlung für das deutsche Buch 
darstellt. Hans v. d. Gabelents. 


ERWIN HINTZE, Nürnberger Zinn. 
Mit 84 Tafeln und 2 Textabbildungen. 
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1921. 

Dem ersten Bande seines bei Hierasmann in 
Leipzig erschienenen umfassenden Werkes über 
die deutschen Zinngießer und ihre Marken hat 
Hintze eine mit reichem Abbildungsmaterial — 
die 84 Tafeln geben 143 ausgezeichnet reprodu- 
zierte Zinnarbeiten wieder — versehene Darstellung 
der künstlerischen Entwicklung des Nürnberger 
Zinnes folgen lassen. Damit hat Hintse den An- 
tang mit dem gemacht, was wir neben seinem 
großen Markenwerk, von seiner ausgebreiteten, 
nicht leicht noch einmal von einem zweiten zu 
erreichenden Materialkenntnie und der aus ihr 
Sießenden Kennerschaft zuversichtlich erwarten 
müssen: eine große, in die Einzelbeiten gebende 
Geschichte der deutschen Zinngießerkunst und des 
deutschen ZinngieSergewerbes. 

Wie eng dies beides — das gewerbegeschicht- 
liche und das künstlerische — gerade in diesem 
Zweig. des deutschen Kunsthandwerkes verschwi- 
stert ist, weiß jeder, der sich irgendwie einmal 
wissenschaftlich oder ale Sammler näher mit der 
Materie befaßt hat. Die große Schwierigkeit liegt 
hier — wie auf anderen verwandten Gebieten, 
з. В. dem des deutschen Renaissancesteinzeugs — 
in der richtigen Abgrenzung der Leistungen des 
Formstechers und des ausführenden Werkstatt- 
inhabers, die oft, aber durchaus nicht immer, wie 
auf unserm Gebiet der klassische Fall Caspar 
Enderlein lehrt, ein und dieselbe Person ge. 
wesen sind. 

Hintses alle wesentlichen Momente der Stil- 
entwicklung knapp und klar herausarbeitende Ein- 
leitung und seine eingehenden Bemerkungen zu 
den einzeinen Tafelabbildungen geben von diesen 
verwickelten Verhältnissen ein treffendes, die Er- 
kenntnis klärendes Bild. 

Wir überblicken den langen Weg, den das 
Nürnberger Zinn von den reich (in der Art der 
gleichzeitigen Schlesischen Kannen, und vielleicht 
unter deren Einfluß) gravierten oder glatt ab- 
gedrehten Schenkkannen des 15. und des bogin- 
nenden 16. Jahrhunderts über die Frührenaissance- 
güsse aus flach geätzter Form zu den künstlerisch 
am reichsten ausgestatteten Hochrenaissance- und 
Frühbarockgüssen aus tiefgestochener Form zu 
den wieder glatt faconnierten Arbeiten der Spit- 


245 


seit „auf Silberart“ genommen hat. In jedem Fall 
werden die Werke der führenden Meister in oft 
erschöpfender Vollzähligkeit der erhaltenen Mo- 
delle vorgeführt und ihrem Werk die Gefolgschaft 
mit charakteristischen Arbeiten angeschlossen. So 
erleben wir die Fortbenutzung älterer Modelle in 
jüngeren Werkstätten, sehen, wie früh geschaffene 
Gußformen in dem traditionsfrohen und traditions- 
sicheren Nürnberger Handwerk von Hand zu Hand 
gehen und werden uns dessen bewußt, daß gerade 
das deutsche Renaissancezinn für seine gerechte 
Beurteilung ein sehr hohes Maß spezialisierter 
augenscharfer Kennerschaft zur unbedingten Vor- 
aussetsung hat. 

So kurs zusammengefaßt Hintses Text ist, er 
enthält eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse. Vor 
allem rückt nun — wohlverstanden, als Zinngießer 
und Formstecher — Jacob Koch I, der Stammvater 
einer durch drei Generationen in Nürnberg tätigen 
Zinngießerfamilie an die erste Stelle vor Caspar 
Enderlein, der ausschließlich für fremde Meister 
gestochen, den Guß aber nicht selbst ausgeüht zu 
haben scheint. 

Die Erläuterungen der Tafelabbildungen nimmt 
überall Bezug auf den zweiten Band von Hintses 
großem Markenwerk. So ergänzen sich diese 
beiden Bände in erwünschtester Weise gegenseitig. 

Wir betrachten das vorliegende Werk über das 
Nürnberger Zinn als eine Abschlagzahlung und 
hoffen, daß es Hintze möglich werden wird, auch 
den anderen Bänden seines Markenwerkes die 
entsprechenden Text- und Abbildungswerke an 
die Seite zu stellen. Мах Sauerlandt, 


J. BAUM: Gotische Bildwerke Schwa- 
bens. Dr. Benno Filser- Verlag, Augsburg- 
Stuttgart 1921. 


Daß Baum ein ausgeseichneter Kenner der 
schwäbischen Bildhauerkunst ist, daß er uns über 
dieses Gebiet eine Reihe grundlegender Werke 
geschenkt hat, wissen wir. Daß das neue Buch 
nicht unnötig ist, kein werbesserndes Nachholen 
von Versäumtem bedeutet, zeigt der erste Blick, 
„Sehe jeder, wo er bleibe“, gewiß, doch die An- 
sicht ist neu, die Aufgabe geändert. Den Sinn 
des Buches ansehen, heißt die neue Kunst- 
geschichtsschreibung verstehen oder nicht. Wich- 
tige Ansätze bei Baum sind da. Es ist nämlich 
allmählich klar, daß auch die Kunstgeschichte der 
neuen Einstellung zur Kunst Rechnung tragen 
muß, sie aber verlangt: Erleben. Jedoch Erleben 
beißt nichts als Wissen, restloses Erfassen aus 
der Grundstimmung, dem Eigentlichen des Men- 


246 


schen, her. So ist es schon kein Geheimnis mehr, 
daß, da die Form versagt und jeder Versuch von 
außen her abgelehnt und immer stärker abgelehnt 
werden wird, daß mit ganz neuen Mitteln, ganz 
anderer Einstellung, ganz anderer Intensität an 
die Ureprungsquelien herangegangen werden muß. 
Wir wissen vom Mittelalter zu wenig, fast die 
eine Hälfte nur haben wir immer gesehen, die 
überlieferten Begriffe wurden ahnungelos weiter- 
geschleppt, man merkte es gar nicht, daß der 
Boden trog. Wir sahen Mittelalter wie Franzosen 
den Krieg 70/712 durch tendenziöse Geschichts- 
darstellungen. Gewiß, man ging an die Quellen, 
aber alle diese Quellen waren machtkirchliche, ge- 
firbte. Geflissentlich wurden die tausende und 
abertausende von Zeugnissen einer anderen Welt, 
der für die Kunst wichtigeren, übersehen, gemieden. 
Und doch, was in dem bekannten Prozeß der 
Beham und Pencz nur ein trübes, scheeles Nach- 
flackern bedeutet, war im Mittelalter gang und 
gäbe, im Eigentlichen stets wirksam. Jedoch es 
soll nicht hier, sondern die Aufgabe eines Buches 
sein, diese vergessene Welt, die die Kunst min- 
destens ebenso bestimmende, wie die offiziell 
bekannte, zu beschwören. 

Baums Buch gibt aber Anlaß, über diese Wen- 
dung der Kunstgeschichte und die aus ihr not- 
wendig entspringenden Aufgaben und Einstellungen 
zu sprechen, In zehn Kapitein wird die Wand- 
lung der Formgestaltung von um 1300 — um 1400 
klargelegt. Gleich zu Anfang wird an die Ursachen 
des Grunderlebnisses gerührt, die mittelalterliche 
Mystik genannt, ihre Einflüsse auf die Kunst — 
natürlich nicht nur die ikonographischen, sondern 
die die Eriebnisweisen ändernden — werden aus- 
einandergelegt. Man hat solche Verknüpfungen 
früher schon geboten; jedoch der Unterschied ist 
klar. Nicht mehr um geistreicheinde Parallel- 
aufweise, kulturgeschichtliche Verbrämungen, 
schüchterne Versuche, an die Geistquellen zu 
geben, handelt es sich, sondern um den Aufweis 
des unbedingten Einsseins, des ursächlichen Zu- 
sammenhanges, die Erschließung des tatsächlichen 
geistig-seelischen Zustandes, Abstraktion und Ent- 
sinnlichung werden ale Grundkrifte erkannt; die 
Folgen für die Kunst klargelegt. Man muß Baum 
für die hier nur andeutbare Neueinstellung und 
die Betonung der gewonnenen Gesichtspunkte 
danken. Es ist klar, daß der Versuch nicht alle 
Forderungen erfüllen kann. Es gilt — wie ge- 
sagt — die unzureichende offizielle Vorstellung 
von Mittelalter, Mystik usw. zu zertrimmern, wir 
müssen unendlich viel aus dem Wege noch 
räumen und ebensoviel Unterdrücktes ins Licht 


heben, um die Seele des mittelalterlichen Men- 
schen wirklich bloszulegen, den Hersschlag des 
entscheidenden Erlebens zu fühlen. Bei jeder 
versunkenen Weit geht das ohne Gelehrsamkeit 
nicht ab. Sie und Forschen müssen aufgebracht 
werden, wenn uns die Form nicht ein Selbst- 
zwock, visuelles Spiel, sensualistisch - intellektua- 
listische Angelegenheit sein soli, die sie im Mittel- 
alter in der Hauptsache nie war. Sehr fein setzt 
Baum die allmähliche Änderung von der zweiten 
Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts ab auseinander. 
Die Bildnerkunst wird malerisch, malerische Grup- 
penbildungen werden Ziel, neueKörperlichkeitdrängt 
sich am Ende vor, und um 1400 ist ein neuer 
plastischer Stil da. Baum dringt in die abgestuften 
Wandlungen und Unterschiede mit einer seltenen 
Klarheit ein. Seltsam nur, daß er hier die ur- 
sächlichen Zusammenhänge mit dem Grunderleben 
weniger (oder gar nicht) aufzuweisen für nötig 
hält, Ein zweiter Hauptteil des Buches ist den 
innerlichen Bedingtheiten und Abhängigkeiten von 
Form und Inhalt gewidmet. Einleitend wird mit 
größtem Recht u. a, bemerkt: „Dennoch werden 
wir den Kunstwerken eine noch größere Liebe 
zuwenden, wenn wir den ganzen Reichtum von 
Begebnissen, Vorstellungen, Ideen, Stimmungen 
kennen; .. .“ und... „wie also die Kunstwerke 
in der Tat nicht nur um ihrer. sichtbaren for- 
malen Eigenschaften willen beobachtet werden 
müssen, sondern auch ais Schlüssel zu einem 
hinter ihrer Oberfläche liegenden geistigen Reiche 
dienen.“ Baum geht dem Zusammenhang be- 
stimmter Stoffe wie: Maria im Wochenbett, Schuts- 
mantelmsdonna, lignum vitse, Johannes an der 
Brust Christi und den Vesperbildern und mysti- 
schen Anschauungen nach, nun aber keineswegs 
allgemein, sondern mit konkreten Paralleläuße- 
rungen und nicht des rationalistischen Aufweises 
der Ikonographieherkunft, sondern der inner- 
geistigen Verknüpfung wegen. Pinder hat in 
weitsichtiger Erkenntnis den Weg für die Marien- 
klage und Vesperbilder beschritten. An ihn an- 
knüpfend und seine neue Erkenntniseinstellung 
für weitere Stoffe ausnützend, geht: Baum mit 
dem hierzu nun einmal nötigen Wissen, das ein 


intellektualistisches und intuitives in jeder Wissen- 
schaft sein muß und sein sollte, vor und be- 
reichert unsere leidenschaftliche Sehnsucht nach 
Ganzheit des Erlebenkönnens des mittelalterlichen 
Menschen — und seiner Kunst sehr. 


In einem dritten Abschnitt bringt Baum kunst- 
geschichtliche Nachweise; d. h. eine knappe und 
erschöpfende Geschichte der stilistischen Wand- 
lungen der schwäbischen Plastik in dem ge- 
wählten Zeitabschnitt, deren Ergebnisse nicht 
wiederholt zu werden brauchen (da sie im wesent- 
lichen sich mit Baums früherenDarlegungen decken), 
und an denen bei der Kennerschaft Baums auch 
Ausstellungen nur auf breitester Grundlage be- 
rechtigt wären. 


Ein sehr sorgfältiges und reiches Register und 
ausgezeichnete Tafelabbildungen erhöhen Brauch- 
barkeit und Nutzen des Werkes. 

V. C. Habicht. 


ANITA ORIENT ER, Der seelische 
Ausdruck in der altdeutschen Ma- 
lerei. Mit 94 Abbildungen. München, 
Delphin-Verlag 1921. 


Eine sehr fleißige, aus einer Hallenser Disser- 
tation erwachsene Arbeit. Als ihre Vorbilder 
nennt die Verfasserin Julius Lange und Male, ihr 
„kam es einzig und allein auf die Idee an, die 
der Entwicklung der seelischen Inhalte sowie dem 
Stil als Ausdruck eines Seelisch-Geistigen zugrunde 
liegt.“ — Fruchtbarer als die Einteilung nach 
seelischen Inhalten wie Schmerz, Trauer, Hohn, 
Wut, Schreck, Verzweiflung, Liebe und religiöse 
Erregtheit ist der zweite Teil des Buches, in dem 
die Bedeutung des seelischen Gehaltes für den 
Bildaufbau vom hohen Mittelalter bis in das 
16. Jabrhundert hinein untersucht wird. Zu wesent- 
lich neuen Gesichtspunkten kann man bei dieser 
Art der Fragestellung nicht kommen. Das Buch 
enthält eine Reihe interessanter Abbildungen aus 
dem frühen Mittelalter, darunter zwei bisher un- 
veröffentlichte aus dem Brandenburger Evangeliar 
um 1230 und der Niederrheinischen Bibel in der 
Berliner Staatsbibliothek. Rosa Schapire. 


247 


NEUE BUCHER .............................................................. 


JOSEPH BERNHART: Holbein der 
Jüngere. (O.C.Recht-Verlag, München 1922.) 


HERBERT KUHN: Die Malerei der 
Eiszeit. (Delphin- Verlag, München rgss.) 
KARL LOHMEYER: Die Briefe Bal- 
thasar Neumanns an Friedrich Karl 
von Schönborn, Fürstbischof von Würz- 
burg und Bamberg und Dokumente aus 
den ersten Baujahren der Würzburger 
Residenz, |(Gebr. Hofer, Verlagsanstalt, Sear- 
brücken, Berlin, Leipzig, Stuttgart тоаг.) 


ALBERT HÜMMERLE: Die Augs- 
burger Ktinstlerfamilie Kilian. (Augs- 
burger Buch- u. Kunstantiquariat, Augsburg 2922.) 


HANS v. d. GABELENTZ: Fra Bar- 
tolommeo u. die Florentiner Renais- 
sance. In 2 Banden. Mit 64 Abbildg. 
in Lichtdruck. (Verlag von Kari W. Hierse- 
mann, Leipzig 1922.) 

WILHELM R. VALENTINER: Georg 
Kolbe: Plastik und Zeichnung. Mit 64 
Abbildungen. (Kurt Wolff-Verlag, Münchenı922.) 


JULIUS KURTH: Der japanische Holz- 
schnitt. Ein Abriß seiner Geschichte. 
Mit 88 Abbildungen und 3 Signaturen- 
tafeln. Dritte durchgesehene Auflage. 
(R. Piper & Co., Verlag, München 1922.) 


VICTOR KURT HABICHT: Der Roland 
zu Bremen. 

VICTORKURT HABICHT: Die goldene 
Tafel derSt.Michaeliskirche zuLtine- 
burg. Bd. I u.II der „Niedersächsischen 
Kunst in Einzeldarstellungen“. (Heraus- 
gegeben von Ludwig Roselius und Prof.V. 
C. Habicht. (Angelsachsen-Verlag, Bremen 1922.) 


WILHELM TISCHBEIN: Aus meinem 
Leben. Herausgeg. von Lothar Brieger. 
(Im Propyläen-Verlag, Berlin 1922,) 


1922, 7 — 9. 


JUNGE KUNST: Bd. 25—32. 
Bd. 25/26. Gustav Hartlaub; Vincent v. Gogh. 
» 37. Н. Kolle: Henri Rousseau. 
„ 28. F. М. Huebner: Lodewijk Schelfhout. 
„ 29. E. Suermondt: Heinrich Nauen. 
„ 30. H. von Wedderkop: Paul Cézanne. 
» 92. C. Einstein: M. Kisling, 
» 32. W. Cohen: August Macke. 
(Sämtlich im Verlag von Klinkhardt & Biermann, 
Leipzig 1922.) 


RICHARD HAMANN: Kunst und Kul- 
tur der Gegenwart. (Verlegt durch das 
kunstgeschichtliche Seminar in Marburg 1923.) 


JULES ROMAINS: Le Fauconnier. 
Vingt-deux reproductions de peintures. 
(Bibliothèque du Hérisson, Librairie Edgar Mal- 
fare, Amiens.) 


MARIANNE ZWEIG: Wiener Bürger- 
möbel aus Theresianischer und Josephi- 
nischer Zeit. Mit roo Tafeln. Zweite 
vermehrte Aufl. (Kunstverlag Anton Schroll 
& Co., G. m. b. HL, Wien 1922.) 


FRIEDRICH MARKUS HUEBNER: Mo- 
derne Kunst in den holländischen 
Privatsammlungen. Mit 64 Abbildgn. 
(Bd.I der modernen Kunst in den Privat- 


sammlungen Europas.) (Verlag Klinkhardt 
& Biermann, Leipzig 1922.) 


AUGUSTL.MAYER: Mittelalterliche 
Plastik in Spanien. Mit до Tafeln. 
(Delphin-Verlag, München 1923.) 


ADOLF FEULNER: Das Residenz- 


museum in München. (Е, Bruckmann, 


A.-G., München 1928.) 


RUDOLF OLDENBOURG: Peter Paul 
Rubens. Sammlung der von R. O. ver- 
öffentlichten oder zur Veröffentlichung 
vorbereiteten Abhandlungen über den 
Meister. Herausgegeben von Wilhelm 
v. Bode. Mit 131 Abbildungen. (Verlag 
von R. Oldenbourg & Co., München u. Berlin, 1922.) 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/ Tegernsee, Post Rottach. 
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissenschaft KLINKHARDT 
& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467. 


248 


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MONATSHEFTE 


I KUNST 
IWISSENSCHAFT 


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XV. JAHRGANG · HEFT 10-12 
VERLAG KLINKHARDT&BIERMANNL 


Monatshefte für Kunstwissenschaft 


Herausgeber Prof Dr. 


GEORG BIERMANN 


Verlag von KLINKHARDT & BIERMANN in LEIPZIG 
Preis des Heftes Mark 3000.— 


INHALTSVERZEICHNIS HEFT X-XII 


ABHANDLUNGEN 


ALBERT BOECKLER, Zur Heimat 
der Berliner Eneit-Handschrift. Mit 
7 Abbildungen auf 2 Tafeln in Licht- 
druck und 2 Textabbildungen . S. 249 


GEORG von KIESZKOWSKI, Kleine 
Beiträge zu Peter Vischer. XI. 1. Eine 
neue Vischerplatte in der Kathedrale 
zu Krakau. Mit 2 Abbildungen in Licht- 
druck 2.3.0 ³ AA ees 5. 258 


2. Ein untergegangenes Vischergitter 
im Dom zu Krakau ...... S. 261 


ERWIN PANOFSKY, Die Treppe der 
Libreria di S. Lorenzo. Bemerkungen 
zu einer unveröffentlichten Skizze 
Michelangelos. Mit ı Tafel und 4 Text- 
abbildungen ......... .. S. 262 


WILHELM JUNIUS-Dresden, Dürers 
„Marter der 10000 Ritter“ . S. 275 


FRIED. NOACK, Deutsche Gold- 
schmiede in Rom........ 8. 283 


MISZELLEN 


GEORG STUHLFAUTH, Das Faß 
der „Ruhe auf der Flucht“ in Dürers 
Marienleben ........ . . . S. 299 


REZENSIONEN 


ROBERT WEST, Entwicklungsgeschichte 
des Stils. Hyperion-Verlag, München 19232. 
Roso) а en ee 8. 300 

JOSEPH POPP, Die figurale Wandmalerei, ihre 
Gesetze und Arten. Klinkhardt & Biermann, 
Leipzig 1921. (Paul Frank)) 8. 302 
ALLGEMEINES LEXIKON DER BILDENDEN 
KÜNSTLER. Begründet von Ulrich Thieme 
und Felix Becker. Herausgegeb. von Ulrich 
Thieme und Fred C. Willis. XIV. Bd. Giddeus- 
Gress. Leipzig, Seemann 1921 us 
W.Binger-Dresden) .........-. 8. 305 
ALLGEMEINES LEXIKON usw. XV. Band: 
Gresse-Hanselmann. Gr. 8°, Seemann, Leip- 
zig 1922. (H. W. Singer-Dresden) . . . 8. 306 
CHR. VOIGT, Schiffe-Asthetik. Die Schönheit 
des Schiffes in alter und neuer Zeit. 125 8. 
mit 102 Abb. Verlag der Zeitschrift ,,8chiff- 
bau“ (Reinhold Strauß, Komm.-Ges.), Berlin 
1922. (A.Köster) ............ 8. 306 


A. GERKE und ED. NORDEN, Einleitung in die 
Altertumswissenschaft. II. 3. Aufl. УШ und 
494 8. B.G. Teubner, Leipsig 1922. (A. Köster) 
/// ⁰ CN 307 


FRIEDRICH SARRE, Die Kunst des alten Persien. 
Mit 150 Tafeln u. 19 Textabb. X u. 69 8. Bruno 
Cassirer Verlag, Berlin 1932. (H. Glück). 8. 308 


ERNST KÜHNEL, Miniaturmalerei im islamisch. 
Orient. Mit 154 Taf. und 5 Textabb. Bruno 
Cassirer Verlag, Berlin 1922. (H. Glück) S. 309 


OTTO HOVER, Kultbauten des Islam. gr. 8°. 
16 8. Text, 62 ganzseitige Abb. Wilhelm Gold- 
mann Verlag, Leipzig 1922 (H. Glück). 8. 309 


ALFRED SALMONY, Europa-Ostasien, religiöse 
Skulpturen. Mit 44 Abb., 82 S. Gustav Kiepen- 
heuer Verlag, Potsdam 1922 (H. Glück). S. 310 


W. GROTE-HASENBALG, Der Orientteppich. 
Seine Geschichte und eeine Kultur. Berlin, 
Scarabäus-Veorlag 1922 (K. Berliner). 8.311 

W.v.BODE und E.KÜHNEL, Vorderasiatische 
Knüpfteppiche aus älterer Zeit. (Monographien 
des Kunstgewerbes.) 3. verb. u. verm, A 
Klinkhardt & Biermann, Leipzig (R. Berliner). 
CC); TT 313 


KARL ANTON NEUGEBAUER, Antike Bronze- 
ststuetten. Mit 8 Text- und 67 Tafelbildern. 
Bd. 1 der Serie „Kunst und Kultur“. Berlin, 
Schoetz & Parrhysius 1921. (Hans Nachod). 
BONG. Gë A Re ee ҮЛҮ ТҮ 315 


HERM. KEES, Studien zur ägyptischen Pro- 
vinsialkunst, 328., 9 Taf. Verlag J. C. Hin- 
rich’sche . Buchhandlung. Leipzig 1921. 
(A. Küster 8. 316 


А. у. SALIS, Die Kunst der Griechen. a Aufl. 
Ж u. 303 8. mit 68 Abb. Verlag 8. Hirzel, 
Leipzig 1922 (A. Köster 8. 316 


AUGUST DIEHL, Die Reiterschépfungen der 
phidiasischen Kunst. 131 8., 17 Taf. u. 1 Titel- 
bild. Vereinigung wissenschaftlich. Verleger, 
Berlin und Leipzig тоз (A. Köster) . 8. 317 

HANS LAMER, Römische Kultur im Bilde. 
64 8. u. 96 Tafeln. 4. Aufl, 28. bis 38. Tausend. 
(Wissenschaft u. Bildung, Bd. 81.) Verlag von 
Quelle & Meyer in Leipzig, 1921 (A. Köster). 
Belle su. Oe eh ъс а EEGENEN 317 


HANS BERSTL, Das Raumproblem in der 
altchristlichen Malerei. 4.Bd. der Forschungen 
zur Formgeschichte der Kunst aller Zeiten 
und Völker. Verlag Kurt Schroeder, Bonn 
und Leipzig 1920 (R. Bernoulli). . . 8.317 


WILLIAM ANDERSON, Den äldere kyrkliga 
Konsten i Blekinge. Zweites Beilageheft zu 
N. M. Mandelgrens Atlas über Schwedens 
Geschichte der Altertümer. 45 Seiten, gr. 4°. 
53 Abbildungen. Lund 1922 (R. Haupt) 8. 318 


(Fortsetzung siehe 3. Umschlagseite.) 


ZUR HEIMAT DER BERLINER ENEIT-HAND- 
SCHRIFT м" ten und soci Testabbildungen Von ALBERT BOECKLER 


iesen Codex fand ich auf meinen kaufmännischen Reisen im südlichen Deutsch- 
e land im Jahre 1819 bei einem Manne, der ihn mit einem Wust alter Papiere 
und Bücher aus den in Bayern aufgehobenen Klöstern gekauft hatte 
Hessen-Cassel 1822. 
Carl Carvacchi.“ 

So der Eintrag auf dem Rekto des zweiten, nachträglich — eben durch Car- 
vacchi — vorgeklebten Papierschmutzblattes der Eneit-Handschrift, die jetzt als 
germ. fol. 282 in der Berliner Staatsbibliothek liegt. Weitere äußere Anhalts- 
punkte zur Lokalisierung des Codex fehlen. Um zu einer solchen zu gelangen, 
ist man also darauf angewiesen, nach stilistisch verwandten Miniaturen zu suchen 
und diese gegebenenfalls örtlich zu fixieren. Entsprechend der Provenienzangabe 
wird man dabei besonders bayerische Buchmalereien zu berücksichtigen haben. 

Eine bibliographische Rekonstruktion der Handschrift!) sowie eine Beschreibung 
der Miniaturen muß einer monographischen Behandlung vorbehalten bleiben, ebenso 
eine Untersuchung über das Verhältnis des Illustrators zum Text). Hier genügt 
es, Technik und Stil zu charakterisieren, um Kriterien für einen Vergleich mit 
anderen Denkmälern zu gewinnen. | 

Von einfachen, rechteckig gerahmten, blau, grün, hellgelb oder braunrot be- 
malten, in Mittelfeld und breiten Rahmen aufgeteilten Hintergründen heben sich 
Figuren und Gegenstände, mit brauner und roter Tinte gezeichnet, pergamentfarben 
ab. Farbige Ausmalung größerer Gewand- und Ausrüstungsstücke ist selten und 
meist durch entsprechende Angaben des Textes bedingt. Dagegen sind Einzel- 
heiten wie Schild- und Helmzeichen, Fenster, kleine Teile der Gewandung, be- 
sonders Schuhe und Strümpfe regelmäßig mit schwarzer oder roter Tinte aus- 
gefüllt und die Faltentiefen werden mit brauner oder roter Tinte gedeckt. Gold 
findet nur für kleine Gegenstände Verwendung, etwa für Zepter, Kronen, Zaum- 
zeug, Pokale, Zinnen. Die wenigen obengenannten Farben werden in glatten 
Flächen dünn und gleichmäßig aufgetragen, und diese treten nicht unmittelbar 
nebeneinander, sondern sind stets durch pergamentfarbig ausgesparte Formen von- 
einander getrennt. 

Die Miniaturen füllen die ganze Seite und stehen in einem schmalen ungemusterten 
Rahmen. Selten nimmt nur eine Szene die ganze Seite ein, vielmehr wird diese 
gewöhnlich in der Mitte durch einen Querstreifen von der Art der äußeren Um- 
rahmung in zwei oblonge Bildfelder geteilt. 

Das zunächst in die Augen fallende Charakteristikum der Miniaturen bietet der 
Gewandstil. Seine Wirkung beruht auf dem Kontrast zwischen Teilen, die sich 
eng an den Körper anschmiegen und wenig Innenzeichnung haben, und zwischen 


(1) Die diesbezüglichen Feststellungen Otto Behaghels: Heinrichs v. Veldeke Eneide. Heilbronn 1883, 
S. I bedürfen bezüglich der jetzigen Lagen x und 5 einiger Berichtigungen. 

(2) Beides findet man in der feinsinnigen, während der Drucklegung dieses Aufsatzes erschienenen 
Arbeit von Marg. Hudig-Frey: Die älteste Illustration der Eneide des Heinr. v. Veldeke, Straßburg, 
Heitz 1921, Ich werde das Buch demnächst in der Kunatchronik besprechen. Immer noch von Wert 
bleibt die Abhandlung von Franz Kugler: Die Bilderhandschrift der Eneit, ein Beitrag zur Kunst- 
geschichte des 12. Jahrhunderts, Berlin 1834. 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1988, 20—12. 17 249 


reich gefalteten, meist lebhaft bewegten Stoffmassen, deren rot oder braun aus- 
gefüllte Faltentäler jene hellbeleuchteten anliegenden Partien kräftig hervortreten 
lassen. Die unruhige wellige Bewegung des Gewandes in Verbindung mit sehr 
fester Linienführung sowie das Bestreben, den Körper plastisch zur Erscheinung 
zu bringen, erlauben die Datierung der Handschrift auf Anfang saec. 13. Sie finden 
in anderen Handschriften dieser Zeit ihre Analogien, z. B. in dem in Weingarten 
entstandenen Codex Nr. 37 in Holkham Hall!) oder in der Münchener Handschrift 
Clm 4510 aus Benediktbeuren.— Der Eneit eigentümlich aber ist die Verbindung 
der lebendigen Gewandbewegung mit der leichten Übersichtlichkeit der einzelnen 
Faltenzüge. Diese werden sorgfältig, wie glatt geplättet nebeneinander gereiht, 
Einknickungen der einzelnen Falten sind selten, die romanische Aufteilung in fest- 
geschlossene Flächen tritt noch deutlich hervor ). 

Dabei sind die wesentlich zur Verwendung gelangenden Schemata der Gewand- 
zeichnung ebenso eigenttimlich, als ihre Anzahl gering ist: 

Scharfe ineinandergreifende Winkel fungieren als Schüsselfalten (Abb. 12). Schmale 
nebeneinander gelegte Bänder charakterisieren das Zusammenschieben des Stoffes, 
s. Abb. I2 (Ärmel der Dido). 

In schlängelnden Windungen sich zusammenlegende einzelne schmale Stoff- 
wiilste stellen ein blusiges Überhängen des Gewandes über den Gürtel dar (Abb.I2 
oder besser Lavinia, S. 52)°). 

Dazu kommen lange, schmale, teils grade herabhingende, teils auch seitlich 
flatternde, bisweilen den Körper überschneidende Tütenfalten, meist durch einen 
feinen Mittelstrich der Länge nach geteilt. An den Seiten treten sie oft zu ganzen 
Büscheln zusammen (Abb. I2 und 4). 

An Stellen, an denen das Gewand anliegt, bilden sich gern festgeschlossene, 
weiß stehen bleibende, meist ovale Formen (Abb. 12), an Schenkeln und Armen oft 
auch steile, sichelförmige Falten. 

Zu dieser Art der Gewandzeichnung bietet nun die Handschrift Clm 3901 der 
Münchener Staatsbibliothek die nächste Parallele. Es ist eine Bibel größten 
Formates (71:48cm). Ihre Ausstattung beschränkt sich auf teils figurengeschmiickte, 
teils nur mit krausem Rankenwerk und etlichen Tieren verzierte Initialen. Diese 
sind іп der Hauptsache von einem Miniator gemalt. Nur die Zierbuchstaben fol. 213 
und 215—232 stammen von einem weniger fortgeschrittenen, aber gleichzeitig mit 
jenem arbeitenden Künstler derselben Schule, und die wenigen sehr schlechten 
Initialen fol. 233 und 234 fordern keine Beachtung‘). 

Hier interessieren nur die Initialen des erstgenannten Miniators, denn sie zeigen 


(z) Vgl. Leon Dorez: Les manuscrits a peintures de la bibliotheque de Lord Leicester a Holkham 
Hall. Norfolk, Tafel 12—21 und 8.7. Man wird diese unter Abt Berthold (1200—1231) entstandene 
Handschrift in den Anfang der Regierungszeit dieses Abtes setzen, da der stilistische Fortschritt 
gegenüber den aller Wahrscheinlichkeit nach noch unter Abt Meingoz (1188—1200) gemalten Heinricus- 
Missale (Dorez, 1. с. S. 11/12) nur gering ist. 

(2) Dieses Prinzip flächenhafter Nebeneinanderreihung macht sich auch geltend in der Art, wie die 
Figuren aus einzelnen Schematen zusammengesetzt werden. Man beachte etwa, wie die Konturen 
der Beine zusammenhängend durchgeführt und dann die seitlichen Falten unorganisch angefügt 
werden, oder wie die Mantelborten die bewegten Stoffe faltenlos durchschneiden (Abb. 14). 

(3) Es werden hier immer die oben auf der Seite angebrachten Seitenzahlen der Berliner Handschrift benützt. 
(4) Zu Anfang der Bibel findet sich ein riesiges E in Deckfarben, Gold und Silber. Entsprechend der 
anderen Technik sind die Formen hier etwas vereinfacht, man erkennt aber doch die Hand des 
Minlators 1. 


250 


dieselben Farben und die gleiche Technik wie die Eneit. Wir finden die Falten- 
täler ebenfalls mit Farbe gedeckt, finden auch dieselbe Behandlung der Hinter- 
gründe sowie das anderswo seltene charakteristische Braunrot der Berliner Hand- 
schrift. Nur das helle Gelb fehlt, und statt der braunen wird in Cim 3901 lila- 
farbige Tinte verwendet. Der Miniator der Folien 213 und 215—232 dagegen 
zeichnet ebenfalls mit roter und brauner Farbe wie derjenige der Eneit. 

Hierzu treten formale Übereinstimmungen. Die unruhig und lebendig bewegte 
Gewandung setzt sich in Clm 3901 aus den nämlichen Motiven und nur aus diesen 
zusammen, wie in der Berliner Eneit. Die Abb. Ix und 2 zeigen dieselbe Wieder- 
gabe der weiten Frauenärmel durch schmale Faltenbänder mit feinem Mittelstrich. 
Man findet ferner dieselbe Faltenzeichnung an den Unterschenkeln sitzender lang- 
gewandeter Personen, desgleichen bei dem toten Moses Abb. 15 und etlichen an- 
deren Figuren in Clm 3901 das Herausheben eines geschlossenen Ovals am Ober- 
schenkel in derselben Art, wie bei dem Truchseß ganz links auf Seite 17 und 
sonst oft in der Eneit. 

Das blusige Überhängen des Kleides über den Gürtel (Abb.I5 und noch deut- 
licher das L zu Numeri in Clm 3901) sowie Art und Verwendung der Tütenfalten 
mit feinem Mittelstrich und die Darstellung der Schüsselfalten (schreibender Hiero- 
nymus in Clm 3901) stimmen ebenfalls mit den Miniaturen der Berliner Handschrift 
überein. 

Schließlich mögen die Abbildungen I4 und 5 zeigen, wie gleichartig die Gewan- 
dung hier und dort auch im Gesamteindruck ist. | 

Hierzu kommt noch die gleiche Zeichnung des Haares. Es liegt meistens am 
Scheitel glatt an, bauscht sich am Hinterkopf und an den Seiten, und die Innen- 
zeichnung in parallelen Strichen läßt den Scheitel frei An den Enden der langen 
Strähnen von Haupthaar und Bart befinden sich oft kleine krause Locken. 

Sehr deutlich ferner ist die Übereinstimmung der Hände hier und dort: An viel 
zu schmalem, stengelartig dünnem Gelenk eine breite, flache und knochenlose Hand 
mit langen, an der Spitze oft etwas aufgebogenen Fingern ). 

Nun bietet zwar auch Clm 3901 keine äußeren Anhaltspunkte zur Lokalisierung), 
aber nach dem Stil der Ausstattung kann kein Zweifel bestehen, daß die Miniatoren 
dem Regensburg-Prüfeninger Kunstkreis angehören. Das beweist ein Vergleich der 
Rankeninitialen von Hand ı mit denen von Clm 14049, einer Handschrift der 
Münchener Staatsbibliothek, die nach dem Eintrag des Schreibers unter Abt Pernger 
(1177—1201) in Prüfening entstanden ist (vgl. die Abb. Ir und 3). 

Die Initialen von Cim 14049 und 3901 repräsentieren die Regensburg-Prüfeninger 
Ornamentik, wie wir sie etwa durch die Handschriften Clm 13002, 14047 und 14048 
in München kennen, nur auf einer späteren Entwicklungsstufe. Ebenso lassen sich 
Gesten, Gewandung, Gesichts- und Körperbildung der Figuren ohne Schwierigkeit 
dem Kreis der Regensburg-Prüfeninger Malschule einordnen’). 


(1) Die Handgelenke sind im allgemeinen, abgesehen von dem linken der Judith, in Cim здох nicht 
so schmal wie in der Eneit. Wir werden aber hierfür schlagendere Analogien in anderen, an Clm 3901 
anzureihenden Monumenten finden, 

(2) Die Provenienz aus der Regensburger Stadtbibliothek besagt ebensowenig als der erst später — 
Mitte saec. XIII — hinzugefügte Eintrag fol. II: Anno incarnationis domini 1241, ХУШ. Kal. Sept. 
in die sanctae Mariae assumptionis dominus Hanricus protonotarius illustris ducis Bavarorum bone 
librum contulit ecclesiae sanctae Mariae Augustensis hac intentione, ut eius memoria apud canonicos 
de cetero habeatur. 

(3) Es ist nicht möglich, Unterschiede zwischen den Miniaturen und Initialen, die in Prüfening ent- 


251 


Die Einreihung von Clm 3901 in die Regensburg-Prüfeninger Schule ergibt zu- 
nächst eine ungefähre Datierung dieses Codex auf die neunziger Jahre saec. 12 oder 
Anfang saec. 13; denn der stark bewegte manierierte Stil wie ihn Clm 3901 zeigt, 
läßt sich nach meiner Kenntnis der Denkmäler vor 1190 nicht nachweisen, und 
andrerseits ist die stilistische Parallele Сип 14049 in der Zeit zwischen 1147 bis 
1201 entstanden. 

Vor allem aber gewinnt man nun durch die Lokalisierung von Clm 3901 neues 
Vergleichsmaterial für die Eneit und bekommt die Möglichkeit, sie der Gesamtheit 
der Regensburg-Prüfeninger Schule gegenüberzustellen, deren Eigentümlichkeiten 
eventuell in ihr aufzuzeigen und so den Beweis ihrer Entstehung in diesem Kunst- 
kreis zu erhärten. 

Die Federzeichnung, die man in der Eneit trifft, ist die bevorzugte Technik der 
Regensburg-Prüfeninger Miniatoren. Gewöhnlich stehen die Figuren zwar auf dem 
Pergamentgrund; die Einzelblätter K 588—521 der Münchener graphischen Samm- 
lung?) zeigen aber, daß es schon vor der Anfertigung von Cim 3901 in der ge- 
nannten Malschule üblich war, die Hintergründe in Mittelfeld und Rahmen auf- 
zuteilen und blau und grün zu bemalen, während die Figuren pergamentfarbig 
stehen bleiben. Die braunroten Hintergründe findet man auch in der Münchener 
Handschrift Cim 13002, desgleichen die Verwendung hellgelber Farbe. Allen 
Regensburg-Prüfeninger Miniaturen ist nun eine besondere Kompositionsweise eigen: 
Die einzelnen Teile des Bildes werden sauber, aber etwas eintönig und langweilig 
nebeneinander aufgebaut. Ein überzeugendes, energisches Ineinandergreifen der 
Personen zu einer Handlung fehlt gewöhnlich, die Figuren wirken oft isoliert. Es 
herrscht eine ausgesprochene Vorliebe für ruhige Flächen und damit zusammen- 
hängend die Tendenz, die Linie der Vertikale und Horizontale anzunihern. Dies 
äußert sich ebenso in der häufigen Zusammenfassung mehrerer Personen zu ein- 
fach begrenzten, festgeschlossenen Komplexen, wie in den ruhigen Umrissen von 
Architektur und Landschaft. | 

In diese etwas gleichförmige reliefmäßige Anordnung wird im wesentlichen eine 
Gliederung nur gebracht durch die Verschiedenheit des Volumens der einzelnen 
sparsam bewegten einfachen Formen und ihre Distanzierung. Mit Vorliebe werden 
einander zwei verschieden große, in sich geschlossene Massen gegentibergestellt; 
zwischen ihnen bleibt ein mehr oder weniger breiter Zwischenraum stehen, und 
dieser trägt wesentlich dazu bei, die Handlung zu verdeutlichen. Da, wo der 
Miniator aus irgendwelchen Gründen auf solche klärenden Zäsuren verzichtet, wird 
die Erzählung oft schwer verständlich, vgl. Nr. 2631 der Teufelschen Photographien- 
sammlung oder Teufel Nr. 2630. Die Flächenfüllung ist auffallend ungleichmäßig. 

Am deutlichsten werden diese Regensburg-Prüfeninger Eigenheiten durch einen 
Vergleich der Schöpfungsbilder in der Gebhard-Bibel in Admont mit denen von 


standen sind, und denen der sicher in Regensburg selbst gemalten Handschriften festzulegen. Diese 
Schule, zu der wiederum in Regensburg selbst sowohl Obermünster als St. Emmeran zu rechnen 
sind, scheint ihre Kreise ziemlich weit gezogen zu haben, so daß sich obiger Sammelname rechtfertigt. 
(1) Eine Zusammenstellung derselben hoffe ich an anderer Stelle zu geben. Damrich: Die Regens- 
burger Buchmalerei saec. 12 (Münchener Dissertation 1902) bringt das Material nicht vollständig 
und gibt kein Bild von der künstlerischen Entwicklung, ist aber wegen der Aufzählung und inhalt- 
lichen Erklärung der wichtigsten Regensburg-Prüfeninger Miniaturen zu berücksichtigen, — Riehl 
„Bayerns Donautal“, bringt kaum Neues. Weitere Literatur zur F Malerei im 
Index bei Clemen: Die Romanische Monumentalmalerei in den Rheinlanden. 
(2) Den Hinweis darauf verdanke ich Fri. Dr. Kahn-Frankfurt a/M. 


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Cim 14399 (Swarzenski: Salzburger Buchmalerei, Abb. gı und Teufel Nr. 2445). 
Diese beiden Darstellungen stehen in engster Beziehung zueinander, wie Swarzenski 
zuerst beobachtet hat!). In Cim 14399 gegenüber den Miniaturen der Gebhards- 
Bibel eine offenbare Verarmung an Bewegungsmotiven, Annäherung an die Ver- 
tikale. Die Handlung wird kraftlos; die einzelnen Figuren sind ohne stärkere 
Überschneidungen nebeneinander gestellt; große Flächen des Bildfeldes bleiben un- 
dekoriert. 

In früheren und späteren Werken der Salzburger Miniatoren findet man diese 
Eigentümlichkeiten ebensowenig als sonst in Bayern, Schwaben oder Sachsen; 
ausgenommen bleiben die Miniaturen der Theophilus- und Abtissin-Legende und 
die apokalyptischen Darstellungen im Scheyerner Matutinalbuch in München, auf 
die unten deswegen noch kurz zurückzukommen sein wird. 

Die obige Formulierung der Kompositionsprinzipien in Regensburg- Prüfeninger 
Miniaturen läßt sich nun ohne weiteres anwenden bei einer Analyse der Eneit. 

Es finden sich sogar einige der in der Berliner Handschrift verwendeten Kom- 
positionstypen?) ganz entsprechend in gesicherten Regensburg-Prüfeninger Minia- 
turen, z. B. der für Mitteilungen an eine größere Anzahl von Personen übliche 
Typus (vgl. Teufel 2619 unten und Eneit, S. 12 oben). Die Ankunft des Aeneas 
und der Sibylle bei den Selbstmördern ist nach demselben Schema komponiert wie 
in der Münchener Handschrift Clm 13074 die Ankunft des Apostels Thomas und 
seines Begleiters am Schiff. Ferner ist der Tod der Camille, S. 35, ganz ähnlich 
dargestellt wie die Ermordung des Apostels Thomas in der eben genannten 
Münchener Handschrift. 

Besonders wichtig aber wird die Übereinstimmung da, wo sie nur durch ein Ab- 
weichen des Eneit-Illustrators vom Text erreicht wird. Auf S. 37 oben nämlich 
soll die Klage des Turnus an der Bahre der Camille dargestellt werden, bevor die 
Leiche nach Volkäne gebracht wird. (Behaghel 9283—9353.) Statt dessen bietet 
der Maler eine Grablegung mit klagender Mittelfigur ganz entsprechend der Be- 
stattung des heil. Andreas in Clm 13074 (Teufel 2622). Er übernimmt also offen- 
sichtlich einen fertigen Typus. Dabei stimmt sogar die eigenartige Faltenbildung 
des Leichentuches überein. | 

Da aber, wo keine solchen direkten Übereinstimmungen sich feststellen lassen, 
sind doch die Gebärden, die lässige Art des Zugreifens oder Festhaltens dieselben. 
Die Arme werden ganz dicht an den Leib genommen, so daß die Hände oft vor 
den Körper zu liegen kommen. Besonders häufig greift der Unterarm von hinten 
nach vorn über den Leib herüber, die Hand faßt in den Gürtel oder wird glatt 
vor die Brust gelegt, auch die redend erhobene Hand wird gern dicht vor 
der Brust gehalten. Bisweilen sind beide Hände vor dem Leib übereinander gelegt. 

Auch für die Gesichtstypen und für die Formen der Hände bieten die vor Clm 3901 
entstandenen Miniaturen der Regensburg-Prüfeninger Schule sehr nahe Analogien 
zur Eneit (vgl. Abb. Пт und 2, z. B. Rahab und Aeneas). 


(x) 1. c., 8.73, Anm. 5. 

(2) Wie die Gewandung, so lassen sich auch die Kompositionen der Berliner Handschrift, soweit sie 
nicht seltene und ungewöhnliche Vorgänge illustrieren, auf wenige, nur immer wieder leicht ab- 
gewandelte und im Verhältnis zum Rahmen verschobene Typen zurückführen: Die Gastmähler sind 
ebenso alle nach einem Schema dargestellt (S. 17 oben, 56 unten, 170 unten) wie das Betreten oder 
Verlassen eines Raumes durch eine Person (8.3 oben, 42 oben, 45 oben, 55 unten, 133 unten) oder 
wie Zwiegespräche, Zweikämpfe zu Fuß und zu Pferd, ruhende Helden im Zelt, Bestattungs- und 
Klageszenen usw. 


253 


Ich verzichte darauf, den Vergleich zwischen Eneit und gesicherten Regensburg- 
Prüfeninger Miniaturen in allen Einzelheiten durchzuführen und greife nur noch 
einige besonders deutliche Übereinstimmungen heraus. 

Auffallend sind in der Berliner Handschrift die sehr langen, übermäßig dünnen 
Beine, die winzigen Füße!) und die Beinstellungen. Bei stehenden Figuren sind 
die Knie meist durchgedrückt, Stand- und Spielbein selten und dann kaum merk- 
lich differenziert, vielmehr beide Füße gleichmäßig und sehr dicht nebeneinander 
gesetzt. Die Figuren wirken dadurch steif und unfest. Der schwere Oberkörper 
scheint die viel zu schwachen, leblos im Hüftgelenk hängenden Beine umzureißen 
(siehe z.B. 5. 129 oben). Auch auf das Schreitmotiv erstrecken sich die genannten 
Eigenheiten der Formgebung, und hier ist die gliederpuppenartige Bildung beson- 
ders deutlich. 

Daneben, besonders wenn der Rock die Beine frei läßt, eine andere Art des 
Ausschreitens mit gleichmäßig geknickten wie entgleitenden Beinen, z.B. S. 66 oben. 

Bei starker rechtwinkliger Beugung des Knies, etwa bei dem aus Charons Nachen 
aussteigenden Aeneas hängt der dünne Unterschenkel an dem viel zu starken, ein 
fast geschlossenes Oval bildenden Oberschenkel. 

Liegende und umsinkende Personen strecken die Beine steif und gleichmäßig 
nebeneinander gelegt von sich (Pallas, S. 105 und 106). — Alle diese Eigentüm- 
lichkeiten der Stellung, die äußerst dünnen Schenkel und die unnatürlich kleinen 
Füße finden sich ganz entsprechend in Regensburg - Prüfeninger Miniaturen, vgl. 
z. B. die Darstellung der fünf Könige in der Höhle (Josua X, 22) in Clm 14159 
(Abb. Пт) mit Aeneas auf Abb. Da 

Von den Besonderheiten des Kostiims, an denen die Eneit ja sehr reich ist), 
wären zunächst die Formen der Kronen als lokale Eigentümlichkeit zu bezeichnen. 
Sie entsprechen den in Regensburg - Prüfeninger Handschriften vorkommenden 
Kronen, nur haben sie statt der geschweiften oder spitzwinkligen unteren Abschlüsse 
eine gerade Kante. Auch das Kopftuch der Frauen, das der Text Gebende nennt, 
ist kennzeichnend. Es wird so geschlungen, daß über den Vorderkopf ein schmales 
Band läuft, welches bei Dreiviertelansicht über der Stirn einen spitzen Winkel 
bildet, bei Darstellung von vorn dagegen in flacher Kurve den Kopf überquert. 
Schließlich sei, abgesehen von der wieder mit Regensburg-Prüfeninger Malereien 
übereinstimmenden Form der Szepter, hingewiesen auf die seltsame Art, wie der 
Frauenmantel über den Kopf gezogen und von einer Krone oder auch vom Mantel- 


(1) Sind die Füße nackt und nicht beschuht, so werden sie breiter gebildet, damit die Zehen ein- 
gezeichnet werden können (vgl. dieselbe Beobachtung bei Damrich: Regensburger Buchmalerei, S. 15, 
drittletzter Absatz). 

2) Die schalartig umgeschlagenen schmalen Tücher, wie sie Aeneas, Turnus und auch einige andere 
Männer tragen, lassen sich nur aus einer archäologisierenden Absicht des Miniators erklären, der 
durch dieses bei Antiken sehr häufige Gewandstück seine Figuren als „antikisch“ kennzeichnen wollte. 
Dabei braucht man nicht an eine direkte Bekanntschaft mit antiken Monumenten zu denken, denn 
diese Tücher dienen in der mittelalterlichen Kunst häufig dazu, eine Person „antik“ zu bekleiden; 
wir finden sie z. B. bei heidnischen Götterbildern (vgl. Amelli: Encyclopädie des Rhabanus Maurus, 
Taf. 102) und ebenso in Terenz-Illustrationen (Codices graeci et latini photographice depicti VIII, 
Taf. то, 11, 35 und oft), Andere Seltsamkeiten der Tracht sind durch den Text vorgeschrieben. So 
die Bänder, die Camille und ihr Gefolge um Helm und Stirn gewunden tragen und welche seidene 
Schleier vorstellen (Behaghel 8817—23). Diese dienen ebenso wie die bisweilen vorkommenden langen 
Frauenärmel des Waffenrockes dazu, die Amazonen, die ja Männerkleidung tragen, aus der Menge 
der Krieger herauszuheben. 


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Cim. 14095. 


Abb. 6. 


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band, das Stirn oder Scheitel überquert, festgehalten wird (Ruth in Clm 3901 und 
Eneit, S. 21 oben!). Ез ist mir bisher nicht gelungen, diese Besonderheit in 
anderen Denkmälern der Zeit festzustellen, abgesehen von dem Theophilus-Zyklus 
in Clm 17401, also immerhin möglich, daß sie als Schuleigentümlichkeit anzu- 
sprechen ist. 

Die Architekturen der Eneit ferner zeichnen sich durch ihre oft nahezu aufriß- 
artige Einfachheit aus. Die aus Hausteinen*) regelmäßig in horizontalen Lagen ge- 
fügten Mauern haben fast immer ein durch kleine runde oder sehr schmale rund- 
bogige Fenster ausgezeichnetes Simsgeschoß, tiber dem ein einfacher Zinnenkranz 


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Ornamente aus gesicherten Regensburg-Prüfeninger Miniaturen. 


den Abschluß bildet. Auch die rechteckigen Türme, ebenfalls ohne Andeutung der 
dritten Dimension, aus demselben Mauerwerk und mit demselben Zinnenkranz, 
zeigen oft auch ein Fenstergeschoß. Eigenartig sind die sehr großen Rundbogen- 
fenster, die meist die ganze Breite des Turmes beanspruchen. Die Ubereinstim- 


(х) Hier sind erst später aus den rot gezeichneten Mantelbändern der Begleiterinnen der Dido durch 
Überzeichnung mit brauner Tinte schmale Reifen gemacht worden. In der Berliner Handschrift wird 
der Mantel nur bei offiziellen Gelegenheiten so über den Kopf gezogen, bei denen eine gewisse Re- 
serve gewahrt werden soll. 

(2) Die Schattierung der Bausteine auf Abb. IIx ist in gesicherten Regensburg -Prüfeninger Sachen nicht 
die Regel. 


255 


mung dieser Bauten mit gesicherten Prüfeninger Denkmälern zeigen die Abbil- 
dungen Пт und 2°). 

Auch die Darstellung der Tiere und das Landschaftliche passen gut zu der Ein- 
reihung der Eneit in die Regensburg-Prüfeninger Schule und die Ornamentik, die 
bei der Lokalisierung mittelalterlicher Handschriften von ausschlaggebender Be- 
deutung ist, bestätigt sie. 

Leider enthält die Eneit keine einzige ornamentierte Initiale. Aber infolge der 
häufigen Verwendung gemusterter Stoffe bekommen wir doch eine Auswahl an 


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Ornamenten, die, selbst wenn Cim 3901 nicht erhalten wäre, ausreichte, die Eneit 
dem genannten Kunstkreis einzuordnen, siehe Abb. 8 und 9; dabei ist der kritze- 
lige Charakter dieser an sich sehr einfachen Muster Stilprinzip und lokale Eigen- 
tümlichkeit. 

Man wird nach alledem an der Lokalisierung der Eneit nach Regensburg-Prüfe- 
ning festhalten, denn eine gemeinsame Beziehung zu Salzburg kann die Über- 
einstimmungen der Berliner Handschrift mit Regensburg-Prüfeninger Malereien 
nicht erklären. Erstlich ist das Ornament der Regensburg-Prüfeninger Handschriften 


(3) Die anderen Architekturformen der Berliner Handschrift sind teils als allgemein üblich, teils als 
bayerisch zu bezeichnen, finden sich aber auch in Regensburg-Prüfening und zeigen alle die in dieser 
Schule übliche Zweidimensionalität und wenig dekorierte Großflächigkeit, 


256 


und der Eneit erheblich von der Salzburger Ornamentik verschieden, ferner ist die 
Abwandlung der von Salzburg her übernommenen Formen dieselbe in den Berliner 
und den übrigen Regensburg-Prüfeninger Miniaturen, und schließlich findet man 
in der Eneit nur die verhältnismäßig wenigen Salzburgischen Formen, die auch 
Prüfening tibernommen hat, keine einzige der vielen übrigen. Und wenn die 
Scheyerner Theophilus-Legende, sowie die zugehörigen apokalyptischen und Äbtissin- 
Darstellungen viele Berührungspunkte mit der Eneit haben, so erklärt sich das 
aus einer starken Abhängigkeit des Scheyerner Miniators von der Prüfeninger Kunst ). 
. Leider gibt die Lokalisierung der Eneit keinen Anhaltspunkt zur genaueren 
Datierung derselben, denn die später aus derselben Schule hervorgegangene Wiener 
Handschrift 12600, die in ihren Miniaturen schon den eckigen Stil zeigt, läßt sich 
nicht genauer zeitlich fixieren, so daß uns eine untere Zeitgrenze für die Eneit- 
Illustrationen fehlt. Man muß sich also vorläufig mit ihrer Datierung auf Anfang 
saec. 13 begnügen. 


(1) Man kann an diesem Abhängigkeitsverhältnis nicht zweifeln, wenn man etwa die Abbildung 2 
bei Damrich: ein Künstlerdreiblatt des 13. Jahrhunderts, Straßburg, Heitz 1904, mit Abbildung 245 
in Swarzenskis Salzburger Buchmalerei zusammenhält oder die Ähnlichkeit der einen Art von Initialen 
des Scheyerner Matutinalbuches mit Prüfeninger Initialen beachtet. Die Beziehungen zwischen Prü- 
fening und Scheyern sind ja auch dadurch gesichert, daß die Münchener Handschrift Cim 17403 die 
in letzterem Kloster gefertigte Kopie des in Prüfening entstandenen Codex Cim 13002 ist. 


257 


KLEINE BEITRÄGE zu PETER VISCHER. XL 


1. EINE NEUE VISCHERPLATTE IN DER KATHEDRALE ZU 
KRAKAU Mit zwei Abbildungen in Lichtdruck Von GEORG v. KIESZKOWSKI?) 


ie ungefähr aus der Zeit 1503—1515 stammenden Vischerschen Grabplatten 

in Krakau: die des Kardinal Friedrich (f 1503) samt der dazu gehörigen 
Relief-Tafel (1510) der Vorderseite und Peter Kmita’s (} 1505) in der Domkirche, 
ferner jene der beiden Salomons in der Marienkirche, schließlich die nach dem 
Entwurfe des Veit Stoß ausgeführte Callimachus-Erztafel in der Dominikanerkirche 
gehören unstreitig zu den künstlerisch bedeutendsten Werken Peter Vischers. 
Eine spätere Arbeit als die erwähnten Platten ist, wie Daun (P. Vischer u. A. Krafft, 
Knackfuß-Mon. 1905) mit Recht bemerkt hat, die „bisher unerwähnte und ohne 
Inschrift erhaltene Bronzetafel eines Kardinals*) (in Halbfigur, abgeb. Fig. 17) in 
der Domkirche. An die früheste Krakauer Erztafel (des Kardinals Friedrich, } 1503) 
reiht sich hingegen jenes Werk der Vischerschen Gießhütte in der Kathedrale zu 
Krakau, das ich in meinem Buche „Kanzler Christoph Szydlowiecki“ als Grab- 
platte des Domherrn Paul Szydlowiecki ({ 1506) publiziert habe. Den ausländi- 
schen, insbesondere den deutschen Forschern ist diese Erztafel entgangen?) — 
und so will ich hier eine freie Bearbeitung des in Betracht kommenden polnischen 
Textes meines Buches geben. 

Die Erztafel galt bis in die letzten Zeiten als verschollen. Nur die Inschrift, mit 
der sie versehen war, haben uns polnische Schriftsteller des r6., 17. und 19. Jahr- 
hunderts überliefert. Sie lautete: 

Paulo de Schidloviec, Praeposito Posnanien. Custodi Cracovien. Secretario Regio, 
Virtute, Doctrina, Ingenio Generisque Nobilitate Insigni, Christopherus et Nicolaus 


(x) Die folgenden Beiträge wurden mir von dem Verfasser, dem Krakauer Universitätsdozenten und 
Leiter der Graphischen Universitäts-Sammlung übersandt mit dem Anheimgeben, sie für deutsche 
Leser nötigenfalls zu ändern und zu kürzen. Ich habe von diesem Rechte Gebrauch machen müssen, 
weil der Verfasser vieles Genealogische erörterte, was für den deutschen Kunsthistoriker nicht in 
Betracht kam. Auch habe ich mir erlaubt, seine Beweisführung umzuschreiben, und die Abbildung 
der meisterhaften Lubranskiplatte beizufügen, — Dem ersten Aufsatze ging ursprünglich ein anderer 
voraus, welcher eine in Galizien angeblich entdeckte Glocke Peter Vischers behandelte. Kurz vor 
der Drucklegung teilte mir jedoch der Verfasser mit, daß die ganze, sehr detaillierte Nachricht auf 
Schwindel beruhe. Aus diesem früheren Aufsatze habe ich daher nur den kleinen Absatz über ein 
bisher unbekanntes Bronzegitter des Hans Vischer für eine Krakauer Domkapelle übernommen. 
Meines Wissens ist diese Nachricht völlig unbekannt. Das Gitter ist verloren gegangen, während 
von dem anderen berühmteren Gitter der Fuggerkapelle kürzlich namhafte Teile in Frankreich wieder 
aufgetaucht sind. Ich komme demnächst darauf zurück. Stierling. 
(2) Soll wohl heißen: eines Domherrn. Denn abgesehen von der herkömmlichen Kanonikus- Tracht 
(wie sie ja auch auf der von Daun, auf derselben Seite seines zit. Buches, Fig. ı8 veröffentlichten 
Tafel des Domherrn Johann von Heringen im Kreuzgange des Erfurter Domes zu sehen ist), hatte 
Polen іп den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts, in welche Zeit die erstgenannte Erztafel gehört, 
überhaupt keinen Kardinal und auch für einen fremden Purpuraten wurde damals, in Polen, keine 
Grabplatte errichtet. 

(3) Wohl aus dem Grunde, weil sie verdeckt war. Durch Jahre nämlich, als noch die Tafel in den 
Steinboden der Domkirche, vor der in ihrer Mitte freistehenden Kapelle des St. Stanislaus-Bischof, 
eingelassen war, war sie stets mit einem Teppich zugedeckt. Erst anläßlich der letzten Restaurierung 
der Kathedrale vor etwa 20 Jahren wurde sie gehoben und an der inneren Wand des rechten Seiten- 
schiffes, unwelt des Südeinganges, befestigt. 


258 


Fratri Carissimo Ac Bene Merenti Posuerunt. Obiit (Auriaci == Herzogenaurach 
bei Nürnberg) Annum agens 26, Magno Hominum Post Se Desiderio Relicto, 
Anno 1506, Die 20 Junii. 

Sucht man nun in der Krakauer Domkirche die mit der obigen Inschrift ver- 
sehene Grabplatte Paul Szydiowieckis, so findet man sie freilich nicht. Dennoch 
ist sie erhalten geblieben und zwar, wie ich tief überzeugt bin, in der Reliefplatte 
„eines näher nicht bekannten Domherrn“, die bis zur Zeit der letzten Restaurierung 
der Kathedrale (vor etwa 20 Jahren), in das Paviment, unmittelbar vor der in der 
Mitte des Hauptschiffes freistehenden St. Stanislaus-Kapelle eingelassen war und 
sodann an der inneren Wand des rechten Seitenschiffes, unweit des Südportales, 
befestigt wurde. 

Nun, abgesehen davon, daß die Erztafel einen Domherrn oder einen Prälaten 
darstellt, Paul Szydlowiecki aber eben ein Prälat (Kustos) des Krakauer Dom- 
kapitels gewesen, sprechen für meine obige Hypothese folgende Momente: 

a) Der — heraldisch — rechts in der unteren Ecke angebrachte Schild mit dem 
Wappen Odrowaz') deutet darauf hin, daß der Vater des auf der Platte Dar- 
gestellten sich eben dieses Wappens bediente; das — heraldisch — linksseitige, 
ebenfalls in der unteren Ecke sichtbare Schild mit dem Wappen Labedu (Schwan) 
weist wieder auf die Mutter des Dargestellten hin. Und da wir wissen, daß der 
Vater des Domherrn Paul, Stanislaus Szydłowiecki, tatsächlich das erstere, seine 
Mutter, Sophie von Gozdziköw und Pleszöw aber das zweite Wappen führten, 
so paßt die Figur des Dargestellten vortrefflich zu diesem Elternpaare, und zwar 
um so mehr, als ein gleichzeitiger Krakauer Domherr, dessen Eltern jene Wappen 
im Schilde geführt hätten, unbekannt ist; 

b) da man die früher in den Steinboden eingelassene Erztafel, wahrscheinlich 
Jahrhunderte hindurch, mit Füßen getreten hat, so erscheint heute selbstverständ- 
lich die Nase des Domherrn ganz verflacht. Aus diesem Grunde ist es unmöglich, 
die Gesichtszüge Pauls mit jenen eines erhaltenen Miniaturporträts vergleichen zu 
wollen. Immerhin aber muß hervorgehoben werden, daß in beiden Bildnissen 
die gekräuselten Kopfhaare in ganz derselben Weise unter der Kopfbedeckung 
herausstehen, nämlich als Haarbüschel an beiden Schläfen, was bei der Erzplatte 
allerdings auch auf Konvention in der Vischerhütte beruhen kann; 

c) der Übergangsstil der Erztafel weist schließlich auf das erste Dezennium des 
16. Jahrhunderts, also auf die Zeit hin, in welcher dem im Jahre 1506 verschie- 
denen Paul S. dessen Brüder — höchstwahrscheinlich gleich nach seinem Tode — 
die Grabplatte errichtet haben. 

Aus der Tatsache, daß heute die Erztafel von einer Renaissance-Inschrift, die 
zu der nicht mehr erhaltenen Grabplatte des Kanonikus Nikolaus Czepiel (f 1518) 
gehörte, eingefaßt erscheint, ist wohl der Schluß berechtigt, daß die Erztafel Pauls 
ursprünglich an einer anderen Stelle angebracht war. Und tatsächlich, Staro- 
wolski berichtet, daß die dem Domherrn Szydtowiecki gewidmete Inschrift (und 
zweifellos auch die Tafel selbst): ad altare Kmitarum) (also nicht vor der St. Sta- 
nislaus-Kapelle) zu sehen war. 


(х) Die Familie derer von Szydlowiecki entsprang dem altadeligen, in Klein-Polen begüterten Ge- 
schlechte der Odrowaze. 
(2) Es kann sein, daß hier von dem St. Anton-Altare die Rede ist, an dessen linker Seite, gegenüber 
der Kapelle der Familie Szafraniec, ursprünglich die berühmte Vischersche Erztafel Peter Kmitas 
(+ 1505) angebracht war. 


259 


Im Laufe der Zeit ist die Inschrift vom Grabe Paul S.s verschollen oder wurde 
vernichtet. Vermutlich anläßlich irgendwelcher Ordnungsarbeiten in der Kathe- 
drale — vielleicht nach den schwedischen Plünderungen im 17. Jahrhundert — 
wurde unsere Erztafel mit der von der Grabplatte Czepiels zurückgebliebenen 
Inschrift vereinigt und in den Steinboden vor der Stanislaus-Kapelle eingelassen. 
(Bekamntlich fehlt auch die Inschrift der prachtvollen gravierten Platte eines un- 
bekannten Mitgliedes der Familie Salomon in der Marienkirche zu Krakau.) 

Schauen wir uns die Tafel des Domherrn S. näher an. Sie ist eine Reliefplatte 
von beträchtlicher Größe: 1,40 m lang, 0,77 m breit und trägt alle Kennzeichen 
Vischerscher Kunst, zumindest seiner Werkstätte!). Zuerst ist daran zu erinnern, 
daß sich in Krakau eine ganze Reihe hervorragender Erztafeln aus der Nürnberger 
Hütte befinden. Es liegt also rein äußerlich nichts Überraschendes darin, wenn 
noch eine weitere auftauchen sollte. Rein äußerlich ist auch zu bedenken, daß 
das heraldisch linke Wappen der neuen Tafel (der Schwan) auf den Krakauer 
Vischertafeln des Peter Salomon und des unbekannten Salomon wiederkehren, ja 
vielleicht sogar auf den Tafeln eines unbekannten Salomon und des Calimachus, 
wo der Schwan wohl nicht zufällig in den Bogenzwickeln zu beobachten ist. (Ab- 
bildungen sämtlich bei Daun.) Das heraldisch rechte Wappen (Hausmarke) da- 
gegen kehrt auf der Posener Vischerplatte des Domherrn Lubranski wieder. (Ab- 
bildung 2). 

Bei Lubranski (und vielen anderen) ist auch die Stellung der gegeneinander ge- 
neigten Wappen zu Füßen des Geistlichen genau die gleiche. 

Mit der eben genannten Posener Platte ist die Verwandtschaft auch in vielen 
anderen Punkten nicht zu verkennen. Die seitlichen Säulen und ganz entsprechen- 
den Säulenfüße und der an Schnüren aufgehängte Teppich des Hintergrundes fallen 
sofort als Gemeinsamkeit ins Auge. Charakteristisch ist dabei die Art, wie der 
Baldachinbogen in verwandter Schwingung, unterbrochen von senkrechten Stützen, 
über dem Haupte der Domherren gipfelt! 

Im übrigen aber darf nicht verkannt werden, daß die neue Krakauer Platte (auch 
wenn man die Verstiimmelungen und die nicht zugehörigen Schriftbänder berück- 
sichtigt) sich mit den übrigen Krakauer Denkmälern qualitativ nicht vergleichen 
läßt. Diese sowohl als vor allem die ihr in manchen Punkten am nächsten ver- 
wandte Posener Platte des Lubranski sind sehr viel geistvoller behandelt. Die 
parallele Stellung der großen Füße ist auf der neuen Krakauer Platte recht fatal. 
Ebenso die Parallelität der Falten, die sich besonders in den großen Hängeärmeln 
äußert, und die im vollen Gegensatz zur Behandlung desselben Motivs bei der 
Lubranski-Platte steht. Man fühlt sich bei derartigen Plumpheiten bedenklich an 
die Grabplatten des Gnesener Domherrn Johannes Groth (1532) oder an die Wei- 
marer Margarethe von 1521 erinnert, welche Vischers Schwager Mülich zu- 
geschrieben wird. 

Alles in allem ist es schwer zu entscheiden, ob wir einem Werk Vischers oder 
nur seiner Hütte gegenüberstehen! Da Erztafeln nur ausnahmsweise signiert sind, 
wird es kaum je gelingen, ganz scharfe Kriterien zu gewinnen. Jedenfalls sind 
hier Vischersche Motive reichlich und ungezwungen verwandt, ja die ganze obere 
Hälfte der Tafel ist einwandfrei und nur die untere Hälfte zeigt ein beträchtliches 


(z) Die folgenden Ausführungen des Verfassers habe ich wesentlich gekürzt und geändert, denn mir 
scheint der Zusammenhang mit der Vischerhütte so unmittelbar, daß ich vieles von der sehr ein- 
gehenden Argumentation des Verfassers mit gutem Gewissen weglassen zu dürfen glaubte. 


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Krakau, Kathedrale. 
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Abb. 1. 


Abb. 2. Posen, Dom. Bernhard von Lubranski 1499. 


iftrand nicht zugehörig.) 


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Erlahmen der Formenphantasie. Gerade in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit 
den. Würzburger Tafeln oder der Halberstädter sehr lehrreich: es ist auffallend, 
wieviel mehr Bewegungsreichtum Vischer diesen gleichfalls unsignierten Güssen 
des Albert von Bibra 1511 und Peter von Aufseß 1522 in Würzburg!) oder des 
Balthasar von Neuenstädt (1516 oder früher!) in Halberstadt verliehen hat. Die 
letztgenannte Halberstädter Tafel (Abbildung im Inventar und bei Dr. Stoedtner) 
ist diejenige, die in ihrer frontalen Haltung des Dargestellten und sozusagen in 
ihrem Körpervolumen der neuen Krakauer am nächsten steht. Vielleicht ist sie 
daher zum Vergleich noch besser geeignet als die Lubranski-Platte, die kunst- 
reicher, aber gewiß auch — was man nicht übersehen sollte — teurer war. 


2. EIN UNTERGEGANGENES VISCHERGITTER IM DOM 
ZU KRAKAU 


Im Jahre 1535 hat Hans Vischer nach dem Tode seines Vaters und zweier Brüder 
die große Zahl der in Krakauer Kirchen aufbewahrten Werke seiner väterlichen 
Hütte um ein neues vermehrt. Der Bischof Peter Tomicki hatte bei ihm ein seine 
Kapelle in der Domkirche abschließendes Gitter mit den daraufstehenden Erzfiguren 
des Engelsgrußes und der Heiligen Wenzeslaus und Florian bestellt. Es war jetzt 
vollendet und der filius opificis, d. h. der Sohn des Hans Vischer, brachte es nach 
Krakau, um es an Ort und Stelle aufzurichten“). 

Das Gitter samt dem figuralen Schmuck besteht nicht mehr. Im Jahre 1657 
haben es die Schweden geraubt. Aber dank den Krakauer Archivalien wissen wir, 
daß nicht nur Hans Beham?) und Hans Dürer, sondern auch Peter Vischer d. A. 
und sein Enkel (in Vertretung seines Vaters Hans Vischer) Polens alte Krönungs- 
stadt aufgesucht haben‘). 


(x) Abbildungen der Würzburger Tafeln in Stierling, Kleine Beiträge zu Р. Vischer УП. (Monats- 
hefte XII, 1919, Tafel 25—30.) 

(2) Die auf Krakauer Archivalien beruhende Schilderung jener Bestellung entbält Kieskowskis Arbeit: 
Przyczynki do kulturalncj dsialalnosci Piotra Tomickiego („Beiträge zur kulturellen Tätigkeit des Bischofs 
Р. Tomicki“ in den Berichten der kunsthistorischen Kommission der Ak. d. W. in Krakau 1906, Bd. 7). 
(3) Er hat 1520 in Krakau die berühmte und größte Glocke in Polen, die sogenannte Sigismundglocke, 
gestiftet von König Sigismund І, in der Domkirche gegossen. 

(4) Hans Vischer hat zwei Jahre am Gitter gearbeitet. Severin Boner, der Krakauer Burghauptmann, 
hatte den Auftrag vermittelt. 


DIE TREPPE DER LIBRERIA DI S. LORENZO 
BEMERKUNGEN ZU EINER UNVERÖFFENTLICHTEN SKIZZE 
MICHELANGELOS Mit en 5 Text- Von ERWIN PANOFSKY 


ie Treppe, die den Vorraum der Biblioteca Laurensiana mit dem höhergelegenen 
Hauptsaal verbindet (Abb. r und 2), ist bekanntlich erst im Jahre 1560 ge- 
baut worden: nach früherer Vermutung von Vasari, nach jetziger, wohl allgemein 
akzeptierter Annahme von Ammanati, sicher aber auf Grund eines von Michel- 
angelo angefertigten Tonmodells, das der Meister am 13.Januar 1559 aus Rom nach 
Florenz geschickt hatte, und das etwa sechs Wochen später (am 22. Februar) vom 
Herzog Cosimo genehmigt worden war!). — Wüßten wir von dem Hergang nichts 
weiter als dieses, so würde schwerlich jemand daran gezweifelt haben, daß die 
ausgeführte Treppenanlage im großen und ganzen — d. h. soweit das skizzenhafte 
Modell, „un poco di bozza piccola di terra“, einen Anhalt gewährte °) — dem Plane 
Michelangelos entspreche. Nun aber besitzen wir einen vom 28. September 1555 
datierten, an Vasari gerichteten Brief des Meisters’), dessen Inhalt nicht nur rein 
sprachlich dem Verständnis Schwierigkeiten bereitet, sondern auch sachlich mit der 
gegenwärtigen Gestalt der Treppe so wenig vereinbar erscheint, daß entweder auf 
seiten Michelangelos ein zwischen 1555 und 1559 eingetretener Planwechsel, oder aber 
auf seiten des ausführenden Architekten ein Abweichen von Michelangelos Modell 
vorausgesetzt werden muß. Die Forschung hat sich bald für die eine, bald für 
die andere Annahme entschieden, gelegentlich auch eine Art von Kompromiß ver- 
sucht‘), — allein in allen Fällen mußte die Lösung schon deshalb unbefriedigend 
bleiben’), weil es bisher noch nicht gelungen ist, den Brief von 1555 in zweifels- 
freier Weise zu interpretieren. 


1. 
Dieser Brief lautet — mit berichtigter Interpunktion — folgendermaßen: 
„Messer Giorgio, amico caro. 

Circa la scala della libreria, di che m’é stato tanto parlato, crediate che, se io 
mi potessi ricordare, che io non mi farei pregare. Mi torna nella mente come 
un sogno una certa scala; ma non credo, che sia appunto quella, che io pensai 
all’ hora, perchè mi torna cosa goffa; pure la scriverò qui, cioè che i’ togliessi una 
quantita di scatole aovate di fondo d'un palmo l'una, ma non d’una lunghezza е 
larghezza; e la maggiore e prima ponessi in sul pavimento, lontana dal muro 
tanto, quanto volete, che la scala sia dolce o cruda, e un altra mettessi sopra 
questa, che fussi tanto minore per ogni verso, che in sulla prima disotto avanzassi 
tanto piano, quanto vuole il pié per salire, diminuendole e ritirandole verso la 


(1) Gaye, Carteggio . . . III, S. 13. | 

(2) Le lettere di Michelangelo Buonarroti, ed G. Milanesi (fernerhin zitiert als „Mil.“), 1875, S. 344. 
(3) Mil., S. 548 (mit falscher Datierung und mißverständlicher Interpunktion); ferner Vasari, ed. Mi- 
lanesi, VII, S. 237. 

(4) So Thode (Michelangelo, Krit. Untersuch. П, 1908, S. 134), „. . . es geht aus allen unseren Dar- 
legungen hervor, daß die heutige Treppe im wesentlichen den ursprünglichen Entwurf [scil. den 
von 1555], ausgeführt zeigt, nur daß die Seitenläufe der oberen Treppe — vielleicht auf Michelangelos 
eigene spätere Entscheidung — weggelassen worden sind.“ 

(5) Vgl. Р. Frankl, Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst, 1914, 8. go, Anm. 


262 


porta fra una e laltra sempre per salire, e che la diminutione dell’ ultimo grado 
sia quant’ ё '1 vano della porta. E detta parte di scala aovata habbi come due ale, 
una di qua et una di la, che vi seguitino i medesimi gradi e non aovati; di queste 
serva il mezzo per il signore. Dal mezzo in su di detta scala, le rivolte di dette 
ale ritornino al muro; dal mezzo in giu insino in sul pavimento si discostino con 
tutta la scala dal muro circa tre palmi, in modo che l’imbasamento del ricetto non 
sia occupato in luogo nessuno, e resti libera ogni faccia. Io scrivo cosa da ridere, 
ma so ben, che voi troverete cosa al proposito.“ 

Daneben ist uns, freilich nur fragmentarisch, auch das Konzept zu diesem Briefe 
erhalten: wertvoll insofern, als es das Datum und die Interpunktion der Milanesi- 
schen Ausgabe zu berichtigen erlaubt 
und auch in technisch-terminologischer 
Beziehung an einigen Stellen klarer ist 
als das Mundum. Dieses Konzeptfrag- 
ment, das von Karl Frey in dem be- 
kanntenMichelangelokodexderBibliotheca 
Vaticana entdeckt wurde und scheinbar 
schon am 1. Januar des Jahres 1555 ab- 
gefaßt ist, hat folgenden Wortlaut: 


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Abb. ı. Die Treppe derLibreria diS. Lorenzo, gegen- Abb. 2. Die Treppe der Libreria di S. Lorenzo, 
wärtiger Zustand, Längsschnitt (mit Benutzung von gegenwärtiger Zustand, Grundriß 

v. Geymüller, Die Arch. d. Renaiss. in Toskana), *) (nach v. Geymiller). 


„. . . diritto, е la [sc. parte oder scala] di mezzo aovata intendo pel Signore; 
le parti d’accanto pe’ servi andando a veder la libreria. Le rivolte di dette alie 
dal mezzo іп su, in sino al riposo di detta scala, s’appiccano col muro; dal mezzo 
in giu, in sino al pavimento, detta scala si discosta dal muro circa quattro palmi, 
in modo che l’imbasamento del ricetto non ё offeso in luogo nessuno е attorno 
resta libero“). 

Der Anfang der Beschreibung ist eindeutig: Michelangelo denkt an eine drei- 
teilige Anlage, deren nach unten zu sich verbreiternder Mittellauf fiir den Herzog 
reserviert bleiben soll, während die Seitenläufe (, ale“) für Leute geringeren Standes 
bestimmt sind. Die Stufenfolge ist bei allen drei Läufen die gleiche, doch sind die 
Stufen des Mittellaufes konvex geschwungen (aovate), die der Seitenläufe geradlinig. 

Die Höhe der Stufen wird auf einen palmo festgesetzt (so daß wir, da ein Niveau- 
unterschied von etwas über 3 m zu überwinden war, mit einer etwa vierzehn- 
stufigen Anlage zu rechnen haben), und die oberste Stufe des Mittellaufs soll gerade 


Ф) Infolge eines Versehens ist der Längsschnitt in kleinerem Maßstab reproduziert worden als der GrundriB. 
(x) Vgl. Karl Frey, Die Gedichte des Michelagniolo Buonarroti im Vaticanischen Codex, Jahrb. der 
k. pr. Kunstsammi, IV, 1883, S. 40 ff. 


263. 


so breit sein, wie die lichte Weite der Eingangstür („il vano della porta“), d. h. 
etwa 1,90 m. Die Festsetzung des Neigungswinkels dagegen — und damit auch 
die Bestimmung der Ausladung gegenüber der Wand — wird dem Ermessen des 
ausführenden Architekten anheimgegeben, wie auch bezüglich der Verbreiterung 
des Mittellaufs und der daraus sich ergebenden Schrägstellung der Seitenläufe keine 
genaueren Weisungen vorliegen. 

Wie aber ist der passus von „dal mezzo in su“ bis „resta libera ogni faccia“ 
zu interpretieren? Die Ansichten der Erklärer gehen weit auseinander: Heinrich 
v. Geymiiller') hält es zunächst für ausgemacht, daß auf halber Höhe der Treppe 
ein Podest geplant gewesen sei. Oberhalb dieses Podestes gehe der Mittellauf 
mit seinen ovalen Stufen gerade in derselben Richtung fort bis zu einem zweiten 
Podest, der „in der ganzen Breite des Vestibüls vor der Saaltür wie eine Tribüne 
liegt. Die Seitenläufe setzen unten zuerst neben dem Mittellauf ein, begleiten 
diesen, durch eine Balustrade getrennt, bis zur Hälfte der übrigen (?) Höhe, wenden 
sich rechtwinklig nach außen (!), steigen längs der oberen Podestmauer herauf und 
münden je auf einen quadratischen Podest, welcher an den oberen Enden des 
Treppenpodests vorspringt.“ 

Karl Frey*) nimmt eine absatzlose Treppe an, die „nur oben an der Tür mit der 
Mauer des Gebäudes zusammenstoßend“, sich „allmählich“ (also offenbar in schräger 
Richtung) von der Wand entfernen sollte, bis der Abstand zwischen der unter- 
sten Stufe und der Mauer 4 (resp.3) palmi betrug; „auch die Seitentreppen hängen 
somit nur oben an der Tür, am Ende der Mitteltreppe — „il riposo“ — mit der 
Mauer zusammen, .... Wenn Michelangelo von den „rivolte“, den „Windungen“ 
der Flügel spricht, so meint er damit ihre schrägere Richtung, besonders an der 
äußeren Seite, im Gegensatz zur Mitteltreppe*), um zur Tür oben anzusteigen.“ 

Thode endlich‘) geht gleichsam einen Mittelweg, indem er es auf der einen 
Seite mit Geymiiller für unzweifelhaft hält, daß in halber Höhe ein Podest vor- 
gesehen war, sich auf der anderen Seite aber die Ansicht Freys zu eigen macht, 
wonach die „rivolte“ der Flügeltreppen ihr „Sich-Wenden schräg nach der Tür zu“ 
bezeichnen, deren Schwelle mit dem riposo gemeint wäre. Die Seitenläufe würden 
also vom Podest an „in dreieckigem Grundriß spitz zu dem Türpfosten verlaufen.“ 

* * 
є 


Gegen alle diese Deutungen sind sowohl von der philologischen als von der 
künstlerischen Seite her Einwände geltend zu machen: die Geymiillersche Rekon- 
struktion ist eine reine Phantasie, eher in biedermeierischem als in michelangeles- 
kem Geschmack, und steht mit der Bestimmung in Widerspruch, daß das ,,im- 
basamento del ricetto“ auf allen Seiten frei bleiben solle); die Lösung Freys ist 


(x) 8. Giorgiowerk (die Architektur der Renaissance in Toscana), Bd. УШ, Michelangelo Buonaroti, 
1904, 8. 48. 

(2) A. a. O., 8. 4а. 
(3) Der Zusatz, „besonders an der äußeren Seite“, erscheint nicht ganz verständlich: die innere 
Grenze der Seitenläufe ist ja ohne weiteres identisch mit der äußeren Grenze des Mittellaufs. 

(4) A. а. O., S. 42. 

(5) An und für sich wäre es ja möglich, den der Saaltür vorliegenden „Tribünenpodest“ als ein balkon- 
artiges Podium zu denken, das das „imbasamento“ nicht in Mitleidenschaft ziehen würde — dann 
aber bliebe die Bestimmung unerfüllt, wonach die „rivolte“ mit einer Mauer verwachsen sein sollen 
(„appiccarsi col muro“), daher sich denn auch Geymüller selbst seinen Tribünenpodest als eine massive 
Aufmauerung vorstellt, an deren Vorderwand die „rivolte“ der Seitentreppen „heraufsteigen“ würden. 


264 


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elo, Skizze für die Libreriatreppe vom jahre 1555 
3211, fol. LXXXVII v., phot. Sansaini). 


Michelang 
(Cod. Vat. 


Michelangelo, Skizzen für die Libreriatreppe um 1525, Florenz, Casa Buonarroti 
"MS K. Frey, Die Handzeichn. Michelagniolos, Taf. 165 g, h, K). 
r es der Libreria di S. Lorenzo. 
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nicht nur deshalb abzuweisen, weil die keilförmig zugespitzten, an den Türpfosten 
sich totlaufenden Seitentreppen ein Unding sind, sondern auch deshalb, weil sie 
dem in den Worten „dal mezzo in sù — dal mezzo in giù“ deutlich zum Ausdruck 
kommenden Gegensatz nicht gerecht wird, und weil es, rein sprachlich genommen, 
nicht angeht, den Terminus „rivolta“ im Sinne eines schrägen Zulaufens zu deuten; 
und Thodes Auslegung versucht zwar, die in der Antithese „dal mezzo in su — 
dal mezzo in giù“ liegende Schwierigkeit durch die Annahme eines in halber Höhe 
befindlichen Podestes zu beseitigen, begegnete aber im übrigen den gleichen Be- 
denken wie diejenige Freys — ganz abgesehen davon, daß ein solcher Podest 
durch Michelangelos Beschreibung in keiner Weise beglaubigt wird. 

Daß diese Kontroverse immer noch nicht beseitigt ist, erscheint .um so ver- 
wunderlicher, als wir zu ihrer Entscheidung ein ungewöhnlich gutes Hilfsmittel 
besitzen, nämlich eine eigenhändige Zeichnung Michelangelos, die zu dem 
Briefentwurf vom ı./r. 1555 gehört, und die die Treppe sowohl in Vorder- 
ansicht als in seitlichem Aufriß zur Darstellung bringt. Diese Zeichnung (Cod. 
Vat. 3211, fol. LXXXVIIv.) ist zwar keineswegs unbekannt, sie wird vielmehr so- 
wohl von Frey!), als auch von Thode?) ausdrücklich erwähnt; allein sie ist bis- 
her weder veröffentlicht, noch bei der Auslegung der strittigen Texte herangezogen 
worden, obgleich sie, bei aller Flüchtigkeit und Unscheinbarkeit, durchaus geeignet 
ist, derselben ein sicheres Fundament zu geben. Aus dieser Zeichnung (siehe Tafel) 
gehen zunächst unzweifelhaft drei Tatsachen hervor: Erstens, daß ein Podest 
in halber Höhe nicht vorhanden ist, daß vielmehr die Treppe von unten bis oben 
absatzlos ansteigt; zweitens, daß die Seitentreppen nicht, auf dreieckigem Grund- 
riß, spitzwinklig zulaufen, sondern sich, auf trapezförmigem (vielleicht sogar recht- 
eckigem) Grundriß, nach oben zu nicht oder nur unwesentlich verschmälern; 
drittens (was ja bei dieser Anordnung ganz selbstverständlich ist), daß die drei 
Läufe nicht unmittelbar zur Türe führen, sondern vorher von einer oberen Platt- 
form — riposo! — aufgenommen werden, deren Ausladung wir auf Grund des seit- 
lichen Aufrisses auf etwa vier oder fünf palmi beziffern diirfen*). Sodann aber er- 
halten wir auch Aufschluß über den rätselhaften Satz mit den „rivolte“: der Profil- 
riß nämlich läßt in halber Höhe der Treppe eine Horizontallinie erkennen, die in 
einiger Entfernung von der Mauer rechtwinklig nach unten umbricht, und es ist 
kaum zweifelhaft, daß damit ein unter der Treppe hindurchführender Durchgang 
von rechteckigem Querschnitt bezeichnet werden soll — ein Durchgang, wie 
er auch bei der endgültigen Ausführung angeordnet wurde, nur daß er dort wesent- 
ich höher bemessen ist‘). Damit ist der Sinn der schwer verständlichen Aussage 
(1) A. a, O., S. 42, 43. 

(2) A. a. O., S. 133 (die Angabe: LXXXVII, 6 ist wohl verdruckt aus LXXXVII b), und Krit. Unt. III 
unter Nr. 515 b. 

(3) Diese breite obere Plattform ist auch in einem Entwurfe vorgesehen, den uns Antonio da Sangallo 
überliefert hat (Abb. bei Geymüller, 8. 49, Fig. 38 rechts oben). Der Unterschied gegenüber dem 
Projekt von 1555 besteht, soweit der Grundriß und die Vorderansicht in Frage kommen (ein seit- 
licher Aufriß ist bei Sangallo nicht mitgezeichnet), darin, daß die Stufen der Seitentreppen mit denen 
des Mittellaufes nicht Niveau halten, sondern ihnen gegenüber um die Hälfte ihrer Höhe (1/, braccio) 
versetzt sind — so daß, wie Sangallo es ausdrückt, ein auf den eigentlichen Treppenläufen empor- 
steigender Benutzer bei jedem Schritt !/, braccio zu überwinden hat, während derjenige, der in einem 
der „Winkel“ zwischen der „scala aovata“ und den Seitentreppen emporsteigt (d. h. abwechseind auf 
eine Stufe des Mittellaufes und auf eine Stufe des anstoßenden Seitenlaufes tritt) jedesmal nur '/, 
braccio zu steigen hätte. 

(4) In der ausgeführten Anlage erscheint dieser Durchgang gewölbt; doch ist die Wölbung nach 


Monatshefte für Kunstwissenschaft 1923, 10—12. 18 265 


klargestellt: wenn Michelangelo von den „rivolte di dette alie“ spricht, so meint 
er damit weder, wie Geymüller wollte, rechtwinklig nach außen umbiegende Ab- 
schnitte der Seitentreppen, noch auch, wie Thode und Frey vermuteten, deren 
„schrägere Richtung“ auf die Türe zu, sondern (viel einfacher und natürlicher), die 
„Seitenfronten“ oder „Wangen“ der Nebentreppen, die — rückwärts in die 
Tiefe führend und insofern der Richtung der Stufen gegenüber „umbiegend“ — 
sehr wohl als „rivolte“ bezeichnet werden konnten. Diese Treppenwangen — das 
ist der durch die Zeichnung beglaubigte und mit Michelangelos sonstigem Sprach- 
gebrauch durchaus übereinstimmende Sinn unserer Briefstelle!) — sollen sich in 
halber Höhe zur Mauer wenden, so daß sie oberhalb dieser halben Höhe mit der 
Wand im Verbande stehen, unterhalb derselben aber um drei bzw. vier palmi von 
der Mauer sich fernhalten. Es sei erlaubt, nunmehr die wörtliche Übersetzung 
des Passus hierher zu setzen: 


a) in der Fassung vom 28./9. 1555. 


„Dal mezzo in su di detta scala, le 
rivolte di dette ale ritornino al muro; 
dal mezzo in giu insino in sul pavimento 
si discostino con tutta la scala dal muro 
circa tre palmi, іп modo che l’imbasa- 
mento del ricetto non sia occupato in 
luogo nessuno, e resti libera ogni faccia.“ 


„Von der Mitte dieser Treppe nach 
oben (gerechnet) sollen sich die Wangen 
der besagten Seitenläufe nach rückwärts 
zur Mauer wenden; von der Mitte nach 
unten bis auf den Fußboden sollen sie 
sich mitsamt der ganzen Treppe‘), um 
etwa drei Palmi von der Mauer ent- 


fernt halten, so daß das Imbasament des 
Vestibüls nirgends in Anspruch genom- 
men wird und sämtliche Wände frei 
bleiben.“ 


b) (noch eindeutiger den іп der Zeichnung festgelegten Sachverhalt bezeichnend“) 
in der Fassung vom тї./ї. 1555. 

„Le rivolte di dette alie dal mezzo in „Die Wangen der besagten Seiten- 

su, in sino al riposo di detta scala s'ap- läufe stehen von der Mitte nach oben 


außen hin in der Weise maskiert, daß der Eindruck eines rechteckigen Querschnitts gewahrt bleibt 
(vgl. Abb. 2). 

(1) Um einen Terminus wie dieses „rivolta“ richtig zu verstehen, muß man natürlich den Sprach- 
gebrauch der Zeit, womöglich des Autors, festzustellen suchen. Das ist in unserem Fall insofern 
leicht, als das betreffende Wort in dem Kontrakt über die Lorenzofassade (Mil. 671), sowie in dem 
Kontrakt über das Juliusgrab von 1516 (Mil. 646) gebraucht wird. Es bezeichnet in beiden Fällen die 
mit der Vorderfront in rechtem Winkel zusammenstoßenden einachsigen Seitenfronten, d. h. der 
Ausdruck tritt auch diesmal da ein, wo eine Front bezeichnet werden soll, die, von der Schauseite 
aus betrachtet, senkrecht „umbiegend“ in die Tiefe führt, und deren künstlerische Bedeutung 
daher nicht groß genug ist, um dte Bezeichnung „faccia“ oder gar „facciata“ zu rechtfertigen: „et 
nelle rivolte de la dicta faccia, che vanno al muro, cioé nelle teste . . .“, heißt es mit Bezug auf 
das Juliusgrab nach dem Entwurf von 1516, dessen Situation ja der der Laurenzianatreppe insofern 
ganz analog war, als es sich hier wie dort um ein an eine Wand (muro) sich anlehnendes Architektur- 
gebilde handelt. Wir haben also um so mehr das Recht, in unserem Falle das, rivolta“ mit „Treppen- 
wange“ zu übersetzen, denn die „Wange“ entspricht ja bei einer Treppenanlage ganz dem, was bei 
einem Gebäude oder einem Grabmal als „Seitenfront“ bezeichnet werden würde. 

(а) Ohne den Zusatz „con tutta la scala“ hätte unter Umständen das Mißverständnis entstehen können, 
daß — im Gegensatz zu den Seitentreppen — der Mittellauf auch unterhalb der halben Höhe mit 
der Mauer hätte im Verbande bleiben sollen. 

(3) Der Verfasser darf erwähnen, daß er noch ohne Kenntnis der Vatikanischen Zeichnung das Brief- 
konzept vom 1./ 1. 1555 durchaus in ihrem Sinn interpretiert hatte. 


266 


picano col muro; dal mezzo in giu, in 
sino al pavimento, detta scala si discosta 
dal muro circa quattro palmi, in modo 
che l’imbasamento del ricetto non ё 
offeso in luogo nessuno e attorno resta 
ibero.“ 


bis zur Plattform der Treppe im Verband 
mit der Mauer; von der Mitte nach unten 
bis auf den FuBboden hilt sich die Treppe 
um etwa vier palmi von der Wand ent- 
fernt, so daß das Imbasament des Vesti- 
biils nirgends in Mitleidenschaft gezogen 


wird und tiberall frei bleibt.“ 

Die flüchtige Skizze des vatikanischen Codex gestattet uns also, Michelangelos 
Aussage von 1555 in zweifelsfreier Weise zu interpretieren und ihre zwei Fas- 
sungen miteinander in Einklang zu bringen. Durch die Deutung des Ausdrucks 
„rivolta“ im Sinne von „Treppenwange“ wird der Gegensatz „dal mezzo in su — 
dal mezzo in giù“ insofern verständlich, als die Treppe oberhalb der halben Höhe 
mit der Wand im Verbande steht, unterhalb derselben aber durch einen drei bzw. 
vier palmi breiten Durchgang von ihr getrennt ist, und zugleich wird die Tatsache 
erklärt, daß Michelangelo in bezug auf jene „rivolte“ die Ausdrticke ,,ritornare al 


Abb. 4. Das Vorprojekt von 1555, 
Grundriß (Rekonstrukt. auf Grund 
der Vatikanischen Skizze). 


Abb. 3. Das Vorprojekt von 1555, Aufriß 
(Rekonstruktion auf Grund der Vatika- 
nischen Skizze). 


muro“ und „appiccarsi col muro“ gewissermaßen als Synonyma verwenden kann; 
wenn die Treppenwangen sich in halber Höhe „nach rückwärts wenden“, so ist 
das ohne weiteres gleichbedeutend damit, daß sie oberhalb dieser halben Höhe 
mit der Mauer „verwachsen sind“. Eine Auszeichnung der Vatikanischen Skizze — 
bei dem flüchtigen und in vieler Beziehung dem Ermessen des ausführenden Archi- 
tekten Spielraum gewährenden Charakter der Zeichnung natürlich nur von approxi- 
mativem Wert — mag das Projekt von 1555 noch etwas klarer veranschaulichen 
(Abb. 3, 4). 
П. 

Wie verhält sich nun dies „Vorprojekt“ von 1555 zu dem ,,Definitiventwurf* von 
1559? Das Ammanati übersandte Tonmodell, das, freilich ohne sich auf Einzel- 
heiten einzulassen, die „invenzione“ endgültig festlegte, ist uns nicht mehr er- 
halten; wohl aber das die Sendung begleitende Schreiben, das den Verlust des 
Modells bis zu einem gewissen Grade auszugleichen vermag'): „Messer Bartolomeo. 


(1) Mil. 550. Auch hier ist die Interpunktion stellenweise ebenso fehlerhaft, wie in dem (in dieser 
Beziehung bereits von Frey berichtigten) Brief an Vasari. 


267 


Io vi scrissi com' io avevo fatto un modello piccolo di terra della scala della Li- 
breria; ora ve lo mando in una scatola, e per esser cosa piccola non ho potuto 
fare se non l'invenzione, ricordandomi che quello che gia vi ordinai, era isolato е 
non s’appoggiava se non alla porta della Libreria. Sommi ingegniato tenere il 
medesimo modo, e le scale, che mettono in mezzo la principale, non vorrei 
ch’avessin nell’ estremita balaustri, come la principale, ma fra ogni due gradi un 
sedere come è accennato. Dagli adornamenti, base, cimase a que’ zoccoli ed altre 
cornicie non bisogna ch’io ve ne parli, perchè siete valente, e essendo nel luogo, 
molto meglio vedrete il bisogno, che non fo io.“ 

Aus diesem Schreiben geht hervor, daß das Modell von 1559, soweit wir es 
uns nach Michelangelos Angaben vorstellen können, von dem Entwurf des Jahres 
1555 in einem ganz bestimmten Punkte abwich: während sich die Treppe damals 
sowohl unterhalb als auch zu seiten der Eingangstür an die Rückwand des Ricetto 
anlehnen sollte (denn die Breite der oberen Plattform, die die drei Läufe in sich 
aufzunehmen hatte, mußte naturgemäß die Breite der Tür um mindestens das 
Doppelte übertreffen, und das ganze Massiv sollte ja „dal mezzo in su“, d. h. von 
der Schwelle bis etwa 1'/, m unterhalb derselben, mit der Mauer zusammen- 
hängen), sagt Michelangelo nunmehr aus, daß er die Treppe als eine gänzlich iso- 
lierte, und nur „an der Tür mit der Mauer verwachsene“ gestaltet wissen wolle. 
Das ist bei einer dreiteiligen Anlage nur dann denkbar, wenn der die drei Läufe 
aufnehmende breite Podest um einige Stufen herabgertickt und mit der Tür nur durch 
ein schmales Zwischenstück verbunden wird — mit andern Worten, wenn die An- 
lage sich wesentlich so gestaltet, wie wir sie in der Ausführung verwirklicht sehen. 
Die gegenwärtige Anordnung stimmt also mit dem Plan von 1559 über- 
ein, wie wir ihn aus dem Brief an Ammanati erschließen müssen (und zwar nicht 
nur in bezug auf die Bestimmung, daß die Mitteltreppe durch Balustraden, die 
Seitenläufe dagegen durch Quadern eingefaßt werden sollen, sondern auch in bezug 
auf die architektonische Gesamtkonzeption) — und widerspricht insofern dem 
Vorprojekt von 1555, wie es sich aus dem Brief an Vasari und mit noch 
größerer Unzweideutigkeit aus der vatikanischen Zeichnung ergab. 

Die einfachste und bei dem ganzen Sachverhalt natürlichste Erklärung dieses 
Widerspruchs bestünde in der Annahme, daß Michelangelo selbst zwischen 1555 
und 1559 seine Meinung geändert hätte, doch scheint dieser Annahme die Tatsache 
entgegenzustehen, daß Michelangelo in seinem Brief an Ammanati ausdrücklich er- 
klärt, „schon früher“ eine völlig isolierte, nur an der Türe mit der Wand zusammen- 
hängende Treppe geplant zu haben. Allein wie, wenn dieses „già vi ordinai“ sich 
gar nicht auf das Projekt von 1555, sondern auf eine viel weiter zurück- 
liegende Planung bezöge? 

Daß dies tatsächlich der Fall ist, geht unzweideutig aus einem schon von 
Gaye veröffentlichten, aber anscheinend bisher nicht genügend beachteten Schreiben 
hervor, das Ammanati am 18./2. 1559 an Herzog Cosimo gerichtet hat: „Ilustris- 
simo et eccellentissimo Signor mio semper osservandissimo. 

Di poi ch'io vidi che У. E. I. era risoluta di far fornire la scala del ricetto alla 
libreria, e che Тореппіопе Sua era, che l’havesse a stare come quel modello 
di mano di Michelagnolo Buonaruoti cho le mostrai — e tanto parve an- 
cora a me, e secondo che Michelagnolo di poi mi ha scritto, era prima 
così il suo pensiero — mi confidai tanto nella buona mente sua... ch'io 
disegnai il luogo, e l’uno e l’altro modo di scala, scrivendogli e pre- 
gandolo che m’avvisasse quale era il vero del uno de’ doi. Dilché non è 


268 


bastato alla bontà sua, mandarmi una lettera con i buoni avvertimenti, che V. E. I. 
vederà, che ancora m'ha fatto un modello di sua mano, che dichiara tutta la sua 
opinione, il quale е la quale [sc. lettera], hora con questa mia mando а У. E. I., 
pregandola, che fatta la risoluzione la sia contento luno e l'altra rimandarmi, che 
subito ch'io haverò la commessione da Lei, con la maggior diligenzia e solecitu- 
dine che per me si potrà, comminciarò a metterlo in opera, mostrando a Michel- 
angelo che la credenza, ch'egli ha di me, per quanto mai potrò non sia falsa“ 1). 
Aus diesem in der Form ein wenig ungewandten Schreiben vermögen wir die ` 
ganze Vorgeschichte des um die Wende des Jahres 1558 spielenden Schrift- 
wechsels zu erkennen?): wir erfahren, daß schon vor der Einleitung dieses Schrift- 
wechsels ein Originalmodell von Michelangelos Hand dem Herzog vorgelegen hatte, 
daß aber dieses ältere Modell (das offenbar zu den „schizzi di terra“ gehörte, wie 
sie laut Mitteilung Vasaris bei Michelangelos Abgang in Florenz zurückgeblieben 
waren)), mit einem andern, ebenso authentischen Entwurf in Widerspruch stand: 
beide, der Architekt wie der Herzog, hatten das ältere Modell als geeignet für die 
Ausführung befunden, allein es gab noch eine andere Version (,I uno e l’altro modo 
di scala“), die man nicht zu verwerfen wagte, ohne die eigene Ansicht des Meisters 
gehört zu haben. Dieser hatte daraufhin die Alternative zugunsten des älteren 
Modells entschieden, das seinen ursprünglichen Gedanken richtig wiedergebe (,,e se- 
condo che Michelangelo di poi mi ha scritto, era prima cosi il suo pensiero“) und 
überdies ein weiteres Modell gesandt („ancora m'ha fatto un modello“), das alle 
Zweifel eln- für allemal behob. Durch diesen Satz: „secondo che Michelangelo di 
poi (d. h. nach dem entscheidenden Gespräch des Ammanati mit dem Herzog) 
mi ha scritto“ wird einwandfrei bewiesen, daß derjenige Plan, den Michelangelo 
am 13./1. 1559 als den ursprünglich von ihm ins Auge gefaßten bezeichnet, und 
auf den er mit dem Worte „già“ zurückverweist, nicht mit dem Vorprojekt von 1555 
identisch ist, sondern in jenem älteren Modell fixiert worden war, das in der Be- 
sprechung zwischen Ammanati und dem Herzog die Billigung beider Beteiligter 


(1) Gaye Carteggio Ш, S. 11 ff. Die Interpunktion der Deutlichkeit wegen an einer Stelle verändert. 
Es dürfte sich empfeblen, eine deutsche Übersetzung folgen zu lassen: „Nachdem ich gesehen hatte, 
daß Ew. Durchlaucht entschlossen war, die Treppe im Vorraum der Bibliothek ausführen zu lassen, 
und daß Ew. Durchlaucht Meinung dahin ging, sie müsse so werden, wie jenes Modell von Michel- 
angelos Hand, das ich Derselben zeigte — und dieser Meinung war auch ich, und nach dem, was 
Michelangelo mir seither [d. h. zwischen der Rücksprache mit dem Herzog und dem gegenwärtigen 
Schreiben] geschrieben hat, ging seine Absicht ursprünglich in diese Richtung — zeichnete ich, im 
Vertrauen auf seinen guten Willen, die Örtlichkeit, sowie die eine und die andere Möglichkeit der 
Treppenausführung, und schrieb ihm mit der Bitte, mich wissen zu lassen, welche von beiden die 
richtige sei. Daraufhin begnügte er sich in seiner Freundlichkeit nicht damit, mir einen Brief mit den 
trefflichen Anweisungen zu schreiben, den Ew. Durchlaucht sehen wird, sondern er hat mir mit eigener 
Hand noch ein Modell gemacht, das seine ganze Planung klarstellt; dieses und jenen [d. b. Modell 
und Brief] übersende ich Ew. Durchlaucht mit gegenwärtigem Schreiben, und bitte Dieselbe, mir nach 
Beschlußfassung gütigst beides zurückzusenden; denn sobald ich Ew. Durchiaucht Auftrag erhalten 
habe, werde ich mit der größten Sorgfalt und Achtsamkeit, die mir zu Gebote steht, das Modell zur 
Ausführung bringen, um Michelangelo zu beweisen, daß sein Vertrauen zu mir, soweit es irgend in 
meinen Kräften steht, nicht ungegründet sei.“ 

(2) Die Anfrage Ammanatis ist, wenn überhaupt erhalten, bisher nicht veröffentlicht; sie muß noch 
ins Jahr 1558 fallen, da Michelangelo in seinem vom 16./ 1a. dieses Jahres datierten Schreiben an 
Lionardo (Mil. 344) darauf Bezug nimmt. 

(3) Vasari VII, 236: „e quantunque vi fussero segni in terra in un mattonato ed altri schizzi di 
terra, la propria ed ultima risolutione non se ne trovava.“ 


269 


gefunden hatte und das, wie ohne weiteres vermutet werden darf, noch aus der 
Florentiner Zeit des Meisters stammte. 

Dies ältere Modell, und nicht der Brief von 1555, deutete also auf eine „von 
allen Seiten isolierte, nur an der Türe mit der Wand zusammenhängende“ Treppen- 
anlage hin, und damit ist klargestellt, worin der Widerspruch zwischen den beiden 
„modi di scala“ bestand: wenn, wie wir nunmehr wissen, ein durchaus authen- 
tisches, von jeher in Florenz befindliches Modell das Treppenproblem im Sinne 
der völligen Isolation löste — dann mußte gerade der Brief von 1555, der einen 
„dal mezzo in su“ mit der Mauer verbundenen Treppenbau vorsah, die 
Florentiner in große Verlegenheit stürzen. Was war die wahre Meinung Michel- 
angelos, die bis auf einen kleinen Türpodest vollkommen von der Mauer abgelöste 
Treppe, wie sie das ältere Modell erkennen ließ — oder die „dal mezzo in sü“, 
an die Rückwand sich anlehnende Treppe mit breiter Oberplattform, wie das 
Projekt von 1555 sie vorsah? Das dürfte die Frage gewesen sein, die Ammanatis 
Brief dem Meister vorzulegen hatte, und die wir aus dem Wortlaut seiner Antwort 
(„ricordandomi, che quello, che gia vi ordinai, era tutto isolato е non s’appoggiava 
al muro se non a la porta“) noch deutlich heraushören können. Daß Michel- 
angelo durchaus im Rechte war, wenn er die „gänzlich isolierte“ Anlage als seiner 
ursprünglichen Absicht entsprechend bezeichnete, zeigt uns ein Blick auf das 
das Blatt Fr. 164/165 (besonders deutlich Fr. 164d und f) ), das mehrere Skizzen 
der 20er Jahre in sich vereinigt: bei aller Abweichung im einzelnen stimmen sie 
:doch alle darin überein, daß die Läufe der zwei- oder dreiteiligen Anlage oben in 
einem kleinen, nur gerade der Eingangsweite entsprechenden Podium zusammen- 
gefaßt werden — daß, anders ausgedrückt, der ganze Bau tatsächlich nur an der 
Tür mit der Mauer zusammenhängt. Wir dürfen also sagen, daß Michelangelos 
Brief vom 13./1. 1559, weit entfernt, eine Deutung des Briefes vom 26./9. 1555 
zu geben, vielmehr eine Desavouierung desselben darstellt: die endgültige Kon- 
zeption, wie Michelangelo sie 1559 festgelegt hat, greift gleichsam über das Projekt 
von 1555 hinweg auf die Entwürfe der 20er Jahre zurück, als deren konsequente 
Weiterbildung sie sich darstellt. Die die drei Läufe aufnehmende Plattform rückt 
nur noch um einige Stufen tiefer herab, so daß der kleine horizontale Türpodest 
zu einem in fünf Stufen aufsteigenden Verbindungssteg wird, und die Berührungs- 
fläche zwischen Wand und Treppe eine noch weitergehende Reduktion erfährt. 

Demgegenüber hatte das Projekt von 1555, das jenen breiten oberen „Riposo“ vor- 
sah und das Massiv der Treppe zur Hälfte mit der Wand verbinden wollte, ge- 
wissermaßen einen Schritt vom Wege bedeutet — wie ja auch Michelangelo selbst 
ganz deutlich empfunden hat, daß es seiner ursprünglichen Absicht nicht völlig ent- 
spreche. „Ma non credo che sia appunto quello, che io pensai all’ hora.“ Wie es 
zu dieser Abweichung von dem in früheren Jahren verfolgten Gedanken gekommen 
ist, vermögen wir nur vermutungsweise anzugeben: auf der einen Seite strebt 
Michelangelo in seiner späten Zeit ganz allgemein die einheitlich - geschlossene 
Wirkung an, wie sie naturgemäß da, wo die ganze Treppe als eine einzige pla- 
stische Masse zusammengehalten ist, in höherem Grade erreicht werden konnte 
als da, wo sie in einen mächtigen Unterbau und ein demselben unvermittelt gegen- 


(1) Es ist irreführend, wenn Thode (a. a. O. IL, S. 129) mit Bezug auf die Zeichnung 164f. von 
einem „breiten“ Podest vor der Türe spricht. Die Anlage ist vielmehr, wie aus der zugehörigen 
zeichnung 165k mit Sicherheit hervorgeht, in der Weise gedacht, daß der Podest nicht breiter ist 
als die Eingangstür, und — von einer tiefer gelegenen Plattform aus — auf seitlichen Stufen er- 
stiegen werden muß, ganz ähnlich wie in Fr. 165g und h, 


270 


übertretendes schmales Oberstück auseinander fällt — auf der andern Seite mag 
er (ein gerade in dem Schreiben an Vasari besonders betonter Gesichtspunkt) auf 
eine wirklich konsequente Scheidung zwischen dem „Signore“ und den „Servi“ 
Wert gelegt haben, die bei der gegenwärtigen Anordnung zunächst auf die Seiten- 
treppen verwiesen werden, zuguterletzt aber dennoch die „scala principale“ be- 
nutzen müssen). Um so deutlicher liegen die Gründe zutage, die bald danach 
zur Aufgabe des Vorprojekts von 1555 führten. Der an Vasari gerichtete Brief 
verrät die ängstlichste Sorge um die Erhaltung des „Imbasamentes“, das durch 
den Treppenbau an keiner Stelle beansprucht werden sollte, damit die Gliederung 
der Wände völlig unversehrt erhalten bleibe; allein Michelangelo war damals mehr 
als zwanzig Jahre von Florenz entfernt, seine älteren Entwürfe und Skizzen waren 
ihm ebensowenig zur Hand, wie eine zeichnerische Aufnahme des fertigen Raumes, 
und er hebt selbst ausdrücklich hervor, daß er sich seiner Pläne nur noch dunkel, 
„wie im Traum“, entsinnen könne. Da ist es keineswegs verwunderlich, wenn 
ihm ein Umstand nicht mehr gegenwärtig war, der, wenn er ihm noch klar ge- 
wesen wire, ihn sicherlich schon damals zu einer andersartigen Lösung gedrängt 
haben würde: der Umstand nämlich, daß die projektierte breite Oberplatt- 
form die Doppelkonsolen unter den die Türe flankierenden Säulen- 
paaren hätte verdecken müssen. Er glaubte, das „Imbasamento“ genügend 
geschont zu haben, wenn er den eigentlichen Wandsockel und den unmittelbar 
anschließenden Mauerstreifen freiließ, und erst der Brief Ammanatis, der ihm nicht 
nur seine eigenen früheren Entwürfe (den „altro modo di scala“) ins Gedächtnis 
zurückrief, sondern auch, wie in dem Schreiben an den Herzog ausdrücklich be- 
tont wird, von einem „disegno del luogo“ begleitet war, erinnerte ihn daran, 
daß er ursprünglich eine „gänzlich isolierte“ Treppe vorgesehen hatte, und belehrte 
ihn über die Tatsache, daß eine dem Projekt von 1555 entsprechende Anordnung in 
jener Hinsicht mit der von ihm selbst geschaffenen Gliederung der Rückwand 
kollidieren würde. Sobald ihm dieser Konflikt zwischen Treppenpodest und Säulen- 
konsolen zum Bewußtsein gekommen war, zögerte er nicht, ihn zugunsten der 
letzteren zu entscheiden, d. h. — die Gedanken der zwanziger Jahre wieder auf- 
nehmend und gleichsam zu Ende denkend — das Vorprojekt im Sinne der heutigen 
Anlage zu modifizieren. 


ш. 


Wir werden also davon absehen müssen, den ausführenden Architekten für die 
endgültige Gestaltung der Treppenanlage verantwortlich zu machen. Ist es schon 
an und für sich durchaus unwahrscheinlich, daß Ammanati mutwillig von dem 
Modell des großen Meisters abgewichen sein sollte — von jenem Modell, das er, 
nach Aufwendung von vieler Güte und Geduld), mit ehrfurchtsvoller Begeisterung 


(1) Dieses dynastische Motiv scheint überhaupt erst allmählich zur Geltung zu kommen und erst 
verhältnismäßig spät zu ausschlaggebender Bedeutung zu gelangen: die frühesten Entwürfe sehen ent- 
weder eine einläufige Anlage vor, die unterschiedslos von allen Besuchern benutzt werden mußte, oder 
sogar eine zweiläufige, die selbst dem „Signore“ den Weg über eine der Seitentreppen zugemutet 
hätte (vgl. Fr. 165 g und b). Es darf in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß die 
monarchische Staatsform erst im Jahre 1537 in Florenz legalisiert wurde. 

(а) Vgl. das Schreiben des Francesco di Ser Jacopo an den Herzog: „Bartolommeo Ammanati con la 
sua patienza е bontà a fatto tanto, chegli ha avuto da Michelagnolo Buonaroti un modello della 
schala . . (Gaye, Carteggio Ш, S. 1a). 


271 


in Empfang genommen hatte), und das er nun mit aller Achtsamkeit ins Große 
übertragen wollte, um nicht etwa des Herzogs, sondern Michelangelos Zufrieden- 
heit zu erwerben?) —, so haben wir außerdem feststellen müssen, daß Michel- 
angelos Brief von 1555 — das einzige Beweisstück, das gegen seine Autorschaft 
an der heutigen Treppe zu zeugen schien — bei der Beurteilung der Frage ganz 
auszuschalten hat, während umgekehrt gerade das, was an der jetzigen Anlage be- 
anstandet wurde (das „Mißverhältnis“ zwischen Ober- und Unterteil, den man 
geradezu mit einem auf den Schultern eines Riesen hockenden Zwerge verglichen 
hat), nicht nur durch Michelangelos Schreiben von 1559 beglaubigt erscheint, 
sondern auch durch frlihere authentische Entwürfe vorbereitet wird, und in Michel- 
angelos immer wieder zum Ausdruck gebrachter Sorge um die Erhaltung der Wand- 
architektur seine Begründung findet. Diese Sorge, die selbst die tatsächlich un- 
sichtbaren, weil durch die Treppe verdeckten Teile des Imbasaments unangetastet 
wissen will?), ist nun für Michelangelos Kunstauffassung in höchstem Grade cha- 
rakteristisch: es lebt darin etwas von jener gleichsam totemistischen Empfindung 
des Steinbildhauers, dem jeder gemeißelte Block so heilig ist, daß seine Zerstörung 
oder Verletzung gewissermaßen als persönlicher Schmerz gefühlt wird (wie be- 
zeichnend ist z. B. die Empörung, mit der der gegen Malereien so riicksichtslose 
Michelangelo die zertrümmerten Monolithsäulen von Alt-St.-Peter beklagt, die 
Bramante leichtfertig habe zugrunde gehen lassen, obgleich es so schwer sei, solch 
eine Säule aus dem Stein zu hauen, anstatt in simpler Maurerarbeit „Ziegel auf 
Ziegel zu setzen!“) — und es äußert sich darin zugleich das eigentümliche Ver- 
hältnis Michelangelos zur Baukunst als solcher. Er, der gelegentlich die Architektur 
als eine „Art von Reliefkunst“ (nicht einmal als eine Art von Skulptur!) bezeichnet 
hat), empfindet letzten Endes die Wirkung der plastisch profilierten Wand als 
wesentlicher, denn die Wirkung des architektonisch gestalteten Raumes“), er opfert 


(1) Ammanatis Dankschreiben ist abgedruckt bei Karl Frey, Sammi. ausgew. Briefe an Michelagniolo 
Buonarroti, 1899, S. 359. | 

(2) „Mostrando a Michelangelo che la credenza, ch’ egli ha di me, per quanto mai potrö non sia 
falsa." 

(3) Es ist gewissermaßen tragisch, da8 die von Michelangelo so sorgsam gehütete Gliederung der 
Rückwand endgültig doch der Zerstörung anheimgefallen ist: in die Wandfüllungen unterhalb der 
Fenster sind große Löcher eingeschlagen worden (vor kurzem mit Zement notdürftig repariert), und 
auch die Profile zu seiten der Säulenkonsolen, ja selbst der profilierte Wandsockel, sind großenteils 
vernichtet, Ob man eine Zeitlang — worauf die stufenförmigen Einschläge in dem verbliebenen 
‚Stück des Wandsockels schließen lassen könnten — an eine von unten an mit der Wand ver- 
bundene, symmetrisch an ihr emporführende Treppe gedacht hat? Daß Michelangelo selbst für diese 
Eingriffe nicht verantwortlich ist, bedarf nach dem oben Ausgeführten keiner Erörterung — aber es 
gab immerhin ganz frühe Entwürfe von seiner Hand, die einen mit der weiteren Entwicklung nicht 
vertrauten Baumeister in jene Richtung hätten weisen können (vgl. z. B. die in mehreren Kopien 
überlieferte Zeichnung, die Geymüller auf S. 47 unter Nr. 37 abgebildet hat). 

(4) Condivi ed. Karl Frey (Le vite di Michelagniolo Buonarroti, scritte da Giorgio Vasari е da Ascanio 
Condivi, 1887), 8. 11a. 

(5) Vgl. Panofsky, Bemerkungen zu Dagobert Freys Michelangelostudien, Archiv f. Gesch. und Ästh, 
d. Architektur II, 1921, S. 39. 

(6) Wie merkwürdig ist es z. B. schon, wenn ein Architekt bei der Gestaltung eines Raumes, der 
doch im wesentlichen zur Aufnahme einer Treppe bestimmt war, bei seiner Konzeption auf diese 
Treppe gar keine Rücksicht nimmt (auch die Decke des Ricetto negiert den durch die Treppe über- 
wundenen und betonten Niveau-Unterschied, indem sie mit der des Hauptsaals in gleicher Höhe liegt), 
ja nicht einmal die Form derselben festlegt, sondern sein ganzes Interesse auf die Organisation der 


272 


die imposante Erscheinung eines trotz seiner Dreiteilung kompakten Treppenmassivs, 
um die Integrität der reliefmäßig durchgearbeiteten Wandgliederung zu sichern. 

Im einzelnen mag Ammanati von der ihm ausdrücklich erteilten Vollmacht 
zu freier Ausgestaltung des Details in weitem Umfang Gebrauch gemacht haben; 
wir würden ihm z. B. die Profilierung der Mittelstufen zuschreiben, deren merk- 
würdiger Doppelschwung zu der Geradlinigkeit der Seitenstufen in einen weniger 
harten und eben deshalb minder michelangelesken Gegensatz tritt, als eine reine 
Ovalform, sowie — vielleicht — die Anordnung des oberhalb der zweiten Stufe 
eingeschobenen Zwischenpodestes, der offenbar den Kontrast zwischen der Größe 
des Unterbaues und der Kleinheit des „Verbindungssteges“ durch rhythmisierende 
Teilung des ersteren zu mildern versucht: im ganzen aber dürften wir die Lau- 
renzianatreppe auch in ihrer heutigen Gestalt als ein authentisches Werk Michel- 
angelos zu betrachten haben. 

In der Tat ist ja das wesentlichste und eigenartigste Kompositionsmotiv durch 
die Planänderung des Jahres 1558/59 in keiner Weise berührt worden: das Motiv 
einer bis zum Konflikt gesteigerten Spannung zwischen den Seitenflügeln und dem 
Mittelianf, die zugleich eine Spannung zwischen der Geraden und der Kurve, der 
Ebene und der konvexen Wölbung ist. Wir können die Genesis dieses Gedankens 
schon in den Zeichnungen der 20er Jahre verfolgen: Michelangelo schwankte zu 
Anfang zwischen einer einfachen Ovaltreppe ohne Seitenflügel!) und einer gerad- 
linig geführten Doppeltreppe ohne Mittellauf). Allein schon früh begegnet ein 
Versuch, die beiden Motive miteinander zu verbinden: die Zeichnung Frey 165k 
skizziert eine Anlage, die eine kurvige Mitteltreppe mit geradlinigen Seitenläufen 
vereinigt zeigt (wobei der Meister ursprünglich an eine konkave Gestaltung des 
Mittelteils dachte, späterhin aber einer konvexen den Vorzug gab?) Erst da- 


vier Wände konzentriert! Auch daß sich Michelangelo die Treppe noch im Jahre 1559, gleich einem 
versetzbaren Möbelstück, in hölzerner Ausführung vorstellen kann (Brief an Ammanati, Mil. 550), 
beweist, wie wenig er sie im Sinne einer architektonischen Gesamtkonzeption mit den Wänden zu- 
sammengedacht hat. Mit Recht hat Frankl (a, a. O., S. 90), die Libreriatreppe „wie nachträglich in 
den Raum hineingestellt“ empfunden, und bei H. Rose (Spätbarock 1920, S. 188) heißt es geradezu: 
„Michelangelo überträgt das Prinzip der Freitreppe auf den Innenraum.“ 

(1) Hierher gehört, neben der bereits erwähnten Zeichnung, Geymüller, Figur 37, das Blatt Mar- 
cuard XII. Auf dem Haarlemer Blatt befindet sich übrigens ein Entwurf noch primitiverer Art: eine 
einfache einldufige Treppe, die von der Tür in gerader Richtung nach unten führt. 

(а) Frey, 165 g und h. 

(3) Vgl. auch Frey, 1641. Zwischen dieser Lösung und der in Frey, 165g und h festgelegten dürfte 
der Entwurf Frey 164d stehen, der schon die dreigeteilte Anlage zeigt, aber auch für den Mittellauf 
noch geradlinige Stufen vorsieht. — Der Übergang von der Konkav- zur Konvezanlage läßt sich 
gerade an der Zeichnung Fr. 165 К deutlich verfolgen: es handelte sich hier nämlich ursprünglich 
um eine Anordnung mit konkavem Mittellauf (vgl. den zugehörigen Grundriß Fr. 164 f.), die erst 
nachträglich durch Einzeichnung der konvexen Stufen abgeändert wurde — wobei es dahingestellt 
bleiben mag, ob Michelangelo ursprünglich daran dachte, diese konkaven Stufen (im Sinne der 
Bramantetreppe des Giardino della Pigna) mit den konvexen zu kombinieren, oder ob er von vorn- 
herein die Ersetzung — und nicht bloß die Ergänzung — der konkaven Treppe durch die konveze 
ins Auge gefaßt hat. Selbst wenn das erstere der Fall gewesen sein sollte, so hätte dieser Plan doch 
jedenfalls bald aufgegeben werden müssen, denn Michelangelo wäre rasch zu der Einsicht gelangt, 
daß eine Kombination konvexer und konkaver Stufen, die nur unter der Bedingung zustandekommen 
kann, daß der konkave Teil sich trichterförmig nach oben erweitert), an diesem Orte weder praktisch 
noch ästhetisch möglich war, und daß es sich daher nicht um ein Sowohl-Als-Auch, sondern nur 
` um ein Entweder-Oder handeln konnte. Zu vergleichen ist auch die Skizze Fr. 273e, von der es 


273 


mit hat Michelangelo den Weg zu einer seinem Kunstwollen vollkommen ent- 
sprechenden Lösung gefunden: während er früher — freilich von vornherein das 
Oval an Stelle des reinen Rundes erwählend — die Bewegung der kurvigen 
Stufen nach allen Seiten sich ausdehnen ließ, setzt er ihr jetzt gewissermaßen zwei 
Dämme, von denen eingepreßt, sie nur in einer einzigen Richtung sich auswirken 
kann. Der Druck der nunmehr mit verdoppeiter Kraft nach vorne flutenden Masse 
vermag die Seitenflügel wohl etwas auseinander zu treiben — aber ihre seitliche 
Ausdehnung bleibt ebenso eingedämmt, wie ihre Vorwärtsbewegung dadurch auf- 
gehalten wird, daß die konvex hervorgewölbten Stufen der Mitteltreppe mit den 
in der Ebene fixierten Stufen der Nebenläufe zu einer Einheit verbunden sind. 
Wie die Bewegung der michelangelesken Plastiken gegen die Starrheit der Block- 
ebenen ankämpft, ohne sie überwinden zu können, so scheint in dieser Treppen- 
anlage die Dynamik der „Scala aovata“ zugleich gebändigt und gesteigert zu werden 
durch die einengende und zurückhaltende Statik der geradlinigen Seitentreppen: 
die klassische Renaissance, repräsentiert durch die in reiner, klar begrenzter Run- 
dung sich entfaltende Bramantetreppe im Giardino della Pigna, will „Form“ und 
„Freiheit“ miteinander versöhnen — der Barock (vgl. die wie eine „zähflüssige 
Masse“ sich langsam herniederwälzenden Stufen des Petersplatzes’) gibt unter 
Umständen die Form der Freiheit zuliebe preis — das Kunstwerk Michelangelos 
zeigt Form und Freiheit in einem unaustragbaren Gegensatz. 


aber nicht sicher ist, ob sie noch den 20er Jahren angehört (vgl. Freys Text). Es wire möglich, 
daß diese Skizze, deren Beziehung auf die Libreria uns unzweifelhaft erscheint, aus einer Zeit stammt, 
als der Meister sich unter dem Eindruck florentinischer Anfragen seine alten Projekte ins Gedächtnis 
zurückzurufen versuchte. Für diese Annahme könnte die Tatsache sprechen, daß einige auf dem 
gleichen Blatte befindliche Skizzen sich auf den Ausbau des Palazzo Farnese zu beziehen scheinen, 
und daß die in Fr. 2736 angedeutete Lösung der in der vatikanischen Zeichnung von 1555 gegebenen 
bereits verhältnismäßig nahekommt. 

(1) Wölfflin, Renaissance und Barock, 3. Aufl. 1908, S. 29. 


274 


DURERS „MARTER DER 10000 RITTER“ 


Von WILHELM JUNIUS-Dresden 


[е den frühen Holzschnitten Dürers gibt es eine „Marter der тоооо Christen“, 
von dem wir annehmen, daß er Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen 
vor Augen gekommen sein muß. Etwa 1507 erteilt der Kurfürst Dürer den Auftrag, 
dies graphische Blatt als Vorlage für ein Gemälde zu benutzen, wohl zum Schmucke 
der Wittenberger Allerheiligenkirche bestimmt. Dürer hat, vermutlich durch die 
mantegneske Behandlung ähnlicher Themen in Padua (etwa das Motiv des mit 
dem Holzhammer erschlagenen Heiligen) beeinflußt, und, wie Wölfflin nach- 
gewiesen hat, angeregt durch eine perspektivische Zeichnung aus dem Musterbuch 
des Jean Pélerin (alias Jean Viator oder Johannes Pilgram), die Komposition figural 
wesentlich bereichert. So sehen wir auf knapp ıoo cm im Geviert die Leinwand 
bedeckt mit der Darstellung eines schrecklichen Massenmartyriums, dessen grausige 
Einzelheiten Dürer mit der Freude an der Möglichkeit, eine Fülle von Aktstudien 
oder Bewegungsmotiven unterzubringen, und in dichter figuraler Belebung weit 
drastischer und anschaulicher als auf dem Holzschnitt schildert. Nicht ohne Stolz 
ob der Bewältigung des krassen Stoffes und der kompositionellen oder zeichne- 
rischen Schwierigkeiten stellt er sich und Freund Willibald Pirkheimer in den 
Brennpunkt des scheußlichen Gemetzels, vielleicht auch nicht ganz ohne satirische 
Nebenabsicht, gleichsam in alter Bänkelsängerweise die „schauerliche Moritat“ vor- 
tragend und mit der auf einen Stab gespießten Papierfahne, die die selbstbewußte 
Inschrift trägt: „Iste faciebat anno domini 1508 Albertus Durer Alemanus“, seine 
Autorschaft bezeugend. Und wüßten wir’s nicht aus dem Selbstbildnis, so würde 
uns ein Brief Dürers vom ıg. März 1508, an Jakob Heller gerichtet, darüber be- 
lehren, wie viel der Meister in monatelangem fleißigen Kläubeln. und höchster 
technischer Sorgfalt in das Bild hineingemalt hatte: „Ich wollte, daß ihr meines 
gnädigen Herren Herzog Friedrichs Arbeit sähet! Ich bin der Meinung, sie würde 
euch wohlgefallen!“ 

Allerdings mit dem geforderten Ehrensold von 280 rheinischen Gulden, die sein 
Wittenberger Gönner ihm ausgelobt hatte, scheint sich Dürer nicht angemessen 
entschädigt gesehen zu haben, denn „in dem Bilde stecke die Arbeit eines Jahres, 
und verdient habe er nichts dabei, da er von den 280 Gulden gerade den Lebens- 
unterhalt für dieses Jahr hätte bestreiten können.“ „Es verzehrts einen schier 
dabei.“ Aber wir wissen, daß Dürer mit solchen Äußerungen den immer klagen- 
den Landwirten gleicht, denn bald nachher kann er sich Haus und Garten kaufen. 

Eins ist gewiß: Dem Besteller hat das Bild Freude gemacht, und ihm wie seinen 
Nachfolgern war es ein kostbarer Besitz, der später nach einer merkwürdigen 
Odyssee den Wiener kaiserlichen Kunstsammlungen einverleibt wurde. Überaus 
interessant ist die Vorgeschichte der Erwerbung dieses Dürer-Werkes für Wien, 
die ich mit nachfolgender Veröffentlichung von neuen Urkundenfunden in ein 
helleres Licht setzen zu können glaube. 

Waagen hatte ohne Begründung behauptet, das Bild sei als Geschenk des Kur- 
fürsten August, oder, wie das „Handbuch der deutschen Malerschulen“ besagte, 
als Geschenk des Kurfürsten Christian II. von Sachsen in die Sammlung Kaiser 
Rudolf IL gekommen. Erst v. Eye hatte in seinem Buche: „Leben und Wirken 
Albrecht Dürers“ der Vermutung Ausdruck gegeben, das für Kurfürst Friedrich Ш. 


275 


zwischen 1507—1508 gemalte Bild sei aus der Allerheiligenkirche zu Wittenberg 
auf Verlangen des Kurfürsten Johann Friedrich des GroBmiitigen nach Brüssel ge- 
schickt worden. Diese Vermutung trifft annähernd das Richtige, wie ich es durch 
einige Urkundenfunde im Weimarer Archiv belegen kann. 

Aus Augsburg schreibt am Montag nach Johannes Baptista 1548 der seit dem 
24. April 1547 vom Kaiser gefangen gehaltene Kurfürst Johann Friedrich d. Ä. an 
seine Söhne!): 

„Freuntliche liebe sone, nachdem Lucas maler noch allerlei gemelde, so uns 
zustendig, bei sich hat, auch das Tuch, so wir zu Lichtenberg uffn sahl haben 
mahlen lassen‘), wider abgenohmen und zu sich genohmen, und wir besorgen, do 
es die Leng anstehend blieb, das sie nicht gefordert, das sie hinweg komen und 
verlohren werden mochten. So begeren wir freuntlich, E. L. wollen beschaffen 
lassen, das sie von im gefordert und jegen Weymar bracht und aufgehoben werden. 
In sonderheit aber ist eine Tafel vorhanden, daruff die zehntausent ritter 
gemahlet, dieselb wollen E. L. fordern und dem Renthmeister befehlen lassen, 
das er sie in itzigem Leiptzischen Mark(t) mit vleis einmache, domit sie nicht 
schaden nehme und sie der Schetzen oder Herbrots Factor zustelle, domit sie mit 
den gütern gegen Franckfurt und dodannen nach Antorff?) gebracht und uns 
überschickt, dan wir seindt willens dieselb zu verschencken.“ 

In Erledigung des väterlichen Auftrages schreiben nun des Kurfürsten Söhne, 
Johann Friedrich der Mittlere und Johann Wilhelm an „Lucas Mahlern zu Wittem- 
berg“ (Cranach d. A.) am 26. Dezember 1548‘): 

„Liber getreuer. Wir geben Euch zu erkennen, das uns der hochgeborne Fürst, 
her Johans Friedrich der elter, Herzog zu Sachsen etc., unser gnediger liber Herr 
und Vatter itzo von Brüssel aus geschrieben und uns Euch anzuzeigen be- 
volhen, nachdem Ir allerley Gemelde, auch das Tuch, so zu Lichtenberk auf dem 
Sahl gestanden, bei Euch hettet, welchs alles iren gnaden gehorig, das Ir das- 
selbe alles mit vleis einmachen, in itzigen Neuenjarßmarkt gegen Leipzik schicken 
und den unsern in Marcus Buchners Haus überanthworten sollet. Und dieweil Ir 
auch darüber eine schone Taffel, darauff dy zehentausen(t) Ritter ge- 
mahlt, in Eurer Verwarung hettet, so sollet Ir dieselbe Taffel in Sonderheit und 
mit allem Vleiß alain auch einmachen, dasselbe mit einem großen A“) auswendig 
zeichnen und den Unsern, wy berurt, zu Leipzik in Buchners Haus neben dem 
andern auch überantworten lassen. Demnach begeren wir, Ir wollet Euch des- 
selben auff unsern Kosten also halten und in sonderheit obgemelte Taffel, darauf 
die zehentausent Ritter gemahlt sonder und alein dermaßen einmachen, do sie 
gleich einen weitern Wege dan das andere Gemaehl gefürt werden solte, das sie 
davon deßgleichen von Regen und Unwetter keinen Schaden nehme. So haben 
wir auch den Unsern so zu Leipzik in Buchners Haus sein werden, bevolhen, das- 
selbe von Euch oder den Euern anzunehmen und sich damit weiter unsers gnedigen 
liben hern Vatters Befehl zu halten. Doran tut ir Irer Gnaden und unser gefällige 
Meinung. 

Datum. Weimar am tag Steffani anno 1548.“ 


(x) S. Ernest, Gesamt-Archiv — Weimar. Reg. L. pag. 183—197. B. 7, Nr. 5, Beizettel. 

(2) Vgl. Beilage Nr. 6 zu Reg. L., fol. 231, Nr. 1. 

(3) Antwerpen. 

(4) L. fol. 231, C. 1. (2. Schreiben Beilage 6), Concept. 

(s) Wohl als Signatur für den Bestimmungsort Antwerpen, nicht aber auf Albrecht (Dürer) bezüglich 
zu denken, 


276 


Diesem Briefe der Herzöge an Lukas Cranach ist noch eine Nachschrift bei- 
gefügt: Cedula’). 

„Wir begeren auch, Ir wollet uns durch euer Widerschreiben bei disem Boten 
unterschidlich vermelden oder eine Vorzeichnis zuschicken, wie vihl und was vor 
Stuk Ir gegen Leipzik schicken werdet, auf das davon nichts verlohren und wir 
es alhir wiederumb also empfahen mogen. 

actum ut supra.“ 

Ebenda befindet sich das Konzept eines Briefes vom ı. Januar 1549, den die 
Söhne des gefangenen Kurfürsten „an Jacob Herbroths von Augsburg Factor zu 
Leipzig“ gerichtet: 

„Lieber besonder. Uns hat der hochgeborne Fürst, Herr Joh. Frid. Herzog zu 
Sachsen etc... . .. itzo von Brüssel aus geschrieben, das wir iren Genaden ein 
schön kunstreich Gemehl oder Taffel durch Dich mit Deines Herrn Güttern 
pis gegen Antorff und dodannen fürder gegen Brüssel zuschicken sollen. Die 
weren ire Gnaden fürder zu verschenken bedacht. Demselben nach begeren 
Wir gnediglich, Du wollest dieselbe Taffel von unsern Geschickten itzo zu Leipzik 
ahnnehmen, diselbe neben Deines Hern Giittern gegen Anthorff und dodannen 
furder nach Brussel vorschaffen und unserm gnedigen liben Hern Vettern daselbst 
überanthworten lassen, was dieselbe mit Furlohn gistet (kostet), das werden ire 
Gnaden auf Deinen Bericht lassen bezalen und Vleis haben, damit derselben Taffel 
unterwegen mit Zurprechen vom Wetter oder sonsten vorsetzlich kein Schaden 
zugefügt werde. 

Datum Weimar am Neuenjahrstag anno 49. 

Mutatis mutandis ahn den Schetzischen Factor.“ 

Am Sonnabend nach Erhardi (12. Januar) 1549 schreiben die Söhne an den 
Kurfürsten °): 

„Wir haben auch auff E. G. Bevehl Lucas Mahlern alspaldt geschrieben, das 
er alles E. G. Gemehl mit Vleis einmachen und das Teflichen mit den Xtau- 
send Rittern alein sonderlich und wohl verwarn und das alles auf unsern Kosten 
in dem vergangenen neuen Jahrsmarkt gegen Leipzik schicken und den Unsern 
daselbst zustellen solte, wie sich dann Herbrots Factor E. G. berurts taffelein zu- 
geschicken erboten; Dorauff auch Meister Lucas uns beigelegte anthwort gegeben, 
aber ungeacht derselbe seiner anthwort hat er gar nichts gegen Leipzik geschickt, 
wie dan die unsern pis zu Ende des Markts darauff gewartet, wie es aber zugen 
muß und was den Mahn doran verhindert hat, das konnen wir nit wissen, wir 
wollen uns aber darumb furderlich erkunden und E. G. davon weitern Bericht 
thun.“ 

Am 8. Februar 1549 erfahren wir aus einem Schreiben des Kurfürsten bzw. durch 
ein beigelegtes Verzeichnis?), welche Gemälde seinerzeit Lukas Cranach während 
der unruhigen Zeitläufte des schmalkaldischen Krieges in sichern Verwahr ge- 
nommen hatte: 

„Nachdeme wir auch bishere von Euern Libden nit bericht worden, ob unser 
Conterfeit, davon wir E. L. jüngst geschrieben, zu Weimar ankomen und unsern 
Befehlich nach angeschlagen worden sey. So wollen E. L. uns davon bericht 
thun. Und dieweil Lucas Maler die Tafeln mit den Zehentausent Rittern 


(x) Reg. L. fol. 231. С. т. 
(2) Reg. L. pag. 231, C. x (2. Schreiben, Beilage 6). 
(3) L. fol. 231, С. т. 


277 


E. L. zugeschickt, die E. L. durch Hieronymus Widman zu Erffurt nach Antorff 
besteltt, uns durch Ir Schreiben zu erkennen geben, bei weme wir solche Tafeln 
zu Antorff fordern lassen sollen. 

So vorstehen wir auch, das Meister Lucas darneben noch zwei gemalte Tucher 
uberschickt. So wollen E. L. mit dem einen, doruff die Hasenjagt ist, die Ver- 
ordnung thun, das es uff dem neuen Jhagthaus zu Wolffersdorff, wan das baufertig, 
angeschlagen werde. Und wan das andere Tuch in unser Stuben, dorin E. L. nun 
furtan mit unser Gemahel!) essen sollen, nitt konnte aufgeschlagen werden, Platzes 
halber, dasselbige zu Wolffersdorf in Gleichnus aufschlagen lassen und mit dem 
Baumeister die Verfügung thun, daß mit dem bewilligten Nachschuß des Baugeldes 
der Bau daselbst zu Wolfersdorf volgend gefertiget werde, das er uffn Sommer?) 
gewisslich fertig sei. 

Datum ut supra.“ 

Es liegt diesem Briefe bei ein „Vorzeichnis der Taffeln und gemalter Tücher, 
welche Lucas Mahler (Cranach) von Wittenbergh anher geschikt“) 

т. ein taffel, darauff dy zehen Tausent Ritter gemahlt, „das Kunststüke“ ge- 
nant. 

2. ein groß gemahlt tuch, dorauff mein genedister elter her‘) und etzliche seiner 
gnaden rethe conterfedt sein, welchs zu Lichtenberk gewest. 

3. ein tuch, do die Hasen dy Jeger fahen und brathen. 

4. ein tuch Sodoma und Gomorra. 

5. ein tuch, do Cristus Jungern auß dem Weingarten gejagt werden. 

In einem Briefe vom то. Februar 1549°) erfahren wir, daß Dürers im Gewahr- 
sam Lukas Cranachs zu Wittenberg befindliche „Marter der 10000“ nach Weimar, 
und durch Vermittelung des Botenfuhrmanns Hieronymus Wydman in Erfurt nach 
Antwerpen in die Fuggersche Agentur befördert werden soll. 

„Hieronymus Wydman an die Herzöge Johann Friedrich und Johann 
Wilhelm 

.. . E. F. G. Schreiben, eins Theffleins halben, dar auff ein Kunststück ge- 
malt sein soll und das E. F. G. gnediger lieber Herr und Vather, mein gnedigister 
Herr, der Churfürst befohlen, dasselb durch meine Forderung gegen Antorff zu 
bringen, hab ich undertheniglich empfangen und ferners Inhalts verlesen. Darauff 
mein underthenig Antwort, das ich gehorsam und ganz willig zu furdern berurte(s) 
Thefflein gegen Anttorff zu bringen und in meiner Herrn Behausung daselbst zu 
verfügen, da man auch dasselbig anzutreffen und finden soll. Was es aber mit 
der Fhur dahin zu furen geschen mag, kan ich nicht wissen, weil mir verporgen, 
wie schwer es am Gewicht ist, das man woll befinden kann, da man es wiget, 
das E. F. G. oder derselbigen Rentschreiber ich untertheniglich woll will berichten 


(x) Sibylle von Jülich, Cleve und Berg, die Mutter der Herzöge Johann Friedrich und Johann Wilhelm. 
(2) Die Hoffnung, schon den Sommer 1549 auf dem Jagdschlo8 Wolfersdorf verbringen zu können, 
war vergebens, denn erst im September 1552 hielt der freigelassene Kurfürst Einzug in seine alten 
Lande. In dem Kapitalregister der Einnahmen und Ausgaben des Kammerschreibers Jobst Apel für 
Herzog Johann Friedrich d, J. ist 1552 folgendes eingetragen: „3 Gulden 9 Groschen dem Schweizer 
Calbierer an einem Doppelducaten von wegen das er m. g. H. die erste Botschaft bracht, das seiner 
Gnaden Herr und Vatter seiner Gefengnus entledigt sei. Mitwoch am Abende Himmelfahrts Christi 
umb ro Uhr zu Mittage.“ (Bb. 4692.) 

(3) Beilage Nr. 6 zu Reg. L, fol. 23x C, Nr. 1. 

(4) Wohl Friedrich der Weise oder Johann der Bestindige. 

(5) Reg. L. pag. 231 Cx (2. Schreiben Beilage 6). 


278 


nach dieser Zeit. Derwegen wollen E. F. G. gnediglichen befugen lassen, daß be- 
rurte(s) Thefflein mir gegen Erffurdt in mein Behausung geschickt, will ichs fürder 
nach Antorff, wie E. F. G. begeren, aufs furderlichst untertheniglichen verschicken, 
da esE.F.G. Herrn und Vather mein gnedigister Herr in meiner Herrn der Fugker 
Behausung mag lassen fordern. 

Datum: Suntags nach Dorothea Anno dom. 1549.“ 

Am Montag den 11. Februar 1549 schreiben die Söhne des Kurfürsten an den 
Fuggerschen Agenten Wydman (Wiedemann) in Erfurt’). 

„1549 montags nach Dorothea. 

Die Herzöge Joh. Friedr. u. Joh. Wilh. an Jeronimus Wideman. Liber 
getreuer. Auf die Anthwort, so du uns gestern auf unser schreiben gegeben, tun 
wir dir die Taffel hirmit zuschicken und begeren gnediglich du wollest diselbe 
gegen Antorff in deiner Herrn der Fugger Haus zu furen bestellen, alda wirdet sie 
unser gnediger liber her und vatter holen und furder zu sich bringen lassen. 

Was du auch derwegen zu Furlohn von Erffurt gegen Antorff geben wirdest, 
das sol Dir auf Dein Anzeige alhir aus unser Renterei wider erlegt werden.“ 

Es folgt die ebenfalls vom 11. Februar 1549 datierte Empfangsbescheinigung des 
Erfurter Fugger-Agenten Wydman?). 

„1549 (Montag nach Dorothea). Erfurt. 

Jheronimus Wydman an Herz. Joh. Friedr. d. M. u. Joh. Wilh. 

.. . Е. F. G. Schreiben, darneben die eingemachte thaffel in plahen (Segeltuch) 
verwart, hab ich bei diesem furmann brieffszeiger woll empfangen und wiewoll 
dieselbige furleutt die nach Anntorff fahen wolln, diesen tag, ehr die Thaffell komen 
vermughe; weil die aber zu Farrenroda mit Haus gesessen, drei in vier tag sich 
anheim enthalten werden und ich mit ihn verlassen, daß sie diß Kunststück mit- 
nemen wolln, will ich solchs mit eigener Fhur ohn Hans Schweygker zu Eysse- 
nach verschaffen, alda wollin sie solche Thaffell fordern, aufladen und mit nach 
Antorff nemen, in meiner Heren der Fugker behausung antworten. Darneben will 
ich Bericht schreiben, soll.. . meinem gnedigsten herrn dem Churfürsten, E. F. G. 
herrn und lieben Vathern, weiter zugestellt werden. Waß furlohn darauff geht 
von Erfurdt bieß gen Anntorff, will ich erlegen und zu gelegener Zeit in E. F. G. 
Rentherei anzeigen.“ 

Nachdem nunmehr der Transport des „Kunststückes“ nach Antwerpen in die 
Wege geleitet ist, berichten am gleichen Tage die Herzöge ihrem Vater von dem 
Empfang eines für die Weimarer Stadtkirche bestimmten, wohl während der Ge- 
fangenschaft gemalten Bildnisses des Kurfürsten und melden den Abgang der 
Sendung von Erfurt nach Antwerpen. 

„1549. Montags nach Dorothea. Februar 11. Weimar. 

Joh. Friedr. d. M. u. Joh. Wilh. an Johann Friedr. d. Ä.°). 

Euer gnaden Conterfet haben wir von dem Glaitzman zu Erfurt empfangen. 
Und wiewoll E.G. bevolhen, das wir dasselbe gegen dem Predigstulh uber‘) hetten 
uffmachen lassen sollen, weill aber die Leuthe vast alle die Angesicht nach dem 
Predigstulh kheren, so hette es nymandes dann wir und wher unter dem Predig- 
stulh stehet, der doch wenig seind, sehen konnen. 


(1) Reg. L. pag. 231. C. 1. (a. Schreiben, Beilage 6.) 

(2) L. fol. 231, C. x. (2. Schreiben, Beilage 6.) 

(3) Reg. L. fol. 231—239, Ст, Blatt 11 ff. (Altes Konzept.) 
(4) Der Kanzel gegenüber. 


279 


Dorumb ist es mit der Rethe Bedenken neben den Predigstulh zwischen uns 
und dem Predigstulh uffgemacht worden und wirdet das Volck durch die Predi- 
canten vor E. G. vleissig zu bietten treulich ermhanet. Dem Fhurman, welcher 
das Conterfey gegen Erffurt bracht, haben wir zwen Gulden und etzlich Groschen 
zu Fhurlhon geben lassen). 

So hetten wir auch E. G. die Tafell mit den zehentausend Rittern gerne 
eher nach Antorff geschickt, haben aber keine Fhure darzu erlangen konnen. Wir 
haben aber durch Jheronimus Wiedemann berurte Tafel heut Montags nach 
Dorothea gegen Antorff geschickt, doselbst in der Fugger Hauß werden E.G. 
dieselbe fordern lassen, und wir wollen das Fhurlhonn von hiennen aufs bis gegen 
Antorff entrichten. 

Was auch Lucas Maler neben derselben Tafel vor gemalte Tucher anher gesand, 
das findet E. G. uff eingelegter zeddel zu vornehmen und wollen uns mit den 
baiden Tuchern, die gegen Wolffersdorff sollen gesandt werden, E. G. Befehls 
halten.“ 

Ein letztes Mal wird die Marter der 10000 noch in einem Briefe des Kurfürsten 
(wohl aus Brüssel?) an seine Söhne am 28. Februar 1549 erwähnt?). 

.. . „Das Е. L. unser contrafedt neben dem bredigstul umb des Volks willen 
haben ufschlagen lassen, seind wir auch zufriden. So wollen wir die bestellung 
thun, das wir die uberschickte Taffel von Antorff anher bekomen. 

Es hatt aber Lucas maler noch vil mer taffeln und gemelde, die unser seint und 
zu Wittenberg in der Kirchen gewesen, damit nun wir nach seinem rode fl umb 


(1) Vielleicht bezieht sich auf dieses Bildnis folgender Vermerk in den Rechnungen des Kurfärsten 
aus der Gefangenschaft 1547/48: „Ausgab XV Gulden an X Cronen dem Maler von Louen (Löwen) 
mein gestrengen Herrn zweimal abconterfeit. 

П Gulden Ш Patzen an II Philippsfi. bemelten Maler von Louen geschenkt zu Vererung, als er 
die eine Taffel anders gemacht. 

XV Gulden an X Cronen dem Maler von Louen von der Taffel abzumalen, darin mein g. H. u. der 
Spanisch Hauptman abconterfeit. Actum am Karfreitag.“ (Weimar, Ernest. Gesamt-Archiv, Bb. 4666.) 

Ferner ebenda „Rechnung über alle Einnam u. Ausgab Herzog Joh. Friedr. d. & (während der 
Gefangenschaft) von Peter von Konitz gehalten. 1548/49. Ausgab auf Befehl. 30 fi. X patzen an 
20 französische Cronen dem Maler zu Prüssel vor zweie Taffeln zu Conterfacten, die eine m. g. 
Herrn und dem Hauptmann uff ein Taffel, hat m. gn. Her dem Hauptman geschenkt und dan ein 
clein Teffelein ist m. gst. Frauen geschickt worden.“ 

(2) Reg. L. pag. 231—239, С. т. fol.74b, 75. Antwort zum 2, Schreiben. 
(3) Cranachs Gesundheitszustand mochte zu solchen Befürchtungen Anlaß geben, wie aus folgendem 
Brief Cranachs an den Kurfürsten hervorgeht: 1547. August 14. 

„Durchlauchtiger hochgeborner gnediger Fürst und herre. Ewer fursti. gnaden mein unterthenige 
schuldige und willige Dinate alzeit zuvor, so habe (ich des) datum suntag nach Laurenti ein (Schreiben) 
von е. f. g. entpfangen. darfinnen) ө. f. g. begeren verstanden, das ich (zu) ө. f. g. gegenn Aus- 
purg (Augsburg) komen, we(s ich) gernen thun wolt und schuldig bin, Darauff ich e. f. g. unter- 
thenig nicht verbalten wil, das ich mit sch(wäche) meines leiba noch zur zeit nicht raisen kan, dan 
ich denn schwindel im heubt habe und off in firzehn thagen nicht aussm hause komen kan, aber so 
mir (besser ist?) und es mit dem schwindel nachlasen wird, ich mich nicht seumen und zu e. f. g. 
komen, bin auch sonsten im willen gewesen, e.f.g. in der anligenden nott zu bes(uchen) und e.f.g. 
die arbet gebracht haben, welche ich verfertiget habe. Aber so ich wider frisch wurde, wil ich е. f. g. 
die arbet mitbringen. Ihm fal aber, das es mit mir nicht besser wurde, wil ich mit mein diner e. f. g. 
die gemachte arbet zuschicken und auch etzlichen spannigem (Wein), denen ich geerbt zuschicken. 
Darneben sonsten etzlich gemelde und solches е. f. g. zuforen besichtigen lassen, ob ө. f. g. derselben 
haben woldet und е. f. g. darvon nemen mocht, was e. g. gefellig sein mocht. So hette ich е. f. g. 


280 


dieselbige taffeln und was er batt, nicht komen, so wollen E. L. von ime ein in- 
ventarium und verzeichnis fordern und die beilegen. Und nachdem zu Wittenbergk 
die taffel, so über Doctor Martini (Luther) gotseligen Grab geordnet'), weg ge- 
nomen und bevolhen ist worden, mit nach Weymar zu nemen, so wollen E. L. 
uns berichten, ob es geschehen oder nicht und so sy zu Weymar, dieselbe in die 
` Kirchen ufmachen lassen.“ 

Aus den Worten Kurfürst Johann Friedrichs „wir seindt willens dieselb zu ver- 
schenken“, geht zweifelsfrei die Absicht hervor, das Los seiner Gefangenschaft 
in Brüssel dadurch zu mildern, daß er die Tafel mit den 10000 Rittern (das Bild 
wird heute nur noch „die Marter der 10000 Christen unter König Sapor П. von 
Persien“ genannt), „das schön kunstreich Gemehl“ oder das „ Kunststücke“, wie es 
in der weiteren Korrespondenz bezeichnet wird, dem bekanntesten Kunstsammler 
der Zeit, dem einflußreichen Kanzler Kaiser Karls V., Nikolaus Perrenot, zum 
Geschenk mechte. Der erst 1536 erbaute prachtvolle Perrenotsche Palast in Be- 
sancon barg die erlesensten Gemälde Italiens, Flanderns und Deutschlands, urd 
so konnte in der Tat die versöhnliche Wirkung durch diese kostbare Bereicherung 
der Sammlung des kaiserlichen Kanzlers nicht ausbleiben. Des Kaisers Zorn wäre 
wohl durch ein Gemälde nicht zu besänftigen gewesen, selbst wenn es sich um 
ein Werk Dürers handelte. Von diesem wichtigen Vermittler zwischen dem säch- 
sischen Kurfürsten und dem Sieger von Mühlberg schrieb Karl V. selbst 1545 an 
seinen Sohn: „Er hat einige Passionen, unter anderem viel Lust, seine Familie 
hochzubringen und zu bereichern.“ 

Das „Kunststücke“ dürfte im Sommer des Jahres 1549 in Antwerpen eingetroffen 
sein; der glückliche Empfänger hat sich also nicht lange des Besitzes freuen können, 
denn Kanzler Nikolaus Perrenot starb 1550. Kurfürst Johann Friedrich hat seiner- 
seits in Brüssel Gemälde erworben, die er nach Weimar sandte, wie aus nach- 
folgenden Briefen hervorgeht’): 

1549. November 21. Johann Friedrich d. M. an den Vater. 

„Es haben mir E. G. etliche tucher zugeschickt, mit denselben sol es E. G. be- 
vehl nach gehalten werden. Das tuch, darauff die Stat Mechel(n) gemalet, ist ganz 
schrecklich und ist ein anzegung des Zorns Gotts wider die sunde. — E. G. die 
haben mir auch bei der nechsten post geschriben, zweier Kasten halben, dorinnen 
vil Kunststuck und anders sein solle und das der rentmeister E. G. bericht hette, 
als hett ich die Kasten in Verwarung. Dorauf wil ich E. G. nicht verhalten, das 


fel zu klagen und mit e. f. g. zu reden, wollen sich nicht wol schreiben lassen. Wollen got den 
Allmechtigen fur e. f. g. tbreulich bitten, das e. f. g. mogen frisch frolich gesunt zu Lande komen 
Der al mechtige got gebe e. f. g. gnade durch den heiligen geist auf dem reibß, das ө. f. g. mogen 
glük und sig haben. Amen. Domit sein e f. g. dem almechtigen got ihn sein schutz und scbirrm 
bevoln. Datum Witenberg suntag nach Laurenti im 1547 jar Euer furstlichen gnaden ganz unter- 
theniger diner Lucas Cransch Maier: (S. Ernest. Gesamt-Archiv Weimar. J. рар. 577 Y No. 16. Zwei 
Blätter mit Verschlußsiegel, Originalpapier). 

(x) Vielleicht identisch mit der nachfolgend erwähnten: Einname und Ausgabe des Leipziger Oster- 
markt 1549. Ausgabe auf Befehl. 70 Gulden auf meiner gnedigen jungen Herrn muntlichen Befehel 
Heinrich Zigelern dem Jungen zu Erfurt vor das gegossene Bilde Doctorls Martini Luthers 
loblicher und seliger Gedechtnus Contrafei mit umbgossener Schr. ft, welchs hievor laut churfürstlichs 
Befehela dem Zigeler nach dem Zentner zu bezalen angedingt, hat aber das aus Unterthenickeit in 
Ansehung der Gelegenheit überhaupt mit 70 Gulden zu bezalen gelassen laut seiner Bekenntnus, 
(Bb. 4680.) 

(2) Reg. L. fol. 287—296, Faszikel C. 7, S. 26 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 10—12. 19 281 


ich wol nach solchen Kasten gefragt, aber nichts darvon erfaren konnen, wo sie 
sein oder wer sie habe. Habe sie auch bis auf dise stunde nicht gesehen. Aber 
das bin ich berichtet worden, das sie zu Torgau eingeschlagen worden sein. weiter 
weiß ich nichts darumb, so ich aber erfare, wil ich E. G. bevehl nach dormit ge- 
baren lassen.“ 

Die Antwort des Kurfürsten auf diesen Brief ist datiert 1549 Dezember 7. 
Brüssel). 

Kurfürst Joh. Friedr. d. 4. an Joh. Friedr. d. M. 

„. Was die gemalten Tucher belanget, zweifeln wir nit, E. L. werde darob 
(bedacht) sein, das damit unserm befehl nachgegangen. Wir begern aber freunt- 
lich wan Doctor Bruck der alte zu Weymar sein wirdet E. L. wollen ihme das 
Gemeld und Contrafeit, wie die Stadt Mecheln durch das Wetter vom Pulver be- 
schedigt, sehen lassen und an ihm horen, wie es ime gefalle. 

Die zwen Kasten, darinnen die Kunststück und anders verwarlich eingelegt 
worden, ist es an dem, das wir von dem Renthmaister bericht worden seindt, 
das E. L. dieselben Kasten in Verwahrung haben solten, weil dem aber nicht also, 
so haben wir unserm Secretario Johan Rudolf befohlen sich weiter derwegen zu 
erkundigen und do sie wie wir uns vorsehen wollen, zur Hand gebracht, so wollen 
sich Е. L. voriges unsers gethanen befehlichs darmit halten . .). 

Der Witwe des Kanzlers Perrenot sind nach dem Tode ihres Gatten Anträge 
gemacht worden, die „Marter der 10000“ zu verkaufen, doch ist wohl der Sohn 
des Kanzlers, Kardinal Granvella, als erbberechtigt in den Besitz des Bildes ge- 
langt. Ein jüngerer Sohn des Kanzlers Perrenot, der Bruder des Kardinal Gran- 
vella, Thomas Perrenot, käme als Erbe des Dürerschen Gemäldes ebenfalls in 
Betracht, denn wir finden es in den Händen seines dritten Sohnes Franz Perrenot, 
Grafen von Cantecroix. Man kann das daraus schließen, daß der Graf von Cante- 
croix sich mit seinem Onkel, dem Kardinal Granvella, eben wegen dieses Ge- 
mäldes überworfen hatte und bei Kaiser Rudolf in Ungnade gefallen war. Der 
Kaiser wünschte Dürers „Marter der 10000“ zu erwerben, der Graf, damals kaiser- 
licher Gesandter, schickte seinem Herrn jedoch statt des Originals eine Kopie, die, 
als solche erkannt, sofort samt dem Abberufungsschreiben an den Gesandten 
zurtickging. Kein Wunder, daß auch der Kardinal ob der Schmach, die sein Neffe 
über die Familie gebracht hatte, den Grafen Franz durch Enterbung strafte und 
ihm nur sein Porträt bei seinem am 21. September 1586 in Madrid erfolgten Tode 
vermachte, Das kümmerliche Legat des reichen Onkels hing der gräfliche Neffe 
im verschwiegensten Kabinett seines Palais in Besancon auf, um, Goetz von Ber- 
lichingen variierend, „lui faire tous les jours la grimace.“?) Erst im Jahre 1600 
ging der Wunsch des Kaisers in Erfüllung, Dürers „Marter der 10000“ für die 
Wiener Kunstkammer erwerben zu können. 

Was würde wohl Albrecht Dürer gesagt haben, wenn er geahnt hätte, daß das 
für seinen Gönner. Friedrich den Weisen gemalte Martyrium einst dessen Neffen 
als captatio benevolentiae beim Reichskanzler dienen sollte, um nach nahezu 
ıoojähriger Irrfahrt die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien zu schmücken? 


(x) L. fol. 287. C. Nr. 7. 3. Schreiben, Antwort. 

(2) Ich vermute, daß auch diese beiden Truhen. mit Kostbarkeiten und Kuriositäten gefüllt, vom Kur- 
fürsten in Brüssel verschenkt werden sollten. 

(3) Castan: Monographie du palais Granvelle & Besangon. (Paris 1867.) 


282 


DEUTSCHE GOLDSCHMIEDE IN ROM 


Von FRIED. NOACK 


3 Handwerker sind schon im Mittelalter zahlreich am Sitz des Papst- 
tums tätig gewesen, in einzelnen Gewerben war ihre Zahl dauernd so groß, 
daß sie eigene nationale Zunftbruderschaften bilden und Häuser und Kirchen bauen 
konnten. Eine deutsche Weberzunft hat das Mittelalter nicht überdauert, dagegen 
sind die Bruderschaften der Bäcker und Schuster erst während des 19. Jahrhun- 
derts im deutschen Campo Santo aufgegangen. Goldschmiede und Silberarbeiter 
haben zwar keine besondere nationale Handwerksge meinschaft gebildet, sind aber 
nächst jenen wohl die stärkste deutsche Gewerbegruppe gewesen und haben noch 
im 18. Jahrhundert eine ansehnliche Rolle unter den römischen Berufsgenossen 
gespielt. Die Hauptstadt der Päpste mit ihren Hunderten von Kirchen und dem 
Prunk ihres Gottesdienstes bot ja diesem Gewerbe jederzeit reiche Arbeitsgelegen- 
heit und die frommen Pilgerfahrten und regelmäßigen Besuche von Bischöfen, 
Prälaten und Ordensleuten aus Deutschland sicherten dem Handel mit Devotio- 
nalien aus Edelmetall immer eine landsmännische Kundschaft. Einige von diesen 
Goldschmieden aus dem Reich haben es durch ihre Leistungen in Rom zu hohem 
Ansehen gebracht, haben Arbeiten für den päpstlichen Hof ausgeführt und trotz 
ihrer fremden Herkunft Ehrenämter in der römischen Zunft bekleidet. Im folgen- 
den sind nach Jahrhunderten zeitlich geordnet alle deutschen und flämischen Ver- 
treter des Fachs zusammengestellt, über deren Dasein und Tätigkeit in Rom ich 
urkundliche oder literarische Nachweise gefunden habe. 


XV. Jahrhundert. 

1460 Adriano di Hamcher de le Magnia (Allemagna) merciario erhielt am 14. März 
vom päpstlichen Hof 75 Dukaten für ein goldenes Kreuz mit Diamanten als 
Geschenk des Papstes an den Markgraf von Brandenburg. [Müntz, Les arts 
а la cour des Papes, I, 314.) 

1463 Nicolaus tudesco erhält 17. Dezember 18 Goldgulden für 2000 petiae auri zur 
Ausschmückung der Petronilla-Kapelle іп der Peterskirche. [Miintz, I, 290. 

1464 Nicolo todesco erhält 5.Mai 8 Gulden für ein migliaro d’oro zur Ausschmückung 
der Andreas-Kapelle der Peterskirche, 21. Mai 3 Gulden für 300 petiae auri 
zu demselben Zweck. [Miintz, I, 288.] 

1470 Albert Bischof de Hamborch alias de Bingen, aurifaber, der in Via dei Pelle- 
grini (heute noch Goldschmiedsgasse) ein Haus der Bruderschaft S. Maria 
dell’ Anima bewohnt, liefert derselben ein Petschaft mit dem Bild der Mutter- 
gottes. [Lohninger, S. Maria dell’ Anima, die deutsche Nationalkirche, 
S. XVII, XIX.] 

1483 Der Goldschmied Heinrich Wachtel aus Deutschland wird gefangen gesetzt 
und auf Befehl des Papstes Sixtus IV. wieder freigelassen. [Müntz, III, 243.) 


XVI. Jahrhundert. 

1503 Petrus Bochsler auri plagator de Ulma setzte 17. Juni seiner Frau einen 
Grabstein auf dem deutschen Friedhof bei St. Peter. [Forcella, Iscrizioni 
delle chiese di Roma, III, 354.] 

1501—13 Petrus Post, Goldschmied aus Leyden, zahlt Beiträge als Mitglied der 
deutschen Bruderschaft von S.Maria del Campo Santo; Petrus Post de Lacie (?) 


283 


alemanno, Konsul der Goldschmiedezunft, wird 25. Juni 1508 beim Ankauf 
des Grundstücks für den Bau der Zunftkirche erwähnt: bewohnte ein Haus 
der Anima-Bruderschaft, wofür er 3. Juni 1513 20 Dukaten Pacht bezahlte. 
[Hoogewerff, Bescheiden in Italie, S. 237. — Bertolotti, Artisti lombardi in 
Roma, II, 313. — К. Hnr. Schäfer, Johannes Sander von Northusen, S. 50. 

1510 Nikolaus Silber, auricussor, aus Ulm, führt die Vergoldungen in den beiden 
Seitenkapellen des Chors der Animakirche im Mai d.J. aus [Lohninger, S. 68]; 
bewohnte ein Haus der Anima-Bruderschaft in Via Tor Millina, wofür er 
5. April 1513 die Pacht von 12 Dukaten zahlte. [K. Hnr. Schäfer, Johannes 
Sander von Northusen, S. 48—50.] 

1527 Am 6. Mai werden die von dem auricussor Nikolaus Silber und dem Gold- 
schmied Peter Post bewohnten Häuser der Anima-Bruderschaft von den 
Landsknechten geplündert, auch die von Silber in die Sakristei der Anima- 
kirche geflüchtete Truhe mit Pretiosen wird ausgeraubt. [K. Hnr. Schäfer, 
S. 61, 62 f.] 

1543 Der Goldschmied maestro Teodoro todescho zahlt an die Zunft 2 Scudi per 
la banca, d. h. für Eröffnung seines Ladens; wahrscheinlich dieselbe Person 
wie Todosio todesco, Todericho todesco, Todero fiamengo, die 1544, 1546, 
1550, 1552 Zahlungen von 30 bzw. ro Bajocchi an die Zunft geleistet haben- 
[Archiv der Universita degli Orefici.] 

1546 Der lavorante Jachomo todesco zahlt an die Zunft то Bajocchi. [Univ. Oref.] 

1546 Cornelius Leysen erhält 30 Dukaten für die Vergoldung des hölzernen Taber- 
nakels auf dem Hochaltar der Animakirche. [Lohninger, S. 78.) Derselbe 
wird auch als Maler bezeichnet, war 1559—67 Kämmerer der deutschen 
Bruderschaft vom Campo Santo, stammte aus Antwerpen und starb 3. Okto- 
ber 1570, begraben auf dem deutschen Campo Santo. [Hoogeweiff, S. 306 f.] 

1548 Maestro Jovanni todesco zahlte 30 Bajocchi an die Zunft. [Univ. Oref.] 
Zahlung von 162 Scudi 86 Bajocchi am 12. Mai für Silberarbeiten für den 
Papst, gezahlt an Giovanni todesco für Giovanni Pietro Crivelli. Demnach 
war Giovanni Gehilfe oder Geschäftsteilhaber des Crivelli. [Depositaria Gene- 
rale der päpstlichen Kammer.] Vielleicht dieselbe Person wie der weiter 
unten genannte Giovanni de Prato. 

1550 Zahlungen von je ro Bajocchi an die Zunft von Golfe tudescho, Francesco 
tudescho, Arrigo (Heinrich) fiamengo, Davite fiamengo und Pietro fiamengo. 
Sie kommen mit denselben Zahlungen auch 1552 vor und waren lavoranti, 
Gehilfen. [Univ. Oref.] 

1552 Der mastro Ivanj d’ Prato fiamingo zahlt 30 Bajocchi an die Zunft; 1553 die- 

selbe Zahlung von maestro Giovanni todesco und am 11. Oktober 1553 von 
maestro Giovanni todesco per conto de la banca ducati tre d’oro. Er hat 
also jetzt ein eigenes Geschäft eröflnet. Dieser Johann de Prat (Prata, Prato, 
Pratus, Prate) ist der älteste einer flämischen Sippschaft von Goldschmieden, 
die noch im 17. Jahrhundert in Rom ansissig war; er bekleidete 1565— 66, 
1568—69, 1570, 1573—74 das Amt des Konsuls und Kimmerers der Zunft 
und lebte noch 1577, da er 6. Juni d. J. Taufpate eines Sohnes des Gold- 
schmieds Torresano war. [Univ. Oref.] 

1553 Der Goldschmied Gregorio Hofer, Sohn des Bickers Thomas H., stirbt, 
25 Jahre alt, am r5. November und wird auf dem deutschen Campo Santo 
begraben. [Forcella, III, 373.] 

1554 Adriano de Prato aus Antwerpen wird am 2. Januar zusammen mit Johann P. 


284 


1556 


1562 


als Inhaber eines Depots von бо Scudi genannt; vermutlich Sohn von Johann 
P., bei dem er 1566 als lavorante stand, erhielt 16. Juni 1569 den Meister- 
brief und zahlte 24 giulii für die bancha, prüfte 29. Juli 1575, 17. Juli 1578, 
28. Juli 1591 und 21. Juli 1592 als sindico die Rechnungen der Zunft, deren 
Konsul und Kämmerer er 1584—85 war. In den Büchern des deutschen 
Campo Santo kommt er im Juni 1580 mit einem Beitrag von то Bajocchi 
vor; erhielt 31. August 1522 von der Anima-Bruderschaft 15 Scudi 15 Bajocchi 
für Vergoldung kirchlicher Gefäße, 18. Mai 1523 von derselben ro Scudi für 
Ausbesserung eines silbernen Weihrauchkessels, 23. Mai 1526 von derselben 
23'/, Scudi für einen silbernen, vergoldeten Kelch. [Bertolotti, Artisti Bolo- 
gnesi, S. 103. — Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 312, 617 f.] 

Michael Balla erklärt 26. August, von dem flämischen Goldschmied Giacomo 
Olmano 4 Scudi an Hausmiete erhalten zu haben. [Bertolotti, Artisti Sub- 
alpini, S. 118.] 

Der flämische Goldschmied Menardo, der beim Meister Bolgaro arbeitet, er- 
hält am ı. Januar 6 Scudi Belohnung für seine Arbeit an einem silbernen, 
vergoldeten Futteral für den stocco papale. 1566 arbeitete Menardo fiamengo 
bei dem Meister Bartolomeo aus Como, 1568 bei Bolgaro in der Via del Pelle- 
grino. Im Mai 1579 zahlte Menardo Averech todesco 4 Scudi für den Meister- 
brief. Er ist ohne Zweifel identisch mit dem obigen, die Bezeichnungen 
fiamingo und todesco werden in jener Zeit oft vertauscht. 24. Februar 1588 
starb Menardus aurifaber Paterbonensis und wurde in S. Maria dell’ Anima, 
der deutschen Nationalkirche, begraben. An demselben Tag machte Menardo 
Aurich aus Paderborn, orefice ai banchi, sein Testament in seiner Wohnung 
in Via dei Banchi nächst der Kirche S. Celso e Giuliano. Er hatte für Signora 
Violante Enriquez verschiedene Schmelzarbeiten, Ohrgehänge, Ringe usw. 
gemacht. Bei der Inventarisierung des Nachlasses am 26. Februar 1588 
wurden u. a. viele geschnittene Edelsteine, Bildnisse des Kaisers Maximilian, 
des Andrea Doria in Silber usw. festgestellt. [Bertolotti, Artisti lombardi, I, 
303f., Artisti belgi, S. 258, Artisti siciliani, S. 15. — Univ. Oref. — Totenbuch 
der Anima.] 


1563 Der deutsche Goldschmied Hermette (Hermes) hatte a1. Juli einen ProzeB 


mit einem französischen Goldschmied. Der fabro orefice Hermes aus Köln 
bescheinigte 1567 die Zurückerstattung gestohlener Sachen. 1578 sagte Cate- 
rina, moglie di un armajolo tedesco, aus, daß sie den Hermes einen Monat 
und 28 Tage lang bis zu seinem Tod in ihrem Haus verpflegt hat. [Berto- 
lotti, Artisti francesi, S. 55, Artisti subalpini, S. 123, Artisti belgi ed olandesi, 
S. 256.] 


1566 Maestro Alberto fiamengo zahlt 30 Bajocchi an die Zunft, er hält zwei Arbeiter 


und zahlt 60 Bajocchi für die Erlaubnis zur Eröffnung eines Ladens: 12. Fe- 
bruar d. J. war er in einer Sitzung der Zunft anwesend. In der Sitzung am 
29. Juni 1567 wurde bestimmt, daß Alberto Cesari (Keyser) fiamengo als Erbe 
der Susanna Ferrarese deren Legat an die Zunft von roo Scudi in zwei 
Raten zahlen soll. Ein Eintrag im Zunftbuch vom 23. August 1567 erwähnt, 
daß Antonia, Frau des magistri Alberti Cesaris Flandri aurificis im Campo 
Marzio, für ein Haus mit Garten 8 Scudi zu zahlen hat. Albertus Keyser 
alias Cesaris de Gruninghen aurifaber trat 31. Mai 1569 der deutschen Bruder- 
schaft vom Campo Santo bei und zahlte 1580 an dieselbe 5 Bajocchi Beitrag. 
[Univ. Oref. — Hoogewerff, 5. 241, 311.] 


285 


1566 Stefano todescho arbeitete bei dem Meister Battista Tebaldi. 4. Juni 1589 


1569 
1577 
1579 


1581 


1583 


zahlte Stefano fiamengo 30 Bajocchi Strafe für Messeversäumnis an die Zunft. 
31. März 1590 sammelte Meister Stefano Musart Almosen für arme Kollegen. 
Unter dem Namen Musardo, Musardi, Musartus kommt er bis 1623 öfter in 
den Zunftbüchern vor, in einem Protokoll vom 8. Oktober 1614 als Stephanus 
quondam Leonardi Musarti (filius) Augustanae diocesis, aurifex in urbe. Im 
November 1607 zahlte die Zunft ein Almosen von 40 Bajocchi an Stefano 
todescho, che stava prigione. Der 24. Februar 1588 verstorbene Goldschmied 
Menardo Aurich setzte ihn zum Erben ein. In den Akten des deutschen 
Campo Santo wird Stefano Muskart orefice am 14. Juni 1576 als Mitglied er- 
wähnt, im Dezember 1579 zahlte er ro Bajocchi an den Campo Santo; am 
8. Februar 1590 erhielt er 35 Bajocchi für Herrichtung von zwei Kelchen 
für die Kirche S. Maria del Campo Santo. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 258. 
— Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 275, 308, 470f.] 


In einem Aktenstück der Goldschmiedezunft wird maestro Guasco fiamingo 
giojelliere al pelegrino genannt. [Univ. Oref.] 

Lionardo Saerl aus Augsburg arbeitet bei dem Meister Bolgaro. [Bertolotti, 
Artisti lombardi, I, 304.] 

Giovanni Pradete (?) tedesco battiloro wird in die Congregation der Virtuosi 
al Panteon aufgenommen, stirbt 1589. [Archiv der Congreg. Virtuosi.] 


Flaminio Prata, ein Sohn von Adriano, Maler und Goldschmied, tritt in die 
Akademie S. Luca ein; erhielt 8. Juli 1622 von der Campo Santo-Bruderschaft 
1½ Scudo für Vergoldung von Kirchengefäßen; war 1627 Konsul der Gold- 
schmiedezunft. [Archiv S. Luca. — Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 26, 38, 
281, 617.] 


10. Juni zahlt Meister Jacomo de Prato 3 Scudi 10 Bajocchi an die Zunft, in 
deren Büchern er häufig vorkommt, 1594 und 1601 als sindico, 1598, 1604—05, 
1609—10, 1616 und 1620—2r als Konsul und Kämmerer; trat 28. September 
1589 in die flämische Bruderschaft von S. Giuliano ein, deren Provisor er 1595, 
1610, 1616 und 1621 war; zahlte 17. August 1609 an den deutschen Campo 
Santo einen Scudo für das Leichenbegängnis seines Bruders Pietro; vermählt 
mit Fulvia Maringa, die 22. Juni 1606 in der Animakirche begraben wurde; 
war 1619 Kämmerer der deutschen Bruderschaft vom Campo Santo; starb 
15. Juni 1623 und wurde in der Animakirche begraben, als deren Goldschmied 
(aurif aber ecclesiae nostrae) er 1600 bezeichnet wird. Seine Werkstatt in 
Via del Pellegrino. Er gehörte zu den Goldprüfern der päpstlichen Kammer 
1608 und bezog ein Monatsgehalt von 2 Scudi 40 Bajocchi, arbeitete auch 
für den päpstlichen Hof. [Bertolotti, Artisti bolognesi, S. 215 f., Artisti fran- 
cesi, S. 57. — Totenbuch der S. Maria dell’ Anima. — Depositeria Generale 
im röm. Staatsarchiv. — Univ. Oref. — Hoogewerff, 5. 138, ert, 268, 270, 
281, 591, 593, 597.] 


1585 Am 9. November zahlte Pietro de Prato 4 Scudi an die Zunft für die Er- 


286 


öffnung seines Ladens (per la banca); er kommt von da an häufig mit Zah- 
lungen an die Zunft in deren Büchern vor, u, a. 4. Februar 1604 mit 2 Scudi 
für den Bau der Kuppel der Goldschmiedskirche S. Eligio, war 1609 Konsul 
der Zunft und starb 14. August 1609, wurde in der deutschen Nationalkirche 
S. Maria dell' Anima begraben, deren Totenbuch ihn als aurifaber Sanctis- 
simi Pontificis bezeichnet. Von der Anima-Bruderschaft erhielt er 21. August 


1586 200 Scudi für zwei silberne Reliquienschreine. [Univ. Oref. — Toten- 
buch der S. Maria dell’ Anima. — Hoogewerff, S. 593, 618.] 

1589 29. Oktober zahlte die Zunft auf Verlangen des Meisters Stefano Musart 
50 Bajocchi an den Giorgio Diener todesco da Trier, povero, als Reisegeld 
zur Heimkehr. 

1590 Im September wurde in der Animakirche begraben Michael Walt von Vesel 
aurifaber insignis, qui multas regiones perlustraverat. [Totenbuch der S. Maria 
dell Anima.] 

1591 Am 5. September wurde Daniel Rosauan Baden borgensis aurifaber in der 
Animakirche begraben. [Totenbuch der S. Maria dell’ Anima.] 

1591 Am 22. März zahlte Federico todescho 20 Bajocchi Strafe an die Zunft, weil 
er sich weigerte, Almosen einzusammeln; am 14. September d.J. zahlte Fede- 
rico todesco 4 Scudi 60 Bajocchi per la sua bancha (für die Geschifts- 
eröffnung), mit anderen Zahlungen kommt er bis 1597 in den Zunftbüchern 
vor. In einer Untersuchung wegen eines Mordes im Dezember 1596 wurde 
der deutsche Goldschmied Federico Schuler, wohnhaft all’ Armata (am Tiber 
hinter den Carceri Nuove) als Zeuge vernommen. [Univ. Oref. — Bertolotti, 
Artisti belgi, S. 26r.] 

1591 Am 22. Dezember heiratete Hieremia Mesmer battiloro in Via Cappellari die 
Tochter Susanna des Lautenmachers Peter Albert und wohnte dort noch 1605. 
In einer Schuldverschreibung vom ro. April 1600 bestätigen einige Maler, daß 
sie dem deutschen battiloro Geremia Mesmer 150 Scudi für oro battuto 
schulden. Im April 1600 lieferte Geremia Mesmer battiloro tedesco dem 
Annibale Corradini Gold. Seine Witwe Susanna heiratete 26. November 1614 
den Uhrmacher Salzhuber; seine Söhne Geronimo und Pietro Mesmer, eben- 
falls battilori, kommen noch 1619 bzw. 1625 in der Via dei Cappellari und 
dem benachbarten Salone del Crocifisso vor. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 300, 
Artisti subalpini, S. 232, Artisti bolognesi, S. 150. Pfarrbücher von S. Lorenzo 
in Damaso.] 

1591 Im Juli verzeichnen die Bücher der Zunft, daß von Andrea todesco 4 Scudi 
60 Bajocchi per la banca (für die Geschäftseröffnung) zu zahlen sind; Andrea 
Paier todeschino zahlte die Summe in Raten ı8. Februar, 28. April, 30. Mai 
und 27. September 1592 und 21. Juni 1593. Mit anderen Zahlungen kommt 
er bis 14. April 1599 in den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.] 

1595 Am 13. April machte Guglielmus Testabove (Ossenkop?) aurifex sein Testa- 
ment und vermachte der Zunft 400 Scudi; die Witwe Maddalena des Gug- 
lielmi Testaboua flandri aurificis in urbe zahlte die Summe 30. April 1596 an 
die Zunft aus. [Univ. Oref.] 

1597 Michele de Prato zahlte 11. August ail, Scudo und 6. Mai 1598 2 Scudi 
ıo Bajocchi für seine Geschäftseröffnung; kommt noch 1615 als Mitglied der 
Zunft vor. [Univ. Oref.] 


ХУП. Jahrhundert. 


1601 Gesualdo (Oswald) Hess, battiloro todesco, wohnte, 30 Jahre alt, in Via dei 
Cappellari; Mitglied der Universitas pulsatorum auri et argenti, an deren 
Satzungsberatung er 20. Januar 1623 teilnahm; 1614 und 1626 war er Käm- 
merer der deutschen Erzbruderschaft vom Campo Santo, in deren Akten er 
noch 1648 als lebend genannt wird. 20. Juni 1621 war Gesualdo Ess de Spruc 
(Innsbruck) Pate bei der Tochter eines Osterreichers. Am 1. Mai 1610 er- 


287 


hielt Gesualdo Hes battiloro von der Campo Santo-Bruderschaft 13 Scudi für 
Gold, weiches er für eine neue Kirchenfahne geliefert hatte. 1636 und 1648 
wurde er von der deutschen Anima-Bruderschaft für Vergoldungen in der 
neuen Sakristei ihrer Kirche bezahlt. Die deutsche Bruderschaft zu Neapel 
ernannte ihn am 4. Mai 1622 zu ihrem Vertreter bei der Campo Santo-Bruder- 
schaft. [Bertolotti, Artisti Bolognesi, S. 213. — Hoogewerff, S. 268, 320, 323, 
399, 489, 490, 493. — Lohninger, S. 120. — Toll, Die Nationalkirche S. Maria 
dell’ Anima in Neapel, S. 72f. — Archiv des Campo Santo. — Pfarrbiicher 
von S. Pietro und S. Lorenzo in Damaso zu Rom.] 

1604 20. Dezember verklagte ein dänischer Maler den Giacomo Janze alias Coppe 
orefice all’ insegna del Pavone an der Piazza della Padella wegen Verleum- 
dung, begangen in der Unterhaltung mit mehreren flämischen Malern in einer 
Schenke am Piazza S. Apostoli. In seinem Verhör am 22. Dezember erklärte 
er, daß er vor etwa 30 Jahren im Haus des Guglielmo della Porta aufgezogen 
worden sei und nach dessen Tod bei den Söbnen gewohnt habe. Er starb 
um 1610. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 67—69, 209, 210 f.] 

1605 Der lavorante Giovanni Ulrich zahlte 30 Bajocchi Strafgeld für Messeversäum - 
nis an die Goldschmiedezunft. [Univ. Oref.] 

1609 Am 31. März wurde Johann Knopf, teutonicus, aurifex in Via Giulia, als Zeuge 
in einem Prozeß verhört; er sagte, er habe bei dem Goldschmied Martino 
Vizzardo gearbeitet. In dieser Untersuchung werden noch andere deutsche 
Goldschmiede genannt: Giovanni Potof, Bartolomeo, der beim Meister Curzio 
Vanni arbeitete, und Gabriel Ordes, der 1607 mit Bartolomeo zusammen - 
wohnte und zu Anfang 1609 nach Neapel abreiste. [Bertolotti, Artisti lom- 
bardi, II, 150.] 

1610 Cristoforo Vischer di Gaspare, orefice tedesco al Pellegrino, wurde auf der 
Reise nach Neapel in Velletri bestohlen. Am 6. April 1617 zahlte Cristoforo 
Vescir todesco ro Scudi an die Zunft per la banca (Geschäftseröffnung) ; 
kommt noch bis 1626 mit Zahlungen in den Zunftbüchern vor. Am 8. April 
1623 erhielt Cristoforo Pescatore todesco orefice 185 Scudi für eine goldene 
Kette, die der Papst dem Kurier des Kurfürsten von Bayern schenkte, 
26. April 1623 6 Scudi für einen goldenen Kardinalsring, den der Kardinal 
von Spanien erhielt. Im Jahre 1627 beerbte ihn sein ebenfalls in der Via 
del Pellegrino wohnender Bruder Giorgio, Kaufmann aus Audenarde; die 
Erbschaft bestand aus gioie ed argentarie. Bertolotti, Artisti belgi, S. 273, 
286, 288. — Univ. Oref. — Depositaria Generale.] 

1612 Henricus Hartmann aurifaber argentinensis starb 26. Dezember und wurde in 
der Animakirche begraben. [Totenbuch der Anima.] 

1617 Nicolao tedesco orefice hat einen Laden in der Via dei Cartari. [Bertolotti, 
Artisti subalpini, S. 213.] 

1608 2. Februar zahlten die Arbeiter Guglielmo Seis, Girardo fiamengo, Carlo fia- 
mengo, Guan Zacharia fiamengo, Gabriello Cordes fiamengo und Francesco 
Panitan todesco den Beitrag von 30 Bajocchi an die Zunft. Ranieri Bruc 
zahlte ro Bajocchi für das 40tägige Gebet. [Univ. Oref.] 

1609 Am 2. Juni zahlte Filiberto Wetto todesco intagliatore di sigilli e di pietre 
4 Scudi 60 Bajocchi per la banca (Geschäftseröffnung). — Die Arbeiter Ugo 
todesco, Simone todesco, Girardo fiamengo, Paolo todesco, Giovanni fiamengo 
und Giovanni todesco zahlten 30 Bajocchi Beitrag an die Zunft. [Univ. Oref.] 

1609 Am 16. Mai und 13. Juni zahlte Ranieri todesco 4 Scudi 60 Bajocchi für die 


288 


banca (Geschäftseröffnung). Rainier Bruc todesco hatte schon im Sommer 
1604 die Arbeitertaxe von 30 Bajocchi an die Zunft gezahlt. Er kommt in 
den Zunftbüchern bis 1655 vor unter den Namen Brucchi, Spruch, Brucca, 
de Bruch, Ispruch, Espruch, Sprux; 27. Oktober 1655 zahlte die Zunft 2 Scudi 
27, Bajocchi für seine Leichenfeier. 1613 am 1. Januar wurde Renier van 
den Brouck von der deutschen Campo Santo-Bruderschaft zum guardiano ge- 
wählt; 6. August 1655 erhielt er ein Almosen von der Bruderschaft. 1605 
kommt Reinero Bruch orefice alla cloaca di S. Lucia (Via dei Banchi Vecchi) 
in einem Prozeß vor, 1616 hatte Bruch orefice alla cloaca di S. Lucia eine 
Schlägerei mit einem Diener des Herzogs von Bracciano, 22. März 1623 hatte 
Bruch, wohnhaft im Palazzo des Monsg. Virile nel fine del Pellegrino, einen 
Streit mit einem Römer wegen einer Schuld für Uhren. ı8. November 1613 
wurde ein Sohn des Rainerii Bruc aurificis und seiner Frau Hortensia getauft, 
Pate war der deutsche Kupferstecher Matthäus Greuter. Seit 1613 kommen 
Zahlungen der päpstlichen Kammer an Bruc vor für Kreuze mit Edelsteinen, 
Reliquienschreine aus Ebenholz, Rahmen aus Ebenholz mit Silber, Tinten- 
fässer und Rahmen aus Silber, Metallvasen mit Schmelz, vergoldete Bronze- 
gefässe mit dem Papstwappen, eine Modellzeichnung für das Tabernakel in 
der Peterskirche usw. Am 29. Februar und 8. April 1628 erhielt er 425 Scudi 
85 Bajocchi für eine silberne Kassette, die er dem Papst geliefert hat, ro. Juni 
1628 bis 2. August 1629 insgesamt 1200 Scudi für eine Tiara, 10. März 1629 
тоо Scudi für ein Reliquiarium aus Silber und Lapis Lazuli als Behälter der 
Splitter vom hl. Kreuz, 25. September und 17. Oktober 1629 für verschiedene 
Silberarbeiten 600 Scudi, am 13. November 1629 für eine Rose, ein silbernes 
Kreuz usw. 100 Scudi, 16. April 1630 für zwei Rosenkränze für den Papst 
75 Scudi, 16. Oktober 1630 bis ro. Mai 1631 für ein silbernes Reliquiarium 
400 Scudi, 2. Januar 1632 für Arbeiten an den Tiaren 25 Scudi, 26. Novem- 
ber 1632 für zwei Reliquiarien aus Silber und Kristall 75 Scudi. ([Bertolotti, 
Artisti belgi, S. 273 ff. — Univ. Oref. — Hoogewerff, S. 269, 271, 281, 294, 
332, 360, 362, 381. — Depositaria Generale. — Pfarrbuch S. Apostoli.] 

1610—12 zahlen die Arbeiter Giovanni Achar, Bartolomeo todesco, Francesco Pet- 
tinaro todesco, Giovanni Decossello todesco, Armano todesco, Abramo todesco 
Beiträge an die Zunft. [Univ. Oref.] 

ı612 Am 3. Juli wird in einem Sitzungsbericht der Zunft Filiberto Joeck als an- 
wesend erwähnt, in späteren Sitzungsberichten bis 1620 unter den Namen 
Filiberto Goet, Joti, Jouet, Joth, Joet, vermutlich derselbe wie der 1609 schon 
genannte Filiberto Wetto todesco. [Univ. Oref.] 

1613 Am 4. Juli wird in einem Sitzungsbericht der Zunft Domenico Gottardo er- 
wähnt, dem Namen nach wohl auch ein Deutscher; er kommt noch öfter bis 
6. November 1630 vor. [Univ. Oref.] 

1614 Die Arbeiter Ghirardo todesco, Nicolo Uildoli fiamingo und Nicolo Clovio to- 
desco zahlen Beiträge an die Zunft. [Univ. Oref.] 

1614 Am 12. Mai zahlte Nicolo Colombo (Taube?) todesco 1 Scudo für die Ge- 
schäftseröffnung, den Rest am 23. Juni 1617. [Univ. Oref.] 

1615—16 Giovanni da Monaco zahlt den Arbeiterbeitrag von 15 Bajocchi an die 
Zunft. Am 15. Juni 1619 heiratete Joannes Ameranus aurifaber die Tochter 
des Medaillenstechers Corradini. 1620 wohnte Giovanni Hamerano todesco 
огебсе in Via del Pellegrino; er erhielt 4. Mai 1621 bis 9. August 1622 
257 Scudi für ein Kristallgefäß mit Goldeinfassung für den Papst. [Univ. Oref. — 


Bertolotti, Artisti subalpini, 5.215. — Pfarrbücher von S. Lorenzo іп Damaso. 
— Depositaria Generale.] 


1617 Am 5. Juni zahlte Giovanni Cheler todesco ro Scudi per la banca. Giovanni 


Cheller fiamengo aus Nürnberg arbeitete seit 1619 für den Papst, 1619 einen 
mit Steinen verzierten Metallrahmen, 1621 drei ähnliche Rahmen, 1622 ein 
kupfernes Kreuz mit silbernen Figuren. Am rr. Mai 1623 erhielt er für zwei 
Rahmen, die der Papst dem Gouverneur von Mailand schenkte, 430 Scudi, 
am 24. Dezember 1623 für einen vergoldeten Silberrahmen mit Edelsteinen 
und dem Bild der Himmelfahrt Mariä 160 Scudi, am 28. März 1624 für einen 
vergoldeten Rahmen mit Silber und Edelsteinen verziert 160 Scudi, am 29. April 
1624 für fünf Rahmen 300 Scudi, am 3. Juni 1624 für zwei Rahmen 95 Scudi, 
am 23. Juli 1624 für fünf Rahmen 420 Scudi, am 28. August 1624 für einen 
Rahmen von vergoldetem Metall 58 Scudi, am 19. Oktober 1624 für einen 
Rahmen von vergoldetem Kupfer 140 Scudi. Der 1621 verstorbene Kunst- 
sticker Oswald Schröter aus Nürnberg setzte seinen Landsmann Giovanni 
Cheller zum Erben ein. 1642 und 1645 machte Cheller sein Testament; er 
wohnte 1644 am Corso unweit der Piazza del Popolo und starb um 1650. 
[Bertolotti, Artisti belgi, S. 273, 281. — Depositaria Generale. — Univ. Oref. 
— Pfarrbuch S. Maria del Popolo.] 


1618 Am 7. Juni starb Vincislaus Jamnizer Norimberghiensis aurifex Illustrissimi 


1621 


et Reverendissimi Domini Cardinalis Farnesii in Parocchia S. Catarinae della 
Rota, begraben an demselben Tag in der Animakirche. Wenzel Jamnitzer, 
Sohn von Hans J., geboren um 1569, sagte 20. April 1611 sein Nürnberger 
Bürgerrecht auf, scheint also damals ausgewandert zu sein. [Frankenburger, 
Beiträge zur Geschichte Wenzel Jamnitzers und seiner Familie, S. 44f. — 
Totenbuch der S. Maria dell’ Anima.] 

Jacobus Musart, Sohn von Stefan M., wird 7. Juli in einem Sitzungsbericht 
der Zunft als anwesend genannt; kommt bis 1644 noch öfter vor mit dem 
Namen Musardus, Musarti, Musardo; 1623—24 zahlte Jacomo Musart figlio 
di Stefano М. 50 Scudi für ein Gemälde; 15. Januar 1649 wird Mad. Felice 
Musarti als Erbin ihres Bruders Jacomo genannt. 1614—15 hatte Jacomo 
Musari den Beitrag der Arbeiter an die Zunft bezahlt. Am 28. Dezember 
1633 erhielt Giacomo Musart 112 Scudi für eine Kassette aus Silber und 
Kristall sowie für ein Kreuz aus Kristall, die er dem Papst Urban VIII. ge- 
liefert hatte. [Bertolotti, Artisti bolognesi, S. 217. — Univ. Oref.] 


1625 Johann Michael aus Brüssel arbeitet bei dem Goldschmied Christoph Vischer 


in Via del Pellegrino. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 285.] 


1626 Am 4. März stirbt Bartholomäus Anshelm argentarius und wird in der Anima- 


1625 


290 


kirche begraben. [Totenbuch der S. Maria dell’ Anima.] 

Giovanni Estrau zahlt то Scudi per la banca. Er wird von da an häufig in 
den Zunftbtichern erwähnt mit den Namen Strau, Strauch, Straub, Estraub; 
1659—€o war Giovanni Straub console der Zunft; seit 1675 wurden von der 
Zunft einigemal Almosen an seine Witwe bezahlt. Giovanni Straub argen- 
tiere da Monaco di Baviera all’ insegna del Mondo Turchino wurde 1666 in 
einem Prozeß gegen seinen Schwiegersohn Federico Ruster als Zeuge verhört. 
Er wohnte in Via del Pellegrino und ist teils als orefice, teils als argentiere 
bezeichnet. 9. Mai 1672 starb Giovanni Straub, bavarus argentarius, etwa 
70 Jahre alt, an der Piazza dei Cappellari und wurde auf seinen Wunsch in 
der Kirche S. Francesco delle Stimmate begraben. Seine Tochter Maria 


Angela war seit 7. April 1661 mit Federico Rust aus Hamburg vermählt. 
[Bertolotti, Artisti belgi, S. 291. — Univ. Orefici. — Pfarrbücher von S. Lo- 
renzo in Damaso.] 

1626 13. Juli erteilte die Zunft dem Hercules della Corte flander die Erlaubnis zur 
Eröffnung eines Goldschmiedgeschäfts. [Univ. Oref.] 

1636 Am 8. Mai starb Gerardus Hendrix aurifaber und argentarius aus Herzogen- 
busch im Hospital der Benefratelli und wurde in der Animakirche begraben. 
[Totenbuch der S. Maria dell’ Anima. — Forcella Ш, 482. — Hoogewerff, 
S. 521, 601. 

1638 Am 23.“ Mai wurde Christiano Elche in die Zunft aufgenommen; er kommt 
bis 1664 in den Zunftbüchern vor unter den Namen Alcher, Alter, Algher, 
Eicher, Alchier. Am 16. Mai 1659 erhielt er бо Scudi für eine silberne 
Kassette, die er dem Papst geliefert hatte. [Depositaria Generale. — Archivio 
della Società Romana per la Storia Patria ХХХІ, 68. — Univ. Oref.] 

1640 Marco Crondaler orefice wohnte bis 1644 in Via del Pellegrino, später in der 
Pfarrei S. Simone e Giuda; er ist als germanus de Augusta bezeichnet. 
1643—44 zahlte die Zunft бо Bajocchi Almosen an den kranken Marco Glonder. 
Sein am 15. April 1647 geborener Sohn Giacomo Grondaler wird bis ı701 
in den Büchern der Zunft unter den bancherotti, rigattieri und coronari auf- 
geführt. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — Univ. Oref.] 

1640 Am 20. Juni wurde Georgius Relinger alemannus Drimberg. dioc. aurifex in 
urbe in die Zunft aufgenommen; er kommt bis 1667 in den Zunftbiichern vor 
mit den Namen Ringler, Ringher, Englilir, Ingheler und Rimbelier; 1666—67 
wurden von der Zunft 2 Scudi an den kranken Giorgio Relingler gezahlt. 
[Univ. Oref.] 

1642 Am 12. April erhielt Balduinus Moesius quondam Joannis (filius) Leodiensis 
argentarius von der Zunft die Erlaubnis zur Eröffnung eines Geschäfts. Bal- 
duino Moes aus Lüttich hatte 19. Februar 1639 die Francesca Necchi ge- 
heiratet und wohnte darauf in Via dei Pellegrini, später in Via dei Cappellari. 
In den Zunftbüchern kommt er bis zu seinem Tod 1677 vor, 1656—57 als 
Konsul und Kämmerer, desgleichen 1669—70. Der Name lautet Maes, Mois, 
Moise, Moesse, Moses, Moes. Sein Sohn Carlo Moes zahlte 1677—78 an die 
Zunft einen Scudo für die Erneuerung des Patents seines Vaters. [Univ. Oref. 
— Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — Depositaria Generale.] 

1643 Um diese Zeit arbeitete der 1623 in Augsburg geborene Goldschmied Johann 
Kilian mit seinem Bruder Philipp in Florenz und Rom. [Heinecken, Nach- 
richten von Künstlern und Kunstsachen І, оо.] ` 

1648 Am 17. März fand eine Versammlung der Arbeiter im Zunfthaus statt, woran 
folgende Deutsche teilnahmen: Emilius Brucchus, Bernardus Vidman, Vergi- 
lius Rebr. [Univ. Oref.] 

1649 Am 2’. April starb durch Selbstmord im Gefängnis der Goldschmied und 
Medailleur Joannes Jacobus Cormanus (Kornmann) ex Augusta, sculptor famo- 
sissimus. [Bertolotti, Artisti lombardi П, 197—199. — Vaticana Lat. 7880, 
fol. 118. — Sandrart, Teutsche Akademie, S. 322.] 

1656 Am то. Januar erhielt der Goldschmied Zacharias Ofen aus Sachsen von der 
Zunft 30 Bajocchi Almosen. [Univ. Oref.] 

1656—58 kommt der Meister Martino Thaiphel, auch Daifel und Taifer in den 
Zunftbiichern mit Zahlungen vor. [Univ. Oref.] 

1657 Am 24. Juli 1657 verlangte Matteo Pilchel todesco zur Meisterprobe zugelassen 


291 


zu werden und zahlte 1662 für das Patent тї giulii; bis 1667 kommt er 
einigemal in den Zunftbüchern vor als Pilcher, Pilter, Pichter. Am 7. Juli 1667 
zahlte die Zunft 2 Scudi 32 Bajocchi für seine Leichenfeier. [Univ. Oref.] 


1660-61 Giovanni Lelio Schinder zahlte її giulii an die Zunft für das Meister- 


1661 


1661 


1661 


patent; er kommt dann bis 1699 in den Zunftbüchern vor mit dem Namen 
Schinderi, Scineri, Scindel und Schincher, 1690—91 als Konsul. Sein Sohn 
Tomaso Schinder bat 26. April 1699 um Erneuerung des Patents des Vaters 
und wurde zur Probe zugelassen; 1700—01 zahlte er per la conferma della 
patente spedita l’anno 1699. Er kommt noch 1702 in den Zunftbüchern vor. 
[Univ. Oref.] 

Am 29. August heiratete Fridericus Rostus aus Hamburg die Tochter Maria 
Angela des Meisters Straub und wohnte dann in Via del Pellegrino, zuerst 
zusammen mit dem Schwiegervater bis 1664, dann erlangte er das Meister- 
patent, wofür er 1664—65 an die Zunft 11 giulii zahlte, und ließ sich selb- 
ständig als argentiere mit der insegna del Mondo d'Oro in derselben Straße 
nieder. Der Name lautet Rust, Ruster, Rustir, auch Rossi. Im Juni 1666 
wurde ein Prozeß wegen Betrugs gegen Federigo Ruster aus Hamburg er- 
öffnet. [Bertolotti, Artisti belgi, S. 291, Artisti subalpini, S. 228, Artisti fran- 
cesi, S. 190. — Univ. Oref. — Pfarrblicher von S. Lorenzo in Damaso.] 

Am 8. September erhielt Giovanni Richter orefice da Brefelde in Germania 
die Erlaubnis zur Eröffnung eines Geschäfts in seinem Haus alli Bresciani in 
Via del Pellegrino; 17. September 1661 wurde Joannes Richier quondam Gas- 
paris (filius) de Bresel in Germania in die Zunft aufgenommen und zahlte 
1664—65 11 giulii für das Patent. Anfangs 1668 zahlte die Zunft ein Almosen 
von 2 Scudi 40 Bajocchi an seine Witwe. [Univ. Oref.] 


Am 26. Januar erhielt Balthasar Chrigher Alemannus die Erlaubnis zur Eröff- 
nung eines Geschäfts, 1660—6ı zahlte Balthasar Chieger an die Zunftır giulii 
für das Patent. Dann kommt er bis 1699 häufig in den Zunftbüchern vor mit dem 
Namen Chriegl, Chieger, Gricle, Ghrigel, Chreichel, Kriegl, Chriel, 1684 —85 
und 1687—88 als Konsul und Kämmerer; die Zunft erkannte seine gute Ver- 
waltung an. In einem Verzeichnis der Goldschmiede, die 1680 außerhalb der 
Via del Pellegrino wohnten, kommt Baldassare Grichel vor; 1663 war Bal- 
dassare Crighel aus der Pfarrei S. Biagio Taufpate bei einem Sohn des Schmieds 
Rustemeyer. Balthasar Krieg] Graecensis (aus Graz) germanus aurificum arte 
perinsignis gemmarum peritia nulli secundus starb 26. Januar 1699 und wurde 
im deutschen Campo Santo begraben, wo ihm seine Frau Margarete Gasser 
einen Grabstein setzte. [De Waal, Roma Sacra, S. 572. — Bertolotti, Artisti 
belgi, S. 297 f. — Forcella III, 410. — Univ. Oref. — Pfarrbiicher von S. Lo- 
renzo in Damaso.] 


1668—69 Arnoldo Lemm zahlte 30 Bajocchi an die Zunft. 1673 wohnte Arnoldo 


Lemm aus Liittich, 38 Jahre alt, in Via del Pellegrino bis 1693, mit der In- 
segna di Ercole, er ist als argentiere bezeichnet. In den Zunftbiichern wird 
er bis 1690 genannt, 168r als Konsul. Ein Francesco Lemm, wahrscheinlich 
der Sohn, kommt von 1693 bis 1715 in den Zunftbiichern vor. [Univ. Oref. 
Pfarrbücher von S. Lorenzo Damaso.] 


1672 Am 2. September zahlte Gisberto Monten todesco 11 giulii für das Patent; 


292 


kommt noch bis 1680 mit Zahlungen an die Zunft vor, wird bald Monten, 
bald Montes und Monte genannt, wohnte am Corso. [Univ. Oref.]. 


1673 Cristoforo Giudice (Richter), germano, orefice, 39 Jahre alt, wohnte bis 1681 
in Via del Pellegrino, all’ insegna dell’ Imperatore, später bis 1690 in Via 
dei Cimatori; wahrscheinlich ein Sohn von Giovanni Richter. [Pfarrbücher 
von S. Lorenzo in Damaso.] 

1673— 74 zahlte Ludovico Lanscruder an die Zunft den Jahresbeitrag von einem 
Scudo; kommt 1688 zum letztenmal in den Zunftbüchern vor. Der Name 
tritt in sehr wechselnden Formen auf, er lautete richtig Landskron, der Käm- 
merer Krieg] mit seiner klaren Handschrift schrieb Lanzcron. [Univ. Oref.] 

1675—76 zahlte der Arbeiter Giorgio Bocca todesco an die Zunft einen Beitrag 
von 50 Bajocchi; er kommt bis 170 in den Zunftbüchern vor mit dem Namen 
Giovanni Giorgio Bocchi, Bocco, Bocher, Bucca, Buccus, filius quondam Joannis 
Martini de Argentina (Straßburg) aurifex in urbe; 1690—91 war er Konsul 
der Zunft. [Univ. Oref.] 

1677 wohnte Giovanni Sciumann tedesco, 27 Jahre alt, als lavorante beim orefice 
Martelli am Spanischen Platz. [Pfarrbücher von S. Andrea delle Fratte ] 
ı680 Um 1680 kam ein um 1660 in St.Marie bei Antwerpen geborener Goldschmied 

Giovanni de Martin nach Rom, wo er die Tochter eines argentiere heiratete 
und sich niederließ. 1766 wurde von Deutschland aus nach ihm geforscht, 
da ihm eine Erbschaft zugefallen war. [Chracas, Diario ordinario di Roma, 

1766, Nr. 7719.] 

1680 arbeitete Giovanni Francesco Filigher, 19 Jahre alt, bei Arnold Lemm. [Pfarr- 
bücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

1680 Giovanni Paolo Bendel tedesco argentiere wohnte im Cortile Ortolani, seit 
1684 mit seinem eigenen Geschäft al Calice, von 1690 an in Via del Pelle- 
grino bis 1710. Am 26. Mai 1680 heiratete Giovanni Paolo Bendel aus Beil- 
heim (Augsburg) die Alessandra Giusti. Der Name wird auch Pendel, Ben- 
den, Bennel, Pennel geschrieben. Am ro. April 1685 wurde Giovanni Paolo 
Penel von der Zunft zur Meisterprobe zugelassen, legte 16. Juni 1685 eine 
tazza d’argento als Probestiick vor und erhielt darauf das Patent, wofiir er 
11 giulii zahlte; darauf kommt er in den Zunftbüchern bis 1710 vor, beklei- 
dete auch verschiedene Ämter in der Zunft. Um 1695 arbeitete er an der 
Ausschmückung der Ignazkapelle in der Kirche Gesu mit. [Univ. Oref. — 
Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — Bertolotti, Artisti Subalpini, S. 209f.] 

1683 Am 23. Mai heiratete Jacobus Neinmaier aus Handelstar (?), Diöcese Freising, 
die Giovanna Giusti. Er wohnte in Via del Pellegrino, Cortile Savelli, und 
hatte als orefice und argentiere das Ladenschild al Licorno (Einhorn), dort 
kommt er noch 1733 im Alter von 78 Jahren vor. Der Name lautet Neimair, 
Naimar, Nainmaer, Naimer, auch Laiman. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in 
Damaso.] | 

1683 Am 2. Mai heiratete Cristiano Silichmiller aus Dresden die Maria Magdalena 
Conti und wohnte zuerst als Arbeiter bei einem Goldschmied in Via del 
Pellegrino, seit 1687 in seiner eigenen Bottega d’orefice al Melone bis zu 
seinem Tod 29. November 1708. Die Zunft ließ ihn 31. August 1687 zur 
Meisterprobe zu, hieß 27. November d. J. sein Probestück, einen Ring mit 
sieben Diamanten, gut und verlieh ihm das Patent, wofür er 1688 11 giulii 
zahlte. In den Zunftbiichern kommt er bis 1708 häufig vor, 1698—99 als 
Konsul; der Name lautet Silichmiler, Selichimiler, Selichmiler, Silimiler, Selli- 
miller. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

1684—85 Paolo Pieri todesco zahlte an die Zunft 11 giulii für das Patent. Paolo 


293 


1687 


1687 


1688 


1688 


Pieri da Corintho (Kärnthen) wohnte 1669, 11 Jahre alt, bei seinem Schwager 
dem Lautenmacher Martin Hartz. Die Goldschmiedezunft ließ ihn 10. Februar 
1685 zur Probe zu, erklärte ro. April d. J. sein Probestück, einen Ring mit 
Diamantenrosette, für genügend und verlieh ihm das Meisterpatent. Hierauf 
führte er als orefice und argentiere mit seinem Schwiegervater Bassi das 
Geschäft al Corallo in Via del Pellegrini bis 1718. In den Zunftbüchern 
kommt Paulus Pierius quondam Pandulfi (filius) de Filach in Germania häufig 
vor, 1694—95 und 1715—16 als Konsul und Kämmerer. [Univ. Oref. — 
Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

Am 27. November wurde Gioacchino Pront todesco von der Zunft zur Probe 
zugelassen und zahlte 1687—88 für das Meisterpatent 11 giulii. Bis 1690 
kommt er in den Zunftbüchern vor mit dem Namen Brandus, Brandi, Brandt. 
[Univ. Oref.] 

Francesco Reif orefice wohnte, 29 Jahre alt, im Vicolo Savelli bis 1692. 
[Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

Giovanni Lorenzo Dich aus Hamburg wohnte in Via del Pellegrino und be- 
trieb eine Argenteria all’ insegna di S. Michele; 1696—97 wird er in den 
Zunftbüchern unter den giovani aufgeführt. Bei zweien seiner Kinder war 
Paolo Pieri Pate. Er starb 1698. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. 
— Univ. Oref.] 

Federico Purchart leistet Zahlungen an die Zunft. Giovanni Federico Pulchardo 
tedesco orefice arbeitete schon 1684 in dem Laden alla Speranza in Via del 
Pellegrino. 1696—97 erhielt Federico Burcard von der Zunft ein neues Patent, 
nachdem sein Probestück, ein Ring mit sieben Diamanten, am 13. November 
1696 gut befunden worden war, und betrieb seitdem in Via del Pellegrino 
ein Geschäft mit dem Schild des Spirito Santo bis 1708. In den Zunftbüchern 
kommt er bis 1714 vor mit dem Namen Burchard, Burcardt, Purcar, Pulcher, 
1709 als Kämmerer, desgl. 1711 als Kämmerer und Konsul. 1699 wurde dem 
Giovanni Federico Burcard aus Nirbergh ein Sohn geboren, dessen Pate Paolo 
Pieri aus Kärnthen war. 1720—21 wohnte er, 60 Jahre alt, beim Palazzo 
Bonelli an Piazza S. Apostoli. Univ. Oref. — Pfarrbiicher von S. Lorenzo 
in Damaso und S. Apostoli.] 


1689 — 90 zahlte Michele Charlier di Fiandra 11 giulii für das Meisterpatent und 


1690 


294 


betrieb in Via del Pellegrino als orefice und argentiere ein Geschäft mit dem 
Schild des hl. Michael bis 1737. In den Zunftbüchern wird er auch Carlier 
und Carli& genannt und 1736 als Konsul aufgeführt. Am 25. Juni 1704 heira- 
tete Michele Carlier aus Ati, dioc. Cambray (Ath im Hennegau), die Maria 
Dionifia Pozzi aus Poggio Mirteto. Michele Carlier, argentiere fiamengo, wurde 
20. August 1729 vom kaiserlichen Gesandten in Rom der Wiener Regierung 
empfohlen, um zum Hoflieferanten ernannt zu werden; der Gesandte erwähnt 
in dem Schreiben, daß Carlier für den Papst, den Fürsten Colonna und an- 
dere fürstliche Häuser arbeitet. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo 
in Damaso und S. Susanna. — Hof- und Staatsarchiv Wien, Röm. Gesandtsch.- 
Akten Nr. 107, 126.] 

Am 12. Juni wurde Monsié Gottfredo Burchardt von der Zunft zur Prüfung 
zugelassen; 1689—90 zahlte Gottifredo Burchart Liegese (aus Lüttich) 11 giulii 
für sein Patent und schenkte 9 Scudi für Anschaffung von zwei silbernen 
Kirchengefäßen. Er wohnte dann als argentiere mit der insegna Francia in 
Via del Pellegrino, im Jahre 1696, 38 Jahre alt, war 1695 bei den Arbeiten zur 


Ausschmückung der Ignaz-Kapelle in der Kirche Gesu beschäftigt und 1703 
bis 1704 sowie 1709—10 Konsul und Kämmerer der Zunft, in deren Büchern 
ег bis 1711 vorkommt mit dem Namen Burchardo, Bourhardt, Burchard, 
Boccardi, Boardo. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso. — 
Bertolotti, Artisti subalpini, S. 209 f.] 

1694 arbeitete Giuseppe Liep tedesco bei dem argentiere Bendel. [Pfarrbiicher 
von S. Lorenzo in Damaso.] 

1694—95 Gioseppe Luigi Pilgram zahlte an die Zunft 11 giulii fiir sein Patent, das 
ihm 6.Juni 1695 verliehen wurde; er wird als Milanese bezeichnet und kommt 
bis 1700 in den Zunftbiichern vor, auch als Inhaber verschiedener Amter. 
[Univ. Oref.] 

1695 Um diese Zeit war Adolfo Gaap aus Augsburg bei der Ausschmiickung der 
Ignazkapelle in der Kirche Gesu beschäftigt, wo ein Relief mit der Befreiung 
eines Besessenen sein Werk ist; er wird als argentiere bezeichnet und mit 
seinem Bruder Giovanni Lorenzo Саар 1700—or unter den giovani der Gold- 
schmiedezunft aufgeführt. [Titte, Nuovo Studio di pittura, scoltura ed archi- 
tettura nelle chiese di Roma, S. 15 des Nachtrags. — Bertolotti, Artisti sub- 
alpini, S. 209f. — Univ. Oref.] 

1696— 97 zahlte Giovanni Benedetto Creil an die Zunft ıı giulii für das Meister- 
patent; sein Name kommt dann bis 170% öfter in den Zunftbüchern vor. Der 
Name lautet wohl richtig Grail; eine solche Familie aus der Diözese Augs- 
burg war im 17. Jahrhundert in Rom ansässig, zwei Mitglieder derselben 
waren Lautenmacher. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

1698—99 Antonio Axer aus Köln erhielt von der Zunft das Meisterpatent; er kommt 
noch 1701 in den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.] 

1698 Am 14. September heiratete Joannes Jacobus Smiz aus Antwerpen die Helena 
Bellucci aus Zagarolo. 1699 wohnte Giacomo Smizzi fiamengo argentiere, 
25 Jahre alt, in Via del Pellegrino bis 1736. [Pfarrbücher von S. Lorenzo in 
Damaso.] 


XVII. Jahrhundert. 


1700 Um 1700 arbeitete der Goldschmied Peter Boy aus Frankfurt a. M. in Rom 
und wurde Mitglied der Schilderbent. [Gwinner, Kunst und Künstler in Frank- 
furt, S. 245.] 

1703 Henrico Sepenfel argentiere aus Köln wohnte in Via Capo le Case gegenüber 
der Kirche S. Giuseppe. Am 27. Februar 1692 hatte Henricus Sepinfeld aus 
Köln die Anna Maria Delfini geheiratet; Trauzeuge war der Goldschmied 
Givacchino Brand germanus. 1722 wohnte Enrigo Seppenflet orefice aus Köln, 
60 Jahre alt, in Via dei Cappellari. Sein 1693 geborener Sohn Cristiano Setten- 
felder, auch Septemfelt und Pexenfelder, wurde 26. März 1730 von der Zunft 
zur Meisterprobe zugelassen und zahlte für das am 28. Mai d. J. verliehene 
Patent die Taxe 1730—33. [Univ. Oref. — Pfarrbücher S. Lorenzo in Da- 
maso, S. Andrea delle Fratte und S. Susanna.] 

1704 Am 24. Mai erhielt Francesco Metler svizzero den ersten Preis der Akademie 
S. Luca in der II. Skulpturklasse. 1708 wohnte Francesco Metteler svizzero 
argentiere lavorante, 30 Jahre alt, in Via dei Cappellari bis 1720. [Archiv 
S. Luca. — Pfarrbiicher von S. Lorenzo in Domaso.] 

1719 Am 21. Dezember erhielt der ı8jährige Valentin Vithmann, Sohn des Gold- 
schmieds Bartholomäus Vithmann in Via del Pellegrino von der kaiserlichen 


295 


Gesandtschaft einen Paß zur Reise nach Neapel. [Paßregister im österreich. 
Historischen Institut zu Rom.] 

1720 Am 29. September erhielt Giovanni Burkard, Sohn von Gottfried B., das 
Meisterpatent. [Univ. Oref.] 

1720 wohnte Giovanni Giuseppe Smitz di Suezia (soll wohl Schwaben heißen), 
orefice, 56 Jahre alt, im Salone del Crocifisso bei Via del Pellegrino, nachher 
in Via dei Leutari und 1726 in Via dei Cappellari. [Pfarrbücher von S. Lo- 
renzo in Damaso.] 

1722 Floriano Giovanni Fürstweger aus Wien kommt nach Rom und arbeitet bei 
verschiedenen Goldschmieden. Am 21. März 1728 legte er der Zunft seine 
Papiere vor, sowie einen doppelarmigen Leuchter als Probestück und erhielt 
darauf am 30. Mai d. J. das Meisterpatent. [Univ. Oref.] 

1725 Am 15. Juli wurde Giovanni Similier quondam Cristiani (filius) von der Zunft 
zur Probe zugelassen und erhielt 22. Juli d. J. das Meisterpatent; er kommt 
dann in den Zunftbüchern bis 1764 öfter vor (Selichemilier, Sigmilier, Seli- 
miler), verpflichtete sich 10. September 1761 mit den übrigen Meistern, 
ıo Jahre lang keine fattori anzunehmen und keine allievi zu machen. Am 
26. November 1735 heiratete Joannes Silimilier die Francesca Falciani. [Univ. 
Oref. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

1725 Am 18. März wurde Filippo Pieri, Sohn von Paolo Pieri, zur Meisterprobe 
zugelassen, legte als Probestück einen Ring vor und erhielt am 27. Mai d. J. 
von der Zunft das Patent. Ein Nachkomme Vincenzo Pieri, Sohn von Carlo 
Antonio P., orefice, wohnte, 49 Jahre alt, 1790 in Via del Pellegrino und starb 
9. September 1802. Univ. Oref. — Pfarrbiicher von S. Lorenzo in Damaso] 

1726 Am їз. Juni erhielten die Goldschmiede Johann Reiss und Johann Eigner von 
der kaiserlichen Gesandtschaft Pässe nach Wien. [Paßregister im österreich. 
Historischen Institut zu Rom.] 

1729 Am 4. September erhielt Franz Wiricus, Goldschmied aus Lüttich, von der 
kaiserlichen Gesandtschaft Paß nach Deutschland. [Paßregister im österreich. 
Historischen Institut zu Rom.] 

1734 wohnte Giovanni Paolo Caiser im Vicolo Savelli bei Via del Pellegrino; er 
war Inhaber eines Geschäfts in Via dei Coronari, war bei den Metallarbeiten 
für die Fontana di Trevi und 1747 an der Ausschmückung einer für Portugal 
bestimmten Kapelle beteiligt. [Luzi, La Fontana di Trevi, S. 27. — Chracas, 
Diario ordinario, 1747, Nr. 4647. — Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

1735 21. Dezember wurde Francesco Paisla da Svevishal in Germania (aus Schwä- 
bisch Hall) von der Zunft zur Meisterprobe zugelassen, seine Probearbeit am 
29. Januar 1736 für genügend erkannt und ihm das Patent erteilt. Am 29. Mai 
1752 wurde Francesco Baislach zum dritten Konsul der Zunft gewählt, 10. Sep- 
tember 1761 verpflichtete er sich mit den übrigen Meistern, keine fattori an- 
zunehmen und keine allievi heranzuziehen. Er wohnte schon 1729 in der 
Pfarrei S. Celso, später in der Pfarrei S. Tommaso in Parione. [Univ. Oref. 
— Pfarrbücher von S. Pietro und S. Lorenzo in Damaso.] 

1735 21. Dezember wurde Ernesto Volner da Vienna von der Zunft zur Meister- 
probe zugelassen, 25. März 1736 sein Probestück als genügend erkannt und 
ihm das Patent erteilt. Bis 1756 kommt Ernesto Volners oder Volmer in 
den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.] 

1737 Am 25. April erhielt Antonio Carlier, Sohn von Michele C., die Erlaubnis, 
einen Goldschmiedladen zu eröffnen. [Bertolotti, Artisti francesi, S. 194.] 


296 


1736 Am 30. September wurde Simone Custerman aus Wien zur Meisterprobe 
zugelassen, sein Probestück am 25. November 1736 als genügend erkannt und 
ihm das Patent erteilt; am 8. Oktober 1736 zahlte er dafür 2 Scudi 10 Ba- 
jocchi. Er kommt bis 1779 in den Zunftbüchern vor mit den Namen Cosman, 
Coisman, Costrerman und Gusterman, 1750 und 1769 als Konsul. 1767 war 
er Kimmerer der deutschen Campo Santo-Bruderschaft. Sein Sohn Lorenzo 
Custerman wurde 30. Januar 1791 zur Meisterprobe zugelassen, sein Probe- 
stück am 27. März d. J. gutgeheißen und ihm das Patent erteilt. Von 1797 
bis 1804 war er Konsul und Kämmerer der Zunft. Im Februar 1808 wurde 
Lorenzo Kustermann in den Verwaltungsrat der deutschen Anima-Bruderschaft 
gewählt. Als im Sommer 1815 ein päpstlicher Kommissar seinen Laden be- 
sichtigen wollte, verwahrte er sich dagegen unter Berufung auf sein Amt 
als Provisor der Anima, wodurch er an der Exemtion der Wiener Hofbeamten 
teilnehme. [Univ. Oref. — Römische Gesandtschaftsakten im Wiener Archiv, 
Nr. 445. — Schmidlin, Geschichte der deutschen Nationalkirche in Rom, 
S. 683, 696.] 

1741 Am 26. März wurde Gaetano Smiz, Sohn von Jakob S., von der Zunft zur 
Meisterprobe zugelassen; am 30. April wurde das Probestück des argentiere 
Gaetano Smiz für gut befunden und ihm das Patent erteilt; er kommt bis 
1755 in den Zunftbüchern vor. Seit 1747 hatte er in Via del Pellegrino ein 
Geschäft mit dem Schild Arme di Portogallo. [Univ. Oref. — Pfarrbücher 
von S. Lorenzo in Damaso.] 

1745 wohnte Giovanni Miller aus Köln, argentiere, am Campo di Fiore, später in 
Via del Pellegrino bis 1763. Sein Sohn Giuseppe Miller, argentiere, wurde 
25. März 1764 von der Zunft zur Probe zugelassen, am 29. April d. J. das 
Probestück gutgeheißen und ihm das Patent erteilt; bis 1779 kommt er in den 
Zunftbüchern vor. Seit 1764 hatte er seinen Laden mit dem Schild al Del- 
fino in Via del Pellegrino Nr. 149 bis 1806. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von 
S. Lorenzo in Damaso.] 

1746 wohnte in Via del Pellegrino der Goldschmied Stefano Praun aus Wien mit 
der Insegna della Lupa. Sein Sohn Antonio Praun, argentiere und gioielliere, 
wohnte 1769 bis 1775 nahe der Piazza del Pasquino. Antonio Praun wurde 
27. Oktober 1776 von der Zunft zur Probe zugelassen, sein Probestiick am 
24. November d. J. gutgeheiBen und ihm das Patent erteilt. [Univ. Oref. — 
Pfarrbücher von S. Lorenzo in Damaso.] 

1746 Am 27. März wurde das Probestück des Giuseppe Antonio Sepp für genügend 
befunden und ihm von der Zunft das Meisterpatent erteilt; 20. März 1746 
zahlte Giuseppe Sepp bavarese 3 Scudi für das Patent. Sein Name kommt 
bis 1763 in den Zunftbüchern vor. [Univ. Oref.] 

1747 Der Goldschmied Johann Becker aus Sachsen stahl im Haus des Kardinals 
Albani eine goldene Uhr und dem Baron Venzroth sechs silberne Löffel und 
wurde in Bologna verhaftet. [Römische Gesandtsch.-Akten in Wien, Nr. 282, 313.] 

1747 Am 25. November zahlte Giuseppe Vagner an die Zunft 3 Scudi für sein 
Patent; am 28. Januar 1748 wurde das Probestück des Francesco Giuseppe 
Wagner für gut befunden und ihm das Patent erteilt; er kommt bis 1774 in 
den Büchern der Zunft vor. [Univ. Oref.] 

1747 Am 30. Mai 1747 wurde das Probestück des Francesco Veder von der Zunft 
gutgeheißen und ihm das Patent erteilt, wofür er 31. Mai тт giulii zahlte. 
Sein Name kommt als Veder und Weder bis 1779 in den Zunftbüchern vor, 


Monatshefte für Kunstwissenschuft. 1922. 10-- 13. 20 297 


t751 als Konsul. Francesco Weder, orefice aus Orvieto, wohnte seit 1747, 
37 Jahre alt, in Via del Pellegrino mit dem Ladenschild „Europa“. Sein Sohn 
Giovanni Baptista Weder war ein tüchtiger Gemmenschneider, sein 1748 ge- 
borener Sohn Giuseppe Weder argentiere; sie wohnten noch am Anfang des 
19. Jahrhunderts an Piazza Navona 97. [Univ. Oref. — Pfarrbiicher von 
S. Lorenzo in Damaso und S. Eustachio.] 


1760 Um 1760 kam der Goldschmied Peter Ramoser aus Bozen nach Rom, wo er 


bei Luigi Valadier arbeitete und mit Bartholomäus Heger die Nachbildung 
der Trajanssäule anfertigte. 1784 wohnte Pietro Raimuser sigillatore im Orto 
di Napoli. [Atz, Kunstgeschichte von Tirol, S. 952. — Pfarrbuch von S. Lo- 
renzo in Lucina.] 


1766 Am 6. Februar heiratete Giovanni Rocco Vanlint, Sohn des Malers Hendrik 


1774 


van Lint, argentiere in Via del Babuino, die Rosa Fiorelli. Giovanni Vanlint 
argentiere starb in Via Margutta 29. Oktober 1780, 45 Jahre alt. [Pfarrbücher 
von S. Lorenzo in Lucina und S. Maria del Popolo.] 

Bartholomäus Heger vollendet in der Werkstatt Valadiers die Nachbildung 
der Trajanssäule (jetzt in der Münchener Schatzkammer). 21. Mai 1778 wurde 
Bartolomeo Hecher von der Zunft zur Probe zugelassen, sein Probestück am 
28. Juni gutgeheißen und ihm das Patent erteilt, wofür Bartolomeo Icher 30. August 
d. J. 3 Scudi zahlte. Sein Name kommt bis 1792 in den Zunftbüchern vor. 
1778 wohnte Bartolomeo Hecher, argentiere aus Salzburg, mit Frau Ales- 
sandra Zuccarelli am Corso 18—20 (Goethehaus), darauf gegenüber im Palazzo 
Rondanini 1786—88, zuletzt in Via del Babuino. Bei seinem 1779 geborenen 
Sohn Franz Xaver stand der Wiener Medailleur Franz Xaver Würtb Pate. 
Die von Heger und Ramoser ausgeführte Nachbildung der Trajanssäule in ge- 
triebenem Silber wurde am 26. Juni 1783 von dem Kurfürst Karl Theodor 
von Bayern angekauft. [Univ. Oref. — Pfarrbücher von S. Maria del Popolo. 
— Karl Theodors Reisetagebuch 1783 in der Hof- und Staatsbibliothek München.] 


1785 Francesco Stais, orefice, wohnte im Vicolo dell’ Aquila bis 1788, darauf an 


298 


Piazza S. Lorenzo in Damaso bis zu seinem Tod 3. November 1792. [Pfarr- 
bücher von S. Lorenzo in Damaso.] 


MISZELLEN 


DAS FASS DER „RUHE AUF DER FLUCHT“ INDÜRERS MARIEN- 


LEBEN 


Von GEORG STUHLFAUTH 


meinen „Kleinen Beiträgen zu Dürer“ — 
Monatshefte für Kunstwissenschaft 15, 1922, 
S. 57 ff. — schloß ich den über das Faß in Dürers 
„Ruhe auf der Flucht“ (В. go) mit dem Bemerken, 


daß es mir nicht gelungen sei, eine zweite Dar- 


stellung des „Packfasses“, als welches es dort auf- 
zufassen und von Dürer gemeint sei, ausfindig 
zu machen. Ein glücklicher Zufall führte mir 
mittlerweile die gesuchte Parallele zu, und ich 
mache von ihr um so lieber Mitteilung, weil sie 
nicht nur leicht zugänglich, sondern auch für 
unsere Frage um ihrer unzweideutigen Form willen 
doppelt wertvoll ist. Sie ist enthalten in einer 
gestochenen Ansicht der Stadt Danzig, die im 
(5.) Bande „Geschichte der Neuzeit“ der von 
J. v. Pflugk-Harttung bei Ullstein & Co., Berlin, 
herausgegebenen Weltgeschichte, 8. 33, ab- 
gebildet ist. Hier ist ihr die Angabe untergesetzt: 
„Stich in ,Politica Politica‘, ‚Nürnberg 1700 bei 
Rudolf Johann Helmer‘.“ Dieser bibliographisch 
schlechthin unzulänglichen Angabe liegt die Tat- 
sache zugrunde, daß der Stich aus einem Buche 
stammt, das in erster Auflage 1623 unter dem 
Titel „Daniel Meisner, Thesaurus Philo- Poli- 
ticus. Das ist Politisches Schatzkästlein guter 
Herren und bestendiger Freund“, 8 Teile, quer 4°, 
Frankfurt a. M., und dann in einer der vielen 
späteren Ausgaben auch unter dem Titel „Politica 
Politica“ erschienen Ier"), In den mir vorliegen- 
den beiden ersten Auflagen — die zweite er- 
schien 1624—1626 — enthält der orste Teil als 
den fünfundvierzigsten unseren Stich, Der Stecher 
ist der als Verleger genannte Eberhard Kies er, 
der 1612—1630 in Frankfurt а. M. tätig war‘), 
Der Stich umfaßt 70 mm in der Höhe, 144 mm 
in der Breite, ist also in dem Ulistein-Bande etwas 
vergrößert (= 71><146). Über ihm steht in Ma- 


(1) Ich danke die Aufklärung der freundlichen Auskunft des 
Herrn Archivdirektors Dr. Kaufmann in Danzig. 


(2) 9. Nagiers Künstier-Lexikon s. v, 


juskein die Einzeile: Nemo dicitur Dominus, nisi 
antea servus fuerit; unter ihm die andere; 

Nemo potest Dominus fieri laudabilis, ante 

Ni fuerit Servus, teste Platone loquor ; 
darunter in zwei Spalten die Doppelverse: 

Plato spricht, der hochweise Mann, 
Niemand zum Herren werden kann: 
Es sey dann, dass Er, in seinem Wesn, 

Zuvor ein Diener sey gowesn. 

Die „kurtze Erklärung und Bedeutung der Em- 
blematischen Figuren“, die den Tafeln voransteht, 
lautet für unseren Stich: | 

Nemo dicitur Dominus, nisi antea servus fuerit. || 
Dantzig’). || Der Kauffmans Diener | welcher ein joch 
holtz auff dem Hals ligen hat | bedeutet | dass ег 
wegen seines herren im anvertrawten Guts grosse 
sorg auffm hals liegen habe. Der andere | so auff 
einem stul sitzet | vnd das joch holtz von sich 
geworffen hat | hinder welchem auch ein Han auff 
einem fuß stehet | zeigetan | daß er wegen seines 
stetté*) fleißes vnd grossen sorg | so er tag уп?) 
nacht gehabt | endlich zum herren sey worden, 

Das Bild zeigt im Hintergrunde die Stadt, im 
Vordergrunde die beiden Männer nebst allerlei 
Gepäckstücken, bestehend in mehreren festum- 
schnürten Koffern und mehreren Fässern, Zwei 
der letzteren fallen besonders ins Auge: sie liegen, 
mit den Kopfseiten dem Beschauer zugekehrt, 
gerade іп der Mitte dicht aneinander gerollt, vor 
dem größten der Koffer, der ihnen als Folie dient, 
und überdeckt von einer gemeinsamen Matte genau 
derselben Art, wie sie über dem Faß des Dürer- 
Blattes liegt. Kein Zweifel: die Fässer sind Pack- 
fasser und die über sie gebreitete Matte ist eine 
Schutsdecke gegen Regengüsse. Damit ist das 
Rätsel, welches in dem Faß der Dürerschen „Ruhe 
auf der Flucht“ gegeben sein mochte, von dem 
rund 120 Jahre später entstandenen Stich Eber- 
hard Kiesers aus endgültig und restlos gelöst. 


(1) Die 3, Aufl. fügt die Zahl 45 hinzu. 
(2) 2. Aufl.: stetten. (3) 2. Aufl.: vnnd. 


299 


ROBERT WEST, Entwicklungs- 
geschichte desStils. Hyperion-Verlag, 
München 1922. 


Die Nachkriegszeit hat uns kunstfreundliche 
Jahre gebracht. Überraschend stark und an Orten, 
wo man es kaum vermutet hätte, trat das Inter- 
esse für Kunst hervor, Leute, die keine eigent- 
liche Vorbildung, dafür aber unbefangene Beobach- 
tungsgabe an die Kunst herantragen, suchen sich 
über künstlerische Vorgänge zu unterrichten, und 
wenn dieses Streben auch vorläufig mehr dem 
Luxusbedürfnise als ernster Wißbegier entspringt, 
ist es doch die Pflicht der Kunstschriftsteller, den 
ziellosen Interessen eines breiteren Publikums 
Form und Sinn zu geben. Diese Notwendigkeit 
hat den Hyperion-Verlag veranlaßt, eine Entwick- 
lungsgeschichte des Stils in acht handlichen Klein- 
follobänden herauszugeben, die den Zeitraum von 
der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts 
umfassen wird. Angesichts der schwierigen Auf- 
gabe war es ein besonders glücklicher Umstand, 
daß Robert West für die Bearbeitung der Stil- 
geschichte gewonnen werden konnte, der in den 
vier bisher erschienenen Bänden mit staunens- 
werter Energie und sicherem Gefühl für das 
Wesentliche die auf streng wissenschaftlichem 
Wege kaum zu lösende Aufgabe bewältigt hat. 
Für die Beschränkung des Stoffes gibt es ja 
mancherlei Mittel. Zunächst natürlich die Sich- 
tung des Materials, das nur soweit herangezogen 
werden könnte, als es die von West vorgestellte 
Entwicklung illustriert. Ferner die Beschränkung 
auf das Problematische in der Kunstgeschichte, 
das zur eigentlichen Triebfeder dieser welthisto- 
rischen Skizze geworden und in kluger Zurück- 
haltung vor dem Eingriff in wissenschaftliche 
Streitfragen nach seiner jeweiligen Eigenart dar- 
gestellt ist. Und um ein solches Geistesexerpt 
erträglich zu machen, bedurfte es drittens einer 
gewissen künstlerischen Gestaltung, durch die 
wir die Vorgänge der Kunstgeschichte nicht un- 
mittelbar, sondern im Spiegel einer originellen 
Persönlichkeit zu sehen vermeinen, Es wäre klein- 
lich zu erörtern. ob dieses oder jenes noch hätte 
gebracht werden müssen, zu tadeln, daß ganze 
Kulturen kaum erwähnt werden und manches 
allzu greifbar, anderes wieder flacher ausgefallen 
sei. Denn gerade das macht ja das Buch für den 
Laien faßlich und für den Fachmann ungewöhn- 
lich interessant, daß dae ganze Bild in eine an- 
dere Perspektive gerückt ist, als wir es sonst zu 


300 


sehen bekommen, in eine persönlich-künstlerische 
Perspektive. Und das Mittel, wodurch der Autor 
uns in der freien Sphäre dieser kunstgeschicht- 
lichenVogelschau zu halten weiß, ist seine Sprache, 
die von dem abgegriffenen Wortschatz der zünf- 
tigen Kunsthistoriker weit entfernt ist und je nach 
dem Stoff bald fröhlich, bunt, elegant wirkt, zu- 
weilen aber auch zu einer wuchtigen, ich möchte 
sagen, dramatischen Schönheit emporsteigt. 

Im ersten Band ist der Titel: „Die klassische 
Kunst der Antike“ enger gefaßt als es dem In- 
halt entspricht,” Er beginnt mit der Insel-Kultur 
der Kreter, die ja freilich nur ein Abglanz ist von 
den riesenhaften Kulturen des alten Orients, die 
aber hier geschickt und in drastischer Charakte- 
risierung als Vorstufe zur griechischen Kultur 
verstanden ist. Die griechische Kunst ist als die 
Frucht eines Rassenkampfes aufgefaßt, als eine 
Vermählung dorischer und jonischer Elemente, 
resp. als ein Kampf dieser Elemente, der sich im 
Lande selbst zwischen der peloponnesischen und 
der attischen Kultur abspielt, Die Biütezeit der 
attiscben Kunst, also die Klassik im engsten Sinne, 
wird kühn, aber in höherem Sinne doch zutreffend 
als spezifisch religiöse Periode der griechischen 
Kunst bezeichnet, auf die im 4. Jahrhundert der 
profane, sinnlichere Stil eines Praxiteles gefolgt 
sei, um mit Skopas und Lysipp in die Universal- 
kunst des alexandrinischen Zeitalters einzumünden. 
Die Ausbreitung der hellenistischen Kultur und 
die Verschiebung des kulturellen Schwerpunktes 
von Athen nach Rom wird in zwei Kapiteln ge- 
schildert, von denen das erstere das Problem 
„Asianismus und Hellenismus“, das zweite die 
imperialistische Kunst der Römer behandelt, bis 
in die Zeit des Titus, dessen Triumphbogen mit 
den Darstellungen der Zerstörung Jerusalems un- 
gemein künstlerisch als Vollendung der alten und 
als Vorahnung der neuen Zeit in die frühchrist- 
liche Epoche überleitet. Der zweite Band beginnt 
mit der Zersetzung der Antike durch das Ein- 
dringen jüdisch - christlicher Elemente, Höchst 
eindrucksvoll ist die Kunst unter Trajan und Ha- 
drian nicht als Erfüllung uralter Römerwünsche, 
nicht als das sonnige Land eifrig erarbeiteter 
Herrlichkeit geschildert, sondern was da geschaffen 
worden ist, hebt sich bereits gespenstisch ab vom 
dunklen Himmel der Völkerwanderungszeit. Wäh- 
rend das Christentum sich in den Katakomben 
einnistet, erleben wir in den Kaiserbauten der 
diokletianischen und konstantinischen Epoche das 
gewaltige Wachsen der Dimension und die zu- 


nehmende Vergröberung der Formen, die allen 
Spätstilen eigen ist. 

Die Darstellung der nachkonstantinischen Zeit 
brachte erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Denn 
wenn eine Entwicklung populär sein will, muß 
sie vor allem kontinuierlich sein. Der Laie setzt 
voraus, daß unser Wissen um die Dinge gleich- 
mäßig sei und mit der zeitlichen Nachbarschaft 
wachse, In Wirklichkeit gibt es Zeiten, in denen 
das Geschehen sich verwirrt, die Quellen ver- 
siechen, die Denkmäler zerfallen. Man spürt in 
Wests Schilderung die gediegene Schulung der 
Rankeschen Geschichtsdarstellung und in bezug 
auf die Kunstgeschichte speziell die Bekanntschaft 
mit den Werken Strzygowskis, dessen Ideen nicht 
kritiklos übernommen, sondern als orientalischer 
Unterton in das Ganze verflochten werden, Jeden- 
falls gehört die Darstellung vom Todeskampfe 
des Römerreiches im 5. und 6. Jahrhundert, die 
Charakteristik der eindringenden Germanenstämme 
und des mitten im Fieber der Geschehnisse wach- 
senden kirchlichen Prunk- und Kostbarkeitsdranges 
zum Schönsten, was von kunstbistorischer Seite 
über die frühchristliche Epoche gesagt worden 
ist. Mit der Aufrichtung des Frankenreiches er- 
öffnet West den dritten Band und entwirft ein 
lebensvolies Bild von der welthistorischen Be- 
deutung Karls des Großen und seiner Hofkunst, 
in der er teilseinen Kanon für das abendländische 
Bauen aufzustellen, teils eine Verschmelzung der 
germanischen und lateinischen Rassenkultur vor- 
zunehmen bemüht ist. Wir erleben den Verfall 
der Karolingerkunst und die Aufrichtung einer 
spezifisch deutschen Kunstschule im Zeitalter der 
Ottonen, die das Vermächtnis des römischen Kaiser- 
reiches mit derihnen eigenen sächsischen Energie 
verwalten. Das schwierige Problem der Entstehung 
der romanischen Formgattungen wird soweit 
skizziert, daß der Leser sich zuverlässig orientiert, 
ohne auf bestimmte Thesen festgelegt zu werden. 
Es folgt eine hochoriginelle Betrachtung des ro- 
manischen Kunstgewerbes, in dem trotz aller 
byzantinischen Entlehnungen bereits der Sieg der 
germanischen Weltanschauung zum Ausdruck 
kommt. Als Gegenspieler des deutschen Kaiser- 
tums tritt Cluny auf, dessen kunsthistorische Be- 
deutung geschickt abgegrenzt wird, nicht nur in 
Deutschland selbst, sondern auch in Italien, wo 
man den Appenin als die ungefähre Grenzscheide 
der feindlichen Einfiußsphären annehmen darf. 
Eine kurze Entwicklungsgeschichte der Plastik, 
insbesondere der Bauplastik, in der dem Deutsch- 
tam eine führende Rolle zuerkannt wird, behan- 
deit die Veredelung des Geschmacks von dämo- 


nisch-pbantastischen Urgebilden zu jener inter- 
nationalen Kultur der Kreuszugsperiode, in der 
sich eine Verschmelzung der orientalischen, latei- 
nischen und germanischen Stilelemente vollzogen 
hat, und am Schluß der romanischen Periode 
sind es zwei völlig verschiedenartige Problem- 
reihen, in die wir die Geschichte einmünden sehen: 
auf der einen Seite das Wölbproblem als dem 
Symbol einer neuen Vergeistigung, auf der an- 
deren die Verweltlichung der Kunst unter den 
Hohenstaufen mit ihrem verfrühten Individualis- 
mus, als dessen trotziges Wahrzeichen der Braun- 
schweiger Löwe zugleich die hohen Fähigkeiten 
und die inneren Gefahren der Stauferherrschaft 
repräsentiert. In dem vierten und vorläufig letzten 
Band werden Gotik und Frührenaissance vereinigt, 
nicht nur buchtechniseh, sondern auch geistes- 
geschichtlich. West stellt sich damit abseits von 
der üblichen kunsthistorischen Periodenteilung, 
teils zum Vorteil, teils zum Nachteil der Darstel- 
lung. Das Reizvolle dieser Betrachtung liegt darin, 
daß französische, deutsche und italienische Kunst 
als zusammengehöriger Komplex behandelt wer- 
den können, Giotto und die Pisani zusammen 
mit den Meistern von Reims und Naumburg, und 
daß in der italienischen Frührenaissance gerade 
derjenigen Werke mit besonderer Liebe gedacht 
wird, die man als latinisierte Spätgotik bezeichnen 
könnte. Andererseits scheint mir aber der Begriff 
des Individualismus allzuweit gefaßt zu sein, so 
daß die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit 
sich verwischt. Zunächst ist in der Gotik eine 
Scheidung vorgenommen worden zwischen dem 
konstruktiven und dem dekorativ-ausdrucksmäßigen 
Inhalt des Stils, wobei sorgsam der Anteil ab- 
gewogen wird, den die verschiedenen Länder und 
Völker an der Ausbildung der Gotik genommen 
haben, Die Hochgotik wird als ein Stil der Strenge 
charakterisiert, als eine abstrakte Verbindung des 
Technisch-Zweckmäßigen mit einer künstlerischen 
Idee, und im Profanbau, der auf dem Wege zum 
15. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt, sieht West 
umgekehrt eine Verbrämung des Zweckmäßigen 
durch kirchliche Dekorationsmotive. Den Höhe- 
punkt erreicht die Darstellung Wests in der Aus- 
scheidung des spätgotischen Bildeindrucks aus 
der abstrakten Architektur. Maßwerk, Glasgemälde, 
Ornament und Figurenauffassung drängen auf die 
bildliche Wiedergabe hin, im Norden und etwas mo- 
difiziert auch im Süden, und als das logischeResultat 
alles Vorhergehenden ergeben sich die Malkunst der 
frühen Niederländer und der zierlich-befangene Rea- 
lismus des toskanischen Quattrocento, die beide erst 
im 16. Jahrhundert ihre historische Erfüllung finden. 


301 


Leichte Lektüre sind die Westschen Bücher 
nicht, und ob sie ihren populären Zweck er- 
füllen, möchte ich bezweifeln. Denn es gehört 
viel Wissen dazu, um die Originalität heraus- 
zulesen, die West hineingelegt hat. Man müßte 
da vor allem imstande sein, die Auffassung Wests 
mit der herrschenden Schuldoktrin zu vergleichen. 
Es sind insofern keine Lehrbücher, sondern eine 
Feinschmeckerei für die Kunstverständigen selbst. 
Aber gerade dafür wollen wir dem Autor dankbar 
sein, daß er uns keine abgedroschene Handbuch- 
weisheit, sondern Bücher voll sinnvoller Zusammen- 
hänge und im Rahmen der Aufgabe etwas Geniales 
zu bieten hat. Über Einzelheiten wird man daher 
nicht mitihm rechten und mit Spannung erwarten, 
wie sich West in den vier nächsten Bänden mit 
der uferlosen Verbreiterung des Stoffes, mit der 
zunehmenden psychischen Differenzierung der 
Kunst und mit der Unübersehbarkeit der Literatur 
abfinden wird, Hans Rose. 


JOSEPH POPP, Die figurale Wand- 
malerei, ihre Gesetze und Arten. 
Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1921. 


Das „Dekorative“, einer der wichtigsten und 
schwierigsten Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, 
ist das Problem dieses Buches; nur hat Popp in 
einer vorsichtigen Bescheidenheit das Problem auf 
das Dekorative innerhalb der flguralen Wandmalerei 
eingeengt, der figuralen im Gegensatz zu jeder 
nur ornamentalen, genauer Ornamentmalerei. So- 
mit gehört das Wort figural eigentlich in die 
Klammer. Popp befaßt sich im ganzen Buch mit 
der „Figur“ im Sinne von menschlicher Figur nur 
ganz beiläufig, eben weil nicht die figurale Wand- 
malerei allseitig sur Diskussion gestellt wird, son- 
dern nur in ihren dekorativen Beziehungen, und 
für diese eine Seite der Wirkung spielen andere 
Faktoren eine größere Rolle als die Figur, vor 
allem das Format, die Größe des Bildes, die Technik, 
die Raumdarstellung. Hätte Popp das Dekorative 
in jeder Erscheinungsmöglichkeit, also s B, auch 
in der Plastik aufgesucht, so wäre er vermutlich 
auf das Figurale mehr und spezieller eingegangen; 
ebenso: hätte er die figurale Wandmalerei erschöp- 
fend bebandeln wollen. Trotzdem ließe sich das 
Wort figural schwer aus dem Titel streichen, und 
man kann höchstens sagen die Umkehrung: „Ge- 
setze und Arten der (figuralen) Wandmalerei“ wäre 
treffender gewesen, denn diese Gesetze und Arten 
sind allseitig behandelt, und die figurale Wand- 
malerei eben nicht alleeitig, sie ist nur das engere 
Feld, um nach dem Dekorativen zu graben. 


зо? 


Die Untersuchung beginnt mit der Erörterung 
des Schmuckes, er ist stets eine Beziehung von 
Schmuckspender zu Schmuckträger und um- 
gekehrt; dabei bleibt der Träger die stoffliche und 
geistige Grundlage, der Spender muß ästhetisch 
sein und zum Träger passen. Das „Passen“ 
zueinander ist das aufzudeckende Geheimnis. 
Der Sprachgebrauch unterscheidet innerhalb des 
Schmuckes Ornament und Dekoration; Popp meint, 
man wählt diese Bezeichnungen je nachdem der 
Träger allein oder sowohl Träger als Spender 
selbständige Existenzen sind. Ist der Schmuck- 
spender unselbstindig, so redet man von Orna- 
ment (ornare — ausstatten), ist der Spender selb- 
ständig, d. h. ein Werk der Malerei, Plastik, des 
Kunstgewerbes, der Architektur, z.B. ein Brunnen 
auf dem Markt, ein Schloß im Park, so redet man 
von Dekoration (decorare — würdigmachen). Beim 
Ornament kann der Träger selbst ästhetisch wert- 
voll sein, er muß es aber nicht sein, dagegen bei 
der Dekoration sind immer beide Teile, Träger 
und Spender, ästhetisch wertvoll, es sind „Künste“, 
die sich untereinander verbinden, indes beim Or- 
nament möglich ist, daß sich ein künstlerisches 
Muster mit einem nicht künstlerischen, sogar nicht- 
ästhetischen Objekt verbindet. So lese ich zwi- 
schen den Zeilen die Definition: Dekoration ist die 
künstlerische Verbindung von Künsten, 

Das Geheimnis, worin das Dekorieren, das „Zu- 
sammenpassen“ und aus diesem Passen Neue-Reize- 
Erschaffen bestehe, läßt sich, wie Popp in sehr 
gesunder Weise erkennt, nur induktiv aufdecken. 
Er beschränkt sich von hier ab auf die Wand- 
malerei und findet aus der Vielgestaltigkeit der 
Korrespondenz von Wandbild und seiner Um- 
gebung die Richtlinien seiner Untersuchung, näm- 
lich: daß die Wand selbst durch die Farben, die 
sie physikalisch-chemisch gestattet, durch ihre 
Flächigkeit, durch ihre Funktion als Raumabschluß 
dem Bilde die Anpassungsmöglichkeiten an diese 
ihre Sondereigenschaften biete. Das Bild hat zwar 
bestimmte Rechte, s. B. es muß genügend sicht- 
bar sein, übersehbar usw., was für Wand- und 
Deckengemälde allerhand zum Teil selbstverständ- 
liche, aber durchaus nicht immer befolgte Regeln 
ergibt. Das Bild hat aber auch bestimmte Pflichten, 
es muß auf die gegebene Form des Raumes Rück- 
sicht üben, die realen Raumachsen, die dem Be- 
schauer die Stellung zum Bilde aufnötigen, sind 
auch die Orientierungsfaktoren für den inneren 
Aufbau des Bildes. — Ich will nicht im einzelnen 
referieren, wie Popp alle Spezialfälle der Forde- 
rungen der Architektur, durchführt; die eine Gattung 
solcher Forderungen ergibt sich aus der Tendenz, 


Wand und Decke in ihrer Abschlußfunktion zu 
unterstreichen, die andere aus der Tendenz, sich 
der Richtung oder Richtungslosigkeit, der Ge- 
schlossenheit oder Geöffnetheit des Raumes an- 
zupassen. Hier polemisiert Popp gegen Sempers 
Feindseligkeit gegen die wanddurchbrechende 
Malerei; er steht als Kunsthistoriker weitherziger, 
gerechter den Möglichkeiten gegenüber und ver- 
teidigt das Illusions- oder richtiger „Raumbild“ als 
das zum „malerischen“ Raum allein passende. 
Es folgt das Kap. IV über die Technik der Wand- 
malerei mit vielen Aufschlüssen über die Folge- 
rungen, die sich für das „Zusammenfassen“ aus 
Farbmaterial und Maltechnik ergeben, aber es 
zerreißt, an dieser Stelle eingereiht, den Gedanken- 
gang; ich weiß nicht, warum es nicht vor Kap. Ш 
eingeschoben wurde, dann hätte sich auch Kap. V 
an die Erörterung über die Zusammenhänge von 
Bild und Raum angeschlossen. Popp unter- 
scheidet hier drei Gattungen des Wandbildes: 
Flachbild; Bühnenbild, Raumbild; dies Kapitel ist 
für den Kunsthistoriker das interessanteste und 
fruchtbarste, die erdrückend große Masse von 
Werken ist auf wenigen Seiten klar und sicher 
behandelt, man merkt, daß der Verfasser jahre- 
lang in diesen Dingen gelebt hat. Ob seine Zu- 
rückweisung des heutigen Geschmacks, einer ein- 
seitigen Schwärmerei für das Flachbild als dem 
einzig dekorativen und ob seine Verteidigung von 
Bühnen- und Raumbild bei den Malern Früchte 
trägt, ist ungewiß, Asthetiker und Kunstwissen- 
schaftier werden das meiste, was Popp hier sagt, 
anerkennen müssen. — Es folgt das Schlußkapitel, 
in welchem der Verfasser wieder zu allgemeinen 
Fragen zurückkehrt; zwar bleibt er hier auch mög- 
lichst bei der Wandmalerei, aber das Problem, 
was Monumentalität sei — auf dasihn das Problem 
der monumentalen Wandmalerei führt — ist ein 
allgemeineres. Wie weit er über die bisher ver- 
tretenen Ansichten hinauskommt, zeigt seine Po- 
lemik gegen Hamann und Vischer. Ich habe be- 
sonders aus diesem Kapitel viel neue Erkenntnis 
gewonnen, es ist mir das liebste der ganzen Arbeit 
und es sei gestattet, daß ich nach dem referie- 
renden Teil an dies Schlußkapitel und das syste- 
matisch damit zusammengehörige erste einige 
Bemerkungen anknüpfe, 

Unselbständig ist das Ornament fraglos іп dem 
Sinne, wie es Popp darstellt (8.7 und 8); an sich 
dringt es stets nach Fortsetzung und findet nur 
im Träger sein Maß und seine Grenzen. Aber 
jedes Vorlagebuch für Ornamentik beweist, daß 
man wenigstens theoretisch jedes Ornament vom 
Träger ablösen kann. So abscheulich solche Muster- 


bücher von Mustern aussehen, sie geben einen 
Überblick über die Formengattungen des Ornaments, 
seine Grundelemente, ihre Variations- und Kom- 
binationsfähigkeit, ohne Rücksicht auf den Träger. 
Das Gefährliche dieser Vorlagemappen, daß sie 
den Benutzer verleiten, statt aus dem Träger des 
Passende selbst abzuleiten, ihm etwas Nicht- 
passendes aufzunötigen, berührt uns hier nicht. 
Was aber so als eigentliches Ornament, abgelöst 
vom Träger, übrigbleibt, hat schon seinen eigenen 
ästhetischen Wort und alle Kategorien der Stil- 
kritik sind darauf anwendbar. Abgesehen vom 
Träger ist das Muster schon schwer oder leicht, 
gedrängt oder weitmaschig, d. h. es wendet sich 
an die Kategorie der Einfühlung, und ebenso gibt 
es rational gebindigte und irrational verstreute 
Musterung usw. Nichts hindert mich (obwohl es 
nicht allgemein geläufig ist), diese losgelöste Or- 
namentik als eine selbständige Gattung der künst- 
lerischen Phantasietätigkeit, als eine Kunst neben 
die anderen Künste: Architektur, Plastik, Malerei 
Musik, Poesie, Tanz, Mimik zu stellen. Dann ist 
jede „passende“ Verbindung des Ornaments, d.h. 
des für sich eigentlich nicht existenzfihigen Ge- 
bildes mit einem Träger schon Dekoration zu 
nennen, wenn man die oben gegebene Definition: 
Dekoration ist die „künstlerische“ Verbindung 
von „Künsten“, festhält, die ich auch aus Popps 
Buch herauszulesen glaubte. Das bat aber un- 
übersehbare Konsequenzen; denn dann unterscheide 
ich im Ornament das Ornamentale und Dekorative. 
Ein Beispiel: während ich dies schreibe, stehen 
vor mir mit dem Bücherrücken mir zugewandt 
die Bände von Dehios Geschichte der Deutschen 
Kunst. jeder, der diese Besprechung liest, kennt 
diese Bände mindestens von außen und kann 
an ihnen erwägen, wie sehr diese Schrift Ornament 
ist, sobald man davon absieht, was diese Schrift 
besagt — so wie Einer, der nicht arabisch lesen 
kann, nicht hebräisch, nicht griechisch, alle diese 
Schriften ganz generell ale verschiedene Orna- 
mente auffassen kann. Doch sind offenbar ver- 
schiedene arabische, persische, türkische Manu- 
skripte wieder innerhalb der Gesamtmöglichkeit 
dieser Schriftart verschieden stark ornamentiert. 
So ist auch die Aufschrift des Buches von Dehio 
sehr ornamental, besonders das große K und das 
kleine s in den Worten Deutsche und Kunst 
(während das в in Geschichte ohne Schwinzchen 
gelassen ist). Dieses Buchstabenornament ist aber 
außerdem dekorativ: in seiner Goldfarbe auf Blau, 
seiner Verteilung auf dem Bücherrücken, es paßt 
sich ihm an (obwohl nicht ganz, da die Text- 
und. Tafelbinde verschieden dick sind, also die 


303 


Rücken verschieden breit sind, während die ge- 
drängte Schrift des Textbandes klischeemäßig 
auf den breiteren übertragen wurde). Ist also 
beim Ornament selbst sowohl das ornare wie das 
decorare formwirksam, so sind diese beiden Ten- 
denzen des „nur“ Ausstattens und des „oben- 
drein“ Würdigmachens eine engere und eine 
weitere Tendenz des Künstlerischen überhaupt. 
Die engere aber, die ornamentale Absicht, macht 
das Ornament zum Ornament, und zwar abgesehen 
von seinem Träger, abgesehen 3. B. von der 
Funktion, die ein Strich, eine Musterung am Träger 
heraushebt, Überträgt man jene Bücherrücken- 
schrift genau auf ein Blatt Papier, so wird man 
zwar sich fragen, warum die Worte so japanisch 
untereinander stehen, aber das spezifisch Orna- 
mentale bleibt unangetastet. Die Schriftzüge haben 
ihre eigene Gestaltqualität und diese Gestaltetheit 
erweist sich als eine, vielleicht als die Grund- 
form aller bildenden Kunst. Ich kann jedes Bild, 
jede Plastik als „Muster“ sehen, jede Architektur, 
wenn man die Flächenaufteilung der Decken, 
Wände, Fassaden auf ihr bloßes Linien- und 
_ Fleckennebeneinander und -zueinander betrachtet, 
ja ich kann sogar von räumlichem Muster sprechen. 
Wer keine speziellen biologischen usw. Kennt- 
nisse hat, sieht mikroskopische Schnitte als phan- 
tastische Ornamente; malt man Tier- und Pflan- 
senformen, die der normale Sterbliche nicht kennt, 
und die den ihm bekannten nicht ähneln, groß 
auf eine Leinwand, so sieht er diese Formen als 
Ornament, ohne zu wissen, daß es Tiere und 
Pflanzen sein sollen bzw. wirklich sind. Genau 
so kann man sich durch einige Schulung im Ab- 
strahieren zwingen, jedes Bild, die „dekorative“ 
Schule von Athen, aber auch jedes völlig selb- 
ständige Bild, 3. B. ein Selbstporträt von Rem- 
brandt, genau so als bloßes Ornament zu sehen, 
oder jeden Faltenwurf einer Plastik, gleichgültig 
welcher Zeit, genau so wie die meisten Menschen 
einerseits ein Gemälde von Feininger, andererseits 
eine Tafel eines medizinischen Atlas, der Komma- 
bazillen in ihrer fröhlichen Verteilung zeigt, nur 
als Ornament zu sehen imstande sind. Dekorativ 
aber wäre dies Ornamentale im Ornament selbst, 
wie in Malerei, Plastik und Architektur jeweils 
dann, wenn es mit dem Ornamentalen der Nach- 
barschaft und weiteren Umgebung zusammenpaßt, 
wenn der an einer Stelle angeschlagene orna- 
mentale Stil über alles vereinheitlichend hinweg- 
schlägt; wenn das Ornamentale des Ornaments 
mit dem Ornamentalen der Malerei — des Bild- 
musters —, dem Ornamentalen der Plastik usw. 
eins ist. 80 deute ich mir auch Wölfflins Unter- 


304 


scheidung von imitativer und dekorativer Schön- 
heit, Imitative Schönheit wirkt auf mich (falls 
sie da ist), wenn ich einen Faltenwurf als Fälte- 
lung eines Gewandstoffes auffasse und die natür- 
lichen Bedingungen für das Entstehen solcher 
Bildungen in mir wach werden, dekorative Schön- 
heit (falls sie da ist), wenn ich von dieser imita- 
tiven Seite absehe und das Muster des Auf und 
Ab, Vor und Zurück, Hell und Dunkel, Seicht und 
Steil usw. dieser Formen in ihrem Zusammen- 
hang erfasse. Diese dekorative Schönheit bezieht 
sich aber dann auch auf die Einzelfalten inner- 
baib desselben Faltenwurfs, bzw. auf die verschie- 
denen Teile desselben Bildes, es ist der zusam- 
menhaltende durchwegs eingebaltene Stil der 
Musterung, der über das einzelne Kunstwerk bin- 
zieht; das Dekorative vereinheitlicht die einzelnen 
Teile ein und desselben „Ornaments“, und so sage 
ich einfach: mag das Ornament, das Wort im all- 
gemeinsten Sinne genommen, eine imitative Seite 
baben, wie Malerei und Plastik und manches 
Ornament im engern Sinne, mag es keine imi- 
tative Seite haben, wie manches Ornament im 
engern Sinne und die Architektur, es hat eine 
dekorative Schönheit dann, wenn das scheinbare 
Vielerlei seiner Bestandteile durch ein einigendes 
formales Prinzip zu einem inneren Zusammen- 
hang verwachsen muß. Treten Werke verschie- 
dener Künste zusammen, so hat ihre Vereinigung 
dann einen neuen Reiz, wenn die dekorative Schön- 
heit des einen ungehindert sein Echo findet in der 
konformen dekorativen Schönheit des anderen. 
Von hier aus ist aber Popps Trennung von 
Monumentalem und Dekorativem zu beurteilen. 
Ich teile seine Auffassung vollkommen, stütze 
sie aber von der eben skizzierten Überlegung her 
anders. Das Monumentale oder Großzügige be- 
schreibt Popp 8. 126 zusammenfassend so: „ез 
ist der Gesamteindruck einer überragenden ein- 
fachen und einheitlichen Form von bedeutendem 
Volumen und Kraftgebalt; in den Hauptteilen ge- 
klärt, wesentlich in Ruhe bleibend oder von ge- 
haltener Lebensäußerung ... an dem notwendigen 
Aufwand unserer gesamten seelischen Leistungs- 
fähigkeit als machtvoller Eindruck und Gehalt er. 
lebt.“ Man kann diese Definition im einzelnen 
bestreiten und ergänzen, jedenfalls würde ich das 
Monumentale nicht auf die Ruhe allein einschrän- 
ken wollen, sicher aber kommt Popp dem Wesen 
der Sache näher als seine Vorgänger, die sich 
mit dem gleichen Problem abmühten. Nur scheint 
mir eins übersehen, was nicht ins einzelne geht, 
sondern das Ganze betrifft, ich meine, was Popp 
als Monumentalität definiert, das Großzügige iat 


ein Faktor dessen, was wir mit Qualität bezeichnen, 
Das Sehen im Großen ist abhängig vom Niveau, 
d. h. der Qualität des Künstlers als totaler Per- 
sönlichkeit, nur wer eine adäquate Qualität rezeptiv 
mitbringt, ist ihr gewachsen und sieht sie. Diese 
Seite des Kunstwerks ist aber selbstverständlich 
eine andere als das Zusammenfassen von Schmuck- 
träger und Schmuckspender. Es kann vorkommen, 
daß auch dieses Zusammenpassen Qualität hat 
und in dem hier gemeinten Sinn das eine Merk- 
mal der Qualität: die Großzügigkeit — aber es 
ist nicht immer der Fall, daher gibt es monus 
mentale Dekoration und nichtmonumentale Die 
Künstleraussprüche, die von jedem Bild — Wand- 
oder Tafelbild — das Dekorative verlangen, meinen 
meistens das Großzügige, d. h. diese eine Seite 
der Qualität. Es ist Popps Verdienst, in diese 
sehr komplizierte Lagerung der Begriffe hinein- 
geleuchtet zu haben. Monumental und dekorativ 
sind zwei sich schneidende Kreise. 

Eine Rezension ist nicht der Ort, diese Ge- 
danken zu Ende zu führen, genug wenn an- 
gedeutet wird, wie viel sich aus der Lektüre ge- 
winnen läßt. Nicht alle Kunsthistoriker werden 
das Buch verstehen, nicht alle werden merken, 
wie sehr sie diese Fragen der Ästhetik angehen; 
auch nicht alle Künstler. Die letzteren aber wer- 
den, wenn sie das Buch verstehen, nebst vielen 
Einzelwinken für die Praxis auch theoretisch darin 
mehr finden, als sonst in Büchern, die ihnen sagen 
wollen, wie man es eigentlich machen sollte. Denn 
so sehr man bei flüchtigem Lesen den Eindruck 
haben kann, Popp gebe aus reinem individuellen 
Geschmack heraus parteilich Vorschriften, bei 
genauerem Lesen findet man, daß er nur die selbst- 
verständlichsten Dinge verlangt und ausspricht, 
was oft das schwerste ist zu erfüllen, aber auch 
nur zu formulieren. Paul Frankl. 


ALLGEMEINES LEXIKON DER BIL- 
DENDEN KUNSTLER: Begriindet von 
Ulrich Thieme und Felix Becker. Hrsg. 
von Ulrich Thieme und Fred C. Willis. 
XIV.Bd. Giddeus — Gress. Leipzig, See- 
mann, 1921. (M.198.—.) 

Das Titelblatt des neuen Bandes weist nun wie- 
derum Abweichungen auf, die in obiger gedrängter 
Angabe angedeutet sind. Im Vorwort wird betont, 
daß ein Teil der Verantwortung von jetzt ab auf 
die vom Verein bestellten fünf Kuratoren fällt. 
Nicht weniger als 126 Stifter privater Mittel wer- 
den nembaft gemacht, die auf mehrere Jahre 


hinaus das Fortbesteben des Unternebmens er- 
möglicht haben. Die hauptsächliche redaktionelle 
Neuerung besteht darin, daß man sich nun noch- 
mals „zu einer wesentlich gedrängteren Fassung 
entschlossen“ bat. Dies merkt man deutlich, 
wenn man sieht, wie die Schriftleitung sich durch 
das fast unübersehbare Gestrüpp der „Giovanni“ 
innerhalb 48 Seiten (mit 359 Titeln) gefunden hat. 
Immerhin kommen noch Entgleisungen vor, wie 
bei van Gogh, der mit 7½½ Spalten wenigstens 
mir, Joseph Grassi, der mit 7°/, Spalten wohl 
jedermann als zu reichlich bedacht erscheint. Die 
Einordnung der Künstler, die im vorigen Band 
in richtige Wege eingefahren zu sein schien, 
ist in diesem allerdings wieder ganz kraus, Man 
mag ihn unter Romano, wohl auch unter Pippi 
suchen, der eigentlich, wie auf S. 215, selbst an- 
gedeutet wird, unter de’ Gianuzzi eingereiht sein 
müßte, aber ihn unter Giulio einzustellen, wie 
hier geschehen, will mir doch als ein äußerstes 
Kunststückchen vorkommen. Jan Gossaert, gen. 
Mabuse, ist ganz richtig unter G. zu finden: warum 
da der Wiener Joseph Reznicek, gen. Gisela, unter 
G. stebt, kann man nicht verstehen. Überhaupt 
die Einstellungen bieten das Äußerste an mangeln- 
der Konsequenz dar. Beim Durchstreifen fand 
ich unter Heinrich Goeding, daß dieser sich „gegen 
Ende seines Lebens mit Vorliebe dem Kupfer- 
stich“ zuwendete. Der Satz wird erst dadurch 
schlimm, daß darauf folgt „den er technisch gut 
beherrschte“. Wer wissen will, daß Goeding den 
Stich gut beherrschte, möchte zuvor erfahren 
haben, ob Goeding überhaupt je gestochen und 
nicht nur radiert habe! Nicht im Text und nicht 
einmal in der Bibliographie wird der Artikel im 
Repertorium XV, p. 353—6 erwähnt, wo immerhin 
zu den 137 graphischen Blättern des Meisters, die 
Andresen kannte, weitere 157 nachgewiesen worden 
sind. — Wenn auch das Bestreben nach kürzester 
Fassung auf das Lebhafteste zu begrüßen ist ` 
(denn immer noch sind wir erst zur Mitte des 
fünften von Naglers 22 Bänden gediehen), so ist 
doch zu hoffen, daß die Schriftleitung keine Aus- 
wahl unter den Namen trifft, also keine Namen 
streicht. Mag Raffaello Santi auf eine Spalte und 
die Literaturangaben beschränkt werden; es würde 
dem Lexikon damit kein Schaden zugefügt. Aber 
die große Karte, daß hier eben jeder Künstler, 
über den sich überhaupt Mitteilungen machen 
lassen, zu finden ist, wird die Schriftleitung hoffent- 
lich nach wie vor in der Hand behalten. 


Hans W. Singer. 


305 


ALLGEMEINES LEXIKON usw. Fünf- 
zehnter Band: Gresse — Hanselmann. 
Gr. 8°. Seemann, Leipzig 1922. Hibled. 
M. 4000.—. 


Wie anders kann man ein Referat über den 
15. Band beginnen, als mit dem Hinweis auf das 
Ableben des eigentlichen Urhebers des gewaltigen 
Werkes. Während der Arbeit an diesem Bande 
ist Prof. Ulrich Thieme von seinem langen Leiden 
erlöst worden. Schon für das, was bislang ge- 
leistet worden ist, wird ihm die Kunstwissenschaft 
ewigen Dank wissen; noch mehr, wenn endlich 
der große Plan, den er angeregt hat, und dem 
er sein Leben weihte, zum Abschluß gediehen 
sein wird, — Aber während derselben Zeitspanne 
hat das Lexikon noch andere Verluste zu beklagen. 
Ebenfalls gestorben ist Kurzwelly, einer der älte- 
sten und eifrigsten Redaktionsmitarbeiter, Dr. F, 
Willis, der seit dem ı3. Band die Hauptstütze 
Thiemes als erster Redakteur gewesen war, ist 
aus dieser Tätigkeit geschieden und hat sein Amt 
in die Hände Ог, Vollmers gelegt, der seit 1906 
im Bureau der Schriftleitung sitzt und neben 
dem Begründer wobl mehr als irgendein anderer 
für das Lexikon geleistet hat. Das zeigt sich 
auch wieder, wenn man den neuen Band durch- 
sieht. Endlich aber kennzeichnet dieser Band 
einen bedeutsamen Abschnitt in der Erscheinungs- 
form. Schon seit dem 5. Bande übernahm, wie 
das Titelblatt besagt, die bekannte Firma Е, A. See- 
mann den Verlag. Erst von jetzt ab aber ist das 
Lexikon recht eigentlich ein Artikel des Hauses, 
der sich ganz selbst tragen soll und buchhändle- 
risch auf eigenen Füßen steht, Das spricht sich in 
einer zunächst weniger angenehmen Weise aus, 
— in der Preisnormierung. Aber gerade darin 
muß man ein erfreuliches und nicht ein bedauer- 
liches Zeichen erblicken. Es beweist, daß der 
vorsichtige Verlag das Vertrauen hat, mit der 
Einführung des Werkes beim Abnehmerkreis so 
weit gediehen zu sein, daß er es wagt, die Weiter- 
führungsmöglichkeit von dem glatten Verkauf ohne 
Stiftermittel zu erwarten, Also scheint nun der 
Abschluß endgültig gesichert. 


Was den ı5. Band selbst anbelangt, so ist er in 
Ausstattung, Umfang und Inbaltswert den letzten 
beiden völlig ebenbürtig. Er birgt wiederum her- 
vorragende Beiträge über ganz bedeutsame Titel 
wie Grünewald, Guardi, Barbieri-Guercino und die 
Familie Hals. Der Durchschnitt der „Kleinware“ 
ist vortrefflich, Natürlich könnte man eine Reihe 
kleinerer Versehen und Mängel nachweisen, — 
die selbstverständlich bei einem Werk dieser Art 


306 


nie ausbleiben können. Ich verzichte darauf, auch 
nur eins anzuführen, da das Sinn nur mit Rück- 
sicht auf einen etwaigen Nachtragsband hätte. 
Ich bin aber überzeugt, daß ein solcher nicht er- 
scheinen wird; wird man doch einst froh genug 
sein, mit dem Werk überhaupt zum Abschluß 
gelangt zu sein. 

Leider ist es der Schriftleitung immer noch 
nicht gelungen, ihr Versprechen, zwei Bände im 
Jahr herauszubringen, in Wirklichkeit umzusetzen, 
Jedenfalls würde straffste Fassung hierzu dienlich 
sein. Gerade der neueste Band läßt sie gelegent- 
lich vermissen. Beiträge wie Guibal, J. P. Hackert, 
K. Hagemeister, J. В. Hagenauer, J. C. Handke 
u. a. m. erscheinen mir viel zu lang. Wenn 
Schmid es fertig brachte, einen so problemreichen 
und überaus wichtigen Künstler wie Mathias Grüne- 
wald in 3°/, Seiten zu bewältigen, so hätten nicht 
fast ebensoviel, sondern höchstens ein Drittel da- 
von für den drittrangigen G. Grupello genügen 
müssen. Н. W. Singer. 


CHR. VOIGT, Schiffs-Ästhetik. Die 
Schönheit des Schiffes in alter und neuer 
Zeit. 125 S. mit 102 Abb. Verlag der 
Zeitschrift „Schiffbau“ (Reinhold Strauß, 
Komm.-Ges.), Berlin 1922. 


Verfasser begibt sich hier auf ein Gebiet, das 
Kunstgelehrten und Künstlern im allgemeinen 
nicht gerade vertraut zu sein pflegt. Das Schiff 
— in erster Linie das Seeschiff — in seiner Schön- 
heit wird uns vorgeführt, wie es sich im Laufe 
der Jabrtausende den Fortschritten der Technik, 
aber auch wirtschaftlichen Forderungen ent- 
sprechend, wandelt. Zahlreiche Typen aller Größen 
liegen zwischen dem primitiven Fahrzeug des Ur- 
menschen und unseren modernen Ozeanriesen, 
und fiberall sehen wir, wie der dem Menschen 
innewohnende Schönheitstrieb sich geltend macht, 
und wie er sein Schiff sowohl in den „Linien“ 
als auch im schmückenden Beiwerk unbewußt den 
Gesetzen der Ästhetik anpaßt, wie auch hier dem 
Auge wohlgefällt, was dem Zwecke am besten 
entspricht. Alles das zeigt uns Verfasser an Hand 
zahlreicher, zum Teil vorzüglicher Abbildungen 
in anregender Darstellung: Die Schönheit des 
Seeschiffes; das schöne Schiff der Barockzeit; 
das schöne Schiff unserer Zeit; nautische Ästhetik, 
das Schiffemotiv in der Baukunst; das weibliche 
Element in Schiff und Meer; das Schiffemodell. 
Die einzelnen Kapitel stehen zwar nicht alle auf 
derselben Höhe — das „weibliche Element“ würde 
ich fortgelassen .und dafür ein Kapitel über die 


Klipper aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
eingeschoben haben — aber die verborgenen 
Schönheiten von Schiff und Meer dem Leser vor 
Augen zu stellen und ins rechte Licht zu rücken, 
ist dem Verfasser nicht übel gelungen. 

A. Köster, 


A. GERKE und ED. NORDEN, Ein- 
leitung in die Altertumswissen- 
schaft. II. Dritte Auflage. УШ u. 494 8. 
B. G. Teubner, Leipzig 1922. 


Für den modernen Kunsthistoriker, der immer 
wieder auf die Antike hingewiesen wird, und bei 
Behandlung so zahlreicher Probleme genötigt ist, 
einen Blick ins Altertum zu werfen, ist es von 
größter Bedeutung, für das Grenzgebiet seiner 
Wissenschaft und darüber hinaus einen sicheren 
Führer zu haben. Früher pflegte sich der Kunsthisto- 
riker bei Baumeister: „Denkmäler“ Rat zu holen. 
An Stelle dieses, zu seiner Zeit vorzüglichen, doch 
längst überholten Werkes ist, obwohl ganz anders 
geartet, die „Einleitung“ von Gerke und Norden 
getreten, deren zweiter Band bereits in dritter 
Auflage vorliegt. Er enthält zunächst eine Ab- 
handlung über das griechischeundrömischePrivat- 
leben von E. Pernice. Das antike Haus wird 
geschildert,” die Tracht sowie die mannigfachen 
Gebräuche der Alten, von denen sich manches 
bis in spätere Zeiten hinübergerettet hat, Eine 
Darstellung der Münzkunde von К. Regling ist 
besonders zu begrüßen, da es gerade auf diesem 
Gebiete an kurzgefaßten, schnell orientierenden, 
die Resultate der neuesten Forschung berück- 
sichtigenden Darstellungen fehlt. Was F. Winter 
über die griechische Kunst sagt, ist zwar auch 
anderweitig zugänglich, aber es ist doch angenehm, 
es auch bier zu besitzen. Vorzüglich ist die 
lebendig geschriebene Schilderung der griechischen 
und römischen Religion von Sam Wide, wie 
auch die Abhandlung über die Wissenschaften 
von J. L. Heiberg und die Geschichte der Philo- 
sophie von A. Gerke. Ein systematisches In- 
haltsverzeichnis sowie ein ausführliches Register 
machen das Werk besonders brauchbar fiir den, 
der sich über eine Frage schnell orientieren will, 
und für den Kunsthistoriker außerordentlich wert- 
voll sind die sorgfältigen und reichen Angaben 
der neuesten Literatur, so daß dem Benutzer 
mancher Umweg erspart bleibt. A. Köster. 


FRIEDRICH SARRE, Die Kunst des 
alten Persien. Mit 150. Tafeln und 


19 Textabbildungen. X u. 69 S. Bruno 
Cassirer Verlag, Berlin 1922. 


Als Band V der von W. Cobn herausgegebenen 
Serie „Die Kunst des Ostens“ folgt das Buch der 
Aufgabe, die künstlerischen Schätze des Orients 
in handlicher Form in guten Abbildungen einem 
weiteren Kreise zugänglich zu machen, Dies war 
bier um so mehr geboten, da die meist aus großen 
Tafelwerken bestehende Fachliteratur schwer zu- 
gänglich oder vergriffen ist. Bei dem vorliegen- 
den Stoffe, für dessen Erforschung ja der Ver- 
fasser selbst den größten Teil seiner Lebens- 
arbeit aufwandte, handelte es sich also mehr um 
eine übersichtliche Zusammenfassung des be- 
reits Erarbeiteten, als um die Vorführung neuer 
Ergebnisse, Der Text gibt eine sachliche Be- 
schreibung und Erläuterung zu den chronolo- 
gisch angeordneten Bildtafeln und vermeidet 
ablenkende Problemstellungen, wie sie sich bei 
dem zum Teil noch wenig erforschten Material 
für den Fachmann ergeben. Der erste Abschnitt 
(Taf. 1—52) umfaßt die Denkmäler der Achäme- 
nidenzeit, also Pasargadae, Bisutun, Persepolis 
und Susa, meist nach den Aufnahmen des Ver- 
fassers und den älteren von F. Stolze. Als inter- 
essante Vergleichsobjekte kommen hinzu das 
Relief aus Erghili in Konstantinopel (30), das 
Goldblech mit der Darstellung eines Persers aus 
dem Oxusschatz (42) und die Berliner Silber- 
statuette (43), die beiden letzteren freilich schwer- 
lich als achämenidische Erzeugnisse. Der fol- 
gende Abschnitt über die Kunst der Seleukiden- 
und Partherzeit (Taf. 53—66) konnte im Hinblick 
auf die geringe Erforschung dieser Perlode nur 
von geringem Umfang sein. Das Grabmal auf 
dem Nimrud Dag und Hatra sind neben dem 
künstlerisch wenig bedeutenden Assurstelen, den 
stark zerstörten (deehalb hier nicht aufgenomme- 
nen) Reliefs von Bisutun und den Münzen, die 
einzigen festen Anhaltspunkte, zu denen einige 
Kleinfunde ergänzend hinzutreten. Um so reich- 
baltiger ist der Denkmälerschatz der sasanidischen 
Periode. Die Baukunst und die Reliefs haben 
längst die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, 
gleichwohl ist auch da vieles noch nicht gelöst. 
Ich möchte nur auf die großen Stilunterschiede 
an der Hauptgrotte des Taq i bustan verweisen, 
deren einzelne Reliefs allgemein und so auch bier 
der Zeit Khusraus II. zugeschrieben werden. Dies 
kann allenfalls für die Reliefs der Rückwand gelten, 
während die beiden Jagdreliefe und der Schmuck 
der Stirnwände in ihrer Auffassung schwerlich 
bloß durch die Anteilnahme verschiedener Hände 


307 


erklärt werden können. Bei den folgenden Gruppen 
der Seidenstoffe und vor allem der Silbergefäße 
ist die typische Auswahl der zum großen Teil 
in dem nicht leicht erreichbaren russischen Tafel- 
werke von Smirnoff veröffentlichten und einiger 
noch unbekannter Stücke besonders zu danken. 
Gerade hier lassen aber die sehr vorsichtig ab- 
gefaßten Datierungen und Zuschreibungen er- 
kennen, wie sehr wir noch im Dunkel tappen, 
um so mehr mag aber der hier übersichtlich zu- 
sammengestelite reichhaltige Formenschatz auch 
den Fachmann anregen, diesen Dingen von for- 
maler Seite an den Leib zu rücken; denn die 
wenigen ikonographischen Anhaltspunkte, wie die 
Formen des Kronschmuckes, erweisen sich bei 
der anzunehmenden oftmaligen Wiederholung der 
Typen in verschiedenen Zeiten und Lokalen ge- 
rade hier von sehr bedingtem Wert. — Bei dem 
Zweck dieser Serie wäre wohl überhaupt ein stär- 
keres Eingehen des Textes auf die rein künstle- 
rischen Eigenwerte des vorgeführten Materials 
für viele wünschenswert und für solche, denen 
die Fremdartigkeit dieser Kunsterzeugnisse das 
künstlerische Einfühlen erschwert, notwendig ge- 
wesen. Gleichwohl mußte die rein sachliche Art 
der Vorführung und die Beschränkung auf die 
bisherigen feststellenden Ergebnisse in diesem 
Falle von Vorteil sein, da ja zur Erreichung eines 
Überblickes auch manches künstlerisch weniger 
hervorragendes Werk von Bedeutung sein mußte. 

H. Glück. 


ERNST KÜHNEL, Miniaturmalerei 
im islamischen Orient. Mit 154 Ta- 
feln und 5 Textabbild. Bruno Cassirer 
Verlag, Berlin 1922. 

In diesem 7. Bande der Serie „Die Kunst des 
Ostens“ kommt ein in seiner künstlerischen Stel- 
lung sowie in seiner historischen Bedeutung als 
Mittelglied zwischen ostasiatischer und europäi- 
scher Kunst noch viel zu wenig gewürdigtes Ge- 
biet zur Behandlung. Eben darum ist auch bei 
diesem, wie bei den vorhergehenden Bänden dieser 


Folge die übersichtliche Zusammenstellung des. 


Stoffes als eine Anregung für weitere Kreise und 
als eine handliche Übersicht für den Fachmann 
zu begrüßen. Die wichtigste Literatur ist bereits 
im Vorworte angeführt. Ihr, vor allem den großen 
Sammelwerken von Martin, Marteau und Véver, 
Coomaraswamy, Schulz und dem Münchner Aus- 
stellungswerke, sind auch die meisten Abbildungen 
entnommen, da die Absicht, möglichst viel un- 
veröffentlichtes Material zu bringen, fernlag. Bei 


308 


dieser Gelegenheit mag darauf verwiesen werden, 
daß eine Veröffentlichung des reichen Materials 
an etwa 250 indischen Miniaturen, die auf 60 Ta- 
feln der Wandverkleidung des Millionenzimmers 
in Schönbrunn vereinigt sind, demnächst durch 
das Wiener kunsthistorische Institut erfolgen wird, 
und damit die von dem Autor beklagte verhältnis- 
mäßige Armut der deutschen Sammlungen an 
solchen Originalen von Österreichischer Seite 
einigermaßen wettgemacht wird. 

Der einleitende Text des vorliegenden Buches 
bringt zunächst eine allgemeine Einstellung der 
islamischen Miniaturenmalerei, ausgehend von der 
Erörterung des Bilderverbotes und von dem Ver- 
hältnis der Buchmalerei zu der hier nicht ein- 
bezogenen Kalligraphie und Arabeskenverzierung. 
Es folgt eine Übersicht über die zumeist illustrier- 
ten literarischen Stoffe, über Technik, Bilderhand- 
schriften und Einzelblätter, über einige für den 
Europäer fremdartige Einzelheiten und über die 
das kultarelle Leben der Zeit widerspiegeinden 
Darstellungsgegenstände. In einem zweiten Ab- 
schnitt ist ein kurzer übersichtlicher Abriß über 
„Meister, Schulen und Werke“ gegeben. Erst 
mit dem 13. Jahrhundert beginnt das erhaltene 
Denkmilermaterial, was die vorhergehende Zeit 
anlangt, ist mit Recht auf die Bedeutung der 
Manichäer und Nestorianer für die Anfänge der 
Miniaturenkunst und auf die Möglichkeit des Ein- 
wirkens zoroastrischer Überlieferung hingewiesen. 
Es folgt dann die Charakterisierung der einzelnen 
Schulen mit ihren Meistern und zwar die persi- 
schen und mongolischen Schulen in Bagdad, Sa- 
markand, Herat (mit Bebzäd und Aga Mirek und 
ihren Nachfolgern), Buchara und die letzte Blüte 
unter Schah Abbäs, bei der eine Übersicht über 
das Rizä-Problem gegeben wird. Nach einem 
kurzen Abschnitt über die türkischen Miniaturen 
wird schließlich ausführlicher die Miniaturmalerei 
unter den Moghulkaisern in Indien und die der 
Radjput-Schulen behandelt. Am Schluß des Textes 
geben Erläuterungen zu den Abbildungen die 
nötigen sachlichen Anhaltspunkte. — Die vielen 
entwicklungsgeschichtlichen Fragen, die sich bei 
der Behandlung dieses Stoffes ergeben, zu lösen, 
war in diesem Buche nicht die Aufgabe. Die 
hobe künstlerische Bedeutung dieser Miniaturen 
dem Leser näher zu bringen, wurde einigermaßen 
in dem Sinne versucht, daß einige dem Europäer 
ungewohnte gegenständliche, gestaltliche und for- 
male Elemente erklärt wurden. Ein tleferes Bin- 
dringen in die künstlerischen Wesenswerte wire 
erwünscht gewesen. Freilich stebt man da vor 
der Frage, was angesichts des Hauptzweckes 


dieser Bücher vorzuziehen sei: Die künstlerische 
Auswahl der Bilder für sich sprechen zu lassen 
und den Text nur aufdie rein sachlichen Angaben 
zu beschränken, oder dem Leser das Einfühlen 
in die Fremdartigkeit dieser Werke durch die 
textliche Herausarbeitung ihres künstlerischen 
Wesens zu erleichtern. H. Glück. 


OTTO HOVER, Kultbauten desIslam. 
gr. 8°. 16 Seiten Text, 62 ganzseitige Abb. 
Wilhelm Goldmann Verlag, Leipzig 1922. 


Eines der heute beliebten Abbildungsbücher 
die im wesentlichen auf Anschauungsmaterial ein- 
gestellt sind und textlich in kurzem Abriß eine 
größere Allgemeinheit informieren sollen. Was 
zunächst das letztere anlangt, so darf die bei der 
Fülle des Stoffes nicht leicht zu lösende Aufgabe 
nach dem heutigen Stande als gelungen gelten. 
Das persönliche, erlebnismäßige Erfassen des Ma- 
terials geht mit der Sachlichkeit der Vorführung 
und einer möglichst objektiven künstlerischen 
Wertung glücklich Hand in Hand und vermeidet 
das bei solchen Büchern vielfach unterlaufende 
Verfallen in das eine oder andere Extrem. Nach 
einer stimmungsmäßigen Einführung wird ein 
Bild der sozialen, politischen und ethnischen Welt 
des Islam entrollt, wobei mit gutem Recht von 
der geläufigen Art abgegangen wird, den einen 
oder anderen Volksstrom als den entscheidenden 
in den Vordergrund zu stellen oder die voran- 
gegangenen Kulturen womöglich allein für die 
islamische Entwicklung verantwortlich zu machen. 
Vielmehr wird das von Arabern und Turko-Mon- 
golen getragene Nomaden- und Eroberertum bei 
voller Einschätzung hellenistischer und iranischer 
Kulturüberlieferung als für die ganze islamische 
Welt entscheidend erkannt. Dies kommt auch in 
dem Abschnitte „Bautypen und Baugeist“ zum 
Ausdruck, wobei immer wieder weitere Ausblicke, 
die auch Außerisiamisches teils als geistig Ver- 
wandtes, teils als charakterisierendes Vergleichs- 
moment heranziehen, das Bild nicht nur für sich, 
sondern auch in seiner Stellung zum großen 
Ganzen des Kunstgeschehens vorteilhaft zu er- 
fassen suchen. Für die im Islam verwendeten 
baulichen Hauptglieder wie Kuppel und Tonne 
wurde freilich — den bisherigen wissenschaft- 
lichen Ableitungen entsprechend — den verein- 
zeiten iranisch-byzantinischen Großleistungen der 
vorislamischen Zeit eine größere vorbildliche Be- 
deutung zugeschrieben, als dies bei stärkerer 
Berücksichtigung der einleitend vom Autor selbst 
erkannten großen Bedeutung des Volkstümlichen 


hätte der Fall sein müssen. Nährten sich doch 
bereits diese vorislamischen Prunkbauten aus der- 
selben volkstümlichen Quelle, aus der später auch 
der Islam, ohne jener Großleistungen sonderlich 
zu bedürfen, seine Typen monumentalisiert hat, 
und versagt doch eine derartige Ableitung aus 
spätantiker Großkunst auch bei dem dritten her- 
vorgebobenen Wesensmotiv, dem Hufeisenbogen. 
Ähnlich mußte sich der Verfasser später begnügen 
bei Besprechung des Minarets objektiv auf die 
bisher geläufigen Ableitungen von antiken Vor- 
bildern hinzuweisen, obwohl auch hier volkstüm- 
lich Iranisches zugrunde zu liegen scheint. In 
einem Büchlein wie dem vorliegenden ist freilich 
nicht der Ort, Forschungen zu geben, sondern 
Forschungsergebnisse auszuwerten; und so ist 
diesbezüglich auch dem Autor kein Vorwurf zu 
machen, da hier die Wissenschaft erst begonnen 
hat, das Terrain abzustecken (Strzygowski). Besser 
konnte sich der Verfasser mit der Zuteilung spät- 
antiker Vorbildlichkeit und volklich begründeten 
Eigenwesens zurechtfinden, wo er bei Besprechung 
der Säulen- und Pfeilermoschee nicht in der Über- 
nahme der antikisierenden Glieder, sondern in 
der besonderen Art der Raumgestaltung und An- 
ordnung das Wesentliche sieht. Hier zeigt ge- 
rade das negative Verhalten der früheren islami- 
schen Bauten zur Durchbildung eines Innen- 
raumes, wie gerade der Anfang der spätsntiken 
Wesenheit fernstand. Um so deutlicher hebt der 
Verfasser andere Wesenheiten (Steigerung der 
Zahl, reihende Ordnung, Innenhof, konstruktives 
und ornamentales Denken) als positive Leistungen 
des volkstümlichen Geistes hervor, die ihn wieder 
zu Arabern und Persern als den Trägern zurück- 
führen, um schließlich auch den Türken. (Sel- 
schuken und Osmanen) vor allem in ihrer raum- 
künstlerischen Begabung ihren Anteil gleichsam 
als Vollender einer in sich bestimmten Entwick- 
lung zu gewähren. Als Generalnenner des morgen- 
ländischen Bauens überhaupt spricht der Verfasser 
schließlich im wesentlichen das Streben nach Ent- 
körperlichung an, wo Kunstschöpferisches und 
Religiöses auf einer höchsten Ebene zur Einheit 
gebracht sind. 

Im Abbildungsteil scheint das Hauptaugenmerk 
bei der Auswahl auf die kubisch wirkenden Bauten 
gewendet worden zu sein, so daß das Türkische, 
Turko- Persische und Indische im Vordergrund 
steht. Mag dies auch einem einheitlichen Ein- 
druck entgegenkommen, so daß man 3. B. das 
überladen Zierliche der Alhambra nicht vermißt, 
so hätte doch das Monumentale des freiräumigen 
Hofes, wie es in der Ibn Tulun Moschee in Kairo 


309 


und in persischen Medresenanlagen zum Ausdruck 
kommt, zur Anschauung gebracht werden können 
Kairo scheint überhaupt stiefmütterlich behandelt, 
abgesehen von der irrtümlichen Beschriftung von 
Tafel 29 (Mamelukenbauten, nicht Gijuschi !) und 
Tatel 35 (die Grabmoschee Barkuk ist hier nicht 
sichtbar). Für das Fehlen anderer islamischer 
Städte mit bedeutenden Bauten, die sehr gut in 
diesen Rahmen gepaßt hätten (ich denke vor allem 
an Aleppo), ist dem Verfasser schwerlich ein Vor- 
wurf zu machen, sind doch davon wenig Abbil- 
dungen zur Hand und ist doch die islamische 
Kunstforschung gerade in den näher erreichbaren, 
vormals hellenistischen Gebieten vor der klassi- 
schen und christlichen Archäologie immer zurück- 
gestanden. H. Glück. 


ALFRED SALMONY, Europa -— Ost- 
asien, religiöse Skulpturen. Mit 44 
Abbildungen, 82 S. Gustav Kiepenheuer 
Verlag, Potsdam 1922. 


Ein Versuch in vergleichender Kunstwissenschaft. 
Die künstlerische Entwicklung der romanischen 
Plastik des 11. und 12. Jahrhunderts wird in Par- 
allele gestellt zu der der ostasiatischen Plastik 
von der Hanzeit bis zum Ende des 7. Jahrhunderts, 
Der Vergleich ist in feinsinniger Weise durch- 
geführt und sucht die gleichlautende Gesetzlich- 
keit des künstlerischen Geschehens unter voller 
Bewußtheit der Verschiedenheit der beiden Wesen- 
heiten West und Ost zu erfassen. Das Ergebnis 
ist die Aufstellung zweier Linien, die in den beiden 
verschiedenen Zeiträumen und Lokalen gleicher- 
weise den Weg „von einer rein jenseitigen Kon- 
zeption der Gottesvorstellung zu einer mensch- 
lich zugänglichen Darstellung“ aufzeigen. Aus 
der religiösen, in linearem Fiachstil sich äußern- 
den Gebundenheit der Form wird zu einer peor- 
sönlicheren plastischen Gelöstheit übergegangen. 
So wird der Folge: Hanreliefs, Yün kang, Long 
men und Votivstelen mit dem Höhepunkte der 
Toribusshi-Trinitit eine Folge wie: Relief von 
St. Genis in Fontaines (1020), Grabmal des Abtes 
Durand in Moiseac (1106), Tympanon von St. Aven- 
tin mit dem Kulminationspunkt des Christus von 
St. Sternin zu Toulouse gegenübergestellt. Dieser 
vorbereitenden Entwicklung folgt dann die „Reife“ 
einerseits in den Meisterwerken der Sui-Zeit 
(590—618), andererseits in den Portal- Skulpturen 
von Moissae mit ihren Auswirkungen. Ein „Aus- 
breitung“ betiteltes Kapitel bringt dann die Gegen- 
überstellung des Ausklingens der beiden Ent- 
wicklungen, in dem die große formale Spannung 


310 


der Reife susammenbricht: in China der spite 
Suistil (Yakushiji-Trinität), im Westen vor allem 
St. Giles und St. Trophine zu Arles, die damit 
nicht — wie bisher — als ein Anfang, sondern 
als ein Abklang elner Entwicklung erscheinen. 
Chartres nimmt dann im Norden eine neue Linie 
auf. Als die verschiedenen Wesenheiten dieser 
beiden Entwicklungslinien erscheinen hinter den 
verwandten Zügen einerseits Anspannung und 
Ringen um Gott im Westen, andererseits Ruhe 
und Einklang mit allem Dasein im Osten. 

Das Ergebnis dieser Betrachtung ist also die 
Aufstellung einer entwicklungsgeschichtlichen Par- 
allele zwischen Ostasien und Europa, wie sie 
seinerzeit auch an der altchinesischen Ornamentik 
im Vergleich mit der europäischen Völkerwande- 
rungsornamentik durch Hörschelmann aufzuzeigen 
versucht wurde. Trotz der Übereinstimmungen 
betont der Verfasser hier freilich mit Recht, daß 
die Vergleichung des Kunstinhaltes nur zur Er- 
kenntnis völliger Andersartigkeit führen kann, 
daß das Verstehen eines Kulturerdteils aus den 
Voraussetzungen des anderen unmöglich sei, denn 
jedem wobne ein eigenes Lebens- und Wachs- 
tumsgesetz inne. Wenn nun hier aber doch in- 
haltlich und formal eine gleichartige Gesetzlich- 
keit in West und Ost festgestellt wurde und diese 
Gleichartigkeit den Gegenstand des Buches bildet, 
so frägt der Leser doch am Ende: wozu diese 
Paralleistellung? Daß hier noch Antworten aus- 
ständig sind, das scheint ja der Verfasser selbst 
gefühlt zu haben, wenn er am Schlusse gleich- 
sam geltend macht, daß der Vergleich das Ver- 
ständnis des Fremden, aber auch des Eigenen, 
bisher wenig Geschätzten, erleichtert. Sicherlich! 
Aber sicherlich ist sich der Verfasser auch be- 
wußt, daß wir nicht erst Ostasien brauchten, um 
das Romanische zu erleben, und nicht das Roma- 
nische, um Ostasien zu erleben. Was nun in 
wissenschafilichem Sinne an dem Buche nicht 
befriedigt, ist: daß hier ein Problem sehr fein- 
sinnig aufgerollt, aber in keiner Weise zu lösen 
versucht wird. Bei Hörschelmann standen seiner- 
zeit als Zweck der Gegenüberstellung die Lam- 
prechtschen Entwicklungstbeorien im Hintergrund. 
Mit solchem Zweck, wie überbaupt mit der Ur- 
frage aller Wissenschaft: „Warum?“ will aber 
ein Großteil der modernen Kunstgeschichtsschrei- 
bung nichts zu tun haben. Die Kunstwissen- 
schaftler werden immer mehr erlebende Künstler 
als erkennende Wissenschaftler. Und doch sollten 
sie beides sein, wie in keiner anderen Wissen- 
schaft! Den einen Teil hat hier auch Salmony 
besorgt, der zweite kann durch die wissenschaft- 


lichen Verweise allein nicht ersetzt werden. Wie 
wertvoll trotzdem solche Zusammenstellungen und 
auch die Vorliegende ist, wird man erst erkennen, 
wenn man nicht nur іп der dadurch ermöglichten 
objektiveren Feststellung der Wesenswerte das 
Ziel kunstwissenschaftlicher Betätigung sucht, son- 
dern diese erst als Vorarbeit der eigentlichen 
Entwicklungsfragen nimmt. Hier müßte also die 
Frage nach dem Warum der Gleichartigkeit der 
vorgeführten Erscheinungen untersucht werden, 
um so überhaupt erst su den Gesetzen der Ent- 
wicklung vorzudringen. Dann mag freilich das 
Bild eines scheinbar so klaren „Entwicklungs- 
ablaufes“, wie er in den behandelten zwei Linien 
vorzuliegen scheint, ein anderes Ansehen be- 
kommen und Schwierigkeiten, wie sie bei der 
Paralleiführung besonders des Frühromanischen 
und der Han-Tang-Entwicklung dem Verfasser 
offenbar bewußt worden sind — trotzdem die flüs- 
sige Schreibweise darüber hinweggleitet — er- 
balten vielleicht ihre Lösung. Nebenbei sei noch 
auf eine dritte, wenn auch noch nicht mit gleicher 
Voliständigkeit faßbare Entwicklungslinie in Arme- 
nien und dessen russischem Wirkungsbereiche 
hingewiesen, auf deren größte Verwandtschaft 
mit der romanischen Entwicklung bereits Strzy- 
gowski (Armenien, S. 811 ff.) aufmerksam gemacht 
hat, und die in dem Petrus und Paulus des 
Stephansklosters bei Garni eine höchst auffaliende, 
auch zeitlich nahestehende Parallele zu den gleichen 
Toraposteln in Moissac hat. Auch mit dem wel- 
teren Osten ergeben sich da seltsame Verwandt- 
schaften, Gerade diese dritte, wie ich glaube, 
in gerader Linie bis in die parthische Zeit Irans — 
also in die der Hanzeit zeitlich parallele Epoche 
Vorderasiens — zurückverfolgbare Entwicklung 
mag wohl aucb die Wege weisen, nach denen 
die von Salmony vorgeführten Übereinstimmungen 
nicht blof mit dem seheinbaren Zufall eines gleich- 
gerichteten religiösen Empfindens, sondern mit 
dem tatsächlichen Bestande großer welthistori- 
scher Zusammenhänge ihre Erklärungen finden. 
H. Glück. 


W. GROTE-HASENBALG, Der Orient- 
teppich. Seine Geschichte und seine 
Kultur. Berlin, Scarabäus-Verlag 1922. 


Unter Verweisung auf meine Anzeige des Buches, 
die in einem Heft des Cicerone 1923 erscheint, 
sollen hier einige Bemerkungen fachwissenschaft- 
licher, meist methodologischer Art folgen. 

Der Verfasser meint ein populär - wissenschaft- 
liches Buch geschrieben zu haben. Ohne in einen 


überflüssigen Streit um Worte oder Begriſſe eintreten 
zu wollen, weise ich darauf hin, daß es sutreffen- 
der heißen müßte, verfaßt von einem wissen- 
schaftlichen Dilettanten. Das scheint mir der Kern- 
punkt zu sein, daß hier jemand an die Arbeit 
gegangen ist, ohne irgendeine Schwierigkeit zu 
scheuen, durchaus im vollen Bewußtsein der 
Schwere der zu lösenden Fragen, aber mit dem 
Gefühl, Wertvolles sagen zu können, ohne das 
Handwerkszeug ganz beherrschen gelernt zu haben. 
Ich finde, das kann die Achtung vor der Leistung 
des Verfassers nur steigern und andererseits 
kann sie durch die Feststellung nicht gemindert 
werden, daß tatsächlich seine Kräfte zur Bewäl- 
tigung der Aufgabe nicht, oder ich hoffe sagen 
zu dürfen: noch nicht ausgereicht haben. Daß 
Grote manchesmal den Flug sehr hoch nimmt, 
з. В. etwa Kulturpsychologie Chinas geben will, 
ohne natürlich in der Lage zu sein, aus den 
Quellen heraus zu arbeiten, mag übergangen 
werden. Die „großen Synthesen“ sind ja jetzt 
modern. Was ich speziell im Auge habe, ist, 
daß Grote sich noch nicht genügend ausgebildet 
hat, Ornamente zu lesen, zu charakterisieren und 
zu vergleichen. Seine Art der Betrachtung ist da 
leicht noch etwas „ungefähr“, auch vom Her- 
gebrachten noch etwas bedingt, so daß seine 
frische Kraft nicht voll zur Auswirkung kommen 
kann. Als Beleg notiere ich etwa, ohne irgend- 
wie erschöpfend sein zu wollen: das Muster der 
Borte von Abb. 41 hat mit kufischen Buchstaben 
(S. 74) nichts zu tun, sondern ist ein klares 
Bandmuster mit geometrischen Formen. Zum 
Vergleich der Tafeln 21/22 mit 81/82: Die „Rosen“ 
sind einmal Gebilde, die wohl gerahmt sind, deren 
Rahmen aber zum mindesten nicht mehr Gewicht 
hat als das Innenfeld, im anderen Falle betonte 
Rahmen mit einem Füllungsmotiv — ästbetisch 
also zwei ganz verschiedene Absichten und Wir- 
kungen. Was ist (S. 93 zu Taf. 24) eine ,sara- 
zenisch (?) behandelte Palmette“ und worin be- 
steht die Ähnlichkeit mit Abb. 20a? Worin liegt 
die Gleichheit der Form der Wellenranke von 
Taf. 115 mit der auf Abb. 130 und die der Rose 
von Taf. 116 mit der Rosette des frühchinesischen 
Stoffes Abb. 127? SovielanEinzelheiten. Schwerer 
wiegt, daß Grote meines Erachtens zu keiner 
systematischen Klarheit gekommen ist, was ein 
geometrisches Muster ist und was ein vegetabiles 
in stilisierten, d. h. geometrisierten Formen (z. B. 
in der Auseinandersetzung über die Teppiche aus 
dem westlichen Kaukasus 8. 98: „die Muster sind 
.. . streng geometrisch. . ., fünf Zeilen weiter 
auf S. 99: „Daß der Zeichnung dieser Teppiche 


311 


` häufig vegetabile... Motive zugrunde liegen. . . ). 
Ebenso vermisse ich die systematische Klarheit 
bezüglich des Ansprechens von Motiven verschie- 
denster Art als Palmetten . . . Ich räume ohne 
weiteres ein, daß der Verfasser in all diesen orna- 
mentgeschichtlichen Fragen sich fast ausschließ- 
lich selbst den Weg bahnen mußte und daß ein 
riesiger Unterbau rein ornamentgeschichtlichen 
Charakters nötig gewesen wäre, sollte wirklich 
Überzeugendes erreicht werden. Es ist aber nichts 
schlimmer, als wenn der Eindruck erweckt wird, 
daß alle diese Fragen geklärt wären — wo wir 
doch in Wirklichkeit fast nur ein Fragezeichen 
an das andere reihen dürfen. Die Einstellung 
nur auf die Ornamentik der Teppiche ist auch 
prinzipiell zu eng. Nicht nur, weil es zu den 
Charakteristiken des orientalischen Kunstgewerbes 
gehört, daß seine Ornamentik vielfach keinen 
Unterschied kennt, in welcher Technik auch das 
zu Dekorierende entstehen mag, sondern es läßt sich 
schon grundsätzlich nicht eher ein Gebiet heraus- 
schälen, als bis man weiß, daß es wirklich eine 
eigene Art besitzt. Die Foigerungen übersehen 
sonst eine mögliche ergiebige Fehlerquelle. Grote 
neigt dazu, bei Gleichheit der von verschiedenen 
Stämmen verwendeten Ornamentmotive ethno- 
logische Schlüsse zu ziehen (z. B. 8.92, 96). Daß 
damit eine sehr wichtige Frage gestellt wird, ist 
unbestreitbar, nur, glaube ich, müßte sie behut- 
samer angefaßt und viel vorsichtiger beantwortet 
werden. Mit Recht hat man (M. Haberlandt) 
von einem „einheitlichen Schmuckgobiet“ ge- 
sprochen, das etwa die Länder von Zentralasien 
und Indien bis zum Balkan umfaßt, da sich die 
gleichen Formen und Verzierungen des Schmuckes 
innerhalb dieser unendlichen Länderstrecken finden. 
Wie erklärt sich das? Ich kenne keine über- 
zeugende Antwort darauf. Aber man sieht, wie 
viel komplizierter die Lage innerhalb des Gebietes 
der vorderasiatischen Volkskunst ist, als sie sich 
darstellt, wenn man ausschließlich die Teppiche 
berücksichtigt. (Daß sie noch komplizierter wird, 
wenn man Erscheinungen im Auge behält, wie 
die, daß sich etwa ein Ohrring, der prinzipiell 
dem gleichen Kreise angehört, in Sardinien findet 
(Ch. Holme, Peasant Art in Italy, Abb. 238), muß 
wenigstens erwähnt werden, um zu zeigen, welch 
Maß von Vorsicht bei der Bewertung der Er- 
scheinungen erforderlich wäre.) Sicher hat Grote 
recht, daß er wiederholt betont, welch präzise, 
Örtliche Ursprungsbestimmung Material, Farbe und 
Technik manchmal gestatten, aber meine Über- 
zeugung, daß die tiefsten Aufschlüsse aus der 
Ornamentik zu holen wären, wird erst zunichte 


312 


werden, wenn nicht „die Muster“ zu schweigen 
scheinen, sondern die stilistisch begriffenen Orna- 
mente tatsächlich schweigen. 


Mit Ausnahme der doch wohl nicht so voll- 
kommen zu übergehenden russischen Literatur 
über die Kaukasusteppiche ist die wesentliche 
Teppichliteratur berücksichtigt, für die Vorge- 
schichte die Wichtigkeit der Funde aus Ostturke- 
stan erkannt. Literatur ist merkwürdigerweise für 
diese wichtige Erweiterung unserer Kenntnisse 
nicht angegeben (S. 67). Zu nennen wäre doch 
wohl Strzygowski, Altai-Iran gewesen, da dem 
Verfasser, obwohl das Vorwort vom Februar 1922 
datiert ist, die im Sommer 1921 erschienenen Auf- 
sitze von mir (Kunst und Kunsthandwerk XXIV, 
S. 16 ff. nach einem von mir im Winter 1919 vor 
der Münchener Anthropologischen Gesellschaft ge- 
haltenen Vortrage) und von Sarre (Berliner Museen 
XLII, S. 110 ff.) unbekannt geblieben sind. Somit 
erübrigt sich ein weiteres Eingeben auf Kapitel XI: 
Zur Vorgeschichte des Knüpfteppichs. Wie sich 
mir die Dinge darstellen, habe ich im genannten 
Aufsatze und ergänzend oben in der Besprechung des 
Bode-Kühnelschen Buches angedeutet. Durchaus 
neu zu schreiben ist meines Erachtens dann das, 
was über die Frühgeschichte des chinesischen 
Teppichs gesagt wird (S. 190, 197 f.). Ich glaube, 
daß die wichtigste Frage, die die Funde in Tur- 
kestan für unser Gebiet stellen, die nach ihrem 
Verhältnis zu China und überhaupt Ostasien ist. 
Über frühe Teppiche von dort und ihre Technik 
weiß man bis heute, soweit ich sehen kann, nichts. 
Dabei sind vier Exemplare im Shosoin-Tompel 
erhalten (Toyei Shuko II, Taf. 103—106. Reis- 
müller wies in der meinem Vortrage folgenden 
Diskussion auf sie hin). Ich babe trotz jahrelanger 
Bemühungen bisher über ihre Technik nichts er- 
fahren können und vermag daher nicht zu sagen, 
ob sie geknüpft sind oder nicht. jedenfalls bat 
man nach den Turfanfunden kein Recht mehr 
zu der beweisiosen Behauptung, daß die Knüpf- 
technik erst unter der Mongolenbherrschaft nach 
China kam. Man muß heute vielmebr umgekehrt 
sagen, es ist noch durch nichts bewiesen, daß 
sie keine alte einheimische Technik ist. Eine Vor- 
stellung der sehr reichen chinesischen oder ost- 
asistischen Teppichproduktion können wir ge- 
winnen, wenn man die Bilder befragt!). Ich habe 
die Hefte der Kokka durchgesehen, soweit sio 
mir zugänglich waren und glaube danach, daß 
es unumgänglich ist, das ostasiatische Material 
in weitestem Umfange durchzuarbeiten und heran- 
zuziehen, Ich will und kann dieser Abeit hier 
(1) Ich bin Herrn A. Bachhofer für Hilfe su Dank verpflichtet. 


nicht leisten. Erwähnen will ich nur, daß sich 
sehr bald der Eindruck ergibt, daß im 13. und 
14. Jahrhundert die Produktion ornamental be- 
sonders reich war und daß sich unschwer die 
Vorbilder für die kleinasiatischen Tierteppiche 
vorstellen lassen (Heft 78, Tafel I, то I). Zwei 
Bilder des 14. Jahrhunderts will ich nennen, 
weil sie für das Verständnis der Frübgeschichte 
des Teppichs wichtig sind: 49I zeigt auf vier 
Teppichen die inneren Eckfüllungen, wie sie sich 
auf einem Teppiche eines Wandbildes, eines 
Tempels in Bäzäklik (Le Coq, Chotscho, Taf. 27) 
finden, und die der Erklärung bisher so viele 
Schwierigkeiten machten; es handelt sich einfach 
um eine besondere Eckbetonung jeweils in gleicher 
Ausgestaltung wie die Einfassung (damit fällt 
auch die kuriose Sarresche Interpretation einer 
Applikationsnaht von selbst); auf 1611 ist ein 
Teppich mit Lappenranke wiedergegeben, wie 
wir ihn von den Turfanfunden her kennen, nur 
bereichert durch große Blüten. — 

Ich hoffe, daß man mir keinen Vorwurf daraus 
ableitet, daß ich an das Buch einen sehr hohen 
Maßstab angelegt habe, denn ich halte dafür, daß 
man dem Streben des Verfassers diese Ehre 
schuldig ist. Das Buch verdient es, daß man es 
ernst nimmt. Ich glaube aber andererseits nicht, 
daß man dem Verfasser einen Gefallen erweist, 
wenn man ihm nicht sagt, wo und was zu bessern 
ist; ich wollte jedenfalls meinerseits ihm den Weg 
dazu zeigen, auf dem eine neue Auflage dem Ziel 
niherkommen kann, dem der Verfasser mit soviel 
Eifer nachgestrebt hat — das Erreichen steht ja 
niemals in Menschenhand. 

Eine Einzelheit möchte ich zum Schluß noch 
berichtigen, weil sie hie und da in der Teppich- 
literatur auftaucht: der große Wiener Jagdteppich 
ist nicht „tadellos erhalten“, sondern die schwarzen 
Seidenfäden sind ausgefallen; die Originalwirkung 
muß wesentlich fleckiger gewesen sein als sie 
heute erscheint. К. Berliner. 


W. v.BODE und E. KÜHNEL, Vorder- 
asiatische Knüpfteppiche aus älte- 
rer Zeit. (Monographien des Kunst. 
gewerbes.) Dritte verb. u. verm. Auflage. 
Klinkhardt & Biermann, Leipzig. 

Dieses Buch, das unter die Meisterleistungen 
der deutschen Kunstwissenschaft zu rechnen ist, 
hat seinen Charakter mit Zähigkeit bewahrt. Das 
bedeutet, daß es, entstanden einst als Zusammen- 
fassung der Ergebnisse eines ebenso kühnen wie 
klugen und vorsichtigen Vorstoßes in unerforsch- 


Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1922, 10 13. 21 


tes Gebiet, nicht weiter der Schrittmacber der 
Forschung geblieben ist, sondern zum Gradmesser 
dessen, was eigene und die mit kritischer Über- 
legenheit betrachtete fremde Weiterarbeit als 
einigermaßen sichere Ergebnisse erarbeitet haben. 
Das hat den großen Vorteil, daß alles Gewagte, 
jeder voreilige Schluß vermieden scheint, hat den 
Nachteil, daß der Leser wohl durch die öfter 
wiederholte Skepsis und Betonung unseres Nicht- 
wissens zu hören bekommt, wie wenig wir eigent- 
lich bestimmt wissen, daß ihm aber nicht gesagt 
wird, welches die Probleme nun eigentlich sind, 
die wir gegenwärig als besonders brennend 
empfinden. Das Festhalten am einmaligen Wesen 
des Buches drückt sich auch in der Verachtung 
jener Erkenntnisquellen aus, die schon ursprüng- 
lich vernachlässigt waren (ich denke vor allem 
an die islamischen Miniaturen) und deren Er- 
giebigkeit meines Erachtens nur zum eigenen 
Nachteil ungenützt bleiben kann. So charakte- 
ristisch für Bode die aus seinem Wissensschatze 
wie mühelos zusammengestellten Listen mit Nach- 
weisungen des Vorkommens bestimmter Arten 
Teppichen auf europäischen Gemälden sind, sie 
machen das Ubersehen der islamischen nur um 
so fühlbarer. Sachlich hat es meines Erachtens 
das Ergebnis, daß unter den Tisch fällt, was wir 
ihnen über die persischen Teppiche des 14. und 
15. Jahrhunderts entnehmen können, die im herr- 
schenden Typ durchaus das Festbalten an den 
Mustern der antiken Fußbodendekoration zeigen. 
Die in den beiden ersten Abschnitten behandelten 
Teppiche verraten einen scharfen Bruch mit dieser 
Tradition. Bei dem konservativen Beharren aller 
Textilproduktionen am Hergebrachten bedarf er 
der Erklärung. Sie scheint durch die chinesischen 
Motive, die gleichzeitig auftreten, nahezuliegen. 
Bode-Kühnel ssgen nicht, auf welchem Wege 
sie sich bei der Teppichproduktion den Einfluß 
Chinas wirksam werdend denken. Ich will die 
Frage hier einmal formulieren: Haben wir mit 
Zeichnern zu rechnen, die in China oder an Chine- 
sischem geschult waren oder lagen unmittelbare 
chinesische Vorbilder vor? 

Für Bode-Kühnel stellt sich der Bruch der Tra- 
dition allerdings in keiner Schärfe dar, denn sie 
unterbauen die „eigentlich persische Fabrikation“ 
des 16. Jahrhunderts, wie schon erwähnt, nicht 
mit der der vorangehenden Jahrhunderte, sondern 
mit der der „nordwestlichen armenischen und 
kaukasischen Grenzgebiete“ des 15. Jahrhunderte, 
also durch die „sogenannten armenischen“ Tep- 
piche. Ich halte diesen Abschnitt für den wenigst 
geglückten des ganzen Buches, Eigentlich ist 


313 


gar nicht „Armenien“ gemeint, sondern das „nord- 
westpersische Grenzland“ (S. 34); aber doch wie- 
der das Armenien, das ,nicht nur kulturell, son- 
dern auch politisch wiederholt eng mit Persien 
verbunden war“ (S. 32). Durch so etwas verrit 
sich- schon, daß die Verfasser sich unsicher auf 
ihrem Boden fühlen. Zwei Fragen wären meines 
Erachtens zu klären, ehe man sich dieser Form 
der armenischen Hypothese bediente: warum 
zeigen diese Teppiche in gleichem Grade den 
chinesischen Einfluß, wie die persischen Kunst- 
teppiche, wo doch nach allem, was wir bisher 
von ihr wissen, die armenische Kunst bar jeden 
ostasiatischen Einflusses ist? Und wieso fallen diese 
Teppiche in den Bereich der islamischen Kunst, 
wo doch die übrigen armenischen Erzeugnisse in 
den der byzantinischen gehören? Ich glaube, 
hier hilft kein Mundspitzen, es muß gepfiffen 
werden: entweder armenisch, dann byzantinisch 
— oder islamisch, dann nicht armenisch. Ich 
halte auch die Datierung der frühen Stücke vor 
die der entsprechenden persischen für zu frühe. 
Die Tierteppiche zeigen ein so kompliziertes Spitz- 
ovalschema, daß ich nicht weiß, was man aus 
irgendeinem Gebiete als gleich frühe Analoga an- 
führen könnte, Der Vasenteppich des ottomani- 
schen Museums in Konstantinopel mit seinem 
schlichten Schema spricht meines Erachtens nicht 
für Bode- Kühnel. Der Hinweis auf ihn bestätigt 
aber meine Überzeugung von der Gefahr des Aus- 
gehens der Betrachtung vom Inhalt des Orna- 
mentes, man tut dann zu leicht den Möglichkeiten 
der Ornamententwicklung Gewalt an; wie ich auch 
überzeugt bin, daß eine wirklich vom Detail des Or- 
namentes ausgehende Bearbeitung der Teppiche 
manche uns heute unlösbar scheinende Rätsel lösen 
wird. 

Die nächst frühere Entwicklungsstufe des Knüpf- 
teppichs sehen Bode-Kühnel in den mit einiger 
Sicherheit nach Kleinasien lokalisierten Teppichen 
mit Tieren, Dieser ging voran eine durch die 
bekannten, in Konia erhaltenen Beispiele belegte: 
die „Vertreter des ältesten Dekorationsprinzipes 
der ganzen Knüpftechnik“ (scil. wenn man von 
Turkestan absieht). Leider ist die Geradlinigkeit 
der Entwicklung auf einem Irrtum aufgebaut: Marco 
Polo spricht ausdrücklich von Griechen und Ar- 
meniern als den Herstellern der berühmten Tep- 
piche. Und darin liegt das Hauptproblem: wieweit 
entwickelt sich der Knüpfteppich Kleinasiens stili- 
stisch aus einer vortürkischen heimischen, also 
byzantinischen Produktion, die nur die Technik 
wechselte? Heute glaube ich, daß diese Frage 
nicht nur gestellt, sondern auch positiv beant- 


314 


wortet werden kann und muß. Beweis: die Muste- 
rung des Innenfeldes von zweien der Teppiche 
aus der Moschee Ala ed-din zu Konia (Abb. 60, бт). 
Ihre falsche Deutung durch Sarre (Kunst und 
Kunsthandwerk X, S. sogf., Seldschukische Klein- 
kunst, Leipzig 1909, 8. 51£.) scheint der richtigen 
Erkenntnis im Wege gestanden zu haben. Betont 
wird seitdem ihr geometrisches Ornament, als ob — 
selbst wenn es vorhanden wäre — damit das 
Wesentliche gesagt wäre; die Hauptfrage muß 
doch die sein, ist das Ornament islamisch? Für 
beide verneine ich die Frage. Das Muster von 
Abb. 61 ist eine aus der Technik leicht zu er- 
klärende Vereinfachung eines bekannten Füllungs- 
motives so kleiner Kompartimente auf byzantini- 
schen Stoffen: kleine Palmetten reziprok verbunden 
mit dem (älteren) Herzmotiv (O. v. Falke, Seiden- 
weberei 1. Abb. 249; Lessing: Gewebesammlung, 
Taf, 55d). Islamisches wüßte ich dem nichts an- 
zureihen, während das Motiv auch der byzanti- 
nischen Handschriftenillustration geläufig ist. Für 
den, der byzantinische Ornamente kennt, ist auch 
das Motiv der Abb. 60 schlagend byzantinisch: 
Rauten mit gestielten Palmettenzweigen; die Be- 
rührungspunkte der Rauten durchsetzt mit einem 
Herzornament. Diese letztere Einzelheit kann ich 
bisher anderweitig nicht belegen, sie fügt sich 
aber der sonst nachzuweisenden Belebung des 
Rautenmusters seit dem 11. Jahrhundert ein, an- 
dererseits entspricht ihre Verwendung abgekürzt 
den kleinen herzmustergefüllten Kreisen an den 
Berührungspunkten der großmotivigen Stoffe. Ur- 
byzantinisch, meines Wissens im Islamischen 
nicht nachzuweisen, ist der gestielte Palmetten- 
zweig. Auf die byzantinische Grundlage des 
Rahmenornamentes brauche ich jetzt nicht ein- 
zugehen (vorhanden ist sie meines Erachtens), denn 
der erfolgte Anschluß an Islamisches ist einleuch- 
tend. Im ganzen ergibt sich mir also das Bild 
einer Produktion für fremde Bedürfnisse, wie wir 
sie uns nach Marco Polos Bericht vorstellen 
müssen; in den Koniateppichen sind meines Er- 
achtens Reste verschiedener Stadien des Über- 
gangs vom Alten ins Neue erhalten. Ich sehe 
ornamental keinen Grund, der zwingen würde, 
selbst das тз. Jahrhundert als Entstehungszeit der 
beiden besprochenen Beispiele auszuschließen. 
Aber die Frage ihrer Datierung ist nicht die wich- 
tigste; sondern, wenn meine Analyse richtig ist 
und sie noch stärker byzantinisch als islamisch 
sind, muß man dann nicht wirklich annehmen, 
daß zwei verschiedene Stämme zum heutigen vor- 
derasiatischen Knüpfteppich zusammengewachsen 
sind, eben ein byzantinischer und ein islamischer? 


Den Wert des Buches können diese Einwen- 
dungen nicht herabsetzen. Es hätte, wie eingangs 
erwähnt, seinen ganzen Charakter verändern, es 
hätte großenteils neu ausgearbeitet werden müssen, 
wollte man von den von mir erörterten Gesichts- 
punkten aus über die Frage schreiben. So etwas 
kann kein billig Denkender von der Bearbeitung 
einer neuen Auflage eines Handbuches fordern. 
Dessen Zweck: übersichtliche Orientierung über 
den Bestand und vorsichtig zurückhaltende Dar- 
legung der für die Verfasser im Augenblick ein- 
leuchtendsten Bearbeitungstheorien ist voll erfüllt. 
Auch wo man nicht ganz zustimmt, wird man 
sich nicht dem Eindruck entziehen können, den 
so ruhig-sicher, dabei immer etwas akeptisch 
vorgetragene Meinungen solch sachverständiger 
Männer erzeugen müssen. R. Berliner. 


(Nachschrift:) Nach der Drucklegung verwies mich 
E. Gratzl auf den Aufsatz über armenische Teppiche von 
A. З. in Revue des études arméniennes І. (1920), S. 121 ff. 
Er scheint mir nichts wesentliches Neues zu enthalten, 
wohl aber den Beweis für die Richtigkeit meiner These 
über die vorisiamische Teppichproduktion im Bereiche der 
byzantinischen Kultur wenigstens für den Osten ihrer geo- 
graphischen Basis, eben Armenien. Bei seiner Verbindung 
mit Persien ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihm die 
Rolle des Vermittlers bei der Wanderung der Teppich- 
produktion nach Westen sufiel. 


KARL ANTON NEUGEBAUER, Antike 
Bronzestatuetten. Mit 8 Text- und 
67 Tafelbildern. Bd. I der Serie „Kunst 
und Kultur“. Berlin, Schoetz & Parrhy- 
sius 1921. 

Eine zusammenfassende Behandlung der antiken 
Kleinplastik hat bisher gefehlt. Um so verdienst- 
licher ist der Versuch, diese Lücke auszufüllen, 
besonders da unter den Statuetten genügend Ar- 
beiten von einer Qualität erhalten sind, die der 
Kunst des Altertums auch unter Fernerstehenden 
neue Bewunderer und Freunde werben können. 
Eine kurze und doch erschöpfende Übersicht in 
Bild und Wort zu bieten, ist keine leichte Auf- 
gabe, und man muß dem Verlage dankbar sein, 
nicht nur für die gute Ausstattung bei verhältnis 
mäßig billigem Preise, sondern vor allem dafür 
daß er sich einen sachkundigen und gewissen- 
haften Bearbeiter gesichert hat. Denn das ist 
heutzutage bekanntlich alles andere als selbst- 
verständlich, besonders bei Kunstbüchern, die sich 
an ein größeres Publikum wenden. jeder Leser 
wird den Eindruck erhalten, daß der Verfasser 
bei der Auswahl der Bilder wie bei der Durch- 
arbeitung des begleitenden Textes mit überlegte- 
ster Gründlichkeit und Sorgfalt verfahren ist, und 
wo man im einzelnen als Beschauer oder Leser 
anderer Meinung ist, wird man immer gern an- 


erkennen, daß dem Verfasser die Lösung seiner 
schwierigen Aufgabe als Ganzes aufs erfreulichste 
gelungen ist. Allerdings geht seine Gewissen- 
haftigkeit bei der Gestaltung des Textes gelegent- 
lich etwas zu weit. Denn gerade dem vorurteils- 
losen, archäologisch nicht geschulten Leser wäre 
oft mit kurzen, übersichtlich geordneten Angaben 
mehr gedient, die ihm als Vorbereitung für die 
Bilder dienen könnten, als mit ausführlichen Be- 
gründungen der kunstgeschichtlichen Einordnung. 
Im Interesse des Laien wäre es übrigens er- 
wünscht gewesen, daß die Tafeln Datierungs- 
vermerke trügen, die ein fortwährendes Zurück- 
blättern in den Text erübrigt haben würden. 

Als Einführung hat der Verfasser einen Über- 
blick über das plastische Schaffen der Steinzeit 
gegeben, eine Bereicherung des Stoffgebiets, über 
deren Berechtigung sich streiten läßt, zumal da 
sie eine der 36 Bildtafeln beansprucht. Die Kunst 
der vorgriechischen Kultur im ägäischen Gebiet 
ist ebenfalls breit behandelt. Es fragt sich, ob 
dem großen Publikum hier nicht zuviel Gleich- 
artiges geboten wird. Neben der Betenden des 
Berliner Antiquarium als Repräsentantin der kre- 
tischen Frauenstatuette (T. 6) hätte die schlechter 
erbaltene Replik aus Haghia Triadha (T. 7) weg- 
bleiben können. Ebenso werden an der Bei- 
gabe der zwei kretischen Jünglinge (T. 10— 11) 
nur Archäologen Freude haben, die von diesen 
Stücken sonst keine Abbildung zur Hand haben. 
Vielleicht kann in einer späteren Auflage ein 
künstlerisch bedeutenderes Werk an ihre Stelle 
treten, etwa der Leidener Betende aus Phaestos 
(Jahrb. Archäol, Inst. 1915, Taf. I), oder ein ähn- 
liches Stück des British Museum, wenn nicht gar 
der prachtvolle Bronzestier mit dem Turner an 
den Hörnern. (Diese beiden Denkmäler sind erst 
nach Neugebauers Buch durch das Journal of 
Hellenic Studies 1921 bekannt geworden.) 

Die griechische Frübzeit, in der eine monu- 
mentale Plastik noch nicht existierte, während der 
große Bedarf an kleinen Weihgeschenken eine 
mannigfaltige Kieinplastik gerade auch in Bronze 
ins Leben rief, wird von Neugebauer mit geschickt 
gewählten Abbildungen illustriert und gut cha- 
rakterisiert, wie auch die Blütezeit der Bronze- 
kleinkunst, die Periode des reifen Archaismus, 
An Stelle eines der drei arkadischen Bäuerlein 
(T. 22—24) würde man allerdings gern ein Stück 
gesehen haben, das für einen anderen Kunststil 
charakteristisch ist, wie — um nur ein Beispiel 
zu nennen, den schönen Speerwerfer des Louvre 
(Jahrb. 1892, Taf. 4). Hier hätte der Verfasser 
auch die gleichzeitigen italischen Arbeiten ein- 


315 


fügen sollen, die er aus geographischen Rück- 
sichten von den reingriechischen Werken getrennt 
hat (Т. 52—54). Gerade in einem Buche für 
Fernerstebende kann nicht genug unterstrichen 
werden, daß es eine italische oder etruskische 
Kunst nur als Ableger der griechischen gibt. Auf 
dem Gebiet der Bronsekleinplastik können ita- 
lische Arbeiten ja am ehesten den Vergleich mit 
griechischen aushalten und bei anschließender Be- 
handlung würde der Leser zugleich durch die 
Anschauung erfahren, wie das Zusammentrefien 
der verschiedenen Einflüsse vom griechischen 
Kulturgebiet her die stilistischen Abweichungen von 
eigentlich griechischen Schöpfungenbedingt haben. 

Die Periode des großen Aufschwunges der Mo- 
numentalplastik wird durch einige schöne Stücke, 
wie den Zeus von Dodona (T. 28), den Athener 
Sieger (T. 29), die Spinnerin in Berlin (T. 36) bis 
zu dem Mädchen von Beroia (T. 42) gut vertreten. 
Persönlich hätte ich gern den New Yorker Diskus- 
werfer (Catalogue Nr. 78) in der Reihe geschen. 

Die folgenden Jahrhunderte, besonders die der 
hellenistischen Kunst, sind nicht mit derselben 
Ausführlichkeit behandelt, und gerade hier konnte 
die Mannigfaltigkeit der Bewegungsmotive und 
die Menge der Ausdrucksmittel, über die die 
griechische Kunst seit dem 4. Jahrhundert ver- 
fügt, zu größerer Breite einladen. Es ist aber 
nicht zu verkennen, daß dann ein eigenes Buch 
dem Hellenistischen und Römischen in der Bronze- 
kleinplastik gewidmet werden müßte. Daher seien 
zum Schluß nur einige — unverbindliche — De- 
siderata für diesen Teil angefügt, wobei ich das 
Hauptgewicht darauf legen möchte, daß Arbeiten 
von hoher künstlerischer Qualität vor bloßen Ku- 
riositäten bevorzugt werden müßten: Als Beispiel 
einer immerhin konventionell gefaßten Wieder- 
gabe eines berühmten hellenistischen Kultbildes 
der Tyche von Antiochia (z. B. Coll. De Clercq, 
Ш. pl. 51), dagegen, um eine freie Schöpfung in 
Anlehnung an ein großes Werk zu zeigen, eine 
Aphrodite, wie die Umbildung der praxitelischen 
Knidierin in New York (Cat. Nr. 321) Ob es 
nötig oder angängig ist, für die spätere Periode 
wenigstens, die Beschränkung auf die mensch- 
liche Gestalt aufzugeben, ist natürlich eine Frage. 
Ich möchte sie bejahen, und würde gern eine der 
prachtvollen Tierdarstellungen der hellenistischen 
Kunst, 3. B. die Münchner Pantherin (Münchner 
Jahrbuch f. bild. Kunst 10912, T. x) und einen der 
römischen Porträtköpfe, etwa das Porträtemblem 
von Wels (Jahreshefte d. Österr. Arch. Inst. 1911, 
T. 3) eingefügt gesehen haben. Vielleicht läßt 
sich dieser oder jener Wunsch in einer späteren 


316 


Auflage berücksichtigen, sei es durch Vergröße- 
rung des Bildermaterials, sei es durch Austausch 
gegen entbehrlichere Stücke, Hans Nachod. 


HERM. KEES, Studien zur ägypti- 
schen Provinzialkunst. 32 S., 9 Taf. 
Verlag J. C. Hinrichsche Buchhandlung. 
Leipzig 1921. 

An Hand der vorzüglichen Abbildungen weist 
Verf. nach, daß bereits zur Zeit des Alten Reiches 
sich in Ägypten eine Provinzialkunst herausbildet. 
Die Großen des Landes legen nicht mehr ein so 
großes Gewicht darauf, in der Nähe der Residenz 
nahe dem Grabe des Pharao beigesetzt zu werden, 
sondern von manchem wird vorgezogen, abseits 
der Residenz auf eigenem Grund und Boden be- 
graben zu liegen. Der Provinzialkunst erwachsen 
dadurch neue Aufgaben, die allerdings unabhängig 
von der Kunst, wie sie am Hofe zu Memphis 
blühte, nicht gelöst werden konnten. Eigenes, 
Neues zu schaffen, ist nicht das Streben des 
Provinz-Kinstlers. Was er in der Residenz ge- 
lernt hat, das sucht er in der Heimat wieder- 
zugeben. Für selbständige Weiterentwicklung 
fehlen in der Provinz zunächst noch alle Voraus- 
setzungen. A. Köster. 


A. v. SALIS, Die Kunst der Griechen. 
Zweite Auflage. X und 303 S. mit 68 
Abbild. Verlag S. Hirzel, Leipzig, 1922. 

Es ist keine Kunstgeschichte, die v. S. uns 
bietet, keine Darstellung und Schilderung der 
Kunstwerke in historischer Anordnung. Vielmehr 
versucht Verfasser die griechische Kunstentwick- 
lung in ihrer Eigenart vor Augen zu stellen, die 
er an einzeinen Beispielen erläutert, indem er die 
Gesamtheit des antiken Kunstschaffens seinem 
Urteil zugrunde legt. Kunstgeschichte ist dem- 
nach aus dem Buch nicht zu lernen, wohl aber 
ist es geeignet, uns das Wesen griechischer Kunst 
za erschließen und die Eigenart griechischen 
Kunstschaffens dem Verständnis näherzubringen. 
Daß bereits nach drei Jahren eine neue Auflage 
des Werkes erforderlich wurde, zeigt, wie er- 
wünscht eine solche Darstellung der Kunstentwick- 
lung in weitesten Kreisen ist, trotzdem sie eine 
allgemeine Kenntnis der antiken Kunstgeschichte 
voraussetzt. Z.T. liegt diese günstige Aufnahme, 
die das Buch gefunden hat, an der fesselnden 
Darstellungsart und der prägnanten Weise, wie 
Verf. die einzelnen Epochen der Entwicklung 
schildert, und das Charakteristische dieser Epochen 
in seinem Ursprung und Wesen zu ergründen 
versucht, dabei aber stets vermeidet, sich in Er- 


örterungen über wissenschaftliche Spezialfragen, die 
in erster Linie nur den Fachmann interessieren, 
zu verlieren. Das Buch bietet dem Archäologen wie 
dem Kunsthistoriker, sowie jedem, dem die Kunst 
der Alten überhaupt etwas gilt, reichen Genuß so- 
wie reiche Belehrung und Anregung. A.Köster. 


AUGUST DIEHL, Die Reiterschöp- 
fungen der phidiasischen Kunst, 
131 S., 17 Taf. und ein Titelbild. Ver- 
einigung wissenschaftl. Verleger, Berlin 
und Leipzig 1921. 

Der Verfasser, bis Kriegsende aktiver Offizier 
einer berittenen Truppe, hat sich dem Studium der 
Archäologie sugewendet und gibt uns als erste 
Frucht seiner neuen Tätigkeit ein Buch über 
Antike Reitkunst. — So etwa würde ich den Titel 
gewäblt haben, denn der Inhalt bietet unendlich 
viel mehr, als der Titel verspricht. Vom Stand- 
punkt des Reiters und Pferdekenners bespricht Verf. 
die Pferdedarstellungen der ägyptischen und assy- 
rischen sowie der frühgriechischen Kunst, um 
dann schließlich zu den bedeutendsten Meister- 
schöpfungen der Antike, die uns der Parthenon- 
fries vorführt, zu gelangen. Es ist erstaunlich, 
was Verfasser aus dem Material herausholt, wie 
er die Situation klärt und neue Seiten der Dar- 
stellungen beleuchtet. Dabei ist er weit entfernt 
von der Überhebung, die uns so oft begegnet, 
wenn Nichtfachleute über archäologische oder 
kunsthistorische Dinge schreiben, die sie infolge 
ihrer, auf einem ganz anderen Gebiete liegenden 
Ausbildung in allem besser zu verstehen meinen, 
und dabei in der Regel arg vorbeischießen, um 
mich gelinde auszudrücken. Verfasser steht durch- 
aus auf dem Boden archäologischer Forschungs- 
methode, er kennt und berücksichtigt die ein- 
schlägige Literatur, so daß es eine Freude ist, 
dem Verfasser zu sagen, daß er auf dem besten 
Wege ist, einer der unsrigen zu werden. Das Buch 
hat bleibenden Wert. Wer sichmit antiken Pferde- 
darstellungen beschäftigt, kann nicht daran vorbei- 
gehen, und auch der moderne Kunsthistoriker, dem 
das Pferd in der Kunst so oft entgegentritt, wird un- 
endlich viel aus dem Buche lernen und sollte sich 
mit seinem Inhalte vertraut machen. A. Röster. 


HANS LAMER, Römische Kultur im 
Bilde. 64 Seiten und 96 Tafeln. Vierte 
Autlage. 28. bis 38. Tausend. (Wissen- 
schaft und Bildung, Bd. 81.) Verlag von 
Quelle & Meyer in Leipzig. 1921. 

Als Ergänzung kunstgeschichtlicher Handbücher 
usw. ist die Darstellung der Römischen Kultur 


finden.“ 


von L. sehr nützlich. Sie schildert auf Grund 
des literarischen und bildlichen Quellenmaterial 
das antike Leben, wie es sich abspielte, und zeigt 
uns dabei zugleich, was der Römer an Kultur- 
gütern besaß, und wie er sich derselben bediente. 

A. Köster. 


HANS BERSTL, Das Raumproblem 
in der altchristlichen Malerei. 4.Bd. 
der Forschungen zur Formgeschichte der 
Kunst aller Zeiten und Völker. Verlag 
Kurt Schroeder, Bonn u. Leipzig 1920. 


Der Verfasser sagt in seiner Einleitung: „Der 
Gesichtspunkt vorliegender Arbeit ist ein rein 
künstlerischer: Die Frage nach den Raumlösungen 
in der altchristlichen Malerei. Es wird versucht, 
alles aus dem Kunstwerk selbst, was von dem in 
Frage stehenden Problem in ihm enthalten ist, zu 
In der Folge wird dann das Problem be- 
schränkt auf die Darstellung dreidimensionaler 
(also räumlicher oder körperlicher) Gebilde in der 
zweidimensionalen Fläche der Malerei. B. unter- 
scheidet dann westliche und östliche Augen; er 
vergißt, daß auf der Netzhaut beider Augen das 
Bild des Geschauten in zentralperspektivischer 
Projektion erscheint und nennt die im Westen 
durchgeführte Annäherung des gemalten oder ge- 
zeichneten Bildes an das Bild auf der Netzhaut 
des Auges eine „einseitig konsequent dirigierte 
Erziehung des Sehens“. Richtig definiert käme 
es darauf hinaus, daß das Abendland sein Bild 
von einem festen Standpunkt aus festhält, während 
der Orient den Standpunkt wechselt, jeweilen die 
sprechendsten Ansichten registriert und diese 
Einzelbilder nach dekorativen oder den Inhalt 
verdeutlichenden Gesichtspunkten zu einem Ge- 
samtmosaik zusammenfügt. Daß also bei der von 
Bersti „östlich“ genannten Gesamtprojektion je- 
weilen die Einzelheiten „westlich“ gesehen sind, 
führt diese Art der Nomenklatur ohne weiteres 
ad absurdum. B, stellt weiter die Hypothese auf: 
In der altchristlichen Malerei kreuzen und be- 
kämpfen sich westliche und Östliche Raumdarstel- 
lung; erstere nennt er das Ineinandergreifen von 
Luftraum und Körperraum, letztere die Fläche 
ohne Ende. Wenn ich B. recht verstehe (was 
angesichts seiner verstiegenen und oft schiefen 
Ausdrucksweise nicht leicht ist), meint er damit 
etwa: Im Westen spielt sich der dargestellte Vor- 
gang scheinbar hinter der Bildfläche ab und wird 
auf diese projiziert. Im Osten ist der entsprechende 
Vorgang in die Bildfläche selbst verlegt, kulissen- 
artig in flachem Relief ohne Raumtiefe aufgebaut. 


317 


Bersti untersucht gewissenhaft eine Reihe typi- 
scher Denkmäler in bezug auf ihre Raumgestal- 
tung und legt die Resultate im Sinne seiner Hypo- 
these aus. Schließlich zieht er die Raumtheorien 
überhaupt in den Bereich seiner Betrachtung 
merkwürdigerweise zitiert er als Vertreter der 
Definition des dreidimensionalen Raumes als Pro- 
jektion oder Oberfläche eines vierdimensionalen 
Gebildee die späteren Arbeiten von Hinton von 
1886 und 1900, nicht die grundlegenden Abhand- 
lungen des Leipziger Astrophysikers Zöllner: „Über 
Wirkungen in die Ferne“ und „Zur Metaphysik 
des Raumes“ 1878. R. Bernoulli. 


WILLIAM ANDERSON, Den äldere 
kyrkliga Konsten i Blekinge. Zweites 
Beilageheft zu N. M. Mandelgrens Atlas 
über Schwedens Geschichte der Alter- 
tümer. 45 Seiten, gr. 4°. 53 Abbildungen. 
Lund 1922. 


Als erstes Ergänzungsheft zu Mandelgrens Atlas 
batte Ewert Wrangel zu Lund, der Herausgeber 
und Leiter der ganzen Veröffentlichung, eine Ab- 
handlung über die mittelalterlichen Malereien in 
der Kirche zu Dädesjö gegeben. In dem Vor- 
liegenden folgt eine übersichtliche und sehr voll- 
ständige Behandiung der kirchlichen Kunst von 
Blekingen, das nebst Halland und Schonen den 
südlichen Teil des heutigen Schwedens ausmacht. 
Während mit der Kunst Schonens sich viele be- 
schäftigt und uns mit dem Bestande dieses für 
die Kunstgeschichte allerwichtigsten Teiles des 
ganzen Nordens schon ausgiebig bekannt gemacht 
haben, hatte das kleine Gebiet Blekingens noch 
keine ordentliche Behandlung erfabren. Dies Heft 
bietet eine solche zusammenfassend und gründlich. 

Die Architektur ist ganz von der Schonens ab- 
hängig, wie denn Blekingen sowohl kirchlich als 
staatlich dazu gehörte. Wichtige Bauwerke sind 
nicht zu verzeichnen. Das beste ist vergangen, 
so daß die Bearbeitung in überaus umfassender 
Weise sich auf Überlieferung, ja auch auf einige 
Vermutungen stützen muß und Vergangenes reich- 
lich berücksichtigt. Das Christentum war aus 
Deutschland in das Land gekommen, aber der 
deutsche Einfluß wich dann ganz dem englischen. 
Am Ende des Mittelalters batte man in der Land- 
schaft 27 Kirchen. Im wesentlichen gehen die 
vorhandenen ins frühe Mittelalter zurück. Leiten- 
der Zug ist Armut der Gebäude in Anlage und 
Durchführung, und fast alle sind schnöde verkalkt. 
Der Stoff ist spröder Granit mit ganz weniger 
Behauung. Die Bildhauerkunst hat so gut wie 


318 


keinen Anteil an den Bauten. Selbst Taufsteino 
feblen fast ganz; ein guter romanischer aus Sand- 
stein ist schonisch, und ein paar aus Kalkstein 
sind gotlindisch. Der bescheidene Bestand an 
anderen Ausstattungsstücken zeigt kein anderes 
Bild, als wir im Norden zu finden gewöhnt sind; 
romanisch ein Kruzifix und eine Bischofsfigur, 
beide verstümmelt, gotisch eine größere Anzahl 
Stücke, vielfach zerbrochen. Erwähnenswert ist 
davon ein Altarschrein von Twine aus dem Ende 
des Mittelalters, dem Lübecker Benedikt Dreyer 
zugeschrieben: Mitten Dreieinigkeit, in den Flügeln 
Passionsszenen. Im späteren Mittelalter gehörte 
diese Landschaft ebenso wie die übrigen Länder 
des Nordens ganz zu dem Gebiete der lübischen 
Kunst. Schön und bedeutsam sind die hergestell- 
ten Malereien in der Kirche zu Solvesborg, dem 
einzigen ansehnlichen Gebäude der Landschaft. 
Sie ist ein Backsteinbau mit Westturm, langem 
rechteckigen Chor, im Schiff und Chor mit fünf 
Sterngewölben überdeckt. Wir müssen uns leider 
auf diese kurze Darlegung beschränken; geht sie 
doch schon an sich etwas hinaus über die all- 
gemeine Bedeutung der Landschaft für die Kunst- 
geschichte. Es zeigt sich bei ihr, daß es auch 
im Norden, der uns ja so nahe steht und doch 
so schwer erreichbar ist, bei den traurigen Zeit- 
verhältnissen sowohl für persönliche Anschauung 
als auch selbst für Bekanntschaft in der Literatur, 
Landstriche gibt, deren treue und gewissenhafte 
Durchforschung zwar durchaus notwendig und 
auch lohnend genug ist, deren Ausbeute aber für 
die Aufmerkssmkeit nichts besonders Hervor- 
stechendes bietet. R, Haupt. 


RAIMOND van MARLE, La peinture 
romaine au moyen-äge, son déve- 
loppement du бёте siécle jusqu’à la 
fin du 13°™¢ siècle. (Etudes de lart 
de tous les pays et de tous les &poques, 
Vol. 3.) Straßburg, Heitz 1921. Fr. 100.—. 


Raimond van Marle hat sich durch seine Stu- 
dien über Simone Martini und seine Untersuchungen 
tiber die Ikonographie von Giotto und Duccio vor 
zwei Jahren aufs beste in der Kunstforschung be- 
kannt gemacht. 

Der spröde Stoff, dem sein neuestes Buch ge- 
widmet ist, stellte aber an die wissenschaftliche 
Schulung und das kritische Urteilsvermögen des 
Verfassers noch weit größere Anforderungen. Es 
soll im folgenden versucht werden, über den 
reichen Inhalt dieses Buches Bericht zu erstatten, 
das für die Geschichte der römischen Malerei 


in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends als 
grundlegend bezeichnet werden darf. 

In neun Kapitel ist das Werk gegliedert. Die 
Einleitung beschäftigt sich mit den ältesten noch 
spätantiken Malereien und Mosaiken Roms. Die 
Mosaiken von 8. Costanza, des Langhauses und 
des Triumphbogens von 8. Maria Maggiore wer- 
den besprochen, die Geschichte Roms in der 
zweiten Flälfte des 4. Jahrhunderts wird kurz dar- 
gestellt. Auch gleichzeitige Handschriften wie 
der Vergil des Vatikans werden zum Vergleich 
herangezogen. 

Alle diese Werke werden als durchaus spät- 
antik mit dem naturalistisch -impressionistischen 
Charakter der spätantiken Kunst gekennzeichnet. 
Dagegen kommt, wie im zweiten Kapitel (Deve- 
loppement de l’influence byzantine pendant le Ge 
et 7¢ siecles) gezeigt wird, eine neue, von Byzanz 
beeinflußte Kunst auf, als deren erstes großes 
Monument das Apsismosaik von Ss. Cosma e 
Damiano besprochen wird. (Unter Felix IV. 526/30 
ausgeführt.) Damit wird dieDisposition des ganzen 
Buches festgelegt: die Unterscheidung eines spe- 
zifiech römischen, auch als pompejanisch-impres- 
sionistisch bezeichneten Stils und der byzantinischen 
Richtung. Das Eindringen des byzantinischen 
Stils im 6. Jahrhundert wird auch in den Kata- 
kombenmalereien festgestellt: sie zeigen ebenfalls 
das Schwinden der alten Tradition, ein Vorgang 
der sich auch in Ravenna beobachten läßt. 

Diese Entwicklung setzt sich im 7. Jahrhundert 
fort, wie an dem Beispiel von 8, Agnese und 
dem Oratorium von 8. Venanzio erläutert wird. 

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der römi- 
schen Malerei während der Epoche des Bilder- 
streits. Es enthält nach einer umfangreichen 
Einleitung, die die geschichtlichen Ereignisse der 
genannten Epoche schildert, eine Darstellung der 
reichen Bautätigkeit der Päpste dieser Epoche. 
Am eingehendsten werden die Fresken von 8, Maria 
Antiqua besprochen, deren Hauptkapelle bekannt- 
lich unter Johann VII, ausgeschmückt wurde. Ein 
- stärkerer Einfluß der Antike, eine Rückkehr zu dem 
sogenannten pompejanisch-impressionistischen Stil 
wird hier festgestellt. Neben diesem einzigen 
Werk größeren Umfanges der Zeit werden noch 
Reste in 8. Saba und in der Unterkirche von 
S. Giovanni e Paolo besprochen. 

Die Schilderung der Kunst der karolingischen 
Epoche, der das folgende Kapitel (Kap. V) ge- 
widmet ist, wird mit den Mosaiken des Trikli- 
niums Leoninum eingeleitet. In diesem Zu- 
sammenhang folgen die Mosaiken von SS. Nereo 
ed Achilleo, 8. Maria in Domnica, 8. Cecilia in 


Trastevere, S. Prassede und S.Marco. Die Fresken 
der Seitenschiffe von 8, Maria Antiqua werden 
dem Pontifikat Nikolaus I. zugewiesen (858/67). 
Als besonderes Merkmal der karolingischen Kunst 
in Rom nimmt Marle starke Einflüsse des Ostens 
an, die er durch Handelsbeziehungen erklärt. Da- 
neben macht sich ein Übergreifen der karolingi- 
schen Kunst des Nordens auf Italien geltend. 
Hierdurch wurde die Kunst vor dem Verfall be- 
wahrt, der erst mit der Lockerung der Beziehungen 
zum Norden beginnt. 

Die Entartung der römischen Malerei (Kap. У. 
La peinture speciiquement romaine dans la se- 
conde moitié du [Xe et du Xe siècle) setzt erst 
unter Karl dem Dicken und Karl dem Kahlen ein 
Als Hauptdenkmal gelten die Fresken der rechten 
Seitenwand des rechten Seitenschiffs von S. Cle- 
mente, deren künstlerischer Wert äußerst gering 
anzuschlagen ist. Der Zeit Nikolaus I. werden 
die Fresken des Triumphbogens von S. Maria 
in Cosmedin und der Zeit Nikolaus II. (844/7) die 
Malereien der Unterkirche von S. Martino ai Monti 
sowie die der Nischen des rechten Seitenschiffe 
von 8. Maria Antiqua wohl mit Recht zugewiesen. 
Von den in Rom aus der Zeit erhaltenen Tafel- 
bildern wird die Madonna von Araceli der Epoche 
eingeordnet, 

Dem 11. Jahrhundert (Kap. VI. La peinture du 
тте siecle et l'influence de l'école othonlenne) 
werden die Fresken von 8. Sebastianello und als 
Hauptwerk die Fresken von 8. Urbano alla Caffa- 
tella sugeschrieben. Als das beste Denkmal der 
Epoche (unter dem Pontifikat Gregors des Großen 
entstanden) nennt der Verfasser die zweite Serie 
der Fresken in 8. Clemente, denen als ähnliche 
Monumente die Zyklen von Magliano Pescareggio 
und der Unterkirche von 8. Pietro in Toscanella 
bei Viterbo angegliedert werden. Die Anregungen 
für diese mehr realistische Kunst sind nach An- 
sicht van Marles durch den Einfluß der ottoni- 
schen Schule zu erklären. Besonders zeigt die 
Ikonographie der Fresken von S. Sebastianello 
starko Analogien zu den ottonischen Codices. 

Dem 12. Jahrhundert werden die (Kap. VII) Mo- 
saiken von Grattaferrata, die oberen Mosaiken der 
Apsis von 8, Maria in Trastevere (gegen 1145), von 
S. Maria Nuova und die heute nicht mehr existie- 
rende Apsis von SS. Quattro Coronati zugeschrieben. 
Die umfangreichsten Freskenzyklen dieser Zeit 
befinden sich in 8. Pietro a Ferentillo bei Terni, 
in 8, Giovanni a Porta Latina und in der Unter- 
kirche der Abtei Farfa. Die Prüfung derselben 
führt zur Unterscheidung zweier Strömungen: 
1. einer byzantinischen, der z. В. die. Fresken 


319 


der Kathedrale von Anagni zugeschrieben werden 
und 3. der eigentlich römischen, der die Male- 
reien in S. Giovanni a Porta Latina entstammen. 

Die beiden letzten Kapitel (УП. u. УШ.) schil- 
dern die Malerei des 13. Jahrhunderts. Der erste 
Teil von Kapitel VII beschäftigt sich mit der 
byzantinischen Strömung. Als Hauptdenkmal 
wird das Fassadenmosaik von S. Maria in Traste- 
vere angeführt, weiterhin das untere Stück der 
Apsismosaik von San Paolo fuori und als wich- 
tigstes Monument der Freskenzyklus der Silvester- 
kapelle von SS. Quattro Coronati, Hier beobach- 
ten wir das Eindringen römischer Elemente, das 
sich in lebhafteren Gebärden und Bewegungen 
äußert. An Denkmälern außerhalb Roms werden 
die Malereien in S. Maria Nuova zu Viterbo und 
8. Maria Maggiore in Toscanella herangezogen. 
Die Werke des toskanisch - byzantinischen Stils 
fehlen in Rom völlig. Von den Tafelbildern wer- 
den die Madonnen von 8. Maria Maggiore, S. Maria 
del Popolo, 8. Francesca Romana, 8. Maria in 
Cosmedin und die Porträts von 8. Peter und Paul 
in S. Peter dem 12. Jahrhundert zugeschrieben. 

Die weitere Entwicklung dieser Richtung wird 
vor allem an den Fresken des Bacro Speco in 
Subiaco und an den Malereien der linken Wand 
in 8. Saba in Rom erläutert. Daneben wird als 
Produkt der eigentlich römischen Richtung der 
sehr übermalte Freskenzyklus im Portikus von 
8, Lorenzo fuori angesprochen. Eine ähnliche 
Entwicklung außerhalb Roms läßt sich an den 
Malereien in 8. Maria in Vescovio bei Stimigliano 
in der Sabina und als letzte Stufe in den von 
Conxolus im Sacro Speco gemalten Fresken ver- 
folgen (П. Н. Saec. XIII.) 

Der Schluß des Buches ist der letzten Entwick- 
lung der römischen Schule unter Meistern wie 
Cimabue, Torriti und Cavallini gewidmet. Die 
Teilung der römischen Malerei in zwei Strömungen, 
die das ganze Buch durchzieht, zeigt sich auch 
bier aufs neue. Cimabue wird als letzter Reprä- 
sentant der byzantinischen Schule und Cavallini 
als das Haupt der eigentlich römischen Richtung 
erklärt. Die Darstellung greift hier über die ihr 
eigentlich gesetzten Grenzen hinaus, indem von 
Cimabue in erster Linie die Fresken der Ober- 
kirche von Assisi besprochen werden, bei denen 
ein von Umberto Gnoli gefundenes Datum 1296 
zum erstenmal in der Literatur bekanntgemacht 
wird, Die Fresken selbst werden an vier ver- 
schiedene Schüler Cimabues, die Marle im ein- 
zelnen unterscheiden zu können glaubt, verteilt, 
Außerdem werden der Schule Cimabues in Rom 
ale einziges noch vorhandenes Beispiel seiner 


820 


Kunst sechs Medaillons in S. Maria Maggiore 
zugeschrieben. 

Von Cimabue leitet sich die Kunst Torritis ab, 
der die Tribunen des Laterans (1291) und von 
8. Maria Maggiore (1296) ausgeführt hat. Auch 
hier verläßt der Autor wieder den engeren Kreis 
der Betrachtung und wendet sich der Schilderung 
der Malereien in Assisi zu, die eingehend und nicht 
ohne neue Forschungsresultate erörtert werden. 

Als weiterer Schüler Cimabues wird Rossuti 
gewürdigt, der den Fassadenschmuck von 8. Maria 
Maggiore, bei dem wahrscheinlich Gaddo Gaddi 
mitgewirkt hat, ausgeführt hat. Als Arbeiten 
Cosmas II. erscheinen die Mosaiken von Sancta 
Sanctorum, die Marie in das Pontifikat Nikolaus III. 
(1277/80) setzt. Seinem Sohn Giovanni werden 
die Mosaiken des Grabmals des Kardinals Con- 
salvi in S. Marla Maggiore zugewiesen. In die- 
selbe Richtung gehören schließlich auch noch die 
Mosaiken der Kapelle der heiligen Rosa in Araceli. 
Diese bysantinische Gruppe hat hauptsächlich 
Mosaiken ausgeführt, als letzte Vertreter dieser 
Kunst. Von Tafelbildern dieser Richtung nennt 
der Verfasser die Bilder aus den Sammlungen 
Hamilton und Kahn in New-York. 

Das Verdienst Cavallinis diesen Meistern gegen- 
über besteht darin, sich von den überlieferten 
byzantinischen Formen freigemacht zu haben, 
Er hat auf die alte Tradition der römischen Schule 
zurückgegriffen. Im einzelnen wird hier die ältere 
Forschung zusammengefaßt, deren gesamte Lite- 
ratur einschließlich des jüngst in den „Memoirs 
of the american academy“, Vol. II erschienenen 
Aufsatz von Lohtrop aufgezählt wird, Auch hier 
werden neben den römischen Werken vor allem 
die Fresken in Assisi eingehend gewürdigt. 

Übersichtliche Literaturangaben bilden einen 
Hauptvorzug des ausgezeichneten Buches, Dankens- 
wert ist ferner das Abbildungsmaterial, das eine 
Reihe wertvoller Ergänzungen zu dem großen 
Material Wilperts bildet, Ludwig Schudt. 


VICTOR CURT HABICHT, Nieder- 
sichsische Kunst. I. Der Roland zu 
Bremen. II. Die Goldene Tafel der Sankt 
Michaeliskirche zu Lüneburg. III/IV. Des 
hl. Bernward Kunstwerke. Angelsachsen- 
verlag, Bremen 1922. 

Die Sammlung, die von Habicht und Roselius 
gemeinsam herausgegeben wird und deren erste 
Bände Habicht selbst verfaßt hat, ist berufen, 
eine fühlbare Lücke. auszufüllen. Norddeutschland 
wurde von der älteren Kunstforschung stark ver- 


v 


nachlässigt. Die großen Inventare stellen das 
Vorhandene fest, ohne es in die Kunstentwicklung 
einzuordnen. Überdies sind sie nur wenigen zu- 
gänglich. Daß nun In guten, sachlich gehaltenen 
Handbüchern die wichtigsten Werke mit reich- 
lichen Abbildungen veröffentlicht werden, verdient 
Anerkennung. Der unermüdliche Herausgeber und 
Verfasser der ersten Bände hat hier gediegene 
Arbeit geleistet. Geschichte, Beschreibung und 
Einordnung in den Zusammenhang sind knapp, 
sachlich, zuverlässig. — In dem Rolandbüchlein 
ist das rechts- und schauspielgeschichtliche Schrift- 
tum zu Rate gezogen, die formale Entwicklung 
des Rolands aus der gleichzeitigen Grabmalkunst 
überzeugend nachgewiesen. — Besonders ver- 
dienstlish ist die Veröffentlichung der Goldenen 
Tafel im Hannoverischen Provinzialmuseum, von 
der bis vor kurzem nicht einmal brauchbare Photo- 
graphien erhältlich waren. So ehrt der Deutsche 
die Hauptwerke seiner Kunst! Habicht hält den 
Schrein für eine Schöpfung der Zeit zwischen der 
Hochaltarweihe von St. Michaelis, 1390, und der 
Stiftung des Göttinger Jakobialtares, 1402, und 
lehnt Konrad von Soest als Schöpfer der Gemälde 
ab. Dieser Ablehnung möchte der Berichterstatter 
zustimmen; hingegen scheint ihm der Versuch, 
die Bildwerke mit der Kunst des Claus Sluter in 
Verbindung zu bringen, auf Irrwege zu führen, 
Die Goldene Tafel dürfte, in den gemalten und in 
den geschnitzten Teilen, ohne niederländische 
Einwirkung entstanden sein. So dankenswert die 
Beigabe der Abbildungen ist, so möchte man іп 
einer Neuauflage doch noch mehr Einzelaufnahmen 
der Gemälde wünschen, — Der jüngste Doppel- 
band schildert das Werk des hi. Bernward in Hil- 
desheim; St. Michael, die Türen, die Säulen, das 
Grab, die Goldschmiedearbeiten und Evangeliare, 
In großen Zügen wird ein anschauliches Bild 
der Bedeutung des kunstfreundlichen Bischofs für 
die Hildesheimer Kunst der Jahrtausendwende ge- 
geben. Den Büchlein ist weite Verbreitung und 
gleichwertige Nachfolge zu wünschen. Baum, 


OSWALD SIREN, Toskanische Maler 
im 13. Jahrhundert. Verlegt bei Paul 
Cassirer in Berlin, 1922. 

Wer die Fülle der Probleme kennt, die uns 
heute noch von einer exakten Kenntnis der italie- 
nischen Malerei des 13. Jahrhunderts trennen, wird 
Siréns Buch mit der größten Spannung zur Hand 
nehmen. 

Der Titel macht stutzig. Nicht „Malerei“, son- 
dern „Maler“, also Betonung von Persönlichkeiten 


für eine Zeit, in der wir so wenig greifbare Per- 
sönlichkeiten haben. Neues Aktenmaterial wird 
nicht beigebracht, das schon bisher bekannte dient 
als Grundlage. Der Verfasser betont, daß ihm 
das Herausarbeiten der Künstlerpersönlichkeiten 
Ziel sei, er anonyme Werke nur soweit erwähnt 
habe, als dieselben direkt oder indirekt mit Künstler- 
persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden 
können. Wenn man erwägt, welch ganz geringer 
Bruchteil der einstigen künstlerischen Produktion 
heute nur mehr übrig ist, wie wenig signierte 
Werke darunter sind, wie spärlichen Sandkörnern 
aus einem uns unbekannten Lande vergleichbar, 
ein paar Dokumente und mehrere Namen ohne 
bestimmte Relation zueinander und zu bestimmten 
Werken bekannt sind, so wird man Siréns Verfahren 
als mindestens sehr gewagt bezeichnen müssen 
Der zweite Punkt, der bedenklich macht, ist die 
Beschränkung auf die Schulen von Lucca, Pisa und 
Florenz, Siena bleibt weg, weil es ohnedem 
besser bekannt sei, Arezzo wegen seiner geringen 
Bedeutung, wie denn der viel genannte Marga- 
ritone einmal wohl allzuhart als „der unfähigste 
aller toskanischen Dugentomaler“ bezeichnet wird. 
Siren ist in seinen Betrachtungen von einem 
intensiven Interesse für die Künstlerpersönlich- 
keiten des Dugento geleitet worden. Er hat es 
verstanden, sich in die Formensprache des Einzel- 
werkes mit feinfühligem Verständnis einzuleben 
die Wärme und Begeisterung seiner Beschrei- 
bungen und Bildanalysen sind aufrichtig zu be- 
grüßen. Wenn er selbst die tiefe Verwandtschaft 
der frühesten Monumente italienischer Malerei mit 
der alten religiösen Kunst Ostasiens, wie ander- 
seits mit der modernen europäischen Kunst her- 
vorhebt, so begrüße ich dabel besonders die Be- 
tonung unserer noch so vielem Mißverstehen aus- 
gesetzten Moderne. Wer Siréns Darlegungen auf- 
merksam verfolgt, wird auch an dem Expressio- 
nismus (wenn wir uns schon mit Schlagworten 
behelfen müssen), unserer Tage nicht interesselos 
vorübergehen können. Es wäre möglich gewesen, 
die Art des Expressionismus des Dugento mit der 
des heutigen zu vergleichen, es wäre auf diesem 
Wege wohl erst möglich, den tieferen Stilproble- 
men des Dugento auf die Spur zu kommen, die 
Begriffe von Primitivität und Fortschritt aus- 
zuschalten u. a. m. — aber Sirén hat diese wei- 
teren Zusammenhänge nicht berührt. Die Ein- 
stellung auf die bestimmten und unter bestimmten 
Gesichtspunkten ausgewählten Objekte ergibt eine 
zwar vom Verfasser gewollte, aber sachlich nicht 
gerechtfertigte und jedes Erfassen der tieferen 
Probleme ausschließende Beschränkung. 


321 


Der erste Hauptabschnitt ist der Kunst von 
Lucca gewidmet. Von früheren zusammenfassen- 
den Forschern hatte nur Thode (Repertorium 1890) 
dieser Schule besondere Aufmerksamkeit gewidmet. 
Sirén glaubt, die Familie Berlingbieri sei vom 
Ende des 12. bis Ende des 13. Jahrhunderts Trä- 
gerin der lucchesischen Malerei gewesen, „Das 
wichtigste Element dieses Lokalstils bildet die 
Linie.“ Sehen wir uns die Sache genauer an, 
so haben wir von dem alten, wahrscheinlich aus 
Mailand eingewanderten, 1228 und 1235 als lobend 
erwähnten Berlinghieri ein signiertes Kruzifix in 
Lucca, kennen von drei Söhnen die Namen Barone 
(genannt 1228, 1243, 1256 und 1282, kein be- 
glaubigtes Werk), Bonaventura (genannt 1228, 1244, 
1250, 1266 und 1274 bez. und dat. 1235 Franzis- 
kusbild in S. Francesco zu Pescia) und Marco 
(Miniaturmaler, nichts näber bekannt). In den spär- 
lichen lucchesischen Künstlerdokumenten kommen 
auch noch andere Malernamen vor, die führende 
Stellung der Familie Berlinghieri ist also unbe- 
weisbare Behauptung. Der alte Berlinghieri ist 
zum Sammelnamen für Kruzifixe und Madonnen, 
die nur zeitlich mit dem signierten Bilde zusam- 
menhingen, geworden, Etwas tragfähiger ist die 
Basis, auf der sich ein Oeuvre des Bonaventura 
aufrichten ließ. Mit dem bezeichneten Bilde in 
Pescia stimmen tatsächlich die drei Täfelchen der 
Jarves Collection, das Diptychon der florentinischen 
Akademie (schon nach älterer Tradition Bonaven- 
tura zugeschrieben), und das Kruzifix im Chiostro 
delle Oblate leidlich überein. Anschließend daran 
stellt Sirén eine Gruppe florentinischer Bilder zu- 
sammen, deren markanteste Stücke das Kruzifix 
der florentinischen Akademie, der hl. Franz mit 
20 Legendenszenen in S. Croce, eine Madonna 
der Sammlung Hamiiton in NewYork und der 
(allerdings ganz übermalte) aus dem Dom zu 
Florenz stammende hl. Zenobius in Parma sind, 
und benennt sie „Barone Berlinghieri“. Von dem 
Künstler hat sich kein einziges beglaubigtes Werk 
erhalten, drei Malereien in Lucca und Umgebung, 
die nicht mehr nachzuweisen sind, werden in Do- 
kumenten genannt, die von Sirén zusammen- 
gestellte Gruppe greift heute nach Lucca gar 
nicht über — es sprechen also keinerlei äußere 
Umstände zugunsten der Hypothese. Die von 
Sirén zusammengestellten Werke sind m. E. das 
Oeuvre einer wichtigen florentinischen Werkstatt, 
deren Zusammenhang mit Lucca nur ein loser ist, 
Denn die Bedeutung des linearen Elementes, der 
zuliebe offenbar diese ganze Gruppe für lucche- 
sisch erklärt wird, ist doch nicht lokale Eigen- 
timlichkeit, wie Sirén angibt, sondern Ausdrucks- 


322 


element einer bestimmten Zeit, dessen Bedeutung 
an verschiedenen Orten gleich stark hervortreten 
kann. 

Den Abschluß der lucchesischen Malerei macht 
Sirén mit dem recht unbedeutenden Deodato Or- 
landi, dessen Existenz von dem 13288 datierten 
Krusifix in Lucca, über den 1301 datierten Altar 
in Pisa und eine 1308 datierte Madonna in Rom 
in spärlichen Dokumenten bis 1327 verfolgt wer- 
den kann. Einer sehr vagen, wenn auch von 
Venturi glatt übernommenen Zuschreibung an 
Deodato Orlandi wegen!) hat Sirén an dieser Stelle 
die Fresken von 8. Pietro a Grado bei Pisa er- 
wähnt. Damit offenbart sich recht die Schwäche 
seines Systems. Diese allerdings nach d’Achiar- 
dis Nachweis in den Kompositionen der einzelnen 
Bildfelder von den nur in Nachzeichnungen des 
17. Jahrhunderts erkennbaren Malereien im Por- 
tikus der alten Peterskirche zu Rom abhängigen 
Wandgemälde hätten doch bei einer Charakteri- 
sierung der pisanischen Malerei als einziger er- 
haltener größerer Wandbildzyklus eine wichtige 
Rolle spielen müssen. Weil man aber über die 
Persönlichkeit des Autors bisher nichts weiß, tut 
Siren sie in kurzer Anmerkung bei dem Lucchesen 
Deodato Orlandi ab, dem sie, und noch dazu ganz 
sicher mit Unrecht, einmal zugeschrieben worden 
sind. 

Der zweite Hauptabschnitt ist den Malern von 
Pisa gewidmet. Natürlich macht Giunta di Giu- 
detto da Colle, der nach Ciampi schon 1202 in 
einem Dokument vorkommt, 1258 noch als lebend, 
1267 als bereits verstorben bezeichnet wird, den 
Anfang. Nach Verlust des 1236 von Frater Elias 
in Assisi gestifteten Kruzifixes sind heute noch 
zwei signierte Kruzifixe des Giunto vorhanden in 
8. Ranierino zu Pisa und in der S, Maria degli 
Angeli bei Assisi. Weitere Attributionen auf 
dieser Basis erklärt auch Sirén für schwierig. 
immerhin werden als wahrscheinlich eine kleine 
Kreusigung der Sammlung Harris in London 
(gewiß von anderer Hand und vermutlich später) 
und das Franziskusbild mit vier Legendenszenen 
in Assisi hinzugefügt. Bezüglich des Kruzifizes 
des Rainerio d’Ugolino wäre zu ergänzen, daß 
derselbe unter richtigem Autornamen schon bei 
Venturi (Storia V, Abb. 20) reproduziert ist. Die 
Inschrift hatte Cl. Lupi richtig gelesen. Dem von 
Giunta nach byzantinischem Vorgang dargestellten 
leidenden Christus stehen dann mehrere in Pisa 
und Florenz nachweisbare Kruzifixe des trium- 


(1) P. D’Achiardi, in Atti del Congresso internasionale delle 
scienze storiche, Roma 1903 und Venturi, Storia dell’ arte 
Italiana V, 395 ff. 


phierenden Typus mit kleinen Passionsszenen am 
verbreiterten Kreuzesstamm gegenüber. Diesen 
älteren Gruppen tritt eine kleine Zahl von Kruzi- 
fixen an die Seite, in denen statt des triumphie- 
renden der leidende, aber nicht von Schmerz 
durchbebte, sondern nur in tiefer Schwermut er- 
schlaffte Christus erscheint. Für ein sehr schlecht 
erhaltenes Exemplar dieser letzteren Gruppe wird 
überliefert, daß es ehemals die Inschrift „Enricus 
quondam Tedice me pinxit“ trug. Es ist eine 
völlig unerlaubte Betätigung der Sucht nach Künstler- 
persönlichkeiten, wenn Sirén nun die ältere Gruppe 
unter dem allerdings unter Anführungsze ichen ver- 
bleibenden Namen „Maestro Tedice“ zusammen- 
faßt. Wir wissen nicht, ob der Vater des 1254 
in einem Dokument erwähnten Enrico überhaupt 
Maler war, geschweige denn, daß irgendeine Ver- 
bindung dieses Mannes zu einem der erhaltenen 
Werke bestünde. Solche willkürliche Kombina- 
tionen müssen aus wissenschaftlicher Betrachtung 
ausgeschaltet bleiben. Nicht viel besser steht es 
um einen dritten „Tedice“, den Ugolino di Tedice, 
dessen Name als Zeuge in einem Gerichtsakt von 
1273, der „in sali sancti Petri ad Vincula“ stipu- 
tiert wurde, vorkommt. Der Entdecker des Aktes, 
Peleo Bacci » hat auf ein heute in S. Pierino in 
Pisa erhaltenes Kruzifix hingewiesen, das un- 
gefähr aus dieser Zeit stammen kann (aber wohl 
etwas älter ist) und die Möglichkeit ausgesprochen, 
es sei von Ugolino, den er ohne jeden Beweis 
für einen Bruder des Enrico halten möchte. Da- 
mit hat Siren eine ganze Familie, eine ältere und 
jüngere „Tedicerichtung“, von denen allen bei 
ernster Prüfung nichts mehr als eine noch dazu 
heute verschwundene Künstlersignatur übrigfleibt. 
Sehen wir von den Künstlernamen ab, so sind 
die stilkritischen Gruppierungen Siréns gewiß be- 
achtenswert. Mit dem Kruzifix von S, Pierino 
hängt in der Tat das Franziskusbild mit sechs 
Legendenszenen in 8. Francesco zu Pisa zusammen, 
und in der Stilanalyse dieser Bilder sowie des in 
die Nähe der Gruppe gestellten herrlichen Campo- 
santokreuzes bewährt sich die Wärme und Fein- 
fühligkeit des Verfassers. 

Zusammenfassend sagt Sirén über die Pisaner, 
sie seien zwar nicht Bahnbrecher, wohl aber aus- 
gezeichnete Illustratoren mit hochentwickelter 
Farbenempfindung und Kompositionsgabe gewesen. 
Die beiden Künstlerpersönlichkeiten, deren Werke 
Siren in dem gleichen Kapitel noch beschreibt, 
sind schwerlich Pisaner gewesen. Für den ersten 
derselben, den von Thode konstatierten „Franzis- 
kusmeister“, hält auch’ Siren die von Thode zuerst 
geltend gemachte Zugehörigkeit zur umbrischen 


Schule für wahrscheinlich. Das von Thode (Franz 
von Assisi und die Anfänge der Kunst der Re- 
naissance in Italien 1885) und R. van Marle 
(Rassegna d’Arte 1919) zusammengestellte Oeuvre 
hat Sirén noch durch einige Sticke bereichern 
können und den „Botticelli des Dugento“, wie er 
unseren Anonymus nennt, in feinsinniger Weise 
besprochen, Die Fresken der Unterkirche von 
Assisi,sowohl Franzlegende wie Geschichte Christi, 
werden im wesentlichen dem , Franziskusmeister“ 
zugeteilt und die von Thode vorgeschlagene Da- 
tierung um 1270 (das Kruzifix des gleichen Malers 
in Perugia trägt das Datum 1272) angenommen. 
Zwei Kruziixe in Gualdo Tadino und in der 
Sammlung Fornari in Rom werden als Werke 
eines umbrischen Vorgängers des „Franziskus- 
meisters“ wahrscheinlich gemacht, sodann noch 
ein Meister der „Franziskanerkruzifixe“ konstatiert, 
dem ausgehend von dem oft besprochenen Kreuze 
der Sakristei von S.Francesco zu Assisi mehrere 
Stücke in S. Francesco zu Bologna und in schwe- 
dischem Privatbesitz zugeteilt werden. 

Der dritte Abschnitt von Siréns Buch führt uns 
nach Fiorenz. Der Verfasser weist darauf hin, 
daß Malernamen hier schon seit der Mitte des 
ra, Jahrhunderts nachgewiesen worden sind, aus 
dem 13. Jahrhundert etwa 30 Namen in Doku- 
menten vorkommen. Dennoch werden die er- 
haltenen Werke unter ganz wenigen Persönlich- 
keiten zusammengefaßt. Coppo di Marcovaldo 
macht den Anfang. Die zu Anfang des 14. Jahr- 
hunderts in Hauptpartien übermalte Madonna in 
der Kirche der Servi zu Siena, deren Signatur 
und Datum 1261 zwar nicht erhalten, aber in 
glaubwürdiger Weise überliefert wird, führt zu 
der schon von L. Douglas vermuteten Attribution 
der halbplastischen Madonnentafel in S. Maria 
Maggiore zu Florenz an Coppo. Die weiteren 
Attributionen einer großen, sehr bedeutenden Ma- 
donna in der Kirche der Servi zu Orvieto (zuerst 
von Perali ausgesprochen) und eines Crucifixus 
in 8. Domenico zu Arezzo entbehren voller Über- 
zeugungskraft. Das Riesenkrusifix in 8. Fran- 
cesco zu Arezzo und ein Kreuz in Castiglione 
Fiorentino werden einem unter Coppos Einfluß 
stehenden Anonymus zugeschrieben. Dafür könnte 
das ziemlich unbedeutende und im Typus ab- 
weichende Kruzifix im Dom zu Pistoja, wenn es 
wirklich, wie P. Bacci wollte, mit dem laut Doku- 
ment 1274 dem Coppo in Auftrag gegebenen 
identisch sein sollte, keinen Pinselstrich von Coppo 
enthalten und müßte dem in der gleichen Ur- 
kunde genannten Sohne des Malers, Salerno di 
Coppo, auf Rechnung gesetzt werden. Für wahr- 


323 


scheinlicher halte ich, daß das erhaltene Stück 
eben gar nicht mit dem urkundlich genannten 
identisch ist. 

Eine glückliche Kombination ist die Aufstellung 
des von Sirén nach dem Hauptwerke der floren- 
tinischen Akademie benannten „Magdalenen- 
meisters“, wenn es auch sich dabei nicht um 
eine Person, sondern um eine Gruppe handeln 
dürfte: drei Madonnen in Berlin, Poppi (Casentino) 
und Rovezzano werden überzeugend angereiht. 
Bezüglich der letzteren erwähnt Sirén, ich hätte 
sie früher (Monatshefte für Kunstwissenschaft II, 
1909, 8. 66 mit Abb.) dem Coppo di Marcovaldo 
zugeteilt. Das ist ein Irrtum: ich habe sie als 
Zwischenstufe zwischen Coppos und Cimabues 
Kompositionsart von der Hand eines toskanischen 
Malers um 1265 bezeichnet. Das trifft auch heute 
noch zu. Bei Besprechung der ebenfalls dem 
„Magdalenenmeister“ zugeteilten Altartafel der 
Jarves Collection in New Haven, Conn. (S. 273) 
verwechselt Sirén die Heiligen Leonhard und Lau- 
rentius, wenn er es als ikonographische Willkür 
des Malers bezeichnet, daß der hl. Leonhard ohne 
Rost dargestellt sei. 

Der letzte Abschnitt des florentinischen Kapitels 
ist Cenni di Pepo, genannt Cimabue, gewidmet. 
Über Wesen und Bedeutung keiner anderen Künstler- 
persönlichkeit ist seit Jahrhunderten mit solchem 
Aufwand von Scharfsinn und so widersprechenden 
Ergebnissen diskutiert worden. Besitzen wir doch 
sogar ein interessantes Buch über „das literarische 
Porträt’des Giovanni Cimabue“ (von Ernst Benkard, 
München 1917). Gerade weil die dokumentarischen 
Grundlagen äußerst gering sind, eine Erwähnung 
als Zeuge inRom 1272 und die Arbeit am Apsis- 
mosaik des Doms von Pisa 1301 und 1302, war 
der Diskussion nach der positiven wie nach der 
negativen Seite hin freie Bahn gegeben, Siren 
reiht in der Zeit rückschreitend an den einzig be- 
glaubigten Johannes des Pisaner Mosaiks die Ma- 
donna aus 8. Trinita in den Uffizien, die Madonna 
aus Pisa im Louvre, die Freskomadonna in Assisi 
und diejenige der Servi zu Bologna an, in welchem 
Ergebnis er sowohl mit Thode (Repertorium 1890) 
als den von mir geäußerten Annahmen (Jahrbuch 
der preuß. Kunstsammlungen 1905) übereinstimmt. 
Auch bezüglich des Kruzifixes des Museo dell’ 
opera di 8. Croce befinden wir uns völlig in Über- 
einstimmung. Drei Halbfiguren der Sammlung 
Hamilton in Amerika figt Sirén auf Grund von 
Photographien hingu. Vortrefflich und in Einzel- 
heiten auch nach Thode und Aubert (Die male- 
rische Dekoration der San Francescokirche in Assisi, 
ein Beitrag zur Lösung der Cimabue-F rage, Leipzig 


324 


1907) noch aufschlußgebend sind Siréns Betrach- 
tungen über die Fresken in Chor und Querschiff 
der Oberkirche von San Francesco, welche Sirén 
mit Thode um 1280 datiert, und in denen er Cima- 
bues Anteil auf Chorapsis (mit dem Marienleben) 
und südliches Querhaus (Apokalypse und Kreuzi- 
gung) beschränkt, während die Malereien des nörd- 
lichen Querschiffarms (Szenen aus dem Leben 
Petri und zweite Kreuzigung) einem vielleicht 
römischen Mitarbeiter Cimabues zugeschrieben 
werden. Die Zuschreibung der Fresken im nörd- 
lichen Querschiffarm an einen Nachfolger Cima- 
bues (statt Cimabue selbst) hatten früher schon 
Zimmermann und Frey vertreten, 

In die geschlossene, in ihrem formalen Cha- 
rakter sehr einheitliche Reihe der Werke Cima- 
bues paßt nun aber die vielgenannte Madonna 
Ruccellai absolut nicht hinein. Es ist bekannt, 
daß viele Forscher sie mit einem 1285 bestellten 
Werke des Sienesen Duccio identifizieren, sowie 
daß ich vor Jahren (Jahrb. d. preuß. Kunstsammi, 
1905) einen eigenen, vorläufig anonymen „Meister 
der Ruccellaimadonna“ aufgestellt habe. Die 
Duccio-Hypothese hilft mir Sirén aufs neue ent- 
kräften. Wenn er aber dann sich nicht anders 
helfen kann als durch die Annahme, ein von 
Duccio entworfenes Bild sei von Cimabue voll- 
endet worden, so verkennt er doch m. Е. völlig 
die ausgeprägte Eigenart des Bildes. Alles, was 
Sirén darüber sagt, hat mich im Verein mit der 
vor wenigen Monaten erneuten Untersuchung des 
Originals in meiner früheren Überzeugung nur 
bestärkt. Die Madonna Ruccellai ist weder ein 
sienesisch angelegter Cimabue noch ein unter 
der Merbheit Cimabues verkappter Duccio, son- 
dern das Flauptwerk einer Gruppe, die ich 1905 
schon zusammengestellt habe, und die nicht näher 
untersucht zu haben ich Sirén zum Vorwurfe 


‚machen muß. Sirén hätte doch bedenklich wer- 


den müssen, wenn jetzt auch Rintelen meine 
Hypothese annimmt, ferner wie ich höre, Berenson 
und Loeser gleicher Ansicht sind. Wenn ein so 
feiner Kenner wie Mario Salmi mir bezüglich der 
Kruzifixe in S. Stefano zu Paterno und in S.Maria 
del Carmine zu Florenz zustimmt, Ist es eine 
unerlaubte Flüchtigkeit Siréns, meine Aufstellung, 
die ibm nicht in den Kram paßt, in einer kurzen 
Anmerkung beiseite zu schieben. Die Uberein- 
stimmung der Madonna aus Crevole in Siena, 
die Sirén ganz verschweigt, ist unbezweifelbar — 
auch Weigelt, der gewissenhafteste Duccioforscher, 
stimmt mir bei — und durch Bekanntmachung 
der Madonna der Sammlung Verzocchi in Mai- 
land hat Sirén héchstwabrecheinlich das Oeuvre 


meines großen Anonymus um ein wichtiges Stück 
bereichert. Sirén möchte es Cimabue zuschreiben, 
dann fühlt er doch wieder den Gegensatz zu 
dessen Werken, kurz, er bleibt zweifelbaft. Da 
ich bisher nur eine, allerdings sehr gute, große 
Photographie kenne, äußere ich meine Vermutung 
mit aller Vorsicht. Man versichert mich, auch 
die Farbengebung stimme mit der großen Tafel 
von 8. Maria Novella überein. 

Als Beitrag sur Dugentoforschung wird man 
Siréns Buch nicht jeden Nutzen absprechen können. 
Statt systematischer Durchforschung des reichen 
Schatzes hat Sirén aber nur eine lokal beschränkte 
und teilweise durch willkürliche Zusammen- 
pressung auf Künstlernamen in ihrer Verwend- 
barkeit verminderte Materialsammlung gegeben. 
Bezüglich des Stiles der Dugentomalereien bleibt 
Sirén an teilweise feinsinnigen Beschreibungen 
äußerlicher Eigentümlichkeiten haften; das Wesen 
derselben wird weder im historischen, noch im 
ästhetischen Sinne erschlossen, da weder die 
nationalen und die byzantinischen Grundlagen 
klar präzisiert erscheinen, noch von dem Ver- 
hältnis zu (beziehungsweise Bedingtheit von) der 
gleichzeitigen Architektur und Skulptur überhaupt 
die Rede ist. Volles Lob verdient die Ausstattung 
des Buches und dessen reiche und gute Illustrie- 
rung, die viel neues und sonst unerreichbares 


Abbildungsmaterial enthält. 
Wilhelm Suida, 


GEORG WEISE, Die gotische Holz- 
plastik um Rottenburg, Horb und 
Hechingen. Erster Teil: Die Bildwerke 
bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. (For- 
schungen zur Kunstgeschichte Schwabens 
und des Oberrheins, 1. Heft.) 208 Seiten 
8° mit 6r Abbild. und Karte. Alexander 
Fischer, Tübingen 1921. 


Es ist besonders zu begrüßen, daß dies ein- 
fache Thema von maßgebender Seite bearbeitet 
worden ist. Man weiß, auch aus der süddeutschen 
Plastik, worin äbnlich bescheidenen und scheinbar 
undankbaren Stoffen so sehr geschadet werden 
kann: aus der Bemühung um greifbarere Resul- 
tate entstehen und erklären sich leicht zu weit- 
gehende Zuschreibungen mehrerer Werke an die 
gleiche Person oder Werkstatt. Die Zurückhal- 
tung in dieser Hinsicht, vom Verfasser in seiner 
Einleitung beredt nnd nachdrücklich empfohlen, 
ist ein besonderes Verdienst der Veröffentlichung, 
der — auch außerhalb der mit ihr begonnenen 
und hoffentlich schnell weiterschreitenden Reihe — 


dringend Nachfolge gewünscht sei. Nur so kann 
angesichts der stiefmütterlichen Behandlung der 
Plastik durch die älteren Inventare eine zuverläs- 
sige Unterlage für zusammenfassende Stilunter- 
suchungen gewonnen werden. 

Das besprochene Gebiet enthält als katholische 
Enklave ein ziemlich reiches, übrigens fast aus- 
schließlich altarloses plastisches Erbe; die ältesten 
erhaltenen Figuren entstammen der Mitte des 
14. Jahrhunderts, die Entwicklung wird verfolgt 
bis über das Einsetzen des eckigen Faltenstils 
binaus. Die Unabhängigkeit von der Kunstübung 
der weiteren Umgebung wird für die Hauptmenge 
mit Recht betont, und „es entsteht das Bild des 
gleichzeitigen Wirkens einer ganzen Reihe 6rt- 
licher Schulen und einzelner Künstler, deren Zu- 
sammenbang untereinander kein allzu reger ge- 
wesen sein kann“. So steht z. В. jede der Figu- 
ren aus dem 14. Jahrhundert für sich allein. Unter 
ihnen ist von Interesse die verhältnismäßig sehr frühe 
Anna (ursprünglich selbdritt) in Haigerloch, deren 
Datierung um 1375 und Deutung überzeugen; auch 
der mit Vorbehalt gegebenen Datierung des be- 
merkenswerten Kruzifixes in Taberwasen um 1390 
möchte ich zustimmen, wenn auch dieser Fall noch 
der — hoffentlich erfolgenden — näheren Prüfung 
bedarf (bei der das schöne Hechinger Kruzifix 
vielleicht zugunsten des Taberwaseners ein Stück 
herabrücken wird). Erst für das ı5. Jahrhundert 
gelingt ein mehrfaches Aufweisen näherer Zu- 
sammenhänge. Zunächst für drei Figuren im 
Spital zu Rottenburg (um 1400), dann für sechs 
in Poltringen, denen sich weitere in Rexingen, 
Weildorf, Horb, Weggental und Owingen an- 
schließen und deren Gemeinsamkeiten sorgfältig 
analysiert werden; hier wird auch die glaubhafte 
Aufstellung eines „Meisters der Weggentalgruppe“ 
bzw. seiner Werkstatt erreicht, dessen Kunst schon 
über die Jahrhundertmitte hinausgreift. 

Innerbalb der genannten größeren Gruppe inter- 
essiert die Madonna der Altertümersammlung in 
Horb ebenso durch ihre Schönheit wie als Beweis 
der Entstehung eines ganz originell erscheinenden 
Werkes unter überraschend genauer Wahrung 
eines formalen „Rezepta“ (Madonna in Weildorf). 
Unter den mehr alleinstehenden Stücken fällt vor 
allem der schöne Vesperbildtorso in Bildechingen 
auf, der allerdings kein einheimisches Werk ist, 
sondern offenbar — wie ich dem Text 8.18 gegen- 
über betonen möchte, ausnahmsweise (vg!.Demmler 
in „Berliner Museen“ 1921) — regelrecht impor- 
tiert ist, und zwar, nach der starken Ähnlichkeit 
mit dem Badener Stück in Berlin zu urteilen, aus 
Österreich. Mit Recht wird auf den Zusammen- 


325 


bang der bekannten Madonna der Sammlung 
Rieffel (aus Wessingen) mit Meister Hartmann 
hingewiesen und ihnen in der späteren Madonna 
der Friedhofskapelle in Bisingen (um 1440) eine 
reizvolle entfernte Verwandte beigesellt, die den 
Stil jener aus dem linien- und flächenhaft Zarten 
ins kugelig Derbe übersetzt. 

Ein Versehen ist auf 8.41 f. der vergleichende 
Hinwels auf den Poltringer Laurentius Abb. 24 
statt den Stefanus Abb. 25. 

Papier und Druck des Bändchens sind vortreff- 
lich, das Abbildungsmaterial dank einer hoch- 
herzigen und gerade für solche Publikationen nach- 
ahmenswerten Stiftung fast vollständig und sehr gut. 


Wolfgang Stechow. 


BURGER-SCHMITZ-BETH, Die deut- 
sche Malerei vom ausgehenden 
Mittelalter bis zum Ende der Re- 
naissance. Drei Bände mit 719 Seiten, 
812 Textabbildungen und 49 ein- oder 
mehrfarbigen Tafeln. Akademische Ver- 
lagsgesellschaft Athenaion, Neubabelsberg 
bei Berlin. 


Seitdem Janitschek seine groß angelegte Ge- 
schichte der deutschen Malerei schrieb, hat eine 
ganze Generation von Kunstgelehrten nicht ge- 
wagt, diesen Versuch zu wiederholen. Wohl be- 
sitzen wir seit einigen Jahren die sehr brauch- 
bare, zusammenfassende Darstellung der deutschen 
Tafelmalerei zwischen 1350 und ı550 von Curt 
Glaser, aber dieses Buch ist infolge seiner Knapp- 
heit, ganz abgesehen von der Beschränkung auf 
die Tafelmalerei, nicht geeignet, in den Geist der 
Epoche einzuführen. Gerade das aber war ein 
Hauptziel Burgers, in dessen Persönlichkeit ja 
sich der Gelehrte mit dem Künstler stritt, ein 
Ziel, das er in jedem Bande des von ihm be- 
gründeten Handbuchs durchgeführt wissen wollte: 
„Der Leser soll nicht erst sich durch den ganzen 
Gang der Ereignisse hindurchwinden, und von 
einer Persönlichkeit zur andern wandern müssen, 
um langsam Interesse und Liebe auf diesem 
Dornenweg für die Sache zu gewinnen, sondern 
er soll mit beiden Füßen zugleich in diese hier 
zu behandelnde Welt treten, mit ihr denken, hassen 
und lieben lernen, ihre Wesenheit als Ganzes 
schauen, bevor er den ganzen Reichtum ihrer in 
der geschichtlichen Folge sich darbietenden Einzel- 
züge kennenlernt.“ Aus diesem Grundsatz ergibt 
sich der Aufbau des ersten Bandes. Der eigent- 
lichen historischen Darstellung sind drei umfang- 


326 


reiche Kapitel vorangestellt: Über Wert und 
Wesen der deutschen Kunst der Renaissance — 
Vom Mittelalter zur Renaissance — Kunst und 
Künstler. Es ist hier der ganz hervorragende 
Versuch gemacht, sich in die kulturellen, ästheti- 
schen und technischen Eigentümlichkeiten der 
deutschen Renaissancemalerei einzufühlen und 
ihren Eigenwert herauszuheben, den man über 
der intensiven Beschäftigung mit der italienischen 
Malerei nicht hat sehen können. Burger hat da- 
bei dieselbe Absicht, die auch Janitschek in seinem 
Werke verfolgte, nämlich für alle die zu schreiben, 
die ein inneres Verhältnis zur Kunst besitzen, 
nicht nur für den engen Kreis der Fachgsnossen, 
um damit auch zugleich zu höherer Schätzung 
der deutschen Malerei beitragen zu können. Auf 
den allgemeinen Teil folgt dann die historische 
Darstellung der böhmischen und daran anschließend 
der bayerisch - österreichischen Malerei. Burger 
hat eine Reihe von Problemen (z. B. die der Per- 
spektive) in die Darstellung hineingenommen, 
deren Behandlung in einem Handbuch der Kunst- 
geschichte man bisher nicht gewöhnt war. Aber 
da es sich hierbei zum Teil um Dinge handelt 
die von der Forschung noch längst nicht genügend 
durchgearbeitet sind, so begab sich Burger in 
eine Schwierigkeit, deren er nicht immer Herr 
geworden ist; denn auf der anderen Seite stand 
die Forderung eines Handbuches nach klarer Über- 
schaubarkeit des Stoffes und Sicherheit der Aus- 
wabl, Diese Forderung konnte nicht immer er- 
füllt werden; dennoch aber bleibt die Behandlung 
jener Probleme ein großes Verdienst, denn sie 
gehören unbedingt dazu, einen Begriff vom Wesen 
der deutschen Malerei zu geben. Neben dem 
Interesse am rein Formalen tritt bei Burger, der 
ја ein durchaus philosophischer Kopf war, das 
Bestreben stark hervor, den Wandel der Welt- 
anschauung an dem Wandel von Stil und Inhalt 
der Bilder zu studieren. Das macht sein Werk 
für den Kulturhistoriker besonders interessant, der 
einen Ausschnitt deutscher Kultur- und Geistes- 
geschichte hier einmal von der Seite der bilden- 
den Kunst her beleuchtet sieht. Die Feinheit der 
formalen Analyse und die Tiefe der psychologi- 
schen Interpretation der Bilder bereiten vielfach 
hohen Genuß. Einer der wichtigsten Gesichts- 
punkte, von dem aus Burger Formanalyse gibt, 
ist das künstlerische Gestaltungsprinzip, der Wie- 
derholung eines bestimmten, charakteristischen 
Formmotivs, um die Eindringlichkeit des Bild- 
gedankens, dessen Träger jenes Formmotiv ist, 
zu steigern. Burger ist Meister in der Ausdeutung 
der Pbysiognomie einer Linie oder eines Linien- 


komplexes, oder im Auffinden geheimer Be- 
ziehungen zwischen scheinbar heterogenen Bild. 
teilen. Zwar meldet sich dabei hin und wieder 
der leise Zweifel, ob die gleiche Methode, die 
Burger in so fruchtbarer Weise bei der Inter- 
pretation moderner Kunstwerke (siehe sein Buch 
Cézanne und Hodler) angewendet hat, auch auf 
eine Jahrhunderte zurückliegende Kunst in der- 
selben Weise angewendet werden darf; aber man 
vergißt diesen Zweifel oft über der Bereicherung, 
die man durch die Burgerschen Analysen erfährt. 
Den an andere Handbücher gewöhnten Leser wird 
die große Menge sehr eingehender Analysen über- 
raschen, die den Zug der Darstellung aufhalten 
und den roten Faden der historischen Entwicklung 
oft nicht genügend hervortreten lassen. Hier muß 
ein prinzipieller Punkt berührt werden. Wir sind 
heute dabei, neben der Kategorie der Entwicklung, 
die uns als vorzüglichstes Mittel zum Begreifen 
der Vergangenheit dienen mußte, auch einer an- 
deren Kategorie ihr Recht zu geben: Der Be- 
trachtung der Dinge auf ihre Zuständlichkeit, auf 
ihren eigentümlichen Charakter bin; kurz, der 
Betrachtung des Seins neben der des Werdens. 
Selbst in der Biologie, der Entwicklungswissen- 
schaft хат’ &foyjv hat man diese Forderung er- 
hoben, und für die Geschichtswissenschaft genügt 
es, auf Spengler hinzuweisen. Auch Burger ge- 
hört in seiner innersten Position dieser Richtung 
an, und das ist es vor allem, was seine Art, Kunst- 
geschichte zu schreiben, von der anderer unter- 
scheidet. 

Die erste Hälfte des zweiten Bandes fährt fort 
mit der Geschichte der Österreichisch -bayrischen 
Malerei und geht dann über auf Schwaben, den 
Oberrhein und die Schweiz bis 1420. Zum weit- 
aus größten Teil hat Burger das selbst noch 
schreiben können; anderes wurde auf Grund seiner 
hinterlassenen Aufzeichnungen von Beth und 
Brinckmann bearbeitet, den Rest leistete Beth 
allein. Von der zweiten Hälfte des zweiten Bandes 
an (Niederdeutschland) hat Hermann Schmitz das 
Ganze allein zu Ende geführt, bis auf die Ein- 
leitung zum dritten Bande, die noch von Beth her- 
rührt. Dieser dritte Band ist Oberdeutschland 
gewidmet mit der Gestalt Dürers im Mittelpunkt. 
Dem Umfange nach ist der Anteil von Schmitz 
etwa ebenso groß wie der Burgers. 

Burger hat das große Verdienst, auch die Glas- 
malerei, die ja im allgemeinen immer noch für 
die Kunsthistoriker zu einer terra incognita ge- 
hört, sehr ausführlich in den Kreis der Betrach- 
tung einbezogen zu haben, und diese Seite der 
Sache fortzusetzen, war wohl keiner geeigneter 


als Schmitz, einer der besten Kenner der Glas- 
malerei. In manchen anderen Punkten zeigen 
sich dagegen erhebliche Unterschiede gegenüber 
der Burgerschen Behandlungsweise. 

Man merkt bei Burger oft geradezu das Be- 
streben, von den gewohnten Bahnen abzuweichen. 
Schmitz ist konservativer. Burger sieht auf Schritt 
und Tritt Probleme, die ihn nicht immer zu einer 
klaren, einheitlichen Erfassung kommen lassen. 
Schmitz gibt einen ruhigeren Fluß der Darstellung;: 
er liest sich leichter, da man nicht so oft durch 
ausgedehnte Analysen aufgehalten wird. Alles 
erscheint klarer, einfacher. Schmitz analysiert 
anders. Er ist im Gegensatz zu Burger nicht im 
geringsten beeinflußt von der Methode der reinen 
Formanalyse, die wir bei den Erzeugnissen der 
modernsten Malerei zu üben pflegen. Auf der 
einen Seite ist damit sicherlich manches ge- 
wonnen, auf der anderen Seite aber auch manches 
verloren. Bei Burger hebt sich die Geschichte 
der Malerei ab von dem tiefen und weiten Hinter- 
grunde der Weltanschauung; auf ihren Wandel 
ist immer und immer wieder der Wandel des 
Kunstwollens bezogen. Bei Schmitz dagegen ist 
der Blick näher eingestellt auf den kulturgeschicht- 
lichen Untergrund, auf dem die Kunst rubt und 
wächst, wobei selbstverstindlich gesagt werden 
muß, daß der Unterschied in praxi nicht immer 
so streng ist, wie er in der Formulierung erscheint. 
Burger hatte das Werk von vornherein zu um- 
fangreich angelegt. Hätte er in der Art fortfahren 
wollen, wie er die böhmische Schule behandelt 
bat (die übrigens noch in keiner zusammenfassen- 
den Darstellung so eingehend und tiefdringend be- 
handelt worden ist wie hier!), dann hätte das vor- 
iegende Werk sechs Bände haben müssen. Schmitz 
hat diese breite Anlage auf ein knapperes Maß 
zurückgeführt. 

Gewiß wird der Spezialforscher an dieser Ge- 
schichte der deutschen Malerei im einzelnen viel 
auszusetzen haben. Aber wenn man bedenkt, 
welche großen Schwierigkeiten gerade dieser Stoff 
einer handbuchmäßigen Verarbeitung bereitete, 
so muß man den Verfassern überaus dankbar sein, 
daß sie uns dieses Werk geschenkt haben. Eine 
Menge fruchtbarer Anregungen sind darin ent- 
halten. Denn gerade das muß gegenüber anderen 
Handbüchern betont werden, daß in diesem Werke 
nicht nur zusammengefaßt und gegliedert wird, 
sondern daß an vielen Stellen neue Forschungs- 
arbeit geleistet ist. Sicherlich läßt das Ganze, be- 
sonders in seinem ersten Teil, an Klarheit manches 
zu wünschen übrig. Aber das liegt nicht zum 
wenigsten an der Gesamtsituation unserer Kenntnis 


327 


dieser Dinge. Wir fühlen nicht nur, daß unsere 
Übersicht des Materials lückenhaft ist, sondern 
wir sind uns auch noch nicht über die Methode 
seiner Verarbeitung im klaren. Soviele anregende 
Gesichtspunkte haben wir in letzter Zeit aus der 
Philosophie, der Psychologie, der Kulturgeschichte, 
der Sprachforschung, ja der Biologie und nicht 
zuletzt aus der modernsten Kunst gewonnen, daß 
wir noch gar nicht wissen, was von all dem 
vielen brauchbar ist und was nicht, um die Kunst 
der Vergangenheit zu begreifen. 

Zum Schluß verdient noch die glänzende Aus- 
stattung des Werkes hervorgeboben zu werden; 
besonders der erste Band, der noch nicht unter 
den Bedrängnissen der Kriegszeit zu leiden hatte, 
zeichnet sich durch eine außerordentliche Reich- 
haltigkeit und Qualität des Abbildungsmateriales 
aus. Jahn. 


A. SCHMARSOW, Kompositions- 
gesetze in der Kunst des Mittel- 
alters. IL (Forschungen zur Form- 
geschichte der Kunst, herausgegeben von 
Eugen Lüthgen, Bd. 3). Verlag von 
K. Schroeder, Bonn — Leipzig, 1920. 


DERSELBE, Gotik in der Renais- 
sance. Verlag F. Enke, Stuttgart 1921. 


In Schmarsows Gelehrtenlaufbahn ist von An- 
fang an, und dann in immer zunehmendem Maße 
neben der analytischen Einzelforschung das Be- 
mühen um Synthese, um die Klarlegung innerer 


Gesetzlichkeiten für die Genesis, wie für die. 


ästhetische Wirkung des Kunstwerkes hervor- 
getreten; der Kunsthistoriker der „Masaccio- 
Studien“, des „Melozzo“, der „Oberrheinischen 
Malerei“ hat sich immer mehr in den Kunst- 
wissenschafts-Forscher gewandelt, wie er 
z. B, in „Barock und Rokoko“, in den „Kunst- 
geschichtlichen Grundbegriffen“, und dann na- 
mentlich in verschiedenen kompositionsgesetz- 
lichen Schriften sich zu erkennen gab: über Ghiberti, 
über die mittelalterliche Glasmalerei, die Franz- 
legende in Assisi, zuletzt in dem zusammenfassen- 
den Abschlußwerk der „Kompositionsgesetze“, 
dessen erster Halbband (schon 1915 erschienen) 
die Grundlegung und den romanischen Kirchen- 
bau enthält. 

Der nunmehr vorliegende zweite Band bringt 
die Besprechung des gotischen Kirchenbaus in 
seinen Einzelformen wie in der Gesamtanlage des 
Innenraums, dazu den Außenbau unter Ein- 


328 


beziehung der hierfür noch ausstehenden roma- 
nischen Periode, 

In der Spitzbogenform der Arkaden, Wölbungs- 
profile und Fenster erkennt Sch. — mehr als das 
populäre äußerliche Kennzeichen — ein grund- 
legendes Element der neuen gotischen Gestal- 
tungsweise: statt der glatt ablaufenden Rundbogen- 
Reihung, die Gruppierung des Bauganzen aus in 
sich paarig geschlossenen, vertikal konzentrierten 
Einheiten; dazu der „mimische“ Ausdruckswert 
dieser Form, der als „Grundmotiv des gotischen 
Wesens selber“ nicht nur ein optisch erfaßtes, 
sondern für den darunter Einherschreitenden ein 
allgemein physisch-seelisches Erlebnis wird. Im 
Hinweis aber auf solche Reagenz der allgemeinen 
Körpergefühle den architektonischen Gebilden 
gegenüber — die selbst gleichsam verkörperte 
Ausstrahlungen sind der architektonischen Raum- 
und Körpervorstellung des Baumeisters und als 
solche auch nur von der ganzen organischen 
Wesenheit des aufnehmenden Subjekts erfaßt und 
erlebt werden können — in diesem fundamentalen 
Hinweis liegt der Kern von Schmarsows Kunst- 
lehre beschlossen, 

Wie Sch. diese Grundauffassung nun an den 
einzelnen Denkmälern und Denkmalgruppen durch- 
führt, durch die ganze Früh- und Hochgotik Frank- 
reichs und Deutschlands hin, und wie sich da- 
bei von Schritt zu Schritt immer neue Einblicke 
in den geheimnisvollen Organismus des Stils und 
seine gesetzmäßigen inneren Zusammenhänge er- 
öffnen, das kann im einzelnen nicht erörtert wer- 
den. Alle die vielen in Sch.s Darlegung ent- 
wickelten Ergebnisse wird nur der Leser des 
Buches selbst durch persönliche Nachprüfung sich 
auf seine Weise — bedingt oder unbedingt — 
zu eigen machen können. Ref, muß bekennen, 
daß ihm aus Schmarsows Buch eine außerordent- 
lich wertvolle Bereicherung und vielfache Ver- 
tiefung des eigenen Verhältnisses zur Architektur 
des Mittelalters zuteil geworden ist, Auch in 
bezug auf architekturgeschichtliche Methodik und 
in der feingeschliffenen sprachlichen Form der 
analytischen wie der synthetischen Partien (die 
nur bisweilen in eine fast allzu gezierte und ge- 
drechselte Periodenbildung sich verfängt), hat das 
Buch einen vielseitig wirksamen und bedeutungs- 
vollen Anregungswert. 

Schmarsow hat nun auch schon selbst in der 
leinen Schrift „Gotik in der Renaissance“ 
eine weiterführende Auswertung seiner in den 
Kompositionsgesetzen niedergelegten Erkenntnisse 
gegeben und aufgezeigt, wie viel gotischer Tra- 
dition noch durch die ganze italienische Früh- 


renaissance hindurch lebendig bleibt. In einer 
speziell in die Periodentrennung von Burckhardts 
Cicerone einhakenden Kritik wird dargelegt, wie 
=. В. bei Ghibertis erster Bronzetür die gotischen 
Kompositionsprinzipien sogar noch entschiedener 
sich auswirken als selbst bei seinem Vorgänger 
Andrea Pisano, wie ganz aus mittelalterlich welt- 
abgewandter Kontemplation die Kunst Fra Ange- 
licos sich entfaltet, wie aber auch noch Filippo 
Lippi in seinen Prateser Fresken an der ,konti- 
nuierlichen Erzählungsweise“ des Trecento fest- 
hält, und endlich Botticelli und mit ihm manche 
andere Genossen des ausgehenden Quattrocento 
geradezu auf die Proportionierung und auf ge- 
wisse Bewegungs- und Kompositionsmotive der 
Gotik zurückgreifen. Wenn nun auch manche 
Einzelanalysen im Verlauf von Sch.s Unter- 
suchung zum mindesten diskutabel bleiben, so 
wird man sich dem Gesamtergebnis nicht leicht 
entziehen können, daß die Reallstik der Früh- 
renaissance noch keine fundamentale Umwand- 
lung des ganzen Stils gebracht hat, und daß also 
um 1500 erst, nicht um 1400, der eingreifendste 
Periodenabschnitt liegt. Wackernagel. 


DIE DENKWURDIGKEITEN des floren- 
tinischen Bildhauers Lorenzo Ghiberti. 
Zum erstenmal ins Deutsche übertragen 
von Julius Schlosser. Berlin, Julius 
Bard 1920. 


Der großen Gesamtausgabe von Ghibertis schrift- 
lichem Nachlaß (1912 erschienen), die das ver- 
diente Interesse in fachwissenschaftlichen Kreisen 
nicht gefunden hat, läßt Schlosser einen kleinen 
Auswahlband, der „Commentarii“ des florentiner 
Bildhauers folgen. Ein einleitender Aufsatz über 
Ghiberti als Schriftsteller und die an den Schluß 
gesetzten Erläuterungen nehmen den Hauptteil 
des Bändchens eln. 

Die Urschrift von Ghibertis Denkwürdigkeiten 
ist verloren gegangen; erhalten ist nur eine nicht 
immer gewissenhafte Abschrift (auf der Staatz- 
bibliothek zu Florenz), die auch Vasari benutzt hat. 

Der alternde Ghiberti, der seine Denkwürdig- 
keiten aus den Erfahrungen seines reichen Lebens 
aufzeichnet, hat darin, ein echter Sohn seiner Zeit, 
Eigenes und Fremdes nicht immer streng aus- 
einandergehalten. Dem spätgriechischen Kriegs- 
baumeister Athenäus entnimmt er so gut wie 
Vitruv und Plinius Wendungen, Tatsachen, Schil- 
derungen und schreibt doch ein durchaus persön- 
liches, auf eigener Anschauung beruhendes, zu- 


Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1932, 10--12. 


verläasiges Buch. Dies gilt namentlich für den 
allerdings nur kursen zweiten Teil. Der dritte 
Teil, eine ungeheure Masse ungeordneten Stoffes, 
ist Fregment geblieben. 

Ghiberti mußte sich seine Kunstsprache zum 
größten Teil selbst schaffen, vorausgegangen war 
seinen Aufzeichnungen nur Albertis Buch über 
Malerei. Der Gelehrte geht naturgemäß anders 
an die Dinge heran als der Mann des Handwerks, 
der aus unmittelbarer Anschauung redet. 

Interessant ist Schlossers Hinweis, daß das 
Wort „bello“ und „bellezza“ in Ghibertis Kunst- 
sprache fehlt. Erst reichlich anderthalb Jahr- 
hunderte später, zur Zeit des italienischen Klassi- 
zismus, erhalten Begriff und Ausdruck ihre zen- 
trale Bedeutung. Wenn Ghiberti Schönheit an- 
deuten will, so gebraucht er gelegentlich den 
Ausdruck „Dolcezze“. Er ist Künstler genug, um, 
trotz genauester Inhaltsangaben, die Form seines 
Kunstwerks als wesentlicher denn den Inhalt zu 
empfinden. 

Schlosser ist der Überzeugung, daß die Wen- 
dung zur „Ausdruckskunst des Mittelalters“, in 
deren Zeichen wir stehen, dazu beitragen wird, 
das etwas verblaßte Interesse für den Künstler 
Ghiberti zu beleben. Ob diese Annahme stimmt, 
bleibe dahingestellt. Von der Ausdruckskraft 
mittelalterlicher Liniensprache ist in Ghibertis 
Kunst, die an der Wende zweier Weltanschauungen 
steht, wenig zu spüren. Rosa Schapire. 


JOSEPH BERNHART, Holbein der 
Jüngere. O. C. Recht Verlag, München 1922. 


Der Verfasser begreift Holbein als Repräsen- 
tanten nordisch-germanischen Geistes gegenüber 
südlich-lateinischer Wesensart. Er gibt in popu- 
lärer Weise eine knappe Erzählung des Lebens- 
laufes, eine Aufzählung der wichtigen Werke, 
eine Schilderung des mitformenden Milieus (Augs- 
burg, Basel, London) und der Zeitverhältnisse. 

VorzüglicheLichtdruckreproduktionen nachRötel- 
zeichnungen erhöhen die Worte des Textes. Mit 
guter Einfühlungsfähigkeit charakterisiert Bernhart 
die Arbeiten nach der ersten Londoner Periode: 
neben intensiver, künstlerischer Wahrhaftigkeit den 
Hauch von Konvention, der sich einstellt. 

Suarés hat freilich in einem einzigen Kapitel in 
„Die Fahrten des Condottiere“ die Persönlichkeit 
des weisen und kühlen Menschendarstellers Hol- 
bein intuitiver erfaßt und mit swingenderer Ein- 
dringlichkeit vor uns hingestellt. 

Sascha Schwabacher. 


22 329 


WILHELM v. BODE, Studien über 
Leonardo da Vinci. Mit 73 Abbildgn. 
G. Grotesche Verlagsbuchhdig., Berlin. 


Diese aus einer Reihe von größeren und kleine- 
ren Aufsätzen (die Bode seit seinem ersten Auf- 
enthalt in Italien vor 50 Jahren veröffentlichte) 
herausgewachsene Arbeit legt den heutigen Stand- 
punkt des Verfassers bis in Einzelheiten fest. Wie 
bekannt sind wichtige Zuschreibungen wie das 
Porträt der Ginevra de’ Benci in der Galerie Liech- 
tenstein und ,Die Auferstehung Christi“ in Berlin 
durch Bode erfolgt, die ein Verdienst bleiben wer- 
den. Anders die vielumstrittene Fiorabüste. 

Bode glaubt auch mit Sicherheit die drei Relief- 
tafein der „Zwietracht“ (London, Victoria- und 
Albertmuseum), „Stäupung Christi“ (Perugia, Uni- 
versität) und „Beweinung Christi“ (Venedig, Chiesa 
del Carmine) Leonardo zuschreiben zu müssen. 
Die Stilverschiedenheit unter diesen Werken selbst 
und die Ungezigeltheit des Temperamentes, die 
sich in ihnen ausspricht, im Gegensatz zu der 
Gelassenheit Leonardos, schiebt Bode als unwesent- 
lich zur Seite. 

Auch vielen anderen, zweifelhaften Werken 
gegenüber, wie z. B. „Der jungen Dame mit dem 
Hermelin“ (Krakau, Museum Czartoryski) gelingt 
Bode der Beweis für die Urheberschaft Leonardos 
nicht ganz schlüssig, wenn auch die von W. von 
Seidlitz vorgeschlagene Benennung auf Preda noch 
weniger stichbaltig ist. 

Für die Hypothese Bodes spricht, wie er auch 
immer betont, eines: das große Können. Es ist 
schwer anzunehmen, daß es in der Renaissance 
unbekannt gebliebene Künstler von so freier Bild- 
anschauung, wie sie die Porträts und die „Auf- 
erstehung Christi“ zeigen, gegeben hat, die die 
Urheber dieser Werke sein können. 

Sascha Schwabacher. 


MAXJ.FRIEDLANDER,PieterBruegel. 
Berlin, Propyläen-Verlag. (1922.) 


Dem weiteren Publikum, dem Friedländer seine 
beiden Dürer-Bücher zugedacht hatte, bietet er 
nun auch die endgültige Formulierung seiner An- 
schauungen über einen anderen Großen, der ihn 
jahrzehntelang beschäftigte, über Pieter Bruegel 
den Älteren. Der Stoff kommt des Autors Eigen- 
art schon insofern entgegen, als die Dürfiigkeit 
des Datenmaterials ihn darauf beschränkt, das 
Bild des Künstlers allein aus dessen Werken zu 
entwickeln. Sieben Kapitel setzt der Autor an 
diese Aufgabe, Erörterungen über die Zelch- 
nungen, die Gemälde, die Entwicklung des Mei- 


330 


stera, die Landschaft, das Genre, die religiöse 
Kunst und die Bewegung als einen Wesenszug 
Bruegelscher Darstellung bilden ihren Inhalt. Den 
Brauch der kulturgeschichtlichen Einleitung ver- 
altet zu nennen, wird dem Autor vermerkt werden; 
aber die Quelle, der er folgt, Schillers Abfall der 
Niederlande, ist es sicher. Doch reicht sie aus, 
ja sie charakterisiert mit ihren schroffen Kontra- 
stierungen die Person des Künstlers besser, als 
eine gleichmäßiger steigende es vormöchte. Für 
die Kennzeichnung seiner Kunst, die nicht so 
sehr aus der Zeit als aus dem Blute Bruegels zu 
versteben ist, war von keiner viel zu erwarten. 
Man hat gelegentlich die Frage nach Bruegels 
Herkunft als müßig ablehnen zu müssen geglaubt. 
Dieser Ansicht ist Friedländer keineswegs. Ob 
Bruegel selber noch die Gänse gehütet, oder ob 
dies sein Großvater oder Vater als letzter in der 
Familie getan, ist allerdings nahezu gleichgültig. 
Aber die politische und religiöse Indifferenz seiner 
Darstellungen, das schlaue Sich-Herumdrücken 
um die Probleme der Zeit, wo es gefährlich wird, 
mit ihnen sich zu befassen, das Fehlen jeder ge- 
mütlichen Anteilnahme, sie wäre denn darin ge- 
legen, zu lachen über die Toren, die sich auf- 
lehnen gegen die Tatsache, daß die großen Fische 
die kleinen fressen, die unbeirrbare Bejahung des 
Daseins als einer Selbstverständlichkeit — das 
alles entspricht so wichtigen Zügen der bäuer- 
lichen Seele, daß man von einem Bauernmaler 
Bruegel sprechen könnte, auch wenn dieser nie 
einen Bauern auf die Leinwand gebracht hätte. 
So oder doch ähnlich faßt auch Friedländer den 
Mann. Als der Autor dann im vorletzten Kapitel, 
Bruegels Persönlichkeit analysierend, dessenKupfer- 
stichbildnis von 1572 in die Betrachtung sieht, 
sagt er: „Der Meister sieht keineswegs robust 
oder bäuerisch aus, vielmehr vergeistigt, gütig 
und mild. . . wie ein stiller Denker unter Werk- 
tätigen. . Das Glück gesunder Lebenskraft 
konnte nur aus Krankheitserfabrung so geliebt 
und verherrlicht werden.“ Wire Friedländer 
auch ohne das Blatt zu diesen Schlüssen ge- 
kommen? Sicher ein gutes Bild, ist es auch ein 
gutes Porträt? Die Ansicht, nach der die un- 
bezweifelt echte Zeichnung der Albertina „Der 
aufblickende Maler mit dem Bauern“, ein mit- 
telst zweier Spiegel gezeichnetes Selbstporträt des 
Meisters ist, hat jedenfalls für sich, dessen äußere 
und innere Züge in Einklang zu finden, und dem 
Klugen und Nüchternen die Rolle des Weisen 
und Empfindsamen zu ersparen. Sein Künstler- 
tum wird dadurch nicht berührt. — Friedländers 
Bruegel verlangt einen aufmerksamen Leser und 


auch der wird diesen oder jenen Passus, um ihn 
auszukosten, zweimal lesen müssen. Die Stellen 
des Buches, wo es, die Grenzen einer landläufigen 
Monographie hinter sich lassend, die Absichten, 
Möglichkeiten, Beschränkungen malerischer Dar- 
stellungsweise untersucht, gehören zu den besten. 
So die Bemerkungen über den Geist der Demo- 
kratie in der Vielzahl der Gestalten an Stelle des 
eınen Helden (19), über das Zeichnen nach der 
Natur (58), über die Gegensätzlichkeit des Zeich- 
ners zum Maler (117), über Breit- und Hochformat 
(152) und viele andere. Mit spitzen Fingern, zu- 
weilen etwas pretiös im Anfassen, legt Friedländer 
demonstrierend Falte um Falte in der Seele des 
Künstlers frei, wie Professor Tulp die Nerven- 
bündel am Kadaver in der Anatomie. Des Autors 


Absicht geht, wie er selber sagt, dahin, „mit vielen - 


Schlägen die Art des Meisters einzuprägen.“ Und 
indem er in immer neuen Wendungen Unklares 
ins Licht zu stellen, in immer neuen Bildern Be- 
griffliches anschaulich zu machen versucht, kommt 
etwas Aphoristisches und Retardierendes in die 
Darstellung, erbält die Betrachtung, wie Fried- 
länder von Bruegels Betrachtung der Dinge rühmt, 
etwas Verweilendes, Zerlegendes, Bobrendes, Ab- 
suchendes. Auch sonst erinnert Friedländers 
Weise in seiner Neigung zum Musivischen und 
Abneigung gegen Überschneidungen an das von 
Bruegel zuweilen geübte Verfahren — beiderseits 
„ein Beieinander vieler gleichwertiger Formteile. 
Nur der folgerecht konstruierte Schauplatz macht 
aus dem Bilderbogen ein Bild.“ Auf solche Dinge 
binzuweisen, erfordert bei einem Buche, dessen 
Wirkung so sehr aufs Formale gestellt ist, die 
Achtung vor der Höhe der daran gewendeten Stil- 
kunst, — Die Abbildungen des reich und instruktiv 
ijjustrierten Bandes sind — man möchte sagen: 
zu gut. Wer vor ihnen seine Vorstellungen von 
den Vorlagen nach Maßgabe der Spannung bildet, 
die sonst Klischeedrucke von alten Tiefdrucken 
trennt, kann sich. vor den Originalen leicht ent- 
täuscht fühlen. Die Steigerung des Genusses, 
den diese gewähren, liegt in einer anderen Rich- 
tung, als die ist, nach der die Atlasdrucke vor- 
täuschenden Zinkdrucke weisen. H.Röttinger. 


RUDOLF OLDENBOURG f, Peter 
Paul Rubens. Herausgegeben von W. 
v. Bode. Mit 131 Abbildungen. Verlag 
R. Oldenbourg, München 1922. 

Wer jemals die alte Ausgabe des Rubens in den 
„Klassikern der Kunst“ für seinen Privatgebrauch 
umzugestalten und vor allen Dingen umzudatieren 


versucht hat, der weiß, was neben Namen wie 
Bode, Glück, Haberdital und Burchard in der 
neueren kritischen Rubensforschung R. Oldenbourg 
bedeutet. Die neue Ausgabe des Rubens-Bandes 
war das Resultat dieser Forschungen des so früh 
Verstorbenen und so allgemein Beklagten. Nun 
erscheinen diese Forschungen selbst gesam- 
melt und von W. von Bode herausgegeben, der 
Oldenbourg durch Familienbeziehungen, aber mehr 
noch geistig in vielem verwandt, der Berufene war, 
das Vorwort zu dem Lebenswerk des so viel Jün- 
geren zu schreiben. 

Bequem zusammengestellt, in mäßig großem 
handlichen Format finden sich hier alle Aufsätze 
zusammen, die man sonst mühsam aus dem 
schwerhandlichen Volumen des „Allerhöchsten 
Jahrbuchs“, aus dem „Jahrbuch der preuß, Kunst- 
sammlungen“, der „Zeitschrift für bildende Kunst“ 
u. a. zusammensuchen mußte (wenn man nicht 
das Glück hatte, Separatabzüge zu besitzen). Hier 
finden sich nebeneinander die beiden grundlegen- 
den Aufsätze über die Beziehungen von Rubens 
zu Italien von (1916 und ı8), von denen der zweite 
umfangreichere die schwierige Frage der Nach- 
wirkung Italiens auf Rubens zum Thema hat. 
Daneben werden Einzelfragen erörtert, wie in 
dem frühen Aufsatze über die Imperatorenbilder 
(1915) in Berlin, über „Venus und Adonis“ u. a. 
Noch nicht gedruckt ist der kleine Aufsatz über 
„Repliken von Rubensschen Gemälden“, in der 
in außerordentlich scharfsinniger Weise viel- 
umstrittene Fragen, wie die über die beiden Ver- 
sionen der „Krönung des Tugendhelden“ in Dres- 
den und München, entschieden werden — wesent- 
lich auf Grund stilistischer Kriterien (in diesem 
Fall zugunsten des hochformatigen Münchener 
Bildes). 

Wiewenig unter diesen Einzelbeobachtungen und 
Studien bei einem so feinen Geiste wie Olden- 
bourg das Wesentliche, die Zusammenfassung des 
künstlerischen Wesens von Rubens verloren ging, 
zeigt die kleine Skizze, die er in seiner überaus 
verdienstlichen „Flämischen Malerei“ (dem kleinen 
Handbuch der kgl. Museen in Berlin) von dem 
Entwicklungsgang und dem Charakter der Kunst 
des Meisters gab. Ebenso das Vorwort, das Olden- 
bourg für ein größeres Rubenswerk plante. In 
ein paar Worten ist bier vielleicht das Feinste 
und Persönlichste gesagt, was über das Verhältnis 
des Betrachters zur Kunst überhaupt gesagt wer- 
den kann: daß im Grunde nur dem gegeben 
werden kann, der schon hat. Daß es über der 
intellektuellen historisierende Kunsterkenntnis, die 
nur Durchgangsstadium, ein höheres determinier- 


331 


tes Kunsterfassen gibt, das mit Religion verwandt 
ist — ohne jede mystische Schwärmerei. Nur 
eine Persönlichkeit, die selbst so durch den Kri- 
tisiamus schärfster Observanz durchgegangen war, 
wie Oldenbourg, hat das Recht, solche Werte zu 
prägen. Wie er in diesem hohen Sinn Rubens, 
diesen erdennahen Idealisten, den Menschen unse- 
rer Zeit dargestellt hätte, kann man nur ahnen. 
Nur schwer dürfte sich ein Ersatz dafür finden. 
Denn zu dieser großen Aufgabe gehört ein Mann, 
der die Gabe eines sicheren kritischen Gefühls in 
den Dienst einer höheren Aufgabe zu stellen weiß: 
einer Verinnerlichung des Einzelnen im Verhältnis 
zur Kunst — so wie Oldenbourg es gerade in seinen 
letzten Zeiten versuchte, 

Zu bedauern ist es, daß der schöne Aufsatz von 
Oldenbourg über Jan Lys im Jahrbuch XXXIV 
(vgl. auch den kleinen Artikel: an unidentified 
picture by JanLys in ,Art in America“) nicht als 
Anhang aufgenommen ist, 


W. Friedlaender-Freiburg. 


JOACHIM v. DERSCHAU f, Sebastiano 
Ricci. Ein Beitrag zu den Anfängen 
der venezianischen Rokokomalerei. (Hei- 
delberger kunstgeschichtliche Abhand- 
lungen 6.) Winters Universitätsbuch- 
handlung 1922. 


Die Herausgeber der „Abhandlungen“ haben 
sich ein Verdienst um die Wissenschaft erworben, 
indem sie aus dem Nachlaß des 1918 verstorbe- 
nen Verfassers sein Werk über Ricci heraus- 
brachten. Für ein Erstlingswerk ist diese Arbeit 
erstaunlich, sowohl nach der Sammeltätigkeit hin 
als auch dem geistigen Gebalt nach — auch wenn 
man bedenkt, daß Joachim v. Derschau schon in 
reiferem Alter stand, als er 1914/15 die Hand- 
schrift abschloB. 

Die Arbeit an der Erkenntnis und der wissen- 
schaftlichen Aufhellung des italienischen Dix- 
huitieme ist noch sehr in den Anfängen. Die 
glänzendere französische Rokokomalerei hat dem 
im Wege gestanden. Nur Tiepolo galt als Aus- 
nahme und auch über ihn sind trotz des Buches 
von Sack die Akten längst nicht geschlossen, 
Seb. Ricci gehört freilich noch an die Grenze des 
Jahrhunderts, seine Frühwerke entstammen schon 
den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts, und 
so ist er auch, wie D, nachweist, in seinem Be- 
ginn noch recht bolognesisch und die Beziehungen 
zu den Carracci liegen klar zutage. Auch ist er 
damals viel in Mittel- und Ober-Italien, Bologna, 


332 


Parma usw. tätig gewesen. Erst in den neunziger 
Jahren kommt er zur Entwicklung seines hellen, 
typisch spätvenezianischen Stiles. D, grenzt diese 
Etappen ab und geht über die reine Akribie des 
Ocuvre-Abgrenzens, das freilich das Bestimmende 
und Wichtige bleibt, in erfreulicher Weise in 
tiefere kunsthistorische Fragen über Komposition, 
Raumproblem und äbnliches ein. Gerade für einen 
Künstler, der als Vorläufer so wichtig ist und so 
an der Grenze zweier Zeitalter steht, ist eine 
solche Analyse von besonderem Reiz. So ver- 
einigen sich genaue Kenntnis des Materials (das 
freilich noch Ergänzungen vertragen kann — auch 
durch Kutschera-Woborsky sowie durch Voss er- 
fahren hat) mit einem geschmackvollen Eindringen. 
Monographien in dieser Art (besonders mit dem 


reichlichen Illustrationsmaterial) . wären für die 


ganze Barockmalerei ein dringendes Desiderat. 
W. Friedlaender- Freiburg. 


WILH. LORENZEN, Gammel dansk 
Bygningskultur. Landgaarde og Lyst- 
steder i Barok, Rococco og Empire II. 
Kop. 1920. 


Die Liebe zur Natur und die Pflege der Be- 
ziehungen der lieblichen Landschaft zu den Woh- 
nungen der Menschen ist vielleicht nirgends so 
allgemein und durchgreifend zu beobachten, wie 
gerade in Dänemark. Der dänische Verein für 
die Erhaltung alter Bauwerke hat durch seinen 
sehr tätigen Leiter Wilhelm Lorenzen unter dem 
Titel „Alte dänische Baukultur“ bereits eine Reihe 
von schönen Heften erscheinen lassen. Einzelne 
betrafen die bürgerliche Baukunst von Helsingör, 
von Nästwed und von Christianshafen; die zwei 
neuesten geben nun in systematischer Behandlung 
eine Übersicht über den anziehendsten Teil der 
Leistungen neuerer bürgerlicher Baukunst. 

Es ist in diesem Werke behandelt, was Däne- 
mark an namhaften Landsitzen und Luftorten, 
Garten- und Landschaftsanlagen in der Barock-, 
Rokoko- und Empirezeit geschaffen hat. Es 
wird uns in angenehmer Darstellungsweise vor- 
geführt, wobei der Sinn für die geschichtliche 
Entwicklung leitend ist. Dem ersten schon 1916 
erschienenen Teil ist jetzt der zweite nachgefolgt, 
er bietet auf 87 Seiten Oktav 93 gute Bilder und 
Risse. Der Anhang enthält als Ergänzung lite- 
rarische Nachrichten und das unentbehrliche Re- 
gister zum Ganzen. Haupt. 


MAX HAUTTMANN, Geschichte der 
kirchlichen Baukunst in Bayern, 
Schwaben und Franken von 1550 
bis 1780. München, Verlag für prak- 
tische Kunstwissenschaft, 1921. Mit 105 
Tafelbildern und 90 Textabbildungen. 


Das Buch Hauttmanns gehört, um das Urteil 
vorwegzunehmen, zu den wertvollsten Arbeiten, 
die in letzter Zeit zur Geschichte der deutschen 
Barockarchitektur erschienen sind. Die Vorzüge 
liegen in der umfassenden Kenntnis der Denk- 
wäler, der einschlägigen älteren und neueren Lite- 
ratur, in der Vollständigkeit des Materials (ich 
vermisse selbst von den Kirchen von geringerer 
Bedeutung nur wenige), sie liegen in der Reife 
und Klarheit des Urteils und der Übersichtlichkeit 
der Anordnung. Das Buch ist eine durchaus zu- 
verlässige Arbeit vonbleibendem Wert, die eine 
wesentliche Förderung der Forschung bringt. 

Der Inhalt ist im Titel angegeben. Das wich- 
tigste Thema der barocken Architektur im süd- 
lichen Deutschland von der Zeit der Spitrenais- 
sance bis zum Ausklang des Barocks ist hier 
behandelt. Auf die systematischen Kapitel: Bau- 
aufgaben und Baugesinnung, Baumeister und Bau- 
herren, Baulehre, Bauzier folgt als Hauptteil eine 
Übersicht über die Raumarten der Frühstufe von 
1580—1650, der Hochstufe von 1650—1720 und 
der Spätstufe von 1720—1780, denen sich dann 
als abschließende Kapitel: die Mantelformen und 
der Ausdruck anschließen. Die systematischen 
Kapitel des ersten Teiles sind wohl die besten 
des Buches; sie bringen nicht nur viel neues 
Materials (die älteren Perioden sind mit Erfolg 
systematisch neu durchforscht, für die Spätzeit 
beschränkt sich der Verfasser mehr auf eine 
Zusammenfassung und Ergänzung der schon vor- 
liegenden Forschung), sie bringen durch die 
Problemstellung und Lösung einen besonders 
wichtigen und anregenden Beitrag zur Erkenntnis 
der deutschen Architektur. Über die Disposition 
der geschichtlichen Entwicklung ließe sich streiten, 
so richtig die zeitliche Einteilung an sich ist. 
Der Höhepunkt liegt in der „Spätstufe“, die die 
wertvollsten Leistungen geseitigt hat. Was hier 
Hochstufe betitelt ist, ist in allen Problemen nur 
Vorbereitung, also auch Frühstufe, wenn wir die 
Ausdrücke wieder in ihrer ursprünglichen Be- 
deutung nehmen. Die ganze ,Hochstufe“ Hautt- 
manns scheint mir ohne innere Berechtigung ge- 
waltsam herausgeschnitten. Daß die vorbereitende 
Stufe von der humanistisch-theologischen Zeit 
bis zur Ära des Absolutismus sich erstreckt, hängt 


mit der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung 
zusammen, in die der Dreißigjährige Krieg doch 
eine viel deutlichere Zäsur schneidet, als Hautt- 
mann gelten lassen will. Was mit diesen Aus- 
führungen gesagt werden soll, ist eines, daß die 
Kurve der Entwicklung wohl anders gelegt und 
gegliedert werden muß, wenn Mißverständnisse 
vermieden werden sollen. Damit könnten auch 
die althergebrachten Stilbezeichnungen Spätrenais- 
sance, Barock, Rokoko in Einklang gebracht 
werden, die ja doch bleiben werden. 

Mit Hauttmanns Buch ist ein gewisser Abschluß 
der Forschung erreicht. Für die zersplitterte und 
detaillierte Einzelforschung ist eine Basis ge- 
schaffen, auf der weitergearbeitet werden kann. 
Wo sich Ergänzungen ergeben werden, ist viel- 
leicht in folgenden Punkten. Über die Persön- 
lichkeit der großen Architekten ist die Forschung 
noch im Fluß. Bei Fischer ist man über die 
Sichtung des Bestandes noch nicht hinausgekom- 
men; sein Verhältnis zu den Asam, zu Cuvilliés 
und zu den anderen Architekten seiner Umgebung 
bedarf noch der Klärung. Das Problem Balthasar 
Neumann ist erst angegriffen. Bis zu seiner 
Lösung wird noch viele Detailforschung gebracht 
werden müssen, wenn vielleicht auch das engere 
Thema, der Kirchenbau, kaum wesentliche Ände- 
rungen erfahren wird. Schärfer zu wumreißen 
sind auch die Meister zweiten Ranges, Archi- 
tekten wie Küchel, Geigel, Greising, die Gunets- 
rhainer, die bisher nur von den Sternen ersten 
Ranges ihr Licht erhielten; ihre selbständigen 
Beiträge zur Gesamtentwicklung müssen erst her- 
ausgeschält werden. Gewisse Lücken wird ja 
die lokale Abgrenzung immer laasen; in der rhein- 
fränkischen und schwäbischen Architektur sind 
die Fäden zu schroff abgeschnitten. Eine ein- 
gehendere Berücksichtigung derHauptwerkeschwä- 
bischer und rheinfränkischer Meister auf nicht süd- 
deutschem Boden (in der Schweiz, in den Rhein- 
landen) könnte wohl in den biographischen Umriß 
eingeschoben werden. Auch ausländische Meister, 
die auf deutschem Boden arbeiten, wie d’Ixnard, 
dürften breiter behandelt werden. Endlich ist viel- 
leicht noch eine Frage zu berücksichtigen, zu der 
Hauttmann Beiträge gegeben hat. Die lokale Auf- 
teilung in Schwaben, Bayern, Franken ist im ganzen 
Buch streng durchgeführt, die Entwicklung der 
Raumarten in den verschiedenen Stammesgebieten 
ist klar gezeichnet. Die weitere Frage, warum dieses 
oder jenes Thema auf diesem Boden aufgegriffen 
wurde, wie weit sich auch im Kirchenbau der 
Stammescharakter zeigt, ist lockend, vielleicht 
allzu problematisch, aber doch nicht aussichtslos. 


333 


Ansätze zu einer Lösung sind bei Hauttmann gc- 
macht, sind aber nicht ausgebaut, Das Heraus- 
schälen der deutschen Leistung gegenüber den 
anderen Lindern, in denen Anregungen entlehnt 
wurden, das Verfolgen deutscher Eigenart bis in 
die Stammeseigentümlichkeiten ist eine Aufgabe, 
an der die Wissenschaft nicht mehr vorbeigehen 
kann, 

Die Ausstattung des Buches ist sehr gut. Auf 
die ausreichende Illustrierung in Tafeln und Text- 
abbildungen ist möglichste Sorgfalt verwendet. 


Adolf Feulner. 


BRUNO GRIMSCHITZ, Joh. Lukas von 
Hildebrandts künstlerische Ent- 
wicklung bis zum Jahre 1725 (Kunst- 
geschichtl. Einzeldarstellungen, heraus- 
gegeben vom kunsthistor. Institut des 
Bundesdenkmalamtes, Schriftleitung Da- 
gobert Frey, Folge der Originaldrucke, 
Ва. I). 4°. 94 S., 79 Abb. auf Tafeln. 
Österreich. Verlagsgesellschaft Ed. Hölzel 
& Co., Wien 1922. 


So erstaunlich es klingt, über J. L. Hildebrandt 
den nach Fischer gewiß bekanntesten Wiener 
Spätbarock-Architekten, gab es bisher außer einem 
Aufsatz M. Dregers keine zusammenfassende, groß 
angelegte und würdige Publikation. Die vor- 
liegende Arbeit löst also eine Ebrenschuld der 
österreichischen Kunstliteratur ein. Die Anregung 
empfing der Verfasser, wie er bekennt, durch 
H. Tietze, dem wir, von wertvollen Studien M. 
Dvořáks, D. Freys und R. Gubys abgesehen, nicht 
nur eine Reihe aufschlußreicher Einzelarbeiten, 
sondern auch die seit den überholten Ausführungen 
A. Des einzige allgemeine Darstellung der Wiener 
Barockentwicklung in seinem Buche über Wien 
verdanken. Hoffentlich folgen weitere Mono- 
graphien über dieses stolzeste Kapitel österreichi- 
scher Kunst, so daß wir endlich zu einer um- 
fassenden Kenntnis des Schaffens der großen Bau- 
meister, Bildhauer und Maler dieser Zeit gelangen, 
eine Forderung, die man billig erheben muß, weil 
die Tätigkeit vieler dieser Künstler weit über den 
örtlichen Rahmen hinaus von allgemeiner Bedeu- 
tung ist und weil sie heute, da ihre Werke zum 
Teil noch nicht einmal publiziert sind, höchst un- 
gebührlich unbekannt sind. 

Ist also die vorliegende Arbeit an sich zu be- 
grüßen, weil sie es unternimmt, einen der bedeu- 
tendsten nordischen Barock-Baumeister eingehend 
zu bebandeln, so bedauert man, daß es der Ver- 


334 


fasser bei einem Fragment bewenden ließ. Frag- 
ment nicht nur, weil Gr. bloß die Zeit bis 1725 
beranzieht — er rechtfertigt dies damit, daß H. 
in den weiteren zwanzig Jahren seines Lebens 
keinen größeren Bauauftrag mehr durchführte — 
auch innerhalb dieser zeitlichen Beschränkung 
bleibt uns der Verfasser leider manches schuldig. 
Das darf festgestellt werden, weil das Buch durch- 
weg von hoher Qualität ist und das, was fehlt, 
gering ist gegenüber dem, was geboten wird. 
Gr. gliedert seine Arbeit in vier Abschnitte, Im 
ersten führt er die Quellen vor und verwertet sie 
mit delikater Gewissenhaftigkeit zur Baugeschichte 
von acht einzelnen Werken H.s. Für das Bel- 
vedere wäre noch der Wiener Plan Anguissolas 
und Marinonis von 1706 heranzuzieben gewesen 
(M. Eisler, Hist. Atlas des Wiener Stadtbildes XIV), 
an dem H. mitgearbeitet hat und der den Grund- 
riß des unteren Belvederes schon eingezeichnet 
zeigt. Dann untersucht er in zwei weiteren, inner- 
lich zusammengehörigen Kapiteln die formalen 
Werte dieser acht Bauten nach räumlichen und 
plastischen Gesichtspunkten. (Seltsam überschreibt 
er das Kapitel, das die „Gestaltungen der tekto- 
nischen Schale der Raumfarm“ verfolgt, mit „Das 
Formproblem“. Ist ihm das „Raumproblem“ kein 
Formproblem? Warum überhaupt den abgenutzten 
Ausdruck „Problem“?) Die zwei Kapitel bilden den 
Höbepunkt der Arbeit. Die stilkritische Analyse der 
acht Werke ist meisterhaft gelungen. Mit sub- 
tiler Feinheit spürt Gr. den formalen Werten nach 
und bringt sie in glänzender Diktion zur Dar- 
stellung. Nirgends ist da eine tote Stelle, nirgends 
ein verlegenes Abschwenken ins Pbrasenbaft- 
Konstruierte. Auf den Quellenbelegen fußend- 
erweitert Gr. durch Formvergleiche überzeugend 
das Gesamtwerk H.s durch Einführung zweier für 


den Grafen Friedrich Karl von Schönborn er- 


richteten Bauten: eines Gartenpalais zu Wien 
(Laudongasse) und eines Schlosses bei Göllers- 
dorf, die er beide als die frühesten bisher nach- 
weisbaren Werke anspricht (1706, 1710). Ferner 
schält er klar den wichtigen Anteil H.s an Schloß 
Pommersfelden heraus und stellt damit den um- 
strittenen,nur von Pinder schon richtig geahnten Tat- 
bestand endlich klar. Damit wird H.s künstlerischer 
Einfluß über Wien und Österreich (Salzburg) hin- 
aus bis in den fränkischen Kunstkreis bezeugt. 
Leider spricht sich Gr. über H.s Beteiligung am 
Würzburger Schloßbau nicht näher aus. Warum 
diese karge Beschränkung auf acht einzelne Bau- 
werke? Gr. hat doch selbst erst kürzlich auf 
mehrere weitere Schöpfungen H.s in Wien ver- 
wiesen (N. Fr. Presse, Abendbl. v. 30./VI. тоза), dar- 


unter solche, die H. noch vor 1725 konzipierte, 
Sicherlich werden weitere Werke in Österreich, 
Ungarn und Böhmen auftauchen, abgesehen von 


jenen, die schon Пе und Dreger für H. in An- 


spruch nahmen. Denn H. war еіп ausgesproche- 
ner Vielbauer. Im vorliegenden Buche empfängt 
der uneingeweihte Leser eine viel zu geringe 
Vorstellung von dieser umfassenden Bautätigkeit. 
Ebenso bedauerlich ist, daß Gr. mit keinem Wort 
auf das rein Menschliche Hs. eingeht. H. bleibt 
ein Schatten, wir gewinnen kein Bild von ihm. 
Gewiß, es war dem Verf. um die „künstlerische 
Entwicklung“ zu tun. Aber erwächst diese nicht 
in unlöslicher Verbindung aus dem Menschlichen? 
Wer wird uns nun den Menschen H. so rund und an- 
schaulich nahebringen wie Wölßlin uns Dürer, Justi, 
Michelangelo binstellte? Niemand verfügt derzeit 
über diese umfassende Kenntnis der vielen Briefe 
und übrigen Quellen wie Gr., nur er wäre im- 
stande, das Bild zu gestalten. Warum lockte ihn 
diese Aufgabe nicht? Warum diese einseitige Be- 
schränkung auf die optischen Sensationen und 
der Verzicht auf das Wesentlichere, die Heraus- 
arbeitung der geistigen Zusammenhänge? 

Im letzten Abschnitt gibt Gr. den Versuch 
einer Charakteristik der stilistischen Zusammen- 
hinge, Er wendet sich gegen Dreger, der an H. 
zu stark das Französische betont hatte, und er- 
klärt als bestimmender die italienischen Einflüsse. 
H. ist tatsächlich, wenn auch als Sohn eines 
deutschen Hauptmanns, in Genua geboren (1668) 
und in seiner Jugend als Ingenieur der kaiserl. 
Armee in ganz Italien herumgekommen. Er war 
in Rom Schüler Fontanas und trat gewiß auch 
mit Pozzo in Berührung. Aber den Schulzusam- 
menhang mit Fontana schränkt Grimschitz selbst 
als locker und nebensächlich ein, und was er über 
die Verbindung mit Palladio ausführt, überzeugt 
wenig, weil die optische Einstellung auf das Ganze 
wohl für H., nicht aber, zumal nicht in diesem 
Grade, für Palladio charakteristisch ist. Palladio 
bleibt durchweg viel stärker plastisch orientiert. 
Die Geburt in Genua ist etwas Zufälliges. Es 
kommt auf das Blut an. Und H. war deutsch, 
war es so durchaus, daß man sich wundert, wie 
Gr. dieser wichtigsten entwicklungsgeschichtlichen 
Tatsache ausweichen konnte. Wie ausgezeichnet 
hatte er die Banten analysiert! Wie richtig den 
französischen Einfluß als einen rein gesellschaft- 
lich-äußerlichen zurückgewiesen! Wie konnte er 
den italienischen derart überschätzen? Das Süd- 
liche spielt in der nordischen Kunst um 1700 
allerdings eine große Rolle (vgl. meinen Aufsatz 
„Nordkunst-Südkunst im Abendland“ in J. Strzy- 


gowskis „Kunde, Wesen, Entwicklung“, Wien 1922). 
Man kann geradezu von einem Klassizismus um 1700 
sprechen. Aber eben H, leitet in seinen Werken 
aus dieser südlichen in die nordische Richtung 
über, die im Rokoko, besonders im deutschen, die 
Blüte erreicht. Gerade er ist bereits stärker als 
Fischer nordisch gerichtet, weshalb er ihm auch 
bei Hof unterliegt. Das Untektonische, die Ein- 
stellung auf optische Totalität, der Verzicht auf 
klare Raumbegrenzung, die betonte Verbindung 
vielmehr des Bauganzen mit dem Unendlichen 
des Weltraumes, das Überspinnen aller Flächen 
mit reichen Ornamenten und darin das Über- 
wiegen des abstrakt-ungegenständlichen Charakters 
— Gr, hat alle diese künstlerischen Tatsachen bei 
H. ausgezeichnet beobachtet. Wie konnte er sie 
aber anders auswerten, als daß es typisch nor- 
dische Eigenschaften sind? Gegenüber der An- 
sicht Pinders z. B., der in H.s Treppengeländern 
(Kinsky, Mirabell) „typisch deutsches Steinband- 
werk“ erblickt hatte, verweist Gr. auf Pozzos Altar- 
schranken im Gesù (nicht vom Hauptaltar, wie Abb. 17 
beschriftet ist, sondern vom Ignatiusaltar), wo die- 
selben pflanzendurchsetzten Bandformen schon 
früher aufträten, H. bringe das Steinbandwerk 
erst nach dem Norden. Genau umgekehrt: Poszos, 
des Tridentiners, Bandwerk ist auf römischem 
Boden eine Ausnahme — der Altar stammt aus 
den letzten Jabren des 17. Jahrhunderts, Pozzo 
selbst gibt das Jahr 1700 an (Augsburger Aus- 
gabe der „Perspectiv“, 2. Teil, 1711, 60. Figur) — 
wogegen im Norden an Hunderten von Beispielen 
die Entwicklung vom Knorpelwerk seit Beginn 
des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts zum 
Bänderwerk und dessen Durchsetzung mit vege- 
tabilischen Formen gegen Ausgang des Jahrhun- 
derts, zur Verdrängung der abstrakten Bänder 
durch das rein Pflanzliche um 1700 und zum 
schrittweisen Einschleichen wieder des Bandwerks 
in den Rankenschmuck seit 1700 sich prächtig 
belegen läßt. Auch die Auflösung des „geschlos- 
senen Baublocks in den mit den Fligelbauten 
den Hof umschließenden zentralen Schloßbau und 
abgesprengte, symmetrisch zur Hauptachse an- 
geordnete Flügel- und Hofbauten“ kann man 
nicht aus Frankreich, Mitte 17. Jahrhundert, ber- 
leiten, weil die vollendete Durchbildung dieser 
gelockerten Anlage schon 1613—15 in Hellbrunn 
(Österr. Kunsttopographie XI, 166 und Abb. 153) 
sich findet. Weitere Beispiele zur Genüge überall 
im Norden. 

Alle Einwände laufen alao darauf hinaus, daß 
Gr. in der entwicklungsgeschichtlichen Einstellung 
Н.в zu wenig den eigenen Kräften des Nordens 


335 


Rechnung trug. Er wird hoffentlich auch nach 
anderer Seite seine Arbeit erweitern und uns 
dann mit einer wirklich umfassenden, monumen- 
talen Hildebrandt-Monographie beschenken. Vor- 
läufig haben wir ihm für die hervorragende stili- 
stische Analyse zu danken, die er uns in der 
vorliegenden Studie geboten hat, sowie für die 
grundlegende Klarstellung des Verhältnisses Hs. 
zu Pommersfelden. 

Das Buch ist gut ausgestattet und macht dem 
Verlag Ehre. Nur die klobigen Lettern passen 
nicht recht zur spriihenden Zartheit des spät- 
barocken Meisters, den es schildert. Auch ist 
der Spiegel zu groß für die Seite, der Druck kann 
nicht gut atmen, es fehlt ihm an Luft. Bedauer- 
lich ist die falsch eingeklebte Lichtdrucktafel, die 
eine das Plastisch-Voluminöse des oberen Belve- 
dere unwirklich steigernde Aufnahme bringt und 
so zu den feinsinnigen Ausführungen des Verfassers 
wie die Faust aufs Auge paßt. Karl Ginhart. 


KARL LOHMEYER, Die Briefe Bal- 
thasar Neumanns an Friedrich Karl 
von Schoenborn. Gebr. Hofer, Verlags- 
anstalt, Saarbrücken — Berlin, 1921. 

Als ersten Band einer Folge von Arbeiten über. 
das rheinisch -fränkische Barock gibt Lohmeyer, 
der als der gründlichste Kenner dieser Epoche 
dazu berufen scheint, die Briefe B. Neumanns 
heraus. Das sind Kulturdokumente allerersten 
Ranges. jeder, der das Jahrhundert kennt, weiß» 
daß in jener Zeit zu Archivalien und Chroniken 
die Korrespondenzen der Fürsten, Geistlichen und 
Künstler untereinander dazukommen. Es war ја 
eine Zeit des geistigen Austausches wie kaum 
je. Das lehrt nun das Studium dieses Buches in 
glinzendater Weise. Wir werden bier in das 
ganze Getriebe der Zeit, die geistige Beweglich- 
keit, das lebendige Fluidum, das alie Geister da- 
mals miteinander verband und die Ideen und Ge- 
danken befruchtend weiter trug, eingeführt. Das 
Buch ist nicht nur kunsthistorisch, sondern auch 
kulturhistorisch von allerhöchstem Interesse. Wir 
gewinnen einen tiefgehenden Einblick in die Be- 
deutung der fürstlichen Herren, in diesem Falle 
der verschiedenen Grafen von Schoenborn auf 
geistlichen Thronen. Sie haben das ganze künst- 
lerische Geben der Zeit bestimmt und spannen 
die Fäden zwischen Wien—Mainz—-Paris. 

Zu den Briefen an Friedrich Karl von Schoen- 
born kommen an Walter Boll ergänzte Dokumente 
aus den ersten Baujahren der Würzburger Resi- 
denz. Es steht zu hoffen, daß auch die hoch- 
interessanten Briefe der Grafen von Schoenborn 


336 


Lothar Franz, Joh. Philipp, Franz und Friedrich 
Karl bald einmal veröffentlicht werden. 
Wie ihrer geistigen Leitung, ihrem starken 


Willen und künstlerischen Takt Würzburg, Bam- 


berg, Mainz, Speyer, Trier u.a. viel Bedeutsames 
danken, wird aus diesen Briefen offenbar. Aber 
wir erkennen auch die gewaltige Bedeutung der 
hohen Gewalt jener künstlerischen Kultur, aus der 
heraus alles einzelne, auch die Künstlerindividua- 
tät, als ein aus dem Ganzen Gewordenes und 
Gewachsenes erscheint. 

Bringt der erste Teil die Briefe des Balthasar 
Neumann an Friedrich Karl von Schoenborn seit 
1729—1745,die uns die außerordentliche Schaffens- 
kraft des Meisters offenbaren, so werden im zweiten 
Teil wichtige Dokumente aus den ersten Bau- 
jahren der Würzburger Residenz gebracht, die 
die Zahl der um Rat gefragten Architekten noch 
vermehrt. Neben den bekannten Namen Welsch, 
Hildebrandt, Boffrand werden Loyson und Job. 
Dientzenhofer, die damals in Pommersfelden arbei- 
teten, Freiherr von Erthal und der Freiherr 
Ans. Franz Anton Ritter von Grünsteyn genannt, 
Der Forschung werden so Handhaben gegeben, 
um die geistige Tat B. Neumanns weiter zu er- 
gründen. Ob es aber je gelingen wird, seine 
Arbeitsleistung am Bau ganz klar festzulegen, ist 
fraglich, Es gilt da, vorsichtig zu sein, besondera 
in betreff der Negation seiner Bedeutung. Schließ- 
lich war er es doch, der den Bau von Anfang 
bis 1746 in den Händen hatte. In ihm vereinten 
sich alle Fäden. Er hat besonders die bau- 
technischen Leistungen, die kühne Konstruktion 
der Gewölbe u. a. vollbracht. 

Auch für die Wertschätzung unserer eigenen 
Kultur und des bis vor nicht zu langer Zeit so miß- 
achteten Rokokos hat derartige Publikation her- 
vorragenden Wert. Auch die geistigen Zusammen- 
hinge innerhalb Deutschlands, die zwischen 
Franken und dem Rheinlande wie dem Saar- 
gebiet werden offenbar. Wenn irgendwie, so 
wurde durch die verwandtschaftlichen Beziehungen 
der Fürsten von Bamberg, Würzburg, Mainz, 
Speyer, Trier und Koeln und durch die Taten 
eines führenden Künstlers, des B. Neumann, der 
von Gössweinstein und Vierzehnheiligen bis Trier 
und Saarbrücken seine Werke schuf und Ein- 
fluß hatte, der kulturelle Zusammenhang inner- 
halb Deutschlands geschaffen. So ist die Publi- 
kation als historisches Dokument ersten Ranges 
anzusehen, und danken wir dem Verfasser die 
Müben der archivalischen Arbeit, die durch treff- 
liche Anmerkungen erläutert und wertvoll gemacht 
wird. F. Knapp. 


PAUL SCHUBRING, Die italienische 
Plastik des Quattrocento. Handbuch 
der Kunstwissenschaft, herausgegeben von 
Burger-Bruckmann,AkademischeVerlags- 
gesellschaft, Berlin- Neubabelsberg. 


In der Folge der monographischen Abhand- 
lungen über die verschiedenen Stoffgebiete ist 
dieser Band Schubrings einer von denen, bei 
denen man das sichere Gefühl, die klare Ansicht 
gewinnt, daß der Verfasser mit dem Material bis 
ins einzelne vertrautist. Wir wissen, daß das heute 
bei der üblichen Art der Schnellarbeit nicht immer 
der Fall ist. Aber Schubring kennt Italien von 
Grund aus und seine vielfältigen Forschungen 
gerade auf dem Gebiete der Frührenaissance be- 
fähigten ihn von vornherein dazu eine gründliche, 
zusammenfassende Behandlung der bunten Materie 
zu geben. Besonders wertvoll für den Gelehrten 
sind die sehr ausführlichen Literaturangaben, bei 
denen die Zeitschriftenliteratur, und zwar auch 
die ausländische in weitestem Maße herangezogen 
ist. So bildet das Buch für den Forscher eine 
ausgezeichnete Grundlage zum Studium der Zeit. 

In der Gesamtanlage hält sich Schubring an die 
ältere, bescheidenere, aber auch klarere Fassung 
derartiger Handbücher und läßt sich nicht ver- 
leiten, nach Burgers Vorbild mit nicht immer 
glücklichen Allgemeinbetrachtungen undästhetisch- 
theoretischen Gemeinplätzen das erste Kapitel zu 
füllen, was ja doch nur verwirrend wirkt. Er 
bleibt reiner Historiker von Anfang bis zum Schluß. 
Er ordnet den Stoff nach lokalen Gruppen, was 
zwar die inneren Zusammenhänge nicht so klar 
werden läßt, aber doch das Angenehme der Über- 
sichtlichkeit hat. Den sehr ausführlichen Kapiteln 
über die Florentiner Plastik und die Sienas, mit 
der Sch. besonders vertraut ist, folgen die übrigen 
Provinzschulen: Bologna und Ferrara, Padua und 
Verona, Lombardei, Venedig, Rom und Neapel, 
Ein ausfübrliches Inhaltsverzeichnis schließt den 
Band. Eigenartig ist, daß auch für diese Inhalts- 
verzeichnisse keine einheitliche Form in dem 
Handbuch gefunden wurde. 

Sehr bedauern möchte ich aber, daß der Ver- 
fasser nicht auch das Trecento und das Cinque- 
cento hineinbezogen hat. Dieses Zorreißen des 
Materials, der gesamten Kunstgeschichte in allzu- 
viele, kleine Partikel macht vielleicht den Haupt- 
mangel des Handbuches aus, zumal da die Art 
der Behandlung der Materie bei den verschiedenen 
Autoren ganz verschieden ist; die großen geisti- 
gen Zusammenhänge, das gewaltige Wachstum 
in der künstlerischen Kultur wird leider so nicht 


offenbar. Geradezu als eine Art Verbrechen am 
Geiste derRenaissance muß man es bezeichnen, daß 
es eine Hochrenalssanceplastik hier nicht gibt und 
Michelangelo, der größte Renaissanceplastiker, in 
die Barockskulptur eingeordnet ist. Eigentlich ist 
es eine üble Zumutung, über die Renaissance- 
plastik schreiben zu sollen und den hervorragend- 
sten Meister nicht beprecben zu dürfen. Schade, 
daß Schubring nicht auch dies Kapitel behandelt 
hat. F. Knapp. 


MARIANNE ZWEIG, Wiener Bürger- 
möbel aus theresianischer und jo- 
sephinischer Zeit 1740—1790. Zweite 
vermehrte Aufl. Mit roo Tafeln. Wien, 
Anton Schroll & Co., 1922. 


Auf 100 Tafeln werden einzelne ausgewählte 
typische Möbelbeispiele des Wiener Spätbarock, 
Rokoko und Louis XVI. vorgeführt, an ihnen die 
für ihre Entstehungszeit charakteristischen Merk- 
male hervorgehoben: Von vornherein weist die 
Verfasserin den Anspruch, eine erschöpfende 
Darstellung der Wiener bürgerlichen Möbel der 
theresianischen und josephinischen Zeit geben zu 
sollen, zurück, sie will zunächst die Anschauung 
vermitteln helfen. Der Nachdruck liegt auf dem 
Einzelmöbel, da sich bürgerliche Innenräume der 
Zeit mit ihrer alten Möbelausstattung in Wien 
nicht erbalten haben. Die Tatsache aber, daß sich 
vor 1780 zeitgenössische Darstellungen bürger- 
licher Wohnräume in Österreich nicht finden, er- 
schwert die Forschung auf diesem Gebiete in 
fühlbarer Weise. 

Die Verfasserin gebt in dem einleitenden Text 
von den geschichtlichen und kulturellen Be- 
dingungen für die Entwicklung des Wiener Bürger- 
möbels im 18. Jahrhundert aus. Das Wien des 
Barock war eine Stadt des glanzvolisten Hofes, 
Kirche und Adel bestimmten ihren Habitus, Italien 
ihr künstlerisches Gepräge. Das Bürgertum hat 
nichts zu sagen. Erst mit der Thronbesteigung 
Maria Theresias ändern sich die sozialen Ver- 
hältnisse zugunsten des Volkes, und kann sich 
das Bürgertum frei regen. 

Die Möbel der folgenden Zeit zeigen ein dop- 
peites Gesicht — das für die höflschen Kreise be- 
stimmte Mobiliar ist französisch, und so durch- 
aus französich gestimmt, daß stilkritisch mitunter 
österreichische und französische Arbeit kaum zu 
unterscheiden ist. Das bürgerliche Möbel Wiens 
ist wohl auch französisch beeinflußt, allein es 
verleugnet niemals seine Herkunft und paßt sich 
selbständig den Bedürfnissen des Alltags an. Der 


337 


wesentliche Charakterzug des theresianischen 
Möbels ist das Maßhalten mit dem ornamentalen 
Formenspiel: die Konstruktion bleibt im Gegen- 
satz zum italienischen und deutschen Rokoko- 
möbel stets gewahrt. 

Das Staatsmöbel im deutschen Bürgerhause — 
in Ober-, in Niederdeutschland, in Österreich — 
war der Schrank, der die Ausstattung barg. In 
einer unendlichen Fülle von Gestalten ist er uns 
erhalten; und jedes Stück hat aein eigenes Ge 
sicht und fordert Bewunderung für das sichere 
handwerkliche Können und die Phantasie des 
Tischiers.. Neben dem Kastenmöbel — Schreib- 
schrank. Glaskasten, Kommode inbegriffen — fällt 
die Dürftigkeit des österreichischen Sitzmdbels ins 
Auge. An Zahl und Bedeutung tritt es hinter 
jenem zurück, und das ist um so bemerkens- 
werter, da der Bedarf an Sitzgelegenheiten weit 
größer war als an jenen. Im Charakter ist der 
Wiener Rokokostuhl bieder und bandfest, er ist 
seiner Aufgabe gewachsen, bei den josephinischen 
wird dies bisweilen zu einer gewissen Schwer- 
fälligkeit, ja Plumpheit (s. Tafel). Man vergleiche 
auch die einzige abgebildete Sitzbank (Tafel 98), 
mit gleicherweise englisch beeinflußten nieder- 
deutschen Stühlen und Bänken. 

Sehr langsam nur erobert sich die klassizistische 
Form das Herz des Wiener Möbeltischlers. Das 
Durchblättern der zeitlich geordneten Tafeln ist 
in diesem Sinne lebrreich — die Anerkennung 
des Neuen hatte sich erst im 9. Jahrzehnt mit 
Entschiedenheit durchgesetzt. Die Mischung von 
Altem und Neuem gibt den einzelnen Möbeln ein 
unmittelbares warmes Leben. 

Wesentlich für den Eindruck des josephini- 
schen Möbels ist die Verwendung der „blonden“ 
Hölzer, wie Kirsch- und Birnholz, eine Vorliebe, 
die das Bürgermöbel der Biedermeierzeit weiter- 
pflegte. Das gibt den Räumen eine einladende 
Heiterkeit. Dagegen tritt im Bürgerhaus im 
Gegensatz zum Schloßmobiliar das weiß- und 
bellackierte Möbel zurück. Das im Norden be- 
vorzugte Mahagoni findet sich bei keinem der 
abgebildeten Stücke; am beliebtesten ist das kost- 
bare Nußholz — einheimisches, italienisches, rhei- 
nisches — das in theresianischer Zeit dunkler, in 
josephinischer Zeit heller gehalten wurde, obne 
daß sich indessen eine allgemein gültige Regel 
aufstellen ließe. In josephinischer Zeit kommt 
die Schnitzerei mehr zur Geltung, aber sie ist 
immer zurückhaltend und manchmal als Ersatz 
für die teure, in Frankreich- modische Bronze 
vergoldet. Charakteristisch für das den täglichen 
Bedürfnissen angepaßte bürgerliche Möbel ist das 


338 


Feblen dieses kostbaren Schmuckes. Die Be- 
schläge sind bescheiden und nicht ins Auge fallend. 

Zum Schluß gibt die Verfasserin noch inter- 
essante Hinweise auf die bürgerliche Stellung von 
Tischlermeister und Gesellen, und die strenge 
Regelung zwischen Vorstadt- und Stadtmeister. 
Bezeichnend für die Bedeutung des Tischler- 
handwerks war die Verordnung, daß der Geselle 
ein Zeugnis der К. К. Bauakademie für die Zu- 
lassung zur Verfertigung des Meisterstückes bei- 
bringen mußte. Der „Riß“, den er außer dem 
Meisterstück aufzuzeichnen hatte, wurde der k.k. 
Bauakademie überwiesen. Aus diesem Brauch 
sollte man auf eine Fülle von Wiener Tischler- 
zeichnungen schließen — nichts aber ist irriger. 
Denn trotz Suchens ist unbegreiflicherweise bis- 
ber auch nicht eine derartige Meisterzeichnung 
zum Vorschein gekommen. Zweifellos ist dies 
einer der Gründe, warum das Wiener Bürger- 
möbel des ı8. Jahrhunderts bisher ein vor der 
Wissenschaft verborgenes Dasein geführt hat. 
Der Verfasserin ist es zu danken, daß sie es zu 
neuem Leben erweckt und uns die Möglichkeit 
geschenkt hat, es mit den gleichzeitigen Arbeiten 
der anderen Kulturländer zu vergleichen. 

Einen Mangel in der Ausstattung des Buches 
bedeuten die Tafeln, und os wäre zu wunschen, 
daß bei einer Neuauflage ihrem Druck eine größere 
Sorgfalt zugewandt würde. M. Schuette. 


WILHELM HAUSENSTEIN, Barbaren 
und Klassiker. München 1921. Verlag 
Piper & Co. 


Auf 177 Tafeln wird die vielgestaltige Welt der 
exotischen Plastik von den Barbaren der Südsee 
bis zu den Klassikern der alten Kulturen in Mexiko, 
Indien und China vorgeführt. Die Anschauung 
füllt sich mit Vorstellungen und man geht mit 
Spannung an den Text, der dem Bilderteil nach- 
gesetzt ist, Hausenstein ist darin ein beredter 
Anwalt der exotischen Kunst, wie er sie versteht, 
indem er nämlich diesen Begriff nicht geograpbisch, 
sondern sachlich aufgefaßt wissen will. „Exotik 
bezeichnet einen Zustand der Menschheit und der 
Kunst, einen Grad des Daseins. Es gibt euro- 
päische Exotik. In exotischen Ländern gibt es 
die Umzüchtung des Exotischen ins Europäische“ 
(S. 40). Oder: „Europa und Exotisches werden 
keinen Gegensatz mehr darstellen: das Roma- 
nische, das archaisch Antike und andere Gegen- 
pole des Klassischen werden unvermittelt neben 
den ursprünglichen Bekundungen außereuropäi- 
scher Kräfte steben“ (8. 46). Die von Worringer 


aufgestellte Polarität von Gotik und Klassik wird 
hier zu überbieten gesucht durch den Bogen 
größerer Spannweite Exotik und Klassik. Aber 
es war Hausenstein nicht um eine systematische 
Darlegung zu tun, vielmehr ist der Text geist- 
reich zugespitzt, in tausend Facetten ausgeschliffen. 
Hin und wieder schlägt Hausenstein einen gei- 
stigen Purzelbaum, wie etwa diesen: „Der Ex- 
pressionismus ist der Naturalismus einer Gene- 
ration, deren Natur darin besteht, keine Natur 
mehr zu haben.“ Durch die Fülle paradoxer 
Wendungen gelingt es Hausenstein manchmal, 
auch ganz hiibsch die unmittelbare Kinschrift 
geradezu wegzuspiegeln. Aber man muß doch 
sagen, Hausenstein hat diese Kunst erlebt und 
bringt sie durch Worte zu lebendiger Empfindung. 
Nur wo er sich kunstphilosophisch drapiert, sieht 
man nur Flitter. Ganz schief beißt es z.B. S.75: 
„Kunst ist Kompensation des menschlichen Un- 
vermögens, den Sinn des Lebens zu deuten, Sie 
ist Resignation zur Nachforschung des Geschöpften“. 
Nichts ist Hausenstein verhaßter als historische 
Betrachtung derKunst. Die Behauptung: „Es ist 
ein falsches Sehen, das auf den sogenannten Stil 
geht,“ erklärt sich daraus, daß Hausenstein den 
Begriff Stil zu eng faßt, weil er darunter 
nicht das Wesen der Erscheinung, sondern nur 
eine Funktion sieht. Ich gebe ein Beispiel. Mit 
einprägsamen Worten schildert Hausenstein, wie 
die javanische Kunst von der ursprünglichen Ani- 
malität ins Menschliche, Lyrische übergeführt 
wird. Warum ist die ursprüngliche Wildheit dem 
Klassischen gewichen? Hausenstein gibt keine 
Antwort. Der Historiker konstatiert, daß der Ein- 
fluß indischer Kunst herüberdrang und die Stil- 
wandlung hervorrief. 

Mit sprachlicher Kraft hat Hausenstein die Be- 
sonderheiten der exotischen Kunst rund um die 
Erde anschaulich vergegenwärtigt Ihre bedeuten” 
den künstlerischen Werte sind vorurteilslos als 
gleichberechtigt mit den höchsten künstlerischen 
Werken erkannt. Manchmal formt Hausenstein 
Sätze, die weite Perspektiven öffnen. Das ganze 
System seiner Anschauung liegt etwa in diesen 
Sätzen verdichtet: „In den Bildwerken der Bar- 
baren stehen das Irdische und das Metaphysische 
einander unvermittelt gegenüber. Der metsphy- 
sische Strahl fällt ohne Interregnum auf die Brunft 
der Erde. Die Alternativen prallen zusammen. 
Sie liegen in unmittelbarer Berührung übereinander 
geschichtet. Dies ist die Verfassung der Barbaren. 
Im Klassischen ist der Mensch zwischen die Grenze 
getreten.“ 
Kurt Gerstenberg. 


GESSNER, Der Meister der Idylle. 
Ausgewählt und eingeleitet von Paul F. 
Schmidt. Mit 34 Abbildgn. München, 
Delphin-Verlag. 

Gessner galt seinerzeit nur als Dichter. Er selbst 
bat sicherlich auf seine Idylien sehr viel mehr 
Wort geiegt als auf seine Bilder, die erst ent- 
standen sind, als seine dichterische Schöpferkraft 
versiegt war. Die Folgezeit hat anders geurteilt. 
Der Dichter ist für uns tot, in seinen kleinen Ge- 
mälden und Radierungen spüren wir den Protest 
gegen die Konvention des Barock und Rückkehr 
zur Natur. — Gottfried Keller hat Gessners Wesen 
in seiner köstlichen Novelle von Salomon Landolt 
umrissen, Wölfflin hat sich als erster „mit diesem 
kleinen Mann in der Kunstgeschichte“ auseinander- 
gesetzt. Im knappen Rahmen der Delphin-Kunst- 
bücher versucht Paul F. Schmidt, Wert und Be- 
deutung von Gessners Kunst darzustellen. 

Rosa Schapire. 


WILHELM R. VALENTINER, Georg 
Kolbe. Plastik u. Zeichnung. Mit 64 Ab- 
bildungen. K. Wolff Verlag, München 
1922 (geb. М. 1500.—). 

Es ist nicht das erste Buch, das dem aus- 
gezeichneten Bildhauer gewidmet ist; aber es 
zeichnet sich durch eine besondere Vornehmbeit 
und Delikatesse der Erscheinung, Ausstattung, des 
ganzen Tones aus. Kein Prunkwerk, aber voll 
gepflegter Schönheit des Buches; nobelster Antiqua- 
druck mit breiten Rändern und herrlichen Abbil- 
dungen nach sehr gelungenen Aufnahmen (wohl 
des Künstlers selbst); auch die berühmten (und 
mit Recht berühmten) Aktzeichnungen Kolbes 
feblen nicht. Man hat in Abbildungen sein wesent- 
lichstes Werk beisammen und gewinnt einen voll- 
kommenen Eindruck von dem Reichtum seiner 
Entwicklung, bei aller Abgegrenztheit seiner Form. 
Valentiners Text gibt in der reinen, klingenden 
und präzisen Sprache, die wir an ihm kennen 
und lieben, eine sehr schöne Analyse von Kolbes 
Stil, eine glänzende Übersicht über seine Ent- 
wicklung von Rodin her zu tektonisch gestraffter 
Form, und über die Notwendigkeit solchen Weiter- 
schreitens (die mancher, der mit der Zeit nicht 
Schritt hält, nicht einsehen mag). Wir erfabren 
nichts vom äußeren Leben des Mannes (was wobl 
auf seinen eigenen Wunsch nach Anonymität 
zurückgehen mag), aber wir erleben hell und 
lebendig das Wesen seiner Kunst, deren stillen 
Iyrischen Zauber, deren innige Abgeklärtheit und 
Durchseelung uns Valentiners Wort aufs zarteste 
пась еп läft. Paul Е. Schmidt. 


339 


CURT GLASER, Die Graphik der 
Neuzeit. Vom Anfang des 19. Jahrh. 
bis zur Gegenwart. Berlin, BrunoCassirer, 
1922. 

Glasers umfassende Darstellung der Graphik 
des 19. Jabrhunderts läßt an Umfang und Bo- 
deutung alle bisher erschienenen Bücher über 
neuere Graphik weit hinter sich. Vergleichen 
läßt sie sich allein mit Kristellers „Kupferstich 
und Holzschnitt in vier Jahrhunderten“, wobei 
Glasers Aufgabe sicherlich den kühneren Blick, 
die selbständigere Auffassung voraussetzt. 

Maßgebend für Glaser war nicht technische 
Meisterschaft, sondern allein die künstlerische 
Leistung; es ist folgerichtig auch nur von Ori- 
ginalgraphik die Rede. Führende Persönlichkeiten 
herauszuarbeiten erschien ihm wesentlicher als 
eine Aufzäblung vieler Namen. Der Verfasser 
geht von den einzelnen Techniken aus. Er stellt 
ein kurzes Kapitel über Goya voran und verfolgt 
die Entwicklung von Radierung, Lithographie und 
Holzschnitt in Deutschland, Frankreich und Eng- 
land. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 
wurden auch Holland, Belgien und Skandinavien 
herangezogen. Selbstverstindlich wird das Werk 
eines Künstlers, der sich der drei verschiedenen 
Techniken bedient hat, nicht in drei Abschnitte 
auseinandergerissen. Die Charakteristiken der 
einzelnen Künstler sind kurz und treffend, wenn 
auch eine eingehendere Behandlung der Hoch- 
blüte der Graphik im beginnenden 20. Jahrhundert 
erwünscht gewesen wäre. Jedenfalls macht Glaser 
vom „Rechte subjektiver Kritik . . ausgiebigen 
Gebrauch.“ Seine Ausführungen sind auch dort, 
wo man sich ihnen in der Wertung jüngster Kunst 
picht immer anschließt, von Sachkenntnis ge- 
tragen und dem Verlangen, das Wesentliche einer 
Persönlichkeit zu erfassen. 

Ein sorgfältiges Register, Literaturverzeichnis 
und ein sehr reiches Abbildungsmaterial erhöhen 
den Wert des Buches, Rosa Schapire. 


FRIEDRICH H. HOFMANN, Johann 
Peter Melchior 1742—ı825. Mit 46 
Bildtafeln. München, Verlag für prak- 
tische Kunstwissenschaft, 1921. 

Der Bildhauer und Porzellanmodelleur Johann 
Peter Melchior ist eine der liebenswürdigsten und 
feinsten Künstlerpersönlichkeiten des späten deut- 
schen 18. Jahrhunderts. Für Höchst, Franken- 
thal und Nymphenburg hat er die meisten und 
besten Modelle geliefert; auch seine übrigen de- 
korativen Skulpturen bebaupten in der Geschichte 


340 


der deutschen Plastik ihren Rang. Daß Melchior 
auch Kunsttheoretiker war, ein selbständiger Denker, 
der mit größeren Abbandlungen in das ästhetische 
Räsonnement des frühen Klassizismus eingriff, 
wird durch Hofmanns schönes Buch wieder zum 
Bewußtsein gebracht. Das gut ausgestattete, ge- 
schmackvoll arrangierte Werk enthält neben den 
wichtigsten Urkunden zur Biographie des Künst- 
lers die literarischen Leistungen vollständig und 
bringt dazu als Abschluß ein Lebensbild des 
Künstlers, zu dem als Ergänzung die Bildtafeln 
mit Abbildungen der Hauptwerke und unbekann- 
ten Handzeichnungen treten. Die Vorzüge Hof- 
mannscher Arbeiten zeichnen auch diese Bio- 
graphie Melchiors aus: die absolute Sachlichkeit 
und Zuverlässigkeit, die ungewöhnliche Sorg- 
falt der Forschung bis zur Erschöpfung des 
Stoffes, die allen Anregungen nachgeht, in alle 
versteckten Winkel hineinleuchtet, so daß Werke 
wie dieses Buch über Melchior oder die große 
Geschichte des Nymphenburger Porzellans zu den 
Quellenschriften der Kunst der Zeit gerechnet 
werden müssen. Was die Biographie Melchiors 
noch besonders auszeichnet, ist die Wärme der 
Diktion, die nur aus langjähriger Vertrautheit mit 
dem Stoffe erwächst; die von Anfang an fesselt, 
weil man überall das Bemühen spürt, liebgewor- 
dene Schätze des Wissens vor dem Leser aus- 
zubreiten. Adolf Feulner. 


WALTER FRIEDLAENDER, Claude 
Lorrain. Berlin, Paul Cassirer, 1921. 


Seinem Poussinbuch von 1914 läßt Friedlaender 
eine Studie folgen über den „lyrischen Gegen- 
spieler“, den von Goethe wie Nietzsche in seiner 
kristallenen Klarheit und Heiterkeit bewunderten 
Claude Lorrain. Die Quellen für Lorrains Leben, 
Sandrart und Baldinucci, werden eingehend be- 
nutzt, ebenso das vom beschaulichen Künstler 
angelegte Skizzenbuch „Liber veritatis“. Auch 
wird zum erstenmal der Versuch einer Chrono- 
logie der Radierungen gemacht. Claudes Land- 
schaft erwächst aus dem klassischen Stil und der 
idealen Auffassung der Landschaft der Carracci, 
dazu gesellt sich ein nordisches Element. Als 
Neues bringt er die Befreiung und den Eigenwert 
des Lichtes. In einem Schlußkapitel grenzt Fried- 
laender Lorrains Wesen und Bedeutung scharf 
und knapp gegen Poussin ab und zieht das Fazit 
dieses in gewissem Sinne einförmigen, dem fran- 
zösischen Rationalismus in vielem entgegengesetzten 
Schaffens. Etwa 130 teilweise zum erstenmal ver- 
öffentlichte Abbildungen, darunter wundervoll 


lebendige und eindringliche Zeichnungen aus dem 
British Museum erhöhen den Wert des Buches. 
Rosa Schapire. 


EIN FESTTAG am Hofe des Minos 
50 Steinzeichnungen von Fritz Krischen. 
Verlag Schoetz u. Parrhysius. Berlin 1921. 


Solange wir die altkretischen Inschriften, ge- 
schrieben mit rätselhaft unbekannten Schrift- 
zeichen, in einer gleichfalls unbekannten, weder 
semitischen noch indogermaniscben Sprache, noch 
nicht entziffern können, ist uns die politische Ge- 
schichte Kretas in vorgriechischer Zeit unbekannt. 
Nur das Kulturleben, wie es sich im zweiten Jahr- 
tausend im Bereiche des Aegäischen Meeres ab- 
spielte, können wir uns rekonstruieren. Aus- 
gehend von den reichen Ergebnissen der Aus- 
grabungen auf Kreta, und an die dem Erdboden 
entstiegenen Originale sich anschließend, hat Verf. 
versucht, in fünfzig Steinzeichnungen ein Bild 
des kretischen Kulturlebens zu zeichnen, wie es 
in seiner eleganten, verfeinerten Art die präch- 
tigen Hallen und Säle des Palastes zu Knossos 
durchflutete. Anknüpfend an einen — zwar nicht 
historischen Vorgang, der Hochzeit einer kreti- 
schen Prinzessin mit dem Fürsten von Tiryns, 
bietet sich dem Künstler Gelegenheit, die ver- 
schiedensten Vorgänge am Königshofe zur Dar- 
stellung zu bringen, und es ist ihm gelungen, 
auch dem Nicht-Archäologen einen Begriff von 
der eminent hochstehenden Kultur des zweiten 
Jahrtausends v. Chr. zu vermitteln. In seiner vor- 
nehmen Ausstattung dürfte das Werk selbst den 
höchsten Ansprüchen eines geläutertenGeschmackes 
genügen. A. Köster. 


KURT HIELSCHER, Das unbekannte 
Spanien. Baukunst, Landschaft, Volks- 
leben. Berlin, Ernst Wasmuth, A.-G. 


Während seines fünfjährigen unfreiwilligen Auf- 
enthaltes in Spanien hat Hielscher das Land mit 
seiner Ica-Zeiß- Kamera von den Pyrenäen bis zum 
Strand von Tarifa, vom Palmenwald von Eiche 
bis zu den Höhlenfelsenstätten von Almeria und 
Guadix durchquert. 

Mit Recht nennt er sein Buch „Das unbekannte 
Spanien“, trotzdem Granada, Cordoba, Sevilla, 
Toledo oder Aranjuez naturgemäß nicht fehlen. 
Aber was wissen wir von der Schönheit der in 
die Landschaft geschmiegten Dörfer in Südestrema- 
dura, was von den Albuferahütten bei Valencia, 
von den Opuntien umstandenen Huertahütten, was 
von den phantastischen Höblenfelsenstädten von 


Guadix und Almeria? Die kuppelbekrönte Kalva- 
rienbergkirche in Javea ist so wenig bekannt wie 
der Steinkistenfriedhof bei Elorio, die Kastelle zu 
Penafiel, Mombeltran, Coca, die Bergstadt Daroca, 
das distere Jativa, das Kloster Batuecas in schwer- 
mütiger Zypressenlandschaft, ein herrlicher früh- 
romanischer Grabstein aus Vizcaya, der strenge 
Pfosten der Kapelle St. Miquel de Lino bei Oviedo 
aus dem g. Jahrhundert und vieles, vieles andere. 

Das Buch enthält über 300 ganzseitige Abbil- 
dungen in Kupfertiefdrack. Jeder gelehrte Ap- 
parat in Form von Anmerkungen, Erklärungen, 
Daten, fehlt; der kurze, einleitende Text hat nur 
Feuilletonrang, aber es ist als Bilderbuch für den 
Wissenschaftler ebenso unentbehrlich, wie für den 
Kunstfreund, der sich für Spanien interessiert. 
Vor unseren Augen entsteht ein Land, unbe- 
rührter, unausgeschöpfter als Italien, voll Wild- 
heit, voli höchster, aus den verschiedensten Quellen 
stammender Kulten. Rosa Schapire, 


EDWIN SWIFT BALCH und EUGENIA 
MACFARLANE BALCH, Kunst und 
Mensch. Vergleichende Kunststudien. 
Deutsche Ausgabe von E. Volckmann. 
Verlag Gebr. Memminger, Wiirzburg 1921. 


EDWIN SWIFT BALCH und EUGENIA 
MACFARLANE BALCH, Die bilden- 
den Kiinste der Erde. Deutsche Aus- 
gabe von E. Volckmann. Verlag Gebr. 
Memminger, Würzburg 1921. 


Zwei merkwürdige Bücher, wie sie nur in Ame- 
rika denkbar aind. Die Verfasser haben nach 
ihrer eigenen Aussage seit Jahren das Studium 
der Kunst betrieben in Museen wie an Licht- 
bildern und Abbildungen in Büchern. Alles, was 
je über Kunstwissenschaft geschrieben ist, die 
Ergebnisse der gesamten Kunstforschung sind 
ihnen fremd. Daß man das, was sie „vergleichende 
Kunst“ nennen, die Kunstäußerungen verschie- 
dener Völker miteinander zu vergleichen, und 
wenn möglich, miteinander in Beziehung zu 
bringen, in ausgedehntestem Maße in der Kunst- 
wissenschaft anwendet, ist ihnen daher gänzlich 
entgangen, und sie glauben, der aufborchenden 
Welt etwas ganz Neues zu bieten, wenn sie Kunst- 
gegenstände aller Welt miteinander vergleichen, 
Und wenn das noch geschäbe auf Grund ein- 
gehender Kenntnis dieser Kunstwerke, aber ohne 
Gefühl für Stil und Qualität, obne auch von der 
Entwicklung der Kunst eines Landes eine Ahnung 
zu haben, ohne geschichtliche Kenntnis, ohne 


341 


Übersicht über das vorhandene Material wird zu 
Werke gegangen. Es ist — um mich euphe- 
mistisch auszudrücken — eine bodenlose Un- 
wissenbeit auf kunstwissenschaftlichem Gebiet, 
die aus diesen Büchern apricht. In Amerika mag 
eine solche Arbeitsweise Anklang finden, wie man 
einem deutschen Publikum so etwas vorzusetzen 
wagt, ist mir unerfindlich. A. Köster. 


G. RODENWALDT, Der Fries des 
Megarons von Mykenai. Mit einer 
Farbentefel, vier Beilagen und 30 Text- 
abbildungen. Verlag von Max Niemeyer. 
Halle a/S., 1921. 

Der Titel läßt eine Spezialabhandlung vermuten, 
die nur den Fachgelehrten interessiert. Tatsäch- 
lich entbält die Schrift R.s weit mehr, u. a. eine 
ausfübrliche, zusammenfassende Darstellung der 
kretischen Malerei, die in ihrer Art das beste dar- 
stellt, was bisher über dieses Thema geschrieben 
worden ist, Verfasser macht vor allen Dingen 
darauf aufmerksam, daß die kretische Kunst ihrem 
innersten Wesen nach so ganz anders geartet, 
als die Kunst der Ägypter, Babylonier und Griechen, 
von Anfang an eine durchaus malerische ist, die 
dem malerischen Sinn ihrer Urheber entsprungen, 
die Malerei zum Ausgangspunkt der gesamten 
Kunstbetätigung macht und sich dementsprechend 
entwickelt. Daraus erklären sich die großen Vor- 
züge der kretischen Kunst, aber auch ihre Mängel, 
die namentlich in die Erscheinung treten, sobald 
es sich um monumentale Darstellungen handelt, 
Hier vermißt man leicht anatomische Richtigkeit 
und Glaubhaftigkeit in den Bewegungsmotiven, 
worin die griechische Kunst gerade das Höchste 
leistet, allerdings erst nach jahrhundertelangem 
Ringen mit plastischen Problemen, die dem Kreter 
fern lagen. Nach der Beschreibung des neuen, 
in Mykenai entdeckten, allerdings sehr fragmen- 
tierten Frieses behandelt Verf. den Unterschied 
der kretischen und der mykenischen Wandmale- 
reien, die, derselben Kultur angehörend, zunächst 
von denselben, nämlich kretischen Künstlern aus- 
geführt, in ihren Motiven, dann auch in der Dar- 
stellungsart voneinander abweichen, — weil die 
Burgherren von Mikenä griechischen Stammes 
waren, mit einem künstlerischen Keim, der anders 
geartet war, und — trotzdem zunächst alle und 
jede Kunst von Kreta kam, doch von Anfang an 
andere Wege weist. 

Für Archäologen wie Kunstgeschichtler gleich 
lesenswert, wird keiner ohne Bereicherung an Ge- 
danken und Anregungen das Buch aus der Hand 


legen. A. Koster. 


342 


FRIEDRICH FIMMEN: Die kretisch- 
mykenische Kultur. B. G. Teubner, 
Leipzig 1921. 226 Seiten und 203 Abb. 
M. 24.— und Teuerungszuschlag. 


Neuerdings sind nicht weniger als drei Bücher 
herausgekommen, die dasselbe Thema, die kretisch- 
mykenische Kultur behandeln. Das Buch von 
Bossert, Alt-Kreta (Berlin 1921), besitzt keinerlei 
wissenschaftlichen Wert — selbst die Abbildungen 
entbehren der Zuverlässigkeit —, und das Werk 
von Seunig wird unten besprochen. Das Buch 
von Fimmen ist das einzige in der Reihe, das 
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen kann, 
mit dem sich der Forscher gern beschäftigt, das 
einen wirklichen Gewinn für Geschichte, Archäo- 
logie und Ägyptologie ausmacht. Seine Bedeutung 
liegt vor allen Dingen in der Fülle des Materials, 
das zwar nicht alles von Grund aus verarbeitet 
werden konnte — das hätte ein mehrbändiges 
Werk ergeben —, aber für den Forscher jetzt 
übersichtlich geordnet vorliegt. Es lag in der 
Eigenart der Funde begründet, daß die Keramik, 
in vielen Gegenden das einzige, was aus jener 
Epoche auf uns gekommen ist, in den Vorder- 
grund gerückt erscheint; sie ist m. E. aber etwas 
zu sebr betont. Namentlich im Vergleiche zur 
Architektur, zum Festungsbau usw., wo manche 
Fragen von ausschlaggebender Bedeutung kaum 
angeschnitten werden. Auch die im wesentlichen 
auf die Verschiedenartigkeit der Keramik aufgebaute 
Einteilung in verschiedene Kulturkreise würde 
durch eine weitgehende Verwertung anderer Kultur- 
erscheinungen an Wahrscheinlichkeit gewonnen 
haben. Ausgezeichnet sind die Darlegungen der 
Beziehungen zwischen Kreta und Ägypten, wie 
auch die Untersuchungen über kretische und 
ägyptische Chronologie. Das Kapitel über den 
Handel ist das Beste, was je über diesen Gegen- 
stand geschrieben worden ist. Überbaupt lernt 
man überall und hat stets die Empfindung, auf 
sicherem Grund zu stehen. Und deshalb kann 
auch den Lesern dieser Zeitschrtft, den neueren 
Kunsthistorikern, das Buch von Fimmen so un- 
bedenklich empfohlen werden. Natürlich veralten 
gerade in der kretischen Forschung die Ergebnisse 
schnell, manches ist bereits heute überholt, aber 
davon abgesehen, kann der Historiker wie der 
Kunstgelehrte sich stets schnell und zuverlässig 
orientieren, sobald eine Frage der kretisch-myke- 
nischen Kultur ihn interessiert. 


Aug. Köster. 


PAUL HEIDELBACH: „Kassel“. Mit 
40 Tafeln (Stätten der Kultur, Band 31). 
Klinkhardt&BiermannVerlag,Leipzig1920. 


Als 31. Veröffentlichung der, im Verlag von 
Klinkhardt & Biermann erscheinenden „Stätten 
der Kultur“ liegt nunmehr der Band Kassel von 
Paul Heidelbach vor. Dies ist die umfangreichste 
Städtemonographie dieser, von Professor G. Bier- 
mann herausgegebenen Reihe und auch inhaltlich 
wie formell eine hervorragende Leistung. 

Paul Heidelbach hat es verstanden, seinem 
Auftrage in jeder Weise gerecht zu werden. Er 
entwirft auf dem Untergrund der klar entwickelten 
Geschichte der Stadt und des Landes kultur- 
geschichtliche Bilder der bedeutendsten Epochen 
und wird dabei auch der kunstgeschichtlichen 
Seite seiner Aufgabe völlig gerecht. Leicht les- 
bar, übersichtlich geordnet und mit gutgewählten 
Aufnabmen illustriert. 

Ein Werk, das für das 18. Jahrhundert von 
ähnlicher Bedeutung war wie es Heidelbachs Buch 
für uns ist, besitzen wir in der, Landgraf Fried- 
rich IL gewidmeten „genauen und umständlichen 
Beschreibung der hochfürstlich hessischen Resi 
denzstadt Cassel nebst den nahegelegenen Lust- 
schlössern, Gärten und anderen sehenswürdigen 
Sachen“ von Schminke, 

Die Geschichte der Stadt Cassel, Piderit 1844, 
die Hofmeister 1882 neu herausgegeben hat, ist 
heute veraltet und außerdem selbst in der Neu- 
auflage völlig unzuverlässig. 

Die, anläßlich der Tausendjahrfeier Cassels ver- 
faßte Stadtgeschichte von Brunner, ist eine ge- 
wissenhafte, aus allen Quellen schöpfende Arbeit, 
die aber namentlich die politische Geschichte 
Flessens berücksichtigt. Der gleichzeitig, als vierter 
Band der „Monographien deutscher Städte“ er- 
schienene Band „Cassel“ von Stein, bringt haupt- 
sächlich das für die kommunale Verwaltung Inter- 
essante. 

Die vorbildlichen Werke Holtmeyers „Alt- 
Савве!“ und „Wilhelmshöhe“ sind Spezialarbeiten, 
die ihrem Zweck entsprechend nur die Bau- 
geschichte berücksichtigen. 

So füllt auch dieser Band, wie alle bisher er- 
schienenen Bände der „Stätten der Kultur“ eine 
allezeit schmerzlich empfundene Lücke aus und 
ist diesem so geschmackvoll ausgestatteten, hand- 
lichen und nicht zuletzt billigem Werke dieselbe 
Verbreitung zu prophezeien, die alle von Pro- 
fessor Biermann herausgegebenen Bände so rasch 
gefunden haben. 

Man könnte dem Autor den Vorwurf machen, 


daß er die Geschichte der Wilhelmshöhe, die doch 
unlösbar mit Cassele Geschichte verwachsen ist, 
zu kurz behandelt hat. Ich möchte daher auch 
an dieser Stelle nochmals auf das in demselben 
Verlag veröffentlichte, erschöpfende Werk des- 
selben Verfassers „Die Wilhelmsböhe“ hinweisen, 
das, obgleich in anderer Ausgabe erschienen doch 
im gleichen Charakter verfaßt, die erwünschte 
Ergänzung zu dem vorliegenden Bande darstellt. 

J. W. Berrer. 


WILHELM WAETZOLDT, Deutsche 
Kunsthistoriker von Sandrart bis 
Rumohr. E. A. Seemann, Leipzig 1921. 


Das Buch hält mebr als sein schlichter Titel 
verspricht, der zunächst nur auf eine lose Samm- 
lung biographischer Essais schliessen lassen möchte. 
Denn es stellt nicht weniger dar als eine auf die 
prägnanteste Formel gebrachte Geschichte der deut- 
schen Kunstgeschichtsschreibung und zwar die Ge- 
schichte ihrer Methode, wie sie aich von ihren 
ersten primitiven Anfängen entwickelte bis zum 
Beginn der eigentlichen Fachwissenschaft, der 
durch den erst ganz neuerdings wieder zu verdien- 
ten Ehren erhobenen Rumohr gekennzeichnet wird. 
Von hoher philosophischer Warte aus und mit 
einer erstaunlichen Belesenheit beleuchtet der 
Verf. diesen vielfach verschlungenen Weg durch 
die „ästhetische“ Epoche der Kunstgeschichte hin- 
durch bis zu den Anfängen ihrer „historischen“ 
Epoche; von der auf der Subjektivität ästhetischer 
Einfühlung begründeten Kunstbetrachtung zu der 
auf philologischer Quellenkritik und geschärfter 
vergleichender Stilkritik fußenden objektiven mo- 
dernen Methode, die allein das Prädikat wahrer 
Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen 
darf; von der in der improvisierten Form der 
Reiseberichte, Gemäldegespräche, Galeriebriefe und 
des Künstlerromans sich in der Hauptsache er- 
schöpfenden Kunstliteratur des 18. Jahrhunderte, 
fiir das die Kunstgeschichte nur ,Nebenzweig an 
dem grossen Baume der Dichtung“ war, bis zu 
der strengen Tektonik der modernen Literaturform, 
wie sie die Meisterhand Rumohrs geprägt hat. 
Unter dem Gesichtspunkt, ein ganz klares Bild 
dieser Entwicklung der kunstgeschichlichen Er- 
kenntnis zu geben, hat W. alles rein Biographische 
ausgeschieden und auch nur die Namen hervor- 
gehoben, die wirklich als Marktsteine an diesem 
Wege stehen. Dadurch bat seine Darstellung an 
Prägnanz entschieden gewonnen, doch verfibrte 
das auch vielleicht zu mancher sachlich nicht ganz 
gerechtfertigten Unterstreichung auf der einen, zu 


343 


mancher Unterdrückung auf der anderen Seite. 
So scheint mir W. die Leistung Christ’s, den 
schon Heinecken (in der Vorrede zum 2. Teile 
seiner Nachrichten von Künstlern 1769) einen 
„schlechten Zeichendeuter“ nennt, und über den 
Nagler (in der Vorrede zu den Monogrammisten) 
fast spöttisch aburteilt, entschieden zu überschät- 
zen, wie er umgekehrt die Bedeutung Lessings 
für die Geschichte der Kunstwissenschaft zu gering 
anschlägt; jedenfalls wird der Verfasser des Lao- 
koon, der doch nächst Winckelmann und Goethe 
den wichtigsten Platz unter den deutschen Kunst- 
theoretikern des 18. Jahrhunderts einnimmt, selt- 
samer Weise immer nur ganz beiläufig von W. 
zitiert. In einer oft prachtvoll pointierten Formulie- 
rung wird sonst daa wesentliche der Leistung überall 
hervorgehoben; umgekehrt sind die individuellen 
Grenzen der Erkenntnis mit feinem Spürsinn er- 
kannt, wenn es von Heinse, den W. treffend als den 


„ersten deutschen Kunstfeuilletonisten“ bezeichnet, 
etwa heißt: „Seelische Bewegtheit und Spannung 
sieht er kaum“ oder von Winckelmann: „ihm 
fehlte der Sinn für Helldunkel, Handlung, Kom- 
position, Charakteriaches, Ausdruck“. Die Betrach- 
tung schließt mit dem Namen Rumohrs ab. Das ist 
kein willkürlicher Abschluss: gehört doch Rumohr 
als der Bringer einer eine Epoche abschliessenden 
Kunsttheorie auch dem geistesgeschichtlichen 
Zusammenhang nach auf diesen Platz. Freilich 
ist dieser „Antipode von Mengs und Winckel- 
mann“, wie ihn Fr. Winkler kürzlich bezeichnete, 
auch zugleich Ubergangemensch, „vorausweisend 
in das 19. Jahrhundert“ und in diesem Sinne ver- 
langt denn auch Waetzoldt's schönes gehaltvolles 
Buch nach einer Fortzetzung, die der Verf. in der 
Darstellung eines „zweiten Lebensabschnittes der 
Kunstgeschichte: Von Schnaase bis Justi“ uns in 
Aussicht stellt. Hans Vollmer. 


Schlußbemerkung des Herausgebers. Mit diesem 4. Bande des Jahrgangs 1922 be- 
schließen die Monatshefte für Kunstwissenschaft nach fünfzehnjährigem Bestehen ihr Erscheinen 
als periodische Zeitschrift. Sie finden in neuer und den gegenwärtigen Verhältnissen an- 
gepaßter Form eine Fortsetzung in dem Jahrbuch für Kunstwissenschaft, das unter derLeitung 
von Dr. Ernst Gall-Berlin in Verbindnng mit Heinrich Wölfflin, Max J. Friedlaender, 
Wilhelm Pinder, Fr. Sarre, Adolf Feulner a. a. erstmalig im Herbst 1923 bei Klinkhardt 


& Biermann in Leipzig erscheinen wird. 


1922, IO—I2. 


Herausgeber Prof. Dr. GEORG BIERMANN, Reitrain a/Tegernsee, Post Rottach. 
Verlag und Geschäftsstelle der Monatshefte für Kunstwissenschaft KLINKHARDT 


344 


& BIERMANN, Leipzig, Liebigstr. 2, Telefon 13467. 


(Fortsetzung von з. Umschlagseite.) 


RAIMOND van MARLE, La peinture romaine 
au moyen - àge, son développement du 6ème 
siecle jusqu’à la fin du aime siècle. (Etudes 
de l'art de tous les pays et de tous les épo- 
ques, Vol. 3.) Strasbourg, Heitz 1921. 
(Ludwig Schudt) .......... . . 8.318 

VICTOR CURT HABICHT, Niedersächsische 
Kunst. I. Der Roland zu Bremen. II. Die 
Goldene Tafel der Sankt Michaeliskirche zu 


Lüneburg. Ш/ГУ. Des Ы. Bernward Kunst- 
werke. VF Bremen 1922 
aum . 8. 320 


OSWALD SIREN, Toskanische Maler un 13. Jahr- 
hundert. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin, 
1922 (Wilhelm Suida)..... e. eo. 8. 321 


GEORG WEISE, Die gotische Holsplastik um 
Rottenburg, Horb und Hechingen. 1. Teil: 
Die Bildwerke bis zur Mitte des 15. Jabrh. 
(Forschungen zur Kunstgeschichte Schwabens 
und des Oberrheina, 1. Heft.) 208 8., 8°, 
mit 6: Abb. und Karte. Alexander Fischer, 
Tübingen 192r (Wolfgang Stechow) . 8. 325 

BURGER-SCHMITZ-BETH, Diedeutsche Malerei 
vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der 
Renaissance. 3 Bände mit 719 8., 812 Text- 
abbildungen und 49 ein- oder mehrfarbigen 
Tafeln. Akademische Verlagsgesellschaft Athe- 
naion, Neubabelsberg b. Berlin. (Jahn), 8. 326 


. SCHMARSOW, Kompositionsgesetze in der 
Kunst des Mittelalters. П. (Forschungen zur 
Formgeschichte der Kunst, herausgegeben von 
Eugen Liithgen, Bd.3). Verlag von K. Schroeder 
Bonn- Leipzig 1920 (Wackernagel) . . 8. 328 

DERSELBE, Gotik in der Renaissance. Verlag 

F. Enke, Stuttgart 1921 (Wackernagel) S, 328 

DIE DENKWÜRDIGKEITEN des fiorentinischen 

Bildhauers Lorenzo Ghiberti. Zum erstenmal 

ins Deutsche übertragen von Julius Schlosser. 

Berlin, Julius Bard 1920 (Rosa Schapire) 8. 329 


JOSEPH BERNHART, Holbein der Jüngere. 
O. C. Recht Veriag, Miinchen roas (Sascha 
Schwabacher . . . 8.330 


WILHELM v. BODE, Studien über Lessatds da 
Vinci. Mit 73 Abb. G. Grote’sche Verlagsbuch- 
hdig., Berlin (Sascha Schwabacher) . . 8. 330 

MAX J. FRIEDLANDER, Pieter Bruegel, Berlin, 
Propylien;Verlag, 1922 (Н. Röttinger) 8. 330 


RUDOLF OLDENBOURG +, Peter Paul Rubens. 
Herausgegeben von W. v. Bode. Mit 131 Ab- 
bildg. Verlag R. Oldenbourg, München 1922. 
(W. Friedlaender-Freiburg) .... . . . . 8.331 


JOACHIM v. DERSCHAU +, Sebastiano Ricci. 
Ein Beitrag zu den Anfängen dervenetianischen 
Rokokomalerei. (Heidelberger kunstgeschicht- 
liche Abhandlungen 6.) Winters Universitäts- 
buchhandlung 1933. (W. Friedlaender-Frei- 
burg). . 8. 332 

WILH, LORENZEN, Gammel dansk Bygnings- 
kultur. Landgaarde = Lyststeder i Barok, 
Rococco se ре Kopenhagen 1920. 
(Haupt) . EE . 8. 332 


MAX HAUTTMANN, Geschichte der kirchlichen 
Baukunst in Bayern, Schwaben und Franken 
von 1550—1780. München, Verlag für prak- 
tische Kunstwissenschaft, 1921. Mit 205 Tafel- 
bildern u. 90 Textabb. (Adolf Feulner) 8. 333 


BRUNO GRIMSCHITZ, Job. Lukas von Hilde- 
brandts künstlerische Entwicklung bis zum 
Jahre 1725 (Kunstgeschichtl. Einzeldarstellung., 
herausgeg. v. kunsthistor. Institut des Bundes- 


denkmalamtes. Schriftleitung Dagobert Frey, 
Folge der Originaldrucke, Bd. 1). 4°. 94 8., 

79 Abb. auf Tafeln, Österreich. Verlagsgesell- 
schaft Ed. Hölzel & Co., Wien 1922 (Kari Gin- 
hart) . e o . 8,334 


KARL LOHMEYER, Die Briefe Balthasar Neu- 
manns an Friedrich Karl von Schoenborn. 
Gebr. Hofer, Verlagsanstalt, Saarbrücken-Ber- 
lin, 1921 (F. Knapp). 8. 336 


PAUL SCHUBRING, Prof. Dr., Die italienische 
Plastik des Quattrocento. Handbuch der Kunst- 
wissenschaft, herausgegeb. von Burger-Bruck- 
mann, Akadem., Verlagsgesellschaft, Berlin- 
Neubabelsberg (F. Knapp) 8.337 

MARIANNE ZWEIG, Wiener Bürgermöbel aus 

theresianischeru.josephinischer Zeit 1740 90 
Zweite vermehrte Aufl. Mit 100 Tafeln. Wien, 
Anton Schroll & Co., 1932 (M. Schuette) 8. 337 


WILHELM HAUSENSTEIN, Barbaren und 
Klassiker. München 1921. Verlag Piper & Co. 
(Kurt Gerstenberg) 8. 338 


GESSNER, Der Meister der Idylle. Ausgewählt 
und eingeleitet von Paul F. Schmidt. Mit 
34 Abbild. München, Deiphin-Verlag (Rosa 
Schapire) 8.339 


WILHELM R. VALENTINER, Georg Kolbe. 
Plastik und Zeichnung. Mit 64 Abbildungen. 
K. Wolff Verlag, München 1922 (P. F. Schmidt) 
Seite 339 


CURT GLASER, Die Graphik der Neuzeit, Vom 
Anfang des 19. Jabrhund. bis zur Gegenwart. 
Berlin, Bruno Cassirer, 1922 (Rosa Schapire). 
Seite ‚ . . 340 

FRIEDRICH H. HOFMANN, Johann Peter 
Melchior 1743 — 1825, Mit 46 Bildtafeln. 
München, Verlag für praktische Kunstwissen- 
schaft, 1921 (Adolf Feulnor) . . 8. 340 

WALTER FRIEDLAENEER, Claude Lorrain. 
Berlin, Paul Cassirer, 1921 (Rosa Schapire). 
Seite e 341 

EIN FESTTAG am Hofe des Minos. so Stein- 
zeichnungen von Fritz Krischen. Verlag 
Schoetz u. Parrhysius. Berlin 1921 (A. Köster). 
Seite „+. .341 

KURT HIELSCHER, Das unbekannte Spanien, 
Baukunst, Landschaft, Volksleben. Berlin, 
Ernst Wasmutb, A.-G. (Rosa Schapire) 8. 341 


EDWIN SWIFT BALCH und EUGENIA 
MACFARLANE BALCH, Kunst und Mensch, 
Vergleichende Kunststudien. Deutsche Ausgabe 
von E. Volckmann. Verlag Gebr. Memminger, 
Würzburg 1031 (A. Köster) . . . . . 8. 341 


DERSELBE, Die bildenden Künste der Erde, 
Deutsche Ausgabe von E. Volckmann, Verlag 
Gebr. Memminger, Würzburg 1921 (A. Köster) 
Seite ....... . . 341 

G. RoDRNWALDO T, Der Fries des Megarons von 
Mykenai. Mit 1 Farbentafel, 4 Beilagen und 
30 Textabbildungen. Verlag von Maz Niemeyer. 
Halle a. 8., 1921 (A. Köster) . . . 8.342 

FRIEDRICH FIMMEN, Die kretisch-mykenische 
Kultur, B.G.Teubner, Leipzig 1921. 236 Seiten 


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u. 203 Abb. (Aug. Késter)........ 8. 342 
PAUL HEIDELBACH, „Kassel“. Mit до Tafeln 
(Stätten der Kultur, Bd. 31). Klinkhardt & Bier- 


mann Verlag, Leipzig 1920 (J. W. Berrer) 8, 343 
WILHELM WAETZOLDT, Deutsche Kunst- 
historiker von Sandrart bis Rumobr. E A. See- 
mann, Leipzig 1931 (Hans Vollmer) . . 8. 343 


Kunstwissenschaftliche Literatur 


aus dem Verlage von 


KLINKHARDT & BIERMANN / LEIPZIG 


Adama von Scheltema, Ober die Entwicklung der | Mundt, Die Erztaufen Norddeutschlands von der 


Abendmahlsdarstellung von der byzantinischen Mosaik- 
kunst bis zur niederlandischen Malerei des 17. Jahrh. 
МУШ and 184 S. mit 26 Abb. auf 21 Tafeln in 
Lichtdruck. 4°. Geh. М. 15.— 


Badt, Andrea Solario, Sein Leben und seine Werke. Ein 
Beitrag zur Kunstgeschichte der Lombardei. VIII u. 
224 S. mit 42 Abb. auf 21 Taf. in Lichtdruck. 4°. 

Geh. M. 20.— 

Bruhns, Die Grabplastik des ehemaligen Bistums Würz- 
burg während der Jahre 1480 bis 1540. Ein Beitrag 
zur Geschichte der deutschen Reraissance. IN u.92S. 
mit 39 Abb. auf 13 Tafeln. 4°. Goh. M. 10.— 


Burger, Die Villen des Andrea Palladio. Ein Beitrag 
zur Entwicklungsgeschichte d. Renaissance-Architektur. 
VIl und 152 S. Mit Titelbild und 112 teils farbigen 
Abbildungen auf 48 Tafeln. 40. Geh. М. 12.— 


Burger's Kunstkritik. Deutsche Bearbeitung von A. 
Schmarsow und B. Klemm. Band 1: Neue Bestre- 
bungen der Kunstlandschaftsmalerei. Band Il: Cha- 
rakter der französischen Kunst, Hauptmeister. der 
Historienmalerei, Genre und Portrait, Plastik. Band 
Ш: Die großen Meister: Millet, Courbet, Manet, Puvis 
de Chavannes, Die Auslander. 

Alle drei Bande geb. M. 15.— 


Flechsig, Sachsische Bildnerei und Malerei vom { 4. Jahr- 
hundert bis zur Reformation. I. Lieferung: Leipzig; 
II. Lieferung: Freiberg i. S.: Ш. Lieferung: Chemnitz 
und Zwickau. Mit je 40 Tafeln in Lichtdruck. 

Je Lieferung M. 30.— 


Freise, Pieter Lastmann, Sein Leben und seine Kunst. 
Ein Beitrag zur Geschichte der holländischen Malerei im 
17. Jahrhundert. (Kunstwissenschaftl. Studien, Bd.V). 
УШ u. 2805. Mit 44 Abb. auf 12 Tafeln. 4°. 

Geh. M. 7.— 


Goldschmidt, Pontormo, Rosso undBronzino, Ein Ver- 
such zur Geschichte der Raumdarstellung. УШ u. 
56 5. mit 25 Abb. auf 11 Taf. in Lichtdruck. 4°. 

Geh. М. 7.— 


Hübner, Le Statue di Roma. Grundlagen für eine 
Geschichte der antiken Monumente in der Renaissance. 
Quellen und Sammlungen. VIII und 125 Seiten. 
Mit 36 Abb. auf 14 Tafeln. 4°. Geb.M. 22.50 


Kroeber, Die Einzelportraits des Sandro Botticelli. VIII 

u. 42 S. Mit 30 Abb. auf 12 Tafeln inLichtdruck. 4°. 

Geh. M. 5.— 

A.L. Mayer, Geschichte der spanischen Malerei. 
УШ und 536 Seiten mit 374 Abbildungen. 

Ganzleinen М. 40.—, Halbleder M. 60.— 


A. L. Mayer, Die Sevillaner Malerschule. Beitrage 
zu ihrer Geschichte. XII und 226 Seiten. Mit 
70 Abbildungen auf 60 Tafeln. 4°. Geh. М. 20. -- 


Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahr- 
hunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Erz- 
gusses. (Kunstwissenschaftl. Stud. Bd. Ш.) VIllu.90S. 
Mit 69 Abb. auf 37 Tafeln 8°. Geh. M. 9.— 


von der Mülbe, Die Darstellung des jüngsten Gerichts an 
den romanischen und gotischen Kirchenportalen Frank- 
reichs. (Kunstwissenschaftliche Studien Bd. VI). X 

u. 84 S. Mit 30 Abb. auf 15 Taf. in Lichtdrack. 8°. 
Geb. M. 4.50 


Nasse, Jacques Callot (Meister der Graphik, Bd. l.) 
УШ u. 80 Seiten Text mit I Titelbild u. 104 ДЬ. 
bildungen auf 50 Tafeln. Halbleinen und Halbleder. 


Oldenbourg, Thomas de Kaysers Tätigkeit als 
Maler. Ein Beitrag zur Geschichte der hollan- 
dischen Portraits. 1Kunstwissenschaftliche Studien 
Bd. VII.) 100 S. Mit 29 Abb. auf 25 Fan 8°. 

eh. М. 5.— 


Patzak, Die Renaissance und Barockvilla in Italien, 
Bd. П. Palast und Villa in Toskana. Zweites Buch. 
Geh. M. 40.— 

— Ва. Ш, Die Villa Imperiale in Pesaro. 
Geheftet M. 32.—, Ganzpergament M. 50.— 
Preibisz, Martin van Heemskerck. Ein Beitrag zur 
Geschichte des Romanismus in der niederlandischen 
Malerei des 16. Jahrhunderts. VIII u. 112 S. Mit 
29 Abb. auf 12 Tafeln in Lichtdruck. Geh. M. 7.— 


Simon, Gottlieb Schick. Ein Beitrag zur Geschichte 
der deutschen Malerei um 1800. УШ und 256 S. 
Mit 67 Abb. auf 19 Tafeln in Lichtdruck. 4°. 

Geh. M. 20.— 

Sirén, Giottino und seine Stellung in der gleich- 
zeitigen florentinischen Malerei. VII und 108 S. 
Mit 35 Abb. auf 26 Tafeln. 4°, Geh. M. 9. — 


Stübel, Christian Ludwig von Hagedorn, Ein Diplo- 
mat und Sammler des 18. Jahrhunderts, IV u. 252 S. 
Mit Titelbild. 8°. Geh. М. 6.— 


Vogel, Bramante und Raffael. Ein Beitrag zur Ge- 
schichte der Renaissance. VI und 114 S. Mit 
8 Abb. auf 6 Tafeln. 4°. Geh. M. 5.— 


Zimmermann, Niederländische Bilder des XVII. 
Jahrhunderts in der Sammlung Hölscher - Stumpf. 
(Kunstwissenschaftliche Stadien Bd. П.) 64 S. Mit 
30 Abb. auf 27 Tafeln. 8°. Geh. M. 14.— 


Zucker, Raumdarstellung und Bildarchitekturen im 
Florentiner Quattrocento. ГУ und 170 S. Mit 41 Abb. 
auf 12 Tafeln in Lichtdrack. 4°. Geh. М. 14.— 


Zwanziger, Dosso Dossi. Mit besonderer Berücksich- 
tigung seines künstlerischen Verhaltnisses zu seinem 
Bruder Battista. УШ und 122 Seiten. Mit 20 Abb. 
auf 20 Tafeln in Lichtdruck. 4°. Geh. M. 12.— 


Die angegebenen Preise sind Grundpreise, die mit der in jeder Buchhandlung zu erfragenden Schlüsselzahl 
zu multiplizieren sind. 


Buchdruckerei von Julius Klinkhardt in Leipzig. 


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