MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
0. F0ER8TER- BRESLAU UND K. WILMANNS - HEIDELBERG
HEFT 33
DER AMYOSTATISCHE
SYMPTOMENKOMPLEX
KLINISCHE UNTERSUCHUNGEN
UNTER BERÜCKSICHTIGUNG ALLGEMEIN
PATHOLOGISCHER FRAGEN
VON
DR. A. BOSTROEM
PRIVATDOZENT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
OBERASSISTENZARZT AN DER PSYCHIATRISCHEN UND
NERVENKLINIK DER UNIVERSITÄT LEIPZIG
MIT 12 TEXTABBILDUNGEN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1922
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
Vorwort.
Die folgenden Untersuchungen stützen sich auf ein Kranken material, das
ich seit 1914 beobachtet und gesammelt habe. Es stammt aus meiner je¬
weiligen Tätigkeit im Eppendorf er Krankenhaus Hamburg (Prof. Nonne), der
Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock (Prof. Kleist und Prof. Rosen -
feld) sowie aus den Psychiatrischen und Nervenkliniken Breslau und Leipzig
(Geh. Rat Bumke). Für die Überlassung des Materials bin ich den Leitern
der genannten Institute zu großem Dank verpflichtet. Ganz besonders danke
ich Herrn Prof. Nonne noch dafür, daß er mir auch Krankenmaterial, das
nach meinem Ausscheiden in Eppendorf zur Aufnahme gekommen ist, zur Ver¬
fügung stellte, soweit ich es bei vorübergehender Anwesenheit in Hamburg
beobachten und untersuchen konnte.
Weiter konnte ich das einschlägige Material des Kinderheims Lewenberg
(Schwerin) (Med.-Rat Rust und Anstaltsarzt Dr. Kersten), des Städt. Siechen-
hauses Breslau (Geh. San.-Rat Freund) und des Städt. Pfleghauses Leipzig
(San.-Rat Lohse) für meine Untersuchungen benutzen, und ich möchte auch
an dieser Stelle den genannten Herren meinen verbindlichsten Dank aus¬
sprechen.
Die Krankengeschichten habe ich nur von einem kleinen Teil der Unter¬
suchungen wiedergegeben und diese auch lediglich bei wichtigen Bewegungs¬
störungen ausführlich dargestellt. Namentlich sind Beobachtungen, die von
typischen Fällen stammen, und die daher von jedem nachzuprüfen sind, nicht
durch Untersuchungsprotokolle bejegt.^ J^bcnsa, glaubte ich auf die Wieder¬
gabe von EnzephalitiskrankeiUresohit;T;toti' verafchte^V zu dürfen bei der Fülle
des jetzt in der Literatur.veröffentlichten Materials.
Die Arbeit ist im wesentlichen im Juli. 1,9?Lp-bgesohlpssen. Von der seitdem
erschienenen Literatur sind ^je. '^dditigstiüx'Arhaireo n^ch zitiert; sie konnten
aber im Text nur zum Teil , verwertet werden. . ;
Von den wiedergegeberieir # A\) # bildungen.sjt4aimen/ Äbb. 2, 3, 4 von Ham¬
burg-Eppendorf, 1, 10, 11, lZ’ aüs-'d^r feieslaicr Klinik, die Abb. 5 — 9 sind
nach Präparaten angefertigt, die meinen 1914 publizierten Untersuchungen
(Pathologisches Institut Gießen) zugrunde lagen. Für die Herstellung der letz¬
teren bin ich der Firma Leitz-Wetzlar, insbesondere Herrn Photograph Befort.,
zu Dank verpflichtet.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen habe ich zum Teil meinem auf der
11. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in Braunschweig
1921 erstatteten Referat über den amyostati sehen Symptomenkomplex zu¬
grunde gelegt.
Leipzig, im Oktober 1922.
A. Bostroem.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung. 1
I. Athetose. 5
1. Definition und klinische Umgrenzung. 5
2. Idiopathische Athetose (Athätose double). 8
3. Symptomatische Athetosen,
Hemiathetose, athetotische Dauerhaltung, Pseudoathetose .... 21
4. Zusammenfassendes über die athetosische Bewegungsstörung überhaupt ein¬
schließlich der Differentialdiagnose . 30
II, Chorea,
1. Definition und Überblick über die verschiedenen Formen der Chorea . 43
2. Sydenhamsche Chorea und Chorea chronica. 46
3. Symptomatische Choreaformen. 55
4. Pathophysiologische Bemerkungen. 61
III. Die Parkinson-Westphal-Strümpell-Wilsonsche Krankheitsgruppe.
1. Klinischer Überblick und Differentialdiagnose der Wilsonschen Krankheit
und der Pseudosklerose, fremde und eigene Fälle. 66
2. Allgemeine biologische Gesichtspunkte unter besonderer Berücksichtigung
der Frage der klinischen Zusammengehörigkeit von Wilsonscher Krank¬
heit und Pseudosklerose.105
I. Pathologische Anatomie.106
n. Rolle der Lues.J.08
HL Bedeutung der Heredität.110
IV. Auffassung der Leber- und Himveränderung als Mißbildung . . 111
V. Verhältnis der Lebererkrankung zur Gehimschädigung und die
toxische Genese der Erkrankung.118
3. Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
I. Muskeltonus. 126
II. Das Verhallt* *4^ .135
LH. KombiYiqtiqn von I. u. II, in ihrer Wirkung auf Haltung, statische
unf.kinetische Innervationen . . . \\.* •**'.145
IV. Tremor^und^Waokeibewegungen; l l .148
V. Betrachtungen: iiQei;i#)kl4iä*tidn: xm«l Pathophysiologie der neuro¬
logischen Symptome..158
4. Psychische Ve^äfidöfungen . . . . # 166
6. Bedeutung de6 . . . ..170
6. Erkrankungen anderer Alt:mit; den«Symptomen der Parkinson-Westphal-
Stümpell-Wilsonschen Krankheitsgruppe.
1. Arteriosklerotische Muskelstarre.174
H. Hemihypertonie.179
HL Tumoren.180
IV. Enzephalitis.180
V. Pseudobulbärparalyse.183
VL Vergiftungen.186
7. Parkinson-Symptome als Nebenerscheinungen.186
8. Zusammenfassung.188
Schluß.191
Literaturverzeichnis.195
Einleitung.
Zum Zustandekommen der willkürlichen Bewegungen gehört nicht nur eine
normale Funktion des Pyramidensystems, sondern es bedarf hierzu noch der
Mitwirkung einer Reihe anderer motorischer Apparate. Charakteristisch für
diese Apparate ist u. a., daß wir uns ihrer Funktion meist nicht klar bewußt
sind, daß sie arbeiten, ohne daß wir unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten
brauchen. So kam es, daß man auf die große Bedeutung dieser extrapyrami¬
dalen motorischen Systeme erst durch ihre Erkrankung aufmerksam geworden
ist. Im Groben können wir zwei extrapyramidale Bewegungsstörungen unter¬
scheiden, die zerebellaren und die sogenannten striären. Zwischen beiden bestehen
vielfache Beziehungen wegen der mannigfachen Bahnen, die sie verbinden, so
daß Schädigungen des einen Gebiets auch Störungen in der Funktion des an¬
dern bedingen können. Man wird daher bei einer Besprechung extrapyrami¬
daler Bewegungsstörungen damit rechnen müssen, ein breites Übergangsgebiet
vorzufinden. Es ist für die vorliegende Betrachtung zweckmäßig, sich vorläufig
nicht nur an die Lokalisation des Krankheitsprozesses zu halten, sondern klinische
Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen. Die große Mehrzahl der hier
in Betracht kommenden Erscheinungen läßt sich unterbringen in dem von
Strümpell geprägten Begriff des amyostatischen Symptomenkomplexes. Wie
das Wort amyostatisch ausdrückt, handelt es sich dabei um eine Vereinigung
von Störungen der Myostatik: Muskelgruppen, welche der Fixation von Körper¬
abschnitten dienen, versagen, d. h. sie werden entweder zur unrichtigen Zeit
resp. quantitativ unrichtig innerviert, oder es treten Unregelmäßigkeiten in ihrem
Zusammenwirken auf. Nicht hierher gehören die rein zerebellaren Funktionen,
soweit sie der Erhaltung des allgemeinen statischen Körpergleichgewichts dienen.
Der amyostatische Symptomenkomplex ist nicht eine jedesmal wiederkehrende,
sich gleichbleibende Vereinigung derselben Symptome, also kein »Syndrom« im
eigentlichen Sinne des Wortes, es kann sich vielmehr um ganz verschieden¬
artige symptomatologische Bilder dabei handeln, die jedoch begrifflich zu¬
einander gehören, insofern als stets eine Störung des Myostatik im Krankheits¬
bilde enthalten ist, ohne daß dabei die krankhaften motorischen Erscheinungen
auf die Statik im engeren Sinne beschränkt zu bleiben brauchen.
Im einzelnen handelt es sich dabei um Veränderungen im Muskeltonus, um
Störungen der Koordination, um eigentümliche Beeinträchtigungen der Inner¬
vation überhaupt, auf die im Zusammenhang des näheren eingegangen werden
muß, sowie um das Auftreten unwillkürlicher Bewegungen. Alle diese Störungen
beschränken sich nicht auf die Willkürbewegungen, sondern sie erstrecken sich
auch auf automatisch ablaufende Bewegungen (Mimik usw.). Sie erschweren
zum Teil den Bewegungsbeginn, beeinträchtigen die Erreichung eines Ziels und
schieben sich hindernd in den Bewegungsablauf ein.
Bostroem, Symptomenkomplex.
1
2
Einleitung.
Nach der negativen Seite ist charakteristisch, daß Pyramidensymptome, wie
Spasmen, Reflexsteigerungen, Babinski usw. in reinen Fällen fehlen.
Im Interesse einer klaren und einheitlichen Benennung sei zunächst folgen¬
des hervorgehoben:
In der älteren, aber auch in der neueren Literatur werden die Bezeichnungen
Spasmus, Hypertonie, Muskelspannung, Rigidität, Starre usw. teilweise wahllos
für jede Erhöhung des Muskeltonus gebraucht, ohne Rücksicht darauf, welcher
Art diese Veränderung ist. Ich schlage vor, jede Erhöhung des Muskeltonus
überhaupt als Hypertonie zu bezeichnen. Diese Hypertonie kann hervor¬
gerufen sein durch eine Störung im Pyramidensystem, gekennzeichnet durch
Steigerung der Sehnenreflexe bzw. Klonus und Babinski, dann handelt es sich
um Spasmen; oder wir haben es zu tun mit einer Hypertonie extrapyramidalen
Ursprungs, hierfür wäre die Bezeichnung Rigidität zu wählen. Der Ausdruck
Muskelspannung bleibt für willkürlich veranlaßte und für psychogene Tonus¬
erhöhungen (Pseudospasmen) Vorbehalten. Unter Starre verstehe ich eine Be¬
wegungslosigkeit von Muskelgruppen, namentlich eine gewisse Stabilität des
gegenseitigen Lageverhältnisses verschiedener Gliedabschnitte zueinander, ein ge¬
steigertes räumliches Beharrungsvermögen (Stertz), das nicht durch Rigidität
bedingt ist, aber mit Rigidität vergesellschaftet sein kann. In bezug auf die ana¬
tomischen Benennungen bemerke ich, daß ich der Nomenklatur C. u. 0. Vogts
folgend unter Striatum das Caudatum + Putamen verstehe und den Globus
pallidus als Pallidum bezeichne. Demgegenüber sei die alte Namengebung er¬
wähnt, die als Streifenhügel (= Corpus striatum) Linsenkern (Globus pallidus +
Putamen) und Nucleus caudatus auffaßte.
Gleichzeitig sei zur Orientierung hervorgehoben, daß ich unter Steigerung
von Sehnenreflexen nur die pathologische Verstärkung auf Grund einer Pyra¬
midenschädigung verstehe, die fast immer mit Klonus einhergeht. Sehnenreflexe,
die aus anderen Gründen stärker als normal sind, bezeichne ich als erhöht,
bzw. auch lebhaft, wenn man den Eindruck eines besonders schnellen Aus¬
schlags hat.
Haben wir außer dem Vorhandensein oder Fehlen der Pyramidenzeichen
noch objektive Kennzeichen dafür, ob es sich in einem Falle um einen Pyra¬
midenspasmus oder um eine extrapyramidale Rigidität handelt? Bis jetzt wissen
wir darüber folgendes:
Die Rigidität befällt Agonisten und Antagonisten gleichmäßig, so daß die
passiv bewegte Extremität Neigung zeigt, in der ihr erteilten Haltung zu ver¬
harren. Bei langsam und brüsk ausgeführten passiven Bewegungen hat man
das Gefühl eines gleichmäßigen zähen, wächsernen Widerstands (plastischer Tonus
[Sher ring ton]). Im Gegensatz dazu betrifft der Spasmus bestimmte Muskeln
(Prädilektionsmuskeln) in erhöhtem Grade, so daß die passiv bewegte Extremität
nicht bleibt, wie sie gestellt ist, sondern langsam dem Zug des stärker spastischen
Muskels folgend in die Prädilektionshaltung zurückgleitet. Bei der Vornahme
langsamer passiver Bewegungen leistet die spastische Extremität zunächst Wider¬
stand, dieser läßt sich, solange noch keine Kontrakturen vorhanden sind, durch
Wiederholung der Bewegung meist ausgleichen. Bei stoßweisen Bewegungs¬
versuchen ist der spastische Widerstand meist größer und steigert sich bei
brüsker Weiterführung der Bewegung, es kommt u. U. zum Klonus. Umschnüren
Einleitung.
3
des Glieds mit einer Gummibinde (Esmarchsche Blutleere) soll bei spastischen
Lähmungen ein Nachlassen der Hypertonie erzielen, eine Angabe, die ich bis
jetzt nicht bestätigen konnte.
Schmerzen können unter Umständen sowohl bei Zuständen von Spasmus
als auch bei solchen von Rigidität auftreten.
Das paradoxe Phänomen Westphals, das darin besteht, daß der durch
den Untersucher dorsalwärts gebeugte Fuß nach Nachlassen des Druckes nicht
zurücksinkt, sondern in dieser Haltung verharrt, ist, wenn vorhanden, ein charak¬
teristisches Zeichen für Rigor, wird aber lange nicht in allen Fällen angetroffen.
Ähnliches gilt von dem Vorhandensein der Adiadochokinese, die bei Rigi¬
dität häufig nachweisbar ist und darauf beruht, daß die Muskeln nicht rasch
genug erschlaffen können, um schnelles Aufeinanderfolgen antagonistischer Be¬
wegungen zu ermöglichen. Auf ihre Bedeutung wird im speziellen Teil noch
besonders einzugehen sein.
Da die Spasmen auf einer Schädigung der Pyramidenbahnen beruhen, so
findet sich stets auch eine mehr oder weniger deutliche Muskelschwäche, die
spastische Parese. Aber auch bei den Myastasien finden wir neben den
Symptomen seitens der statischen Funktionen häufig eine Schwäche der Musku¬
latur, die namentlich bei aktiven Bewegungen in die Erscheinung tritt, bei
Leistung eines Widerstandes gegen passive Bewegungen jedoch vermißt wird
(Dy 1 eff). Diese Schwäche der Muskulatur, auf die später noch näher ein¬
gegangen werden soll, möchte ich ab extrapyramidale Parese bezeichnen.
Es ist dies ein Symptom, dem bis jetzt keine allzu große Bedeutung beigelegt
worden ist, besonders da diese Störung in der Bezeichnung des • Symptomen-
komplexes als »amyostatischer« nicht mit ausgedrückt ist.
Als Prinzip für die Einteilung der verschiedenen Krankheitseinheiten mit
amyostatischem Symptomenkomplex wird man möglichst versuchen, sich auf die
pathologische Anatomie zu stützen. Leider sind wir mangels einheitlicher Be¬
funde dazu noch nicht überall imstande. Abgesehen von diesem praktischen
Gesichtspunkt stehen der Durchführung einer Klassifikation auf rein anatomischer
Grundlage noch andere Bedenken entgegen. Es fragt sich nämlich, sollen wir
Erkrankungen, die auf dem gleichen pathologisch-anatomischen Prozeß beruhen,
als Einheit zusammenfassen, oder sollen wir klinisch identische Krankheitsbildfer
gleicher Lokalisation in eine Gruppe bringen. Dem biologischen Denken
wird der erste Weg am nächsten liegen, es ist aber sehr wohl möglich, daß
der gleiche pathologische Prozeß, je nachdem wo er sich lokalisiert und welchen
Intensitätsgrad er erreicht, grundverschiedene Krankheitsbilder hervorbringen
kann, wie später an dem Beispiel der Wilson sehen Krankheit und der Pseudo¬
sklerose gezeigt werden wird. Andererseits widerstrebt es uns, von der gleichen
Krankheit zu sprechen, wenn zwei differente pathologische Prozesse da sind,
die nur, weü sie zufällig die gleiche Lokalisation einnehmen, das gleiche Sym-
ptomenbild veranlassen. Der Fall, daß bestimmte pathologisch und vielleicht
auch ätiologisch gleiche Prozesse stets oder doch vorzugsweise an derselben
Stelle im Gehirn lokalisiert sind, wird jedenfalls nicht die Regel sein.
Damit sind die Schwierigkeiten aber nicht erschöpft, es besteht noch eine
weitere Komplikation: Es kommt vor, daß gleichartige Prozesse an der gleichen
Stelle des Gehirns mit klinisch verschiedenen Symptomenbildern einhergehen,
1*
4
Einleitung.
oder einmal bestimmte Erscheinungen machen, das andere Mal völlig sym¬
ptomlos verlaufen. Wir müssen daraus schließen, daß die Art des Krankheits¬
prozesses und dessen Lokalisation zuweilen nicht allein das Symptomenbild
bestimmen, sondern, daß wir noch mit anderen Faktoren zu rechnen haben.
Solche sind vielleicht zu suchen in der Intensität des Krankheitsprozesses,
vielleicht spielt die Anlage und besondere Beschaffenheit des Gehirns oder des
Individuums überhaupt eine Rolle, vielleicht haben wir es noch mit anderen
Einflüssen und Veränderungen dabei zu tun, die wir zur Zeit noch nicht kennen.
Trotz dieser Schwierigkeiten dürfen wir die pathologisch-anatomische resp. hirn-
pathologische Grundlage nicht aus den Augen verlieren, es erscheint mir aber
zur Zeit nicht opportun, lediglich pathologisch-anatomische oder lokalisatorische
Ergebnisse zum Prinzip der Einteilung zu machen, hierzu sollen vielmehr vor¬
läufig nur klinische Gesichtspunkte verwandt werden; dabei zerfällt das Gebiet
des amyostatischen Symptomenkomplexes in drei Gruppen:
1. Gruppe der Athetose,
2. Gruppe der Chorea,
3. Parkinson, Westphal-Strümpell, Wilsonsche Gruppe.
Zu derselben Einteilung ist auch Stertz gekommen, nur kann ich mich der
von ihm für die 3. Gruppe vorgeschlagenen Bezeichnung »akinetisch-hyperto¬
nisches Syndrom« nicht anschließen, da dieser Ausdruck den Symptomen nicht
ganz gerecht wird. Da es mir unmöglich erscheint, für diese so variierenden
und doch verwandten Symptome eine alles ausdrückende Benennung zu finden,
ziehe ich es vor, die Gruppe mit den Namen der Autoren zu bezeichnen, die
die hierher gehörenden Haupterkrankungen zuerst beschrieben haben. Ich möchte
auch den Ausdruck »Syndrom« vermeiden, weil es sich gerade in dieser Gruppe
nicht um mehr oder weniger konstante Symptomvereinigungen handelt, sondern
um Bilder, die trotz innerlicher, begrifflicher Verwandtschaft äußerlich recht
verschieden sein können.
Innerhalb jeder dieser drei Gruppen ist eine weitere Einteilung möglich, bei
der die pathologische Anatomie und auch die Himpathologie etwas mehr zur
Geltung kommt; so gibt es in jeder Gruppe
1. Fälle bei denen das jeweilige Symptomenbild spezifisch für eine Krank,
heit sui generis ist (z. B. Chorea minor, — AtMtose double, — Paralysis agitans)-
2. Erkrankungen, die infolge ihrer zufälligen Lokalisation das entsprechende
Symptomenbild zeigen, ohne daß es für diesen Krankheitsprozeß spezifisch ist
(Tumoren, Enzephalitis usw.),
3. Fälle, bei denen als Nebenbefund oder als vorübergehende Phase amyo-
statische Symptome Vorkommen können (Epilepsie, Idiotie usw.).
I. Athetose.
1. Definition nnd klinische Umgrenzung.
Eine gewisse Sonderstellung im Rahmen des amyostatischen Symptomen kom¬
plexes nimmt die Athetose ein, und zwar deshalb, weil sie sehr häufig mit echt
spastischen Erscheinungen vereint vorkommt. Diese Verbindung mit Pyramiden¬
störungen ist jedoch, wie gezeigt werden soll, keine Conditio sine qua non.
Ihrer Art nach paßt die Bewegungsstörung der Athetose gut in das Gebiet der
mvostatischen Innervationsstörungen, so daß es ohne weiteres berechtigt er¬
scheint, die Athetose unter die Myastasien zu rechnen.
Schon die Definition des Amerikaners Hammond 1886 gibt nichts anderes
als die Beschreibung einer typisch amyostatischen Bewegungsstörung, wenn er
als charakteristische Merkmale die Eigenschaften hervorhebt, daß es den Kranken
unmöglich ist, Finger und Zehen in einer beliebigen Stellung zu fixieren, daß
der Kranke ferner nicht imstande ist, seine Glieder in Ruhe zu halten, weil
immer wieder unwillkürliche Bewegungen dazwischen kommen.
Eine genaue Beschreibung der athetotischen Bewegungsstörung verdanken
wir Lewandowsky. Er hat vor allen Dingen auf die Notwendigkeit hin¬
gewiesen, athetotische Bewegungen streng von choreatischen zu unterscheiden,
was rein klinisch m. E. durchaus möglich ist. Ferner hat er darauf aufmerk¬
sam gemacht, daß die als athetotisch bezeichneten Bewegungen bei verschieden¬
artigen Erkrankungen Vorkommen können. Zunächst als eine eigenartige, ver¬
hältnismäßig seltene Krankheit die Athetose double, sodann als eine besondere
Art infantiler Hemiplegien; als dritte Form führt er noch die Pseudoathetose an.
Seit diesen Untersuchungen Lewandowskys hat sich auf klinischem Gebiet
wenig Neues über Athetose ergeben. In neuerer Zeit hat die Differentialdiagnose
der Athetose double gegenüber der Torsionsdystonie (Torsionsspasmus) Interesse
erregt; ferner sind die bei Wilson scher Krankheit und anderen Myastasien ab
und zu erwähnten vertrakten Bewegungen als athetotische bezeichnet und da¬
durch in den Kreis der Betrachtungen gezogen worden.
0ulmont hat als Symptome der Athetose angegeben die Langsamkeit der
Bewegungen, die Übermäßigkeit, die Beschränkung auf die distalen Extremi¬
tätenenden sowie das Vorhandensein eines wechselnden Spannungszustandes,
des »Spasmus mobilis«. Lewandowsky hält die Übermäßigkeit der Bewegungen
und die Beschränkung nur auf die Extremitätenenden nicht für wesentliche
Symptome, betont dagegen den rhythmischen Charakter der Bewegungen als
ein der Athetose eigentümliches Merkmal.
Am häufigsten kommen Athetoseerscheinungen vor bei den im kindlichen
Alter erlittenen Hemiplegien. Es ist von Lewandowsky hervorgehoben
worden, daß die infantile Hemiplegie so gut wie nie eine echte Kontraktur
hinterläßt, und er schließt weiter, daß es eine spezifische Eigenschaft des kind*
6
Athetose.
liehen Gehirns sei, bei Herden in der inneren Kapsel oder in der Großhirnrinde
nicht mit spastischen Lähmungen, sondern mit Athetose zu reagieren. Es ist
in der Tat richtig, daß Athetose kaum bei Erwachsenen neu entsteht. Streng
genommen müßte man nun, wenn man der Lewandowskyschen Ansicht bei¬
pflichtet, auf eine besondere Lokalisation der Athetose verzichten, sie vielmehr
nur als eine für das kindliche Gehirn spezifische Reaktionsform ansehen, sie
als eine funktionelle Abart zerebraler Hemiplegien betrachten. Wieweit sich
dies mit neueren anatomischen Befunden deckt, werden wir später noch zu
erörtern haben.
Verbunden ist nach Lewandowsky mit dieser Athetose bei kindlichen
Hemiplegien stets auch eine spastische Hemiparese mit Zeichen einer Pyra¬
midenbahnschädigung. Die Athetose tritt in diesem Fall auf als unwillkürliche
Bewegung von langsamem Charakter, die einhergeht mit einem erhöhten Span¬
nungszustand der beteiligten Muskeln sowie ihrer Antagonisten, oft unter Hinter¬
lassung einer vorübergehenden Kontraktur. Durch die fortgesetzten Bewegungen,
die trotz ihrer Langsamkeit mit einer gewissen Kraft ausgeübt werden, kommt
es zu Überdehnungen der Gelenkbänder, die Bewegungen übersteigen das nor¬
male Ausmaß, und wir finden häufig Überdehnungen und Überstreckungen der
Gelenke, namentlich an Hand und Fingern. Außerdem beobachten wir oft,
aber keineswegs immer, Mitbewegungen, und zwar identische Mitbewegungen,
die in den befallenen Gliedern bei jeder Innervation der gesunden Seite in
gleichem Ausmaß und Stärke wie dort auftreten. Ferner finden wir auch die
sogenannten angedeuteten korrespondierenden Bewegungen (König), bei denen
auf der paretischen Seite nur bei besonderer Kraftanstrengung der gesunden
Extremität sich eine geringe Mitbewegung bemerkbar macht.
Von diesen Fällen, für die das spontane Auftreten der athetotischen Be¬
wegungen bezeichnend ist, trennt Lewandowsky eine besondere Gruppe ab,
bei der es sich ebenfalls um Hemiplegien handelt, die aber weder unwill¬
kürliche Bewegungen noch Spasmus mobilis zeigen. Zuweilen kommt es hier
zu angedeuteten korrespondierenden Bewegungen. Wenn der betreffende Kranke
aber aufsteht, geht oder sonst eine komplizierte Bewegung ausführt, so macht
die befallene Extremität langsame wurmförmige Mitbewegungen und pflegt dann
in einer bizarren Haltung stehen zu bleiben. Diese Störung, die nur als Be¬
gleiterscheinung, als Mitbewegung beobachtet wird, bezeichnete Lewandowsky
alsPseudoathetose. Es handelt sich dabei mehr um eine passagere Stellungs¬
und Haltungsanomalie auf Grund eines äußeren Reizes als um eine Bewegung.
Nicht zu verwechseln sind diese Zustände mit den pseudoathetotischen Spon¬
tanbewegungen Herrn ans, die bei Rückenmarkserkrankungen Vorkommen und
von ihm auf Störungen der Tiefensensibilität bezogen werden, sie zeigen keine
Beziehung zum Spasmus mobilis und haben mit den hier besprochenen atheto¬
tischen Bewegungen nichts zu tun. Eine ähnliche Bewegungsstörung bei peripherer
Nervenverletzung beschreibt Krambach, jedoch mit Spasmen in einem Teil
der die Bewegung erzeugenden Muskeln.
Als dritte Gruppe sondert Lewandowsky die Athetose double, die idio¬
pathische Athetose, von den beiden bis jetzt besprochenen Bewegungsstörungen
ab. Während für die erste Gruppe die spontanen unwillkürlichen Bewegungen,
für die zweite die als Mitbewegungen auftretende einseitige vorübergehende
Definition und klinische Umgrenzung.
7
Haitungsanomalie charakteristisch ist, zeichnet sich die dritte Gruppe da¬
durch aus, daß unwillkürliche Bewegungen in der Ruhe fehlen, aber in der Ge¬
stalt von Mitbewegungen in reichem Maße auftreten. Wenn man sich das
Verhältnis der Athetose double zu den ersten Gruppen klarmachen will, so
wird man sie nicht etwa als eine doppelseitige Hemiathetose, sondern eher als
eine doppelseitige Pseudoathetose bezeichnen müssen.
Statt des auch in Deutschland üblichen Ausdrucks »Athetose double« ziehe
ich es vor, die Bezeichnung »idiopathische Athetose« zu verwenden, da es sich
hier um ein wohlumschriebenes Krankheitsbild handelt, wie später noch zu
zeigen sein wird.
Es können nach Lewandowsky außer den Mitbewegungen bei der idio¬
pathischen Athetose auch noch echte athetotische Spontanbewegungen sowie
auch Überdehnungen und Überstreckungen der Gelenke das Krankheitsbild be¬
reichern, ohne daß es sich dabei um wesentliche Bestandteile der Athetose
double handelt. Diese ist vielmehr lediglich durch die Mitbewegungen charak¬
terisiert; aber nicht nur jede Körperbewegung löst solche Mitbewegungen aus,
sondern auch jeder psychische Reiz ist in der Lage, sie zu veranlassen, so daß
es oft in der Tat sehr schwer zu entscheiden ist, ob es sich um Spontanbewe¬
gungen oder um Mitbewegungen, deren auslösende Ursache verborgen bleibt,
handelt.
Am meisten beteiligt ist das Gesicht, die Muskulatur des Halses und die
der oberen Extremitäten, etwas weniger gewöhnlich die der Beine, und zwar
waren bei den Le wando wsky sehen Fällen stets echt spastische Erscheinungen
an den Beinen gleichzeitig vorhanden.
Es erscheint mir notwendig, auf Grund dieser Schilderung von Le wan¬
do wsky und anderer Beschreibungen in der neueren Literatur kurz das wieder¬
zugeben, was für die verschiedenen Formen der Athetose, der idiopathischen
und der symptomatischen, als charakteristisch anzusehen ist. Wesentlich ist
dabei folgendes: es handelt sich immer um unwillkürliche Bewegungen, die ent¬
weder spontan oder in der Form von Mitbewegungen auftreten. Psychische
Momente wirken auf letztere auslösend. Der Bewegungablauf ist langsam, wurm¬
artig, peristaltisch, eine Bewegung geht in die andere über. Ferner muß man
eine gewisse Verzerrung, etwas Bizarres der Bewegung als charakteristisch an-
sehen. Die Bewegungen unterscheiden sich in ihrer Art deutlich von willkür¬
lichen und auch von choreatischen Bewegungen dadurch, daß sie nicht nach-
ahmbar sind, daß eine gewisse wunderliche Bewegungskombination und sonder¬
bare Bewegungsfolgen auftreten, die dem Büde etwas ungemein Charakteristisches
geben. Foerster macht darauf aufmerksam, daß die bei Athetose auftreten-
den Bewegungssynergien an die Kletterbewegungen der Affen erinnern. Der
langsame Ablauf der Bewegungen geht einher mit einer tonischen Anspannung
in den befallenen Muskeln; es handelt sich dabei jedoch nicht um einen echten
Spasmus, sondern um eine zähe, langsam zunehmende und langsam oder rasch
wieder abnehmende Tonusvermehrung der jeweils an der Bewegung beteiligten
Muskeln. Diese kann auch noch nach Aufhören der Bewegung eine Zeitlang
andauern und so die Glieder in einer vertrackten Stellung vorübergehend fixiert
halten. Sie läßt dann aber regelmäßig wieder nach. Dieser Spasmus mobilis
ist eines der regelmäßigsten Symptome der Athetose, nur Schilder beschreibt
8
Athetose.
einen Fall athetotischer Bewegungsstörung in einem hypotonischen Arm, einen
ähnlichen Fall veröffentlicht Pineies (Kleinhirnherd). Ob es sich dabei um echt
athetotische Bewegungen gehandelt hat, erscheint mir zweifelhaft.
Fs ergibt sich die Frage: handelt es sich bei dem Spasmus mobilis über¬
haupt um einen echten Spasmus im oben definierten Sinne oder nicht vielmehr
um eine vorübergehende Rigidität? Diese Frage wird sich bei der oft vor¬
kommenden Kombination von Athetose mit Pyramidenschädigungen nicht leicht
entscheiden lassen.
Der rhythmische Charakter der athetotischen Bewegungen, auf den Lewan-
dowsky großen Wert legt, kann nicht überall nachgewiesen werden und ist
somit nicht als unbedingt notwendiges Kennzeichen der Athetose aufzufassen.
Schilder konnte an Bewegungskurven veranschaulichen, daß typisch atheto¬
tischen Bewegungen das Rhythmische fehlt, und auch die einfache Beobachtung
läßt fast immer einen bestimmten Rhythmus in der Bewegungsfolge bei der
idiopathischen Athetose wenigstens vermissen.
2. Die idiopatische Athetose (Athetose double).
Zur Nachprüfung der oben angedeuteten klinischen Fragen habe ich eine
Anzahl verschiedener Formen von Athetose untersucht, deren Krankengeschichten
im folgenden kurz wiedergegeben werden, und zwar bringe ich zunächst Fälle
von Athetose double, die ich in Übereinstimmung mit Lewandowsky und
andern für eine wohl abgrenzbare Gruppe innerhalb der mit Athetose einher¬
gehenden Erkrankungen halte. Es wird sich zeigen, daß wir es dabei mit einer
Krankheit sui generis zu tun haben.
Die Notizen enthalten nur das Wesentliche und für die schwebenden Fragen
unumgänglich Notwendige. Die Kranken sind selbstverständlich auch nach
allen anderen Richtungen neurologisch und allgemein intern untersucht. Dieser
Untersuchung wird jedoch nur bei wesentlichen Abweichungen Erwähnung ge¬
tan. Von vornherein sei bemerkt, daß die Untersuchung der Athetose nament¬
lich auf Beschaffenheit des Muskeltonus, auf Reflexstörungen, Babinski und Läh¬
mungen oft große Schwierigkeiten macht und große Geduld erfordert. Durch
den Spasmus mobilis wird sehr häufig eine spastische Parese vorgetäuscht. Im
Augenblick der Anspannung während einer athetotischen Bewegung und auch
noch nachher können z. B. die Sehnenreflexe erhöht erscheinen, die nach dem
Aufhören des Spasmus normal oder sogar nur schwach auslösbar sind. Sehr
erschwert ist oft die Beurteilung des Zehenphänomens, weil die Dorsalflexion
der großen Zehe oft als Mitbewegung auftritt und dann nur bei wiederholter
Prüfung sich sicher von einem positiven Babinski unterscheiden läßt. Zu welch
unsicheren Resultaten die Untersuchung unter diesen Umständen führen kann,
geht aus folgendem Satz der Arbeit von 0. Fischer über Athetose double
hervor: »Die Sehnenreflexe, welche aus naheliegenden Gründen schwer zu prüfen
sind, erscheinen etwas lebhaft; auch der Tonus der Muskulatur ließ sich nicht
genau untersuchen, doch schien alles eher für eine Hypertonie als für eine
Hypotonie zu sprechen.«
Besonders aus der ersten der mitgeteilten Krankengeschichten kann man sehen,
wie leicht man sich gerade über das Vorhandensein von Spasmen täuschen kann.
Die idiopathische Athetose.
9
Falll. Erich G. (Lewenberg.) 17 Jahre.
Mutter schwachsinnig, Patient selbst in den ersten Lebenstagen Krämpfe, kann nicht
gehen, nicht sprechen. Körperlich zurückgeblieben. Keine Lues. Hydrozephalus. Sich
selbst überlassen, keine Bewegungsunruhe, bei Annäherung fremder Menschen oder bei
Bewegungsversuchen starke unwillkürliche Bewegungen am ganzen Körper, am stärksten
an den Händen, wurmförmig, langsam ohne bestimmten Rhythmus mit starken Uberdeh¬
nungen und grotesken, durch Zusammentreffen nicht zueinander passender Innervationen
hervorgerufenen Stellungen. Gesichtsbewegungen bestehen in einem einförmigen immer
wiederkehrenden Zusammenpressen des Mundes. Einzelbewegungen: Schließen eines Auges
allein nicht möglich, auch einseitige Innervationen des Mundfazialis isoliert nicht ausführ¬
bar. Augenbewegungen stets mit entsprechenden Kopfbewegungen kombiniert.
Bauchdecken sehr gespannt. Beine in Streckhaltung. Oberschenkel adduziert und nach
innen rotiert, Unterschenkel daher in X-Beinhaltung. Füße extrem plantarflektiert, dabei
äußerer Fußrand gehoben. Alle Beinmuskeln hochgradig hypertonisch. Man hat den Ein¬
druck von starken Spasmen, zumal da auch die Sehnenreflexe gesteigert scheinen. Babinski
negativ. Kein paradoxes Phänomen. Zuweilen verharrt ein Bein von der Unterlage ab¬
gehoben eine Zeitlang in dieser Stellung, dabei wurmförmige Bewegungen in den Zehen.
Nach einiger Zeit läßt der scheinbar so schwere Spasmus plötzlich nach, und bei der jetzt
vorgenommenen Prüfung des Muskeltonus findet sich eine ausgesprochene Hypotonie der
Beinmuskeln derart, daß sich die Füße schlotternd schütteln lassen, die Beine sind im
Hüftgelenk stark überextendierbar. Bei Prüfung der Reflexe ist jetzt keine Verstärkung
mehr nachweisbar. Bewirkt man durch psychische Reize oder Bewegungsaufforderung
ein Wiederauftreten von Mitbewegungen in den Beinen, so tritt dieselbe Hypertonie wieder
in Erscheinung, die außer den Agonisten der gerade stattfindenden Bewegung auch deren
Antagonisten mit ergreift.
Psychisch heiter, zufrieden, meist freundlich lächelnd, zeitweise affektlabil. Mäßig
tiefstehender Idiot. Bisweilen epileptische Anfälle.
Diagnose: Idiopathische Athetose, keine Pyrarnidensyinptome. Epileptische
Anfälle.
Fall 2. Herrmann F. (Lewenberg.) *23 Jahre.
Keine Belastung. Im Alter von 14 Tagen Gelbsucht, konnte nicht saugen. Gegen
Ende des ersten Lebensjahres »Krämpfe«. Von jeher taubstumm. Lernte erst im 7. Jahr
gehen. Seit 1909 in Anstalt. Keine Progression. Körperlich normal. In Liquor und
Blut kein Anhaltspunkt für Lues.
Spontan ruhig und ohne unwillkürliche Bewegungen, liegt in ungezwungener Haltung
Hände unter dem Kopf im Bett. Beim Versuch, eine Bewegung zu machen, oder wenn
man ihn anredet, beginnen beiderseits unwillkürliche Bewegungen ohne ausgesprochenen
Rhythmus von langsamem wurmförmigem Charakter, an den Fingern mit starker Über¬
streckung und extremer Durchbiegung einhergehend. Am stärksten ist das Gesicht be¬
teiligt (wildes Grimassieren) namentlich der Mund, dann der Hals und die oberen Extre¬
mitäten. Wesentlich weniger die Beine. An den Gliedern sind die Bewegungen distal
am stärksten, nehmen bei Erregung zu, ebenso bei intendierten Bewegungen. Der Kranke
kann sich allein Anziehen, alleine essen. Dabei hochgradige groteske Mitbewegungen.
Prüfung von Einzelbewegungen wegen des fehlenden Sprachverständnisses nicht möglich.
Grobe Kraft nicht gestört. Beim Versuch zu sprechen kommen nur grunzende Laute.
Die dicke breite Zunge wird ziellos im Munde herumgewälzt. Beim Gehen knickt der
Kranke in den Knien ein, X-Beinstellung. Gang nicht spastich. Starke übermäßige Mit¬
bewegungen in den Armen. Er schurrt mit den Füßen am Boden. Andeutung von Pro¬
pulsion. Reflexe nicht gesteigert, kein Babinski. Kein paradoxes Phänomen. Muskel¬
tonus überall herabgesetzt, nur während der Dauer der athetotischen Bewegungen deutliche
Hypertonie, die dann nicht überwindbar ist. Diese Hypertonie ist auszulösen durch psychische
Einflüsse und durch Bewegungsaufforderungen. Sie beschränkt sich auf die von den athe¬
totischen Bewegungen ergriffenen Muskeln und deren Antagonisten.
Intelligenz nicht sehr hochgradig herabgesetzt, trotz Taubheit etw r as erziehbar. Stim¬
mung durchweg heiter, sehr freundlich, zuvorkommend, zufrieden, bei gegebener Veran¬
lassung jedoch gereizt und dann hilflos wütend, sich rasch beruhigend.
10
Athetose.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne Erscheinungen spastischer Diplegie,
ohne Pyramidenzeichen. Ausgesprochene Hypotonie der Muskeln.
Fall 3. Franz S. (Gehlsheim.) 9 Jahre.
Keine Belastung. Bei Geburt sehr schwach, nie Krampfe. Das jetzige Leiden begann
in den ersten Tagen nach der Geburt Lernte erst mit 2 Jahren sitzen, mit 4 Jahren laufen.
Jetzt zart gebaut, blaß, etwa normal groß. Innere Organe normal. Zunge dick. Sich
selbst überlassen, iBt er frei von unwillkürlichen Bewegungen jeder Art. Der geringste
Anlaß — wenn er sich z. B. nur beobachtet glaubt — ruft jedoch zahlreiche Bewegungen
des ganzen Körpers hervor. Am stärksten befallen ist das Gesicht, dann die Arme, Hals,
Nacken, Beine, Rumpf. Die Bewegungen sind wurmförmig, langsam ohne bestimmten
Rhythmus, ganz unregelmäßig, grotesk anzusehen. Es kommt zu ungewöhnlichen Bewegungs¬
kombinationen, die sich aus einander widersprechenden Einzelbewegungen zusammen¬
setzen. Jede Bewegung löst unnötige Mitbewegungen aus, starkes Verzerren des Gesichts,
Beugen und Drehen des Kopfes nach hinten, Cberbiegen der Wirbelsäule, gelegentlich
auch langsam stampfende Bewegungen mit den Beinen. Einzelbewegungen: z. B. Auge
isoliert schließen, eine Fazialishälfte innervieren, unmöglich. Sprache sehr mühsam, be¬
hindert durch die Mitbewegungen der Gesichts- und der Atemmuskulatur. Die einzelnen
Worte werden explosionsartig hervorgestoßen, klingen kloßig, das Kinn wird dabei vor¬
gestreckt, die Zunge hin und her gewälzt, die Lippen bald aufeinandergepreßt, bald vor¬
gestülpt, gleichzeitig lebhafte Bewegungen in den Armen und Händen, als ob er die Worte
herauspressen wolle. Die Bewegungen an den Händen sind von Überstreckungen und
Uberdehnungen begleitet. Die grobe Kraft ist überall gut, jedoch nicht ausdauernd, nir¬
gends Kontraktionsnachdauer. Der Muskeltonus ist überall herabgesetzt, ausgesprochene
Schlaffheit der Gelenke, nur während der Mitbewegungen findet sich eine hypertonische
Muskelspannung der an der Bewegung beteiligten Muskeln und gleichzeitig der betreffen¬
den Synergisten und Antagonisten. Die Hypertonie macht sofort nach Nachlassen der
Bewegung der vorher vorhandenen Hypotonie Platz. Reflexe normal. Kein Babinski,
kein paradoxes Phänomen.
Auch relativ komplizierte aktive Bewegungen sind möglich. Patient ißt alleine und
kann schreiben. Alle Bewegungen sind aber von enorm zahlreichen Mitbewegungen des
ganzen Körpers begleitet und dadurch sehr behindert und erschwert. Gang breitbeinig,
mit ausfahrenden Mitbewegungen des Schwungbeines, die fast an Ataxie erinnern, ferner
begleitet von rudernden, krampfhaften Bewegungen der Arme, die im Schultergelenk ge¬
hoben, im Ellenbogengelenk gebeugt gehalten werden und dabei Bewegungen machen, als
wolle der Kranke die Arme wie Flügel benutzen. Trotz dieser Unbehilflichkeit geht der
Kranke ohne Unterstützung überraschend gut und flott, wendet sich auch geschickt, ohne
zu taumeln, ohne hinzufallen. Greifbewegungen nicht ataktisch, läßt nichts fallen, verletzt
sich nicht.
Psychisch: Keine Intelligenzstörung. Löst die Aufgaben für die 10. Jahrstufe von
Binet-Simon. Bisher kein Schulbesuch, trotzdem Lesen und Schreiben -K ;Kopfrechnen
innerhalb der Zahlenreihe bis 100. Affektiv vorherrschend heiter, euphorisch, immer ver¬
gnügt, unterhält sich gern, zufrieden, bescheiden, folgsam, geduldig. Untersuchung macht
ihm Spaß. Aufmerksamkeit und Auffassung gut.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne spastische Erscheinungen, bei nor¬
maler Intelligenz.
Fall 4. Marianne H. (Eppendorf.) 14 Jahre.
Keine Belastung, kam asphyktisch zur Welt Körperlich anfangs normale Entwick¬
lung, lernte jedoch erst im 7. Lebensjahre laufen. Vom 2. Lebensjahre an fielen der Mutter
die auch jetzt bestehenden Bewegungsstörungen auf. Wurde privat unterrichtet, lernte
gut. Menses i. 0.
Sich selbst überlassen, liegt Patientin vollkommen ruhig da. Spricht man sie an, oder
versucht sie eine Bewegung zu machen, so beginnen langsame, wurmförmige, unwillkürliche,
bizarre Bewegungen ohne ausgesprochenen Rhythmus, die sich über den ganzen Körper
ausbreiten, rechts etwas ausgesprochener sind als links. Besonders starke Mitbewegungen
treten bei jeder Bewegung oder beim Sprechen im Gesicht auf. Zunge breit, macht eben-
Die idiopathische Athetose,
11
falls wälzende Bewegungen. Sprache kloßig, kaum verständlich, durch unwillkürliche
Bewegungen der beteiligten Muskeln gestört. An den Händen ausgesprochene Überdeh¬
nungen der Gelenke. Muskeltonus überall herabgesetzt, nur für. die Dauer der unwill¬
kürlichen Bewegungen besteht Spasmus mobilis. Gehen nur mit Unterstützung möglich,
Mitbewegungen werden dabei erheblich gesteigert. Keine Pyramidensymptome, kein Ba-
binski, keine Ataxie. Innere Organe i. O., 4 Reaktionen negativ.
Psychisch: Keine Intelligenzdefekte. Ausgesprochene Euphorie, immer heiter, be¬
schäftigt sich gern mit Lesen, freundlich, teilweise auch selbstbewußt, interessiert für Vor¬
gänge ihrer Umgebung.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne Pyramidenerkrankung. Kein In¬
telligenzdefekt.
Fall 5. Hans R. (Lewenberg.) 11 Jahre.
Vater an Paralyse gestorben. Bei der Geburt zyanotisch (Nabelschnurumschlingung,
Asphyxie?). Mit 3 Tagen Gelbsucht, die sieben Wochen dauerte. Gleichzeitig Krämpfe,
lernte schwer laufen. Jetzt körperlich etwa normal groß. Geringe Adipositas. Spontan
ruhig, auf Anrede und bei gewollten Bewegungen stellen sich sofort hochgradige typisch
athetotische Bewegungen ein, ohne ausgesprochenen Rhythmus. Am stärksten im Gesicht,
Armen und Händen. Während ein Teil der Finger sich streckt, werden andere gleichzeitig
gebeugt oder abgespreizt. Starke Überdehnung in Hand- und Fingergelenken. Füße
werden zeitweise extrem dorsalflektiert, so daß Kalkaneus etwa senkrecht steht und mit
dem Unterschenkel eine gerade Linie bildet. Gehen breitbeinig, trippelnd, mit zahlreichen
Mitbewegungen, namentlich in den Armen.
Einzelinnervationen im Fazialisgebiet nicht möglich (versteht schwer, was er soll).
Muskeltonus überall stark herabgesezt, nur vorübergehend während der Dauer der athe-
totischen Bewegungen erhöht.
Reflexe normal, kein Babinski, kein paradoxes Phänomen.
Psychisch: Idiot mäßigen Grades, heiteren Temperaments, sehr lebhaft, zutraulich,
drängt sich gerne vor, etwas eitel.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne spastische Erscheinungen, ohne Pyra-
midenbahnen-Reflexe.
Fall 6. Aug. L. (Gehlsheim.) 53 Jahre.
Vorgeschichte: Von jeher schwere Sprache, schlechte Hörfähigkeit. Mit 8 Jahren
nach Lewenberg, dort in die Schule, habe gut gelernt, »sei Primus gewesen«. Später nach
Sachsenberg, von dort hierher. Aus den früheren Krankenblättern geht hervor, daß er
recht häufig Durchfälle und Darmkatarrhe gehabt hat. Seit Jahren arbeitet er hier im
Garten. Immer sehr selbstbewußt, wenig respektvoll, gute Stimmung, Neigung zu Witzen,
Auffassung gut. Spielt mit Leidenschaft und Geschick Skat Oft schlagfertige Bemerkungen.
Gehör sehr schlecht. Liest gewandt vom Munde ab. Befund: Augenbew r egungen frei.
Augen einzeln schließen: macht erst beide Augen zu und öffnet dann das eine wieder,
beim rechten fällt es ihm wesentlich schwerer als links. Fazialis in der Ruhe links etwas
stärker innerviert als rechts, auch mimisch bleibt der rechte Fazialis etwas zurück. Bei
willkürlicher Innervation keine Lähmung weder im Mund- noch im Stirnast. Willkürliche
Innervation eines Fazialisastes allein unmöglich. Der Kopf ist meist so gestellt, daß das
Kinn nach links oben sieht, er ist also nach links gedreht und nach rechts geneigt. Die
Musculi sternokleidomastoidei springen deutlich hervor und sind hypertonisch. Passive
Bewegungen des Kopfes stoßen jedoch nur im ersten Augenblick auf einen gewissen Wider¬
stand. Sonst keine Hypertonie. Kauen o. B. Kaumuskeln gute Kraft. Desgleichen
Schlucken. Die grobe Kraft der Extremitäten und Körpermuskeln ist gut An den Beinen
leichte Hypotonie. Hacke kann mit Leichtigkeit ans Gesäß gebracht werden. Auch in
den Armen kein erhöhter Muskeltonus. Gang: o. B. Arme werden pendelnd mitbewegt.
Sehnenreflexe: P. S. R. links lebhafter als rechts. Sonst Reflexe o. B. Paradoxes Phä¬
nomen: 0. Kein Babinski. Stewart Holmes: 0. Keine Ataxie. In der Ruhe bemerkt man
keine pathologischen Bewegungen. Beim Ankleiden sind in den großen Zehen beiderseits
unwillkürliche Streckbewegungen zu beobachten, auch tritt ab und zu eine Dorsalflexion
des Fußes auf. Alles langsam ohne Uberstreckung. Beim Sprechen ab und zu schraubende
12
Athetose.
Bewegungen in den Schultern und Hilfsbewegungen in den Armen und Händen, die zum
Teil an Ausdrucksbewegungen erinnern. Namentlich beim Sprechen treten im Gesicht
außerordentlich zahlreiche Mitbewegungen auf. Die Lippen werden vorgestülpt, das Ge¬
sicht nach links, seltener nach rechts verzogen, das Kinn vorgestreckt, die Stirn hoch¬
gezogen. Auch am Nacken und Halse treten Bewegungen auf, alle langsam, wurmförmig
und größer werdend. Dazwischen wälzende Bewegungen mit der Zunge. Die Sprache
ist stockend, die Worte werden mühsam herausgepreßt, kommen oft stoßweise zum Vor¬
schein. Mit der Schwierigkeit der Worte und mit Aufregungen nimmt die Störung zu.
Die Art der geforderten Buchstaben und Silben übt wenig Einfluß aus. Explosivlaute:
o. B. Nur Folgen von gleichläufigen Silben, z. B. papapapapa, erschwert Versagt nach
3—4 Wiederholungen. Aushalten längerer Vokale unmöglich. Offenbar sind hierbei Mit¬
bewegungen der Atemmuskulatur beteiligt. Die Vokale selbst werden nicht klangvoll
phoniert, sondern die Stimme klingt immer etwas leise, belegt, heiser.
Diagnose: Idiopathische Athetose mit vorzugsweiser Beteiligung des Ge¬
sichts, ohne spastische Erscheinungen. Keine Intelligenzstörungen.
Fall 7. OlgaD. (Lewenberg.) 25 Jahre.
Keine Belastung. Beginn des Leidens in den ersten Lebenstagen. Im 2. Lebensjahr
Krämpfe, die sich später vereinzelt ein bis zweimal im Monat wiederholten. Körperlich
etwa normal entwickelt, regelmäßig menstruiert. Sich selbst überlassen ruhig. Bei jedem
äußeren Anlaß starke athetotische Mitbewegungen ohne rhythmischen Charakter, langsam,
wurmförmig mit Uberextensionen und ungew öhnlichen Durchbiegungen in den Fingergelenken.
Vorzugsweise befallen sind Gesicht und die distalen Extremitätenenden. Dazwischen auch
bisweilen schraubenförmige gewundene Bewegungen im Schultergelenk.
Reflexe: Bauchdeckenreflexe fehlen, Sehnenreflexe normal. Kein Babinski, kein
paradoxes Phänomen.
Strabismus convergens, Muskeltonus überall herabgesetzt und nur für die Dauer der
unwillkürlichen Bewegungen in den befallenen Muskeln und deren Antagonisten erhöht
Gang mit zahlreichen Mitbewegungen der Arme, sehr ungeschickt, trippelnd. Einzelbe¬
wegungen im Gesicht usw. nicht zu prüfen.
Psychisch: Tiefstehende Idiotin, Stimmung weinerlich, mürrisch.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne spastische Lähmungen, ohne Pyra¬
midenzeichen, mit epileptischen Krämpfen.
Fall 8. Bruno J. (Eppendorf.) 15 Jahre.
Keine Belastung. Schwere Zangengeburt. Asphyktisch. Von jeher im Gebrauch der
Gliedmaßen beschränkt, schrie und tobte viel. Erst vom 7. Jahre an begann er Arme
und Beine zweckmäßig zu bewegen und zu sprechen. Damals erste Gehversuche, seitdem
entwickelte sich langsam die jetzt noch bestehende Bewegungsstörung. Intellektuell nach
Aussage der Mutter und des Pfarrers nicht hinter andern zurückgeblieben. Viel mastur¬
biert. Befund: Entsprechend entwickelt. Kleiner Hinterkopf. An allen Extremitäten
und am Gesicht bizarre krampfartige Bewegungen, namentlich an Fingern und Zehen, die
jedoch nur bei Bewegungen und bei psychischen Alterationen auftreten. In der Ruhe
und im Schlaf keine Bewegungsunruhe. Keine Lähmungen. Mund steht offen. Speichel
fließt. Sprache schwer verständlich wegen zahlreicher Mitbewegungen. Knie beim Gehen
leicht geknickt. Dauernd lebhafte Bewegungen in den Armen, Sehnen- und Hautreflexe
normal. Kein Babinski, Sensibilität intakt. Blut o. B. Alle 4 Reaktionen negativ.
Psychisch: Etwas erregbar. Nach Eingewöhnung gut verträglich und lenkbar. In¬
telligenz entsprechend.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne Pyramidensymptome.
Fall 9. Meta M. (Lewenberg.) 17 Jahre.
Vorgeschichte unbekannt. Körperlich etwas klein. Keine Menses. Sich selbst über¬
lassen ruhig. Beide Arme im Ellenbogen spitzwinklig gebeugt, passive Streckung nicht
ganz möglich wegen Muskelverkürzung in den Beugern am Oberarm. Die beiden Hände
sind in athetotisch grotesker Stellung, die jedoch durch passive Bewegungen mühelos
Die idiopathisehe Athetose.
13
ausgleichbar ist. Beim Anreden oder Bewegungsversuchen beginnen starke Mitbewegungen
sowohl in den Extremitäten wie auch im ganzen Rumpf, alle langsam, bizarr wurmförmig,
ohne ausgesprochenen Rhythmus, drehend und schraubend, sich hin- und herwindend,
polypenartig, dabei lebhaftes Zähneknirschen, Stöhnen, keuchende Atmung. Reflexe nicht
gesteigert, kein Babinski, kein paradoxes Phänomen. Muskeltonus außer an den Armen
überall herabgesetzt und nur während der Dauer der athetotischen Bewegungen erhöht.
Die athetotischen Bewegungen gehen einher mit starken Überdehnungen. Füße wrerden
spitzwinklig dorsalflektiert, so daß der Kalkaneus senkrecht steht. Sprache in gewissem
Umfang möglich, durch Mitbewegungen in der Gesichts- und Atemmuskulatur jedoch hoch¬
gradig gestört. Bisweilen Zwangslachen, die dicke Zunge wälzt sich ziellos im Munde oder
wird bisweilen vorgestreckt. Worte kaum moduliert. Gang nur mit Unterstützung möglich.
Psychisch: Kein sehr hochgradiger Schwachsinn, nur sind die psychischen Äuße¬
rungen durch den körperlichen Zustand stark behindert. Trotz der offenbar sehr quälen¬
den Bewegungen meist heiter, willig und zufrieden.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne Pyramidensymptome mit athetotischer
Dauerhaltung beider Hände und sekundären Muskelkontrakturen an den Ober¬
armen.
Fall 10. Paul K. (Lewenberg.) 16 Jahre.
Vorgeschichte unbekannt. Seit frühester Jugend krank. Körperlich o. B. Zunge
nicht besonders dick, starker Speichelfluß. Sich selbst überlassen vollkommen ruhig.
Hände beiderseits eingeschlagen mit überdehnten Fingergelenken und gebeugten Hand¬
gelenken. Bei Bewegungsversuchen oder geringen psychischen Anlässen lebhafteste Mit¬
bewegungen, am stärksten im Gesicht (Grimassieren), in der Halsmuskulatur. (Kopf ward
extrem nach hinten gebeugt und schraubenförmig hin und her gedreht.) An den Armen
vertrackte Bewegungen mit starken Cberdehnungen. Beine etw as weniger befallen, nur in den
Zehen und Füßen vereinzelte Mitbewegungen. Kein ausgesprochener Rhythmus. Alle Be¬
wegungen langsam, wurmförmig. Sprache wegen der Mitbewegungen im Gesicht fast unmög¬
lich, ganz unmoduliert, explosionsartig werden einzelne Worte hervorgestoßen. Beim Gehen
Verstärkung der Bewegungen in den Armen. Gang nicht spastisch, X-beinig, ungemein
zahlreiche bizarre Mitbewegungen im Oberkörper, Armen und Kopf. Schließen eines Auges
allein möglich, aber von zahlreichen Mitbewegungen im Fazialisgebiet derselben Seite be¬
gleitet. Isolierte Innervation eines Mundfazialisastes nicht möglich. Augenbewegungen nach
der Seite ohne Kopfdrehungen ausführbar.
Reflexe normal. Kein Babinski. Kein paradoxes Phänomen. In der Ruhe ausge¬
sprochene Hypotonie der Arme und Beine. Auch die athetotische Haltung der Hand ist
nicht durch Muskelspannung bedingt, sondern läßt sich ebenfalls mühelos ausgleichen. Nur
w ährend der Dauer der Bewegungen tritt eine deutliche, schwer überwuncjbare Hypertonie
der beteiligten Muskeln und deren Antagonisten auf, die Spasmen vortäuscht.
Psychisch; Hochgradiger Schwachsinn, immer heitere Stimmung, freundlich entgegen»
kommendes Wesen, sehr willig, lacht viel. Untersuchungen machen ihm Spaß. Bisweilen
zornmütige Erregung.
Diagnose: Idiopathische Athetose ohne spastische Lähmung, mit Hypo¬
tonie der Muskeln. Athetotische Dauerhaltung der Hände.
Fall 11. Rudolf G. (Lewenberg.) 19 Jahre.
Großvater geisteskrank. Selbst; Langdauemde Geburt. Angeborenes Leiden. Im
4. Jahre Krämpfe im Anschluß an einen Darmkatarrh. Körperlich normal entwickelt.
Sich selbst überlassen keine Bewegungen. Beide Beine spastisch paretisch. Prädilektions-
typ mit Reflexsteigerung und beiderseitigem Babinski. Kein paradoxes Phänomen. Arme
von guter Kraft. Hier Reflexe normal. Bei Innervation im einen Arm treten identische
Mitbewegungen auf der anderen Seite auf, und zwar von links nach rechts ebenso wie von
rechts nach links. Ein Auge kann nicht einzeln geschlossen, eine Gesichtshälfte nicht allein
innerviert werden; Blickwendung jedoch ohne Kopfdrehung möglich. Psychische Anlässe
lösen noch keine Gesichtsbewegungen aus, beim Versuch zu sprechen tritt jedoch starkes
athetotisches Grimassieren im Gesicht auf. Sprache plump, kloßig, kaum verständlich.
An den Mitbewegungen beteiligen sich auch die Hände. Die Bewegungen sind langsam,
14
Athetose.
wurmförmig, ohne bestimmten Rhythmus, zeitweise Überstreekungen und Überdehnungen
an den Fingergelenken, die groteske, polypenartige Haltungen und Bewegungsformen zur
Folge haben. In den Armen ist der Muskeltonus erhöht für die Dauer der Bewegung,
und zwar gleichmäßig in Agonisten, Synergisten und Antagonisten der gerade stattfinden¬
den Bewegung. Kann allein essen.
Psychisch: Hochgradiger Schwachsinn, heiter, gutmütig, zufrieden. Zeigt deutlich
Zu- und Abneigung. Unterhält sich gern, hat gerne Gesellschaft.
Diagnose: Idiopathische Athetose mit spastischer Paraplegie beider Beine
gesteigerten Reflexen und Babinski. Idiotie.
Fall 12. Karl K. (Lewenberg.) 36 Jahre.
Vorgeschichte unbekannt. Jedenfalls seit frühester Kindheit erkrankt Jetzt spastische
Paraplegie beider Beine vom Prädilektionstyp. Sehnenreflexe gesteigert. Babinski nicht
zu prüfen wegen Verkrüppelung der Füße und der Zehen. An den Armen keine Läh¬
mung. Bei aktiven Bewegungen dagegen zahlreiche Mitbewegungen der Arme, Hände und
im Gesicht. Sprache wegen der Mitbewegungen im Gesicht und in der Atemmuskulatur
stark behindert, schwer verständlich, kloßig. Augenschluß: einzeln rechts links 0.
Isolierte Innervation eines Fazialisastes nicht möglich. Augenbewegungen ohne Kopf¬
bewegungen ausführbar. Kein paradoxes Phänomen.
Gesichtsbewegungen langsam, wurmförmig, manchmal ausgesprochen rhythmisch. Die
Handbewegungen führen oft zu Überstreckungen und Überdehnungen. Kein paradoxes
Phänomen.
Psychisch: Kann lesen und schreiben, wenn auch mangelhaft Arbeitet etwas.
Stets zu Scherzen bereit Heitere Stimmung. Dagegen manchmal gereizt und empfindlich.
Diagnose: Idiopathische Athetose mit spastischer Paraplegie.
Fall 13. Erich M. (Lewenberg.) 31 Jahre.
Ende des ersten Lebensjahres Entwicklung eines Hydrozephalus. Seitdem geistig zu¬
rückgeblieben, lernte nicht laufen, erst sehr spät sprechen.
Spastische Paraplegie beider Beine von Prädilektionstyp mit gesteigerten Sehnenreflexen.
Babinski nicht zu prüfen wegen Verkrüppelung des Fußes. Rechter Arm ebenfalls ge¬
lähmt und zwar sind am Oberarm die Strecker sehr schwach, die Beuger etwas kräftiger
und spastisch kontrahiert. Der Arm ist abduziert Spasmen im Pektoralis. Die rechte
Hand steht spitzwinklig gebeugt. Finger in den Grundgelenk stark spitzwinklig gebeugt.
Die Endgelenke überdehnt. Der Daumen in die Faust geschlagen. Diese Haltung ist
nicht durch dauernde Spannung bedingt sondern die Hand läßt sich mühelos aufbiegen.
Linker Arm und Hand gut und kräftig. Fingergelenke leicht überstreckbar. Identische
Mitbewegungen von rechts nach links, und von links nach rechts. Bei Erregung und Be¬
wegungsversuchen treten ausgesprochene Mitbewegungen im Gesicht aut zuweilen auch
angedeutet in der rechten Hand. Die Sprache ist durch diese Mitbewegungen, namentlich
auch solche der Atemmuskulatur stark behindert, explosionsartig, stockend, kloßig. Zunge
wälzt sich langsam im Munde herum. Einzelinnervationen im Fazialisgebiet nicht möglich.
Die Mitbewegungen ohne besonderen Rhythmus wurmförmig, langsam, häufig groteske
Verzerrungen. Häufiges Zwangslachen und Zwangsweinen, das dem Kranken selbst zum
Bewußtsein kommt
Psychisch: Nur mäßiger Schwachsinn, kann lesen und schreiben. Liest die Zeitung.
Kann einige Worte lateinisch, hat allerhand Interessen. Stimmung meist heiter, zufrieden.
Diagnose: Idiopathische Athetose mit spastischer Paraplegie. Spastische
Armlähmung rechts und athetotische Handlung.
An der Diagnose idiopatischer Athetose kann bei diesen Fällen kaum
ein Zweifel herrschen. Überall handelt es sich um das Auftreten typischer
athetotischer Bewegungen in der Form von Mitbewegungen, während die
Kranken sich selbst überlassen keine unwillkürlichen Bewegungen ausführen.
Auch der Qualität nach sind die Bewegungen einwandfrei als athetotische zu
Die idiopathische Athetose.
15
betrachten, charakterisiert durch ihre Langsamkeit. Soweit Hand und Finger
betroffen sind, finden sich stets Überstreckungen und Durchbiegungen
der Gelenke sowie bizarre Haltungen. Begleitet sind die Bewegungen von einer
vorübergehenden Hypertonie der beteiligten Muskeln. Verwechslungen mit Chorea
waren in keinem Fall möglich. Auch die Torsionsdystonie kam nirgends ernst¬
lich differential-diagnostisch in Betracht. Die athetotischen Bewegungen trugen
immer den Charakter der Mitbewegungen, d. h. ihr Auftreten wurde stets
von anderen Bewegungen bzw. Bewegungsversuchen oder von irgendwelchen
gemütlichen Reizen ausgelöst, ln völliger Ruhe
und ganz sich selbst überlassen fanden keine
Bewegungen statt.
In Übereinstimmung mit Lewandowsky
kann festgestellt werden, daß überall der lang¬
same Charakter der Bewegungen vorhanden war,
daß die Bewegungen mit einer »passageren Kon¬
traktur« einhergingen. Die Übermäßigkeit
der Bewegungen will Lewandowsky nicht als
unbedingt notwendig für die Diagnose Athetose
ansehen; es ist ihm insofern zuzustimmen, als
Überdehnungen der Gelenke nicht beobachtet
werden können, w r enn es sich wie bei Fall 6 um
eine rudimentäre Athetose handelt, wo die Mit¬
bewegungen nur im Gesichtsbereich stattfinden.
Ein gewisses Übermaß der Bewegungen kann
jedoch auch bei Fall August L. in den extremen
Verzerrungen der Gesichtsmuskulatur erblickt
werden; vielleicht besteht hierin ein Analogon
zu den Überdehnungen der Gelenke an den Ex¬
tremitäten. In allen Fällen, wo auch die Hände
beteiligt sind, fehlt jedoch das Symptom der
Übermäßigkeit in Gestalt von Überdehnungen
der Gelenke nie. Sehr charakteristisch sind unge-
wöhnliohe fiizarre Bewegungskombinationen und
ein eigentümliches Fortkriechen der unwillkür¬
lichen Bewegungen. Ein ausgesprochen rhyth¬
mischer Charakter der Atliefosebewegungen
läßt sich im Gegensatz zu Lewandowsky
nur in einem Fall feststellen (Fall 12). Sonst
erfolgen die unwillkürlichen Bewegungen ausgesprochen unregelmäßig aufein¬
ander, eine Beobachtung, die auch von anderer Seite bestätigt wird (Schilder,
A. Westphal). Die Lokalisation in den distalen Extremitäten erscheint nach
unseren Fällen in Übereinstimmung mit Lewandowsky nicht unbedingt charak¬
teristisch. Es können, wie die Beobachtungen lehren, auch die proximalen
Gliedabschnitte sowie der Rumpf, Hals und Nacken befallen sein. Fast immer
am stärksten ausgeprägt finden wir die Mitbewegungen im Gesicht und an der
Zunge. Diese Mitbew egungen werden besonders durch jeden Versuch zu sprechen
ausgelöst (Abb. 1). Ihr Auftreten behindert wiederum die Artikulation ganz außer-
Abb. 1. Idiopathische Athetose.
Athetotische Mitbewegungen im
Gesicht und an den Händen beim
Versuch zu sprechen.
(Aus der psychiatrischen Klinik, Breslau.)
16
Athetose.
ordentlich, so daß eine hochgradige Beeinträchtigung des Sprachvermögens zu
den regelmäßigen Symptomen der Athetose gehört. Bei allen unseren Fällen zeigt
sich auch eine starke Mitbeteiligung der Atemmuskeln. Meiner Ansicht nach
kommt auch dieser Umstand zur Erklärung für einen Teil der beobachteten
Sprachstörungen in Betracht, vor allem ist hierdurch das stockende, abgehackte
Sprechen und die häufige Unterbrechung der Worte begründet.
Lewandowsky und andere Autoren empfehlen, bei Untersuchung leichter
Fälle von Athetose double ein Auge isoliert schließen oder die eine Gesichts¬
hälfte allein innervieren zu lassen. In den meisten Fällen ist eine derartige
Einzelbewegung nicht möglich, aber zuweilen gelingt es doch auch bei vor¬
geschrittener Athetose diese Aufgabe auszuführen, z. B. Fall 6 und 10. Ersterer
bringt allerdings nur mit einem Hilfsmittel die geforderte Bewegung zustande.
In vielen Fällen wird es wegen des bestehenden Schwachsinns schwer möglich
sein, das Symptom zu prüfen. Bemerkenswert ist übrigens, daß bei der Athe¬
tose gerade die isolierten Willkürbewegungen auch an den Extremitäten, an
den Fingern z. B., sehr schwer ausführbar oder unmöglich sind.
Daß, wie Foerster angibt, neben den athetotischen Bewegungen noch eine
Koordinationsstörung bestehe, konnte ich bei meinen Fällen nicht beobachten.
Nach Foerster soll diese Störung vor allem in einem völligen Versagen der
Muskeln bei statischen Aufgaben bestehen: »Der Kopf fällt total herunter, beim
Sitzen fällt der Rumpf um, beim Stehen versagen die Knie usw.« Derartige
Erscheinungen fanden sich bei meinen Fällen nicht, insbesondere konnte ich
ein derartiges Versagen der Rumpf- und Kopfhaltung bei Athetose nie fest-
stellen. Bei den Athetotikem ließen sich scheinbare Koordinationsstörungen
immer auf dazwischenkommende unwillkürliche Spontan- resp. Mitbewegungen
zurückführen.
Bei allen Kranken wurde auf das Vorhandensein des paradoxen Phäno¬
mens, das für den amyostatischen Symptomenkomplex vielleicht eine gewisse
Bedeutung besitzen könnte, untersucht. In keinem der Fälle war es vorhanden.
Was die mechanische Muskelerregbarkeit anlangt, so konnte nirgends
eine Erhöhung derselben fest gestellt werden.
Bevor auf die Tonusverhältnisse der Athetose eingegangen wird, muß
noch eines grundlegenden, bis jetzt nicht beachteten Unterschiedes in den ein¬
zelnen Fällen der idiopathischen Athetose gedacht werden. Es handelt sich
dabei um die Beteiligung des Pyramidensystems an der Erkrankung. Lewan¬
dowsky und nach ihm die meisten anderen Autoren heben hervor, daß immer
Lähmungen und spastische Diplegien bei ihren Fällen vorhanden waren. Die
Entscheidung, ob eine Beteiligung des Pyramidensystems vorliegt, ist nicht ein¬
fach, besonders die Beurteilung des Babinskisehen Zeichens kann bei Athetose
double sehr schwierig sein, weil auf den Reiz zwar eine Dorsalbewegung der
großen Zehe auftritt, diese aber unter Umständen als athetotische Mitbe-
wegung aufgefaßt werden muß. Es bedarf daher wiederholter Nachprüfungen,
um zu sicheren Resultaten zu kommen. Zweckmäßig ist es, wenn man das
Bein, an dem man die Untersuchung vornehmen will, in Hüft-und Kniegelenkbeuge
beugen und den Fuß leicht dorsalflektieren läßt; in dieser Haltung tritt nach
meinen Beobachtungen die unwillkürliche Dorsalflexion der Großzehe sehr viel
weniger leicht auf.
Die idiopathische Athetose.
17
Aus dem mir zur Verfügung stehenden Material geht nun hervor, daß es
bei typischer Athetose double reine Fälle gibt, d. h. solche, die sicher klinisch
keine Pyramidenbahnstörungen aufweisen. Eis sind dies die Kranken 1 — 10;
man findet hier keine Lähmung, keine Reflexsteigerung, keinen Klonus, keinen
Babinski. In der Ruhe sind hier alle Muskeln ausgesprochen hypotonisch, und
nur während der athetotischen Bewegungen tritt eine erhöhte Muskelspannung
auf, die bei längerer Dauer einen Spasmus Vortäuschen kann. Die übrigen
Fälle von Athetose double zeigen dagegen auch einwandfreie Schädigungen der
Pyramidenbahn, und zwar sind bei Fall 11 und 12 beide Beine spastisch par-
etisch, wobei die Verteilung der Paresen deutlich dem Prädilektionstyp folgt.
Bei Fall 13 besteht außerdem noch eine spastische Parese des rechten Armes;
die hier vorhandenen Lähmungen können als sicher pyramidenspastisch nach¬
gewiesen werden, wegen der vorhandenen Steigerung der Sehnenreflexe. Bei
Fall 11 ist außerdem der Babinski einwandfrei positiv. Bei den beiden anderen
läßt sich dieses Phänomen nicht nachweisen, weil die großen Zehen beiderseits
medianwärts flektiert und ganz unter die anderen Zehen'disloziert sind, so daß
eine sichere Dorsalflektion nicht möglich erscheint; aber hier wie auch im
Falle 11 weist die Verteilung der Lähmung nach dem Typus Wernicke-Mann
eindeutig auf eine Pyramidenschädigung hin. Die bei den zuletzt erwähnten
Fällen vorhandene Hypertonie ist also als echter Paramidenspasmus aufzufassen,
der hier eine Komplikation der Athetose darstellt; er ist genetisch und symptoma-
tologisch streng zu trennen von dem für die Athetose charakteristischen Spas¬
mus mobilis; dieser tritt nur ein während der unwillkürlichen athetotischen
Bewegungen, diese höchstens noch etwas überdauernd. Wie Fall 1 zeigt, kann
diese Hypertonie sehr hochgradig sein, so daß sie kaum oder doch nur mit
Mühe zu überwinden ist; der geleistete Widerstand gegen passive Bewegungen
ist gleichstark, einerlei ob man brüske oder vorsichtige Bewegungsversuche macht.
Was die Verteilung der Hypertonie anlangt, so ist natürlich vorzugsweise der
die Bewegung resp. Stellung verursachende Muskel daran beteiligt; mitergriffen
sind aber auch, wie ein Betasten lehrt, die Antagonisten und Synergisten; aller¬
dings ist die Grenze nur sehr schwer zu ziehen, da durch jede Muskelkontrak¬
tion immer weitere Mitbewegungen ausgelöst werden. Sicher ist aber jeden¬
falls, daß der Prädilektionstyp von Wernicke-Mann nicht besteht und dies
ist ein wesentlicher Unterschied gegenüber den paraplegischen Spasmen.
Wir können also sagen, daß sich der für die unkomplizerte idiopathische
Athetose charakteristische Spasmus mobilis durch seine Verteilung, durch
seine nur kurze Dauer und durch das Fehlen von Pyramidensym¬
ptomen streng von echten Pyramidenspasmen unterscheidet; er ähnelt eher der
Rigidität bei amyostatischen Bewegungsstörungen. Ich scheue mich jedoch, trotz
der ausgesprochenen extrapyramidalen Genese dieser Hypertonie etwa von einem
»Rigor mobilis« zu sprechen, weil wir unter Rigor einen dauernden Muskel¬
hypertonus verstehen, der sich außerdem durch den zähen wachsartigen Wider¬
stand gegen Bewegungsversuche qualitativ von dem Spasmus mobilis unter¬
scheidet. Ich halte es daher für besser, den Ausdruck Spasmus mobilis bei¬
zubehalten; man muß sich aber bewußt bleiben, daß es sich dabei nicht um
einen echten Pyramidenspasmus, sondern um eine für die Athesose charakteri¬
stische passagere Muskelhypertonie extrapyramidaler Genese handelt.
Bostroem. Symptomenkomplex. 2
18
Athetose.
Es erhebt sich die Frage: kann der Spasmus mobilis gleichzeitig mit Pyra¬
midenspasmen an demselben Gliede Vorkommen? Die hier beschriebenen Fälle 11
und 12 geben darüber keine Auskunft, weil athetotische Bewegungen hier an
den spastisch gelähmten Beinen nicht beobachtet werden. Dagegen zeigt sich
bei Fall 13 am rechten Arm eine ausgesprochene spastische Lähmung vom
Prädilektionstyp am Oberarm, während die Hand eine athetotische Haltung und
auch deutlich athetotische Mitbewegungen aufweist. Jedoch scheint mir dieser
eine Fall noch nicht beweisend für die Möglichkeit, daß echte Spasmen und
Spasmus mobilis am gleichen Gliede Vorkommen können; denn auch hier sind
ja nicht dieselben Muskeln gleichzeitig betroffen. Auf die Möglichkeit solcher
Kombinationen müßte noch weiter geachtet werden. Manche Erfahrungen sprechen
dafür, daß der Pyramidenspasmus dem Spasmus mobilis überlegen ist und ihn
bei einem Zusammentreffen unterdrückt. Athetotische Bewegungen sind bei
solchen Fällen meist nur in den Muskeln zu beobachten, die nicht zu den Prä*
dilektionsmuskeln des Pyramidenspasmus gehören. Aus diesem Grunde sieht
man bei den einschlägigen Fällen die athetotischen Bewegungen z. B. oft in
den Streckern der Finger und der Zehen auftreten.
Die bei allen Kranken außerhalb der athetotischen Bewegungen feststellbare
Hypotonie ist nicht nur zurückzuführen auf einen geringeren Spannungszustand
der Muskeln, sondern es spielt überall auch die Schlaffheit der Gelenke eine
nicht zu unterschätzende Rolle. Dies ist zum Teil dadurch nachzuweisen, daß
man beim Schütteln einer Extremität die distalen Gelenke schlotternde Be¬
wegungen ausführen lassen kann; sie ergibt sich auch aus der Uberdehnungs¬
möglichkeit, die bei fast allen Gelenken, namentlich aber Fuß- und Fingergelenken,
vorliegt. Hierdurch werden erst die bizarren Überstreckungen ermöglicht, z. B.
der bizarre Faustschluß und die unnatürliche Dorsalflexion des Fußes, die so
hochgradig sein kann, daß der Kalkaneus senkrecht steht. (Fall 5 und 9.)
Wie hat man sich das Zustandekommen der Gelenkschlaffheit und Ge-
lenküberdehnung zu erklären? Man kann zum Teil sicher die sich immer
wiederholenden gleichmäßigen Bewegungen, die stets einen kräftigen Zug aus¬
üben, dafür verantwortlich machen. Durch sie wird die Gelenkkapsel allmählich
überdehnt und erschlafft schließlich. Dafür spricht auch entschieden, daß die
Überdehnung gerade an den Gelenken beobachtet wird, die den athetotischen
Bewegungen am meisten ausgesetzt sind, nämlich diejenigen an den distalen
Gliedabschnitten. Hinzu kommt noch, daß die Athetose fast ausnahmslos in
frühester Kindheit einsetzt, in einer Zeit, wo eine starke Hypotonie und Schlaff¬
heit der Gelenke — namentlich der distalen — normalerweise vorhanden ist.
Daß die Schlaffheit der Muskeln allein nicht der Grund für die Uber¬
dehnungsmöglichkeit der Finger usw. ist, geht auch daraus hervor, daß bei der
Chorea, wo ja eine ganz ausgesprochene Muskelhypotonie herrscht, derartige Stö¬
rungen nicht beobachtet werden. Hier fehlt meist die Weichheit der Gelenke und
vor allem der zähe, immer wederkehrende Zug an den Gliedern. Hinzu kommt,
daß die choreatischen Bewegungen flüchtig sind und bald hier, bald dort an¬
setzen, so daß solche Dauerwirkungen, wie wir sie bei den athetotischen Ge¬
lenkveränderungen sehen, nicht zustande kommen können.
Einige gemeinsame Züge der Fälle von idiopathischer Athetose müssen noch
hervorgehoben werden: zunächst das ausnahmslose Entstehen in der frühesten
Die idiopathische Athetose.
19
Kindheit, eine Erfahrung, die auch von anderer Seite fast durchweg bestätigt
wird, eine Ausnahme bildet der Fall von A. Westphal, der aber auch aus
anderen Gründen nicht in das Bild der Athetose double paßt. Ferner beschreibt
Lukacs einen Fall von doppelseitiger Athetose, die erst mit 22 Jahren ent¬
standen sein soll. Ähnliches beobachtete Hi gier, ob es sich bei allen diesen Fällen
um echte idiopathische Athetose gehandelt hat, läßt sich schwer entscheiden.
Was die Erblichkeitsverhältnisse anlangt, so spricht man von einer »fami¬
liären« bilaterale Athetose (Higier), die man der hereditären Huntingtonschen
Chorea an die Seite gesetzt (Lukacz), sie aber wohl auch manchmal mit ihr
verwechselt hat (Renault, Boinet, Buissaud). Hi gier erwähnt zwei Brüder,
die beide im Alter von 13 Jahren an Athetose erkrankten. Renault berichtet
von zwei Geschwistern, die beide seit der Geburt bilaterale Athetose hatten.
Bei unseren Fällen fand sich eine gleichartige Belastung niemals, auch bei
Geschwistern war von ähnlichen Erkrankungen nichts vorgekommen. Von all*
gemeiner Belastung ist zu nennen: lmal Geisteskrankheit, lmal Schwachsinn
der Mutter, 1 mal Geisteskrankheit des Großvaters und 1 mal Paralyse des Vaters.
Meines Erachtens spielt die Heredität bei dieser Erkrankung nur eine geringe
Rolle, sehen wir doch fast überall einen akuten Beginn in den ersten Lebens¬
tagen, meist unter dem Bild von Asphyxie, Krämpfen, usw., die ein exogenes-
Moment bei der Entstehung annehmen lassen. Dies schließt selbstverständlich
nicht aus, daß es sich um Individuen handelt, die von vornherein auf Grund
allgemeiner Keimschädigung minder veranlagt sind. Bemerkenswert ist in dieser
Hinsicht, daß C. und 0. Vogt den Status marmoratus, der zuweilen als ana¬
tomische Grundlage für die Entstehung der Athetose double in Betracht kommen
soll, als Mißbildung auffassen.
Die noch recht unklare Ätiologie ergibt keine Gesichtspunkte für eine kausale
Therapie, der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Maß und Katzenstein
nach Durchschneidung der peripheren motorischen Nerven in der befallenen
Extremität und des Fazialis einen symptomatischen Erfolg ins 9 fern erzielen
konnten, als die unwillkürlichen Bewegungen ausblieben. Gute Erfolge erzielte
Foerster bei schweren Fällen mit partieller Resektion der vorderen lumbo-
sakralen Wurzeln. Von einer Unterschneidung der motorischen Rinde, um durch
eine komplette Hemiplegie die quälenden athetotischen Bewegungen zu unter¬
drücken, habe ich in einem Falle keinen Erfolg gesehen.
Auf psychischem Gebiet verhalten sich die Athetotiker recht verschieden.
Es handelt sich nur zu einem Teil um mehr oder weniger tiefstehende
Idioten. Man täuscht sich leicht über den Grad des vorhandenen Schwach¬
sinnes, weil die Kranken vielfach nicht sprechen können, oder doch durch ihre
Bewegungsstörung sehr an der Ausdrucksfähigkeit behindert sind. Fast aus¬
nahmslos haben die Kranken sehr schwer, oft spät sprechen gelernt. Fin regel¬
mäßiger Schulbesuch ist wegen des Sprachfehlers und auch wegen der Bewe¬
gungsstörung meist ausgeschlossen, dagegen kommen sie auf Hilfsschulen zuweilen
gut vorwärts und pflegen hier ihre meist schwachsinnigen Schulkameraden weit¬
aus zu überflügeln. So versicherte Fall 6 voll Stolz, daß er in der Schule
»Primus« gewesen sei.
Wo die Sprache so gestört ist, daß die Ausdrucksfähigkeit vollkommen ver¬
sagt, werden die Kranken natürlich bei oberflächlicher Betrachtung für Idioten
20
Athetose.
gehalten. Bei näherer Beobachtung unterscheiden sie sich aber schon dadurch,
wie sie sich mit ihrer Bewegungsstörung abfinden, vorteilhaft von den anderen
Idioten der Anstalt. Sie können sich allein an- und ausziehen, essen allein,
bringen es zu mancherlei Verrichtungen: alles Aufgaben, deren Erledigung bei
den vorhandenen Bewegungsstörungen nicht zu unterschätzen ist.
Von einwandfrei hochgradiger Idiotie bei Athetose double habe ich unter
meinen Fällen nur drei beobachtet, bei denen epileptische Krämpfe mit
zum Krankheitsbild gehörten, wo also offenbar keine ganz reine Form von
Athetose vorlag (Fall 1, 7, 11). Typische Zeichen spezifisch epileptischer Demenz
waren jedoch hier nicht nachweisbar. Intelligenzdefekte können aber bei den
Athetotikern so gut wie vollkommen fehlen. Bei Fall 3, 4, 6 und 8 z. B. waren
wesentliche Intelligenzdefekte nicht nachweisbar. Fall 3 steht hinsichtlich seiner
geistigen Fähigkeiten bei der systematischen Prüfung nach Binet und Simon
noch über seiner Altersstufe, dabei leidet gerade er an einer schweren Form der
Athetose, während bei Fall 6 nur eine inkomplette Form des Leidens vorliegt.
Außerdem zeigt das affektive Leben bei fast allen Fällen von idio¬
pathischer Athetose unserer Beobachtung eine gewisse Eigentümlichkeit, die
ich bis jetzt nirgends erwähnt gefunden habe: Auch die tiefstehenden Idioten
unter ihnen sind fast nie stumpf oder apathisch. Sie unterscheiden sich
aber auf der anderen Seite auch von den erregten Idioten wesentlich, und
zwar schon äußerlich durch das Fehlen der für die erethischen Kranken cha¬
rakteristischen zwecklosen motorischen und sprachlichen Unruhe. Was diese
Kranken aber fast alle auszeichnet, ist ihr ausgesprochen heiteres Tem¬
perament und ihre verhältnismäßig leichte Ansprechbarkeit auf psychische
Reize. Jede Untersuchung scheint ihnen Spaß zu machen, sie äußern lebhafte
Freude, wenn sie Arzt oder Pfleger erblicken, haben meist gern Gesellschaft
anderer Kranker und sind häufig imstande Zu- und Abneigung zu zeigen.
Meist fügen sie sich willig und ohne wesentliche Schwierigkeiten in das An¬
staltsleben ein, sind zufrieden, leicht lenkbar, anspruchslos. Fast immer besteht
eine euphorische Stimmung, die unter Umständen mit einem gehobenen Selbst¬
gefühl (Fall 5 und 6) verknüpft ist. Einher geht damit eine gewisse Eitelkeit,
sie wollen gern beachtet sein.
Auch der normal-intelligente Sp, (Fall 3) läßt sich durch sein Leiden, dessen
Schwere ihm wohl bewußt ist, nicht tiefer in seiner euphorischen Stimmung
beeinflussen. Nur bei zärtlicher Bemitleidung kann er auch weinerlich und
gerührt werden. Besonders auffallend ist aber das heitere, gleichmäßig freund¬
liche Wesen bei der Patientin M. (Fall 9), die trotz der starken, ungemein qual¬
voll anmutenden, zahlreichen unwillkürlichen Bewegungen mit keuchender At¬
mung, Zähneknirschen usw. stets geduldig, heiter entgegenkommend ist, auch
die ärztliche Untersuchung bereitwillig über sich ergehen läßt, trotzdem dadurch
die Störungen immer heftiger werden. Natürlich darf man sich nicht durch
das als Lachen anmutende Grimassieren eine heitere Stimmung vortäuschen
lassen. Auch das so häufig auftretende Zwangslachen ist selbstverständlich
nicht als Ausdruck einer heiteren Stimmung anzusehen. Aber die Beobachtung
auf der Station bestätigt die Auffassung der durchweg euphorischen Stimmungs¬
lage der Kranken immer wieder. Sie sind daher meist recht beliebte Patienten
auf den Abteilungen.
Symptomatische Athetosen.
21
Das Fehlen der affektiven Stumpfheit hat auf der anderen Seite in sozialer
Beziehung auch gewisse Nachteile, insofern als bei gegebener Veranlassung
viele dieser Kranken leicht gereizt und ärgerlich werden können. Ihre Un¬
behilflichkeit und ihr mangelndes Ausdrucksvermögen läßt sie dabei noch hilf¬
loser erscheinen und steigert sie oft in eine schwere Erregung hinein.
Diese erhöhte affektive Ansprechbarkeit auf gemütliche Reize steht in Par¬
allele zu einem neurologischen Symptom der idiopathischen- Athetose der ab¬
norm gesteigerten Ansprechbarkeit des Motoriums; genügt doch schon das bloße
Gefühl des Beobachtetwerdens sowie eine harmlose Anrede, um starke Mitbewe¬
gungen auszulösen.
Zusammenfassend läßt sich über den psychischen Zustand der an idiopathischer
Athetose Leidenden sagen, daß ein hochgradiger Schwachsinn keineswegs zu
den wesentlichen Symptomen gehört, daß vielmehr die Athetotiker unter Um¬
ständen auch intelligente Persönlichkeiten sein können. Dagegen scheint eine
heiter euphorische Grundstimmung dem Bilde der Athetose double eigen zu
sein, sowie eine besonders leichte affektive Ansprechbarkeit auf dem Gebiet
der Psyche und der Motilität.
3. Symptomatische Athetosen.
(Hemiathetose, athetotische Dauerhaltung, Pseudoathetose.)
Neben der idiopathischen Athetose, die wir als Krankheit sui generis auf¬
zufassen haben, finden wir athetotische Erscheinungen noch als Symptom von
Herderkrankungen oder Enzephalitiden. Das durch solche Schädigungen aus¬
gelöste Symptomenbild der Athetose unterscheidet sich nach Lewandowsky
symptomatologisch insofern von den Bewegungsstörungen der Athetose double,
als hier die athetotischen Bewegungen spontan und nicht nur als Mitbewe¬
gung auftreten; ob dieser Unterschied in ganzer Schärfe aufrecht erhalten werden
kann, soll nach Besprechung der Krankengeschichten erörtert werden. Nahe
Beziehungen zu beiden Formen von Athetose scheinen mir die gleich zu be¬
sprechenden athetotischen Dauerhaltungen aufzuweisen.
Zunächst seien auch hier einige Krankengeschichten mitgeteilt:
Fall 14. PaulB. (Leipzig.) 44 Jahre alt.
Keine Belastung^ in der Schule schlecht gelernt, mit 25 Jahren angeblich Nerven¬
schlag, seitdem soll die jetzige Lähmung bestehen. Befund: Kräftig gebaut, innere Organe
gesund, zeitweise zwangsartiges Lachen. Im Fazialisgebiet leichte Differenz zuungunsten
der linken Seite. Bisweilen tickartige Zuckungen von etwas langsamem Charakter im linken
Fazialisgebiet Lidspalte links etwas enger als rechts. Pupillenreaktion auf Licht links 0,
rechts Spur. Reaktion auf Konvergenz +. Zunge weicht eine Spur nach links ab. Sprache
undeutlich, aber ohne charakteristisches Silbenstolpem. Reflexe an den Armen beiderseits
gleich stark. Patellar- und Achillessehnenreflexe links lebhafter als rechts. Bauchdecken¬
reflexe 0.
Der linke Arm ist von der Schulter bis zum Processus styloideus ulnae gemessen 6 om
kürzer als der rechte. Arm und Bein sind links magerer als rechts. Hand und Finger
sind willkürlich nicht zu bewegen. Sonst die Kraft des Armes gut. Handgelenk ist recht¬
winklig gebeugt, die Finger eingeschlagen und in bizarrer Weise überstreckt. Spontan
keine Bewegungen, auch nicht wenn der Kranke irgendwie psychisch beteiligt ist. Bei
Bewegungen der rechten Hand, beginnen links ausgesprochene athetotische Bewegungen
von langsamem Charakter mit Überdehnung und Überstrekung der Finger. Der Fuß steht
22
Athetose.
in Spitzfußstellung fixiert, hier keine athetotischen Bewegungen, auch nicht in der Form
von Mitbewegungen.
Aktive Bewegungen von Fuß und Zehen 0, sonst keine Lähmung an den Beinen.
Wassermannsche Reaktion im Blut und Liquor-|—|—|—Keine Zell-
und Eiweißvermehrung.
Diagnose: Typische Hemiathetose. Die athetotischen Bewegungen kommen
nur an der Hand vor und nur in der Form von athetotischen Mitbewegungen.
Hand und Fuß in athetotischer Dauerhaltung. Pyramidenzeichen unsicher. Die
Lues hat mit der Entstehung der Erkankung offenbar nichts zu tun, da die
Infektion wesentlich jüngeren Datums ist.
Auffallend ist, daß die Athetose erst auf Grund eines im 25. Lebensjahre
aufgetretenen Schlaganfalles begonnen haben soll; da Patient jedoch von jeher
etwas schwachsinnig gewesen ist, sind seine Angaben nicht ganz zuverlässig;
da auch der linke Arm im Wachstum wesentlich zurückgeblieben ist, besteht
die Lähmung doch wohl schon seit frühester Kindheit.
Fall 15. Art hur St. (Leipzig.) 30 Jahre alt.
Keine erbliche Belastung; mit % Jahren »Zahnkrämpfe«, seitdem besteht das jetzige
Leiden. In der Schule schlecht gelernt, kam nicht mit. Hat Stuhlflechten gelernt, Be¬
fund: Normal groß. Innere Organe undürin in Ordnung. Pupillen, Augenbewegungen.
Augenhintergrund o. B., das linke Auge kann er nicht isoliert schließen, isolierter Lid¬
schluß rechts ohne Schwierigkeit.
Fazialis willkürlich gleichmäßig innerviert; beim Lachen, bei Erregung, manchmal
auch anscheinend ohne äußere Ursache verstärkte Innervation des linken Fazialis ein¬
schließlich Stirn und Platysma, die dann einen Augenblick verharrt und in seltenen Fällen
das physiologische Ausmaß überschreitet. Die Innervation geht langsam vor sich. Mo¬
tilität: Der linke Oberarm ist in allen Muskelgruppen geschwächt. Willkürbewegungen
der Hand links unmöglich (Handgelenk in rechtwinkliger Beugehaltung fixiert). Am Bein
sind die Beuger am Oberschenkel etwas, die Dorsalflexoren des Fußes in erheblichem
Grade geschwächt. Der Fuß steht in Spitz- und Hohlfußstellung, mit gesenktem äußeren
Fußrand. Reflexe: Patellarreflexe links Spur lebhafter als rechts. Achillessehnenreflexe
ebenso wie die Armreflexe beiderseits gleich. Bauchdeckenreflexe links 0, rechts -H Kre¬
masterreflexe links schwächer als rechts. Babinski: Dorsalflexion der großen Zehe links
beim Bestreichen der Fußsohle auch bei entspannter Muskulatur, jedoch ist dieses Phä¬
nomen nicht mit Sicherheit von den unwillkürlichen Spontanbewegungen zu trennen. Ros¬
soli rao usw. 0.
Unwillkürliche Bewegungen von ziehendem, wurmartigem, langsamem Charakter finden
statt an den Fingern und etwas weniger häufig an den Zehen links, zuweilen, namentlich
wenn der Kranke aufgeregt ist, auch am Oberarm und in der Schultermuskulatur. Be¬
sonderes an den Fingern übersteigen diese Bewegungen das physiologische Ausmaß; die
Finger werden überstreckt und dann wieder extrem durchgebogen. Zuweilen betrifft diese
Bewegung nur einen Finger, während die anderen eine entgegengesetzte Bewegung an¬
nehmen ; bevorzugt sind die Bewegungen des Streckens bzw. Uberstreckens und Spreizens
bei opponiertem Daumen und leicht gebeugten Grundphalangen. Das Handgelenk bleibt
dauernd in Beugefixation stehen. Die entsprechenden Bewegungen an den Zehen be¬
schränken sich auf Dorsalflexion der großen Zehe und Spreizbewegungen. Am Oberarm
treten die Bewegungen selten auf; sie vollziehen sich in gleichem langsamen Tempo und
nicht immer synchron mit den Fingerbewegungen. Muskeltonus: Dauernd erhöht ist
der Tonus in den Beugern des Handgelenks, meist auch in den Wadenmuskeln, wodurch
die oben beschriebene Dauerhaltung hervorgerufen wird. An den übrigen Muskeln der
befallenen Seite ist der Tonus, wenn man ihn in den Intervallen prüft, herabgesetzt;
namentlich an den Fingern besteht eine ausgesprochene Hypotonie. Während der athe¬
totischen Bewegungen ist der Muskeltonus verstärkt, hat eine eigentümlich teigige un¬
elastische Beschaffenheit.
Symptomatische Athetosen.
23
Ausgelöst werden die Bewegungen vor allen Dingen durch jede psychische Erregung,
wenn man den Kranken anredet, überhaupt durch jede gemütliche Beteiligung. Durch
plötzliche Umstände wird auch die Intensität der Bewegungen verstärkt, und die Be¬
wegungen verbreiten sich auf die linke Schulter und das Gesicht. Läßt man den Kranken
ganz in Ruhe, so bestehen nach seinen Angaben die Bewegungen dauernd weiter, und
er kann sie bloß durch bestimmte Handgriffe, z. B. dadurch, daß er das Handgelenk
mit Gewalt streckt und die Faust auf die Unterlage anpreßt, unterdrücken. Jedoch
scheinen die Angaben, daß auch in der Ruhe Bewegungen stattfinden, nicht ganz zuver¬
lässig zu sein, denn selbst in Gegenwart des Arztes beobachtet man durch Minuten hin¬
durch ein völliges Stillstehen der Finger. Der Kranke gibt an, daß früher diese Bewe¬
gungen noch zahlreicher und unaufhörlicher stattgefunden hätten. Der Einfluß von
Körperbewegungen ist ein recht geringer. Athetotische Mitbewegungen treten nur in ge¬
ringem Maße und bei heftiger Anstrengung aut
Diagnose: Es handelt sich umHemiathetose auf Grund einer in frühester
Kindheit erworbenen Hirnschädigung. Die Bewegungen sind zum Teil auch
spontan, vorzugsweise jedoch werden sie durch Erregungen psychischer Art aus¬
gelöst.
Fall 16. Johanna H. (Leipzig.) 22 Jahre.
Bald nach der Geburt Krämpfe mit »Gehimschlag«, seitdem rechtseitig gelähmt.
Häufig epileptische Anfälle. Patientin gibt an, daß sie außer den Anfällen bis zu ihrem
10. Lebensjahre im rechten Arm und im rechten Fuß Krämpfe gehabt. (Als Krämpfe
bezeichnet die Patientin im Gegensatz zu den »Anfällen« die athetotischen unwillkürlichen
Bewegungen.) Allmählich habe sich der Arm krumm gezogen, so daß der Ellenbogen spitz-
winklich gebeugt war, während die Hand etwa rechtwinklig nach unten gebogen wurde,
die Füße seien nicht so steif gewesen. Nachdem der Arm so fixiert war, hatten diese
»Krämpfe« aufgehört. Auch die Bewegungen im Fuß bestehen seit dem 10. Jahre nicht
mehr. Vor einigen Jahren Sehnendurchschneidung zum Ausgleich der Beugekontraktur
im Ellenbogen. Befund: Normal groß und gut entwickelt. Der rechte Arm und das rechte
Bein sind im Wachstum zurückgeblieben, auch die rechte Schulter ist schmäler als die
linke. Geringe Fazialisschwäche rechts. Spastische Hemiplegie rechts mit Steigerung der
Sehnenreflexe und positivem Babinski. Bauchdeckenreflexe beiderseits gleich. Am Bein
entspricht die Lähmung dem Prädilektionstyp. Der rechte Arm ist im Ellbogen stumpf¬
winklig gebeugt (ursprünglich spitzwinklig, Verbesserung durch Sehnendurchschneidung),
der Oberarm adduziert, die Hand ist rechtwinklig gebeugt. Diese Stellungen sind
durch spastische Kontrakturen fixiert. Eine passive Bewegung der Hand ist fast nicht
möglich (sekundäre Schrumpfung!) Die Finger stehen in halber Beugestellung mit Uber¬
streckung des Mittelgelenks, sie sind trotz dieser bizarren Stellung nicht fixiert» sondern
vollkommen schlaff und passiv nach allen Richtungen hin abnorm leicht beweglich. Starke
Hypotonie der Fingergelenke. Aktive Bewegungen der Finger unmöglich. Beim Gehen.
Sichaufrichten oder bei anstrengenden Bewegungen finden Mitbewegungen in Gestalt von
leichtem Heben des rechten Oberarmes statt. Sonst keine abnormen Mitbewegungen.
Sprache intakt.
Ohne Luminal treten häufig schwere epileptische Anfälle auf, die nicht halbseitig
lokalisiert sind. Psychisch leicht gereizt, affektlabil, ohne schwere Demenz, macht ge¬
schickt Handarbeiten.
Diagnose: Zerebrale Kinderlähmung mit Pyramidenzeichen. Athetotische
Dauerhaltung der Hand, die sich aus einer Hemiathetose entwickelt hat. Epi¬
leptische Anfälle.
Fall 17. Ella E. (Gehlsheim.) 34 Jahre.
Mit einem viertel Jahr Krämpfe, seitdem Lähmung beider Beine und des linken
Armes. Befund: Spastische Paraplegie beider Beine mit gesteigerten Reflexen und posi¬
tivem Babinski. Füße in Spitzfußstellung. Lähmung des Mundfazialis links. Linker Arm
im Ellenbogen gebeugt und durch spastische Kontrakturen in dieser Haltung fixiert Arm¬
reflexe links gesteigert Hand rechtwinklig gebeugt. Finger in die Faust geschlagen und
24
Athetose.
in den Endgelenken überstreckt. Daumen ebenfalls überdehnt in Streckhaltung. Die
Beugehaltung der Hand ist durch leicht überwindbare Beugespasmen fixiert. Fingerbeugung
jedoch mühelos ausgleichbar. Muskeln sehr schlaff. Finger leicht zu überstrecken bis
zu einem rechten Winkel mit dem Handrücken. Keine spontanen Bewegungen der Hand.
Beim Versuch die Hand aktiv zu strecken werden die Finger gespreizt und in den Grund-
gelenken überstreckt. Bei kräftiger Innervation der gesunden Hand treten in der ge¬
lähmten Extremität angedeutete korrespondierende Bewegungen auf. Sonst keine Mit¬
bewegungen.
Diagnose: Athetotische Dauerhaltung bei zerebraler Kinderlähmung, athe¬
totische Mitbewegungen.
Fall 18. HansZ. (Leipzig.) 22 Jahre.
Vater an Paralyse gestorben, die jetzt bestehende Lähmung soll mit 1 1/2 Jahren ent¬
standen sein. In der Schule nie mitgekommen, auch nicht in der Hilfsschule. Im 12. Lebens¬
jahre will er ein Jahr lang Krämpfe gehabt haben, die mehrmals am Tage auftraten,
nähere Angaben darüber fehlen. Die Lähmung besteht, so lange er sich erinnern kann,
nur soll anfangs die Hand zur Faust geballt gewesen sein, derart, daß der Daumen zwischen
Zeige- und Mittelfinger steckte. Vor 6 Jahren habe der Vater den Daumen herausgebunden,
seitdem bestehen die Bewegungen, die unwillkürlich auftreten, aber sich vor allem bei
jeder beabsichtigten Bewegung der gleichen und der anderen Hand einstellen.
Befund: Pupillen lichtstaar. Augenhintergrund zeigt Reste einer spezifischen Re¬
tinitis.
Haltung in der Ruhe: Rechte Schulter hochgezogen, rechter Arm im Ellenbogen und
Handgelenk rechtwinklig gebeugt. Die Grundphalangen der Finger stehen mit der Mittel¬
hand in einer Ebene, Mittelgelenk überstreckt, Endgelenk stumpfwinklig gebeugt. Daumen
im Grundgelenk eingebogen, Endglied rechtwinklig überstreckt. Rechtes Bein im Knie
gestreckt, ausgesprochener Spitz- und Hohlfuß. Zehen überstreckt, äußerer Fußrand ge¬
senkt. Rechtes Bein etwas verkürzt und ebenso wie der rechte Arm deutlich abgemagert.
Wenn man den Kranken in Ruhe läßt, treten keine Spontanbew T egungen auf, auch
wenn man ihn anspricht, werden nicht regelmäßig athetotische Bewegungen ausgelöst.
Dagegen bei jeder Bewegung auf der gleichen oder auf der anderen Seite kommt es rechts
zu Mitbewegungen von ausgesprochen athetotischem Charakter. Sie bestehen im Fuß in
Streckbewegungen der kleinen Zehen; in der Hand beobachtet man vorzugsweise Uber¬
streckungen der Finger, verbunden mit Spreizungen unter starker Uberdehnung der
Gelenke. Die Bewegungen halten, einmal ausgelöst, längere Zeit an. Eigentümlich ist,
daß die Strecksehnen der Finger, die das Mittelgelenk überetreckt halten, von der Unter¬
lage abgehoben sind und so den stumpfen Winkel, den das Gelenk bildet, gewissermaßen
überbrücken, wodurch eine besondere Deformierung der Finger zustande kommt. Auch
bei statischen Innervationen der rechten Hand kommt es zu athetotischen Mitbewegungen;
ein bestimmter Rhythmus der Bewegungen ist nie zu beobachten. Aktive Bewegungen
rechts: Heben des Oberarmes Beuger am Oberarm -j-, Strecker am Oberarm: leicht
geschwächt. Hand und Finger aktiv nicht beweglich. Ileopsoas schwach, Strecker am
Oberschenkel +, Beuger geschwächt. Fuß und Zehen aktiv nicht beweglich.
Reflexe: Periostreflexe an den Armen rechts lebhafter als links. Trizepsreflexe
beiderseits gleich, Patellarreflexe rechts schwach, links -f-. Bauchdeckenreflexe beider¬
seits gleich. Babinski: Am rechten Fuß ist bei jeder Berührung der Sohle oder des
Fußes überhaupt eine Dorsalflexion der großen Zehe auszulösen. Es läßt sich trotz ver¬
schiedener Versuche in diesem Falle nicht mit Sicherheit entscheiden, ob es sich um das
Babinski sehe Phänomen handelt oder nicht.
Handgelenk rechts in Beugekontrakturstellung, die aber ohne besonderen Kraft¬
aufwand überwunden werden kann, gleichzeitig gehen die Finger dabei in Beugehaltung;
es handelt sich dahei aber nicht um eine mechanische Folge von Sehnenverkürzungen,
sondern offenbar um eine Art Mitbewegung; denn, wenn man die Finger passiv gestreckt
hält, läßt sich das Handgelenk ebenfalls ohne Schwierigkeiten strecken. Die Finger sind
in den Handgelenken passiv abnorm leicht beweglich nach allen Richtungen. Der Fuß
ist aus seiner Spitzfußstellung nicht zu entfernen, ohne daß man durch Beugung der
Symptomatische Athetosen.
25
Knie eine Verlängerung der Sehne herbeiführt; hier liegt offenbar eine sekundäre Ver¬
kürzung der Wadenmuskeln bzw. der Sehnen vor.
Das rechte Auge kann nicht isoliert geschlossen werden, auch der rechte Mundwinkel
ist nicht isoliert zu bewegen. Links macht beides keine großen Schwierigkeiten.
Gang mit typischer Zirkumduktation unter Mitbewegung von Fuß und Zehen. Arm
wird abgespreizt gehalten.
Psychisch: hochgradiger Schwachsinn.
Diagnose: Hemiathetotische Bewegungen, die meist in der Form der Mit¬
bewegungen auftreten. Keine sicheren Pyramidenbahnsymptome.
Fall 19. Elise K. (Gehlsheim.) 18 Jahre.
Mit V/ t Jahren »Gehimschlag«, seitdem besteht das jetzige Leiden. Keine Krämpfe,
in der Schule gut.
Befund: Normal groß. Rechter Arm und rechtes Bein im Wachstum zurückgeblieben,
ln völliger Ruhe sind keine Spontanbewegungen zu beobachten. Bei Anrede und bei
gewollten Bewegungen beginnen ganz langsame bizarre Uberstreckungen und Spreiz¬
bewegungen in den Fingern der rechten Hand, die langsam auch auf den ganzen Arm
übergehen und zu ausgedehnten Bewegungen führen. Kein Rhythmus wahrnehmbar.
Während der Bewegung hochgradige Muskelspannungen, die nach Aufhören derselben
einer ausgesprochenen Hypotonie Platz machen. Fuß in Spitzfußstellung fixiert. Hier
läßt der Spasmus mobilis nur sehr selten so weit nach, daß man den Fuß dorsalflektieren
könnte. Gang auf der Fußspitze rechts sehr mühsam. Sprache intakt. Isoliertes Schließen
eines Auges unmöglich. Gelähmt sind Hand und Fuß. Keine Lähmnng vom Typus
Wernicke-Mann. Armreflexe rechts Spur lebhafter als links. Patellarsehnenreflexe und
Achillessehnenreflexe beiderseits gleich lebhaft. Bauchdeckenreflexe beiderseits gleich -j-.
Babinski links = 0. Rechts beim Bestreichen der Fußsohle Dorsalflexion der großen
Zehe (Pseudobabinski). Oppenheim 0 . Rosolimo 0 . 0 Sensibilitätsstörung, Psyche intakt
Diagnose: Hemiathetotische Bewegungen, meist als Mitbewegungen auf¬
tretend. Pyramidensymptome fehlen.
Fall 20. Hermann M. (Lewenberg.) 21 Jahre.
Beginn im ersten Lebensjahre mit Unruhe. Im zweiten Jahre Krämpfe, seitdem
halbseitige Lähmung.
Befund: Mikrozephal. Rechts spastische Parese, vom Prädilektionstyp mit Reflex¬
steigerung und Babinski. Fazialis intakt. Rechter Arm im Ellenbogen in Beugekontraktur.
Athetotische Haltung der rechten Hand: Handgelenk gebeugt, Zeigefinger gestreckt, die
übrigen Finger in die Faust geschlagen und überdehnt. Hand ohne Mühe aufzubiegen.
Keine Hypertonie der die athetotische Haltung bewirkenden Muskeln.
Psychisch: tiefstehender Idiot
Diagnose: Infantile Hemiplegie mit athetotischer Dauerhaltung der ge¬
lähmten Hand.
• Fall 21. Ernst W. (Lewenberg.) 30 Jahre.
Mutter geisteskrank. Pat von Geburt an rechtsseitig gelähmt. Mikrozephal. Als
kleines Kind schon Krämpfe. Strabismus divergens. Rechts spastische Lähmung von
Arm und Bein vom Prädilektionstyp mit gesteigerten Sehnenreflexen und positivem
Babinski. Kein paradoxes Phänomen. Rechte Hand in athetotischer Dauerhaltung:
Handgelenk spitzwinklig gebeugt, Finger eingeschlagen, die Gelenke überdehnt, Haltung
nicht bedingt durch Muskel- oder Sehnenverkürzung. Beim Versuch die Hand zu öffnen
kein Widerstand, nirgends Mitbewegungen.
Psychisch: schwachsinnig, aber arbeitsfähig.
Diagnose: Spastische Hemiplegie mit athetotischer Dauerhaltung der ge¬
lähmten Hand.
Ein typisches Beispiel einer Hemiathetose im Lewandowskyschen Sinne,
d. h. mit athetotischen Bewegungen in der Form von Spo ntanbewegungen*
26
Athetose.
fehlt unter meinen Krankengeschichten. In Betracht kämen vielleicht Fall 15,
18 und 19. ?
Aber auch hier sieht man, wenn jeder äußere Reiz von den Kranken fern-
gehalten wird, die Bewegungen zur Ruhe kommen. Sind die Kranken sich
selbst überlassen und können sie eine ihnen bequeme Lage einnehmen, so
sind sie frei von jeder Bewegung. Die kleinste Störung allerdings, ein An¬
sprechen allein genügt schon, um die heftigsten athetotischen Bewegungen
auszulösen. Die gleiche Wirkung hat jeder Versuch eine Bewegung auszu¬
führen; schon der Reiz einer unbequemen Lage setzt das Bewegungsspiel
wieder in Gang. Da schon die Gegenwart eines Beobachters als Reiz auf die
Athetotiker ein wirkt, ist es schwer, im Einzelfall zu sagen, ob eine Bewegung
rein spontan oder ausgelöst aufgetreten ist. Ich halte es daher für richtiger,
von dieser strengen Trennung zwischen athetotischen Bewegungen spontaner
Art und solchen, die in der Form von Mitbewegungen auftreten, abzusehen;
denn offenbar läßt sich hier die Existenz einer rein spontanen unwillkürlichen
Bewegung nicht sicher erweisen, vielmehr hat man fast immer den Eindruck,
daß es sich um pathologische Bewegungen handelt, die ausgelöst werden
durch psychische Reize oder durch Bewegungsversuche bzw. durch Bewegungen
selbst. Wir würden also hierin einen grundsätzlichen Unterschied in den Be¬
wegungen bei idiopathischer und symptomatischer Athetose nicht zu erblicken
haben. Eine andere, wenn auch unbedeutendere Ähnlichkeit mit der Athetose
double liegt ferner darin, daß bei einigen dieser Kranken ebenfalls der isolierte
Augenschluß (Fall 19 nur auf der kranken Seite), nicht möglich ist.
Bemerkenswert ist ferner, daß bei Fall 18 und 19 eine Beteiligung des
Pyramidensystems zweifelhaft ist. Der Wer nicke- Mann sehe Prädilektions-
typ ist bei 18 am Bein zwar angedeutet, es überwiegt aber doch der distale
Lähmungstyp. Babinski ist nicht sicher, auch Reflexdifferenzen können keine
bestimmteren Anhaltspunkte geben. Fall 19 zeigt noch weniger Symptome
einer Pyramidenschädigung, insofern als hier der Lähmungstyp ganz distal ist
und Reflexdifferenzen gar nicht bestehen.
Interessant ist die Vorgeschichte von Fall 18. Zuerst bestanden hier zahl¬
reiche Athetosebewegungen, später nahm die Hand eine athetotische Dauer¬
haltung an; nachdem der Vater des Patienten die Hand gewaltsam geöffnet
hatte, begannen wieder athetotische Bewegungen, die zur Zeit der Untersuchung
nur in der Form von Mitbewegungen auftreten.
Ein sehr ausgesprochener Spasmus mobilis ist bei Patient 19 namentlich am
Arm wahrzunehmen. Sehr deutlich ist in beiden Fällen auch das Übermäßige
der Bewegungen. Ein bestimmter Rhythmus fehlt den Bewegungen durchaus.
Die Spitzfuß-Hohlfußstellung ist bei beiden Kranken sehr schwer auszu¬
gleichen, der Spamus mobilis ist hier schon fast dauernd geworden, und offen¬
bar bereitet sich hier im Fußgelenk eine athetotische Dauerhaltung oder eine
myogene Kontraktur vor, während die Zehen noch an dem athetotischen Be¬
wegungsspiel teilnehmen.
Als relativ sicherer Fall einer »abgelaufenen« Hemiathetose ist Fall 16
aufzufassen. Sehr typisch werden hier die athetotischen Bewegungen in der
spastisch paretischen Extremität als »Krämpfe« beschrieben, die nach Jahren
zur Ruhe kommen und den Arm nur in einer eigentümlichen Haltung fixiert
Symptomatische Athetose.
27
lassen, die von der Kontraktur bei Pyramidenlähmungen recht verschieden ist.
Ähnliche Haltungen finden wir auch bei Fall 17, 20 und 21 und, wie eben hervor¬
gehoben, vielleicht in der Entstehung begriffen bei Fall 18 und 19 an den Füßen.
Offenbar führen die oben erwähnten Gelenkiiberdehnungen und der fort¬
während wiederholte Muskelzug schließlich zu diesen athetotischen Gelenkstel¬
lungen, die ich als athetotische Dauerhaltung (Abb. 2) bezeichnen möchte.
Diese athetotische Dauerhaltung ist keine für die Hemiathetose allein charak¬
teristische Erscheinung, sie wird auch bei der idiopathischen Athetose (Fall 9,
10 und 13) gefunden. Sie ist vorzugsweise lokalisiert an Hand und Fingern
und besteht meist in einer extremen recht- oder spitzwinkligen Beugung im
Handgelenk, die Finger sind dabei oft in die Handfläche eingeschlagen, im
Grundgelenk unter Umständen spitzwinklig gebeugt, die übrigen Gelenke sind
beide, oder wenigstens das vorderste, gestreckt, bzw. überstreckt, so daß das
Abb. 2. Idiopathische Athetose mit sekundären Muskelkontrakturen und athetotischen
Dauerhaltungen.
(Aus der II. med. Abteilung d. Univers.-Krankenhauses Hamburg-Eppendorf, überlassen von Prof. I)r. Nonne.)
Mittelgelenk bzw. das Vordergelenk den tiefsten Punkt eines nach oben ge¬
öffneten flachen Bogens bildet. Der Daumen ist häufig eingeschlagen, mit¬
unter zwischen den 2. und 3. Finger gesteckt. Die Finger stehen zuweilen
nicht parallel nebeneinander, sondern sind gekreuzt. Man glaubt diese ge¬
zwungene Handhaltung durch starke Muskelspannungen bedingt, und ist des¬
halb überrascht, wenn man bei dem Versuch, die Hand aufzubiegen, so gut
wie nie auch nur den geringsten Widerstand findet, es sei denn, daß eine
sekundäre Muskelkontraktur sich im Laufe der Zeit entwickelt hat (Fall 16).
Wenn diese Haltung sich auch fast immer mühelos passiv ausgleichen läßt,
so nehmen doch die Finger, wenn sie dann wieder sich selbst überlassen sind,
spontan die gewohnte groteske Stellung ein. Wie hat man sich bei dem Fehlen
von Muskelspannungen das Zustandekommen dieser bizarren Haltungen zu er¬
klären? Offenbar waren diese Glieder früher sehr lebhaften athetotischen Be¬
wegungen bzw. Mitbewegungen ausgesetzt, durch welche diese gezwungene
Haltung immer wieder hervorgerufen wurde, bis schließlich die Schlaffheit der
Gelenkbänder, vielleicht auch eine durch Überdehnung entstandene Schwäche
28
Athetose.
der Antagonisten, das Zustandekommen der athetotischen Dauerhaltung zu¬
wege gebracht hatte. Eine aktive Innervation zum Ausgleich dieser Haltungs¬
anomalie ist in seltenen Fällen möglich, sie ist aber fast nie von einem loko-
motorischen Effekt begleitet. Meist sind die Finger für Willkürbewegungen
vollkommen gelähmt. Wohl aber treten athetotische Mitbewegungen häufig
noch in ihnen auf.
Von echt spastischen Kontrakturen unterscheidet man diese athetotischen
Haltungen mühelos dadurch, daß sie nicht durch eine erhöhte Muskelspannung
fixiert sind, daß sie immer von Gelenkveränderungen im Sinne einer Uber¬
streckung oder übermäßiger Beugung begleitet sind. Auch bei den athetotischen
Haltungen Spastisch-Hemiplegischer, wie Fall 17, 20 und 21, pflegt, soweit
meine Erfahrung reicht, die Haltung keineswegs immer durch Muskelspannung
bedingt zu sein; selbst dann nicht, wenn gleichzeitig an einem anderen Teile
der Extremitäten, z. B. am Ellenbogen, eine Kontraktur mit echtem Spasmus
vorhanden ist.
Wie sich aus den mitgeteilten Krankengeschichten ergibt, läßt die Neigung
zu athetotischen Bewegungen allmählich nach. Sie bilden sich im Laufe der
Jahre soweit zurück, daß sie bei leichten Reizen (z. B. rein psychischen), nicht
oder weniger leicht ausgelöst werden, daß sie dagegen bei Bewegungsversuchen,
also als Mitbewegung im engeren Sinne, noch auftreten.
In anderen Fällen sistieren die Bewegungen total, und es entsteht das Bild
der athetotischen Dauerhaltung (Fall 20 und 21). Übergangsfälle zwi¬
schen beiden Formen kommen vor insofern, als eine große Anzahl von
Patienten mit athetotischer Dauerhaltung in ihrer gelähmten Hand noch athe¬
totische Mitbewegungen bei gegebener Veranlassung auf weisen (Fall 16, 17, 18).
Die Entwicklung einer solchen athetotischen Dauerhaltung demonstriert Fall 16
sehr schön. Ähnlich zeigt auch Fall 18, wie nach und nach die athetotischen
Bewegungen seltener werden, und wie sich dann, entsprechend dem Muskelzug
der ehemaligen athetotischen Bewegungen, die Dauerhaltung ausbildet.
Aus den gleichen Gründen können diese Haltungen auch in den späteren
Stadien der idiopathischen Athetose Vorkommen.
Nicht zu verwechseln mit der athetotischen Dauerhaltung sind muskuläre
Kontrakturen, die bei der symptomatischen und der idiopathischen Athetose
Vorkommen können; auch bei einer athetotischen Dauerhaltung können sie
sich entwickeln. Besonders deutlich zeigt dies Symptom Fall 9; hier handelt
es sich weder um einen echten Spasmus (keine Reflexsteigerungen), noch
um einen Spasmus mobilia (dauerndes Bestehenbleiben), sondern die spitz¬
winklige Beugung im Ellenbogen ist nicht auszugleichen, weil die Muskeln
verkürzt sind, so daß man bei einem Gegenzug die Muskeln und Sehnen wie
Stricke anspannt, sie aber wegen mangelnder Dehnbarkeit nicht zum Nach¬
geben bringen kann. Die Annahme, daß solche Kontrakturen rein muskulärer
Art sind, erhält eine Stütze durch eine (hier nicht wiedergegebene) Beob¬
achtung, wo diese Kontrakturen nach dem Tode in gleicher Weise bestehen
blieben. Daß es sich dabei nicht um einen Übergang in Leichenstarre handelt,
geht daraus hervor, daß zur gleichen Zeit andere Gelenke nicht nur normal,
sondern sogar abnorm leicht beweglich waren.
Auch Foerster hat solche Schrumpfungskontrakturen beobachtet; er führt
Die symptomatische Athetosen.
29
sie darauf zurück, daß der tonische Krampf unter Umständen so anhaltend
sein könne, daß es zur Dauerkontraktur kommt. Meines Erachtens genügt
das nicht allein zur Erklärung des Zustandekommens, sondern infolge be¬
sonderer äußerer Verhältnisse, z. B. Lagerung, müssen die Insertionspunkte der
entsprechenden Muskeln einander dauernd, also auch unabhängig von dem
Auftreten des Spasmus mobilis, genähert sein.
Überblicken wir die Fälle 14 — 21, so ist der grundlegende Unterschied,
den Lewandowsky gegenüber der Athetose double hervorhebt, nämlich der,
daß die charakteristischen Bewegungen spontan auftreten und nicht in der
Form von Mitbewegungen, nicht aufrecht zu erhalten, zum mindesten ist er
nicht so konstant und dementsprechend auch nicht so bedeutungsvoll, als
daß hierauf eine strenge symptomatologische Unterscheidung gegründet werden
könnte.
Ein weiterer Unterschied gegenüber der LewandowskysehenHemiathetose
liegt darin, daß bei Fall 19 sicher, bei Fall 18 sehr wahrscheinlich, keine
Pyramidenbahnschädigung vor liegt, wie Lewandowsky sie fordert. Wir müssen
also auch mit symptomatischen Athetosen bzw. Hemiathetosen ohne spastisch
hemiplegische Erscheinungen vom Pyramidentypus rechnen, wenngleich es sich
dabei wohl um sehr seltene Fälle handelt.
Sensibilitätsstörungen konnte ich bei der Hemiathetose nie beobachten.
Es muß zugegeben werden, daß diese Kranken auf kompliziertere Sensibilitäts¬
funktionen aus naheliegenden Gründen schwer zu untersuchen sind. Aus der
Literatur ist mir kein sicherer Fall von Athetose mit Sensibilitätsstörungen
bekannt geworden.
Näher als die Hemiathetose und die athetotischen Dauerhaltungen steht
nach Lewandowsky die sogenannte Pseudoathetose der Athetose double. Sie
kommt vor bei Hemiplegien des frühkindlichen Alters, die dafür charakteristischen
Bewegungen bestehen darin, daß bei Intentionen sich die gelähmte Extremität
langsam mitbewegt und dann in einer meist extremen bizarren Haltung ver¬
harrt. Ich habe nur einen Fall gesehen, den man als Pseudoathetose in
diesem Sinne bezeichnen könnte, es handelte sich um folgenden:
Fall 22. Elisabeth L. 24 Jahre.
Beginn des Leidens im 3. Lebensjahre mit Krämpfen. Seitdem Schwäche der rechten
Seite.
Befund: Leichte Hemiparese rechts. Sehnenreflexe rechts lebhafter als links. Kein
Babinski. Bauchdeckenreflexe rechts schwächer als links. Beim Gehen wird das rechte
Bein zirkumduziert. Der rechte Arm liegt im Ellenbogen gebeugt. Die Hand hängt im
Handgelenk. Die Finger sind gestreckt. Geringe Hypertonie in den Muskeln am Oberarm.
Strecker mehr betroffen als Beuger. Pat gebraucht die rechte Hand sehr wenig. Aktive
Bewegungen auf Aufforderung ungeschickt. Reim Versuch die Hand zu öffnen Spreiz¬
bewegungen der Finger. Streckung der Hand im Handgelenk spontan nicht möglich,
aber als Mitbewegung ausführbar. Alle Hantierungen ungeschickt, kann aber den Löffel
notdürftig rechts halten und damit essen. Beim Gehen und allen anderen Körper¬
bewegungen wird der rechte Arm steif nach rechts hinten gestreckt, die Finger spreizen
sich und nehmen eine überstreckte Haltung an, die während der ganzen Bewegungsdauer
beibehalten wird; die beim Gehen sonst üblichen pendelnden Mitbewegungen der Arme
fehlen rechts.
Fast täglich epileptische Anfälle. Epileptische Demenz.
Diagnose: Spastische Hemiparese rechts, mit Pseudoathetose.
30
Athetose.
Das Krankheitsbild der Pseudoathetose hat sich, soweit ich sehen kann,
in der Literatur nicht eingebürgert, und es erscheint mir auch fraglich, ofc>
ihm eine Existenzberechtigung zukommt. Wenn man, wie es mir nötig er¬
scheint, auch bei der Hemiathetose das Vorhandensein von spontan auftreten¬
den athetotischen Bewegungen nicht zur Bedingung macht, so wird die Pseudo¬
athetose kaum von einer im Abklingen begriffenen — forme fruste — der
Hemiatheatose zu unterscheiden sein.
Weiter wäre noch des Vorkommens athetotischer Bewegungen und Hal¬
tungen bei anderen Erkrankungen zu gedenken. Beschrieben sind derartige
Erscheinungen z. B. bei der Paralyse. Strümpell erwähnt es von zwei Fällen
eines mit der Wilson sehen Krankheit verwandten Leidens, bei denen teils
am Fuß, teils an der Hand athetotische Bewegungen auftreten, teilweise gleich¬
zeitig mit Zittererscheinungen. Ob es sich in diesen und anderen Fällen um
athetotische Bewegungen im eigentlichen Sinne des Wortes handelt, ist mir
nicht sicher. Wilson z. B. hebt selbst hervor, daß bei seinen Kranken nie
athetotische oder choreatische Bewegungen vorgekommen seien.
Die bizarren und grotesken athetotischen Haltungen haben eine gewisse
Ähnlichkeit mit Haltungsanomalien, wie sie bei der Paralysis agitans an den
Fingern gefunden werden. Bei beiden Erkrankungen handelt es sich um Über¬
dehnungen und Uberstreckungen der Fingergelenke. An dieser Stelle möchte
ich gleich auf einen Unterschied der athetotischen Dauerhaltung von der gleich¬
falls mit Uberstreckungen einhergehenden Fingerhaltung bei Paralysis agitans
hin weisen. Die Anomalien bei der letzten Erkrankung zeichnen sich gegen¬
über der oben beschriebenen Dauerhaltung dadurch aus, daß die im Grund-
gelenk leicht gebeugten Finger nur im Mittelgelenk leicht überstreckt zu sein
pflegen, daß dagegen das Vordergelenk eine leichte Beugung aufweist. Meist
ist nur der Zeigefinger, zuweilen auch noch der Mittelfinger, von dieser De¬
formität, die übrigens auch keineswegs von einer Starre begleitet ist, betroffen.
Erwähnen möchte ich noch, daß ich derselben Deformität auch einmal bei
einer tuberösen Sklerose begegnet bin.
Diese Ähnlichkeiten sind jedoch nur äußerlich, pathogenetisch haben beide
Haltungsanomalien wohl nichts miteinander zu tun.
4. Zusammenfassendes über die athetotische Bewegungsstörung
überhaupt, einschließlich der Differentialdiagnose.
Die Besprechung der Differentialdiagnose sowie die Erörterung der Patho¬
genese der Athetose und ihres ursächlichen Zusammenhangs mit Hirnherden
setzt voraus eine genaue klinische Umgrenzung des Krankheitsbildes bzw. der
einzelnen Symptome. Ein großer Teil der bis jetzt erhobenen anatomischen
Befunde ist z. B. deshalb meines Erachtens wertlos, weil dabei Chorea und
Athetose nicht oder nicht genügend auseinandergehalten sind. In manchen
Fällen wird direkt von choreatisch-athetotischen Bewegungen gesprochen. Be¬
vor auf die bis jetzt in der Literatur veröffentlichten Fälle mit Sektionsbefund
eingegangen wird, soll kurz das für die Athetose und ihre Unterformen Wesent¬
liche hervorgehoben werden. Dabei wird auch die Differentialdiagnose gegen¬
über ähnlichen Erkrankungen berücksichtigt werden.
Zusammenfassendes über die athetotische Bewegungsstörung überhaupt
31
Als Krankheitsbild sui generis kommt nur die Athetose double oder idio¬
pathische Athetose (»Athetosis duplex« Stertz) in Betracht. Wie wir gesehen
haben, äußert sich dieses Leiden in 2 Formen:
1. als reine idiopathische Athetose ohne Pyramidensymptome;
2. als idiopathische Athetose, verbunden mit spastisch paretischen Erschei¬
nungen.
Charakteristisch für beide Formen ist, daß die unwillkürlichen Bewegungen
in der Ruhe meist fehlen, daß sie vielmehr fast nur als Mitbewegungen auf-
treten, ausgelöst durch Innervationen oder durch psychische Eindrücke; sie
gehen langsam, träge, wurmförmig vor sich, und während der Dauer des Be¬
wegungsvorganges besteht eine Hypertonie des betreffenden Gliedes, die so¬
wohl die bei der Bewegung beteiligten Muskeln als auch deren Synergisten
und Antagonisten betrifft. Bald nach Aufhören der Bewegung macht diese
Hypertonie einer Muskelschlaffheit Platz (Spasmus mobilis). Die Bewegungen
erfolgen in nahe beieinander liegenden Gliedabschnitten, oft in ganz entgegen¬
gesetztem Sinne, und gehen meist mit bizarren Bewegungsformen einher.
Eine weitere Komplikation, die aber das neurologische Bild nicht wesent¬
lich zu beeinflussen pflegt, ist das nicht seltene Vorkommen epileptischer
Krämpfe.
Als Form symptomatischer Athetose haben eine gewisse Bedeutung erlangt
die Hemiathetose, die sehr oft mit spastischen Erscheinungen der befallenen
Extremitäten einhergeht, und die athetotische Dauerhaltung, letztere ist als
Endzustand einer Hemiathetose aufzufassen, kommt aber auch in ähnlicher
Weise bei der Athetosis duplex vor. Die von Lewandowsky angegebene
Unterscheidung zwischen Athötose double und Hemiathetose nach dem Auf¬
treten der Mitbewegungen ist nicht aufrecht zu erhalten, da die Unterscheidung
ob es sich im Einzelfalle um spontane oder als Mitbewegung auftretende Inner¬
vationen handelt, praktisch unmöglich ist, und da bei beiden Krankheitsformen
zuweilen athetotische Bewegungen nur in der Form von Mitbewegungen Vor¬
kommen.
Unter Umständen können auch Hemiathetosen ohne Pyramidenerscheinungen
Vorkommen, wenn auch selten. Von der Lewandowskyschen Definition ab¬
weichend, muß ferner festgestellt werden, daß das Rhythmische keineswegs zu
den notwendigen Eigenschaften einer athetotischen Bewegung gehört.
Die Stellung der Pseudoathetose ist unklar, eine Existenzberechtigung hat
dieser Sonderbegriff wohl kaum.
Als eine abortive Form der Athetose ist vielleicht die Hemitonie anzu¬
sehen, bei der es zu wechselnden Muskelanspannungen vom Typus 'des Spasmus
mobilis kommt, ohne daß athetotische Bewegungen auftreten (Bechterew).
Mit diesem Leiden steht in Beziehung die Hemihypertonia apoplectica
(Boettiger), die jedoch andererseits wieder symptomatologisch verwandte Züge
mit der Wilsonschen Krankheit aufweist.
Differentialdiagnostisch zu trennen sind alle Formen streng von der chorea¬
tischen Bewegungsstörung, was im allgemeinen keine besonderen Schwierig¬
keiten machen wird; denn die Chorea ist charakterisiert durch schnelle
zuckende Bewegungen gegenüber den langsamen, wurmförmigen athetotischen
Bewegungen. Ferner zeichnet sich die Chorea aus durch eine eigentümliche
32
Athetose.
Koordinationsstörung, das Fehlen von auch nur passageren Muskelhypertonien,
sowie durch die sehr bezeichnende flüchtige Innervation bei gewollten Be¬
wegungen, die im Gegensatz zu der langsamen und nur schwer nachlassenden
Innervation bei der Athetose steht. Es fehlt hier ferner der bunte Wechsel
der choreatischen Zuckungen. Die Bewegungen gruppieren sich vielmehr um
einen ruhenden Punkt für eine gewisse, wenn auch nur kurze Zeit, und wan¬
dern allmählich dann zu Nachbargelenken über. Bei der Chorea kommen
ferner Gelenküberdehnungen und bizarre Haltungen nicht vor. Beiden Er¬
krankungen gemeinsam ist die Neigung zu Mitbewegungen, die allerdings bei
der Chorea lange nicht so ausgesprochen ist wie bei der Athetose.
Das was immer wieder zu Verwechslungen der beiden Bewegungsstörungen
führt, ist wohl der Umstand, daß beide Erkrankungen mit unwillkürlichen
Bewegungen einhergehen, die aber immer durch ihre klinischen Eigentümlich¬
keiten zu unterscheiden sind. Ich halte es daher nicht für richtig, einfach
von »choreatisch -athetotischen« Bewegungen zu sprechen. Es besteht rein
theoretisch vielleicht die Möglichkeit, daß beide Bewegungsstörungen bei einer
Person Vorkommen, dann müßte man aber beide nebeneinander oder nach¬
einander herlaufen sehen und in der Lage sein, wenigsten die einzelnen Be¬
wegungsformen als solche zu diagnostizieren. Ist dies auch bei eingehender
Beschäftigung mit dem Gegenstände nicht möglich, so handelt es sich meines
Erachtens weder um choreatische noch um athetotische Bewegungen, sondern
es liegt eine ganz andere Bewegungsstörung vor, auf die später noch einzu¬
gehen sein wird.
Große Schwierigkeiten kann die Abgrenzung der Athetose double von dem
Torsionsspasmus oder der Torsionsdystonie machen. Die differentialdigno-
stischen Merkmale, die Mendel zusammengestellt hat, lassen sich meines Er¬
achtens nicht alle aufrecht erhalten. Namentlich gehören, wie die hier aufge¬
führten Krankengeschichten beweisen, spastische Diplegie, Paresen, Pyramiden¬
symptome usw. keineswegs unbedingt zum Bilde der Athetose double. Auch
die Hypotonie ist wenigstens in der Ruhe ein für die Athetose double sehr
bezeichnendes Symptom. Ich muß sogar sagen, daß der von Mendel als charak¬
teristisch für die Torsionsdystonie hervorgehobene Wechsel von Hypertonie und
Hypotonie ebenso bei der Athetose double, nämlich in der Form des Spasmus
mobilis, vorkommt. Dagegen konnte ich nicht feststellen, daß bei der Athetose
durch Ausführung passiver Bewegungen eine Hypertonie auftrat, es sei denn,
daß durch diese passiven Bewegungen Mitbewegungen ausgelöst werden. Im
Schlafe hören auch die athetotischen Bewegungen auf, ebenso wie die Bewe¬
gungen der Dystonie. Dagegen gestattet die Lordose der Wirbelsäule, das
Fehlen einer Beteiligung der Gesichtsmuskeln, die intakte Sprache und oft die
Lokalisation der Bewegungsstörung (kreuzweises Befallensein) die Diagnose auf
Dystonie zu stellen. Ferner sollen die charakteristischen Bewegungen bei der
Dystonie stoßweise und ruckartig vor sich gehen. Auffallend ist, daß auch
bei der Dystonie meist gute, heitere, euphorische Stimmung und eine gewisse
Affektlabilität beobachtet werden.
Sicher gibt es Fälle, bei denen eine Differentialdiagnose sehr schwer,
unter Umständen unmöglich ist. Ich erwähne hier besonders eine Beobach¬
tung von Thomalla. Ausschlaggebend kann unter Umständen die Vor-
Zusammenfassendes über die athetotische Bewegungsstörung überhaupt.
33
geschichte sein, insofern als die Athetose so gut wie immer in der aller-
frühesten Kindheit auftritt, während die Torsionsdystonie nie vor dem
5. Lebensjahr beobachtet ist, meist erst zwischen dem 10. und 12. Jahre
beginnt.
Bei den differentialdiagnostischen Betrachtungen taucht auch noch die Frage
auf nach der Einheitlichkeit der athetotischen Störungen. Vor allem ist zu
erwägen, ob es bei den in frühester Kindheit aufgetretenen Fällen von Athe¬
tose sich nicht um eine besondere Reaktionsform des kindlichen Gehirns handelt,
die von den Gehirnschädigungen des höheren Alters streng zu trennen ist.
Athetose in höherem Alter ist nur sehr selten beobachtet worden. Einen Fall
von doppelseitiger Athetose beschreibt A. Westphal. In diesem Fall erkrankte
Patient im 43. Lebensjahr; daß es sich hier um eine typische Athetose double
handelt, nimmt auch der Verfasser nicht an. Für Athetose spricht das Grimas-
sieren, die als typisch beschriebene Bewegungsstörung, die aber vorzugsweise
in den proximalen Partien der Extremitäten stattfindet, sowie der Spasmus
mobilis. Störungen des Pyramidensystems sind nur in geringem Maße vor¬
handen. Athetotische Bewegungen ließen sich auch beobachten, ohne daß
psychische Ursachen oder auslösende Bewegungen vorhanden waren. Nicht
in das Bild der Athetose paßt die Retropulsion, sowie die ausgesprochene Be¬
wegungsarmut und mimische Starre, ebensowenig das mehrfach beobachtete
Verharren in Haltungen, eine Erscheinung, die offenbar der S trümpe 11 sehen
Fixationsrigidität entspricht. Nach allem scheint es sich dabei nicht nur um
einen Spasmus mobilis, sondern um langdauernden Rigor zu handeln, der es
mir geboten erscheinen läßt, das Krankheitsbild mehr dem Wilson sehen Typ
anzugliedern, zumal noch eine Schluckstörung beobachtet wurde, die der Athe¬
tose sonst fremd zu sein pflegt. Auch das Sektionsergebnis, bei dem sich
eine bilateral-symmetrische Erkrankung des Linsenkerns fand, zeigt, daß es
sieh hier nicht um eine akute Athetose gehandelt hat.
Einen Fall von Hemiathetose, die erst in höherem Lebenalter entstanden
ist, schildert Monakow. Hier handelt es sich um eine typische Hemiathetose
nach Apoplexie. Die Athetose stellte sich nach Rückkehr der willkürlichen
Beweglichkeit allmählich ein. Der Sektionsbefund wurde kürzlich von Steck
veröffentlicht, es fanden sich Cysten und Degenerationen im Bereich des einen
Striatums und anliegender Gebiete. Der Herd im Striatum wird von dem
Verfasser für die Entstehung der Athetose in Anspruch genommen. Weitere
Fälle beschreiben Lukasc und andere. Wie vorsichtig man übrigens die
anamnestischen Angaben dieser Kranken verwerten muß, zeigt Fall 14. Patient
B. war der Meinung, daß er erst als Erwachsener seine Motilitätsstörung er¬
worben habe. Da aber der gelähmte Arm wesentlich im Wachstum zurück¬
geblieben war, konnte man ohne weiteres auf eine Schädigung des Cerebrums
im Kindesalter schließen. Jedenfalls sind die einwandfreien Spätfälle recht
selten, immerhin lassen auch diese wenigen beobachteten die Theorie, daß es
sich bei der symptomatischen Athetose lediglich um eine spezifische Reak¬
tion des kindlichen Gehirns handle, als nicht in vollem Umfange zutreffend
erscheinen. Eine einwandfreie Erklärung dafür, warum es bei kindlichen Hirn¬
schädigungen relativ häufig zu Athetose kommt, bei Erwachsenen so selten,
läßt sich heute noch nicht geben. Die idiopathische Athetose ist in klinisch
Bostroem. Symptoincnkomplrx. 3
34
Athetose.
einwandfreier Form, soviel ich sehen kann, bis jetzt ausschließlich als eine
Erkrankung des frühesten Kindesalters beobachtet worden.
Dadurch, daß athetotische Bewegungsstörungen vorzugsweise in frühester
Kindheit entstehen, wird naturgemäß das Vorkommen symptomatischer Athe¬
tose bei Gehirnerkrankungen sehr eingeschränkt. Daher kommt es auch, daß
athetotische Bewegungen als Symptom der Enzephalitis epidemica bisher nicht
beobachtet sind, obwohl diese Erkrankung alle möglichen anderen Bewegungs¬
störungen in außerordentlicher Mannigfaltigkeit hervorgerufen hat. Ich weiß,
daß diese Behauptung, Athetose komme nicht als Encephalitisfolge vor, von
vielen Seiten Widerspruch erfahren wird. Bis jetzt sind einwandfreie
Athetosen aber in der Tat nicht nach Enzephalitis beschrieben worden, wohl
aber zahlreiche ähnliche Bewegungsstörungen, deren Klassifizierung außer¬
ordentliche Schwierigkeiten macht.
Economo erwähnt in seiner ersten großen Arbeit über Enzephalitis le-
thargica zwei Fälle, die mit athetotischen Bewegungen einhergehen. Offenbar ist
die Beschaffenheit der hier geschilderten athetotischen Bewegungen nicht ganz
charakteristisch. Economo spricht von bald »langsamen, bald raschen Be¬
wegungen, die den Charakter Athetose tragen«. Gleichzeitig bestand Rigor
(Fall 12). Bei Fall 13 werden die Bewegungen bald als choreatisch, bald als athe-
totisch bezeichnet, hervorgehoben werden langsame, wurmförmige Kontraktionen
im Gesicht. Auch hier war gleichzeitig Starre der Mimik festzustellen.
Ich glaube, daß wir es hier nicht mit echt athetotischen Bewegungen zu
tun haben, sondern daß, ähnlich wie es später bei der Chorea chronica noch
zu besprechen sein wird, choreatische Bewegungen durch gleichzeitig vorhandenen
Rigor oder Starre in ihrem Ablauf verlangsamt worden sind. Hierdurch wird
eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit athetotischen Bewegungen hervorgerufen.
Von Gerstmann und Schilder ist vor kurzem eine Bewegungsstörung ver¬
öffentlicht worden, die ebenfalls anscheinend eine gewisse Übereinstimmung mit
Athetose zeigt, ohne daß man meines Erachtens berechtigt wäre, sie dazu zu
rechnen. Wir müssen uns mit dem Gedanken abfinden, daß durch die Rubriken
Chorea — evtl, auch Myoklonie — und Athetose keineswegs die Typen der¬
artiger Bewegungsstörungen erschöpft sind. Ich werde auf diese Frage in
einer demnächst erscheinenden Arbeit 1 ) etwas näher eingehen und dabei Fälle
beschreiben, die trotz gewisser Ähnlichkeiten weder unter die Chorea noch
unter die Athetose zu rechnen sind. Ob es sich freilich bei diesen Bildern
um eine einheitüche Form der Bewegungsstörung handelt, wie es z. B. die
Chorea ist, läßt sich nicht entscheiden. Ob die Unterschiede anatomisch be¬
gründet sind, ist ebenfalls keineswegs sicher. Worauf ich dabei Wert lege,
ist zu betonen, daß hier klinische Unterschiede vorliegen, die eine Einreihung
in die bis jetzt gegebenen Formen meines Erachtens nicht gestatten. Es
handelt sich zum Teil um Enzephalitisfolgen; motorisch sind die Störungen
zu charakterisieren als rhythmisch iterierende komplexe Hyperkinesen. Sie
unterscheiden sich von der Athetose dadurch, daß sie das physiologische Aus¬
maß nicht überschreiten, daß ungewöhnliche Bewegungskombinationen fehlen,
daß sie ungeheuer einförmig sind. Dabei handelt es sich nicht um die Inner-
*) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie.
Zusammenfassendes über die athetotische Bewegungsstörung überhaupt.
35
vation eines Muskels, sondern es bewegen sich stets gleichzeitig eine ganze Reihe,
so daß eine Bewegungskombination, eine komplexe Bewegung entsteht, die
zwar kein Ziel verfolgt, in ihrer Zusammensetzung aber für den Gesunden
möglich und nachahmbar erscheint. Äußere Einwirkungen, insbesondere auch
gewollte Bewegungen, verursachen keine oder nur eine ganz geringfügige Ab¬
änderung des Bewegungsablaufs.
Der Bewegungscharakter war teilweise langsam, mithin athetoseähnlich,
teilweise handelte es sich um schnellende, zuckende Bewegungen, die mehr
an Chorea erinnern. Aber auch bei diesem letzten Fall waren die Bewe¬
gungen keineswegs mit den Choreatischen zu identifizieren, da auch die
einförmige Wiederkehr stets derselben Bewegungen dagegen sprach. Ferner
schloß der Umstand eine Chorea aus, daß nie ein Muskel isoliert zuckte,
sondern daß stets eine ganze Anzahl von Muskeln zusammen innerviert
werden; aber nicht so wie bei schwerer Chorea, daß es bald hier bald dort
gleichzeitig zuckte, sondern stets handelte es sich um dieselben Muskeln, deren
immer wiederholte Kontraktion einen stets wiederkehrenden Bewegungseffekt
zur Folge hatte. Auch fehlte die Hypotonie der gewöhnlichen Chorea.
Es mag übertrieben erscheinen, auf Grund dieser klinischen Besonderheiten,
eine dritte, vielleicht gar nicht einmal einheitliche Bewegungsform aufzustellen.
Ich glaube aber, daß Klarheit in das Chaos extrapyramidaler Bewegungs¬
störungen nur dann kommen kann, wenn durch eine genaue klinische Analyse
der für den einzelnen Fall konstanten Bewegungsstörung dem Anatomen
eine exakte klinische Grundlage gegeben wird, denn alle Erfolge und Re¬
sultate einer pathologischen Anatomie, bzw. Hirnpathologie, die nicht eine
reine Scheidung der klinischen Bilder zur Voraussetzung hat, sind für das
pathophysiologische Verständnis klinischer Symptome sowie für lokalisatorische
Fragen ohne Bedeutung.
Die klinische Verwertung besonders der älteren anatomischen Unter¬
suchungen leidet unter dem erwähnten Mangel; zuweilen ist schon klinisch
nicht sicher zwischen Athetose und Chorea unterschieden.
Man hat nun bei der Athetose bzw. bei einer als solche gedeuteten Be¬
wegungsstörung, Degenerationen, Blutungen, Atrophien, Narben in den ver¬
schiedensten Teilen des Großhirns und Kleinhirns gefunden; teils handelte es
sich um isolierte, teils um doppelseitige, teils um multiple Herde (Zusammen¬
stellung der älteren Befunde bei Berger). Recht häufig sind als Sitz von
Erkrankungen von jeher schon die zentralen Ganglien erwähnt: z. B. Linsen¬
kern, und zwar Putamen (Anton und Berger), Globus pallidus (Fischer
und Roth mann). Herde im Thalamus beschreiben Herz, Muratow. Auch
bei Herden im roten Kern und Kleinhirn sind athetotische Bewegungen beob¬
achtet. Marburg beschrieb athetotische Bewegungen bei Läsion der End¬
stätten rubrofrontaler Bahnen im Großhirn. Ob man die experimentellen
Untersuchungen von Economo und Kar plus, die bei Läsionen der lateral
vom Nucleus ruber gelegenen Fasern der Haube »choreatisch-athetotische«
Bewegungen hervorrufen konnten, für die Lokalisation verwerten kann, er¬
scheint mir sehr zweifelhaft; da die klinische Feststellung der Art der Be¬
wegungsstörung schon beim Menschen Schwierigkeiten macht, kann ich mir
nicht vorstellen, wie man beim Tier eine Bewegungsstörung analysieren und
3*
36
Athetose.
unter eine der uns beim Menschen bekannten Bewegungsstörungen unter¬
ordnen will. Es wird meist unmöglich sein, diese Bewegungen von gewöhnlichen
krampfartigen Zuckungen zu trennen. Haenel fand als anatomische Grund¬
lage einer Hemiathetose einen Herd im Beginn des gekreuzten Hirnschenkelfußes
unterhalb der Linsenkernschlinge bei intaktem Linsenkern und Thalamus.
Aus einem Überblick, den Schilder gibt, geht hervor, daß wenigstens nach
der damaligen Kenntnis kein lokalisatorischer Unterschied zwischen Chorea
und Athetose besteht. Besonders bei Athetose double gibt es auch Fälle, in
denen man trotz genauer Untersuchung mit modernen Methoden keinen be¬
sonderen Befund erheben kann.
Soweit es sich dabei um Hemiathetose, also um die symptomatische
Form, handelt, wäre es vielleicht doch möglich, die Fälle verschiedener Lokali¬
sation miteinander in Übereinstimmung zu bringen mit Rücksicht auf einen
Berührungspunkt, der für alle vielleicht zutrifft:
Bielschowsky hat nämlich nachgewiesen, daß bei Fällen infantiler zere¬
braler Herderkrankung verschiedener Lokalisation wenig auffallende Verände¬
rungen (Status fibrosus) offenbar sekundärer Art auch im Striatum Vorkommen
können. C. und 0. Vogt, die diese Auffassung aufgegriffen und erweitert
haben, sehen dies als Ausdruck einer besonderen Vulnerabilität dieses Hirn¬
teils an.
Nehmen wir an, daß bestimmte Herderkrankungen des Großhirns sekundär
eine Erkrankung des Striatums zur Folge hätten, die ihrerseits wieder mit der
Hemiathetose zusammenhängt, so würden durch die gemeinsame sekundäre
Striatumveränderung die verschieden lokalisierten Herde ein gemeinsames
Symptom, die Hemiathetose hervorrufen können, das je nach dem Sitz der
primären Erkrankung, auch durch Krämpfe, spastische Lähmungen usw. kom¬
pliziert sein könnte.
Es erscheint mir durchaus begreiflich (Vogt und Oppenheim teilen diese
Ansicht), daß solche feineren Veränderungen im Striatum bis jetzt über¬
sehen wurden, um so eher, als die gröberen Herderkrankungen zunächst
dem Bedürfnis nach einer Klärung der himpathologischen Grundlagen zu
genügen schienen. Der Befund von Bielschowsky müßte sich jedoch an
weiteren Untersuchungen bestätigt finden. Betont werden muß allerdings da¬
bei, daß schon die jetzigen Befunde nicht ganz gleichmäßig sind, insofern als
bald mehr das Putamen, bald mehr das Caudatum von dem Prozeß betroffen
zu sein scheint.
Das Bestreben nach anatomischer Klärung von Krankheitsbildern und der
Versuch, die Erkrankung nach der Lokalisation und Art der krankhaften
Prozesse einzuteilen, ist auch für die klinische Betrachtung das höchste Ziel.
Die genauesten anatomischen Untersuchungen sind jedoch nur von be¬
schränktem Nutzen, wenn nicht exakte klinische Beobachtungen den Ver¬
gleich zwischen klinischen Symptomen und anatomischen Befunden ermög¬
lichen. Es sind dies Forderungen, die bei Beginn der Forschungen natürlich
noch nicht in weitgehendem Maße Berücksichtigung finden können, weil erst
die pathologischen Untersuchungen viele klinische Gesichtspunkte und Frage¬
stellungen bringen. Leider gilt diese Beschränkung auch von den klinischen
Untersuchungen, die den von 0. und C. Vogt anatomisch verarbeiteten Fällen
Zusammenfassendes über die athetotische Bewegungsstörung überhaupt.
37
zugrunde liegen. (Zur Lehre von den Erkrankungen des striären Systems.) Für
unsere Fälle von idiopathischer Athetose kommt in erster Linie Gruppe I der
Vogtschen Einteilung in Frage, die klinisch jedoch verschieden zu beurteilen
is. Ich kann wenigstens in den wiedergegebenen Krankengeschichten, so¬
weit überhaupt eine genauere Beschreibung vorliegt, keineswegs einheitliche
Krankheitsbilder erblicken.
Anatomisch findet sich in allen diesen Fällen der Status marmoratus,
der darin besteht, daß in Teilen des verkleinerten Striatums an Stelle der üb¬
lichen Ganglienzellen ein Markfaserfilz getreten ist. Durch den Zellenschwund
kommt es zu sekundären Degenerationen der striopallidären Fasern. Die Ver¬
fasser nehmen an, daß es sich bei diesem Prozeß seiner pathologisch-ana¬
tomischen Natur nach um eine Mißbildung handelt. Dementsprechend be¬
stehen auch alle klinischen Erscheinungen seit der Geburt ein Umstand, der
an sich gut zum Krankheitsbild der idiopathischen Athetose passen würde.
Der erste Fall Jacquell (von Barre klinisch beobachtet), soll nach den
kurzen Angaben der Krankengeschichte eine typische Athetose double ge¬
wesen sein. Der Umstand aber, daß der Patient relativ gut sprechen konnte,
und eine fast normale Beweglichkeit der Zunge hatte, spricht gegen die Dia¬
gnose, findet aber nach Vogt dadurch seine Erklärung, daß die oralen Partien
des Striatums, in denen u. a. die Sprachfunktionen ihre striäre Lokalisation
haben, relativ weniger von dem Prozeß ergriffen waren als die kaudalen Teile.
Wenn auf diese Weise auch die somatotopische Gliederung C. Vogts eine
Bestätigung erfährt, so wird man doch dadurch in der Diagnose Athetose
double irre, denn für sie ist es gerade charakteristisch, daß bei jeder Bewe¬
gung, besonders aber bei Sprechversuchen, starke Mitbewegungen im Gesicht
auftreten, die ihrerseits die Zungenbewegungen und damit die Sprache sehr
erschweren.
In dem zweiten Falle fehlen sämtliche Einzelheiten der Krankengeschichte.
Es soll sich auch hier um eine Athetose double gehandelt haben, und die
besondere Lokalisation des Status marmoratus veranlaßt die Verfasser, rück¬
läufig auf schwere Störungen in der Artikulation sowie im Schluck- und Kau¬
akt zu schließen.
Eine ausführlichere Krankengeschichte existiert von dem dritten Fall:
Massat: (Gallus). Hier handelt es sich um ein seit frühester Kindheit be¬
stehendes Leiden, das sich anfangs in epileptischen Krämpfen äußerte, außer¬
dem fanden sich spastische Paresen beider Beine mit gesteigerten Reflexen,
Klonus und Babinski. Auch im Triceps bestand spastische Starre mäßigen
Grades, in den Armen Intentionszittern. Erwähnt wird ferner die Langsam¬
keit der Bewegungen, ounnütze Bewegungen« (choreatische), namentlich an
den Fingern, choreatische Unruhe auch beim Kniehacken versuch, Athetose der
Zehen und des Vorderfußes, Sprache intakt. Die rechte Körperhälfte war mehr
ergriffen als die linke. Im Laufe der Zeit leichte Besserung der motorischen
Erscheinungen. Um was für eine Erkrankung es sich klinisch hier handelt,
ist nicht ohne weiteres ersichtlich, jedenfalls aber sicher nicht um eine Athe¬
tose double, wahrscheinlich liegt eine Form der Littleschen Krankheit vor
mit spastischen Erscheinungen. Die Athetose hat offenbar eine sehr geringe
Rolle gespielt und scheint mir überhaupt nicht sicher zu sein.
38
Athetose.
Auch hier findet sich ein Statuts marmoratus in ähnlicher Verteilung wie
bei Fall 1, außerdem noch eine gewisse Unentwickeltheit der dritten Schicht
der vorderen Zentralwindung.
Bei dem Pat. Scholz (Fall 4) hat die Erkrankung nach Angabe der Mutter
erst mit 2Va Jahren nach einem Unfall begonnen. Verfasser glauben jedoch,
diese Angaben in Zweifel ziehen zu müssen, weil ein Status marmoratus gefunden
wurde, der ja als eine angeborene Anomalie aufgefaßt wird. Im übrigen handelt
es sich hier um einen epileptischen Idioten mit Strabismus convergens, spastischer
Parese beider Beine, Strümpell schein Zeichen und positivem Babinski. Athe-
totische Bewegungen wurden von Herrn Geheimrat Freund, der den Kranken
auf seiner Abteilung hatte, nie beobachtet. Vogt nimmt jedoch an, daß es
sich bei dem nachgewiesenen Babinski sehen Phänomen um unwillkürliche
Dorsalflexionen der großen Zehen d. h. um Bewegungen gehandelt habe, die
in das Gebiet der Athetose zu rechnen seien. Auf sprachlichem Gebiet scheint
der Kranke nur wenig produziert zu haben, meist Schimpfworte. Eine Sprach-
behinderung athetotischer Art wird nicht beschrieben, auch ist von Mitbe¬
wegungen nie die Rede. Klinisch wird man diesen Fall wohl mit Verf. als
eine Littlesche Erkrankung auffassen, jedoch halte ich es für unwahrscheinlich,
daß athetotische Symptome bestanden haben. Auf Grund des von Vogt so
bezeichneten »Pseudobabinski« allein ist die Diagnose Athetose nicht zu stellen.
Anatomisch fand sich Status marmoratus, und zwar waren auch hier die oralen
Partien stärker befallen (striäre Lokalisation sprachlicher Funktionen). Be¬
merkt werden muß jedoch, daß hier eine ganz andere Sprachstörung Vorgelegen
hat als in dem zweiten Falle, auch hier vorausgesetzt, daß es sich in dem
zweiten Falle wirklich um eine Athetose double gehandelt hat.
Von wesentlicher Bedeutung erscheint mir der Befund, daß trotz gleich¬
mäßigen Betroffenseins der Arm- und Beinregionen im Striatum klinisch nur
die Beine eigentliche Lähmungen zeigten. Es wird dies durch die Annahme
erklärt, daß die Großhirnkompensation für die oberen Extremitäten eine inten¬
sivere sei.
Bezüglich der hier besonders stark ausgesprochenen klinischen Störungen
kommt die Tatsache als Begründung in Betracht, daß ebenso wie zerebellare
auch striäre Erkrankungen um so stärker klinisch hervortreten, je unausge¬
bildeter das übrige Gehirn ist.
Fall 5 (Steinberg) ist von C. Vogt und Freund besonders beschrieben.
Freund hat das Krankheitsbild als eine Littlesche Diplegie aufgefaßt; athe¬
totische Bewegungen seien vorhanden gewesen, sie waren aber so geringfügig,
daß die Bezeichnung Athetose double nicht zu rechtfertigen war. Neben den
Spasmen waren auch sicher noch Muskelparesen vorhanden, rechts bestand
Babinski, den Frau Vogt jedoch als Pseudobabinski bezw. als athetotische Be¬
wegungen aufzufassen geneigt ist, ebenso wie sie das Vorhandensein einer echten
Lähmung im Gegensatz zu dem klinischen Untersucher ablehnt.
Fall 6 ging nach der Beschreibung Oppenheims mit athetotischen Be¬
wegungen einher, kann aber nach dem ganzen klinischen Büde keineswegs als
Athetose double aufgefaßt werden.
Fall 8 (Gallus) Marie S. offenbar angeborenes Leiden, epileptische Anfälle,
links Strabismus, spastische Parese beider Beine mit Steigerung der Patellar-
Zusammenfassendes über die athetotische Bewegungsstörung überhaupt.
39
reflexe, zeitweise Fußklonus, beiderseits Babinski, fast vollständige motorische
Aphasie bei leidlichem Wortverständnis. Als striär bedingt faßt Vogt den
Strabismus, die Spannung der Extremitätenmuskeln und die fast vollständige
Stummheit auf. Da aber neben dem Status marmoratus im Putamen noch
ein hochgradiger Hydrozephalus bestand, der offenbar noch durch Druck die
Pyramidensymptome veranlaßt hatte, halte ich diesen Fall für wenig geeignet
zu lokalisatorischen Betrachtungen.
Wie aus der Zusammenstellung hervorgeht, handelt es sich in den Fällen
von C. und O. Vogt keineswegs um einheitliche Erkrankungen, sondern mindestens
um zwei recht verschiedene Symptomenbilder, nämlich vielleicht um eine Athe-
tose double, deren Diagnose sich allerdings aus den mitgeteilten klinischen Notizen
nicht mit Sicherheit nachprüfen läßt, und dann um bestimmte Formen Little-
scher Erkrankung. Ich kann diese letzteren Zustände von Hypertonie keineswegs
für rein striäre halten, da fast überall einwandfreie Pyramidensymptome vor¬
liegen. Auch der Umstand, daß die Spasmen nicht den Prädilektionstyp ein-
halten, spricht an sich noch nicht für die rein striäre Natur des Leidens, da
es sich um Schädigungen im frühesten Kindesalter handelt, bei denen, wie
Lewandowsky klargestellt hat, auch eine andersartige Anordnung der Läh¬
mungen und Spasmen Vorkommen kann. Meines Erachtens kann die Verteilung
einer Lähmung nach dem Prädilektionstyp nur im positiven Sinne als ein
Charakteristikum für eine Pyramidenbahnerkrankung angesehen werden; d. h.
entspricht sie ihm, so liegt sicher eine Pyramidenschädigung vor. Richtet sich
eine Lähmung jedoch nicht nach dem Typus, Wernicke-Mann, so schließt
dies eine Affektion des Pyramidensystems keineswegs aus.
Als striär bedingte Hyperkinesen faßt Vogt bei seinen Fällen die unwill¬
kürlichen Bewegungen choreatischer und vornehmlich athetotischer Art auf;
sie sollen aber in leichten Fällen von Status marmoratus gegenüber den
spastischen Erscheinungen zurücktreten. Es ist in der Tat bekannt und an¬
erkannt, daß die unwillkürlichen Bewewegungen, sowohl der Chorea wie der
Athetose durch Störungen im Pyramidensystem zurückgehalten bezw. unter¬
drückt werden können. Diese Erklärung erscheint durchaus annehmbar für
die vorliegenden Fälle; es wird aber damit von Vogt das Vorhandensein von
Pyramidensymptomen vorausgesetzt und unter diesen Umständen erscheint es
uns gesucht, die erwähnte Hypertonie nicht als Pyramidenspasmen, sondern
als striäre Rigidität aufzufassen.
Für die vorliegende Betrachtung interessiert uns vor allem der Zusammen¬
hang der athetotischen Bewegung mit dem Status marmoratus. Als reine Athe¬
tose double kommen offenbar die beiden ersten Fälle in Betracht. Die klinische
Beschreibung ist dritten Falle keineswegs charakteristisch für Athetose. Gleich¬
zeitig werden Intentionstremor und choreatische Bewegungen erwähnt, so daß
auch hier offenbar nicht präzise zwischen Chorea und Athetose unterschieden
ist. Bei Fall 4 schließt C. Vogt aus dem Vorhandensein des »Pseudobabinski«
auf athetotische Bewegungen, die nach dem klinischen Befund in Abrede ge¬
stellt werden. Auch bei Fall 5 besteht ein Widerspruch in der Auffassung
zwischen Kliniker und Anatom. Bei Fall 8 wurde Athetose nicht beobachtet.
Nach allem kann man sagen, daß die Athetose double jedenfalls nicht zu
den unbedingt vorauszusetzenden klinischen Symptomen des Status marmoratus
40
Athetose.
im Striatum gehört. Nur die Möglichkeit, daß athetotische Bewegungen bei
Status marmoratus Vorkommen, ist vorhanden. Die Fälle 1 und 2 lassen es
eventuell als möglich erscheinen, die idiopathische Athetose auf diese anatomischen
Veränderungen zurückzuführen. Zu einer Entscheidung müßte jedoch erst die
auch von Vogt selbstgestellte Forderung erfüllt werden, daß sicher klinisch
diagnostizierte Fälle anatomisch untersucht werden.
Ein weiterer Fall von Gallus, Fritz G., der seit dem zweiten Lebensjahr
an epileptischen Anfällen leidet, zeigt in der linken Hand athetotische Be¬
wegungen, die eventuell als zum Krankheitsbild der Hemiathetose im Sinne
Lewandowskys gehörend aufgefaßt werden können. Anatomisch findet sich
ein enzephalitischer Herd in der ersten Temporalwindung, eine starke Atrophie
des Thalamus, sowie eine Zellnekrose des äußeren Teils des Nucleus caudatus,
wo dann infolge des Zusammenrückens der erhalten gebliebenen Markfasern
ein Status fibrosus entstanden ist. Auf letzteren Befund wollen die Autoren
die athetotischen Bewegungen zurückführen, ohne dabei der Funktionsvermin¬
derung des atrophischen rechten Thalamus jede Bedeutung abzusprechen. In
zwei anderen Fällen gleicher Lokalisation des Status fibrosus, aber ohne athe¬
totische Bewegungen (Bielschowsky), führen die Verfasser das Ausbleiben
der Athetose und überhaupt striärer Symptome darauf zurück, daß diese
durch zu stark hervortretende Pyramidensymptome verdeckt waren.
Einen gewissen Zusammenhang mit Athetose zeigen von den Vogt’schen
Fällen vielleicht noch die beiden Erkrankungen mit Status dysmyelinisatus;
dieser ist durch einen pathologischen Prozeß bedingt, der unter gleichzeitiger
Volumen Verminderung zu einer Verarmung der striären Markfaserung führt,
und zwar besonders im Gebiet des Globus pallidus. In beiden Fällen
handelt es sich um Kinder, die eine schwere Geburt durchgemacht haben und
an Krämpfen leiden; anfangs traten dauernde athetotische Bewegungen auf,
die allmählich zu stärker werdenden Muskelhypertonien und schließlich zur Ver¬
steifung des ganzen Körpers führen.
In beiden Fällen bestanden auch echt spastische Erscheinungen. Der stärkste
Ausfall fand sich beide Male im Globus pallidus. Dadurch, sowie auch durch
den klinischen Verlauf gewinnen die Fälle Ähnlichkeit mit den Beobachtungen
von O. Fischer und Rothmann.
Vogt ist daher geneigt, in dieser Erkrankung ein Pallidum-Syndrom
zu erblicken, und zwar soll es sich um den Ausfall der Pallidumfunktion
dabei handeln. Die Anfälle von spastischen Zuständen und athetotischen Be¬
wegungen, die der Dauerkontraktur vorangehen, wären entweder als Reizhyper-
kinesen aufzufassen, d. h. als eine Hyperkinese, die durch mechanische Reize
des Prozesses im Pallidum ausgelöst werden; oder es könnte sich um eine
»Stauung neurodynamischer Reizenergie« infolge herabgesetzter Ableitungs¬
möglichkeit handeln. Jedenfalls kommen diese Fälle klinisch schon wegen
ihres ganz andersartigen Verlaufs nicht als Athetosis douplex in Betracht.
Unter Gruppe 6 beschreiben C. und 0. Vogt noch den oben schon er¬
wähnten Fall von A. Westphal. Anatomisch findet sich hier neben gewissen,
teilweise auch in anderen Hirnpartien vorhandenen, aber auch vornehmlich auf das
Striatum und Pallidum konzentrierten präsenilen Erscheinungen ein ausge¬
sprochener Parenchymausfall nur im Striatum und Pallidum, und auch hier vor-
Zusammenf Assendes über die athetotische Bewegungsstörung überhaupt.
41
nehmlich im ersteren. Bei dem Kranken waren nicht nur Athetose, sondern
auch die Symptome der Paralysis agitans sine agitatione (Bewegungsarmut,
mimische Starre, Retro- und Latero-Pulsion) vorhanden. Da die Athetose sich
durch einen Bewegungsreichtum und zahlreiche Mitbewegungen auszeichnet,
während bei der Paralysis agitans Bewegungsarmut und Mangel an Mitbe¬
wegungen vorherrscht, ist es schwer, sich die so sehr entgegenstehenden Sym¬
ptome klinisch vereinigt zu denken und ihr Auftreten lokalisatorisch zu erklären.
Man müßte für die verschiedenen Teile der betroffenen Zentral¬
ganglien nicht nur somatotopische, sondern auch funktionelle
Differenzen voraussetzen.
Überblickt man die hier besprochenen und in der Literatur erwähnten
pathologisch-anatomischen Befunde, so kommt man zu dem Resultat, daß striäre
Erkrankungen grundverschiedene Symptomenbilder bzw. Erkrankungen her-
vorrufen können, z. B. Athetose, Paralysis agitans, Wilsonsche Krankheit. In
wieweit eine gleichzeitige Affektion benachbarte Hirnteile (z. B. Linsenkern¬
schlinge usw.) das Symptomenbild klinisch umgestalten kann, ist noch nicht mit
überzeugender Sicherheit klargestellt. Um zunächst bei der hier behandelten
Athetose zu bleiben, so sehen wir, daß diese Krankheitsform bei mannigfacher
Herdlokalisation auftreten kann; sie ist z. B. bei Schädigungen im Putamen,
ebenso wie bei solchen im Globus pallidus beobachtet worden, Auch Herde
anderer Lokalisation (Thalamus usw.) werden erwähnt. Kleist ist geneigt,
gerade die tonische Komponente bei der athetotischen Bewegung auf eine Be¬
teiligung des Globus pallidus zurückzuführen und so auch lokalisatorisch den
Unterschied von der choreatischen Bewegungsstörung zu erklären. Es ähnelt
dieser Versuch dem Bestreben Schilders, der daran dachte, nicht für jede
Bewegungsstörung als ganze einen Herd, sondern für jede besondere Eigenschaft
jeder Bewegung eine bestimmte, feiner lokalisierte Erkrankung verantwortlich
zu machen. Hier kämen dann nicht nur umschriebene Herde in Betracht,
sondern es wäre daneben auch auf eine mehr oder weniger systematische Er¬
krankung besonderer Zellen und Fasern zu achten. Sollten sich die oben erwähnten
Bielschowskysehen Untersuchungen an weiterem Material bestätigen, so
wäre wenigstens für die Hemiathetose die Möglichkeit gegeben, unter den
bis jetzt festgestellten verschiedenartig lokalisierten Herden einen gemein¬
samen Prozeß, nämlich die sekundäre Striatumveränderung vielleicht in Ver¬
bindung mit einem anderen primären Hirnherd als Ursache für die Bewegungs¬
störung anzusehen.
Weitere Forschungen müssen uns ferner noch darüber aufklären, wann wir
es mit Reiz-, wann mit Ausfallserscheinungen bei pathologischen Prozessen zu
tun haben, ferner ob eine bestimmte krankhafte Funktion auf einer Enthemmung
beruht, oder ob wir es mit Fehlen von Anregungsimpulsen zu tun haben,
bezw. ob sich ein Symptom aus beiden Grundelementen zusammensetzt. Für
die Chorea und Athetose wird jetzt meist eine Enthemmung als kausales
Moment angenommen. Für die Athetose kommt im besonderen noch der Um¬
stand in Betracht, daß diese Erkrankung eine vorzugsweise dem kindlichen
Gehirn angehörende Funktionsanomalie ist. Darauf hat schon Lewandowsky
hingewiesen, und O. und C. Vogt haben auf Grund ihrer anatomischen Unter¬
suchungen ähnliche Resultate gewonnen, die sie in folgendem Schlußsatz zu-
42
Athetose.
sammenfassen: »Eine rein striäre Erkrankung muß im embryonalen oder im
ersten Kindesalter auftreten, um sicher als Ausfallserscheinung zur Athetose zu
rechnende Spontanbewegungen hervorzurufen. Später einsetzende, das Striatum
allein betreffende pathologische Veränderungen, bedingen als Ausfallserscheinungen
meist nur andere unwillkürliche Bewegungen. Das Fehlen athetotischer Be¬
wegungen im größten Teile dieser Fälle möchten wir darauf zurückführen,
daß das übrige Nervensystem nach Vollendung des ersten Lebensjahres
auf eine Striatumerkrankung anders reagiert als in der Fötalzeit und frühesten
Kindheit.«
Die Frage, gibt es Herde bestimmter Lokalisation, die immer und in jedem
Falle eine Athetose hervorrufen, kann wohl in dieser Form verneint werden.
Selbst wenn man nur das kindliche Gehirn für diese Frage in Betracht zieht,
wird man den Wert der Athetose als Herdsymptom vorläufig nur gering
einschätzen dürfen. Möglich wäre es, daß die idiopathische Athetose sich auch
anatomisch wesentlich von der symptomatischen Athetose unterscheidet, und
zwar hinsichtlich ihrer Lokalisation als auch bezüglich der histologischen Ver¬
änderungen.
Ein weiteres Problem liegt darin, ob es sich bei der idiopathischen Athetose,
die mit spastischen Paraplegien einhergeht, um eine andersartige anatomische
Grundlage handelt, oder ob lediglich eine Komplikation vorliegt. Die gleiche
Frage wäre für die mit Epilepsie einhergehenden Fälle zu lösen.
Nach allem erscheint es mir zweifelhaft, ob eine rein hirnpathologisch fundierte
Theorie über die Pathogenese dem Wesen der Athetose gerecht wird. Der
Umstand, daß nur Kinder eine Athetose neu erwerben können, ließe sich übri¬
gens nicht nur auf besondere funktionelle Eigenschaften des kindlichen Gehirns
zurückführen, sondern es besteht auch die Möglichkeit, daß eine besondere
Schädigung dafür verantwortlich gemacht werden könnte, die nur in den ersten
Lebensmonaten möglich ist (Asphyxie der Neugeborenen!).
Sehr wohl möglich ist es ferner, daß mehr als ein Faktor bei der Ent¬
stehung der Athetose mitspielt.
Es mag überflüssig erscheinen, sich bei den meist unsicheren anatomischen
Grundlagen für die Athetose, auf patho-physiologische Theorien über das Zu¬
standekommen der Bewegungsstörung einzulassen. Ich will daher kurz nur
einen Punkt erwähnen, der meines Erachtens eine gewisse Bedeutung hat.
Es handelt sich darum, die Bewegungsanomalie vom Gesichtspunkt des
Sherringtonschen Gesetzes der reziproken Innervation aus zu betrachten,
eine Notwendigkeit, auf die Stertz in diesem Zusammenhang schon hinge¬
wiesen hat.
Nach diesem Gesetz soll bei der Innervation eines Muskels sein Antagonist
reflektorisch erschlaffen, er wird »denerviert«. Zu dieser Denervation kommt
es bei der Athetose offenbar nicht. Eine Entspannung erfolgt vielmehr erst
ganz allmählich und zwar offenbar nicht von selbst, sondern unter dem Zuge
der Agonisten wird der Antagonist allmählich passiv gedehnt und so sein
Kontraktionszustand nur langsam aufgehoben. Es ist klar, daß unter diesen
Umständen die Kontraktion des Agonisten nicht flott, blitzartig vor sich gehen
kann, sondern langsam und mühsam erfolgt, weil gegen den Widerstand der
Antagonisten anzukämpfen ist.
Chorea. Definition und überblick über die verschiedenen Formen.
43
Um der Lösung all dieser Fragen näher zu kommen, ist es jedenfalls
notwendig, sich in der Diagnose Athetose genau an die Definition der Be¬
wegungsstörungen zu halten und alle anderen ähnlichen Motilitätsstörungen
streng davon abzutrennen.
II. Chorea.
1. Definition und Überblick über die verschiedenen
Formen der Chorea.
Bei der Besprechung der Athetose mußte schon mehrfach die choreatische
Bewegungsstörung erwähnt werden, namentlich galt es die beiden oft mitein¬
ander zusammengeworfenen krankhaften Bewegungen symptomatologisch scharf
voneinander zu trennen.
Aus der oben geschilderten Differentialdiagnose ergibt sich schon das
Charakteristische der choreatischen Bewegungsstörungen wenigstens in groben
Zügen. Was das klinische Bild der Chorea in seinen Einzelheiten anlangt, so
hat die klassische Schilderung und Analyse Foersters von 1904 noch heute
ihre Gültigkeit und ist bis jetzt nur in Kleinigkeiten ergänzt worden. Auf
dieser Beschreibung fußend, wurde schon oben eine Unterscheidung von der
Athetose ermöglicht, und ich halte es für notwendig, daß man sich, solange
uns nicht sichere Ergebnisse der pathologischen Anatomie ein großzügigeres
Verfahren gestatten, pedantisch und streng an die für die Chorea charakte¬
ristischen Symptome hält, und alle anderen ähnlichen Bewegungsstörungen,
deren uns namentlich die Enzephalitisepidemie eine ganze Reihe beschert hat,
von der echten Chorea abtrennt.
Die wesentlichen Punkte der Foersterschen Definition seien zunächst kurz
wiedergegeben:
Die choreatische Bewegungsstörung setzt sich zusammen aus den unwill¬
kürlich choreatischen Spontanbewegungen und aus der choreatischen Koor¬
dinationsstörung. Für die choreatische Spontanbewegung ist folgendes
kennzeichnend:
Rascher Ablauf, relativ großes Ausmaß, ein ausfahrender Charakter der Be¬
wegung, Verbreitung über proximale und distale Gliedabschnitte (bei leichteren
Fällen nur über letztere). Befallen ist im gleichen Augenblick nur ein Muskel
oder eine gleichsinnig wirkende Muskelgruppe. Die Antagonisten sind bei der
Spontanbewegung nie beteiligt, ebenso rasch wie die Bewegung gekommen ist,
klingt sie wieder ab. Die Bewegungen finden in buntem Wechsel statt, d. h.
weit voneinander entfernte Muskeln können unmittelbar hintereinander in
Zuckungen geraten. Die Bewegungen sind nachahmbar, sie haben aber trotz¬
dem keine Ähnlichkeit mit willkürlichen Bewegungen, weil die Beteiligung
synergisch wirkender Muskeln fehlt, und dadurch erhält die Bewegung etwas
unnatürliches. Für diese choreatische Spontanbewegung kommt die Frage,
ob sie koordiniert ist, gar nicht in Betracht, weil eine derartige unwillkürliche
Bewegung an sich keinen Zweck zu erfüllen hat (Fo erst er). Eine Störung
im Zusammenarbeiten mehrerer synergisch wirkender Muskeln bei dem Versuch
ein Ziel zu erreichen, was ja den Begriff der Koordination ausmacht, ist auch
44
Chorea.
schon aus dem Grunde unmöglich, weil die choreatische Spontanbewegung im
allgemeinen nur von einem Muskel ausgeführt wird.
Die choreatische Koordinationsstörung kommt dagegen zur Geltung bei
Zielbewegungen oder bei Versuchen bestimmte Haltungen einzunehmen. Man
findet bei beiden Vorgängen eine ausgesprochene Ataxie fast in allen Fällen
mit Ausnahme der ganz leichten. Zu bemerken ist dabei, daß es oft schwer
zu unterscheiden ist, ob eine beabsichtigte Bewegung infolge einer Ataxie,
oder infolge einer dazwischen kommenden choreatischen Spontanbewegung mi߬
glückt.
Charakteristisch für die Chorea ist weiter eine Hypotonie der Muskeln, die
nach Foerster auf einem Versagen der antagonistischen Funktion beruhen
soll. In Ausnahmefällen kann diese Hypotonie mit Erlöschen der Sehnen¬
reflexe einhergehen. Störungen seitens der Pyramidenbahnen fehlen, Läh¬
mungen im eigentlichen Sinne sind nicht vorhanden, dagegen entsteht oft, in
schweren Fällen wohl regelmäßig, eine gewisse Erschwerung der Kraft leist ungen
dadurch, daß eine beabsichtigte Innervation zwar in normaler Stärke aus¬
geführt werden kann, daß sie aber rasch nachläßt ; zu einem länger dauernden
Kraftaufwand sind daher immer wiederholte Willensimpulse erforderlich. Die
früher beschriebenen »Pseudoparesen« bei Chorea lassen sich meines Erachtens
fast immer auf akinetische Zustände zurückführen, wie man sie im Verlauf bzw.
nach Ablauf der Chorea nicht selten sieht. Die Kranken benutzen oft lange Zeit
nach Abklingen der choreatischen Erscheinungen einzelne Extremitäten spontan
gar nicht, und dadurch wird unter Umständen eine Parese vorgetäuscht.
Bruns ist jedoch geneigt, den Mutismus und die Dysphagie der Choreatiker
als echte Paresen zu deuten. Er spricht direkt von einem bulbärparalytischen
Symptomenkomplex bei Chorea. Gerade hier wird in der Tat schwer die Grenze
zu ziehen sein zwischen einer echten Bewegungsschwäche und einem akine¬
tischen Verhalten. In den entsprechenden Fällen meiner Beobachtung schien
mir die Auffassung als Akinese näher zu liegen.
Eine oft zu beobachtende Verzögerung der Innervation beruht auf einer
gewissen Schwierigkeit die Bewegungsimpulse an die richtige Stelle zu senden,
sie richtig zu steuern. Offenbar handelt es sich hierbei um dieselbe Erschei¬
nung, die Schilder neuerdings bei Chorea chronica und Paralysis agitans als
subkortikal bedingte Erschwerung des Bewegungsbeginns hervorgehoben hat.
Er weist dabei auf eine enge Verwandtschaft dieses Symptoms mit subkorti¬
kaler Akinese hin.
Die Hypotonie und der Mangel an Stetigkeit auch bei länger dauernder
statischer Innervation bringt es mit sich, daß, namentlich in fortgeschritteneren
Fällen, die Körperhaltung leidet, die Wirbelsäule nimmt eine kyphotische Hal¬
tung ein, der Kopf fällt schlaff hin und her, sogar im Liegen folgen die Glieder
vollkommen dem Gesetze der Schwere, die Füße sinken nach außen, so daß
der äußere Fußrand die Unterlage berührt.
Die Neigung zu unzweckmäßigen Mitbewegungen ist gesteigert, charakte¬
ristisch für die Mitbewegung gegenüber der choreatischen Spontanbewegung
ist der etwas langsamere Ablauf, es ist aber oft schwer, diese Mitbewegungen
von choreatischen Spontanbewegungen zu unterscheiden. Physiologische Mit¬
bewegungen, z. B. das Pendeln der Hände beim Gehen, fehlen oft, bzw. sie
Definition und Überblick über die verschiedenen Formen.
45
werden entweder dadurch unterdrückt, daß die Patienten krampfhafte An¬
strengungen machen, ihre Spontanzuckungen zu beherrschen, oder sie nehmen
infolge choreatischer Spontanbewegungen einen verzerrten Charakter an.
Die Verbreitung der Bewegungen am Körper hängt ab von der Schwere
des Krankheitsbildes, das Gesicht ist fast immer mitbetroffen. Außer den Ex¬
tremitäten können auch die Stammmuskeln von den Zuckungen befallen sein.
Im Schlaf verschwinden die Bewegungen, durch geistige bzw. affektive Inanspruch¬
nahme lassen sie sich steigern. Bei leichten Fällen, die bei Bettruhe wenig
oder gar keine Zuckungen aufweisen, können sie durch gemütliche Erregungen
hervorgerufen werden. Insofern besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Auslösbar¬
keit der athetotischen Bewegungen, namentlich bei der idiopathischen Athetose.
Kleist ergänzt die Foerstersche Beschreibung durch einige Beobachtungen:
So sah er die rasch beginnende Spontanbewegung auf der Höhe des Be¬
wegungsaffektes tonisch verharren, um dann schnell wieder abzusinken; damit
zusammen hängt offenbar auch die von Gordon beobachtete und von Kleist
wieder hervorgehobene tonische Reflexverlängerung. Man findet dabei, daß
nach Beklopfen der Patellarsehne die Streckung des Unterschenkels eine Zeit-
lang andauert. Ob das Symptom so zu erklären ist, daß zufällig der Reflex
mit einer Spontanzuckung zusammenfällt, oder ob es sich um eine Verände¬
rung des Reflexes handelt, ist nicht bekannt. Bei schweren Fällen ist das
Symptom sehr oft vorhanden, aber keineswegs bei jeder Reflexauslösung, auch
bei symptomatischer Chorea (Enzephalitis) habe ich es beobachtet. Hinsichtlich
der Reflexe fand Kleist, daß die Lebhaftigkeit der Sehnenreflexe vielfach un¬
abhängig ist von dem Grade der Hypotonie.
Auf eine strenge Trennung choreatischer und athetotischer Bewegungen ist
meines Erachtens großer Wert zu legen, deswegen seien die Unterschiede
zwischen beiden besonders hervorgehoben:
Die choreatische Spontanbewegung ist eine kurze Zuckung, die athetotische
eine langsame Kontraktion. Erstere erfolgen in buntem Wechsel, bald hier,
bald dort, die athetotische Bewegung kriecht an den Extremitäten weiter. Es
zuckt bei der Chorea meist nur ein Muskel gleichzeitig oder eine gleichsinnig
wirkende Muskelgruppe, bei der Athetose werden gleichzeitig mehrere, nur
räumlich zusammengehörende Muskelgruppen oft in entgegengesetztem Sinne
innerviert; zudem kommt es dabei zu ganz sonderbaren Bewegungskombina¬
tionen und das Ausmaß der Bewegungen ist ein ungewöhnliches, oft verzerrtes.
Die Chorea geht einher mit starker Hypotonie, an der auch die Zuckungen
nichts ändern, während für die Athetose ein wechselnder Spannungszustand,
der Spasmus mobilis. charakteristisch ist. Mitbewegungen kommen bei beiden
Erkrankungen vor, sie sind bei der Chorea nicht von solcher Bedeutung wie
bei der Athetose.
Daß die Chorea zu den extrapyramidalen Bewegungsstörungen gehört, ist
heute allgemein anerkannt; ist sie jedoch auch unter den Begriff des ainyo-
statisehen Symptomenkomplexes zu subsumieren? Hinsichtlich der chorea¬
tischen Koordinationsstörungen kann man diese Frage ohne weiteres bejahen,
aber auch die choreatische Spontanbewegung gehört zu den Myastasien, da sie
störend in die Ruhelage des Körpers eingreift, bestimmte Haltungen unmög¬
lich macht und dadurch auch aktive Bewegungen behindert.
46
Chorea.
Wir finden die choreatische Bewegungsstörung als Ausdruck einer Krank¬
heit sui generis und als Symptomenkomplex bei Erkrankungen verschiedener
Art. In letzterem Falle ist auch ein halbseitiges Auftreten möglich. Als
Krankheitseinheiten sind zu betrachten die Sydenhamsche Chorea (Charcots
»Chorea minor« *) und die chronische progressive Chorea.
Eine Anzahl von Choreaformen hat man z. T. nach ganz äußeren Gesichts¬
punkten abgegrenzt und benannt. So läßt sich meines Erachtens die Chorea
senilis ohne jeden Zwang in die chronisch progressive Chorea einreihen. Einige
andere der so abgegrenzten Choreafalle umfassen nicht einmal einheitliche Be¬
griffe. So versteht man z. B. unter Chorea electrica einmal eine von Dubini
zuerst beschriebene, meist tödlich endende und mit Schmerzen einhergehende
Choreaerkrankung, die offenbar in das Gebiet der Enzephalitis gehört; die
gleiche Bezeichnung Chorea electrica dient aber auch zur Bezeichnung von
hysterischen Zuständen mit choreaähnlichen Erscheinungen.
Ein zum wenigsten ätiologisch einheitliches Krankheitsbild ist dagegen die
Chorea gravidarum, sie ist sehr wahrscheinlich toxischen Ursprungs; da sie so
gut wie immer nach Unterbrechung oder nach Beendigung der Schwangerschaft
abheilt, kann man als sicher annehmen, daß toxische Produkte, die bei der
Gravidität auftreten, die Störung veranlassen. Sie gehört somit zu den sympto¬
matischen Choreaformen, ebenso wie die auf infektiöser Basis entstandene
Chorea bei Enzephalitis. Charakteristisch für beide ist, daß die choreatische
Bewegungsstörung hier nur ein mehr oder weniger zufälliger Ausdruck der
Vergiftung bzw. Infektion ist, die sich auch in anderen Symptomen äußern
kann, wie wir es namentlich bei der ^Enzephalitis häufig sehen.
Außer diesen symptomatischen Choreaformen, bei mehr diffusen Hirn¬
erkrankungen gibt es choreatische Symptome, die auf Grund einer groben
Herderkrankung im Gehirn entstehen; hier kann es sich handeln um Tumoren,
Blutungen usw. Je nach dem Sitz finden wir auch unter Umständen einsei¬
tiges Auftreten der Störung. Diese Formen sind für die Lokalisation der
•choreatischen Bewegungsstörung von größter Bedeutung gewesen, auf Einzel¬
heiten ist dabei später noch einzugehen.
2. Sydenhamsche Chorea und Chorea chronica.
Foersters Untersuchungen über die choreatische Bewegungsstörung be¬
ziehen sich auf die Sydenhamsche Chorea; daß diese Erkrankung als Infek¬
tionskrankheit aufzufassen ist, ist allgemein anerkannt, ebenso ihre nahen Be¬
ziehungen zur Endokarditis und zum Gelenkrheumatismus. Hervorgehoben sei
hier aber, daß die Fälle, in denen diese drei Erkrankungsformen alle im Ver¬
laufe des Leidens beobachtet werden, außerordentlich selten sind; häufiger
kommt es vor, daß im Laufe einer Sydenh am sehen Chorea ebenso wie beim
Gelenkrheumatismus Endokarditis auftreten kann; ob es sich hier um den
gleichen Erreger handelt wie beim Gelenkrheumatismus ist fraglich und kli¬
nisch keineswegs sichergestellt. Auch die Annahme, die Chorea beruhe auf
x ) Die Krankheitsbezeichnung »Chorea minor« erscheint mir wenig glücklich; sie setzt
eine »Chorea major« voraus. Als solche wurden von Charcot seinerzeit die hysterischen
Konvulsionen bezeichnet, die mit Chorea natürlich nichts zu tun haben.
Sydenhainsche Chorea und Chorea chronica.
47
einer Embolie endokarditischer Auflagerungen, ist nicht bewiesen, da die Endo¬
karditis sich oft erst im Laufe der choreatischen Erkrankung entwickelt, also
nicht schon den primären Herd für eine embolisch entstandene Chorea bilden
kann.
Im allgemeinen ist die Prognose der Chorea minor günstig, nur in seltenen
Fällen kann das Leiden einmal chronisch werden. Andererseits hat sie die
Eigenschaft zu rezidivieren und gerade das Rezidiv neigt besonders leicht zu
Herzaffektionen.
Es ist allgemein anerkannt, daß die Sy den ha m sehe und chronische Chorea
verschiedene Erkrankungen sind, daß nicht etwa die chronische Chorea nur
eine Abart der Sydenhamschen Chorea bildet, wie esCharcot, F. Jo ly und
Zinn noch annehmen.
Nosologisch wenig streng begrenzt ist die Spätform der Chorea, sie gilt mit
Recht als ein unheilbares Leiden. Gewöhnlich wird diese Form als Chorea
Huntington bezeichnet. Versteht man aber unter dieser letzteren entsprechend
der Definition von Huntington 1872 ein exquisit familiäres, bzw. hereditäres
Leiden, so ist man genötigt, die übrigen Spätformen der Chorea von diesen
als Chorea chronica abzutrennen. Diese rein familiäre Form ist selten. Ob
es notwendig ist, nur mit Rücksicht auf die Heredität eine besondere Chorea¬
form zu unterscheiden, möchte ich bezweifeln, zumal da sich diese Fälle weder
klinisch noch, soweit bis jetzt Untersuchungen darüber vorliegen, pathologisch-
anatomisch voneinander wesentlich unterscheiden. Auch die Verbindung der
Huntingtonschen Chorea mit geistigen Störungen gibt kein entscheidendes
Kriterium für eine strenge Trennung der beiden Formen, da auch bei der
chronischen Chorea ohne Familiarität dieselben Demenzerscheinungen und
affektiven Veränderungen Vorkommen können. Ich würde also vorschlagen,
sämtliche Spätformen als „Chorea chronica progressiva“ zu bezeichnen
und darunter die wenigen Fälle, in denen dieses Leiden familiär auftritt, als
Untergruppe Huntington einzubegreifen.
Abgesehen von den Unterschieden, die durch die zweifellos infektiöse Ätio¬
logie der Chorea Sydenham und durch das Lebensalter der befallenen Indi¬
viduen gegeben sind, lassen sich auch klinisch symptomatologisch einige Unter¬
scheidungsmerkmale zwischen der Sydenhamsche und chronischen Chorea fest¬
stellen, und zwar kommen dabei vor allem zwei Punkte in Betracht, einerseits das
Verhalten der Psyche bei den Erkrankungen und zweitens die Art der Be¬
wegungsstörung selbst. Da die vergleichende Analyse der Bewegungsstörung
uns Veranlassung geben wird, auch auf die symptomatische Chorea einzugehen,
so seien zuerst die psychischen Eigentümlichkeiten der beiden Erkrankungen
besprochen.
Bei der chronischen Chorea, speziell der Chorea Huntington, gehören
psychische Symptome mit zu den Hauptsymptomen der Erkrankung; aber
auch bei der Chorea Sydenham trifft man in den meisten Fällen, wenn
man darauf achtet, mehr oder weniger deutliche psychische Störungen, aller¬
dings ganz anderer Art (Kleist), sie bauen sich im wesentlichen auf gemüt¬
liche Verstimmungen auf. Hinzu kommt noch nach Kleist oft ein Ausfall
von Spontaneität und gewisse Denkstörungen, wie Unaufmerksamkeit, Lang¬
samkeit, Versagen bei komplizierten Leistungen; die Störungen sind keineswegs
48
Chorea.
einheitliche, wie Moebius annahm, der Halluzinationen, Verwirrtheit, als cha¬
rakteristisch ansah; sie gleichen auch nicht irgendeiner umschriebenen Psychose,
sondern bieten oft recht verschiedene Zustandsbilder, die Kleist in Beziehung
zu den Erscheinungen seiner Motilitätspsychosen setzt. Die psychischen Er¬
scheinungen sind jedoch nicht nur der Art, sondern auch dem Grade nach
recht verschieden.
Von anderer Seite werden psychische Störungen beschrieben, die an das
Bild einer Infektionspsychose erinnern, mit Delirium, Verwirrtheit einhergehen
(Kraepelin), also ganz dem exogenen Reaktionstypus entsprechen.
Bei Fällen mit wenig hervortretenden psychischen Störungen läßt sich fast
immer wenigstens eine sehr gesteigerte Empfindlichkeit für gemütliche Ein¬
drücke feststellen; dazu kommt dann noch eine sehr erhebliche Affektlabilität
und zuweilen auch eine affektive Inkontinenz. Es handelt sich aber so gut
wie immer um vorübergehende psychische Störungen. Eigentümlich ist auch
die Erschwerung jeder sprachlichen Äußerung noch in Zeiten, in denen die
Zuckungen das Sprechen nicht mehr behindern.
Dazu im Gegensatz stehen die psychischen Erscheinungen bei der chroni¬
schen Chorea. Hier findet man ausgesprochen fortschreitende Demenzformen
und Charakterveränderungen. Die Demenz ist sicher nicht nur eine scheinbare,
durch die Herabminderung der Aufmerksamkeit vorgetäuschte, wie Kattwinkel
meint, sondern es sind durchaus echte organische Defekte, und zwar auf in¬
tellektuellem, wie auf gemütlichem Gebiet, einhergehend mit Abnahme der
Merkfähigkeit, Verminderung von Auffassung und Aufmerksamkeit. Die Nei¬
gung zu Selbstmord, die Huntington hervorhebt, mag für einige Fälle zu¬
treffen, bei denen namentlich im Anfang noch Einsicht für die Schwere der
Erkrankung und infolgedessen eine Depression besteht, sie gehört aber nicht
zu den wesentlichen Symptomen. Bei der Seelenstörung der chronischen Chorea
in den weiter vorgeschrittenen Stadien ist die Stimmung zuweilen mehr eupho¬
risch, heiter, oft beobachtet man aber bei unbedeutenden Anlässen heftige
Zornausbrüche, wobei sich die Kranken wohl infolge ihrer Hilflosigkeit rasch
in eine große Wut hineinsteigern können. Auffallend ist, daß schon früh die
Orientierung leidet. Von Levin und Naef wird auch noch ein paranoisches
Zustandsbild mit langsamem geistigen Verfall beschrieben. Ich halte auch dies
nicht irgendwie für eine wesentliche Abart der für die Chorea charakteristischen
psychischen Veränderungen, sondern offenbar handelt es sich hier nur um die
infolge oder während der choreatischen Erkrankung sich vollziehende Fortent¬
wicklung einer an sich paranoisch veranlagten Persönlichkeit.
Die fortschreitenden Demenzerscheinungen bei der chronischen Chorea
hängen offenbar zusammen mit der Verbreitung des Krankheitsprozesses über
die ganze Hirnrinde, woran namentlich das Stirnhirn in besonderem Maße be¬
teiligt zu sein pflegt.
Neben den Demenzerscheinungen machen sich bei der chronischen Chorea
häufig Charakterveränderungen bemerkbar, die naturgemäß in den ersten Stadien
der Erkrankung am meisten auffallen. Es handelt sich dabei um eine ge¬
steigerte Reizbarkeit, die Kranken werden vor allem unverträglich, zornig, zank¬
süchtig, unzufrieden, zuweilen verlieren sie auch das Schamgefühl, benehmen
sich ungeniert. Ob diese Besonderheit der psychischen Veränderung lediglich
Sydenhamsche Chorea und Chorea chronica.
49
der hereditären also der eigentlichen Huntington sehen Chorea oder auch
anderen chronischen Formen zukommt, wäre an größerem Material noch
nachzuprüfen.
Handelt eä sich bei der Chorea Sydenham und bei der chronischen Chorea
um die gleiche Bewegungsstörung oder lassen sich Differenzen dabei nach weisen?
Schilder hat vor Kurzem gewisse Unterschiede in den bei beiden Er¬
krankungen auftretenden unwillkürlichen Bewegungen herauszuheben versucht.
Nach seinen Beobachtungen sind die Zuckungen bei der Chorea chronica etwas
langsamer als bei der Chorea minor; ferner soll die Koordinationsstörung, die
Unstetigkeit und die Flüchtigkeit der Innervation bei der chronischen Form
mehr in den Vordergrund treten. In einem Falle sah Schilder außerdem
noch eine Bradyteleokinese ohne diesem Symptom eine besondere Bedeutung
im Krankheitsbilde zunächst einzuräumen.
Stert z macht ebenfalls einen klinischen Unterschied zwischen der Be¬
wegungsstörung der Chorea minor mit ihren schleudernden Spontanbewegungen
und der Chorea chronica, deren Bewegungen einen mehr tonischen, langsamen
Charakter tragen. Stertz führt diese Unterschiede darauf zurück, daß die
chronische Chorea sehr oft ohne Hypotonie einhergeht. Daß derartige Unter¬
schiede vorhanden sind, zeigt die vergleichende Beobachtung der beiden ver¬
schiedenen Choreaformen. Die von Schilder jetzt betonte Beobachtung, daß
die Bewegungen der Chorea chronica langsamer sind, als bei der juvenilen
Form, ist nicht neu. Wir finden diese Angaben in der älteren Literatur schon
verzeichnet u. a. von Facklam 1896. Meiner Ansicht nach liegen diese Unter¬
schiede aber nicht so einfach, denn wir können auch bei manchen Fällen von
Chorea chronica rasch zuckende Bewegungen der Extremitäten finden, die sich
oft in nichts von den Zuckungen der Chorea minor unterscheiden. Nach meiner
Beobachtung sind aber immer die unwillkürlichen Bewegungen in der Gesichts¬
muskulatur verlangsamt und zwar derart, daß sie fast völlig den choreatischen
Charakter entbehren; sehr charakteristisch sind wälzende Bewegungen der Mund¬
muskulatur, begleitet von einem Hin- und Hermahlen mit den Unterkiefern,
ferner ein schraubenartiges langsames Hin- und Herbewegen der Lippen beim
Sprechen. Ähnlich langsame Bewegungen finden wir auch oft in der Musku¬
latur des Stammes und des Halses.
An Hand einer Krankengeschichte will ich versuchen die Symptome der
chronischen Chorea zu schildern:
Fall 23. Frau Pauline Sch. (Gehlsheim.)
Vater geisteskrank — keine choreatischen Erkrankungen in der Familie. Patientin
war früher gesund, erst im 56. Lebensjahre begann das Leiden mit Zuckungen und all¬
mählich zunehmender Demenz.
Befund: Mittelgroß, zart gebaut, mäßig ernährt, innere Organe gesund, Blutdruck
normal.
Pupillen, Augenhintergrund in Ordnung, Reflexe von normaler Starke, beiderseits
gleich, Sensibilität ungestört; jedoch ist es unmöglich, feinere Untersuchungen auf Druck¬
empfindung, Lagegefühl usw. auszuführen, da die Kranke zu dement ist.
Wassermann: In Blut und Liquor negativ.
In der Ruhe treten zahlreiche unwillkürliche spontane Bewegungen auf, meist an
den Extremitäten, besonders an Händen und Fingern lokalisiert. Die Bewegungen er¬
folgen rasch, die Glieder verharren in der Endstellung zuweilen für kurze Zeit, um dann
wieder rasch abzusinken. Zuweilen treten mehrere Bewegungen gleichzeitig an verschie-
Ilostroem, Symptomenkömplex. 4
50
Chorea.
denen und recht entfernten Teilen des Körpers auf. Die Bewegungen im Fazialisgebiete
erfolgen wesentlich langsamer. Die Mundmuskulatur macht ausgesprochen wurmartige
Bewegungen, die Lippen werden vorgestülpt, dann wieder eingezogen und zusammen*
gepreßt. Gleichzeitig windet sich der Kopf in langsam drehenden Bewegungen nach der
Seite, das Kinn wird, namentlich beim Versuch zu sprechen, in die Höhe gestreckt und
zuweilen macht auch der Oberkörper schraubenartige Drehungen. Die Sprache ist sehr
langsam, klingt hohl, etwas nasal, oft kreischend, beim Sprechen beobachtet man schnal¬
zende, ab und zu glucksende Laute. Das Sprechen ist von zahlreichen Mitbewegungen
des Kopfes und der Extremitäten begleitet, es klingt kloüig, die Lautbildung ist durch
dazwischen auftretende unwillkürliche Bewegungen gestört. Bei jeder Erregung nehmen
die Bewegungen an Zahl und Intensität zu. Es kommt zu zahlreichen Mitbewegungen
sowohl auf der gleichen wie auf der gegenüberliegenden Seite. Prüfung auf Adiadoeho-
kinese ist unmöglich, weil immer unwillkürliche Bewegungen dazwischen kommen. Aktive
Bewegungen flüchtig und unstet. Bei der Aufforderung fest die Hand zu drücken, preßt
die Patientin die Hand drei- bis viermal unmittelbar hintereinander, dann läßt die Inner¬
vation rasch nach und schließlich versagt sie ganz.
Hochgradige Hypotonie der Rumpf-, Arm- und Rückenmuskeln, sowie der Extremi¬
täten. Bei Zielbewegungen deutliches Ausfahren, Gang unsicher, schwankend, breitbeinig,
beim Versuch sich aus dem Liegen aufzurichten, fliegen die Beine in die Höhe (»Flexion
combine«). Vestibularapparate in Ordnung.
Im Laufe des Krankenhausaufenthaltes nimmt die Hypotonie in hohem Maße zu.
Der Kopf fällt kraftlos hin und her, der Oberkörper sinkt nach vorn zusammen, die
Oberschenkel liegen nach außen rotiert, so daß der äußere Fußrand die Unterlage berührt.
Auch die Ataxie steigert sich, so daß das Gehen ganz unmöglich wird; merklich zuneh¬
mende Demenz, zeitlich ist Patientin völlig unorientiert, Aufmerksamkeit ist sehr herab¬
gesetzt, die Kranke ermüdet leicht, meist euphorische Stimmung, heiter, jedoch sehr
affektlabil, zuweilen zornig erregt, zänkisch, gerät bei geringer Veranlassung in eine hilf¬
lose Wut. Die charakteristischen Bewegungen an den Extremitäten behalten im allge¬
meinen einen rasch zuckenden Charakter bei, nur vereinzelt werden langsam drehende
Bewegungen neben den raschen an der rechten Hand wahrgenommen; die Gesichts¬
muskulatur zeigt nach wie vor in den unwillkürlichen Bewegungen eine ausgesprochen
langsame Beschaffenheit.
Tod an interkurrenter Pneumonie. Bei der Sektion findet sich makroskopisch eine
allgemeine Atrophie des Gehirns einschließlich der zentralen Ganglien, die mikroskopi¬
sche Untersuchung steht noch aus.
Zusammenfassung.
Chronische Chorea ohne Heredität mit rasch zunehmender Demenz. Die
Bewegungen der Extremitäten zeigen deutlich choreatischen Charakter, sowohl
was Verteilung, Schnelligkeit und Zuckungen von schleudernder Beschaffenheit
anlangt, als auch hinsichtlich der Begleitsymptome Ataxie, Hypotonie und
Mitbewegungen. Im Gesicht und später an der Muskulatur des Stammes, sowie
vereinzelt an den oberen Extremitäten sind jedoch die Bewegungen von lang¬
samerem Charakter.
Fall 24. Frau Ne. (Leipzig.) 65 Jahre.
Schwester hat das gleiche Leiden in einem ähnlichen Stadium. Erkrankung begann
vor etwa zwei Jahren mit Zuckungen, Taumeln und Wackeln, nähere Angaben unmöglich.
Befund: Herabgesetzter Ernährungszustand, blasse Gesichtsfarbe. Innere Organe o. B.
Mund zahnlos. Neurol: Pupillen i. O. Augenbewegungen frei, Hirnnerven in Ordnung.
Reflexe: Hautreflexe Patellarsehnenreflexe lebhaft. Achillessehnenreflexe -J-. Kein
Babinski. Armreflexe -j-. Keine Sensibilitätsstörung. Lagegefühl intakt. Motilität:
Starke Bewegungsunruhe des ganzen Körpers, die sich beim Anreden noch steigert: Pat.
ist sehr schwer dazu zu veranlassen, sich ruhig ins Bett zu legen; abgesehen von den
unwillkürlich auftretenden Bewegungen äußert Pat. lebhaften Bewegungsdrang, spricht
Sydenhamsche Chorea und Chorea chronica.
51
viel, gestikuliert dabei reichlich. In Bettruhe werden vor allem die Streck- und Beuge¬
muskeln der Finger einzeln und zusammen von unwillkürlichen Innervationen befallen,
dazwischen auch vereinzelte Kontraktionen der Interossei. Ebenso häufig beobachtet
man Beuge- und Streckbewegungen der Zehen. Dorsalflexionen der Füße, seltener werden
die Streckbewegungen der Zehen von Spreizen derselben begleitet. Die Zuckungen Bind
nicht gerade blitzartig aber auch keineswegs langsam, in ihrem Tempo jedenfalls rascher
als es Willkürbewegungen zu sein pflegen. Die sehr viel seltener auftretenden unwill¬
kürlichen Bewegungen in mehr proximal gelegenen Gliedabschnitten sind etwas langsamer,
wohl entsprechend der größeren Arbeitsleistung, sie erscheinen aber zum Teil dadurch
noch langsamer, weil die Bewegung auf ihrem Höhepunkt einen Augenblick verharrt, ehe
sie wieder absinkt.
Die Bewegungen finden nicht vereinzelt statt, sondern im gleichen Augenblick zuckt
cs an mehreren räumlich recht weit auseinander gelegenen Teilen des Körpers.
In fast unaufhörlicher Bewegung ist die Gesichtsmuskulatur, namentlich die Lippen.
Diese werden meist stark eingezogen und aufeinander gepreßt, dann werden die Lippen
vorgestülpt und zurückgewälzt, zuweilen der Mund langsam zur Seite verzogen. Der
Unterkiefer macht ebenfalls langsam mahlende Bewegung, das Kinn wird vorgestreckt.
Die Zunge kann nur für einen kurzen Augenblick vorgestülpt werden, sie wird nie ruhig
gehalten, sondern auch im Munde herumgewälzt. Die Sprache ist nicht artikulatorisch
gestört, sie klingt hohl, schrill. Die Worte werden langsam ausgesprochen, schwere Worte
sind wegen der immer wieder dazwischen kommenden Mundbewegungen nur mühsam
auszusprechen und kaum zu verstehen.
Zum Sitzen aufgefordert, richtet sich die Pat. ohne Schwierigkeit auf, neigt dabei
Oberkörper und Kopf vornüber. Neben den nun etwas häufiger werdenden oben be¬
schriebenen Bewegungen beobachtet man jetzt eine ziemlich lebhafte Beteiligung des
Rumpfes und der Schultern an den unwillkürlichen Bewegungen. Der Oberkörper pen¬
delt in sagittaler Richtung etwas hin und her, die Schultern zucken zuweilen. Der Kopf
wird bald nach rechts, bald nach links gedreht.
Gang: kleinschrittig, breitbeinig. Beim Umdrehen leichtes Schwanken. Beide Arme
werden nach vorn etwas abgespreizt, sie werden nicht mitbewegt, sondern gespannt
gehalten. Bei Willkürbewegungen jeder Art werden die unwillkürlichen Bewegungen nur
wenig vermehrt, durch Aufregung werden sie sowohl an Zahl wie auch in ihrem Ausmaß
gesteigert. Einfache Zielbewegungen wie Finger, Nasen und Kniehackenversuch lassen
keine besondere Ataxie erkennen, dagegen besteht eine Koordinationserschwerung bei der
Ausführung feinerer Bewegungen, wie Knöpfen, Sicherheitsnadelöffnen usw. Diese Be¬
wegungen erscheinen zum Teil vertrakt, massiv, plump. Die grobe Kraft bei aktiven
Innervationen ist gut, jedoch von geringer Ausdauer, nur der Händedruck kann, nach¬
dem Pat. mehrmals dazu angesetzt hat, längere Zeit ununterbrochen ausgeübt werden.
Der Gang ist taumelnd, breitbeinig, deutlich ataktiisch.
Bewegungsfolgen wie Beugen und Strecken der Finger o. B. dagegen bei fortgesetzter
Pro- und Supination rasches Erlahmen — Andeutung von Adiadochokinese.
An den Beinen und Armen deutliche Hypotonie, auch die Nacken- und Halsmuskeln
sind schlaff. Sie unterstützt mit der linken Hand häufig den Hinterkopf, als ob sie ihn
vor einem Übersinken nach hinten bewahren wolle.
Stewart Holmessches Symptom negativ.
Mitbewegungen sowohl homo- wie kontralaterale selten, auch durch starken Kraft¬
aufwand kaum auslösbar. Die physiologischen Mitbewegungen beim Gehen z. B. fehlen.
Nur beim Sprechen kommt es zu Mitbew’egungen der Mundmuskulatur.
Psychisch: Orientierung leidlich erhalten, Merkfähigkeit ohne wesentliche Störung.
Schulkenntnisse dem Bildungsgrad entsprechend. Die Urteilsfähigkeit geprüft mittels
Bildbeschreibung, Sprichworterklärung, Kombinationsfragen usw. erweist sich als recht
herabgesetzt. In ihrem Affektleben ist sie sehr labil, weint leicht. Erregungszustände
oder gesteigerte Reizbarkeit sind bis jetzt noch nicht beobachtet.
Zusammenfassung.
Bei einer 54jährigen Frau entwickelt sich ziemlich rasch das Bild einer
Chorea, gekennzeichnet durch zahlreiche unwillkürliche Bewegungen nament-
4*
52
Chorea.
lieh an den distalen Extremitätenenden. Zahlreiche grimassierende Bewegungen
im Gesicht, meist von langsameren Ablauf als an den Extremitäten. Deut¬
liche Hypotonie der Extremitäten, geringe Ataxie, keine Lähmungen, Gang
etwas unsicher, Sprache hohl klingend ohne stärkere artikulatorische Ver-
waschenheit.
Psychisch affektlabil, urteilsschwach.
Da die Schwester das gleiche Leiden hat, so handelt es sich hier wohl um
die familiäre Form.
Wir finden bei diesen Fällen die Beobachtungen, die Schilder und Stertz
hinsichtlich des langsamen Charakters der Bewegungen bei der Chorea chronica
gemacht haben, für das Gebiet der Gesichtsmuskulatur bestätigt, während die
unwillkürlichen Bewegungen der Extremitäten sich meist rasch und zuckungsartig
abspielen. Frühere Beobachtungen, die mir nur in kurzen Notizen zur Ver¬
fügung stehen, zeigen zum Teil das gleiche Bild, namentlich fielen mir immer
die langsamen, drehenden Bewegungen der Mundmuskulatur, das Wälzen der
Lippen gegeneinander und die dadurch bedingte Sprachstörung auf, deren Lang¬
samkeit zum Bilde der rasch ablaufenden choreatischen Bewegungen nicht paßt.
In einem Falle von Kleist und Kieselbach ist auch ein relativ langsamer
Ablauf sämtlicher choreatischer Spontanbewegungen verzeichnet. (Nicht blitz¬
artig!) Hier ist auch keine Schlaffheit der Muskeln nachweisbar. Offenbar sind
ähnliche langsam ablaufende Bewegungen gemeint, wenn in einem Falle von
chronischer Chorea geschrieben wird: »die Zuckungen sind choreatisch mit Über¬
gang in Athetose« (Hammerstein) oder »sie sind unregelmäßig erfolgende
Stöße in raschem Wechsel von schleuderndem Charakter, die rechts eine spastische
Komponente haben.«
Die übrigen von Schilder angegebenen Unterschiede zwischen dem Sym-
ptomenbild der chronischen Chorea und der Sydenham sehen kann ich nicht
bestätigen; namentlich das Unstete, Flüchtige der Innervation, sowie das stärkere
Hervortreten der Koordinationsstörung ist nach meiner Erfahrung ebenso bei
der Chorea Sydenham zu beobachten und lediglich abhängig von der Schwere
der Choreaerkrankung.
Ich halte aber den langsamen Ablauf der unwillkürlichen Bewegungen bei
der chronischen Chorea, den ich bei meinen Fällen namentlich an der Gesichts¬
muskulatur beobachten konnte, der aber offenbar auch nicht selten die un¬
willkürlichen Bewegungen der Extremitäten charakterisiert, für so wesentlich,
daß mir die Frage berechtigt erscheint, ob die Bewegungsstörung unter diesen
Umständen überhaupt noch die Bezeichnung einer echten Chorea verdient, bei
der ja gerade das blitzartige der Zuckungen ein wichtiges Moment bildet.
Vom klinischen Standpunkt aus ist im übrigen zweifellos eine große
Ähnlichkeit mit den von Foerster analysierten Symptomen der Chorea
minor vorhanden; es fragt sich daher, können diese Unterschiede nicht etwa
sekundär bedingt sein durch besondere Nebeneigenschaften der chronischen
Chorea. Stertz weist darauf hin, daß die Wirkung der choreatischen Impulse
verschieden ausfallen muß, je nach dem Widerstand, den sie finden; d. h. an¬
gewendet auf die in Rede stehenden Symptome : je nach dem Grade der Hypotonie.
In dieser Beziehung ist vielleicht der vorher beschriebene Fall chronischer
Chorea lehrreich; hier zeigten die Zuckungen an den Extremitäten nicht den
Sydenhamsche Chorea und Chorea chronica.
53
langsamen Charakter, sondern sie erfolgten blitzartig und rasch, es bestand
aber auch eine beträchtliche Hypotonie, die bei anderen Fällen chronischer
Chorea offenbar vermißt wird. (Stertz usw.) Ist nun das Fehlen der Hypotonie
an den Extremitäten schuld an der Veränderung der choreatischen Bewegung,
so wäre zu erwägen, ob man sich die Verlangsamung der unwillkürlichen Ge¬
sichtsbewegungen bei der chronischen Chorea nicht etwa durch eine gleichzeitig
vorhandene Erschwerung der mimischen Bewegungen erklären kann, die ihrer¬
seits eine anatomische Ursache haben müßte. Zu denken gibt in dieser Hin¬
sicht der Befund von C. und 0. Vogt, der bei progressiver Chorea bilateralis
eines Status fibrosus, d. h. eine elektive Nekrose der Ganglienzellen des Striatum
bei weitgehendem Erhaltensein der Markfasern gefunden hat. Wir wissen nun von
anderen Erkrankungen, daß Schädigungen des Striatum unter Umständen eine
Hypertonie hervorrufen können, und daß dadurch oft eine Erschwerung, Ver¬
armung und Verlangsamung der Bewegungen, darunter auch der mimischen, er¬
zeugt wird; sollte die so entstandene Hypertonie nicht geeignet sein, den Ablauf
der choreatischen Spontanbewegungen zu beeinflussen? Es ist ohne weiteres einzu¬
sehen, daß eine choreatische Zuckung, die sich in einem rigiden, schwer ansprech¬
baren Muskel abspielt, langsamer ausfallen muß, als wenn sie in einem Muskel von
normalem oder subnormalem Tonus vor sich geht. Sie muß ihren Zuckungs¬
charakter verlieren, denn nicht nur die Innervation sondern auch die Ent¬
spannung des befallenen Muskels erfolgt langsamer, träger. Hierzu passen auch
sehr gut die anatomischen Befunde eines Falles von Huntington’scher Chorea
durch Kleist und Kieselbach, in dem u. a. Putamen und Schwanzkern von
den krankhaften Veränderungen befallen waren und zwar waren hier diese
Veränderungen stärker als im Globus pallidus. Ähnliche Ergebnisse hatten
die anatomischen Untersuchungen einschlägiger Fälle von Alzheimer, Jel-
gersma, Marie und L’Hermitte, Pfeiffer, Kalthoff und Ranke. In all
diesen Arbeiten sind die verschiedenen Teile des Linsenkernes jedoch nicht
immer auseinander gehalten.
Meiner Ansicht nach sind die im Linsenkern lokalisierten krankhaften Ver¬
änderungen nicht unbedingt für die Entstehung der charakteristischen
Spontanbewegungen verantwortlich zu machen, sondern dafür, daß die chorea¬
tische Bewegung in ihrer Art und Weise modifiziert, d. h. in ihrem
Zuckungscharakter verlangsamt wird.
Für die Entstehung der choreatischen Bewegung selbst würden dagegen
anders lokalisierte, in den daraufhin untersuchten Fällen oft gefundene ana¬
tomische Veränderungen in Betracht zu ziehen sein, und zwar kommen dabei
in erster Linie Herde in Frage, die der Bahn: Kleinhirn—Bindearm—roter
Kern angehören. Bei den Vogtschen Fällen fehlen Veränderungen in den
Bindearmen, dafür fand sich regelmäßig eine Affektion (Verkleinerung) des
Corpus Luys, ein Befund der angesichts eines Falles von choreatischer Be¬
wegungsstörung bei einer Blutung im Corpus Luys (Fischer) vielleicht von
Bedeutung für die Chorea sein könnte. Wie wir aus anderen Fällen sympto¬
matischer Chorea wissen 1 ), sind Herde im Bindearm System bei Chorea ge-
*) Um diese Frage hier besprechen zu können, müssen einige Resultate aus dem
Abschnitt über symptomatische Chorea hier vorweggenommen werden.
54
Chorea.
fanden worden, und daher besteht die Möglichkeit, auch bei der chronischen
Chorea die eigentlichen choreatischen Bewegungen auf Veränderungen in diesen
Gebieten zu beziehen; dagegen wären die Veränderungen im Bereiche des
Corpus striatum (Putamen + Nucleus caudatus) nur für die Modifikation der
choreatischen Bewegungen verantwortlich zu machen.
Pierre Marie und L’Hermitte erkennen die Bindearmtheorie ebenso
wie C. und O. Vogt nicht an, auf Grund ihrer anatomischen Untersuchungen
von 4 Fällen chronischer Chorea; sie suchen die charakteristischen Verände¬
rungen dieser Erkrankung in einer Kombination von Degenerationen in der
Rinde und im Corpus striatum. Im besonderen führen sie die choreatische
Bewegungsstörung auf die Striatumläsion zurück, sich hier Kölpin, Als¬
heim er und Kleist anschließend. (In zwei Fällen waren übrigens auch
Kleinhirn Veränderungen vorhanden, wenn auch geringen Grades; ob bei den
für den 3. Fall beschriebenen Thalamusveränderungen Stellen betroffen sind,
die ähnlich wie bei Lewandowsky und Stadelmann als Endigungen der
Bindearmbahn angesehen werden könnten, geht aus der Arbeit nicht hervor.)
Die Verfasser suchen ihre Ansicht zu stützen durch Vergleiche mit der
Wilsonschen Krankheit und dem Vogt sehen Status marmoratus. Dagegen
ist zu bemerken, daß Wilson ausdrücklich betont, daß bei seinen Fällen von
Linsenkernerkrankungen nie choreatische und athetotische Bewegungen vor¬
gekommen seien. Bei dem Vogt sehen Status marmoratus sind allerdings
athetotische Bewegungen beobachtet worden; dies erscheint mir jedoch keines¬
wegs für alle Fälle gesichert (s. oben). Pierre Marie und L’Hermitte
machen sich selbst den Ein wand, daß bei dem Vogt sehen Falle nur atheto¬
tische Bewegungen beobachtet sind, erledigen ihn aber damit, daß sie keinen
Gegensatz zwischen der Bewegungsstörung der Chorea und der Athetose an¬
nehmen. Sie betonen dabei, daß viele Kliniker nicht imstande seien, die
Bewegungen der Chorea Huntington von den athetotischen zu unter¬
scheiden, weil die Bewegungen in bezug auf ihre Langsamkeit und ihre
Amplitude den athetotischen ähnlich seien. Man sieht auch hier, daß die
Langsamkeit choreatischer Bewegungen der chronischen Chorea zu Verwechs¬
lungen mit der Athetose geführt hat. Ich halte es aber nicht für richtig,
aus dem Umstand, daß bei der chronischen Chorea die Bewegungsstörung in
der Tat durch die Langsamkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Athetose
bekommt, schließen zu wollen, choreatische und athetotische Bewegungen
seien nicht zu unterscheiden. Namentlich darf man nicht, zum Beweis für
eine derartige Annahme, Formen von Chorea heranziehen, bei denen die
choreatische Bewegungsstörung nicht rein und nicht ganz charakteristisch ist.
Die von Pierre Marie und L’Hermitte hervorgehobenen Befunde stehen
jedenfalls nicht im Gegensatz zu meiner Erklärung, daß es sich bei der
chronischen Chorea um modifizierte choreatische Bewegungen handelt, die
ihren ursprünglichen Charakter unter dem Einfluß Hypertonie verursachender
Schädigungen des Striatums eingebüßt haben.
Es wird bei künftigen, klinischen und anatomischen Untersuchungen dar¬
auf zu achten sein, ob einer solchen Modifikation der choreatischen Bewe¬
gung bei der chronischen Chorea auch Unterschiede anatomischer Befunde
zugrunde* liegen. Insbesondere müßte man dann erwarten, daß in Fällen
Symptomatische Choreaformen.
55
chronischer Chorea mit raschen Zuckungen an den Extremitäten und lang¬
samem Ablauf der unwillkürlichen Bewegungen im mimischen Gebiet, die
Teile des Striatums in erster Linie befallen sind, welche mit den motorischen
Funktionen dieses letzteren Gebietes zu tun haben, also die oralen Partien
<C. und 0. Vogt).
Man wird bei genauer klinischer Untersuchung die Bewegungen der
chronischen Chorea nicht immer einheitlich finden. So gibt es Fälle mit
ganz langsamen Spontanbewegungen, bei denen die Hypotonie nicht in die
Erscheinung tritt, Fälle, bei denen nur die unwillkürlichen Bewegungen der
Gesichtsmuskulatur langsameren Charakter tragen, während die Körpermus¬
kulatur rasche Zuckungen aufweist und ausgesprochen hypotonisch ist, auch
gibt es Fälle, die neben den raschen Gliederzuckungen langsam schraubende
Bewegungen im Gebiet der Stammmuskeln zeigen. Nach meiner Ansicht
sind in diesen Fällen Erkrankungen im Gebiet des Striatum eventuell auch im
Pallidum zu erwarten, die für sich allein Rigor hervorrufen würden. Bei der
gleichzeitig vorhandenen Chorea kommt der Rigor bzw. die Bewegungs¬
erschwerung aber nicht voll zur Geltung, sondern ist nur imstande, den Ab¬
lauf der choreatischen Bewegungen zu beeinflussen, d. h. sie langsamer zu
gestalten und gleichzeitig die eigentlich zu erwartende choreatische Hypotonie
zu kompensieren.
Auf Grund dieser Betrachtung komme ich zu dem Schluß, daß sich die
Bewegung der chronischen Chorea von der echten choreatischen Bewegung
nicht in ihrem Wesen unterscheidet, sondern nur durch die Beimengung eines
offenbar — striären — Symptoms ein verändertes Aussehen erhält; diese Ver¬
änderungen sind aber rein sekundärer Natur und treffen nicht das Wesen
der choreatischen Störung 1 ).
Ähnliche »unreine« choreatische Bewegungen konnte ich bei Enzephalitis¬
fällen beschreiben; auch hier handelt es sich pathologisch-anatomisch wahr¬
scheinlich um Herde in verschiedenen Himteilen, deren jeweilige Ausfalls¬
erscheinungen sich gegenseitig beeinflußten. Inwieweit man derartige Misch¬
formen noch als choreatische bezeichnen darf, muß von Fall zu Fall ent¬
schieden werden.
3. Symptomatische Choreaformen.
Wenn die choreatische Bewegungsstörung nicht das Wesen einer Erkran¬
kung ausmacht, wie z. B. bei der Chorea Sydenham, sondern als Symptom
andersartiger Erkrankungen auftritt, so spricht man- v©a »symptomatischer
Chorea. Wir haben hier zu unterscheiden, die.:bei * groben HirnhVidbn auf¬
tretenden choreatischen Bewegungsstörungen; die Chorea als »Herdsymntom«
und die bei mehr diffusen Hirnerkrankungen (Enzephalitis usw.) beobachteten*
Fälle choreatischer Bewegungsstörung. » * v V
Bedauerlicherweise sind ein großer Teil dt>r als symptomatische Chorea
beschriebenen Erkrankungen nicht oder nur mit J^inküiränkungen verwendbar,
weil sie nicht immer genügend oder mehrmals überhaupt iweht vcm def.Athe-
x ) Ob derartige sekundäre Veränderungen, wie sie die Verlangsamung der ursprünglich
rasch ablaufeneen choreatischen Spontanbewegung bedeutet, auch auf andere Weise zu¬
stande kommen könne, bleibe dahingestellt.
50
Chorea.
tose unterschieden sind, ein Mangel, auf den Bonhoeffer schon 1897 hin¬
wies und der leider alle Theorien, die sich auf Fälle der Literatur stützen,
in ihren Resultaten beeinflussen muß.
Die bei groben Hirnherden beobachteten choreatischen Erkrankungen
lassen hinsichtlich ihrer Lokalisation zwei Untergruppen unterscheiden: Bei
der ersten handelt es sich um Herde im Linsenkern und im Thalamus opticus,
und bei der zweiten um Läsionen im engeren Bereich der Bahn Kleinhirn —
Bindearm—roter Kern.
I. Untergruppe:
Ein Fall von Anton zeigte eine symmetrische Erkrankung des Putamens
beiderseits, die Linsenkernschlinge links war stark reduziert. Klinisch hatte
eine allgemeine Chorea bestanden, die besonders bei Bewegungsversuchen in
die Erscheinung trat.
Ich glaube, daß die Diagnose »Chorea« nach dem heutigen Stand nicht
mit Sicherheit aufrecht erhalten werden kann: Nicht choreatisch ist es, wenn
Anton von »spasmodischen« Bewegungen spricht; er gibt selbst zu, daß
neben choreatischen auch athetotische Bewegungen vorhanden gewesen sind.
Es ist meines Erachtens leicht möglich, daß dieser Fall überhaupt als eine
Athetose aufzufassen ist, zumal da die Erkrankung schon im 9. Lebens¬
monat begonnen hat. Ganz besonders spricht dafür das Grimassieren, die
Überstreckbarkeit der Gelenke und die zahlreichen Mitbewegu ngen.
Der Fall besitzt dabei Ähnlichkeit mit den von Vogt beschriebenen Erkran¬
kungen. Über das Verhalten der Reflexe ist in der Krankengeschichte nichts
Näheres mitgeteilt.
Bei zwei Fällen posthemiplegischer Chorea von Greif fand man ver¬
schiedene Herde im Gehirn. Im ersten Falle im Kleinhirn an der Basis
des Occipitallappens am Thalamus opticus (einhergehend mit Schmerzen). Im
zweiten Falle wurden Herde in der Hirnrinde und in der Brücke festgestellt.
Es läßt sich in diesem Falle schwer sagen, was die Ursache für die chorea¬
tische Bewegung gewesen ist.
Bei Fällen von Gowers und Raymond zeigte Bonhoeffer, daß hier
der Sehhügel nicht allein ergriffen war, sondern das immer die Rotekern¬
strahlung mit betroffen zu sein schien.
Ein Fall von Chorea paralytica Kastans läßt sich für die Lokalisation
der Chorea nicht verwenden, da außer einem Erweichungsherde, der die
innere Kapsel* -den* Linsenkern und die graue Substanz des Hypothalamus
einnabcn** k noch' diffuse renzephahtische Veränderungen vorhanden waren,
/^ßpflerte Herde im Thalamus^hei Chorea oder Hemichorea sind nur wenige
\bekannt; jedoch .erwähnt; Oppenheim in seinem Lehrbuch einen Fall von
Solitartulbprier-tles Thalamus mit gekreuzter Hemichorea, einen Fall bilateraler
Chorea bei einem großen Thajamustumor rechts, sowie einen linksseitigen
Thälaipustumor jgijt g rechtsseitigen Pyramidensymptomen und rechtsseitiger
Hetaidyutear, '‘pg/U.ppejiheiin aber in diesem Zusammenhang Hemichorea
und Hemiafbetöse gemeinsam bespricht, geht nicht einw r andfrei aus den
Fällen hervor, ob es sich um Chorea oder Athetose gehandelt hat (Vgl. auch
später die Bemerkung über das Thalamussyndrom).
Symptomatische Choreaformen.
57
In einem Falle von Le wando wsky und Stadel man n wurde bei klinisch
einwandfreier Chorea ein Herd in der lateralen Kernmasse des Thalamus ge¬
funden, einer Stelle, die von den Verfassern als Endigung der Bindearm-Bahn
angenommen wird. Außerdem ist aber an dem Herde noch beteiligt die
vom roten Kern ausgehende Haubenstrahlung und ein nicht unerheblicher
Teil des hinteren Schenkels der inneren Kapsel. Lewandowsky ventiliert
die Frage, ob nicht eine hier zur Rinde ziehende Fortsetzung der Bindearm-
Thalamusbahn etwas mit der Chorea zu tun haben könne. Er berichtet
weiter über einige Fälle aus der französischen Literatur, die mir im Original
nicht zur Verfügung stehen, in welchen bei einer apoplektisehen Chorea Herde
im Thalamus gefunden worden waren. In einem Falle war auch ein Teil der inneren
Kapsel mit betroffen, und Lewandowsky nimmt an, daß reine Thalamus¬
herde nur insofern Chorea hervorrufen können, als sich dabei um Schädi¬
gungen in der Endigung der Bindearmbahn handelt.
Ein Fall von Fischer geht einher mit linksseitigem heftigem Hemiballismus,
ein Erkrankung, die der Verfasser als eine Choreaform auffaßt. Nach 4 Tagen
kam der Erkrankte zu Tode, und es fand sich neben alten oberflächlichen
Rindendefekten an Stirn- und Kleinhirn, eine kleine Blutung, die das Corpus
subthalamicum rechts umfaßte. Eine ganz ähnliche Erkrankung beschreibt
Economo. Hier handelt es sich um eine apoplektiform aufgetretene links¬
seitige Hemiparese mit Hemichorea. Autoptisch fand sich eine Blutung, welche
die Substantia nigra und das Corpus subthalamicum zerstört hatte. Ebenfalls
affiziert war dabei noch der ventrale Thalamuskern. Fischer betrachtet diese
beiden Fälle als Bestätigung der Bonhoeffersehen Bindearmtheorie, obwohl
das Corpus subthalamicum nicht eigentlich zum Bindearmsystem gehört. Immer¬
hin sind nahe örtliche Beziehungen zwischen beiden Gebilden gegeben, über
Beziehungen des Corpus Luys zum Bindearmsystem ist meines Wissens bis
jetzt nichts sicheres bekannt.
II. Untergruppe.
Die letzten Fällen weisen bereits Beziehungen auf den zu dem Bindearmsystem
und fallen somit in die II. Untergruppe symptomatischer Chorea mit Herden
im Bindearmsystem. Hierher gehören vor allem die Fälle von Bonhoeffer und
Kleist-Bremme. Bei beiden handelt es sich um klinisch einwandfreie Fälle
von choreatischer Bewegungsstörung. Es fanden sich bei der Sektion Karzinom¬
metastasen an der Bindearmkreuzung bzw. im Bereich des einen Bindearmes.
Erwähnt sei gleich, daß in dem Fall von Bremme auch das linksseitige Corpus
subthalamicum zerstört war, ohne daß Bremme ihr für die Erklärung der
Chorea eine Bedeutung zukommen läßt.
Der Einwand, daß Tumoren wegen der Verdrängungserscheinung sich zur
exakten Feststellung von Lokalisationen wenig eignen, trifft für den Bon¬
hoeff er sehen Fall in verhältnismäßig geringem Maße zu, da der Tumor sehr
klein war und nicht selbst die Todesursache darstellte. Auch war es günstig,
daß der Hauptherd ganz im Gebiet der Bindearme lag und nur an einer Stelle
die Substantia nigra mit einbezog. Dagegen handelt es sich nicht nur um einen
Herd, sondern um mehrere. Von den im Bereich der Bindearmbahn liegenden
Herden berührte einer außerdem noch die Schleife, ferner fand sich einer im Stirnhirn.
58
Chorea.
In dem B rem ineschen Fall liegen die Verhältnisse weniger günstig.
Erstens handelte es sich um einen weit größeren Tumor bzw. Tumormetastase,
der ebenfalls nicht isoliert geblieben war, sondern es fand sich noch im Corpus
subthalamicum und im Forelschen Haubenfelde H 2 eine erbsengroße Metastase,
die auch Fasern der inneren Kapsel und einen Teil Linsenkernschlinge mit
zerstörte; außerdem war auch ein Teil der Substantia nigra und eine nicht
unerhebliche Partie der Substantia reticularis rechts mit beteiligt. Ferner war
der rechte Fasciculus longitudinalis posterior in der Vierhiigelgegend nach links
und oben verdrängt. Endlich fand sich noch eine Metastase im Kleinhirnmark
selbst. Ein großer Teil dieser Metastasen weist allerdings Beziehungen zum
Bindearmsystem auf, nur läßt sich keine exakte Lokaldiagnose anstellen, immerhin
fallen gerade diese beiden Fälle für eine eventuelle Lokalisation der choreatischen
Bewegungsstörung mit am meisten ins Gewicht.
Ein Fall von Muratow (Zysten im Kleinhirn mit sekundärer Degeneration
des Bindearms und des roten Kerns) scheint mir klinisch keine einwandfreie
Chorea dargeboten zu haben.
Weniger beweisend für die Bon hoe ff er sehe Bindearmtheorie ist der Fall
von Halban und Infeld, weil auch hier Athetose und Chorea nicht einwand¬
frei unterschieden sind. Bei der Sektion fand sich eine Zerstörung des roten
Kerns mit der ihn umgebenden Faserung.
Marie und Guillon fanden ebenfalls einen Herd in der Gegend des rechten
roten Kernes, der linke Bindearm und das rechte hintere Längsbündel waren
atrophisch; ebenso die rechte zentrale Haubenbahn und der linke Nucleus
dentatus. Die Substantia reticularis fehlte fast völlig. Wegen der multiplen
Herde bildet dieser Fall keinen Beweis für die Bindearmtheorie; jedenfalls
spricht er aber nicht gegen sie, da eine starke Schädigung gerade auch in
diesem Gebiet vorhanden war.
Überblicken wir die hier kurz erwähnten Fälle von Chorea bei groben Hirn¬
herden, so scheinen mir die Fälle von Bonhoeffer, Bremme, sowie der von
Lew f andowsky und Stadelmann, klinisch einwandfreie Choreaformen zu sein.
Dementsprechend haben auch die hier erhobenen anatomischen Befunde am
meisten Anspruch darauf eventuell als anatomische Grundlage choreatischer
Bewegungen angesehen zu werden. Leider sind sie nicht so einheitlich, wie
man es wohl wünschte. Immerhin lassen sich Beziehungen zum Bindearm¬
system auch bei dem Le wand owsky sehen Falle nach weisen, so daß auch dieser
Fall zum mindesten nicht gegen die Bindearmthorie spricht.
Ferner gibt es Fälle, wo nicht ein Herd im Bindearmsystem selbst, sondern
einer in seiner Umgebung bei choreatischen Bewegungsstörungen gefunden worden
ist. Hierher gehören vielleicht die bei Untergruppe I erwähnten Beobachtungen
von Fischer und Economo.
Einwandfreie Fälle symptomatischer Chorea, bei denen choreatische Be¬
wegungen auf Herde im Striatum allein zurückzuführen sind, habe ich nicht
finden können. Die bei der chronisch-progressiven Chorea vorkommenden
Striatumherde sind fast nie die einzigen nachgewdesenen anatomischen
Veränderungen und brauchen daher auch nicht allein, oder unter Umständen
überhaupt nicht für die Entstehung der choreatischen Bewegungsstörungen
in Anspruch genommen zu werden, wohl aber mögen sie, wie oben ausgeführt
Symptomatische Choreaformen.
59
wird, von Bedeutung sein für die Modifizierung der choreatischen Bewegungen,
nämlich für das Langsamer- und Trägerwerden der choreatischen Zuckungen.
Daß immer wieder Verwechslungen zwischen Athetose und Chorea Vor¬
kommen, liegt sicher zum Teil an dem veränderten Charakter der choreatischen
Bewegungsstörungen bei der chronischen Chorea, und die bei diesen und anderen
unreinen Formen oft nachgewiesenen Veränderungen im Corpus striatum wurden
daher als pathologisch-anatomische Grundlage für die choreatischen Bewegungen
angesehen. Sie kommen jedoch, wie ich zu zeigen versucht habe nur für die
Umgestaltung der choreatischen Spontanbewegung in Betracht, für ihre Aus¬
lösung muß man andere Herde, vielleicht solche in der Bindearmgegend, viel¬
leicht in dem Gebiet des Corpus Luys annehmen, soweit überhaupt eine Herd¬
lokalisation der Chorea möglich erscheint.
Zu besprechen ist in diesem Zusammenhang noch das von De j er ine auf¬
gestellte und von Roussie erweiterte Thalamussyndrom, das vorwiegend
auf Erkrankungen des äußeren Thalamuskernes beruhen soll. Das Syndrom
setzt sich zusammen aus einer meist geringradigen schlaffen, ohne Pyramiden¬
zeichen einhergehenden Parese, einer Hemi-Anaesthesie mit heftigen Schmerzen
derselben Seite, leichter Hemiataxie, sowie Hemichorea oder Hemiathetose, zu¬
weilen werden auch Blasenstörungen beobachtet.
Uns interessiert in diesem Zusammenhang vor allem die Hemichorea und
die Hemiathetose.
Schon der Umstand, daß die beiden Symptome hier als gleichbedeutend
gebraucht w r erden, scheint mir dafür zu sprechen, daß die motorischen Er¬
scheinungen in solchen Fällen nicht genau festgestellt wurden, eventuell daß
es sich um keine von beiden Bewegungen gehandelt hat. Ich möchte auf
Grund eigener Beobachtungen das Letztere als das Wahrscheinlichste annehmen;
so sah ich bei zwei Fällen mit ausgesprochenem Thalamussyndrom (1 Tumor,
1 Paralyse), Bewegungen an den Händen, die weder als choreatische, noch als
athetotische Bewegungen zu deuten waren, vielmehr eine gewisse Ähnlichkeit
mit Zitterbewegungen, vielleicht etwas unregelmäßiger als solche aufwiesen.
Als II. Hauptgruppe symptomatischer Choreaformen kommen die bei der
Encephalitis epidemica beobachteten choreatischen Bilder in Betracht. Was die
klinische Erscheinung anlangt, so finden wir zweifellos große Ähnlichkeit mit
der Chorea Sydenham; aber auch abgesehen von den bei der Enzephalitis¬
epidemie so häufigen Augenmuskelstörungen und ähnlichen Begleiterscheinungen
lassen eine Reihe kleiner Abweichungen dieser Choreaform klinisch eine gewisse
Sonderstellung einräumen.
Wie ich in einer klinischen Mitteilung darzustellen versucht habe, mischen
sich bei den Bildern der hyperkinetischen Enzephalitis mancherlei Symptome
und Syndrome miteinander. Recht oft findet man neben echten choreatischen
Zuckungen myoklonische, d. h. Zuckungen, die sich von den choreatischen in
den meisten Fällen dadurch unterscheiden lassen, daß sie ohne Bewegungs¬
effekt einhergehen, mit Vorliebe Muskeln befallen, die willkürlich nicht allein
bewegt werden können, manchmal sich auf Teile von Muskeln beschränken.
In einem anderen Falle sind die blitzartigen choreatischen Zuckungen kombi¬
niert mit langsam drehenden Kontraktionen, die an Torsionsspasmus oder auch
60
Chorea.
Tetanus erinnern. Stertz beschreibt ähnliche Beobachtungen und vergleicht
hier die Zuckungen wegen ihrer langsamen Art und wegen ihres wechselnden
Charakters mit der Huntingtonschen Chorea. In einem Falle meiner Beob¬
achtung entwickelten sich ziemlich typische Choreabewegungen, die zuerst mit
psychomotorischen Parakinesen eine unverkennbare Ähnlichkeit hatten. Aber
auch die schließlich zustande gekommene choreatische Bewegung änderte ihren
zunächst typischen Charakter ziemlich rasch und kombinierte sich mit Erschei¬
nungen anderer Motilitätsstörungen.
Bei genauer Beobachtung wird man leicht bei vielen dieser Enzephalitiden
Abweichungen vom Bilde der echten Chorea finden können. Hinsichtlich ihrer
Lokalisation bevorzugten die enzephalitischen Erscheinungen im wesentlichen den
Hirnstamm. Es fanden sich jedoch auch Veränderungen in anderen Gebieten.
Für die Lokalisationen der choreatischen Bewegungsstörung läßt sich daher
meines Erachtens aus dem Befunde der Enzephalitis nichts Wesentliches ge¬
winnen. Die Lokalisation der von mir erhobenen histologischen Veränderungen
spricht nicht gegen die Möglichkeit einer Bindearmchorea, bringt aber auch
keinen sicheren Beweis dafür, d. h. wir finden wohl Schädigungen in der Binde¬
armgegend bei Enzephalitiden mit choreatischen Bildern, aber ebensolche auch
bei Symptomenbildern, die mehr Ähnlichkeit mit Myoklonie aufweisen; es sind
andererseits ähnliche lokalisierte Befunde erhoben worden bei Encephalitiden,
die ohne derartige Bewegungsstörungen einhergegangen waren.
Klarfeld hat bei vier Fällen von enzephalitischer Chorea, über deren kli¬
nische Beschaffenheit keine nähere Beschreibung vorhegt, recht verschieden
lokalisierte Veränderungen nachgewiesen, die zum Teil nur in entferntere ört¬
liche Beziehungen mit dem Bindearmsystem zu setzen waren. Klarfeld hebt
hervor, daß bei der gleichen Verteilung histologischer Veränderungen chorea¬
tische Erscheinungen auch vermißt werden können. In einem vierten Falle
konnte Klarfeld überhaupt keine entzündlichen Veränderungen nachweisen,
und gerade hier hatten besonders schwere klinische Erscheinungen chorea¬
tischer Art bestanden, so daß auch die Qualität des pathologischen Prozesses
sicher nicht für die Entstehung des Symptombildes der Chorea verantwortlich
gemacht werden kann.
Die in allen vier Fällen Klarfelds vorhandenen Degenerationsprozesse im
Ammonshorn sind ebenfalls nicht für die Lokalisationsfrage zu verwerten, da
dieses Gebilde auch sonst nicht selten bei infektiösen oder anderen Gehirn-
erkrankungen in gleicher oder ähnlicher Weise beteiligt ist.
Zu erwägen wäre noch die Frage, ob vielleicht gerade dem Nebeneinander¬
hergehen entzündlicher und degenerativer Prozesse im Gehirn eine Rolle für
die Entstehung choreatischer Bewegungen zuzuschreiben ist. Erwähnenswert
sind in dieser Hinsicht auch die Fälle von Kreutzfeld und Stern, die beide
ebenfalls das Nebeneinanderhergehen dieser histologischen Veränderungen be¬
tonen; dieselbe Kombination kommt jedoch auch bei Fällen epidemischer En¬
zephalitis vor, die mit anderen klinischen Erscheinungen verknüpft sind.
Für die Chorea gravidarum fehlen mir ausgedehntere eigene Beobachtungen.
Die Bewegungsstörung unterscheidet sich offenbar nicht von der der gewöhn¬
lichen Choreaformen. Der Umstand, daß die Erkrankung in den meisten Fällen
mit Beendigung der Schwangerschaft aufhört, läßt sie wohl als echt toxische
Pathophysiologische Bemerkungen.
61
erscheinen, die nach Beseitigung des schädlichen Agens abheilt. In einzelnen
Fällen hat man bei jeder neuen Gravidität einen erneuten Schub des Leidens
beobachtet (in einem mir bekannten Falle neunmal!). Ob hier eine besondere
Disposition anzunehmen ist, bleibe dahingestellt.
4. Pathophysiologische Bemerkungen.
Besteht nun die Möglichkeit, die verschiedenen Formen der Chorea, so¬
wohl die beiden Krankheitsbilder sui generis, als auch die drei verschiedenen
Formen symptomatischer Chorea, und endlich die mehr rein toxisch bedingte
Form der Chorea gravidarum, unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu be¬
trachten, dadurch, daß man das Wesen der vorhandenen Bewegungsstörung
einer theoretischen Anschauung unterordnet. Daß die Bewegungsstörungen der
Chorea Sydenham und der Chorea chronica trotz äußerer Verschiedenheit in
ihren Grundzügen übereinstimmen, wurde oben schon zu zeigen versucht. Ge¬
wisse Ähnlichkeiten kehren bei allen übrigen symptomatologischen Formen
wieder, wenngleich auch hier fremde Beimischungen und Kombinationen mit
anderen Symptomen vorhanden sein können.
Von vornherein kann betont werden, daß offenbar die Art des Krankheits¬
prozesses nicht von ausschlaggebender Bedeutung für das Zustandekommen
der Erkrankung sein kann, denn wir sehen den Symptomenkomplex auf treten
bei Infektionen, bei Intoxikationen, ferner bei groben Herderkrankungen. Wir
müssen also wohl der Lokalisation der Schädigungen für mindestens einen Teil
der Fälle eine recht wesentliche Rolle beimessen. Ferner ist noch mit der Inten¬
sität des betreffenden Krankheitsprozesses zu rechnen, sowie mit der Möglichkeit,
daß mehrere Komponenten zugleich zur Entstehung der Erkrankung notwendig
sind. Weiter wäre mit in Betracht zu ziehen, ob nicht eine besondere Anlage
der befallenen Persönlichkeiten eine gewisse Rolle spielt. Die meisten Theorien
über das Zustandekommen der choreatischen Bewegungsstörungen sind mit der
Lokalisationsfrage verknüpft. Die erste Theorie ist die von Kahler und Pick
1878 aufgestellte Lehre, die choreatische Bewegung sei als eine Reizerschei¬
nung der Pyramidenbahn aufzufassen. Diese konnte sich aber vor allem des¬
halb nicht halten, weil eine Störung der Pyramidenbahn an anderer Stelle als
in der Gegend des Mittelhirns nie zu Chorea führt. Von C har cot und an¬
deren französischen Autoren wurde die Läsion eines bestimmten Faserzuges
im Stabkranz und in der inneren Kapsel, der »faisceau hemichoreique« für die
Entstehung der Chorea verantwortlich gemacht. Gowers nahm, wie schon er¬
wähnt, eine Erkrankung des Sehhügels als Ursache für die Chorea an.
Als erster führt Anton die Chorea auf eine Enthemmung zurück und faßt
sie als eine extrapyramidale, motorische Störung auf. Er gibt auf Grund seiner
oben schon zitierten Beobachtung an, daß durch die Erkrankung der in seinem
Falle schwer degenerierten Putamina, eine von diesen Organen normalerweise
ausgeübte Hemmung auf die motorischen Haubenbahnen wegfalle, und so einer
unwillkürlichen Bewegung freie Bahn geschaffen werde. Bonhoeffer nahm
dagegen an, daß die choreatische Bewegung auf einer Regulationsstörung be¬
ruhe; diese Regulationsstörung sollte so zustande kommen, daß bewegungs¬
regelnde, unbewußt ablaufende Impulse vom Kleinhirn zum Großhirn wegen
62 Chorea.
einer im Bindearmsystein erfolgten Schädigung nicht ihr Ziel in der Großhirn¬
rinde erreichen, sondern entweder ganz verloren gehen oder kurzschlüssig in
die motorischen Haubenregionen überfließen.
Namentlich auch die auffallende Hypotonie bei der Chorea führt Bon-
hoeffer auf einen Ausfall des Kleinhirneinflusses zurück.
An diese Theorie Bonhoeffers knüpften die meisten Autoren an, und es
existiert eine ganze Reihe von Untersuchungen, die diese Annahme auch ana¬
tomisch zu stützen scheinen.
Etwas abweichend ist die Theorie Niessl v. Mayendorfs, der sich auf
Grund von Untersuchungen eines Falles chronischer Chorea zu der Annahme
bekennt, daß die Erkrankung einer von den Zentralwindungen ausgehenden
zentrifugalen Bahn, die Linsenkern und roten Kern berührt, choreatische Be¬
wegungen veranlassen kann. In einer späteren Arbeit faßt er die choreatischen
Zuckungen ihrem Wesen nach als unzweckmäßige Mitbewegungen des Muskel¬
tonus auf.
Foerster schließt sich im wesentlichen der Bindearmtheorie an und be¬
zieht die choreatische Koordinationsstörung auf den Fortfall zerebellarer Funk¬
tionen und bewertet sie als Ausfallsymptom; dieselbe Störung wirke auch als
Reiz auf das Kleinhirn und löse dadurch die choreatische Spontanbewegung
aus. Foersters Auffassung der choreatischen Zuckung als „Krampf“, und zwar
als klonischen Krampf im Gegensatz zu den tonischen, bzw. klonischtonischen
Krämpfen im epileptischen Anfall kann ich nicht beitreten. Zum mindesten
glaube ich, daß der Ausdruck nicht dem allgemeinen Sprachgebrauche ent¬
spricht, da wir unter Krampf immer etwas Zustandartiges verstehen, also ent¬
weder einen tonischen Krampfzustand oder eine Folge von klonischen Zuckungen,
während wir bei der Chorea immer nur eine Zuckung vor uns haben, die bald
hier bald dort auftritt.
Kleist modifiziert die Bindearmtheorie Bonhoeffers insofern, als er
außer der Bahn Nucleus dentatus-Bindearm- roter Kern-Thalamus auch noch
Globus pallidus und Striatum in das System einbezieht. Kleist nahm an,
daß Herde im Verlauf dieser Leitungsbahn und innerhalb des Striatums selbst
dadurch choreatische und ähnliche Bewegungen hervorrufen, daß sie zentripetale
Regulierungen der Automatismen auf dem Wege zum Linsen- und Schwanzkern,
oder in diesen selbst unterbinden und so eine Ataxie derselben bewirken. Um
das Zustandekommen der choreatischen Zuckungen selbst zu erklären, zieht
Kleist noch einen Wegfall von Hemmungen mit heran, und zwar nimmt er
an, daß eine solche Hemmung normalerweise vom Kleinhirn ausgehen muß;
er vertritt dabei die Anschauung, daß zwischen Regulierung und Hemmung
kein grundsätzlicher Unterschied besteht; die Kleinhirneinflüsse wirken je nach
den Einrichtungen und Funktionen der Hirnteile, zu denen sie gelangen, re¬
gulierend oder hemmend oder beides zugleich. Wie Kleist selbst hervorhebt,
ist der Einwand bemerkenswert, daß bei reinen Kleinhirnerkrankungen chorea¬
tische Bewegungen selten oder nie auftreten. Ein ähnlicher Mangel haftet aber
auch den anderen Theorien an, denn es gibt auch Bindearmerkrankungen ohne
Chorea, ebenso wie Erkrankungen des Striatums ganz verschiedene Symptome
haben können.
Kleist, der, wie erwähnt, das Striatum mit zum Bindearmsystem rechnet,
Pathophysiologische Bemerkungen.
G3
führt das Zustandekommen choreatischer Bewegungen namentlich auf Grund
eines Falles von chronischer Chorea (Kieselbach) auch auf Striatumherde
zurück, und zwar nimmt er an, daß diese Striatumchorea im Gegensatz zu der
Bindearmchorea nicht mit Hypotonie verbunden sei. Gegen diese Möglichkeit
einer Striatumchorea spricht meiner Ansicht nach der Umstand, daß reine Fälle
von Striatumerkrankungen nicht mit Chorea einherzugehen brauchen, vielmehr
unter Umständen ganz entgegengesetzte Störungen hervorrufen (Rigidität u. a.). Ich
glaube daher nicht, daß die in dem Falle Kleist-Kieselbach gefundenen Stria¬
tumveränderungen die Entstehung der choreatischen Bewegungen erklären, daß
vielmehr deren Ursache anderswo, vielleicht in den ebenfalls, wenn auch in ge¬
ringerem Maße vorhandenen Schädigungen im engeren Bindearmsystem zu suchen
ist (Roter Kern-Kleinhirn). Daß aber diese choreatischen Bewegungen nicht mit
Hypotonie verknüpft waren, und daß sie langsamer abliefen als echte Chorea¬
bewegungen, wird bewirkt durch die gleichzeitige Erkrankung des Striatums,
die für sich allein eine allgemeine Bewegungsarmut und Rigidität hervorgerufen
hätte. Die beiden entgegengesetzten Symptome, die Bindearmhypotonie und
die Striatumrigidität beeinflussen sich gegenseitig, kompensieren sich und bringen
so ein Mischbild, nämlich die »langsamen Zuckungen« der chronischen Chorea
zustande. Was speziell die chronische Chorea anlangt, so führen C. und
O. Vogt hier die Bewegungsstörungen auf eine Erkrankung des Striatums (Stat.
fibrosus) zurück, erwähnen aber bei den veröffentlichten Fällen immer noch
Veränderungen am Pallidum und im Corpus Luys. Sie neigen dabei zu der
Ansicht, daß derselbe Status fibrosus im Striatum des Neugeborenen nicht zur
Chorea, sondern zur Athetose führe. Für die Chorea Huntington halten sie
die Kombination von diesen Veränderungen mit Himrindenerkrankungen für
charakteristisch. Auf die Bedeutung der Striatumveränderungen für die chorea¬
tischen Bewegungen habe ich oben und auf S. 5 3 ff. schon hingewiesen.
Ob die bei der Chorea chronica fast immer gefundenen Veränderungen in
der Hirnrinde mit den motorischen Symptomen etwas zu tun haben, wie Stern
annimmt, bleibe dahingestellt; wahrscheinlich sind sie nur für die psychischen
Symptome verantwortlich zu machen.
Endlich noch ein Wort über die Bindearmtheorie; ist sie imstande allen
Anforderungen, die man an sie stellen kann, gerecht zu werden? Direkt gegen
sie spricht meiner Ansicht nach keiner der bis jetzt erhobenen Herdbefunde,
insofern als man fast überall mehr oder weniger enge Beziehungen zur Binde¬
armbahn auffinden kann. Bei den Fällen von Vogt allerdings nur die Ver¬
änderungen im Corpus Luys, das Fischer auch in Beziehung zur Bindearm¬
bahn bringt. Ein direkter Beweis für die Theorie ist aber auch nicht er¬
bracht, und sehr zu denken gibt der Umstand, daß auch Veränderungen in
der Bindearmgegend beobachtet wurden, ohne daß dabei choreatische Bewe¬
gungen aufgetreten sind. Es fragt sich daher, ob nicht etwa noch andere
Komponenten angenommen werden müssen, um das Bild der Chorea zu er¬
zeugen.
Bei der Encephalitis epidemica, ebenso wie bei der Chorea Sydenham, liegt
es nahe, an toxische Einwirkungen zu denken, wie ich es in meiner Arbeit
über Enzephalitis als wahrscheinlich angenommen habe. Der Umstand, daß
bei der Enzephalitis neben entzündlichen Erscheinungen auch rein degenera-
64
Chorea.
tive Veränderungen Vorkommen, die vielleicht als toxisch bedingt anzusehen
sind, würde gut zu dieser Vermutung passen. Schwieriger ist die Annahme
einer solchen toxischen Komponente da, wo ein durch Tumor hervorgerufener
symptomatischer Choreafall vorliegt, wenn man nicht ein „Karzinomgift“ dafür
verantwortlich machen will. Bei der chronischen Chorea kämen die im ganzen
Gehirn festgestellten degenerativen Veränderungen vielleicht als Mitursache für
die Entstehung der Chorea in Betracht. Es muß zugegeben werden, daß
toxische und rein anatomische Schädigungen nicht immer auseinander gehalten
werden können. Bei den toxischen Schädigungen braucht es sich keineswegs
nur um diffuse toxische Einwirkungen zu handeln, sondern die Toxine können
auch anatomische Veränderungen (Degenerationen) hervorrufen, die dann wieder
auch als Lokalschädigungen wirken. Andererseits sind bei anatomischen Stö¬
rungen nicht immer grobe Herde zu erwarten, wie Geschwulstmetastasen,
sondern wir müssen auch mikroskopische Veränderungen, wie z. B. die ent¬
zündlichen Erscheinungen bei der Enzephalitis hierhin rechnen.
Außer der Annahme, daß neben den Herderscheinungen auch toxische Pro¬
zesse eine Rolle spielen, fragt es sich noch, ob die Intensität des jeweiligen
Krankheitsvorganges nicht von Bedeutung sein kann, in dem Sinne, daß ein
gewisser Grad der Erkrankung oder eine gewisse Summe von Schädigungen
zum Zustandekommen einer Chorea gehört. Hierfür könnte der Umstand
sprechen, daß bei posthemiplegischer Chorea die Bewegungsstörung nur zu ge¬
wissen Zeiten vorhanden ist, sie kann gleich nach dem Anfall auftreten und
dann einer Lähmung Platz machen oder es kann zu einer anfangs bestehenden
Lähmung eine Chorea hinzukommen.
Ferner kommt eventuell noch der Einfluß einer individuellen Veranlagung
für Chorea in Frage. Bei der Athetose wurden wir zu der Annahme gedrängt,
daß die Bewegungsform der Athetose eine Reaktionsform speziell des kind¬
lichen Gehirnes sei. Könnten ähnliche Vorgänge nicht auch beim Zustande¬
kommen der choreatischen Bewegung eine Rolle spielen, insofern als Personen
mit bestimmter Anlage bei Gehirnschädigungen mit einer Chorea reagieren,
während bei anders konstituierten Individuen durch die gleichen Schädigungen
andersartige oder gar keine Bewegungsstörungen veranlaßt werden? Endlich
muß auch noch die Möglichkeit bedacht werden, daß sich alle in Betracht
kommenden Ursachen durchflechten, daß vielleicht verschiedene Komponenten
Zusammenkommen müssen, um eine choreatische Bewegungsstörung auszulösen.
Wie aus der gegebenen Übersicht hervorgeht, sind fast alle Theorien über
das Zustandekommen der choreatischen Bewegungsstörung mit Lokalisations¬
problemen verknüpft. Sie bewegen sich meist auf recht hypothetischem Gebiet,
besonders deshalb, weil die anatomischen Befunde zu verschiedenartig sind und
auch weil wir über die physiologische Bedeutung der in Betracht kommenden
Hirnteile noch zu wenig wissen. Die meisten Anschauungen laufen darauf
hinaus, den Wegfall zentripetaler Regulierungen und Hemmungen bei intakter
Pyramidenbahn für die Entstehung der choreatischen Bewegungen verantwort¬
lich zu machen. Durch diese Hypothese läßt sich das Zustandekommen der
choreatischen Koordinationsstörung ohne Schwierigkeit erklären, das x4uftreten
spontaner, unwillkürlicher choreatischer Bewegungen ließe sich aber nur dann
Pathophysiologische Bemerkungen.
65
auf eine Enthemmung zurückführen, wenn man annehmen wollte, daß vom
Zentralnervensystem dauernd Bewegungsimpulse ausgehen, die normalerweise
unterdrückt oder gehemmt werden müssen. Darüber ist noch nichts Näheres
bekannt, und es hat keinen Zweck, das Für und Wider solcher Anschauungen
zu erörtern; ich möchte jedoch auch hier auf das Verhalten der reziproken
Innervation aufmerksam machen: diese scheint bei der Chorea, im Gegensatz
zur Athetose, erleichtert zu sein, d. h. die Innervationen finden beim Einsetzen
gar keinen oder einen zu geringen Widerstand der Antagonisten vor, so daß
die Zuckung blitzartig in die Höhe schnellen kann. Gerade auch dieser Um¬
stand spricht für die klinische Verschiedenheit der Chorea und Athetose. Die
klinische Einheitlichkeit der choreatischen Bewegungsstörung, die trotz
kleiner Unterschiede im einzelnen als ein in sich abgeschlossenes Symptomen-
bild gelten kann, muß immer wieder betont werden. Damit ist noch nicht
gesagt, daß auch ihre Genese derart einheitlich ist, daß man choreatische
Bewegungen immer als Herdsymptom verwerten könnte. Daß dies in einigen
Fällen möglich gewesen ist, beweist noch nicht die Allgemeingültigkeit dieser
Beobachtungen; es bestehen vielmehr eine Reihe von Bedenken, die dagegen
vorzubringen wären; so in erster Linie die Tatsache, daß choreatische Be¬
wegungen bei Herden verschiedener Lokalisation Vorkommen können. Die in
der Literatur niedergelegten Beobachtungen von Chorea bei anatomisch faßbaren
Hirnveränderungen haben weiter ergeben, daß nicht immer nur ein isolierter
Herd im Gehirn Choreatischer zu finden ist. Es besteht also die Möglichkeit,
unter Umständen mehrere Herde bzw. Veränderungen in mehreren Hirn teilen,
die vielleicht in bestimmten räumlichen oder funktionellen Beziehungen zu¬
einander oder zu gewissen Bahnen stehen müssen, für das Zustandekommen
der choreatischen Bewegungsstörung verantwortlich zu machen. Es muß auch
damit gerechnet werden, daß das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Herde
eine Modifikation der choreatischen Bewegungsstörung zur Folge hat, dadurch,
daß ein Herd den anderen in seinen Wirkungen beeinflußt.
Mit Rücksicht darauf, daß choreatische Bewegungen außer bei Himherden
noch bei diffusen Hirnprozessen (Enzephalitis) und bei toxischen Einwirkungen
(Gravidität) auftreten, wäre zu erwägen, ob neben den lokalisierbaren Ver¬
änderungen nicht noch eine andere Komponente zum Zustandekommen der
Chorea nötig sein könnte; in erster Linie wäre hier an toxische Prozesse zu
denken.
Daß eine besondere Art von Hirnprozessen für die Chorea verantwortlich
zu machen ist, halte ich für nicht wahrscheinlich, da wir das gleiche Symptom
bei infektiösen, toxischen und grobanatomischen Schädigungen des Gehirns
finden können.
Eher könnte vielleicht mit der Intensität des Krankheitsprozesses in seiner
Wirkung auf das klinische Bild gerechnet werden.
Nicht ganz von der Hand zu weisen ist es, daß auch eine besondere Ver¬
anlagung des Individuums eine gewisse Rolle spielen kann.
lJo*t roein, Symptomenkomplex
66
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
III. Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche
Krankheitsgruppe.
1. Klinischer Überblick über fremde und eigene Fälle von Wilson¬
scher Krankheit und Pseudosklerose. — Differential-Diagnose.
Den Ausgangspunkt für die von Strümpell unter dem Begriff des amyo-
statischen Symptomkomplex zusammengefaßten Erkrankungen bilden Fälle
progressiver Linsenkerndegeneration von Wilson, die jetzt meist mit dem
Namen Wilson scher Krankheit bezeichnet werden, sowie die von C. Westphal
und von Strümpell selbst schon vorher beschriebenen Fälle von Pseudosklerose.
Wilson8 Beobachtungen stützen sich auf vier eigene Fälle, davon drei mit
Sektionen, sowie auf acht weitere, zum Teil in der Literatur veröffenlichte Er¬
krankungen (Gowers, Ormerod, Homen). Gemeinsam waren all diesen Fällen
zunächst nur gewisse nervöse Erscheinungen und eine besondere Form der
Leberzirrhose, die klinisch keine Erscheinungen gemacht hatte; Veränderungen
im Gehirn waren bei den Gowerschen Fällen und einem Fall von Ormerod
nicht festgestellt worden, bei den übrigen hatte man, soweit Sektionsbefunde
vorliegen, Erweichungen in den Linsenkernen gefunden und zwar offenbar
immer in dessen äußeren Partien (Putamen).
Nach Wilson ist folgendes für die progressive bilaterale Linsen kemdegene-
ration charakteristisch: Die Erkrankung tritt zuweilen familiär auf, insofern,
als sie unter Umständen mehr als ein Mitglied der Familie befällt ohne an¬
geboren oder direkt vererbt zu sein.
Sie ergreift jugendliche Individuen und führt in akuten Fällen in vier
bis sechs Monaten, in chronischen nach drei bis fünf oder mehr Jahren zum
Tode. Klinisch steht im Vordergrund eine ausgesprochene Hypertonie der
Muskulatur, während Reflexsteigerung und Babinski fehlen. Die Bewegungen
erscheinen infolge der Steifheit der Extremitäten und des Körpers erschwert
und verlangsamt, ohne daß eigentliche Lähmungen vorhanden sind. In vor¬
geschrittenen Stadien kann es zu Muskelkontrakturen kommen. Als Folge der
Muskelhypertonie wird angesehen eine maskenhafte Starre des Gesichts, eine
Dysphagie und Dysarthrie, zuweilen auch Anarthrie. Der Mund ist weit ge¬
öffnet, es besteht starker Speichelfluß. Ferner ist das Gehen und Stehen durch
die Muskelsteifheit hochgradig behindert, so daß die Kranken recht hilflos er¬
scheinen. Die Muskelsteifheit ist proximal am stärksten.
Neben dieser Hypertonie treten unwillkürliche Bewegungen der oberen
und unteren Extremitäten auf, bisweilen ist auch der Kopf und der Rumpf
daran beteiligt. Die Bewegungen bestehen in einem meist regelmäßigen rhyth¬
mischen Tremor, der bei willkürlichen Bewegungen zunimmt und in den distalen
Teilen der Glieder am deutlichsten entwickelt ist. Athetotische Bewegungen
fehlen. Wie sich der Tremor zu dem der Paralysis agitans verhält, geht aus
der Wilson sehen Originalarbeit leider nicht hervor. Er sagt davon nur, daß
die Erkrankung der Paralysis agitans „in mehr als einer Weise gleicht“.
Die Beschreibung des Tremors spricht dafür, daß es sich in der Tat um
eine ähnliche Erscheinung dabei handelt, abweichend ist nur der Umstand,
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
67
daß der Tremor im Gegensatz zur Paralysis agitans bei Intentionen zunimmt.
Bei vorgeschrittenen Fällen scheint das Zittern auch sehr viel gröber zu sein,
es geht dann in krampfhafte Bewegungen über, sich unter Umständen paroxys¬
mal verstärkend.
Auf psychischem Gebiet findet sich bei den Kranken eine gewisse gesteigerte
Affekterregbarkeit, sowie Neigung zu Zwangslachen; eigentliche Demenz ist da¬
gegen im allgemeinen nicht nachweisbar.
Meist tritt verhältnismäßig rasch eine deutliche Abmagerung und Kachexie
ein. Es fehlen immer Pupillenstörungen, Nystagmus, Anomalien der Sensibilität,
klinisch treten Erkrankungen der Leber nicht hervor.
Pathologisch-anatomisch wurde in sieben von zehn sezierten Fällen eine
bilateral symmetrische Degeneration des Putamen und in geringerem Maße
des Globus pallidus festgestellt. Daneben fand sich das Caudatum oft ge¬
schrumpft. Der Thalamus war normal bis auf einen Ausfall strio-thalamischer
Fasern. Ebenso war die innere Kapsel intakt. Manchmal kam es zu leichter
Degeneration der äußeren Kapsel, sonst fanden sich keine Veränderungen am
Gehirn trotz mikroskopischer Untersuchungen aller Teile.
Als Folge der Linsenkernerkrankung aufzufassen sind Degenerationen, wie sie
in neueren Fällen gefunden sind: Degeneration der Linsenkernschlinge, relative
Atrophie des Corpus Luys, partielle Degeneration der lenticulären Forel sehen
Bündel der strio-Luysschen Faserung sowie strio-thalamischer Fasern.
Mikrokospisch ist in Frühstadien eine Wucherung der Neuroglia zu be¬
obachten (Zunahme an Gliakernen), später tritt dazu ein Zerfall der Glia und
der Nervenfasern sowie der Nervenzellen. Es treten Körnchenzellen und
Makrophagen auf. Aber selbst bei ausgedehnter Höhlenbildung waren keine
wesentlichen Veränderungen an den Gefäßen nachzuweisen. Nur bei Homen
scheinen solche Vorgelegen zu haben. Und zwar handelt es sich dabei um
sklerotische bzw. hyaline Veränderungen an den Gefäßwänden.
Große Übereinstimmung zeigen die Befunde an der Leber, die in allen
zehn Fällen verkleinert und sehr hart ist. Sie ist deutlich in Knoten und
Knötchen eingeteilt, die durch Bindegewebe voneinander getrennt sind,
Die Beschaffenheit der Milz ist in den Fällen von Gowers und Ormerod
nicht erwähnt. Bei den drei Fällen Wilsons ist sie vergrößert, ebenso bei
zwei anderen (Ormerod-Wilson, Homdn-Fall 2). Normal befunden wurde sie bei
den zwei anderen Fällen von Homen. Vor allem die Erkrankung der Leber
setzt die Wilsonsche Krankheit in engste Beziehungen zur Pseudosklerose
(W estphal-Strümpell), die auch klinisch neurologisch oft weitgehende Ähn¬
lichkeit mit der Wilson sehen Krankheit zeigen kann.
Ob es sich bei diesen beiden Erkrankungen um dasselbe Leiden handelt
oder nicht, ist eine der wichtigsten Fragen, die zu besprechen sein werden.
Um Anhaltspunkte für ihre Beantwortung zu gewinnen, will ich zuerst die
verschiedenen, in der Literatur veröffentlichten Fälle zusammenstellen, um nach¬
zuprüfen, welche Symptome überall wiederkehren und welche fehlen können.
Zu diesem Zweck können nur Fälle verwandt werden, bei denen die Sektion
den typisch pathologischen Befund der Linsenkernerkrankung und def Leber¬
zirrhose ergeben hat. Trotz der großen Anzahl von Veröffentlichungen über dieses
Thema entspricht diesen Bedingungen nur eine sehr geringe Anzahlvon Fällen.
5*
0g Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Lhermitte beobachtete ein zehnjähriges Kind, das zunächst durch Sprach-
und Schluckstörung auffiel und an Gesichtszucken litt, später Zittern und
Rigor aufwies; auch choreaartige Bewegungen sollen bestanden haben. Gegen
Ende kam es noch zu Krämpfen. Keine Pyramidensymptome, psychisch un¬
auffällig. Tod nach zwei Jahren. Bei der Sektion Atrophie und Kriblüren
im Putamen und Caudatum. Großknotige Hyperplasie des Leber, die klinisch
keine Erscheinungen gemacht hatte.
Ein Fall von Economo ergab symmetrische Erweichungen beider Linsen¬
kerne (Putamen und Kopf des Nucl. caudat.) und eine grobknotige Cirrhose der
Leber, sowie einen subakuten Milztumor. Klinisch zeigte der nicht belastete
15jährige ziemlich demente Patient ausgesprochene Rigidität der gesamten
Körpermuskulatur ohne. Pyramidensymptome. Es bestand eine allgemeine Be¬
wegungsarmut, mimische Starre, Dysarthrie, Aphonie und Dysphagie; es fehlten
aber alle unwillkürlichen Bewegungen im Sinne von Wackeln oder Tremor,
und dadurch unterscheidet sich der Fall klinisch von den Wilsonschen Be¬
obachtungen. Dem Verlauf nach gehört diese Erkrankung zu den akuten
Fällen. Nach siebenmonatlicher Dauer der Erkrankung trat der Tod ein.
Klinisch von Bedeutung ist noch, daß drei Jahre vor Beginn der Erkrankung
Darmkatarrhe beobachtet worden waren. Trophische Störungen zeigten sich
in Gestalt abnormer Knochenbrüchigkeit. Die Untersuchung des Liquor hatte
143 Zellen, 2,5 Strich Eiweiß nach Nißl und Opaleszenz bei der Phase I-
Reaktion ergeben bei negativem Wassermann.
Klinisch andersartig, aber pathologisch-anatomisch ähnlich ist ein Fall von
Anton: 16jähriges nicht belastetes Mädchen, das an Stottern, choreatischen
Bewegungen und zahlreichen Mitbewegungen leidet. Später kam dazu
Intentionsataxie und Inkoordination; der Muskeltonus war wechselnd, Pyramiden¬
symptome fehlten, auf psychischem Gebiet bestand eine starke Willenlosigkeit
und erhebliche Ermüdbarkeit. Körperlich war Glykosurie nachzuweisen. Bei
der Sektion fand sich eine grobknotige Leberzirrhose, eine Milzschwellung und
eine beiderseitige Erweichung der Linsenkerne und zwar im Mittelteil beider
Putamina. Außerdem wurde aber noch eine recht umfangreiche Erweichung
im Gebiet der linken oberen Stirnwindung festgestellt. Durch letzeren Befund
gewinnt dieser Fall eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ersten Kranken von
Homen, den Wilson schon zu seiner ersten Aufstellung mit herangezogen hat.
Die bei dem An ton sehen Falle nachgewiesenen choreatischen Bewegungen
bringen Beziehungen zu der Veröffentlichung von Gowers.
Die im Anton sehen Fall vorhandene Lebererkrankung faßt Meyer als eine
Hemmungsmißbildung auf. Anton bringt diese Dysplasie mit der Retardierung
der Gesamtentwickelung in einen gewissen Zusammenhang.
Ein Patient von Pollok erkrankte im 20. Lebensjahr mit allgemeiner
Tonussteigerung, halbseitiger mimischer Starre, Zittern vom Charakter der
Paralysis agitans, nasale dysarthrische Sprache, psychisch fiel grundloses Lachen
und Witzelsucht auf. Tod nach zwei Jahren. Die Sektion ergab bilaterale
Lin8enkemdegeneration (vor allem Putamen) und atrophische Leberzirrhose.
Leider‘stand mir diese Arbeit nicht im Original zur Verfügung. Aber allem
Anschein nach stimmt das Symptomenbild gut mit dem von Wilson gezeichneten
überein. Von der Milz wird im Referat nichts erwähnt.
Klinischer überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
69
Gerstmann und Schilder geben die Krankengeschichte eines nicht be¬
lasteten 22jährigen jungen Mannes, der seit fünf Jahren krank war und an
einer interrkurenten Pneumonie starb. Es fand sich ein Einschmelzungsprozeß
im Striatum, so daß man berechtigt ist, auch diesen Fall zu den mehr oder
weniger sicheren Wilsonfällen zu rechnen, obwohl die Verfasser ihn als Pseu¬
dosklerose bezeichnen, wohl unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß
beide Krankheiten identisch sind. Ein pathologischer Befund an der Leber
und Milz ist nicht erwähnt, klinisch war jedoch eine Leberfunktionsstörung
nachweisbar gewesen. Neurologisch war folgendes charakteristisch: Ein Rigor,
der den ganzen Körper betrifft, keine Pyramidensymptome, keine Lähmungen;
durch den Rigor bedingt sind schwere Schluck- und Sprachstörungen. Außer¬
dem besteht ein grober Tremor bzw. Wackeln bei gewollten Bewegungen.
Psychisch läppisches, kindisches Wesen, Demenz, Zwangslachen. Gegenüber
den Wilson sehen Originalfällen zeichnet sich diese Erkrankung aus durch das
Vorkommen psychischer Erscheinungen, auch ist offenbar der Tremor seiner
Natur nach etwas gröber als bei Wilson.
Ein Fall von Cadwalader läßt sich klinisch wenig verwerten, weil hier
die Diagnose erst post mortem aus dem Sektionsbefund gestellt worden war.
Es hatte sich um eine grobknotige Leberzirrhose gehandelt, im Gehirn waren
Erweichungen im Linsenkern gefunden worden ; welche Teile desselben betroffen
waren, läßt sich aus dem mir nur zur Verfügung stehenden Referat nicht er¬
sehen. Intra vitam war eine Neigung zu Spasmen in allen Extremitäten und
im Gesicht, sowie ein starker Tremor festgestellt worden. Die Krankheit
dauerte 13 Monate. Im Vordergrund standen psychische Symptome, so daß
eine Dementia praecox vermutet worden war.
Ein sehr interessanter Fall sicherer Erweichung im Linsenkern mit cha¬
rakteristischer Leberveränderung ist der von Stöcker: Der Bruder soll ein
ähnliches Leiden gehabt haben. Der Patient selbst erkrankte im 17. Lebensjahre
und starb nach vier Jahren. Es bestand eine allgemeine Rigidität aller Extre¬
mitäten, des Halses und des Nackens, starrer Gesichtsausdruck, auch die Augen
waren fast unbeweglich. Verharren in Haltungen, bulbäre schmierende Sprache,
Störungen des Schluckaktes. Es fand sich ferner ein Ruhetremor, der anfalls¬
artig auf trat, bei Bewegungen zunahm und in seinem Charakter ganz dem der
Paralysis agitans glich. Auch der Gang erinnerte infolge der Propulsion sehr
an diese Erkrankung, so daß der Knabe ursprünglich als ein Fall juveniler
Paralysis agitans angesehen worden war. Psychisch war der Kranke stumpf,
interesselos, ungeniert und ziemlich dement. Wie schon erwähnt, ergab die
Sektion eine grobknotige Leberzirrhose, eine Erweichung in beiden Linsenkemen
und zwar vor allen Dingen im Putamen, außerdem ließen sich aber an den
meisten Teilen des Zentralnervensystems mit Ausnahme vom Kleinhin und
Rückenmark Veränderungen der Gliazellen nachweisen, die zum Teil sehr an
die Befunde bei der Pseudosklerose erinnern.
Stöcker hält die Leberveränderung eher für einen angeborenen Defekt,
als für eine erworbene Erkrankung. Er nimmt auch für die Gehirn Veränderung
einen auf fehlerhafte Anlage begründeten Krankheitsprozeß an. Von einem
krankhaften Befund an der Milz schreibt er nichts.
Die Bedeutung des Stöckerschen Falls liegt darin, daß die anatomische
70
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Untersuchung des Gehirns einen Befund ergibt, der eine Kombination der für
Wilsonsche Krankheit und der für Pseudoklerose charakteristischen ana¬
tomischen Veränderungen darstellt. Es fragt sich, ob wir hierin pathologisch-
anatomisch einen Ubergangsfall erblicken dürfen, oder ob vielleicht auch bei
den anderen Fällen Wilson scher Erkrankung bei genauer Untersuchung mit
modernen Methoden sich ähnliche Befunde wie bei Stöcker ergeben könnten.
Stöcker selbst vermutet dies für die mit psychischen Veränderungen
einhergehenden Fälle. Klinisch neurologisch stimmt der Stöcker sehe Fall,
wie man sieht, im wesentlichen mit den Wilson sehen Fällen überein, nur
tritt der Tremor wenig hervor.
Stertz (Fall 2 der Monographie) veröffentlicht folgenden Fall, der nament¬
lich in bezug auf seinen pathologischen Befund dem vorhergehenden ähnelt:
Keine Familiarität. Junges Mädchen erkrankt nach Erkältung und rheu¬
matischen Beschwerden mit etwa 15 Jahren:
Sprachstörung, Verlangsamung und Verarmung der Bewegungen, starrer
Gesichtsausdruck, Schluck- und Sprachstörung, starker Rigor, Neigung zum Ver¬
harren in Haltungen, Adiadochokinese, Tremor ähnlich dem der Paralysis agitans,
in der Ruhe und bei Bewegungen stärker werdend. Bei Kraftleistungen in
grobes Wackeln übergehend. Fehlen von Mitbewegungen, Propulsion. Kein
Kornealring. Psychisch keine gröberen Defekte. Tod nach zweieinhalbjähriger
Dauer der Erkrankung. Die Sektion ergibt eine eigentümliche Form der Leber¬
zirrhose (Schmincke). Der pathologische Befund im Gehirn ist von Spiel-
meyer ausführlich beschrieben. Makroskopisch keine Besonderheiten, mikro¬
skopisch zeigt sich die Alzheimer sehe Gliaveränderung im Putamen und Nu-
cleus caudatus, etwas weniger im Globus pallidus und Thalamus. Im Striatum,
und auch hier besonders im Putamen, Ausfall von Ganglienzellen und Ver¬
mehrung kleiner Gliazellen. Keine Gliafaserwucherung, Körnchenzellen. Im
Nucleus dentatus degenerative Veränderungen, an den Nervenzellen. Wuche-
rungs- und Zerfallserweiterungen an der Glia. Progressive Gefäßveränderungen
sind im Linsenkern angedeutet, regressive Gefäßveränderungen nirgends vor¬
handen. Auch entzündliche Erscheinungen fehlen. Anatomisch finden wir also
beide Veränderungen sowohl die der Wilsonschen Krankheit und die der Pseudo¬
sklerose hier vereinigt. Es überwiegt die pseudosklerotische Komponente.
Aus dem nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen Werk von Hall ent¬
nehme ich noch die Daten von drei hierher gehörenden Fällen der ausländi¬
schen Literatur:
Hamilton-Jones. Beginn im 19. Jahre mit Zittern, Sprach- und Schluck¬
störungen. Rigor. Leichter Nystagmus, Babinski links. Reizbar. Urin ent¬
hält Zucker. Ein Bruder hat sicher, ein anderer vielleicht das gleiche Leiden.
Tod nach zehn Jahren. Bei der Sektion: Symmetrische Erweichung beider
Linsenkerne. Grobknotige Leberzirrhose. Milzschwellung.
Howard und Royce: Plötzlicher Beginn im 22. Lebensjahr mit Spannungen
und Zittern, keine Sprachstörung, Tod nach einem Monat. Im Gehirn:
symmetrische Erweichungen im Linsenkern, im Thalamus, roten Kern und in
der inneren Kapsel. — Großknotige Leberzirrhose und Milzschwellung.
Pfeiffer J. B.: Beginn mit unbestimmter Schwäche und Unsicherheit im
25. Lebensjahr. Dann Sprachstörung, Zittern, Rigidität. Leichte Demenz.
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
71
Tod nach dreieinhalb Jahren. Sektion: Erweichung in beiden Linsen¬
kernen. Untergang von Ganglienzellen in der Rinde, im Putamen und im
roten Kern. Degeneration der Linsenkernschlinge, Grobknotige Leberzirrhose.
Milzschwellung.
Durch diese sicheren, pathologisch-anatomisch geklärten Fälle wird das
Symptomenbild der Wilsonschen Krankheit im wesentlichen bestätigt: Im
Vordergrund steht ein allgemeiner Rigor der Körpermuskulatur, eine Starre
des Gesichts, eine Erschwerung der Sprache, des Schluckens, Speichelfluß, meist
außerdem unwillkürliche Bewegungen, wie Zittern oder grobes Wackeln, das bei
Intention zunimmt, und das in einigen Fällen symptomatologisch an das der
Paralysis agitans erinnert. Fast immer betrifft das Leiden jugendliche Individuen.
Fälle ohne Sektionsbefund sind in den letzten Jahren ziemlich zahlreich
beschrieben worden. Zum Teil handelt es sich dabei um Erkrankungen, die
mit den oben geschilderten Symptomen übereinstimmen, zum Teil aber um
recht abweichende Beobachtungen; fast überall wird die Frage, ob es sich um
Wilsonsche Krankheit oder Pseudosklerose handelt, offen gelassen, ja die meisten
Autoren scheinen geneigt zu sein, beide Diagnosen gleichbedeutend zu ge¬
brauchen. Hierzu verführt in erster Linie die den beiden Erkrankungen ge¬
meinsame Leberzirrhose, sowie der Umstand, daß stets das extrapyramidale
Gebiet betroffen ist. Ganz besonders erschwert wird die Unterscheidung beider
Erkrankungen deshalb, weil man reine, durch Sektion bestätigte Fälle so selten
zu sehen bekommt und auch die beste Krankengeschichte nicht die Anschauung
der klinischen Symptome ersetzen kann. Bei der Pseudosklerose ist die Auf¬
gabe noch besonders dadurch erschwert, daß die charakteristischen anatomischen
Veränderungen nur mikroskopisch nachweisbar sind, so daß Fälle der älteren
Literatur nur mit Vorsicht verwertet werden können. Als sichere Fälle von
Pseudosklerose sind nur die anzunehmen, bei denen die mikroskopische Unter¬
suchung die Alzheimersche Gliaveränderung ergeben hat, und die, welche
wenigstens mit der charakteristischen Leberveränderung einhergehen.
Außerdem können wir noch als einwandfrei diejenigen betrachten, die den
von Kaiser und Salus entdeckten braungrünlichen Hornhautring aufweisen,
weil dieses Symptom bis jetzt nur bei der Pseudosklerose gefunden worden
ist. Es sei gleich hier bemerkt, daß bei den oben erwähnten Wilsonschen
Fällen dieses Zeichen stets vermißt wurde, auch bei denen, die nach dem
Bekanntwerden der Hornhautfärbung untersucht sind.
Am besten charakterisiert man die Symptomatologie der Pseudosklerose,
wenn man sich die historische Entstehung dieses Begriffes vergegenwärtigt,
C. Westphal beschrieb ein Leiden, das sidi von der gewöhnlichen multiplen
Sklerose weder durch Symptome noch durch Verlauf unterschied, ohne daß
die Sektion die erwarteten multiplen Herde ergab. Es fand sich vielmehr nur
eine ganz geringe Lichtung in den Markfasern des Pyramidenseitenstranges.
Westphal erwähnt bei seinen Fällen das damals von ihm entdeckte para¬
doxe Phänomen. Auch Anfälle beobachtete er. Auffällig war die Verlang¬
samung der Bewegungen sowie eine starke Beteiligung der psychischen Funk¬
tionen (Wutanfälle). Beim ersten Fall hatte der Vater und dessen vier Brüder
an Veitstanz gelitten, die Mutter des zweiten war Epileptica.
72 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
1898 beschrieb Strümpell zwei ähnliche Fälle. Auch er hob die Ähnlich¬
keit mit der multiplen Sklerose hervor, betonte dabei aber das Auftreten im
jugendlichen Alter und das Vorkommen apoplektiformer Anfälle. Ferner macht©
er darauf aufmerksam, daß es sich bei der multiplen Sklerose nicht um daa
oszillatorische, grobschlägige Zittern wie bei der Pseudosklerose, sondern mehr
um ein Hin- und Herfahren der Arme, das sich von Ataxie klinisch nicht
unterscheiden läßt, handelte. In dem ersten der Fälle beobachtete Strümpell
einen unbewegten Gesichtsausdruck, eine skandierende Sprache und die Neigung
zu Zwangslachen und Weinen, erbliche Belastung lag in keinem der Fälle vor.
Einen weiteren Fall veröffentlicht Strümpell 1899, der sicher als Pseudo¬
sklerose aufzufassen ist, um so mehr als bei der Sektion eine beginnend©
Leberzirrhose festgestellt wurde bei negativem makroskopischen Befund am
Gehirn- und Rückenmark. Klinisch war dieser Fall ausgezeichnet durch ein
Zittern von oszillatorischem Charakter, das in den proximalen Gelenken am
deutlichsten war und schon in der Ruhe auftrat. Ferner bestand eine Starr©
des Gesichts und eine artikulatorische Sprachstörung. Sehr im Vordergrund©
standen psychische Störungen, die eine Verbringung des Kranken in eine
Irrenanstalt nötig machten. Ob die gleichzeitig vorhandene tertiäre Lues etwas
mit der Erkrankung zu tun hat, muß dahingestellt bleiben.
Als einwandfreier Fall von Pseudosklerose kann meines Erachtens auch der
von Völsch veröffentlichte angesehen werden, obwohl hier bei der Sektion
die damals noch nicht beschriebenen anatomischen Veränderungen des Gehirns
nicht nachgewiesen wurden. Dagegen war die charakteristische Lebererkrankung
und außerdem eine starke Milzschwellung festzustellen. Klinisch: 14jähriges
Mädchen. Beginn mit Anfällen. Es bestand ein langsames rhythmisches oscil -
latorisches Wackeln, das durch Intention gesteigert wurde. Dazwischen traten
ausfahrende Bewegungen auf, die vereinzelt an Chorea erinnerten. Gesichts¬
ausdruck starr, Sprache langsam, leise, dysarthrisch, genauere Angaben über
die Tonusverhältnisse fehlen. Erwähnt wurden nur wechselnde Kontrakturen.
Abnahme der geistigen Fähigkeit.
Fleischer beschreibt drei ziemlich gleichartige Fälle mit Hornhautringen;
zwei von ihnen kamen zur Sektion, wobei sich eine charakteristische Leber¬
veränderung und geringe Milzschwellung fand, während im Gehirn makrosko¬
pisch nichts Krankhaftes nachweisbar war. Auch hier handelte es sich um
ein starkes schüttelndes Wackeln, das sich bei Intention und gemütlicher
Erregung verstärkte; der Muskeltonus wird in einem Falle als spastisch be¬
zeichnet, in einem anderen wird von Rigidität gesprochen. Von Anfällen wurde
nicht berichtet. Magen-Darmstörungen wurden bei den beiden ersten Fällen
beobachtet. Psychisch fand sich bei zweien erhöhte Reizbarkeit und allmäh¬
licher Ausgang in Demenz. Der erste Fall begann etwa im 15. Lebensjahre
und endigte mit 29 Jahren tödlich, der zweite Kranke zeigte die ersten Er¬
scheinungen mit 24 Jahren, er starb nach 5 Jahren, bei dem dritten ent¬
wickelten sich die Erscheinungen erst etwa im 30. Lebensjahre. Der eine der
ad exitum gekommenen Fälle ist inzwischen histologisch untersucht worden
(Spielmeyer); es fand sich die typische Lebererkrankung und im Gehirn die
Alzheimersche Gliaveränderung.
Rausch und Schilder berichten über zwei Schwestern mit der gleichen
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
73
Erkrankung. Beide hatten die charakteristische Hornhautpigmentierung. Die
erste Patientin erkrankte im 26. Lebensjahr; zur Zeit der Beobachtung war sie
bereits 43 Jahre alt. Eine Leberinsuffizienz machte sich durch alimentäre
Lävulosurie bemerkbar. Neurologisch: rhythmisches Zittern, das sich von dem
der Paralysis agitans dadurch unterscheidet, daß es mehr bei statischer Inner¬
vation und bei Intentionen beobachtet wird. Außerdem besteht Adiadocho-
kinese, Ataxie, starkes Skandieren der Sprache; der Muskeltonus war normal
oder leicht vermindert. Es bestand ferner Affektlabilität und Einschrän¬
kung der Intelligenz. Auf Milztumor war wegen Spannung nicht zu unter¬
suchen.
Bei der anderen, etwas später an den gleichen Symptomen erkrankten
Schwester überwiegen .im Krankeitsbild die Schüttelbewegungen, Hypertonie
besteht auch hier nicht, von Anfällen wird bei beiden nichts erwähnt. Eine
Leberinsuffizienz und Milztumor waren klinisch nachweisbar.
Schütte teilt folgende Erkrankung mit: Ein 16jähriges nicht belastetes
Mädchen bekommt einen Krampfanfall, an den sich eine Veränderung der
Sprache anknüpft. Im weiteren Verlauf gesellt sich dazu Abnahme der In¬
telligenz, es kommt zu Sprach- und Schluckstörungen; deutlicher Intentions¬
tremor. Pyramiden8ymptome und klinische Zeichen einer Leberstörung fehlen.
Tod nach 9 Jahren. Über die Sektion berichten Jokoyama und Fischer:
Es fand sich im Gehirn ein ausgedehnter Untergang von Markfasern und
Ganglienzellen und eine sehr erhebliche Wucherung gliöser Elemente. Am
meisten befallen war das Stirnhim, weniger Linsenkern und Kleinhirn.
In den Seitensträngen des Rückenmarks geringe Faserlichtung. Außerdem
bestand auch in diesem Falle die eigentümliche Form der Leberzirrhose und
eine Milzvergrößerung. Von einer sicheren Darmstörung intra vitam wird
nichts berichtet, erwähnt ist nur, daß Patient unter sich ließ (Diarrhoe?).
Den ersten anatomischen Befund im Gehirn bei Pseudosklerose erhob
Alzheimer. Es handelte sich dabei klinisch um einen nicht ganz typischen
Fall insofern, als auch Störungen im Pyramidensystem nachgewiesen waren,
ohne daß jedoch die Diagnose multiple Sklerose berechtigt schien. Auf
die klinische Bedeutung des Falles wird später noch zurückzukommen sein.
Es handelt sich um einen angeboren Schwachsinnigen, dessen Vater Potator
gewesen war. Beginn der Erkrankung mit 15 Jahren. Darnach häufig epi¬
leptische Anfälle, Charakterveränderungen, reizbares Wesen, Wutanfälle, Zwangs¬
lachen, Demenz. Neurologisch bestand leichte spastische Hemiparese mit Ba-
binski und Erhöhung der Sehnenreflexe auf der paretischen Seite, allgemeine
Verlangsamung der Bewegungen, artikulatorische Sprachstörung; Augenhinter¬
grund und Sensibilität intakt. Im Vordergrund stand ein eigenartiger alle
Gliedmaßen gleichmäßig betreffender Intentionstremor, der auch in der Ruhe
nicht ganz aufhörte. Tod nach 7 jähriger Krankheitsdauer. Die Sektion er¬
gab eine schwere Veränderung des Gehirns, die nur mikroskopisch nachweis¬
bar war: am stärksten erkrankt waren Linsenkern, Thalamus, Regio hypotha-
lamica, Brücke und Nucleus dentatus. Keine entzündlichen Erscheinungen.
Dagegen Untergang des nervösen Gewebes und progressive Veränderungen der
Gliazellen. An der Leber fand sich die charakteristische grobknotige Zirrhose.
Von der Milz wird nichts erwähnt.
74 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Einen ähnlichen Befund konnte ich bei einem 1914 veröffentlichten Fall
feststellen; in bezug auf die klinischen Daten war ich dabei auf etwas lücken¬
hafte Angaben angewiesen. Keine Belastung. Beginn der Erkrankung im
17. Lebensjahr, in seinem 23. Lebensjahr war er wegen »Paralysis agitans« in
einem kleinen Krankenhaus vorübergehend untergebracht gewesen, im Siechen¬
haus werden Muskelspannungen nur in den Adduktoren beider Oberschenkel
festgestellt, im übrigen wird das Bild von langsamen, ruckartigen Tremor¬
bewegungen beherrscht, die durch Intention meist vermehrt werden. Gesichts¬
ausdruck maskenartig starr, starker Speichelfluß. Sprache monoton, unartikuliert,
langsam; von Anfällen wird nicht berichtet. Intellektuell soll er intakt ge¬
wesen sein, im übrigen wird er als reizbar, unverträglich geschildert. Häufig
sind Darmkatarrhe beobachtet. Tod mit 28 Jahren. .Bei der Sektion fand
sich die eigenartige Leberveränderung und eine Milzschwellung, daneben im
Linsenkern, Nucleus dentatus des Kleinhirns, sowie auch im Stirnhirn und in
leichterem Grade in den Zentralwindungen Gliazellveränderungen ganz ähnlich
den von Alzheimer beschriebenen; abweichend von dem Alzheimer sehen
Befunde war, daß sich in meinem Falle auch Veränderungen an den Ge¬
fäßen vorfanden.
Hierher zu rechnen sind auch drei von Dziembowsky beschriebene Brüder,
die an einer ähnlichen Erkrankung litten. Bei allen dreien waren Hornhaut¬
ringe nachzuweisen. Bei einem zur Sektion gekommenen Fall fanden sich
Leberzirrhose und Milztumor, das Gehirn soll normal gewesen sein. Klinisch
war für den ersten Fall charakteristisch eine maskenartige Starre des Gesichts,
Speichelfluß, Schluckstörung, Bewegungsverlangsamung, skandierende Sprache,
allgemeine Muskelrigidität. Das Westphalsche paradoxe Phänomen war vor¬
handen. Dazu bestand Pro- und Retropulsion beim Gehen. Klinisch war eine
Leberfunktionsstörung und Milzvergrößerung nachweisbar. Bei Fall 2 waren
mit 20 Jahren Krämpfe beobachtet worden; er zeigte außerdem ausgesprochenes
Wackeln des Kopfes und Rumpfes bei Intentionen. Ähnliche Erscheinungen,
jedoch in geringerem Grade, wies der dritte Bruder auf. Klinisch bestand
Müztumor und Leberfunktionsstörung in allen drei Fällen.
Einen typischen Fall beschreibt A. Westphal 1913:
24jähriges Mädchen, Vater Potator, skandierende nasale Sprache, starrer
Gesichtsausdruck, Anfälle, schüttelnder Tremor, spastisch-paretischer Gang, keine
Pyramidensymptome. Hornhautring. Psychisch apathisch, stuporös, zuweilen
ängstlich erregt, kein deutlicher Intelligenzdefekt. Tod an interkurrenter Er¬
krankung. Sektion: grobknotige Leberzirrhose. Milz vergrößert. Das Gehirn
zeigte denselben Befund wie bei dem Kranken Alzheimers. Besonders aus¬
gesprochen waren die Veränderungen in den großen Ganglien des Großhirns
und im Nucleus dentatus des Kleinhirns. Am Darm fanden sich Geschwüre
(Tbc.? Ty.?).
Unter den von Strümpell später veröffentlichten Fällen ist der 1914 von
ihm und Hand mann beschriebene wegen der Hornhautpigmentierung als
diagnostisch sicher anzusprechen. Er hatte drei Jahre vor der Erkrankung
einen Unfall durch Sturz aufs Kreuz erlitten. Klinisch weicht er insofern von
den anderen Fällen etwas ab, als weder Anfälle noch psychische Störungen
beobachtet wurden. Beginn im 31. Lebensjahre. Im Vordergrund steht auch
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
75
liier ein grobes, sehr rasches Wackeln, das bei Intention auftritt und stärker
wird. Eine eigentliche Hypertonie wird vermißt, leichte Starre im Gesicht und
deutlich skandierende Sprache. Keine psychische Veränderung. Milz palpabel
und etwas vergrößert.
1915 beschreibt Strümpell zwei weitere Fälle. Ein 18jähriges Mädchen,
das vor fünf Jahren erkrankt ist. Nie menstruiert. Grobes rhythmisches
Wackeln. Ständig offener Mund. Keine Hypertonie der Muskeln, skandierende
Sprache, Speichelfluß, Schluckstörung, geistige Schwäche, Kornealring.
Der zweite Fall wird von Strümpell als eine beginnende Pseudosklerose
aufgefaßt. Es handelt sich hier um einen 22 jährigen Mann, der vor sieben
Jahren eine leichte Gehirnerschütterung erlitten hatte. Außerdem hatte er vor
sechs Jahren eine fieberhafte akute hämorrhagische Nephritis durchgemacht. —
Klinisch war bei ihm einstweilen nur Verlangsamung der Sprache, Tremor der
Hände, maskenartiger Gesichtsausdruck und Adiadochokinese zu beobachten.
Auch hier bestand ein Hornhautring. Ferner war eine Milz Vergrößerung fest¬
zustellen. Intra vitam bestand Darmkatarrh. Belastung war in keinem der
beiden Fälle nachzuweisen.
Von drei Fällen Oppenheims sind zwei wegen der vorhandenen Horn¬
hautpigmentierung als sichere Pseudosklerosen anzusprechen: 27jähriger nicht
belasteter Mann mit langsamschlägigem Zittern, das zuerst Ähnlichkeit mit
Paralysis agitans zeigt, aber bei Intentionen stärker und im Ausmaß weiter
wird, rechts stärker als links auftritt. Auch der Kopf wackelt, weniger die
Beine. Verlangsamung der Sprache, die nasal und dysarthrisch klingt, anschei¬
nend kein Rigor. Schwerere psychische Erscheinungen fehlten. Keine Anfälle.
Der zweite Fall von Oppenheim betraf ein 18jähriges Mädchen, das von
einem luisch infizierten Vater stammte. Ihr Leiden begann mit leichtem
Zittern und ging mit zahlreichen Remissionen einher; schließlich kam es zu
einem außerordentlich starken Wackeln und Schütteln des Kopfes und Rumpfes,
sowie der Arme, links mehr als rechts, bei Intentionen nahmen die Bewegungen
zu. Keine Parese. Keine Hypertonie. Skandierende langsame Sprache, Ver¬
schlucken, etwas starrer Gesichtsausdruck, »hysteriforme« Anfälle, keine Pyra¬
midensymptome, Wassermann negativ.
Soederberg berichtet über folgenden Fall:
Klinisch: nicht belasteter, 13jähriger Knabe erkrankt mit Speichelfluß,
Kopfschmerz, Tremor anfangs bei Intentionen, später auch in der Ruhe, Dys¬
arthrie und Gesichtsstarre; im weiteren Verlauf kommt es zu Muskelspannungen
in den Beinen und Armen, Schwierigkeiten beim Gehen und einer Fixations¬
rigidität des linken Armes. Klinisch keine Darmstörungen. Die Untersuchung
ergibt folgendes: Kornealring vorhanden, Leber hart, Milz vergrößert. Leber-
funktionsstÖrung durch Lävuloseprobe nachgewiesen. Urobilinogenreaktion
negativ. Ascites bestand anfänglich nicht, entwickelt sich aber im Anschluß
an eine Diarrhöe. Neurologisch keine Pyramidensymptome, allgemeine Muskel¬
steifheit, vor allem im Gesicht und in den Armen. Mund steht zuweilen offen,
Speichelfluß; Zunge kaum beweglich, zittert, starke Dysarthrie, Sprache lang¬
sam, eintönig, weinerlich, hoch im Tonfall, zitternd, aber nicht skandierend.
Husten unmöglich, Schluck- und Kaustörung. Feinwelliger Tremor und leichtes
Schütteln beider Arme, vorübergehende Blasenschwäche. Keine Intelligenz-
76 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Störung. Tod an Pneumonie. Sektion: Gehirn ohne makroskopisch sichtbare
Veränderungen. Die nähere Untersuchung soll von anderer Seite veröffentlicht
werden. An der Leber eine grobknotige Hyperplasie. Starke Milzschwellung.
Kastan berichtet über einen 21jährigen Mann, der vor vier Jahren im
Anschluß an einen Schreck erkrankte, er litt an starkem, stoßenden Zittern;
befallen waren Extremitäten und Kopf, das Zittern erfolgte in großen Exkur¬
sionen, Gesichtsausdruck starr, Sprache langsam, dysarthrisch, skandierend.
Reflexe in Ordnung, kein Babinski, von Anomalien des Muskeltonus ist nichts
erwähnt. Kein Kornealring. Vier Reaktionen negativ, Urobilinogenreaktion
im Harn fehlt. Bei der Sektion fand sich eine typische Leberveränderung,
Milz vergrößert, weich. Im Gehirn »Gliawucherungen«.
Den vorstehenden Fällen füge ich eine eigene klinische Beobachtung von
Pseudosklerose [an; die Diagnose wurde ebenfalls durch einen Hornhautring
sichergestellt:
Fall 25. Fräulein E. R. (Eppendorf) 21 Jahre alt.
Keine Belastung. Normale Geburt und erste Entwicklung, mit 10 Jahren zweimal
kurz hintereinander Gelbsucht. Menses zum ersten Male mit 14 Jahren, unregelmäßig,
Beginn der Erkrankung im 15. Lebensjahre, anfangs Unsicherheit der rechten Hand, die
bald stark wackelte; dies Wackeln ging allmählich
auf den anderen Arm und schließlich auf die Beine
über, so daß seit drei Jahren das Gehen sehr erschwert
ist; seit zw*ei Jahren wackelt auch der Kopf. Sie war
früher mehrfach in Krankenhausbehandlung, wo teils
essentieller Tremor, teils Kleinhirnerkrankung, teils
Chorea hysterica diagnostiziert wurde. Befund : Nor¬
male Entwicklung, guter Ernährungszustand. Herz
und Lunge o. B. Augen: beim Blick nach oben grobes
Wackeln von langsamem Charakter, das zuweilen
auch spontan anftritt. Keine Augenmuskellähmungen.
Pupillen in Ordnung. Hintergrund o. B. Gesichtsfeld
w egen des Wackelns nicht sicher aufzunehmen, jedoch
keine zentralen Skotome. Hornhaut: bei seitlicher
Beleuchtung bemerkt man am oberen und unteren
Rand der Hornhaut eine dichte, sichelförmige, etwa
olivfarbene bzw\ gelbbraun-grünliche Verfärbung, die
in der Hornhaut liegt und die darunterliegende
hellblaue Iris verdeckt. In der Peripherie ist die Ver¬
färbung am dichtesten, sie hellt sich zentralwärts
etwas auf. Sonst finden sich an der Hornhaut keine
Veränderungen. Die Verfärbung gehört, wie eine Betrachtung mit der Lupe ergibt, der
Hornhaut an und besteht aus feinsten Pigmentkörnchen.
Fazialis, Hypoglossus gleichmäßig innerviert. Im Gebiet des Mundfazialis besteht
beiderseits gleichmäßiges Zucken, besonders an den Oberlippen, das namentlich bei Er¬
regung deutlich wird. Sie kneift beim Sprechen die Augen oft zu, der Mund meist leicht
geöffnet, die Sprache ist ausgesprochen skandierend, dabei zieht sie nicht nur die ein¬
zelnen Silben auseinander, sondern setzt auch auf Vokalen ab. Die Sprache ist langsam,
klingt hohl, manchmal wie heulend, oft schwer zu verstehen.
Bauchdeckenreflexe Patellar- und Achillessehnenreflexe +, kein Klonus, Babinski
beiderseits. — Fußsohlenreflex -}-. Paradoxes Phänomen negativ — Adiadochokinese,
wegen des starken Wackelns nicht exakt zu prüfen. Sensibilität ungestört für alle
Qualitäten.
Motilität: Sich selbst überlassen, liegt Pat. meist ruhig im Bett oder sie sitzt auch
mit aufgerichtetem Oberkörper und nach vorn geneigtem Kopf da. In dieser Haltung
wird sie von ihrem Wackeln kaum gestört.
Abb. 3. Hornhautpigmentierung
bei Pseudosklerose (Pat. E. R.).
(Aus der II. med. Abteilung d. Univers.-
Krankenhauses Hamburg - Eppendorf.
Prof. Ur. Nonne.)
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose. 77
Wenn man sie anspricht, beginnt sofort ein Schütteln und Nicken des Kopfes, sowie
lebhaftes Zucken im Gesicht; bei Körperbewegungen wird dieses Schütteln noch stärker.
Bei gewollten Bewegungen der Arme und Beine ausgesprochen ataktisches Wackeln, das
sowohl in der Bewegungsrichtung wie senkrecht dazu auftritt. Das gesuchte Ziel wird
nicht oder nur mit Hilfe erreicht. Die Beine machen dabei weit ausfahrende Bewegungen
im Sinne von Abduktion und Adduktion. Am stärksten werden die ausfahrenden Wackel¬
bewegungen der Arme dann, wenn die Kranke zu irgendeinem Zweck den Arm im
Ellenbogen beugen muß, wenn sie sich zum Beispiel mit dem Finger an die Nase fahren
soll. Je näher die Kranke dann dem Ziele kommt, um so weiter ausfahrend werden die
Bewegungen, auch das Tempo nimmt kreszendoartig zu, und am Ziel angelangt entsteht
ein derartiges Schütteln und Schlagen, daß die Kranke sich dabei schonungslos ins Ge¬
sicht trifft und nach einem kurzen Versuch, die Hand dort zu lassen, den Arm rasch
wieder wegzieht.
Eine nähere Beobachtung ergibt, daß außer den groben ausfahrenden Wackel¬
bewegungen sich zuweilen in den Fingern noch ganz feine langsamere Zitterbewegungen
abspielen, die nur bei verhältnismäßiger Ruhe zutage treten und etwas dem Zittern der
Paralysis agitans ähneln.
Das grobe Wackeln ist immer ganz ausgesprochen an die Bewegungsintention geknüpft.
Zunächst kann sie bei einer Innervation das bew T egte Glied noch so beherrschen, daß
nur ein leichtes Wackeln auftritt, dies nimmt dann aber rasch zu, so daß die oben er¬
wähnte Bewegungsstörung entsteht. Für gewöhnlich bestehen etwa 120 Oszillationen in
der Minute.
Am stärksten wird das Wackeln, w r enn der Arm im Ellenbogen gebeugt w'ird, beson¬
ders dann, wenn er sich in einer Mittelstellung zwischen Beugen und Strecken befindet,
ln Streckhaltung und bei extremer Beugung kann der Arm wenigstens vorübergehend
ruhig gehalten werden. Ähnliches gilt auch von den Beinen, wo Bewegungen mit ge¬
strecktem Knie verhältnismäßig geordnet ausgeführt werden können, während z. B. das
Gelingen des Kniehackenversuchs an dem starken Wackeln scheitert.
Beim Aufrichten im Bett wird der Oberkörper mit einem Schwung unter lebhaftem
Wackeln in die Höhe geworfen. Patientin geht dann zunächst in die oben erwähnte Gleich¬
gewichtslage mit nach vorn gebeugtem Kopf. Wird diese Gleichgewichtslage irgendwie
verändert, so droht sie nach hinten zu fallen. Legt sie sich nach hinten, so fliegen die
Beine hoch, und sie ist nicht imstande, den Schwung im Oberkörper durch entsprechende
Bewegung mit den Beinen auszugleichen.
Auch beim Stehen hat sie, um das Gleichgewicht zu halten, Oberkörper und Kopf
nach vorn geneigt, die Beine stehen breitbeinig. Beim Versuch zu gehen treten rudernde
Bewegungen mit den Armen auf, sie macht große Schritte und hebt die Beine dabei
storchartig hoch und setzt sie vorsichtig auf. Leicht unterstützt, namentlich w’enn sie
die Hände dabei auf dem Rücken verschränkt, kann sie ohne besondere Schwierigkeit
gehen. Bei einer Kehrtwendung fällt sie jedesmal hin, wenn sie nicht festgehalteu wird.
Beim Umdrehen biegt sie das eine Bein im Knie und macht damit eigentümlich schleu¬
dernde Bewegungen.
Propulsion und Retropulsion sind nicht zu beobachten,
Muskeltonus: In der Ruhe fühlen sich alle Muskeln weich an, bei Bewegungen
bemerkt man eine etwa normale Muskelanspannung für die Dauer des Impulses. Bei pas¬
siven Bewegungen nirgends Widerstand, eher eine Verminderung des Muskeltonus als
eine Vermehrung. Die Spannungen in den Muskeln bei aktiven Bewegungen sind hervor¬
gerufen, um die vorhandene Unsicherheit der Bewegungen auszugleichen bzw. zu bessern.
Keine Spasmen. Kein Rigor. Der Gesichtsausdruck ist nicht besonders starr, erscheint
nur durch den weit offenstehenden Mund etwas unbewegt. Mimische Bewegungen nicht
besonders herabgesetzt, öfters Zwangslachen.
Elektrische Untersuchung von Muskeln und Nerven o. B. Die Untersuchung des
Blutes ergibt keine besonderen Anomalien. Die Gerinnungszeit beträgt 15 Minuten;
Blutzuckergehalt, Reststickstoff normal. Hämatin negativ. Vier Reaktionen negativ. Die
Leberfunktion wurde zweimal geprüft. Am 13. Mai fiel die Prüfung negativ aus, keine
Lävulosurie, kein Urobilin, kein Urobilinogen im Ham. Leber und Milz nicht palpabel.
Am 8. Juni trat nach einer Gabe von 100 g Lävulose eine deutliche Lävuloseausscheidung
78 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
auf. Auch bei Prüfung mit Galaktose wurde ein positiver Befund erzielt. Urobilin und
Urobilinogen waren nicht vorhanden. Bemerkenswert ist, daß die Pat. an den beiden
vorhergehenden Tagen je einen epileptiformen Anfall gehabt hatte. Diese Anfälle sind
während der Krankenhausbehandlung etwa fünfmal beobachtet worden, dreimal entstanden
sie während des Schlafes bzw. während des Aufwachens. Sie stößt dabei einen brüllenden
Schrei aus, wird zyanotisch, der ganze Körper krampft sich tonisch, Zungenbiß, Pupillen
lichtstarr, kein Babinski. Urin geht im Strahl ab, Dauer 1—2 Minuten. Die übrigen
Anfälle verlaufen in der gleichen Weise. Die Patientin ist dabei vollkommen bewußtlos.
Psychisch: Sohulkenntnisse leidlich, Patientin äußert wenig Interesse, es fehlt an Spon¬
taneität. Wesen kindlich-euphorisch, manchmal etwas eigensinnig, Stimmung im wesent¬
lichen abhängig von dem körperlichen Befinden. Häufig etwas erregt, bricht dann in
Weinen aus. Sie wird nach mehreren Monaten ungeheilt entlassen. Die Katamnese
2 1 / 2 Jahre später, ergibt, wie aus einem Brief der Mutter hervorgeht, daß sich im körper¬
lichen und geistigen Befinden nichts geändert hat, höchstens ist sie etwas heiterer ge¬
worden und hat Bedürfnis nach Unterhaltung, Theater usw.
Zusammenfassung.
Im Vordergrund des sich schleichend entwickelnden und lange konstant
bleibenden Krankheitsbildes steht ein grober wackelnder Tremor, der meist an
Intentionen geknüpft ist, sich auf Kopf und Extremitäten erstreckt und etwa
zwei bis drei Oszillationen in der Sekunde aufweist. In der Ruhe fehlt dieses
grobe Wackeln, dagegen beobachtet man manchmal Andeutungen von feineren
Zitterbewegungen, die etwas an Paralysis agitans erinnern.
Das grobe Wackeln nimmt zu bei Intentionen, und zwar nicht nur an
Stärke, sondern auch an Amplitude und Schnelligkeit, so daß ein kreszendo-
artiges Anschwellen zustandekommt. Besonders stark ist das Wackeln in den
Armen und Beinen bei mittlerer Beugestellung. Sprache skandierend, grobes
nystagmusartiges Wackeln der Augen. Keine Pyramidensymptome. Keine
Skotome. Muskeltonus herabgesetzt, kein Rigor. Gesichtsausdruck wenig
belebt. Keine Adiadochokinese. Kein paradoxes Phänomen, mehrfach epilepti-
forme Anfälle. Psychisch nur ganz geringe Form von Demenz, Zwangslachen.
Leichte Affektlabilität. Hornhautpigmentierung, leichte vorübergehende Leber¬
funktionsstörung *).
Auf Grund dieser Beobachtungen von sicheren Fällen von Pseudosklerose,
die zum geringeren Teil durch Sektionen, zum größeren Teil durch das Vor¬
handensein der Hornhautpigmentierung als einwandfreie anzusprechen sind,
können wir folgende Symptomatologie zusammenstellen: Beginn meist früh,
jedoch kommt auch vereinzelt späteres Einsetzen der ersten Erscheinungen vor.
Zuweilen familiäres Auftreten. Pyramidensymptome fehlen immer (Ausnahme:
Fall Alzheimer-Höslin, der linksseitigen Babinski auf wies). Bauchdecken¬
reflexe sind immer vorhanden, keine Skotome, kein Babinski; Reflexe zuweilen
lebhaft, aber nicht gesteigert. Nie Sensibilitätsstörungen. Das augenfälligste
x ) Ein weiterer durch Sektion belegter Fall wird von Hall in seiner nach Abschluß
dieser Arbeit erschienenen Monographie veröffentlicht. Es handelt sich um einen Mann
ohne familiäre Belastung, der mit 25 Jahren zunächst an Schwindelanfällen und Sprach¬
störungen erkrankt. Später Zittern, Rigor, Schluckbeschwerden, Kontrakturen. Keine
klinischen Lebererscheinungen. Hornhautpigmentierung war vorhanden. Tod nach sieben
Jahren. Makroskopisch findet sich nur eine Verkleinerung des Linsenkems. Mikroskopisch:
Degenerationen in Putamen. Gliaveränderungen im ganzen Gehirn. — Großknotige Leber¬
zirrhose, Milzschwellung.
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
79
Symptom ist ein grobschlägiges Wackeln, das oft an Ataxie erinnert, meist zu
langsam und im Ausmaß zu groß ist, um noch als Tremor bezeichnet zu werden.
Bei Zielbewegungen ausgesprochene Ataxie, über deren Natur noch später zu
sprechen sein wird. Daneben finden sich in zwei bis drei Fällen noch leichte
Zitterbewegungen im Sinne der Paralysis agitans, die in der Ruhe auftreten
und bei Bewegungen durch grobes Zittern verdeckt sind. Rigidität der Mus¬
kulatur ist nur vereinzelt beobachtet, mehrfach ist dagegen von Hypotonie die
Rede. Der Gesichtsausdruck ist manchmal unbelebt, hat aber nicht die masken¬
artige Starre wie bei Wilsonscher Krankheit und bei der Paralysis agitans.
Adiadochokinese tritt zuweilen auf. Das paradoxe Phänomen wird nur selten
und inkonstant beobachtet. Sprache fast immer gestört, meist bradylalisch,
stark skandierend, häufig unartikuliert. Schluckstörung zuweilen, Kaustörungen
werden nicht erwähnt. Von einer Bewegungsarmut ist nur selten die Rede
in den beschriebenen Fällen. Fast immer bestehen psychische Defekte im
Sinne der Demenz, außerdem eine Reizbarkeit, Affektlabilität, vielfach Neigung
zu unmoralischen Handlungen, Zwangslachen und Zwangsweinen häufig; mehr¬
fach epileptiforme oder apoplektiforme Anfalle. Soweit Sektion gemacht war,
fand sich eine Leberzirrhose und am Gehirn makroskopisch nichts. Dagegen
gelang es in vereinzelten Fällen, die mit modernen Methoden untersucht werden
konnten, charakteristische progressive Gliaveränderungen, namentlich in den
zentralen Ganglien am Nucleus dentatus des Kleinhirns, sowie vereinzelt an
der Hirnrinde festzustellen.
Wir würden also folgende Unterschiede gegenüber der Wilsonschen Krank¬
heit finden:
Wilson
Pseudosklerose
Rigor.
stark
kann fehlen
Gesichtsausdruck ....
maskenartig, starr
zuweilen starr
Sprache .
dysarthrisch bulbär
skandierend bulbär, bisweilen
auch dysarthrisch
Schlucken.
oft gestört
ebenso
Unwillkürliche Bewegungen
tremorartig, bei Intentionen
grobes Wackeln, bei Inten-
zunehmend
tionen zunehmend, daneben
zuweilen auch Zitterbewe¬
gungen
Anfälle .I
nicht beobachtet i
i häufig
Psyche .
manchmal dement, reizbar
fast immer Demenz, reizbar
Hornhautring.
nicht beobachtet
häufig
Leber .
bei Sektion grobknotige Hyperplasie der Leber
Gehirn.
Erweichung im Linsenkern
progress. Gliaveränderungen
Dauer.
a) akut, 2—3 Monate,
b) chronisch, 3—5 Jahre
oft lang hingezogen
Bevor ich zur Darstellung der autoptisoh nicht geklärten und klinisch nicht
ganz sicheren Fälle übergehe, möchte ich über zwei bis jetzt nur bei der
Pseudosklerose beobachtete Symptome sprechen, da sie zum Teil von großer
diagnostischer Bedeutung sein können. Es handelt sich um die schon er¬
wähnten Hornhautpigmentierungen und die epileptiformen Anfälle.
80
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Anfälle kommen bei der Pseudosklerose immerhin so oft vor, daß man ihr
Auftreten nicht als ein zufälliges bezeichnen kann. Unter 26 Fällen sicherer
Pseudosklerose wurden Anfälle bei zehn beobachtet. Da die Anfälle auch da,
wo sie beschrieben werden, im ganzen recht selten sind und zum Teil auch nur
zu gewissen Zeiten auftreten, so besteht die Möglichkeit, daß sie zuweilen der
Beobachtung entgangen sind. Diese Anfälle werden teils als apoplektiforme,
teils als epileptiforme beschrieben. Auch bei den ersten Fällen von Westphal
und Strümpell sind Anfälle verzeichnet. Strümpell bringt eine etwas ge¬
nauere Beschreibung: Der Kranke war völlig bewußtlos, zeigte stertoröses Atmen,
die Pupillen waren weit, sämtliche Reflexe waren erloschen. Ein Schrei leitete
zuweilen den Anfall ein, einmal wurde der Mund nach rechts verzogen und
einmal blieb nach dem Anfalle eine rechtseitige Hemiparese zurück, die jedoch
nur kurz anhielt. Konvulsionen traten nicht dabei auf. Bei dem soeben
erwähnten Falle ergab die Beobachtung, daß zwischen den einzelnen Perioden
mit gehäuften Anfällen langdauernde anfallsfreie Zeiten waren. Zuweilen wird
der Anfall als erstes Symptom der Pseudosklerose festgestellt.
Bei den von mir beobachteten Patienten Ri. traten Anfälle ebenfalls bis¬
weilen auf. Bemerkenswert ist, daß sich diese Anfälle unmittelbar an das
Erwachen aus dem Schlaf anschlossen oder während des Schlafens entstanden.
Patient stößt bei Beginn des Anfalls einen brüllenden Schrei aus, wird stark
zyanotisch, der Körper streckt sich tonisch, ohne daß es dabei zu Konvulsionen
kommt. Während des Anfalls ist die Pupillenreaktion auf Licht erloschen.
Babinski ist nicht auszulösen. Patient beißt sich auf die Zungenspitze und
näßt gegen Ende des Anfalls ein. Dauer zwei bis drei Minuten: postparoxysmale
Lähmungen werden nicht beobachtet. Die Anfälle unterscheiden sich von epilep¬
tischen nur durch das Fehlen des konvulsischen oder klonischen Stadiums, alle
übrigen Kriterien, die wir vom epileptischen Anfall verlangen, sind vorhanden.
Etwas anderer Natur waren die Anfälle bei Patient Gö., dessen Kranken¬
geschichte später wiedergegeben wird. Anfangs gingen sie mit vollkommener
Bewußtlosigkeit einher, sie traten zunächst etwa alle vier Wochen auf. Nach
dem Erwachen war der Kranke zwar klar, aber außerstande sich zu bewegen.
Später wurden diese Anfälle leichter und traten in größeren Abständen, dann
aber meist gehäuft auf. Ärztlich beobachtet wurde kein Anfall.
Bei den meisten in der Literatur erwähnten Beobachtungen spielen die
Anfälle eine recht geringfügige Rolle, daß sie offenbar aber auch ganz im
Vordergründe des klinischen Bildes stehen können, zeigen Beobachtungen von
Jakob, der in seiner Arbeit über die Pathologie der Epilepsie Fälle mitteilt,
die sehr wahrscheinlich zu der Gruppe der Pseudosklerose gehören. Jakob
wurde dadurch darauf aufmerksam, daß er in einem Falle Veränderungen im
Gehirn fand, die an die der Pseudosklerose erinnerten. Bei einem anderen
Kind, das seit dem siebenten Lebensjahr an epileptischen Anfällen und Demenz
litt, waren außerdem noch Schwanken des Körpers, ungeschickte Zweckbewe¬
gungen und eine näselnde, monotone Sprache zu bemerken. Sonderbare Dreh-
und Schleuderbewegungen führte auch ein 64 jähriger Epileptiker, der seine
Anfälle seit dem 23. Jahre hatte, aus. Er hatte nebenbei noch heftiges Zittern,
pseudobulbäre Sprache, sowie verschiedene an Paralvsis agitans erinnernde
Symptome. Sektionsergebnis: für die beiden zuletzt erwähnten Fälle steht
i
Klinischer Überblick über Wilsonsohe Krankheit und Pseudosklerose.
81
noch aus; Jakob faßt den der Störung zugrunde liegenden Prozeß auf als
zusammengesetzt aus den bei genuiner Epilepsie manchmal erhobenen Befunden
und aus einem Anlagefehler in der Rindenbildung. Wichtig ist, daß es sich
um eine Veränderung an der Rinde handelt; das erklärt einerseits das Vor¬
kommen der Krämpfe überhaupt, andererseits das Fehlen der Anfälle bei
der Wilsonschen Krankheit, bei der die Rinde offenbar gar nicht oder doch
nur in Ausnahmefällen am pathologischen Prozeß beteiligt ist.
Ob der rein tonische Charakter ein besonderes Merkmal dieser Anfälle
ist, kann ohne weiteres Material nicht entschieden werden. Es besteht die
Möglichkeit, daß es sich bei diesen tonischen Anfällen nicht um eigentliche
Großhirnrindenkrämpfe handelt, denen ja meist eine klonische Komponente
zukommt, sondern daß zerebellare Veränderungen die Ursache oder Mitursache
bilden. Daß Kleinhirnschädigungen bei Pseudosklerose anatomisch nachgewiesen
sind, spricht für diese Annahme; auch haben Untersuchungen von Horsley
und Clarke ergeben, daß eine elektrische Reizung der tiefen Kleinhirnkerne
heftige gleichseitige tonische Krämpfe hervorruft. Dahingestellt bleiben muß
es, ob zwei von Schilder beschriebene Fälle mit Rigor als postparoxysmale
Erscheinung der Epilepsie ebenfalls in die Klasse der Pseudosklerose gehören;
außer der postparoxysmalen Starre zeigten sich keine pseudosklerotischen
Symptome. Pyramidenzeichen wurden auch vermißt.
Neben den neurologischen Symptomen kommt für die Diagnose Pseudo¬
sklerose der Hornhautpigmentierung eine große Bedeutung zu, sie ist
einerseits diagnostisch wichtig, andererseits glaubte man in ihr einen Ausdruck
besonderer Störungen zu finden, durch deren Aufklärung man bestimmtere
Hinweise auf die Ätiologie der Pseudosklerose erhoffte. Diese Erwartungen
haben sich bis jetzt nicht erfüllt, dagegen steht die diagnostische Bedeutung
dieses Pigments an der Hornhaut unbestritten da. Wie schon oben ausdrück¬
lich hervorgehoben wurde, kommt es nur bei Pseudosklerose vor, so daß sein
Vorhandensein die Diagnose sichert. Bemerkenswert ist, daß bis jetzt bei
keinem Falle reiner Wilson scher Krankheit dieser Pigmentsaum gefunden
worden ist. Aber auch nicht alle Fälle von einwandfreier Pseudosklerose zeigten
dies Symptom, und zwar fehlt es auch bei einzelnen Fällen, die erst nach der
Entdeckung der Erscheinung durch Kayser (1902) beschrieben sind. Daß das
Symptom leicht zu übersehen ist, wenn man nicht besonders darauf achtet,
ist zweifellos. Sogar wenn man darnach sucht, kann es unter Umständen
schwer zu erkennen sein, zumal wenn man nie einen derartigen Fall gesehen
hat. Fleischer warnt vor der Möglichkeit einer Verwechslung mit dem
Hämosiderinring im Hornhautepithei bei Keratokonus, der weder ätiologisch
noch klinisch mit dem Pigmentsaum der Pseudosklerose etwas zu tun hat.
Am leichtesten ist die Pigmentierung bei seitlicher Beleuchtung wahrzunehmen.
Sehr hüten muß man sich vor Verwechslungen mit Irisverfärbungen, die zu¬
weilen ganz ähnlich aussehen können, und bei manchen peripheren Irisfarb¬
streifen ist es schwer zu sagen, ob das Pigment der Iris oder der Hornhaut
angehört. In zweifelhaften Fällen muß eine Untersuchung mit der Homhaut-
lupe vorgenommen werden.
Meist ist die Pigjraentierung ringförmig an der ganzen Peripherie der Horn¬
haut angeordnet, und zwar ist sie oben und unten am breitesten, an beiden
Bostroem, Symptomenkomplex. 6
82 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Seiten etwas schmäler. In einem von mir beobachteten Fall (E. R.) fand sich nur
am oberen und unteren Hornhautrande je eine pigmentierte Sichel, die in der
Mitte am breitesten war. — Eine ähnliche Anordnung der Pigmentierung be¬
schreibt Söderberg. Bei A. Westphal und Oppenheim nahm sie auch nicht
die ganze Peripherie der Hornhaut ein, sondern hatte sichelförmige Gestalt.
Die Anordnung und Lage entspricht etwa der eines Greisenbogens an der
Hornhaut. Die Breite beträgt zwischen 1 und 3 mm.
Die Pigmentierung ist an der Peripherie am dichtesten, nach der Mitte
zu wird sie zarter, und die Fleckchen werden kleiner. Mit der Homhautlupe
sieht man ungemein zahlreiche, kleine, gelblichgrünliche Körnchen in der
Hornhaut liegen und zwar nicht an der Oberfläche, sondern tief in der Horn¬
hautsubstanz, besonders in der Descemetschen Membran. Die Farbe wird
meist als gelbbräunlich beschrieben, zuweilen schimmert sie etwas grünlich
oder olivfarben. Der Farbeneindruck ist in gewissen Grenzen abhängig von der
Art der gewählten Beleuchtung.
Im allgemeinen wird diese Pigmentierung als eine angeborene Anomalie
betrachtet. Einen Beweis für diese Anschauung finde ich nirgends. An sich
spricht nichts dagegen, daß sich der Pigmentsaum erst im Laufe des Lebens
bilden kann im Zusammenhang mit den gleichen Vorgängen, die zu dem
Nervenleiden führen. Offenbar handelt es sich aber um ein Frühsymptom
bei Pseudosklerose; dafür spricht, daß es bei ganz inzipienten Fällen wie
0. Goldammer (Strümpell) und Kasimir R. (Dziembowsky) schon zu einer
Zeit vorhanden ist, in der neurologische Symptome erst angedeutet bestehen.
Fälle, bei denen eine Entwicklung des Pigmentsaumes oder ein Fortschreiten
desselben beobachtet sind, existieren nicht. Allenfalls könnte der eben zitierte
Fall Kasimir R. für die Möglichkeit eines Fortschreitens sprechen, weü bei
ihm der Ring nur angedeutet war, während sich bei seinen auch neurologisch
stärker erkrankten Brüdern der Ring sehr viel mehr ausgeprägt fand.
Nach den Untersuchungen von Fleischer entspricht dieser Hornhautver¬
färbung pathologisch - anatomisch eine Pigmentierung der Descemetschea
Membran. Man findet mikroskopisch eine Einlagerung von sehr feinen, nicht
ganz regelmäßigen, rundlichen und eckigen, grünlichbraunschwarzen Körnchen
(von 0,8 jtt. Durchmesser). Die klinische Beobachtung, daß die Körnchen an
der Peripherie dichter gelagert sind als zentralwärts, findet auch histologisch
ihre Bestätigung. Eine ähnliche Pigmentierung fand Fleischer auch an
anderen Teilen des Augapfels (Chorioidea, Retina, Glaskörpermembran) sowie
an den Augenmuskeln; diese Pigmentierung wird in Beziehungen gesetzt zu
Farbanhäufungen, die in einzelnen Fällen an der Niere, der Leber und der Milz
gefunden wurden. Fleischer stellte Pigment bei seinem ersten Fall auch am Darm,,
am Herzen, an der Haut sowie an der Pia des Rückenmarks fest; die Nebenniere
war frei. Rumpel, der denselben Fall pathologisch-anatomisch und chemisch
untersuchte, fand in der Milz nur Formalinniederschläge, kein Pigment; das
an den übrigen Stellen (außer an der Hornhaut) vorhandene Pigment sieht er
als Silberpigment an, eine Annahme, die von Fleischer ebenfalls ventiliert,
aber als unwahrscheinlich aufgegeben wird 1 ). Ob es sich bei den Pigment-
*) Diese Annahme von Fleischer wird durch die Untersuchungen von Hall neuer¬
dings bestätigt.
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
83
anhäufungen an den inneren Organen um dieselben Stoffe handelt, wie an
der Hornhaut, scheint nach diesen Untersuchungen zweifelhaft. Kubitz und
Staemmler, die ebenfalls das Organpigment chemisch untersuchten, fanden
nirgends Silber, dagegen Spuren von Kupfer und Arsen sowie Eisen in Leber,
Milz und Nieren.
Was die Natur dieses Pigments anlangt, so glaubt Fleischer, daß wir
es hier mit Abkömmlingen des Hämoglobins zu tun haben.
Über die Bedeutung dieser Pigmentierungen kann man sich bis jetzt nur
in vagen Vermutungen ergehen. Es scheint auch nicht einmal bewiesen oder
auch nur wahrscheinlich gemacht, daß überhaupt Beziehungen zwischen Horn¬
haut- und Organpigment bestehen. Ob die letzteren Pigmentanhäufungen zu
dem Krankheitsprozeß in irgendwelchem Verhältnis stehen, ist gleichfalls noch
völlig dunkeL
Neben den sicheren Fällen von Wilsonscher Krankheit und Pseudosklerose
sind noch eine ganze Reihe anderer veröffentlicht, bei denen die Diagnose
weder durch die Sektion, noch durch den Hornhautring sicher gestellt werden
konnte. Soweit sie sich in, der Symptomatologie sehr eng an die sicheren
Fälle anschließen, können einzelne Fälle noch kasuistischen Wert haben. Andere
werden diagnostisch zweifelhaft bleiben und können uns daher nicht weiter
führen. Insbesondere können letztere kaum irgendwelche Anhaltspunkte geben
zu der Frage, ob es sich bei Wilsonscher Krankheit und Pseudosklerose um
das gleiche Leiden handelt oder nicht.
In einem Fall von Boenheim handelt es sich um einen nicht belasteten
14jährigen Jungen, dessen Erkrankung vor drei Jahren mit epileptischen An¬
fällen begonnen hatte. Allmählich zunehmende Demenz; neurologisch: Be¬
wegungsarmut, maskenartiges Gesicht, ausgesprochene Hypotonie, Adiadocho-
kinese, seltene athetoide Bewegungen der Hände, tickartige Zuckungen im
Gesicht, Sprache verlangsamt, skandierend. Unsicherer Gang, keine einwand¬
freien Pyramidensymptome. Leberfunktionsprüfung nicht ausgeführt. Kein
Homhautring.
Boenheim ist geneigt, hier die Diagnose Pseudosklerose zu stellen. Er
braucht sie im gleichen Sinne wie Wilsonsche Krankheit.
In diesem Falle ist es in der Tat auch schwer zu sagen, zu welcher Dia¬
gnose man sich entschließen soll: Der starre Gesichtsausdruck und die Be¬
wegungsarmut stehen im Vordergrund, Wackelbewegungen sind wenig ausge¬
prägt ; alles Symptome, die nach den oben geschilderten für Wilson zu ver¬
werten sind. Dagegen lassen sich die Anfälle und die Hypotonie eher für
die Diagnose Pseudosklerose verwerten. Entscheidung könnte hier erst die
Sektion bringen. Ob dieser Fall nicht vielleicht durch eine Kombination mit
Spasmophilie ein besonderes Gepräge erhalten hat, muß dahingestellt bleiben.
Einen ebenfalls nicht ganz typischen Fall ohne Sektion bei einem 17 jäh¬
rigen Patienten veröffentlicht Cassirer. Keine Belastung, keine Anfälle, keine
psychischen Störungen. Beginn der Erkrankung im dritten Lebensjahr. Im
Vordergrund steht eine sehr hochgradige Starre des Gesichts und der Haltung,
sowie eine Verlangsamung der Bewegungen, die auch zuweilen unabhängig von
der Starre auftritt und daher nach Ansicht des Verfassers als Primärsymptom
6»
84 Di© Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
zu werten ist. In der Ruhe tritt bisweilen anfallsartig ein Zittern auf, außer¬
dem besteht Intentionswackeln. Ferner werden synergistische Störungen be¬
obachtet. Keine Athetose, dagegen Neigung zu Mitbewegungen. Keine Pyra¬
midensymptome. Sprache dysarthrisch, außerdem Dysphagie.
In bezug auf die Symptomatologie wird man Cassirer beipflichten, wenn
er seinen Fall in die Wilsonsche Gruppe einreiht, obwohl der Tremor in dem
vorliegenden Falle etwas gröber zu sein scheint als beim typischen Wilson.
Ebenfalls der Wilsonschen Krankheit sehr nahe steht ein Fall von Sawyer,
den Wilson selbst klinisch untersucht hat und zu seinen Fällen rechnet, ob¬
wohl er in einigen Punkten von dem gewöhnlichen Bilde ab weicht: So ist
die lange Dauer der Erkrankung (Beginn mit 19 Jahren, Alter zur Zeit der
Untersuchung 36) ungewöhnlich, der Tremor ist nicht konstant, ebenso ist der
Muskeltonus nicht gleichmäßig, erinnert vielmehr an den Spasmus mobilis
(vgl. einen später zu erwähnenden Fall von Thomalla). Muskelkontrakturen
und Schluokstörungen bestehen nicht. Klinische Symptome seitens der Leber
fehlen. Bemerkenswert ist, daß die Handhaltung sehr der der Paralysis agitans
gleicht, woran auch der Gesichtsausdruck und die Retropulsion erinnern.
Als Wilsonsche Krankheit zu rechnen ist Fall 1 von Stertz. In der
Familie keinerlei ähnliche Krankheiten. Schwere Geburt, als Kind Krämpfe.
Beginn der jetzigen Erkrankung etwa mit 12 — 13 Jahren mit Sprach- und
Schluckstörungen, Steifheit. Kein Homhautring. Bewegungsarmut, masken¬
artige Starre des Gesichts, allgemeine Muskelschwäche ohne eigentliche Läh¬
mungen. Bewegungen langsam, Adiadochokinese, Rigor, Retro- und Latero-
pulsion. Kein Tremor, keine Pyramidenerscheinungen, kein paradoxes Phänomen,
keine wesentlichen psychischen Störungen.
Dieser Fall hat insofern etwas Ähnlichkeit mit dem von Economo, weil
auch hier der Tremor und andere hyperkinetische Erscheinungen vollkommen
fehlten; im übrigen zeichnete sich die Economosche Beobachtung durch
rascheren Verlauf aus.
Als Wilsonsche Krankheit spricht Souques folgenden Fall an: Beginn der
Erkrankung mit 21 Jahren. Dauer bis jetzt sechs Jahre. Rigidität der Mus¬
kulatur, Schluck-Sprachstörung, Zittern ähnlich dem der Parkinsonschen Krank¬
heit, an die auch Haltung und starrer Gesichtsausdruck erinnern. Ungewöhn¬
lich ist das Vorhandensein des Babinskischen Zeichens (vgl. Alzheimer-
Hößlin).
Schwer unterzubringen ist ein von Maas beschriebener Fall, Bruno H. Die
Erkrankung begann erst zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr mit Ungeschick¬
lichkeit und Zittern. Kurze Zeit darauf Schlaganfall mit rechtseitiger Läh¬
mung und Sprachstörung. Seitdem geistige Schwäche, Reizbarkeit, Anfälle,
zeitweise Stuhl- und Urinkontinenz. Starkes Zittern des Rumpfes und der
oberen Extremitäten, das sich bei Zielbewegungen zum Wackeln steigerte.
Gang breitbeinig, watschelnd, von rudernden Mitbewegungen der Arme be¬
gleitet. Sprache nasal, skandierend, schwer verständlich. Keine Lähmungen,
keine Pyramidenzeichen, Muskeltonus anfangs normal, später deutliche Rigi¬
dität, die aber in ihrer Stärke wechselte; jedenfalls weist aber eine ständige,
eigentümliche, pronierte Haltung der Arme auf abnorme Spannungszustände
hin. Auf Adiadochokinese war nicht geprüft worden. Eine feinere anatomische
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
85
Untersuchung war bei dem durch fünf Jahre hindurch in Formol konservierten
Gehirn nicht möglich. Makroskopisch keine Veränderungen. Histologisch fanden
sich im Globus pallidus und Putamen Untergang der Ganglienzellen und
sekundäre Gliaveränderungen in Gestalt stärkster Wucherung von Astrozyten.
Keine wesentlichen Veränderungen an den Markscheiden, keine Gefäßerkran¬
kungen. Keine Riesengliazellen. Auf das Vorhandensein einer Leberverände¬
rung war bei der Sektion nicht geachtet worden.
Interessant und zugleich für die Frage der Heredität von Bedeutung sind
zwei Fälle von Hi gier. Es handelt sich um zwei Brüder, die Eltern waren
blutsverwandt. Der Vater soll seit seinem 35. Lebensjahr an Paralysis agitans
gelitten haben. Der eine Bruder erkrankte mit 13 Jahren, zur Zeit der Unter¬
suchung war er 22. Es besteht ein Wackeln und stoßendes Zittern, Steigerung
desselben bei willkürlichen Bewegungen, Muskelrigidität, Starre des Gesichts,
Dysphagie und Dysarthrie, skandierende Sprache, Retro- und Lateropulsion.
Bewegungsverlangsamung und eine Behinderung der koordinatorischen Synergie
einzelner Muskelgruppen. Keine Pyramidensymptome. Keine Anfälle. Leber
klinisch verhärtet und knotig, Milz vergrößert. Psychisch: Erregbarkeit ge¬
steigert, Zwangslachen, keine deutliche Demenz. Keine Zeichen von Lues.
Wahrscheinlichkeitsdiagnose: Wilsonsche Krankheit. Pseudosklerose glaubt der
Verfasser als unwahrscheinlich ausschließen zu dürfen, weil Anfälle und schwe¬
rere psychische Veränderungen fehlen.
Bei dem anderen Bruder entwickelte sich erst im 30. Lebensjahr ein ähn¬
liches Leiden, das jetzt vier Jahre besteht: Wackeln des Kopfes, oszillatori-
sches Zittern des Rumpfes und der Extremitäten. Teilweise von schlagendem
und schüttelndem Charakter, ausgesprochen skandierende nasale Sprache, die
mitunter explosionsartig zu sein scheint, keine eigentliche Muskelrigidität
außer an der Gesichtsmuskulatur; keine auffällige Bewegungsverlangsamung.
Haut dunkel pigmentiert. Leber perkutorisch verkleinert. Psychisch: labile
Stimmung. Fehlen des Schicklichkeitsgefühls, oft läppisch, aber anscheinend
keine eigentliche Demenz, Zwangslachen. Ab und zu treten epileptiforme An¬
fälle auf. Diagnose: Pseudosklerose. Hornhautring war in beiden Fällen nicht
vorhanden.
Erkrankungen, die sicher in dieses Gebiet gehören, die aber keineswegs
als charakteristische Formen anzusehen sind, veröffentlichen Gerstmann und
Schilder: Bei einer 31jährigen Patientin entwickelt sich innerhalb weniger
Monate ein eigenartiger Rigor, eine Bewegungsverarmung, Retropulsion, Adia-
dochokinese und ein der Paralyse agitans ähnlicher Tremor. Charakteristisch
für die Hypertonie, die sich in mäßigem Grade stets nachweisen läßt, ist, daß sie
durch wiederholte passive Bewegungen bis zur Unüberwindlichkeit gesteigert
werden kann, während eine aktive Bewegung sofort ein Entspannen bewirkt.
Neigung zum Verharren in Haltungen fehlt. Von dem Rigor der Paralysis
agitans soll sich die Hypertonie des vorliegenden Falles unterscheiden durch
die Möglichkeit der Verstärkung infolge von passiven Bewegungen. Ähnlich¬
keiten mit dieser Erkrankung sind zu erblicken in der Langsamkeit der Be¬
wegungen, in der Bewegungsverarmung und der Adiadochokinese, sowie in
der Möglichkeit der Entspannung durch aktive Bewegungen.
Es ist m. E. nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob das eigentümliche Ver-
86
Die Parkinson-, Westphal-Strümpeil-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
halten des Rigor eine Besonderheit darstellt oder ob man ähnliche Symptome
bei darauf gerichteter Untersuchung auch bei einwandfreien Fällen finden kann.
Ein anderer Fall von Gerstmann und Schilder (Zeitschr. für die gesamte
Neurologie und Psychiatrie 24) ist zu unsicher, um hier verwertet werden zu
können.
Zu diesen atypischen, klinisch noch rätselhaften Erkrankungen gehören
auch zwei Fälle von Strümpell, die Geschwister Emil und Hilma H. Bei
beiden begann die Erkrankung im 9. bis 10. Lebensjahr. Der Bruder, der
jetzt etwa 40 Jahre sein mag, bietet folgende Erscheinungen: mimische Starre,
Bewegungsarmut, ausgesprochene Hypertonie der Muskulatur sämtlicher Ex¬
tremitäten ohne Pyramidenzeichen, bei passiven Bewegungen nimmt der an¬
fänglich starke Muskel widerstand erheblich ab, Verharren in Haltungen, ge¬
ringes an Paralysis agitans erinnerndes Zittern der Finger. Eigentümlich und
bis jetzt noch nie beschrieben ist die Erscheinung, daß bei ruhiger Rücken¬
lage das rechte Bein frei in die Luft gehalten wird, ohne zu ermüden, die
Füße dauernd plantar flektiert ; Gang dadurch sowie durch die starke Vor¬
beugung des Rumpfes und durch die Beugehaltungen in Knie und Hüfte stark
behindert. Keine Lähmungen, aber Muskelkraft bei Widerstandsbewegungen
gering. Reflexe normal. Paradoxes Phänomen.
Auch bei der jetzt 28jährigen Schwester des vorigen hat sich das Leiden
seit dem zehnten Lebensjahre langsam entwickelt. Sie bietet im wesentlichen
dasselbe Bild, auch hier das eigentümlich freischwebende Bein.
Einige eigene Beobachtungen von Pseudosklerose, deren Diagnose nicht
autoptisch erhärtet ist, und bei denen auch nicht durch das Vorhandensein
der Hornhautpigmentierung ein unbedingt sicheres klinisches Zeichen gegeben
ist, seien im folgenden mitgeteilt:
Fall 26. Johannes Gö. (Eppendorf, später Breslau).
40 Jahre alt. Keine Belastung — normale Entwicklung — früher gesund — keine
Geschlechtskrankheiten — kein Alkoholmißbrauch. Hat ohne Beschwerden aktiv gedient
1902 erkrankte er während einer militärischen Übung, begann zu zittern, offenbar im
Anschluß an eine Erkältung. Das Zittern verstärkte sich allmählich, so daß er die Arme
nicht mehr gebrauchen konnte; besonders beim Krümmen der Arme trat das Zittern in
verstärktem Maße auf. Seinen Rentenansprüchen beim Militär wurde entsprochen, er
bekam eine Rente von 100%, da er vollkommen erwerbsunfähig war. Ein ärztliches
Attest im Jahre 1908 beschreibt die Sprache als langsam, fast skandierend, Nicken des
Kopfes, schleudernde Bewegungen der Arme. In einem späteren Attest wurden die Be¬
wegungen der Hände als choreatisch und schleudernd bezeichnet. Seit 1908 leidet er an
Druckgefühlen in der Magengegend mit hartnäckiger Verstopfung. 1909 hatte er zum
ersten Male einen Anfall auf der Straße, der mit vollkommener Bewußtlosigkeit und
rechtseitigen Zuckungen einhergegangen sein soll. Nach dem Anfall war er klar, aber
zuerst vollkommen bewegungsunfähig. Diese Anfälle traten später etwa alle vier Wochen
auf mit wechselndem Grad der Bewußtseinsstörung.
In den letzten Jahren sind die Anfälle seltener geworden, kommen aber unter Um¬
ständen zwei- bis dreimal am Tage vor. Während des Anfalles kein Zungenbiß, kein
Urinabgang.
1918 wurde er eingezogen, für einen Hysteriker gehalten und zu Suggestionsbehand¬
lung auf die neurologische Abteilung von Prof. Nonne verlegt Hier wurde folgender
Befund erhoben: Mittelgroß, mäßig kräftig, blasse Gesichtsfarbe, Haut trocken. Innere
Organe ohne krankhaften Befund, Bauchdecken gespannt, Leber und Milz nicht palpabel,
Urin frei. Nervensystem: Pupillen in Ordnung, kein Hornhautring, Augenhintergrund
o. B., keine Skotome usw. Der Gesichtsausdruck ist wenig bewegt, er blickt ziemlich starr
Klinischer Überblick über Wilsonsohe Krankheit und Pseudosklerose.
87
mit aufgerissenen Augen gerade aus, die Stirn ist quergefaltet, Mund steht etwas offen.
Der mimische Ausdruck gleicht dem eines fixierten Erstaunens. Zuweilen Tränenfluß und
reichliche Speichelabsonderung. Die Sprache ist eintönig, weinerlich, sehr langsam und
leicht skandierend. Im Bereich der Gesichtsmuskulatur keine erhöhte Muskelspannung,
alle Muskeln vollkommen weich.
Die Reflexe der oberen Extremitäten sind lebhaft, Bauchdeckenreflexe deutlich vor¬
handen. Patellar- und Achillessehnenreflexe beiderseits von gleicher Stärke. Paradoxes
Phänomen negativ. Grobe Kraft überall gut erhalten, jedoch durch die Wackelbewe¬
gungen beeinträchtigt. Bei vollkommener Bettruhe besteht kein Wackeln, nur ab und
zu werden an den distalen Extremitäten, namentlich an den gestreckt gehaltenen Fingern
leichte drehende Zitterbewegungen beobachtet. Die Bewegungen, die etwa 100—120 Os¬
zillationen in der Minute aufweisen, finden ausschließlich an den Händen bzw. an den
Fingern — namentlich am Zeige- und Mittelfinger — statt, und erinnern entfernt an
Paralysis agitans.
Beim Sitzen, beim Versuch zu sprechen oder bei leichten Erregungen tritt ein all¬
gemeines, grobschlägiges, stoßendes Wackeln des ganzen Körpers auf. Der Kopf macht
lebhafte drehende Bewegungen, die teilweise mit Nickbewegungen vermischt sind. Der
Blick bleibt dabei starr geradeaus gerichtet; am stärksten sind die Bewegungen, wenn
der Kranke im Sitzen seine Haltung ändern solL Die Bewegungen der Beine nehmen
dabei einen stoßenden Charakter an und der ganze Körper gerät in lebhaft wackelnde
Unruhe. Bei intendierten Bewegungen starke Ataxie der Arme und Hände. Vor Er¬
reichung des Zieles gerät die betreffende Extremität in ein grobes Hin- und Herfahren
und Wackeln. Die Schwingungsbreite und Schwingungszahl der Bewegungen nehmen
kreszendoartig zu, und die Extremitäten geraten in weit ausfahrende und schlagende
Bewegungen, die nur durch Unterstützung oder durch Abbrechen der Bewegungen beruhigt
werden können. Er schlägt sich dabei schonungslos ins Gesicht. Jede Arbeit mit den
Händen ist unmöglich. Auffallend ist, daß diese starken ataktischen Bewegungen der
Arme in diesem hohen Grade dann auftreten, wenn der Patient den Arm im Ellenbogen
biegen muß, und namentlich dann, wenn der Unterarm sich in einer Mittelstellung zwi¬
schen extremer Beugung und Streckung befindet Bei gestreoktem Arm ist die Ataxie
nicht entfernt so hochgradig. In gleicher Weise macht sich auch eine Ataxie an den
Beinen bemerkbar, wenn Pat. eine Bewegung unter Krümmung des Knies auszuführen
hat (Kniehackenversuch); auch ist es ihm unmöglich, auf einem Stuhl zu knien, da die
Unterschenkel dann in eine starke schleudernde Bewegung geraten. Dagegen ist Gehen
und Stehen viel weniger behindert, nur fällt dabei auf, daß er die Beine ziemlich steif
macht und jede stärkere Beugung im Knie vermeidet. Der Gang ist unsicher, stampfend,
er ermüdet leicht, benutzt einen Stock. Der Kopf befindet sich während des Gehens
meist in grober Nickbewegung und ist beim Gehen etwas nach vom geneigt. Beim Stehen
mit geschlossenen Augen starkes Schwanken, droht zu fallen, der Muskeltonus ist nirgends
erhöht, an Armen und Beinen eher etwas herabgesetzt Beim Wasserlassen öfters Be¬
schwerden insofern, als der Urinstrahl plötzlich abbricht und Pat dann nur mit Mühe
die Urinentleerung vollenden kann. Stuhlgang sehr angehalten. Schlaf unruhig, häufiges
Frieren. Psychisch: ruhig, keine Demenzerscheinungen, Sprache langsam und eintönig,
keine erhöhte Reizbarkeit, krankheitseinsichtig.
Die Untersuchung des Blutes ergibt eine negative Wassermann sehe Reaktion. Auch
der Lumbalbefund ist negativ. Eine Leberfunktionsprüfung läßt keine Störung erkennen.
Im Urin kein Urobilinogen.
Während der Krankenhausbehandlung wurde zweimal ein Anfall beobachtet. Der
Patient wird nicht ganz bewußtlos, sinkt zusammen, kann sich nicht bewegen, keine
Zuckungen; fühlt sich nach dem Anfall sehr schwach und muß zwei Tage liegen. Die
Zitter- und Wackelbewegungen sind in ihrer Intensität wechselnd, aber im allgemeinen
von gleichem Charakter wie oben beschrieben.
Im Jahr 1921 hatte ich Gelegenheit, den Kranken in Breslau nachzuuntersuchen und
konnte dabei folgendes feststellen: körperlich sehr viel magerer geworden, namentlich
die Beine sind außerordentlich dünn und muskelschlaff. Der Gesichtsausdruck ist jetzt
ausgesprochen starr. Gewöhnlich bestehen kaum Ausdrucksbewegungen. Beim Sprechen
werden die Augen weit 'aufgerissen, die Stirn hochgezogen, das Auge blickt unbeweglich
88 Die Parkinson*, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
geradeaus. Beim Betasten kann man keine Muskelspannung im Gesicht feststellen. Die
spärlichen Ausdrucksbewegungen bleiben, wenn sie einmal vorhanden sind, langer als
normal bestehen. Sprache ist noch langsamer geworden und jetzt ausgesprochen skan¬
dierend. Keine Dysarthrie. Eintöniger Tonfall, keine Modulation, keine Sprachmelodie.
Die Phonation ist unregelmäßig, die Sprache klingt kraftlos. Schluck- und Kaustörungen
bestehen nicht. Muskeltonus nirgends erhöht. An den Beinen Hypotonie.
Reflexe normal, kein Babinski, Bauchdeckenreflexe vorhanden. Auch jetzt keine Ver¬
änderungen am Sehnerv. Keine zentralen Skotome für feinste Farben. Die Bewegungs¬
störung hat den gleichen Charakter wie früher behalten, in ihrer Intensität wechselnd,
bei Bettruhe geringer. Neben den spärlichen, ganz leichten Zitterbewegungen entstehen
bei jeder Bewegung ausfahrende, schlagende Wackelbewegungen, die am meisten aus¬
geprägt sind in der Mittelstellung zwischen Beugung und Streckung der Extremitäten.
Das Wackeln, das fast ausschließlich an Bewegungsabsichten geknüpft ist, kann zuweilen
durch kräftige Innervationen vorübergehend unterdrückt werden, aber nur wenn es sich
um Bewegungen bei ausgestreckten Armen oder Beinen handelt. Die stark ausfahrenden
Wackelbewegungen bei gebeugtem Arm kann man nur dadurch beeinflussen, daß man
dem wackelnden Arm eine Unterlage gibt, wenn man z. B. den Oberarm durch ein Kissen
unterstützt und dann den Unterarm beugen läßt, so ist dies ohne Wackeln möglich.
Die Richtung des Wackelns entspricht zunächst der Bewegungsrichtung, geht aber
mit Zunahme des Wackelns auch in andere Ebenen über. Beim Gehen klagt Pat. über
steifes Gefühl in den Beinen. Er geht auch jetzt möglichst unter Vermeidung der Beu¬
gung im Knie. Die Verdauungsbeschwerden bestehen in unverändertem Maße fort. Der
Stuhl zeigt das Bild spastischer Opstipation. Leber und Milz sind nicht palpabel. Die
Leberfunktionsprüfung mit Lävulose ergibt ein positives Resultat. — Urobilinogen im
Urin: negativ.
Zusammenfassung.
Nach einer Erkältung entwickelt sich eine schwere Erkrankung, charakterisiert
durch grobschlagende Wackel- und Zitterbewegungen. Starre des Gesichts,
skandierende Sprache ohne Rigidität, auch ohne Rigor der Gesichtsmuskulatur.
Beinmuskeln eher hypotonisch, kein Hornhautring, keine Pyramidensymptome.
Gleichzeitig bestehen Darmstörungen in Gestalt einer hartnäckigen, spastischen
Obstipation; anfangs epileptiforme Anfälle. Psychisch nichts besonders Auf¬
fallendes. Verlauf außerordentlich chronisch.
Epikrise.
Was die Differentialdiagnose anlangt, so kommen vor allem zwei Erkran¬
kungen in Betracht: Hysterie und multiple Sklerose. Mit einer hysterischen
Zitterbewegung hat die Form der Motilitätsstörung zweifellos eine außerordent¬
liche Ähnlichkeit, und zur Zeit der Hochflut der Neurotiker ist diese nahe¬
liegende Diagnose in der Tat auch gestellt worden. Daß es sich aber um
eine organische Störung handelt, ergibt sich meines Erachtens einwandfrei aus
dem Befunde einer mimischen Starre und der skandierenden Sprache. Ferner
ist der Tremor des Kopfes von einer Form, wie sie bei Hysterikern kaum
vorkommt, dagegen läßt gerade diese Art an multiple Sklerose denken, mit
der die Bewegungsstörungen auch sonst Ähnlichkeit haben.
Das Erhaltensein der Bauchdeckenreflexe, das Fehlen aller spastischen Er¬
scheinungen, der negative Babinski, ferner der Umstand, daß durch Jahre
hindurch keinerlei Veränderungen im Sehnerv aufgetreten sind, läßt meines
Erachtens eine multiple Sklerose vollkommen ausgeschlossen erscheinen.
Da kein Rigor vorhanden ist, kommt eine Wilsonsche Erkrankung im
engeren Sinne des Wortes nicht in Betracht, dagegen spricht die Art der
Klinischer überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
89
Wackelbewegungen, die genau die gleiche war wie bei Pat. E. R. und die ferner
offenbar große Ähnlichkeit mit den Fällen von Rausch und Schilder, sowie
mit einem Fall von Strümpell auf weisen, sehr für eine Pseudosklerose. Auch
die Art der Sprachstörung paßt dazu, desgleichen der starre Gesichtsausdruck
und die Anfälle. Daß Rigidität nicht unbedingt zum Bilde der Pseudosklerose
gehört, geht aus anderen einwandfreien Fällen dieser Erkrankung hervor. Die
alimentäre Lävulosurie spricht außerdem für eine Leberschädigung; ferner weise
ich auf das Vorhandensein der Darmschädigungen hin.
Fall 27. Martha Tr. (Leipzig) 13 Jahre alt.
Vater Trinker, ebenso dessen Vater. Sechs Geschwister klein gestorben. Sonst keine
Besonderheiten in der Familienanamnese.
Hat rechtzeitig laufen und sprechen gelernt, war in der Schule gut, hatte als Kind
Masern und Diphtherie, 1918 Grippe? (sie hatte einmal nachts Fieber, versäumte die
Schule nicht), 1919 begannen die Hände zu zittern. Zuweilen Schwächeanwandlungen,
ist in letzter Zeit mehrfach hingefallen und hat sich dabei Verletzungen an Kopf und
Knie zugezogen. Keine Bewußtlosigkeit, kein Zungenbiß, aber Abgang von Urin während
des Anfalls. Auftreten der Anfälle drei- bis viermal am Tage. Einmal nach dem Anfall
Erbrechen, sonst keine Magen-Darmstörungen, keine Gelbsucht. Sei jetzt leichter lenkbar
als früher.
Untersuchungsbefund: Dem Alter entsprechend groß, dick, pastös. Herz, Lunge
o. B. Leber: nicht palpabeL Milz o. B. Urin normal. Leberfunktionsprüfung mit Lävulose
ergibt keine Funktionsstörung.
Nervensystem: Pupillen in Ordnung, kein Hornhautring, Augenhintergrund normal.
Keine Skotome — leichte Abduzensschwäche links. Bei Blick nach rechts und links
Nystagmus, rotatorisch und horizontal. Fazialis in Ordnung. Sprache hochgradig skan¬
dierend und zwar so, daß nicht nur die Silben abgehackt, sondern auch die einzelnen
Vokale ausainandergezogen werden. Sprache ausgesprochen langsam. Das Gesicht ist
gedunsen, pastös, wenig belebt im Ausdruck. Die Mimik zeigt fast dauernd eine etwas
erstaunte, verlegen lächelnde Geste. Die Gesichtsmuskeln fühlen sich weich an.
Reflexe: Bauchdeckenreflexe +, Patellar- und Achillessehnenreflexe normal, kein
Babinski. Kein paradoxes Phänomen.
Der Muskeltonus ist bei Vornahme passiver Bewegungen erhöht; sowohl bei lang¬
samen, ab auch bei brüsk ausgeführten Bewegungen ist anfangs ein Widerstand da, der
aber nach zweimaligem Hin- und Herbewegen nachläßt. Die Muskeln fühlen sich weich
an und haben einen normalen Turgor. Bei der Motilitätsprüfung keine Ausfälle. Beim
Gehen werden die Beine etwas adduziert gehalten. Die Patientin macht kleine Schritte,
Andeutung von spastischem Gang, leicht ataktische Unsicherheit, namentlich beim Um¬
drehen. Die Arme werden beim Gehen steif am Körper gehalten, Mitbewegungen fehlen.
Keine Asynergie, keine Adiadochokinese.
Beim Finger-Nasenversuch und beim Kniehackenversuch leichte Ataxie (Intentions¬
tremor). Die Unsicherheit in den Händen steigert sich zu einem leichten Wackeln,
namentlich dann, wenn sich' der Arm in der Mittelstellung zwischen Beugung und
Streckung befindet.
Beim Aufrichten ausgesprochenes Kopfzittem bzw. Wackeln in sagittaler Richtung,
das im wesentlichen an aktive Bewegungen geknüpft ist.
In der Ruhe kein Zittern oder Wackeln. Bei statischer Innervation tritt nach
wenigen Augenblicken leichtes Zittern der Hände und des Kopfes ein. Beim Stehen
mit geschlossenen Augen deutliches Schwanken des Körpers ohne bestimmte Fallrichtung.
Auch durch Drehung deB Kopfes wird keine Änderung hervorgerufen.
Eine besonders starke Unsicherheit macht sich bemerkbar, wenn das Kind beim
Gehen sich umdrehen soll. Entweder macht die Patientin einen kleinen Bogen oder sie
hält sich während des Drehens irgendwo fest, um nicht hinzufallen. Schrift sehr zitterig
und unregelmäßig, teils durch ausfahrende Bewegungen gestört. Leichte Demenzerschei-
nungen, ruhig, still, leicht lenkbar.
90
Die Parkinson-, Westphal-Strümpeil-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Zusammenfassung.
Ohne sichere Ursache entwickelt sich bei einem zwölfjährigen Kinde ein
Krankheitsbild, das im wesentlichen durch Intentionszittern, Nystagmus, ver¬
langsamte, skandierende Sprache und Ataxie beim Gehen und Umdrehen sich
auszeichnet. Ein leichter Rigor läßt sich bei passiven Bewegungen nachweisen,
durch wiederholte Bewegungen aber wieder ausgleichen. Der Gesichtsausdruck
ist starr. Symptome seitens der Pyramidenbahn und seitens des N. opticus
fehlen. Verlauf durchaus chronisch. Leberfunktionsstörung läßt sich nicht
nachweisen.
Epikrise.
Wie bei Fall E. R. steht hier die Charcotsche Trias im Vordergrund der
Erscheinungen, ohne daß man deswegen berechtigt ist die Diagnose Multiple
Sklerose zu stellen. Abgesehen von dem sehr jugendlichen Alter der Patientin,
sprechen auch die neurologischen Symptome nicht dafür, so fehlen alle Pyra¬
midensymptome, die Bauchdeckenreflexe sind vorhanden. Am Optikus kein
krankhafter Befund. Eine zerebellare Komponente ist sehr wahrscheinlich vor¬
handen (Nystagmus, skandierende Sprache, Ataxie), daß es sich aber nicht um
eine ausschließliche Erkrankung des Kleinhirns handelt, dafür spricht der Rigor
und die Starre des Gesichtsausdrucks. Die Bewegungsstörung gleicht ganz der
Pseudosklerose, für die auch das Auftreten der epileptiformen Anfälle spricht.
Auch die Entstehung in jugendlichem Alter läßt sich gut mit dem Bilde der
Pseudosklerose vereinen. Psychisch ist die Patientin nicht auffallend, jedoch
scheint sie nach den Aussagen der Mutter sich in ihrem Charakter doch etwas
verändert zu haben.
Eine endgültige Sicherung der Diagnose wird erst der weitere Verl&uf bringen,
jedoch glaube ich aus dem Symptomenbild eine Pseudosklerose als sehr wahr¬
scheinlich annehmen zu können, wenn auch der Homhautring, der ja auch
bei anderen Fällen vermißt wird, nicht vorhanden ist.
Fall 28. Hans W. (Eppendorf.)
Geburt und Entwicklung normal. In der Schule immer gut, auch nach Beginn des Leidens.
Etwa im 9. Lebensjahr bekam er Zustände von Steifheit bald im rechten, bald im
linken Bein, Beine waren wie eingeschlafen, krampfartiges Gefühl, konnte dann nicht
gut gehen; namentlich nach Anstrengungen wurde es schlimmer; nach V 4 Stunde Ruhe
trat Besserung ein. Sei nie behandelt worden, sondern man habe gesagt, er stelle sich
an. Infolgedessen habe er sich sehr anstrengen müssen. Etwa im 17. Lebensjahr fing
ein Zittern in den Armen an, das allmählich zunahm.
Nach der Konfirmation ins Werk- und Armenhaus, dann für acht Jahre in Familien¬
pflege auf das Land, wo er sich zunächst mitbeschäftigen konnte. Seit August 1919
wieder im Armenhaus.
Seit zwei Jahren ist der Oberkörper nach rechts geneigt; er habe deshalb eine kurze
Zeit ein Korsett getragen. Hat keine Schmerzen. Schlucken und Kauen o. B. Sprache sei
etwas langsamer geworden. Urin, Stuhl o. B. Erektionen und Pollutionen vorhanden.
Nach Angabe der Mutter gegen früher intellektuell nicht verändert, nie Anfälle, nie
Darm- oder Lebererkrankungen.
Befund: Knapp mittelgroß, mager. Haut o. B. Schmaler, steiler Gaumen. An
der Oberlippe Andeutung einer Hasenscharte. Wirbelsäule im Liegen gerade, beim Gehen
wird die linke Hüfte hochgezogen. Die Lendenwirbelsäule ist nach rechts und etwas
nach vorn geneigt, die Halswirbelsäule zeigt eine ausgleichende Biegung nach links. Der
Kopf wird meist etwas in den Nacken gelegt.
Innere Organe: Herz, Lungen o. B. Bauch gespannt, Leber, Milz nicht tastbar.
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
91
Nervensystem: Augen leichte Protrusio, Oberlider etwas hängend, aber nicht ge¬
lähmt. Augenbewegungen frei. Kein Nystagmus. Pupillen in Ordnung. Augenhinter¬
grund o. B. Facialis o. B. Zunge gerade. Mund offen, zuweilen Speichelfluß. Arm¬
reflexe o. B. Patellarsehnenrefl. lebhaft, ab und zu sind einige klonische Zuckungen
auszulösen. Ach.-Sehnenrefl. Babinski 0. Bauchdecken-Cremasterrefl. -J-. Bauch¬
decken gespannt. Kein paradoxes Phänomen.
Motilität: Keine Störung der groben Kraft. Haltung: Im Bett Kopf unter An¬
spannung beider Sterno-kleido-mastoidei abgehoben. Anne im Ellenbogen gebeugt und pro-
niert, Finger in den Grundgelenken gebeugt, aber nicht typische Pfötchenstellung.
Im Bizeps besteht eine deutliche Muskelspannung
beiderseits. Strecker am Oberschenkel leicht gespannt.
Linker Oberschenkel ist etwa 1 cm dünner als der rechte,
sonst keine Maßdifferenzen.
Muskeltonus überall erhöht. Beim Versuch, Arme
und Beine passiv zu bewegen, deutlicher Widerstand,
am stärksten bei Überwindung der Beugestellung der
Hände. Nach mehrmaligem Hin- und Herbewegen läßt
der Widerstand und die Spannung nach. Bei aktiven
Bewegungen, ganz besonders bei komplizierteren Bewe¬
gungen, kommt es zu Muskelanspannungen des ganzen
Körpers, wodurch alle Bewegungen erschwert w r erden
und ein vertracktes Aussehen bekommen. Ganz einfache
aktive Bewegungen können alle ausgeführt w r erden.
Schnell hintereinander ausgeführte Bewegungen sind an
den distalen Teilen nur sehr langsam, namentlich ist der
Wechsel zw ischen Pronation und Supination am Arm und
Klavierspielbewegungen der Finger sehr langsam. Ent¬
sprechende Bewegungen im Ellenbogen- und Kniegelenk
recht flott.
In der Ruhe zittern die Finger beiderseits in gro¬
bem, schüttelndem Tremor, den Patient zum Teil unter¬
drücken kann, wenn er sich festhält, wenn er z. B. die
Hände unter den Kopf legt. Aufregung erhöht das Zit¬
tern sehr, es geht dann auch auf ganze Gliedabschnitte
über, und es kommt zu einem schlagenden Wackeln der
Arme. Intendierte Bewegungen, Finger zur Nase unsicher
und zitternd, oft schlagendes Wackeln, jedoch keine
wesentliche Vermehrung des Ruhezitterns. Beim Gehen
nimmt das Zittern zu; um es zu vermeiden oder zu mil¬
dern, verschränkt er deshalb die Arme auf der Brust.
Wenn er das nicht tut, machen die Arme teils schla¬
gende, teils rudernde Bewegungen. Die Hände sind
dabei meist im Handgelenk gebeugt.
Beim Gehen zieht er das linke Bein nach, beide
Beine werden steif vorgesetzt, so daß der Gang etwas
Ähnlichkeit mit einem spastischen Gang hat.
Keine Propulsion, kein Schleifen am Fußboden. Dagegen deutliche Retropulsion.
Beim Sitzen gerät das rechte Bein beim Herunterhängenlassen in starkes Zittern.
Gesichtsausdruck w’egen des herabhängenden Unterkiefers etwas dement, w r enig mo¬
dulationsfähig, Ausdrucksbewegungen verharren manchmal ziemlich lange. Kein Rigor
der Gesichtsmuskulatur, keine ausgesprochene Bewegungsarmut, wohl aber Verlangsamung
der meisten Bewegungen. Kein Verharren in Haltungen.
• Bei statischer Innervation der Arme ein schüttelndes grobes Zittern, namentlich
distal. Durch kinetische Innervation kann zuweilen das Zittern für kurze Zeit unter¬
drückt werden, tritt aber dann gewöhnlich verstärkt wieder auf.
Nach längerer Ruhe, z. B. morgens nach dem Aufwachen, ist das Zittern zeitweise
ganz weg. Bei Aufregung kommt es in verstärktem Maße.
Psychisch: Kein Intelligenzdefekt, zur Zeit leicht euphorische Stimmung.
Abb. 4. Wilsonsche Krankheit.
Beachtenswert ist das plasti¬
sche Hervortreten der rigiden
Muskeln, die Haltung und das
starre Gesicht mit dem geöff¬
neten Mund.
(Aus der II. medizin. Abteilung des
l'nivers. - Krankenhauses Hamburg
Eppendorf. Prof. Dr. Nonne.)
92
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Zusammenfassung.
Mit 9 Jahren beginnt ein langsam progredientes Leiden, bestehend in
Muskelspannungen mit Zittern bzw. Wackeln und Haltungsstörungen. Pyra¬
midenbahnzeichen fehlen. Die Hypertonie der Muskeln wird verstärkt durch
Bewegungsintentionen, gemildert durch passive Bewegungen. Das Zittern be¬
steht schon in der Ruhe, wird durch Aufregungen deutlich gesteigert; durch
aktive Bewegungen, Festklammern usw. kann es vorübergehend unterdrückt
werden. Lähmungen bestehen nicht, jedoch eine durch die Rigidität bedingte
Innervationserschwerung und Bewegungsverlangsamung. Adiadochokinese an¬
gedeutet. Mund wird offengehalten. Gesichtsausdruck unbewegt. Keine Schluck-
und Kaustörung, Speichelfluß. Sprache langsam, wenig moduliert.
Psychisch: Keine Ausfälle.
Epikrise.
Wie im vorigen Fall entwickelt sich das Leiden im Kindesalter. Die
Rigidität des Muskulatur ist hier viel stärker ausgeprägt, die Wackelbewegungen
sind gröber. Eigentümlich ist die Haltung des Kranken, die einer Kypho¬
skoliose gleicht, aber im wesentlichen durch Muskelspannungen bedingt zu
sein scheint, da sie im Liegen und durch passive Bewegungen auszugleichen ist.
Es läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob es sich hier um eine
Zwangshaltung handelt oder ob wir es mit einer Haltungsanomalie zu tun
haben, ähnlich wie sie bei der Paralysis agitans Vorkommen. Auch hier sinken
die Kranken allmählich mit dem Oberkörper nach vorne. Als zerebellare Sym¬
ptome könnten die Verlangsamung der Sprache und die allgemeinen atakti¬
schen Störungen aufgefaßt werden.
Das Zittern besteht schon in der Ruhe; daß sich dieses Ruhezittem nicht
prinzipiell von der Ataxie unterscheidet, wird später noch genauer ausgeführt
werden.
Die Kombination von ataktischen Wackelbewegungen mit Rigor und mimi¬
scher Starre bei Fehlen von Pyramidenzeichen weist uns auch hier wieder auf
eine Pseudosklerose hin, jedoch wird in diesem Falle eine klinische Unter¬
scheidung von Wilsonscher Krankheit kaum möglich sein. Die Hornhautpig¬
mentierung fehlt, Anfälle sind nicht beobachtet, auch Intelligenzstörungen sind
nicht beobachtet.
Nosologisch unklarer ist folgender Fall:
Fall 29. Ernst B. (Gehlsheim.) 63 Jahre.
Vorgeschichte: Ein jüngerer Bruder leidet seit sechs bis sieben Jahren an Zit¬
tern. Sonst Familienanamnese o. B. Er selbst war als Kind gesund. Beruf: Landwirt.
1901—02 zum erstenmal wegen einer paranoischen Erkrankung in Anstaltsbehandlung;
damals ist in der Krankengeschichte von motorischen Störungen nichts bemerkt worden.
1919 erneute Anstaltseinweisung, weil er sich vollständig hatte verwahrlosen lassen und
phantastische Ideen geäußert hatte. Auf die sehr eigenartige Psychose kann in diesem
Zusammenhang nicht eingegangen werden, uns interessieren hier vielmehr nur seine Zitter¬
bewegungen, die nach Aussagen der Verwandten in geringem Maße schon seit 20—25 Jahren
bestehen sollen, seit 15 Jahren aber deutlich in die Erscheinung getreten sind.
Befund: Gut ernährter kräftiger Mann. Haut schmutziggrau. Keine Hornhaut¬
pigmentierung.
Mund fast zahnlos, an den Körperorganen keine Störungen. Blutdruck normal.
Urin frei. Keine Leberfunktionsstörung bei der Prüfung mit Lävulose. Keine Uro-
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
93
bilinogenurie. Wassermann in Blut und Liquor negativ. Phase I 6. Lymphozyten
1 3 im cbmm.
Grobe Kraft überall gut in Extremitäten und Rumpfmuskeln. Innervation ausgiebig
und andauernd. Kein Erschlaffen bei längerer Innervation. Keine ruckweise Inner¬
vation, keine Innervationsnachdauer.
Reflexe: Pat.-Sehnenrefl. -K Ach.-SehnenrefL schwach. Bauchdeckenreflexe
Kremastesrefl. +.
Armreflexe: Trizepsrefl. -\- 9 Bizeps schwach, Radiusperiostrefl. sehr schwach, nur
unter Tonuserhöhung bei Zusammenpressen der Beine auslösbar. Babinski 0. Paradoxes
Phänomen 0. Kein Verharren in Haltungen.
Mechanische Muskelerregbarkeit in den Beinen schwach, an den übrigen Muskeln
des Rumpfes etwas deutlicher, aber keineswegs erhöht.
Muskeltonus: Die Beinmuskulatur fühlt sich schleif an, Beingelenke sind seh*
leicht beweglich, hypotonisch. An Fußgelenken sind Schlenkerbewegungen auslösbar. Die
Hacken sind bei Beugung der Knie ohne Schwierigkeit aktiv bis an das Gesäß zu bringen.
Bei Prüfung des Muskeltonus, der im allgemeinen herabgesetzt ist, findet man zuweilen
einen durch unwillkürlich auftretende, ruckartige Bewegungen erzeugten kurzdauernden
Widerstand.
Muskeltonus an den Armen etwas stärker herabgesetzt, Muskeln fühlen sich schlaff
an, sind aber keineswegs atrophisch. Im Handgelenk und Ellenbogengelenk können
Schlenkerbewegungen ausgeführt werden; auch beim Gehen macht er oft schlenkernde
Bewegungen mit den Armen.
Ebenso wie in den Beinen sind auch in den Armen bei passiven Bewegungen ab
und zu ruckartige, nur kurz dauernde Tonuserhöhungen zu beobachten. Rücken- und
Halsmuskulatur nicht im Tonus verändert. Mitbewegungen: Bei einfachen und kom¬
plizierten Bewegungen einer Extremität treten in der anderen Extremität keine Mitbe¬
wegungen auf; dagegen findet man meist bei allen ausgeführten Bewegungen deutliche
Mitbewegungen im Fazialisgebiet, im Sinne eines Zusammenpressens des Mundes und der
Lippen, wobei die Lippen etwas eingestülpt werden. Die Stärke dieser Mitbewegungen
ist abhängig von der Kraftanstrengung des Patienten. Die normalen Mitbewegungen,
wie Armpendeln beim Gehen, sind in gewöhnlicher Weise vorhanden. Keine Asynergie.
Keine Adiadochokinese. Kein Stewart Holms' Symptom, keine Bradytheleokinese. Bei
Prüfung der groben Kraft tritt beim Loslassen eine ausfahrende Bewegung in der Rich¬
tung der stattgehabten Innervation ein.
Beim Gehen plötzliches Anhalten und Kehren möglich. Keine Retro-, Latero- und
Propulsion.
Wenn Patient in Ruhe sitzt, die Hände auf dem Schoß gelagert, so finden ganz
leichte, stoßende Zitterbewegungen statt, hervorgerufen durch leichte, klonische Zuckungen,
namentlich im Trizeps und Bizeps. Patient sucht diese spontan auftretenden Zitter¬
bewegungen dadurch zu vermeiden, daß er den Arm in Streckhaltung anspannt und
dabei die Handflächen auf die Knie stützt. Sonst finden sich in der Ruhe keine Zitter¬
bewegungen.
Beim Gehen und Stehen trägt Patient den Kopf etwas in den Nacken gebeugt, und
zwar sucht er durch diese Haltung die sonst spontan auftretenden rhythmischen Be¬
wegungen zu vermeiden. Läßt man den Patienten den Kopf etwas nach vorn beugen,
so treten beim Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen rhythmische Kontraktionen auf, sym¬
metrisch in beiden M. stemo-cleido-mast., und zwar in sehr lebhaftem Tempo etwa 160
bis 180 in der Minute. Die Bewegungen sind von geringer Amplitude. Bei Palpation
des M. stemo-cleido-mast. fühlt man die Kontrakturen deutlich. An den Muskeln des
Nackens sind keine ruckartigen Bewegungen nachweisbar.
Dreh- und Neigungsbewegungen des Kopfes haben keinen Einfluß auf diese Be¬
wegungen, die gleicherweise ebenfalls symmetrisch fortgehen. Fast ganz zum Stillstand
gebracht werden können diese Bewegungen dadurch, daß Patient den Kopf in den Nacken
legt, wobei durch Verlängerung des M. stemo-cleido-mast. eine Beruhigung desselben
eintritt.
Eine leichte Zitterbewegung kann man manchmal im Fazialisgebiet konstatieren,
jedoch ist diese Beobachtung nicht sicher, da sie auch durch Erschütterung der schlaffen
94 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
Wangenmuskulatur infolge der Kopfbewegung ausgelöst sein kann. Eine langdauernde
tonische Innervation im Fazialisgebiet (andauerndes Zähnezeigen und andauerndes Augen¬
schließen) ist dem Patienten nicht möglich. Eb treten dann Zuckungen auf. Zittern
des Kiefers wird manchmal beobachtet. Langdauernde tonische Innervation des Kau¬
muskels nicht möglich.
Im Gebiet der Zunge findet man, solange sie in Ruhe ist, keine Zitterbewegungen;
wird sie dagegen frei, d. h. bei weitgeöffnetem Munde herausgestreckt, so zuckt sie regellos
hin und her, kann nur für Augenblicke ruhig gehalten werden. Das Tempo der Zungen¬
bewegungen ist wesentlich langsamer als das der Nickbewegungen, etwa 100 in der Mi¬
nute. Auch ist es nicht rhythmisch, sondern unregelmäßig. Patient bemüht sich, es zu
unterdrücken dadurch, daß er beim Zungenherausstrecken die Lippen fest um sie
herumkneift.
Sprechen und Schlucken ist nicht gestört. Willkürliche Bewegungen der Zunge,
aktives schnelles Hin- und Herbewegen +.
Wenn Patient im Bett liegt, besteht an den oberen Extremitäten kaum Zittern, nur
selten wird leichtes, vorübergehendes Zucken an den Unterarmen, namentlich im Sinne
der Pro- und Supinationsbewegungen bei psychischer Erregung bemerkt
Bei statischer Innervation, wenn Patient die wagrecht erhobenen Arme einen Augen¬
blick gehalten hat, beginnt ein leichtes Zittern der Fingerspitzen, das sich dann rasch
auf das Handgelenk verbreitet Vorübergehend unterdrückt wird diese Bewegung da¬
durch, daß der Patient die Handgelenke und Finger extrem streckt, wobei eine leichte,
Uberstreckung der Finger stattfindet. Die Zitterbewegungen bei gestrecktem Arm-,
Ellenbogen-, Handgelenk und gestreckten Fingern besteht in leichten rhythmischen Pro-
und Supinationsbewegungen von geringer Amplitude; ferner in einem ganz leichten, nur
angedeuteten Beugen und Strecken der Finger, ebenfalls leichten Abduktionen der Finger
und in angedeuteten Drehbewegungen der Finger im Grundgelenk.
Wird bei gestrecktem Arm die Faust geschlossen, so hören die Fingerbewegungen
auf; man erkennt jedoch deutliche Zuckungen der M. interossii, außerdem wird dann
das Zittern des Handgelenks etwas stärker, hat einen schüttelnden Charakter. Läßt
man, immer noch bei ausgestrecktem Arm, das Handgelenk beugen, so daß die Hand in
»Fallhandstellung« herabhängt, so verstärkt sich der Tremor außerordentlich und zwar
so, daß die herabhängende Hand pendelartig nach links und rechts schwingt und Beuge-
und Drehbewegungen der Finger etwas zunehmen. Dann breitet sich das Zittern rasch
und in verstärktem Maße auch auf den Oberarm aus.
Läßt man auch den Arm im Ellenbogengelenk beugen, so tritt auch bei statischer
Innervation in dem gestrecktem Arm ein starker, schüttelnder, rhythmischer Tremor auf,
der im wesentlichen in den Beugebewegungen des Unterarms besteht und ohne große
Amplitude ist; gleichzeitig wird auch der Unterarm in wesentlich größerer Schwingungs-
Weise pendelartig hin und her geschlagen. In der Hand sind dieselben Bewegungen,
wie vorher beschrieben, bei gebeugtem Ellenbogen in erhöhtem Maße zu beachten. Dies
Zittern wird dann, langsam wachsend, immer rascher, so daß Patient diese Haltung nur
für 1 / 1 Minute aushält, dann den Arm sinken läßt. Unterstützt man den Ellenbogen, so
ändert dies an den Zitterbewegungen des Armes nichts, nur wird die Übertragung der
Bewegung auf den Oberarm dadurch gedämpft.
Bei kinetischer Innervation der Arme ist im allgemeinen dasselbe zu beobachten,
nämlich daß alle Bewegungen, die bei gestrecktem Ellenbogen und gestrecktem Hand¬
gelenk ausgeführt werden, relativ wenig behindert sind, daß dagegen, sowie eine Beugung
in diesen Gelenken zur Ausführung der intendierten Bewegungen benötigt wird, ein
starker, schlagender Tremor auftritt, dessen Amplitude distal, entsprechend dem ver¬
längerten Hebelarm wächst Hantieren mit schwereren Gegenständen ist ganz gut mög¬
lich, solange die Arme dabei nicht oder nur wenig gebeugt zu werden brauchen. Patient kann
ohne weiteres das Bett in die Höhe heben, zittert dabei nur etwas mit dem Kopfe. Wenn
er einen Stuhl in die Höhe hebt, so tut er das mit im Ellenbogen gestreckten Arm;
die Waschschüssel faßt er so, daß er beide Handflächen mit gestreckten Fingern unter
den Rand der Schüssel legt und die Schüssel dann mit geradeaus von sich gestreckten
Armen weiter trägt. Muß er dagegen zum Fassen eines Gegenstandes, z. B. einer Kaffee¬
tasse, die Finger brauchen, so gelingt es ihm im Stehen überhaupt nicht, im Sitzen mit
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
95
unterstütztem Arm macht es ebenfalls noch große Schwierigkeiten. Er stößt dabei leicht
die Tasse um. Zum Trinken setzt er sich vor den Tisch, faßt die Tasse mit den Hohl¬
händen und führt sie bei aufgestütztem Ellenbogen zum Munde. Beim Krümmen der
Arme tritt auch hierbei ein heftiges Schütteln ein, das aber durch Aufstützen der Arme
und Annähem des auch hier in den Nacken geschlagenen Kopfes etwas gedämpft wird,
so daß Patient immerhin ohne fremde Hilfe essen und trinken kann.
Beim Zuknöpfen des Hemdes beobachtet man ähnlich, daß er nur dann die Hemd¬
knöpfe auf der Brust schließen kann, wenn er beide Ellenbogen fest an den Körper
preßt. Will er den Knopf am Ärmel zumachen, so streckt er beide Arme vor sich, daß
die Ellenbogen möglichst gestreckt sind und bemüht sich auch beim Knöpfen, soweit
es möglich ist, Hand und Finger gestreckt zu halten. Sehr deutlich tritt das Stärker¬
werden der Zitterbewegung dann auf, wenn man den Patienten auffordert, mit dem
Arm, der gerade gestreckt und dabei relativ ruhig ist, sich an die Nase zu greifen. Es
tritt dann ein krescendoartig ansteigender, schlagender Tremor der Finger auf, so daß
Patient sich ins Gesicht schlägt; das Ziel wird erreicht, aber wegen des wachsenden
Tremors sofort wieder verlassen. Wenn man den Versuch mit geschlossener Faust machen
läßt und auffordert, z. B. das erste Glied des Daumens an die Nase zu bringen, tritt
keine Änderung dabei auf. Das Waokeln erfolgt dabei nicht nur in der Richtung der
beabsichtigten Bewegungen, sondern auch senkrecht dazu und in allen möglichen anderen
Bewegungsebenen. Während der Ausführung passiver Bewegungen kommt es nicht zu
Zitterbewegungen.
Es selbst gibt an, daß er beim Anfassen von relativ schweren Gegenständen wenig
Beschwerden habe, daß er sich jedoch hüte, feinere Sachen anzufassen, da er dabei
Gefahr laufe, dieselben hinzuwerfen.
Patient ist ungemein bewegungsreich, macht sehr lebhafte Ausdrucksbewegungen,
Gestikulationen. Seine aktiven Bewegungen sind sehr rasch, hastig. Er geht und läuft
in sehr raschem Tempo.
Der Zustand ist seit zwei Jahren unverändert geblieben.
Zusammenfassung.
Im vorgerückten Alter (wohl zwischen 30 und 40 Jahren) entwickelt sich
ein schlagender Tremor bei einem Manne, der nebenher auch an einer para¬
noischen Psychose leidet. Der Tremor besteht in der Ruhe und nimmt bei
Intentionen zu, bei gebeugtem Arm kommt es zu einem starken Hin- und
Herschlagen, das sich nicht nur auf Beugung und Streckung beschränkt, son¬
dern auch in anderen Richtungen auftritt. Das Zittern befällt nicht nur die
Arme, sondern auch Kopf und Beine. Reflexanomalien, Muskelspannungen
fehlen, dagegen läßt sich eine ausgesprochene Hypotonie der Bein- und Arm¬
muskeln nachweisen. Mimik ungestört, keine Bewegungsarmut oder Inner¬
vationserschwerung, keine Adiadochokinese. Anfälle sind nicht beobachtet.
Bei einem Bruder ist ein ähnliches Zittern in geringerem Grade vor¬
handen.
Epikrise.
Die Bewegungsstörung zeigt mit Fällen sicherer Pseudosklerose manche
Übereinstimmung, besonders hinsichtlich der Verteilung und der Art der Aus¬
lösung. Eine frappante Ähnlichkeit besteht mit Fall E. R., Gö., sowie mit
Fällen von Strümpell, Rausch und Schilder, hinsichtlich der Zunahme
des Wackelns, wenn die Extremität oder der Körper gebeugt werden. Es
kommt dabei auch hier zu dem wilden, schüttelnden Schlagen. Ferner be¬
steht in gleicher Weise wie bei den eben erwähnten Fällen eine ausgespro¬
chene Muskelhypotonie. Dagegen fehlen die Störungen der Mimik und der
Sprache, auch Nystagmus ist nicht vorhanden. Bewegungsarmut, Innervations-
96 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
erschwerung oder Verlangsamung der Bewegungen ist ebenfalls nicht zu be¬
obachten.
Die Diagnose Pseudosklerose, die sich hier nur auf die Art der Bewegungs¬
störung stützen könnte, erscheint daher nicht ohne weiteres berechtigt. Was
käme sonst noch in Betracht? Hysterie kann bei der Art der Bewegungs¬
störung, besonders angesichts der deutlich vorhandenen Hypotonie, ausgeschlossen
werden. Am ehesten wäre an den sogenannten essentiellen, hereditären Tremor
zu denken, zumal da ein Bruder eine ähnliche Zitterstörung hat. Unter dieser
Diagnose werden offenbar recht verschiedene Erkrankungen zusammengefaßt.
Oppenheim erwähnt Fälle vom Charakter des Intentionszittems mit gleich¬
zeitig skandierender Sprache (Pseudosklerose?). Bei Fällen von Kreiß ist eben¬
falls das Zittern im wesentlichen an die Bewegung geknüpft, bzw. es wird
durch solche verstärkt. Das gleiche gilt von zwei Fällen Braschs, während
bei einem weiteren Fall dieses Autors das Zittern nur bei statischer Inner¬
vation zur Geltung kommt, bei kinetischer dagegen vermißt wird. Interessant
ist, daß schon Nagi auf Ähnlichkeiten mit dem Krankheitsbild der von West-
phal zum ersten Male beschriebenen Pseudosklerose hin weist.
Die Feststellung, daß es sich bei Be. um einen essentiellen Tremor handle,
befriedigt nicht, denn der essentielle Tremor ist m. E. keine Krankheit, sondern
eine Verlegenheitsdiagnose; abgesehen vom Zittern der Neurastheniker und
Alkoholiker findet man bei den als »essentieller Tremor« etikettierten Krank-
heitsbildem eine Gruppe von Fällen, die ähnlich wie der vorliegende bezüg¬
lich des Charakters ihrer Bewegungsstörungen als forme fruste einer Pseudo¬
sklerose aufzufassen sind. Das Einhergehen mit psychischen Degenerationen
(Raymond Dama), das von Oppenheim beobachtete Begleitsymptom der
skandierenden Sprache spricht nicht dagegen. Eine Nachuntersuchung ein¬
schlägiger Fälle unter Berücksichtigung der durch die nähere Erforschung der
subkortikalen Bewegungsstörungen erworbenen Erkenntnisse, würde die Gruppe
des essentiellen Tremors wahrscheinlich auflösen oder doch sehr verkleinern.
Da es sich bei diesen Formen um sehr chronisch verlaufende Krankheitsfälle
handelt, die zudem meist nicht dauernder Krankenhausbehandlung bedürfen,
werden beweisende Sektionsbefunde schwer zu beschaffen sein.
Überblicken wir alle bis jetzt veröffentlichten sicheren oder einigermaßen
sicheren Fälle, so finden wir eine ganze Reihe von Beobachtungen, bei denen
rein klinisch kaum zu sagen ist, ob hier eine Pseudosklerose oder eine Wilson¬
sche Krankheit vorliegt.
An diese »Mittelfälle« schließen sich nach beiden Seiten hin Erkrankungen
an, die sich ganz allmählich von dem Mischtypus entfernen, so daß wir auf
der einen Seite einwandfreie Pseudosklerosen, auf der anderen Seite sichere
Wilsonsche Krankheit antreffen. Besonders klar wird der Unterschied zwischen
beiden, wenn wir folgende differential-diagnostische Erwägungen anstellen:
Wir haben auf der Seite der Pseudosklerosen oft Schwierigkeiten, die Er¬
krankung von der multiplen Sklerose zu trennen. Auf dem anderen Flügel
sehen wir Verwechslungen der Wilsonschen Krankheit mit Paralysis agitans
Vorkommen. Die Paralysis agitans und die multiple Sklerose bedingen aber
derartig verschiedene Erscheinungen, daß ein Auseinanderhalten der ihnen
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
97
jeweils ähnlichen Krankheitsbilder auch nicht schwer sein dürfte, wenn es
neben den reinen Formen nicht noch symptomatisch etwas verschwommene
Mischtypen gäbe. Auch der Umstand, daß die Wilsonsche Krankheit mit dem
Torsionsspasmus offenbar eine gewisse Ähnlichkeit besitzt, daß diese Erkran¬
kung andererseits kaum zu Verwechslungen mit der Pseudosklerose oder, der
multiplen Sklerose führen kann, zeigt deutlich, daß reine Formen der Wilson-
schen Krankheit symptomatologisch sich ganz anders verhalten als die Pseudo¬
sklerose.
Was zunächst die Differentialdiagnose der Pseudosklerose gegenüber
der multiplen Sklerose anlangt, so hat Oppenheim darüber eine übersicht¬
liche Zusammenstellung gegeben, die aber insofern den Tatsachen nicht ganz
gerecht wird, als er gleichzeitig auch die Wilsonschen Krankheitskomplexe,
die er mit der Pseudosklerose fast indentifizierte mit hineinbezog. Zunächst
muß betont werden, daß die Charkotsche Trias, wenn sie allein vorhanden
ist, keineswegs die Diagnose multiple Sklerose sichert. Eine solche konnte
ich z. B. bei der obenerwähnten Pat. E. R. feststellen. Hier handelte es sich
aber um eine einwandfreie Pseudoklerose ohne Pyramidenerscheinungen mit
typischer Hornhautpigmentierung: außer dem nystagmusartigen Augen wackeln,
der skandierenden Sprache, und der Intensionsataxie, waren keine der üblichen
Merkmale für multiple Sklerose vorhanden gewesen; die Bauchdeckenreflexe
waren deutlich; die übrigen Reflexe regelrecht, kein Babinski, keine tempo¬
rale Abblassung der Sehnerven, keine zentralen Skotome. Auch bei Fall Tr.
beherrschte die Charkotsche Trias das Bild, und auch hier war eine multiple
Sklerose auszuschließen.
Der Muskeltonus kann sowohl bei der multiplen Sklerose, als auch bei
der Pseudoklerose erhöht sein. (Bei der Pseudosklerose braucht er es nicht zu
sein!) Besteht eine Hypertonie, so ist sie bei der multiplen Sklerose spasti¬
scher Natur. Sie geht einher mit Reflexsteigerung und Babinski und ent¬
spricht in ihrer Verteilung dem Typus Wernicke-Mann. Bei der Pseudo¬
sklerose handelt es sich um einen Rigor von gleichmäßig zäher Beschaffen¬
heit; auch er kann nach einem Prädilektionstyp verteilt sein, der sich aber dadurch
auszeichnet, daß die proximalen Muskelgruppen mehr betroffen sind, als die
distalen. Bei der multiplen Sklerose ist der Spasmus im allgemeinen mit einer
Parese verknüpft. Eine solche kann bei der Pseudosklerose fehlen, jedoch
kann eine gewisse Muskelschwäche, die nicht dem Prädilektionstypus entspricht,
und auf deren Eigenart später noch einzugehen sein wird, vorhanden sein.
Während das Zittern bzw. die Ataxie bei der multiplen Sklerose an
statische oder noch häufiger an kinetische Innervationen geknüpft ist, besteht
bei der Pseudosklerose häufig schon in der Ruhe ein leichtes Zittern, es tritt
allerdings auch hier bei Intentionen stärker auf und wird zu einem heftigen
Wackeln, das in seinem Ausmaß und in seiner Intensität grob und ausfahrend
ist, so daß es unter Umständen an wildes Umherschlagen erinnert. Im All¬
gemeinen wird aber der Charakter dieser Bewegungsstörung kein differential¬
diagnostisches Kriterium sein können, da es in vorgeschrittenen Fällen von
multipler Sklerose auch zu solch hochgradiger Ataxie kommen kann. Hat
doch gerade die Ähnlichkeit der Wackelbewegungen mit denen der multiplen
Sklerose zur Bezeichnung »Pseudosklerose« geführt.
Iiost r o«‘m. Syniptomenkomplex. 7
98 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
Die Bauchdeckenreflexe, die bei der multiplen. Sklerose schon frühzeitig zu
erlöschen pflegen, sind bei der Pseudosklerose immer erhalten. Dagegen fehlt
bei der multiplen Sklerose die Starre des Gesichtsausdrucks, die bei der
Pseudosklerose meist wenigstens angedeutet ist, wenngleich dies Symptom in
noch höherem Maße der Wilsonschen Krankheit zukommt. Das gleiche gilt
von der Bewegungsverarmung, die bei der multiplen Sklerose in reiner Form
nie beobachtet wird. Sensibilitätsstörungen gehören nicht zum Bilde der
Pseudosklerose, auch temporale Abblassung der Sehnerven und zentrale
Skotome sind nur für multiple Sklerose charakteristisch. Augenmuskel¬
störungen, besonders die anamnestische Angabe des Doppelsehens sprechen
ebenfalls gegen Pseudosklerose. Auch pflegt bei der Pseudosklerose der Ver¬
lauf nicht, oder doch nur höchst selten, von Remissionen unterbrochen zu
werden. Unbedingt pathognomonisch für die Pseudosklerose ist das Vor¬
handensein der Hornhautpigmentierung; jedoch schließt sein Fehlen die Dia¬
gnose nicht mit Sicherheit aus. Sehr charakteristisch, aber ebenfalls nicht un¬
bedingt erforderlich ist das Vorkommen von Anfällen epileptiformer Art,
bei der Pseudosklerose. Psychische Störungen, meist Demenz, kommen bei
der Pseudosklerose oft recht frühzeitig vor; sie brauchen jedoch namentlich
bei späteren Stadien der multiplen Sklerose nicht zu fehlen.
Ein Symptom, das bei beiden Erkrankungen in sehr ähnlicher Weise Vor¬
kommen kann, ist die Sprachstörung. Die Kranken sprechen meist skan¬
dierend und langsam. Auch Dysarthrie wird zuweilen beobachtet. Ferner
ist die Phonation dabei^häufig gestört; die Stimme klingt belegt oder schwach,
ist dabei eintönig, oft weinerlich.
Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale, die Erkrankung der Leber,
läßt sich in weitaus den meisten Fällen klinisch nicht feststellen; man wird
daher eine Leberfunktionsprüfung nur im positiven Fall zur Differentialdia¬
gnose heranziehen können.
Nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet zuweilen die Differentialdiagnose
der Pseudosklerose gegenüber der Hysterie. Gerade der Umstand, daß bei
der Pseudosklerose die üblichen organischen Zeichen, Babinski, Reflexanomalien,
zu fehlen pflegen, macht es begreiflich, daß die Erscheinungen mit hysterischem
Schüttelzittern verwechselt werden können. Als differentialdiagnostische Kri¬
terien kommen in erster Linie die Sprachstörungen, die Art des Tremors, be¬
sonders seine Zunahme bei Intentionen, in Betracht. In den Fällen von Pseudo¬
sklerose, die mit Hypotonie oder normalen Muskeltonus einhergehen, läßt
sich schon daraus die Diagnose Hysterie ablehnen, weil die Hysteriker fast
ausnahmslos während ihrer Zitterbewegungen die Muskeln heftig anspannen.
(Pseudospasmus.)
Die oben erwähnten Unterschiede gegenüber der multiplen Sklerose sind
nicht immer und nicht alle in jedem Fall anwendbar, zumal da es eine
Reihe von Fällen gibt, die symptomatologisch zwischen beiden Krankheiten
stehen. Auffälligerweise gehört der Fall, bei dem es Alzheimer als erstem
gelungen ist anatomische Veränderungen nachzuweisen, auch in diese Gruppe
hinein. Klinisch fand sich nämlich Fußklonus beiderseits und linksseitiger
Babinski; das Vorkommen von Fußklonus, der übrigens auch bei anderen
Fällen von Pseudosklerose beobachtet wird, halte ich namentlich wenn er
Klinischer Überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose.
99
erschöpfbar ist, nicht unbedingt für ein Zeichen von Pyramidenschädigung.
Sogar ein scheinbar unerschöpflicher Fußklonus kann bei funktionellen Er¬
krankungen ausnahmsweise Vorkommen, allerdings in besonderer Form. Es
ist daher auch die Möglichkeit eines Fußklonus bei Hypertonie extrapyrami¬
daler Genese als möglich zuzugeben. Dies gilt jedoch nicht vom Babinski,
der immer als sicheres Zeichen einer Pyramidenschädigung aufzufassen ist.
In dem Falle von Alzheimer ist außerdem noch von einer spastischen Hemi¬
parese die Rede. Ob dabei der Wern icke-Mann sehe Prädilektionstyp vor¬
lag, ist leider nicht angegeben. Auch fehlt eine Notiz über das Verhalten
der Bauchdeckenreflexe. Ob diese durch spastische Hemiparese und positiven
Babinski wahrscheinlich gemachte Pyramidenbahnschädigung zu dem eigent¬
lichen anatomischen Prozeß der Pseudosklerose gehört, oder ob eine zufällige
Kombination besteht, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Als anatomische
Grundlage für diese Pyramidenbahnschädigung konnte Alzheimer eine De¬
generation des linken Pyramidenseitenstrangs und rechten Pyramidenvorder¬
strangs nachweisen. Es erinnert dies an die einzigen anatomischen Befunde
bei den ersten Fällen von Pseudosklerose, die von Westphal und Strümpell
beschrieben wurden, bei denen sich ebenfalls Lichtungen im Gebiet der Pyra¬
midenbahn fanden, nb. ohne Pyramidenbahnsymptome zu veranlassen. In dem
von mir beschriebenen Fall war übrigens ebenfalls eine geringe Faserlichtung
im Gebiet des linken Seitenstrangs zu finden. Einen ähnlichen Befund teilt
Schütte mit. Durch die Beteiligung der Pyramidenbahn wird bei dem Alz-
heimerschen Fall klinisch die strenge und ausschließliche Zugehörigkeit zu
den extrapyramidalen Motilitätsstörungen in Frage gestellt. Handelt es sich
um einen wesentlichen Unterschied, oder nur um ein zufälliges Überdie-
ufertreten des krankhaften Prozesses, wie Strümpell sich ausdrückt? Jeden¬
falls kommt diesem Befund eine differentialdiagnostische Bedeutung zu, die
einer kurzen Besprechung an dieser Stelle bedarf:
Offenbar gehört hierher auch ein von Creutzfeld beschriebener Fall, der
zunächst das Bild einer multiplen Sklerose bot (Nystagmus, spastische Parese,
Babinski, skandierende Sprache, Zwangslachen, schubartiger Verlauf). Später
trat dazu eine eigenartige psychische Veränderung. Anfälle und sonderbare
motorische Erscheinungen. Anatomisch fand sich nichts von multipler Skle¬
rose, sondern ein nicht entzündlicher herdförmiger Untergang des Nervenge¬
webes in der Großhirnrinde mit Neuronophagie und reparatorischer Glia¬
wucherung, zum Teil auch mit Gefäßproliferation, eine nicht entzündliche
diffuse Zellerkrankung mit Zellausfall im Bereich der gesamten grauen Sub¬
stanz. Der Verfasser rechnet die Erkrankung in das große Gebiet der
Pseudosklerosen, obwohl die typischen Zellbefunde Alzheimers nicht vor¬
handen waren.
Drei ähnliche Fälle, die klinisch zunächst am meisten an multiple Sklerose
erinnern (Babinski, fehlende Bauchdeckenreflexe), während bulbäre Symptome,
psychische Veränderungen und eigentümliche Motilitätsstörungen die Diagnose
zweifelhaft erscheinen ließen, teilt Jakob mit. Auch hier fanden sich De¬
generationen der Ganglienzellen, diffuser Markfaserausfall bei allgemeiner proto-
plasmatischer Gliawucherung, Neuronophagien, Gliarosetten, besonders in den
vorderen Zentralwindungen, vorderen Teilen des Striatums, in den medialen
100 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Thalamuskernen, in der Medulla oblongata und im Stirnhirn. Jakob nimmt
Beziehungen an zu dem eben erwähnten Fall von Creutzfeld, sowie zu einem
früher von Alzheimer beschriebenen Fall, der allerdings klinisch weniger
gut dazu paßt. Ähnlichkeiten bestehen auch mit einer von Economo und
Schilder beschriebenen Erkrankung im Präsenium. Jakob stellt ein neues
Krankheitsbild auf, das er wegen der Vereinigung von Symptomen, pyrami¬
daler und extrapyramidaler Art als »spastische Pseudosklerose« bezeichnet. Viel¬
leicht gehört hierher auch noch ein Fall von Gerstmann und Schilder,
bei dem sich ebenfalls ähnliche Motilitätsstörungen fanden. Zur Sektion ist
dieser Fall noch nicht gekommen.
Ich glaube, daß dieses Krankheitsbild nicht zur Pseudosklerose gehört,
weil einerseits die für diese Erkrankung charakteristischen Gliaveränderungen
Alzheimers nicht beobachtet sind, und vor allem weil die Leber Veränderung
fehlt. Differentialdiagnostisch sind die Fälle jedenfalls von großer Bedeutung,
sie bilden offenbar eine Gruppe für sich, zu der jedoch der Fall von Alz-
heimer-Hößlin, m. E. nicht zu rechnen ist. Er gehört trotz des vorhan¬
denen Babinski, der als zufälliger Nebenbefund zu buchen ist, nach den Be¬
funden im Gehirn und an der Leber sicher zur Pseudosklerose.
Die reinen Fälle von Wilsonscher Krankheit sind auf der anderen Seite
schwer vom Torsionsspasmus oder auch von der Paralysis agitans,
namentlich von der sogenannten juvenilen Form abzugrenzen. Hinsichtlich
der Unterscheidung vom Torsionsspasmus kann zurzeit noch nichts Ab¬
schließendes gesagt werden, weil diese Erkrankung bis jetzt noch keine ge¬
sicherte anatomische Grundlage besitzt. Der einzige Fall mit Sektionsbefund
(Thomalla) zeigte nicht nur eine Erweichung der beiden Putamina, sondern
auch die noch für Wilsonsche Krankheit charakteristische LeberVeränderung.
Ob es sich bei dieser Beobachtung nicht um einen echten Fall von Tor¬
sionsspasmus handelt, wie Mendel meint, oder ob die beiden Erkrankungen
näher miteinander verwandt sind, als man jetzt annehmen kann, muß dahin¬
gestellt bleiben. Rein symptomatologisch zeichnet sich der Torsionsspasmus
gegenüber der Wilsonsehen Krankheit durch die ziehenden, grotesken Bewe¬
gungen, von denen das Gesicht verschont bleibt, und die Lordose aus, während
für Wilson mehr die bleibende Starre, vor allem auch der maskenartige Ge¬
sichtsausdruck und die Sprachstörung charakteristisch bleiben. Pyramiden¬
symptome fehlen bei beiden Erkrankungen.
Die typische Paralysis agitans, wie sie sich im vorgerückten Alter ent¬
wickelt, wird im allgemeinen kaum Veranlassung zur Verwechslung mit Wil¬
sonscher Krankheit geben, wohl aber liegt diese Möglichkeit bei den Fällen
juveniler Paralysis agitans vor, sowie bei atypischen Formen der Schüttel¬
lähmung, namentlich solchen, die mit bulbären Symptomen einhergehen. Die
typischen Formen der Paralysis agitans sind zu bekannt, als daß ich sie durch
Beispiele zu belegen brauchte. Ich will nur kurz die einzelnen Symptome in ihrer
Beziehung zur Wilsonschen Krankheit hervorheben: bei beiden spielt die Haupt¬
rolle der Rigor der Muskulatur. Er ist in seiner Beschaffenheit zäh, wachsartig,
in bezug auf seine Verteilung bevorzugt er die Halsmuskeln, sowie die proxi¬
malen Gliedabschnitte, ohne die distalen ganz zu verschonen. Auch die Kör¬
perhaltung ist bei beiden Erkrankungen oft recht ähnlich. Eine deutliche
Klinischer überblick über Wilsonsche Krankheit und Pseudosklerose. J01
Übereinstimmung findet sich auch in bezug auf die mimische Starre, den
seltenen Lidschlag und die Verarmung der Ausdrucksbewegungen.
Aktive Bewegungen können die Spannungen vorübergehend unterbrechen,
passive Bewegungen wirken bei der Parkinsonschen Erkrankung vorübergehend
tonusvermindemd, wenn sie wenigstens langsam und ohne brüske Dehnung
ausgeführt werden. Bei der Wilsonschen Krankheit ist mitunter eine tonus¬
steigernde Wirkung passiver Bewegungen beobachtet worden. (Stertz, Gerst-
mann-Schilder, letztere allerdings in einem nicht ganz gesicherten Fall.)
Eine eigenartige Muskelschwäche, die nicht eigentlich als Lähmung anzusprechen
ist, kommt ebenfalls bei beiden Erkrankungen zur Beobachtung.
Das Zittern, das der Paralysis agitans den Namen verliehen hat, ist kei¬
neswegs das Hauptsymptom, es kann sogar unter Umständen fehlen, wodurch
das Krankheitsbild der Paralysis agitans sine agitatione zustande kommt. In¬
teressanterweise finden wir bei der Wilsonschen Krankheit ebenfalls einige
Fälle beschrieben ohne Zittern, und davon einer mit charakteristischem Sektions¬
befund. (Economo, ferner Stertz und Chotzen.)
Die Art des Zitterns kann sich bei beiden Erkrankungen auffallend gleichen.
Bei der Paralysis agitans handelt es sich um das bekannte Pillendrehen der
Finger, das bei fortgeschrittenen Fällen einen etwas gröber schüttelnden Cha¬
rakter annehmen und sich mitunter auf die weiter proximal gelegenen Ge¬
lenke mit erstrecken kann. Ähnliches Zittern wird auch bei Wilson beobachtet.
Leider lassen die Beschreibungen der Wilsonschen Originalfälle hier im Stich,
da sie keine genaue Schilderung des Zitterns enthalten. In dem Stöckerschen Fall
war die Ähnlichkeit jedenfalls so groß, daß Bonhöffer denselben Fall anfangs
als Paralysis agitans juvenilis ansprach. Wenn man die Vorgeschichte einzelner der¬
artiger Erkrankungen betrachtet, so findet man zuweilen in den Anfangsstadien
die Diagnose Paralysis agitans verzeichnet. Die Ähnlichkeit mit dem Krankheits¬
bild verwischt sich aber anscheinend zuweilen in späteren Stadien, offenbar des¬
halb, weil das Zittern einen anderen Charakter annimmt. Es ist meist gröber ge¬
worden, oder es tritt neben dem feinen Zittern noch ein grobschlägiges Wackeln
auf, das die Zitterbewegung überlagert und nicht zur Geltung kommen läßt.
Ein nicht unwesentlicher Unterschied wird immer wieder hervorgehoben:
bei der Paralysis agitans ist das Zittern ein ausgesprochenes Ruhezittern,
während ausnahmslos alle Beschreibungen der Wilsonschen Krankheit betonen,
daß der Tremor sich bei Intentionen verstärkt oder dabei erst auftritt. Wir
wissen, daß bei Paralysis agitans der Tremor im allgemeinen durch aktive
Bewegungen sogar unterdrückt werden kann, wenigstens für kurzdauernde
Bewegungen. Vorgeschrittene Paralysis agitans-Fälle machen aber auch hier¬
von eine Ausnahme. Bei beiden Erkrankungen ist es aber die Regel, daß
Gemütsbewegungen das Zittern auslösen und verstärken können. Da nun
bei jeder Zielbewegung gerade bei diesen motorisch so behinderten Menschen
auch eine gewisse psychische Erregung mitspielt, ist es schwer zu entscheiden,
was bei der Wilsonschen Krankheit das Zittern verstärkt, die Intentionen oder
die psychische Erregung. Man wird daher schon aus diesem Grunde in dem
Auftreten des Zitterns bei Intentionen oder bei Ruhe keinen maßgebenden
Unterschied sehen können. Andere Gründe, die mich zu der gleichen Auf¬
fassung führen, werden später noch hervorzuheben sein.
102 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Beiden Erkrankungen gemeinsam ist auch die Verlangsamung und
der Ausfall von Bewegungen. Über das Verhalten dieser Symptome zum
Rigor soll später noch ausführlich gesprochen werden.
Die Sprache der an Paralysis agitans Leidenden ist sehr charakteristisch,
sie ist meist eintönig, leiernd, unmoduliert, klingt höher, als der normalen
Stimmlage entspricht, hat auch einen ausgesprochen klagenden Beiklang. Bei
der Wilsonschen Krankheit ist die Sprachstörung meist sehr viel hochgradiger,
oft können die Kranken überhaupt nicht mehr sprechen, in leichteren Fällen
besteht eine ausgesprochene Dysarthrie, auch ist die Bewegung der Zunge
und der Lippen oft behindert, so daß es zuweilen zu pseudobulbären Erschei¬
nungen kommt. Namentlich die Zunge kann fast nie weiter als bis zur
Zahnreihe nach vorn gebracht werden. Der Mund steht dabei weit offen, der
Speichel fließt aus dem Munde. Derartig schwere Störungen kommen bei der
Paralysis agitans in seltenen Fällen allerdings auch vor (Bruns). Ich sah
eine ähnliche Erkrankung, bei der die Differentialdiagnose mit Wilsonscher
Krankheit auch deswegen nicht leicht war, weil die Erkrankung in relativ
jugendlichem Alter begonnen hatte.
Fall 80. Es handelte sich um eine jetzt 40jährige Frau Adeline B. (Eppendorf),
die im 37. Lebensjahr mit Zittern im linken Arm erkrankt war. Das Zittern ging bald
auf den rechten Arm über, später wurde der Gang schlechter.
Befund: Groß, mager, keine Pigmentierungen, kein Hornhautring, leichte Kyphose
der Bru^wirbelsäule. Den Kopf nach vorn geneigt, sitzt die Kranke regungslos im Bett,
die Musculi stemocleidomastoidei sind angespannt, die Stirne leicht hochgezogen, Ge¬
sichtszüge unbeweglich. Sie verfolgt die Vorgänge in ihrer Umgebung mit den Augen,
der Mund ist spaltförmig geöffnet, kann nur mit Mühe weiter aufgemacht werden. Starker
Speichelfluß. Die Arme stehen adduziert, im Ellenbogen gebeugt. Hände meist, aber
keineswegs immer in Pfötchenstellung, Spatia interossea eingesunken. Haut glänzend
und atrophisch. Die Beine in der Hüfte und im Knie leicht gebeugt, die Füße gestreckt,
so daß Tibiakante und Fußrücken fast eine gerade Linie bilden. Passive Bewegungen
begegnen überall einem zähen Widerstand, am stärksten gespannt sind Hals- und Nacken¬
muskeln, die Beuger am Oberarm und am Oberschenkel, sowie die Plantarflexoren der
Füße. Eine mehr oder weniger deutliche Rigidität besteht auch in allen übrigen Muskeln
der Extremitäten. Die Spannungen sind weder durch langsame noch durch brüske Be¬
wegungsversuche veränderlich; auch durch mehrfache passive Bewegungen wird keine
Erschlaffung erzielt. Paradoxes Phänomen zuweilen positiv. Aktive Bewegungen: Heben
oder Drehen des Kopfes aktiv so gut wie unmöglich. Bewegungen der Gesichtsmuskeln
weder willkürlich, noch mimisch ausführbar. Der Mund kann nur spaltförmig geöffnet
werden. Backenaufblasen, Pfeifen unmöglich. Die Zunge wird nur wenig vorgestreckt,
erreicht kaum die Zahnreihe, zuckt dabei sehr lebhaft. Die Lippen fühlen sich weich
und schlaff an. Nur einmal gelingt es, die Patientin zum Lächeln zu bringen, wobei der
lachende Gesichtsausdruck lange bestehen bleibt und erst allmählich wieder abklingt
Kaubewegungen vollkommen kraftlos, Schlucken sehr langsam, namentlich bei festen
Speisen Schwierigkeiten. Keine Atrophie der Gesichts- und Mundmuskeln. Sprache
leise, kraftlos, ziemlich hastig, eintönig, hauchartig, nur ganz wenig phonierend. Sehr
schwer zu verstehen. Mund und Zunge werden fast gar nicht dabei bewegt, bei Er¬
regungen zittert der Unterkiefer deutlich.
Bei statischer und kinetischer Innervation der Arme und Hände beginnt ein lang¬
sames W f ackeln der Unterarme im Ellenbogengelenk und drehende Bewegungen der
Finger, die dem Pillendrehen ähneln. Auch im Schultergelenk ganz vereinzelte wackelnde
Bewegungen. In der Ruhe verschwunden diese Bewegungen allmählich wieder. In den
Beinen bei aktiver Bewegung ebenfalls schwerfällige Zitterbewegungen. Im Vordergründe
steht auch hier die Langsamkeit und Schwerfälligkeit. Stehen nur mit gebeugten Knien
sehr unsicher und kraftlos, Gehen nur mit Unterstützung möglich, nach vorn fallend, die
Klinischer Überblick über Wilsonsohe Krankheit und Pseudosklerose. 103
Fußspitzen am Boden schleifend. Sich selbst überlassen ist die Kranke vollkommen
bewegungslos. Psychisch trotz der anscheinenden Stumpfheit für die Umgebung interes¬
siert, über ihren eigenen Zustand unterrichtet. Soweit eine Prüfung möglich ist, keine
Demenzerscheinungen. Die Leberfunktionsprüfung mit Lävulose ergibt keine siohere
Störung, die Galaktoseprüfung fällt negativ aus, der Urin enthält kein Urobilinogen. Im
Blut zahlreiche Plättohen, sonst o. B. Die Wassermannsche Reaktion negativ, Liquor
normal.
Bauchdeckenreflexe rechts nur unten auslösbar, sonst Reflexe o. B., kein Babinski.
Die Kranke wurde ungeheilt entlassen. Eine Anfrage beim Ehemann nach drei
Jahren ergab, daß das Allgemeinbefinden sioh nicht geändert hat, daß der Speichelfluß
sehr viel schlimmer geworden sei, und daß die Sprache sich so verschlechtert habe, daß
eine Verständigung kaum mehr möglich ist. Dabei sei die Frau geistig rege, hat auch
Initiative, möchte immer im Hause anordnen, dem Mädchen befehlen und ist unglüoklioh
darüber, daß sie sioh nicht verständlich machen kann.
Epikrise:
Das relativ jugendliche Alter der Patientin bei Beginn der Erkrankung
<37 Jahre) läßt uns zuerst die Diagnose Paralysis agitans unsicher erscheinen.
Dazu kommt noch als ungewöhnlich die ausgesprochen pseudobulbären Sym¬
ptome, die Sprachstörung und die Unfähigkeit, Zunge und Lippen zu bewegen,
die Schwierigkeiten beim Schlucken und der reichliche Speichelfluß, alles Er¬
scheinungen, die wir besonders bei Wilsonscher Krankheit finden. Die Sprache
ist andererseits auch von derselben Eintönigkeit, wie sie bei Paralysis agitans-
Kranken zu sein pflegt, so daß die bulbäre Erschwerung der Sprache diese
an sich charakteristische Sprachstörung noch überlagert. Das Zittern unter¬
scheidet sich von den gewöhnlichen Fällen der Paralysis agitans dadurch, daß
es in der Ruhe fehlt und erst bei Bewegungen auftritt. Wie ich oben gezeigt
habe, kommt dieser Umstand jedoch nicht als differential diagnostisches Moment
zwischen beiden Erkrankungen in Betracht. Ohne Sektionsbefund wird man
hier die Differentialdiagnose nicht mit Sicherheit stellen können; im großen
und ganzen neige ich dazu, hier eine etwas ungewöhnliche Form der Paralysis
agitans anzunehmen.
In vieler Hinsicht ähnlich ist folgender Fall, nur spricht hier der frühe
Beginn, sowie eine starke Beteiligung der Psyche vielleicht mehr für Wilson-
sche Krankheit:
Fall 81. Rosine G. (Gehlsheim.) 34 Jahre alt
Beginn der Erkrankung mit 31 Jahren, das linke Bein und der linke Arm begannen
zu zittern. Allmählich Übergang des Zitterns auf die rechte Seite und auf den Kopf.
Ist in letzter Zeit sehr hilflos geworden. Befund: klein, kräftig, reichlicher Ernährungs¬
zustand. Innere Organe o. B. Vier Reaktionen negativ. Schlechte Zähne. Keine Pig¬
mentierung. Kein Hornhautring. Im Urin keine pathologischen Bestandteile, kein
Urobilinogen, Leberfunktionsstörung durch Prüfung mit Galatose und Lävulose nicht
nachweisbar. Kyphose der oberen Brustwirbelsäule. Arme sind im Ellenbogen gebeugt,
die Oberarme adduziert. Knie- und Hüftgelenk leicht gebeugt. Gesichtsausdruck masken¬
artig starr. Mund kann nur wenig geöffnet werden. Mimische Ausdrucksbewegungen
fast Null, Lachen nur schwer auslösbar, entwickelt sich langsam und bleibt lange bestehen.
Kopfdrehen außerordentlich langsam, Augenbewegungen wesentlich rascher; verschluckt
sich oft beim Sprechen und Essen, seltener Lidschlag, die Zunge kann kaum heraus¬
gestreckt werden. Die Sprache klingt etwas nasal eintönig, unmoduliert und infolge der
Schwierigkeiten, den Mund zu öffnen, etwas kloßig. Der Kopf ist leicht nach vorn ge¬
neigt, mit den Augen fixiert sie ihre Umgebung. Muskeltonus: Allgemeine Rigidität
der Extremitäten und des Rumpfes. Muskeln nicht plastisch hervortretend, Widerstand
104 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
zäh, nicht federnd, keine eigentlichen Muskelkontrakturen. Mechanische Muskelerregbar¬
keit nicht erhöht, bei Es marchscher Blutleere keine Verminderung des Muskeltonus.
Finger meist zur Faust geballt, bisweilen auch »Pfötchenstellung«. Verteilung des Tonus:
Muskeln der Arme und des Halses zeigen eine gleichstarke Beteiligung von Agonisten
und Antagonisten. Am Oberschenkel ist die Rigidität der Streckmuskeln stärker als die
der Beuger. Die Musketti an Unterarmen und Unterschenkeln sind sehr viel weniger
rigide. Unterschied zwischen Beugern und Streckern findet sich nicht. Halsmuskeln
und Kaumuskeln deutlich gespannt und hart anzufühlen. Der Tonus ist beständig und
wird durch aktive Bewegungen nicht verstärkt. Durch passive Bewegungen keine Ände¬
rungen des Tonus. Bei Kälteeinwirkung Zunahme der Steifheit, willkürliche Entspan¬
nungen sind nicht möglich. Aktive Bewegungen üben keinen Einfluß auf den Muskel¬
tonus aus. Bei passiv vorgenommenen Bewegungen äußert die Kranke Schmerzen in
den gedehnten Muskeln, und zwar hat sie das Gefühl, als ob der Arm abbreche. Neigung
zum Verharren in Haltungen, dabei tritt jedoch Zittern auf. Aktive Bewegungen: Inner¬
vation der Extremitätenmuskeln zu irgendwelchen Kraftleistungen sehr herabgesetzt.
Läßt man sie dagegen in einer eingenommenen Haltung einen Widerstand ausüben, so
leisten dieselben Muskeln, die vorher kraftlos erschienen, einen recht erheblichen Wider¬
stand. Rasch hintereinander erfolgende Innervationen schon wegen der Rigidität der
Muskeln unmöglich. Setzt man einer geforderten Bewegung einen Widerstand entgegen
und läßt man dann plötzlich los, so erfolgt fast kein Ausfahren, sondern der Arm bleibt
nach Nachlassen des Widerstands fast unbeweglich.
Hochgradige Bewegungsverarmung und hochgradiger Bewegungsausfall, namentlich
der unwillkürlichen Bewegungen. Schreiben nicht möglich. Geforderte Handlungen, wie
Schlüsseldrehen, Hammerklopfen, Schneiden mit der Schere usw. werden nur sehr müh¬
sam, außerordentlich steif ausgeführt.
In beiden Armen Zittern, nach den Händen zunehmend, am stärksten in Daumen
und Zeigefinger. Das Zittern ist schüttelnd von meist gleichmäßigem Rhythmus, etwa
240 Oszillationen in der Minute. Bei passiver Ruhelagerung der Arme läßt das Zittern
nach. Bei aktiver freischwebender Haltung der Hände beim Fingerspreizen wird es stärker.
Allerdings bewirkt jede aktive und passive Bewegung zunächst ein Aufhören, jedoch nur
für sehr kurze Zeit; fixiert man eine Extremität, so wird das Zittern in der anderen
stärker. In den Fingern handelt es sich vorzugsweise um Adduktionen und Abduktionen
im Grundgelenk mit leichten Drehbewegungen im gleichen Gelenk, weniger um Beugungen
und Streckungen, im Daumen um Abduktion und Opposition, abwechselnd mit Adduktion.
Dadurch, daß der Daumen und Zeigefinger aneinanderliegen und aneinander reiben,
kommt es zum Eindruck des Pillendrehens oder Brotzerkrümelns. Die Bewegungen im
Handgelenk sind im Ausmaß gröber. Es handelt sich dabei um leichte Beugung und
Streckung, untermischt mit Pro- und Supination. Zielbewegungen ohne wesentliche
Ataxie, Aufregungen verstärken das Zittern wesentlich. Im Schlaf kein Zittern. Wird
das Zittern durch irgendeine Ursache (Aufregung usw.) verstärkt, so wird auch der
Charakter des Tremors insofern etwas verändert, als sich nun auch Beuger und Strecker
daran beteiligen, die Exkursionen der Bewegungen im Hand- und Ellenbogengelenk
werden dann auch weiter und das Tempo etwas rascher. An den Beinen kommt es nur
selten, meist nur bei Aufregungen zu Zittern; es findet vorzugsweise in Fuß- und Zehen¬
gelenken statt im Sinne der Beugung und Streckung.
Gang trippelnd, auf den Zehenspitzen, deutliche Propulsion.
Keine Pyramidensymptome. Die Fußsohlenreflexe lebhaft; der Abwehrreflex ist die
einzige flinke Bewegung, die die Patientin zustande bringt. Paradoxes Phänomen an
den Füßen beiderseits angedeutet.
Keine besondere Dermographie. Immer Hitzegefühl, schwitzt viel, keine besondere
Tränen- und Speichelsekretion.
Psychisch: Hochgradige Demenz, Kopfrechnen sehr schlecht. Schulkenntnisse fast 0*
Unterschiedsfragen, Sprichworterklärungen, Definitionen sehr schlecht, Bildbeschreibungen:
bringt nur Einzelheiten, nie Zusammenhänge. Gedächtnis und Merkfähigkeit herabgesetzt.
Bew'egungsaufforderungen werden ziemlich rasch befolgt, soweit sie überhaupt möglich
sind. Stimmung meist heiter-euphorisch, gleichgültig und stumpf. Keine Anfälle.
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
105
Epikrise:
Das klinische Bild entspricht in bezug auf die Bewegungsstörungen ganz
dem der Paralysis agitans mit bulbären Symptomen. Auffallend ist nur, daß
sich die Krankheit so früh, im 31. Lebensjahr, entwickelt hat und so rasch
zu dem jetzigen, äußerst hilflosen Zustande geführt hat. Bemerkenswert ist
auch die hochgradige Demenz. Differentialdiagnostisch käme hier die Wilson-
sche Krankheit in Betracht, namentlich mit Rücksicht auf das jugendliche
Alter der Patientin. Im übrigen gelten die klinischen Symptome für beide
Erkrankungen. Eine Leberfunktionsstörung, die zugunsten der Wilson sehen
Krankheit verwertet werden könnte, war nicht nachzuweisen.
2. Allgemein biologische Gesichtspunkte unter besonderer Berück¬
sichtigung der klinischen Zusammengehörigkeit von Wilsonscher
Krankheit und Pseudosklerose.
Nach Besprechung der Differentialdiagnose und nach Zusammenstellung
aller einschlägigen Fälle sollen nun allgemeinere biologische Probleme, die bei
der Betrachtung der beiden Krankheitsbilder auftauchen, besprochen werden
und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob es sich bei der
Wilsonschen Krankheit und der Pseudosklerose um die gleiche Krankheitseinheit
handelt. Die oben angeführten klinischen Unterschiede, welche die einwand¬
freien Fälle zeigen, scheinen uns zur Trennung beider Krankheitsbilder zu
zwingen. Wir haben aber aus der Menge der unsicheren und gemischten Typen
gesehen, daß es zum mindesten zahlreiche Übergangsfälle geben muß, mit
denen wir uns abzufinden haben.
Lediglich der Umstand, daß beide Erkrankungen extrapyramidale motorische
Symptome aufweisen und mit einer gleichen eigenartigen Lebererkrankung
einhergehen, gibt uns an sich noch nicht die Berechtigung, sie als das gleiche
Leiden zu betrachten. Bei der Frage ist weiter noch das zu berücksichtigen,
was wir über die pathologische Anatomie und die Ätiologie der Erkrankungen
wissen. Die klinischen Gesichtspunkte sind schon besprochen und haben zu
dem Ergebnis geführt, daß zwischen den reinen Formen der Pseudosklerose
und reiner Wilson scher Krankheit recht erhebliche Unterschiede bestehen, so
daß man, wenn es nicht die vielen Übergangsfälle gäbe, zunächst sicher nicht
an eine nosologische Zusammengehörigkeit denken würde. So finden wir auf
der einen Seite als Kardinalsymptome Hypotonie, ataktisches Wackeln, Horn¬
hautring, Anfälle, Demenz, auf der anderen Seite Rigor und feines Zittern,
das eventuell auch fehlen kann. Es wäre möglich, daß diese klinischen Unter¬
schiede lediglich durch die jeweilige Lokalisation des gleichen Krankheits¬
prozesses bedingt sind, so daß wir es mit verschiedenen Symptomenkomplexen
der gleichen Erkrankung zu tun hätten. Dieser Ansicht scheinen auch die
meisten Autoren zu sein. Wie mir scheint, liegen die Dinge jedoch nicht so
einfach, denn die beiden pathologischen Prozesse sind doch recht verschieden.
Es besteht aber noch eine weitere Möglichkeit, die beiden Erkrankungen als
dasselbe Leiden anzusehen, nämlich dann, wenn es möglich wäre, nachzuweisen,
daß die beiden anatomisch verschiedenen Krankheitsprozesse durch die gleiche
Noxe veranlaßt sein könnten.
106
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
I.
Bei der Wilsonschen Krankheit handelt es sich, kurz gesagt, um Degene¬
rationsprozesse mit zystischer Erweichung in beiden Linsenkemen und reaktiven
Veränderungen an der Neuroglia, während der von Alzheimer für die Pseudo¬
sklerose gefundene pathologische Prozeß in einer progressiven Gliaerkrankung
ohne Einschmelzungsvorgänge besteht. Diese Gliaveränderung ist nach Unter¬
suchungen von Alzheimer keineswegs als eine reaktive anzusehen, sondern
sie trägt eher einen blastomatösen Charakter und ist deswegen von Alzheimer
zu der tuberösen Sklerose in Beziehung gesetzt worden. Auch Bielschowsky
hält die beiden Gliaveränderungen für grundsätzlich verschieden.
Besteht nun die Möglichkeit, daß sich neben einer derartigen Gliaerkran¬
kung ein Degenerationsprozeß im Sinne der Wilsonschen Krankheit entwickelt?
Könnte man etwa annehmen, daß diese Gliaveränderung nur ein früheres
Stadium der Linsenkerndegeneration ist? Die Lokalisation dieser Veränderung
würde an sich nicht dagegen sprechen, da auch bei der Pseudosklerose die
zentralen Ganglien befallen sind. Daß andererseits auch bei der Wilson sehen
Krankheit außerhalb der zentralen Ganglien Veränderungen Vorkommen können,
lehrt der Stöcker sehe Fall, bei dem außer einer Linsenkerndegeneration noch
die Alzheimerschen Gliaveränderungen in anderen Himteilen nachweisbar
waren, und der daher als Zwischenstufe zwischen beiden Erkrankungen auf¬
gefaßt worden ist.
Die Alzheimerschen Gliaveränderungen zeigen wenig Neigung zum Zerfall
und zu zystischer Entartung. Nach dem ganzen Bild kann man auch nicht
annehmen, daß es zu sekundären Erweichungen infolge Ernährungsschwierig¬
keiten kommen könnte, denn so dicht wie bei Gliomen, die ja oft zur Er¬
weichung neigen, liegen die pathologisch veränderten Gliazellen nicht. Auch
fehlen Gefäßalterationen in den meisten darauf untersuchten Fällen (Alz¬
heimer, Spielmeyer usw.). Insofern bildet der von mir beschriebene Fall
eine Besonderheit, als sich hier Gefäß Veränderungen, zum Teil degenerativer
Art, nachweisen ließen, bei deren Vorhandensein man die Möglichkeit einer
sekundären Erweichung durchaus in Betracht ziehen kann.
Neuerdings hat Spielmeyer an mehreren Fällen die gleiche Frage auch
vom pathologisch-anatomischen Standpunkt aus ventiliert. Er ist der Ansicht,
daß der blastomatöse Charakter der erkrankten Gliazellen nicht so sicher er¬
scheint, als daß darum ein Übergang in Erweichung ausgeschlossen werden
könnte. Insbesondere sind auch ihm in einem Falle GefäßVeränderungen in
den erkrankten Hirnpartien aufgefallen. Er kommt zu dieser Ansicht durch
die Untersuchung des Stertzsehen Falles E. (Wilsonsche Krankheit ohne
Tremor). Hier fehlte zwar eine Erweichung im Linsenkem, jedoch ließ sich
eine erhebliche Auflockerung des Gewebes im Pu tarnen finden, welche eine
mehr äußerliche Erscheinung der erwähnten Degenerationsvorgänge ist, nämlich
des Ganglienzellverfalls, bei Ausbleiben einer Gliafaserwucherung und Abbau
vom Körnchenzelltypus. Die Alzheimerschen Gliakerne finden sich in reicher
Zahl gerade da, wo der Prozeß seine Prädilektionsstelle hat. Spielmeyer
schließt daraus, daß hier die bei der Wilsonschen Krankheit beschriebenen
Abbauvorgänge und die gliösen Erscheinungen bei der Pseudosklerose zu einem
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw. 107
anatomischen Bild vereinigt sind, unter Uberwiegen der pseudosklerotischen
Komponente.
Ferner hat Spielmeyer drei andere Fälle von Pseudosklerose, darunter
einen Fall von Fleischer (Fall 2) untersucht. Auch hier ließen sich degene-
rative Prozesse im Linsenkern nachweisen, und zwar handelte es sich einmal
um eine schwere Zerstörung mit Höhlenbildung im äußeren Abschnitt des
Putamen und Teilen des Globus pallidus, im zweiten Fall war ein allerdings
nur schmaler Spalt im äußeren Abschnitt des Putamen vorhanden, beim dritten
Fall fehlte eine ausgesprochene Höhlenbildung, aber der ganze Linsenkem war
zerklüftet mit Ausnahme des innersten Gebietes des Globus pallidus. Dabei
sah man noch frische Abbauvorgänge in allen drei Fällen (gliogene Körnchen¬
zellen). Die Stützglia verhielt sich verschieden; dabei zeigen alle drei Fälle
progressive Vorgänge am Gefäßapparat, Gefaßvermehrung. Außerdem ließen
sich im Linsenkern und Schwanzkern die Alzheimer sehen Gliazellen nach¬
weisen. Spielmeyer schließt sich der Stöckerschen Vermutung an, daß
Wilson wahrscheinlich auch bei seinen Fällen bei näherer Untersuchung die
Alzheimerschen Gliakeme gefunden haben würde, und er kommt zu dem
Schluß, daß es sich hier um denselben pathologischen Prozeß handle, dessen
einzelne Komponenten verschieden stark ausgebildet sein können.
Spielmeyer weist noch besonders darauf hin, daß offenbar auch bei der
Wilsonschen Erkrankung der Prozeß nicht so eng lokalisiert ist, wie es meist
angenommen wird, daß vielmehr auch hier neben dem Hauptsitz in den- zen¬
tralen Ganglien andere Stellen erkrankt seien, namentlich der Nucleus dentatus.
Daß es gerade zur Zerklüftung und Erweichung im Putamen kommt, erklärt
Spielmeyer einmal aus dem raschen und massenhaften degenerativen Zerfall
des nervösen Gewebes und dann aus der örtlichen Eigenart des Gliagewebes
gerade im Linsenkern.
Hinsichtlich der Bedeutung der Alzheimerschen Gliazellen, die ein patho-
gnostisches Merkmal für die Pseudosklerose sind, neigt Spielmeyer dazu, sie
nicht als unbedingt blastomatös in Gegensatz zu den degenerativen Verände¬
rungen zu bringen. Er läßt es vielmehr jetzt als möglich erscheinen, daß das
Auftreten dieser gliösen Elemente vielleicht doch Teilerscheinungen des degene¬
rativen Prozesses sein könnten, zumal da diese Zellen die ausgesprochene
Neigung haben, sich rasch zurückzubilden und wieder zu zerfallen.
Meiner Ansicht nach ist diese Frage, ob es sich hier um blastomatöse oder
degenerative Veränderungen handelt, von ganz grundlegender Bedeutung für
die Entscheidung der Frage, ob der Wilsonschen Krankheit und der Pseudo¬
sklerose dieselben Krankheitsursachen zugrunde liegen oder nicht. Sind diese
Prozesse gleichartig bzw. handelt es sich wenigstens um analoge und nur durch
die besonderen Eigenschaften der betroffenen Hirnteile verschieden ausgefallene
Veränderungen, so ist die Möglichkeit gegeben, daß es sich bei beiden Sym-
ptomenbildern um die gleiche Krankheit handelt. Müssen wir aber in den
Wilsonschen Fällen einen degenerativen Prozeß annehmen, auf der anderen Seite
aber die Veränderungen der Pseudosklerose als blastomatöse ansehen, wie Biel-
schowsky noch vor kurzem feststellte, so scheint es mir unmöglich, von der
gleichen Erkrankung zu sprechen. Daß wir doch an diese Möglichkeit jetzt denken
können, ist das wesentlichste Resultat der Spielmeyerschen Untersuchungen
108 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Eine andere Schwierigkeit, die Spielmeyer auch hervorhebt, liegt in der
Deutung der in manchen Fällen vorhandenen Gefäßveränderungen, die in den
von Spielmeyer untersuchten Gehirnen im wesentlichen in einer progressiven
Wucherung bestanden. Auch Schütte fand Gefäßveränderungen, ebenso konnte
ich in dem' von mir untersuchten Fall solche nach weisen und zwar nicht
nur Gefäßneubildungen, sondern auch Gefäßwanddegenerationen. Spielmeyer
sieht die tiefere Ursache für diese Gefäßalterationen in dem noch unbekannten
Wesen des krankmachenden Prozesses, auf dessen Natur die Veränderungen
des Gehirns keinen Schluß zulassen.
Diese Frage bringt uns s^uf einen anderen Punkt der oben angedeuteten
Fragestellungen, nämlich, ob es sich um die gleiche Ursache bei den beiden
Krankheitsbüdem handeln kann. Hierbei wäre zu erwägen, ob die gleiche
Noxe verschiedene anatomische Prozesse im Gehirn hervorzubringen vermag,
nämlich für den Fall, daß die anatomischen Vorgänge der Pseudosklerose und
der Wilson sehen Krankheit nicht die gleichen sind. Wir müssen also zuerst
nach Anhaltspunkten suchen, welche Schädigungen überhaupt als Ursache in
Betracht kommen und dann, welche Wirkungen auf das Gehirn möglich sind.
Es existieren bereits verschiedene Theorien; ein Teil der Autoren nimmt
an, daß es sich bei beiden Erkrankungen um ein familiäres Leiden handelt,
andere nehmen eine Mißbildung an, auch Lues wird als Ursache der Erkran¬
kung angeschuldigt; die meisten denken jetzt an eine toxische Entstehung der
Erkrankung und setzen sie in enge Beziehung zur Leberschädigung.
II.
Was die Frage der Lues anlangt, so ist von vornherein unwahrscheinlich,
daß bei der Entstehung einer so seltenen Erkrankung, wie sie hier vorliegt,
die weit verbreitete Lues eine wesentliche Rolle spielen sollte. Eine zufällige
Kombination kann natürlich Vorkommen. Möglich ist auch, daß eine Lues
cerebri durch ihre Lokalisation einmal das uns hier interessierende Krankheits¬
bild Vorbringen kann.
Ein ursächlicher Zusammenhang mit Lues wird angenommen von Homen,
Anton-Meyer, Rumpel (Fleischers Fall 1), Dziembowsky, Kubitz und
Staemmler. Die Gründe, die für das Vorliegen einer Lues bei den Fällen
von Dziembowsky sprechen, sind sehr wenig stichhaltig. Die vier Reaktionen
waren jedesmal negativ; allein daraus, daß die Mutter mehrere Fehlgeburten
gehabt hat, dürfte kaum ein ausreichender Anhaltspunkt für das Vorhanden¬
sein einer kongenitalen Lues bei den Kindern zu gewinnen sein, zumal, wenn
auch noch der Wassermann bei der Mutter negativ war. Ebensowenig kann
ich einen Beweis für Lues darin sehen, daß der eine der Kranken einen
Hydrocephalus internus und eine plankonvexe Verdickung der Schädelknochen
aufweist. Der andere Bruder hatte Veränderungen an den Fingernägeln sowie
eine Psoriasis palmaris; wenn es sich hier wirklich um syphilitische Ver¬
änderungen gehandelt hätte, so müßte man einen positiven Wassermann er¬
warten. Die Hemiplegie des dritten Bruders dürfte sich zwanglos durch das
bestehende Gehirnleiden erklären lassen und bedarf nicht als Ursache die An¬
nahme einer Paralyse, für die sich sonst gar kein Anhaltspunkt finden läßt.
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
109
Das gleiche gilt von den epileptischen Anfällen, die an sich ja gut zum Bilde
der Pseudosklerose passen.
Der Fall von Anton und Meyer wird wegen der eigentümlichen Leber¬
veränderung, die Meyer als eine Hemmungsbildung auf Grund von kongeni¬
taler Lues auffaßt, mit Syphilis in Verbindung gebracht, m. E. ebenfalls ohne
zwingende Notwendigkeit. Die Wassermannsche Reaktion war damals noch
nicht bekannt.
Ebenfalls vor der Wassermannzeit liegen die Beobachtungen Homens,
der in sehr eingehender Weise die Möglichkeit der Lues bei seinen drei Fällen
erörtert. Bei den Eltern der drei Geschwister ließen sich ebensowenig An¬
haltspunkte für Lues finden, wie bei der Sektion der Körperorgane. Wenn
er trotzdem Lues als Ursache der Erkrankung ansieht, so tut er es im wesent¬
lichen deshalb, weil er bei den drei Geschwistern eine in typischer Weise
auftretende Erkrankung auf Grund hereditärer Anlage annimmt, als deren
Ursache er sich nur eine Syphilis denken kann.
In ähnlicher Weise kommt auch Rumpel zu der Ansicht, daß kongenitale
Lues wahrscheinlich die Grundlage des von ihm untersuchten Falles von Pseudo¬
sklerose bildet, und zwar faßt auch er die Lebererkrankung als eine Entwicklungs¬
störung auf. Bemerkt sei hierbei, daß der mikroskopische Befund an der Leber
anscheinend etwas von dem gewöhnlichen abweicht, insofern als Regeneration
der Leberzellen nicht beschrieben wird. Sichere Beweise für das Vorhanden¬
sein einer Lues fehlen auch hier. Fleischer erwähnt für denselben Fall, den
er ebenfalls untersucht hatte, das Vorhandensein einer Lues nicht.
A. Westphal hält es für möglich, daß die Lues bei der Erkrankung eine
Rolle spielt, ohne selbst strikte Beweise in seinem Fall erbringen zu können.
Er fordert jedenfalls unbedingt Anstellung der Wassermannschen Reaktion bei
derartigen Erkrankungen.
Die Wassermannsche Reaktion im Blut war in einem Falle von Kubitz
und Staemmler positiv, im anderen negativ. Die Autoren kommen zu dem
Schluß, daß die Syphilis allein zwar nicht das Krankheitsbild verursache, daß
es sich aber bisher in allen Fällen, wo überhaupt eine bestimmte Ätiologie
nachgewiesen werden konnte, um Lues gehandelt habe. Eine Ansicht, die bei
genauerer Durchsicht der Literatur nicht haltbar erscheint.
Bei den an Pseudosklerose leidenden Kranken Oppenheims lag in einem
Falle Lues des Vaters vor. Oppenheim ist jedoch wegen des negativen
Ausfalls der Blutuntersuchung der Ansicht, daß es sich hier nicht um ein
syphiütisches Leiden handle, er gibt nur den keimschädigenden Einfluß der
Lues zu; in ähnlicher Weise, wie diese vom Alkoholismus bei anderen Fällen
anzunehmen ist (A. Westphal, Alzheimer, Hößlin).
Bei Fall 2 der von Strümpell 1898 veröffentlichten Pseudosklerose ist
hereditäre Lues nicht auszuschließen. Die Sektion ergab jedoch keine näheren
Anhaltspunkte dafür. Strümpell rechnete auch nur mit der Möglichkeit
eines Zusammenhanges, der er in seinen später publizierten Fällen nicht mehr
Erwähnung tut.
Wilson lehnt die Lues als Ursache für seine Fälle ab. Stertz hält den
positiven Wassermann bei einer seiner Beobachtungen für einen Untersuchungs¬
fehler. Bei meinen eigenen Fällen waren die vier Reaktionen stets negativ,
110
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
und auch sonst sind gewichtige Gründe für die syphilogene Entstehung der
Wilsonschen Erkrankung und der Pseudosklerose nirgends gegeben, so daß
man zusammenfassend sagen kann: Lues kommt als Ursache für die
Entstehung dieser Erkrankungen nicht in Betracht.
III.
Zum Teil in enger Beziehung zu den soeben behandelten Problemen, ob
Lues bzw. hereditäre Lues etwas mit der Entstehung der Krankheiten zu
tun hat, steht die Frage nach dem familiären Vorkommen dieser Er¬
krankungen. Es ist noch zu prüfen, ob das zuweilen beobachtete familiäre
Auftreten der Erkrankungen ein Zufall ist, ferner, ob gleichartige Belastung
beobachtet werden kann, oder ob wenigstens allgemein nervöse oder körper¬
liche Belastung, Degenerationserscheinungen eine Rolle spielen. Vielleicht
wären auch für die Frage des engeren Zusammenhanges der Pseudosklerose
und Wilsonschen Krankheit aus dem familiären Auftreten der beiden Er¬
krankungen Anhaltspunkte zu gewinnen. Uber ein solches wird mehrfach be¬
richtet, so daß sogar schon Wilson von einem »familiären Nervenleiden«
spricht. Sieht man die nach den oben angegebenen Gesichtspunkten als sicher
diagnostizierten Fälle von Wilsonscher Krankheit und Pseudosklerose durch,
so ergibt sich, daß 30 mal die Kranken weder erblich belastet sind, noch sind
bei ihnen Geschwister von gleicher oder ähnlicher Erkrankung befallen. Bei vier
läßt sich eine allgemeine Belastung feststellen (einmal Epilepsie der Mutter,
einmal Potus, Lues des Vaters). Bei dem ersten Fall von C. Westphal litten
der Vater des Kranken und vier seiner Brüder an Veitstanz. Erwähnt werden
soll in diesem Zusammenhang die von Hi gier beobachtete Familie (Diagnosen
nicht durch Sektion gestützt). Hier litt der Vater an Paralysis agitans ju¬
venilis, ein Sohn an Pseudosklerose, ein anderer an Wilsonscher Krankheit.
Etwas häufiger dagegen wird das Vorkommen des gleichen Leidens bei
Geschwistern beobachtet. So beschreibt Gowers zwei Schwestern, Homen
drei Geschwister, Wilson zwei Geschwister, Rausch und Schilder zwei
Schwestern, Dziembowsky drei Brüder, Hamilton und Jones zwei Brüder
mit dem gleichen Leiden. Möghcherweise litt auch der nervenkranke Bruder
des Patienten von Stöcker an einer hierhergehörenden Erkrankung. Die Aus¬
beute an einwandfrei familiären Erkrankungen ist, wie man sieht, nicht sehr
groß, selbst wenn man damit rechnet, daß vielleicht bei einer Reihe von
Fällen die diesbezüglichen Erhebungen unzureichend gewesen sind. Jedenfalls
erscheint es mir demnach fraglich, ob man die beiden Erkrankungen
in das Gebiet der Heredodegenerationen einrechnen kann. Biel-
schowsky unterscheidet unter den Heredodegenerationen reine Dysplasien
(z. B. Status marmoratus), Dysplasien mit blastomatösem Einschlag (z. B. tube¬
röse Sklerose), und für eine dritte Gruppe nimmt er die von Gowers ge¬
prägte Bezeichnung der Abiotrophie in Anspruch; er versteht darunter Krank¬
heit sformen, bei denen eine inhärente, aber erst im Laufe des postfötalen
Lebens hervortretende Schwäche ganzer Organgebiete oder Teile derselben
zutage tritt. In diese Gruppe rechnet Bielschowsky auch die Wilsonsche
Krankheit und die Pseudosklerose, und zwar gehört die Pseudosklerose in
eine Untergruppe von Abiotrophien mit blastomatösem Einschlag, die Wilson-
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
111
sehe Krankheit in eine Gruppe mit lokaler Zellnekrose des Parenchyms. Aus
der relativ geringen Anzahl von familiär auftretenden Fällen den Schluß zu
ziehen, daß es sich um ein ausgesprochen familiäres Leiden handelt, halte ich
für verfrüht; in den positiven Fällen mag vielleicht eine angeborene Schwäche
mitspielen, aber man kann meiner Ansicht nach mit genau derselben Be¬
rechtigung sagen, daß die Geschwister vielleicht der gleichen äußeren
Schädlich heit ausgesetzt waren und aus diesem Grunde an dem gleichen
Leiden erkrankt sind. Beweise wird man zurzeit noch für keine der beiden
Annahmen erbringen können, und es wird gut sein, sich mit der Unter¬
bringung dieser Erkrankungen unter die hereditären Leiden noch abw r artend
zu verhalten.
IV.
Die Erörterung der Frage, ob es sich bei der Pseudosklerose und bei der
Wilsonschen Krankheit um eine »Heredodegeneration« bzw. um ein familiäres
Leiden handelt, bedarf noch einer Ergänzung durch die Berücksichtigung der
Abb. 5. Wilsonleber: Oberfläche, vordere Hälfte.
anatomischen Grundlage von dem Gesichtspunkt aus, ob die oben beschriebenen
Veränderungen im Gehirn und Leber etwa als Mißbildungen, Entwicklungs¬
hemmungen aufgefaßt werden können.
Die Leberveränderung wird von Meyer und Rumpel als eine Ent¬
wicklungsstörung angesehen. Die meisten anderen Autoren haben dieser
Ansicht widersprochen. Bei genauer Durchsicht der Literatur finden sich
in der Tat einzelne Unterschiede in der Beschreibung der Lebererkran-
112 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
kungen, die eventuell differente Auffassungen bedingen könnten. Daher
muß kurz darauf eingegangen werden. Das makroskopische Bild ist immer
ziemlich das gleiche. Jedesmal handelt es sich um das Auftreten grober
Knoten und Inseln, die durch schmale Bindegewebszüge getrennt sind.
Während aber die meisten Untersucher das Vorhandensein von Degene¬
rationserscheinungen mit Regenerationen der Leberzellen festgestellt haben,
fand Meyer Degenerationen und Nekrosen gar nicht. Die Anordnung der
Leberzellen zu Läppchen war hier einigermaßen erhalten. Zellige Infiltrationen
fehlten, das Bindegewebe war zart, regelmäßig, zellarm und zeigte nicht die
Tendenz, in die Leberacini hineinzu wuchern; keine Vermehrung der Gallen-
Abb. 6. Wilsonleber: Durchschnitt.
gänge. Die Leber war im ganzen verkleinert, aber in ihrer Form erhalten.
Die Inseln neugebildeten Lebergewebes faßt Meyer als Analoga der Acini
auf, und die nicht immer ganz zentral gelegenen Venen als Analoga der Zen¬
tralvenen. Er glaubt, daß das Bild ganz dem einer embryonalen Leber vor
der Aufteilung in die Acini gleiche und deutet diesen Zustand als eine
Hemmungsbildung; bemerkt sei noch, daß auch eine Milzvergrößerung vorlag,
die Meyer als Stauung aufzufassen geneigt ist. Ferner fand sich eine Hyper¬
trophie des Pankreas, die vielleicht für die Glvkosurie verantwortlich zu machen
ist. Klinisch handelte es sich um einen exquisit chronisch verlaufenden Fall.
Zu einer ähnlichen Auffassung kommt Rumpel in dem von ihm anatomisch
untersuchten Fall 1 von Fleischer auf Grund folgenden Leberbefundes: Leber
verkleinert, aber in ihrer Form und in den Proportionen der einzelnen Lappen
Allgemein biologische Gesichtspunkte usvv.
113
erhalten. Mikroskopisch keine entzündlichen Erscheinungen, keine Degenerationen
oder Nekrosen der Leberzellen, keine Kernteilungsfiguren oder mehrkernige
Zellen. Die radiäre Anordnung der Zellbalken um die Zentralvenen fand sich
nur vereinzelt, jedoch bestand eine Annäherung an den Bau der Acini insofern,
als an manchen Stellen innerhalb der Parenchyminseln die einzelnen Pfort-
Abb. 7. Wilsonleber: Durchschnitt bei Lupenvergrößerung (7mal). Leberzellinseln mit
wechselnd breiten Bindegewebszügen.
adersystemzüge in der gleichen Art um die Zentralvenen bzw. um einen ent¬
sprechenden Parenchymbezirk angeordnet waren wie in den Acini der nor¬
malen Leber. Dieser Leberveränderung liegt nach Ansicht Rumpels eine
fötale Entwicklungsstörung zugrunde, die darin bestehen soll, daß das normale
Wachstum und der normale Ausbau der Leber eine einfache, nicht entzünd¬
liche Hemmung, event. sogar einen Stillstand erfährt (kongenitale Lues?). Die
Milz war auch hier vergrößert.
Bostroem, Symptomenkomplex.
8
1X4 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Rumpel neigt auch dazu, den Fall Voelsch, von dem allerdings nur
eine kurze Beschreibung des mikroskopischen Leberbefundes mitgeteilt ist, in
gleicher Weise aufzufassen. Dieser unterscheidet sich jedoch insofern von
dem Rumpelschen Fall, als hier Leberzellen von verschiedener Größe vor¬
handen waren, sowie solche mit Riesen- und mehreren Kernen, ein Befund, der
m. E. darauf deutet, daß ProliferationsVorgänge noch im Gange sind. Hinzu
kommt, daß die Milz sehr stark vergrößert war. Ricker, der die Leber eben-
Abb. 8. Wilsonleber: Durchschnitt bei Lupenvergrößerung (7mal). Verschieden große
Leberzellinseln.
falls untersucht hat, ist der Ansicht, daß der Befund einen Entwicklungs¬
stadium der primären Leberzirrhose entsprechen könne, er könne aber auch
als Regenerationsresultat nach einer primären degenerativen Erkrankung des
Leberparenchyms gedeutet werden, sei es nach einer akuten gelben Leber¬
atrophie, sei es nach einem chronisch verlaufenden (toxischen) Degenerations¬
prozeß. Meiner Ansicht nach spricht die sehr starke Milzvergrößerung für die
letzte Auffassung.
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
115
In dem Falle von A. Westphal läßt sich in der Leber keine deutliche
azinöse Zeichnung erkennen, radiäre Anordnung der Leberzellbalken zu den
Gefäßen war nirgends festzustellen. Leberzellen deutlich vergrößert, oft mit
mehreren Kernen, die einen oder mehrere Kernkörperchen enthielten. Fettige
Infiltration. Pryrn nimmt an: alte zirrhoseähnliche Veränderungen der Leber
mit ausgedehnten Hypertrophien der Leberzellen und völligem Umbau des
Lebergewebes. Die Milzvergrößerung ist in diesem Falle nicht zu verwerten,
weil die Patientin an Typhus gelitten hatte. Ich führe den Westphalschen
Fall im Anschluß an Meyer und Rumpel an, weil Prym zwar nicht eine
Entwicklungsstörung, aber eine in früher Jugend, wahrscheinlich sogar schon
Abb. 9. Wilsonleber, 90mal vergrößert. Oberhalb des querverlaufenden bindegewebigen
Septums große, helle, junge Leberzellen. Unterhalb desselben gut ausgebildete Leber¬
substanz ohne jede Leberzellanordnung und Azinusbildung.
im Embryonalleben erfolgte Schädigung des Lebergewebes annimmt, die zu
dem eigentümlichen Umbau geführt hat.
In den meisten übrigen Fällen wird, soweit eine genauere mikroskopische
Untersuchung der Leber vorliegt (Wilson, Fischer, Jelin, Bostroem,
Kleiber, Kubitz - Staemmler, Economo, Dziembowsky, Stöcker), das
Bild von degenerativen und regenerativen Veränderungen der Leberzellen be¬
herrscht. Meist finden sich auch zellige Infiltrationen, die teils als entzünd¬
liche, teils als reaktive aufgefaßt werden. Fast immer waren Gallengangs¬
wucherungen vorhanden, von denen sehr wahrscheinlich die Neubildung der
Leberzellen ausgeht. Weniger ausgesprochen scheinen diese Degenerations¬
und Regenerationsvorgänge in den Fällen von Schminke, und Schneider
gewesen zu sein, obwohl sie sonst in bezug auf Zellinfiltrationen, Gallengangs¬
wucherungen und den ganzen Umbau der Leber offenbar gut zu den übrigen
Befunden passen. Auch bei Homen spielten Nekrosen keine Rolle.
8*
116
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
ln einer vor kurzem erschienenen Veröffentlichung von Sjöval und Söder¬
be rgh bei einem Falle Wilsonscher Krankheit bzw. Pseudosklerose (Gehirn-
befund steht noch aus) wird eine Leberveränderung beschrieben, die sich in¬
sofern mit der von Meyer und Rumpel deckt, als auch hier die äußere Form
der Leber und die Größenverhältnisse der einzelnen Lappen zueinander erhalten
geblieben sind. Ferner besteht eine Ähnlichkeit mit den letzterwähnten Fällen
von Schminke und Schneider in dem Punkte, daß Nekrosen der Leberzellen
nicht vorhanden sind; wie bei Schminke und Schneider finden sich dagegen
Zellinfiltrationen im Bindegewebe, Gallengangswucherungen, und die Leberzell¬
balken zeigen keine Anordnung in Azinusform. Die Verf. neigen auf Grund ver¬
gleichender Betrachtungen zu der Annahme, daß sowohl für ihren Fall, wie auch für
die von Meyer und Rumpel, eine Entwicklungshemmung n i c h t in Frage kommt.
Sie halten diese Lebererkrankung nicht iür prinzipiell verschieden von denen
der übrigen Autoren, sondern nehmen nur eine mildere Form derselben an.
Daß in den Fällen von Meyer und Rumpel im Gegensatz zu den anderen
die Azinusform der Leber erhalten ist bei Fehlen proliferativer Vorgänge,
schließt nicht aus, das gefundene Bild als hervorgerufen durch Regeneration
des Lebergewebes nach einer Parenchymschädigung zu deuten. Sjöval er¬
klärt sich das Erhaltenbleiben der Leberstruktur so, daß die Schädigung nur
die Leberzellen, aber nicht das Gerüst der Gefäße usw. betroffen hat; dies
blieb vielmehr erhalten, und die Leberzellen hatten so Gelegenheit, nach Be¬
endigung der parenchymzerstörenden Phase sich in der ursprünglichen Struktur
zu regenerieren. Vielleicht spielen neben den Kapillaren auch die intakten
Gitterfasem eine Struktur erhaltende Rolle, worauf ich früher schon hingewiesen
habe. Auch hat Fischer durch entsprechende Färbungen gezeigt, daß das
bindegewebige Gerüst im Bereich der Nekrosen noch fast ganz intakt ist.
Zu der Annahme eines milden Verlaufs der erwähnten Fälle paßt gut der
Umstand, daß entzündliche Veränderungen, die nach Söderbergh zu dem
Wesen der ganzen Erkrankung gehören, hier ganz in den Hintergrund treten
und auch sonst proliferative Erscheinungen an den Gallengängen und im Binde¬
gewebe fehlen. Meiner Ansicht nach ist es aber ebensogut möglich, daß hier
zufällig nur ein anderes Stadium der Leberveränderung vorliegt, daß z. B. die
Fälle von Meyer und Rumpel zum Exitus kamen an einem Zeitpunkt, in
dem akute Schädigungen der Leber seit längerer Zeit abgeklungen waren, so
daß das Gewebe Zeit zur Regeneration und Erholung gehabt hat. Bei anderen
Fällen, ich weise dabei besonders auf den von mir untersuchten hin, findet
man gleichzeitig verschiedene Stadien von Veränderungen der Leber vor; diese
sind teils als stationär gewordene aufzufassen, teils handelt es sich um noch
im Gange befindliche Degenerations- und Regenerationsvorgänge verschiedenen
Alters in der Lebersubstanz in Verbindung mit reparatorischer produktiver
Bindegewebswucherung. Dadurch, daß auch neugebildete Leberzellen infolge
etwa frisch auftretender Krankheitsprozesse wieder einer Degeneration anheim¬
fallen können, wird das Bild noch komplizierter, und es kann uns nicht
wundern, daß wir bei der Untersuchung der Leber recht verschiedene Bilder
bekommen, je nachdem, in welchem Stadium der Tod eingetreten ist.
Jedenfalls halte ich es nicht für berechtigt, in den Fällen von
Meyer und Rumpel Entwicklungsstörungen der Leber zu erblicken,
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
117
ganz abgesehen davon, daß eine solche auch nicht die in beiden
Fällen vorhandene Milzvergrößerung erklären könnte.
Eine andere Frage ist die: wann haben die Leberschädigungen eingesetzt
und ist es in der Tat möglich, daß es sich, wie Prym für den Westphal-
schen Fall annimmt, um eine exogene, aber embryonal erworbene Schädigung
handelt? Prinzipiell wäre eine solche Möglichkeit nicht von der Hand zu
weisen. In den meisten Fällen tritt die Krankheit wohl später auf, ohne daß
im einzelnen anatomisch der Zeitpunkt bestimmt werden könnte. Auch klinisch
tritt der Beginn der Lebererkrankungen wohl kaum je in die Erscheinung.
Das schubweise Auftreten der Leberschädigung gibt uns gleichzeitig eine
Erklärung dafür, warum die in neuester Zeit mehrfach ausgeführten Leber¬
funktionsprüfungen zuweilen keine Störung aufdecken konnten, zuweilen aber
auch positiv ausfielen. Es ist zu verstehen, daß Funktionsstörungen auftreten,
während sich die Leber gerade in einem Stadium der Degeneration befindet.
Auch während die Regeneration im Gange ist, werden wir nicht mit einer
intakten Leberfunktion rechnen können. Ist der Prozeß aber zur Ruhe ge¬
kommen, so steht der Annahme nichts im Wege, daß die neugebildeten Leber¬
zellen ihre Funktionen wieder ausüben und den gewöhnlichen Anforderungen
einigermaßen gewachsen sein werden.
Daß Aszites und Stauungen nicht beobachtet werden, ist darauf zurück¬
zuführen, daß im Gegensatz zu der Laennecschen Leberzirrhose die Binde¬
gewebswucherung nicht sehr ausgedehnt ist, weniger zur Narbenbildung neigt
und infolgedessen die Blutzirkulation nicht stört. Es ist daher richtiger, diese
Lebererkrankung nicht als Zirrhose zu bezeichnen, sondern sie als eine gro߬
knotige Hyperplasie aufzufassen. Pathogenetisch hat sie größere Ähnlichkeit
mit der akuten gelben Leberatrophie, von der übrigens auch ein geheilter
Fall mit großknotiger Hypertrophie von Marchand beschrieben ist.
Meiner Ansicht nach ist also die Frage, ob es sich bei der Leberver¬
änderung um eine Entwicklungshemmung oder um eine im Laufe des Lebens
erworbene Krankheit handelt, dahin zu beantworten, daß eine Dysplasie nicht
vorliegt, daß vielmehr alles für eine Schädigung dieses Organs nach
der Geburt resp. im Laufe des späteren Lebens spricht.
Bei der Lebererkrankung ist die Entscheidung der Frage, wann der Prozeß
begonnen hat, deshalb schwer, weil klinische Erscheinungen seitens der Leber nicht
bestehen. Bei der Erkrankung des Gehirns können wir wegen der vorhandenen
neurologischen Symptome den ungefähren Beginn des Leidens der Krankenge¬
schichte entnehmen. Da die ersten Erscheinungen so gut wie nie vor der Pubertäts¬
zeit, meist sogar noch später aufzutreten pflegen, so können wir schon aus klinischen
Beobachtungen einen rein kongenitalen Prozeß hier auschließen. Höchstens könnte
die Anlage zu solcher Erkrankung in dem betreffenden Individuum latent vor¬
handen sein, wofür das zuweilen beobachtete familiäre Auftreten sprechen würde.
Die pathologisch-anatomische Natur der Linsenkerndegenerationen mit ihren
frischen Zerfallserscheinungen spricht ebenfalls ohne weiteres dafür, daß es sich
um ein im Laufe des Lebens erworbenes und nicht um ein angeborenes Leiden
handelt. Größere Schwierigkeiten macht die Beantwortung für die Gliazell-
erkrankung bei der Pseudosklerose, da die riesigen blassen Gliakerne eine un¬
bestreitbare Ähnlichkeit mit Befunden bei Gliomen und Entwicklungsstöningen
Hg Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
(tuberöse Sklerose usw.) haben. Alzheimer, Stöcker und besonders Biel-
schowsky halten diese Zellen ebenfalls für blastomatös bzw. sie rechnen mit
der Möglichkeit, daß es sich um einen in einer fehlerhaften Anlage des Zentral¬
nervensystems begründeten Krankheitsprozeß handelt. Demgegenüber hat Spiel-
meyer neuerdings betont, daß die blastomatöse Natur der fraglichen Gliazellen
noch keineswegs gesichert sei, und er zieht in Erwägung, ob die gliösen Elemente
nicht doch Teilerscheinungen eines Degenerationsvorganges sind, zumal da diese
Zellen die ausgesprochene Neigung haben, sich rasch zurückzubilden und wieder
zu zerfallen, so daß der Vorgang an eine regressive Metamorphose ursprünglich
progressiv umgewandelter Gliaelemente erinnere. Dadurch könnten sich auch
die merkwürdigen Formelemente bei den Gliazellen erklären.
Gefäßalterationen, auf die Spielmeyer hinweist, sind auch in anderen
Fällen (Schütte, Bostroem) nachgewiesen worden. Über ihre Entstehung
läßt sich nichts Sicheres sagen, zumal da es sich teils um degenerative Ver¬
änderungen, teils um Gefäßneubildungen handelt.
Zu einem ganz bestimmten Resultat wird man wegen der noch ungeklärten
Natur der Alzheimerschen Gliakerne nicht kommen können. Aber selbst wenn
man an deren blastomatösem Charakter festhält, muß man in den Degenerations¬
vorgängen akute Erscheinungen einer intra vitam erworbenen Krankheit sehen,
und hierin besteht, wie ich schon 1914 zu zeigen versucht habe, eine Über¬
einstimmung zwischen der Erkrankung der Leber und des Gehirns, daß es
sich nämlich um Parenchymschädigungen degenerativer Art handelt, auf die
beide Organe, jedes in einer seiner Gewebsbeschaffenheit spezifischen Art,
reagieren. Es w T äre daran zu denken, daß bei der Pseudosklerose die degenera-
tiven Schädigungen ein Gehirn treffen, das durch das Vorhandensein der Alz¬
heimerschen Gliaelemente eine Abnormität aufweist. Für wahrscheinlich halte
ich die Annahme nicht, müßte man doch voraussetzen, daß diese Gliaerkran-
kung für sich allein symptomlos verlaufen wäre.
Wir kommen somit zu dem Ergebnis, daß wir in Leber- und Gchirn-
veränderungen nicht abiotrophische Vorgänge im Sinne Gowers’ und
Bielschowskvs, sondern neu aufgetretene Krankheitsprozesse zu
erblicken haben.
V.
Die oben schon erwähnten Untersuchungen von Spielmever lassen es
als möglich erscheinen, daß die beiden pathologischen Vorgänge im Gehirn
bei Pseudosklerose und Wilsonscher Krankheit nicht wesensverschieden
sind. Wir wären daher auch berechtigt, mit der gleichen Ursache für
beide Leiden zu rechnen.
Das regelmäßige Zusammentreffen dieser Gehirnaffektionen mit Leber¬
erkrankung für einen Zufall zu halten, wde es Stöcker und vielleicht auch
Cassirer tun, dazu kann ich mich nicht entschließen. Ich glaube vielmehr,
daß ein enger Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen besteht, sei es,
daß dieselbe Noxe beide Organe krank macht, sei es, daß die Erkrankung
des einen Organs die des anderen zur Folge hat. Lues ist, wie oben aus¬
geführt wurde, mit Sicherheit auszuschließen, Anhaltspunkte für eine bakterielle
Erkrankung haben sicli ebenfalls nicht finden lassen. Daher bleibt wohl nur
übrig, eine chemisch-toxische Schädigung anzunehmen.
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
119
Handelt es sich hier um ein von außen eingeführtes Gift oder um eine
Erkrankung nach Art einer Autointoxikation? Betrachten wir zuerst die
Möglichkeit einer von außen kommenden Gift Wirkung, so können wir dem
klinischen Verlauf nach eine akute Vergiftung von vornherein ausschließen.
Selbst der anscheinend so rasch verlaufene Fall von Economo läßt sich nicht
als eine solche auffassen, da auch hier die Prodrome mehrere Jahre zurück¬
liegen. Unter den chronischen exogenen Vergiftungen käme vielleicht die
Manganvergiftung in Betracht. Bei ihr werden Erscheinungen beschrieben
(E mb den, Jacksch, Seelert), die sehr an das Krankheitsbild der Pseudo¬
sklerose erinnern. Heilungen bzw. weitgehende Besserungen sind dabei ver¬
einzelt beobachtet, Sektionsbefunde liegen m. W. nicht vor, über Leber¬
erkrankungen wird ebenfalls nichts berichtet. Es läßt sich meiner Ansicht
nach nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich in den beschriebenen Fällen
um einwandfreie Manganvergiftungen handelt, oder ob nicht vielmehr eine
Pseudosklerose vorliegt, die zufällig einen Braunstein-Müller ergriffen hat;
denn es muß immerhin auffallen, daß unter den zahlreichen mit Mangan
arbeitenden Personen nur relativ wenig an dieser sogenannten spezifischen
Vergiftung erkranken sollten. Bei den sichergestellten Erkrankungen unseres
Interessengebietes lassen sich jedenfalls keine Anhaltspunkte für eine Mangan-
einwirkung finden.
Von anderen Vergiftungen wäre noch die Kohlenoxydvergiftung zu erwähnen,
die zuweilen mit Blutungen und Erweichungen im Linsenkern einhergeht (Sibe-
lius, Kolisko, Harzer, Herzog). Es kommen jedoch auch Blutungen in
anderen Hirnteilen dabei vor (Sibelius, Hedren, Sölder, der eine Beteiligung
der Vorderhorn zellen fand). Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Zustände,
die mit Sauerstoffverarmung bzw. Sauerstoffentziehung des Blutes einhergehen,
besonders leicht zu Schädigungen im Linsenkerngebiet führen. Darauf weist
nicht nur die Kohlenoxydvergiftung hin, sondern auch die Vogtsche Be¬
obachtung, daß Kinder mit Status marmoratus häufig asphyktisch zur Welt
gekommen sind, ferner der Fall symmetrischer Linsenkernerweichung von
Deutsch, die durch einen Erwürgungsversuch veranlaßt worden war. Nach
dem Krankheitsbefund muß hier allerdings eine traumatische Ursache eben¬
falls in Betracht gezogen werden.
Derartige Zustände von Sauerstoffmangel im Blut kommen ebenfalls für
die Entstehung der sicheren Fälle von Pseudosklerose und Wilson nicht in
Betracht. Nur könnte der Umstand, daß Blutgifte, wie Kohlenoxyd zu Krank¬
heitserscheinungen im Linsenkern führen, uns veranlassen, ein besonderes
Augenmerk auf ähnlich wirkende Schädigungen im Körperhaushalt zu richten.
Die Annahme, daß das mutmaßliche toxische Produkt auf dem Blutwege
zum Gehirn gebracht wird, wird wohl keinem Widerspruch begegnen. Die
fast immer vorhandene Milzschwellung spricht auch in diesem Sinne. Schwierig
ist die Frage nach Ursprung und der Art des Gifte», und hier ist m. E. die
Beteiligung der Leber an dem Krankheitsprozeß, besonders in Verbindung
mit dem Milztumor, geeignet, uns wichtige Hinweise zu geben. Daß ein Zu¬
sammenhang zwischen Lebererkrankung und Gehirnleiden besteht, wird, wie
erwähnt, von den meisten Autoren zugegeben. Stöcker lehnt einen solchen
ab, weil er glaubt, daß bei der großen Häufigkeit von Lebererkrankungen
120 Die Parkinson-, Wcstphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
auch toxische Schädigungen im Gehirn zahlreicher sein müßten. Er faßt viel¬
mehr Leber- und Gehirnerkrankung als unabhängig voneinander entstanden
auf, beide als Ausfluß von Anlagefehlern. Eine ähnliche Auffassung scheinen
Kubitz und Staemmler, deren Fälle klinisch leider nicht beschrieben sind,
zu haben, wenn sie schreiben: »Aller Wahrscheinlichkeit nach verlaufen die
Vorgänge an Leber und Gehirn unabhängig voneinander, eine Vorstellung, die
um so näher liegt, wenn man bedenkt, daß Syphilis in einem Teil der Fälle
im Spiele ist.« Jedoch geht aus dem Schlußabschnitt ihre wirkliche Auf¬
fassung nicht klar hervor, da sie hier der von mir 1914 ausgesprochenen
Ansicht beizustimmen scheinen. Cassirer läßt die Möglichkeit offen, daß
beide Erkrankungen ätiologisch koordiniert seien.
Uber die Art des Zusammenhanges von Leber- und Gehirnerkrankung be¬
stehen verschiedene Auffassungen. Es handelt sich dabei zunächst um die
Frage, welches Organ primär erkrankt sei. Weitaus die meisten halten die
Leber für den zuerst betroffenen Teil, nur Boenheim äußerte vor kurzem die
Ansicht, die Gehirnaffektion müsse das primäre sein. Er stützt sich vor
allem auf die Untersuchungen von Karplus und Kreidel über die Bezie¬
hungen der subthalamischen Gebilde zu dem viszeralen Nervensystem. Er ver¬
sucht, seine Ansicht weiter zu belegen durch Beobachtungen von Rothmann
und Nathanson (kataleptiforme Lethargie mit vorübergehender Leberstörung
ohne Sektion); ferner führt er den von A. Westphal beschriebenen Fall in
diesem Zusammenhang an, der innerhalb sechs bis sieben Wochen zugrunde
ging. Bei der Sektion fand sich außer Veränderungen im Linsenkern nur
eine beginnende Zirrhose der Leber. Boenheim schließt, daß der rasche
Verlauf der primären Gehirnerkrankung es nicht zu typischen Veränderungen
an der Leber habe kommen lassen. Die Beweiskraft dieser Fälle ist meiner
Ansicht nach sehr gering einzuschätzen, da bei dem ersten keine Sektion vor¬
liegt, und da es sich bei dem Westphalschen Patienten möglicherweise um
eine andere Art der Erkrankung handelte. Auch ist es hier gar nicht gesagt,
daß die Leberveränderung wirklich als beginnende Zirrhose aufzufassen ist.
Das Auftreten von Urobilinogen bei Grippe als zerebral bedingt anzusehen,
wie Boenheim es tut, halte ich nicht für richtig. Denn es ist bekannt, daß
Infektionskrankheiten auch ihrerseits Leberfunktionsstörungen hervorrufen können.
Wenn Boenheim dagegen anführt, daß die Urobilinogenausscheidung auch bei
länger dauerndem Fieber nur vorübergehend bestand und nur bei gewöhnlichen
Erkrankungen mit Beteiligung des Nervensystems auftrat, so läßt sich dies
ebensogut auch im gegenteiligen Sinne verwerten, nämlich so, daß die Schä¬
digung der Leber zuerst bzw. als Folge der Infektion entstanden ist, und daß
dann durch die Leberschädigung infolge des Ausfalls des Leberschutzwalles
Körper und Gehirn mit Toxinen überschwemmt wurden, wodurch das Gehirn¬
leiden erst hervorgerufen sein könnte.
Offenbar denkt Boenheim sich, daß im Zwischenhim ein Zentrum für
die Leberfunktion, vielleicht auch für die Ernährung des Organes besteht;
nach Erkrankungen dieses Hirnteiles müßte es dann zu einer Schädigung
auch der Leber kommen. Vorausgesetzt, wir hätten ein Zentrum für die
Leber im Zwischenhim, das diesem Organ gegenüber eine ähnliche Bedeutung
hätte wie etwa die Vorderhornzellen für Funktionen und Ernährung der
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
121
Muskeln, so könnte man bei einer primären Schädigung dieses Hirnteiles etwa
noch eine Verkümmerung des von hier aus versorgten vegetativen Organes,
vielleicht auch eine Zelldegeneration verstehen. Ich kann mir aber nicht er¬
klären, wie unter diesen Umständen die so oft und reichlich beobachtete
Regeneration der Leberzellen zustande kommen sollte, zumal da das über¬
geordnete Zentralorgan erkrankt bleibt, so daß von hier aus nicht etwa wieder
belebende Reize auf die Leberzellen ausgeübt werden können. Auch kann
ich mir die anderen proliferativen Vorgänge der Lebererkrankung nicht als
abhängig vom Gehirn denken, ferner fehlt bei dieser Annahme jede Erklärungs¬
möglichkeit für das Zustandekommen der Milzschwellung. Gegen die Boenheim-
sche Annahme läßt sich klinisch Fall 3 von Dziembowsky verwerten, bei
dem schon eine Leber- und Milzvergrößerung nachweisbar war, bevor Nerven-
symptome auftraten. Auch in dem von Rumpel untersuchten Falle soll die
Leberstörung den Gehirnerscheinungen vorausgegangen sein.
Daher läßt sich die Boenheimsche Auffassung nicht halten, vor allem auch
deswegen, weil Böen heim, wie oben ausgeführt wurde, der pathologisch -
anatomischen Natur der Lebererkrankung gar nicht Rechnung trägt.
Wilson hält, ebenso wie die meisten anderen Autoren, die Leber für das
primär erkrankte Organ, und zwar glaubt er, daß das Toxin in der erkrankten
Leber entsteht und eine spezifische Wirkung auf den Linsenkern ausübt. Er
weist dabei auf die Beobachtung hin, daß bei Ikterus gravis neonatorum sich
gerade im Linsenkerngebiet und im Corpus Luys eine gallige Färbung findet,
woraus er auf eine gewisse Affinität dieser Hirnteile zu einem pathogenen
Toxin schließt. Oppenheim steht auf dem gleichen Standpunkt wie Wilson.
Diese Theorie läßt jedoch ganz die Fragestellung vermissen, wodurch die Leber¬
erkrankung ihrerseits entstanden sein kann. Wie ich früher schon näher aus¬
geführt habe, steht nichts im Wege, auch die Leberveränderungen als toxisch
bedingt aufzufassen. Betrachtet man die Erkrankung der Leber und des Ge¬
hirns gemeinsam und trägt dabei auch noch der fast regelmäßig gefundenen
Milzschwellung Rechnung, so kommt man auf folgende Entstehungsmöglich¬
keiten :
1. Dasselbe Toxin schädigt gleichzeitig Leber und Gehirn.
2. Eine Giftwirkung trifft zunächst die Leber, veranlaßt dort das Zugrunde¬
gehen von Leberparenchym und die daran anschließenden sekundären Ver¬
änderungen in diesem Organ. Die Schädigung des Gehirns ist dann auf folgende
Weise denkbar:
a) Durch das Zugrundegehen von Leberzellen entstehen giftig wirkende
Abbauprodukte, die in den Körperkreislauf übergehen und im Gehirn
an dazu prädisponierten Stellungen Degenerationserscheinungen ver¬
anlassen.
b) Dasselbe Toxin, das die Leberstörungen hervorgerufen hat, anfangs aber
von dem gesunden Lebergewebe zurückgehalten werden konnte, dringt
nach Störung der Leberfunktion weiter vor, gerät in die Blutbahn und
so ins Gehirn.
c) Die Erkrankung der Leberzellen bewirkt eine mehr weniger langdauernde
Störung der Leberfunktion, so daß u. a. vor allem die Aufgabe Stoff-
* Wechselprodukte zu verarbeiten oder zu entgiften, gehindert wird. So
122 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
wird die Leber für Giftstoffe aller Art durchlässig und auf diese Weise
gelangen Endprodukte des Stoffwechsels, die auch im normalen Körper¬
haushalt gebildet, aber in der Leber unschädlich gemacht werden, in¬
folge Versagens der Leber ins Gehirn. So sagt Biedl, daß die Leber
den Organismus vor dem Übertritt giftiger Ammoniakverbindungen und
ihrer Derivate schützt.
Prinzipiell weisen diese aufgezählten Möglichkeiten keine allzu großen Unter¬
schiede auf. Die größte Wahrscheinlichkeit hat meiner Ansicht nach der
unter 1 aufgeführte Vorgang. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen,
daß es sich nicht immer um dieselbe Entstehung zu handeln braucht. Es
können sich vielleicht auch mehrere Möglichkeiten miteinander kombinieren,
etwa so, daß zuerst der unter 1 geschilderte Vorgang in Erscheinung tritt,
Leber und Gehirn erkranken. Später kann sich der Vorgang in der gleichen
Weise wiederholen. Möglicherweise genügt aber schon die durch den ersten
Schub gesetzte Leberschädigung, um infolge Versagens des Leberschutz¬
walles dem Gehirn neue Schädigungen anderer Art zuzuführen, unter der das
schon erkrankte Gehirn besonders zu leiden hat. Es wäre auch daran zu
denken, daß jetzt die Reaktion der Gehirnsubstanz eine andere sein könnte,
sei es, weil das geschädigte Organ weniger widerstandsfähig ist, sei es, weil
das Toxin jetzt anderer Art ist. Diese Möglichkeit vorausgesetzt, drängt sich
die Vermutung auf, ob die anatomische Verschiedenheit der Gehirn Veränderungen,
namentlich auch das Vorkommen der beiden differenten Erkrankungsprozesse
nebeneinander nicht seinen Grund in der geschilderten Variationsmöglichkeit der
Gift Wirkungen hat. So verführerisch derartige Spekulationen auch sein mögen,
so ist nicht zu verkennen, daß wir uns hier ganz auf dem Boden der Hypothese
bewegen, der aber ein gewisser heuristischer Wert nicht abzusprechen ist.
Weiter hat uns die Frage nach der Art und dem Ursprung des hypo¬
thetischen Giftstoffes zu beschäftigen. Eine Lues kann man nach den früheren
Ausführungen mit Sicherheit ausschließen. Marburg nimmt an ein Hormon¬
toxin, eine Anschauung, für die weiter keine Stütze beigebracht worden ist.
Um was für ein Gift es sich handelt, wird man auch nur vermutungs¬
weise kaum sagen können, wohl aber scheint mir, kann uns die Art der Leber¬
veränderung einen Anhaltspunkt dafür geben, woher das schädigende Agens
stammt. Nach Analogie mit der atrophischen Leberzirrhose, die mit der vor¬
liegenden Lebererkrankung wenigstens hinsichtlich des Vorkommens von De-
generations- und Regenerationserscheinungen übereinstimmt, und mit der akuten
gelben Leberatrophie werden wir darauf hingewiesen, daß der Giftstoff aus
dem Quellgebiet der Pfortader, also im wesentlichen aus dem Magen- und
Darmkanal stammt. Es ist dies ein Punkt, auf den ich zuerst in meiner
früheren Arbeit hingewiesen habe. In späteren Untersuchungen haben sich
mancherlei Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Auffassung ergeben
(Economo, Söderbergh) insofern, als sich bei ihnen ebenso wie bei meinem
Fall bei der Autopsie Darmerkrankungen gefunden haben. Auch Strümpell
hebt das Vorkommen von gastrointestinalen Störungen und deren Bedeutung
hervor. Auf derartige Störungen ist naturgemäß kein besonderes Augenmerk
gerichtet worden; um so bemerkenswerter erscheint es, wenn unter den etwa
30 sicheren Fällen 14 mal von Darmerkrankungen berichtet wird.
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
123
Rechnen wir mit einem aus dem Darmkanal herrührenden Gift, so muß
zunächst wieder an einen von außen eingeführten Stoff gedacht werden, wofür
sich aber nirgends Anhaltspunkte finden. Es bleibt dann noch die Entstehung
durch ein Gift, das sich im Magen-Darmkanal bildet, sei es infolge abnormer
Stoffwechsel Vorgänge, sei es als Endprodukt normaler Verdauung. Derartige
Produkte werden in den meisten Fällen vom Darm entleert und nur dann
resorbiert, wenn die Darmschleimhaut erkrankt ist; man kann sich die Vor¬
gänge etwa ähnlich vorstellen wie bei der Leber, daß nämlich erst irgend¬
welche schädigende Ursachen einen Darmkatarrh hervorgerufen haben, daß
die in ihrer Tätigkeit gestörte Darmschleimhaut dann entweder diese Gift¬
stoffe aufnimmt, oder daß sie durch diese Erkrankung nicht mehr imstande
ist, die gewöhnlichen ebenfalls toxisch wirkenden Produkte der Verdauung
zurückzuhalten. Auf diese Weise geraten diese Toxine in den Pfortaderkreis¬
lauf und von dort zur Leber und Milz; als Ausdruck dieser Darmschädigung
finden wir häufig die erwähnten Darmkatarrhe oder intensive intestinale Be¬
schwerden.
Dieser Ausführung gemäß wäre der Weg der toxischen Einwirkung etwa
folgender: Schädigungen der Darmschleimhaut, die dadurch für Toxine aus
dem Darm durchlässig wird; diese Giftstoffe dringen zur Leber vor, setzen
hier eine weitere Schädigung des Leberparenchyms, gelangen entweder im
gleichen Schub in den Körperkreislauf und damit zum Gehirn oder das Un¬
dichtwerden des Leberschutzwalles durch Degeneration der Leberzellen gibt
Giftstoffen gleicher oder anderer Art die Möglichkeit, in den allgemeinen Kreis¬
lauf zu gelangen und somit auch das Gehirn zu treffen, das anscheinend in
bestimmten Teilen eine besondere Empfindlichkeit für derartige Stoffe besitzt.
Ob vor dem Zustandekommen der Gehirnerkrankung erst noch der Plexus
ehorioideus, der von vielen als Schutzmechanismus des Gehirns angesehen
wird, in seiner Funktion geschädigt wird, muß dahingestellt bleiben; möglich
ist diese Vermutung immerhin, bis jetzt liegen anatomische Untersuchungen
darüber noch nicht vor 1 ).
Es fragt sich, warum kommen solche Gehimveränderungen bei Darm-
bzw. Lebererkrankungen nicht häufiger vor? Namentlich könnte man annehmen,
daß bei der atrophischen Leberzirrhose, die biologisch auf gleiche oder ähnliche
Vorgänge zurückzuführen ist wie die hier vorliegende Erkrankung ähnliche
Folgen entstehen können. Bezüglich dieses Punktes verweise ich wieder auf
meine frühere Arbeit, wo ich ausgeführt habe, daß bei der atrophischen Leber¬
zirrhose der Krankheitsprozeß mehr schleichend verläuft und nie die ganze
Leber auf einmal zu schädigen pflegt. Es bleibt vielmehr ein Teil des Leber¬
gewebes auch während der akuten Phase funktionstüchtig. Ferner ist mit der
Möglichkeit zu rechnen, daß das jugendliche Gehirn, und um ein solches handelt
J ) Nach Abschluß dieses Abschnittes erschien die Arbeit von A. Fuchs über Ex¬
perimentelle Encephalitis, die eine experimentelle Bestätigung der hier vertretenen An¬
schauung von dem Zustandekommen von Hirnveränderungen infolge einer Leberinsuf¬
fizienz bringt. Er zeigt, daß durch die Ausschaltung der Leber auch die Schutzkraft
dieses Organs gegenüber giftigen Hamstoffvorstufen wegfällt. Kommen letztere in den
Organismus, so reagiert das Gehirn auf diese Giftwirkungen mit Erkrankung, in diesem
Falle Encephalitis. Verf. weist selbst auf die Bedeutung dieser Erfahrungen für das Zu¬
standekommen der Wilsonschen Krankheit hin.
124 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
es sich hier fast immer, leichter auf derartige Einwirkungen reagiert als es
bei älteren Individuen der Fall sein würde. Mir scheint außerdem noch ein
weiterer Grund einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Erkrankungen
zu bedingen. Dieser liegt in der anatomischen Differenz beider Lebererkran¬
kungen: bei der gewöhnlichen atrophischen Leberzirrhose überwiegt die Binde¬
gewebswucherung, es kommt zu förmlicher Narbenbildung, und durch den Druck
dieser bindegewebigen Prozesse entsteht eine Behinderung der Blutzirkulation
und im Anschluß daran Aszites. Gerade diese Kreislaufverhältnisse bei der
atrophischen Leberzirrhose erschweren mechanisch die Passage und verhindern
es, daß das bis zur Leber vorgedrungene Gift weiter in den allgemeinen
Körperkreislauf eingeschleppt wird. Im Gegenteil dazu ist die reparatorische
Bindegewebswucherung bei der Wilsonleber relativ geringfügig, es kommt
nicht zu einer mechanischen Kreislaufschädigung, und deshalb wird auch nie
Aszites beobachtet. Da die Leber wegen ihrer Funktionsstörung ihre entgiftende
Eigenschaft eingebüßt hat, da andererseits kein mechanisches Hindernis die
Leberpassage erschwert, ist die Möglichkeit, daß Giftstoffe unbehindert die
Leber passieren, gerade bei der Wilsonleber besonders groß.
Über die Art der präsumptiven Giftstoffe können wir nur Vermutungen
äußern. Zü der Hypothese einer enterogenen Entstehung des Leidens paßt
es gut, daß fast in allen Fällen, soweit darauf geachtet worden ist, eine Milz¬
vergrößerung vorhanden war (25 mal unter den sicheren Fällen).
Das Vorhandensein eines Milztumors könnte aber noch auf eine andere
Entstehungsmöglichkeit der Erkrankung hinweisen, die mit der Aufgabe der
Milz im Zusammenhänge steht. Ich denke dabei an eine Erkrankung des
Blutes. Wesentliche Veränderungen in der morphologischen Beschaffenheit des
Blutes sind bei den allerdings spärlichen Untersuchungen nicht gefunden worden
(Dziembowski, Strümpell, eigene Untersuchungen). Teilweise war die Zahl
der roten Blutkörperchen herabgesetzt, in einigen Fällen bestand auch Poly¬
globulie. Auf das Verhalten der Thrombozyten ist ebenfalls nur wenig ge¬
achtet worden. Vielleicht lassen sich zwei weitere Punkte für einen Zusammen¬
hang des Leidens mit einer Bluterkrankung verwerten, nämlich das Auftreten
des eigentümlichen Pigments in der Hornhaut, sowie die zuweilen beobachtete
Pigmentierung an inneren Organen, namentlich an den Leberzellen (W. Fischer,
Bostroem, A. Westphal, Fleischer-Rumpel, Schminke). Strümpell
und Söderbergh erwähnen eine abnorme Hauptpigmentierung. Es muß
freilich dahingestellt bleiben, ob diese Pigmentierung hämatogener Abkunft
sind. (In vereinzelten Fällen ist die Eisenreaktion negativ gewesen.) Rumpel
ist auf Grund chemischer Untersuchungen zu der Ansicht gekommen, daß es
sich um eine Argyrose handeln müsse. Fleischer, der denselben Fall unter¬
suchte, hält Silber für ausgeschlossen, ohne seinerseits zu einem bestimmten
Resultat zu kommen. Auch Kubitz und Staemmler haben die Leber und
andere innere Organe chemisch untersucht, ohne daß mikroskopisch eine Pig¬
mentierung der Leberzellen aufgefallen wäre. Es konnten nur Spuren von
Kupfer und etwas Eisen, das ja einen normalen Bestandteil des Blutes bildet,
nachgewiesen werden, Silber war nicht zu finden.
Ob es sich bei dem Pigment in den inneren Organen um wesentliche oder zu¬
fällige Befunde handelt, ist ebenfalls noch fraglich. Jedenfalls ist die Pigmen-
Allgemein biologische Gesichtspunkte usw.
125
tierung in verschiedenen Fällen, bei denen darauf geachtet worden ist, auch
vermißt worden (Kubitz-Staemmler, Söderbergh, Kleiber).
Ob die etwas häufiger, aber bis jetzt nur bei Pseudosklerosefällen be¬
obachtete Hornhautpigmentierung mit der vereinzelt vorkommenden Pigmen¬
tierung am Körper und an den inneren Organen irgendwie im Zusammenhänge
steht, muß unentschieden bleiben, da wir über die Natur beider Pigmentie¬
rungen nur Vermutungen äußern können. Fleischer hat das Hornhautpigment
in einem Falle untersucht, ohne auch hier zu einem bestimmten Resultat zu
kommen; es soll sich um Stoffe handeln, welche durch die befallenen Gewebe
reduziert werden. Sichere Schlüsse, ob ein Zusammenhang mit Blutverände¬
rungen vorliegt oder ob das Pigment als Blutpigment aufzufassen ist, lassen sich
daher nicht ziehen. Um auf die Frage einer hämatogenen Entstehung der Leiden
zurückzukommen, so sei darauf hingewiesen, daß vielleicht gewisse entfernte
Ähnlichkeiten mit der ebenfalls rätselhaften Bantischen Krankheit bestehen,
die mit Milztumor beginnt, zu dem sich später eine zirrhoseartige Erkrankung
der Leber allerdings mit Aszites hinzugesellt.
Die Frage, ob es außer der toxischen Entstehung nach primärer Erkrankung
der Leber bzw. des Darms noch eine andere Ätiologie gibt, ist deswegen in
diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung, weil die Hornhautpigmen¬
tierung bis jetzt nur bei der Pseudosklerose gefunden worden ist. Sollte
diese Hornhautpigmentierung Ausdruck einer besonderen Erkrankung vielleicht
des hämatopoetischen Apparates oder des Adrenalsystems sein, so würde diese
Ätiologie nur für die Pseudosklerose in Betracht kommen und damit einen
Unterschied gegenüber der Wilsonschen Krankheit bedingen. Vorläufig be¬
wegen wir uns in dieser Frage jedoch nur auf dem unsicheren Gebiet der Ver¬
mutungen; gestreift werden mußte diese Möglichkeit jedoch immerhin.
Nachdem die einzelnen Gebiete besprochen sind, haben wir folgendes zu
registrieren:
Die klinischen Symptome der Wilsonschen Krankheit und der Pseudosklero.se
können recht verschieden sein, jedoch gibt es zahlreiche Misch- und Uber¬
gangsfälle. Das einzige Symptom, das bis jetzt nur bei einer der beiden Er¬
krankungen, nämlich bei der Pseudosklerose beobachtet wurde, ist die Hornhaut¬
pigmentierung. Die pathologisch-anatomischen Unterschiede beider Erkrankungen
scheinen hinsichtlich des Gehirnbefundes auf den ersten Blick recht groß zu
sein, bei näherer Betrachtung hat sich aber herausgestellt, daß 1. auch hier
Übergänge Vorkommen und daß 2. die Gehirnveränderungen nicht so prin¬
zipiell verschieden sind, daß sie nicht als Folgen derselben Krankheitsprozesse
aufgefaßt werden könnten. Große Übereinstimmung zeigt der Leberbefund
der großknotigen Hyperplasie bei beiden Erkrankungen, scheinbare Verschieden¬
heiten lassen sich als verschiedene Stadien des gleichen Krankeitsprozesses
auffassen. Die wichtige Rolle, die die Leber im Krankheitsbild namentlich
für die Äthiologie der Krankheiten spielt, macht es wahrschenlich, daß für
beide Formen der Gehirnerkrankung jedenfalls im wesentlichen die gleiche
Krankheitsursache in Betracht kommt. Nach allem diesem haben wir es bei
der Pseudosklerose und Wilsonschen Krankheit zu tun mit einer primären,
offenbar gleicher Ursache entspringenden Lebererkrankung, durch welche eine
126 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
im Prinzip gleichartige, in der Ausdrucksform und Lokalisation wechselnde Er¬
krankung des Gehirns hervorrufen wird. Die klinischen Symptome auf neu¬
rologischem Gebiet können entsprechend der verschiedenen Lokalisation im
Gehirn in weitem Spielraum wechseln, sie beschränken sich aber auf das extra-
pyramidale motorische Gebiet. Wir haben also die Pseudosklerose und Wilson-
sche Krankheit als verschiedene, durch Kombinations- und Ubergangsformen
miteinander verbundene Symptomenbilder einer im Grunde gleichartigen Er¬
krankung anzusehen.
3. Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
I.
Nachdem die biologische Frage und die klinische Zusammengehörigkeit der
Pseudosklerose und Wilsonschen Krankheit erörtert sind, wende ich mich
zu den neurologischen Symptomen, ihrer klinischen Bedeutung und patho-
physiologischen Stellung. Die Symptome der Paralysis agitans müssen in diesem
Zusammenhang mitbesprochen werden, da sie prinzipiell zu denen der Wil¬
sonschen Krankheit gehören, wenn es sich auch um eine andere Krankheits¬
einheit handelt. Die Symptomengruppe, die für diese Krankheiten bezeichnend
ist, hat Stertz als akinetisch-hypertonisches Syndrom zusammengefaßt und sie
einerseits dem spastisch-athetotischen und andererseits dem choreatischen Syn¬
drom gegenüber gestellt. Die Bezeichnung ist wie schon in der Einleitung er¬
wähnt für die Parkinson-Westphal-Strümpell-Wilsonsche Gruppe nicht sehr
günstig gewählt, weil wie wir gesehen haben, Fälle von Pseudosklerose ganz ohne
Hypertonie einhergehen können.
Die Beschreibung der Grundsymptome muß daher zunächst die Fälle von
Pseudosklerese mit Hypotonie außer acht lassen und innerhalb der klinisch¬
nosologischen Gruppe, der Parkinson-Westphal-Strümpell-Wilsonschen
Krankheit den Parkinson-Wilsonschen Symptomenkomplex herausar¬
beiten. Die Beschreibung dieser Symptome stützt sich dabei nicht nur auf
Fälle von Paralysis agitans und Wilson, sondern auch auf symptomatische
Fälle, namentlich Encephalitisfolgen.
Versuche ich dies Symptomenbild zu zerlegen, so komme ich, wenn zunächst
die Nebensymptome vernachlässigt bleiben, zu folgenden Komponenten, die
jedoch nicht in jedem Falle vertreten sind: Störungen im Muskeltonus, Störungen
beim Zustandekommen der Bewegungen und Störungen im Verlauf kinetischer
und statischer Innervation durch Zittern, Wackeln usw.
Es wird praktisch nicht immer möglich sein, diese verschiedenen Störungen
auseinanderzuhalten, weil sie einander beinflussen, sodaß z. B. eine Erhöhung
des Muskeltonus den Bewegungsablauf sekundär beeinträchtigen kann. Man
wird daher auch mit sekundären Störungen zu rechnen haben.
Die Veränderung des Muskeltonus, die Hypertonie, wird von vielen
für das wesentlichste Symptom gehalten, das geeignet erscheint, die meisten
anderen Symptome als sekundäre auzufassen, eine Ansicht, der jedoch ver¬
schiedene Beobachtungen widersprechen. Von vornherein sei noch einmal her¬
vorgehoben, daß es eine Anzahl sicherer Fälle von Pseudosklerose gibt, bei denen
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
127
die Hypertonie fehlt; gerade diese scheinen geeignet zur Nachprüfung verschiedener
motorischer Symptome unbeeinflußt von Tonusveränderungen.
Die charakteristische Hypertonie, die wir im Gegensatz zu der echten
spastischen Hypertonie bei Pyramidenschädigungen als Rigor bezeichnen, be¬
steht in einer Agonisten und Antagonisten gleichmäßig befallenden Steifheit
und Spannungserhöhung der Muskeln. Diese fühlen sich oft schon in der Ruhe
hart an, ihre Konturen treten bisweilen deutlicher hervor; bei dem Versuch,
die betreffende Extremität zu bewegen, begegnet man einem zähen wachs¬
artigen Widerstand, und zwar sowohl beim Beugen wie beim Strecken, ein
Widerstreben, das sich von dem federnden Widerstand des Pyramidenspasmus
meist unschwer unterscheiden läßt, u. a. auch dadurch, daß beim Pyramiden¬
spasmus brüske Bewegungen zu einer Erhöhung des Widerstandes und zu
Klonus führen. Auch die Reflexe zeigen nicht die bei Pyramidenschädigungen
charakteristische Steigerung; daß sie auch lebhaft gefunden werden, beruht nicht
auf einer Beteiligung der Pyramidenbahn, sondern ist gewissermaßen äußerlich
bedingt durch die vorhandene Anspannung der Muskeln, sie ist, wie sich Söder-
bergh ausdrückt, „simuliert“, jedenfalls handelt es sich nicht um eine spa¬
stische Steigerung, was schon aus dem Fehlen des Klonus und des Babinski-
«chen Zeichens hervorgeht.
Auch hinsichtlich der Verteilung ergeben sich Unterschiede: Während die Pyra¬
midenspasmen sich in ihrer Verteilung oder dort bezüglich ihres Stärkegrades in der
Regel nach dem von Wer nicke und Mann angegebenen Prädilektionstyp
richten, finden wir beim Rigor eine ziemlich gleichmäßige Beteiligung der Ago¬
nisten und Antagonisten, eine Bevorzugung gewisser Teile besteht jedoch auch
insofern, als die proximal gelegenen Muskeln der Extremitäten in der Regel
stärker betroffen zu sein pflegen, so daß die Ausführung passiver Bewegungen
am Oberschenkel und Oberam schwer, oft unmöglich ist, w'ährend an den
Händen passive Bewegungen relativ leicht vorgenommen werden können. Es
erscheint dies zunächst deshalb etwas erstaunlich, weil die oft beobachtete
gleichmäßige Handhaltung (Pfötchenstellung) die Annahme nahelegt, sie sei durch
eine bedeutende Muskelspannung bedingt. Daß in der Tat eine gewisse
Muskelspannung auch hier vorliegt, ist allerdings wahrscheinlich; denn Hand
und Finger kehren immer wieder in die gleiche Stellung zurück, die
man eben noch ohne Mühe und ohne jeden Kraftaufwand hatte aus-
gleichen können. Insofern, aber auch nur hierin, besteht eine gewisse Ähn¬
lichkeit mit den oben als athetotische Dauerhaltung bezeichneten Zuständen; auch
dort findet man, daß typische Stellungen immer wieder eingenommen werden, obwohl
eine eigentliche Fixation durch stärkeren Muskelzug nicht nachweisbar ist.
Als weitere Prädilektionsstellen für den Rigor kommen noch in Betracht
die vorderen Halsmuskeln, deren Anspannung eine dauernde Neigung des
Kopfes zur Folge hat, sowie eine Beteiligung bestimmter Rumpfmuskeln, deren
dauernde Innervation eine Kyphose bzw. eine Neigung des Oberkörpers nach
vorn bewirkt. Hieran scheinen u. a. zuweilen auch die Bauchmuskeln beteiligt
zu sein. Bemerkenswert ist, daß gerade die vorderen Halsmuskeln auch die
Prädilektionsstellen für die katatonischen Muskelspannungen sind.
Mitbetroffen von der Hypertonie ist ferner auch zuweilen die Gesichts¬
muskulatur. Ein solcher Rigor wird jedoch leicht vorgetäuscht durch das
128 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Fehlen mimischer Bewegungen, die auch ohne Hypertonie Vorkommen und
einen maskenartigen Gesichtsausdruck bewirken kann. Vielfach sind beide
Symptome nicht sicher auseinanderzuhalten, zumal da eine Prüfung auf Rigi¬
dität an den Gesichtsmuskeln nicht leicht ist.
Besonders hingewiesen auf eine solche ist von Söderbergh; deutlich war
sie auch vorhanden in dem oben wiedergegebenen Falle Rosine G. Eine der¬
artige Steifheit der Gesichtsmuskeln hat zur Folge, daß mimische Ausdrucks¬
bewegungen, wie Lachen usw. nicht rasch abklingen, sondern wie versteinert
eine Zeitlang bestehen bleiben. Sehr stark von der Hypertonie befallen sind
auch oft die Kau- und Schluckmuskeln sowie die beim Sprechakt beteiligten
Muskeln. Es kommt hierdurch zu Kaubeschwerden, Dysphagie, Dysarthrie, oft
zu vollständiger Stummheit. Ein Beweis dafür, daß wirklich die Muskelspan¬
nungen diese letztgenannten Störungen veranlassen, kann man vielleicht in
einem von Rothmann angestellten Versuch erblicken; ihm war es durch leichte
Chloroformierung gelungen, die Sprachstörung in einem entsprechenden Falle für
die Dauer der Muskelentspannung während der Narkose zu überwinden. Ob diese
Muskelspannungen alleine für die genannten Störungen verantwortlich zu
machen sind, erscheint mir jedoch zweifelhaft, wahrscheinlich sind gewöhnlich
auch noch die später zu besprechenden paretischen Komponenten mit daran
beteiligt.
Eine mechanische Muskelerregbarkeit geht mit der Muskelrigidität meist
nicht einher. Erwähnt wird eine solche nur einmal von Söderbergh, bei
dessen Fall der Biceps braehii nach mechanischen Reizen pathologisch lange
in einem Kontraktionszustand verharrte. Ähnliche Beobachtungen machte
Stertz in seinem zweiten Falle. Eine Veränderung des elektrischen Verhaltens
ist ebenfalls von Söderbergh beschrieben worden. Sie bestand darin, daß
alle mit faradischem Strom gereizten Muskeln eine gewisse Nachdauer der
Kontraktion zeigten. Bei einigen Muskeln trat nach Entfernung der Elektrode
erst langsame Erschlaffung ein. Einen Augenblick später kam es dann wieder zu
einer erneuten Kontraktion, die dann noch langsamer verschwand, Eine etwas
verlängerte Nachdauer der Kontraktion habe ich auch bei einigen Paralysis
agitans-Fällen beobachten können; auch Stertz berichtet davon in seinem Fall 2.
Die von Söderbergh als dysmyotonische Reaktion bezeichnete Erscheinung
habe ich nicht gefunden.
Während beim Pyramidenspasmus nach Ausführung einer passiven Be¬
wegung das betreffende Glied dem Zug der Prädilektionsmuskeln folgend, wieder
in die ursprünglich innegehabte Stellung zurückkehrt, besteht bei dem echten
Rigor die Neigung, passiv gegebene Stellungen beizubehalten. Hierauf
beruht auch die Erscheinung des Westphalschen paradoxen Phänomens, das
jedoch in seiner ursprünglichen Form (Dorsalflexion des Fußes) nicht allzu häufig
beobachtet wird, vielleicht gerade deswegen nicht, weü der Rigor an den distalen
Enden der Extremitäten nicht so ausgesprochen ist wie weiter proximalwärts. Das
Verharren in Haltungen läßt sich bei diesen Kranken besonders leicht dann
erreichen, wenn die betreffende Extremität durch einen gewissen Druck in diese
Lage gebracht wird. Die Neigung dazu wird offenbar dadurch verstärkt,
daß die Muskeln, deren Insertionspunkte einander genähert werden, die Tendenz
haben, diese Kontraktionszustände beizubehalten, während die Antagonisten
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
129
durch die erfolgte Dehnung nicht zu einer Gegeninnervation gereizt werden.
Diese Annahme würde sich decken mit Befunden von F. H. Lewy, der bei
Aufnahme von Muskelstromkurven bei Rigiden gefunden hat, daß hier der nach
Ablauf einer Bewegung normalerweise auftretende Muskelstrom im Antagonisten
(Rückstoß) ausbleibt, v. Strümpell hat dieses Symptom als Fixationsrigidität
bezeichnet, in ihr erblickt er einen wesentlichen Bestandteil des amyostatischen
Symktomenkomplexes. Am charakteristischsten ausgeprägt ist diese Fixations¬
rigidität bei seinem Kranken Emil H., dessen rechtes Bein mit kurzen Unter¬
brechungen und ganz geringen Ermüdungserscheinungen freischwebend gehalten
wird. Ein derartig extremer Grad von Fixationsrigidität ist sonst meines
Wissens noch nicht beobachtet, aber zur Fixierung in gegebenen Haltungen
oder zur Einnahme bestimmter Stellungen kommt es bei ausgeprägtem Rigor
häufig, wie uns die Betrachtung vieler Fälle von Paralysis agitans zeigen kann,
noch häufiger ist diese Flexibilitus cerea bei Encephalitisfällen mit Parkinson-
schem Symptomenkomplex. Die spontan innegehabte Haltung wird im
wesentlichen durch die Verteilung der Muskelrigidität bedingt. Am meisten
finden wir eine leicht gebückte Rumpfhaltung, wobei die Arme im Ellenbogen
gebeugt, die Finger in Interosseusstellung fixiert zu sein pflegen. Auch die
Beine sind während der Bettruhe in Hüfte und Knie meist leicht gebeugt.
Die Stellung der Füße ist nicht immer die gleiche; oft besteht Plantarflexions¬
stellung. Diese uns von der Paralysis agitans her bekannte Haltung läßt sich
bei der Wilsonschen Krankheit zuweilen auch beobachten; oder man findet sie
wenigstens angedeutet bzw. zum Teil verwirklicht.
Die Augenmuskeln sind bei der Paralysis agitans von der Rigidität meist
ausgenommen, und gerade ihre lebhaften Bewegungen stehen in seltsamem Gegen¬
satz zu dem sonst unbewegten Körper.
Als eine besondere Eigenschaft der rigiden Glieder sei noch folgendes her¬
vorgehoben: Setzt man einer möglichst kraftvollen Bewegung eines Rigiden
einen lebhaften Widerstand entgegen und gibt dann plötzlich nach, so tritt nur
ein ganz minimales, oft gar kein Ausfahren der losgelassenen Extremität ein.
Es ist dies ein Zeichen dafür, daß bei den Rigiden trotz gewollter Kraftan¬
strengung gleichzeitig auch der Antagonist eine nicht unwesentliche Innervation
behält, d. h. nicht erschlafft; dadurch wird ein Ausfahren nach Nachlassen eines
zu überwindenden Widerstandes verhindert. Diese Erscheinung bildet gewisser¬
maßen die Umkehrung des Stewart Holmschen Phänomens (Kleinhimerkran¬
kungen), bei dem das Ausfahren nach beseitigtem Widerstand übertrieben heftig
ist, weil hier ein Bremsen durch den normalerweise eintretenden Rückstoß fehlt.
In vorgeschrittenen Fällen kann die Rigidität der Muskeln übergehen in
Kontrakturen myogener Art. Sie sind als sekundäre Erscheinungen aufzu¬
fassen und haben meiner Ansicht nach mit dem Wesen des Prozesses nichts
zu tun.
Um den Rigor sicher von Pyramidenspasmen unterscheiden zu lernen, hat
man versucht, das Verhalten der rigiden Muskeln bei aktiven und passiven Bewe¬
gungen, die Prädilektionstypen der Verteilung und die Eigenart der dadurch
bedingten Haltungen näher zu studieren. Gleichzeitig war man dabei bemüht,
Kriterien für eine Einteilung verschiedener Rigorarten zu gewinnen. Über diese
Arbeiten sei kurz berichtet:
Bostroem, Symptomenkomplex.
9
130 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Ein Fall von Economo zeichnet sich durch eine sehr hochgradige Hyper¬
tonie aus, der ganze Körper war bretthart. Die unteren Extremitäten waren
in Strecksteilung fixiert, ebenso nahmen Rumpf und Nacken eine Streck¬
haltung ein. Nur die oberen Extremitäten zeigten eine leichte Beugung. Durch
diese Streckhaltung unterscheidet sich der Fall von den meisten anderen.
Nur Gower8 hat einen Fall ebenfalls mit „Streckspasmen“ beschrieben. Passive
Bewegungen lösen die vorhandene Hypertonie nur in ganz geringem Maße.
Ebenfalls mitJStreckspannung einher geht der Fall von Economo und
Schilder, der zwar nicht eigentlich zur Wilsongruppe gehört, sich aber
symtomatologisch hier ein reihen läßt. Auch bei ihm finden sich deutliche Ver¬
änderungen an den basalen Partien des Kopfes des Nucleus caudatus, ferner
im Globus pallidus und im Putamen. Er betraf jedoch auch noch Teile der
Großhirnrinde und des Kleinhirns. Charakteristisch für die beschriebene Hyper¬
tonie war außer der Bevorzugung der Streckmuskeln der Umstand, daß sie
bei brüsken passiven Bewegungen zunahm, während langsame passive
Bewegungen mildernd wirkten. Willkürliche Bewegungen gelangen nach
verzögerter Entspannung, wurden dann relativ frei fortgesetzt und durch jäh
einsetzende Hypertonie wieder gebremst. Der auch normalerweise vorhandene
Rückstoß nach Bewegungsbremsung war erhöht, und zwar so stark, daß es zu
hampelmannartigen Bewegungen kam.
Der Fall von Söderbergh zeigt dagegen eine Abnahme des Rigor bei
passiven Bewegungen und keine Verstärkung bei brüsker Ausfüh¬
rung derselben. Die in der Ruhe schon vorhandene aber nicht sehr deutliche
Starre der Muskulatur wird sehr viel hochgradiger bei aktiven Bewegungen
(Bewegungsstarre). Außerdem beobachtete Söderbergh eine andere Art von
Muskelstarre, die assoziierte, die dann auftritt, wenn der Kranke kompli¬
zierte Bewegungen macht, aufsteht, geht usw.; dann nimmt der Arm oder
eine andere nicht unmittelbar an der aktiven Bewegung beteiligte Extremität
eine stereotype Haltung ein, offenbar in der Form einer Mitbewegung. Auch
hier braucht der Muskel zum Entspannen eine lange Zeit, mehr als die Kon¬
traktionen in Anspruch genommen hatten. Wegen der starken Beeinflußbar¬
keit des Muskeltonus durch passive Bewegungen will Söderbergh die Be¬
zeichnung Hypertonie durch Dystonie ersetzen. Wie wir sehen werden, ist
aber diese Eigenschaft des Tonus nicht so konstant, daß sich deswegen eine
andere Bezeichnung rechtfertigen ließe.
Eine Beteiligung der Gesichts-, sowie der Schluck- und Kaumuskulatur war
ebenfalls vorhanden. Was die Auslösbarkeit der Tonusanomalie anlangt, so
lehnt Söderbergh das reflektorische Moment nicht ab. Die Art der reflek¬
torischen Auslösung müsse aber eine andere sein als bei den Pyramidenläsionen,
wo Beziehungen zu den Sehnenreflexen bestehen. Er vermutet, daß Hautre¬
flexe, besonders die Hautweichteilreflexe zu einem besonders starken Hervor¬
treten der Hypertonie Veranlassung geben können.
Strümpell hat in seinem Fall überwiegend Beugerigidität gefunden; er
konnte nirgends „die bei spastischen Lähmungen sonst vorhandenen reflek¬
torischen Erscheinungen der plötzlich gedehnten Muskelsehne feststellen“, bei
passiven Bewegungen wurden die Muskeln immer nachgiebiger. Erhebt
als Haupteigentümlichkeit hervor, daß die hypertonischen Muskeln die Glieder
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
131
stet« in der angenommenen Stellung fixieren (Fixationsrigidität), die namentlich
bei Emil H. sehr deutlich vorhanden ist. Dieser Zustand veranlaßt auch die
Extremität in passiv erteilten Stellungen zu verharren.
Die mimische Starre betrachtet Strümpell als eine Teilerscheinung der
allgemein veränderten Muskelinnervation.
Während Strümpell, wie schon erwähnt, von einer reflektorischen Aus¬
lösung der Hypertonie abgesehen wissen will, zieht Stertz in Erwägung, die
Fixationsrigidität mit einer Steigerung eines subkortikalen Reflexvorganges in
Verbindung zu bringen, dessen normaler Ausdruck in einem bestimmten gegen¬
seitigen Spannungszustand antagonistisch wirkender Muskelgruppen bestehen
soll. Diese Annahme hätte den Vorteil, daß der Ausdruck Fixationsrigidität
auch angewandt werden könnte für Fälle, bei denen die Hypertonie keine
Rolle spielt. Diese müßte man sich dann so erklären, daß antagonistisch
wirkende Muskelgruppen im jeweiligen Ruhezustand in das Verhältnis gegen¬
seitiger Spannung treten, wodurch der Eindruck der Starre hervorgerufen würde.
Stertz hält demnach die Steigerung des Fixationsreflexes und die dauernde
Hypertonie nicht für identisch, da sie auch einzeln Vorkommen können; ihre
recht häufig beobachtete Kombination ist kennzeichnend für ihre nahe Ver¬
wandtschaft, und durch diese Kombination erhält sowohl die Starre wie die
Fixationsrigidität einen enormen Zuwachs.
Klinisch bemerkenswert ist in dem Stertzschen Falle, daß hier passive
Bewegungen zu einer Steigerung der Hypertonie führen, was im
Gegensatz zu den oben erwähnten Beobachtungen steht.
Bei zwei Fällen Wilsonscher Krankheit, die ich untersuchen konnte, fand
ich, daß der Hypertonus durch brüske Bewegungen gesteigert, durch
langsame passive Bewegungen nur wenig beeinflußt, dagegen durch
aktive Bewegungen rasch überwunden wurde. Fixationsrigidität in dem
oben bezeichneten Sinne war hier nicht vorhanden.
Gerstmann und Schilder (Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 58, 266)
haben bei einem, allerdings klinisch nicht sicher unterzubringenden Fall von
Rigor gefunden, daß der Rigor durch wiederholte passive Bewegungen
bis zur Unüberwindlichkeit gesteigert wurde, während aktive Bewe¬
gungen sofort entspannend wirkten. Auch hier fehlte Neigung zum Ver¬
harren in Haltungen, die bei dem Stertzschen Fall wieder sehr ausgesprochen
war. Die Verstärkung 4prch passiv ausgeführte Bewegungen, sowie da« Fehlen
der Fixationstendenz unterscheidet den Gerstmann-Schilderschen Fall auch
wesentlich von den meisten Formen der Paralysis agitans. Dieselben
Autoren beobachteten bei einem anatomisch der Wilsongruppe angehörigen
Fall ebenfalls eine Steigerungsmöglichkeit des Tonus durch Ausfüh¬
rung passiver Bewegungen. Hier läßt der Tonus in der Ruhe nach und
kann durch brüske und langsame passive Bewegungen gesteigert werden, ebenso
findet eine Verstärkung des Tonus durch aktive Bewegungen, durch Hautreize,
sowie durch psychische Erregung statt. Bezüglich dieses Falles widersprechen
sich die Verfasser, wenn sie von dem Muskeltonus sagen auf Seite 37: „An
den oberen Extremitäten rufen passive Bewegungen immer einen Hypertonus
hervor“ oder „der Hypertonus kann durch brüske, manchmal auch durch lang¬
same passive Bewegungen geweckt werden“; dagegen auf Beite 39: „Eine eigen-
9*
132 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
artige Charakteristik erhält der Hypertonus unseres Falles dadurch, daß er
durch passive Bewegungen rasch zum Verschwinden gebracht werden kann“.
Neuerdings unterscheiden Gerstmann und Schilder folgende Typen extra-
pyramidaler Spannung:
1. Typusplasticus. Ausgesprochener Ruheformtonus. Aktive Bewegungen
wirken eher entspannend. Passiv gegebene Haltungen werden durch Rigor
fixiert. Bei Bewegungen gegen Widerstand wird der Muskel in der aktiv ein¬
genommenen Haltung fixiert. Durch Dehnung wird der Muskelrigor nicht
wesentlich geändert, niemals schießt er plötzlich ein, der Muskel erscheint als
zähe, plastische Masse, welche sich jeder Stellung anpaßt (Fixationsrigor). Der
Typus plasticus findet sich am häufigsten bei der Paralysis agitans, aber man
trifft ihn auch bei der arteriosklerotischen Starre und bei einer Reihe von
Enzephalitisfällen an.
2. Typus proprio-reactivus. Hier wird der ursprünglich nur wenig
erhöhte Ruheformtonus nur durch eine Manipulation Verstärkt, durch wieder¬
holte passive Bewegungen. Passiv gegebene Haltungen werden nicht fixiert.
Rückstoß normal.
3. Typus reactivus. Fälle, bei welchen der Hypertonus durch eine
Reihe von Einflüssen weckbar ist, durch Hautreize, durch aktive Bewegung,
durch passive Bewegungen. Der Hypertonus schießt in einzelnen Fällen
plötzlich ein, in einzelnen Fällen ist eine Dauerspannung daneben vorhanden,
gelegentlich wird aber sogar Hypotonie beobachtet. Rückstoß häufig ver¬
stärkt. Neigung zu assozüerten Spannungen. Passiv gegebene Stellungen
werden nicht fixiert.
4. Typus reflectoricus. Dieser Typus ist durch das besondere jähe
Einschießen des Hypertonus bei Dehnungen des Muskels charakterisiert. —
Die Verfasser heben selbst hervor, daß diese Typen nicht scharf geschieden
sind und daß Übergänge Vorkommen.
Bei verscliiedenen Fällen von Paralysis agitans habe ich die Tonusverhält¬
nisse in ihrer Verteilung und in ihrem Verhalten zu aktiven und passiven Be¬
wegungen geprüft, ohne zu einheitlichen Ergebnissen zu kommen. Die Ver¬
teilung des Rigor auf Hals, Rumpf und die proximalen Gliedabschnitte findet
sich fast überall in der gleichen Weise. Die mimische Starre ist auch meist
recht ausgeprägt. In einzelnen Fällen traten die Gesichtsmuskeln plastisch
hervor. Auch die gleichmäßige Beteiligung von Agopisten und Antagonisten
am Rigor war übereinstimmend zu beobachten. Die Beugehaltung war die
häufigere. Nur in einem Falle bestand Streckhaltung der Arme. Das paradoxe
Phänomen war einmal vorhanden. Brüske Bewegungen pflegen den Rigor
zu verstärken, dagegen konnte der Rigor meist durch langsame, passiv
ausgeführte Bewegungen etwas vermindert werden. Nur in einem Falle,
der übrigens wegen seines jugendlichen Alters vielleicht in die Wilsongruppe
gehört, wurde der Rigor durch passiv ausgeführte Bewegungen verstärkt. Das
gleiche beobachtete Stertz in einem ebenfalls ungewöhnlichen Falle von Para¬
lysis agitans. Aktive Bewegungen waren meist ohne wesentlichen Einfluß auf
die Stärke des Rigors.
Eine reflektorische Beeinflußbarkeit des Rigors besteht sicher. Diese Be¬
einflußbarkeit ist aber verschieden von der bei echt spastischen Zuständen,
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
133
sie steht, wie Söderbergh (siehe oben) sehr richtig bemerkt, nicht in Ab¬
hängigkeit von den Sehnenreflexen, sondern weist offenbar eher Beziehungen
zu Hautreizen auf. Dafür spricht u. a. die Erfahrungstatsache, daß bei
Paralysis agitans die Muskelrigidität durch ein warmes Bad wesentlich ge¬
mildert werden kann, während sie in der Kälte stärker wird. Ihre Unab¬
hängigkeit vom pyramidalen Reflexbogen ergibt sich aus Beobachtungen der
arteriosklerotischen Muskelstarre, die sehr häufig mit Verlust der Achillessehnen¬
reflexe einhergeht, ohne daß dadurch der Rigor herabgesetzt, bzw. sein Auf¬
treten überhaupt verhindert würde. Ich sah auch einen Fall von Paralysis
agitans, kombiniert mit Tabes, bei dem ebenfalls Rigor, allerdings kein sehr
starker, neben Areflexie bestand. Andere Beobachtungen scheinen diesem Be¬
fund zu widersprechen. Ich halte es für möglich, daß bei solchen Krankheits¬
kombinationen viel davon abhängt, welche Erkrankung zuerst da war, und wie
lange sie schon allein das Bild beherrscht hat.
Bei dieser kurzen Zusammenstellung ergibt sich, daß die jeweiligen Eigen¬
schaften des Rigors sehr verschieden sein können. Die einzelnen Angaben
wirken zum Teil geradezu verwirrend: Meist bedingt die Hypertonie eine Beuge¬
haltung, zuweilen aber auch eine Streckstellung; langsam ausgeführte, passiv
ausgeführte Bewegungen lösen die Hypertonie in zwei Fällen (Economo und
Schilder, Economo), sie können sie aber auch verstärken (Stertz, Gerst-
mann-Schilder). Brüske passive Bewegungen rufen eine erhöhte Hypertonie
hervor (Economo, Schilder, eigene Beobachtungen), aktive Bewegungen er¬
höhen den Tonus im Falle von Söderbergh oder bringen ihn zum Schwinden
in Fällen von Gerstmann-Schilder und bei eigenen Beobachtungen.
Ich halte es für verfehlt, aus diesen relativ geringfügigen und unregelmäßigen
Differenzen irgendwelche Schlüsse ziehen zu wollen. Ich glaube, daß sich diese
Unterschiede nicht allein auf die Eigenart der verschiedenen Tonuszustände
beziehen, sondern möglicherweise von dem Stadium abhängen, in welchem
sich die einzelnen Fälle gerade befinden. Auch habe ich Beobachtungen ge¬
macht, die dafür sprechen, daß innerhalb des einzelnen Falles das Verhalten
der Muskulatur an verschiedenen Tagen nicht das gleiche ist. Es wird sich
bei vorgeschrittenen Fällen auch nicht immer entscheiden lassen, ob nicht
schon sekundäre Veränderungen der Muskulatur eine Rolle spielen und die
Stärke des Tonus sowie seine Abhängigkeit von aktiven oder passiven Bewe¬
gungen beeinflussen. Jedenfalls dürfen uns nach den bis jetzt gewonnenen
Ergebnissen diese Unterschiede nicht verführen, innerhalb der Rigorzustände
Untergruppen zu bilden, für die wir weder sichere klinische noch irgendwelche
anatomischen Anhaltspunkte haben. Dagegen sind wir bei der nötigen Übung
in den meisten Fällen imstande, auch unabhängig von dem Verhalten der
Reflexe einen Spasmus von einer Rigidität zu differenzieren und zwar besonders
wegen der zähen, wachsartigen Beschaffenheit der rigiden Muskeln und wegen
der gleichzeitigen Beteiligung von Agonisten und Antagonisten.
Lokalisatorisch wird die Hypertonie in allen Fällen mit einer Erkrankung
der Linsenkerne in Verbindung gebracht. In diesem Zusammenhänge gehe
ich nur auf die wenigen Fälle reiner Hypertonie ein, um später auch die Ver¬
bindung von Rigor mit Zittererscheinungen näher zu besprechen.
Bei Economo waren ergriffen Putamen und Kopf des Schwanzkerns.
134 Di 0 Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Er faßt den Rigor ohne Reflexsteigerung als pathognomonisches Symptom des
Striatum auf und nimmt an, daß dieses eine inhibierende Wirkung auf den
Tonus ausübt. Der Anknüpfungspunkt für diese Wirkung könne aber nicht im
Vorderhorn zu suchen sein; er könne auch nicht auf dem Wege der Pyra¬
midenbahn verlaufen. Als tonusspendendes Organ nimmt er das Kleinhirn
und den Deitersschen Kern an, der ebenfalls über das Kleinhirn seine Wirkung
ausübt. Der tonisierende Effekt soll auf dem Wege der Bindearme zum roten
Kern und von dort zu dem ventromedialen Thalamuskern verlaufen. Er empfängt
vom Striatum zügelnde, bzw. regulierende Einflüsse.
Bei dem Falle von Deutsch war die ebenfalls isolierte Hypertonie Folge
einer doppelseitigen Erkrankung des Striatum und Pallidum.
Leider sind die beiden Fälle von Economo und Deutsch nicht für eine
exakte Bestimmung eines Striatumsymptoms in Anspruch zu nehmen, weil
namentlich im letzten Falle auch das Pallidum beteiligt war. Auch dürften
Unterschiede dadurch hervorgerufen werden, je nachdem, ob nur das Putamen
oder auch Teile des Nucleus caudatus von dem Krankheitsprozeß mitergriffen
werden. Der letztere war in beiden Fällen in verschiedenen Graden beteiligt.
Eine Reihe muskulärer Versteifungen ohne motorische Reizerscheinungen
halten C. und 0. Vogt für die Folge einer doppelseitigen Pallidumerkrankung
und auch Kleist neigt zu der Annahme, daß je mehr innerhalb der basalen
Ganglien der Ursprungsort der striofugalen Teile der Linsenkernschlinge, das
heißt der Globus pallidus und die Linsenkemschlinge selbst an der Erkrankung
beteiligt sind, sich um so häufiger ein Ausfall an Automatismen sowie tonische
Erscheinungen bemerkbar machen.
Kurz einzugehen ist in diesem Zusammenhänge auf einen experimentell
hervorgerufenen Starrezustand, der vielleicht gewisse Beziehungen zu dem hier
vorliegenden Krankheitsbild aufweist. Es ist die von Sherrington beschriebene
Enthimungsstarre. Sie wird erzeugt durch einen Schnitt etwa in der Gegend
der hinteren Vierhügel. Zunächst scheint sie für die von Kleist, Economo
und anderen vertretene Theorie zu sprechen, daß die zügelnden und regu¬
lierenden Impulse auf einen vom Kleinhirn ausgehenden Tonus ausgeübt
werden; wenn man aber dann erfährt, daß eine Ausschaltung des Kleinhirns
nichts an der Enthirnungsstarre ändert, so erheben sich wesentliche Bedenken
gegen die oben erwähnte Auffassung, vorausgesetzt, daß es möglich ist, diese
Versuche Sherringtons auf den Menschen zu übertragen. Man müßte nach
diesen Versuchen als tonusspendendes Zentrum Kerne oder Kerngruppen an¬
nehmen, die kaudalwärts und unterhalb der hinteren Vierhügel hegen. Es
käme also auch der Nucleus ruber weder als Zentrale noch als Vermittlungs¬
organ für den Tonus in Betracht. Nach den Versuchen ist anzunehmen, daß
das gesuchte tonusspendende Organ vielleicht in der Nähe des Deitersschen
Kern gelegen ist, denn erst, wenn bei den Versuchen von Sherrington der
Schnitt in die Gegend dieses Kerns gelangte, verschwand die Enthirnungs¬
starre. Möglich wäre es auch, daß Kerngruppen der Substantia reticularis
vielleicht auch die kaudalen Partien der Substantia nigra einen tonusspendenden
Einfluß ausüben.
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
135
IL
Ähnlich wie es bei der Pyramidenlähmung neben dem Spasmus noch zu
einer spastischen Parese kommt, so geht auch der Rigor mit einer Beeinträch¬
tigung der aktiven Bewegungen, der extrapyramidalen Parese einher. Ich
meine dabei nicht die durch den Rigor sekundär bedingte Bewegungserschwerung,
sondern eine primäre Störung des Zustandekommens aktiver Bewegungen.
Gerade diesem Symptom hat man bisher wenig Beachtung geschenkt, vielleicht
deshalb,* weil es in der Bezeichnung „amoystatischer Symptomenkomplex“ keinen
deutlichen Ausdruck gefundeu hat. Ich möchte dabei drei Faktoren unter¬
scheiden, 1. eine eigenartige Muskelschwäche, 2. eine Verlangsamung und
Schweransprechbarkeit der Bewegungen mit Adiadochokinese, 3. eine Bewegungs¬
verarmung und ein Bewegungsausfall.
1. Große Schwierigkeiten macht es, die schwer faßbare Muskelschwäche
zu definieren, die aber offenbar Parkinson bei der Aufstellung des Krank¬
heitsbegriffes schon vorgeschwebt und ihn zu der Namengebung veranlaßt hat.
Meist handelt es sich dabei nicht um eine eigentliche Lähmung mit voll¬
kommener Bewegungsunmöglichkeit. Solche kommen vielmehr wohl nur in
sehr vorgeschrittenen Stadien des Parkinson-Wilsonschen Symptomenbildes vor.
Wilson spricht von einer ,;Muskelschwäche ohne Paralyse“, er glaubt, daß
der Patient seine Glieder bewegen kann, außer wenn Kontrakturen, Steifheit
es verbieten. Er sei also nicht gelähmt. Damit lehnt Wilson das Vorhan¬
densein einer Lähmung im engeren Sinne ab und betrachtet die Muskelschwäche
als sekundär, durch die Hypertonie bedingt.
Strümpell (Neurol. Zentralbl. 1920) faßt die motorische Störung alseine
Erschwerung, bzw. Hemmung der myomotorischen (Pyramiden-) Innervation
auf und führt sie auf die Steigerung der myostatischen Innervation zurück.
Foerster nimmt für die Paralysis agitans außer der durch den passiven
Widerstand der kontrahierten Muskeln bedingten Erschwerung der willkürlichen
Bewegung in fortgeschrittenen Fällen eine Erschwerung der willkürlichen
Beweglichkeit selbst an und bezeichnet diese Erscheinungen direkt als pare-
tische Komponente. Er läßt es dahingestellt bleiben, ob sich diese zur völligen
Lähmung steigern kann. Die Bewegungsarmut und Bewegungsverminderung
mag zum Teil dadurch bedingt sein.
Auch C. und O. Vogt sprechen von einer gewissen Herabsetzung der mo¬
torischen Kraft bei Striatumerkrankungen ohne näher auf dies Symptom ein¬
zugehen.
Auf die Paresen bzw. Lähmungen im engeren Sinne ist bei der Wilson-
schen Krankheit noch wenig geachtet worden. Bei den Fällen von Pseudo¬
sklerose, die ich gesehen habe, waren derartige Lähmungen nicht vorhanden.
Sie verliefen auch ohne Rigidität, so daß man daran denken könnte, ob nicht
doch die Tonusveränderungen bei dem Zustandekommen dsr Lähmungen eine
gewisse Rolle spielen. Die übrigen Fälle von Pseudosklerose aus der Literatur,
die ohne Muskelrigidität einhergingen, zeigten ebenfalls keine Lähmungen
(Strümpell und Handmann, Strümpell, Rausch und Schilder).
Vor kurzem konnte ich dagegen zwei Fälle Wilsonscher Krankheit, die
Herr Dr. Chotzen in der Breslauer Neurolog. Psychiatrischen Vereinigung
136 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
vorstellte, daraufhin untersuchen. Bei diesen beiden fanden sich eigentliche
Lähmungserscheinungen nicht, nur traten nach längerem Gehen bei dem einen
Pat. eine Schwäche der Fußheber rechts auf, die zu einem Nachschleifen der
Fußspitze führte. Dies konnte aber, wenn man den Kranken darauf aufmerk¬
sam machte, immer wieder für einige Zeit überwunden werden. Von einer
eigentlichen Lähmung kann man in diesem Falle nicht sprechen, es dürfte
sich um eine gesteigerte Ermüdbarkeit handeln, aus der sich vielleicht im
weiteren Verlauf eine Lähmung entwickeln kann.
Stertz hat sich in seiner Monographie etwas ausführlicher mit der Frage
der Lähmungen bei der Wilsonschen Krankheit beschäftigt. Er beobachtete bei
allen seinen Patienten dauernde Paresen, sie betrafen vor allem die Gesichts¬
muskeln und die Zunge; an den Extremitäten waren die distalen Enden mehr
betroffen als die proximalen. Von den Pyramidenlähmungen unterschieden sie sich
dadurch, daß sie entsprechend dem vorgeschrittenen Krankheitsstadium gering¬
gradig waren, sowie dadurch, daß sie nicht dem bekannten Prädilektionstyp
folgten. Im Gegensatz zu Wilson ist Stertz der Ansicht, daß es sich hier¬
bei nicht um eine Folge der Hypertonie handele, weil weder alle rigiden
Muskeln paretisch sind, noch die paretischen alle Hypertonie zeigen. Bezüg¬
lich der Herkunft der Paresen verweist Stertz auf eine Analogie zu manchen
Kleinhirnaffektionen, die ebenfalls Paresen bedingen können, ohne daß man
in der Lage ist, bestimmte Schädigungen dafür verantwortlich zu machen.
Vielfache Übereinstimmung zeigen MotüitätsVerhältnisse der Wilsonschen
Krankheit mit denen der Paralysis agitans. Dies bezieht sich auch auf die
Fragen der Paresen. Söderbergh setzt die diffuse Muskelschwäche, die er
bei seinem Falle Wilsonscher Krankheit bzw. Pseudosklerose gefunden hat,
in nahe Beziehungen zu der bei der Paralysis agitans beobachteten, insofern,
als bei beiden eine Dissoziation zwischen der statischen und der dynamischen
Kraft vorhanden ist, wobei die statische die besser erhaltene Komponente
darstellt.
Diese Erscheinung, die von Dylef zuerst für die Paralysis agitans beschrieben
ist, daß nämlich die Kranken kräftiger gegen einen Zug oder Druck Wider¬
stand leisten, als selbst eine Kraftleistung ausüben können, konnte ich bei den
vorhin erwähnten Fällen Wilsonscher Krankheit nicht nachweisen, wohl aber
fand ich sie bei verschiedenen Fällen von Paralysis agitans gut ausgeprägt. Zum
Nachweis dieses Symptoms eignen sich am besten Anfangsstadien oder mittelweit
vorgeschrittene Fälle; besonders deutlich erkennt man das Symptom bei der
Prüfung des Händedrucks: während bei einer aktiven dynamischen Innervation
der Muskeldruck kraftlos erscheint, gelingt es den Kranken, dieselbe Beugehal¬
tung der Finger gegen Widerstand recht kräftig eine Zeitlang beizubehalten.
Sehr ausgeprägt sah ich diese Erscheinung bei einem Kranken mit einer
einseitigen Paralysis agitans im ersten Beginn. Der Kranke war nicht im¬
stande, trotz guter Muskulatur einen auch nur einigermaßen kräftigen Hände¬
druck auszuüben, es machte ihm aber keine Schwierigkeiten, einen gefüllten
Wassereimer lange Zeit in derselben Hand zu tragen. Er hängt dann den
Eimer in die in Beugehaltung befindlichen Finger ein, und da diese statische
Innervation bestehen bleibt, gelingt die Aufgabe des Eimertragens auffallend gut.
Es muß noch erwähnt werden, daß sich die Prüfung auf Paresen bei den
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
137
genannten Erkrankungen im wesentlichen auf die Untersuchung der groben
Kraft beschränken muß. Der Verlauf der feineren Bewegungen wird durch
etwa gleichzeitig vorhandene Tonusanomalien und unwillkürliche Bewegungen
häufig schon so sehr gestört, daß man hier nicht mit Sicherheit paretische
Erscheinungen isolieren kann. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß sich
die feinen abgestuften Bewegungen der Finger z. B. sehr vergröbern, und daß
die Tendenz besteht, isolierte Bewegungen durch Bewegungen von etwa kom¬
plexerem Charakter zu ersetzen, ohne daß es dabei zu sogenannten Massen¬
bewegungen kommt wie bei der Athetose z. B.
Dagegen gehören zu den Paresen zum Teil die sog. bulbären oder pseudo¬
bulbären Störungen bei Wilson und Paralysis agitans, die sicher nicht durch
den Rigor allein bedingt sind. Diesen letzteren Faktor wird man allerdings
nicht immer mit Sicherheit ausschließen können, weil eine Prüfung der Schluck¬
muskeln auf Rigidität sehr schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich ist. Am
deutlichsten kann man eine paretische Komponente nachweisen an der Zunge:
sowohl bei Paralysis agitans mit bulbären Symptomen als auch bei Wilson¬
fällen gelingt es den Kranken schwer, die Zunge herauszustrecken; das gleiche
gilt von Enzephalitisfällen mit entsprechendem Symptomenbild. Gewöhnlich
können die Kranken die Zunge nur gerade bis zur vorderen Zahnreihe bringen.
Auch das häufig beobachtete Offenstehen des Mundes dürfte wohl auf eine
Schwäche der Kaumuskeln zurückzuführen sein. Ferner gehören noch hier¬
her die Dysphagie, Dysarthrie, Phonationsstörungen, sowie vielleicht auch Atem¬
störungen.
Daß an diesen paretischen Erscheinungen nicht der Rigor schuld ist, er¬
gibt sich daraus, daß auch nicht rigide Extremitäten die gleichen Erschei¬
nungen aufweisen, und vor allem aus der Tatsche, daß die Leistungsfähigkeit
einer Muskelgruppe auch nach der Tenotomie der rigiden Antagonisten nicht
besser wird. (F o e r s t e r.)
Eine anatomische Ursache für diese Schwächeerscheinung ist nicht bekannt.
Über ihre Herkunft kann man nur Vermutungen äußern. Freund hat
z. B. angenommen, der Linsenkem besitze neben anderen Eigenschaften auch
eine „kraftspendende Funktion“. Bei dem häufigen Zusammentreffen dieser
Schwächezustände mit extrapyramidalen Bewegungsstörungen wird man jeden¬
falls Schädigungen der zentralen Ganglien dafür verantwortlich machen können.
Interessant wäre es auch zu ergründen, woher die zweifellos oft zu beobach¬
tende Differenz zwischen statischer und dynamischer Muskelleistung kommt.
Man hat dabei an getrennte Funktionen der beiden verschiedenen Muskel¬
bestandteile des Sarkoplasmas und des Fibrillenapparats gedacht, und Störungen
der fibrillären Innervation bei erhaltener tonischer Leistung des Sarkoplasmas
angenommen. Dieses Verhältnis bedarf noch einer näheren Besprechung in
anderem Zusammenhang.
2. Die Langsamkeit der aktiven Bewegungen ist eines der auffallendsten
Symptome bei dem hier vorliegenden motorischen Symptomenkomplex. Sich
selbst überlassen, braucht ein solcher Kranker ein bis zwei Stunden zur Mittags¬
mahlzeit, das Öffnen eines Knopfes, das Kämmen, die Morgentoilette nimmt
erhebliche Zeit in Anspruch. Eine genauere Beobachtung dieser Kranken
bei ihren Verrichtungen ergibt, daß zuerst das in Gang setzen der gewollten
138 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Bewegungen langsam vonstatten geht. Man hat gesagt, daß die Übertragung
der Willensimpulse auf das Motorium eine geraume Zeit beanspruche. Ich.
habe mich bei vielfachen Untersuchungen auch vorgeschrittener Fälle von Para¬
lysis agitans nicht davon überzeugen können, daß, guter Wille vorausgesetzt,
eine wesentliche Verlängerung der Reaktionszeit zwischen Auffassung eines Befehls
und dem Beginn der verlangten Bewegung bestand. Aber gleich bei Beginn
der Innervation stößt der Kranke auf Schwierigkeiten, die im wesentlichen
darin zu bestehen scheinen, daß der Muskel nicht gleich in richtiger Weise
und in der beabsichtigten Stärke anspricht. Stertz hat dieses Symptom als
mangelnde Innervationsbereitschaft bezeichnet, die an den distalen Ex¬
tremitätenden deutlicher und stärker auftritt, als an den proximal gelegenen
Gebieten. Als Ursache dieser mangelnden Innervationsbereitschaft kommt in
Betracht eine Störung der reciproken Innervation (Sher ring ton). Diese ist
ein Erfordernis jeder willkürlichen Innervation; sie besteht darin, daß der
beabsichtigten Innervation eines Muskels eine Erschlaffung seines Antago¬
nisten vorausgeht. Die Verlangsamung des Bewegungsbeginns ist nicht etwa
Folge einer Hypertonie, sondern sie wird auch ohne solche beobachtet
(Oppenheim, Kleist, Zingerle bei Paralysis agitans, Stertz bei Wilson,
eigene Fälle). Es läßt sich aber leicht einsehen, daß das Hinzutreten eines
Rigors die Erschwerung der Innervation noch ganz wesentlich verstärken wird.
Ebenso wie die Bewegung langsam beginnt und langsam ansteigt, so
klingt sie auch verzögert wieder ab, und es kann in extremen Fällen zu einer
Kontraktionsnachdauer kommen, die verhindert, daß z. B. ein ergriffener
Gegenstand im gewünschten Augenblick wieder losgelassen werden kann. Auch
dies Symptom kann ohne Hypertonie Vorkommen, wird aber durch das Vor¬
handensein eines Rigors erheblich verstärkt.
Besonders deutlich macht sich die Verlangsamung des Bewegungsablaufs
bemerkbar auf dem Gebiet des Sprechens, Kauens und Schluckens. Gerade
hier treten relativ geringfügige Störungen deswegen besonders leicht hervor,
weil die Eigenart dieser Bewegungen es verlangt, daß der Ablauf genau regu¬
liert und alle Teile der Bewegungen gut aufeinander eingespielt sind.
An den Extremitäten macht sich die Verlangsamung des Bewegungsablaufs
vor allem dann bemerkbar, wenn man die Kranken auffordert, rasch aufeinander¬
folgende antagonistische Bewegungen auszuführen; in schweren Fällen gelingt
dies den Kranken überhaupt nicht, in anderen Fällen werden die verlangten
Bewegungen zwar ausgeführt, aber von vornherein ist die Umschaltung der
Innervation in Gegeninnervation so schwerfällig, und sie verlangsamt sich noch
mehr, bis die Bewegungen nach kurzer Zeit ganz aufhören. So entsteht das
Symptom der Adiadochokinese, das für die uns hier interessierenden Be¬
wegungsstörungen eine größere Bedeutung gewonnen hat, als für die Klein-
himaffektionen, für die das Symptom ursprünglich von Babinski beschrieben
worden war. Neben der schlechten Innervationsbereitschaft wirkt bei ihrem
Zustandekommen die Denervationserschwerung und die Kontraktionsnachdauer
einer einmal in Gang gesetzten Innervation mit.
3. Als 3. Faktor der extrapyramidalen Parese kommt ein Ausfall von an
sich möglichen Bewegungen und die dadurch bedingte Bewegungsarmut
in Betracht. Dieses Symptom ist meiner Ansicht nach nicht immer einheit-
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
139
licher Genese. Am reinsten ist es vorhanden, wenn die Bewegungsarmut
Folge eines Mangels an motorischer Initiative ist. Dann liegen die Kranken
regungslos und ohne jede Bewegung im Bett, obwohl sie weder durch echte
Paresen noch durch Muskelspannungen so stark an der Bewegungsfähigkeit
behindert sind. Wir haben hier ein ähnliches Bild wie es unter anderem
auch bei Stimhirnerkrankungen beobachtet wird, und wie sie von Kleist,
Foerster und anderen als charakteristisches Symptom einer Läsion der Stim-
hirnbrücken-Kleinhirnbahn betrachtet wird.
Außerdem wird es in schweren Fällen zu einer Bewegungsarmut dann
kommen, wenn die Kranken allmählich die Erfahrung gemacht haben, daß
sie infolge ihrer fehlenden Innervationsbereitschaft und ihrer Schwerfälligkeit
nicht imstande sind, motorische Leistungen von Wert zu vollbringen. Daß
dabei nicht immer ein Mangel an Antrieb zu bestehen braucht, ergeben Be¬
obachtungen, daß z. B. der Kranke sich andere Hilfsmittel zur Erreichung
seiner Absicht zu verschaffen sucht (vgl. Stert z). Jedoch auch bei der Ent¬
stehung des Bewegungsausfalls wirken häufig beide Ursachen mit, und der
Mangel an Antrieb kombiniert sich mit der durch äußere Verhältnisse beding¬
ten Bewegungsarmut zu einem Bild erheblicher motorischer Hilflosigkeit, das
durch starken Rigor unter Umständen noch verstärkt werden kann.
Die Verarmung der Bewegungen und der Bewegungsausfall ist ganz be¬
sonders auffallend im Bereich der unwillkürlichen Bewegungen. In erster
Linie handelt es sich dabei um die Ausdrucksbewegungen und dann um die
physiologischen zweckmäßigen Mitbewegungen bei aktiven Innervationen.
Am deutlichsten springt der Ausfall mimischer Bewegungen in die Augen.
Der maskenartige starre Gesichtsausdruck verleiht den Kranken allen eine ge¬
wisse Familienähnlichkeit, und gerade diese gemeinsame Ausdruckslosigkeit hat
neben der Rigidität der Muskulatur zuerst die Aufmerksamkeit auf die Ähn¬
lichkeit der Wilsonschen Krankheit mit der Paralysis agitans gelenkt. Es
liegt nahe, für die mimische Ausdruckslosigkeit in erster Linie eine erschwerte
Ansprechbarkeit infolge der Rigidität der Gesichtsmuskulatur verantwortlich
zu machen. Zweifellos spielt diese auch unter Umständen eine nicht zu unter¬
schätzende Rolle. Man sieht bei Paralysis agitans zuweilen einzelne Muskeln
im Gesicht förmlich plastisch hervorspringen. Durch diese Rigidität wird auch
sicher das Haften eines einmal eingenommenen mimischen Ausdrucks bewirkt,
z. B. das langdauernde Verharren eines Lächelns auf dem Gesicht, das noch
bestehen bleibt, auch wenn dem Kranken infolge einer inzwischen vorgenom¬
menen Gesprächswendung nicht mehr zum Lachen zumute ist. (Eigene Be¬
obachtung). Daß auch allein die Hypertonie der Gesichtsmuskulatur einen
starren Gesichtsausdruck bewirken kann, kann man z. B. bei Fällen von amyo-
tropischer Lateralsklerose sehen.
Die Beobachtung lehrt aber, daß diese periphere Komponente der Muskel¬
rigidität doch nicht die alleinige Ursache für den Mangel an Ausdrucksbe¬
wegungen ist. Es besteht sicher auch ein mehr zentral bedingter Ausfall an
Mimik. Zu demonstrieren war dies sehr deutlich bei einem Fall von Pseudo¬
sklerose mit ausgesprochen starrer Mimik, erstauntem hilflosen Gesichtsaus¬
druck (Pat.-Gö.), bei dem sich weder an den Extremitäten, noch am Körper,
noch am Gesicht eine Spur von Rigor fand. Speziell die Gesichtsmuskulatur
140
Die Parkinion-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
erwies sich bei wiederholtem Betasten als durchaus weich. Aktive Innervation
der mimischen Muskeln zeigte nicht die geringste Behinderung durch Lähmung
oder Steifheit. Auch rasch aufeinanderfolgende Bewegungen im Fazialisgebiet
waren durchaus möglich, wenn man den Kranken dazu aufforderte. Auch
der Lidschlag war keineswegs selten; trotzdem zeigte der Kranke stets den
gleichen starren Gesichtsausdruck. (Vgl. Abb. 10.) Im Gegensatz dazu läßt
sich bei Parkinson- und Wilsonkranken eine deutliche Rigidität der Ge¬
sichtsmuskeln feststellen, die unter Umständen plastisch hervortreten. (Vgl.
nebenstehende Abb. 11, die den von Stertz beschriebenen Wilsonkranken
darstellt. Für die Überlassung dieses Bildes bin ich Herrn Prof. Stertz zu
großem Dank verpflichtet.) Ich glaube in diesem Falle einen Beweis für die
Anschauung erblicken zu können, daß die mimische Starre nicht Folge der
Abb. 11. Maskenartiger Gesichtsausdruck
Abb. 10. Starrer Gesichtsausdruck ohne mit Rigor der Gesichtsmuskulatur (Wilson-
Rigidität der Muskeln (Pseudosklerose). sehe Krankheit).
Hypertonie der Gesichtsmuskeln ist, sondern als primäres Symptom aufge¬
faßt werden muß.
Wie bei den Störungen der willkürlichen Bewegungen ist natürlich auch
hier das Hinzutreten eines Rigors geeignet, die Symptome noch deutlicher
zutage treten zu lassen. Und offenbar finden wir ja auch in den vielen
Fällen die primäre Ausdruckslosigkeit mit einem Rigor ,der Gesichtsmuskeln
vereinigt. Eine Ausnahme davon scheinen nur die wenigen Fälle von Pseudo¬
sklerose zu bilden, die ebenso wie Fall Gö. und der früher erwähnte Fall R.
ohne Muskelrigidität einhergehen. Es ist bemerkenswert, daß gerade hier der
Gesichtsausdruck von den Autoren wohl als bewegungsarm, aber nicht so mas¬
kenartig starr bezeichnet wird, wie bei der Wilsonschen Krankheit (Rausch-
Schilder, Fall 2, Strümpell 1916, Fall 1).
An der allgemeinen Bewegungsarmut der Gesichtsmuskeln beteiligen sich
die äußeren Augenmuskeln bei der Wilsonschen Krankheit nur sehr selten
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
141
(Fall Stöcker). Bei der Paralysis agitans ist jedoch auch ein Festhalten der
Blickrichtung, ein dauerndes Vorsichhinstarren zuweilen zu beobachten. Eine
Blickparese ist auszuschließen, es handelt sich vielmehr im wesentlichen auch
hier um einen Mangel an Initiativbewegungen. Daß es sich nicht um eine
Hypertonie der Augenmuskeln handelt, geht aus den Beobachtungen von Cordt
hervor (Fehlen der Muskelgeräusche und Fehlen eines Enophthalmus).
Recht häufig sind von der Bewegungsarmut die Lidbewegungen betroffen,
die Seltenheit des Lidschlags bei wohlerhaltenem Blinzelreflex gibt dem Ge¬
sichtsausdruck ein noch starreres Gepräge. Eigentümlich ist es, daß auch
die Lider selbst wie verdickt erscheinen und zwar im wesentlichen deshalb,
weil die feinen Runzeln und Fältchen der Augenlider auch in der Umgebung
der Augen fehlen. Die Haut ist fast glatt. Wenn man bedenkt, wie gerade
die Mimik von dem Spiel dieser feinen Fältchen abhängig ist, so erscheint es
verständlich, daß das Fehlen dieses mimischen Ausdrucksmittels auch dazu bei¬
trägt, dem Gesicht den Ausdruck des Maskenhaften zu verleihen.
Das paretische Offenstehen des Mundes kann den Eindruck der mimischen
Starre noch mehr verstärken. Dies Symptom kann jedoch nur als äußere
zufällige Beimengung angesehen werden und hat mit dem primären Mangel
an Ausdrucksbewegung nichts zu tun. Daß im übrigen eine Parese der Ge¬
sichtsmuskulatur nicht an der mimischen Starre mit schuld sein kann, geht
aus den oben angeführten Untersuchungen des Kranken Gö. hervor, die sich
durch andere leicht bestätigen lassen. Wir finden jedenfalls eine ausgesprochene
Differenz zwischen aktiver und mimischer Innervation im Fazialisgebiet, ein
Symptom, dessen einseitiges Auftreten Notnagel schon vor langer Zeit als
Zeichen einer Thahtmuserkrankung beschrieben hat. Ich glaube, wir können
dieses Symptom der mimischen Ausdruckslosigkeit nicht nur als unabhängig
von Paresen und Rigor hinstellen, sondern wir müssen es auch trennen von
der durch Mangel an Antrieb allgemein bedingten Bewegungsarmut, und wir
dürfen dafür in Anspruch nehmen die Schädigung eines speziell für die Auto¬
matismen der Mimik vorhandenen Gebietes im Gehirn, das wir, wie schon die
No tnagelsche Beobachtung zeigt, in die basalen Ganglien zu lokalisieren haben.
In engeren Beziehungen zu diesen mimischen Bewegungen stehen noch
eine Reihe anderer unwillkürlicher Bewegungen, die man als Ausdrucksbewe¬
gungen des Körpers bezeichnen könnte, hierher gehören die Gestikulations¬
bewegungen, zum Teil wohl auch die Haltung des Körpers, die ebenfalls wohl
oft unserer Stimmungslage Ausdruck verleihen kann. Charakteristisch ist für
sie jedenfalls der Umstand, daß alle diese Bewegungen normalerweise fast auto¬
matisch ablaufen. Gerade sie gehen bei dem Parkinson-Wilsonschen Symptomen-
komplex frühzeitig und meist vollständig verloren.
Neben diesen als Ausdrucksbewegungen im weiteren Sinne zu bezeichnen¬
den gibt es unter den automatisch vor sich gehenden Bewegungen noch eine
ganze Reihe wichtiger Bewegungen, die für den geordneten Ablauf unserer
aktiven Innervationen zum Teil unentbehrlich sind. Es handelt sich um die
von Foerster so bezeichneten zweckmäßigen Mitbewegungen, u. a. das rhyth¬
mische Pendeln der Arme beim Gehen. Bei einem Fall eigenartiger Para¬
lysis agitans war der Ausfall dieser rhythmischen Mitbewegungen der Arme,
beim Gehen das erste Symptom, durch das der Kranke beim Militär unliebsam
142
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
auffiel. Darauf aufmerksam gemacht, konnte er das Pendeln der Arme im Takt
beim Marschieren ausführen, sowie er aber nicht daran dachte, unterblieb es
wieder. Störender als dieser Schönheitsfehler machte sich aber der Ausfall
an automatisch ablaufenden Mitbewegungen bemerkbar, die zum Zustande¬
kommen motorischer Leistungen wichtiger sind als das Mitschwingen der Arme
beim Gehen. Er kommt besonders dann zur Geltung, wenn es sich um etwas
kompliziertere Mitbewegungen handelt. In vorgeschrittenen Fällen können sich je¬
doch auch bei einfachen Bewegungen, wie bei Faustschluß solche Ausfälle bemerk¬
bar machen; so bildet Förster die Hand eines Paralysis agitans-Kranken
ab, bei der beim Faustschluß die normalerweise auftretende Streckbewegung
ausgeblieben ist. Bei komplizierteren Bewegungen wird man auf diese Störungen
aufmerksam, weil die Eleganz der Ausführung nachläßt. Erst allmählich ver¬
schlechtert sich auch die Qualität der Ausführung, dadurch, daß die kleinen
Hilfsbewegungen ausfallen, die sonst die Äußerungen der groben Kraft ab¬
stufen, und die Ausführung glätten. Man muß sich vorstellen, daß beim Er¬
lernen und Einüben irgendwelcher, nicht ganz einfacher Bewegungen der Ab¬
lauf derselben zunächst in ähnlicher Weise plump und unelegant gewesen ist,
weil einerseits die nötigen Hilfsbewegungen sich noch nicht in der richtigen Weise
in den Zusammenhang eingefügt hatten, dann aber auch, weil der Körper bei
der ungewohnten und deshalb anstrengenden Tätigkeit eine Reihe unnötiger
Mitbewegungen ausführte, die die motorische Leistung unnötig komplizierten,
zu viel Kraft kosteten und sie dadurch unelegant und plump aussehen ließen.
Durch die Übung wird 1. ein genaueres Einspielen der Hilfsbewegungen er¬
reicht und 2. werden die unnötigen Mitbewegungen unterdrückt, so daß schlie߬
lich alle Bewegungen glatt vonstatten gehen und trotz der dabei beteiligten
zahlreichen Hilfsbewegungen einen einheitlichen Eindruck machten. Diese Hilfs¬
bewegungen bleiben nicht nur dem oberflächlichen Beobachter verborgen, sondern
auch die handelnde Person selbst ist sich ihrer nicht bewußt. Wenigstens
denkt sie nur an die Lösung der vorschwebenden motorischen Aufgabe. Die
dazu gehörenden Nebenbewegungen laufen von selbst ab, ohne daß eine will¬
kürliche Innervation der kleineren Hilfsbewegungen notwendig ist.
Da diese Hilfsbewegungen normalerweise nicht besonders gewollt werden,
sondern vielmehr reflektorisch ausgelöst zu sein scheinen, so kann auch ihr
Fehlen nicht auf Mangel an Antrieb zurückgeführt werden, der ja nur bei
rein willkürlichen Bewegungen eine Rolle spielen kann. In dieser Beziehung
hat dieser Bewegungsausfall eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ausfall mimi¬
scher Bewegungen.
Vorübergehend gebessert werden können die durch Ausfall der Hilfsbewe¬
gungen gestörten motorischen Leistungen dadurch, daß der Kranke seine Auf¬
merksamkeit auf diese sonst automatisch ablaufenden Bewegungen richtet und
sie gewissermaßen dadurch aus unwillkürlichen zu willkürlichen macht 1 ). Die
Erkrankung eines Teils oder des ganzen Linsenkerns, dem wir offenbar neben
anderen Funktionen auch die Regelung derartiger motorischer Mechanismen
zuzuschreiben haben, stört den Ablauf erlernter Fertigkeiten dadurch, daß die
2 ) Die hier in Betracht kommenden Vorgänge habe ich in einer Arbeit: Zum Ver¬
ständnis gewisser psychischer Veränderungen bei Kranken mit Parkinsonschem Symptomen-
komplcx (Zeitschr. für die ges. Neurol. u. Psych. 76, 444, 1922) dargestellt.
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
143
nötigen Mitbewegungen ausfallen, bzw. sich nicht mehr automatisch abspielen.
Gerade auf diesen letzten Punkt ist besonders für die Anfangsstadien großer
Wert zu legen; denn diese Bewegungen sind nicht ganz erloschen, sie
können vielmehr auftreten, aber nur dann, wenn der Kranke ihre Notwen¬
digkeit einsieht und sie auszuführen beabsichtigt. So gelang es dem
obenerwähnten Pat. auf Befehl seine Arme beim Marschieren rhythmisch
pendeln zu lassen, aber nur, solange er daran dachte. Daß der Ersatz auto¬
matisch ablaufender Bewegungen durch gewollte der ganzen motorischen
Leistung nicht zum Vorteil gereicht, ist verständlich, zumal da die Hilfs¬
bewegungen oft zeitlich nicht ganz richtig innerviert werden; ferner können
unter Umständen nicht alle notwendigen Hilfsbewegungen durch Intention
ersetzt werden, weil sie nicht alle bekannt sind und dann auch, weil man
bei dem beschränkten Umfang der Aufmerksamkeit nicht in der Lage ist,
mehrere Bewegungen beabsichtigt gleichzeitig auszuführen, die normalerweise,
d. h. wenn die Überlegung nicht störend eingreift, ungehindert vonstatten
gehen. Dadurch werden die Bewegungen auch langsamer, ihre einzelnen Kom¬
ponenten erscheinen auseinandergezogen, das Aufeinanderfolgen einzelner Hand¬
lungen und Teilakten von solchen verzögert, weil zu jeder Innervation ein
neuer Entschluß gehört, dessen Verwirklichung Schwierigkeiten macht.
Auffallend wird der Ausfall automatischer Hilfsbewegungen auch dann,
wenn es sich um solche handelt, die den Körper im Gleichgewicht halten
sollen. Der Körper kann z. B., wenn sein Schwerpunkt sich irgendwie ver¬
ändert hat, nicht von sich aus den richtigen Muskel oder die richtige Extremität
innervieren, um den Ausgleich zu schaffen. Es ist dies unmöglich, obwohl
das Gleichgewichtsorgan und die ihm zugehenden zentripetalen Bahnen nicht ge¬
schädigt sind. Es handelt sich daher nicht um eine eigentüche Gleichgewichts¬
störung, so wie sie Foerster für die Paralysis agitans in Anspruch nimmt, sondern
um einen Mangel von Ausgleichsbewegungen, die für Aufrechterhaltung des
Gleichgewichts notwendig sind. Man könnte vielleicht von einer peripher
bedingten Gleichgewichtsstörung reden. Auch hier wird zuerst durch Ein¬
springen willkürlicher Bewegungen die Störung nicht allzu hochgradigerscheinen,
ebenso wie anfangs bei Störungen des Gleichgewichts infolge Schädigung der
zentripetalen Bahn andere Sinnesreize (Gesicht) den sensorischen Schenkel er¬
setzen können. Im weiteren Verlauf namentlich dann, wenn der Mangel an
Innervationsbereitschaft auch die Innervation willkürlicher Bewegungen ver¬
langsamt bzw. unmöglich macht, oder wenn ein Rigor sich noch dazu gesellt,
nimmt die Schwerfälligkeit so zu, daß die Kranken das Bild schwerer Asynergie
bieten können, bei jeder zufälligen Verlagerung des Schwerpunktes wie steife
Klötze hinfallen und motorisch völlig hilflos sind.
Besonders deutlich tritt der Ausfall derartiger Hilfsbewegungen in Anfan gs -
Stadien in Erscheinung bei der so oft beobachtoten Pro-, Retro- und Latero-
pulsion, bei denen der Kranke seinem Schwerpunkt gewissermaßen nachläuft
und nicht imstande ist, durch richtige Innervation der Bewegung Einhalt zu tun.
Abgesehen von dem Ausfall an Hilfsbewegungen treten übrigens ebenso
wie wir es bei dem Vorgang des Einübens erwähnt haben, auch unzweck¬
mäßige Mitbewegungen zuweilen auf, die ihren Ursprung wohl dem Umstande
verdanken, daß die handelnden Personen beim Mißlingen der gewollten Be-
144
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
wegungen ihre Ungeschicklichkeit durch vermehrten Kraftaufwand auszugleichen
suchen. Wir sehen also, daß diese motorischen Störungen unter anderem ge¬
wissermaßen das Gegenteil von Übung und Lernen bewirkt, die Einheit von
Hauptbewegungen und Hilfsbewegungen stört, ihre Verschmelzung löst und
die einzelnen Komponenten trennt.
Mit dem Bewegungsausfall und der Bewegungsverarmung hängt sehr eng zu¬
sammen das Symptom der reinen, d. h. nicht mit Rigor verknüpften Starre, di©
sowohl auf dem Gebiet der Willkürbewegungen wie auch bei den mimischen
und anderen unwillkürlichen Innervationen angetroffen wird. Entsprechend
der in der Einleitung erwähnten Definition ist diese Starre keineswegs mit
der Rigidität gleichzusetzen, es ist darunter vielmehr zu verstehen die Neigung
der betroffenen Glieder und Körperabschnitte in dem gewohnten gegenseitigen
Lageverhältnis zu bleiben. (Vgl. hierzu auch Stertz.) In der Ruhe imponiert dies
Symptom nur als Bewegungsarmut, es fällt als etwas Besonderes erst dann auf, wenn
der Kranke in Bewegung kommt: erhebt sich z. B. ein Gesunder von seinem
Sitz, um wegzugehen, so verändert sich bei ihm die Körper- und Kopfhaltung
sofort, auch die Arme nehmen eine ganz andere Lage ein. Ganz anders bei
dem Parkinsonkranken. Bei ihm erinnert die Rumpfhaltung im Gehen ganz
an die im Sitzen, die Arme sind in ihrem Lageverhältnis zum Rumpf kaum
verändert, das gleiche gilt von der Kopfhaltung. Seinem Gang fehlt das Ela¬
stische, Federnde, das leichte Wiegen in den Hüften; das Lageverhältnis zwischen
Becken; Wirbelsäule und Kopf usw. bleibt unverändert, nur die unumgänglich
notwendigen Gelenke werden bewegt, alles übrige ist erstarrt.
Auch wenn nur eine Extremität bewegt werden soll, finden wir ähnliche
Erscheinungen der Starre: will ein derartiger Kranker z. B. jemand die Hand
geben, so bewegt er den Arm fast nur im Schultergelenk. In den übrigen
Gelenken bleibt das Lageverhältnis der einzelnen Gliedabschnitte untereinander
ungefähr das gleiche.
Sehr deutlich ist dies stets sich gleich bleibende Verhalten zuweilen im
Gebiet der Gesichtsmuskeln zu beobachten, am charakteristischsten bei den
Augenbewegungen: dreht ein Gesunder den Kopf zur Seite, so wendet sich
der Blick nicht in gleicher Weise mit der Kopfbewegung, sondern die Augen
setzen unabhängig davon ihre Bewegungen fort, ändern also das Lageverhältnis
der Blickachse zur Achse des Gesichts. Liegt es in der Absicht des Betref¬
fenden, der Kopfdrehung auch eine Blickbewegung anzuschließen, um einen
Punkt seitlich zu betrachten, so geschieht dies in ganz selbständiger Weise,
die nicht von den Kopfbewegungen abhängt, sondern sich nach der Lage des
fixierten Objekts richtet. Im Gegensatz dazu' behält bei vielen Parkinson¬
kranken die Blickrichtung auch bei Kopfdrehung stets dasselbe Verhältnis zur
Achse des Gesichts und macht alle Kopfbewegungen mit, als ob die Augen
fest eingesetzt seien. Zuweilen könnte man auch annehmen, daß die
Kranken, wenn sie auf einen optischen Eindruck aufmerksam werden, diesem
nicht durch eine Blickhinwendung allein entsprechen, sondern daß die beab¬
sichtigte Spähbewegung nunmehr von einer Kopfdrehung begleitet ist. Es
fehlt offenbar die Fähigkeit, die Spähbewegungen mit den Augen, den Kopf¬
bewegungen organisch anzugliedern, so daß die beiden als Komponenten
einer Hauptbewegung einander ergänzen, wie es der Gesunde ohne sein
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
145
Augenmerk besonders darauf zu richten, jederzeit kann. Wir finden also
auch hier dieselbe Erscheinung, die wir schon bei der Besprechung der auto¬
matisch ablaufenden Bewegungen beobachten konnten, daß nämlich das Zu¬
sammenspiel einzelner Bewegungskomponenten durch den Ausfall einer Anzahl
unwillkürlicher, bzw. automatisierter Bewegungen, sehr leidet, und daß dadurch
die Gesamtheit des motorischen Verhaltens plump, ungeschickt und langsam
erscheint.
HL
Schon mehrfach wurde betont, daß das Zusammentreffen von Hypertonie
und* primärer Störung der aktiven Bewegungen eine besonders hochgradige
Verschlechterung aller Bewegungen zur Folge hat. Ein Einfluß dieser Kombi¬
nation ist auch für die vorkommenden Haltungsanomalien unverkennbar.
Wir finden z. B. meist eine ausgsprochen kyphotische Haltung der Brust¬
wirbelsäule bei der Paralysis agitans, zuweilen auch bei Wilson. Diese kann
das Resultat eines Spannungszustandes der Rumpfbeuger sein; zu dieser An¬
sicht kommt man besonders leicht, wenn man die Spannung der Halsmuskeln
und der Bauchmuskeln in Betracht zieht. Man wird aber auch an eine Schwäche
der Erectores trunci denken müssen. Namentlich führt dazu die Beobachtung
die ich an mehreren Fällen von Enzephalitis mit dem Bilde der Paralysis
agitans machen konnte: diese Kranken konnten sich wohl zu normaler Haltung
aufrichten, aber nur für kurze Zeit. Ganz allmählich sanken sie dann mit
dem Oberkörper und Kopf wieder nach vorne, ohne daß man eine besondere
Spannung der der Untersuchung zugänglichen Rumpfbeuger konstatieren konnte:
das allmähliche Zusammensinken der Pat. machte direkt den Eindruck einer
Schwäche der Rückenmuskulatur und einer raschen Ermüdung, die durch ge¬
forderte Impulse immer wieder vorübergehend ausgeglichen werden konnte,
wonach aber in um so kürzerer Zeit eine Erlahmung wieder ein trat. Die Pat.
selbst können das Gefühl, das sie dabei haben, nicht recht beschreiben: „es
sinkt zusammen“, „ich muß mich immer wieder neu anstrengen, aber ich kann
es nicht lange aushalten,“ sind die Äußerungen. Ich glaube, aus den Beobach¬
tungen mit einer gewissen Sicherheit schließen zu können, daß auch eine
Muskelschwäche gerade bei der Rumpfhaltung eine Rolle spielt, nicht im
Sinne einer Lähmung von willkürlichen Muskelgruppen, nein, es macht viel¬
mehr den Eindruck, als ob Muskeln, die die Haltung normalerweise bewirken,
diese Funktionen nicht mehr von selbst ausführen, sondern erst durch
besondere willkürliche Impulse dazu immer wieder neu angestachelt
werden müssen! (Vgl. auch die auf S. 142 zitierte Arbeit.)
Einen ganz sicheren Einfluß besitzt der ftigor in Verbindung mit der extra¬
pyramidalen Parese auf die Fixierung der Haltung. Einerseits erschwert
es der Rigor auch bei normal funktionierenden Bewegungen, der betreffenden
Extremität oder dem Rumpf eine andere Lage zu geben, unmöglich aber
wird eine solche Veränderung, wenn auch noch der Bewegungsantrieb herab¬
gesetzt, wenn die Bewegungen an sich verlangsamt sind und bei Widerstand
rasch erlahmen oder wenn paretische Zustände noch hinzukommen. Zu er¬
wähnen ist dann noch der Mangel an unwillkürlichen Bewegungen, die eben¬
falls in der Lage wären, die Fixierung und Dauerhaltung zu stabilisieren.
Schwer verständlich erscheint mir die Beobachtung, daß bei der Paralysis
Bostroem, Symptomenkomplex. 10
146 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
agitans die typische Handhaltung (Interosseusstellung der Finger zuweilen mit
Ulnarwärt8wendung und Oppositionshaltung des Daumens) so häufig ohne
eigentliche Muskelspannung zustande kommt. Man hat zunächst den Eindruck,
die Handhaltung müsse durch lebhafte Muskelanspannung fixiert sein; biegt
man die Hand auf, so erfolgt häufig gar kein oder nur ein ganz geringer
Muskelwiderstand. Die Hand läßt sich leicht öffnen, und trotzdem nehmen
die Finger, wenn man sie losläßt, sehr rasch die ursprüngliche Lage ein, ja
oft schnellen sie geradezu in die alte Haltung zurück, trotzdem auch hier
keine eigentlichen Spannungen Vorgelegen haben.
Es erinnert dies etwas an die bei der athethotischen Dauerhaltung be¬
schriebenen Zustände. Ich kann mir beide Erscheinungen nur so erklären,
daß anfangs ein Muskelzug bzw. ein dauernder Rigor bestanden hat, der der
Hand bzw. den Fingern die Stellung gegeben hat. Diese Stellung ist zur
Gewohnheit geworden, und es haben sich dadurch sekundäre Veränderungen
in den Muskeln und vielleicht auch in den Gelenken gebildet, die dann Veran¬
lassung gaben, die Haltung immer wieder einzunehmen. Das spätere Auftreten
sekundärer Gelenkveränderungen sowohl bei Paralysis agitans wie bei Athetose
spricht für diese Annahme. Auch an den Füßen finden wir fixierte Haltungen,
meist handelt es sich um Spitzfußstellungen, vereinzelt auch Spitz-Hohlfu߬
stellung mit krallenartiger Biegung der Zehen.
Dieselbe Kombination von Rigor, Bewegungsarmut, Mangel an selbständigem
Antrieb ist die Ursache für das oft beachtete Verharren in Haltungen. Die
Kranken bleiben nicht nur in passiv gegebenen Stellungen, sondern sie erstarren
zuweilen auch während aktiv vorgenommener Bewegungen, sei es spontan oder
infolge einer zufälligen Ablenkung.
Die Rigidität prädisponiert deswegen zu solchen Erscheinungen, weil der
rigide Muskel ganz besonders die Neigung hat, bei Annäherung der Insertions¬
punkte in Kontraktionen zu geraten und andererseits durch Dehnung nicht
zum Widerstandleisten gebracht zu werden. Die Kontraktion tritt sofort ein,
und nicht etwa erst nach längerer Zeit, wie es auch bei Erkrankungen der
Pyramidenbahn Vorkommen kann.
Foerster hat daraufhingewiesen, daß immer nur ein Glied zurzeit diese
kataleptische Haltung annehmen kann. Ich glaube, daß dies zum mindestens,
nicht allgemeine Giltigkeit hat; denn in weiter vorgeschrittenen Fällen von
Paralysis agitans, arteriosklerotischer Muskelstarre usw. gelingt es ohne Schwie¬
rigkeiten, auch mehrere Extremitäten in eine kataleptische Haltung zu bringen.
Charakteristisch für die ausgesprochenen Formen dieses Verharrens in Haltungen
ist, daß es sich tatsächlich um eine geradezu wächserne Biegsamkeit handelt,
der nicht nur die proximalen Extremitätenenden unterworfen sind, sondern
auch die Finger bleiben zuweilen in jeder beliebigen Haltung, in die man sie
bringt. Die Dauer dieses Verharrens ist oft eine recht lange, Ermüdungs¬
erscheinungen treten spät auf; von der Katalepsie bei Katatonie unterscheiden
sie sich häufig durch das Gefühl des wächsernen Widerstandes, den passive
Bewegungen erfahren.
Die krankhaften Erscheinungen der Sprache, des Schluck- und Kauaktes
sind zum Teil ebenfalls durch eine Kombination der Rigidität mit der extra-
pyramidalen Parese bedingt:
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
147
Das Eintönige, Leiernde in der Sprache bei Paralysis agitans ist wohl als
Analogon zu der Ausdruckslosigkeit der Gesichtsmimik aufzufassen. Ich glaube,
daß die Unmöglichkeit Affekte im mimischen Ausdruck wiederzuspiegeln oder
sie durch Körpergesten auszudrücken dem gleichen krankhaften Vorgang ent¬
springt, wie die Unfähigkeit der Sprache Melodie und Ausdruck zu verleihen.
Es handelt sich m. E. bei dieser Eigenheit der Sprache um ein Symptom, das
dem Ausfall an Mimik unterzuordnen ist.
Das bei der Pseudosklerose oft beobachtete Skandieren läßt sich am besten
auf die Innervationserschwerung und die verzögerte Aussprechbarkeit der Sprach-
muskulatur zurückführen. Daß es auch ohne Hypertonie der Gesichtsmuskeln
Vorkommen kann, zeigen die Fälle von Rausch und Schilder sowie meine
eigenen Beobachtungen R. und Gö.
Bruns, der bei der Paralysis agitans auf das Vorkommen bulbärer
Störungen aufmerksam gemacht hat, führt diese auf eine gleichmäßige, mit
Versteifung und Verlangsamung verbundene Parese zurück. Zingerle hat
die Erfahrung gemacht, daß sich bei Patienten mit hochgradigsten Schluck¬
störungen im Verlauf von Paralysis agitans durch energische Anspannung der
Initiative schließlich noch willkürliche Schluckbewegungen erzielen lassen.
Schon aus diesem Grunde sind die Störungen vollkommen verschieden von
den bei Pseudobulbärparalyse. Eine ähnliche Beobachtung berichtet übrigens
Economo; hier gelang es, einen an Wilsonscher Krankheit leidenden, muti-
stischen Patienten durch elektrische Behandlung vorübergehend zum Reden
zu bringen. Jedenfalls sprechen diese Beobachtungen dafür, daß nach Über¬
windung eines Widerstandes, der offenbar in der Rigidität der Muskeln liegt,
eine gewisse Leistung noch erzielt werden kann. Wilson führt die bei seinen
Fällen beobachteten bulbären Erscheinungen im wesentlichen auf die Hyper¬
tonie zurück und erwähnt paretische Erscheinungen nicht in diesem Zusammen¬
hang. Aber schon das Offenstehen des Mundes, das gerade bei den Wüson-
schen Fällen auffiel, läßt auch hier eine paretische Komponente erkennen. Man
wird also nicht fehlgehen, wenn man die Dysarthrie und Dysphagie zurück¬
führt sowohl auf Schwächezustände gewisser Muskelgruppen und auf Rigidi¬
tät anderer.
Dazu kommt noch, worauf Stertz auch aufmerksam macht, der Umstand,
daß die Erschwerung der Bewegungsfolgen gerade beim Kauen sich sehr störend
bemerkbar macht, und daß besonders hier das „Vermögen der Umschaltung
der agonistischen in die antagonistische Innervation“ sich rasch erschöpft. Ob
diese Adiadochokinese der Kau bewegungen durch einen vorhandenen Rigor
hervorgerufen oder nur verstärkt wird, ist schwer zu sagen.
Das gleiche gilt auch von der Adiadochokinese der Extremitäten. Es ist
fraglich, ob man bei Vorhandensein einer Muskelrigidität überhaupt von Adia¬
dochokinese in eigentlichem Sinne sprechen kann, da die Muskelspannungen
schon allein die Aufeinanderfolge rascher Bewegungen verhindern. Vogt spricht
daher von Pseudo adiadochokinese. Offenbar kommt aber auch, die echte Adia¬
dochokinese vor, wie ein Fall von Rausch und Schilder zeigt, bei dem die
Ausführung aufeinanderfolgender antagonistischer Bewegungen beeinträchtigt
war, ohne daß gleichzeitig Hypertonie bestand. Ich selbst habe auch einige
Fälle beobachten können, bei denen die Adiadochokinese nicht allein durch
10*
148 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
den nur angedeuteten Rigor vorgetäuscht sein konnte, sondern offenbar
echt war.
Am stärksten leiden die feineren willkürlichen Bewegungen unter der Kom¬
bination von Hypertonie mit den primären Bewegungsstörungen. Die Finger¬
bewegungen werden sonderbar vertrackt, man hat den Eindruck, als seien die
Finger von Kälte erstarrt, verklammt; die Kranken fassen kleine Objekte
nicht mit den Fingerspitzen an, sondern die Gegenstände werden zwischen die
Volarfläche des ganzen Daumenvorderglieds und die zweite Zeigefingerphalanx ge¬
preßt. Der ausgeübte Druck ist oft ein übermäßiger, die Kranken umklammern
gefaßte Gegenstände krampfhaft und können nicht gleich wieder loslassen.
Im einzelnen wird es sehr schwer sein scharf zu trennen, welche Störung
der Bewegungsfähigkeit durch die Rigidität der Muskeln bedingt ist, welche
durch Ausfall von Bewegungen, durch Verlangsamung derselben, und welche
durch den Mangel an Antrieb überhaupt nicht begonnen werden. Alle
diese Symptome können sich durchflechten und dann zu scheinbar ein¬
heitlichen Bewegungsanomalien führen, deren Zusammensetzung aus verschie¬
denen Komponenten besonders solche Fälle vor Augen führen, bei denen eine
Teilerscheinung, z. B. der Rigor, fehlt.
Ganz besonders gewinnt man den Eindruck, als ob es durch das Zusammen¬
treffen der verschiedenen Komponenten der Bewegungsstörung unmöglich
gemacht wird, feinere Bewegungen, namentlich die Finger isoliert auszuführen,
als ob das abgestufte Spiel der Einzelbewegungen besonders stark gelitten hat,
während plumpes Zugreifen noch relativ gut erhalten ist und mit guter Kraft
ausgeführt wird.
IV.
Das dritte Hauptsymptom des Parkinson-Wilson sehen Symptomenkomplexes
besteht in dem Auftreten von Zitter- und Wackelbewegungen. In weitaus den
meisten Fällen ist dies Symptom in irgendeiner Form vorhanden. Und zwar
gehört es auqli zu den Westphal-Strümpel sehen Pseudosklerosen. Es fehlt nur
vereinzelt bei Wilson scher Krankheit und bei der sogenannten Paralysis agitans
sine agitatione. Wilsonfälle ohne Tremor sind beschrieben von Economo
(mit Sektion) und von Stertz; zwei Fälle wurden von Chotzen in der Bres¬
lauer Psychiatrisch-Neurologischen Gesellschaft demonstriert. In allen übrigen
Fällen Wilsonscher Krankheit tritt ein Zittern stets mehr oder weniger stark
hervor. Besonders stark und in die Augen fallend sind die unwillkürlichen
Bewegungen bei der Pseudosklerose.
Bei den Zittererscheinungen dieser Gruppe haben wir rein symptomatologisch
zu unterscheiden das Ruhezittern der Paralysis agitans, das Intentionszittern
der Wilson sehen Krankheit und das grobschlägige Wackeln der Pseudosklerose.
Eine Verwandtschaft des Wackelns der Pseudosklerose mit dem Zittern des
Wilson ist dadurch gegeben, daß beide Erscheinungen an den Bewegungsablauf
geknüpft sind. Da außerdem zahlreiche übergangsfälle Vorkommen, da ferner
im einzelnen Fall sich das Zittern zum Wackeln weiter entwickeln kann, ist
an der Einheitlichkeit dieser beiden Störungen meines Erachtens nicht zu
zweifeln.
Ein gewisser Gegensatz besteht jedoch gegenüber der Paralysis agitans, bei
der zwar Erregungen den Tremor verstärken können, während willkürliche
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
149
Bewegungen meist, wenigstens vorübergehend, das Zittern zum Schwinden
bringen. Daß dieser Unterschied keine grundsätzliche Verschiedenheit zu be¬
deuten braucht, wurde oben schon angeführt. Die symptomatologischen Dif¬
ferenzen der unwillkürlichen Bewegungen bei Wilson, die ihrer Form nach
den Zitterbewegungen der Paralysis agitans ähneln, und den bei Pseudosklerose
sind bei der Besprechung des Zusammenhanges beider Erkrankungen ausführlich
erwähnt worden. Hier soll zunächst untersucht werden, ob den Tremorformen
besondere klinische Eigenschaften zukommen, namentlich mit Rücksicht auf
eine feinere Einteilung, sowie auf nähere Lokalisation der Erscheinungen. Auch
auf den Zusammenhang von Rigor- und Zitterbewegungen wird einzugehen sein.
Zunächst folgt eine kurze Übersicht über die Befunde der verschiedenen Autoren
hinsichtlich der unwillkürlichen Bewegungen.
In den meisten Fällen, die Wilson selbst beschreibt, trat der Tremor früh¬
zeitig auf. Es handelte sich um regelmäßige rhythmische alternierende Kon¬
traktionen einer Muskelgruppe und ihrer Antagonisten; die Schwingungszahl
betrug vier bis acht in der Sekunde (etwa entsprechend der Paralysis agitans),
bei Erregung und intendierten Bewegungen nahm der Tremor zu, zuweilen
konnte er jedoch durch den Willen vorübergehend unterdrückt oder vermindert
werden. Bei stärkerer Kraftanstrengung verschwindet er unter Umständen in
dem innervierten Gliede, um nach einer anderen Extremität auszustrahlen.
Die distalen Enden der Extremitäten sind stärker betroffen als die proximalen,
die Zunge ist am Zittern meist beteiligt. Mit Fortschreiten der Krankheit
wird auch der Tremor stärker. Seine Exkursionen nehmen zu, und er dehnt
sich unter Umständen auf den ganzen Körper aus. Bei den chronischen Fällen
Wilsons war der Tremor konstant, in anderen, mehr akut verlaufenden, kam
es dazwischen zu Attacken von Zittern; ich halte es für möglich, daß es sich
dabei um ähnliche Anfälle gehandelt hat, wie wir sie bei der Pseudosklerose
beobachten können. Athetotische und choreatische Bewegungen fehlten stets,
wie Wilson ausdrücklich hervorhebt. Choreatische Bewegungen aber lagen in
dem Fall von Anton vor, und auch Gowers spricht in seinem ersten Falle von
Ähnlichkeit mit athetotischen und choreatischen Bewegungen, beim zweiten
erwähnt er direkt »choreic movements«. Eine genaue Beschreibung der Be¬
wegungen fehlt. In Ormerods Fall spielen unwillkürliche Bewegungen in der
Krankengeschichte noch kaum eine Rolle.
Bei den Fällen Home ns wird nur ein leichtes Zittern der Hände ohne
genaue Beschreibung erwähnt, das teils immer bestand, teils anfallsweise auftrat.
In bezug auf den Tremor gleicht den Wilson sehen Originalfällen Fall 2 von
Stertz. Der Tremor entspricht auch hier dem der Paralysis agitans, er besteht
schon in der Ruhe, wird aber bei Intentionen stärker und geht bei Kraft¬
leistungen in grobes Wackeln über, wie es bei weiter fortgeschrittenen Fällen
von Wilson ebenfalls beobachtet wird.
Ähnliches gilt von dem Stöckersehen Fall, nur war hier der Tremor nicht
konstant, sondern trat in „Schauem“ auf.
Eine genauere Beschreibung der Bewegungsstörungen geben Gerstmann
und Schilder in einem Fall von Linsenkernerweichung. Der Tremor ist hier
als grobes Wackeln geschildert, das in der Richtung der beabsichtigten Intention
vor sich geht. Die oberen Extremitäten sind stärker betroffen, der Tremor
150 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
setzt vorzugsweise an den Handgelenken ein, im Bereich der Unterextremitäten
ist die Oberschenkelmuskulatur befallen. Bei Intentionen wird das Zittern
stärker, das Wackeln überdauert häufig die Intentionen, wodurch unter Um¬
ständen der Eindruck eines Spontantremors zustande kommt.
Für die bei Wilsonscher Krankheit beobachteten unwillkürlichen Bewegungen
kann demnach als charakteristisch angenommen werden ein feines rhythmisches
Zittern, ähnlich dem der Paralysis agitans unter vorzugsweiser Beteiligung der
distalen Extremitäten. In der Ruhe ist der Tremor geringer oder er fehlt;
bei Bewegungsimpulsen wird er stärker, bei Kraftanstrengung kann er in grobes
Wackeln übergehen, wozu namentlich die vorgeschrittenen Fälle zu neigen
scheinen. Immer ist der Tremor verknüpft mit Rigidität der Muskulatur. Daß
der Tremor bei Paralysis agitans prinzipiell von dem bei Wilsonscher Krank¬
heit verschieden ist, glaube ich nicht. Der einzige Unterschied, daß es sich
bei der Parkinsonschen Krankheit um einen Ruhetremor handelt, ist nicht so
konstant, um eine Trennung der beiden Tremorarten zu ermöglichen.
Strümpell führt das Zittern zurück auf eine Störung in der normalen
Gleichzeitigkeit und Gleichmäßigkeit der myostatischen Innervation. Er be¬
zeichnet das typische Zittern als Antagonistentremor, weil die zur Erhaltung der
statischen Fixation eines Gelenks erforderliche Innervation der antagonistischen
Muskeln nicht mehr gleichzeitig, sondern abwechselnd erfolge. Strümpell
will dadurch auch das häufige Zusammentreffen von Zittern mit Rigor, der
ebenfalls eine myostatische Störung darstellt, erklären. Dieser Zusammenhang
scheint mir nicht durchaus festzustehen, weil der Rigor ja gerade eine gleich¬
mäßige Steigerung der myostatischen Innervation ist. Außerdem treten die
Zitterbewegungen bei Wilson scher Krankheit und bei Paralysis agitans gerade
an den distalen Extremitätenenden auf, während der Rigor sich mehr an den
proximalen Teilen lokalisiert.
Strümpell unterscheidet das eigentliche oszillatorische, in der Ruhe auf¬
tretende statische Zittern, von der ataktischen Unsicherheit der Bewegungen,
die auf der mangelhaften sensorischen Regulation der myomotorischen Inner¬
vation beruhen soll. Wie schon erwähnt, ist das Zittern der Wilson sehen
Krankheit keineswegs ein Ruhezittem, sondern es tritt bei Bewegungen stärker
auf. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen der Zitter- und Wackel¬
bewegungen hält Strümpell für rein quantitativer Natur. Seiner Ansicht
nach tritt das Zittern je nach der Stärke der dabei gewissermaßen auseinander¬
gerissenen myostatischen Innervation bald als feinschlägiger oder grobschlägiger
Tremor, bald als förmliches Wackeln auf, das am stärksten bei der Pseudo¬
sklerose beobachtet wird. Ich glaube auch, daß diese verschiedenen Formen
des Zitterns durch fließende Übergänge verbunden sind, dafür spricht auch die
Beobachtung, die man bei der Wilson sehen Krankheit gemacht hat, daß das
ursprüngliche feine Zittern bei Erregungen gröber und schüttelnd wird und
auch gelegentlich weiter um sich greift, ebenso auch bei der Paralysis agitans,
wo das in späteren Stadien so oft vorhandene Schütteln der Hände geradezu
an Trommelschlagbewegungen erinnert.
Eine andere Frage ist die, ob das grobe Wackeln der Pseudosklerose sich
ebenfalls aus den feinen Zitterbewegungen herleiten läßt, oder ob es sich dabei
um eine andere Art von Bewegungen handelt. Der Umstand, daß bei man-
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
151
chen Fällen von Pseudosklerose anfangs die Diagnose Paralysis agitans gestellt
worden ist, würde für die erste Annahme sprechen. Die meisten Beschrei¬
bungen der Zitterbewegungen bei vorgeschrittener Pseudosklerose zeigen aber
ein anderes Bild als das feine Zittern der Parkinson sehen Krankheit. Da bis
jetzt Zusammenfassungen darüber nicht existieren, und ich selbst in der Lage
bin, über mehrere Fälle von Pseudosklerose zu berichten, will ich diese Dar¬
stellung etwas ausführlicher gestalten und dabei besonders der Frage nachgehen,
ob es sich bei dieser Bewegungsstörung um eine Ataxie handelt. Nicht alle ver¬
öffentlichten Fälle sind in gleicher Weise für die Untersuchung zu verwerten,
da sie zum Teil von anderen Gesichtspunkten ausgehend beschrieben sind, da
ferner zum Teil speziell auf die Einzelheiten der Bewegungsstörungen nicht
so genau geachtet worden ist.
Der von Völsch beschriebene Fall scheint ebenso wie die Alzheimers
hinsichtlich des Tremors anfangs eine gewisse Ähnlichkeit mit den Wilsonschen
Fällen gehabt zu haben, insofern, als auch hier zunächst ein rhythmisches
Zittern bestand, das erst allmählich in grobes Wackeln und ausfahrende Be¬
wegungen überging. Hierher gehört auch der Fall, dessen Sektionsbefund ich
veröffentlicht habe, bei dem anfangs paralysis agitans-ähnliche Erscheinungen
Vorgelegen hatten, während in der Zeit kurz vor dem Tode mehr grobe Wackel¬
bewegungen beobachtet wurden.
Der Fl ei sc her sehe Fall 1 zeigt ebenfalls zunächst feine Zitterbewegungen,
die Fleischer als Bewegungstremor einem Intentionstremor gegenüberstellt.
Im Laufe der Erkrankung kam es auch hier zu grobem Wackeln des ganzen
Körpers. Weniger hochgradig scheint dies im Falle 3 vorhanden gewesen zu
sein, allerdings war die Erkrankung hier nicht so weit vorgeschritten. Fall 2
begann ebenfalls mit Zittern, zur Zeit der Untersuchung bestand hochgradiges
Wackeln des ganzen Körpers, das bei Intentionen zunahm, starke Ataxie, die
Hände waren mehr befallen als die Beine.
Die beiden Patienten, an denen C. Westphal das Krankheitsbild der
Pseudosklerose zuerst erkannte, zeigten ein Zittern, das durch Auftreten bei
Bewegungen und Nachlassen in der Ruhe charakterisiert war. Es muß schlie߬
lich ziemlich erheblich geworden sein, denn die Patienten konnten nicht mehr
alleine essen: also auch hier eine Entwicklung vom feinen Zittern zum groben
Wackeln.
Die erste genauere Beschreibung des für die Pseudosklerose charakteristischen
Wackelns finden wir in der Veröffentlichung von Strümpell 1898. Die Er¬
krankung begann mit einer Ungeschicklichkeit der Hände; zur Zeit der Unter¬
suchung findet sich ein rhythmisches Zittern in den Armen, das nur bei Inten¬
tionen, allerdings schon bei den geringsten Innervationsantrieben auftritt; sowie
die Arme unterstützt werden, hört das Zittern auf. Die Zitterbewegungen
sind nicht sehr schnell, etwa 120 in der Minute, sie zeigen große Exkursionen
und nehmen bei jedem Bewegungsversuch an Heftigkeit sehr rasch zu. Pro¬
portional mit der Schwierigkeit der gewollten Bewegung verstärken sich auch
die Zuckungen. Sehr charakteristisch ist folgende Beschreibung: Will der
Patient die Spitzen beider Zeigefinger aneinanderlegen, so schlägt er fort¬
während mit der rechten Hand an die linke und umgekehrt. Soll der Patient
ein Taschentuch aus der Hosentasche nehmen, so geraten beide Arme in ein
152 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wileonsche Krankheitsgruppe.
starkes Schlagen und Stoßen. — Strümpell bezeichnet diese Bewegungen als
klonische; beteiligt sind fast alle Gelenke der oberen Extremität, bisweilen
kann man durch sanftes Festhalten der zitternden Arme die Bewegung vor¬
übergehend zur Ruhe bringen. An den Beinen sind derartige Erscheinungen
nicht ausgesprochen.
Auch der zweite Fall der damaligen Veröffentlichung Strümpells zeigt
bei allen Bewegungen Zittern und unsicheres Wackeln, keinen rhythmischen
Tremor. Eine gewisse Ataxie findet sich hier auch an den Beinen.
Trotz vieler Ähnlichkeiten (z. B. Auftreten bei Intentionen) unterscheidet
Strümpell dies Zittern von dem der multiplen Sklerose. Er betont jedoch,
daß eine dem Intentionszittem der multiplen Sklerose ähnliche Bewegungs¬
störung namentlich bei dem zweiten Fall nebenher zuweilen vorkommt. Von
dem gleichfalls oszillatorischen Zittern der Paralysis agitans unterscheidet sich
nach Strümpell das Zittern der Pseudosklerose deshalb, weil das letztere
mehr die proximalen Gelenke betrifft, langsamer verläuft und größere Exkur¬
sionen macht.
Der von Strümpell und Handmann 1914, sowie der von Strümpell
1916 publizierte Fall 1 gleichen in bezug auf die unwillkürlichen Bewegungen
sehr den zuerst beschriebenen Fällen von Strümpell. Es handelt sich auch
hier um ein rhythmisches oszillatorisches Zittern von großer Stärke der Einzel¬
bewegung (schlagen) mit beträchtlichen Exkursionen der bewegten Teile. Bei
völliger Entspannung der Muskeln hört das Zittern auf. Bei jeder willkürlichen
Bewegung und seelischen Erregung kommt es zum Vorschein und nimmt ent¬
sprechend der Schwierigkeit der beabsichtigten Bewegung an Stärke zu. Die
Zahl der Schwingungen in der Minute beträgt 120 — 180, die Stammuskeln
verhalten sich verschieden; bei Strümpell und Handmann waren sehr starke
Zuckungen im Pectoralis vorhanden, und auch die Schultermuskeln waren er¬
heblich beteiligt, während bei dem zweiten Falle mehr die distalen Enden
befallen sind. Der Kopf ist beide Male mit ergriffen, er bewegt sich im ersten
Fall in allen möglichen Ebenen, während er im zweiten die sagittale Richtung
bevorzugt. Diese Kopfbewegungen werden von Zuckungen der tiefen Nacken¬
muskeln bewirkt, die äußerlich sichtbaren Halsmuskeln sind frei. Auch bei
den Armen ist die Schwingungsebene nicht immer die gleiche; am stärksten
tritt das Zittern auf in den Muskeln, die zur Fixation der gerade beabsichtigten
Haltungen am nötigsten sind, z. B. bei halber Beugehaltung des Armes im
Biceps. Die Beine waren nicht ganz verschont, aber bedeutend weniger am
Zittern beteiligt. Bemerkenswert ist, daß beide Erkrankungen ohne Muskel¬
rigidität einhergehen.
Weitgehende Ähnlichkeit zeigt der Fall von Rausch und Schilder. Auch
hier fehlt die Muskelrigidität, anfangs besteht nur ein feines Zittern, das im
Verlauf der Erkrankung stärker wird und schließlich mehr einem Wackeln oder
Schlagen gleicht. Die Verfasser heben hervor, daß jede aktive Spannung, auch
wenn sie nur statischen Zwecken dient, in den angestrengten Muskeln und
ihren Antagonisten ein Schütteln wachruft. Das grobe Wackeln bleibt meist
in der Ebene der Intention; neben dem Wackeln ist eine Ataxie, besonders
eine Rumpfataxie nachzuweisen. Auch A. Westphal erwähnt atakische Stö¬
rungen neben den, den eben erwähnten Fällen fast völlig gleichen Zitter-
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
153
erscheinungen. Im Verlauf der Erkrankung tritt das grobe Wackeln auch am
Kopf und am Rumpf auf.
Die Steigerung von ursprünglich leichtem feinschlägigen Zittern zu grobem
Wackeln im Verlauf der Erkrankung finden wir auch in den Oppenheim-
schen Fällen. Bei beiden ist der Tremor in der Ruhe schon wenigstens an¬
gedeutet vorhanden. Er steigert sich aber auch erheblich durch Intentionen.
Im übrigen handelt es sich auch hier um ein langsames Schlagen, Wackeln
und Zittern, an dem außer den Armen auch Rumpf und Kopf beteiligt sind,
weniger die Beine. Besonders deutlich wird die Störung, wenn der Arm sich
in der Mitte zwischen extremer Beugung und Streckhaltung befindet.
Die Fähe von Dziembowski weisen bezüglich des Zitterns keine beson¬
dere Abweichung von den zuletzt erwähnten auf. Im Falle Söderberghs
handelt es sich um ein sehr feinschlägiges Zittern, das anfallsweise auftritt
bzw. durch Intentionen ausgelöst werden kann.
Diese Literaturzusammenstellung kann ich ergänzen durch einige eigene
Beobachtungen von Pseudosklerosefällen: Zunächst sei über drei Fälle be¬
richtet, die eine recht erhebliche Übereinstimmung hinsichtlich der Zitter¬
bewegungen zeigen, während der vierte Fall, der klinisch mehr der Wilson¬
gruppe ähnelt, in einigen Punkten von den übrigen abweicht. Die zuerst
zu besprechenden Fälle E. R., Gö. und Be. sind frei von jeder Muskelrigidität.
Ruhetremor fehlt fast ganz. Am Zittern beteiligt sind am stärksten die
Arme und der Kopf. Die Beine sind nur bei E. R. stärker mitbefallen. Bei
jeder Bewegungsintention, bei jeder, auch der kleinsten Erregung, wie sie
schon das bloße Anreden mit sich bringt, beginnt ein schweres Wackeln aller
nicht unterstützter Glieder und des Kopfes, in der Minute treten etwa 80 bis
120 Oszillationen auf, die sehr grobschlägig sind und am meisten an Schlagen
und Wackeln erinnern. Die Arme gestreckt zu halten gelingt für einige Se¬
kunden ohne Wackeln, dann beginnt aber ein leichtes Wackeln in den Ober¬
armmuskeln, so daß die Patienten nach kurzer vergeblicher Anstrengung die
Arme sinken lassen. Am stärksten wird das Wackeln übereinstimmend in
allen Fällen beim Krümmen der Arme im Ellenbogen. Kaum ist die Beuge¬
bewegung erfolgt, so beginnt der Unterarm in groben Schlägen hin und her
zu wackeln, und zwar nicht nur in der Ebene der Intention, sondern auch in
allen anderen Richtungen, das Wackeln nimmt sehr rasch sowohl an Schwin¬
gungsweite wie auch an Tempo zu, die Hand wird dabei locker im Hand¬
gelenk hin und her geschleudert, so daß die Fingerspitzen schonungslos gegen
jeden in der Nähe befindlichen Gegenstand geschlagen werden, alle Bewegungen
nehmen kreszendoartig sehr rasch zu, so daß die Kranken nach wenigen Augen¬
blicken den Arm fallen lassen müssen. Dies verstärkte Auftreten bei Beuge¬
bewegung des Armes entspricht anscheinend auch der Beobachtung von Oppen¬
heim, daß die Mittelstellung zwischen Beuge- und Streckbewegung am meisten
zu dem Schütteln prädisponiert. Offenbar hat Strümpell eine ähnliche Er¬
scheinung im Auge, wenn er hervorhebt, daß die Zitterbewegungen am stärksten
in den Muskeln auftreten, die zur Innehaltung der beabsichtigten Stellung am
meisten benötigt werden. Es treten aber bei der hier beobachteten Erschei¬
nung nicht nur der Bizeps, sondern auch sehr rasch alle anderen Oberarm¬
muskeln mit in Tätigkeit.
154 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Das Zustandekommen der Zitterverstärkuug beim Beugen der Arme kann
man folgendermaßen erklären: Die Fixierung des Armes in Streckhaltung ge¬
lingt den Kranken offenbar durch eine gleichmäßige Innervation aller Ober¬
muskeln, wodurch der Unterarm gewissermaßen an den Oberarm herangezogen,
an die Gelenkfläche gepreßt wird. Das Olekranon unterstützt diese Fixierung
noch besonders gut. Dieser Fixierung gelingt es, die Unsicherheit für eine
Zeitlang zu überwinden, das Wackeln zu unterdrücken. Wird der Unterarm
aber gebeugt, so muß diese Fixierung gelöst werden, und es ist für die Dauer
der Bewegung ein elastisches Spannungsverhältnis zwischen der Innervation
der Agonisten und Antagonisten nötig. Die Patienten sind aber nur zu groben,
unabgestuften Innervationen fähig, und so kommt bei den Bewegungsversuchen
das heftige Wackeln zustande.
Sowie man den Arm ausgiebig unterstützt, gelingt es in jeder beliebigen
Lage das Zittern zu beseitigen. Die Patienten selbst haben, wie es übrigens
auch bei manchen Beschreibungen erwähnt ist, fast alle eine gewisse Haltung
oder einen Kunstgriff, vermittels derer es ihnen gelingt, das Zittern zu be¬
seitigen, so daß sie zu den notwendigsten Handlungen noch fähig sind. Pat.
E. R. verschränkte z. B. die Arme hinter dem Rücken, wenn sie gehen wollte,
andere legen sich den Arm hinter den Kopf, usw.
Der Kopf wackelt meist in sagittaler Richtung, am stärksten beim Gehen.
Das Kopfwackeln tritt besonders auch dann in die Erscheinung, wenn der
Oberkörper eine Beugung erfährt, wie beim Bücken oder Aufrichten aus dem
Liegen. Offenbar verstärken auch hier die unsichereren mechanischen Verhält¬
nisse der Beugehaltung die Zitter- und Wackelbewegungen.
Neben diesen charakteristischen groben Wackelbewegungen sieht man bei
Gö. und E. R. zuweilen auch in der Ruhe ganz feine leichte Zitterbewegungen
an den Fingern, die etwas an das Drehen der Paralysis agitans erinnern, aber
ganz im Krankheitsbild zurücktreten.
Das grobe Wackeln der Kranken mit Pseudosklerose bei Bewegungen ist
symptomatologisch nicht zu unterscheiden von einer Ataxie. Bei dem Vor¬
herrschen grober Wackelbewegungen ist zum mindesten der Nachweis nebenher
bestehender Ataxie nicht möglich. Höchstens läßt «sich eine solche in der
Form der Rumpfataxie nach weisen, die namentlich bei E. R. vorhanden war.
Diese Patientin zeigte beim Aufrichten, Hinsetzen, Gehen, Umdrehen starke
Unsicherheit, die ganz an die Erscheinungen der Asynergie erinnerte. In
leichterem Grade waren diese Erscheinungen auch bei den anderen Patienten
angedeutet.
Der vierte Fall, 28, W. unterscheidet sich insofern von den eben beschrie¬
benen, als er auch eine ausgesprochene Hypertonie der ganzen Körpermuskulatur
aufweist, außerdem zeigt sich bei ihm eine Haltungsanomalie im Sinne einer
Kyphoskoliose, in die er beim Stehen und Gehen verfällt. Das ziemlich grob¬
schlägige Zittern besteht hier schon in der Ruhe, wird durch Intentionen
deutlich, aber nicht allzu erheblich vermehrt, steigert sich bei Erregung zu
grobem Wackeln.
Bei dieser Zusammenstellung ergibt sich, daß die Wackelbewegungen der
Pseudosklerose im allgemeinen recht große Übereinstimmung zeigen; eine Ver¬
bindung mit dem Zittern der Wilson sehen Krankheit ist dadurch gegeben, daß
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
155
in den Anfangsstadien der Pseudosklerose nur ein Zittern bestand, das sich
erst im Verlaufe der Erkrankung zu dem groben Wackeln und Schlagen aus¬
gestaltete, wie es in geringerem Maße auch bei einzelnen Wilsonfällen Vor¬
kommen kann, ferner dadurch, daß beide Erscheinungen an den Bewegungs¬
ablauf geknüpft sind. Es ist also möglich, daß es sich bei beiden Bewegungs¬
störungen um prinzipiell gleiche, nur quantitativ verschiedene Erscheinungen
handelt. Beruht nun diese Bewegungsstörung auf einer Ataxie? Zuerst eine
Vorfrage: Was könnte vorliegen, w r enn die Bewegungsstörung nicht als Ataxie
aufzufassen wäre? In diesem Falle müßte man an das Auftreten unwillkür¬
licher, zuckender Bewegungen denken, ähnlich wie bei der Myoklonie oder bei
der Chorea. Dagegen spricht zunächt der Umstand, daß das Zittern und
Schlagen fast immer bei Zielbewegungen stattfindet, während die unwillkür¬
lichen Spontanbewegungen, wie sie z. B. bei Chorea und ähnlichen Erkrankungen
Vorkommen, auch die ruhenden Glieder nicht verschonen.
Die kennzeichnende Eigenschaft der Ataxie, das Ungeordnete, Unkoordinierte
in den Bewegungen und der übermäßige Kraftaufwand bei dem Versuch, ein
Ziel zu erreichen, finden wir namentlich bei der Pseudosklerose sehr deutlich
ausgesprochen. Gerade bei den für die Prüfung der Ataxie üblichen Unter¬
suchungsmethoden (Fingernasenversuch — Kniehacken versuch) tritt die Störung
klar zutage. Wir unterscheiden meist die vor allem bei Tabes vorhandene
spinale Ataxie, eine zerebellare und eine zerebrale Form. Mit dieser Unter¬
scheidung hat inan auf den Sitz der jeweils die Ataxie bedingenden Erkran¬
kungen hingewiesen. Allen Ataxien gemeinsam ist jedenfalls eine Störung an
irgendeinem Punkte der verschiedenen übereinander geschalteten Reflexbögen,
die den geordneten Ablauf der Bewegung überwachen. Der zerebellaren Ataxie
kommt noch als besonderes Kennzeichen die Störung des Gleichgewichts beim
Gehen und Stehen zu, die durch die nahen Beziehungen des Vestibularissystems
zum Kleinhirn begründet ist.
Rausch und Schilder wollen bei der Pseudosklerose das Zittern von der
Ataxie trennen, obwohl sie das Zittern auf einen Ausfall motorischer Hilfs¬
apparate, welche den ungestörten Vollzug der Bewegungsleistungen garantieren,
zurückführen und somit unter die ataktischen Bewegungsstörungen einreihen.
Zugegeben werden muß, daß Symptome besonderer zerebellarer Ataxie unter
Umständen auch neben dem Wackeln nachgewiesen werden können, weil gerade
die Störung des Rumpfgleichgewichts sie von einer allgemeinen Koordinations¬
störung unterscheidbar macht.
Solche Störungen waren bei der ersten Patientin von Rausch-Schilder
vorhanden, sie waren auch bei meiner Patientin E. R. nachweisbar. Rausch und
Schilder sehen offenbar die rhythmischen Wackelbewegungen, die bei Erheben
eines Armes auftreten, nicht als Ataxie an, sondern als grobes Zittern und
bezeichnen nur Störungen bei der Zielbewegung als Ataxie. Offenbar legen
die Verfasser auch Wert auf die Erscheinung, daß das Wackeln des Armes bei
Fassen nach einem Gegenstand in der Bewegungsrichtung bleibt und daß es
sich dadurch von Ataxie unterscheide. Daß dies Beibehalten der Intentions¬
richtung beim Wackeln nicht ein charakteristisches Symptom der Pseudosklerose
ist, zeigten mir meine Fälle, bei denen das Wackeln sich nicht auf die Be¬
wegungsrichtung beschränkte, sondern in allen möglichen Ebenen auftrat.
156 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Aber auch das gleichmäßige Rhythmische des Zitterns darf uns nicht daran
hindern, eine Ataxie anzunehmen, denn ein gleichmäßiges Wackeln tritt auch
bei Pseudosklerose auf und zwar dann, wenn einfache Bewegungen, wie z. B.
Erheben eines Armes, gefordert werden; dabei fällt das Suchen nach einem
Ziel fort und den Muskeln kommt nach der kurzen dynamischen Innervation
des Armerhebens eine mehr statische Aufgabe zu; die Koordinationsstörung
bei statischer Innervation macht sich bemerkbar als ein mehr rhythmischer
Tremor und nicht als Schlagen und Wackeln, wie es Rausch und Schilder
allein als Ataxie anerkennen.
Bei dieser Gelegenheit sei gleich auf die Frage eingegangen, ob man den
Ruhetremor auch als Ataxie bezeichnen darf. Die Verwendung des Begriffes
Ataxie setzt voraus, daß bestimmte, auf irgendein Ziel gerichtete Innervationen
vorhanden sind, deren Ablauf und Zusammenarbeit gestört wird. Wir wissen,
daß jede Ruhelage nicht eine völlige Erschlaffung darstellt, sondern daß aller¬
hand Muskelinnervationen auch zur Aufrechterhaltung des in der Ruhelage
vorhandenen Muskeltonus notwendig sind; allerdings sind wir uns dieser Muskel¬
tätigkeit nicht bewußt, gleichwohl handelt es sich bei der Ruhelage auch um
Innervationen mit einem bestimmten Ziel. Es besteht also sehr wohl die
Möglichkeit, daß auch die Koordination der Ruhe gestört wird und Economo
hat in ähnlichem Sinne direkt von einer Ataxie der Ruhe gesprochen. Auch
Strümpell bezeichnet mit Myastasie, die auch den Tremor und die Wackel¬
bewegungen umfaßt, ähnliche Erscheinungen, die er darauf zurückführt, daß
die zur Fixierung eines Gelenks in der Ruhe nötigen Muskelinnervationen
nicht geordnet und nicht zur rechten Zeit eintreten. Die so entstandene
Störung entspricht ganz dem Begriff der Ataxie. Ich glaube, daß man
daher auch den Ruhetremor der Paralysis agitans als eine Störung der Ko¬
ordination im weiteren Sinne bezeichnen kann. Der Umstand, daß bei der
Paralysis agitans durch Bewegungen das Zittern unterdrückt werden kann,
braucht nicht gegen seine Auffassung als Koordinationsstörung zu sprechen.
Diese Unterdrückung des Tremors pflegt meist nur in den Anfangsstadien zu
gelingen, und außerdem ist es dem Kranken nur für kurze Augenblicke möglich,
durch eine willkürliche Innervation das Zittern zu unterdrücken. Besonderen
Wert möchte ich darauf legen, daß das Zittern bei der aktiven Bewegung
nicht auf hört, sondern offenbar durch eine erhöhte Kraftanstrengung unter¬
drückt wird. Dies ist nur möglich in einem Stadium, in dem die Koordi¬
nation für Zielbewegungen noch besser erhalten ist, als die bei Paralvsis agi¬
tans offenbar zuerst verlorengehende Koordination der Ruhelage. Die weitere
Entwicklung der Erkrankung scheint mir diese Auffassung zu bestätigen.
Während im Anfänge das Zittern nur in der Ruhe vorhanden ist und bei Be¬
wegungen jeglicher Art, auch bei statischer Innervation, nicht beobachtet werden
kann, bemerkt man in weiter vorgeschrittenen Stadien, daß das Ruhezittern
während der Dauer einer Bewegung wohl ausbleibt, daß es aber bei statische!*
Innervation, wenn z. B. der Arm geradeaus gehalten werden soll, nach wenigen
Augenblicken oder auch sofort wieder anfängt. Im weiteren Verlauf wird der
Tremor auch durch Bewegungen nicht mehr zum Schwinden gebracht, sondern
der Kranke schüttelt auch während der Bewegungen immer wefter, und schlie߬
lich werden die Zitterbewegungen immer gröber und heftiger, so daß sie unter
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
157
Umständen fast an das Schlagen der Pseudosklerose erinnern können, ln
solchen Fällen wird man sich nicht scheuen, von Ataxie zu sprechen, auch
wenn es sich nicht unbedingt um Zielbewegungen im engeren Sinne handelt.
Ich glaube, man ist nicht berechtigt, für das anfängliche und der ganzen Ent¬
wicklung nach offenbar nur graduell verschiedene Zittern eine andere Auffassung
als für die Höchstgrade der Bewegungsstörung zu wählen, nämlich die einer
Ataxie. Dieselbe Erscheinung beobachten wir im Verlauf der meisten Fälle
von Linsenkerndegeneration: Anfangs Tremor, später ausfahrende Bewegungen.
Noch auffallender macht sich diese Umwandlung bei manchen Fällen der
Pseudosklerose bemerkbar, hier hat anfangs auch meist nur ein Tremor be¬
standen. Dieser entwickelt sich im Laufe der Erkrankung zu dem groben
Schlagen und Wackeln, das am stärksten bei den Fällen von Pseudosklerose
ohne Hypertonie zu sein scheint, vielleicht weil die Dämpfuüg, die die Schwer¬
beweglichkeit der Muskeln ausübt, fortfällt. Es erscheint mir gezwungen, an¬
zunehmen, daß bei den Anfangsstadien der Erkrankung eine nichtataktische
Bewegungsstörung bestehen soll, die sich später in eine Ataxie umwandelt.
Ich glaube daher, daß wir es von vornherein mit einer dem weiten Rahmen
der Ataxie zugehörenden Bewegungsstörung zu tun haben.
Ähnliches gilt meiner Ansicht nach für die multiple Sklerose. Als eines
der Kardinalsymptome hat Charcot den »Intentionstremor« bezeichnet.
Beim Beginn der multiplen Sklerose gleicht die Bewegungsstörung auch ganz
einem Tremor. Rhythmisch zitternd nähert sich die Hand bei dem bekannten
Versuch der Nase; in weiter vorgeschrittenen Stadien würde es niemandem
mehr einfallen von einem Tremor zu sprechen bei dem Anblick des wilden
Wackelns, das der Kranke ausführt, wenn man nicht von dem zum geflügelten
Wort gewordenen Ausdruck »Intentionstremor« beeinflußt wäre. Es handelt
sich auch hier fraglos um eine Ataxie, und ich sehe nicht ein, warum man
den Anfangsstadien derselben eine andere Bezeichnung geben soll, es sei denn,
daß man unter dem Wort Tremor überhaupt eine Koordinationsstörung, eine
Ataxie verstehen will.
Daß psychische Einflüsse den Tremor verstärken, ist kein Gegengrund gegen
seine Auffassung als Ataxie, sehen wir doch, daß auch bei Gesunden, wenn sie
aufgeregt sind, Bewegungen ungeschickt, fast inkoordiniert werden können.
Noch einem weiteren Einwand ist zu begegnen: Im Begriffe der Ataxie liegt
es nicht, daß diese Störung immer vorhanden ist und bei jeder Bewegung
derselben Extremität auftritt. Es spricht daher nicht gegen Ataxie, wenn wir
sehen, daß ein Pseudosklerotiker einmal eine koordinierte Bewegung mit seinem
sonst ataktischen Arm ausführen kann. Dies Zustandekommen einer wohl¬
gelungenen Bewegung ist aber meines Erachtens nicht so aufzufassen, daß der
Kranke einen von Zittern oder Wackeln freien Augenblick zur Ausführung
seiner Bewegung abwartet, wie es z. B. die Choreatiker tun, sondern ebenso
wie dem Aphasiker unter dem- Einfluß heftiger Affekte Worte zur Verfügung
stehen, die er sonst nicht findet, so gelingen auch dem Ataktischen doch durch
die Einwirkung besonderer Innervationen zuweilen koordinierte Bewegungen.
Offenbar ist hierauf auch das Sistieren der Zitterbewegungen bei Paralysis
agitans während aktiver Bewegungen zurückzuführen.
158
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
V.
Wa s die pathophysiologische Deutung der Grundsymptome anlangt, so wird
der Rigor jetzt wohl allgemein durch den Wegfall einer normaliter den Muskel¬
tonus beherrschenden Hemmung erklärt. Das Zittern und Wackeln, das meines
Erachtens als Koordinationsstörung kinetischer oder statischer Innervation auf¬
zufassen ist, ließe sich auf den Ausfall zentripetaler Regulationen zurückführen.
Unsicher sind die Deutungen für das Zustandekommen der einzelnen Faktoren
der extrapyramidalen Parese. Man hat von einem kraftspendenden Einfluß
des Linsenkerns gesprochen, für den Mangel an Antrieb hat man Läsionen in
der fronto-ponto-zerebellaren Bahn verantwortlich gemacht.
Die ungefähre Lokalisation ist uns durch die Wilson sehen Befunde gegeben.
Die späteren Erfahrungen haben aber gezeigt, daß die Veränderungen nicht
auf den Linsenkem beschränkt bleiben, daß sie nicht immer die gleichen Teile
des Organs befallen. Von Bedeutung ist es ferner, daß die Erkrankung sich
bei der Pseudosklerose über weite Teile des Gehirns, wenn auch mit beson¬
derer Bevorzugung der zentralen Ganglien und des Zerebellums ausbreiten.
Es ist daher vorläufig noch nicht möglich, die einzelnen klinischen Symptome
auf bestimmte umschriebene Schädigungen zu beziehen. Dem entsprechend
sind von einzelnen Autoren recht verschiedene Theorien aufgestellt worden,
die sich aber alle darin einig sind, den Rigor als Wegfall einer Hemmung
aufzufassen infolge einer Erkrankung im Gebiet der basalen Ganglien. Die
Theorien über das Zustandekommen des Tremors und der Wackelbewegungen
differieren recht erheblich.
Wilson denkt sich das Zustandekommen der Erscheinungen folgendermaßen :
Eine Erkrankung des Corpus striatum und hauptsächlich des Linsenkerns (also
Pu tarnen), besonders wenn sie bilateral und von genügender Ausdehnung ist,
hebt einen beruhigenden oder inhibierenden Einfluß auf, den jener Kern nor¬
malerweise auf die kortikospinale Bahn ausübt. Dieser Einfluß soll entweder
über den Thalamus auf die Rinde oder auf dem Wege des lentikulo-rubro-
spinalen Systems auf die Vorderhomzellen ausgeübt werden. Der Ausfall dieser
Hemmung veranlaßt die kortikospinalen Zellen so zu reagieren, daß eins der
Resultate in Zunahme des Tonus aller Muskeln besteht, die von der Pyramiden¬
bahn erreicht werden. Die Frage, welches das tonusspendende Organ ist, das
vom Corpus striatum gehemmt werden soll, wird von Wilson nicht berührt.
Daß er den Pyramidentonus nicht meint, wie aus den oben zitierten Worten
vielleicht hervorgehen könnte, ergibt sich aus dem Zusammenhang.
Den Tremor faßt Wilson ebenso wie Athetose und Chorea als unwill¬
kürliche Bewegungen auf, nicht als Koordinationsstörung; während aber Athe¬
tose und Chorea auf der Läsion zentripetaler Bahnen, nämlich der zerebello-
rubro-thalamo-kortikalen Bahnen beruhen soll, hält Wilson den Tremor für
bedingt durch eine Schädigung einer efferenten Bahn, nämlich der lentikulo-
rubro-spinalen; durch ihre Zerstörung wird der inhibierende Einfluß, den das
Corpus striatum auf die Vorderhornzellen ausübt, unterbrochen, die beständige
Innervation der Vorderhomzellen wird geschwächt, und je mehr die Pyramiden¬
bahn innerviert wird, desto ausgesprochener wird der Tremor, d. h. er nimmt
bei willkürlichen Anstrengungen zu. Einen Bewegungsausfall hebt Wilson
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
159
nicht besonders hervor, und geht deshalb auch auf seine pathophysiologische
Bedeutung nicht ein.
Economo schreibt ebenfalls dem Linsenkern, und zwar, wie aus seinem
Falle hervorgeht, dem Putamen eine inhibierende Wirkung auf den Tonus zu.
Die hemmende Wirkung richtet sich auf einen vom Kleinhirn oder vom
Deitersschen Kern (wohl auch über das Kleinhirn) ausgeübten Tonus; der
tonisierende Effekt des Kleinhirns, der wohl auf dem Wege der Bindearme
zum roten Kern verläuft, wird durch die Impulse, die dieses Organ durch
die Linsenkernschlinge vom Pallidum und dadurch auch vom Striatum er¬
fährt, inhibiert bzw. reguliert.
Zu einer ähnlichen Auffassung kommt auch Deutsch, nur läßt sich hier
kein isolierter Bestandteil der zentralen Ganglien für die Störung verant¬
wortlich machen, weil Linsenkern (Putamen + Globus pallidus) und Nucleus
caudatus erweicht waren.
Da bei dem Economoschen Fall, ebenso wie bei dem von Deutsch Zitter¬
bewegungen fehlten, ist Economo der Ansicht, daß dies Zittern nicht auf
eine Linsenkernläsion zurückgeführt werden könne. Er bringt sie vielmehr
in Zusammenhang mit Erkrankungen des roten Kerns und seiner Strahlungen.
Hierfür spricht auch die Tatsache, daß bei der Pseudosklerose, die sich durch
besonders starkes Auftreten derartiger Bewegungen auszeichnet, die Erkrankung
sich nicht auf die zentralen Ganglien beschränkt, sondern wesentlich umfang¬
reicher ist — Economo neigt übrigens dazu, keine scharfe Grenze zwischen
Spontanbewegungen und Ataxie zu ziehen —; für eine rein ataktische Störung
scheint er die Zitterbewegungen allerdings nicht zu halten.
Foerster führt die Rigidität wie Economo auf eine Enthemmung einer
vom Kleinhirn ausgehenden tonisierenden Wirkung zurück. Als Organ, das
diese Hemmungen normalerweise ausübt, sieht er das Pallidum an, sein Aus¬
fall führt also zur Hypertonie. Außerdem sind im Pallidum Zentren für pri¬
märe Automatismen, vor allem für Ausdrucksbewegungen anzunehmen. Eine
Erkrankung dieser Teile des Pallidums würde also zu Ausfall an Ausdrucks¬
bewegungen führen. Andererseits werden diese dort lokalisierten Ausdrucks¬
bewegungen vom Putamen gehemmt und eine Erkrankung des letzteren bei
intaktem Pallidum könnte so zu einem Übermaß an Ausdrucksbewegungen
führen, wie wir es bei der Athetose sehen. Über das Zustandekommen des
Tremors äußert sich Foerster nicht näher. Er läßt es unentschieden, ob es
sich dabei um eine dauernde pathologische Irritation motorischer Abschnitte
des Nervensystems handelt (zerebellare Kerne, roter Kern), oder ob das Zittern
die Folgen des ungehemmten Zustroms zum Zerebellum ist. Dagegen führt
er die paretische Komponente bei der Parclysis agitans, sowie den Bewegungs¬
ausfall, die Bewegungsverlangsamung zurück auf Störungen an irgendeiner
Stelle der Stirnhirn-Brücken-Kleinhirnbahn, die er auch bei der willkürlichen
Innervation eine gewisse allerdings geringe Rolle spielen läßt.
In bezug auf die Bedeutung des Pallidum für das Zustandekommen der
Rigidität vertreten C. und 0. Vogt eine ähnliche Auffassung wie Foerster;
für die Erkrankung beider Pallida nehmen sie eine vollständige Versteifung
der Muskulatur als charakteristisch an.
C. und 0. Vogt weisen dabei auf die Schwierigkeit hin, die Symptome
160
Die Parkinson-, Westphal-Strümpeli-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
eines isolierten Pallidumausfalls festzustellen, weil bei der Durchsetzung des
Pallidums mit Fasern, die zwischen Thalamus und Striatum verlaufen, immer
eine Schädigung des Striatums mit im Spiele sein müsse. Man könne daher
das Pallidumsyndrom nur erschließen durch die Veränderung, die das gleich¬
zeitig vorhandene Striatumsyndrom aufweist gegenüber reinen Striatumer¬
krankungen. Hierbei ergibt sich, daß eine einseitige Pallidumerkrankung keine
weitere Veränderung hervorruft, während der doppelseitige Ausfall der Pallida
eine allgemeine Versteifung herbeiführt. Das Striatumsyndrom ist nach C. Vogt
ausgezeichnet »durch eine durch periphere und psychische Reize, aber nicht
durch Dehnungsreflexe steigerungsfähige, meist Agonisten und Antagonisten
gleichmäßig befallende, eine gewisse Abnahme der Muskelkraft, Bewegungs¬
verlangsamung und eine Pseudoadiadochokinese bedingende Spastizität, oder
(in seltenen Fällen) durch eine Hypotonie, Spasmus mobilis, choreatische und
athetotische Bewegungen, Zittern, Mitbewegungen, Zwangsweinen und Zwangs¬
lachen, durch das Fehlen gewisser primärer Automatismen, welche zu der Be¬
wegungsarmut (speziell im Mienenspiel, Mitbewegungen, Positionsveränderungen,
Orientierungsbewegungen, Schutz- und Abwehrreflexen) Störung gewisser Will-
kürbewegungen (besonders der Sprache, des Schluckens und des Gehens) und
einer mäßigen allgemeinen motorischen Schwäche führen; durch das Fehlen
von Störungen in den Sehnenphänomenen, den Bauchdeckenreflexen, der Trophik,
der Sensibilität und der Intelligenz«.
Daraus geht hervor, daß C. und 0. Vogt für die Rigidität offenbar nicht
nur das Pallidum verantwortlich machen, sondern daß auch eine Erkrankung
des Striatum eine solche, wenn auch offenbar nicht so hochgradige, hervor¬
zurufen vermag. Andererseits kann es nach Vogt auch zu einer Hypotonie
oder zu Spasmus mobilis kommen bei der Erkrankung des Striatums. Über¬
haupt umfaßt dies Striatumsyndrom derartig verschiedene, einander zum Teil
ausschließende Symptome, das man von einem Syndrom im eigentlichen Sinne
nicht sprechen kann. Großen Wert scheinen C. und 0. Vogt auf das Vor¬
kommen hyperkinetischer Erscheinungen, wie choreatische, athetotische Be¬
wegungen bei Striatumerkrankungen, zu legen. Demgegenüber betont Wilson
ausdrücklich, daß in seinen Fällen choreatische und athetotische Bewegungen
nie aufgetreten sind, daß vielmehr die Linsenkemdegeneration streng von der
Ath^tose double zu trennen sei. Auch der Fall von Economo weist darauf
hin, daß hyperkinetische Störungen nicht unbedingt zum Bilde der Striatum¬
erkrankungen gehören. Ähnliches gilt von dem Fall Deutsch. Bezüglich
der athetotischen Bewegungen wird übrigens auch von Vogt angenommen,
daß sie so gut wie immer nur bei Linsenkernerkrankungen in frühester
Kindheit auftreten.
Was die pathophysiologische Bedeutung der Hyperkinesen anlangt, so
kommen C. und 0. Vogt zu der Ansicht, daß es sich sowohl bei der Hyper¬
tonie wie auch bei Tremor, Chorea und Athetose um substriäre Hyperkinesen
handele, die auf einen Wegfall der Hemmung seitens des Striatums beruhen.
Eine Reizung des Organs könne nicht in Betracht kommen, da ein Reiz bei
der chronischen Erkrankung nicht von derartig langer Dauer sein könne.
C. und 0. Vogt setzen Striatum und Pallidum in ein ähnliches Verhältnis
zueinander, wie es zwischen der motorischen Hirnrinde und den von ihr ab-
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
161
hängigen Grisea besteht; ebenso wie eine Läsion des höherstehenden Teils,
nämlich der motorischen Rinde, eine Aufhebung der kinetischen Funktionen,
aber auch eine Enthemmung subkortikaler Gebiete bewirkt, so findet man
bei Zerstörung des Striatums striäre Akinese vereinigt mit substriärer Ent¬
hemmung.
Auch Kleist faßt die hyperkinetischen Erscheinungen bei Striatumer¬
krankungen auf als Folge einer Enthemmung, in letzter Linie des Globus
pallidus als dem motorischen Organ des Striatums. Als hemmendes Organ,
dessen Wegfall namentlich choreatische Bewegungen auslöst, zieht er auch
das Kleinhirn in Betracht, wenigstens gegenüber dem roten Kern, der haupt¬
sächlich Statik und Muskeltonus beherrscht. Er weist aber darauf hin, daß
man nicht einseitig die Zitterstarre, doppelseitige Athetose und choreatische
Bewegungsstörungen als Symptom des Corpus striatum konstatieren dürfe,
obwohl sie bei im groben gleicher Lokalisation Vorkommen können, daß
man vielmehr unbedingt feinere Unterschiede in der Lokalisation annehmen
müsse. Offenbar handele es sich dabei um Vermischung von Systemen ver¬
schiedener Bedeutung.
Für das Zustandekommen der subkortikalen Akinese —• hierzu rechnet
Kleist auch die Rigidität — macht Kleist das Zusammentreffen von Striatum¬
zerstörungen und Degeneration der Linsenkernschlinge verantwortlich, eine An¬
nahme, die an den Beobachtungen von Stöcker und an einigen Wilsonschen
Fällen eine Stütze findet. Die Unterbrechung der Linsenkernschlinge müßte
besonders im Verein mit Schädigung des Linsenkems selbst die Entäußerung
von Automatismen unmöglich machen und gleichzeitig den roten Kern von
einem durch den Linsenkern ausgeübten, hemmenden Einfluß befreien. Bei
Verletzung an Linsen- und Schwanzkern ohne Degeneration der Ansa lenti¬
cularis tritt der Ausfall an Automatismen und die Starre zurück gegenüber
der Regulationsstörung und Enthemmung im Ablauf der automatischen Be¬
wegungen selbst.
Als tonusspendendes Organ sieht Kleist das Zerebellum an;'auf den von
ihm beherrschten Reflexbogen übt der Linsenkern eine hemmende bzw. regu¬
lierende Wirkung aus. Aber auch das Großhirn kann auf dem Wege der
Stirnhirn-Brücken-Kleinhirnbahn diesen Reflexbogen beeinflussen.
Auch Stertz sieht in dem Kleinhirn das Zentrum, das den extrapyrami¬
dalen Muskeltonus hervorbringt, der von Seiten der Linsenkerne regulierende
und hemmende Einflüsse empfängt.
Hinsichtlich der funktionellen Bedeutung der extrapyramidalen motorischen
Systeme kommt Stertz zu folgendem Resultat:
Dem spino-zerebello-frontalen System liegt die Sorge für die räumliche
Komponente, das Ausmaß der Bewegungen ob, während dem extrapyramidalen,
motorischen Hilfsapparat die Regulierung des zeitlichen Ablaufs, des prompten
An- und Ausklingens der Bewegungen, der Innervationsbereitschaft zukommt.
Es Entspricht diese Störung offenbar einer Unordnung der reziproken Anta¬
gonistenhemmung (Slierington), ein Mechanismus, der wohl in dem Gebiet
der Stammganglien lokalisiert zu denken ist. Dieselbe Bedeutung, die dieser
Mechanismus für die Bewegungen hat, besitzt nach Stertz die Stellungs¬
oder Haltungsreflextätigkeit für die Ruhe bzw. für die Statik. Die Steigerung
Bostroem, Symptovneukomplrx. H
162 Di© Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wiisonsche Krankheitsgruppe.
dieses Reflexes führt zur Starre, zur Fixationsrigidität. Beide Mechanismen
sind eng zu einer funktionellen Einheit verknüpft, so daß eine isolierte Läsion
praktisch kaum in Betracht kommt.
Mann nimmt an, daß bei der striären Bewegungsstörung ein Mechanismus
gestört sei, welcher in den willkürlichen Bewegungsapparat eingeschaltet ist,
ein Apparat, welcher durch Abgabe von regulierenden und hemmenden Im¬
pulsen die regelrechte Funktion des Pyramidensystems ermöglicht. In diesem
Sinne faßt er die striäre Bewegungsstörung als eine Abart der Ataxie auf,
und zwar ist bei dieser Koordinationsschädigung die richtige Abstufung der
gegenseitigen Spannungsverhältnisse von Agonist und Antagonist gestört. Es
liegt dem ein Mißverhältnis zwischen Innervation und Denervation der Anta¬
gonisten zugrunde (reziproke Innervation). Die Ursache für dieses unrichtige
Zusammenarbeiten ist zu suchen in der Schädigung einer zentripetalen Bahn;
diese Bahn denkt sich Mann eingeschaltet in die regulierende, d. h. Inner¬
vationsmerkmale übermittelnde Bahn; sie dient dazu, die der Rinde zu¬
strebenden, der Koordination dienenden Nachrichten noch zu verfeinern. —
Nach diesem Prinzip wäre der Rigor zu erklären durch das Ausbleiben der
zweckmäßigen Denervation der Antagonisten; die Verlangsamung der Be¬
wegungen aber zurückzuführen auf eine mangelhafte Entspannung der Anta¬
gonisten, desgleichen die Adiadoehokinese. Auch die Bewegungsarmut und
der Mangel an Antrieb läßt sich verständlich machen, wenn man mit Hering
annimmt, daß die Auslösung von willkürlichen Bewegungen der zentral zu¬
strömenden Erkrankungen bedürfe. Mann glaubt, daß gerade diejenigen Nach¬
richten, welche die eingetretene Denervation signalisieren, den Antrieb zu
neuen Bewegungen geben. Auf diese Weise wäre durch das Ausbleiben bzw.
durch die Störung der Übermittlung dieser Nachrichten der Mangel an selb¬
ständigem Bewegungsantrieb und an Mitbewegungen zu erklären.
Sehr verschieden von den bisher beschriebenen lentikulären Symptomen
und den darauf gegründeten pathophysiologischen Theorien ist das von
Mingazzini aufgestellte Linsenkernsyndrom. Es besteht in einer leichten,
auf Fazialis und Glieder derselben Seite beschränkten Parese, in einer gleich¬
falls homolateralen Sehnenreflexsteigerung, in einer leichten Anisokorie, wozu
sich bisweilen noch eine Atrophie der Extremitäten und leichte Hypästhesie
gesellen können. Bei einer Beteiligung der hinteren Vierfünftel des linken
Ganglions tritt eine Dysarthrie bzw. Anarthrie ein (nach Vogt sind die sprach¬
lichen Funktionen des Linsenkerns in die oralen Partien lokalisiert). Nach
den neueren Arbeiten über Linsenkernsymptome und besonders auch nach
den klinischen Erfahrungen kann man wohl annehmen, daß diese von Min¬
gazzini beschriebenen Symptome nicht reine Linsenkernerscheinungen sind,
zumal da in einigen seiner Fälle auch Teile der Hirnrinde mit verändert
waren.
Weiter muß noch auf die Lokalisationsmöglichkeit und Pathophysiologie
der Zitter- und Wackelbewegungen eingegangen werden.
An sich erscheint es möglich, daß zwischen Muskelhypertonie und Zitter¬
erscheinungen ein direkter Zusammenhang besteht, d. h. daß der Tremor die
Folge der Hypertonie ist. So geraten auch bei aktiver Muskelanspannung
nach einiger Zeit die Muskeln in ein Zittern, das als Ermiidungszittern zu
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
163
bezeichnen wäre. Auch bei Hypertonie in Form von Pyramidenerkrankungen
sehen wir in der Form von klonischen Muskelzuckungen Zittererscheinungen
auftreten. Der Umstand aber, daß Linsenkerndegenerationen ohne Zitter-
und ohne Wackelbewegungen einhergehen können, sowie die Existenz des
Krankheitsbildes der Paralysis agitans sine agitatione weisen uns darauf hin,
daß diese Zitterbewegungen nicht unbedingt oder zum mindesten nicht zu jeder
Erkrankung des Striatums gehören. Umgekehrt zeigen Fälle von Pseudosklerose,
daß Wackelbewegungen nicht mit Rigidität zusammenzuhängen brauchen. Auch
das Zittern der Paralysis agitans findet man gerade an den vom Rigor ver¬
hältnismäßig oft verschonten distalen Gliedabschnitten am häufigsten; auch
sieht man zuweilen Fälle von typischem Paralysis agitans-Zittem ohne Rigor.
Kleist faßt den Tremor nicht als ein direktes Striatumsymptom auf,
sondern denkt dabei an eine Funktionsstörung der motorischen Haubenzentren,
besonders des roten Kerns. Wie ich oben zu zeigen versucht habe, sind die
Wackelbewegungen der vorgerückten Stadien bei Wilsonscher Krankheit sowie
auch die ausfahrenden Wackelbewegungen bei Pseudosklerose prinzipiell nicht
von einem Intentionstremor zu unterscheiden, und auch die Übergänge zwischen
Ruhetremor und Intentionstremor sind fließende. Ich glaube daher, daß man
die Pathophysiologie dieser Bewegungsstörungen zusammen besprechen kann.
Wir sind dabei leider fast ganz auf Hypothesen angewiesen, denn die ana¬
tomischen Untersuchungen einschlägiger Fälle haben keine Veränderungen
aufgedeckt, die mit Sicherheit für die Lokalisation des Tremors oder ent¬
sprechende Erscheinungen verwertet werden könnten, weil sie teils zu diffus
sind (Pseudosklerose), teils wie bei der Wilsonschen Krankheit keine sicheren
anatomischen Unterschiede zwischen tremorfreier und mit Zittern einher¬
gehender Wilson scher Krankheit erkennen lassen.
Wo haben wir also die Schädigung zu suchen, die das Auftreten von Zitter-
und Wackelbewegungen zur Folge hat? Die Auffassung dieser Erscheinungen
als eine Art Ataxie weist darauf hin, die Schädigung in einer zentripetalen
Bahn oder an einer motorischen Umschaltstelle zu suchen, man wird dabei
an das Gebiet des roten Kerns in seinen Ausstrahlungen denken. Ich möchte
dabei auf eine auffallende klinische Ähnlichkeit aufmerksam machen, welche
das Wackeln der Pseudosklerose auf weist mit dem ataktischen Hin- und Her¬
fahren, wie wir es bei einem Herd in der vorderen Vierhügelgegend sehen;
offenbar bewirkt hier der Druck auf den Nucleus ruber oder seine Aus¬
strahlungen die genannten motorischen Erscheinungen, und gerade diese auf¬
fallende klinische Ähnlichkeit legt den Gedanken nahe, Erkrankungen des
roten Kerns oder seiner Bahnen mit dem Auftreten der Zittererscheinungen
und Wackelbewegungen in Zusammenhang zu bringen. Diese Möglichkeit ist
auch von anderer Seite schon gestreift worden (Kleist, Wilson u. a.). Sichere
Anhaltspunkte für eine so vollständige Zerstörung des roten Kerns, daß daraus
ein Ausfall seiner Leistungen resultierte, finden wir nirgends. Eine Reizung
des roten Kerns müßte dieselbe Wirkung haben, wie der Wegfall der auf ihn
hemmend wirkenden Organe.
Hemmende Impulse empfängt der rote Kern seitens des Kleinhirns, des
Linsenkerns und seitens des Stimhirns. Nach den Erfahrungen von Bon-
lioeffer, Kleist-Bremme kann Wegfall der Bahnen vom Kleinhirn zu cho-
11*
X04 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
reatischen Bewegungen (Bindearmchorea) Veranlassung geben, die mit Hypo¬
tonie einhergehen. Eine derartige Schädigung käme also für die Entstehung
der Wackelbewegungen nur dann in Betracht, wenn gleichzeitig eine Hypotonie
vorhanden ist, wie wir sie ja in der Tat bei einigen Fällen von Pseudosklerose
finden. Weiter hätte man mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Befreiung
des roten Kerns vom Linsenkerneinfluß das Symptom auslöst.
Die Bahnen vom Linsenkern zum Nucleus ruber verlaufen zumeist in der
Linsenkemschlinge, und wir treffen dadurch auf die oben erwähnte Kl ei st sehe
Theorie, daß nämlich eine Schädigung der Linsenkemschlinge und des Pallidum
besonders oft zur Rigidität Veranlassung gibt. Es käme also diese Lokalisation
wohl nur für eine Kombination von Rigor mit Zitter- oder Wackelbewegungen
in Frage. Möglich wäre auch noch, daß das Fehlen einer Hemmung seitens
des Stirnhirns zu dem Symptom des Zitterns führt. Anatomisch gestützte
Krankheitsfälle, die dafür sprechen könnten, existieren m. W. nicht. Immer¬
hin muß an die Möglichkeit gedacht werden.
Für sehr wohl möglich halte ich es aber, daß die beiden erst erwähnten
Schädigungen zusammen, nämlich der Ausfall der zerebellaren und der lenti¬
kulären Hemmung auf den roten Kern die hyperkinetischen Erscheinungen
hervorrufen. Je nach dem Uberwiegen der einen oder anderen Komponente
kann der Rigor oder die Hypotonie im Vordergründe stehen, kann es sich
bald mehr um einen Tremor, bald mehr um ein ataktisches Wackeln handeln.
Man muß sich darüber klar sein, daß diese Erwägungen alle nur hypo¬
thetischen Wert haben. Ich halte es aber für angebracht, daß man bei dem
Suchen nach anatomischen Grundlagen für die einzelnen klinischen Erscheinungen
von bestimmten Theorien, die im Bereich der Möglichkeit liegen, ausgeht. Daß
der rote Kern mindestens als Schaltstation eine große Bedeutung für das Zu¬
standekommen der extrapyramidalen motorischen Störungen hat, glaube ich
bestimmt annehmen zu müssen, und zwar aus folgendem Grunde:
Wenn auch die Pyramidenbahn mit den hier geschilderten Dyskinesien
nichts zu tun hat, so ist doch das »ausführende« Organ bei pyramidalen und
extrapyramidalen Bewegungen und Bewegungsstörungen jedesmal der Skelett¬
muskel, der seine motorischen Impulse von den Vorderhornzellen empfängt.
Irgendwo müssen also die normalen oder anormalen extrapyramidalen Impulse
sich den motorischen Organen mitteilen, und zwar sind offenbar die Vorder-
hömer schon im Besitz der regulierenden und hemmenden Einflüsse; anderer¬
seits verlaufen diese sicher nicht in den Pyramidenbahnen des Rückenmarks,
da sonst das Fehlen extrapyramidaler Hemmungen häufiger mit Pyramiden¬
bahnsymptomen einhergehen würde. Die einzige Bahn, die Impulse von den
subkortikalen Ganglien aufnehmend das Rückenmark hinunterzieht und sich
hier offenbar mit den Vorderhornzellen in Verbindung setzt, ist die Monakow-
sehe rubrospinale Bahn. Inwieweit die tektospinale Bahn und andere Bündel
für eine ähnliche Funktion in Betracht kommen, bleibe dahingestellt. Die
Erwägung, daß für diese wichtige Funktion dieses verhältnismäßig sehr dünne
Bündel kaum genügen kann, läßt erwarten, daß vielleicht noch andere Ver¬
bindungen existieren. Vorläufig scheint aber nur diese Bahn in Betracht zu
kommen, und dieser Umstand verleiht dem roten Kern und seinen Ver¬
bindungen eine wichtige Rolle.
Neurologische Symptome und Symptomkombinationen.
165
Ich habe die mir bekannten Theorien über das Wesen der Parkinson-
Wilsonschen Bewegungsstörung lediglich referendo und möglichst objektiv
wiederzugeben versucht. Es ist nicht meine Absicht, das Für und Wider der
einzelnen Hypothesen hier zu erörtern, da m. E. heute für eine kritische
Würdigung uns noch die notwendigen Unterlagen fehlen. Einwände wird man
wohl oft berechtigt finden, in manche Punkte wird man Zweifel setzen können,
ohne ihren heuristischen Wert verkennen zu wollen. Das Resultat einer solchen
Kritik würde aber insofern negativ sein, als es noch nicht möglich ist, etwas
Positives, d. h. besser Bewiesenes, an die Stelle des Angezweifelten zu setzen.
Ich will mich daher beschränken, aus den verschiedenen Theorien und
Möglichkeiten kurz das herauszuheben, das nach unserer heutigen Anschauung
dem Wesen der Parkinson-Wilsonschen Bewegungsstörung am meisten gerecht
wird, und das auch der Grundanschauung der meisten Autoren in den Haupt¬
punkten zu entsprechen scheint:
Die Regelung des geordneten Bewegungsablaufs wird besorgt von einem
Reflexbogen, bestehend aus den spino-zerebellaren Bahnen als afferenten
Schenkel, dem Kleinhirn (Nucleus dentatus) als Zentrum und tonusspendendem
Organ; die ableitenden Bahnen verlaufen in den Bindearmen zum roten Kern
und von dort auf dem Monakowschen Bündel nieder zum Rückenmark. Das
Zentrum dieses Reflexbogens empfängt noch eine andere afferente Bahn vom
Nukleus Deiters, welche Nachrichten über die Körperhaltung vermittelt.
Dieser Reflexmechanismus unterliegt Einflüssen von seiten des Linsenkerns,
die man wohl mit ziemlicher Sicherheit als hemmende und zügelnde Ein¬
wirkungen auffassen kann; ihr Wegfall läßt den Muskeltonus anschwellen und
veranlaßt den Rigor. Welcher Teil des Linsenkerns diese Wirkung ausübt,
ist noch nicht ganz sicher, am meisten vertreten wird heute die Ansicht,
daß der Globus pallidus diese Rolle spielt. Möglicherweise empfängt dieser
seinerseits wieder hemmende Impulse seitens des Putamens. Verschiedene Fälle
(Wilson-Economo u. a.) sprechen allerdings dafür, daß auch eine Erkrankung
des Putamen einen Rigor zur Folge haben kann. Auch Vogt hat diese Mög¬
lichkeit bei der Aufstellung seines »Striatumsyndroms« in Betracht gezogen.
Daß wir im Pallidum außerdem noch ein Organ für automatische Bewe¬
gungen, insbesondere Ausdrucksbewegungen, vor uns haben, ist möglich, so
daß eine Erkrankung dieses Teiles des Pallidum zu einer Verarmung an Aus¬
drucks-usw. Bewegungen führen müßte. Ob sich die Hemmung seitens des
Putamen gerade auf die Auslösung der Ausdrucksbewegungen bezieht, oder
auch auf tonische Vorgänge, ist m. E. nicht mit Sicherheit zu entscheiden.
Ebenso unsicher ist es, ob dem Putamen für das Auftreten unwillkürlicher
Bewegungen die Bedeutung zukommt, die ihm von C. und 0. Vogt bei¬
gelegt wird.
Ich persönlich glaube, daß Tremor und Wackelbewegungen bei den uns
hier interessierenden Krankheitsbildern als eine Art ataktischer Bewegungs¬
störung aufzufassen sind, die man zum Teil vielleicht auf anatomische Läsionen
im Gebiet des roten Kerns zurückzuführen hat.
Möglicherweise steht aber der Reflexmechanismus noch unter dem Einfluß
der in ihrem Verlauf allerdings noch nicht ganz sicheren fronto-ponto-zere¬
bellaren Bahn, die ihr vielleicht anregende Impulse zufließen läßt. Unter
166
Die Parkinson-, Westphal-Stxümpell-, Wilsonsehe Krankheitsgruppe.
diesen Umständen könnten Störungen im Bereich dieser Bahn eventuell
für die Erscheinungen der extrapyramidalen Parese verantwortlich gemacht
werden.
4. Psychische Veränderungen.
Die bei dieser Krankheitsgruppe vorkommenden psychischen Symptome
lassen sich in drei verschiedene Formen ein teilen:
1. Akzessorische psychische Veränderungen; es handelt sich dabei im wesent¬
lichen um das Auftreten seniler Erscheinungen, wie sie besonders bei den vor¬
geschrittenen Fällen von Paralysis agitans beobachtet werden.
2. Psychische Veränderungen besonderer Art, die namentlich bei Pseudo¬
sklerose nicht selten Vorkommen, aber auch die Wilsonsche Krankheit und
bisweilen auch die Paralysis agitans nicht verschonen.
3. Eine psychische Umstellung, die bei Paralysis agitans und Wilsonscher
Krankheit auftritt, die durch das Wesen der Krankheit bedingt zu sein scheint
und offenbar mit den motorischen Erscheinungen der Erkrankung aufs engste
verknüpft ist.
1. Das unter 1 erwähnte Vorkommen seniler Veränderungen bei vorge¬
schrittenen Fällen von Paralysis agitans oder anderen senil gewordenen Amyo-
statikern bedarf keiner besonderen Besprechung; ebenso kann ich mich mit
der bloßen Erwähnung des Vorkommens psychogener Störungen begnügen,
wie sie bei langdauernden Leiden oft beobachtet werden, und deren Entstehung
vollkommen verständlich ist. Daß viele Paralysis agitans-Kranke ungeheuer
klagsam und empfindlich, oft ängstlich sind, ist dem Wesen des qualvollen
Leidens ebenfalls durchaus angepaßt. Besonders frühes Auftreten seniler
Störungen kommt vor, ist aber keineswegs die Regel. Auf der anderen Seite
können auch Kranke mit vorgeschrittener Paralysis agitans trotz hohen Alters
unter Umständen von den eigentlichen senilen Geistesstörungen völlig frei
bleiben.
2. Daß bei den oft recht ausgebreiteten Veränderungen, die die Pseudo¬
sklerose auch an der Hirnrinde setzt, psychische Defekte auftreten, ist nicht
verwunderlich. Was die klinische Beurteilung anlangt, so darf man sich nicht
allein durch den unbelebten Gesichtsausdruck und den Mangel an Bewegungen
oder ähnliche motorische Symptome dazu verleiten lassen, eine Demenz zu
konstatieren. Gerade bei diesen Kranken ist die beliebte Bemerkung: »der
Kranke macht einen stumpfen oder dementen Eindruck« nicht zutreffend,
denn der äußere Eindruck täuscht hier außerordentlich häufig.
Im allgemeinen werden psychische Defekte mehr als eine Besonderheit
der Pseudosklerose angesehen, jedoch ist die Wilsonsche Krankheit keineswegs
immer frei davon. Wilson selbst fand bei acht von seinen zwölf Fällen
hierher gehörende psychische Veränderungen, die er registriert, ohne sie als
einen wesentlichen Teil der Erkrankung hinzustellen, da einige Fälle ganz
frei davon waren. Den Ausdruck »Demenz« hält er für ungeeignet; er spricht
lieber von einer Verengung des geistigen Horizontes und einer gewissen Kind¬
lichkeit. Merkfähigkeit und Wahrnehmung waren unverändert, jede Ähnlich¬
keit mit senilen Demenzformen und Dementia praecox werden abgelehnt. Be¬
obachtet sind außerdem eine gewisse Reizbarkeit und Zwangslachen.
Psychische Veränderungen.
167
Bei einem Fall von Cadwalader, der sich bei der Sektion als Wilsonsche
Krankheit herausstellte, war auf Grund der psychischen Symptome die Dia¬
gnose Dementia praecox gestellt worden.
Bei den übrigen Fällen reiner Wilsonscher Krankheit, die oben aufgeführt
sind, bestehen nur unwesentliche psychische Veränderungen (Economo-
Stertz). Nur den Fall von Stöcker, der auch anatomisch Übergänge zur
Krankheitsform der Pseudosklerose aufweist, zeigt eine geringe Demenz, Stumpf¬
heit und ein auffallend ungeniertes Verhalten.
Die Pseudosklerose geht auch nicht in allen Fällen mit psychischen Stö¬
rungen einher. In den im Anfangsstadium beschriebenen Fällen von Dziem-
bowsky (Fall 3), Fleischer (Fall 4), sowie im Fall Strümpell-Handmann,
traten psychotische Erscheinungen nicht in den Vordergrund. Bei den übrigen
Fällen kann man folgende Arten von psychischen Störungen unterscheiden:
Eine geistige Schwäche, die sich zum Teil in einer Herabminderung
des Kenntnisbesitzes unter Abnahme des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit
äußert, zum Teil mehr als allgemeine Stumpfheit und Interesselosigkeit mit
Mangel an Spontaneität in die Erscheinung tritt; zum Teil besteht auch eine
ausgesprochene Urteilsschwäche und ein läppisch kindisches Verhalten. Über¬
einstimmend wird festgestellt, daß es sich nicht um angeborene Zustände da¬
bei handelt, sondern immer entwickelt sich die Demenz erst im Laufe der
Erkrankung. Ausführliche Untersuchungen über die Art der Demenz existieren
bis jetzt noch nicht, nur Focher hat vor kurzem eine psychische Unter¬
suchung eines derartigen Kranken veröffentlicht. Er fand gute Merkfähigkeit,
ein schlechtes Gedächtnis, Kritikschwäche, erschwerte optische Auffassung,
Perseverationsneigung, fehlende Krankheitseinsicht. Im Laufe der Erkrankung
machte sich eine deutliche Verschlechterung der psychischen Leistungen be¬
merkbar. Zur Feststellung der Allgemeingültigkeit dieser Befunde bedarf es
noch weiterer Beobachtungen.
Vielleicht noch auffallender als die Herabsetzung der Intelligenz ist die
Veränderung der Persönlichkeit, des Charakters der Kranken, die verschiedent¬
lich hervorgehoben wird; mehrfach wird betont, daß die Kranken trotzig, bos¬
haft, mißtrauisch geworden sind, sich unanständig, ungeniert benehmen.
Am regelmäßigsten beobachtet wird eine Veränderung des affektiven Ver¬
haltens. Reizbarkeit, Jähzorn, Neigung zu Wutausbrüchen, Erregungszustände.
Die Kranken sind unverträglich, aufbrausend, meist beruhigen sie sich jedoch
bald wieder. Graduell kann die Affektlabilität und emotionelle Inkontinenz
sehr verschieden sein. In einigen wenigen Fällen war Unterbringung in eine
Irrenanstalt notwendig, meist kommt es aber nur zu kurzdauernden Erregungs¬
zuständen, oder es handelt sich bloß um eine relativ geringe, reizbare Schwäche.
Viermal wird von paranoischer Einstellung berichtet (C. Westphal, Fall 2,
A. Westphal, Alzheimer-Hößlin und Fleischer, Fall 1). Offenbar handelt
es sich bei letzteren nicht um ein durch den Krankheitsprozeß bedingtes psy¬
chisches Symptom, sondern um eine bestehende Veranlagung, die vielleicht
unter dem Einfluß der erhöhten Reizbarkeit zum Vorschein gekommen ist.
In letzter Zeit ist man auf gewisse symptomatologische Ähnlichkeiten der
hier in Rede stehenden Krankheitsgruppen zu den Schizophrenien aufmerksam
geworden. Namentlich die motorischen Symptome zeigen nicht selten eine
168 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Reihe übereinstimmender Merkmale bei beiden Erkrankungen. In erster Linie
wäre hier die Flexibilitas cerea zu nennen, die übrigens bei den Erkrankungen
der subkortikalen Ganglien sehr viel »typischer« und ausgesprochener sein
kann, als wir sie bei den katatonen Zustandsbildern zu sehen gewohnt sind.
Auch die von Spannungszuständen bevorzugten Muskelpartien sind bei beiden
Leiden meist die gleichen. Es kommt hinzu, daß auch gewisse Symptome
seitens des vegetativen Nervensystems bei beiden Erkrankungen auftreten.
Es ist lohnend und interessant, diese Beziehungen noch näher zu verfolgen.
F. Fränkel hat kürzlich im Zusammenhang darauf hingewiesen, daß einerseits
die körperlichen Symptome der Katatonie auf den Hirnstamm hinweisen, daß
aber ganz besonders die psychischen Vorgänge bei den Erkrankungen der
subkortikalen Ganglien am meisten Ähnlichkeit mit katatonen Zustandsbildem
haben. Er kommt dabei zu dem Schluß, daß auch für die Dementia praecox
in den subkortikalen Ganglien der Angriffspunkt der schädigenden Noxe sich
werde finden lassen.
Ähnliches vermuten C. und 0. Vogt für die hysterischen Störungen. Sie
ventilieren die Möglichkeit, daß die Symptome der Striatum- + Pallidumerkran-
kungen bei ihrer Ähnlichkeit mit gewissen hysterischen Phänomenen einen
Fingerzeig für den Sitz der den letzteren zugrunde liegenden pathologischen
Veränderungen geben könnten. Als Begründung dafür führen sie an, daß ein
guter Teil der hysterischen Symptome nichts anderes sei, als krankhaft inten¬
sive oder ihrer Qualität nach pathologisch modifizierte Ausdrucksbewegungen;
dies weise auf Beziehungen zum Striatum hin, wo ja ein Zentrum für auto¬
matische Ausdrucksbewegungen sei. Ich glaube nicht, daß diese äußere Ähn¬
lichkeit zu solch weitgehenden Schlüssen berechtigt. Als weitere Stütze dieser
Hypothese wird der Umstand aufgeführt, daß ein großer Teil dieser motorischen
Störungen zu Verwechselungen mit Hysterie geführt hat oder noch führt.
Demgegenüber möchte ich folgendes geltend machen: wenn bei einem als
hysterisch angesprochenen Symptomenbild sich später eine organische Grund¬
lage finden läßt, so beweist das nicht, daß die hysterischen Erscheinungen in
dem betreffenden Gebiet lokalisiert sind, sondern nur, daß die fragliche Er¬
krankung keine hysterische war.
Die als Punkt 3 schon kurz erwähnte psychische Umstellung, die wir bei
Paralysis agitans, Wilsonscher Krankheit und den hierher gehörigen Symptom¬
gruppen beobachten können, hängt auf das engste zusammen mit den hier
vorkommenden motorischen Störungen. Die Feststellung und Analyse dieser
Erscheinungen ist deswegen schwer, weil die Kranken so gut wie nie Aus¬
kunft über ihr Erleben geben können, nur sehr selten sind Fälle zu solchen
Untersuchungen brauchbar. Wenn man aber einmal auf das Wesen dieser
motorischen Störung und ihrer Rückwirkung auf das psychische Verhalten der
Kranken aufmerksam geworden ist, so wird man auch bei anderen Fällen
analoge Verhältnisse in ihren Grundzügen erkennen können.
Ich habe in einer vor kurzem erschienenen Arbeit an der Hand zweier
Krankengeschichten die psychomotorische Umstellung dieser Kranken genauer
charakterisiert, so daß ich mich hier auf das Notwendigste beschränken kann.
Das Wesentliche bei dieser Umstellung ist, daß der Ausfall der normalerweise
automatisch ablaufenden Hilfs- und Nebenbewegungen sowie der eines Teiles
Psychisohe Veränderungen.
169
der Mitbewegungen bei diesen Kranken durch willkürliche Bewegungen ersetzt
werden muß. D. h. die Kranken sind nur dadurch imstande, die vielen, bei
allen motorischen Akten notwendigen Hilfebewegungen auszuführen, daß sie
jeder einzelnen ihr besonderes Augenmerk schenken, sie einzeln innervieren.
Dadurch leidet natürlich die Promptheit und die Qualität der Bewegungen;
denn die Eleganz einer gut eingeübten oder geläuügen Bewegung besteht
gerade darin, daß alle dazu notwendigen Komponenten genau ineinander ein¬
gespielt sind, daß keine unnötige Kraftanstrengung und keine nicht dazu¬
gehörige Mitbewegung gemacht wird. Wenn nun ein Kranker mit dem hier
besprochenen Symptomenkomplex des Ausfalls unwillkürlicher Bewegungen bei
jeder Bewegung zu überlegen hat, welche Innervation im gegebenen Augen¬
blick erfolgen muß, so ist es klar, daß daraus von vornherein eine Verlang¬
samung des Bewegungsablaufs resultiert. Eine weitere Folge ist aber auch
eine Steifheit und Unbeholfenheit; es sieht aus, als mache der Kranke diese
Bewegung zum ersten Male, als habe er keine Übung darin, als sei er nicht
imstande, die gewünschte Bewegung als eine Einheit zu betrachten. Diese
Störung hat also gewissermaßen zu einer Auflösung des im Laufe des Lebens
erworbenen Übungsgewinnes geführt.
Es ist weiter verständlich, daß dieser Ersatz der für gewöhnlich unwill¬
kürlich ablaufenden Bewegungen durch willkürliche wegen der immer wieder¬
kehrenden Notwendigkeit, besonders darauf zu achten, sehr viel mehr An¬
strengung kostet als der normale Vorgang. Dementsprechend tritt eine stärkere
Ermüdbarkeit ein. Die Kranken erlahmen und verzichten schließlich auf die
Ausführung vieler Bewegungen.
All die geschilderten verschiedenen Umstände kommen zusammen, um den
Kranken motorisch besonders hilflos zu machen und als eine gegenüber ge¬
sunden Zeiten durchaus veränderte, motorisch eingeengte Persönlichkeit er¬
scheinen zu lassen. Mit weiterem Fortschreiten der Erkrankung wird man
die geschilderten Vorgänge nicht mehr im einzelnen beobachten können, aber
auch die Restsymptome lassen die Veränderung der motorischen Persönlich¬
keit erkennen und sie aus der psychomotorischen Einengung verstehen.
Diese läßt sich durch folgendes kurz charakterisieren:
Die Kranken sind darauf angewiesen, ausgefallene normaliter automatisch
ablaufende Bewegungen durch Willkürbewegungen zu ersetzen. Sie sind so
genötigt, jeder an sich belanglosen Hilfebewegung ihr besonderes Augenmerk
zuzuwenden. Dadurch, daß der Ausführung von Haupt- und Nebenbewegungen
dieselbe Beachtung geschenkt werden muß, verliert die Hauptbewegung an
Bedeutung, es tritt eine gewisse Nivellierung der Bewegungen ein.
Um den veränderten motorischen Verhältnissen Rechnung zu tragen, wird
die Aufmerksamkeit der Kranken in erhöhtem Maße von den Körperbewegungen
bzw. der Körperhaltung in Anspruch genommen. Bei dem beschränkten Um¬
fange der Aufmerksamkeit und bei der Unmöglichkeit, eine auch nur kleine
Anzahl von Innervationen gleichzeitig willkürlich zu leisten, wird die
Ausführung namentlich der zusammengesetzten Handlungen sehr erschwert.
Die Handlungen werden in ihre einzelnen Akte auseinandergezogen, denn jede
Einzelheit muß ja für sich als selbständige Handlung innerviert werden, be¬
darf eines besonderen Anstoßes. Die Folge ist eine hochgradige Verlangsamung,
170
Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
Umständlichkeit und schließlich eine durch die motorische Einengung be¬
dingte Hilflosigkeit.
Eine weitere Folge ist aber auch eine Rückwirkung auf das psychische
Leben. Es erscheint verständlich, daß die so gefesselte Aufmerksamkeit äußeren
Eindrücken nur in beschränktem Maße zugewandt werden kann; es muß daher
die Verwertung der Einwirkungen von außen leiden, zentripetale Anregungen
kommen nur in geringem Umfange zur Geltung.
Dadurch wird eine gewisse Abtrennung der Kranken von ihrer Umgebung
hervorgerufen; sie sind gezwungen, ein abgeschlossenes Dasein zu führen, ihr
Konnex mit der Umwelt leidet. Die meist äußeren Eindrücke gleiten ge¬
wissermaßen an der Oberfläche ab, weil nur die verarbeitet werden können,
denen der Kranke ausdrücklich seine unabgelenkte Aufmerksamkeit zuwendet.
Der Eindruck des Abgekapseltseins wird noch verstärkt dadurch, daß auch
das seelische Erleben der Kranken motorisch nicht zum Ausdruck kommt,
weder in Körpergesten noch in der Mimik.
Schließlich erscheint es verständlich, daß auch Denkvorgänge durch die
geschilderten Störungen beeinflußt werden können, zunächst natürlich nur für
die Zeit, in der die Kranken motorisch irgendwie beansprucht und so an allen
anderen Betätigungen gehindert sind. Hierdurch muß es zu einer Verringerung
der Konzentration kommen, ferner könnten die Denkleistungen durch Einstell¬
störungen im Sinne Kleists ungünstig beeinflußt sein.
Es erscheint diskutabel, ob nicht das, was wir als Akinese bei unseren
Kranken bezeichnen, mit der hervorgehobenen Fesselung der Aufmerksamkeit
zum Teil wenigstens in einem psychologischen Zusammenhang steht.
Die hier geschilderte psychische Umstellung ist ja offenbar die Folge einer
ursprünglich motorischen Störung, sie kann ihrerseits aber auch wieder auf
das Motorium eine Rückwirkung ausüben, die dann eine Vertiefung und
Verstärkung des akinetischen Zustandes herbeiführt.
Ob das Wesen der Akinese durch motorische Symptome restlos erklärt
werden kann, ist noch nicht sichergestellt. Diese motorischen und psychischen
Komponenten lassen sich hier nur schwer voneinander trennen. Auch bei den
akineseähnlichen Zuständen der Parkinsonschen Syndrome spielt offenbar eine
Wechselwirkung zwischen Psyche und Motorium, besonders die hier dargestellte
motorische Einengung und die durch sie bewirkte psychische Umstellung eine
wesentliche Rolle.
5. Bedeutung des vegetativen Nervensystems.
Erscheinungen, die auf Störungen im Gebiet des vegetativen Nervensystems
zurückzuführen sind, finden wir bei der Paralysis agitans recht oft. Als solche
sind aufzufassen der Speichelfluß, eine starke Schweißsekretion, die Hitzeemp¬
findung und trophische Störungen, wie wir sie in Gestalt der Glanzhaut be¬
obachten. Der Speichelfluß wird auch bei Fällen Wilsonscher Krankheit und
Pseudosklerose beschrieben. Ferner sind namentlich sekretorische Störungen
der Haut (das sogenannte Salbengesicht) auch bei den Parkinsonschen Sym-
ptomenkomplexen nach Enzephalitis beobachtet worden.
Eine Ursache für die in der Tat recht häufig vorkommende Glanzhaut bei
Bedeutung des vegetativen Nervensystems.
171
der Paralysis agitans ist noch nicht sicher bekannt. Offenbar handelt es sich
11m eine trophische Störung, deren Zusammenhang mit dem vegetativen System
möglich, aber keineswegs erwiesen erscheint.
Eine gewisse entfernte Ähnlichkeit mit der Hautveränderung bei der Sklero¬
dermie liegt insofern vor, als die Haut trocken und gespannt aussieht. Die
am meisten befallenen Körperteile sind Finger und Hände. Gelegentlich macht
sich die Erscheinung am Nasenrücken bemerkbar.
Eine Hypersekretion bestimmter Hautdrüsen im Gesicht ist sehr oft zu
beobachten. Es handelt sich dabei um ein feuchtglänzendes Sekret, das den
Eindruck hervorruft, als sei das Gesicht mit Salbe eingerieben (T. Cohn).
Was für eine Art von Sekret hier abgesondert wird, und über die näheren
Bedingungen der Absonderungen wissen wir nichts Bestimmtes. Offenbar
handelt es sich um ein Sekret der Haut-Talgdrüsen. Im Abstrich kann man
Fettropfen sehen. Es liegt nahe, das Symptom mit der Parasympathikus¬
funktion in Zusammenhang zu bringen, und zwar wohl mit einer Hyperfunktion
desselben. F. Stern legt Wert darauf, zu betonen, daß diese Hyperfunktion
nicht ein Reizsympton bilde, sondern durch den Ausfall hemmender Einflüsse
auf das parasympathische System entstanden sei.
Sehr auffallend ist es, daß bei katatonen Zuständen das gleiche Symptom
(Talgschwitzen) beobachtet wird.
Daß der starke Speichelfluß bei Paralysis agitans, Wilsonscher Krankheit usw.
auf einem Reizzustand im Gebiet der parasympathischen Nerven oder Zentren
beruht, ist meiner Ansicht nach nicht ganz sicher. Die Möglichkeit, daß
Hemmungen des parasympathischen Systems fortgefallen sind, liegt natürlich
auch hier vor. Abgesehen davon wäre aber auch daran zu denken, ob nicht
äußere Reize eine wichtige Rolle bei dem Hervorbringen des Speichels spielen,
namentlich könnte das dauernde Offenstehen des Mundes eine erhöhte Speichel¬
sekretion notwendig machen, oder das Zittern der Zunge im Munde wäre im¬
stande, mechanisch die Speichelsekretion zu beeinflussen.
Andererseits braucht der Speichelfluß aber nicht durch eine erhöhte Se¬
kretion bedingt zu sein, sondern kann seine Ursache in einem mangelhaften
Abtransport des produzierten Speichels haben. Wir haben gesehen, daß bei
den hier besprochenen Erkrankungen die automatisch sich vollziehenden Be¬
wegungen zum Teil ausfallen, und daß beim Schlucken Störungen im Sinne
einer Verlangsamung und eines Seltenerwerdens des Schlingaktes Vorkommen.
Der in normaler Menge abgesonderte Speichel kann deshalb nicht genügend ab¬
befördert werden und muß daher aus dem offenstehenden Munde ausfließen. Man
wird diese beiden Bedingungen des Speichelflusses nicht immer unterscheiden
können, weil eine Norm weder für die Sekretion noch für das normalerweise durch
Verschlucken wieder abbeförderte Qantum bekannt ist. Wahrscheinlich wird
man mit beiden Faktoren zu rechnen haben. Bei manchen Fällen von post¬
enzephalitischem Parkinsonschem Syndrom mit sehr reichlichem Speichelfluß
wird man unbedingt eine Hypersekretion annehmen müssen, die dann wohl
am einfachsten als ein Reizzustand im parasympathischen System anzusehen ist.
Eine ähnliche Genese haben wir wohl für die diffusen Schweißausbrüchen
dieser Kranken anzunehmen, wenn nicht eine Störung der Wärmeregulation
dabei auch eine gewisse Rolle spielt. Letztere macht sich klinisch bemerkbar
172 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wiisonsche Krankheitsgruppe.
in einer gesteigerten Hitzeempfindung. Einzelnen dieser Kranken ist auch
unter dünner Decke im Winter nie kalt, warme Stuben und starkes Zudecken
halten sie nicht aus. Das Hitzegefühl kann bei ihnen oft quälend werden;
daß es mit Erweiterungen der Hautgefäße einhergeht, wie Curschmann an¬
gibt, konnte ich nicht finden. Eine solche Erweiterung der Hautgefäße würde
ja auch nur zu vorübergehenden Hitze Wallungen führen und schließlich eben
infolge der Erweiterung der Hautgefäße und der dadurch erleichterten Ab¬
kühlung des Blutes einem Frostgefühl Platz machen, während die Kranken
über langdauernde Hitzezustände klagen. Offenbar handelt es sich dabei
um zentrale Störungen der Wärmeregulation, und die beobachteten Ver¬
änderungen an der Blutfüllung der Hautgefäße sind nur sekundärer Natur.
Ob und inwiefern die Schweißausbrüche der Paralysis agitans mit den sub¬
jektiven Hitzeempfindungen Zusammenhängen, ist schwer zu sagen, allzu häufig
sind die Schweißausbrüche nach meiner Erfahrung bei der Paralysis agitans
übrigens nicht.
Alle diese in ihrem Zusammenhang mit dem vegetativen Nervensystem
noch keineswegs sicher fundierten Erscheinungen nehmen in der Symptomato¬
logie dieser Erkrankungen nur einen recht geringen Raum ein, sie können
meiner Ansicht nach deshalb keine besondere Bedeutung für die Lokalisation
der Krankheitsprozesse gewinnen, wie man in letzter Zeit vielfach anzunehmen
geneigt ist. Ein gewisser Zusammenhang scheint ja allerdings insofern gegeben
zu sein, als in der Nähe der erkrankten Gebiete Kerngruppen liegen, die als
Zentren für vegetative Funktionen in Frage kommen. E. Frank schreibt dem
Linsenkern neben seiner motorischen Funktion auch hemmende Einflüsse auf
einzelne vegetative Zentren im Hypothalamus zu. Seine Zerstörung oder eine
Degeneration der zum Hypothalamus führenden Linsenkernschlinge lassen nach
dieser Auffassung die Hemmungen ausfallen, und es entsteht ein Erregungs¬
zustand im parasympathischen Gebiet, welche die Hypersekretion des Speichels
und Schweißes veranlaßt.
Mit dieser Annahme läßt sich jedoch das Fehlen aller sonstigen parasym¬
pathischen Reizsymptome nicht gut vereinigen, man müßte doch namentlich
auf dem Gebiet der Pupülenfunktion bzw. der Herzarbeit usw. ebenfalls Stö¬
rungen nachweisen können, wenn man eine Erkrankung der parasympathischen
Zentren als vorliegend annehmen will. Daß Beziehungen überhaupt bestehen,
soll nicht geleugnet werden.
F. H. Lewi bringt die von ihm bei Paralysis agitans gefundenen Degene¬
rationen im dorsalen Vaguskern, einem Kern im Hypothalamus, im Corpus
Luys und in der Substantia nigra mit solchen Störungen in Verbindung.
Frank faßt auch das Zustandekommen des Muskeltonus als eine Funktion
des Parasympathikus auf und seine Steigerung als Folge eines Ausfalles von
Hemmungen, die der Linsenkern normalerweise auf das im Hypothalamus
gelegene parasympathische Zentrum ausüben müßte. '
Im einzelnen stellen sich Franks Ansichten über den Muskeltonus und
seine Störungen etwa folgendermaßen dar:
Jeder Muskel enthält neben den zu raschen Zuckungen (Tetanus) befähigten
Fibrillen noch eine vom Sympathikus innervierte Sarkoplasmasubstanz, deren
Funktion eine langsame aber anhaltende Verkürzung hervorruft. Der Zu-
Bedeutung des vegetativen Nervensystems.
173
sammenhang dieser beiden Muskelteile ist so zu denken, daß sich im quer¬
gestreiften Skeletmuskel ein glatter verbirgt. Ihr physiologischer Unterschied
besteht darin, daß der quergestreifte Muskel Glykogen verbraucht, Sauerstoff
aufnimmt und Kohlensäure abgibt, und daß in ihm ein diskontinuierlicher
Aktionsstrom verläuft. Alle diese Besonderheiten fehlen der plasmatischen
Substanz. Bei der Funktion des Sarkoplasma vermehrt sich dagegen das
Muskelkreatin, auf dessen Produktion eine rein fibrilläre Muskelaktion keinen
Einfluß ausübt.
Die tonische Funktion der Muskeln denkt Frank sich an das Sarkoplasma
geknüpft. Dieses erfährt unter dem Einfluß der parasympathischen Nerven
{nicht des Sympathikus, der offenbar mehr als trophisches Organ für das Sarko¬
plasma aufgefaßt wird) eine physikalische Zustandsänderung, welche ihm die
Eigenschaft einer plastischen Masse verleiht. Ein Übermaß dieser Reize, her¬
vorgerufen durch den Wegfall einer Hemmung seitens des Linsenkerns, läßt
es zur eigentlichen Starre kommen.
Die parasympathischen Innervationen werden nach Frank auf dem Wege
der hinteren Wurzeln zum Muskel geleitet, eine Anschauung, die er durch
einen bis jetzt noch nicht nachgeprüften Versuch an einem Par^lysis agitans-
Kranken mit Lumbalanästhesie zu stützen versucht.
Unklar erscheint mir bei diesen Hypothesen das Verhältnis zwischen sym¬
pathischer und parasympathischer Innervation, die beide dem Sarkoplasma
zugeführt werden. Eine rein antagonistische Wirkung der beiden Innervationen
lehnt Frank für diese Fälle ab.
Was die pharmakologischen Versuche, die die Theorie stützen sollen, an¬
langt, so weist Frank selbst darauf hin, daß die beruhigende Wirkung des
den Parasympathikus lähmenden Hyoszins auch auf zentrale Wirkungen des
Präparats zurückgeführt werden könnte, auch ohne daß das Bewußtsein in
dem Einzelfalle getrübt ist. Das Physostigmin-Injektionen bei Paralysis agitans
den Tremor oder die Rigidität steigern, konnte ich bei mehreren darauf unter¬
suchten Fällen nicht finden.
So verlockend manche Punkte der Frankschen Theorie im ersten Augen¬
blick zu sein scheinen, so ist ihre Anwendbarkeit für die hier untersuchten
Krankheitsgruppen noch keineswegs erwiesen, zumal, da sichere parasym¬
pathische Störungen doch nur eine relativ untergeordnete Rolle im Symptomen-
bilde spielen.
Sehr bedauerlich ist es, daß die mit diesen Forschungen im Zusammenhang
stehenden Untersuchungen über den Kreatinverbrauch, sowie über das Ver¬
halten des Aktionsstromes bei der tonischen Innervation noch nicht zu klaren
Resultaten geführt haben. Selbst wenn die Kreatininausscheidungen im Urin
uns ein sicheres Bild liefern von dem Kreatinstoffwechsel des Muskels, wird
man deshalb keine exakten Resultate erwarten können, weil eine Kontraktion
des Sarkoplasmas offenbar nie isoliert auftritt, sondern auch den Fibrillen¬
apparat mit in Bewegung setzt. Aus dem gleichen Grunde können die Unter¬
suchungen über das Verhalten des Aktionstromes uns offenbar ebenfalls nicht
sicher darüber orientieren, ob in dem einen Fall eine reine Fibrillenkontraktion
mit Aktionstrom oder eine aktionstromfreie tonische Kontraktion vorliegt.
174 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
6. Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen der Parkinson-,
Westphal-Strümpell-, Wilsonschen Gruppe.
I.
Bis jetzt wurde nur von den als Krankheiten sui generis aufzufassenden
Leiden gesprochen, nämlich der progressiven Linsenkerndegeneration, der Pseudo¬
sklerose und der Paralysis agitans. Als solche wurde auch der Torsionsspasmus
erwähnt, wenn auch dessen nosologische Umgrenzung noch keineswegs sicher
steht. Dabei mußte allerdings zuweilen, um einzelne Symptome im Zusammen¬
hang zu besprechen, auf andere Beobachtungen zurückgegriffen werden. Die
hier zusammengefaßten Symptomenkomplexe kommen auch mehr oder weniger
vollständig oder durch weitere Symptome ergänzt, als Erscheinungsformen
anderer Erkrankungen vor. Am häufigsten wurde dieser Symptomenkomplex
in letzter Zeit beobachtet als Symptomenbild einer Enzephalitis und gerade
durch deren Auftreten sind alle diese Erscheinungen sehr bekannt geworden,
derartig, daß für viele der amyostatische Symptomenkomplex fast identisch mit
Enzephalitisfällen geworden ist.
Außer der Enzephalitis sind Gefäßerkrankungen des Gehirns unter Um¬
ständen in der Lage, derartige Symptomenkomplexe auszulösen, z. B. Apoplexie,
Lues cerebri usw. Vor allem verdient hier das Krankheitsbild der Arteriosklerose
eine Erwähnung. Auch auf die Pseudobulbärparalyse wird kurz einzugehen sein,
weil auch bei ihr Erscheinungen beobachtet werden, die gewisse Beziehungen zu
dem hier beschriebenen Symptomenbild haben. Ebenso wie eine Blutung im Ge¬
hirn, kann auch ein Tumor von entsprechendem Sitz amyostatische Symptome
hervorrufen. Bei Idioten, Epileptikern treten bisweilen Erscheinungen auf, die
ebenfalls hierher gehören, hier sind sie jedoch mehr zufällige Symptome, die
das Bild sehr wenig beeinflussen oder es doch nur zeitweise beherrschen.
Schon bei der Paralysis agitans spielt die Leber, deren Bedeutung beim
Zustandekommen der Wilsonschen Krankheit und der Pseudosklerose oben
hervorgehoben wurde, keine Rolle. Durch die Wilsonschen Befunde aufmerk¬
sam geworden, hat man natürlich bei allen, unter ähnlichen Symptomen ein¬
hergehenden Fällen besonders auf die Leber geachtet, und es sind auch bei
den nur symptomatisch und nicht nosologisch zu dieser Gruppe gehörenden
Fälle, einige mit Leber Veränderungen beschrieben worden. Hierher gehören
einige Erkrankungen des höheren Lebensalters, die von Woerkom, Henrici,
Economo und Schilder beschrieben sind. Bei den von Woerkom publi¬
zierten Fällen handelt es sich zunächst um einen 50jährigen Mann, bei dem
sich außer wechselnden senilen Erscheinungen, Steifheit und Langsamkeit der
Bewegungen, Muskelspannungen finden, ohne daß Pyramidenzeichen nach¬
gewiesen werden konnten.
Ferner beschreibt er einen 49jährigen Trinker mit »Verfolgungsdelirien«
und Beziehungswahn. Bei beiden finden sich post mortem Leberveränderungen
kombiniert mit Atrophien von Hoden und Schilddrüsen. Verfasser führt die
Entstehung der Gehirn Veränderungen, die aber histologisch weder mit der
Pseudosklerose, noch mit der Wilsonschen Krankheit Zusammenhängen, auf die
Erkrankung der inneren Organe zurück. Die Lebererkrankung gehört nach dem
Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen dieser Gruppe.
175
^;urz im Referat wiedergegebenen Befunde nicht in die Gruppe der Wilson-
schen Leberveränderungen, sondern es liegt offenbar eine gewöhnliche Zirrhose
vor. Dasselbe gilt von dem Fall von Henrici, der eine 53 jährige Alkoholistin
mit Delirien- und Tremorerscheinungen zu den Wilsonschen Fällen, meiner
Ansicht nach sehr zu Unrecht, in Beziehungen setzt. Im Gehirn finden sich
hier Blutungen in beiden Putamina. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen
Leber- und Gehimerkrankungen, wie ihn Henrici annimmt, liegt meines Er¬
achtens nicht vor, da es sich ja nicht um toxische Erweichungen, sondern um
zirkumskripte Blutungen handelt, wie sie auch ebensogut ohne Lebererkran¬
kungen Vorkommen. Daß speziell der Sitz dieser Blutungen nichts ganz außer¬
gewöhnliches ist, zeigt ein Fall von Hanser, der bei einem aus dem Fenster
gestürzten Knaben eine isolierte Blutung in beiden Linsenkemen autoptisch
feststellen konnte.
Die Leberveränderungen in dem Falle von Economo und Schilder sind
ebenfalls anderer Art, als sie bei Wilson und bei der Pseudosklerose gefunden
werden. Degenerationen der Leberzellen scheinen vollkommen zu fehlen und
dementsprechend finden sich auch keine Regenerationserscheinungen. Die Ver¬
fasser bezeichnen die Leberveränderungen als interstitielle Hepatitis. Das
interlobäre Bindegewebe ist leicht vermehrt und mit Rundzellen durchsetzt.
Die Verfasser lehnen selbst eine nähere Beziehung zur Pseudosklerose ab, be¬
tonen aber die Ähnlichkeit mit den Fällen von Woerkom, Stauffenberg
und Adler; sie weisen auf eine allgemeine Ähnlichkeit mit dem Krankheits¬
bild der Paralysis agitans hin. Ein engerer Zusammenhang könnte allenfalls
mit dem ersten Kranken von Woerkom bestehen; ich halte aber die be¬
schriebenen Fälle nicht für Glieder einer besonderen Krankheitsgruppe aus
dem hier beschriebenen Gebiet, insbesondere glaube ich auch, daß sich kein
pathogenetischer Zusammenhang mit der hier gefundenen Leberveränderung
ergibt 1 ). Dagegen möchte ich annehmen, daß die beiden zuletzt erwähnten
Fälle von Economo und Schilder, sowie der erste Fall von Woerkom,
klinisch zu der Gruppe der arteriosklerotischen Muskelstarre gehören. Nament¬
lich läßt die klinische Beschreibung des Economo und Schilderschen Falles
mit der Erwähnung der starken Spannungen an den Beinen, sehr an diese
Diagnose denken. Eine mäßige Arteriosklerose der Gehirngefäße ist hier auch
gefunden worden.
Diese arteriosklerotische Muskelstarre scheint von den hier zu erwähnenden
Erkrankungen noch am meisten die Bezeichnung einer Krankheitseinheit zu
verdienen.
Foerster, von dem die Aufstellung dieses Krankheitsbegriffes stammt, hat
in seinen Fällen eine diffuse Arteriosklerose des Zentralnervensystems festgestellt.
Er glaubt, daß der Symptomenkomplex an die Lokalisation der Krankheits¬
erscheinungen in einer bestimmten Stelle gebunden ist. Zwei Fälle von Er¬
weichungen weisen darauf hin, daß vielleicht eine Erkrankung des Brücken¬
armes das Symptomenbild hervorruft 2 ). Economo und Schilder finden in
x ) Auch ist meiner Ansicht nach der Stauffenbergsche Fall keineswegs in dieser
Gruppe unterzubringen.
2 ) In seiner nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen Veröffentlichung betont
Foerster, daß Zirkulationsstörungen auf dem Boden der Himarteriosklerose zur Ent-
176 Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
ihrem offenbar hierher gehörenden Falle Veränderungen im Kleinhirn, im
basalen Teil des Striatum, in der Substantia innomminata.
Sehr ausgebreitete Erkrankungen im Gebiet des extrapyramidalen moto¬
rischen Systems, werden von Stert z in einem entsprechenden Falle fest-
gestellt.
Ich hatte Gelegenheit, einen Fall zu beobachten, der etwa vier bis fünf
Monate nach den ersten Erscheinungen tödlich endete und dessen Entwicklung
in vieler Hinsicht für das Krankheitsbüd charakteristisch erscheint:
Fall 34. Oswald Böt. (Gehlsheim.) 68 Jahre alt.
Vorgeschichte: Mutter Alkoholistin. Selbst normale Entwicklung, gut gelernt, von
Beruf Bäcker. Immer unruhiger Geist, viele Stellungen — lange auf Wanderschaft —
heiteres Temperament — keine sexuelle Infektion — früher leichter Potus. Im April
1920 fand er Aufnahme in einem kleinen Landkrankenhause wegen Gliederschmerzen.
Damals klagte er auch über Steifheit der Muskeln. Kein Fieber — nach einigen Tagen
entwickelte sich nachts motorische Unruhe — er wurde subdelirös -— anscheinend aller¬
hand Verkennungen — war im Krankenhaus nicht zu halten und wurde deshalb nach
der Psychiatrischen Klinik verlegt;
Befund bei der Aufnahme: Mager — vernachlässigtes Äußere — Herz und Lunge
o. B. Blutdruck: 105 mm Quecksilber — leichte Ödeme an den Unterschenkeln — Urin
frei von krankhaften Bestandteilen.
Nervensystem: Gesichtsausdruck wenig belebt — verdrossene Miene — keine aus¬
gesprochene maskenartige Starre — PupUlen eng — ein wenig verzogen — Reaktion auf
Licht und Konvergenz wenig ausgiebig — Patellarsehnenreflexe und Achillessehnenreflexe
schwach — Bauchdeckenreflexe 0 — Gang mit kleinen Schritten nach vom geneigt —
bei der Motilitätsprüfung kein Ausfall, dagegen ausgesprochene Neigung zu Muskelspan¬
nungen bei aktiven und passiven Bewegungen — rechts deutlicher als links. An beiden
Händen leichtes schüttelndes Zittern. Keine Lähmungen.
Psychisch: Zeitlich und örtlich unorientiert—verkennt seine Umgebung — Merk¬
fähigkeit auf optischem und akustischem Gebiet hochgradig herabgesetzt — zuweilen auf
Anregungen Konfabulationen — Auffassungsvermögen stark vermindert — Aufmerksamkeit
sehr gering — keine aphasischen oder apraktischen Störungen — zuweilen Perseverationen
— oft gereizt — läßt sich nur unter Widerstreben untersuchen, zuweilen ängstlich, glaubt,
man wolle ihn töten. Abends delirante Unruhe — glaubt in seinem Beruf zu arbeiten
— am Tage schläft er viel.
Im weiteren Verlauf wird er rasch stumpfer, kümmert sich gar nicht um seine Um¬
gebung — ißt schlecht — allmählich entwickeln sich starke Spannungen an der Bein¬
muskulatur, namentlich die Adduktoren sind hochgradig kontrahiert — an den Armen
sind am meisten befallen die Beuger am Oberarm, sowie der Pectoralis, auch der Stemo-
kleido-mastoideus ist stark gespannt, so daß der Kopf lange Zeit vom Kissen abgehoben
gehalten wird. Die Hände sind zu Fäusten geballt und lassen Bich nur schwer öffnen.
Lumbalpunktion ergibt nichts besonderes.
Die Muskelspannungen haben Anfang Juli fast die gesamte Körpermuskulatur er¬
griffen, so daß der Kranke kaum noch zu bewegen ist — man kann den Körper an dem
Kopf, wie einen steifen Klotz in die Höhe heben, am stärksten sind die Muskelspannungen
• an der Nacken- und Halsmuskulatur, an den langen Rückenmuskeln, am Pectoralis —
am Biceps brachii, sowie an den Oberschenkelmuskeln. Die Füße sind plantar flektiert
— die gebeugten Arme eng an den Rumpf gepreßt — die abgemagerten Muskeln treten
plastisch in ihrem Spannungszustand hervor.
stehung von Kriblürcn und Lakunen, ja auch zu Erweichungsherden im Globus pallidus
führen und so die arteriosklerotische Muskelstarre veranlassen können. Die Grenzen
gegenüber den extrapyramidalen Folgeerscheinungen mehr zirkumskripter Gehimgefäß-
schädigungen, wie sie in II. erwähnt werden, müßten unter diesen Umständen als sehr
unscharfe angenommen werden.
Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen dieser Gruppe.
177
Die Achillessehnenreflexe fehlen jetzt, kein Babinski — die Pupillen reagieren nur
noch sehr träge auf Lichteinfall — unter zunehmendem körperlichen Verfall erfolgt der
Tod ungefähr vier Monate nach Beginn der Erkrankung.
Sektion: Piaverdickung vom Stirnhim bis zu den Zentralwindungen reichend, er¬
hebliche Atrophie des Stirn- und Scheitellappen, die Gefäße an der Basis zeigen geriiige
Arteriosklerose, die mikroskopische Untersuchung steht noch aus.
Zusammenfassung:
Beginn mit Gliederschmerzen und Muskelsteife — auf psychischem Gebiet
von Anfang an Zeichen einer senilen Verblödung mit delirösen Zuständen —
allmählich zunehmenden Muskelspannungen, die zur Versteifung des ganzen
Körpers führen. Nur geringes Zittern — keine Pyramidensymptome. Im
Laufe der Erkrankung schwinden die Achillessehnenreflexe — Pupillenreaktion
wenig ausgiebig und träge — unter zunehmender Entkräftung und Verblödung
erfolgt der Tod.
Trotz der nicht sehr hochgradigen Arteriosklerose glaube ich den Fall, der
symptomatologisch ganz mit den Fo erster sehen Originalfällen übereinstimmt,
zur arteriosklerotischen Muskelstarre rechnen zu sollen. Bemerkenswert er¬
scheint mir, daß in diesem Falle als einziger makroskopischer Befund eine
Atrophie des Stirnhirns und Scheitelhirns gefunden worden ist. Dies würde
übereinstimmen mit der Foersterschen Anschauung, daß die motorischen
Störungen der arteriosklerotischen Muskelstarre zurückzuführen sind auf Er¬
krankungen an irgendeiner Stelle der Stirnhirnbrücken-Kleinhirnbahn. Mög¬
licherweise decken die mikroskopischen Untersuchungen noch feinere Verände¬
rungen in den zentralen Ganglien, namentlich im Pallidum, auf. In seiner
neuesten Arbeit hat Foerster auch auf die Bedeutung der zentralen Ganglien,
besonders die Erkrankung des Pallidums für die arteriosklerotische Muskel-
starre hingewiesen und die Ähnlichkeit betont, die zwischen Pallidumsyndrom
und den Folgen einer Schädigung der fronto - ponto - zerebellaren Bahn be¬
stehen kann.
Wenn ich die in der Literatur vorhandenen Fälle von arteriosklerotischer
Muskelstarre zusammen mit eigenen Beobachtungen überblicke, so ergibt sich
etwa folgendes Krankheitsbild: Charakteristisch ist vor allem eine sehr hoch¬
gradige Muskelrigidität, die allmählich zunimmt und unter Umständen recht
bald sekundäre Schrumpfungsvorgänge zur Folge haben kann. Der ganze
Rumpf, der Nacken und die Glieder werden steif, die Muskeln fühlen sich oft
bretthart an, der Bauch ist gespannt. Die Nackenstarre und der oft einge-
zogene Leib können unter Umständen das Bild einer Meningitis Vortäuschen.
Die allgemeine Versteifung der Muskeln führt zuweüen zu den Erscheinungen
einer Katalepsie, Gehen und Stehen ist meist unmöglich, der Kranke fällt
in seiner Steifheit wie ein Klotz um, auch das Umdrehen im Bette macht schon
große Schwierigkeiten. Unter Umständen kann man den Kranken zur Unter¬
suchung gar nicht aufrichten, weil er den Körper im Hüftgelenk nicht biegen
kann. Die Wirbelsäule ist oft kyphotisch verkrümmt.
Die Art der Muskelsteifheit entspricht der oben beschriebenen Rigidität,
nur pflegt sie hier noch höhere Grade, nämlich eine vollkommene Versteifung,
zu erreichen, so daß die Kranken schließlich vollkommen hilflos und unbe¬
weglich sind.
Bost roe m , Symptomenkomplex.
12
178 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
Bevorzugte Handhaltungen, wie die Pfötchenstellung der Paralysis agitans,
kommen hier weniger oft vor, vielmehr scheinen die rasch eintretenden Kontrak¬
turen mehr dem Zufall ihre endgültige Stellung zu verdanken. Dementspre¬
chend beobachtet man meist an den Händen Beugekontraktur — an den
Füßen Plantarflexion. Fast immer sind die Oberarme an den Brustkasten
gepreßt, und auch an den Oberschenkeln bestehen Adduktionsspannungen. Die
mechanische Muskelerregbarkeit ist zuweilen erhöht.
Bei der so im Vordergrund stehenden Muskelstarre ist es unmöglich, nach¬
zuweisen, ob daneben oder unabhängig davon noch eine ausgesprochene Be¬
wegungsverarmung und primäre Bewegungsausfälle bestehen. Eine Bewegungs¬
verlangsamung ist durch den Zustand der Muskeln ohne weiteres erklärlich,
ebenso das Symptom der Adiadoehokinese oder besser einer Pseudoadiadocho-
kinese.
Der Gesichtsausdruck ist meist unbelebt. Foerster beschreibt ihn direkt
als maskenartig. Zittern wird nur in einigen Fällen beobachtet. Die Willkür¬
bewegungen sind durch den Zustand sehr behindert, außerordentlich langsam
und schwerfällig. Feinere Bewegungen, z. B. eine Sicherheitsnadel zu öffnen,
einen Rock zuzuknöpfen, gelingen in späteren Stadien überhaupt nicht mehr.
Foerster hebt auch das für die Paralysis agitans charakteristische Mißverhältnis
zwischen der kraftlosen Ausführung aktiver Bewegungen und der guten Inner¬
vation beim Beibehalten einer einmal angenommenen Stellung hervor.
Da auch ein der Paralysis agitans ähnliches Zittern bei einigen Fällen be¬
obachtet wird, so besteht in der Tat eine nicht unbeträchtliche Ähnlichkeit
zwischen beiden Krankheitsbildem; und doch sind auch klinisch immer einige
Unterschiede vorhanden, so daß selten Verwechslungen möglich sein werden.
Zu unterscheiden sind die beiden Krankheitsprozesse an der Art des Rigors,
der bei der Paralysis agitans selten oder nie zu solch hochgradigen Verstei¬
fungen des ganzen Körpers führt. Auch fühlen sich hier die Muskeln nicht
so hart an. Der Gesichtsausdruck ist bei der arteriosklerotischen Muskelstarre
nicht immer so maskenartig starr wie bei der Paralysis agitans. Auch die
Handhaltung, die für die letztere Erkrankung charakteristisch ist, pflegt bei der
arteriosklerotischen Muskelstarre nicht so ausgesprochen zu sein. Sodann scheint
die Gliederstarre bei den Arteriosklerotikem viel früher und in weit höherem
Maße zu Motilitätestörungon zu führen, so daß das Gehen sehr bald unmög¬
lich wird.
Während bei der Paralysis agitans neben der Hypertonie auch der Ausfall
von Bewegungen und Störungen der Innervationsbereitschaft die Rolle eines
primären Symptoms spielt, überwiegt bei der arteriosklerotischen Muskelstarre
die Hypertonie vollkommen und überlagert alle anderen Symptome.
Der klinische Hauptunterschied gegenüber der Paralysis agitans wird ge¬
geben durch eine Reihe von akzessorischen, neurologischen Symptomen, sowie
durch das psychische Verhalten der Kranken. Unter den neurologischen Sym¬
ptomen sind, wie gleich betont werden soll, keine eigentlich spastischen
Zeichen wie Babinski vorhanden. Fast regelmäßig fehlen jedoch die Achilles¬
sehnenreflexe, zuweilen auch die Patellarreflexe, die Pupillen sind meist eng,
die Reaktion auf Licht oft träge und wenig ausgiebig. Diese spinalen Sym¬
ptome sprechen dafür, daß sich der krankmachende Prozeß nicht auf das
Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen dieser Gruppe.
179
Gehirn beschränkt, sondern daß offenbar auch das Rückenmark unter den
allgemeinen arteriosklerotischen Veränderungen gelitten hat oder sekundär ver¬
ändert ist.
Die psychischen Veränderungen entsprechen im allgemeinen denen bei der
senilen Demenz, sie treten oft schon vor den neurologischen Erscheinungen auf.
Im Vordergrund stehen Merkfähigkeitsstörungen, unter Umständen verbunden
mit Konfabulationen, ferner Desorientierung, allgemeine psychische Schwäche,
oft nächtliche Unruhe und delirantes Verhalten. Auf affektivem Gebiet finden
sich Reizbarkeit, Ängstlichkeit und unter Umständen paranoide Züge.
Gegen Ende kommt es zu allgemeiner psychischer Einengung und hoch¬
gradiger Stumpfheit.
Der Verlauf der Erkrankung ist nach Foerster meist sehr chronisch, der
Fall von Economo und Schilder zog sich über mehrere Jahre hin, der von
mir hier wiedergegebene Fall mit der Dauer von vier bis fünf Monaten dürfte
wohl eine Ausnahme bilden.
II.
Neben dieser mehr allgemeinen Gefäßerkrankung der arteriosklerotischen
Muskelstarre, bei der sehr wahrscheinlich auch Schädigungen im Rückenmark
vorhanden sind, können auch umschriebene Gefäßerkrankungen, wenn sie ihren
Sitz in den zentralen Ganglien haben, extrapyramidale motorische Störungen
hervorrufen.
So gibt es z. B. Apoplexien, die eine extrapyramidale Hemiplegie zur Folge
haben. Auf ihre Bedeutung hat Bötticher vor kurzem in einer zusammen¬
fassenden Arbeit über eigene und fremde Beobachtungen hingewiesen. Er
bezeichnet das resultierende Krankheitsbüd als Hemihypertonia apoplectica, die
anscheinend in den meisten Fällen in recht frühem Alter (etwa 30 Jahre) auf¬
zutreten pflegt. Die Symptome sind dadurch ausgezeichnet, daß eigentliche
Lähmungen nach Abklingen des ersten Schocks nicht bestehen bleiben, die
betroffene Seite weist vielmehr nur eine ausgesprochene Hypertonie auf. Es
handelt sich dabei nicht um spastische Erscheinungen, Pyramidensymptome
fehlen, die mechanische Muskelerregbarkeit ist deutlich erhöht; erhöht scheinen
auch manche Hautreflexe zu sein (Palmarreflexe). Durch aktive Bewegungen
kann der Hypertonus herabgesetzt werden, während passive Bewegungen ihn
verstärken. Offenbar liegt also eine echte Rigidität vor.
Da nur in einem Falle bisher ein Sektionsbefund erhoben werden konnte
(Herde im Thalamus und Linsenkem), läßt sich eine sichere Lokalisation dieser
Symptome noch nicht geben. Bötticher nimmt auf Grund des Krankheits¬
bildes an, daß es sich nur um eine Blutung im Linsenkerngebiet handeln könne.
Er setzt demgemäß das Krankheitsbild in nahe Beziehungen zur Wilson sehen
Krankheit, bezeichnet es geradezu als halbseitiges Analogon dieser Erkrankung.
Gewisse Ähnlichkeiten rein symptomatologischer Art scheinen in der Tat vor¬
handen zu sein, pathogenetisch und pathologisch anatomisch sind jedoch beide
Formen durchaus verschieden und streng voneinander zu trennen, handelt es
sich doch bei dem von Bötticher aufgestellten Krankheitsbild offenbar um
eine Gehirnblutung, die nur zufällig ihren Sitz in den zentralen Ganglien
einnimmt, während bei der Wilson sehen Krankheit Degenerationsprozesse die
Ursache bilden, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit den Linsenkern befallen
12*
180 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsohe Krankheitsgruppe.
und offenbar auf die gleiche toxische Ursache zurückzuführen sind, wie die dazu
gehörende Lebererkrankung. Ich brauche in diesem Zusammenhang nur auf
das Fehlen der Leberveränderungen in den Bötticherschen Fällen hinzu¬
weisen. Ähnliche Beobachtungen wie die eben besprochenen haben übrigens
schon Bechterew und R. Pfeiffer veröffentlicht. Die Bechterewsche Hemi-
tonie ist schon im Zusammenhang mit der Athetose besprochen worden.
UI.
In gleicher Weise wird man bei allen raumbeengenden Prozessen, die ihren
Sitz im Linsenkerngebiet haben, oder einen Druck auf diesen oder seine Bahnen
ausüben, amyostatische Symptome finden können. Leider ist aber, soweit
unsere jetzige Erfahrung reicht, gerade bei Tumoren die Möglichkeit einer
Lokaldiagnose äußerst gering, da Fernwirkungen leicht ähnliche Erscheinungen
hervorrufen können, und da offenbar auch ein Sitz an irgendeiner Stelle der
Stimhirn-Brücken-Kleinhirnbahn übereinstimmende Bilder erzeugen kann, ohne
daß man immer in der Lage ist schon klinisch zu diagnostizieren, wo der
Tumor sitzt. So konnte ich ein der Paralysis agitans sehr ähnliches Sym-
ptomenbild mit hochgradiger Bewegungsarmut, Rigidität und leichtem Zittern
bei einem Kranken finden, der an einem doppelseitigen Stimhirntumor litt.
Uber ähnliche Beobachtungen berichtet Schuster. Es muß für diese Fälle
wohl angenommen werden, daß eine Schädigung der fronto-ponto-zerebellaren
Bahn an ihrem Anfangspunkt diesen Symptomenkomplex erzeugt hat.
Stert z berichtet über einen Fall, bei dem ein an der Basis extradural
gelegener Tumor das Bild einer typischen Paralysis agitans hervorgerufen hat.
Nach diesen und ähnlichen Erfahrungen wird es sehr schwer sein, den Par¬
kinson sehen Symptomenkomplex als Lokalsymptom für die Tumordiagnose
zu verwenden; besonders weil die zentralen Ganglien auch durch Femsymptome
leicht in ihrer Funktion geschädigt werden können. Dazu kommt noch, daß
es immer wieder Fälle gibt, die klinisch anscheinend typische Büder einer
symptomatischen Paralysis agitans darstellen bei völlig negativem Sektions¬
befunde. So sah ich erst vor kurzem eine apoplektiform entstandene Hemi-
paralysis agitans. Der Kranke kam nach etwa sechs Wochen zum Tode. Bei
der Sektion fand sich makroskopisch und mikroskopisch nichts Pathologisches
am Gehirn.
IV.
Die epidemische Enzephalitis hat in ihrer Vielgestaltigkeit u. a. auch Bilder
hervorgebracht, die sich eng an den Symptomenkomplex der Paralysis agitans
und der verwandten Krankheitsgruppe anschließen. In Betracht kommen in
erster Linie das von Nonne zuerst als Enzephalitisfolge beschriebene Bild der
allgemeinen Muskelstarre mit und ohne Zittern, sowie manche Folgeerschei¬
nungen der lethargischen Form der Enzephalitis. Vereinzelte striäre Symptome
finden sich aber auch vorübergehend bei anderen von Enzephalitis hervor¬
gebrachten Symptomenkomplexen. Wesentlich neue Züge in der klinischen
Symptomatologie haben wir dadurch nicht gewonnen. Nur ist durch das in¬
folge der weiten Verbreitung der Enzephalitis jetzt so oft gesehene Material
der sonst relativ seltenen Krankheitsformen die Aufmerksamkeit der Ärzte
mehr auf dieses Symptomenbild gerichtet worden. Leider haben sich jetzt
Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen dieser Gruppe.
181
keine Möglichkeiten ergeben, unser Suchen nach der Lokalisation dieser kli¬
nischen Erscheinungen weiter zu fördern. Wir konnten durch die Sektions¬
fälle von Enzephalitis nicht wesentlich mehr erfahren, als wir schon wußten,
nämlich, daß die zentralen Ganglien für diese Krankheitssymptome verant¬
wortlich zu machen sind. Bei den außerordentlich zahlreichen Mitteilungen
von Enzephalitisfällen in der jetzigen Literatur kann ich wohl darauf ver¬
zichten, Krankengeschichten mitzuteilen und mich auf die notwendigsten
Erörterungen beschränken.
Ich will dabei nur auf die im Rahmen dieser klinischen Untersuchungen
wichtige Frage eingehen: Besteht ein differentialdiagnostischer Unterschied in
der Symptomatologie zwischen Enzephalitisfolge und der eigentlichen Paralysis
agitans bzw. der Wilsonschen Krankheit.
Von vornherein ist auffallend, daß namentlich die etwas länger anhaltenden
Fälle von Enzephalitis mit Starre so typisch das Bild der Paralysis agitans
nachahmen, daß eine Unterscheidung lediglich innerhalb des striären Sym-
ptomes nicht möglich erscheint. Bemerkenswert ist, daß es sich meistens um
das Bild der Paralysis agitans sine agitatione handelt. Zu den wenigen Fällen
mit Tremor fiel es mir auf, daß der Tremor meist etwas grobschlägiger und
unregelmäßiger war als bei der echten Paralysis agitans und sich weniger in
der Gestalt des Ruhetremors bemerkbar machte, als vielmehr an den Bewe¬
gungsablauf geknüpft war.
In vielen, vielleicht sogar in den meisten Fällen finden wir jedoch bei den
Bildern von Parkinsonismus nach Enzephalitis noch andere Symptome, die wir
bei der Paralysis agitans usw. vermissen. Namentlich gilt dies von den ersten
Stadien der Erkrankung. Schon die Vorgeschichte wird uns Anhaltspunkte geben
insofern, als der akute Beginn häufig mit Fieber, Delirien, psychotischen Er¬
scheinungen den Verdacht auf eine akute Erkrankung besonders Enzephalitis
richten muß. Weiter finden wir fast regelmäßig nicht nur in den Anfangs¬
stadien sondern auch später Symptome seitens der Augenmuskeln, namentlich
Ptosis, aber auch Doppelsehen und bisweilen Pupillenanomalien.
Nach Abklingen der akuten Erscheinungen sehen wir aber häufig genau
das Bild einer Paralysis agitans, und nur die etwas länger bestehenden Augen¬
muskelparesen und Schlafstörungen können uns, abgesehen von der Anamnese,
Anhaltspunkte dafür geben, daß wir es mit einer Enzephalitisfolge und nicht mit
einer echten Parkinsonschen Erkrankung zu tun haben. Die außerordentlich frap¬
pante Ähnlichkeit bezieht sich dabei nicht nur auf die motorischen Symptome, die
Bewegungsarmut, Mangel an Antrieb, Rigor, typische Beugehaltung mit Pfötchen¬
stellung der Finger, sondern wir finden auch hier dieselben vasomotorischen
Störungen, das Hitzegefühl, die Hypersekretion der Talgdrüsen, die glänzende
Haut und den Speichelfluß. Ein sehr eigentümliches Bild gewährt diese Enze¬
phalitisfolge bei Kindern, die durch die typische Haltung und den ganzen
Symptomenkomplex ein greisenhaftes Aussehen gewinnen. Dieselbe Überein¬
stimmung ist übrigens zu beobachten in bezug auf die gute therapeutische
Wirkung des Scopolamins.
Abgesehen von diesen Fällen, die nach einem kurzen Initialstadium den
Parkinsonschen Symptomenkomplex bieten und lange Zeit beibehalten, finden
wir auch, daß dieser Symptomenkomplex sich entwickeln kann aus ganz ver-
182 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
schiedenen Formen der Enzephalitis. So kann die lethargische Form, wie auch
die hyperkinetische Form in derartige Endzustände übergehen; unter Umständen
wechseln derartige Symptomenkomplexe miteinander ab. Sehr eigentümlich
ist es, daß man in der Rekonvaleszenz irgendwelcher Formen von Grippe,
ohne daß der eigentliche Parkinsonsche Symptomenkomplex mit Rigor und
Zittern vorhanden gewesen wäre, so häufig lange Zeit hindurch einen Mangel
an Antrieb, eine herabgesetzte Regsamkeit, Fehlen des Interesses, Entschlu߬
unfähigkeit findet, alles Symptome, die wir in stärkerer Ausprägung auch bei
der Paralysis agitans vorfinden.
Diese Enzephalitisfolgen gewinnen eine große Bedeutung hinsichtlich der Frage,
ob es eine juvenile Paralysis agitans gibt. Ich habe in einer früheren Arbeit
bereits darauf hingewiesen, daß unter
diesen Fällen der juvenilen Paralysis
agitans sich sehr wohl Enzephalitisfol¬
gen verstecken können. Wie groß die
symptomatologische Ähnlichkeit sein
kann, zeigt die beifolgende Abb. 12. Da
andererseits auch die echte Wilsonsche
Krankheit meist im jugendlichen Alter
auftritt und zuweilen große Ähnlichkeit
mit der Paralysis agitans auf weisen kann,
so haben wir hier zwei Krankheitsformen,
die zu Verwechslungen mit der juvenilen
Paralysis agitans führen könnten, und
die beide zur Zeit der kritischen Zu¬
sammenstellung über die Frage von
Willige in ihren Einzelheiten noch nicht
bekannt waren. Auf diese Weise ist für
die Frage der juvenilen Paralysis agitans
ein neuer Gesichtspunkt gewonnen, und
ich glaube, man wird für die meisten
Fälle der juvenilen Form entweder eine
Enzephalitis oder eine Wilsonsche Krank¬
heit verantwortlich machen dürfen. Da¬
für spricht auch, daß seit der Aufstellung
der Wilsonschen Krankheit neue Fälle
der juvenilen Paralysis agitans nicht mehr
beschrieben sind.
Was die Differentialdiagnose zwischen »Parkinsonismus« nach Enzephalitis
und einer Erkrankung sui generis aus der Parkinsonschen Gruppe anlangt, so ist in
erster Linie die Anamnese zu berücksichtigen. Auf der einen Seite der akute
Beginn mit Fieberdelirien, event. Schlafsucht oder überhaupt Schlafstörungen,
auf der anderen Seite ganz allmähliches Einsetzen der Symptome, häufig
einseitig. Unter Umständen kann es Jahre dauern, bis die stärkere Be¬
hinderung der Bewegungen eintritt, und erst eine genauere Erhebung der
Anamnese macht dem Kranken klar, daß schon vor längerer Zeit leichte
Bewegungsstörungen, Unbehilflichkeit, auf die er gar nicht geachtet hat, als
Abb. 12. Parkinsonscher Symptomenkom¬
plex nach Encephalitis epidemica bei einem
Kinde, eine »Paralysis agitans juvenilis
vortäuschend«.
(Aus der psychiatr. Klinik Breslau.)
Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen dieser Gruppe.
183
Symptome der jetzigen Erkrankung existiert haben. Bemerkenswert ist jedoch,
daß der Beginn der nervösen Störungen nach Enzephalitis nicht immer
unmittelbar nach der akuten Erkrankung eintritt, sondern daß die fieber¬
hafte Erkrankung mehrere Wochen zurückliegen kann. Es ist sogar damit zu
rechnen, daß Monate vergehen, bis es zum Entstehen der ersten motorischen
Symptome kommt. Wie schon oben erwähnt, ist die Beteiligung der Augen¬
muskeln, sowie oft eine im Beginn bestehende Lähmung der Bulbämerven
charakteristisch für das Vorliegen einer Enzephalitis. Das gleiche gilt von event.
vorhandenen Pupillenanomalien, die insofern noch einen größeren Wert für die
Differentialdiagnose haben, als sie längere Zeit anzuhalten pflegen. Die Läh¬
mungen der Bulbärnerven sind unter Umständen zu verwechseln mit der auch bei
der Paralysis agitans und Wilsonschen Krankheit vorkommenden eigentümlichen
Schwäche. Als Zeichen einer Infektion aufzufassen sind ferner die bei der
Enzephalitis häufig vorkommenden polyneuritischen Erscheinungen in Gestalt
von Druckempfindlichkeit und Dehnungsschmerz der Nervenstämme.
Die Lumbalpunktion kann in frischen Fällen von Enzephalitis eine Lym¬
phozytose ergeben, ohne daß dies nach meiner Erfahrung immer der Fall
wäre, jedoch wird, wenn man einen Enzephalitiskranken im frischen Stadium
sieht, die Differentialdiagnose überhaupt keine Schwierigkeiten machen.
Die motorischen Störungen bieten keinerlei differentialdiagnostische An¬
haltspunkte; die Art des Rigors, die Starre der Mimik, des Zittern, wenn es
vorhanden ist, gibt mit photographischer Treue das äußere Bild der Paralysis
agitans wieder. Reflexstörungen pflegen vollkommen zu fehlen, auch Babinski
ist so gut wie nie nachweisbar.
Und doch handelt es sich um eine von der Paralysis agitans total ver¬
schiedene Erkrankung, die nur zufällig das äußere Bild nachahmt. Hinsichtlich
der Ätiologie des Enzephalitis können wir mit großer Bestimmtheit sagen,
daß es sich um eine Infektionskrankheit handelt, die wahrscheinlich zu der
Grippe irgendwelche Beziehungen hat. Ganz anders verhält es sich mit der
Wilsonschen Krankheit, die meiner Ansicht nach als eine toxische Krankheit
aufzufassen ist, und wieder anders mit der Paralysis agitans, über deren Ätiologie
wir nichts Näheres wissen.
V.
Eine Erkrankung, bei der die Stammganglien häufig mitbetroffen sind, ist
die Pseudobulbärparalyse. Auf Grund solcher Beobachtungen haben franzö¬
sische Autoren im Putamen ein Zentrum für die Lippen-, Schlund- und Kau¬
muskulatur angenommen, ähnliche Ansichten, wie sie jetzt C. und 0. Vogt
vertreten und auf Grund anatomischer Untersuchungen ausgearbeitet haben.
Jakob, der das ganze Material der Pseudobulbärparalyse kritisch durchge¬
arbeitet hat und auch selbst über einen genau klinisch und anatomisch unter¬
suchten Fall verfügt, hat festgestellt, daß in 73 Prozent der Fälle eine Be¬
teiligung der Stammganglien bei der Pseudobulbärparalyse zu finden ist. Die
Bedeutung dieser Herde für die Entstehung der Pseudobulbärsymptome liegt
nach Jakob vor allem darin, daß durch diese Herde eine Unterbrechung der
Rindenstrahlung zu den Bulbärkernen bedingt wird. Da aber die als striäre
Symptome bekannten Erscheinungen, z. B. eine Muskelrigidität, nicht bei der
Pseudobulbärparalyse beobachtet werden, so ist klinisch ein sicherer Ausfall
184 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wiisonsche Krankheitsgruppe.
des Striatum nicht zu konstatieren; es muß dahingestellt bleiben, ob die eigent¬
lichen Striatumsymptome etwa nur wegen des Überwiegens von Lähmungen
nicht zustande kommen können. Dagegen kann es nach dem heutigen Stand
unserer Kenntnis von den striären Symptomen als sehr wohl möglich ange¬
nommen werden, daß die auch bei der Pseudobulbärparalyse vorhandene Be¬
wegungsverlangsamung, die Bewegungsverarmung und der oft vorhandene
Mangel an Antrieb mit der Erkrankung der basalen Ganglien in Zusammen¬
hang steht.
Für die mimische Starre der Pseudobulbärparalyse, besonders auch für die
Schluck- und Kaustörungen können wir dagegen die Herde in den zentralen
Ganglien nicht verantwortlich machen, weil wir es bei der Pseudobulbärparalyse
mit einer echten Parese zu tun haben, insofern als auch auf willkürliche
Impulse eine Bewegung der betreffenden Teile nicht erfolgt. Allerdings ist die
Lähmung meist keine absolute. Denn wenn auch die wirkliche Bewegung der
Gesichtsmuskeln unmöglich ist, so lassen sich doch die mimischen Muskeln
unter der Einwirkung starker Affekte innervieren.
Wir müßten also drei verschiedene Formen von Bewegungsstörungen in
der mimischen Muskulatur unterscheiden. Die erste ist die z. B. bei der Para¬
lysis agitans zu beobachtende: Hier fehlt das die geistigen und affektiven Vor¬
gänge normalerweise begleitende automatische Mienenspiel, während eine will¬
kürliche gewollte Bewegung derselben Muskeln möglich ist. Ein Lebhafter¬
werden des Mienenspiels bei Affektausbrüchen läßt sich bei Paralysis agitans
im allgemeinen nicht beobachten, ln gewissem Gegensatz dazu steht das
Verhalten der mimischen Muskeln bei der Pseudobulbärparalyse. Hier ist die
Möglichkeit einer wülkürlichen Innervation meist erloschen, jedoch gelingt es
starken Affekten die mimische Muskulatur in Bewegung zu setzen. Bei den
eigentlich bulbären oder peripheren Lähmungen der betreffenden Muskeln sind
dagegen automatische (mimische) und willkürliche Innervationen zusammen
ausgefallen.
Ein ähnliches Verhältnis finden wir auch bei den Augenmuskeln, die bei
der Patalysis agitans und bei Wilsonscher Krankheit willkürlich frei beweg¬
lich sind, dagegen besteht eine ausgesprochene Verarmung mehr unwillkür¬
lich oder automatisch ablaufender Blickbewegungen, so daß ein starrer
Blick zustande kommt. Für die Pseudobulbärparalyse ist dagegen oft die
Pseudophthalmoplegie (Wernicke) charakteristisch, bei der die Augenmuskeln
auf willkürliche Innervationen nicht ansprechen, während sie bei passiv
gedrehtem Kopf auf einem fixierten Gegenstand haften bleiben können und
unter Umständen auch fähig sind einem bewegten Gegenstand mit dem Blick
zu folgen. Auch sind häufig Reaktionsbewegungen der Augen nach irgend¬
welchen im Gesichtsfeld auftauchenden Gegenständen möglich.
Von größerer Bedeutung scheinen die Herde in den zentralen Ganglien bei
der von Oppenheim aufgestellten infantilen Pseudobulbärparalyse zu sein,
insofern als es hier neben dem paralytischen noch einen spastisch athetotischen
Typ gibt. Dies ist eine Erkrankungsform, die sich infolge der dabei auftre¬
tenden hyperkinetischen Erscheinungen und wegen des Vorherrschens hyper¬
tonischer Symptome (zuweilen Spasmen, zuweilen Rigor) mehr der Wilsonschen
Krankheit nähert, andererseits aber offenbar auch Beziehung zur echten
Erkrankungen anderer Art mit den Symptomen dieser Gruppe.
185
Athetose hat. Dies Krankheitsbild wurde bereits im Kapitel über Athetose
behandelt.
Ein Symptom, das sowohl bei der Pseudobulbärparalyse wie auch bei der
Wilsonschen Krankheit und der Pseudosklerose häufig vorkommt, ist das Zwangs¬
lachen und das Zwangsweinen. Bei der Paralysis agitans w T erden ähnliche Er¬
scheinungen vereinzelt ebenfalls beobachtet. Es liegt daher nahe, diese Sym¬
ptome auf eine Störung im Gebiet der zentralen Ganglien zurückzuführen, da
diese ja bei allen diesen versclüedenen Formen fast regelmäßig mitbetroffen
sind. Daß auch die multiple Sklerose diese Symptome recht häufig hervorbringt,
würde nicht gegen diese Annahme sprechen, da sich ja auch liier oft Herde
in dieser Gegend finden. Fraglich erscheint es mir, ob ein enger Zusammen¬
hang zwischen diesen eigentlichen Zwangsaffekten und dem oben beschriebenen
eigentümlichen Verhalten der mimischen Muskulatur, auf starke Affekte trotz
vorhandener Parese zu reagieren, besteht. Meiner Ansicht nach haben beide
nur eine gemeinsame Grundlage, nämlich eine überleichte Ansprechbarkeit mi¬
mischer Zentren bzw. Bahnen. Im übrigen besteht aber der Unterschied, daß
das echte Zwangslachen beispielsweise auch dann auftritt, wenn die Stimmung
des Kranken gar nicht diesem mimischen Vorgang entspricht, und daß es auch
durch zufällige Bewegungen z. B. ausgelöst werden kann. Dieses Zwangslachen
kann ferner eine Zeitlang verharren, eine Eigenschaft, die es auch mit Aus¬
drucksbewegungen der Wilsongruppe teilt. Äußerlich hat das Zwangslachen
bzw. Zwangsweinen insofern eine Besonderheit, als eine übertriebene Muskel¬
aktion dabei vor sich geht, wodurch der Gesichtsausdruck leicht etwas verzerrt
und bizarr erscheint.
Oppenheim und Siemerling glaubten, daß es sich dabei um eine Läsion
von Kernen oder Bahnen handle, die hemmend auf die bulbären Zentren ein¬
wirken. Auch Strümpell nimmt an, daß diese Störung auf den Fortfall ge¬
wisser, die affektiven Bewegungen normalerweise hemmenden Bahnen be¬
ruhe. Brissaud verlegt diese Bahn zum Teil in den vorderen Schenkel der
inneren Kapsel, Bechterew nimmt als Zentrum für die Ausdrucksbewegung
den Thalamus an und glaubt, daß Reiz- oder Lähmungserscheinungen das
Zwangslachen hervorzurufen imstande seien. Anton und Jakob machen den
Ausfall zentripetaler Impulse für die Entstehung des Zwangslachens verant¬
wortlich. Auch vasomotorische Veränderungen sind mit für die Entstehung
der Zwangsaffekte verantwortlich gemacht worden und zwar ist von Par hon
und Goldstein ein vasomotorisches Zentrum im Corpus striatum angenommen
worden. Jakob, der die Existenz der von verschiedenen Seiten angenommenen
Bahn bezweifelt, hat die von ihm zusammengestellten Fälle von Pseudobul¬
bärparalyse daraufhin durchgesehen und findet bei den Fällen mit Zwangs¬
lachen nur zweimal den Thalamus mitbetroffen; in zahlreichen Fällen sind
zwar die Stammganglien überhaupt beteiligt, in einem Drittel der Fälle jedoch
waren bei Vorhandensein von Zwangslachen keine Veränderungen in den Stamm¬
ganglien nachzuweisen. Wenn sich darunter wahrscheinlich auch eine große
Menge von Fällen finden, bei denen eine genaue mikroskopische Untersuchung
der Stammganglien fehlt, so schließe ich mich doch Jakob an, wenn er das
Zwangslachen und -weinen nicht als sicheres Herdsymptom der Stammganglien
ansieht. Auch ich glaube, daß es sich dabei um zu komplizierte Erscheinungen
130 Die Parkinson-, Westphal-Strümpeil-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
handelt, um eine einfache Lokalisation anzunehmen. Ich bin weiter der An¬
sicht, daß unter dem was wir unter Zwangslachen und -weinen verstehen,
offenbar verschiedene Vorgänge zusammengefaßt werden. Das zeigt unter
anderen auch das Vorkommen von Zwangslachen und -weinen bei der amyotro-
phischen Lateralsklerose, die weder anatomisch noch klinisch mit der Wilson¬
gruppe etwas zu tun hat. Ich glaube, daß dies letztere Zwangslachen mehr
spastischer Natur, vielleicht eher dem bei Tetanus zu vergleichen ist, während
man bei den uns hier interessierenden Krankheiten, aber auch bei der Pseu¬
dosklerose und der Wilsonschen Krankheit offenbar eine Art „Kurzschluß“ als
Ursache für die Entstehung des Symptomes anzusehen hat.
Als psychisches Symptom ist die Erscheinung jedenfalls nicht zu be¬
werten, ganz besonders deshalb nicht, weil in typischen Fällen keineswegs
eine leichte Ansprechbarkeit des Affektes die Grundlage bildet, sondern der
Kranke lacht, ohne etwas dazu beizutragen, und er steht diesem Lachen
ganz wie ein fremder Zuschauer gegenüber. Wir haben es daher bei dem
Zwangslachen zweifellos mit einem rein motorischen Symptom zu tim, das
vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grimassieren der Katatoniker auf¬
weist. Die Auffassung als rein motorisches Symptom wird nicht durch den
Umstand gehindert, daß das Zwangsweinen bzw. -lachen oft durch eine leichte
psychische Alteration z. B. eine Untersuchung des Kranken ausgelöst werden
kann. Pathophysiologisch dürfte auch hier der Wegfall hemmender Einflüsse
eine Rolle spielen, daneben besteht aber offenbar noch eine gewisse gesteigerte
Empfänglichkeit mimischer Zentren. Lokalisatorisch kommen zwar die zen¬
tralen Ganglien in erster Linie in Betracht, zweifelhaft erscheint es mir je¬
doch, ob ein solcher Herd allein genügt und ferner, ob er die einzige mög¬
liche Ursache für die Entstehung des Symptomes büdet.
VL
Von anderen Erkrankungen, die symptomatologisch unter den Erscheinungen
der Parkinson-, Westphal-, Strümpell-, Wilsonscher Gruppe verlaufen, sind an dieser
Stelle noch zwei Vergiftungen zu erwähnen, die Kohlenoxyd- und die Mangan¬
vergiftung. Von ersterer ist bekannt, daß sie pathologisch-anatomisch recht
oft durch Erweichungen oder andere Veränderungen im Gebiet der Linsenkerne
ausgezeichnet ist, und daß sie symptomatologisch der Wilsonschen Krankheit
recht nahe stehen kann. Die Manganvergiftung gleicht dagegen mehr den
Symptomen der Pseudosklerose. Autoptische Befunde fehlen hier. Da beide
Erkrankungen schon S. 119 ausführlicher besprochen sind, kann ich mich mit
ihrer Erwähnung an dieser Stelle begnügen.
7. Parkinsonsymptome als Nebenerscheinungen.
Zum Schluß ist noch kurz auf solche Krankheitsfälle einzugehen, bei denen
man Symptome aus der Parkinsongruppe als Nebenerscheinungen antrifft, die
das Bild nicht oder doch nur vorübergehend beherrschen, und die oft nur bei einer
genaueren Beobachtung bemerkbar werden. So kommen z. B. bei der Epüepsie
Zustände vor, die eine Beteiligung des Striatums vermuten lassen. Knapp
beschreibt ausführlicher einen Fall von Epilepsie, der eine symptomatische
Parkinsonsymptome als Nebenerscheinungen.
187
Ähnlichkeit mit der Paralysis agitans hatte, aber auch Pyramidenbahnerschei¬
nungen aufwies. Leider wird hier nicht überall zwischen spastischen und ri¬
giden Erscheinungen scharf unterschieden. In all diesen Fällen kann es sich
jedoch möglicherweise um Pseudoklerosen handeln, bei denen zufällig die
Anfälle im Vordergrund stehen. (Vgl. auch Jakobs Arbeit über Epilepsie.)
Ferner beschreibt Schilder in zwei Beobachtungen Rigorerscheinungen bei
Epilepsie nach dem Anfall. Bei einem seiner Fälle handelt es sich allerdings
offenbar nicht um eine genuine, sondern um eine symptomatische Epilepsie.
Einer eingehenden Nachprüfung bedarf übrigens noch die Frage, ob nicht
bei den meisten Anfällen der genuinen Epilepsie eine striäre Komponente zu
finden ist.
Ungeklärt ist ferner noch eine Form von Anfällen, die weniger mit klo¬
nischen Krämpfen, als vielmehr mit passageren tonischen Zuständen einhergeht.
Es besteht auch hier die Möglichkeit, daß man es mit extrapyramidalen (zere¬
bellaren?) Anfällen zu tun hat (vgl. Roth mann N. Z. 1912). Ebenso wie
bei Epileptikern wäre eine systematische Untersuchung von Idioten mit Be¬
wegungsstörungen auf striäre Symptome von Wichtigkeit. Uber das Vorkommen
von solchen bei tuberöser Sklerose berichten Bielschowsky und Freund.
Weiter möchte ich die Aufmerksamkeit noch lenken auf drei Erkrankungen,
die hinsichtlich striärer Erscheinungen noch genauerer Erforschung bedürfen.
Es sind dies die multiple Sklerose, die gewöhnliche Apoplexie und vor allem
die sogenannte Littlesche Krankheit. Bei der multiplen Sklerose und bei der
Apoplexie erschweren die regelmäßig vorhandenen Pyramidensymptome außer¬
ordentlich das Auffinden extrapyramidaler Störungen; aber nachdem wir ge¬
lernt haben, auf das Vorkommen solcher Erscheinungen mehr zu achten, wird
es auch nicht allzu schwer sein, aus der Qualität der Muskelhypertonie und
anderen Symptomen neben Pyramidenerscheinungen auch striäre Komponenten
zu entdecken. Bei der multiplen Sklerose wäre es ja eigentlich erstaunlich,
wenn die so häufig in den Zentralganglien beobachteten Herde sich nicht auch
klinisch wenigstens zuweilen bemerkbar machen sollten. Stertz weist meines
Erachtens sehr mit Recht darauf hin, daß die von Oppenheim als Kombi¬
nation von multipler Sklerose und Paralysis agitans beschriebenen Fälle sicher
multiple Sklerosen mit besonderer Beteiligung der zentralen Ganglien gewesen
sind. Stertz selbst teilt einen Fall mit, bei dem es ihm gelungen ist, aus
der Beschaffenheit der Rigidität auf striäre Erscheinungen neben den Pyra¬
midenspasmen zu schließen, eine Beobachtung, die bei der Obduktion durch
den Nachweis von Herden im Striatum bestätigt wurde.
Ebenso müßte man bei den gewöhnlichen Kapselblutungen, die die häufigste
Ursache der Apoplexien bilden, öfter striäre Nebensymptome erwarten, allein
schon als Fernwirkung umfangreicher Blutungen auf den benachbarten Linsen¬
kern. In der Tat kann es wenigstens zu Andeutungen extrapyramidaler Sym¬
ptome kommen; so sah ich einmal bei einer Apoplexie ein ausgesprochenes
Verharren in Haltungen auf der paretischen Seite; die Sektion ergab liier ein
Übergreifen der Blutung auf den Kopf des Nucleus caudatus. Zu beachten
sind weiter Haltungsanomalien bei Hemiplegischen, sowie, worauf Strümpell
aufmerksam macht, der Umstand, daß manche Apoplektiker nicht imstande
188 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
sind, auf dem gesunden Beine allein zu stehen, wenn auch sonst ihre Gehfähig¬
keit wieder einigermaßen hergestellt ist.
Ganz besonders spielt aber offenbar das extrapyramidale System eine Rolle
bei der Rückbildung von Lähmungen (Stertz, Rothmann).
Eine Krankheitsgruppe, die namentlich hinsichtlich der dabei vorhandenen
Beteiligung des striären Systems einer gründlichen Bearbeitung an einem großen
Material bedarf, ist die Littlesche Krankheit. Ursprünglich sind die hierher
gehörenden Erkrankungen zusammengefaßt nach dem gemeinsamen Gesichts¬
punkt ihrer Entstehung durch ein Geburtstrauma. Dann hat man sich daran
gewöhnt, ein Krankheitsbild einer während oder nach der Geburt irgendwie
entstandenen spastischen Paraplegie darunter zusammenzufassen. In der be¬
kannten Monographie von Freud über die infantile Zerebrallähmung ist sie
enthalten unter den Formen der allgemeinen Starre, der paraplegischen Läh¬
mung und der bilateralen spastischen Hemiplegie, der allgemeinen infantilen
Chorea, der bilateralen Athetose. Auch Fälle des Vogt sehen Status marmo-
ratus sind klinisch zur Gruppe der Littleschen Krankheit gerechnet worden.
Zweifellos gibt es aber, wenn man die meines Erachtens nicht hierher ge¬
hörenden Formen der infantilen Chorea und Athetose nicht mit rechnet,
zwei Formen, eine spastische Littlesche Krankheit mit Reflexsteigerung und
Babinski, sowie eine Littlesche Starre ohne Reflexsteigerung und ohne sonstige
Pyramidensymptome, die vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit den Vogtschen
Fällen des Status marmoratus hat.
Auf Ähnlichkeit extrapyramidaler Symptome mit motorischen Erscheinungen
bei Schizophrenen ist schon mehrfach kurz hingewiesen worden.
Nicht unerwähnt möchte ich ferner lassen, daß wir Symptome, die als
8triäre aufzufassen sind, andeutungsweise auch bei nicht ausgesprochen Kranken,
z. B. bei gesunden alten Leuten, finden können. Namentlich gewisse Ähn¬
lichkeiten mit Symptomen der Paralysis agitans haben schon zu dem Gedanken
geführt, die Paralysis agitans sei nur gradweise von dem gewöhnlichen Senium
verschieden. Als Symptome des normalen Seniums, die an striäre erinnern,
kommen vor allen Dingen in Betracht der trippelnde Greisengang, besonders
dann, wenn die Beine kaum vom Boden gehoben werden. Auch der senile
Tremor entspricht in seinem Charakter oft dem typischen Schüttelzittem, ohne
daß jedoch ein Rigor zu diesem Greisentremor gehört. Ähnliches gilt auch
von der gebückten Haltung mancher Greise. Daß auch die zunehmende Steif¬
heit und oft beobachtete motorische Ungeschicklichkeit alter Leute mit dem
Versagen striärer Funktionen zu tun hat, ist nicht sehr wahrscheinlich, immer¬
hin wären Beobachtungen in dieser Richtung vielleicht am Platze.
8. Zusammenfassung;.
Die Besprechung der Wilsongruppe hat uns auf sehr verschiedene Gebiete
geführt, deren Berücksichtigung nötig war, teils um biologische Zusammen¬
hänge zwischen den Krankheitsgruppen zu erörtern, teils um Symptome in
ihrer Bedeutung zu würdigen.
Die Ergebnisse der Untersuchungen sind in vieler Hinsicht wenig be¬
friedigend insofern, als es sich gezeigt hat, daß wir uns auf recht hypothetischen
190 Die Parkinson-, Westphal-Strümpell-, Wilsonsche Krankheitsgruppe.
Die neurologischen Symptome der hier besprochenen Gruppe bestehen aus
drei Grundsymptomen:
1. Störung des Muskeltonus.
2. Störung der kinetischen und statischen Innervation (extrapyrami¬
dale Parese).
3. Die Tremor- und Wackelbewegung.
Diese primären Symptome sind oft schwer voneinander zu trennen, zuweilen
mag sogar ein scharfes Auseinanderhalten derselben gekünstelt erscheinen. So¬
wohl einzeln, meist aber in ihrer Gesamtheit wirken sie störend auf die
Myostatik, erschweren aber auch oft das Zustandekommen kinetischer Inner¬
vationen. Was die besonderen Eigenschaften des Rigors anlangt, so unter¬
scheidet er sich von den Pyramidensymptomen durch seine Verteilung*
seine eigenartige zähe Beschaffenheit und durch das Fehlen der Pyra¬
midenzeichen. Andere Unterschiede, die man zur Entscheidung heran¬
gezogen hat, lassen sich nicht bei jedem Fall und nicht zu jeder Zeit fest¬
stellen. Solche Unterscheidungsmerkmale werden im allgemeinen auch kaum
nötig sein.
Die Störungen der kinetischen Innervation, die ich als extrapyrami¬
dale Parese bezeichnet habe, bestehen in einer eigentümlichen Muskelschwäche*
einer Bewegungsverlangsamung, einer Bewegungsverarmung und einem Ausfall
von Bewegungen, an dem vor allem auch die unwillkürlichen, die automatisch
ablaufenden und die mimischen Bewegungen beteiligt sind. Eine Reihe von
Bewegungsstörungen erklären sich als eine Kombination dieser Innervations¬
störung mit dem Rigor.
Der Tremor, bzw- die Wackelbewegungen, sind in all ihren verschie¬
denen Arten aufzufassen als eine Form der Ataxie und zwar als eine Koordi¬
nationsstörung sowohl der für die Bewegungen notwendig werdenden Impulse*
wie auch der für die Ruhelage erforderlichen Innervationen.
Neben den Erkrankungen sui generis finden wir das Parkinson-Wilsonsche
Syndrom als Zustandsbild bei anderen Erkrankungen, und hier ist es für
das Wesen und die Lokalisationsmöglichkeit des Komplexes von größter Be¬
deutung, daß gerade solche Erkrankungen am deutlichsten das Symptomenbild
erzeugen, die eine mehr diffuse Schädigung des Gehirns bewirken, namentlich
die Enzephalitis und die Arteriosklerose (Muskelstarre).
Viel seltener wird das Krankheitsbild durch Tumoren oder Blutungen
hervorgerufen. Deren Vorhandensein gestattet dabei nicht ohne weiteres eine
Lokaldiagnose, da nicht bestimmte umschriebene Stellen des Gehirns für daa
Zustandekommen des Symptomenkomplexes verantwortlich gemacht werden
können, sondern die Schädigung der Bahnen und Zentren dieses extrapysami-
dalen motorischen Systems an irgendeiner Stelle genügt unter Umständen*
um das Syndrom hervorzurufen.
Ein weiterer Umstand erschwert noch die Verwertung des Symptomen¬
komplexes als Herderscheinung im engeren Sinne, nämlich der, daß zuweilen
das Syndrom in seiner charakteristischen Weise auftritt, ohne daß sich bei der
Sektion mit unseren heutigen Mitteln irgendwelche Veränderungen im Gehirn
nachweisen lassen.
Schluß.
191
Schiaß.
Ähnliche Schwierigkeiten, wie sie eben für die Wilsongruppe zusammen¬
gefaßt wurde, finden wir auch bei den beiden anderen Gruppen. Die Athetose
kommt für Lokalisationsfragen weniger in Betracht, da sie vorwiegend als
Reaktionsform des kindlichen Gehirns anzusprechen ist; aber auch die Be¬
deutung des choreatischen Syndroms als Herdsymptom ist nicht eindeutig,
denn auch hier sehen wir symptomatische Choreaformen vorwiegend bei mehr dif¬
fusen Erkrankungen des Gehirns (Enzephalitis, Intoxikationen usw.) auftreten, bei
der sehr viel selteneren Herdchorea sind die Herde nicht immer an derselben Stelle,
sie lassen allerdings zuweilen Beziehungen zu einem bestimmten System er¬
kennen. Auch hier machen wir die Erfahrung, daß typische Choreafälle ohne
bis jetzt feststellbare Veränderungen im Gehirn Vorkommen können. Anderer¬
seits gibt es Fälle mit Veränderungen der sonst für die Lokalisation in Frage
kommenden Partien im Gehirn, die in vivo keine choreatischen Symptome ge¬
boten hatten.
Die gleichen Schwierigkeiten waren aber auch auf dem Gebiet der Pyra¬
midenbahnerkrankungen zu überwinden. Versetzen wir uns in die Zeit zurück,
da die Pyramidenbahn und ihr Verlauf noch unbekannt war. Man konnte
damals für das Zustandekommen z. B. einer rechtsseitigen spastischen Hemi¬
plegie verantwortlich machen: Einen oder unter Umständen auch mehrere,
Herde in der motorischen Rinde, ferner solche in der inneren Kapsel in den
Himschenkeln, in der Brücke usw. Erst die Entdeckung des Verlaufs der
Pyramidenbahn gab dann Gelegenheit, all diese verschieden lokalisierten Herde
nach einem neuen gemeinsamen Gesichtspunkt zu beurteilen. Bei der Forschung
nach der anatomischen Grundlage der spastischen Spinalparalyse wurden noso¬
logisch wie lokalisatorisch verschiedene Möglichkeiten aufgedeckt: Bald handelte
es sich um einen Rückenmarkstumor oder eine sonstige Kompression, bald
wies man zahlreiche Herde nach, wie sie für die multiple Sklerose charakte¬
ristisch sind, bald hat man mehr diffuse Veränderungen, z. B. eine Lues spi-
nalis, dabei gefunden. Endlich hat man auch die uns jetzt als Pyramidenbahn¬
symptome bekannten Erscheinungen: Spastische Parese mit Reflexsteigerung
mit Babinski ohne nachweisbare anatomische Ursache auftreten sehen, z. B. bei
toxischen Erkrankungen wie Urämie (Biach).
Es ist deshalb nichts unerhört neues, wenn wir den Symptomenkomplex
der Chorea, — das gleiche gilt auch vom Parkinsonschen Syndrom und zum
Teil auch von der Athetose — auftreten sehen, einerseits bei groben Herder¬
krankungen (evtl, auch bei mutiplen Herden), scheinbar ganz verschiedener
Lokalisation, andererseits bei mehr diffusen Schädigungen des Zentralnerven¬
systems und endlich auch ohne nachweisbare anatomische Schädigung.
Wir dürfen dementsprechend jetzt, wo wir über den komplizierten Verlauf
der in Betracht kommenden Bahnen und ihre funktionelle Bedeutung nur
relativ wenig wissen, nicht damit rechnen, all diese motorischen Erscheinungen
lokalisieren zu können. Wir wissen nur, wo ungefähr der Sitz der Verände¬
rungen zu suchen ist, wir müssen uns aber darüber klar sein, daß die Auf¬
stellung von Striatum- und Pallidumsyndromen noch keine endgültige sein
192
Schluß.
kann; finden wir doch z. B. in dem Striatumsyndrom von Vogt die verschieden¬
artigsten Symptome (Spastizitität, choreatische Bewegungen, Zittern usw., um
nur einige zu nennen), die wenig miteinander zu tun haben, vereinigt.
Andererseits sehen wir für das Zustandekommen der Rigidität bald das Pallidum
(Vogt 1 ), Foerster usw.) bald das Striatum, insbesondere Putamen (F. H. Lewy,
Economo, Wilson und zum Teil auch Hunt) verantwortlich gemacht. Es
muß der Zukunft überlassen bleiben, Erklärungen für die oft sich widersprechenden
Befunde zu bringen. Vielleicht wird es gelingen, die Befunde auf Grund
weiterer Erfahrungen über Anatomie und Physiologie (evtl, feinere Gliederung
der zentralen Ganglien, wie sie von Vogt angestrebt wird) in einem bestimmten
Sinne zu deuten. Vielleicht wird man auch genötigt sein, gewissen Verände¬
rungen, die man bisher als unwesentlich angesprochen hat, eine größere
Wichtigkeit beizulegen, sei es, daß sie verursachend oder doch modifizierend auf
bestimmte Bewegungsstörungen einwirken. (Chorea chronica.)
Wir werden daher mit der Verwertung aller dieser Symptomenkomplexe
als Herdsymptome im engeren Sinne vorläufig zurückhaltend sein müssen, wir
haben sogar unter Umständen damit zu rechnen, daß besonders bei der Chorea
außer der lokalisierbaren Störung noch eine andere Komponente zum Zustande¬
kommen des Syndroms gehört, die sich unserer Beobachtung vorläufig entzieht.
Diese Schwierigkeiten werden noch größer, wenn man bedenkt, daß mit den
Bildern der Athetose, der Chorea, Myoklonie, die klinischen Formen hyper¬
kinetischer Störungen meines Erachtens noch nicht erschöpft sind, sondern daß
auch andere Arten existieren, die sich heute noch nicht mit Sicherheit ein¬
heitlich umgrenzen lassen.
Zum Schluß erscheint es mir lohnend, die motorischen Hauptsymptome
der hier genauer besprochenen drei Gruppen übersichtlich gegenüberzustellen,
weil sich hierdurch einige interessante Beziehungen ergeben: (Siehe Tabelle
S. 193.)
Wir sehen aus dieser Tabelle, daß einzelne motorische Funktionen sich
bei allen drei Symptomengruppen verschieden verhalten, daß andererseits auch
wieder gruppenweise Übereinstimmungen existieren. Besonders prägnant lassen
sich diese symptomatischen Differenzen herausarbeiten bei der Betrachtung
des Muskeltonus, dessen jeweiliges Verhalten die Gruppe gut charakterisiert.
Ähnliches gilt auch von den Willkürbewegungen, deren Beschaffenheit bei
allen drei Erkrankungen in gewissem Sinne eine eigentümliche ist. Was die
unwillkürlichen Spontanbewegungen anlangt, so stehen Chorea und Athetose
hier der Parkinsongruppe gegenüber, bei der solche fehlen. Die bei Chorea
und Athetose auftretenden unwillkürlichen Spontanbewegungen unterscheiden
sich wieder voneinander durch ihre Qualität insofern als die Chorea rasche
Zuckungen, die Athetose langsame Kontraktionen zeigt, die ihrerseits
nahe Beziehungen zu Mitbewegungen aufweisen.
Auch inbezug auf das Vorkommen von Mitbewegungen und mimischen
Bewegungen besteht eine Kluft zwischen den Kranken des Parkinsonschen
Formkreises mit Verarmung und Ausfall an Mimik und Mitbewegungen gegen-
1 ) Vogt scheint allerdings für seine Rigorformen unter Umständen auch eine Er¬
krankung des Striatums in Betracht zu ziehen.
Schluß.
193
Chorea
Athetose
Park i nson-Wilson
Willkürbewegungen:
nicht ausdauernd
nur sekundär gestört
»extrapyramidale
Parese«
Unwillkürliche
Spontanbewegungen:
vorhanden
(rasche Zuckungen)
vorhanden (langsame
Kontraktionen, die
nahe Beziehungen zu
1 Mitbewegungen auf¬
weisen)
fehlen
1
Mimik:
(Gesichtszucken)
verzerrt
arm
Mitbewegungen:
erleichtert
gesteigert
fehlen
Koordination:
gestört
i i
nicht gestört
1 gestört (oft auch in
Ruhe)
Muskeltonus:
_1
herabgesetzt
wechselnd
(Spasmus mobilis)
erhöht (Rigor)
Reziproke
erleichtert
gestört
gestört.
Innervation:
über den beiden anderen Erkrankungen, bei denen die Auslösung von Mit¬
bewegungen erleichtert bzw. sogar gesteigert erscheint.
Während bei den zuletzt erwähnten motorischen Funktionen nähere Be¬
ziehungen zwischen Athetose und Chorea zu verzeichnen waren, nimmt hin¬
sichtlich des Koordinationsvermögens die Athetose, bei der ataktische Erschei¬
nungen fehlen, eine Sonderstellung gegenüber der Chorea ein, die mit aus¬
gesprochener Ataxie einherzugehen pflegt, aber auch gegenüber der dritten
Hauptgruppe, die bei ihrem pseudosklerotischen Symptomenbild ebenfalls eine
Ataxie bei Zielbewegungen, bei dem Parkinsonschen Zustandsbild eine solche
teils bei kinetischen teils bei Ruheinnervationen zeigt.
Hinsichtlich des Verhaltens der reziproken Innervation fügen sich dagegen
Parkinsongruppe und Athetose zu einer Gruppe zusammen, die sich durch Er¬
schwerung der reziproken Innervation auszeichnet, während bei der Chorea
diese Störung fehlt; sehr wahrscheinlich ist diese Innervation bei der Chorea
sogar erleichtert ansprechbar. Ich halte es für möglich, daß gerade das Ver¬
halten der reziproken Innervation für die Pathophysiologie der Bewegungs¬
störungen von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Vielleicht können wir auf dem Wege der Auflösung der Symptomenbilder
in ihren einzelnen motorischen Komponenten im Zusammenhang mit den je¬
weils entsprechenden pathologisch-anatomischen Veränderungen einen Einblick
gewinnen in das Wesen hier vorliegender Bewegungsstörungen. Aus der Mög¬
lichkeit einer derartigen Auflösung geht sicher hervor, daß diese Bewegungs¬
störungen Kombinationen von Einzelsymptomen darstellen; jede der Gruppen
hat einige gemeinsame Untersyraptome; es bestehen deshalb gewisse Bezie¬
hungen zwischen den einzelnen Gruppen, die sogar zu Verwechslungen Ver¬
anlassung geben können. Die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten sind
Bootroem, Symptoinenkomplex. 13
194
Schluß.
dadurch noch nicht erschöpft. Es gibt vielmehr noch andere extrapyramidale
Bewegungsstörungen, die sich in den bekannten klinischen Formen nicht ohne
weiteres unterbringen lassen.
Abgesehen von diesen Problemen harren noch viele Fragen der Lösung.
Ich erwähne hier nur die Bedeutung des vegetativen Nervensystems, dann die
Beziehungen vieler motorischer Störungen, namentlich der dritten Gruppe zu
den psychomotorischen Erscheinungen der Schizophrenien.
Daß verschiedene Krankheitsgruppen unter Berücksichtigung extrapyrami¬
daler Erscheinungen erneut durchgearbeitet werden müssen, habe ich schon
erwähnt. Wir werden auch auf amyostatische Symptome achten lernen bei
Bewegungsstörungen, die ganz von Pyramidenbahnerkrankungen beherrscht
zu sein scheinen.
Schließlich bin ich der Überzeugung, daß auch bei gesunden Menschen
kleine Verschiedenheiten der myostatischen Veranlagung zu finden sind. So
können z. B. persönliche motorische Besonderheiten zurückgeführt werden auf
individuelle Artung bzw. mehr oder weniger gute Ausbildung des extrapyra¬
midalen motorischen Systems. Ich glaube, daß die Frage einer angeborenen
motorischen Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit vieler Menschen, besonders
auch die Gabe mehrere verschiedene Bewegungen gleichzeitig ausführen zu
können, ferner die Frage der Übungsfähigkeit auf motorischem Gebiet ab¬
hängig ist von der jeweiligen Anlage und Ansprechbarkeit des extrapyramidalen
motorischen Systems.
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BiHt I ih* in . Sympti>nn i !ikoin)>l(‘\.
Sachverzeichnis.
Adiadochokinese 3,138, 147.
Akinese 170.
Aktionsstrom 173.
Amyostatischer Symptomen-
komplex, Definition 1.
Anarthrie 66.
Anfälle bei Pseudosklerose
80 .
Apoplexie 187.
Arteriosklerotische Muskel-
starre 175.
Asphyxie der Neugeborenen
42, 119.
Ataxie 97, 155ff.
Athetose 5ff.
— als Herdsymptom 42.
— als Reaktionsform des
kindlichen Gehirns 6, 40.
— anatomische Befunde
35ff., 41.
— Differentialdiagnose ge¬
gen Chorea 31.
— — gegen Torsiondystonie
32.
— Entstehung bei Erwach¬
senen 33.
— Symptome 7.
— double (idiopathische) 8 ff.
-Affektleben 20.
— Einteilung 31.
— Epileptiforme Anfälle
9, 20.
-Gelenkschlaffheit 18.
— — Heredität 19.
— — Paradoxes Phänomen
16.
-Psyche 19 ff.
— — Pyramidenbahnstö¬
rungen 17.
-Therapie 19.
— — Tonus Verhältnisse 16 f.
— symptomatische 21 ff.
Athetotische Bewegungen bei
Wilsonscher Krankh. 30. j
— Dauerhaltung 26, 27, 28.
Aufmerksamkeit 169.
Augenmuskeln 129, 140. |
Bauchdeckenreflex 98.
Bewegungsarmut 138.
Bewegungsausfall 139.
Bewegungsverlangsamung j
137 f.
Bulbäre Störungen bei Par¬
kinsonismus 147.
Charcots Trias 97.
Chorea 43 ff.
— Binderarm 57.
— chronisch-progressive 46.
— Differentialdiagnose ge¬
genüber Athetose 45.
— — zwischen Svdenhams
und chronisch-progressi¬
ver 52 f.
— Einteilung 46.
— electrica 46.
— Enzephalitis mit 59 f.
— gravidarum 46, 60.
— Huntington 47. i
— Hypotonie 44, 53.
— Koordinationsstörung 44,
49.
— minor 46.
— posthemiplegische 56.
— Psychische Störungen 47 f.
— Spontanbewegung 43.
— Symptomatische 55 ff.
— Theorie der Entstehung
61 f., 64.
— Toxische Ursachen 60. .
Darmerkrankungen bei Wil- I
son 123.
Dauerhaltung, athetotische
26, 27, 28.
Dysarthrie 61, 68, 102.
Dysphagie 61, 68.
Encephalitis epidemica 180.
-mit choreat Bewe¬
gungen 59.
Enthimungsstarre (Sher¬
rington) 134.
Epilepsie 80 f., 186 f.
Extrapyramidale Parese 3.
135 ff.
Fixationsrigidität 129.
Flexibilitas cerea 168.
Gehirnveränderungen b. Wil¬
son und Pseudosklerose
103.
Glanzhaut 170.
Gordons Reflexverlängerung
45.
Haltung bei Wilsonscher
Krankneit 145.
Hemihypertonia apoplectiea
179.
Hemitonie 31, 180.
Hilfsbewegungen 142 ff.
Hornhautpigmentierung 71,
81 f.
Hyperkinesen, rhythmisch
iterierende, komplexe 34 f.
Hypertonie (muskuläre) 2.
Hysterie 98, 168.
Intensität des Krankheits¬
prozesses (Chorea) 65,
Katatonie 168.
Kohlenoxydgasvergiftung
119, 186.
Sachverzeichnis.
205
Koordination 193. 1
Kreatin 173. j
|
Leberschädigung bei Wilson-
scher Krankheit 111 ff.
— Entstehung derselben 120.
Linsenkernsyndrom (Mingaz-
zini) 162.
Littlesche Krankheit 187,188.
Lues als Ursache der Wil-
sonschen Krankheit 108.
Manganvergiftung 119, 186.
Mangel an Antrieb 148, 181.
Mechanische Muskelerregbar¬
keit 128. !
Milztumor bei Wilsonscher
Krankheit 124 f.
Mimik 193.
Mimische Starre 140.
Mitbewegungen 193,
Multiple Sklerose 187.
Muskeltonus 193.
Nivellierung der Bewegungen
169.
Nothnagels Symptom 141.
Nucleus Deiters 165.
— ruber 163f.
Nystagmus 76, 78, 89, 90.
Pallidumsyndrom 40, 160.
Paradoxes Phänomen 3, 16,
128.
Paralysis agitans 41, 100 ff.,
183.
— — »juvenilis« 182.
Parasympathikus 172.
Propulsion 143.
Pseudoathetose 29, 31.
Pseudobabinski 39.
Pseudobulbärparalyse 183.
Pseudosklerose 71.
— Anatomischer Befund
(Alzheimer) 73. 106.
Pseudosklerose, Anfälle 79 ff.
— Differentialdiagnose ge¬
genüber Hysterie 98.
— -multipl. Sklerose 97.
— — — spastischer Pseudo¬
sklerose 99.
— — —Wilsonscher Krank¬
heit 79.
— Familiäres Vorkommen
110.
— Hornhautpigmentierung
71, 81 f.
— Symptome 78.
Psychische Umstellung 168.
Psychomotorische Einengung
169.
Pyramidenbahn, Verbindung
mit d. extrapyramidalen
System 164.
Reziproke Innervation 193.
— — bei Athetose 42.
-bei Chorea 65.
-bei Wilson 161.
Rigidität 2.
— Abhängigkeit von Haut- j
reizen 133. 1
— Anatomische Ursache 134.
— Beeinflußbarkeit 130.
— Prädilektionsstellen 127. '
— bei Wilson 127 ff.
Ruhetremor 101.
Salbengesicht 171.
Sarkoplasma 172 ff.
Schizophrenie 167 f.
Schweißausbrüche 171.
Skopolamin 181.
Spasmen 2.
Spasmus mobilis 7, 17.
Spastische Pseudosklerose
100, 189.
Speichelfluß 171.
Starre 2, 144.
Status dysmyclinisatus 40.
- fihrosus 40.
Status marmoratus 37.
Stewart Holmessches Phäno¬
men 129.
Stimhimtumor 180.
Striatumsyndrom 160.
Striatum Veränderungen bei
Athetose 36.
— — Chorea 53 f.
Thalamussyndrom 59.
Torsionßspasmus 100.
1 Tumor cerebri u. Parkinson-
j syndrom 59.
I Übermäßigkeit von Bewegun¬
gen 5, 15.
Unwillkürliche Spontanbe-
wegungen 193.
Vegetatives Nervensystem
170 ff.
Verharren in Haltungen 128,
146.
Wi 11k ürbe wegungen 193.
Wilsonsche Krankheit 66 ff.
— Enstehungshypothesen
158.
— — Economo 159.
— — Deutsch 159.
-Foerster 159.
-Kleist 161.
— - Mann 162.
— — Stertz 161.
— - Wilson 158.
— Differentialdiagnose ge¬
genüber Paralysis agitans
100 .
-Pseudosklerose 79.
— Psychische Veränderun¬
gen 166.
— Symptome 66, 71.
Zitt erbewegungen bei Wilson¬
scher Krankh. 148 ff., 155.
Zwangslachen 185.
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Erscheint im November 1922
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Heft 53,1922
37266
nus dem g e sacfe eb 1 ete
Monographien
der reurologie und psychiatrie
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